Title: Unter Wilden am Amazonas
Forschungen und Abenteuer bei Kopfjägern und Menschenfressern
Author: Charles W. Domville-Fife
Illustrator: Hanns Langenberg
Release date: November 4, 2024 [eBook #74678]
Language: German
Original publication: Leipzig: F. A. Brockhaus
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1926 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
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Unter Wilden am Amazonas
CHARLES W. DOMVILLE-FIFE
Forschungen und Abenteuer bei Kopfjägern und Menschenfressern
*
Mit 36 Abbildungen
und 6 Karten
LEIPZIG / F. A. BROCKHAUS / 1926
Einband und Schutzumschlag nach Entwürfen von Hanns Langenberg
[S. 5]
Seite
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1.
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Die Entdeckung des Amazonenstroms
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2.
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Aufbruch ins Innere
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3.
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Von der Jaguarinsel nach dem Tapajózfluß
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4.
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Die Mundurucusindianer des Waldplateaus
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5.
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Im Land der Apiacásindianer
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6.
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Auf dem sichtbaren Äquator
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7.
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Auf dem großen Madeira in das Land der Caripunasindianer
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8.
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Ins Herz des tropischen Urwalds
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9.
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Unter den Parintintinsindianern am Gy-Paraná
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10.
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Das erste Zusammentreffen zwischen Weißen und Wilden
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11.
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Die Entdeckung eines unbekannten Indianerstammes
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12.
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Der Fluß der Itogapukindianer
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13.
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Ein geheimnisvoller Felsentempel
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14.
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Den Chimbiri-Yacu flußaufwärts
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15.
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Die Kopfjäger der Huambisa
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16.
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Unheimliche Bräuche im Land der Uitotosindianer
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17.
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Die Konibosindianer am Ucayali
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18.
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Unter den Vampirindianern der Pampas Sacramento
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19.
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Die Chunchosindianer der Peruanischen Montaña
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20.
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Im verbotenen Land der Ungoninos
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Register
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[S. 7]
Seite
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Eine schauerliche Trophäe
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Eingeborenenboot auf dem unteren Amazonas
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Eingeborenenhausboot
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Ein Gummisammler im Urwald des Amazonas
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Halbzivilisierte Indianerweiber bei der Bereitung der
„Farinha“
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Moiré auf dem Amazonas
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Eingeborenenboote an dem Boothdampfer bei der Abfahrt
von Santarem
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Caripunasindianer in einem „Einbaum“ auf dem
Mutum-Paraná
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Krieger mit Bogen
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Indianerhäuptling mit Bogen und Pfeilen
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Caripunasindianer beim Bogenspannen
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Wilde Caripunasindianer
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Itogapukmädchen
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Die drei Unterhäuptlinge der Itogapuks
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Itogapukweib und Kind
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Die Frau des Itogapukhäuptlings
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Drei g’schamige Damen
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Ein Itogapukmädchen, zum Tanz geschmückt
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Itogapukindianer vor ihrem Gemeinschaftshaus
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Stärlingsnester
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Der geheimnisvolle „Felsen der Inschriften“ am oberen
Parimé
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Mandaño-Indianer vom obern Napo
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Ihr „Gesellschaftskleid“
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Zeichnungen am „Felsen der Inschriften“ (Textabbildung)
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Schmuckbemalung der Ocainasweiber
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Der Schluß des großen Tanzes
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Carijonasindianer mit schweren Ohrpflöcken
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Konibosindianer im Kusma
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Landungsstelle am oberen Madeira
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Zwergindianer von Matto Grosso mit einem hellfarbigen
Caripunasmädchen
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Gruppe von Riesen-Kaschibos oder Vampirindianern
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Häuptling der Kampasindianer
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Zwergindianer der Pampas Sacramento
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[S. 8]
Chunchosindianer am Perené
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Chunchosmädchen
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Eingeborenenfloß auf dem oberen Amazonenstrom
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1.
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Skizze des Gebiets des Tapajóz und des Madeira
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2.
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Skizze der Steppen des Rio Branco
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3.
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Skizze des Chimbiri-Yacu-Gebiets
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4.
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Skizze des Gebiets des Igara-Paraná
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5.
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Skizze der Peruanischen Montaña
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6.
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Übersichtskarte, etwa 1 : 6500000, am Schluß
des Bandes.
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[S. 9]
Fernab von aller Zivilisation lebt in den Urwäldern am Rio Napo ein wilder Stamm, Yáhuas genannt. Noch heutigestags tragen sie das Haar lang herabfallend; aus Binsen geflochtene Umhänge bedecken ihre Schultern, ebensolche Röckchen ihre Lenden, so daß sie Weibern gleichen. Diesem Stamm verdankt das größte Stromsystem der Welt seinen Namen: „Amazonas“, die Amazonen. Als die kleine Schar Weißer unter dem Befehl des Francisco de Orellana in den Jahren 1539–41 von Ecuador aus ihre berühmte Fahrt auf dem Rio Napo in den Amazonenstrom und auf diesem bis in den Ozean hinab unternahm, hatte sie unter den beständigen Angriffen dieser Wilden viel zu leiden.
Die Geschichten, die dann Orellana und die andern, die nach ihm dort waren, erzählten, gaben den Anlaß, daß Herodots altes Märchen über ein Volk streitbarer Weiber, Amazonen genannt, auf die Bewohner des äquatorialen Amerika und in der Folge auf das ganze Gebiet und das Flußsystem angewandt wurde. Merkwürdigerweise war aber die Mündung des Amazonenstroms schon 39 Jahre vorher von Vincente Yañez Pinzon und Pedro Cabral, dem großen portugiesischen Seefahrer, entdeckt worden; am 26. Januar des Jahres 1500 fuhren ihre Galeeren in die größte Strommündung der Welt ein.
Diese Abenteurer benannten sie „Mar Dulce“ oder „Süßwassermeer“, wahrscheinlich der Marajó-Bai wegen, wo das Wasser[S. 10] außerordentlich rein ist. Es wird noch jetzt von den Schiffen benutzt, die die untern Strecken dieses gewaltigen Stromsystems durchfahren.
So hatte sich also das Dunkel über dem untern Amazonenstrom zum erstenmal aufgehellt, aber noch viele Jahre brannte das Licht der Erkenntnis nur trübe, wenn auch in Europa Flotten ausgerüstet wurden, das neuentdeckte Land zu erforschen, „das von einem gelbfarbigen Meer durchschnitten“ würde. Es wurde bald zum Dorado des Jahrhunderts. Kolumbus, der ein geheimnisvolles Land „jenseits des äthiopischen Meeres“ suchte, entdeckte Südamerika. Andere fuhren mit ihren Galeeren in das große Ästuar ein oder an den anstoßenden Küsten entlang. In den Erzählungen der Zurückkehrenden war die Wahrheit stark mit Dichtung durchsetzt. Der sandige, von gelben Fluten bespülte Strand wurde zum goldenen Uferrand eines Silbermeers, aus den „Maloccas“ zauberkundiger Eingeborener wurden die Paläste von Manoa, wo der Dorado, der „Goldene Mann“, wohnte, dessen Körper mit glitzernden Zechinen bedeckt war, die Sonne, Mond und Sterne überstrahlten.
Blühende Bilder einer erregten Phantasie waren also die Triebkraft, die Körper und Geist der europäischen Abenteurer zu ungeahnter Leistungsfähigkeit anspornte. Auch Gonzalo Pizarro, ein Bruder des Eroberers von Peru, stand ganz im Bann der Mythen und Fabeln seines Zeitalters. Im Jahr 1539 sammelte er im Hoheitsgebiet seines Bruders eine Schar von Abenteurern um sich, machte sich von Peru landeinwärts auf den Weg, überstieg die Anden und durchquerte Ecuador in dem Bestreben, das „Süßwassermeer“ aufzufinden, das man damals jenseits des Festlands vermutete. Er hatte übrigens geschworen, dem Dorado in Manoa die Rüstung von goldenen Zechinen zu entreißen. Wie viele andere, die während der nächsten Jahrhunderte[S. 11] seinen Fußtapfen folgten, scheiterte er an den Millionen Geviertmeilen der äquatorialen Wälder, Flüsse und Sümpfe.
Trotzdem war sein monatelanges Umherwandern in den Bergen von Ecuador nicht ergebnislos, wenn er auch von seiner wichtigsten Entdeckung erst erfuhr, als ein anderer den Erfolg eingeheimst hatte. Im Laufe seiner Forschungen hatte er seine kleine Schar nahe an die Quelle des Napo gebracht, eines mehr oder weniger schiffbaren Nebenflusses des „Süßwassermeers“. Von den Eingeborenen hatte er eine Menge reines Gold eingehandelt, das, zweifellos irrtümlich, auf 45 Tonnen geschätzt wurde. Diesen Schatz vertraute er seinem Leutnant Francisco de Orellana an, der ein rohes Boot baute, das Gold daraufbrachte, die Überreste der abenteuerlichen Schar verließ und sich auf dem Rio Napo einschiffte, mit der Absicht, Lebensmittel für die Mitglieder der Hauptexpedition zu beschaffen, die dem Verhungern nahe waren. Die starke Strömung des Flusses verhinderte ihn jedoch an der Rückkehr, um so mehr, als sich nirgends Gelegenheit bot, Lebensmittel zu bekommen.
Ob Orellana die Möglichkeit gehabt hätte, sich gegen die Strömung zurückzuarbeiten und wieder mit dem Rest der Expedition zu vereinigen, ist fraglich. Prescott und andere behaupten, es sei möglich gewesen. Dieses Urteil wurde offenbar auch von dem Gerichtshof geteilt, vor dem sich Orellana nach seiner Rückkehr nach Spanien wegen Verrats zu verantworten hatte. Außerdem wird diese Meinung vom Pater Carvajal verfochten, der die Geschichte von Pizarros Unternehmung schrieb.
Die verlassenen Konquistadoren schlugen sich unter Pizarros Führung nach Nordosten durch, gelangten auf dem Cassiquare in den Orinoko und kehrten schließlich von der Küste Venezuelas nach Spanien zurück. War es auch diesem Teil der Expedition nicht gelungen, den Amazonenstrom zu entdecken, so hatte er doch, wie[S. 12] ein Blick auf die Karte zeigt, eine der wundervollsten Taten in der Forschungsgeschichte vollbracht.
Über dem Oberlauf des Amazonenstroms lichtete sich nun das Dunkel. Orellana gelang die fast unglaubliche, aber geschichtlich bezeugte Fahrt den 2000 Kilometer langen Napo hinab und 3500 Kilometer auf dem Amazonenstrom bis ins offene Meer! Er brachte den ihm von Pizarro anvertrauten Schatz nach Spanien und berichtete über seine Abenteuer auf der berühmten Reise: während der ganzen Fahrt napoabwärts sei er ständig von kriegerischen Weibern angegriffen worden, sie hätten eine mattbronzene Hautfarbe, lange blonde Haare und seien mit Pfeilen, Schilden und Speeren bewaffnet. Ob er die Yáhua-Indianer des Napogebiets mit ihrem langen Haar und ihren Schulterumhängen und kurzen Röckchen aus Gras wirklich für ein Volk streitbarer Weiber hielt, die die Männerherrschaft abgeschüttelt hatten, muß dahingestellt bleiben. Sicher jedenfalls ist, daß solche und ähnliche Geschichten diesem riesigen Strom und dem noch heute großenteils unbekannten angrenzenden Gebiet den Namen „Amazonas“ verschafft haben. Einer dieser Berichte betrifft einen Indianerstamm, der jetzt die Serra de Parentins, an der Grenze der brasilianischen Staaten Pará und Amazonas, bewohnt, bei dem früher die Weiber mit den Männern in den Kampf zogen, um verschossene Pfeile und Speere zu sammeln.
Von Englands Küsten sind im goldenen Zeitalter der Abenteurerfahrten — unter der Regierung der Königin Elisabeth — zum erstenmal Schiffe nach Westindien abgesegelt. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Dorado, dessen Schätze den abenteuerlustigen Kaufleuten Spaniens zuflossen, fuhren einige in die Mündung des Amazonenstroms ein. Der bedeutendste unter den Anführern jener Tage war Sir Walter Raleigh, der Günstling der Königin. Am 5. Februar 1595 trat er die Fahrt nach der Insel[S. 13] Trinidad an, und es gelang ihm, sie den Spaniern zu entreißen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Festland zu, querte den schmalen Arm des Karibischen Meers und fuhr den Orinoko hinauf. Ehe ihn Krankheiten und Todesfälle unter der Mannschaft zum Rückzug zwangen, glückte es ihm, in freundschaftliche Beziehungen mit einigen der wilden Volksstämme zu treten, die das Waldgebiet des Orinoko und des Amazonenstroms bewohnen. Von ihnen wollte er von einer goldenen Stadt weit im Innern gehört haben. In Raleighs Reiseberichten war Phantasie und Wirklichkeit so verwoben, daß sich nur wenig oder nichts mit ihnen anfangen ließ. Aber sie reizten doch die Begierde der Abenteurer, über das spanische Gebiet hinaus in jenes Dorado einzudringen, das von kriegerischen Weibern verteidigt wurde.
Alle die schwächlichen Versuche anzuführen, die gemacht wurden, um den Schleier des Geheimnisses über der verwirrend ungeheuern Weite des unbekannten Amazonengebiets etwas mehr zu lüften, wäre ein ermüdendes, ja fast aussichtsloses Unternehmen. Nur einige Namen berühmter Erforscher mögen genannt werden, die das ihrige beigetragen haben zu unserer auch heute noch dürftigen Kenntnis von jenen düsteren Dschungeln, ausgebreiteten Graswüsten, Bergketten, verschlungenen tropischen Flüssen, von Reptilien wimmelnden Sümpfen, sonderbaren Menschenrassen und wilden Tieren. Viele, deren Namen und Taten völlig verschollen sind, haben zwischen den schweigenden Mauern jener Millionen von Meilen bedeckenden Urwälder so außerordentliche Taten von Forscherkühnheit, Ausdauer und Opfermut geleistet, daß ihre Berichte — lägen sie der zivilisierten Welt im Druck vor — als Heldengedichte des Abenteuers auch noch in einer abgestumpften und ausschließlich dem Wirtschaftlichen zugewandten Zeit wie der unsern gefeiert würden, die jedes Interesse am Heroismus des Forschens so gut wie verloren hat.
[S. 14]
Von den bekannteren Erforschern jenes wilden Gebiets seien angeführt: Orellana, der Entdecker des Oberlaufs des Amazonenstroms; der Jesuitenmissionar Acunas, der die Niederlassungen der Eingeborenen längs dem Hauptstrom 1698 besuchte; Fritz 1717; Bourdonnais 1733 und der große Reisende des 18. Jahrhunderts, Humboldt, 1799. Dann Alamada 1787; Montravel 1843; Selfridge 1882; Rodrigues 1875; Shaw 1883 und Caudeau 1892. Ferner die Vertreter bedeutender gelehrter Gesellschaften wie Martius und von Spix 1819; der Naturforscher Wallace 1848; der Entomologe Bates 1849; der Botaniker Spruce 1860; Agassiz, der sein Augenmerk hauptsächlich auf die Fische richtete, 1866; Chandleß 1880 und Stradelli 1889.
Andere wurden ein Opfer des Fiebers, des Giftes, der verheerenden Beri-Beri-Krankheit, der Malaria, des Bisses giftiger Schlangen oder der Grausamkeit menschenfressender Stämme; so Emile Robuchon, von dem niemals eine Spur gefunden wurde, wenn auch allgemein angenommen wird, daß er von den Carijonas-Indianern umgebracht und aufgefressen wurde; du Murez, der an einer durch einen vergifteten Pfeil verursachten Wunde im Urwald des obern Madeiragebiets starb; Pinzon und Cabral, die am Fieber zugrunde gingen; die Teilnehmer der ersten unglücklichen amerikanischen Madeira-Mamoré-Expedition, die unter dem gemeinsamen Ansturm des Hungers, mordlustiger Indianer und des gelben Fiebers im Zwielicht der Urwälder ein tragisches Ende fanden; die Prospektoren von Iquitos, die von den Huambisastämmen am Santiagofluß getötet wurden, und Kroehle, der an den Wunden starb, die Kaschibosindianer der Pampas Sacramento ihm geschlagen hatten.
Dann sind jene zu nennen, die den ungeheuern Wäldern lebend entrannen, und durch die die Welt all das erfuhr, was sie jetzt über jene geheimnisvollen Gebiete weiß: an erster Stelle[S. 15] Baron Sant’ Anna Nery, der berühmte brasilianische Schriftsteller, der einen großen Teil seines Lebens im unbekannten Amazonengebiet zubrachte; dann Henry Savage-Landor, der 1911 mit Unterstützung der brasilianischen Regierung eine große Strecke des 11. Breitengrades zwischen den Flüssen Araguay und Mamoré durchquerte; J. F. Woodroffe, der zwischen 1905 und 1913, fast acht Jahre lang, die Flüsse des Amazonenstrombeckens durchforschte; Theodore Roosevelt wegen seiner Reise zum Aripuanan und dem „River of Doubt“; Oberst Fawcett, dessen Werk über die Grenze rühmlich bekannt ist; der verstorbene Oberst Saurez, für den die Gebiete von Beni und Acre in Bolivia und Brasilien ein offenes Buch waren; Wickham, der das Tapajóz-Madeira-Plateau durchforschte und Samen des Kautschukbaums mitbrachte, aus denen später die Gummipflanzungen in Asien entstanden; Earle Church, der amerikanische Ingenieur und Erbauer der Mamoré-Eisenbahn; dann für Forschungen im Gebiet des Beni und des Madre de Dios Leutnant Maury und M. d’Orbigney, in Guyana Sir Everard im Thurn, auf dem untern und dem obern Amazonenstrom Algot Lange, im nordöstlichen Peru G. M. Dyott und in jüngster Zeit viele andere, von denen der Verfasser innerhalb und außerhalb der Grenzen der Zivilisation manche traf und deren Namen auf den folgenden Blättern noch erscheinen werden.
Keinesfalls unerwähnt dürfen die tapferen Offiziere und Beamten des brasilianischen Indianeramtes und des Überland-Telegraphendienstes bleiben, wie General Rondon, Bento Lemos und andere, deren Leistungen unter den wilden Indianerstämmen außerhalb Südamerikas viel zu wenig bekannt sind.
Alle, die in den großen tropischen Urwäldern gelebt oder sie durchzogen haben, dürften darin übereinstimmen, daß eine Armee von Forschungsreisenden, zehnmal so groß als die Zahl der[S. 16] Männer, die bisher das Amazonengebiet durchwandert haben, nicht ausgereicht hätte, um alle Geheimnisse dieser düstern, barbarischen, undurchdringlichen und unvorstellbar ausgedehnten äquatorialen Wald-, Fluß- und Sumpfwildnis aufzuhellen. Sobald man die Wasserwege verläßt und in den Dschungel eintritt, ganz gleich unter welchem Breiten- und Längengrad, steht man auf der Schwelle zum Unbekannten, vor dem Fragezeichen des „und weiter?“. Und nach monatelangem Wandern und Sichdurchhacken durch ein jungfräuliches Pflanzengewirr, das den Gesichtskreis auf Mauern und Decke aus Grün einschränkt, dasselbe Bild: immer liegt darüber hinaus das Unbekannte und Unerreichbare.
Dies Wenige aus der Erforschungsgeschichte des Amazonengebiets möge genügen, um darzutun, daß viel seltener und weniger systematisch Anstrengungen gemacht wurden, diese ungeheure Wildnis tropischen Urwalds zu erobern, als etwa in Ost-, West- oder Innerafrika. Auf der Karte Asiens finden sich manche weiße Stellen, aber sie sind verhältnismäßig nicht umfangreich. Die Pole sind erreicht, man hat fast alle Meere aufgenommen und vermessen. Afrika ist nicht länger mehr der dunkle Erdteil; von Kapstadt bis Kairo und vom Kap Guardafui zum Kap Verde ist es durchforscht und unterworfen. Trotzdem ist die oft wiederholte Behauptung, daß es nichts mehr zu erforschen gebe, gänzlich unwahr. Im Herzen Südamerikas, vom 5. Breitengrad nördlich bis zum 25. Breitengrad südlich vom Äquator, erstreckt sich ein unbekanntes oder wenig bekanntes Gebiet von über fünf Millionen Geviertkilometer mit Hunderten von unentdeckten Volksstämmen.
Da der Wettstreit der Nationen hier nicht mitsprach, fehlte es an Initiative, so daß dieser gewaltige Teil der Erdoberfläche unbeachtet und unerforscht blieb. Diese Montaña Grande beginnt an der Baumgrenze des Ostabfalls der Anden und erstreckt sich über etwa 5000 Kilometer des weiten nördlichen oder tropischen[S. 17] Teiles des verlorenen Erdteils bis zu dem schmalen, zivilisierten Küstenstreifen Brasiliens und von den Urwäldern Guyanas bis zum Gran Chaco, nach Norden und Süden eine Entfernung von 3500 Kilometer. Hier und da liegt in diesem weiten, einsamen Gebiet eine winzige Insel der Zivilisation mitten im Meer der Barbarei; hier und da trifft man die Spur eines vereinzelten Kulturpioniers, der fiebergeschüttelt, vom Düster des Dickichts verwirrt, aus den Urwäldern auftaucht — und dennoch ist es immer noch Terra incognita und die Wohnstätte unbekannter Menschenrassen.
Die Forscher, Händler und Mischlinge, die vom Labyrinth der schiffbaren Flüsse aus als Kautschuksammler in die Urwälder eindrangen, haben alle irgend etwas für die Welt draußen Wertvolles entdeckt: Gold, Silber, kostbare Steine, Hölzer, neue medizinische Essenzen und Drogen, einzigartige Sammelgegenstände, Überbleibsel ausgestorbener Rassen und Tiere, offene „Campos“ und zur Viehzucht geeignete Grassteppen, Kautschukarten und Harze, Inlandseen, merkwürdige Eingeborene und einen Boden von wunderbarer Fruchtbarkeit, dessen Vegetationsüppigkeit nicht zu überbieten ist. Es ist daher leicht zu verstehen, daß die Länder, innerhalb deren ungefähr festgelegten Grenzen dieses ungeheure Gebiet sich dem Namen nach befindet, von Zeit zu Zeit den Forschern der zivilisierten Welt in weitgehendstem Maß Unterstützung versprachen und alles mögliche taten, sie zur Erforschung und Erschließung zu veranlassen. Von 1843 bis 1910 setzte die Regierung von Bolivia Geldbeträge bis zur Höhe von 500000 Dollars für den aus, der als erster auf einem Dampfboot vom Atlantischen Ozean aus Bolivia auf gewissen unerforschten Nebenflüssen des Amazonenstroms erreichen würde. 1911 gewährte die brasilianische Regierung Henry Savage-Landor eine beträchtliche Unterstützung, um ihm die Ausführung seiner Expedition in das unbekannte[S. 18] Waldgebiet von Matto Grosso zu ermöglichen. In einer oder der andern Form haben sich derartige Anregungen seitdem des öftern und in weitgehendem Maße wiederholt.
Der erfolgreiche Bau der Madeira-Mamoré-Eisenbahn, der wunderbarsten und gleichzeitig isoliertesten Urwaldbahn der Welt, hat die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit gelenkt, durch Kleinbahnen die ungeheuern Entfernungen und undurchdringlichen Urwälder dieses toten Gebiets zu überwinden. Zur selben Zeit erhob sich die Frage nach der Schiffbarkeit gewisser unerforschter oder nur teilweise erforschter Flüsse, damit sie unter Umständen als Verkehrswege nutzbar gemacht werden könnten. Diese Erwägungen gebaren eine wahre Flut neuer Fragen: nach dem Vorhandensein und der Feindseligkeit indianischer Stämme an den verschiedenen Orten; in welchem Maß das Klima in den verschiedenen Gebieten gesundheitsschädlich sei; nach den Wirkungen von Sümpfen und periodischen Überschwemmungen; nach den Wachstumsbedingungen des Urwalds, dazwischenliegenden Bergketten und Seen; nach der Möglichkeit, Pflanzungen und Auswanderersiedlungen an den Flüssen und Wegen anzulegen. Keine dieser lebenswichtigen Fragen konnte mit der erforderlichen Genauigkeit befriedigend beantwortet werden, da ein großer Teil des Gebiets niemals durchforscht worden war und seine Eigentümlichkeiten wie auch die der dort hausenden Eingeborenen daher unbekannt geblieben waren.
Nachdem ich lange Zeit kreuz und quer durch Süd- und Zentralamerika gereist war, um für die unersättliche angelsächsische Presse zweier Kontinente Lesestoff zu liefern, legte man mir nahe, einen Streifzug in das Amazonengebiet zu unternehmen. Dies war also der Grund meiner ersten Betätigung auf diesem Forschungsfeld. Daraus entwickelte sich ein starkes persönliches Interesse, und während der letzten Jahre habe ich diese noch immer[S. 19] wilden Gebiete, mit den verschiedensten Aufgaben betraut, durchzogen. Darunter fällt auch journalistische Tätigkeit für die Londoner Times, das Sammeln von Material für meine Bücher und die Einrichtung eines Auskunfts- und Nachrichtendienstes für eine bedeutende machtpolitische Gruppe.
Ich möchte hier darauf hinweisen, daß die ungeheuren unerforschten Flächen von Urwald, „Campos“, Flüssen und Sümpfen, die unter dem zusammenfassenden Namen des Amazonengebiets bekannt sind, nur zum, allerdings größten, Teil zu Brasilien gehören; 2½ Millionen Geviertkilometer sind kartographisch noch nicht aufgenommen und so gut wie unbekannt. Darüber hinaus erstreckt sich das Gebiet jedoch weit über die Grenzen Brasiliens in die Staaten Paraguay, Bolivia, Peru, Ecuador, Columbia und Venezuela, abgesehen von den drei Guyanas, die weitere 2½ Millionen Geviertkilometer dem Unbekannten hinzufügen; alles zusammen ist eine Fläche so groß wie ganz Europa. So trägt das Gebiet den Namen des „Verlorenen Erdteils“ nicht mit Unrecht.
Teile dieses Gebiets mußten aus einleuchtenden Gründen außer Betracht bleiben, und so bestanden die Reisevorbereitungen zunächst darin, die Aufgaben auf mögliche Ausmaße zu beschränken. Verschiedene Einbruchslinien zur Erforschung wurden ausgearbeitet; sie werden, nebst gewissen Abweichungen, auf den folgenden Blättern geschildert werden. Technische, geographische und wissenschaftliche Einzelheiten dagegen sollen, als nebensächlich für die Absichten dieses Buches, nicht zur Sprache kommen.
Die Schwierigkeiten, diese abgelegenen Urwaldgebiete zu erreichen, waren oft groß, und vieles von geringerem allgemeinen Interesse kann nur angedeutet oder muß auch bei der Erzählung der Erlebnisse ganz übergangen werden, um Raum zu gewinnen für ausführlichere Schilderungen der wilden, in weltentlegeneren[S. 20] Urwäldern hausenden Stämme, worin in erster Linie die Aufgabe meines Buches besteht.
Der Weltkrieg 1914–1918 unterbrach zeitweise meine Forschungsreisen in das unbekannte Südamerika. Plötzlich und dramatisch, sei es unter dem Einfluß des Gesetzes der Gegensätze oder bloß als Ergebnis eines Kriegszufalls, verschob sich das Feld meiner Tätigkeit, und ich mußte Jagd auf Unterseeboote in subarktischen Gewässern machen. Sehr zum Schaden meiner Gesundheit. Über diese Phase eines ruhelosen Daseins habe ich jedoch an anderer Stelle berichtet, und es genüge zu sagen, daß ich 1920 wieder jene besonders einsame Strecke des tropischen Meeres querte, die zwischen der Insel Madeira und den Felsen von St. Paul liegt.
Man sagt im Amazonengebiet, wer vom Saft der Assaipalme mit Genuß gekostet habe, werde unwiderstehlich zu den großen Urwäldern und Flüssen dieses geheimnisvollen Landes zurückgezogen. Wie dem auch sein mag — der Zauber des Unbekannten ist jedenfalls nicht zu leugnen, und kaum zwei Jahre waren vergangen, als 1922 mit neuen Forderungen erschien. Nun schreibe ich diese Zeilen, die Einführung zu einem Buch über alle meine Reisen im Amazonengebiet, auf dem Schutzverdeck des Dampfers „Hildebrand“, eines höchst behaglichen Schiffes der Boothlinie. Sein Ziel ist der Amazonenstrom, aber diesmal geht es nicht zu den Sümpfen und dämmerigen Urwäldern zwischen entlegenen Flüssen, sondern mit einer neuen und ausnehmend interessanten Aufgabe in das „dunkelste Afrika“ unseres Jahrhunderts.
[S. 21]
Das Reisen abseits der gebahnten Pfade — sei es nun in arktischen oder in tropischen Gebieten — erfordert weit mehr sorgsame Überlegung, Erfahrung und Vorbereitung, als dem Uneingeweihten vielleicht nötig erscheinen möchte. Keine zuverlässigen topographischen Karten sind für wenige Mark in der nächsten geographischen Buchhandlung erhältlich; man kann sich keinen Führer mieten, der schon früher „da war“. Besondere und sorgfältig verpackte Nahrungsmittel müssen für die Gesamtdauer der jenseits aller Zivilisation verlaufenden Reise mitgeführt werden, wobei allen nicht vorauszusehenden Zufällen Rechnung zu tragen ist. Dann kommt das, was am meisten zu fürchten ist: die Möglichkeit einer Erkrankung. In Hinsicht darauf möchte ich ein genaues Studium der amerikanischen Methoden homöopathischer Heilweise und unblutiger Wundbehandlung empfehlen. Sie haben sich in Verbindung mit einigen wenigen chemischen Präparaten und Heilmitteln in Tabloidform als das bei weitem Praktischste und Wirksamste bewährt.
Solche Schwierigkeiten zu verschweigen und ohne weiteres mitten in die Urwälder des Amazonas hineinzuspringen würde eine völlige Irreführung bedeuten. Es wäre, als schilderte man den schließlichen Sieg oder die Niederlage, ohne den voraufgegangenen Feldzug zu erwähnen. Pionierarbeit in unerforschte oder selbst halberforschte Gegenden stellt wirklich einen Feldzug[S. 22] gegen alle Mächte der Natur dar, ob man sie allein oder als Mitglied einer größeren Expedition ausführt. Früher oder später wird jeder Pionier, dem jenseits der Zivilisation die Wochen und Monate in mühevoller Arbeit verstreichen, jede Kraft und List der Natur gegen sich gerichtet sehen. Ob der Feind stark oder schwach ist, hängt von den verschiedensten Faktoren ab, die sorgfältige Überlegung und Entschlußfähigkeit erheischen. Die Entfernung von der Verpflegungsbasis, Verbindungslinien, Klima, feindselige Eingeborene und tausend andere Umstände wollen in Betracht gezogen sein.
Wer eine gewöhnliche Landkarte betrachtet und weiß, daß es nur einer fünfzehntägigen Seereise über den südatlantischen Ozean auf einem Schiff der Booth-Linie bedarf, um von Liverpool nach Pará zu gelangen, der Stadt und dem Hafen an der Einfahrt in das Flußlabyrinth, das unter dem verallgemeinernden Namen „Amazonas“ bekannt ist, möchte glauben, daß nun er und sein Gepäck sich im Ausflugsbereich wilder tropischer Dschungeln und kannibalischer Indianerstämme befinden. Das ist aber keineswegs der Fall. Die eigentliche Reise gegen das Unbekannte zu beginnt erst in Pará und mag irgendwo in 5000 Kilometer Entfernung ihr Ende finden. Allerdings kann man den tropischen Urwald stellenweise in wenigen Stunden von Pará aus leicht erreichen, aber als einzige Wilde wird man wahrscheinlich nur die in dem schönen Indianermuseum abgemalten zu Gesicht bekommen. Einige Stämme wilder Indianer hausen jedoch in den Wäldern am obern Tocantinsfluß, wohin man in etwa sechs Tagen von Pará aus gelangen kann.
Hier dürfte ein allgemeiner Überblick über das Land am Platze sein, das wir nun betreten sollen. Zur Belehrung der Geographiebeflissenen. Es gibt drei Zonen im Amazonengebiet: die bekannte, die wenig bekannte und die unbekannte. Die erste[S. 23] umschließt das Gebiet — abgesehen von den Tropenwäldern —, das das Delta und den untern Amazonenstrom einsäumt, mit zahlreichen Inseln und Pará als Hauptstadt; ferner die überaus zahlreichen Pflanzungen und kleinen Niederlassungen an beiden Ufern des Hauptstroms und an gewissen Punkten der hauptsächlichen Nebenflüsse. Zu der wenig bekannten Zone gehören die mehr oder weniger zugänglichen Urwälder, die von den Seringueros oder Sammlern wildwachsenden Kautschuks aufgesucht werden. Es sind im allgemeinen die Dschungelstreifen an den für Barkassen und Niederwasserdampfer schiffbaren Flüssen. Um die Zone des Unerforschten zu erreichen, hat der Reisende die ersten beiden Gürtelzonen zu durchwandern, oft in einer Breite von vielen hundert Kilometern. Dann erst betritt er die ungeheuern Waldflächen, die die Quellgebiete fast jedes Nebenflusses des Amazonenstroms umgeben oder sich zwischen diesen fadenähnlichen Flußstraßen ausdehnen.
Eine Linie zu ziehen, um die Grenzen der Vorposten der Zivilisation zu bezeichnen, dürfte unmöglich sein. Denn nur selten geht ihr Einfluß über einige Kilometer der unmittelbaren Nachbarschaft der zahlreichen kleinen Niederlassungen hinaus. Das bezieht sich zwar auf den jungfräulichen Urwald mit seinen Fiebern, Tieren, Vögeln, Reptilien, Insekten und Sümpfen, aber nicht immer auf die Stämme der Eingeborenen. Um richtige Wilde anzutreffen, von denen manche noch kaum in der Steinzeit leben, hat man weit abseits in diesem Riesenland herumzusuchen. Die Indianer, die an den Ufern der von Barkassen befahrenen Flüsse wohnen, zeigen meist gewisse Zeichen der Zivilisation. Vielleicht nur ein schmutziges Hemd oder einen eingebeulten Hut. Aber nichtsdestoweniger wird schon in ihrem Äußern sichtbar, daß die Tage uneingeschränkter Wildheit, der Kriegszüge, der Kopfjägerei, unheimlicher Zeremonien und des Hasses gegen den weißen[S. 24] Mann für sie vorüber sind. Die Bitte um Geschenke ertönt da, wo früher das Schwirren des vergifteten Speers zu hören war.
Im entlegenen Hinterland des weiten Amazonengebiets jedoch und im Herzen der halbdunklen Urwälder leben noch viele wilde Stämme in gänzlicher Unkenntnis einer Welt, die sich außerhalb des anscheinend endlosen Meers tropischer Wildnis befindet. Diese abgelegenen Dschungeln von Zentralpunkten wie Pará am Unterlauf, Manáos am Oberlauf des Amazonenstroms und Iquitos am Marañon (peruanischer Amazonenstrom) zu erreichen, erfordert gewöhnlich eine Reise von 300 bis 3000 Kilometer auf Flußdampfern mit geringem Tiefgang, dann im Kanu und schließlich zu Fuß in den dunklen Urwald hinein.
Infolge der Schwierigkeit, eingeborene Kanuleute und Träger zu bekommen, sowie die Vorräte an Produkten der Zivilisation auf dem Wege zu ergänzen, muß das Gepäck jeder Art viel mehr beschnitten werden, als etwa in Innerafrika mit Sicherheit und Zweckmäßigkeit für verträglich gehalten würde, wo eingeborene Arbeitskräfte leicht zu beschaffen sind. Die weitere Erzählung wird dem Leser die Schwierigkeiten und Entbehrungen deutlich machen, von den Gefahren ganz zu schweigen, die diese unvermeidliche Verringerung des Nötigsten weit unter das für tropische Forschungen sonst Unentbehrliche mit sich bringt. Mehr als einmal mußte die Gesundheit drangegeben und selbst das Leben aufs Spiel gesetzt werden.
Nach angenehmer Überfahrt von Liverpool aus erreichte ich Pará, wo ich jede mögliche Unterstützung fand, nicht nur von seiten der englischen Kolonie, sondern auch der Beamten des brasilianischen Staates. Sie waren buchstäblich unermüdlich in ihrem Bestreben, mir die letzten und zuverlässigsten Informationen zu verschaffen. Aber da diese meine erste Reise im Amazonenland mich vom obern Tapajózflußgebiet aus in die unbekannten Wälder[S. 25] von Matto Grosso führen sollte, war nur wenig Sicheres zu erfahren. Ich möchte wissen, ob ein Reisender Forschungen in eine übelberüchtigte Gegend jemals angetreten hat, ohne feierliche Warnungen vor den drohenden Gefahren zu empfangen? Wann hätte er jemals die Verantwortung für etwa eintretende Widerwärtigkeiten auf die eigene Kappe nehmen dürfen? Jedenfalls wurde meine Stimmung nicht gerade verbessert, wenn ich während einer Woche eines schwelgerischen, an Unterhaltungen und neuartigen Anregungen reichen Lebens in Pará eine feierliche Warnung zum tausendstenmal über mich ergehen lassen mußte. In einer schwachen Stunde ließ ich mich aber dennoch überreden, die Ausrüstung und Vorbereitungen auf der Isla des Onças oder Jaguarinsel einer Art von Prüfung zu unterziehen. Nach diesem erfreulichen Fleck Erde sollte ich, mein Gepäck und meine beiden Halbblut-Indianer durch einen Freund gebracht werden, der eine der vielen kleinen Dampfbarkassen sein eigen nannte.
Wie ich später erfuhr, war das nur ein Manöver, um mich zu veranlassen, meine Absichten zu ändern und mich mit Dampferfahrten auf den schiffbaren Flüssen zu begnügen. Die Jaguarinsel ist in malerischer Hinsicht ein Paradies, aber mit Recht verrufen wegen der Größe und Blutdürstigkeit der dort lebenden Insekten. Die beiden Mischlinge, die ich als Führer mitgenommen hatte, willigten nur unter der Bedingung ein, mich auf der langen Reise zu begleiten, daß sie ihrerseits die Erlaubnis bekämen, nach neuen Gummiwäldern zu suchen, die sie dann während der nächsten Saison auszubeuten beabsichtigten. Diese Übereinkunft wurde später die Ursache erheblicher Unannehmlichkeiten für mich, als wir die Zivilisation weit im Rücken hatten.
An den Kauf eines Batalõe oder Eingeborenenkanus mit einem Palmstrohdach über dem Stern zum Schutz vor äquatorialer Sonne und vor Regen sollte erst in Itaituba herangetreten[S. 26] werden, etwa 240 Kilometer den Tapajóz flußaufwärts. Die Reise von Pará bis zu diesem Vorposten der Zivilisation am Rande des Unbekannten konnten wir auf einem der kleinen Niederwasserdampfer des „Amazon-Navigation-Service“ zurücklegen.
Die Vorbereitungen waren nun vollendet, aber noch folgte eine unvermeidliche Verzögerung von zehn Tagen, ehe der Flußdampfer nach Itaituba abgehen sollte. Währenddem hatte ich reichlich Gelegenheit, Pará und seine Bewohner kennenzulernen. Der dreitägige Aufenthalt auf der Jaguarinsel ermöglichte mir, mein wasserdichtes Zelt und die Lagerausrüstung zu erproben. Auch mit den Bewohnern des dortigen Dschungels wurde ich noch besser bekannt — wenigstens soweit sie den fliegenden, summenden, krabbelnden und stechenden Klassen angehörten.
Über Pará möchte ich nur wenig sagen, da ich keinen Führer dieser Tropenstadt des nördlichen Brasilien hier geben will. Ein sehr weitverbreiteter Irrtum muß jedoch aufgeklärt werden. Pará liegt nicht am eigentlichen Amazonenstrom, sondern wurde auf dem niedern, flachen rechten Ufer des Flusses erbaut, von dem es den Namen trägt, etwa 130 Kilometer südlich des Äquator. Der Gesundheitszustand der Stadt hat sich dank sanitärer Maßnahmen in den letzten Jahren wesentlich gehoben, und die einst verheerenden Fieberkrankheiten sind bedeutend zurückgegangen. Malaria ist bei längerem Aufenthalt noch immer häufig, aber es gibt kaum eine Gegend auf der Welt, die sich eines beständigen Sommers erfreut, wo diese Krankheit unbekannt wäre. Das früher so gefürchtete gelbe Fieber wurde gänzlich zum Erlöschen gebracht, und Pará ist jetzt eine recht gesunde und moderne tropische Stadt.
Es ist eine Stadt mit elektrischen Straßenbahnen, einem guten europäischen Hotel und Morgen- und Nachmittagszeitungen. Die Beliebtheit dieser Zeitungen ist in hohem Maße durch die beständige Hitze bedingt, die während der Mittagsstunden am[S. 27] drückendsten ist. In der Mehrzahl der hunderttausend Einwohner bringt sie einen Zustand der Erschlaffung hervor, bis der kühle Seewind ungefähr um 4 Uhr nachmittags einsetzt. Er hält bis zum Einbruch der Nacht an und macht die letzten Tagesstunden zur Arbeit geeignet. Sobald aber die Dunkelheit sich völlig auf die weißen Häuser und schwankenden Palmen herabgesenkt hat, bringt der nächtliche Landwind eine feuchte Kühle von den großen Wäldern über die ausgedörrte Erde und das Grün dieser prächtigen tropischen Stadt. Das Summen und Surren der Käfer und Insekten nimmt mit dem Scheiden des Tageslichts ab. Feuerfliegen schwirren wie winzige schwebende Sterne durch das dunkle Blätterwerk der Praça da Republica und des schönen, etwas weiter entfernten Bosque.
Im hellen Sonnenlicht eines tropischen Morgens wirkt das alte Pará mit seinen engen Gassen und farbigen Häusern unansehnlich und ein wenig verwahrlost, aber die moderneren Stadtteile besitzen mehrere schöne Straßen und Plätze mit palmenreichen Gärten und Denkmälern. An den Ankerplätzen und Kais liegen Schiffe vieler Nationen und seltsam aussehende Fahrzeuge. In der Nähe des Flusses befindet sich der prächtige Frei-Caetano-Brandão-Platz mit seinen Gärten. Breite Wege zwischen tropischen Anpflanzungen umkreisen das Denkmal des würdigen Bischofs, nach dem der Platz benannt ist. Die Praça da Republica bildet das Zentrum des gesellschaftlichen abendlichen Lebens der Stadt. In ihrer Nähe liegen das besuchteste Kaffeehaus und das Theater, schöne Steinbauten von klassischer Architektur. Das Theater ist nicht ständig geöffnet für wechselnde Truppen wie in England oder den Vereinigten Staaten, sondern nur dann, wenn eine reisende Konzertgesellschaft oder eine italienische Operntruppe Pará besuchen. Schauspiele werden nur selten gegeben. Die Brasilianer, Portugiesen, Italiener sowie die Mischlingsbevölkerung[S. 28] sind Liebhaber der Musik. Das merkt man sogar in den entlegenen Niederlassungen und Kautschukplantagen, wo die Töne einer Violine nicht selten nach Sonnenuntergang erklingen. Die beiden Treffplätze der englischen Kolonie sind der Klub und das Straßenrestaurant des Grand Hotel. Während man Eisgetränke oder ein schwelgerisches Diner zu sich nimmt, kann man alle Farbennuancen der einheimischen Gesellschaft im Schatten der riesigen Mangobäume an sich vorüberziehen sehen.
Viele Gebäude Parás sind im modernen Stil erbaut. Der Regierungspalast, die Kathedrale, das Krankenhaus und die Privathäuser mit ihren mächtigen Steinsäulen, alle fast begraben unter Schlingpflanzen und exotischen Blumen, brauchen hier nicht besonders erwähnt zu werden. Die hauptsächlichen Villenvorstädte sind Mosquerio, Chapeo Virado, Nazareth und São Jeronimo. Die beiden letzteren haben Straßenbahnverbindung mit dem Geschäftsviertel der Stadt. Da Pará vom Handel mit Kautschuk abhängig ist, der aus den Wäldern und Pflanzungen am untern Amazonenstrom kommt, hat es in den letzten Jahren, seit dem starken Fallen des Weltmarktspreises für Gummi, schlechte Zeiten durchgemacht. Aber der Anbau von Kakao und andern Rohprodukten wie auch das Aufstapeln und Verschiffen von brasilianischen Nüssen haben Arbeitslosigkeit und Elend wieder etwas ausgeglichen. Pará-Gummi ist auf der ganzen Welt berühmt, obwohl kaum zu sagen ist, warum er so genannt wird, da verhältnismäßig nur wenig im Staate Pará selbst gesammelt wird. Die Haupterzeugungsplätze in Brasilien befinden sich weiter oberhalb am Amazonenstrom und seinen großen Nebenflüssen, in dem weitausgedehnten, nicht sehr entwickelten Staate Amazonas. Gewaltige Massen bringt der Riesenstrom auch aus dem weit entfernten Bolivia und dem nordöstlichen Peru.
Als ich kürzlich in Pará war und an dem ersten Entwurf des[S. 29] vorliegenden Buches arbeitete, erneuerte ich meine Bekanntschaft mit dem Rev. Miles Moß, dem englischen Kaplan für das Amazonengebiet. Einer seiner Kirchensprengel befindet sich in Porto Velho, das etwa 3200 Kilometer entfernt ist! Mr. Moß ist ein leidenschaftlicher Mottenjäger und besitzt eine wunderbare Sammlung. Oft verbringt er die Nacht auf einer Plattform im Dschungel, die zwischen den oberen Ästen eines Baumes errichtet ist, vierzehn Meter über dem Erdboden. Mittels zweier starker Lichtquellen werden die Insekten angelockt. In dunkeln, feuchten Nächten schwirren Tausende von Motten, Nachtwespen, fliegenden Käfern, Gottesanbeterinnen und Fliegen jeder Art um die Plattform, angezogen vom Lichtschein in den Baumkronen. Wenn der strahlende Mondschein der Tropen die dunklen Wälder erhellt, sind die Jagdergebnisse jedoch nicht so glänzend. Zuweilen stellen sich auch unheimliche Besucher ein wie Affen, Baumschlangen und riesige haarige Spinnen, oder der Jäger befindet sich plötzlich in kleinen Wolken lästiger Schnaken. Mr. Moß hat viele Reisen den Amazonenstrom und Madeirafluß hinauf und hinab vollführt, nicht weniger als sechsmal das Innere Perus besucht und kürzlich drei neue Arten der Habichtsmotte (Isognathus) entdeckt, eine in Pará, eine in Manáos und eine in Pernambuco. Zum ersten Male war ich vor Jahren, in Lima, mit diesem gelehrten und leidenschaftlichen Naturforscher zusammengetroffen.
Eine herrliche Tropennacht fand mich im Stern einer kleinen Barkasse sitzen, die mich, die beiden Mischlinge, Fernando und Alberto, Gepäck und Lagerausrüstung zu dem von Mangroven umsäumten Strand der Jaguarinsel über die Bucht hinübertrug. Die breite Fläche des Flusses glitzerte im Schein des Mondes, unser winziges Fahrzeug schnitt wie durch silbernen Schaum, und die laue Wärme der Nacht tauchte das Bild in ihren Zauber. Meine Gedanken wanderten. Während ich zurückgelehnt meine[S. 30] Lieblingsbegleiterin, eine „Comerziale“, liebkoste und die dunklen Wälder auf allen Seiten betrachtete, begann ich über die Zukunft nachzugrübeln: Würde es mir gelingen, tief in jene so abweisend aussehenden Wälder einzudringen, deren Umrisse sich hart von dem gelben Licht abhoben? Ich dachte an die unbekannten Gefahren und Schauspiele, die mich auf fernen Flüssen erwarteten; das Vorhandensein merkwürdiger und vielleicht feindlicher Indianerstämme; die Möglichkeiten, fast allein auf mich angewiesen, die noch Tausende von Meilen entfernten Sumpf- und Urwaldregionen zu erreichen.
Obwohl ich gerade kein Neuling im Reisen abseits der gewöhnlichen Straße war, muß ich gestehen, daß mir in jener Nacht das Herz klopfte, als ich die Lichter der Stadt allmählich immer undeutlicher werden sah. Stärker klopfte es als zu irgendeiner Zeit während der folgenden Monate voll von Mühen und Gefahren. Wie eine Last senkte sich die Größe und Verlassenheit dieser Unendlichkeit von Pflanzenwuchs und Gewässer niederdrückend auf meine Seele. Ich wußte, daß sie sich nach beinahe jeder Richtung mehr als 3000 Kilometer ausbreitete. Die menschlichen Leistungen schienen sich plötzlich in ihrer ganzen Nichtigkeit zu enthüllen, gehalten gegen die eindrucksvolle Ungeheuerlichkeit der Natur. Die Unermeßlichkeit der Wälder und Flüsse des Amazonas erfüllte mich mit Schrecken.
Möglich, daß ein augenblickliches Versagen der menschlichen Fähigkeiten, hervorgerufen durch das plötzliche Bewußtwerden der schrankenlosen Einsamkeit, manche rätselhafte Tragödien verschuldet hat, denen Forschungsreisende und Pioniere in unbewohnten Teilen der Erdoberfläche erlagen. Es ist bekannt, daß Leute auf den winterlichen Schneefeldern der Wildnisse Kanadas und Alaskas wahnsinnig werden, wenn sie zu lange von der Gesellschaft ihrer Mitmenschen getrennt sind. Auf der großen Paciencia-Ebene und[S. 31] in der Wüste von Atacama in Chile gaukelt die menschliche Phantasie Trugbilder und vermeintliche Stimmen in nächster Nähe vor. Unglückliche, die man auffand, nachdem sie über die unendliche trügerische Fläche dieser Saharas des Südens gewandert waren, hatten entweder den Verstand verloren oder waren nackt und tot.
Ich kannte solche Geschichten, und sie fielen mir ein, während wir über die Parábucht fuhren. Es handelt sich dabei nicht um Anfälle körperlicher oder geistiger Schwäche, sondern um ein gemeinsames Erbe der menschlichen Zivilisation, das die Menschen in den Städten sich zusammendrängen läßt, während das offene Land der Freiheit und der Sonne verlassen liegt und nur wenigen zur Heimat wird.
Im Schatten der Mangroven verschwand das Licht des Mondes, als die Barkasse plötzlich in das Dunkel eines schmalen Wasserlaufs einfuhr, der die Mitte der Insel durchzieht. Solche Wasserläufe heißen in der Tupisprache Igarapés; Igara bedeutet Kanu, Pé Pfad. Hohe Bäume strebten auf allen Seiten wie Mauern aus dem phantastisch verschlungenen Pflanzengewirr empor. Die Sterne verloschen und das Licht wurde trübe. In einem Augenblick waren wir von der Außenwelt der lebendigen Menschen in die schweigende, dumpfe Einsamkeit des großen tropischen Waldes versetzt worden. Ein leichter Schauder lief mir über den Rücken, und ich lachte laut, um den Zauber zu brechen. Später, in den Tiefen der unbekannten Dschungeln, erinnerte ich mich dieses Schauders und des alten Aberglaubens, der mit ihm verbunden ist.
[S. 32]
Meine erste Nacht im tropischen Urwald der Jaguarinsel war qualvoll. Sie bildete das Vorspiel zu vielen ähnlichen Erlebnissen von dem, was man nicht unrichtig den „sichtbaren Äquator“ genannt hat. Überall in der tropischen Zone dürfte ohne Instrumente und mathematische Berechnungen die Bestimmung schwierig sein, wann die Nullinie geographischer Breite überschritten wird. Die populären Vorstellungen von Klima und Aussehen von Land und Meer längs des Äquators sind häufig völlig falsch. Eine spiegelglatte Meeresoberfläche, ein blitzblauer Himmel und strahlender Sonnenschein bilden keineswegs immer die atmosphärischen Bedingungen, die auf dem Äquator herrschen.
Die Mündung des Amazonenstroms, 400 Kilometer von Inseln zwischen einer grünlichgelben Flut, trifft auf den Südatlantischen Ozean zwischen dem zehnten Grad südlicher und zehnten Grad nördlicher Breite. Die anstoßenden Meeresteile unterliegen dem Einfluß der nordöstlichen und südöstlichen Passatwinde, die oft einen grauen Himmel und kurze Nachmittagsregen mit sich bringen. Am besten wird man die Atmosphäre mit dumpfig und feuchtheiß bezeichnen. Man kann sich kaum einen Meeresstreifen denken, der den allgemeinen Vorstellungen von den Tropen mehr widerspräche. Erst dann tritt eine Veränderung ein, wenn man sich der Mündung des Amazonenstroms oder des Paráflusses nähert. Schon in einer[S. 33] Entfernung von 1600 Kilometer verliert sich allmählich das Grau des Nordost-Passats, und das wunderbare Blau des glasigen Stilltegürtels tritt an seine Stelle. Dann bringt der Landwind Nachmittagsregen, und die Farbe des Meeres verwandelt sich von Blau in ein gelbliches Grün, denn der Amazonenstrom färbt den Ozean über 160 Kilometer weit.
Eine niedrige, mit Palmen besetzte Küste steigt langsam über den Horizont: Salinas mit seinem Leuchtturm. Die weißen Gebäude von Pará, die grüne Insel Marajó und andere Orte ziehen wie in einem Sommernachtstraum vorüber. Alles ist eingeschlossen von den großen tropischen Wäldern, und dem Reisenden steigt die Ahnung auf, daß hier die Tropen seiner Träume sich befinden, der „sichtbare Äquator“, ohne daß er Instrumente oder geographische Kenntnisse zu Hilfe riefe. Auf etwa 5000 Kilometer folgt der Riesenstrom der Mittellinie der Erdoberfläche.
Genug von dieser Abschweifung! Die Barkasse legte am Ufer der Jaguarinsel an, und die funkelnden Sterne waren nur noch wie durch einen Trichter im Ausschnitt des Baumdickichts zu sehen. Überall schloß sich die schwarze Mauer des Urwalds um uns zusammen. Die bedrückende Stille wurde nur durch das Summen und Schwirren zahlloser Insekten unterbrochen. Das Aufschlagen des Lagers ist immer eine mühselige Angelegenheit, weil es nach den Arbeiten des Tages kommt. In der Arktis wird die Wirkung der Kälte mit dem Sinken der menschlichen Widerstandskraft fühlbarer, und unter den Tropen scheint die Hitze mit der Dunkelheit zuzunehmen, der Blutdurst der Insekten mit ihrer Unsichtbarkeit zu wachsen, die dünnste Kleidung zu ersticken und am Körper zu kleben, weil des Tages Hitze und Bürde voraufgingen. Das erste Lager aufzuschlagen und die neue Ausrüstung in Ordnung zu bringen, dauert natürlich länger als später, denn so sorgfältig und systematisch das Verpacken auch vorgenommen wird, etwas Wesentliches[S. 34] ist stets nicht zu finden. In diesem Fall war es der wasserdichte Bodenbelag meines Zeltes, das ich auf Reisen außerhalb der Zivilisation immer mit mir führe.
Schließlich war alles aus der Barkasse an Land gebracht, die unter mühseligem Schnaufen einen Weg durch den engen Igarapé in die Parábucht hinaus suchte und uns drei zwischen den schwarzen Mauern des Waldes in der geheimnisvollen Stille der tropischen Nacht zurückließ. Ein wenig ermüdet von den Anstrengungen des Lageraufschlagens und Abendessen-Kochens in der heißen und feuchten Luft des dichten Dschungels legte ich mich mit meiner Pfeife in die zwischen Böcken aufgespannte Hängematte, die für die nächsten Monate meine Schlafstätte bilden sollte. Vielleicht interessiert es den Leser zu erfahren, daß die Südamerikaner sich quer in die Hängematte zu legen pflegen mit einem Kissen, um den Kopf zu stützen. Es ist die einzige mir bekannte Methode, um nicht vom Krampf gepackt zu werden, wenn man wochenlang krummgebogen schlafen muß, mit Kopf und Füßen viel höher als der Rest des Körpers. Die Hängematte ist einem Feldbett vorzuziehen, weil sie dem Heer kriechender und krabbelnder Insekten weniger leicht zugänglich ist, wie auch den Ameisen, den Herren der Wälder des Amazonas. Nötig sind auch Moskitostiefel, die ich vorsichtigerweise anzog, nachdem das Lager fertig war und ich meine ein wenig schwere Tourenkleidung gewechselt hatte. Aber dadurch wurden die ersten beiden Stunden der Nacht um nichts friedlicher. Das frische Blut des Neuangekommenen lockte die Moskitos, meinen Nacken und meine Handgelenke in Angriff zu nehmen. Große Motten, die vom Licht im Zelt angezogen wurden, waren nicht minder lästig, bis Fernando den wirklich genialen Einfall hatte, unsere kleine Petroleumlampe an einem Baum aufzuhängen, ein paar Meter vom Lager entfernt. Fast augenblicklich verminderte sich die Zahl und Angriffslustigkeit der verwünschten[S. 35] Insekten, und die kohlpechrabenschwarze Finsternis wirkte so eintönig, daß nichts übrigblieb als einzuschlafen.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, waren trotz eines Patent-Moskitonetzes, das über die ganze Hängematte gezogen werden konnte, Gesicht und Handgelenke so verschwollen und von Bissen und Stichen entzündet, daß ich mich nicht einmal rasieren konnte. Die Erfahrung bei ähnlichen Gelegenheiten hatte mich aber gelehrt, die roten Stellen mit ein wenig reinem Alkohol zu behandeln, um Schmerz und Entzündung zu mildern. Es eilte uns, mit der vorläufigen Prüfung der Lagerausrüstung so schnell als möglich fertig zu werden. Allen unerfahrenen Reisenden sei eine solche Prüfung aufs wärmste empfohlen, ehe sie den Bereich der Zivilisation verlassen, wenn auch die damit verbundene Verzögerung des eigentlichen Expeditionsbeginns noch so auf die Nerven geht. Wir machten uns also daran, alles am vorhergehenden Abend ans Land Gebrachte auszupacken und setzten die Arbeit eines vollen Tages daran. Unter anderm mußten auch die Wasserflaschen gefüllt und die Filter ausprobiert werden, die das Trinkwasser zwar klären, aber keineswegs reinigen, so daß es nötig ist, ein oder zwei besondere Kessel zum Abkochen mit sich zu führen.
Ein tropischer Regenguß um vier Uhr nachmittags enthüllte bald die verwundbaren Stellen unserer Rüstung gegen Feuchtigkeit. Segeltuchsäcke sind gänzlich nutzlos. Sie lassen Wasser durch und werden furchtbar schwer, selbst wenn sie nur Gegenstände enthalten, die durch abwechselndes Eingeweicht- und Von-der-Sonne-wieder-Geröstetwerden nicht verderben. Ein Bodenbelag im Zelt aus wasserdichtem Segeltuch ist eine Wohltat, nicht nur des Schutzes gegen Ameisen und andere erdbewohnende Insekten wegen, sondern auch, weil er die Feuchtigkeit beim Lagern auf sumpfigem Boden abhält. Die photographische Kamera muß für die Arbeit im Freien aus tropensicherem Mahagoni verfertigt[S. 36] und in wasserdichte Blechbehältnisse verpackt sein. Films werden am besten zu je sechs Rollen in Blechkanistern untergebracht. Die Fugen des Deckels verklebt man mit Heftpflaster, um das Eindringen der feuchten Luft zu verhindern. Das Pflaster kann man abreißen, wenn man die Films braucht, und wieder daraufpressen, nachdem man die fertigen Films in den Kanistern verstaut hat.
Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß der Sonnenstich trotz der großen Hitze im Amazonengebiet unbekannt ist. Ob das von der Feuchtigkeit der Atmosphäre kommt oder durch andere Ursachen bedingt wird, ist schwer zu entscheiden. In diesem Zusammenhang mag bemerkt werden, daß die chemische Wirkung des Lichtes für die Tropen außergewöhnlich gering ist, soweit das Photographieren in Betracht kommt. Eine Augenblicksaufnahme wird nur sehr wenige Einzelheiten bringen. Bei Aufnahmen von unbewegten Gegenständen bringt eine Belichtungsdauer von sechs Sekunden, stark abgeblendet, bei weitem die besten Ergebnisse. Längeres Belichten ist jedoch im dichten Dschungel nötig, auch dort, wo das Licht verhältnismäßig gut zu sein scheint.
Die Entdeckung der geringen chemischen Lichtwirkung war für mich eine große Überraschung und kostete mich nicht wenig verdorbene und unterbelichtete Films. Ein Mediziner, der die Sache studierte und viele Reisen auf dem Amazonenstrom machte, leitete aus dieser merkwürdigen Erscheinung die Abwesenheit des Sonnenstichs ab. Einerseits erspart dieser Umstand dem Forscher die Notwendigkeit, einen Tropenhelm, einen Nackenschützer, grüne Schleier oder Augengläser zu tragen, macht aber andererseits die Amateuraufnahmen vom Leben der Eingeborenen in den Urwäldern, von beweglichen Dingen, wie Vögeln und wilden Tieren, sehr schwierig, wenn auch durchaus nicht unmöglich, sobald man erst einige Erfahrung gewonnen hat.
Während des zweiten Tages unseres Aufenthalts auf der[S. 37] Jaguarinsel hatte ich Gelegenheit, einen Einblick zu tun in den wahren Charakter meiner beiden Halbblut-Begleiter. Ein weiterer Aufenthalt von einem Tag vor der Rückkehr nach Pará würde es mir ermöglicht haben, einige Versuche in Hinsicht auf die Zweckmäßigkeit der in meine beiden Kameras eigens eingepaßten Objektive anzustellen, was durch die Entdeckung von der geringen photographischen Lichtwirkung nötig geworden war. Obwohl es mir eilte, weiterzukommen, schien es doch rätlich, sich erst der vollen Brauchbarkeit jenes Instrumentes zu versichern, das fast jeder ernsthafte Reisende als Hauptbestandteil seiner Ausrüstung mit sich führt. Gegen diese Verzögerung erhoben aber die beiden Mischlinge Einspruch mit der Begründung, sie verlören dadurch zu viel kostbare Zeit. Hätte ich mir damals klargemacht, daß gegenüber Angehörigen von Mischrassen eine entschlossene Haltung von wesentlicher Bedeutung ist, wenn der Erfolg einer Forschungsreise nicht in Frage gestellt werden soll, so würden mir vielleicht nicht geringe persönliche Widerwärtigkeiten in der Zukunft erspart worden sein. Andererseits hätten mir aller Wahrscheinlichkeit nach einige weitere Tage auf der kleinen Insel genügt, Einblicke nicht nur in den wahren Charakter, sondern auch in die persönlichen Gewohnheiten meiner Begleiter zu gewinnen. In diesem Fall würde ich sie wohl unter keinen Umständen als Begleiter an der langen und gefährlichen Reise nach dem Tapajóz-Plateau angenommen haben.
Es ist unnütz, den Leser mit weiteren Einzelheiten der Rückkehr nach Pará und der letzten Vorbereitungen für die Abreise meiner kleinen Expedition zu langweilen. Wir verließen den Kai, am Ende der Central Avenue, in dem kleinen Flußdampfer mit seinen wenigen engen vierschläfrigen Deckkabinen und fuhren um die zahlreichen waldigen Inseln herum in jenen Teil des Paráflusses hinaus, der den Namen der Bucht von Marajó trägt.
Dieser Mündungsteil des großen Amazonenstroms wurde zuerst[S. 38] von den Seefahrern entdeckt und „Süßwassermeer“ getauft. Die Wasserbehälter werden meistens hier aufgefüllt, da das Wasser frisch und, wenn filtriert, zum Genuß geeignet ist. Einige Stunden, nachdem die Nacht sich auf die weite, schweigende Wasserfläche und die fernen Wälder herabgesenkt hatte, kamen wir an der Mündung des Tocantinsflusses vorüber und fuhren in den eigentlichen Amazonenstrom ein.
Was sich während der nächsten vierzehn Stunden ereignete, ist vom Schleier des Geheimnisses bedeckt. War es die verhältnismäßige Behaglichkeit der kleinen Kabine, deren ich mich allein, dank der Güte der Beamten und anderer Freunde in Pará, erfreute, oder war es die kühle Brise vom offenen, hier sehr breiten Strom her nach den qualvollen Nächten auf der Jaguarinsel — das vermag ich nicht genau festzustellen. Aber jedenfalls schlief ich so gut, daß ich das kleine, aus Fisch und Früchten bestehende Frühstück auf dem Hinterdeck versäumte und mich mit schwarzem Kaffee und Biskuits bis zum Lunch begnügen mußte.
Wir befanden uns nun in den berühmten Engen des Amazonenstroms. Die Tausende von bewaldeten Inseln legen sich so zusammen, daß der reißende Strom häufig auf weniger als 180 Meter eingeschnürt wird — ein Gegensatz zu den 50 Kilometer gegenüber Pará! Die gelbe Flut schießt zwischen den grünen Inseln in mannigfachen Richtungen dahin; ein Schauspiel großartiger tropischer Schönheit. Die zierliche Assaipalme mischt ihre federartigen Wedel in das Blättergrün zahlloser anderer Baumarten, Lianen hängen in Schleifen und Girlanden von den luftigen Ästen der Urwaldriesen, gewaltige Wurzeln ragen wie Strebepfeiler aus dem Gewirr des Unterholzes, und auf den Lichtungen und den schmalen Igarapés wandelt sich der strahlende Sonnenschein der Tropen zum Dämmern grünlichen Zwielichts.
Hier und da erheben sich die mit Palmstroh bedeckten Behausungen[S. 39] der Caboclos, der halbblütigen Kautschuksammler, auf dünnen Pfählen über die überfluteten Ufer. Die primitiven Hütten stehen gleichsam im Schatten der gewaltigen äquatorialen Urwälder. Die Armut dieser Flußleute ist oft schrecklich. Die nackten Kinder, die in den roh ausgehöhlten Kanus spielen, dem einzigen Verkehrsmittel, tragen alle Zeichen der Unterernährung an sich. Sich auf dem Lande zu ergehen, ist ihnen des dichten Dschungels wegen verwehrt. Das Hauptnahrungsmittel besteht aus Mandiokamehl, das Magenerweiterungen und Blutarmut verursacht. Neunzig von hundert dieser Kinder sollen an Hakenwürmern, Malaria und Bleichsucht leiden. Flußfische und Waldfrüchte bilden die sonstige Nahrung dieser merkwürdigen Mischrasse aus Indianern und Portugiesen, die an den Ufern der fast überall zugänglichen Flüsse des Amazonenbeckens wohnt. An den Uferrändern der Engen des Amazonenstroms finden sich außerdem viele Indianer, halbzivilisierte Nachkommen der einst mächtigen Tupination. Von den Caboclos unterscheiden sie sich durch ihren kleinen Wuchs, die braune Hautfarbe und eine vierschrötige, muskulöse Gestalt. Sie sprechen die „Lingoa Geral“, die als Verständigungsmittel zwischen den Portugiesen, den Caboclos und den Indianern dient, einen verdorbenen Tupidialekt, leben in Familien und haben seltsam verwickelte Verwandtschaftsverhältnisse. Geschwisterkinder sind unbekannt, und alle Enkel eines Großvaters werden als Brüder und Schwestern betrachtet!
Die Weiber gehen bei den Caboclos und Indianern halbnackt oder in leuchtend roten Röcken; die Männer tragen selten mehr als schmutzige Unterhosen und einen Strohhut. Ihre mit Palmstroh gedeckten, auf Pfählen über der gelben Flut erbauten Hütten, mit den Kronen der Riesenbäume drüber statt des Himmels, machen einen trübseligen Eindruck. Sie bestehen aus einem Raum, der beinahe keine Einrichtungsgegenstände, nicht einmal Kochgerätschaften[S. 40] enthält. Außer einer Schilfhängematte und einigen irdenen Töpfen ist dort nichts zu sehen. Fast den ganzen Tag bringen sie auf der von Pfählen getragenen Plattform zu, die das einzige Wohngemach umgibt.
Zuweilen kommen sie zu einem Tanz zusammen, der meist abends stattfindet beim flackernden Schein eines angezündeten Holzhaufens. Die älteren Leute singen eine langsame, traurige Melodie, mit vielen Wiederholungen, zu der sie mit Gefäßen voll trockener Erbsen, die geschüttelt werden, eine Art Begleitung spielen. Dazu schleifen die jungen Caboclos mit den Füßen und verdrehen den Körper, was weder graziös noch künstlerisch aussieht. Sieht man solche Tänze im Dickicht der großen Wälder oder am mondbeschienenen Strand mit dem dunkeln, schweigenden Fluß vorn und der schwarzen Wand des Dschungels als Hintergrund, von dem sich die rote Glut des Holzfeuers abhebt, so machen die langsamen, schattenhaften Bewegungen der Gestalten und das rhythmische Gerassel der Erbsenbehälter einen unheimlichen und im höchsten Grad barbarischen Eindruck.
Während der letzten Tage des Juni begehen die Caboclos alljährlich das Fest von St. Juan (Johannes des Täufers). Dabei gibt es Tänze und seltsame Zeremonien, die ihren Höhepunkt in einer Art von Karneval am 24. Juni erreichen. Fast jede der nah und fern über die Ufer der 30000 Kilometer schiffbarer Flüsse verstreuten Familien zündet ein Feuer im Freien an und nimmt um Mitternacht ein wohlriechendes Bad. In den vielen kleinen Niederlassungen längs der verschlungenen Flüsse kommt man maskiert zusammen. Die Leute verkleiden sich als Stiere mit Kopfschmuck und Hörnern oder als wilde Indianer mit Tukanfedern, Bogen und Pfeilen. Wilde Musik und Tänze füllen die Stunden aus zwischen Sonnenuntergang und Mitternacht, dann kommt das wohlriechende Bad.
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Fast vor jeder Caboclohütte stehen auf der Plattform über dem Fluß oder Sumpf irdene Töpfe, in denen gewisse Pflanzen wachsen. Sie dienen dazu, um das Bad an jenem großen Festtag der Mischlingsbevölkerung zu parfümieren, die das dünne Band einer Halbzivilisation an den Ufern der vielen schiffbaren und befahrenen Flüsse des Amazonengebiets bildet. Es sind harmlose und freundliche Leute, wenn sich auch das impulsive Temperament der Indianer zuweilen in einer Messerstecherei Luft macht.
Obwohl die Hütten dieses Flußvolks, des Steigens der Flüsse wegen, fast stets auf Pfählen errichtet sind, kommt es nicht selten vor, daß die Leute bei außergewöhnlichem Hochwasser ganze Tage auf den Dächern zubringen müssen. Die an den Stromengen Hausenden sind hauptsächlich Cearaetze oder Eingeborene aus dem Staat Ceara, die zwangsweise aus diesem wüstenartigen Gebiet während einer Trockenperiode deportiert und in den feuchten äquatorialen Wäldern des untern Amazonenstroms angesiedelt wurden. Ihre Haut- und Haarfarbe ist verhältnismäßig hell, während die, die am Oberlauf des Amazonenstroms und an den entlegeneren Flüssen hausen, dunkler sind und mehr den zivilisierten Indianern gleichen. Aber es ist unmöglich, allgemein zutreffende Angaben zu machen, weil auch Neger, d. h. freigelassene Sklaven, und ihre Abkömmlinge sehr zahlreich sind und die Mischung der verschiedenen Rassen allerlei Merkwürdigkeiten in Farbe und Typus hervorgebracht hat.
Nachdem die 200 Kilometer langen Stromengen durchfahren sind, gewahrt man auf den mit dichten Wäldern bestandenen Uferbänken nur wenig Zeichen des Lebens. Im Düster der Riesenbäume wird trockenes Land nur selten sichtbar, und das erklärt bis zu einem gewissen Grad das Fehlen der Fauna. Zuweilen wird die Stille der tropischen Nacht von dem fernen Geheul eines Jaguars unterbrochen oder dem Lärmen einer aus dem Schlaf[S. 42] geschreckten, schreienden Affenkolonie. Ehe in den frühen Morgenstunden der dünne, weiße Nebel von Fluß und Dschungel verschwunden ist, kann man häufig von der Mitte des Flusses aus das Kreischen der Papageien und das Geschnatter der Affen hören.
Dicht am Ufer sieht man oft Papageien, Araras, weiße Reiher, Kormorane und Enten zwischen ihren Nahrungs- und Brutplätzen hin- und herfliegen. Zuweilen scheucht das Geräusch des Dampfers einen Königsfischer oder Reiher auf oder man bekommt einige Schopfhühner zu Gesicht, lebende Verbindungsglieder zwischen Pterodaktilus und Vogel. Riesenfische, mit den Kinnladen einer Bulldogge und vorstehenden Augen, tauchen aus der Tiefe der gelben Flut, um den Abfall der Schiffsküche aufzuschnappen, und hoch über den gewaltigen Wäldern ziehen in schwerfälligem Flug die schwarzen, geierartigen Urubú (Rabengeier) dahin oder kreist langsam der amazonische Adler. Flußdelphine erscheinen gelegentlich an der Oberfläche des Flusses, und zur Zeit des Niederwassers sind in der Mittagshitze sich sonnende Alligatoren kein seltener Anblick.
In den Quellgebieten der abgelegenen Amazonenflüsse sind die Alligatoren so zahlreich, daß sie eine beständige Gefahr bilden. Dort kommt auch der Piranha genannte Kannibalenfisch vor, von dem ich später noch mehr berichten werde.
Auf der Fahrt nach dem Tapajóz-Plateau war ich noch nicht lange genug im Amazonengebiet, um die bittere Wahrheit der Behauptung zu verstehen: „Hinter jedem Blatt ein Insekt und in jeder Blume wenigstens eine Ameise.“ Zwar hatte ich den fast ununterbrochenen Lockruf der Käfer vernommen, das Zirpen einer Art Grille, das unaufhörliche Summen und Surren der zahllosen Insekten, aber noch keine Wespennester so groß wie Kokosnüsse gesehen, Armeen von Sauba-Ameisen, Büsche bedeckt mit „Micuims“, lästigen Zecken, die sich zu Hunderten unter die Haut eingraben, wenn man durch das Dickicht des Urwalds wandert.[S. 43] Auch war ich noch wenig vertraut mit der nächtlichen Tätigkeit der Sandflöhe, Sandfliegen und der ungeheuern Spinnen, von denen manche ein rotes Kreuz als Zeichen der Gefährlichkeit auf ihrem widerlichen Rücken tragen. Einige wenige Schlangen hatte ich in verschiedenen Gegenden Südamerikas zu Gesicht bekommen, aber die waren nichts im Vergleich zu den Stücken, die ich später in den Sümpfen des Madeiragebiets antraf. Als daher der kleine Flußdampfer sich entschloß, einige Stunden in Santarem anzuhalten, der hübschen, kleinen Niederlassung an der Mündung des Tapajózflusses, machte ich mich auf, die Stadt und die sie umgebenden Dschungeln zu besuchen, um meine vernachlässigte Erziehung zu vervollständigen.
Die Vereinigung des dunkelgrünen Tapajózflusses mit der gelben Flut des Amazonenstroms, gegenüber Santarem, bietet einen merkwürdigen Anblick. Die Gewässer vermischen sich nicht, sondern bilden Farbenflecken und Miniaturwirbel weithin über die ungeheure Fläche des wie gescheckten Stromes. Das Land an beiden Mündungsufern des mächtigen Nebenflusses besteht aus imponierenden waldbedeckten Klippen und Hügeln. Zwischen dem Vegetationsgeflecht wird stellenweise der rote Sandstein sichtbar. In den tiefer gelegenen Dschungeln gibt es Palmen der verschiedensten Art, weiter oben aber, auf dem trockenen Grund, erheben sich die Riesen des Urwalds, und das Unterholz nimmt ab.
Hätte ich sonst keine Erfahrungen auf meiner Wanderung um Santarem herum gemacht, so würden mir mehrere qualvolle Stunden erspart geblieben sein. Wenn man aber einmal von den „Micuims“ gebissen wurde, ist das beste Heilmittel „Cacash“, ein billiger, einheimischer, starker Sprit, in dem man sich glücklicherweise auch ein Bad leisten könnte. Er lindert die Stiche der Moskitos und die durch Hunderte von kleinen Parasitenarten verursachten Entzündungen. Neulinge im Reisen in den Wäldern des[S. 44] Amazonas pflegen über die Quälgeister noch kräftiger zu fluchen, als über alle sonstigen Beschwerlichkeiten. Zum Glück ist der kühle Fluß frei davon.
Als die Sonne wie gewöhnlich in einem Strahlenglanz von gelben, roten und purpurfarbenen Wolken unterging und den stillen Strom, die Palmen, Klippen und weißen Landhäuser in ein Meer von Gold und Karmesin tauchte, nahm das Violett des Tapajózflusses die Farbe rötlichen Schaumes an. Aber während die erste Asche der eben angezündeten Zigarre zu Boden fiel, war das Feuer im Westen schon erloschen, und die Lichter Santarems wurden von den dunklen Mauern des tropischen Waldes aufgeschluckt.
Hinter Santarem bildet der Tapajóz eine etwa 15 Kilometer breite, trichterförmige Bucht, die nach Süden, in das Herz des Kontinents, hineinführt. Während der nächsten 80 Kilometer verengert er sich aber wieder allmählich bis auf weniger als drei Kilometer bei der kleinen Niederlassung Aveiros. Bald nach Sonnenaufgang hielt der Dampfer an einer „Barraca“ oder einem Magazin, etwa 100 Kilometer stromauf, um seine Vorräte an Heizmaterial zu ergänzen. Die kleinen Holzklötze waren auf einer wackeligen Plattform aufgeschichtet, die sich dicht am Ufer über das dunkelgrüne Wasser erhob. Abgesehen von den Kanus wird die ganze Flußschiffahrt im Amazonengebiet mit Holzfeuerung aus den umliegenden Wäldern betrieben. Die Bäume werden von den Caboclos, den Sammlern von Kautschuk und brasilianischen Nüssen, gefällt, zerkleinert und den Dampfern an den Barracas verkauft. Auch die zur Ausfuhr bestimmten Produkte des Waldes werden hier aufgestapelt. Diese niedern Schuppen auf ihren Holzpfählen bilden ein charakteristisches Bild an allen stark befahrenen Flüssen des Amazonengebiets. Sie scheiden die bekannten Routen von den unbekannten. Wo es keine Barracas gibt, können nur Kanus zu Erforschungszwecken mit Erfolg benutzt werden.
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Vor wenigen Jahren erschienen einige unerfahrene Reisende an der Schwelle eines entlegenen Gebiets des brasilianischen Guyana in einer sorgfältig ausgerüsteten Motorbarkasse, die sie auf dem Deck eines Frachtdampfers mitgeschleppt hatten. Unnötig zu sagen, daß sie über dreihundert Kilometer von der Basis ihrer Benzinversorgung nicht hinausgelangten, und das in einem Gebiet, wo eine Kanureise von 1500 Kilometer für nichts Besonderes gehalten wird!
Vom Verdeck des Dampfers aus scheint das Wasser des Tapajózflusses von flaschengrüner Farbe, aber während Brennholz an der Barraca eingenommen wurde, benützte ich die Gelegenheit, dieses merkwürdige Flußwasser in einem Glas und unter dem Mikroskop zu untersuchen. Es sah nun kristallklar aus mit nur wenigen pflanzlichen Bestandteilen an der Oberfläche; ganz im Gegensatz zu dem schlammartigen, gelbbraunen Wasser des Amazonenstroms. In seinem Unterlauf zieht der Tapajóz breit und stattlich dahin zwischen Uferbänken, die bis zu beträchtlicher Höhe ansteigen und rote Felsen zwischen den Riesen des Urwalds hervortreten lassen. Die Schiffahrt geht aber doch nur von der Mündung bei Santarem ungefähr 240 Kilometer weit bis zu einem Häuflein aus Luftziegeln errichteter Hütten, das sich stolz Itaituba nennt. Über diesen Punkt hinaus ist das Flußbett von einer Reihe gefährlicher Stromschnellen unterbrochen, und das angrenzende Gelände ist nur halb erforscht, obwohl Franco, Wickham und Rondon zu verschiedenen Zeiten des letzten Jahrhunderts viele hundert Kilometer weiter vorgestoßen sind.
Das Fehlen jeglichen andern Beförderungsmittels nötigte mich in Itaituba zum Ankauf eines geräumigen Kanus oder Batalõe. Als der kleine Dampfer im „Hafen“ angelegt hatte, beeilte ich mich, die bräunlichen Beamten aufzusuchen, an die ich Empfehlungsbriefe in Pará erhalten hatte. Eine nähere Bekanntschaft mit den[S. 46] paar verfallenen Vorratshäusern und Ziegelhütten des Ortes verstärkte noch meinen Entschluß, ein Nachtquartier dort wenn möglich zu vermeiden.
Aber wehe den Plänen der Menschen in dieser geheimnisvollen Region der Urwälder und Gewitter! Kaum hatte sich die Sonne hinter die Baumwipfel gesenkt, als der ganze Himmel im Feuer zu stehen schien. Drei Stunden lang hielt das Gewitter an, ohne daß das leiseste Geräusch des Donners oder vom Aufklatschen von Regentropfen zu hören gewesen wäre. Es blitzte nur unaufhörlich, daß die Augen fast geblendet wurden. Lautlose Flächen- und Zackenblitze — auch Fluß und Wald schienen den Atem anzuhalten.
Glücklicherweise hatten wir Vorräte und Ausrüstung noch nicht ausgeladen und brachten die Nacht an Bord des Dampfers zu. Itaituba hat dem in privaten oder Amtsgeschäften Hierherkommenden keine Bequemlichkeit zu bieten, die über ein Dach und eine Hängematte hinausginge. Seine Einwohnerzahl beträgt etwa 500 Köpfe, und bemerkenswert ist es nur als Aufenthalt von Mr. Wickham, der hier die Samen sammelte, aus denen später die malaiischen Gummipflanzungen hervorgingen. Gegen Mitternacht hörte das Blitzen auf, und der Regen setzte ein. Eine zischende und tobende Sintflut drang durch die überhitzten und gesprungenen Deckplanken, weckte während der zwanzig Minuten ihrer Dauer uns alle an Bord und ersäufte zwei Hühner, die an einem Stützbalken der Schiffstreppe angebunden waren.
Der nächste Morgen war von strahlender Schönheit, aber drückend heiß. Ganz gegen meine Erwartung gelang es mir, sofort ein Batalõe für die nicht übertriebene Summe von 15 Pfund zu erwerben. Der bisherige Besitzer dieses sonderbaren, unangestrichenen Fahrzeugs erzählte mir, daß Regengüsse wie der der gestrigen Nacht in dieser Jahreszeit selten wären, außer zwischen 3 und 4 Uhr jeden Nachmittag! Im Gebiete des untern Amazonenstroms[S. 47] verabredet man sich je „vor“ oder „nach“ dem täglichen Guß. An manchen Plätzen setzt er um Mittag, an andern etwa eine Stunde später ein. Selten hält er länger als einige Minuten an, außer während der stärksten Regenzeit im Januar, Februar und März.
Monate später erfuhr ich am eigenen Leib, was Reisen auf unbekannten Flüssen und durch sumpfige Urwälder während der Regenzeit in Wirklichkeit heißt. Ich hoffe keine Wiederholung zu erleben. Für mein erstes längeres Eindringen in die Wildnis des Amazonas hätte ich mir aber keine günstigere Zeit wünschen können. Es war die zweite Maiwoche und Trockenzeit, mit dem wesentlichen Unterschied, daß es zwar fast jeden Tag, aber doch nicht den ganzen Tag hindurch regnete.
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Von Itaituba flußaufwärts ist der Tapajóz fast unerforscht. Die Dampfschiffahrt findet hier ihr Ende, und die kartographisch nicht aufgenommenen Gewässer bereiten nun ernstlich auf das weite, unbekannte Innere vor. Nachdem wir unser Gepäck, die Lebensmittelvorräte und die Lagerausrüstung vom Flußdampfer in das Batalõe umgeladen hatten, verließen wir am 14. Mai die kleine, aber saubere Niederlassung, die von der Mündung des Tapajóz 240 Kilometer flußaufwärts abliegt. Noch kamen wir an einem Ort namens Itapeu vorüber, dann hatten wir, wenige Stunden nach der Abfahrt von Itaituba, alle Anzeichen der Zivilisation hinter uns gelassen.
An beiden Ufern zogen sich stellenweise dichte Wälder aus mächtigen Bäumen hin, im Hintergrund aber, besonders gegen Südwest zu, erhoben sich steile Felsen aus rotem Sandstein und dschungelbewachsene Hügel. Sie bildeten den Abfall des wenig erforschten Tapajózplateaus, das sich über eine weite Fläche hin ausdehnt: westlich bis zum Tal des Madeiraflusses, während es gegen Süden in das Plateau von Grosso übergeht, im Innern des Kontinents. Es wird niemals überschwemmt. Spätere Forschungen zeigten, daß das niedere Plateau, dessen Durchschnittserhebung über den Meeresspiegel etwa 250 Meter beträgt, aus einem unermeßlichen Wald riesenhafter Bäume besteht, überall durchflochten von der Cipó oder Mordrebe. Das Unterholz steht aber[S. 49] gegen alle Erwartung viel weniger dicht als in den niedern Flußtälern.
Kilometer nach Kilometer glitt das Kanu friedlich auf dem stillen, breiten Fluß dahin oder wurde durch Stromschnellen gezogen und mit Stangen fortgestoßen. Solche Stromschnellen befinden sich in der Nähe von Bella Vista und São Luis, von wo an eine Dampferverbindung vollkommen unmöglich wäre, da unmittelbar hinter dieser kleinen, unbedeutenden Niederlassung der Fluß durch Felsen und Stromschnellen gänzlich gesperrt ist. Das stundenlange Herumsitzen in verkrampfter Stellung, wie sie in einem schwerbeladenen Kanu allein möglich ist, wäre unerträglich geworden, hätten nicht zuweilen zackige Felsen, die schroff aus dem Wasser aufstiegen, Abwechslung in die eintönige Fahrt gebracht. Um die Felsen herum bildeten sich Wirbel von beträchtlicher Stärke. Für etwas aber war ich von ganzem Herzen dankbar, nämlich die Abwesenheit der Insektenschwärme, die auf manchen Flüssen des Amazonengebiets die Tage zu einer einzigen Qual und die Nächte kaum weniger peinigend machen. Dieser Vorteil wurde freilich durch die unbeschreiblich ekelhaften Gewohnheiten meiner beiden Begleiter aufgewogen. Es war zum erstenmal, daß ich allein durch die Wildnis mit Angehörigen einer Mischrasse reiste, deren Vokabular, abgesehen von einem halb brasilianischen, halb indianischen Lokalpatois, aus nicht mehr als 50 wunderlichen englischen Worten bestand, die sie im Dienst der Dampfschiffahrtsgesellschaft auf dem Amazonenstrom aufgeschnappt hatten.
Wir umgingen die Apuéfälle, die eigentlich aus einer Reihe von Stromschnellen bestehen, wo der Fluß sich durch Felsenengen in einer anscheinend wilden und verlassenen Gegend hindurchzwängen muß. Sieben Tage später, am 23. Mai, bekamen wir einige Indianer auf einer kleinen sandigen Strandstelle des Westufers[S. 50] zu Gesicht. Da wir gern einen Führer angeworben hätten, der die Eigentümlichkeiten und Gefahren der folgenden Flußstrecke kannte, wandten wir den Bug des Kanus gegen das Ufer. Fast augenblicklich verschwanden die bronzefarbigen Gestalten im Buschdickicht und erschienen auch nicht wieder, obwohl wir einen glänzenden Fußring und einige Perlenschnüre als Geschenke auf den Strand legten und das Kanu in den Fluß zurückstießen. Zwei Stunden warteten wir, dann legten wir von neuem an, da es uns unklug schien, die Geschenke bei unserm beschränkten Vorrat zu opfern, ohne dafür einen Führer zu bekommen. Kaum hatten wir sie wieder im Kanu geborgen, als ein Pfeil über unsere Köpfe schwirrte, worauf wir keine Zeit verloren, in die Mitte des Flusses zurückzurudern.
Ungefährer Berechnung nach hatten wir nun etwa 220 Kilometer von den ersten Stromschnellen an zurückgelegt, die die Dampfschiffahrt auf dem Oberlauf dieses prächtigen Flusses wirklich unmöglich machen. Der durchschnittliche Fortschritt betrug also stündlich nur ungefähr 3 Kilometer. Die Gründe für die Langsamkeit unseres Weiterkommens lagen einmal darin, daß wir viel Zeit hatten damit zubringen müssen, das schwer beladene Kanu durch die schäumende Flut zu ziehen, oft bis zur Brust im Wasser stehend, oder es um Hindernisse herum über Land zu tragen; zum zweiten in den voraufgegangenen Regengüssen flußaufwärts, so daß wir eine ungewöhnlich starke Strömung beständig gegen uns hatten.
Die Uferbänke waren an mehreren Stellen unterwaschen. Während der Hochwasserzeit, gegen Ende Juni, entstehen hier Überschwemmungsseen von 50 Kilometer Länge und 10 Kilometer Breite, weil das Hochwasser des Amazonenstroms die Gewässer der Nebenflüsse zurückstaut. Bei unserm spätern Rückzug den Tapajóz hinab war die Fahrt auf diesen Riesenseen wegen der herumschwimmenden[S. 51] Baumstämme und anderer Hindernisse weder sicher noch leicht.
Der übliche Regenguß, der seit Antritt der Fahrt uns alltäglich heimgesucht hatte, blieb am 25. Mai aus. Gegen 3 Uhr nachmittags erschien weit oben auf der breiten schimmernden Wasserfläche ein winziger schwarzer Punkt. Zuerst dachten wir, es wäre ein ungewöhnlich großer Baumstamm, bald aber konnten wir Ruder in der Sonne glänzen sehen, und unsere Spannung wurde immer stärker. Schnell kam das Batalõe auf der reißenden Strömung näher, und in weniger als fünfzehn Minuten war es bei uns. Nachdem wir die Boote in die Mitte des Flusses gelenkt hatten, legten wir uns Bord an Bord. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, als ich mich einem andern weißen Reisenden in dieser weltentlegenen Gegend gegenübersah.
Dr. Cabral, ein eifriger Sammler und Forscher im Amazonengebiet, hatte einige Wochen auf dem Oberlauf des Tapajóz zugebracht und einen Punkt etwa 250 Kilometer weiter flußaufwärts erreicht, jenseits der großen Stromschnellen, die den Fluß in zwei Abschnitte teilen. Sein Kanu war schwer beladen mit dem, was er in dieser wundervollen Gegend gesammelt hatte. Nun kehrte er mit den Früchten seines Fleißes zur Zivilisation zurück. Dieser unerschrockene Reisende, der damals schon länger als 10 Jahre im Amazonengebiet zugebracht hatte, starb, wie ich erst kürzlich erfuhr, am Fieber in einer winzigen Niederlassung an der Grenze von Peru. Teile seiner Sammlungen befinden sich in Pará, Rio und São Paulo. Ich verdanke ihm nicht wenig Auskünfte über die Sitten der Mundurucusindianer.
Es war mein erstes Zusammentreffen mit diesem außerordentlichen Mann. Später hatte ich das Glück, in Manáos mehrere Tage in seiner fesselnden Gesellschaft während eines unfreiwilligen Ruheaufenthalts zu verleben. Ausgestattet mit einer wunderbar[S. 52] widerstandsfähigen Konstitution in einem hageren aber zähen Körper und mit weit über das Wissen eines gewöhnlichen Arztes hinausreichenden wissenschaftlichen Kenntnissen hatte er, entweder allein oder mit Eingeborenen, Tausende von Meilen der ungeheuren Wildnis auf Dschungelpfaden längs der schweigenden Flüsse durchwandert, stets gänzlich seiner Aufgabe hingegeben, neue Stücke der Fauna und Flora des Amazonengebiets seiner Riesensammlung einzuverleiben. Da er als Arzt die Schmerzen und Leiden der Indianer lindern konnte, stand er in freundschaftlichen Beziehungen mit vielen wilden Stämmen der entlegenen Fluß- und Waldgebiete; trotzdem wäre auch er beinahe öfter das Opfer ihres angeborenen Mißtrauens gegen den Weißen geworden. Einmal wurde er von einem Stamm von Konibosindianern an den Ufern des Ucayaliflusses vergiftet, ein anderes Mal in den Maloccas eines Nambiquarastammes am Juruenafluß gefangengehalten und mit martervollem Tod bedroht, wenn der Häuptling nicht genesen würde, den er heilen sollte.
Dr. Cabral ließ sich nicht überreden, die Nacht über auf dem Ufer zu lagern, in dessen Nähe wir zusammengetroffen waren. Wäre es später am Tag gewesen, nach vollbrachter Arbeit, so würde ich vielleicht mehr Erfolg gehabt haben. Er gab mir gewisse Auskünfte über das Quellgebiet des Tapajóz, die ich in der beigedruckten Kartenskizze verwendet habe. Unsre eigenen Reiseabsichten gingen lange nicht so weit. Nachdem wir die beiden Kanus ans Ufer gebracht und an einem überhängenden Baum angebunden hatten, unterhielten wir uns eine Stunde in gebrochenem Englisch und schlechtem Portugiesisch. Dann sahen wir das Batalõe des großen Reisenden wieder im Dunst des Tropenflusses verschwinden. Monate später traf ich einen Angehörigen des berühmten Indianeramts von Brasilien unter sehr ähnlichen Umständen gerade zur rechten Zeit — aber das ist eine andere Geschichte.
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Ein Reisetag nach dem andern verstrich auf dem Tapajóz, ohne daß unsre Mühen durch entsprechende Fortschritte belohnt worden wären. Meine Befürchtungen wuchsen, da unsere Vorräte an „zivilisierten“ Nahrungsmitteln beständig abnahmen, die auf den Flüssen des Amazonengebiets nur schwer zu ergänzen sind. Ich wußte, daß meine Begleiter sich oft wochenlang von Früchten und Reptilien zu nähren pflegten. In ihrem Plane lag es, weiterzufahren und nebst neuen Kautschukwäldern eine Durchfahrt durch den kleinen Martinhofluß in den Madeira aufzufinden, ohne Rücksicht auf die Ernährungsweise und eine mögliche Erkrankung an der Geißel dieser Gebiete, der Beri-Beri-Seuche, die durch Unterernährung entsteht. Mir, als Neuling in diesen Gebieten, widerstand nichts so sehr als die Vorstellung, mich von Reptilien nähren zu müssen. Bisher hatte ich niemals Schildkröten, Affen, Eidechsen und Käfer gegessen. Einige Monate später hatte ich von all diesen widerwärtigen Speisen, Käfer ausgenommen, gekostet, aber nie gelang es mir, mehr als ein paar Bissen hinunterzuwürgen. Ausgenommen hiervon ist Schildkrötenfleisch, das im Amazonengebiet als Leckerbissen gilt.
Etwa 300 Kilometer von den Apuéfällen gelangten wir am 28. Mai zu einem Indianerdorf an einer Biegung eines Igarapé. Durch Verteilung von Geschenken gelang es uns, das Mißtrauen zu beschwichtigen, das, wie es scheint, allen Reisenden von den Amazonenindianern entgegengebracht wird. Diese Flußbewohner erwiesen sich als zum Stamm der Mundurucus gehörig. Sie waren bis auf eine kleine Schürze gänzlich unbekleidet und hatten die Farbe dunkler Bronze. Ihre Maloccas bestanden aus Blättern und Zweigen und sahen wie riesige Bienenkörbe aus. Alle Arbeit scheint von den Weibern verrichtet zu werden, während die Männer entweder auf die Jagd gehen oder, Speer, Bogen und Pfeile schnitzelnd, faul herumliegen. Aus großen Schalen pflegen sie[S. 54] eine sonderbare Mischung zu trinken, die hauptsächlich aus Mandioka bereitet wird. Im übrigen ist mit ihnen ganz gut auszukommen.
Wer einer kunstreichen Tatauierung ermangelt, scheint nicht heiraten zu dürfen. Erreichen die Knaben ein gewisses Alter, das ich auf vierzehn Jahre schätze, so wird diese Verschönerung zwangsweise an ihnen vorgenommen. Während unserer dritten Nacht unter den Eingeborenen, als der Mond geisterhaft über den schwarzen Baumwänden stand und auf dem breiten Fluß wie Silber schimmerte, ertönte plötzlich der Lärm einer Art von Tamtam. Später fand ich, daß er durch Stockschläge auf den hohlen Stamm eines Baumes hervorgebracht wird, der Manguaré heißt. Ich sprang aus dem kleinen Zelt, das auf der Uferbank errichtet war. Auf dem Boden kauerte eine Gruppe von Indianern, während zwei von ihnen einen entsetzt aussehenden Jungen in ihrer Mitte festhielten. Der Medizinmann, der auch das Amt des Oberpriesters zu versehen schien, murmelte mit monotoner Stimme Worte vor sich hin und rührte gleichzeitig mit beiden Händen in einem irdenen Krug herum. Dazu schlugen die Weiber die Hände zusammen, stampften mit den Füßen und sangen. Der nackte Junge wurde auf den Boden gelegt, der Medizinmann näherte sich ihm und begann, seinen Körper mit einem leuchtenden Rot zu tatauieren. Die Farbe wird aus den Samen des Achiote (Bixa Orellana) gewonnen. In den Strahlen des Mondes sah sie wie Blut aus.
Obwohl die Körperverdrehungen des Jungen verrieten, daß er Qualen ausstand, gab er doch keinen Laut von sich, wenn der Büschel aus Palmnadeln, mit dem die Operation ausgeführt wurde, in sein Fleisch eindrang. Länger als eine Stunde ging das so fort, dann verkündete ein lautes Geschrei der Weiber, daß dieser Teil der Zeremonie zu Ende war. Der Junge stand auf und[S. 55] erhielt einen Bogen, Pfeile und einen Speer. Hierauf wurde ein junges Mädchen in den Kreis gebracht, das sich heftig sträuben mußte, was von seiten des neugebackenen Kriegers mit grotesken Kraftäußerungen erwidert wurde. Neben mehreren Strichen und Klecksen trug er nun einen kleinen blutroten Alligator auf seiner Brust. Er ergriff das Mädchen bei den Haaren und zog sie gegen eine neuerrichtete Hütte. In der Nähe des niedern Eingangs ließ er sie los, fing sie aber sogleich wieder, als sie davonrannte. Diesmal führte er sie in den Kreis der kauernden Wilden, nachdem ihr Widerstand offenbar gebrochen und Untertänigkeit erzwungen war.
Wie lange diese Feierlichkeit noch gedauert haben würde, ist schwer zu sagen, weil in diesem Augenblick schwere, schwarze Wolken über den Mond zogen und Wald und Fluß in Finsternis hüllten. Fast gleichzeitig ertönte das Klatschen der Regentropfen auf den Blättern. Ich eilte auf mein Zelt zu, das ich nur undeutlich unterscheiden konnte, obwohl es keine sieben Meter entfernt war. Das Prasseln des Regens wurde bald zu einem lauten Toben. Blendende Blitze erhellten das dunkle Dschungeldickicht, und der Donner rollte über die Wasserfläche. In einer halben Stunde war das Gewitter vorüber, und ein weißer, wallender Nebel stieg aus der üppigen Vegetation auf. Bei solchen Gelegenheiten bedarf der reisende Weiße in den Urwäldern des Amazonas einer starken Dosis Chinin und eines wasserdichten Schlafsacks.
Die Mundurucus bilden einen der volksreichsten und ausgebreitetsten Indianerstämme im Gebiet des Amazonenstroms. Im Jahre 1788 vernichteten sie ihre Erbfeinde, die Muras, in einer großen Schlacht in den Wäldern des Tapajóz-Madeira-Plateaus. Einige Stämme leben seit über hundert Jahren im Frieden mit den Weißen, andere, die in den Urwäldern hausen, sind heute[S. 56] noch unbekannt. Erkrankt einer von den Indianern hoffnungslos, so wird er von weiteren Leiden durch seine Verwandten erlöst. Auch Eltern werden von ihren Kindern oft auf diese wirksame Weise ins Jenseits befördert, wenn sie, infolge von Alter und Kränklichkeit, an den Freuden dieses Lebens nicht mehr teilzunehmen vermögen. Viele der Stämme sind noch recht kriegerisch. Sie bilden Unterfamilien und haben eigene Namen, wie z. B. die Guaribos oder Affenindianer. Ihre Sprache ist der Tupidialekt, und ihre Methoden der Jugenderziehung haben ihnen den Namen der Spartaner des Amazonenstroms eingebracht. Von anderen Stämmen in der Nähe werden sie Paiguize, Kopfjäger, genannt. Das bezieht sich aber heutzutage nur noch auf die Abteilungen, die in den weitentlegenen, unerforschten Wäldern hausen.
Am folgenden Morgen setzten wir unsere Reise nach den Fällen des oberen Tapajóz fort. Ehe ich das Indianerdorf verließ, gelang es mir, einen Alligatoren zu schießen, der sofort von den Mundurucus abgezogen und zerteilt wurde. Sie verwenden das Fleisch zu verschiedenen Zwecken. Ein Teil wird als Leckerbissen verzehrt; das Fett dient als Massagemittel gegen alle möglichen Krankheiten, und die Zähne werden von den Weibern aufgereiht und als Halsketten getragen.
Die Mauern des Waldes schlossen sich um den Fluß zusammen, und mehrere Tage lang war uns kaum ein Blick auf die Gegend darüber hinaus vergönnt. Eines Nachts lagerten wir auf dem Ostufer an einem Punkt, wo der Hauptfluß sich verengt und ein kleines Flüßchen sich mit ihm vereinigt. Ich hätte gerne unsere genaue Lage in dieser weiten und anscheinend verlassenen Gegend festgestellt und suchte unter meinen Notizen nach irgendeiner Erwähnung dieses Punktes durch andere Reisende. Aber ich fand nichts, so weit meine Aufzeichnungen reichten, weder bei Wickham oder Herbert Smith, der 1878 den Tapajózfluß hinaufgefahren[S. 57] war, noch auf den englischen Landkarten. Es handelt sich also wohl um einen der vielen unbenannten kleinen Flüsse dieses wilden Landes.
Dies mag einen Begriff von den Schwierigkeiten geben, einen Fluß in dem Labyrinth der Wasserwege des Amazonas ohne ein charakteristisches Kennzeichen auf dem Land festzustellen. Ebenso schwer ist es, eine auch nur einigermaßen zuverlässige Routenkarte anzulegen, die den Reisenden aus den Arbeiten ihrer Vorgänger Vorteil zu ziehen gestatten würde. Darin liegt vielleicht die größte Schwierigkeit bei Forschungsreisen im entlegenen Amazonengebiet. Eigentlich ist so gut wie nichts vorhanden, was auf systematischen Aufnahmen beruhte, weil es denen, die in diese Gebiete vordrangen, an den nötigen wissenschaftlichen Instrumenten fehlte, die sie auch gar nicht hätten mitführen können, selbst wenn sie sie besessen hätten. Der Mangel an eingeborenen Trägern und die daraus sich ergebende Notwendigkeit, das Gepäck auf ein Mindestmaß zu beschränken, macht vieles, was geleistet worden ist, für geographische Zwecke nutzlos. Was im Amazonengebiet ausgerichtet wurde, ist fast völlig das Ergebnis individueller und meistens vereinzelter Leistungen, unter Bedingungen, gegen die die Forschung in Afrika nur ein Kinderspiel war.
Um ähnliche Erwägungen handelt es sich beim Wiedererkennen der verschiedenen Indianerstämme. Wahrscheinlich wohnen an 400 Eingeborenenstämme auf den zweieinhalb Millionen Geviertkilometer unbekannten Landes, das die Quellgebiete der Flüsse des Amazonas umgibt. Alle diese Stämme leben in kleinen Familiengruppen, die bei den nichtigsten Meinungsverschiedenheiten sich trennen, die sich durch Heiraten vermischen, durch die schlechte Behandlung der Kautschuksammler, besonders jenseits der Grenzen Brasiliens, versprengt und durch mörderische Kriege gegeneinander dezimiert werden. Viele sind Nomaden, und die[S. 58] geringe Bevölkerungsdichte des Gebiets ermöglicht es diesen Familiengruppen, nach Belieben umherzuziehen und zu jagen, ohne durch benachbarte Stämme darin beschränkt zu werden. Dazu kommt noch die Verwirrung durch die Masse der Stamm- und Nebenstammnamen, der portugiesischen, phonetischen und Geschlechtsbezeichnungen, so daß jeder Versuch einer Klassifikation völlig hoffnungslos ist. Alles, was getan werden kann, beschränkt sich auf gewissenhafte und folgerichtige Beobachtung durch die Forscher, die in einen oder mehrere Teile dieses unvorstellbar ausgedehnten Gebiets eindringen, in dieses Land der dichten, düstern Wälder, verschlungenen Flüsse und Stromschnellen und der weiten, offenen „Campos“, der Heimat geheimnisvoller Indianerstämme, von denen viele das Vorhandensein von Weißen nicht einmal ahnen. Davon wird später noch die Rede sein. Im vorliegenden Werke erhalten die einzelnen Stämme die Namen, unter denen sie in ihren jeweiligen Wohngebieten bekannt sind.
Als wir endlich am Abend des 28. Mai die Gewässer des Tapajóz verließen, um unter 8° 6′ südlicher Breite in den kleinen Martinhofluß einzubiegen, kamen wir schneller vorwärts, da hier die Strömung schwächer ist. Aber nun erhob sich eine neue Schwierigkeit. Alle paar Kilometer war das enge und seichte Flußbett von den Stämmen und Ästen umgefallener Bäume gesperrt. Eines dieser Hindernisse kostete uns 6 Stunden harte Arbeit, um den Weg für das Kanu freizumachen. Entladen und über Land tragen konnten wir es nicht, da die Ufer sumpfig und mit dichtem Unterholz bestanden waren. Nach zwei Tagen war es uns klar, daß eine Durchfahrt in die Hauptverkehrsstraße des Madeiraflusses, 500 Kilometer nach Westsüdwest, unmöglich zu bewerkstelligen war, nicht nur im Hinblick auf die bedenklich rasch abnehmenden Lebensmittelvorräte, trotzdem wir sie täglich aus Fluß und Wald ergänzten, sondern auch wegen einer niedern Hügelkette,[S. 59] die offensichtlich dem Weiterlauf des Flusses vorgelagert war. Die Strömung nahm wieder zu, und der Fluß wurde so schmal, daß die Baumkronen an manchen Stellen ihn überwölbten. Das Fortstoßen mit Stangen bot die einzige Möglichkeit, um weiterzukommen.
Am 31. Mai hatten wir unser Lager auf einer kleinen Lichtung aufgeschlagen, die den Sonnenstrahlen kaum Zugang gewährte. An diesem Tag entschlossen wir uns zur Umkehr, wenn auch sehr widerwillig, da wir ein Vordringen in den Madeira für ausgeschlossen hielten. Der Martinho kommt offenbar aus jenen niedern Hügeln, die seinen Lauf in einer Entfernung von etwa 30 Kilometer schneiden und sich durch das Fernrohr als eine unregelmäßige Kette von ungefähr 300 Meter Höhe darstellen. Wir hatten gehofft, daß er in den Gy-Paraná (oder Machado), einen Nebenfluß des Madeira, führen würde, der in diesen Fluß bei der Niederlassung von Humaitá mündet. Die Entdeckung, daß dem nicht so war, erfüllte uns mit großer Sorge. Denn die Lebensmittel gingen auf die Neige, und noch hatten wir 500 Kilometer zurückzulegen, in einem wilden Land, den Tapajóz hinab, bis Itaituba.
Unsere Lage besserte sich jedoch auf unvorhergesehene Weise. Die harte Arbeit beim Fortstoßen des Kanus sowie das Wegräumen von Baumstämmen und anderen Hindernissen hatte uns alle drei erschöpft. Da es von wesentlicher Bedeutung war, die Rückfahrt, glücklicherweise mit der Strömung, so bald als möglich anzutreten, war eine ausreichende Nachtruhe äußerst wünschenswert. Aber während der Dunkelheit mußte trotzdem beim Kanu und Lager Wache gehalten werden, und da meine mittelmäßigen Fähigkeiten in der Behandlung des Fahrzeugs bei der Talfahrt doch von wenig Nutzen waren, erbot ich mich, die Wache zu übernehmen. Ich konnte ja dann am nächsten Tag im Kanu während der Fahrt ausruhen.
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An diesem Abend ging die Sonne in einem besonders prächtigen Strahlenglanz unter, dessen Farbenspiel jedoch nur im Widerschein der Flußmitte sichtbar wurde. Eine halbe Stunde später war es finster, und über den Urwald in unserm Rücken legte sich eine lastende Stille. Während der Tagesstunden ist die Natur der Wildnis weniger fühlbar. Das Schnattern der Affen, das Kreischen der kleinen Papageien, das Pfeifen der sehr häufigen Abart eines kleinen roten Vogels, das Heulen des Jaguars, die mörderischen Schwanzschläge eines gereizten Alligators und das Summen der Insekten bilden ebenso viele Ablenkungen. Selbst ein Schimmer des gestirnten Himmels oder ein Strahl des Mondes dient dazu, das nächtliche Düster des tropischen Waldes zu mildern. In den früheren Lagern am Tapajóz war uns denn auch immer, dank der Breite des Flusses, die eine oder andere dieser freundlichen Erscheinungen beschieden gewesen.
Hier stiegen die Stämme der Bäume wie mächtige Säulen empor bis zu einer Höhe von 20 Meter. Gegen den Boden zu, wo sie in grotesk gebildete Strebepfeiler auswuchteten, mochten sie wohl einen Durchmesser von über drei Meter haben. Unter einer riesenhaften Itauba (Acrodiclidium itauba) hatten wir das Lager aufgeschlagen. Sie besitzt ein sehr hartes, schwer faulendes Holz, das den Tausenden von Insekten Widerstand leistet, die sonst einen schlecht gewählten Lagerplatz zu überfallen pflegen. Von dem dämmrigen Gewölbe senkten sich die Wedel der Miritypalmen herab. Lianen schlangen sich wie Drahtseile um die Stämme und hingen in Schleifen und Knoten von den Ästen, unter ihnen die Cipórebe oder Mordliane, die die Bäume in ihre erstickende Umklammerung zieht. Jenseits der winzigen Lichtung lag ein grauer, vermoderter, von Ameisen ausgehöhlter Baumstamm, ein Zeuge ihrer zerstörenden Kräfte, über dem zersplitterten Unterholz. Die Luft war schwül und drückend,[S. 61] von einer feuchten Kühle nach der großen Hitze des Tages. Als das Düster zunahm, glich die Umgebung dem nächtlichen Kirchenschiff einer Kathedrale, mit zahllosen Pfeilern, die aus der dunklen Tiefe emporwuchsen und sich oben in der Dunkelheit verloren.
Die völlige Finsternis wurde nur durch einen schmalen Strich des Mondlichts in der Mitte des schnell strömenden Flusses unterbrochen. Nur einmal während der langen Nacht drang ein Laut durch die unirdische Stille dieser tropischen Waldwildnis. Sein Klang war so unheimlich, daß mich ein Schauder erfaßte. Ein scharfer und durchdringender Schrei, wie von einem Menschen, kam von einer Lichtung in der Nähe. Untersuchen war unmöglich. Auch nur einige Schritte in den verfilzten Urwald hinein zu machen, hätte sichern Tod bedeutet. So blieb die Herkunft des Schreis ein Geheimnis. Wahrscheinlich war ein Bewohner des Dschungels in die Umschlingung einer Anakonda oder zwischen die Kinnladen eines aufgestörten Alligators geraten.
Es mag seltsam erscheinen, daß ich keinen Versuch machte, das Rätsel des Schreis aus den Tiefen des Waldes zu lösen. Aber es war unmöglich, während der Nacht im dichten Dschungeldickicht auf die Suche zu gehen, und außerdem wußte ich auch, daß verschiedene Affenarten, besonders die Simia mycetes oder Brüllaffen, unheimliche, fast menschliche, auf weite Entfernungen vernehmliche Laute hervorbringen. Auf späteren Reisen gewöhnte ich mich mehr oder weniger an plötzliche und unirdische Laute während der nächtlichen Stille, da auch eine gewisse Vogelart ein halbmenschliches Geschrei ausstößt.
Als sich die ersten helleren Streifen des neuen Tages zeigten, machten wir uns an ein dürftiges Mahl und trafen eiligst unsere Vorbereitungen zur Abfahrt. Während wir noch damit beschäftigt waren, ließ sich von flußaufwärts der rhythmische Schlag von[S. 62] Rudern hören, begleitet von gutturalen Rufen. Meine Flinte war in einer leeren Biskuitbüchse verstaut, um sie bei etwaigem Kentern des Boots mitten im Wasser zu sichern. Ehe es mir noch gelungen war, sie herauszunehmen, schoß ein Kanu, voll von nackten Wilden, um die nächste Flußbiegung.
[S. 63]
Die Überraschung der Indianer war offenbar noch weit größer als unsere, und ihr roh ausgehöhlter Baumstamm, der keinerlei Ansprüche an Form oder Stabilität stellte, kenterte beinahe. Da sie nicht imstande waren, in der schnellen Strömung das Fahrzeug anzuhalten, trieb es flußabwärts und würde an unserm Lagerplatz vorbeigefahren sein, wäre es nicht durch die Hindernisse aufgehalten worden, die unsere Reise am vorhergehenden Tag zu einem Ende gebracht hatten. Die krampfhaften Anstrengungen der Indianer, einem Zusammenstoß und gleichzeitig einer Landung mitten unter uns zu entgehen, entbehrten nicht der Komik, wenn uns auch zunächst die Alligatoren Sorge machten. Wie es kommen mußte, kam es. Das unhandliche Fahrzeug legte sich mit der Seite gegen das Flußhindernis und erst, nachdem wir zum Zeichen der Freundschaft unsere Waffen ostentativ weggeworfen hatten, landete der Indianer mit seinen drei Weibern und seinen Kindern auf dem einzigen trockenen Platz in der ganzen Gegend.
Neugierde auf Seite der Weiber überwand bald die natürliche Scheu der Wilden. In einer halben Stunde hatten sie alles im Lager untersucht und wandten nun unglücklicherweise ihre Aufmerksamkeit mir zu. Es begann, als ich meine Hemdärmel umstülpte. Zuerst blickten sie zweifelnd auf mein Gesicht und deuteten mir durch Zeichen an, es im Fluß zu waschen; dann kniffen sie mich[S. 64] in die Arme und würden, ganz gegen meine Absicht, ihre unheilige Neugier nach der Beschaffenheit meines ganzen Körpers auf verschiedene Weise noch weitergetrieben haben, hätte ich nicht versucht, ihre Aufmerksamkeit durch Geschenke abzulenken. Dadurch versetzte ich sie in einen wahren Freudentaumel. Der Vater der Familie hatte bisher abseits gestanden. Wahrscheinlich hatte er schon öfters Weiße gesehen und nur sein Weibervolk in der Abgeschiedenheit der Urwälder gehalten. Jetzt grinste er begierig. Sie sprangen ohne Rücksicht auf etwa vorhandene Alligatoren in den schmutzigen Fluß, lachten, schrien und rollten sich im Schlamm. Dann begannen sie, ohne sich zu reinigen, ein Lager aufzuschlagen, während wir ihren Herrn und Gebieter über den Stand unserer Speisekammer unterrichteten.
Diese Apiacásweiber hatten bald aus Palmwedeln und mit Schlamm bedeckten Zweigen einen rohen Unterschlupf fertig. Küchengerätschaften schienen sie nicht zu besitzen, außer einem irdenen Tiegel. Nachdem der Indianer, der allein bekleidet war, versprochen hatte, durch eine Jagdbeute an Wild und Fischen unsern Vorräten aufzuhelfen, entschlossen wir uns, noch mehrere Tage im Lager zu bleiben, ehe wir uns den Tapajóz hinab auf die Fahrt nach Itaituba und was sonst am Amazonenstrom an Zivilisation zu finden ist, machten.
Es zeigte sich, daß die Weiber nur selten Weiße gesehen hatten, obwohl sie offenbar schon mit Kautschuksammlern zusammengetroffen waren, die aber weder schwarz noch weiß sind, sondern sowohl im Gesicht wie am Körper von einem matten Gelbbraun. Sie versuchten, durch Zeichen zu erfahren, zu welchem Zweck wir in diese abgelegene Gegend gekommen wären, indem sie an die riesigen Kautschukbäume klopften, wie sie in diesen Wäldern in Massen vorkommen. Als ich den Kopf schüttelte, schienen sie beunruhigt. Natürlich war ich nicht imstande, sie durch Zeichen über[S. 65] meine Reiseabsichten aufzuklären und hatte auch nicht den Wunsch, dies in Hinsicht auf meine Begleiter zu tun. So begnügte ich mich mit einigen beruhigenden Gebärden. Wenigstens waren sie so gemeint. Ich wußte, daß die Ängstlichkeit aller Waldbewohner im Amazonengebiet, wo immer Kautschukbäume wachsen, von der barbarischen Behandlung herrührt, die sie früher von gewissenlosen Kautschuksammlern erfahren haben. Man zwang sie nicht nur, bei Strafe der Auspeitschung, den kostbaren Saft zu sammeln, sondern auch unsagbare Schändlichkeiten wurden an ihren Weibern verübt.
Nachdem die Freundschaft hergestellt war, folgte das Austauschen vertraulicher Mitteilungen. Die Indianer gehörten zu einem Dorf, das einige Kilometer vom Flußufer entfernt und noch nie von Sklavenzügen der Kautschukpflanzer berührt worden war. Ehe die brasilianische Regierung das Indianer-Schutzamt einsetzte, von dem noch zu sprechen sein wird, waren solche Raubzüge an der Tagesordnung.
Die Apiacás bewohnen ein Waldgebiet von etwa 350 Geviertkilometer an beiden Ufern des Tapajóz und auch am Unterlauf des Rio Manoel. Sie sprechen die Tupisprache und haben viel Gemeinsames mit Stämmen, die ich später in den Tälern des Madeira und Aripuanan antraf. Ihr Charakter ist nicht ganz zuverlässig, und sie setzen allen Eingriffen der Weißen Widerstand entgegen, haben aber der Regierung lange nicht so viel Verlegenheiten bereitet wie die Parintintinsindianer am Gy-Paraná und Maicy. Keiner dieser Indianer trägt Lippenschmuck, in die Lippen eingesetzte Verzierungen aus Muschelschalen oder Bein. Die Weiber waren bis auf einen dünnen Grasschurz völlig unbekleidet. Sie trugen Fußringe, vermutlich als Zeichen, daß sie entweder verheiratet oder heiratsfähig waren. Eine Witwe, die zu alt ist, um noch einen Mann zu bekommen, schneidet beide Fußringe ab, um[S. 66] anzudeuten, daß sie sich mit ihrem Los abgefunden hat. Legt sie nur einen Fußring ab, so heißt das, daß sie bereit ist, wieder zu heiraten. Trägt aber eine verheiratete Frau gar keinen Fußring, so bedeutet es Untreue oder daß sie gegen die Wünsche ihres Stammes geheiratet hat. Ich glaube wenigstens, das so verstanden zu haben, soweit eben Zeichen, Zeichnungen und nachahmende Gebärden eine vollständige Verständigungsmöglichkeit ersetzen können.
Die Apiacás tragen ihr glänzend schwarzes Haar vorn auf der Stirn in Fransen geschnitten und über den Rücken lang herabhängend, wie viele andere Stämme des Amazonengebiets. Männer, Weiber und Kinder haben die gleiche Haartracht. Die Amulette, die beide Arme zieren, sind aus Bein oder Fasern und dienen als Schutzmittel gegen die Gefahren der Wildnis. Die Kinder gingen völlig nackt und sahen recht gesund und handfest aus. Der Junge, den ich auf ungefähr zwölf Jahre schätzte, trug den dünnen Körperriemen und die Fasernhose, die beim Schlüpfen durch das Dschungeldickicht Verletzungen verhüten sollen. Der Vater dieser Bronzefamilie war mit Rock und Hosen aus grobem, einheimischen Stoff bekleidet und mit einer alten Schrotflinte bewaffnet, die er aber nicht zur Jagd gebrauchte. Er zog einen schöngeschnitzten Speer vor, der schließlich im Tausch gegen ein gutes schwedisches Taschenmesser in meine Sammlung überging. Weiße hatte er bereits auf den Ufern gesehen und schien ihnen viel mehr zu mißtrauen als seine Weiber, die in ihrer Unwissenheit glücklich waren.
Erst am zweiten Tag ihres Aufenthalts im Lager bemerkte ich, wie eins der Weiber ein Trinkgefäß aus dem Kanu holte, um es mit Wasser aus dem Fluß zu füllen. Nach einigen Minuten gelang es mir, das Gefäß genauer zu betrachten, und ich muß gestehen, daß mich ein leiser Schauder des Ekels beschlich. Es war ein menschlicher Schädel, dessen Augen-, Nasen- und Ohröffnungen mit schmutzigem roten Lehm verstopft waren.
[S. 67]
Die Unterhaltung ging nicht sehr rasch vonstatten, da sie durch Zeichen geführt werden mußte. Als ich versuchte, etwas über die Herkunft dieser greulichen Reliquie herauszubekommen, war das Ergebnis ein wenig überraschend. Augenscheinlich handelte es sich um eine hochgehaltene Kriegstrophäe, deren Besitz eine Quelle des Stolzes bildete. Auf meine Fragen begann das Weib, mir mimisch einen Kampf vorzuführen. Schließlich ergriff sie ein nacktes Kind, das uns zusah, und tat, als ob sie seinen Kopf mit einem scharfen Messer aus Fischknochen abschnitte. Das Geschrei des Kindes brachte den Vater herbei. Er erschien mit einem mörderlich aussehenden Speer, der mit Büscheln aus Vogelfedern verziert war. Aber offenbar sind die Apiacás nicht ohne Sinn für Humor, denn er grinste, als ihm die Ursache des Geschreis klargemacht wurde.
Nachts sollte auf einer Reihe von Sandbänken flußaufwärts auf die Schildkrötenjagd gegangen werden. Es war eine merkwürdige Unternehmung, an der auch die Weiber teilnahmen. Fackeln aus harzreichem Holz wurden angezündet und die Kanus an die seichten Schlammstellen hingebracht. Die Flammen warfen ein düsteres Licht auf die Mauern des Waldes und die schweigende, rasch dahinströmende, schwarze Flut. Es war nicht die Zeit des Eierlegens, daher befanden sich die Schildkröten an den Untiefen der Sandbänke, wo sie vor den gefräßigen Alligatoren und den beutegierigen Jaguaren in Sicherheit waren. So geschickt handhabte der Indianer seinen langen, dünnen Speer, daß er in weniger als einer halben Stunde drei Stück der kleineren Art aufgespießt hatte, die Tracajaas genannt wird. Später sah ich in andern Gewässern des Amazonas, wie man diese Geschöpfe harpunierte, mit dem Lasso oder in Fallen fing und ihrer Eier beraubte.
In dieser Nacht schien der Urwald nicht so verlassen wie sonst. Ich saß neben dem Feuer, obwohl die Nacht warm war, und versuchte[S. 68] von einem sehr schläfrigen Apiacásindianer Auskünfte zu erhalten über die Sitten und den Glauben dieses „wilden“ Stammes. Alles, was ich erfuhr, war, daß die Köpfe der im Kampf getöteten Feinde als Kriegstrophäen abgeschnitten würden. Doch war dieser Brauch kürzlich vom Administrator in Bocca S. Manoel verboten worden. Die Apiacás glauben, daß die Seelen der Abgeschiedenen in Vögeln oder Tieren wiedergeboren werden, und zwar in jenen Arten, die sie selbst während ihres Lebens am charakteristischsten zur Darstellung bringen. Den Mond halten sie für einen bösen Geist, dessen Diener in den dunklen Gewässern der Flüsse hausen. Sie ziehen den waghalsigen Indianer in die Tiefe, der allein in seinem kalten, weißen Licht badet. Merkwürdigerweise spielen die Alligatoren keine Rolle in dieser überirdischen Tragödie. Daß Baden in Gesellschaft sicherer ist, erklärt sich durch das Herumplätschern im Wasser. Ich versuchte das dem Indianer auseinanderzusetzen, aber seine Antwort war verblüffend. Diese niedrigstehenden Menschenwesen glauben, daß der Alligator den Mond ebenso fürchtet und vorzieht, seine Mahlzeiten bei Tageslicht zu verzehren! Die Apiacás sind nicht tatauiert, ungleich den Mundurucus, und scheinen nur sehr wenig seltsame Zeremonien zu haben. Darin unterscheiden sie sich von den Uaupés des brasilianischen Guyana, die den blutigen Juriparidienst ausüben.
Es machte mir viel Verdruß, daß ich das Dorf der Apiacás im dichten Wald nicht besuchen konnte, aber der Mangel an Lebensmitteln ließ die Rückkehr zur Zivilisation gebieterisch erscheinen. In diesem Zusammenhang dürfte die Erfahrung interessieren, daß der Weiße nicht sehr lange von den Naturprodukten des Waldes zu leben vermag, ohne der Beri-Beri-Krankheit zu verfallen. Sogar die Eingeborenen leiden schrecklich unter dieser und andern verheerenden Seuchen. Die Schwindsucht fordert alljährlich zahlreiche Opfer. Die an diesem und andern Leiden Erkrankten[S. 69] werden bei den Halbzivilisierten in eigenen Dörfern untergebracht, wo sie eine Zeitlang von alten Weibern gepflegt werden. Die Unheilbaren begräbt man auf ihren eigenen Wunsch lebendig.
Ich fertigte eine rohe Kartenskizze des Flußlaufs an und erfuhr, daß zwischen dem kleinen Martinho und den Zuflüssen des großen Madeiraflusses keine Verbindung besteht. Nach den Angaben des Indianers dehnten sich die niedrigen Hügel vor uns „drei Sonnen“, drei Tagereisen weit aus. In den Wäldern jenseits der Hügel sollte ein Stamm sehr kleiner Menschen von blasser Farbe leben. Eine Angehörige dieses Stammes traf ich später an einem Nebenflusse des Aripuanan. Es war ein Mädchen andern Stammes, das offenbar in Gefangenschaft geraten war. Sie war ganz wild und maß nur vier Fuß. Dem Anschein nach gehörte sie zu einem Nebenzweig der großen Nambiquarasfamilie von Matto Grosso, obwohl ich mir darüber nicht sicher bin. In einem spätern Kapitel werde ich darauf noch zurückkommen.
Am nächsten Tag beluden wir das Kanu mit Fisch, Schildkrötenfleisch, Früchten, einer Art wilder Pfeilwurz und unsern sehr spärlichen Resten an „zivilisierten“ Nahrungsmitteln. Dann rüsteten wir uns zur Abfahrt. Ich tauschte einige Handelswaren gegen ein paar rohe Sammelgegenstände, und nachdem wir noch einige Geschenke verteilt hatten, paddelten wir den Fluß hinab und entgingen knapp einem ernstlichen Unfall beim Wegräumen des Hindernisses, das den Einbaum des Indianers zum Anhalten gezwungen hatte.
Auf der Rückfahrt legten wir an einem Regierungsposten nahe Bocca S. Manoel an. In Pará war mir von dem Vorhandensein dieser Station nichts gesagt worden. Auch meine beiden Caboclos wußten nichts von ihr, noch war sie auf irgendeiner meiner Karten eingezeichnet. Der Administrator befand sich irgendwo flußabwärts, aber sein Assistent hatte die Güte, uns nicht nur mit einem kleinen,[S. 70] für ein bis zwei Tage ausreichenden Vorrat an Nahrungsmitteln zu versehen, sondern mir auch den ersten Einblick in die Aufgaben des Indianeramtes der Vereinigten Staaten von Brasilien zu verschaffen.
Ein großer Teil der Arbeit an den Zuflüssen des Amazonenstroms wird von den Beamten des Indianeramtes bei Nacht an den weiten Grenzen des Unbekannten ausgeführt. Die ungeheure Fläche der kartographisch nicht aufgenommenen Waldgebiete ist in rohe Abschnitte geteilt, und jedem wird ein Offizier zugewiesen, mehrere bewaffnete Wächter und ein oder zwei Dolmetscher. Während des Tages ist der tropische Dschungel erfüllt von den Lauten des wimmelnden Tier- und Insektenlebens. Nachts aber, wenn nichts zu hören ist, als zuweilen das Gebrüll eines Jaguars, nehmen diese Leute ihren Posten ein auf einer hoch oben in den Baumwipfeln erbauten Plattform. Dann senden sie mittels eines Lautsprechers Botschaften von Freundschaft und Frieden weit über die dunkeln, schweigenden Wälder.
Die Eingeborenen in ihren Maloccas werden durch die seltsamen Töne geweckt und lauschen zitternd den Erzählungen von der Ankunft ihrer blaßgesichtigen Brüder, die allen Geschenke bringen werden. Das Merkwürdigste ist für sie, daß die Stimme aus den Wipfeln der Bäume kommt und in ihrer eigenen Sprache redet.
Auf andern Außenstationen im Innern Brasiliens, unter den wilden Javahés, die geschickt mit dem Blasrohr und vergifteten Pfeilen umzugehen wissen, wurde Musik mit Erfolg zum Zweck einer „friedlichen Durchdringung“ angewendet. Wenn das tausendfältige Lärmen der Affen, Papageien, Jaguare, Pumas und Insekten verklungen ist und der tropische Riesenmond seine Strahlen über den düstern Urwald sendet, schwimmen die Töne einer Violine durch den Säulenwald. Die Wilden in ihren versteckten Dörfern[S. 71] in den Tiefen der dunkeln Wälder werden von dem Gesang eines neuen, wundervollen Vogels geweckt. Ihre Neugier erwacht, und sie folgen den Klängen. Ohne Scheu umstehen sie im hellen Mondlicht den Baum, der den Spieler verbirgt. Dann schweigt der Gesang und an seine Stelle tritt eine Stimme, die in ihrer Sprache zu ihnen redet und von all den schönen Dingen erzählt, die Abgesandte der Weißen ihnen bringen werden. Die erschrockenen Wilden gleiten wie Schlangen in den Schutz des dunkeln Waldes zurück, aber die Friedensbotschaft ist ergangen und gehört worden.
Ein anderer Kunstgriff, „Anlockungsposten“ genannt, dient dazu, das Werk der Versöhnung zu vollenden. Gassen werden durch das Dickicht geschlagen, die von dem Lager in den Urwald hinausführen. Alle Kilometer etwa entlang diesen bezeichneten Pfaden werden Geschenke an die Bäume gehängt zusammen mit kurzen Botschaften in indianischen Schriftzeichen, die die friedliche Gesinnung der Weißen klarmachen und von noch begehrenswerteren Geschenken näher dem Lager erzählen. Oft vergehen Monate, ehe einer der furchtsamen, aber sehr wilden Eingeborenen im Bereich der Station erscheint. In den Stunden der Finsternis werden die Geschenke so und so oft von den Bäumen genommen, aber nichts geschieht dagegen. Nur wird in den Botschaften, die jedem neuen Geschenk beigelegt sind, betont, daß Heimlichkeit bei der Annäherung an die Bäume und das Lager unnötig ist und daß die Weißen die Gegend verlassen werden, wenn die Indianer nicht kommen, um ihnen für die bereits empfangenen Gaben zu danken.
Der Erfolg derartiger Methoden war beträchtlich. Schließlich nähern sich die Indianer der Station, und dann ist fast stets Freundschaft das Ergebnis. Doch wurden auch in mehr als einem Fall Versuche gemacht, die Lager des Indianeramtes zu überfallen, und tapfere Offiziere mit ihren Wächtern und Dolmetschern haben dabei ihr Leben eingebüßt. Wenn erst ein gewisser Grad freundschaftlichen[S. 72] Verkehrs erreicht ist, werden die Indianer entweder umsonst mit Gerätschaften für die Bebauung der kleinen Flecken Erde versehen, die zur Urbarmachung innerhalb der Wälder geeignet sind, oder gegen eine jährliche Entschädigung bei irgendeiner leichten Regierungsarbeit beschäftigt. So wurden z. B. die Paressís, eine höchst kriegerische Nation im Innern Brasiliens, dazu verwandt, die Überland-Telegraphenlinie zu bewachen, die den Staat von Matto Grosso mit dem Madeirafluß verbindet. Ehe mit ihnen durch jene Mittel Frieden geschlossen worden war, hätte die Telegraphenlinie unmöglich erbaut und über Hunderte von Kilometern dichten tropischen Urwalds hin unterhalten werden können. Sie wäre ebenso schnell als errichtet wieder zerstört worden, und selbst die Einrichtung einer Kette militärischer Posten in diesen Fiebergegenden hätte nicht vermocht, sie zu retten.
Wenn das Gebiet eines bestimmten Stammes der Zivilisation zugänglich gemacht worden ist, verlegt man die Posten weiter hinaus in das Riesenmeer der Wälder, das fast das ganze tropische Südamerika an seiner breitesten Stelle auf 5000 Kilometer hin bedeckt. Aus den auf solche Weise friedlich eroberten Gebieten werden große Flächen als „Indianer-Reservationen“ abgeteilt, und es wird Sorge getragen, daß die auf ihnen lebenden befreundeten Stämme von gewissenlosen Händlern nicht ausgebeutet werden.
Die Leistungen der tapferen Schar mußten hier ausführlich erwähnt werden, weil mehrere meiner Reisen in unerforschte Teile des Gebiets und viel von dem, was ich zu erzählen habe, ohne ihre Hilfe und ihren Beistand nicht zustande gekommen wären.
Gegen den 16. Juni begannen die verhältnismäßig kleinen Rationen ihre Wirkung auf mich ausüben. Dazu kamen noch der harte Kampf mit Stromschnellen, Wasserwirbeln und schwimmenden Hindernissen und die Strahlen der glühenden tropischen Sonne. Das getrocknete Schildkrötenfleisch war aufgezehrt, und[S. 73] von „zivilisierten“ Nahrungsmitteln, die wir in Bocca S. Manoel erhalten hatten, waren uns nichts als einige Biskuits und etwas französische Schokolade verblieben. Merkwürdigerweise stieß gerade an diesem Tag dem Kanu ein anscheinend ernstlicher Unfall zu, während wir noch über 80 Kilometer von dem ersten Vorposten der Zivilisation entfernt waren. Als wir uns bemühten, einem daherschwimmenden Baum auszuweichen, wurde der Bug von irgendeinem versunkenen Gegenstand eingedrückt, und das Kanu begann sich so schnell mit Wasser zu füllen, daß wir nur durch kräftiges Paddeln vor dem Untersinken noch eine sandige Landzunge zu erreichen vermochten.
Der tatsächliche Schaden war nicht groß und bald wieder mit Rinde aus dem Wald behoben, aber alles, der Rest der Biskuits und der Schokolade mit eingeschlossen, war tropfnaß und äußerst unschmackhaft geworden. Zu diesen kleinen Unannehmlichkeiten kam die weit schwerer wiegende Verzögerung. Als wir wieder weiterfahren konnten, waren zwei Nächte und ein Tag ungenützt verflossen.
Wenn man sich lange Zeit hindurch gut genährt hat, bedeutet das zeitweise Fehlen ausreichender Nahrung nur eine Unannehmlichkeit. Aber nach sechs Wochen eines verhältnismäßig kärglichen Speisezettels und harter körperlicher Arbeit in tropischer Hitze folgt ein schneller Kräfteverfall dem Mangel an Nahrung. Die Qualen des Hungers, so arg sie auch sind, gehen bald vorüber. Was bleibt, ist das krankhafte Gefühl einer dauernden Abspannung. Glücklicherweise waren meine beiden Begleiter in ihren Nahrungsansprüchen nicht sehr heikel. Nach einem höchst widerlich aussehenden braungrünen Fisch verzehrten sie noch eine große Eidechse in halbrohem Zustand.
Kanureisen auf Flüssen des Amazonas sind so monoton, daß es zuzeiten schwer ist, einen Tag vom andern zu unterscheiden.[S. 74] Die Rückfahrt den Tapajóz hinab glich aufs Haar vielen ähnlichen Fahrten während der folgenden Monate. Die vorbeiziehende Landschaft ist immer wild und prägt dem Reisenden ein, daß noch mehrere Jahrhunderte vergehen müssen, ehe auch nur ein dünner Hauch der Zivilisation die Tausende Geviertkilometer dieser Wildnis durchdringen wird.
[S. 75]
Der Rückzug den Tapajóz hinab brachte unsere kleine Expedition an den Rand des Untergangs. Mangel an richtiger Nahrung in der Dampfhitze begann ernstlich fühlbar zu werden, noch ehe die letzten 130 Kilometer zurückgelegt waren. Manche Stunden wurden mit dem Versuch verloren, Eingeborenenmehl in mehreren Palmstrohhütten an verschiedenen Stellen des breiten Flusses zu bekommen, denn später stellte sich heraus, daß sie alle verlassen waren. Meine beiden Caboclos wurden allmählich widerspenstig. Jeder versuchte, sich vom Paddeln zu drücken und verwünschte die Eltern des andern. Mich selbst machte eine Darmstörung, wie sie unter Weißen auf den Kautschukflüssen gewöhnlich ist, weit weniger widerstandsfähig als sonst gegen die Wirkungen der Hitze, der Anstrengungen und der Unterernährung.
Für einen weißen Forscher ist es abseits der Hauptrouten im Amazonengebiet fast unmöglich, sich aus dem Fluß, den Wäldern oder von den Eingeborenen eine richtige Nahrung zu verschaffen, außer vielleicht gelegentlich einen schlechten Fisch und Früchten, die aber auch nicht ohne Zeitverlust und Anstrengung zu erlangen sind und damit den Vorteil wieder wettmachen. Unvorhergesehene Verzögerungen bei der Abreise oder beim Rückzug führen mit Sicherheit zum Untergang, wenn nicht schon von vornherein für ausreichende Vorräte Vorsorge getroffen ist. Auf solche Art sind in diesem geheimnisvollen Land von unvorstellbarer Ausdehnung[S. 76] schon mehr Leute zugrunde gegangen als durch die Feindseligkeit und Hinterlist der Eingeborenen.
Glücklicherweise trat ein Umstand ein, der schon vielen Reisenden auf diesen Flüssen das Leben gerettet hat und auch meiner kleinen Expedition ermöglichte, Itaituba vor dem Eintritt völliger Erschöpfung zu erreichen. Wir fuhren mit der Strömung, die auf allen Flüssen des Amazonengebiets gegen den Hauptstrom zu gerichtet ist. Ihre Schnelligkeit hängt gänzlich ab von der relativen Wasserhöhe des Amazonenstroms im Verhältnis zu der des betreffenden Nebenflusses. Wenn der große Strom selbst Hochwasser führt, staut er seine Zuflüsse so lange zurück, bis es wieder fällt.
Zu solchen Zeiten werden Tausende von Geviertkilometer Wald überschwemmt, und die tiefliegenden Flächen in den Flußtälern bilden noch wochenlang ungeheure und unzugängliche Sümpfe, nachdem die eigentliche Überflutung sich wieder verlaufen hat. Es gehört eine beträchtliche Erfahrung dazu, alle hydrographischen, topographischen und klimatischen Umstände in Rechnung zu ziehen, um Fehlschläge zu vermeiden. In unserm Fall ersparte uns eine falsche Berechnung der Strömung mehrere Hungertage. Später einmal aber schwang das Pendel nach der andern Richtung, und ich und zwei Begleiter wurden von der Außenwelt durch mehr als 300 Kilometer Sumpf abgeschnitten, den die sich verlaufende Flut zurückließ.
In Santarem, wo mehrere Europäer sich aufhalten, genügte eine Ruhewoche und ein reichhaltigerer Speisezettel, um mich und die beiden Caboclos wieder so weit herzustellen, daß wir ohne Tränenvergießen voneinander Abschied zu nehmen vermochten. Meine Begleiter auf der Tapajóz-Expedition, die mir eine gewaltige Enttäuschung bereitet hatten, kehrten in ihre Heimstätten bei Pará zurück, und ich selbst bestieg einen wirklich prächtigen,[S. 77] nach Manáos bestimmten Dampfer, der kleinen isolierten und typisch amazonischen Stadt, 1675 Kilometer flußaufwärts am Amazonenstrom.
Die Reise den breiten, sonnenhellen Strom hinauf bis zu seiner Vereinigung mit dem Rio Negro, unterhalb jener kleinen, wundervollen Stadt, ist voll Reiz und Interesse. Prächtige Schmetterlinge flattern über das Deck und farbig gefiederte Vögel fliegen, aufgeschreckt von der Bewegung und dem Geräusch des Schiffes, über den Fluß oder die waldbedeckten Ufer entlang. Aus dem Dunkel tauchen ungeheure, schöngefärbte Motten, angezogen von den Lichtern auf Deck. Schwimmende, glänzend grüne Inseln und entwurzelte Bäume bieten den geierartigen Urubú und andern seltsamen Vögeln bequeme Ruheplätze.
Hoch über den Mauern des schweigenden, grünen Waldes zieht der Adler des Amazonas langsam seine Kreise im tiefen Blau des Himmels. Manchmal wird die glänzende Fläche des größten aller Ströme durch das Spiel eines Delphins unterbrochen. Riesige Fische steigen aus der Tiefe empor, um nach den über Bord geworfenen Überresten zu schnappen, und weit in der Ferne fällt hin und wieder der Blick auf unbekannte flachgipfelige Ketten, ungeheure Flächen der wie Rauch erscheinenden tropischen Wälder und offenen Campos. Es ist die Schwelle zum Unbekannten, die auf der Landkarte eingezeichnete Straße durch ein kartographisch nicht aufgenommenes Gebiet so groß wie ganz Europa. Hinter jeder Windung des Stromes, jedem Igarapé, jeder entfernten Waldfläche liegt das Geheimnisvolle. Nur die Ufer sind erforscht, und auch sie nicht eigentlich. Rohe Palmhütten mit halbnackten Bewohnern, die meilenweit voneinander getrennt hausen, sind die einzigen Zeichen der Zivilisation längs dieser Tropenstraße in dem großen toten Herz des Kontinents.
Nachts steigt das Geheimnis aus dem unermeßlichen Schweigen,[S. 78] den Blitzen, die keinen Donner hervorbringen, dem eigentümlichen Gezirp der Insekten, den Flammen riesiger Waldbrände, denen in unserer Phantasie Jaguare, Tapire, Hirsche, Affen, Vögel, Schlangen und Hunderte anderer Bestien in toller Flucht zu entrinnen suchen. Das Geheimnis lauert in dem unheimlichen Schrei der Brüllaffen, dem Geheul des Jaguars, die weithin durch die Stile der tropischen Nacht vernehmlich sind. Ist die Natur friedlicher gestimmt, so wandelt der große, weiße tropische Mond den dunklen Strom in einen Pfad goldenen Lichts, von dem sich die schlanken Palmen wie Geister abheben. Hier sind die Tropen unsrer Vorstellungen: der sternenerhellte Fluß, der wie aus Silbersand bestehende Strand, die übers Wasser gleitenden ausgehöhlten Kanus und der leise warme Wind, beladen mit allen Wohlgerüchen der großen Wälder ringsumher.
In neuester Zeit ist der Amazonenstrom auch den Touristen zugänglich geworden. Die größte amazonische Organisation hat ihn dem Weltverkehr erschlossen und ihre Dampfer der Führung der erfahrensten Piloten anvertraut. Seine Geheimnisse und seine Pracht liegen offen vor jenen, die abseits der gewöhnlichen Routen im Luxus zu reisen wünschen. Da mein Buch den Berichten über Forschungsreisen zu den entlegenen Stämmen der Wilden gewidmet ist, bleibt mir nur wenig Raum für allgemeinere Schilderungen von Landschaften und Erlebnissen, so ungewöhnlich oder interessant sie auch sonst sein mögen. Die Flußstraßen, die an dem großen Unbekannten vorüberziehen, müssen im allgemeinen außer Betracht bleiben. Sollte sich aber einer meiner Leser entschließen, diese einzig dastehende Reise auszuführen, die jetzt in aller Sicherheit und Bequemlichkeit auf einem Kursdampfer von Liverpool bis Manáos, 1600 Kilometer weit stromaufwärts, unternommen werden kann, so wird er die Erfahrung machen, daß man einen Schuß vom Deck an fast jedem Punkt der Fahrt abfeuern und[S. 79] sicher sein kann, daß selbst auf dem Hauptstrom der Schall in einer Wildnis verhallt, die noch nie vom Fuß eines Weißen betreten wurde.
Die kleine Niederlassung Obidos, an einem Hügel des Nordufers gelegen, ist nur deshalb erwähnenswert, weil der Strom hier verhältnismäßig eng wird und beide Ufer ohne dazwischenliegende Inseln sichtbar sind. Dann verbreitert er sich von neuem und strömt zwischen den wirklich wundervollen Wänden des großen amazonischen Urwalds dahin, der an Höhe und Dichte des Unterholzes die Wälder am Kongo oder andern tropischen Flüssen weit übertrifft.
Am Südufer des Amazonenstroms, zwischen Obidos und Itacoatiara, liegt die kleine Siedlung Parintins, in der Nähe der großen Flußinsel Tupinambaranas, auf der sich eine verlassene Stadt befinden soll. Von der kleinen, typisch amazonischen Niederlassung zieht ein Fluß ins Land, namens Camuma. Eine zehntägige Fahrt flußaufwärts bringt den Reisenden zur Eingeborenenniederlassung Maues, der Heimat jenes merkwürdigen Arzneitranks, der weit und breit im Amazonengebiet unter dem Namen „Guaraná“ bekannt ist.
Er wird von den Mauesindianern aus einer kleinen Kletterpflanze bereitet, die zur Familie der Sapindaceae (Paullinia sorbilis) gehört und nicht nur wild in den Wäldern wächst, sondern auch angebaut wird. Die Samen werden im November gesammelt, in der Sonne getrocknet, leicht geröstet, zu Pulver zermahlen und unter Zusatz von Wasser zu einer Paste verrührt. Manchmal wird diese in eine wurstähnliche Form gebracht und so, über dem Feuer erhärtet, in Matto Grosso, Bolivia und an den Flüssen des Amazonengebiets verkauft. Die Indianer und Caboclos bereiten daraus ein Getränk, indem sie die harten Würste auf der getrockneten, feilenartigen Zunge des Pirarucúfisches zerreiben und[S. 80] dann dem Pulver Wasser zusetzen. Auch zu merkwürdigen Zierstücken verarbeitet man die Paste in der Form von Alligatoren, Jaguaren, Vögeln und Schlangen, die als Sammelgegenstände in Pará und Manáos verkauft werden.
Guaraná ist eines der verhältnismäßig wenigen amazonischen Arzneimittel, das in der britischen Pharmakopöe aufgeführt wird. Es gibt nicht nur ein sehr anregendes Getränk, sondern ist auch von anerkannter Wirkung in Fällen von Dysenterie. Im Amazonengebiet bereitet man daraus durch Zusatz von Kohlensäure ein recht wohlschmeckendes „Mineral“-Wasser, das an Beliebtheit mit dem althergebrachten „Assai“ wetteifert. In Maues, wo der Extrakt von halbzivilisierten Indianern hergestellt wird, befindet sich eine Pflanzung von Guaranábüschen, die einem Italiener gehört. Kleinere Mengen wurden bereits in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgeführt.
In dieser kleinen Niederlassung befindet sich auch eine Station des Indianeramtes der Vereinigten Staaten von Brasilien. Jetzt ist sie der Mittelpunkt der Zivilisierung der früher wilden Mauesindianer.
Kehren wir zum Amazonenstrom zurück. Tage vergehen, dann erscheinen auf einer kleinen Lichtung des Nordufers die wenigen rosa und weiß gestrichenen Barracas und Landhäuser von Itacoatiara oder Serpa. Dies ist der Stapelplatz für den großen Madeirafluß, der von seiner Mündung sich nach Süden wendet, einige 130 Kilometer oberhalb Itacoatiara. Auf seinem über 1600 Kilometer langen Lauf aus den unerforschten Wäldern von Matto Grosso nimmt er zahlreiche Nebenflüsse auf.
Wir verlassen nun den Amazonenstrom, um etwa 15 Kilometer vor Manáos in den Rio Negro einzufahren. Das Zusammenfließen der beiden Gewässer bietet ein eigenartiges Schauspiel. Der Rio Negro führt schwarzes Wasser, wie sein Name besagt, das sich[S. 81] mitten in der gelben Flut des Amazonenstroms in großen schwarzen Flecken und kleinen Wirbeln hält. So deutlich scheiden sich die Wasser ab, daß der Bug des Dampfers ins dunkle Wasser taucht, während der Stern noch vom gelben umspült wird. Hier befinden sich auch zwei nicht mehr benützte Leuchttürme, die von den Eingeborenen die „Steine des Poraqué“ genannt werden.
„Poraqué“ heißt der elektrische Aal, den die Eingeborenen aller amazonischen Flüsse außerordentlich fürchten wegen der schrecklichen, zuweilen tödlichen Schläge, die er dem nackten Körper versetzt. Auf irgendeine Weise wurde das geheimnisvolle Licht, das früher die beiden einsamen Türme verbreiteten, mit der Wirkung jener gefürchteten Flußbewohner in Verbindung gebracht.
Von den im Sonnenschein strahlenden, meergleichen Fluten des Rio Negro aus gewährt Manáos einen hübschen Anblick. Weißschimmernde Häuser, Türme und Dächer aus mattroten kanellierten Ziegeln erscheinen im smaragdgrünen Rahmen des tropischen Dschungels, der stellenweise durch rotbraune Erdklippen oder das blauschwarze Wasser der kleinen Wasserläufe oder Igarapés unterbrochen wird. Beim ersten Blick wird man an ähnliche Bilder im Osten, in Afrika, oder selbst an den Küsten des blauen Mittelländischen Meeres erinnert. Kaum sind wir aber gelandet, so verschwinden diese plötzlich aufgetretenen Eindrücke wieder und wir merken, daß diese einzige amazonische Stadt, die über 1600 Kilometer in jeder Richtung von der Zivilisation abliegt, ihre völlig eigene Atmosphäre besitzt.
Am auffallendsten ist die moderne Aufmachung in ihrer Abgeschiedenheit. Im Hafen erheben sich Elevatoren und Drahtseilbahnanlagen auf ungeheueren, längs der Uferbank schwimmenden Kais, um die Unterschiede in der Wasserhöhe — fast 20 Meter! — zu überwinden. Eine schöne Straßenbahn dient nicht nur dem Verkehr in der Stadt, sondern läuft durch den Dschungel bis zu[S. 82] einem Restaurant in Flores. Ein Kraftwerk für elektrisches Licht liefert auch Strom zum Betrieb der Ventilationsapparate und zum Kochen. Manáos besitzt eine Trinkwasserversorgung, verschiedene Zeitungen, die das Neueste aus der ganzen Welt bringen, ein schönes Theater mit hauptsächlich lokalen Talenten und die fünftgrößte Münzensammlung des Erdballs, aber keine Eisenbahnverbindung. Von jedem Punkt der Stadt aus kann man den wilden Dschungel in zwanzig Minuten Gehzeit erreichen, und auf dem gegenüberliegenden Ufer sind die Alligatoren fast die einzigen Bewohner der Igarapés. Eine Eingeborene, die am Strand des S. Raymundo benannten Stadtteils wusch, sah ihr badendes Kind plötzlich zwischen den Kinnladen eines mächtigen Alligators. Sie sprang ins Wasser und drückte ihre Finger in die Augen der Bestie, die darauf den kleinen braunen Körper wieder losließ. Gleich hinter Flores wurden einsame Fußgänger auf der einzigen Landstraße in weitem Umkreis von Jaguaren angegriffen, in Schußweite von der Straßenbahnlinie. Vom Turm der Kathedrale sieht man weit über dem großen Fluß die wilden, unerforschten, schwarzgrünen Wälder, deren ungebrochene Linien sich im violetten Dunst des Horizonts verlieren.
Die gastfreundliche englische Kolonie besitzt ihren Klub, dessen Beschränkungen mehr in natürlichen Umständen liegen, als einer Absicht entsprechen. Unter diesen Verhältnissen und bei dem schlechten Zustand meiner Gesundheit war es nur natürlich, daß der beabsichtigte Aufenthalt von ein oder zwei Tagen auf die doppelte Zeit ausgedehnt wurde. Bei meinen drei Besuchen von Manáos bestand die größte Schwierigkeit immer darin, wegzukommen, ohne meine vielen Freunde dort zu verletzen. Aber das ist kein Grund, den Leser mit Schilderungen des gesellschaftlichen Lebens in diesem kleinen Vorposten der Zivilisation zu langweilen.
Eine seltsame Naturerscheinung zeigt sich in dieser und andern[S. 83] Gegenden des Amazonengebiets alljährlich um den 24. Juni, der merkwürdigerweise mit dem Festtag Johannes’ des Täufers zusammenfällt. Die Wassertemperatur oberhalb der Stadt fällt plötzlich, und das in solchem Grad, daß kleine Fische oftmals zugrunde gehen. Die Wirkung ist auch in der Luft längs der Ufer fühlbar, besonders am Amazonenstrom selber. Die Ansiedler an so weit auseinanderliegenden Plätzen wie Iquitos, Manáos und Obidos beklagen sich über die plötzliche Kälte. Während dieser wenigen Tage kann man am Äquator beinahe eine europäische Kleidung vertragen. Die Ursache der kalten Luft- und Wasserströmung liegt auf dem Pazifischen Ozean. Der verhältnismäßig warme „Chinook“-Wind streicht über die höchsten Anden, schmilzt den Schnee und pfeift durch die rauhen Pässe. Dort verliert er seine Wärme und zieht mit dem Schneewasser durch die tropischen Wälder und über die Steppen des Amazonengebiets.
Einige Zeit brachte ich damit zu, mir dürftige Auskünfte über den Aufenthalt wilder Indianerstämme in den weitentlegenen Wäldern zu verschaffen und daneben prosaische Geschäfte zu erledigen. Eines Tages hörte ich von einem Offizier des Indianeramtes, daß einige neue Stämme um den achten südlichen Breitengrad vorhanden sein sollten, in den dichten Wäldern und ungesunden Sümpfen zwischen den Flüssen Madeira und Aripuanan.
Etwa acht Monate vorher hatte ein unbekannter Stamm, wie man erzählte, einige halbblütige Kautschuksammler angegriffen und umgebracht, die in jene entfernten Gegenden eingedrungen waren, ungefähr 1500 Kilometer südlich von Manáos, an der Grenze von Matto Grosso. Einem überlebenden Caboclo war es schließlich gelungen, sich durchzuschlagen und den Behörden in Porto Velho am Madeirafluß Kunde zu bringen.
Der Offizier, dem ich diese Auskünfte verdankte, gehörte dem tapferen Korps an, das als Indianerschutzamt von General Rondon[S. 84] im Jahre 1910 eingerichtet wurde. Artikel 219 seiner Vorschrift lautet folgendermaßen: „Keine Mühe, keine Gefahr und kein Opfer ist zu scheuen, wenn es sich bei der Pazifikation der wilden Indianerstämme darum handelt, ihnen zu helfen und sie vor Ausbeutung und Unterdrückung zu schützen.“ Ich sah den tapfern Offizier nicht wieder, hörte aber, daß er später an der Grenze Venezuelas umgebracht worden war. Kürzlich hatte ich noch das Vergnügen, mit Dr. Bento Martins Pereira de Lemos zusammenzutreffen, dem alten Chef des Indianeramtes im Amazonengebiet und mit seinem Assistenten J. Gondim. Beide waren mir in weitgehendem Maße behilflich, endgültig einige der Stämme zu identifizieren, die ich zu verschiedenen Zeiten auf meinen Reisen in entlegenen Gebieten angetroffen hatte. Zuletzt sah ich Dr. Lemos zwischen einem kleinen indianischen Knaben und einem Mädchen. Noch ein Jahr früher waren beide Angehörige eines wilden Kannibalenstammes gewesen, dem ich in den düstern Wäldern am Aripuananflusse begegnet war. Doch davon werde ich in einem der nächsten Kapitel erzählen.
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Nach der Abfahrt von Manáos ging es flußabwärts bis zur kleinen Niederlassung von Itacoatiara. Dort bestieg ich den Flußdampfer „Francisco Salles“, der den Oberlauf des Madeira befährt. Ich hoffte, in einer der kleinen Ansiedlungen auf dem Weg oder in Porto Velho, dem Ausgangspunkt der Madeira-Mamoré-Eisenbahn, Genaueres über den Ort zu erfahren, wo die unbekannten Indianerstämme hausen sollten. Denn man wird sich erinnern, daß ich über ihre Jagdgründe nicht viel mehr wußte, als daß sie in den wilden, unerforschten, 500 Kilometer langen und 300 Kilometer breiten Wald- und Sumpfgebieten liegen sollten, die sich zwischen den Flüssen Madeira und Aripuanan um den achten Grad südlicher Breite als Mittellinie erstrecken.
Auch die Hilfsquellen und Forschungsmöglichkeiten in dieser Gegend waren so unbekannt wie ihre Bewohner, und die Wahrscheinlichkeit wichtiger Entdeckungen brachte daher alle Besorgnis vor Fehlschlägen zum Schweigen. Der Dampferverkehr endigt an der abgelegensten Eisenbahn der Welt, der Madeira-Mamoré-Bahn, die 400 Kilometer schäumender Katarakte auf dem Landweg umgeht. So dachte ich, daß eine auf Augenschein beruhende Schilderung dieser Unternehmung, die nach einem amerikanischen Ausspruch von „Dr. Lovelace und Chinin“ ausgeführt worden war, die Zeitungsleser in Europa und den Vereinigten Staaten wohl interessieren müßte.
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Ich hatte also einen zweifachen Zweck im Auge, während ich statt der dschungelbedeckten Ufer des Amazonenstroms nun die noch dunkleren und dichteren Wälder des großen Madeiraflusses an mir vorbeiziehen ließ. Kaum waren wir an der großen Insel nächst der Flußmündung vorüber, als sich der erste Unfall ereignete. Der Dampfer saß auf einer überfluteten Sandbank fest, die sich erst kürzlich gebildet hatte, gerade gegenüber den riesigen Imbaubabäumen von Fazendinha. Nach einer Stunde war das kleine Fahrzeug wieder flott und konnte seinen Weg gegen die starke Strömung fortsetzen. Meilenlang strömte nun der Fluß zwischen dichten Uferwäldern dahin. Nur eine Reihe von Inseln unterbrach seinen Lauf, wie Urucurituba, Ypringa und viele andere. An mehreren kleinen, mit Palmstroh gedeckten Hütten ging es vorüber, dann gab es wieder einen, diesmal freiwilligen, Halt, um 120 Kilometer von der Mündung, an einem Lager, Perseverança genannt, Holz einzunehmen. Hier standen zahlreiche wilde Kautschukbäume und Kokasträucher. Wirklich, es gehört eine besondere Art von Beharrlichkeit dazu, daß Menschen die Kraft finden, sich in diesen feuchtheißen Wäldern abzuplacken, um einen kleinen Dampfer mit Feuerung zu versorgen!
Bald nach der Weiterfahrt trafen wir auf eine weite Fläche überschwemmten Waldes und auf offenes Wasser, obwohl die Ufer bisher ziemlich hoch gewesen waren. Wir befanden uns in der Nähe des Furo das Guaribas (Affenloch) am Prepriocassee, der seine niedern Ufer überflutet und sich mit dem Madeira vereinigt hatte. Dann schlossen sich wieder die dichten Wälder um uns zusammen und begleiteten uns bis zur kleinen Ansiedlung von Borba, die wir am Morgen des dritten Tages erreichten. Ihre wenigen verfallenen Lehmhäuser, Barracas und Strohhütten stehen auf einer steilen erdigen Bank, vom dichten, dunkeln Urwald eingefaßt. In der Mitte des Dorfplatzes erhebt sich gegen den[S. 87] Fluß zu eine winzige Kirche. Die Schule war geschlossen, weil kein Lehrer hatte bleiben wollen, und die Blicke der paar halbnackten armseligen Caboclofamilien sprachen von hilfloser Verlassenheit, Beri-Beri und Malaria.
Hinter Borba erschienen einige merkwürdige Felsriffe, die auf dem Ostufer sich auf etwa 300 Meter landeinwärts erstreckten. Die Höhe der Bäume nahm zu, und die Schatten unter ihren Kronen wurden schwärzer. Hier und da leuchteten aus der düstern grünen Wand die gelben Blüten des Pao d’arco, des berühmten amazonischen Baumes. Die Ufer waren niedrig und sumpfig. Dann ging es plötzlich um eine Flußbiegung, und bald darauf wurde die Mauer des Waldes von der Mündung des Autazflusses unterbrochen. Gegenüber kamen wir an einer Barraca vorüber, und an Stelle des Waldes trat niederer, verfilzter Dschungel. Wir mußten nun durch die gefährliche Marapity-Enge, die wir kaum hinter uns hatten, als sich schon die unter dem Namen „Pedras dos Ganchos“ bekannten Felsen vor uns aus dem Fluß erhoben, dessen Oberfläche in eine Reihe von Strudeln und Wirbeln aufgelöst schien. Rundumher nichts als Igarapés, Seen und wilder Wald.
Bald nachdem wir die Alligatorinsel umfahren hatten, an der vor vielen Jahren die Greavesexpedition gescheitert war, erreichten wir Vista Alegre mit seinen Wäldern brasilianischer Nußbäume, seinen zweistöckigen Häusern und einer kleinen Missionsstation. Die Ufer liegen hier höher und sind stärker bevölkert. Die Murasindianer, die einstigen Bewohner dieser Gegend, wurden von kriegerischen Stämmen im Süden beinahe ausgerottet, und vom Fluß aus bekam man ihre Maloccas nicht zu Gesicht. Die Strömung ist hier sehr stark und bildet zahlreiche Strudel. Die Vegetation macht den Eindruck noch größerer Üppigkeit als an den Ufern des Amazonenstroms.
Einige Meilen weiter, hinter der unbedeutenden Niederlassung[S. 88] von Taboçal, kamen wir an einem kleinen Friedhof vorüber. Zahlreiche Holzkreuze bezeichnen die letzten Ruhestätten der Opfer dieser ungesunden Flußgegend. Auch der Forscher Alvez hat hier sein Grab gefunden. Dann tauchten die Aripuananinseln auf an der Vereinigung des gleichnamigen Flusses mit dem Madeira.
Zwischen diesen beiden sich gabelnden Flüssen liegt das große, fast unerforschte Gebiet, in dessen halbdunkeln Wäldern sich irgendwo die Maloccas und Jagdgründe der von mir gesuchten Indianerstämme befanden. Ich glaubte sie jedoch nicht näher als etwa 300 Kilometer südlich der Mündung vermuten zu sollen, und die Frage erhob sich, welcher der beiden Flüsse als zweckmäßigste Zufahrtslinie in Betracht käme. Bis jetzt war es mir nicht möglich gewesen, außer vagen Behauptungen über das Vorhandensein wilder Stämme verläßliche Auskünfte zu erhalten. Da ein Eindringen in die Wälder und das kaum bekannte Flußbecken mit großen Gefahren verknüpft war, schien es nicht geraten, den Dampfer zu verlassen und Vorbereitungen für eine Fahrt den Aripuanan hinauf zu treffen. Ein Schiffsverkehr besteht auf ihm nicht, und so hätte es eine Kanureise von 1200 Kilometer ins Unbekannte hinein bedeutet, um mit Erfolg durchzuführen, was nur einer wohlausgerüsteten Expedition gelingen mochte. Tatsächlich hat eine solche später den Aripuanan von seiner Quelle bis zu seiner Vereinigung mit dem Madeira befahren.
Was mir vorschwebte war, einen bessern Annäherungspunkt zu den unerforschten Wäldern zwischen den beiden Flüssen aufzufinden, und nach mehreren Versuchen hatte ich damit auch Glück. Ich entschloß mich nämlich, den Madeira noch weiter hinaufzufahren und einige seiner kleinen östlichen Nebenflüsse zu untersuchen.
Während der nächsten 120 Kilometer bot die Landschaft nichts Besonderes. Dann ging es zwischen Felsen und unbedeutenden Stromschnellen durch die gefährliche Flußkrümmung bei der Urua-Insel.[S. 89] Wieder schloß sich der Urwald um uns zusammen, und auf weite Strecken war nichts sichtbar als der Saum des niedern Dschungels, hin und wieder eine Strohhütte, eine Barraca oder das einsame Heim einer Caboclofamilie. In dieser trübseligen Gegend erlebte ich den schönsten Sonnenuntergang, der mir bisher beschieden gewesen war. Der ganze Himmel stand in Flammen von Gold und Rot zwischen einem Gewoge von Wolken. Gerade hindurch schnitt das dunkle Band der olivengrünen Wälder, und im Widerschein des Wassers spiegelte sich die feurige Glut des Himmels. Ein wundervolles Schauspiel, das mir mehr Eindruck machte als die Mitternachtssonne des Nordkaps oder die Nordlichter Alaskas. Die folgende Nacht jedoch war finster und stürmisch.
Die hübsche kleine Ansiedlung Manicoré liegt auf einer steilen Uferbank über dem Hochwasserstand des schlammigen Flusses. Langsam geht sie der Zerstörung entgegen, da die Ufer unaufhaltsam von der starken Strömung unterwaschen werden. Obwohl es in Manicoré keine eigentlichen Straßen gibt und die wenigen Häuser und Schuppen auf der bloßen und oft recht schmutzigen Erde stehen, wirkt es doch lange nicht so verwahrlost und trübselig wie Borba. Andererseits bietet es allerdings auch nicht das mindeste an Interesse. Denn rings ist es vom Dschungel umschlossen, und die Bevölkerung setzt sich zumeist aus Caboclos zusammen. Die kleine Kirche ist das einzige Gebäude, das nicht in Trümmer fällt.
Bei der Jaguarinsel macht der Fluß zahlreiche Windungen. Man soll den Knall eines Schusses hören können, der 30 Kilometer weiter flußaufwärts abgefeuert wird, weil die beiden Punkte in der Luftlinie nur 3 Kilometer voneinander entfernt sind. Hier liegt die Mündung des ungesunden Marmellosflusses. Sein Quellgebiet soll bis an den Tapajóz reichen, und das dazwischenliegende Gebiet befindet sich zum größten Teil in den Händen wilder Indianerstämme.[S. 90] An diesem Fluß haben sich nicht wenig Tragödien abgespielt. Auf einer Kautschukpflanzung, nur einige Kilometer von der Mündung, starben in einem einzigen Jahr über 100 Leute am Fieber.
Auf der Jaguarinsel steht ein kleiner Seringal (Faktorei), bei dem wir anhielten, um einige Vorräte zu laden. Man zeigte mir einen ungeheuern Baum, der eine große Menge eines milchartigen Saftes absondert, wenn man ihn mit dem Buschmesser anschneidet. Die Waldindianer trinken den Saft an Stelle von Kuhmilch, und die halbzivilisierten Anwohner der Flüsse gießen ihn in ihren Kaffee. Bei den Eingeborenen heißt der Baum „Solu“; sein wissenschaftlicher Name ist mir nicht bekannt. Diese Pflanzenmilch ist recht wohlschmeckend und anscheinend bekömmlich, wenn auch, soviel ich weiß, eine chemische Analyse von ihr noch nicht gemacht wurde. Es gibt hier buchstäblich Tausende von Heilkräutern, von denen die Zivilisation keinerlei Kenntnis besitzt. Von den Eingeborenen werden sie bei leichteren Erkrankungen mit wunderbarem Erfolg angewandt, und sicher würde auf diesem Feld der Forschung eine reiche Ernte das Studium lohnen.
Noch immer fuhren wir zwischen den Mauern der Wälder dahin. In Jumas-Quadras, einer großen Station auf dem Westufer, gab es kurzen Aufenthalt. Dann ließen wir die alte São-Pedro-Missionsstation hinter uns, die verlassen und vom Dschungel überwachsen im Wald liegt, und bekamen einige Stunden später die kleine Stadt Humaitá zu Gesicht. Sie liegt auf einer hohen Uferbank, von der Steintreppen zum Hoch- und Niederwassermal herabführen. Die kleine Niederlassung besitzt einige Ziegelhäuser neben den üblichen Lehm- und Strohhütten und erfreut sich sowohl einer Licht- wie Trinkwasserversorgung. Erbaut wurde sie auf dem Gebiet des Oberst Monteiro, der das urbar gemachte Land, das Stadtgebiet und die städtischen Bauten der[S. 91] brasilianischen Regierung 1890 schenkte. Die Bevölkerung beläuft sich jetzt auf über tausend Köpfe.
Längs der Ufer des Madeiraflusses vollzog sich die erste Entwicklung der Kautschukindustrie im Amazonengebiet. Da der Madeira die Hauptverkehrsstraße nach dem nordöstlichen Bolivia bildet, bietet sich hier die beste Gelegenheit, die Bedingungen der wenigen und sehr dünnen Fäden einer Halbzivilisation zu studieren, die einige Teile des toten Herzens Südamerikas durchziehen. Eine Meile vom Flußufer entfernt stehen wir mitten im jungfräulichen Urwald, auf allen Seiten von Barbarei umgeben. Die Dampfschiffahrt endigt in Porto Velho, von wo die wunderbarste und gleichzeitig abgelegenste Eisenbahn der Welt, die Madeira-Mamoré-Bahn, den Reisenden und seine Waren an 400 Kilometer Stromschnellen vorüberträgt, um ihn an den schiffbaren Flüssen des wilden Benigebiets in Bolivia wieder abzusetzen.
Es ist unnötig, hier die letzten 80 Kilometer auf dem Madeira, zwischen Humaitá und Porto Velho, wie auch die Eisenbahn zu schildern, die hier beginnt, sich am Fluß entlang zieht und in Guajara-Merim in Bolivia ihr Ende erreicht. Porto Velho ist eine saubere, schön angelegte, mit Beleuchtung versehene europäische Niederlassung. Hier befindet sich die Eisenbahnverwaltung, deren Gebäude zum größten Teil durch Drahtgaze gegen die Moskitos geschützt sind. Die Linie wurde von Brasilien gebaut und 1913 vollendet, nachdem es durch den Vertrag von Petropolis einige Landkonzessionen als Entschädigung von Bolivia erhalten hatte. Ehe die Bahn bestand, mußten alle vom Atlantischen Ozean nach Bolivia bestimmten Waren den Amazonenstrom und den Madeira hinauf befördert, in São Antonio umgeladen und zusammen mit den Kanus über Land getragen werden, eine Strecke von 400 Kilometer an neunzehn Katarakten vorbei. Will man sich die Aufgabe in ihrer ganzen Riesenhaftigkeit klarmachen, europäische[S. 92] Waren in das nordöstliche Bolivia auf diesem Weg zu schaffen, der auch kaum schlechter ist als ein anderer, so muß man sich vorstellen, daß sie erst über den Atlantischen Ozean nach Pará verschifft werden mußten, dann etwa 1500 Kilometer auf dem Amazonenstrom, hierauf ungefähr 1000 Kilometer auf der schiffbaren Flußstrecke des Madeira nach São Antonio. Dort wurden sie in flache Kanus umgeladen, die bis zur ersten Stromschnelle hinaufzufahren vermochten. Von hier konnten die Waren auf wochenlangem Marsch nur noch auf dem Rücken von Eingeborenen befördert werden, und dann kam erst eine neue Flußfahrt über viele Hunderte von Kilometer durch halb erforschte Gegenden, wo das Fieber wütete und wilde Indianerstämme in den umliegenden Urwäldern hausten. Alles in allem eine gewagte Unternehmung in tropischer Hitze und Witterung, die etwa sechs Monate in Anspruch nahm!
Der Bau der Madeira-Mamoré-Eisenbahn wurde schon 1874 begonnen, aber mehrere Expeditionen mußten, durch Fieber, Sümpfe und feindliche Indianerstämme gezwungen, den Plan wieder aufgeben. Schließlich wurde er doch ausgeführt, ebenso wie der Panamakanal mit Hilfe der ärztlichen so gut als der technischen Wissenschaft. Die Amerikaner nennen sie mit vollem Recht die wunderbarste Urwaldbahn der Welt. Es ist aber Tatsache, daß fast jede Schwelle dieser 367 Kilometer langen Bahnstrecke zum Grabstein eines Menschenlebens geworden ist.
Eine romantische Persönlichkeit war es jedoch, ehe auf solche Weise die Fälle des obern Madeira umgangen wurden, und ist es in gewissem Sinne noch heute, die den Handel und alles sonst in diesem wilden Gebiet beherrschte. Ihr Name ist Nicolas Saurez. Würde die Geschichte dieses Mannes jemals geschrieben, sie gäbe eine aufregende Erzählung des Lebens in den großen Wäldern und an den Kautschukflüssen des Amazonengebiets. Nicolas Saurez fing[S. 93] als Händler an und trat in Beziehungen zu den wilden Stämmen an den Flüssen Beni, Mamoré und Madre de Dios, denen sich zu nähern bis dahin noch kein Weißer gewagt hatte. Bald erlangten er und seine Brüder Konzessionen, die sich von landesherrlichen Befugnissen kaum unterschieden. Er herrschte mit fester Hand über die wilden Indianer. Das kleinste Vergehen oder das mindeste Zeichen von Verräterei fand eine schreckliche Sühne. Ein Angehöriger von Saurez’ Familie wurde von den Indianern ermordet, und schauerliche Geschichten von der Bestrafung ganzer Stämme sind in Umlauf.
In dem Acre-Krieg bildeten Saurez’ Irreguläre eine entscheidende Macht. Später vernichtete er die Räuberbanden von Mischlingen, die plötzlich die Kautschukpflanzungen raubend und mordend zu überfallen pflegten, um sich dann über die Grenze in verhältnismäßige Sicherheit zurückzuziehen. Ein von Saurez ausgestellter Passierschein bedeutete für Reisende und Forscher im Benigebiet weit mehr als der Paß einer Regierung. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte ich das Vergnügen, mit einem Neffen dieses „Herrschers der Beni“ zusammenzutreffen, der in Europa erzogen worden war. Unmöglich, einen liebenswürdigeren und kenntnisreicheren Bolivianer zu finden! Aber Unglück und Tod setzten schließlich seinen weitreichenden Plänen für die Entwicklung seiner Heimat ein vorzeitiges Ziel.
In Porto Velho hörte ich von einem Stamm der Caripuna-Indianer, deren Dorf einige Meilen flußaufwärts an dem kleinen Mutum-Paranáfluß liegen sollte. Obwohl Wilde im vollsten Sinn des Wortes, waren diese eigenartigen Eingeborenen doch mehr oder weniger den Eisenbahnpionieren dieser Gegend vertraut und konnten daher nicht zu den wilden und unbekannten Stämmen gehören, deren Spuren ich nachforschte. Trotzdem schien mir der Besuch ihres Dorfes eine Reise von etwa 200 Kilometer wert, da[S. 94] ich dort genauere Auskünfte über unzugänglichere Stämme zu erhalten hoffen durfte. Ich brachte also meinen ganzen Kram und die Vorräte vom „Francisco Salles“ an Land und bestieg die Mamorébahn, die mich an der Mündung des schlammigen Flusses Mutum-Paraná absetzte.
Dank der Hilfsbereitschaft der Eisenbahnbeamten dieser Wunderlinie, die über 3000 Kilometer von jeder Zivilisation beginnt und endigt, war ich bald im Besitz eines Kanus und zweier „gezähmter“ Caripunasindianer, die mich von der kleinen Niederlassung in der Nähe der Mündung am stromschnellenreichen obern Madeira flußaufwärts bringen sollten. Nachdem wir São Antonio passiert hatten, etwa 11 Kilometer von unserm Ausgangspunkt Porto Velho, lichtete sich der Wald, und die Farbe des Bodens wandelte sich von einem satten Rotbraun in ein helles, sandfarbiges Gelb. Auf dem Weiterweg verlor sich der Dschungel in Buschwerk, und die Fahrt ging viele Meilen lang durch Sümpfe.
Der Mutum-Paraná ist ein schmaler und seichter Fluß. Hohe, dunkle Bäume säumen seine Ufer, das Unterholz steht aber nicht so dicht wie wohl sonst im Amazonengebiet. Stellenweise verbirgt die Wölbung der Baumkronen völlig den Anblick des Himmels. Alles Wachstum der Blätter und Zweige drängt sich wipfelwärts zum Licht, so daß die Bäume den Eindruck riesenhafter Schirme machen. Es ist eine ungesunde Gegend, und meine zwei Kanuleute, die sich der Namen „Washington“ und „Cochrane“ erfreuten, litten beide an den Anfangsstadien der Beri-Beri-Krankheit. Sie wurden sonst von der Verwaltung beschäftigt, die Eisenbahnangestellten mit Fischen zu versorgen und waren ganz freundlich und umgänglich. Gekleidet waren sie in eine Art von losen Hemden und Hosen.
Viel Interessantes war auf diesem schlammigen und halbdunkeln Fluß nicht zu sehen, vermutlich, weil die Mauer des Matto Grosso oder Walddickichts jeden weitern Ausblick unmöglich[S. 95] machte. Was über die unmittelbaren Uferbänke hinauslag, konnte man nur beiläufig aus der Abwesenheit von Hügelland erschließen. Die Hitze war arg, und der Blutdurst der Moskitos und „Piums“ noch ärger als gewöhnlich. Dazu kam noch, daß das schwere ausgehöhlte Kanu nur ein langsames Weiterkommen gestattete. Glücklicherweise lag das Indianerdorf näher der Mündung zu, als wir erwartet hatten, und gerade vor Sonnenuntergang bekamen wir die mit Palmstroh gedeckten Maloccas durch den Saum des Urwalds hindurch zu Gesicht.
Als das Kanu am Ufer anlegte, vermochte ich eben noch wild aussehende Gestalten zu unterscheiden, die unter den Bäumen etwa 80 Meter entfernt im Halbkreis umherstanden. Ich griff nach dem Segeltuchsack, der die Geschenke enthielt, und sprang an Land. Obwohl der Stamm als den Weißen nicht offen feindlich gesinnt galt, schien es mir ratsam, die Friedfertigkeit meiner Absichten zu betonen. Daher ließ ich alle Waffen zurück bis auf einen Revolver in der Tasche. Als ich auf die Indianer zukam, wichen sie weder zurück, noch näherten sie sich; sie blieben einfach still stehen und starrten mich unruhig an. Möglich, daß ihnen einige der Eisenbahnbeamten bekannt waren und daß sie mich für einen von ihnen hielten. Vielleicht schien ihnen auch in meiner Begleitung durch zwei Stammesgenossen eine Bürgschaft für meine Harmlosigkeit zu liegen. Wie dem auch sein mag, jedenfalls kamen sie allmählich zögernd näher, als ich nun aus dem Sack Ketten von billigen Perlen hervorzog, Taschenmesser, kleine Spiegel und andere Geschenke. Ich unterschied jetzt Männer, Weiber und Kinder, die alle völlig nackt waren. Man hatte mir in Porto Velho erzählt, daß die Caripunasindianer viel unter der Gewissenlosigkeit der Kautschuksammler zu leiden gehabt hatten, die ihre jungen Mädchen in den Wald verschleppten, um sie nach ein oder zwei Tagen, meilenweit vom Dorf, irgendwo zurückzulassen. Behandelte man[S. 96] sie aber als Menschen, so waren sie, wie es hieß, ein vergnügtes, fügsames, wenn auch aussterbendes Völkchen.
Dem Aussehen nach gehören die Caripunasindianer entschieden zum mongolischen Typus. Ihre Hautfarbe ist bronzen, das Haar glänzend schwarz. Sie tragen es vorn in Fransen geschnitten und lang über den Rücken herabhängend. Ihr Wuchs ist klein, und sie gehen gänzlich nackt bis auf einen dünnen Faserstrick, den die Männer um die Lenden schlingen. Die Weiber tragen an dessen Stelle einen verzierten Gürtel. Aber beides dient dazu, den Eindruck ihrer Nacktheit eher zu erhöhen als abzuschwächen. Säuglinge werden von der Mutter in einer Binde um den Nacken getragen. Kochgerätschaften scheinen sie nicht zu besitzen außer einigen rohen, irdenen Tiegeln.
Haben die Caripunas gerade keine andere Nahrung, so füllen sie sich den Magen, indem sie Erde essen. Man kann die Wirkung dieses Nahrungsmittels und des „Farinha“ genannten Mandiokamehls auf den Bildern beobachten. Es wird aus den giftigen Wurzelknollen des Kassavestrauchs gewonnen und bildet für alle halbzivilisierten und wilden Indianer das Hauptnahrungsmittel. In dem kleinen Eingeborenendorf am Mutum-Paraná sah ich zum erstenmal seine Zubereitung. Kurz nach Tagesanbruch begaben sich die Weiber des Stammes zu den „Farinha“-Öfen aus getrocknetem Lehm, unter denen fast beständig ein Feuer unterhalten wird. Zum Schutz gegen die tropischen Regengüsse tragen die Ofen ein niederes Dach aus Palmstroh. Die Kassavewurzeln werden in eine Art halbkreisförmigen Trogs gelegt, der aus dem gespaltenen Stamm einer Miritypalme ausgehöhlt ist, und dann zu Brei zerquetscht. Das nur roh durchgeknetete Mehl wird durch ein Fasersieb getrieben, zu einem feinen Teig verrührt und in Kuchen geformt, die man zuweilen einige Stunden lang gären läßt.
In diesem Stadium der Zubereitung der Eingeborenenfarinha[S. 97] enthalten die Kuchen etwas Blausäure und sind folglich giftig. Man entfernt das Gift, indem man den Teig unter Zusatz von Wasser in einen eigenartigen Faserbeutel einfüllt, der beim Ziehen an beiden Enden wie eine Presse wirkt und so Wasser und Gift ausscheidet. Dies wird mehrere Male wiederholt, ehe man das halbgetrocknete, gelblich weiße Mehl in einen Tiegel oder offenen irdenen Topf schüttet. Dann wird der Inhalt mit einem Stock über dem Feuer umgerührt, bis er eine gelbbraune Farbe annimmt und nun zur Nahrung tauglich ist. Fast alle Indianer führen diese „Farinha“, in Blätter eingewickelt, auf Jagd- oder Kriegszügen bei sich. Ihr Nahrungswert ist jedoch sehr gering, sie treibt den Magen auf und macht für Bleichsucht und die Beri-Beri-Krankheit empfänglich.
Mein Boy „Washington“ wußte einige englische Worte, und mit seiner Hilfe versuchte ich, nachdem die Geschenke verteilt waren, ein einsilbiges Gespräch zu führen, um herauszubringen, ob noch andere Indianerstämme in dem umliegenden Gebiet hausten. Fürs erste erfuhr ich nur, daß die Wälder fast unbewohnt waren bis auf einige Caripunasfamilien, die über das weite Gebiet verstreut weiter südlich lebten. Dann kam mir der Gedanke, eine rohe Landkarte auf dem Lehmboden der Lichtung zu skizzieren, aber die Indianer zeigten nur mehrere Male auf eine Stelle, wo etwa Porto Velho liegen konnte, weil sie offenbar der Meinung waren, daß ich dahin reisen wollte. So schien auch dieses Mittel zu versagen. Die Schwierigkeit lag darin, daß ich Auskunft über die Wohnsitze von Stämmen wünschte, die nicht zur Caripunasfamilie gehörten.
Schon wollte ich meine Bemühungen verzweifelt einstellen, als eine vom Mutum-Paraná nach Nordosten gezogene Linie plötzlich lebhafte Zeichen der Verneinung hervorrief. Indem ich diese Spur aufgriff, erfuhr ich schließlich, daß viele „Sonnen“ weit weg in jener Richtung mächtige Krieger lebten, die den Weißen ebenso[S. 98] haßten wie die Caripunasindianer. Dadurch wurde die Ansicht erfahrener Forscher in Velho bestätigt, daß die vom Madeira weit abliegenden Wälder gegen Nordosten zu von den Parintintins bewohnt würden. In der Nähe von Ansiedlungen waren sie nie zu sehen, galten aber für den wildesten Stamm in dem großen amazonischen Waldgebiet. Ich sprach den Namen „Parintintin“ aus, begegnete jedoch nur Blicken völliger Verständnislosigkeit. Entweder war meine Aussprache des Wortes unrichtig oder der Stamm trug bei den Indianern einen andern Namen. Auf spätern Reisen erklärte sich die anscheinende Verständnislosigkeit, da die einheimische Bezeichnung für die wilden Parintintins gänzlich verschieden klingt.
Das Indianerdorf am Mutum-Paraná bestand aus sechs Gemeinschafts-Maloccas. In jedem befanden sich die Herdfeuer dreier Familien, die in verhältnismäßiger Eintracht, aber ohne die leiseste Spur einer Absonderung zu leben scheinen. Das halbdunkle Innere war voll Rauch von den Holzfeuern, die auf dem Lehmboden verglommen. Auf der Lichtung war ein wenig Kassave angebaut.
Die Caripunas sind recht geschickte Fischer. Die Jagd auf Großwild, wie Jaguare, Tapire oder Hirsche ist ihnen zu anstrengend, und sie ziehen vor, Affen zu erlegen und zu verspeisen. Viele der Eingeborenen fallen alljährlich den Bissen der zahlreichen Giftschlangen in den Wäldern des obern Madeira zum Opfer oder lassen in den erdrückenden Umschlingungen der Riesenschlangen ihr Leben. Die Kinder sehen für Indianer manchmal ganz gut aus, altern aber sehr schnell. Das übliche Heiratsalter ist zwölf oder dreizehn Jahre.
Tatauieren oder Bemalen des Körpers ist bei den Caripunas nicht gebräuchlich. Dagegen umwinden sie Waden- und Armmuskeln mit schmalen Faserriemen. Ob sie das in dem Glauben tun, dadurch ihre Kraft zu erhöhen, weiß man nicht genau. Doch[S. 99] scheint es unwahrscheinlich, weil der Brauch unter Männern durchaus nicht allgemein ist und auch bei Weibern und jungen Mädchen auftritt. Die Kanus der Caripunas sind ganz roh. Ein Baumstamm wird ausgehöhlt und zusammengebogen, so daß die offenen Enden weit über dem Wasser liegen. Es muß nicht wenig gefährlich sein, in diesen unhandlichen Booten die seichten, von Alligatoren wimmelnden Flüsse und Igarapés zu befahren. Die Bewaffnung der Männer besteht aus vergifteten Speeren und Pfeilen. Die Kriegsbogen sind weit über zwei Meter lang, und auf nahe Entfernung treffen sie damit recht sicher. Blasrohre, Keulen, Tanzstöcke, Macanas (eine Art Holzschwerter) und andere Waffen oder Zeremonialgerätschaften bekam ich bei den Caripunas nicht zu Gesicht, wie ich sie später bei wilden Stämmen fand, die mit den Weißen noch nicht in Berührung gekommen waren. Einer der Indianer war im Candelaria-Krankenhaus bei Porto Velho operiert worden. Er humpelte auf einem Bein umher, ist aber seitdem gestorben. Die Tuberkulose ist von den Weißen eingeschleppt worden, und fast der ganze Stamm hat darunter zu leiden.
Eine der Dorfmerkwürdigkeiten war ein gefleckter Indianer von einem Stamm, der sich in den Wäldern zwischen dem Westufer des Madeira und dem Purúsflusse aufzuhalten pflegt. Sein ganzer Körper war mit weißen und braunen Flecken bedeckt. Sie sind die Folgen einer seltsamen Krankheit, die früher am Rio dos Purús, dem „Flusse der Gefleckten“, weitverbreitet war. Man behauptet, daß diese geheimnisvolle, aber nicht tödliche Krankheit entsteht, wenn man ohne Kleidung auf den Uferbänken schläft. Der einzig bekannte Stamm, der jetzt noch an ihr leidet, ist der der Pammarys oder Purús. Ein Sachverständiger in Porto Velho meinte, daß sie vom Trinken eines Safts gewisser giftiger Kräuter käme.
Zwei Nächte lagerte ich am Ufer in der Nähe des Caripunas-Dorfes. In der letzten brach einer jener heftigen Gewitterstürme[S. 100] aus, wie sie im Amazonengebiet häufig sind. Bald nach Sonnenuntergang setzte er mit Regenschauern und fast unaufhörlichen Blitzen ein, deren Licht die dunkelsten Winkel des Urwalds erhellte. Das Segeltuch meines kleinen Zeltes beulte sich nach innen unter der tropischen Sintflut. Kaum hatte sich der Sturm erhoben, als die Klappe des Zelts zurückgeschlagen wurde und ein kleines menschliches Wesen ohne weitere Förmlichkeiten hereinkam. Ich wollte gerade die Lampe anzünden, aber der Luftzug von der Zeltöffnung löschte das Streichholz aus. Einen Augenblick wußte ich nicht, ob ich ein neues anzünden und mich dadurch einem etwa beabsichtigten Angriff gegenüber hilflos machen sollte, oder ob es geratener wäre, vorsichtig nach der Flinte zu greifen, die irgendwo unter den bei Beginn des Gewitters hastig geborgenen Sachen lag. Dann fiel mir ein, daß der Eindringling wahrscheinlich einer meiner eigenen Boys wäre. Ich suchte einigermaßen Deckung, indem ich mich hinter den Gepäckhaufen kniete, strich ein Zündholz an — und brach in ein lautes Gelächter aus!
Der Eindringling entpuppte sich als ein kleines, etwa elfjähriges Mädchen, dessen Haare und Körper von Wasser trieften. Sie sah furchtbar erschrocken aus, entweder durch die Blitze oder weil sie sich in einer Falle fand, da die Zeltklappe hinter ihr wieder zugefallen war. So beeilte ich mich, die kleine Sturmlampe anzuzünden. Gelähmt vor Furcht, war das Kind außerstande zu sprechen oder sich zu bewegen und zuckte zurück, als ich es zu beruhigen versuchte. Die Lage war nicht gerade gemütlich. Die Kleine konnte jeden Augenblick ihre Sprache wiederfinden, und ihr Geschrei mochte ernste Folgen nach sich ziehen. Denn galten auch die Caripunas für umgänglich, so waren sie doch Wilde und daher dem Impuls des Augenblicks ohne Überlegung hingegeben. Dazu kam noch, daß sie von gewissenlosen Caboclos manche Unbill erlitten hatten.
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Trotzdem es gewiß kein Vergnügen war, schlüpfte ich also aus dem Zelt in die Sintflut hinaus, um sofort der Länge nach in den Schmutz über einige Kisten zu fallen, die in der Eile draußen vergessen worden waren. Das Leuchten der Blitze zeigte mir den Weg zu der unbenutzten Malocca, die man meinen beiden Caripunasboys angewiesen hatte. Zufällig waren sie aus einem andern Dorf und nicht wenig erschrocken, als ich plötzlich im Düster des Innern neben ihrer Feuerstelle auftauchte. Ich packte Washington am Arm und zog ihn in den Sturm hinaus und ins Zelt zurück. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, als ich das Kind, die Ursache alles Schreckens, auf meinem Bett sitzend entdeckte, wie es in aller Ruhe Biskuits aus einer Blechdose knapperte!
Ich gab Washington die nötigen Erklärungen, der grinste und mit der Kleinen redete. Wie es schien, war sie von der Neugier verführt worden, durch einen Schlitz in der Klappe hereinzugucken, als der Sturm sie packte. Nicht mein unerwarteter Anblick war es gewesen, der sie erschreckt hatte, sondern das brennende Zündholz, das ich in der Hand hielt! Unnötig zu sagen, daß die keineswegs scheue junge Dame ohne weiteres durch Washington an den Busen ihrer Familie zurückbefördert wurde, nachdem ich ihr Mund und Hände noch mit Keks vollgestopft hatte. Dieser Vorfall bewies mir, daß die Caripunas ihre Kinder im allgemeinen gut behandeln, sonst würde die Kleine Zeichen von Furcht verraten haben, als ich sie beim Verzehren meiner Biskuits überraschte. Am nächsten Morgen erfuhr ich auf meine Fragen, daß das Mädchen „Teite“ hieß, konnte aber nicht herausbekommen, was der Name bedeutete. Das brennende Streichholz hatte sie von meiner Fähigkeit überzeugt, Licht von den Blitzen mit der Hand einzufangen!
Da es unmöglich war, sich nach Nordosten durch die Wälder durchzuschlagen ohne die Begleitung zahlreicher mit Buschmessern versehener Leute und ohne Vorräte für einige Monate, entschied[S. 102] ich mich dafür, sofort nach Porto Velho zurückzukehren und von dort verschiedene Flüsse zu untersuchen, die der Madeira unterhalb seiner neunzehn Katarakte nach Nordosten entsendet. Die Oberläufe mehrerer dieser Flüsse waren noch unerforscht, und ich beschloß einen Vorstoß in die Wälder des Quellgebiets des Gy-Paraná zu versuchen. In Porto Velho hielt man das für äußerst gefährlich, da die Indianerstämme in jener Gegend feindlich gesinnt sein sollten. Aber in den großen tropischen Wäldern des Amazonengebiets ist nur für den Forscher ein Erfolg zu holen, der frisch und unbedenklich dem Unbekannten gegenübertritt. Einer Gefahr allerdings beabsichtigte ich mich nicht auszusetzen, der des langsamen Verhungerns in den düstern Wäldern, ein Schicksal, das dem unerfahrenen Reisenden im Amazonengebiet nur zu leicht beschieden sein mag.
Als meine Absichten und Ziele in Porto Velho bekannt wurden, bekam ich keine Kanuleute, da zwei Deutsche vor wenigen Monaten im Gebiet des Gy-Paraná von unbekannten Indianern ermordet worden waren. Einige Caboclos hatten nur ihre Gebeine aufgefunden. Dadurch aber wollte ich mir meine Pläne nicht vereiteln lassen. Ich bestieg den „Francisco Salles“, der den Madeira hinabfuhr, und verließ ihn wieder bei der kleinen Ansiedlung von Humaitá, wo es mir bald gelang, zwei halbzivilisierte Torasindianer von dem Faktoreibesitzer zu bekommen. Ich „kaufte“ sie mit der Vereinbarung, daß sie auf meinen Wunsch hin als Kundschafter in den Wäldern am Gy-Paraná Dienste leisten sollten.
In den Gebieten, wo Kautschuk- oder Nußbaumwälder vorhanden sind, wird sich der Reisende an den Endpunkten des Dampferverkehrs ohne besondere Empfehlungen der Schwierigkeit gegenübersehen, eingeborene Kanuleute und vor allem Träger zu bekommen. Der Grund liegt darin, daß fast alle halbzivilisierten[S. 103] Indianer ihren Herren, den Seringals oder Faktoreibesitzern, verschuldet sind. Sie dürfen nur dann einen andern Dienst annehmen, wenn der neue Herr ihre Schulden bezahlt. Verläßt ein verschuldeter Indianer seinen Dienst, so wird er zwangsweise zurückgeschafft, und wird er losgekauft, so steht er für die betreffende Summe in der Schuld seines neuen Herrn. In Brasilien wird diese Einrichtung viel gerechter gehandhabt als in Peru, weil sich die Tätigkeit der Beamten des Indianeramtes auch auf die Waldgebiete erstreckt. Aber der europäische Reisende wird über die Höhe jener „Schulden“ doch recht erstaunt sein, wenn er sie nicht wieder auf einen Nachfolger abwälzen kann, den ihm Freunde oder Beamte des Indianeramtes verschaffen.
Zwei Tage mußte ich in dem Moskitonest Humaitá aushalten und mich mit gerissenen Mischlingen herumschlagen, um verschiedene Vorräte recht zweifelhafter Güte einzuhandeln. Dann endlich schafften meine beiden Indianer das Gepäck das steile Ufer hinab ins Kanu, und fort ging es auf dem dunkeln, schnell dahinströmenden Flusse. Es war ein kochend heißer Tag, und die Oberfläche des Wassers strahlte wie geschmolzenes Gold. Auf meinem kleinen Taschenthermometer las ich 37° Celsius im Schatten ab. Ehe die Nacht einbrach, hatten wir das Häuflein Palmhütten von Boa Esperança passiert und die schwierige Durchfahrt zwischen den „Pedras das Gaivotas“ (Möwenfelsen) hinter uns. Dann aber waren wir am Ende unserer Kräfte und schlugen das Lager auf einer kleinen Graslichtung in der Nähe der Mirary-Faktorei auf. Es war eine wundervolle tropische Nacht. Auf dem Fluß lag der Silberglanz des Mondes, von dem sich die schwarzen Umrisse der hochgewachsenen, schirmartigen Bäume des großen Urwalds abhoben.
Während ich auf der schmalen Lichtung auf und ab ging, um die Glieder nach dem stundenlangen Im-Kanu-Sitzen wieder geschmeidig[S. 104] zu machen, fühlte ich feine Spinnenfäden sich um mein Gesicht und meine Hände schlingen. Auf verhältnismäßig trockenen Plätzen im Dickicht kommt das durchaus nicht selten vor, und ich würde es wohl kaum bemerkt haben. Aber in meinem Zelt brannte die Lampe, die ich zum Lesen und Schreiben immer mit mir führe, und auf der erleuchteten Zeltwand erschien ein dunkler Fleck, der meinen Blick auf sich zog. Bei genauerem Zusehen erkannte ich eine mächtige, haarige Spinne, anscheinend von der Vogelspinnenart, und mit Hilfe meiner elektrischen Taschenlampe verfolgte ich das Netz, das sich im Dreieck zwischen zwei etwa sieben Meter voneinander entfernten Bäumen und dem Zelt ausspannte!
Wenn etwas mir einen Schauder einjagt, so sind es Spinnen. Der Anblick dieses Untiers, dessen Scheußlichkeiten auf dem Seidenzeug des Zelts durch das Licht der Lampe in jeder widerlichen Einzelheit sichtbar wurden, jagte mir trotz der erstickenden Schwüle der tropischen Nacht ein Frösteln über den Rücken. Wie sollte ich den Eindringling wieder loswerden? Schlug ich nach der Spinne mit dem Flintenkolben, so gab’s ein Loch oder das Zelt wurde überhaupt niedergerissen und meine unersetzliche Lampe ging in Trümmer. Ein Schuß wäre ebenso unheilvoll gewesen, aber trotzdem konnte ich mich nicht überwinden, im Zelt zu schlafen, solange das Untier sich nur einen oder zwei Fuß von meinem Gesicht befand — wenn auch an der Außenseite des Zeltes.
Zehn Minuten später hatte sich noch nichts an dieser Lage geändert. Hätte ich einen Eimer voll Wasser über die Bestie geschüttet, so wäre sie freilich fortgekrochen, aber vielleicht in das Zelt hinein! Schließlich weckte ich in meiner Verzweiflung einen der im Kanu schlafenden Indianer. Die Spinne wurde in einem Reserve-Moskitonetz gefangen und wanderte in meine Sammlung. Dann endlich konnte ich mich zurückziehen mit einem Gefühl der Erlösung, aber auch der äußersten Unzufriedenheit mit mir selber.[S. 105] Während der folgenden schlaflosen Nacht hatte ich dann genug Zeit, über die Albernheit von „Idiosynkrasien“ im Licht der modernen Psychologie nachzudenken.
Es ist wirklich unnötig, bei einer Schilderung der Schönheit des nächsten Morgens zu verweilen. Denn auf diesen ungesunden tropischen Flüssen des entlegenen Amazonengebiets sind die Morgen beständig frisch, klar und sonnig, außer vielleicht während der dicksten Regenzeit. Kaum hatten wir begonnen, flußaufwärts zu rudern, als auf dem Ostufer sehr hohe, rote Klippen erschienen, die die Eintönigkeit des Waldes unterbrachen. Hinter der grünen Palmeninsel von Pasto Grande wurde das Kanu plötzlich in einen Strudel gezogen, der sich um einen sehr gefährlichen Felsen unter Wasser gebildet hatte. Es drehte sich um sich selbst, und wir mußten all unsere Ruderkünste anwenden, um nicht zu kentern, bis wir wieder in ruhiges Wasser gelangten.
Bald nach Mittag trafen wir auf die Mündung des unerforschten Maicyflusses, der sich später als der beste Weg ins Herz des Landes der Parintintins erwies. In der Nähe der Mündung standen einige ziegelbedeckte Häuser, eine Barraca und eine Windmühle. Sie bildeten, wie ich leider erst später erfuhr, eine Station des Indianeramts. Hätte ich hier angehalten, statt den Gy-Paraná hinaufzufahren, würde ich mir viel Zeit, Mühe und auch manche Gefahr erspart haben. Für den Reisenden liegt die größte Schwierigkeit im Amazonengebiet in seiner Unkenntnis dessen, was schon vorher von andern geleistet worden ist, in dem Fehlen zuverlässiger Karten und einer Stelle, die wirklich Auskünfte zu geben in der Lage ist. Andererseits wären mehrere damals unbekannte Indianerstämme unentdeckt geblieben, wenn wir uns nicht den ungesunden Gy-Paraná hinaufgearbeitet hätten.
Bald hinter der Calamarinsel und den vier Häusern, die den stolzen Namen „Calamar“ tragen, fuhren wir in die von Inseln[S. 106] versperrte Mündung des Gy-Paraná ein. Künftigen Reisenden diene zur Auskunft, daß sich die Einfahrt auf der linken Seite befindet; rechts gelangt man in einen kleinen Fluß, der die Lokalbezeichnung Rio Preto führt. Hat man einmal den breiten Madeira hinter sich gelassen, so scheint der letzte Zusammenhang mit der Zivilisation plötzlich abzureißen. Was auf der weiten Wasserfläche für Gesicht und Gehör unbemerkt blieb, drängt sich nun der Aufmerksamkeit auf, besonders während der eigentümlichen Stille der äquatorialen Abenddämmerung. Fast sofort schlossen sich die Mauern der dunklen Bäume um den still strömenden Fluß zusammen, und die Luft wurde schwer vom schwülen Geruch des tropischen Waldes. Unter einer riesigen Induba schlugen wir unser Lager auf, gerade als das letzte Gold des Himmels die lichteren, aber schweigenden Hallen der unerforschten Wälder um uns durchzitterte.
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Als wir früh am folgenden Morgen dicht am Ufer dahinfuhren, kam aus dem Gebüsch ein knurrender Laut und man hörte Zweige brechen. Im nächsten Augenblick bekam ich zum erstenmal den amazonischen Tiger, den Jaguar, zu Gesicht. Das Gebüsch und das hohe Schilfgras teilten sich gegenüber dem Kanu, und der König des südamerikanischen Großwilds erschien für einige Sekunden, offenbar geblendet vom Licht. Keine 10 Meter von uns entfernt stand er da. Vom Hellgelb des Fells hoben sich die pechschwarzen Streifen und Flecken prächtig ab. Es war unmöglich, die volle Größe des Tieres zu schätzen, da nur Kopf, Brust und Vorderpranken in dem hohen Gras und verfilzten Ufergebüsch sichtbar wurden. Der Jaguar knurrte und verschwand sofort wieder, als er uns mit erhobenem Kopf gewittert hatte. Meine beiden Indianer hätten ihn gern verfolgt, aber die begrenzte Zeit und unsere beschränkten Vorräte verboten es. Auf späteren Reisen jedoch glückte es mir, eine solche Jagd mitzumachen. Die Turasindianer fangen den Jaguar in einer aus Gras geflochtenen Schlinge, die auf dem Wechsel verborgen wird, den die Tiere betreten, wenn sie, meist bei Sonnenuntergang, sich an den Fluß oder ein Wasserloch zur Tränke begeben. Das Ende des Grasseils, das in die Schlinge ausläuft, ist so an einem heruntergezogenen Ast befestigt, daß das gefangene Tier buchstäblich gehängt wird. Das Fell wird nicht zu Kleidern verwendet, sondern[S. 108] dient als Decke in den Hütten oder als Schutz gegen die tropischen Regengüsse. Gegen Speere auf der Jagd sind die Indianer eingenommen, weil durch die zahlreichen Stiche das Fell beschädigt wird.
Es gibt wohl kaum einen schöneren Anblick als den des amazonischen Waldes aus der Nähe besehen. Von den breiten Flüssen aus, dem Amazonenstrom selbst, dem Tapajóz, Madeira oder Ucayali macht er den Eindruck einer fast ungebrochenen und sehr eintönigen Mauer aus verschwommenem Grün — eines Vegetationschaos. Bei näherer Bekanntschaft jedoch entfaltet er den ganzen Zauber seiner Schönheit. Über den Fluß breiten sich in tausendfältigem Widerspiel der Wasserfläche zahllose Palmenarten: die bis zu 15 Meter hohe Miritypalme mit ihren großen fächerähnlichen Wedeln und rotleuchtenden Fruchtbüscheln; die graziöse Caranápalme mit ihren Dornen am Stamm und an den Blättern; die Jupatipalme mit ihren federartigen Blütenmassen, die über die lichtern Stellen des Flusses ihre Schatten werfen; die Bandpalme Jacitará (Desmoncus), die flechtenartig an den Stamm fast jedes der Baumriesen sich anklammert. Mächtige, silberweiße Stämme heben sich von der dunkeln Blätterwand ab und breiten, wie riesenhafte grüne und rote Schirme, ihre Kronen hoch über das unendliche grüne Meer. Neben der Assaipalme, die wie ein Rohr vom leisesten Luftzug bewegt wird, erhebt sich stark und bejahrt die Tucumápalme. Grüngefaserte Seile hängen in Schlingen von den höchsten Ästen, und Orchideen, Cattleyen und andere Arten heben ihre Blüten aus feuchten und üppigen Höhlungen. Sinkt dann die Sonne im Westen, so wandelt sich das Grün der Wälder in Gold, Rot, Dunkelbraun und Violett, bis es endlich in geisterhafter Schwärze erstirbt.
Träge flossen die Tage in dem leichten Rindenkanu unter dem Palmstrohschutzdach dahin, denn es war die Zeit des Hochwassers[S. 109] und gab keine Strömung. Der mächtige Amazonenstrom, dessen Gewässer selbst den Atlantischen Ozean über 300 Kilometer weit von seiner Mündung färben, zwingt allen Nebenflüssen seinen Willen auf, sogar solchen wie dem Gy-Paraná, der fast 1600 Kilometer vom Hauptstrom abliegt und fast 3000 Kilometer vom Gestade des Meeres! Er zwingt sie, ihre Gewässer zurückzuhalten, bis er selber weit genug gefallen ist, um sie aufnehmen zu können. Dadurch werden unermeßliche Flächen überflutet. Fast zwei Tage lang fuhren wir über ruhige Seen und durch überschwemmte Urwälder. Die eigenartige Stille dieses weiten überschwemmten Dschungelgebiets ist höchst eindrucksvoll. Jedes Anzeichen von Leben scheint sich aus Land und Bäumen zurückgezogen zu haben. Die schnatternden Affen, die lärmenden Papageien und Araras, die Spieß- und Pampashirsche, die sonst durch das brechende Unterholz streifen, der sein Weibchen lockende Tapir, das im Schmutz wühlende Wildschwein, der herumscharrende Ameisenfresser, die in Höhlen wohnenden Gürteltiere — sie alle flüchten vor den steigenden Fluten, und selbst die Vögel streifen über das dunkelgrüne Blätterdach ohne Schrei und Gesang. Nur die sumpfliebenden Schlangen, die Fischottern und Alligatoren, die gefürchteten elektrischen Aale und die Wolken von Insekten scheinen sich im Dunst der Gewässer und des Moders wohlzufühlen.
So schlich Stunde um Stunde dahin in Sonnenhitze und Schweigen. Überall um uns der Wald, aus der Grenzenlosigkeit des stagnierenden Wassers emporsteigend. Dann wieder lange Nächte im Kanu in verkrampfter Haltung, während der gelbe tropische Mond hinter den hohen Bäumen stand und sonderbare Schatten auf das Brackwasser warf. So niedergedrückt fühlte ich mich, daß ich mehr als einmal, in Augenblicken der Schwäche, laut redete, um den Eindruck der schauerlichen Verlassenheit zu vertreiben. Diese überschwemmten Flächen, die zuweilen 50 bis zu[S. 110] 250 Geviertkilometer bedecken, sind so häufig in den niedern Flußtälern, daß die beiden Turas, schweigend und unbewegt wie nordamerikanische Indianer, weiterpaddelten, ihre kärgliche Nahrung zu sich nahmen, schliefen, und gleichmütig nach dem tiefen Wasser Ausschau hielten, das das Bett des Flusses anzeigt.
Gegen Mittag des zweiten Tages in diesem Riesensumpf ereignete sich ein Zwischenfall, der unsere kleine Expedition beinahe zum Scheitern gebracht hätte. Von einem überhängenden Ast fiel eine Schlange ins Boot, während die Ruderer in der Mittagshitze ausruhten. Tod durch Schlangenbiß ist so häufig unter den nackten und daher ungeschützten Eingeborenen, daß meine beiden Indianer in ihrer Hast, von dem sich krampfhaft ringelnden grünen Ding wegzukommen, beinahe das Kanu zum Kentern brachten. Sie zogen die Gefahren vor, die unsichtbar unter dem brüheartigen Wasser lauerten und sprangen über Bord.
So einfach war es nicht, den gefährlichen Eindringling unschädlich zu machen. Es war eine Louro Machaco oder Papageienschlange, so genannt wegen ihrer wunderschönen grünen Farbe. Ich quetschte sie mit einer schweren Kiste gegen die Bordwand und beförderte sie dann durch einige Schläge mit dem Paddel ins Jenseits. Die Haut wurde ihr als Siegestrophäe abgezogen.
Nach einer solchen Aufregung wird die erschlaffende Hitze des amazonischen Waldes erst recht fühlbar. Meine dünne Kleidung war vom Schweiß buchstäblich wie aus dem Wasser gezogen. Zu der körperlichen Unbehaglichkeit kam noch der seelische Schock bei dem Gedanken, wie nahe wir daran gewesen waren, durch das Kentern des Kanus Ausrüstung und Vorräte einzubüßen. Die verhältnismäßig unbedeutende Anstrengung rief eine krankhafte Abgespanntheit hervor, die einige Stunden anhielt und mich zur Einnahme einer Extradosis Chinin veranlaßte, was zuzeiten im entlegenen Amazonengebiet für Leben und Tod entscheidend ist.[S. 111] Wir befanden uns nun mitten im Sumpf- und Flußgebiet des oberen Madeiratals, dem Lieblingsaufenthalt des Alligators und der Anakonda. Exemplare dieser Riesenschlange von zwölf Meter Länge waren in den dem Madeira benachbarten Seen und Sümpfen oberhalb Porto Velho gefangen worden. Die Eingeborenen behaupten, daß einige dieser überfluteten Dschungelstrecken im Kanu nur unter Todesgefahr zu befahren sind, die von diesen riesigen Reptilien droht. Die Haut der Anakonda ist gewöhnlich bräunlich oder schwarz und gelb gestreift. Sie erdrückt ihre Beute, indem sie sie in ihren Umschlingungen zusammenpreßt, bis die Knochen gebrochen sind. Dann soll sie Affen, Jaguare, Tapire und Ameisenfresser fast im ganzen verschlingen können. Ein Mensch, den sie einmal in solcher Umschlingung gefangen hat, hat kaum noch eine Hoffnung auf Rettung.
Der Vorfall mit der Schlange ist an sich durchaus nichts Ungewöhnliches auf Reisen im Amazonengebiet. Aber den beiden Turas brachte er die Eingeborenensagen von der „Mae de Agua“, der „Mutter des Wassers“, wieder in Erinnerung, die sich zweifellos auf Anakondas oder ähnliche Ungeheuer beziehen. Eine Zeitlang ängstigten sie sich vor allem, was nur einigermaßen diesem Schrecken der Sümpfe glich, ob das Licht des Tages, Dämmerung oder Mondschein herrschte. Was mich selber betrifft, so war ich zu sehr damit beschäftigt, mich gegen die Insektenpest zu verteidigen, als daß ich mich ähnlichen Gedanken hätte hingeben können. Sie machte jede Stunde des Tags und der Nacht zu einer endlosen Qual, aber wenigstens wurde ich dadurch davon abgehalten, an weit größere jedoch weniger unangenehme Bestien zu denken.
Am vierten Tag erschienen höhergelegene Stellen, und wir landeten, um dort ein Lager an einer Stelle aufzuschlagen, die eine riesige Insel zu sein schien. Um mich von der langen Kanufahrt ein wenig zu erholen, machte ich mich auf die Beine, nahm die Winchesterbüchse[S. 112] aus ihrem behelfsmäßigen, wasserdichten Gehäuse und wanderte gegen die lichteren Stellen des Waldes zu, wobei ich nicht verfehlte, etwa alle hundert Meter ein Stück Rinde als Merkzeichen von den Bäumen abzuhauen. Es ist merkwürdig, wie leicht man sich im tropischen Dschungel verirrt. Noch kürzlich verlor eine Gesellschaft englischer Reisenden den bekannten Dschungelpfad zu den Tarumáfällen am Rio Negro, obwohl sie von Caboclo-Führern begleitet war. Sie feuerten Flintenschüsse ab, um mit einer vorangegangenen Gesellschaft in Verbindung zu kommen, aber trotzdem glückte es nicht, den Weg wieder aufzufinden, und die ganze Gesellschaft mußte nach zweistündigem vergeblichen Umhersuchen zu ihren Barkassen zurückkehren, ohne die Fälle erreicht zu haben.
Ich sah nichts, was wert gewesen wäre, eine wertvolle Patrone zu verschwenden. Munition ist selbst in den Niederlassungen äußerst schwer zu beschaffen, und es ist fast unmöglich, eine ausreichende Menge mitzuführen, da es so schwer ist, Kanuleute und Träger zu mieten. So kehrte ich wieder zum Lager zurück, gerade als die letzten blutroten Strahlen der Sonne hinter den überschwemmten Wäldern erloschen, durch die wir gekommen waren. Die unbeschreibliche Stille, die der kurzen Dämmerung voraufgeht und allen Reisenden in tropischen Wäldern bekannt ist, breitete sich über die Erde. In diese Lautlosigkeit hinein klang das gewisse Geräusch, das entsteht, wenn eine Bogensehne zurückschnellt. Darauf folgte ein seltsam erstickter Schrei und plötzlich schnatterten ganze Kolonien von Affen, die bisher geschlafen hatten.
Als ich das Lager erreichte, das nur wenig Schritte entfernt war, deutete einer der Boys auf eine Stelle unter einem Baum, und im Zwielicht konnte ich gerade noch den zusammengezogenen, vom Pfeil durchbohrten Körper eines haarigen Guaribas oder Brüllaffen (Simia mycetes) erkennen. Sie heißen so, weil sie[S. 113] mit ihrem zu einer knöchernen Schallblase erweiterten Zungenbeinkörper ein unheimlich durchdringendes Geschrei auszustoßen vermögen. Er war reichlich ein halbes Meter lang, hatte einen großen Kopf, fünf Finger an jeder Hand und einen buschigen Greifschwanz. Die Farbe des Fells war rötlichbraun. Ich ärgerte mich über die unnütze Grausamkeit, bedachte dann aber wieder, daß unsere jagdlichen Gesichtspunkte doch wohl verschieden waren. Währenddem erzählte der Schütze stolz und eifrig, wie schwierig diese Affen ihrer Schlauheit wegen mit Pfeil und Bogen zu erlegen wären und daß sie geröstet oder als Ragout bei seinem Stamm als Leckerbissen betrachtet würden.
Nun wurde ein großes Feuer angezündet und einer der Kochtöpfe herangeschafft. In dieser Nacht kostete ich zum ersten- und letztenmal Affenfleisch. Sein Geschmack ist keineswegs unangenehm, aber irgendwie widerstand mir die Mahlzeit, und dann war ich im tiefsten froh darüber, als einer der Indianer die Hand des Affen aus dem Kochtopf fischte. Sie sah nun nicht mehr braun aus, sondern blaßrosa und glich der Hand eines Kindes. Dieser Anblick und die Gier, mit der der Indianer sich ans Verzehren machte, verursachte mir ein solches Gefühl von Übelkeit, daß ich ein großes Glas Whisky aus der kostbaren Flasche zu mir nehmen mußte. Hätte ich damals geahnt, was mich bei andern Stämmen noch erwartete, wäre es klüger gewesen, mich gleich gegen den würgenden Ekel zu stählen, den ich schon beim Zusehen einer Affenmahlzeit empfand, wie sie bei allen Eingeborenen des Amazonengebiets häufig genug ist. Der Festschmaus zog sich durch die ganze Nacht hin, so daß schlafen unmöglich war. Ich war daher froh, als wir endlich im hellen Sonnenschein des tropischen Morgens das Lager abbrachen.
Um Mittag kamen wir an einem schmalen Fluß vorüber, der von Südwesten her in den Gy-Paraná mündet. Da ich bis heute auf keiner Karte seinen Namen finden konnte, habe ich ihn auf der[S. 114] Kartenskizze (S. 149) als „Monkey River“ (Affenfluß) eingetragen, weil ein ganzer Trupp Spinnenaffen auf den niedern Ästen der nächsten Bäume umherturnte. Einige Kilometer weiter flußaufwärts wurde das Wasser so seicht, daß die beiden Indianer über Bord springen mußten, um das Batalõe über eine Reihe neugebildeter Schlammbänke zu ziehen. Ermüdet von dieser Arbeit schlugen wir das Lager schon vor Sonnenuntergang auf. Meine Absicht war, am nächsten Tag die Umgebung des Flußufers nach Indianerpfaden oder irgendwelchen Spuren abzusuchen, die etwa das Vorhandensein von Stämmen in der Nähe verraten könnten. Trotzdem ich selbst und einer der Boys abwechselnd aufmerksam Wache hielten, wurden uns während der Nacht aus dem Kanu einige Lebensmittel und ein Jagdmesser gestohlen. Dies, obwohl bisher irgendeine Spur freundlich oder feindlich gesinnter Indianer nicht zu entdecken gewesen war.
Dieses Lager gelangte zu ungewöhnlicher Wichtigkeit und verdient deshalb eine genauere Beschreibung. Während der letzten Kilometer hatten die Baumkronen das schmale Bett des Flusses beinahe überwölbt, auf der von uns gewählten Lagerstelle aber wich das hohe Schilfgras und das Buschdickicht ein wenig zurück und ließ einen rotbraunen Platz frei, den der anscheinend undurchdringliche dunkel drohende Dschungel umstand. Hier konnte das Licht der Sonne eindringen, ungehemmt vom üppigen Vegetationswachstum, und kaum hatte ich einen Blick darauf geworfen, war ich entschlossen, nicht daran vorüberzufahren.
Bald war das kleine wasserdichte Zelt aufgeschlagen, ein Feuer von den trockenen Kernspänen umgefallener Bäume angezündet und das schwelgerische Mahl bereitet, bestehend aus gesalzenem Konservenfleisch, Früchten, Biskuits und schwarzem Kaffee. Nachdem ich ihm alle Ehre angetan hatte, legte ich mich auf die wasserdichte Decke, um zu rauchen, auszuruhen und nachzudenken, ehe ich[S. 115] die üblichen Eintragungen über das am letzten Tag Geleistete in mein Notizbuch machte. Die Sonne strahlte in tiefem Rot und Gelb und verlieh der Landschaft etwas vom Geist des tropischen Waldes. Als ich noch ein Knabe war, hatte ich einmal in einem Wanderpanorama ein treues Bild vom ersten Lager Sir H. M. Stanleys am Ufer der innerafrikanischen Seen (mit allerlei Gepäck) gesehen, und das stieg nun ungerufen aus den Tiefen des aufgespeicherten Unterbewußten vor meinem Geist empor. Sah man vom See ab, so fand sich hier in der amazonischen Wildnis eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Vorstellungen des Künstlers von Innerafrika.
In diesem Lager war es, wo meine Pläne einen völligen Schiffbruch erlitten. Als ich die Schulden der beiden Turas zahlte und sie damit in meinen Dienst nahm, hatten sie sich bereit erklärt, in den Wäldern umherzukundschaften, um mit den in der Umgebung lebenden oder jagenden Wilden in Verbindung zu kommen. Nun weigerten sie sich glatt, diesen Teil des Programms auszuführen, indem sie erklärten, sie würden dabei umgebracht und aufgefressen, da die betreffenden Stämme ihrem eigenen Stamm ebenso wie allen Weißen feindlich gesinnt wären. Dies zusammen mit dem Verlust von Lebensmitteln schien die Expedition zu einem plötzlichen und unheilvollen Abschluß zu bringen. Die beiden durch Drohungen oder mit Gewalt in die Wälder zu treiben, wäre natürlich schlimmer als nutzlos gewesen, und das Versprechen einer Belohnung hatte nur Mißtrauen und Widerspenstigkeit zur Folge.
Unter solchen Verhältnissen schien es unangebracht, noch weiter flußaufwärts zu fahren. Das Lager zu verlassen und mich selbst in dem umliegenden Wald auf die Suche zu machen, hätte bedeutet, das Unheil geradezu herauszufordern. Ließ ich die beiden Indianer allein, so mochten sie Verrat planen oder sich, was weit wahrscheinlicher war, in ihrer Furcht flußabwärts davonmachen. Dann hätte[S. 116] ich mich allein, vielleicht ohne Lebensmittel, einer Reise von 250 Kilometer einen schwierig zu befahrenden Fluß hinab gegenübergesehen, mit weit überschwemmten Flächen oder Seen und feindlichen Indianern in den Wäldern auf der ganzen Rückzugslinie. Später stellte sich heraus, daß meine Boys alte Kriegspfade anderer Stämme wiedererkannt hatten.
Es liegt viel Wahrheit in dem Spruch, daß Notwendigkeit die Mutter der Erfindung ist. Während ich auf dem Rand des Kanus saß, um mich zu einem würdelosen Rückzug zu entschließen, kam mir ein Einfall, der das Problem schließlich löste. Ich bewaffnete mich mit der Flinte und der elektrischen Taschenlampe, legte einige Kleinigkeiten, darunter mein letztes Taschenmesser, in das Kanu und wartete die Nacht hindurch auf die Rückkehr der Indianerdiebe. Mehrere Male kamen Geräusche aus dem dichten Busch, der das Lager umgab, und die Versuchung war groß, die Taschenlampe anzuknipsen. Wer einmal eine Nacht unter ähnlichen Umständen durchwacht hat, weiß, wie lang die Stunden scheinen und wie unerträglich die Spannung allmählich wird.
Als der Mond aufstieg und sein Licht über die Landschaft warf, schien die Gelegenheit vorüber, aber ich setzte doch die Wache fort, wenn ich auch Augen und Gehör nicht mehr so anzustrengen brauchte. Stunde um Stunde verrann langsam, und im feuchten Dunst überfiel mich ein unangenehmes und Unheil kündendes Frösteln. Dann zeigten sich die ersten helleren Streifen der Dämmerung; der ungesunde Nebel verschwand von den Uferbänken, hielt sich aber noch in den üppigen Buschdickichten. Der Wald erwachte zum Leben. Durch und durch entmutigt und erschöpft kroch ich auf die wasserdichte Decke und vergaß bald die Suche nach neuen Menschenrassen.
[S. 117]
Etwa zwei Stunden später erwachte ich durch ein Zerren an der Decke zu vollem Bewußtsein. Der Indianer, der seiner dünnen Glieder wegen „Moskito“ hieß, plapperte und deutete aufgeregt nach der Zeltöffnung. Ich sprang schnell auf die Füße und schüttelte ein Gefühl ab, das dem glich, wenn man es verschlafen hat. Groß war meine Überraschung, als ich den andern Boy „Unani Assu“ (großer Mann) sich hinter einem Baumstumpf verbergen sah. Meine Augen suchten die Ursache und entdeckten sie in weniger als 25 Meter Entfernung. Auf der gegenüberliegenden Uferbank stand ein kleiner, untersetzter, bronzefarbiger und gänzlich nackter Wilder, den Bogen in der Hand. Ich ergriff meinen Rasierspiegel als Friedensgabe, verließ das Zelt, rief laut und hielt die Hände hoch als Zeichen, daß ich unbewaffnet war.
Fast im gleichen Augenblick zischte ein Pfeil von irgendwoher aus dem Dickicht des Ufers gegenüber, war jedoch zu kurz gezielt und fiel vor dem Lager in den Fluß. Da ich die Gefahr unserer Lage erkannte, falls ein Angriff von mehreren Seiten aus erfolgte, beschloß ich, alle Feindseligkeiten zu vermeiden. Ich ging vielmehr ins Zelt zurück, raffte hastig zusammen, was den Indianern begehrenswert erscheinen mochte, und hielt es in die Höhe, damit sie es sehen konnten. Diesmal antwortete kein Pfeil. So legte ich die Sachen an den Rand des Ufers und zog mich auf das höher gelegene Lager zurück.
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Lange Zeit machten die Indianer keinen Versuch, sich in den Besitz der Geschenke zu setzen. Ich benützte die Zwischenzeit, um Flinte und Revolver zu laden und das Gepäck am Ufer des kleinen Igarapés aufzustapeln. Dann erschien plötzlich der gleiche Wilde, den ich auf dem Ufer gegenüber gesehen hatte, auf der Lagerlichtung. Es war ein spannender Augenblick. Irgendwie war ich mir bewußt, daß aus dem dunkeln Dickicht des Waldes unsichtbare Augen jede meiner Bewegungen überwachten. Wieder winkte ich mit erhobener Hand und deutete auf die Geschenke am Uferrand, etwa 12 Meter entfernt.
Offenbar hatte der Indianer den Fluß durchschwommen oder durchwatet, denn sein Haar war naß. Meine beiden Boys hatten sich in ihrem Entsetzen versteckt, und ich selbst sprach unglücklicherweise kein Wort Guarani, das von den Stämmen in diesen Wäldern gewöhnlich verstanden wird. Der Indianer näherte sich vorsichtig den Geschenken, riß sie, in Reichweite angekommen, an sich und zog sich wieder an den Saum des Dschungels zurück. Inzwischen hatte ich „Moskito“ hinter einem Baum in der Nähe entdeckt und zog ihn auf die Lichtung heraus. Ich setzte ihm auseinander, daß wir alle zweifellos umgebracht würden, wenn er nicht versuchte, sich mit dem Indianer freundschaftlich zu stellen, und befahl ihm, auf Guarani zu rufen, daß wir Freunde seien und Lebensmittel brauchten.
Der Indianer hielt plötzlich im Schatten der Bäume still, und mein Herz begann unruhig zu schlagen. Dann versuchte ich, durch Zeichen eine Unterhaltung anzubahnen und brachte den Wilden allmählich näher, indem ich ihm ein Stück wohlriechender Seife anbot. Offenbar plagte ihn die Neugierde mächtig, aber die Vorsicht verbot ihm, die Seife aus meiner Hand zu nehmen, und ich mußte sie erst auf den Boden legen. Nachdem so eine Art Freundschaft hergestellt war, bedurfte es nur kurzer Zeit, um ihn[S. 119] aufzuklären, daß er uns mit Lebensmitteln versorgen solle, was am leichtesten auszudrücken und zu verstehen war. Der Indianer schien einzuwilligen und verschwand wieder im Dickicht.
Einige Sekunden darauf trafen drei Pfeile mit bemerkenswerter Genauigkeit den Boden ein wenig links vom Zelt. Sie waren augenscheinlich in hohem Bogen abgeschossen worden, entweder wegen der Entfernung oder damit sie senkrecht in der Erde steckenblieben. Später brachte ich diese Trophäen in Sicherheit; sie waren schön geschnitzt und mit Federn verziert. Was zuerst wie Feindseligkeit, niedrige Undankbarkeit und Verräterei ausgesehen hatte, gewann plötzlich eine andere Bedeutung. Die Pfeile waren nacheinander abgeschossen worden, und jeder steckte links vom Zelt ein Meter vom nächsten im Boden. Hätten die Indianer mörderische Absichten gehabt, so würden sie entweder auf mich selbst gezielt oder ihre Geschosse über das ganze kleine Lager verteilt haben. Offenbar waren die Pfeile als Gegengeschenke gedacht, und ich fühlte mich nun wesentlich behaglicher als während der letzten halben Stunde.
Etwas später erschien der untersetzte Indianer wieder, nachdem er mehrere Male etwas gerufen hatte, was wie „Aemu“ klang. Als Antwort schrien wir zurück. Er brachte einen toten Spinnenaffen, von dessen Körper jedes Haar abgesengt war. In achtungsvoller Entfernung folgten ihm zwei andere Stammesangehörige. Einer von ihnen war mit einem Blasrohr bewaffnet.
Ich bedeutete ihnen, die Waffen abzulegen, was sie auch, bis auf den Mann mit dem Blasrohr, merkwürdigerweise ohne Zögern taten. Dann erhielten sie weitere Geschenke, die mich der letzten Gabel und des letzten Löffels beraubten. Das Vertrauen nahm allmählich zu, und nach kaum einer halben Stunde waren die drei wild blickenden Gestalten dabei, alles im Lager zu untersuchen.
Aus unserer beschränkten Unterhaltung, die meinerseits nur[S. 120] durch Zeichen geführt werden konnte, wozu „Moskito“ noch einige Worte in Guarani beisteuerte, schien hervorzugehen, daß sie zu einem Stamm namens „Taipehe“ gehörten und von einem „Tapiry“, d. h. einer Jagd- oder Fischerhütte, kamen, die etwas abseits ihres Dorfs lag. Später erfuhr ich, daß „Taipehe“ der einheimische Name der Parintintins ist. Um ihr Vergnügen beim Empfang auch der kleinsten Gabe auszudrücken, schlugen sie sich auf die Brust, stampften mit den Füßen und wiederholten das Wort „Aemu“, das, soweit ich ausmachen konnte, „Kamerad“ bedeutet. Ob sie schon früher Weiße gesehen hatten, schien mir zweifelhaft, jedenfalls noch nie in der Nähe. Am merkwürdigsten berührte mich, daß sie sich beharrlich weigerten, irgend etwas unmittelbar aus meiner Hand anzunehmen und sich beständig drei Meter von mir entfernt hielten.
Mein Wunsch, das Blasrohr zu untersuchen, das ein junger, höchstens 15 Jahre alter Krieger trug, begegnete keinem Widerstand. Es war aus dem Stamm einer Palme verfertigt und etwa drei Meter lang. Das Kernholz war entfernt und das innere Bohrloch gleichmäßig geglättet. Etwaige Krümmungen hatte man durch ein kleines Palmstämmchen im Innern ausgeglichen, das in das größere Rohr eingeschoben war. Die vergifteten Pfeile steckten in einer Art Köcher, der mit Verzierungen versehen war und an einer Schnur am Blasrohr hing.
Da ich gern gesehen hätte, wie weit die Freundschaft der Wilden ging, nahm ich einen der Pfeile heraus, dessen feine, fast nadelscharfe Spitze, wie ich wohl wußte, in Gift getaucht war, und machte, als ob ich seine Schärfe auf meinem Daumen prüfen wollte. Der junge Krieger verzog zunächst keine Miene, aber der alte Mann gestikulierte, worauf der Junge mir durch Zeichen andeutete, das Blasrohr und die Pfeile auf den Boden zu legen, damit er sie aufheben könne. Dies tat ich denn auch, und nach[S. 121] wiederholten „Ye Aemu“-Rufen, die nach meiner Meinung sagen sollten: „Wir sind Kameraden“, verschwanden sie im Wald.
In der Nacht ließen wir das Zelt stehen, legten uns aber zum Schlafen ins Kanu. Ich schlief die ganze Nacht nicht und hielt Wache. Am nächsten Morgen schlummerte ich dann ein paar Stunden und machte meine Eintragungen. Am folgenden Tag erschienen die Indianer wieder und verlangten weitere Geschenke. Da ich den eigens dafür mitgebrachten Vorrat bereits beinahe erschöpft hatte, gab ich jedem ein schmutziges Hemd, worüber sie sich außerordentlich zu freuen schienen, obwohl sie die Hemden nicht anzogen.
Obschon man diese Indianer nicht für Zwerge halten konnte, gehörten sie sicherlich zu einem wenig bekannten Stamm oder Unterstamm von außergewöhnlich kleinem Wuchs. Jeder Versuch, sie zu messen, schlug fehl, aber dem Augenmaß nach betrug ihre Länge 1,35 bis 1,40 Meter. Dabei waren sie außerordentlich stark und hatten ungewöhnlich breite Brustkasten. Die Gesichter hatten keinen platten oder mongolischen Typus, auch war die Augenstellung nicht schief wie bei den Asiaten.
Außer einem Strick um die Lenden und einer zylinderförmigen Röhre aus Palmblättern gingen sie völlig nackt. Nur Arme und Beine waren mit Strohbändern oder „Embira“ umwunden. Die Farbe ihrer Haut war eine matte Bronze, im Ton viel heller als die der Mundurucus am Tapajóz. Wahrscheinlich war die verhältnismäßig hellere Farbe und die Kleinheit des Körperbaus das Ergebnis des Aufenthalts im Düster der Wälder seit ungezählten Jahrhunderten, abgeschlossen vom Licht der Sonne. Nicht nur, daß sie die Augen in schrecklichster Weise verzerrten, so oft sie auf den Glanz des Flusses trafen, sondern sie kehrten den Rücken auch beharrlich den Stellen zu, wo die Sonne durch das Blättergewölbe schien.
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Daß sie zu den wilden Parintintins gehörten, unterliegt nicht dem leisesten Zweifel, obwohl diese Indianerstämme nur dem Namen nach bekannt waren, als ich mit ihnen in den Dschungeln am Gy-Paraná zusammentraf, so daß ich keine Möglichkeit hatte, sie endgültig zu identifizieren. Hätte ich damals schon gewußt, was ich erst viel später erfuhr, so wären diese verräterischen und kriegerischen Indianer in ihren entlegenen Wäldern sicher von mir unbehelligt geblieben. Wie es aber nun einmal war, gab ich ihnen in mühseliger Zeichensprache meinen Wunsch zu erkennen, ihr Dorf aufzusuchen.
Auf meinen Vorschlag hin begannen sie lange miteinander zu reden, konnten sich aber offenbar nicht entscheiden. Das Gespräch wurde in merkwürdig hoher Tonlage geführt, aber fast ohne jede Klangfärbung. Ich sah wohl, daß die Unternehmung tatsächlich nicht ohne Gefahr sein würde. Denn in viel weniger entlegenen Waldgebieten waren Caboclos und Sammler von brasilianischen Nüssen häufig von den wilden Stämmen ermordet worden, die in ihren waldverborgenen Schlupfwinkeln hausen und zum Teil noch niemals von weißen Menschen gehört haben. Ein derartiger Fall hatte sich während meines Aufenthalts in Manáos ereignet. Am Ufer des Cauraflusses war von einem Seringuero eine halbverweste Leiche, der der Kopf und das rechte Bein fehlten, aufgefunden worden. Doch muß ich gestehen, daß mir damals die ganze Größe der Gefahr unbekannt war, was allerdings auf meine beiden moskitoähnlichen Boys keineswegs zutraf. Sie brachten die alten Gründe vor, um mich zurückzuhalten: zuerst, daß die Maloccas der Indianer viele „Sonnen“ entfernt wären, und als sie sahen, daß mich das nicht rührte, erklärten sie, wir würden alle aufgefressen werden wegen „der Stärke in uns“. Diese Behauptung suchten sie anschaulich zu machen, indem sie in ihre eigenen Arme hineinbissen.
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Meine besondere Sorge war, alles zu vermeiden, was nach Zwang aussah. Denn ich wußte, daß wir im Dickicht der Wälder gänzlich von der Gnade der Wilden abhängig sein würden, die, wie alle Stämme im Amazonengebiet, zweifellos von verräterischem Charakter waren. Uns offen umzubringen mochte bei der Unterlegenheit ihrer Waffen seine Schwierigkeit haben, wenn sie auch für den Dschungelkrieg sehr gut geeignet waren. Aber nichts wäre ihnen leichter gewesen, als uns ins Herz der großen, düstern Wälder und zugleich in einen Hinterhalt zu führen. Die vorherrschenden Angriffsmethoden im Amazonengebiet sind jenen ähnlich, die früher bei den Aschantis und Eingeborenen am Kongo im Schwang waren. Gassen werden durch das Dickicht längs den Flüssen und natürlichen Dschungelpfaden geschlagen, und die vorrückende Expeditionskolonne wird plötzlich so lange mit einem Hagel vergifteter Pfeile überschüttet, bis ein wirksames Gewehrfeuer die Eingeborenen in den Schutz ihrer fast undurchdringlichen Wälder zurückgetrieben hat.
Später hörte ich jedoch, daß eine der Lieblingsmethoden dieses Stammes, sich seiner Feinde zu entledigen, darin besteht, zahllose Palmdornen in starkes Gift zu tauchen und mit den Spitzen nach oben auf den Boden der Dschungelpfade zu streuen, die ihre bloßfüßigen Opfer zu betreten pflegen. Sogar die halbblütigen Kautschuksammler wandern beständig mit nackten Füßen durch die Wälder, da sie sich durch jede Fußbekleidung behindert fühlen. Auch tritt auf Leder über Nacht Schimmelbildung auf, und die Termiten zerstören in wenigen Stunden ein Paar Reitstiefel, wenn Unvorsichtigkeit oder Sorglosigkeit ihnen dazu Gelegenheit gibt.
Schließlich entschied sich die Frage meines Dorfbesuchs nach einer aufregenden halben Stunde. Der Älteste von den drei, der auch der bei weitem am wildesten Aussehende und Häßlichste war, zeigte auf das Kanu und deutete zugleich an, daß sie uns[S. 124] begleiten würden. Wir paddelten den schmalen und von Hindernissen versperrten Fluß fast zwei Stunden lang hinauf, und ich begann mich zu fragen, ob das nicht nur eine List wäre, uns in die Irre zu führen, bis sie Gelegenheit fänden, während der nahenden Nacht zu entkommen. Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang zeigte der ältere Mann, dessen Haar in Fransen auf die Stirn hing, auf das Ufer, und nachdem wir das Kanu durch das scharfblättrige Sumpfgras hindurchgestoßen hatten, landeten wir an einer besonders dunkeln Stelle des Waldes.
Zwei Stunden etwa lagen noch vor uns, ehe die Sonne hinter den endlosen Wäldern untergehen und die kurze tropische Dämmerung völliger Finsternis weichen würde. Unter diesen Umständen hatte ich keine Lust, an diesem Tag noch weiterzumarschieren und versuchte, das zu erklären. Aber die Verständigungsmöglichkeit durch Zeichen und Gebärden ist weit beschränkter, als jemand glauben mag, der noch nie einen ganzen Tag darauf angewiesen war, darin seine Meinungen klarzumachen. Jeder Reisende und Forscher sollte wirklich seiner Lehrzeit einen Kursus in einer Taubstummenschule anfügen, falls er beabsichtigt, abseits gelegene Gebiete aufzusuchen, wo Führer und Wörterbücher mit den „gebräuchlichsten Redensarten“ nicht die leiseste Hilfe bieten.
Wir zogen das Kanu aufs Ufer und bedeckten es mit Zweigen. Dann nahmen wir das Gepäck auf die Schultern, ganz gegen die Wünsche der beiden Boys, und tauchten in das Dunkel des ein wenig unheimlichen Urwalds. Zuerst bemühte ich mich, gewisse auffallende Bäume im Gedächtnis zu behalten, umgefallene und von den Ameisen zerfressene Stämme und Einsenkungen im überwachsenen und unsichtbaren Boden, für den Fall, daß wir genötigt wären, einen eiligen Rückzug zum Fluß anzutreten. Aber bald sah ich die Unmöglichkeit eines solchen Verfahrens ein. Hatte ich meinem Gedächtnis eben eine bestimmte Palme eingeprägt, so[S. 125] zeigte sich sicher im grünen Zwielicht ein paar hundert Meter weiter die gleiche Palme in fast genau derselben Umgebung. Plötzlich erinnerte ich mich an meinen Taschenkompaß, und von da an merkte ich mir jeden Richtungswechsel vom Fluß aus und fühlte mich nun ein wenig unabhängiger von jenem unbekannten X — dem Wohlwollen eines wilden Stammes irgendwo in den Wäldern vor uns.
Als das Dämmerlicht immer mehr abnahm, schloß ich hinter unsern drei Führern auf, teils, um irgendwelche verräterische Handlung verhindern zu können, dann auch, um mich vor schlimmen Fällen über umgefallene Baumstämme zu bewahren und den Ranken der Schlingpflanzen auszuweichen, in denen sich Füße, Kleider und Kopfbedeckung verfingen. Gerade ehe es völlig dunkel und jedes Weiterkommen im Wald unmöglich wurde, gelangten wir auf einen kleinen freien Platz. Hier standen die Bäume weiter auseinander, und das Unterholz wurde lichter. Offenbar bildete der Dschungelpfad, den wir gekommen waren, den gewöhnlichen Weg zwischen dem Fluß und dem Eingeborenendorf. Aber er war so schmal und gewunden, daß nur ein mit allen Geheimnissen des Waldes vertrauter Indianer seinen Anfang am Fluß zu bemerken imstande war oder ihm durch den fast undurchdringlichen Busch auf allen Seiten folgen konnte.
Auf der Lichtung angelangt, fanden wir uns fast augenblicklich inmitten einer Menge dunkler Gestalten. Bei der Finsternis war es unmöglich, Farbe oder Geschlecht zu unterscheiden. Der älteste unserer Führer deutete auf eine niedere Öffnung in einer der bienenkorbähnlichen Palmhütten, deren Umrisse gerade noch sichtbar waren. Da ich kein Mißtrauen zu zeigen wünschte, bückte ich mich und trat ein, nachdem ich noch die Boys beauftragt hatte, das kleine, wasserdichte Zelt aufzuschlagen. Im Innern der Malocca, wie diese Eingeborenenhütten heißen, herrschte kohlenpechrabenschwarze[S. 126] Finsternis, aus der nur die düstere Glut einiger kleinen Feuerstellen in verschiedenen Winkeln hervorleuchtete. Als sich meine Augen allmählich an die rauchige Luft und das flackernde Licht der Holzfeuer gewöhnt hatten, erkannte ich Gruppen umherhuschender Gestalten und vermochte die Größe der Hütte zu schätzen, die etwa 10 Meter lang, 5 Meter breit und 3½ Meter hoch sein mochte. Augenscheinlich lebten mehrere Familien in dieser einen Hütte. Jeder war eine bestimmte Fläche des Lehmbodens und eine eigene Feuerstelle zugewiesen. Trotz der erstickenden Hitze und schlechten Lüftung wird das Feuer beständig in Brand gehalten. Auf der einen Seite erhob sich eine große Plattform aus Zweigen, die mit getrocknetem Gras zusammengebunden waren. Zum Hinaufsteigen diente ein der Länge nach geteilter Palmstamm, in den Löcher eingeschnitten waren. So bildete er eine Art Leiter, deren Gebrauch allerdings nur für nackte Füße berechnet war. Dieser erhöhte Platz war dem Häuptling vorbehalten, der Raum darunter seiner Familie. Noch in wenigstens einer der fünf übrigen Gemeinschaftshütten des Dorfes war eine derartige Plattform vorhanden. Dies schien darauf hinzudeuten, daß in dem Dorf zwei Familien mit je einem Oberhaupt lebten oder daß der Medizinmann dasselbe Vorrecht wie das Familienoberhaupt oder der Häuptling des Stammes genoß, denn bestimmte und homogene Eingeborenenrassen gibt es im Amazonengebiet nicht.
In der Nähe der Plattform fand sich ein „Manguaré“, eine Vorrichtung, die als Telegraph und zugleich als Musikinstrument dient. Sie bestand aus zwei Stücken eines ausgehöhlten Baumstamms, das eine länger als das andere, die verschiedene Töne hervorbringen, wenn darauf geschlagen wird. Dazu bedient man sich einer kurzen Keule, wie beim Gong, deren eines Ende augenscheinlich in den Milchsaft des Kautschukbaumes getaucht und dann mit Palmfasern umwunden wird. Die beiden Teile hingen an[S. 127] Riemen von einem Querbalken herab, der die Hauptstütze des Daches bildete. Auf diesen „Manguarés“ schlägt man den Takt bei den Tänzen. Sie geben einen durchdringenden, sonoren Klang von sich. Ein ähnliches, aber etwas größeres Instrument hing von einem Baum vor der Hütte und diente als Sturmglocke oder Alarmsignal. Man kann damit über eine Waldstrecke von 20 bis 25 Kilometer Signale geben, die allerdings so weit nur in der Stille der Nacht vernehmlich sind. Hört man in der Nähe zu, so bringt jeder Schlag einen eigenen, bestimmten Ton hervor. In der Hütte waren an den Enden der hohlen Röhren Menschenschädel als Verzierungen angebracht, denen man alle Zähne ausgerissen hatte, um sie für Halsketten zu verwenden. Die Schädel stammten von den bei Stammesfehden getöteten Feinden. Solche Kriege zwischen den Stämmen scheinen überall in den entlegenen Wäldern fast ununterbrochen zu herrschen und über Jahrhunderte hinweg fortgeführt zu werden. Wahrscheinlich hing damit auch der Widerwille meiner beiden Boys zusammen, unbekannte Waldgebiete zu erkunden, wo Wilde hausen mochten, die ihrem Stamm feindlich gesinnt waren.
Einige Minuten hielt ich’s in der widerwärtigen Hüttenatmosphäre aus. Der Rauch der Holzfeuer war zum Ersticken. Nachdem ich durch die niedere Öffnung hinausgekrochen war, atmete ich mit Entzücken die feuchte und schwüle Nachtluft des Waldes wieder ein. Vor Jahren hatte mich einmal ein plötzlicher Sturm gezwungen, wie sie auf dem „Dach“ der neuen Welt häufig sind, eine volle Nacht in einer Lehmhütte der Aymara-Indianer des bolivianischen Hochlands zu verbringen. Da ich nicht wußte, ob die Maloccas der Parintintins ebenso ungezieferverseucht sein mochten, hielt ich es für geraten, mein ganzes Unterzeug zu wechseln.
Die Frage, die sich nun erhob, war: Schlafen oder Nichtschlafen. Natürlich wäre es einfach gewesen, die Nachtwache unter[S. 128] uns drei zu teilen, aber schwieriger war es schon, sich einem friedlichen Schlummer hinzugeben und der Wachsamkeit und Ehrlichkeit eines Eingeborenen anzuvertrauen. Waren meine beiden Boys auch halbzivilisiert und von anderm Stamm, so schien es doch ein Wagnis, ihnen den Schutz der zum Leben nötigen Vorräte vor den Räubereien anderer gänzlich unzivilisierter Eingeborenen zu überlassen. Das Ergebnis aller Überlegungen war eine schlaflose Nacht, die durch Moskitoschwärme um nichts erfreulicher gemacht wurde. Auch andere Quälgeister stellten sich ein, die Sandflöhe, die sich unter die Haut eingraben, eine chronische Entzündung hervorrufen und, wenn medizinische Hilfsmittel fehlen, mit einer sterilisierten Nadelspitze entfernt werden müssen.
Als endlich das Licht des Tages durch die Lücken in der Baumwand strömte, war es mir völlig klargeworden, daß Nächte im amazonischen Urwald mehr an Dante als an die 1001 Nächte der arabischen Märchen erinnern. Aber nicht lange darauf kam die Belohnung. Fast schon vor Sonnenaufgang hatte der älteste unserer drei Führer vom letzten Tag uns Speise ins Zelt geschickt. Es war ein unappetitliches Gemengsel aus einer Art Pfeilwurz bereitet, in dem als pièce de résistance Teile eines großen Frosches zu erkennen waren, der bei vielen der amazonischen Indianer als Leckerbissen gilt. Außerdem aber gab es einen Haufen von „Maracajas“, der köstlichen Frucht der Passionsblume. Da ich keinen Argwohn zeigen wollte, vergrub ich heimlich das Pfeilwurzgericht. Heimlich, weil die Kinder durch die Zeltöffnung und unter das Segeltuch hereinguckten. Dann machte ich mich mit übertrieben zur Schau gestelltem Appetit an die Früchte. Aber sie bekamen mir schlecht, und ich mußte später meine Zuflucht zu Chlorodyne nehmen.
Die Angehörigen des Stammes waren alle mittelgroß oder[S. 129] auch unter Mittelgröße, hatten aber stark entwickelte Muskeln. Sie scheinen sich fast ausschließlich von Wild, Fischen, Nüssen, Wurzeln und Früchten zu nähren. Nicht weit von den Maloccas waren mit unendlicher Mühe kleine Lichtungen ausgerodet, auf denen sie Bananen, Baumwolle, Yukka, Yamswurzeln und Kassave anbauten. Tag und Nacht lebten sie im Zustand völliger Nacktheit, nur die Frauen trugen eine sehr kleine „Tanga“ (Schürze) aus gewebter Baumwolle oder andern Fasern, die mit dem Saft des Orleanstrauchs (Bixa Orellana) rot gefärbt werden. Sie verfertigen auch Körbe und andere Gegenstände aus Stroh und Weidenzweigen, Hängematten und rohe, irdene Töpfe. Die Haare entfernen sie vom Gesicht und Körper mit zangenähnlichen Muscheln, die man im Schlamm der Igarapés und Waldseen findet.
Die Fischerboote und Kriegskanus werden aus leichten, ausgehöhlten Bäumen oder aus Rinde gemacht und durch die Hitze des Feuers in Form gebracht. Anscheinend besitzen die Parintintins ein natürliches Zeichentalent. Sie verzieren selbst ihre „Taquaras“ oder Pfeile mit Bildern von Vögeln, Reptilien und wilden Tieren. Mit dieser Waffe erlegen sie Großwild so gut wie Fische und Vögel. Ihre schweren Kriegsspeere und Bogen, wie auch sich selber bei ihren barbarischen Orgien, schmücken sie mit Vogelfedern. Alle Krieger tragen dann Kronen und Gürtel aus glänzenden Federn. Einige lassen die Schwänze von Araras über den Rücken herabhängen, andere, auch Weiber zuweilen, haben Bilder dieser Vögel auf Gesicht und Körper eintatauiert. Bei solchen schauerlichen Festlichkeiten tragen die Weiber breite, lebhaft gefärbte Strohtangas, die von den Ellenbogen bis zu den Lenden reichen.
Die Parintintins verbringen oft Tage fern von ihren Maloccas auf dem Kriegspfad und auf Jagd- und Fischzügen. Zum Fischen bauen sie sogenannte Tapirys an den Ufern der Seen und[S. 130] Igarapés. Sie bestehen aus einer Plattform, die auf Pfählen über dem Wasser errichtet und vor den tropischen Regengüssen durch ein Palmstrohdach geschützt wird. Rund um die Maloccas finden sich an den Bäumen merkwürdige eingeschnitzte Darstellungen von Menschen und Tieren. Sie dienen nicht nur zur Belustigung der zahllosen nackten kleinen Kinder, sondern werden auch als Zielscheiben benützt beim Unterricht im Schießen mit Bogen und Blasrohr, wobei die Krümmung der Bäume das Treffen nicht unerheblich erschwert.
Seltsam und auffallend ist das völlige Fehlen von Bärten und Schnurrbärten bei den alten Männern. Offenbar werden alle Haare gleich entfernt, wenn sie sich auf den Gesichtern der Männer oder dem Körper der Weiber zu zeigen beginnen. Die Sprache der Parintintins scheint zur Sprache des „Tupi“ zu gehören. Sie ist gänzlich verschieden von der Lingoa Geral der alten halbzivilisierten Anwohner am Madeira, ein weiterer Beweis, daß sie weder mit den Weißen noch der Halbzivilisation längs der Hauptflüsse in nähere Berührung gekommen sind. Mit der Guaranisprache hat das Tupi viel Gemeinsames.
Die Pfeilspitzen bestehen aus gehärtetem Holz, das in Gift getaucht wird, oder aus den scharfen Zähnen des Waschbären. Frauen und Kinder tragen Halsketten aus den Zähnen dieses Tiers, des Jaguars und Alligators oder aus Menschenzähnen, die aus den Schädeln im Kampf getöteter Feinde herausgerissen wurden.
Die Parintintins sind sehr abergläubisch wie auch andere amazonische Stämme, sie glauben an gute und böse Licht- und Nachtgeister und können als Mondanbeter bezeichnet werden. Nachts legen sie Früchte und Fleisch auf die Bäume zur Speise für die bösen Geister, damit sie nicht in die Maloccas kommen. Kein Mann darf sich ein Weib nehmen, ehe er nicht ein wildes Tier[S. 131] erlegt hat, dessen Namen er nun sein Leben lang trägt. In der dritten Nacht meines Aufenthalts unter den Parintintins war ich so glücklich, einer ihrer schauerlichen Festlichkeiten beiwohnen zu dürfen, die anscheinend mit ihrer Mondverehrung zusammenhing.
Sie begann mit dem wiederholten Kriegsgeschrei „Ya Taipehe!“, was, wie ich später erfuhr, bedeutet: „Wir sind die Parintintins!“ Auf das unheimliche Geschrei in der Stille der Wälder folgte ein nachahmendes Wehklagen von seiten der Weiber im Schatten der Bäume. Dann begannen die mit Federn prachtvoll geschmückten Tänzer mit ihren langen, mit Büscheln versehenen Speeren in grotesker Weise in die schwarzen Schattenflecke der Bäume oder vor dem Mond vorbeiziehenden Wolken hineinzustechen. Plötzlich aber steckten sie die Speere mit der Spitze nach oben in den Boden der Lichtung, und die ganze wirre Masse der nackten Wilden formierte sich zu einer Linie von Bogenschützen, die nun vorging, zurückwich, einen Kreis bildete und sich in Paare auflöste, während sie unaufhörlich die Gebärden des Schießens machten, schrien und mit den Füßen stampften.
Es war ein barbarisches Schauspiel, das sich auf der kleinen Lichtung vor dem schwarzen Hintergrund des Waldes abspielte. Ebenso plötzlich ging das kriegerische Bild in eins des Friedens über. Gegen das Mondlicht zu stand nicht mehr eine Linie dunkler Gestalten mit Speeren oder Bogen, sondern eine Reihe von Paaren, die auf Bambusflöten eine seltsame Musik hervorbrachten und den Takt dazu mit den Füßen stampften.
Dann folgte ein Mahl von Affenfleisch, Eidechsen, Farinha und einem seltsam bittern und höchst berauschenden Getränk, das „Embo“ genannt wird. Aus dem denkwürdigen Tanz entwickelte sich eine ebenso unvergeßliche Orgie, an der die Männer, Weiber und selbst die Kinder teilnahmen. Was danach kam, entzieht sich der Beschreibung. Glücklicherweise stand der Mond niedrig[S. 132] über dem Wald, und die Lichtung lag im Schatten. Streit erhob sich, und das Gesicht des einen Beteiligten wurde durch den Schlag eines Steinbeils fast entzweigerissen.
Da ich sah, daß die Sache jeden Augenblick eine schlimme Wendung nehmen konnte, machte ich mir den Schatten der Bäume zunutze, rief meine beiden Boys zu mir und zog mich mit ihnen in eine Bananenpflanzung zurück, von wo wir das Zelt zu übersehen vermochten. Mitternacht war schon vorüber, aber ich wagte weder einzuschlafen, wo ich lag, noch nach dem erleuchteten Zelt zurückzukehren. Vier Stunden lang ging das Schreien, Brüllen und Singen so weiter. Als aber die ersten gelben Streifen am blaßgrünen Himmel erschienen, verstummte jeder Laut, und vom Fieber geschüttelt, begab ich mich ins Zelt und zu meinem Chininvorrat zurück.
Am nächsten Tag war der ganze Stamm mürrisch, verdrießlich und schlechter Laune. Einer oder der andere der jungen Krieger erschien im Zelt und verlangte Geschenke. Dann ließen sie ihre Bogen schwirren und taten so, als zielten sie auf unser Lager. Meine beiden Kanuboys fürchteten sich so, daß sie nicht dazu zu bringen waren, die Nähe des Zelts zu verlassen. An diesem Tag war ich Zeuge einer Begräbniszeremonie. Ob das Opfer bei einem Streit in der verflossenen Nacht getötet worden war, kann ich nicht sagen. Die Leiche wurde aus der Malocca herausgetragen und der Kopf vom Rumpf getrennt. Den Kopf brachte man in die Hütte zurück, der Rumpf aber wurde in den Wald geworfen, um dort von den wilden Tieren oder den geierartigen Urubú abgenagt zu werden.
Früh am Nachmittag des fünften Tages gab es eine Überraschung. Ein Indianermädchen trat aus einer der Hütten und ging über die Lichtung in die Baumwollpflanzung auf der gegenüberliegenden Seite. Im Licht der Sonne erschien ihre Hautfarbe fast weiß. Bei näherer Untersuchung erwies sie sich jedoch als ein[S. 133] stumpfes Gelb, viel heller als die Farbe aller andern Stammesmitglieder, soweit wir sie bisher zu Gesicht bekommen hatten. Auch sie trug kein anderes Kleidungsstück als die kleine Tanga. Aus einer Reihe von Fragen ging hervor, daß die Parintintins sich Sklaven und Frauen auf ihren Raubzügen verschaffen und daß das Mädchen zu einem andern Stamm gehörte, der weit im Süden seinen Wohnsitz hat. Genauere Auskünfte, als daß sie aus dem Süden stamme, konnte ich nicht erlangen.
Eine ähnliche Entdeckung wurde erst kürzlich von einem Beamten des Indianeramts, namens Curt gemacht, der gegenwärtig mit dem Versuch betraut ist, diesen wilden Stamm der Zivilisation näherzubringen.
Da ich einen allzu großen Beitrag zum Festmahl der letzten Nacht gestiftet hatte, erhob sich von neuem die Frage der Ernährung, die an Wichtigkeit nur von der eines sichern Rückzugs aus dem Dorf der Parintintins übertroffen wurde. Ich erkannte ganz klar, daß unser Leben von der täglichen Verteilung von Geschenken abhing. Viele von ihnen wären ja für die Indianer ganz nutzlos gewesen ohne die Anwesenheit jemands, der ihnen den Gebrauch erklärte. Eines Tages weigerte ich mich, weitere Geschenke zu machen, hauptsächlich deshalb, weil wir selber nur noch wenig hatten, selbst von den ursprünglichen Vorräten an Lebensmitteln und Kleidern. Von diesem Augenblick an schlug die Stimmung um, und in ehrlicher Bestürzung gelobte ich eine große Verteilung, falls sie das Zelt und das schwere Gepäck zum Kanu zurückschaffen würden. Vorerst waren sie damit nicht einverstanden. Sie sagten, ich solle bei ihnen bleiben und ihnen im Kampf mit meiner Flinte beistehen.
Das gab eine erwünschte Gelegenheit. In einer Reisetasche war noch eine 5,6 Millimeter kalibrige Sportflinte mit abnehmbarem Kolben verpackt. Als ich ihnen sagte, daß ich ihnen für die Rückbeförderung zum Kanu einen „sprechenden Stock“ geben würde,[S. 134] wurde die Begierde des Häuptlings schließlich so heftig, daß sie einwilligten. Ich fühlte mich nun wesentlich erleichtert. In der Nacht noch suchte ich das wenige Wichtige unter meinen Sachen heraus und packte es zusammen mit einigen Lebensmitteln und Arzneien in meinen Rucksack.
Die Parintintins hielten Wort. Am folgenden Morgen begleitete uns fast der halbe Stamm auf dem Rückweg zum Fluß. Ich bemerkte aber, daß meine beiden Kanuboys außer einem kleinen Pack Lebensmittel nichts trugen. Von diesem Augenblick an wußte ich, daß nur eine Politik der starken Hand uns lebend bis zum Fluß brächte. Der Häuptling, ein verrunzelter alter Krieger mit den dünnen, knochigen Beinen des Beri-Beri-Kranken, verlangte ungefähr halbwegs, ich solle ihm den „sprechenden Stock“ zeigen. Das schlug ich glatt ab und antwortete, daß in meiner Hand alle Stöcke sprächen. Höhnisch nahm er einen dürren Ast auf und überreichte ihn mir. Ich fühlte nach meinem Revolver und feuerte durch meine Rocktasche, während ich den Ast in der andern Hand hielt. Diese einfache List machte Eindruck auf die Parintintins. Und obwohl noch einige saure Gesichter machten und mit ihren Bogen klapperten, geschah nichts weiter, bis wir den Fluß und das Kanu erreichten.
Nachdem wir die Zweige, mit denen das Kanu bedeckt war, entfernt hatten und alles zur Abfahrt fertig war, nahm ich die Vogelflinte aus der Reisetasche und händigte sie dem Häuptling ein. Sogar jetzt, nachdem wir sechs Tage zusammengewesen waren, wollte der mißtrauische alte Indianer sie nicht aus meiner Hand nehmen, sondern bedeutete mir, ihm den Gebrauch zu zeigen. Das tat ich denn auch vor all diesen halbdrohenden Wilden, aber ich trug Sorge, nur Platzpatronen dazulassen, aus denen ich während der letzten Nacht Kugeln und Pulver entfernt hatte. Ins Kanu springend machte ich den Revolver schußbereit. Und es[S. 135] war gut, daß ich das tat, denn kaum tauchten die Ruder in den Fluß, als ein Schauer vergifteter Pfeile überall um uns das Wasser traf. Einer blieb zitternd im Holz des Kanus stecken.
Es war ein kitzliger Augenblick. Moskito verlor den Kopf und paddelte aus aller Kraft, während der andere Boy vor Furcht wie gelähmt schien. Dadurch fuhr das Kanu schief in den Fluß hinaus, statt sich von den Indianern zu entfernen, die längs dem verwachsenen Ufer nicht folgen konnten. Ich feuerte drei Schüsse gegen das Dickicht ab, hinter dem die verräterischen Indianer Deckung gesucht hatten. Ob es nun der Knall war, der den Zauber brach oder ein wohlgezielter Fußtritt — jedenfalls glitt das Kanu im nächsten Augenblick den Fluß hinab, getrieben von zwei gänzlich verängstigten Boys. Fast zwei Stunden lang paddelten sie so stark sie nur konnten, daß das kleine Fahrzeug über die dunkle, ruhige Wasserfläche hinschoß, in der sich millionenfach die Blätter des Urwalds spiegelten.
Von den ermüdenden Tagen der Rückfahrt in der Dampfbadatmosphäre dieser zentralen Waldregion brauche ich nichts zu erzählen, außer daß wir weder einen Indianer noch eine Malocca zu Gesicht bekamen. Die Parintintins, die das ganze Gebiet zwischen den Flüssen Marmellos und Gy-Paraná bewohnen, ziehen die entlegenen Wälder, Seen und Igarapés vor. Auch heute sind sie zum größten Teile noch nicht unterworfen, wie aus dem folgenden lebensvollen Bericht hervorgeht, den ich der persönlichen Güte des Señhor J. Gondim vom Indianeramt verdanke. Ich machte seine Bekanntschaft auf späteren Reisen im Amazonengebiet. In diesem Bericht schildert er in allen Einzelheiten die letzten Unternehmungen, die gemacht wurden, mit diesem wilden Stamm der großen Wälder in freundschaftliche Beziehungen zu kommen.
[S. 136]
„Die Parintintins, die die entlegeneren Wälder des Madeiratals bewohnen, zwischen den Flüssen Marmellos, Maicy und Gy-Paraná, sind erst in allerletzter Zeit in Berührung mit der Zivilisation gekommen. Wie man jetzt weiß, verlegen diese schlauen und äußerst wilden Stämme ihre Maloccas häufig in dem unermeßlichen Gebiet von unbekannten Wäldern, Flüssen und Sümpfen dieses großen Binnenlandes des ewigen Dämmerlichts. Ein- oder zweimal waren zufällig vereinzelte Forscher oder Kautschuksammler auf sie gestoßen, von denen manche angegriffen und ermordet worden waren. Selbst die genaue Lage der Wohnsitze dieser Wilden war ein Geheimnis, und die Grenzen der Zivilisation hatte nur spärliche Kunde von den wenigen Weißen erreicht, die in diese entfernten Gebiete eingedrungen und lebend wieder herausgelangt waren.
Daher mußten erst vorbereitende Forschungen von den Offizieren des Indianeramts ausgeführt werden über weite Gebiete hin, um Beweise für das Dasein der Parintintins in der Form von Kriegspfaden, verlassenen Maloccas und frischen Lagerplätzen zu entdecken, ehe die schwierige und gefährliche Arbeit wirklich in Angriff genommen werden konnte, mit diesen Stämmen in unmittelbare Berührung zu treten.
Der erste Posten des Indianeramts in diesem Gebiet wurde[S. 137] am 24. März 1921 in der Schleife einer großen Flußkrümmung am mittleren Maicy, einem Nebenfluß des Madeira, errichtet. In den umliegenden Wäldern hauste ein starker Stamm von Pirahanindianern (Turas), die seit Jahrhunderten in beständigen Fehden mit ihren nomadischen Nachbarn, den Parintintins, leben. Die Kämpfe zwischen diesen beiden Stämmen finden oft auf dem offenen Fluß statt, wo sie in ihren rohen Kanus aus ausgehöhlten Baumstämmen heftige Angriffe aufeinander machen und sich aus nächster Nähe mit vergifteten Pfeilen überschütten. Jeder Kriegszug von der einen Seite hat einen Rachezug von der andern zur Folge, und so geht der Krieg ewig weiter.
Mit der Gründung der Station am mittleren Maicy schränkten die Pirahans ihre blutigen Kriegszüge gegen die benachbarten Stämme allmählich ein und betreiben nun Jagd und Feldbau mit den Geräten und Werkzeugen, die ihnen von der Station geliefert wurden. Nachdem diese Vorbereitungsarbeit vollführt war, wurde ein neuer Hilfsposten an einem Nebenfluß des Maicy errichtet, dem Maicy-Mirimé. Das kleine Fort mit seiner Palisadenumwallung steht auf einer hohen Uferbank an der Vereinigung des Flusses mit einem Igarapé, namens Novo de Janeiro, etwa neun Tagereisen von der Station am mittleren Maicy. Nach Ankunft der kleinen Garnison richtete der Kommandant sogenannte „Anlockungsposten“ an den Ufern der Igarapés Macacos (Affen) und Traheras und auch längs der Kriegspfade ein, die von den Indianern in der Nachbarschaft begangen zu werden pflegten.
Solche „Anlockungsposten“ bestehen lediglich aus kleinen mit Zinkblech gedeckten Lehmhütten, in die hinein geflochtene Graskörbe, farbenprächtige Kleider, Kessel, Teller, Löffel und andere nützliche Gegenstände gelegt werden. Außerhalb der Hütten befinden sich Wegzeichen, um den Pfad anzuzeigen, der zur Station führt. Auf solche Weise werden die Wilden durch die Geschenke[S. 138] angelockt und allmählich dahin gebracht, sich vor den Palisaden zu Unterhandlungen einzufinden.
Einige Tage nach der Einrichtung dieser „Anlockungsposten“ in den Wäldern fand sich, daß alle dort niedergelegten Geschenke fortgenommen worden waren. Als Gegengeschenke steckten verzierte Pfeile im Boden. Doch hatten die Indianer sich große Mühe gegeben, alle Spuren der Wege zu verwischen, auf denen sie gekommen waren, um zu verhindern, daß man ihnen zu ihren Maloccas folge.
Als wieder neue Geschenke in die Hütten gelegt wurden, ohne daß man den Versuch machte, die Indianer in ihren Dörfern aufzuspüren, faßten die Parintintins allmählich Zutrauen zu der freundschaftlichen Gesinnung der Garnison. Nach wenigen Wochen versuchten sie nicht mehr, die Pfade zu verbergen, auf denen sie kamen und gingen. Als Zeichen der Freundschaft ließen sie in den Lehmhütten Pfeile zurück, geschmückt mit den prächtigen Federn des Schapú (Cassicus cristatus), Arara und Mutum, oder auch verschiedene kleine Gegenstände, die sie aus den Zähnen des Waschbären und Jaguars verfertigt hatten.
Die erste wirkliche Begegnung zwischen der Garnison der Station und den Parintintins fand am 24. März 1922 statt. Ein Assistent, Raymundo Baptista, ging in den Wald, um einen der kleinen „Anlockungsposten“ nachzusehen und traf überraschend auf eine Gruppe Indianer, die sich gerade dort befanden. Da er die Unmöglichkeit erkannte, sich im Fall eines Angriffs zu verteidigen, begann er in der Richtung der Station davonzulaufen. Er mußte fast durch den Trupp der Indianer hindurch, die zuerst auch von der Überraschung gelähmt schienen. Aber dies ging schnell vorüber. Sie griffen nach ihren Bogen und sandten mehrere Pfeile dem Flüchtling nach, der jedoch unverletzt die Palisaden erreichte.
[S. 139]
Nach diesem Zwischenfall verschwanden die Indianer vollständig für mehrere Wochen. Sie verbargen sich in den fast undurchdringlichen Wäldern, die auf Hunderte von Kilometer die Station umgeben. Zuweilen ließen sich die Töne einer heiligen Bambusflöte hören, auf der sie Vogelrufe nachahmen. Dann erschienen sie plötzlich auf dem andern Ufer des Igarapé, schrien „Pum! Pum! Pum!“ und schossen ganze Schauer von vergifteten Pfeilen auf die Palisaden. Darauf verschwanden sie von neuem für einige Zeit und machten dann einen entschlossenen Angriff auf die Station von einem kleinen Stück Land aus, das weniger als 70 Meter von dem Stacheldrahtverhau der Palisaden entfernt war. Ganze Pfeilsalven flogen herüber, und so oft sich einer von der Garnison sehen ließ, brachen die Indianer in ihr übliches Schlachtgeschrei aus. Einige sprangen ins Wasser des Igarapés mit der offenbaren Absicht, zur Station herüberzuschwimmen, andere verbargen sich zwischen den Zweigen eines großen Baumes, von wo sie das Fort neugierig beobachteten.
Das ging so beinahe ununterbrochen weiter bis zum 8. Mai. Am Morgen dieses Tages hörte Señhor Curt, der Kommandant des Forts, zu seiner Überraschung ein wirres Geschrei von dem Igarapé her. Die Parintintins rückten zum erstenmal gegen die Palisaden vor. Von den starken Holzwänden des Forts geschützt, sah die Besatzung, wie die Wilden den Eingang der Palisadenumwallung erzwangen und vorsichtig mit schußbereitem Bogen in den Hof eindrangen.
Es war ein bedenklicher Augenblick. Auf die Indianer zu schießen, hätte ein Zunichtemachen alles dessen bedeutet, was in den letzten Wochen erreicht worden war. So begnügte sich die Besatzung damit, die Flinten zu zeigen, worauf sich die Indianer wieder aus der Einfriedigung zurückzogen, aber in der Nähe stehenblieben. Der Kommandant trat nun in den Hof hinaus mit[S. 140] mehreren Geschenken in der Hand und rief die Wilden freundlich an. Als er keine Antwort erhielt, ging er ans offene Tor und stellte einen Korb mit Messern, Beilen und einem Bund dicker Schnüre hin, worauf er sich sofort wieder in das Fort zurückbegab.
Die Indianer näherten sich nun dem Tor und setzten sich in Besitz des Korbes samt Inhalt. Sie schleppten ihn an den Igarapé, wo sie sich ihrer Gewohnheit nach in dem üblichen Kriegsgeschrei Luft machten. Dann kletterten sie in die Bäume hinauf und schossen Pfeile ab, die aber vor dem Fort niederfielen. Nach mehreren Minuten ängstlicher Erwartung kehrten drei der Parintintins zurück, hielten sich aber in einer gewissen Entfernung. Sie riefen die Besatzung an und gaben durch Zeichen zu erkennen, daß sie weitere Geschenke wollten, wobei sie das Wort „Akanitara“ (Kopfschmuck) wiederholten.
Einer der drei, ein hellfarbiger Junge von etwa fünfzehn Jahren, zeigte aufs leidenschaftlichste, daß er die versöhnliche Haltung seiner Begleiter mißbilligte. Sein Gesicht bot ein Bild barbarischer Wut. Als er sah, daß einer der Indianer den Federschmuck vom Kopf nahm, um ihn der Besatzung anzubieten, machte er alle Bewegungen des Schießens, obwohl er keine Pfeile bei sich hatte, stampfte mit den Füßen und stieß herausfordernde Rufe aus.
Da die beiden andern Geschenke als Gegengabe für den Kopfschmuck verlangten, trat der Kommandant Curt ans Flußufer, warf einen Korb mit Buschmessern ins Wasser und rief den Indianern zu, ihn zu holen. Einige Minuten standen sie still und zögerten. Dann sprang einer ins seichte Wasser, fischte den Korb heraus und verteilte den Inhalt. Als Gegengeschenk legten sie einen Kopfschmuck aus Federn außerhalb der Palisadenumzäunung auf den Boden und bedeuteten der Besatzung, sie sollte ihn holen. Der Kommandant Curt entgegnete aber, daß er das nicht tun würde,[S. 141] weil noch vor wenigen Minuten Pfeile auf das Fort abgeschossen worden waren.
Die Parintintins gebrauchten nun eine schlaue List, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Sie deuteten ihm an, noch mehr Geschenke zu bringen und fingen inzwischen an zu tanzen und zu singen, während sie ihre Bogen in die Höhe hoben. Einer hatte den Kopfschmuck an seinen langen Bogen gebunden. Zwei andere zu beiden Seiten von ihm stießen ihren Kriegsruf aus, und während alle vier so tanzten mit dem Rücken gegen das Fort, überwachte ein unbewaffneter Fünfter die Bewegungen der Besatzung.
Der Kommandant verließ das Fort und legte die Geschenke auf dem angegebenen Platz nieder. Die Indianer hörten zu tanzen auf und einer von ihnen überschritt den Fluß, um den Korb mit den Geschenken zu holen. Mittlerweile stürzten jedoch andere Indianer, die sich jenseits des Flusses verborgen gehalten hatten, an den Uferrand und schossen zwei Pfeile ab, die glücklicherweise zu kurz gingen. Curt gab jetzt den Indianern zu verstehen, daß er keine Geschenke mehr austeilen würde, aber der Wilde, der den Fluß überschritten hatte, kam nun näher und erklärte durch Zeichen, daß nicht er die Pfeile abgeschossen hätte.
Vier weitere Indianer hatten inzwischen Mut gefaßt, kamen über den Fluß und traten zu ihrem Kameraden im Tor der Station. Der älteste von ihnen nahm die Federkrone vom Kopf und warf sie dem Offizier zu, der sie auffing und als Gegengabe den Indianern zwei Perlenhalsbänder hinhielt. Sie zogen sich aber, „Embombo!“ rufend, zurück, ein Ausdruck, der offenbar von dem Tupiwort abgeleitet ist, das „Spiel“ bedeutet.
Einer der Indianer erkundigte sich, ob die Weißen den „Caiary“ (Madeira) herauf- oder herabgekommen seien und wie der Name ihrer Heimat wäre. Man antwortete ihm, daß die Besatzung[S. 142] den Fluß heraufgekommen wäre und daß ihre Heimat weit entfernt gegen den Aufgang der Sonne zu läge. Ein anderer fragte, ob einer der jungen Männer der Besatzung der Sohn des Kommandanten wäre! Als das verneint und ihm erklärt wurde, daß die Frauen und Kinder in der Ferne zurückgelassen worden seien, schien er überrascht.
Ein paar Tage später kehrten die Parintintins zurück. Diesmal wurden keine Pfeile abgeschossen. Sie kündigten ihre Ankunft mit Geschrei aus dem Wald an und kamen bis dicht an die Palisaden heran. Auf die Frage, ob sie Hunger hätten, machte einer eine komische Gebärde, indem er die Hand in grotesker Weise auf den leeren Magen legte. So wurden also Speisen herbeigeschafft, und Curt kostete von jedem Gericht ein wenig, damit die Indianer sich überzeugten, daß es nicht vergiftet wäre. Einige Minuten lang wollte keiner näher kommen, trotz ihres Hungers. Dann trat ein junger Wilder in vollem Vertrauen heran, und erhielt persönlich die ersehnte Speise.
Curt versuchte, mit ihm unmittelbar ein Gespräch anzuknüpfen, aber der Indianer kehrte mit den Speisen zu den andern zurück, die außerhalb der Palisaden auf ihn warteten. Nachdem sie gegessen, gesungen und getanzt hatten, verschwanden sie wieder im Walde.
Soweit bekannt ist, war dies das erstemal, daß ein Parintintinindianer irgend etwas friedlich und unmittelbar aus der Hand eines Weißen entgegengenommen hatte. Hiernach kamen sie öfters auf die Station, und während die einen geduldig darauf warteten, in den Hof eingelassen zu werden, versuchten andere mit schweren Holzkeulen die Palisaden zu zerstören. Bei solchen Gelegenheiten wurden die mehr kriegerischen Indianer von der Besatzung verwarnt und nur jenen der Eintritt in die Umfriedigung gestattet, die ihre Waffen draußen gelassen hatten.
[S. 143]
Von da an streiften die Parintintins um die Station herum, erhielten Geschenke und schenkten dagegen von ihren eigenen Schmuckstücken. Im Anfang waren sie noch scheu, nach ein paar Wochen aber faßten sie Zutrauen und ließen sich mit Hilfe von Zeichen und Zeichnungen in lange Gespräche mit der Besatzung ein. Es war interessant, welche Mühe sie sich gaben, sich durch Zeichen und Tupiwörter verständlich zu machen. Sahen sie, daß jemand sie nicht verstand, so wiederholten sie die Worte und wußten sich pantomimisch recht geschickt auszudrücken.
Einmal erschienen sie in Begleitung ihrer Weiber und führten ihre Stammestänze vor. Sie begannen paarweise, tanzten vor und zurück und stampften mit den Füßen zur Musik von Bambusflöten. Dann wurden die Musikinstrumente beiseitegelegt, und aus dem Tanz entwickelte sich eine Darstellung des Kampfes. Jede Partei ging in einer Linie vor, dann knieten sie sich plötzlich nieder oder warfen sich der Länge nach auf den Boden und vollführten die Bewegungen des Bogen- oder Blasrohrschießens.
Kamen sie zur Station, so war es üblich, die Waffen am Flußufer abzulegen und sich mit hoch über dem Kopf erhobenen Händen zu nähern, ehe ihnen das Tor der Einfriedigung geöffnet wurde. Häufig geschah es jedoch, daß sich unter den Besuchern ein oder zwei wildere Gesellen befanden, die oft Leute der Besatzung bedrohten. Aber diese verstand es vorzüglich, die Gefahr abzuwenden und die schlimmsten Instinkte der Wilden zu besänftigen. Unter den bisherigen Besuchern befindet sich auch ein Junge von etwa 15 oder 16 Jahren, dessen Hautfarbe viel heller ist als die der übrigen und der auch gänzlich andere Gesichtszüge hat.“
Der vorstehende Bericht über die Leistungen des Indianeramts in diesen entlegenen Wäldern enthält alles Wesentliche, was mir der genannte Beamte am Rio Negro im Dezember 1922 erzählte. Man darf nicht vergessen, daß alle die Vorbereitungen und daran[S. 144] sich anschließenden gefahrvollen Unternehmungen lediglich dazu dienten, mit einem einzigen Stamm der Wilden am Maicy-Mirimé in Berührung zu kommen, einem Fluß, der auf keiner gewöhnlichen Landkarte zu finden ist. Wenn man bedenkt, daß es noch heute ein unbekanntes Gebiet von fast zweieinhalb Millionen Geviertkilometer im Amazonenbecken gibt, so wird man die oft wiederholte Behauptung, es wäre auf der Welt nichts mehr zu erforschen, mit einigen Fragezeichen versehen.
Jener fast weiße Parintintinjunge entspricht mehreren gleichartigen Fällen bei verschiedenen Stämmen, die ich selber auf meinen monatelangen Wanderungen durch die amazonischen Wälder gesehen habe. Ob solche merkwürdige Farbe- und Rasseeigentümlichkeiten tatsächlich mit Raub und Gewalttat an den weißen Frauen irgendeiner entlegenen Ansiedlung zusammenhängen, ist unmöglich zu sagen. Bekannt ist jedoch, daß vor mehreren Jahrhunderten ein paar Tausend Spanierinnen von den Huambisa-Indianern des nordöstlichen Peru geraubt wurden. Allerdings würde die seit damals verflossene Zeit den Einfluß des weißen Blutes wieder aufgehoben haben, und auch spätere Räubereien hätten wohl nur eine Caboclomischung im rein indianischen Blut hervorgebracht.
So auffallend ist der Anblick einer fast weißen Haut unter einer Schar nackter Bronzegestalten, daß von einer, etwa nur ein wenig helleren Färbung nicht die Rede sein kann. Auch die Gesichtszüge scheinen Abweichungen aufzuweisen, und zwar nicht nur nach meiner eigenen Beobachtung, sondern auch der anderer. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, daß solche weiße Indianer auch nicht die leiseste Erinnerung an stammesfremde Verwandte haben. Befragt man sie selbst, so räumen sie wohl ein, daß sie hellfarbiger sind, ohne daß sie aber imstande wären, einen Grund dafür anzugeben. Die Theorie, daß der Genuß von Salz bei Europäern[S. 145] eine hellere Haut- und Haarfarbe hervorbringt, kann unmöglich auf diese Einzelindividuen unter den bronzefarbenen Stämmen des Amazonengebiets angewendet werden.
In diesem Zusammenhang mag es von Interesse sein, wenn ich mit einigem Vorbehalt den Bericht Sir Clements Markhams über einen im nordöstlichen Peru vermuteten weißen Indianerstamm anführe. Der Verfasser bringt ihn in seinem Werk „List of Tribes of the Amazon Valley“, das aus vielen Quellen schöpft und 1910 vom „Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland“ herausgegeben wurde.
Dort heißt es, daß die Mayorunasstämme des Ucayali-Yavari-Gebiets „eine weiße Hautfarbe haben und mehr Engländern als selbst Spaniern gleichen. Sie ziehen jagend durch die Wälder und halten sich nicht viel an die Flüsse. Es wird angenommen, daß sie von spanischen Soldaten der Ursula-Expedition abstammen, doch ist dies unwahrscheinlich. Als der Inka Pachacuti die Chancas unterwarf, floh ein Teil dieses Volkes nach Muyumbamba, und dessen Einwohner flohen vor den Eindringlingen und ließen sich am Ucayali und Yavari nieder. Wahrscheinlich ist dies der Ursprung der Mayorunas oder Mururunas (= Männer von Muya). Sie haben eine seltsame und schmerzhafte Art, die Barthaare zu beseitigen. Sie nehmen zwei Muscheln, die als Haarzängchen dienen, und reißen ein Haar nach dem andern aus, wobei sie solche Gesichter schneiden, daß man beim Zusehen lachen und gleichzeitig Mitleid mit ihnen haben muß. Zuweilen werden sie Barbudos genannt. Sie sind sehr zahlreich, von höherm Wuchs als die meisten andern Stämme und gehen beständig nackt. Sie sind kriegerischen Charakters und stehen mit keinem andern Stamm in einem Freundschaftsverhältnis. Pfeile und Bogen sind bei ihnen nicht in Gebrauch, sondern nur Speere, Lanzen, Keulen und Cerbatanas oder Blasrohre, und das Gift, das sie zubereiten, gilt[S. 146] als das allerwirksamste. Sie sind wohlgebildet, besonders was die Hände und Füße der Weiber betrifft, haben gerade Nasen und kleine Lippen. Das Haar schneiden sie quer über die Stirne ab und lassen es über den Rücken herabhängen. Bemerkenswert ist ihre Reinlichkeit. Tatsächlich ist sehr wenig über sie bekannt. Sie greifen jeden an, der in ihr Gebiet eindringt, und die Bootführer nehmen sich in acht, auf ihrem Ufer des Ucayali zu landen. Castelnau führt zwölf Mayorunawörter an und Bates gibt die interessante Schilderung eines Mayorunamädchens, das am Yavari gefangen wurde.“
Seit Jahrhunderten laufen solche Geschichten von weißen Indianern um unter Forschern und Reisenden vieler Nationalitäten. Nun sind sie von Offizieren des Indianeramts bestätigt worden, die ihr Leben in den düstern Wäldern verbringen. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen den sich bekämpfenden Theorien. Jene Indianer sind nicht rein weiß, sondern haben nur eine sehr helle Hautfarbe, die im schärfsten Gegensatz zu ihrer Umwelt steht und daher stärker zur Geltung kommt. Ein einziger weißer Stamm, der sich irgendwo im „großen Unbekannten“ verbirgt, würde die vielen Einzelfälle nicht erklären, die von mehreren, Tausende von Meilen von einander entfernten Stämmen berichtet werden. Die wahrscheinlichste Erklärung liegt in weißen Ahnen, mögen sie nun Gefangene oder Überläufer gewesen sein, und in einem plötzlichen Rückschlag nach vielleicht zwei oder mehr Generationen.
[S. 147]
Wen sein Beruf in die dämmerigen Wälder führt, zu den verseuchten Sümpfen oder an die entlegenen kochheißen Flüsse dieses geheimnisvollen Landes der Einsamkeit und unvorstellbaren Ausdehnung, der betrachtet den großen Amazonenstrom selbst etwa geradeso, wie die Neuyorker oder Londoner während einer Hitzwelle den Hudson oder die Themse ansehen. Es gibt dort, sowohl in Pará als in Manáos, winzige Strandplätze mit Badegelegenheiten, Landhäusern und Dampferausflügen. Zuweilen kann es geschehen, daß ein Jaguar das Picknick stört, ein Alligator neben der Barkasse auftaucht oder ein elektrischer Aal das Bad unterbricht. Aber die Kühle des großen Stromes und ein frisches Lüftchen machen sich überall geltend, und außerdem gibt es Eisgetränke, richtige Speisen, ein Dach, ein Bett und menschliche Gesellschaft.
In solcher Weise stand Manáos einladend vor meinem Geist, die kleine Dschungelstadt am äußersten Rand der Zivilisation, als ich aus den Gebieten der Flüsse Mutum und Gy-Paraná zurückkehrte. Irgendwie sehnte ich mich nach einer guten Mahlzeit, einem Bad und der Möglichkeit, ein wenig zu plaudern. Schon die Vorstellung eines geeisten Getränks machte mich schwindlig, und so hielt ich mich nur so lange in Humaitá auf, um es gründlich satt zu bekommen, weil erst nach viereinhalb Tagen der nächste Dampfer flußabwärts abfahren sollte. Als ich endlich das weißgetünchte[S. 148] Zimmer mit seinen Ameisen und Spinnen verließ und an Bord ging, faulenzte ich, las, badete, aß und nahm alle die Eisgetränke zu mir, nach denen ich mich so sehr gesehnt hatte. Mein Wunsch, mich in Manáos auszuruhen, verblaßte schnell, und als ich in Manicoré erfuhr, daß ein höchst angesehener Amazonese eine Expedition den Aripuananfluß hinaufschickte, verschwand er ebenso eilig aus meiner Seele wie mein kaum noch respektables Gepäck vom Dampfboot. Zwei Tage später saß ich mit drei Begleitern in einem großen Batalõe und fuhr um die Aripuananinsel herum in die verborgene Mündung dieses wundervollen Flusses gleichen Namens ein. Die Roosevelt-Rondon-Expedition hatte ihn 1913 in seiner ganzen Länge befahren, unser Ziel aber waren die noch immer unerforschten Urwälder seitlich des Hauptflusses unter 8° 17′ südlicher Breite. Beamte des Indianeramts befanden sich damals auf der Suche nach wilden Stämmen, die an den Ufern eines kleinen Flusses, namens Madeirinha, wohnen sollten, und das Batalõe mit seiner Caboclo-Bemannung brachte ihnen und einer abgelegenen Pflanzung die notwendigen Vorräte.
Unwiderstehlich zog es mich dahin, weil ich auf all meinen Karten und unter meinen Notizen nichts über diesen Fluß finden konnte, noch irgendeine Andeutung, daß schon europäische Reisende jene „leere“ Gegend erforscht hätten. Theodore Roosevelt und General Rondon vom brasilianischen Überland-Telegraphen-Dienst, die beiden prächtigen Pioniere der Wildnis, deren Leistungen viel zu wenig bekannt sind, waren 1913 den Fluß hinaufgefahren und offenbar auch an der Mündung des Madeirinha vorübergekommen, aber genauere Nachforschungen schienen sie in diesem Gebiet nicht gemacht zu haben. Also bot sich jetzt eine Gelegenheit, die ohne lebenslängliche Reue nicht vernachlässigt werden durfte.
Über die mühselige Reise von 360 Kilometer den Aripuanan[S. 150] flußaufwärts werde ich nicht viel berichten. Wer sich für seine niemals auch nur vom leisesten Lüftchen bewegte Wasserfläche interessiert, die ununterbrochenen Ufermauern tropischer Wälder, seine Stromschnellen, die stellenweise Lücken in das Blättermeer reißen, seine beständig in der dampfheißen, stagnierenden Luft umherschwirrenden Moskitos und die beinahe nicht vorhandene Uferbevölkerung, wird glänzende Schilderungen davon an andern Orten finden. Was ich selber hinzufügen könnte, wären nur Beschwerden über persönliches Unbehagen und Erzählungen von schwierigen Überlandumgehungen einiger Stromschnellen und von fast unaufhörlicher Arbeit beim Rudern und Stechen gegen die Strömung. Die Aufgabe des vorliegenden Buches besteht in der Schilderung wilder Indianerstämme im entlegenen Amazonengebiet. Berichte über die Schwierigkeiten des Ortswechsels von einer Zone zur andern mit allem Drum und Dran dürfen den Charakter des Buches nicht in den einer langweiligen und ereignislosen Reisebeschreibung verwandeln. Der Raum gestattet nur kurze Erwähnungen des Kommens und Gehens, gerade so viel als nötig ist, den Zusammenhang der Ereignisse zu wahren.
Am 30. Juli verließen wir die Aripuananinsel auf 5° 22′ südlicher Breite und bewältigten die 360 Kilometer in achtzehn Tagen. Bald nach der Vereinigung mit einem großen Fluß, auf 7° 32′ südlicher Breite, kam eine Reihe gefährlicher Stromschnellen, die öfter als einmal schwere Arbeit bei der Entladung des Kanus erforderten. Wenige Kilometer weiter zeigte sich eine anscheinend verlassene Barraca. Dann folgten noch weitere Stromschnellen, und endlich war die Mündung des kleinen Madeirinha in den Hauptfluß erreicht, auf 8° 17′ südlicher Breite.
Der kleine Fluß hatte eine flaschengrüne Farbe und wand sich durch den dichten, düstern Urwald. Stellenweise hingen die mächtigen Äste wie Schirme über unsern Köpfen, und das Kanu glitt[S. 151] wie auf einem Spiegel im grünlichen Halbdunkel dahin. Stundenlang hielten wir Ausschau nach dem Lager des Offiziers des Indianeramts mit seinen Leuten, und endlich entdeckten wir es auf einer kleinen Lichtung halbverborgen hinter dem Walddickicht. Der unerschrockene Beamte nahm mich liebenswürdig auf und erklärte mir, wie er es machte, um mit den Wilden des Landes in freundschaftliche Berührung zu kommen. Er hatte bereits ihre Kriegspfade einige Kilometer weit in die hier besonders dichten Wälder hinein begangen. Auf einen seiner Cabocloleute war mit Pfeilen geschossen worden, aber bis jetzt hatte man noch keinen Indianer zu Gesicht bekommen.
Wir schlugen neben der kleinen, nur vorläufigen Station unser Lager auf, und zum erstenmal seit der Abfahrt aus Manicoré erfreute ich mich einer wirklichen Nachtruhe, da ich keine Wache zu halten brauchte. Während der nächsten beiden Tage ereignete sich nichts Besonderes, doch stiegen meine Hoffnungen, weil der Offizier die Überzeugung aussprach, daß sich ein gänzlich unbekannter Stamm in den umgebenden Wäldern aufhalte. Dies bewahrheitete sich schneller, als wir erwartet hatten. Am dritten Tag näherten sich zwei Wilde den Geschenken, die verführerisch an den Bäumen hingen. Sie wurden von einem der Leute der Station überrascht, der sich jedoch in Sicherheit zu bringen vermochte. Er kam ins Lager und erzählte von Indianern mit Federkronen auf den Köpfen, riesigen Speeren und aus Holz verfertigten Bändern über beiden Schultern.
Diese Nachricht verursachte ziemliche Aufregung. Denn aus der Beschreibung des Mannes schien mit Sicherheit hervorzugehen, daß wir auf der Schwelle zu einer Entdeckung waren. Diese Art Jagd auf Indianer oder, besser gesagt, Anlockung erfordert nicht nur gute Nerven, sondern auch Geduld. Ein Versuch, gleich auf die erste Begegnung hin die Maloccos der Indianer aufzufinden, hätte[S. 152] den ganzen Erfolg in Frage gestellt und wäre vielleicht für uns alle verhängnisvoll geworden. In den Tiefen der Wälder hätten zwei Weiße mit einigen unzuverlässigen Caboclos gegen einen wilden Indianerstamm nur wenig ausrichten können, der zudem im Dschungelkrieg geschickt und erfahren war.
Während der nächsten acht Tage war von den Indianern nichts zu sehen noch zu hören, und das Warten ging uns gehörig auf die Nerven, da wir nicht wußten, ob sie nicht einen überraschenden Angriff planten. Am Morgen des neunten Tages brachten wiederholte wilde Schreie aus dem halbdunkeln Dickicht das ganze Lager in Bewegung. Wir hielten sie für Freundschaftsrufe und beantworteten sie demgemäß. Denn die meisten amazonischen Indianer pflegen sich nur dem Feind schweigend zu nähern. Aber nichts ereignete sich in der nächsten halben Stunde, obwohl das Geschrei alle paar Minuten von beiden Seiten seinen Fortgang nahm.
Endlich teilten sich die Blätterwände an verschiedenen Stellen zugleich und sechs bronzefarbene Gestalten, mit langen Lanzen bewaffnet, erschienen im Halbkreis auf der winzigen Lichtung. Sofort ward es augenscheinlich, daß sie zu einem neuen Stamm oder einer Unterfamilie gehörten. Keiner der sechs hatte die schiefe Augenstellung oder die mongolischen Gesichtszüge, die sonst bei den amazonischen Wilden auffallen. Ihr Haar war rings um den Kopf in dicke Fransen geschnitten und mit kleinen Rohrsplittern verziert. Um die Lenden, Fuß- und Handgelenke, Arme und Schultern trugen sie Rohr- oder Schilfbänder, von denen am Oberarm Federn wie Epauletten abstanden. Abgesehen von diesem seltsamen Schmuck, Halsketten aus Samenkörnern und einer Unzahl schwarzer, gemalter Ringe um die Beine waren sie völlig nackt.
Der Offizier bedeutete ihnen in der Tupisprache, ihre Lanzen, Bogen und Pfeile abzulegen. Da sie das nicht zu verstehen[S. 153] schienen, legte er ruhig seine Flinte auf den Boden. Nach einigen Minuten des Zauderns folgten sie seinem Beispiel und erhielten darauf zahlreiche Geschenke, die ihre ein wenig grausamen Augen buchstäblich zum Glitzern brachten. Aber Tanzen, Schreien oder andere Freudenbezeigungen unterließen sie, wie ich sie bei den Parintintins beobachtet hatte.
Das Charakteristischste an diesen Indianern waren ihre blutunterlaufenen Augen und durchbohrten Oberlippen, was beides, wie ich später erfuhr, mit kannibalischen Gebräuchen zusammenhängt. Ihre Pfeile waren mit Vogelfedern verziert und hatten breite Holzspitzen, die nicht in Gift getaucht worden waren. Von andern eigenartigen Schmuckgegenständen trugen sie Rohrringe am zweiten Finger und Schlingen aus dünnen Schnüren um Nacken und Lenden, die sich über der Brust kreuzten. Ungleich allen sonstigen Stämmen, die ich bisher gesehen hatte, schlugen sie sich nicht wie Affen auf die Brust, um ihr Vergnügen zum Ausdruck zu bringen, sondern zeigten eine unbefangene und würdige Haltung.
Nach einer langen pantomimisch geführten Unterhaltung, in die wir einige Tupiworte mischten, die sie zu verstehen schienen, zogen sie mit Geschenken beladen wieder ab. Ich dachte bei mir, daß die Hälfte dieser Geschenke für sie völlig nutzlos war, da sie Dinge wie Löffel und Gabeln aus Aluminium doch nicht zu gebrauchen wußten. Wahrscheinlich würden sie mit Steinen zu Speerspitzen verarbeitet werden. Aber schließlich war nun doch ein Anfang gemacht, was keineswegs so einfach ist, als es sich hier gedruckt ausnimmt.
Mehrere Tage verstrichen, ohne daß die Indianer wieder erschienen. Dann drang von neuem Geschrei aus der Tiefe des schweigenden Waldes, aber diesmal in größerer Stärke. Daraus ging hervor, daß freundschaftliche Beziehungen hergestellt und daß weitere Indianer gekommen waren, um Geschenke zu empfangen.[S. 154] Aber auch so mußte sorgsam alles vermieden werden, was sie hätte beleidigen oder erschrecken können. Niemand ist empfindlicher als der Wilde, wenn er zum erstenmal mit Weißen zusammentrifft. Mißtrauen und Argwohn sind in jedem Blick, jeder Gebärde erkennbar. Für den Augenblick mag Staunen oder Furcht an ihre Stelle treten, aber vorherrschend sind jene beiden Gefühle, und was alles an Vorsicht angewendet werden muß, um plötzliche Ausbrüche der Leidenschaft zu verhindern, ist nicht allein drollig, sondern kann nur von einem Psychologen gewürdigt werden.
Kaum waren die Indianer aus dem dunkeln Wald hervorgekommen und fast geheimnisvoll auf der Lichtung erschienen, als auch schon deutlich wurde, daß ihr Besuch diesmal einen feierlicheren Charakter trug. Sie standen in einer Gruppe um drei aus ihrer Mitte, die durch zahlreichere Perlen, Federn und Bänder ausgezeichnet waren. Wie ich später erfuhr, bildeten sie das Häuptlingstriumvirat des Stammes. Neben dem eigentlichen Häuptling scheint ein Medizinmann und ein Jäger im gleichen Rang zu stehen. Sie haben die erste Auswahl unter den Weibern und entscheiden über Krieg und Frieden. Nachdem wir uns durch Zeichen, Zeichnungen auf einem Stück reingefegten harten Erdbodens und einige Tupiworte mühselig genug zu verständigen versucht hatten, stellte sich heraus, daß ihr Stammesname „Itogapuk“ lautete. Damals wußten wir mit diesem Wort durchaus nichts anzufangen, aber später erfuhren wir, daß wir hier einen neuen Stamm oder eine neue Familie der menschlichen Rasse in diesen großen und geheimnisvollen Wäldern entdeckt hatten.
Die Maloccas der Itogapuks befanden sich weniger als eine „Sonne“ weiter flußaufwärts am kleinen, seichten Madeirinha. Roosevelt zufolge wurde er zufällig von einem indianischen Seringuero entdeckt, der im Dienst des Senhor Caripé stand, des Kautschukkönigs am Aripuanan. Der Mann verirrte sich in den[S. 155] Wäldern am Gy-Paraná, und entdeckte den Madeirinha, nachdem er achtundzwanzig Tage im dichten Dschungel umhergeirrt war und von Früchten, Palmschößlingen und Nüssen gelebt hatte.
Als die Unterhaltung unter Aufwand von viel Geduld und Scharfsinn so weit gediehen war, hielten wir es für richtig, Geschenke auszuteilen. Es war bemerkenswert, mit welcher Gier sich sogar die jungen Leute dieses unbekannten Stammes auf die kleinsten Metallgegenstände stürzten. Als Gegengaben erhielten wir bereitwillig von den Indianern Kronen aus Ararafedern, Halsketten aus Samenkörnern und verzierte Jagdspeere.
Während dieser Austausch von Geschenken und Freundschaftsbezeigungen langsam vor sich ging, gelang es mir, von einem jungen Krieger, der nicht älter als 15 Jahre sein konnte, die Einwilligung dazu zu bekommen, seinen Schmuck genau besichtigen zu dürfen. Außer der Oberlippe war seine Nasenscheidewand durchbohrt; durch das Loch hatte er ein kurzes Stück Stroh gesteckt. Der Lendengürtel bestand aus einer Art Baumrinde und verbarg eine dünne Schnur, die zum Schutz eines gewissen Körperteils diente. Die Fußringe aus Bambus klapperten nur beim Tanzen, und dann wurden die Bänder um den Arm herabgeschoben, um zusammen mit den Gelenkbändern ein Geräusch hervorzubringen. Am merkwürdigsten war ein Holzring am Mittelfinger, der offenbar als Amulett gegen böse Einflüsse getragen wird. Später ist mir eingefallen, daß die hölzernen Beinringe auch dazu dienen könnten, die untern Teile der Beine vor den Bissen und Stichen größerer Insekten und Reptilien zu schützen. Denn man darf nicht vergessen, daß der Mangel an Großwild im Vergleich mit Afrika durch die Verschiedenheit und den Blutdurst kleinerer Tiere, Insekten und Reptilien wieder ausgeglichen wird. Es ist für den Weißen gleichwie für den Eingeborenen unmöglich, einige Kilometer in den Wäldern umherzuwandern, ohne an mehreren Stellen zerbissen[S. 156] und zerstochen zu werden von Ameisen, Piums, Sandflöhen, Moskitos, Sandfliegen, Spinnen oder andern Insekten oder Reptilien. Der junge Itogapuk hatte an den Oberschenkeln und am Rücken Geschwüre, verursacht von der widerwärtigen Bernefliege, die ihre Eier in die Stichwunden absetzt.
Gegen Sonnenuntergang zogen die Indianer wieder ab, ohne die genaue Lage ihres Dorfes anzugeben. Das bedeutete für mich eine große Enttäuschung, da ich dadurch vor der Entscheidung stand, entweder nach sechs Tagen mit dem Batalõe den Aripuanan hinab zurückzufahren oder in dieser abgelegenen Gegend für unbestimmte Zeit zu bleiben, bis ein neues Vorratsboot die 360 Kilometer des gefährlichen Flusses heraufkommen würde. Das konnte Monate dauern, und die Umstände erlaubten mir keine so lange Abwesenheit, wenn ich noch weitere Reisen in diesem wunderreichen, aber ungeheuer ausgedehnten Gebieten vor der Rückkehr nach Europa unternehmen wollte.
Ich sollte jedoch nicht lange enttäuscht bleiben, denn zwei Tage darauf erschienen sechs Indianer und zwei kleine Jungen im Lager, nachdem sie sich mit den üblichen Rufen angekündigt und ihre Waffen am Rand der Lichtung niedergelegt hatten. Bisher hatten sie ihre Weiber im Hintergrund gehalten, aber jetzt merkten wir bald, daß irgendwo im Wald ganz in der Nähe die Weiber auf ein Zeichen ihrer Herrn warteten, ob sie ohne Gefahr ins Lager der Weißen kommen könnten. Augenscheinlich konnten die Itogapuks ebensowenig wie die Parintintins verstehen, warum wir unsere Weiber und Töchter nicht in den Wald mitgenommen hatten. Nach einer befriedigenden Erklärung unsererseits verschwanden die Wilden für eine halbe Stunde. Dann wiederholte sich der Austausch von Ankündigungs- und Willkommrufen, und etwa ein Dutzend Gestalten zog auf die Lichtung. Endlich hatten sie ihr Weibervolk mitgebracht, womit sie anzeigten, daß nun ein Zustand[S. 157] des Vertrauens herrschte, und daß wir bald die Maloccas dieses bisher gänzlich unbekannten Stammes zu Gesicht bekommen sollten.
Die Itogapukmädchen sehen entschieden besser aus als die Männer. Mehrere hatten eine ein wenig hellere Hautfarbe. Sie waren völlig nackt bis auf einen Rindengürtel und ähnliche Verzierungen, wie sie die Männer trugen. Wie es scheint, wird bei den Weibern dieses Stammes nur die Oberlippe durchbohrt, aber nicht die Nasenscheidewand. Sie entfernen, ungleich den Männern, alle Haare vom ganzen Körper, was bei den Weibern aller amazonischen Stämme allgemein üblich zu sein scheint. Zuerst hielten sie sich hinter ihren Männern und Vätern und zeigten sich sehr scheu. Aber Geschenke nahmen sie bereitwillig aus den Händen der Weißen entgegen, was die Parintintins nie getan hatten.
Nachdem sie uns eine Zeitlang neugierig beschaut und untereinander Meinungen ausgetauscht hatten, fragten sie, warum unsere Haut weiß wäre und ob wir Kleider trügen, weil es in unserer Heimat heißer sei als in „Emelene“? Wir vermuteten, daß dies die Eingeborenenbezeichnung für den Madeirinha oder kleinen Madeira sei, aber was der Name bedeutete, konnten wir nicht herausbringen. Etwa eine halbe Stunde hielten sie sich im Lager auf und waren schon im Begriff, mit ihren Geschenken wieder abzuziehen, als wir ihnen begreiflich machten, daß wir nun auch ihre Maloccas sehen wollten, nachdem sie unsere besucht hatten. Ihnen diesen Wunsch auseinanderzusetzen, bedurfte trotz seiner Einfachheit geraumer Zeit und verursachte viel Hin- und Herreden unter ihnen, als sie ihn endlich verstanden hatten. Doch schließlich willigten sie ein, am nächsten Tag zurückzukehren und uns zu ihren Maloccas zu führen.
Nachdem wir nun den Stammesnamen der Wilden kannten, saßen wir noch lange in der Nacht um das Lagerfeuer, das zur Beleuchtung und zum Kochen diente, und besprachen, ob die[S. 158] Itogapuks ein eigenes Volk bildeten oder eine Unterfamilie einer der großen ursprünglichen Gruppen wären. Obwohl eine Entscheidung bei dem Fehlen endgültiger Beweismittel nicht getroffen werden konnte, schien doch die Wahrscheinlichkeit dafür zu sprechen, daß dieser merkwürdige Stamm in Wirklichkeit die Unterabteilung einer oder der andern der beiden großen amazonischen Rassen bildet: der kriegerischen Parintintins und der ebenso wilden Nambiquaras, zwischen deren Wohngebieten die Itogapuks in düstern Urwäldern hausen. Ihre Sprache war uns damals noch fremd, obwohl gewisse Worte in Tupi, das dem Guarani ähnlich ist, verstanden worden zu sein schienen. Nach Gestalt, Farbe und Haar ähnelten die Itogapuks den Parintintins, aber ihr Körperschmuck glich weit mehr dem der Nambiquaras. Spätere Untersuchungen verstärkten die Annahme zugunsten der Nambiquaras, aber nebenher gibt es auch schwerwiegende Gründe für die Annahme, daß sie einen Zweig des wilden Nomadenstammes der Arara bilden. Das Indianeramt in Manáos führt sie gleichwohl amtlich als besonderen Stamm unter dem Namen der Itogapuks.
[S. 159]
Spät am Nachmittag des folgenden Tags erschienen die Indianer wieder auf der Lichtung. Der Stationskommandant, der den verräterischen Charakter aller Wilden kannte, hielt es für unklug, noch am gleichen Tag nach den Maloccas aufzubrechen. Den drei Führern wurde Unterkunft im Lager angeboten, aber schließlich machten sie ein Feuer auf der Lichtung und legten sich auf den Boden, mit den Füßen gegen die Glut. Am nächsten Morgen zogen wir los, noch ehe der dichte Wald von den Fiebernebeln frei war, so daß mich nur eine starke Dosis Chinin vor einem Anfall der Malaria rettete, die im Juni und Juli in diesen Waldgebieten besonders heftig auftritt.
Ich möchte hier erwähnen, daß alte Reisende im Amazonengebiet nicht für den fortgesetzten Gebrauch von Chinin sind. Nach ihrer Behauptung begünstigt es eine Erkrankung am gefürchteten Schwarzwasserfieber. Ich selbst habe Wochen auf dem Amazonenstrom und seinen Nebenflüssen zugebracht, ohne eine einzige Dosis zu nehmen, obwohl ich im Fall starker Erschöpfung oder Durchnässung bei Regenwetter unweigerlich Chinin in genügender Menge schlucke, um die Folgen solch gefährlicher Zustände abzuwehren. Augenscheinlich ist es kein Vorbeugungsmittel gegen Malaria, aber das bequemste und wirksamste Mittel, die Symptome zu unterdrücken.
Wir paddelten etwa zwei Stunden im Batalõe flußaufwärts. Auf dem Igarapé, in den wir dann einbogen, sah ich ganze Felder[S. 160] der riesigen, unter dem Namen Victoria regia bekannten Wasserrosen. Ihre schalenförmigen, weißlich grünen Blätter auf dem schwarzen Wasser boten einen wundervollen Anblick gegen den Hintergrund der Assaipalmen und des dicht verwachsenen Waldes. Bei der Weiterfahrt trafen wir auf zahlreiche Alligatoren, die geschäftig ihrer Frühstücksjagd nachgingen. Es war kaum acht Uhr und die Sonne hatte noch nicht genügend Kraft gewonnen, um das Leben in den Wäldern auszulöschen. Alles war feucht und von einem frischen, üppigen Grün. Das von den Alligatoren aufgewühlte Wasser glänzte wie Gold, wenn sie mit schwerfälligen Bewegungen dem Batalõe auswichen. In den Bäumen schnatterten Araras und Affen.
Trotz dieser Morgenfrische hatte man das Gefühl des Ungesunden. Ob es an dem faden Geruch der faulenden Vegetation lag, an dem Düster des Blättergewölbes, dem Fehlen auch des leisesten Lüftchens oder daran, daß man die Einsamkeit, die Ferne und eine Unermeßlichkeit, in der der Mensch für nichts zählt, empfand, kann ich nicht sagen. Dieser Igarapé der Itogapuks machte jedenfalls auf mich den Eindruck eines tropischen Paradieses mit der Atmosphäre eines Grabes.
Eine viertelstündige Wanderung auf einem Dschungelpfad brachte uns endlich wieder auf eine Lichtung, die der Sonne Zugang verstattete. Sie war ziemlich groß, und auf der einen Seite befanden sich zehn merkwürdiger aussehende Maloccas, als ich sie bisher in den Riesenwäldern dieses geheimnisvollen Landes gefunden hatte. Sie waren aus teilweise geflochtenem Stroh gebaut und ähnelten Bienenkörben mit spitzigen Dächern. Hielt man ihre Größe mit der Anzahl der herumstehenden nackten Gestalten zusammen, so wurde es augenscheinlich, daß jede Hütte für mehrere Familien berechnet war und daß sich das häusliche Leben der Itogapuks mehr oder minder in Gemeinschaft abspielte.
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Feindselige Absichten wurden nicht offenbar, obwohl eine Mischung von Scheu und Mißtrauen wohl zu unterscheiden war. Zuerst näherten sich nur die alten Weiber und Kinder. Als wir aber begannen, Geschenke auszuteilen, nahm das Gedränge um die Häuptlinge herum allmählich zu. Die Neugierde der Wilden war stärker als ihre natürliche Furchtsamkeit und ihr Argwohn, aber ein unrichtiges Benehmen hätte bei der elektrisch geladenen Atmosphäre der ersten Stunden recht gefährlich werden können. Nach einem Mahl, das wir von der Station mitgebracht hatten und an dem der ganze Stamm von fast hundert Leuten teilnahm, ließ die Spannung langsam nach. Später vertilgten die Itogapuks noch große Mengen von Affenfleisch und eines berauschenden Getränks.
Zwei junge Itogapukmädchen von etwa 14 Jahren trieben sich neugierig in meiner Nähe umher und faßten endlich Mut, mich genau in Augenschein zu nehmen. Zuerst betrachteten sie verwundert meine Kleider, hierauf meine Hände unter völligem Stillschweigen. Dadurch nicht befriedigt, rollten sie meine Ärmel auf, spuckten auf meine Arme und rieben sie dann aus aller Kraft mit den Händen! Offenbar erwarteten sie, daß das Weiß abgehen und ich in meiner wahren Farbe dastehen würde. Als aber nichts von dem geschah, dehnten sie ihre Nachforschungen auf meinen Hals unter dem offenen Hemd aus. Doch da ich von dem einmaligen Anspucken mehr als befriedigt war, lehnte ich höflich aber bestimmt weitere wissenschaftliche Untersuchungen ab und suchte ihre Aufmerksamkeit in andere Bahnen zu lenken, indem ich sie dem Ticken meiner Taschenuhr lauschen ließ.
Es ist wohl nicht angängig, die jungen Itogapukmädchen hübsch zu nennen im europäischen Sinn des Wortes, aber für Wilde waren sie keineswegs häßlich. Die blutunterlaufenen Augen verdarben etwas den Eindruck, und ihre Nacktheit machte sich infolge der Gewohnheit, alle überflüssigen Haare vom Körper zu entfernen, noch[S. 162] stärker fühlbar. Mehrere kamen den sagenhaften weißen Indianern näher, als ich es bisher gesehen hatte. Später aber traf ich auf zwei Wilde, ein Kind bei den Ocainas und ein Mädchen eines unbekannten Stammes an der Grenze Ecuadors, deren Haut so weiß war, daß man sie aus der Entfernung von Europäern nicht hätte unterscheiden können. Selbst in der Nähe sahen sie nicht dunkler aus als etwa Italiener.
Die Itogapukweiber haben das Haar kurz geschnitten und mit einem Strohband eingebunden. Um den Hals tragen sie Halsketten aus braunen und weißen Samenkörnern, oft in mehreren Reihen. Einige hatten sich Bänder aus gefärbtem Stroh um jede Schulter gewunden und auch um die Lenden, Arme, Hand- und Fußgelenke. Säuglinge wurden auf dem Hüftbein der Mutter umhergetragen. Die Kinder hatten Lieblingsaffen, die auf ihren Händen oder Schultern saßen. Eines der Weiber trug schwere Ohrringe aus schwarzem Stein, aber der Gebrauch, das Ohrläppchen zu verlängern, scheint bei ihnen nicht zu bestehen.
Mehrere Weiber hatten durchbohrte Oberlippen, so daß an einen allgemeinen Brauch ohne Rücksicht auf das Geschlecht gedacht werden müßte. Da aber weder Kinder noch junge Leute in solcher Weise entstellt waren, mag es sich um Heirats-, Alters- oder Standesabzeichen handeln. Obwohl Männer und Weiber Tag und Nacht nackt unter einem gemeinsamen Dach leben, war nichts Unschickliches zu bemerken, auch nichts von jenen schrecklichen Krankheiten, die in den Ansiedlungen nur zu sichtbar hervortreten.
Die Kriegsbogen waren aus dunkelm, mahagonifarbigem Holz verfertigt und über zwei Meter hoch. Solch einen Bogen ganz zu spannen erforderte beträchtliche Kraft. Dazu gab es drei verschiedene Pfeilarten: die einen mit abgestumpfter Spitze für die Vogeljagd; die zweiten mit breiten, scharfen Holzschneiden für die Jagd auf den Tapir, den Jaguar und Wildschweine; ferner Kriegspfeile[S. 163] mit häßlich vergifteten Widerhaken, die von einer Scheide geschützt waren. Als Speer wurde nur eine lange Lanze gebraucht mit Vogelfederverzierungen am Griff. Sie dient hauptsächlich zum Anspießen bei der Jagd auf Schildkröten, Fische, Alligatoren, Schlangen und Leguane (Eidechsen).
Die Itogapuks glauben an gute und böse Geister, unter denen sie gleichsam die belohnenden und rächenden Engel eines höchsten und unsichtbaren Gottes zu verstehen scheinen, den man sich auf der Sonne oder auf dem Mond wohnend vorstellt. Sie müssen durch Festmähler und die Martern junger Mädchen versöhnt werden, aus denen man dadurch das Böse austreibt und die man damit gehorsam und fügsam macht. Kinder scheinen nicht viel zu gelten, obgleich sie anscheinend gut behandelt werden. Im Alter von zehn Jahren werden die Mädchen dem Mann verlobt, der am meisten für sie zahlt. Von da an leben sie am Gemeinschaftsfeuer ihres Herrn und Gebieters. Waisenkinder werden weggegeben, und auf diese Weise gelangten ein kleines Mädchen und ein Junge des Stammes zur Erziehung nach Manáos.
Die Kinder sind ein vergnügtes, lachendes Völkchen. Den ganzen Tag treiben sie sich mit ihren zahmen Affen spielend umher. Eins oder zwei trugen Halsketten und Amulette aus dem geglätteten Holz der Tucunapalme oder Schnüre von braunen und weißen Samenkörnern. Ein etwa zwölfjähriger Junge war unendlich stolz auf seinen Kopfschmuck aus dem Fell eines schwarzen Jaguars, der in dieser Gegend sehr selten vorkommt.
Unser Nachtlager wurde am Rand des Igarapés aufgeschlagen, an der Seite des Indianerdorfes. Die Frösche vollführten ein schreckliches Gequake die ganze Nacht hindurch, die durch Schwärme von Insekten aller Gattungen noch unerquicklicher gemacht wurde. Merkwürdigerweise geschah es in der ersten Nacht, die ich bei diesen Wilden zubrachte, daß ich Bekanntschaft mit dem Vampir machte.[S. 164] Die Luft war ganz still und furchtbar heiß. Unter dem Moskitonetz konnte ich kaum atmen, und schon nach ein paar Minuten war ich im Schweiß wie gebadet. Stundenlang lag ich so wach und hörte dem Froschkonzert im nahen Sumpf und dem Gesumm der zahllosen Insekten zu.
Dann war ich doch wohl ein wenig eingenickt und mußte das Moskitonetz während meines unruhigen Schlafes von den Füßen weggeschoben haben. Als ich gerade vor Tagesanbruch erwachte, hatte ich ein seltsam kühles, kitzelndes Gefühl in den Füßen. Ich knipste die kleine elektrische Taschenlampe an, die ich für Notfälle immer bei mir trage, und erblickte in ihren Lichtstrahlen einen großen Vampir, der seine häutigen Flügel auf- und zuklappte, während er das Blut aus einer Wunde in meinem linken Fuß sog. Durch das Licht geblendet, flog das ekelhafte Geschöpf in das Moskitonetz und flatterte dann davon in die noch sternenhelle Dämmerung.
Ich brachte das Netz wieder in Ordnung und untersuchte den Fuß, an dessem Rist ein kleiner tiefer Einschnitt zu sehen war, aus dem Blut träufelte. Am nächsten Morgen fühlte ich mich recht schwach, ob durch den Blutverlust oder den Mangel an Schlaf, vermag ich nicht zu bestimmen. Meine Fußgelenke waren von den Bissen der Moskitos so verschwollen, daß ich in die Tourenstiefel nicht hineinkam und mich mit den weichen Moskitoschuhen behelfen mußte, die ich bisher nur am Abend im Lager oder im Kanu der Bequemlichkeit wegen getragen hatte.
Am selben Tag gelang es mir, eine der seltsamen Maloccas zu betreten. Die Itogapuks haben an ihren Strohhütten zwei sehr niedrige Eingangsöffnungen, so daß ich fast auf allen vieren kriechen mußte, um hineinzukommen. Im Innern war es fast finster bis auf das trübe Licht, das von den Eingängen herkam. Von schwelenden Feuerstellen war nichts zu sehen wie in den Maloccas[S. 165] der Indianer am Tapajóz und Gy-Paraná. Außer einem Weidenkorb mit Früchten, mehreren Flaschenkürbissen und einer hölzernen Schüssel zum Ausquetschen der Mandioka gab es keinerlei Hausgerät. Mehrere Bogen lehnten an der Strohwand, und eine Anzahl von Pfeilen steckte in der Erde in eigens dafür gemachten Löchern. Auf dem Boden lagen ein oder zwei Felle, die den Raum für jede Familie abgrenzen. Denn die Malocca war recht groß und mochte etwa 10 Meter im Durchmesser halten und 4½ Meter hoch sein. Durch die beiden Öffnungen läßt sich im Fall eines Angriffs schnell das Freie gewinnen. Die eine ging auf den Igarapé hinaus, die andere auf die Lichtung.
Unter dem Ufergebüsch lagen die Kanus verborgen, leichte, aber sehr starkgebaute Fahrzeuge aus Rinde, die durch Spreizen offen gehalten wird. Den ausgehöhlten Stämmen der Caripunas waren sie weit überlegen und glichen mehr den Kanus der Parintintins. In jedem Kanu befand sich ein wasserdichter Flaschenkürbis, der innen an dem gekrümmten Holzstück befestigt war, das als Bug- und Sternpfosten dient. Aus dieser starken Versteifung der Boote ging hervor, daß die Itogapuks geschickte Kanuleute sind, die auch Fahrten über die Stromschnellen nicht scheuen. Doch scheint es sehr unwahrscheinlich, daß sie den Aripuanan befahren, der den Kautschuksammlern mehr oder weniger bekannt ist und von ihnen besucht wird. Die Wilden hassen diese Leute, denn sie haben zu viel unter ihren stets schußbereiten Winchesterbüchsen gelitten. Die Quelle und die Zuflüsse des kleinen Madeira sind noch immer unbekannt, und vielleicht entdeckt man eines Tages, daß er in einen größeren Fluß führt oder einen der Nebenflüsse des Madeira, wodurch eine Kreisverbindung mit dem Aripuanan hergestellt wäre. Wie dem auch sein mag — die Itogapuks sprachen von dem „großen weißen Wasser“ und dem „See der Piranha“. Dieser Fisch, der auch Menschen angreift, kommt in vielen amazonischen[S. 166] Flüssen vor. Er ist mehr gefürchtet als der „Jacaré“ oder Alligator, den man sehen kann, während die Piranha plötzlich aus der Tiefe auftaucht und über Wasser zuschnappend mit ihren messerscharfen Zähnen einen Finger, eine Hand oder die Zehen abbeißt.
Es wäre irreführend zu behaupten, daß dieser Stamm von Wilden zum Kannibalismus neigt. Solange endgültige Beweise fehlen, sollte das Gegenteil angenommen werden. Denn Kannibalismus im vollsten Sinn des Wortes kann bis jetzt keinem einzigen Stamm der großen amazonischen Waldgebiete zur Last gelegt werden. Allerdings besteht nur wenig Zweifel, daß sie kannibalische Gebräuche ausüben. So pflegen sie eine Schale Blut von gewissen erlegten Tieren zu trinken, im Glauben, dadurch der Stärke, Schlauheit oder Klugheit ihrer Opfer teilhaftig zu werden. In dieser Hinsicht gleichen sie den Kaschibosindianern am Ucayali und den Uaupés am gleichnamigen Fluß, die die Knochen der im Kampf erschlagenen Feinde zerstoßen, das Pulver mit gegorenem Fruchtsaft mischen und es dann trinken, um sich der Stärke oder Klugheit des toten aber bewunderten Gegners zu versichern. War der Überwundene schwach, feig oder leicht zu besiegen, so wird der Kopf als Trophäe abgeschnitten und der Rumpf in den Wald geworfen oder als Lockspeise für Raubtiere verwandt. Anscheinend nehmen die Weiber an derartigen Gebräuchen nicht teil, doch bin ich dessen nicht sicher. Jedenfalls habe ich keinen Beweis, daß Kannibalismus unter jenen Stämmen herrscht, und glaube, daß es sich dabei um eine irrtümliche Anschauungsweise handelt.
Am Abend des zweiten Tages führten uns die Itogapuks einen Kriegstanz vor. In ihrem Schmuck von Vogelfedern und Fußringen boten sie einen barbarischen Anblick auf dem charakteristisch tropischen Hintergrund von Palmwedeln und breiten Paicovablättern. Aus der Darstellung eines Angriffs scheint hervorzugehen, daß die 2 Meter langen Kriegsbogen erst über den Kopf[S. 167] gehalten werden, während die Sehne bis zur Schußlage gespannt wird. Dann senkt sich der Bogen mit dem langen gefiederten, mit vergifteten Widerhaken versehenen Pfeil bis zur Augenhöhe, ehe der Pfeil abfliegt. Nach den Leistungen dieses Indianerstamms zu urteilen, ist die Treffsicherheit weit übertrieben worden. Auf ganz kurze Entfernung vermag der Schuß tödlich zu wirken, muß aber die Flugbahn in Betracht gezogen werden, so ist die Treffsicherheit sehr gering. Der Tanz besteht aus einem langsamen Hin- und Herschieben der Füße, Schwenken der nackten Körper, Vorgehen und Zurückweichen unter wildem Geschrei und noch wilderer Musik von Flöten und hohlen Kalabassen. Nur am Schluß unterschied er sich von ähnlichen vorher und nachher beobachteten Tänzen, als die Gefangennahme der Weiber und Mädchen durch die Sieger dargestellt wurde. Jeder der Leute suchte sich ein Mädchen aus, warf sie in die Luft und rannte mit der kreischenden Beute in seine Malocca zurück.
Am nächsten Morgen verließen wir das Dorf der Itogapuks und fuhren den kleinen Igarapé hinab zu unserm Lager am Aripuanan. Auf seinem Oberlauf wird er von den wenigen Caboclos „Castanho“ genannt, die in diese entlegenen Gegenden kommen, um Kautschuk zu sammeln.
Zwanzig Tage später erfreute ich mich einer guten europäischen Mahlzeit in dem wohlbekannten Café der „Avenida“ in Manáos.
Auf dieser Reise, in Manicoré, hörte ich zum erstenmal von Major Tito Neves, der damals einen Besitz am Marmellosfluß hatte, dem ungesundesten unter allen Nebenflüssen des großen Madeira. Als ich auf einem Vergnügungsausflug viele Monate später nach Manáos kam, war die Geschichte der Taten dieses Mannes in den Tiefen der Wälder im Druck erschienen und verbreitet worden. Für die Wahrheit der Darstellung kann ich persönlich nicht stehen, aber meine Quellen scheinen zuverlässig zu sein,[S. 168] und außerdem liegen die Berichte auf Portugiesisch im Druck vor. Ich will hier nur einen kurzen Abriß geben als Illustration der Behandlung der Indianer seitens gewissenloser Leute und des merkwürdigen Abenteurerlebens im Amazonengebiet.
Der Maicyfluß teilt sich in zwei Abschnitte. Am Unterlauf, nahe seiner Mündung, sitzen die Pirahanindianer, während der Oberlauf und die Gebiete um den Maicy-Mirimé und Gy-Paraná die Domäne der kriegerischen Parintintins bilden, von denen in früheren Kapiteln die Rede war. Zwischen diesen zwei Stämmen herrschte eine Blutfehde bis zum Erscheinen der Offiziere des Indianeramts in den allerletzten Jahren. Der Maicyfluß war der Schauplatz beständiger Stammeskriege, und um Frieden zu stiften wurden Stationen des Indianeramts an der Mündung und zwischen den düstern, von den Pirahans und Parintintins bewohnten Waldgebieten errichtet. Später kam noch die schon erwähnte Station am Maicy-Mirimé dazu, die die Aufgabe hatte, mit den Parintintins in freundschaftliche Beziehungen zu treten. Diese drei Stationen verwandeln allmählich den Fluß aus einem Schauplatz blutiger Kämpfe in eine Gegend des Friedens.
Gegenüber der Station am mittleren Maicy befinden sich die Dörfer der Pirahans. Hier spielte sich das Folgende ab. Wie man erzählt, überfiel Major Tito Neves die Dörfer mit bewaffneter Macht, vertrieb die Indianer aus ihren Maloccas und Tapirys, nahm ihre kleinen Pflanzungen in Besitz und machte viele von ihnen zu Sklaven, um die umliegenden Wälder von brasilianischen Nußbäumen auszubeuten.
Nach der Ernte verbrannte Neves die Dörfer mit der Absicht, die Indianer an der Rückkehr zu hindern und zog sich selbst mit dem Gewinn nach Manicoré zurück. Später baute er eine Barraca nächst dem zerstörten Dorf, aber ein ungeheurer Baum fiel auf das Gebäude und zertrümmerte es. Und so abergläubisch sind die Caboclos[S. 169] oder Mischlinge, daß ihn fast alle seine Arbeiter verließen, weil sie den Unfall für eine Schickung der Vorsehung hielten.
Diese kleine Geschichte, die „Neves’ Schatten“ heißt, bietet an sich nichts Besonderes. Doch braucht man nur ein wenig Einbildungskraft, um sie mit schauerlichen Einzelheiten auszufüllen. Aber freilich hat alles zwei Seiten, und neben dieser Geschichte erzählt man eine andere in Porto Velho von dem Überfall einer Plantage durch die Indianer mit Mord, Brandstiftung und Zerstörung, ohne daß die Regierung den betreffenden Stamm zur Rechenschaft zog. Die beiden Geschichten sollen nur als Illustration dienen für Typen und Zustände in den verschlungenen Wäldern und ungesunden Flußgebieten dieser Grenzen zwischen Zivilisation und Barbarei.
[S. 170]
Im mittleren Amazonengebiet ist Manáos der gegebene Knotenpunkt des Stromsystems, ebenso wie Pará für den Unterlauf der Flüsse. Erst jenseits der Grenze Perus verlegt er sich von Manáos nach Iquitos, und da hat auch der Amazonenstrom einen andern Namen angenommen. Zuerst heißt er Solimões und dann, nach Überschreiten der brasilianisch-peruanischen Grenze, Marañon. Iquitos liegt jedoch über 1600 Kilometer von Manáos entfernt, und von ihm ist vorläufig noch nicht die Rede. Wir befinden uns im Land der Riesenentfernungen, wo jeder Ortswechsel nur mit Hilfe der Karte anschaulich gemacht werden kann.
Nach wenigen Rasttagen in Manáos entschloß ich mich, einen weitern Vorstoß in das Herz der brasilianischen Wildnis zu unternehmen, und zwar diesmal nach Norden in das wenig bekannte Gebiet an der Grenze Venezuelas, ehe ich zu längerer Ruhe nach Europa zurückkehrte. Mein Entschluß, den Rio Negro und Rio Branco hinaufzufahren, entsprang verschiedenen verführerischen Aussichten. Zuerst einmal war mir Förderung meiner Absichten versprochen worden, wenn ich zur Staatsdomäne von S. Marcos am wenig bekannten Rio Uraricoera gelangen würde; zweitens hatte ich genug von den düsteren Wäldern und sehnte mich nach den ungeheuern, unbekannten Flächen, die nördlich des dritten Breitengrades vorhanden sein sollten. Dort gab es Indianer eines völlig von jenem der dichten Dschungeln verschiedenen Typs, den[S. 172] kürzlich entdeckten „Felsen der Inschriften“, die Kristallberge und die unerforschten Steppen des Amazonenstroms.
Der Flußdampfer, auf dem ich mich am 12. September einschiffte, war sehr klein und hatte nur wenig Tiefgang. So langsam war seine Fahrt gegen die Strömung, daß Stunden auf dem offenen, sonnenhellen, blauschwarzen Rio Negro verflossen, ohne daß unser Fortschritt recht bemerkbar wurde. Die weißen Häuser und Türme von Manáos, die ihm einen östlichen Anstrich verleihen, schimmerten im Licht der sinkenden Sonne, überragt von der grüngoldenen Kuppel des nutzlosen Theaters und eingefaßt von der frischen tropischen Vegetation und den Klippen aus rotem Sandstein. Dahinter wogte es wie Feuer um den untergehenden Sonnenball über den unbekannten Wäldern des brasilianischen Guayana. Träge kämpften wir uns gegen die schnelle Strömung an S. Raymundo vorüber, der hübschen, kleinen und durch seine Wäscherinnen berühmten Vorstadt von Manáos, an der drahtlosen Station und endlich an dem Igarapé vorbei, der durch überschwemmte Wälder zu den Fällen von Tarumá führt. Und dann ging’s hinaus in die nachtverhüllte Wildnis auf dem sternenhellen Fluß.
Nirgends im Amazonengebiet spiegeln sich die zahllosen Lichtpunkte des indigoblauen Himmelsgewölbes in gleicher Pracht auf der ruhigen Oberfläche der Flüsse wie auf den schwarzen Wassern des Rio Negro. Zuzeiten ist die Wirkung geradezu zauberhaft. In stillen, mondlosen Nächten ist man von Sternen wie umgeben. Solange noch der Widerschein der Schiffslichter auf dem Wasser liegt, ist der Eindruck schwächer; zu später Stunde aber, wenn sie abgeblendet sind, ist’s, als schwebte man langsam durch einen sternenerfüllten Raum.
Auf diesen Flußdampfern speist man unter einem Schutzdach auf dem Hinterdeck, und wäre die Verpflegung nur einigermaßen gut, so könnten solche Reisen auf den stärker befahrenen amazonischen[S. 173] Flüssen von und bis zu der Endstation ganz gemütlich und außerordentlich unterhaltend sein. Die Speisekarte besteht mit wenigen Unterschieden aus in Baumwollsamenöl gebratenen Eiern, schwarzem Kaffee und Farinha, einem wie Sägemehl schmeckenden, aus Mandioka bereiteten Brei, Konservenfleisch, Goyabagelee und getrockneten Süßwasserfischen. So geht es, je nachdem, tage- oder wochenlang fort in der beständigen Hitze der Wälder und Flüsse und nimmt der sonst landschaftlich wundervollen Fahrt jeden Reiz. Die Reise wird so zu einer Frage der Ausdauer, einer Vorprüfung für die unendlich größern Entbehrungen, wenn das „Mutum-Mutum“, wie die halbzivilisierten Indianer das Dampfboot nennen, erst Hunderte von Meilen hinter uns liegt und die Wildnis uns aufgenommen hat mit ihren Ansprüchen an Kraft, Zähigkeit und Unverdrossenheit, mag auch alles noch so sorgfältig vorbereitet und organisiert worden sein.
Die Landschaft am Rio Negro ist gänzlich verschieden von der an den meisten amazonischen Flüssen. Im Osten begleiten seinen Lauf Hügelketten, im Westen viele überschwemmte Wälder. Die Hügel erheben sich über die in den breiten Fluß vorspringenden Sandsteinklippen und kleiden sich in das Grün der tropischen Vegetation, das beständig andere Töne annimmt. Nach Süden und Westen schaut man meilenweit über den wilden, unerforschten Dschungel, die Heimat unbekannter Stämme, deren Jagdgründe und Maloccas sich meistens in weiter Ferne in den düstern Wäldern befinden, die wie dunkle Wellen den dunstigen, blaugrauen Horizont umsäumen. In diese Richtung erstrecken sich viele lange Igarapés, und weit draußen trifft das Auge auf glänzende Flecken, die verraten, daß sich dort namenlose Waldseen befinden. Erklimmt man einen der Hügel, so fliegt der Blick über unendliche Strecken tropischer Wälder, was in diesem unermeßlichen Gebiet von fünf Millionen Geviertkilometer sonst nur selten in Flußnähe der Fall ist.
[S. 174]
Vorübergehend halten wir an einigen Caboclohütten und Lehmziegelhäusern namens Tauapersassu und Ayrao und endlich an dem trübseligen und verwahrlosten Städtchen Moura, 274 Kilometer von Manáos. Fast gerade gegenüber der verfallenen Niederlassung mischen die Gewässer des Rio Branco ihre weißen Streifen und Flecken in die schwarze Flut des Rio Negro. Er ist noch weitere 400 Kilometer bis Santa Isabel schiffbar, aber während der Niederwasserzeit von Dezember bis März nur für Dampfboote mit sehr kleinem Tiefgang. Jenseits Santa Isabel beginnen dann zahlreiche Stromschnellen und gefährliche Felsriffe.
In Moura heißt es entweder den Dampfer mit der staatlichen Barkasse „Amazonia“ vertauschen oder sich ein Batalõe verschaffen für die lange Fahrt den Rio Branco flußaufwärts, dessen starke Strömung der Schiffahrt erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Nur langsam geht es vorwärts. Im Unterlauf des Flusses gibt es allerlei Hindernisse wie bewaldete Inseln, gewundene „Furos“ (Flußarme) und Brackwasserseen. Zu beiden Seiten hat man den tropischen Wald, dessen Bäume ihre mächtigen Äste über den Fluß breiten. Selbst mit Hilfe der Karte und des Kompasses ist es nicht leicht, sich im richtigen Fahrwasser zu halten. Oft gehen Stunden verloren, wenn man einen der verschlungenen Wasserwege verfolgt, der schließlich nur wenige Kilometer oberhalb wieder in den Hauptfluß einmündet.
Das Ästuar, einige Kilometer oberhalb Moura, bildet eine prächtige, mit bewaldeten Inseln bedeckte Wasserfläche. Jenseits begleiten den Fluß 350 Kilometer lang die Mauern der immergrünen Wälder, die nur einmal am rechten Ufer, 250 Kilometer von Moura, einen Ausblick auf die Serras do Barauana gewähren. Bis oben hinauf dicht bewachsen unterbrechen sie die Eintönigkeit der Landschaft. Dann kommt die kleine Niederlassung von Vista Alegre, wo die von Manáos durch die Wälder geplante[S. 175] Straße einmal ihr Ende am Rio Branco finden soll. Der Bau geht jedoch nur langsam vorwärts und ist, obwohl er vor vielen Jahren begonnen wurde, erst bis Campos Salles gediehen, einige dreißig Kilometer über Manáos hinaus.
Am Nordufer beugten sich hier zwei große Bäume über den Fluß, die über und über mit den merkwürdigen Nestern von Stärlingen besetzt waren. Fast von jedem Zweig hingen sie herab. Der Eingang zu den Nestern dieser eigenartigen Tiere befindet sich am Boden, von wo ein Gang nach oben zu dem Brutplatz des Weibchens führt. Diese Stärlinge sind fröhliche kleine Geschöpfe, die den ganzen Tag singen und zwitschern. In der Nähe war ein Baum, von dem nicht weniger als drei große, bienenkorbähnliche Wespennester herabhingen.
Etwa 30 Kilometer über Vista Alegre hinaus ist das Fahrwasser durch die gefährliche Cachoeira (Stromschnelle) Bemqueror unterbrochen, doch kann man sie sowohl durch den Furo do Cuyubim umfahren als auf dem Landweg über die Serra Caracarahy umgehen. Hat man erst diesen schwierigen Abschnitt hinter sich, so liegt der Weg frei bis Boa Vista, ungefähr 100 Kilometer jenseits der Stromschnellen. Der Wald wird nun lichter, bis endlich in weiter Ferne unendliche Ebenen wie ein wogendes Meer erscheinen. Kommt man aus dem feuchten Zwielicht der tropischen Wälder und hat nun vom hohen Ufer aus plötzlich die durch kleine Palmeninseln durchbrochenen Flächen bis zum Horizont vor sich, so ist’s, als träte man aus dem Düster eines Treibhauses auf ein frischgrünes Feld hinaus.
Mit Wonne atmete ich die Luft der amazonischen Steppen ein, die wie eine Seebrise nach einem Londoner Nebel auf mich wirkte. Obwohl Gruppen von Bäumen und selbst kleine Dschungelstreifen erst verschwanden, als die Ultima Thule des Amazonengebiets erreicht war, weit oben an den Flüssen Parimé und Surumú, hatte[S. 176] ich doch endlich die dunstigen Wälder, ungesunden Flüsse und moskitoverseuchten Sümpfe hinter mir, und ungehemmt von den grünen Gefängnismauern durfte der Blick in die Weite schweifen.
Die kleine Niederlassung Boa Vista, etwa 700 Kilometer von Manáos entfernt, besteht aus vielleicht 130 Gebäuden, die eine ungepflasterte und unbeleuchtete Straße bilden. Es ist eine hinterwäldlerische Ansiedlung. Die meisten Häuser sind aus Luftziegeln und „Taipa“ gebaut und haben Zink- oder Strohdächer. Ich hielt mich hier nur so lange auf, als erforderlich war, mein Gepäck in die Barkasse umzuladen, die schon wartete und mich nach S. Marcos und den Uraricoera flußaufwärts bringen sollte bis zu seiner Vereinigung mit dem Parimé auf 3° 20′ nördlicher Breite.
Auf der Staatsdomäne von S. Marcos, die vom Indianeramt verwaltet wird, traf ich mehrere Offiziere. Nach Ergänzung der Vorräte fuhren wir westwärts in den Uraricoera ein. Den Ufern des schmalen Flusses entlang befinden sich zahlreiche Farmen, auf denen hauptsächlich Viehzucht auf den Steppen ringsum getrieben wird. Außer den ausgedehnten Staatsdomänen, wo man Macuxyindianer als Viehhirten beschäftigt, wären hier zu nennen die Facendas des Oberst Bento Brazil und des Commendadore Araujo am Pariméfluß. Dorthin ging meine Reise, um den geheimnisvollen Felsen der Inschriften zu untersuchen. Dann wollte ich über die offenen „Campos“ den obern Surumú erreichen.
Über die Reise den Uraricoera und Parimé flußaufwärts brauche ich nur wenig zu sagen, um zu schildern, wie ich die Tage hinbrachte. Der Uraricoera ist auf beiden Ufern umsäumt von kleinen Gruppen von Palmen und andern Bäumen, zwischen denen sich weite Ausblicke auf die wellenförmige Steppe und auf namenlose Serras bieten. Der Parimé ist ein schnell dahinströmender kleiner Fluß, dessen Quelle in einer Kette hoher unerforschter Berge fern am Horizont liegt. Da er damals mit Barkassen nicht befahren[S. 177] werden konnte, mußte dieses Beförderungsmittel gegen Pferde vertauscht werden. Beamte der benachbarten Fazenda stellten sie mir liebenswürdigerweise zur Verfügung zusammen mit einigen wenig anmutig aussehenden indianischen Vaqueros, die zugleich als Führer dienen sollten.
Der wenig bekannte Felsblock, den zu sehen ich so weit gereist war, befindet sich in einiger Entfernung vom Alto Parimé und steigt wie ein gigantischer Ballon aus der ebenen Steppe. Er ist so abgelegen, daß die Annahme wohl richtig ist, daß er der heilige Felsentempel der großen Indianerstämme war, deren Jagdgründe sich hier vor 600 Jahren ringsum ausbreiteten.
Es ist kaum möglich, ein Gefühl scheuer Ehrfurcht zu unterdrücken, wenn man von der Steppe her in den Schatten dieses ungeheuren Blocks reitet. In mancher Hinsicht ähnelt er den merkwürdigen Matoppos in Rhodesia, nur ist er viel größer. In seiner Riesenhaftigkeit gibt er das überwältigende Gefühl einer Allmacht, die allein fähig war, diesen kolossalen abgerundeten Felsbrocken hierher auf eine sich nach jeder Richtung auf Meilen und Meilen eben ausdehnende Fläche zu versetzen.
Ein schmales Felsband führt spiralenförmig um die Basis der überhängenden Masse. Auf einer Seite befindet sich eine Höhle, die einer Kavallerieschwadron Unterkunft bieten würde. Offenbar war hier der Tempel der alten indianischen Götter, und auf dem Steinaltar sind zweifellos viele blutige Opfer dargebracht worden. Hoch oben an der Außenwand ist eine augenscheinlich künstliche, schmale, merkwürdige Plattform, von der ein Abstieg jetzt jedoch nicht mehr durchführbar zu sein scheint. Über dreißig Meter unter ihr erhebt sich eine natürliche ebene Steinterrasse. Unwahrscheinlich ist es nicht, daß von dem luftigen Altar auf unbekannte Weise die Menschenopfer auf die Steinterrasse im Angesicht der unten versammelten Indianerstämme herabgestürzt wurden.
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Die Seiten dieses sicherlich größten Felsblocks der Erde sind ausgewittert und verfärbt von der tropischen Sonne und den Regenfluten der Jahrhunderte. Aber außer den tief in den Felsen eingegrabenen Inschriften, von denen ich auf Seite 179 einige wiedergebe, weiß man wenig Sicheres über seine Geschichte und seinen Zweck. Daß er einst ein großer Tempel war, ist zweifellos und wird von den Macuxy-, Uapirkanas- und Jarikunasindianern bestätigt, den mächtigsten Stämmen, die jetzt die Umgebung bewohnen.
Diese Nacht lagerte ich im Schatten des großen Felsentempels. Alle Stunden der Finsternis waren erhellt von den lautlosen tropischen Blitzen. Zuweilen war das Stampfen der Hufe flüchtender Rinderherden weit draußen in der Steppe zu hören, sonst nicht einmal das leise Flüstern des Windes im Grase. Eine Stille wie nicht von dieser Welt. Im Zucken der blauen Blitze am unerforschten Horizont enthüllte sich jedesmal die ungeheure schwarze Felsmasse. Nur schwer ließ sich die Phantasie zügeln, die nachtverhüllten Flächen ringsum mit nackten Gestalten in geisterhaften Zeremonien zu bevölkern. Der Schlaf floh mich, trotzdem der mühselige Ritt in der großen Hitze des Tags mich erschöpft hatte. Als die ersten roten Streifen der Dämmerung über die gebrochenen Linien der Steppe hinzitterten, war ich froh zu essen, aufzupacken und von dem unheimlichen Felsblock wegzukommen, dessen eigentümlich farbgesprenkelten Flächen im rosigen Licht des Morgens wie von Blut trieften.
Der Überdruß an allem, was sich „amazonisch“ nannte, hatte mich fest in seinem Griff. Jede Bewegung schien eine Anstrengung, die den letzten Nerv meiner Willenskraft in Anspruch nahm. Während ich vor mich hindöste, war es, als ob der Boden unter den Hufen meines Pferdes verschwände, bis ich wieder mit einem quälenden Ruck zu mir selber kam. Gehirn und Muskeln waren wie[S. 180] gelähmt, aber einen wirklichen Schmerz fühlte ich nicht. Dieser äußerste Lebensüberdruß brachte nur eine Empfindung des Ekels hervor und leichtes Kopfweh. Wer aus den tropischen Wäldern kommt und deren erschlaffende Luft unter beständigem Schweißverlust monatelang eingeatmet hat, muß auf diese merkwürdige Reaktion gefaßt sein. Ob man sie über Fluß und Meer verläßt, über die luftigen Pässe der Anden oder die offenen Steppen am Rio Branco, hat wenig zu bedeuten. Das Ergebnis ist fast stets das gleiche: mehrere Tage einer unwiderstehlichen Schwere und eines Überdrusses, die nicht viel ausmachen, wenn man auf einem Deckstuhl herumfaulenzen kann, aber während der glühenden Mittagsstunden im Sattel inmitten der ozeangleichen Weiten der steinigen, wellenartigen Steppe zu einer wirklichen Qual werden.
Als die Sonne in düsterer Glut hinter den dürren Hügeln unterging, beschleunigte ich den Marsch meiner kleinen Kavalkade. Sie bestand aus drei Leuten und fünf Pferden, von denen zwei nur als Packpferde zum Tragen der Zeltausrüstung mitgeführt wurden. Obwohl unser Ziel am Surumú weniger als 100 Kilometer entfernt war, wurde es uns doch bald klar, daß wir es nicht vor Einbruch der Nacht erreichen würden, da wir einen kleinen, aber schwierig zu überschreitenden Fluß zu queren hatten. So schlugen wir wieder das Lager auf den offenen Campos auf, während es die ganze Nacht durch blitzte. Am nächsten Tag gelangten wir zu dem Posten des Indianeramts an den Flüssen Surumú und Cotinga.
Die kleine weitentlegene Station dient zur Zivilisierung der Macuxy-, Jarikunas- und Uapirkanasindianer. Sie sind eine uninteressante, aber recht umgängliche Gesellschaft. Da sie vorzügliche Reiter sind, verwendet die Regierung sie als Viehhirten, um die Herden auf den offenen Flächen dieses großen, einsamen Landes zu hüten. Eine Schule für die Indianerkinder ist der[S. 181] Station angegliedert, und die wunderlichen kleinen Geschöpfe sehen sich zum erstenmal in der Geschichte ihrer Rasse den Einschränkungen von Kleidern und Schulstunden unterworfen.
Jenseits dieses letzten Vorpostens einer Halbzivilisation liegen die unbekannten Ketten der Serra Pacaraima an der Grenze Venezuelas. Die niedrige Kette der wellenförmigen Hügel, die nur selten die Höhe von 500 Meter überschreiten, ist mit Gebüsch bedeckt, aber sonst breitet sich nach allen Richtungen über Tausende von Geviertkilometer die Steppe aus. Es ist ein ungeheures, unbevölkertes Land unermeßlicher Möglichkeiten. Von den wenigen dort wohnenden Indianern sieht man nicht viel, ehe man die Hügelkette überstiegen und die Wälder auf der Seite Venezuelas betreten hat. Dort bewachen noch heute die Punabi- und Brüllaffenindianer die Annäherungslinien an die unerforschte Quelle des großen Orinoko, und noch weiter nördlich hausen andere ebenso kriegerische Stämme um den heiligen Berg „Sipapo“.
Unter den Grenzern und Schmugglern hört man viel von Gold, Diamanten und kostbaren Steinen, die am Surumú, Cotinga, Majery und andern Flüssen des wilden Landes gefunden werden. Auf 4° 15′ nördlicher Breite erhebt sich am Cotinga eine kleine Bergkette, die die Lokalbezeichnung „Serra das Crystaes“ (Kristallberge) trägt. Sie wurden mir geschildert als „ein Fundort von weißen, blauen und roten Kristallen“. Diamanten hat man an den Ufern des Cauamé gefunden, aber dieser und viele andere Flüsse sind gänzlich unerforscht und scheinen für wissenschaftliche Untersuchungen ein glänzendes Feld zu bieten, und zwar mit weit weniger Gefahr für Leben und Gesundheit, als mit der Erforschung der großen Wälder im Süden unvermeidlich verbunden ist.
Als ich auf meiner Rückkehr zum Rio Branco an der Mündung des Uraricoera vorüberkam, verbrachte ich eine Nacht im Lager Raoul Rabeques, des berühmten „R. R.“ der französischen Forschung.[S. 182] Er hatte seine Untersuchungen am Uaupésfluß beendigt und war an den Rio Branco heraufgekommen, ehe er in die Berge seines geliebten Jura zurückging. 450 Kilometer jenseits des letzten Vorpostens der Zivilisation hatte er am Oberlauf des geheimnisvollen und wenig bekannten Uaupés eine schwere Malaria überstanden. Der Amazonenstrom selbst ist ganz gesund, und in Städten wie Pará und Manáos hat man von Malaria nichts zu fürchten, aber die entlegenen Flüsse und Sümpfe sind außerordentlich malariagefährlich, besonders, wenn die Gewässer aus den überschwemmten Wäldern wieder ablaufen. Dieser verhältnismäßig junge Forscher hatte sich zu lange in den Fiebergegenden aufgehalten und trug die unverkennbaren Zeichen an sich, daß er nur noch eine große Reise ins Unbekannte vor sich habe, obwohl er einen lebhaften und vergnügten Eindruck machte. Er starb etwa sechs Monate später auf See nach einem Besuch in Rio de Janeiro.
Von Rabeque erfuhr ich interessante Einzelheiten über die Uaupésindianer, mit denen er während seines acht Monate währenden Aufenthalts in den Wäldern in nahe Berührung gekommen war. Die Wilden an diesem entlegenen und von Stromschnellen unterbrochenen Fluß, einem Nebenfluß des oberen Rio Negro, sind zuweilen großgewachsen, haben die Hautfarbe hellen Kupfers und schwarzes Haar, das sie vorn kurzgeschnitten und über den Rücken herabhängend in einen langen Schwanz geflochten tragen. Ihre Hütten sind die größten Gemeinschaftshäuser der Welt. Einige sind über 50 Meter lang, 25 Meter breit und 12 Meter hoch. Die Dachstützen bestehen aus glatten, runden Baumstämmen. In einer dieser Riesenmaloccas spielen sich die seltsamen Zeremonien ihrer Juripariverehrung ab. Bis zu 40 Familien leben in einer Hütte. Jede besitzt ihre Feuerstelle und ihre eigenen Gerätschaften, untersteht aber den Befehlen eines Unterhäuptlings. Sie schlafen in Netz- und Federhängematten und bearbeiten[S. 183] kleine Anpflanzungen von Kassave, Yams und Tabak. Ihre Kanus bestehen aus einem einfach ausgehöhlten Baumstamm, sind bis zu 10 Meter lang, aber im schnellfließenden Wasser kaum zu brauchen.
Die Männer haben zuweilen eine Art Schürze, die Weiber aber, die keineswegs häßlich sind, gehen vollständig nackt. Alle Krieger tragen um den Hals an einer Kette von schwarzen Perlen einen zylinderförmigen weißen Stein, dessen Größe je nach dem örtlichen Rang des Trägers verschieden ist. Das Oberhaupt des Hauses heißt „Tischana“. Sein Amt ist erblich, solange seine Söhne es den besten Jägern des Stammes gleichzutun vermögen.
Das Uaupé- oder Uaupécarevolk, wie es auch heißt, teilt sich in 21 Unterstämme, die 15 verschiedene Dialekte sprechen. Jeder Stamm hat einen Namen, der zu seinen hauptsächlichsten Gewohnheiten oder Gebräuchen in Beziehung steht. So gibt es Tapuras (Tapirs), Tucunderas (Ameisen), Banhunas und Cubeus (Menschenfresser), Tucanos (Tukans), Piriacurus (Fische), Pesas (Netze) und noch andere, die alle das malariaverseuchte, gewundene Flußtal bewohnen.
Die Sitte verbietet Zwischenheiraten unter ihnen. Kann ein Mädchen nicht im Kampf mit einem benachbarten Stamm erbeutet werden, so muß der Heiratslustige sie aus gewissen Stämmen des Uaupévolks nehmen, in die hineinzuheiraten gestattet ist. Diese sind friedliche Ackerbauer, während die kriegerischen Stämme von gegenseitigen Raubzügen oder der Brandschatzung benachbarter Indianerstämme leben.
Der Fluß und die Indianer tragen offenbar ihren Namen von einem kleinen Vogel „Uaupé“ oder „Glanzkopf“, der seines schöngefärbten Köpfchens wegen so heißt. Stirbt ein Uaupé, so wird der Leichnam den Raubvögeln überlassen, bis sie ihn zum Skelett abgenagt haben. Die Knochen werden dann zu Pulver zerrieben,[S. 184] mit einem berauschenden Getränk vermischt und von allen Verwandten getrunken. Diesem widerlichen Brauch liegt die Vorstellung zugrunde, daß „es besser ist, sich im Innern eines Freundes als eines Insekts oder Reptils zu befinden“.
Die Waffen der Uaupés bestehen aus Lanzen, Blasrohren, Bogen, vergifteten Wurfspießen, Wurfpfeilen, Pfeilen und Keulen. In mancher Hinsicht scheinen sie den Ocainas zu ähneln, die ich später am Putumayo traf, da sie, nach Rabeque, sich auch am ganzen Körper zwei- oder dreimal des Tags mit gewissen Blättern abreiben.
Das Interessanteste an den Uaupés, weil einzig dastehend, ist vielleicht ihre Verehrung des Juripari, die in den wenigen Religionen und Mythologien anderer amazonischer Stämme kein Gegenstück hat. Es gibt bei ihnen Zauberdoktoren oder „Payés“, aber sie glauben weder an einen Gott noch an einen unsichtbaren Schöpfer. Alle sind diesen Payés untertan, und sogar die Kinder werden streng überwacht und müssen eine Art Katechismus lernen, der nichts enthält als eine Aufzählung ihrer Naturbeobachtungen.
Der Mittelpunkt ihrer rohen Kultur ist eine Art Teufelsgottheit, namens Juripari, und die ganze Religion ist auf einen Geheimdienst gegründet. Ungefähr sechsmal im Jahr wird in einer der Riesenmaloccas das Fest des Juripari begangen. Aus verschiedenen gegorenen Früchten bereitet man ein berauschendes Getränk in ungeheuren Mengen und vermischt es mit zu Pulver gestoßenen menschlichen Gebeinen. Die Payés legen ihre grotesk bemalten Masken an und führen unter dem Klang von Bambusflöten, unheimlichem Geschrei und allerhand Körperverdrehungen eine Art Prozession durch den Wald. Vernehmen die unverheirateten Weiber des Stammes die „Juriparimusik“, so fliehen sie in die Wälder und warten auf ein Zeichen, das sie herbeiruft. Inzwischen versammeln sich die jungen Männer, um sich einer[S. 185] gewissen Operation zu unterziehen, bei der kein junges Mädchen zusehen darf.
Wenn das vorbei ist, ziehen die älteren Männer und Weiber in den Wald und holen die unverheirateten Mädchen, die auf sie gewartet haben. Oft sind sie Gefangene von andern Stämmen. Sie werden in die Malocca geleitet und nach einer Untersuchung durch die Payés ihren betreffenden Gatten nach irgendwelchen geheimnisvollen Regeln übergeben. Der Bräutigam beschreibt genau den Mädchentyp, den er zu heiraten wünscht, mit allen körperlichen Vorzügen, auf die er Wert legt, ehe er noch die Gefangenen gesehen hat. Etwa ebenso, wie auch die Europäer ihrer Vorliebe für große, kleine, blonde oder brünette Frauen Ausdruck geben. Der Unterschied ist nur, daß die Payés bis ins kleinste gehende Einzelheiten verlangen, ehe sie zur Verteilung schreiten. Ist kein Mädchen vorhanden, das den Forderungen des Heiratslustigen in jeder Hinsicht entspricht, so muß er bis zum nächsten Fest warten oder bei den Stämmen, in die einzuheiraten ihm gestattet ist, selbst auf die Suche gehen und die Gefangene dann zu einer neuen Feierlichkeit mitbringen. Geburten verlaufen fast schmerzlos und ohne Beschwerden für die Mutter, weil an den Mädchen schon von früher Kindheit an gewisse Operationen vollzogen werden. Erblickt ein Mädchen die heiligen Zeremonien des Juripari, die vor den Masken der Teufelsgottheit am Beginn des Festes stattfinden, so muß sie einen grausamen Tod durch Gift erleiden.
In der Londoner Times war vor einigen Jahren zu lesen, daß zwei Missionare die unsagbaren Greuel des Juriparidienstes abzuschwächen hofften, indem sie die heiligen Kultsymbole und Messer dem versammelten Stamm zu Gesicht brächten. Es gelang ihnen auch durch eine List, die Gegenstände der Stammesverehrung dem allgemeinen Anblick darzubieten. Die Weiber flohen entsetzt, und in einer Beratung der Payés ward entschieden, daß zur Besänftigung[S. 186] der erzürnten Götter von den Mädchen, die die heiligen Symbole erblickt hatten, jedes zehnte durch Gift sterben müsse. Der schauerliche Beschluß gelangte sofort zur Ausführung. Die Leichen wurden in riesigen irdenen Urnen verschlossen und unter der Maske des Juripari begraben. Natürlich gibt es verschiedene Symbole dieses seltsamen Kults, aber bisher haben so selten Weiße auch nur einem Teil der Zeremonien beigewohnt, daß sehr wenig darüber bekannt ist. Der Juriparidienst bildet noch heute zum größten Teil eins der unenthüllten Geheimnisse der großen Wälder.
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Am Unterlauf des Rio Branco ist das Klima sehr feucht und ungesund. Als ich auf der Rückkehr nach Manáos aus der weiten, offenen Steppe an der Grenze durch den dichten Waldgürtel kam, hatte ich abwechselnd Schweißausbrüche, Fieberanfälle und Schüttelfröste zu überstehen. Aber der starke Malariaanfall verging, noch ehe ich Manáos erreichte. Der Anblick eines schönen Boothdampfers am Quai, 1600 Kilometer fern von der Zivilisation, tat das übrige, und so kehrte ich im schönsten Wohlleben nach England zurück.
Zwölf Monate später war ich wieder im Amazonengebiet. Diesmal berührte ich die freundliche, kleine Dschungelstadt Manáos nur auf der Fahrt den meeresgleichen Strom weitere 1600 Kilometer hinauf nach Iquitos im nordöstlichen Peru. Über den Solimões, wie der Amazonenstrom zwischen der Mündung des Rio Negro und der Grenze Perus genannt wird, ist nicht viel zu sagen, außer daß die Ufer nicht mehr so tief sind und bei Hochwasser oft halb überschwemmt werden. Die rote Erde blickt zuweilen durch das lastende Dickicht der prächtigen tropischen Vegetation, und Riesenflöße aus amazonischen Hölzern mit winzigen Palmstrohhütten darauf werden von der Strömung flußabwärts getragen. Dann wieder gleiten vom Grund gelöste Palmeninseln majestätisch vorüber, deren grüne Wipfel wie Segel in der Sonne schimmern. Und immer noch begleiten die Mauern der großen tropischen Wälder den[S. 188] Reisenden auf seiner 5000-Kilometer-Fahrt durch den Kontinent. So heftig wütet unter dem dunkeln Blättergewölbe der Kampf ums Dasein, daß nur die Bäume, die sich zum Licht durchringen, auf dauerndes Leben hoffen dürfen. Die andern sterben dahin und fallen den gefräßigen Ameisen zum Opfer. Viele ersticken auch in der verhängnisvollen Umarmung der Lianen. Nachdem sie ihnen Menschenalter hindurch als Stützpunkte gedient haben, fallen sie endlich unter ihrer würgenden Umklammerung.
Einige, wie die Assaipalmen mit ihren schönen, federgleichen Wedeln, streben empor, bleiben aber schwach aus Mangel an Licht und Luft. Im Zwielicht welken sie, ehe sie das düstere grüne Dach durchbrochen haben. Viele Parasitenpflanzen, wie die Orchideen, nehmen die Gastfreundschaft der lebenskräftigeren Waldgewächse in Anspruch. Den Reisenden überschleicht der Wunsch, all diese schwelgerische Schönheit möchte der Welt auf der Leinwand dargeboten werden. Aber ein Bates oder ein Wallace mit ihren Kenntnissen von tausend Arten müßten zugleich die Kunst eines Landseer oder Salvator Rosa beherrschen, um das uralte amazonische Pflanzenschlachtfeld im Bild wiederzugeben.
Bei den wilden Tieren, den Vögeln, Reptilien und Insekten ist es nicht viel anders. Die wenigen Großen leben von den zahllosen Kleinen. Nur die Insekten sind durch die Jahrhunderte hindurch an Anzahl gleichgeblieben. Die Raubtiere, wie der Jaguar und der Alligator, ziehen sich vor dem Dampfschiff und dem sich allmählich ausbreitenden Verkehr in die Seitenflüsse zurück. Und die schwächeren und weniger behenden Tiere, wie die Seekuh und die Schildkröte, fallen dem Nahrungsbedürfnis der vorrückenden Menschenarmee zum Opfer, die ihre geliebte Wildnis zerstören würde, wenn das die Üppigkeit der Natur zuließe.
Wer philosophisch über solche Fragen nachdenkt, während die Tage auf dem breiten Solimões vorüberziehen, kann sicher sein,[S. 189] sich dadurch den wundervollen Eindruck des Flusses, Urwalds und schimmernden Himmels zu verderben. Hitze, Stille und das Gefühl der Abgeschiedenheit von der menschlichen Gesellschaft sind ebenso viele Feinde vernünftigen Nachdenkens. Wie die sandbedeckten Wüsten und arktischen Schneefelder sind die großen tropischen Wälder die Stätten des Schweigens, wo der Mensch sich seiner Bedeutungslosigkeit und seiner Anmaßung bewußt wird. Am besten ist es hier, nicht unter die Oberfläche zu sehen; die Tiefe führt zum Wahnsinn. Nicht wenige brave Männer sind so zugrunde gegangen auf ihren Wanderungen durch die dämmrigen Hallen der Wälder, bis zur Brust im schlammigen Untergrund der Tausende von Kilometer langen Uferstrecken versinkend; oder sie wurden, laut vor sich hinredend, am Verhungern oder gestörten Geistes aufgefunden. Die Roosevelt-Rondon-Expedition traf solch einen Verirrten Hunderte von Meilen fern jeder Zivilisation; ein anderer starb im Candelaria-Krankenhaus; ein dritter ließ eine letzte, unzusammenhängende Botschaft an einem Baum am Rio Branco zurück; und das sind nur ein paar, wie sie mir gerade einfallen. Ein Grauen geht aus von den schlangenverseuchten Sümpfen, den ekelhaften Insekten, scheußlichen Krankheiten und Todesarten, den unverständlichen Kulten, sonderbaren atmosphärischen Stürmen, dem unheimlichen Zwielicht, der drückenden Hitze und Lautlosigkeit, den giftliebenden Eingeborenen und den erstickenden Düften der Verwesung ringsum. Und doch ringt sich überall das Leben durch. Da sind wir in Coary, einer kleinen, von Petroleum erleuchteten Caboclostadt. Dann folgt Tabatinga, der Grenzposten mit seiner dunkelfarbigen Garnison, am breiten, sonnenhellen Fluß inmitten einer frischgrünen Vegetation. Also warum nachgrübeln über die unsichtbaren Tiefen einer noch immer vom Schleier des tiefsten Geheimnisses verhüllten Gegend der Erde?
In der Nachbarschaft von Tabatinga, an der Grenze Brasiliens[S. 190] und Perus, leben die Überbleibsel der einst mächtigen Tacuná-Indianerstämme. Nur einige Meilen von der Niederlassung entfernt treiben sie sich noch in den Wäldern umher, nackt und um den Mund herum tatauiert, so daß sie wie Affen aussehen. Auch die Weiber und selbst die älteren Kinder haben die Gesichter mit Linien von den Mundwinkeln bis zu den Ohren bemalt. Ohne diese scheußliche Kriegsbemalung würden die Tacunás zu den bestaussehenden und bestgeformten Indianern im Amazonengebiet gehören. So wie sie aber sind ist ihre Erscheinung im höchsten Maß grotesk. Sie glauben an einen guten Geist „Nanuloa“ und einen bösen Geist, den sie „Locazy“ nennen. Nach dem Tod geht die Seele in das Heim des guten Geistes. Der Leichnam wird zusammengebogen, bis die Hände und Füße sich berühren, dann in einer riesigen irdenen Urne verschlossen und begraben. Man kann solche wiederausgegrabene Urnen mit dem Skelett drin in einigen der kleinen Uferniederlassungen käuflich erwerben. Die Tacunás tragen Halsketten aus den Zähnen von Affen und Jaguaren, schmücken Kopf und Arme mit Federn und verstehen das wirksamste Gift im ganzen Amazonengebiet zu bereiten.
Bei Pebas fährt der kleine Flußdampfer in eine Bucht am Nordufer ein und legt dort vor einem buntscheckigen Haufen von Lehm- und Strohhütten und ein paar verputzten Barracas an. Ein kleiner Fluß läuft von hier landeinwärts gegen den Putumayo. An seiner inselreichen Mündung waren wir einige Meilen vorher vorübergekommen, während sanfter Mondschein auf diesem Gewässer einstiger Greuel schimmerte. Die Yáhuasindianer kommen den Fluß herab, um ihre eigenartigen Erzeugnisse an einen Kaufmann in Pebas zu verhandeln.
Diese Indianer sind noch wild, aber verhältnismäßig harmlos. Sie kleiden sich in Umhänge und Röckchen aus Gras und sind die Nachkommen jener Wilden, die vor Jahrhunderten auf Orellana[S. 191] einen so starken Eindruck machten, als er seine berühmte Entdeckungsreise den Rio Napo herab vollführte. Er glaubte damals, von einem wilden Stamm kriegerischer Weiber angegriffen zu werden, den Amazonen. Auf in Pebas aufgenommenen Photographien einiger Yáhuasmänner tritt ihre Ähnlichkeit mit Frauen auffallend hervor.
Die Yáhuas, die auch unter mehreren Namen bekannt sind, gehören zu einem Unterstamm der Orejonesindianer. Sie bemalen ihren Körper mit dem roten Saft des „Achiote“ und wohnen am Yáhuafluß, einem kleinen Nebenfluß des Putumayo, von dem der Stamm seinen Lokalnamen erhielt. In der Nähe von Pebas befindet sich eine Missionsstation, die unter diesem und den benachbarten halbwilden Stämmen eine segensreiche Tätigkeit ausübt. Der Rest dieses Indianervolks wohnt an den Ufern des obern Putumayo und des Napo.
Die letzten 160 Kilometer Flußfahrt vor der Ankunft in Iquitos sind von Inseln und dem Ästuar des Napo unterbrochen, den Orellana herabkam, als er 1539 den Amazonenstrom entdeckte. Auf beiden Seiten dieses Abschnitts des Hauptstroms gelangt man schon sehr bald auf einem oder dem andern der Nebenflüsse oder Igarapés in das Gebiet halbwilder Stämme.
Die kleine Niederlassung von Iquitos, etwa 3500 Kilometer vom Atlantischen Ozean entfernt, macht gegenwärtig einen armseligen Eindruck, wobei die Schuld mehr an der Untätigkeit der Regierung als an der seiner Einwohner liegt. Sie steht auf einer Uferbank des Marañon, die von der Strömung beständig unterwaschen wird. Aus verschiedenen Anzeichen ist zu schließen, daß der Amazonenstrom in weit zurückliegender Zeit den Teil eines Binnenmeeres bildete. In einer Schicht werden Muscheln gefunden, die man allgemein für solche von Meerfischen hält.
Die Straßen von Iquitos sind nicht ohne Reiz. Niedrige[S. 192] einstöckige Häuser, deren vorspringende Dächer Schutz gegen die Glut der Sonne gewähren, wechseln mit Ziegelbauten und verputzten Gebäuden einer mehr modernen Architektur. Sehr schlecht ist die Kanalisation der Stadt. Offene Abzugskanäle durchziehen die Straßen, die während der Regenzeit infolge von Schmutz und stagnierenden Wassertümpeln kaum passierbar sind. Trotz dieser beklagenswerten hygienischen Verhältnisse erfreut sich das kleine Städtchen einer elektrischen Beleuchtung! Da dem Verkehr mit der Zivilisation, etwa 2000 Kilometer entfernt an der Küste des Pazifischen Ozeans, fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen, haben die energischen Einwohner, die erst kürzlich nach einer monatelangen Revolution wieder beruhigt werden konnten, mit Begeisterung die Idee einer Luftverbindung über die Anden aufgegriffen.
Nach einem Aufenthalt von sieben Tagen in Iquitos entdeckte ich eine Barkasse, die dem Señor Ramon gehörte und nach einer Grenzstation fahren sollte, 24 Kilometer den Chimbiri-Yacu flußaufwärts, in die Nähe der winzigen Eingeborenenniederlassung von Vaca Marina. Señor Ramon versprach mir, mich ins Schlepptau zu nehmen, ohne mit echt peruanischer Höflichkeit das geringste dafür annehmen zu wollen. So erwarb ich ein recht hübsches Kanu für eine ebenfalls recht hübsche Summe, kaufte Vorräte, die selbst zu Teuerungspreisen nur schwer zu erhalten waren, und mietete zwei junge und ganz umgänglich aussehende Cocama-Indianer.
Der langsame Kampf gegen die Strömung wäre schrecklich eintönig gewesen, hätte ich nicht von Señor Ramon interessante Auskünfte über die wilden Indianerstämme der Gegend erhalten. Vor mehreren Jahren hatte er am untern Pastazafluß sich um Kautschukkonzessionen umgetan und erzählte mir nun, daß alle die Stämme zwischen dem Westufer des Tigré und dem Ostufer des[S. 193] oberen Santiago zur kannibalischen Huambisanation gehörten, obwohl sie in den wenigen Fällen wirklicher Untersuchungen unter verschiedenen Namen von Unterfamilien bekanntgeworden waren. Die Stämme in den dichten, von den Ufern entfernten Wäldern galten als sehr wild und verräterisch.
Meine Absicht war, vom Endziel der Barkasse aus mit dem Kanu so weit als möglich flußaufwärts vorzustoßen, bis ich mit den Eingeborenen dieser Gegend in Berührung käme. Sie waren als Kopfjäger bekannt und gleichzeitig als Besitzer des Geheimnisses, menschliche Köpfe bis zur Größe einer Orange zu verkleinern, ohne die Gesichtszüge zu zerstören. Ich war mir der großen Schwierigkeiten meines Vorhabens bewußt und zweifelte vom Anfang an an einem glücklichen Gelingen. Aber nichts ist ohne Anstrengung zu erlangen, und die Stämme des Huambisavolkes sind so wenig bekannt, daß selbst ein halber Erfolg schon Erkenntnisse von wissenschaftlichem Wert eintragen mochte. Während ich so überlegte, wußte ich jedoch noch nichts von der bösartigen Natur der betreffenden Stämme noch von der Lage ihrer Dörfer.
Señor Ramon besaß eine Alligatorfarm am Unterlauf des Chimbiri-Yacu, die vollständig von einem Mischling und einigen halbzivilisierten Cocamas betrieben wurde. Bei Hochwasser während der Regenzeit pflegen die riesigen Reptilien flußaufwärts zu ziehen. Kommen sie dann wieder herab, wenn die Gewässer sich von neuem gegen den breiten Marañon zu verlaufen, so werden sie gefangen. Man kann sich kaum vorstellen, wie aufregend der Fang wilder Alligatoren ist. Viele Monate lang braucht man gar nichts zu tun. Wenn dann die Gewässer zu fallen beginnen, werden aus gigantischen Baumstämmen mit Seilen und Flaschenzügen riesige Fallen quer über den Fluß errichtet.
Die Tiere müssen sich daher in einem kleinen, am Ufer ausgehobenen Teich sammeln. Sind sie einmal darin, so gibt’s kein[S. 194] Entkommen mehr. Die ausgewachsenen, vielleicht ein bis zwei Jahrhunderte alten Saurier werden ihrer Häute wegen getötet. Da man sie nicht recht zu gerben versteht, bleiben sie etwas steif und vermögen mit den Häuten der Alligatorfarmen an den Küsten des Karibischen Meeres nicht in Wettbewerb zu treten. Señor Ramon erklärte sich bereit, mir jährlich 5000 Häute zu 25 Schilling das Stück zu verkaufen. Würde man sie durch besseres Gerben weich und geschmeidig machen, so wäre eine Alligatorfarm am entlegenen Amazonenstrom eine äußerst gewinnbringende Unternehmung, solange die Mode für Damenschuhe, Handtaschen und andere Gegenstände aus Krokodilleder Bedarf hat.
Nach dem Abschied von Señor Ramon und der Alligatorfarm überstürzten sich die Schwierigkeiten geradezu. Der Chimbiri-Yacu sieht freundlich und ungefährlich aus, hat aber eine starke Strömung und ist sehr seicht und voll Hindernissen, so daß die Arbeit, sich flußaufwärts zu staken, nicht nur äußerst anstrengend, sondern auch von so geringen Fortschritten begleitet war, daß wir in drei Tagen nur 35 Kilometer von dem Punkt aus zurücklegten, wo wir die Barkasse verlassen hatten. Der Wald war sehr dicht; rechts von uns erschienen verschwommene blaue Hügel.
Am Abend entdeckten wir, daß wir nahe der Mündung eines kleinen Flusses einen falschen Weg eingeschlagen hatten, der auf der Karte Perus den Namen „Urama“ trägt. Es war der letzte Fluß oder Ort mit einem Namen; jenseits liegt Terra incognita. Zuerst bemerkte ich diesen wichtigen Umstand am Nachlassen der Hauptströmung. Dadurch wurde es klar, daß wir nicht nur unsern Fluß verlassen hatten, sondern überhaupt jeden Fluß, der aus höher gelegenem Gelände herkam.
Mit einem Male verbreiterte sich der Fluß und wir sahen, daß wir in einen großen, aber sehr seichten See eingefahren waren. Da wir ihn auf keiner vorhandenen Karte finden konnten, benannte[S. 195] ich diese weite Wasserfläche, die wenigstens 24 Kilometer lang und 8 Kilometer breit war, auf der beigegebenen Karte „See der Seekühe“. Hier erblickte ich zum erstenmal diese unter dem Namen „Manati“ oder Seekuh bekannten seltsamen Süßwasser-Säuger. Sie kommen in vielen amazonischen Stauwasserbecken vor, werden aber von Reisenden, die ihre Lieblingsschlupfwinkel nicht kennen, nur selten gesehen. Die Brasilianer nennen die Seekuh auf portugiesisch „Peixe boi“, die Peruaner auf spanisch „Vaca Marina“. Fast jeder Indianerstamm hat einen eigenen Namen für diesen nützlichen Fisch, der sie mit Öl versorgt.
Der bläulichgraue, glatte Rücken der Seekuh ist oft äußerst schwer von stagnierendem Wasser oder einem schwimmenden Baumstamm zu unterscheiden. Kommt aber der Bauch nach oben, so entdeckt man das Tier leicht an rosa Zeichnungen, die ihm das Aussehen eines Gummiballs verleihen. Die gewöhnliche Länge eines ausgewachsenen Tieres beträgt etwa zwei Meter; sein Maul, von dem es seinen „Familiennamen“ hat, gleicht dem einer Kuh.
Sein Gesichts-, Geruchs- und Gehörsinn ist so fein entwickelt, daß die Eingeborenen behaupten, zur Jagd keines Tieres bedürfe man größerer Geschicklichkeit. Man fängt die Seekuh entweder mit der Harpune oder in starken Netzen, die vor dem Eingang zu ihren Futterplätzen aufgespannt werden. Das Fleisch gilt für recht gut und soll ähnlich wie Schweinefleisch schmecken. Mir selbst jedoch war der Geschmack zuwider. Das merkwürdige Tier hat Flossen, unter der Haut eine dicke Speckschicht und liefert mehrere Gallonen (zu 4½ Liter) Öl, das die Indianer zum Massieren bei verschiedenen krankhaften Schwächezuständen mit anscheinend wunderbarem Erfolg verwenden.
Nachdem wir für die Untersuchung dieses großen Waldsees einen Tag und eine Nacht geopfert hatten, suchten wir wieder den Hauptarm des Chimbiri-Yacu auf und arbeiteten uns zwei Tage[S. 196] gegen die Strömung flußaufwärts. Außer einer verlassenen Strohhütte bekamen wir nur den Dschungel und in weiter Entfernung einige Hügel zu Gesicht. Da wir die Unmöglichkeit einsahen, bei unserm langsamen Vorwärtskommen das Quellgebiet des immer seichter werdenden Flusses in einer vernünftigen Zeit zu erreichen, entschloß ich mich, in einen nicht so schnell dahinströmenden Fluß einzufahren, der auf 4° 10′ südlicher Breite vom Chimbiri-Yacu westlich abzweigt, denn wir waren von den zehntägigen Anstrengungen in der Dampfbadatmosphäre und dem häufigen Eingeweichtwerden von tropischen Regengüssen völlig erschöpft. Dieser Nebenfluß war so seicht, daß das leichte Kanu öfter festsaß als auf dem Wasser schwamm.
Am Morgen des zweiten Tages auf diesem namenlosen Fluß, den ich zu Orientierungszwecken „Indianerflüßchen“ getauft habe, trafen wir auf drei große Gemeinschaftshütten. Sie waren aus Chontapalmholz gebaut und standen am Rande einer Lichtung in geringer Entfernung vom Ufer. Auf dem Fluß lagen zwei Flöße oder Balsas, auf denen sechs Eingeborene mit furchterweckend aussehenden Bogen und Pfeilen standen.
Nachdem wir unsere freundschaftliche Gesinnung durch Zeichen kundgetan hatten, landeten wir bei der kleinen Lichtung. Sofort umgaben uns zwanzig oder dreißig Wilde, die das Eindringen eines Weißen nicht übel aufzunehmen schienen. Mehrere Freunde in Iquitos hatten mich aber vor dem verräterischen Charakter der Indianer dieser Gegend gewarnt und erzählt, wie einsame Prospektoren auf der Suche nach den sagenhaften Schätzen des Amazonenlandes von ihnen behandelt worden waren. Daher beschloß ich vorsichtig zu sein und das Lager unmittelbar am Ufer aufzuschlagen statt in der Nähe der Hütten auf der Lichtung.
Durch Zeichen gab ich zu verstehen, daß wir nur für die eine Nacht hier lagern würden, verteilte einige Geschenke und tat so, als[S. 198] ob ich mich nicht weiter um die Indianer kümmerte, die herumstanden und uns beobachteten. Obwohl ich sehnlichst wünschte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ihr Dorf in Augenschein zu nehmen, hielt ich das doch für gefährlich, ohne ihre Absichten erst erkundet zu haben. Wenn man nur zwei halbzivilisierte Eingeborenenboys zu seiner Verteidigung hat, trägt man kein Verlangen, sich in mehr Gefahren zu begeben als unvermeidlich an sich mit jeder Forschungsarbeit verbunden sind.
Während des ganzen Tags zügelte ich meine Ungeduld und beschränkte mich auf gelegentliche pantomimische Bemühungen, den Namen des Stammes herauszubringen. So entdeckte ich, daß er eine Unterabteilung des großen Huambisavolks war und „Anchuales“ hieß. Natürlich verschärfte sich nun mein Wunsch, ihr Leben und ihre Sitten zu untersuchen. Als die Nacht anbrach, saß ich vor meinem Zelt mit dem Rücken gegen den Fluß und den kurzen Winchesterkarabiner geladen und schußbereit in Reichweite. Dann stieg der Mond auf und überflutete die Lichtung mit seinen geheimnisvollen Strahlen. Ostentativ stand ich auf, warf die erst halbgerauchte Zigarre weg und verschwand im Zelt. Einer der Boys hielt draußen Wache.
Auf der Rückseite des Zeltes hatten wir die Leinwand absichtlich nicht befestigt. Ich konnte daher hier unter die Leinwand kriechen und wartete, bis eine Wolke den Mond verdeckte. Als endlich das Ufer für einen Augenblick im dunkeln Schatten lag, glitt ich den steilen Abhang hinab und verbarg mich unter dem Schutzdach im Stern des Kanus. Hier wachte und schlummerte ich abwechselnd, bis es anfing zu dämmern. Als alles ruhig blieb, badete ich und bereitete mich auf den kommenden Tag vor.
Von einem Umstand hatte ich mich durch diese Maßregeln überzeugt: daß kein unmittelbarer Angriff geplant war. Hätten die Indianer vorgehabt, mich zu ermorden oder auszuplündern, so[S. 199] würden sie mich sicher angegriffen haben, kurz nachdem ich mich ins Zelt zurückgezogen hatte, da sie glaubten, ich wolle nur eine Nacht hierbleiben. Dann wäre, abgesehen von den beiden Cocamaboys, der Weg frei gewesen, das kleine Lager zu überfallen.
Durch diese Erwägungen ermutigt, erklärte ich meine Absicht, den Aufenthalt um einen oder zwei Tage zu verlängern, angeblich, um den Kanuboys Gelegenheit zum Ausruhen zu geben, die übrigens diese Nachricht nichts weniger als freudig aufnahmen. Sogleich begann ich nun mit meinen Nachforschungen und nahm mir vor, sofort abzufahren, sobald ich sie zu einem Abschluß gebracht hätte.
[S. 200]
Dieser Huambisastamm hat ein mongolisches Aussehen und scheint weder körperlich noch seiner ganzen sonstigen Beschaffenheit nach kräftig zu sein. Die Durchschnittshöhe der Leute beträgt etwa 1,60 Meter. Sie haben ungewöhnlich lange und dünne Arme und sind nicht völlig nackt wie die Wilden am Tapajóz, Madeira, Aripuanan und andern Flüssen des brasilianischen Amazonengebiets, sondern haben um die Lenden eine Art Leibbinde geschlungen, deren unterer Saum in glänzende Federn ausläuft. Die Weiber tragen von der rechten Schulter herabhängend ein Gewand aus einem Stück. Mit Käferflügeln verzierter Ohrschmuck aus Rohr ist beiden Geschlechtern gemeinsam. Die Männer tragen noch Armringe aus Eidechsenhaut, während sich die Weiber mit Halsketten aus gefärbten Samenkörnern schmücken.
Zur Bemalung des Gesichts, der Arme und des Körpers wird der rote Farbstoff des „Achiote“ oder der blaue einer andern Pflanze benützt, die, wie ich glaube, „Piau“ genannt wird. Einige unverheiratete Mädchen trugen Fußringe aus Rohr. Die auf das Gesicht gemalten Zeichen scheinen die Stammeszugehörigkeit anzuzeigen und ersetzen gewissermaßen den Paß des Weißen, während die Körperbemalungen die Stelle der Tapferkeitsmedaillen auf der Brust des Soldaten oder Seemanns vertreten und somit verraten, daß der Träger sich im Kampf ausgezeichnet hat.
Die Weiber sehen weit besser aus als die Männer. Ihr rabenschwarzes[S. 201] Haar ist vorn kurz geschnitten und hängt frei über den Rücken herab oder wird in Zöpfchen geflochten und um den Kopf gelegt. Einige jüngere Mädchen tragen an der Seite des Kopfes Haarzöpfchen, die unter dem Kinn zusammengeflochten werden, ein häßlicher Brauch, der übrigens bei den Mädchen nicht sehr beliebt zu sein scheint.
Dem Anschein nach ist dieser Stamm sehr sauber. Nachdem man mit Kanupaddeln auf die Oberfläche des Flusses geschlagen hatte, stiegen etwa dreißig Männer, Weiber und Kinder ins Wasser und plätscherten dort lärmend fast eine Stunde lang herum. Der Spektakel hat zweifellos nebenbei auch den Zweck, hungrige Alligatoren in achtungsvoller Entfernung zu halten. Mehrere Indianer hatten eine hellere Hautfarbe, als ich zuerst angenommen hatte. Damals war mir der Grund unbekannt, aber später erfuhr ich, daß sie 1849 einige größere Ansiedlungen überfallen, die Männer ermordet und eine beträchtliche Menge spanischer Mädchen geraubt hatten, von denen man nie wieder etwas hörte. Die wenigen weißen Indianer unter den andern kupferfarbenen sind sicher die Abkömmlinge der unglücklichen Gefangenen.
Die Huambisa jagen und fischen mit Hilfe von Gift. Sie zerstoßen eine gewisse Wurzel, füllen das Mehl in einen Sack und hängen ihn an einer Schnur in den Fluß. Fische, die in die Nähe kommen, werden betäubt und steigen an die Oberfläche, wo sie leicht gespießt werden können. Der Genuß des Fleisches wird durch dieses merkwürdige Narkotikum in keiner Weise beeinträchtigt. Auf ähnliche Art werden Affen, Tapire und Wildschweine mit vergifteten Pfeilen erlegt. Die gebräuchlichen Waffen sind lange, dünne Speere aus Ponaholz, Bogen, Blasrohre und vergiftete Pfeile.
Die Blasrohre der Huambisa sind gewöhnlich etwa 2½ Meter lang. Sie werden aus zwei Hälften verfertigt, die zusammengefügt[S. 202] werden, nachdem man sie sorgfältig ausgehöhlt hat, damit der Pfeil glatt durchfliegt. Am einen Ende befindet sich ein Mundstück. Die beiden Hälften werden mit Gras zusammengebunden, und dann wird das Ganze mit einer Art Gummi überstrichen. Die Blasrohrpfeile sind sehr dünn, scharf und vergiftet. Ein Führungsring am einen Ende wirkt abschließend wie ein Pumpenkolben. Sie werden in einem Köcher getragen, in dem Affenzähne dergestalt angebracht sind, daß die vergifteten Pfeilspitzen sich beim Herausziehen zur Hälfte abspalten. Dies geschieht, damit die Spitze beim Eindringen in die Beute kurz abbricht und nicht infolge des Pfeilgewichts aus der Wunde wieder herausfällt. Der Köcher besteht aus einem Rohrstück, an dem der Behälter mit dem Gift hängt, und wird über der Schulter getragen.
Außer dem Fischen mit Gift erlegen die Huambisa die größeren Flußbewohner einschließlich der Vaca Marina und der Schildkröten durch Pfeile, die sie von ihren über zwei Meter langen Bogen abschießen, welche aus einem harten, braunen, ungeglätteten mahagoniähnlichen Holz verfertigt sind. Die Jagdpfeile haben Spitzen aus Tierzähnen und sind unten mit Federn versehen, damit sie genauer fliegen. Bei der Jagd auf gewisse Fische und auf Schildkröten schießen die Huambisa mit wunderbarer Geschicklichkeit indirekt, so daß der Pfeil senkrecht auf den Fisch oder die Schale der Schildkröte trifft, von der er sonst zurückprallen würde.
Die Hütten dieses Stammes sind aus dem Holz der Chontapalme gebaut und beherbergen etwa zehn Familien. Selten sind sie weniger als etwa 20 Meter lang, bei einer Breite von 12 und einer Höhe von 6 Meter. Im Innern sind Rohrplattformen zum Schlafen längs der Wände angebracht, während sich in der Mitte ein Ring von Feuerstellen, die irdenen Töpfe und Krüge befinden. Da Vielweiberei allgemein üblich ist, für die zweite oder dritte Ehefrau aber keinerlei Schlafgelegenheit vorhanden zu sein scheint,[S. 203] müssen diese unglücklichen Geschöpfe wohl auf der Erde zu Seiten des Ruhebetts ihres Herrn und Gebieters liegen. Ein solches Ruhebett ist eine merkwürdige Einrichtung. Das Rohrgestell reicht nur bis zu den Knien, dann kommt ein leerer Raum, eine Fußstütze und das Feuer. Beim Schlafen liegt der Körper bis zu den Knien auf dem dünnen, elastischen Rohr, und die Füße hängen nicht über, sondern ruhen auf einer besonderen Stütze, an deren Ende unmittelbar das Feuer brennt, um die Sohlen zu wärmen.
Vor einer der Dorfhütten war, etwa 5½ Meter über dem Boden, eine Art Wehrgang aus hohen Palmstämmen errichtet, zu dem ein eingekerbter Baumstamm als Leiter hinaufführte. Wie ein Turm überragte er den Hütteneingang. Sein Zweck ist zweifellos der, das Gemeinschaftshaus gegen einen Überfall benachbarter Stämme zu schützen. Wie ein richtiger Wehrgang war er verschalt, gedeckt und mit Schießscharten für die Pfeile versehen. Von da aus kann man die an dem Zweig eines Baumes aufgehängte „Tunduy“ (in Brasilien Manguaré) erreichen, ein Instrument, das der Sturmglocke entspricht. Es wird mit einer kleinen Keule geschlagen, und sein Klang ist meilenweit in den umliegenden Wäldern zu vernehmen. Unter dem Vorbau, den der Wehrgang bildet, schien der Versammlungsplatz aller Haushühner, Schweine und Hunde zu sein.
Obgleich mehrere Kanus aus ausgehöhlten Baumstämmen vorhanden waren, wird doch als beliebtestes Beförderungsmittel auf dem Fluß das Floß oder die Balsa benutzt. Es ist geradezu wunderbar, welche Reisen auf diesem primitiven Fahrzeug ausgeführt werden. Ganze Familien fahren damit wochenlang auf entfernten und unbekannten Flüssen und Seen umher und nehmen dabei ihre ganze, allerdings nicht große Habe mit.
Feuer machen die Huambisa, indem sie zwei Stöcke aneinanderreiben, wie es bei den Wilden auf der ganzen Welt üblich ist, oder[S. 204] indem sie Steine aufeinanderschlagen und die Funken auf ein kleines Häuflein Holzmehl sprühen lassen, das sie aus dem Kernholz einer an der glühenden Sonne ausgedörrten Palme gewinnen. Während meines Aufenthalts bei dem Stamm sah ich nur einmal, wie man auf die zuletzt genannte Art Feuer zu machen versuchte. Wenn das Feuer einmal im Innern der Hütte brennt, wird es von den Weibern unterhalten, die es nur selten erlöschen lassen.
Männer und Weiber nehmen große Mengen eines höchst berauschenden Getränks zu sich, „Masata“ genannt, das aus der Yukka in einer Weise bereitet wird, die eine kleine Vorstellung von der Gemütsart der Huambisa gibt. Die Yukka wird geschält, dann etwa zehn Minuten lang von den Weibern zerkaut und in einen großen Topf gespien. Unter Zusatz von Wasser läßt man darauf die trübe Masse gären. Nach einiger Zeit wird sie durch ein dickes, handgewebtes Tuch geseit und in beträchtlichen Mengen getrunken. Bei einer Gelegenheit sah ich, wie drei junge Huambisamädchen von dem schmutzigen Gebräu tranken, während sie Yukka kauten, und dann alles zusammen in den zu neuer Mischung bereitstehenden Topf wieder von sich gaben! Ich konnte mir nicht helfen, die ekelhaften Sitten und Gebräuche dieses Stammes mit den reinlicheren Gewohnheiten und Gepflogenheiten anderer Stämme zu vergleichen, mit denen ich zusammengetroffen war. Die bei den Huambisa anscheinend vorherrschenden Krankheiten sind Tuberkulose, Aussatz, Syphilis und Malaria.
Die Mädchen werden im Alter von etwa sechs Jahren verlobt oder eigentlich als Sklavinnen verkauft, wenn sich ihre körperlichen Vorzüge schon mehr oder weniger zeigen. Aber erst mit zwölf oder dreizehn Jahren beginnt das gemeinschaftliche Leben mit ihrem Gatten. Dann sind sie natürlich bereits weiterentwickelt als eine Europäerin von 16 oder 17 Jahren.
Als ich eine kleinere Hütte bemerkte, die etwa dreißig Meter[S. 205] von den großen Gemeinschaftshäusern ablag, erkundigte ich mich nach ihrem Zweck, konnte aber die in Zeichensprache erteilte Auskunft nicht verstehen. Der Häuptling, der einen Helm aus Affenhaut trug, führte mich darauf über die Lichtung zu dem verdeckten Eingang. Das Innere war halbdunkel und von einem beißenden Rauch erfüllt. Ein leises Ächzen drang aus einem Winkel neben dem schwelenden Feuer, und einen Augenblick glaubte ich wirklich, durch meine Wißbegierde in ein Seuchenhaus hineingeraten zu sein.
Bei dem trüben Licht des Feuers konnte ich zwei verschrumpfte, nackte Gestalten erkennen, die auf einer niedern Plattform ausgestreckt lagen. Ihre Gesichtszüge waren aber in der rauchigen Atmosphäre nicht zu unterscheiden. Dann zuckte ich zusammen, denn ich sah, daß ich Leichen vor mir hatte, und daß das Ächzen von den Verwandten ausging, die auf dem Boden kauerten. Die Leichen werden hierhergebracht und auf die Plattform gelegt. Dann ziehen die Zauberdoktoren das Blut aus dem Körper in einer Art und Weise, die hier nicht geschildert werden kann. Das Feuer aus einer chemische Dämpfe entwickelnden Holzart wird angezündet und muß so lange brennen, bis die eingeschrumpften Leichen zu Mumien geworden sind. Dann werden sie mit Rinden bedeckt und unter dem Boden ihrer einstigen Wohnhütten begraben.
Hier war also endlich die geheimnisvolle Totenkammer der Huambisa. Der Boden war hart von geronnenem Blut, das durch ungezählte Jahre aus menschlichen Leibern gezogen worden war. Häufig überfällt dieser wilde Stamm benachbarte Dörfer, raubt Weiber und Mädchen und tötet die Männer. Die Erschlagenen werden enthauptet und die Köpfe im Triumph zurückgeschleppt. Bei der Ankunft im Dorf steckt man sie auf Lanzen, und um sie herum versammelt der Stamm sich zu einer wilden nächtlichen Orgie. Trinken, Schmausen und unsagbare Ausschweifungen währen bis zur Morgendämmerung; dann bringen die Zauberdoktoren[S. 206] die Köpfe in die Totenkammer, und hier vollzieht sich der geheimnisvolle Prozeß ihrer Verkleinerung.
Fast jedes Buch über Reisen und Forschungen im Amazonengebiet enthält eine Schilderung dieses Verfahrens, durch das Menschenköpfe bis auf den Umfang einer kleinen Orange verkleinert werden, ohne daß die Gesichtszüge eine Veränderung erleiden. Fast alle diese Schilderungen weichen in wesentlichen Einzelheiten voneinander ab oder sind für wissenschaftliche Zwecke zu unbestimmt. Es ist sehr zweifelhaft, ob das wirkliche Verfahren jemals von einem Weißen in den letzten Jahren beobachtet worden ist. Man kennt Fälle, daß die verkleinerten Köpfe von Europäern den Weg zu Sammlern gefunden haben, Jahre, nachdem die Tat begangen worden war. Nach meiner eigenen Kenntnis der amazonischen Wilden neige ich zu dem Glauben, daß solcherart das Schicksal jedes Weißen sein würde, der das Verfahren gegen die Wünsche des Stammes ausspäht und dabei ertappt wird. Es mag aber von Interesse sein, wenn ich hier die Art erzähle, die man allgemein für richtig hält. Man läßt die Köpfe mehrere Tage in der Totenkammer, bis sie genügend ausgetrocknet sind, dann werden die Knochen durch das Hinterhaupt und die Schädelöffnung entfernt. Um die Haut zu lösen, werden hierauf heiße Steine eingeführt. Die Lippen formt man über einem Holzstück oder näht sie mit Baumwollfaden zu, worauf die Haut langsam einschrumpft und ausdörrt. Dann wird sie durch die gleiche Räucherung mumifiziert, wie die Leichen der Verstorbenen.
Wie dem nun auch sein mag, ich selbst jedenfalls beanspruche keine ausschließlichen Kenntnisse, weil keiner der Stämme, mit denen ich in Berührung kam, dazu bewogen werden konnte, das Verfahren zu verraten.
Die Indianer, die wissen, daß die Behörden Perus an jedem,[S. 207] der im Besitz eines „gedörrten“ Kopfes getroffen wird, die Todesstrafe vollziehen, scheuen sich natürlich, irgend etwas zuzugeben, und die richtigen Wilden, die in keiner Beziehung zu den Regierungsbeamten und Händlern stehen, betrachten diese schauerlichen Trophäen als ihr wertvollstes Eigentum. Doch erfuhr ich immerhin von diesem Stamm, welche Gefühle den Besitzer eines eingeschrumpften Kopfes beseelen. Es scheint, daß derartige Trophäen entweder an der Hüfte oder rückwärts am Nacken hängend getragen werden, wenn der Krieger in den Kampf zieht, als Warnung des Gegners vor gleichem Schicksal. Im Frieden aber quillt aus dem Bewußtsein, das Haupt des Überwundenen an den Lippen am Gürtel oder Halsband aufgehängt zu haben, ein beständiges Gefühl der Genugtuung, wie nur unbeherrschte Wildheit und der rücksichtsloseste Haß es zu empfinden fähig sind. Man muß dabei bedenken, daß Blutrachen die Hauptursachen der unaufhörlichen Kriege zwischen fast allen wilden Stämmen des entlegenen Innern bilden.
Unter andern grausamen Gebräuchen pflegt dieser Stamm seine Knaben zu peitschen lediglich, um ihre Fähigkeiten in Ausdauer zu prüfen und zu verstärken. Aus demselben Grund werden auch junge Mädchen über einem qualmenden Feuer in einer Hängematte aufgehängt, um die bösen Geister aus ihnen auszutreiben und ihre Kraft beim Aushalten von Qualen zu steigern, ehe sie im Haushalt des Gatten ihren Platz einnehmen. Vor jedem Festmahl nehmen alle Stammesmitglieder starke Brechmittel zu sich, damit sie sich der bevorstehenden Orgie mit größerer Ungebundenheit hingeben können. Die Weiber entfernen alle überflüssigen Haare, indem sie sie um einen kleinen Rohrsplitter winden. Die Geburt machen sie durch schon den Kindern auferlegte Übungen schmerz- und gefahrlos. Sehr dünnes und zerbrechliches Töpferzeug wird von den Weibern in großer Zahl[S. 208] verfertigt ohne andere Hilfsmittel als ein wie eine Mörserkeule geformtes Stück Holz.
Nachdem ich einige Zeit bei den Huambisa zugebracht hatte, hielt ich es für ratsam, wieder nach Iquitos zurückzukehren. Ein Weißer wird mit verhältnismäßiger Sicherheit in freundschaftliche Berührung mit fast jedem wilden Indianerstamm kommen und sich einige Tage bei ihm aufhalten können, vorausgesetzt, daß er über Takt und Unerschrockenheit verfügt. Aber traut er der gastfreundlichen Stimmung und dem Eindruck des Neuen, den sein Erscheinen mit sich gebracht hat, zu lange, so bedeutet das beinahe sicher seinen Tod durch Pfeil, Speer oder Gift. Während der ersten paar Tage bei einem wirklich wilden Stamm bieten die natürliche Neugierde des amazonischen Indianers und sein Argwohn vor jedem menschlichen Wesen einen ziemlich sichern Schutz. Indem er aus seinem eigenen beschränkten Dasein gewissermaßen Schlüsse zieht, äußert er vor allem den Wunsch nach Geschenken und Kenntnissen, die ihm Macht über den eigenen Stamm oder seine Feinde verschaffen. Dann schließt er weiter, daß kein Mensch, der nicht seiner körperlichen Überlegenheit oder magischer Kräfte sicher wäre, sich allein unter einen unbekannten Stamm wagen würde. So ermöglichen diese beiden Hauptcharaktereigenschaften des wirklichen Wilden dem Forscher und Wissenschaftler Untersuchungen anzustellen, die sonst undurchführbar sein würden. Das ist die wahre psychologische Erklärung mancher berühmten von weißen Reisenden vollführten Heldentaten unter den wilden Rassen der Menschheit.
Über die Rückreise nach Iquitos brauche ich nur zu sagen, daß ich sehr früh, noch vor Tag, vom Huambisadorf abfuhr und genug Geschenke zurückließ, um einen verräterischen Versuch zu verhindern, meiner kleinen Expedition flußabwärts zu folgen.
[S. 209]
Man stelle sich einen Fluß vor, dessen Wasser wie flüssiges Erz aussehen, mit glatter, öliger Oberfläche, der schweigend und erbarmungslos zwischen den beiden Wänden eines üppigen, faulenden Waldes dahingleitet in der schläfrigen Dampfatmosphäre des tropischen Tags, und man hat den Beginn meiner sechsten langen amazonischen Reise von Iquitos flußaufwärts gegen den Oberlauf des Putumayo.
Solange jede Palmstrohhütte, jedes sonnenflimmernde Herumplätschern eines spielenden Delphins, jede schnatternde Affenkolonie, jeder baumstammähnliche Alligator, das wachsende Dröhnen der Regengüsse, das Rollen des Donners und Zucken der Blitze am dunkelvioletten Himmel noch etwas Neues, Seltsames und Aufregendes bedeuten und die Eintönigkeit der Landschaft sich noch nicht unauslöschlich dem Gedächtnis eingeprägt hat, mag die Schweißschicht, in die man Tag und Nacht gebadet ist, zeitweise vergessen werden. Bald aber beginnen die Hitze und Stille des Mittags auf die ermüdeten Sinne zu drücken. Das blendende Sonnenlicht legt sich schmerzend auf Augen und Gehirn. Dann kommt die Zeit, da die Seele des Reisenden erschlafft und da er sich nach der belebenden Luft der offenen Flächen sehnt.
In solch einem unerfreulichen Zustand befand ich mich, nachdem ich mich 48 Stunden lang mit Wolken von Stechmücken auf dem Unterlauf des Putumayo herumgeschlagen hatte. So schrecklich[S. 210] ist diese geflügelte Seuche, daß die kleinen Grenzgarnisonen in Tarapaca, Tacna und Cotuhé fast beständig mit Kopfnetzen und Stulphandschuhen zu leben genötigt sind. Das Wasser dieses schönen Flusses ist klar und weiß, die Strömung beträgt fünf Kilometer, und die Schiffahrt findet verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten. Der Putumayo hat eine Länge von etwa 1600 Kilometer, aber sein Oberlauf ist von einigen Wasserfällen und Stromschnellen gesperrt. Durch den Rio Yaguas gelangt man nach der kleinen Niederlassung von Pebas am Amazonenstrom. Jenseits der Mündung des Yaguas wird die Fahrt auf dem Putumayo durch viele kleine Inseln erschwert, und dann kommt die Mündung des wenig bekannten Pupuna, eines kohlschwarzen Flusses, der zwischen Mauern dunkler, abschreckender Wälder dahinströmt.
Der Putumayo vereinigt sich etwa 650 Kilometer oberhalb seiner Mündung in den Amazonenstrom, auf 1° 4′ südlicher Breite und 71° 53′ westlicher Länge, mit einem Nebenfluß namens Igara-Paraná. Er spielt in den Berichten der Kommission eine große Rolle, die die in der Kautschukregion begangenen Greueltaten zu untersuchen hatte. Diesem weltentlegenen Fluß in den Tiefen der Urwälder Guayanas steuerte ich langsam und mühselig entgegen mit der Absicht, etwas von den Uitotos- und Ocainasindianern zu sehen, die dieses Gebiet bewohnen.
An der Mündung der beiden Flüsse vertauschte ich das Iquitos-Putumayo-Boot mit einer Privatbarkasse, die zu den Gummipflanzungen weiter flußaufwärts gehörte. Man steigt bei der kleinen Niederlassung Retiro um, wo der Fluß eine breite Fläche bildet. Einige Kilometer weiter, hinter der kleinen Station Arica, wird der Hauptfluß verlassen, und die Barkasse nimmt nun ernstlich die Fahrt den von dunkeln Wäldern umsäumten Igara-Paraná, 350 Kilometer hinauf, in Angriff.
[S. 212]
Im Bericht der Kommission heißt es, daß dieses Gebiet etwa 25000 Geviertkilometer groß ist und sich zwischen dem 72. und 74. Längengrad und dem Äquator und dem 2. südlichen Breitengrad erstreckt. Vor den Greueln wurde die Bevölkerung von den peruanischen Behörden auf 40–50000 Köpfe geschätzt. Die Mehrzahl dieses primitiven Volkes wohnte längs des Igara-Paraná. Der Fluß hat eine Länge von mehr als 600 Kilometer und ist für Fahrzeuge von 100 Tonnen und darüber von seiner Vereinigung mit dem Putumayo bis zur Station La Chorrera schiffbar, etwa 350 Kilometer von der Mündung.
Den Fluß entlang liegen zahlreiche kleine Ansiedlungen und Barracas, die zur Hauptkautschukstation in La Chorrera gehören. Sowohl die wilden als die halbzivilisierten Stämme, die in dieser ausgedehnten Waldenklave wohnen, sind zum größten Teil mit dem Einsammeln des kostbaren Saftes beschäftigt, den sie für Handelswaren an einer oder der andern der vorgeschobenen Niederlassungen verkaufen. Über die furchtbaren Greuel, die vor Jahren von gewissenlosen Halbblutagenten der großen Konzessionen begangen wurden, ist seinerzeit so viel geschrieben worden, daß es unnötig scheint, hier Geschichten zu wiederholen, die der ganzen zivilisierten Welt bekannt sind. Die öffentliche Aufmerksamkeit war für kurze Zeit auf diesen verhältnismäßig kleinen Fleck Erde in den großen Wäldern des Putumayo gerichtet mit dem Ergebnis, daß schnell Abhilfe geschaffen wurde. Für alle, die diese fernen, düstern und geheimnisvollen Gegenden kennen, lag das Erstaunliche der Sache nur darin, daß sich die Aufmerksamkeit lediglich auf dies eine Gebiet erstreckte, da es doch zahllose andere gab, wo die Verhältnisse bekanntlich ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer lagen.
Die noch überlebenden wilden Stämme werden jetzt verhältnismäßig gut behandelt, obwohl die Moralverhältnisse hier[S. 213] wie anderswo im Amazonengebiet noch immer sehr viel zu wünschen übriglassen, sollen nicht die Eingeborenen in eine Mischlingsrasse verwandelt werden, die die Laster des niedrigstehenden Weißen und des verderbten Indianers ohne irgendeinen ihrer Vorzüge besitzt. Die Indianer hier haben die schauerliche Vergangenheit weder vergessen noch vergeben und betrachten jeden Weißen als Feind, der zu fürchten ist. Die Furcht allein verhindert an vielen Plätzen ein Blutbad.
La Chorrera ist eine kleine Ansiedlung von Palmholzhäusern und Strohhütten und liegt an einer wunderschönen Bucht des Flusses. In Mitte der Lichtung erheben sich die Verwaltungsgebäude der Kautschukgesellschaft, deren Konzessionen viele Tausende von Geviertmeilen umfassen. Hier hört die eigentliche Schiffahrt mit Barkassen auf; jenseits folgen die Stromschnellen von Chorrera. Von der kleinen Handelsniederlassung aus führen durch den Wald geschlagene Pfade zu Außenstationen, und noch weiter in den Wäldern zurück liegen die Dörfer des Uitotovolkes. Das Wort Uitoto bedeutet in der Eingeborenensprache Moskito. Man nennt diesen großen Indianerstamm so der dünnen, mißgebildeten Glieder und seltsam fetten Leiber seiner Angehörigen wegen. Doch ist diese Regel nicht ohne Ausnahmen. Die Ocainasindianer, die die Wälder längs des Igara-Paraná, etwa 80 Kilometer unterhalb La Chorrera, bewohnen, gehören zu den wohlgebildetsten und hellfarbigsten Rassen des Amazonengebiets. Allerdings ist es höchst zweifelhaft, ob dieser Stamm zu der Uitoto-Gruppe zu rechnen ist. Die Indianerrassen sind so vermischt, daß es unmöglich sein dürfte, in diesem und vielen ähnlichen Fällen zu einer sicheren Entscheidung zu kommen.
Bald nach meiner Ankunft in La Chorrera erfuhr ich, daß in einem der Ocainas-Walddörfer eine große Stammes-Tanzfestlichkeit stattfinden sollte. Eine Barkasse brachte mich flußabwärts zu[S. 214] der kleinen, gegen Angriffe wohlgeschützten Handelsfaktorei und dann eine kurze Wanderung durch den Wald zu den riesigen Strohhütten des merkwürdigen Stammes.
Die Vorbereitungen zu dem großen Tanz, der am nächsten Tag abgehalten werden sollte, waren schon in vollem Gang. Völlig nackte Mädchen und Kinder wurden eben mit aus Pflanzen gewonnenen, lebhaften Farben sorgfältig bemalt, und einige schienen über das vorzeitige Erscheinen eines Weißen nichts weniger als entzückt. So wandte ich denn meine Aufmerksamkeit den riesigen, glänzend ausgeführten Hütten dieses Stammes zu. Doch konnte ich nicht umhin, mich von der schönen Körperbildung der Ocainas im Vergleich mit der anderer Stämme des Waldes zu überzeugen.
Die Gemeinschaftshäuser der Ocainas sind sehr große, mit Palmstroh gedeckte, zeltförmige Hütten, deren Bau außerordentliche Mühe gemacht haben muß. Ihre Höhe beträgt wenigstens 7½ Meter, bei 10 Meter Breite und über 30 Meter Länge; der Eingang ist fast 2 Meter hoch und anderthalb Meter breit. Die Dachsparren dieser Familienwohnstätten reichen bis auf den Boden. Im Innern herrscht überall Halbdunkel, nur erhellt von der düstern Glut schwelender Feuerstellen; und bis sich die Augen daran gewöhnt haben, setzt es einige Beulen und Stürze ab. Nackte Gestalten huschen gleichgültig vorüber. Auf dem harten Lehmboden stehen irdene Töpfe und Tiegel umher, die, wie ich bemerkte, mit Henkeln versehen und mit eigenartigen Zeichnungen geschmückt sind. Außerdem sieht man Weidenkörbe voll von Früchten, Mörser, um Farinha zu zerstoßen, und kleine Fächer aus Palmblättern. Von Betten aber war außer einigen Haufen trockener Blätter, auf denen Kinder schliefen, nichts zu merken.
Am folgenden Morgen verließ ich schon früh das Lager und begab mich auf den kleinen Platz vor den Hütten, um die letzten Vorbereitungen nicht zu versäumen. Einige Männer trugen Jacken[S. 215] und Hosen, andere schienen eine kleine Schürze in jeder Hinsicht für ausreichend zu halten. Die älteren Weiber waren in ein loses, weißes Gewand gekleidet, aber die jüngeren Mädchen erschienen vollständig nackt, während die Alten noch die letzte Hand an ihre kunstvollen Körperbemalungen legten. Die meisten waren verhältnismäßig wohlgebildet und hatten jedes überflüssige Haar von ihrem Körper entfernt. In der Hautfarbe waren alle Töne von dunkler Bronze zu fast reinem Weiß zu finden. Ein Kind, das als einzige Bekleidung eine merkwürdige Halskette aus weißen Steinscheiben trug, war heller als alle Indianer, die ich auf meinen bisherigen Reisen im Amazonengebiet angetroffen hatte. Die Ocainasweiber tragen das Haar entweder kurz geschnitten oder lang über die Schultern herabhängend. Bei allen Männern und Kindern ist es kurz geschnitten.
Die phantastischen Bemalungen, hauptsächlich auf Leib und Beinen, müssen stundenlange Arbeit erfordert haben und ließen sich wohl nicht so leicht wieder entfernen. Mehrere ältere Mädchen trugen merkwürdige Beinbekleidungen mit Quasten, andere wieder Fußringe und einige wenige breite Gürtel aus gefärbtem Stroh in der Art von losen Miedern. Augenscheinlich waren die Beine einiger Mädchen mit dem klebrigen Saft des Kautschukbaumes bestrichen und dann in den Blütenstaub einer Palme getaucht worden. Die Männer hielten in jeder Hand einen Tanzstock. Das ganze Schauspiel machte den Eindruck eines Bacchanals.
Der Tanz fing an mit einer schwingenden Linie farbenfreudig bemalter, aber sonst ungeschmückter Mädchen, die auf der kleinen palmenumsäumten Lichtung langsam vor- und zurückgingen. Die Männer verschränkten die Arme und rückten so unter wildem Geschrei auf die Lichtung vor. Die Paare faßten sich nun bei den Händen und begannen auf ungeschlachte Weise seltsam gleichförmige Körperverdrehungen auszuführen. Jene, die Tanzstöcke hatten,[S. 216] stampften mit den Füßen wie auch mit ihren langen Stangen auf den Boden, und alle sangen und schrien, während die älteren Weiber auf der Erde sitzend eine Art von Tamtam dazu schlugen. Als alles zu Ende war, bewegten sich die Mädchen in ihrem Staat umher ohne die geringste Verlegenheit, aber von irgendwelcher Unschicklichkeit oder Roheit war nicht das mindeste zu bemerken. In letzter Zeit ist dieser Tanz von dem brasilianischen Forscher und Filmoperateur Silverio Santos photographisch aufgenommen worden. Seiner Liebenswürdigkeit verdanke ich die Bilder neben Seite 192/193.
Dieser Ocainatanz machte einen mehr bacchanalischen als barbarischen Eindruck und glich nicht im geringsten den unheimlichen Bräuchen, deren Zeuge ich 1600 Kilometer weiter südlich in den monderhellten Wäldern gewesen war. Der Stamm ist jetzt verhältnismäßig friedlich, wenn auch gänzlich unzivilisiert. Die meisten seiner Angehörigen sind als Kautschuksammler in den wilden Wäldern dieses Riesengebiets angestellt.
Die Ocainas glauben an einen guten Geist „Usinamwe“ und einen bösen Geist „Taipenu“ und verehren außerdem „Itoma“, die Sonne, und „Fuey“, den Mond. Stirbt ein Häuptling, so wird er unter dem Boden seiner Hütte begraben; andere werden mit all ihrer irdischen Habe in einiger Entfernung vom Dorf beigesetzt. Die Macanas oder Holzschwerter, Blasrohre und Tanzstöcke gelten als Symbole der Herrschaft und werden daher nicht mit dem jeweiligen Inhaber begraben, sondern vererben sich von Generation zu Generation. Das Hauptnahrungsmittel ist eine Art Kuchen, der aus der zerstoßenen Wurzel des Kassave bereitet wird. Nachdem das Gift abgeschieden wurde, macht man daraus einen Teig und bäckt ihn auf flachen, irdenen Platten. Der Geschmack ist bitter und teigig.
Vielleicht der interessanteste Brauch bei diesem Stamm besteht[S. 217] darin, die Körper nach reichlichem Schwitzen mit gewissen Blättern abzureiben, um alle Hautunreinigkeiten zu entfernen. Ob darin der Grund für ihre helle Hautfarbe liegt, ist schwer zu sagen. Von allen amazonischen Stämmen, mit denen ich in Berührung kam, haben die Ocainas bei weitem die schönste Gestalt und reinste Haut. Sie badeten täglich im Fluß, und da sie keine alten und gewöhnlich muffigen Kleider tragen, hatten sie nicht den ekelhaften Geruch an sich, der so häufig den halbzivilisierten Indianer kennzeichnet.
Vom Dorf der Ocainas aus begab ich mich nach Norden durch die Wälder und im Kanu auf dem Igara-Paraná jenseits der Stromschnellen in das Gebiet der Nonuyas, eines Zweiges der Andokesindianer. Sie sind Kannibalen und ihre Hütten liegen im Herzen des Dschungels, etwa 50 Kilometer vom Fluß und einem Punkt namens Ultimo Retiro entfernt. Obwohl der Stamm den Weißen nicht mehr offen feindlich entgegentritt, haben sich doch einige kannibalische Gebräuche erhalten. Werden bei den fast beständigen mörderischen Kriegen Gefangene von benachbarten Stämmen eingebracht, so mästet man sie sorgfältig, gibt ihnen Weiber und schlachtet sie dann bei großen Festlichkeiten. Verzehrt werden nur gewisse Körperteile, so das Gehirn, um Weisheit und Schlauheit zu erlangen, das Herz zur Übertragung von Mut und der rechte Arm, um der Stärke teilhaftig zu werden. Derartige Orgien finden nur nachts in den Tiefen der Wälder statt, nachdem das Zeichen zur Versammlung der Stämme durch die „Manguaré“ gegeben wurde.
In ihrer äußern Erscheinung sind die Nonuyas abschreckend häßlich. Ihre Hautfarbe ist ein oft merkwürdig fleckiges und scheckiges Gelbbraun. Die Männer tragen das übliche Lendentuch, aber die Weiber gehen völlig nackt. Als Schmuck tragen sie Halsketten aus Menschenzähnen und Vogelfedern, die sie ins[S. 218] Haar stecken. Ihre Bewaffnung besteht aus einer Art Holzschwertern, Blasrohren und Lanzen. Der Dialekt dieser Stämme scheint allen Anforderungen an eine richtige Sprache zu genügen und klingt keineswegs rauh oder guttural. Sie verehren Sonne und Mond.
Mehrere Stämme dieses Gebiets, einschließlich der Nonuyas, kauen Kokapflanzen und Tabak. Aus den Blättern der Koka gewinnen sie Kokain, das sie befähigt, Ermüdung, Schmerz und Hunger in bemerkenswertem Grad auszuhalten; aber sie altern dabei sehr rasch. Sie ähneln in dieser Hinsicht den Aymara-Indianer der bolivianischen Hochebenen, nur ist die Art und Weise des Kokakauens bei ihnen verschieden. Die Bergstämme kauen das frische Blatt zusammen mit ein wenig gewöhnlichem Kalk oder Pottasche, während die Waldstämme das Blatt der Kokapflanze rösten, es mit Holzasche zusammen zu Pulver reiben und dann erst das Gemisch kauen. Der Speichel löst dann das Kokain. Sowohl die Nonuyas wie andere Stämme am obern Igara-Paraná durchbohren die Nasenscheidewand und setzen ein Stück Rohr ein. Die Weiber entfernen alle überflüssigen Haare vom Körper, aber ihre Glieder sind so mißgestaltet und verkrüppelt, daß ihr Anblick nichts weniger als erfreulich wirkt.
Bei den wenig bekannten Carijonasindianern des Caquetágebiets von Kolumbien, das an das Putumayogebiet angrenzt, wird ein merkwürdiges Getränk aus einer Pflanze namens Yagé bereitet, die wild in großen Massen in den dichten und ungesunden Wäldern vorkommt. Yagépräparate haben sich in Fällen von Beri-Beri als heilkräftig erwiesen, eine Krankheit, die, wie man jetzt weiß, durch einen hohen Grad von Blutarmut verursacht wird. Außerdem aber haben sie auch die seltsame Wirkung auf den Einnehmenden, ihn in einen Zustand zu versetzen, in dem das volle Bewußtsein schwindet und das Unterbewußtsein somit frei wird, telepathische Mitteilungen entgegenzunehmen!
[S. 219]
Das mag unglaublich klingen, aber für die Wahrheit liegt beträchtliches Beweismaterial vor. Die erste Entdeckung wurde 1912 durch Dr. R. Z. Bayon gemacht, der in dieses schwierige Gebiet eindrang und tatsächlich die Yagémixtur bereitete, wie sie bei den wilden Carijonasindianern und ihren Medizinmännern in Gebrauch ist. Er machte damit Versuche an sich selbst und an Eingeborenen, die an der Beri-Beri-Krankheit litten und die er alle heilte. Um die telepathischen Wirkungen auszuprobieren, erklärte sich Oberst C. Morales, der Kommandant einer Militärabteilung in der Nähe, zu einem Versuch bereit. Dr. Bayon hat öffentlich berichtet, daß der Patient sofort sich des Todes seines Vaters und der Krankheit seiner Schwester bewußt wurde, die in einem andern Teil Kolumbiens lebten, durch Hunderte von Meilen undurchdringlicher Wälder getrennt. Der Arzt fügt hinzu, daß Oberst Morales damals infolge Mangels an richtiger Nahrung sehr schwach, daß er aber sonst ein nerviger und intelligenter Mann war. Einen Monat später traf ein Kurier in der Außenstation ein, wo der Versuch stattgefunden hatte, mit Briefen, die die Nachricht vom Tod und der Krankheit enthielten, wie sie Oberst Morales gleichzeitig in seinem unterbewußten Zustand geschildert hatte. Dr. Bayon nennt das rohe Präparat, das damals angewandt wurde, „Telepatina“ und empfiehlt die geheimnisvolle Pflanze der Aufmerksamkeit der Forscher und Wissenschaftler in diesem Gebiet.
Einige der Carijonasindianer, deren ungefähre Anzahl auf 50000 angegeben wird, überschreiten den Caquetá zum Trans-Putumayo und geben zu, daß sie eine Art Getränk mit bläulicher Färbung aus einer Kletterpflanze herstellen, die sie als Yagé bezeichnen. Es scheint von ihr vier Arten zu geben, die alle ähnliche Wirkungen haben. Durch Verdunstung gewinnen die Medizinmänner stark konzentrierte Lösungen. Obwohl man diese Indianer mit dem Gattungsnamen „Carijonas“ bezeichnet, gehören sie doch[S. 220] zu vielen verschiedenen Stämmen, die alle eigene Dialekte sprechen. Aber mehrere, die man befragte, stimmten in ihren Aussagen über Gebrauch und mentale Wirkungen des geheimnisvollen Trankes überein.
Zuerst trübt sich das Seh- und Empfindungsvermögen. Darauf scheint Wahnsinn einzutreten, aber ob schon nach der ersten Dosis oder erst nach fortgesetztem Gebrauch, konnte noch nicht festgestellt werden. In diesem Geisteszustand bilden sich die Leute ein, wilde Tiere zu sein, ziehen sich oft tagelang ins dickste Dickicht zurück und zerreißen jeden, der sich ihnen nähert. Solche Wirkungen auf das Gehirn eines Wilden scheinen ganz gut vorstellbar. In späteren Stadien wird der Patient halb kataleptisch, ist aber fähig, Vorgänge zu schildern, von denen er bei vollem Bewußtsein weder etwas gesehen noch gehört haben kann. Europäische Städte, Musik und gleichzeitige Ereignisse sind so in allen Einzelheiten beschrieben worden, für die der spärliche Wortschatz der Eingeborenensprache nicht ausreichte, so daß rohe Zeichnungen als einzig mögliches Verständigungsmittel zu Hilfe genommen werden mußten. Unter den halbblütigen Kautschuksammlern, die in diesen entlegenen Gebieten leben, sind mehrere dem Gebrauch des merkwürdigen Mittels ergeben. Einesteils, weil es ihre Empfindlichkeit gegen Schmerz, Hunger und Ermüdung abstumpft und die Beri-Beri-Krankheit heilt, aber auch wegen seiner seltsamen Wirkungen, die es ihnen nach ihrer Aussage ermöglichen, „weit weg von den düstern und ungesunden Wäldern zu leben“.
In einem kleinen Eingeborenendorf am obern Caquetá führt ein Weißer das Leben eines Wilden. Er ist zum Sklaven dieser geheimnisvollen Eingeborenentränke geworden und jetzt Cacique oder Häuptling einer Unterfamilie der Andokes. In Europa erzogen, kam er vor 25 Jahren in diese Gegend und nimmt heute teil an den schauerlichen Orgien der Wilden. So unglaublich diese[S. 221] Geschichte von dem geheimnisvollen „Yagé“ auch jenen klingen mag, die mit den seltsamen Giften der großen Wälder des Amazonengebiets nicht vertraut sind, sollte man doch nicht vergessen, daß die Kokapflanze, deren Gebrauch bei den Aymara-Indianern seit ungezählten Jahrhunderten bekannt ist, erst jetzt der Wissenschaft und dem zivilisierten Laster den „weißen Schnee“ liefert, und daß die Zauberdoktoren und Cabocloheiler jener Wälder bei zahlreichen gewöhnlichen Leiden mit weit stärkeren Medizinen operieren, als der wissenschaftlichen Welt bekannt sind oder von ihr angewendet werden.
Die Carijonas tragen einen Pflock im Ohrläppchen. Von diesem Gebrauch erhielten sie ihren Namen (Großohren). Sie haben die Farbe heller Bronze, sehr flache Gesichter, zurückgehende Stirnen, dicke Lippen, grobes schwarzes Haar, das über den Rücken herabhängt, und tragen keinerlei Bekleidung. Die jungen Mädchen und Kinder sehen lange nicht so häßlich, ungesund und abschreckend aus wie die Männer und alten Weiber. Wahrscheinlich kommt das von den Wirkungen des beständigen Genusses von Koka, Yagé und Tabaksaft. Für ihre Pfeile gebrauchen sie verschiedene Gifte, hauptsächlich Kurare, außer beim Fischen und der Jagd auf kleine Eidechsen und Frösche, die sie in unglaublichen Mengen verzehren. Ihre Hütten sind die üblichen Gemeinschaftswohnungen aus Chontaholz und Palmstroh, haben aber keine Eingänge. Um hinein- oder herauszukommen, heben sie einen beweglichen Teil des Daches ab. Gelegentlich trifft man einen Carijona, dessen Ohren durch Ringe mit daranhängenden schweren Gewichten fast bis zu den Schultern herabgezerrt werden. So entstellte Leute sind fast immer Stammesunterhäuptlinge oder Zauberdoktoren. Sie verstehen es, prächtige Hängematten aus Fasern und Federn zu verfertigen, die sie entweder durch andere, friedfertigere Indianerstämme gegen Lebensmittel verhandeln[S. 222] lassen oder selbst an wandernde Caboclohändler am Oberlauf des Caquetáflusses verkaufen. Ihre Sprache ist rauh und guttural und scheint sich auf wenige, ähnlich klingende Wörter zu beschränken. Hört man allerdings einen Eingeborenendialekt zum erstenmal, so hat man fast stets diesen Eindruck, so daß wohl erst genauere Untersuchungen zu einem endgültigen Ergebnis führen dürften.
Obwohl es im Caquetá-Putumayo-Napo-Gebiet mehrere Hunderte von kleinen Unterstämmen mit verschiedenen Namen gibt, die aus wenigen Familien bestehen, stammen sie doch alle von sechs großen Stämmen ab. Diese sind: die Uitotos am Igara-Paraná und Putumayo; die Ocainas am Igara-Paraná, die bei weitem intelligentesten unter ihnen; die menschenfressenden Carijonas am Caquetá; die Andokes des obern Igara-Paraná und die Boras am untern Caquetá. 1903 führten die wilden Andokes, von denen die Nonuyas ein Zweig sind, einen derart mörderischen Krieg gegen die wenigen kolumbianischen Kautschuksammler, daß diese sich um Hilfe nach Iquitos wenden mußten.
In diesem Gebiet fand der französische Forscher Emile Robuchon den Tod unter Umständen, die niemals aufgeklärt wurden. Er war von der Regierung beauftragt worden, die allgemeinen Verhältnisse am Putumayo zu untersuchen und hatte sich längere Zeit am Igara-Paraná aufgehalten. Er hatte ein Uitotomädchen geheiratet und schien nach hinterlassenen Photographien mit einer Anzahl von Stämmen auf bestem Fuß zu stehen. Das Buch, an dem er schrieb, wurde nie beendigt und später von einem peruanischen Konsul in Manáos herausgegeben. Er soll von menschenfressenden Indianern ermordet worden sein. Wie dem auch sein mag, jedenfalls erzählt man sich abenteuerliche Geschichten an den Lagerfeuern dieses Grenzgebiets. Alles, was von Robuchon in der Putumayoregion zurückblieb, ist eine Hunderasse, die seiner eigenen treuen dänischen Dogge gleicht.
[S. 223]
Man soll die menschenfressenden Indianer in den Wäldern des obern Amazonenstroms nicht schlechthin als Kannibalen bezeichnen können, da ihre Mahlzeiten von Menschenfleisch dem Wunsch zuzuschreiben sind, der Vorzüge ihrer Opfer teilhaftig zu werden, indem sie sie verzehren, und nicht einer besonderen Vorliebe für diese Art der Nahrung. Die Frage wird aber verwickelt, wenn etwa ein menschenfressender Südseeinsulaner seine Leidenschaft für Menschenfleisch nicht viel anders erklärt als ein Bewohner von Clapham oder Hoboken seine Leidenschaft für Roastbeef, nämlich damit, daß es ihm Kraft verleiht. Und dazu kommt nun noch ein Kaschibo-Indianer mit der Behauptung, wenn er einen Feind verzehre, gehe die Körperkraft des Toten in ihn über.
Ich bin mir wohlbewußt, daß da noch andere Unterschiede vorliegen, aber sie sind so geringfügig, daß man besser daran täte, für alle praktischen Zwecke jeden als Kannibalen zu bezeichnen, der Menschenfleisch ißt, ohne die Beweggründe zu beachten, die ihn leiten. Der Grund einer Verworfenheit und deren Grad sollten für eine allgemeine Klassifikation nicht ausschlaggebend sein, da sonst vieles, was über das Fehlen des Kannibalismus im Amazonengebiet geschrieben wurde, gänzlich irreführend sein würde. Viele Tausende von Geviertmeilen der Wälder sind noch von Indianern bewohnt, die zu diesem Hang neigen, und an erster Stelle unter ihnen stehen die Kaschibos- und Nonuyasstämme.
Nach einem längeren Aufenthalt in Iquitos bot sich endlich eine Gelegenheit, in das Gebiet dieser Wilden vorzudringen, das[S. 224] westlich von den Flußläufen des Ucayali und Pachitea mitten in den Dschungeln liegt. Um diese Flüsse zu erreichen, bedarf es einer Reise von einigen Tagen in der Barkasse von Iquitos aus, da sie die Wasserstraßen zwischen dem Amazonenstrom, den Anden und dem Pazifischen Ozean bilden. Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen erst bei der Einfahrt in die beiden Flüsse, wo sich die schweigenden, verfilzten Urwälder über Hunderte von Meilen nach jeder Richtung bis zum unerforschten, nebelerfüllten Horizont hin ausbreiten.
So undurchdringlich sind die Wälder, daß ein Vorstoß von beispielsweise 300 Kilometer jede Zeit bis zu einem Jahr beanspruchen mag, wobei eine Anzahl Weghauer und Träger Voraussetzung sind. Der Ruf der Stämme, die diese Gebiete bewohnen, ist so schlimm, daß es schwierig, wo nicht unmöglich wäre, in den halbzivilisierten Indianerniederlassungen längs der Ufer der Hauptflüsse irgendeine Hilfeleistung zu erlangen. Die dichten Urwälder allein zu betreten, würde sichern Tod bedeuten. Ein deutscher Naturforscher, der es versuchte, ist niemals zurückgekehrt. Die Gebeine eines Kautschuksammlers von Mashishea wurden erst kürzlich neben einer Feuerstelle in den Waldebenen von Sacramento gefunden. Mr. Whaley aus San Juan wurde von den Indianern ermordet, weil er trotz wiederholter Warnungen in ihr Gebiet eindrang, und der Deutsche Kroehle, der unter den Kaschibos lebte und sie photographierte, starb schließlich an den Wunden, die er durch ihre Pfeile erhalten hatte. Die Geschichte der Versuche, dieses Gebiet zu erschließen, berichtet noch viele ähnliche Tragödien. Weiter im Süden, wo die Flüsse Perené und Ené sich zum Tambo vereinigen, widersetzen sich die Ungoninos, ein Zweig des großen Kampasvolkes, dem Durchqueren ihres Gebietes durch Weiße. Obwohl sie keine Menschenfresser sind, müssen doch die Maultierzüge und Kanus, die auf dem Weg von den[S. 225] Anden nach Iquitos die Wälder berühren, um ihr Gebiet einen Umweg machen. Jeder Versuch, es zu durchqueren, würde unweigerlich ins Verderben führen. Diese kurzen Angaben mögen die Schwierigkeiten veranschaulichen, einen Weg in die abgelegeneren Wälder abseits von den Hauptflüssen zu finden.
Der Ucayali ist ein breiter Fluß mit glasigem, grünlichgrauem Wasser, einer schnellen Strömung und vielen gefährlichen Strudeln zwischen weit auseinanderliegenden, nebelverhüllten, mit niedrigem Gestrüpp bedeckten Ufern. So stark ist die Strömung, daß Barkassen und andere Fahrzeuge bei der Bergfahrt sich stets nach Möglichkeit am dschungelbedeckten Ufer herumdrücken. Hin und wieder trifft man auf Stellen mit frischgrünem Sumpfgras, aus dem weißgefiederte Reiher und rot und schwarze „Soldados“ in Scharen aufsteigen.
Die Sonnenuntergänge auf diesem breiten Fluß können an Großartigkeit nur mit denen auf dem Madeira verglichen werden. Rote und violette Wolkenballen, aus denen feurige Strahlen himmelwärts emporschießen, spiegeln sich in jeder Einzelheit auf der glasigen Oberfläche des Flusses. So lebhaft sind solche Lichteindrücke, daß der Wald sich dagegen in braune und schwarze Töne verwandelt.
Von Zeit zu Zeit fährt man an einem kleinen Kanu vorüber, in dem ein Cocama-Indianer mit erhobener Lanze steht, bereit, den Pirarucúfisch aufzuspießen, wie er in Peru genannt wird. Er ist der größte Süßwasserfisch der Welt und erreicht oft ein Gewicht von über 100 Kilogramm und eine Länge von fast 2 Meter. Das Fleisch wird auf ähnliche Weise gepökelt und eingesalzen wie das des Kabeljaus und bildet für alle Flußanwohner ein wichtiges Nahrungsmittel. Die getrocknete Zunge gleicht einer Feile und wird von den Eingeborenen des Amazonengebiets zum Feilen benutzt. Unter andern Fischen, die von den[S. 226] Indianern gefangen werden, ist der Tucanaré und die Piranha oder Flußhai. Auf einigen der Sandbänke weiter flußabwärts findet sich die amazonische Schildkröte (Podocnemis expansa), eine Abart, die aber meistens von der gewöhnlichen Schildkröte nicht unterschieden wird. Die Indianer verfolgen sie erbarmungslos, nicht nur ihres Fleisches, sondern auch der Eier wegen. Sie ist eins der größten Geschöpfe ihrer Art auf der Welt und bildet für alle Flußanwohner, Europäer wie Eingeborene, ein marktgängiges Nahrungsmittel. In gewissen Flüssen kommt sie noch zu Tausenden vor und liefert neben der Nahrung ihre Schale, die als Gefäß für den Hausgebrauch dient. Die Schildkröten legen ihre Eier in den weichen, heißen Sandbänken ab, sobald sie nach den großen jährlichen Überschwemmungen wieder aus dem Wasser auftauchen. Da die Eingeborenen das genau wissen, liegen sie beständig auf Wache, und kaum ist das Legegeschäft beendigt, reißen sie die Eier aus den Löchern, die von der Schildkröte als Nest gemacht werden. Im Ucayali kommt aber der Flußdelphin häufiger vor als die Schildkröte. Auch Alligatoren gibt es in Menge. Sie werden ihres Fettes wegen getötet, das zu einer merkwürdigen Art Massage bei vielen Leiden, besonders Rheumatismus, gebraucht wird.
In der Umgegend der kleinen Niederlassung von Sarayacu, am Westufer des Ucayali, liegen mehrere Konibosdörfer. Eines von ihnen, am Ufer, ist von halbzivilisierten Indianern bewohnt, die sich als Kanuführer auszeichnen. In andern, weiter ins Land hinein, hausen noch wilde, aber dem Weißen nicht mehr offen feindlich gesinnte Stämme.
Ich verließ die Barkasse mit meinen beiden Cocamaboys, denselben, die mich den Chimbiri-Yacu hinauf begleitet hatten, und mietete ein Kanu von einer alten Missionsstation. Dann ging’s in einen kleinen Fluß, der die Lokalbezeichnung Rio Sarayacu trägt und viele Meilen weit ins Land hineinführt gegen[S. 227] eine niedere Hügelkette zu, über die nicht viel bekannt ist. In der Nähe von Sarayacu zweigt er vom Ucayali ab.
Es würde wohl sehr schwierig gewesen sein, die Lage der Hütten der weiter flußaufwärts wohnenden Konibos zu bestimmen und hinzukommen, wäre es mir nicht gelungen, einen Führer des gleichen Stammes, der in dem halbzivilisierten Dorf am Ucayali lebte, zu überreden, mit uns zu kommen. Den „zahmen“ Indianer dazuzubringen, einen Weißen zu seinen wilden Stammesbrüdern zu geleiten, ist außerordentlich schwierig und hat nur Erfolg, wenn man sich an einen Vermittler wendet, der das Vertrauen beider besitzt. In meinem Fall war das der alte Pater in Sarayacu, der sich der Leiber der wilden und der Seelen der halbzivilisierten Indianer annimmt.
Nach zwei Tagen auf diesem verseuchten kleinen Fluß, dessen dichtbewaldete Ufer dem Sonnenlicht kaum Zutritt gewährten, schlugen wir am frühen Nachmittag schon das Lager auf und ließen den Führer mit dem Kanu vorausfahren, um den Indianern unsere Ankunft anzuzeigen und ihnen zu erklären, daß wir Freunde wären und Geschenke mitbrächten. Diese Nacht wurde eine der schlimmsten, die ich je im Amazonengebiet zugebracht hatte. Zu den Moskitos gesellte sich die Qual von Hitzbläschen auf dem ganzen Körper, so daß ich keine fünf Minuten stillzuliegen vermochte. Aber glücklicherweise sind in diesem Sonnenland die Stunden der Finsternis nur kurz. Nach dem Frühstück kehrte der Führer zurück und eröffnete uns, daß wir zu dem Dorf fahren dürften, das nur etwa 3 Kilometer weiter den seichten Fluß hinauf zu liegen schien.
Das Dorf der Konibos bestand aus vier Rohrhütten ohne Seitenwände, die auf rohen Plattformen erbaut waren. Jede Hütte gab ungefähr 15 Leuten Obdach. Ungleich andern Wilden an den entlegenen Flüssen dieses Riesengebiets drängten sich die[S. 228] Konibos nicht zusammen, als wir landeten, sondern standen unbeholfen umher und betrachteten uns mit unverhülltem Mißtrauen. Doch tauten sie ein wenig auf, als ich eine Handvoll Taschenmesser aus meinem Rucksack hervorholte, und damit hatte ich Gelegenheit, sie mir etwas genauer anzusehen.
Die zahllosen Kinder waren gänzlich unbekleidet, Männer und Weiber aber trugen ein grobes, braunes „Kusma“, d. h. ein aus einem Stück bestehendes Gewand mit einem Loch für Kopf und Hals. Sie hatten die Farbe dunkler Bronze und ihre Gesichter waren mit roten und schwarzen Streifen bemalt, was einen höchst abscheulichen Anblick bot. Die jüngern Kinder aber, die nicht auf solche Weise bemalt waren, sahen ganz anständig aus. Das Haar der Männer und Weiber war lang und wurde durch ein Rohrband um den Kopf festgehalten. Einer der Männer, anscheinend ein Häuptling, trug einen Metallring durch die Nase und eine Vogelfeder im Haar.
In auffallendem Gegensatz zu der glatten Haut der Ocainas war die dieses Stammes mit Pickeln, Bläschen und Geschwüren wie übersät. Ob das von den Stichen der Moskitos und „Piums“ herrührte, kann ich nicht sagen. Auch die Körper der Kinder waren in diesem Zustand und wie mit einer trockenen Flechte bedeckt. Außer dem Einsammeln von Sarsaparille, das in den umliegenden Wäldern wild wächst, scheinen sie mit Arbeit sich nicht viel abzugeben. Die kleinen Pflanzungen dicht beim Dorf waren in trauriger Verfassung und ließen sich vom Busch zuerst kaum unterscheiden.
Die Konibos sprechen die „Pana“sprache fast aller Stämme der peruanischen Montaña. Der Ruf ihres verräterischen und blutdürstigen Charakters geht auf das Jahr 1695 zurück, als sie einen Franziskanermissionar, namens Rieter, ermordeten. Seitdem wurden immer wieder von Zeit zu Zeit Versuche gemacht, sie zu zivilisieren, aber fast in jedem Fall endigten sie mit Mord. Die[S. 229] am Ucayali Wohnenden nennen sich Christen, doch deckt nur ein dünner Firnis die Instinkte des Wilden.
Bei diesem Stamm ist es Sitte, die Alten und Schwachen umzubringen. Den Sohn dünkt es eine Wohltat, seinen Vater oder seine Mutter zu ertränken, zu erwürgen oder zu vergiften, wenn sie nicht mehr imstande sind zu fischen, zu jagen oder die Nahrung zu bereiten. Ein altes Weib fiel mir auf, das darauf bedacht schien, besondere Geschäftigkeit an den Tag zu legen, so daß ich mich des Lachens nicht hätte enthalten können, wäre sie nicht mit solchem Ernst bei der Sache gewesen. Als ich mit dem Pater in Sarayacu darüber sprach, erzählte er mir von dem grausamen Brauch, und nun wurde mir der Grund der komischen Geschäftigkeit klar. Kinder mit einem Abszeß am Fuß wurden in den Fluß geworfen, weil sie für den Augenblick nicht gehen konnten. Als wir das Dorf der Konibos verließen, versteifte sich das alte, ausgedörrte, nur aus Haut und Knochen bestehende Weib darauf, fast bis zum Bauch ins Wasser zu waten, um unserm Kanu einen letzten Stoß zu versetzen. Ich freute mich, als ich später von dem schrecklichen Brauch hörte, daß sie die meistbegehrte Gabe erhalten hatte: eine Schachtel mit Steck- und Nähnadeln, Nägeln und Angelhaken. Vielleicht wird sie sich damit noch die paar Jahre ihres Daseins erkaufen können, an dem sie so sehr zu hängen schien.
Nach der Rückkehr nach Sarayacu kaufte ich das Kanu und erreichte bei dem Mestizen-Kapitän der Barkasse, die am folgenden Tag den Ucayali hinauffuhr, daß er mich ins Schlepptau zu nehmen versprach. Meine Absicht war, das Dampfboot vor Bocca Pachitea, einige Meilen oberhalb der kleinen Niederlassung von Mashishea, zu verlassen. Es sollte flußaufwärts fahren, solange die Tiefe des Wassers es erlaubte, um vier weitere in allen Farbennuancen spielende Passagiere am nächsten Punkt zu dem[S. 230] Andenübergang nach dem Pazifischen Ozean abzusetzen. Am Westufer des Ucayali zieht sich eine besonders wilde Gürtelzone entlang, die von den Kaschibos oder Vampirindianern bewohnt wird. Um in dieses Gebiet einzudringen, bedurfte ich eines Kanus, und da es nicht viele Niederlassungen am Ucayali gibt, mußte ich eins mitnehmen.
Nur wenig Bemerkenswertes ereignete sich während der Reise den Ucayali hinauf, der die gewöhnliche Route zwischen dem Amazonenstrom und dem Pazifischen Ozean bildet. Die einzigen Ansiedlungen längs dieses 800 Kilometer langen Flusses und seines halb erforschten Gebiets sind: Contamana, ein hübscher, kleiner Ort am Ufer, und Mashishea, wo sich eine drahtlose Station befindet. Einige Meilen unterhalb mündet der Rio Aquaitia in den Ucayali. Von hier aus sind sowohl nach Westen wie nach Osten die Wälder völlig unerforscht, wo mehrere wilde Stämme, darunter die menschenfressenden Kaschibos, ihre Wohnsitze haben. Das Wort „Kaschibo“ bedeutet in der Panasprache „Vampir“, und die Indianer verdanken diesen Namen ihren blutdürstigen Neigungen.
An einem Punkt auf dem Westufer, auf 8° südlicher Breite, vertauschte ich die Barkasse mit dem Kanu, das bis dahin recht bequem im Schlepptau mitgeführt worden war. Nachdem ich aber die Vorräte und meine beiden Cocamaboys hinübergebracht hatte, ging es leider so tief, daß ich zu meinem Bedauern gezwungen war, dem Mestizen-Kapitän eine beträchtliche Menge jener „Extras“ anzuvertrauen, die abseits der Zivilisation soviel bedeuten. Aber es ging nun einmal nicht anders, und so winkten wir dem kleinen Dampfer ein Lebewohl zu und paddelten einer Öffnung im niedern Dschungel der übelberüchtigten Pampas Sacramento entgegen, wo der kleine Aquaitiafluß in den Ucayali mündet.
Dieser Fluß hat weiter keine Bedeutung. Er ist der letzte kleine[S. 231] westliche Nebenfluß, ehe die Bocca Pachitea erreicht wird, und liegt nach Angabe der ausgezeichneten Karten des peruanischen Innenministeriums auf 8° südlicher Breite. Etwa 30 Kilometer lang windet sich der Aquaitia gegen Südsüdwesten durch eine sehr flache, tiefliegende, mit Palmdschungeln bedeckte Gegend. Während des ersten Tags und der folgenden Nacht waren die Moskitos so blutdürstig, daß selbst die Kleider keinen Schutz vor ihnen gewährten. Hätte ich nicht ein Kopfnetz und Stulphandschuhe bei mir gehabt, so wäre ich schimpflich wieder nach dem offenen Ucayali umgekehrt. Auf keiner meiner Reisen in verschiedenen Weltteilen hatte ich solche Qualen zu überstehen wie diesmal durch diese kleinen, teuflischen Geschöpfe. Hand- und Fußgelenke, Arme, Hals und Gesicht waren so zerstochen und verschwollen, daß ich kaum die Kleider anzubehalten vermochte und Schwierigkeiten hatte, nicht durch beständiges Kratzen mich der Gefahr einer Blutvergiftung auszusetzen. Während dieser fürchterlichen 24 Stunden schliefen wir im Kanu, über dessen ganzen Innenraum wir das Moskitonetz gezogen hatten. Auch meine beiden Cocamas litten unter der Moskitoseuche, wenn auch weit weniger als ich selbst. Jedenfalls schienen sie froh, bei Anbruch der Nacht unter das schmutzige, weiße Netz kriechen zu dürfen.
Das Schlafen mit Moskitonetz und Stulphandschuhen machte die Hitze noch unerträglicher. Gegen den Abend des zweiten Tags wurde die Luft aber etwas freier, und das wahnsinnig machende Gesumme ließ beträchtlich nach. Der seichte Fluß wurde nun noch seichter und verbreiterte sich zu einem Miniatursee, der nicht ohne Schwierigkeit zu befahren war. In dieser Nacht schlugen wir das Lager auf, aber ein richtiges Ausruhen war ausgeschlossen wegen der Gefahren, die von den wilden Stämmen drohten, deren Gebiet wir jetzt betreten hatten.
[S. 232]
Als wir am nächsten Morgen am Ufer des seichten Sees entlang fuhren, erhielten wir die erste Andeutung, daß es hier Indianer gab. Ein Pfeil zischte in einiger Entfernung vor dem Kanu ins Wasser. Es war ein bedenklicher Augenblick, und selbst in den Augen meiner beiden Boys zeigte sich die Nervenanspannung. Ob es sich um eine Warnung handelte oder um einen Pfeil, der auf der Fischjagd abgeschossen worden war und die Anwesenheit von Indianern verriet, spielte dabei keine Rolle. Ehe eine Art Freundschaft hergestellt oder wenigstens eine Form passiver Duldung von den Indianern erreicht war, die sich offenbar in den umliegenden Wäldern befanden, schien ein Vormarsch ebenso unmöglich als der Rückzug. Ähnliches hatte ich schon oft erlebt, aber bei dieser Gelegenheit fühlte ich mich zum erstenmal wirklich ungemütlich. Der Hauptfaktor der Sicherheit, eine gute Rückzugslinie, fehlte, und alles hing nun vom guten Willen eines unbekannten Stammes in einer übelberüchtigten Gegend ab.
Irgend etwas mußte geschehen, aber was sollte ich tun? Auf den niedern dschungelbedeckten Ufern war kein Zeichen zu erblicken weder von den Indianern noch ihren Behausungen. Wir ruderten auf eine sandige Landzunge zu, die in den seichten See vorsprang. Das Kanu saß bald fest, und so wateten wir, bis zu den Knöcheln im Wasser, auf die Sandbank. Nachdem wir uns versichert hatten, daß sie bei dem natürlichen Steigen des Flusses während der[S. 233] Nacht nicht überschwemmt würde, beschloß ich, hier das Lager aufzuschlagen, weil niemand weder vom See noch vom Ufer her sich nähern konnte, ohne das Stück offenen Strandes zu überschreiten.
Die Nacht über wachte ich, bis mich die Dämmerung erlöste und ich mich für eine oder zwei Stunden niederlegen wollte. Ich war jedoch kaum eingeschlafen, als schon einer der Boys ins Zelt trat und mir durch Zeichen bedeutete, ihm zu folgen. Weniger als 50 Meter vom Lager entfernt steckten vier Stöcke mit vier kürzeren Stöcken quer darüber gebunden im Boden, und daneben lag ein Pfeil auf der Erde, der nach der Richtung wies, von wo wir gekommen waren. Der Cocama schüttelte den Kopf und murmelte etwas.
Da ich von ähnlichen Zeichen bei den Nambiquaras des Matto Grosso gehört hatte, zermarterte ich mein Gehirn nach einer Erklärung. Wahrscheinlich bedeuteten die vier langen Stöcke ebenso viele Indianer, und der Pfeil, der flußabwärts wies, gab eine Richtung an. Sollte er eine Warnung sein, daß wir dahin zurückzukehren hatten, von wo wir gekommen waren? Wenn so, was sollten dann die vier Querstöcke ausdrücken? Keine Erklärung, außer einem unheilverkündenden Kopfschütteln, kam vom Cocama. Anderseits mochten die Stöcke anzeigen, daß die gleiche Anzahl von Indianern in der Richtung des Pfeiles lagerte.
Nachdem ich mir einige Zeit fruchtlos den Kopf zerbrochen hatte, entschloß ich mich, Geschenke bei den Stöcken niederzulegen, alles wieder ins Kanu zurückzuschaffen, das Zelt aber stehenzulassen und den Saum des Dschungels dort zu untersuchen, wohin der Pfeil deutete. Während der drückenden Hitze des ganzen tropischen Tages ruderten und suchten wir ohne Ergebnis umher, aber bei der Rückkehr zu der Sandbank am Abend sahen wir, daß die Geschenke verschwunden waren. Das Zelt und die geheimnisvollen[S. 234] Stöcke waren jedoch nicht berührt worden. Ehe die Nacht anbrach, legte ich meinen Rasierspiegel als weitere Gabe hin und band eine rohe Skizze daran, die einen Indianer und einen Weißen darstellte, die sich gegenüberstanden, die Waffen auf den Boden gelegt hatten und die Arme über die Köpfe hielten.
Wieder saß ich die ganze Nacht neben dem Kanu, da ich zur Wachsamkeit der beiden Cocamas kein Zutrauen hatte. Als das Licht des kommenden Tags endlich ausreichte, die Umgebung zu unterscheiden, ging ich zu den Stöcken. Der Rasierspiegel und die Zeichnung waren fort, und auf dem Sande zeigten sich die Spuren mehrerer nackter Füße. Sie kamen vom seichten Wasser des Sees und führten wieder zurück, ein Beweis, daß die Indianer ein Kanu benutzt hatten.
Diesmal erneuerte ich die Geschenke nicht, sondern ließ nur eine neue Zeichnung zurück, auf der ein Weißer abgebildet war, der einem neben dem Zelt stehenden Indianer eine Schnur Perlen überreicht. In der folgenden Nacht verschwand auch dieses Blatt, und ich hörte, wie das Kanu der Indianer von der Sandbank abgestoßen wurde, indem ich das Ohr dicht an die Oberfläche des stillen Seespiegels hielt.
Nun war ich beruhigt, und am Morgen des vierten Tages näherte sich richtig ein Kanu, in dem vier Indianer saßen, die langsam ruderten. Ich rief sie an und bekam eine Antwort. Dann hörten sie auf zu rudern, und das Kanu hielt etwa 180 Meter vom Ufer an. Sich auf diese Entfernung pantomimisch zu verständigen, war unmöglich. Daher winkte ich den Indianern zu, näher zu kommen, legte meine Flinte auf den Boden und ging im seichten Wasser auf sie zu, während ich eine Schnur Perlen ihnen entgegenhielt.
Einige Minuten saßen sie unbeweglich und paddelten dann vorsichtig vorwärts bis auf etwa zehn Meter an die Stelle, wo[S. 236] ich bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Ich bedeutete ihnen durch Zeichen, daß ich ein Freund wäre und mit ihnen zu sprechen wünschte. So oft ich vorzugehen versuchte, ruderten sie hastig zurück, und dieses lächerliche Hin und Her ging länger als eine halbe Stunde so fort, bis ich endlich zum Zelt zurückwatete, wo ich mich niedersetzte und wartete.
Allmählich faßten sie Mut, ruderten zuerst das Ufer entlang zum Zelt, stiegen dann ins Wasser und wateten auf mich zu. Ich stand auf und hob die Hände über den Kopf, um zu zeigen, daß ich unbewaffnet wäre. Drei von ihnen ahmten das nach, während sie sehr mißtrauisch den Strand heraufkamen. Langsam ließ ich die ausgestreckten Hände sinken und begann, ihnen durch Zeichen anzudeuten, daß ich Geschenke für sie hätte. Einige Stücke wohlriechender Seife wurden auf den Sand gelegt, nach denen einer der Indianer gierig griff, während die andern meine Bewegungen beobachteten. Daran schloß sich ein lebhaftes Gespräch, das durch Zeichnungen im Sand geführt wurde. Nun kam heraus, daß die Stöcke mit den Querhölzern Hütten bedeuteten und daß der Pfeil nicht nach ihnen hin, sondern von ihnen her wies.
Ihrem Äußern nach waren die Indianer von Mittelgröße und einer sehr blassen Hautfarbe von gelber Bronze. Im Sonnenschein sehen sie wie Chinesen aus. Alle vier waren in lange dunkelbraune Kusmas aus grobem Eingeborenenstoff gekleidet. Ihre Köpfe waren zum Teil geschoren, und um den Hals trugen sie einen merkwürdigen Schmuck aus Flügeldecken von Käfern, der vorn mit dem Kopf einer Fledermaus abschloß. Ihr Haar war kohlschwarz und dicht um den Kopf durch ein Rohrband zusammengehalten, das mit Vogelfedern verziert war. Nur einer hatte einen langen, dünnen Speer aus dem Kanu mitgebracht.
Nach langen Bemühungen, durch Zeichen und ein paar Panaworte, die ich in Sarayacu gelernt hatte, meine Absichten kundzutun,[S. 237] war endlich eine etwas freundschaftlichere Atmosphäre hergestellt. Ich benützte sie um anzudeuten, daß zwar ich meine Waffe abgelegt hätte, einer der Indianer aber noch immer einen Speer trüge. Es bedurfte mehrerer Zeichnungen im Sand, um diesen Umstand klarzumachen, aber sobald ihn die beschränkte Intelligenz der Wilden begriffen hatte, wurde der Speer auf den Boden gelegt. Doch war der Besitzer nicht zu bewegen, sich von der Stelle zu entfernen. Nachdem ich meinen Zweck erreicht hatte, einen Zustand gegenseitigen Vertrauens zu schaffen, hätte es keinen Sinn gehabt, die Sache noch weiterzutreiben. Die nächste Aufgabe war, die kleine Indianerschar, die sich offenbar auf einem Jagd- oder Fischzug befand, dazu zu veranlassen, uns nach ihrem Dorf zu führen und gleichzeitig alles Menschenmögliche zu tun, um unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten.
Es ist nicht ratsam, gänzlich wilden Indianern zu viel Geschenke zu geben, ehe man seinen Zweck in ihrer Mitte erreicht hat. Sie gleich am Anfang mit Gaben zu überhäufen, heißt sich später einer gefährlichen Unzufriedenheit aussetzen, wenn die Quelle erst spärlicher zu fließen beginnt, was bald eintritt, falls nicht unbegrenzte Transportmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die frühe Erforschungsgeschichte unter den Eskimos beweist zur Genüge, daß man nur mit Vorbedacht diese Form der Bestechung anwenden sollte.
Nachdem ich den Indianern meinen Wunsch, ihr Dorf zu besuchen, kundgetan und zugleich meine Bereitwilligkeit ausgedrückt hatte, ihnen für ihre spätere Unterstützung bei der Rückkehr an den Ucayali Geschenke zu machen, drehte ich ihnen absichtlich den Rücken und ging in mein Zelt. Anscheinend, um etwas zu holen, aber in Wirklichkeit, um zu prüfen, wie weit ihre Freundschaft ging, wenn wir uns nicht mehr unmittelbar gegenüberstanden. Nach einigen Minuten kam ich wieder mit ein paar[S. 238] Biskuits, von denen ich eins selbst verzehrte und die andern den Indianern anbot. Da sie augenscheinlich hungrig waren, schlangen sie sie hinab, ohne erst wie üblich nach dem ersten Bissen zu warten, ob sich nicht schlimme Wirkungen einstellten.
Es gab noch ein langes Gespräch zwischen ihnen, aber schließlich deuteten sie mir an, unser Kanu zu besteigen. Das Abbrechen des Lagers dauerte eine halbe Stunde, während der ich mich mit sehr wenig Erfolg bemühte, unsere freundschaftlichen Beziehungen noch zu vertiefen. Gerade vor dem Aufbruch zog ich meinen Tabaksbeutel aus der Tasche, und als ich ihre gierigen Blicke bemerkte, verteilte ich genug von dem wertvollen Kraut, um mehrere Pfeifen zu stopfen, was größeren Eindruck zu machen schien als alle vorhergehenden Annäherungsversuche.
Wir paddelten über den seichten See und wandten uns dann nördlich gegen einige niedere, bewaldete Hügel. Schon erschienen die Hütten auf einem offenen Fleck von grauem, aschenartigem Sand zwischen dem niedern Dschungel. Sofort nach der Landung kam mir die Gefahr der Lage zum Bewußtsein. Die vier Jäger, die zu uns ins Lager gekommen waren, trugen Kleider und hatten offenbar schon früher mit der Zivilisation in Berührung gestanden; die Dorfinsassen aber waren völlig nackt und nahmen eine beinahe feindliche Haltung ein. Als wir landeten, war keiner der Indianer bewaffnet, aber schon nach einer Viertelstunde starrte alles von Speeren, Bogen und mörderisch aussehenden Kriegskeulen.
Die Geschichte der Kaschibos erzählt von beständigen, erbarmungslosen Kämpfen gegen den Weißen und die benachbarten Stämme der Schipibosindianer. Von 1651 bis 1714 sollen nicht weniger als siebenundzwanzig Priester von ihnen ermordet und aufgefressen worden sein, die von den Spaniern geschickt wurden, um sie zum Christentum zu bekehren. Etwa 40 Jahre später überfielen sie die Missionsstationen von Cerro de la Sal und zerstörten[S. 239] sie alle. Bis in neuere Zeit waren sie sehr selten von Forschern aufgesucht worden, und Leutnant Smyth, R. N. (1832), Leutnant Herndon (1852), Gabriel Sala (1899) und Juan Sotomayor (1900) sind die einzigen, soweit es zur allgemeinen Kenntnis gelangte, denen wir Berichte über diesen wilden Stamm verdanken.
Diese Geschichten fielen mir ein, während ich mich entschloß, sofort zu handeln. Ich wandte mich zu den Führern, verlangte vor den Huary, den Häuptling, gebracht zu werden und wurde nach einer der großen, aber kläglich gebauten Palmstrohhütten gewiesen, die als Gemeinschaftshäuser dienen und hier „Tambos“ heißen. Ein alter Kaschibo mit Bart, Kusma und geschorenem Kopf war gerade damit beschäftigt, ein offenes Geschwür an seinem Vorderarm sorgfältig auszusaugen. Als ich eintrat, hörte er mit dieser Arbeit auf, die ihn ganz in Anspruch zu nehmen schien, erhob sich und stolperte auf die Stelle zu, wo ich ihn erwartete.
Nachdem ich die üblichen Geschenke überreicht hatte, erklärte ich kurz den Zweck meines Besuchs, zu dem er anscheinend seinen Segen erteilte. Wenigstens erhielt ich ein seltsames Rohramulett mit merkwürdigen eingeritzten Zeichnungen. Offenbar war ich nun frei, zu lagern und das Dorf in Augenschein zu nehmen, aber die Speere und Keulen verschwanden nicht aus den gelben Händen ihrer Besitzer.
Die Weiber scheinen, bis sie heiraten oder alt werden, ganz nackt zu gehen, die Männer aber tragen ein einfaches Lendentuch oder ein langes, braunes, ärmelloses Gewand. Als Beförderungsmittel ziehen die Kaschibos augenscheinlich das Floß dem Kanu vor, denn obwohl mehrere Fahrzeuge sich am Ufer, nahe dem Dorf, befanden, schien die Anzahl der Flöße der der Bewohner zu entsprechen.
So häßlich und schmutzig wie die Männer sind die Weiber und Kinder nicht. Ob das an dem Fehlen des ungewaschenen und stets[S. 240] übelriechenden Kusma liegt, ist schwer zu sagen. Aber ich hatte den Eindruck, daß einige dieser blaßfarbigen Weiber und Mädchen zu einem andern Stamm gehörten, der viel kleiner von Statur war als die Kaschibos. Wie dem auch sein mag, jedenfalls waren sie viel mitteilsamer und freundlicher als die Männer, eine Haltung, die ich aus naheliegenden Gründen nicht ermutigen durfte.
Am zweiten Tage unseres Aufenthalts fragte ich einen unsrer Führer, wohin er nach seinem Tod zu kommen erwartete. Die Antwort brachte mich ein wenig außer Fassung. Er deutete auf einen Vogel, der eben die Überreste meiner Mahlzeit aufpickte. Jeder Versuch, weitere Aufklärung zu erhalten, schien nutzlos, bis ich auf den Gedanken kam nachzuforschen, ob sie einen allgemeinen Begräbnisplatz hätten. Nachdem ich stundenlang erst einen, dann einen zweiten Indianer ausgefragt hatte, erfuhr ich, daß die toten Kaschibos nicht beerdigt würden. Die Alten bringt man um oder ißt sie auf, da es für besser gehalten wird, von einem Freund als von wilden Tieren oder Raubvögeln verzehrt zu werden. Ich ließ aber nicht locker und versuchte, zwischen der Seele und dem Körper einen Unterschied zu machen, wobei freilich nichts Endgültiges herauskam. Doch scheinen diese Eingeborenen zu glauben, daß sie durch den Genuß des Herzens, des Gehirns, der Augen, Ohren und Hände die Vorzüge, Kenntnisse und den Geist des Toten in sich aufnehmen. Soweit ich das herausbringen konnte, werden Gefangene von andern Stämmen nicht getötet, da sie ihre Nachbarn für in jeder Beziehung minderwertig und daher zur Aufnahme in sich selbst für unwürdig halten.
Das Wort „Christo“ kennen sie als den Namen des Gottes der Weißen, aber weder mit den Missionen noch den Handelsstationen scheinen sie viel in unmittelbare Berührung gekommen zu sein. Die Hügel- und Dschungelgegend, die sie bewohnen, bringt so gut wie keinen Kautschuk hervor, und folglich fühlt der Händler[S. 241] wenig Neigung, ein so übelberüchtigtes Gebiet zu betreten. Dies erklärt auch wahrscheinlich ihre Rückständigkeit verglichen mit den Verhältnissen bei andern das Pana sprechenden Stämmen, die an den Ufern der schiffbaren Flüsse wohnen.
Einen ihrer widerwärtigsten Gebräuche bekam ich am dritten Tage zu Gesicht. Mehrere Indianer waren auf einem der zahlreichen Flöße beim Fischen mit Speeren draußen gewesen. Als sie mit einigen gespießten Riesenfischen, anscheinend „Paiche“, zurückkamen, leckten zwei Kinder das Blut auf, das aus den Speerwunden träufelte. Da mehrere Männer und Weiber um das Floß herumstanden, ohne dem Tun ihrer Sprößlinge irgendwelche Beachtung zu schenken, haben wir es hier offenbar mit einem Brauch zu tun. Möglich, daß sich ihr ganzer Kannibalismus darauf beschränkt und daß darin der Grund liegt, warum sie Vampire genannt werden. Tatsächlich neige ich zu der Ansicht, trotz all ihrer Redereien über das Auffressen von Verwandten und Freunden, daß es sich dabei lediglich um einen religiösen Brauch handelt, der das Trinken einer gewissen Menge Blutes, aber nicht das Verzehren menschlichen Fleisches erfordert.
Die Begründung meiner Ansicht liegt hauptsächlich in der Tatsache, daß fast alle Indianerstämme im Amazonengebiet ihren Stammesnamen von dem Brauch erhalten, der sich am stärksten von den Sitten ihrer Nachbarn unterscheidet. Dies sieht man, wie bereits erwähnt, deutlich bei den Uaupés an den Nebenflüssen des obern Rio Negro. Und daß hier nicht etwa nur eine Ausnahme in Frage kommt, beweist fast jede Stammesbezeichnung in dem großen Waldgebiet. Ist diese Annahme richtig, so verdanken die Vampirindianer oder Kaschibos ihren Namen und schlimmen Ruf wahrscheinlich dem Brauch, menschliches und tierisches Blut zu trinken.
Ich blieb sechs Tage bei diesem interessanten Stamm; nachdem[S. 242] einmal das natürliche Mißtrauen des Wilden zerstreut war, schien er nicht wilder und unbändiger zu sein als viele andere Stämme, mit denen ich in Brasilien zusammengetroffen war. Die Kaschibos sind stolz und zurückhaltend und besitzen augenscheinlich keine scharf umschriebenen religiösen oder moralischen Vorstellungen. Offensichtlich scheinen sie gegen den Weißen eine Abneigung zu haben, wenn aber, was man sich erzählt, nur zu einem kleinen Bruchteil auf Wahrheit beruht, haben sie auch keinen Grund, ihn und sein Tun zu lieben oder ihm Vertrauen zu schenken. Von den vielbefahrenen Flüssen halten sie sich soweit als möglich zurück. Wie mir unsere Führer erzählten, schicken sie nur zwei oder drei aus dem Dorf nach den abgelegenen Handelsstationen, um ihre Sarsaparille zu verkaufen und die nötigsten Vorräte dafür einzutauschen. Ich erhielt von dem Stamm mehrere Muster von roher Sarsaparille und andern Medizinkräutern, von denen sie eine erstaunliche Kenntnis zu besitzen scheinen. Auf der Jagd und im Krieg tragen sie stets einen kleinen Sack mit Salz bei sich, um vergiftete Wunden damit zu behandeln. Ihrer Ansicht nach ist das Salz ein Hauptmittel gegen fast alle Krankheiten, und tatsächlich scheinen sie viel mehr Kenntnisse zu haben, wozu Salz zu verwenden ist, als die meisten zivilisierten Leute. Sie gewinnen es aus natürlichen Pfannen im Innern der Pampas Sacramento.
Gegen meine Erwartung wurde mir die Abreise eher erleichtert als erschwert. Nachdem ich die merkwürdige Moskitokolonie wieder durchquert hatte und dermaßen zerstochen worden war, daß ich kaum noch aus den verschwollenen Augen zu sehen vermochte, erreichten wir endlich wieder das offene Wasser. Die leichte Brise, die von den weit entfernten, schneebedeckten Anden her wehte und das kühlende Lüftchen auf dem Dampfer, den ich in Mashishea bestieg, waren eine unbeschreibliche Wohltat nach der Hitze und Insektenpest der Pampas Sacramento.[S. 243] Auf der Reise den Ucayali flußaufwärts nach dem Gebiet der Kampasstämme regnete, donnerte und blitzte es beinahe unaufhörlich. Als wir an der Bocca Pachitea ankamen, wo der Fluß seine hauptsächlichen Nebenflüsse aufnimmt, verzogen sich die Wolken gegen die ungeheueren äquatorialen Wälder im Osten zu. Die Sonne strahlte mit tropischer Glut, und der Fluß und die fernen Linien der niedern, dschungelbedeckten Vorberge der Anden waren zum Teil in Dunst und Nebel gehüllt.
[S. 244]
Die Kampasstämme bewohnen die Vorberge der Anden und jenes Gebiet, das unter dem Namen der Oberen Montaña von Peru bekannt ist. Den besten Zugang in dieses Land bildet der Perenéfluß, auf 10° 5′ südlicher Breite und 75° 15′ westlicher Länge. Die Kampas stellen einen von den Wilden in den großen amazonischen Wäldern gänzlich verschiedenen Typus dar und bieten als Indianerrasse viel Interessantes, obwohl sie dort, wo sie mit der Grenzzivilisation in Berührung kommen, rapid dahinschwinden. Aus dem breiten Pachitea lief der kleine Dampfer in den schokoladenfarbenen Pichis ein und kam an einem schönen Fleck der Erde, namens Puerto Bermudez, zu seinem letzten Halt. Von da an wird der Fluß so seicht, daß der Rest der Reise zuerst auf dem Kanu und später auf dem Rücken von Maultieren zurückgelegt werden muß. Man gelangt dann zum Tambo oder Regierungsunterkunftshaus Nr. 71, das dicht am Perenéfluß gelegen ist.
Die Landschaft in diesem Teil der oberen peruanischen Montaña ist wirklich wundervoll. Bewaldete Hügel, strudelnde und schäumende Flüsse, tropische Dschungel von federartigen Palmen und massigen Baumwollbäumen, Haine von wilden Bananen und Kaffeeplantagen, prächtige Schmetterlinge und Vögel — das alles fließt in ein berauschendes Farbenspiel zwischen dem Rot der Erde und dem Blau des Himmels zusammen. In den Dschungeln hier herrscht nicht das düstere Zwielicht der amazonischen Niederungen;[S. 245] über Felsen, Bächen und der tropischen Vegetation liegt überall die Sonne in glänzenden teppichgleichen Lichtinseln. Von den Baumästen hängen in roten und grünen Büscheln Parasitenpflanzen herab, und der Himmel scheint nicht länger mehr ein wie aus Metall gegossenes Gewölbe. Das Klima ist, außer während der Regenzeit, höchst angenehm mit warmer Sonne und kühlenden Winden.
Ich hatte die Absicht gehabt, zu meinem zeitweiligen Standquartier Tambo 71 zu machen, das an dem unter dem Lokalnamen der „Via Centrale“ bekannten Maultierpfad liegt, der von Puerto Bermudez nach Oroya und dem Pazifischen Ozean führt. Aber der unerfreuliche Zustand dieses „Dâk Bungalows“ veranlaßte mich, noch 30 Kilometer weiter in dem weit reinlicheren Unterkunftshaus von Eneñas ein Obdach zu suchen. Von hier aus wollte ich mir die Umgebung ansehen und dann auf gemieteten Maultieren oder auf einem Floß in die Kampasregion vorstoßen. Nachdem ich hier mehrere Tage geblieben war, um mich von den Moskitostichen und einem schleichenden Fieber zu erholen, gelang es mir, einen Serrano-Führer und einen Chunchosboy als Diener zu verpflichten. Ersterer war ein schmutziger, aber energischer Bergindianer, der Boy dagegen ein fauler, aber reinlicher Eingeborener der Montaña.
Mein erstes Lager nach dem Abschied vom Tambo bei Eneñas war am Ufer des Perenéflusses, 16 Kilometer östlich von der kleinen Niederlassung. Das Lagern in dieser Gegend hat zwei große Nachteile, die uns beide in jener Nacht zu Gemüte geführt wurden. Bald nach einem prächtigen, aber sehr stürmischen Sonnenuntergang setzte ein gleichmäßiger Regenguß ein, der fast die ganze Nacht hindurch anhielt. Die tropfenden Blätter, das Trommeln und Dröhnen auf dem Zelttuch und die Bächlein, die sich trotz eines schnell ausgeführten seichten Grabens unter dem Bodenbelag[S. 246] einen Weg suchten, machten die ersten Nachtstunden zu einer schlaflosen und ungemütlichen Angelegenheit. Als dann die Zeltlampe erlosch, erhob sich ein geheimnisvolles Flattergeräusch von vielen Flügeln. Zuerst klang es, als hätten sich viele kleine Vögel im Zelt gefangen, aber ein Strahl aus der elektrischen Taschenlampe enthüllte wenigstens sechs Vampire, die zu unsern Häupten auf ihre Mahlzeit von menschlichem Blut warteten.
Das Zelt von ihnen zu säubern war ganz nutzlos, so zahlreich sind die ekelhaften Geschöpfe in dieser Gegend. Ist es ihnen einmal geglückt, ihr greuliches Mahl zu beginnen, ohne den Schläfer aufzuwecken, so tritt durch Blutverlust eine große Schwäche ein. Unter solchen Umständen war, abgesehen vom Schutz durch das Moskitonetz, nichts zu tun. Ehe man sich nicht an diese schauerlichen Besucher gewöhnt hat, ist an Schlaf kaum zu denken.
Noch waren die ersten Streifen der Dämmerung im Osten nicht erschienen, als ich jeden weiteren Versuch zu schlafen aufgab, zum Fluß hinabstieg und hinausschwamm. Während ich mich abtrocknete und recht fror, da das von den Anden kommende Schmelzwasser des Flusses ziemlich kalt war, erschien ein Floß um die nächste Flußbiegung. Ich stand mit dem Rücken dagegen, rieb mich eifrig aus allen Kräften ab und bemerkte es erst, als es bis auf näher als 20 Meter herangekommen war.
Die Familie der Chunchosindianer starrte erstaunt auf die weiße Gestalt, die im hellen Sonnenlicht des frühen Morgens auf dem steinigen Strand stand. Ich wand eins der Handtücher als Schürze um meine Lenden, trat an den Rand des Wassers und bedeutete dem Floß durch Zeichen, sich zu nähern. Da ich die schöne Gelegenheit, die Lage eines Indianerdorfs zu entdecken, nicht verpassen wollte, achtete ich weder auf die Kälte noch auf meine unvollkommene Toilette. Später bereute ich heftig meine Übereilung.
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Auf dem langen, schmalen Floß, Balsa nach dem sehr leichten gleichnamigen Holz benannt, befanden sich zwei Männer in langen Kusmas, ein Weib und zwei halbnackte Kinder. Die Männer waren wohlgebaut, obwohl nicht sehr hochgewachsen, und trugen um ihr langes, schwarzes Haar ein Stirnband aus Blättern. Ihre Hautfarbe war sehr mattbronzen. Die wild aussehenden Eingeborenen stießen die Balsa auf den steinigen Strand und umringten mich neugierig. Für die Kinder bedeutete ich offenbar eine neue und seltsame Art; während ich durch nachdrückliche Zeichen ein Gespräch anzubahnen versuchte, belustigten sie sich damit, mich in die Beine zu zwicken und sich höchst ungezogen zu benehmen.
Wie sich herausstellte, lag das nächste Dorf ein Stück flußabwärts. Wie weit, konnte ich nicht herausbringen, weil die Indianer wie alle wilden oder halbzivilisierten Eingeborenen nur sehr verschwommene Vorstellungen von Zeit, Entfernung und Maß zu haben scheinen. Der Name „Chuncho“ umgreift eine Gruppe von Stämmen, die in den Vorbergen der peruanischen Montaña östlich von Cuzco und Tarma leben. Im allgemeinen gleichen sie den Kampas der abgelegeneren Waldgebiete, sind aber den Weißen weniger feindlich gesinnt. Als ich später einige Zeit bei ihnen zubrachte, überzeugte ich mich, daß sie einen Zweig des großen Kampasvolkes bilden mußten in Anbetracht der Ähnlichkeit in Aussehen und Gebräuchen der zwei angeblich verschiedenen Gruppen.
Nachdem ich die Lage ihres Dorfes und verschiedene Einzelheiten ihrer Stammeszugehörigkeit festgestellt hatte, war es mir darum zu tun, daß sie nicht eher wieder fortführen, bis ich mit meiner Toilette einigermaßen zu Ende war. Ich versuchte ihnen begreiflich zu machen, warum ich ihnen keine Geschenke anbieten könne, und deutete deshalb in die Richtung des Lagers. Zu meinem äußersten Erstaunen hockten sie sich bedächtig auf die Erde und[S. 248] schienen offenbar geduldig darauf zu warten, bis ich mich angezogen hätte und sie zum Zelt begleiten könnte, das etwa ein Kilometer vom Ufer entfernt war und zu dem der Weg durch dichtes Unterholz führte. Die Sonnenstrahlen gewannen allmählich an Kraft, und obwohl sie im Augenblick meine Glieder nur wieder aus ihrer Erstarrung lösten, war doch zu befürchten, daß meine Haut bald mit Blasen bedeckt sein würde. Dazu kam, daß die Moskitos Blut rochen und um mich herumsummten, daß es zum Verrücktwerden war. Unangekleidet durch den Busch bis zum Zelt zu gehen, hätte geradezu eine Einladung an die Myriaden von Insekten bedeutet, ihr Frühstück auf meinem Körper zu halten, und hätte mich wahrscheinlich für Tage ans Lager gefesselt.
So tat ich, als ob diese Waldnomaden nicht vorhanden wären, zog mich so schnell als möglich an und begleitete sie zum Zelt, wo sie Geschenke und ein Gratisfrühstück erhielten. Später am Tag veranlaßte ich das Oberhaupt der Bronzefamilie, mich und meine beiden Diener auf der Balsa flußabwärts zu dem Dorf des Stammes mitzunehmen. Da ich selbst weder Maultiere noch ein Fahrzeug zu meiner Verfügung hatte, war mir diese Aushilfe doppelt willkommen. Der Indianer trennte sich ohne Beschwer von seinem Weib, den Kindern und seinem Begleiter, die am Ufer des Perené ihr Lager aufschlugen, während er uns mit unserm Gepäck nach dem Dorf schaffte. Offenbar war ich nicht der erste Weiße, mit dem er zusammentraf, wie es ja auch in dieser Gegend ganz natürlich ist, die zum Teil schon unter dem Einfluß der Zivilisation liegt. Er verlangte 30 Dollars für die Fahrt, und zwar im voraus, und dann stellte sich heraus, daß das Dorf weniger als 24 Kilometer entfernt war! Aber alle die unzivilisierten Indianer des Amazonenstromtals sind so schrecklich arm, daß sie kaum überhaupt etwas besitzen. Es ist manchmal zum Erbarmen. Die unbedeutendste Kleinigkeit wird für sie zu einer unschätzbaren Gabe, und ihre Dankbarkeit[S. 249] ist oft rührend, wenn sie auch am Anfang sich meistens hinter Mißtrauen verbirgt.
Das Chunchosdorf bestand aus sechs langen und halbwegs gut gebauten Hütten aus Chontaholz, in denen fast hundert Männer, Weiber und Kinder lebten. Die Wohnungen lagen auf einem steilen Hügel, der gegen den mittleren Perené zu abfiel, und waren jenen der Kaschibos und Konibos am Ucayali turmhoch überlegen. An manchen zeigten sich vorspringende, durch Baumstämme gestützte Dächer, und einige waren sogar mit roh zubehauenen Brettern teilweise verkleidet. Auf der Seite des Hügels befanden sich kleine Anpflanzungen von Mais, Yukka und Bananen. Merkwürdig war das völlige Fehlen von Kanus. Augenscheinlich benützt dieser Stamm als Beförderungsmittel ausschließlich die Balsa. Keiner der Stämme des äquatorialen Amerika züchtet Maultiere, Pferde oder Vieh, wenn sie nicht von ihren weißen Herren dazu angehalten werden. Die Chunchos wandern meilenweit durchs Dickicht und über die steilen Hügelhänge, um Wild aufzuspüren. Auf ihren Balsas unternehmen sie weite Flußreisen oft über mehr als 150 Kilometer. Aber sie sind sehr abergläubisch.
Eine merkwürdige Gewohnheit dieser Indianer, deren Zeuge ich in der ersten Nacht in ihrem Dorf wurde, war, sich in ihren Hütten oder auch im Freien zusammenzudrängen, sobald die kurze Dämmerung vorbei war. In mondlosen oder sehr dunkeln Nächten sind sie nicht dazuzubringen, das Lager zu verlassen. Zuerst war mir das ein Rätsel, und ich dachte, es wäre einfach ihrer Faulheit zuzuschreiben. Aber eine nähere Untersuchung zeigte, daß alle Indianer dieser wichtigen Gruppe sich davor fürchten, in völliger Finsternis allein zu sein. Sie glauben, daß in jedem Schatten sich böse Geister umhertreiben, und selbst in mondhellen Nächten weichen sie jedem dunkeln Fleck aus, wenn sie im Dorf umhergehen oder durch die Wälder wandern. Der einzige Stamm, bei dem ich ähnliche Formen[S. 250] des Aberglaubens beobachtet hatte, war der der Apiacás am obern Tapajóz, die, wie man sich erinnern wird, die Schatten mit ihren Speeren bei den Mondtänzen durchbohrten.
Je länger ich bei den Chunchos verweilte, desto klarer stellte sich heraus, daß sie keine wirkliche Religion haben außer einer Reihe von abergläubischen Vorstellungen, die mit den Mächten des Lichts und der Finsternis zusammenhängen. Die Toten begraben sie unter dem Lehmboden ihrer Hütten ohne Rücksicht weder auf die darin lebenden Anverwandten der Verstorbenen noch auf die andern Familien. Zufällig war ich dabei, wie ein Grab für einen alten Mann ausgeschaufelt wurde, der damals noch so sehr am Leben war, daß er, sein Schicksal erratend, aus dem Bett aufstand, in den Dschungel lief und verschwand. Das leere Grab war nur wenig über ein Meter tief.
Die Chunchos schienen mir damals ein stilles, harmloses Völkchen zu sein. Kürzlich traf ich aber im Amazonengebiet Mr. Miles Moß, den bekannten Naturforscher, der vor einigen Jahren unter ihnen gelebt hat und mir manches erzählte, was meine damalige Ansicht wankend gemacht hat. Er führte aus, daß er die Chunchos für eine sanfte, friedliche und intelligente Rasse halte, obwohl ihre Geschichte in Dunkel gehüllt sei. Sie seien sehr geschickt und gewandt in dem, was man Heimarbeiten nennen könnte, so begrenzt die auch in ihrer Art sein möchten. Sie wären von eher kleiner Gestalt, aber glänzend gewachsen, oft ganz hübsch und ausgezeichnete Schützen mit Bogen und Pfeil. Das Wasser liebten sie und wären viel reinlicher in ihren Gewohnheiten und Gepflogenheiten als die halbblütigen Serranos oder Bergindianer. Diese persönlichen Beobachtungen, die mit meinen eigenen Ansichten übereinstimmten, ergänzte er dann durch das Folgende, was ihm von einem Mr. Furlong brieflich mitgeteilt worden war, dessen Zeugnis sich auf einen dreizehnjährigen[S. 251] Aufenthalt in diesen Gegenden stützte. Neben ihren guten Eigenschaften haben diese Chunchos auch schlimme Charakterzüge, für die sie allerdings kaum verantwortlich gemacht werden können, wenn man ihre Unwissenheit in Betracht zieht und das völlige Fehlen einer Religion, die über eine bloße abergläubische Furcht vor dem Unbekannten nicht hinausgehe. Elternliebe zählt nicht zu ihren tieferliegenden Instinkten, das menschliche Leben wird wenig geachtet, und so kommt es, daß ein Mord so gut wie gar nichts gilt. Verheiratet sich eine Witwe mit kleinen Kindern wieder, so beseitigt nach allgemeinem Brauch der zweite Gatte die Kinder auf solche Weise. Mr. Furlong hat nicht selten derartigen Unglücklichen eine Zuflucht in seinem Lager gegeben. Auf seinen Reisen im entlegenen Innern machte er einmal die Bekanntschaft eines alten deutschen Ehepaares, das nach und nach zu Pflegeeltern von nicht weniger als 24 Chunchosmädchen und -jungen geworden war. Sonst wären alle diese Kinder umgebracht worden.
Es ist ganz allgemein Sitte, daß der Sohn seine Eltern in den Fluß wirft, wenn das Leben infolge der Gebrechlichkeit des Alters zu einer Last für sie wird oder für die, welche für sie zu sorgen haben. Bei einer Gelegenheit hatte Mr. Furlong die größten Schwierigkeiten, einen Chuncho zurückzuhalten, einen Mann, der an einem schlimmen Abszeß litt, in den Perené zu werfen, und es scheint, daß alle Fälle vermeintlich unheilbarer Krankheiten auf ähnliche Weise behandelt werden.
Die Geschichte der Chunchos ist ein verschlossenes Buch. Außer einigen merkwürdigen und noch unentzifferten Inschriften auf einem riesigen Felsblock im Bett des Paucartamboflusses und einer Anzahl von Stein- und Kupferäxten, die am Hügel von San Juan gefunden wurden, ist wenig oder nichts über den Ursprung dieses großen Indianervolkes bekannt.
Am fünften Tag meines Aufenthalts in dem Chunchosdorf[S. 252] begleitete ich den Huary oder Häuptling auf einem Besuch, den er auf der Balsa zu einem abgelegeneren Dorf desselben Stammes weiter flußabwärts am Perené machte. An diesem Ort waren die Hütten sehr ärmlich und bestanden lediglich aus einem Palmstrohdach auf vier Stützen ohne Seitenwände. Die Leute kamen dem Weißen mit größerem Argwohn entgegen, und ich hatte große Schwierigkeiten, einige Halsketten aus merkwürdigen grünen Steinen mit Affenzähnen dazwischen auch nur zu beaugenscheinigen.
Die Eingeborenen trugen auch hier Kopfbänder aus Papageienfedern, und ihre Gesichter waren durch Streifen von Vermillon entstellt, eine Farbe, die aus den Samen des Achiote gewonnen wird. Der Busch wächst wild in den Dschungeln und bringt hübsche Blüten und kastanienbraungrüne Samenkapseln hervor, aus denen man die Farbe bereitet, die von allen wilden Stämmen des Amazonengebiets viel gebraucht wird.
Der Unterhäuptling dieses Dorfes mit Frau, Sohn und Tochter verwahrte sich aufs energischste dagegen, daß er auf irgendeiner Photographie nicht „drauf“ wäre, die in seinem Hoheitsbereich aufgenommen wurde. Das war der erste Fall, daß ich unter den unzivilisierten Indianern des Amazonengebiets ungestraft mit der Kamera arbeiten durfte, die Caripunas am Madeira und die Ocainas am Rio Putumayo vielleicht ausgenommen.
Ich blieb die Nacht über in diesem zweiten Chunchosdorf, um meine Lagerausrüstung auf einer Balsa holen zu lassen, und es glückte mir, zwei Chunchos und ein Floß zu bekommen, das mich zu der Vereinigung der Flüsse Perené und Ené mit dem Rio Tambo bringen sollte. In den tieferliegenden und dichteren tropischen Waldgebieten leben mehrere Stämme der großen Kampasfamilie, bekannt unter dem Namen „Ungoninos“. Sie sind den[S. 253] Weißen feindlich gesinnt wegen der schlechten Behandlung, die sie von halbblütigen Kautschuksammlern erfahren haben.
Der Serrano, der mich vom Tambo an der Via Centrale hierher begleitet hatte, weigerte sich, in das Gebiet der Ungoninos mitzukommen, und das zwang mich zu sehr kostspieligen und umständlichen Verhandlungen mit den Chunchos, bis sie versprachen, ihn gesund und heil bei seiner ungewaschenen Familie wieder abzuliefern, von der er jetzt 78 Kilometer entfernt war.
Das unangenehmste bei dieser Reise in die wenig bekannte untere Montaña war, daß ich niemanden hatte, der auch nur den leisesten Schimmer vom Kochen in europäischem Sinn besaß. Der eine zivilisierte und die zwei unzivilisierten Chunchos, die auf der morschen Balsa bei mir waren, verstanden weder das Lager aufzuschlagen noch irgendeine Sprache außer ein paar Worten Spanisch. So schienen mir die beiden Tage und Nächte endlos, bis wir uns zur Vereinigung der drei Flüsse hinabgestakt hatten. Stunden vergingen ohne ein Wort oder einen andern Laut als das Glucksen des Flusses oder den Schrei eines Vogels. Am Abend des dritten Tags lagerten wir etwa 16 Kilometer oberhalb der Mündung des Rio Tambo, und von da an hatte ich zu all meinen andern Obliegenheiten auch noch die Nachtwache zu halten. Ich nahm mir vor, tagsüber soviel als möglich zu schlafen, während wir auf der Balsa mitten im Fluß in verhältnismäßiger Sicherheit waren.
[S. 254]
Während wir um eine Flußwindung bogen, sahen wir uns plötzlich den Ungoninos gegenüber. Ein Kanu und ein großes Floß, beide voll von Menschen, sowie mehrere Gruppen am rechten Ufer versperrten uns den Weiterweg. Ein paar Minuten lang sah die Sache nichts weniger als gemütlich aus, da die Balsa keinen Schutz vor Pfeilen gewährt hätte. Diesmal war die Friedensvermittlung nicht mir überlassen. Die Chunchos, die augenscheinlich die gleiche oder eine ähnliche Sprache sprechen, führten die Unterhandlungen, während die Flöße einander immer näher kamen. Schließlich erklärte der Boy, den ich vom Tambo an der Via Centrale mitgebracht hatte, durch Zeichen und die paar spanischen Worte, die uns beiden verständlich waren, daß die „großen“ Ungoninos mir gestatten wollten, sie auf dem Ufer zu besuchen, da sich meine Freundschaft in den Chunchosdörfern erprobt habe; daß ich aber sicherlich umgebracht würde, falls ich auf einer Weiterfahrt den verbotenen Fluß hinauf bestände. Ich wußte von andern Reisenden, daß der Wasserweg nach Iquitos durch den kriegerischen Stamm gesperrt und daß es daher nur die Wahrheit war, die der Chunchosboy mir aufs eindrücklichste klarzumachen versuchte. Deshalb beeilte ich mich zu antworten, ich hätte keinerlei Absichten, durch das Gebiet der Ungoninos zu reisen, sondern möchte sie nur als Freund besuchen.
Nachdem also diese Frage befriedigend gelöst war, fuhren[S. 255] beide Kanus und Balsas gemeinschaftlich einen kleinen Bach zwischen hochstämmigem dunkeln Wald hinauf. Etwa zwei Kilometer hatten wir auf dem braunen, öligen Wasser im grünen Zwielicht zurückgelegt, als auf dem hohen Ufer einige sehr primitive Strohhütten in Sicht kamen. Vor ihnen stand eine buntscheckige Gesellschaft nackter und halbnackter gelber, zwergartiger menschlicher Geschöpfe umher. Die Landung war nicht einfach und ging mir ein wenig auf die Nerven. Alle die kleingewachsenen Wilden trugen mit Widerhaken versehene Speere, außer einigen, die mit Bogen oder fast 3 Meter langen Blasrohren bewaffnet waren, zu deren Pfeilen sie das Gift in Kürbissen bei sich führten. Weder die Männer noch die Weiber und nicht einmal die Kinder versuchten ihren wilden Haß gegen den Weißen zu verbergen, als ich ans Land stieg.
Nur die Unerschrockenheit der unzivilisierten Chunchos rettete mich vor sofortigem Tod. Sie standen offenbar auf gutem Fuß mit diesen Nachbarn, da sie wohl für die Ungoninos die Handelsgeschäfte in den Ansiedlungen besorgen. Niemals früher hatte ich einen derartigen Haß gefunden wie in diesem Dorf an einem Nebenfluß des Tambo. Auf Mißtrauen, Argwohn und selbst Widerwillen kann man ja gefaßt sein, die gewöhnlich von Neugier und Verwunderung ein wenig zurückgedrängt werden. Hier aber fand ich unverhüllten Haß in jedem Blick und jeder Gebärde. Der Wunsch zu töten ward weder durch Neugierde noch die Hoffnung auf Geschenke gehemmt. Ich hielt ihnen als Friedensgabe mehrere Schnüre farbiger Perlen hin, aber niemand machte eine Bewegung, sie zu nehmen. Nachdem ich eine oder zwei peinliche Minuten gewartet hatte, gab ich sie den beiden Chunchos zur Verteilung, aber auch sie hatten keinen Erfolg, da keiner der Ungoninos das Geschenk annehmen wollte.
In diesem Dilemma war ich im Begriff, wieder in die Balsa[S. 256] zu steigen und abzuwarten, ob man mich in Güte abziehen lassen würde, als ein halbnackter Wilder mit einem Federkopfschmuck und einem mörderisch aussehenden Widerhakenspeer sich dicht vor mir aufpflanzte. Haß blitzte aus seinen gelblich schwarzen Augen.
„Kittamorori schambari ni kahmetta!“ zischte er in einem seltsam gutturalen Ton. Ich verstand ihn jedoch nicht, und so standen wir uns auf etwa 3 Meter mehrere Sekunden lang gegenüber. Der Chunchosboy vom Tambo kam mir zu Hilfe und erklärte in schlechtem Spanisch, der Häuptling habe gesagt: „Weißer Mann nicht gut!“
Auf den Chacras (Pflanzungen) längs der Via Centrale war es allgemein bekannt, daß die Ungoninos furchtbar unter den gewissenlosen und morallosen Mischlingen gelitten hatten, bis die peruanische Regierung den Greueln Einhalt geboten hatte, die in allen abgelegenen Gebieten dieses Wunderlandes ungestraft verübt worden waren. Man hatte den Wilden ihre Mädchen geraubt und die Männer, Weiber und sogar Kinder gefoltert, wenn sie sich weigerten, den kostbaren Kautschuksaft zu sammeln. In jenen Zeiten, die unter dem Zeichen des ersten Kautschukfiebers standen, galt es für nichts, ein paar Indianer niederzuknallen. Es war eine kurzsichtige und unmenschliche Politik, durch die die Arbeitskräfte im Amazonengebiet um ungezählte Tausende vermindert wurden und die die Arbeit der Forscher, der Offiziere des Indianeramts und der Kolonisten mit ihren weitausschauenden Plänen außerordentlich schwierig und gefährlich machte.
Da ich das alles wußte, konnte ich nichts tun als zu erklären versuchen, daß ich lediglich gekommen war, um die Ungoninos zu sehen und mit ihnen zu reden, und nicht um Kautschuk einzuhandeln. Nachdem ich das durch Zeichen und mit Hilfe des Chunchosboys zu verstehen gegeben hatte, schienen sie sich etwas zu[S. 257] beruhigen, und der Haß in den Gesichtszügen des Häuptlings wandelte sich zu einem mürrischen Ausdruck von Mißtrauen.
Ich ging nun im Dorf herum, um es mir anzuschauen, aber zwei Krieger mit lanzenähnlichen Speeren folgten jedem meiner Schritte. Zu den Kampas oder Antis, wie sie zuweilen genannt werden, gehört eine sehr große Anzahl von Stämmen, die die Wälder am Fuß der peruanischen Anden bewohnen. Ihre Hautfarbe ist gelblich und ihr Aussehen entschieden asiatisch. Einige junge Mädchen waren keineswegs häßlich. Die Männer zeichnen sich als Jäger und Schiffer aus. Viele trugen ein Kopfband (Nahmatteri) aus Blumen um ihr langes, schwarzes Haar. Dieser Kopfschmuck wird bei der Verehrung des Sonnengottes „Pahua“ stets getragen. Jede atmosphärische Störung wie Donner, Blitz, Regen, Wind und Tau wird dem ewigen Krieg zwischen Gut und Böse zugeschrieben. Die langen Hosen, die den Europäerjungen, wenigstens in seiner eigenen Wertschätzung, zu einem jungen Mann machen, sind hier dadurch ersetzt, daß ein wirklich wildes Tier mit dem eigenen Bogen oder Speer erledigt wird oder gewisse körperliche Martern schweigend ertragen werden.
An den beiden ersten Tagen ereignete sich nichts Bemerkenswertes. Am dritten Tag aber bemerkte ich, daß sich der ganze Stamm auf der kleinen Lichtung zwischen den Hütten versammelt hatte. Einige jüngere Männer suchten mich durch Drohungen vom Näherkommen abzuhalten, aber vernünftige Vorstellungen beim Häuptling, von einem Pfund Tabak begleitet, verschafften mir einen Sperrsitz zunächst der Königsloge. Die Zeremonie, die nun folgte, war eine der grausamsten, der ich je beigewohnt habe, und zeitweise mußte ich mir alle Mühe geben, mein Temperament im Zaum zu halten.
Erreicht ein Mädchen das Pubertätsalter, so wird sie bei den Ungoninos sofort allein in eine der seltsam gestalteten Hütten[S. 258] eingesperrt, wo sie täglich nur ein wenig Kassawa und Wasser erhält. Mittlerweile werden alle heiratsfähigen jungen Männer des Stammes zusammengerufen, und das Mädchen wird dem zugesprochen, der dem Häuptling und den Eltern die wertvollsten Geschenke an Wild, Fischen, Gift, Hängematten oder andern Waren macht. Ist der Bräutigam endgültig gewählt, so wird das Mädchen aus ihrem Gefängnis herausgeführt, in Gegenwart des ganzen Stammes nackt an einen Baum gebunden und mit Geißeln aus Grasschnüren gepeitscht, in die scharfe Steine eingeflochten sind.
Dies barbarische Verfahren wird vom Blasen auf Muscheln und dem Schlagen auf hohle Bäume mit Stöcken begleitet. Dann befiehlt der Zauberdoktor dem vermeintlichen bösen Geist, das Mädchen zu verlassen und in den Baumstumpf einzufahren, an den sie gebunden ist, während er gleichzeitig die Riemen durchschneidet, die den blutenden Körper aufrecht halten. Die Indianer brechen in ein wildes Geschrei aus, wenn das Mädchen ohnmächtig umfällt, was als gutes Zeichen betrachtet wird. Denn nachdem der Dämon durch die Geißelung ausgetrieben wurde, braucht der neue Geist der Fügsamkeit einige Zeit, ehe er in sein Heim, nun für Lebenszeit, eingeht.
Das unglückliche Opferlamm wird weggetragen, ihre Wunden werden ausgewaschen, und man teilt dem Bräutigam mit, daß seine Braut jetzt vom Bösen geläutert ist. Die Weiber tanzen um den Marterpfahl, um den Zweige aufgehäuft werden, bis der Bräutigam, etwa eine Stunde später, mit einer brennenden Fackel wieder erscheint. Nachdem er eine Ansprache an den Dämon gehalten hat, der seiner Erwählten hatte Übles zufügen wollen, legt er Feuer an die trockenen Zweige und verbrennt so Dämon und Marterpfahl unter Begleitung wilder Tänze, Muschelgeblase, dem Rasseln einer Art von Tamtam und gelegentlichem leisen Schmerzgestöhn des gemarterten Mädchens.
[S. 259]
Auf diese grausame Zeremonie folgte ein mehrere Stunden langes Schmausen und Trinken und dann eine richtige Tanzvorstellung, bei der sich die jungen Krieger den Körper mit Messern zerfetzten. Gegen Abend wurden die Mädchen, die sich dem Heiratsalter nähern, auf den Boden gelegt und ihrer Augenbrauen mit einem Stück gespaltenen Rohrs beraubt, worauf man ihnen blauschwarze Linien über die Augen malte. Die ganze Nacht ging das Essen und Trinken weiter. Bei Männern und Weibern ist es üblich, ein starkes Brechmittel einzunehmen und dann zum Mahl zurückzukehren.
Im Charakter der Ungoninos finden sich, im Gegensatz zu den Ocainas und Itogapuks, keinerlei liebenswürdige Züge. Sie sind wild, grausam, verräterisch und in beständigem Streit mit ihren Nachbarn. Ihr Gebiet erstreckt sich vom Tambo und oberen Ucayali zum Madre-de-Dios-Fluß.
Ihre Hütten ähneln den Wohnungen der Chunchos, die auch zu der Kampasfamilie zu gehören scheinen. Sie nähren sich alle hauptsächlich von Fischen, Yukka und Früchten, wozu noch Wild aller Art kommt, das sie in den Wäldern erlegen. Bei der Jagd liegen sie flach auf den Balsas, die in das hohe Ufergras hineingestoßen werden. So schießen sie bequem mit vergifteten Pfeilen das Großwild, das an den Fluß zur Tränke zieht, und mit an dünnen Leinen angebrachten Harpunenpfeilen die großen Fische, die wie der „Paiche“ an die Oberfläche kommen oder ihre Gegenwart durch Luftblasen verraten.
Die Leinen, die aus Därmen gedreht werden, sind an der abnehmbaren Pfeilspitze befestigt. Dringt der Pfeil ein, so löst sich die mit Widerhaken versehene Spitze und bleibt im Fleisch stecken, während der Schaft abfällt und davonschwimmt. Der Bogen, von dem solche Pfeile abgeschossen werden, wird mit den Füßen bedient. Der Fang wird mit der Leine dicht ans Ufer[S. 260] gezogen, aber oft ist der Fischer genötigt, ins Wasser zu steigen, um die großen, haiähnlichen Fische endgültig zu überwältigen, die in diesen Flüssen leben. Dabei kommt es nicht selten vor, daß Fischfänger von den Kaimans gefressen werden, die sich in der Sonne rösten oder wie halbuntergegangene Baumstämme faul von der Strömung treiben lassen.
Die Alten und Gebrechlichen werden bei diesem Stamm auf ihre eigene Bitte lebendig begraben. Ein tiefes Loch wird in die Erde gegraben, und nach einem letzten Mahl, an dem der ganze Stamm teilnimmt, hilft man dem Opfer in die Grube. Der Unglückliche bleibt, mit dem Gesicht gegen das Dorf zu, stehen, während die Erde langsam aufgefüllt wird. Die Tiefe ist so bemessen, daß die Augen noch über dem gewachsenen Boden bleiben. Nach dem Tod wird dann der Kopf mit einem kleinen Erdhügel überdeckt.
Die Ungoninos kauen Koka, rauchen Tabak, den sie in die Außendecken von Blättern wie Zigaretten einrollen, und trinken große Mengen eines höchst berauschenden Getränks aus gegorenem Fruchtsaft. Viele ihrer grausamen Zeremonien vollziehen sich, während sie unter dessen Einfluß stehen. Die jungen Mädchen werden so vor der barbarischen Heiratszeremonie gewöhnlich in einen fast besinnungslosen Zustand gebracht. Anscheinend vergessen die guten Leute, daß die lähmenden Wirkungen ihres Gebräus unter solchen Qualen bald wieder verfliegen.
Bei andern Kampasstämmen tragen die Männer lange Kusmas, aber die Ungoninos gehen fast völlig nackt und schmücken sich nur mit Halsketten aus den Zähnen des Alligators, Jaguars, menschlicher Geschöpfe und kleiner Nagetiere. In mancher Hinsicht haben sie mehr Ähnlichkeit mit den Kaschibos als mit der großen Kampasfamilie. Zweifellos sind sie ein recht gemischter Stamm.
Die untere peruanische Montaña könnte man auch das Land[S. 261] der Morgennebel nennen. Weiße Nebelballen ziehen durch die düstern Baumwölbungen und hängen bis lange nach Sonnenaufgang um die Uferbänke. Fast das ganze Jahr hindurch treten furchtbare tropische Gewitter auf, aber das Klima ist nicht so ungesund wie das vieler anderer amazonischer Flußtäler. Weiter östlich jedoch, in den dichten tropischen Dschungeln an den Flüssen Madre-de-Dios und Beni, gibt es buchstäblich Täler des Todes, wie das Tal Mapiri, wo seltsame malariaähnliche Fieber dermaßen herrschen, daß kein Europäer hinkommen kann, ohne ihnen fast augenblicklich zu verfallen. Die Ursache ist noch ebenso unbekannt wie die Art der Fieber selbst.
Velasco nimmt an, daß die Kampasstämme Nachkommen der Inkas der andinen Hochebenen sind. Mit dieser Ansicht bin ich jedoch keineswegs einverstanden. Ich bin unter den Aymaras (Inkas) und Cholos (Mischlinge) der großen andinen Hochebenen gereist und kann keine Übereinstimmung zwischen den Bergbewohnern und den Waldindianern finden. Einige Stämme am Fuß der Anden stehen wohl auf einer etwas höheren Kulturstufe als jene im Herzen der großen Urwälder des Amazonengebiets. Aber das kommt daher, daß sie sich näher der Zivilisation der spanischen Verwaltung befanden; und andere Stämme gehören zu den wildesten des ganzen Kontinents, was man nicht vergessen darf. Man hat den Umstand zu ihren Gunsten ins Treffen geführt, daß sie im allgemeinen irgendeine Kleidung tragen. Aber auch das ist sehr irreführend, denn viele, die das Kusma tragen, solange sie mit der Zivilisation in Berührung stehen, legen es wieder ab, wenn sie in ihre Waldheimat zurückkehren. Diejenigen aber, die dieses Kleidungsstück auch in ihren Dörfern tragen, wie die Chunchos, tun es hauptsächlich, weil sie nahe den Bergen wohnen, von woher nach Anbruch der Nacht kühle Winde wehen.
[S. 262]
Die tiefeingewurzelte Abneigung und das Mißtrauen der Ungoninos gegen den Weißen machten genauere Untersuchungen über ihr Leben, ihre Sitten und ihren Glauben unmöglich. Alle meine Bewegungen wurden von bewaffneten Leuten peinlich überwacht. Nur einige jüngere Mitglieder des Stammes, deren Erinnerungen nicht bis in die dunkelsten Tage der Verfolgungen reichten, ließen sich zu längeren Gesprächen herbei. Augenscheinlich wurde die Stimmung des Stammes von Tag zu Tag verdrossener und gefährlicher. Nach vier Tagen gab ich endlich widerstrebend alle weiteren Forschungen auf. Als die Balsa die Mitte des Flusses erreichte, fiel ein Schauer von Pfeilen, gleichsam als demonstratio ad oculos, ins Wasser hinter das Floß. Unter den Händen der Chunchos bogen sich die Stangen, so strengten sie sich an, das leichte Fahrzeug ins offene Wasser hinauszubringen, und dabei hätten sie mich beinahe von der glatten Oberfläche ins schokoladenbraune, von Alligatoren wimmelnde Wasser hinabgestoßen.
Sieben Tage später bestieg ich ein Maultier und ritt auf rauhen Pfaden gegen die ferne, schimmernde Linie der großen, weißen Kordillere. Es war ein eigentümliches Gefühl, von den dichten Wäldern und kochheißen Flüssen wegzukommen und erst die großen Steppen der Anden oder Pajonales und endlich die schneebedeckten Pässe zu betreten. Nun hatte ich den Kontinent an seiner breitesten und unbekanntesten Stelle durchquert; vor mir lag der Pazifische Ozean mit seinen Schiffen und kühlenden Seewinden. Ein- oder zweimal hielt ich an und blickte zurück über die wunderbarsten tropischen Wälder der Welt, die des Amazonengebiets. Tief unter mir, bis zum blaugrauen, dunsterfüllten Horizont und noch 5000 Kilometer darüber hinaus, lag dieses geheimnisvolle Gebiet von dämmerigen Wäldern, Öde und Verfall, das ich in vergangenen Jahren in verschiedenen Richtungen[S. 263] durchstreift hatte. Auf vielen dunkeln Waldplätzen und offenen Lichtungen längs der öligen Flüsse gab es da wilde Männer, Weiber und Kinder, die sich vielleicht manchmal an den weißen Mann und seine Geschenke erinnern mochten, aber niemanden, der durch einen unüberlegten Schuß aus seiner Büchse zu Schaden gekommen war.
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