Title: Aus Mitleid
Neue Novellen und Skizzen
Author: Alexander Baron von Roberts
Release date: January 1, 2025 [eBook #75008]
Language: German
Original publication: Berlin: Verlag des Vereins für Bücherfreunde, 1891
Credits: Alpo Tiilikka and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert.
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Der Übersichtlichkeit halber wurde die Buchwerbung am Ende des Buches zusammengefasst.
[S. i]
Aus Mitleid
Die gekaufte Stimme — Des Kaisers Fünf usw.
Neue Novellen und Skizzen
von
Alexander Baron von Roberts
[S. iii]
Die gekaufte Stimme — Des Kaisers Fünf usw.
Neue Novellen und Skizzen
von
Alexander Baron von Roberts
Berlin
Verlag des Vereins der Bücherfreunde
1891
[S. v]
Frau
Chlotilde von Schwartzkoppen
in aufrichtiger und herzlicher Verehrung
zugeeignet
vom
Verfasser
[S. vii]
Der Autor des vorliegenden Buches ist einer der berühmtesten modernen deutschen Dichter. Das beweist aber nicht viel. Wir haben momentan in der Litteratur viele Berühmtheiten, um die sich kein Mensch kümmert, und zwar mit Recht. Wir haben sogar einige berühmte und große Schriftsteller, denen das Publikum die gebührende Aufmerksamkeit leider nicht entgegenbringt. In diesem Satze liegt ein Widerspruch und doch eine traurige Wahrheit. Die alles öffentliche Interesse aufsaugende Politik, die von Jahr zu Jahr schwerer werdenden Daseinsbedingungen, und — das schöne gute Bier leiden es nicht, daß man die Werke bedeutender Autoren kauft und liest oder — lassen wir das Kaufen weg, ich spreche da im Sinne der Majorität — nur liest. Ja, wenn unsere Größen alle neue Theaterstücke schrieben, das wäre was anderes! Da brauchten sie sich nicht einmal allzusehr anzustrengen, flache und witzelnde Arbeiten thäten auch ihren Dienst. Alle Zeitungen schreiben darüber ausführlich, und das gesamte Publikum sieht sich die Stücke an. Der Autor eines aufgeführten, selbst schlechten Stückes erregt heutzutage in weit höherem Grade die Beachtung der Öffentlichkeit als der Dichter eines genialen Epos oder eines ausgezeichneten Romans.
[S. viii]
Unter solchen Mißständen haben künstlerische Kräfte wie z. B. Alexander Baron von Roberts schwer zu leiden. Er hat große Erfolge geerntet, sonst wäre er nicht berühmt geworden, und doch ist es nur in der deutschen Nation möglich, daß ein Autor eher berühmt als allgemein gekannt wird. Und so kann sich auch Alexander Baron von Roberts beklagen, daß sein Name eine Berühmtheit erlangt hat, während seine Werke wohl das feinste, aber kein allzugroßes Publikum gefunden haben. Aber ein Autor, der die Anwartschaft hat, auch von den nächsten Generationen gelesen zu werden, kann ruhig die Stunde erwarten, wo ihm das Volk jene Stelle in der Litteratur zuweist, die ihm die Litteraturkundigen bereits längst zuerkannt haben.
Roberts ist kein gewöhnlicher Unterhaltungsschriftsteller, dem es nur darum zu thun ist, den Leser zu spannen und ihn über ein Stündchen hinwegzutäuschen. Er hat uns stets etwas zu sagen, er fällt stets Verdikte in künstlerischer Form, ein hochstehender Seelenarzt fühlt er seiner Zeit den Puls und bringt das Ringen und Gären der Gegenwart zu Protokoll. Sein Schaffen gleicht keiner farbigen Luftspiegelung, keiner gleißenden Fata Morgana, er ist kein Träumer, der, verzückte Seufzer ausstoßend, nach der blauen Blume sucht und über den ersten Wegstein stolpert, nein, er ist der Mann der Wirklichkeit, ein Künstler, der die Materie des Lebens zu wundersamen Gebilden modelt und ihnen mit dem blendenden Glanze seiner Weltanschauung ein höheres Leben verleiht. Die Vorzüge besonders französischer Schriftsteller, welche sich viele deutsche Dichter in sklavischer Nachahmung zu eigen machen suchen, haben sich von Natur aus mit seinem deutschen Wesen [S. ix] amalgamiert: er ist Luxemburger, das moussierende Element des Rheinländers hat sich in ihm mit französischem Chic, mit Pariser pikanter Grazie vereinigt. Aber das ist es nicht allein, was Alexander von Roberts zu einer so interessanten Erscheinung stempelt. Sein Wesen besteht eigentlich aus einer Reihe einander sich widersprechender Eigenschaften, die in ihrer Gesamtheit den reizvollen Anschein spröder Koketterie, ironischen Tiefsinns und nervös zuckenden Wahrheitsdranges haben. Er ist auf der einen Seite von entzückender Einfachheit, Schalkheit und Gemütlichkeit. Man lese nur seine kleinen Skizzen, z. B. »Aus der Chronik unseres Glückes« und »Es«. Wie anschaulich, wie echt deutsch schildert er das Leid und Glück der Ehe, die Zärtlichkeiten und Zerwürfnisse der Liebe. Er entfaltet sich da als ein Meister der Kleinkunst der Alltäglichkeit. Und neben dieser sympathischen Seite seines Naturells findet man bei ihm, dem Menschenkenner par excellence, eine besondere Vorliebe, Tiere und unbelebte Wesen in den Vordergrund der Handlung zu stellen. Der Schreiber dieser Zeilen hat ihn deshalb bei anderer Gelegenheit den »Andersen der Wirklichkeit« genannt und dargethan, welch Unterschied trotzdem zwischen dem romantischen Märchenerzähler und dem realistischen Romancier besteht. Diese Vorliebe giebt Roberts’ Arbeiten oft etwas Fatalistisch-Satirisches, welches ihm gar nicht so übel zu Gesichte steht. Den großartigsten und im direktesten Gegensatz zu seinem gemütsvoll-familiären Zug stehenden Ausdruck findet diese Vorliebe in »Lou«, einer der exotisch-bizarrsten Erzählungen der modernen Litteratur. Ein Hund und ein Mohrenknabe sind die Helden der Handlung. Aber welche kühne, weltweite [S. x] Satire gehört dazu, das berauschende, große, glänzende, lasterhafte Paris zum Hintergrunde der Geschichte zweier höchst gleichgiltigen Geschöpfe zu machen und hinter dem grinsenden Schädel eines Mohrenknaben alle Schönheit der Welt zu entfalten und aus dem brausenden Gewühl einer Weltstadt das heisere Gebell eines Köters heraushören zu lassen! Wahrhaftig, die hohnlachende Genialität eines Hogarth könnte sich keinen besseren Stoff wählen. Ein Seitenstück zu »Lou« ist die »Pensionärin«, aber stiller, sinniger sich gebend. War es im »Lou« ein Hund, so ist es hier eine »Schildkröte«, um die sich die Handlung der Geschichte gruppiert. Man darf die Schöpferkraft unseres Autors nicht allein nach seinen kleinen Skizzen, die ungefähr fünf Bände füllen, beurteilen. Aus seinen Novellen lernt man ihn bald als gemütsvollen, bald als bizarren Dichter kennen und lieben, der den unbeseelten Dingen eine poetische Seite abzugewinnen weiß, der das Leben im kleinen mit großer Kunst schildert und besonders aus seiner militärischen Wirksamkeit die schönsten, lustigsten und ergreifendsten Stücklein zu erzählen versteht. Sein Talent entfaltet aber seine Schwingen am mächtigsten, wenn es heißt, ein großes Zeitgemälde zu entrollen und einer bedeutsamen sozialen Idee eine in allen philosophischen und dichterischen Farben schillernde Fassung zu geben. Seine Romane gehören zu den unbestrittensten Meisterwerken der modernen deutschen Litteratur, und sein den höchsten Zielen zugewandtes Streben überflügelt den weitaus größten Teil der deutschen Autoren, welche ebenfalls auf dem Gebiete des Romans sich bethätigen.
Im engen Rahmen dieser Skizze ist es mir unmöglich, [S. xi] auseinanderzusetzen, weshalb die Deutschen wohl Novellen besitzen, die zu dem festen Bestande der Weltlitteratur zählen, aber in Bezug auf Romane hinter anderen Völkern, z. B. den Engländern, Russen und Franzosen, zurückgeblieben sind. Diese Thatsache ist weniger auf den Mangel an dichterischen Kräften, als auf politische, kulturelle und soziale Gründe zurückzuführen. Roberts’ blitzende Beobachtungsgabe, sein plastisches Schilderungstalent, seine eminente Welt- und Menschenkenntnis und vor allem die vollste Beherrschung der Bedingungen und Gesetze, unter denen das komplizierte Gebäude eines Romans errichtet werden kann, prädestinieren ihn geradezu, den modernen Roman zu schaffen, d. h. den Roman, welcher der Nachwelt als getreuestes Spiegelbild unserer Zeit, unserer Sitten, Anschauungen, Fehler und Vorzüge gelten soll. Man mag den Novellisten Roberts liebenswert finden, als Romancier verdient er unsere Bewunderung. Jeder seiner Romane steht unter dem Zeichen einer mächtigen Idee, und sein Roman-Cyklus »Moderner Götzendienst« sucht wahrhaftig seinesgleichen. [A] In der »Schönen Helena« führt [S. xii] er uns den unüberbrückbaren Gegensatz des süd- und norddeutschen Wesens auf Grund eines tragischen Einzelfalles vor. Eine Köchin und ein Sergeant sind die Volkstypen, die er mit unwiderruflicher Echtheit und Unerbittlichkeit zeichnet; und wohl keinem ist es gelungen, auf das öde Kasernenleben einen solchen Lichtstrom von Poesie zu lenken, wie ihm. In seinem »Modernen Götzendienst«, von dem mir einige Bände vorliegen, zeigt sich Roberts als ernster, gewichtiger Sittenrichter. Wenn er uns in »Preisgekrönt« den lähmenden, unterjochenden Bann physischer Schönheit schildert, so ergreift er uns da nicht minder wie in dem prächtigen Buche: »Um den Namen«. Die Titelsucht, die blinde, urteilslose Ehrfurcht der Menschen vor veralteten Vorurteilen geißelt er bis aufs Blut; und wenn er sich auch bisweilen zu Excentricitäten und Unwahrscheinlichkeiten hinreißen läßt, so wollen wir ihm dies angesichts des Eifers, mit dem er seine Aufgabe erfaßt, nicht besonders anrechnen. Für sein bisher bedeutendstes Buch halte ich die »Revanche«. Hier feiert die realistisch-lebendige Kunst des Autors ziel- und zweckbewußte, wahre Triumphe. Der abenteuerlich sich äußernde, oft zu wahnsinniger Wut gesteigerte Revanche-Gedanke der Franzosen erfüllt unheimlich, beklemmend das ganze Buch. Nicht nur ein großer dichterischer, sondern auch ein bleibender kultureller Wert wohnt ihm inne. Und wie in allen seinen Dichtungen, so auch hier: keine träumerische Stimmung, [S. xiii] kein romantisches Helldunkel, auch kein sonnenloses, trübseliges plein air, sondern vollste, grelle, greifbare, wie in elektrisches Licht getauchte Wirklichkeit; wie in allen seinen Schöpfungen so auch hier die plastische Gegenständlichkeit des Ausdruckes, die unmittelbare Frische, die scharfe Leuchtkraft der Sprache.
Alexander von Roberts ist seit wenigen Jahren nach Berlin übergesiedelt. Er befindet sich auf der Höhe seiner dichterischen Schaffenslust. Die Eindrücke, mit denen Berlin auf jedermann einstürmt, werden sich auch in ihm in reiche, dichterische Leistungen umsetzen. Er zählt zu den wenigen festen Stützen der modernen deutschen Litteratur, ihm ist es vom Schicksal vergönnt, belebend auf unser Schrifttum einzuwirken. Seit jeher gehört es zu den Eigenschaften der deutschen Kritik, gerade an unseren besten Dichtern herumzunörgeln und herumzumäkeln; ich glaube, die wahre Kritik hat eine höhere und bessere Aufgabe. Sie sei unerbittlich gegen die Dilettanten, aber die beste, treueste Freundin bedeutender Autoren. Unermüdlich soll sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf diese hinlenken, unermüdlich für die Verbreitung ihrer Schriften thätig sein. Und so gereichte es auch uns zur freudigen Aufgabe, wieder einmal der Lesewelt das Wirken eines unserer hervorragendsten Dichter näher geführt zu haben.
Ernst Wechsler.
[A] Eine Art Einleitung zu diesem Roman-Cyklus bildet eine der wirkungsvollsten Novellen unseres Autors, die er »Satisfaktion« betitelte. Den die Duellfrage behandelnden Stoff hat Roberts dramatisiert, und sein dramatischer Erstlingsversuch ging vor kurzem über die Bühne des Berliner »Lessing-Theaters«. Er erzielte auf das Publikum einen bedeutenden, tiefgehenden Erfolg, und der Übertritt Roberts von der Novelle und dem Roman zum Theater hätte sich somit glücklich und vielversprechend vollzogen. Und doch kann ich meinerseits ein leises Bedauern über diese Metamorphose nicht unterdrücken. Als Novellist und Romancier ist Roberts unbestritten eine Größe ersten Ranges. Ob er sich diese Bedeutung auch unter den modernen Bühnenschriftstellern erringen wird? Wer weiß es! Ich glaube, seine Begabung ist eine so ernste und mächtige, daß sie ihn möglicherweise hindern wird, mit unseren heutigen Bühnen-Spaßmachern und den Nachäffern Ibsens zu rivalisieren.
[S. 1]
[S. 3]
Magnus Joël war noch rechtzeitig genug aufgesprungen, um sein Gegenüber, das junge Mädchen, aufzufangen und vor dem Hinstürzen zu bewahren. Eben hatten sich ihre Gläser über dem kleinen, doch glänzend servierten und mit Blumen wie zu einem Feste geschmückten Tisch hellklingend getroffen, und ihre bebenden Lippen, mehr noch die Glut ihrer Augen, hatten das süße Geheimnis ihrer versteckten Liebe gefeiert. Emmy nippte nur von dem goldigen, feinduftenden Inhalt des olivengrünen Römers — »Mir wird so seltsam!« sagte sie, das Glas hinsetzend. Eine plötzliche Blässe flog über das feine Oval ihres Gesichtes, ihre auffällig schlanke Hand, an der ein paar wertlose, altmodische Ringe glitzerten, tastete über Stirn und Augen, gegen die Nacht der Ohnmacht ankämpfend, die sich über ihre Sinne legte.
Nach der ersten Bestürzung geleitete er die wankende Gestalt vorsichtig nach dem Divan, der aus dem Bereich des magischgelben Scheines der tief über dem Tisch[S. 4] herabhängenden Lampe im Dämmer des Hintergrundes stand, von breiten Palmblättern wie zu einer Laube überschattet.
Wie ihr Kopf mit dem dunkelbraunen Wirrnis des üppigen Haares gegen seine Schulter lehnte und die schwarzen Wimpern sich wie schwere Schatten auf die Blässe der Wangen senkten, mochte man auch jetzt noch, in diesem Zustand, das Hingeben sehnender Liebe verspüren; und wie er sie umschlungen hielt, ihre Gestalt fast leidenschaftlich an seine Seite pressend, sie mit seinen kräftigen Armen mehr trug als geleitete, das war etwas anderes als Sorge und Erbarmen um den plötzlich erkrankten Gast.
»Mir ist zum Sterben schlecht —« hauchte es über ihre blutlosen Lippen, nachdem er sie behutsam auf den Teppich des Divans gestreckt.
Er eilte in das Schlafzimmer, um kaltes Wasser, Riechsalz, was er fände, herbeizuschaffen. Sie begehrte nach Luft. Er stürzte auf das Fenster hin, dessen schwere Plüschvorhänge vorhin so vorsichtig gegen fremden Einblick geschlossen worden waren, und öffnete. Die regenfeuchte Luft des Aprilabends wehte kühl herein, und wie entweihend brach das Geräusch der Straße in die diskrete Stille des Salons. Das Chambregarnie, das der junge Magnus Joël, zweiter Sohn aus der bekannten Großfirma Hildebrand Joël, Seiden- und Spitzenwaren, inne[S. 5] hatte, lag in dem lebhafteren Teil der Charlottenstraße, der Nähe des väterlichen Geschäftes wegen, das in der Leipzigerstraße mit seiner glänzenden Schaufensterfront paradierte.
Nah und fern rasselte und klingelte die Pferdebahn, Droschken holperten über das Pflaster, Tritte wie Unterhaltung der Passanten hallten vom Trottoir herauf, stoßweise kam die accentuierte Musik einer nahen Festlichkeit hergehuscht. Es war mehr die Wirkung dieses vieltönigen Lärms als der frischen Luft, welche die Kranke aufleben hieß. Hier ist nicht der Ort, um krank zu werden, für sie!
Wie neidisch das Schicksal! Kaum, daß die Liebenden ihm die paar Stunden eines ersten, ungestörten Beisammenseins mit Notlügen und Ausflüchten abgestohlen, da fährt es in all die Seligkeit mit dem schwarzen Gespenst einer Ohnmacht herein!
Magnus kauerte zur Seite des Divans in einer Romeostellung, die seinem starken Körperbau und der etwas ungelenken Art seiner Bewegungen weniger entsprach; mit seinen breiten Händen hielt er je eines ihrer Händchen umfaßt, die darin völlig verschwanden. Er trug den Namen Magnus zu Recht, obgleich der Vater ihm denselben bei der Taufe nicht in Erwartung zukünftiger Körpergröße zugelegt, sondern aus Geschäftsgründen, denn das wenig klangvolle Joël bedurfte einer tönenden Verbesserung; der älteste hieß Gisbert. Der Ausdruck[S. 6] seines Gesichtes deutete nicht auf den angehenden Berliner Großkaufmann, es schien nach einer idealeren Seite ausgeprägt. Das dunkelblonde Haar war leicht gewellt und zeigte Seidenglanz wie bei artigen Kindern; unter der edelgeformten Stirn lagen schwärmerische grellblaue Augen vertieft; der weiche Mund, den ein aufkeimendes Bärtchen leicht beschattete, schien nicht zum Befehlen geschaffen. Ein Hauch naiver Güte war über das Antlitz gebreitet. Sein Vater und sein Bruder, beide aus härterem Metall geschmiedet, hielten ihn für gründlich aus der Art geschlagen — stand er ihnen doch sogar in dem schändlichen Verdacht, heimlich in Poesie zu sündigen.
»Ist Dir wirklich besser, Emmy?«
Sie nickte matt, aber mit der vollen Zärtlichkeit ihrer wundergroßen Braunaugen, die sich wieder zu weiten und mit Glanz zu beleben anfingen.
»Du bist so gut, Maggi —« hauchte sie hin.
»Aber ich werde es von jetzt ab nicht mehr sein, Emmy! Ich werde nicht mehr dulden, daß Du solche Holzhackerarbeit verrichtest! Von morgens 9 bis abends 9 an der Kasse zu sitzen, in solcher Luft, dazu gehört eine andere Gesundheit als die Deine!«
Er schien jetzt erst recht auf die gebrechliche Zartheit ihrer Erscheinung aufmerksam geworden zu sein. Die Beweglichkeit ihrer Mienen, der Glanz ihres Blickes, die ganze facettierende Art ihres lebhaften Wesens mochten[S. 7] über diese Gebrechlichkeit hinwegtäuschen; in der Unterhaltung pflegten sich ihre Wangen mit einem blühenden Hauch zu färben. Sie hatte eine feine, an den Schläfen durchsichtige Stirn, von schwer zu bändigendem Wildhaar umwuchert, sehr kleine, rosafarbene, mit zwei einfachen Korallenperlen geschmückte Ohren, die in dem Wildhaar fast verschwanden, eine leicht gebogene, in den Flügeln vibrierende Nase und einen vollen energischen Mund. Sie war nicht immer hübsch; wenn sie schwieg oder an ihrem Kassenpult arbeitete, so drückten ihre Züge einen herben Ernst aus, der sie älter machte als ihre einundzwanzig Jahre. Dann, im Affekt, wenn eine Begeisterung für Kunst und Natur, ja nur die erste Begrüßung mit dem Geliebten, ihr leicht empfängliches Wesen in Flammen setzte, konnte sie sogar durch eine eigenartige, wie hergezauberte Schönheit überraschen, die ihre Umgebung stutzen machte.
Sie war schlank gewachsen, und die volle Büste erhöhte noch den Eindruck ihrer sylphenhaften Zartheit. Ihr Kleid war von einfachstem Schnitt, aus schwarzem Lüster, die Uniform des Konfektionsgeschäftes von Kapp und Müller in der Breitenstraße, wo sie als Kassiererin angestellt war; am Halsschluß trug sie eine Brosche aus Silber, die das Monogramm der Firma darstellte, gleichfalls zur Uniform gehörig.
Ja, ihr Körper war der Anstrengung solches Dienstes [S. 8] nicht gewachsen! »Ich weiß, was es heißt,« fuhr er fort, »Tag aus Tag ein in dem engen Kassaverschlag zu sitzen wie in einem Schilderhaus. Gelder einzunehmen, zu buchen und zu verrechnen — alle Augenblicke Anfragen, und die Prinzipale, die fortwährend umherschleichen, um jemanden wegen einer Unregelmäßigkeit zu verschlingen. Dazu die große Verantwortung! Und die Luft, die vielen Menschen, jetzt, zum Anfang der Saison, das Gewimmel, besonders die Anhäufung von Wolle und Baumwolle in solchem Lokal. Wir haben ungleich luftigere Räume, und die Seide staubt nicht; dennoch ist unsere zweite Kassiererin krank geworden, und der Arzt hat sie gezwungen, ihre Stelle aufzugeben.«
»Du weißt doch, Maggi, ich hab’ es Dir schon ein dutzendmal erzählt, welche Mühe ich hatte, die Stelle zu bekommen. Das Handelsinstitut, wo ich die Buchführung lernte, hat Geld genug gekostet. Die verstehen es, einen auszupressen. Solche Stellen sind rar.«
»Laß mich nur sorgen, mein armer Liebling! Ich dulde und dulde nicht, daß Du Deine Gesundheit um der paar Mark wegen opferst!«
»Neunzig Mark — keine Kleinigkeit! Meine armen Eltern sind überglücklich. Übrigens kennst Du meine Meinung. Ich bitte Dich, fange nicht wieder davon an.«
Es hatte ihn vom Beginn ihrer Bekanntschaft an geschmerzt, sie sich quälen zu sehen, während er im Vollen [S. 9] saß. Aber alle Versuche, ihr mit irgend einer Hülfe beizustehen, scheiterten an ihrem Stolz. Fast wäre es einmal deswegen zu einem Bruch gekommen: — ein einfaches, harmloses Schmuckstück, das er ihr zum Ersatz der häßlichen und an die Knechtschaft erinnernden Uniformsbrosche in die Tasche geschmuggelt. Höchstens duldete sie eine seltene Rose oder ein Sträußlein, das die Gelegenheit auf der Straße bot.
Ein wundergroßes Paar, das in das moderne Berlin mit seinen Pferdebahnen, seiner elektrischen Beleuchtung und seinen Wiener Cafés nicht hineinpaßte; es schien einer älteren Periode anzugehören, wo die Liebenden in kleinen Winkelkonditoreien hinter Chokoladentassen ihrer Sehnsucht Genüge thaten, wo stille, entlegene Orte, wie der damalige Hafenplatz, zu zaghaften Rendezvous dienten, und die klassische Musik eines Papa Liebig in Sommer’s Salon die Begleitung zu dem Liebesweben schmachtender Augen gab. Man staune — ein reicher Kaufmannssohn, der mit geschlossenem Geldbeutel wie ein Primaner liebte, und ein armes, auf sauren Verdienst angewiesenes Mädchen, das ihr liebendes Herz von der Befleckung des Goldes rein erhielt!
Der Zufall der Straße hatte sie zusammengeführt. Er besaß keinerlei Routine in der Kunst, Herzen zu stürmen, trotz seiner vierundzwanzig Jahre und seines Geldes, das die mächtigste Hülfstruppe bei solchen Eroberungen [S. 10] bedeutet. Staunte er doch anfangs selbst über seine Verwegenheit und über die Beharrlichkeit, mit der er den Gegenstand seiner plötzlichen Leidenschaft umlagerte. Wochenlang, nach Schluß des eigenen Geschäftes, patrouillierte er, einem Grenadier gleich, der auf sein Mädchen wartet, vor den Schaufenstern von Kapp und Müller in der Breitenstraße. Er ließ sich durch ihre Abweisungen nicht abschrecken. Alle die hübschen kleinen Künste, die das ABC der Verführungskunst vorschreibt, wie anonyme Bouquets, Theaterbillets, selbst Verse, die an der Kasse von Kapp und Müller abgegeben wurden, erwiesen sich als wirkungslose Trivialität. Eine andere Trivialität, ein Regenschirm, der sich bei einem herabstürzenden Regenguß mitten auf dem Schloßplatz plötzlich über ihrem schutzlosen Kopf öffnete, brachte die endliche Annäherung. Viele Wochen lang begnügte Magnus sich damit, sie von der Breitenstraße bis zum Lustgarten an den dort vorüberfahrenden Omnibus zu geleiten. Und er war schon überglücklich, wenn der Omnibus sich um einige Minuten verzögerte. Bald schrak er nicht davor zurück, in den dumpfen Kasten des rumpelnden Fuhrwerks selbst zu kriechen, um die Seligkeit ihrer Nähe bis zur Rosenthaler Vorstadt, wo ihre Eltern wohnten, zu genießen. Dann folgten flüchtige Besuche in einer Konditorei, kurze Rendezvous an den Sonntagen, wo sie auf ungeheuren Umwegen den menschengefüllten Straßen auswichen, um irgend einen [S. 11] diskreten, nur von dem verschwiegenen Himmelsblau eingesehenen Erdenwinkel draußen in der Bannmeile zu erreichen.
Sie zwang ihn zu der Genügsamkeit ihrer Armut, und ihre beiderseitige Liebe erstarkte nur um so mächtiger und glühte um so heißer in dieser Kargheit. Sie wußten, daß sie einander nicht gehören durften und daß ihrem Liebestraume nur das kurze Leben eines Frühlingstages beschieden wäre. Die drohende Trennung lag wie ein Schatten über diesem Frühlingstag. Sie war ihnen so sicher wie der Tod, und sie meinten ein jedes, daß sie die Scheidestunde nicht überleben würden. —
Emmy hatte sich erholt, Magnus begann wieder aufzuatmen: es war nichts weiter, als ein Schwächeanfall, vielleicht auch die Aufregung dieses ihres ersten Besuches in seiner Wohnung.
»Komm, wir wollen uns wieder zu Tische setzen, liebes Herz, —« sagte er, »die Zeit eilt!«
»Du Ärmster, wie hat Dich mein Besuch enttäuscht! Wie hübsch hattest Du alles angeordnet!«
War sie doch bei ihrem Kommen durch die funkelnde und schimmernde Pracht der mit kostbarem Geschirr und prächtigen Blumen ausgestatteten kleinen Tafel, auf der die seltensten Leckerbissen der Jahreszeit sich drängten, in kindliches Staunen ausgebrochen. — »Doch nicht meinetwegen, Maggi?«
[S. 12]
Sie wollte ihm nun die Freude wenigstens nicht ganz verderben und sich abermals mit ihm zu Tisch setzen. Als sie sich aber erhob, begann die Standuhr über dem Divan zu schlagen. Sie horchte, mit steigender Aufregung zählte sie die Schläge.
»Neun Uhr — Ah!«
Erschreckt fuhr sie zusammen. »Nicht möglich!« rief sie. »So muß ich sofort nach Haus!«
»Eine Viertelstunde!« bat er. »Die Uhr geht nicht richtig — Du bist doch eben erst gekommen!«
»Du weißt, wie Mama sich ängstigt. Wenn man sie hört, so ist Berlin zu drei Vierteln mit Räubern und Missethätern bevölkert, die nach neun, wo alle anständigen Leute von der Straße verschwinden, ihr Tagewerk beginnen. Ich muß fort! Vor einer halben Stunde kann ich nicht dort sein. Es ist Angst genug für Mamachen —«
»Nur zehn Minuten, süßes, einziges Herzlieb —« flehte er. »Wir nehmen eine Droschke und lassen fahren wie die Eisenbahn. Bitte, bitte, nur noch zehn Minuten —«
Er wandte ihr Köpfchen zu sich empor und erstickte das abwehrende Nein ihrer bebenden Lippen mit der Leidenschaft seiner Küsse. — »Nein, ich laß Dich nicht! Ich laß Dich nicht!« stammelte er.
»Armer Maggi —« hauchte sie in seine Liebkosung. Ihre Augen füllten sich mit Thränen: — eine solche [S. 13] Liebkosung wird eines Tages, bald, gar bald, ihre Trennung bedeuten!
Wo war die Zeit hin? Wie hatten sie jedes für sich die Seligkeit dieses ersten rückhaltlosen Zusammenseins ausgeschmückt! Emmy hatte aus ihrem Kassagefängnis sich mit Mühe durch eine Notlüge zu früherer Stunde befreit. Magnus ahnte nicht, welche Angst sie ausgestanden, bis sie endlich hier in seinen Armen lag. Die peinigenden Skrupel, die sie mehrere Male umkehren heißen, die Furcht vor Entdeckung und das drohende Gespenst der Schande, das auf sie lauert — es will immer noch nicht dunkel genug werden — die Läden diesseits und jenseits der Straße sind so neugierig — alle Passanten wissen um ihr Geheimnis — die Stiege knarrt — sie schrickt zusammen — eine Thür öffnet sich, jemand kommt die Treppe herab — atemlos vor Schreck stürzt sie auf die beigelehnte Thüre des ersten Stocks — »Endlich!« ruft drinnen eine Stimme.
»Ach Maggi ...«
Lange verbarg sie ihr vor Scham glühendes Antlitz an seiner Brust und ihr Atem stürmte vor gewaltiger Erregung.
»Du wirst mich nicht mehr lieben ...« bebte es über ihre Lippen. Sie wagt nicht mehr aufzuschauen — o, sie wird nicht mehr wagen, ihrer Mutter unter die Augen zu treten!
[S. 14]
»Du meine Welt! Du mein Alles!« Und mit einem neuen Sturm umpreßte er ihre zarte Gestalt.
Aber die Standuhr war nicht so barmherzig, still zu stehen für ihr Glück. So, mit der Angst, mit der Freude dieses Willkomms war die Zeit dahingeflogen — dazu der fatale Ohnmachtsanfall. —
Während er ihr half den Paletot anzulegen, schwelgten sie bereits in der Seligkeit eines neuen Wiedersehens.
»Ist Dir auch wirklich ganz besser?« fragte er besorgt. Es war ihm, als hauchte abermals eine Blässe über ihre Wangen.
»Ganz gut, Maggi ...«
Aber der Name hauchte so matt heraus — ein neuer Schatten umflorte plötzlich ihren Blick — sie wankte.
»Um Gotteswillen!« — rief er — »was ist?!«
Abermals brachte er sie zum Divan, diesmal mußte er ihren Körper völlig auf den Armen tragen, wie leblos lehnte ihr todbleicher Kopf gegen seine Brust.
»Emmy! — was ist? — Emmy!«
Es war die volle Ohnmacht. Er besprengte ihr das Gesicht, versuchte ihr Mieder zu öffnen — da zeigte sich Blut in dem einen Mundwinkel — und jetzt zog sich eine rote Linie von Blut zwischen den blassen Lippen hin.
»Ein Blutsturz!« stieß er aus.
[S. 15]
In höchster Bestürzung fuhr er empor, das Schwellen der roten Linie anstarrend. Dann stürzte er auf den altmodischen gestickten Klingelzug hin und riß daran.
Jemand klopfte; ohne das Herein abzuwarten, erschien ein Kopf in der Thür, und eine wie verrostet klingende weibliche Stimme meldete, daß das Mädchen nicht da sei — »womit könnte ich dienen?«
Es war Frau Gornemann selbst, seine Wirtin.
»Lassen Sie, bitte, irgend jemand nach dem Arzte eilen — Sanitätsrat Herz, Mohrenstraße 28!«
Frau Gornemann war ganz eingetreten. Die Situation für sie sehr interessant — höchst pikant!
Es war eine starke Dame von mittlerem Alter, mit unförmlicher und wie mit verzweifelter Überanstrengung eingeschnürter Taille; ein männlich ausgeprägtes Gesicht von starkem und kaltem Ausdruck, dick gepudert, von dem überaus künstlichen Gebäude einer pompösen Frisur überragt. Sie trug ein schweres schwarzes Seidenkleid, eine protzige Herrenuhrkette mit Berloques baumelte aus dem Taillenschluß; zwischen ihren Rockfalten raschelte ein Seidenhündchen mit gänzlich von langen Haaren überhangenem Gesicht und einem feinen Glöckchen am Hals.
Der Blick ihrer eisigen Augen belebte sich, und sie nickte mit einem fast cynischen Lächeln. Sie versteht vollkommen: der festlich gedeckte Tisch und der Damenbesuch, Alles!
[S. 16]
»Schnell! Lassen Sie schnell den Arzt rufen! — Ich bitte! — Sie stirbt! — ein Blutsturz —«
Neugierig rauschte Frau Gornemann mit dem klingelnden Hündchen, das sie nie verließ, an den Divan heran.
»Eine befreundete Dame —« erläuterte er linkisch. Es klang recht dumm! Was denn sonst? — man kennt dergleichen! — sie bedarf keiner Erklärung! — schien der ironische Zug ihres von einem Bartflaum überschatteten Mundes zu sagen.
Die Gegenwart dieser Frau, vor der er stets eine Abneigung gespürt, empfand er selbst in diesem Augenblick als eine Entweihung; statt ihrer, der Ohnmächtigen, befiel ihn eine Scham. Aber Eile — höchste Eile!
Frau Gornemann rauschte hinaus, um den Auftrag auszuführen, dann kam sie wieder, das weibliche Mitgefühl hatte doch über die kritische Neugier die Oberhand gewonnen. Ja, fast schien sich seine Ratlosigkeit ihr selbst mitgeteilt zu haben. Es ist jetzt keine Zeit zu Glossen!
Nach der Ewigkeit einer halben Stunde erschien der Sanitätsrat. Er machte sich sofort an den Fall, ohne die außergewöhnlichen Umstände zu beachten. Und dieser Fall lag einfach: eine schwere innere Blutung — sofort solle die Kranke zu Bett gebracht werden — er wolle so lange bleiben ...
Magnus’ verzweifelter Blick traf Frau Gornemann. [S. 17] In einem schnippischen Anfall erklärte diese, die massiven Schultern hebend, daß sie weder Platz, noch ein Bett übrig hätte!
Es half kein Zaudern und keine Rücksicht im Angesicht dieser Gefahr. So ward die Kranke also in Magnus’ Schlafstube gebettet. Völlige Reglosigkeit, völlige Stille, Eisumschläge und eine Liste von Vorsichtsmaßregeln. Offenbar hing das Leben der Ärmsten nur noch an einem Haar. —
Thränen zitterten durch Magnus’ Stimme, als er den Sanitätsrat beim Fortgehen nach den Aussichten fragte.
Der Arzt hob die Schultern langsam empor, preßte die schmalen, bartlosen Lippen vollends ein und hob die grauen Büsche der Brauen über den freundlich und gutmütig blickenden Augen. Da er Thränen über die Wangen von Magnus stürzen sah, tappte er ihm auf die Schulter: »Was machen Sie für Geschichten!« schien dies stumme Tapfen zu sagen.
»Sie begreifen, Herr Sanitätsrat ...«
Es schien ein Appell an den Menschen. Dr. Herz war nicht der Hausarzt der Familie Joël, aber er hatte den jungen Joël, dem jener andere zu weit ab wohnte, gelegentlich eines flüchtigen Leidens hier in derselben Wohnung behandelt.
»Machen Sie sich keine Gedanken, junger Herr!« fiel er ein. »Wir Ärzte sehen und hören nur, was wir [S. 18] wollen. Wir erleben hier in Berlin jeden Tag einige Romankapitel.«
Nach einer kurzen Pause: »Leben die Angehörigen der Dame hier in Berlin?«
»Beide Eltern.«
»Sie thäten gut, dieselben zu benachrichtigen.«
»Oh!«
»Es wäre das Beste — und möglichst bald, ehe Sie eine noch viel schlimmere Verantwortung übernehmen. Ich kann Ihnen übrigens für die Nacht und überhaupt eine Wärterin senden,« (mit einem bedeutsamen Blick nach der Schlafstube: — Frau Gornemann möchte er die Kranke nicht anvertrauen!)
»Bitte, Herr Sanitätsrat!«
Magnus war aufs äußerste bestürzt. Welch eine Situation! Welch eine Verlegenheit! Die armen Eltern — arme Emmy! Er weiß, der Tod wäre ihr lieber, als ein Wiedersehen mit ihren Eltern an diesem Ort ...
Eine Stunde darauf erschien Schwester Jemima, ein wachsblasses Gesicht mit großen, dunkelgrauen Augen, die weder Kummer, noch Schreck, noch Freude, noch Trauer zu kennen schienen; ihr Gang war ein schattenhaftes Schweben und ihre Bewegungen völlig lautlos. Sie war eine geborene Komtesse M. und als Wärterin in allen aristokratischen Krankenstuben beliebt.
Auch sie sah und hörte nichts und schien über nichts [S. 19] nachzudenken. O, auch sie erlebte Romankapitel genug in ihrem schweren Dienst! Moralische Kasteiung ist ja noch viel verdienstvoller, als körperliche!
Am Morgen noch vor acht Uhr betrat Magnus in der Treskowstraße das Haus, wo Emmys Vater, der Zahlmeister a. D. Köster, wohnte. Es war eines jener Häuser, die gleich nach dem Neubau schon einer zehrenden Alterskrankheit verfallen, als ob die Armut, die sie bewohnt, ein bösartig gefräßiges Ungeziefer sei. Man wies ihn in einem feuchtdüstern, brunnenartigen Hof nach einer Hintertreppe. Langsam stieg er die abgetretenen Stufen hinan, als schleppte er mit seiner peinvollen Meldung eine Last empor. Die dumpfe Luft der Armut, die ihm entgegenwehte, fiel ihm schwer aufs Herz. Die Thüren trugen entweder gar keine Schilder, oder sie waren mit einer Menge vergriffener Karten, ja nur Zettelchen statt solcher bedeckt. Hinter der einen gellte Weibergekeif, Kindergeschrei jeglicher Tonart drang aus allen Ritzen, das ganze Haus schien davon zu vibrieren. Und er hatte dulden müssen, daß sie, die Geliebte, unter solchem Druck atmete! Wenn sie wieder besser ist ... ach, er wagte nicht, sich diese Hoffnung vorzugaukeln!
Emmy hatte die Verhältnisse ihres Elternhauses nur [S. 20] mit kurzen Andeutungen gelüftet. Ihr Vater hatte als Zahlmeister in der Armee gedient, er litt am Größenwahn, sein störrischer Sinn hatte ihn hart an einer Insubordination vorbeistreifen lassen, und er kam noch gerade mit dem blauen Auge eines einfachen Abschieds davon. Dann hatte er sich in allerlei Winkelstellungen versucht, die seinem stolzen Sinn aber zu subaltern dünkten. Nun war er seit lange ohne Beschäftigung, seine angeborene Rolle als verkanntes Genie ins Virtuosenhafte ausbildend. Die Mutter war ein Engel an duldender Güte. Sie war vor ihrer Heirat Lehrerin gewesen, nun gab sie für ein Spottgeld Klavierstunden an erste Anfänger. Drei Geschwister waren gestorben, Emma war die einzige — ihrer Eltern Trost und Hoffnung! — das hatte Magnus längst gemerkt.
Im vierten Stock fand er eine Thür beigelehnt. Eine scharfe militärische Stimme inquirierte jemand da drinnen.
»Also um sieben Uhr hat sie das Geschäft bereits verlassen?«
Die Köster hatten jedenfalls in ihrer Angst um die rätselhaft Ausgebliebene zu Kapp und Müller geschickt und diesen Bescheid erhalten.
»O Gott, was ist denn das?« jammerte eine matte Frauenstimme.
Magnus stutzte. Er hatte mit Frau Gornemann[S. 21] ein Märchen vereinbart, und da war dieser verdächtige Punkt, daß Emmy das Geschäft wider die Gewohnheit um sieben Uhr statt gegen neun verlassen, übersehen worden. Zu einer anderen Zeit hätte ihn der Gedanke angewidert, sich mit dieser Frau gemeinsam auf krumme Wege zu begeben, denn er war Berliner genug, um hinter dem »Witwentum« von Frau Gornemann eine schwüle Vergangenheit zu wittern. Aber die entsetzliche Verlegenheit drängte.
»Je kräftiger Sie flunkern, desto eher wird Ihnen geglaubt, Herr Joël!« lautete die Parole, die seine Vermieterin ihm auf den schweren Gang mitgab.
Wohlan! Und er klopfte an die Thüre.
»Herr—rein!«
Ein kräftiger Mann, schwarzhaarig, mit argwöhnisch spürenden dunkeln Augen blieb in seinem aufgeregten Gange durch die Stube halten. Diese war mit Möbeln und Hausgeräten überfüllt, am Fenster stand ein altes Tafelklavier aus gelbem Kirschbaum.
»Ich komme, um Ihnen Nachricht von Ihrer Tochter zu bringen —« brachte Magnus ziemlich sicher hervor.
Mit einem Freudenschrei schoß eine kleine Frau mit einem kümmerlichen Gesichtchen, das die Angst nun vollends verstört hatte, aus einem Winkel empor.
»Wo ist sie? — Sie haben Nachricht? — Um Gotteswillen, wo ist sie?«
[S. 22]
Gleich wandelte sich die Freude in Schreck. Magnus sah, wie die zarte, gebrechliche Frau am ganzen Leibe vor Aufregung zitterte.
»Ihre Tochter lebt! Sie brauchen nicht das Ärgste zu denken!« rief er.
Herr Köster spannte die Augen. »Du kannst gehen, Karl,« sagte er zu dem Knaben, welcher der Überbringer der Nachricht von Kapp und Müller gewesen. Als fürchtete er, des Nachbars Kind könnte Dinge über seine Tochter zu hören bekommen, die sich nicht für die Verbreitung im Hause eigneten. Er argwöhnte immer nur das Schlimmste.
»Also Ihre Tochter ist gestern Abend auf der Straße plötzlich erkrankt. Ich war zufällig in ihrer Nähe. Sprang noch rechtzeitig heran, sonst wäre sie auf das Trottoir hingestürzt. Wir brachten sie ins Haus. Es wurde ein Arzt gerufen und der erklärte sofort —«
»O Gott!« stieß Frau Köster aus, und sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
»Verhehlen Sie uns nichts!« rief Herr Köster — »wir sind auf alles vorbereitet nach dieser Nacht!«
»Ich bitte, sich zu beruhigen! Der Doktor, den ich — den wir sofort rufen ließen, erklärte es nicht für sehr gefährlich — ein leichter Blutsturz —«
»Warum hat man sie denn nicht zu uns gebracht? Oder noch besser zur Charité, wo sie jedenfalls die sicherste Hülfe gefunden« — fiel jener ein.
[S. 23]
Die arme Mutter zuckte entsetzt bei dem Worte »Charité« zusammen, als bedeute das den Gipfel der Schande.
»Der Doktor erklärte sofort, daß die Kranke nicht weiter transportfähig —«
»Wir müssen gleich zu ihr, Frau! Hier hilft kein Jammern und kein Besinnen! Wo ist es, wenn ich bitten darf?«
»Charlottenstraße 55a bei meiner Wirtin« — (das klang nicht gut!) »bei einer Frau Gornemann,« verbesserte er sich. »Eine barmherzige Schwester war die Nacht über da. Es ist für alles gesorgt. Sie können ganz ruhig sein.«
»Mein Name ist Joël —« fügte er zögernd, mit einer leichten Verbeugung hinzu. Er hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, wenn er nicht diesen stadtbekannten Namen trüge.
»Ach — von den Joëls in der Leipzigerstraße?« fragte der Vater heftig. Gleich stürzte sich sein Argwohn auf den Namen.
Magnus nickte. Kann es unter den reichen Leuten denn keine Ehrenmänner geben?
»Wie kam — wie kam das Mädchen denn um sieben Uhr in die Charlottenstraße, Herr Joël?«
Magnus erstaunte selbst später über seine Geistesgegenwart, die diese Frage nach kürzestem Zögern parierte:
»Die Dame war, so viel ich herausbekam, im Auftrag von Kapp und Müller ausgegangen ...«
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Doch Frau Köster schnitt all diese Abschweifungen von der Hauptsache mit der Erklärung ab, daß sie vor allem hin müßten — gleich auf der Stelle! O, sie läßt sich nur vom ersten Schreck so niederducken — nachher findet das Schicksal sie stets gewappnet!
»Darf ich Ihnen meine Droschke zur Verfügung stellen? — sie ist bereits bezahlt,« fragte Magnus.
Sie nahmen das Anerbieten an, und er empfahl sich, froh aufatmend. Doch da draußen auf der Straße fiel der Jammer über den drohenden Verlust der Heißgeliebten wieder über ihn her. Während er im Sonnenschein durch das Gewühl der Rosenthaler Straße schritt, stürzten ihm plötzlich Thränen aus den Augen. Und ein Gefühl, daß nachdem, wenn sie ihm geraubt würde, das ganze Leben für ihn keine Bedeutung mehr hätte, legte sich gleich einem Schleier über seine Sinne. —
Magnus war nach einem kleinen Hotel in der Nachbarschaft übergesiedelt; den Seinen gegenüber hatte er diese Veränderung mit einem ansteckenden Krankheitsfall in der Familie Gornemann begründet, so kam er auch jeder Überrumpelung in der Wohnung zuvor.
Die Kranke schwebte zwischen Tod und Leben; die Miene des Sanitätsrates bemühte sich krampfhaft, eine [S. 25] Hoffnung zu heucheln. Frau Köster und Schwest Jeremima teilten sich Tag und Nacht in die Pflege, während Herr Köster ruhelos ab und zu ging, von der Sorge um sein Kind gehetzt. Magnus verrichtete seinen Dienst im väterlichen Geschäft wie ein Träumender. Alle Gedanken bei ihr! — und es war eine solche Qual für ihn, wenn er in ihrer Nähe weilte, seine überquellende Sorge sänftigen, den Ausdruck seines Schmerzes unterdrücken zu müssen, damit die Eltern nicht Verdacht schöpften.
Doch nur zwei Tage gelang die Täuschung gegenüber Herrn Kösters argwöhnischem Spürsinn. Diesem war die angstvoll vibrierende Teilnahme eines Wildfremden, angeblich nur durch einen Zufall Angenäherten, gleich verdächtig vorgekommen, so sehr sich Magnus gerade in seiner Gegenwart Gewalt anthat.
Kapp und Müller hatten auf seine Erkundigung nichts von einem in ihrem Auftrag erfolgten Ausgang um sieben Uhr gewußt, Fräulein Emma hatte im Gegenteil ein Familienfest für ihr Urlaubsgesuch vorgeschützt. Dazu trat der schändliche Verrat der kleinen, leblosen Dinge, die unseren Alltag tyrannisieren, ja zuweilen unser Schicksal meistern. Magnus hatte sorgfältig alle Spuren, die zur Entdeckung des Geheimnisses führen konnten, entfernt. Der Doktor suchte bei einem seiner Besuche nach einem Zettelchen, um den lateinischen Namen einer Tinktur darauf zu schreiben; er griff aufs Geratewohl in den [S. 26] Papierkorb und zog ein beschriebenes Blättchen hervor, auf dessen leere Seite er den Namen hinwarf. Herr Köster, der die Besorgung in der Apotheke übernahm, erstarrte, als er unterwegs das Blättchen näher prüfte: es war das Stück eines Briefcouverts, und die Adresse, an Herrn Magnus Joël gerichtet, zeigte die Handschrift seiner Tochter! Keine Täuschung: — ein gewisser flotter, für ihre Hand charakteristischer Schnörkel ließ keinen Irrtum aufkommen.
Dann, bei seiner Rückkehr, gab die Kranke selbst den Anlaß zur Gewißheit. Er war leise an das Lager herangeschlichen. Magnus saß dort neben der Mutter. Emmys fieberglänzende Augen weiteten sich, sie schienen nach jemand ins Leere hinein zu suchen. Endlich trafen sie Magnus’ Antlitz. Nun tastete ihre Hand mit Mühe, bei der übergroßen Schwäche, über die Bettdecke nach ihm hin. Sie suchte seine Hand, und er reichte sie ihr, alle Vorsicht vergessend. Mit einem seltsamen Ausdruck des Glückes schloß sie die Augen, die Hand immer noch haltend.
Herr Köster wußte genug. Emmy und Herr Joël hatten sich längst gekannt — der Krankheitsanfall und das zufällige Eingreifen dieses übergefälligen Herrn war erfunden — seine Tochter, seine einzige verführt und verdorben! — und dort steht der Verführer!
Ein ungeheurer Grimm überfiel ihn. Er hätte sich am liebsten auf den Verbrecher gestürzt. Mit zitternder [S. 27] Stimme ersuchte er, Herrn Joël draußen auf der Straße sprechen zu dürfen. Dort ging er geradenwegs auf die Sache los.
»Sie haben uns irre geführt, Herr Joël, als Sie uns meldeten, wie der Unglücksfall sich ereignet —«
»Herr Köster!«
»Ich denke, es ist jetzt nicht der Moment, Komödie zu spielen. Ich weiß alles — kenne die Beziehungen des Mädchens zu Ihnen —«
Magnus hielt es diesen Umständen und den fanatischen Blicken des in seinem Vaterstolz Verwundeten gegenüber nicht mehr für angebracht, sein Märchen aufrecht zu erhalten.
»Ja, ich liebe Ihre Tochter!« flüsterte er, und er legte beteuernd die Hand auf die Brust; seine Augen strahlten.
»Liebe Ihre Tochter ...« höhnte Köster. »Ungeheure Gnade — der reiche Herr Joël, der sich herabläßt, meine Tochter mit seiner Liebe zu beglücken!«
Dann in einen Ton jammernder Verzweiflung umschlagend: »Mein Kind, mein armes Kind! — sie war unsere ganze Freude! — Liebe Ihre Tochter ... was heißt denn das? Bekennen Sie doch Farbe, Herr!« Drohend klang es, und unwillkürlich wich Magnus zur Seite.
»Ich versichere Sie — ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist ...« fiel Magnus ein.
[S. 28]
»Kennen wir — kennen wir! — bin lang genug in Berlin, um zu wissen, was solche Liebe bedeutet ... zum Teufel, Herr, ich fordere die Ehre meiner Tochter von Ihnen! Sie haben Ihren Ruf vernichtet! Sie werden mir Rechenschaft geben, Herr ...«
»Ein so verzweifelt unglückseliger Zufall —« stotterte Joël — »ich bin bereit, alles gut zu machen ...«
Er war sich zwar nicht klar, wie das zu geschehen hätte; gleich schämte er sich auch der Redensart.
»Mit Geld? Zum Teufel mit Ihrem Geld! Eine Ehre läßt sich nicht mit Geld reparieren! — Mein Kind, mein armes Kind —« jammerte der Vater von neuem los.
»Herr Köster, hören Sie doch ...« bat Joël, von innigem Mitleid ergriffen.
»Lassen Sie mich! — es ist jetzt nicht der Moment — wir rechnen schon mit einander ab! — lassen Sie mich ...«
Und er wehrte Joël ab, zu folgen, während er eiligst um die nächste Ecke bog. Joël stand und sah der Gestalt des unglücklichen Mannes nach, wie sie, die Arme mit den geballten Fäusten in ohnmächtigem Grimm nach abwärts gesenkt, dahinwankte.
Wie verstört strich er selbst aufs Ungewisse durch die Straßen. Der Mann hat recht! Der Ruf des Mädchens ist vernichtet — kein Geld der Welt vermag ihn herzustellen, denn der Leumund glaubt nicht an die Schändlichkeit [S. 29] dieses Zufalls. »Welche Sühne könnte ich leisten? Blut wäre trivial — und widersinnig, ihm, dem Vater, solches anzubieten!«
Der Gedanke an einen Ausweg fiel ihn an. Sein Geschick für immer an das ihre zu fesseln? — sie zu heiraten? — Das bedeutete für seine Familie, für seinen Vater das Ende der Welt! — Und er belog sich, daß er dennoch den Mut haben würde, den Schritt zu thun, der ganzen Welt zum Trotz — wenn sie nur am Leben bliebe — nur das!
Aber sie wird und kann nicht am Leben bleiben! Der Sanitätsrat hat ihm erst heute Mittag jede Hoffnung geraubt.
Ein Eheversprechen? — das klänge hier im Angesicht des sicheren Todes wie ein entweihender Hohn.
Herr Köster erschien an diesem und dem folgenden Tage nicht mehr in Joëls Wohnung. Es war die stumme Ächtung, die er über sein armes Kind verhängte. Sein Starrsinn gebot ihm, eher grausam, ja brutal zu sein, als den Schein auf sich zu laden, daß er seine und der Seinen Ehre antasten ließe.
In der Villa Joël zu Charlottenburg wurde der Geburtstag des Chefs gefeiert; zugleich das Gründungsfest des Berliner Hauses. Magnus durfte und konnte[S. 30] nicht fern bleiben, ein triftiger Vorwand fand sich nicht. Doch würde er Gelegenheit erhaschen, sich zeitig genug zu entfernen — denn die Geliebte lag im Sterben.
Herr Hildebrand Joël, der seit fünfzehn Jahren verwitwet war, bewohnte einen Teil des Parterregeschosses der großartigen Villa, während sein Ältester, Gisbert, mit seiner Familie die übrigen Räume inne hatte. Für Magnus hätte sich wohl noch ein Plätzchen in dem weiten Hause gefunden, doch hatte sich das Bedürfnis herausgestellt, daß einer von der Firma wenigstens seine Wohnung in Berlin und in der Nähe des Geschäftes hatte. So hatte Magnus in erster Ermangelung eines besseren Logis, und da er durchaus anspruchslos war, sich bei Frau Gornemann eingemietet, selbst die Bedienung verschmähend, die ihm sein Vater aufdrängen wollte, damit auch diese Filiale des Namens Joël mit genügendem äußeren Glanz vertreten würde.
Gisbert Joël war mit einer Tochter des großen westfälischen Eisen-Sturz vermählt; sein Schwager war der Baron Kehren, ein wegen seines wütenden Strebertums in weiten Kreisen der Armee berüchtigter Offizier. Gisbert war das Gegenstück des jüngeren Bruders. Schon die fast ans Geckenhafte streifende Sorgfalt für Kleidung und Äußeres verriet den Lebemann. Er hatte seine Jugend tüchtig ausgetobt, und der Arnheim von Herrn Hildebrand wußte davon zu erzählen; aber das Stirnrunzeln [S. 31] des alten Herrn war wohl nicht ernst zu nehmen: — leben und leben lassen! — ein Joël, der der schönsten Figurantin von Friedrich-Wilhelmstadt Equipagen und Pferde hält und den Mut hat, bei Friedländer Zehntausende für ein Schmuckstück aufschreiben zu lassen, um damit die Gunst einer bekannten Soubrette zu erobern — das bringt den Namen nur in Umsatz, das kann den Glanz des Hauses nur erhöhen! Warum begeht der Jüngere keine solche Heldenthaten? Man muß ihn wahrhaftig zwingen, standesgemäß Geld zu vergeuden! Hätten die beiden Cyniker, Vater und Sohn, erfahren, daß ein Joël allabendlich in einen Rumpelkasten von Omnibus kroch, um in den Blicken eines unscheinbaren Ladenmädchens seine Seligkeit zu finden — sie hätten ihn für ein Tollhaus reif erklärt.
Da Magnus so schmählich aus der Art geschlagen, da er nichts für den Ruhm des Hauses zu thun gewillt war, blieb schließlich nichts übrig, als ihn wenigstens glänzend zu verheiraten. Magnus war mit seinen vierundzwanzig Jahren alt genug; er würde einen Musterehemann abgeben — meinte Frau Gisbert, eine lebhafte und imposante Brünette, nach ihrer Art ironisch mit den Lippen zuckend.
Es war auch schon eine Braut für ihn bestimmt. Bei Gisberts war eine Cousine der geborenen Eisen-Sturz zu Besuch, eine Gußstahl-Prinzessin aus Bochum. Eine [S. 32] blühende Blondine von bezaubernd liebenswürdigem Wesen — und sie schien sich wahrhaftig für den »guten Kerl« von einem Magnus zu erwärmen, all den glänzenden Huldigungen zum Trotz, denen ihre Schönheit und ihr Reichtum ausgesetzt waren. Der engere Familienrat hatte diese Heirat beschlossen. Gisbert erklärte zwar die Dame viel zu schade für den »Duckmäuser«; er war selbst mit einer schönen und reichen Frau verheiratet, gönnte das gleiche Glück aber keinem anderen. Die beiden Schwestern, Frau Gisbert und Baronin Kehren, pflichteten lachend, ihre berühmt prächtigen Zähne weisend, diesem Urteil bei. Auch sie hätten für die gußstählerne Cousine wohl eine bessere Partie erwünscht, aber mit dieser Heirat waren allerlei verlockende Pläne verknüpft. Der Alte beabsichtigte nämlich nach Magnus’ Verheiratung, diesen das Obergeschoß beziehen zu lassen und für Gisbert eine Mustervilla zu erwerben, die er auf die erdenklich prachtvollste Weise ausstatten wollte. Die beiden Schwestern schwärmten schon von dem neuen Besitz, und eifrig arbeiteten sie an dem Heiratsprojekt.
Magnus sah sein Schicksal. Über kurz und lang mußte er ja doch von der Geliebten getrennt werden! Über diese Trennung hinaus war alles andere, was geschähe, gleichgültig! Aber er glaubte das Schicksal noch eine Weile aufhalten zu können! —
Welch eine entsetzliche Qual, heute hier mitten im [S. 33] Festestrubel zu weilen, als Sohn des Hauses den Höflichen und Zuvorkommenden zu spielen, eine lächelnde Miene aufzusetzen und den Damen banale Nichtigkeiten zu spenden — während Emmy im Sterben liegt und eine Welt unter ihm zusammenzustürzen droht!
Die Festtafel war in dem großen neudekorierten Hauptsaal hergerichtet. Während die Austern gereicht wurden, bewunderte man den jüngst erst fertig gestellten Meyerheimschen Fries und die farbenglühende italienische Decke von Meurer. Doch den Haupteffekt gab der herrliche, sonnenfrohe Frühlingstag, der durch die hohen Bogenfenster der Gartenterrasse hereinglänzte. Die hohen Bäume waren noch von dem bronzefarbenen Hauch der ersten Knospung überhaucht, während das Strauchwerk schon in seinem vollentfalteten grünen Schmucke prangte. Auf dem blendenden Smaragd der Wiese stolzierten kostbare weiße Pfauen, und die saisongemäßen Beete voll seltener Tulpenarten machten, von hier oben gesehen, die Wirkung von bunten Geschmeidestücken aus der Renaissance. Das feine Säuseln eines unsichtbaren Springbrunnens lag wie ein dämpfender Schleier über dem vielartigen Geräusch der Speisenden; ein paar Amselstimmen bemühten sich, von draußen her zur Tafelmusik beizusteuern.
Der Glanz der Gäste konnte fast mit der Pracht der Gedecke, dem Prunk der schweren Aufsätze und der auch jetzt am hellen Tage brennenden Kandelaber wetteifern. [S. 34] Einige strotzende Generalsepauletten, einige verdienstvolle Ordenssterne von staatlichen Würdenträgern, ein paar Breitseiten von Diner-Orden auf der Brust von Flügeladjutanten, einige Kommerzienräte, einige vielgezackte Kronen aus der Diplomatie, ein paar der augenblicklich modernsten Namen aus Kunst und Litteratur.
Natürlich hatte der Festordner Gisbert seinem Bruder Magnus die gußstählerne Prinzessin als Nachbarin zudiktiert. Und es geschah von seiten der Verschworenen das möglichste, um die Gäste wie das Paar selbst auf dessen Zusammengehörigkeit aufmerksam zu machen. Die zukünftige Braut wurde mit Aufmerksamkeit überhäuft, die beiden Schwestern ließen sie und Magnus nicht aus den Augen, mit Lächeln und Nicken und allerlei kleinen bedeutsamen Zeichen suchten sie die Gelegenheit zu schmieden.
Magnus verrichtete ein Wunder an Selbstbeherrschung. Krampfhaft zwang er sich, er, der sonst still war und nicht den Ruf eines interessanten Gesellschafters besaß, zu einer lebhaften Unterhaltung. Wollte er doch dem lieben und hübschen Wesen an seiner Seite, dem die helle Lebenslust aus den blauen Augen lachte, diese frohe Festesstunde nicht verderben! — galt es doch mit dem Klang seiner eigenen Worte und seines Lachens den wühlenden Schmerz hier in der Brust betäuben! Vielleicht mochte auch der Wein, den er in vollen Römern herabstürzte, seine Schuldigkeit thun ....
[S. 35]
Die Verschworenen hatten ihr Werk mit feiner List insceniert. Nach den ersten feierlichen Galatoasten erhob sich Herr Perkisch, der bekannte Tafelpoet, der, wie Koch und Lohndiener, in gewissen Kreisen zu den notwendigen Requisiten eines Diners gehört. In seiner schwungvollen Art feierte er das Glück des Hauses Joël. Nicht das gegenwärtige allein, sondern ein zukünftiges, das er mit einem ausdrucksvollen Zwinkern seiner schmalen Augenschlitze fern dort hinten auf der smaragdenen Wiese zwischen den weißen Pfauen aufsteigen sah. Und sein beim Reden vergnügt schmunzelnder Mund malte dies Glück in so verlockenden Farben aus, daß die beiden Schwestern ganz Begeisterung waren. Der von ihnen gedungene Tafelpoet konnte seinen Auftrag nicht effektvoller ausführen.
Alles zielte mit offenen und verstohlenen Blicken auf das Paar. Nun, nachdem Perkisch geendet und das erste Läuten und Klingen der Gläser verhallt war, wußten die Schwestern eine Art Cour vor dem Paar in Scene zu setzen. Sie traten vereint auf Magnus und Fräulein Helmons zu, und ihre Blicke, ihr Lächeln und die Art, wie sie mit den beiden anstießen, alles das sah wahrhaftig wie eine Gratulation aus! Andere folgten dem Beispiel. Hier und da wurde getuschelt — »noch nicht offiziell!« hieß es — »aber die Verlobung hängt in der Luft!«
Fräulein Helmons glühte, aber mit ihrem bezaubernden Lächeln überwand sie die seltsame Verlegenheit.[S. 36] Ihrem Herzen schien es wahrhaftig fast recht zu sein, wenn sich all diese versteckten Huldigungen zu einer wirklichen greifbaren Gratulation verdichteten.
Magnus ließ in seiner etwas linkischen Art den unbegreiflichen Sturm gegen sich anprallen. Zum Teufel, es kann doch kein Mensch auf der Welt mit klingenden Gläsern und Toasten zu einer Ehe gezwungen werden!
Eben fand sich der alte Papa ein, sein Rotweinglas (er trank nie Champagner) in der Hand, um zu »gratulieren« — wie soll man es sonst nennen? Über sein glattrasiertes, von einem silberschimmernden Kranzbart unter dem Kinn eingerahmtes Gesicht vibrierte ein Ausdruck verschmitzter Freude. Mit bekannter Artigkeit verneigte er sich vor seiner zukünftigen Schwiegertochter, und seinen liliendünnen Lippen entschlüpfte ein besonders liebenswürdiges Kompliment. Kräftig stieß er dann mit Magnus an, und seine grauen, schlauen Blinzelaugen forschten in dessen Miene: — »Nun, alter Junge?« rief er laut.
Zugleich erhielt Magnus von rückwärts einen Schlag auf die Schulter: — »Prosit Brüderchen!«
Es war Gisberts schnarrendes Leutnantsorgan, und das feiste, von einem unternehmenden Schnurrbart gezierte Gesicht des Lebemannes grinste ihn an.
Warum that der Duckmäuser auf das erhobene Champagnerglas keinen Bescheid? Magnus zuckte zusammen,[S. 37] sein Blick stierte wie gebannt nach dem einen Gartenfenster hin.
Gegen die sonnige Helle des Gartens scharf abgezeichnet, stand dort ein Dienstmann, einen Brief in der einen Hand haltend, während die andere schirmartig über den Augen erhoben war; sein von der Eile echauffiertes Gesicht weidete sich mit glotzender Neugierde an dem festlichen Gewirr hier innen. Seine Erscheinung wirkte wie eine lächerliche Trivialität; der Mann mochte irrtümlicherweise den Weg durch den Garten genommen haben. Ein Diener sprang hinzu und winkte entrüstet dem Eindringling ab.
Magnus erblaßte, und eine eisige Blutwelle ließ ihm den Atem stocken: — es ist die Todesnachricht!
»Was hast Du nur, Bruder?« rief Gisbert stutzend.
»Nichts — nichts! — es wird vorübergehen!«
Und mit einer konvulsivischen Anstrengung, die ihn sogar körperlich zu schmerzen schien, zwang er seine verstörte Miene zu einem Lächeln. Gellend stieß sein Glas gegen das des Bruders — »Prosit!« rief er schrill.
Er wollte hinausstürzen in seinem Schmerz, um dem Dienstmann das verhängnisvolle Billet zu entreißen, aber er fühlte sich wie gelähmt — als wenn etwas hier innen zerbrochen wäre — mechanisch setzte er sich mit den anderen wieder zu Tisch.
Gleich darauf reichte ihm Gisbert über die Schulter[S. 38] den Brief hin: »Ei, ei, Brüderchen« — flüsterte der Lebemann — »eine Damenhand und eilig!«
Auch das schien dieser eingefleischte Egoist dem andern nicht zu gönnen.
Magnus entriß dem Bruder den Brief, und seine bebende Hand barg ihn uneröffnet in der Brusttasche — hatte er noch nicht den Mut dazu, das Unselige hinzunehmen? Fürchtete er, sich nicht beherrschen zu können und eine Scene hervorzurufen? Hinweg mit den schwarzen Schatten aus der Festessonne ...
Abermals krampfte er all seine Willenskraft zusammen — später staunte er darüber, wie er es fertig gebracht, das Lächeln auf sein Antlitz zu bannen und seine Rolle als höfliche Gesellschaftspuppe weiterzuspielen, während ihm der Brief mit der Todesnachricht auf der Brust brannte.
Endlich hob Frau Gisbert, die die Honneurs des Hauses machte, die Tafel auf. Er riß den Brief auf — es war nicht die Todesnachricht — nur begehrte die Sterbende ihn noch einmal zu sehen ...
Heimlich machte er sich auf — hielt auf der Straße eine vorüberfahrende Droschke an und ließ sie nach Berlin hineinjagen, was sie zu jagen vermochte.
[S. 39]
Wohl eine Stunde hatte er in dem Dämmer der verhangenen Stube an dem Krankenlager gesessen. Emmy hatte vorhin sein Kommen mit offenen, zum Bewußtsein erwachten Augen begrüßt, jetzt hielt das Fieber wieder ihre Sinne umschleiert. Ihre heiße, pochende Hand hatte in der seinen geruht, ihre bebenden Lippen hatten sich bemüht, ihm ein paar Worte zuzuflüstern, doch auch hierzu reichte die Kraft nicht mehr aus. Anstatt der Worte schwoll in ihrem Auge eine Thräne und rollte langsam über die von fliegender Glut gerötete Wange.
Sie weiß — es ist die Scheidestunde! — Sie hätte so gerne, ach so gerne gelebt und geatmet in dem Sonnenschein seiner Liebe! Wenn auch nur auf Monate, Wochen und Tage — solange das Schicksal ihr den Sonnenschein gönnte. Aber nicht dem unsäglichen Weh dieser Scheidestunde entquillt solche Thräne. Sie hatte in diesen Tagen öfter nach dem Vater gefragt und bald verstand sie die ausweichenden Antworten der Mutter, daß er vorhin, als sie schlief, dagewesen, daß er dann und dann wiederkommen wollte; sie sah die Thränenspur auf den verhärmten Wangen ihres Mütterleins — immer schwerer, immer schwüler fühlte sie den Alp der väterlichen Ächtung auf sich lasten. Ihre gestammelten Fieberworte gaben Zeugnis von dem Druck, unter dem ihre Seele keuchte.
O, Magnus wußte jene Thräne sehr wohl zu deuten!
Während er dort brütend und vor sich niederstierend[S. 40] saß, begann ein Trotz in ihm zu wachsen, grimmig und herausfordernd; er fühlte eine zuckende Gier, aufzuspringen und die Lüge und Heuchelei zu zertrümmern, unter der er ihre herrliche Liebe in seinem Kleinmut wie ein ungeheures Verbrechen versteckt. Was für erbärmliche, feige Wichte sind wir doch, wir von der sogenannten Gesellschaft, die wir das festgewurzelte Glück unserer Herzen auf ein Gebot des sogenannten Herkommens herausreißen! Ein gewaltiger Zorn gegen sich selbst ergriff ihn — wohlan, da nun doch alles zusammenstürzt, so will er wenigstens Rache nehmen an dem Phantom dieses Herkommens ...
Er stand auf und hatte mit Frau Köster eine Unterredung nebenan im Salon, die diese brave Frau zuerst erschrecken machte, dann in einen Thränenstrom ausbrechen ließ — er wehrte noch gerade, daß sie nicht seine Hand, die sie umklammert hielt, an ihre Lippen drückte. Dann traf er Anordnungen mit Schwester Jemima, und deren starre, schicksalsstumme Augen schienen sich wie zu einem Erstaunen zu weiten, ein Affekt, den sie sonst nicht kannte. Frau Gornemann aber, die ebenfalls um ihren Beistand angegangen wurde, hatte Mühe, nicht mit einem Lachen hell herauszuplatzen, trotz der Situation — und sie rauschte davon, das Seidenhündchen zwischen ihren Rockfalten festhaltend, ganz außer Fassung gesetzt über das Gehörte: zu welch entsetzlichen Verrücktheiten die[S. 41] Liebe, die platonische zumal, einen jungen Mann hinreißen kann! Totschießen und ins Wasser springen ist gar nichts dagegen!
Magnus machte sich eilig auf, denn es war keine Minute zu verlieren, ehe der Tod sein Vorhaben zerschnitt. Er suchte einen früheren Schulkameraden auf, der jetzt die Stelle eines Hilfspredigers an der Neuen Kirche bekleidete.
»Gottlob, daß ich Dich treffe, Bruno!« rief er, in die stille Studierstube des theologischen Strebers tretend.
»Was ist Dir, Magnus? Du bist so erregt —«
»Durchaus nicht! — ich komme, — um einen wichtigen Dienst von Dir zu fordern!«
»Sehr gern — aber nimm doch Platz!«
»Es ist höchste Eile — bist Du bereit, mich zu verheiraten?«
»Sehr gern — aber ...«
Der junge Geistliche stutzte vor seinem eigenen schnell entschlossenen Ja. Seine nüchterne Denkungsart hinderte nicht, daß die Erinnerung von geheimen, auf einem Verbrechen basierenden oder auf ein solches zielenden Heiraten ihn anflog.
»Kein aber! Entweder bist Du bereit oder nicht! Ich habe keine Zeit! Meine Braut liegt im Sterben, und ich wünsche ...«
Hier versagte Magnus die Stimme.
[S. 42]
Den Prediger erfaßte ein Mitleid — »Aber ich bitte Dich — was ist denn geschehn? Setz’ Dich doch und erleichtere Dein Herz!«
»Ja oder nein! Halt’ mich nicht auf!« rief Magnus.
Aber er war dem Geistlichen, bevor dieser sich zu einer folgenschweren Amtshandlung herbeiließ, doch wohl eine Erläuterung schuldig. Und er erklärte in kurzen hastenden Worten die Lage.
Der Geistliche machte ein bedenkliches Gesicht — der Fall war ihm noch nicht vorgekommen.
»Ich bitte Dich, ich beschwöre Dich, Bruno! Es muß sein! Sie soll nicht mit dieser Schande belastet zu Grabe getragen werden! Der Makel soll nicht an ihrem Namen haften über das Grab hinaus!«
Der Geistliche hatte in Magnus’ Elternhaus verkehrt, er ahnte die Katastrophe und wagte darauf hinzuweisen.
Entrüstet wehrte Magnus. »Es ist alles gleichgültig! Eine Autorisation meines Vaters sagst Du — ich bitte Dich — der Tod autorisiert mich! — Du willst also nicht —?«
»Ich mache Dich darauf aufmerksam, daß diese improvisierte Eheschließung meinerseits ja doch keine gesetzliche Gültigkeit haben würde.«
Das klang mehr, als wollte der Prediger seine eigenen Zweifel damit niederschlagen. Und ein anderer[S. 43] Zweifel fuhr darein: ob Magnus sich wirklich zu dieser phantastisch zu nennenden Extravaganz entschlossen haben würde, wenn der Tod nicht endgültig seine Autorisation gegeben.
Doch der Beruf des Seelenretters erwachte in ihm, und er redete sich ein, daß er sich dieser an ihn herantretenden Pflicht nicht entziehen dürfte.
Gut, er wollte in einer Stunde zur Stelle sein, unter dem Vorbehalt, daß »später« die nötige Formalität nachgeholt würde.
Magnus eilte zum Juwelier und erstand die Trauringe. Dann hetzte er nach der Treskowstraße, fand Herrn Köster aber erst am zweiten Orte. Der Mann geriet außer sich vor Überraschung. Gleich aber war der alte unausrottbare Dünkel wieder da:
»Ich habe das auch nicht anders von Ihnen erwartet, Herr Joël!« rief er, diesen mit seinen fanatischen Augen anblitzend. —
Eine Stunde darauf fand die seltsame und in ihrer Seltsamkeit so ergreifende Feierlichkeit statt.
Schwester Jemima hatte einen Altar mit einem Kruzifix und einigen brennenden Kandelabern gerüstet. Dies konnte an eine andere — später vorzunehmende noch viel ernstere Feier, die dieser ersten folgen würde, gemahnen.
Als Trau-Zeugen waren zugegen die Eltern, Schwester[S. 44] Jemima und die Wirtin. Die Amtshandlung des Predigers fand in einem vorsichtigen Flüsterton statt, den die Stille des Sterbezimmers gebot — einige kurze einleitende Worte — einige inbrünstig hingehauchte Gebete, die der gewaltigen Tragik der Stunde entsprachen. Seine Stimme bebte — auch ihn meisterte die Rührung.
Die Braut schien nicht bei Bewußtsein zu sein — ein paarmal ging ein Aufhorchen über ihre Züge — die Wirklichkeit mochte sich ihr in einem Traume verdämmern.
Nun richtete der Prediger die rituellen Fragen an sie: — ob sie gewillt sei, dem Geliebten auf Tod und Leben die Hand zu reichen. Da zuckte ein so seltsam ungläubiges Lächeln um ihre vom Fieberodem geöffneten Lippen — langsam hob sie die Wimpern und starrte den Frager ungläubig angstvoll an: was will man denn? — was kommt man denn, mir solch ein Trugbild vorzugaukeln in dieser Stunde? — warum läßt man mich denn nicht in Ruhe sterben?
Nun fühlte sie, wie etwas Kaltes, Metallisches sich über einen Finger ihrer rechten Hand streifte. Dann wurde diese Hand von einer andern ergriffen, und sie fühlte wieder etwas Heißes darauf glühen — den Brand von leidenschaftlichen Küssen, die zwei Lippen darauf preßten.
Magnus war in die Kniee niedergestürzt, ihre Hand, die den Trauring trug, wie verzweifelt umklammernd.
[S. 45]
Der Prediger hielt seine beiden Arme segnend über dem Paare ausgebreitet, und seine bebende Stimme flüsterte: »Der Herr segne Euch und behüte Euch — der Herr hebe sein Angesicht auf Euch —«
Da ward sein Flüstern durch Magnus’ hervorbrechendes Schluchzen unterbrochen: — »Nein, Du darfst nicht! Du darfst nicht gehen — mein Weib! — mein liebes, liebes Weib ...«
Gewaltsam mußten sie den halb Sinnlosen von dem Bette entfernen. —
Magnus stand am anderen Morgen im Kabinet seines Vaters.
»Du hast mich rufen lassen, Vater?«
Der alte Herr saß vor dem einfachen, mit grünem Leder bezogenen Schreibpult, die Unterarme auf die Platte gelegt, und hielt ein Schriftstück, das er dem Haufen von Vorlagstücken entnommen, seiner weitsichtigen Augen wegen, mit den Händen abgestreckt.
Auf diese Meldung des Sohnes nickte er nur unmerklich mit dem Kopf, legte das Schriftstück hin und nahm ein anderes. Dann nach einer Pause, wie auf das Papier einredend, sagte er:
»Ich dächte, Du hättest Dich zu entschuldigen — Du wärest uns eine Erklärung schuldig —«
[S. 46]
Magnus schwieg.
Ein drittes Schriftstück und: »Was soll das heißen, daß Du Dich an einem solchen Tage auf französisch drückst? Ich möchte mir doch sehr ausbitten! — wo hast Du denn die Manieren her?«
Das Schriftstück zitterte ein wenig in den Händen.
Magnus griff zu der für die Situation so banalen Trivialität einer Notlüge:
»Ich leide in letzter Zeit an Schwindelanfällen —« Und die Worte erstickten ihm fast im Hals. Teufel! was für ein Rückfall in die alte Feigheit!
Der Kopf des Vaters wandte sich langsam herum, und die grauen schlauen Blinzelaugen unter den silberschimmernden Büschen der Brauen glitten prüfend kurz über Magnus’ Gestalt.
»Du siehst in der That in letzter Zeit nicht ganz gut aus. Du machst Dir zu wenig Bewegung. Ich wünschte, daß Du Deine Ritte am frühen Morgen wieder aufnähmest.«
Magnus errötete.
»Du hättest Dich wenigstens gestern Deiner Desertion wegen entschuldigen können,« fuhr jener fort, abermals in die Papiere hinein. »Nun, es ist aber jetzt egal — wir haben Dich hoffentlich herausgerissen: das Telephon rief Dich also nach Berlin ins Geschäft, verstehst Du?«
Die Stimme des alten Joël klang ungewöhnlich[S. 47] weich: es war nicht des Vorwurfs wegen, daß er seinen Jüngsten hatte rufen lassen; es war etwas anderes im Werk.
Eine Pause, die nur das dumpf surrende Geräusch der den Elevator treibenden Dampfmaschine, die den Elevator trieb, ausfüllte; die Gegenstände, die Luft hier in dem kleinen, mit dunkler Ledertapete bekleideten Kabinet, schienen zu beben von diesem Surren.
»Bitte, bleib’ einen Moment!« knurrte der Alte — »à propos, ist die neue Sendung aus Neuschatel schon ausgepackt? — wie ist sie ausgefallen?«
»Man ist eben daran, sie auszupacken.«
Ein Nicken und: »Bitte, klingle Sierling!«
Magnus drückte dreimal auf den Elfenbeinknopf neben der mit mattem Glas versehenen Thür.
Wieder eine Pause, bis der Buchhalter erschien, einen Pack erledigter Papiere in Empfang nahm und in seiner aalglatten Art wieder durch die Thür hinaushuschte.
»Setze Dich — ich habe mit Dir zu reden, Magnus.«
Herr Joël senior rieb die flachen Hände übereinander und machte dann damit die Gebärde des Waschens — eine offenbare Verlegenheit, wie er seine Rede zu inscenieren hätte. Ungeduldig wiederholte er: »Aber, ich sage Dir ja, Du sollst Platz nehmen!«
Magnus gehorchte und setzte sich auf einen der Lederpolster, seitab des Pultes, vor dem Fenster.
[S. 48]
Der Alte lehnte sich mit dem Kopf gegen die hohe geradaufragende Rückwand des altertümlichen Holzsessels und visierte mit den Augen einen der wetterprophetischen Apparate an, welche über dem Pulte hingen.
»Du weißt — das heißt, Du müßtest wissen, worum es sich handelt,« begann er. »Du wirst gestern deutlich genug gemerkt haben, was unser aller sehnlichster Wunsch ist. Und wie ich voraussetze, hast Du nichts dawider. Fräulein Helmons ist hübsch, sogar schön, man kann nicht liebenswürdiger sein, als sie ist. Auf die anderen Vorteile einer solchen Wahl brauche ich Dich nicht erst aufmerksam zu machen. Der Name Helmons spricht für sich, er wiegt die Sturz mindestens auf. Du stehst hinter Deinem Bruder keinenfalls zurück. Die Verbindung würde einen Glücksfall für das Haus Joël bedeuten —«
Er hielt inne und visierte nur um so schärfer auf das Barometer hin. Abermals rieb er die flachen Hände übereinander — es sah fast aus wie ein Ausdruck der Freude über den eintreffenden Glücksfall.
»Die Sache ist sehr einfach —« hob er wieder an, »ich schrieb an den alten Helmons und fragte unter der Blume an. Seine Antwort konnte nicht deutlicher sein. Es hängt nur an Dir ...«
Die Helle des Fensters verdunkelte sich — Magnus’ starke Gestalt hatte sich langsam erhoben. Mit einem[S. 49] stutzenden »Nun?« wandte jener den Kopf nach dem Sohne hin.
Magnus streckte die Hände wie hülfesuchend nach dem Alten aus: »Verzeih’, Vater! — ich bitte Dich um Verzeihung!«
»Was? Nun?«
Der silberhaarige Kopf erhob sich von der Rückwand des Sessels, und die Hände griffen nach den Seitenlehnen.
»Ich kann nicht, Vater — ich darf nicht —«
Mit einem Ausdruck des staunenden Zornes blitzten ihn die grauen Augen an. Was? Er wird doch nicht sein Herz als Hindernis vorschieben? Er wäre Idealitätstölpel genug!
»Weshalb nicht?« donnerte Herr Joël senior.
»Ich bin nicht frei —!«
»Unsinn! Blödsinn! Was soll das heißen?!«
Magnus gewann seine Festigkeit wieder. Was er gethan, das wird er auch verantworten! — »Vater —« sagte er, und seine Stimme wankte nicht mehr — »Vater, ich weiß, was ich Euch angethan — aber es ist geschehen! — Ich bin nicht frei, ich bin — verheiratet!«
Das glattrasierte Antlitz des Alten verzerrte sich zu einem starren Entsetzen. Seine Hände griffen zitternd und hülflos tastend über die beiden Armlehnen.
»Lieber Vater — verzeih’ mir — ich konnte nicht anders! — Es war eine Ehrensache — die Betreffende[S. 50] war kompromittiert — sie liegt im Sterben — vielleicht ist sie schon tot — das Mitleid überwältigte mich — ich konnte nicht anders —«
Gleich schämte er sich des Wortes, das hier so häßlich klang. Aber das allein schien sein phantastisches Vorgehen entschuldigen zu können.
»Wer? — Was?« kam es stotternd, nach Luft schnappend über die Lippen des Alten.
»Ich darf Dir nichts verhehlen, Vater! — Hier die ganze Wahrheit!«
Und er erzählte in kurzen Sätzen, wie verhängsnisvoll ihm der Zufall gespielt, nannte Namen und ehemalige Beschäftigung seines nunmehrigen Weibes.
»Nicht möglich! Undenkbar! Du phantasierst!« kreischte der alte Joël, und der Versuch eines stummen höhnischen Lachens umgrinste seinen Mund. Doch der Blick des stieren Entsetzens gewann wieder die Oberhand über dieses Lachen.
Magnus ergriff ein Mitleid. Er flehte den Alten an, ruhig zu sein. Er fürchtete wirklich, daß die Nachricht, die den Stolz des alten Kaufmanns so niederschmetternd getroffen, ihn auch körperlich zu Boden schlüge.
»Vater, ich bitte Dich! — nimm Dir es nicht so zu Herzen! — ich sagte Dir, die Dame hat keine Hoffnung aufzukommen — sie liegt im Sterben —«
Es graute ihm vor dem fürchterlichen Trost, den[S. 51] er da vorbrachte. Und noch mehr graute es ihm zu sehen, wie der alte eingefleischte Egoist sich an diesen Trost klammerte, wie er nun, da ihn das lähmende Entsetzen verlassen, sich sogar nach den näheren Umständen, nach dem Ausspruch des Arztes erkundigte.
Und der schlaue Ausdruck kehrte allmählich wieder in die grauen Augen zurück: »Magnus ist ein Dummkopf — er ist reif für das Narrenhaus — aber — aber sie liegt im Sterben, gottlob!« schien dieser Ausdruck zu sagen.
Als Sanitätsrat Herz am Nachmittag desselben Tages erschien, fand er die Kranke in einem tiefen Schlaf, der schon seit dem Morgen angedauert. Doch nicht die Betäubung des immer matter glimmenden Lebens — ruhig und regelmäßig schwollen die Atemzüge, und der Puls begann stetiger, ja mit scheinbar erwachender Kraft zu schlagen.
Der alte Arzt konnte ein freudiges Stutzen nicht unterdrücken. Doch es wäre ein Verbrechen gewesen, die anderen, die jeden Zug seines Gesichtes belauerten, mit einer vorzeitigen Hoffnung aufzurichten. Und er stellte sofort die dem schweren Fall entsprechende Miene wieder ein.
Spät am Abend kam er abermals. Die Atemzüge fluteten noch tiefer und kräftiger. Und er atmete selbst auf vor Freude, als er den Puls prüfte. »Wenn es[S. 52] diese Nacht mit dem Schlaf so anhält, so könnten wir gewonnen haben! — Seltsam — wider alle Erwartung!« — murmelte er vor sich hin. »Aber wir müssen trotzdem gefaßt sein!«
Und da saßen sie nun in der Nacht und horchten auf das Fluten des Atems. Da saß ein Mütterlein und horchte begierig, als wäre jeder der Töne eine Kostbarkeit; wie entrüstet fuhr sie ein paarmal aus dem Anfang des Schlummers, der ihre ermüdeten Sinne umdämmern wollte — wie entrüstet huschte sie ans Fenster, als müßte sie ein lauter werdendes Geräusch, das verhängnisvoll zu werden drohte, hinwegscheuchen. Da saß ein junger Gatte und ließ den Sturm seiner Gedanken immer wieder einwiegen durch den Klang des einen Wortes —: Rettung! Hier am Rande der Todesnot ziemt es nicht an anderes zu denken! — Selbst Frau Gornemann kam einmal in der Nacht hereingeraschelt, um Nachricht einzuholen. Das Außergewöhnliche dieses Menschenschicksals schien ihr allmählich doch einigen Respekt einzuflößen. Und die Neugier begann sie zu stacheln: Was dann? Sie sind verheiratet und sind es auch nicht! Der Idealist hat sich, ohne eigentlich dazu gezwungen worden zu sein, in diese »Heirat« gestürzt (man muß es einstweilen so nennen!) Jetzt aber wird das Erwachen kommen! Er wird die Übereilung gewahr werden und dann?
[S. 53]
Am nächsten Morgen nach der Konsultation zog der Sanitätsrat Magnus bei der Hand in die Fensternische: »Es ist ein Wunder geschehen —« sagte er, und zögernd fügte er bei — »ich gratuliere!«
Der alte Herr war sich nicht ganz klar darüber, ob dieses das richtige Wort wäre.
Eine Glut schoß Magnus zu Kopf, und er stieß ein »Ah!« aus, das die große Freude über die unverhoffte Rettung bedeuten konnte. Gleich erblaßte er wieder. »Wie danke ich Ihnen, Herr Sanitätsrat!« rief er, sich fassend, mit fester Stimme, dem Arzte überkräftig die Hand schüttelnd.
War es ein Anfall des erbärmlichen Kleinmuts, der ihn zuerst überrumpelt? Teufel — er hat seinen Schritt doch nicht gethan in der sicheren Aussicht, daß sie sterben würde? Der Akt einer trivialen Großmut? Und nun, da ein gnädiges Geschick sie vom Tode errettet — beschleicht ihn ein Gefühl der Reue?
»Weg damit! Sie ist mein Weib — sie ist meine Welt — und ich werde sie gegen die andere Welt zu behaupten wissen!« —
Emmys Genesung dauerte nach der Krise fort. Zwar war die Kranke noch sehr schwach und jede Aufregung konnte verhängnisvoll werden. Von der Bedeutung der Ceremonie schien sie keine bestimmte Vorstellung zu haben, sie hatte dergleichen wohl nur geträumt. Und es war[S. 54] auch noch nicht die Zeit, sie in die freudige Wirklichkeit einzuweihen. Einmal fiel ihr Blick auf den goldenen Reif an ihrer Hand. Eine kurze Weile starrte sie ihn an, dann überrieselte es sie wie ein Schreck, und sie schloß die Augen, um den Traum, in dem ein solcher Ring eine Rolle spielen konnte, weiter zu träumen. Als sie schlief, streifte man ihr behutsam den Ring vom Finger, damit sein Anblick nicht noch schlimmeren Schaden anrichtete.
Magnus war mehrere Tage nicht im Geschäft erschienen. Jetzt galt es, abermals vor den Vater hinzutreten und ihm Aufschluß über die veränderte Lage zu geben. Er fand den Alten in seinem Bureau nicht vor: der Chef sei mehrere Tage nicht erschienen, er sei unpäßlich.
Magnus erschrak — so gewaltig hat ihn also die Nachricht gepackt? — ihn, den nicht leicht ein körperliches Gebrechen von dem lederbezogenen Pult zu scheuchen vermochte. Er eilte nach Charlottenburg.
Die beiden »eisernen Schwestern« waren eben im Begriff, das Parterre zu verlassen, sie begegneten Magnus im Vorsaal. Frau Gisbert empfing ihn mit einer ironisch ceremoniösen Verbeugung, die Baronin Kehren trug ein verächtliches Mitleid zur Schau.
»Was fehlt Papa denn —?« fragte er besorgt.
Frau Gisbert zuckte ihre kräftigen Schultern: »Ja, ich bitte Sie — sagen Sie uns doch, was ihm[S. 55] fehlt! — Der Arzt und wir alle werden nicht klug daraus — vollkommen frisch und wohl und doch dabei Phantasieren — ohne eine Spur von Fieber!«
»Wir sind sehr besorgt« — fiel die Baronin mit ihrem leicht singenden Näseln ein, während sie vor dem Spiegel an ihrem Schleier ordnete, Magnus abgekehrt, »er phantasiert von einer Heirat — er behauptet — denken Sie doch — er behauptet ...«
Ein Kichern erstickte ihre Stimme.
»Ja, er behauptet« — ergänzte Frau Gisberts Alt — »er behauptet — es hätte Jemand namens Joël sich mit — einem Ladenfräulein verheiratet.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte —?« näselte es vom Spiegel her.
»Wir haben Papa für krank erklärt und bestehen darauf, daß er sich nicht neuen Aufregungen dort im Geschäft aussetzt. — Wir sind sehr besorgt, wenn Sie mit ihm reden — so thun Sie ja nicht, als hielten Sie das allerliebste Märchen für eine Phantasie — das verschlimmert nur seinen Zustand — — Bist Du endlich fertig mit Deinem Schleier, Lyda?«
Und die beiden Schwestern rauschten davon, Magnus mit dem vollen Hohn ihrer Blicke und ihres Lächelns überschüttend. —
Er trat bei dem Vater ein; der alte Mann saß in einem Rohrstuhl, gegen seine Gewohnheit bequem zurückgelehnt, [S. 56] und ließ bei seinem Kommen die Zeitung sinken. Zu seinen Füßen erhob sich eine prächtige Bulldogge — knurrend, ja, mit offenbar feindlichen Blicken — was fällt denn der Bestie ein? Kennt sie Magnus nicht mehr? Ja, sie will nichts mehr wissen von ihm — jetzt!
Der alte Herr Joël war offenbar durch die Heirat seines Sohnes etwas zusammengerüttelt worden, und es schien allerlei in ihm ins Wanken geraten. Ein fast elegischer Hauch umflorte seine sonst so glitzernden Augen, seine Stimme klang auffallend weich.
»Du bist es, Magnus!«
Und ein leises Zucken der Überraschung huschte um die gekniffenen Lippen.
»Wie geht Dir’s, Vater — ich bin erschreckt, zu hören, daß Du nicht wohl —«
Der Alte ließ in seiner Art die stürmisch dargereichte Hand nach der flüchtigsten Berührung sofort abgleiten. Seine Augen forschten begierig in Magnus Miene.
»Nun?« ächzte er.
Ist er erschienen, um seinem alten Vater Erlösung zu bringen von dem entsetzlichen Alp dieser Heirat? — Ist das eingetroffen, was Magnus ihm vor Tagen als einen Trost hinwarf? Ist das unselige — lächerliche — unbegreifliche Bündnis endlich durch den Tod zerrissen? — Das alles lag in dem »Nun«.
»Vater, ich bin gekommen, um ein ernstes Wort mit [S. 57] Dir zu reden —« begann Magnus beklommen. »Ich bitte Dich um Verzeihung für mich und mein Weib — was geschehen ist, ist geschehen —«
»Wieso?«
Der Alte fuhr empor und riß die Augen weit auf.
»Sie lebt?« — das war die eigentliche Bedeutung des Wortes »Wieso«.
»Als ich Dir neulich mein Geheimnis beichtete, Vater, da geschah es in der sicheren Erwartung des Todes. Der Arzt hatte die Kranke aufgegeben, es war keine Rettung zu hoffen. Die Rettung ist dennoch eingetreten — sie lebt und wird gesunden — ich komme, um Deinen Segen zu erflehen ...«
Das letzte hauchte kaum hörbar über Magnus Lippen.
Die Zeitung knitterte unter den konvulsivisch greifenden Händen des Alten: »Du willst damit doch nicht sagen ...?« zischelte er.
»Daß ich gesonnen bin, als ein Ehrenmann zu handeln, Vater!«
Magnus richtete den Kopf, den er bis jetzt zu Boden gesenkt, mit einem Anflug des Trotzes empor.
»Geschehen ist geschehen! Es ist nichts daran zu ändern! Doch Du und die anderen sollt nicht denken, daß ich das, was ich gethan, bereue ...«
»Du bist wahnsinnig — Du bist toll!« kreischte der Alte. »Du hast ja selbst gesagt, daß Du Dich von einem [S. 58] »Mitleid« hast hinreißen lassen. Du thatest es, weil Du wußtest und erwartetest, daß der Tod Deine Dummheit wieder gut machen würde. Ein andermal verbitte ich mir dergleichen Experimente!«
Magnus fühlte hier in dem Innern seiner Brust eine gewisse häßliche Stelle, auf die der Vater mit dem Finger hinwies. Und es war mehr eine Empörung gegen sich selbst, die ihn aufbrausen hieß.
»Mag sein, daß ich voreilig gehandelt! Um ihretwegen bereue ich nichts! Ich liebe sie, wie ich kein anderes Wesen lieben könnte — ich hoffe, mit ihr das Glück meines Lebens zu gründen!«
»Ho — ho — ho —« höhnte der Alte. »Wie hübsch Du Luftschlösser baust! Wir anderen Joëls haben aber auch noch ein Wörtchen mitzureden, denke ich! So einfach kapert man einen Joël doch nicht!«
»Vater, ich darf Dich bitten, nicht an sie zu rühren! Sie weiß nicht einmal, daß die Ceremonie stattgefunden. Damals befand sie sich in einem Zustand, in dem sie kaum ahnte, was geschah. Und wir haben noch nicht gewagt, sie zu verständigen, weil sie noch so hinfällig ist. Der Entschluß geschah aus meinem eigensten Willen.«
Ein unheimlich lustiges Grinsen verzerrte die Züge des alten Mannes. Ein paar heisere Lachtöne, die wie ein krampfhaftes Hüsteln klangen, dann gurgelte er die Worte hervor —: »Hör’ mal, das ist ja toll und verrückt! [S. 59] — Das ist ja hirnverbrannt! Du bist — Du bist ... ich werde Dich ärztlich untersuchen lassen! — Sie weiß nicht, daß Du sie geheiratet — vielleicht gar wider ihren Willen ist es geschehen — und da bestehst Du noch auf der Komödie! Es ist wahrhaftig das Lustigste, das ich je erlebt — hahaha —«
Und mit wütendem Klopfen bearbeitete er den feisten Rücken der Bulldogge, die Worte im Takt begleitend. Das Tier knurrte zwischen den fletschenden Zähnen.
»Vater ...«
Magnus streckte beide Hände nach dem Alten aus, und seine Augen flehten ihn an.
»Vater — ich kann nicht anders — höre mich —«
»Was? Du wirst aufsässig!«
Das galt dem Hunde, der immer bedenklicher knurrte und eine Miene zum Losfahren machte. Jemand, der nur die Worte gehört, konnte sie auf Magnus gerichtet wähnen.
»Was, auch Du parierst mir nicht mehr?! Warte, Bestie!«
Und er nahm das Tier bei dem messingbeschlagenen Halsriemen und schleuderte es fort, daß sein praller Körper auf dem glatten Parquet dahinrutschte. Sein heulendes Gekläff gellte durch den Raum.
Der alte Mann war so wütend, er erhob sich und trat unsicheren Schrittes auf die eine Wand zu, wo unter [S. 60] Jagdutensilien eine kurze Knebelpeitsche hing. Während er sie herabnahm, sandte er seinem Sohne einen Blick von unheimlicher Bedeutsamkeit zu. Die Peitsche in der Hand wippend, sagte er, mit erzwungener Eiseskühle: »Geh’ jetzt — es ist besser, Du gehst — hörst Du —«
Und mit den Blicken seiner zornblitzenden Augen wies er seinem Sohn die Thüre. Dieser hörte, als er durch den Garten fortstürmte, das ohrenzerreißende Geheul der Dogge, die von ihrem Herrn gezüchtigt wurde.
Vielleicht hätte der alte Joël sich von der Zeit, der erfolgreichen Heilkünstlerin, in die Kur nehmen lassen — vielleicht hätte er sich in das Unvermeidliche gefunden. Aber die Verschworenen duldeten das nicht, sie konnten und durften Magnus diese Durchkreuzung ihres Komplotts nicht verzeihen. So ward die Mesalliance zu einem ungeheuerlichen Verbrechen gebrandmarkt, für das es kein Verzeihen giebt. Man erpreßte dem Alten ein Ultimatum, mit dessen Übermittelung Gisbert beauftragt wurde.
Dieser fand sich zu einer ungewöhnlich frühen Morgenstunde, was wohl von nicht geringer Energie zeugte, in dem Hotelzimmer seines Bruders ein, den er beim Ankleiden fand.
»’n Tag, alter Junge!«
Er wollte es mit dem burschikosen Ton versuchen. [S. 61] Doch das knappe Nicken des Gegengrußes von seiten des anderen dämpfte sofort diesen Ton.
Die Aufgabe war nicht so leicht, als Gisbert sie sich gedacht, wenn man nicht das Messer einfach herausnehmen und brutal darauf losschneiden wollte.
»Du wohnst nicht gerade sehr komfortabel —« begann er abermals, sich in dem nach der trivialen Hotelschablone ausgestatteten Raume umsehend. »Gestattest Du, daß ich mir eine Cigarre anzünde?«
Magnus stieß ein kurzes »Bitte!« aus, und Gisbert griff nach der Schale auf dem Tische.
»Wenn es nicht anders war, so hätte ich mich doch im Kaiserhof einlogiert, meinst Du nicht?« Dazu biß Gisbert mit den Schneidezähnen die Spitze der Cigarre ab.
Magnus zuckte die breiten Schultern und legte die Haarbürste mit einem deutlichen Unwillen auf die Marmorplatte vor dem mit einem ganz gewöhnlichen Goldleisten eingerahmten Spiegel.
Das reizte Gisbert. Er will es nicht anders! — Gut, so zieht man das Messer heraus und schneidet los!
»Ich meine, Du hättest die Dehors wahren können! Ich meine, Du wärst es unserem Namen schuldig gewesen, Dich nicht gerade in ein Hotel sechzehnten Ranges zu verkriechen! Das ist ja schon mehr eine Herberge!«
»Möglich, daß, wenn ich auf die Ehre Deines Besuches gerechnet hätte, ich vielleicht eine andere Herberge [S. 62] aufgesucht —« höhnte Magnus. Das war sonst nicht seine Art.
Und sich herumwendend, Gisbert mit scharfen Augen herausfordernd: »Du kommst, um mit mir darüber zu reden —«
»Allerdings. Ich bin von der Familie Joël abgesandt. Du hast eine Dummheit begangen —«
Eine Pause, in der das schlimme Wort nachzuhallen schien. Die Gesichter der beiden Brüder flammten, und ihre Blicke maßen sich feindlich.
»Eine entsetzliche Dummheit — es ist das einzige Wort!« rief Gisbert.
»Ich verbitte mir das hier in meinem Zimmer! Ich verbitte mir jede Kritik!«
Gisbert bezwang sich — auch das war nicht der richtige Ton. Und er versuchte es mit der eiseskühlen Gemessenheit. Die Worte langsam hervordehnend, versetzte er jenem den Wortlaut des Ultimatums:
»Deine sogenannte Heirat hat weder vom bürgerlichen, noch, wie wir informiert sind, vom kirchlichen Standpunkt eine Gültigkeit. Sie ist ein Hohn auf das Gesetz. Wir ersuchen Dich also, der Komödie eine Folge zu geben, widrigenfalls —«
Magnus hob trotzig das Haupt. — »Nun?«
»Widrigenfalls wir Dich nicht mehr als den unsrigen [S. 63] betrachten können — Du hast Dir alle Folgen, auch die schlimmsten, selbst zuzuschreiben«.
»Du lügst!« schrie Magnus zornig auf. »Ich kenne Dich! Das ist nicht der Auftrag meines Vaters!«
Gisbert zog die Schultern langsam in die Höhe und senkte sie wieder ebenso; noch kühler, mit einer unheimlichen Höflichkeit im Ton, sagte er: »Leider habe ich sogar den Auftrag, Dir jede Gelegenheit zu entziehen, um Dich von dem Grund Deiner soeben ausgesprochenen Anschuldigung zu überzeugen. Papa wünscht Dich nicht mehr zu sehen. Du hast Dich zu entscheiden, so oder so! — Übrigens soll Dir Dein Entschluß nicht zu schwer gemacht werden. Wir sind bereit, das notwendige Reugeld zu erlegen. Glaube nur — (und er fiel in den ersten burschikosen Ton) man beißt schon an, wenn wir den Köder appetitlich genug auswerfen. Mit einer nicht zu unbescheidenen Summe kaufen wir Dich aus Deiner Verlegenheit. Denn Du wirst mir doch nicht weiß machen wollen, daß Du Dich behaglich fühlst — he?«
Magnus wehrte mit einem unwilligen Wink des Kopfes ab. Dann stand er, mit finster gerunzelten Brauen vor sich hinstarrend da, die Knöchel der Hände auf den Tisch gestemmt.
Sonderbar, daß jetzt zum erstenmal die Frage vor ihn trat: wird sie denn in das Opfer einwilligen, sobald sie davon erfährt? O, er kennt sie, sie wird nicht[S. 64] schuld sein wollen, daß er, der Joël einer, zum Bettler gemacht wird! Das wird sich finden. Es muß Zeit gewonnen werden, bis sie so kräftig ist, daß man sie vor den Entschluß stellen darf. Was dann, wenn sie sich in ihrer angeborenen Energie weigert? — Ach, das kümmert ja heute noch nicht!
»Ich verlange einen Aufschub —« sagte er kleinlaut, Gisberts Blick ausweichend — »ich kann mich heute noch nicht entschließen — nicht daß ich selber wankend wäre — ich weiß, was ich zu thun habe — aber es hat noch jemand ein Wort mitzureden —«
Gisbert war erstaunt über diese unerwartete Wirkung seiner Mission. Er fürchtete wieder alles zu verderben, wenn er noch weiter drängte.
»Bon!« rief er, »das läßt sich hören! Es freut mich, daß Du doch mit Dir reden läßt! Wie ist die Adresse dieses Herrn Koster — Köster nicht wahr?«
Es wäre unsinnig gewesen, die Adresse nicht zu sagen, die ja doch auf andere Weise gefunden werden konnte.
»Treskowstraße 22a«, murmelte Magnus dumpf. »Aber ich protestiere gegen diese Ungeheuerlichkeit! Zum Teufel mit Eurem verdammten Gold!«
Und vor dem neuen Zornesausbruche seines Bruders flüchtete Gisbert, um in der Treskowstraße seinen Köder auszuwerfen.
[S. 65]
Herr Köster erschien in voller sprühender Entrüstung — kaum, daß er seine Tochter begrüßte. Er nahm Magnus in eine Ecke des Salons und fuhr ihn in seiner zuschnappenden Weise an:
»Sie treiben ein doppeltes Spiel, Herr! Sie machen uns eine Komödie vor — haben Sie doch den Mut, die Larve herabzureißen!«
»Wieso? Was ist denn?«
»Sie wagen es, uns Geld zu bieten, wenn wir von der Ehe abstehen! — Herr, ich verbitte mir solche Zumutung! — es ist eine unerhörte Beleidigung!«
»Ich ...?«
»Natürlich Sie! Ihr Bruder war soeben bei mir und hatte die Unverschämtheit, mir den Handel zu offerieren. Die ganze Ehe hätte nicht für einen Sechser Gültigkeit! Trotzdem bot er mir dreißigtausend, wenn wir abständen — er bot vierzigtausend — fünfzigtausend — ehe er an die sechzigtausend gelangt war, warf ich ihn zur Thür hinaus —«
Und Herr Köster blähte sich auf, wie es einem Manne zukommt, der sechzigtausend mir nichts dir nichts zur Thür hinauszuwerfen imstande ist. Magnus konnte einen Anflug des Lächelns, der heiklen Situation zum Trotz, nicht unterdrücken. Doch die fanatisch blitzenden Schwarzaugen ließen das Lächeln sofort verschwinden.
»Was machen Sie mir denn einen Vorwurf? — ich [S. 66] finde den Bestechungsversuch ebenso empörend wie Sie —« fiel Magnus ein.
»Die Offerte geschah im Auftrag der Familie Joël — Sie hätten Ihre Zustimmung gegeben, sagte Ihr Handelsmann —«
»Es ist nicht wahr! Ich gab die Adresse Ihrer Wohnung, weiter nichts! Ich habe noch keinen Moment bereut! Was geschehn ist, bleibt geschehn! Ich liebe Emmy — bei Gott, ich liebe sie! Ich werde sie auf den Händen tragen! Nur ein Zweifel plagt mich jetzt: wie wird sie selbst diese Heirat aufnehmen? Sie weiß bis jetzt nichts. Sie besitzt einen gewaltigen Stolz, und ich fürchte ...«
»Sie ist die Tochter ihres Vaters!« sprühte Herr Köster in neuer Entrüstung. — »Zum Donnerwetter, ist denn ihre Ehre nicht mehr wert als Sechzigtausend? — wiegt denn unser Name nicht den guten Namen eines Joël auf? Es thut mir leid, wenn Sie dadurch zum Bettler werden — es thut mir herzlich leid — aber nicht mit den Millionen eines Bleichröder lassen wir Köster uns unsere Ehre abkaufen!«
Es war der Dünkel in seiner schönsten Blüte. Aber Magnus konnte sich eines Gefühls der Achtung nicht erwehren die er vor dem sich unter diesem Bramarbas verbergenden Charakter zu empfinden begann. Und ein Zweifel überkam ihn, ob das Geld dennoch die erste Macht in der Welt bedeute. —
[S. 67]
Emmys Genesung machte in diesen Tagen gute Fortschritte. Einmal, an einem Nachmittag, empfing ihn Frau Köster in großer Erregung.
»Doch nicht wieder schlimmer?« rief er erschreckt.
Das ängstliche Gesichtchen der guten Dame verneinte — »aber es hätte schlimm genug werden können —« berichtete sie aufgeregt, »denken Sie, diese Frau Gornemann hat natürlich nicht an sich halten können — das Geheimnis drückte sie zu sehr. Vorhin also brachte sie es fertig, Emmy plötzlich mit »Frau Joël« zu titulieren. Das arme Kind fuhr zusammen. Natürlich konnte Emmy sich den Titel von Seiten der Frau Gornemann nicht anders als einen Spott erklären. Die Thränen traten ihr in die Augen, sie begann sehr aufgeregt zu werden — da hielt ich es für das Beste, ihr selbst das ganze Geheimnis zu verraten —«
Magnus stürzte in die Krankenstube: — »Emmy — meine liebe, liebe Emmy!«
Die Kranke streckte die weißen bebenden Hände nach ihm aus, und ihre großen vom Leiden vergrößerten Augen flehten ihn an. Alles andere ist Trug und Traum! — nur sein Kommen bedeutet Wirklichkeit und Wahrheit!
Wie damals, während der Ceremonie, sank er neben ihrem Lager in die Kniee und erfaßte ihre Hände.
»Willst Du mein sein — mein für immer?« flüsterte er innig.
[S. 68]
»Verzeih’ mir — daß ich das vollführte, ohne Dich befragt zu haben! Nun mußt Du Dich darein finden. Willst Du mein Weib sein, Emmy — ach, Du bist es ja! — mein liebes, liebes, süßes Weib!«
Und er nahm ihr glühendes Köpfchen und legte es sanft an seine Wange. Sie hielt die Lider geschlossen, ein rotes Dämmerlicht flutete hindurch, und wie ein Glockenklang aus seliger Kinderzeit hallte das Wort, das eben von seinen Lippen kam, durch ihre Sinne. Nichts als die Seligkeit dieses einen Wortes!
Und ihn, der sie umschlungen hielt, schien das Wort wie mit einem Zauberklang zu durchbeben — er fühlte Mut und Kraft in seiner Brust schwellen und er gelobte sich, der ganzen Welt zum Trotz, sie auf seinen Händen dahinzutragen durch das Leben.
Wenige Wochen darauf hatte sich das junge Paar, dessen Bund die gesetzliche Gültigkeit erhalten, in seinem neuen Heim eingenistet. Als Wohnort war Pankow mit seinem herrlichen Park und seiner würzigen Landluft erwählt worden, in erster Rücksicht auf Emmys Genesung; später, auch den Winter hindurch, hielt sie die Not an den billigen Vorort gefesselt.
Sie bewohnten den Oberstock einer kleinen Villa in der Damerowstraße, zwei Stuben, zwei Kammern mit schrägen Wänden, Balkon und Gartengenuß. Magnus’[S. 69] Mittel, die er aus dem Verkauf seiner Pretiosen, seiner kostbaren Brillanten, seiner Uhr und einiger Kunstgegenstände flüssig gemacht, hätten etwas Besseres als diese spießbürgerliche Einrichtung, die von der ökonomischen Frau Köster besorgt worden war, möglich gemacht, aber Emmy widersetzte sich jedem Luxus. So verharrten sie in den Gewohnheiten ihres ersten kargen Liebeslebens: — ein stilles verschwiegenes Nestchen, wo sie jeden Augenblick des Glückes der diskreten Himmelslaune abzustehlen schienen.
Die junge Frau wagte sich dieses Glückes nur mit einem angstvollen Beben zu freuen. Wie eine Betäubung war es über sie gekommen — sie hatte damals auch körperlich nicht Kraft genug besessen, »Nein« zu sagen, oder den Kampf mit ihrem eigenen Herzen aufzunehmen. Es war alles ein Traum, die rätselhafte, geheimnisvolle Trauung, ihr beider Beisammensein — auch der Alp fehlte nicht in diesem Traum: die geheime Furcht vor einem Schicksal, das die so seltsam Geeinten wieder auseinander reißen werde ...
Erst die Not rüttelte sie aus dem Traum zu vollem Erwachen.
Magnus hatte sie belogen und er betrog sie fort und fort. Er fürchtete von ihrer energischen Art irgend einen unheilvollen Entschluß. So hatte er die Verfehmung, die von den Joëls über ihn und seine Ehe verhängt war, nur als eine vorübergehende Verstimmung[S. 70] hingestellt, welche die Zeit schon heilen müßte; ja, er that so, als wäre er des Alten sicher, der nur aus Furcht vor Gisbert und dessen tyrannischer Frau den Bannstrahl hatte fallen lassen. Und er erzwang seiner Phantasie allerlei Märchen, die das gutmütige und zum Verzeihen geneigte Herz seines Vaters erweichen sollten.
Anfangs hatte er sich selbst belogen. Vor allem konnte er sich nicht in den Gedanken finden, daß ein Joël genauere Bekanntschaft mit der Not machen sollte. Immer wieder stutzte er erstaunt, wie schwer es ihm hielt, eine Stellung zu finden und zu behaupten. Sein eigener Name, dem er nun einmal Rücksicht schuldig war, und die Illusionen seines sanguinischen Gemütes waren ihm fort und fort ein Hindernis. Er war unpraktisch und kein tüchtiger Geschäftsmann, und es war kein Comptoir so naiv, ihn auf den Namen Joël hin über seine Leistungen zu honorieren. Seine Fertigkeiten als Buchhalter schienen nur auf die Großfirma zugeschnitten. So wechselte er von Stelle zu Stelle, jedesmal mit herabgeminderten Ansprüchen. Ein Unmut bemächtigte sich seiner: sie haben einen neidischen Tick auf den Namen Joël, jetzt rächen sich diese Kleinen wenigstens an dem Namen, da sie der Firma selbst nichts anhaben können! Einmal glaubte er sich schlecht behandelt und verließ die Stelle, ein andermal ward ihm seiner ungenügenden Leistungen wegen gekündigt. Er fühlte den Fluch seines ehemaligen Reichtums [S. 71] auf sich lasten, und das drängte ihn immer mehr abseits.
Er schämte sich, das einzugestehen und brauchte allerlei Ausflüchte, wenn die Adresse seines Prinzipals abermals wechselte. Emmy begann aufzumerken und sein Gehen und Kommen argwöhnisch zu belauern. Aber die freundlichen Glücksstunden, die ihnen das trauliche Nest bot, täuschten sie beide immer wieder über den Ernst der Lage hinweg. Ihre anschmiegende Liebe tröstete ihn für alle Widerwärtigkeit, und wenn er nach der sauren Arbeit des Tages heimkehrte, so schien ihn das heimische Glück immer wieder mit neuer Kraft zu stählen.
Plötzlich öffnete ihr der Zufall die Augen. Eines Morgens im späten November war sie nach Berlin hineingefahren, um eine lang verschobene Besorgung auszuführen. Um die elfte Stunde kam sie durch die Königgrätzer Straße am Rande des Tiergartens vorbei. Es war ein eisig rauher Tag, die Bäume des Parkes ächzten unter den zausenden Händen des Sturmes; raschelnd wirbelten die welken Blätter über die Wege. Emmy eilte mit fester verzogenem Mantel, um den Schutz der Straße wiederzugewinnen. In der Nähe des Goethedenkmals streifte ihr Blick eine Bank, auf der ein Herr saß. Stutzend hielt sie an — sie meinte Magnus dort zu erblicken. Unsinn! Er sitzt jetzt drüben in der Königstadt in seinem Comptoir — am Morgen beim Fortgehen hatte er noch so dringende Arbeit vorgeschützt.
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Und dennoch! Sie traut ihren Blicken kaum. Seine breiten Schultern, der flache Krämpenhut — er ist’s! Wie kommt er denn dahin, um diese Stunde? — man sitzt doch nicht bei diesem Wetter im Tiergarten! Die Ahnung eines Unheils krampfte ihr das Herz zusammen, ihre Tritte wankten, als sie auf den Sitzenden zutrat.
Magnus saß vornübergebeugt, das eine Bein über das andere geworfen, den Hut in die Stirn gedrückt vor dem Wehen des Sturmes; mit brütendem Sinnen betrachtete er das langsame Auf- und Abwiegen des übergeschlagenen Fußes.
»Maggi ...«
Ängstlich wie ein Hilferuf klang es an seiner Seite.
Er fuhr empor, starrte sie wie eine Erscheinung mit blöden Augen an.
Er hat an sie gedacht, denkt fortwährend an sie — da kommt ihre Erscheinung wie ein Zauber dahergehuscht ...
»Was machst Du hier? — um Gotteswillen, Maggi, was ist denn? Wie Du aussiehst ...«
O, er hatte sich nicht sofort zu fassen vermocht! O, er hatte keine Zeit gehabt, die harmlose Frohmiene, die er sonst vor seiner Heimkehr jedesmal vorzubereiten pflegte, einzustellen.
Sie sank neben ihm auf die Bank, ihn mit erschrockenem Auge anstarrend.
»Was führt Dich denn aus Pankow her?« stotterte er.
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»Ich denk’, Du bist in Deinem Geschäft —«
»Ich streike —« warf er bitter hin, und das Lächeln über diesen Scherz, mit dem er sich herauszureißen gedachte, blieb zäh auf seiner Miene haften.
Sie griff nach seiner Hand: »Um Gotteswillen, was ist? Sag’ mir doch! Du hast Deine Stellung aufgegeben? da brauchst Du doch nicht hier im Tiergarten zu sitzen! Warum sagst Du mir denn das nicht?«
Thränen bebten durch ihre Stimme.
»Närrchen, komm — es ist zu kalt für Dich hier —«
Er wollte sich erheben, wobei ein Seufzer seinen breiten Brustkasten schwellte. Mit krampfhaftem Griff hielt sie ihn fest.
»Erst sag’ mir alles!«
»Nichts! Ich hatte keine Lust zu arbeiten, unser Comptoir ist so eng, kaum Luft genug für einen Maulwurf — da macht’ ich mich davon —«
»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr, Maggi!« rief sie, und ihre Augen blitzten ihn an.
»Du sollst Dich nicht so aufregen, mein Herz —«
»Ich weiche nicht von der Stelle, bis Du mir gebeichtet!«
Sein Blick umhüllte mit einem besorgten Ausdruck ihre zarte Gestalt, die nicht sehr wintermäßig gekleidet war. Der Wind ließ die Bänder ihres Hutes flattern und das Wildhaar ihrer Stirne auswehen.
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»Nichts, sag’ ich Dir! — nun ja, ich hab’ den Posten abermals quittiert. Ein erbärmlicher Hundedienst — seit gestern bin ich fort —«
»Es ist nicht wahr!«
Die Inquisition ärgerte ihn etwas. »Nun ja, wenn Du es denn besser weißt — seit drei Wochen —«
»Maggi!«
Nur der Name, dazu der volle strafende Vorwurf ihres Blickes: warum er ihr das nicht früher gesagt? warum er jeden Morgen seit drei Wochen die Komödie ausführt und eine Abfahrt nach dem Geschäfte heuchelt?
»Ich wollte Dir die Sorgen ersparen! Gerade jetzt! Übrigens was ist daran? Ich bekomme jeden Augenblick wieder eine Stelle —«
Das kam sehr kleinlaut heraus. »Jetzt komm!« rief er, gebieterisch die Stimme hebend. »Ich dulde nicht, daß Du Dich dem Wetter aussetzest!«
Sie ließ es nun geschehen, daß er sie emporzog, und seinen Arm schützend um ihre feinen Schultern legte — »komm, sei kein Närrchen ...«
Eine kurze Weile schritten sie durch das raschelnde Laub des Weges ohne ein Wort.
Plötzlich stürzten Thränen aus ihren Augen — leidenschaftlich brach es hervor: — »Du willst mich täuschen, Maggi! — es ist Not im Anzug! Und davon erfahre ich nichts! — Bin ich — bin ich denn nicht Dein Weib?«
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Sie schluchzte. Er suchte sie zu beruhigen.
»Siehst Du — es wäre besser gewesen — für uns beide — ich wäre gestorben! — warum hast Du mich geheiratet! —«
»Weil ich Dich liebe! — weil ich nicht ohne Dich leben konnte! — weil ich zu Grunde gegangen wäre ohne Dich!«
Er preßte sie inniger an sich.
»Und Du willst mir nicht einmal die Wahrheit sagen? — lieber geh’ ich von Dir, als daß ich eine Lüge dulde zwischen uns —« trotzte sie. »Jetzt sagst Du mir alles!«
Er fand, daß es das beste wäre zu beichten. Wie er von Stelle zu Stelle lavierte, nichts Passendes, nichts Anständiges fand; wie er sie täuschte und belog, um sie jetzt in ihrem Zustande nicht zu ängstigen. Aber sie soll fortan die volle Wahrheit hören, wenn sie es denn will! Er will keine heitere Miene mehr heucheln, wenn es ihm schwer ums Herz ist —
»Ach was! schwer ums Herz!« rief er — »ich liebe Dich! — Du liebst mich —«
Verwundert blieben einige Passanten drüben auf der Mauerseite stehen, wie rücksichtslos stürmisch am hellen Mittag dort der starke Mann das schlanke Weib an seine Brust preßte.
Und die Seligkeit dieses Mein- und Deinseins[S. 76] wandelte sie bald wieder zu Kindern. Eine halbe Stunde darauf standen sie vor einem Laden der Leipziger Straße, der Erstlingsausstattungen liegen hatte, und weideten sich an all den duftigen, spitzenumhauchten Herrlichkeiten. Emmys Gesichtchen glühte. Allerlei bedeutsame Bemerkungen wurden zwischen ihnen geflüstert; in köstlicher Verlegenheit lächelten sie beide.
»Komm doch hinein!«
Er wollte sie nach dem Eingang des Ladens drängen; aber sie wehrte.
»Nein, nein, nein — jetzt auf keinen Fall! — es soll trotzdem nicht zu kurz kommen!«
»Mein gutes, liebes Weib!« hauchte er hin, und seine Blicke ruhten verklärt auf ihr, während sie beide durch das Gewühl der Straße weiter schritten.
Von da ab nahm die ehemalige Kassiererin von Kapp und Müller die ökonomische Regelung des Haushaltes in die Hand. Anfangs erschrak sie, auf wie schwankendem Untergrund diese Ehe gegründet worden war. Und ihretwegen hat er sich in dies Elend gestürzt!
Die Lage war ziemlich trostlos. Der Vorrat an Pretiosen war versiegt, Magnus hatte gewirtschaftet, als wenn ihm der unerschöpfliche Arnheim der Firma Joël noch zur Verfügung stände. Sein ehemaliger Reichtum erwies sich als ein Fluch.
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Doch jetzt ist keine Zeit, da zu sitzen und zu grübeln und sich von schweren Gedanken niederdrücken zu lassen! Jetzt gilt es tapfer zu sein!
Sie ordnete eine Beschränkung des Haushalts an; vom ersten Januar würden sie eine noch viel kleinere Wohnung beziehen. Sie verrichtete Wunder der Sparsamkeit; zumeist heimlich, daß er es nicht merkte, denn sie sah, wie es ihn schmerzte, sie darben und sich in den kümmerlichen Verhältnissen krümmen zu sehen.
Magnus hatte in dem Bureau eines Konsortiums zum Bau elektrischer Arbeitsbahnen ein Unterkommen gefunden. Er paßte als Kaufmann dort nicht hin, aber man gab vor, seine stilistischen Fähigkeiten für die Korrespondenz zu verwerten — in Wahrheit handelte es sich um den Namen Joël, der in den Manipulationen der Gesellschaft ein effektvolles Schild abgab, ja sogar als Köder herhalten mußte. Man bezahlte ihn erbärmlich, versprach ihm aber um so mehr. Wieder schämte er sich, seine Lage vor Emmy offen darzulegen. Er hoffte in seiner sanguinischen Art in die blaue Zukunft hinein. Unterdes versank er in Schulden, ehe er sich dessen versah.
Emmy war den ganzen Tag über, wo er in Berlin war, sich selbst und ihren Sorgen überlassen. Die Gedanken umlauerten sie, schlichen ihr nach auf Schritt und Tritt, saßen mit ihr am Nähtisch und leisteten ihr Gesellschaft [S. 78] am Küchenherd, wo sie das frugale Mahl für sein Kommen am Abend rüstete.
Sie hat ihn zum Bettler gemacht! — sie hat den Frieden des Hauses Joël zerstört! — sie hat ihn von dem Herzen seines Vaters getrennt! Was für ein Ungeheuer von Egoismus ist sie denn, daß sie bleibt und ruhig zusieht, wie die Kluft sich erweitert und das Elend wächst? Fort mit ihr, der Unglücksspenderin — der Friedensstörerin! — es wäre so einfach — weiter nichts, als daß sie ihn verließe — spurlos verschwände — dann wäre er frei! — Wohin, das ist einerlei! — sie weiß, sie wird an dieser Trennung zu Grunde gehen! — wenn sie ihn damit rettet — wie gern, ach wie gern!
Immer wieder stemmte sie sich gegen die Unseligkeit solcher Gedanken. — Jetzt nicht! — sie ist schuldig auszuharren, bis sie ihrem Kinde das Leben geschenkt! Dann vielleicht erst recht! O Gott, giebt es denn keinen Ausweg?
Die gute Mama Köster wagte sich immer wieder mit einem Vorschlag heran: man müßte eine Versöhnung mit der Familie Joël versuchen. Die wenigen Nachrichten, die von den Joëls in den stillen Winkel herüberdrangen, konnten schon dazu ermutigen. Der alte Herr litt offenbar unter dem Schlag, den ihm sein Jüngster versetzt. Sein Gesundheitszustand war nicht der allerbeste. Siering, der erste Buchhalter des Hauses, der Magnus zufällig begegnete, meinte, es kostete nur einen Gang, nur [S. 79] ein Wort, — der Alte wäre so weich, (»er ist überhaupt nur ein Polterer!«), eine Versöhnung ließe sich unschwer in Scene setzen. Magnus schüttelte ungläubig den Kopf; und sein Trotz bäumte sich auf.
Aber Frau Köster klammerte sich immer zäher an den Plan. Sie träumte von einem Fußfall — von einer rührenden Verzeihungsscene —
Der Größenwahn des Herrn Köster fuhr in voller Entrüstung dagegen an. — »Was? wir sollen klein nachgeben? Nimmermehr! Ihr werdet sehen, man wird schon kommen, uns zu holen, wenn man uns braucht! — warten wir nur geduldig!«
»Unterdes sind wir verhungert —« sagte die stumme Angstmiene von Frau Köster.
Und Emmys Mutterhoffnung bestärkte sie. Sie scheute sich nicht, vor ihrer Tochter offen ihre Gedanken schillern zu lassen.
»Wenn es ein Knabe sein sollte — wenn wir das Glück hätten, daß es ein Knabe wäre, Emmy —«
Die junge Frau errötete.
»Nun, man redet doch darüber, mein Kind — also wenn es ein Knabe wäre! — Herr Gisbert Joël hat, wie mir Magnus versichert, keine Aussicht auf einen Erben — bleiben wir also allein übrig, die den Namen Joël retten. Und so ein Kerlchen zieht uns alle heraus. [S. 80] Dem wird der alte Herr nicht widerstehen — der Großpapa wird ihm in die Glieder fahren ...«
Eines Vormittags, kurz vor Weihnachten, erschien in der Damerowstraße ein Herr von militärisch strammem Aussehen und fragte in gemessener Höflichkeit nach Herrn Joël. Auf Emmys Bescheid, daß dieser nicht zu Hause sei, hob er bedauernd die breiten Schultern und zog aus der Seitentasche seines Rockes einen Pack Papiere in aktenmäßigem Format.
»Bedaure sehr — ich habe für diesen Fall Exekutionsbefehl. Gerichtsvollzieher Moller mein Name —«
Emmy schrak zusammen und erblaßte; mit zitternden Händen griff sie nach den Papieren.
»Sie brauchen sich nicht zu ängstigen, Frau Joël —« sagte der Biedermann mit seiner gutmütigen Baßstimme, — »es ist nicht der Rede wert — eine Operation, die nicht weh thut — derweil kommt Zeit, kommt Rat —«
Und vor sich her knurrend, fügte er hinzu: »Ihnen kann es doch nicht schwer fallen, die paar hundert Mark aufzutreiben!«
Er schüttelte dabei den feisten Kopf. Seine Augen fuhren forschend von Möbel zu Möbel in der Stube umher, dieselben auf ihren Wert abschätzend.
Emmy blätterte mechanisch in den Papieren mit ihrem Gemisch von Gedrucktem und Geschriebenem und zehnerlei Handschriften.
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Plötzlich fuhr sie auf — der Gerichtsvollzieher prüfte gerade ein zierliches Luxusschränkchen, ein Überbleibsel aus Magnus’ Luxustagen; die prächtige Schnitzarbeit schien ihn zu interessieren: »Das Stück allein —« sagte er, mit der Hand über den reichprofilierten Sims fahrend, »deckt zehnmal die Schuld — und es ist Ihnen gewiß entbehrlich?«
Emmy stürzte herzu: — »Das nicht! — auf keinen Fall das!« rief sie, mit der Hand abwehrend.
Der Mann wunderte sich über die Erregung. Emmy errötete, den wahren Grund ihrer Weigerung wagte sie nicht anzugeben —: das Schränkchen hatte zur Aufbewahrung der fertigen oder in Arbeit begriffenen Kinderausstattung gedient. Es war ihr eine so wundersame Freude, die Thüren desselben zu öffnen und sich mit den winzigen Sächelchen zu beschäftigen. So war ihr das Schränkchen zu einer Art Heiligtum geworden.
»Das nimmermehr! Nehmen Sie sonst alles!«
Herr Moller war wohl an dergleichen Sonderheiten gewöhnt. Er wählte also ein paar andere Möbel, die ihm entbehrlich schienen und brachte seine Siegel an, die Operation, wie er es nannte, mit Aufzählung schlimmerer Fälle, wie zur Beruhigung, begleitend.
Dumpf brütend saß sie da, als er fort war, der Schreck zuckte in ihr nach. Da klingelte es abermals — der Briefträger.
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Mechanisch nahm sie den dargereichten Brief, betrachtete ihn — er sah recht gleichgültig aus, sie kannte die Schrift nicht — etwas Geschäftliches? — vielleicht abermals eine Mahnung? —
Und mit ganz mechanischen Griffen, all der Gedanken voll, öffnete sie das Couvert.
Gleich, als sie die Überschrift sah, ward sie sich des Mißgriffes bewußt. »Lieber Bruder!« stand dort.
Aber unmöglich, das Folgende nicht zu lesen! — wenigstens nicht einen Blick in die Zeilen zu werfen. Was ist geschehen? Gisbert schreibt an Magnus — das erste Mal seit der Verstoßung ...
Ihre Hände zitterten, als sie las:
»Lieber Bruder!
Du wirst Dich wundern, von mir diese Zeilen zu erhalten. Unser alter Vater ist die Veranlassung. Er befindet sich nicht gut, gewisse Ereignisse haben ihm stark zugesetzt und, wie es scheint, seine Gesundheit untergraben. Ich weiß nicht, ob Dir daran gelegen ist, nach der Leichtigkeit zu urteilen, mit der Du Deine Familie, die es so gut mit Dir meint, bei Seite warfst, hiervon Notiz zu nehmen. Jedenfalls hielt ich es für meine Pflicht, Dich zu benachrichtigen. Auch magst Du aus diesen Zeilen die Andeutung herauslesen, daß der Moment zur Anbahnung eines Friedens nicht ungeeignet ist. Nicht, daß wir Dein Handeln nachträglich billigen, nicht, daß [S. 83] wir uns mit dieser Ehe nachträglich einverstanden erklären, aber wir sind geneigt, uns überzeugen zu lassen, daß Du damals mit Deiner Ehre engagiert warst, daß Dein leider zu weiches Herz sich von einem billigen Mitleid überwältigen ließ — Du erklärtest ja ausdrücklich, daß Du nur aus Mitleid ...«
Emmy war es, als erhielte sie von einer unsichtbaren Hand einen Schlag ins Gesicht. Der Brief entglitt ihr. Ihre Brust rang nach Atem, und ihre Hände umtasteten den Hals, als drohte sie zu ersticken. Jetzt meinte sie zu Boden zu schlagen — wankend stürzte sie auf das Sofa zu — und dort, mit einem gellenden Schrei, löste sich die Erstickungsangst.
Lange hielt sie das Antlitz mit den Händen bedeckt; Stirn und Wangen brannten wie nach einem wirklichen Schlag. Sie bebte am ganzen Körper vor Erregung. Immer wieder wiegte sie den Kopf unter den Händen — es ist wohl nicht möglich! — es ist nicht denkbar! Jetzt ließ sie die Hände sinken — ihre Augen stierten leer in der Stube umher — endlich trafen sie das Papier am Boden —
Sie schnellte empor, fuhr auf das Papier hin und raffte es auf — ihre Hände flogen — vor ihren Augen schwirrte es — es gelang ihr nicht, eine Zeile zu verfolgen — ihre Blicke stöberten wie trunken die Buchstaben entlang — endlich! da hatte sie es wieder, das entsetzliche Wort!
»Aus — Mit — leid!«
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Langsam und laut kamen die Silben über ihre Lippen. Dann bewegten sie sich stumm — immer die schrecklichen drei Silben — wie ein mächtiger Magnet hielt das Wort ihre Augen gebannt — unmöglich, die Blicke davonzureißen!
Und sie wiegte das Haupt auf und nieder — jetzt schneller: — ja, ja, ja — das ist’s! Es war das Mitleid! Eine ungeheure Helle lohte von dem Worte auf, alles, alles beleuchtend.
Nun knitterte sie das Papier in den Händen zusammen — konvulsivisch, in einem Zornausbruch über sich selbst: — Gott im Himmel, wie konnte sie sich so von Blindheit schlagen lassen! Bedurfte es erst eines Briefes, um sie das Wort lesen zu machen! Deutlich stand es überall geschrieben — jede Sorge des Tages, das ganze Elend ihrer Lage trug die Devise: »Aus Mitleid!«
Ja, aus Magnus’ Augen, aus seiner verkümmerten Miene hätte sie es lesen müssen! —
Nein, nein, das ist nicht wahr! Er liebt sie dennoch! Aber das Mitleid ist stärker gewesen, als die Liebe!
Und in einem gewaltigen Thränenstrom brach der ungeheure Schmerz sich Bahn.
Emmy beschloß zu gehen. Es bedurfte keines Entschlusses — es war so selbstverständlich — das Wort wies ihr gebieterisch die Thüre.
[S. 85]
Bald! Heute — nachher — gleich — ehe Magnus zurück ist! Es muß sein!
Wohin? Das ist gleichgültig! Es ist alles ein Nebel, darin sie vorwärts tastet aufs Geratewohl — sie wird auf einen Abgrund stoßen, der so barmherzig ist, sie aufzunehmen — vielleicht trifft sie ein Wasser, das sie mit hinwegreißt und allem ein Ende macht ...
Magnus pflegte einen bestimmten Zug der Stettiner Bahn am Abend zu benutzen. Bis dahin war Zeit, alle Vorbereitungen zu ihrer Flucht zu treffen. Ihr war so elend, sie raffte alle Willenskraft zusammen; mechanisch, in einer Art Betäubung hantierte sie. Es gab viel zu schaffen und zu ordnen. Ein rührendes Pflichtgefühl gebot ihr, nicht vom Posten zu desertieren, ohne diesen blank und in Ordnung zu hinterlassen.
So machte sie sich mit größerer Peinlichkeit als sonst daran, die kleine Wohnung, die die Stätte ihres kurzen Glückes war, in Stand zu setzen. Mit dem Reinigen und Kramen vergingen Stunden. Oft überwältigte sie eine Schwäche infolge der Anstrengung; sie ließ sich nieder, um auszuruhen — dann fühlte sie Thränen in ihren Augen schwellen — sofort machte sie sich wieder auf — zum Weinen und Grübeln ist jetzt keine Zeit! — Thränen machen weich! — sie sollte und durfte in ihrem Entschluß nicht wankend werden!
Dann kam die Stunde, wo sie sonst das Essen zu[S. 86] bereiten begann. Auch das! Wenn er nach Hause käme, sollte er nicht einen kalten Herd und einen leeren Tisch vorfinden. Freilich würde er nichts von der Speise anrühren, wenn sie nicht da wäre — der erste Schreck würde ihn lähmen — dann würde ihn die Angst zur Suche nach ihr aufhetzen.
Eine plötzliche Furcht ergriff sie: — er konnte früher kommen, sie überrumpeln, dann erlahmte ihr die Kraft, das Unselige auszuführen ...
Es war alles fertig, das Fleisch brodelte im Topf, es begann zu dunkeln — jetzt erst gewahrte sie, daß draußen der Schnee heftig stöberte. Das hatte den Tag über angedauert, die Pfade im Garten waren verweht, alles Geräusch von der Straße drang nur gedämpft herüber. Sie schauerte, und ein Gefühl des Frostes überrieselte sie. Hier innen war es warm und behaglich — so traulich dämmerte der gelbe Schein der Lampe — sie mußte an die süßen Stunden der Abendstille denken, wenn die Welt da draußen schwieg und nur ihr Glück hier immer wach war, spät in die Nacht hinein.
Vorüber!
Sie setzte sich an seinen Schreibtisch, um die paar Zeilen des Abschieds an ihn zu schreiben. Er sollte nebst ihnen den Brief des Bruders vorfinden, wenn er käme. Eine gewaltige Erregung kam über sie, und die Feder [S. 87] zitterte in ihrer Hand. Als sie die ersten Zeilen hingeworfen, klingelte es.
Sie erschrak heftig — es war sein Klingeln! Erst ein leises Ticken, um sie vorzubereiten, dann das laute, freudige Signal seiner Ankunft. Auch darin gab sich seine Sorgfalt für sie kund.
Sie knitterte das angefangene Schreiben in die Tasche und eilte, um zu öffnen.
Er war es. Sie prallte zurück, wie vor einem Unerwarteten, Fremden.
»Was ist Dir, Emmy?«
»Ach, Du bist es — ich hatte Dich nicht gleich erkannt ...«
»Puh, ein Wetter —« prustete er, mit den Füßen stapfend. Seine Kleider waren mit Schneeflocken überhaucht.
»Ich bringe eine tüchtige Kälte mit herein — Du hast wohl Angst?« rief er, da sie zögerte, nach ihrer Gewohnheit in seine Arme zu fliegen.
Ach, seine Stimme — seine Augen — seine Nähe! Sie fühlte etwas wanken innerlichst. Sie breitete ihre Arme aus und stürzte in die seinen. In einem Sturm leidenschaftlicher Freude umpreßte er ihre Gestalt. Ihr Kopf wiegte an seiner Schulter: »ach Maggi ... Maggi!«
»Was ist Dir, mein Herz?«
Der seltsam flehende Ton ihrer Stimme machte ihn stutzig.
[S. 88]
»Was ist Dir? Bist Du nicht wohl?« fragte er, ihr Köpfchen von seiner Schulter hebend.
»Doch, doch —« nickte sie mit gesenkten Augen.
»Du hast Dich wahrscheinlich wieder zu sehr angestrengt — wie oft habe ich Dich gebeten, das zu unterlassen — Du siehst blaß und verstört aus.«
Sie wollte des Gerichtsvollziehers erwähnen und das als Grund ihres Aussehens anführen. Ah, — er wird genug auszustehen haben — sie will ihn und sich nicht die Stunde dieses Abschiedes durch solche Trivialität vergällen!
»Nichts, Maggi ... es ist das Gewöhnliche, Du weißt.«
Sie litt in letzter Zeit viel an migränehaften Kopfschmerzen.
»Du wirst Dich gleich nach Tisch hinlegen, Du armes Herz! — Können wir bald essen? Ich bringe einen Wolfshunger mit. Ich bin nicht zum Frühstücken gekommen.«
»Das Essen ist bald fertig — Du wirst nasse Füße haben, Maggi —«
»Nun und Du fragst nicht, warum ich so früh komme? — eine gute Nachricht!« rief er in die kleine Küche hinein, wo sie an den Geschirren zu hantieren begann.
»Nun?«
»Die Simbergs haben mir eine Gratifikation zu[S. 89] Weihnachten versprochen. Genug, um manches abzumachen — und es bleibt noch tüchtig für das Christkindchen. Ich freue mich kindisch auf das Fest!«
Und nach einer Pause, da keine Antwort aus der Küche kam: »Nun, freust Du Dich nicht?«
»Herrlich!« rief sie überlaut.
Wenn er geahnt, welch einen Schmerz ihr die Lüge dieses Ausrufes ausgepreßt!
Er erklärte sein frühes Kommen. Es galt eine Arbeit, die Abfassung eines Prospektes, die er dort im Comptoir doch nicht vollendet hätte. Es wäre Arbeit bis spät in die Nacht hinein.
Das war schon einigemal vorgekommen. Während sie drinnen in der Schlafstube schon zu Bette lag, hörte sie dann das Kritzeln seiner Feder vom Schreibtisch her, und der Schein der Lampe, den sie nicht missen wollte, streckte sich wie in hütender Wacht bis zu den Füßen ihres Lagers hin. Und so war sie dann eingedämmert.
Bald saßen sie an dem kleinen Tisch beim einfachen Mahle. Wieder krampfte sie alle Kraft zusammen, um sich unter seinen Blicken aufrecht zu halten. Sie war fahlblaß. Das konnte auch ein Symptom ihres Übelbefindens sein. Jeder Blick, jedes Wort, jede Bewegung von ihm war eine zärtliche Sorge für sie. Einmal flammte eine Röte über ihr Antlitz — es ist eine Lüge: — nicht »aus Mitleid!« — nein aus Liebe! aus Liebe!
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Sie wollte es ihn Auge in Auge frei herausfragen; er wäre nicht imstande gewesen zu lügen. Aber das würde nichts bessern an der Lage. In den Augen der andern bleibt die häßliche Devise: »Aus Mitleid!« dennoch bestehen. Nach wie vor bedeutet sie für ihn den Makel! — Fort mit dem Makel!
Er geleitete sie selber hinein in die Schlafstube und bettete sie dort. Sie bestand darauf, sich in den Kleidern zu legen, da sie nachher noch zu thun hätte. Es gab einen kleinen Streit deswegen, und er mußte nachgeben.
Wohl eine Stunde lang lag sie dort wie angekettet durch seine Sorge, die immer wieder herbeischlich, um nach ihr zu sehen. Zu ihren Füßen wachte der Schein von der Lampe her, und sie hörte wie sonst das Kritzeln seiner Feder.
Ihre Gedanken stürmten fiebernd. Sie wird nicht frei kommen — jetzt! Er wird sie nicht einmal bis zur Thür lassen! Also auf morgen! O die unsägliche Qual dieser Nacht, wo jeder Pulsschlag einen Abschied von ihm bedeutet ...
Ihre Augen irrten in der Stube umher. Jetzt huschten sie über das Schränkchen hin. Einzelne Schächtelchen und Medizinflaschen standen dort von ihrer Krankheit her. Warum zuckte sie empor? warum fuhr es wie ein siedender Strom durch ihre Glieder? Und die Augen [S. 91] wie hingebohrt dort auf die Stelle, wo die Fläschchen standen ...
Es war eines darunter, das Morphium enthielt; es hatte ihr oft Linderung gebracht — aber ein gefährliches Ding! — wie vorsichtig waren die Tropfen jedesmal abgezählt worden! Magnus hatte es sogar eine Zeit lang vor ihr verborgen, daß sie nicht einmal in seiner Abwesenheit einen Mißgriff thäte. Deutlich unterschied sie es jetzt unter den anderen Gläsern.
Wie ein Wirbelwind fuhr es durch ihre Gedanken — nur ein Hinhuschen nach dem Schränkchen — ein Griff nach dem Fläschchen — nur ein mutiger Schluck daraus — das ist die Flucht! Weiter kann man nicht fliehen, als dahin! Niemand holt sie zurück von dort — und sie ist dann so sicher vor dem selbsteigenen Gelüst einer Wiederkehr!
Wohin? — Auf einmal weiß sie — wohin!
Und während all ihre Fibern bebten, als wäre dieser Entschluß eine körperliche Erschütterung gewesen — raffte sie dennoch so viel Vorsicht zusammen, um ihm die drei Schritte dorthin zu verheimlichen.
Langsam, langsam erhob sie sich, und zollweise, einem nächtlichen Diebe gleich, rückte sie auf den Strümpfen vorwärts nach dem Schränkchen hin.
Jetzt griff sie nach dem Glas — es gab ein leises Klirren, so bebte ihre Hand.
[S. 92]
Sie fühlte, wie sie vor Schreck erblaßte. Sie horchte — nichts als das unermüdliche Kritzeln der Feder und das leise Ticken des treibenden Schnees am Fenster.
Jetzt hielt sie das Fläschchen — wieder wie ein Dieb schlich sie damit gegen das Lager zurück. Dort gegen den Bettpfosten gelehnt, wollte sie es öffnen. Das gelang ihr nicht, der Glasstöpsel hatte sich festgesetzt. Sie drehte und arbeitete daran — umsonst, der Stöpsel rührte sich nicht!
Die Thür ist verriegelt! Als ob Jemand fliehen will — schon hat er die Thür erreicht — wider Erwarten versagt das Schloß ... er ist gefangen!
Eine Verzweiflung bemächtigte sich ihrer, es zuckte in ihr, das Glas an dem Pfosten zu zerschlagen und das kostbare Naß aus den Scherben zu schlürfen. Abermals zerrte sie an dem Stöpsel — ein stöhnender Ruf entfuhr ihren Lippen.
Gleich war Magnus aufgesprungen und auf den Ruf herzugeeilt. Er war noch rechtzeitig da, um sie vor dem Hinstürzen aufzufangen.
»Was ist Dir? warum bist Du aufgestanden ...«
Es war keine Ohnmacht — ihr Atem flog so stürmisch — und sie wehrte seinen Fragen mit heftigem Kopfschütteln.
Er brachte die Lampe herein, da fiel sein Blick auf das Fläschchen, das ihre Hand noch immer umkrallt hielt. Er erkannte es sofort an dem Glasstöpsel.
[S. 93]
»Herr des Himmels — was hast Du gethan?«
Er war wie gelähmt vor Schreck. An dem verzweifelten Stieren ihrer Augen, an dem verstörten Ausdruck ihrer erregten Miene erkannte er sofort, daß sie nicht zur Linderung eines Schmerzes danach gegriffen.
»Verzeih ...« stöhnte sie.
Das Wort bestätigte den fürchterlichen Verdacht. Er entriß ihr das Fläschchen, hob es gegen das Licht — sie konnte nicht viel genommen haben. Nun merkte er erst, daß der Stöpsel haftete.
Er stürzte an dem Lager nieder. — »Bist Du von Sinnen —« schrie er — »Du wolltest ...«
Sie nickte. Die unheimliche Energie dieses Nickens lähmte ihm ein weiteres Wort. Entsetzt stierte er sie an.
Sie wies mit der Hand nach dem Papier auf dem Tisch hin.
Er griff danach, flog es durch — schleuderte es hin. Er begriff nicht — offenbar hatte er das verhängnisvolle Wort gar nicht getroffen.
»Du bist krank! Du bist von Sinnen! Du könntest — Du könntest mich verlassen — mich? Hast Du denn kein Mitleid ...«
Das Wort löste die Starrheit. Mit einer stürmischen Bewegung umschlang sie seinen Hals und preßte sein Haupt an das ihre.
Ihr Körper erschütterte unter ihrem heftigen Schluchzen.
[S. 94]
»Maggi — o, Maggi — Maggi ...«
Allmählich fand sie außer diesen noch andere Worte. Und schluchzend wie ein Kind beichtete sie ihm alles. Ihr Fluchtversuch, und wie das häßliche Wort sie zu dem unseligen Entschluß getrieben ...
»Wer hat das gesagt?« schnellte er auf.
»In dem Briefe dort stand es.«
Er raffte den Brief auf, suchte, suchte in den Zeilen. Da stand das Wort! Nun loderte es auch ihm wie eine Flamme entgegen.
»Es ist nicht wahr!« rief er schrill, und seine Augen sprühten. — »Glaubst Du es denn, Emmy? Ich bitte Dich, ich beschwöre Dich! — glaubst Du es denn? Konntest Du es glauben?«
Nein, nein, keine Komödie in diesem Augenblick! Kein kindisches Leugnen! Abermals stürzte er vor ihr nieder, das Haupt an ihrer Brust bergend.
»Ich bin feige gewesen, Emmy — verzeih’ Du mir! Ich meinte, uns zu retten mit dem Wort. Hab’ ich nicht gezeigt seitdem, daß es eine Lüge war? — Aber ich will hin! — gleich morgen will ich hin! — will das Wort widerrufen — sie sollen wissen, was es angerichtet! — sie sollen wissen, wie ich Dich liebe! — ach, wie ich Dich liebe! — wie ich Dich liebe!«
»Und dann sollen sie mich zum zweitenmal verstoßen! — bleibst Du mir nicht, Emmy?« —
[S. 95]
Lange nachdem saß er noch an ihrem Lager in der Nachtstille, während der Schnee an das Fenster tickte, und horchte auf das Fluten ihres Atems wie damals. Ein tiefer Schlaf hatte sie als Widerspiel nach all der Erregung des Tages übermannt.
Hatte der Tod sie ihm nicht zum zweitenmal geschenkt? Und ein sieghaftes Frohgefühl durchbebte ihn, daß sie ihm nun bleiben würde für immer. —
Herr Köster triumphierte, als er von einer gewissen Rührscene hörte, die am andern Tage in der Villa Joël zu Charlottenburg sich zwischen Vater und Sohn abspielte: »Ich habe es ja gewußt — Sie brauchen uns — sie können ohne uns nicht auskommen!«
Aber Frau Köster glaubte in ihrem Innern noch nicht an eine Versöhnung von Herz zu Herzen — es müßte da erst ein gewisses Kerlchen kommen, »der seinem Großpapa in die Glieder fahren würde«.
Die gute Frau sollte Recht behalten. Als das Kerlchen endlich da war, stellte es sich heraus, daß Großpapa Joël demselben nicht gewachsen war.
[S. 97]
[S. 99]
Sonst hätte er nie geheiratet — nie — nie!
»Lieber schöß’ ich mich tot!« Das war seine stehende Bekräftigung, wenn eine Verlobung innerhalb des Regiments in der Luft hing und die Kameraden ihn zu gleicher »Aktion« scherzweise reizten.
Dazu hatte er sich schon als ganz junger Dachs von einem Lieutenant verschworen, und mit jeder Charge, die er emporstieg, nahm dieser Schwur an Entrüstung zu, bis die wuchtigen Majorsepauletten auf seinen breiten Schultern und das in der Kneipenluft bedenklich ins Hochrote, zuweilen sogar bläulich gebeizte Kolorit seines braven Haudegengesichts solchen Schwur überflüssig zu machen schienen.
Trotzdem aber immer noch: »Lieber schöß’ ich mir eine Kugel vor den Kopf!« Eine drollige Art der Eitelkeit: — man sollte nicht etwa denken, daß ihn die Jahre und der zunehmende Silberhauch seines vorschriftsmäßigen Wilhelmsbartes von der Möglichkeit einer Heirat ausschlössen! O wenn er nur wollte! Und er tapfte seine[S. 100] fleischige Rechte, an der zwei verschliffene Familien-Siegelringe saßen, mit einer Gebärde auf den Tisch, als wollte er sagen: »Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, und an allen Fingern bliebe mir eine hangen!«
Nicht als wenn es ihm an häuslichem Sinn gemangelt. Im Gegenteil, schon als Lieutenant zeigte er ein Mißbehagen an der leidigen Chambregarnie-Wirtschaft, und er hatte sich stückweise von seinen verschiedenen Wirtsleuten emanzipiert, indem er nach und nach eigene Möbel an Stelle der gemieteten anschaffte. Schließlich brachten ihn der chronische Überschwemmungszustand eines empörend altmodischen Waschtisches und die Gefühllosigkeit einer Wirtin, die sich der Mitbenutzung des hundertjährigen Sofas durch den Pinscher Schnurz widersetzte — (ich bitte Sie, Schnurz, der berühmteste und gescheiteste Hund der Garnison!) zum Entschluß, sich gänzlich »eigen« einzurichten.
Nichts Blankeres, als die hübsche kleine Wohnung, wo sein Bursche den ganzen Tag über putzte, »fummelte«, scheuerte und wedelte, zum Ärger der nachbarlichen Dienstmädchen, denen von ihren Herrinnen die Unermüdlichkeit dieses musterhaften Reinlichkeitsgenies, »das doch nur ein Mann ist!« hämisch vorgeworfen wurde.
Auch zog die Paradefront seiner fünf Fenster, hinter denen die weißen Gardinen vor Sauberkeit leuchteten, den heimlichen Neidblick mancher Mutter bedenklich überblühender [S. 101] Töchter auf sich: »ja, warum heiratet er denn nicht?«
I, er hat es so ja tausendmal besser! I, was für eine Veranlassung soll er haben, wildfremder Menschen Töchter zu füttern und mit Putz zu behangen — »pardon«! mit einer entschuldigenden Verbeugung gegen einen Verheirateten, der mit am Wirtstische saß. Gleich darauf aber wieder in das zum Schnauzbart erhobene Bierglas hinein: »Lieber schöß ich mich tot!«
Er fürchtet sich vor dem Pantoffel! hieß es. Konnte er sich doch nicht einmal der Tyrannei seiner verschiedenen Burschen erwehren! So wollte man unter dem Regime des einen ihn weniger à quatre épingles gekleidet gesehen haben; ein anderer hätte es fertig gebracht, seinen Herrn an bestimmten Abenden der Woche von der gewohnten Kneipe fernzuhalten und zu einem hühnermäßig frühen Schlafengehen zu veranlassen.
Elende Verleumdung! Dergleichen Verdacht stand im grellen Widerspruch gegen seine bekannte und zuweilen berüchtigte Strammheit im Dienst. Er hatte seine Kompagnie »höllisch im Zug«; er besaß die hellste Kommandostimme des Regiments, er war ein schneidiger Exerziermeister und der Schrecken seines Kapitän-d’armes. Und die bunte Flagge seiner zahlreichen Ordensdekorationen bezeugte es, daß er die theoretische Strammheit der [S. 102] Friedenszeit in praktische Tapferkeit vor dem Feinde umzusetzen gewußt hatte.
So mußte es denn auch Wunder nehmen, daß er, der die gefährliche Majorsecke flott umsegelt, plötzlich mit dem ominösen »blauen Brief« eines Tages den Abschied auf den Tisch gelegt bekam. War es eine gewisse Meinungsverschiedenheit mit seinem Regimentskommandeur? Hatte er das Mißfallen eines Höheren auf dem Manöverfeld auf sich gezogen? Oder sollte wirklich die prinzipielle Abneigung der Frau Kommandeuse gegen das Junggesellentum schuld an seinem militärischen Untergang gewesen sein? Die hageren, schnippischen Stänglein ihrer beiden Mädchen besuchten zwar noch die Töchterschule, dennoch haßte sie jetzt schon den völlig unbegreiflichen Stand des Junggesellentums. Und es war ihr in ihrer durchgreifenden Art schon zuzutrauen, daß sie die Karriere eines »ihrer« Offiziere an dieser starren Hassesklippe zum Scheitern brächte.
Also a. D.! Das ist ein Ade! allen ehrgeizigen Hoffnungen. Das heißt einen Strich unter alle Lebensträume ziehen! Das heißt eine 0 mit einem Komma vor die Bedeutung eines Mannes in der weltlichen Rangordnung setzen! Wer wenigstens verheiratet wäre und Kinder zu erziehen hätte! Aber es giebt nichts Zweckloseres als ein a. D. ohne Familie!
Grollend packte er seine Sachen in einen Möbelwagen [S. 103] und siedelte nach Pensionopolis in Thüringen über. Er hätte die Möbel verkaufen oder versteigern lassen sollen, jetzt, da ihm kein Putzgenie in Gestalt eines Burschen mehr zu Gebote stand! Aber er vermochte sich nicht davon zu trennen — und Eigentum verpflichtet!
Eine Haushälterin? Brr! »lieber schöß’ ich ....«
Aber die Verschwörung kam nur ganz matt heraus. Er versuchte es mit allerlei Bedienungsmethoden, doch die ehemals blanken Möbel büßten ersichtlich an Haltung und Ansehen dabei ein. Es blieb nichts anderes übrig, und kopfüber, mit geschlossenen Augen, stürzte er sich in dies Wagnis, seinen kostbaren Hausstand, sowie seine noch kostbarere Person der feindlichen Gewalt eines Weibes anzuvertrauen.
Nie war er sich so hilflos vorgekommen, als an jenem Tage, da er mit mühsam aufrecht erhaltener Autoritätsmiene an seinem Schreibtisch saß und die auf sein Zeitungsaufgebot massenweise herbeigeströmten Weiblichkeiten, die sich für den begehrten Posten meldeten, Revue passieren ließ. Ein ganzes in Front aufgestelltes Bataillon abzukanzeln, das ist eine Kleinigkeit, aber solche damenmäßig aufgedonnerten, mit Blicken und Bitten und einem Wortschwall, sogar einzelne mit Jugend und leidlichem Frätzchen ausgestatteten Frauenzimmer durch irgend eine Ausflucht hinauszukomplimentieren! Es ward ihm ernstlich schwül, und es war wohl zuletzt die Verzweiflung, die [S. 104] ihn zutappen und das übliche Mietsgeld in die mit einem Filethandschuh bekleidete Hand einer angeblichen Witwe, »die es eigentlich nicht nötig hätte«, und auch die polizeiliche Bevormundung eines Mietsbuches verschmähte, drücken ließ.
Wie sah sie doch noch aus? Er hatte wirklich blindlings zugefaßt, um dem peinlichen Examen, wo er wahrhaftig die Examinandenrolle spielte, ein Ende zu machen. Sein Erstaunen war daher nicht gering, als er am ersten Morgen nach dem Dienstantritt der Witwe, eine ungemein ansehnliche Person von appetitlich sauberer Erscheinung, drall und gesund und frisch, mit offenen, grellblauen Augen und kindlichen Schelmengrübchen in den etwas starkblühenden Wangen, das Präsentierbrett mit dem Frühstück auf den rundlichen Armen balancierend, ins Zimmer treten sah. Hatte sie sich über Nacht verjüngt? Ihr Alter, das er gestern abend auf 35½ taxiert, durfte man bei dem freundlichen Morgensonnenschein ohne Schmeichelei bis auf 29½, herabdrücken. Wenn sie sich wandte und er dann mit einem prüfenden Blick, dem es nicht an leise schmunzelndem Wohlwollen mangelte, ihrer davonschreitenden Gestalt nachsah, so setzte er unwillkürlich noch einige Jährchen herab. Zu dieser Jugendtäuschung trug wohl das glänzende Blondhaar bei, das hinten zu einem kräftigen griechischen Knoten geschlungen war und in üppiger Wildnis in den Nacken hinabwucherte.
[S. 105]
Blond — ja blond! Wenn er überhaupt jemals eine Couleur bevorzugt, so wäre es diese gewesen! Solche Erkenntnis ging ihm plötzlich auf.
Frau Glaß bedeutete überhaupt eine vollständige Umwälzung des Haushaltes. Sie nahm sofort in breitester Weise davon Besitz, und es sah fast aus, als gedächte sie, kein Stück mehr anderen Händen zu überlassen.
Auch ihn selbst nicht! Zuerst empfand er ein gewisses verblüfftes Grauen vor der naiven Sicherheit, mit der sie sich einnistete. Wie sie seine Sachen nach ihrem Geschmack umstellte und ordnete, so reorganisierte sie auch seine Lebensweise, z. B. wagte er es bald nicht mehr, das Abendbrot in seinem Hause auszuschlagen, während er das sonst in der Kneipe abzufertigen pflegte. Selbstverständlich ward der Salon als »gute Stube« außer Gebrauch gesetzt, und er durchschritt den Raum nur noch auf Fußspitzen, mit einer geheimen Scheu vor dem Geist der peinlichen Ordnung, der hier waltete und gegen den die gerühmte Sauberkeit der Burschenzeit nur ein elendes Gespenst war.
Anfangs versuchte er noch den Herrn herauszukehren. Aber sie lächelte jeden Widerstand gegen die Anordnungen mit den Grübchen ihrer feisten Wangen nieder. Ohne Zweifel verstand sie alles besser, sie, die einen eigenen Hausstand besessen! — und aus ihren Worten lugte deutlich die Mißachtung gegen den Junggesellen. Übrigens [S. 106] kochte sie vorzüglich, und damit allein konnte sie ihn wehrlos machen; es war alles in musterhafter Ordnung — was widersetzt er sich denn?
Teufel! er hatte doch einen »Dienstboten« gemietet, und er fühlte sich vor ihr geniert wie vor einer Dame. »Adrett«! — das war ihr Lieblingswort — unwillkürlich begann seine Haustoilette ebenfalls gewisse »adrette« Allüren anzunehmen — aus Respekt vor ihr! Allmählich stellte sich ein Gefühl bei ihm ein, als wenn er selbst auf Besuch in seinem eigenen Hause sei.
In diesem Respektgefühl bestärkten ihn ihre nie ruhenden Anspielungen auf den soliden Glanz ihrer Vergangenheit. Ihr Vater war ein fürstlicher Schloßbeamter gewesen, und sie hatte als Kind mit Prinzessinnen gespielt! Ihre Schwester war zuerst mit einem Herrn »von« verlobt und heiratete dann einen Landwehroffizier. Ihr Mann hatte einjährig gedient, und sie hatten, trotzdem sie nur Buchhalters waren, mit den »ersten« Familien ihres Wohnortes verkehrt. O sie hatte nach dem Tode ihres Mannes Anträge genug gehabt! Sie hätte einen Fabrikanten haben können, einen leibhaftigen Millionär, dann einen Gutsbesitzer, auch einen Baron — einen früheren Offizier ....
Dieses »auch« überfiel ihn wie ein Schreck: Herrgott, sie denkt und hofft doch nicht etwa ....
Es war ihm an jedem Mittag peinlich, sie an seinem [S. 107] Tische servieren zu sehen. Sie that das mit einer Miene, als wollte sie ihm bedeuten: »Was hindert mich denn, mich dort auf der anderen Seite des Tisches als Baronin dem Herrn Baron gegenüber niederzulassen?«
Er fühlte, er ahnte, daß die Macht, die sie über ihn ausübte, sich eines Tages bis zu einem Überfall auf sein Junggesellentum erstrecken könnte. Und dagegen galt es sich bei Zeiten zu wehren!
Schon umschwirrten ihn allerlei Anspielungen in der Kneipe, so oft Frau Glaß ihm noch eine solche Kneipstunde gestattete: ironische Erkundigungen nach seiner hübschen Hausmarschallin, kecke Neckereien, scherzhafte Warnungen vor dem nicht zu ausnahmsweisen Schicksal eingefleischter Junggesellen, die von ihren Haushälterinnen bis zum Traualtar gedrängt worden waren.
»Lieber schöß’ ich mich tot ....«
Ja, wenn Frau Glaß nicht den geladenen und daher gefährlichen Revolver, der unter der Waffendekoration seiner Wohnstube gehangen, in übertriebener Vorsicht, daß das Ding eines Tages von selbst losginge, weggenommen und versteckt hätte!
Sprach diese Wegnahme nicht deutlicher als Worte? Sagte sie ihm nicht symbolisch: mit dem Totschießen wird es doch nichts! Du bist mir ja doch verfallen!
Na, es wäre nicht das äußerste Unglück! Na, er würde Ruhe und Frieden für den Rest seines Lebens [S. 108] genießen! Und verschiedene Beispiele standen mit gaukelhafter Beharrlichkeit vor ihm. Ein alter Onkel von ihm, der seine Wirtschafterin geheiratet und dabei »lächerlich glücklich« geworden. Se. Excellenz, der General v. H., der da draußen in seiner Villa am Walde von Pensionopolis trotz schreiender Messalliance und ewig wacher Medisance ein idllysches und musterhaftes Familiendasein führte. Na, was für Ansprüche erhebt er denn noch an das Leben? Ein a. D.!
»Teufel, aber ich will nicht! Ich habe mich fünfzig Jahre gegen die Ehe gesträubt, (er rechnete die Kinderjahre in dies Sträuben ein) man soll mich nicht unterkriegen!«
Und laut, mit der äußersten Anstrengung seiner Autorität: »Frau Glaß, ich sehe, Sie haben Schnurz den Schlafkorb abermals auf den Flur geschoben —«
Sie zuckte mitleidig ironisch die rundlichen Schultern: »Wie der Herr Baron befehlen —«
Und sie wollte den mit einem alten Kissen gefütterten Korb wieder in die Schlafstube stellen, wo Schnurz zu Füßen seines Herrn zu übernachten pflegte.
»Nun lassen Sie nur, Frau Glaß! wenn Sie glauben, daß es die Nacht da draußen nicht zu kalt wird —«
Wie kam denn das? Unbegreiflich! — er entsetzte sich vor sich selber. Wie kam er zu solcher empörenden Nachgiebigkeit? Gewissen ihrer Mienen gegenüber sank [S. 109] ihm völlig der Mut. Und in solchen Momenten ahnte er, daß er seinem Schicksal verfallen wäre ....
Sie aber staunte nicht über solchen Umschwung. O auch sie wußte, daß er ihr unentrinnbar verfallen war! Eigentlich hatte sie schon von ihm Besitz ergriffen, als sie ihn am Tage des Engagements so wehrlos gegenüber ihrem Grübchenlächeln am Tische sitzen sah. Alles übrige würde die Zeit reifen — sie wollte nichts übereilen.
Doch fand sie zuweilen, daß diese systematische Belagerungstaktik sie zu langsam vorwärts brächte. Gut, man versuche es also mit Gewaltmaßregeln!
Sie ließ also alle Schrecken ihres Putzteufels los. Seine Bewegungsfreiheit innerhalb seiner Räume ward immer mehr durch gewisse kreuz und quer über die Diele gestreckte Läuferstraßen beschränkt. Auch sind gewisse Sofas nicht zum Hinsetzen oder gar Anlehnen da! Auch können nur gewisse Kattungardinen eines kleinen Hinterzimmers den Tabaksqualm vertragen, die andern ganz gewiß nicht! Auch gehören Hunde auf den Hof, und nicht ins Zimmer!
Damit traf sie ihn am Herzen. Alles hätte er geduldig ertragen; er hätte sich ja gerne mit dem Nießbrauch eines vierten Teiles seiner Wohnung, auf den sie ihn eingeschränkt, begnügt — aber das arme Hundevieh!
Sie verfolgte das Tier auf Schritt und Tritt und verleidete ihm das bescheidenste Ruheplätzchen; sie sorgte [S. 110] dafür, daß es sich ja nicht zu fett fräße. Alle Augenblicke scholl seine Jammerstimme, die ein freundschaftlicher Klaps oder Fußtritt weckte, durch das Haus.
Es empörte ihn, er war öfter nahe daran zu kündigen, als er immer wieder durch eine seltsam, schier gespenstisch auftauchende Erwägung davon zurückgehalten wurde: — sie werde einfach nicht gehen! Sie würde lächeln und — bleiben! Was ist da zu machen?
Es blieb nichts anderes als die Resignation. »Komm Schnurzel!« und er rettete sich mit dem treuen Leidensgefährten nach den Kattungardinen hin, die er mit dichten Sorgenwolken aus seiner Pfeife einräucherte.
»Was ist da zu machen, Schnurzel?« Das Tier winselte verständnisvoll zur Antwort und schmiegte sich wie vor einem drohenden Fußtritt zwischen seine Beine.
»Ich weiß, was uns beiden helfen würde, Schnurzel, — aber lieber schössen wir uns tot, nicht wahr, Schnurzel?«
Das grundgescheite Hundevieh belferte zustimmend auf.
Die Dinge drängten zu einer Entscheidung. Die Luft war mit Unbehagen und Peinlichkeit durchtränkt. Hatte sie ihn früher mit ihrem Grübchenlächeln geduckt, so brachte ihn jetzt das Fehlen der Grübchen ganz aus der Fassung. Ihre stumme und starre Art, die von dem Ausdruck des Beleidigtseins strotzte, wurde immer unerträglicher. Kam er sich längst schon wie ein Besuch in seiner Wohnung vor, so hatte er jetzt das Gefühl [S. 111] eines Gastes, der in einem Hotel auf Credit lebt und sich dafür die schlechteste Behandlung gefallen lassen muß. Wenn sie bezweckt hatte, ihn mürbe zu machen, so hatte sie das vollkommen erreicht!
Eine Entscheidung hing in der Luft. Entweder ginge sie (daran war nicht zu denken!) oder er ginge, natürlich mit Schnurzel (welch ein Widersinn — sein Eigentum im Stich zu lassen!) oder ein Gewisses geschähe — er raffte sich auf und machte seine in Fleisch und Blut übergegangene Redensart mit dem Totschießen zur Thatsache! .... wegen einer Frau Glaß?
In diese Gewitterluft platzte der Besuch eines alten Regimentskameraden herein. Der durchschaute sofort die Situation. Es müßte etwas geschehen, und zwar gleich, und Energisches, ehe es zu spät!
»Weißt du was, alter Junge, du könntest mich wohl ein Endchen durch den Thüringer Wald begleiten! Es ist herrlich jetzt. Ich erzählte dir, daß meine Frau nebst Schwester in Berka zum Bade weilen. Aber natürlich schleppe ich dich nicht bis dorthin —«
Der Gast kannte die Scheu seines alten Kameraden vor regelrechtem Damenverkehr.
Thüringer Wald — es wehte wie ein Hauch der Freiheit von dem Wort her. Schnurzel winselte vor Freude auf. Und er riß seinen Herrn mit fort.
»Topp! Ich fahre mit!« (»Aber natürlich nicht [S. 112] bis Berka!« setzte er vorsichtig für sich hinzu. Frau Glaß würde auch wohl schwerlich den Urlaub bis Berka ausdehnen!)
Frau Glaß verwunderte sich über den plötzlichen Entschluß, aber sie wünschte doch »glückliche Reise!« mit ihrem bezauberndsten Grübchenlächeln.
Er wollte in drei Tagen zurück sein. Frau Glaß wartete, wartete — Schnurzel mindestens wird bei der Rückkunft diese Urlaubsüberschreitung zu büßen haben!
Erst am sechsten Tage langte eine Nachricht an. Eine Postkarte, worin ihr »Herr« (ein gänzlich unpassendes Wort!) ihr flüchtig mitteilte, daß er seinen Freund nach Berka begleitet und sich vorzüglich wohl befände. Er würde noch einige Tage ausbleiben, sie möchte unterdes seine Abwesenheit zu einer gründlichen Reinigung der Wohnung benutzen.
Das war der offenbare Hohn! Sie sprühte.
Schnurzel befände sich ebenfalls wohl und ließe grüßen ....
Sie ballte ihre prallen Fäuste vor Wut über diese Herausforderung. Na warte, wenn — »sie« zurückkehren!
Aber »sie« kamen nicht! An den Stammtischen von Pensionopolis hieß es, der Major sei durchgebrannt — einfach durchgebrannt, alles, seine Möbel, sein Eigentum im Stiche lassend.
[S. 113]
»Das Gescheiteste, was er noch thun konnte!« lachte man. »Aber er kehrt ja doch zurück!«
Auch Frau Glaß zählte sicher darauf, und sie hielt schon ihr ganzes Arsenal von Rache für solche Rückkunft in Bereitschaft. Und dann .... dann ist er verloren!
Plötzlich ward sie aus all dieser Siegeszuversicht durch einen Doppelbrief gerissen. Eine Verlobungsanzeige eines gewissen Major a. D. von P. mit einem Fräulein Herta von M., Tochter u. s. w.
Ihre grellblauen Augen glotzten das Papier an, lasen und glotzten und weiteten sich.
»Nicht möglich!« kreischte sie auf; und das Papier zerknitterte in ihrer Faust. Ein dummer Scherz, den ein anderer ihr bereitet ....
Doch die Begleitung der Anzeige bestätigte das Unmögliche. Ein höflicher Brief, worin der Major auf die gedruckte Anzeige verwies; eine kurze Andeutung seines Glückes, die ihr wie ein schriller Jauchzer entgegenschnellte. Dann aber: in Anbetracht ihrer »treuen Dienste« erlaubte er sich, ihr die Möbel, überhaupt das ganze Inventar seiner Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Schreck und Wut und Freude über die vom Himmel gefallene Schenkung, dann wieder die himmelschreiende Enttäuschung: waren die Möbel ihr nicht ohnedies verfallen?
Bald aber überwog der Triumph. Er hat nicht [S. 114] gewagt zurückzukehren — aus Furcht vor ihr! Es wäre ihm auch nicht ratsam gewesen! Fräulein von M. Aha, das ist die Schwägerin des unausstehlichen Herrn, der ihn besuchte und dabei mit seiner Spürnase die Wohnung so durchschnüffelte! »Viel Glück, viel Glück!«
Und sie besann sich nicht lange, ging an eine Truhe, kramte darin und zog eine Papptafel mit dem gedruckten Avis »Möbliertes Zimmer zu vermieten« daraus hervor. Diese befestigte sie sofort an dem einen Fensterladen der »guten Stube.«
An den Stammtischen war ungeheures Halloh! Man konnte es nicht glauben. Es war die Furcht vor der Rückkehr! Einfach durchgebrannt!
Aber man freute sich dennoch. Fräulein von M. war keine Jugend mehr, auch keine Schönheit, aber sie würde ihm eine liebe und brave Frau abgeben. Sie wäre das Gegenteil einer Frau Glaß — Schnurzel würde sich freuen.
»Hoch die Madame Glaß!« rief einer.
Die Anderen stimmten lachend ein. Sie hat ja doch diese Verlobung gestiftet! Sonst würde er nie geheiratet haben — nie, nie!
[S. 115]
[S. 117]
»Ihre Wohnung?« rief der Wahlkommissär, ein Hauptmann a. D., mit überflüssiger Energie; es dröhnte hallend von den getünchten Wänden der leeren Schulstube, deren glänzend versessene und von mutwilligen Knabenmessern verschnitzelte Pultbänke nach der einen Schmalseite zusammengedrängt standen.
»Nr. 386!« kam die Antwort. Das kleine thüringische Bergstädtchen, das nur durch eine Chaussee von unbequemen Steigungsverhältnissen mit der übrigen Weltkultur Verbindung hatte, war nicht nach Straßen, sondern nach der Gesammtzahl der Häuser numeriert.
Die überaus plumpe, grasgrün gestrichene Urne, die dem Verfertiger, einem Klempner des Ortes, während der Wahltage Spott genug eintrug, reichte dem Hauptmann gerade bis an das wulstige Doppelkinn, so daß der Kugelkopf mit dem borstig geschorenen Haar wie aus der Urne selbst zu tauchen schien; die runden, vorquellenden Augen glotzten euch mit der scharfen Strenge eines Staatsanwaltes an, und der abgegriffene Goldsiegelring [S. 118] an der mit den zweiten Knöcheln auf eine beschriebene Liste aufgestemmten Hand funkelte drohend.
»Name!« donnerte es abermals.
»Gottlieb Simmel, Handarbeiter.«
Die Stimme klang gedrückt, die ganze mittelgroße Gestalt schien von der Not des Tages verschabt und verbraucht zu sein, von dem geflickten, grobleinenen Anzug, an dem Weste und Halstuch den Feiertag zu Ehren des Wahlaktes herauskehrten, bis auf das graufarbene, rasierte Gesicht, wo das schartige Messer gleich einer Tortur gewütet hatte, wie die feinen, mit schwarzgeronnenem Blute gezeichneten Schnitte bezeugten.
Eine großartig geschwungene Handbewegung des Wahlkommissärs befahl dem Wähler, seinen Zettel in das breite, gierig geöffnete Maul der Urne zu schieben. Gottlieb Simmel schien leicht zusammenzuschrecken, er zwinkerte unschlüssig mit den gelblichen Wimpern der grellblauen, gutmütig dummen Augen und warf einen Blick nach der rechten Hand hinab, wo er mehrere Zettel geknittert hielt; die waren ihm draußen am Eingang der Schule mit ein paar scherzhaften Redensarten aufgedrängt worden. Die Hand mit den Zetteln zuckte — am liebsten hätte er sie sämtlich hineingeworfen.
»Nun?!« Die Stimme schien diesmal unmittelbar aus dem Innern der Urne zu dröhnen.
Es war wie ein gewaltsamer Ruck, der an ihm zerrte. [S. 119] Er senkte die Linke in die Hosentasche, suchte, immer mit den Augen zwinkernd, und brachte schließlich einen verschmutzten, angefaserten Zettel hervor, den die runden Glotzaugen über der Urne mit einem verweisenden Blick gleichsam anfuhren. Jetzt verschlang das gierige Maul den Zettel, im Nu verschwand auch der Kugelkopf, jedenfalls war er mit hinabgetaucht, um das staatsgefährliche Geheimnis dieses Zettels zu erforschen.
Zögernd, auf die winkende Weisung eines Bleistiftes, der sich in der Hand eines der Schreiber am Tische erhob, machte Simmel kehrt und trollte sich davon; sein rechtes Bein hinkte leicht nachschlürfend. Die grellblauen Augen thaten noch einen zerstreuten Rundblick über die Stube. An der einen Wand hing eine Landkarte mit der ungeheuerlich schwarzen Deltabildung eines verbrecherisch darüber gestürzten Tintengusses, über dem Katheder ragte die kreidegraue Wandtafel mit den kalligraphisch gemalten, bedeutungsvollen Worten: »eier—eile—eimer—einer—eisen«; darunter die Karikatur eines frechen Buben, der eine lange Nase machte. Auf dem Katheder, neben einem breiten, schlägelustigen Lineal, lag eine zerrissene und beschmutzte Knabenmütze mit geknicktem Lederschirm, die beim Aufräumen aus dem Kehricht gerettet war.
Der Anblick dieser Mütze erinnerte ihn an seine eigenen beiden Rangen. Er sah sie auf den Bänken [S. 120] dort sitzen und mit oval aufgerissenem Mund »eier—eile—eimer« im Chorus mitplärren. Seine beiden Mädchen saßen auf der anderen Seite des Korridors auf ähnlichen Bänken, Ähnliches plärrend. Eins von den beiden daheim ist im nächsten Jahr auch schulreif. Ein Seufzer entfuhr ihm. Es ist nicht das Schulgeld — denn das bezahlt die Armen-Deputation — aber die Lesebücher, die zerbrechlichen Schiefertafeln, die Hefte, Federn, Griffel — der Ruf nach diesem Bildungsutensil ist wahrhaftig weit dringender als der nach Brot! Jenes verlangt der Schulmeister, dahinter steckt die Polizei, und man schafft es — das Hungern aber kümmert die hochweise Polizei nicht! Dann die Mützen. Auf einmal sollen die Rangen, die außer ihrem eigenen strohfarbenen, nie ganz unverdächtigen Wirrhaar, keine andere Kopfbedeckung gekannt, mit Mützen in der Schule erscheinen. Wie viel Tage Arbeitslohn hat es ihn doch gekostet, um dieser Schulmeisterlaune zu genügen?
Nein, das Schullokal weckte in ihm keine freudigen Gedanken; und die grüne Urne mit den Glotzaugen darüber hatte ihn völlig aus dem Text gebracht. Draußen machte er sich mit einem Fluche Luft: »Teufel — es ist doch ganz egal, ob man freinational oder deutschnational wählt! Plunder ist beides!«
Es klang wie eine Beruhigung seines Gewissens. Wie kam er von den Knabenmützen auf den Ausruf?
[S. 121]
Es war das erste Mal, daß er sein Wahlrecht als deutscher Staatsbürger ausgeübt. Ihm war so feierlich beklommen zu Mute, wie damals vor Jahren, als er vor Gericht einen Zeugeneid abzulegen hatte; der Richter hatte ihm die zeitlichen und ewigen Strafen eines Meineides so schrecklich hingemalt, daß er lange nachher sein einfältiges Gewissen mit der Frage quälte, ob er auch Silbe für Silbe richtig beschworen.
Das politische Leben des braven Bergstädtchens war in zwei Lager gespalten. Hie deutschnational — hie freinational! Beide Parteien waren dem einen gemeinsamen Stamm entwachsen, sie waren in ihren Lebensbedingungen auf einander angewiesen wie die siamesischen Zwillinge, ihre Prinzipien unterschieden sich nur um eine für den Verstand des alltäglichen Zeitungslesers kaum merkliche Nuance — dennoch befehdeten sie sich gegenseitig wie die feindlichsten Hunde, diesmal besonders, wo die Regierung ein äußerst wirksames Fähnlein für die Wahlkampagne ausgesteckt. Gekläff und Gebiß der beiden Klatschblättchen, Wahlreden, Intriguen, Verspottung, Verleumdung, Verfehmung bis in den Schoß der Familie hinein, all die häßliche Ausgeburt des modernen parteipolitischen Treibens.
Das Wahlresultat ergab die Wahl des deutschnationalen Kandidaten Rechtsanwalt Schwatzler mit einer Stimme Majorität. Die gegnerische Partei schäumte vor Wut — bisher hatte sie das unbestrittene Monopol des Sieges [S. 122] besessen. Eine Stimme Majorität! Welch ein Hohn des Zufalls! Natürlich ist da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen!
Eine Stimme Majorität! Gottlieb Simmel war zuerst völlig verblüfft vor Schreck und Staunen. Dann schnellte sein von der erbärmlichen Not des Lebens in den Staub gedrücktes Bewußtsein zu einer Riesenhöhe empor. Die eine Stimme Majorität, das bin ich! Gottlieb Simmel hat bisher nur eine Null in der sozialen Weltordnung bedeutet, jetzt ist er plötzlich zum ausschlaggebenden Einer angeschwollen!
Spät am Abend stolperte er die ächzenden Stufen der steilen Hühnersteige zu seiner Dachstube empor, schwer wankend, mit schwülem Atem. Er war kein Säufer, aber diesmal verlangte seine geheime Freude nach einem Auslaß. In der Schnapskneipe hatten die anderen, wie sonst immer, ihren groben, ja handgreiflichen Scherz an ihm ausgelassen. Hallo! es lebe die Stimme des Gottlieb Simmel! Natürlich ist es seine! Schmunzelnd steckte er den Scherz ein. Als wenn sie wüßten!
Er schlug durch die schlottrige Thür in die Kammer hinein, zwischen die beiden bettartigen Gestelle, wo seine Sechs in zweierlei geometrischen Verhältnissen, parallel und rechtwinklig zu einander gedrängt schliefen. Sein Weib fuhr kreischend auf, der Keuchhusten des Jüngsten bellte hohl durch den niederen Raum. Jene überhäufte [S. 123] ihn mit Schimpfworten, lallend umtorkelte er ihr Lager. Was hat er nur mit seiner »Stimme«?
»Ohne mich — wär’ der — Schwa — Schwa — Schwatzler gar nicht — durchgegangen!«
Was faselt er für dummes Zeug? Ah, diese verdammte Wahl! Nicht genug, daß sie ihn den ganzen Tag über »blau« machen heißt — muß er auch noch die letzten paar Groschen im Krakehlwasser verthun!
Er bleibt dabei: seine Stimme ist die wichtigste im Reich ....
»Du bist verrückt!« schreit sie gegen ihn an. »Machst, daß du gleich zu Bett kommst!«
Bis in das Gekeuch seines trunkenen Schlafes hinein bleibt er bei der Verrücktheit. —
Die Freinationalen brüteten Rache; mit wütendem Eifer stöberten sie nach einer Ungehörigkeit, wo sie den Hebel zur Vernichtung der Wahl ansetzen könnten. Es klingt lächerlich, aber man meinte fast, sie hätten es auf Gottfried Simmels Stimme abgesehen.
Zuerst ein dumpfes Gemunkel, nun wird das Gerücht vorsichtig von den Basen am Biertisch destilliert, jetzt flattert es fast greifbar durch die Zeitung — endlich! da haben sie das verbrecherische Ding von einer Stimme endlich ertappt! Mit höhnendem Triumph wird das Zeichen der Illoyalität vor den verdutzten Augen der Gegner geschwungen.
[S. 124]
Und diese Stimme heißt — Gottlieb Simmel!
Am Tage vor der Wahl hatte Gottlieb Simmel im Hofe des Kaufmannes Julius Quall Holz gehauen. Ein saures Stück Arbeit, denn das harte Wurzelwerk widerstand der Axtschärfe, als wäre es selbst von Eisen; seine Brust ächzte beim Zuhauen, und die hellen Schweißtropfen spritzten im Wetteifer mit den Holzsplittern umher.
Stand plötzlich Herr Julius Quall neben ihm.
Die straffsitzende Moiré-Weste mit dem protzig geschwungenen Bogen der schwergoldenen Uhrkette über dem Bäuchlein des Mannes schillerte in der Sonne; sein kräftig gefärbtes Gourmandgesicht leuchtete; es ging ein Geruch von Mus und Gewürz und allerlei pikanten Dingen von seinen Kleidern aus.
»Ein zäher Bissen, he?« warf sein fettes Organ hin.
Der Arbeiter nickte, fuhr mit dem Rücken der Hand über die Stirnrunzeln und hieb dann von neuem los.
Die Moiré-Weste sah eine Weile mit immer stärker glänzendem Wohlgefallen zu, wie der Kerl dort sich abrackerte. Endlich warf das fette Organ abermals ein Wort hin: »Ihr geht doch morgen zur Wahl, Simmel?«
Der Arbeiter dehnte den steifen Körper langsam in die Höhe, seine gelblichen Wimpern blinzelten verlegen, und eine Art mitleidigen Lächelns glitt über die zähen Falten seines Gesichtes.
Daran hat er noch nicht gedacht. Die Wahl — er [S. 125] hat davon eine Vorstellung ungefähr wie von einem Leckerbissen, der nur Leuten mit schillerndem Bäuchlein ziemt.
»Aber Simmel, Ihr seid doch Staatsbürger! Ihr werdet doch Eure Pflicht thun?«
Herr Julius Quall gehörte zu den fanatischen Heißspornen der deutschnationalen Partei; seine Rührigkeit im Proselitenmachen war bekannt.
Staatsbürger? — Das mitleidige Lächeln auf Gottlieb Simmels Gesicht nahm um eine Nüance zu. Lieber Gott, den hohen Rang beansprucht er ja gar nicht! »Man ist froh, wenn man was zu essen hat!« brachte er in seiner gedrückten Art über die Lippen.
»Nun, nun, nun ....« fiel Herr Quall ein.
Es vibrierte eine leichte Entrüstung durch die Silben. Welch eine klägliche politische Unmündigkeit!
»Ich meine doch, Simmel, Ihr könntet Euch die leichte Mühe machen! Hingehen und so einen Zettel in die Urne legen!«
Des Kaufmanns Rechte zwängte sich dabei mit Daumen und Zeigefinger in die Westentasche. Simmel verzog ausweichend die Schultern, spuckte in die Hände und rieb die, um von neuem mit der Axt auszuholen.
»Es ist Euch doch einerlei, wen Ihr wählt, he, Simmel?« Und das feiste Gourmandgesicht verzog sich [S. 126] zu einem cynischen Lächeln. Aus der Westentasche kam ein zusammengefalteter weißer Zettel hervor.
Simmel ruckte abermals mit den Schultern. Er hatte in der Schnapskneipe gehört, man müsse freinational wählen. Einzelne meinten, wenn es hierorts einen praktischen Zweck hätte, so wäre sozialdemokratisch das einzig Richtige. Wenn diese Richtung ans Ruder kommt, dann adjes die Rackerei! Dann müssen die Reichen »schuften«, und wir Arbeiter sehen zu!
»Hier! Ihr werdet morgen hingehn und wählen! Macht keine Flausen!«
Herr Quall reichte dem Arbeiter den Zettel hin — seine Stimme klang drohend: — Wenn er, Simmel, den Zettel nicht nimmt, so verliert er die Kundschaft. Herr Quall liebt die »reinlichste Gesinnung« bei seiner Umgebung!
Als Simmel den Zettel nahm, fiel ein Geldstück klingend auf den Wurzelklotz. Herr Qualls Gesicht that überrascht, aber es färbte sich dunkler. »Ah so,« sagte er, »ich hab’ das aus Versehn mit aus der Tasche gezogen. Na, meinetwegen könnt Ihr es behalten.« Und mit einer abermaligen Drohung im Ton: »Also gewählt wird! So was thut man, wenn man etwas auf sich hält, schon aus freien Stücken!«
Der Arbeiter blinzelte verdutzt dem Kaufmann nach, dessen Stimme schon wieder im Lagerraum kommandierte. [S. 127] Dann fielen seine Augen auf das Geldstück, das im Sonnenschein funkelte. Es lag gerade in dem Spalt, wo eine Axt zuletzt gewütet. Durch sein Hirn zuckte ein Verdacht: — Bestechung? Es ist eine blanke Mark, so viel als ein Tagelohn, der Kaufmann ist knauserig und verschenkt keine Mark ohne Gegenleistung ...
Bah, welch ein Wesen sie aus der lumpigen Wahl machen! Vielleicht hätte ich ohnedem gewählt! Wen, ist gleichgültig. National heißen sie ja beide!
Endlich nahm er das Geldstück und steckte es samt dem Zettel in die Tasche. Es ist wie vom Himmel gefallen, gerade zur rechten Zeit!
Am anderen Tage rasierte er sich also und ging zur Wahl. Er will auch etwas thun für das Geld! — Er ist ein ehrlicher Kerl! Natürlich braucht niemand davon zu wissen: — es ist nicht ganz geheuer. Am Abend aber wurde das Markstück, das ein Notloch zu stopfen bestimmt war, in dem Triumph über den Erfolg seiner Stimme mit Schnaps hinabgespült. —
Das ganze Städtchen sprühte vor Alarm wegen des Stimmenkaufs. Herr Quall that großspurig überlegen: wer will ihm das beweisen? Ho, er wird der frechen Lüge schon das Handwerk legen! In Gegenwart von Zeugen stellte er den Gottlieb Simmel: »Hab’ ich Ihnen ein Geldstück gegeben mit der Weisung, deutschnational zu wählen?«
[S. 128]
Der völlig verstörte Simmel wiegte verneinend den Kopf.
»Könnten Sie das vor Gericht beschwören, Simmel?«
Der Arbeiter besann sich, blinzelte, that einen Seufzer.
»Ja oder nein?« fuhr ihn jener energisch an.
»Ja!« nickte der andere. Es überlief ihn heiß. Aber unser Herrgott ist Zeuge, daß er von dem Kaufmann kein Geld erhalten mit jener Weisung! Recht muß Recht sein ...
Herr Quall schüttelte also den schändlichen Verdacht in seiner kräftigen und geräuschvollen Weise schnell ab, wie ein Pudel, den man ins Wasser geworfen, die Nässe aus seinem Pelze schüttelt. Den nichtsnutzigen Ladenjungen, den er beargwöhnte, das listige Manöver mit dem Markstück beobachtet und herumgebracht zu haben, jagte er zum Teufel. Er steckte seine drohende Faust heraus: »Jede noch so verblümte Andeutung wird einfach ans Gericht gebracht!« Herr Quall fackelt nicht! »Und wenn wirklich?« höhnt er. »Wenn das Stimmvieh so dumm ist und sich kaufen läßt ...«
Bei Gottlieb Simmel aber blieb die Schande hangen und ließ sich nicht mehr abschütteln. Fortan war er geächtet bei Klein und Groß. Er wollte sich in der Kneipe auf eine Bank setzen — die anderen erwiderten nicht einmal sein Nicken; sie rückten auffällig von ihm ab — der Wirt stapfte mit einem verächtlichen Blick das Glas Klaren vor ihm auf den Tisch — nun flogen [S. 129] allerlei Anzüglichkeiten durch den Raum — »Stimmen kauft!« plärrte einer im Ton eines Straßenverkäufers. — »Wie stehn sie denn heute?« wandte sich ein anderer frech grinsend an den Geächteten. — »Es giebt ’er, die kein’ zwei Pfennig wert sein!« — »Pfui!« entrüstet spie einer aus. Simmel stürzte den Klaren hinab und machte sich davon.
Er fand sich bei einem seiner regelmäßigen Arbeitsgeber ein. Die Magd meldete ihn. Aus dem Speisezimmer donnerte jemand: »Er soll sich fortscheren! Hier wird nicht mit Stimmen geschachert!« Die Magd schlug ihm die Thür zu, als wäre er ein räudiger Hund.
Das war ein Freinationaler. Natürlich wollen die nichts von ihm wissen!
Doch an einer anderen Arbeitsstelle ging es ihm nicht besser. Das war einer von der Gegnerpartei — der fürchtete, sich zu kompromittieren. »Simmel, alter Freund, Ihr habt Dummheiten gemacht! Stimmen sind keine Reiserbesen, mit denen man von Haus zu Haus hausieren geht! Ich habe leider keine Verwendung für Euch!«
Ein Zorn wallte ihm zum Kopf, als er abermals vor der zugeschlagenen Thür stand. »Teufel des Teufels! Was bin ich denn für ein Verbrecher? Was hab’ ich denn begangen?« Es ward ihm ganz wirr im Sinn.
Zu Hause wartete seiner die Hölle. Seine Frau war außer sich. Auch sie hatten die Weiber in Acht gethan, [S. 130] wie ihn die Männer. Auch vor ihr wurde verächtlich ausgespieen, arge Schimpfworte prallten gegen ihre Thür; der ganze Hof hing voll Skandal.
»Sag’ mir doch die Wahrheit, Gottlieb!« flehte sie ihn an. »Was ist es doch? Du mußt was Fürchterliches begangen haben?«
Mit gebrochener Stimme berichtete er zum zehnten-, zum zwanzigstenmal den Hergang der lächerlich einfachen Sache.
»Es ist nicht wahr! du lügst!« schrie sie ihn an.
Er nickte stöhnend — er weiß nichts anderes! Sie überhäufte ihn mit Schmähungen, denselben, die ihr die anderen Weiber zugeschleudert.
Wehrlos saß er da. Einmal reckte er die gekrallten Hände mit einem Wutausbruch in die Luft: daß man es doch fassen könnte, das unsagbare, unerklärliche Verbrechen!
»Warum kommt man denn nicht, um mich festzusetzen, wenn ich so ein Verbrecher bin!« rief er verzweifelt.
Er wartete auf den Gendarm, als wenn der Erlösung brächte von dem entsetzlichen Bann. Aber der Gendarm stellte sich nicht ein.
Der älteste Bub kam aus der Schule, heulend, mit blutig zerschlagenem Kopf. Eine Rauferei — und weswegen? Die Kinder haben dem Kind das Verbrechen seines Vaters vorgeworfen! Sie wissen eben so wenig, [S. 131] was es ist, aber der Haß ist nicht minder giftig, als bei den Großen.
Simmel stürzte fort auf die Polizei. Hier ist er! Sie sollen ihn doch ins Loch schmeißen! Er wünscht, seinen Fall gerichtlich untersucht zu haben!
Man grinste über den närrischen Kauz. Mit schneidendem Hohn warf man ihm den Bescheid hin: »Für Sie giebt es keinen Paragraphen!«
Kein Paragraph für ihn und sein Verbrechen! Aber die Strafe muß er erdulden — man läßt ihn mit den Seinen einfach verhungern!
Dennoch giebt es eine Gerechtigkeit! Der liebe Gott hält es nicht mit seinen Ächtern! Der will nichts von dem Verbrechen wissen!
Simmel fand schließlich eine Stelle, die ihn für die nächste Zeit aus der bittern Not rettete. Der Chaussee-Aufseher dingte ihn in Taglohn, dem allgemeinen Bann zum Trotz. Oder war es etwa, weil der alte Biedermann von einem Beamten taub war und somit außerhalb des Klatsches stand, daß der Arbeiter Gnade bei ihm fand?
Da draußen auf der einsamen Chaussee erreichte ihn die Ächtung nicht, und er war wenigstens von der Hungerstrafe erlöst. Er fühlte wie das Erwachen von einem schwülen Alp. Auch schien die ganze unselige Geschichte allmählich zu versickern.
[S. 132]
Acht Wochen waren vergangen. Der Reichstag war längst eröffnet. Der deutschnationale Abgeordnete Schwatzler heimste seine ersten Lorbeeren als schlagfertiger, in allen Sätteln gerechter Redner ein. Da wurde eines Frühmorgens unter der Thür der Simmelschen Kammer von unbekannter Hand ein Zeitungsfetzen hineingeschoben. Unter den »Parlamentarischen Nachrichten« war eine Notiz mit dickem, hämischem Tintenstrich ausgezeichnet.
»Wie wir hören, wird die Wahl des Reichstags-Abgeordneten Schwatzler, der bekanntlich seiner Zeit mit einer Stimme Majorität siegte, nachträglich von der Wahlprüfungs-Kommission beanstandet. Es handelt sich um die Stimme eines Arbeiters Namens Simmel, zu , die seitens eines Vorstandsmitgliedes der deutschnationalen Partei zu Gunsten des Obengenannten für 1 M. gekauft worden sein soll. Eine Untersuchung ist im Gang; wir werden interessante Dinge zu hören bekommen.«
Der Teufel ist also wieder los! Gottlieb Simmel bebte vor Wut und Schreck. Es ist das Verhängnis dieser Stimme, das hinter ihm herhetzt. Das da draußen auf der Chaussee war nur eine kurze Gnadenfrist. Er weiß, das Verhängnis wird ihn in einen Abgrund hineinhetzen ...
Er wankte also, ganz verstört in seinen Sinnen, zur Arbeit auf die Chaussee hinaus. »Es giebt keinen Paragraphen für Sie!« Das gellte ihm stundenlang im Ohr. [S. 133] Das ist so gut als: er hat kein Recht zu atmen und zu leben!
Gegen Mittag fand sich der taube Chaussee-Aufseher ein. »Simmel,« ruft er überlaut, obgleich er zu flüstern wähnt, »Simmel, es thut mir leid, aber ich muß Ihnen kündigen« —
Das übrige hört der Simmel nicht mehr. Es tanzt ihm vor den Augen. Mechanisch hackt er noch eine Weile in dem harten Straßenkot. »Kein Paragraph — kein Paragraph!« immer lauter, immer unheimlicher surren und schwirren ihm die Worte im Ohr. Mechanisch setzt er die Beine und schlenkert die Chaussee entlang nach Haus.
Unweit des Städtchens war eine kleine Baumpflanzung, die jetzt im herrlichen Smaragd des jungen Frühlings prangte.
Simmel bog vom Wege ab, nach der Pflanzung hin. Seine stieren, wie betrunkenen Blicke flogen an den Ästen der Bäume empor, als wenn er da droben etwas suchte, das für ihn paßte. Endlich hatte er es gefunden. —
Unter den »Parlamentarischen Nachrichten« stand drei Tage darauf folgende Notiz:
»Wie wir hören, ist die Untersuchung wegen des ominösen Stimmenkaufs in niedergeschlagen, da sich der Hauptbelastungszeuge erhängt hat. Die Wahl des Abgeordneten Schwatzler dürfte somit keine Anfechtung mehr erfahren.«
[S. 135]
[S. 137]
»Numero zwei!« sagte mein Vater und tippte mir von hinterrücks mit dem Finger auf die Schulter, während sein Kopf nach dem offenen Fenster hinübernickte, mit einem feinen wetternden, ironischen Ausdruck um die bartlosen Lippen, der mir überhaupt nie gefallen hatte.
Das Fenster unserer gemeinsamen Kontorstube stand auf, und über die im Sonnenduft flimmernden Gärten hinweg kam aus der Ferne in regelmäßigen Pausen ein dumpfer Donnerhall.
»Hm!« nickte ich mißmutig dagegen, nur kurz aufschauend. Es war an diesem Tage wirklich viel zu thun in der Korrespondenz, und ich duckte den Kopf mit emporgezogenen Schultern wieder tiefer auf meine Arbeit nieder. Sehr hübsch und patriotisch von Papa, daß er sich die Zeit nahm und nun halblaut die fernen Kanonenschläge zu zählen begann!
»Das laß ich mir doch gefallen — so ein Prinz Wilhelm! — Nun schon der zweite binnen Jahresfrist!« [S. 138] fing er wieder an, offenbar durch mein gleichgültiges Wesen geärgert. »Bum! Achtzehn — neunzehn! — Wie deutlich man den Schall diesmal vom Lustgarten her vernimmt — zwanzig! — ich dächte im vorigen Jahr, bei dem ersten Prinzen, klang es nicht ganz so klar herüber —ein—und—zwanzig—zwei—und—zwanzig —«
Ja, ich war ärgerlich, ich vermochte nicht in meines Vaters Jubel einzustimmen. War dieser Jubel ein rein sachlicher und die Begeisterung für das kräftige Gedeihen des Hohenzollernstammes nicht etwa absichtlich übertrieben, in Anbetracht seiner sonst so ruhigen und den mancherlei Fährnissen des Lebens gegenüber nicht aus dem Gleichgewicht schlagenden Art? O ich merkte es wohl: es geschah mir zum Tort! — eine herrliche und eindringliche Gelegenheit, mir meine beharrliche Kinderlosigkeit aufzutrumpfen ....
Mir und meinem herzigen, lieben, braven Frauchen, die gewiß ebenso und noch mehr darunter litt, daß sich über unserm Dache immer und immer noch kein Rauschen von Storchesflügeln einfinden wollte. Denn seit vier Jahren harrten wir dieses Rauschens. Und die ganze Familie mit uns. Ich konnte es meinem guten Vater nicht verargen, wenn ihm diese Großpapahoffnung all sein Fühlen und Denken immer eindringlicher und hartnäckiger versetzte. Stand doch auch die Zukunft unseres alten Geschäftshauses in Frage — unser Stamm würde [S. 139] mit Papa und mir aussterben, wenn auch der Name bliebe, denn wir trugen, obgleich in Berlin eingewandert, einen in der Berliner Luft sehr verbreiteten Namen.
Aber was war zu thun? Geduldig weiter zu harren und zu hoffen! Wenn nur nicht der Kummer über das ausbleibende chimärische Glück bedenklich an dem soliden Glücke zu rütteln begonnen hätte, das wir greifbar in den Händen hielten. Diese steten Anspielungen; diese fast brutal offenen Fragen, die an allerlei Gedenktagen herausplatzten; und die Kontrolle, die fast ans Polizeiliche streifende Überwachung der biedern Tanten- und Basenschaft! Zuletzt waren wir beiden unschuldig-schuldigen Verbrecher so argwöhnisch geworden, und überall, in sonst ganz harmlos klingenden Fragen und Bemerkungen, in Blicken und Mienen witterten wir die Anklage.
Z. B. am Neujahrstag. Ist es nicht zum verzweifeln, wenn Papa während unseres gemeinsamen traditionellen Familienfestessens wohl zehnmal die Bemerkung über den Tisch wirft: »Ja, ja, was wird uns das neue Jahr nicht für Überraschungen bringen ....« in allerlei Tonart, murmelnd, schmunzelnd, nachdenklich, dann vom Klang der Gläser begleitet, sogar in einem gewissen energisch ermunternden Ton. Und beileibe nicht aller Augen verstohlen oder offen nach uns beiden hinzielend! Beileibe waren wir ja gar nicht damit gemeint!
[S. 140]
Z. B. wenn mein Frauchen ihre Schwiegermama besucht. Die rundliche, kleine, weiche Hand der in allen Dingen maßvollen und durchaus nicht schwiegermütterlichen Dame streichelt sanft, mit linder Zärtlichkeit meiner Frau über das Oval der Wangen, wobei sich die untersetzte Figur etwas herausrecken muß — keine Frage, höchstens ein kaum verlautbares »nun?« Aber Mamas eigenartig grellblaue Augen fragen um so deutlicher, ob es denn noch immer nichts zu beichten gäbe.
Z. B. bei Tante Eckberte. Sie war eine besondere Respektsperson in der Familie, eine alleinstehende Dame von ausgesprochener Erbtantenwürde, auf das vorsichtigste von uns allen behandelt, als wäre sie das kostbarste Porzellan. Sie hatte »das Geld« — als wenn wir nicht alle zur Zufriedenheit davon besäßen! — aber dieses Geld von ihr strahlte etwas wie eine Gloriole aus, in der sich mancherlei Hoffnungen sonnten. Doch schien ihr von uns allen niemand so besonders geeignet oder gar würdig, dereinst nach ihrem Ableben — Gott erhalte sie noch lange! — von solchem Sonnenschein überschüttet zu werden, niemand als das Kommende, sehnsüchtig Erwartete — mochte es auch nur ein Nichtchen sein, denn sie bestand nicht so dringend auf der Fortsetzung des Mannesstammes, einerlei, ihr Vorname würde sich so gut auf ein »er« wie eine »sie« übertragen lassen. Und das war Bedingung, schien sie doch [S. 141] in ihren Namen verliebt: — »nicht wahr, mein Söhnchen,« sagte sie zu mir, »Eckberte ist der schönste Name, ich möchte wohl, daß ihn noch ein anderer in der Familie trüge, ich möchte das wohl noch erleben.«
Und ihre überaus klugen grauen Äuglein glitzerten mit einer gewissen, naiven, verschmitzten Begehrlichkeit dazu.
Ja das war ausgemacht: »wenn« — dann sollte und mußte »es« Eckbert oder Eckberte heißen. Emmy hatte sich lange genug gegen diesen außergewöhnlichen, seltsam stachelichten Namen gesträubt, es hatte sogar Thränen deswegen gegeben, damals, vor Jahren, als unsere Hoffnungen noch nicht mit beharrlicher Enttäuschung vergällt waren. Nun waren wir einig, längst einig über diesen Namen, es fehlte nur noch das Köpfchen dort in jener imaginären Wiege, das ihn uns abnähme ....
Da schien mir doch Onkel Gustavs zutappende Art tausendmal lieber. Er war der Bruder meiner Mutter, ein Major a. D., der seine Muße damit ausfüllte, in seinem Villengarten zu Charlottenburg Rosen zu züchten, sonst aber eine durchaus nicht blütenzarte Persönlichkeit. Also ein energischer Schlag seiner rauhbehaarten Rechten auf meine Schulter: »Na, Alterchen, was machst du? Immer noch nichts zu taufen? Na mach’ doch kein so saures Gesicht! Komm her, wir wollen einmal anstoßen — sollst meinen Neuen kennen lernen, ein Graacher [S. 142] von 76 — hui! (und er stieß einen Pfiff des Entzückens aus) — Prosit also auf Euren Nachexercierer!«
Und nachdem wir von dem wirklich köstlichen Tropfen tüchtig genippt: »Übrigens viel Schererei mit solcher Krabbelgesellschaft!« Er deutete mit einem kräftigen Seufzer auf den jüngsten seiner drei Söhne, die er in der Armee hatte, »ein Schwerenöter, der die Haare auf seines Vaters Kopf nicht verschont mit seiner Schuldenpassion!« Allerdings hatte das leichtlebige Vetterchen auf diesem Boden stark geweidet, nach des Onkels leuchtender Glatze zu urteilen.
»Fünf—und—zwanzig — — sechs—und—zwanzig!« zählte mein Vater weiter, immer schärfer accentuierend. »Ich bin doch neugierig, ob es ein Prinz oder eine Prinzessin wird —«
Ich zuckte stumm die Schultern und fuhr in meiner Arbeit fort. Er wurde immer lebhafter, je mehr die Kanonenschüsse sich der entscheidenden Zahl näherten. »Eine Prinzessin zur Abwechselung wäre auch ganz nett — sieben—und—zwanzig — bum! das war ein gehöriger Knall! — na macht doch vorwärts, da draußen!« rief er nach dem offenen Fenster hin, mit komischer Ungeduld.
Jetzt noch drei, dann zwei Schüsse — »Dreißig!« rief er feierlich. Dann still, erwartungsvolles Schweigen ringsum, selbst das Bienengesumm im Garten schien [S. 143] anzuhalten, um zu lauschen, ob es eine Prinzessin und damit das Freudenschießen zu Ende.
»Bum—mm!« Ein Kanonenschuß, so freudig laut erschallend, daß das Glas dort auf der Wasserkaraffe ein leises Klingeln bekam.
»Bumm!« Mein Vater schlug dabei mit der Hand auf das Pult — »hurrah, ein Prinz! Numero zwei! Famos! Herrlich! — Na, freust du dich denn nicht mit, Junge?«
»Famos, Papa —« drückte ich kleinlaut hervor, mit einem erzwungenen Lächeln.
»Was wird sich der alte Kaiser freuen!« meinte mein Vater.
»Na ob!« erwiderte ich. Diesmal war es doch keine bloße Anspielung von Papa. Welch ein unausstehlicher Egoist bin ich doch, daß ich mich nicht einmal von Herzen zu freuen vermag über fremdes Glück — da es doch sogar ein Kaiserglück ist!
An Arbeiten war nicht mehr zu denken, solange der dumpfe Donner der Kanonenschüsse nun durch die Luft daherrollte. Und es wollte eine Ewigkeit dauern, bis der Prinz seine ihm zustehende Schußzahl erhalten. Oft schienen sich die Schläge zu beeilen, dann kamen wieder um so längere Pausen. Papa zählte nun nicht mehr mit, desto andächtiger lauschte er, und jeder Schuß zitterte wie ein froher Schein über sein Antlitz.
[S. 144]
Wie würde er sich erst freuen, »wenn« — ach, dieses »wenn!« Mit einer krampfhaften Anstrengung, der dummen, quälenden, neidischen Anwandlung Herr zu werden, rief ich plötzlich »Neunundsechzig!« und horchte, und zählte weiter — es war das beste!
»O wir sind ja viel weiter,« fiel Papa ein. »Du brauchst keine Sorge zu haben, die dort verzählen sich schon nicht.«
Mein Trotz aber hieß mich weiterzählen, aufs Geratewohl, ins Blaue hinein. Plötzlich hörte das Schießen auf. Wieder die Stille, eine so seltsam feierliche Stille, die allmählich erst wieder von dem vielerlei Tagesgeräusch überdeckt wurde.
Papa nickte mir zu, und ich nickte zurück über das Pult. Dann senkte er den Kopf, um die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Aber ich merkte seinem hastigen Gekritzel an, wie erregt er war. Jetzt schwellte ein Seufzer seine Brust — verriet der nicht nur zu deutlich, welch eine Enttäuschung sich unter all der lauten Freude versteckt gehalten, um nun in der Stille doppelt fühlbar zu werden!
Ich war froh, als der Schlag unseres Regulators mich aus dieser Pein erlöste. Mein gutes Weib ... der Gedanke an sie begleitete mich durch das Gewühl der Straßen. Sie wird die Schüsse ebenfalls vernommen haben — und was hat sie dabei empfunden![S. 145] Im Grunde eine Thorheit, sich darüber zu grämen — waren wir denn nicht glücklich? lebten wir nicht in Eintracht und Treue?
Aber die Gaukelei dieser hergezauberten Glücksbilder wollte nicht recht wirken hier auf der Straße. Schien es mir doch, als hinge ein verklärender Schein auf all den sonst von Geschäftsnot und erbärmlicher Eigensorge verzerrten oder verhärteten Gesichtern. Sie gedachten des neugeborenen Prinzen .... Zitterte nicht immer noch der Freudendonner durch die blaue Luft? Leuchtete nicht das Grün der Bäume so festlich?
Wie ein körperlich schwerer Schatten fiel es über mich, als ich unsere Hausthür durchschritt und das zum Frösteln kühle Treppenhaus hinanstieg. Es war so still in der Wohnung, und meine Tritte knarrten hart und aufdringlich, aber eine andere Stille als jene voll Freude vibrierende, die dem letzten Kanonenschuß gefolgt.
Emmy erhob sich von ihrem Lieblingsplatze dort in dem von Gewächsen und Blumen gefüllten Erker — führte sie nicht selbst, die Kinderlose, solch eine Art Blumendasein? Ihre Arbeit in der Hand, schwebte sie auf mich zu, mit einem feinen Lächeln des Willkomms; um ihr goldblondes Haar flimmerte das Tageslicht, und ihre großen dunklen Augen strahlten mir entgegen.
»Du kommst heute etwas früher, Kurt?«
Ach, ihre liebe Stimme, die mir wie eine Rührung [S. 146] zum Herzen drang! Und ich umarmte sie lange, länger und inniger als sonst. Als sie ihr Köpfchen von meiner Schulter erhob, glaubte mein argwöhnischer Blick zu bemerken, daß ihre Augenlider gerötet waren — gewiß hatte sie geweint, und — — »deshalb!«
Aber kein Wort davon, bis wir an unserm Mittagstische saßen. Noch nie war mir diese Tafel so ungeheuerlich groß erschienen; die Aussteuer hatte wohl auf ganze Reihen kleiner Gäste gerechnet; wie verloren kamen wir uns vor, wenn wir so die eine Ecke besetzt hielten, und die weiten Flächen des Tischtuches sich in schneeiger Einsamkeit vor uns breiteten — ja heute schien die Tafel sich noch besonders gereckt und gedehnt zu haben.
Ich nahm mir Mut und sprang offen gegen das Thema an: »Du hast doch den Kanonendonner gehört, Emmy, mein Liebling?«
Sie nickte: »Ein Prinz, ich weiß — der erste ist kaum ein Jahr alt —«
Sie gab sich Mühe, die Freude zu heucheln mit ihrem erzwungenen Lächeln. Wie süß sie aussah! wie köstlich sie blühte in ihrer Gesundheit, in ihrer von keinem Hauch getrübten Schöne! Eine Art Zorn flog mich an, und zwischen den Zähnen drängte ein leiser Ruf hervor, der fast wie eine Drohung klang, eine Drohung [S. 147] gegen das Schicksal .... Ich faßte ihre weiße warme Hand und preßte sie: »Na nimm dir es nicht zu Herzen, mein liebes, armes Weibi —«
»Arm« hatte ich sie genannt! Gewiß war sie arm, einsam und arm trotz meiner Liebe — wiesen nicht die Finger der ganzen Verwandtschaft auf diese Armut hin? Das Wort hatte sie getroffen, in ihren Augen schwollen Thränen, und der letzte Zwang des Lächelns verzitterte um ihre Lippen.
Ich war aufgestanden und hielt ihr schluchzendes Köpfchen in meinen Händen: — »Eine Dummheit! Eine Lächerlichkeit! I was werden wir uns das so zu Herzen nehmen! — komm, komm her! — ich hab’ dich lieb, du liebst mich! — wir beide, ach wir beide! — ist das nicht genug?«
Sie wehrte leise, mit einem Wiegen ihres Kopfes, und schluchzend brach ihr lange verhaltener Schmerz hervor. O sie hatte es längst gemerkt, wie sie bei unserer Familie nicht für voll angesehen würde — »deswegen!« Papa und Mama und Tante Eckberte hatten ja nur einen Gedanken — — »den!« Sie wäre ihnen allen die bitterste Enttäuschung! Und es würde nur noch schlimmer werden, je mehr die Aussicht schwände. »Du selbst, Kurt, — du sollst sehn — du selbst wirst mich zuletzt nicht mehr lieb haben!«
[S. 148]
»Wa—a—as?!« Ich lachte hell und übertrieben kräftig auf.
»Du bekommst es auch einmal satt, fort und fort auf den Vorwurf bei den Deinen zu stoßen —« schluchzte sie weiter.
»Na, du Närrchen, wer sagt denn, daß wir diesen Vorwurf nicht noch eines Tages tüchtig zu Schanden machen.« Ich zählte ihr verschiedene Fälle aus unserm Bekanntenkreise auf. »Und nun komm! Wir müssen uns selber verlachen wegen unserer Thorheit! Und sag’ einmal, Liebling, Weibi, ist das wohl patriotisch? Geschwind nimm dein Glas! Statt anzustoßen auf das Wohl unseres jüngsten Prinzen, sitzen sie und jammern und verzagen! — da soll doch gleich ....«
Und ich ergriff mein Glas und hielt es gegen das ihre; zögernd nahm sie das, und das anstoßende Krystall gab einen hellen, freudig klingenden Ton.
»So ist’s recht! Und nun kein Wort mehr davon! Ich hab’ dich lieb — du hast mich lieb — von einer Chimäre laß’ ich mir meine Liebe nicht über den Haufen werfen! Auf die Gesundheit also des kleinsten aller Königlichen Hoheiten!«
Durch ihre Thränen lächelte sie innig, während der Wiederschein des goldgelben Rheinweines wie Sonnenlicht über ihre Züge flimmerte. —
Ein Jahr darauf kam ich zufällig über den Opernplatz [S. 149] nach dem Schloß zu, als gegen die Museumsseite des Lustgartens sich Auflauf und Gedräng bemerkbar machte. Was fragte ich noch? — es war jährig! es war wieder Juli! — natürlich ein neuer Prinz! Soeben ist die Artillerie dort am Anfahren, um auch diesem Sproß am kräftigen Hohenzollernstamm den hundertfach dröhnenden Willkommgruß zu entbieten.
Da packte mich ein lächerlicher Zorn. Jetzt ins Kontor? Nimmermehr! Damit mir Papa abermals wie im vorigen Jahr auf die Schulter tippt, mit seinem höhnischen »Numero Drei, mein Junge!« Abermals soll ich die Qual von hundert und ein Kanonendonnern wehrlos ertragen, jeder Schlag eine Mahnung und ein Verweis. Schießt Ihr, so viel Ihr wollt, ich mach’ mich davon ....
Hüpfte also eilends in eine »Erster« und befahl dem Kutscher, die Linden herunter zu jagen — wohin? — nun einerlei, nach dem Tiergarten zu, tief in den Tiergarten hinein! Der Kerl auf dem Bock blickte mich unter dem Lederrand seines Hutes etwas verwundert an: ich wollte mich doch nicht etwa totschießen dort im Gebüsch — und so eilig?
Aber die Kanonenschüsse waren schneller als mein Droschkengaul. Jetzt schütterte der erste Donner durch die Luft. Die Leute auf dem Trottoir blieben stehn und horchten, andere nickten, die wußten schon — wieder [S. 150] breitete sich der freudige Schein über die Gesichter, wieder bekam das Grün der alten Linden ein so festliches Ansehen. Und Schuß auf Schuß mir nachjagend in den Tiergarten hinein, ja dort in der Waldesstille hallte es erst recht deutlich über den Wipfeln. Umsonst dieser Qual zu entfliehen!
Vielleicht war es nur eine Prinzessin, und das Geschieße hatte bald ein Ende. Da wandte mein Kutscher seinen breiten Rücken ein wenig herum und warf über die Schulter die Bemerkung hin: »Is schon wieder’n Prinz — dacht’ ick mir doch!«
»Wieso? haben Sie gezählt?« rief ich dagegen, und meine Stimme mochte wohl die Erregung nicht verbergen.
»Ick wußt’ schon, auch ohne zu zählen — bei’n Prinzen Wilhelm is det schon nich’ anders. Jedet Jahr eene Nummer — lauter Jungens! —«
»Fahren Sie um den See herum zurück!« befahl ich. Hatte ich wohl nötig gehabt, in den Tiergarten zu entfliehen, um mir den Prinzen Wilhelm als ein vorbildliches Muster auftrumpfen zu lassen? Das hätte ich auch im Kontor haben können!
Doch der Schreckliche dort auf dem Bock ließ nicht nach. Der Kanonendonner reizte seinen eignen Vaterstolz; nach einer Pause wandte er sich abermals herum: »Stücker acht hab’ ick och. Nich lauter Jungens, [S. 151] Mächens müssen och sind. Det wird Prinz Wilhelm och insehn dhun, und det nächste Jahr um die Zeit, wann sie wieder knallen, da können se wat mit’s Pulver sparen — nu is en Mächen dran.«
Genug! Welche Aussicht! Ich fürchtete damals, der Mann möchte recht haben mit seiner Prophezeiung der Prinzen-Serie. »Jedet Jahr ene Nummer ....« Jedes Jahr wohl ungefähr um diese Zeit würde ich mir meine eigne Kinderlosigkeit mit Kanonengeknall vorwerfen lassen müssen! Es war zu viel! Ich gab dem Kutscher die Adresse unserer Firma an — ich wollte hin, mich an das Pult setzen und dem Angriff von der anderen Seite energisch stand bieten — ich wollte mir dergleichen Anspielungen und Trümpfe ein für allemal ernstlich verbitten.
Unterwegs aber stellte sich mir immer deutlicher die vorigjährige Scene an unserm Mittagstische dar. Mein armes Weibchen — diesmal würde sie noch ganz anders unter dem alle Poren des Hauses durchdringenden Kanonendonner gelitten haben! Denn die unselige geheime Gegnerschaft, die sich innerhalb meiner Familie gegen sie gebildet hatte, war im Laufe dieses Jahres noch gewachsen. Es klingt grausam, dennoch muß ich die alten Leute nicht ganz ohne Verteidigung lassen. Meines Vaters Stammesbewußtsein litt unter der Aussicht, daß unsere Familie ganz verlöschen müßte; die[S. 152] Firma, die alte, angesehene Firma, die den Wandlungen von Jahrhunderten zu trotzen schien, so fest war sie gegründet, sollte in absehbarer Zeit an andere Namen und Menschen übergehen — die fixe Idee dieser enttäuschten Großvaterhoffnungen war in ihrer Beharrlichkeit wohl erklärlich, mußte sie nicht im Gegenteil immer mehr an Schärfe und Bitternis zunehmen? Die ganze Familie war zuletzt auf diesen Ton gestimmt, die Sticheleien mehrten sich, immer deutlicher die Anspielungen, immer häufiger die Verstimmungen zwischen uns Verbrechern und dem Gros der andern Partei. Unser Argwohn lauerte auf Schritt und Tritt der neuen Demütigung. Ja, als eine andauernde Kränkung empfand es meine gute Frau. Sie hatte recht gehabt: man sah sie nicht für voll an in unserer Familie; allerlei dumme kleine Geschichten, die vor unserer Ehe gespielt und die das entsetzliche liebe Mein und Dein betrafen, wurden ausgekramt, von neuem wurde an ihrer Mitgift gemäkelt und die Standesgemäßheit meiner Heirat, über die der Adel einiger Hunderttausende von Mark zu entscheiden hatte, abermals auf die Wagschale gelegt. Zwar nicht vor unsern Augen, doch der Klatsch wisperte uns dies und das ins Ohr, die Dinge natürlich vergrößernd.
Unsere Besuche hatten sich mehr und mehr auf festliche Gelegenheiten eingeschränkt. Da unterstanden wir aber auch um so erbarmungsloser dem Gemäkel und der [S. 153] Kritik der ganzen Verwandtensippe. Ein böses Wort wurde mir zugeraunt: man hätte sich an maßgebender Stelle geäußert, meine Frau wäre unbedeutend, eine schöne Puppe, die aber nichts bedeutet. —
Emmy war unter der Last ihres Verbrechens immer stiller geworden, sie hatte fast ihre alte herzige Fröhlichkeit eingebüßt, wenigstens ihnen gegenüber. Gewiß lag die Acht meiner Familie wie ein böser Bann auf ihrem Herzen — kein Wunder, daß die Kritik ein wenig recht bekam! Freilich bedeutete sie nichts, da sie der Firma keinen Nachfolger geschenkt — eine Mutter zu sein, ist stets ein Verdienst! »Unbedeutend« — ein schlimmer Hieb für einen Ehemann, der in seiner Frau den Ausbund aller äußeren und seelischen Vorzüge anbetete!
Wie immer blieb etwas von solcher Kritik als ein schmerzlicher Stachel hangen. Auch unser schönes intimes Glück bekam von Zeit zu Zeit einen häßlichen Hauch. Eine bange Ahnung beschlich mich zuweilen: — sollte unserer Liebe und unserm Frieden eine Gefahr drohen? Hatte sie mich nicht vor Jahresfrist gewarnt: »Zuletzt wirst du selbst mich nicht mehr lieb haben, Kurt —«
Eine ungeheure Angst erfaßte mich plötzlich. »Nicht Markgrafenstraße!« rief ich dem Besitzer der Acht, »aber nicht lauter Jungens,« zu. »Fahren Sie Kurfürstenstraße!«
[S. 154]
Der lederne Kutscherhut reckte sich kurz auf mit der stummen Bemerkung, was es doch für Käuze gäbe unter den Fahrgästen; dann in einer equipagenmäßigen Kurve lenkte das Gefährte zur Seite, um den Kanal entlang nach meiner Wohnung zu rollen.
Wie ich es geahnt — meine Frau in Thränen! Und welch eine schluchzende Bitternis, die sich weder durch mein ärgerliches und einen Hohn heuchelndes Lachen, noch durch meine Liebkosungen beschwichtigen lassen wollte. Sie mochte kurz vor mir nach Hause gekehrt sein, das Capotehütchen saß ihr noch auf dem Kopf, die Handschuhe lagen in der Hast abgestreift auf dem Teppich. Auf der Straße hatte der Kanonendonner sie wohl überrascht, und all das im Laufe des letzten Jahres angesammelte Leid brach nun in einer Flut von Thränen aus. Aber immerhin eine Lächerlichkeit — Gott wie oft muß man das betonen und beschwören!
Es war etwas anderes, schlimmeres, wie sie mir endlich schluchzend gestand. Sie hatte also ihrer Schwiegermama einen Besuch abgestattet, einen rücksichtsvollen Mußbesuch, den sie der alten Dame längst schuldig gewesen. Auch Tante Eckberte war zufällig anwesend; und dort, mitten in das Gespräch, war der Kanonendonner hineingefahren. Emmy wußte sofort, und das Blut war ihr heiß zu Kopf geströmt. Der Wind mußte so stehn, daß das Gedonner ganz nahe klang — »Der neue[S. 155] Prinz!« rief Mama nach dem dritten Schuß. Tante Eckberte in ihrer nervös beweglichen Art war ans Fenster getrippelt, um nur ja nichts von den kostbaren Tönen zu versäumen — »na aber so was!« kicherte sie wie in kindlicher Freude, und bei den nächsten Schüssen schlug sie die Händchen zusammen vor Entzücken.
»Prinzeß Wilhelm, das ist eine Natur! alle Wetter! (sie scheute sich nicht, ihre innere Kraftart durch ein gelegentliches kleines Flüchlein zu beweisen). Und schon das dritte! Natürlich wieder ein Junge! — die Schüsse klingen schon so, als ob es ein Prinz wäre.«
Jetzt erschien auch Papa in der Thüre. Nur ganz kurz: »N’tag, Emmy, wie geht’s dir?« Und dann gleich losfahrend in seinem auftrumpfenden Enthusiasmus: »Was sagt ihr nun? Nummer drei! Das ist ja wundervoll! — das ist ja geradezu verblüffend! — bumm!«
Darauf eine Pause, während der die drei Alten mit Blicken und Nicken und Ausrufen und signalmäßigen Bewegungen ihr Entzücken austauschten. O ich konnte mir die Scene genau vorstellen, es bedurfte nur Emmys Andeutungen! Hatte sie nicht dort vor ihnen gesessen wie eine eines Verbrechens Angeklagte? Am liebsten wäre sie dem schrecklichen Kanonendonner und den noch schrecklicheren Bemerkungen entflohen, aber ihr Urteil mußte ja doch erst deutlich gesprochen werden!
[S. 156]
»Na freust du dich denn nicht auch, Emmy?« fing Mama an.
Gleich nachdem Papa: »Wir werden ja nun wohl verzichten, nicht wahr? — Das Beispiel da zieht eben nicht — na ich weiß, du kannst ja nicht dafür, aber ....«
Was denn »aber«? Nun sie verlangten ja wohl, daß sich das arme Frauchen auch duckte wie eine Verbrecherin — man mochte ihr nicht verzeihen, daß sie ihren Sinn trotzdem stolz und hoch aufrecht hielt, wie es ihrer prächtigen Art entsprach.
Tante Eckberte aber gab den Trumpf: »Ich werde also meinen Namen unbenutzt mit ins Grab nehmen — niemand ist da, der ihn haben will! Wenn mir doch wenigstens der Gefallen geschähe — aber so!«
Dann mit einem listig-anzüglichen Blinzeln ihrer klugen Äuglein, zu Papa gewandt: »Du, Franz, ich habe mich also entschlossen, daß nach meinem Tode der Lützowplatz endlich geräumt wird — ich werde in meinem Testament dafür sorgen.«
Ich kann mir die Wirkung auf meinen Vater und meine Mutter denken. Wie sie in sich zusammensanken vor Schreck und sprachlos das unsichtbare Wort »Testament« anstierten. Tante Eckberte’s Testament — ein Popanz, der von Zeit zu Zeit in unserer Familie auftauchte, um allerlei Verstörungen darin anzurichten. Die [S. 157] schrullenhafte alte Dame gefiel sich darin, da sie diese Wirkung kannte, das Schreckmittel bei angemessenen Gelegenheiten spielen zu lassen. Es gab allerlei Stiftungen und Verwendungsarten, auf die das ominöse Testament hinzielte — »mein Geld will von euch ja keiner! — ja wenn Kurtens (das waren wir) Nachkommen hätten, da braucht’ ich mir nicht meinen alten Kopf zu zerplagen — aber so!«
Diesmal war es also der Lützowplatz. Man kennt diesen Schandfleck Berlins, ein herrlicher, zu einem eleganten Schmuckplatz mitten im vornehmen Westen wie geschaffener Raum, den aber das Besitzrecht eines Finanzkonsortiums in einer allem Geschmack hohnsprechenden Weise ausnutzt, indem es ihn an Kohlenhandlungen vermietet und allerlei hökerhafte Wirtschaften dort duldet. Tante Eckberte war eine Anwohnerin dieses Platzes; gewiß wäre ihr Andenken ein gesegnetes gewesen im ganzen Westen, ja in ganz Berlin, wenn sie dem unausstehlichen Zustand ein Ende gemacht — freilich auf Kosten von uns andern Erbberechtigten.
Es war zu viel! Die Luft war so überladen mit Anzüglichkeitsstoff, und der Schall des Kanonendonners schien die feindliche Stimmung zu vermehren — noch ein paar ähnlich spitzige Bemerkungen, dann fand es Emmy für geratener, das Feld zu räumen. Sie that es mit einem bösen, häßlichen, nicht ganz pietätvollen Wort, das [S. 158] ihnen die unerhörte Grausamkeit vorwarf. Hier erst, im eignen Hause, brach der ganze Jammer los: — ist sie nicht das unglücklichste Weib auf der Welt? Sie will nie wieder das Haus meiner Eltern betreten! Sie hat nun genug all der Kränkung! Und erneutes Weinen und Schluchzen. Vergeblich suchte ich sie zu beschwichtigen: ich wollte mit Papa und Mama ein ernstliches Wort reden — es ist nur die Schrulle! — sie können doch nicht im Ernst ihr und mir ein Verbrechen anrechnen!
»Thun sie aber, Kurt!« schluchzte Emmy. »Es kommt noch viel schlimmer! Sie werden mich ganz verdrängen! Sie werden nicht ruhen, bis ich abgereist bin! Ich bin ja nichts — ich bin keinen Kanonenschuß wert — laß mich — ich will fort — ganz fort von hier — es soll mich niemand wiedersehen!«
Ein Anfall, den ihr meisten von uns Ehemännern wohl kennen möget. Doch kein noch so wohlgemeintes Hohnlachen und keine Zärtlichkeit half dagegen.
Hatte sie mich nicht in dies Verbrechertum gestürzt? Nein, sie wollte nicht schuld sein, daß ich selbst den Herzen der Meinen entfremdet würde! Wenn es so weiter ginge, so liefe ich noch Gefahr, enterbt zu werden, und andere schlimme Dinge.
Ich schlug unsanft genug mit der Hand auf den Tisch, daß die Gegenstände darauf hüpften: »Einerlei, [S. 159] mag kommen, was will — ich geh’ hin! — ich will mich aussprechen! — ich will doch sehn, ob ich dieser Lächerlichkeit nicht Herr werde!«
Eine Stunde darauf befand ich mich im feindlichen Lager, das in großer Erregung war. Emmy hätte sie, die alten Leute, beleidigt.
»Sie wird Abbitte thun deswegen!« fuhr ich heraus — »aber man wird sie nicht ferner quälen! — und mich nicht!«
Wo und wann hätte jemand irgend eine Anspielung gemacht? Ist jemand schuld daran, wenn sich alljährlich Kanonen aufpflanzen, um Prinz Wilhelm einen neuen Jungen anzuschießen? Nie und nirgends wäre auch nur die Spur eines Vorwurfes gefallen — Emmy’s und mein argwöhnischer Sinn sähen Gespenster. Ja, fühlten wir uns denn schuldig? »Enttäuscht sind wir alle ein wenig — aber daran gewöhnt man sich — nicht wahr, Eckbertchen?«
»I, was werdet Ihr Euch echauffieren — deswegen!« meinte Tante listig — »ich kann den Lützowplatz ja immer schon als Kinderspielplatz einrichten lassen inzwischen ....«
Das »inzwischen« brachte uns alle zum Lachen. Sie also hielt an der Hoffnung fest, die gute, brave Polterin — mit dem Lützowplatz war es also nur ein Scherz gewesen! Sie wehrte sich gegen diese Auffassung, aber [S. 160] der Friede war gemacht. Wir wollten uns künftig nicht mehr das Leben verbittern, es sollte keine Anspielung fallen »inzwischen« — nicht einmal, wenn Prinz Wilhelm im nächsten Jahr abermals schießen lassen würde.
»Was unfehlbar eintreffen wird!« rief der unverbesserliche Papa. —
Was aber nicht eintraf, nicht in diesem und nicht im nächstfolgenden Jahre, wie ihr alle wißt. Aber auch die Hoffnung, die von uns wie von der gegnerischen Seite in Tante Eckberte’s bedeutungsvolles »inzwischen« gesetzt worden war, ging ebensowenig in Erfüllung. Weiter warteten wir vergeblich, daß sich das Rauschen von Storchflügeln über unserm Dache vernehmen ließe. Und eine stille Resignation bemächtigte sich unser: sollten wir deshalb mit Harm in die Zukunft schauen, oder uns gar unsere kostbare Liebe gefährden lassen?
Das Verhältnis zu unsern Eltern hatte sich nach jenem Gewitter am Geburtstag Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Adalbert leidlich freundlich gestaltet. Wenigstens im äußeren Verkehr. Eine rührende und thränenreiche Scene schien den unheimlichen Bann gebrochen zu haben, und das Schwiegertöchterchen war zu Gnaden und Frieden aufgenommen worden. War es nicht besser, daß wir gemeinsam an unserer aller großer Enttäuschung trugen und uns gelegentlich in offenen Worten darüber ausließen?
[S. 161]
Doch alles das nur ein Waffenstillstand! Von Potsdam her, wo Prinz Wilhelms junges Familienglück eingenistet war, zog ein neues Gewitter gegen uns herauf. Schon im Sommer des Jahres 1886, bei der ersten interessanten Nachricht, die vom Marmorpalais her ins Publikum drang, glaubten wir die Luft vom Kanonendonner erzitternd. O wir hatten uns wohl, auf die längere Pause vertrauend, zu vorzeitig in unsern Frieden gewiegt! Nun brach die alte Unseligkeit von neuem los.
Nicht, daß im gegnerischen Lager auch nur eine Andeutung gefallen wäre, die uns allarmiert hätte. O nein — vollkommenes Schweigen von jetzt ab, eine Art Abkommen, daß von der neuen Prinzenhoffnung kein Spürchen erwähnt werde. Das aber gerade war’s! Gerade in diesem Schweigen ließ sich der gespenstische Kanonendonner um so deutlicher und unheilvoller vernehmen. Er würde gegen den Winter hin immer lauter heraufschwellen — um Ruhe und Gemütlichkeit dieser Saison wäre es geschehen! Wir ahnten, wir wußten, daß eine neue Katastrophe bevorstände. Papa würde nicht an sich halten, und die altjüngferliche Schadenfreude der alten Tante Eckberte, die mit listigem Äugleinzwinkern das Thema an seiner empfindlichsten Stelle anfassen würde! Welch neue Qualen standen uns bevor!
Nervös — nun ja, wir schwelgten beide förmlich in [S. 162] dieser Modekrankheit, und sie verbitterte uns unser schönes, stilles, heiteres Eheglück. Zum Teufel! wegen einiger Dutzend Kanonenschüsse, die in vielen Wochen vom Lustgarten heraufdonnern sollten ... Wir waren närrisch! ach, wir waren damals durchaus keine Helden!
Und diesmal mitten im Winter! Im Sommer hätte man dem Geknall entfliehen können und der unausbleiblichen Katastrophe im Elternhaus. Wir hätten uns durch Berge und Wälder dagegen schützen können; nun aber galt es auszuharren und die Narretei nicht gar zu weit zu treiben.
Ach, auszuharren! Zufällig fiel meine offenbare und vom Arzt beglaubigte Nervosität mit einer gewissen Krisis zusammen, die über unserm Geschäftsverkehre wetterleuchtete. Papa und ich, wir vermochten uns diesmal nicht wie sonst immer über die einzuschlagenden Maßnahmen zu einigen. Diesmal war er es, der gewisse kostspielige Neuerungen vertrat, während ich in hartnäckigem Eigensinn meine Hand zu solchen Extravaganzen, wie ich es nannte, nicht bieten wollte. Da gab es Streit und Widerstreit und heftige Erörterungen von einer Seite unseres gemeinsamen Doppelpultes zur anderen. Und über all dem Zwiespalt das unheimliche Kanonendonnern, das näher und näher rückte.
Zuletzt eine Explosion! Aus einem mißstimmigen Schweigen platzte Papa eines Morgens plötzlich hervor: [S. 163] »Ich weiß wirklich nicht, Söhnchen, für wen du, gerade du sparen willst —« (das »du« doppelt und dreifach unterstrichen!) und einen gewissen zwinkernden Seitenblick des mit kurzen, grauen, borstigen Härchen bedeckten Kopfes nach mir hinüber; ein gewisses spöttisches Zucken um die bartlosen, aber stets glänzend glatt rasierten Lippen, dazu das dreifach unterstrichene »du!« Es brachte mich außer mir, und innerlich schnellte etwas in mir auf.
»Das brauchst du mir nicht gerade heute vorzuhalten, Papa —« drückte ich mit einer Anstrengung, ruhig zu bleiben, mühsam genug hervor. »Ich dächte, das hätte noch Zeit bis zum Januar —«
»Wieso Januar — was meinst du damit?«
O, er verstand durchaus nicht! Er hatte ja beileibe keine Anspielung »darauf« gemacht!
»Na, zum Januar ist das Schießen wieder fällig, da kann es ja von neuem über uns losgehen, über mich und meine Frau —«
»Höre Kurt, du bist krank, du siehst Gespenster — das verbitte ich mir, daß du unser Gerechtigkeitsgefühl antastest! Ist die ganze Zeit über auch nur ein Wort gefallen — darüber?«
»Allerdings nicht — kein Wort! Aber eure Mienen — euer Schweigen! Meinst du, wir wären blind und taub?«
»Na, nun soll doch gleich —« und mein Vater schlug [S. 164] mit aufbrausendem Erstaunen auf einen Pack Papiere, daß es einen klatschenden Lärm gab.
»Hör’ mal, du bist krank, du bist — du bist —« und das richtige, dazu passende Wort abwehrend, fuchtelte seine flache Hand in der Luft.
»Na, sag’ es nur gleich heraus, was du meinst, Vater. Gewiß bin ich im Begriff — das zu werden! Und wer ist daran schuld? — Ihr! Ihr! — Ihr!«
»Da soll aber doch gleich —« der Alte sprang von seinem Drehschemel, kletterte mit hilflosen Gebärden wieder darauf, schlang seine Beine um das Schemelbein und schnappte nach Luft — »wir sollen schuld daran sein, wa—a—as?«
Und ein Staccato von heisern, kichernden Lachtönen.
»Nächstens könnt Ihr es uns ja wieder auftrumpfen,« zischelte ich — »nächstens läßt Prinz Wilhelm ja wieder schießen —«
»Und wir werden uns von Herzen darüber freuen! Das ist gute Preußenpflicht! Am Ende gar ist Sr. Königliche Hoheit Prinz Wilhelm schuld daran — die Geschichte wird immer besser! — hör’ mal, wenn du solche Angst vor dem Freudenschießen hast, so mach’ dich doch davon! Eine kleine Luftveränderung würde deinen Nerven gut thun.«
»Thu’ ich auch! Wird sie auch!« rief ich in sprühender Erregtheit, und mit einem lautschallenden Puff schlug [S. 165] ich das große Buch vor mir zu; von dem Winde wirbelten einige lose Blätter in der Stube umher.
»Deine Neuerungen mach’ ich ohnedies nicht mit, Vater! Such’ dir einen andern Beirat!«
Noch ein paar aufprallende Redensarten hin und her. Und ein scharfes, spitziges Wort, mein armes Weib betreffend, eine Grausamkeit, die ich Papa nie und nie zugetraut — dann war es genug! Ich verließ das Pult und die Stube, um für lange Zeit, vielleicht für immer, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Alle Vermittelungsversuche von Mama und Tante scheiterten an meinem harten Sinn. »Luftveränderung — nun gut — Ihr sollt sie haben — wir reisen also!«
Übrigens hatten wir ja darin eine Unterstützung durch den Arzt, der längst schon einen, wenn auch nur kurzen Ortswechsel für »unsere Nervosität« in Vorschlag gebracht. Auf also und fort! — glaubt ihr wohl, daß ich närrisch genug war damals, mich wie ein Kind zu freuen, weil ich auf irgend eine Weise von dem Kanonendonner des neuen Prinzen erlöst sein sollte?
Und wir flohen, weit, recht weit, bis jenseits des Meeres, bis an den Rand der Wüste — mochten sie nun donnern, soviel sie wollten am Lustgarten, wir waren in Sicherheit!
Dennoch sollten wir auch in solcher Ferne nicht ganz verschont bleiben. Die unseligen Telegraphen und ihre [S. 166] meerdurchspannenden Kabel! Es war am Abend des 29. Januar 1887; wir waren gerade von einem Ausflug nach den Pyramiden zu unserm vorzüglichen Hotel Shepherd in Kairo zurückgekehrt, als das bedeutungsvolle Telegramm mitten in die Table d’hôte einschlug. Natürlich ein Anlaß für feierfrohe Deutsche, die Sektgläser schäumen zu lassen! Welch eine Ironie: wir, die wir mitten darunter saßen und uns nicht auszuschließen vermochten und gezwungen waren, mit unsern Gläsern einzustimmen in den patriotischen Jubel: — »Hoch der neue Prinz!« Und welch eine schalkige Stimmung: »Hurrah, die Nummer 4! Hurrah das drittel Dutzend junger Hohenzollern!«
Am Spätabend jedoch, nachdem wir wider Willen mitgelacht und mitgejubelt in der mutwillig heiteren Gesellschaft, gab es im Hotel Shepherd auf einem gewissen Zimmer eine seltsam stumme Rührungsscene zwischen zwei gewissen Ehegatten. Kein Wort über die Nummer 4 — keinerlei Anspielung, nur ein langes, lautloses Umarmen: schämten sie sich nicht ein wenig die beiden Leutchen, ob ihres Kleinmutes, ihrer Narretei, ob ihrer lächerlichen Flucht ...
Wie mochten wohl unsere Alten da oben in Berlin das Ereignis verbracht haben? Der Gedanke daran fiel mir schwer aufs Herz. War es nicht das einfachste, den Groll und Zwist hier im Wüstensande zu begraben und [S. 167] die Rückreise anzutreten? — Damit uns binnen Jahresfrist der Kanonendonner von Numero 5 aufs neue davonjagte ....
Nein, meine Nerven waren noch lange nicht wieder in Ordnung! Und mein Starrsinn nahm also die Gelegenheit wahr, eine sehr günstige Stellung, die sich mir bei einer großen Handelsgesellschaft in Alexandrien bot, nicht auszuschlagen. Wer weiß, was sich vielleicht in Jahr und Tag geändert haben würde!
Freilich gab es gewaltige Änderungen droben in der Heimat. Über dem Hohenzollernhause zog sich das verhängnisvolle Wolkendunkel zusammen; in banger Erwartung, zwischen Furcht und Hoffnung, lauschten die Herzen aller Deutschen nach San Remo hinüber, wo sich die grausam bittere Tragödie des edlen fürstlichen Dulders abspielte. Wer dachte an eignes oder eigengemachtes Leid vor solchem, ganz Deutschland bewegenden Schmerz?
Dann senkten sich die Fahnen Europas, ja der ganzen zivilisierten Welt, über dem Grabe des greisen Heldenkaisers. Dann setzte sich Kaiser Friedrich die Dornenkrone aufs Haupt, und Tropfen für Tropfen sahen wir das Blut rinnen über das blasse Märtyrerantlitz, bis die grausam bittere Tragödie ihren Abschluß fand in der stillen, grünumschatteten Friedenskirche zu Potsdam.
Heil Wilhelms II. jungstrotzender Kaiserkraft! Hei, [S. 168] wie sie sich in den Sattel schwang! Wie sie alle, auch die Widerspenstischsten in ihren Bann zwang, nach neuen wetterumleuchteten Zielen aufwärts!
Und hinweg mit dem pietätlos lächerlichen Groll, der mich Kinderlosen gegen das üppig sprossende Hohenzollernglück geplagt! Vier Buben, ei und das Sprossen am alten Königsstamme will noch lange kein Ende nehmen. — giebt es nicht zum Juli abermals ein neues Prinzenschießen?
Wie wäre es, wenn wir der egyptischen Komödie ein Ende machten und unserm Heimweh nachgäben und alles zum Alten kehrten? Nur die Nervosität vor dem Kanonendonner, die wollten wir im Wüstensande begraben.
Noch gab es ein Schwanken, als eines Tages ein abermaliges langes und stilles Umarmen stattfand zwischen zwei gewissen Leutchen. Nicht ganz stumm: — ein paar zögernd hingehauchte, bebend schämige Worte von den Lippen des jungen Weibes, das seine glühende Stirn an dem bärtigen Halse des Gatten barg ...
»Was?! — Nicht möglich! — Wirklich!? Ach, du Liebe, Liebe, Einzige!« Und ich in der Stube wie närrisch umherjubeln, und mich nicht mehr lassen können vor unbändiger Freude — wißt ihr, es ging nun ins siebente Jahr, daß wir vergeblich — »darauf« geharrt!
Es war am Mittag des 27. Juli, als ich, von der [S. 169] Anhalter Bahn kommend, mit meiner Droschke die Friedrichsstraße entlang fuhr; hatte ich es doch recht eilig gehabt mit meiner Heimfahrt. Plötzlich, im lärmenden Geräusch, hallte ein dumpfdröhnender Ton von fernher. Die Leute auf dem Trottoir hielten an und horchten — Fenster öffneten sich, über die Gesichter flog jener fröhliche Sonnenschein. Mein Kutscher wandte sich langsam herum, wies mit der Peitsche nach der Gegend des Kanonenhalles und meinte phlegmatisch wie sein Vorgänger damals: — »Wird wohl Numero fünfe sind!«
»Fahren Sie so fix als möglich!« rief ich dem Manne erregt zu. Als wenn sie zu schnell hintereinander knallen könnten und ich die Schwelle des Elternhauses nicht erreichte, ehe das Schießen zu Ende; — aber es würden wohl 101 Schüsse werden!
Unter dem Donner eines seltsam lauten Kanonenschusses stürmte ich in unsere Kontorstube. Wie verstört erhob sich meines Vaters Antlitz aus den stützenden Händen, und seine blinzelnden Augen starrten mich an wie eine Erscheinung.
»Papa — t’ag Papa! Ich bin’s! Ja, und mit was für einer Botschaft!«
Wir lagen uns schluchzend in den Armen — bis wieder ein Donner dazwischen fuhr. Ich riß mich los:
[S. 170]
»Siehst du, Papa, deswegen bin ich gekommen! Ich habe mich geeilt genug! — Herrjeh, was bin ich gefahren! Ich wollte nicht, daß du das Schießen ohne mich anhörtest. Bumm! Auch für mich und für uns alle! So Gott will, schenken wir euch im nächsten Jahr auch einen Prinzen. Und nun verzeih’ mir alles Böse — all das Hohenzollernglück war schuld daran ...«
Abermaliges Umarmen, und das Gedonner von »Numero fünf«, das unsere rührenden Auseinandersetzungen begleitete. —
Im Herbst desselben Jahres schlenderte ich eines Abends mit meinem Weibe durch die Leipzigerstraße. Vor einem bekannten Bilderladen staute sich eine gaffende Menge; Rufe des Entzückens aus Frauenmund, und ein Herr rief ein kräftiges »famos!«
Wir drängten uns heran und, zwischen den Schultern der Gaffenden hindurch, gewahrten wir endlich den Gegenstand der entzückten Neugierde. Es war eine Photographie in Kabinettsformat, von dem grellen, hellgelben Gaslichte scharf beleuchtet, jenes seitdem so volkstümliche Gruppenbild, das die hohe Frau und Mutter mit ihren fünf kaiserlichen Knaben darstellt.
»Des Kaisers Fünf — —« stammelte ich, und mein Weib schmiegte ihren Arm inniger und fester in den meinen.
Ich weiß nicht, ob es auch ihr so geschah? — als [S. 171] wir uns endlich von dem Anblick des wunderhaften Bildes losgerissen und nun auf dem Trottoir weiterschritten, war vor meinen Augen ein so seltsames Flimmern und Schwanken — die Menschen, der Schein der Läden, die Laternen, alles in einer feuchten Unsicherheit verschwimmend ....
[S. 173]
[S. 175]
»Nein —« kam es über ihre Lippen, nur ein flüsternder Hauch.
Sie meinte das Wort laut hallen zu hören durch die Weite des Salons, und nun harrte sie, was darauf folgen würde, innerlich erbebend, während ihr Antlitz starr, ohne eine Spur der Erregung, auf die Flackerglut des Kaminfeuers gerichtet blieb.
Aber das prasselnde Getös dieses Feuers, von den durch den Schlot herabfauchenden Windstößen erregt, hatte das Wort verschlungen; im wütenden Ungestüm prallte der Sturm gegen die breiten Scheibenflächen des Erkervorbaues; irgendwo an der Außenseite girrte etwas Losgerissenes; auf dem Korridor schlug eine Thür donnernd ins Schloß: wie sich für uns mauervergrabene Städter der Frühling anzukündigen pflegt.
»Nein —« Der Mann, der den Raum in der Länge mit seinen wuchtig aufsetzenden Schritten maß, hatte das Wort nicht vernommen, so sehr der dicke Smyrna die Tritte dämpfte. Aber er wußte, daß es kommen würde, [S. 176] er fürchtete: — bedeutete es nicht wie einen Axthieb, der das Glück ihres Kindes jäh daniederschlagen würde? Denn gegen dieses »Nein,« gerade gegen dieses, gäbe es keinen Widerstand.
Er war ein Fünfziger, von straff aufrechter Haltung und bestimmt abgegrenzten Bewegungen; Gepräge und Ausdruck seines Gesichtes, der gepflegte und energische dunkelgraue Schnurrbart bei sonstiger Wangenglätte, das eigenartig anliegende und uniformsmäßig Zugeknöpfte seines Anzugs konnten auf den Militär schließen lassen; doch diese Augen schienen in dem Lampenschein nächtlicher Aktenarbeit erbleicht, es fehlte ihnen der falkenartige, scharf zufassende Blick, wie ihn beim Soldaten der stete Umgang mit vielen Menschen und die Notwendigkeit schnellen Entschlusses auszubilden pflegen.
Jedesmal, wenn der Wirkliche Geheime und Vortragende Rat von Wussow von dem Erker aus nach dem Kamin zuschritt, aus der wechselnden Tageshelle des stürmischen Aprilnachmittags nach dem durch die roten Huschlichter phantastisch erleuchteten Hintergrund, wobei er gewisse Umwege um einzelne der vielen in dem Raum verteilten Sessel machen mußte, ruhte sein sorgenvoll erwartender Blick auf der Gestalt seines Weibes. Es war wie ein erbarmendes Umhüllen: — oh, er hätte ihr das wohl ersparen mögen! Er wußte, was ihr Mutterherz litt und kämpfte in dieser Stunde. Er verstand [S. 177] das »nein,« das sich immer wieder bis zu ihren Lippen rang, um von neuem unterdrückt zu werden.
Es war die Rasse, die Herkunft, die Leidenschaft, der verhängnisvolle Drang der Umstände, die ihr die Weigerung auspreßten. Vergebens wehrte sich die andre Macht, die Mutterliebe, dagegen. Oh, wohl hätte er ihr den Auskampf dieses Zwiespalts ersparen mögen ... sie, die geborene Französin, die ihrem Gatten, dem Deutschen, dem von ihrer Nation heiß gehaßten Preußen, in die Ehe gefolgt war, sich selbst verbannend aus ihrem Vaterlande, von den Ihren mit dem Fluch völligen Schweigens belastet, zwanzig Jahre hindurch — sie also sollte ihr Jawort geben, daß ihre Tochter einen preußischen Offizier heiratete! Das war zuviel! Dagegen bäumte sich ihr Franzosenstolz. Nimmermehr! — Vieles hatte sie erduldet, manche geheime Demütigung um des geliebten Mannes willen. Aber ihr eignes Kind, das Blut ihres Blutes, an einen »prussien« in Uniform auszuliefern, die Wiederholung ihres eignen Verbrechens — nein, das nicht!
Sie saß auf einem Sessel vor der Mitte des Kamins, ihre Füße, die in ausgeschnittenen Lackschuhen staken, auf das vergoldete Bronzegitter gestemmt, die Arme flach über die Kniee gestreckt, mit gefalteten Händen; es war mehr als ein Falten, ein konvulsivisches Ineinanderklammern der länglichen Finger, der Ausdruck ihres[S. 178] innern Kampfes, ja wie ein Beschwören: man möchte Erbarmen mit ihr haben und ihr das verhängnisvolle »Nein« ersparen. Aber der Oberkörper ohne Anlehnung, hoch aufrecht, in seiner schlank-stolzen Haltung, die ihr zu eigen war, den Kopf unmerklich zur Seite geneigt, eine leichte und graziös erscheinende Milderung jener etwas an das Unnahbare gemahnenden Haltung. Die Glut flackerte über ihr Antlitz und belebte seine starre Verlorenheit. Es war ein feines Oval mit etwas nervös ausgeprägten Zügen, von einem großen Augenpaar beherrscht; graubraune Pupillen, jetzt unruhig erglänzend von der Erregung, wie von dem Wiederschein des Flammenspiels, im Schatten der langen, dichten, aufgebogenen Wimpern; die Lippen, ohnedies schmal und von energischer Zeichnung, fest eingepreßt, mit leicht herabgezogenen Winkeln, wo der Hauch eines für Rassefranzösinnen unerläßlichen Flaums angedeutet war. Ihr mattes, glanzloses Haar war in einem kunstlosen Knoten am Hinterkopf aufgeschlungen, mit einer reizvollen Schwere auf den Nacken herablastend; die in Scheitel geteilten Stirnbanden zeigten einzelne graue Fäden, den Tribut an ihre ungeleugneten Vierzig.
Jetzt blieb der Schreitende in der Mitte des Raumes halten und sagte in sanftgedämpftem Tone: »Du sollst dich frei entschließen, Leonie — deinem Herzen soll keine Gewalt angethan werden —«
[S. 179]
Es geschah auf französisch, wie die Gatten oft, besonders in der Intimität häuslicher Sorgen, in dieser Sprache zu verkehren pflegten. Diesmal mochte deren Anwendung überdies noch eine Konzession an die Französin bedeuten: — würde das Opfer, das man von ihr verlangte, in rauhe, deutsche Barbarenworte gefaßt (Leonies scherzhafte Bezeichnung) nicht um so brutaler erscheinen?
Keine Antwort vom Kamin her; nur das wie zornig aufgeregte Prasselgetös der Flammen. Und er fuhr fort, die Stimme zu noch größerer Schonung zwingend: »Ich möchte nur in aller Ruhe rekapitulieren. Du sollst dich entscheiden, wann du willst, wie du willst — wir werden dir nicht grollen — wir begreifen — auch Mariot wird verstehen, wenn auch nicht gleich — sie wird deine Gegengründe langsam, allmählich fassen lernen, obgleich es schwer sein mag für ihr blutjunges Herz —«
Er meinte ein Stöhnen vom Kamin her zu vernehmen — wohl auch nur eine Wirkung der Flammen, als wenn menschliche Stimmen jammerten; hie und da gab es in dem jungen Holz plötzliche Explosionen, wie das Aufpuffen von Schüssen. Sie saß immer noch regungslos, in das Geloder starrend, nicht ein Wimperschlag; das, was lebte in ihrem Antlitz, war das Lichter- und Schattenspiel des Feuers. Vielleicht hörte sie nicht einmal?
[S. 180]
»Léonie — ma chérie —«
Er trat an ihren Sessel heran, die Hand auf die Rückenlehne stützend. Eine plötzliche Dunkelheit verfinsterte den Raum, wohl eine mit Schloßen überladene Wolke, die aus Südwest herangejagt war, eine gewitterartig unheimliche Stimmung verbreitend; die Scheine und Lichter des Feuers zuckten und züngelten jetzt über die ganze Zimmerweite hin, die Kanten der Bilder und Möbel anfachend, und die vielen eleganten Sächelchen und Japonerien, welche die Liebhaberei der Französin auf allen Tischen und Konsolen angehäuft, mit glitzernden und funkelnden Reflexen belebend, bis in das kleine originelle Bibelot-Museum des Erkers hinein.
»Machst du mir einen Vorwurf, daß ich ihm überhaupt unser Haus öffnete?« begann er von neuem, »dem Sohn eines alten, liebwerten Kollegen, in dessen Elternhaus in Königsberg ich so viel Liebes genossen. Hätten wir bei unsrer weitreichenden Gastlichkeit ihm unsre Thür verschließen sollen? Gerade ihm — seiner Uniform, da wir andre bunte Röcke genug an unserm Tische sehen: — eine Berliner Geselligkeit ohne zweierlei Tuch, ich bitte dich! Du hattest dich daran gewöhnt, du warst und bist meine tapfre Leonie! Aber gerade ihn auszuschließen, der unter all der schneidigen Buntheit die Elite vorstellt, einen Generalstäbler in seinen Jahren! — Das verstehst du nicht so, aber ich versichere dich, er [S. 181] hat die glänzendste Zukunft, er wird Karriere machen — die alten Tüchtigen treten ab, den jungen Tüchtigen gehört die Bahn —«
»Ich achte ihn, ich ahne und schätze seine Tüchtigkeit —« erwiderte sie zögernd, mit ihrer vom geheimen Weh verschleierten Stimme, ohne den Kopf nach ihrem Gatten aufzuwenden, die Augen wie fasziniert von der Flammenhelle. »Ich habe ihn lieb, er ist mir so sympathisch wie irgend jemand von ihnen allen — ich — ich —«
Sie schüttelte die zusammengefalteten Hände, die sie nicht gelöst hatte, gegen das Feuer hin, daß die Ringe aufblitzten. »Ah!« entfuhr es ihr laut und ächzend, wie in einer Verzweiflung.
»Quäle dich nicht —« beruhigte er. »Ich versichere dich nochmals, wir verstehen! Alle begreifen wir es; niemand, der dir deinen Widerstand als Verbrechen anrechnet, niemand! — Mariot freilich — nein, aber auch sie, auch sie nicht!«
»Mein armes, armes Kind —« flüsterte sie dumpf. »Jetzt soll sie für das Verbrechen ihrer noch ärmeren Mama büßen — O Gott!«
»Wir wollen es nicht so tragisch nehmen. Das bischen Uniform — sollten wir nicht darüber hinwegkommen? Oder hast du dich verschworen, (er wollte es mit einem leichten Scherzton versuchen) sie, unsre Einzige, [S. 182] nur an einen Spanier, oder an einen Brasilianer, etwas, das möglichst wenig preußisch ist, wegzugeben, wenn dich das Preußentuch so empört —«
»Ich kann nicht! — ich darf nicht! — ich bin es meinem alten Vater schuldig! — genug, daß seine Tochter das Verbrechen — pardon! — das Verbrechen begangen! — und nun seine Enkelin — das ist zuviel! — Ich, ich zähle nicht — aber die Meinen! Ich hoffe auf eine Versöhnung — seit zwanzig Jahren — seit jenem unseligen Frankfurter Frieden harre ich darauf — es hieße diese Hoffnung kurz abschneiden — für immer ...«
Sie hob die zusammengefalteten Hände gegen das Antlitz und bedeckte die Augen mit den geöffneten Flächen. Abermals entfuhr ihr ein quälender Ächzton.
Er fühlte, daß es grausam wäre, sie jetzt in dieser Stunde mit weiteren Argumenten zu bedrängen. Sie würde sich beruhigen. Dergleichen Krisen kannte er, und er achtete sie. Hätte sie leichtsinniger und banaler das Los ihrer Verbannung tragen sollen, da sie sich doch aus freiem Entschluß in solche begeben? Hätte sie den dünnen Hoffnungsfaden, der sie an die Ihrigen und an ihr Vaterland band, mit einem trotzig herausfordernden Ruck zerreißen sollen? Achtung vor ihrer starken Heimatliebe, der wir Deutschen doch nacheifern sollten! Pietät vor dem bittern Kampf, den ihr Herz auszufechten im [S. 183] Begriff ist! — Übrigens, keine drohende Lebensfrage, die Liebe einer achtzehnjährigen Geheimratstochter zu einem jungen und stattlichen Hauptmann! — und er lieh diesem Troste sogar offenen Ausdruck in Form einer Selbstanklage:
»Wir hätten es freilich nicht so weit kommen lassen sollen. Wir waren blind. Ich sage wir — was sehen wir Väter zumal? Aber du, Leonie! Sahst du denn nicht? Musik ist stets gefährlich; auf solchem vierhändigen Tönespiel vergaukeln sich die Herzen. — Du hast überhaupt wohl nicht mit einem deutschen Mädchenherzen gerechnet? Bei euch giebt es keine sogenannte Mädchenliebe, nach euern Romançiers zu urteilen, ich weiß nicht. Du warst eine hochromantische Ausnahme. Sie ist eben die Tochter ihrer Mutter, sie hat von dir das französische Temperament. — Sie thut mir leid, er ebenso — sie lieben sich, diese leichtsinnigen Herrschaften? Es ist mehr als ein gesellschaftlicher Flirt. Daß ich so blind war, daß du mich nicht warntest! — Welch eine Überrumpelung, als Herr von Werthern sich vor einer Stunde bei mir anmelden ließ und in seiner famosen Art, die stets weiß, was sie will, um Mariots Hand bat! Keine Spur einer Besorgnis, daß er auf eine Weigerung stoßen könnte — die Siegesgewißheit seines militärischen Erfolges! Die beiden Leutchen sind eben einig —«
»Oh!« fuhr sie mit einem leisen Ton der Entrüstung auf.
[S. 184]
»Bei euch in Frankreich, Léonie, gilt dergleichen als eine Ungeheuerlichkeit. Sie werden sich gestern abend auf dem Balle ausgesprochen haben; er gestand es selber.«
»Laß mich mit ihm reden, Adolf! Laß mich! Ich werde ihm alles erklären. Er ist loyal. Er wird mich verstehen — er wird — er muß —«
»Und Mariot? — Du kannst versichert sein, daß sie unter Thränen erklären wird, nicht leben zu wollen, wenn wir nicht .... Nun, auch das wird sich geben! Aber sei darauf gefaßt, sie hat ganz das Temperament ihrer Mutter. Verschworst du dich nicht auch desgleichen, damals?«
Er schwieg und begann von neuem auf und ab zu schreiten, ihre Gestalt und jede ihrer Bewegungen belauernd. Jetzt öffnete sich die Wolkenschleuse, dichte Schloßenmassen schütteten hernieder und schlugen mit scharfem Trommelgetön gegen die Scheiben; die ganze Luft von einem gewaltigen Rauschen erfüllt. Es war fast Nacht; das Reich gehörte den Kaminflammen. Doch achteten sie beide nicht des Unwetters. Ihre Arme waren mit gelösten Händen herabgesunken, das sah fast aus wie Ergebung, doch ihr Kopf schien sich um so energischer aufgeregt zu haben, und die Augen starrten wieder ins Feuer, ohne einen Wimperschlag. Ein rotglühender Schein übergoß Gestalt und Gesicht, die Umrisse des Kopfes hoben sich, von der Fensterseite gesehen, scharfgezeichnet [S. 185] gegen die Helle ab, ein eigenartig effektvolles Bildnis — hatte er dergleichen nicht schon einmal gesehen? Oh, es lebte in seinem Gedächtnis wie eingebrannt, jenes andre, seltsam Gleiche! Ihre Gestalt wie heute, von dem grellen Flammenschein überloht, dieselbe stolze Haltung, dasselbe Starren der wundervoll großen Augen. Nur, daß jener Schein dem brodelnden Glutrachen einer Lokomotivesse entfachte und daß, statt der Geborgenheit vor den Schloßen da draußen, wirbelnder Schneesturm des Winters von Anno 70 sie umbrandete, während er mit ihr auf der Lokomotive durch die Nacht daherfuhr ....
Ein Stück wildpoetischer Romantik in dem gewaltigen, männermordenden Drama des deutsch-französischen Krieges. Es war in jenen letzten Novembertagen, da der Kampf um den Besitz von Orleans tobte, das wichtige, strategische Bollwerk, an dem der Glaube an die Befreiung Frankreichs zäh angeklammert haftete, auch noch nach den Niederlagen von Beaune la Rolande und Loigny, die dem Vormarsch der Loire-Armee unter Aurelle de Paladines ein energisches Halt geboten und die zähen Verzweiflungsschlachten um Orleans am 2. und 5. Dezember einleiteten. Es war am Abend des 30. November, als der damalige Reservelieutenant in einem holsteinischen Regiment, von Wussow, den Auftrag erhielt, wichtige und eilige Ordres von seiten seines [S. 186] Korpskommandos nach den Vorposten zu befördern; da die Telegraphenleitungen gekappt waren und nicht spielten, und ein Depeschenritt durch das unsichere, von feindlichen Rächerbanden bedrohte Land nicht ratsam schien, so wurde eine Lokomotive zur Beförderung gewählt. Die Rekognoszierung hatte zwar eine Fahrbarkeit der betreffenden von Eisenbahnabteilungen wiederhergestellten Linie ergeben, doch mußte man auch hier auf rächerische Tücken seitens der Bevölkerung gefaßt sein; die Fahrt war um so mehr nicht ungefährlich, als man sie ohne die Sicherung durch Telegraphen und bei völliger Löschung der Lichtsignale ausführen mußte. Im Begriffe, auf den Bahnhof von P. mit seiner kleinen Eskorte von Mannschaften das Plateau der Lokomotive zu besteigen, wurde Lieutenant von Wussow von einer dunkel vermummten Dame angesprochen, deren Wunsch, mitzufahren, zuerst in dem scharftönenden Auszischeln des Maschinendampfes nicht sofort verstanden wurde.
»Wieso? — Sie wünschen mitzufahren, mein Fräulein?« Und seine Überraschung drückte sich noch mehr in dem Blick seiner Augen aus, als in dem Ton der Worte: — welch ein Augenpaar! Der Pionier, der in seiner rußgeschwärzten Uniform als Heizer waltete, hatte gerade die Eisenthür des Feuerraums geöffnet, und der grelle Loderschein überflutete die Gestalt der Dame: — schlank, elegant, jung, ein blasses Gesichtsoval, von dem schwarzen [S. 187] spanischen Spitzenshawl umrahmt, und die Augen mit ihrem eigenartigen Mandelschnitt, die ihn aus ihren seltsam weiten Pupillentiefen in ihrer feindlich unnahbaren Kühle trafen; keine Spur einer freundlichen oder bittenden Regung in dem Antlitz, die ihr immerhin gewagtes Ansinnen unterstützt hätte, im Gegenteil, zwischen den Brauen standen zwei kurze, senkrechte Falten eingegraben, die sonst wohl fehlten, die deutliche Signatur des Preußenhasses.
»Mein Herr, ich bin keine Spionin —« kam es aus dem, wenn er nicht sprach, festgepreßten Mund; eine Stimme von dunklem, altartigem Ton, der unter freundlicheren Bedingungen etwas Herzbezauberndes haben mochte, für solche musikalisch Raffinierte, die sich durch den Sprechklang einer Stimme überhaupt bezaubern lassen können.
»Oh, ich zweifle nicht —« gab er zur Antwort; nicht ganz seine Überzeugung. »Aber, was kann Sie, mein Fräulein, zu diesem Wunsche veranlassen?«
»Eine Bagatelle für Sie, mein Herr, eine Wichtigkeit für mich, wenigstens für meinen Vater. Ich bin die Tochter des bekannten Schriftstellers S.« (wir wollen hier die persönlichen Dokumente hinter Buchstaben verstecken.)
»Ah —« entfuhr es ihm, als ob er den Namen kennte und gar verehrte, doch nichts als eine Anwandlung [S. 188] der Galanterie, von seiner kriegsmäßigen Abenteuerlaune angestachelt: eine junge, schöne, elegante Französin, tapfer und unerschrocken, da sie solches unternimmt ... was wird er sich weigern?
»Wir sind aus Paris geflüchtet, mein Herr, vor der Einschließung; doch gelang es uns nicht, bis zu unserm Besitz vorzudringen, da mein Vater hier in P. erkrankte. Es wäre uns sehr wichtig gewesen, diesen Besitz zu erreichen, um ihn zu beschützen. Mein Vater ist ein Sammler, Schloß La Mireille birgt die kostbarsten Kunst- und Bücherschätze, es ist berühmt deswegen. Wir glaubten es in diesen Tagen schon in Gefahr —«
»Sie können beruhigt sein, mein Fräulein, es wird kein preußisches Bajonett eines ihrer Bilder zerfetzen, wie es von uns Barbaren heißt, auch pflegen wir nicht mit kostbaren Inkunabeln einzuheizen —« fiel er ein, zur Wahrung seiner Preußenehre.
Und in der unwandelbaren Kühle erwiderte sie mit dem Gemeinplatz: »À la guerre, comme à la guerre! Wir möchten hindern, was zu hindern ist. Da mein Vater nicht transportfähig, meine Brüder bei der Nordarmee fechten, so habe ich es übernommen, unsre Kostbarkeiten zu schützen. Ich sah von unsrer Wohnung aus, wie man sich zu der Fahrt anschickte, und ich habe mich ohne Zaudern auf den Weg gemacht, wider Papas Willen. Gilt es doch, ihm Beruhigung zu verschaffen. [S. 189] Übrigens handelt es sich auch um die Bergung höchst wichtiger Familienpapiere.«
»Unsre Fahrt ist nicht ohne Gefahr, mein Fräulein —«
»Ich fürchte mich nicht! — niemand!« setzte sie hinzu, und diesmal vibrierten die beiden tiefen Fältchen zwischen den Brauen ein wenig.
Ein kurzes, stummes Examen, das sein Blick in ihren Mienen anstellte, dann die halbdrohende Frage: »Es verhält sich so, wie Sie sagen?«
»Monsieur!« kam es zur Antwort, es klang wie Stahlesklirren.
Auf dies Wort hin seinerseits eine Geste, die sie zum Aufsteigen aufforderte, mit dem abermaligen Versuch der Galanterie. »Eine I. Klasse kann ich Ihnen freilich nicht anbieten. Wir fahren gleich ab, bitte!«
Oben auf dem Plateau, zwischen Tender und Lokomotive wies er ihr einen Sitzplatz zwischen den Kohlen auf mitgenommenen Decken an, den sie ablehnte, indem sie sich in die eine Ecke des Schutzdaches schmiegte. Nachdem die bewaffnete Eskorte eingestiegen, gab er den Pionieren das Zeichen zur Abfahrt.
Anfangs ging die Fahrt mit einiger Geschwindigkeit. Dann als die letzten Lichter der Stadt in der Ferne verschwunden waren, begann die Maschine ihren Lauf zu verlangsamen, denn ringsum, vorwärts, rückwärts nichts als das schwarze Land, die schwarze Nacht des [S. 190] wolkenbedeckten Himmels, ein gleichsam schwarzes, unheilbrütendes, alles umhüllendes Schweigen, alle Signale gelöscht, die Wärterhäuser verlassen, nur der Schein des Feuers, der von Zeit zu Zeit, wenn die Esse geöffnet wurde, über Ackerfurchen und dürre Hecken, gefrorene Wassertümpel, einsame Wegestrecken und schlafende Häuser wie gespenstisch hinhuschte, die übrige Dunkelheit noch um so tiefer verdichtend. Nun begann es zu schneien, ein immer stärkeres Gewirbel, das hier, in der sausenden Fahrt, eine sturmartige Heftigkeit annahm, eine zweite Nacht, die mit ihrem fort und fort niederflatternden Schleier die andre verdeckte; selbst die Flocken nahmen außer dem Bereich der Feuerstreifen, wo sie roten Funken glichen, eine schwarze Färbung an.
Und vorwärts in die Nacht hinein, mit wechselndem Tempo; jetzt war es nur ein Schleichen, ein vorsichtiges Tasten, als wenn die Maschine irgend einen heimtückisch über das Geleise gelegten Stamm, oder eine Ausrenkung der Schienen witterte; ein paarmal, so an den Brücken, wurde gehalten und die Bahn rekognosziert. Dann aber, wie in neu gewonnener Sicherheit ging es in einem tollkühnen Gejage wieder los, als schämte man sich des Zagens; bis auch dieser Ansatz zur Eile wieder erlahmte und das fast schrittweise Vorwärtstasten wieder begann. Die Dunkelheit scheint wie ein körperlich zu überwindendes Hindernis; das langsame Vorwärtsdringen ist wie [S. 191] ein Anstemmen dagegen, und der fort und fort wirbelnde, tobende und in peitschenden Streifen anwehende Schnee macht die Illusion dieses Anstemmens fast zur Wirklichkeit.
Wie lange dauerte solche Fahrt? Ihn, den Lieutenant, dünkte sie viele Stunden lang. Und seltsam, wie er sich ihr Ende nicht einmal herbeiwünschte — wie er fort und fort so weiterzufahren wünschte — ein seltsam thörichtes Gelüste, denn sie, deren rätselhafter Bann ihn zu solchem geheimnisvollen Wunsche stachelte, hatte keinen Blick für ihn, für niemand von den Prüssiens, die in ziemlicher Enge den schmalen Raum besetzt hielten. Zweimal hatte er versucht, ein Wort an sie zu richten, eine Frage, ob sie nicht fröre, ob er ihr ein Glas Wein zur Stärkung anbieten dürfe. Nichts, kein Wort, nur ein kühl abweisendes Kopfbeugen. Sie schien unempfindlich gegen die Dunkelheit, gegen den Schnee, vor dem sie unter dem Schutzdach nur teilweise gedeckt war; auch gegen die eigenartige Gefahr — ja diese schien sie zu reizen, und ihm war es, wenn die Maschine zum neuen Vorrasen ausholte, als umspielte ein ganz unmerkliches Zucken der Befriedigung ihren schön geschnittenen Mund. Ihre Augen blieben unverwandt durch das runde Lugfenster nach außen gerichtet, in das unaufhörliche Gewirbel hinein.
Und so war er in ihren Anblick versunken, wie ihn [S. 192] dünkte, stundenlang; stand und sah und staunte und empfand eine seltsame, schmerzlich süße Freude, die Blicke an ihrer geheimnisvollen Schönheit zu weiden, seine Sinne an dem herben Hauch der Tapferkeit zu erquicken, der sie umwehte und ihr Wesen hinaushob über die gebrechliche Koketterie ihres Geschlechts. Er hätte viel darum gegeben, ihr den Ausdruck seiner Bewunderung nur mit einem Worte andeuten zu dürfen — ja nur mit einem Blick — besonders dann, wenn die Lichtflut der geöffneten Esse sie mit dem feurigen Mantel umfloß und ihre Gestalt wie in einer überirdischen Glorie leuchtete. Auch gegen den blendenden Feuerschein schien sie unempfindlich, nur blieb sie zuletzt nicht mehr ganz so regungslos starr; jetzt begann sie von Zeit zu Zeit den Kopf um die Eisenkante des Schutzschirmes vorzubeugen, des scharfen, eisigen Wehens nicht achtend. Und sie horchte mit gespannteren Augen.
»Herr Lieutenant,« sagte sie plötzlich, »ich bitte Sie, in wenigen Minuten halten zu lassen! Es ist hier!«
»Aber wieso?« entfuhr es ihm verwundert. Denn nichts als das Schneegetriebe da draußen.
»Ich höre unsere Hunde. Es ist hier! Bitte!«
Jetzt erst vernahmen die andern durch das Gedröhn und Gerassel und vieltönige Geräusch des eisernen Ungeheuers ein Gekläff und Geläut von Hunden. Jetzt war es, als huschte der Feuerschein, das Gestöber durchdringend, [S. 193] über das steile Dachwerk eines schloßartigen Gebäudes.
»Bitte!«
»Halt!« befahl der Lieutenant. Mit kreischendem Laut stoppte die Lokomotive.
»Ich danke Ihnen! Sie haben mir — uns (verbesserte sie sich) einen großen Dienst erwiesen —« Damit raffte sie die Kleider zusammen und stieg hinab.
»Mein Fräulein —«
Er wollte ihr nach. Er durfte sie doch nicht so in die Nacht hinein ... Als wenn er ihr dennoch etwas zu sagen hätte — mochte sie es hören wollen, oder nicht ... Aber fort! Er stand und sah ihre Gestalt durch das Gestöber dahineilen, immer undeutlicher, bis sie gänzlich in der Nacht verschwand. Nichts als das Gekläff der Hunde, das jetzt laut durch die Nacht hallte, von der großen dunklen Masse her, die seitwärts des Schienenstranges durch den Schnee dämmerte.
»Befehlen der Herr Lieutenant weiter zu fahren?«
»Los!« rief er dem Pionier zu — es klang wie ein Ruf der Befreiung von dem hexenhaften Bann, von der sinnbethörenden Vision. »Und geben Sie ein paar tüchtige Sporen!«
Die Maschine nahm einen tollen Anlauf und raste in die Nacht hinein, um bald darauf in einem von [S. 194] Soldaten wimmelnden Bahnhof zu münden, dem Ziel der abenteuerlichen Fahrt.
Los — ja los! Doch das Wort erwies sich als ohnmächtig gegen den Zauber solcher Erinnerung. Immer wieder tauchte das Bildnis ihrer Erscheinung, in den vibrierenden Glutmantel gehüllt, gaukelnd vor seinen Sinnen empor, auf dem Marsche, im Schneeschlamm der grundlosen Wege, im Bivouac, dem schlaf- und feuerlosen, jetzt, während des Gefechts — da schien es erst recht in seinem Element, wo die Hornsignale gellten, die Kugeln zischelten, die Erde unter dem Donner der Geschütze erbebte, und der Tod sich seiner reichen Ernte freute unter den stürmenden, vom beißenden Pulverqualm umwogten Kolonnen.
Plötzlich aber war es fort, mit jeder Dämmerung seines Bewußtseins getilgt. Als es dann wiederkehrte, nach einigen Tagen, hatte es die Gestalt eines gespenstischen Phantoms angenommen, das mit feurigen Flügeln vor ihm hereilte, da draußen im stöbernden Schnee, während er mit immer qualvollerer Sehnsucht die Lokomotive zur Eile spornte und das brüllende »Los! Los!« seines Wundfieberwahns ihn, zur Verzweiflung der Wärter, bis an die Grenze der Erschöpfung brachte. —
Der Schloßensturm hatte sich ausgetobt, und die Tageshelle rückte vom Erker aus wieder gegen den Kamin vor, dessen Glüheffekte dämpfend. Da hallte die [S. 195] Korridorglocke. Erschreckt fuhr Léonie aus ihrem brütenden Schweigen empor: »Ich bin für niemand zu sprechen!« rief sie. »Adolf, willst du dafür sorgen?«
»Es ist Mariot,« entgegnete er — »ich kenne ihre Art zu läuten, frisch, resolut wie ihr ganzes Wesen.« (Das letztere nicht unabsichtlich).
»Noch nicht!« rief Léonie, die flach übereinander gelegten Hände in flehender Gebärde zu ihrem Gatten erhoben. »Jetzt noch nicht! — ich möchte mich besinnen — ich will mich ...«
Und sie stockte, die Hände fielen herab, und ihre Augen wandten sich wieder dem Feuer zu, es war ein leidenschaftliches Auflodern darin, und zwischen den Brauen wetterten die kurzen, tiefen Furchen: ein abermaliges Aufbäumen der Französin in ihr. Mehr als das! In diesen Minuten flog mit blitzartigem Zickzack all das vor nun zwanzig Jahren Geschehene an ihr vorüber. Sie wiegte langsam den Kopf, und jetzt schüttelte sie ihn heftig: »Nein, ich kann nicht! Ich bin entschlossen! Ich durfte nicht wanken, auch das war ja schon sündhaft — — nein!«
Diesmal gellte das Wort laut durch den Saal. Es war der Axthieb, der in den jungen Blütenbaum gefahren. Der Geheimrat fühlte, daß es dagegen für ihn keinen Widerstand geben dürfte. Man sollte sie nicht quälen, gerade jetzt nicht, da der Mai heranrückte, der [S. 196] den Frankfurter Frieden gebracht. War es nicht jedesmal um diese Zeit, daß die alten Zweifel und Schmerzen, ja die geheim gärenden Reuegedanken in ihr mit oft erschreckender Gewalt wieder auflebten. Und sie sollte jetzt, gerade jetzt, ihre Zustimmung geben, daß die Enkelin ihres Vaters einen Preußen ... Nein! Es würde schon so bleiben müssen! »Armes Kind!« entfuhr es ihm unhörbar. Und lauter: »Beruhige dich nur, Léonie, ich werde mit Mariot alles besprechen —«
Dann saß sie, die Hände an die Augen pressend, wie gelähmt, und horchte auf den Klang seiner Stimme im Nebenraum, die berichtete, entschuldigte, in einen bedauernden, dann zärtlichen Ton fiel und schließlich ganz verstummte. Vergeblich wartete sie auf Mariots Antwort: — doch kein Ton ihrer Stimme. Kannte sie ihre Tochter denn nicht? Mußte sie nicht wissen, daß das Mädchen eine solche Nachricht mit stummem Stolze hinnehmen werde? — kein weichlicher Ausbruch der Verzweiflung! — nicht vor anderen!
»Nein« — Würde es unabwendbar, unverrückbar bleiben, dies grausame Wort? Hatte sich damals, vor zwanzig Jahren, nicht ein andres »Nein« dennoch in ein »Ja« verwandelt?
Nein! — jenes erste, das die Französin ausstieß gegen die stutzende Erregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, da sie an einem Dezembermorgen die in ein [S. 197] Lazarett verwandelten Säle ihres väterlichen Schlosses La Mireille durchschritt und auf einem der Lager, in der Reihe französischer Verwundeter, auf sein Antlitz stieß. Sie hatte es wohl erkannt. Wieder, wie in jener Nacht auf der Lokomotive, fühlte sie die Augen des Preußen auf sich gerichtet, jetzt leidensgroß, wie von dem Schreck einer fiebernden Vision geweitet, da auch er sie erkannt haben mußte. Welch ein tückischer Zufallskobold! Welch eine Brutalität romantischer Verkettung!
Aber wie in einem Zwang willenloser Suggestion erlahmte ihr Zögern, und sie war an das Bett herangetreten und hatte ihn begrüßt; das, was sie ihm wie den andern als Herrin des Hauses schuldig war. Stand sie nicht jetzt im Dienst der Barmherzigkeit, die keine nationalen Stachelzäune kennt? War sie ihm nicht zu Dankbarkeit verpflichtet? Denn was wäre aus La Mireille geworden, wenn ihr nicht die Fahrt hierher verstattet worden, und sie dann nicht durch ihre tapfere Haltung die Schätze des Schlosses vor den Vandalismen der barbarischen Soldateska, wie sie meinte, zu schützen vermocht? Heftig hatte der Kampf um La Mireille getobt, sie war nicht von ihrem Posten gewichen, ja einen Brand, der auf dem linken Flügel ausbrach und diesen einäscherte, hatte nicht am wenigsten ihre Energie einzuschränken gewußt.
Dieser Begegnung folgten andere, immer häufigere, [S. 198] besonders später, da der Verwundete in der Genesung war und sich im milden Sonnenschein der Touraine auf der Terrasse des Schlosses bewegen konnte. So sehr das »Nein« in ihrer Brust sich sträubte dagegen. Was geschah denn? Ein liebenswürdiger, ein hochgebildeter Mann, der das reichste Verständnis zeigte für die edle Geisteskultur ihres Vaterlandes, und der dessen Sprache in seltener Vollendung sprach — durchaus nichts von einem Barbar! An diesen schien sie erst erinnert zu werden, als er in seiner vollen Montur vor ihr stand, um Abschied zu nehmen. Er hatte sie wiederholt gebeten, mit ihr korrespondieren zu dürfen, jetzt wiederholte er die Bitte, nichts als diese, aber sie fühlten beide die stille Glut verhaltener Leidenschaft, das Weh des Abschiedes durch ihre Worte vibrieren. Sie fand abermals nicht die Kraft, das »Nein!« über ihre Lippen zu bringen, während doch ihre Augen, wider ihren Willen, so jakräftig erglänzten.
Das verbrecherische Geheimnis eines Briefwechsels zwischen einem Preußen und einer Französin, während gerade die Ihrigen, besonders ihr Vater, in dem Schmerz und der Entrüstung über den schreienden Hohn dieses Frankfurter Friedens patriotisch schwelgten! Oft genug war sie im Begriffe, die geheime Schmach dieser komplottartigen Verbindung mit einer jähen Entsagung abzuthun — vergeblich!
Da tauchte er plötzlich vor ihren erschrockenen Augen [S. 199] leibhaftig wieder auf. Es war zu Spaa, wo sich die Familie S. zur Kur befand. Er war gekommen, um von ihrem Vater nichts Geringeres als ihre Hand zu erbitten. Alles durfte er für diese Werbung in die Wagschale legen: seine stattliche Persönlichkeit, seinen Namen, sein Vermögen, seine bevorzugte Staatsstellung, die zu einer glänzenden Karriere berechtigte — aber auf der gegnerischen Schale nichts als die beiden Worte: »Frankfurter Friede,« die der Vater und berühmte Schriftsteller mit einer gewissen theatralischen Entrüstung zur Antwort einsetzte. Hiermit wäre wohl der Schluß dieses so romantisch begonnenen Abenteuers gegeben gewesen, wenn nicht im Winter darauf Herr S. selbst eine unerwartete Lösung herbeigeführt: eine blendende, reiche Partie, die er seiner Tochter, als eine feste Abmachung hinter ihrem Rücken, vorschlug und kraft seiner väterlichen Autorität aufzwingen wollte. Da geschah es, daß ein andres »Nein« sich in ihrem Herzen aufbäumte gegen solche Vergewaltigung. Das heilige Vaterland verzeihe ihr das Verbrechen, wenn sie in dieser grausamen Drängnis wankend wurde und sich dem geliebten Manne nunmehr auslieferte, allen Hassesvorurteilen zum Trotz. So lief also in den Dezembertagen von 1871, da jene Kämpfe um Orleans jährig wurden, eine Notiz durch die Boulevardblätter, die Tochter des Schriftstellers S. habe sich gegen den Willen der Ihrigen mit einem [S. 200] Prüssien ehelich verbunden. Welche Blasphemie! Die offenbare Kirchenschändung, begangen an dem Namen eines der patriotischsten Schriftsteller etc. etc.
Der Schritt bedeutete für sie die Verbannung; sie hatte seitdem die Ihren weder wiedergesehen, noch den Boden ihres Heimatlandes betreten. Zwischen ihr und jenen stand noch immer die Mauer des Frankfurter Friedens aufgerichtet. Und sie hoffte auf deren Fall, sei es, daß die Revanche sie im kühnen Wagemut eines Tages gewaltsam umstürzte, sei es, daß der Großmut des Siegers sie in reuiger Einkehr von selbst beseitigte, wie sie mit vielen ihrer Landsleute chimärisch beanspruchte. So hoffte und hoffte sie in ererbter französischer Selbstverblendung — »c’est plus fort que moi!« — man soll und muß ihr verzeihen! — auch Mariot! —
Jetzt öffnete sich die Flügelthüre, und Mariot erschien auf der Schwelle. Léonie’s schlankes, stolzes Ebenbild, doch von liebreizender Frische, mit freien, offenen, hellen Augen, den deutschen Augen ihres Vaters; auch der vollere Mund zeigte nicht die energische und strenge Verschlossenheit, die den Lippen ihrer Mutter solch herben Ausdruck verlieh. Jetzt war das Oval ihrer Wangen von fahler Blässe überhaucht, und ihre Augen hatten etwas angstvoll Gespanntes, als fürchteten sie, sich in Thränen zu verraten; ihre Lippen, aus denen die sonst [S. 201] blühende Farbe gewichen, atmeten halb geöffnet, in verhaltener Erregung.
Langsam näherte sie sich dem Kamin. Langsam erhob sich Léonie, nicht ohne daß ihre Hand sich tastend auf die Lehne des Sessels stützte. Dann ruhte der Kopf der Tochter stumm, in zitterndem Schweigen an der Schulter der Mutter.
»Wirst du mir verzeihen, mein Kind, mein armes Kind?«
»Mutter, wie du beschließest, so ist es — so ist es« — (ein kurzes Stocken, dann laut und fest:) »so ist es recht, Mutter!«
Die Mutter hatte die Frage in französischer Sprache gestellt; Mariots Antwort geschah auf deutsch. In Léonies Brust war es wie ein Zurückzucken. Deutsch — jetzt, in solcher Stunde! Wie hart, wie abweisend es klang, wie feindlich, trotz der Bedeutung der Worte! Als wenn sich ein zweiter Friede von Frankfurt plötzlich aufgerichtet zwischen ihrem Herzen und dem ihres Kindes. —
Vierzehn Tage darauf, an einem Spätmorgen, trat der Geheimrat mit einem Zeitungsblatt in der Hand an seine Gattin heran, die auf einer Chaiselongue ruhte, lässig und müde in Journalen stöbernd. Die Balkonthüre stand auf, wohlig warme Luft strömte herein, die Straße lag geblendet im lachenden Frühlingssonnenschein, [S. 202] und der Reflex der goldig-grellen Lichtflut umspielte mit einer gewissen frohen Deutlichkeit die Gegenstände des Zimmers. Auf dem Balkon sonnten sich die Stubenpflanzen, die Palmenfächer glänzten in breitem Metallglanz, die Azaleen standen im leuchtenden Flor, helle Knospenpunkte schimmerten im jungen hellgrünen Laub. Doch Léonie hatte keine Freude an diesem Frühlingsweben; es lastete auf ihr wie ein schwerer Alp: nicht die Nähe des unseligen 10. Mai allein, die auch in anderen Jahren eine gewisse krankhafte Krise in ihr hervorrief, nein das dumpf anklagende Schmerzgefühl, daß sie sich ihren Lieben, dem Gatten wie dem Kinde, entfremdet durch ihr trotzig-beharrliches »Nein«, daß sie in ihrem eignen Hause eine Fremde geworden, als Französin geduldet unter den Preußen — ja so war es! Das schonende Benehmen täuschte sie nicht darüber hinweg. Oh, sie empfand sehr wohl, wie hinter jeder Liebkosung ihres Gatten der geheime Vorwurf lauerte. Hatte sie nicht wie erleichtert aufgeatmet, als Mariot, wie beschlossen wurde, nachdem man die Werbung des Freiherrn von Werthern in aller Form abgewiesen, zu ihrer Tante nach Schlesien abgereist war? Nun hatte sie nicht mehr die Anklage der großen, wie im geheimen Weh erstarrten Mädchenaugen zu bestehen. Hier galt es nicht eine jener flatternden Ballneigungen durch einen Thränenstrom wegzuschwemmen, nein, Wussow hatte recht, ein[S. 203] Blütenbaum war niedergehauen worden, da hilft kein tröstendes Anbinden und Aufrichten ....
Wegen einer Uniform! Fast war es zum Lachen. So sind wir von der hohen Civilisation; ein Vorurteil, ein Fetzen alter Tradition, eine Phrase, ein gelltönendes Wort: Revanche, Satisfaktion, Ehre, Standesbewußtsein, dergleichen vermag bestimmend in unser Schicksal einzugreifen; der rote Lappen des Frankfurter Friedens stachelt immer wieder von neuem den Preußenhaß unserer westlichen Nachbarn zum wütenden Koller auf.
Aber durfte sie anders handeln? Durfte sie ihrem alten Vater diese neue Schmach anthun? Ihm, der gerade jetzt, als die Beschickung der Berliner Ausstellung durch französische Künstler im Werk war, seinen chauvinistischen Warnruf in poetischen Trompetenworten à la Victor Hugo hatte erschallen lassen; da ihr älterer Bruder, ein Schlachten- und Revanchemaler von Ruf, als einer der ersten sich zu dem Gang à Berlin weigerte? Jetzt, gerade jetzt! — arme Mariot, deren Glück einer Verkettung politischer Zufälle zum Opfer fallen mußte! — daran klammerte sie sich zum Schutz gegen ihre Selbstanklage. —
»Léonie, ich wollte dich avertieren —« sagte der Geheimrat, »du sollst nicht überrascht werden. In der Zeitung steht eine gewisse Notiz —«
»Gieb her!«
[S. 204]
»Du darfst nicht erschrecken — es handelt sich um deinen Vater —«
»Wieder einen seiner Ausfälle gegen euch Preußen? Gieb!«
»Nicht das. Dein Papa ist krank, er liegt auf Schloß La Mireille danieder.«
»Tot!« schnellte sie auf.
»Nicht das, armes Herz! Aber wir wollen auf alles gefaßt sein! — komm, laß dich nicht zu sehr alterieren.«
Sie entwand sich seinem sanft umfassenden Arm: »So will ich hin! Gleich! Sofort!«
»Oh! Du bist selber leidend. Du willst hin?«
»Er soll nicht sterben, ohne daß er mir verziehen — er darf nicht! Sofort werde ich abreisen!«
Vergebliches Überreden, sie von ihrem Entschluß abzulenken: die alte tapfere Art des Jahres 70 schien in ihr von neuem aufgeweckt. Sie wollte hin, nach Mireille, durch das Verhau von Vorurteil und Haß und Verblendung, das ihr die Heimat feindlich verwehrte, sich einen Weg bahnen zu ihrem sterbenden Vater hin, sich das erlösende Wort der Verzeihung von seinen Lippen erflehen, dann wird alles gut — »auch hier!«
»Wegen uns mache dir doch keine Gedanken —« wehrte er.
»Ich wünsche, daß auch hierin etwas entschieden [S. 205] werde —« sagte sie mit dumpfem Starren. Und das andere nur hingemurmelt: »Ich wünschte zu wissen, wo ich hingehöre ...«
Was meinte sie damit? Man muß sie gewähren lassen! Er dachte an ihre That von damals, ein ermutigendes Wort wäre eine Herabwürdigung gewesen; seine Begleitung, die er ihr für ein paar Reisestunden wenigstens, angeboten, lehnte sie ab: es wäre besser, daß sie allein mit ihren Gedanken sei. So half er ihr auf dem Bahnhof in ein Coupé erster Klasse, das die Bezeichnung ›Berlin-Köln-Paris‹ trug, (den andern kürzern Weg über Frankfurt hatte er absichtlich ausgeschlossen) stand und winkte, während der Zug in der Wolke selbsterzeugten Dampfes mit steigendem Rasseln hinglitt, nach dem Coupéfenster hin, wo ihre hohe Gestalt aufgerichtet hielt, nur mit einem ganz leisen Neigen ihres fahlblassen, tiefernsten Antlitzes seinen Abschiedsgruß erwidernd. Immer noch stand er, da der Zug längst entschwunden. Was war das für ein seltsamer Gedanke, der sein Herz wie mit eiskalter Hand umkrampfte? Wenn sie nicht mehr wiederkehrte ... ist sie doch gegangen, sich Entscheidung zu holen, wo sie denn hingehört! Unsinn! Für einen Königlichen Vortragenden Rat im Finanzministerium ein ganz berufswidriger Gedanke! Wie kam er dazu? Und während er seltsam[S. 206] schnell mit den Augen zwinkerte, als gälte es dort etwas zu unterdrücken, lachte er halblaut auf. —
Am neunten Tage nach diesem stand er abermals auf dem Perron, um sie nach ihrer Rückkehr in Empfang zu nehmen. Er hatte während der ganzen Zeit nur ganz knappe Nachrichten von ihr erhalten, Depeschen, in der Hast hingeworfene Zeilen, Geschäftliches, ihre Rückreise und Ankunft betreffend. Ihr Vater war der heftigen Lungenentzündung erlegen, die Zeitungen brachten Nekrologe und das übliche kritische Resumé seiner litterarischen Bedeutung, die Franzosen betrauerten aufrichtig den Verlust eines großen Patrioten. Von ihr war ihm keine Andeutung zugekommen, ob sie ihn noch lebend angetroffen und den Zweck ihrer Reise, seine Verzeihung, erwirkt. Er war sehr erregt, wieder in völlig berufswidriger Weise, als er jetzt ihrer in schwarzen Krepp gehüllten Gestalt aus dem Coupé half und sie dann in stummer Umarmung an seine Brust preßte. Ihren Zügen war die ausgestandene Leidenszeit aufgeprägt; sie schien gealtert und ihre Wangen abgehagert; war es nur eine Täuschung, daß beim Zurückschlagen des langwallenden Schleiers die Scheitelwellen ihres Haares im deutlichen Grau erschimmerten?
Für jetzt nur die wenigen, halbgestammelten Worte, die solchen Empfang zu begleiten pflegen. Doch die eine Frage, die deutlich ihre Seelenverfassung erraten [S. 207] ließ: »Mariot? Ist gute Nachricht von ihr da?« Mit solch vibrierender Bangnis schienen die Worte ausgepreßt.
»Ich danke. Sie scheint wohl — Du findest einen Brief von ihr vor. Lieb wie immer — — Wir wollen den Diener mit deinen Sachen vorausfahren lassen, ist dir’s recht, Léonie?«
Erst als sie im Wagen saßen, kam die Antwort auf diese Frage »Ach ja, Luft! Ich atme auf. Laß uns einen Umweg durchs Grüne machen!«
Er befahl dem Kutscher, einen größeren Umweg durch den Tiergarten zu nehmen. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend. Vor den beiden Cafés am Potsdamer Platz wimmelte es von Gästen, auf den Trottoirs davor war ein lebhafter Begehr nach grellbunten Blumen; die herrlichen Linden der beiden Platzsquares standen in leuchtendem Grün, die antikisierenden Wachttempel überragend; fernhin verduftete der Prospekt der Leipzigerstraße im rosigen Dunst, selbst das hastende, rasselnde Verkehrsleben schien von einer festlichen Verklärung überhaucht. Sie fuhren durch die Bellevuestraße, unter dem dämmernden Schattendach der strotzend belaubten Kastanien, an denen die Kandelaberkerzen der weißen und roten Blüten eben aufgesteckt waren; in den Vorgärten waltete der Wetteifer, welcher den andern in der Pracht seines Blumenflors überböte, eine Frühlingsspezialität dieser stimmungsvollen Avenue.
[S. 208]
»Wie schön es hier ist — bei euch —« entfuhr es flüsternd Léonies Lippen. »Ach die Luft!«
Wiederholt atmete sie in vollen erquickenden Zügen, als wenn sie von einem herzbeklemmenden Druck befreit werde.
Und beim Anblick des Tiergartens ein Ruf des Staunens: »Wie grün!«
»War es denn dort noch nicht —« fragte er zögernd.
Sie wandte den Kopf zur Seite, wo die Siegesallee mit ihren korrekten Lindenbäumchen sich in die Ferne verengte, von dem in der Abendsonne glühenden Goldkoloß der Siegesgöttin beherrscht. »Eis ...« hauchte sie hervor. Und ein Schauer schien sie zu überrieseln.
Er verstand. Doch nicht der üppige Garten der Touraine, wo sie die Tage geweilt, — nein das Eis des Hasses, auf das sie gestoßen, als wäre ihr ganzes Inneres davon erstarrt bis in den Blick ihrer dunkelumrandeten Augen hinan.
Eine Stille lang, während er das Wort klingen zu hören wähnte, fuhren sie durch das Waldesdunkel des Parkes. Leise tastete er nach ihrer Hand: »Gut, daß du wieder da bist, Léonie« — begann er. »Mir war sehr bang.«
»Du hattest Ursache, du Ärmster —« flüsterte sie dumpf. Dann auffahrend, mit einem schrillen Ton: »Ah, dieser [S. 209] Haß! Sie sind toll! Sie vergiften alles damit! Selbst die Pietät einer Sterbestunde ist ihnen nicht heilig vor ihrem Haß!«
Dann nach einer abermaligen Stille: »Wie war ich geeilt, nur um seine Hand noch einmal zu ergreifen! Es war ein Wunder, daß man mich überhaupt vorließ, — bis an das Lager meines armen Vaters. Ihm sei verziehen, Gott sei seiner Seele gnädig! Wenn er mir auch nicht verziehen — wenn er auch gegangen ist, ohne mir zu vergeben ...«
Ihre Stimme stockte in plötzlicher Erschütterung.
»Nicht?!« rief er in voller Empörung.
Sie faßte sich, reckte sich empor: »Ich habe mich tapfer gehalten all die Zeit über, mein Stolz gegen den Haß meiner Brüder und Verwandten — sie waren unerbittlich, von einer beleidigend kühlen Höflichkeit. Aber ich blieb, ich wollte nicht weichen, bis ich an dem Grabe meines Vaters mein Gebet gesprochen —«
»Du trafst ihn noch bei Besinnung?«
»Man hatte mich nicht ohne Einspruch an sein Sterbelager gelassen. Man schützte die Aufregung vor. Ich drang dennoch bis zu ihm. Ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Er aber mich — o wohl, er mich! Er schien wie aus einer Betäubung zu erwachen — seine großen Künstleraugen fragend auf mich gerichtet — tastend — ein Schimmer der alten Liebe, die darin aufzuleben [S. 210] schien. ›Mein Vater, ich bin’s‹, schluchzte ich, ›ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten‹ — Es war ein Besinnen in diesen Augen, all sein Empfinden darin wiedergespiegelt — o ich sah bis auf den Grund seiner Seele. Seine Léonie, sein Liebling von damals — die Freude, die er stets an mir hatte — hat er nicht seinen Roman »Gabriele« zu deiner Verherrlichung geschrieben? Und dann der Schmerz dieser Trennung, die geheime Sehnsucht, die in der Tiefe seines verwaisten Herzens fort und fort gebangt, wenn auch der Mund meinen Namen nicht aussprach — ich sah den Kampf, den seine Liebe kämpfte gegen das andere, gegen die Krankheit, das Gift — gegen den Preußenhaß. Ich sah das Gift die Obmacht gewinnen, seinen Blick erstarren, den Schimmer der alten Liebe sich in Eis verwandeln — hatte er nicht den Mut, den andern gegenüber, die hinter mir dieser Scene beiwohnten? Nicht den Mut, das Wort, den Namen auszusprechen, der auf seinen Lippen schwebte — Gott sei seiner Seele gnädig! — er schloß die Augen. Ich hatte seine Hand ergriffen und jetzt fühlte ich, wie die sich regte, leise, leise — aus der meinen fort — sich zu befreien suchte — zuletzt ein Ruck — es war wie ein Zurückstoßen — ja das! O Gott! Es war das »nein!«, das sein Preußenhaß gegen mich, die Abtrünnige, die Vervehmte seines Geschlechtes und seiner Nation, geschleudert. Ich sank [S. 211] mit dem Kopf gegen die Bettstatt, hart hinschlagend — ich glaube, ein Schrei entfuhr mir — ich weiß nichts — nichts mehr ganz klar —«
»Mein armes Herz —« und er preßte um so inniger ihre Hand.
»Du fragtest mich vorhin, ob denn dort unten der Frühling nicht .... Auch das weiß ich nicht. Ich habe nichts gesehen. Doch, ich erinnere mich, nicht weit von seinem Grabe, wo ich betend kniete, da ragte ein Blütenbaum, von jenen winzigen japanischen Rosen, die ich so liebe — — Ich werde den Ort wohl nicht wiedersehen —«
»Nun sollst du dich erholen, du Arme — nun darfst du nicht mehr fort und fort daran denken!«
»Ich möchte alles vergessen — bis auf das Grab mit seinem Blütenbaum — mein Vaterland, alles — o Gott, ich wollte, ich dürfte mich einmal ausweinen — mein Herz ist so voll —«
Dann, sich abermals aufraffend: »Wie schön es bei euch ist! — Wie gut ihr seid! — — Wie grün das Laub geworden! — Ach, die Luft! Wie das Atmen erquickt! — ich habe lange nicht mehr frei geatmet — und — und —«
Sie riß die Hand aus der seinen und reichte ihm dann in überquellender Bewegung die beiden Hände hin!
»Und ihr verzeiht mir, ihr, du und Mariot! Damals [S. 212] konnte ich nicht anders — jetzt, jetzt erst weiß ich, wo ich hingehöre —«
»Ich wußte es längst, aber du sträubtest dich gegen die Erkenntnis —«
»Du wirst gleich morgen Herrn von Werthern zu mir bitten, ich habe mit ihm zu reden, aber anderes als damals —«
»Soll ich auch Mariot kommen lassen?«
»Ach, mein Kind! Schnell, wir wollen ihr telegraphieren!«
In dem Gedanken dieses Wiedersehens saß sie verloren. Galt es nicht eine Mauer einzureißen, die sich zwischen dem Mutter- und dem Kindesherzen aufgerichtet? Aber hinter den Trümmern leuchtet das verheißende Frühlingsgrün.
»Wie schön es ist!« rief sie plötzlich aus, mit einer Geste über den blauenden See weisend.
»Das Laub hat sich mächtig herausgemacht. Ja so ein Berliner Frühling — so ein deutscher Frühling! Den wenigstens sollen sie uns nicht« ....
Er stockte. Nicht jetzt davon: ein andermal wollte er seiner Überzeugung Ausdruck geben, daß doch zuletzt die Liebe den Sieg davon trüge über den Haß und daß selbst über der Mauer des Frankfurter Friedens dereinst sich grünende Wipfel von hüben und drüben vereinigen würden. Man muß ihnen nur Zeit lassen zum Wachsen, recht viel Zeit ...
[S. 213]
[S. 215]
Zuerst waren sie mit dem Paar hoch oben auf dem Kölner Dom zusammengetroffen. In dem engen stockdunkeln Schneckengewinde der steilen Wendeltreppe hatte ihr eigenes mutwilliges Gezwitscher mit dem kichernden Geflüster der anderen Stimmen zusammengeklungen. Und als man dann gemeinsam in die blendende Helle des Altans herausgetreten und das Ah! des Erstaunens über das prächtige Panorama von den Lippen verflogen war, begann man sich gegenseitig zu mustern. Verständnisvolle Blicke hin und her, und ein gewisses verschmitztes Lächeln: o man hat sich sofort erkannt! Man gehört derselben Gemeinschaft, demselben Orden, derselben Bestimmung an. Gott, wie soll man nur diese Gleichheit ausdrücken? Nun, man befindet sich in demselben selig unruhvollen Ausnahmezustand einer Hochzeitsreise!
Die kleine lebhafte Frau Wendland stieß ihren Gatten verstohlen an: »Du, Fritz, hast du gemerkt?« Und ihre Zähnchen lachten ihm wie im hellen Triumph ins Gesicht.
Herr Fritz Wendland wehrte die Frage mit einer [S. 216] seltsam knappen Geste ab, die man fast als eine leise Verachtung deuten konnte; als ob ihm Hochzeitsreisende von allen andern Reisenden am allerwenigsten interessieren könnten.
Was hat er überhaupt heute? Er ist karg und kurz und zerstreut! Er hatte als Bräutigam einmal ein leises Wort gegen den Unfug des Hochzeitsreisens erhoben. Natürlich war er sofort vor dem kindlichen Enthusiasmus verstummt, mit dem sein Bräutchen sich die bevorstehende Reise ausmalte.
Aber es ist jetzt gar keine Zeit zu solchen Fragen und Zweifeln. Also da drüben liegt Deutz — die Kuppel dort ist St. Gereon — dort das Siebengebirge —
Der Führer mühte sich, dem andern Paare den gestaltlosen Luftschimmer am Horizont, der das Siebengebirge bedeuten sollte, zu bezeichnen. »Dort, Karl, na doch dort!« und die junge Frau, eine hübsche, etwas stark zum Untersetzten neigende Person, nicht gerade von der allerduftigsten Blütenjugend, aber äußerst »chic« gekleidet, wie es der kleinstädtischen Frau Wendland vorkam, stach in ihrer resoluten Art mit dem neumodisch auffallenden Sonnenschirm in die Luft: »Na dort! Siehst du denn nicht, Karl?«
Also »Karl«! Ein gleichfalls hübscher Mann, hager, dunkel, rasiert, distinguiert, von einem geheimnißvollen [S. 217] vornehmen Etwas getragen, mit stark blitzenden Ringen an der einen Hand. Er scheint einigen Respekt vor dem resoluten Sonnenschirm zu haben — jetzt erkennt auch er jenen Luftschimmer bereitwillig als das Siebengebirge an.
»Komm!« und er fügt ein zärtliches Diminutiv hinzu, das Frau Wendland nicht recht versteht. Etwas burschikos faßt er mit der ringbeschwerten Hand um ihren prallen, in blaugrauen Foulard gespannten Arm und schiebt die junge Frau nach der engen Pforte zurück. Der Treppenraum wiederhallt abermals von dem fröhlichen Gelächter der beiden.
»Ein reizendes Paar!« sagt Frau Wendland. »Wie lustig sie sind!«
»Warum nicht,« meint Herr Wendland matt. Ei, weshalb umfaßt er mit seiner Hand nicht gleichfalls ihren Arm und schiebt sein Frauchen in neckischer Zärtlichkeit nach der Treppe zu?
»Sehr nette Leute« — und ein leiser Seufzer entschlüpft ihr — »besonders er, ein so feiner Mann!« (»So zuvorkommend und lieb!« fügte sie für sich hinzu.)
»Ich habe sie mir darauf nicht angesehen! Komm, Anna!«
Nicht »Ännchen«, nicht »Weibchen« — »süßes Weib« — »kleine Frau« — keines der Attribute aus dem üblichen Sprachschatze für Hochzeitsreisende ...
[S. 218]
Diesmal hatte das Echo des Treppenraumes nur die Heiterkeit des einen, nicht des Wendlandschen Paares, zu vervielfältigen.
Im Wagen erst, als sie vom Domportal abfuhren, gab Herr Wendland eine Art Entschuldigung seiner Laune, die er offenbar bereute.
»Weißt du, mein Liebling, ich habe Hochzeitsreisende als solche nie ausstehen können!« platzte er heraus.
Doch gleich, vor ihrer erschreckten Miene, verbesserte er sich, mit den gespreizten Fingern an seinen Schnurrbart fahrend und mit einer gewissen schelmischen Miene dazu lächelnd, der die kleine Frau nur schwer widerstand: »Die Anwesenden natürlich ausgenommen, Ännchen. Weißt du, ein ganz dummes Junggesellenvorurteil!«
Ah, sie waren ja so glücklich, so glücklich! Solche winzige Wölkchen heben im Vorübersegeln nur die reine Bläue des Firmaments.
Am Mittag, bei der Table d’hote, als eben der Fisch aufgetragen wurde, machte Wendland seine Frau selbst auf ein ferner sitzendes Paar aufmerksam: »Die jungen Leute vom Dom, nicht?« — »Die jungen Leute« — als wenn er und Anna schon so alt wären, und über Liebeskindereien längst hinaus!
»Wo?«
[S. 219]
»Nun, dort drüben! Der Oberkellner stellt eben den Kübel mit der Sektflasche vor sie hin.«
»Ah!«
Anna war ganz Augen, von ihren großen, schönen klaren Kinderaugen. Wahrhaftig, sie sind’s! Ein hübscher Zufall! Sie hätte am liebsten nach dem Paar hinübergenickt? Sind nicht alle Hochzeitsreisende in einer Art Verwandtschaft? Aber sie nahm sich diesmal in acht, sie wollte Fritz gegenüber diese Verwandtschaft nicht betonen.
Wirklich ein nettes Paar! Alles an ihnen strahlt und gleißt und glitzert von ihrem neuen Glück. Die Aufmerksamkeit der Tischgäste richtet sich auf sie, und ihre Champagnerlaune teilt sich der Nachbarschaft mit.
Frau Anna findet, daß sie beide selbst dagegen durchaus keine hochzeitliche Miene zur Schau tragen. Ein paarmal macht sie einen Versuch zu einer Fröhlichkeit, aber es bleibt bei diesem Versuch: seltsam — der Anblick des anderen Paares scheint wie lähmend auf sie zu wirken.
Champagnertrinkende sind anderen ja stets »über«. O, sie, die Wendlands, könnten ja auch einen Kork knallen lassen! Aber sie haben sich für diese erste Reise Genügsamkeit gelobt. Sie sind Anfänger und gedenken es durch Fleiß und Sparsamkeit zu etwas zu bringen in [S. 220] der Welt. Übrigens bedarf denn ihr junges Glück solch prickelnder Anreizung?
Zweimal noch im Laufe des Tages begegneten sie dem Paar, in der Passage und im Theater. »Unser Paar« nannten sie es jetzt scherzend.
»Ich möchte wohl wissen, wie sie heißen und wer sie sind« — meinte Anna, als sie am Abend ins Hotel zurückkehrten.
»Das wollen wir bald erfahren!« rief Fritz gefällig. »Kellner, die Fremdenliste!«
»Konstantin van Beveren, Fabrikant, nebst Frau,« stand dort verzeichnet.
»Fabrikant!« fuhr die kleine Frau entzückt auf »Dasselbe wie wir! Aber woher?«
»Deutschland« stand da. »Freilich!« sagte sie enttäuscht. Es erhob sich noch ein kurzer Streit darüber, ob es »van« oder gar »von« hieße. »Meinetwegen: ich schenke dir auch noch das »von« für dein Paar, wenn es dich glücklich macht!« rief er ironisch.
Am andern Tage, als sie mit der Bergbahn den Drachenfels erreicht: — natürlich, Herr van Beveren nebst Frau aus Deutschland! »Ich wußte es!« knurrte Herr Wendland in komischem Ärger.
»Unser Paar« kam auf zwei munteren Eselein dahergetrabt, lachend, aufgeräumt und glücklich wie immer, sie in einem originellen Frühlingskleid, das unter den [S. 221] Damen auf der Terrasse Aufsehen machte. Gewiß ist ja die Eselspartie viel amüsanter als die Bahn — Herr von (am einfachsten, um alle ferneren Zweifel zu heben: »von«) Beveren trifft immer das Richtige!
Herr Wendland sah selbst die Thorheit ein, sich durch ein Nichts die hochzeitliche Laune verderben zu lassen. Aber die unvermeidliche Flasche »Drachenblut«, bei der sie sich niedergelassen, ward schneller geleert, als man beabsichtigte.
Am anderen Tage, in Rolandseck, wieder bei der Table d’hote: — »Herr von Beveren nebst Frau aus Deutschland!«
Sie hätten am liebsten beide hell aufgelacht. Ohne Zweifel, ihre Doppelgänger! »Wir werden ihnen nun nicht mehr entgehen!« seufzte Fritz lachend. Und aus Verzweiflung, um dem andern Paare ein Paroli zu bieten, ließ er eine Flasche Heidsick aufsetzen.
»Kellner, eine Flasche Röderer, aber gefroren!« echote Herr von Beveren gleich danach auf der anderen Seite.
Eine Gruppe Junggesellen an dem einen Ende des Tisches machte sich sofort mit ihrem billigen Spott über die beiden champagnertrinkenden Paare her. »Hochzeitsreisende!« Das Wort flatterte kichernd von Teller zu Teller.
Der alte Junggesellentrotz erwachte noch einmal in [S. 222] Fritz Wendland. »Wetter, ich will nicht sofort von jedem Laffen als Hochzeitsreisender erkannt und tituliert werden!« Seine Laune war dahin; er hielt nur mit Mühe an sich. Droben auf der Stube aber, im Angesicht eines der herrlichsten Panoramas der Welt, kam sein Grimm dennoch zum Ausbruch.
»Eine Dummheit! Eine fürchterliche Dummheit — dein Paar!« wütete er, und der Champagner wirkte diesmal in das Gegenteil.
»Dein Paar! Wieso dein Paar! Wie komme ich dazu, Fritz?«
»Nun, du hast sie doch entdeckt! Wenn du sie nicht entdeckt ...«
»So wären sie wohl überhaupt nicht vorhanden?« fiel sie höhnend ein.
Er ließ sich hinreißen und rief: »Es giebt nichts Lächerlicheres auf der Welt als Hochzeitsreisende!«
Das war zu viel! Sie brach in stürmische Thränen aus, die ersten Thränen auf dieser Reise, ja, die ersten, die sie überhaupt vergossen, seit sie ihm gehörte, jene ausgenommen, die in ihren verklärten Augen tauten, als sie am Hochzeitstage, beide dem Festtrubel endlich entschlüpft, Brust an Brust die übergroße Seligkeit ausströmen ließen.
»Wie ist es möglich? Wie ist es möglich!« schluchzte sie, die Hände ringend.
[S. 223]
»Ja, wie ist es möglich!« wiederholte er. »Lärme doch nicht so! Weswegen? — es ist zum Lachen! — wegen eines wildfremden Ehepaares, das uns garnichts angeht!« und er unterdrückte eben noch die Hälfte eines Fluches.
»Wenn ich das gewußt — o, wenn ich das gewußt!« jammerte sie.
»So hättest du wohl nicht geheiratet, wie?« fuhr er grimmig heraus.
Ein stärkerer Thränenguß. Es war schade um den herrlichen Sonnenuntergang, der das Siebengebirge in Goldpurpur verklärte. Graueste Regenstimmung für sie. Natürlich sitzt Herr von Beveren nebst Frau jetzt auf der berühmten Bahnhofveranda und grinst mit seinem unverschämten Gesicht einen Fleck in die Landschaft. O du Jammer des Hochzeitsreisens!
Es dauerte eine gute Weile, bis sie ihre Vernunft wieder fanden. Was war denn eigentlich? »Du Närrchen!« liebkoste er ihr verweintes Gesichtchen, »du bist mein süßes Närrchen!«
Sie ließ es geschehen. Aber das böse Wort von der Lächerlichket der Hochzeitsreisenden glimmte weiter in ihr.
Sie hatten nicht den Mut zu bleiben: der Anblick des entsetzlichen Paares würde sofort die Situation wieder in Thränen auflösen, das ahnten sie. Und in [S. 224] einem Anfall lachender Energie beschlossen sie abzureisen. Rolandseck war ihnen ja ohnehin verdorben.
Am anderen Mittag bestiegen sie von Remagen aus das Schiff. Nicht ohne Zagen und Bangen: werden ihre Doppelgänger nicht darauf sein? Gottlob, die Bahn war frei! Sie durften sich ungestört dem Genuß der Rheinfahrt hingeben!
Nach einer halben Stunde tanzte von einer kleinen Nachenstation aus ein Kahn mit roter Flagge in den bäumenden Wellen des Dampfers.
Fritz Wendland erblaßte vor Zorn.
»Sie sind’s,« ächzte sie außer sich und ließ die ausgebreitete Rheinkarte im Winde flattern.
Kein Zweifel mehr. Der Kahn ward in dem Schaumgetose des Rades gelandet. Herr von Beveren nebst Frau stiegen die Falltreppe hinan; mit ihrem unausstehlichen Glückseligkeitslächeln, funkelnagelneuer gekleidet denn je — »Hochzeitsreisende!« das Wort stand auf all den gaffenden Mienen ringsum.
Herr Wendland zuckte ein Gelüste in den Fäusten, den Störer ihres Friedens einfach zu packen und in den Rhein zu werfen. Das war wohl zu stark! Aber vielleicht würde man es zu einem Wortwechsel, zu einer Rempelei bringen — o, er war zu allem fähig! Hochzeitsreisen macht wild!
Das Paar, von tänzelnden Kellnern umschwärmt, [S. 225] setzte sich sofort zu einem opulenten Frühstück — natürlich knallte auch hier der Miniaturböller des Champagnerkorkes.
»Wie protzig, wie gewöhnlich!« zischelte Wendland.
Bei dem Anblick des Paares ward der Schmerz von gestern abend bei Anna wieder wach. »Das finde ich nicht —« erwiderte sie bissig. »Wenigstens empfinden sie nichts von der Lächerlichkeit des Hochzeitsreisens!«
Sie fixierte lange und scharf mit dem Glase eine gewisse Burg dort oben auf dem Waldhügel, um ihre Thränen zu verbergen. Er versenkte sich in die Rheinkarte.
Welch eine Rheinreise! Und wie hatte sie sich darauf gefreut! Fritz ist ein Ungeheuer! Er liebt sie nicht! O, er liebt sie nie und nie! Ich bin das unglückseligste Geschöpf auf der Erde! Meine Mama, wenn meine arme Mama das wüßte!
Es wurde Station Koblenz ausgerufen. Mit nervöser Hast raffte und schnürte sie plötzlich die Reiseeffekten zusammen.
»Wieso, Anna?« fuhr er verwundert auf.
»Ich bleib’ nicht — ich steig’ aus!« Das »ich« stark betont. Sie wollte sich wenigstens in einem Hotelzimmer in Ruhe ausweinen; die verhaltenen Thränen erstickten sie noch!
»Du nimmst mich doch mit?« höhnte er.
[S. 226]
»Wir kehren sofort um und reisen nach Hause!« (Der Klang ihrer Stimme hatte etwas Kochendes.)
»Bon!«
Nichts Brutaleres, als der Kanonenschuß. dieses »Bon!« O, wie sie ihn haßte! Er hat kein Gefühl — er hat kein Herz — nicht einmal Verstand, sonst würde er an diesem wildfremden, harmlosen Menschen nicht ihr Glück, ja, ihre Zukunft scheitern lassen! Er ist nichts anderes wert, als daß man sich von ihm — trennt! Gottlob, das ist das richtige Wort! Es ist heraus! Ist doch die Hochzeitsreise das Symbol des künftigen Ehelebens. »Es giebt nichts Lächerlicheres ...« fort und fort summte ihr das im Ohr. Wohlan!
»Hast du die Schirme, Fritz?«
»Ja!« Scharf abgehackt.
»Hast du den Bädecker nicht liegen lassen, Anna?«
»Nein!« Ebenso scharf abgehackt.
Es war an diesem Abend kein vernünftiges Wort mit einander zu reden. So schien es ihm das Beste, daß sie sich in ihrem Hotelzimmer zu Koblenz tüchtig ausweinte, wenn dieses Mittel nun einmal angezeigt ist. Er trollte also den Abend über in der Stadt und am Rheinufer umher, besuchte ein Wein- und zwei Bierhäuser, ganz der alte Junggeselle. Und eine schier dämonische Sehnsucht nach der früheren Ungebundenheit reizte ihn. Unter welche unerhörte Lächerlichkeiten muß [S. 227] man sich ducken! Welchen empörenden Demütigungen durch ein Nichts ist man ausgesetzt! Natürlich kehren wir nach Hause zurück, meinetwegen — ich bin zu allem bereit!
Am Morgen, da er in stillschweigendem Groll Anstalten zur Abreise traf, erklärte sie: »Nach Hause auf keinen Fall! Die Schmach mache ich nicht mit! Unsere Reise sollte vier Wochen dauern und ... und ...«
Ein neuer Weinkrampf erstickte ihre Stimme. Freilich, in diesem Zustande verzichtet er ebenso auf die Heimfahrt. Aber was dann? Wohin? Keinen Schritt mehr auf dieser Hochzeitsreise! Aber was dann?
Wütend, ratlos, mechanisch griff er nach der frischen Zeitung, die der Kellner beim Servieren des Frühstücks auf den Tisch gelegt. Plötzlich schnellte er empor, warf die Zeitung hin, nahm sie wieder auf, las abermals und sprang mit einer gewaltigen, herzbefreienden Lache vom Stuhl.
»Und deswegen!« rief er, »es ist kaum glaublich!«
»Was ist? Was hast du?« — in gesuchter Gleichgiltigkeit hob sie langsam den Kopf aus ihrer völlig apathischen Migränestimmung.
»Huhuhuhu — hahahaha!«
Beleidigt durch diese plötzliche Fröhlichkeit, runzelte sie die Stirn.
[S. 228]
»Da lies einmal!« Immer noch lachend, schob er ihr das Zeitungsblatt hin, auf eine Stelle der »Neuesten Nachrichten« deutend.
Sie senkte den Blick trotzig blinzelnd darauf und schob dann das Blatt, ohne verstanden zu haben, wieder auf den Tisch.
»Nun?« grinste er.
Sie zuckte die Schulter. Unmöglich kann sie die Stelle gelesen haben, sonst müßte sie doch gleich ihm losplatzen. Und er nahm das Blatt auf und las laut, in wichtig-komischem Ausruferton:
»Boppard, den 30. Mai. Endlich ist es unserer Polizei gelungen, den seit Wochen steckbrieflich verfolgten Kassierer M. S. aus Harburg in Gemeinschaft mit seiner Geliebten, der durchgegangenen Frau eines Hamburger Friseurs dingfest zu machen. Die beiden raffinierten Verbrecher bereisten, während der Telegraph sie in New-York suchte, als Konstantin van Beveren nebst Frau, unter dem nicht übel gewählten Inkognito eines Hochzeitspärchens, unseren von dieser Gattung gesegneten Rhein, wo sie bei allen Gelegenheiten den Champagner springen ließen ...«
»O! —« Frau Wendland schnappte nach Luft. Zuletzt siegte seine gewaltige Heiterkeit über den Rest ihres Trotzes. Also ein champagnertrinkendes Verbrecherpaar [S. 229] als Doppelgänger! Unendlich komisch! Lachend fielen sie sich um den Hals. Was für Narren und Närrchen sie doch beide gewesen!
Eine halbe Stunde darauf saßen sie auf dem stolzen »Humboldt«, der majestätisch, von bäumenden Schaumwellen umtost, rheinauf dampfte.
[S. 231]
[S. 233]
Ich schäme mich nicht, es zu gestehen: ich habe mir mein Glück aus der Spielhölle von Monte Carlo geholt!
Ich hatte selten auf Nummern gewonnen; diesmal war das Goldstück von dem geringeren Risiko einer einfachen Farbe auf das gefährlichere Feld der Nummern gerollt und dort liegen geblieben. Meinetwegen mochte auch das von dem unersättlichen Abgrund verschlungen werden!
Es war die Zweiundzwanzig. Gleich darauf wurde noch ein anderes Goldstück langsam, mit einer gewissen zaghaften Vorsicht, von einer kleinen, schwarzpolierten Harke auf dieselbe Nummer geschoben. Und da ertönte auch schon das heisere: »Rien ne va plus!« des Croupiers. Siehe da, die Zweiundzwanzig schlug ein! Ich wußte, ich hatte das dem besseren Glücke jenes andern unbekannten Spielers zu verdanken. Zwei Häuflein blinkender Louis wurden von der Bank aus auf die Glücksnummer geschoben, und die Hände der beiden Gewinner langten danach. Meine Hand, die mit sicherem[S. 234] Griff der ausgestreckten Finger das eine Häuflein faßte, und eine andere Hand — nein, nur die erstaunliche Winzigkeit eines Händchens, das zierlichste, eleganteste und weißeste, das man sehen konnte.
Es ist eine Thatsache, daß die Schwüle und leidenschaftliche Atmosphäre des Spielsaals die Sinne zu solch scharfer und schneller Thätigkeit reizt. So mochten diese wenigen Sekunden genügen, mir die Form und Bildung dieses Händchens einzuprägen: die schlank gemodelten Finger mit den länglichen, gewölbten Rosanägeln, die allerliebsten Grübchen auf den Knöcheln, das feine blaue Geäder, das durch die alabasterweiße Haut schimmerte, das zarte Handgelenk, das eine Schlange von englischem Sterlingsilber umfing.
Das Händchen bebte ein wenig, und beim Hinfassen stieß es ein paar Goldstücke von dem Häuflein herab. Das eine derselben rollte nach mir hin. Ich griff es noch im Rollen und schob es wieder vor. Beim Aufsehen traf mich das kurze, fast unmerkliche Neigen eines dunklen Mädchenkopfes und der dankbare Blick aus zwei großen, überaus glänzenden Augen.
Sofort setzte ich noch einmal auf die Zweiundzwanzig, gemäß einer Tradition, daß der Kobold des Zufalls solche Wiederholungen begünstigt. Gleichzeitig schob auch das Händchen von drüben zwei Louis auf dieselbe Nummer vor. Und wieder trafen sich unsere Blicke. War es [S. 235] nicht, als glitte der Hauch eines eigenartig wehmütigen Lächelns um die vollen, aber festgeschlossenen Lippen der Spielerin? Gleich darauf senkte sich das liebliche Köpfchen, auf dessen üppigem Braunhaar ein kleiner kleidsamer Herrenfilz nicht ohne einen Anflug von Koketterie saß. Die Dame hatte von einem der Polsterstühle Besitz genommen, und vor ihr auf dem grünen Tisch war jene Art von Bureau eingerichtet, mit dem die professionierten Gewohnheitsspieler das Glück zu korrigieren trachten. Ein Büchelchen lag aufgeschlagen, dessen vorgedruckte Kolumnen mit blauen und roten Bleistiftzeichen angefüllt waren. Seitwärts befand sich ein kleiner Stoß von Kärtchen, bei denen die Bleistiftzeichen durch Stecknadelstiche markiert waren; zwei große Stecknadeln mit Silberköpfen staken im Buch, lauter »Handwerkszeug«, wie man es in jedem Zeitungskiosk von Monaco zu kaufen bekommt. Davor schimmerten mehrere Häuflein von Gold- und Silberstücken, und das Ganze war durch jene zierliche, schwarz polierte Goldharke gleichsam gegen den übrigen Tisch abgegrenzt.
Und siehe, abermals schlug die Zweiundzwanzig ein. Ich muß sagen, daß nach allem, was mir hier in Monaco geschehen, es mir nicht gelang, den Ausdruck meiner Freude über solchen Glücksfall zu verbergen. Und auch über ihr Gesichtchen leuchtete es; es war eine naive Freude, die fast an das Lottospiel der Kinderstube erinnerte [S. 236] und nichts von jener heißen Geldgier hatte, die man sonst an Spielbanken zu treffen pflegt. Diese Kindlichkeit stand in seltsamem Widerspruch mit dem Büchlein und der Harke und den Stecknadeln. Wieder trafen sich unsere Blicke. Es schien ihr schwer, ein deutlich grüßendes Nicken nach mir hin zu unterdrücken. Sie lächelte mir zu, wobei die weißesten Zähnchen zwischen den frischen Lippen sichtbar wurden. Und gleich fuhr eine Röte über ihr Gesicht — war es die Wirkung des Glücks oder die Folge jenes Lächelns, mit dem sie einen Wildfremden begünstigt?
Da wurden auch schon die Goldhaufen von der Bank herangeschoben. Unsere Hände — o, ich greife vor, indem ich dieses »unser« niederschreibe, und für diese Situation klingt das bedeutungsvoll umfassende Fürwort fast wie eine Entweihung — wollten eben die Gewinne in Empfang nehmen, da fuhr von meiner Seite, nicht weit von mir, eine dritte Hand über den Tisch nach der Zweiundzwanzig hin. Eine sehnige, häßliche Männerhand, die aus einer großen abgetragenen Manschette hervorragte. Und mit gieriger Hast bemächtigte sie sich des einen der drei Goldhaufen. Das Händchen zuckte erschrocken zurück.
»Halt, mein Herr!« sagte ich mit einer wehrenden Geste nach der Räuberhand hin; »der Gewinn gehört der Dame! Wohl ein Irrtum — Sie verzeihen!«
[S. 237]
Die Karrikatur eines Dandygesichts mit glatt geschniegeltem Haar, spitz ausgewichstem Schnurrbart und verwitterten Zügen grinste mich mit einem frechen Lächeln an.
»O mein Herr,« schnarrte er in gebrochenem Französisch, — »Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß ich mir fremde Gewinne aneigne?«
Und die sehnige Hand hatte mit einem sprungartigen Griff, der an ein Raubtier erinnerte, das Geld erfaßt. Aus den grünlichen Augen traf mich ein unheimlich stechender Blitz. Kein Zweifel, es war einer jener professionellen Bankräuber, die aus ihrem Hinterhalt sich auf den Gewinn eines Neulings stürzen, um ihn mit kecker Unverschämtheit an sich zu reißen. Die Bank kann sich dieser Hyänen, die den Abfall des Glückes erschleichen, nur schwer erwehren; bleibt doch bei der großen Zahl der Einsätze stets ein Irrtum möglich. Bei kleineren Sätzen zahlt sie, um Skandal zu vermeiden, doppelt aus, dem Räuber wie dem Beraubten.
»Herr Croupier,« wandte ich mich ganz empört an den nächsten Beamten, »ich habe deutlich gesehn, daß die Dame zwei Louis gesetzt. Ich setzte den dritten.«
Der Beamte zog phlegmatisch eine große goldene Dose aus der Seitentasche seines Rockes, und während er die Prise langsam an die rundliche Nase führte, sagte er im ruhigsten Ton, nach dem Räuber gewandt:
[S. 238]
»Sie haben sich geirrt, mein Herr, der Gewinn gehört nicht Ihnen.«
»Ich irre mich nie!« rief jener und ließ dabei das Geld mit einem deutlichen Klingeln in die eine Tasche seines Jacketts gleiten. »Nie, verstehen Sie ... es sind andere, die sich irren!«
Und mit einer höhnischen Herausforderung wechselten seine Blicke zwischen mir und dem Beamten. Dieser zuckte die breiten Schultern und steckte seine Dose ein. Ein Kollege neben ihm that noch einige inquirierende Fragen an mich und den Räuber, doch ohne Resultat. Ich wollte mich aber nicht beruhigen, mich an eine andere Instanz wenden und die Herausgabe des Geldes erzwingen — da traf mich von drüben ein flehender Blick aus den großen dunklen Augen, und eine bittende Geste der beiden einander zugekehrten Händchen veranlaßte mich, von weiterem abzustehen. Das Blut war aus den Wangen der Spielerin gewichen, unruhig und aufgeregt wiegte sie sich auf ihrem Platz.
Jener behielt also einfach seinen Raub, und die ganze Angelegenheit wurde gleichsam zugedeckt von dem gedämpften Rufen des Croupiers, von dem feinen Klimpern und Klirren des Geldes, das in der Bank gehäufelt und sortiert wurde, von jener eigenartig zitternden Stille, die eine häßliche Parodie andächtiger Kirchenstille ist.
Ganz mechanisch setzte ich noch ein paarmal. Dabei [S. 239] ließen meine Augen nicht ab von ihr. Aber es war mir nicht möglich, meine bedauernde Verbeugung anzubringen. Sie sah nicht auf und sie setzte nicht mehr. Ihr Köpfchen war tief herabgesenkt, und mit erheuchelter Aufmerksamkeit blätterte und suchte sie, den Bleistift in der Hand, in ihrem Büchelchen.
Da war plötzlich die schnarrende Stimme des Räubers hinter mir. Sie stellte mich in einem Idiom, das ich nicht verstand, aber dessen Betonung nicht viel Höfliches bedeutete, zur Rede. Ich wollte ausweichen, doch entfuhr mir wider Willen eine wütende Gebärde und ein schlimmes Wort der Erregung. Es wäre zu einer Scene gekommen, wenn nicht einer jener gravitätischen Herren in schwarzer Toilette, die zwischen den Tischen hin und her kreuzen, auf uns zugetreten wäre und kraft seiner polizeilichen Autorität uns bedeutet hätte, den Streit an einem andern Orte auszumachen. Ein paar Worte, die er meinem Angreifer zuraunte, veranlaßten diesen, sich davonzuschleichen.
Auch ich trat nicht mehr in den Kreis der Spieler. Ein Ekel über das ganze Treiben hatte mich erfaßt, und ich wollte mir draußen in der freien Natur Erquickung suchen.
Als ich noch auf dem Treppenpodest im Portal des Kasinos stand, gefesselt von der unvergleichlichen Scenerie des ansteigenden Parkes, der im Sonnengold eines [S. 240] wolkenreinen Januartages ruhig und schön und verklärt dalag, trat eine Gestalt von rückwärts zu mir heran.
»Mein Herr, wollen Sie verzeihen —«
Wirklich, ich schrak ein wenig zusammen — mein Blick, der so nahe in die großen, großen Augen meiner Partnerin tauchte, und der Klang ihrer melodischen Stimme, der so seltsam süß mein Ohr umschmeichelte!
»Mein Fräulein —«
»Es thut mir herzlich leid, daß Sie meinetwegen solche Unannehmlichkeiten hatten. Ich danke Ihnen für den Beistand.«
Sie sprach deutlich, mit einem leisen Anflug des hannoverschen Accents.
»O, bitte, bitte, mein Fräulein!« stammelte ich noch ganz überrascht. »Ich bedaure nur, daß ich die Sache so ungeschickt angefangen. Man hätte ihm den Raub dennoch wieder abjagen müssen!«
»Sie sind fremd hier, mein Herr,« fiel sie ein, »Sie kennen dergleichen noch nicht. Es ist nichts gegen sie zu machen, und auch die Bank muß sie gewähren lassen.«
Aber, mein Gott, war sie denn nicht auch fremd hier? War sie denn so unheimlich vertraut mit den Fährlichkeiten der »Hölle,« daß sie mit solcher Sicherheit sich in diesen Dingen äußern konnte? — eine junge Dame von zwanzig Jahren, dazu eine Deutsche!
»Sie sind schon länger hier, mein Fräulein? Sie [S. 241] haben schon lange — gespielt?« Es war mein Erstaunen, das mir diese Frage auspreßte.
»Wir sind schon drei Jahre hier,« warf sie zögernd in einem dumpfen Tone hin, ohne mich anzusehen, das Köpfchen wie in einer plötzlichen Scham zur Seite gewandt.
Ich hatte gehört, es giebt in Monaco ganze Familien, schiffbrüchige Existenzen, die in harter, systematischer Tagesarbeit dem grünen Tisch den Unterhalt ihres erbärmlichen Lebens abringen.
Währenddem waren wir die paar Stufen hinabgeschritten.
»Ach, wie wundervoll!« rief sie aufatmend, indem sie mit dem Fächer, einer ganz billigen Dutzendware, nach den Bergen hinwies, die in blendender Farbenpracht zwischen dem üppigen Grün der Parkbäume herüberleuchteten.
Wir wechselten die üblichen Bewunderungsgeständnisse über die Herrlichkeit des Ortes, der ein wahrhaftes Paradies sein könnte, wenn die Hölle nicht so triumphierend ihren Thron hier aufgeschlagen.
»Und zu denken, daß manche, ja sogar viele hieher kommen, die keinen Blick und keinen Sinn haben für solche Herrlichkeit —« sagte ich, mit einer geheimen Anklage gegen mich selbst; — hatte ich doch ganze Tage, von heißem Fieber besessen, in der dumpfigen Schwüle des [S. 242] dämmerigen Saales am Spieltische verbracht, ohne eine Sehnsucht nach dem Anblick der unbeschreiblich schönen Gotteswelt zu empfinden; hatten doch der Wechsel von Glück und Unglück und all die nerventötende Aufregung mich blind gemacht. Und es war, als würde mir mit ihrem Ausruf und mit dem Zauberstab ihres Fächers plötzlich die ganze Wunderwelt wie eine Offenbarung erschlossen.
Wir waren an die Marmorballustrade der Terrasse herangetreten; ihre zierliche Gestalt stand leicht daran gelehnt, ihre Augen schweiften mit einem Leuchten der Entzückung über die flimmernde Meereshelle, und ihr geöffneter Mund sog gierig die würzige Seeluft ein; einmal atmete sie hoch auf, so daß die in ein knappes Sammetmieder eingezwängte Büste sich wie in befreiender Erlösung dehnte. Ein paar »Marschall Niel« staken im Miederschluß, aber sie hingen schlaff herab, als hätte der heiße Gifthauch der Spielhölle sie getötet. Das Profil ihres Kopfes zeichnete sich dunkel gegen den Meeresglanz: das fein gebogene Näschen, das rundliche Kinn, das von auffallender Energie zeugte, die edle Bildung der Stirn mit den graziösen Bogen der Augenbrauen.
Mit welcher kindlichen Unbefangenheit plauderte sie in Gegenwart des Fremden!
»Sehen Sie dort oben das Adlernest, das so goldig aus dem dunklen Blau der Berge leuchtet, das ist Roccabruna, [S. 243] ein köstliches Ding, fast nur aus Treppen bestehend, aber reizend. Das müssen Sie sich ansehen. Dort liegt Ventimiglia; dort hinten im Duft, das an der äußersten Spitze, ist das Palmenland von Bordighera, mein liebes Bordighera! Wie die Brandung wieder wütet gegen den Fels — Sie sehen deutlich den schneeweißen Schaum. Wenn Sie etwas Herrliches von einer Brandung genießen wollen, so müssen Sie dorthin fahren. — Ah, was schwärme ich Ihnen vor, mein Herr! Sie haben gewiß keine Zeit, Sie müssen — arbeiten; Sie bleiben nicht lange hier, Ihre Zeit ist kostbar, und Sie haben sich vorgenommen, die Bank zu sprengen. Ich wünsche Ihnen viel Glück — nein, ich wünsche Ihnen keines, dies Glück wird Ihnen kein Glück bringen.«
»Ah, das ist alles so häßlich, das ist entsetzlich!« rief sie plötzlich, mit heftig abwehrender Geste nach dem palastartigen Bau des Kasinos hin, der über uns in feenhafter Pracht in das Tiefblau des Himmels ragte. Es war wie ein Erwachen. Die liebliche Heiterkeit, die ihr Gesichtchen sonnig verklärt hatte, verschwand hinter einem düstern Schatten. »Wenn man fort könnte, weit fort, dort hinüber ...« flüsterte sie dumpf, wie für sich, mit den halb geschlossenen Augen nach der Meeresweite weisend. Und gleich darauf schien sie ein Zorn über sich selbst zu erfassen — »nein, nein, es ist unrecht das, was ich sage!« Ihr Füßchen stampfte leicht auf. [S. 244] Und dann — eine neue Ueberraschung — fiel sie in ganz geschäftsmäßig ruhigen Ton, den eines erfahrenen Spielers, der einem andern gute Ratschläge giebt: »Setzen Sie so und so. Das dürfen Sie nicht thun! Und das müssen Sie vermeiden. Am besten ist, Sie verlieren einen tüchtigen Haufen Gold, nehmen ein Billet und reisen vergnügt nach Hause.«
»Wenn man aber nichts zu verlieren hat, mein Fräulein — nichts — gar nichts mehr!« warf ich tonlos hin.
Sie sah mir mit weit geöffneten Augen prüfend ins Gesicht. Das hatte wie eine helle Verzweiflung geklungen. Ihre Gestalt zuckte fast unmerklich zusammen. Was, sie hatte doch nicht etwa einen von den Unseligen vor sich, die nach dem gleißenden Namen Monaco gegriffen, um sich vor dem Untersinken zu retten, und die sich statt der erträumten Goldhaufen mit dem lakonischen Leichenstein eines Selbstmörders begnügen, den ihnen die Bank in ihrer Großmut an der Mauer des Kirchhofs von Monaco gewährt?
Ja, ich will es gestehen, ich war nicht viel wert damals! Ich hatte wenig Respekt vor mir selber damals. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, weder an Gut noch an Lebensmut. Es war mir erbärmlich schlecht gegangen. Alle meine Spekulationen waren fehlgeschlagen, alle meine Hoffnungen vernichtet; ich war geflohen vor dem Gespenst [S. 245] des Bankerotts, das schon seit Monaten in den Sälen meiner Fabrik umherspukte. Ich hatte in meiner Verzweiflung nach dem gleißenden Namen Monaco getastet, daß der Zufall von des Teufels Gnaden ein letztes Erbarmen hätte. Aber seine teuflischen Gnaden hatten kein Erbarmen. Auch bis hieher, bis an das Trente-et-Quarante hatte mich das Gespenst verfolgt, mit seinem entsetzlichen Grinsen immer wieder auf die grüne Fläche hinweisend. Und vor ein paar Tagen war es, an einem Abend, da hatte ich mich so unheimlich angezogen gefühlt von der im grellen Gaslicht erglänzenden Auslage eines gewissen Nizzaer Waffenladens. Immer wieder stand ich davor, nicht wissend, wie ich wiederum dorthin geraten, und die schwarzen Mündungen eines gewissen Revolvers glotzten mich so verführerisch an. Aber es war gut, daß, wie zur Abwehr mittelloser Selbstmörder, der Preis an der Waffe haftete — das Trente-et-Quarante hatte mich so völlig ausgeleert, daß ich ein häßlicheres und billigeres Mittel hätte wählen müssen. Da wandte ich mich ab, fuhr noch einmal nach Monaco zurück und versuchte es mit den bescheideneren Chancen des Roulettes. Ich begann wieder aufzuatmen — auf wie lange? Ich hatte das Gefühl, daß es nur ein Aufschub wäre. Nein, ich war nicht viel wert, ich war absolut nicht viel wert!
Sonderbar, ich wäre im stande gewesen, ihr in diesem Augenblick dies Geständnis zu machen, ihr, der Wildfremden [S. 246] — und es wäre mir eine große Erleichterung gewesen. Vielleicht hätte es meine Rettung bedeutet — aber ich hatte nicht den Mut. Welch eine Ungehörigkeit, eine junge Dame, die ich vor einer halben Stunde kennen gelernt, in den Abgrund meiner Seele blicken zu lassen!
Ich hatte vor der eigenartig strengen Prüfung ihres Blickes das Haupt gesenkt. Es ward eine kurze Stille. Plötzlich streckte sie mir mit einer resoluten Bewegung ihr Händchen entgegen, das nur mit rehbraunem Schwedisch bekleidet war.
»Wollen Sie mir versprechen, nicht mehr zu spielen, mein Herr?« sagte sie. Ihre Stimme vibrierte. »Nein, das kann ich nicht verlangen, wie komme ich dazu ... verzeihen Sie mir die Bitte überhaupt; aber wollen Sie mir wenigstens versprechen, drei Tage lang nicht zu spielen? Nicht die Spielsäle zu meiden, das wäre das Falsche, nein, Sie sollen dabei sein, als ein ruhiger Beobachter im Hintergrunde stehen. Vielleicht, daß es Sie kuriert. Glauben Sie mir, ich bin eine Sachverständige ...«
Das Händchen war noch immer vor meinen Augen ausgestreckt. Ich zögerte, es zu nehmen. Welch eine Naivität, welch eine Wunderlichkeit, welch eine Keckheit, mich zu solch einem Versprechen zu zwingen! Wer war sie denn, daß sie solches wagen durfte? Aber es sprach so [S. 247] viel freundliche Güte aus dem Ton ihrer Stimme, aber ihre lieben, schönen, offenen Augen baten mit so zwingender Gewalt — und sie hatte auf dem Grund meines Gewissens gelesen! Ist es doch eines Menschen Pflicht, einem versinkenden Mitmenschen die Hand zu reichen.
Da ergriff ich das dargebotene Händchen und drückte es in stummer Erregung. Es war mir, als hätte ich plötzlich einen guten Kameraden gefunden.
Eine kurze Strecke schritten wir noch, ohne ein Wort zu sprechen, an der Ballustrade entlang. Da fuhr ein leerer Fiaker im Schritt vorüber. Sie winkte ihm, zu halten.
»Ich muß nach Hause, ich werde erwartet!« rief sie. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Adieu!«
Mit graziöser Leichtigkeit bestieg sie das Gefährt. Noch einmal grüßte sie mit einem feinen Lächeln, dann jagte der Wagen mit der rasenden Geschwindigkeit südlicher Fiaker die Fahrrampe nach Condamines hinab. Ich stand noch eine gute Weile auf derselben Stelle, regungslos und völlig verblüfft dem Wunder dieses Wagens nachstarrend.
»Ich danke Ihnen!« — es war fast, als gälte dieser Dank weniger meinem Ritterdienst als dem Versprechen, das ich ihr Hand in Hand geleistet. Und das Lächeln ihres grüßenden Kopfes — es sah fast aus wie der Ausdruck eines Triumphes, den sie über mich davongetragen [S. 248] — nein, wie eine Schelmerei, die sie in kinderhafter Laune mit mir trieb — ach nein, wie der freundliche Zuspruch eines echten Kameraden, daß ich tapfer sein möchte — alles, alles! — Immer und immer stand mir dieses Lächeln vor Augen, immer wieder sah ich ihren großen, streng prüfenden Blick auf mich gerichtet — und ihre Stimme, die klangvolle Melodie ihrer Stimme! Wer war sie denn, daß sie mich mit solch zauberartiger Geschwindigkeit in ihren Bann zwingen konnte?
Ich wollte mich auflehnen — nun, ich hatte ihr aber das Versprechen gegeben, und ich war in meiner Freiheit gefesselt — ein ernster Mann, der sich in der kritischsten Lage seines Lebens von einem Kinde fesseln läßt! Aber die Gedanken an sie, die mich fort und fort wie neckische Schmetterlinge umgaukelten, wollten kein volles Unbehagen über diese Fessel in mir aufkommen lassen.
Zuerst mied ich den Spielsaal — gegen das Rezept der »Sachverständigen«, wie sie sich selber nannte. Ein seltsamer, fast kindlicher Trotz ließ mich fernab dem Kasino in den Bergen umherschweifen. Ich kletterte die düsteren, feuchtkühlen Treppen des Adlernestes von Roccabruna hinauf, strich durch die üppigen Zitronenhaine, die diesen Ort umkränzen, saß sinnend und träumend auf einem Felsen am Strande, dem vieltönigen Geräusch der Brandung lauschend. Aber immer wieder [S. 249] schweiften meine Blicke nach dem Kasino hinüber, das aus der Ferne, von Sonnenglanz übergossen, wie ein kostbar geschmiedetes, reich verziertes Schmuckstück herübergrüßte.
Vielleicht sitzt sie jetzt dort am Spieltisch, von dem mich ihre List hinweggetrieben. Gewiß sitzt sie dort an der »Arbeit« — deutete denn nicht das Bureau, das sie sich am Tisch eingerichtet, auf eine regelmäßige Gewohnheit? Und ihr verwünschender Ausruf nach dem Kasino hin ließ darauf schließen, daß sie wider Willen solch häßliche Arbeit verrichtete.
Ich meinte, es wäre etwas wie eine Neugier, die mich dennoch am Abend nach dem Kasino führte — vielleicht war es die Befolgung ihres Rezeptes, daß ich mich drinnen von dem unseligen Fieber kurieren lassen sollte — vielleicht war es die wachsende Sehnsucht, sie wiederzusehen, die mich ein paar Stunden lang das Kasino umkreisen ließ und mich von Bank zu Bank der umgebenden Anlagen trieb, bis mir schließlich der Huissier die Thür zu dem von einem magisch gelblichen Dämmerlicht erfüllten Heiligtum öffnete.
Zuerst saß ich auf einem Diwan, genau nach dem Rezept, um das Treiben als unbeteiligter Zuschauer zu beobachten. Wie sie hereinhasteten, die Golddurstigen, um sich auf einen der massigen Menschenknäuel zu stürzen, aus deren Mitte das feine Klingeln des Goldes herübertönte; [S. 250] wie sie von einem Haufen zum andern irrten, daß der Zufall ihnen vielleicht dort günstiger wäre; glühende, entstellte Gesichter mit fieberisch flackernden Augen; todblasse Gesichter, die stieren Blickes nach dem Ausgang suchten, daß sie dem entsetzlichen Schauplatz ihres Ruins entflöhen; Gestalten, die mit dem nackten Ausdruck der Verzweiflung, nicht zu weit abseits, in allen Taschen nach einem letzten rettenden Goldstück suchten; Gattinnen, die mit Thränen in den Augen den Gatten zurückhielten, der sich dennoch losriß, von unbezwinglicher Gier erfaßt; Dirnen, die mit lüsternen Mienen nach Raub umherschlichen! feine Damen, die in einem Sessel saßen und mit bebendem Bleistift rechneten, rechneten ... O, es hätte einen wohl kurieren können, und sie mochte recht haben, meine Sachverständige.
Zuletzt schlich ich dennoch an die Haufen heran und suchte nach ihr. Es war nicht leicht, jemand zu finden, so tief versteckt waren die Sitzenden unter den herübergebeugten Körpern und den hantierenden Armen der Stehenden. Endlich hatte ich sie entdeckt. Sie stak tief in der »Arbeit«. Der ganze Apparat war vor ihr ausgebreitet. Das Licht des tief herabhängenden Schirmes beleuchtete grell ihr Gesichtchen. Das war gerötet und erregt. Das Händchen war in voller Bewegung. Es notierte in den Listen, blätterte und suchte in dem Büchelchen, notierte wieder, regulierte und ordnete die Goldhaufen [S. 251] vor ihr, warf mit einer erstaunlichen Sicherheit die Einsätze hierhin und dorthin, während die Augen unruhig hin und her hasteten. Um ihre feinen Nasenflügel zuckte es, während ihr streifender Blick das Rollen der Kugel im Roulette beobachtete.
Es that weh, o, es that weh, diese Augen zu beobachten, das Büchlein mit den Aufzeichnungen, das Gold, die Harke, alles dort vor ihr liegen zu sehen, — die Seele des jungen Wesens dennoch, so sehr sie sich dessen bewußt sein mochte, von dem Dämon besessen zu wissen!
Und in welcher Gesellschaft betrieb sie solches widerliche Geschäft! Man muß das Publikum der Spielbank in zwei Hälften sondern: die einen, die der Übermut, die Neugierde, die Gelegenheit, eine Anwandlung des Leichtsinns, ja gar eine höchste Verzweiflung ihr Geld in naivem Vertrauen auf die Gunst des Zufalls in den Abgrund schleudern heißt, und die, nachdem jener sein Werk verrichtet, der Spielbank mit leeren oder vollen Taschen den Rücken kehren, zuweilen um sich in entlegener Ecke eine Kugel vor den Kopf zu jagen; die anderen aber, fürchterliche Systematiker, die mit ihren Berechnungen oder durch ihre Ausdauer den Zufall zu zwingen glauben; gefräßige Parasiten, die ihren Gewinn in hartnäckiger Arbeit Stunde um Stunde in elender Kleinmünze einheimsen; und dann die Hochstapler, die Betrüger, das aufgeputzte Laster, der Abschaum der [S. 252] Gesellschaft ... und sie mitten unter diesen!
Rechts neben ihr saß die verwitterte Ruine einer Dame, deren Züge nur mit dem Aufwand der energischsten Toilettenkünste zusammenzuhalten schienen und deren erloschene Augen nur wie im Halbbewußtsein dem Gange des Spiels folgten. Die spinnenartig dürren Finger wühlten mit nervösem Beben in einem Häuflein von Gold, aus dem sie ganz mechanisch einzelne Stücke, wie es schien, aufs Geratewohl nach irgend einer Chance warf. Auf der andern Seite ein jämmerlicher Invalide der Leidenschaft, das Gespenst eines blassen, hohläugigen jungen Mannes, dessen Lebensmark gänzlich von jahrelangem Spielfieber aufgezehrt war, eine Art Automat, dessen Bewegungen nur noch von den Rufen des Croupiers reguliert wurden.
Zuletzt erfaßte es mich wie ein Zorn, sie dort sitzen zu sehen. Wer war sie denn, daß sie in das Verhängnis meines Lebens einzugreifen wagte, sie, die am ehesten eines Helfers und eines Retters bedurfte? Ich konnte es nicht länger mit ansehen und entfernte mich, um mich draußen in dem prunkvollen, von Marmorsäulen geschmückten Vestibül zu ergehen — nun ja, um auf sie zu warten. Ich wollte sie einfach zur Rede stellen, und heute sollten die Rollen getauscht werden. Ich würde ihr meine Hand entgegenstrecken und ihr ein ähnliches Versprechen abzwingen. War sie aber auch in der Freiheit, [S. 253] ein solches halten zu können? Schien es nicht, als kettete sie ein unheimlich unseliges Geschick, unter dessen Alp sie sich willenlos beugte, an den Spieltisch? Nun, ich wollte sie wenigstens um eine Aufklärung ersuchen, die sie als meine Richterin legitimieren könnte. Ich wartete, wartete, bis die letzten Gäste das Haus verließen, vergebens — sie mußte für diesmal, mir unbemerkt, entschlüpft sein.
Am andern Tage, noch am Vormittag, bald nach der Eröffnung der Banken, traf ich sie wieder dort, wieder in voller Arbeit. Mein Gott, welche Eile, welche entsetzliche Beharrlichkeit! Ich stellte mich so auf, daß sie mich sehen mußte. Bald darauf trafen ihre Augen den fragenden Vorwurf meines Blickes, der starr auf sie gerichtet war. Sie zuckte ein wenig zusammen, dann fuhr der Sonnenschein jenes schelmischen Lächelns über ihr Gesicht. Sie nickte mir in einer Art kameradschaftlicher Vertraulichkeit zu. Es sah fast aus wie eine Belobung, daß ich da war und mein Versprechen so tapfer innehielt. Aber es war mir nicht möglich, auch darüber noch in Unmut zu geraten. Ich war entwaffnet und zwang auch meinen Gruß zu einem freundlichen Lächeln. Eine Zauberin, eine Hexe, vielleicht eine jener raffinierten Sirenen des grünen Tisches, von denen ich gelesen und gehört hatte ... nein, nein, nein, nicht das! Unter dem Pochen meines Herzens, das ihr Blick und die Hoffnung [S. 254] eines neuen Blickes in mir erregt, verschwand sofort solch häßlicher Zweifel.
Sie aber blickte nicht wieder nach mir hin. In anscheinender Ruhe waltete sie ihres Geschäftes. Aber die bebende Röte ihres Gesichtes schien Zeugnis davon zu geben, wie sehr sie sich dennoch unter meinen beobachtenden Blicken beengt fühlte. Ich stellte mich in einen Hinterhalt, um ihr die Unbefangenheit wieder zu schenken.
Mit welcher Aufmerksamkeit sie die Launen der rollenden Kugel verfolgte, mit welcher Gewissenhaftigkeit sie diese Launen in ihre Bücher eintrug! Sie betrieb solches nicht seit kurzer Zeit. Die Croupiers kannten sie; einer derselben, der Typus eines biedern und pedantischen Beamten, ein Deutscher wie die meisten der dortigen Croupiers, die aus den aufgelösten Banken der Rheinbäder hierher verpflanzt wurden, schien sie in eine Art väterlicher Obhut genommen zu haben. Zuweilen nickte er ihr mit seinem gutmütigen Bullenbeißergesicht anfeuernd zu, da- und dorthin zu setzen. Und er schien sich wirklich zu freuen, wenn er ihr einen ansehnlichen Gewinn zuschieben konnte. Auch tauschte er wohl über Tisch herüber ein paar Worte mit ihr. Es fiel das Wort »Papa«. Jener hatte sich nach einem solchen erkundigt. Wo war er? Vergeblich suchte ich im Kreise der Umstehenden nach einem Antlitz, das mit väterlicher Teilnahme die Spielerin gehütet hätte. Welch eine Gewissenlosigkeit, [S. 255] sie, das liebe, junge Wesen, schutzlos den Gefahren der Hölle preiszugeben! Oder »arbeitete« er vielleicht an einem anderen Tische? Wie es ja gelegentliche Konsortien giebt, die es auf eine Sprengung der Bank abgesehen haben, so mögen oft die Glieder einer Familie mit vereinten Kräften auf Beute ausgehen. »Ah, das ist alles so häßlich; das ist entsetzlich!« Dieser ihr Ausruf klang mir im Ohr.
Der nächste Tag sollte mir Aufklärung bringen. Ich hatte sie am Morgen vergeblich gesucht. Am Nachmittag erschien sie in der Eingangsthür, und nicht allein. An ihrem Arm führte sie einen ältern Herrn. Es war mehr als ein Führen, ihre straff aufgerichtete Gestalt diente ihm als Stütze, während er sich auf der andern Seite eines Stockes bediente. Sehr behutsam bewegte sie sich auf dem glatten Parkett, mit liebevoller Vorsicht bewachte sie seine Schritte. Seine Gestalt war gebückt, so daß sie ihn, der selbst nur seine zierliche Mittelfigur war, überragte. Den Kopf mit den eisgrauen, etwas vernachlässigten Haaren trug er vornüber gebeugt, doch seine Augen fuhren von unterwärts unruhig im Saal umher. Jetzt ging das Schlürfen seiner Tritte in ein nervöses Trippeln über. Er schien es nicht erwarten zu können, bis sein erstes Goldstück auf der grünen Fläche lag.
Sie führte ihn an einen der Tische und wechselte [S. 256] mit einem der Croupiers ein paar Worte, worauf dieser einen müßigen Gaffer, dessen Ellenbogen der Bank nichts einbrachten, von seinem Sitze herabnötigte. Dann hieß sie den Vater — er mußte es wohl sein — behutsam niedersitzen. Sie selbst blieb hinter dem Stuhl stehen, jede seiner Bewegungen beobachtend; es war etwas von der rührend zärtlichen Sorgfalt, mit der eine Mutter ihr krankes Kind behütet.
Es dauerte eine Weile, bis der erste Einsatz erfolgte. Das Aktenmaterial, dessen der Ankömmling zu seinem Spiele bedurfte, war ein erstaunliches. Seine nervösen Hände zogen immer neue Paketchen aus den Taschen seines Rockes hervor. Er breitete mehrere mit Zahlen und Zeichen überdeckte Listen aus, legte sich verschiedene Büchelchen zum Einzeichnen zurecht, stapelte seine Kasse von Gold und Silber vor sich auf, alles das mit langsam pedantischer Peinlichkeit, bis auf die Prüfung der Rot- und Blaustifte. Und nun, nachdem das »Bureau« gehörig in Ordnung lag, saß er mit gefalteten Händen da und lauerte. Lauerte mit dem eigenartigen, krankhaften Glitzern seiner dunklen Augen, mit den feinen zuckenden Bewegungen seiner Gesichtsmuskeln. Ja, das ganze glatt rasierte Gesicht, das beim ersten Anblick den Eindruck der Hilflosigkeit machte, schien sich aus seiner Schlaffheit aufzuraffen und sah wie verjüngt aus.
Nach jeder Kugel notierte er hier und dort in den [S. 257] verschiedenen Listen und Büchern mit der Gewissenhaftigkeit und dem peinlichen Ernst eines Kassenbeamten. Endlich begann er in Silber und mit den kleinsten Einsätzen zu spielen. Man sah, es geschah nicht des Gewinnes wegen, nur um kostbares dokumentarisches Material für seine Bücher zu gewinnen. Ja, es kam vor, daß er bedauernd die Achseln zuckte, wenn ein Satz einschlug, der nach seiner Berechnung eigentlich verlieren mußte, oder daß er einen Verlust als hochwillkommen mit einer kinderhaft listigen Miene notierte.
Nun war die Arbeit in vollem Gang; Gewinne und Verluste wechselten und wurden sorgfältig eingetragen. Da schien es die Tochter nach einem Stündchen der Erlösung zu gelüsten. Nach einer zärtlich betonten Frage, die der Vater mit einem Nicken in das eine der Bücher hinein bejahte, empfahl sie sich. Jetzt erst wandte er den Kopf nach ihr zurück, um ihr eine freundliche Miene zum Abschied zu bieten, aber zu spät, sie war schon fort.
Ich ihr nach. Ich ereilte sie draußen am Eingang des Parkes.
»Mein Fräulein, ich habe Ihnen abzubitten ...«
Sie schien durchaus nicht überrascht, sie wußte sofort.
»Ah, —« fiel sie lebhaft ein, »ich verstehe: Sie hegen einen Groll gegen mich, daß ich Ihnen die Hände band. Ich am wenigsten, meinen Sie, hätte eine Berechtigung, [S. 258] Moral zu predigen. Ich habe wohl Ihr Staunen bemerkt, mit dem Sie meinem Treiben zusahen.«
»Ich fange an zu begreifen, und ich bin gekommen, Ihnen Abbitte zu leisten.«
»Um des Himmels willen, ich möchte nicht, daß Sie falsch begriffen. Der Schein und ein so häßlicher Schein ist wider uns. Sie müssen uns zur allerschlimmsten Profession zählen!«
»Ich muß gestehen, es thut mir in der Seele weh, Sie dort spielen zu sehen —«
Ein kurzer, leicht überraschter Blick aus ihren Augen streifte mein Antlitz. Gleich aber wehrte sie sich selbst gegen die Versuchung, sich meiner Teilnahme zu freuen:
»O, ich wünschte nicht, daß Sie mir Ihr Mitleid auf Kosten meines Vaters zuwendeten. Das, was ich thue, thue ich mit Freuden, wenn auch mit dem Eifer, diese — Sache endlich zu einem Resultat zu führen. Ich sagte Ihnen schon, das, was wir treiben, treiben wir seit drei Jahren. Es ist eine gute Sache — und wenn ich auch selbst mich keiner Illusion hingebe, so ist es doch meine Pflicht, in ihrem Dienste treu auszuharren. Und Vater glaubt daran — nennen Sie es eine Marotte, die bedenklich genug wie eine Krankheit aussieht. Genug, es ist mein Vater, und er hat sich die Durchführung seines Planes zur Lebensaufgabe gemacht. Ich sehe, ich spreche in Rätseln. Nun gut, sehr einfach, wir [S. 259] sind einem System auf der Spur, mittels dessen die Macht des Spielteufels gebrochen werden soll.«
Das letzte kam kleinlaut heraus, und um ihre Mundwinkel bebte etwas wie ein ironischer Ausdruck. Ah, sie glaubte selbst nicht an dies System und an die Möglichkeit, mit einem solchen den Zufall zu meistern! Ich hatte oft genug vor den Zeitungskiosken gehalten und mit lüstern verwunderten Augen die Auslagen der Broschüren und Bücher gemustert, die sich auf das Spiel beziehen, hochtönende Anpreisungen, wie man mit einem Einsatz von tausend Franken oder noch weniger eine Million gewinnen kann, wie man verfahren muß, um mit Sicherheit zu gewinnen, allerlei Systeme, das Glück zu korrigieren, von den kleinen niedlichen Büchelchen, die man im Vorbeigehen wie zum Scherz einsteckt, bis zu den ansehnlichen Bänden, die hinter dem verklebten Schnitt das Geheimnis mit einem Aufwand gelehrter Formeln und weit ausholender Kombinationen analysieren. Es finden sich Gimpel genug, die, mit solcher Anweisung ausgerüstet, den Kampf mit dem Glück aufnehmen, oder welche gar die persönliche, teuer bezahlte Hilfe sogenannter Spielprofessoren in Anspruch nehmen. Am wenigsten glauben diese Professoren oder die Verfasser solcher Werke an ihre eigene Wissenschaft.
Nein, auch sie glaubte nicht an solches System! Ich konnte mein Staunen, ja den sichtbaren Ausdruck des [S. 260] Schreckens nicht unterdrücken. Ihr Vater ein Phantast, schlimmen Falls ein bedenklicher Abenteurer, und sie, das liebe, liebliche Geschöpf, das seine Jugend im Dienst eines abscheulichen Hirngespinstes opfert!
»Nicht das, nicht das!« rief sie, sofort meine Miene deutend. »Ich bitte Sie, meinen Vater nicht mit den andern zu verwechseln. Alles das ist seltsam und außergewöhnlich, man darf darüber lachen, man darf darüber die Achseln zucken — wenige werden solches begreifen. Wie gesagt, wir rangieren in einer Reihe mit dem erbärmlichsten Gelichter, und man muß die Umstände kennen, die zu solchem Auswuchs geführt — nein, nicht jeder wird sich die Mühe nehmen, uns zu begreifen. Aber ich muß ihn verteidigen, wenigstens ihn, den armen Vater. Mag die große Masse mich selbst verdammen ... es findet sich doch noch jemand, der all diese Unseligkeit aus dem Herzen entschuldigt — und ich möchte nicht, daß Sie ...« Sie stockte, dann sah sie mir mit treuherzigen Augen voll ins Gesicht. »Sie sind gut, mein Herr, man sieht es Ihnen an. Sie haben ein Unglück gehabt, auch das liest man aus Ihren Mienen, aus allem. Wir haben uns unter so seltsamen Verhältnissen kennen gelernt. Wie gesagt, ich möchte nicht, daß gerade Sie von hinnen schieden oder uns gar den Rücken wendeten ...« Wieder stockte sie und plötzlich, mit abgekehrtem Gesicht, um das Flammen ihrer Röte zu verbergen, wies sie nach [S. 261] einer Bank, die unter einer natürlichen Laube herabhangender Palmfächer stand. »Kommen Sie zu meiner Lieblingsbank! Man hat von dort aus den herrlichsten Blick über das Meer.«
Es war keine zu große Absonderlichkeit, das, was sie mir von den Geschicken ihres Hauses erzählte. Für mich nicht, der ich selbst ein Bankerotteur war und den das Geschick auf ähnliche Weise heimgesucht. Die Familie hatte im Vollen gelebt. Mehrere Fabriken in der Nähe von Frankfurt am Main, sowie einige Bergwerke im Taunus befanden sich in ihrem Besitz. Eines jener köstlichen Weingüter des obern Rheingaues mit dem Schmuckstück einer Villa diente ihr zum Sommeraufenthalt. Sie waren glücklich, sie waren geachtet, ich erinnere mich jetzt, wie vor zehn Jahren die Firma des besten Klanges genoß, bis sie dann anfing zu bröckeln, um schließlich mit einem Krach, der auch in der weiteren Geschäftswelt Staub aufwirbeln machte, zusammenzustürzen. Was war es? Niemand kann besser Auskunft geben als ich selber. Ja, wie kommt es? Eine kleine Schlappe, die einen ärgert und deren Folgen man allzu gründlich ausmerzen möchte, eine unselige Folge von Umständen, Ereignissen, Kombinationen, die an dem Bestand des Hauses rütteln, Strebertum und die »Sucht nach mehr« und das Schicksal des Fabrikanten, die entsetzliche Tagesmode, die in plötzlicher Laune die Maschinen unserer Werkstätten zum [S. 262] Stillstand bringt und die Arbeiter aus den Sälen treibt, sowie man sich nicht sofort ihrem Gebote fügt. Hier waren es noch andere Verhängnisse, die das Haus zu Falle brachten, und diese Verhängnisse hießen: Homburg, Baden-Baden, Wiesbaden. Nicht daß sich der Besitzer der Firma F. Werler wie ein unverantwortlicher Leichtfuß dem Spielteufel in die Arme geworfen. Eine ganz dumme Gelegenheit brachte ein fabelhaftes Glück, und in kritischer Stunde erinnerte man sich dieses Glückes. Ganz allmählich, ganz unmerklich umstrickte der Teufel die Firma mit seinen Netzen, verschlang die Fabriken und Bergwerke und scharrte das Schmuckkästchen von einer Villa über den grünen Tisch hinüber in den Abgrund hinein. O, man weiß es, wie die letzte Verzweiflung nach unseligen Mitteln greifen heißt, und mir ziemt es gewiß nicht, jenen zu verdammen.
»Ich verstehe, mein Fräulein, ich verstehe!« nickte ich.
Ah, mit welch dankbarem Blick sie mir antwortete!
Die Mutter starb aus Gram, den Vater ereilte ein Schlaganfall. Eine ältere Schwester war verheiratet; aus dem Zusammenbruch war eine kleine Fabrikanlage gerettet worden, die unter den nicht zu geschickten Händen eines Bruders kümmerlich vegetierte. Sie selbst, Vater und Tochter, irrten in der Welt umher, die Stätte ihres frühern Glückes meidend, als Mitglieder jenes bedauernswerten [S. 263] internationalen Proletariats, das die Weltorte und großen Modebäder bevölkert.
Wie war es möglich, daß sie dennoch wieder jener entsetzlichen, alles verzehrenden Flamme zuflattern konnten? Wie kam Herr Werler zu der Marotte seines Systems? Es hatte lange in ihm gebrütet. Mit wachsender Besorgnis sah Helene, wie seine Gedanken sich immer mehr in ein gewisses Hirngespinst vergruben. Und dieses Hirngespinst trat immer sichtbarer in Tabellen und Berechnungen hervor. Sein System — Herrgott, was ist’s!? Was will Papa? Papa’s Verstand ist doch nicht ... nein, nein, nicht solches, nicht das Äußerste!
Wer der Gelehrten vermag die Grenze zu ziehen, wo der Verstand aufhört und der Wahn beginnt? Das Gefühl der Reue hatte den Keim zu dieser Marotte großgezogen. Die Arbeit sollte eine Art Sühne bedeuten: es mußte und mußte sich dennoch eine Formel finden lassen, die dem Dämon die Macht aus der Hand nahm. Es wäre die Rache für ihn und alle die anderen Ruinierten. Gegen eine solche Formel würde sich keine Bank mehr halten können; die Hölle müßte geschlossen werden, es gäbe so viel Thränen, so viel Verzweiflung, so viel selbstmörderische Schüsse weniger. Es wäre ein ungeheurer Dienst, den man der Menschheit leisten würde.
Und er rechnete, rechnete. Das Hirngespinst nahm immer hartnäckiger Besitz von seinem Thun und Denken. [S. 264] Aber er würde so nicht weiterkommen, man mußte die Theorie durch die Praxis ergänzen und erproben, man mußte nach Monaco und in der Hölle selbst die Hölle bekämpfen.
»Papa, lieber, lieber Papa, thue es nicht!« — Wie sie gefleht haben mochte, um ihn von dem Gedanken abzubringen! Umsonst! Sie siedelten nach Monaco über. Und dann begann die fürchterliche, die nerventötende Arbeit. Sie brauchte mir nicht erst zu sagen, wie viele Stunden sie am Spieltische verbrachte, während ihr Vater, durch seine Gebrechen meist an die Stube gefesselt, an seinen Tabellen saß, begierig auf ihre Rückkehr, die ihm neues Material herbeischaffte. Und so arbeitete sie Tag um Tag, drei lange Jahre hindurch in rührender Hingebung. Mehrmals am Tage eilte sie nach Hause — sie wohnten am äußersten Ende von Condamines, dicht unter dem von dem Gischt der Brandung umtosten Felsen von Monaco — um sich ihrer Aufzeichnungen zu entledigen oder neue Instruktionen zu empfangen. O, sie arbeitete mit äußerster Gewissenhaftigkeit! Zuweilen war es, als müßte sie selbst an die Vortrefflichkeit des Systems glauben. Dann kam der Kobold des Zufalls und schüttelte mit frecher Hand all die mühsamen Kombinationen durcheinander. Immer wieder zeigte das System eine neue Lücke. Und wenn es wirklich ein paar Tage standhielt, so eröffnete sich plötzlich eine so unerwartete [S. 265] Serie oder ein so willkürliches Umspringen der Chancen, daß es allen Berechnungen Hohn sprach. Da gab es Zeiten, wo der Erfinder selbst verzweifelte und wo er schon im Begriff war, mit einer Verwünschung all das mit unendlicher Mühe aufgespeicherte Material, das seinem Schreibtisch den Anschein einer soliden und fleißigen Geisteswerkstatt gab, in den Kamin zu schleudern. Dann war sie es sogar, die ihn gegen ihre Ueberzeugung aufrichtete: wie eine Scheu vor einem gewissen unheimlichen Nichts, das dann an die Stelle all der Arbeit träte? Oder war es die Ueberzeugung, daß diese Arbeit seinen grübelnden Geist von Schlimmerem ablenkte?
Und von neuem setzte er sich hin und begann aus den Trümmern der Akten ein anderes System aufzubauen. Von neuem setzte sie sich an den Spieltisch, hartnäckiger denn je, mit der letzten Spur einer Zuversicht, daß die gute Sache dennoch über die schlechte den Sieg davontrüge. Und wieder die entsetzliche, vielstündige Holzhauerarbeit — kaum daß sie sich Zeit gönnte, einen hastigen Imbiß zu nehmen oder auf eine kurze Weile dieser Pestluft zu entfliehen, nur ein paar Atemzüge der reinen Gottesluft zu schlürfen. Drei Jahre lang, Tag um Tag, Stunde um Stunde — kein Zucken der Ungeduld, nein, nur der lächelnde Schein freudiger Pflichterfüllung ihm, dem Kranken, gegenüber, so muß man ihn nennen.
[S. 266]
»Sie sind eine Heldin, Sie sind ein Engel ...« nein, nicht in Worten brach es heraus, aber das begeisterte Leuchten meiner Augen mußte es ihr sagen, und die stürmische Bewegung, mit der ich ihre Hand drückte, redeten deutlicher als Worte.
Sie war allem abhold, was an das Theatralische erinnerte. Eine weitere Erläuterung schnitt sie kurz ab, indem sie aufstand:
»Jetzt muß ich nach Papa sehen!«
Wir schritten dem Kasino zu. Ich verabschiedete mich am Portal und dann stand ich lange noch wie gebannt und sah ihr nach, sah, wie sie leicht schwebenden Schrittes die Treppe hinaufeilte und ihre Lichtgestalt, auf welcher der Sonnenschein hier draußen so verklärend geruht, von der unheimlichen Dämmerung der Hölle verschlungen wurde.
Die drei Tage waren längst verstrichen. Ich spielte nicht mehr. Ich hätte nicht gewagt, ihr wieder unter die Augen zu treten, wenn ich, trotzdem die Grenze meines Versprechens längst überschritten war, mich noch einmal von dem Dämon hätte hinreißen lassen. Doch keiner der wütendsten Spieler hielt beharrlicher das Kasino besetzt. Ich umkreiste es schlendernd, saß auf allen Bänken und lehnte auf allen Balustraden, ich durchstöberte die Zeitungen des Leseraumes und naschte in dem üppigsten [S. 267] Konzertsaal der Welt einige Takte Musik, stets von der fiebernden Sehnsucht hin und her getrieben, bis ich immer wieder Ruhe für meine Sinne und Gedanken fand an dem Spieltisch, an dem sie »arbeitete«.
Ich hielt mich im Hintergrunde, damit sie die Verlorenheit meiner Blicke nicht gewahrte. Zumeist blieb mir ihr liebes Antlitz von den Gestalten und den erregten Bewegungen der Spieler versteckt, aber ich war glücklich, auch nur ein nickendes Federchen ihres Hutes zu erhaschen. Und nichts Gleichgiltigeres, als das Klingen und Klippern des Goldes, das die andern so berauschte. Ihr Kommen und Gehen entging mir nicht. Ich schlich ihr von der Ferne nach wie ein sehnsüchtiger Gymnasiast, ich kam mir so klein und erbärmlich vor, und ich mußte mir jedesmal Mut zusprechen, um mich ihr offen zu nähern. Das geschah in den Pausen, die sie sich während der Arbeit gönnte, oder auch auf ihren Her- und Heimwegen. Sie nahm meine Begegnungen ohne Überraschung und in ihrer ruhigen und offenen Heiterkeit hin. Wir plauderten wie zwei gute Kameraden, aber sie mochte wohl die Heuchelei bemerken, mit der ich meine Leidenschaft verdeckte.
Ich hatte die Trostlosigkeit meiner Verhältnisse offen vor ihr entfaltet. Sie wüßte das, sagte sie ohne Verwunderung. Und auf meinen fragenden Blick fuhr sie fort:
[S. 268]
»Nun, ich dächte doch, man lernte es hier, Verzweiflung und Unglück aus den Gesichtern zu lesen. Aber Sie sind auf dem Wege der Besserung« — fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. Es klang nicht wie eine Frage, hell strahlten mich ihre Augen an.
»Wieso?!«
»Nun, weil Sie nicht mehr spielen, nicht mehr Ihr Heil von dem stupiden Ding einer Roulettekugel erwarten. Weil Sie sich geschworen haben, überhaupt nie wieder zu spielen. Weil Sie Mut haben wollen und willens sind, all das Verfahrene aus eigener Kraft und mit ehrlicher Arbeit wieder einzurenken!«
Ja, ja, ja ... ich gestand es mit stummem Nicken zu wie ein reuiger Knabe, der sich bessern will. »Mein Fräulein ...«
Nein, dazu hatte ich nicht den Mut — nicht dazu! Es gärte und brütete in mir, vielleicht würde ich den Mut erringen ... wer war ich denn, daß ich solches wagen durfte? Ein bankerotter Mann, der nach Monaco gereist war, um sich dort eine Kugel vor den Kopf zu schießen. Aber ich war ein anderer geworden, ich war geheilt und sie, die Süße, Einzige, mein rettender Engel! Ich bin wieder ein Mann geworden, der neugewonnenen Mutes den Kampf mit dem Leben aufnehmen wird! Ah, wer doch Hand in Hand mit ihr, dem besten Kameraden, in [S. 269] diesem Kampfe stehen dürfte! Welch eine Gefährtin für die Irrsale des Lebens!
Sie war mein rettender Engel gewesen — erforderte das nicht den Gegendienst, daß auch ich ihr eine Rettung anbot? — mein Herz, mein gutes ehrliches Herz als bergenden Hort, wo sie den bittern Harm ihrer Vergangenheit vergessen könnte, — meinen starken Arm, der von nun an all die häßliche Unbill des Lebens von ihr fernhalten würde ...
Es war nach elf Uhr abends. Die Banken waren im Begriff zu schließen, und die Diener schickten sich an, in übereiliger Hast, gerade wie in einem Theater, noch ehe das Publikum den Saal geräumt hat, die kostbaren Möbel der Spieltische mit den grünen Schutztüchern zu versehen. Drei von den Banken waren bereits geschlossen. An einer derselben hielt sie noch stand bis zur letzten Kugel. Nun erhob sie sich, und ich nahte mich ihr mit ein paar begrüßenden Worten, um ihr meine Begleitung nach Condamines hinab anzubieten. Wir durchschritten den ersten Saal, wo noch eine Bank im Gange war, dicht umwogt von aufgeregten Gestalten, die sich einander den Platz streitig machten, um die letzte Chance des Tages zu benützen. Statt der unheimlichen Kirchenstille war hier ein lauter Tumult, den die Stimmen der Croupiers nur mit Mühe übertönten. Da kam jemand aus dem hintern Saal des Trente-et-Quarante [S. 270] dahergerast, wohl ein Wahnsinniger: das wüste Gewirr seines Schwarzhaares, die hervorquellenden, lodernden Augen, der stürzende Schritt und die Hände, die verzweifelt in den beiden Taschen seines Jacketts wühlten — dahergerast, auf den Spieltisch zu.
»Faut gagner ... savez-vous ... faut gagner! ... gagner!« schrie er mit heiser krächzender Stimme. Rücksichtslos brach er durch die Masse, mit einem Ruck seiner Arme die Spieler zur Seite drängend. Man wich entsetzt zurück.
Und nun, mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegend, streute er mit den weit ausgestreckten Armen Geldstücke, Gold und Silber, aufs Geratewohl aus.
»Faut gagner ... faut gagner!« schrie er wie besessen.
»Rien ne va plus!« rief der Croupier, und er wiederholte den Ruf nochmals im gebieterischsten Tone. Da sah man den Rasenden eine Gebärde machen, als wollte er jemand mit seinen Fäusten erwürgen — etwa den Croupier dort, der ihm Einhalt gebot und der doch nichts wie seine Pflicht that?
Erschüttert und empört wandten wir uns von solch widerlichem Schauspiel ab. Draußen empfing uns die erhabene Weite eines glänzenden Sternenhimmels, und das Rauschen des Meeres drang wie ein mahnender Gruß aus einer reineren Welt zu uns herauf. [S. 271] Wir hielten unwillkürlich inne, es war ein gemeinsames, hörbares Aufatmen, mit dem wir unsere Brust von dem Alp befreiten.
Dann gingen wir langsam die Rampe nach Condamines hinab. Wir schwiegen, aber mein Schweigen war ein bebender Zorn. Nein, ich darf es nicht dulden, daß diese kostbare Blüte in solchem Pesthauch verkümmert! Nein, ich will und muß sie erretten aus solchen Höllenqualen! Und es muß uns beiden gelingen, ihn, den kranken Vater, von seinem unseligen Hirngespinst zu befreien!
»Mein Fräulein« — begann ich zögernd. »Ich will fort! Ich muß diesen Ort verlassen. Ich kann dies alles nicht länger ertragen. Ich möchte nicht von hinnen gehen, ohne einen Versuch gemacht zu haben, Sie zu erlösen ...« Und mit jedem Worte gewann meine Stimme an Festigkeit. »Sie sind meine Retterin gewesen, ich möchte Ihr Retter sein! Wollen Sie — mein — Weib werden? ..«
Ich hatte in einem Sturm ihre Hand erfaßt. Sie zuckte in der meinen, aber sie entzog sie nicht.
»Ich bin nichts« — fuhr ich fort; »vor wenig Tagen war ich ein Verlorener. Sie haben mich mir selbst zurückgegeben. Ich bin nichts, aber mit Ihnen vereint, werde ich wieder alles sein. Wir werden mit vereinten Kräften dieser häßlichen Lage Herr werden. Es [S. 272] wird alles gut, wollen Sie mein Weib werden?.. wollen Sie ...«
Sie blieb stehn. Ihre Augen weiteten sich, und ihr nach vorwärts ins Leere gewandter Blick erstarrte. Ihre geöffneten Lippen bewegten sich — aber kein hörbares Wort kam über dieselben. Nun entwand sie mir langsam ihre Hand. Nun schlug sie die Hände gegen das Gesicht, suchte für die Ellenbogen einen Halt auf der steinernen Balustrade, und das Antlitz fest in die Hände gepreßt, blieb sie regungslos. Nur das Stürmen ihres Atmens.
»Helene ... Ich liebe Sie, Helene! Ach, wie ich Sie liebe! Sie sollen glücklich werden, wie Sie es verdienen! Ich schwöre es bei diesen Sternen, daß ich Sie glücklich machen will ...«
Langsam senkte sie die Hände. Ihr starrender Blick blieb geradeaus in die Weite gerichtet. Hinter dem Felsen von Monaco war der Mond im Aufgehen, und trotzig, gewaltig, in schwarzer Silhouette zeichnete sich dieser Felsen gegen die silbern heraufdämmernde Helle. Ein fahler Schimmer, der Abglanz des Sternenhimmels, bedeckte die See, doch in greller Weiße leuchtete der Schaum der Brandung herauf.
Nun löste sich die Starrheit in ein stummes, langsames, verneinendes Wiegen des Kopfes. Tonlos kamen die Worte über ihre Lippen:
[S. 273]
»Sie sind gut. Ich danke Ihnen, o, ich danke Ihnen! Ich weiß, ich wäre glücklich geworden an Ihrer Seite. Wollen Sie sich an diesem Bekenntnis genügen lassen? — anderes kann nicht sein — es darf nicht sein! Kommen Sie!«
Dann nach einigen Schritten fuhr sie in derselben dumpfen und tonlosen Weise fort, ohne mich anzusehen:
»Ich habe meiner Mama auf ihrem Sterbebette das Versprechen gegeben, daß ich den Vater nicht verlassen will, daß ich ihm eine Hüterin und Helferin durch das Leben bleiben will —« Und da ich stutzte: »Daß Sie ihr, der Verklärten, solches nicht zur Last legen! Ich gab das Versprechen freiwillig, um ihr über die Qual der letzten Stunde mit solchem Trosteswort hinwegzuhelfen. Aber wenn ich ihr es auch nicht in Worten gegeben hätte, hier im Herzen stand das Gelöbnis fest —«
»Sie sollen und dürfen ihn auch nicht verlassen! Wir würden beide gemeinsam seine Tage behüten.«
Wieder wiegte sie verneinend den Kopf.
»Es war eine unselige Stunde, die mich zu solchem Gelöbnis trieb. Man muß barmherzig sein. Er befand sich damals vor dem Nichts, und die höchste Verzweiflung hieß ihn die Pistole von der Wand herablangen .... Sein Name, sein alter, ehrlicher Name, der zusammenbrach, und Weib und Kinder, die er in die Tiefen des Ruins mit hinabriß! ...«
[S. 274]
Ich zuckte zusammen. Wie ich mich schämte! Wie ich mich jener Stunde meines Lebens schämte, da auch ich, wenn gleich nur mit den Augen und den Gedanken, nach einer gewissen Pistole langte. Und ich war doch jung und wollte mich feige davonschleichen, gerade da das Leben mich zum Kampfe entbot!
»Man muß barmherzig sein —« wiederholte sie. »Er war krank damals. Vielleicht ist er es jetzt noch. Man muß Geduld haben. Vielleicht kommt dennoch ein Tag wo er von diesem unglückseligen System geheilt sein, wo er der Hölle den Rücken wenden wird. Er mag sehr ferne sein. Noch ist gar kein Ende abzusehn. Und ich fürchtete fast für dies Ende.«
»Wir werden ihn gemeinsam zu heilen suchen. Friede soll ihm beschieden sein, auch das schwöre ich Ihnen ...«
»Halten Sie ein ... nicht das! Es müßte ein Wunder geschehn, das ihn so bald zu heilen vermöchte. Nicht das! Sie gehören dem Leben an, und das Leben verlangt von Ihnen den ganzen Mann. Alles das würde Ihnen Fesseln anlegen. Sie müssen fort! Wir werden uns nicht wiedersehen. Es darf nicht sein! — Leben Sie wohl, lassen Sie mir die Hoffnung zurück, Sie siegreich aus dem Kampfe hervorgehen zu sehen ....«
Sie blieb stehn, und mir mit der leuchtenden Klarheit ihrer wundervollen Augen voll ins Gesicht sehend, [S. 275] reichte sie mir die Hand wieder wie damals, ein Kamerad gegen den andern:
»Versprechen Sie mir, daß Sie tapfer sein wollen ...«
Ich ergriff die Hand mit meinen beiden Händen.
»Tapfer sein und das kostbarste Kleinod zu erringen suchen!« rief ich flehend. »Helene, Einzige, Geliebte ... Ich will Geduld haben, ich will mir an Ihrer Engelsgeduld ein Vorbild nehmen! Es muß noch alles gut werden!«
»Sie werden verkommen, Sie werden verderben unter der Qual dieser Geduld!« rief sie. »Sie werden es nicht ertragen, für Jahre, auf die Ungewißheit eines Endes hin, das, was Sie lieben, an den Spieltisch gebannt zu wissen. Leben Sie wohl! Sie gehören dem Leben an! Darf ich zum Abschied eine Phrase sagen, die keine Trivialität ist in diesem Falle: Es hat mich von Herzen gefreut, Sie kennen ge ...«
Sie stockte, ihre Stimme wankte. Sie versuchte zu lächeln, aber zwei große, schwere Thränen rollten über das zarte Oval ihrer Wangen.
Da entriß sie mir die Hand, und in brüsker Bewegung, wie im Unmut über den Verrat dieser Thränen, wandte sie sich ab, um zu gehen.
»Helene!« Wie ein Ruf der Verzweiflung klang es.
Ohne sich umzusehen, wehrte sie mir mit der erhobenen [S. 276] Rechten. Zuletzt glaubte ich ein letztes schwaches Winken zu gewahren.
Wie angefesselt stand ich, mit stieren Augen, starrte noch immer in die Leere hinein, nachdem längst der Schall ihrer Schritte verhallt und das Wehen ihres Schleiers in dem nächtlichen Dämmer verschwunden war. Dann stürmte ich davon.
Ich weiß nicht, wie lange ich, den Kopf in die Hände vergraben, auf jener Bank in den Anlagen gelegen haben mochte, und wie spät es war, als ich aus meiner dumpf brütenden Verzweiflung erwachte. Der Mond stand hoch, das Meer lag in weiter Glanzeshelle gebreitet, der Kies des Weges glitzerte, und über die großen, taufeuchten Blätter der Edelpflanzen flutete es in spiegelnden Lichtern. Vor mir lag der Schatten einer Fächerpalme, unter der ich saß, in scharf gezackter Zeichnung.
Ich sprang auf. Was war denn? Was sollte werden? »Nichts — nichts — nichts!« hallte es in mir zur Antwort. Eine ungeheure Öde gähnte vor mir auf.
Ich wußte, an ihrem Entschluß war nicht zu rütteln. Kein Flehen, kein Schwur und keine Macht der Überredung hätten das verneinende Wiegen ihres Kopfes in ein Ja verwandelt. Mein Gehen war ein Muß — oder ... Nein, hinweg damit! Es war nur eine[S. 277] ganz kurze Versuchung; ich sah mich wieder vor jenem Nizzaer Waffenladen stehen, ich sah mich in plötzlichem Entschluß dort eintreten und mit der Pistole in der Tasche eine einsame, von einer Palme beschattete Bank wie diese da aufsuchen. Ah, wie widerlich, wie häßlich! Baut sie denn nicht auf mich, daß ich tapfer sein soll? Bin ich denn nicht ein Mann? Bedarf ich der Stütze eines Weibes, um mir meinen Weg zu suchen? Habe ich ihr nicht zu beweisen, daß ich ihrer und ihrer Liebe wert gewesen wäre? Auf und fort von hier! Das Leben verlangt nach mir! Sie hat recht! Das Nichts, das ich bin, soll wieder ein Etwas werden. Vielleicht ist dennoch eine Spur der Hoffnung! Vielleicht, wenn ich später einmal wieder vor sie hintrete ... Ah, daran wage ich nicht zu denken, jetzt nicht!
Wie ich aus den Büschen trat, sah ich das Kasino vor mir aufragen. Keine Phantasie eines orientalischen Märchenerzählers hätte Prächtigeres zu ersinnen vermocht als dies üppig-graziöse Ziergebilde der Architektur, wie es dort im magischen Schein des Mondlichtes wie hingezaubert stand. Aber ein ungeheurer Zorn erfaßte mich bei dem Anblick. Der Teufel war sein Baumeister, Thorheit heißt sein Fundament, Habgier und Verzweiflung lieferten das Material, und der Kitt bestand aus Thränen — hei, und wie hat das Laster den Rohbau so wundervoll übertüncht und verziert! Und [S. 278] ich hob die geballte Faust empor und schleuderte eine laut gellende Verwünschung gegen das Gebäude.
Ich hatte mich losgerissen, ohne einen Versuch, sie noch einmal zu sehen. Der Zug, den ich bestiegen, sollte mich über Savona nach Mailand bringen, von wo ich die Weiterreise nach Deutschland fortzusetzen gedachte. In Porto Maurizio erwartete uns eine Überraschung. Es hatte vorwärts dieser Station ein Felssturz stattgefunden, und der Bahndamm war auf eine Strecke weit von Trümmern überschüttet. Die Aufräumung würde mindestens einige Tage in Anspruch nehmen. Aber für den, der weiter wollte und mußte, war mit Aufopferung eines halben Tages die nächste Station auf dem Landwege zu erreichen, auch sollte von morgen ab von jenseits der Unglücksstelle ein bereitstehender Zug die Reisenden weiterführen. Kurz, das materielle Hemmnis zur Weiterreise war nicht von Belang.
Warum verschmähte ich nun diese Gelegenheiten? Warum nistete ich mich nun in Porto Maurizio ein? Etwa weil die romantische Lage des Ortes und seine üppigen Orangenhaine mich fesselten? Jetzt in dieser Seelenstimmung? War es ein naiver Aberglaube, daß eine höhere Macht mir durch diesen Sturz Halt gebot? Ja, mich umkehren hieß? War es eine letzte Anwandlung der Schwäche, die mich plötzlich lähmte und mich [S. 279] sehnsuchtskranken Herzens hier, nicht allzu weit von dem Ort meines Verhängnisses, festbannte?
Ich blieb zwei Tage in Porto Maurizio; dann beschloß ich, den Weg über Marseille zu nehmen. Ich erinnerte mich plötzlich, daß es nicht ohne Nutzen für meine geschäftliche Rehabilitierung wäre, wenn ich durch mein persönliches Erscheinen in dieser Handelsstadt gewisse kaufmännische Beziehungen auffrischte und von neuem stärkte.
Nein ich wollte nicht in Monte Carlo halten! Ich hatte mir ein direktes Billet nach Marseille genommen. Eine unwiderstehliche Versuchung hieß mich dennoch aussteigen und noch einmal die Hölle betreten. Ach, mich dürstete so nach einem letzten Blick aus ihren Augen — ach, nur auf wenige Minuten die süße Qual ihrer Nähe zu genießen! Dann wollte ich ja gehen, wohin mich das Geschick entbot.
Ich suchte an allen Tischen. Sie war nicht da. An einem derselben sah ich ihren Vater sitzen. So mochte sie draußen weilen, obgleich die Nacht schon heraufgebrochen und die Laternen schon angezündet waren, als ich das Kasino betrat. Oder ich würde sie im Konzertsaal finden — nein, ich wollte ihr ja nicht gegenübertreten! Ich mußte ihr und mir solche Begegnung ersparen! Vielleicht kam sie bald herzu, und ich durfte sie aus meinem Versteck beobachten. Weiter nichts!
[S. 280]
Noch nie war mir die Luft hier so erstickend schwül vorgekommen, noch nie so unheimlich das fahlgrüne Dämmerlicht. Die Spieler mit ihrem gierigen Hinundherhasten, und im Gegensatz dazu die Croupiers in ihrer unbegreiflichen Geschäftsruhe, alles das erschien mir in solch häßlicher Verzerrung. Ich meinte, unter Gespenstern zu weilen. Der Anblick Herrn Werlers erfüllte mich mit Jammer. Er arbeitete wie im Fieber, als gälte es die Rettung seines Systems. Seine kleinen grauen Augen flackerten, und die mit geschwollenen Adern bedeckten Hände fuhren in einem nervösen Tasten umher, rückten an den Büchern, schoben und verschoben die Goldhaufen. Er setzte nicht jedesmal, aber mit einer angstvollen Spannung beobachteten seine Blicke das Rollen der Kugel.
Jetzt erst bemerkte ich, daß auch bei den anderen Spielern eine größere Erregung herrschte. Ich hörte, wenn die Kugel einspielte, Rufe des Staunens, ja der Entrüstung. Von den benachbarten Tischen kamen Neugierige herbei. Eine Äußerung eines Umstehenden gab mir Aufschluß.
»Das ist ja zum Verzweifeln! Unerhört! Schon zweiundzwanzigmal wechselt rouge und noir!«
Es war eine jener tollen Launen des Spiel-Dämons, mit denen er all den Hoffnungen und Berechnungen ein Schnippchen schlägt. Wenn schon jene einfarbige Serie, [S. 281] wo eine Farbe bis zu dreißigmal hinter einander einschlägt, die Spieler ratlos macht, wie viel mehr eine jener alternierenden Reihen, wo rouge und noir in staunenswerter Konsequenz miteinander abwechseln.
Und immer noch rouge! Und immer noch noir das nächste Mal! Die Aufregung wuchs, es wurde nur noch vereinzelt auf Farben gesetzt. Herr Werler wiegte wie verzweifelt den Kopf. Er notierte nicht mehr. Solange die Kugel rollte, hielt er den Bleistift zum Aufzeichnen bereit. Es mußte doch anders werden! Und rouge! Und wieder noir! Jedesmal warf er in fast wütender Gebärde den Stift wieder auf den Tisch.
Bis zum vierunddreißigstenmal hatte die Scene gedauert. Da schlug zéro ein. Ein Ah! der Erlösung hallte in der Runde, als wäre alles von einem unheimlichen Alp befreit.
Zwei Louis standen auf zéro. Es erfolgte jene Säuberung des ganzen Tisches von allen Einsätzen, und dann wurden von der Bank zwei Stöße zu je fünfunddreißig Louis dem Gewinner hingeschoben.
Es mußte nur ein Gewinner sein, sonst hätte einer von zweien wenigstens einen Teil seiner Summe zurückgezogen. Aber es blieb alles stehen — nun, warum nicht? Ein beherzter Spieler!
Sofort, durch die Zuversicht ermutigt, die der unbekannte Spieler zeigte, regnete es Gold und Silber auf [S. 282] die zéro. Drei Minuten der Spannung, dann verkündete die dumpfe Stimme des Croupiers abermals — zéro.
Allgemeine Bewegung.
»Welche Chance!« rief man. »Nein, welch ein Glück!«
Zuerst wurden die kleinen Gewinne ausgezahlt. Dann schob die Bank Stöße auf Stöße voll Goldstücke auf den Haupttreffer. Von beiden Seiten des Tisches geschah es, und es dauerte eine Weile, bis der Gewinn beisammen lag. Es war ein großer Goldhaufen.
»Mein Gott, mein Gott!« rief eine naive Zuschauerin, die Hände zusammenschlagend.
»Es sind zweitausendfünfhundertzwanzig Louis!« hatte einer ausgerechnet.
»Ein Vermögen! Nein, welche Chance! — Wo ist er denn?«
Aber keine Hand rührte sich, den Gewinn einzuheimsen. Unangetastet blieb der Goldhaufen, lag da auf der leeren Fläche des zéro als eine glänzende, gleißende Masse.
Eine Minute lautloser Stille. Dann erhob sich ein Gemurmel; das Erstaunen steigerte sich. Man sah sich seine Nachbarn an, man fixierte die Gesichter der Gegenüberstehenden, wo denn dieser Verwegene sich befände?
»Unbegreiflich! Wo ist er denn? Heda, wo ist der zéro-Mann?«
Und aller Augen waren auf die Goldmasse gerichtet, [S. 283] lüstern, begehrlich, gierig, voll brennenden Heißhungers. Manchem zuckte es in den Fingern. Es war, als wollte der Goldhaufen sie alle höhnen mit seinem Gleißen; — das Gleißen schien an Glut zuzunehmen, als läge dort ein Haufen glühender Kohlen. Es war der Gottseibeiuns selbst, der für seine eigene Rechnung gespielt hatte und der sie nun alle mit dem Anblick des Goldes reizen, versuchen, zum besten halten wollte ....
»Er ist verrückt! Er ist wahnsinnig!« schallte es.
»Es ist zum Verzweifeln! Es ist, um selber wahnsinnig zu werden!« schrie einer, wie um sich Luft zu machen aus der Qual solchen Anblicks.
Aber niemand, der sich meldete. Schwer und stumm, in brutaler Aufdringlichkeit breitete sich das Gold auf dem Tisch.
Das Gerücht hatte sich den anderen Tischen mitgeteilt. Zuschauer stürzten herbei, um das Schauspiel zu genießen.
»Aber, mein Gott, was ist da weiter?« näselte ein Dandy; — »so muß man es doch machen, um eine Bank zu sprengen!«
»Dumm, sehr dumm!« meinte ein anderer. »Ich würde doch nicht gerade die zéro nehmen!«
»Faites votre jeu!« drängten die Croupiers. Der eine derselben war ganz ungeduldig: lag es doch im Interesse der Bank, daß der rätselhafte Spieler sich nicht meldete oder nicht fand. Eine dritte zéro war wohl nicht[S. 284] zu erwarten, und so stürzte der ganze Goldhaufen wieder in den Abgrund zurück.
Wenige Einsätze wurden riskiert. Da, mitten in die Aufregung hinein, ertönte das ganz monotone, das empörend gleichgiltige:
»Le jeu est fait! Rien ne va plus!« Cynisch lächelte der Rufer.
»A—h!« Ein allgemeines Ah! Es war soviel Schadenfreude dabei, das Gold wieder verschlungen zu sehen.
Die Kugel rollte, rollte und fiel dann mit einem knarrenden Poltern hinab.
Atembeklemmende Stille ringsum.
»Zéro!« flüsterte der Beamte. Man hörte es kaum.
»Was — zéro? Abermals zéro?«
»Zéro!« bestätigte der Beamte lauter, mit einem Achselzucken.
Ein Sturm brach los.
»Die Bank ist gesprengt! Heidi, die Bank!« rief man. Es war ein allgemeiner Jubel. Mit höhnischen Blicken musterte man die Beamten, aber keine Miene zuckte in einem dieser verhärteten Gesichter. Einer warf die trockene Bemerkung hin, die Bank hätte ja die Summe nicht anzunehmen gebraucht, wenn sie nicht gewollt hätte.
In aller Ruhe wurden die kleinen Gewinne ausbezahlt; da kamen auch schon zwei Beamte mit einer[S. 285] Kassette heran. Einer trug sie, der andere diente als Wache.
»Eine Million achtmalhundertvierzehntausendvierhundert Franken!« rief der Rechner von vorhin.
»Zwei Millionen! Unglaublich! Und das mit dreimal zéro! Der Teufel hat seine Hand darin!«
Die Kassette wurde geöffnet, und die Beamten machten sich daran, die eine Million achtmalhunderttausend in Banknoten abzuzählen. Es dauerte eine gute Weile.
»So ein Zeitverlust wegen solch einer Lappalie!« rief ein wütender Spieler. »Allons, faites votre jeu!«
»Stille!« gebot man von der Bank her.
Nun stand einer der Croupiers auf, die Hände voll blauer und grüner Banknoten. »Pardon, meine Herren!« Dann legte er mit einer seltsam elegant nachlässigen Geste einen Haufen zusammengefalteter Päckchen neben dem Golde nieder.
Und nun das Schlußstück dieses wundervollen Schauspiels! Nun wird man ihn, den Tollkühnen, den Wahnsinnigen, den vom Teufel Besessenen, endlich hervortreten sehen, um seine Millionen in Empfang zu nehmen! Irgend ein excentrischer Lebemann, der mit kältester Ruhe der Welt seinen Arm nach dem Mammon ausstrecken wird, um die Banknoten, als wären es Zeitungsnummern, einfach in seine Taschen zu stopfen, und mit dem klingenden Golde — es ist so unbequem zu transportieren —[S. 286] die Chancen des Tisches zu überschütten. Eine Sehenswürdigkeit! — er wird fortan in den Annalen des grünen Tisches als Berühmtheit fortleben!
Aber wo ist er denn? Zum Teufel, warum stellt er sich nicht ein? Heran mit ihm! Heran — damit das lange verhaltene Hallo der Menge endlich ausbrechen kann!
Fiebernde Spannung ringsum; selbst die Beamten der Bank können ihre Neugierde nicht verbergen. Aber niemand — niemand! — herrenlos bleiben die Millionen liegen ....
»Es ist eine Komödie der Bank —« flüstert jemand, — »sie hat selber gesetzt, um ein Aufsehen zu machen und die Spieler anzureizen.«
Ja, was soll man anderes glauben? Oder hat der Unbekannte seine zwei Louis gesetzt, um sich in seinem Übermut gar nicht mehr darum zu kümmern? Das kommt öfter vor. Die Kunde wird ihn aber da draußen, wo er jedenfalls sitzt und seinen Kaffee schlürft, bald genug erreichen ...
Ich hatte während dieser ganzen Aktion Herrn Werler nicht aus den Augen verloren. Seit dem dritten zéro saß er wie vernichtet. Seine starren Augen irrten in der Runde wie in einer Leere umher! ratlos trommelte die eine Hand auf der Tischplatte. Hatte denn diese dreifache zéro sein System — zum wievieltenmal? — [S. 287] zu Falle gebracht? Nun und die Absonderlichkeit der voraufgegangenen Serie und das sensationelle Ereignis der herrenlosen Millionen! — im Fluge fiel mich der Gedanke an: sollte er dennoch von einem schlimmeren Wahne befallen sein, als seine Tochter es ahnte? Sollte er die beiden Louis gesetzt haben und zögerte nun, in dem Wahnsinn seines Trotzes, das Gold von des Teufels Gnaden anzunehmen? Ah, ein Unsinn! Eine Idee, wie sie nur diese aufgeregte Stunde in mir erzeugen konnte!
Immer noch niemand! — Schon forderte die Bank zum neuen Spiel auf. Da erhob sich der Obercroupier, ein überfeiner, geschniegelter Herr, der bisher in allem Sturm mit der Unbeweglichkeit einer Wachsfigur dagesessen hatte. Das Lorgnon in der halb erhobenen Rechten, fragte er mit seiner hohen Stimme: »A qui la masse?«
Schweigen, Achselzucken ringsum.
Und nochmals lauter: »A qui la masse? — Die Summe bleibt natürlich aus dem Spiel. Sie steht noch eine Viertelstunde dem Gewinner zur Verfügung und wird, falls er sich nicht meldet, von der Bank zurückgezogen.«
Noch ehe er geendet, entstand an dem Ende des Tisches, dicht vor den angehäuften Millionen, eine Erregung. War jemand in Ohnmacht gefallen?
[S. 288]
Es war der winzige, fast zur Unscheinbarkeit zusammengesunkene Körper einer alten Dame, der eine seltsam gleitende Bewegung gemacht hatte, als wollte er gänzlich unter den Tisch rutschen.
»He, Madame?! Madame!«
Umsonst alle Fragen und alles Rütteln. Der Kopf, den eine Art Haube mit zerknitterten und verschossenen Bändern bedeckte, war ganz vornüber genickt. Man wollte ihn aufheben, da fuhr eine der Damen, die sich um die Kranke bemühten, mit einem Schrei empor. Ein Paar so unheimlich glasige Augen hatten sie aus den Falten eines wachsfarbenen, verzerrten Antlitzes angestarrt ....
»Ein Arzt! Ist vielleicht ein Arzt da?«
»Faites votre jeu, messieurs!«
Eine Ohnmächtige! — die Luft ist so schlecht hier im Saal, und die ungeheure Aufregung — dergleichen kommt wohl vor. Es hat nichts zu bedeuten. Man muß sie nur fortschaffen. Der Anblick stört das Geschäft!
Jetzt ist ein zufällig anwesender Arzt damit beschäftigt, den Zustand der Ohnmächtigen zu untersuchen. Steif und schwer sinkt das ausgestreckte Ärmchen, dessen Hand noch so eigenartig gekrallt ist, als wäre sie eben im Begriff gewesen, aus einem Goldhaufen zu schöpfen, auf den Tisch nieder. Der Arzt zieht langsam Schultern [S. 289] und Brauen empor, und mit einem seltsam verlegenen Lächeln flüstert er ein Wort.
»Rien ne va plus!« schallt es von der Bank her.
Und das Wort des Arztes wird von diesem Ruf übertönt. Aber dennoch hat man es verstanden. Etwas Fürchterliches, Unheimliches! Von Mund zu Mund fliegt es sofort, und die aufgeschreckten Augen bestätigen es.
Tot!
Der Tod an dem Roulette! Das Schicksal, das einen Menschen vom grünen Tisch jäh hinwegzerrt, da er eben seine gierig zitternde Hand nach ein paar elenden Goldstücken ausstrecken wollte! — Doch nicht etwa nach jenen Millionen? Nun, man ist nicht sicher; aber später, als die Aufregung sich gelegt, als die Millionen längst wieder von der Bank zurückgezogen waren, wollten benachbarte Spieler sich erinnern, daß jene beiden Louis von einer gewissen winzigen Hand auf die zéro vorgeschoben worden waren. Die Hand gehörte einer Marquise M., einer der eifrigsten Habitués des grünen Tisches. Welch eine grauenerregende Tragikomödie des Schicksals!
Tot! — Zuerst lähmendes Entsetzen, das aller Mienen und Gebärden gefangen hält. Und nur das laut knarrende Rollen der Kugel in dem Roulette.
»Es ist nichts, eine Ohnmacht!« will einer der Beamten beschwichtigen. Eine ganze Schar von Dienern und Beamten ist schon damit beschäftigt, in widerlicher [S. 290] Eile den Körper der Toten wegzuschaffen. Vorsichtig, damit die an den anderen Tischen nichts merken, damit das Geschäft keine Unterbrechung erleidet. Was ist weiter? Es fallen so viele Opfer in Monaco — laßt einmal eines auf der Wahlstatt selbst erlegen sein!
Das Entsetzen wächst. Alles hat sich erhoben; aber viele Spieler wollen dennoch ihren Gewinn nicht im Stich lassen: »Es ist nur eine Ohnmacht ...« Mit einem verlegenen Lächeln der Scham streichen sie ihre Goldstücke ein, welche die Bank hastig auszahlt, und machen sich davon.
Aber die Bank wagt es doch nicht, ein neues Spiel zu eröffnen. Ratlos, flüsternd, achselzuckend stehen die Beamten am Tische, der von den Spiellustigen gemieden wird. Das Ereignis hat an den anderen Tischen keine Störung hervorgerufen, doch die scheuen Blicke fliegen nach der Stätte des Unglücks hinüber, wo auf der ungeheuren Leere der grünen Fläche immer noch die Millionen harren, grell von dem orangegelben Licht der großen Lampe beleuchtet. Dort sieht man auch die geschniegelte Wachsfigur des Obercroupiers stehen, der mit scharfen Polizeiaugen den Mammon hütet; von Zeit zu Zeit nimmt er seinen Remontoir aus der Tasche; bald wird die angesagte Viertelstunde verstrichen sein, dann werden die Beamten die Millionen weggeräumt haben, die letzte Erinnerung an diese »Störung des Geschäftsbetriebs« [S. 291] — und dann wird der Teufel wieder sein »Faites votre jeu!« ausrufen, als wäre nichts geschehen!
Solches also mußte sich ereignen, damit das System Herrn Werlers zum Auffliegen gebracht wurde!
Der alte Herr hatte sich mit den anderen erhoben. Totenblässe bedeckte sein verstörtes Antlitz, und seine Augen drückten äußerstes Entsetzen aus. In mechanischer Bewegung hatte er einen Teil seiner Bücher und Listen zusammengerafft, den an seinen Stuhl lehnenden Krückstock ergriffen und schickte sich an, mit dessen Hilfe den Saal zu verlassen. Das war nicht so leicht auf der tückischen Glätte des Parketts. Zehn Schritte mühte er sich vorwärts, dann blieb er stehen, sich mit hilflosen Blicken nach seiner Tochter umsehend. Seine gebückte Gestalt schien zu wanken — ich war herzugesprungen.
»Herr Werler, darf ich Ihnen helfen?« Und ich bot ihm meinen Arm.
Er sah mich mit ängstlichem Erstaunen an. Da bemerkte ich, daß er einiges von seinen Aufzeichnungen hatte fallen lassen. Ich bückte mich, um ihm das zuzustellen.
Mit einer heftig abwehrenden Gebärde, die fast wie ein Abscheu aussah, wies er die Heftchen von sich. Etwas wie ein »Nimmermehr!« entfuhr ihm.
»Sie dürfen ruhig meinen Arm annehmen —« beruhigte ich ihn. »Ich habe die Ehre, Ihr Fräulein [S. 292] Tochter zu kennen. Sie muß Ihnen von mir erzählt haben,« wie sie sagte — »Thomas Born,« stellte ich mich vor. »Wir werden die Dame sicherlich draußen treffen.«
Er ließ es ruhig geschehen, daß ich, seinen Arm kräftig unterstützend, ihn hinaus begleitete.
Die Kunde des Unfalls mochte schon bis in den Musiksaal gedrungen sein. Wir sahen Helene plötzlich in angstvoller Hast aus der Thür dieses Saales stürzen. »Es ist einer an dem Roulette vom Schlag getroffen worden!« Dies herumfliegende Gerücht hatte sie, von plötzlichem Schreck erfaßt, aufspringen heißen. Es konnte — konnte der Vater sein ...
Gottlob, da war er ja! Und von der Freude, ihn wiederzusehen, ward fast das Staunen verdeckt, mich als seine Stütze zu erblicken. Nur ein kurzes, schnelles »Herr Born!«, dann sofort die gewohnte Beherrschung. »Ah, wie danke ich Ihnen, mein Herr!«
Aber die Röte, die verräterische Glühröte ihres lieben, lieben Gesichtes ...
Sie hatte statt meiner die Führung übernommen.
»Was ist Dir, Vater? Ist Dir nicht wohl?«
»O doch ... wohl, sehr wohl!« Es klang wie eine Erlösung. »Komm, wir wollen gehen.« Und nach ein paar Schritten: »Wir wollen fort ... es ist genug ... Wir wollen reisen, hörst Du?«
[S. 293]
Wer beschreibt den fragenden Blick des Staunens, des Zweifels, der verhaltenen Freude, den wir beide über den Kopf des Vaters hinweg uns zuwarfen?
Jahre sind seitdem vergangen. Die Erinnerung an all die häßliche Widerwärtigkeit jener Tage ist längst verblaßt unter dem Sonnenschein unseres Glückes. Aus dem »Nichts« ist ein Mann erstanden, der mit Ernst und Thatkraft die Geschicke der Seinen meistert. Aber das Selbstbewußtsein, das er aus dem wachsenden Gedeihen seiner Unternehmungen schöpft, will sich gerne dem Bekenntnis unterordnen, daß nur die Kameradschaft des tapfersten und prächtigsten Weibes ihn so freudigen Mutes im Kampfe des Lebens streiten heißt.
Herr Werler ist von seinem Hirngespinst geheilt, von allen Hirngespinsten, mit denen wir armen Erdenwürmer uns selbst die Ruhe unserer Seelen vergiften. Er ist in einen besseren Frieden eingegangen, als der war, den ihm unsere Pflege und Aufopferung bieten konnte. Er hielt sich in der Stille mit seinen Gedanken, aber das freundliche Nicken seines Kopfes und der Sonnenschein, der zuweilen seine verhärmten Züge verklärte, sagte uns deutlich: »Ihr seid im richtigen System! Haltet fest daran! — mit der Liebe und Treue als Einsatz werdet ihr stets Gewinner bleiben!«
[S. 295]
[S. 297]
Er gedieh nicht; ein Jammer anzusehen, wie das arme Kerlchen von Tag zu Tag immer mehr dahinsiechte. All den Ratschlägen der Tanten und Gevatterinnen, all der Ratlosigkeit des Arztes und meinem verzweifelten Zureden und den bitteren Thränen seiner armen kleinen Mama zum Trotz. Es schmeckte ihm nichts, nichts. Er wollte weder von den erstaunlichen Pausbacken wissen, die ihm die verschiedenen künstlichen Nahrungen garantierten, noch von der versiegelten und täglich gleichsam immer neuvereideten Reinheit der Kuhmilch aus dem Musterstall. Wir hatten es mit einer Amme versucht; die war gleich am dritten Tag mit der Köchin in handgreiflichen Streit geraten, und der Arzt verbot die Nahrung von solch einer cholerischen Person.
Dabei so artig, fast ohne einen Laut in sein Schicksal ergeben, nur daß er das Mündchen in den Ecken wie zum Weinen herabzog und mit dieser Miene stumm dalag, uns allen ein Vorwurf. Und das Flehen seiner großen runden, braunen Augen! Ja, es war ein [S. 298] Jammer, anzusehen, wie meine arme Frau zugleich mit ihm verkümmerte!
Eines Tages klingelt es mörderlich. Die Res’! Sie will ’mal nachschauen, wie es geht, na und der Bub’ — »wo is er, der Bub’?« Kaum, daß sie sich Zeit nimmt, uns guten Tag zu sagen, da will sie auch schon den Bub’ sehn. Und nun tapste sie mit ihren dicken Bauernschuhen über das Parkett, nach der Kinderstube hin.
Welch ein prächtiges Weib! Eine hohe, üppige Gestalt, nicht hübsch von Gesicht, aber voll fröhlichen Lebens, mit lachenden Blauaugen; ein Hauch von Gesundheit wehte jedesmal mit ihr herein, wenn sie kam.
Die Dankbarkeit lag ihr so im Blut. Ihren Eltern war von meinen Schwiegereltern gutes geschehn; ich glaube, ihr Vater war auf Abwege geraten und hatte gesessen. Als er herauskam, da brachte es der Schwiegerpapa, der Arzt an dem kleinen Orte war, fertig, ihn langsam, aber mit Hartnäckigkeit wieder in die Achtung der Leute einzusetzen; so machte er einen brauchbaren Menschen aus ihm. Auch sonst schlug der Makel in einen Segen um; die drei Töchter waren gut verheiratet, die Res’ an einen Schmied in einem rheingauer Dorf.
Gut also, der Bub’! Sie gratuliert auch noch, sie hat ihn noch nicht einmal gesehn, extra des Bub’ wegen ist sie gekommen. Wie die Spitzenhülle von dem Bettchen aufgehoben wird und sie das kleine jämmerliche [S. 299] Gesichtchen gewahrt, das fast in dem verschobenen Häubchen verschwindet, da stutzt sie. Gleich aber faßt sie sich: — ein Stadtkind! Die sind alle blaß und gebrechlich, das ist vornehm! — sie darf dabei doch auch nicht an einen gewissen feisten, robusten Burschen daheim denken, den sie mit seinen acht Monaten im Bettchen festbinden müssen, damit er nicht ausbricht, und der neulich fast eine Katze mit seinen Fäustchen erdrückt hätte.
»Ein sauberer Bub’ —« sagt sie zögernd, mit einer gewissen Verlegenheit — »ein prächtiger Bub’« wäre eine Lüge gewesen — aber »sauber«, dagegen ist nichts zu sagen und — »ein hübscher Bub’!« Sie meint gewiß die Augen, ganz die Augen meines Weibes.
»Gelle!« macht sie, mit dem breiten Zeigefinger das blasse Bäckchen des Kindes betupfend, »gelle — gelle!« Aber nichts erfolgte zur Antwort als ein Herabziehen der Mundwinkel, dazu die vorwurfsvolle Duldermiene.
Meine kleine Frau brach in Thränen aus; bald wußte die Res’ den ganzen Jammer. »Naa — naa — naa« — es geht ihr selbst zu Herzen, und sie schüttelt immer wieder den Kopf, daß die grellbunten Zeugblumen auf ihrem runden Strohhut zittern.
Später, nachdem sie sich zu dem Frühstück hatte nötigen lassen, fuhr sie plötzlich, gleich nach den ersten Bissen, die ihr nicht recht zu munden schienen, heraus: »Wenn ich euch helfe’ dhät’?« sagt sie, mit einem verschmitzten [S. 300] Zwinkern der Augen. »Wenn ich euch helf’ — wart’, ich helf’ euch!«
Sie legte das Messer klirrend auf den Teller, und ihre Augen strahlten uns an vor Freude. Ja vor Freude über das Rettungsmittel, das sie für den Kleinen gefunden, fiel sie nun mit einem wahren Arbeiterappetit über das Frühstück her.
Wir begriffen nicht, was sie meinte, nicht das Allereinfachste, Natürlichste; statt aller Antwort zwinkerte sie nur wieder mit den Augen, dann stand sie bald auf und empfahl sich — die Idee läßt ihr keine Ruhe.
Zwei Tage nichts. Am dritten Tage war sie wieder da, diesmal mit einem vorsichtigen Klingeln, wegen des Bub’. »Da bin ich!« rief sie hochatmend, sie war so geeilt — als wenn die Idee solche Eile machte! Sie stupfte ein Bündel in die Flurecke, der Mann brächte das andere.
Na, ob wir denn nicht begriffen? Sie war ganz verwundert, wie verdutzt wir dastanden. — »Wollt ihr mich denn nit habbe’?« fragte sie, die Arme mit den Handrücken in die Seiten gestemmt. »Ich bleib’!«
Damit, schon ganz bei uns zu Hause, legte sie schnell ab und eilte, das Tapsen der Bauernschuhe dämpfend, nach der Kinderstube hin.
Sie blieb in der Thüre stehen: »Ach du mein!« Da saß die Kindermagd, den Kleinen auf dem Schoß, und [S. 301] versuchte ihm mit einem Löffelchen den Brei beizubringen, er aber sträubte und wand sich mit einer Art Entsetzen. Gleich darauf hatte die Res’ mit einer fast entrüsteten Gebärde den Brei zur Seite geschoben, dann nahm sie der erschrockenen Magd den Kleinen vom Schoß: »Komm, Bubbche’! Gelle, mir zwei beid’, mir schaffe’s!«
Sie flüchtete mit ihm in die Nebenstube. Wir waren immer noch stumm vor Verwunderung. Anfangs schien er sich da drinnen auch zu widersetzen, er weinte, sie beruhigte ihn. Plötzlich war es ganz still. Eine so seltsame, feierliche Stille. Dann hörten wir das Schmecken und Schlecken seiner kleinen Lippen, immer lauter, immer gieriger. Zuweilen hielt er mit einem Aufatmen der Befriedigung inne, gleich aber, mit einem feinen Gröhlen der Ungeduld über die Versäumnis, schnabulierte er weiter.
Er trinkt! der Junge trinkt! — Als wenn ein hochwichtiges Ereignis das ganze Haus in bebender Spannung hielte. Gott gelobt, es schmeckt ihm wieder! Mein Frauchen sank mir mit Thränen der Rührung und Freude an die Brust.
Es dauerte eine gute Weile, bis die Res’ wieder erschien. Sie war selbst rot vor Glückseligkeit über den gelungenen Streich. Sie stand in der Thür, und mit erhobenen Armen, wie triumphierend, hielt sie uns das [S. 302] Knäblein hin; freudig lächelnd nickte sie uns zu »Gelle ...«
Das Gesichtchen des Kleinen blühte in einem zarten Rosa, fast schien es, als hätten seine Bäckchen schon zugenommen. Jetzt reckte und dehnte er sich, bald darauf neigte sich sein Köpfchen zum Schlaf.
Wie kräftig er schlief nach solcher Mahlzeit! Wie wohlig er atmete! Wie wir Großen den Atem anhielten, daß er nicht aufwachte! Flüsternd ward die Unterhaltung geführt. »Ich bleib’!« sagte die Res’, und sie war erstaunt, daß wir das nicht ganz natürlich fanden.
»Aber Res’, liebe gute Res’, dein Junge! du kannst doch nicht abkommen?« wehrte meine Frau.
»Nix da! ich bleib’! Ob ihr mich habbe’ wollt oder nit! Der Bub’ soll mich schon habbe’ wolle’. Mei’ Jung — ach der Kujon der! der Spitzbub’! Der hat genug kriegt. Bub’, jetzt kommt ’e Anneres ’ran, bis’ still, sagt’ ich, weil er flennen wollt. Jetzt kriegste Fleisch un’ Wei’, gelle! sagt’ ich. Kiedricher Ausles’!« Und sie lachte. »Jetzt kann er sich mit dem Spitzbub’ plag’n (sie meinte ihren Mann), ich bleib’! hier gehör’ ich hin, nit anners!«
Zuletzt wollte sie ärgerlich werden, daß wir so viel Wesen machten. Es war so selbstverständlich: — sie bleibt und damit fertig!
[S. 303]
Und sie blieb. Der Bub’ hätte gewiß nicht anders entschieden, wenn er befragt worden wäre. Er regalierte sich so. Sichtlich lebte er auf. Die Bäckchen begannen sich zu runden, und die gelbliche Blässe verschwand; seine Augen strahlten fröhlich — o er spielte den Großmütigen, nun, da er im Vollen saß, und er trug uns nichts nach, uns anderen!
»Er«, der Mann, erschien nicht, wie sie verkündet, um ihre Sachen zu bringen. Er hätte zu viel »ze schaffe«, ließ er sagen. Statt dessen erschien der Lehrjunge, ein langes Geschöpf mit losen und schlenkernden Gliedmaßen, mit einem merkwürdig kleinen Kopf und ungeheuren schwärzlichen Händen, die mit Narben und Rissen bedeckt waren.
Was denn der Kujon machte, fragte Frau Res’, »is er staats brav?«
»Er trinkt Wei’!« sagte der Lehrjunge, von einem Ohr zum andern grinsend.
»Kiedricher Ausles’!« lachte sie schelmisch, und wir lachten mit.
Ob er sich denn nach seiner Mutter sehnt?
»Na ... a ... a« grinste jener.
Da stach sie wahrhaftig eine kleine Eifersucht; sie hatte uns erzählt, wie lieb der junge Mann gegen ihren Bub’ sei und wie zuthunlich der gegen solchen Ersatz eines Kindermädchens. In der Schmiede nicht zu brauchen, [S. 304] aber als Kindermädchen ausgezeichnet! Er hätte wohl »ja« sagen können statt seines etwas unverschämten »Na«.
»Du langer Lala!« fuhr sie heraus. »Labbes! Was, er hat kei’ Heimweh? Sofort machste, daß de ’naus kömmst.«
Gleich lenkte sie ein: »Kömmste her, stoß mit dem gnädigen Herrn und der gnädigen Frau an!«
Und wir vier tranken auf das Wohl unserer Knaben, »der beide Spitzbub’«.
Nachher ließ ihr die Muttersorge doch keine Ruhe, und sie hatte im Flur noch eine Konferenz mit dem »langen Lala,« den Kujon betreffend.
Von da ab bekam sie nur spärliche Nachricht von Haus; sie wußte, ihr Liebling war gut aufgehoben. Zuweilen sandte »er« ein Schreiben; das Couvert linkisch schön vom Lehrjungen geschrieben (auch darin ist er geschickt, nur nicht in der Schmiede!) Aber das Schriftstück selbst, das »er« angefertigt! — sie schämte sich, es uns sehen zu lassen, allein schon wegen der schwarzen Fingerspuren, die es wie ein Blumenmuster bedeckten. Welche Mühe mußte seinen ungelenken Händen das Strecken und Schmieden und Aushämmern dieser widerspenstigen Zeilen gemacht haben!
Das Schreiben enthielt nicht viel, ein paar Mitteilungen über die laufende Arbeit. Zum Schluß, daß es dem Bub’ staats geht und er fleißig Wein trinkt. [S. 305] Dennoch studierte sie oft und lange an diesen Berichten. Meine Frau hatte sie einmal spät am Abend überrascht, wie sie, im Bette liegend, beim müden Dämmerschein der Nachtlampe eins der Papiere in den Händen hielt und darin aufmerksam las. Das brave, prächtige Weib! Sie wollte uns nicht merken lassen, welches Opfer sie uns brächte, und wie sehnsüchtig ihre Gedanken nach der Heimat flogen.
Plötzlich stellte »er« sich selber ein, nachdem vierzehn Tage jedes Schreiben ausgeblieben war. Ein mächtiger, massiver Mann, selber wie aus Eisen getrieben, sogar das Gesicht: schwarze Haare, schwarze Gestrüppe von Brauen, ein schwarzer Kranzbart unter dem Kinn, das übrige bis in die Augen hinein schwärzlich glänzend rasiert — nur die Augen und die Lippen, wenn er sie öffnete, sahen wie aus weicherem Stoff gefertigt aus.
Die Begrüßung mit seinem Weib war die denkbar einfachste. Ein kurzes Auffahren der Überraschung von ihrer Seite, dann schritt sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand, ohne daß sich in dem Eisenwerk seines Antlitzes etwas regte. Er war kein Freund vom Reden. Wie es ginge? was der Bub’ machte? — Doch nur ein bejahendes Nicken zur Antwort.
Einen Augenblick war es, als käme ihr die Nuance dieses Nickens nicht ganz geheuer vor: — warum war er doch gekommen? »Geschäfte,« meinte er mit einem [S. 306] Achselzucken, und er wandte sich ab. Dann schien es, als wollte er sie beiseite haben, um ihr etwas zu sagen. Da meldete sich gerade unser Junge. »Komm, du mußt den Bub’ begucke!« rief sie und zog ihn in die Kinderstube.
Alle waren wir begierig, sein Urteil einzuholen. Er stand vor dem Bettchen, den Kranzbart mit der schwieligen Hand nach vorwärts streichelnd, und betrachtete den Kleinen mit einer Wichtigkeit, als wäre es irgend ein schwieriges Stück Schmiedearbeit, über dessen Ausführung er sich noch den Kopf zerbräche.
»Gelle,« sagte sie, »was mer’n rausgefuttert! Noch eine sechs Wöchelche’, dann kenne’ mer ihm Wei’ gebe’. Ißt er denn gut?« (Das galt wohl wieder ihrem zu Haus?)
Der Mann nickte. Auch das kam etwas matt heraus. Was ist ihm nur? »Ich wär’ längst komme’,« fuhr sie fort, »um zu gucke’, aber es dhät mer ze leid, nochmals fort ze mache’. Noch eine sechs Wöchelche ...«
Es war gut, daß der Kleine gerade das Fäustchen aus dem Munde zog und eine Probe seiner erstarkten Lunge zum besten gab, mit den nackten Armen und Beinen dazu den Takt schlagend — es war gut, daß sie, wie sie sich sofort daran machte, ihn zu beruhigen, den seltsam schweren Seufzer nicht vernahm, mit dem ihr Mann sich abwandte.
[S. 307]
Ich nahm ihn in einer Ecke vor: ob denn zu Haus irgend etwas nicht in Ordnung wäre?
Da ward das Eisen ordentlich lebendig. — »Naa—naa—naa!« wehrte er. »Staats, alles staats!« Aber das Lächeln dazu war so eigenartig zäh, und es erkaltete sofort zu der üblichen Starrheit.
Mein Verdacht war dennoch nicht unbegründet gewesen. Eine Weile darauf kam die Res’ von einem Ausgang heim, aufgeregt, mit stürzenden Thränen. Ihr Bub’ — ihr armer kleiner Schelm! — Was denn? — Nun, sie hatte den Lehrjungen auf der Straße getroffen; es war ihm vom Manne verboten worden, zu ihr zu gehen, damit er nicht plauderte. Also der Bub’ war so krank gewesen. Sie hatten den Doktor, und sie meinten, sie meinten — dabei wären dem Jungen die hellen Thränen über die Wangen gelaufen: er hat den Bub’ so arg gern! — Der Meister wär’ doch in der Stadt gewesen, um sie zu holen und .... und ....
Ich vollendete für sie: und als er unseren Kleinen sah, wie sehr der gedieh, aber wie viel ihm doch noch mangelte, und daß er die Res’ nicht entbehren könnte, die ersten sechs Wöchelchen ganz sicher nicht, da hat er nichts gesagt und ist unverrichteter Dinge nach Haus zurückgekehrt. Der liebe Gott wird nicht so grausam sein!
»Sofort, Res’, werden Sie sich aufmachen und nach Haus fahren!«
[S. 308]
»Naa — o naa!« — sie erschrak so. »Und der Bub’ da! Des wär’ mer ei’ schöne Geschicht’! Meiner is ja widder besser. Ich will hin mache’ und gucke’, abends bin ich wieder hinne.« —
Gut also, wir setzten sie auf die Bahn, und sie fuhr nach Haus. Am Abend war sie wieder zurück: — Gottlob, ihr Bub’ erholte sich wieder! Aber »er« hat den Lehrjungen fast kaput gehauen.
»Warum denn?«
»Weil er gebabbelt. Ich sollt’ nix wisse’. Weil ich doch nit fort könnt’, und die Angst, die ich mir mache’ dhät, könnt unserm Bub’ hier schade’.«
Zum Teufel die Pessimisten! Was giebt es doch für brave, für tapfere, herrliche Menschen!
Wir verlangten, daß sie wenigstens ihren Kleinen sofort herholte, damit wir ihn gemeinsam mit dem unsern in Pflege nähmen.
»O — naa! — des darf ich »ihm« net andhue’! Aber .... aber wenn ich mit dem da hinmache’ dhät’?«
Sie stutzte, als wenn sie sich doch zu viel des Wunsches herausgenommen und ihr Herz gar zu sehr bloßgelegt hätte.
»Gewiß, gewiß!« Sofort fielen wir freudig ein. »Topp! Gleich morgen soll diese ausgezeichnete Idee ausgeführt werden!«
[S. 309]
»Die Luft da auße’ — die schöne Luft!«
Es war, als wollte sie uns mit dem Leckerbissen dieser Luft, den sie uns nun vorhielt, den Abschied versüßen.
Am andern Tage hielt unser Kleiner seinen Einzug in Frau Rese’s Heim. Wir selber waren nicht zugegen, wir sollten später kommen und uns die Bäckelchen ansehen, die ihm die Luft da draußen anmalen würde. Insgeheim fürchtete sie wohl, daß ihre Häuslichkeit während ihrer Abwesenheit nicht gerade an Blankheit zugenommen. —
An einem wunderschönen Sommertag also fuhren wir hin. Stromauf, stromab glänzte und gleißte der Rheinspiegel im Sonnenschein, das weite Thal mit gewaltiger Helle erfüllend. Von den jungen Blättern der Rebengelände ging ein fröhliches Glitzern aus, und so geheimnisvoll summte und surrte es zwischen den parademäßig zu Kolonnen gereihten Weinstöcken, als spürte man die brütende Arbeit der Sonne. Fern in einer Mulde, am Fuße des bläulich-grün dämmernden Taunus, lag das Dorf. Und von dort gellte das helle »Ping! Ping!« eines Schmiedehammers herüber. Das war »er« — nachher würde er uns kein so wortreiches Willkomm zu bieten haben, da ließ er vorerst seinen Hammer reden und schickte uns das fröhliche Ping-ping seines Grußes weithin über Felder und Weinberge entgegen.
[S. 310]
Bald hielten wir vor dem Häuschen, das so schmuck und niedlich gegen das rußige, wütend fauchende Ungeheuer der Schmiede daneben abstach. Die Thür beschattete ein Rebendach, und wer saß unter demselben, in dem von huschenden Sonnenflecken besprenkelten Schatten? — der »lange Lala« in seinem Amt als Kindermädchen! Saß da auf der Stufe, mit den aufgestemmten Beinen zwei Bänke bildend, auf denen unsere beiden saßen. Unter den ungeheuren schwarzen Tatzen seiner Hände verschwanden fast die beiden Kleinigkeiten; zwischen ihren Köpfchen hindurch bot er uns das breiteste Grinsen seines Mundes zum Willkomm. Da erschien auch die Res’ in der Thür, die rotbraunen Arme noch an der Schürze abtrocknend, üppiger und prächtiger denn je. »Ei du mein!« rief sie uns entgegen. Gleich aber erhielt der Lala einen Klaps: »Hättst dir a de Händ butz’n kenne’!«
»Schad’t nichts! Schad’t nichts!« riefen wir aussteigend. Das Wiedersehen, oh das Wiedersehen! — Triumphierend stand die Res’ und weidete sich an unseren staunenden Mienen, wie wir die Bäckelchen, um derentwillen wir doch gekommen, inspizierten. »Gelle? gelle, die Luft!«
Da erschien auch »er«, und das schwärzliche Eisen seines Antlitzes bequemte sich wahrhaftig zu einer Art freundlichen Lächelns. Beim Imbiß darauf sollten wir [S. 311] auch die berühmte »Kiedricher Auslese« kennen lernen. Mein Frauchen hatte Mühe, sich nichts merken zu lassen, wie herb ihr der Wein mundete. Aber ein wahres Entsetzen erfaßte sie, als Frau Res’ sich nun daran machte den beiden »Spitzbuben« das Glas an die Lippen zu setzen — »Um Gottes willen!«
Aber unser Bub’ hielt den Rand des Glases mit den patscheligen Händen hartnäckig fest, als wenn er es nicht mehr lassen wollte. Und wie er an dem Wein sog! mit welchem Behagen seine frischroten Lippen schmeckten und schleckten.
»Rheingauer Medizin!« warf »er« nickend hin.
»Gelle, was er staats trinke’ kann!« lachte Frau Res’, »mei’ Kujon kommt fast net mit! G’sundheit!«
Und mit Augen, strahlend vor Freude trank sie den beiden winzigen Zechern zu. Mein Frauchen aber befiel ein wilder Mut: »Ja wenn er trinkt, da muß ich auch ....« sagte sie lachend, setzte das Glas an den Mund und schlürfte den goldgelben Inhalt hinab.
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Ein Uhr! Pünktlich zur Stelle! — Wer aber nicht da ist, sind Sie, mein werter Professor! — zwar noch ohne Bestallung, aber der Titel spukt überall umher hier im Atelier, selbst die Kohlköpfe da draußen im Garten scheinen davon zu wissen: wenn er vorüberkommt, grinsen sie ihn so respektlich an mit ihren runzlichen Altweibergesichtern — ich glaub’ gar, sie sind imstande, ihn zu lieben, heimlich, und ein wenig unglücklich wie ich, Rosa Hille, sein Leibmodell ...
Ach nur sein Leibmodell, wie er mich scherzhaft nennt, denn von meinem Gesicht kann er nichts brauchen, nicht die Nasenspitze, nicht ein Ohrläppchen; desto begeisterter thut er über meinen »klassischen« Arm, über Nacken, Halsansatz u. s. w., was nicht die Herren Bildhauer an meiner Gestalt für Kostbarkeiten zu schätzen wissen — mein Gesicht aber läßt ihn gleichgiltig wie ein Kohlkopf ... »Ach was, Hille, du bist ein dummer Kerl!« wie er zu sagen pflegt, wenn ich’s mit der Sentimentalität kriege. »Hille« schlechtweg — er kennt wohl nicht mal meinen Vornamen, ich bin ihm nichts als die »Besitzerin [S. 316] des schönsten Armes von Berlin,« das Weib steht garnicht in Frage, ih, und wie käme ich dazu, ein Herz zu haben wie andere Mädchen ...
Das sind solche Sonntagsnachmittagsgedanken, wenn man einsam in einem Atelier sitzt und vergeblich auf einen Professor wartet! Er hat wohl wieder einmal vergessen, daß er mich bestellt, und es geschah doch so dringend: er müsse den Feiertag zu Hülfe nehmen, um mit seiner Figur fertig zu werden. Wieder sein Raptus? Wieder der Sport? Wieder auf dem Wasser? Wenn ein Segelwind weht, da packt es ihn, und er muß hinaus mit seiner Nußschale! Na nur Geduld Hille — machen wir es uns bequem inzwischen! — wo hat er doch nur seine Cigaretten?
Was Hille bequem machen nannte, hätte für andere Damen mit wirklich benutztem weiblichen Vornamen ein ziemlich tiefes Negligee bedeutet. Das Kattunleibchen schnell abgestreift — eine Schnürbrust legte sie nie an, nachdem Begas, der Entdecker ihres klassischen Armes sie beschworen, ihre herrliche Venusbüste nicht durch einen Panzer zu verderben — nun umrahmte der kokette Spitzenrand ihres schneeigen Hemdes, von einem dunkelroten Bändchen durchzogen, in weiter Rundung Arm und Nacken, die berühmten Arme in ihrer ganzen Glorie freilassend. Etwas kühl, aber das ist sie gewohnt! Ihr Teint zeigte durchaus keinen blendenden Glanz, es war [S. 317] jene feine kaffeeartige, nur von Koloristen geschätzte Nuance, ei was schert auch einen Bildhauer der Teint! Freilich der Kopf und das Gesicht auch wieder mehr für einen Maler tauglich — offen heraus: ein ziemlich häßlicher Charakterkopf mit scharfen Linien, großem Mund, einem unverhältnismäßig vollen Kinn und zu hoher Stirn, die von etwas wüstem, kastanienfarbenem Haar beschattet wird; doch ein paar überaus treu- und warmblickende goldbraune Augen, die das ganze Gesicht mit einem mildschönen Lichte erleuchten.
Und so, bloßarmig in Hemd und Rock, begann sie sich hier zu Hause zu fühlen; es gab bei ihrem Kommen immer etwas zu schaffen für ihren Ordnungssinn, denn das alte halbtaube Weiblein, das dem Künstler als »Kalefaktor« diente, schien einen besonderen Sinn für ein beharrliches malerisches Kunterbunt zu besitzen; an den Staub gar nicht zu rühren, den ja auch sie auf den Büsten und Statuen ringsum respektierte, wegen der herrlichen Schattierung, die er den Gipsflächen verleiht: so lehrt der Professor, und was der sagt, ist richtig, selbst wenn es den Staub betrifft.
Auf dem Bauerntisch, neben dem mit einem silbrig verblaßten und an verschiedenen Stellen zerrissenen Perserteppich bedeckten Divan, standen die Reste eines eilig eingenommenen Frühstücks, etwas Käse und Schinken, sowie eine noch uneröffnete neben einer geleerten [S. 318] Flasche Tivoli. Sie räumte ab, ließ nur ein Brödchen und die volle Flasche auf dem Tisch, ihr eigenes Vesper, oder meinetwegen zum Zeitvertreib, denn wer weiß, ob er so bald heimkommt. Der Segelwind muß günstig sein draußen — hu, wie die dürren gelben Herbstblätter bei den Windstößen von den Bäumen rascheln! Wenn ihm nur nichts geschieht! — er ist waghalsig, sagen sie, und Wasser hat keine Balken ...
Ach wo! Was soll ihm geschehen? Er ist zu hohem ausersehen, er will und muß und wird berühmt werden, weltberühmt, und bald! — Wartet nur, wenn all die Pläne, die unter seiner gewölbten, von feinen Sorgen- und Gedankenfältchen bedeckten Stirn gären, erst zur That geworden ... Ihm, dem Herrlichen, geschieht nichts so Triviales wie ein Wasserunglück, das ist für alltägliche, unreife Burschen, die des Sonntags am Sport naschen; verliebte und verzweifelte Mädchen zieht es ins Wasser, und wenn sie, die Hille, den nassen Sprung riskierte, so würde die Welt nicht mit den Wimpern zucken — auch der Professor nicht? Ach es giebt noch andere klassische Arme genug für ihn ... nur schad’ um die unfertige Figur ... »Hille, du bist ein dummer Kerl!« Du hast ja gar nicht im Sinn, ins Wasser zu gehen, na und basta, er ist doch gefeit vor so gemeinem Unglück — ihn schützt sein Genie. Lassen wir den Herbstwind blasen!
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Also die Figur wird auf jeden Fall fertig. Sie wird und muß Aufsehen machen! — Hat er sie auch gehörig angefeuchtet beim Fortgehen?
Sie that einen tiefen Zug aus der angezündeten Cigarette, ließ den blauen Rauch nach Kennerart langsam aus den gerundet offenen Lippen verwehen und legte sie auf den Rand des Tisches. Dann entledigte sie, von dem kleinen Trittbrett aus, die auf dem Drehstuhl ragende Figur ihrer feuchten, grauleinenen Schutzbehänge.
»So!« rief sie, »’tag auch!« und sie nickte der Gestalt zu wie einer lieben alten Bekannten. Es war ein blühend schönes Weib, dem rittlings über der Schulter ein Knäblein saß, das haschte mit begehrlichen Händchen nach dem schönen, blendend hellen Ball, (für elektrische Beleuchtung gedacht) den die Mutter, neckisch lachend, hoch empor mit der Rechten aus der Reichweite seiner rundlichen Ärmchen hielt.
Das Gesicht des Weibes war einstweilen nur skizzenhaft modelliert. »Eine andere wird ihm die Züge leihen — eine schönere — mein Gesicht ist aber auch wirklich nicht brauchbar ...« Zwischen Hille’s starken, etwas düsteren Augenbrauen wetterten drei Fältchen, und ihr Brustkasten hob sich schwellend: ein Seufzer, wahrhaftig ein Schmerzensseufzer, der in der sonntäglichen Stille doppelt verräterisch erklang.
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Aber Hals, Nacken und Brust der Figur, die sind von ihr — und die Arme! Der emporgestreckte da mit der Glaskugel ist ihm wie lebend geraten! (»Wenn ich ein Mann wäre, ich thät’ mich d’rein verlieben!«) Dies Handgelenk, dieser Schulteransatz, diese ganze Linie, und das famose Grübchen am Ellbogen ...
Hille nahm die Cigarette auf, paffte eine starkwallende Wolke hervor und betrachtete mit zwinkernden Augen durch den Qualm das Kunstwerk ihres porträtierten Armes. Sie begeisterte sich förmlich daran, und ihre Augen blitzten. Plötzlich hob sie die eigene nackte Rechte empor gegen das fahlhelle Licht, das durch das breite Oberfenster vom milchig bedeckten Himmel hereinbrach: »Na nun such’ mir einer einen solchen Arm in ganz Berlin!« Und sie ließ die Muskeln spielen und weidete sich an dem feinen Wechsel des Schattenhauches, der beim langsamen Hin- und Herdrehen seine harmonischen Flächen und Linien belebte.
Und wie brav und tüchtig er ist, dieser Arm! Respekt vor ihm, er ernährt eine ganze Familie! Mehr, viel mehr, als vier schwielige Arbeiterfäuste zu leisten vermögen. Was wäre aus ihrem armen, kranken, von Not und Sorge verhärmten Mütterlein geworden ohne den Arm? Wer fütterte die vier kleinen Geschwister? Wer ließe den Bruder was Tüchtiges lernen?
Sie schlug mit der flachen Linken auf das Fleisch [S. 321] des Armes, daß es einen klatschenden Schall gab, es klang wie ein Bravo! — weil er seine Sache so gut macht.
Schließlich ist’s ein Besitz, dem die Zeit so bald nichts anhaben wird. Wie lange blüht so ein Frätzchen? Denn Männer sind brutal, Künstler erst recht, über ein paar Falten stolpert ihre Liebe. Ach, sie meint ja gar nicht mal die Liebe, die dumme, verrückte Liebe, mit der will sie ja garnichts zu schaffen haben ...
Aber er kann definitiv langweilig werden, dieser angebrochene Sonntagnachmittag! Müßig hier zu hocken und zu harren! Unsereins will auch einen Happen vom Sonntag genießen, man ist sich’s schuldig, will sagen: seinem Körper, damit der jung und frisch bleibt — ich selbst, ich verlange nichts auf der Welt für mich ...
Hätte mich wohl mitnehmen können nach Wannsee! Hat mir es immer schon versprochen! Aber kann keinen Staat mit mir machen, das ist’s, er schämt sich meiner — ich weiß nicht, ob ein schönes Frätzchen nicht doch was Begehrenswertes? ... ich möcht’ wohl schön sein für den Sonntagnachmittag, zum Ausgehen und Ausfahren mit ihm! — Ach mit ihm Wasser zu gondeln! Jung und schön, und nur einen einzigen vollen Becher vom schäumenden Leben genießen! Werktags will ich gern zufrieden sein, so wie es ist ...
Ja, es wurde immer stiller, immer »trister« hier im [S. 322] Atelier, je weiter der Nachmittag vorrückte. Jetzt wimmelt der Tiergarten bunt von fröhlichen Menschen, und den armen Schwestern wäre wohl ein Gang ins Grüne zu gönnen gewesen. — Wie spät mag es sein? Man sitzt wie in einem Gefängnis, weißgraue Wände, feuchter Gips- und Lehmgeruch, und wie gelangweilt einen die Figuren anstarren! — kein Ton von außen, nur von Zeit zu Zeit die heftigen Windstöße, die das Laub herabjagen, nur hie und da ein fernes dumpfes Rollen, es ist die Stadtbahn — nicht mal das trauliche Getick einer Uhr, das einem Gesellschaft leistet.
Dumme Gedanken! — ich bin nicht gerne allein, da kriegt man solche! — Ob ich durchbrenne? Wenn er aber doch noch käme? — ach was, ich leg’ mich schlafen, es giebt nichts Gescheiteres als schlafen. Wenn man Glück hat, fällt einem im Traum was Süßes vom Himmel — ich bin auch schon mit geträumten Süßigkeiten zufrieden ...
Sie hatte ihren Oberkörper in einen bunten römischen Seidenshawl gehüllt und sich auf dem Divan ausgestreckt, nachdem sie ein Glas schäumenden Tivoli’s gierig durstend herabgeschlürft. Die Hände unter dem Kopf gefaltet, dessen dicke Haarknoten sie, des bequemeren Liegens wegen, gelöst, lag sie nun mit wachträumenden Augen.
Schaut mich nicht so an, ihr Gipsköpfe ringsum! Zu verspotten giebt’s nichts! Unerlaubtes ist es nicht, [S. 323] woran ich denke — ich träume von ihm, eurem Schöpfer und Meister ...
Ach von ihm! — wie mit Klammern haften oft die Gedanken an ihm und können nicht wieder los! Ich quäl’ mich selbst damit, aber ich kann nicht anders! Ich mal’ mir aus, wie es ist, wenn er endlich berühmt geworden, von aller Welt gefeiert, mit Glücksgütern überhäuft, und von allen Ehren umgeben. Das wird und muß eintreffen, alle seine Freunde schwören darauf, und ich weiß es so sicher wie das Vaterunser: bald, gar bald werden sie ihn mit dem Lorbeer krönen, große, weitglänzende Denkmale werden die Glorie seines Namens in aller Welt verbreiten, der Kaiser selbst wird ihn mit seiner besonderen Huld beglücken — und die Weiber, schöne, begehrenswerte, werden ihn anbeten ...
Puh, der Wind meint es gut! Die Baumäste knarren und ächzen, rings ist ein gewaltiges Rauschen von dürren Blättern. Und er draußen auf dem Wasser mit seiner Nußschale! ... Der Tod ist demokratisch gesinnt, der verschont keinen Rang und Namen — wenn er seine Laune hat, so übt er sich im Knicken von Hoffnungsblüten und läßt die alten, welken Halme stehn ...
Ueber der schwarzgrauen, unheimlich weiten Wasserfläche wütet der Sturm, tückische, weißbekämmte Wogengipfel aufwühlend; einzelne Schifflein sind noch draußen, von dem Unwetter verschlagen, verzweifelt arbeiten sie [S. 324] sich landwärts, ihre Segel sehen aus, als flatterten große weißgefiederte Vögel ängstlich in der Irre. Holla, sein Boot, seine Nußschale! — die Freunde nennen es scherzend einen »Seelenverkäufer,« wie es im grausigen Uebermut lustig auf und nieder tanzt! — wie die kleine Flagge am Top nach rechts und links den Wogenschaum begrüßt! Ihm ist wohl da draußen unter den ängstlich flatternden ... Wo ist es doch jetzt? Dort hinten ... nein es hat ja gelbliches Segelwerk — und die Flagge nicht mehr sichtbar! — Himmel, das Segel liegt platt und schwer auf dem Wasser — — jetzt ist es verschwunden — etwas dunkles, langes, schwarzes wogt, unheimlich wie ein Sarg, über der vom fahlen Abendschein beleuchteten Fläche — unweit von dem Sarg ein — zwei — drei kleine schwarze Punkte — die bewegen sich — es ist wie ein Krabbeln — Menschen in Not! — — Hilfe! Hilfe, rettet ihn! O er kann ja schwimmen! ... jetzt recken sich von dem einen der schwarzen Punkte zwei Arme himmelwärts — plötzlich ist der Punkt mit den Armen verschwunden — hinab in die Tiefe ...
Die Hille schreckte jäh empor, und ihre Rechte tastete über die Stirn, die perlte voll kalter Schweißtropfen. Dann schlug sie eine laute nervöse Lache an: wie kann man nur so Tolles träumen! Fort mit den Fledermäusen! Unsinn — an ihn wagt das Schicksal nicht jäh zu [S. 325] rühren! Er ist eine Ausnahme! — schon ein Verbrechen, nur solches zu träumen!
Ihre krampfhaft wachen Augen irrten in dem Raume umher. Es herrschte ein unheimlich fahles Dämmerlicht, die gipsenen Gesichter und Masken hatten einen so gespenstischen verzerrten Ausdruck; das schöne blühende Weib mit dem Knaben reckte sich stumpf und leblos wie eine plumpe, schwere Masse empor; ein scharfer, modriger Erdgeruch hauchte von dem feuchten Ton aus.
Hille schloß die Augen, ihr Herz pochte hörbar in der Stille. Jetzt zwang sie ihre Lippen zu einem Lächeln, und gewaltsam zerrte sie sich heitere Bilder herbei.
Sie sah den dürftig engen Atelierraum zu einer hohen Halle geweitet, in der gewaltige Denkmäler und kühne Gruppen der Vollendung harren. Hier gebietet er, der Meister in elegantem samtenen Atelierkostüm, über eine Schar eifriger und talentvoller Schüler und Genossen. Nebenan, in einem besondern Raum, wird nach einem lebenden Pferd modelliert, das zwei Stallknechte in glänzender Livree halten; es ist des Kaisers Leibroß, ein prachtvoller Trakehner, dessen temperamentvolles Gescharr und Gestampf sich mit dem harten Klang des Meißels mischt, denn im benachbarten Schuppen ist ein ganzer Stamm italienischer Marmorarbeiter mit dem Ausführen der fertigen Modelle beschäftigt. Auch ist [S. 326] ein Allerheiligstes da, ein kokett und luxuriös ausgestatteter Raum, in dem das »Leibmodell« seinen Thron hat, denn mit dem Künstler wächst auch die Kostbarkeit seines Modells. Hat das ihn nicht berühmt machen helfen? Hille’s Arm, der wird unberechenbar an Wert steigen ...
Draußen aber, mit der Sicht auf das Schattendunkel des Tiergartens, prangt des Meisters Villa, von einem ersten Architektenpaar erbaut, ein Schmuckkasten, fürstlich ausgestattet, voll entzückend stimmungsvoller Gelasse und Winkel. Hier hallt beim Klang der Gläser, an den Abenden, nach der Tagesarbeit, fröhliches Lachen und Geplauder, denn der Meister hatte immer schon einen Hang zu gemütvoller Gastlichkeit. Dazu liebt er Musik, erste Künstler sind seine Freunde, so gilt die Villa als das Stelldichein edler, harmonischer Gesellschaft.
Spät in der Nacht aber, nachdem die Gäste verflogen, sehen die Nixen und Elfen des Waldparks die Gestalt des Meisters auf den von Blumen üppig umrankten Balkon heraustreten, dicht an seine Seite geschmiegt ein schönes, liebliches Weib. Er hat seinen Arm mit inniger Zärtlichkeit um ihren Leib geschlungen, und ihr Kopf lehnt, des Glückes schwer, auf seiner Schulter. So halten sie dort, von dem Blumengerank umrahmt, vom matten Dämmerschein des goldenen Halbmondes umflimmert.
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Hille, Hille, du bist wahrhaftig ein guter Kerl, daß du solche Träume uneigennützig zu hätscheln wagst! Nur ein kurzes Aufatmen, das dein armes Herz von solch fremdem Glückesalp befreien will .....
Noch ist der Traum nicht zu Ende. Weiter erlauschen die Nixen und Elfen, wie das holde Paar nun in das noch erleuchtete Innere zurücktritt, wie es langsam, langsam den prunkenden Saal durchschreitet, und hinter diesem, in einem rosa erleuchteten Kabinett vor einem spitzenumhauchten Etwas stehen bleibt, das einem Kinderbettchen ähnlich sieht. Wie nun ihre beiden Köpfe sich gemeinsam herabbeugen, sehr behutsam, und wie dann eins nach dem andern, einen leisen Kuß haucht auf die zarte Stirn eines kleinen, von schwarzem Flaum bedeckten Köpfchens ...
Genug, genug! Hille schrak von einem prallenden Schlag empor, der gegen das Fenster geschah: wohl ein Zweig, den der Wind dagegen geschleudert. Schlaftrunken öffnete sie die Augen — wo ist sie doch? Ist es die Morgendämmerung? Ach so, sein Atelier! — es ist Abend, sie muß sehr lange geschlafen haben.
Fröstelnd und gähnend richtete sie sich empor. Dann zog sie sich eilig an. Eine seltsame Unruhe schien sie zu zerren. Es war unheimlich hier in der Stille. Wie bleiche Gespenster schimmerten die Gipsgestalten in dem grauen Halbdunkel — Arme schienen sich zu bewegen, [S. 328] Gesichter grinsten — schwer wie ein Pfühl lastete die feuchte Luft auf ihrem Atem. Und was war das für ein Spuk, daß sie das schaurige Traumbild nicht loswerden konnte aus den Augen: immer und immer sah sie auf der fahlbeschienenen Wasserweite den großen schwarzen Sarg daherwogen, und die drei hilflos krabbelnden Punkte ...
Schnell verrichtete sie noch das Nötige, stellte die Ordnung wieder her, bespritzte die Thonfigur mit Wasser und umhüllte sie sorgfältig mit den Tüchern. Dann fort — die seltsame Unruhe zog sie hinweg wie mit unsichtbaren Armen. Sie schloß die Atelierthür ab und versteckte den Schlüssel an dem bestimmten Platz unter einem losen Ziegel seitwärts der Thürzarge. Dann eilte sie durch den verwahrlosten Garten, in dem das Atelier, ein ehemaliger Pavillon, stand. Das Laub raschelte unter ihren hastigen Tritten, in der Luft ging ein rätselhaftes feines Gewinsel, anschwellend zu einem deutlichen Gestöhn, und dann wieder fast unhörbar verhauchend. Sie horchte wie gebannt — ach es ist ja nur der Wind! ... wenn sie nur wüßte, ob er an Land ist und in Sicherheit ... gewiß sitzt er längst warm und behaglich, unter fröhlichem Geplauder in einem Gasthaus!
Immer wieder der schwarze Sarg! — der schwimmt jetzt allein — die Punkte sind fort! — horch, rief da nicht jemand um Hülfe?
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Da braust unweit ein Stadtbahnzug daher, sie war froh, daß das rollende Getös endlich die gespenstischen Töne verschlang. Und da draußen auf der Chaussee, die von heimkehrenden Menschen und Wagen wimmelte, verschwand auch endlich das Sarggesicht.
Sie fügte sich in den Menschenstrom ein, aber das schlenderte so langsam, in müder Behaglichkeit — ja hat sie denn solche Eile? Allerlei Rufe und Bemerkungen drangen an ihr Ohr, einige mit dem Lallen angehender Trunkenheit, wie man sich da und dort amüsierte, wie man die häßlichen Alltagssorgen da draußen in der freien Gottesnatur habe verwehen lassen, wie Bier und Kaffee geschmeckt und wie wohl das Schlendern durch den Wald gethan.
»Die auf dem Wasser draußen hatten ihre Not« — sagte einer. »Der Wind meinte es gut. Wer versäuft, hat selber schuld, warum gondelt er hinaus bei dem Wind —«
»Versäuft ... Ist denn einer ertrunken?«
Sie hatte sich erschrocken herumgewandt und richtete die Frage an den Sprecher. Der grinste sie lustig an: »Wohl Ihrer, Fräuleinken? Na keene Bange nich, ertrinken dhut heute mancher — ins Bier, Fräuleinken, der Wind macht höllisch durstig!«
An der Straßenecke erwartete sie einen Pferdebahnwagen, der, schwer mit Menschen überladen, heranrasselte. [S. 330] Sie erkämpfte sich unter den Herzudrängenden einen Platz auf dem Hinterperron und stand dort eingekeilt.
Zwei Herren links und rechts von ihr unterhielten sich an ihrem Gesicht vorbei.
»Am Kälberwerder — freilich eine verdammte Stelle bei dem Wind. Wann passierte es denn?«
»Um fünf! Ich habe jemand gesprochen, der es mit angesehn. Drei sprangen ins Wasser, einer hielt sich und ist gerettet, die andern sind weg!«
»Scheußlich!« fuhr eine dritte Stimme dazwischen.
Die Hille durchschauerte es eiskalt. Eine Frage erstarrte auf ihren Lippen, bebend blieben diese geöffnet, und so, regungslos eingekeilt, mußte sie weiter das Entsetzliche anhören.
»Es solle eine alte Zille gewesen sein, ein Verbrechen, damit hinaus zu machen bei solchem Wind!«
»Weiß man, wer es war?«
»Drei junge Leute aus Potsdam.«
»I wo, drei Berliner Künstler« — ließ sich eine fette Allesbesserwissen-Stimme zwischen der Wagenthür vernehmen. »Ein Bildhauer und ein Maler sind ertrunken —«
»Fräulein, was ist Ihnen? Ist Ihnen nicht wohl?«
An den Arm des einen Herrn faßte, wie Halt suchend, die mit einem Baumwollhandschuh bekleidete Hand des Mädchens. Und ihr Antlitz bog hintüber wie gebrochen, [S. 331] totenblaß. Gleich richtete es sich wieder empor, krampfhaft, und die Augen weiteten sich stier.
»Ein Bildhauer — sagen Sie« — stammelte es tonlos über die blutleeren Lippen.
Aus dem Hintergrunde des Wagens tönte ein Name. Durch das rasselnde Getös schlug er deutlich an ihr Ohr — Sein Name ...
»Scheußlich! Entsetzlich!« stieß jemand aus.
»Eine Gemeinheit des Schicksals!«
»Heda, Schaffner, einen Platz für die Dame! Sie wird ohnmächtig! Vielleicht ist einer der Herren da drinnen so freundlich aufzustehen!«
Aber die Hille reckte sich noch einmal empor. »Ich danke!« sagte sie, und durch ihren Körper ging es wie ein energisches Zusammenraffen. Kein Schauspiel für diese da! Was geht die der Dolchstich an, den der Name soeben mitten in ihr Herz versetzt ...
Heiliger Gott im Himmel! Es ist wohl nicht glaublich! Es ist undenkbar! Er sollte ertrunken sein ..
Es ist gut, so eingekeilt zu sein, da merkt niemand ihr Wanken und Schwanken — so muß es sein, wenn man in die nasse Tiefe sinkt: die Augen noch einmal stierweit aufgerissen, und ein letzter großer, vorwurfsvoller Sehnsuchtsblick rundum auf die herrliche Welt, die so voll goldschimmernder Schmetterlingshoffnungen wimmelt ...
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Ich höre scharfklippernden Peitschenschlag; ich höre das feine nervöse Geklingel von Schellenkappen; juchzenden Geigenstrich und übermütig schnarrende Guitarrentöne, weinheisere Singstimmen, das Gellen anstoßender Gläser, Zurufe und Witze, die ganze Luft gleichsam vibrierend von der alles ansteckenden, alles umhüllenden, alles durchdringenden Karnevalslaune.
Ich höre Lachen im Chor, schallend, homerisch erschütternd; ich höre aufwirbelndes Sololachen von Frauenstimmen, hell wie der Glöckleinklang eines eleganten Frauenklosters; Lachen, das sich ausschütten möchte über einen Extra-Spaß, und anderes, das lacht, weil es in der Luft liegt, weil die Kölner Faschingsparole es gebietet, über eine Dummheit, eine Grimasse, ein Nichts. Und, jetzt aus all dem vieltönigen, ein wenig mißtönigen Frohgelärm klingt das Lachen einer gewissen Mädchenstimme, ein paar perlartig hüpfende Noten nur, luccahaft süß, von jenem eigenartigen Zauber, der sofort ins Herz dringt, ohne den vorschriftsmäßigen Umweg durch das Ohr und das übrige Telegraphennetz der Nerven ...
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Freilich, die Lippen, denen es entfährt, blühend frisch, siebzehnjährig jung, von einem herzigen Lächeln, einem Grübchenlächeln gleichsam aufplatzend wie eine köstliche Frucht, dazwischen das feine, irisierende Blinken von kleinen, etwas spitzigen weißen Raubtierzähnchen. Wißt Ihr, es war nicht leicht, sitzen zu bleiben und dies Lächeln einfach anzustarren wie ein Wunder! Wißt Ihr, ich weiß selbst nicht, wie es geschah, ich war meiner nicht mehr Herr, war aufgestanden, an den Nachbartisch herangetreten, hatte mit einem kühnen Griff das Köpfchen gefaßt, und einen Kuß auf die halboffenen Lippen gepreßt ...
Hier in unserm verstandessichern, polizeimäßig nüchternen Berlin, das sich zwar seines Witzes rühmt, eines meist forcierten Witzes, aber von Humor keine Ahnung hat, gäbe es Mord und Totschlag ob solchen Unfugs, Kartenwechsel oder Faustschläge, je nachdem, mit gerichtlichem Nachspiel. Der Kölner Humor mit seiner Devise »Leben und leben lassen!« gestattet jedoch die kühne Freiheit solchen Stegreifkusses — zwischen Schönen, Hübschen, Jungen natürlich. Se. Närrische Hoheit der Prinz Karneval, stets einer der schönsten und elegantesten jungen Herren der Stadt, hat sogar das altherkömmliche Recht, am Rosenmontag die Lokale zu durchwandern und sich von den verlockendsten Mädchenlippen nach Wahl die tributpflichtigen Küsse zu pflücken [S. 337] — ohne Wehr und Zimperlichkeit, es ist sogar köstliche Ehre dabei. Na und die Getreuen Sr. Närr. Hoheit naschen so gelegentlich vom gleichen Recht.
Ich sollte ja die kleine karnevalistische Episode regelrecht berichten. D. h. Ihr dürft nichts erwarten als nur die Schilderung einer süßen Mädchengestalt, die alljährlich zum Fasching vor meine Erinnerung tritt, lächelnd mit ihren blüten-frischen Lippen, für mich auf allzeit die wundervolle poetische Verkörperung der im Namen aller Frohgeister benedeiten Kölner Karnevalstollität.
Und so grüß’ ich Dich: »Alaaf Köln!« Du Stadt mit den hundert Kirchtürmen und den tausend schönen Mädchen! Dich aus den Tausend grüß’ ich, Du liebliche rheinische Maid: — »N’tag Drückchen!« Und nick’ Dir freundlich zu, und über meine Seele breitet sich warmlachender Sonnenschein im Gedanken an Dich. Sei gegrüßt und gedankt für diesen Sonnenschein!
Also am »Fastelabend«; es ist der Vorabend vor dem offiziellen Fastnachtsanfang, die Generalprobe der Tollität, alle Humore frisch aufgezogen, alle Launen im ersten Übermut entfesselt. Die Wirtshäuser voll froher und lärmender Gäste, besonders die Weinstuben; die meisten haben ihre kleine Hauskapelle installiert, die mit ihren nicht immer ganz harmonischen Tönen die Stimmung anreizen soll. In einem bekannten Restaurant der [S. 338] Herzoggasse hockt auch schon der »Puckel« hoch droben auf dem Tisch mit seiner Geige, unter dem surrenden Licht der Gaskrone. Er ist der traditionelle Kobold des Kölner Faschings; alljährlich am Fastelabend taucht er auf. — Gott weiß, wo er sich sonst umtreiben mag — und wird mit Halloh begrüßt: »Der Puckel ist da, nun kann’s losgehn!« — ein seltsamer Kauz, mit einem prächtigen Harlekinshöcker belastet, das ältliche Gesicht stets in sehr ernsten Falten, aber desto lustiger klingt der Strich seiner Geige. Er hat nur ein kleines Repertoir, und das Gewimmel zu seinen Füßen wird auch nicht müde, seinen »kleinen Postillon« mitzujohlen — keine echte Karnevalsstimmung, über die der Gassenhauer dieses Kobolds nicht hinweggestrichen.
Wir saßen bei einem guten Tropfen an einem überfüllten Tisch. Nur vereinzelte Masken zeigten sich, ich selbst trug mit manchen anderen die bunte Narrenkappe (offizielles Modell, alljährlich vom »großen Rat« festgesetzt und unter seiner Regie vertrieben). Heute galt es noch solide zu sein, denn drei schwere Tage mit drei tollen Nächten standen uns bevor. Aber der Übermut prickelte uns bereits wie Champagnerschaum. Uns gegenüber, in einem Gewühl von Narrenköpfen, leuchtete etwas gewaltig Hübsches — »alle Wetter!« stieß einer von uns vor Verwunderung hervor. »Ein süßer Käfer!« meinte ein anderer, und er hob den Römer voll dunkelgoldigen [S. 339] Rheinweins und versuchte dem reizenden Mädchenkopf ein galantes Prosit! zu bringen — derlei ist wohl üblich. Aber das Mädel »reagiert« nicht. Ein feines rundliches brünettes Gesichtchen, schelmdunkle Augen, seidiges, üppiges, großwelliges Braunhaar, das unter der leicht schiefsitzenden Narrenkappe vorquillt, und die Lippen lächelnd geöffnet, der ganze Ausdruck ein naives Kinderbegehren: ich will mich amüsieren! auf jeden Fall!
Also wie gesagt, ich weiß nicht, wie es geschah. Wollt’ ich mich forscher vor den andern hervorthun? wollt’ ich ihnen zeigen, wie man den Geboten der ersten Schutzheiligen des Karnevals, der Gelegenheit, ohne Besinnen folgen müsse? War also aufgestanden, hatte mich von ungefähr an das liebe Kind herangeschlichen, meinen Römer in der Hand. Und artig, mit galanter Verbeugung gegen die Damen gewandt (denn es waren ihrer zwei, eine ältere Duenna saß neben der Erkorenen): »Ist es erlaubt, anzustoßen?« Das Herz pochte mir doch, als ich so dicht in ihre Augensterne sah.
Eine kleine Überraschung ihrerseits, ein fragendes Auflächeln, dann ergriff sie zögernd ihr Glas und hielt es gegen das meine.
»Die Schönheit!« sagte ich, fast rufend, und ich fühlte das begeisterte Strahlen meiner Augen: »Du bist wundervoll — Du bist — Du bist —«
Die Worte versagten mir, und unsere Gläser gellten [S. 340] zusammen, Aug’ in Auge, beide von so seltsamer Verwirrung ergriffen.
»Das sagen viele« — erwiderte sie lachend, »ich werd’ es wohl noch oft zu hören bekommen.«
»So, Du glaubst mir nicht? Na wart’« — —
Der Übermut packte mich, schnell setzte ich mein Glas auf den Tisch, nahm mit sanft zufassender Überrumpelung das Köpfchen zwischen die Hände und preßte meine heißbebenden Lippen auf die ihren, den kleinen wehrenden Schrei kräftig unterdrückend.
Eine ganz kurze Entrüstung; und ein flüchtiger Purpur flog über ihr ovales Wangenrund: — »Aber mein Herr, das ist —«
»Unverschämt? Mit nichten!« fiel ich ein. »Es ist Karnevalsrecht!«
»Oho« — lachte sie. »Da könnt’ jeder kommen! Wer sind Sie? Ich kenn’ Sie nit, mein Herr! Und ich verbitt’ mir das!«
»Oho!« lachte ich dagegen. »Übrigens Du und Du! Wir tragen beide Narrenmützen — da giebt’s kein Sie!«
Nach einem kurzen prüfenden Mustern meiner Erscheinung fuhr sie heraus: »Sie sind ein Lieutenant!«
Es klang nicht wie eine Frage. »Zu Befehl!« antwortete ich, wichtig aufreckend. »Woher weißt Du das?«
Sie stieß ihre Begleiterin an, beide kicherten: unendlich [S. 341] komisch, daß ich glaubte, mein Zivil versteckte mich! »Das weiß man doch gleich! Ihr seid kühner als die andern. Ihr habt was, das die andern nicht haben —«
»Das gefällt Euch eben. Auch nimmt man es uns nicht so übel, wie?«
»Ei gewiß!«
»Also keine Feindschaft?« bat ich, alle Innigkeit im Ton, den Blick voll Begeisterung. »Darf ich Dich wiedersehn?«
Sie stutzte. »Warum nit?« meinte sie dann. »Ich versteck’ mich nit — ich mach’ tüchtig mit.«
»Morgen abend auf dem Gürzenichball?« drängte ich, fast flehend.
»Ich mach’ alles mit, was mitzumachen ist! Ich will mich einmal tüchtig amüsieren!« rief sie; dabei wetterte etwas wie ganz feine trotzende Fältchen zwischen ihren dunklen stark gezeichneten Brauen. Als wenn ihr Leben, ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft, nicht ganz auf diese lustige Fahne gerichtet sei.
»Also morgen — mein Fräulein?« Das »Du« kam mir nun schon trivial vor, auch fiel es mir wie eine Furcht aufs Herz, sie etwa wieder durch meinen burschikosen Ton zu verlieren.
»Dritter Pfeiler links um die Ecke, Herr Lieutenant!« scherzte sie schelmisch.
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»Sind Sie mir bös?«
»O durchaus nit! Aber nit wieder, gelt?« Sie hob drohend den Finger, und vor ihrem treuherzigen Kinderausdruck verschwor ich mich zu einer feierlich-komischen Entsagung in betreff des Lippenrechtes.
Ich hob abermals das Glas und hielt es gegen das ihre. »Also morgen auf dem Gürzenich!« Und der Übermut trieb mich von neuem: »Du bist das Süßeste — Lieblichste ... Du bist einfach famos!«
»Du bis’ geck!« rief sie, die Zähnchen im vollen Blinken.
»Geck laß Geck elans!« die uralte Kölner Karnevalsdevise. »Das heißt, nicht elans« — verbesserte ich mich. »Wir wollen uns nicht vorbeischlüpfen, sondern tüchtig amüsieren.«
»Du bis’ einer!«
»Also doch — Du?«
Wieder flog das Purpur über ihre Wangen. »Ich mein’ Deine Kapp’. Aber nun adjes!«
»Mein Fräulein! Ah so, adjes! — und Du, nicht?«
Sie nickte, und ich nickte wieder, als wären wir zwei alte Bekannte. —
Nichts leichter, als sich auf einem Kölner Karnevalsball zu verfehlen, zumal in der weiten von Säulen getragenen Halle des altehrwürdigen gothischen Kaufhauses, Gürzenich genannt. »Dritter Pfeiler links um die [S. 343] Ecke —« hatte die Schelmin befohlen. Und Ihr hättet von der achten bis fast in die elfte Stunde hinein an einem Pfeiler auf der linken Saalseite eine gewisse Bauernmaske (das traditionelle Kostüm der Kölner Garnisonherren) halten sehen können, die mit Gamaschen bekleideten Beine übereinandergeschlagen, ein Bild des immer mehr enttäuschten Unmuts, die Miene immer weniger passend zu dem lustig gekräuselten Puderhaar, von dem die bäuerliche Trikotmütze tief herabhing auf den blauen Kittel, und zu dem keck und eroberungslustig gestreiften Schnurrbärtchen. Eine Verabredung wie eine andere! — ein Karnevalswort bindet nicht! Doch was soll ich mich hänseln lassen von vorbeistreifenden Masken? Was soll ich hier noch weiter Posten stehen, während rings um mich her der Ball in ausgelassenen Wirbeln tollt, Tanz und Lachen und ferner Gläserklang und der ganze prächtige reich dekorierte Saal, dessen gothische Schnitzbögen mit närrischen Emblemen behangen sind, vibrierend wie in einem Schauer unbändiger Lebensfreude? Was soll ich mich auch nach dieser zweiten Nacht von der Erinnerungsvision süßmagischer Augen verhexen lassen, nachdem ich schon die vorige schlaflos in Erwartung kommender Abenteuer verwacht? Ah bah — und ich wollte mich aufs Ungewisse in den hohen Wellenschlag hineinstürzen.
Da tippte es mit leichtem Fächerschlag von hinterrücks [S. 344] auf meine Schulter. Ein blauseidener weiblicher Domino, die Larve mit crêmefarbener Blonde besetzt; aus den länglichen Augenschlitzen sprühten mich dunkle Blicke an. Bekanntlich sind unter der Maske auch die vertrautesten Augen nicht mit Sicherheit zu rekognoszieren; und ich prüfte diese durch das Lorgnon der Leidenschaft; — sie waren es! Hurrah! und ich hätte beinahe hell aufgejubelt.
»Du hast aber brav Schildwach’ gestanden, Herr Lieutenant —« kicherte es unter der Blonde im verstellten Maskenfalsett.
»Gut, daß Du da bist! ich wollt’ eben meinen Posten quittieren.« Und ich affektierte den Ärgerlichen.
»Thätst Du doch nicht — i, thätst Du nicht —« spottete das Falsett.
»Du bist wohl eben erst gekommen?« fragte ich.
»Jömich, ich tanz’ schon zwei Stunden lang. Ich hab’ Verehrer satt! (= genug) ich hab’ Dich wohl da luxen gesehn.«
Sie wollte mich zur Eifersucht reizen; fast brachte sie es fertig. Aber nun will ich sie fesseln und halten! Nichts fesselt in Köln ein Mädel so sehr als ein flotter Tänzer. Und ich umfaßte sie und wirbelte mit ihr durch das Gewühl, toll und leidenschaftlich, im Übermaß endlicher Erfüllungsfreude.
Dann promenierten wir Arm in Arm. Sie war[S. 345] keck und teilte Fächerschläge und neckische Anreden nach allen Seiten aus, zerstreut gegen das fiebernde Gedräng meiner Leidenschaft.
»Ich hab’ den ganzen Tag an Dich gedacht —«
»Gefällig?« kam es unter der Maske zurück. Ein ironischer Sington, und die Augen funkelten mich koboldartig an.
Und später: »Du scheinst mir ein süßes Teufelchen zu sein, wie?«
»Gefällig?«
Nicht viel Weiteres als dieser Sington. Solch maskierte Unterhaltungen können langweilig werden; ich bat also, sie sollte sich demaskieren: »Ich möcht’ so gern Dein liebes schönes Gesicht sehen!«
Mit hellem Spott lachte sie diesmal: »Mein liebes schönes Gesicht — was willst Du daran sehen? Du kennst es ja. Weißt Du was — ich bin durstig!«
Ein wenig ärgerlich führte ich sie in einen der anstoßenden Weinsäle, wo wir uns an einem von Flaschen und Gläsern überbürdeten Tisch mitten unter der ausgelassenen Mummerei ein enges Plätzchen eroberten.
Wir stießen mit unsern Römern an, und sie hob die Larvenblonde, um den Glasrand an ihre Lippen zu führen, vorsichtig, fast zimperlich, damit ich nicht eine Spur von ihrem Gesichtchen gewahrte.
»Du bist närrisch! was demaskierst Du Dich nicht! Du darfst Dich doch sehen lassen!« polterte ich.
[S. 346]
»Ei, so ein Ekel! Wenn ich Dir so nicht gefalle, so such’ Dir — so such’ Dir ... Ihr Lieutenants glaubt, Ihr braucht nur zu schütteln, damit die schönsten Äppelchens herabfallen. Prost!«
Ein Zweifel stieg in mir auf: ob sie es denn wirklich war; aber sie hatte sich so sicher mit Andeutungen über den vorigen Abend legitimiert. Eben stachelte mich ein Gelüst, ihr mit zugreifender Überraschung die Maske vom Gesicht zu ziehen, da klang eine Stimme hinter uns:
»Ei, Ihr amüsiert Euch aber famos!«
Ich wandte mich um und fuhr freudigen Stutzens zurück — sie! Ihr liebes, schönes Gesicht, ohne Maske, schelmisch lächelnd, blinkende Zähnchen und strahlende Augen. Es flog wie ein blanker Sonnenschein über mich her.
Aber ich kam mir lächerlich genug vor: so war ich also zum besten gehalten worden! Sie lachte mich aus, weil ich ihre Cousine von gestern abend für sie selbst genommen: »Ihr Lieutenants seid doch noch nit die Schlausten!«
»Aber Du giebst mir Revanche!« rief ich. Eben intonierte aus dem Festsaal ein graziöser Straußwalzer.
»Anavang!« (en avant) rief sie übermütig. Da soeben ein Grenadier in der Uniform der karnevalistischen Leibgarde, »Funken« genannt, meine Pseudo-Schöne aufforderte, so konnt’ ich doppelt befreit aufschnellen.
»Anavang!« rief ich neubegeistert, und sie in meinen[S. 347] Arm schmiegend, schwebte ich mit ihr, von den Strauß’schen Rythmen gewiegt, durch den Saal.
»Ach wie süß — ach wie schön — das ist Wonne — das ist Le—ben,« trällerte sie während des Tanzens den bekannten Walzertext.
Dann hielten wir hochatmend. Aber ich mußte ihr meine unbändige Freude ausdrücken:
»Ich hab’ den ganzen Tag an Dich gedacht!«
»Das haben Sie der andern schon gesagt —« lachte sie.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß alles. Das heißt, ich kann mir’s denken. Ihr Leutnants sagt so ziemlich all’ dasselbe.«
»Muß ich mir doch sehr ausbitten! Übrigens duld’ ich jetzt kein ›Sie‹ mehr!«
»Sie fingen ja selber an, Herr Leutnant.«
»Nun laß’ Dich ich nicht mehr! Heut’ nicht und morgen ...«
»Oho, nimm gleich ein Abonnement! Morgen ist ja gleich. Es ist zwölf Uhr.«
»Dem Glücklichen schlägt ...«
»Keine Stunde — du bist geistreich. Was weißt du, ob ich glücklich bin?«
»Du gefällst mir, und ich — und ich —«
»Dir!? — oho!«
[S. 348]
»Sonst hättest du mir doch nicht das tête-à-tête vorhin gestört.«
»Ich will mich amüsieren, weiter nichts! Ich hab mich ferm dazu engagiert. Ich hab’ es versprochen. Ich will, ich muß! Drei Tage heidi — heida! Ich will, ich muß! Dann meinetwegen kann kommen, was will —«
Zwischen ihren Brauen war wieder das Gewetter feinzuckender Fältchen. »Ich will! ich muß!« Und ihr Füßchen, bis zum Knöchel nur von dem buntbesetzten Phantasieröckchen bekleidet, stapfte trotzig auf.
»So, also nur aus Prinzip?«
»Frag’ mich nit! Laß uns lustig sein! Und weil du mir gefällst, — bon, so wollen wir uns zusammen amüsieren!«
»Ich lieb’ Dich! Du bist das Süßeste, Herrlichste ...«
»Bis’ still! bis’ still! Sei nit närrisch! Sie kennen mich ja nit —« kicherte sie. »Ich bin schlimm. Und für den Moment bin ich durstig!«
An der hinteren Schmalseite des Saales, auf der Stufenestrade unter der großen Konzertorgel standen kleine runde Tischchen à deux, und wir gewannen ein solches im Wettkampf mit anderen isolierlustigen Paaren.
Ein köstlicher Sitz. Unter uns, vor uns das hüpfende, stampfende, wimmelnde Gewühl des tanzenden Saales. Buntes und Flimmerndes durcheinander huschend, Farben und Lichter in einem bläulichen Staubdunst verhauchend. Wir sind glücklich gerettet aus der närrischen Brandung, [S. 349] die dort unten wogt, so kommt es uns vor, und, so sitzend und plaudernd, Aug in Auge, und mit tüchtigen, balldurstigen Schlucken den prächtigen Wein schlürfend, fühlen wir uns so wunderschön geborgen hier oben; selbst die Musik will uns nicht zu oft hinablocken. Nicht als ob wir uns so Wichtiges mitzuteilen hätten. Wir hatten Wohlgefallen aneinander — wir gehörten zu einander, für diesen Karneval wenigstens, und dies Gefühl hielt uns zu einander gefesselt wie eine stumme Absprache. Ein Gelüst wollte mir vorgaukeln: auf viel länger vielleicht ... Ach, du fröhliche, ach du selige Jugendzeit! Ach du wundervolles Schmetterlingsrecht, das zwei junge Menschenkinder, die sich auf einem schimmernden Blumenkelch zufällig getroffen, auf ein Eintags-Mein-Dein zusammenschwören heißt — gegen das blöddumme Vorurteil, das überall Verderbnis wittert!
Sie sah reizend aus. Ein mit Gold und Flitter besetztes altdeutsches Häubchen, das ihr dunkles Wellenhaar nur schwer bändigte, kleidete sie entzückend. Es war keine ausgesprochene Charaktertracht, gleichsam aus dem Stegreif zusammengesetzt, wie es im ersten Hinhalten vor dem Spiegel kleidete. Der Hals, weiß und marmorn fest, bis zu den halben Schultern entblößt. Wie das Köpfchen sich auf diese elastische Halsrundung setzte! und ihre Taille, welch eine reizvolle Verbindung üppiger Jugendblüte mit zarter schlanker Grazie![S. 350] Das Leutenantsblut ließ mir keine Ruhe, und ich fiel von Zeit zu Zeit immer wieder in die Banalität von Begeisterungsrufen.
Zuletzt wehrte sie mir mit einer Miene, über die ein Schatten fast dunkelkühl daherstrich. Traurig, nicht ernstlich, wie ein Bitten, das aus ihrem Herzen kam:
»Sag’, willst du mir versprechen, keine Komplimente zu machen?«
»Es sind keine! Mir ist so, ich kann nicht anders! Du hast mich verhext!«
»Nicht! Nicht! Nicht! Erst recht nichts davon!« rief sie. Aber der Glanz ihrer Augen war verräterisch süßer als alle Erwiderung.
Dann die Arme aufstemmend und die Hände zusammengefaltet über dem Römer, sagte sie tonlos traurig: »Du sollst nit denken — — na du sollst mich nit falsch vertaxieren. Weil ich so fix ja! sagt’ und nun nit die Courag’ hab’ nein! zu sagen und adjes!«
»Wie ich schon müßt’ —« fügte sie mit einem Seufzer hinzu.
»Du darfst nicht, ich laß Dich nicht!«
»O, nit so! — Soll ich dir beichten? Dann kannst du mich taxieren!«
Was war zu taxieren? Ein Kölner Mädchen, das, wie viele, zum Karneval, die unwiderstehliche Lust ergreift, auszufliegen, über den Einspruch der Fraubasen[S. 351] und die im ganzen übrigen deutschen Reich herkömmliche Spießbürger-Moral hinweg. Beileibe kein voreilig Urteil! An ihrem Halse hing als Zeichen gut bürgerlicher Solidität eine altertümliche Korallenkette von schweren Perlen, und an einem Finger ihrer übrigens weißen wohlgeformten, obgleich nicht zu kleinen Hände blitzte sogar ein nicht ganz wertloser Saphir.
»Laß hören!«
»Zuvor machen wir einen Kontrakt. Du darfst mir nit bös sein! Ich red’ frei heraus. Ich thät’ auch gegen niemand sonst so reden.«
»Ich dank’ Dir — ich bin stolz und glücklich!«
»Laß das Geschreppels — und die Händ’ weg!« Mit einem Schlag fuhr sie mir über die Hand, die stürmisch nach den ihren gegriffen.
»Also machst Du morgen mit? Ich geh’ zum Ball auf den Geistensterz.« (Ein bekannter Konzertsaal.)
»Natürlich mach’ ich mit. Überall hin!«
»Nit so stracks! Ich halt’ Dich beim Wort. Übermorgen — wart, ah so übermorgen: Theaterball und — und — sei mir nit bös, ich möcht’ nachdem auch noch den Kehraus hier im Gürzenich mitmachen —«
»Herrlich!«
»Auch möcht’ ich — — wenn du wüßtest, du thät’st mir’s nit übel nehmen. Es is wahrhaftig nit wegen der paar Austern, die ich nit mal mag und dem Sekt [S. 352] (sie sprach kölnisch »Zeck«). Zeck giebt’s auch bei uns daheim. Aber ich möcht’ gern einmal beim Bettger in der Budengasse soupieren — mit Dir!«
»Gern, gern — famos!« rief ich überglücklich.
Für meine karge Lieutenantskasse ein etwas starkes Programm, aber sie war noch lange nicht zu Ende. Die Naivität amüsierte mich köstlich. Jetzt erst schien sie Mut zu bekommen; wie ein Kind in der Weihnachtslaune, das immer kühner zugreift nach allen glitzernden Dingen, brachte sie immer noch Wünsche vor. Sie hatte so viel schon von den Faschingsdiners im Viktoriahotel gehört, wo man bei Musik und unter lauter Narrensleuten so »deliziös schnabuliert.«
»Morgen nach dem großen Karnevalszug dinieren wir also in Viktoria —« stimmte ich freudig ein.
»Den Zug sehen wir zusammen —«
»Selbstverständlich!«
Dann gelüstete es sie, eine von den berühmten »Kaffeevisiten« bei Mosler, Obenmarspforten, kennen zu lernen, wo die eleganteste Kölner Welt unter solcher Spießbürgerdevise den Sekt schäumen läßt.
Auch das! Ich würde bei denen aus der Gesellschaft mit meinem Faschingsbräutchen nur Staat machen, meinte ich für mich.
Natürlich würden wir uns am Faschingsdienstag früh zu einer Spezialrevue (Spezial = ein Kölner Weinmaß) [S. 353] in einem der ersten Restaurants einstellen. U. s. w. u. s. w. Ich mußte zuletzt hellauf lachen. »Schad’ —« rief ich, »daß es nicht ein paar Wochen so weiter geht! Du bist famos!«
Sie stutzte ein wenig, gleich aber steifte sie sich auf ihren Kontrakt. Sie hätte einen ähnlichen daheim abgeschlossen. »Ich bin frei — frei — frei!« Ein Jubel, der in diesem Augenblick etwas gezwungen herauskam.
»Hoffentlich fährt mir der Dienst nicht störend dazwischen —« antwortete ich.
»Du mußt! Sonst such’ ich mir — —«
Doch nicht einen andern? Es fiel mir heiß aufs Herz: die Eifersucht! Nein, das darf nicht sein! Sie ist mein — und kein anderer soll es wagen ... Zugleich aber eine geheime Frage: was ist sie doch für eine süße kleine Teufelin?
Sie fühlte die Notwendigkeit, mich ein wenig aufzuklären. Und wieder die Hände über dem Glase gefaltet, mit dem treuherzigen Ausdruck ihrer braunen Kinderaugen beichtete sie.
»Du sollst nit schlecht denken von mir. Hat alles seine Richtigkeit. Ich bin nit desertiert von uns aus. Urlaub, Urlaub freiweg von Anfang des Fastelabends bis zum End’. Es ist meinen Leut’, meinem Vatter und meiner Mutter, gewiß nit recht — was wollen sie aber machen, sie müssen! Muß ich nit auch, wie sie wollen? [S. 354] — ich hab’ mich lang’ genug gewehrt. Wenn du wüßtest! Aber du sollst nit! Ich will uns die Laun’ nit verderben, heut’ nit und morgen nit. Übermorgen, am Aschermittwoch ist alles aus!«
»Mit uns?«
Ich muß erblaßt sein vor Überraschung. »Sag’ das nicht — ich laß nicht von dir ....« stammelte ich, die Augen lodernd vor Leidenschaft.
»Aus — Alles aus!« hauchte sie hin.
Sie entfaltete die Hände und führte sie gegen das Antlitz. Ein Seufzer hob ihre junge Brust. Dann die Hände wieder senkend: »Ach, laß uns die Freud’ nit verderben!« rief sie aus, innig lächelnd. »Siehst du, damit wir klar sind, so ist es: gut, hab’ ich meinen Leut’ gesagt, ich will euch euren Willen thun! Ich will artig sein und ich will ...«
Sie stutzte, kämpfte noch mit sich. Dann aufschnellend und das Köpfchen resolut schüttelnd: »Ach was, nix davon! Allo (= allons), denk’, mein Vatter und meine Mutter hätten recht, ich aber auch, compris? Laß dir genug sein; ich hab’ also meinen Kontrakt mit unsern Leut’ gemacht: laßt mich laufen, laßt mich fliegen, wohin ich fliegen will, diesen Karneval noch, dann will ich ... was wollen sie machen? — und da bin ich! Die Cousine die sollt’ Schildwacht stehn. Wir schaffen die Schildwacht aber ab, gelt? Ich will ganz frei sein! [S. 355] Ich will mich amüsieren — ich muß — muß — muß! Und nun komm, sitz nit da wie ein steinerner Mann. Komm, laß uns tanzen!«
Gleich darauf flog und wirbelte und raste ich mit ihr durch den Saal, ein Geheiß, mich das eben gehörte Geständnis vergessen zu machen im süßen klammernden Besitz des Augenblicks. Was für ein Rätsel? Anderwärts wird man es nicht leicht verstehen: ihre Eltern wollen sie überreden, sie zwingen zu einer Unseligkeit, gut, so stellt sie ihnen die Bedingung dieser absoluten Karnevalsfreiheit! Und nachdem: — aus, alles aus ...
Nein, nicht aus! Ich will sie halten! Ich werde sie nicht lassen! Als wäre es meine eigene kostbare Jugend, die mir jemand rauben will ...
Der Morgen nebelte grau in den feucht überdunsteten Gassen, als wir den Heimweg antraten. Sie duldete nur eine Begleitung bis an die Grenze ihres Stadtreviers; am Rheinhafen, nicht weit von der kleinen, in dichten Häusermassen versteckten Kirche »Sankt Maria im Elend,« ihrer Pfarrkirche, bog sie in eine der breiteren Gassen ein. »Bleib, das sag ich Dir! Sonst komm’ ich nit wieder! Adjes!«
»Schlaf wohl, Du Einzige!«
»Psch!« — den Finger auf den Lippen, nickte sie mir noch einmal zu, und ich stand und sah ihre liebliche Gestalt im Nebelgrau der Morgendämmerung verschwinden. [S. 356] Ich hörte den in Köln noch vielfach gebräuchlichen Thürklopfer hallen. Dann trat auch ich meinen Weg nach Hause an. Es war hohe Zeit; als ich in Deutz ankam, regte es sich schon in der Kaserne zum Dienst. Und schnell den Puder aus den Haaren gebürstet, und eilig in die Uniform geschlüpft, da rief auch schon das Signal zum »Eins-zwei! Eins-zwei!« des Rekrutendrills. —
Wir hielten Kontrakt und Programm inne mit echt kölnisch karnevalistischer Zähigkeit: Rosenmontagszug und Viktoria-Diner und Geistensterz-Ball und Bettger, Gürzenich, Moser, alles, keine Nummer ausgelassen, keine Müdigkeit, kein Überdruß! Ah, es galt die Zeit mit klammernden Armen festzubannen, die Zeit, und das Glück und die Hoffnung — ja auch die! Im Rausch der frohlaunigen Stunden flog mich zuweilen der Gedanke an die Schmetterlingsflüchtigkeit unserer Liebe an. Sie aber bannte den Schatten jedesmal durch ihr Lächeln, durch den glanzvollen Zauber ihres Blickes: — »Es ist ja noch lange hin! Geh, wir haben keine Zeit, Raupen zu fangen! Anavang!«
Gewiß hatten wir keine Zeit zu Grillen: der Kölner Karneval fordert seine Getreuen mit allen Kräften zur Sache. Auf jene rätselhafte dunkle Wolke, die über unserm Glücke schwebte, wurde nur von fern hingedeutet: sie wollte sich keine drei Minuten der kostbaren Gegenwart dadurch verderben lassen. Aber auch nicht an [S. 357] unsere Liebe gerührt: Und sie war so ängstlich: als könnte ein unbedachtes oder zu kühnes Wort den zarten Zauber verwehen.
»Drückchen — ach Drückchen —«
»Was ist? Was hast Du? Komm, laß uns tanzen!« Oder sie hielt mir das Glas hin, um mit mir anzustoßen, und ihre Zähne lachten schelmisch über den Rand der Gläser. —
Doch das Programm wurde immer kleiner — wie ein neidischer Wirbelwind, der daherfuhr und die flüchtigen Stunden hinwegfegte. Jetzt das letzte Rendez-vous; jetzt der letzte Gläserklang; jetzt der letzte Galopp, dahinrasend wie in der Verzweiflung des Abschiedswehes durch die bereits gelichtete Bahn des großen Gürzenichsaales; jetzt häng’ ich ihr das Mäntelchen um in der Garderobe — noch einmal wendet sie ihr Köpfchen nach dem vom bläulichen Staubdunst erfüllten Festraum, den die Gasflammen mit übermüdet gelbem Licht nur noch melancholisch erhellen. »Adjes ...« haucht es tonlos von ihren Lippen, während sie nach dem Tummelplatz ihres kurzen Glückes hinüberwinkt. Ich meinte ein flimmerndes Zittern in ihren Augen zu spüren. Und langsam, Arm in Arm, stiegen wir die breiten Steinstufen hinab, ohne ein Wort, das Herz von Weh geschwellt.
Der Morgen wehte kühl; während wir die Gassen dahinschritten, strichen uns scharfe Schneekrystalle schräg [S. 358] ins Gesicht. Noch war der Karneval wach; aus erleuchteten Lokalen drang weinheiserer Lärm, fern und nah; die Gassen und Plätze von dem letzten übermütigen Gejohl des Kehraus erfüllt; vermummte Masken zogen daher, noch gab es scherzhafte Anreden, noch klingelten Schellenkappen, noch sahen wir Gäste einkehren zum allerletzten Trunk, nach dem letzten. Aber über der ausklingenden Faschingslust summte und dröhnte schon mahnender Glockenklang: die Kirche rief zur Buße nach der heidnischen Tollheit, und zwischen den Masken huschten Kirchgänger daher, die es danach verlangte, sich vor dem Altar das graue Bußkreuz des Aschermittwochs auf die Stirne zeichnen zu lassen.
Unsere Schritte wurden immer zögernder, je näher wir dem Hafen kamen, wo, wie üblich, die Trennung stattfand. Wie ich so im Dahinschreiten die Wärme ihres innig angeschmiegten jungen Körpers an dem meinen fühlte, wie unsere Augen im stummen leidenschaftlichen Geständnis in einander tauchten, stachelte mich ein Trotz: Liebe ist souverän! Sie hat zu gebieten! Was schert uns eine Elternmarotte ....
»Weißt du was« — sagte ich, und meine Stimme bebte vor Erregung. »Am Freitag wollen wir uns wiedersehn! Oder am Sonntag, wenn Du willst. Morgen wird ausgeschlafen — aber am Freitag ... Ich laß’ dich nicht, Drückchen!«
[S. 359]
Sie wiegte langsam das Köpfchen und schaute mit flehendem Ausdruck zu mir empor.
»Was sind das denn für Dummheiten?!« — In meinem Zorn fuhr es mir heraus.
»Ich will Dir alles sagen, g’rad heraus —« flüsterte sie, »nur jetzt noch nit — da draußen!«
Sie wies auf die Hafenmauer, wo durch das geöffnete Thor die Rheinweite durch den streichenden Schnee herüberdämmerte.
»Es ist so, wie ich Dir sagte —« sie zwang sich absichtlich zu einem reineren Hochdeutsch — »ich weiß, was ich thue, und ich habe nicht nur kokettiert mit meinem Schicksal, jammern thu’ ich auch nicht. Kontrakt ist Kontrakt. Heute früh geh’ ich nach Maria im Elend und laß mir ein Kreuz hier auf die Stirn malen. Ich habe zwar kein Verbrechen begangen. Ich kann alles beichten. Ich bin ein Kölner Mädchen, und ich hätte können mein Leben lassen für diesen einen Karneval. Jetzt erst recht, da ich Dich getroffen —«
»Du Liebe, Liebe, Einzige ...«
»Psch! —« wehmüthig lächelte sie. Und wir schritten über die Hafenbrücke nach dem Thore zu.
Es war eine rauhe winterliche Scenerie. Der Rhein ging mit Eis, auf der graugrün flutenden Wasserweite schoben die Eisschollen, mit schmutziggrauem Schnee bedeckt, stromab, hie und da wie drängend im wilden Ingrimm, [S. 360] und dann wurde das eintönige Geräusch des Wassers überschallt von dem metallischen Aufeinanderprallen der Schollen und dem splitternden Geknirsch. Drüben am andern Ufer, undeutlich schwankend in dem schrägen Schneetreiben, dämmerte die flache Silhouette von Deutz, die Bäume und Häuser von der Überflutung gleichsam halb versenkt unter den Horizont.
Nach ein paar Schritten hielt sie plötzlich. »Du, nun will ich Dir’s sagen. Ich heirat’ — ich muß!«
Ich prallte zurück aus ihrem Arm, obgleich ich doch dergleichen ahnen mußte.
»Ich hab’ mich lang genug gewehrt dagegen. Aber es ist das beste schon — eine gute Partie. Seine Eltern und meine wünschen es. Ich hab’ mich lang gewehrt. Er ist ein braver Mann, ich werde es gut haben. Aber ...«
Hier stockte ihre Stimme. »Ich muß weg von Köln« — fuhr sie dann fort — »weißt Du, was das bedeutet für ein Kölner Mädchen? Ich komme nach C. (ein kleines Landstädtchen an der westfälischen Grenze). Ich werd’ es gut kriegen — ein schönes Geschäft, und meine Eltern sind glücklich. Aber ...«
Wieder eine kurze Stockung. Leiser fuhr sie fort:
»Es war gut, daß ich Dich nicht kannte, als ich endlich »ja« sagte und den Kontrakt wegen des Karnevals mit meinen Leuten abschloß. Sonst hätt’ ich nein! gesagt. [S. 361] Ich hab’ niemand lieb gehabt vor Dir. Auch geschieht — ihm schon kein Unrecht. Ich werd’ ihm treu sein, er hat nichts zu fürchten. Ich bin ein Kölner Mädchen, was kann ich dafür? — Und nun sag’ ich Dir Dank für den schönen Karneval! Leb’ wohl und denk auch ein wenig an mich. Besonders am nächsten Karneval ...«
Wie von verhaltenen Thränen vibrierten ihre Worte.
»Du liebes, liebes herziges Lieb!« Stürmisch umfing ich sie. Und sie wehrte nicht.
Lächelnd, während zwei Thränen über ihre Wangen glitten, sagte sie! »Ich bin Dir schuldig. Den Kuß vom Fastelabend — Da!«
Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und küßte mich mit inniger Heftigkeit.
Dann: »Jetzt is Zeit! Vergiß mich. Leb’ wohl!«
»Nie vergeß’ ich Dich, Drückchen, — nie!« rief ich.
»Du bist ein Leutnant — ich nehm’ Dir’s nit übel. Aber ich — ich denk’ an Dich! Adjes!«
Sie reichte mir die Hand. »Nun gehst Du hier außen, ich gehe innen an der Mauer. Ich bitt’ Dich, laß es uns nit zu schwer machen, laß die Mauer zwischen uns sein.... Und nun Anavang!«
»Drückchen, liebes Drückchen!«
Aber nichts als das streifende Schneewehen und die melancholische Weite der von Schollen bedeckten Rheinflut. Sie war verschwunden. —
[S. 362]
Auf einem Umwege über die feste Rheinbrücke, denn die Schiffbrücke war des Eisgangs wegen ausgefahren, gewann ich Deutz. Hier bliesen schon die Signale zum Dienst, und schnell den Puder aus den Haaren gebürstet, und schnell in die Uniform geschlüpft — »Eins-zwei! Eins-zwei! ...«
Ich habe mein herziges Faschingslieb nicht wieder gesehn, so viel ich in meiner thörichten Sehnsuchtshoffnung nach ihr spähte. Viele Sonntage lang fand ich mich in Sankt Maria im Elend zur Messe ein — vergeblich! Aus — alles aus! Wie sie gelobt.
Und das brutale »Eins-zwei! Eins-zwei!« des Lebens fuhr auslöschend auch über diesen Liebestraum.
[S. 363]
[S. 365]
Ein Beben der Spannung rieselte über den dichtgefüllten Saal, als die Geschworenen nun endlich nach langem Harren hereintraten, um ihr Votum abzugeben.
Der Angeklagte erhob sich in seinem Verschlag, aber jedermann wußte, daß dies nicht aus Erregung geschah — Erregung bei einem Miska O’Brell, dem berühmtesten Kunstschützen diesseits und jenseits des Meeres, der euch mit seiner Pistole das As in der Karte auf 30 Schritte herausschoß! Hoch aufgerichtet stand er da, eine Statue der Kraft und der Energie, das wie in Bronze getriebene Gesicht etwas seitwärts gewandt, an der Loge der Geschworenen vorbei, als hielte er es nicht für gut, daß die braven, behäbigen Biedermänner dort seinem direkten Blicke ausgesetzt würden.
»Er hat ein paar Augen, man meint, sie müßten jeden Augenblick mit einem Knall losschießen —« hieß es im Publikum.
»Ein so schöner Mann —« kam es beklommen von Damenlippen.
[S. 366]
»Aber seine Frau, die er getötet, war nicht minder schön —«
»Getötet — wie das klingt! Es war doch nur ein unglücklicher Fehlschuß!«
»Er wär’ es aber wohl im stande gewesen!«
»Geht das Gericht doch nichts an! — na, wir werden ja sehn!«
»Psch!«
Die sonore Stimme des Gerichtspräsidenten hallte durch die auch nicht von dem leisesten Knistern belebte Stille; in der Hand des Obmanns der Geschworenen sah man den Zettel, auf dem das Resultat der Beratung stand, deutlich zittern.
Viele, die jetzt als Zuschauer der Scene beiwohnten, waren vor Monaten auch Zeugen der erschütternden That gewesen, und jetzt in der atembeklemmenden Stille stand das Ereignis wieder vor ihnen.
Kapitän Miska O’Brell war seit Wochen die glänzendste Spezialität des »Eldorado« gewesen; seine Leistungen wirkten verblüffend auf den Laien wie auf den Kenner; um so eifriger drängte man sich zu der Produktion, als sein Weib dabei eine gefahrvolle Rolle zu spielen hatte — und dies Weib war schön und liebreizend. Noch haften auf einzelnen Anschlagsäulen die bunten Reklamezettel, die ihr Porträt neben dem ihres Gatten zeigen: ein süßes, fast kinderartiges Gesicht, von [S. 367] blonden Locken umrahmt, naiv lächelnd, als wollte es die Zuschauer beruhigen: »O, auf meinen Miska ist vollkommen Verlaß, er wird mich nicht treffen!«
Dasselbe naive Lächeln verließ ihr Antlitz nicht während der ganzen Vorstellung wenn sie ihm die Büchsen und Pistolen laden half, ihm die Glasbälle im Bogen hinwarf oder den Stab mit den aufgesteckten Karten als Scheibe emporhielt, auch zuletzt nicht, da sie ihren eignen Kopf minutenlang zu dem berühmten Tellsschuß darbieten mußte.
Ein grelles elektrisches Licht traf die Bühne, und auf der ausgespannten, von den Schüssen durchlöcherten Leinwand, die als Kugelfang diente, hoben sich um so schärfer die beiden prächtigen Gestalten ab, glitzernd in ihren goldgestickten und mit Flittern besetzten spanischen Anzügen.
Knall auf Knall und Bravo! auf Bravo! Jetzt ein As, jetzt die Sterne einer Coeur-Fünf, sogar die liniendünne Schnittfläche einer Karte, gleich spielend leicht und maschinenmäßig sicher mit der Büchse wie mit der Pistole; jetzt, unter dem rauschenden Applaus des Hauses richtet er aus gewöhnlichen Taschenrevolvern ein Schnellfeuer auf umherwirbelnde Glaskugeln. Und das scharfe Geknatter reizt noch die Begeisterung; jetzt schleudert er sich selbst die Kugeln, um sie auch dann noch und sogar mit der Büchse zu zerschmettern. Ein Teufelskerl! Und [S. 368] welche Freude sie selbst an seinen Wunderstückchen empfindet! — kaum vermag sie die kleinen rundlichen Hände, die von Brillantringen funkeln, an sich zu halten, damit sie nicht in den Beifall des Publikums mit einstimmt. Gewiß ist ihr Miska ein Prachtkerl! Aber ihr sollt gleich die Capitainin sehen, daß ich ihm an Kaltblütigkeit nicht nachstehe! Holla, ich bin seiner würdig ....
Von einem Diener wird ein Pfahl hereingebracht und in die Mitte vor die Leinwand gestellt. Der Pfahl endigt in einer mit grünem Tuche bezogenen Scheibe zum Anlehnen des Kopfes. Jetzt, nach einem Mittelding von Verbeugung und backfischartigem Knix gegen das Publikum hin, sieht man Madame O’Brell auf den Pfahl hineilen und sich daran zurechtstellen. Der Kapitän schreitet ebenfalls darauf los und entnimmt einer Schachtel kleine, goldig schimmernde Sterne, die er einzeln an der grünen Scheibe befestigt, kaum daß ein schmaler. Streif zwischen dem Sternenkranz und dem seidigen Gelock ihres Haares verbleibt. Es gleicht einem Glorienschein, und der Reflex der Sterne schillert goldig über ihr Antlitz — ein köstlicher Effekt. Sie sieht bezaubernd aus mit diesem seltsamen Schmuck, und sie weiß es! Ihr blühendes Gesichtchen lächelt lieblich, und als Dank für das Gemurmel der Bewunderung, das sich über die Menge verbreitet, hebt sie langsam die Hand gegen die Lippen und sendet einen jener artistenmäßigen Handküsse hinab [S. 369] — den Kopf selbst darf sie ja nicht regen, denn schon steht ihr Miska in Positur, die Pistole in der Hand, ein Tischchen neben sich, auf dem noch mehr solcher Pistolen ruhen.
Was? Er wird doch nicht ...
Gewiß das! — seine Bravourleistung: er wird Stück für Stück und der Reihe nach von links nach rechts die Sterne rings um das Haupt seines Weibes herabschießen!
Unmöglich! Das ist ja — das ist ja verbrecherisch! Ein leises Zucken der Hand, welche die Pistole hält — und statt einer Kugel ist der lächelnde Kopf getroffen! Da sollte doch die Polizei sich ins Mittel legen!
Sie hatte diesen Teil der Produktion ja auch beanstanden wollen, aber Madame hatte die Hochlöbliche selber ausgelacht; eher fällt der Mond vom Himmel, als daß ihr Miska mit seinen Geschossen um eine Haaresbreite vom Ziele abweicht!
Atembeklemmende Spannung vom Parterre bis in die höchsten Ränge hinauf; jede Regung scheint zu stocken in dem weiten Raum, und die Blicke der mehreren Tausend sind wie hingebannt nach dem lächelnden Kopf mit seiner Gloriole. Einzelne Frauen halten sich die Augen, sie wollen und können das Grausige nicht mit ansehen: was für ein Ungeheuer ist er denn ...
Der erste Schuß knallt, und um den Lockenkopf stieben die Stücke des getroffenen Sternes — das Lächeln aber [S. 370] bleibt unverändert, auch wurde durch die Gläser festgestellt, daß kein Wimperchen in dem Antlitz sich geregt. Welch ein Weib!
Und ein ungeheures Hallo löst die angstvolle Spannung. Von dem brausenden und donnernden Applaus begleitet, giebt jetzt der Kapitän Schuß um Schuß, wie berauscht von dem Beifall — um seines Weibes Kopf wirbeln die Sternfetzen, blitzend in dem elektrischen Licht wie ein Sprühfeuer.
Schneller und schneller, mit einer unheimlichen, fieberhaften Hast folgen die Schüsse — der Saal ist außer sich vor Erregung — es fehlen nur noch drei, vier Sterne, dann ist das lächelnde Opfer erlöst aus seiner grausig gefahrvollen Stellung!
Plötzlich gellt ein heller, scharfer Schrei durch das Haus — das ist keiner der Angstschreie, wie sie vorhin aus der Mitte des Publikums von Weiberlippen kamen ...
Durch den wallenden Pulverdampf sieht man auf der Bühne etwas zu Boden schlagen und sich zuckend darauf winden — — der Pfahl ist leer! — es ist die Frau, — Miska O’Brells Frau!
Wenige Sekunden der allseitigen Lähmung — den Tausenden im Saale stockt das Herz vor Entsetzen — dann folgen auf den Todesschrei dort auf der Bühne andere Schreie hier im Hause — Frauen sinken in [S. 371] Ohnmacht — Rufe, Flüche — alles fährt auf, ein ungeheurer Tumult. —
Mitten in diesem Aufruhr hält der Kunstschütze regungslos, die Pistole in der gesenkten Rechten, die Augen starr auf den zuckenden und winselnden Körper seines Weibes gerichtet. »Wie war das möglich?« fragen seine stieren Blicke.
Später wurde erzählt, man habe, ehe der Kapitän auf das Opfer seiner unseligen Kunst hinstürzte, eine kurze Bewegung an ihm bemerkt, ein schnelles, kurzes Heben der Pistole, als wollte er die gegen die eigne Stirn setzen ....
Vier Tage darauf ward die »Künstlerin« unter einem Andrang, wie er nur berühmten Persönlichkeiten zu teil wird, zu Grabe getragen. Es war keine Rettung möglich, das Geschoß hatte sie mitten in die Stirn getroffen. Der Gatte fehlte als Leidtragender; das Gesetz mußte, wenn auch mit Achselzucken, seine Schuldigkeit thun und die Haft über ihn verhängen.
Es war ein Sensationsfall, der so bald nicht von dem Tagesklatsch abgesetzt wurde. Selbstverständlich trägt die Schuld an dem furchtbaren Unglück die Polizei! — sie durfte solches nicht gestatten! eine Versuchung Gottes! Aber das Bedauern, das man dem Schützen zuwandte, war nur ein halbes: was ist er denn für ein Unmensch, [S. 372] der um des häßlichen Mammons willen das Haupt seines Weibes Abend für Abend solcher Gefahr aussetzt!
Die Ahndung, mit der das Gesetz den Unseligen treffen würde, konnte nur ein geringes Strafmaß sein. Es konnte nur fahrlässige Tötung in Betracht kommen — vielleicht würde auf völlige Freisprechung erkannt werden, denn da die Öffentlichkeit das Spielen mit solcher handgreiflichen Gefahr zuließ, so durfte ihn keine Schuld treffen, wenn der Lauf der Pistole in seiner Hand eine Haarbreite aus der Richtung glitt.
Das Publikum selbst, das sensationsgierige Ungeheuer, ist schuld an dieser Unseligkeit!
Und in solchem Sinne hatte der Verteidiger, ein junger talentvoller Streber, eine leichte und dankbare Aufgabe, die ihm billige Gelegenheit zu einem rhetorischen Effektstück gab.
Selbstverständlich wurde die Frage, ob Miska O’Brell schuldig befunden werde, seine Frau Rosita O’Brell vorsätzlich getötet zu haben, nur der Form wegen mit einem »Nein« des Obmanns beantwortet. Welch ein Unding, solches anzunehmen!
Aber auch die Fahrlässigkeit wurde verneint. Die Geschworenen mußten dieselbe Folgerung gezogen haben wie die Masse des Publikums; Gründe hatten sie ja nicht anzugeben.
So erfolgte also vom Richtertische aus das Urteil der [S. 373] Freisprechung; fast hätten die Zuschauer applaudiert, aber man war doch in betreff des Schaustückes, das man hier erwartet hatte, etwas enttäuscht. Miska O’Brell machte nicht die geringste Scene, sein bronzenes Gesicht empfing das Urteil mit der metallischsten Ruhe, und kein Glied regte sich an der mächtigen Gestalt.
Er ist dennoch ein fühlloser Mensch .... Artistenpack!
Nur einige Gläser wollten bemerkt haben, wie jetzt, als er festen Schrittes durch die geöffnete Schranke trat, eine tiefe wulstige Falte mitten auf seiner Stirn erzitterte. Und so, den halbverhüllten Blick seiner dunklen Augen wie verachtend über die Köpfe der aufgeregten Zuschauermasse gerichtet, schritt er hinaus in die Freiheit. —
Miska O’Brell pflegte an den Orten, wo er längere Zeit auftrat, seine Einnahmen dadurch zu vermehren, daß er an sportlustige Herren Unterweisung im Kunstschießen erteilte und dabei die Benutzung seiner vorzüglichen Schießwaffen gestattete. Ich durfte mich vierzehn Tage ebenfalls zu seinen Schülern rechnen, wobei ich gestehen will, daß mich nicht am wenigsten die Unterhaltung mit dem vielgereisten Manne fesselte, der durch alle Arten Abenteuer gestreift war. Zuweilen wurde er durch seine Frau sekundiert, wenn der Gehilfe nicht ausreichte. Doch schien der Kapitän scharf darüber zu wachen, daß der Verkehr Rositas mit einigen leicht in Flammen zu setzenden oder [S. 374] sich für unwiderstehlich haltenden Dandies unsers Kreises nicht zu lebhaft wurde. Daß ihn der Eifersuchtsteufel plagte, darüber waren wir einig, auch mochte er alle Ursache dazu haben, denn die reizende Blondine, deren Lächeln auch außerhalb der Bühne nichts von seinem Zauber einbüßte, war nicht ganz frei von gewissen versteckten Kokettierungslisten. Ihre wunderbaren Augen hatten es uns allen mehr oder weniger angethan. Freilich ward unsere Bewunderung fort und fort in ihre Schranken zurückgedrängt durch seine überwachenden Blicke, und daß er schärfer als andere sah, das bezeugte seine unübertroffene Meisterschaft als Schütze. Daß er aber auch sehr wohl im stande wäre, eine der Waffen vom Tisch zu nehmen und sie auf einen von uns zu richten, wenn seine Eifersucht zu stark gereizt würde, darüber waren wir einig.
Die O’Brells waren Deutsche trotz des internationalen Mischmasches ihrer Namen, die wohl des besseren Effekts wegen angenommen waren. Er machte in seinen Erzählungen, die über alle Meere hinübersprangen, kein Hehl daraus, daß er früher Offizier gewesen und in der bayrischen Armee gedient hatte, dann infolge eines gewaltsamen Ereignisses, das er im Dunkeln ließ, nach Amerika geflüchtet war. Jedenfalls trug er den Titel Kapitän mit Recht, denn er hatte im amerikanischen Sezessionskriege mitgefochten und sich seinem Naturell nach wohl durch Tapferkeit hervorgethan. Ebensowenig machte [S. 375] seine Frau ein Hehl daraus, daß sie aus sogenannt »besserer Familie« stammte und ihre Verbindung mit O’Brell durch ein romantisches Abenteuer erzwungen worden war.
Die beiden Künstler — denn auch sie leistete außerordentliches im Präzisionsschießen — hatten sehr bedeutende Einnahmen, das Honorar, das ihnen für den Abend vom »Eldorado« bezahlt wurde, blieb hinter der Gage eines übermütigen Gesangssternes nicht zurück. So mochten sie auf ihrer Tournee durch alle civilisierten Länder der Welt Reichtümer angesammelt haben; auch sprachen sie davon, sich in nicht zu ferner Zeit an irgend einem schönen Luxusorte eine Villa zu kaufen und Gewehr und Pistole an den Nagel zu hängen. —
Der Mann deuchte mich wohl eines teilnehmenden Wortes wert, und ich wollte es mir nicht versagen, ihm durch einen Besuch solches auszusprechen und ihn zu dem Urteil zu beglückwünschen. Da er vermutlich dem Orte des Verhängnisses schleunigst den Rücken kehren würde, denn sentimentale Anwandlungen, die ihn längere Zeit an das Grab seiner Gattin fesseln würden, lagen ihm wohl fern, so beeilte ich mich, ihn aufzusuchen.
Aus der mir vom Portier bezeichneten Zimmerthür trat gerade ein beamtenmäßiges Wesen, es mochte der Kassierer des »Eldorado« sein, der mit dem Kapitän abgerechnet hatte, denn nach meinem Eintreten bemerkte ich [S. 376] auf dem Tisch ein wirr hingeworfenes Päckchen Banknoten, von einem Haufen blinkender Kronen beschwert.
Ich fand den Unglücklichen mitten in der Stube stehend, und nur sein bräunlicher Bronzekopf wandte sich nach mir herum; die Frisur seines glänzendschwarzen Haares war weniger geschniegelt als sonst, und der dunkle Hauch des unrasierten Bartes gab ihm ein etwas verwildertes Aussehen.
Er wußte, weshalb ich gekommen, trotzdem nickte er nur kurz, fast geschäftsmäßig, wie er uns sonst auf dem Schießstande zu begrüßen pflegte. Ich reichte ihm die Hand hin, die er nach englischer Art kräftig und kurz schüttelte. Meine bedauernden Worte unterbrach er mit seiner vollen und sicheren Stimme, die durchaus nicht darauf schließen ließ, daß irgend etwas in seinem Innern zerbrochen wäre.
»Gut, daß Sie kommen! — ich hatte sogar nach einem von den Herren schicken wollen —«
»Es war der Zweck meines Besuches,« erwiderte ich, »Ihnen, wenn solches nötig, meinen Beistand anzubieten —«
»Für mich nicht —« wehrte er ab, und ein feiner, ironisch bitterer Zug flog um seine Mundwinkel. Dann, den mächtigen Oberkörper mit einem langsam anschwellenden Atemzuge hebend, sagte er mit halber Stimme und [S. 377] mit einem seltsam scheuen Blick nach seitwärts: »Es handelt sich um ihr Grabmal, wissen Sie —«
Seltsam — als wenn er das wider Willen herauspreßte; und der scheue, bei ihm ungewohnte Blick, schien fast zu bedeuten, er möchte nicht, daß sie etwas davon erführe.
»Sie können beruhigt sein, Herr Kapitän, man hat von allen Seiten gewetteifert, ihr Grab auszuschmücken. Jetzt immer noch gleicht es einem Blumenbeet.«
Er drückte die Augenlider zu und verharrte so ein kurzes Schweigen lang; ein leichtes Winken seiner Hand sagte: »Ich danke Ihnen!«
Hierauf, den geschäftlich kühlen Ton erzwingend: »Also um ihr definitives Grabmal handelt es sich. Ich werde Europa verlassen und nicht mehr hierher zurückkehren. Es soll ihr ein Denkstein errichtet werden, etwas in Marmor, es kann so kostbar ausfallen, als man beliebt — an Geld soll nicht gespart werden. Hier —«
Und er wies nach dem Geldhaufen auf dem Tisch mit einer gewissen verächtlichen Gebärde, die auszudrücken schien: »Was ist mir Mammon fortan?«
Ich versicherte ihn, daß sein Auftrag auf das sorgfältigste ausgeführt werden sollte, und bat ihn, mir die Summe anzugeben, die er für den Zweck aussetzen würde.
»Hier, das ist meine ganze Einnahme vom Eldorado! Ich wünsche sie für das betreffende zu verwenden. Wieviel [S. 378] war es doch noch? Die Summe ist mir entfallen, ich habe aufs Geratewohl quittiert. Es ist auch einerlei! Würden Sie die Güte haben und selber nachzählen!«
Ich machte mich also daran, die Scheine auf dem Tische zu sortieren und das Gold zählbar aufzureihen. Währenddem durchmaß er dröhnenden Schrittes die Stube, ohne sich um meine Verrichtung zu kümmern. Endlich nannte ich die Summe.
»Gut!« rief er. Es klang scharf und abschneidend, als wünschte er diese Angelegenheit hiermit erledigt.
Noch ein paar seiner wuchtigen Schritte, dann blieb er plötzlich vor mir stehen — fast konnte ich ein Zusammenzucken meinerseits nicht verbergen, ein so unheimlich düsteres Feuer loderte unter seinen halbgesenkten Lidern.
»Noch eins —« begann er dumpf, mit heiser entstellter Stimme. »Es wäre mir lieb, wenn es jemand erführe. Bitte Sie aber, mit der Verbreitung zu warten, bis das Denkmal errichtet ist. Nicht, als wenn ich mich vor einer neuen Untersuchung fürchtete — ich fürchte mich vor nichts und vor niemand! Auch ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens, soviel ich weiß, unstatthaft.«
Seine bräunliche Gesichtsfarbe spielte ins Aschfahle, sein Blick wirkte wie durchbohrend, es war ihm schwer standzuhalten.
»Also ich habe sie mit Absicht getötet —«
[S. 379]
»O!« — und ich prallte entsetzt zurück. Hatte die Haft und der fortwährende Gedanke an das Fürchterliche seinen Verstand aus den Fugen gerückt?
Er mochte solchen Verdacht aus meiner Miene lesen — wieder zuckte das ironisch bittere Lächeln um seine Mundwinkel.
»Es ist kein Märchen, das ich Ihnen da aufbinde, verehrter Herr! Ich liebe dergleichen nicht! Es ist so, ich habe sie mit Absicht getötet — — seit zwei Jahren ging ich mit dem Gedanken um — endlich war die Zeit da —«
Es war eine grauenhafte Ruhe, mit der er das vorbrachte. Stumm stierte ich ihn an, es war, als starrte mir das Blut zu Eis.
»Ich möchte nicht, daß Sie mich für eine Bestie hielten! Auch sollen Sie nicht denken, daß ich mich wie ein sentimentaler Schwächling habe hinreißen lassen. Getötet ist auch der falsche Ausdruck — ich habe sie gerichtet! Sie hätte vor zwei Jahren bereits exekutiert werden sollen, ich habe die Vollstreckung nur hinausgeschoben —«
»Sie ist Ihnen untreu gewesen —« entfuhr es mir wider Willen. Natürlich, so wie wir alle den Kapitän vom Scheibenstande kannten, war das Motiv der unseligen That Eifersucht gewesen.
Er nickte. »Untreue ist ein weiter Begriff. Die [S. 380] Untreue, die sie ihrem ersten Gatten leistete — meinetwegen, wäre vielleicht in den Augen der Welt eher eine Schuld gewesen als diese da. Bei uns Künstlern drücken die Ehegatten wohl ein Auge zu. — Kokettieren und süße Augen machen gehört zum Geschäft. Lächeln und lächeln — besonders zu unserm Tellsschuß gehört ein solches Engelsfrätzchen, sonst macht die Pièce keinen Effekt! Da kann man sich denn freilich der Blumenspenden und anonymen Billets und selbst kostbarerer Dinge nicht erwehren. Ein Weib ist ein Weib! Sie aber kannte die Gefahr, ich hatte ihr vordem schon öfter gedroht, sie zu erschießen, wenn sie sich auch nur das Gelüst zu einer Untreue zu Schulden kommen ließe.«
»Zu Pest geschah es also, es war ein bekannter magyarischer Don Juan, der ihr wahrhaftig den Kopf verrückt haben mochte. Hol’ der Teufel die Weiber! Es giebt keine Treue schlechtweg — die mangelnde Gelegenheit, das ist die Treue!«
»Ich forderte den Kerl. Er schlüge sich nicht mit einem Artisten, hieß es. Und sich vor die Pistole eines Kapitän O’Brell stellen, wäre eine Borniertheit! Da könnte er sich lieber gleich selbst eine Kugel durch den Kopf jagen — und dazu hätte er keine Lust.«
»Gut, ich wollte ihm das besorgen und ihn wie einen Hund über den Haufen schießen — sie aber flehte mich auf den Knieen, davon abzustehen. Also liebte sie [S. 381] ihn?! Ich hätte sie damals schon töten sollen, und ich wollte es auch — — aber mein Gott, mein Gott ...«
Er schlug die eine Hand gegen die Augen und hielt sie so eine kleine Weile. Bedeutete dies »Mein Gott!« nicht: »Aber ich liebte sie selbst so leidenschaftlich!«
»So schob ich es auf —« fuhr er dumpf fort, »obgleich mir nachdem deutliche und schriftliche Beweise zur Hand kamen, daß eine Untreue vorlag. Ich schob es auf — das heißt, ich hatte ihr verziehen und wollte vergessen! Ein anderes Mal aber — das schwor ich mir, würde ich nicht so weich sein! Uns band ja außerdem der Beruf aneinander, ich will es gestehen. Damals hatten wir gerade mit unserm famosen Tellsschuß debütiert, wir machten kolossale Furore, und der Pièce verdanken wir unser Vermögen. Niemand macht ihr solches nach! Sie hatte, weiß Gott, Courage!«
»Ja, sie bewies diese Courage schon, daß sie überhaupt bei mir blieb. Denn sie wußte, daß ich ihr nur äußerlich verziehen. Der geheime Groll fraß weiter in mir, und sie sah das deutlich. Den ganzen Tag lang gab ich mir Mühe, nicht daran zu denken. Am Abend aber während der Vorstellung, wenn die Schüsse knallten, war alles wieder wach. Der Geruch des Pulvers machte mich toll. Jedesmal, wenn ich ihr die Sterne vom Kopfe wegfegte, rief eine Stimme in mir: Jetzt! — Thu’ es! — Töte sie! Es war wie ein Wahnsinn, [S. 382] der mich packte — eine ungeheure Qual! Vielleicht erinnerte mich ihr Lächeln daran, das doch zu der Pièce gehörte. Genug, eine Manie, eine Krankheit, gegen die ich nicht mehr ankam ....«
»Ich wollte mich davor retten und den Tellsschuß aufgeben — aber alle Welt verlangte danach — das Publikum schien ihr Blut haben zu wollen! Ich wollte überhaupt das Schießzeug an den Nagel hängen — ich klagte meiner Frau, daß meine Hand unsicher würde und daß ich zuweilen ein Flimmern vor den Augen verspürte. Sie lachte mich aus. ›Noch eine Tournee!‹ schlug sie vor — und dann noch eine und abermals! — Das infame Geld reizte sie, sie hatte einen Heißhunger auf Brillanten, auch wollte sie den Applaus nicht entbehren — Weiber sind Weiber!«
»So trieb ich’s also zwei Jahre lang — Abend für Abend die entsetzliche Versuchung! — Immer wieder, wenn ich die Pistole nach ihrem Haupte richtete, war die Stimme da, die mir zuraunte: Thu’ es! Töte sie! Es braucht ja nur der Finger auf dem Stecher ein wenig zu früh zu zucken — niemand kommt auf den Gedanken, daß ein Mord vorläge! Sehen Sie, so feige bin ich gewesen!«
»Und so tapfer war sie! Sie mußte jedesmal in meinem Gesichte lesen, daß etwas mit mir vorging. Die eigenartige Erregung, die mich nach der Vorstellung [S. 383] ergriff, mußte sie warnen. Wohl zwanzigmal habe ich sie gebeten, daß wir diesmal den Tellsschuß auslassen wollten. ›Das dürfen wir nicht! Das Renommee verlangt es!‹ sagte sie. ›Du und daneben schießen, Miska! Eher fällt der Mond vom Himmel! Schieß nur zu, ich halte still‹ —. Sie stellt sich also hin an den Pfahl, lächelt und lächelt ... Teufel, dies Lächeln, das gerade war’s!«
Wieder maß er das Zimmer mit dem Gedröhn seiner Schritte; ein hörbarer Seufzer schwellte seinen breiten Brustkasten.
»Warum es gerade heute geschah? Mir ist alles nur wirr in der Erinnerung.« Er strich sich dabei mit der Hand über das Gesicht. »Das Lächeln war daran schuld,« — murmelte er wie für sich — »ein Lächeln, wie sie dazumal in Pest lächelte. Und seitwärts hinter mir die Loge! Dieselbe Loge wie in Pest — jemand saß darin im Dunkel ... Er! — so meint’ ich, so sah ich, ehe ich an den Tisch mit den Pistolen trat. Derselbe, der sich nicht mit mir schießen wollte und dem ich das Leben geschenkt, weil sie mich auf den Knieen darum gefleht! — Möglich, daß er’s nicht war — ich weiß nicht — die Tollheit packte mich — die ganze Bühne schwamm in einem roten Nebel — ich schoß und schoß und schoß — das Knallen, der Geruch des Pulvers — ihr Lächeln, o ihr Lächeln! — Diesmal hörte ich deutlich die Stimme [S. 384] — sie kommandierte laut: Thu’ es! Töte sie! — und ich zielte auf ihre Stirn und drückte ab ...«
Beide Hände preßte er gegen die Augen, und ein Schauder erschütterte seinen Körper.
»Sie waren krank, sie hatten die Sicherheit verloren —«, wagte ich einzuwerfen.
Da fuhr er auf, seine Augen loderten: »Unmöglich!« schrie er schrill. »Es giebt keine Maschine in dieser Welt, die so sicher fungiert wie diese Hand!«
Und er schüttelte die hocherhobene Hand. »Eher fällt der Mond vom Himmel!«
Es war das Grauenhafteste von allem, den Wahnsinn des Künstlerstolzes zu sehen, der eher einen Mord zuließ, als daß er selbst an seiner Unfehlbarkeit rüttelte.
[S. 385]
über ein bekanntes Thema
[S. 387]
»Sie liebten sich ...«
So begann die Erzählung. Die kleine freundliche Alte legte das Buch auf den Fenstersims und ein gewisses altmodisches, aus Wehmut und Wohlwollen zusammengesetztes Lächeln glitt über ihre elfenbeinblassen Züge. Sie lieben sich ... das uralte, ewig unerschöpfliche Thema! Werden die Herren Dichter und Geschichtenschreiber denn nicht müde, es fort und fort anzustimmen? Und so viel Herzen, so viel Variationen! Auch durch die Saiten ihres Herzens hat einst das Thema geklungen, in süßen, leidenschaftlichen, jubelnden, elegischen, schrill abreißenden Tönen. Aus den Schicksalen von Freunden und Verwandten tönt es zu ihr herauf; und nicht allein die Romane, Idyllen und Tragödien, die das Leben gedichtet, auch die Kopien, Plagiate und eigenen Melodien der Geschichtenschreiber finden sich ein. Sie hat viel gelesen, in frühreifer Jugend, mit klopfendem Herzen, den Kopf voll Hoffnungen und Illusionen; dann später, als sie das Thema und seine Variationen [S. 388] mit dem freundlichen Auge der resignierten Kritik betrachtete.
»Sie lieben sich ...« Die alte Geschichte, aber es ist ein Abend, solche Dinge zu lesen, ein köstlicher Frühlingsabend voll Blütenduft und Vogelsang. Unten auf der Promenade wandeln geputzte Menschen nach dem nahen Walde, ein Brautpaar kommt daher, eng aneinander geschmiegt, eine Handwerkerfamilie ist um das Wäglein beschäftigt, darin das Jüngste wie ein Prinz ruht. »Sie lieben sich ...« Die klare, sonnendurchstrahlte Luft ist voll des Themas, und tausend Variationen schwirren umher.
Allegro agitato.
»Sie lieben sich aber doch ...« warf die Frau Generalkonsul in einem leisen Anflug der Entrüstung hin.
»Dummheit!« fuhr der Generalkonsul heraus. »Ich werde meine einzige Tochter an einen simplen Lieutenant verschleudern! Das fehlte noch! Sie könnte einen Prinzen haben! Aber nicht einmal ein Name, kein »von«, garnichts, ein Lieutenant Schneidig schlankweg — es ist empörend!«
»Er ist einer der liebenswürdigsten Menschen, er würde Else glücklich machen ...«
»Glücklich — was heißt glücklich? Paperla! Sie muß sich solche Ideen aus dem Kopf schlagen!«
[S. 389]
Eine Weile war es still im Schlafzimmer, nur das Zeitungsblatt, das er mit vorgestreckten Armen gegen das Licht haltend durchstöberte, raschelte ärgerlich.
»Gustav, wir heirateten uns doch auch aus Liebe —« kam es wie ein Seufzer von ihrem Bette her.
»Wir hatten aber auch nichts damals, da war es keine Kunst! Na, nun gute Nacht!«
Noch ein über den Kursbericht fliegender Blick, dann löschte er das Licht aus. — — —
Zwei Tage lang herrschte im Hanse ein unheimlich verstörter Ton. Der Generalkonsul mißlaunisch und mürrisch, die Frau Generalkonsul stumm, völlig stumm, bis in die zitternden Bänder ihres Häubchens hinein mit Groll geladen, statt einer Antwort zumeist nur ein gewisses nervöses Zucken ihrer hageren Schultern; Else aber, die kostbare blonde Prinzenbraut von einer Lustigkeit, die alle verblüffte, trillernd und tänzelnd — doch ihr Lachen hallte so eigenartig schrill durch das Haus.
Am Morgen des dritten Tages, beim Frühstückstisch, bekam der Generalkonsul von seiner Gattin ein Zeitungsblatt hingeschoben: »Da lies einmal — da unten das: ›Sie liebten sich‹ — fängt es an.«
Mit einem Runzeln seiner roten, wulstigen Stirn würdigte er die Stelle eines Blickes, machte hm! schob seine Unterlippe zu einer Schaufel vor, versuchte ein mitleidiges [S. 390] Lächeln über seine feisten Züge gleiten zu lassen, und ging dann mit einem Räuspern zu anderem über. Aber sie beobachtete ihn scharf mit ihren grauen Äuglein: — jetzt, ja jetzt ist er abermals an der betreffenden Stelle! Die hat also doch Eindruck auf ihn gemacht?
Es war unter der angegebenen Spitzmarke der pikante Bericht über einen kleinen Berliner Liebesroman. Der Sohn eines weltbekannten Finanzmannes, der ein einfaches Mädchen liebt, und da er unmöglich die elterliche Einwilligung zu dieser Mesalliance erlangen wird, so jagt er sich eine Kugel in die Brust — eine beliebte Variation auf das bekannte Thema. Jetzt, heißt es, ist die Verzweiflung des Vaters groß, er bietet den Ärzten ein Vermögen, wenn sie ihm seinen Einzigen (auch ein solcher!) retten, dann soll ihm auch kein Veto im Wege stehen! ja, man will sogar wissen, daß das zukünftige Schwiegertöchterlein im Verein mit dem Vater das Krankenlager hütet ...
»Ich bin begierig auf die Fortsetzung« — warf die Generalkonsulin nach einer Weile tonlos hin.
»Ah, die Dummheit dort in dem Blatt« — prustete er.
O, er weiß also doch, was ich meine! Es beschäftigt ihn stark! triumphierte sie.
»Siehst Du, Gustav, Else ist so eigentümlich — sie gefällt mir gar nicht.«
[S. 391]
»Das giebt sich —«
»Sie ist ein resolutes Ding. Wenn man so was liest, so kann einem angst und bange werden ...«
»Wie meinst Du das?«
Nur ein Achselzucken zur Antwort. —
Weitere drei Tage später befahl der Tyrann im komisch polternden Ärger, daß ihm die B.-Zeitung nicht mehr auf den Tisch käme. War sie nicht schuld gewesen, daß er nicht den Mut fand, einen gewissen Lieutenant Schneidig (bloß Schneidig!), als er um die Hand seines Goldkindes warb, abzuweisen?
Weil sie sich lieben .... Das wäre ja kein Grund gewesen! »Na aber meinetwegen!«
Andante con moto.
1. »Meine liebe, schmerzlich geliebte Emmy! Ja mit schmerzlich bewegtem Herzen schreibe ich Dir diese Zeilen. Lange, lange Zeit habe ich mich gegen den Entschluß dieses Briefes gesträubt, ich habe mir das Gehirn zermartert nach einem Ausweg; wäre mir ein gläubiges Gemüt bewahrt geblieben, gewiß ich hätte auch das Mittel nicht unversucht gelassen, um uns die Hülfe der Himmelsmacht zuzuwenden. Aber alles vergeblich — es ist das Ende!
Geliebte! Elf Jahre lang hat der Bund unserer Herzen gewährt. Ob wir glücklich waren? Die Stunden [S. 392] des Glückes aufzuzählen wäre eine Trivialität; es wäre eine Vermessenheit, mit dem Schicksal zu hadern, weil es uns diese wenigen Stunden mit so mancher bitteren Enttäuschung, mit so mancher vereitelten Hoffnung aufgewogen.
Es ist möglich, daß ich den Kampf mit dem Leben tapferer hätte aufnehmen können — meine träumerische, unpraktische Natur ist mein und Dein Verhängnis geworden: das Ideal im Auge, stolperte ich fort und fort. So ist es mir nicht vergönnt gewesen, ein bescheidenes Plätzchen zu erobern für Dich und mich, wo wir unser Glück genistet hätten. Es wird mein Geschick sein, zeitlebens die Dienerstellung eines Hauslehrers zu bekleiden — und Du Arme, Ärmste wirst vergeblich der Misère des Gouvernantentums zu entfliehen suchen.
So ist es besser, wir lösen unsern Bund! So hart es ist, dies auszusprechen, ich weiß, daß Dir dieser Vorschlag nichts Neues ist. Zwischen den Zeilen unserer Briefe lauerte er wie ein Gespenst seit Jahren schon. Aber wir fanden beide nicht den Mut, meine arme Emmy! Wohlan so sei es denn!
Ich bitte Dich, meinen Vorschlag so ruhig und objektiv hinzunehmen, als Du vermagst. Ich bitte Dich zu prüfen, ob Du tapfer genug bist, eine neue Wartezeit von vielen Jahren zu beginnen, und ob unsere Liebe solche Probe bestehen würde?
[S. 393]
So ist es besser die Blüte zu brechen, ehe sie häßlich verwelkt!
Wir werden nicht scheiden wie zwei Unglückselige, die das Schicksal gewaltsam auseinanderreißt, sondern wie zwei Kameraden, deren Reiseroute plötzlich auseinanderläuft, nur daß wir nicht sagen »auf Wiedersehn!«
Ich erwarte klopfenden Herzens Deinen Bescheid. Nimm wie stets die Versicherung, daß Dich aus der heißesten Innigkeit seines Herzens liebt nach wie vor
Dein tiefunglücklicher
Anselm.«
2. »Geehrter Herr!
Sie werden meinen Brief erhalten haben, der Ihnen in schonender Weise den so schnell und unerwartet erfolgten Tod meiner armen Freundin Emmy, Ihrer geliebten Braut mitteilte. In Eile, alles andere vorbehaltend, sende ich Ihnen ein teures Andenken, Ihren letzten Brief, den sie nicht die Kraft hatte zu öffnen, den sie aber inbrünstig geküßt und den sie sterbend an ihr Herz gedrückt. Welche Seligkeit für sie, nur dies Zeichen von Ihnen in den Händen zu halten, bis zuletzt!
Gott tröste und stärke Sie in Ihrem unermeßlichen Schmerz! Bis auf weiteres
Ihre ergebene
Helene S.«
[S. 394]
Scherzando.
Sie liebten sich. Unter dem Weihnachtsbaum hatten sie sich kennen gelernt; schon als er dort ausgestreckt lag auf dem einen Bescherungstischchen mitten unter Bilderbüchern und allerlei Spielzeug, schielten seine spaßigen Pulcinellaugen nach ihr herüber, die großartig aussah, wie es einer Dame von ihrem Kaufpreis, mit echtem blonden, frisierbaren Menschenhaar und mit einer sprechenden Pariser Maschine in der Brust geziemte. Er hieß Monsieur Pierre und sie Mademoiselle Ange. Er war der zierlichste bunteste Hanswurst, voll Späßchen und Mätzchen, im Herzen aber ein treuer und braver Kerl. Sie behauptete, noch nie einen so schönen Höcker gesehen zu haben, ja in ihrer bizarren Art sprach sie es offen aus, daß sie ihn hauptsächlich dieses prächtigen, mit Schellen behangenen Auswuchses wegen liebte.
Ihre Liebe kam zur offenen Erklärung, als sie sich an dem kleinen Puppentisch einander gegenüber saßen und den sogenannten Pudding verzehren sollten, der ihnen von Kinderhand auf dem blanken Spiritusöfchen aus allerlei Küchenresten zubereitet worden war.
»Ich liebe Pudding nicht!« sagte Fräulein Ange schnippisch.
»Ich ebenfalls nicht!« knurrte er. »Aber ich liebe Sie, Fräulein! — Sie haben die herrlichsten Augen, die ich je bei einer Puppe gesehen!«
[S. 395]
»O wirklich?« flötete sie entzückt, und mit einem ganz feinen Geklapper schnappten ihre drehbaren Augen nach ihm herum. Die seinen waren fest, und er mußte jedesmal den ganzen Körper mitwenden, das gab ihm das Aussehen eines mit einem Hexenschuß Behafteten.
»Ihr Höckerchen ist reizend!« erwiderte sie zur Belohnung. Verstohlen hinter dem verschmähten Pudding fanden sich ihre Hände, seine steife geschnitzte Holzhand und ihr weißes hartes, stets kühles Porzellanhändchen.
Seitdem erfüllten sie mit ihrem Liebeswerben und ihren augenverdrehenden Zärtlichkeiten alle Winkel der Kinderstube — Eltern sollten sich hüten, ihren Kleinen solche verliebten Puppengeschöpfe zu schenken!
Eines Tages wurde dem Monsieur Pierre von einem kleinen patscheligen, nicht ganz reinlichen Kinderhändchen ein Bein ausgerissen.
»O«, sagte Fräulein Ange, »ich will Ihnen gern eins von den meinen abgeben — ich hatte längst vor, mir ein paar neue hübschere Stelzchen zuzulegen.«
»O ich bitte sehr!« wehrte der arme Pierre, aber es half ihm nichts, die großmütige Laune von Fräulein Ange bestand darauf, daß er sich eines ihrer für ihn viel zu kurzen Beinchen anheften ließ, während sie sich ein elegantes neues Paar mit durchbrochenen Strümpfchen und Hackenschuhen kaufte. Da hinkte er freilich mit [S. 396] seinem ungleichen Beinwerk, das amüsierte sie aber, — ei, was that er nicht, um sie bei Laune zu erhalten?
Eines anderen Tages ihres kurzlebigen Puppendaseins zerbrach sich Fräulein Ange ihren Kopf, ein klaffender Schädelriß von einem Ohr zum andern. Der gute Pierre erschrak aufs heftigste und war trostlos.
»Was fällt Ihnen ein, zu flennen!« rief Ange — »ausgezeichnet! jetzt fahre ich nach der großen Puppenklinik in der Leipzigerstraße und lasse mir den schönsten Patentkopf aufsetzen, der zu haben ist, der da« — und sie schlug mit der Hand gegen die hohle Scherbe — »paßte mir längst nicht, ich will mich verändern!«
Gesagt, gethan: der neue Kopf war ein Prachtstück mit braunen, noch echteren Menschenhaaren und lächelnden Zähnchen. Pierre fand ihn entzückend, aber siehe da, mit dem neuen Kopf hatte die Angebetete auch ihren Charakter verändert, sie war launisch und hochmütig und behandelte ihn schlecht. Zum Beschluß all seiner Qualen erhielt er sogar den Abschied und weswegen?
»Ich vergeß’ Ihnen das nicht, daß Sie mir nicht, als ich meinen Kopf zerbrochen hatte, den Ihrigen anboten, Monsieur Pierre!«
»O Gott — er hätte, er hätte Ihnen ja nicht gepaßt, Fräulein!« stotterte Pierre.
»Warum nicht? Mir paßt alles! Aber Sie sind nicht galant, Sie sind nicht dankbar, habe ich Ihnen [S. 397] nicht eins von meinen Beinen abgelassen? Mir paßt, wie gesagt, alles — nur Sie passen mir nicht mehr, verstehen Sie!«
Der arme Pierre! Eine Woche lang war er außer sich vor Schmerz und lag mit dem Kopf nach abwärts in einem Baukasten, die beiden ungleichen Beine aufwärts gestreckt. Bald aber fand er einen Trost. Eine niedliche kleine Elsässerin that es ihm an. Freilich ganz stumm und nicht sehr witzig, auch machte es ihm nicht viel Mühe, sie zu erobern. Er überraschte sie mit einem »Vive la France!«, umfaßte dann ihre Taille und flüsterte ihr in seinem verliebtesten Tone ins Ohr: »Je vous aime!« So ein Schwerenöter!
Largo. Sulla morte d’un principe.
Es war ein Königssohn, blühend und begabt, der Stolz und die Hoffnung des Landes. Die Zuversicht aller Guten baute auf seine Kraft, und die Begeisterung erhob ihn jauchzend auf ihren Schild. So schien er gewappnet und gefeit gegen alles menschliche Unheil. Da traf ihn die Liebe plötzlich mitten ins Mark seines Herzens. Nicht die Liebe der Fürstensöhne, ein kurzer, wilder Rausch oder eine flüchtige Schmetterlingslaune, nein, die Liebe, die andere Sterbliche zu treffen weiß, stark, verzehrend, ohne Widerstand, ein schwüles Gewitter, gegen dessen Blitze man machtlos ist.
[S. 398]
Traf ihn ins Mark des Herzens, durchfieberte seine Gedanken und sog wie ein fressend Feuer an seiner Lebenskraft. Kein Aufraffen möglich und keine Wehr dagegen! Taub und abweisend gegen alle Gebote der Pflicht und die uralt heiligen Satzungen der Ehre. Die Liebe wollte ein Exempel ihrer Übermacht feststellen, wie sie noch keines festgestellt!
Und sie befahl ihm hinzugehn in die einsame Waldhütte, um sich und die Geliebte zu tödten, ganz wie sie andern winzigen wehrlosen Menschlein den Revolver in die Hand drückt und ihnen ein Hotelzimmer oder einen einsamen Busch im Walde anweist.
Ein ungeheures Entsetzen zuckte durch alle Lande ob des schaurigen Geschehnisses. Und die Gelehrten, Psychologen und Psychiatriker, Doktoren der Seele und des Leibes, alle klugen und weisen Leute zerfaserten, sondierten, sezierten und prüften den Fall in seine Atome hinein. Man fand aber nichts als die unerhörte, grausige alltägliche Trivialität: »Sie liebten sich!«
Tempo di menuetto.
Sie hatten sich geliebt .... ein halbes Jahrhundert war seitdem vergangen. Jetzt saßen sie Sessel an Sessel an einer Seite des Ballsaals und sahen dem rythmischen Gewühl der von einem Straußschen Walzer beschwingten Paare zu. Zwei feine alte Figuren, wertvollem Meißner [S. 399] gleich. Sie hatte ein Lorgnon à manche von eingelegtem Schildpatt zu den Augen erhoben, er gebrauchte ein Monocle, das an einem Goldkettchen hing. Der Tanz interessierte sie ungemein; ihr Gespräch stockte oder sickerte nur in kleinen staccato-artigen Rufen: »Allerliebst! — reizend das Paar! — hübsch — sehr hübsch!«
Unter diesen Rufen vibrierte die Erinnerung an damals. Ein halbes Jahrhundert war verflossen, sie sind unterdes beide Excellenzen geworden, sie ist vielfache Großmama, er hat zwei Frauen zu Grabe getragen — eine Welt voll Freuden, Sorgen, Erfolgen und Enttäuschungen liegt zwischen damals und jetzt. —
Es war an einem Ballabend vor fünfzig Jahren; sie saßen Stuhl an Stuhl wie heute, dem Tanze zuschauend. Und wie das Alter sich heute an der Jugend ergötzt, so freute sich damals die Jugend des tanzenden Alters. Denn im Saale wurde ein Menuett aufgeführt, die Alten wollten diesen verschollenen Tanz noch einmal zu Ehren bringen, eine hübsche Laune, die allseitig Beifall fand. Und während die ehrwürdigen Paare mit den zimperlich gemessenen Schritten beim Klang eines spinettartigen Klaviers, das man besonders zu dem Zweck hervorgeholt, den altmodischen Reigen vollführten, fanden sich ihre beiden jungen Herzen.
Es war nur ein kurzer Frühlingstraum, den die [S. 400] rauhe Hand der Wirklichkeit zerwühlte. Vielleicht war es besser so! —
»Ei sieh da, Excellenz, einer von Ihnen und eine von mir!« sagte die alte Dame mit ihrem feinen Silberstimmchen.
Se. Excellenz nickte wohlgefällig.
Es war sein Lieblingsenkel, der mit einer von den liebreizenden Enkelkindern Ihrer Excellenz tanzte. Weiß Gott, hat sie nicht Ähnlichkeit mit einer gewissen anderen Dame von damals?
»Ein famoses Paar, Excellenz!« murmelte er.
»Ein ganz prächtiges Paar, Excellenz!« echote das Silberstimmchen. Und die verblaßten Äuglein der beiden trafen sich zu einem bedeutsamen Blick.
Und noch eine bedeutsamere Pause. Nachdem, plötzlich unvermittelt: »Wissen Sie, Asta ist eine gute Partie« — warf Ihre Excellenz hin.
»Mein Alfred ist einer der talentvollsten Bursche, die ich kenne, er wird Carriere machen —«
Wieder eine Pause, und während ihre Gedanken die alte Erinnerung umgaukelten, spannen sie zugleich beim Takt des Walzers flimmernde Zukunftsbilder, in der das »famose, prächtige Paar« eine immer wichtigere Rolle spielte.
[S. 401]
Presto con fuoco.
Der junge Forstmann trat eben aus dem Dickicht in die Schneuse hinaus, als er stutzte. Horch, der dumpfe Schall von stampfenden Pferdehufen in dem weichen Waldboden, dazu geheimnisvoll flüsternde Stimmen; so verloren waren die beiden dort auf den Pferden in ihr Gespräch, daß sie nicht einmal das Rascheln des Herbstlaubes vernahmen, als der Forstmann sich Platz durch das Buschwerk bahnte.
Ein wunderschönes Paar! Beide groß, schlank, vornehm; das knappe dunkle Reitkostüm umzwängt ihren herrlichen Wuchs, und um ihr von der Abendsonne angeglühtes Antlitz flattert in der leisen Brise der silbergraue Hutschleier. Sie lassen die Pferde läßig schreiten, sie achten nicht des Weges, sie haben sich so Wichtiges zu sagen; dicht, ganz dicht aneinander schreiten die Tiere, und ein leichter dampfender Hauch geht von deren naßglänzenden Gliedern aus.
Die beiden halten sich sogar bei der Hand, und wie sie sich zuflüstern, tauchen ihre Blicke sehnsuchtsglänzend in einander. Der Zuschauer glaubt das Wort »Liebe« zu vernehmen; ja, ihr ganzes Wesen atmet glühende Liebe.
Plötzlich schlingt der Reiter seine Rechte um die Taille der Reiterin, hingebend, in bebendem Verlangen ruht sie in seinem Arm, sein vom eleganten Stutzbart umrahmtes Antlitz beugt sich über das ihre, und ein langer, langer, [S. 402] seliger Kuß vereinigt ihre Lippen, während die Pferde läßig ihren Weg fortsetzen.
Da gellt ein hoher mißlautender Vogelruf durch die Waldstille. Wie erschreckt fahren sie auseinander, — nun läßt die Dame ihren Rappen ansprengen, der andere ihr nach, eine tolle, immer wildere Jagd die Schneuse entlang, bis das rotgoldene Waldlaub die Erscheinung verschlingt.
»Donnerwetter!« rief der Forstmann ganz verblüfft. »Mann und Frau? I, da hätten sie doch nicht nötig, hier mitten im Walde und gar zu Pferde« ....
Einige Tage darauf, als er abermals diese Waldgegend durchstreifte, bemerkte er auf einer Blöße Menschen versammelt. Der Sturm hatte das Goldlaub von den Bäumen gefegt, man hörte deutlich das Rascheln unter den geschäftig hastigen Tritten der Menschen dort. Was wollen die? Jetzt vernimmt er laute befehlende Stimmen, jetzt stehen sich zwei mit nicht vielen Schritten Abstand einander gegenüber. Ist der eine von den beiden, der große, schlanke, schöne Herr nicht der Reiter, der so inbrünstig seine Reiterin küßte? Die beiden haben Pistolen gegeneinander erhoben, ein Kommando schallt, zwei Schüsse puffen — in dem verwehenden Pulverdampf sinkt der Große in die Kniee und stürzt dann lang hin.
»Donnerwetter!« entfuhr es dem bestürzten Zuschauer. »Schließlich waren es doch nicht Mann und Frau, und [S. 403] der kleine Dicke hatte recht, daß er seine Ehre rächte und den Großen, Schönen niederschoß ....«
Später, im Winter, als die Blutlache dort auf der Blöße, wie die Spuren der Pferdehufe auf dem Schneusenweg längst vom schweigenden Schnee bedeckt waren, durchkreuzte der Forstmann mit seinem jungen Weibe zufällig die Waldstelle. »Sieh’ mal, also dort küßten sie sich, von der einen Buche bis zur anderen — und dahinten schossen sie sich.«
»Oh!« rief sie, und die blauen Augen des frischen, blühenden Weibes fuhren hin und her, von der einen Stelle zur anderen.
Er fand sie besonders reizend so und er konnte nicht an sich halten, umschlang ihre pralle Taille und preßte einen Kuß auf ihre Lippen, daß es laut durch den Wald erschallte.
[S. 404]
Aus Mitleid | 1 |
Nie! | 97 |
Die gekaufte Stimme | 115 |
Des Kaisers Fünf | 135 |
Der Friedensschluß | 173 |
Der Doppelgänger | 213 |
Das System | 231 |
Er trinkt! | 295 |
Versunken | 313 |
Faschingszauber | 333 |
Der Tellsschuß | 363 |
Sechs Variationen | 385 |
Druck von C. H. Schulze & Co. in Gräfenhainichen.
Verein der Bücherfreunde
Der Verein der Bücherfreunde hat folgende Satzungen:
1.Der Verein der Bücherfreunde bezweckt die Vereinigung aller Freunde einer feineren litterarischen Unterhaltung und stellt sich zur Aufgabe, seinen Mitgliedern eine Reihe hervorragender Werke der zeitgenössischen deutschen Litteratur — also keine Übersetzungen — zum billigsten Preise zugänglich zu machen.
2.Die Mitglieder verpflichten sich zur Zahlung eines Beitrags von vierteljährlich 3 Mark 75 Pf. (= 2 Gld. 25 Krz. oder 5 Franken), welcher zum Beginn eines jeden Vierteljahres zu entrichten ist. Mitglieder, welche die Bände gleich gebunden zu beziehen wünschen, haben vierteljährlich 4 Mark 50 Pf. (= 2 Gld. 70 Krz. oder 6 Franken) Beitrag zu zahlen. Weitere Zahlungen haben die Mitglieder keinesfalls zu leisten. Der Beitritt verpflichtet für ein ganzes Jahr. Anmeldungen in jeder Buchhandlung, welche auch die Veröffentlichungen vermittelt.
3.Es erscheinen im Laufe des Jahres in regelmäßigen Zwischenräumen sechs bis acht in sich abgeschlossene Werke, zusammen etwa 150 Bogen zu 16 Seiten stark. Die Veröffentlichungen bestehen zum größeren Teil in unterhaltender — Roman, Novelle, Humor, Memoiren u. s. w. — zum anderen Teil in allgemeinverständlich-wissenschaftlicher Litteratur: Geschichte, Natur-, Länder- und Völkerkunde u. s. w. Die Bestimmung der Reihenfolge der Erscheinungen und Änderungen hierin behält sich die Geschäftsleitung vor.
4.Die Mitgliedschaft erstreckt sich stets auf ein ganzes Jahr. Der Austritt aus der Gesellschaft muß der vermittelnden Buchhandlung oder der Geschäftsleitung mindestens zwei Monate vor Ablauf des Vereinsjahres angezeigt werden. Das erste Vereinsjahr beginnt mit dem 1. Oktober 1891.
5.Der Eintritt in die Gesellschaft kann jederzeit stattfinden. Die seit Beginn des Vereinsjahres bereits erschienenen Werke werden alsdann nachgeliefert. Auch Ausländer sowie Frauen können Mitglieder werden, dagegen sind Leihbibliotheken und zu geschäftlichen Zwecken betriebene Lesezirkel von der Mitgliedschaft ausgeschlossen.
6.Die Veröffentlichungen des Vereins werden auch an Nichtmitglieder im Einzelverkauf abgegeben, jedoch nur zum doppelten Preise.
7.Bei genügender Beteiligung ist für später eine Verdoppelung der jährlichen Bändezahl gegen die entsprechende Mehrzahlung in Aussicht genommen. Jedem Mitglied wird es alsdann freistehen, sich bei dem einfachen oder dem doppelten Cyklus zu beteiligen.
8.Die Geschäftsführung und Vertretung des Vereins liegt in den Händen des Verlagsbuchhändlers Herrn Friedrich Pfeilstücker in Berlin.
Berlin und München, im August 1891.
Der Vorstand:
Theodor Fontane. Martin Greif. Hermann Heiberg. Otto von Leixner. Fritz Mauthner. Alexander Baron von Roberts. Ernst von Wolzogen.
Die Geschäftsleitung:
Verlagsbuchhändler Friedrich Pfeilstücker in
Berlin, W.,
Bayreutherstraße 1.
Die Bücherpreise sind in Deutschland noch häufig unmäßig hohe; Länder wie England und Frankreich sind uns in dieser Beziehung weit voraus. Unter solchen Umständen sind die Litteraturfreunde in Deutschland vielfach genötigt gewesen, ihren Bedarf an Büchern aus zweiter Hand zu entlehnen, da der Ankauf der hohen Preise wegen mit zu erheblichen Geldopfern verknüpft war.
Diesen Übelstand möchte der »Verein der Bücherfreunde« dadurch beseitigen helfen, daß er die Veröffentlichung einer Reihe von Werken zeitgenössischer deutscher Schriftsteller — also keine Übersetzungen — aus verschiedenen Gebieten der Litteratur unternehmen und diese Werke seinen Mitgliedern zu einem bisher in Deutschland unerhört billigen Preise zugänglich machen wird.
Für monatlich 1 Mk. 25 Pf. wird jeder in den Stand gesetzt, sich nach und nach eine kostbare Bibliothek von Werken unserer deutschen Autoren — also nicht billige Übersetzungen zweifelhafter ausländischer Romane — anzuschaffen.
Wenn es der »Verein der Bücherfreunde« wagt, Veröffentlichungen zu einem so überraschend niedrigen Preise zu veranstalten, einem Preise, der sogar die vielgerühmte Wohlfeilheit der französischen Romanbände übertrifft, so kann er es nur unter der Voraussetzung thun, daß sein gemeinnütziges Vorhaben von allen Litteraturfreunden durch Mitgliedschaft aufs regste unterstützt wird, denn es bedarf einer großen Zahl von Freunden des Unternehmens, um dieses lebenskräftig zu erhalten.
Zur Veröffentlichung angenommen sind vorläufig folgende
Werke:
Todsünden.
Roman von Hermann Heiberg.
(Bereits erschienen.)
Aus Mitleid. Des Kaisers Fünf
u. s. w.
Neue Novellen und Skizzen von Alexander Baron von Roberts.
Inhalt: Aus Mitleid. — Nie! — Die gekaufte Stimme. — Des Kaisers Fünf. — Friedensschluß. — Doppelgänger. — Das System. — Er trinkt! — Versunken. — Faschingszauber. — Der Tellsschuß. — Variationen.
Seelenanalysen.
Novellen von Max Nordau.
(Verfasser der konventionellen Lügen der Kulturmenschheit.)
Inhalt: Ein Sommernachtstraum. — Blasiert. — Panna. — Die Kunst zu altern. — Wie Frauen lieben. Zwei Gegenstücke: I. So. — II. Anders.
— Erscheint im Januar. —
Ein neuer Roman von Max Kretzer.
Es haben ihre Mitarbeiterschaft außerdem zugesagt:
Adolf Glaser, Wilhelm Jensen, Hans Hopfen, Gerhardt von Amyntor, Moritz Carrière, Ernst Eckstein, Ludwig Pietsch, Fritz Mauthner, Martin Greif, Rudolf Genée, Hans Hoffmann, Ernst von Wolzogen, Otto von Leixner, Moritz von Reichenbach, August Niemann, Julius Hart, Karl Pröll und viele andere.
Ferner wissenschaftliche Werke:
— Diese beruhen immer auf genauer Kenntnis der neuesten Forschung —
Aus der
Sturm- und Drangperiode der Erde.
Skizzen aus der Entwickelungs-Geschichte unseres Planeten.
Von Professor Dr. H. Haas. Mit Abbildungen.
Aus dem Inhalt des Buches heben wir folgende Hauptabschnitte hervor: Was wissen wir von der Entstehung unseres Planetensystems im allgemeinen und unseres Erdballs im besonderen? — Von dem Baumaterial, das unseren Erdkörper zusammensetzt und von den Kräften, welche dasselbe bilden und zerstören. — Von den nutzbaren Mineralien (Erzen, Steinkohlen u. s. w.) und von der Art und Weise, wie solche entstanden und wo sie vorkommen. — Von der Pflanzen- und der Tierwelt der Vorzeit, sowie von ihrer allmählichen Entwickelung und Vervollkommnung im Laufe der geologischen Perioden. — Vom vorgeschichtlichen Menschen.
Astronomische Abende. Von Dr. C. Titus. Mit Abbildungen.
Ungefähre Inhaltsübersicht: Die Sonne (tägliche und jährliche Bewegung. Einflüsse auf die Erde, Sonnenflecken u. s. w.). — Das Planetensystem und seine Geschichte (Bewegung der Planeten, Entdeckung derselben, Entstehungstheorie von Kant-Laplace u. s. w.) — Ein Sohn der Sonne (speziell der Planet Mars, die neuesten Forschungen über seine Oberfläche, Marskarten, Atmosphäre des Mars, seine Monde, Frage der Bewohnbarkeit u. s. w.). — Der Begleiter der Erde (Bewegung des Mondes, Mondphasen, Alter des Mondes, Berge und Rillen auf dem Monde, Mondsagen, Frage des Einflusses des Mondes auf das Wetter). — Ebbe und Flut u. s. w. — Finsternisse. — Vom Kalender. — Wie sich der Laie unter den Sternen zurechtfindet (Teilkärtchen, Sternbilder u. s. w.). — Wie viel Sterne am Himmel stehen? — Über Fernröhre und deren Zukunft. — Veränderliche, neue, verschwundene und mehrfache Sterne. — Nebelflecke (besonders die neue Aufnahme des Nebels im Sternbild der Andromeda, photographisch aufgenommen, welche eine Bestätigung der Kantschen Theorie über die Entstehung des Planetensystems brachte; bei dieser Gelegenheit: Die Photographie im Dienste der Astronomie.) — Die Milchstraße. — Kometen. — Astrologisches. — Die Frage der Bewohnbarkeit anderer Welten. — Weltanfang und Weltende in den Gedanken des Astronomen und Physikers.
Steinerne Zeugen. Die Forschungen und Ausgrabungen in Palästina, Egypten und Assyrien und ihre Beziehungen zur Bibel. Von Dr. Georg Kampffmeyer. S Mit Abbildungen.
Anmeldungen und ausführliche Prospekte durch jede Buchhandlung oder auch durch die Geschäftsleitung des Vereins in Berlin, W. Bayreuther Straße 1.
Mitglieder, welche zehn Beitrittserklärungen sammeln und die Unterschriften der Geschäftsleitung oder einer Buchhandlung einsenden, erhalten für sich ein Exemplar der Veröffentlichungen umsonst. Eine Sammelliste zum Einzeichnen der Namen steht zu dem Zweck zur Verfügung.
C. G. Röder, Leipzig.
Verlag von Heinrich Minden, Dresden und Leipzig.
Alexander Baron von Roberts:
»Es« und Anderes. Vierte Auflage. Preis geh. M. 3.— in Originalband M. 4.—
Lou. Roman. Dritte Auflage. Preis geh. M. 3.50. — in Originalband M. 4.50.
Kohinor. Novellen. Zweite Auflage. Preis geh. M. 3.50. — in Originalband M. 4.50.
Die Pensionärin. Erzählung. Zweite Auflage. Preis geh. M. 2.— in Originalband M. 3.—
Unmusikalisch und Anderes. Zweite Auflage. Preis geh. M. 3.— in Originalband M. 4.—
Unmusikalisch und Anderes. Miniatur-Ausgabe. Preis geh. M. 2.— in Originalband M. 3.—
Um den Namen. Roman. Dritte Auflage. Preis geh. M. 5.— in Originalband M. 6.—
Die schöne Helena. Roman. Zweite Auflage. Preis geh. M. 5.— in Originalband M. 6.—
Vorrätig in allen Buchhandlungen.
In der Romanbibliothek von J. Engelhorn, Stuttgart:
»Satisfaction« u. s. w. Novellen.
»Preisgekrönt«. Roman.
Im Verlag von Th. Reclam:
Satisfaction, Schauspiel in 4 Aufzügen.
Die schöne Helena.
Roman von Alexander Baron von Roberts.
Zweite Auflage.
Preis brosch. M. 5.— in Originalband M. 6.—
Nachstehend einige Besprechungen:
»Deutschland« 1890 Nr. 11: »Der Verfasser hat noch niemals ein so gutes Buch geschrieben, wie das vorliegende. Roberts schafft wirkliche Menschen, und diesmal aus dem Vollen. Es ist geradezu erstaunlich, daß vor ihm niemand versucht hat, den preußischen Feldwebel, ohne Zweifel eine der volkstümlichsten Figuren, so zu analysieren, wie die neue Schule vor und nach Zola jeden anderen Stand analysiert hat. (Folgt Inhaltsangabe.) Alles ist meisterhaft erzählt, auch die Nebenfiguren sind greifbar lebendig gezeichnet.«
»Gartenlaube« 3. Halbheft 1890: »Was uns hier erzählt wird, ist ein soldatisches Trauerspiel, und zwar bewegt sich die Handlung in Kasernen, Kasematten und Tanzlokalen. Die Schilderungen sind überaus lebendig und anschaulich und zeugen von der genauesten Kenntnis aller in Betracht kommenden Lokalitäten und Verhältnisse. Der Roman läßt uns Einblick in das Seelenleben derer thun, die, mögen es nun Männer oder Frauen sein, hinter den Festungswällen ihr Leben hinbringen, und er zeigt uns, zu welchem furchtbar ernsten Verhängnis das Gesetz der soldatischen Subordination werden kann. (Folgt Inhaltsangabe.) Die Schilderung des Magazinbrandes und der Überschwemmung ist malerisch und farbenreich; die Anschaulichkeit beruht auf genauester Sachkenntnis.«
»Westermanns illustr. deutsche Monatshefte« Nr. 404. Mai 1890: »Es gehört großes Talent und scharfer Blick für charakteristische Züge dazu, um aus dem unteren Garnisonleben und was damit zusammenhängt eine so packend eigenartige und leidenschaftlich bewegte Erzählung herauszuarbeiten.«
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
Verlag von Wilhelm Friedrich, K. R. Hofbuchhändler in Leipzig.
Revanche.
Roman von Alexander Baron von Roberts.
8°. Preis brosch. M. 6.— eleg. geb. M. 7.—
Alexander Baron von Roberts hat sich mit diesem zeitgeschichtlichen Roman in glänzender Weise als Erzähler hervorgethan. Den Gegenstand desselben bildet die zwischen einem Franzosen und einer schönen, liebenswürdigen Deutschen geschlossenen Ehe, deren Frieden von dem Dämon »Revanche« mit brutalen Händen zerstört wird. In gewandtester Darstellung, in einer feuilletonistisch graziösen, geistvollen und zuweilen zu eindrücklichster poetischer Kraft sich erhebenden Sprache schildert der Verfasser, wie der fanatische Haß gegen alles Deutschtum, von dem Frankreich ergriffen worden, mehr und mehr das Glück jener Ehe untergräbt, und macht uns in äußerst wirksamen, dramatisch zugespitzten Scenen mit einer Anzahl interessanter, lebensfrisch gezeichneter Figuren bekannt: mit dem Gatten Viktor Jaminet und dessen Bruder Armand Jaminet, der sich mit der Erfindung eines Sprengstoffes beschäftigt, mit dem ganze Armeen und Festungen der entsetzlichen Preußen von der Erde weggeblasen werden sollen; mit dem eitlen Narren Boularède, mit der treuherzigen westerländer Amme, die das kleine Viktorche mit rührender Sorgfalt hütet, und vor allem mit ihr, mit Gertrud, die den leuchtenden Mittelpunkt des Romans bildet. Derselbe gehört in der That zu den besten Erscheinungen der erzählenden Kunst und verdient wärmste Empfehlung.
(Schlesische Zeitung.)
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.