Title: Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XV, Heft 3-4
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Editor: Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Release date: December 8, 2024 [eBook #74855]
Language: German
Original publication: Dresden: Landesverein Sächsischer Heimatschutz
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Landesverein Sächsischer Heimatschutz Dresden
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Band XV
Inhalt: Wermsdorf und seine Schlösser – Betrachtungen in einer Töpferei – Die Letzte im Vogtland! – Unsere Rohrdommeln – Gräberfelder der Lausitzer Kultur – Das Rätsel der Tulpenkanzel im Freiberger Dom und Ulrich Rülein von Calbe – Anton Günthers Leben und Schaffen – Der Hacksilberfund von Poppitz bei Riesa – Vom Steinkreuz bei Großerkmannsdorf
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Dresden 1926
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Anmerkung: Wegen der Weiterlieferung der Schrift
»Bauberatung«
(zu vergleichen die zweite Umschlagseite Heft 1/2 dieses Jahres) berichten wir in dem nächsten Heft.
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Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern herausgegeben
Abgeschlossen am 31. März 1926
Von Hugo Krämer, Wermsdorf
Aufnahmen des Heimatschutzes
Wermsdorf, du Perle des Oschatzer Niederlandes, nicht mit Unrecht hat dich der Volksmund so bezeichnet! Rauschende Wälder, im Sonnenschein glitzernde Seen umrahmen dich. Über dir, auf sanft ansteigendem Hügel, grüßt die majestätische Hubertusburg, und unten im Tale träumt das alte Jagdschloß, umgeben von alten, hochgiebligen Häusern und dem idyllischen Schloßpark, seinen Dornröschenschlaf. Die Linde im Schloßhofe, der melodisch plätschernde Brunnen, sie wissen mancherlei zu erzählen von vergangenen Zeiten, Zeiten des Glanzes und Zeiten der Not, von fürstlichem Jagdgepränge und rauhen Kriegswirren. Ja, du liebe, traute Linde! Wie oft habe ich sinnend unter deinen breithängenden Zweigen gesessen! Und dann sind all die Bilder vergangener Tage an meinem geistigen Auge vorübergezogen.
Vierhundert Jahre zurück! 1523 war es, als die beiden Brüder Dietrich und Ernst von Starschedel neben Mutzschen auch mit Wermsdorf belehnt wurden. Da, wo heute die Pferdeställe des Jagdschlosses stehen, erstand ein Herrenhaus mit Getreidehaus, Scheunen und Stallungen, umgeben von einem Wallgraben und blühenden Gärten. Ein ansehnlicher Bau, der so manchen Edelsitz seiner Zeit in den Schatten stellte. Jedoch nicht lange erfreuten sich die[84] von Starschedel ihres Besitzes. Kurfürst August I., gewöhnlich »Vater August« genannt, war von seinem Regierungsantritt an bemüht, die Staatseinkünfte durch Errichtung von Kammergütern und Erwerbung von Wäldern zu vermehren. So kaufte er auch 1565 das Rittergut Wermsdorf samt dem zugehörigen Wald, der damals einen Flächenraum von etwa dreitausend Ackern einnahm. Später wurde der Waldbesitz mehr und mehr vergrößert, und diesem Walde verdankt Wermsdorf dann auch die Rolle, die es in der sächsischen Geschichte gespielt hat. Denn wie das Leben am sächsischen Hof ohne Jagd nicht denkbar war, so ist diese wiederum in Sachsen mit dem Namen Wermsdorf aufs engste verknüpft.
Schon August I. kam oft nach Wermsdorf, um dem edlen Weidwerk obzuliegen, und der rein bäuerliche Ort – es gab damals hier zehn Pferdner und vierzehn Gärtner – sah von da ab des öfteren hohe Gäste. Bald erwies sich das Starschedelsche Schloß zur Aufnahme des Kurfürsten und seines Gefolges als zu klein. Deshalb ließ er 1574 da, wo jetzt die Oberforstmeisterei steht, ein neues Jagdhaus aufführen, wahrscheinlich lediglich zur Unterbringung des Jagdgefolges und Personals. Doch genügte auch das nicht auf die Dauer. Die Nachfolger Augusts, Christian II. (1591 bis 1611) und Johann Georg I. (1611 bis 1656), die gleichfalls eifrige Jäger waren, stellten höhere Ansprüche. Der Bau eines größeren Schlosses war geplant und wurde auch schon 1608 begonnen. Dabei mußten die Bauern des Ortes und der Umgebung Frondienste leisten. Sie fuhren Ziegel von Trebsen und Püchau an und erhielten nur während der Ernte vierzehn Tage Urlaub. Im Dezember 1610 wurde das neue Jagdschloß durch den Bauleiter Steger (den Bauplan hatte Baumeister Simon entworfen) übergeben. Noch stand nur der heutige Nordflügel. Er enthielt im Erdgeschoß, außer Flur und Küche, des Kurfürsten Stube als Versammlungsort des Gefolges mit zwei Kammern, die Stube des Jägermeisters v. Ziegesar mit drei Kammern und Vorgemach, im Obergeschoß, das von Holzwerk mit Ziegeln durchsetzt war, Stuben und Kammern. Die Einrichtung war äußerst bescheiden; denn als Inventar werden angeführt Decken mit eingeschobenen Tafeln, an den Wänden hinlaufende Bänke, Kleiderrechen, wenig Tische, ein Himmelbett des Kurfürsten und Spannbetten für das Gefolge. Bald wurde auf Befehl des Kurfürsten das Obergeschoß massiv aufgeführt und zwei neue Flügel angebaut. 1626 war das Schloß in seiner jetzigen Gestalt fertig. Mitten in dem furchtbaren Dreißigjährigen Kriege. Noch bis 1628 kam der Kurfürst nach Wermsdorf, um zu jagen; dann mußte er, gezwungen durch die widrigen Verhältnisse des Krieges, die Jagd aufgeben. Wiederholt zog die sengende und mordende Soldateska auch durch Wermsdorf, wiederholt war das Schloß der Plünderung preisgegeben. 1639 kamen die Schweden und legten Feuer im Schloß an. Rasches, tatkräftiges Eingreifen der Bewohner verhinderte ein weiteres Umsichgreifen des Brandes, und notdürftig wurden die entstandenen Schäden repariert. Als 1681 Mutzschen völlig abgebrannt war, mangelte es an Gelegenheit, das Amtshaus unterzubringen. Durch kurfürstlichen Befehl wurde der Nordflügel des Schlosses als Amtsexpedition und Wohnung für den Amtsschösser[85] eingerichtet. Erst 1685 kam Johann Georg III. mit seinen Ministern und mit General Flemming wieder zur Jagd hier an.
Eine lange Pause von siebenundfünfzig Jahren lag zwischen diesem und dem letzten Jagdaufenthalt eines sächsischen Kurfürsten. Beengter denn je waren die Jagdgäste. Gefolge und Dienerschaft wurde im Dorfe einquartiert, der Pfarrer allein mußte drei Kammern und Stallung für fünf Pferde hergeben. In der Folgezeit kamen die Landesherren wieder fast regelmäßig zur Jagd hierher, um so mehr, als seit 1698 der Statthalter Fürst Egon von Fürstenberg die Parforcejagd hier einrichtete. Mit Fürstenberg beginnt für die Geschichte der Jagd in Sachsen ein neuer Zeitabschnitt: die endgültige Einführung der Parforcejagd nach französischem Vorbild. Der Fürst, ein Liebhaber der Jagd, hatte jedenfalls während seines mehrjährigen Aufenthaltes in Frankreich Geschmack an dieser Art zu jagen gefunden und hegte den Wunsch, das bei Wermsdorf sehr günstige Gelände dazu einzurichten. Der Wald wurde durch Alleen und Schneisen in Quadrate geteilt, das Terrain durch Wege und Brücken zugänglich gemacht, Kähne angeschafft zum Transport der Jäger und Hunde über die Teiche und endlich eine Mauer zum Schutze der anliegenden Felder vor Wildschaden aufgeführt. Nachdem die zum Jagen erforderlichen Pferde und Hunde aus Frankreich und England und französische »Piqueurs« in Wermsdorf angelangt und in dem von August dem Starken dem Schlosse gegenüber erbauten Jägerhofe untergebracht waren, konnte 1699, obwohl die Geländearbeiten noch keineswegs beendet waren, die erste Parforcejagd abgehalten werden. Dauernd wurden aber noch Verbesserungen und Vergrößerungen am Gelände und an der Jagdequipage vorgenommen; in Collm wurde ein Forsthaus und ein neues Sauhaus, auf dem Collm von Karcher ein Jagdpavillon erbaut.
Der öftere längere Aufenthalt des Statthalters in Wermsdorf hatte auch eine erhöhte Geselligkeit im Schlosse zur Folge. Viele bekannte hohe Personen, auch der König, fanden sich immer wieder in Wermsdorf ein. Die Glanzzeit für Wermsdorf war angebrochen und sollte sich noch immer steigern.
Als Fürstenberg 1717 durch einen Schlaganfall dahingerafft worden war, kaufte der König die gesamte Jagdeinrichtung für seinen jagdliebenden Sohn, den Kurprinzen Friedrich August und machte alle möglichen Anstalten zur Errichtung einer stattlichen Hofhaltung für diesen. Die gesamte Equipage bestand damals aus zweiunddreißig Jagdbediensteten, siebenundvierzig Pferden und zweihundert Hunden. Als der Kurprinz nach längerer Abwesenheit 1719 aus dem Auslande zurückkehrte, übergab ihm der König die Jagderlaubnis für den Wermsdorfer Forst und die gesamte Einrichtung samt Benutzung des Schlosses. Graf Gall erhielt vom Prinzen die Leitung des gesamten Jagdwesens übertragen.
Bereits im Oktober und November desselben Jahres weilte der junge Kurprinz mit seiner Gemahlin, der Erzherzogin Maria Josepha von Österreich, abermals in Wermsdorf. In diesem Jahre begann die sich mit der Zeit zu einem Volksfest steigernde Feier des Hubertustages durch eine mit größtem Luxus ausgeführte Parforcejagd am 3. November.
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Über das Hubertusfest von 1721, das der König besuchte, liegen spezielle Nachrichten vor. Nach der Ankunft des Königs am 2. November früh ging man zur Messe, speiste und brachte den Rest des Tages beim Spiel zu. Am 3. November stellte sich die Jagdparade früh neun Uhr am Forsthause auf. Die Pferde von vierundzwanzig Kavalieren, der kurprinzliche und königliche Reitstall gingen der Gesellschaft voraus, die sich zum Jagen begab. Nur dreiviertel Stunden dauerte dieses, aber es wird als eine »glückliche, lustige, kurze Parforcejagd« bezeichnet. Am nächsten Tage besuchte man Mutzschen und erlegte des Nachmittags beim Streifjagen ein großes Schwein. Das Fest ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil der König seinen Entschluß bekanntgab, »zu besserer Bequemlichkeit Unseres Kgl. Printzen Lbd. einen Bau aufführen zu lassen, der glanzvolleren Anforderungen entsprechen sollte«. Und noch im selben Jahre war es, als auf dem Hügel südlich von Wermsdorf in Gegenwart Friedrich August II., seines Sohnes, des Kurprinzen Friedrich August und zahlreicher hoher Gäste der Grundstein zum Hauptgebäude des neuen Jagdschlosses gelegt wurde. Hubertusburg ward es genannt, dem Schutzpatron der Jagd, Hubertus, zu Ehren. Einen stolzen Plan hatte der Ingenieur und Oberstleutnant Naumann entworfen, dem die Ausführung dieses Baues übertragen wurde. Das größte und schönste moderne Schloß auf Sachsens Boden, ein Prachtbau, wie er damals vielleicht in ganz Europa nicht herrlicher zu schauen war, ging unter Naumanns Leitung seiner Vollendung entgegen. Vier Kompagnien Infanterie schaufelten den Grund, etwa siebenhundert Künstler, Maurer, Zimmerer und Handwerker arbeiteten mit solcher Rüstigkeit, daß schon 1724 der Prinz mit seinem Hofstaat das Schloß zum erstenmal bewohnen konnte.
Das Palais bestand aus einem Mittelgebäude, auf dessen achteckigem Mittelteil ein origineller Turm mit einem riesigen vergoldeten Hirsch als Wetterfahne thronte, und zwei Seitenflügeln. Dadurch war ein Hof gebildet, der nur nach Osten offen war. Die Front des Palais war dem Horstsee zugekehrt, und man überschaute von ihr aus den vom Kgl. Kunst- und Lustgärtner Perisch sehr kunstvoll terrassenförmig eingerichteten, mit vielen Bassins, Springbrunnen und Bildsäulen gezierten Garten, der als einer der schönsten Sachsens bezeichnet wird. Links im Mittelbau war eine katholische Kapelle eingebaut. Sie war dem Hubertus geweiht und durch die über dem Altar von Balthasar Permoser in Stuckmarmor dargestellte Bekehrungslegende geziert. Rechts befand sich im ersten Stockwerk der durch zwei Etagen hindurchgehende, herrliche Hubertussaal mit hohen Bogenfenstern. Breite Sandsteintreppen führten zu beiden Seiten bis unter das gebrochene, mit Kupfer gedeckte Dach, von dem die Götter des Olymp in zahlreichen Statuen herabblickten. Überall war Glanz und Pracht. Dem Hauptschloß entsprechend waren die umfangreichen Seitengebäude, die beiderseits am Hauptpalais beginnend, den großen äußeren Schloßhof umgrenzten. Da waren die beiden H-förmigen langen Gebäudereihen parallel zum Hauptflügel des Schlosses, deren Querverbindungen den Schmiedehof mit dem Wermsdorfer Tor im Norden und im Süden den[87] deutschen Jägerhof mit dem Reckwitzer Tor vom großen Hof trennten. Als Gebäudeabschluß stand je ein schöner Pavillon, deren einer später durch Graf Brühl bemerkenswert wurde und seinen Namen »Brühlscher Pavillon« noch heute hat. Im Osten war die Haupteinfahrt, das Oschatzer Tor mit der Zugbrücke, links und rechts weitere Gebäude und Pavillons. In letzteren wohnten zumeist Offiziere, in den langen Gebäuden waren unten Pferdeställe, Hundeställe und Wagenschuppen, oben Räume für die Bediensteten. Links vom deutschen Jägerhof befand sich der französische mit zwei einander parallel laufenden Reihen von Wohn- und Stallgebäuden, und links vom großen Hof, hinter dem Schmiedehof, lag der große Geschirrhof mit einem Waschhaus, einer Bauscheune, Pagenställen, Wohnungen und dem Wasserhaus. Durch eine doppelte Rohrleitung wurde das Wasser aus einer Entfernung von mehr als einer halben Stunde in den Behälter des Wasserhauses geführt, und von hier aus in die Bassins des Schlosses und des Gartens verteilt.
Bereits 1724 wurde also, wie oben erwähnt, das Hubertusfest im neuen Schlosse prächtig gefeiert, und viele Verwandte des Prinzen, sowie polnische Prälaten und Woywoden, deren Gunst der Kurprinz zur dereinstigen Nachfolge in Polen erlangen sollte, hatten sich dazu eingefunden. Infolge des größeren Umfanges der Räumlichkeiten konnte auch die Jagdeinrichtung noch mehr vergrößert werden. Es wurde bestimmt, daß ihr bis zu vierzig Personen, fünfundsechzig Pferden und zweihundertfünfzig Hunden anzugehören hätten. An Galls Stelle trat in der Leitung der Jagdequipage der später so berühmt gewordene Graf Sulkowsky.
Seit dem Bestehen einer Hofhaltung in Wermsdorf war die Bewachung des Schlosses durch eine Invalidenkompagnie versehen worden. 1729 wurde an deren Stelle eine eigene Truppe zur Bewachung der Hubertusburg eingerichtet. Keiner der einhundertvierzig, später zweihundertvierzig Grenadiere und ihrer Vorgesetzten durfte unter fünfundsiebzigeinhalb Zoll (= etwa ein Meter 80 Zentimeter) groß sein. Sie unterstand völlig dem Kurprinzen und hatte ihren Sitz zunächst in Oschatz. Die ablösende Wache mußte also einen fast dreistündigen Weg zurücklegen. Die Uniformen dieser Leibgarde waren erst rot und gelb, später rot und grün. 1744 wurde sie aufgelöst.
Die seit 1727 oft leidende Gesundheit August des Starken erlaubte ihm nur noch selten das ermüdende Vergnügen der Parforcejagd. Desto eifriger pflegte sie der Kurprinz. Und wenn er auch immer zwischen Hubertusburg, Dresden und Moritzburg wechselte, Hubertusburg blieb der Hauptplatz der Jagden und sah alljährlich das glänzendste Hubertusfest. Beim längeren Aufenthalte war die gleichfalls jagdfreudige Kurprinzessin seine getreue Begleiterin, die der Parforcejagd im Amazonenkleide zu Wagen zu folgen pflegte. Vom Jahre 1736 ist uns eine sehr interessante Aufstellung des gesamten Jagdzuges erhalten, die ich folgen lassen möchte. Zwei Förster und ein Oberförster ritten voran. Ihnen folgten die Handpferde der Jagdpagen, Minister und Kavaliere; der Jagdinspektor Seyffert; die Parforcepferde der Besuchsjäger sowie des Barons von Feullner und des Grafen Sulkowsky; der Sattelknecht,[88] Roßarzt und Bereiter von der Jagdequipage; zwölf königliche Handpferde, von Reitknechten zu Pferde geführt; der Sattelknecht, Roßarzt und Bereiter vom königlichen Stall; ein Kosake; der Hoftaschenspieler Fröhlich und Baron Schmiedel; die Piqueure; die Besuchsjäger mit den Hunden; der Jagdpage von Nostitz; der Jagdjunker von Wehlen; Feullner, Sulkowsky, der König, der Herzog von Sachsen-Weißenfels, Graf Moritz von Sachsen und die Gesandten. An diesen pomphaften Zug schlossen sich noch an die polnischen Herren, die Minister, Oberchargen, Generäle, Kammerherren, Obersten, Kammerjunker; Oberforstmeister und andere Kavaliere von Zivil und Militär, sämtlich zu Pferde. Im Wagen folgten die Königin mit den zwei ältesten jungen Prinzen, die Hofdamen, die Kavaliere der Königin und der Prinzen. Den Schluß machte der Schirrmeister mit zwei Wurstwagen.
Obgleich das Schloß für vollendet gelten konnte, wurden in ihm doch immerfort Verschönerungen vorgenommen. Oberlandbaumeister Knöffel war zumeist in Hubertusburg anwesend und richtete z. B. 1738 zwei Zimmer mit kostbaren Spiegeln, wertvollen Bildhauer- und Vergoldungsarbeiten ein. Aber der Nachfolger August des Starken, König Friedrich August II., wollte die Hubertusburg noch großartiger gestalten, und Graf Brühl schaffte unbedenklich die Mittel zur Vollendung des Baues aus dem ohnehin schon[92] arg verschuldeten Sachsenlande herbei. Da wurde denn mit der Ausführung der neuen Pläne auch nicht lange gezögert. 1739 riß man plötzlich fast das gesamte Hauptschloß wieder ab und führte einen neuen Hauptteil mit Turm auf der bisher unbebauten Seite des inneren Hofes auf. Die beiden Seitenflügel führte man an dieses heran und verband sie gegenüber dem neuen Hauptflügel wiederum. Der innere Hof war somit allseitig von hohen Gebäuden umschlossen, ein gewaltiger quadratischer Komplex erhob sich an Stelle des zierlicheren Schlosses, das Naumann gebaut hatte. Entsprechend dem ovalen Risalit des Hauptflügels, das der Turm krönte, schloß man den äußeren Hof nach Osten zu durch zwei Rundflügel ab und baute entlang der Anfahrt Kasernen für die Leibgarde. Hunderte von Arbeitern förderten das Werk mit solchem Fleiße, daß bereits 1742 die neue Front mit dem zierlichen, luftigen Turm fertig stand, auf dessen höchster Spitze wieder der stark vergoldete Hirsch als Wetterfahne glänzt. Ein prachtvoller runder Saal, der kleine Hubertussaal, mit glänzender Marmorwand und kunstreichen Gemälden, lag in der Mitte über dem großen runden Portale, durch zwei Etagen sich erhebend. Bis auf den marmornen Fußboden herab reichen die großen Bogenfenster, die als Türen auf einen Altan führen, der eine weite Aussicht nach der Oschatzer Gegend bietet. Weithin tönten die harmonisch eingestimmten[94] Glocken durch die großen bogenförmigen Öffnungen des Turmes, dessen Seitenwände wie vier starke Säulen dastehen und sich erst oben wieder vereinigen, um das Dach zu tragen. Die große Uhr zu Füßen des Turmes wurde von vielen als großes Kunstwerk gepriesen. Die ganze linke Hälfte des Hauptflügels war der katholischen Kapelle gewidmet, welche Silvester, Torelli und Grone mit Kunstwerken schmückten und die noch heute im gleichen Zustand erhalten ist. Zwei hohe Säulengänge im Innern tragen die Emporen, alle Wände sind von glänzendem Gipsmarmor. Der Hochaltar ist eins der besten Werke des Lorenzo Mattielli, und die Kanzel bezeichnet Gurlitt als eines der schönsten Stücke sächsischen Rokokos. Ein schwebender Engel scheint sie zu tragen, zierliche Putten beleben das ganze Meisterwerk. Neben dem Hochaltar, dessen Stufen von sächsischem (Crottendorfer) Marmor sind, stehen noch zwei Seitenaltäre, deren einer das Bild des Hubertus und des ihm mit dem Kreuz des Erlösers im Geweih erscheinenden weißen Hirsches, deren anderer das Bild der Ida von Toggenburg mit dem ihr leuchtenden Hirsche trägt. Beide Gemälde sind von Sylvester. Aus der früheren Schloßkapelle wurden vier weitere treffliche Bilder des Torelli übernommen. Das vielbewunderte Deckengemälde von Baptist Grone stellt auf einer Fläche von vierhundert Quadratmetern die Hubertussage dar.
Rings um das ganze Schloß wurden in Höhe des Dachgeschosses Reliefs und Standbilder angebracht. Vorn lagern links und rechts vom Turm Mars und Minerva, in der Mitte prangt das Reichsvikariatswappen. (König August war um diese Zeit Reichsvikar.) Im Hofe stehen inmitten prächtiger Anlagen noch heute zwei schöne Steinvasen und Darstellungen der vier Jahreszeiten (nach Gurlitt dem Permoser sehr nahestehende Arbeiten, wahrscheinlich aber von Joh. Christ. Kirchner etwa 1720).
Auch während des Neubaues wurden sowohl die tageweisen Besuche des Königs als auch die glanzvollen Frühjahrs- und Herbstfeste des Hofes in Hubertusburg nicht unterbrochen. Nicht allein die Minister mit ihren Gemahlinnen, der Hofstaat der Majestäten, die Prinzen und Prinzessinnen, die Damen und Kavaliere, sondern auch das diplomatische Korps, zahlreiche Eingeladene aus den ersten Kreisen der Gesellschaft waren wochenlang anwesend, sämtlich in den Schloßräumen untergebracht, festlich bewirtet und durch Jagd, Konzert und Theater unterhalten. In einem Teil des Gartens hatte man den Opernsaal erbaut, der ein schöner, sehr interessanter Holzbau gewesen sein soll. Leider ist heute kaum noch bekannt, wo er gestanden hat. Dort klangen Kapellmeister Hasses Töne von der Bühne, und seine Frau, die »göttliche« Faustina, entzückte durch ihren himmlischen Gesang. An anderen Tagen wieder stellten die comici italiani ihre Burlesken dar. Bis auf das Hassesche Ehepaar, das im Schlosse wohnen durfte, hatte die Künstlerwelt ihren Wohnsitz in Wermsdorf, wo ihr Haus und das Kaffee, in dem sie verkehrten, noch heute leicht als aus dieser Zeit stammend zu erkennen sind.
Nach Sulkowskys Sturz 1738 hatte Baron von Feullner die erledigte Kommandantenstelle übernommen, und Graf Brühl war im Staate an des[95] Ministers Stelle getreten. In Hubertusburg bewohnte Brühl den nach ihm benannten Pavillon rechts vom Schloß, der durch einen verdeckten Gang mit den Gemächern des Königs im Nordflügel verbunden war. Brühl bemühte sich stetig, Verbesserungen der Jagdeinrichtung und am Gelände einzuführen. Oberst Fürstenhoff mußte 1740 neue Jagdalleen anlegen, »um uns des Parforcejagd-Plaisirs führohin mit mehrerer Bequemlichkeit bedienen zu können«, und diese sollten 1741 bereits fertig sein. Die schwierige Aufgabe wurde gelöst, und der Kurfürst konnte sich überzeugen, daß auf den neuen Alleen »sicher zu reiten und zu fahren fest und tüchtig« war. Ferner war beabsichtigt, den Horstsee in das Gebiet des Schloßgartens einzufügen und Wasserspiele, Feuerwerke und ähnliches auf ihm zu veranstalten. Jedoch der ausbrechende Siebenjährige Krieg machte allen Erweiterungsplänen und Jagdbelustigungen ein Ende. Im Jahre 1755 fand das letzte Hubertusfest zu Hubertusburg statt. Als der König und die Königin 1756 von der Leipziger Messe nach Dresden zurückreisten, übernachteten sie im Schlosse, ahnungslos der traurigen Jahre, die da kommen sollten. Nicht der König, nicht die Königin sahen ihr geliebtes Jagdschloß jemals wieder, auch Graf Brühl hat es nie wieder betreten.
Friedrich der Große hatte 1759 Berlin aufgeben müssen, Kroaten und Kosaken wüteten in den Straßen. Noch ärger trieben es leider aber die[96] Sachsen in Charlottenburg. Sie raubten dieses aus und schlugen in Trümmer, was sie nicht mitnehmen konnten. Durch seinen Sieg bei Torgau bekam Friedrich II. ganz Sachsen, außer Dresden, in seine Hand. Sein Hauptquartier war in Dahlen. Es ist nicht zu verwundern, daß er sich für die Zerstörung seines Lustschlosses zu rächen suchte und noch im selben Jahre, 1760, den Befehl gab, das in der Nähe gelegene Jagdschloß Hubertusburg zu plündern. Ein Freibataillon unter dem Oberbefehl des Quintus Icilius (eigentlich Guichard aus Magdeburg, ein französischer Offizier, der in Friedrichs des Großen Dienste getreten war) vollzog diesen Befehl. Wagen auf Wagen rollte beutebeladen der preußischen Grenze zu. Von den Kellern bis unter das Dach wurden sämtliche Vorräte und Prunkgegenstände geraubt. Die herrlichen Gemälde, kostbaren Spiegel und glänzenden Tapeten verschwanden von den Wänden. Die Habgier der beiden Berliner Juden Ephraim und Itzig, an die Quintus Icilius das geplünderte Schloß für zweiundsiebzigtausend Taler verkaufte, vollendete die Zerstörung des Schlosses und des Gartens. Die großen Glocken, die kunstvolle Uhr, das kupferne Dach, die mannigfachen Statuen, alles wurde der Juden Beute. Aus dem gewonnenen Metall ließ Ephraim einen Teil des nach ihm benannten schlechten Geldes prägen, mit dem Sachsen damals überschwemmt wurde. Auch aus den Seitengebäuden, namentlich aus dem prachtvoll eingerichteten Brühlschen Pavillon, wurde alles Wertvolle weggenommen. Die stark vergoldeten Schlösser und Bänder, Riegel und Beschläge der Türen und Fenster wurden abgerissen und die schweren Vergoldungen an Türen und Verkleidungen der Wände durch Berliner Arbeiter abgekratzt und chemisch zersetzt. Die Zerstörungswut griff auch auf die von den Soldaten verschonte Kapelle über. In der königlichen Loge hatte man begonnen, Schlösser, Draperien und Goldleisten abzureißen. Da eilte der damalige Hofkaplan Norbert Schubert nach Dahlen ins Hauptquartier und erreichte nach langem Bitten die Erhaltung des Heiligtums. – Das kostbare Mobiliar des Schlosses ward verkauft. Aus den Händen der Juden gingen die Schätze der Hubertusburg in den Besitz der Meistbietenden über. In dem Schlosse Carnin in Pommern wird ein Zimmer das »Hubertusburger« genannt, weil dessen gesamtes Mobiliar aus Hubertusburg stammt.
Die Parforcejagdequipage war natürlich durch den Krieg ebenfalls in die traurigste Lage geraten. Die Pferdeställe standen leer, der Bestand des Hundezwingers ging immer mehr zurück, das Wild schossen feindliche Soldaten und die Bauern schonungslos nieder, die Forstbedienung wurde nach Warschau befohlen. Am Ende des Krieges war der Hundebestand bis auf neun Hirsch- und drei Leithunde zurückgegangen, sodaß die Equipage schließlich völlig aufgehoben wurde. – Als endlich 1762 Friedensverhandlungen angebahnt wurden, wählte man zur Abhaltung des Friedenskongresses das Jagdschloß Hubertusburg, das nebst seinem Gebiete durch eine öffentliche Verfügung für neutral erklärt wurde. Im Dezember kamen die bevollmächtigten Minister von Preußen, Sachsen und Österreich hier an; aber im ganzen Hauptpalais war kein Raum, der sie hätte aufnehmen können. In der Mitte des dem[97] Schlosse gegenüberliegenden rechten Rundflügels fanden sie noch neben der Amtswohnung des katholischen Geistlichen einen Saal, in dem sie ihre Verhandlungen abhalten konnten. Bald nach der Unterzeichnung des Friedens starb der König und sein Sohn und Nachfolger Friedrich Christian auch zu bald nach ihm, als daß er bei der allgemeinen Erschöpfung an die Wiederherstellung des zerstörten Friedensschlosses hätte denken können.
Zunächst stand das Hauptgebäude nun lange Zeit leer; zu Jagdzwecken wurde es nie wieder und die Nebengebäude erst nach 1815, aber selten und nur kurze Zeit verwendet. Die zahllosen Räume des verwüsteten Palais wurden ab 1791 als Militärmagazin eingerichtet. Mächtige Getreidehaufen drückten die Fußböden, auf denen die Großen des Landes so prächtig einhergeschritten, füllten die Räume, die nur Feste zu sehen gewöhnt waren. Bis 1873 blieb Hubertusburg in diesem Zustand, mit Ausnahme der Jahre 1813 bis 1815, während derer es als Lazarett diente. Viel Elend hat es da sehen müssen. Freund und Feind lagen beieinander, und nur wenige kamen wieder heraus, Tausende starben hier infolge der oberflächlichen Behandlung an ihren Wunden oder Krankheiten. Man scharrte sie ein, alle zusammen, im Lindigt unweit des Horstsees. Etwa zehntausend sollen dort liegen, wohl meist Franzosen, wie der Platz, der 1913 mit einem schlichten Denkstein geziert wurde, auch heute noch den Namen »Franzosengrab« führt. Der Einrichtung Hubertusburgs als Lazarett haben wir es sicherlich zu danken, daß es von weiteren Verwüstungen verschont blieb. Denn die Tatsache, daß es Kranke barg, genügte, vorüberziehende Truppen von seinen Toren abzuhalten. Auch gelang es, wie schon 1760, glücklicherweise auch diesmal, die Kapelle zu retten. Diese sollte mit Kranken belegt werden. Der Kapellendiener Venus führte die maßgebenden Offiziere in den heiligen Raum, der in hellem Kerzenglanze strahlte. Die Offiziere waren von dem Eindruck so überwältigt, daß sie ohne weiteres die Schonung zusagten und den Bau weiterer Holzbaracken auf dem Schloßhof befahlen.
Nach 1815 bekamen pensionierte Beamte und Offiziere in Räumen des Schlosses und der Nebengebäude sogenannte Gnadenwohnungen angewiesen; aber noch viel leerer Raum war vorhanden und verlockte zur Einrichtung aller möglichen Institute. Zunächst verlegte man in die Gebäude am Reckwitzer Tor ein Landesgefängnis, das vielfach politische Gefangene barg. Unter anderen verbüßten Bebel und Liebknecht Teile ihrer Strafzeiten hier. Auch wird erzählt, daß Ernst Keil seinen Entschluß zur Herausgabe der Gartenlaube in einer Hubertusburger Zelle faßte. Von 1834 ab wurden die verschiedensten Landesanstalten in den Nebengebäuden untergebracht, z. B. ein Landeshospital, Landeskranken- und Siechenhaus, eine Irrenversorganstalt, das Arbeitshaus für Frauen, eine Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder, die sogenannten »Pensionär-Korrektionär-Institute« zur Besserung verwahrloster Söhne bemittelter Eltern und die Blindenvorschule. Die Strafanstalten wurden jedoch im achten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts wieder aus Hubertusburg verlegt, und heute sind nur noch Heil- und Versorganstalten vorhanden.
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Ehe wir jedoch auf die Schilderung des gegenwärtigen Zustandes zukommen, müssen wir noch auf ein Unternehmen näher eingehen, das in der Geschichte von Hubertusburg eine bedeutende Rolle gespielt hat: die Steingutfabrik.
Nach dem Siebenjährigen Kriege war die Bevölkerung Sachsens so verarmt, daß sie nicht mehr imstande war, für den täglichen Gebrauch das teuere Porzellan zu verwenden. Man kaufte also, da in Sachsen nichts anderes, billigeres, fabriziert wurde, meist von auswärts eingeführte Steingutwaren, besonders die beliebte Delfter Fayence. Nun war es aber einem Maler der Meißner Porzellanfabrik namens Tönnig nach eingehenden Versuchen gelungen, ein dieser Delfter Fayence ähnliches Fabrikat zu erzeugen. Er bat am kurfürstlichen Hof um Unterstützung zu weiterem Ausbau seiner Erfindung, die ihm auch bereitwilligst gewährt wurde, da man sofort erkannte, daß es sich dabei um eine neue Erwerbsmöglichkeit für die Bevölkerung handelte. 1770 wurde ihm von Kurfürst Friedrich August III. die Erlaubnis zuteil, sich in Hubertusburg niederzulassen und einen Teil der Schloßgebäude, den Jägerhof und den daran gelegenen Hundezwinger, zu Fabrikräumen umzuwandeln. Aber der gewünschte Erfolg blieb aus. Die Geschirre bekamen zwar eine gefällige Form, aber das Material zeigte viele haarfeine Risse und die Bevölkerung klagte über zu leichte Zerbrechlichkeit der Gegenstände. Tönnig wollte das Unternehmen schon aufgeben, als sich der Oberstallmeister Graf von Lindenau seiner annahm. Der Mißerfolg lag daran, daß die hiesige Tonerde nicht den Anforderungen entsprach, die an sie gestellt wurden. Denn Lindenau entließ Tönnig und stellte einen Mann namens Förster ein, der sich nicht auf das hiesige Material verließ, sondern von Dresden Tonerde mitbrachte, und sein Werk daher mit dem schönsten Erfolg begann. 1776 übernahm der Kurfürst die Fabrik, die unter der Leitung des Grafen Marcolini mit Förster als Inspektor weitergeführt wurde. Aus der ersten Zeit haben sich nur wenige buntbemalte Stücke von gelblichem Material erhalten.
Inzwischen verdrängte das von Engländern erfundene Steingut die Fayencewaren und damit auch das Hubertusburger Fabrikat vom Markte. Förster gelang die Nachbildung der neuen Art nur unvollkommen, jedoch konnte er jetzt gefälligere Formen bilden und stellte nach Meißner Vorbildern, aber auch nach eigenen Mustern geschickter Arbeiter feine Geschirre und Vasen her. Es kam soweit, daß sogar Meißen die Konkurrenz Hubertusburgs fürchtete und beim Kurfürsten durchsetzte, daß dort nur bestimmte Formen hergestellt werden durften.
Nach Marcolinis Tode kam das Unternehmen unter die Direktion der Meißner Porzellanfabrik, und stand während der Kontinentalsperre in höchster Blüte; aber nach deren Aufhebung eroberten sich die Engländer in geschickter Weise das verlorene Absatzgebiet zurück, zumal da die kaufmännische Verwaltung der Hubertusburger Fabrik völlig versagte. Auch die Klagen der Bevölkerung über leichte Zerbrechlichkeit und unvorteilhaftes Aussehen durch die vielen Haarrisse des Steinguts waren keineswegs verstummt.
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Den letzten Ausschlag für das Eingehen des Hubertusburger Unternehmens gab die entstehende Konkurrenz, die ihm über den Kopf wuchs. So taten sich neue Fabriken auf in Colditz, Rochlitz, Dresden, Pirna und Stegermühle (Nossen). Die Verwaltung der Fabrik ging noch durch mehrere Privathände, bis 1848 der Betrieb völlig eingestellt werden mußte. Die Fabrik hatte über hundert Familien dauernden Unterhalt geboten, dem Staate hatte sie nichts eingebracht.
Schon 1850 wurden die Gebäude der Steingutfabrik mit Geisteskranken belegt, und noch heute ist darin und in einigen etwas später erbauten großen Gebäuden die Hauptanstalt Hubertusburgs untergebracht, das Versorghaus für geisteskranke Frauen. Vor dem Kriege wurden über eintausend Frauen hier verpflegt, und man baute zur Erweiterung 1913 außerhalb der Mauern ein neues schönes Gebäude für unruhige Frauen und ein großes, modernen Anforderungen entsprechendes Küchengebäude. Auch wurde seit 1880 schon mehr und mehr das Hauptschloß zur Unterbringung der Frauen verwendet, das seit der Aufhebung des Militärmagazins leer stand. Später, von 1893 an, gestaltete man die Anstalt im Hauptschloß in eine Männeranstalt um, die vor dem Kriege etwa fünfhundert Insassen barg. Allmählich wurden auch alle Strafanstalten nach anderen Städten verlegt und die dadurch freigewordenen Räume als Krankenhäuser und Landeshospital eingerichtet.
So hat das einst so stolze Jagdschloß ein völlig anderes Gesicht bekommen. Die Gebäude sind die gleichen geblieben, aber bewohnt von Ärzten, Beamten, Pflegern und belegt mit armen, hilfebedürftigen Menschen. Nur die Kapelle noch legt ein beredtes Zeugnis ab von der einstigen Pracht. Auch heute noch wird sie als Gotteshaus verwendet, und Sonntags kommen aus weitem Umkreis die Katholiken zum Gottesdienste herbei.
Es sei uns vergönnt, noch einen Blick auf das Schicksal des Wermsdorfer Jagdschlosses zu werfen. Seine Bedeutung sank mit der Erbauung der Hubertusburg, und es wurde fernerhin nur zur Unterbringung von Jagdpersonal benutzt. Außerdem barg es, wie bereits erwähnt, die Amtsexpedition, seit 1785 »Justizamt Mutzschen zu Wermsdorf« genannt, und Wohnung des Amtsaktuarius. Das Gerichtsamt und ein ebenfalls 1785 eingerichtetes Rentamt wurden 1873 aufgehoben. König Albert, der auf Schloß Hubertusburg verzichtete, erhielt dafür Schloß Wermsdorf und gab es seiner ursprünglichen Bestimmung als Jagdschloß zurück. 1874 bis 1875 ward es durch den Hofbaurat Bernhard Krüger dazu hergerichtet, der umgebende Garten parkähnlich angelegt. Links der Einfahrt, gegenüber der Oberforstmeisterei, stand auf ehemaligem Gemeindeland ein Haus mit Stallgebäuden, das sogenannte Kommissariatsgebäude, etwa 1755 erbaut, das wahrscheinlich landesherrlichen Kommissaren zur Wohnung gedient hat. Dieses Gebäude ging zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Privatbesitz über. König Albert kaufte es 1879 und ließ es niederreißen. Dadurch wurde der Garten abgerundet und der Blick auf das Schloß freigelegt. 1902 wurde auf den Schuppen neben dem kleinen Westflügel ein Obergeschoß gebaut und dem Schloßaufseher als Wohnung angewiesen. Die Könige Albert und[103] Georg sind alljährlich zum Jagen nach Wermsdorf gekommen und haben wochenlang im Schlosse gewohnt, während der letzte sächsische König, Friedrich August, nur sehr selten hierher kam.
Die Revolution von 1918 machte auch der Bestimmung dieses Jagdschlosses endgültig ein Ende. Die Möbel, die Jagdtrophäen usw. wurden entfernt und im Hubertussaale der Hubertusburg untergebracht und gingen zum Teil in Besitz der ehemaligen Königsfamilie über, oder wurden versteigert. Die leeren Räume wurden zu Wohnungen eingerichtet. Heute bietet das Schloß neun Familien Unterkunft, und nur noch äußerlich erinnert es an seine einstige Bestimmung, die es nun vielleicht für immer verloren hat.
Aber wie der Wald einst die Fürsten anlockte, so zieht er auch heute, und heute in besonderem Maße, die Menschen an, wenn sie Ruhe suchen vor dem Hasten und Treiben der Großstadt. Zu Tausenden kommen sie im Sommer, teils als Touristen, teils Genesung suchend in frischer würziger Waldluft. Viele auch, um sich im schön angelegten Horstseebade zu erfrischen. Wermsdorf ist durch die Nähe der Landesanstalt zu einem stattlichen Dorfe von über zweitausend Bewohnern herangewachsen. Seine wunderschöne Umgebung bürgt für seine gedeihliche Weiterentwicklung. Sie hat es bewirkt, daß Wermsdorf heute eine mit alljährlich steigender Frequenz aufgesuchte Sommerfrische ist.
Von Edgar Hahnewald
Moritz von Egidy.
In beständigem Schwung kreist die Töpferscheibe durch die Jahrhunderte. Sie ist heute noch das einfache Gerät wie seit historischen Zeiten: eine Scheibe für den treibenden Tritt der Füße unten, eine Scheibe für die formende Arbeit der Hände oben, beide durch eine vertikale Achse verbunden. Es ist die gleiche Töpferscheibe, an der der Singhalese in Hagenbecks Völkerschau und der Brauntöpfer in der sächsischen Lausitz arbeitet. Sie ist Urgerät menschlicher Handfertigkeit.
Arbeitsmaterial des Lausitzer Brauntöpfers ist ein grauer, fettig sich anfühlender Ton aus der Kamenzer Gegend, der während des Krieges, wie andere Tone auch, zur Fabrikation von Tonseifen dienen mußte. Um ihm die für die Töpferei nötige geschmeidige Gleichmäßigkeit zu geben, wird er vorher im Tonzurichtewerk geschlemmt und durch den Tonschneider getrieben, der ihn zwischen Messerwalzen gründlich durchknetet.
Gebückt auf der Bank sitzt der Töpfer vor der Scheibe. Die in der für das einzelne Stück nötigen Größe zurechtgeballten Tonklumpen liegen handgerecht[104] aufgehäuft auf dem Brett. Sie erinnern an die abgewogenen Teigstücke des Bäckers. »Kannenbäcker« nannte man ja auch die rheinischen Töpfer, deren irdene Bartmannkrüge damals Gefäß des Weines und Schankzeichen der rheinischen Weinwirtschaften waren. Von solcher in gelinderem Feuer »gebackener« Ware mit mürbem wassersaugenden Scherben unterscheiden sich aber die bei scharfem Feuer von sechzehnhundert Grad gebrannten Lausitzer Töpfe; sie sind hart und dicht in der Masse, und jede braune Schüssel klingt unterm Schlag mit dem Fingerknöchel wie eine Glocke.
Mit einigen tretenden Schwüngen der nackten Füße setzt der Töpfer die Scheibe in schnelle Drehung. Er hat das Gefühl für seine Arbeit auch in den Füßen, die den formenden Händen dienen als drittes und viertes Glied; es ist, als fühlten auch die vom Tone graubekrusteten Zehen die geschmeidige Bildsamkeit des Tones.
Mit kräftigem Hieb haut der Töpfer einen Tonklumpen auf die rotierende Scheibe, daß er sich fest und luftlos ansaugt. Und während nun die Scheibe kreist und unten die Füße ruhend zur Seite treten und nur mit einem leichten Schwunge nachhelfen, wenn die Drehung der Scheibe sich verlangsamt, greift der Töpfer mit seiner nassen Hand formend in den mit der Scheibe kreisenden Ton. Ein Napf rundet sich und zieht sich hoch. Aus einer Grundform, die anfänglich entsteht, wächst das gewollte Stück; sie weitet sich zum Topf, öffnet sich zur Schüssel, baucht sich zum Kruge aus, engt sich über der fassenden Wölbung zum Halse der irdenen Flasche ein. Unter einem Griff der Finger stülpt sich der Rand des rotierenden Gebildes zum Rande des Topfes, des Kruges, der Schüssel um; er wird gleichsam gesäumt. Unter einem leichten Druck mit einem Formhölzchen faltet sich die Gußschnauze in den Rand des Topfes; sie entsteht wie unter der Berührung mit einem Zauberstäbchen. Einige streichende Griffe verwandeln eine Tonwurst in einen Henkel, der sich dem Gefäß anschmiegt, als wisse der Ton längst den griffigen Schwung, in dem er sich der fassenden Hand darzubieten hat. Man sieht das alles entstehen, aber man errät nicht, wie es gemacht wird. Scheinbar dieselben Handgriffe erzeugen alle Formen. Leichtes bildendes Anschmiegen der Finger, manchmal nur ein Hintippen für eine schnelle Umdrehung verwandelt die Gestalt. Eine Verwandlung geht in die andere über; der Ton scheint unter der Hand des Töpfers zu fließen. Leicht und willig fügt er sich in die gewollte Form. Ja, es scheint kaum die menschliche Hand zu sein, die alle diese Wandlungen bewirkt; manchmal mutet es an wie nur ein lenkendes Deuten, das, vom selber belebten Material willig begriffen, seine Wandlung bewirkt. Und es ist doch die sichere, an unendlichen Mengen von Gebilden geübte Geschicklichkeit des Töpfers, die diese spielerisch fließenden Verwandlungen sicher und ohne Fehlgriff zur endgültigen Gestaltung führt.
Die drei geschicktesten Töpfer dieser Werkstatt sitzen hintereinander, die Fenster neben sich, in den Bänken. Freundlich zu einer kurzen erklärenden Deutung ihres Tuns bereit, aber lieber schweigend, formen sie immerfort die[105] schwingenden Gefäße, heute diese, morgen jene. Sie arbeiten in Akkord. In ununterbrochener Folge reihen sich Krüge, Töpfe, Schüsseln vor ihnen auf dem Brett. Ist wieder ein Stück fertig, löst es der Töpfer mit dem raschen geschickten Schnitt eines Drahtes von der ruhenden Scheibe und hebt das gummiartig biegsame Gebilde auf das Brett vor sich. Auch dieses Wegheben gelingt nur dem Geübten. Aber man ahnt, wenn man es sieht, die Spannung, in die die schnelle Drehung der Scheibe die Tonatome zusammendrängte, während der Töpfer das Gebilde formte; sicher ist der Schwung der Töpferscheibe nicht gleichgültig, sicher formt er mit und gibt, so vermutet man als betrachtender Laie, dem Gebilde ein anderes Gefüge, anders, als es bei nur mechanischem Eindrücken der Tonmasse in eine Gipsform sein würde. Vielleicht ist das eine Täuschung, vielleicht ist der gepreßte Scherben ebensogut wie der gedrehte; aber die Vorstellung, daß der Schwung mit bilden helfe, stellt sich beim Betrachten des Vorganges ein. Es wirkt wie ein organisches Werden; das Entstehen eines simplen Gefäßes auf der Töpferscheibe hat manchmal Verwandtschaft mit pflanzenhaftem Wachsen, und ein einfacher irdener Topf, der so leicht zerbrochen und so billig zu ersetzen ist, erscheint, wenn man ihn entstehen sieht, als ein Gewordenes, nicht einfach Gemachtes. Man glaubt, ihm den lebendigen Schwung anzusehen, der ihn formte. »Nur durch beständigen Schwung wirst du zum schönen Gefäß« – auch Egidy empfand wohl so, als er dieses Epigramm prägte, und sicher hat er das fließende Aufblühen der Form aus gestaltlosem Ton auf der kreisenden Töpferscheibe gesehen. Ton ist Erde; Gebilde, einem für unsere stumpfen Augen noch verborgenen, Verwandlungen herbeiführenden Schicksal unterworfen – wissen wir, was wirklich vorgeht, wenn Kristalle sich bilden, Gestein zu Ton verwittert? Gestein und Erde ist die dünne Kruste unseres Himmelskörpers, der, um sich selber schwingend, im Weltenraume um eine Sonne schwingt und dieser Bewegung wohl seine schwellende Gestalt verdankt – die Gedanken schweifen weit über die Töpferwerkstatt hinaus in ferne Räume, in denen fortwährend sich wandelnde Gestaltung sich vollzieht, und die Töpferscheibe scheint kosmische Gesetze zu erfüllen, wenn von ihrem Schwung irdene Gebilde sich lösen, die nun in der wallenden Glut des Feuers zu fester Gestalt erhärten und dann Gefäß für Speise und Trank sein werden, bis sie klirrend im Aufwaschfaß wieder zerbrechen.
Das Brett ist mit fertigen Gebilden gefüllt und der Töpfer trägt es in den Schragen, in dem die Gefäße »wasserhart« trocknen müssen, ehe sie weiter ihren Weg gehen. Wie der Töpfer das Brett trägt, auf erhobener flacher Hand, erscheint er, dessen Arbeitskleider dick mit Ton beklebt sind wie mit Teig, wieder wie ein Bäcker, der seine Ware zum Backofen trägt.
Die Gefäße stehen nun zum Trocknen. Je zwei werden genau übereinandergepaßt aufgestellt und von Zeit zu Zeit umgedreht, damit das Wasser gleichmäßig heraustrocknet, ohne daß die Form sich wirft. Es ist viel mehr sorgfältige Arbeit um einen Topf, als die Frau in ihrer Küche weiß.
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In einer Wanne steht die Glasur bereit: eine appetitlich aussehende Brühe von der Farbe guten Milchkaffees. Sie wird aus feinen Lehmerden angerührt, die man in der Gegend von Elstra bei Kamenz und bei Polnisch-Nettkow an der Oder gräbt. Beide Erden werden vorher geschlemmt und in bestimmtem Verhältnis gemischt. Sie geben der Töpferware die braune Farbe und die Glasur, jenes glänzende durchsichtige Bleiglas, das aus der Verbindung des in den verwendeten Erden enthaltenen Bleioxyds mit der Kieselerde des Tones entsteht und bei richtiger Mischung in den gewöhnlichen im Haushalt vorkommenden Säuren wie Essig nicht löslich ist. Das Glasieren geschieht so, daß der Töpfer das Gefäß so in die Brühe taucht, daß auch das Innere gleichmäßig überspült wird, die Unterfläche des Bodens jedoch trocken bleibt. Gleich nach dem Tauchen wird der Rand des Gefäßes mit einem Schwamm sauber wieder abgewischt – nicht damit die Hausfrau auf diesem unglasierten Rand ihr Küchenmesser wetzen kann, sondern damit beim Brennen die übereinandergestapelten Gefäße nicht zusammenbacken.
Jene innen weiß glasierten Gefäße werden statt mit Lehmglasur mit weißem Halleschen Gußton ausgegossen und mit einer aus Meißen oder Pilsen stammenden Spatglasur glasiert. Ein solcher brauner, innen weiß glasierter Krug sieht höchst appetitlich aus; er riecht geradezu nach reinlicher Kühle und ist wie vorbestimmt zur Aufnahme von Milch, mit deren kühler Frische sein weißes, von brauner Rundung umschlossenes Innere wetteifert. Ebenso wird bei weißer Ware verfahren, die meistens unter Glasur bemalt oder mit farbigen Schwammtupfmustern verziert als Lausitzer Bunttöpferei auf den Markt kommt.
Nun endlich ist die Töpferware für den Brennofen fertig. An die Stelle der früher üblichen Holzfeuerung ist fast überall die Brikettfeuerung getreten. In Königsbrück gibt es noch eine Töpferei, in der der Langofen alter Bauart noch mit Holz gefeuert wird, mit langen Kiefernscheiten, die pulvertrocken sein müssen. Zehn bis elf Raummeter Holz werden für einen Brand in den Ofen geschoben; nach sechsunddreißig bis vierzig Stunden ist der Brand fertig. Hinter einer Schutzwehr alter, schon schlackig verglühter, mit eingebranntem Aschenflug bekrusteter Töpfe steht die zu brennende Ware ineinander und übereinander gestapelt, weißglühend, fast substanzlosen Erscheinungen ähnlicher als irdenen Gebilden, im hellen Feuer, in das hineinzusehen wie ein Blick in eine allzunahe lohend blendende Sonne ist. In diesem Scharffeuer von sechzehnhundert Grad verwandelt sich der milchkaffeebraune Lehmüberzug in das blanke Braun der Glasur. Aber auch der Ton selbst gerät in ein leichtes Fließen, er verschmilzt in sich, versintert, wie der technische Ausdruck das benennt, und der Scherben – »Schorb« sagt der Töpfer – bekommt die klingende Festigkeit, die diese scharfgebrannte Töpferware vor nur »gebackener« Ware auszeichnet.
Das Brennen im Holzfeuer ist teurer und langwieriger als die jetzt übliche Braunkohlenfeuerung, gibt aber den Gefäßen einen schöneren Glanz, ein Vorzug, der wohl auf dem Markt nicht mehr voll gewürdigt wird. Der[107] durchschnittliche Käufer kauft heute vielfach ohne gediegene Warenkenntnis; die Billigkeit ist bestimmend. Und der Markt für Töpferware ist ohnedies durch die blechernen Konkurrenten, durch Emaille- und Aluminiumgeschirr geschmälert und eingeengt worden. In allen diesen Lausitzer Kleinstädten, in denen die Töpferei ihren alten, mit der heimischen Erde verwachsenen Sitz hat, in Pulsnitz, Kamenz, Königsbrück, Elstra, Bischofswerda, Bautzen, Bunzlau, Naumburg am Queiß ist die Zahl der Töpfereien zurückgegangen; wo einst in einem Städtchen in zwanzig Werkstätten die Drehscheiben kreisten, gibt es deren noch drei, vier oder noch weniger. Noch zwar breiten auf Jahrmärkten im Lande die Lausitzer Töpfer ihre irdene Ware auf strohbelegten Straßen aus, und die Transporte gehen weit; in jener Königsbrücker Töpferei entstehen schöngeformte schnauzenlose Sauermilchkrüge, die ins Rheinland geliefert werden; doch die Zeiten sind vorbei, in denen die großen Planwagen der Töpfer die irdene Ware, in dicke Lagen Stroh verpackt, von Stadt zu Stadt fuhren und die harten Taler graue pralle Leinwandsäckchen füllten, in die die Töpferfrau hineingriff wie in einen Beutel Salz.
Aber der alte Töpfer, der uns durch seine Werkstatt führt, liebt sein Handwerk, und sein Sohn liebt es wieder; schon auf halbem Wege zu einem anderen Beruf ist er umgekehrt und hat sich an die Töpferscheibe in der väterlichen Werkstatt gesetzt, die ihm von Kindheit an vertraut war.
Sie reißen nach geratenem Brand und nachdem die Ware gut und langsam, ohne Haarrisse in der Glasur abgekühlt ist, die Ziegelvermauerung des Ofens auf. Trockene Hitze strömt in die Werkstatt, in der es wie in einer Backstube heimelig ist, und aus dem Ofentor glänzt das blanke braune Geschirr. Halbnackt kriecht der Geselle in den Ofen und schleppt, gebadet in Schweiß, die gebrannte Ware heraus. Stück für Stück wird nachgesehen, rauhgewordene Ränder werden glattgeraspelt, mißratene Stücke ausgesondert. Der Brand ist gelungen, Reihe um Reihe, in blanken Spiegeln glänzend, kommt das Geschirr aus dem Ofen. Hat die in Sachsen übliche Redensart: »Er freut sich wie ein Töpper!« hier ihren Sinn und Ursprung? Mit schmunzelndem Wissen um die Güte seiner Ware stapelt der alte Töpfer das braune Geschirr auf dem Lagerboden auf, der trotz allem immer wieder leer wird.
Es ist weit über alle Wohlfeilheit dieser Topfwaren hinaus eine ästhetische Freude, auf den sauber gefegten Böden die wohlgeordneten Mengen von Töpfen, Krügen, Schüsseln, Kannen und Pfannen aller Größen und Formen zu sehen, glänzend in hellem weichem Braun, in grünlichem Gelb, das durch Beimischung von Schlemmkreide zur Lehmglasur entsteht, in tiefen kastanienbraunen Glasuren, in denen sich alles dunkel und blank spiegelt, was rundum steht. An manchen Stücken geht das Braun in kupferne, metallblau changierende Spiegelungen über, die die Vorstellung von tönendem Metall erwecken, und wie metallene Glocken tönt hell und klingend jedes Stück beim Anklopfen mit dem Knöchel. Reinliche braune, innen weißglasierte Schüsseln erwecken freundliche Vorstellungen von erfrischenden Sommergerichten: saure Milch mit Heidelbeeren und Zucker; und man entdeckt geradezu die »Ästhetik des irdenen[108] Milchtopfes«, zumal alle diese Gefäße in jahrhundertelangem Umgang mit der formenden und der sie gebrauchenden Hand eine schöne Nutzform erhalten haben. Jedes Stück trägt die warme Spur der menschlichen Hand; es ist in ihren Linien jenes geheime Leben, das allem anhaftet, was aus der unmittelbaren Berührung mit der menschlichen Hand hervorging; es ist Hand-Werk in einem Sinne, der sich in engen innungspolitischen, antiindustriellen Bestrebungen nicht erschöpft. Der bildsame Ton und der Schwung der Drehscheibe haben sich in der Form dieser blanken braunen Gefäße verschwistert; Feuer hat sie verbunden; die menschliche Hand hat sie beseelt. Und wenn man die Form unter der bildenden Hand des Töpfers hat emporfließend entstehen sehen, begreift man, warum es lockt, die Gefäße in die Hand zu nehmen und ihre glatte Rundung zu fühlen; und man begriffe es auch, wenn die Hand des Töpfers noch im Traume weiterformte.
Man erinnert sich, daß die Töpferei eine Erfindung der seßhaft gewordenen Frau ist. An einem Gefäß aus einem Pfahlbaufund entdeckte man menschliche Fingereindrücke; man goß sie aus und es erschien die Plastik einer kleinen Frauenhand, die, als sie Ton zu Gefäßen knetete, schon Bereiche künstlerischer Gestaltung berührte. Der Bildhauer, der aus grauem Ton das Ebenmaß göttlich-menschlicher Glieder formt, bildet aus Erde wie jene Frau in der Urzeit, wie dieser Töpfer im lausitzischen Städtchen.
Prometheus formte Menschen. Formend und gestaltend formte der Mensch sich selbst. Sein Schöpfertrieb bewegte ihn und trieb ihn aus der tierischen Wiege in göttliche Machtbereiche – nirgends liegt die Erinnerung an das prometheische Bild näher als hier in der Werkstatt des Töpfers, der urzeitliches Tun in unserer maschinellen Gegenwart forttreibt.
Sinnend nimmt man ein Klümpchen des bildsamen Tons zwischen die Finger und knetet es spielend, ohne Vorstellung einer Form, nur des Gefühles wegen, zu bilden. Und angesichts der kreisrund fließenden Drehung der Töpferscheibe erweitert Egidys Wort vom beständigen Schwung seinen philosophischen Sinn über das Moralische hinaus ins Menschlich-Kosmische.
Von Norbert Götz, Ingenieur und Studienrat, Plauen i. V.
Gegen die Windmühlen ist in den letzten Jahrzehnten im Vogtlande wie auch anderwärts ein wahrer Vernichtungskrieg geführt worden. Die Müllerei lohnte schlecht, und eine andere Verwertung der Windkraft wußte man sich nicht, also: Weg mit dem alten Plunder! – Eine deutsche Bockwindmühle haben wir im Vogtland überhaupt nicht mehr. Soweit wären wir glücklich. Die letzte stand in Oberpirk bei Mehltheuer. Sie war[109] landschaftlich ein Juwel. Als ich ihrer zum ersten Male ansichtig wurde, ging ich rund um das ehrwürdige Kunstgebilde herum, suchte mir die günstigsten Beobachtungspunkte, weidete mich an der prächtigen Schau und schied mit dem festen Vorsatze, bei passender Gelegenheit mit Skizzenbuch und Meßwerkzeug ins Innere der Mühle zu dringen. Richtig, am nächsten zweiten Feiertag tippelte ich wohlgerüstet nach Oberpirk und schwelgte unterwegs im Vorgefühle kommender Genüsse.
Ach, es kam anders als gedacht, aber sehr: Die Mühle war weg, mauseweg! – Ich hätte Zornestränen weinen mögen. Die kräftigsten aus dem Tierreich entlehnten Kosenamen warf ich diesen Vandalen, welche gewinnsüchtig die Mühle abgebrochen hatten, im Geiste an den Grind, aber, was halfs? Die Mühle war weg, war und blieb verschwunden, und ich konnte mit Skizzenbuch und Meßwerkzeug wieder heimgehen. Um diese Mühle trauere ich noch heute. –
Auch auf der Syrauer Höhe drehte bis in die achtziger Jahre eine deutsche Bockwindmühle ihre Flügel, betreut von einem Müller aus der »Torjauer Jechend«. Ein Blitzschlag setzte die Mühle in Brand. »Was haben Sie denn gemacht, wie da drüben das Knistern und Prasseln losging?« – »Wat? Ick? Ick habe mir mit meiner Jattin uff der Bank vors Häuschen hinjesetzt, und wir haben zujesehen, wie die Mühle wegbrannte.« – Das war auch das Klügste, was der Mann machen konnte. Zum Löschen fehlte es an Wasser, und zu retten war nichts.
Nach dem Brande wurde die Mühle wieder aufgebaut, nicht als Bockwindmühle, sondern als »Holländer«. Sie ist die letzte Windmühle des Vogtlands! – Einer meiner ehemaligen Volontäre, Herr Spörl, hat auf meine Veranlassung hin monatelang seine knappe Freizeit darangesetzt, in allen Winkeln der Mühle herumzukriechen, zu messen und zu skizzieren, und dann nach seinen Aufnahmen eine gute und wertvolle Zeichnung von der Inneneinrichtung der Mühle anzufertigen. Hier ist eine Teilansicht davon, an Hand deren sich auch der Laie ein Bild vom Innenwerk einer Holländer Windmühle machen kann.
Die Drehung des Daches mitsamt der Flügelwelle erfolgt durch Drehen einer Handkurbel, die auf eine Schneckenwelle aufgesteckt ist. Das zugehörige Schneckenrad treibt eine stehende Welle an, die am oberen Ende mit einem Stirngetriebe auf einen am Dachgebälk angeschraubten Zahnkranz wirkt, und mit diesem gleichzeitig und gleichmäßig Dach, Flügelwelle und Flügelkreuz dreht. Das ist doch fein, daß man auf diese einfache Weise die Flügel nach der Windrichtung einstellen kann! Jawohl, aber der Besucher darf nicht vergessen, daß sich der Turm und seine Eingangspforte nicht mit drehen, also: Achtung beim Hinaustreten aus der Mühle! – Wenn während der Anwesenheit eines Besuchers in der Mühle die Flügel so gedreht werden, daß sie an der Eingangspforte vorüberkreisen, so kann der achtlos und sorglos aus der Pforte Heraustretende eine recht unangenehme Überraschung erleben,[111] nämlich die, daß ihm ein Windmühlflügel huldvoll und gnädig eine Ohrfeige von so elementarer Wucht verabreicht, wie ihm noch keine zuteil geworden ist. Also Vorsicht! Die Windmühlflügel verstehen durchaus keinen Spaß und kennen kein Ansehen der Person. Haben sie doch sogar dem edlen Ritter von der Mancha, dem tapferen Don Quixote, benebst seinem Streitroß, der Rosinante, einen derartigen Schlenkerich gegeben, daß Roß und Reiter weithin in den Sand flogen und übel zugerichtet wie tot liegen blieben. –
Von der Syrauer Windmühle genießt man eine prächtige Rundsicht. Als wir – ein Trupp Jungvolk – vor Jahrzehnten einmal dort oben mit Landkarten und Feldstechern das Vogtland musterten, sagte, mitten in unsere Unterhaltung hinein, der Windmüller: »Die Herren wollen doch nach Syrau? Ja? Na dann beeilen sie sich, daß sie trocken in den Gasthof kommen, denn in zehn Minuten haben wir Regen.« – Wir lachten hell auf, denn kein Wölkchen stand am Himmel, und Mutter Sonne meinte es gut, aber der Müller ließ sich nicht beirren, drängte zum Aufbruch, und so folgten wir endlich und gingen dem Dorfe und dem Zaumseilschen Gasthofe zu. – Wir gingen nicht lange langsam, wir gingen bald gar nicht mehr: In schärfstem Dauerlauf nahmen wir die Strecke bis zur Bahn und suchten unter dem Bogen, der den Fröbersgrüner Weg überspannt, Schutz vor der niederprasselnden Flut. Ei, wie hat der Windmüller Recht gehabt! Ei, wie kannte der Mann aus der »Torjauer Jechend« seinen vogtländischen Himmel! – Der Mann war eine Natur. Wie oft sagte er mir: »Ich bin hier oben König. Was ich rundum sehe, ist mein!« Dieser Geist fängt an, uns bedenklich zu fehlen. –
Der Freundlichkeit des Müllers verdanke ich längeren Aufenthalt unter dem Dach der Windmühle während eines Sturms, ein Kunstgenuß furchtbarster Art. Jawohl Kunstgenuß, denn die grause Schönheit der entfesselten Naturgewalt gemahnt an Michelangelo und Dante. Sie wirkt auf Menschen mit Menschennerven geradezu zermalmend und ruinierend. Ich warne Neugierige. –
Die Letzte im Vogtland! Die Syrauer Windmühle dürfte erhalten bleiben. Wer auf der Strecke Hof–Plauen zwischen Mehltheuer und Syrau links zum Fenster hinausguckt, kann die letzten Flügel einstiger Windmühlenherrlichkeit haspeln oder ruhen sehen: der Abschiedsgruß eines untergehenden Gewerbes! Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten, und neues Leben blüht aus den Ruinen. Aber dieses »neue Leben« ist gar nicht so »neu«, wie es den Anschein hat, und wie wir uns nur allzugern einreden, oder allzuwillig einreden lassen. Leben ist ewige Wiederkehr, für uns Menschen, wie für unsere Werke. Über ein Weilchen werden auch die Windmühlen wiederkommen, wenn auch in anderer Form, wenn auch zu anderem Zweck, vielleicht als irgendein Windmotor zur Erzeugung von elektrischem Strom. Auf Wiedersehen dann!
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Von Rud. Zimmermann, Dresden
Mit Abbildungen nach Naturaufnahmen des Verfassers
Meine vogelkundlichen Studien in dem Oberlausitzer Niederungsgebiet während der letzten Jahre brachten mich in nähere Berührung auch mit zwei Vögeln, die ich zwar bereits früher schon kennen gelernt hatte, bis dahin aber noch nie in einer so ausgezeichneten und eingehenden Weise besonders auch an ihren Nestern beobachten durfte, wie hier. Es sind dies unsere zwei Rohrdommeln. Sie führen ja beide eine sehr versteckte Lebensweise, so daß sie auch der, der Teichlandschaften regelmäßiger besucht, meistens weniger und sicherlich seltener zu Gesicht bekommt, als so manche andere teichbewohnende Vogelart, während sie den vielen anderen, die Teichgegenden nicht oder nur flüchtiger kennen, in der Regel überhaupt unbekannte Erscheinungen sind. –
Im zeitigen Frühjahr schon erfolgt an den sommersüber von ihr bewohnten Stätten die Rückkehr der zuweilen auch bei uns überwinternden größeren Art, der Großen Rohrdommel, die im Frühjahr 1925 in meinem Lausitzer Beobachtungsgebiete bereits in den ersten Märztagen wieder an ihren Brutplätzen eingetroffen war – ein im vorhergegangenem Jahr erbrüteter und von mir beringter Jungvogel allerdings trieb sich noch Ende April in Norditalien umher –, und etwas später als die Große kehrt – in der Regel im April – die kleinere Art, die Zwergrohrdommel, in die Heimat zurück. Die aus den Vorjahren erhalten gebliebenen dichten Bestände alten Rohres und Schilfes bilden tagsüber die Aufenthaltsorte unserer Vögel; selten nur, daß man einmal einen aus ihnen aufsteigen und über einen Teich dahinfliegen sieht, die Kleine ihrer größeren Häufigkeit entsprechend eher noch als die auch heimlichere Große. Dem aufmerksamen Beobachter aber verraten sie ihre Anwesenheit bald durch ihre Stimmen. Die zunächst nur gelegentlichen und einsilbigen, wenig auffallenden und nicht besonders lauten, dumpfen Rufe der Großen Rohrdommel gehen, nicht selten schon in der zweiten Märzhälfte, spätestens aber in den ersten Apriltagen, in das bekannte, so oft schon geschilderte, kräftige und stundenweit vernehmbare uihump uihump über. Und bald wird man es vom frühen Morgen bis zum späten Abend und regelmäßiger noch während der Nacht in fast ununterbrochener, pausenloser Folge hören können, daß man sich oft fragt, ob denn unser Vogel nicht auch einmal der Ruhe bedarf? Und in das uihump uihump der Großen klingt das freilich weniger auffallende, leichter zu überhörende und wohl auch oft genug schon überhörte Wrurr-wrurr der Zwergrohrdommel hinein, das eine große Ähnlichkeit mit dem Gequarre manches Frosches besitzt und auch leicht mit einer Froschstimme verwechselt werden kann.
Über das Vorkommen und die Häufigkeit der beiden Rohrdommelarten in unserem sächsischen Vaterlande waren wir bis in die neueste Zeit hinein nicht gerade sonderlich gut unterrichtet. Die Große bevölkert heute ausschließlich nur ostelbische Landschaften, den flachen, teichreichen Nordosten des[113] Landes etwa von der Gegend von Königswartha an ostwärts, ist hier erfreulicherweise aber durchaus noch keine seltene Erscheinung. Ich bin überrascht von der Zahl der von mir während der letzten Jahre verhörten rufenden Männchen und glaube nach den Erfahrungen, die ich an anderen Orten des Vorkommens unseres Vogels gemacht habe, daß eine wesentlich höhere Besiedelungsdichte in unserem Gebiet auch kaum möglich ist. Westlich der hier gekennzeichneten nordostlausitzischen Landschaften tritt unser Vogel nur vereinzelt und wohl auch mehr gelegentlich auf. So wurden rufende Männchen[114] 1924 an dem Zschornaer und dem Grüngräbchener Lugteich, ein anderes sogar am Dippelsdorfer Teich verhört. Früher allerdings scheint der Vogel auch hier häufiger gewesen und regelmäßiger vorgekommen zu sein, scheint das heute nur auf den Osten beschränkte Gebiet regelmäßigeren Vorkommens sich in westlicher Richtung bis an die Moritzburg-Dippelsdorfer Teiche ausgedehnt zu haben. Ob aber der Rückgang hier ausschließlich nur auf die Nachstellungen zurückzuführen ist, denen unser Vogel als »Fischereischädling« ausgesetzt gewesen ist und die, wenn man aus den Erzählungen alter Förster und den[115] Trophäen, die man in so manchem Forst- und Jagdhaus findet, einen Schluß ziehen darf, manchesmal allerdings sehr rücksichtslose gewesen sein mögen, möchte ich trotz alledem noch bezweifeln; es scheinen auf ihn vor allem auch Veränderungen in den Vegetationsverhältnissen, die heute viel weniger dichte Bewachsung vieler der hier in Frage kommenden Teiche von großem, ausschlaggebendem Einfluß gewesen zu sein. In der Nordostlausitz wird unser Vogel von den dort angesessenen Grundherren erfreulicherweise durchgängig geschont und ihm das Deputat an Fischen, das er erhebt, gern gegönnt; es fällt ja auch gar nicht so sehr ins Gewicht bei dem großen Anteil, den besonders auch wirtschaftlich wertlosere Fische an ihm haben. Wenn hier ja einmal noch eine Rohrdommel einer Kugel zum Opfer fällt, so geschieht dies nur ganz selten[116] und auch nur versehentlich auf einer Entenjagd oder – wovon ich mich im Vorjahre selbst überzeugen mußte – auf Pachtrevieren, die ja selten Pflegstätten des Naturschutzes sind.
Fast dürftiger noch als über das Vorkommen der Großen sind wir zeitweise über das der Zwergrohrdommel unterrichtet gewesen, ist sie von vielen doch häufig für seltener als ihre große Schwester gehalten worden. Dank einer auf Freund Heyders Anregung hin von P. Weißmantel vorgenommenen gründlichen Untersuchung des Vorkommens der Zwergrohrdommel in Sachsen[1] wissen wir heute, daß sie ein bei uns weitverbreiteter Vogel und in allen größeren Teichgebieten des Landes mit ihr zusagender Vegetation eine regelmäßige und stellenweise sogar recht häufige Erscheinung ist. Sie kommt in den westsächsischen Teichlandschaften ebenso wie in den ostsächsischen vor und erreicht in diesen letzteren ihre größte Häufigkeit in unserem sächsischen Vaterlande. In dem Königswarthaer Gebiet sind mir alljährlich, meistens ohne daß ich sonderlich danach gesucht habe, in fast allen der von mir regelmäßig begangenen Teiche Nester, in vielen sogar in größerer Anzahl, bekannt geworden (so z. B. 1925 in einem nur etwas über einem Hektar großen allein drei, die so dicht beieinanderstanden, daß man von den Anfängen einer Koloniebildung reden konnte). Und wie um Königswartha selbst, so fand ich die Verhältnisse auch in dessen weiterer Umgebung, ganz in Übereinstimmung mit Freund Weißmantels längeren Lausitzer Erfahrungen.
»Wenn in den Apriltagen,« so schildert der Genannte unseren Vogel, »junges Grün die fahlen Überreste der vorjährigen Schilfbestände durchsetzt, stellen sich die ersten Zwergrohrdommeln ein. Längere Zeit suchen sie dem Beobachter ihre Ankunft geheim zu halten. Weder ein Ruf ist in den ersten Tagen ihrer Rückkehr zu hören, noch zeigt sich ein Vogel für kurze Zeit über dem im lauen Frühlingswinde erwachenden Rohrwalde. Erst, sobald die wärmende Frühlingssonne ihren Einfluß auch auf die Nachttemperatur geltend machen kann, fängt es im Rohr an zu rumoren. »Wrurr,« erst einzeln und leise, für den Unaufmerksamen kaum hörbar, dann zwei bis dreimal hintereinander, bis zuletzt lange Reihen daraus werden, so lockts im Röhricht. Die Zwergrohrdommel balzt … Werden die Tageszeiten wärmer, liegt vor allem Gewitterstimmung in der Luft, dann schweigt die Zwergrohrdommel auch am Tage nicht, dann heißt es auch aufpassen. Unversehens und geräuschlos fliegt sie auf fällt bald wieder ein oder wechselt von einem Schilfdickicht hinüber zu dem des Nachbarteiches. Unvergessen steht mir da der 30. Juli 1923 in der Erinnerung. Ich saß mitten im ausgedehnten Teichgebiete von Königswartha auf einem Teichschützen. Gewitterschwüle nötigte zum Ausruhen. Vor mir wrurrte eine Zwergrohrdommel. Bald erklang derselbe dumpfe Ruf von rechts und von links, von vorn und von hinten. Nicht genug damit, eine ganze Anzahl Dommeln, vier bis sechs gleichzeitig, hatten das[117] schützende Röhricht verlassen. Dicht über das Dickicht dahinstreichend, fielen sie nach kurzem Fluge an anderen Stellen wieder ein … Selten gelingt es, die Zwergrohrdommel beim Fischen zu beobachten. Am schönsten konnte ich dies in Döbra. Ebenfalls am 30. Juni, jenem großartigen Rohrdommeltag, stand ein alter Vogel regungslos, den Körper fast wagerecht haltend, mit eingezogenem Halse im seichten Wasser eines Brutteiches. Zeitweise bog er den Hals langsam in eine schöne S-Form, um ihn zuletzt blitzschnell schräg nach vorn zu strecken, dabei den Schnabel, meist auch den Kopf ins Wasser steckend. Nur Augenblicke dauerte es, dann kehrten Hals und Kopf in die ursprüngliche Lage zurück, nur mit dem Unterschiede, daß ein fingerlanger Fisch unter fortgesetztem Strecken und Zusammenziehen des Halses hinabgewürgt wurde. Dreimal konnte ich das seltene Schauspiel genießen und mich anschließend überzeugen, daß die Zwergrohrdommel durchaus Feinschmecker ist. Die Fische waren halbwüchsige Schleien. Ein leises Knacken von dürren Zweigen – ein Reh zog am Teichufer vorüber – änderte das Bild. Augenblicklich kauerte die Zwergrohrdommel zusammen, Rumpf, Hals, Kopf und Schnabel schnellten lotrecht empor. Kaum eine Sekunde lang verharrte sie in dieser wunderlichen Stellung, dann flog sie mit ängstlichem ›gät gät‹ in die nächste Rohrdickung.«
Von Ende Mai an, häufiger aber im Juni und selbst noch im Juli findet man die in der Regel mit fünf bis sechs, aber auch mit sieben reinweißen Eiern voll belegten Nester. Sie sind immer sehr versteckt in dichtem, häufig von Weiden- und anderem Gestrüpp durchsetzten Dickichten jungen und älteren Schilfes und Rohres zu finden, stehen in der Regel über dem Wasser nahe des Ufers, können aber auch – allerdings etwas weniger häufig – weiter im Innern der Teiche, dann aber auch wieder selbst am Ufer über dem Lande, wenn dieses das dem Vogel gut bergende und daher von ihm auch unbedingt verlangte dichte Gestrüpp von Schilf und Rohr, strauchigen Weiden und anderen, ähnlich hoch wachsenden Pflanzen trägt, angelegt sein. Das Nest ist ein nur kleiner, flacher und locker geschichteter Bau aus alten Rohrstengeln, Schilfblättern und ähnlichem Pflanzenmaterial, bald auf dürrem, umgeknicktem Rohr aufgeschichtet, bald in das Gewirr der jungen, grünen und der mehrjährig-dürren Stengel und Halme eingefügt, bald fast der Wasserfläche aufsitzend, bald wieder bis zu einem halben Meter hoch und vielleicht hin und wieder auch noch etwas darüber angelegt. – Häufig und gern habe ich, gut gegen Sicht gedeckt, an den Nestern unseres Vogels gesessen, und manchesmal, auch wenn an kühleren Tagen die im Wasser stehenden Füße eine Gänsehaut überlief und fröstelnd auch der übrige Körper erschauerte, stundenlang ausgeharrt, die immer wieder neuen Reize bestrickendster Bilder voll auskostend. Der Vogel bietet des Anziehenden ja so unendlich viel. Seine Scheu und Vorsicht und das ihm eigene große Mißtrauen geraten in einen ganz eigenartig berührenden Gegensatz zu seiner fast rührenden Anhänglichkeit an Nest und Gelege oder der bereits ausgefallenen Brut, und so ergeben sich dann, wenn der durch den Beobachter vom Neste geschreckte Vogel fast unmittelbar[118] nach dem Verlassen desselben wieder zu ihm zurückstrebt, sich ihm unter ununterbrochenen Sichern und den phantastischsten Körperhaltungen und Körperverrenkungen nähert, die wunderlichsten, fesselndsten Szenen, die nur der verstehen kann, der sie schon einmal mit beobachten durfte.
Und wenn gar die Jungen im Neste sitzen, diese graugelblichen und flaumigen, abenteuerlichen Gestalten, und wütend den Beobachter anfauchen oder wehrhaft nach ihm mit den spitzen Schnäbeln hacken, wenn sie flüchtend, mit den unendlich langen Ständern weitausgreifend im Rohre verschwinden, um[119] aber, wenn die eingebildete Gefahr vorüber ist, sofort wieder in das Nest zurückzukehren, wenn dann gar die Mutter mit einem jungen Fische zurückkommt, die hungrigen atzend, da vergißt man über dem Gesehenen auch gern einmal die besonders auf der materiellen Seite liegenden Schattenseiten des freien Naturforscherlebens und freut sich ungeschmälert eines Berufes, der einem mit jedem Tag in immer engere Beziehungen zu der ewig-jungen Natur bringt. –
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Zeitiger als die Zwergrohrdommel, ihrer früheren Rückkehr an die Brutplätze entsprechend, denkt die Große Rohrdommel an das Fortpflanzungsgeschäft. Ich fand 1924 in meinem Königswarthaer Beobachtungsgebiet zwei Nester, in denen die Vögel bereits im April mit dem Legen begonnen haben mußten. Sie boten mir nicht nur Gelegenheit zu ausgiebigen Beobachtungen über das in vielem noch recht wenig bekannte Brutleben, sondern brachten mir auch die überhaupt ersten Nestaufnahmen unseres bisher am Neste ja so wenig beobachteten Vogels. Ich habe über meine Beobachtungen bereits ausführlicher an anderer Stelle berichtet[2], möchte aber daraus hier für diejenigen vogelkundlich interessierten Leser der Heimatschutz-Mitteilungen, denen meine Arbeit nicht zugänglich ist, das folgende wiederholen:
»Beim Näherkommen an das Nest richtet in der bekannten Weise der Vogel Kopf und Hals senkrecht empor (die beiden auch hier beigegebenen Aufnahmen geben dies ja sehr schön wieder) und erhebt sich schließlich, wenn ihm die Nähe des Beobachters zu gefahrdrohend wird, vielfach deutlich zögernd, zum Abflug. ›Unbeweglich,‹ so notierte ich an Ort und Stelle, ›verharrt beim Näherkommen der Vogel noch auf dem Nest, flacher nur legt sich der Rumpf auf dieses, gestreckter und dünner wird der höher und höher emporwachsende Hals, scharf blickt das in seiner absoluten Unbeweglichkeit fast wie ein eingesetzter glänzender Edelstein wirkende gelbe Auge, bis dann endlich Leben in ihn kommt: langsam und ohne jede hastende Eile, ruckweise, mit deutlich abgesetzten Bewegungen in den Gelenken, daß man an ein aufgezogenes mechanisches Kunstwerk erinnert wird, erhebt er sich, macht eine leichte Wendung zur Seite und fliegt ab, in gerader Richtung nach einer etwa hundert Meter entfernten Stelle im Teichinnern, wo er im Rohrbestande einfällt.‹ Dieses Einfallen erfolgte, sooft ich es sah, ausnahmslos an der gleichen Stelle …, der nach dem Abflug vom Neste eingefallene Vogel richtete sich sofort auf kurze Augenblicke sichernd zur Pfahlstellung auf, hastete dann im Rohre kletternd und mit den Ständern weit ausgreifend, daß diese viel länger schienen, als sie es wirklich sind, einige Meter vorwärts, sicherte von neuem, und strebte so, ununterbrochen zwischen hastigem Klettern und sicherndem, kurzem Verweilen wechselnd, dem Neststandort zu, so daß er fast unmittelbar nach seinem Abflug schon wieder in Nestnähe war und aufmerksam, zum unbeweglichen Pfahl geworden, die Vorgänge an ihm verfolgte, das Entfernen des Beobachters abwartete … Verschieden von dem eben geschilderten Verhalten des noch brütenden ist dasjenige des seine Jungen bereits betreuenden Vogels. Auf meinen beiden Nestern traf ich, nachdem diese die bei meinen Besuchen allerdings schon einige Tage alten Jungen enthielten, die alten Vögel überhaupt nicht mehr an; sie hielten sich im Pflanzenbestand neben den Nestern auf und wurden nur in Ausnahmefällen hoch. Ob vielleicht, von mir unbemerkt, erst vor meinem Herankommen an die Nester die Vögel diese verlassen hatten,[121] vermag ich allerdings nicht zu sagen. Das erste Nest enthielt bei meinem Besuche am 31. Mai drei Junge, ruppig aussehende und lebhafte, sich äußerst wehrhaft gebärdende Kerlchen, die durch rauhes, krächzendes Geschrei und unmöglich weites Aufreißen der Schnäbel – man glaubte, in unergründliche Abgründe zu schauen – des Beobachters sich zu erwehren versuchten oder durch Verschwinden und gewandtes Umherklettern im Rohr, aus dem sie sich aber immer wieder ins Nest zurückfanden, sobald die eingebildete Gefahr vorüber war, sich ihm zu entziehen trachteten. Als ich eines der Jungen in die Hand nahm, verkündete mir ein rasch aufeinanderfolgendes, nicht übermäßig lautes, rauhes ›Goak-goak‹, daß der bisher von mir trotz aller darauf verwandten Aufmerksamkeit noch nicht gesehene und sich auch jetzt dem Anblick entziehende alte Vogel doch in unmittelbarster Nestnähe sein mußte. Erst als ich nochmals eines der Jungen in die Hand nahm und ihn dadurch zu neuen Rufen veranlaßte, entdeckte ich ihn. Drei bis dreieinhalb Meter nur von mir entfernt, in der üblichen Pfahlstellung sich an einige Typhastengel anklammernd, klebte er, mir zugeneigt, als ob er jeden Augenblick sich auf mich stürzen wolle, und dabei in seiner Umgebung so aufgehend, daß ich ihn trotz meiner dafür doch leidlich geschärften Augen bislang übersehen hatte und es auch jetzt, wenn ich einmal die Blicke von ihm abgelenkt hatte, immer wieder eines erneuten, sekundenlangen Suchens bedurfte, um ihn in dem braunen Pflanzenbestand auszumachen. Die Schutzfärbung des Tieres ist eine höchst vollkommene, und das Aufgehen des Vogels in seiner Umgebung wirkt manchesmal direkt verblüffend.«
[122]
In unseren Naturgeschichtswerken kommen die beiden Rohrdommeln, vor allem die Große, nicht immer gut weg. Zwar werden sie gern, in erster Linie wohl ihrer wenig offenkundigen Lebensweise und des Dunkels wegen, das noch über manchen ihrer Lebensäußerungen liegt, »interessante« Geschöpfe genannt, umgekehrt aber als falsch und heimtückisch bezeichnet und mit noch anderen ähnlichen, vom Menschen als häßlich empfundenen Eigenschaften ausgestattet. Kann man aber einem Vogel, der so wie unsere Rohrdommeln die Heimlichkeit liebt und aus diesem Grunde schon mit einem gewissen Mißtrauen ausgerüstet ist und ausgerüstet sein muß, es zum Vorwurf machen, wenn er, in die Enge getrieben, sich auch einmal dem Menschen gegenüber zur Wehr setzt, wenn er, wohl gar durch die ihm vom letzteren angetragene Kugel verwundet, diesem – seinem Peiniger – seine in dem kräftigen und spitzen Schnabel bestehende Waffe fühlen läßt? Wohl kaum! Ich würde dem, der mich auf die linke Wange schlägt, auch meine »Rechte« darbieten, derb und kräftig, daß er sich einen zweiten Schlag wohl überlegen würde, und ich würde es meinem künftigen Biographen (der allerdings wahrscheinlich noch gar nicht geboren ist) schon heute verübeln, wenn er mir deswegen Eigenschaften andichten wollte, mit denen eifrige Naturgeschichtsschreiber unsere Rohrdommeln belastet haben.
Mir sind sie jederzeit ungemein fesselnde und anziehende Vögel gewesen und werden dies auch bleiben, solange Frühlingssonnenglanz mich noch zu Teichexkursionen zu begeistern vermag.
Fußnoten:
[1] P. Weißmantel, Ueber Vorkommen und Lebensweise der Zwergrohrdommel, Ixobrychus minutus (L.), in Sachsen. Mitt. d. Ver. sächs. Ornithol. 1, 5. Heft (1925) S. 89–98.
[2] Rud. Zimmermann, Am Neste der Großen Rohrdommel, Botaurus stellaris (L.). Pallasia, Ztschr. f. Wirbeltierkunde 2 (1924/25), S. 185–194.
Von Dr. Walter Frenzel, Bautzen
Abbildungen aus dem Bildarchiv der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen
Im zweiten vorchristlichen Jahrtausend wohnte in Ostdeutschland ein Volksstamm, dessen eigentlichen Namen die Wissenschaft mangels schriftlicher Überlieferung noch nicht kennt. Da seine auffallendsten Kulturüberreste, die Gräberfelder mit den Buckelurnen, doppelkonischen und gehenkelten Näpfen zuerst in der Ober- und Niederlausitz gefunden wurden, sprach man von der Lausitzer Kultur und dem Volke der Lausitzer auch noch dann, als man mit dem Fortschritt der Forschung gefunden hatte, daß diese Kultur bis an die Küste der Ostsee reicht, bis weit nach Polen hinein sich erstreckt, über Elbe und Saale hinaus westwärts vorgedrungen ist und im Süden einst die böhmischen und ungarischen Gefilde als Wohnstätte sich auserkoren hatte. Wenn daher eigentlich der Name »Lausitzer« zu eng gefaßt ist für die geographische Verbreitung der Kultur, so wird er doch von der Wissenschaft weiterhin fortgeführt, da man erkannt hat, daß diese Kultur in den beiden Lausitzen Brennpunkte höchster künstlerischer Entwicklung zeitigten. Nur einen kleinen Ausschnitt aus den ungeheueren Stoffmassen, die für die Lausitzer Kultur bereits vorliegen, will ich hier aufzeigen und einen Gegenstand behandeln, der selten[123] breiterer Öffentlichkeit zugänglich ist: Grabformen. Auch dieses Teilgebiet kann hier nicht erschöpft werden, da im Laufe der einzelnen Jahrhunderte, während der die Lausitzer Kultur blühte, sich zahlreiche Wandlungen auch in den Grabbräuchen und nicht nur in den Gefäßformen entwickelten. Überdies vermag heute die Wissenschaft noch nicht anzugeben, ob in den verschiedenen Grabformen auch soziale, rechtliche und besondere religiöse Anschauungen sich widerspiegeln.
Aus der mittleren Bronzezeit (1500 bis 1200 v. Chr.) ist in Abbildung 1 ein Grab von dem weitgedehnten Gräberfelde Bautzen-Kriegersiedlung dargestellt. In jener Zeit war man voll und ganz zur Totenverbrennung übergegangen. Wir finden daher in diesen Gräbern keine Skelette, wohl aber die verbrannten und nachträglich noch zerkleinerten Knochenreste der Toten. Aus einigen Merkmalen (Abnutzung der Zahnkronen, Größenverhältnisse einzelner Skeletteile) kann man noch Rückschlüsse auf Alter und Geschlecht des Toten ziehen.
In Abbildung 1 sehen wir in der Mitte eine zerbrochene Deckschale, welche auf die Knochenurne gestülpt war, diese steht aufrecht darunter. Verschiedene Beigefäße stehen um diese her, sie sind umgestülpt und stellen wohl Topfgerät dar, welches der Tote im Leben benutzte und das ihm ins Jenseits mitgegeben wurde. Andere Gefäße wiederum stehen aufrecht, sie enthielten zur Zeit der Grabsetzung die Totennahrung, von der wir hin und wieder verkrustete Reste im Innern der aufrechtstehenden Krüge und Kannen vorfanden. Das Grab selbst ist stark beschädigt, es war einst mit Steinplatten bedeckt. Als man aber während der Kriegs- und Inflationszeit hier Kleingärten[124] anlegte, rodeten die fleißigen Leute all die unbequemen Steine, die in zwanzig bis dreißig Zentimeter Tiefe den Wurzeln die nötige Nahrung versagten, aus, und zerstörten dabei die Gräber. Nur wenige kleinere Gefäße sind uns erhalten geblieben – Abbildung 1: die bauchige Henkeltasse links und die Tasse darüber. Die anderen Gefäße sind mehr oder weniger zerdrückt und müssen erst in mühevoller Kleinarbeit zusammengefügt werden.
Eine andere Art, das Geschlecht des Toten zu bestimmen, besteht in der Beobachtung der Beigaben. In Abbildung 2 ist ein Frauengrab dargestellt, das als solches durch die Beigabe eines Spinnwirtels (auf dem Erdkegel hinter der Bildmitte) dargestellt ist. Die Knochenurne steht am weitesten links, Hausgerätschaften sind in östlicher Richtung davor aufgereiht. Die Bestimmung des Alters der Toten durch Beobachtung der Größenverhältnisse der einzelnen Knochenreste führte bei dem Grabe auf Bild 3 und 4 dazu, das wir folgende Feststellung machen konnten: In dem schräg liegenden kleinen Gefäß auf der linken Bildseite (angebrochene Deckschale), lagen die Reste eines Kindes, dessen ungefähres Alter durch die Beigabe eines kleinen Fingerringes, der den Umfang der Fingerweichteile widerspiegelt, festgelegt ist. In der großen Knochenurne auf der rechten Bildhälfte war eine erwachsene Person beigesetzt.
[125]
Die bezeichnendste Grabform der Lausitzer Zeit ist die Steinkiste: Um eine wagerecht liegende viereckige Grundplatte stellte man aufrecht vier Wandplatten, setzte die Knochenurne und etwaige Beigefäße in die so entstehende Steinkiste hinein und deckte das Ganze durch eine Deckplatte zum Würfel ab. Auf Abbildung 3 sehen wir die durch den Pflug zerstörten Reste der Steinkiste auf der rechten Bildfläche bei der Urne mit den Überresten des Erwachsenen. In Abbildung 4 sind die Wandplatten beiseite geräumt, die zerdrückte Urne ist freigelegt und steht auf der granitenen Grundplatte. An ihrer rechten Seite gewahrt man ein kleines Schälchen, das unter dem eingezogenen Leibe der Urne gerade noch Platz gefunden hatte. Nur in Gebieten, wo der schalig klüftende Granit ansteht, konnten regelmäßige Steinkisten errichtet werden. Aber die Steinkiste ist nicht die Regel. Vom selben Gräberfelde stammt das Bild 5, welches eine Steinpackung darstellt, die allerdings durch Pflug und Rodung aus ihrer sonst völlig pflastermäßigen Ordnung gebracht ist.
Eine andere Grabanordnung mit reicheren Beigaben an Tonware bildet sich beim Übergang zur jüngeren Bronzezeit in den nächsten Jahrhunderten aus. Das Grab, welches in Abbildung 6 dargestellt ist, enthält nicht weniger als neunzehn Gefäße der verschiedensten Art. Auch dieses Grab ist durch den Pflug arg zerstört. Im Vordergrunde sieht man den Bodenteil der Knochenurne,[128] deren gehenkelter Oberteil nach der Bildmitte zu verdrückt ist. Zwischen beiden liegen in einem wirren Haufen die Reste des Toten.
Aber nicht immer bettete man den Toten zur letzten Ruhe in einer Urne. In Diehmen bei Gaußig fand ich in einer flachen Mulde die Knochen zu unterst frei in der Erde liegend, darüber war die Holzkohleschicht, die von der Totenverbrennung herstammte, geschüttet. Nicht ein einziger Schorb war auf dieser Grabstelle des bronzezeitlichen Gräberfeldes Diehmen zu finden. Das Vorkommen derartiger Brandschüttungsgräber erklärt uns aber auch die merkwürdige Tatsache, daß umfangreiche Gefäßstellungen aufgedeckt werden, in denen nicht ein einziger Knochenrest gefunden wurde. Ein solches Schein- oder Ehrengrab ist in den Abbildungen 7 und 8 dargestellt. In der Mitte stehen übereinander drei Gefäße, die zwei unteren aufrecht, das obere, welches stark zerdrückt war und von dem sich der Boden und ein Henkel in der Mündung des größeren Gefäßes zeigen, verkehrt. Ringsum aber waren sieben Krüge, Tassen und Kannen verkehrt aufgestellt. Gefühlsmäßig möchte man eine solche Grabstellung als Äußerung der Trauer ausdeuten.
Noch eine letzte Form der Totenbestattung sei hier gestreift und durch Bilder erläutert. An der Südseite des Grabes, Abbildung 9, sind deutlich die Gefäße in aufrechter bzw. verkehrter Stellung zu erkennen. Nach Norden zu[130] aber, in der Blickrichtung des Beschauers, erstreckt sich eine dicke Lagerung von Holzkohlen und Steinen: Die Verbrennungsstelle (Ustrine). Hier war der Tote niedergelegt und über ihm ein Scheiterhaufen aus wagerechten Bohlen, die wir noch fanden, und Hitzesteinen zum Aufspeichern der Wärme, errichtet. Diese sollten dazu dienen, den zu verbrennenden Körper auszudörren, damit bei den wenig heizkräftigen Brennmitteln jener Zeit der Körper verzehrt werde. Die Hitzesteine sind infolge der starken und wahrscheinlich wiederholten Erwärmung kantig zersprungen. Um das Grab äußerlich zu kennzeichnen, wurde aber auch ein Grabmal errichtet: Man rammte einen Pfahl senkrecht in die Erde, an dessen oberem Teile man irgendwelche Kennzeichnung des Grabes oder des Toten, vielleicht auch seiner Verdienste, seiner sozialen Stellung und wirtschaftlichen Lage anbrachte. Der Oberteil des Pfahles ist naturgemäß restlos vergangen, aber in der Tiefe ist er unter Luftabschluß verkohlt (wärme- und lichtlose Verbrennung). In Abbildung 10, die vom gleichen Standpunkte aus hergestellt wurde, zeichnet sich auf dem hellen Sandboden deutlich der Pfahlrest ab. In Abbildung 11 ist er aus größter Nähe aufgenommen, während Abbildung 12 seine letzten Überreste nach Abgrabung einer Zwanzigzentimeterstufe darstellt. Noch tiefer hinab kann man den Pfahl nicht verfolgen. Die hier auftretenden Kohlereste sind durch Regenwürmer noch weiter hinabgeführt, deren mit schwarzer Erde gefüllten Bohrlöcher man auf Abbildung 12 unter Zuhilfenahme eines Vergrößerungsglases noch erkennen kann.
Die vorgeführten Arten bronzezeitlicher Grabformen erschöpfen jedoch bei weitem nicht die zahlreichen Bilder, die bei genauem und wissenschaftlich[131] einwandfreiem Graben sich im Erdboden zeigen. Eine erschöpfende Darstellung war auch nicht beabsichtigt. Ich glaube aber nachgewiesen zu haben, daß trotz des ungünstigen Erhaltungszustandes – sämtliche vorgeführten Gräber waren durch Rodung oder Pflugbau zerstört – eine genaue Untersuchung noch überaus aufschlußreiche Ergebnisse zeitigen kann. Die Lehre aber, die man hieraus entnehmen wolle, ist diese: Wer vorgeschichtliche Reste in der Erde findet und seien diese noch so zertrümmert und unscheinbar, der wende sich an den nächst erreichbaren Fachmann, der mit geschulter Hand selbst noch so trostlos erscheinende Reste heimischen Altertums retten und der Wissenschaft erhalten kann. Die Meldestellen für Sachsen sind: Leipzig, Grassi-Museum, Dr. Richter; Dresden, Zwingermuseum, Dr. Bierbaum, Fernruf 18020; Bautzen, Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Stieberstraße 36, Fernruf 3773.
Von Otto Eduard Schmidt
Im Sächsischen Altertumsverein hielt am 3. Dezember 1925 Dr. Walter Hentschel, Assistent des Altertumsmuseums, einen mit vorzüglichen Lichtbildern ausgestatteten, überaus anregenden Vortrag über den »Meister H. W.« (siehe den Bericht von Dr. Naumann im Dresdner Anzeiger vom 8. Dezember 1925). So nennt die Kunstgeschichte einen besonders zwischen 1500 und 1525 in[132] Sachsen wirkenden Meister der spätgotischen Plastik, der zwei seiner Werke, das Altarwerk zu Borna vom Jahre 1511 und die »schöne Tür« im ehemaligen Franziskanerkloster zu Annaberg – jetzt in der St. Annenkirche dieser Stadt – mit den Buchstaben H. W. gezeichnet hat, die wir trotz langwieriger und sorgfältiger Forschungen auch heute noch nicht zu seinem vollen Namen zu ergänzen vermögen. Zu seinen leider nicht bezeichneten, aber durch ihre stilistische Eigenart ihm mit ziemlicher Sicherheit zuzuweisenden Schöpfungen zählen die beiden Pulthalter in der Stiftskirche zu Ebersdorf, die große Holzskulptur der Geißelung Christi in der Schloßkirche (ehemalige Klosterkirche) zu Chemnitz und vor allem die berühmte »Tulpenkanzel« im Freiberger Dom. Sie ist eine der auffallendsten und merkwürdigsten Erscheinungen in der bildenden Kunst überhaupt. Mitten hineingestellt zwischen die himmelanstrebenden schlanken Steinpfeiler des Doms, der in seinem ganzen Bau mit der starken Betonung des Schiffes und der fast durchgeführten Losschnürung des Chors vom Schiff als »Gemeindekirche« selbst eine Revolution gegen die althergebrachten Grundsätze der Gotik darstellt, ist die »Tulpenkanzel« der Gipfel und die Bekrönung dieser Revolution, entstanden in Jahren, wo der Sturmwind des neuen Geistes vom Munde des Wittenberger Augustiners zu wehen begann. Das ist keine Kanzel alten Stils, sondern eine steingewordene Riesenpflanze, die mit elementarer Gewalt in drei sich übereinandertürmenden Gestaltungen aus dem dürren Felsboden drängt, keine sanfte holländische Tulpe, sondern die saftstrotzende, kraftvolle, stacheltragende deutsche Distel, die oben in einem verhältnismäßig breitausladenden Blätter- und Blütenknauf ausgeht, dessen Inneres sich dem Prediger als Sprechort darbietet, wie wenn ein aus den Tiefen der Erde aufgestiegener Geist den Gläubigen die emporquellenden Geheimnisse verkünden wollte. (Abb. 1.) Allerhand Phantasiegestalten durchschweben den Raum: unten Putten in halber Bergmannstracht, oben die vier Kirchenfürsten Hieronymus, Erzbischof Ambrosius mit Mitra und Krummstab, der greise Papst Gregor und St. Augustin. (Abb. 2.) Blätter und Zweige schlingen sich um sie, schlingen sich ineinander und durcheinander, und so stark ist das Sausen des Sturmes, daß in zwei verschiedenen Höhen steinerne Seile die Ranken umschnüren und zusammenhalten und ein junger, zugleich die kühne Treppe tragender Berggesell diese Seile an das kahle, starke, die Treppe stützende Astwerk zweier entlaubter, ineinanderverwachsener Bäume verknotet. Was ist hier noch gotisch? Höchstens erinnern gewisse Linien der Distelblätter an gotische Säulenkapitelle, aber der Geist, der im Kunstwerke weht, gehört bereits der von den Fesseln der Gotik befreiten Renaissance an, die sich hier zunächst in dem ausgesprochenen Naturalismus der Gesamterscheinung und zweitens in der Symbolik ihrer Teile offenbart. So steht die »Distelkanzel[3]« wie ich sie, ihre wirkliche Erscheinung besser bezeichnend, nennen möchte, zwischen zwei Zeitaltern als ein Werk von ganz besonderer, niemals wiederkehrender Eigenart. Die Deutung des Ganzen auf eine Grundstimmung, die Beziehung[135] der Figuren zu der Zeit ihrer Entstehung, namentlich aber die Benennung der zu Füßen der Treppe sitzenden eindrucksvollen Mannesgestalt und des darüber, zwischen Treppe und Baumwerk eingeklemmten Jünglings war bis vor kurzen ein ungelöstes Rätsel. Die Erzählung vom Meister und dem Gesellen, der den Meister übertraf und deshalb von ihm den Tod erlitt – ein öfters vorkommendes Motiv der deutschen Sagenbildung – trägt den Stempel des Notbehelfs an sich. Der Vortragende verwarf sie mit Recht und erklärte den sitzenden Mann im Hinblick auf die um ihn kreisenden Löwen für eine Darstellung des alttestamentlichen Propheten Daniel in der Löwengrube. Daniel habe damals, allerdings nur kurze Zeit, in Sachsen als Patron des Bergbaus gegolten, und da doch die Kanzel vermutlich eine Stiftung der Freiberger Bergknappschaft sei, so habe der Meister hier den Propheten Daniel als ihren Patron dargestellt. Den Zusammenhang der Kanzel mit dem Bergbau und eine Beziehung der sitzenden Gestalt zum Propheten Daniel konnte man dem Vortragenden zugeben, wie hätte man sonst die den Mann bedrohenden brüllenden Löwen verstehen sollen? Aber unmöglich konnte ich in dem sitzenden Manne die Persönlichkeit Daniels erkennen. Wie kommt ein alttestamentlicher Prophet dazu, einen Rosenkranz in der Hand zu halten? Aber auch das Gewand (Schaube), die Schuhe und der Hut des Mannes sind durchaus zeitgenössisch, und nun vollends das Gesicht! Wer würde wohl je in diesem vollkommen realistisch geformten, vom Ohr bis zur Unterlippe ausrasierten Kopfe, der nur um das Kinn seinen starken Bartwuchs trägt, einen Propheten sehen? Wäre das eine Gestalt aus der Werkstatt der Phantasie des Meisters, so wissen wir aus seinen Pultträgern und Madonnen, und auch aus den Büsten der vier Kirchenfürsten im Blütenkelche der Distelkanzel, wie stark er und nach welchen Richtungen hin er zu idealisieren pflegt. Nein, die ganze herbe ungeschönte Erscheinung des Mannes, dazu auch seine Stellung als Hörer der Predigt zeigt uns, daß wir es hier mit einer Wirklichkeitsdarstellung, mit dem Bildnis eines Mannes von Fleisch und Blut, mit einem Porträt zu tun haben. (Abb. 3.) Und wie ich nun, noch während der Redner sprach, die nicht allzuvielen bekannten Freiberger der Epoche von 1500 bis 1520 an meinem inneren Auge vorüberziehen ließ, da durchzuckte es mich mit einemmal, und festumrissen stand eine Persönlichkeit vor mir, mit der ich mich in anderem Zusammenhange schon lange beschäftigt hatte, die einzige, die geeignet war, alle bisher ungelösten Rätsel der Distelkanzel zu entschleiern und uns dabei noch mit einem lange vermißten und lange gesuchten Bilde ihrerselbst zu beschenken: Ulrich Rülein von Calbe[4].
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Ich kann hier nicht auf die Einzelheiten seines noch gar nicht erforschten Lebens eingehen, aber in kurzen Worten sei die Bedeutung, die er für Freiberg im allgemeinen und für den Bergbau im besonderen gehabt hat, zusammengefaßt. Rülein von Calbe war im Übergang vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert auf geistigem, wie auf technischem Gebiete der Führer der aufstrebenden Freiberger Bürgerschaft und Bergknappschaft. Er war Ratsherr, Bürgermeister, Stadtarzt, Bergbauverständiger, Astrologe, Vermessungsingenieur und Organisator eines neuen Bildungswesens in einer Person. Im Jahre 1496 entwarf er den Plan, nach dem die Bergstadt Annaberg erbaut wurde, 1497 erscheint er als Stadtarzt, 1505 hat er das erste bergwissenschaftliche Buch der Welt verfaßt: »Ein wohlgeordnet und nützlich büchlein, wie man Bergwerk suchen und finden soll«, 1509 wird er Ratsherr, von 1514 bis 1519 war er Bürgermeister und als solcher bewog er die beiden tüchtigsten Humanisten der Leipziger Universität Johann Rhagius, einen Meister der lateinischen Beredsamkeit, und den begeisterten Apostel des Griechischen Peter Mosellanus nach Freiberg überzusiedeln. So wurde 1515 in Freiberg das erste humanistische Gymnasium der meißnisch-sächsischen Lande eröffnet. Gleichzeitig bekämpfte Rülein erfolgreich die in Freiberg besonders heftig auftretende Pest und schrieb 1521 ein längeres und ein kürzeres Büchlein über die Eindämmung und Heilung dieser Krankheit, auch entwarf er den Plan für den Bau der Stadt Marienberg, schmückte das Freiberger Rathaus mit »Gemälden der himmlichen Zeichen« und starb 1523 in Leipzig. Man wird zugeben, daß ein solches Universalgenie auch für den Meister H. W., dessen überaus reger und selbständig pulsierender Geist aus seinen Werken spricht, der wichtigste Mann in Freiberg war und daß es für den Meister eine der lockendsten Aufgaben sein mußte, dieses Mannes Bild festzuhalten und statt irgendeiner Idealgestalt diesen bedeutendsten Bürger der Stadt in Zusammenhang mit seinem großartigen Kanzelwerk zu bringen. Der augenscheinliche Beweis dafür, daß dies geschehen ist, findet sich in dem oben erwähnten Bergwerksbüchlein. Der erste Druck desselben aus Augsburg vom Jahre 1505 ist, wenn er überhaupt vorhanden ist, eine große Seltenheit, ich konnte ihn in keiner sächsischen Bibliothek auftreiben. Dagegen fand ich in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden wenigstens die zweite Ausgabe aus Worms 1518 (Abb. 4) und die vierte von Augsburg 1534[5]. Und gleich auf der[138] zweiten Seite des Wormser Druckes leuchtete mir die Überschrift in die Augen: »Daniel der bergverstendig zum jungen Knappio.« Also bezeichnete sich Rülein selbst hier als den bergverständigen Daniel. Wie kam er darauf? Der Prophet Daniel galt, wie der Joachimsthaler Pfarrer Johann Mathesius in seiner »Bergpostilla« (Nürnberg 1578) Seite 40 bezeugt, den Bergleuten für einen Bergmann, »weil er (im Kapitel 10) die vier Keiserthumb in vier metallen abmalet und des Sons Gottes arm und füsse in einem gluwen (glühenden) ertz oder kupffer oder glantzendem kiß oder marckasit gesehen und gehört habe.« Die Stelle im zehnten Kapitel Daniel lautet: »Sein Leib war wie ein Türkis, sein Antlitz sahe wie ein Blitz, seine Augen wie eine feurige Fackel, seine Arme und Füße wie ein glühend Erz und seine Rede war wie ein große Getöne«.
Rülein hat schon als Stadtarzt von Freiberg, ferner als Bürgermeister, vor allem aber als Verfasser des Bergwerkbüchleins, viele Beziehungen zur Freiberger Bergknappschaft und auch zu den Bergherren gehabt, die, wie er,[139] der Ansicht waren, daß die Erze nicht im Inneren der Erde festliegen, sondern von Fall zu Fall unter besonderen, von Gott bestimmten Verhältnissen im Berge wachsen und sich dem frommen, geschickten und ernstlich strebenden Bergmanne »höflich zeigen«, d. h. sich von ihm erbeuten lassen, während Gottlosigkeit und Ungeschick der Bergleute es den finsteren Geistern der Tiefe ermöglichen, das Erz wieder in Quarz und dergleichen wertloses Gestein zu verwandeln oder dem Bergmanne zu entziehen. Rüleins Bergwerkbüchlein lehrte die Kunst, den wachsenden Erzen richtig zu begegnen, kein Wunder also, daß er auch deshalb wie ein Patron des Bergbaus erschien und an der von den Bergleuten gestifteten Kanzel sein wunderbares Denkmal erhielt.
Aber die Löwen, die ihn umkreisen, werden hierdurch noch nicht erklärt. Denn sie können kaum, wie Dr. Hentschel will, als Symbole der Gefahren des bergmännischen Berufs aufgefaßt werden. Erstens waren die Gefahren in jener alten Zeit, wo die Gruben noch nicht so tief »geteuft« waren, weit geringer als später und zweitens war doch Rülein kein aktiver Bergmann und deshalb nicht so sehr von ihnen bedroht. Und doch war er, der sich selbst als den bergverständigen Daniel bezeichnete, ein »Daniel in der Löwengrube«, d. h. ein Mann, der fortwährend schwerer Lebensgefahr ausgesetzt war. Denn er hat als Stadtphysikus nicht nur durch seine Schriften, sondern auch als praktischer Arzt die furchtbaren Pestepidemien bekämpft, die in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts Freiberg heimsuchten. Gerade im Jahre 1521 wütete die Seuche in Freiberg so furchtbar, daß Herzog Heinrich und seine Hofleute auf die an der oberen Zschopau gelegene Feste Wolkenstein entflohen und daß in Freiberg zum ersten Male, offenbar auf Rüleins Antrag, zur Befreiung der Stadt von den furchtbaren Verwesungsstoffen ein Friedhof außerhalb der Mauern, der noch heute bestehende Donats-Friedhof, angelegt wurde. In seinen »Freiberger Annalen« schreibt der Chronist Andreas Möller zum Jahre 1521: »Sonst hat dieses Jahr die Pest gewaltig zu Freybergk regieret, also daß von Bartholomaei bis Trium Regum (Dreikönigstag) über zweitausend Personen gestorben, daher Hertzog Heinrich zu Sachsen nicht allein eine gewisse Pestordnung publicieren lassen, sondern auch dem Rath befohlen, für die Toten den Donatskirchhof für (vor) der Stadt zum Gottesacker und -gemeinen Begräbnüs zuzurichten … Die Pestordnung ist Sonntags post Ascensionis Mariae, war der 19. Augusti, der Gemeine fürgehalten worden … deßwegen auch die Hofhaltung eine Zeitlang von hier auff Wolckenstein geleget worden.« Daß bei der Aufstellung und Durchführung der Pestordnung Dr. Rülein in seiner Doppeleigenschaft als Stadtarzt und Bürgermeister die wichtigste Rolle spielte, ist selbstverständlich.
Der Meister H. W. hat den Ulrich Rülein von Calbe, als er seine Distelkanzel für den Dom entwarf, zunächst wohl als den Repräsentanten des Freiberger Stadtgeistes und als geistigen Patron des Bergbaus ins Auge gefaßt, darüber hinaus aber gab ihm dessen selbstgewählter Name Daniel die Veranlassung, als Symbol der furchtbaren Gefahren, die ihn und die Bürgerschaft während der Pest umtobt hatten, die gräßlichen Löwen an der Kanzel anzubringen[141] und damit zu sagen: wie der Prophet Daniel durch Gottvertrauen und Mut die Ungeheuer der Löwengrube überwand, so hat Rülein, durch unerschrockene Hilfeleistung als Arzt die Stadt von der Pest befreit. Demnach ist die Gestalt Rüleins, wie er zu Füßen der Kanzel demütig der Dankpredigt lauscht, die seine und der Bürgerschaft Errettung feiert, durch die ihn umkreisenden Löwen zugleich ein Denkmal für das Heldentum, das er als Arzt bewiesen hat. (Abb. 5.)
Von diesem Gedanken aus verstehen wir erst den ganzen Sinn der Stiftung: sie ist ein Denkmal der Errettung der Stadt von der furchtbaren Seuche, dargebracht von der Bergknappschaft und ausgeschmückt mit dem Bild ihres geistigen Führers und heldenmütigen Arztes. Deshalb meine ich, daß die Distelkanzel nicht schon 1520 im Dom aufgestellt sein kann, sondern erst 1521, und zwar erst gegen das Jahresende. Erst unter dem Drucke der furchtbarsten Pestepidemie, die Freiberg heimgesucht hatte, gewinnen die Löwen ihre prägnanteste Bedeutung.
Aber es gibt noch mehr Beziehungen zwischen dem Bergwerksbüchlein und der Distelkanzel. Das Baumwerk, an dem die Kanzel verankert ist, findet sein Gegenstück in dem Baumwerk, das Rülein in einigen Zeichnungen seines Bergbüchleins verwendet hat, um der Bergwerkslandschaft ihr Gepräge zu geben. (Abb. 6.) Auch ähnelt die schuppenartige Gesteinschichtung des Rüleinschen [142]Goldwerkbildes auf dem Bogen CV in dem Augsburger Druck von 1534 (Abb. 7) sehr der Felsschichtung, aus der sich die Distelkanzel des Freiberger Doms erhebt. Wer kann sagen, ob diese Übereinstimmung, wenn sie nicht eine rein zufällige ist, darauf hindeutet, daß der Meister H. W. den Rülein beeinflußt hat, oder ob Rüleins technisch und künstlerisch gebildeter Geist den Meister H. W. dahin beeinflußte, daß er seiner kühn naturalistischen Kanzel durch Anlehnung und Verknüpfung an die entlaubten, ineinanderverwachsenen Baumstämme Halt verlieh? Auch das Baumwerk am Portal der Chemnitzer Schloßkirche, in das der Meister H. W. später seine Gestalten hineingestellt hat, ist eine Weiterbildung des bei der Distelkanzel und noch früher schon im »Bergwerksbüchlein« verwendeten naturalistischen Motivs. Jedenfalls bestanden zwischen diesen beiden hochstrebenden Geistern, dem Meister H. W. und dem Bürgermeister Rülein, tiefwurzelnde Beziehungen und Wechselwirkungen. Diese Beziehungen wurden auch nach der Vollendung der Distelkanzel weitergesponnen. Denn der Meister H. W. hat noch ein zweites Werk geschaffen, in dem Ulrich Rülein von Calbe leibhaftig dargestellt ist: das ist ein allerdings stark verwittertes, aber in den Hauptzügen noch wohlerkennbares kreisrundes[143] Hochrelief, das ursprünglich als Schlußstein des Gewölbes über dem Bergaltar der St. Annenkirche diente, später aber an der Ecke eines Vorhäuschens zur Kirche angebracht war (s. Ernst Oswald Schmidt, Die St. Annenkirche zu Annaberg S. 34) und sich jetzt im Innern befindet. In diesem Relief ist nicht der geschichtliche Vorgang der Fündigwerdung Annabergs vom 27. Oktober 1492 dargestellt, sondern die sich darum rankende Sage, in der der schürfende Bergmann Caspar Nietzel aus Frohnau, offenbar unter dem Einfluß von Rüleins Bergwerkbüchlein, ersetzt ist durch den »armen Bergmann Daniel Knappe«. Wir besinnen uns darauf, daß in Rüleins Büchlein der Bergverständige Daniel zu dem jungen Knappius spricht. Wir sehen auf dem Relief (Abb. 8) die Tanne, in deren Zweigen Daniel Knappe, einem Traume folgend, vergebens nach den silbernen Eiern gesucht hat. Darüber schwebt noch der Engel Gottes, der ihm den Gedanken eingab, daß auch die Wurzeln zu den[144] Zweigen gehörten. Auf der rechten Seite sehen wir, wie ein Bergmann nunmehr mit Erfolg an den Wurzeln des Baumes geschürft hat, in der Mitte steht Daniel Knappius, der den Fund in der Hand hält und ihn dem wieder in seiner Schaube und dem eigenartigen Hut erschienenen Bergverständigen Rülein zeigt, der den Fund begutachtet. Er ist unterdessen älter geworden, das Gesicht ist faltig, aber die Ähnlichkeit mit der sitzenden Gestalt am Fuße der Distelkanzel unverkennbar. Auch die an der Freiberger Figur verstümmelte und (1862) schlecht ergänzte Nase ist hier als eine echte Adlernase erhalten. Das ganze ehrwürdige Antlitz zeugt von Geistesschärfe und Willenskraft. In dieser aus der vollen Realität des Lebens gegriffenen, durchaus individuellen Gestalt die Darstellung des alttestamentlichen Propheten Daniel zu finden, ist mir schlechterdings unmöglich, zumal da hier auch nicht das geringste Symbol vorhanden ist, das sich auf den Propheten beziehen ließe. Ebensowenig aber läßt sich an der Identität des Annaberger Porträts mit dem an der Distelkanzel zweifeln.
Das Annaberger Relief des Meisters H. W. ist spätestens im Jahre 1525 gefertigt, in welchem der Tradition nach die Annenkirche vollendet wurde, vielleicht auch schon einige Jahre früher, jedenfalls kurz vor oder kurz nach Rüleins Tode (1523). Aber er verdiente es wohl, auch hier im Bilde verewigt zu werden, denn abgesehen von seinen allgemeinen Verdiensten um den Bergbau, hatte er auch schon 1496 (siehe oben) den Plan entworfen, nach dem die Stadt Annaberg erbaut wurde. Alles schließt sich zwanglos zu einem in sich gefestigten und gerundeten Beweise zusammen, so daß ich glauben kann, die von Walter Hentschel umsichtig eingeleitete und bis zu einem gewissen Punkte geführte Untersuchung über das größte und wichtigste Werk des Meisters H. W. in einem neuen Geleise weitergeleitet und zu einem für die Geistesgeschichte Freibergs wie für die sächsische Kunstgeschichte gleich wichtigen Ergebnis glücklich durchgeführt zu haben.
Zum Schlusse möchte ich noch eine Vermutung über die Herkunft und den wesentlichen Wohnort des Meisters H. W. wenigstens aussprechen, wenn ich auch ihre Richtigkeit nicht beweisen kann. Der Meister H. W., unstreitig der bedeutendste sächsische bildende Künstler, der im Zeitalter des Übergangs von der Spätgotik zur Renaissance gelebt und gewirkt hat, ist so tief in dem Wesen des Bergbaus und seiner Technik verankert, daß ich ihn für ein Freiberger Kind halten möchte. Und wenn er das nicht sein sollte, so hat ihn vermutlich Ulrich Rülein, wie er den Rhagius und den Mosellanus herbeiholte, aus einer Bergstadt, etwa aus dem Mansfeldischen, nach Freiberg gezogen, wo er in seiner besten Zeit in enger Gemeinschaft mit Rülein den Mittelpunkt seines Schaffens fand. Will man Genaueres über sein Leben und Wesen und vielleicht auch seinen vollständigen Namen feststellen, so muß man zunächst die städtischen und bergbaulichen Akten des Freiberger Ratsarchivs und des Freiberger Bergamtes nach den Spuren dieser großen Persönlichkeit durchforschen.
Fußnoten:
[3] Man vergleiche mit unserem Kunstwerk z. B. das Bild der gemeinen Eselsdistel bei Leunis, Botanik II, S. 77.
[4] Die Quellen über sein Leben fließen sehr spärlich. Vergebens hat Prof. Dr. Knauth in Freiberg auf meine Bitte in den Akten, die das Bergamt aus den Jahren 1514 und 1518 über die Bergknappschaft besitzt, Rüleins Namen gesucht. Dagegen findet er sich im Ratsarchiv an drei Stellen im »Roten Stadtbuch« von 1488–1518 fol. 172v: der burgkmeister udalrich rulin … (a. 1514), S. 206 zweimal: udalrich rulin Burgkmeister (a. 1517) und ebenda ist auch von seinem Hause (jetzt Fischergasse 6b) die Rede (vgl. Täschner, Freib. Alt. Vereins-Mitt. 50, S. 71). – Außerdem erwähnt Weller in seinen Analecta II, S. 30 und 31, das vergebliche Auftreten Rüleins im Rate für eine bessere Besoldung der in Freiberg wirkenden Humanisten Rhagius und Mosellanus (dazu vgl. O. Clemen N. A. S. XLI, S. 135 f., und meine Kurf. Streifz. V, S. 79).
[5] Man darf allerdings im Katalog nicht unter dem Namen Rülein suchen, sondern unter dem Wort Büchlein; denn das Werkchen ist anonym erschienen und wir wissen nur durch zwei Zitate des Chemnitzers Georgius Agricola, De re metallica libri XII (Vom Bergwesen zwölf Bücher), in der Einleitung fol. 2v und pag. 54, daß Rülein von Calbe (Calbus Fribergius) der Verfasser des Bergwerkbüchleins ist. Am Schluß des älteren Dresdner Exemplars des »Bergwerksbüchleins« liest man: Getruckt zu Wormbs bei Peter Schöfern und volendet am fünfften tag April. M. D. XVIII.
[145]
(Zu seinem 50. Geburtstag am 5. Juni 1926)
Von Alfred Venter, Chemnitz
In den Fenstern des großen Fichtelberghauses liegt roter Sonnenglanz. Sanft streicht der Gipfelwind über knorriges Nadelgestrüpp. Da wandern wir auf dem breiten Prinzenweg talwärts durch die tiefe Einsamkeit des erzgebirgischen Waldes. Ein einziges Stimmlein geht mit uns von Wipfel zu Wipfel, und wenn es schweigt, dann hören wir von fern und nah nur das heimliche Rauschen der Wälder. Plötzlich öffnet sich das Land nach Westen. Auf dem breiten Kammrücken liegt, von den höchsten Bergen bewacht, eingebettet im Heideland und düsteren Moorgrund, ein freundliches Städtchen. Hart packen hier die Wetterstürme zu; wie die Kücken um die Gluckhenne scharen sich drum die sauberen, weißen Häuser um die Kirche. Wer kennt nicht die kleine Stadt mit dem frommen, kerndeutschen Namen, die höchstgelegene Stadt Mitteleuropas, die eintausendundachtzehn Meter über dem Tiefland sich erhebt? Wohl gewahrt der Vielgewanderte die Anzeichen des fremden Landes, aber es ist, als ob geheime Stimmen ihn anriefen: »Komm herüber zu uns; denn wir sind deines Stammes und Blutes und haben die Bergheimat lieb wie du! Kehr ein zu Gottesgab im böhmischen Lande!«
Am besonnten Wiesenhang strecken wir uns hin und fühlen den tiefen Frieden des Erzgebirges wie ein unsichtbares Flügelpaar über uns hinrauschen. Hinter uns, zur Linken und zur Rechten, wo bis zum Himmelsrand die Wälder auf- und niedersteigen, klingt es wie eine ewige Melodie. Die Heide ist voll frohen Gesummes. Die Zippen schwatzen, und die Ziemer fallen lärmend in die Vogelbeerbäume an der Straße. Der würzige Duft des Bergwindes umweht die Wange, da hebt im Talgrunde das Ave-Glöcklein an und schallt über Höhen und Wälder und kündet denen, die in den verstreuten Hütten des Moor- und Heidelandes wohnen: ’s ist Feierabend. Und es ist, als ob einer die Harfe nähme und dazu sänge:
Frieden zieht ins unruhvolle Herz, vergessen ist der laute Tag, aus dem wir kamen, fern der Menschen Neiden und Hassen, froh und frei wird die Brust … da klingt von den Straßen der Takt der Wanderschritte, und[146] wie sie an der Waldecke sind, stimmt einer die Laute an. Horcht auf, ihr Herzen, wie ’s über die Höhen und Täler klingt! Kennt ihr das Lied?
Und beim Singen drüben winken sie uns zu, und Busch und Baum singen es mit. Wie oft haben wir es schon gehört, auf den Bergen, in den Hütten, in den Schulen, auf den Bergbahnen, und der es zuerst gesungen, dem es aus dem Herzensgrund gekommen, das ist der Volksdichter des Erzgebirges Anton Günther, der Toler-Hans-Tonl von Gottesgab.
Am Waldhang, wo wir liegen, hat auch er als kleiner Bub gelegen mit dem Hirtenhütl und dem gebirgischen Gewandl und des Vaters Ziegen gehütet, und hat den Waldvögeln gelauscht und mit dem kiesigen Bächlein Zwiesprache gehalten, und das tiefe, heimliche Rauschen der Heimatwälder ist ihm durch Herz und Seele gezogen, daß er es hat nimmer vergessen können.
So sind wir auf stillen, reinen Wogen in des Dichters Lande gekommen und ziehen seine Heimatstraße hinab nach Gottesgab. Am »Neuen Haus«, der großen, schönen Einkehrstätte an der Grenze zwischen Sachsen und Böhmerland, müssen wir vorerst vorüber. Da ist immer ein lebhaftes Gedränge von wanderfrohen Menschen. Aus den Stuben erschallt Saitenspiel, singt man des Toler-Hans-Tonls Heimatlieder. Dann gelangen wir zum Verbrüderungsturm; der trutzige, leider nur halbfertige Bau erinnert wehmütig an jene Tage, da alte Nibelungentreue noch lebte und Alt-Oesterreichs Herrlichkeit noch festzustehen schien wie die Berge ringsumher. Bald sind wir mitten in der schnurgeraden Häuserzeile: Gaststätten und Weinschenken laden uns ein. Ein Hündlein bellt uns an, ein Brunnen rauscht am umgrünten Markt. Erzgebirgischer Stadtfrieden umfängt uns. Der Name Günther ist hier und da zu lesen. Oben am Rande der braunen Heide steht schlicht und einfach das Häuschen des Toler-Hans-Tonl.
Aus Gottesgab zog einst der Großvater Anton Günthers mit den Seinen hinab ins »Tol«, (Joachimstal) und sein Vater »Dr Tolerhans« kehrte wieder heim in die »Gutsgoh«, nachdem er beim großen Brand der Stadt Hab und Gut verloren. Aus dem armen Bergmann wurde ein ebenso armer Stickmeister. Sein Reichtum bestand in zehn Kindern, einem verschuldeten Häuschen und in einem echtdeutschen Herzen.
[147]
Es ist fast wie ein ewiges Gesetz in der Welt: je ernster das Gesicht der Heimat, desto lieber haben sie die Menschen. Längst ist auch hier oben der Bergsegen erschöpft, karg der Boden, die Bearbeitung schwer, gering der Verdienst, den Hausklöppeln und Sticken abwerfen; der Nebel drückt schwer auf die kleinen Schindeldächer, und an die Türen pochte oft die Not. Was wissen von dem allen die Menschen im bequemen Unterland? Da ist es eine Gottesgabe, ein frohes Herz zu behalten. Auch den Tonl, den Zweitältesten daheim, traf das Los des armen Erzgebirglers: es kam der Tag, da er Abschied nehmen mußte vom bunten Wiesenhang, vom lieben Wald mit seinem Singen und Klingen, aus dem der Kuckuck ruft zur Frühlingszeit. Sein Herzenswunsch, Forstmann zu werden, fand keine Erfüllung; er mußte in die Fremde ziehen. Doch zunächst ging es noch nicht allzuweit, gerade so weit, daß er den weißen Schneemantel des Fichtelberges sehen konnte, hinter dem die Heimat liegt. Hier in Buchholz lernte er bei Eduard Schmidt die Kunst des Lithographierens. Aber bald wachte in seinem Herzen auf, was alle Kinder des Berglandes plagt: die Sehnsucht nach daheim. Fast zur Heimkrankheit wurde sie, als er später nach Prag kam. In der Hauptstadt des Böhmerlandes, dem goldenen Prag, wo die Menschen so fremd und stolz, die Straßen so laut, die Herzen so hart, die Worte so liebeleer waren, konnte das rauschende Leben das Herz des stillen Erzgebirglers nicht satt machen. Wohl war er einsam, doch nicht allein. Allerlei Freunde und Bekannte aus der Heimat fanden sich hier regelmäßig zu einem »Gutsgewer Omd« zusammen. Der war wie eine Insel im weiten Meer der Fremde. Hier tauschten sie Heimaterinnerungen aus und stärkten einander im Kampfe um ihr Deutschtum, indem sie alles Undeutsche in Wort und Wesen verbannten und das deutsche Lied sangen. Denn gesungen wird immer, wenn Erzgebirgler beieinander sind; dazu ward die Fiedel gestrichen und die Harmonie gespielt. Wohl sprachen sie miteinander in der Mundart der Heimat, wohl pflegten sie den deutschen Sang, aber eins vermißten sie schmerzlich: ein erzgebirgisch Lied. Und sieh, da geschah es, der Toler-Hans-Tonl erzählt es selbst: »Ich weiß selbst nicht, wie es kam, ich war gerade beim Gravieren, da summte mir eine Melodie durchs Gemüt, meine Gedanken waren im alten Elternhäusel daheim, und ein Lied war fertig. Ich brachte es zu Papier. Es war mein erstes Lied: Drham is drham. Mir war, als sei mir ein Stein vom Herzen gefallen, und je mehr später Lieder entstanden, desto leichter wurde mir.«
Das war eine Freude, als er es zum ersten Male am »Gutsgewer Omd« seinen Landsleuten vorsang! Jeder wollte es haben. Da vervielfältigte er es auf Postkarten, ließ hundert Stück davon drucken, und jeder schickte davon ein paar in die Heimat. Als er zu Weihnachten heimkam, da ward es schon im Konzert des Gottesgaber Gesangvereins mit hellem Jubel gesungen, und alle sangen es mit. Um die Not im Vaterhause zu lindern, ließ es der jugendliche Dichter abermals drucken, und zwar mit Singweise, und von den Seinen verkaufen. Erzgebirgische Wanderkapellen spielten es. Langsam, aber mit steigendem Erfolg, fand das erste erzgebirgische Lied seinen Weg in die Welt.[148] Ihm folgten bald andere. Sein Herz war stets daheim bei den Seinen, und seine Hand arbeitete in der Fremde für sie. Immer standen der Heimat Bilder um ihn her; er träumte sich in seinen Liedern hinauf an die »Grenz ve Sachsen, wu da Schwarzbeer wachsen«, wo die Lüfte so frisch, frei und rein wehen, wo er zur Gongazeit am Heidehang der Lerche gelauscht, wo der Lenzwind die Schneedecke wegfegt und die Himmelschlüssel weckt, wo im Herbst die Weinbeeren des Erzgebirges glühen, die korallenroten Vogelbeeren, und wo er auf der Heide den toten Vogel fand, der vor Heimweh nach den grünen Wäldern gestorben ist. Der Heimat liebe Gestalten kamen auf allen Wegen ihm entgegen, die Kinder des Waldes und die schlichten Menschen des Gebirges, denen sein Herz gehörte, der »Schwammagieher« der »Muhtstacher«, der alte Musikant der »alta Bordenhannler« und »Hannelsmah«, der mit seiner Hausierkraxe von Tür zu Tür geht. Nicht nur das schlichte Volksdichterwort, auch die Musik klang zugleich in ihm auf, und weil er auch ein Malersmann ist, nahm er den Künstlerstift und zeichnete zu jedem Liede ein liebes, gemütvolles Bildchen dazu. Bald riefen ihn auch andere deutsche Vereinigungen in Prag, selbst in Wien mußte er seine Lieder singen. Zu seiner Freude erlebte er es, daß er dadurch seine Brüder in der Fremde unterstützen und den Seinen in der Heimat helfen konnte. Für sie arbeitete er, zeichnete er, gab Zitherstunden, mußte zwischendurch nach Komotau einrücken, um dem Vaterlande zu dienen, und war »immer zum Singen bereit«. Die Not daheim ward nicht geringer. Er sah den Alten im Vaterhaus, von Sorgen gedrückt, bis tief in die Nacht hinein beim Stickmuster sitzen, sah die »alte Mahm« daheim unermüdlich am Klöppelsack sitzen und Mutter und Schwester nähen. Da entstand in tiefer Nacht eins seiner ernstesten und besten Lieder: »Mei Vaterhaus«.
Dies ist ein tiefsinniges Bekenntnis, das manch einer draußen in der wilden Welt sich zu Herzen nehmen könnte: »Erst kommt mein Vaterhaus und alles, was in ihm lebt und webt, und dann komm ich«. Dem alten Vater rollten die Tränen in den Bart, als er das Lied zum ersten Male hörte, und noch einmal hatte er die Freude, seine drei Söhne und die kranke Tochter in Prag zu sehen … noch einmal …
Wie manchesmal mag es der Toler-Hans-Tonl gesungen haben, wenn er in guten und in bösen Tagen in die alte Heimat heraufgewandert ist, und immer war er »fruh, wennrs Heisl sah«.
Dort oben sang es und klang es aus den kleinen Hütten, trotz Sorgen und großen Plagen, wenn am Feierabend die Sternlein über den Wäldern standen; doch an jenem Novemberabend, als er mit pochendem Herzen heimkam, war es finster im Vaterhaus, und alle weinten. Der Vater war tot –. Erst fünfundzwanzigjährig, mußte Anton nun an dessen Stelle für die Seinen sorgen. Doch das Schicksal konnte ihn nicht niederdrücken. Er nahm die Arbeit und Fürsorge um so tapferer auf, als er doch endlich nun daheim war. Wenn aber der Abendfriede über den Bergen der Heimat lag, nahm er nach des Tages Mühen die Gitarre zur Hand und sang sich das Herz frei. In dieser Wehstimmung nach des Vaters Tod entstand eines seiner innigsten und musikalisch bedeutsamsten Lieder, der vielgesungene »Feieromd«, dessen letzte Strophe lautet:
Um diese Zeit, als er sich im »Tiroler« eine kleine Verkaufsstelle seiner Lieder eingerichtet hatte und des Sonntags oft mit einem Rucksack voll hinauszog über die Berge, floß reich der Liederquell in seinem Innern, wenn er mit Freunden aus fern und nah zusammensaß, dann rollte froh und heiter das alte österreichische Musikantenblut in ihm, dann ward wohl auch mal »derzehlt on Hetz gemacht bis oft nach Mitternacht«. Aber dann zog es ihn wieder hinaus in die heilige Ruh des Waldes, wo so »stad« der Wind weht – und das »Zäßichla« singt. »Ja frei ist der Mensch när do draußen in Wald«, wo »der Wilpertschütz hie dorch de Fichten schleicht« und im Dickicht die Schwämme sich verstecken. Dort draußen in der tiefen Einsamkeit stieg ihm auch einst aus seines Herzensgrund eines seiner lustigsten und volkstümlichsten Lieder: »Da Draakschenk«. Immer wieder kehrte er heim zum liebsten Erdenfleck, ins Vaterhaus zu den Seinen; denn sie brauchten ihn und seine Hilfe. Er fühlte, daß hier die Wurzeln seiner Kraft und seiner Lieder waren; nimmer vergaß er in Dankbarkeit das »arme Stüwel«, aus dem all seine Heimatsänge stammen.
[150]
Wie viele zogen von Gottesgab, Preßnitz, Reitschdorf und Kesselwald aus ihrer Heimat in die Fremde. Die Gabe der edlen Musika und das wanderlustige erzgebirgische Gemüt steckte in ihnen und trieb sie von Ort zu Ort, aber glücklich sind sie draußen nicht geworden. Vöglein, die sich in die Welt verflogen. Im Volksmund wurden die böhmischen Musikanten die »Fatzer« genannt. Mit dem Lammetierholz (Klarinette), der Harmonie, der Fiedel und dem Waldhorn zogen sie in fremden Städten, auf Jahrmärkten, unter fremden Menschen rast- und ruhelos umher, abgesprengt von ihrem Volkstum. – –
Im Gasthaus am Fuße des Fichtelberges, von den Einheimischen das »Neue Haus« genannt, ging es vor zwei Jahrzehnten schon immer lustig zu. Da sangen zur Fremdenzeit die alten Schubert-Leute, das »blinde Madl«, der Wolf Tonl und der alte, blinde Vater Lehnhardt. Aber was sie sangen, waren zumeist bayrische, Wiener und Tiroler Lieder. Wohl waren das frohe, muntere Weisen; das erzgebirgische Lied gab es damals noch nicht. Das hat als erster Anton Günther, der erste und beste Volkssänger des Erzgebirges, geschaffen. Bald verlangten die Fremden, die immer zahlreicher, selbst in sturmbrausender Winterszeit heraufkamen, nur noch die lieben, anheimelnden Sänge des Erzgebirges zu hören, sangen sie begeistert mit, trugen sie weiter und erhoben damit manches Gemüt, das durch das seichte Operettenlied schon angekränkelt war. Namentlich am Heimatorte des Dichters selbst erklangen sie aus allen Schankstätten. Wer erinnerte sich da nicht des kleinen »Annl«, im Tiroler, die dem Dichter alle seine Lieder ablauschte und so rührend auf der Gitarre den Gästen vortragen konnte? Musikkapellen und Harfinisten sangen sie auf ihren Reisen, so daß sie heute in ganz Deutschland und weit darüber hinaus bekannt sind. So ward Anton Günther mit seinen Liedern der Lobkünder seiner erzgebirgischen Heimat draußen in der weiten Welt, und der Segen kam von einem kleinen, schlichten Haus und kehrte wieder dahin zurück, ins Vaterhaus, einem »Hüttl, när aus Holz gebaut«.
Unweit davon hat sich der Volksdichter ein eigenes Heim geschaffen. Es ist ebenso schlicht wie das alte Haus, aber es ist umklungen von seinen Liedern. Wie oft kommen nicht eine fremde Wanderschar oder eine Schulklasse und singen vor seiner Tür das volkstümlichste seiner Lieder: »Wu da Wälder hamlich rauschen« oder ein paar alte Musikanten kehren heim und singen ihm: »Vergaß dei Hamit net«. Auch allerlei neugierige Leute tauchen hin und wieder auf, die da meinen, einen Dichtersmann mit der Brille, immer mit Büchel und Feder bewaffnet, zu sehen, und sie finden einen biederen, schlichten Erzgebirgler im Ehrenkleid des Werktags, der für Weib, Kinder und Heimatscholle schafft, getreu seinem Wahlspruch:
[151]
Es ist doch wundersam: Gar mancher mit und nach ihm hat Volks- und Heimatlieder gesungen und ersonnen, aber nur wenigen sind sie gelungen. Wer Anton Günthers Lieder hörte, vergißt sie nicht gleich wieder. Sie kommen aus dem Herzen und gehen zu Herzen. Das könnte vielleicht als billige Redensart angesehen werden, aber man fühlt: diese Worte in der Mundart des Erzgebirgsvolks, die er vorerst gar nicht aufs Papier zu bringen und in die Welt zu schicken sich traute, sind echt, wahr und klar, schlicht und einfach, treffsicher, ohne Schnörkel und Künstelei, und zu ihnen paßt die Melodie. Sie erscheint, wie bei jeder guten Vertonung, als die Fortsetzung, die Ergänzung und Verinnerlichung. Sang und Klang sind eins geworden. Mit ein paar einfachen Akkorden drückt er aus, was vielen in umständlicher Rede kaum zu sagen gelingt. Hier ist erfüllt, was einst ein großer Dichter über den echten Volkssänger sagt: »Er wecket der dunklen Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar schliefen.« Wie in dem Meistererzähler des österreichischen Volksstammes Peter Rosegger lebt in ihm die aufgespeicherte, unverbrauchte Gemütskraft der Bergkinder. Ein stilles Flämmlein wird zum Lichtschein, der vielen leuchtet. Schlichte Lieder nur wollen seine Sänge sein, aber sie tragen die Merkmale echter Dichtung: sie sind aus einem Erlebnis erwachsen, sind eine Eingebung und ein Stück Bekenntnis. Mit feinem natürlichem Empfinden ist auf den meisten seiner Karten zu lesen: Dies Lied entstand 1907 usw. Er kann keine auf Bestellung machen, wie etwa die Reklamedichter der modernen Zeit. In seinen Liedern leben die Düfte des Heidelands und der Morgenwind, der darüber weht, das Echo der Bergwälder und das Rauschen der Bäume, jenes unsagbar heimliche und tiefe Rauschen des erzgebirgischen Waldes, dem kein anderes vergleichbar ist. Aus ihnen steigt der herbe Duft der Erzgebirgsscholle, der gesunde Anhauch des Fichtengrünes; das Murmeln des kiesigen Waldbächleins flüstert in ihnen und der Liebeszwiegesang der gefiederten Sänger, die in den Zweigen wohnen. Frage den Wald, warum er rauscht, frage den Wind, warum er weht und wohin er geht, frage den Toler-Hans-Tonl, warum und wie er singt:
So sind bis heute über hundert herzinnige Lieder entstanden, davon sind vierundsiebzig zu singen und mit Bildern geschmückt, und klingen in den Bergen und in gar manchem Menschenherzen.
Es ist nur eine engbegrenzte Welt, die sein Lied besingt, aber im Leben und Weben der ewigen Natur und im armen Menschendasein dort oben erscheint ihm nichts zu gering und unbedeutend, daß es nicht eines Liedertones wert sei, ob er nun das Aufblühen des Vergißmeinnichts im Wiesengrunde[152] sieht, oder das Finkenpaar im Nachbarbaum belauscht oder dem kleinen »Grünents« und »Hanftlich« nachblickt, die über den düsteren Moorgrund fliegen, oder das Sommergesumm am würzduftenden Waldrand vernimmt, ob der Glockenschall der kleinen Waldkapelle an sein Ohr dringt oder ob er zur »Harwistzeit« das Aufbrausen des Höhensturmes und das Weihnachtsahnen im Winterwalde erlebt. Wie schlicht und innig ist das Zum-Gleichnis-werden alles Vergänglichen in dem kleinen Liede: »Blüh, Schwarzbeer, blüh« zum Ausdruck gebracht! Alles Süße und Liebe der armen Heimaterde ist eingefangen in seine anspruchslosen Verse. Sie ist ihm, gleich dem Leben, ein heiliges Buch, das auf allen Seiten großen Inhalt zeigt und zeigen soll, und über dieser Erde leuchtet ihm ein schöner, unbeweglicher Stern: das ist die Liebe zur Berg- und Waldheimat. Ihr gilt sein erstes und sein letztes Lied. In der Lebensbeschreibung, die er dem ersten Bande seiner Lieder vorausschickt, bekennt er es: »Aus ärmlichen Verhältnissen sind meine Lieder entsprungen zum Wohle einer ganzen Familie und nicht minder zum Wohle unseres Gebirges.« Und wer sollte nicht lieb haben diese schlichten, geraden und selbstgenügsamen Menschen, die vom Sonnenaufgang bis -niedergang eingespannt sind in den Tageslauf! Viele von ihnen haben noch etwas vom knorrigen Geschlecht der Vorzeit in sich, sind Leute vom »alten Schlag«, gesund am Mark und in ihrer Lebensweisheit, voll Hingebung an die Arbeit und voll Ehrfurcht vor dem Alter. In ihrer Bedürfnislosigkeit können sie dem neuen Weltmenschen ein Vorbild sein. An einem Stück Brot, ein paar Kartoffeln, einem geringen Kaffee, mit der Schwammabrüh im Topf und einer Pfeife Tabak finden viele ihr Genügen. Sie sind die Nachfahren der rauhen, aber wackeren Hammerschmiede und Bergwurzeln des erzgebirgischen Volkes, in denen der Erdsegen und die Lichtsehnsucht der alten Zeit fortleben. Der in der Weltverlassenheit schaffende Holzknecht, der arme »Großhaaner«, selbst der alte »Bettelmah«, der im Kampf um die Heimatscholle unterlag, stehen unserem Toler-Hans-Tonl höher, als die, die in »Grustu an Olmerichkeit« draußen in der Welt verdarben und die Heimat vergaßen. Unter dem Sammelruf: »Vergaß die Hamit net!« sendet er auch diesen Verlorenen und Wankenden seine Lieder. Hört ihr es? … »Ach wie schü wars daham of der Uf’nbank« … wenn Heimatfriede in Hütten und Herzen einkehrte und in die Spinnstuben zum »Hutznomd« die heilige, heimliche Weihnachtsstimmung sich ausbreitete.
In dieser langen, dunklen Winterzeit rücken sie alle näher aneinander; ihre Herzen tun sich auf, und ihr Mund singt es heraus, was an Leid und Freud tief innen wohnt. Ihr Volksdichter ist immer mitten unter ihnen, wenn auch nicht in Person, so doch in seinen Liedern. Wie der Bergmann, der mit seiner Blende den dunklen Schacht der Erde ableuchtet, so findet er im Herzen des Volkes manchen Schatz, den die neue Zeit verschüttet hat, die alte Treue und gebirgische Art, die Rechtschaffenheit, Biederkeit und Zufriedenheit, »das beste Kraitl«, das in der Welt gedeiht. Ist es nicht schlichteste, aber unzerstörbare Lebensweisheit, wenn er das Leben als Büchel besingt, in dem nur Gutes stehen soll, wenn er sagt:
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Aber immer klingt in seinen Liedern jene wunderbare Mischung zwischen tiefem Lebensernst und Scherz auf, der allen Großmeistern der Freude eigen ist.
Und der Gottesgaber Sänger ist der letzte, der gegen diese echte – Gottesgabe predigen will. Wie die Sonne durch dunkles Gewölk lächelt, so blitzt hier und da ein Strahl echten, goldenen Humors in seinen Liedern auf, bricht der Schalk durch, lacht das lustige oesterreichische Gemüt, das ein unvergängliches Erbteil dieses schwergeprüften deutschen Volksstammes ist. Nimm und sing nur seine heiteren Lieder: Da Ufnbank, ’s fallische Nannel, Da Pfeif, Da zwaa Finken, ’s Annl mit’n Kannl, Dr Grenzschutz, Allerhand ve dr Gutsgoh!
Aber diese Stunden der Freude und des Lachens sind nur Ruhepausen im Kampfe des Lebens. Denn nicht nur die Not des eigenen Daseins, auch die Not seines ganzen Volksstammes hat bei seinen Liedern Pate gestanden. So wie sich der Geleitsspruch: »War sei Hamit liebt, liebt a sei Volk« durch alle Lieder hindurchzieht, so gewiß ist auch, daß diese Liebe nur durch harten Kampf erworben ward. »Deitsch on frei wolln mr sei!« ist Notruf und ewige Losung des deutschböhmischen Bruderstammes hier oben. Gerade das ist es, was dem Heimatvolk des Sängers so furchtbar schwer gemacht wird durch Jahrhunderte hindurch, so lange hier deutsche Herzen schlagen. Notzeiten hat es im Gebirge immer gegeben, als der Bergsegen erstarb, wenn die Ernte verdarb, wenn der Verdienst im Wechsel der Zeiten karg ward, aber nie waren die Wasser der Not so hoch gestiegen als in den letzten Kriegsjahren, da das Hungergespenst diesseits und jenseits der abgebrochenen schwarz-gelben Grenzpfähle umging und in den kleinen Hütten auf den Bergen das Licht erlosch. Ergreifend klingt dies in dem Gedicht »Kaa Licht« wieder, für das der Sänger weder Bild noch Weise fand. In stillem, zähem Behaupten und unwandelbarem Vertrauen ward der Grenzstamm zum Duldervolk, aber daß es nicht mit Seufzen und Bangen unterlag, hat es nicht zum geringsten Teile seinen treudeutschen Führern zu verdanken, zu denen auch Anton Günther zu zählen ist. Auf den Flügeln seiner Lieder geht die Klage der Väter und der Weckruf der Brüder zu uns ins Reichsland. Nichts Undeutsches ist in seinem Wesen und seinen Weisen.
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Und die Lauen rüttelt er auf:
Aber nicht nur mit dem Wort – auch mit der Tat, mit Gut und Blut trat er für sein Volk ein, zog in den Krieg und trug schwere Wunden mit heim. Draußen am Isonzo richtete er die verzagten Kameraden mit seinen Liedern auf und ist bis heute nicht müde geworden, die Getrennten zu sammeln, zur Einheit zu mahnen und die »niedertrachticha, waggeschmissina, falischa Politik« in die »Feirist« zu hängen.
Aber nicht nur als Volksdichter, Volkserzieher, sondern auch als praktischer Volkswirt erweist er sich, wenn er aufruft:
Er selbst gibt den Seinen darin ein gutes Vorbild und zeigt, auch wenn seine Lieder nicht klingen: Wer der Heimatscholle treu bleibt, dem bleibt auch die Heimat.
In der großen Stadt ist Stiftungsfest des Erzgebirgsvereins. Dort finden sich Leute zusammen, die vom Gebirge her stammen oder Freunde der Berge sind, die das Erzgebirge aufschließen helfen, Wege bauen, Wanderheime[155] und Jugendherbergen gründen und, wenn sie zusammenkommen, erzgebirgische Art und Sitte pflegen. Da werden mundartliche Volksstücke aufgeführt, heitere, gebirgische Geschichten vorgetragen und Lieder gesungen. Wie oft heißt es da nicht hier und da: Wir wollen den Toler-Hans-Tonl bitten, daß er selbst einmal zu uns komme, und wenn er in seiner grünen Gebirgstracht leibhaftig vor ihnen steht und seine Lieder zur Laute singt, dann ist es, als wenn die grünen Fichten rauschten und die Waldharfen aufklängen im großen Lichtersaal, als wenn der Bergquell spränge, als wenn das liebe Erzgebirge in seiner biederen Frömmigkeit selbst zu ihnen gekommen wäre, und mancher Mund summt, der »Gongazeit« gedenkend, leise mit:
Es war zur Hauptversammlung des Erzgebirgsvereins, die 1905 zu Zwönitz stattfand. Bei der Erstaufführung des erzgebirgischen Volksstückes »Heimkehr« von Pfarrer Löscher, dem verdienten Freund und Förderer des Vereins, wirkte auch Anton Günther mit und ward zum ersten Male einem größeren Kreise bekannt. Seitdem war er gewissermaßen entdeckt, und trat in der Folgezeit auf besondere Einladung hin in Landsmannschaften, Heimatvereinen, deutschen Sprachvereinen, Vereinen für Volkskunde, Gesangvereinen, literarischen Verbänden und Erzgebirgszweigvereinen als hochwillkommener Gast auf. Nicht nur in Sachsen und Böhmerland, auch in Wien und Berlin erwarb er sich begeisterte Freunde. Erzherzöge und Könige begehrten ihn zu hören. Im Jahre 1913 sang er auf dem Fichtelberge vor dem ehemaligen König Friedrich August, der durch die Liedstelle
zu Tränen gerührt ward und den Sänger durch das Ehrenkreuz mit der Krone auszeichnete. Wohl war des Toler-Hans-Tonls Freude darüber groß, aber in seiner schlichten Art sagt er später:
Wie oft ist er bis zum heutigen Tage gesucht und zu Gast gebeten worden, aber er kann nicht auf allen Bergen sitzen und singen. Das Leben ist ernst und verlangt noch andere Pflichten von ihm, und wo er selbst nicht hinkommt, da sind als Boten seine Liedergrüße gegangen. Auf tausenden von Postkarten sind sie in die Welt geflattert, aus dem stillen Gottesgab, vom Fichtel- und Keilberge, von den Sommerfrischen des Gebirges, aus den Schaukästen der Großstädte. Fürstenkinder und schlichte Leute kennen und singen sie, selbst nach Amerika gingen sie – ein Strahl der Heimatsonne übers ferne Meer.[156] Und sie werden bleiben, wenn schon mancher Sang verschollen, den heute die Welt liebt. Drum kauft seine Lieder! Sie sind ein Quell reiner Freude, ein Wegweiser ins Erzgebirge, eine ausgestreckte Bruderhand, ein Gruß aus der Heimat, denen, die sie verloren, ein Bollwerk gegen alles Undeutsche in und um uns.
Aus dem stillen Heimatglück des Vaterhauses, woher sie gekommen, kehren zurück alle seine Lieder, und in der Heimat ist auch der Toler-Hans-Tonl am liebsten. Er selbst bekennt es: … ’s werd aus ’ner Ficht kaa Birnbaam draus, dort, wu ich harstamm, halt ich hie … Seinem lieben Gottesgab, dessen Ehrenbürger er ist, hat er Treue geschworen, ihm gehören alle seine Lieder, er nimmt Anteil an seinem Geschick in guten und bösen Tagen, leitet ihre Jugend und hilft nach Kräften den Gebirgsarmen, für die er eine Toler-Hans-Tonl-Stiftung gegründet hat.
»Drham is drham!« so sagte er, als er mir zum Abschied die Hand reichte, aber wir wissen: Kein Grenzpfahl kann uns scheiden; denn sein Volk ist unser Volk, und seine Lieder leben, so lange die deutsche Treue und gebirgische Art in Hütten und Herzen leben; so lange die Berge stehen und die Wälder heimlich rauschen. Glück auf, du treuer deutscher Grenzwächter im Böhmerland!
Von Alfred Mirtschin, Riesa
Dem Poppitzer Nachtwächter hatte einst ein Zigeunerweib prophezeit, unter Poppitz lägen Millionen vergraben, und er …!
Er ist der Glückliche, der am 17. März 1926 einen »Topf voll Geld« findet.
Er ist in Tagesschicht beschäftigt, den kaum merklichen Straßengraben einer Straße mitten im Dorf um einen Spatenstich zu vertiefen. Ganz dicht neben einer Mauer stößt plötzlich seine Schaufel auf etwas Hartes. Ein Stein. Einige wuchtige Stöße. Die Schaufel gräbt sich weiter. Hoch! Da rollen ihm Silbermünzen wie ausgeschüttete Erbsen entgegen. Ein paar Hundert. Noch ehe er sich von seinem Erstaunen erholt, ist schon jung und alt aus der Nachbarschaft um ihn versammelt und drängt und rafft, Silbermünzen zu erhaschen, reich zu werden. Aber o weh! Wie dünn sie sind! Und wie zerbröcklich! Mancher wirft sie wieder weg. Andere treten drauf und raffen sie wieder von neuem. Ein Gewoge und Geschiebe und Geplauder an der Fundstelle. Der arme Nachtwächter weiß sich gar nicht zu helfen. Er ist nur froh, ein viertelhundert Münzen für sich gerettet zu haben. Die übrigen sind unter der Einwohnerschaft verstreut wie Flugblätter vom Flugzeug herabgeworfen. Und das Harte, das der Schaufel Widerstand geleistet? Es ist ein Topf, der nun von den Leuten kurz und klein getreten worden ist.
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Ein Bild sinnloser Zerstörung. Aufregung, Tagesgespräch im Dorfe, das sich bis zu einsichtigen Menschen fortpflanzt. Sie erkennen, daß es sich bei diesem Fund nicht um den geringen Silberwert, sondern um wichtigere Dinge handelt. Sie kennen mich von meinen Ausgrabungen in Poppitz her und holen mich. Am Fundplatz kann ich nur noch Nachlese halten. Schneidersleute übergeben mir die von ihnen sorgfältig gesammelten Topfreste und den von niemand beachteten »Bleideckel«. Aber wie die Münzen wiederbekommen? Zwang und Belohnung haben eher entgegengesetzte Wirkung. Also Aufklärung und gütliches Zureden. Die Besinnung kehrt bei allen wieder. Niemand verweigert die Herausgabe. Manchem fällt es schwer. Doch die bessere Einsicht siegt. Die Dorfjugend hilft. Ich gehe von Haus zu Haus. Tagelang spüre ich nach, wie kein gewissenhafter Kriminalbeamter gründlicher tun kann. Und so habe ich nun wohl fast alle Münzen wieder beisammen. Nur einige wenige Stücke werden noch verborgen sein.
Was ist das nun für ein Fund und welcher Zeit entstammt er? Diese Fragen drängen sich nun ohne weiteres auf. Zur Beantwortung der ersten kommen nur Vermutungen in Frage. Die geschichtlichen Ereignisse der Heimat geben nur geringen Aufschluß. Wer kann es wissen, ob es ein Schatz des zwei Kilometer entfernten 1111 bis 1119 gegründeten Klosters Rezowe, ob es ein Privatgut war, das aus Furcht vor den Feinden – der Meißner Markgraf Heinrich der Erlauchte – 1221 bis 1288 – lag seit 1240 in mehrjähriger unglücklicher Fehde mit den beiden Brandenburger Markgrafen Otto und Johann – versteckt worden war, ob es ein unehrlich oder verbrecherisch erworbenes Gut war. Niemand kann es mit Bestimmtheit sagen, sicher ist aber, daß der Fund in jenes unruhige dreizehnte Jahrhundert gehört. Darauf weisen Topf und Münzen. Solche Gefäße (siehe Abbildung 1) waren bei den Deutschen im dreizehnten Jahrhundert im Gebrauch. Es ist eine Bombe mit gewölbtem Boden. Der Hals ist wenig umgelegt und hat innen eine Hohlkehlleiste. Das Material besteht aus schwarzgrauem, klingend hart gebranntem Ton, die Wandstärke nimmt vom Hals nach dem Boden zu immer mehr ab, ein Topfdeckel fehlt.
Die Münzen stammen ebenfalls aus dem dreizehnten Jahrhundert, und zwar aus der ersten Hälfte. Es sind einseitig geprägte Brakteaten aus dünnstem Silberblech. Sie sind durchschnittlich vier Zentimeter groß und wiegen ein reichliches halbes Gramm. Das Bild wurde mit einem Stempel aus Hartholz oder Metall eingeschlagen, so, daß es reliefartig hervortritt. Jegliche Angaben über Wert, Hersteller und Prägungsjahr fehlen. Sie wurden nach dem Gewicht gewertet. Darum zerschnitt man sie ohne Bedenken in Halbe und Viertel, wie sich solche Teile bei dem Fund in gleicher Anzahl wie die ganzen Stücke fanden. Sie dienten nur zum Ausgleich und dem Kleinverkehr. Das Hauptzahlungsmittel war der Silberbarren. In einen Schmelztiegel wurde soviel Silber gegossen, als die Zahlung erforderte. Daher die Kugelkappenform des Gußkuchens. War das notwendige Gewicht nicht ganz erreicht, so glich man den Rest mit Brakteaten aus. Nach der karolingischen[159] Münzordnung galt damals noch die Silberwährung. Goldmünzen gab es in Deutschland noch nicht. Die Fürsten hatten Münzhoheit. Eine Menge neuer Münzprägestellen kam dadurch auf. Bedrängte Fürsten haben da oft dasselbe getan, was Deutschland heute tut: viel unedles Metall in das Silber gemengt und minderwertiges Geld geschaffen.
Das Bild auf den Poppitzer Brakteaten gibt nun Aufschluß, wo deren Prägestelle zu suchen ist. Nicht allzuweit vom Fundplatz weg. Im zwanzig Kilometer entfernten Meißen. Dort sind sie in den Jahren 1208 bis 1258 von den Bischöfen Bruno II. (III.) 1208 bis 1230, Heinrich 1230 bis 1240 oder Konrad 1240 bis 1258 geprägt worden. Sie gehören mithin zu den älteren Brakteaten, die sich vor den späteren durch ihre Größe, ihre Schönheit (namentlich die selteneren bischöflichen) und durch ihre bessere Prägung auszeichnen. Die hundertsechsundachtzig Münzen, ganze und geteilte, des Poppitzer Fundes zeigen mit nur einer Ausnahme eine auf einem oder zwei Bogen sitzende Figur, den Meißner Bischof, der in den Händen je ein kirchliches Symbol hält, z. B. einen Krummstab (Abb. 2 Nr. 4, 15 und 20), eine Hostienschachtel (?) (Nr. 5, 10 und 28), ein Patriarchalkreuz (Nr. 1, 19 und 34), ein Malteserkreuz (Nr. 1, 19 und 29), einen Stern (Nr. 11 und 14), ein Kugelkreuzszepter (Nr. 6, 24 und 25), ein Lilienszepter (Nr. 3, 5, 6, 7, 8, 12, 13, 14, 22, 26, 27, 33 und 35), ein Lilienszepter mit Doppelkelch (Nr. 9 und 23), ein Lilienszepter mit Kreuz (Nr. 3, 4, 8 und 21) und eine Fahne (Nr. 2, 30 und 31). So ergeben sich fünfzehn verschiedene Sorten ganzer Brakteaten, denen die zerteilten entsprechen. (Abb. 2.)
Eine Sonderstellung nehmen die Brakteaten Nr. 16 und 17 (Abbildung 2) ein. Sie tragen Schriftzeichen. Die auf Nr. 16 ließen sich entziffern als DId ——D (?) GIIII. Es ist fraglich, ob sich diese Schrift auf den Markgrafen Dietrich den Bedrängten (1195 bis 1221) oder auf den Bischof Dietrich II. von Meißen (1190 bis 1208) bezieht.
Sicher nicht bischöflichen Ursprungs ist der Brakteat Nr. 17. Die Kronen und die Löwenköpfe in den Winkeln des Kreuzes und die Schrift MONETA DOMINI IMPERATORIS weisen auf den Kaiser Otto IV. (1209 bis 1215) hin.
Der Gußkuchen, der erst für einen gewöhnlichen Bleideckel gehalten wurde, wiegt vierhunderteinundvierzig Gramm und besteht, wie die chemische Untersuchung ergab, aus fast reinem Silber, dem nur eine winzige Menge Kupfer und Eisen beigemengt sind. Seine Höhe beträgt 9,5 Millimeter, sein größerer Durchmesser 8 und sein kleinerer 7,2 Zentimeter.
Bedenkt man, daß nach der sich in den Städten allmählich durchsetzenden Kölner Gewichtsordnung das Pfund vierhundertsechsundsechzig Gramm wog und die Hälfte, zweihundertdreiunddreißig Gramm, eine Mark betrug, daß der Poppitzer Fund ein Metallgewicht von fünfhundertsechsundfünfzig Gramm besitzt, also knapp 2,50 Mark Wert darstellt, und bedenkt man, daß man schon Funde bis zu fünftausend Stück Brakteaten gemacht hat, so ist der Poppitzer als ein kleiner zu betrachten. Doch er ist für unsere Riesaer Heimat[160] und auch für unsere sächsische Heimat von um so größerer Bedeutung. Zum ersten Male gelang ein solcher Fund in unserer Gegend, der aus unserer heimischen Diözese Meißen stammt. Er kann geschlossen, Topf, Silberbarren und Brakteaten in unserer Heimat von der Allgemeinheit betrachtet werden. Das ist der Einsicht und dem Opfersinn der Gemeinde Poppitz zu verdanken, die den Fund in anerkennenswerter Weise dem Riesaer Heimatmuseum spendete.
Von Th. Leuschner, Dresden-Loschwitz
Nicht weit vom Dorf an der Straße nach Radeberg lauern bewaffnete Männer, Bauern aus Großerkmannsdorf. Der Wald verbirgt sie. Michel Merkel, der Erbrichter, ist ihr Führer. Der hat in der Frühe erkundet, ein Trupp kaiserlicher Soldaten käme mit ein paar Salzwagen aus Radeberg. »Ihr Bauernschinder! Euch wollen wir’s geben! Ihr habt uns genug geplagt! Soldatenblut für Bauernblut!«
Sie lauschen. Still bleibt’s im Wald, auf der Straße.
Die Kaiserlichen sind noch ein ganzes Stück davon. Aber auf ihrer Hut sind sie! Der Kornett hat sein Pistol geladen in der Faust. Vom Pferd herab überschaut er die Straße. Nichts, was verdächtig sein könnte! Er hängt den Gedanken nach. Heute früh war er mit ein paar Musketieren nach Radeberg gezogen, Salz sollte er auf Befehl ins Lager bringen. Hier an der Grenze zwischen der Lausitz und Kursachsen war dafür Stapel- und Zollstätte. Nur wenige Vorräte waren dagewesen. Ein paar Bürger hat er aus Vorsicht gezwungen, mit Musketen bewaffnet die Wagen zu begleiten.
Die Wagen poltern durch den stillen Wald.
Da auf einmal tauchen hinter den Bäumen die Bauern auf, ihre Büchsen knallen los. Der Rauch verzieht – sie haben schlecht getroffen. Aber schon hat der Kornett den Anführer erkannt, ein wohlgezielter Schuß, und Michel Merkel sinkt verwundet zur Erde. Die Bauern überkommt ein Schreck, sie springen und fliehen in den Wald hinein. Die Fuhrleute hauen auf die Gäule ein, schnell rattern die Wagen davon.
Und nun ist’s wieder still.
Geraume Zeit vergeht. Die Bauern wagen sich heran, sie tragen den Schwerverwundeten ins Erbgericht. Keine Pflege hilft, am zehnten Tage danach ist er ein stiller, toter Mann. –
Wo jetzt am Ende des Dorfes das verwitterte Steinkreuz steht, dort soll es gewesen sein, daß Michel Merkel in seinem Blute gelegen hat. Ein Mordkreuz nennen es die Leute heute noch. Doch, wer weiß das so genau? Auch das Kirchenbuch des Dorfes berichtet von dem Kreuze nichts, nur hat der Pfarrer von damals eingetragen:
»1634 Mittwoch in der Marterwoche (war 2. April) gingen auf Begehren etliche aus unsrem Dorfe mit Musqueten auff Radeberg, etliche salzwagen aufzuhalten, damit sie nicht den Kaiserlichen zukämen. Darunter war auch Michel Merkel. Weil aber die Radeberger den Salzwagen beystunden und die Unsrigen meistenteils nicht stunden, ward Michel Merkel von dem Conovier der Salzwagen, so ein Kornett sein sollte, geschossen, an welchem Schusse Er den Sonntag Quasimodogeniti (war den 13. April) starb und wurde den 14. begraben.«
Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Werner Schmidt – Druck: Lehmannsche Buchdruckerei
Klischees von Römmler & Jonas, sämtlich in Dresden – Photographische Platten »Sigurd« und »Satrap«,
photographische, sowie kinematographische Aufnahme- und Wiedergabeapparate »Ernemann«
Photographische Aufnahmen: Max Nowak
Sächsischer Bauern-Kalender 1926
Herausgegeben von der Landwirtschaftskammer für Sachsen
Bearbeitet von Dr. Horst Höfer, Meißen
Bildschmuck von A. Weßner-Collenbey
Zum fünften Male nimmt der stattliche Bauern-Kalender seinen Weg hinaus in das sächsische Land. Was er bei seinem erstmaligen Erscheinen versprach, hat er treulich gehalten; er ist ein Kulturwerk geworden, auf das wir Sachsen stolz sein können. Der künstlerisch vollendet ausgestattete Kalender ist als Pionier des guten Geschmacks in das Bauernhaus gezogen, wo er vielfach der bevorzugte Lesestoff des Jahres ist, und hat dort die ärmlichen, ja oft erbärmlichen Kalendermachwerke früherer Zeit verdrängt und den Sinn für das Gute und Schöne geweckt. Aber nicht nur das! Der Bauern-Kalender ist auch ein treuer Pfleger des Schollenbewußtseins und der Heimatliebe. In jedem der vielen prächtigen Bilder von der Meisterhand A. Weßner-Collenbeys spiegelt sichs wieder: Wie schön ist doch unser liebes Sachsenland! Und aus jedem der zahlreichen, belehrenden und unterhaltenden Aufsätze klingts hervor: Wie reich ist unser Bauernland und wie kraftvoll und stark ist noch unser Bauernstand, der Urquell unserer Volkskraft. Nicht nur der Landmann wird seine Freude an dem prächtigen Kalenderbuche haben, jeder Freund des ländlichen Sachsens – und wer wäre das nicht! – wird sich mit hohem Genuß hinein vertiefen. Daß die Auswahl des Stoffes und die ganze Zusammenstellung und Ausstattung des Kalenders nichts zu wünschen übrig lassen, war nach dem, was die früheren Jahrgänge geboten haben, nicht anders zu erwarten.
Klengel.
Obiges mit hundert Abbildungen ausgestattetes Heimatbuch ist zum Preise von
90 Pfennigen
und 30 Pfennig Postgeld
durch die
Landwirtschaftskammer Dresden-A. 1,
Schließfach 47 (Sidonienstraße 14)
zu beziehen.
Einbanddecken
Jahrgang 1925 (Band XIV)
Mark 1.50
und 30 Pfg. Postgeld und Verpackung
Landesverein
Sächsischer Heimatschutz
Dresden-A., Schießgasse 24
Bestellkarte inliegend!
Lehmannsche Buchdruckerei, Dresden-N.
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden wie im Original beibehalten. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.