Title: Begierde
Ein Berliner Roman
Author: Jolanthe Marés
Release date: January 11, 2025 [eBook #75083]
Language: German
Original publication: Berlin: Wilhelm Borngräber Verlag, 1916
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet, in Antiqua gesetzter Text ist so markiert.
Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches.
Begierde
20. Tausend
Ein Berliner Roman
von
Jolanthe Marès
16. bis 20. Tausend
Wilhelm Borngräber Verlag Berlin
Alle Rechte, auch das
der Übersetzung, vom
Verleger gewahrt.
[S. 5]
In dem eleganten kleinen Teeraum der Pension Mohrmann lag Miß Webb tief in einen der bequemen Sessel geschmiegt, rauchte ihre Zigarette und gab ihrem Erstaunen über Deutschland im allgemeinen und Berlin im besonderen Ausdruck.
»Oh, ich muß Ihnen sagen, Miß Wunsch, daß ich sehr erstaunt bin über alles, was ich hier in Deutschland sehe. Ich habe immer gehört, die deutsche Frau ist nicht elegant und versteht sich nicht zu kleiden. Sie ist nur Hausfrau, hat viele Kinder, kocht, wäscht und besorgt im Haushalt alles selbst. Und nun sehe ich, daß es ganz anders ist. Die deutsche Frau ist eine elegante Dame. Sie kleidet sich nach der Mode, hat Schick und versteht zu flirten. O nein, ich finde die ›Deutsche Hausfrau‹ nicht.«
Lachend warf die der Sprecherin gegenübersitzende Lotte Wunsch den Rest ihrer Zigarette in den Aschenbecher, schlürfte langsam ihren Tee und erwiderte spöttisch: »Auf Ihren Wegen werden Sie auch die deutsche Hausfrau schwerlich finden, Miß Webb.«
»Ich bin sicher, daß es einige gibt. Aber was will das sagen im Vergleich zu den vielen?«
»Geht man nachmittags zum five o’clock tea, man trifft viele Damen, Frauen, die Haus und Kinder haben. Abends in den Restaurants, alles Familien![S. 6] Ich sehe, es ist nicht richtig mit Ihren drei K — Kirche, Küche, Kinder — ich finde, man amüsiert sich sehr viel bei Ihnen.«
»Man arbeitet aber auch bei uns.«
»Das ist wahr. Ich habe es bemerkt. Die Herren bei Ihnen arbeiten viel, beinahe so viel wie bei uns. Es gibt viele Frauen in Deutschland, die einen Beruf haben und die sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Das imponiert mir sehr. Aber Zeit für Amüsement haben sie trotzdem. Oh, ich denke lange in Berlin zu bleiben to amuse myself.« Miß Webb zündete sich eine neue Zigarette an, warf den Kopf weit zurück, schlug die Beine übereinander, daß die schlanken, in spinnwebfeinen schwarzen Seidenstrümpfen steckenden Beine sichtbar wurden, und den Rauch der Zigarette in leichten Wölkchen in die Luft blasend, fragte sie: »Haben Sie auch den Schrei nach dem Kinde gehabt, Miß Wunsch?«
Fräulein Wunsch starrte auf ihr Gegenüber: »Ob ich was?«
»Nun — ob Sie auch den Schrei nach dem Kinde haben? Man sagt bei uns, die deutsche Frau mit einem Beruf will sehr oft ein Kind, aber keinen Mann, sie will Mutter sein, ohne zu heiraten. Ist das richtig? Wie kann man wünschen, ein Kind zu bekommen? Kleine Kinder sind schrecklich. Niemals möchte ich Kinder haben, sie sind lästig und machen so viel Mühe.«
Mit einem energischen Ruck warf sie den Oberkörper nach vorn, setzte die Füße fest auf den Boden und fragte[S. 7] eindringlich zu Fräulein Wunsch hinüber: »Wollen Sie ein Kind?«
»Es wäre wirklich schade, wenn Ihre Mutter ebenso gedacht hätte wie Sie. Im übrigen scheinen Sie aus Schlagwörtern Ihre Kenntnis der deutschen Frau herzuleiten. Ich würde Ihnen auch raten, länger hierzubleiben, um Ihr Wissen an der Quelle zu vervollständigen.«
»Oh, Sie sind böse, weil ich das gefragt habe, das müssen Sie nicht sein. Ich frage nicht aus Neugierde, ich habe viel Interesse für die deutsche Frau, ich suche sie zu studieren. Ich weiß, die Deutschen haben viel Herz, oder sagen Sie Gemüt? Ich kann es wohl verstehen, daß man wünscht, Kinder zu haben, wenn man verheiratet ist, aber wie eine Frau, die nicht verheiratet ist, sich ein Kind wünschen kann, das begreife ich nicht. Sagen Sie, Mrs. Holm, wünschen Sie sich ein Kind?«
»Ich wäre unendlich glücklich, wenn mir in meiner Ehe ein Kind beschieden wäre.«
»Well, Sie waren verheiratet. Aber Sie, Fräulein von Wangenheim, wie denken Sie darüber?« Die lebhaften braunen Augen wandten sich gespannt und voller Neugierde der ihr zur Rechten sitzenden jungen Dame zu.
Ein flammendes Rot überzog die zarten bleichen Wangen, kühle, abweisende Blicke trafen die Augen der Fragenden: »Aber — ich bitte —«
[S. 8]
Erstaunt blickte die Amerikanerin sie an: »Ich denke, Sie sind Künstlerin und wollen zur Bühne gehen? Da darf man nicht prüde sein, Fräulein von Wangenheim, da werden Sie noch ganz andere Dinge zu hören bekommen.«
»Ich will nicht zur Bühne gehen, ich will Konzertsängerin werden.«
»Einerlei. Nicht wahr, Sie studieren bei Professor Sommer?«
»Jawohl.«
»Es soll ein sehr interessanter Mann und guter Lehrer sein. Ich habe viel von ihm gehört. Ich wollte auch Gesang studieren. Sie müssen wissen, wir Amerikaner lieben die Musik sehr. Aber ein Studium nimmt viel Zeit. Ich bin zu praktisch, ohne Vorteil Geld auszugeben. Ich habe keine Zeit zum Studieren, ich liebe es mehr, mich zu amüsieren.«
»Ja, das Studium kostet viel Geld.«
»Die Ausbildung Ihrer Stimme ist eine Kapitalsanlage, die Ihnen später Zinsen bringen wird, vorausgesetzt, daß Sie wirklich Stimme haben.«
»Der Professor hat mir große Hoffnungen gemacht.«
»Waren Ihre Eltern denn mit Ihrer Ausbildung einverstanden? Sie sind aus einer Offiziersfamilie, Ihr Vater ist, wie ich gehört habe, Oberstleutnant. Ist man in diesen Kreisen nicht etwas ablehnend gegen das Künstlertum, wenigstens wenn es die eigene Familie betrifft?«
[S. 9]
Ein leichter Zug der Pein huschte über die jetzt wieder bleichen Züge Fräulein von Wangenheims, aber sich bezwingend erwiderte sie:
»Im allgemeinen wohl, Miß Webb. Auch ich hatte einen Kampf zu bestehen, ehe mir die Einwilligung meiner Eltern zuteil wurde, aber — wie Sie sehen — ich bin siegreich aus dem Kampf hervorgegangen und — der Oberstleutnant mußte sich dem Rekruten ergeben.«
»Also: Siegerin. Sie werden auch hier siegen, glauben Sie mir —« und ein so prüfender Blick flog über Gerda von Wangenheim, daß ihr wieder das Erröten kam.
»Good Evening, Mr. Winkelmann, es ist nett, daß Sie kommen, um mich zu entführen. Ach, wie wohltuend wirken Sie in diesem bunten Raum und unter uns farbenfreudig gekleideten Damen!«
»Als dunkler Punkt,« warf Lotte Wunsch dazwischen.
»Wirklich, ich wurde schon ganz nervös. Schauen Sie dieses Schwelgen in Farben, Sie in Ihrem Smoking bringen etwas Ruhe hinein, Sie wirken direkt dekorativ.«
»Sollte ich nicht auch noch anders wirken?«
Kurt Winkelmann neigte sich über die ihm entgegengestreckte Hand der Amerikanerin, begrüßte kameradschaftlich Lotte Wunsch und verbeugte sich verbindlich vor Ebba Holm.
»Und hier, unsere jüngste Mitpensionärin, Fräulein von Wangenheim.«
[S. 10]
Kurt Winkelmann war eine schlanke und vornehme Erscheinung mit schmiegsamen, lässigen Bewegungen. In dem bartlosen Antlitz saß eine kühne, etwas scharf hervorspringende Nase und dunkle, von langen Wimpern beschattete Augen. Volles, kastanienbraunes Haar fiel in die hohe klare Stirn. Es war sein Sport, der bestgekleidetste Weltmann zu sein und als der schickste und eleganteste Lebemann der Welt zu gelten.
Sein geübtes weltmännisches Auge, das sich nur mit Schönheit und Eleganz beschäftigte, nahm die neue Erscheinung in sich auf. Sie ist sehr schön, das ist wahr. Die Haare, die Haut, der zarte Teint, die Figur, alles ist herrlich! Und dennoch — sie war nicht mit dem Schick angezogen, ohne den eine moderne Frau in seinen Augen ein Unding war. Ihr Kleid hatte nicht den tadellosen Schnitt, es war nicht der letzten Mode entsprechend. Das Haar von jenem schönen rötlichen Blond, welches wie Gold schimmert, war zu wenig gelockert, ihm fehlten die von der Mode vorgeschriebenen Wellen. Alles in allem eine eigenartige Schönheit von außergewöhnlichem Reiz, aber — keine elegante Frau nach seinem Geschmack.
Leicht hatte sie das Haupt geneigt und einen flüchtigen Blick über den Ankömmling gleiten lassen, dann plauderte sie ruhig weiter. Sie schien nicht das Interesse für ihn zu empfinden, das er gewöhnlich im Entgegenkommen aller Frauen fühlte, denen man ihn vorstellte. Eine Persönlichkeit wie er, Weltmann vom[S. 11] Scheitel bis zur Sohle, und diese junge, provinzialisch angezogene Person war gar nicht neugierig, ihn kennenzulernen?
»Mr. Winkelmann, wo werden Sie mich hinführen? Bitte, sagen Sie, Sie hatten mir einen besonders netten Abend versprochen.«
»Erst werden wir ein Konzert besuchen, in welchem die Hempel singt.«
»Oh, wonderfull,« sie klatschte in die Hände — »und dann —«
»Ja, das ist eine Überraschung, kann ich noch nicht verraten.«
»Aber bin ich auch richtig gekleidet, look at me?« Sie war aufgesprungen, stellte sich in die Mitte des Zimmers und drehte sich langsam gleich einer Mannequin herum.
Ihren schlanken zierlichen Körper umspannte gleich einer Haut ein weicher, grasgrüner Seidenstoff, jede Linie scharf abzeichnend. Der schlanke Hals, um den eine dreifache Perlenschnur gewunden war, tauchte gleich einer Lilie aus dem grünen, zarten Gewebe, welches den spitzen Ausschnitt umgab, hervor.
Übermütig blitzten ihm die braunen Augen aus dem leicht gepuderten, pikanten Antlitz entgegen.
»Immer allright, Miß Webb.«
»Eigentlich hätten Sie dieses Konzert auch besuchen müssen, Fräulein von Wangenheim, so etwas sollten Sie sich nicht entgehen lassen.«
[S. 12]
»Gnädiges Fräulein interessieren sich für Musik?« und er neigte sich zu Gerda von Wangenheim.
»Ich studiere Gesang.«
»Ah — also angehende Künstlerin —« und er heftete einen seiner verschleierten und heißen Blicke auf sie.
»Fräulein von Wangenheim wird Karriere machen,« rief die Amerikanerin, indem sie sich von dem eintretenden Zimmermädchen den Mantel um die Schultern legen ließ.
»I’m ready, Mr. Winkelmann.« — — —
»Naseweis und frech wie ein Spatz.«
»Sagen Sie lieber gänzlich unerzogen, Fräulein Wunsch.«
»Nein, das möchte ich nicht sagen, Frau Holm. Ich habe schon zuviel gut erzogene junge Damen ein schlechtes Benehmen zeigen sehen, daß ich nicht auf dem Standpunkt stehe, daß schlechtes Benehmen stets eine Folge schlechter Erziehung ist.
Was hier zutrifft, weiß ich nicht. Im allgemeinen wird den amerikanischen jungen Damen eine sehr gute, sogar strenge Erziehung zuteil. Allerdings genießen sie im Umgang mit jungen Männern eine große Freiheit, wobei ›drüben‹ gar keine Gefahr besteht, denn die Frau genießt ja in Amerika einen ganz andern Schutz als hier bei uns. Sie ist dem Manne tatsächlich ein Wesen,[S. 13] dem man Achtung schuldig ist und dem kein Mann wagen wird, sich unehrerbietig zu nahen.«
»Sie können doch im Ernst nicht behaupten wollen, daß ein gut erzogenes junges Mädchen unserer Kreise sich derartig benehmen kann, wie es diese Dame tut?«
»Unter Umständen noch viel schlimmer. Sie kennen unsere Großstadtluft nicht — die zersetzt. Man ist so vielen Einflüssen ausgesetzt. Es gehört schon Charakter dazu, sich rein zu halten und den verwilderten Elementen fern zu bleiben. Glauben Sie mir, ich spreche nicht so obenhin. Seit zwanzig Jahren lebe ich hier, stehe mitten im Leben, habe viel wohlerzogene Töchter guter Familien an mir vorüberziehen sehen. Viele sind bergab geschritten — moralisch — denn der Weg bergab führte oft zur Höhe des gesellschaftlichen Lebens — zu Ruhm und Glanz.«
»Sie wollen uns schon verlassen, Fräulein von Wangenheim?«
»Ich habe mich heute mit dem Studium überanstrengt. Ich möchte die Stunde bis zum Abendessen zum Ruhen benutzen.«
Gerda von Wangenheim stand in ihrer schlanken Höhe vor den beiden Damen, reichte ihnen die Hand und schritt schwebenden Schrittes aus dem Zimmer.
»Eine herrliche Erscheinung.«
»Und eine gut erzogene junge Dame, Frau Holm. Ob sie nach einem Jahre noch so wirken wird?«
»So lassen Sie doch Ihren Skeptizismus aus dem[S. 14] Spiel. Man muß an das Gute im Menschen glauben; das wäre ja entsetzlich, wenn man allen Menschen nur das Schlechte und Gemeine zutrauen wollte. Sie sind ein ganz unglücklich veranlagtes Wesen, wenn Sie bei den Menschen nur die Anlage zum Bösen sehen.«
»Keine Veranlagung, Frau Ebba, das Leben hat mich so denken gelehrt! Glauben Sie mir, als ich mit achtzehn Jahren hier einzog, in die große Stadt, an die Quelle des pulsierenden Lebens, da lag es vor mir, das Leben, voll eitel Sonnenschein, da glaubte ich an die Menschen, die Glückbringer. Mit ausgestreckten Händen stand ich da: gebt, was gut und schön ist in euch, um euch. Auch ich will euch beschenken, ich bringe meine Jugendkraft, mein heiliges Glühen für alles Schöne und Edle, helft mir schaffen, genießen — leben. Ich war jung, Frau Ebba, da hat man noch Blütenträume!«
»Das Leben erfüllt uns selten die Blütenträume.«
Lotte Wunsch nickte. »Und es ist gut so. Wir Künstler brauchen Bitternisse, Hindernisse! So erst kommen wir zum Schaffen. Die große Enttäuschung im Leben einer Frau ist gewöhnlich der Mann. So war es auch bei mir.
Mit achtzehn Jahren kam ich nach Berlin, um mich der Kunst zu widmen. Nach den Studienjahren in der Kunstschule ging ich in das Atelier des Professor Stein, um unter seiner Leitung zu arbeiten. Ich war eine eifrige Schülerin und, wie mir der Professor versicherte,[S. 15] sehr talentvoll. Er mochte ausgangs der Fünfziger gewesen sein, als ich bei ihm arbeitete. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter, von denen die eine mit einem Offizier verlobt war. Er sprach wenig während der Arbeit, liebte es aber, sich in den Pausen und nach Schluß der Arbeitszeit mit mir zu unterhalten. Wir saßen dann gemütlich in der Plauderecke des Ateliers und rauchten Zigaretten. Ab und zu tranken wir auch wohl ein Glas Wein zusammen. Wir sprachen über Kunst und Theater. Er erzählte mir auch mal einen derben Atelierwitz und amüsierte sich, wenn ich darüber in Verlegenheit geriet. Er meinte: daran müssen Sie sich gewöhnen, Kleine, das ist Atelierton. Ich hatte auch weiter keinen Arg, war er doch mein Lehrer und in meinen Augen der alte Herr mit zwei erwachsenen Töchtern. Das ging nun so eine Weile. Eines Tages, als wir wieder saßen, plauderten und rauchten — er hatte hastig drei Gläser Wein hinuntergestürzt — sah er mich scharf an und sagte: ›Du mußt übrigens ein vorzügliches Aktmodell abgeben.‹ Ich erschrak. ›Zieh dich einmal aus.‹ Ich sprang entsetzt in die Höhe. Da fing er unbändig an zu lachen und schrie mich an: ›Willst eine Künstlerin sein und tust so zimperlich? Weißt doch, daß wir den menschlichen Körper studieren, wo wir ihn finden. Brauchst doch selbst die Leiber der anderen für deine Zwecke, also herunter mit dem Firlefanz, ich will Studien machen an dir — weiter nichts.‹
[S. 16]
Zitternd und bebend war ich in eine Ecke geflüchtet. Er war an den großen schwarzen Sammetvorhang getreten, dessen Falten er ordnete. Jetzt wendete er sich und sah mich stehen. Er kam auf mich zu, streichelte mir das Haar und sagte: ›Kind, ich tue dir doch nichts, du als Künstlerin mußt mich doch verstehen. Ich suche wochenlang nach einem Körper wie der deine, tue mir den Gefallen und sträub’ dich nicht, du weißt doch, du dienst der Kunst damit. Komm, hier, trink noch ein Glas, und dann laß uns arbeiten.‹
Ebba Holm — eine Stunde habe ich vor dem Vorhang gestanden — es waren Qualen der Hölle, die ich erlitt. Ich schwor mir zu, der Kunst zu entsagen und nie, nie mehr den Meißel anzurühren. Und kehrte wieder des anderen Tags und arbeitete wie eine Rasende. Und nach der Arbeit stand ich wieder eine Stunde vor dem schwarzen Vorhang und diente seinem Werk. Als ich ging, flüsterte er heiser vor Aufregung: ›Nur noch morgen, Kind, ich danke dir.‹
Und als ich kam, bat er: ›Laß heut deine Arbeit, wir wollen gleich anfangen.‹
Ich stand — stand und krampfte den emporgestreckten rechten Arm in die Falten des Vorhanges — so war die Stellung — da — da sah ich zwei gierige, lüsterne Augen, hörte ich stöhnen — ich wollte schreien — doch schon umkrampften mich seine Arme, bedeckten brennende Küsse meinen jungen Leib — ich wehrte mich wie eine Rasende — immer fester umschlang er mich — wir[S. 17] stürzten zur Erde — im Fallen riß ich den Vorhang herunter — das war meine Rettung. Er verwickelte sich und suchte sich zu befreien — dabei mußte er mich loslassen — ich entschlüpfte und stürzte nach meinen Sachen. — Als ich, in Eile bekleidet, forteilen wollte, kam er zitternd auf mich zu: ›verzeih‹ — ich spie ihm ins Gesicht, ging — und kam nie wieder — — —
Da starb, was edel ist, in den Menschen, da versank die Schönheit des Menschengeschlechts. Nur noch die Begierde sah ich nackt und häßlich, wie sie die Menschen beherrscht.
Ich lernte sehen. Ich sah nicht nur das, was mir geschehen — nein — ich sah auch, was um mich war — was in meiner Umgebung geschah. Im Taumel der Lust, im Begehren nach Gold und Sinnenreiz sah ich die Menschen. Vor meinen Augen war der Vorhang des Idealismus gesunken. Ich sah die Menschen nackt — sah sie so, wie sie sind. Ich habe das Vertrauen zu den Menschen verloren.«
»Sollten Sie nicht ungerecht urteilen?«
»Es gibt Ausnahmen — aber daß es eben Ausnahmen sind, ist gewiß.«
»Und — haben Sie nie jemand liebgehabt?«
»Ich konnte nicht. Verschüttet war mir der Weg zur Liebe, Ebba Holm. Wohl streckte sich manche Hand aus, wollte mich führen und deutete glückverheißend auf das geöffnete Tor — aber — auf dem Weg lag ein Gespenst — zwei gierige, lüsterne Augen — ich konnte[S. 18] nicht an ihnen vorbei — ich fand nicht den Mut, einzutreten in das Land der Liebe — ich hatte sehen gelernt.«
»Sie Arme!«
»Nein, nicht arm — zum starken, willensfesten Menschen hat mich das Schicksal geformt — ich habe meine Arbeit, meine Kunst. Meine Arbeit, meine Aufgaben haben mich ausgefüllt.«
»Sind Sie ganz befriedigt, sind Sie ganz glücklich?«
»Darauf hat, glaube ich, kein Mensch berechtigten Anspruch. Auch Sie sind nicht glücklich, Frau Ebba, und hatten doch die Liebe zur Seite.«
»Sie haben recht, vom Glücklichsein träumt man nur.«
Das Läuten zum Abendessen klang durch das Haus.
Lotte Wunsch fuhr empor aus ihrer Gedankenwelt. Jetzt unter Menschen — unter viele Menschen — schwatzen — lachen — oberflächliches Zeug reden — nein — sie verzichtete lieber auf das gemeinschaftliche Abendessen.
Sie streckte sich auf den Diwan und schloß die Augen.
Vom Glücklichsein träumt man nur!
Wovon sollte sie träumen? Konnte sie mit ihren achtunddreißig Jahren überhaupt noch träumen? Sie ein Verstandesmensch? Sie, die das Denken über das Fühlen stellte!
Wo suchte sie ihr Glück?
[S. 19]
In der Arbeit.
Nein — nein — das ist nicht wahr — die Arbeit allein, sie brachte nicht das Glück.
Ihrer Kunst, ihrem großen Ziele hatte sie sich hingegeben mit Eifer und Glut, alles andere von sich gewiesen. Die hohe Aufgabe, die sie sich gestellt, hatte sie ganz erfüllt, und der Erfolg, sich als tüchtige, gefeierte Bildhauerin zu sehen, hatte ihr große Befriedigung gebracht — und doch, und doch dieses Verlangen — wonach? Wie kam es, daß sie oft ein Gefühl ängstlichen, ungestillten Sehnens schmerzlich erfaßte, ein Gefühl der Leere, des Bangens sie beschlich?
War dieses, durch Arbeit und Erfolg im Beruf glücklich sein, nicht ein kühles Verstandesglück, das mit dem eigentlichen Glück gar nichts gemein hat?
Was fehlte ihrem Leben? — — —
Sie lebte ein Leben ohne Liebe, das war es — ein verfehltes Leben für eine Frau.
Ihr war das Schicksal etwas schuldig geblieben — noch konnte sie fordern — oder — —
Sie sprang empor und lief zum Spiegel. Noch war sie nicht alt, aber schon im Stadium unbarmherzigen Welkens, jenes frühen Welkens, das in einem Verlöschen aller Farben, in einem Rücktritt jeglicher Frische besteht. Nie hatte sie etwas für ihren Körper, für ihren Teint getan. Das glatt gebürstete, im Nacken zu einem Knoten zusammengedrehte Haar gab ihrem Antlitz einen strengen, scharfen Ausdruck, machte sie älter, als sie in[S. 20] Wirklichkeit war. Wenn es nach Liebe war, wonach sie hungerte, wie kam es, daß keiner von denen, die sich ihr genaht, ihr Liebe eingeflößt hatte? Keiner ihr Herz angezogen, ihre Sinne in Wallung gebracht?
Die Begierde hatte sie erschreckt, hatte das, was Liebe hatte werden können, erstarren lassen. Wohl hatte sie dieses Erlebnis, diese Enttäuschung auf ihrem Lebensweg für die Kunst reifen lassen, aber den Glauben an die reine, tiefe Liebe hatte sie verloren.
Sie nennen es Liebe und ist doch nur Sinnlichkeit — das, was sich anzieht. — —
Nein — nicht nach dem Manne stand ihr Verlangen, nicht nach dem Rausch der Sinne — das Kind war es, das sie begehrte, und darum mußte die Liebe rein sein — rein, ohne Begehrlichkeit — das war das Glück. Dieses vorlaute, dreiste Wesen dort drüben im Teezimmer hatte die Glocke in ihrem Herzen zum Schwingen gebracht, und nun läutete sie, läutete: ich sehne mich — oh, wie sehne ich mich — ich habe noch nicht das Glück genossen — — und ich sehne mich so namenlos danach — —
Es klopfte.
»Darf ich ein bißchen zu Ihnen kommen?«
»Herzlich erfreut, Frau Ebba, kommen Sie herein und lassen Sie uns gemütlich weiterplaudern, es ist gut, daß Sie da sind — sehr gut — und jetzt spüre ich auch wahrhaftig Hunger — einen Wolfshunger. Ich lasse mir noch etwas kaltes Fleisch bringen, mache uns eine[S. 21] Tasse Tee, und dann erzählen auch Sie mir von Ihrem Blütentraum.«
Sie eilte geschäftig im Zimmer umher, ordnete das Gerät des Teetisches, schob zwei bequeme Sessel an den Kamin, entzündete die Spiritusflamme unter dem kleinen silbernen Teekessel, gab dem eintretenden Mädchen ihren Auftrag und bot sich niederlassend Ebba die Zigarettendose.
»Arg vom Sturm zerzaust sind diese Blüten.«
»Es werden Ihnen neue erstehen, Sie sind noch jung, Frau Ebba.«
»Was nutzt mir die Zahl der Jahre, wenn Erlebtes mich alt macht? Ich bin eine Frau ohne Heim, ohne Pflichten, ein vom Wind verwehtes Blatt.
Ich deutete Ihnen an, was mir geschehen. Wir liebten uns, er, der junge, elegante Rechtsanwalt, und ich, die reiche Fabrikantentochter. Unserer Heirat stand nichts im Wege, nur daß ich eigentlich noch zu jung war. Mit achtzehn Jahren sollte man noch nicht heiraten. Doch gleichviel, wer weiß, ob ich, wenn ich später geheiratet, nicht dieselben Erfahrungen gemacht hätte — möglicherweise mit einem anderen Mann auf andere Art, es sollte wohl so sein — Schicksalsbestimmung, — ich glaube daran. Wir lebten sehr glücklich und zufrieden. Mein Mann gehörte zu den gesuchtesten Rechtsanwälten Hamburgs. Wir hatten einen großen geselligen Kreis. Ich wäre restlos glücklich gewesen, wenn in mir nicht die Sehnsucht nach einem Kindchen, einem kleinen lieben[S. 22] Ding, welches mein ureigenstes Mein gewesen wäre, gelebt hätte.
So vergingen drei Jahre, da fing ich an, bei meinem Manne ein unstetes, flackerndes Wesen zu beobachten. Von mir aufmerksam gemacht, wurde er noch nervöser. Ich beobachtete ihn und hielt ihn für überanstrengt in seiner Arbeit. Er schonte sich nicht, arbeitete oft bis spät in die Nacht hinein, wie ich meinte. Er wurde aufgeregt und mißtrauisch, weil er sich beobachtet wußte. Es kam zu Szenen zwischen uns, in welchen er sich die Spioniererei verbat. Genug, ich kam dahinter, daß mein Mann ein leidenschaftlicher Spieler war. In seinem Büro, welches nicht mit unserer Wohnung in Verbindung stand, fanden nachts Zusammenkünfte statt, bei denen wahnsinnig gespielt wurde. Mein Mann verlor. Er verspielte sein ganzes nicht unbedeutendes Einkommen und hatte bereits mein eingebrachtes Vermögen verspielt. Mein Vater stellte ihn zur Rede — er zeigte Reue und gab sein Ehrenwort, keine Karte mehr anzurühren. Er hat sein Ehrenwort gebrochen. Nach zwei Monaten war er verschwunden, nach Unterschlagung ihm anvertrauter Depots. — — —
Da haben Sie meine Blüten.
Ich löste meinen Haushalt auf, Sie können sich wohl denken, daß ich nicht mehr sein mochte, wo alle mein Unglück kannten. Das Mitleid, die bedauernde Neugierde, sie machten mich elend, und so siedelte ich nach hier über.«
[S. 23]
»Und warum gerade nach hier?«
»Weil hier mein Bruder mit seiner Familie lebt, so habe ich doch wenigstens einen Anhalt und Menschen, die mir nahe stehen. Sie wissen, die Pensionszeit hier ist nur ein Übergang, ich will wieder mein eigenes Heim haben, meine eigene Häuslichkeit. Und Sie, Lotte Wunsch, müssen recht, recht oft zu mir kommen. Lassen Sie uns Freunde sein.«
»Mit tausend Freuden. Ich bin Ihnen in treuer Freundschaft zugetan und will es bleiben.«
Und mit kräftigem Druck nahm sie die ihr entgegengestreckte Rechte.
»Wissen Sie, daß ich Angst um Sie habe, Ebba?«
»Inwiefern?«
»Jung, schön, reich, alleinstehend — in jeder Gestalt wird die Versuchung an Sie herantreten: Fangarme werden sich nach Ihnen ausstrecken. Aber, Sie haben einen Tugendwächter — ehe der nicht zur Strecke gebracht ist —«
»Das dürfte wohl gar nicht so schwer sein.«
»Achtunddreißig Jahre alt und noch einen ungeküßten Mund.«
»Kein Beweis. Spät in Brand geraten, desto lodernder. Aber wäre es nicht doch ratsamer, wenn ich auf den Schutz meines Bruders baute? Um an ihm eine Stütze zu haben, bin ich hergekommen.«
»Rechnen Sie nicht zu sehr damit. Väter, Gatten und[S. 24] Gattinnen, Brüder und Schwestern haben selten Zeit für die Ihren, immer nur für die anderen.
Darf ich übrigens mal den Namen Ihres Bruders erfahren? Ich kenne so ziemlich alles, was zur Gesellschaft gehört, da wird mir auch Ihre Familie nicht entgangen sein.«
»Mein Bruder ist der Bankdirektor Lukas Westphal.«
Lotte Wunsch sprang auf, warf ihre Zigarette in den Aschenbecher und stieß einen Pfiff hervor.
»Frau Thea Westphal also ist Ihre Schwägerin?«
»Allerdings, Sie kennen Sie?«
Lotte nickte. »Da suchen Sie Halt und Familienanschluß? Haben Sie Ihre Verwandten schon gesehen?«
»Nein. Nur telephonisch haben wir uns gesprochen. Wir konnten uns noch nicht auf einen bestimmten Tag einigen, da meine Schwägerin stets etwas vorhatte.«
»Und wie lange sind Sie schon hier?«
»Zwei Wochen.«
»Da haben wir es ja! In zwei Wochen keine Stunde Zeit für die Schwester und Schwägerin. Eine moderne Frau in Berlin hat keine Zeit, selbst nicht für Mann und Kinder, Sie werden es schon sehen.
Ich will Ihnen etwas sagen, Ebba. Unsere Großstadtmenschen huldigen dem Ichkultus, der Hingabe an ihre eigene Persönlichkeit. Ein grenzenloser Egoismus lockert das Wurzelreich von Sitte, Moral und Pflichtgefühl — und was das schlimmste ist, er untergräbt den[S. 25] Familiensinn. Man lebt für sich, nicht für die anderen.«
»Nein, nein, Sie malen zu schwarz. So ist es nicht, ich kann das nicht glauben.«
»So werden Sie es lernen. Warum wollen Sie schon gehen, es ist nicht spät, so bleiben Sie noch ein wenig.«
»Ich bin müde, Berlin greift an, ich bin den Trubel in den Straßen nicht gewöhnt, lassen Sie mich gehen.«
»Dann auf morgen, Frau Ebba, und — gute Freundschaft, dabei bleibt es.«
»Gewiß — und gute Nacht.« — — —
Lotte stand vor dem Spiegel und löste den Knoten ihres kastanienbraunen Haars. Da fiel es in kurzen Locken auf ihre Schultern, die Straffheit des Scheitels löste sich, leicht fiel eine Strähne nach vorn und bedeckte die linke Ohrmuschel. Wohl schimmerten Silberfäden hier und da, und doch, war dies das strenge, ältliche Gesicht, welches ihr aus dem Spiegel entgegenschaute? Ein erstauntes Lächeln verjüngte ihre Züge. Sie fühlte sich erlöst und befreit.
Ja, sie hat mich getroffen, wo es am wehesten brennt.
Ich habe geschrieen nach dem Kinde. Es ist etwas Unnatürliches, das Leben einer Frau ohne Kind. Es macht uns zu zwecklosen Wesen. Taube Nüsse am Baum des Lebens!
Hinweg mit dir, du grinsendes Gespenst, welches mir[S. 26] den Weg versperrte, den Zweck meines Lebens zu erfüllen, ich werde dich bezwingen.
Festhalten will ich dich, dich, das Tier im Menschen, durch meine Kunst. Dich, die Begierde, die Gier nach Lust, will ich ihnen zeigen in einer Fratze, so grauenhaft, daß ihnen das Blut erstarren wird und Entsetzen sie erbeben macht, wenn sie darin ihr eigenes Selbst erkennen. — — —
»Das ist ja eine wenig angenehme Lage, in der du dich befindest, liebe Ebba. Hat denn dein Mann gar nichts von sich hören lassen, hast du keine Ahnung, wo er sich befindet?«
»Ich weiß nichts, absolut nichts.
Ich fand seinen Abschiedsbrief auf meinem Schreibtisch. Er bat mich um Verzeihung für das Leid, das er über mich bringe. Er hätte geglaubt, seine Liebe zu mir würde seine Spielleidenschaft verdrängen. Er habe auch wirklich das erste Jahr unserer Ehe keine Karten angerührt, aber dann sei es mit doppelter Macht über ihn gekommen, er könne nicht anders, er wüßte, daß er daran zugrunde gehen wird, aber seine Leidenschaft sei stärker als sein Wille. Er bereue es, mich an sich gekettet zu haben und mir Kummer bereiten zu müssen, aber seine Spielleidenschaft sei so groß, daß sie alles hinwegfege: Liebe, Ehrlichkeit und Rücksichtnahme.«
[S. 27]
»Unerhört, bodenlos! Keine Rücksichtnahme, das ist es! Denkt nur an sich und seine Spielwut, ohne der Familie, der er durch seine Heirat angehört, zu gedenken. Wenn unser Vater nicht die veruntreuten Gelder gedeckt und alles getan hätte, um die Untersuchung niederzuschlagen, würde dein Mann, mein famoser Schwager, jetzt steckbrieflich verfolgt! Meine ganze Stellung wäre ins Wanken gekommen! Eine saubere Geschichte hat uns der Herr da eingebrockt!«
»Entsetzlich, entsetzlich!« hauchte Frau Thea, »wir hätten Berlin verlassen müssen.«
»Ich bitte, regt euch nicht auf. Die Geschichte ist ja nicht an die große Glocke gekommen, hier in Berlin weiß niemand davon. Die einzige Leidtragende bin doch nur ich.«
»Gott sei Dank, daß es uns nicht trifft. Ebba — ich hätte es nicht ertragen, einen solchen Skandal in der Familie! Gewiß, du bist beklagenswert, aber du hast recht, hier weiß ja niemand etwas von der ganzen Geschichte. Du bist jung, schön, hast dein gutes Auskommen, du wirst ein nettes Haus machen, und in kurzer Zeit bist du darüber hinweg. Das Berliner Leben wird dich trösten. Hier kommt man gar nicht zum Nachdenken. Meinst du nicht auch, Lukas? Wir werden Ebba in die Gesellschaft einführen, wer weiß, vielleicht findet sich das Vergessen noch gar in Gestalt einer guten Partie.«
»Ich danke dir für deine gute Absicht, Thea. Für eine[S. 28] sogenannte gute Heirat bin ich nicht zu haben, im übrigen vergißt du, daß ich nicht geschieden bin.«
»Das ist schlimm — sehr schlimm — wie soll man dich da überhaupt einführen? Nicht Witwe, nicht geschieden, und doch ohne Mann.«
»Du giltst selbstverständlich als geschiedene Frau, denn es unterliegt doch keinem Zweifel, daß wir alle Schritte tun werden, um eine Scheidung für dich zu erlangen,« warf der Direktor ein.
»Mir wäre es lieb, Lukas, die ganze Ehegeschichte ruhen zu lassen. Ich denke nicht daran, mich wieder zu verheiraten, da ist es doch ganz gleichgültig, ob ich frei bin oder nicht.«
»Da irrst du, liebes Kind, irrst du ganz gewaltig. Ganz entschieden protestiere ich dagegen, daß du die Frau dieses Lumpen bleibst! Wer kann wissen, was dieser saubere Herr noch alles auf dem Kerbholz hat — oder — was noch alles kommen kann! Urkundenfälschung — Falschspieler — und wie die schönen Dinge, in welche diese Art aalglatt hineinschlüpft, alle heißen. Ich danke für diese Verwandtschaft! Du mußt los, ganz los! Willst du die Frau eines Zuchthäuslers sein?« Aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab.
»Du magst recht haben, Lukas — ich fürchte auch nur all die Unannehmlichkeiten.«
»Hast du gar nicht. Ganz einfache Chose. Ich nehme einen tüchtigen Rechtsanwalt und gebe ihm die nötigen Informationen. Du wirst überhaupt gar nicht behelligt.[S. 29] Erfährst nachher nur das Resultat der ausgesprochenen Scheidung.«
»Wenn es so einfach wäre.«
»Aber natürlich. Das Schwerste und Schlimmste hast du hinter dir. Muß ja eine scheußliche Zeit für dich gewesen sein.«
»Wenn du wüßtest, wie ich gelitten! Ich habe ihn geliebt, Lukas, von ganzem Herzen. — Du kannst begreifen, welches Weh die herbe Enttäuschung über mich gebracht hat.«
»Ich begreife, Ebba. Es ist ein harter Schlag für dich gewesen, aber ich hoffe, du kommst darüber hinweg. Du bist noch jung, in der Jugend überwindet man leicht. Es ist sehr vernünftig, daß du nach Berlin gekommen bist, hier ist der richtige Ort, um dich deinen Kummer vergessen zu machen. Halte dich nur an Thea und stürze dich mit ihr in die Geselligkeit, paß auf, wie bald dein Leid versunken und vergessen ist.«
»Hältst du mich für so oberflächlich, Lukas?«
»Oberflächlich! Warum das so ausdrücken! Mit Dingen, die nicht zu ändern sind, muß man sich abfinden können. Du warst von jeher geneigt, alles zu schwer zu nehmen. Nimm das Leben leichter, es lohnt nicht, sich abzuquälen.«
Erstaunt hefteten sich ihre Augen auf den Bruder. War dieser nur an sich, an seine Stellung und Ansehen denkende Mann, der ihr riet, sich möglichst schnell über[S. 30] schicksalsschwere Erlebnisse hinwegzusetzen, ihr ernster Bruder?
Und — klang da nicht ein leichter Unterton von Bitternis aus seinen Worten?
»Ich will es versuchen, Lukas,« und sie streckte ihm die Hand über den Tisch hinüber. »Ich weiß, du meinst es gut mit mir, aber daß mir das glücken wird — ich meine, das Leben leicht zu nehmen — das glaube ich nicht.«
»Unsinn, Ebba,« warf Thea, welche ungeduldig in ihrem Sessel auf die Beendigung des Gesprächs gewartet hatte, ein. »Du mußt nur wollen. Ohne einen Schuß Leichtsinn wäre das Leben überhaupt nicht lebenswert; wer ihn nicht hat, der muß sich eben dazu zwingen.«
»Und wer ihn gleich mit auf die Welt gebracht, hat manchmal zuviel davon,« bemerkte Lukas.
»Besser als zu wenig! Da ich weiß, wohin du zielst, lieber Mann, kann ich mein überschüssig Teil gleich auf Ebba übertragen, dann wäre uns beiden geholfen.«
Er wehrte müde ab. »Du wirst dich nicht ändern, Thea.«
»Habe auch nicht die Absicht, ich bin mit mir zufrieden, wie ich bin.«
»Du bist beneidenswert. Wo ist übrigens Inge? Ich habe sie heute noch nicht zu Gesicht bekommen.«
»Wie solltest du auch, wenn du verhindert bist, mit uns zu speisen.«
[S. 31]
»Es war mir leid genug, aber die Sitzung ging vor. Mit großer Mühe konnte ich mich frei machen, um Ebba diese Stunde widmen zu können. Bitte, laß doch Inge rufen.«
Thea klingelte und fragte das eintretende Stubenmädchen nach Fräulein Inge.
»Fräulein Inge ist mit einer Freundin spazieren gegangen.«
»Hattest du ihr denn nicht gesagt, daß wir meine Schwester erwarteten?«
»Ich kam so abgehetzt zu Tisch, habe tatsächlich vergessen, davon zu sprechen, entschuldige, Ebba. Es ist auch so schwer, das Kind von seiner Tageseinteilung abzuhalten.«
Dieses Mal traf der erstaunte Blick die Schwägerin.
»Ja, ja, ich bin eine schwache Mutter. Aber sage selbst, soll ich mich die wenigen Stunden, in denen ich mit meiner Tochter zusammen bin, herumärgern?«
»Warum bist du so wenig mit ihr zusammen?«
»Mein Gott, weil ich keine Zeit habe. Du glaubst gar nicht, wie ich in Anspruch genommen bin. Man hat doch Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber, unsere Stellung bringt das mit sich. Dann gehöre ich zwei Vereinen an, bin natürlich im Vorstand, das kostet auch Zeit.«
»Aber warum tust du das, wenn dich dies deiner Familie abspenstig macht?«
Thea lachte.
[S. 32]
»Liebste Ebba, heute ist doch eine Frau nicht dazu da, nur in Häuslichkeit aufzugehen, man hat doch auch andere Interessen.«
»Du kennst die moderne Ehefrau nicht,« sagte Lukas, »kennst nicht die Befriedigung der eigenen Interessen — rücksichtslos.«
»Ja, liegen denn die Interessen der Frau nicht in der Familie, wenn sie so glücklich ist, Mann und Kind zu besitzen?«
Lukas zündete sich eine Zigarre an, sah nachdenklich vor sich hin und erwiderte: »Du bist weltfremd, liebes Kind.«
»Manchmal hat man gerade als Familienmutter seinen Beruf verfehlt, Ebba.«
»Wie kannst du so etwas sagen, Thea. Niemals kann ich dir da beistimmen. Bist du denn nicht glücklich, deinen Mann und eine blühende Tochter zu haben?«
»Glücklich — natürlich bin ich glücklich, aber weil ich außer dem Gatten und der Tochter noch meine Stellung in der Gesellschaft habe — —«
»Weil sie Vorstandsdame verschiedener Vereine ist und ihren sonstigen Interessen nachgehen kann —« fiel ihr ihr Gatte ins Wort. »Ja, liebe Schwester, die Welt sieht hier anders aus als daheim, ich habe auch umlernen müssen, es wird dir ebenso ergehen.«
Er war aufgestanden und hielt ihr beide Hände hin.
»Ebba, zum erstenmal seit langer Zeit habe ich meine Arbeit vergessen, habe in Ruhe geplaudert, das kommt[S. 33] selten vor, wir haben nie Zeit, weder Thea noch ich, die Verpflichtungen — du begreifst! Aber komm, wenn du magst, du bringst die Ruhestimmung mit aus alter Zeit. Ich sagte, du wirst auch umlernen müssen — weißt du — ich möchte wünschen, du tust es nicht.
Doch nun leb wohl, also um elf Uhr treffe ich dich bei Bissings, Thea. Auf Wiedersehen.«
Ebba, die sich gleichfalls erhoben hatte, wollte sich von ihrer Schwägerin verabschieden.
»Es tut mir wirklich leid, Inge nicht gesehen zu haben, ich hatte mich so darauf gefreut. Inge muß doch jetzt bald fünfzehn sein, weißt du, ich habe sie seit meiner Hochzeit nicht gesehen, das werden jetzt fünf Jahre.«
»Ach, entsetzlich, wie die Zeit vergeht. Weißt du, das ist doch was Schreckliches im Leben einer Frau, die großen Kinder, dadurch wird man alt. Heutzutage gibt es Mittel und Wege genug, sich jung zu erhalten, kein Mensch sieht einem die Jahre an, aber wenn dann die großen Kinder auftauchen, dann geht das Rechnen los. Du kannst froh sein, daß du keine Kinder hast!«
»Aber, Thea, du versündigst dich.«
»Natürlich wäre ich unglücklich, wenn ich sie hergeben sollte. Mein Gott, das mag wohl keine Mutter — aber das Leben ist doch so viel bequemer ohne Kinder.«
»Mir scheint, du machst es dir auch trotzdem bequem.«
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»Ich bin nun mal nicht dafür geschaffen, im Haus zu sitzen, Kinder zu hüten und Strümpfe zu stopfen, das gibt es heute überhaupt nicht mehr, wer wird in solchem Kleinkram aufgehen.«
»Du mußt nicht übertreiben, es gibt doch einen Mittelweg. Man kann viel geistige Interessen haben und doch seinem Haushalt vorstehen, seine Kinder erziehen und dem Mann ein angenehmes Heim schaffen.«
Thea lachte.
»Du bist köstlich! Du, da fällt mir ein, ich werde dich mit Exzellenz Werner, Vorstandsmitglied unseres Vereins zur Bekämpfung des Geburtenrückganges, bekannt machen. Die wettert ja gegen uns moderne Frauen. Wir wären nur zu bequem, Kinder zu kriegen, wir wollten unsere Schönheit nicht verderben, wollten uns die Mühe nicht nehmen, die Kinder zu erziehen, um ungehindert unsern Vergnügungen nachgehen zu können, ja, wir modernen Frauen seien schuld an dem Zerfall der Familie. Ihr würdet ja großartig zusammenpassen, die hätte eine Freude an dir! Und ich stiege in ihrer Achtung — woran mir allerdings nichts liegt —, denn du bist ja meine Schwägerin.«
»Diesem Verein gehörst du an?«
»Ich bin sogar im Vorstand. Was willst du, man muß eine Rolle spielen in der Welt. Man muß von sich reden machen, so — oder so.«
* *
*
[S. 35]
Nachdenklich schritt Ebba Holm die Tiergartenstraße entlang. Der Besuch bei ihrem Bruder hatte ihr kaum erst zur Ruhe gekommenes Innere wieder in Aufruhr gebracht. Bis zum Abendessen in der Pension hatte sie noch eine Stunde Zeit, und so hatte sie den kleinen Umweg durch den Tiergarten gewählt, um zum Steinplatz zu gelangen.
War es möglich?
Mein Gott, sie hatte sie gekannt, öfter war Lukas mit ihr in Hamburg gewesen, auch sie hatte auf der Hochzeitsreise einige Tage mit ihrem Gatten in Berlin zugebracht, niemals zuvor hatte sie diese Oberflächlichkeit bei Thea erkannt.
Sah sie heute die Menschen anders als damals, als sie noch mit ungebeugter Seele durchs Leben schritt?
Hatten die Menschen — oder hatte sie sich gewandelt? Um des Himmels willen, nicht Hausfrau sein! Nein — schöngeistigen Interessen nachgehen! Um eine Rolle zu spielen, sich einem Verein zur Verfügung stellen, der das Zusammenhalten der Familie predigte, um darüber die eigenen Familienbande zu lockern!
Ein schmerzliches Lächeln glitt über ihr Antlitz, und eine Bitterkeit drang ihr ins Herz.
Alles, alles, was sie entbehren mußte, hielt diese Frau in Händen! Mit vollen Händen hatte das Schicksal sie beschenkt, und achtlos warf sie das, was ihr als das höchste Glück einer Frau erschien, zur Seite. Eine moderne Frau! Eine Frau für alle andern, nur nicht[S. 36] für die eigene Familie! Das war ihres Bruders Frau.
Und er? War dies die Gefährtin, die er sich erhofft?
›Weißt du, Ebba, meine Frau muß nur für mich leben, darf keine Modepuppe sein, sie braucht nicht hübsch zu sein, nein, es wäre mir viel lieber, wenn sie häßlich wäre, denn, weißt du, mit einer hübschen Frau in Berlin leben, was doch mein jetziger Posten erfordert, das ist eine gefährliche Sache.
Meine Tätigkeit ist aufreibend. Meine Stellung bringt auch Repräsentationspflichten mit sich. Ich möchte mir eine kleine Insel schaffen, auf die ich mich rette aus Arbeit und Gesellschaft und Menschentrubel. Eine Oase, auf welcher liebende, fürsorgende Hände mich umschlingen, die mir Hast und Sorge von der Seele nehmen.‹
So sprach Lukas, als er das erste Mal hinüberkam nach seiner Berliner Anstellung. Sechs Monate später heiratete er Thea Weil, die Tochter eines reichen Berliner Fabrikanten. Armer Bruder, du hattest umlernen müssen! Ob es dir schwer geworden? Mußtest du Herzblut darüber lassen?
Das Leben leicht nehmen! Ja, wenn das so ginge!
Wie oft hatte sie versucht, über das, was ihrem Herzen Wunden geschlagen, hinwegzukommen. Es ging nicht, die Narben brannten sie und verursachten ihr Schmerzen. Langsam rollten zwei Tränen über ihre Wangen.
Es war dunkel geworden, als sie über die Corneliusbrücke[S. 37] schritt und beim Einbiegen auf den Kurfürstendamm mit Lotte Wunsch zusammentraf.
»Guten Abend, Frau Ebba, was schleichen Sie so müde einher, als lägen tausend Lasten auf Ihrer Seele?«
Ebba war aus ihrem Sinnen emporgefahren und blickte auf die Bildhauerin, die fröhlich mit geröteten, frischen Backen sie anlachte.
»Und Sie jagen im Sturm daher, als wollten Sie alles, was Ihnen hinderlich in den Weg tritt, verjagen.«
»Will ich auch. Sie haben genau das Richtige gesagt — alles fege ich hinweg — auch Ihr schweres Herz, kleine Frau.«
Und sie hakte sich in Ebbas Arm und zog sie von dannen.
»Ebba, hören Sie. Ich muß mich befreien von — dem Häßlichen, was da auf meinem Weg war — um das zu können, muß ich es festhalten — muß ich ihm noch einmal ins Auge schauen, um dann befreit zu sein. Fort« — sie machte eine fortschiebende Handbewegung. »Sie sehen mich so fragend an, ich kann Ihnen das hier auf der Straße nicht erklären. Auch sind wir gleich at home — Sie kommen in mein Atelier — dann will ich Ihnen von meiner Arbeit sprechen — die mich befreien soll von dem, das mein Verlangen nach Liebe zerstörte. — — Was sind Sie schweigsam, Liebe — wo kommen Sie her?«
»Ich war bei meinen Verwandten.«
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»Ach so — eine geplagte moderne Frau, Frau Thea Westphal — nicht wahr?«
Ebba nickte nur. »Nicht sprechen jetzt, Lotte Wunsch.«
* *
*
Es war Gesellschaftsabend in der Pension Mohrmann. In Gruppen hatte man sich im Besuchs- und Teezimmer zusammengefunden und saß plaudernd umher.
Diese Gesellschaftsabende in der Pension waren sehr beliebt. Nicht nur, daß die jeweiligen Gäste sich zusammenfanden, auch diejenigen, welche vorzeiten hier gelebt, jetzt ihr eigenes Heim hatten oder anderswo untergekommen waren, fanden sich an diesem Abend ein. Auch Freunde und Bekannte konnten durch Pensionsgäste eingeführt werden. Durch den Zufluß neuer Elemente wurde die Unterhaltung angeregt, neuer Gesprächsstoff geschaffen, und neue Beziehungen knüpften sich an.
Die Ecke des Teezimmers mit den bunt bespannten tiefen Sesseln war wieder von Miß Webb, Ebba Holm und Lotte Wunsch mit Beschlag belegt worden. Zu ihnen fanden sich jetzt Fräulein von Wangenheim, die sich bemühte, an Ebbas Seite zu kommen, Herr Winkelmann, Architekt Gehring und ein junger Baron, welcher, durch Winkelmann eingeführt, heute das erste Mal erschienen war.
[S. 39]
Miß Webb winkte den Baron an ihre Seite, während Winkelmann zwischen sie und Fräulein von Wangenheim zu sitzen kam.
»Sie berufen sich auf mein Herz, Mr. Winkelmann. Das, was die Deutschen Herz nennen, das gibt es nicht in Amerika, an der Stelle, wo bei Ihnen das Herz sitzt, sitzt bei uns die Vernunft.«
»Ich dachte, die säße bei normalen Menschen im Kopf.«
»Bei uns hat man zweimal Vernunft, im Kopf und im Herzen.«
»Wie muß es da mit der Liebe bestellt sein, Miß Webb,« warf der Baron ein.
Sie saß in ihren Sessel geschmiegt. Die Hand, auf der ein rosafarbener Hauch lag, machte eine fortscheuchende Bewegung. Alles an ihr zeigte die verfeinerte Lebenskultur der Dame von Welt. Der Kopf mit den reichen Haarwellen saß auf schlankem, edelgeformtem Halse. Der weiße Nacken war von zarter Rundung, und unter den halbgeschlossenen Augenlidern blitzte Lebensdrang und versteckte Neugier.
»Die Liebe! Ein Zeitvertreib, ein Spiel, um das Leben prickelnd und amüsant zu gestalten.«
Winkelmann lachte auf. »Sie fassen die Liebe richtig auf, nur daß ich eine derartige Auffassung noch nie bei einer Frau gefunden habe.«
»Sie können sich also niemals verlieben oder eine Leidenschaft zu einem Manne empfinden?«
[S. 40]
»Ich hasse Aufregungen, Baron — ich wünsche zu herrschen — beides schließt die Liebe aus.«
»Also tatsächlich kein Herz.«
»Nun, vielleicht könnte ich mir ja während meines Aufenthaltes in Deutschland versuchsweise eins anschaffen — wenn es ohne Schmerzen abgeht.« Und sie warf ihm einen aufmunternden, koketten Blick zu.
Er sah sie an. »Wer so aussieht wie Sie, wird niemals Schmerzen durch die Liebe leiden.«
»Das hoffe ich!« Und wieder traf ihn ein feuriger Blick.
Winkelmann hatte sich zu Gerda von Wangenheim gewandt. Seine Blicke gingen über die elegante, vornehme, aber unmodisch gekleidete Erscheinung, die ihm mit ruhigen, klaren Augen gerade ins Gesicht blickte. Kein aufmunternder Blick, kein mißtrauisches Zurückweichen, an das ihn die Frauen gewöhnt hatten.
Er fragte sich, ob diese Gleichgültigkeit nicht nur erkünstelt wäre, aber er kannte die tausend kleinen, weiblichen Schliche zu genau, um nicht sehr bald ihre absolute Aufrichtigkeit zu fühlen.
Ihre ruhige Gelassenheit erregte sein Interesse, er war es nicht gewöhnt, von den Frauen mit solcher Gleichgültigkeit behandelt zu werden.
Mußte es nicht köstlich sein, auf diesem ruhigen Antlitz die Leidenschaft zu entfesseln, diesen schlanken Körper bebend und zitternd in den Armen zu halten und in diesen leuchtenden, unschuldig blickenden Augen den[S. 41] lodernden Funken zu wecken, diesem Weibe den Stempel des Wissens aufzudrücken?
Er wußte, daß jede Frau ihre schwache Stunde hat. Sich nur nicht durch Vornehmheit, tadellosen Ruf oder sichtbare Kälte zurückschrecken lassen.
Vornehmheit und eisige Kälte wehte ihm entgegen.
Begierde — tolles Begehren war es, das sein Blut für das ruhige schöne Geschöpf zu erhitzen begann.
»Gnädiges Fräulein, ist die Liebe für Sie auch nur Zeitvertreib?« Und er hüllte sie ein mit einem jener durchdringenden Blicke, unter denen das Blut aufspringt und wild durch die Adern jagt.
Sie errötete wie ein kleines Kind. Das Blut schimmerte durch ihre zarte Haut und brachte auf derselben matte, opalfarbene Lichter hervor. Sie zog die fein geschwungenen Augenbrauen in die Höhe und erwiderte:
»Einen Zeitvertreib habe ich nicht nötig, da ich mit meinem Studium vollauf beschäftigt bin.«
Sie wußte zu antworten. Er war entzückt.
»Gnädiges Fräulein betreiben Ihr Studium wirklich ernsthaft, als ausübende Künstlerin?«
»Berufs wegen, wenn man von der Kunst so sprechen darf.«
»Und gnädiges Fräulein haben keine Zeit für — für andere Dinge?«
Sie lächelte. »Oh, ich finde schon Zeit, wenn mich gerade etwas Besonderes interessiert.«
[S. 42]
»Wozu die Liebe nicht zu rechnen ist?« Und er sah ihr lachend in die Augen.
»Interessiert mich allerdings nicht.«
»Schon die zweite Dame heute abend, welche von diesem schönen Gefühl nichts wissen will.«
»Mein Gott, ich habe schon zu schlimme Erfahrungen gemacht und habe es abgeschworen, mich jemals wieder damit zu befassen.«
Er sah sie verblüfft an. »Gnädiges Fräulein hatten unglücklich geliebt?«
Sie nickte. »Es war schrecklich! Nicht nur einmal, sondern dreimal hatte ich eine unglückliche Liebe. Da werden Sie verstehen, daß man Schluß machen will.«
»Gnädiges Fräulein belieben zu scherzen. Bei Ihrer Jugend —«
»Gott, ich habe eben früh angefangen. Mit zwölf Jahren verliebte ich mich sterblich in meine Erzieherin, eine dunkeläugige leidenschaftliche Polin, die eines schönen Tages mit der Wirtschaftskasse meiner Mutter verschwand. Dann kam mein Klavierlehrer an die Reihe, der meine Liebe tötete, als er mir freudestrahlend erzählte, daß er sich verlobt hätte und sich als Glücklichster der Sterblichen fühle; seine Braut sei ein Engel. Sie werden begreifen, daß dies mich ernüchterte. Nichtsdestoweniger kam dann die übliche Tanzstundenliebe, welche höchst tragisch endete. Mein Vater traf mich und den Erwählten meines Herzens in der Konditorei unseres kleinen Garnisonstädtchens bei Apfelkuchen und[S. 43] Schlagsahne. Ihm wurde in meiner Gegenwart eine Ohrfeige angeboten, bedenken Sie — und ich wurde schreckensbleich und bebend in Erwartung der Strafpredigt hinweggeführt. Sie sehen, ich habe kein Glück in der Liebe.«
»Allerdings unerhörtes Pech, gnädiges Fräulein. Ich begreife vollkommen, daß Ihnen die Lust vergangen ist. Doch trotzdem möchte ich raten, es noch einmal auf einen Versuch ankommen zu lassen, gnädiges Fräulein müssen Ihre Liebe nur einem Würdigeren zuwenden.«
»Und Sie glauben, daß ich den hier finden werde?«
»Ich bin sicher.«
»Und ich bin sicher, daß dies nicht der Fall ist.«
»Warum, wenn ich fragen darf?«
Das liebenswürdige und amüsierte Lächeln, welches auf dem Antlitz Gerda von Wangenheims geruht hatte, schwand. Ihre Züge wurden kalt und abweisend, hochmütig zog sie die Brauen in die Höhe und erwiderte: »Weil die Männer es hier nicht ehrlich meinen, weil sie die Achtung vor der Frau verloren zu haben scheinen.«
»Gnädiges Fräulein, darauf kann ich Ihnen nur erwidern: Ich bitte Sie zu bedenken, daß es die Frau ist, welche den Ton angibt, der zwischen Mann und Frau herrscht.«
»Sie wollen damit sagen, daß die Frau selbst es ist, die die Herabminderung der ihr schuldigen Achtung verursacht hat?«
[S. 44]
»Genau das. Es sind nicht alle Damen wie Sie, gnädiges Fräulein.«
Nachdenklich blickte sie ihn an. Ein lautes Lachen Miß Webbs ließ sie zu dieser hinüberschauen. »Sie mögen recht haben — wie traurig für uns Frauen.«
»Darf ich mir einen Rat gestatten, gnädiges Fräulein? Sie wollen Künstlerin werden, ausübende Künstlerin, ich kenne den Werdegang der Künstlerinnen ziemlich genau — es ist ein schwerer — oft ein bitterer Weg. Gnädigste, für die Art Ihrer Persönlichkeit doppelt schwer, Sie sollten anders sein.«
»So wie diese vielleicht?« Verächtlich schürzte sie die Lippen und blickte auf die Amerikanerin.
»Wir lassen aber nicht mit uns spielen! Wir spielen!« rief Miß Webb über den Tisch hinüber, Lotte Wunsch zu. »Es hat eine jede Frau in der Hand, richtig einzusteigen. Sie müssen wissen, ich betrachte den Weg des Lebens als einen langen Schienenstrang, auf welchem die Wagen rollen, rollen auf und ab. Es gibt erster, zweiter und dritter Klasse — was hindert mich, bequem erster Klasse zu fahren?«
»Vielleicht der Zufall der Geburt?«
»Man kann aussteigen unterwegs! Was hindert mich, aus der dritten Klasse in die erste überzugehen? Was hindert mich, mein Gepäck als Ballast zum Fenster hinauszuwerfen? Wer kann mir verbieten, Station zu machen, wo es mir beliebt? Zum Mitfahren aufzufordern, wer mir genehm ist? Wir müssen uns das[S. 45] Leben einrichten, wie es uns beliebt, wir haben ein Recht auf Genuß und Freude.«
»Und die Pflichten?«
»Überflüssiges Gepäck!«
»Von Ihnen kann man lernen,« gab ihr Lotte Wunsch zur Antwort, dann sich zu Gehring wendend: »Das ist auch eine Auffassung des Lebens.«
»Was wollen Sie? Gibt sie nicht eine Illustration unserer heutigen Gesellschaft? Sind nicht viele auf dem Wege, den sie gezeichnet? Pflichten! Wer denkt denn heute an die ihm auferlegten Pflichten? Viele sicher nicht. Ich finde, daß der größte Teil der Menschen nur seinen persönlichen Interessen nachgeht, daß das liebe Ich ganz in den Vordergrund gerückt ist und daß das Bewußtsein des Pflichtgefühls im Schwinden begriffen ist.«
»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Gehring. Wer wie ich zwanzig Jahre hier mit offenen Augen gelebt hat, der weiß, wie es mit dem Pflichtgefühl und der Moral bestellt ist, weiß es nur zu gut. Aber ich wollte mich zwingen, anders zu sehen. Frau Holm hat mir den Vorwurf gemacht, daß ich zu skeptisch sei, ich sehe nur immer das Schlechte und Gemeine in dem Menschen und lasse das Gute nicht gelten. Ich wollte das, was Sie Illustration unserer heutigen Gesellschaft nannten, nicht wahr haben, nun kommen Sie und setzen mir gleich wieder die schwarze Brille auf.«
»Gnädige Frau,« sinnend sah der Architekt auf Ebba[S. 46] Holm. »Ich bin überzeugt, daß Fräulein Wunsch bei Ihnen nur das Gute sieht.«
»Wie könnte es anders sein,« sprach Lotte.
»Sie ersehen daraus, daß Fräulein Wunsch wohl zu unterscheiden vermag und daß schwarz ist, was sie schwarz sieht. Sie stehen dem Leben hier noch fremd gegenüber. Sie werden es anders finden, als Sie es sich vorgestellt, haben es vielleicht schon empfunden. Enttäuschungen stehen für jeden Menschen bereit, sie führen uns oft erst auf den richtigen Pfad. Sehen lernen ist für starke Naturen immer von Vorteil.«
»Ich bin keine starke Natur, Herr Gehring.«
»Das sind Sie doch, Sie wissen es nur nicht.«
»Übrigens, Herr Gehring, können Sie uns nicht zu einer netten Wohnung für Frau Holm verhelfen? Sie sitzen doch an der Quelle, wir suchen und suchen und können nicht das Rechte finden.«
»Ja, wenn Sie hier draußen im modernen Westen suchen, werden Sie niemals das Passende für die gnädige Frau finden, das heißt, nach meinem Empfinden. Ich kann mir Frau Holm nur in dem nach meinem Sinne für sie passenden Rahmen vorstellen.«
»Und der wäre?«
»Eine kleine, ruhige Straße, ein paar verträumte Bäume, ein altes, gemütliches Haus mit einem Erker, an welchen die Zweige einer alten Kastanie schlagen, verstohlene Sonnenstrahlen —«
»Oh, Sie Künstler,« rief Lotte Wunsch, »wie Sie[S. 47] zu zeichnen verstehen! Und im Erker die Hausfrau im Gewand von matten Farben, schwere fließende Falten —«
Ebba lachte auf. »Das soll für mich passen? Man merkt die Phantasie der Künstler! Sie malen ja da ein Märchen aus.«
»Welches Wirklichkeit werden könnte,« erwiderte Gehring.
»Schnell, schnell, wo ist es, sagen Sie,« eiferte Lotte.
»Und keine ›schicken‹ Möbel, keine Moderichtung, Biedermeier oder dergleichen, nein, einige schwere, gediegene Stücke, gut verteilt, dunkle, satte Vorhänge statt Türen, an den Fenstern lichte, feine Gewebe — doch — gnädige Frau müssen mit vorhandenen Möbeln rechnen?«
»Nein,« hart und scharf klang es ihm entgegen, daß er erschrocken zusammenzuckte.
Sie bemerkte es und fühlte sich veranlaßt, dieses harte Nein zu erklären.
»Ich wünsche mich loszulösen von allem.«
Er neigte verstehend das Haupt.
»Aber wo in aller Welt ist dieses Nest, wenn Sie es schon so genau beschreiben, wissen Sie es auch zu finden?«
»Geduld, Fräulein Wunsch, gewiß, es ist schon vorhanden und wartet nur auf die Einwohnerin, es liegt im alten Westen, in der Margaretenstraße.«
»Ich weiß, ich weiß,« jubelte Lotte, »ich kenne das Haus.«
[S. 48]
»Eine Wohnung von vier Zimmern im zweiten Stock — gerade die Höhe der Baumkronen.«
»Morgen schon will ich hinaus und sehen, ob mir die Wohnung zusagt.«
»Gestatten Sie, daß ich Sie hinführe, gnädige Frau?«
»Wenn Sie mir Ihre Zeit widmen können, so wäre das sehr liebenswürdig von Ihnen.«
»Also abgemacht, morgen vormittag holen Sie uns ab, denn selbstverständlich bin ich die Dritte im Bunde,« rief Lotte.
»Es ist recht schade, gnädige Frau, daß Sie uns verlassen wollen,« wandte sich Gerda von Wangenheim zu Ebba. »Ich werde Ihr Fortgehen als eine große Lücke empfinden. Sie waren für mich so eigentlich der ruhende Punkt in diesem Getriebe und schienen mir ein Stückchen Heimat.«
»Sie müssen mich recht oft besuchen. Wirklich, denn glauben Sie, ich werde mich doch recht einsam fühlen.«
»Warum bleiben Sie eigentlich nicht hier? Sie können doch auch hier alle Bequemlichkeiten haben, ohne die Last der Wirtschaftssorgen, und Sie wären nicht ganz allein.«
»Immer hier unter fremden Menschen, ohne eigenes Heim, ohne meine kleinen Sorgen, ein Leben ohne Zweck und Ziel? Ich wäre totunglücklich.«
»Einen Haushalt führen, sich mit Dienstboten herumärgern müssen, das denke ich mir schrecklich. Das ist[S. 49] doch alles so kleinlich, der Alltag tritt so direkt an einen heran.«
»Was wollen Sie, Fräulein von Wangenheim, wir haben sechs Tage Alltag und nur einen Tag Festtag. Sie sind Künstlerin, Sie haben sich diesen Beruf gewählt, Sie dürfen so denken, aber wie traurig wäre es für das Familienleben, wenn alle Frauen so dächten.«
»Glauben Sie nicht, daß es viele Frauen gibt, ich meine verheiratete Frauen, welche die Sorgen des Haushaltes für nicht vereinbar halten mit ihrer höheren Bildung und mit ihren geistigen Interessen?«
»Ich weiß, es gibt« — und vor ihren Augen tauchte das Bild ihrer Schwägerin auf — »der arme Mann.«
»Sie sagen: der arme Mann! Ich kann die Männer nicht bedauern, denn sie selbst sind es, die dieses Mißverhältnis geschaffen. Vor der Ehe wollen sie die Frau als eine elegante, schicke, ich möchte beinah sagen pikante Dame, sonst gehen sie achtlos an ihr vorüber und — heiraten sie dann eine solche Dame, dann soll sie mit einem Male all dies hintenansetzen und nur im Kleinkram aufgehen.«
Gehring, welcher dem Gespräch gefolgt war, wandte sich an Gerda. »Gnädiges Fräulein, es ist wohl schwierig, einem Teil die Schuld beimessen zu wollen. Eine junge Dame, welche kein Interesse für den ›Kleinkram‹ — wie Sie es zu nennen belieben — hat, sollte eben nicht heiraten, und ein Mann, welcher eine Hausfrau und Mutter für seine Kinder wünscht, sollte vorsichtig sein[S. 50] in seiner Wahl. Glauben Sie mir, eine Frau kann eine gute Hausfrau sein, ohne dadurch ihre geistigen Interessen zu schädigen. Gerade weil sie geistig auf einer Höhe steht, wird sie verstehen, daß sie es ist, welche den Grundstein des Hauses in Händen hat, daß auf dem Fundament, auf welchem sie ihr Haus errichtet, das Wohlergehen und die Zukunft des Hauses beruhen.«
* *
*
Müde und abgespannt lag Gerda auf ihrem Lager und konnte den Schlaf nicht finden. ›Es ist ein bitterer Weg, Gnädigste, der Weg der Künstlerinnen — für die Art Ihrer Persönlichkeit doppelt schwer — Sie sollten anders sein.‹ Anders sein — das hieß: sich hinwegsetzen über Anstand und gute Erziehung — hieß Konzessionen machen dem Künstlertum. Nein, niemals — wie könnte sie bestehen vor Ihrer Familie und vor sich selbst. Sie wußte, was sie der Stellung ihres Vaters, ihrem Namen schuldig war.
Oh, sie kannte sie bereits, die krummen Wege, die auf zur Höhe führten. Die Studiengenossinnen hatten sie unterrichtet, hatten auch kein Hehl daraus gemacht, daß sie durchaus nicht abgeneigt, diese Wege zu wandeln, die Hände, die sich ihnen dort entgegenstrecken würden, um sie möglichst schnell zum Ruhm, zu Ehre und Verdienst zu führen; daß sie mit tausend Freuden bereit[S. 51] wären, diese Hände zu ergreifen. Ehre! Sie lachte verächtlich, was hatten die für einen Begriff von der Ehre! Wie sagte doch eine ihrer Kolleginnen! ›Was nutzt mir meine Ehre, wenn ich ewig am Boden kleben soll? Ich will auf zur Höhe, zur Höhe des Ruhms. Und hätte ich zehn Mädchenehren zu vergeben, ich würde sie alle hingeben, gelangte ich dadurch nach oben.‹ Nein — zu diesem Grundsatz würde sie sich nie bekennen — für sie gab es nur den geraden Weg. — Auch er mußte nach oben führen — zur Höhe des Ruhmes. Sie ließ sich nicht beirren. Und dennoch, lag nicht in diesen Worten eine gewisse Größe? War diese nicht bereit, ihrer Kunst alles zum Opfer zu bringen, alles — wenn es sich um die Kunst handelte? Gehörte nicht zum Künstlertum ein Hinwegsetzen über vieles? Sie selbst, hatte sie nicht ihrer Kunst schon Konzessionen machen müssen? Der leichte Ton der Kollegen und Kolleginnen, war es ihr nicht schwer, sehr schwer geworden, sich daran zu gewöhnen? Sie, die wohl gehütete Tochter aus vornehmem Hause, allein in der großen Stadt, war allen möglichen Nachstellungen ausgesetzt. Lebte sie nicht schon in einem ganz anderen Kreis, war sie sich nicht anfangs deplaciert vorgekommen? Waren dies nicht alles schon Opfer, welche sie ihrem Künstlertum gebracht hatte? Kleine Opfer — würde sie zurückschrecken vor größeren?
Nein — mit weißem Kleide wollte sie oben stehen, auf lichter Höhe, auch nicht der Saum ihres Kleides sollte[S. 52] besudelt werden, rein vor der Welt, rein vor sich selbst wollte sie ihr Ziel erreichen — sonst war es wertlos für sie, es erreicht zu haben.
Sie schloß die Augen. Und Traumbilder umgaukelten sie.
Sie sah sich auf lichter Wolke stehen, im schneeigen Gewande. Mit ausgebreiteten Armen, auf dem Haupt ein funkelndes Diadem, dem Ziele ihrer Sehnsucht entgegenschwebend. Dunkle Wolken kamen ihr entgegen und hinderten sie, ihren Weg fortzusetzen. Sie strebte vorwärts, umsonst — Schattenhände streckten sich ihr entgegen — drohten und forderten — da löste sie einen Stein aus dem Diadem, das sie auf dem Haupte trug, warf ihn ihnen zu — und ein Stück des Weges schwebte sie voran. Doch immer wieder vertraten ihr dunkle Schatten den Weg. Stein um Stein der funkelnden Strahlenkrone brachte sie zum Opfer, und noch nicht war sie am Ende ihres Weges. Den Saum ihres Kleides hatte sie emporgerafft, in Reinheit hatte sie ihn bewahrt, aber die Strahlenkrone war ihr vom Haupt gesunken, nun hatte sie zu opfern nichts mehr.
Da traf sie an eine Biegung ihres Weges, und als sie sich wendete, lag das Ziel ihr greifbar vor den Augen. In schimmernder Pracht lag er vor ihr, der Thron, welchen die Menschheit der Kunst errichtet hatte. Gold und Juwelen funkelten ihr entgegen, purpurne Rosenblüten bedeckten den Boden, Lorbeergewinde bildeten den Hintergrund. Jubelnd und jauchzend setzte sie den[S. 53] Fuß auf die Stufe, welche hinaufführte. Da packte eine rauhe Hand den Saum ihres Kleides und höhnte ihr entgegen: Da hinauf im weißen Kleide? Gib her das Kleid. Hier dies güldene Gewand soll deine Glieder decken, und die Hand riß und zerrte an ihrem Kleide. Sie wehrte sich und schrie: In meinem Kleide bleibe ich und schreite dort hinauf, genug der Opfer schon brachte ich dar, mir blieb nichts als dieses Gewand, nehmt ihr mir auch dies, so verliere ich mich selbst! Und ihr Fuß versuchte die zweite Stufe zu erreichen. Da wich sie zurück, denn drohend wuchs ein Schatten ihr entgegen, aus welchem Blicke ihr entgegenfunkelten, die sie beschmutzten. ›Nicht hinauf, wenn du nicht imstande bist, dich selbst als letztes Opfer darzubringen. Ich stehe zwischen dir und diesem Thron.‹
Und sie wich zurück, wich grausend zurück und wandte das Haupt. Umsonst die Strahlenkrone geopfert, umsonst den langen schweren Weg — vor dem letzten, da schreckte sie zurück, und weinend sank sie zusammen.
Noch einmal wendete sie sehnsüchtig den Blick, so nahe dem Ziel, so nahe der Höhe, und nun zurück auf die Erde, geheftet an den Boden. Lüstern funkelten die Augen aus dem Schatten ihr entgegen, Arme streckten sich gleich langen, feinen Saugadern nach ihr aus. Zu Füßen des Schattens auf der untersten Stufe aber, da lag ihr geopfertes Diadem. Matt, trübe und glanzlos lag es da. Da riß sie sich ihr weißes Gewand ab, legte es zu der Krone und warf sich in die ausgestreckten Arme.[S. 54] Und sie stand auf dem Thron im güldenen Gewand, ein neues Diadem auf dem Haupte, sie stand auf purpurnen Rosen, und die Rosenblätter flüsterten zu ihr empor: ›Herzblut gibt Purpur.‹ — — —
* *
*
»Und dadurch denken Sie das Häßliche, das Ihnen den Weg zum Liebesleben versperrte, hinwegzuschaffen?«
»Ja, Ebba, das denke und hoffe ich.«
Erregt ging Lotte in ihrem Atelier auf und ab.
»Einer Gorgo sollen sie ins Antlitz schauen, von deren Grauenhaftigkeit die Phantasie der Antike noch keine Ahnung hatte. Die Begierde, dieser Moloch hält sie alle in seinem Bann. Abreißen will ich ihnen die Maske vom Gesicht und ihnen das wahre Antlitz zeigen, wie es darunter verborgen: eine Fratze, verzerrt von Leidenschaft, wilder Gier und niedrigen Gelüsten. Ein unerbittlicher Ankläger soll vor ihnen stehen!«
Sie war vor Ebba, die schweigend auf dem Diwan saß, stehengeblieben. Ihre Augen glühten fieberhaft, eine lange niedergerungene Leidenschaftlichkeit kam zum Ausdruck.
»Begreifen Sie doch, daß ich nicht stumm bleiben darf, es würde mich zermalmen!
Ach, diese Sehnsucht — dieser stets gewaltsam niedergehaltene[S. 55] Schrei in der Brust — nach Liebe, Ebba — nach Glück,« flüsterte sie.
»Ich glaube, Sie sind grausam, Lotte! Sie hatten sich Idealmenschen geschaffen, und da Sie enttäuscht wurden, sind Sie hart geworden.«
Lotte lachte bitter auf: »Ist das nicht grausam, die Seele eines jungen Mädchens in den Schmutz zu treten, ihren Körper zur Erfüllung niederer Begierden zu begehren? Meinen Sie, daß es mir allein so gegangen? Grausam hat man mir den Altar der Liebe besudelt, ich will ihn wieder rein waschen, indem ich meine Stimme erhebe und anklage.«
»Und glauben Sie die Menschen bessern zu können, indem Sie ihnen einen Spiegel vorhalten?«
»Nein, dazu bin ich wohl nicht berufen — aber mich — meine Seele will ich von ihrem Druck befreien.
Ich habe einen großen Abscheu kennen gelernt vor der Liebe — ich habe gelacht und geweint in bitterem Weh — und doch — man hat nur ein einziges Leben zur Verfügung — das ist kein Leben ohne Liebe — ich will leben, das ist mein Recht!«
»Ich glaubte immer, Frauen Ihrer Art finden ihre Befriedigung in ihrem Beruf, sind voll ausgefüllt vom Leben. Es erstaunt mich, Sie so sprechen zu hören.«
»Glauben Sie doch das nicht! Eine Frau, welche behauptet, einzig und allein durch ihren Beruf Befriedigung zu finden, welche das Bedürfnis nach Liebe ableugnet, ist nicht ehrlich. Wir Frauen, wenn wir[S. 56] echte Frauen sind, können nur das Glück durch die Liebe erfahren, alles übrige ist nichts, ist nur Betäubung unseres ungestillten Verlangens. Unsere Kunst, unsere Arbeit, das alles ist nichts, das wahre Glück bringt uns erst die Erfüllung unserer Sehnsucht, das Stillen unseres flammenden liebeglühenden Herzens.«
»Und die freie Liebe? Lassen Sie auch diese gelten?«
»Unbedingt, sobald sie nicht niedrigen Begierden entspringt. Ich habe soviel gesehen in meinem Leben, daß ich gelernt habe, jedes gewaltige Gefühl als ein natürliches Recht anzusehen.«
»Ich glaube, daß Sie recht haben, ich halte das Leben einer Frau für verfehlt, wenn sie ohne Liebe durchs Leben gegangen, trotz all des Leids, welches die Liebe für uns im Gefolge hat.«
* *
*
Einen Strauß herrlich roter Rosen hielt Gerda von Wangenheim in den Händen.
Kurt Winkelmann.
Welches Recht hatte er dazu? Achtlos legte sie den Strauß auf den Tisch, zerriß die beigefügte Karte in kleine Stückchen und warf sie in den Papierkorb. Der hochmütige Ausdruck ihrer Gesichtszüge vertiefte sich. Der Rosenduft erfüllte das Zimmer, sie konnte ihn nicht vertragen, sie klingelte dem Stubenmädchen und[S. 57] gab ihr die Weisung, den Strauß fortzunehmen, in das Gesellschaftszimmer oder sonstwo hinzustellen, der Duft bereite ihr Kopfschmerzen.
Tat sie ihm unrecht? Hatte man ihr nicht oft Blumensträuße gesandt? Und sie hatte sie genommen, freudig, gleichgültig, gemessen nach den Gefühlen, welche sie dem Spender entgegenbrachte.
War sie zu feinfühlig?
Was war es, das beim Gedenken an diesen Mann ein Gefühl der Empörung in ihr emporflammen ließ? Daß sie diesen Rosenstrauß als eine Beleidigung empfand?
Gestern abend im Konzert hatte sie ihn getroffen.
Er hatte gebeten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie, deren Blut und Nerven durch den wunderbaren Gesang der Hempel in Aufregung waren, hatte seine Begleitung gern angenommen. Ungern wäre sie mit der Bahn nach Haus gefahren, der Gang durch den Tiergarten war ihr eine Wohltat, um so mehr, da es ein wundervoller Abend war und sie jetzt so selten dazu kam, spazierenzugehen, ihr Studium ließ ihr nicht die Zeit dazu. Seine Begleitung ermöglichte ihr den Gang durch die klare, kalte Nacht.
Sie waren über den Potsdamer Platz geschritten und lenkten in die Bellevuestraße ein. Als sie an dem hellerleuchteten Restaurant Rheingold vorüberkamen, sah er sie von der Seite an und bemerkte:
»Ich darf es wohl nicht wagen, Ihnen, gnädiges Fräulein, ein Glas Wein anzubieten?«
[S. 58]
Mit großen, erstaunten Augen sah sie abweisend zu ihm auf: »Wenn es Ihnen leid tut, mir Ihre Begleitung angeboten zu haben —«
»Um Gottes willen, gnädiges Fräulein, ich konnte nur dem Versuch nicht widerstehen, Ihre Gesellschaft noch länger zu genießen.«
»Es ist ein reichlich langer Weg bis zum Steinplatz, mir will es jetzt fast scheinen, daß ich Ihre Zeit zu lange in Anspruch nehme.«
»Gnädiges Fräulein, verzeihen Sie mir.«
Sie zog ihre Hand aus dem Muff und machte eine wegwerfende Bewegung. Dann schritt sie fest und gerade in die Höhe gereckt voran. Eine Atmosphäre von Kühle und Unnahbarkeit um sich ziehend.
Er biß sich auf die Lippen. Diese feindselige, fast verächtliche Kälte, welche sie ihm gegenüber zur Schau trug, reizte ihn bis aufs Blut. Niemals bis heut hatte er um eine Frau zu kämpfen brauchen, gleich reifen Früchten waren sie ihm in die Arme gesunken, er hatte nur die Hand auszustrecken brauchen — und diese hier — lächerlich — diese Kälte wollte er — mußte er durchdringen — alles wollte er daransetzen, sie zu zwingen — der Besitz dieser war von Wert — er kostete Kampf. Das war ein anderer Reiz. Eine nie empfundene, aber vorgeahnte Lust erfüllte ihn. Einen verzehrenden, glühenden Blick warf er auf die ruhig neben ihm einherschreitende Gestalt.
Schweigend waren sie so die Tiergartenstraße entlanggeschritten[S. 59] und bis zur Ecke der Regentenstraße gekommen, da brach Gerda das Schweigen und begann in leichtem Plauderton über das heutige Konzert zu sprechen.
»Ich glaube wohl, es muß ein herrliches Gefühl sein, dort oben zu stehen, umrauscht vom tobenden Beifall der Menge.«
»Wenn Sie erst so weit sein werden, gnädiges Fräulein.«
»Wieviel Arbeit, Kraft — und Kummer, ehe man eine solche Höhe erreicht — und wenn es auch wirklich immer zur Höhe ginge.«
»So kleinmütig? Glauben Sie nicht an Ihr Künstlertum?«
»Ist es nicht begreiflich, sich klein zu fühlen, wenn man eine solche Künstlerin gehört hat? Oh, wer diese Höhe erreichen könnte — einmal — ein einziges Mal so die Herzen treffen können, aufrühren die Menschen bis in ihr tiefstes Sein. Mein Gott, muß das ein Gefühl sein!«
Leidenschaftlich hatte sie die Worte hervorgestoßen, in heftiger Bewegung preßte sie den Muff gegen die Brust und atmete stoßweise. Winkelmann sah auf die Erregte. Da war es ja, das Temperament, welches er geahnt, verborgen, ihr unbewußt schlummerte es in ihr — seine Aufgabe wird es sein, es zu lenken auf Bahnen —
Schweigend gingen sie weiter.
Sie waren den Kurfürstendamm entlang gegangen und näherten sich der Gedächtniskirche.
[S. 60]
»Gnädiges Fräulein, es ist unbedingt notwendig, daß Sie Beziehungen anknüpfen, wenn Sie die Absicht haben, hier in Berlin ein Konzert zu geben, ich möchte Sie bitten, über mich zu verfügen, ich kann Ihnen von großem Nutzen sein nach dieser Richtung hin. Sie müssen Tees und Gesellschaften besuchen, müssen sich einen Kreis schaffen, der sich für Sie persönlich interessiert. Ich kann Sie bekannt machen mit Agenten, Kritikern, Direktoren und so weiter.«
»Mit einem Wort, Sie können mich lancieren, wenn Sie wollen?« Sie sprach es verächtlich.
»Mein Gott, ohne diesen Klimbim geht es eben nicht, und wenn es Ihnen Ernst ist mit Ihrem Streben, dann müssen Sie das alles mit in den Kauf nehmen. Klappern gehört zum Handwerk! Sie müssen sich in Positur setzen, das ist hier, in unserer Gesellschaft, besonders nötig. Je mehr Sie selbst aus sich machen, desto höher schätzen Sie die anderen.«
»Ekelhaft.«
»Was wollen Sie! Diese kleinen Opfer werden Ihnen hundertfach belohnt, wenn Sie dort oben stehen, umrauscht und umjubelt. Also schlagen Sie ein und verfügen Sie über mich.« — —
Sie hatte ihm die Hand gegeben, und sie hatten sich an der Tür der Pension verabschiedet voneinander, und als sie auf ihrem Zimmer angelangt, da hatte sie den Muff auf einen Sessel geworfen, die Handschuhe abgestreift und in die Ecke geschleudert, hatte schluchzend[S. 61] die Hände vor das Gesicht geschlagen und geweint. — Was sollte das alles? Konnte sie nicht allein ihren Weg finden? Sie, Gerda von Wangenheim, sollte buhlen um die Gunst der Menschen?
Warum hatte sie geweint? Mußte sie sich nicht freuen der angebotenen Hilfe, wollte er nicht die Steine zusammentragen, um den Thron zu errichten, auf welchen sie hinaufstrebte?
Sie empfand sein Anerbieten als eine Beleidigung, es lag etwas darunter verborgen, das fühlte sie. Die Gedanken dieses Mannes waren nicht rein, das Tasten seiner Blicke empfand sie als einen körperlichen Schmerz.
Wo waren die Rosen, daß sie sie unter die Füße trat?
* *
*
Ebba probierte die Wirkung einer bronzenen Vase, welche, gefüllt mit herrlichem blaßlila Flieder, ihr von ihrer Schwägerin heute übersandt worden war. Sie besaß nun ihr Heim, nach welchem sie sich gesehnt hatte. Ein Gefühl wohligen Behagens empfing sie. Sie stellte den Fliederstrauß auf ihren Schreibtisch, trat zurück und prüfte die Wirkung. Wundervoll hoben sich die zarten Blüten gegen den tiefblauen Ton der Tapete. Sie war zufrieden. Aber dort, der hellrote Tulpenstrauß, er tat ihren Augen weh. Sie haßte grelle[S. 62] Farben. Sie konnte sie nur vorübergehend ertragen. Beim Umherschweifen ihrer Blicke freute sie sich wohl oft eines hellfarbenen, freudigen Tones, er brachte Abwechselung in gedämpfte Farben, die sie bevorzugte, aber lange war es ihr nicht möglich, darauf zu verweilen, er machte sie unruhig. Um sie herum mußten weiche, satte Töne sein. Sie trug den Rosenstrauß in den Vorflur, setzte ihn dort auf das kleine weißlackierte Tischchen, neben welchem die weißen, mit dunkellila Leinen bespannten Sessel zum Sitzen einluden. So, hier paßte er hin, die satte lila Farbe dämpfte das leuchtende Rot. Sie trat in ihr Arbeitszimmer zurück, rückte hier noch an einem Sessel, gab einer Bronze noch einen andern Platz und schritt in das anstoßende Speisezimmer, um selbst den Abendtisch zu arrangieren. Es war eigentlich noch zu früh dazu, aber was machte es, sie freute sich so sehr, tätig sein zu können, es machte ihr Spaß, ihre Schätze auskramen und die Wirkung des Geschirrs auf dem feinen Damast zu probieren. Ob wohl jene Gläser sich besser machen würden unter dem gelben Scheine des Seidenschirms, welcher über dem runden Tisch leuchtete? Oder ob sie die matt bernsteinfarbenen nahm? Welches Blumenarrangement sollte sie für die Mitte wählen? Sie war reichlich mit Blumen bedacht. Sträuße und ganze Körbe hatte man ihr als Glücksspende für die neue Wohnung ins Haus gesandt. Sie brauchte nur die Wahl zu treffen. Hier dieses Arrangement, es war zu prunkvoll, paßte nicht für[S. 63] die intime kleine Feier, erwartete sie doch nur zwei Gäste, Lotte Wunsch und Gerda von Wangenheim. Ihre Hand griff nach einem Strauß dunkelroter Rosen, sie setzte ihn auf den Tisch. Sie empfand ihn als zu glutvoll unter der starken Beleuchtung. Die dunkelrote Pracht schien ihr intensiver, duftender, wenn sie abgedämpft. Sie brachte einen feinen venezianischen Kelch, in welchem mattrosa japanische Blüten steckten, in die Mitte des Tisches, und die Blüten behaupteten ihren Platz.
Die Uhr im Speisezimmer schlug mit tiefen, dunklen Tönen sieben Uhr. Nun hatte sie noch eine Stunde Zeit. Sie wollte dem Mädchen in der Küche ein wenig behilflich sein, ihr zeigen, wie sie das Anrichten der Schüsseln liebte. Wenn sie dem Mädchen auch selbständiges Arbeiten zutrauen konnte, so war es für sie doch Bedürfnis, daß in ihrem Haushalt in allem ihren eigenen Wünschen entsprochen wurde. Die persönliche Note liebte sie nicht nur in ihrer Kleidung, in dem Arrangement der Möbel und Blumen, auch bis hinein in das Küchenreich wünschte sie damit zu dringen. Als sie eben die Küche betreten, sich eine große Wirtschaftsschürze vorgebunden, klingelte es.
Ihr Bruder, der Bankdirektor Westphal, wünschte sie zu sprechen.
»Lukas, du kommst zu mir, beraubst dich deiner Zeit?«
»Du hast recht, dich zu wundern. Möchte ich doch[S. 64] selbst darüber erstaunen, daß ich Zeit finde, mich mit der Angelegenheit anderer zu beschäftigen.«
»Sage mir nur, warum bringst du eine solche Unruhe in dein Leben? Du hast dein gutes Auskommen, hast deine Stellung, hast erreicht, was dir wünschenswert erschien, ich sollte meinen, du könntest dir wirklich ein wenig Ruhe gönnen.«
»Du hast ja recht, Ebba — aber du kennst eben den modernen Großstadtmenschen nicht, dem ist keine Ruhe vergönnt. Ruhe ist Stillstand, und Stillstand ist Rückschritt.«
»Ich bitte dich, es muß doch einen Ruhepunkt geben im Leben eines jeden. Jeder sollte sich doch der Früchte freuen, die er gesäet hat.«
»Dazu haben wir keine Zeit.«
»Also über dem ewigen Vorwärtsstreben kommt ihr nicht zum Genuß dessen, was ihr erreicht habt. Es ist dies etwas Ungesundes, etwas Krankhaftes. Ich kann nicht glauben, daß sich ein jeder sein Leben so zimmert. Was zum Beispiel treibt dich immer wieder, immer mehr zu erraffen, warum genügt dir das Erworbene nicht? Warum überbürdest du dich mit Direktionsposten, bist Aufsichtsrat mehrerer Gesellschaften, gönnst dir Tag und Nacht keine Ruhe, erkläre mir das. Warum?«
»Kind, das ist schwer zu erklären. Wenn ich offen sein soll, so muß ich dir gestehen, daß mir das alles selbst[S. 65] nie zum Bewußtsein gekommen ist. Erst jetzt, als du und mit dir unsere schöne ruhige Jugendzeit mir wieder vor Augen trat, sah ich, daß ich niemals zum Atemschöpfen gekommen bin. Warum? Wieso? Es ist hier nun einmal so der Kurs. Man steuert hinein und merkt es kaum, in welches Eilzugtempo man gekommen ist. Verschnaufen, aussteigen, das gibt es nicht, dann nimmt ein anderer deinen Platz ein, und du kannst sehen, wo du bleibst. Das Leben kostet viel, sehr viel, wenn man eine elegante Frau hat, die Ansprüche an einen stellt. Man versteht eben heute nicht mehr anspruchslos zu sein. Die gesteigerte Kultur der großen Städte ist ein Moloch, dem wir alle anheim fallen. Ich muß arbeiten, um das alles aufbringen zu können, viel arbeiten.« Und seinen Mund umspielte ein zerstreutes müdes Lächeln.
»Und Thea? Kann sie es mit ansehen, daß du dich aufreibst bei diesem Leben?«
»Meinst du wirklich, daß sie das sieht? Das alte Wort, daß Mann und Frau eins sein sollen, hat für uns keine Bedeutung. Unsere Wege haben sich schon seit langem getrennt.
Nein, sie weiß nichts von mir. Niemals fragt sie nach meinen innerlichen Gedanken, nach dem, was mein Inneres bewegt. Wir sind einander tatsächlich Fremde. Sie weiß nicht einmal von jenem Verständnis, mit welchem das Weib die Erde dem Manne zum Paradiese machen kann.«
[S. 66]
»Aber ihr habt doch aus Liebe geheiratet, es kann doch nicht immer so gewesen sein zwischen euch?«
»Was man so Liebe nennt! Was weiß man denn voneinander vor der Ehe! Du — du hast doch deinen Mann auch aus Liebe geheiratet, es ist das Sonderbare im Leben, daß immer die nichtzusammenstimmenden Menschen zueinander finden. Ja: wenn ich eine Frau gefunden hätte, wie du es bist! Sie geht auf in den gesellschaftlichen Zerstreuungen. Sie lebt von fremden Menschen mit fremden Menschen.
Ich bin ein einsamer Mann, Ebba.«
»Aber Inge, ihr habt eine Tochter, du hast Pflichten gegen sie.«
Er zuckte die Achseln. »Ich hatte so wenig Zeit, und jetzt — ist es wohl schon zu spät.«
Tränen verdunkelten ihren Blick. »Nein, nicht zu spät. Schick mir oft Inge, Lukas. Willst du? Sieh, ich bin einsam — ohne Zweck, ohne etwas, das mir Freude macht, ich meine ohne etwas, um dessentwillen es sich lohnt, zu leben, vielleicht kann ich ihr etwas sein.«
»Gern, wie gern, Ebba — das heißt, wenn sie mag.«
Die Uhr im anstoßenden Speisezimmer schlug die achte Stunde. Erschrocken sprang er auf.
»Um des Himmels willen, ich sollte Thea begleiten, es ist Premierenabend im Deutschen Theater — und ich habe dir noch nicht einmal gesagt, was mich zu dir geführt hat. Ich habe deine Scheidungsklage meinem Anwalt übergeben, es wird alles in die Wege geleitet.[S. 67] Er hat mir die Versicherung gegeben, daß es kaum nötig ist, dich persönlich zu belästigen.«
Sie waren aufgestanden. Die schlanke brünette Frau, deren Antlitz unendliche Güte und tiefe Traurigkeit spiegelte, streckte ihm beide Hände entgegen: »Willst du zu mir kommen, wenn du dich nach Ruhe sehnst, Lukas? Willst du mein Haus als das deine betrachten?«
Und der müde schlaffe Mann fühlte etwas in sich aufsteigen, eine würgende Bitterkeit kam über ihn, doch er bezwang sich. Sein gebeugter Körper reckte sich empor, er legte seine Hände in die ihm entgegengestreckten und sprach: »Ich will.« — — —
»Ebba, stellen Sie sich einen Moment in den Erker — so — so ist es recht — ganz wundervoll,« jubelte Lotte Wunsch, »schauen Sie, Fräulein von Wangenheim, ist es nicht wie ein Bild? Der passendste Rahmen, den Sie sich schaffen konnten, ist diese Umgebung!«
»Sie sind ein Kind, Lotte.«
»Danke für das Kompliment, fehlte nur noch, daß Sie mir die Saugflasche umhängen.«
»Na, wenn nicht gerade umhängen, vielleicht noch in die Hand drücken,« neckte Ebba.
Und Lottes Augen strahlten. Ein Lächeln von Glückseligkeit verjüngte ihre Züge. Sie ergriff eine blaßrosa Rose aus dem auf dem Tisch stehenden Blumenarrangement und warf sie nach Ebba.
»Sie Übermut, Sie,« drohte diese, »aber nun vertreten[S. 68] Sie mich einmal und zeigen Sie Fräulein von Wangenheim mein kleines Nest, derweilen ich schnell in die Küche husche.«
»Sehr geschmackvoll, wirklich harmonisch das Ganze,« sprach Gerda. »Diese schweren dunklen Mahagonimöbel wirken herrlich zu der blauen Farbe der Vorhänge, sie geben dem Raum etwas Ruhiges, Abgedämpftes.«
»Und hier, vom Erker aus überschauen Sie die kleine ruhige Straße. Die Zweige der Kastanie vor dem Fenster können Sie greifen.«
»Ich hätte nie geglaubt, daß man hier in Berlin so etwas Abgeschiedenes, ich möchte beinahe sagen, so eine weltentrückte Stimmung finden könne. Ein Hauch von Ruhe und Frieden weht einem entgegen. Mir ist, als würde hier dem ärgsten Sturm Halt geboten, als sei dies ein stilles Hafenbecken, in welches Schiffbrüchige sich retten müßten.«
Ebba war zurückgekommen und stand vor dem hinter ihr wieder zurückfallenden Vorhang. Das dunkle Haar, welches locker zurückgekämmt, ließ die klare weiße Stirn, auf welcher zwei Falten eingegraben waren, die sie älter erscheinen ließen, frei. Das Dunkel der Haare verschwamm mit dem Dunkel des Sammets. Das veilchenfarbene Tuchkleid fiel in langen Falten herab und bedeckte ihre Füße, wie es bei einem Marmorbild zu sein pflegt. Die Handgelenke umschlossen die eng anliegenden Ärmel. Das Kleid hatte keinen Ausschnitt, sondern war bis zum Halse herauf geschlossen. Ihre[S. 69] in die Falten greifende Hand und ihr weißes Gesicht wirkten plastisch, wirkten als verkörperte Ruhe.
»Sie verstehen es, sich ein Heim zu schaffen und gemütlich zu machen, Frau Holm, jetzt begreife ich Ihre Sehnsucht nach ureigener Umgebung.« Gerda war zu ihr getreten. Ebba zog Gerdas Arm durch den ihren, und beide betraten zusammen das Speisezimmer, während Lotte ihnen folgte. »Ich muß gestehen, ich wäre nicht imstande, mir eine so stilvolle Umgebung zu schaffen, ich habe gar keinen Sinn dafür, ich lebe einzig und allein meiner Kunst.«
»Ich meine, andere glücklich machen ist auch eine Kunst, und das ist das Bereich von Ebba Holm,« erwiderte Lotte.
Ebba lächelte traurig. »Und fand doch nicht Verständnis bei dem einen —«
»Lassen Sie es gut sein, Verständnislose wird es immer geben, das darf Sie nicht mutlos machen. Bewahren Sie sich den Glauben an das Gute im Menschen, erhalten Sie sich Ihre Ideale. Uns modernen Großstadtmenschen sind die Ideale im Kampf des Lebens erstickt worden. Die Gebote der Nächstenliebe werden mit Füßen getreten. Kein Mensch kennt heutzutage mehr als seine eigenen Interessen. Jeder erfüllt nur die Wünsche seines eigenen Selbst. Wir leben im Zeitalter des Egoismus, des Ich-Kultus. Bleiben Sie der ruhende Pol, der den Glauben an die Menschheit nicht verliert.«
[S. 70]
»An meinem Wollen soll es nicht mangeln, aber die Erfahrungen, die uns das Leben bringt! Sie selbst, sind Sie nicht mit geschwellten Segeln hinausgezogen, und waren Sie es nicht gerade, welche meinen Glauben zerstören wollte?«
»Ebba, gerade Sie sind es ja, welche den Glauben an die Menschheit wieder in mir erweckt hat, Sie haben einen Zwiespalt in mir geschaffen. Es kann so schlecht doch nicht um die Menschen beschaffen sein, wenn man Geschöpfen, wie Sie es sind, begegnet.«
»Sie werden überschwänglich, Lotte, aber daß Ihnen das Vertrauen zu den Menschen wiedergekehrt ist, das freut mich herzlich. Doch nun lassen Sie uns bitte von etwas anderem sprechen, bis jetzt ist in unverantwortlicher Weise von mir die Rede gewesen, als Hausfrau muß ich energisch dagegen Einspruch erheben. Schnell, erzählen Sie mir etwas aus der Pension. Was gibt es Neues dort, Fräulein von Wangenheim?«
»Die neueste Attraktion ist ein bleicher, griechischer Jüngling mit großen melancholischen Augen, sämtliche jungen Damen huldigen ihm. Er selbst scheint sich noch nicht schlüssig zu sein, welcher er die Gnade seiner Gunst zuteil werden lassen soll.«
»Und Miß Webb ist wieder auf einer neuen Station angelangt, Baron Reitzenstein, mit welchem sie eine kleine Strecke im Luxuszug zu fahren beliebte, ist zum Aussteigen aufgefordert, und Graf Wietersheim ist eingestiegen,« sprach Lotte.
[S. 71]
»Eine schreckliche Person.« Und Gerda verzog verächtlich die Mundwinkel.
»Was wollen Sie, sie versteht es, sich die Männer nutzbar zu machen, echt amerikanisch! Für sie sind die Männer nur dazu da, um die Launen der Frau zu befriedigen. Sie fordert Luxus, Amüsement und Flirt! Glauben Sie, daß sie auch nur einem einzigen der vielen Verehrer eine Spur von Gefühl entgegenbringt?«
Gerda sah erstaunt auf Lotte. »So glauben Sie wirklich, das alles hat mit Liebe gar nichts zu tun?«
»Nicht das Geringste! Das ist es ja, was ich ihr zum Vorwurf machen möchte. Sie versteht die Kunst, alles zu nehmen und nichts zu geben, alle Hoffnungen zu erwecken, die Sinne zu schüren und bis zu glühender Flamme emporlodern zu lassen und nichts zu erfüllen. Das Spiel einer seelenlosen Kokette.«
»Daraus möchte ich ihr keinen Vorwurf machen. Warum? Wenn die Männer auf solch eine Kokette hereinfallen, geschieht ihnen schon recht, wenn sie genarrt werden. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, übrigens ein Spiel, das mich reizen könnte.«
Ebba und Lotte sahen auf Gerda, in deren Augen eine gewisse Grausamkeit aufblitzte.
»Es könnte Ihnen von nicht geringem Nutzen in Ihrer Laufbahn sein, Fräulein von Wangenheim, wenn Sie es verständen, sich die Leidenschaften der Männer nutzbar zu machen, aber — ich warne Sie — kalt wie Marmor, hart wie Stahl müssen Sie sein, wenn[S. 72] Sie triumphieren wollen. Es ist ein gefährliches Spiel.«
»Lassen Sie das,« sprach Ebba unwillig zu Lotte, »hören Sie nicht darauf,« wandte sie sich dann an Gerda, »überlassen Sie die Koketterie den seelenlosen Puppen, ich nehme an, daß Sie zuviel Gemüt besitzen, um mit der Leidenschaft, sei es auch immer, welche es sei, zu spielen. Gewiß, das Begehren des Mannes geht oft über das Maß des Erlaubten hinaus, an uns ist es, ihn in seine Schranken zu verweisen und sein Begehren zu zügeln, nicht noch zu stacheln durch berechnete Herzlosigkeit.« —
Man war beim Nachtisch angelangt. Sie knabberten Schokolade, aßen kleine Kuchen, und Ebba bot Lotte die Zigaretten an, »Sie rauchen doch auch, Fräulein von Wangenheim?«
Lotte reichte das Feuerzeug hinüber. »Ich kann mir nun mal nicht helfen, den Genuß einer Zigarette möchte ich mir nicht nehmen lassen.«
In kleinen kurzen Wölkchen blies sie den Rauch in die Höhe, dann ergriff sie ihr Glas und sprach grüßend zu Gerda: »Auf Ihre Zukunft, Fräulein von Wangenheim, wann werden Sie an die Öffentlichkeit treten?«
»Nächsten Herbst gedenke ich mein erstes Konzert zu geben.«
»Dann müssen wir tüchtig vorarbeiten. Es ist notwendig, daß Sie mehr hervortreten. Was haben Sie für Beziehungen angeknüpft?«
[S. 73]
»Eigentlich keine. Ich kenne außer unsern Pensionsleuten niemand.«
»Nun, dann müssen wir Sie einführen. Jetzt vor Weihnachten ist nicht mehr viel los, da ist alle Welt mit dem Fest beschäftigt. Aber in den Monaten Januar bis März ist Hochflut in Berlin, da müssen Sie sich in den Strudel stürzen. Versuchen Sie auf Privatfestlichkeiten, auf den jetzt so beliebten Tees, bei denen alle Welt zusammentrifft, zu singen und Interesse zu erregen.«
»Ach, Fräulein Wunsch, ich finde das so entsetzlich! Es liegt mir so gar nicht, die Menschen zu umwerben und zu umschmeicheln. Ich habe immer gemeint, die Kunst allein sollte die Menschen zwingen.«
»Im Grunde tut sie das auch. Aber was nützt Ihnen Ihre Kunst, wenn Sie niemand haben, auf den Sie sie wirken lassen können? Sie müssen bedenken, niemand kennt Sie, weiß etwas von Ihnen. Gerade hier in Berlin tauchen eine Unmenge Künstler auf, die sich berufen fühlen und denen eine jede Berechtigung eines öffentlichen Auftretens abzusprechen ist. Das Publikum ist mißtrauisch geworden und verhält sich ablehnend unbekannten Künstlern gegenüber.«
»Wozu ist dann aber die Kritik da?«
»Gute Kritiken sind allerdings sehr notwendig und beeinflussen Publikum und Agenten, doch volle Häuser schaffen sie Ihnen nicht. Sie müssen doch auch die Kosten eines Konzerts in Berechnung ziehen. Wollen[S. 74] Sie alles aus Ihrer Tasche bezahlen, soll Ihnen durch Verkauf der Billetts nichts zurückfließen? Wollen Sie vor leeren Wänden singen? Mit vornehmer Zurückgezogenheit ist es nicht zu machen, glauben Sie mir, ich meine es gut mit Ihnen.«
»Ich weiß es, Fräulein Wunsch, nur dies alles entspricht so wenig meinem Charakter.«
Lotte zuckte die Achseln und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Unsinn! Sie haben sich doch nun mal diesen Beruf gewählt, haben sogar darum kämpfen müssen mit den Traditionen Ihres Hauses, haben diese überwunden, nun müssen Sie weiter auf selbstgewählter Bahn. Im übrigen denken Sie es sich viel schwieriger, als es in Wirklichkeit ist. Ich glaube sogar, daß man es gerade Ihnen leicht machen wird, sich durchzusetzen, denn bei Ihnen sind die Vorbedingungen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, vorhanden. Sie sind jung, von selbstbewußter vornehmer Haltung. Sie brauchen nur aufzutauchen, und das Interesse ist erweckt.«
»Wie wäre es, wenn Fräulein von Wangenheim auf dem Tee meiner Schwägerin im Januar sänge?«
»Das wollte ich eben vorschlagen, Frau Ebba. Bei Thea Westphal verkehrt ganz Berlin, alles, was sich zur Gesellschaft rechnet, kommt da einmal im Monat zusammen. Eine bessere Gelegenheit, sich in Szene zu setzen, können Sie nicht finden. Und wie ich Frau Thea kenne, wird sie entzückt sein, ihren Gästen einen neuen[S. 75] angehenden Star vorsetzen zu können, für die nötige Stimmungsmache ist sie besonders geeignet.«
»Ich bin Ihnen beiden von Herzen dankbar, es ist mir viel leichter ums Herz, wenn ich Sie zur Seite weiß und auf Ihre Hilfe zählen kann, so allein, ganz allein zwischen wildfremden gleichgültigen Menschen, der Gedanke macht mich ein wenig schaudern.«
* *
*
»Unangemeldet zu Mama zu kommen, Tante Ebba, das ist riesenhaft leichtsinnig von dir. Nun hast du den ganzen Weg umsonst gemacht, Mama ist doch nie zu Hause.«
»Es tut nichts, Inge, dann plaudere ich eben ein bißchen mit dir.«
»Mit mir? Ist dir das nicht langweilig?« Und ein erstaunter Blick flog zu Ebba hinüber.
»Gar nicht langweilig, im Gegenteil, ich denke es mir gerade recht interessant, sich einmal mit dir zu unterhalten.«
Und sich setzend, zog sie Inge auf den nebenstehenden Sessel hernieder. »Du weißt, ich bin fremd hier. Ich will nicht nur die Stadt, ich will auch die Menschen, ihre Art und ihr Wesen kennen lernen. So ein junges Mädchen von heut ist doch beneidenswert. Wieviel Gelegenheit hat sie, sich auszubilden, ihre Fähigkeiten[S. 76] zu entwickeln und einen Beruf zu ergreifen; ihr jungen Großstadtkinder sitzt an der Quelle, braucht nur zuzugreifen, alle Wege stehen bereit. Als ich so alt war wie du, war es noch anders, da waren uns noch die Hände gebunden.«
»Da führte man euch noch am Gängelbande und beschnitt euch die Flügel,« fiel Inge ein. »Ein Glück, daß ich später auf die Welt gekommen bin. Heute fangen doch die Eltern an, vernünftig zu werden und sehen ein, daß auch wir ein Recht auf Freiheit haben und daß man auch schon bei der Jugend mit Charakterveranlagungen zu rechnen hat.«
»So — und welches ist denn nun deine Charakterveranlagung, wenn ich fragen darf?«
Inge sah sie nachdenklich an.
»Du scheinst doch ernsthaft darüber nachgedacht zu haben, folglich mußt du auch über dich selbst im klaren sein.«
»Bin ich auch, und es macht mir auch gar nichts aus, dir meine Veranlagung zu gestehen, denn schließlich ist man ja nicht verantwortlich dafür.«
»Du machst mich aber wirklich neugierig, es scheint ja etwas ganz Gefährliches zu sein.«
»Ich bin veranlagt, Verbrechen zu begehen.«
Ebba lachte hell auf.
»Du lachst. Wenn du wüßtest, wie nahe ich daran war, eine Mörderin zu werden, zweimal, Tante Ebba. Das erstemal war ich neun Jahre alt. Es war in der[S. 77] Schule, wir hatten einen Streit bekommen und schrien aufeinander ein, ich überschrie sie alle, denn ich war im Recht. Unsere Klassenälteste war die einzige, welche sich an unserm Streit nicht beteiligte. Sie stand mir gegenüber und sah mich ruhig an. Plötzlich schnitt sie mir eine höhnende Grimasse und schrie mir zu: ›Pfui, siehst du häßlich aus.‹ Da stürzte ich voller Wut auf sie zu, packte sie an der Kehle und würgte sie, bis ihr der Atem ausging. Wäre die Lehrerin nicht auf das Geschrei der anderen herbeigestürzt, so hätte ich sie erwürgt. Und dann das zweitemal, das war noch viel schlimmer. Da, da wollte ich meine Mutter vergiften.«
Ebba fuhr auf.
»Ja, nun bekommst du doch einen Schreck. Es ist noch gar nicht lange her, vielleicht drei Monate. Ich verliebte mich in einen Oberleutnant, einen himmlischen Menschen, eigentlich ein bißchen zu alt für mich, aber wie es eben trifft, gegen die Liebe kann man nicht an. Er merkte, daß ich in ihn verschossen war, und begann mir Blicke zuzuwerfen, Blicke — ich sage dir, die Augen — ich war ganz futsch. Eines Tages, als ich wieder auf dem Wege war, um ihm zu begegnen — denn ich kannte genau die Stunde seines Ausganges, wenn er mit seinem Freund auf den Bummel ging — was sehe ich da? Meine Mutter mit ›ihm‹ Aug’ in Auge zärtliche Blicke austauschen. Ich stand dicht neben ihnen, sie sahen mich nicht, ich wollte vorstürzen und ihnen entgegenrufen:[S. 78] ›Hier steht die große Tochter‹, ich tat es nicht, denn mein Herz krampfte sich zusammen, und ich konnte keinen Laut hervorbringen. Als ich wieder atmen konnte, waren sie verschwunden. Zu Haus angelangt, nahm ich die Schwefelholzschachtel und schnitt von allen Hölzchen die Köpfe ab, verwahrte sie sorgfältig und tat sie andern Tags der Mutter in den Morgenkaffee und wartete auf ihren Tod. Ich weiß nicht, ob sie den Kaffee getrunken hat, sie starb nicht, du weißt es.«
»Pfui, du hast eine häßliche Seele und bist ein böses Kind.« Empörten Blickes maß Ebba die junge Gestalt. »Schämst du dich nicht?«
»Warum? Kann ich dafür? Damals tat es mir leid, es ist wahr, ich hatte das Gefühl, schlecht und böse gehandelt zu haben. Aber dann las ich über die Veranlagung zum Bösen, daß der Mensch gar nicht schlecht handeln könne, wenn er nicht die Veranlagung dazu in sich trüge. Ich habe zweimal ein Verbrechen begehen wollen — da ich es wollen konnte — lag der Keim in mir — ich war nicht schuld, sondern der, der das Wollen in mich gelegt, trägt die Verantwortung.«
Ebba sprang auf. »Du hast ja nette Ideen in dich aufgenommen. Ich hätte dich doch für verständiger gehalten. Was schwatzest du für einen Unsinn zusammen. Wie ein jeder Mensch die Keime des Bösen in sich trägt, ebenso birgt er auch das Gute in sich. Den Menschen ist die Fähigkeit gegeben, das Böse zu[S. 79] bekämpfen, das Gute zu fördern. Je mehr das Gute überwiegt, desto höher steht der Mensch. Veranlagung nennst du, was verletzte Eitelkeit, was unbeherrschte Wut und Eifersucht ist. Nicht deine kindische Ansicht über deine Charakterveranlagung empört mich, nein, daß du in so unehrerbietiger Weise von deiner Mutter sprichst, das ist es, was mich zornig macht. Wie darfst du das wagen?«
»Ich verstehe dich nicht, Tante, was habe ich denn gesagt? Daß Mama mit dem Oberleutnant geflirtet hat? Mein Gott, du mußt mich doch nicht für so dumm halten, daß ich das nicht merken sollte. Oder glaubst du etwa, es sei nicht wahr?
Tante Ebba, ich glaube, du bist ganz anders als die anderen alle. Du — du findest es wohl schrecklich, wenn man einen Freund hat? Sieh mal, Papa hat doch nie Zeit —«
»Um Gottes willen sei still, schweig, ich kann dich nicht anhören —« Und Ebba preßte die schlanken Hände gegen die Schläfen und stöhnte qualvoll — »wie furchtbar, welch Abgrund.«
»Aber, Tante Ebba, wir sind doch moderne Menschen, wir wissen, daß ein jeder das Recht hat auf Persönlichkeit, daß wir der Veranlagung Rechnung tragen müssen.«
»So höre endlich auf mit deinem dummen Geschwätz. Du hast dir das Hirn angefüllt mit Ideen, die für dich noch unverdaulich sind, du sprichst über Dinge, die —[S. 80] doch wie kann ich dir Vorwürfe machen, nicht du trägst die Schuld — Inge, ich kann es nicht glauben, daß du verdorben bist, es kann nicht sein, bist du doch das Kind meines Bruders. Ich will dir etwas sagen, Inge, komm oft zu mir, besuche mich und erzähle mir all deine Leiden und Freuden, auch von deinen — Liebschaften kannst du mir sprechen, ich werde dir keine Vorwürfe machen, nein, wahrlich nicht, denke, ich sei deine ältere Freundin, ich will versuchen, mich in deinen Gedanken zurechtzufinden, ich will lernen, ›modern‹, wie du es nanntest, zu denken, vielleicht finden wir uns zusammen. Ich habe meinen Bruder, deinen Vater, sehr geliebt und möchte ein Teilchen dieser Liebe auf seine Tochter übertragen. Willst du mir nicht helfen, Inge?«
Bittend sahen die ernsten Augen zu dem jungen Mädchen hinüber, mit sanftem Druck legte sie die zarte, weiße Hand auf ihre Schulter.
»Ich glaube kaum, daß wir uns verstehen werden, Tante. Ich bin ein so durch und durch moderner Mensch und du — verzeihe mir, wenn ich es ausspreche — aber du bist so altmodisch in deinen Ansichten, wie könntest du da Verständnis für mich haben?«
»Wenn du auch ein moderner Mensch bist, so bist du doch mit vierzehn Jahren noch kein ganz fertiger Mensch, wenn du mir auch weit über dein Alter hinaus zu ragen scheinst in mancher Beziehung, so ist doch immer noch die Möglichkeit vorhanden, daß du deine Ansichten änderst oder ergänzt.«
[S. 81]
»Ändern — nie.«
»Nun gut. Du änderst dich nicht, aber es wäre ja möglich, daß ich mich ändern könnte, sieh mal, dein Vater war auch einmal ein ganz unmoderner Mensch, genau so wie ich — und heut — oder ist er auch altmodisch?«
»Papa,« fiel Inge lebhaft ein, »nein, Papa ist ja mein Ideal als Mann. Das heißt zum Heiraten. Er läßt Mama alles tun und machen, was sie will, kümmert sich kaum um sie und mich, denn er hat keine Zeit, da er eine Stellung einnimmt und für uns arbeiten muß. Papa ist ein ganz moderner Ehemann. Du sagst, er hatte auch Ansichten wie du? Das kann ich nicht glauben!«
»Und doch ist es wahr.«
»Wenn du es sagst, muß ich es glauben, denn schwindeln tust du nicht.«
Ebba lächelte. »Du siehst, es wäre also Aussicht, auch mich umzumodeln.«
Inge sah sie ungläubig an. »Bei dir wird es viel schwerer sein, ich glaube, mit dir ist nichts anzufangen nach dieser Richtung. Du scheinst mir zu verbohrt in deine Ideen, aber besuchen kann ich dich ja doch. Es ist ja nicht nötig, daß ich dir alles erzähle, ich werde heraussuchen, was ich für dich passend finde.«
»Du kannst mich ja so nach und nach an alles ›Moderne‹ gewöhnen, vielleicht werde ich noch moderner als du[S. 82] und erwache eines Morgens als Übermensch — das ist ja wohl auch so ein Schlagwort?«
»Längst abgetan, Tante. Wir ganz Modernen wollen gar nicht Übermensch sein, im Gegenteil, wir wollen unsere kleinen Sünden und Schwächen haben, das ›Über‹ verpflichtet zu Stärke, das ist uns zu schwierig.«
»Ah, jetzt fange ich an zu verstehen, wie ihr denkt, und ich möchte dir einen Vorschlag machen. Ich will es versuchen, dich zur Stärke, zur Überwindung deiner Schwächen zu bringen, und du versuchst es, mich wankend zu machen und mich zu den Modernen hinüberzuziehen, wir wollen kämpfen, kämpfen mit offenem Visier, du siehst, ich bin ehrlich; nimmst du den Kampf an, Inge?«
»Ja, Tante Ebba, ich nehme an. Du bist doch ein famoser Mensch, und du gefällst mir, trotzdem du unmodern bist. Noch nie hat Mama oder eine von den andern Müttern so mit mir gesprochen, immer tun sie, als ob wir Kinder wären, und wissen ganz genau, daß wir es nicht sind, nicht sein können. Sie sind nicht ehrlich, nicht offen zu uns. Du kommst und nimmst mich so, wie du mich findest. Du siehst mich als Kind und schiltst mich aus, du siehst mich als denkenden Menschen und sprichst mit mir, wie du mit einem Erwachsenen sprichst, glaube mir, ich bin kein Kind mehr, und ich weiß genau, was ich will, du wirst sehen, ich bleibe fest und verteidige meine Ansichten. Ich freue mich jetzt ordentlich darauf, mit dir zu kämpfen. Eigentlich[S. 83] habe ich mich immer danach gesehnt, mich mit jemand aussprechen zu können. Ich habe wohl meine Freundin Blanka, aber die findet immer alles richtig, was ich sage, und das ist langweilig. Ich brauche sogar jemand, der mir widerspricht, das ist doch viel interessanter, Widerspruch reizt mich und bestärkt mich erst recht in meinem Willen.«
»Nun, habe ich es dir nicht gleich gesagt, daß wir uns schon zusammenfinden werden? Ich glaube, in deinem jungen Herzen ist doch ein Stückchen von der Liebe geborgen, die mein Bruder für mich hegte, und das will ich mir ausgraben, du böses ganz modernes Mädchen du.«
»Ach, Tante, sentimental ist nicht modern.«
»Ich bin ja auch noch nicht modern, ich will es ja erst werden.«
»Ich weiß eigentlich nicht — du — ich komme bald zu dir, kann ich auch mal Blanka mitbringen?«
»Gewiß kannst du das, aber nicht das erstemal, ein bißchen müssen wir uns noch allein aussprechen, und nun bestelle deiner Mutter viele Grüße und sage ihr, daß ich mich recht gut mit ihrer Tochter unterhalten habe.« — — —
Dieses also, dem Sumpf der Großstadt zuschwebende Geschöpf war ihre Nichte, die Tochter ihres Bruders! War es möglich, sie noch zurückzuhalten? Oder war es vielleicht schon zu spät?
[S. 84]
Ebba schauderte.
Hatten der Vater, die Mutter jemals in die Seele ihres Kindes geschaut?
Die Mutter, welche ihr Leben genoß, die sich ledig wähnte ihrer Mutter- und Erzieherpflichten, weil ihr im Kultus ihrer Begehrlichkeiten keine Zeit für die eigene Familie übrigblieb? Oder der Vater, welcher im Herbeischaffen des harten, kalten Geldes vergaß, den Seinen Wärme und Liebe zu spenden? Der zu schwach war, die Zügel zu ergreifen, um ein strenges Regiment zu führen?
Du, Lukas, bist der Schuldige. An dir war es, deinem Weibe Einhalt zu gebieten auf dem Wege, den sie betreten. Du hast sie zur Mutter gemacht, du mußtest auch darauf achten, daß sie ihre Mutterpflichten ausübte.
Arme verwilderte Seele! Wo war die Hand, die dich geleiten sollte? Wo das Mutterherz, das dich liebevoll behütete vor Schlacken und Schmutz, die dein junges Gemüt vergiften mußten?
Unbehütet, ungeleitet griffen deine jungen Hände nach leuchtenden Blüten, nach schillerndem Kraut, welches dir entgegenwucherte. Wahllos fülltest du deine Hände, ohne zu wissen, daß Gift aus den Blüten drang, daß Unkraut deine Hände füllte. Denn dein Weg war voll davon, da der Gärtner, pflichtvergessen, nicht gejätet hatte.
* *
*
[S. 85]
»Weißt du, Tante Ebba, ich habe Papa einmal zu Weihnachten einen Spruch geschenkt: ›Mag draußen die Welt auch ihr Wesen treiben, mein Heim soll meine Ruhestatt bleiben.‹ — Den Spruch, auf schönem Holzbrett gezeichnet, habe ich gekauft und dann fein säuberlich die Buchstaben ausgepinselt. Ich hatte nicht über den Sinn der Worte nachgedacht. Ich fand nur das Brett sehr hübsch aussehend und war sehr ärgerlich, daß Papa, statt es aufzuhängen, es seufzend in seinen Schreibtisch schloß, ich habe nie mehr daran gedacht. Aber heut, hier bei dir kommt mir die Erinnerung an diesen Spruch, und ich verstehe, warum Papa ihn in seine Schublade getan. Tante Ebba, wir haben wohl ein Zuhause, aber wir haben kein Heim.«
»Wie meinst du das, Inge?«
»Daß es bei uns keine Ruhe, keine Gemütlichkeit gibt. Glaubst du denn, daß es möglich sei, mit den Eltern auch nur eine halbe Stunde allein zusammen zu sitzen und zu plaudern? Ausgeschlossen! Entweder es ist Besuch da, oder es klingelt das Telephon, oder Papa, der sich kaum gesetzt hat, springt auf: ›Kinder, ich hab’ ja keine Zeit, mein Gott, ich hätte ja beinah meine Konferenz vergessen.‹ Ich habe das ja alles gar nicht empfunden, aber jetzt, seit ich dich besuche — ach, Tante Ebba, ich wünschte, du wärest nicht zu uns gekommen!«
»Kommst du gern zu mir?«
»In acht Tagen ist es heute das dritte Mal, daß ich[S. 86] bei dir bin, da bedarf es wohl keiner Antwort. Aber ich komme jetzt nicht sobald wieder — nein, ich will nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil — nun ja — weil du etwas in mir erweckt hast — etwas, nach dem ich mich sehne und das ich doch nicht haben kann — und auch nicht haben will — nein, wir sind eben moderne Menschen und brauchen keine Liebe — Gefühlsduselei is Blech —«
Ärgerlich setzte sie ihre Kaffeetasse nieder, griff nach einem Stück Kirschkuchen und häufte sich einen Berg Schlagsahne auf ihren Teller. »Is auch so ’n Lockmittel von dir, Kirschtorte und Schlagsahne. Könnte ich mich tatsächlich totessen. Is schon das vierte Stück, wenn Mama übrigens wüßte, daß ich hier so oft herausflitze, die würde sich wundern.«
»So hast du nicht davon gesprochen, daß du bei mir gewesen bist?«
»Als ich das erstemal hier war, habe ich es erzählt und auch pflichtschuldigst deine Grüße bestellt. Aber sie hörte gar nicht hin. Sie hatte sich gerade in ihrem Klub geärgert, war wieder mal große Uneinigkeit zwischen den Vorstandsdamen, und das müssen wir dann ausbaden. Papa aber freute sich und sagte, ich solle recht oft zu dir gehen.«
»So kümmert sich deine Mutter gar nicht um deine Ausgänge?«
»I bewahre! Dazu hat sie gar keine Zeit. Ist auch[S. 87] sehr klug von ihr, denn ich ließe mich doch nicht kontrollieren. Du vergißt immer, Tante, daß die moderne Erziehung der Jugend die Freiheit nicht beschneidet. Wir sollen lernen, für uns selbst einzustehen.«
»Ich vergesse immer, daß Mutterliebe und Kinderliebe ein überwundener Standpunkt sind.«
»Vielleicht wäre es anders, Tante Ebba, wenn die Mütter so wären, wie du bist.«
»Ja, um des Himmels willen, glaubst du denn wirklich, daß alle Mütter so sind wie — —«
»Wie meine Mutter — sprich es ruhig aus. Ja, das glaube ich, denn ich kenne keine anderen.
Du mußt wissen, Tante, daß keine von all den Müttern als eine Mutter gelten will. Fange doch nur mal mit dem Äußeren an. Immer jung, immer schick, man darf ihnen nie die großen Kinder ansehen, sie machen es uns doch selbst unmöglich, Ehrfurcht vor ihnen zu haben. Ehrfurcht haben vor dem Alter ist eine Beleidigung, denn es gibt kein Alter. Alle sind sie und bleiben sie jung.
Weißt du, ich habe schon oft zu Blanka gesagt, ich verstehe gar nicht, warum die modernen Menschen eigentlich Kinder kriegen, wenn sie ihnen doch so lästig sind. Ich zum Beispiel möchte keine Kinder haben, und schon gar eine Tochter! Niemals!«
»Wenn nun alle so dächten wie du, dann würde ja die Welt entvölkert.«
»Das könnte mir gleich sein, wenn ich nur meine Bequemlichkeit[S. 88] hätte! Aber alle denken ja nicht so, das weiß ich wohl. Du, glaube ich, würdest gern eine Tochter haben.«
»Ich habe stets gewünscht, eine Tochter zu besitzen, aber jetzt —«
»Seit du mich kennst,« fiel Inge lachend ein, »fürchtest du dich. Tantchen mein, weißt du denn nicht, daß deine Tochter nie so sein könnte, wie ich bin, wie Blanka, wie all meine andern Freundinnen es sind? Du, du wärest eben eine wirkliche Mutter, mit Ehrfurcht und Respekt und wie die schönen Dinge alle heißen, ganz, ganz anders. Würdest du in Vereine rennen und zu Hause alles gehen lassen, wie es geht? Würdest du dir mit Herren Rendezvous geben? Würdest du alle vier Wochen zum Friseur laufen und dich auffärben lassen? Na, deine aufgerissenen Augen sprechen Bände. Siehste, wo bleibt da der Respekt, die Ehrfurcht?
Nee, Tante, überwundener Standpunkt. Schwächen haben wir ja alle, unsere Eltern eben auch, schadet nichts, wenn wir Kinder sie kennen, bringt uns ein bißchen in Vorteil. Ein Glück, daß du nicht meine Mutter bist, Tante Ebba.«
»So spricht dein Mund, dein Herz aber denkt anders, Inge.«
»Pah — Herz! Wenn man keins hat, legst du eins in einen hinein. Aber bei mir nich zu machen, ich lasse mich nicht rumkriegen.«
[S. 89]
»Warum willst du nicht zugeben, daß du Gemüt hast?«
»Weil ich keins habe, keins haben will. Und nun will ich machen, daß ich davonkomme, sonst entdeckst du wirklich noch sogenannte gute Eigenschaften an mir.«
»Wirst du bald wiederkommen?«
»Nee, vorläufig nich, is mir zu gefährlich! Du entdeckst Herzen, das is nich mein Fall.«
»Du bist ein mit allerhand krausem Zeug angefüllter Kindskopf, Inge, es ist schade um dich. Aber möglich, daß du recht hast, mit Egoismus und Gefühllosigkeit kommt man vielleicht weiter, bleibe du nur vor allen Dingen modern.«
»Spottest du über mich?«
»Nicht im geringsten, ich versuche es, mich in deine Ideen hineinzufinden.
Daß du nicht sobald wiederkommen willst, tut mir übrigens leid, ich wollte dich gern mit Fräulein Wunsch bekanntmachen.«
»Lotte Wunsch, der Bildhauerin?«
»Eben der!«
»Die ist mir schrecklich interessant, Tante, natürlich komme ich. Klingle mich man an, is ja auch Blödsinn, du kannst in mir nich entdecken, was nich is, und bekehren lasse ich mich nich.«
* *
*
[S. 90]
In dichten weichen Flocken war der Schnee den ganzen Tag über zur Erde gefallen, Häuser, Bäume, Straßenlaternen mit seinem schneeigen Weiß bedeckend. Unaufhaltsam war das Geriesel heruntergestäubt, zum Jubel der Kinder, zur Freude der Erwachsenen, nun hatte man doch einen richtigen Weihnachtsabend.
Berlin im Schnee. Das war etwas Seltenes. Der Verkehr stockte. Die elektrischen Bahnen mußten den Betrieb teilweise einstellen. Die Wagen und Autodroschken wurden bestürmt und konnten sich nur mit Mühe den Weg bahnen durch die dichte weiße Masse.
Die hastigen Großstadtmenschen schimpften, daß sie nicht schnell genug vorwärtskämen, aber dem Schimpfen war ein Unterton beigelegt. Freude und Lust an dem Neuen, Ungewohnten hatten sie alle. Hastig stürmten sie vorwärts, die frische klare Winterluft in tiefen Zügen einatmend.
In der stillen Margaretenstraße stand eine Frau am Fenster und schaute auf die tanzenden und glitzernden Flocken. Unaufhörlich fiel der Schnee voll Gelassenheit und sehr dicht vom Himmel. Eine wunderbare Lautlosigkeit. Wenn ein Windhauch durch die Bäume ging, der die Zweige leicht anblies, rieselte weiße Streu herab. Die einsame Frau öffnete das Fenster, streckte die Hände hinaus, und leicht und locker fielen die glitzernden Sterne hinein. Mehr, immer mehr. Jetzt bildeten sie schon eine dichte Masse, und prickelnde Kühle durchdrang die Haut. Da kam ein Hauch und[S. 91] entführte die schimmernde Pracht. Mit leeren Händen stand sie da. Langsam rollten zwei Tränen über ihre Wangen. Mit ausgestreckten, leeren Händen und weiß nicht, ob das Schicksal gewillt ist, jemals wieder etwas hineinzulegen, was wert ist, festgehalten zu werden.
Von der nahen Matthäikirche läuteten soeben die Glocken den Heiligen Abend ein.
Man feierte das Andenken an die Geburt eines Menschensohnes, der durch seine Liebe zu den Menschen ein Gottessohn geworden.
Liebe! Ihr ganzes Herz war voll davon. Gern wollte sie schenken, in verschwenderischer Fülle ausschütten — aber wo — wohin damit? Wer wollte ihre Liebe? Wer fragte danach?
Es war ein Gefühl von Vereinsamung und grenzenloser Verlassenheit in ihr, wenn sie einen Menschen gewußt hätte, an den sie sich hätte anklammern können, der ihr half, ihrem Leben Inhalt zu geben. Niemand war da, den sie mit der Fülle ihrer Liebe überschütten dürfte, der nach ihr verlangte und dem sie etwas sein konnte, niemand.
»Tante Ebba!«
Sie fuhr herum.
»Inge, du?«
»Tante Ebba, ich wollte dir helfen, den Baum putzen, denn du — du hast doch heute abend Besuch, und weil du heute beim Baumschmücken so allein —« Hastig[S. 92] waren die Worte über ihre Lippen gekommen, jetzt stockte sie und sah unsicher zu Ebba empor.
»Und zu Haus? Wird man dich nicht zu Haus vermissen?«
Inge machte eine wegwerfende Handbewegung. »Merkt kein Mensch, daß ich nicht da bin. Um neun Uhr offizielle Bescherung — um zehn Uhr großes Weihnachtsessen — zwanzig Menschen. Baum habe ich schon am Vormittag geschmückt. Tante — bist du böse, daß ich gekommen bin? Habe ich dich gestört?«
»Böse? Du dummes, dummes Mädchen du, keine größere Freude hättest du mir antun können.« Fest zog sie das junge Mädchen in ihre Arme und drückte einen Kuß auf die frischen kalten Lippen.
»Puh, wie naß du bist! Mein Gott, du bist der reine Sturzbach. Bist wohl ohne Schirm gegangen?«
»Natürlich, was denkst du! Schnee, da geht man drunter weg, is doch fein. Hab’ mich draußen schon geschüttelt wie so’n nasser Köter, na, etwas bleibt schon hängen, macht nichts, alter Mantel, aber nun laß uns rasch den Baum schmücken, denn ein bißchen möchte ich gern still mit dir darunter sitzen. Ich möchte mal eine richtige stille und gemütliche Weihnachtsstunde haben.«
»Zum Baumschmücken kommst du zu spät, Inge. Auch mein Bäumchen steht schon schmuckbeladen und harrt nur noch, daß ich ihn im Kerzenschimmer erstrahlen lasse. Laß es dich nicht verdrießen, um so länger können[S. 93] wir bei seinem Schein zusammensitzen. Denn jetzt werden wir zwei zusammen das Weihnachtsfest feiern. Rasch, trage deine nassen Sachen hinaus, inzwischen werde ich für dich die Lichter entzünden, für dich ganz allein, Inge, du sollst deinen Weihnachtsabend haben hier bei mir.« — — —
Ebba und Inge standen sich unter dem im Silberschmuck und Kerzenschein schimmernden Baum gegenüber. Einen großen Strauß Christrosen hielt Inge der Tante entgegen. Strahlend schauten die jungen Augen zu ihr empor.
»Das ist alles, was ich dir geben kann, Tante Ebba. Diese schönen, ernsten und stillen Blüten sind meine Weihnachtsgabe für dich.«
»Viel, viel mehr gibst du mir mit diesen Blüten, Inge. Ich war allein, mutterseelenallein, ich fühlte mich so einsam und verlassen und sehnte mich nach ein bißchen Liebe. Ich sehnte mich nach einem warmen fühlenden Herzen, da tratest du in das Zimmer, — Inge, schenkst du mir mit diesen Blüten nicht auch ein wenig Liebe?«
Da umschlangen zwei weiche Arme ihren Hals, und eine zarte Wange schmiegte sich an die ihre, und zwei junge Lippen flüsterten:
»Ich wußte, daß du einsam sein würdest, und darum kam ich. Und es sieht doch beinahe so aus, als ob du mich erwartet hättest. All die schönen Bücher sind für mich? Der Kamm, du, der ist ja echt Schildpatt, soll[S. 94] ich den wirklich haben? Mama hat ja nicht mal nen echten! Nein, du bist zu lieb, Tante, mich so zu beschenken!«
»Kind, ich habe ja niemand sonst, den ich beschenken kann.«
»Aber Tante Ebba, da fällt mir ein, ich habe ja doch noch etwas für dich, das hätte ich beinahe vergessen! Steckt noch in meiner Manteltasche, warte einen Augenblick.«
Hastig lief sie aus dem Zimmer, um sogleich wieder mit einem in feuchtes Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand zurückzukehren.
»Du schaust verwundert. Ja, vertrauenerweckend sieht das ja nun gerade nicht aus. Zum Unglück ist das Papier auch noch feucht geworden, und die ganze Chose wird wohl ziemlich feucht geworden sein.«
»Das tut nichts, Inge. Wenn nur der Inhalt nicht verdorben ist.«
Inge sah übermütig zur Tante empor. »Ich hab’ ein bißchen Angst, es fühlt sich ganz weich an und war doch ganz hart. Und weißt du, es war auch gar nicht meine Absicht, es dir zu schenken. Es kam ganz zufällig. An der Potsdamer Brücke brüllt mich so ’n kleiner Knirps an: ›Freileinchen, koofen Se mir mein letztes Herz ab, tun Se’s doch, denn kann ick bei Muttan jehn, sehn Se, so scheen rot, und een Herz kann doch jeder brauchen und bloß zehn Fennje.‹
»Na, du weißt ja, für Herzen habe ich nun gerade[S. 95] nichts übrig, aber der arme Bengel tat mir leid, und das Herz leuchtete mir so herrlich entgegen, und ich dachte, wenn ich auch keins gebrauche, so könnte ich es dir doch mitbringen. Ich zog also meine Börse und gab dem Jungen fünfzig Pfennig dafür. Der Mund blieb ihm vor Staunen offen stehen, seine Stupsnase ragte in die Luft, dann stieß er ein Indianergeheul aus, drückte mir das eingewickelte Herz in die Hand, schwenkte seinen Korb und lief wie besessen davon.«
Inge hatte das nasse Papier entfernt und hielt in ihren Händen ein mit rotem Zucker übergossenes Herz, auf dem die schönen Worte prangten: Ich liebe dich.
»Willst du es haben, Tante Ebba? Aber sieh, es ist wirklich ganz weich geworden, ich glaube, wir müssen es erst trocknen, damit es sich wieder verhärtet.«
Lächelnd nahm Ebba das Herz und legte es behutsam auf einen Bogen Seidenpapier. »Unter meinen Händen soll es sich wieder härten, bliebe es bei dir und hätte keine Pflege, würde es sich ganz verhärten, könnte Risse und scharfe Kanten bekommen, so daß es Gefahr liefe, in Stücke zu springen. Ich will es hüten und pflegen, wenn du es mir lassen willst.«
»Natürlich will ich es dir lassen, denn ich — ich weiß ja doch nichts damit anzufangen.« Und lachend wirbelte sie Ebba im Zimmer umher, dann plötzlich einhaltend: »Nun aber setzen wir uns ganz still unter den Baum und schauen in den Kerzenschimmer.«
Lange saßen sie schweigend Hand in Hand, dann[S. 96] flüsterten die jungen Lippen: »Wenn du meine Mutter wärest!«
»Ich will es sein, Inge.«
»Darf ich Mutter zu dir sagen?«
Schweigend nickte Ebba. Sprechen konnte sie nicht, denn ein Schluchzen saß ihr in der Kehle. Ihr wochenlanges Bemühen ward von Erfolg gekrönt. Es war ihr gelungen, diese junge Seele von Schmutz und Schlacken zu befreien, den Kern, der von Häßlichem überwuchert, an die Oberfläche zu bringen. Nun lag dieses junge Herz in ihren Händen, an ihr war es, es zu hüten und zu pflegen, es zu bewahren vor schlechten Einflüssen.
Eine junge Seele hatte sich ihr zu eigen gegeben, ein Mensch war da, der sie brauchte, dem sie etwas sein konnte.
Weihnachten, das Geburtsfest der Liebe, es spendete ihr der Gaben schönste, es gab und forderte Liebe. —
»Jeder Mensch trägt sein Schicksal in sich.«
»So glauben Sie an eine Vorbestimmung?«
»Nicht in dem Sinne des Sichbeugens. Unser Schicksal ist uns vorgezeichnet, es zu erfüllen — die Mittel und Wege dazu sind uns anheimgegeben. Wir lenken unser Schicksal auf Grund unserer Charakterbildung. Wir selbst sind verantwortlich für unser Leben.«
[S. 97]
»Eine schwere Verantwortung wäre uns da aufgebürdet, Herr Gehring, und nicht viele würden bestehen.«
»Schwer wohl nur in dem Sinne, daß man sich seiner Verantwortung nicht bewußt wäre.«
»Ich empfinde umgekehrt! Das Bewußtsein meiner eigenen Verantwortlichkeit könnte mich zu Boden drücken.«
»Sie sagen wohlweislich: Könnte, Fräulein Wunsch, eine Natur wie die Ihrige kämpft mit dem Leben und zwingt das Schicksal.«
Lottes Augen flammten auf. »Sie haben recht, ich habe gekämpft, und ich werde weiter kämpfen. Ich werde das Schicksal zwingen nach meinem Willen, bin ich verantwortlich, so könnte man mich auch zur Verantwortung ziehen, etwas versäumt zu haben. Das darf nicht sein. Ich selbst bin mein Schicksal — Sie haben recht, Gehring.«
»Nein, nein, sagen Sie das nicht! Ich selbst sollte verantwortlich sein für mein verpfuschtes Leben? Das wäre eine Vorstellung, die mich zu Tode peinigen könnte.« Und Ebbas zarte weiße Hand strich nervös über die Stirn.
»Gnädige Frau, Sie sprechen von einem verpfuschten Leben und stehen erst im Anfang Ihres bewußten Lebensweges. Wie können Sie wissen, ob nicht gerade dies, das Sie verpfuscht nennen, für Ihr weiteres Leben notwendig war, ob nicht gerade dies Sie auf den Pfad gebracht hat, der zum Zweck und Ziel Ihres Lebens[S. 98] Ihnen bestimmt ist. Wenn man so jung ist wie Sie, darf man nicht von einem verfehlten oder verpfuschten Leben sprechen. Ihr Leben zu erfüllen steht Ihnen noch bevor. Warten Sie noch zwanzig Jahre, und dann überschauen Sie Ihren Lebensweg. Vielleicht empfinden Sie dann, daß Ihnen der Kampf mit Leid und Schmerzen zum Segen geworden und daß Sie keinen dieser Leidenstage aus Ihrem Leben streichen möchten, denn aus diesem Leid erwuchs Ihnen vielleicht, was Ihr Leben reich und glücklich machte. Hören Sie folgende Verse von Lulu von Strauß und Torney:
[S. 99]
»Das ist schön gesagt, und ich danke Ihnen. Zweimal bin ich heute am Heiligen Abend wirklich beschenkt worden. Vor wenigen Stunden schenkte sich mir ein Kinderherz, um das ich ehrlich und eindringlich geworben, und jetzt zeigen Sie mir den Weg, mir meine Schmerzenstage nutzbar zu machen. Das allein schon braucht mich nicht gereuen zu lassen, daß ich mein Lebensschifflein nach hier, nach der großen kalten Weltstadt Berlin gelenkt habe.«
»Fingen Sie schon an zu bereuen, Ebba?«
»Ja, Lotte. Sie wissen, den Anschluß an meine Familie konnte ich nicht finden. Die Menschen sind gleichgültig und egoistisch, und alles um mich herum stößt mich ab. Ich werde nie recht heimisch werden können?«
»Und wir? Haben Sie nicht uns?«
»Daß ich Sie, Lotte, und auch Sie, Herr Gehring, gefunden habe und Sie zu meinen Freunden rechnen darf, das läßt mich an meinen glücklichen Stern glauben. Und nun lassen Sie mich danken, Ihnen beiden danken, daß Sie gekommen sind, mit mir den Weihnachtsabend zu verleben und mich mein Alleinsein vergessen zu machen.«
Sie hob das bis zum Rand mit dem perlenden Sekt gefüllte Glas und stieß an die ihr entgegengehaltenen Kelche. Schweigend tranken sie den edlen Saft.
»Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen mehr Dank schulde? Mich, den einsamen Junggesellen, dulden Sie hier in[S. 100] der Sphäre Ihres heimischen Herdes und schaffen mir einen rechten und wahren Weihnachtsabend.«
»Na, und ich erst! Glauben Sie, es wäre mir gemütlich gewesen, die offizielle Feier in der Pension mitzumachen oder allein in meinem Zimmer am Kamin zu hocken und meinen Punsch zu schlürfen? Oder in meinem Atelier den weißen Marmorstatuen zuzutrinken? Also, nach reiflicher Überlegung — nicht wahr, Gehring — nicht Sie — sondern wir haben zu danken.«
»Lotte, als ob Sie es nicht auch verständen, es gemütlich zu machen.«
»Das schon. Gewiß, wir haben oft nette und trauliche Stunden auch bei mir gehabt. Aber Weihnachten — Weihnachten sollte man immer im gemütlichen Heim, nicht im Pensionszimmer, nicht im Restaurant verbringen. Weihnachten ist ein Familienfest und sollte nur in der Familie oder in ganz intimem kleinem Kreis gefeiert werden.«
»So denke ich auch. Und doch, ist es nicht sonderbar, Familien, die still und glücklich dieses herrliche Fest in dem Kreise der Ihrigen verbringen können, laden sich fremde Menschen ein oder gehen gar zu einem üppigen Weihnachtsessen in ein feines Weinrestaurant. Wir, die wir keine Familie haben, tun uns zusammen und suchen uns gegenseitig das Familienglück zu ersetzen.«
»Ja, es geht wunderbar zu in der Welt. Das ist ja vielfach das Mißgeschick unseres Lebens, daß wir nie[S. 101] das, was wir besitzen, richtig einschätzen, nie das Glück mit Bewußtsein uns zur Seite sehen, es immer erst erkennen, wenn es uns verlassen will.«
Friedvoll und ruhig brannten die Kerzen. Der Geruch von Wachs und Tanne schwebte im Zimmer. Schweigend saßen die drei und schauten auf das durch die ausstrahlende Wärme leise zitternde silberne Engelshaar. Der Geruch und die flimmernden Flämmchen spannen sie ein. Sie waren entrückt und saßen in einer Sphäre vollkommener Weltabgeschiedenheit. Gehrings Blicke ruhten auf Lotte. Ihr klares offenes Gesicht, in welchem die großen forschenden Augen die herrschende Stellung einnahmen, hatte sie nachdenklich in die auf den Armstuhl gestützte Rechte gelegt. Ihre Augen waren sehr ausdrucksvoll. Zuweilen blitzte ein gütiger, oft ein zorniger Strahl darin auf. Die Reife der Lebensanschauung gaben ihrem Gesicht etwas überaus Anziehendes.
Sie schien die Blicke Gehrings zu fühlen. Ruhig erhob sie den Blick, schaute und sah ihm geradeswegs in die Augen. Und ein Strom gewaltiger Freude durchzitterte ihr Herz und schwoll zum gewaltigen Meer. Ihr lange umkrampftes Herz konnte sich wieder dehnen, die Kette war ihr von den Gliedern gefallen, wie ein Feuer, wie eine Gewitterwolke erhob die Liebe sich.
Fest wurzelten die Blicke ineinander. Groß und dunkel glänzten ihm die Augen entgegen, und sie strahlten und flammten, als bräche ein sprühendes, geheimes[S. 102] Innenleben unaufhaltsam aus ihnen hervor. Und sein Blut kam in Wallung. Oft schon hatte er diese Frau getroffen, und noch nie war sie ihm begehrenswert erschienen. Ihre Klugheit und Lebenserfahrung hatte er geschätzt, stets war es ihm ein Vergnügen gewesen, mit ihr eine Unterhaltung zu pflegen, und oft waren sie sich im Meinungsaustausch begegnet. Aber nie, niemals war ein Funke aufgesprungen, aus dem hätte ein Feuer entstehen können. Und heut? Heut war er da, dieser Funke, es schien, als bedürfe es nur eines leisen Anhauches, und er wollte aufglimmen und anschwellen zu lodernder Flamme. Was war geschehen?
Und die Blicke wurzelten ineinander, und seine Lippen flüsterten in die Stille hinein: »Was haben Sie?«
»Den Willen zum Glück.«
Und die Augen ließen voneinander.
Ebba war zusammengezuckt und sprach: »Das sagen Sie so laut, Lotte? Ich denke, vom Glücklichsein träumt man nur!«
»Nein, ich will nicht nur träumen, ich will es erjagen und will es halten, fest, ganz fest, und wäre es auch nur ein ganz, ganz kleines Weilchen — das Glück.«
* *
*
Lotte hatte angestrengt den ganzen Vormittag gearbeitet. Jetzt legte sie die Modellierstäbchen zur Seite,[S. 103] griff zu den nassen Tüchern und umhüllte ihr Werk. Ermüdet warf sie sich in einen tiefen Sessel und gab sich der Ruhe hin. Ach, es tat so wohl, den Nerven eine kurze Schonung zu gönnen.
Rasch war sie mit ihrem Werk vorangekommen. Damals, als der Gedanke in ihr aufsprang, hatte sie in kurzer Zeit die Skizzen entworfen, und jetzt war sie daran, ihr Werk auszuführen. Sie fühlte, wie mit jedem Tag die Arbeit sie mehr und mehr befriedigte, wie sie hineinwuchs in ihr Werk. Wie Gestalten und Gedanken sich ihr entgegendrängten, um festgehalten zu werden, und wie es wuchs, gigantisch, groß, weit über das, was sie gewollt, hinaus. Sie war sich ihres Talentes bewußt, die Anerkennung ihres Könnens berechtigte sie, daran zu glauben. Aber dies — dies konnte sie noch emporwachsen lassen, dies konnte etwas werden, was auf die Knie zwang.
Sie fröstelte. Das Feuer im Ofen war heruntergebrannt. Im Eifer der Arbeit hatte sie vergessen, Kohlen aufzuschütten. Oben auf den Dächern lag die klare, strahlende Wintersonne. Ihre tief unten gelegenen Fenster hatten keinen Anteil daran.
Sonne! Wer dich halten könnte und sich in deine Strahlen hüllen dürfte. War es ein unbilliges Verlangen, im Sommer des Lebens sich zu sehnen nach weichen, warmen Sonnenstrahlen?
Sie schloß die Augen. Und nun war sie eingehüllt in weiche, warme Strahlen, und aus den Strahlen[S. 104] leuchteten ihr liebeverlangend zwei Augen entgegen, zwei Arme umfingen sie zärtlich und nahmen sie sanft an ein liebeheischendes Herz.
Da sprang sie auf, reckte die Arme empor und jubelte: »Ach du, ach du, kommst du dennoch?«
Nicht dem Herbst entgegengehen müssen, ohne den Frühling und Sommer genossen zu haben!
Wird es kommen, das Glück? Ihr Weibesglück? — — Sie hatten sich nicht wiedergesehen seit dem Weihnachtsabend. Schweigend waren sie durch die stille, weiße Weihnachtsnacht gegangen. Einmal war er stehengeblieben und hatte gesagt: »Heut sehe ich Sie anders als sonst, Fräulein Wunsch.« »Ich weiß es.« Und er hatte ihr die Hand entgegengestreckt: »Geben Sie mir die Hand und lassen Sie uns wie Kinder nach Hause gehen.« — Nach Hause — und Hand in Hand, schweigend, waren sie durch die Nacht gegangen.
Und sie wußte nun, daß sie ihn liebte, liebte mit all der aufgespeicherten Zärtlichkeit, mit dem nach Liebe und Glück verlangenden Herzen.
»Ach du, ach du, liebst du mich?«
Wer die Spannkraft des Wünschens und festen Wollens hat, der hat die Erfüllung schon in sich. Es ist in dem Menschen oft eine Intensivität des Wollens und Wünschens, der das Schicksal meist nicht widerstehen kann.
Das Blut rauschte ihr in den Ohren, es war noch jung, dieses Blut, noch so unverbraucht! Und so voller Sehnsucht und Glückshunger! Schaffen ist Schöpferfreude.[S. 105] Zur Freude gehört die Liebe. Ein einziger Mensch muß das Echo der Welt sein. Ein einziger Mensch, der nur ihr gehörte!
* *
*
»Bitte, meine gnädige Frau, wer ist diese vornehme, auffallend schöne Erscheinung dort am Kamin?«
Der junge Gardeleutnant stand, das Monokel im Auge, vor Thea Westphal.
»Das ist ein aufgehender Stern an unserm Konzerthimmel, mein lieber Herr von Zedlitz, eine angehende Konzertsängerin. Wird heut bei mir ihr erstes kleines Debüt haben. Ich bin überzeugt, sie wird Karriere machen.«
»Mit dieser Erscheinung ohne Zweifel.«
»Mit dieser Bemerkung dürften sie sich bei der Dame nicht gut einführen, Herr von Zedlitz. Sie scheinen nicht zu wissen, daß Künstler ihre Karriere nur ihrer Kunst zu verdanken wünschen — wenigstens offiziell.«
»Pardon, Gnädigste, ich bin zwar gänzlich unmusikalisch, nichtsdestoweniger zweifle ich keinen Augenblick, daß das Talent der Dame der äußeren Erscheinung entspricht. Einfach fabelhaft. Und der Name, wenn ich bitten darf?«
»Gerda von Wangenheim.«
»Wangenheim? Mein Vater kannte einen Oberstleutnant[S. 106] von Wangenheim in einem ostpreußischen Nest, dicht an der russischen Grenze. Könnte —«
»Kann wohl stimmen. Ihr Vater ist Oberstleutnant, und sie kommt aus Ostpreußen.«
Er pfiff leise durch die Zähne. »Feudale alte Familie. Und Sie sagten, sie geht zur Bühne?«
»Sie will Konzertsängerin werden.«
»Nun, jedenfalls Sängerin von Beruf. Darf ich Sie bitten, mich der Dame vorzustellen?«
Gerda, die, von einem Kreis von Herren umgeben, lässig am Kamin stand, neigte flüchtig das blonde Haupt, als Thea ihr den jungen Zedlitz zuführte.
Thea war stehengeblieben. Die Gegenüberstellung dieser beiden Frauengestalten wirkte als Folie und gegenseitige Unterstreichung. Die pikante, prickelnde und soubrettenhafte Schönheit Theas machte die kühle und vornehme Atmosphäre Gerdas noch wirkungsvoller. Winkelmann, der neben Gerda am Kamin lehnte, ließ seine Blicke zwischen den beiden Frauengestalten wandern. Er, der Frauenkenner, stellte sich vor eine Wahl. Bei dieser — Pikanterie, toller Leichtsinn, lockende Genußsucht. Bei jener — kühle Gelassenheit, Eiseskälte, die Feuerströme decken konnte. Ihn reizten Berge von Eis und Schnee, durch die er seinen Weg finden wollte, um Glut und Leidenschaft anzufachen zu siedender Flamme.
Thea sah prüfend auf Gerda. Wie modern war sie heute gekleidet. Ein mattblaues Chiffonkleid, auf[S. 107] veilchenfarbener Seide gearbeitet, umspannte eng den schlanken Körper. Die goldfarbenen Haare, welche kein Hut verdeckte, waren leicht gewellt und am Hinterkopf lose von einem Kamm gehalten. Kein Schmuck beeinträchtigte die zarte, opalfarbene Haut. Ihr Gesicht, welches für gewöhnlich blaß, war heute übergossen von einem zarten rosa Hauch, ein Zeichen der Erregung, hervorgerufen durch ihr erstes öffentliches Singen.
Winkelmann sah sie an und flüsterte: »Haben Sie Lampenfieber?«
»Bitte, sprechen Sie nicht davon.«
Lotte Wunsch näherte sich der Gruppe.
»Ah, da ist ja unsere große Bildhauerin! Gnädiges Fräulein, man erzählt sich Wunderdinge von einem furchtbaren Scheusal, welches Sie jetzt unter den Händen haben. Bitte, verraten Sie uns Ihr neuestes Werk.«
»Fällt mir gar nicht ein. Ich liebe es nicht, von meinen Arbeiten zu sprechen, ehe sie vollendet sind. Weiß ich doch nicht, ob ich sie vollenden werde. Ob nicht Umstände oder Geschehnisse oder auch Unvermögen mich hindern, mein Werk zu Ende zu führen.«
»Aber etwas ganz scheußlich Fratzenhaftes soll es doch sein,« beharrte ein schlanker, grünbleich aussehender Jüngling.
»Ich möchte nur wissen, wo in aller Welt Sie zu einem solchen Scheusal die Modelle hernehmen. Denn[S. 108] ein Modell kann wohl nicht alle Scheußlichkeiten in sich vereinen.«
»Da mögen Sie wohl recht haben! Und was das Hernehmen betrifft, so finden sich diese Modelle unter uns, ich brauche wirklich nicht viel zu suchen.«
Der grünbleiche Jüngling riß die müden, schwarz umrandeten Augen auf und stammelte erschreckt: »Scheusäler unter uns? Wie müssen Ihnen die Menschen erscheinen! Ich beneide Sie nicht um Ihr Sehen, gnädiges Fräulein.«
»Ich sehe eben durch die Maske hindurch. Doch lassen wir das!« und sich zu Gerda wendend: »Sie sind erregt, Fräulein von Wangenheim. Bedürfen Sie der Ruhe? Kommen Sie, ruhen Sie ein wenig, ehe Sie singen werden. Ich kenne den Zustand des ersten öffentlichen Auftretens, wenn auch auf andere Art.«
Dankbar sah Gerda auf sie, legte ihren Arm auf den ihren und ließ sich hinausbegleiten.
Lotte führte sie in das kleine Empfangszimmer der Hausfrau, das einsam und verlassen war, brachte ihr das Notenheft und sagte:
»So, nun schauen Sie in Ihre Noten und denken Sie an nichts anderes als an Ihre Musik. In einer halben Stunde komme ich und hole Sie.«
Als sie die Tür zum großen Empfangszimmer erreicht hatte, trat ihr Gehring und Ebba Holm entgegen.
»Endlich finden wir Sie, Lotte. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich schon zu Inge hinübergeflüchtet wäre,[S. 109] wenn Herr Gehring sich nicht meiner angenommen hätte. All die fremden Menschen um mich herum verursachen mir wahrhaftig Schrecken. Wie kann man nur an derartigen Veranstaltungen Vergnügen finden. Das ist mir ganz unbegreiflich.«
»Meine liebe Frau Ebba, Sie gehen von einem ganz falschen Gesichtspunkt aus, wenn Sie meinen, die Leutchen kommen nur zum Vergnügen zusammen. Diese Veranstaltungen sind Zweck-Vergnügungen, jeder dieser Gäste kommt mit einer bestimmten Absicht oder zu einem bestimmten Zweck hierher.«
»Erlauben Sie mal, Fräulein Wunsch, Sie sagten: Jeder!« unterbrach Gehring.
»Natürlich, ein paar Ausnahmen sind wohl darunter,« lachte sie ihm mit aufleuchtendem Blick entgegen. »Ich für mein Teil bin auch nicht ohne Absicht hier. Sie wissen, wir wollen Fräulein von Wangenheim einführen und für ihr Konzert vorarbeiten. Sie sehen, ein guter Zweck.«
»Das kann ich so unbedingt nicht glauben.«
»Ist es nicht immer gut, zu helfen?«
»Nein. Man kann einem Menschen oft mehr Gutes tun, wenn man ihm nicht hilft.«
Lotte sah nachdenklich vor sich hin. »Sie mögen recht haben, Gehring. Doch hier hoffe ich gut zu tun, wenn ich helfe die Wege ebnen.«
»Wer ist der Herr, den meine Schwägerin eben so liebenswürdig begrüßt, Lotte? Ein interessanter Kopf.[S. 110] Schauen Sie die grauen Haare und die lebhaft blitzenden jugendlichen Augen.«
»Da haben Sie gleich einen Magnet, der so manche Sterne, große und kleine, hierhergezogen hat. Ihr Zweck ist es, sich ihm in den Weg zu stellen, von ihm beachtet zu werden und, wenn irgend möglich, eine kleine Attacke auf sein noch immer jugendliches Herz zu vollführen. Es ist einer unserer ersten Theaterkritiker.«
»Und die Wirkung?«
Lotte lachte. »Je nachdem. Aber was die Kritiken anbelangt, so bleibt die beabsichtigte Wirkung allerdings aus. Er läßt sich in seinem Urteil nicht durch girrende Blicke beeinflussen. Und dort, jener schlanke Mann, mit den nervösen Gesichtszügen, den graumelierten Haaren, ist ein Musikkritiker. Es ist gut, daß er gekommen ist, vielleicht schneidet Fräulein von Wangenheim gut ab und er wird aufmerksam auf sie.«
»Und die Dame, die mit ihm gekommen ist? Sie scheint mir weniger schön als auffallend graziös in ihren Bewegungen.«
»Das ist eine unserer modernen Tänzerinnen. Ein wunderbar schmiegsamer Körper. Die müssen Sie einmal tanzen sehen, Frau Ebba.«
»Und nun schauen Sie dorthin, gnädige Frau,« wandte sich Gehring an Ebba, »so stempelt man sich zur Tragödin, wenn man noch keine ist. Wie gefällt Ihnen dieses Gesicht?«
[S. 111]
»Widerlich! Mein Gott, wie kann man so aussehen. Verlebt, welk und müde! Und mir scheint, alles gekünstelt, maskenhaft.«
»Für wie alt halten Sie die Person?«
»Es will mir scheinen, als sei sie jung — sie sieht aber aus wie eine Frau von vierzig, fünfzig Jahren.«
»Sie ist achtzehn Jahre alt! Eine Theaterschülerin, die eben die Reinhardtschule durchgemacht hat und sich durch ihr Aussehen interessant machen will. Was ihr ja auch tatsächlich gelingt. Durch ihr bleich gepudertes Gesicht, durch ihr künstlich gemachtes, verlebtes Aussehen fällt sie überall auf. Wenn man sich auch voll Abscheu von ihr wendet, das ist ihr gleichgültig, sie wird bekannt dadurch, ihre Absicht ist erreicht. Sie sehen, auf welche Art man berühmt werden kann!«
»Und hat sie ein Engagement gefunden?«
»Nein, bisher nicht. Das ist ihr auch nicht die Hauptsache. Sie will nur als Schauspielerin gelten und will sich interessant machen.«
Ebba schüttelte den Kopf. »Wo hat meine Schwägerin nur all die Menschen her?«
»Wer hier in der Gesellschaft lebt, ein großes Haus macht, zu dem kommt alles ins Haus geflogen,« sagte Lotte.
»Ja, alles, gnädige Frau. Gesichtet wird nicht. Wenn nur die Außenseite gut gefirnißt und blank poliert ist, ins Innere hinein, da schaut man nicht. Was wollen Sie auch? Es ist doch nur die Interessensphäre, die[S. 112] diese Menschen zusammenbringt. Ganz unabhängig von Sympathie und Antipathie,« sagte Gehring.
Ebba seufzte. »Ich glaube, ich werde an dieser Art zu leben nie Gefallen finden.«
»Das sollen Sie auch nicht, Frau Ebba,« fuhr Lotte erregt auf. »Sie wurzeln so ganz in einem andern Erdreich, und ich meine, Sie haben so gut Wurzel gefaßt, daß es niemand, weder Menschen noch Schicksal, gelingen wird, Sie zu entwurzeln.«
»Begnügen Sie sich mit der Rolle des Zuschauers und bleiben Sie abseits, gnädige Frau.«
»Abseits von jenen, die, nur dem eigenen Ich huldigend, rücksichtslose Interessenmenschen werden, Ebba.«
»Aber Ebba, dazu bist du doch nicht hergekommen, um dich hier in eine Ecke zu verkriechen mit deinen getreuen Zwei, du sollst Menschen kennen lernen.« Und Thea Westphal trat zu den drei Plaudernden.
»Ich habe eine Scheu vor all den fremden Menschen, Thea.«
»Unsinn, das gibt sich, glaube mir, du kannst interessante Menschen kennen lernen, wichtige Beziehungen anknüpfen. Auf meinen Festen hat so manche Künstlerin ihren Direktor gefunden, hat so mancher Schriftsteller Interesse für seine Arbeiten erregt.«
»Haben sich so viele Fäden von Herz zu Herz gesponnen, Frau Westphal.«
»Auch dies ist der Fall, Fräulein Wunsch, ohne die Liebe kein Leben! Aber nun kommen Sie, meine Herrschaften,[S. 113] mischen Sie sich unter die Gesellschaft, dich, Ebba, muß ich mit unserer Präsidentin bekannt machen, ich habe ihr von dir und deinen Ansichten erzählt. Sie brennt darauf, dich kennen zu lernen. Sie wird natürlich versuchen, dich einzufangen. Du bist ja wie geschaffen, für das Familienleben Propaganda zu machen.«
Sie nahm Ebba unter den Arm und drängte mit ihr durch die Menge.
Lotte und Gehring waren stehengeblieben.
»Das wirbelt nun so durchs Leben.«
»Was wollen Sie, Gehring? Die Begierde nach Gold und Genuß, welche diese Menschen beherrscht, hat sie in einen Taumel versetzt, der Sitte, Moral und Pflichtgefühl untergräbt. Wer einmal in diesen Strudel geraten ist, dem wird es schwer, sich daraus zu befreien.«
»Und Sie, Fräulein Wunsch, Sie waren und sind zum Teil ja noch mitten drin in diesem Wirbeltanz. Ist es Ihnen schwer geworden, sich daraus zu befreien?«
»Ich bin abseits geblieben. Ich habe zu früh gelernt, durch die Menschen hindurchzuschauen. Und dann hatte ich auch meine Kunst. Wer es mit der Kunst ernst meint, der hat viel zu arbeiten.«
»Sie sind ein ernster Mensch.«
»Ich stecke nun mal in einer Haut, aus der ich nicht heraus kann und auch gar nicht heraus will. Mir graut, wenn ich daran denke, ich könnte so geworden sein wie Thea Westphal.«
[S. 114]
»Und eine Frau wie Sie konnte das Glück nicht finden?«
Sie wurden während ihres Gesprächs durch neu hereintretende Gäste seitwärts gedrängt und standen jetzt in einer Fensternische sich gegenüber. Gehring sah fragend auf Lotte.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte nicht den Mut, daran zu glauben.«
»Haben Sie nie einen Mann geliebt, Lotte?«
»Nie.« Herb kam es von ihren Lippen. Dann kam ein sanftes Rot auf ihre Wangen. Mit aufleuchtendem Blick preßte sie die Hand aufs Herz und sagte leise und innig: »Jetzt habe ich den Mut gefunden.«
»Frauen wie Sie können beglücken und finden ihr Glück darin.«
Das Fünkchen war entfacht und leckte empor, züngelte und flammte, knisterte und glühte und wurde Flamme, rotglühende lodernde Flamme. Und wieder senkten sich die Augen ineinander und hielten sich fest und sprachen von Liebe und Glück.
Immer deutlicher sprachen die Augen.
»Wie jung du noch bist!« flüsterten die Lippen des Mannes.
Da lösten sich ihre Blicke von den seinen, und ein Zittern erfaßte den Körper des Weibes. Eine Scheu, eine grenzenlose Angst stieg in ihr auf. Nicht sehen jetzt, Herr Gott, gib eine Binde mir über die Augen! Nicht sehen bei diesem die weißglühende Flamme der[S. 115] Begierde. Und sie schloß die Augen. Da fühlte sie zwei Lippen auf ihrer Stirn, sanft wie ein Hauch. Scheu, fast ehrfurchtsvoll streifte sie sein Mund. Und sie wußte, diese Liebe war nicht von jener Art. Da öffnete sie die Augen, sah auf den Mann und umhüllte ihn mit grenzenloser, hingebender Liebe. — —
Die Klänge eines Chopinschen Walzers klangen zu ihnen hinüber. Lotte fuhr empor. Gerda von Wangenheim! Sie sollte nach dem Pianisten singen. Sie mußte sie holen.
»Ich hole Fräulein von Wangenheim,« flüsterte sie Gehring zu.
Er schaute ihr nach. War es möglich? Konnte die Liebe den Menschen so verwandeln, oder war er wirklich nur gedankenlos an Lotte Wunsch vorübergegangen? Sie, die Kluge, die Gedankenvolle hatte nie vermocht, ihm einen Anreiz zur Liebe zu geben. Und auch sie selbst. Nie hatte sie ihm etwas anderes als Freundschaft entgegengebracht. Am Weihnachtsabend hatte er entdeckt, daß sie ihn liebte. Sie, die Kühle, der nüchterne Verstandesmensch brachte ihm Liebe entgegen. Was hatte sie zusammengebracht und ihre Liebe auflodern lassen? Liebte er sie denn? Oder war nur ihr Altern, verbunden mit der jugendlichen Frische ihres Gemütes und der erwachenden Liebe, ein pikanter Anreiz für ihn? Er wehrte den Gedanken von sich. Nein, das war keine Frau, die man liebte und dann beiseite schob. Kein Spiel, keine Leidenschaft. Wenn man sie begehrte,[S. 116] so liebte man sie auch. Rein und wahrhaftig als liebenswertes Weib, als Gattin und Mutter. Ja, aus diesem Holz wurden die Mütter geschnitzt. Dies war keine Frau, die man mit den Sinnen begehrte, dieser Frau brachte man das Herz, brachte man Achtung entgegen. —
»Kommen Sie, sie wird jetzt singen. Ich möchte sie sehen und hören, was man über sie spricht.« Ein wenig blaß und erregt stand sie vor ihm. —
Das Lied war zu Ende. Rauschender Beifall erklang, umprasselte die sich dankend Verneigende.
»Herrliches Geschöpf!« »Ein entzückendes Weib.« »Donnerwetter, das ist eine Erscheinung!« »Wie fanden Sie den Gesang?« »Gesang? Weiß ich nicht, habe nur auf die Erscheinung gesehen.« »Still doch, sie singt noch einmal.«
Und Gerda sang, und wieder umfing sie begeistertes Händeklatschen. Die Herren umringten sie und überschütteten sie mit Schmeicheleien. Ruhig und kühl stand sie inmitten der Schar. Ruhig und kühl von außen, aber mit dem Rot der Erregung auf den Wangen und mit einer wallenden Glut im Herzen. Also doch. Sie war eine Gottbegnadete, sie war eine Künstlerin. Ihr Gesang hatte gewirkt. Mein Gott, war das ein Gefühl, umbrandet von Beifallsrauschen, Worte der Anerkennung und Blicke der Bewunderung zu hören und zu sehen.
Thea Westphal stürzte auf sie zu und drückte ihr die[S. 117] Hände. Sie war überglücklich, sie ›entdeckt‹ zu haben. »Ich bitte Sie, meine Herren, vergessen Sie nicht, in meinem Hause hat diese gottbegnadete Künstlerin das erstemal gesungen. Und nun kommen Sie, Fräulein von Wangenheim, ich werde Sie mit unserm gefürchteten Musikkritiker bekannt machen.«
Der Kritiker sah lächelnd auf Gerda. »Gnädiges Fräulein, Sie haben viel Beifall gehabt. Wenn ich Ihnen raten darf, so vergessen Sie aber über dem Beifall nicht, noch recht fleißig zu studieren.«
Ein kalter Strahl war auf sie herniedergefahren, sang sie für einen oder sang sie für die Menge? Die Menge hatte ihr zugejubelt. Einer hatte ihr gesagt: Du bist noch am Anfang deines Könnens. Einer gegen viele. Aber dieser eine wog die hundert auf, denn er war der Kenner, und was er sagte, galt. Er hatte es nur zu ihr gesagt. Sagte er es laut, so sagten die hundert wie er.
»Gnädiges Fräulein, einfach gottvoll haben Sie gesungen. Ich bin noch ganz hin. Mein Gott, diese Stimme! Sie werden bald zu den ganz Großen gezählt werden.« Und Herr von Reitzenstein legte die Hand aufs Herz und sah Gerda bewundernd an.
Sie seufzte. »Ach, das kann noch lange dauern.«
»Aber, gnädiges Fräulein, so mutlos nach diesem Erfolg? Was verlangen Sie denn noch mehr? Mehr als die Handschuhe zerklatschen und Ihnen sein Herz zu Füßen legen, mehr kann man doch nicht tun.« Und[S. 118] er zeigte ihr seine Hände mit den geplatzten Handschuhnähten.
Sie lächelte. »Nein, wahrhaftig, mehr verlange ich auch nicht. Ihnen habe ich ein gut Teil meines Erfolges zu verdanken, wie mir scheint.«
Er wehrte ab. »Wenn gnädiges Fräulein nicht so entzückend gesungen hätten und so blendend aussehen würden, hätte ich wohl schwerlich die andern mit fortgerissen.«
»Fräulein von Wangenheim, endlich kann ich mich zu Ihnen hindurchdrängen.« Und Lotte Wunsch streckte ihr die Hand entgegen. »Gut haben Sie Ihre Sache gemacht. Und tapfer haben Sie die erste Angst bekämpft. Ich wurde etwas ängstlich, als Sie anfingen und Ihre Stimme so stark vibrierte. Aber Sie haben sich durchgesungen.«
»Sie glauben also, daß ich zufrieden sein kann?«
»Na, erlauben Sie mal. Sie haben sich hier in diesem großen Kreis gut eingeführt, haben Beifall geerntet, und da fragen Sie noch, ob Sie zufrieden sein können? Man ist aufmerksam auf Sie geworden, man ist vorbereitet, Sie im Konzertsaal zu hören, man erwartet etwas von Ihnen; daß Sie nicht enttäuschen, das ist Ihre Sache, Kind.«
Kurt Winkelmann, der sich abseits der Gerda umgebenden Gruppe gehalten hatte, gesellte sich zu ihnen. Ohne Gerda von Wangenheim zu beachten, trat er zu Lotte Wunsch und unterhielt sich mit ihr. Gerda, aufgestachelt[S. 119] durch die sie umgebenden Huldigungen, wandte sich ihm zu und sprach hochmütigen Tones: »Sie, Herr Winkelmann, sind der einzige, welcher nichts über meinen Gesang zu sagen weiß.«
Ein kleines, mokantes Lächeln ging über seine Züge. »Ich liebe es nicht, mit der Masse zu gehen, gnädiges Fräulein. Ihr erstes Auftreten hat einen viel zu tiefen Eindruck auf mich gemacht, als daß ich imstande wäre, Ihnen mit ein paar banalen Redensarten aufzuwarten.«
Der Hochmut und die spöttische Überlegenheit wichen aus ihren Mienen. Welcher Ton! Hatte sie ihm dennoch Unrecht getan? War er wirklich tieferer Eindrücke fähig? Und ihr Gesang sollte das zu Wege gebracht haben? Da hätte sie ja die erwartete Wirkung. Sie sah ihm voll in die Augen. Dann hielt sie ihm die Rechte entgegen und erwiderte: »Diese Worte sagen mir mehr als all die Komplimente.«
Kühl und gelassen verbeugte er sich, berührte mit seinen Lippen die ihm entgegengestreckte Hand und fragte: »Ist es Ihnen unangenehm, wenn ich den heutigen Gesellschaftsabend in Ihrer Pension besuche?«
»Unangenehm, mir? Wie kommen Sie darauf?« Und wieder schlich sich der Hochmut auf ihre Züge.
»Ich glaube bemerkt zu haben, daß Sie, gnädiges Fräulein, mir eine gewisse Antipathie entgegenbringen.«
»Sie täuschen sich, Herr Winkelmann, dazu liegen doch wohl zu wenig Berührungspunkte zwischen uns.«
[S. 120]
Er biß sich auf die Lippen. »Verzeihen gnädiges Fräulein meine Anmaßung.«
»Gnädiges Fräulein, Sie machen doch auch mit? Wir sind schon eine große Gesellschaft beisammen, Sie müssen auch dabei sein, unbedingt!«
Herr von Reitzenstein war zu Gerda getreten.
»Wobei denn, was soll ich mitmachen?«
»Das Kostümfest der Kunstschule. Ein herrliches, ungezwungenes Fest. Da kann man seiner Laune so ganz die Zügel schießen lassen.«
»Vorausgesetzt, daß man die passende Partnerin dazu findet, Herr von Reitzenstein,« wandte Lotte ein.
»Findet man immer, gnädiges Fräulein. Auswahl zur Genüge.«
»Wählerisch scheinen Sie gerade nicht zu sein.«
»Sie irren, meine Gnädige. Aber man hat eben die Wahl. Das sagt alles.«
»Sie mögen recht haben. Sagen Sie zu, Fräulein von Wangenheim, ich nehme Sie in meinen Schutz. Sie müssen so ein Künstlerfest einmal mitmachen. Allerdings ist in meinen Augen immerhin eine Gefahr damit verbunden. Diese Berliner Kostümfeste können zweierlei Wirkung haben. Entweder sie verwirren die Begriffe, oder aber, sie festigen den Charakter.«
»Na, erlauben Sie mal, verfehlter Zweck eines Kostümfestes. Amüsieren, amüsieren und noch einmal amüsieren — das allein soll die Wirkung sein und ist es auch, wenigstens für uns gewöhnliche Sterbliche. Solche[S. 121] Künstlernaturen, wie unsere große Bildhauerin, mögen ja wohl mit anderen Augen schauen. Schäumender Übermut, prickelnde Lebensfreude, so ist auf mich die Wirkung. Leben und genießen.«
»Mir scheint, Sie huldigen diesem Wahlspruch auch außerhalb der Kostümfeste, Herr von Reitzenstein.«
»Na ob, gnädiges Fräulein. Man ist doch nur einmal jung. Wenn ich erst ein oller Tapergreis bin, bleibt mir ja doch nichts weiter als die Erinnerung.«
»Wenn Ihnen Ihre Erinnerungen von nichts anderem zu erzählen wissen als von Genuß und schäumendem Übermut, so können Sie mir leid tun.«
»Das Schicksal meint es gut mit mir, Fräulein Wunsch. Bis jetzt bin ich immer auf der heiteren Seite des Lebens gewandelt, aber glauben Sie mir, wenn es mal anders kommen sollte, so werde ich schon fest stehen und werde beweisen, daß man trotz Liebe zum Genuß auch imstande ist, etwas zu leisten.«
»Wenn Sie bis dahin nicht schon zu verweichlicht sind.«
»Das bleibt erst abzuwarten.«
* *
*
Um Lotte Wunsch glühten und knisterten Flammen. Eingehüllt in eine Feuerwolke ging sie umher. Er war gekommen und hatte sie in seine Arme genommen. Still, mit großen Augen, hatte sie zu ihm emporgeblickt.[S. 122] Da schlossen seine Lippen die forschenden Augen. Es kam wie eine leise, leise Wonne das Bewußtsein des Erwachens aus einem bösen Traum über sie. Sie war unterjocht, bedrückt gewesen von diesem Häßlichen und Starren. Es war in ihren Augen, in ihren Ohren gewesen und hatte ihre Gedanken vergiftet. Und das Häßliche sank ohnmächtig in stille Tiefen, und empor stieg die Flamme der reinen stillen Liebe. Er hielt sie fest in seinen Armen und küßte ihren Mund. Oh, diese glühende Gewalt. All ihr Denken und Fühlen verwehte in diesem Brande. Der Gedanke der Hingabe an diesen Mann, den sie liebte, dem sie sich zu eigen gab, machte sie glückselig. Das war die Erfüllung ihres Weibtums.
* *
*
»Lotte, ist es möglich, kann mit dem Kleid auch der Mensch sich wandeln? Sie stellen eine Feuerwolke dar und scheinen es auch zu sein. Kostüm und Laune scheinen eins zu sein. Wählten Sie das Kleid zur Stimmung oder kam Ihnen die Stimmung im Kleide? Mir scheint, es brennt um Sie her.«
»Es brennt, es brennt, Frau Ebba, heiß und lichterloh.«
»Woher kam der Wind, das Feuer zu entfachen?«
Lachend fiel Lotte der Freundin um den Hals. »Aus den Falten des Kleides.«
[S. 123]
»Das ist nicht wahr. Das Feuer ist in Ihnen und durchleuchtet Ihr Kleid. Doch nun stehen Sie einen Augenblick ganz still, damit ich mir das Kunstwerk genau betrachten kann.«
Und Lotte stand in der Mitte ihres Zimmers und ließ sich bewundern. Brandrote geschlitzte Seide fiel flatternd und spielend in der Bewegung wie eine Flamme über ein gleichfarbenes Unterkleid. Die dunklen Haare fielen leichtgelockt bis auf die Schultern. Über die Stirn hatte sie eine Korallenschnur gelegt, deren Ende am Hinterkopf zusammengeknotet über Nacken und Rücken liefen, um auf den Brüsten in zwei Rubinsteinen zu enden. Die Seide bauschte und wirbelte und brachte Unruhe.
»Nun?«
»Ich will Ihnen etwas sagen, Lotte. Wenn Sie mir dies Kostüm vorher beschrieben hätten, würde ich Ihnen gesagt haben, Sie passen nicht hinein. Heut kann ich Ihnen nur sagen, Sie hätten nichts Passenderes und Kleidsameres wählen können.«
»Das finde auch ich,« sagte Fräulein von Wangenheim, die soeben eintrat.
Die beiden sahen ihr entgegen.
»Wie eine Königin sehen Sie aus, Fräulein von Wangenheim.«
»Für heut wollen Sie ja wohl auch eine vorstellen, wie mir scheint. Das Kleid der Königin der Nacht soll es doch sein?«
[S. 124]
»An eine Königin habe ich weniger gedacht. Ich will nur einen Stern vorstellen.«
»Flimmernd und gleißend in unerreichbarer Höhe,« fiel ihr Lotte ins Wort. »Aber ein bißchen königlich sehen Sie doch aus, trotz des kurzen Rockes.«
Gerdas schlanke Figur war von einem schwarzen, mit silbernen Sternen bestickten Chiffonkleid umgeben, das ganz aus Volants bestand.
Aus der stark markierten Taille tauchten Schultern und Arme kühl und weiß aus diesem Chiffongewirr hervor. In den goldroten Haaren funkelte und zitterte ein einzelner Stern.
»So, meine Damen, nun muß ich Sie bitten, ehe wir gehen, mit mir dieser Flasche den Hals zu brechen. Sie müssen ein bißchen in Stimmung kommen und dazu ist ein Glas Wein das beste Mittel.«
Lotte hatte die bereitgestellte Flasche entkorkt und goß den Wein in die Kelche.
»Sie sind wirklich in Karnevalstimmung, Lotte.«
»Vergessen Sie nicht, daß ich Künstlerblut in den Adern habe, Ebba.
Trinken Sie, Fräulein von Wangenheim, Sie sehen wirklich nicht aus, als ob Sie zu einem Ball gehen wollten.«
»Ich muß Ihnen gestehen, daß mir etwas unbehaglich zumute ist. Wenn dies auch nicht das erste Maskenfest ist, welches ich besuche, so habe ich doch einen Schrecken vor all den fremden Menschen, die unter der[S. 125] Maske verborgen sind. Bei uns war man doch stets in seinem Kreise, fremde Elemente konnten nicht eindringen — aber hier — man kann nicht wissen, mit wem der Zufall einen zusammenführt.«
Lotte lachte. »Sie sind Künstlerin, Sie brauchen die Menschen und fürchten sich vor ihnen?«
»Ja, ich scheue mich, mit ihnen in Berührung zu kommen.«
»Ihnen steckt der Aristokrat im Blut. Sie werden in Ihrer Laufbahn harte Kämpfe bestehen müssen, oder aber — — — trinken Sie, Frau Ebba, auch Ihnen würde ein wenig Farbe kleidsam sein. Sie sehen beide noch viel zu blaß aus.«
Ebba, im Gewand einer Griechin, lehnte das Haupt zurück, trank und sagte: »Auch ich liebe solche Massenfeste nicht und trotzdem besuche ich sie ab und zu gern einmal, um mich an den gut gekleideten Menschen, an dem künstlerischen Rahmen, an dem ganzen Bild, das solche Feste bieten, zu erfreuen. Ich käme nicht auf den Gedanken mitzutollen, mitzumachen, nein, ich genieße als Zuschauerin.«
»Ich bin Zuschauerin, oft Durchschauerin, und mache auch mit, wenn es mir paßt und ich mir zusagende Menschen finde.« Und Lotte schenkte noch einmal die Gläser voll. »Doch nun ist es Zeit, nehmen Sie Ihre Masken zur Hand und schalten wir uns ein mit dem letzten Schluck zum fröhlichen Genießen.« — — —
[S. 126]
Eine heiße schwere Luft schlägt ihnen entgegen, als sie den Saal betreten. Die Lampen sind mit orangefarbenen Schleiern verhängt und verbreiten ein mattopalisierendes Licht. Seide, Sammet und Spitzen rauschen und flattern in sinnverwirrenden Farben vorüber. Ketten und Spangen klirren. Perlengehänge und Steine funkeln und gleißen. Und aus all dem Gewirr tauchen Arme, weiß und kühl, locken blühende Schultern und feurig atmende Brüste. Eine Gruppe, sich an den Händen haltend, wirbelt durch den Saal, zerrt bald nach rechts, bald nach links. Sie eilen auf die drei Frauen zu und nehmen sie mit Hallo in ihre Mitte. Und nun geht der Spektakel los. Unter Johlen und Jauchzen vollführen sie einen Indianertanz um ihre Opfer. Gerda steht atemlos und klammert sich an Lotte. »Mein Gott, was sind das für Menschen!« Lotte lacht. »Junge, übermütige Künstler. Passen Sie auf, gleich werden wir aufgegriffen werden und auseinandergewirbelt.« Ein wilder Freudensprung, begleitet von ohrenzerreißendem Aufschrei, macht Gerda zusammenzucken. Dann fühlt sie sich um die Taille genommen und wie toll umhergewirbelt. Sie wehrt sich und versucht sich aus den sie haltenden Armen zu befreien. »Ich mag das nicht,« stößt sie hervor. Aus einem braungeschminkten bärtigen Männerantlitz funkeln ihr nachtschwarze, feurige Augen entgegen, und heiße Lippen lachen: »Mummenschanz, schlanke Maske!« Und fester umspannen sie die starken Arme, und sie muß[S. 127] tanzen, tanzen. »Laß mich in deinem kühlen Licht gesunden, holder Stern. Wisse, heiße Glut tobt mir in den Adern, ich brauche milde Strahlen, um diese Glut zu dämpfen. Sei du mein Stern in dieser Nacht.« Er hat aufgehört zu tanzen. Mit einem Ruck reißt sie sich los. Ihre Augen sprühen ihn an. »Ich liebe dergleichen Scherze nicht.« »Gnädigste sollten nur Hoffestlichkeiten besuchen.« Er verbeugt sich tief und geht von dannen. Zwei schlanke Rattenfänger umkreisen sie und suchen sie im Charakter ihrer Rollen zu locken. Sie achtet nicht darauf. Unruhig sucht sie das feuerfarbene Gewand zu erspähen oder der Griechin sich nähern zu können. Fortgewirbelt waren auch sie.
»So einsam, schöne Königin?«
»Ich bin keine Königin.«
»In meinen Augen bist du es. Gestattest du, daß ich dich führe?«
Und der zierliche Ritter verneigt sich und bietet ihr den Arm.
Gerda atmet auf. Wirklich ein Ritter! Sie neigt das Haupt und legt ihren Arm in den seinen. — —
»Ich weiß, wer du bist, du flackerndes Feuer du! Ich weiß, wer du bist.«
Junge starke Arme haben auch Lotte umschlungen und von ihren Gefährtinnen getrennt.
Sie lacht leise und schüttelt den Kopf.
»Gib deine Hand,« und er zeichnet ihren Namen in ihre Hand.
[S. 128]
Wieder verneint sie.
»Und doch bist du es, scheinst du auch heut anders.« Sie versucht zu entschlüpfen, er hascht die rote Seide. »Du wirst dich verbrennen.«
»Tut nichts. Wunden, die man schlägt, muß man auch heilen.«
»Das kann man nicht immer.«
»Ha, jetzt hast du dich verraten! Lotte Wunsch, Lotte Wunsch!«
Sie hatte mit ihrer natürlichen Stimme gesprochen, hatte vergessen, ihre Stimme zu verstellen. Sie eilt davon. Er hinter ihr her. Sie rennt lachend im Übermut durch den Saal, drängt und stößt die Menschen auseinander, daß alles hinter ihr her schreit. Aufatmend bleibt sie endlich stehen. Da sieht sie an der Tür gegenüber eine dunkle schlanke Gestalt suchend in den Saal spähen. Sie eilt hinüber und fliegt dem schlanken Manne um den Hals.
»Da hast du mich, da bin ich.«
»Lotte, was bist du für ein tolles Kind. Und das nennst du Verstecken spielen? Du wolltest dich suchen lassen, und kaum, daß du mich siehst, fliegst du mir entgegen.«
»Ach du, wie kann ich denn!« Sie reißt sich die Maske vom Gesicht und sieht ihn mit ihren klaren, ernsten Augen an. »Als ich dich sah, da wollte ich eben bei dir sein, alles andere ist ja so gleichgültig.«
[S. 129]
»Lotte, ich wußte nicht, daß du so ungestüm sein kannst.«
Er nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und sieht sie an. »Wie schön du heute aussiehst.«
Sie erglüht unter seinem Blick.
»Hast du mich gesucht?«
»Auf der Suche nach dir fand ich Frau Ebba. Wir haben uns schon mit Winkelmann und einigen Bekannten zusammengefunden.«
Sie hing sich in seinen Arm. »Du, Paul, wenn sie nun hellsichtig sind und merken, wie es zwischen uns steht?«
»Wäre das so schlimm?«
»Schlimm, nein. Aber du weißt, ehe ich nicht mein großes Werk vollendet, möchte ich unsere Verlobung nicht bekanntgeben. Es würden gesellschaftliche Verpflichtungen entstehen die mich von meiner Arbeit abhielten. Auch ist eine lange Verlobung nicht in deinem Sinne. Folglich müssen wir noch Masken tragen.«
»Das wird mir schwer fallen. Ich habe kein Talent zum Komödiespielen.«
»Nun, heute unter dem Schutz der Maskenfreiheit darfst du schon ein wenig aus der Rolle fallen.«
»Hallo, Gehring, Sie laufen ja an uns vorüber — hier, hier sitzen wir!«
Gehring und Lotte traten an den Tisch.
»Ah, Sie haben das Feuer eingefangen, hoffentlich haben Sie sich nicht die Finger daran verbrannt.«
[S. 130]
»Die Finger nicht, wohl aber das Herz.«
»Kann also gefährlich werden?«
»Vielleicht.«
Winkelmann war aufgestanden und bot Lotte seinen Stuhl.
»Gnädiges Fräulein, so sollten Sie immer aussehen.«
»Ich kann doch nicht alle Tage brennen und als Flamme umherlaufen.«
»Ich meine nicht das Kleid, Fräulein Wunsch, Sie wissen es wohl.
Es ist etwas in Ihrem Gesicht, in Ihrem Wesen — was das ist und woher das kommt — das kann ich noch nicht feststellen — ich muß Sie erst daraufhin beobachten.«
»Das lassen Sie lieber bleiben,« lachte sie ihn an, »lohnt sich nicht der Mühe. Ich bin eben in Karnevalsstimmung, morgen ist alles wieder grau.«
»Das wäre schade. Wenn Sie wüßten, wie —«
»viel jünger Sie erscheinen,« vollendet sie.
»Das wollte ich nun nicht gerade sagen.«
»Sie dachten es aber und wollten es nur anders ausdrücken.«
»Man ist immer nur so alt, als man sich fühlt, das wissen Sie doch.«
»Dann scheine ich heute nicht nur jung, sondern bin es wirklich.«
Sie reckt sich in die Höhe und wirft einen liebkosenden Blick zu Gehring hinüber.
[S. 131]
Winkelmann sah den Blick und lächelt. Er nimmt sein Glas in die Hand, beugt sich zu ihr und sagt: »Auf daß Ihre Jugend lange währe.«
»Nun, was sagen Sie zu dem Leben hier, gnädige Frau?« wandte sich Gehring zu Ebba.
Ebba saß neben dem braunen, bärtigen Antlitz, dem Manne, der Gerda in den Saal gewirbelt hatte, Arno Stürmer, einem der bekanntesten Maler. Er hatte sich angelegentlich mit Ebba unterhalten und ihr die Namen anwesender bekannter Persönlichkeiten genannt. Sie hatten einen Tisch gewählt, an dem alles, was in den großen Tanzsaal drängte, an ihnen vorüberfluten mußte. War der Türrahmen nicht von Herumstehenden gefüllt, so konnten sie auch einen großen Teil des Saales übersehen.
»Das Bild als solches finde ich berauschend schön. Der geschmackvoll dekorierte Saal, das gedämpfte Licht und die wogende buntfarbene Menge geben unbedingt Fest- und Freudestimmung. Bis jetzt habe ich das Bild als Ganzes auf mich wirken lassen, nun bin ich daran, es zu zergliedern. Ich habe noch nie so wundervolle Kostüme gesehen.«
»Ja, dafür sind Sie auch auf einem Künstlerfest,« versetzte der Maler. »Sehen Sie diese Inderin, gnädige Frau, das ganze Kostüm ist echt. Und wie wundervoll sie die Haut getönt hat. Es ist die Frau eines bekannten Bildhauers. Und dort den entzückend aussehenden italienischen Strauchdieb mit den melancholischen, bettelnden[S. 132] Augen. Ja, die Künstler verstehen es, sich in die Haut, die sie für den Abend gewählt haben, hineinzuschmiegen.«
»Das liegt wohl daran, weil sie wissen, was für ihre Eigenart passend ist.«
»Es ist eben der Künstlerblick,« warf Gehring dazwischen.
Die zwei Rattenfänger waren in die Tür getreten und näherten sich flötend dem Tisch.
»Macht, daß ihr fortkommt, ihr Verführer. Könnte euch passen, unsere Liebsten zu locken.« Der Maler wetterte ihnen entgegen.
Die beiden spielten, lockten und umkreisten den Tisch.
Es waren zwei schlanke jugendliche Gestalten, die eine blond, die andere schwarz. Die eine das Urbild der germanischen Rasse, die andere von pikantem Reiz erinnerte an Bilder altjüdischer Frauen. Der Maler war aufgesprungen und haschte nach ihnen. Er bekam die Blonde zu fassen und umschlang sie. »Loskaufen, du Lockvogel,« und er versuchte, sie zu küssen.
Sie zappelte und wehrte sich. Da eilte die Schwarze zur Hilfe und kitzelte ihn mit ihrer langen Hutfeder. Da war das Zappeln an ihm. Die Blonde entwischte seinen Armen, und beide hänselten ihn mit ihren Federn. Die ganze Tischgesellschaft lachte und hatte ihre Freude an seinen Krümmungen und Sprüngen.
Endlich rief Gehring ihnen zu: »Genug, Jungens, schließt Frieden und gibt ihn frei. Kommt an unsern[S. 133] Tisch und trinkt mit uns, aber laßt unsere Frauen in Ruh, das will ich euch geraten haben. Sonst bekommt ihr es auch mit mir zu tun.«
»Hu,« schrien die Rattenfänger, »was für Angst wir haben! Unsere Waffe wird ja auch bei dir ihre Dienste tun.« Und sie hielten ihm die Feder unter die Nase.
Ebba hob die Hand. »Laßt es gut sein, kommt und plaudert.« Und sie setzten sich zu ihnen.
»Das werdet ihr mir noch büßen müssen, ihr Racker,« grollte der Maler. Er stürzte ein Glas Wein hinunter. Seine Augen blieben auf Lotte haften. »Du großes Feuer, komm, tanz’ mit mir.« Er war aufgestanden und zu Lotte getreten. Sie zögerte. »Na, zum Stillsitzen sind wir doch nicht hergekommen. Hier tollt man sich aus. Wer genug getollt hat, mag sich setzen, ich fange erst an, komm.« Sie war aufgestanden, er umfaßte sie und tanzte mit ihr in den Saal hinein.
»Lottes durchgeistigte feine Züge neben diesem Urbild der Kraft zu sehen, ist reizvoll,« sagte Ebba. »Wenn die beiden einen Kampf miteinander zu bestehen hätten, wer würde siegen? Brutalität oder Geist?«
»Wie kommen Sie auf den Gedanken, Frau Ebba?«
»Ich muß bei Männern von ausgesprochenem Despotismus immer an Kampf und Auflehnung denken.«
»So lieben Sie den Mann als Herrn nicht?«
Sie sah ihn an. »Glaubten Sie das?«
»In Ihnen, Frau Ebba, steckt soviel echte Weiblichkeit, ein so großes Gefühl des Sichanschmiegenmüssens,[S. 134] daß man annehmen sollte, Sie würden so empfinden.«
»Es ist doch sonderbar, daß es so wenig Männer gibt, die Mann und Frau als nicht gleichberechtigt betrachten können. Die den Mann als Krone der Schöpfung immer über das Weib stellen, zu dem wir anbetend emporschauen sollen.«
»Sie irren, Frau Ebba. Wir Männer wissen, daß wir die Frau von heut mit anderen Augen betrachten müssen, als die Frau von vor dreißig Jahren. Die Frauen haben gezeigt, was sie zu leisten imstande sind, sie haben sich Berufe geschaffen und erobert. Sie haben gezeigt, daß sie imstande sind, auf eigenen Füßen im Leben zu stehen. Sie haben sich eine Bildung angeeignet, die vollwertig der des Mannes ist. Heut ist die Frau die Kameradin des Mannes geworden. Und doch — trotzalledem wird die Kameradschaft zwischen Mann und Frau in die Brüche gehen — allemal — wenn die Frau nicht zum Manne emporblicken kann. Ich glaube, auch Sie empfinden so, Frau Ebba. — Jede echte Frau muß meines Erachtens nach so empfinden — und in diesem Sinne bitte ich meine Worte von vorhin zu deuten.«
Ebba sagte nachdenklich: »In dem Sinne haben Sie allerdings recht. Ich würde es auch für beide Teile als ein großes Unglück betrachten, wenn die Frau in irgendeiner Weise sich höherstehend als den Mann betrachten müßte.«
[S. 135]
»Ergo — holde Griechin — er soll dein Herr sein.«
Sie lachte. »Unsinn! Aber schauen Sie, da kommt Fräulein von Wangenheim. Wer mag der schlanke Ritter sein, mit dem sie wandelt?«
Gerda war mit ihrem Begleiter an den Tisch getreten.
»Die Sternenkönigin,« begrüßte sie Winkelmann.
»Und Sie ein Mönch?? Man muß gestehen, Sie haben wirklich eine Maske gewählt.«
»Keine Maske, meine Königin. Ein neuer Mensch steht vor dir. Einer, der in sich gegangen. Der den Versuchen dieser Welt entsagt hat.«
»Und wenn ich einen Versuch machen wollte?«
»Du wolltest?«
»Um dich Lügen zu strafen.«
»Bist du deiner Macht so sicher?«
Sie wurde einer Antwort enthoben, atemlos kam Lotte an den Tisch gestürzt, der Maler hinter ihr her.
»Er gibt mich nicht frei, rettet mich.« Sie sank auf Gehrings Stuhl, der aufgesprungen war.
Der Maler versuchte sie wieder emporzuziehen.
»Ich kann nicht mehr, du Ungeheuer. Willst du, daß ich mich zu Tode tanze?«
»In meinen Armen zu Tode getanzt — da hättest du einen schönen Tod gefunden.«
»Ich danke. Ich würde doch einen anderen Tod vorziehen.«
Des Malers Augen fielen auf Gerda. »Ah, da ist ja[S. 136] die Gnädige, und wie mir scheint, die passende Gesellschaft ist auch gefunden.«
Durch die Tür drängte sich jetzt eine Gruppe spielender Kinder. Frauen in Hängekleidchen, Wadenstrümpfen und Babyhauben. Ein paar junge Herren in Matrosenanzügen. Ein alter, dicker Herr als Kinderfrau jagte die Gesellschaft vor sich her, schlug und neckte die kleinen Mädchen. Eine ›Kleine‹ in weißen Spitzenröckchen mit hellblauen Wadenstrümpfen, einem Häubchen auf dem blonden Lockenkopf, hängte sich dem Alten um den Hals und bettelte: »Nicht böse sein, Tinnerfrau. Ich dans artig bin.« Und der Alte schmatzte einen Kuß auf die jugendlich rosenrot gemalte Wange.
»Ist das nicht der Gipfel der Geschmacklosigkeit?« höhnte der Maler. »Glauben die Damen wirklich dadurch jugendlich zu wirken? Ich taxiere keines dieser Kinder unter dreißig Jahre alt. Wie finden Sie die Maskerade, gnädige Frau,« wandte er sich an Ebba. Die hörte ihn nicht. Blaß, mit großen, entsetzten Augen saß sie da und starrte auf die Gruppe. Ihre Hand krampfte sich in die Schulter der neben ihr sitzenden Lotte Wunsch, und sie murmelte: »Thea — Lotte, es ist Thea — wie schrecklich.«
»Ob sie uns sehen wird?«
Nein, sie tollten vorüber, und Thea hatte sie nicht gesehen. Sie wurde von den Knaben umringt, die bettelten: »Komm, spiel mit uns,« und sie warf ihnen ihren Ball zu, um den sie sich balgten.
[S. 137]
Ebba atmete befreit und schaute nach dem Maler. Der hatte ihre Verlegenheit bemerkt, ahnte den Zusammenhang, und hatte sich derweilen an eine neue Flasche Sekt gemacht.
»Wie wäre es, wenn Sie Ihre Studien ein wenig weiter betrieben? Ich stelle mich Ihnen gern zur Verfügung. Die Stimmung ist jetzt so recht auf der Höhe. Kommen Sie, lassen Sie uns ein wenig umherstreifen.« —
In dem großen Saale ist ein Gedränge, daß es schier unmöglich scheint, vorwärts zu kommen. Er nimmt sie fest unter den Arm, drängt und schiebt mit Scherz und Lachen die Umstehenden auseinander und dringt unaufhaltsam voran. Getanzt wird in Ecken und Winkeln, auf den Korridoren und Treppenabsätzen. Man tanzt fest aneinandergeschmiegt — voll Gier — im Taumel.
In einer Ecke steht ein Kreis von Menschen um ein Tango tanzendes Paar. Tanzen sie? Nein, sie führen eine Pantomime auf. Eine Pantomime des Blutes, der Wollust, der Sinnlichkeit. Die Umstehenden schauen atemlos, mit gierigen Augen, auf das Paar. Als sie geendet, klatschen sie Beifall. Ein bleicher Jüngling stürzt zitternd auf das Weib zu, umschlingt sie und flüstert heiß: »Komm«. Sie lacht. »Komm, tanzen,« drängt er. Er nimmt sie in seine Arme und flüstert heiße, bettelnde Worte in ihr Ohr.
Ebba ist blaß. Sie gehen weiter. Wieder eine Gruppe[S. 138] von Zuschauern um ein einzeln tanzendes Weib. Ein überschlanker, weißer Körper, über den ein Kleid von schwarzen Pailetten wie eine Haut gespannt. Nur der Leib ist von rosenfarbenem Trikot bekleidet. Oberkörper und Beine schimmern nackt durch das flimmernde Gewand. Eine der Achseln, die das Kleid halten, ist heruntergerutscht, so daß die eine Seite der Brust sichtbar wird. Sie tanzt. Ist ganz aufgelöst, wie in taumelnder Ekstase. Tanzt mit geschlossenen Augen und bebend geöffneten Lippen. Plötzlich bleibt sie stehen, stößt einen Schrei aus und taumelt einem der Umstehenden in die Arme. Der drückt seine Lippen auf die nackte Brust. Die Umstehenden lachen, und einer sagt: »Donnerwetter, das ist stark.« Ein anderer antwortet: »Was wollen Sie. Man lebt sich nur ein bißchen aus.« »Na, ich danke.«
»Bitte, lassen Sie uns zurückgehen,« bittet Ebba. Der Maler lacht. »Sie hörten ja, gnädige Frau: man tollt sich nur aus.«
Sie waren an die große Treppe gelangt, die zu den unten liegenden Garderoben führte. Die ganze Treppe ist malerisch belagert. In großen und kleinen Gruppen liegen sie umher, Männlein und Weiblein, in buntem Gemisch. Meist sind es Pärchen. Er und sie. Eng umschlungen. Küssend und kosend.
Karneval!
Eine glutäugige Zigeunerin kommt ihnen entgegen und hängt sich dem Maler an den Arm. »Komm, trink[S. 139] mit mir, du Wilder. Ich habe dich schon lange gesucht. Laß die Griechin, die hat Fischblut in den Adern. Komm, ich verschmachte.«
»Geh, und laß mich in Ruhe. Kühle dein Blut mit anderen!«
»Ich will, daß du kommst!« zischt sie.
»Geh,« und mit einem Ruck schüttelte er sie ab.
Sie sieht ihn böse an. »Du willst es — ich gehe.«
Sie gehen zurück. An der Tür, die zu dem Nebensaal führt, in welchem sie ihren Tisch haben, hat ein Leierkastenmann mit seinem Weibe Posten gefaßt. Unentwegt dreht er seine Orgel, während das junge Weib jedem Vorübergehenden einen Teller entgegenhält. Die großen braunen Sammetaugen schauen bittend und bettelnd auf Ebba. Der Maler hat die Börse gezogen und legt ein Geldstück auf den Teller. »Was du für schöne Auge hast.« Und er greift nach dem Kinn der Bettelfrau, um ihr das Antlitz zu heben. Einen Schritt nur, einen einzigen, weicht sie zurück, ernst und vorwurfsvoll treffen ihn ihre Augen — und seine ausgestreckte Hand sinkt zurück.
Ebbas Blicke leuchten auf. Mit einem warmen Blick umfängt sie das Weib, und zu dem Maler spricht sie: »Nicht alle tollen sich aus.« — —
Gerda hatte mit Winkelmann getanzt.
Er hält sie noch umschlungen und flüstert: »Führe mich in Versuchung.«
[S. 140]
Sie lacht. »Mönchlein, Mönchlein, gelüstet es dich, deine Standhaftigkeit zu zeigen?«
»Ich will schon auf Erden im Fegefeuer schmachten.«
»Schwörst du mir, standhaft zu bleiben?«
»Ich schwöre. Wie du auch locken magst, ich widerstehe. Das heißt, der Packt gilt nur für heut.«
»Glaubst du, daß mir morgen noch die Laune danach steht? Also komm, tanzen wir noch einmal!«
Er schlingt seinen Arm um sie, und sie schmiegt sich fest, immer fester an ihn an. Er fühlt ihren Körper. Er spürt jeden Schlag ihres Herzens an seiner Haut. Das Blut rollt ihm wild durch die Adern. Dicht unter seinen Augen, an seiner Schulter, ruht der weiße Hals. Jetzt sieht sie verführerisch zu ihm auf. Die geöffneten Lippen fordern: küsse mich doch! Er lockert seinen Arm ein wenig und lächelt ruhig. »Tanz schneller,« flüstert sie. Nun drückt er sie fest an sich und tanzt im wilden Tempo mit ihr durch den Saal.
Fest — immer fester.
»Halt, halt, ich kann nicht mehr!« stöhnt sie.
Sofort hält er ein und gibt sie frei. Ganz atemlos legt sie ihre Hand auf seine Schulter, lehnt sich leicht an ihn und sagt: »Du tanzest gut.«
Er nickt nur. Wilder jagt ihm das Blut durch die Adern. Er hätte sie an sich reißen und sie mit seinen Küssen ersticken mögen. Wie sie ihn reizen, wie sie mit ihm spielen konnte! War es wirklich nur Spiel? Blieb sie innerlich kalt?
[S. 141]
Quälen wollte sie ihn, und sie tat es mit Vergnügen. Ja, er fühlte, daß sie Freude daran hatte. Warte nur, das sollst du mir büßen. Mir bist du doch verfallen. Ich liege auf der Lauer und werde deine schwache Stunde erspähen.
»Wollen wir ein Glas Sekt trinken?« fragt sie ihn.
»Willst du an den Tisch zurück?«
»Nein, ich will mit dir allein sitzen.«
»Was so einem Mönch doch alles in den Schoß fällt. Also komm. Dort das Pärchen macht uns gerade Platz. Eine behagliche, dunkle Ecke, geschaffen zum Kosen.«
Sie schlürft langsam den Wein und sieht ihn an. Er hält seine Augen fest in die ihren gesenkt, als wollte er sie zwingen.
»Ich glaube, du kannst grausam sein.«
»Ich weiß das nicht.«
»Macht es dir Freude, mich zu quälen?«
»Ja,« lacht sie girrend.
»Du bist kokett.«
»Vielleicht.«
»Ich muß dir aber gestehen, daß es mir durchaus nicht schwerfällt, deiner Lockung zu widerstehen.«
Sie sieht ihn an. Spricht er die Wahrheit? Sie wußte, er war in ihrem Bann, sie wußte, daß er sie als seine Beute betrachtete. Oh, daß er es wagte! Es reizte sie, diesen Mann zu quälen, zu peinigen. Ja, es war wahr, eine grausame Freude fühlte sie. Am[S. 142] Narrenseile wollte sie ihn führen. Das sollte ihre Rache sein.
Sie lachte, ein leises, girrendes Lachen. Sie hatte schnell getrunken. Das Blut prickelte ihr in den Adern. Sie schloß für einen Moment die Augen. Herrschen und beherrschen. Eine Welt zu ihren Füßen. Das war lachendes, jauchzendes Leben.
»Oh — ein vom Himmel gefallener Stern.« Der schlanke Ritter stand vor den beiden und sah sie mit kläglicher Miene an.
»Sanft vom Himmel herniedergeglitten, um die Menschenkinder zu ergründen, mein Ritter,« spricht Gerda.
»Eine schwere Aufgabe hast du dir da gestellt, mein schimmernder Stern.«
»Ich wähnte sie schwer und fand sie spielend leicht.«
»So hast du deine Aufgabe schon gelöst?«
Sie nickt.
»Und darf man fragen, wie hast du die Menschen gefunden?«
»Bah —,« sie verzieht höhnisch den Mund. »In allen wohnt eine grenzenlose Gier, ein wütender Hunger nach Liebe. Sie sind toll nach Liebe, nach Zweisamkeit.«
Sie hat es verächtlich gesprochen, daß die beiden Männer sie überrascht ansahen.
»Und das gefällt dir nicht? Daraus machst du den Menschen einen Vorwurf?« Winkelmann hatte sie gefragt.
»Jawohl, das tue ich.«
[S. 143]
»Sie, eine Frau, Sie wollen die Liebe verbannen?« sagt Reitzenstein.
»Das will ich nicht. Aber ich will nicht, daß die Menschen sich von ihr beherrschen lassen. Daß sie zügellos ohne Besinnen sich ihr hingeben. Und daß die Liebe schmutzig, häßlich und gemein wird.«
»Aber, mein gnädiges Fräulein,« Reitzenstein sagt es erregt, »wie können Sie so sprechen? So sprechen, als von allen Menschen. Diese Vorwürfe können Sie doch nur einer kleinen Minderheit machen!«
Gerda lächelt ironisch. »Sie glauben?« Sie macht eine kleine Handbewegung und deutet in die Runde. »Bitte, schauen Sie um sich, und sehen Sie den Menschen in die Augen.«
Und da waren Augen, hungrige, bettelnde Augen, die flehten um Liebe. Und andere, flackernd und heiß, die forderten Lust. Und gierige, die fraßen sich fest und wühlten und wühlten durch Mark und Bein und machten das Blut aufpeitschen, daß die Sinne schrien nach Befriedigung. Und noch andere, lüstern und scheu, die sprachen von heimlichen Sünden, von Tollheit und Rausch. Und Arme umschlangen sich. Lippenpaare lagen aufeinander und tauschten Kuß um Kuß.
Dann sahen die beiden Männer auf die Augen, die kühl und klar, herrisch sie anblickten.
»Sterne sind nicht von dieser Welt. Kehre an deinen Himmel zurück, Königin.«
»Oh, nein, ich werde bleiben. Bleiben in dieser Welt.[S. 144] Gehöre ich auch nicht zu ihr, so will ich doch leben in ihr. Doch nun an die Arbeit. Kommen Sie, Herr von Reitzenstein, jetzt tanzen wir. Und du, Mönch, geh’ und predige Entsagung!« — —
* *
*
Es war zwei Tage nach dem Künstlerfest. Ebba saß in der Kaminecke und erwartete ihre Freunde. Ein wenig würden sie wohl noch auf sich warten lassen. Zeit für sie, ihren Gedanken nachzuhängen. Die Scheite im offenen Kaminfeuer knisterten und verbreiteten eine wohlige Wärme. Ebba dachte an Thea Westphal. Ob Inge ›das ballspielende Kind‹ gesehen hatte? Und Lukas! Wo war Lukas gewesen? Kümmerte er sich denn gar nicht um seine Frau? Hatte er sich auch mit seiner Frau auseinandergelebt, so war doch Inge da, ihr gegenüber hatte er Pflichten. Sie konnte ihm den Vorwurf der Schwäche und Charakterlosigkeit dieser Frau gegenüber nicht ersparen. Und doch hatte sie ein grenzenloses Mitleid für ihn.
Leise öffnete sich die Tür, und der, an den sie eben so lebhaft gedacht, stand vor ihr.
»Lukas, du?«
Er sah blaß und übernächtigt aus. In seinen Augen lag ein scheues, flackerndes Zucken. Schwer ließ er sich in den Sessel fallen. Er sah sich um. Hier war es still und milde. Ja, hier war seine Zuflucht.
[S. 145]
Eine sanfte Helle lag über dem zierlich gedeckten Teetisch, während der andere Teil des Zimmers in Halbdämmer lag. Die Bilder, die ruhigen Möbel! Er dachte an grell bestrahlte Räume voll Prunk und an eine Frau, die nur von Vergnügungen und Eitelkeiten wußte.
Es schien, als fröre ihn.
»Lukas, was hast du! Du frierst?«
»Ich friere innerlich, Ebba.«
Sie schenkte ihm Tee ein und beobachtete ihn. Er schien verstört, sein Aussehen beunruhigte sie.
»Was ist geschehen?«
Er lächelte mühsam und wehrte ab.
»Mir ist nicht ganz wohl. Die Aufregungen — Geldsachen —«
»Lukas, du kannst so nicht weiterleben, du gehst ja zu Grunde.«
Da sank der Mann zusammen und stöhnte qualvoll: »Hilf mir, Ebba, ich bin am Ende!«
»Ich helfe dir, Lukas, aber sprich offen mit mir, was dich bedrückt.«
Er sprach stoßweise. »Meine aufreibendste Arbeit ist, in nächtlichen Stunden ausgleichende Rechnungen aufzustellen, Gelder aufzunehmen — Ordnung zu schaffen. — Thea — weißt du — jeder Begriff von Zahlen fehlt ihr — das Geld muß herbeigeschafft werden — es ist nicht immer leicht — weißt du — und das letzte Mal — ich konnte nicht aus eigenen Mitteln decken[S. 146] — war nach anderer Seite zu stark engagiert — glaube mir, ich habe entsetzlich gelitten — habe eine ganze Woche die Hand am Revolver gehabt — — —«
Ebba war, leichenblaß, aufgefahren.
»Bleib ruhig. Es ist noch mal vorübergegangen. Und nie wieder — das verspreche ich dir — sie muß vernünftig sein — wir müssen uns einschränken — es ist immer noch genug, um anständig zu leben — aber sie — Thea — sie kann das Leben nicht so genießen, wie sie es wünscht —«
»Wir sind nicht zum Genießen auf der Welt, das hättest du deiner Frau längst beibringen sollen. Daran geht ihr modernen Menschen ja zu Grunde. An der Gier nach Geld und Genuß. Du und Thea, ihr habt in dieser eurer Gier eure Pflichten versäumt. Zweck des Daseins ist: Pflichterfüllung. Meinst du nicht, du hättest mehr für deine Frau und dein Kind getan, wenn du ihre Seelen und ihren Charakter gebildet hättest, statt sie mit kaltem Gold zu versehen?«
Schuldbewußt senkte er das Haupt. »Ich bin schwach gewesen, ich weiß es. Meine Inge! Ja, sie wird nicht erzogen. Und ich — ich kann mich nicht um sie kümmern — ich habe keine Zeit — ja, wenn man Zeit hätte —«
»Du wirst jetzt Zeit haben, Lukas. Du wirst dich zurückziehen, und ihr werdet von den Zinsen deines Kapitals leben können.«
[S. 147]
»Ebba, — nachdem ich den — den Fehlbetrag gedeckt — besitze ich kein Vermögen mehr.«
»Ist alles gedeckt, Lukas? Sprichst du auch offen zu mir? Du weißt, ich helfe dir.«
»Alles.«
»Dann mußt du natürlich bleiben, aber du mußt deine anderen Tätigkeiten einschränken. Du darfst deine Nerven nicht ruinieren, du mußt dich deiner Tochter erhalten.«
»Aber Thea?«
»Du mußt mit ihr sprechen. Sie muß vernünftig werden.«
Er seufzte. »Du weißt nicht, wie oft ich sie schon gebeten habe, weniger Geldausgaben zu machen, nur auf kurze Zeit. Hätte sie es getan, wir wären nicht so weit gekommen. Sie kann es nicht, Ebba, sie kann nicht.«
»Sie muß. Sprich offen mit ihr, beschönige nichts. Du wirst sie an deiner Seite finden, Lukas, vielleicht findet ihr euch dadurch wieder zusammen. Sie wird einsehen, daß ein großes Teil der Schuld auf ihrer Seite ruht. Und das wird sie vernünftig machen.«
»Du siehst sehr rosig, Ebba. Ich glaube nicht an Theas Einsicht.«
Lukas war gegangen. Lotte Wunsch und Gehring saßen jetzt Ebba gegenüber. Man sprach von dem Künstlerfest.
[S. 148]
»Ja, meine Gnädige, da haben sie das Resultat. Der Kultus des lieben ›Ich‹, die Predigten vom Rechte der Sinnlichkeit, hat viel Lebensverwirrung gezeitigt.«
Ebbas feines Gesicht verzog sich schmerzlich. »Mir scheint, als tanze man hier auf einem Vulkan, als müsse der Krater sich öffnen und Verderben speien. Als müßten rotglühende Flammen hervorschießen und alles mit sich reißen in Nacht und Grauen.«
Gehring sah sinnend vor sich nieder und erwiderte: »Wir leben in einer Zeit verächtlicher Gleichgültigkeit der Menschen untereinander. Die Menschen müssen wieder lernen, einander entgegenkommen, müssen aus der Oberflächlichkeit unseres heutigen Gesellschaftslebens zurückkehren zu einfachen Sitten.«
»Mir scheint, das hieße neue Menschen schaffen.«
»Die Menschen müssen erwachen. Sie müssen den Abgrund sehen, dem sie entgegensteuern. Große Ereignisse müssen sie aufrütteln.«
»Ja, die Menschheit befindet sich auf einer schiefen Ebene, von der nur ein großes Naturereignis sie ablenken kann,« sagte Lotte.
»Ich denke nicht an ein Naturereignis. Nein, Schmerz und Leid, Elend und Grauen, kann nur der Mensch dem Menschen bereiten. Die Menschheit muß zur Tiefe des Gemüts gelangen, das kann sie nur durch Wunden, die der Mensch dem Menschen schlägt.«
Ebba schauerte zusammen. »Ein Wüten von Mensch[S. 149] zu Mensch? Auf eine so niedere Stufe wollen Sie die Menschheit stellen? Uns, die zivilisierte Welt?«
»Zivilisation ist etwas Anerzogenes. Sie kann hinweggespült werden. Ein Teil Bestie steckt in jedem Menschen.«
»Man könnte wirklich vor sich selbst schaudern, wenn man Sie beide hört.«
Lotte lachte. »Die Bestie wird nur gefährlich, wenn sie gereizt wird. Lassen wir sie in Frieden ruhen und sprechen wir von anderen Dingen. Wie geht es Inge, Ihrem Schützling?«
»Ich habe viel Freude an ihr. Das Mädel hat Herz und Gemüt, und ich hoffe, daß sie auf dem jetzigen Wege bleiben und vorwärtsschreiten wird.«
»Hüten Sie sie nur vor dem Einfluß der — — anderen jungen Mädchen, Ebba.«
»Ich glaube, jetzt ist nichts mehr zu fürchten.«
»Solange sie in Liebe und Verehrung an Ihnen hängt, sicher nicht. Ach, wenn die Mütter doch bedenken wollten, welche erzieherische Wirkung ein gutes Vorbild bei der jungen Generation hat.«
Gehring sah nachdenklich auf die beiden Frauen.
Mutter!
Lotte seine Frau und Mutter seiner Kinder! Sie, die Künstlerin — Mutter! Und jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß sie einen Beruf hatte, einen Beruf, den sie liebte, der sie ausfüllte. Wem würde sie gehören?[S. 150] Ihm oder ihrer Kunst. Ging nicht eines auf Kosten des anderen?
Er suchte ihre Augen. Und in den Augen lag ihre Seele. Eine Woge von Liebe und Verlangen schoß ihm entgegen, daß ihm war, als müsse er in dieser Flut sanft versinken. — —
Eine große Stille lag über dem Raum.
Sie saßen schweigend beisammen und hingen ihren Gedanken nach.
Und in diese Stille plötzlich ein lauter, scharfer Ton.
Thea Westphal stand in der Tür.
Ebba war aufgefahren. Hatte sie denn die Macht, Menschen, an die sie intensiv dachte, herbeizuziehen?
»Störe ich?«
»Nicht im mindesten, komm, nimm Platz.«
»Gott, wie gemütlich. Eigentlich möchte ich mich gar nicht setzen, denn es sieht aus, als bliebe man in dieser Gemütlichkeit hier kleben, und dazu habe ich ganz und gar keine Zeit.«
»Das kann ich mir denken, Thea. Aber soviel Zeit, eine Tasse Tee zu trinken, wirst du wohl haben.«
»Ach, Fräulein Wunsch, wie entzückend haben Sie neulich auf dem Künstlerfest ausgesehen, rot ist Ihre Farbe, Sie sollten sie mehr bevorzugen, habe ich nicht recht, Herr Gehring? Übrigens, Ebba, wie hast du dich amüsiert? War es nicht herrlich? Auf so einem Fest kann man sich doch richtig austoben. Ach, ich liebe diese Berliner Karnevalfeste.«
[S. 151]
»Haben Sie, gnädige Frau, einmal in Süddeutschland einen Karneval mitgemacht?« fragte Gehring.
»Leider nein. Da soll es ja noch toller und ungezwungener hergehen.«
»Scheint Ihnen das so lockend?«
»Ich möchte mich amüsieren bis zur Bewußtlosigkeit.«
»Und wenn du dann erwachst, Thea?«
»Dann habe ich eben mein Leben genossen. Sieh mich nicht so strafend an, Ebba. Ein paar Jahre Rausch muß ich noch haben. Sagen Sie, Fräulein Wunsch, habe ich nicht recht? Wenn wir Frauen wissen, daß unsere Schönheit im Schwinden begriffen, greifen wir gierig nach der Schale des Lebens und schlürfen doppeltes Maß.«
»Ich kann da nicht mitsprechen, denn ich habe vergessen, auf meine Schönheit zu achten.«
»Da haben Sie sich selbst das größte Unrecht getan, Fräulein Wunsch. Und ich kann Ihnen nur dringend raten, machen Sie dieses Unrecht gut, und holen Sie nach, was Sie versäumt haben.«
Lotte lächelte. »Ich will es versuchen.«
»Gott, Ebba! Das hätte ich ja beinahe vergessen! Ich soll dich fragen, ob du unserem Verein beitreten willst, die Exzellenz ist natürlich, wie ich vorausgesagt, entzückt von dir.«
Ebba wehrte erschrocken ab. »Um Gottes willen, laß mich mit Vereinsgeschichten in Ruhe, dafür bin ich nicht zu haben.«
[S. 152]
»Aber warum denn nicht? Du solltest das nicht von der Hand weisen. Bedenke, du kannst dich nützlich machen, kannst vielleicht auch eine Rolle spielen.«
»Wozu ich nicht die mindeste Lust und auch kein Talent habe, Thea.«
»Du bist mir unbegreiflich, Ebba. Nichts scheint dich aus deiner Gleichgültigkeit herausbringen zu können. Wenn ich du wäre! Jung und — frei —«
»Thea!«
»Ich weiß schon, ja, ich bin undankbar! Das alte Lied! Aber sagen Sie, Herr Gehring, jung, schön und begehrt und lustlos zum Lebensgenuß, begreifen Sie das?«
»Gnädige Frau, es kommt doch darauf an, wo man den Lebensgenuß sucht. Der eine sucht ihn in Vergnügen, der andere in der Arbeit und Pflichterfüllung.«
»Puh — Arbeit nennen Sie Genuß?«
»Sicherlich.«
»Das ist mir unverständlich.« Sie zuckte die Achseln und erhob sich. »Da habe ich mich ja richtig festgeschwatzt. Ich muß auch an die Arbeit, zur Anprobe einer großen Gesellschaftstoilette. Und da möchte ich Ihnen eigentlich beipflichten, diese Arbeit kann unter Umständen auch ein Genuß sein, wenn nämlich das Kleid schick wird, Aufsehen erregt und den Neid meiner lieben Mitschwestern hervorruft.« Und lachend verabschiedete sich Thea.
* *
*
[S. 153]
Gnädiges Fräulein!
Ihr hohes Kunstinteresse und der außergewöhnliche Genuß, der Ihnen durch Benutzung beigelegter Karte bereitet werden dürfte, läßt mich wagen, Ihnen dieses Billett zu übersenden.
Ich nehme an, daß Sie als Künstlerin groß genug denken, um sich über kleinliche Bedenken hinwegzusetzen. Mit den ergebensten Grüßen
zeichne als Ihr gehorsamster Sklave
Kurt Winkelmann.
Caruso sang und Gerda hielt ein Billett zur Don Juan Aufführung in Händen. Ein schier unerreichbarer Wunsch sollte in Erfüllung gehen! Aber — nein, es war unmöglich, wie konnte sie sich hinwegsetzen über Sitte und Erziehung. Sie, Gerda von Wangenheim, durfte das nicht. Auf welchen Weg war sie geraten?
Wie konnte er glauben — — —
Wie hatte er geschrieben? Er nähme an, daß sie sich über kleinliche Bedenken hinwegsetzen würde.
Nein, für kleinlich sollte man sie nicht halten, aber Töchter solcher Häuser, aus denen sie stammte, ließen sich nicht von Herren ins Theater führen.
Sie war aber nicht mehr die Tochter des Hauses, sie war Künstlerin, für sie gab es andere Grenzen als für jene. Ihr, der Künstlerin, war erlaubt, was jenen versagt war.
Aber — er suchte sie zu verpflichten! Und nicht nur[S. 154] das! Man würde sie zusammen in der Oper sehen, sie beide in der Loge. Sie würde sich kompromittieren, nein, sie mußte das Billett zurücksenden. Caruso! Wie das lockte! Wirklich, mußte sie sich diesen Genuß entgehen lassen? Schließlich war sie mit einem schönen Dank der Verpflichtung enthoben. Und geklatscht? Was machte das schließlich aus, sie würde sich darüber hinwegsetzen. Solange sie vor sich selbst bestehen konnte, hatte sie nichts zu fürchten. Sie, die Künstlerin, war frei und unabhängig. Es gab nur eines, was sie veranlassen mußte, abzulehnen — wenn sie ihrer selbst nicht sicher war. Er begehrte sie, da war kein Zweifel möglich.
Sie liebte ihn nicht. Eigentlich wunderte sie sich, daß er keinen Reiz auf sie ausübte. Im Grunde war er doch ein begehrenswerter Mann, und es schien ihr, daß er bei jeder Frau, mit der er zusammenkam, ein wärmeres Gefühl erregte. Ob nicht doch schon, ihr unbewußt, ein Feuerfünkchen im Herzen glühte?
Sie fühlte seine schönen, etwas verschleierten Augen auf sich gerichtet, die sie unerbittlich prüften. Unerbittlich jegliche Hülle durchdrangen. Die den Körper umschmeichelten und für sich in Anspruch nahmen.
Sie schauderte.
»Nein,« sagte sie hart und laut, »nichts von Liebe fühle ich für ihn.«
* *
*
[S. 155]
Der Beifall wollte nicht enden. Immer wieder mußte der berühmte Gast sich dankend verneigen, und immer von neuem tobte der Sturm. Gerda von Wangenheim saß mit Kurt Winkelmann in der Loge, sie saß wie betäubt. Sie vermochte es nicht, die Hände zu rühren. Das war Kunst — nein, mehr als das — ein Genie von Gottes Gnaden stand dort auf der Bühne. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ihr Atem ging erregt.
Winkelmann neigte sich zu ihr und flüsterte: »Ich höre ihn nun zum vierten Male als Don Juan, und immer wieder ist man hingerissen von dem Gesang dieses Künstlers.«
Gerda sah auf. »Ich war in einer anderen Welt.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Haben Sie Dank, daß Sie mir zu diesem Genuß verholfen.«
»Gnädiges Fräulein, ich bitte — keinen Dank. Ich bin glücklich, Ihnen dienen zu können, Sie können jederzeit über mich befehlen.«
»Bitte, keine Phrasen jetzt, Herr Winkelmann.«
»Ich spreche die Wahrheit. Meine Person, mein Vermögen steht Ihnen zur Verfügung.«
Ihre Augenbrauen zogen sich schmerzhaft zusammen. Ihre Lippen schürzten sich hochmütig.
»Glauben Sie, daß ich dessen bedarf?«
»Gnädiges Fräulein, Sie sind die geborene Herrscherin. Sie wollen herrschen und beherrschen. Dazu bedürfen Sie der Menschen und des Geldes.«
[S. 156]
»Sie mögen recht haben.« Sie erhob sich hastig. »Kommen Sie, ich sehe dort Herrn und Frau Direktor Westphal und möchte sie begrüßen.« — — —
»Ich weiß nicht — ich möchte lieber doch direkt nach Hause fahren.«
»Aber gnädiges Fräulein, die Verabredung ist getroffen. Was würde man sagen, wenn ich ohne Sie ins Esplanade käme. Nein, das ist unmöglich! Sie haben doch gesehen, wie Frau Thea sich mit Ihnen gefreut hat.« Er stürzte auf das anfahrende Auto zu, öffnete den Schlag, und half ihr hinein.
»Überhaupt nach solch einem Abend muß man noch ein wenig in angenehmer Gesellschaft zusammen sein, und ich muß gestehen, ich preise den glücklichen Zufall für dieses Zusammentreffen. Denn ohne die Familie Westphal hätte ich das Vergnügen, mit Ihnen zu Abend speisen zu können, doch wohl nicht gehabt.«
Sie sah im fahlen Schein der vorüberhuschenden Glühlampen seine lauernd auf sie gerichteten Blicke. Und wieder kam ihr die prickelnde Lust, ihn zu quälen und zu reizen, um ihn dann von sich zu stoßen.
Sie lachte ihr girrendes Lachen. »Vielleicht — — —«
»Oh — dann — darf ich dem Schofför — —?«
»Nichts dürfen Sie, wir fahren ins Esplanade, wie besprochen, Sie haben ja selbst noch eben gesagt, daß es unmöglich ist, die Verabredung nicht einzuhalten.«
[S. 157]
— — — Als sie den Speisesaal betraten, war die Gesellschaft schon beim Studium der Speisekarte. Gerda hätte am liebsten umkehren mögen. Noch war ihr der Klang der Musik im Ohr, noch stand sie im Bann der Persönlichkeit dieses Don Juan, und nun sollte sie mit gleichgültigen Menschen zusammensitzen, von Banalitäten schwatzen, Redensarten anhören. Wieviel lieber wäre sie allein gewesen, um den Genuß in sich ausklingen zu lassen. Aber Thea hatte sie so bedeutungsvoll angesehen, als sie sie aufforderte, mit ihnen zusammen zu sein. Hätte sie es abgeschlagen, so hätte man mit Sicherheit angenommen, sie wolle mit Winkelmann allein bleiben. Nein, es war besser so.
Oh, sie hatte es schon gelernt, die Masken zu durchschauen. Früher sah sie nur auf die Gesichter, hörte sie nur die Worte. Sie sah die Gesichter so, wie sie sich zeigten, nahm die Worte als das, was sie sagten. Jetzt aber sah sie, daß die Gesichter Masken trugen, sah dahinter die Menschen, wie sie wirklich waren, hörte hinter ihren Worten lange Geschichten, die sie verschwiegen.
Gerda saß zwischen Thea und Herrn von Reitzenstein. Thea war von ausnehmender Lustigkeit, von sprühender Laune. »Fangen Sie endlich an, sich in den Berliner Strudel zu stürzen, Fräulein von Wangenheim? Übrigens eine kluge Wahl, die Sie da getroffen haben.«
Gerda sah sie verständnislos an.
Thea deutete mit den Blicken auf Winkelmann. »Sehr[S. 158] reich und viele Beziehungen, kann Ihnen nur nach jeder Richtung hin von Nutzen sein.«
»Daran habe ich wirklich noch nicht gedacht.« Gerda sagte es kühl und abweisend.
»Nur Liebe?« Und Thea lächelte mokant.
»Auch das nicht.«
»Gnädiges Fräulein, wissen Sie, daß mich der heutige Abend glücklich und unglücklich gemacht hat?« Reitzenstein sagte es mit betrübter Miene zu Gerda.
»Da wäre ich begierig, Ihren jetzigen Zustand zu kennen. Ging das Glück dem Unglück voran oder umgekehrt?«
»Sie spotten, mein gnädiges Fräulein. Aber um Ihre Frage zu beantworten, muß ich Ihnen schon klassisch kommen:
›Es tut mir lang schon weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh!‹
Wie glücklich war ich, Sie heut abend zu sehen, doch —«
»Bitte, Herr von Reitzenstein, geben Sie sich keinen Vermutungen hin, und bleiben Sie ein Weilchen glücklich.«
»Hören Sie, Fräulein von Wangenheim,« wandte sich Thea an diese. »Ich gebe jeden Winter in der Saison ein großes Fest mit Vorträgen erster Künstler, wollen Sie an dem Abend singen?«
»Gnädige Frau, kann ich das wagen? Ich, eine unbekannte Anfängerin?«
»Ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, Sie[S. 159] einzuführen. Sie müssen nur Vertrauen zu sich selbst haben. Ich will Ihnen etwas sagen: So wie Sie sich einschätzen, so werden Sie von den Menschen bewertet. Also: Selbstbewußtsein, viel Selbstbewußtsein, und Sie sind das, was Sie sein wollen.«
»Gnädiges Fräulein haben doch allen Grund, an sich selbst zu glauben,« warf Reitzenstein ein, »oder zweifeln Sie an Ihrem Können?«
»Nein, ich glaube an mich.«
* *
*
»Thea,« sagte Lukas, als sie in ihrem Auto saßen und nach Hause fuhren, »du sprachst von deinem großen Fest, welches du geben willst, du hättest dich erst mit mir darüber verständigen sollen.«
Thea lachte. »Seit wann das? Habe ich nicht stets nach Belieben Gäste versammelt, ohne vorher deine gütige Erlaubnis einzuholen? Seit wann kümmerst du dich um unsere geselligen Verpflichtungen? Ich habe unser Haus zu repräsentieren, ich weiß, was ich deiner Stellung schuldig bin, und du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst.«
»Thea« — Lukas legte seine Hand auf die Schulter seiner Frau und sagte bittenden Tones: »Thea, ich möchte, daß du auf dieses Fest verzichtest.«
[S. 160]
Maßlos erstaunt sah sie ihn an. »Verzichten? Ich soll verzichten? Was für eine Laune von dir.«
»Es ist keine Laune, es ist ein Muß, ein dringendes Muß. Wir müssen uns einschränken, wir können nicht mehr in diesem Luxus weiterleben.«
Sie stieß seine Hand von ihrer Schulter und sagte rauh: »Verlangst du das im Ernst von mir?«
»In vollem Ernst, Thea. Ich besitze kein Vermögen mehr. Du brauchst nicht zu erschrecken. Wir können immerhin noch sehr anständig leben, denn ich beziehe hohe Gehälter, aber deine Ansprüche mußt du herabmindern.«
»Hast du gespielt?«
»Thea — alles ist draufgegangen für dich — unser Haus. Ich habe dich oft gebeten, sparsamer zu sein — du hast nicht auf mich gehört —«
»So — nun bin ich wohl gar an deinem Ruin schuld?« Sie lachte hart auf. »Du machst es dir leicht. Wälzest alle Schuld auf mich ab. Du bist doch der Mann, was ließest du mich gewähren?«
Er senkte das Haupt. »Ich habe es dir oft gesagt, Thea, du wolltest es nicht glauben. Aber du hast recht. Der Schuldige bin ich allein, ich bin zu schwach gewesen, ich fürchtete deine Tränen, deine Verzweiflung.«
»Ich werde nicht verzweifeln, ich werde mich abfinden, aber eines verlange ich noch von dir, wir geben dieses[S. 161] Fest wie alle Jahre, bis dahin soll niemand merken, daß wir arm sind, niemand, hörst du?«
»Ich bitte dich, wozu sich noch diese Ausgabe machen? Dieses Fest würde einen großen Teil meines Jahreseinkommens verschlingen. Es wäre besser angewandt für deine und Inges Bequemlichkeit.«
»Ich bestehe darauf.«
Das Auto hielt vor ihrem Hause.
»Ich will noch nicht nach Hause. Meinst du, daß ich schlafen kann, nach dem, was du mir mitgeteilt? Ich will Menschen sehen, strahlende Helligkeit, will Wein trinken und lustig sein! Noch schlürfen den Becher der Freude — schnell, wir fahren in den Pavillon Mascotte!«
»Thea, was fällt dir ein, du bist von Sinnen, komm, sei vernünftig!«
»Wenn du nicht mitkommst, fahre ich allein.« Und sie riß die Tür auf und gab dem Schofför die Weisung. Thea hatte sich auf das Polster geworfen und lachte. »Noch sind wir nicht arm, hörst du, noch nicht! Noch sechs Wochen Galgenfrist, dann hinunter zu den Proletariern!«
»Du bist krank, Thea, wie kannst du so sprechen? Ich habe ein Einkommen zwischen zwanzig und dreißigtausend Mark, das nennst du arm sein?«
»Bah — was ist das? Für Bekleidung brauche ich jährlich zehn bis vierzehntausend Mark. Eines meiner Feste kostet allein an sechstausend Mark. Der Haushalt, das Auto — lächerlich —.«
[S. 162]
Der Wagen hielt.
»Thea, ich beschwöre dich, laß uns umkehren. Ich kann in dieser Stimmung nicht in ein Tanzlokal gehen. Du bist aufgeregt. Komm zu dir und sei vernünftig.«
Sie sprang aus dem Auto, stolperte und fiel gegen zwei Herren, welche soeben das Lokal verlassen hatten.
»Hopsa!« rief der eine und fing sie auf.
»Fußfall ist nicht vonnöten, Gnädigste.«
Die beiden schienen in angeheiterter Stimmung und einem Abenteuer nicht abgeneigt. Da stand Lukas neben seiner Frau, zog den Hut und dankte für die Hilfe.
»Herr von Gernsheim,« lachte Thea, »welch ein Zusammentreffen!«
Seine Augen blitzten ihr entgegen, und er verbeugte sich tief. »Ein Zufall, den ich glücklich preise, gnädige Frau.«
»Mein Mann,« stellte Thea vor.
»Gernsheim,« »Andersen.«
»Wenn die Herrschaften gestatten, kehren wir noch mit ihnen zurück.«
»Gern,« erwiderte Thea, »ich brauche lustige Gesellschaft,« und sie ging mit Gernsheim voraus.
»Einziges Weib, das ist ja ein göttlicher Zufall. Ich hatte rasende Sehnsucht nach dir, wollte mich hier betäuben, es ging aber nicht. Du ahnst ja nicht, welches Verlangen ich nach dir habe. Eine ganze Woche hast du mich warten lassen. Wann sehe ich dich?«
[S. 163]
Er nahm ihr den Mantel von den Schultern und preßte einen heißen Kuß auf ihren Hals.
»Vorsicht, du Tollkopf!«
»Wann kommst du?«
»Morgen.«
Sie betraten den Saal.
Thea war von sprudelnder Lustigkeit, sie schüttete den Sekt hinunter, als wäre er Wasser. Sie tauchte ihre Fingerspitzen in das Eiswasser und fühlte ihr Blut prickeln. Sie fing die Blicke der Männer auf und gab sie strahlend zurück. Gernsheim wurde eifersüchtig. Hart setzte er sein Glas auf den Tisch, daß es zerbrach. Thea, die ihm gegenübersaß, lachte leise. Da fühlte er schmeichelnd und liebkosend einen kleinen, zarten Frauenfuß auf seinen Knien. Seine Hände preßten schmerzhaft diesen Fuß. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, seine Blicke sprachen: ›Komm!‹
»Ja,« flüsterte sie über den Tisch hinüber und stand auf. Lukas und Andersen, im Gespräch vertieft, merkten nicht, daß auch Gernsheim verschwunden.
Als Thea bleich, mit glänzenden Augen, durch den Saal zurückkehrte, sah sie an den Blicken, die sie verfolgten, die Welt gehörte ihr, nur zuzugreifen brauchte sie. An jeder Ecke sah sie ein Abenteuer auf sich warten, und jeder Männerblick deutete ihr einen Sieg. Nein, wahrlich, sie brauchte nicht zu verzweifeln.
* *
*
[S. 164]
Gerda hatte auf ihrem Spaziergange Thea Westphal getroffen. Es war ein kalter, feuchter Märztag. Wind und Regen peitschten die Luft. Thea, ärgerlich auf der Suche nach einem Auto, fand sich plötzlich Gerda von Wangenheim gegenüber.
»Auch Sie unterwegs bei dem Wetter?«
»Das macht mir nichts. Ich bin an meinen täglichen Spaziergang gewöhnt und kann ihn nicht missen.«
»Kein Auto zu bekommen! Die feuchte Luft geht mir schon bis auf die Haut. Kommen Sie, wir gehen ins Kaffee des Westens, eine Tasse Kaffee wird uns gut tun.«
Plaudernd saßen sie beisammen. Thea, durch die wohlige Wärme, durch die bewundernden Männerblicke wieder ganz in Stimmung, sagte: »Ich freue mich, wie Sie sich den Berliner Verhältnissen angepaßt haben. Nicht nur, daß Sie sich elegant und schick, nein, mehr als das, raffiniert kleiden, scheint es, daß Sie auch von dem Vorrecht der Dame von Welt, freieren Sitten huldigen zu dürfen, Gebrauch machen. Sie fangen an, ein moderner Mensch zu werden.«
»Ich habe mir ein Ziel gesetzt, Frau Westphal. Ein Ziel, das ich unbeirrt verfolgen werde, ich gehe darauf zu. Ich muß ein moderner Mensch werden, um zum Ziele gelangen zu können.«
»Bravo, behalten Sie Ihr Ziel im Auge! Sie sind jung und schön, die Männer werden Ihnen zu Füßen liegen, nutzen Sie jede Situation aus, nur verlieren Sie[S. 165] nicht die Oberherrschaft. Ich glaube, Sie besitzen die nötige Kälte, um das zu können.«
Zwei Herren grüßten und wanden sich durch die dichtbesetzten Tische.
Gernsheim und Reitzenstein.
Thea strahlte. »Famoses Zusammentreffen! Die Herren kennen sich? Davon hatte ich ja keine Ahnung.«
»Bei diesem Wetter wagen die Damen sich hinaus?«
»Was wollen Sie, die Pflichten! Ich mußte zu einer Vorstandssitzung, von da wollte ich noch zur Putzmacherin, konnte jedoch kein Auto auftreiben, zitternd und fröstelnd traf ich Fräulein von Wangenheim, eine Tasse Kaffee lockte uns —« Thea hatte die Worte lebhaft hervorgesprudelt und sah Gernsheim mit beredten Augen an.
»Ich ahnte, daß ich Sie heute sehen würde, gnädiges Fräulein,« sagte Reitzenstein zu Gerda.
»Glauben Sie an Ahnungen?«
»So recht eigentlich nicht. Aber mir ist es oft passiert, daß ich sehr lebhaft von einem Menschen geträumt habe. Dann kann ich sicher sein, mit ihm in den nächsten Tagen zusammenzutreffen.«
»Sie haben also von mir geträumt? Da wäre ich neugierig, Ihren Traum kennenzulernen.«
»Es war ein sonderbarer Traum. Hören Sie. Sie hatten ein Konzert gegeben und waren mit Blumen überschüttet worden. Ich durfte Ihnen die Blumen[S. 166] nach Hause tragen. Büschel voll roter und weißer Rosen in meinen Armen, stand ich vor Ihnen. Der Duft betäubte mich. Sie kamen auf mich zu und wollten mir einen Teil der duftenden Last abnehmen. Ich preßte die Blumen fest an meine Brust und flüsterte: ›Küsse mich!‹ Da neigten Sie sich zu mir nieder und hauchten einen Kuß auf meine Lippen. Und als Sie mich küßten, durchdrang meine Glieder eine Eiseskälte, ich schauerte zusammen. ›Mein Blut erfriert unter deinem Kuß,‹ sagte ich, und die Blumen entfielen meinen Armen und fielen nieder zu Ihren Füßen. Und Sie setzten Ihren Fuß auf die Blüten und sagten zu mir: ›So küsse du mich!‹ Und ich neigte mich, um Sie zu küssen, da aber sprangen grüne Flammen aus Ihren Augen, eine Kröte saß auf Ihrer Stirn, und eine Schlange ringelte sich um Ihren Hals. Ich wich zurück und mochte Sie nicht küssen.«
Gerda lachte. »Ich bekomme ja Angst vor mir selber.«
»Das habe ich heute nacht geträumt.«
»Hören Sie, Fräulein von Wangenheim. Sind Sie frei heute abend? Gernsheim schlägt vor, daß wir zusammenbleiben. Hier ganz in der Nähe ist eine nette, kleine Weinstube, wo wir gemütlich zu Abend essen können. Seien Sie fesch und machen Sie mit.«
Gerda zögerte.
»Ach, bitte, gnädiges Fräulein. Ist ja eine famose Idee. Bei dem Hundewetter kann man überhaupt nichts Gescheiteres tun,« pflichtete Reitzenstein bei.[S. 167] »Oder versäumen Sie etwas? Vielleicht eine andere Verabredung?« Und er sah sie bedeutungsvoll an.
»Das nicht — aber —«
»Kein Aber — wir bleiben zusammen,« bestimmte Thea. — — —
Sie waren sehr lustig gewesen. Sie hatten vorzüglich gegessen und reichlich dem Alkohol zugesprochen. Thea konnte sich nicht genug tun im Genuß, das Leben auf ihre Art zu nehmen. ›Genießen, genießen, Kinder, man lebt ja nur einmal!‹ Und selig, daß sie lebte und verstand, das Leben zu genießen, war sie mit Gernsheim zu neuem Genuß davongefahren.
»Wir können nicht zu Fuß gehen, gnädiges Fräulein,« sagte Reitzenstein, und half Gerda in das Auto.
Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Gerda lehnte lässig in ihrer Ecke. In ihrem Körper war eine wohlige Wärme, ihre Stirn umfing ein leichter Nebel. Plötzlich sagte Sie: »Küssen Sie mich!«
Reitzenstein fuhr auf und stammelte: »Gnädiges Fräulein —«
»Küssen Sie mich, ich will sehen, wie es mit der Kröte ist und mit den grünen Flammen.«
Da umschlang er sie und bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.
Sie ließ sich küssen, und als er Atem schöpfte, fragte sie: »Ist Ihr Blut zu Eis erstarrt?«
[S. 168]
Da mußte er lachen. »Feuer tobt mir in den Adern, du Götterweib!«
Und wieder preßte er seinen Mund auf ihre Lippen und küßte sie, daß ihr der Atem verging. Da stieß sie ihn von sich und sagte kalt: »Genug, hören Sie auf.«
»Gerda, küsse mich! Wie kannst du so kalt bleiben unter dem Feuer meiner Küsse.« Und er wollte sie wieder an sich pressen.
»Lassen Sie mich jetzt.«
»Warum wolltest du, daß ich dich küssen sollte?«
»Ich wollte mein Blut erproben.«
»Meine Küsse ließen dich kalt?«
»Sie sehen es.«
»Aber die Küsse des anderen machen dir warm?«
»Er hat mich nicht geküßt.«
»Er wird es aber tun.«
»Vielleicht.« — — —
Gerda lag lange wach und dachte nach. Sie hatte sich küssen lassen. Nicht nur das. Sie, Gerda von Wangenheim, hat zu einem fremden Manne gesagt: ›Küsse mich!‹ Warum das? War es der Alkohol, der ihr Blut in Aufregung gebracht und sie Verlangen tragen ließ, nach der Umarmung eines Mannes? Liebte sie diesen Mann?
Nichts von alledem. Nichts, als der Wunsch, ihr Blut kennenzulernen, hatte sie getrieben, zu tun — wie[S. 169] sie getan. Er hatte sie geküßt, und nicht die leiseste Erregung ihres Blutes hatte sie verspürt. Und doch — eine Erregung hatte sie empfunden, einen Reiz hatte sie verspürt, einen Reiz, die Begierde eines Mannes auflodern zu sehen, sein Begehren anzufachen. An jenem Abend auf dem Künstlerfest, als sie festgeschmiegt an Winkelmann mit ihm tanzte, als sie sein fieberndes Verlangen nach ihr verspürte, hatte sie den prickelnden Reiz empfunden, den Mann verheißungsvoll an sich zu ziehen, um ihm den Fuß auf den Nacken zu setzen.
* *
*
Lotte, glücklich im Gedanken an die nahe Vollendung ihres Werkes, stand und prüfte ihre Arbeit. Würde es die beabsichtigte Wirkung haben?
Die Wirkung nach beiden Richtungen?
War sie frei geworden vom Banne des Häßlichen, das wie eine Kette sie umgürtet hatte?
Sie atmete tief auf.
Ja, frei, ganz frei.
Durch ihr Werk oder durch seine Liebe?
Sie lächelte, reckte mit tiefem Atemzug die Arme empor, verschlang sie auf ihren Kopf und warf sich auf das Ruhebett.
Und nun kam das Glück, das märchenhafte Glück. Ihr Werk in der Ausstellung. Ihr Name in aller Munde.[S. 170] Emporgehoben aus der Schar der Mittelmäßigen, gestellt neben die Großen.
Und die Wirkung des Werkes auf die Menschen?
Würden sie sich erkennen in diesem fratzenhaften Ungeheuer? Würde Grauen und Entsetzen sie packen, sich so gegeißelt zu sehen? Würden sie Einkehr halten und ihr Inneres reinigen von Schmutz und Schlacken?
Lotte lachte.
Jeder würde nur das Bild des anderen in diesem Medusenhaupt erspähen. So bist du und du und du — aber nicht ich.
Zerfleischen würden sie die anderen, ein jeder aber ist frei von Schuld. — —
Und dann — — dann wurde sie Weib — — dann kam die Erfüllung.
Sie schloß die Augen.
Sie liebte ihn, ihn, den Vater ihres Kindes. Sie saß neben der Wiege, glättete die Kissen und strich sanft über die zarten, blonden Härchen.
»Paul,« flüsterte sie, »wie bin ich glücklich.« — — —
»Hallo, ist niemand hier?«
Sie springt erschrocken auf und reibt sich die Augen. Das Atelier liegt in graue Abendschatten gehüllt.
»Verzeihen Sie, daß ich eindringe, Fräulein Wunsch, Sie haben anscheinend mein Klopfen überhört.«
Arno Stürmer steht vor ihr.
»Ich hatte geträumt.«
»So habe ich gestört?«
[S. 171]
»Sie störten mich in meinem Glück.«
»Das würde ich mir nie verzeihen. Möchte ich doch so gern das Füllhorn des Glückes über Sie schütten.«
Seine Blicke ruhen fragend auf ihrem Antlitz. Dann schweifen sie ab und bleiben auf dem Werk haften. Er zuckt zusammen und sieht sie erstaunt an. Dann tritt er näher an das Werk, schaut und schweigt. Und dann bricht er los, laut und schallend schreit er sie an: »Das haben Sie geschaffen? Dies ist Ihr Werk? Da haben Sie es ja, das Glück, das große Glück. Und ich will mich unterfahren Ihnen Glück zu schaffen? Sie, Sie tragen das Glück ja in sich, Ihr Glück ist Ihr Künstlertum — — ich beuge mich vor Ihrem Können, Fräulein Wunsch.«
»Meinen Sie wirklich, daß die Kunst allein Befriedigung gewährt?«
»Dem wahren Künstler unbedingt.«
»Und das Verlangen nach Liebe?«
»Aufregung, Rausch, Austoben — erhöht die Künstlerschaft! —«
»Sie sprechen als Mann!«
»Auch bei der Frau wird es so sein, wenn sie eine wahre Künstlerin ist. Lotte,« er ist nahe an sie herangetreten und sieht ihr leidenschaftlich in die Augen, »Lotte — ich liebe Sie, seit jenem Abend, als ich Sie im Ihrem Flammenkleide sah, verzehrt mich die Sehnsucht. Lotte« — er umschlingt sie und will sie an sich ziehen — »laß uns versinken in Flammen, zwei Künstlernaturen[S. 172] wie wir — — alle Flammen der Leidenschaft springen auf — —«
Da ist sie wieder und schlägt an ihr empor. Die Begierde!
Sie wehrt ihn von sich. Blaß, mit ausgestreckter Hand, weist sie auf ihr Werk. »Wie ich es verabscheue, dieses maßlose Begehren.«
»Und bist doch selbst ein einziges fieberndes Verlangen.«
»Nein, nein,« schreit sie auf. Dann bedeckt sie ihr Gesicht mit den Händen und stöhnt auf.
»Du liebst einen andern.«
Da nickte sie stumm.
»Und er nimmt dich nicht in seine Arme, er läßt dich —«
»Lassen Sie mich jetzt allein,« sagt sie kalt und beherrscht.
* *
*
Gerda saß beim Frühstück und durchlebte noch einmal den gestrigen Abend. Das große Fest bei Westphals.
Was für Triumphe hatte sie gefeiert, ganz toll waren die Männer nach ihr, und Winkelmann — — sie mußte laut lachen. Eine Szene hatte er ihr gemacht, eine unerhörte Anmaßung! Aber sie hatte ihn zurechtgewiesen. Er würde es nicht noch einmal wagen. Und der Beifall, nachdem sie ihren Vortrag geendet. Sie[S. 173] hatte nicht weniger Applaus gehabt, als der berühmte Tenor. Sie konnte zufrieden sein.
Und Reitzenstein? Der machte ihr Spaß. Der wollte sie ergründen. Er hatte sie gebeten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie hatte seine Begleitung angenommen. Und da, als sie zusammen sich von Thea verabschiedeten, war es zu dem Auftritt mit Winkelmann gekommen.
Winkelmann war auf sie zugetreten und hatte mit erregter Stimme gesagt: »Ich begleite Sie nach Haus!«
»Ich danke Ihnen, Herr Winkelmann, aber Herr von Reitzenstein hat mich schon darum gebeten.«
Da packte er ihr Handgelenk und zischte mit heiserer Stimme: »Das wird er nicht tun.«
»Aber ja, er wird es tun,« und sie hatte ihn eisig angesehen und versucht, sich von seinem Griff zu befreien.
»Weib, du bringst mich um den Verstand,« zischte er und drückte ihr Gelenk, daß sie hätte aufschreien mögen.
Da ließ sie einen Blick über ihn gleiten, so voll Verachtung und Kälte — — und er gab sie frei.
Dann saß sie wieder mit Reitzenstein im Auto wie damals. Hungrig und erwartungsvoll hatte der kleine Leutnant sie angesehen. Schweigend saßen sie zusammen. Sie fühlte, wie er ihr näher kam, wie sein Körper an den ihren drängte. Jetzt versuchte er seinen Arm um ihren Nacken zu schlingen, da sagte sie: »Wollen Sie, daß ich den Wagen halten lasse?«
[S. 174]
»Darf ich dich nicht küssen?« flehte er.
»Sie vergessen, Herr von Reitzenstein, daß mein neulicher Einfall einer Laune entsprang. Wenn ich geahnt hätte, daß Sie auch nur einen Gedanken daran verschwendeten, hätte ich ihre Begleitung nicht angenommen.«
»Das Spielen mit dem Feuer könnte Ihnen gefährlich werden, Fräulein von Wangenheim.« Sein Blut, das durch die Nähe dieser Frau und durch die Möglichkeit ihrer Hingabe in Aufruhr war, jagte wild durch seine Adern.
»Ich könnte Sie jetzt in meine Arme nehmen, könnte Sie zwingen, mir zu Willen zu sein,« preßte er leidenschaftlich hervor.
»Sie werden das Vertrauen einer Dame nicht mißbrauchen,« sagte sie ruhig.
»Ich bin kein Räuber. Sie taten gut, sich mir anzuvertrauen, ein anderer hätte die Situation ausgenutzt.«
»Mir gegenüber nicht.«
»Seien Sie nicht zu sicher. Es ist ein altes Sprichwort: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.«
Sie lachte. »Sprichwörter sind nie zutreffend und dieses schon gar nicht.« — — —
»Lächerlich,« murmelte Gerda, als sie an seine Warnung dachte. »Ich weiß mich zu schützen.«
Leichtsinn!
War sie leichtsinnig geworden?
Nein, leben wollte sie! Leben und herrschen!
[S. 175]
Fort mit den Grübeleien und Bedenken.
Auf sie wartete das Leben, ein schillerndes, leuchtendes Leben.
Sie wurde sich ganz klar. Sie mußte vorwärts. Sie brauchte die Menschen, diese Menschen, deren Genossin sie geworden war. Sie erkannte die Wirrnis, der sie entgegenschwebte. Erkannte, daß sie im Begriffe stand, sich in einen wilden Strudel von Äußerlichkeiten zu stürzen.
Sie fühlte sich plötzlich unsäglich zurückgestoßen, ein tiefes Erschrecken überkam sie.
Sie mußte sich retten.
Wovor?
Was tat es, wenn die Seele verkümmerte?
Hoch, aufwärts, siegen und herrschen. Bezwingen die gemeine Masse!
Künstlerin!
Vor ihr lag der Weg zum Ruhm. — — —
Winkelmann steht Gerda gegenüber.
»Ich bin gekommen, Sie um Verzeihung zu bitten, gnädiges Fräulein.«
Sie neigt das Haupt und bedeutet ihm, Platz zu nehmen. Ihre Augen gleiten in grenzenloser Gleichgültigkeit über ihn hin, hochmütig schürzt sie die Lippen. »Es ist mir gänzlich unverständlich, was Sie zu diesem Benehmen veranlassen konnte. Ich bin mir nicht bewußt, Ihnen ein Recht dazu gegeben zu haben.«
»Fräulein von Wangenheim, Sie wissen es, daß ich[S. 176] von einer grenzenlosen Leidenschaft für Sie beherrscht werde. Einer Leidenschaft, wie ich sie so stark noch nie empfunden. Eifersucht raubte mir die Beherrschung. Verzeihen Sie mir.«
»Es tut mir leid für Sie, Herr Winkelmann, daß Ihr Begehren — denn Ihre Leidenschaft ist doch nur die Umschreibung dieses Begriffs — so ganz aussichtslos ist.«
Er fährt auf. »Kennen Sie eine Leidenschaft ohne Begehren? Ja, ich begehre Sie, mit all meinen Sinnen begehre ich Sie. Ich weiß, daß Sie keinen Funken von Gefühl für mich empfinden, und trotzdem liebe ich Sie. Ja, ich liebe Sie. Alles würde ich hingeben, um Sie besitzen zu können, selbst meine Freiheit. Ich würde Sie bitten, meine Frau zu werden, wenn ich nur die leiseste Hoffnung hätte, daß sie ›ja‹ sagten.«
»Und wenn ich nun aus Berechnung ja sagte? Sie sind reich, haben Einfluß —«
»Sie würden mich überglücklich machen.«
Sie sieht ihn spöttisch an. »Besitz ergreifen würden Sie! Nein, ich danke für einen goldenen Käfig, ich brauche meine Freiheit.«
* *
*
Ebba saß auf ihrem Fensterplatz im Erker. Das Fenster hatte sie geöffnet, und eine warme, laue Luft strömte[S. 177] herein. Sonnenschein durchflutete die Straße. Es schien, als wollten die letzten Märztage den Frühling bringen.
Sie konnte sich nicht freuen des Sonnenscheins, es lag etwas in der Luft, was sie belastete.
Vor ihre Seele traten die beiden Menschen, die sie lieb hatte.
Lukas! Inge!
Lukas war nicht wiedergekommen, seit jener verhängnisvollen Stunde, in der er ihr seine Schuld bekannt. Schämte er sich? Reute ihn seine Offenheit? Wohl hatten sie sich ein paarmal getroffen, aber unter Menschen, wo sie keine Gelegenheit zu einem herzlichen Wort fand. Ob er sich mit Thea ausgesprochen? Ihre Schwägerin war lustig, oberflächlich und genußsüchtig wie stets. Sie streute mit vollen Händen das Geld zum Fenster hinaus. Wozu das große Fest? Warum ließ er sie noch immer gewähren?
Und Inge? Das Kind machte ihr Freude. Mit der ganzen Gewalt ihrer jungen fünfzehnjährigen Seele hatte sie sich an sie geklammert. Nur zu ernst war sie geworden. Brach auch oft der alte stürmende Übermut durch, so hatte sie doch meist schwermütige Tage. Dann seufzte sie und meinte, das Leben sei doch mehr ernst als heiter, und sie könne gar nicht begreifen, wie man so in den Tag hineinleben könne, wie Mama. Papa sei jetzt oft still und traurig. Oft bleibe er ruhig zu Hause sitzen und laufe gar nicht in Eile davon wie früher. Dann[S. 178] wollte er, daß sie bei ihm sitze, und ihm erzähle. Aber etwas bedrücke ihn. Sie hatte es wohl gemerkt. ›Ach, Tante Ebba, Papa tut mir eigentlich schrecklich leid, kannst du ihn denn nicht fragen, ob wir ihm helfen können?‹
›Weißt du, Tante Ebba‹, sagte sie dann nach einer Pause, ›ich glaube, es könnte viel gemütlicher bei uns sein, wenn Mama nicht da wäre.‹
›Aber Inge, wie kannst du so etwas sagen‹, hatte sie ihr vorgeworfen.
›Du kannst es mir glauben, sie bringt Unruhe ins Haus. Gemütlich ist es nur, wenn sie nicht da ist.‹
›Du darfst nicht so denken, Inge, und so etwas nicht aussprechen.‹
›Ich muß aber offen zu dir sein — ich denke doch so. Papa hätte es auch viel besser.‹
An dies Gespräch mußte sie denken.
Was würde werden?
Wie würde Thea die Forderung, sich einzuschränken, aufnehmen?
Da wurde die Tür aufgerissen und Inge stürzte bleich, in voller Aufregung, ins Zimmer.
»Tante Ebba, komm, komm schnell zu Papa! Er hat sich eingeschlossen. Ich habe gehört, wie er gestöhnt hat, und nun sitzt er ganz allein und läßt niemand zu sich, komm schnell, Tante Ebba, komm schnell!«
Ebba vermochte sich nicht zu rühren. Starr vor Schrecken starrte sie auf das junge Ding zu ihren[S. 179] Füßen. Inge war vor ihr niedergesunken, warf den Kopf auf ihren Schoß und weinte herzzerbrechend.
»Es ist schrecklich, Tante, denn ich bin schuld, ich habe es gewünscht, und nun ist es so gekommen. Ich dachte, es ist gut für Papa, und nun leidet er so!«
»So sage doch nur, was ist geschehen?«
»Sie ist fort, heut in der Früh. Als Papa nach Hause kam, lag der Brief auf seinem Schreibtisch. — Und sie kommt nicht wieder, hat sie geschrieben, er braucht gar nicht darum zu bitten — sie braucht viel Geld — Luxus ist ihr Lebensfreude — — Papa hat es halblaut gelesen und immer wieder gelesen und wußte nicht, daß ich neben ihm stand — und dann hat er so schrecklich gestöhnt und ist auf den Stuhl gesunken. — Ich weiß nicht, was noch drin stand — er stöhnte nur immer: ›Auch das noch, auch das noch!‹« — — —
Und nun stand Ebba vor dem gebrochenen Mann, der in Selbstanklagen sich erging.
»Nur auf Gelderwerb ging ich aus und vergaß darüber die Pflichten, die ich meiner Frau, meinem Kinde, schuldig bin. Statt sie vor den Gefährnissen, den Verführungen, die allerorten auf ein junges, schönes Weib lauern, zu schützen, ließ ich sie gehen — unbeaufsichtigt habe ich sie den Gefahren ausgesetzt. Ebba, sie war leichtsinnig, genußsüchtig, aber nicht schlecht! Mein Gott, die arme Inge! Inge — wo ist Inge? Hast du sie gesprochen?«
Also durchgebrannt! Richtig, auf und davon!
[S. 180]
»›Und damit du nicht auf den Gedanken kommst, mich zurückholen zu wollen, ich gehe nicht allein — — deine Tür muß mir verschlossen bleiben‹ — — so hat sie geschrieben, Ebba. Und kein Wort über ihre Tochter.«
»Sie ist ein schlechtes, ehrvergessenes Weib, Lukas,« sagte Ebba hart, »streiche sie aus deinem Herzen und lebe für dein Kind.«
Da sah er sie an und seufzte: »Meinst du, daß ich an dem Kinde nachholen kann, was ich versäumt habe?«
»Das kannst du, Lukas, wenn du ernstlich den Willen hast.«
Da reichte er ihr beide Hände und sprach: »Und du wirst mir helfen?«
»Das will ich.«
* *
*
Vor ihrem vollendeten Werk stand Lotte und wartete auf Gehring. Es war das erste Mal, daß er das Atelier betrat und daß er ihr Werk sehen würde.
Sie hatte ihm wohl erzählt, daß sie beim Schaffen einer großen Arbeit sei, und daß sie viel davon erwarte. Aber nicht hatte sie ihm gesagt, was ihre Absicht und was diese Arbeit für sie bedeutete. Frei und unbeeinflußt wollte sie die Wirkung dieses Werkes auf ihn erproben. —
Und er stand und schaute. Sah und schwieg. Und stand erschüttert.
[S. 181]
Aus einem granitenen Felsenblock ragte ein Ungeheuer. Körper und Kopf waren eine einzige Fratze, umgeben von Hunderten von Fangarmen. Der Ausdruck dieses Hauptes machte das Blut erstarren. Gier, Lüsternheit und Mordlust thronten auf diesem Antlitz. Der Ausdruck dieser Leidenschaften, dieses menschlich scheinenden Hauptes, machten es zum Tier. Die Fangarme schienen zu leben, sich auszustrecken in unersättlicher, nie endenwollender Gier, und über dem allen war ausgegossen ein Ausdruck des Hohnes, als wollte dieses Ungeheuer sich selbst verspotten ob seiner Unmenschlichkeit.
Darunter stand in großen Lettern:
— Der Mensch —
»Das ist eine furchtbare Anklage.«
In ihr jubelte es.
Es wirkte. Er hatte sie verstanden.
Er trat auf sie zu, umschlang sie und sagte: »Armes Weib.« Sie setzten sich nieder und er bat: »Wie kamst du dazu?«
Und sie erzählte. Erzählte, wie durch jenes Vorkommnis ihr Leben und Fühlen ins Herz getroffen. Wie eine eiserne Kette sich um sie gelegt, fest und unlöslich, die sie einschnürte, jedes Liebesgefühl in ihr erdrückte, aber wie sie sich endlich durchgerungen, wie sie den Willen gefunden, sich zu befreien, und nun tatsächlich frei geworden sei, frei durch ihr Werk und durch ihn.
[S. 182]
»Und nun will ich leben, durch dich, mit dir, ein Leben in Liebe,« schloß sie und schmiegte sich an ihn.
»Dein Leben gehört der Kunst — — Du bist eine große Künstlerin.« Er war aufgestanden und ging im Atelier auf und ab.
Sie sah ihn an. Erstaunt und dann voll Schrecken.
»Deine Kunst geht über deine Liebe.«
»Was sagst du?« Die Stimme versagte ihr, sie konnte nur flüstern. »Paul, weißt du nicht, daß ich dich liebe, wahr und wahrhaftig liebe?«
»Du liebst mich, Lotte — — ja — — aber du liebst auch deine Kunst — mußt sie lieben, denn sonst könntest du nicht so etwas schaffen. Sage, kannst du dir ein Leben denken ohne deine Kunst?«
»Nein!«
»Ich müßte teilen, Lotte.«
»Willst du, daß ich meiner Kunst entsage?« stammelte sie.
»Das wäre eine Sünde. Eine Künstlerin wie du gehört der ganzen Menschheit. Das ist es ja eben, ich darf dich der Kunst nicht abwendig machen, und — laß mich offen sein — ich kann mir kein Leben an der Seite einer Frau denken, einer bedeutenden Frau, in dem ich gezwungen wäre, die zweite Stelle in ihrem Leben einzunehmen.«
»Willst du damit sagen, daß du dich geirrt und daß du mich nicht liebst?«
»Ich liebe dich. Aber die Größe deines Künstlertums[S. 183] wird unsere Liebe töten. Ich liebe dich und habe dich als mein Weib, als die Mutter meiner Kinder geachtet. Aber heut, seit ich das gesehen« — — und er wies auf ihr Werk — — »heut weiß ich, daß du Frau und Mutter erst neben deiner Kunst sein kannst.«
Sie sah ihn an. Scharf standen seine herben Züge gegen den dunkelnden Abendhimmel. Sie sah, daß er litt.
Und eine Angst, eine grenzenlose Angst um ihr entschwebendes Glück ergriff sie. Mit einem schluchzenden Laut umklammerte sie seinen Hals.
»Sage doch das nicht. Wenn du wüßtest, wie die Liebe über mich gekommen ist. Erst die Liebe, Paul, und dann die Kunst.«
Er küßte sie. »Lieben sollt ihr schon, ihr gottbegnadeten Künstler, aber heiraten solltet ihr nicht!«
Da zuckte sie zusammen.
»Erschrick nicht. Ich — — ich kann das nicht — — mit dir nicht, Lotte — — du bist mir heilig — —«
Da wollte sie aufschreien: »So nimm mich doch — ich bin dir heilig — du stellst mich der gleich, die du zur Frau und Mutter begehrst — aber zur Ehe magst du mich nicht — aber so nimm mich doch!« — — Ins Gesicht hätte sie es ihm schreien mögen, aber sie brachte keinen Laut hervor. Fester nur krampften sich ihre Hände um seinen Nacken, und durstig senkten sich ihre Lippen auf die seinen.
[S. 184]
Und er trank, trank von diesen dürstenden Lippen, preßte sie fest an sich und riß sich los. — — —
Armselig, verlassen, kam sie sich vor. Das Glück, das sie in Händen gehalten, — eine buntschillernde Seifenblase — aufgelöst in nichts!
Sie sprang auf. Nein, es konnte — konnte nicht sein.
Wie hatte er gesagt? ›Deine Kunst geht über deine Liebe.‹
Sie rang die Hände, und eine jammernde Qual stieg in ihr auf.
Ja, sie war Künstlerin — aber sie war auch Weib.
Ihr Gesicht verzerrte sich, und ihr Atem ging schwer.
»Weib,« stöhnte sie, »fieberndes, verlangendes Weib! Was soll mir die Kunst, wenn sie mich der Liebe beraubt?«
Mit drohend erhobener Faust schritt sie auf ihr Werk zu: »Oh, du, du — —«
Lüsterne Augen blickten ihr entgegen, schwellend geöffnete Lippen gierten nach den ihren, Arme tasteten und befühlten ihren Körper — — da sank sie laut schluchzend nieder und stammelte: »Gut, daß du gingst, du hast recht getan.«
Und die Schatten fielen, fielen auf das einsame Weib, das allein blieb mit seinem Werk, das ihr die Liebe gebracht und wieder geraubt.
* *
*
[S. 185]
»Es ist schwer, Ebba, die Flammen zu ersticken, wenn sie schon so hell brannten.«
»Lotte, — ich glaube, er wird den Weg wieder zurückfinden.«
Lotte schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht. Seit ich ruhiger geworden, sehe ich klarer. Er fürchtet, verdunkelt zu werden. Es ist dies vielleicht kleinlich gedacht, aber — ich kann ihn verstehen. Mich quält jetzt nur eins: Warum mußte erst die Hoffnung in mir erstehen, um wieder erstickt zu werden?«
Ebba lächelte schmerzlich und legte ihre Hand auf Lottes Schulter. »Sehen nicht fast alle Menschen ihre Hoffnungen sterben? Was habe ich zu Grabe getragen, was mein Bruder? Noch viele könnte ich Ihnen nennen.«
Lotte wehrte ab. »Ich weiß — ich weiß. Ich stand in diesen Tagen außerhalb aller Vernunft. — Aber ich kehre schon wieder zurück. Wie gut Sie sind, Ebba. Und wie Sie Geduld mit mir haben. Ist es nicht sonderbar? Alles kommt mit seinen Schmerzen zu Ihnen gelaufen und bittet: ›Hilf mir tragen!‹ Und Sie gütige, liebe Frau, sind bereit dazu. In meinem nächsten Werk will ich Sie als leibhaftige Nächstenliebe verherrlichen. Auf einem Felsen sollen Sie thronen, Ebba — einsam — Ihr zuckendes Herz in den Händen — und zu Ihren Füßen die leidende Menschheit mit erhobenen Händen — hilf — gib — tröste —[S. 186] und Sie geben Ihr Herz und helfen — trösten, mildern die Leiden — und darunter soll stehen:
— Wie der Mensch sein soll.« —
»Nein, Lotte, darunter soll stehen: — Der Mensch. — Im Gegensatz zu dem anderen Menschen, den Sie geschaffen. Glauben Sie an das Gute im Menschen, und Sie werden gute Menschen finden.«
»Gute Menschen! Gut ist nicht gütig. Gütig sein, bedingt Nächstenliebe. Ich bin vielleicht ein guter Mensch, aber ich bin kein gütiger Mensch. Glauben Sie, daß ich Nächstenliebe empfinde? Sie glauben es? Nein, Ebba, da täuschen Sie sich. Ich ärgere mich viel zu sehr über die Menschheit, um sie lieben zu können.«
»Ihr Ärger beweist ja gerade, daß Sie die Menschen lieben.«
»Ich liebe nur Sie, Ebba, und ich möchte, daß Sie mir stets Ihre Freundschaft bewahren.« — — —
Morgen wird es von ihr gehen, ihr Werk, hinaus in die Werkstatt — dann wird sie ganz einsam sein — einsam und allein.
Und ihre Kunst? War sie einsam, solange sie die hatte? War es nicht immer so gewesen?
Warum fror sie?
In ihr war tobende, glühende Hitze. Ihr Blut brannte. Und dennoch fror sie.
Eine namenlose Sehnsucht ließ sie nicht zur Ruhe kommen.
[S. 187]
Wenn er dennoch wiederkäme?
Wiederkäme und sie in seine Arme nähme und spräche: ›Sei mein Weib, aber entsage deiner Kunst!‹ — — Was würde sie antworten?
Ich kann nicht sein ohne dich, ich will entsagen. Liebst du diesen Mann so sehr, daß du deiner Kunst entsagen willst, du, eine geweihte Priesterin? flüsterte eine Stimme in ihr.
Und sie erschrak.
Nein, dieses Opfer konnte sie ihm nicht bringen. Die Liebe! Was war die Liebe gegen ihre Kunst? Endzweck nur für sie, ihrer Kunst zu dienen. — — —
»Was wollen Sie, Arno Stürmer?« Lottes Stimme scholl hart und laut durch den Raum.
»Ich wollte Ihr Werk noch einmal sehen, hier sehen, wo es geschaffen, denn ich weiß, daß es morgen von Ihnen geht, das ist immer ein großer Moment für den Künstler. Und ich wollte auch Sie noch einmal sehen, ehe ich reise, Lotte. Ich fahre morgen nach München.«
»München! Ich wollte, ich könnte mit.«
»So kommen Sie, werfen Sie alles hinter sich und kommen Sie mit. Oder« — er sah sie durchdringend an. »Lotte,« sagte er leidenschaftlich, »Sie sind frei —«
»Frei!« — sagte sie spöttisch.
»Nun wohl — machen Sie sich auch innerlich frei!«
[S. 188]
Er sah in ihre bleichen Züge, und ein heißes, wildes Begehren überkam ihn.
»Lotte, ich liebe dich! Laß dich umhüllen von meiner Leidenschaft, komm mit mir!«
Er umschlang sie, bedeckte ihre Augen, ihren Mund mit Küssen.
Sie stand reglos, ohne Gedanken im betäubten Hirn, und dann kam ein Schmerzgefühl über sie, das zerrte und riß in ihr: wie arm, wie arm bist du doch! Liebe — Muttergefühl — Weibesschicksal, alles in weite, weite Fernen gerückt. Und dann wieder: nein, die Liebe ist nicht der Zweck des Lebens der Frau. Der Zweck, ihre Erfüllung, ist das Kind.
Und da ist ihr, als ob sie sich klammern müsse an diesen einen mit Leidenschaft und wilder Verzweiflung. Sie schlingt ihre Arme um seinen Nacken und küßt ihn mit wilden, wahnsinnigen Lippen. Eine bebende, hungernde Erwartung ist in ihr. Ihr unerlöstes Ich bettelt um Erfüllung ihres Daseins.
Und er bedeckt ihr Gesicht, ihren Nacken, ihre Schultern mit sengenden, glühenden Küssen.
Und sie geht unter in aufgelöste, glühende Wonnen. Ein Brand ist in ihr, ein Brand, der nichts übrigläßt als ein sinnlos seliges Gefühl und eine einzige jauchzende Hingabe. — — —
Sie schlägt die Augen auf und sieht über sich gebeugt ein wildes, bärtiges Gesicht, sieht in glutvolle, begehrliche[S. 189] Augen. Sie will empor, will ihre weißen Glieder lösen aus nervigen Männerarmen. Ihr Mühen ist vergebens. Fest geschmiedet liegt sie in seinen Armen. Wilde, sinnbetörende Worte klingen in ihr Ohr, und heiße Liebkosungen rauben ihr den Atem.
Und er jauchzt auf: »Hab ich dich endlich im Bann? Wirf deinen Stolz ab, sei mein wildes Zigeunerweib. Laß die Haare flattern und jauchze mit mir. Die Stunde ist da, in der dein Schicksal sich erfüllt.« Wild hat er sie emporgerissen, und die zwei Adamsmenschen stehen im Dämmer des weiten Raums und starren sich stumm in die begehrlichen Augen. Und ihre Augen lassen ab von dem Manne und wandern. Wandern und suchen. Da steht sie. Gespenstig aus dem tiefen Schatten taucht sie blendend weiß empor: begehrliche Augen — gierige Lippen — die Riesenfangarme öffnen sich, um neue Opfer aufzusaugen — sie regen sich zu Hunderten — auch der gierige Mund, er wird lebendig — ein Hohnlachen kommt auf seine Züge. — — —
Da hallt ein irrer Schrei. Das Weib stürzt durch den Raum, greift nach dem Meißel und stürzt auf die Gorgo zu. Und nun beginnt ein Ringen, ein heißes Ringen. Hoch in der Rechten schwingt das Weib den Hammer. Der Mann zerrt ihren Arm herunter. Er schwebt gerade über seinem Haupt. Ihre Linke reißt seinen Kopf an ihre Brust, und aus der schwach werdenden Rechten fällt der Hammer zur Erde nieder. Sie[S. 190] steht einen Augenblick ohne Besinnung, dunkle Nebel sind ihr vor den Augen. Sie beginnt zu zittern. Dann nimmt der Mann sie in seine Arme, trägt sie auf das Ruhebett, wickelt sie zart in die schützende Decke und kniet vor ihr nieder.
»Weib — geliebtes du — bedenke doch, daß du lebst, jetzt erst lebst! Ein Leben ohne Liebe, das ist ein Leben ohne Schicksal. Über allem Wissen, über aller Kunst steht die Liebe, die Leidenschaft. Sie erst macht das Leben blut- und glutvoll. Wolltest du kein Schicksal, schrie nicht alles in dir nach Erlösung, nach Befreiung? Was klagst du? Ist nicht Liebe — Glück? Rausch — Seligkeit?«
Und wieder fühlt sie heiße, sinnverwirrende Küsse auf ihren Lippen.
Und unter dieser Glut spürt sie einen Reiz und wollüstige Qual, und sie versinkt wieder.
»Siehst du, wie du mich liebst,« flüstern unter Liebkosungen seine Lippen.
Da schreit sie auf: »Nein, ich liebe dich nicht, ich liebe dich nicht! Ich liebe nur das Kind, das du mir schenken sollst. Hörst du es?«
Da lacht er auf: »Du urgesundes Weib du — — und inzwischen umhüllst du mich mit deiner Liebe.« — —
Und als er gegangen, als die Schatten der Nacht dunkel um sie lagerten, da kam ein blendendes Licht und erschreckte sie.
[S. 191]
Sie hatte sich einem Manne hingegeben, der ihrem Herzen ein Fremder war. Etwas dunkel Unbegreifliches, daß sie nie hatte anerkennen wollen, hatte sie diesem Manne in die Arme getrieben.
War sie besser, als die anderen, die zu geißeln sie sich anmaßte? Hatte sie sich nicht aufpeitschen lassen zu wilder Leidenschaft, zu sinnlicher Begierde?
Warum? Was lebte in ihr?
Und wieder schoß die züngelnde Flamme in ihr empor. Aller Sehnsucht Erfüllung, aller Träume Endziel — das Kind. Rein bleibt die Frau, die sich einem ungeliebten Manne hingibt, zur Erfüllung ihrer Mutterschaft, wenn er der einzige bleibt. — — —
Und anderen Tags, als ihr Werk von ihr gegangen, stehen sie sich gegenüber.
Scheu sieht sie zu ihm empor.
Stark, fest und gesund steht er vor ihr. Seine schwarzen Augen sprühen Flammen und funkeln in die ihren.
Jetzt lacht er dröhnend auf, nimmt sie in seine Arme und setzt sich auf das Ruhebett, sie auf seinen Knien haltend.
»Mädchen, Mädchen, du weißt ja gar nicht, wie glücklich ich bin, du, mein kleines Zigeunerweib! Komm, reich mir deine Lippen und laß mich trinken —«
Den Kopf weit zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, ruht sie in seinem Arm.
»Nun führe ich dich in einen Zaubergarten, mein[S. 192] Mädchen, in den Zaubergarten der Liebe, in dem Wonnen dich erwarten. Untertauchen sollst du mit mir in ein Meer von Glückseligkeit.«
Und sie ließ sich küssen und dachte an den, der von ihr gegangen. Liebte sie jenen oder liebte sie diesen?
Sie konnte nicht begreifen, wie er so schnell in ihr Leben gekommen war, und daß er ihr Schicksal geworden.
Gleichwohl. Sie hatte einen Menschen gefunden, dem sie etwas sein durfte, dem sie Glück spenden konnte.
Sie liebte ihn, weil er ihre arme, hungernde und frierende Seele an sich genommen, und weil er sie zum Weibe machte.
»Lotte,« flüsterte er unter Küssen, »gibt es etwas hier, was Dich zurückhält?«
»Nein!«
»So fahren wir morgen zusammen nach München, willst du?«
Da nickte sie stumm, legte ihren Arm um seinen Nacken und schmiegte ihre Wange an die seine.
Es war ein heißer Strom, der sie verband. Hier die sinnliche Gier — dort die Begierde nach dem Kinde.
* *
*
Ebba, ich weiß nicht, ob ich glücklich bin — denn ich lebe unbewußt. Ich bin eingehüllt in Wolken.[S. 193] Um mich sprühen Funken, zucken Blitze, die für Sekunden die Wolken vertreiben. Ich weiß nicht, ob ich, nachdem die Wolken zergangen sind, glücklich sein werde. Nur das weiß ich, daß ich so tun mußte, wie ich getan. Mein Schicksal hat mich erreicht.
Ebba — ich bin mit einem Manne fortgegangen. Er begehrte mich, und ich ließ mich nehmen. Wir leben in einem Rausch, in einem Taumel. Er liebt mich herzlich und ehrlich, das fühle ich — aber ohne Bestand.
Frei wir beide — so soll es sein.
Und ich, Ebba, ich liebe ihn, denn er soll der Vater meines Kindes werden.
Das Kind wird mich entsühnen. Bleibt mir das versagt, so gehöre ich zu den Gezeichneten, und Du wirst mich nicht wiedersehen.
Ich warte.
Werde ich zu den Verstoßenen oder zu den Auserwählten gehören? — — —
Lotte — — das Schicksal ist stärker als wir. Du gehst deiner Bestimmung entgegen. Sei nicht verzagt. Du gehörst zu den Auserwählten, auch wenn deiner Sehnsucht Erfüllung ausbliebe.
Einem, der die Menschen liebt, ist auch das Unbegreiflichste nicht fremd. — — —
* *
*
[S. 194]
Unter Stürmen und Regenschauern war der Herbst ins Land gezogen. Berlin rüstete für die beginnende Saison. Auch die letzten Zugvögel waren zurückgekehrt in den heimatlichen Hafen, bereit, sich mit neugewonnenen Kräften in Vergnügen, Geschäft und Modesorgen zu stürzen. Vor den Schaufenstern staute sich die Damenwelt, um die kommende Mode zu begutachten. Noch enger der Rock, noch schlanker die Linie. Die fülligen Damen seufzten. Wieder auf Süßigkeiten und Leibspeisen verzichten oder eine Entfettungskur durchmachen.
Oh, du törichte Mode, zwingst sie alle in deinen Bann. Auflehnen? Ein Ding der Unmöglichkeit!
Jede Mode ist schön. Sie wirkt unschön, sobald sie vorüber ist.
Vor den Auslagen des K. d. W. stand Gerda von Wangenheim und studierte eine grasgrüne Gesellschaftstoilette. Ein herrliches Kleid für ihr Konzert wäre dies! Sie seufzte. Unerschwinglich. Mit Schaudern dachte sie an die Vorwürfe ihrer Mutter. Immer nur Geldkosten! Keine Aussicht auf Einnahme! Du mußt sparen, mußt dich bescheiden! Weiter bekam sie nichts zu hören.
Der Vater war lieb und gut zu ihr gewesen. Hatte sie nur einmal in sein Zimmer genommen und sie gefragt, ob sie nun bald auf Einnahmen rechnen könne, denn lange — lange reichte es nicht mehr aus. Da[S. 195] hatte sie ihn liebevoll umhalst und ihm gedankt und gesagt: ›Noch diesen Winter werde ich mit Stundengeben anfangen. Es wird nicht viel sein, aber der Anfang ist dann gemacht. Ich habe viel Beziehungen angeknüpft, man wird mir helfen. Nur mein erstes Konzert, lieber, guter Papa, das kostet noch, aber dann — du mußt an mich, an meine Kunst glauben. Es wird schon kommen, dann zahle ich alles zurück, dann soll das alles den Geschwistern zugute kommen.‹ Da hatte er gelächelt und geantwortet: ›Ich habe immer an dich geglaubt, Gerda.‹
Geld verdienen! Stunden geben! Sie schauderte, wenn sie an dieses, ihr Versprechen, dachte. Wer sollte Stunde nehmen, bei ihr, der jungen, unbekannten Anfängerin? Wieviel Schüler müßte sie haben und welches Honorar müßte sie verlangen, um auf eigenen Füßen stehen zu können?
Das Leben in Berlin kostet Geld. Selbst in zwei, drei Jahren würde sie nicht soviel verdienen können, wie sie brauchte, oder aber — es geschähe ein Wunder. Um vorwärts zu kommen, gebrauchte sie den Luxus, es ging nun einmal nicht anders. Würde sie bescheiden auftreten, würde sie beiseite gestellt und vergessen werden.
Das grüne Kleid! Wie herrlich es zu ihrem Haar stehen würde! Man könnte es von einer Schneiderin nacharbeiten lassen.
»So in die Modenschau vertieft, gnädiges Fräulein?«
[S. 196]
Sie wandte sich um. »Herr Winkelmann! Nein, wie sich doch alles wieder zusammenfindet.«
»Die Motten umschwirren das Licht.«
»Nehmen Sie nun sich als Motte und bin ich das Licht? Oder meinen Sie damit den Schwarm, der die Großstadtluft atmet?«
»Eigentlich meine ich beides. Wie die Insekten blindlings dem Lichte nachziehen, ob es ihnen auch Tod und Verderben bereitet — so zieht uns, die Weltkinder, immer und immer wieder die Großstadt in ihren Strudel hinein. Und ich — mein gnädiges Fräulein — ich kenne mein Schicksal nicht, aber ich weiß, daß ich dem Feuer, das mir leuchtet —« und er warf einen bezeichnenden Blick auf die Fülle ihres Haares — »folgen muß in Tod und Verderben oder in Seligkeit und Glück.«
»Also, Sie sind unverändert zurückgekehrt?«
»Unverändert.«
Langsam schlenderten sie die Tauentzienstraße entlang. »Und wo haben Sie die Sommermonate verlebt, gnädiges Fräulein?«
»Ich war erst mit einer Freundin an der Ostsee, wo wir fleißig gebadet haben, und die übrige Zeit habe ich in meinem Elternhaus verbracht.«
»Und jetzt studieren Sie fleißig für Ihr Konzert, wie ich vermute?«
»Sehr fleißig. Es gibt noch viel Arbeit bis dahin[S. 197] zu bewältigen. Je näher der Termin rückt, je weniger bin ich mit meinem Können zufrieden.«
»Haben Sie den Tag schon festgesetzt?«
»Ja, die Konzertdirektion drängt, ich werde mich morgen entscheiden.«
»Lassen Sie es mich zeitig wissen, damit ich für Sie arbeiten kann. Ich muß mich ja wohl doppelt ins Zeug legen, da Sie die Hilfe von Thea Westphal entbehren müssen.«
Sie sah ihn fragend an.
»So wissen Sie nicht?«
»Nichts weiß ich. Was ist es mit ihr?«
»Auf und davon ist sie gegangen.«
»Allein?« entfuhr es ihr.
Er lachte. »Natürlich mit Gernsheim. Sie sind erst nach Paris, dann Nizza, Monaco — den üblichen Weg. Dort hat er alles verspielt, und sie hat sich einem schwerreichen Russen ergeben, der sie mit nach Petersburg genommen hat.«
»Abscheulich!«
»Was wollen Sie? Naturanlage und Unbeherrschtheit! Modern, weiter nichts.«
»Sie können es doch nicht gutheißen, von Mann und Kind einfach davonzulaufen?«
»Warum nicht? Wenn es einen dazu treibt?«
»Würden Sie ebenso sprechen, wenn es Ihre Frau gewesen wäre?«
[S. 198]
»Sicherlich. Ich würde keine Frau halten, die von mir strebt. Wozu?«
Sie waren am Steinplatz angekommen und bogen in die Uhlandstraße ein. Vor der Tür ihrer Pension verabschiedete sie sich. Er ging den Weg, den sie gekommen, zurück. Und er dachte an den Abend, an dem er sie zum ersten Male nach Hause begleitet hatte. Wie stolz und unnahbar sie gewesen, und wie sie ihn gereizt durch ihre Kälte. Ihm, der gewöhnt war, zu siegen, ihm wurde hier ein Halt geboten. Und wieder stieg das Begehren heiß in ihm empor: du mußt sie bezwingen, du mußt sie erkämpfen, diese Lippen in heißem Kuß entflammen, diesen Leib bebend an dich pressen.
Sie spielte mit ihm. Nein, er ließ nicht mit sich spielen. Sein mußte sie werden. — —
* *
*
Winkelmann hatte sein Versprechen erfüllt. Er hatte für sie gearbeitet. Der Saal war dreiviertel gefüllt von einem Publikum, das seine Billetts bezahlt hatte! Etwas Unerhörtes für eine junge Anfängerin.
Und als sie stand, umrauscht vom Jubel ihrer Anhänger, ihrer Freunde, die, hingerissen von ihrer Schönheit, immer von neuem Beifall klatschten, als man ihr Blumenspenden aufs Podium reichte, da fühlte sie sich als große, gefeierte Künstlerin.
[S. 199]
Und als sie nach dem Konzert bei einer Feier mit ihren Freunden und Bekannten beisammen saß und alle ihr Bewunderung zollten, da fühlte sie sich in einem Siegestaumel, da sah sie ihre Zukunft gesichert.
Strahlend gab sie am nächsten Tage eine Depesche an ihren Vater auf: »Großer Beifall. Unkosten gedeckt.«
Und als zwei Tage vergangen, da wurde aus der großen, gefeierten Künstlerin eine bescheidene Anfängerin. ›Stimme und Vortragstalent wohl vorhanden, aber noch viel Studium nötig. Für eine junge Anfängerin eine ganz respektable Leistung. Aber weiterarbeiten, sich bewußt sein, daß man Anfängerin ist, trotz des gezollten Beifalls der guten Freunde.‹
Und dann, dann wurde sie ganz klein. ›Mehr wohl die körperlichen Vorzüge, die entzückende, moderne, grüne Toilette, haben das Publikum veranlaßt, dieser jungen Anfängerin einen Beifall zu zollen, der ihrem Vortrag nicht entsprach.‹ — —
Also arbeiten — studieren — weiter. Noch lange nicht am Ziel!
Sie biß die Zähne zusammen und stürzte sich in ihr Studium. Ihr Lehrer war zufrieden gewesen. ›Was wollen Sie denn noch mehr?‹ hatte er gesagt. ›Sie sind doch eine Anfängerin. Stimme und Vortrag hat man gelten lassen, darauf bauen Sie auf. Dachten Sie denn, mit dem einen Konzert würden Sie erreichen, was andere in zwanzig, dreißig kaum erreichen? Und das wollte ich Ihnen auch sagen, allzuviel Beifall[S. 200] der Freunde schadet nur, wenigstens bei der Kritik. So — und nun arbeiten Sie fleißig weiter, und im Frühjahr geben Sie das zweite Konzert.‹ —
Und dann war einer gekommen, der hatte ihr ein Anerbieten gemacht. ›Ich will Sie berühmt machen. In einem Jahre sind Sie berühmt, ich garantiere Ihnen dafür. Sie müssen umsatteln. Sie sollen keine ernsthafte Konzertsängerin werden. Chansons sollen Sie singen. Fein pointierte, ein wenig pikante Chansons. Sie sind eine königliche Erscheinung — glänzend, ausgezeichnet würden Sie wirken — wir würden ein Geschäft machen — Geld verdienen — viel Geld! Sagen Sie ja und Sie sind in einem Jahre berühmt und haben ein glänzendes Einkommen.‹
Sie hatte ihm die Türe gewiesen.
Sie wußte wohl, daß er dieses Anerbieten nicht ihrer Stimme, sondern nur ihrem Körper gemacht hatte.
›Sie werden sich bedenken‹, hatte er gesagt. ›Hier haben Sie meine Adresse, Sie brauchen mich nur zu rufen, ich bin noch immer bereit.‹
Geld, viel Geld!
Es lag ihr im Ohr.
Berühmt! Berühmt im Varieté!
Verächtlich lachte sie auf. — — —
Und dann — dann war das Schreckliche gekommen. Das unglückliche Telegramm: Vater Schlaganfall, komme sofort. — — —
[S. 201]
Voller Entsetzen war Gerda aus dem Elternhause geflohen.
Was sollte nun werden?
Unmögliches hatte man von ihr verlangt, hatte man ihr zugemutet.
Ihre Kunst sollte sie aufgeben? Sie sollte sich einsperren lassen in den Alltag?
Wie hatte die Mutter zu ihr gesprochen?
›Es ist eine brotlose Kunst, Jahre können vergehen, ehe du dir deinen Unterhalt damit erwerben kannst. Und selbst, wenn du mir die Garantie geben könntest, auch nur ein Jahr noch meiner Hilfe zu benötigen, so kann ich selbst dieses eine Jahr dir nicht gewähren, denn ich habe nichts als meine Pension. Der letzte Rest unseres kleinen Vermögens ist draufgegangen für dein Studium. Du hast es durchgesetzt beim Vater, dir gegenüber ist er ja immer schwach gewesen. Es bleibt dir nichts anderes übrig, du mußt hier mit unterkriechen. Du kannst dich der Wirtschaft annehmen, dich der Erziehung deiner beiden Geschwister widmen. Etwas anderes kann ich dir nicht bieten. Was willst du auch? Ich sollte meinen, du hast keinen Grund, unzufrieden zu sein, du weißt, ich war nie einverstanden mit deiner Kunst, gegen meinen Willen hast du es beim Vater durchgesetzt. Ein junges Mädchen unserer Kreise gehört nicht an die Öffentlichkeit.‹ — —
Den Vater hatte sie nicht mehr lebend angetroffen.[S. 202] Er war gestorben, ohne seine Lieblingstochter noch einmal ans Herz gedrückt zu haben.
»Vater, lieber Vater!« zuckten ihre Lippen, und langsam rannen die Tränen über ihre bleichen Wangen.
Was sollte nun werden?
Eingesperrt in den Kreis der Familie?
Hatte sie nicht eben angefangen, ihren vorbestimmten Weg zu gehen? Sie, die bestimmt war, durch ihre Kunst, durch ihre Schönheit, zu herrschen, sollte wieder untertauchen in die vergangene Welt? In eine Welt, in der ihr vielleicht die Versorgung in Gestalt eines Gatten winkte? Eheglück! Kindersegen! Häusliche Sorgen! Ihr schauderte. Nein! Sie hatte, umrauscht vom Beifall der Masse, auf dem Podium gestanden, sie hatte den Rausch des Künstlers, der beherrscht, in seinen Bann zwingt, kennengelernt — sie konnte nicht mehr zurück.
Sie mußte den einmal betretenen Weg gehen — bis zum Ziele gehen.
Geld! Wovon sollte sie leben? Die teuren Stunden bezahlen?
Ein Angstgefühl preßte ihr die Kehle zusammen, und würgend stiegen ihr die Tränen empor.
»Vater, lieber Vater, du hättest Rat geschafft! Nur ein einziges Jahr noch — und es wäre erreicht!«
Sie preßte ihre schlanken Hände an die schmerzende Stirn. Was tun? Zunächst die teure Pension verlassen.[S. 203] Versuchen, durch Stundengeben Geld zu verdienen.
Lächerlich! Auch nicht den vierten Teil dessen, was sie gebrauchte, um ihren Unterhalt und die Stunden zu bezahlen, würde sie verdienen können. Ja, wäre sie berühmt, anerkannte Künstlerin! In Scharen kämen die Schüler und zahlten jeden Preis. Aber so.
Dreihundert Mark — das war ihr ganzer Reichtum. Mit unsäglichen Schwierigkeiten hatte sie die Summe von ihrer Mutter erlangt, um noch einmal nach Berlin zurückkehren zu können, um — wie sie gebeten — in Ruhe mit sich zu Rate zu gehen.
›Es ist ein Verbrechen, das ich begehe,‹ hatte die Mutter gesagt — ›das viele Geld, ich könnte es besser im Haushalt verwenden, aber sei es drum. Es ist im Sinne deines Vaters, wenn ich dir willfahre — gehe noch einen Monat nach Berlin, und kehre vernünftig zurück!‹
Einen Monat!
Vernünftig zurück! Niemals, das war gewiß — aber wie sich weiterhelfen?
Wie angestrengt sie auch sann, sie konnte keinen Ausweg finden. — — —
Als Gerda nach einigen Tagen von einem Spaziergang in die Pension kam, trat ihr Winkelmann, der im Gesellschaftszimmer auf sie gewartet hatte, entgegen.
[S. 204]
»Gnädiges Fräulein — ist es wahr, Sie wollen die Pension verlassen? Sind Sie unzufrieden?«
»Ich werde voraussichtlich Berlin verlassen.«
»Unmöglich! Ihr Studium, Ihre Karriere, die Sie eben erst begonnen —«
»Werde ich aufgeben.«
Sie sagt es bewegungslos. Ruhig und beherrscht sind ihre Züge. Die blasse Gesichtsfarbe erscheint durch das schwarze Kreppkleid noch bleicher, noch durchsichtiger. Aus den rötlichen Haaren scheinen Funken aufzusprühen, sie leuchten im dämmrigen Licht der hereinbrechenden Abendschatten.
Er sieht sie erstaunt an. »Aufgeben — habe ich recht verstanden? Sie wollen der Kunst entsagen? Freiwillig entsagen? Das ist unmöglich! Wer oder was sollte Sie dazu zwingen?«
»Die Verhältnisse.«
Das, worüber sie Tag und Nacht nachgrübelte, was unaufhörlich ihre Gedanken beschäftigte, war willenlos ihren Lippen entflohen.
Er beginnt zu verstehen und schweigt.
Stumm und bleich, hoch aufgerichtet, sitzt sie ihm gegenüber. Unnahbare Kühle weht ihn an. Er muß sie durchdringen. Jetzt gab es einen Weg.
»Wenn zwei Augen sich schließen, tritt oft ein Umschwung der Verhältnisse ein, ich weiß das. Ihr Studium kostet Geld — eine kurze Zeit noch — dann[S. 205] wird Ihnen zurückfließen, was Sie jetzt anwenden. Sie müssen unbeschränkt über eine größere Summe verfügen können, um schnell vorwärts zu kommen, Sparen hilft Ihnen nicht zum Ziel. Sie müssen auftreten können, kleinliche Verhältnisse sind Ihnen hinderlich — gnädiges Fräulein« — er sieht ihr fest und ernst in die Augen — »gestatten Sie, daß ich auf der Deutschen Bank zehntausend Mark auf Ihren Namen niederlege, zu Ihrer freien Verfügung — nein, fahren Sie nicht auf, hören Sie mich bitte ruhig zu Ende. Es ist dies nur eine Summe, welche ich Ihnen vorstrecke, Sie können Sie mir mit Zinsen zurückzahlen, ich schlage Ihnen nur ein Geschäft vor. Es ist für mich eine Kapitalsanlage, und eine gute, wenn ich Sie dadurch der Kunst erhalte. Sie dürfen der Kunst nicht entsagen um kleinlicher Geldsorgen willen.«
Gerda, welche bei seinen Worten aufgefahren war, hat sich beherrscht. Was sie seit Tagen gedacht, hatte er ausgesprochen — ›kleinliche Verhältnisse sind Ihnen hinderlich‹ — Nichts würde sie erreichen, wenn sie untertauchen wollte, gar nichts. Es galt, in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen, sich eine Schar von Anhängern zu sichern. Dies waren die Stufen, die hinaufführten zur Höhe des Ruhms. Ihre Wangen sind leicht gerötet, durchdringend sieht sie ihn an und sagt mit eisiger Kälte: »Sie wollen mir diese Summe leihen, gegen Zinsen leihen und — ohne jeden Hintergedanken?«
[S. 206]
»Ich sagte schon, ich schlage Ihnen ein Geschäft vor, weiter nichts.«
»Bei einem Geschäft könnten Sie auch meinen, mich mitzukaufen. Ich möchte die ausdrückliche Erklärung von Ihnen hören, daß Sie meine Person ganz außer acht lassen, daß Sie einzig und allein der Kunst halber —«
»Nur der Kunst halber, Fräulein von Wangenheim, die Versicherung kann ich Ihnen geben.«
»Nun wohl, ich nehme an. Sie bekommen Ihr Geld zurück, nebst 5 Prozent Zinsen. Die Zeit kann ich Ihnen allerdings nicht bestimmen —«
»Das ist auch nicht notwendig. Ich bin glücklich, Ihnen helfen zu dürfen und Sie der Kunst zu erhalten.« —
Gerda studierte mit Feuereifer, sie bereitete ihr zweites Konzert vor, welches im Februar stattfinden sollte. Ihrer Mutter hatte sie geschrieben, daß sie nicht nach Haus zurückkehren werde, denn sie könne ihre Kunst nicht aufgeben. Sie sehe ein, daß die Eltern ihretwegen Opfer gebracht hätten, und eben deswegen müsse sie weiterarbeiten, um dereinst zurückerstatten zu können. Sie werde versuchen, vorwärts zu kommen und durch Stundengeben Geld zu verdienen.
Darauf hatte die Mutter geantwortet, sie könne sie natürlich nicht halten. Wenn es ihr lockender erscheine, sich kümmerlich ihr Brot zu verdienen, statt in wohlgeordnetem Haushalt die Tochter des Hauses zu sein,[S. 207] mit der Aussicht auf eine gute Heirat, so solle sie nur bleiben, wo sie sei, aber — was sie dem Namen ihres Vaters schuldig sei — das solle sie niemals vergessen.
So war denn auch das geordnet, und sie war frei. — — Abgesehen von einigen kleinen Teegesellschaften, die sie der Beziehungen halber besuchte, lebte sie ihrer Trauer wegen zurückgezogen. In der Pension war sie wohnen geblieben, da ja der Grund des Sparenmüssens wegfiel.
Seit jenem Tag, da sie das Anerbieten Winkelmanns angenommen, waren drei Wochen vergangen, und sie hatte ihn nicht wiedergesehen, dessen war sie froh.
* *
*
Winkelmann hatte sich absichtlich von Gerda ferngehalten. Tag und Nacht grübelte er, wie er sie gewinnen könne. Als er ihr das Geld angeboten, hatte er gemeint, sich ihr näher zu bringen. Aber als sie so ohne Umstände, kühl und sachlich, sein Anerbieten angenommen, wußte er auch, dies war kein Weg, der zu ihr führte. Er, der gewöhnt war, die Frauen zu beherrschen, fühlte sich hier beherrscht. Nicht durch Launen, nicht durch Liebe, nein, durch grenzenlose Kälte. Es war keine Kälte, die nur ihm galt, es war eine Kälte, überhaupt, die von ihr ausging. Viele Frauen hatte er[S. 208] besessen, junge, unberührte Mädchen, reife Frauen hatte er sein nennen können, bei allen hatte er verstanden, den Funken zur Flamme anzufachen, nur bei dieser war seine Mühe vergebens. Und doch — er mußte, mußte sie in seine Arme zwingen.
Er schloß die Augen. Sein Blut drängte zum Gehirn. Da tauchten gleichsam aus duftigen Nebelschleiern ihre bleichen Züge auf, unter den langen, dunklen, sich langsam hebenden Wimpern, drang der Blick ihrer kühlen, grauen Augen in sein Herz. Aus ihren duftenden Haaren sprühten und knisterten Funken, die ihn in Flammen setzten.
In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er von einer rückhaltlosen Leidenschaft besessen war, einer Leidenschaft, die zum Wahnsinn oder Verbrechen führen konnte.
Das Schicksal wollte es, er sollte alle jene Qualen erdulden, über die er so oft spöttisch zu Gericht gesessen. Liebe? War das Liebe?
Wieder schloß er die Augen.
Und da hielt er sie in seinen Armen, bedeckte ihren jungfräulichen, blühenden Leib mit glühenden Küssen. Ihre Wangen überkam ein leichtes Rot, ihre Augen sahen ihm gerade ins Gesicht, kalt und hart, und ihre Lippen sprachen: ›Du schändest meinen Körper — denn du liebst mich nicht!‹
In dem Rausch seiner Sinne überfiel ihn eine grenzenlose Wut. Er fühlte eine Lust, den zarten Körper zu[S. 209] zerstören. »Mein Blut verlangt nach dir, alle meine Sinne sind in Aufruhr — mein — — mein —«
Unter seinen Liebkosungen aber wich das Leben aus ihrem Körper, sie wurde kalt und starr, eine steinerne Masse.
Da schrie er auf: ›Meine Liebe hat dich getötet!‹
Da schlug sie noch einmal die Augen auf und sagte: ›Deine Liebe?? — Deine Begierde!‹ — —
* *
*
Die Sommerferien hatte Ebba mit Lukas und Inge im Thüringer Wald verbracht. Sie hatten einen kleinen, von der großen Masse wenig besuchten Flecken zum Aufenthalt gewählt. Hatten lange Spaziergänge gemacht und waren erfrischt an Leib und Seele nach Berlin zurückgekehrt. Namentlich Lukas Seele war erstarkt. Er hatte im Umgang mit der klaren und ruhigen Frau sein erschüttertes Gleichgewicht wiedergefunden. Thea war ausgestrichen aus seinem Herzen, sein Leben, seine Ziele, waren andere geworden. Mit aller Zärtlichkeit, deren seine müde Seele fähig war, hatte er sich an Inge geklammert, die überglücklich ihre Liebe zwischen Vater und Tante verteilte. Es waren schöne, ruhige Tage gewesen, die sie zusammen verbracht, und mit Traurigkeit und Bangen vor dem Getriebe und der Hetzjagd der Weltstadt hatten sie ihre Heimreise angetreten.[S. 210] Die Trennung von Inge wurde Ebba schwer. Sie hatte sich so wohl gefühlt in ihrer Mutterrolle. Ihr Leben war von Sorge um die beiden Menschen so ausgefüllt, daß sie Angst hatte vor der Einsamkeit, und bange war, sich pflichtenlos zu fühlen.
Auch Inge standen die Tränen in den Augen, und sie hatte gejammert, jetzt ohne ihr ›Muttchen‹ sein zu müssen. — — —
Nun saßen sie seit Wochen wieder daheim. Ebba und Inge sahen sich täglich, denn ohne Tante Ebba konnte Inge nicht mehr leben, das wollte sie beschwören. Und gestern endlich war sie mit einem Vorschlag herausgerückt. »Du weißt doch, daß wir die große Wohnung aufgeben, Tante Ebba? Papa und ich allein in den vielen Gesellschaftsräumen — es ist schaurig in der großen, toten Wohnung. Und das Geld — du weißt ja, Papa will sparen. Wir haben uns schon Wohnungen angesehen. Eine gefällt uns sehr gut. — Aber — wir möchten gern, daß du zu uns kommst. Papa und ich haben das schon lange besprochen, aber Papa getraut sich nicht, dich darum zu bitten. Aber ich — ich habe mehr Mut, und mir — kannst du doch nichts abschlagen. Nicht wahr — du tust es doch?«
Ebba zog das junge, im Eifer seiner Rede erglühte Mädchen an ihre Brust. »Wenn du so genau weißt, daß ich dir nichts abschlagen kann, so bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, Liebling.«
[S. 211]
»Siehst du, siehst du, ich hatte recht, wir haben gewettet, Papa und ich. Papa sagte nämlich: ›Sie wird sich besinnen,‹ und ich sagte: ›Sie tat es ohne Besinnen!‹«
»So sicher warst du deiner Sache?«
Sie nickte.
»Inge,« Ebba nahm den Kopf des jungen Mädchens in ihre Hände und sah liebevoll in ihre Augen — »erinnerst du dich unserer ersten Unterhaltung? Weißt du, daß wir miteinander kämpfen wollten? Ich, die Unmoderne, mit dir, der ›ganz Modernen‹, wie du dich ausdrücktest. Du wolltest mich zu dir hinüberziehen, und ich wollte dich zur Überwindung deiner Schwächen bringen. Wer hat nun eigentlich gesiegt?«
»Du, Tante Ebba — denn du bist so geblieben wie du warst, und ich schäme mich, wenn ich an all das dumme Zeug denke, das ich im Kopfe getragen. Modern und unmodern, ist ja auch alles Unsinn — weißt du, man sollte zuerst Mensch sein — und das bist du — ein prächtiger Mensch. Ich aber — du, Muttchen —« und sie versteckte ihren Kopf an Ebbas Schulter — »ich habe gefunden, daß es sich mit Menschen, die ein Herz in der Brust haben, doch viel, viel besser leben läßt.« —
Die Wolken fangen an, sich zu zerteilen — dahinter verborgen lag das Glück, mein Glück!
Es schwebt auf mich hernieder, ich halte es in Händen. —
[S. 212]
Der Rausch ist verflogen, wir müssen uns voneinander trennen.
Du wirst mich wiedersehen, Ebba.
Ein Kind. Mein Kind. Kannst Du es fassen?
Im Liebesrausch erschaffen, und unter dem Zeichen der Liebe und Zuneigung entwickelt.
Und mein allein.
Da wir nicht zusammenbleiben können, soll er keinen Teil daran haben.
›Vom Glücklichsein träumt man nur.‹ Weißt Du noch wie wir es sprachen?
Träume können sich erfüllen.
Der meine hat sich erfüllt.
Im Glück
Deine Lotte.
Ebba ließ den Brief auf den Tisch sinken. Erfüllt! So ward ihnen denn beiden das Glück beschert, eine junge Seele zu hüten und pflegen, und zu entwickeln. Lotte würde das Glück haben, Blut von ihrem Blut ans Herz drücken zu dürfen, und sie selbst würde der Tochter ihres Bruders zur Seite stehen. War es auch nicht ein Teil ihres Selbst, so liebte sie dennoch dieses junge Geschöpf, das ihre liebeshungrige Seele an sie gehängt, wie sie ihr eigenes Kind geliebt haben würde. Nun war sie nicht mehr einsam. Sie konnte nun mit anderen für andere leben! Dem Bruder wollte sie die langentbehrte Häuslichkeit schaffen, sie würde seinem Hause, das bisher der Treffpunkt oberflächlicher, vergnügungssüchtiger[S. 213] Genußmenschen gewesen, den Stempel der Ruhe und Gediegenheit aufprägen.
Auch ihre Wünsche hatten sich erfüllt.
Das Glück, von dem sie geträumt, hatte sie nicht gefunden und konnte sie auch nicht mehr finden. Es lag nicht in ihrer Art, sich über Enttäuschungen hinwegzusetzen. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Aber vergessen, daß ein Mann in ihr Leben getreten, um es zu zerstören, um sie um alles zu bringen, was das Leben einer Frau wertvoll macht — vergessen konnte sie das nicht. Und darum würde sie auch niemals wieder ihr Leben an die Seite eines anderen Mannes ketten können. — —
* *
*
Gerda saß mit Herrn von Reitzenstein in einem kleinen, eleganten Weinrestaurant. Sie hatten sich im Konzert getroffen, und er hatte sie gebeten, mit ihm zu Abend zu speisen.
Einen Augenblick hatte sie mit der Antwort gezögert, hatte ihn groß angesehen, dann aber sagte sie: »Aber ein kleines, ruhiges Lokal bitte, keine lärmenden Menschen — nicht, daß ich fürchte, gesehen zu werden — aber ich bin in Trauer, wie Sie wissen.« —
»Ich glaube, Sie arbeiten zu viel, gnädiges Fräulein, Sie sehen abgespannt aus.«
[S. 214]
»Ich muß. Bedenken Sie, in kurzer Zeit muß ich wieder an die Öffentlichkeit. Ich muß vorwärts, schnell vorwärts, das bedingt angestrengtes Studium.«
»Sie sollten sich doch ein wenig mehr Ruhe gönnen, was schadet es denn, wenn Sie wirklich ein bißchen langsamer vorwärtskommen. Sie haben in kurzer Zeit schon soviel erreicht, Sie wollen alles im Sturm nehmen, wie es scheint.«
»Gar nichts habe ich erreicht, im Verhältnis zu dem was noch zu erreichen bleibt.«
Er goß den feurigen Burgunder in die Gläser. »Also, stoßen wir an auf einen schnellen Aufstieg. Das heißt, in meinen Augen sind Sie schon auf der Höhe.«
Sie ließ ihr Glas an das seine klingen und lachte: »Sie verstehen ja doch nichts von Musik!«
»Viel allerdings nicht,« gab er freimütig zu.
»Warum sind Sie heute eigentlich in das Konzert gegangen? Der Vortrag eines Geigenkünstlers und Sie ohne Gesellschaft im Saal! Kennen Sie den Künstler, haben Sie Beziehungen zu ihm?«
»Ich bin doch nur hingegangen, um Sie dort zu treffen.«
»Soo — darum. Welchen Zweck verbinden Sie damit?«
»Fräulein von Wangenheim, Sie wissen, daß ich Sie liebe.«
»Und Sie wissen, daß ich Ihre Liebe nicht erwidere.«
»Sie lieben Winkelmann.«
[S. 215]
»Muß man denn immer einen anderen lieben?«
»Eine Frau, wie Sie, die unter den Bewerbern nur zu wählen braucht, muß einen bevorzugen.«
»Sie irren in der Tat, Herr von Reitzenstein. Ich bevorzuge niemand. Es ist bisher noch keinem gelungen, meine Pulse fiebern — mein Herz schneller schlagen zu machen.«
»Man sollte beinahe meinen, Sie hätten gar kein Herz.«
»Es kann wohl so sein, wenigstens denke ich das selbst oft. Meinen Sie nicht, daß es von Vorteil sei, ohne Seele zu leben?«
»Das ist ja überhaupt kein Leben — ohne Seele!«
»Im Gegenteil, erst dann lebt man, denn dann beherrscht man das Leben. Was wollen Sie, die Seele wird ja doch bloß unter die Füße getreten oder in Stücke gerissen!«
»Und wenn Sie meine Seele in hundert kleine Fetzen reißen und mir vor die Füße werfen — so würde mir das bitter weh tun und ich würde durch tausend Schmerzen gehen — aber niemals würde ich deshalb wünschen, keine Seele besessen zu haben. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie ohne Seele sind, lassen Sie sich schnell eine einblasen.«
»Vielleicht von Ihnen oder von Winkelmann?«
»Warum nicht?« —
»Ah — Herr Winkelmann — bitte, Sie dürfen mir schon guten Abend sagen.«
»Ich fürchtete, zu stören.«
[S. 216]
Winkelmann trat an den Tisch und begrüßte die beiden. Als er das Lokal betrat, hatten seine scharfen Augen Gerda sofort erspäht, auch mit wem sie saß, wußte er, trotzdem er von Reitzenstein nur den Rücken sehen konnte. Erst war es seine Absicht gewesen, sich in eine Ecke zu setzen und die beiden zu beobachten, dann aber änderte er seinen Entschluß, und er ging langsam an dem Tisch vorbei, so tuend, als bemerke er sie nicht. Würden sie keine Notiz von ihm nehmen, so wollten sie nicht bemerkt werden, und er wußte Bescheid, andernfalls — da rief Gerda ihn an, und er begrüßte sie.
»Sie stören durchaus nicht. Im Gegenteil, wir sprachen gerade von Ihnen. Sie sollen mir nämlich eine Seele einblasen.«
»Das täte ich von Herzen gern — wenn Sie nämlich keine haben.«
»Ich habe keine!«
»Das bilden Sie sich doch nur ein! Dann wären Sie ja eine Melusine, ein unirdisch Lebewesen — kein Menschenkind.«
»Das bin ich vielleicht.«
»Haben Sie Ihren Vater lieb gehabt?« Reitzenstein sagte es leise und zart, ganz zart.
Sie senkte den Kopf. »Sehr lieb.«
Einen Augenblick schwiegen sie alle drei, dann sagte Winkelmann:
»Nun werden wir bald wieder die Trommel rühren müssen zu Ihrem Konzert.«
[S. 217]
»Recht schade, daß das Westphalsche Haus seine Pforten geschlossen hat, da konnte man Beziehungen anknüpfen, und sich Publikum schaffen,« sagte Reitzenstein. »Ist es nicht dies Haus, so ist es ein anderes. Diese gastlichen Häuser, in denen man alle Welt trifft, finden Sie zu Dutzenden hier in Berlin, eine Kleinigkeit, dort eingeführt zu werden. Kennen Sie die Familie Menders? Kommerzienrat Menders, Fräulein von Wangenheim?«
»Nein.«
»Dort sollten Sie verkehren. Höchste Kreise — aber sehr stark gemischt. Ich werde Sie einführen.«
»Können Sie machen, daß ich dort singe?«
»Ich glaube wohl.«
»Sagen Sie, Fräulein von Wangenheim,« wandte sich Reitzenstein an Gerda, »hört man denn nichts von Fräulein Wunsch? Sie ist doch so gänzlich unsichtbar geworden. Ich hörte, ihr letztes Werk soll im Frühjahr ausgestellt werden, wissen Sie etwas Näheres?«
»Ich hörte gestern in der Pension, daß sie in diesen Tagen zurückerwartet wird.«
»Sie soll ja in der Nähe von München einen Traum geträumt haben,« bemerkte Winkelmann.
»Fräulein Wunsch sieht mir gar nicht nach träumen aus.«
»Nun, der Traum hatte Arme und Beine und einen Feuerkopf.«
[S. 218]
»Ein famoser Mensch und eine große Künstlerin ist die Wunsch,« bemerkte Reitzenstein.
»Alle Welt ist gespannt auf ihre neueste Arbeit. Man erzählt, daß sie durch dieses Werk uns alle verspottet und der Menschheit ins Gesicht schlägt.«
»Wird wohl nur Stimmungsmache sein,« sagte Winkelmann.
»Man wird ja sehen. Aber eine bedeutende Arbeit soll es sein. Arno Stürmer sprach davon.«
* *
*
Winkelmann hatte Gerda bei dem Kommerzienrat Menders eingeführt, und man hatte sie aufgefordert, auf dem nächsten Tee zu singen.
Wieder würde ihr Name genannt werden, wieder würde der Kreis ihrer Anhänger sich erweitern.
Sie brauchte Menschen, Publikum!
Wie ein Fieber war es über sie gekommen. Gesehen werden — von sich reden machen! Sie, die bisher eine kühle Reserviertheit allen fremden Menschen gegenüber gezeigt hatte, war jetzt von einer gewinnenden Liebenswürdigkeit. Hatte für jeden ein freundliches Lächeln und verbindliche Worte. Ihr Antlitz lächelte, aber ihr Inneres lachte. Lachte und höhnte. Ich brauche euch, daß ihr es nur wißt — Maske mein Lächeln, Lüge meine Worte — Mittel zum Zweck![S. 219] Sprossen meiner Stufenleiter seid ihr mir, nichts weiter. Hinauf zum Ruhm und Glanz. Sie begann sich auffällig zu kleiden. War sie durch ihre Trauer auch an die schwarze Farbe gebunden, so verstand sie es doch, durch irgendeinen raffinierten Halsausschnitt, durch ein Arrangement ihres funkelnden Haares, die Aufmerksamkeit auf ihre Person zu lenken. Sie brachte sich zur Geltung, aber — sie wirkte stets vornehm. Sie besuchte mit Winkelmann zusammen die Konzerte. Ließ sich von ihm in Restaurants führen, wo sie gesehen wurden. Sie setzte sich dem Gerede aus, als Winkelmanns Geliebte zu gelten. Das war ihr gleichgültig. Sie lachte darüber. Sie brauchte einen Kavalier, und Winkelmann war ihr gerade recht dazu. Im übrigen war sie ihm auch zu Dank verpflichtet. Er ermöglichte es ihr, weiter zu studieren, er machte sie bekannt, mit Menschen, die ihr nutzen konnten — genug, sie brauchte ihn. Und er war glücklich, vor der Welt als ihr Geliebter gelten zu dürfen; daß er es in Wirklichkeit werden würde, davon war er überzeugt.
Auch heute wollten sie zusammen in die Oper gehen. Gerda erwartete ihn. Sie hatte versprochen, vorher mit ihm zusammen eine Tasse Tee zu trinken. Sie saß an dem nett arrangierten Teetisch, rauchte und lächelte. Der arme Reitzenstein! Er war tief unglücklich. Er hatte ihr Vorwürfe gemacht, daß sie sich öffentlich mit Winkelmann zeigte. ›Wenn er schon Ihr‹ — er begann[S. 220] zu stottern — ›wenn er schon — Ihr — Ihr Geliebter ist — so brauchen Sie das nicht allen Menschen ins Gesicht zu schreien.‹
›Ich habe keine Ursache, mich oder mein Tun und Treiben zu verbergen, Herr von Reitzenstein.‹
›Aber warum mußte gerade er es sein?‹
Gerda lachte: ›Warum nicht Sie?‹
›Ja, warum nicht ich?‹
›Nun, ich will Ihnen etwas sagen, Herr von Reitzenstein, weil Sie gar so unglücklich aussehen, Herr Winkelmann ist nicht mein Geliebter.‹
›Nicht??‹ hatte er ungläubig gefragt. Dann hatte er ihr stürmisch die Hände geküßt und war davongestürzt. — — —
»Ach, die wundervollen Rosen, ich danke Ihnen, Herr Winkelmann.«
Winkelmann hielt ihr einen herrlichen, dunkelroten Strauß Rosen entgegen.
»Ein wundervoller Duft! Ich liebe die tiefdunklen Rosen. So — und nun ist Ihr Wunsch erfüllt, Sie befinden sich in meinem ureigenen Reich. Ein etwas wirres Durcheinander, wie Sie sehen. Eben ein Pensionszimmer, mit Möbeln, die nicht mir gehören, zwischen denen die paar Stücke, die mein Eigentum, sich als fremde Gesellen ausnehmen.«
Sie legte den Rosenstrauß in ihren Schoß, zog eine Rose heraus und begann sie zu zerpflücken. Einzeln[S. 221] löste sie Blatt um Blatt und zerstreute die Blätter über den Tisch.
»So, und nun schenken Sie uns den Tee ein. Sie sehen, es steht alles bereit.«
Winkelmann goß den Tee in die japanischen Schalen, legte ihr kleine Kuchen auf und bestrich die gerösteten Brotscheiben mit Marmelade. Es war das erste Mal, daß er dem schönen Mädchen in ihrem eigenen Wohnraum gegenübersaß. Hatte das Zimmer auch nichts Persönliches, so war es doch der Raum, in dem sie lebte, die Möbel, die sie täglich benutzte, all die Gegenstände, die sie umgaben. Das Zimmer war erfüllt von ihrem Duft. Dort, hinter dem Schirm, stand ihr Bett. Er war in dem Zimmer einer jungen Dame, in welchem sie schlief, studierte, und ihre guten Bekannten empfing.
Eine Beklemmung überkam ihn. Wie lange sollte dieses Spiel noch dauern? War er toll, sich so am Gängelband führen zu lassen? Warum nahm er sie nicht einfach in seine Arme und zwang sie zu sich? Warum nicht heut? — jetzt gleich? Sie mußte doch wissen, daß sie ihm verfallen war!
Er sah zu ihr hinüber.
Sie trug ein schwarzes, tiefausgeschnittenes Kreppkleid. Ihre Schultern glänzten im matten Weiß, und das blasse, von einer zarten Röte gefärbte Gesicht atmete das volle Bewußtsein seiner Schönheit. Eine geheime,[S. 222] fast spöttische Freude blitzte aus ihren halbgeschlossenen Augen, zitterte um ihre Nasenflügel.
Sie ahnte seine Gedanken, und sie war voll fiebernder Neugierde.
»Gerda!« — Und er lag vor ihr und wühlte seinen Kopf in ihren Schoß.
»Oh — meine armen Rosen —« Und sie legte den Rosenstrauß auf den Tisch, legte ihre kühle, weiße Hand auf sein Haupt, und sprach: »Stehen Sie auf, und seien Sie vernünftig.«
»Du bringst mich um den Verstand mit deiner Kälte,« stöhnte er. »Gerda — was hast du aus mir gemacht!« Er umschlang sie leidenschaftlich und bedeckte ihren Hals mit glühenden Küssen.
Sie wehrte ihm nicht. Aber als seine Lippen die ihren suchten, stieß sie ihn zurück und sagte mit eisiger Ruhe: »Hören Sie auf, und nehmen Sie endlich Vernunft an, oder ich verbiete Ihnen, mich wiederzusehen.«
Da ließ er ab von ihr. Seine Züge verzerrten sich, und mit heiserer Stimme flüsterte er: »Sie sind das kälteste und herzloseste Weib, dem ich jemals begegnet.«
»Wenn Sie das wissen, so suchen Sie sich zu beherrschen.«
»Ich kann dieser Leidenschaft nicht Herr werden — ich kann nicht!« — — —
Nein — er kann nicht mehr los von ihr. Über eine[S. 223] Woche hatte er sich ferngehalten, hatte sich nicht blicken lassen — dann hielt er es nicht mehr aus. —
»Warum sind Sie fortgeblieben?« sagte sie.
»Das wissen Sie,« erwiderte er finster.
Sie lachte ihn aus.
»Wer hat Sie begleitet, als ich nicht zur Stelle war?«
»Reitzenstein natürlich!«
»Sie sind ein Dämon,« zischte er.
»Der Dämon sitzt in Ihnen.« — — —
Gerda hatte bei Kommerzienrat Menders gesungen. Sie hatte viel neue Menschen kennengelernt, und man hatte ihr viel Schönes gesagt über ihren Gesang, ihre Art, sich zu kleiden — dennoch kam sie verstimmt heim.
Der Zufall wollte es, daß sie ein Gespräch über ihre eigene Person anhören mußte. ›Ganz leidliche Stimme, aber nichts für den Konzertsaal. Soubrettenstimme.‹ ›Dazu paßt ihr Äußeres doch nicht,‹ erwiderte die andere Stimme. ›Viel zu vornehm, reserviertes Auftreten! Überhaupt eine königliche Erscheinung.‹ ›Sollte zum Kabarett oder zum Varieté gehen. Aus diesem Munde, in lässiger Vornehmheit, pikantes Genre vorgetragen — Donnerwetter — das würde ziehen.‹ — — —
Sie wollte die sprechenden Personen sehen, wollte wissen, wer so über sie urteilte — aber es gelang ihr nicht. Das Gespräch fand hinter einer nur angelehnten Tür statt, vor der sie mit Bekannten plaudernd stand.[S. 224] Als sie sich frei machen konnte, die Tür öffnete, waren im anstoßenden Zimmer so viel plaudernde Gruppen, daß es unmöglich war, die Stimmen herauszufinden. Dicht an der Tür stand niemand mehr. Sicher aber war, daß es Männerstimmen gewesen waren.
Der Kommerzienrat trat auf sie zu und dankte für ihren Vortrag. Er war ein kleiner, dicker Herr mit kleinen, blinzelnden Augen. Er unterhielt sich lebhaft mit ihr über ihre Stimme und ihre Pläne. »Also, im Februar ist Ihr Konzert?«
Sie nickte.
»Hundert Billette kann ich unterbringen. Lassen Sie mir dieselben in mein Bureau senden, wenn es so weit ist. Ich sage Ihnen das schon heut, mein gnädiges Fräulein, denn Sie müssen wissen, ich bin von Geschäften stark in Anspruch genommen — könnte vergessen — und möchte Ihnen doch gern dienlich sein.«
Gerda war empört. Wie unzart. Konnte er die Billette nicht von den Verkaufsstellen beziehen? Sie sollte wissen, was er für sie tat. Er verlangte einen Dank.
Er nahm hundert Billette gegen Bezahlung, folglich half er die Kosten decken.
Sie neigte hochmütig das Haupt: »Ich bin Ihnen dankbar für Ihr liebenswürdiges Interesse.«
Er sah sie stechend an. »Sie sind sehr schön, Fräulein von Wangenheim!«
Sie wehrte ab. »Oh — bitte.« — — —
[S. 225]
Sie war verstimmt, und mißlaunisch schritt sie mit Winkelmann durch den Tiergarten dem Steinplatz zu. Als sie an der Gedächtniskirche waren, sagte sie plötzlich: »Ich will noch nicht heim, lassen Sie uns zusammen speisen.« — —
Als er sie im Wagen nach Hause brachte, nahm er ihren Kopf fest zwischen seine Hände und preßte seinen dürstenden Mund auf den ihren. Er trank, trank, und konnte keine Linderung finden. Wehrlos ruhte ihr Haupt in seinen Händen, still duldeten die kühlen Lippen seine Küsse. Doch als die suchenden Lippen weiterwanderten, da kam Leben in den schlaffen Körper, sie wehrte sich.
»Wann wirst du mir endlich gehören?« Er hielt sie fest in seinen Armen.
»Mit meinem Willen niemals.«
Da hielt der Wagen mit einem Ruck, und er mußte sie freigeben. — — —
Das letzte Band zwischen Dir und Deiner Familie hast Du zerschnitten.
Hauptmann von Kosewitz hat mir erzählt, wie Du in Berlin lebst. Nicht genug, daß Du ein luxuriöses Leben führst, kostbare Toiletten trägst, von denen man nicht weiß, wer sie bezahlt, zeigst Du Dich öffentlich mit Deinem Geliebten, besuchst Theater und Restaurants, und das alles, während Du noch die Trauerkleider um deinen Vater trägst.
[S. 226]
Du bist unwürdig des Namens, den Du trägst. Kein Mitglied unserer Familie wird Dich zu den Unsrigen zählen. Du trägst den Namen Deines Vaters auf die Gasse und besudelst sein Andenken.
Wenn Du noch einen Funken von Ehrgefühl in Dir hast, so wirst Du meinem Befehl gehorchen und unter einem anderen Namen leben.
Jeder Annäherungsversuch Deinerseits an mich oder an Deine Geschwister würde scheitern, gleichviel, ob jetzt oder später.Eleonore von Wangenheim.
Verdammt, ohne gehört zu werden!
Wenn sie gesprochen, die Gründe ihres Handelns klargelegt hätte — würde die Mutter sie verstehen?
Nimmermehr!
Nun waren die Brücken abgebrochen, es gab kein Zurück mehr. Sie mußte den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen. Sie war sich voll bewußt, daß er an Abgründen und Wirrnissen vorüberführte, daß tausend Widerwärtigkeiten ihrer harrten — sie ließ sich nicht abschrecken — sie wollte siegen, herrschen!
Nun fiel jede Rücksichtnahme fort — sie hatte nach niemand mehr zu fragen — für sie maßgebend war nur ihr eigenes Ich.
* *
*
[S. 227]
»Lotte, wie wunderbar du aussiehst. Ordentlich verklärt.«
»Ich bin glücklich, Ebba.«
Ebba zog die Freundin neben sich auf das Sofa.
»So hast du doch das Glück zu dir gezwungen!«
Lotte nickte. »Es kommt zu mir. Winzig und klein wird es sein, und wird mich anlächeln, und, ›Mutter‹ werden die zarten Lippen stammeln.«
»Warum wollt ihr nicht zusammenbleiben? Liebst du ihn nicht?«
»Wir können nicht glücklich werden. Er ist von zügelloser Leidenschaft und wird beherrscht durch seine Sinne. Eheliche Treue kennt er nicht. Mit Gehring hätte ich wohl eine Ehe führen können, mit Arno Stürmer nicht.«
»Liebst du Gehring noch?«
»Ja — ich liebe ihn noch, denn er ist ein Mann, mit dem eine Frau glücklich werden muß. Ich empfinde für ihn keine aufbrausende Leidenschaft, ich könnte nie mit ihm in einem Rausch leben. In einem Rausch, in dem mich Stürmer an sich genommen, er liebt mich mit dem Herzen, jener mit den Sinnen.«
»Glaubst du nicht, daß Gehring wieder zu dir zurückgefunden hätte?«
»Ich habe darüber nachgedacht, Ebba. Nein, ich glaube es nicht. Für ihn liegt die erste Pflicht der Frau im Hause als Gattin und Mutter. Will sie diese Pflicht erfüllen, darf sie keinen Beruf haben.«
[S. 228]
»Er wußte aber, daß du Künstlerin bist, und daß du deine Kunst liebst.«
»Man könnte ihm diesen Vorwurf wohl machen, ich kann es nicht. Die Liebe zwischen uns war plötzlich da, zog uns zu einander hin, daß wir keine Schranken sahen. Er trat in mein Leben, weil er eben mußte. Er war mein Schicksal.«
»Und Arno Stürmer weiß nicht, daß du —«
»Das Kind gehört zu mir, ist mein alleiniges Eigentum, er soll keinen Teil daran haben. Wozu auch? Es würde seinen Weg nur beschweren.«
Lotte war aufgesprungen und ging erregt hin und her. »Um Mutter zu werden, habe ich mich ihm hingegeben. Ich habe einen hohen Einsatz gewagt. Wäre mein Leib nicht gesegnet worden, dann wäre ich jetzt unrein. Das Kind hat mich gereinigt.
Später mag er dann davon wissen, aber, teilen die Liebe meines Kindes mit ihm — niemals!
In zwei Monaten gehe ich fort von hier. Ich kaufe mir ein kleines Haus im Gebirge, ich muß reine Luft um mich haben, wenn das Kind zur Welt kommt. Höhenluft!
Dort werde ich schaffen und werde Mutter sein. Mein Kind und meine Kunst — weiter nichts!«
»Wirst du so einsam leben können?«
»Einsam! Als ob man einsam ist, wenn man Pflichten hat! Menschen! Was sind Menschen! Ich bin oft einsamer unter vielen Menschen, als wenn ich allein[S. 229] bin. Und du auch, Ebba. Wieviel Menschen hast du denn unter den vielen, die du hier kennengelernt hast, gefunden, die dir etwas sein konnten?«
Ebba seufzte.
»Du wirst zu mir kommen, Ebba. Wirst mich besuchen, und wirst mir helfen, mein neues Werk schaffen — du weißt — ›Menschenliebe‹ — dazu brauche ich dich. Nur du kannst mich dazu inspirieren — nur du kannst mein Modell sein.«
»Bist du endlich auf dem Wege zum Glauben an die Menschheit?«
»Du hast mir diesen Weg gewiesen und mußt mich bis zu Ende führen.«
»Auch mir sind inzwischen Pflichten erwachsen, Lotte, ich ziehe in das Haus meines Bruders und werde dort Hausfrau sein.«
»Das ist vernünftig! Dann bist du nicht mehr einsam und hast Inge, dein Töchterchen. Die bringst du natürlich mit. Leid ist es mir nur um dein schönes Heim,« sie ließ die Blicke umherschweifen, »das du mit soviel Liebe und Kunstsinn wohnlich gemacht hast.«
»Das werde ich mir wieder schaffen.«
»Ja, Behaglichkeit um dich zu verbreiten, das verstehst du. Du bist die idealste Hausfrau, die ich mir denken kann, und Lukas Westphal und Inge werden es gut bei dir haben.«
* *
*
[S. 230]
In berückender Schönheit stand Gerda auf dem Podium. Die schwarze Chiffonrobe hob die Blässe ihrer Haut, machte das Rot ihrer Haare funkelnd aufleuchten. Ein prasselndes Händeklatschen empfing sie. Sie lächelte und ließ ihre Blicke über den Saal schweifen.
Nur halb gefüllt.
Ihre Mundwinkel zuckten verächtlich.
Sie sang, aber es wollte nicht glücken. Das Publikum blieb kühl. Wohl wurde eifrig geklatscht, als sie geendet, aber sie fühlte es wohl heraus, ein Teil des Publikums verhielt sich zurückhaltend.
Zum Schluß mußte sie dreimal hervorkommen, ihre Freunde ruhten nicht eher. Sie erhielt Blumenarrangements — aber — der Abend entsprach nicht ihren Erwartungen.
Winkelmann hatte im Esplanade-Hotel einen Tisch reservieren lassen, und sie saßen zusammen mit ein paar Freunden und Bekannten. Kommerzienrat Menders, der Gerda ein kostbares Blumengebinde hatte überreichen lassen, sagte ihr viel Schönes über ihren Vortrag und daß sie in Kurzem ein Stern erster Größe sein würde. Seine kleinen, blinzelnden Augen verschlangen ihren aus dem schwarzen Geriesel hervortretenden schlanken Hals und ihre Büste mit seinen Blicken. Seine feuchten Lippen ruhten in Gedanken auf jeder Stelle dieses Halses.
[S. 231]
Gerda zwang sich, ihm liebenswürdig zu antworten, und duldete es, daß er an ihrer Seite Platz nahm.
Es war eine lustige Gesellschaft, die da beisammensaß, die dem Wein eifrig Zuspruch tat und sich nicht genug tun konnte, die junge Künstlerin zu feiern.
Gerdas Unmut und üble Laune waren bald verflogen. Sie ließ sich den Hof machen und kokettierte nach allen Seiten. Sie ließ sich den schäumenden Sekt in ihren Kelch füllen, trank den prickelnden Schaum und goß den Rest in den Kühler.
»Donnerwetter,« flüsterte der Kommerzienrat, »Sie lieben nur den Schaum?«
Sie sah ihn an.
»Beim Sekt, ja.«
»Sie lieben das Prickelnde?«
»Beim Sekt, ja.«
»Hm. Auf die Art, wie Sie es machen, kommen Sie aber nicht zum Genuß. Sie sollten nicht nur nippen — Sie sollten schlürfen — austrinken bis auf den Grund — dann erst haben Sie den vollen Genuß.« Er drängte sein Knie dicht an das ihre, legte seine Hand auf ihre Hüfte und sah sie durchdringend an.
Sie blieb ganz ruhig, zog ihren Körper nur leicht zurück und sagte mit liebenswürdigem Lächeln: »Den Becher bis auf den Grund zu leeren, ist stets vom Übel, Herr Kommerzienrat — ich liebe es nur, zu nippen — dies ist für mich der wahre Genuß.«
»Fräulein von Wangenheim, machen Sie meinen Mann[S. 232] nicht unglücklich, gönnen Sie ihm ein Plätzchen an Ihrem Triumphwagen,« rief Frau Kommerzienrat Gerda zu. »Wie traurig er aussieht, machen Sie ihm ein klein wenig Hoffnung, ich habe sonst zu sehr unter seiner Laune zu leiden.«
»Aber von Herzen gern, gnädige Frau, auf einen Ritter mehr kommt es mir gar nicht an. Ich wußte nur bis jetzt nichts von Ihrer Absicht, Herr Kommerzienrat —,« und sie sah ihn listig an.
Er legte die Hand aufs Herz. »Ihr Sklave.«
Winkelmann saß schweigsam neben Gerda. Seine Blicke spähten nach ihren Augen, und hingen an dem zarten, hochmütigen Gesicht. Plötzlich erbleichten seine Wangen, zuckten seine Lippen krampfhaft, wild und starr blieb sein Blick auf der Hand des Kommerzienrats haften, die sich auf Gerdas Knie verirrt hatte.
Daß er es wagen durfte!
Er sah, wie Gerda die Hand zurückstieß. Keine Miene ihres Gesichts verzog sich, kein Blick streifte den Kommerzienrat, ruhig plauderte sie mit dem gegenübersitzenden Reitzenstein weiter.
Sein Blut kochte. Er hob sein Glas und rief laut über den Tisch: »Auf das Recht zu genießen, wo wir lieben.«
»Bravo! Genießen, wo wir lieben!« — Der Kommerzienrat schloß die blinzelnden Augen — die Gläser klangen aneinander.
Winkelmann sah Gerda fest in die Augen, dann ließ er[S. 233] sein Glas an das ihre klingen — »Trinken Sie aus!« — raunte er mit heiserer Stimme.
Sie löste ihre Blicke nicht von den seinen, schlürfte den Schaum von dem Glase und vergoß den Rest.
Er sah sie finster an. Er fühlte sich beleidigt und verletzt, und ein Zorn gegen dieses Weib, das so kalt und hochmütig neben ihm saß und ihn stachelte und reizte, stieg in ihm auf. — — —
Als sie im Wagen saßen, sagte er mit beherrschter Stimme: »Wir fahren zu mir, ich habe dem Schofför Weisung gegeben.«
»Daß man mich für Ihre Geliebte hält, weiß ich — daß ich es nicht bin und auch nicht werden will — wissen Sie. Oder glauben Sie, mich umstimmen zu können?«
»Vielleicht!«
»Wollen Sie mich zwingen?«
»Nein.«
»Ehrenwort?«
Er zögerte — dann: »Ich werde Sie nicht zwingen, mein Ehrenwort.« — — —
Sie sitzen in seinem Zimmer vor dem Kamin in tiefe Sessel geschmiegt. Er hat die elektrische Stehlampe entzündet. Ihr roter Schein verbreitet ein rosiges Licht über den Tisch, vor dem sie sitzen, während der übrige Teil des Zimmers in Dunkel liegt. Das Wasser[S. 234] im Teekessel fängt an zu kochen. Er bereitet den türkischen Kaffee und gießt ihn in die Schalen.
»Wie heimisch es bei Ihnen ist! Und wie gut Sie den Kaffee bereiten,« sagt sie.
Er gießt sich einen Kognak ein, stürzt ihn hinunter und schweigt.
Die Uhr schlägt drei.
»Warum haben Sie mich eigentlich hierher gebracht?«
»Weil ich dich zwingen will, die Meinige zu werden, heut, in dieser Nacht! Als ich sah, daß er es wagte, dich zu berühren, dieses Vieh — da kam über mich die Wut — mir gehörst du — mir — ich lasse dich keinem andern.«
Er stößt diese Worte mit rückhaltloser Leidenschaft hervor. Er springt auf, reißt sie mit aller Kraft an sich und küßt sie mit rasender Wut. Sie schließt unwillkürlich die Augen und liegt wie betäubt und schwer in seinen Armen. Er küßt den Hals, die Schulter, das Achselband hat sich gelöst, die zarte, jungfräuliche Brust ist ihm preisgegeben. Da schlägt sie die Augen auf und sieht ihn an mit einem Blick so voller Verachtung, daß sein Blut erstarrt. Der Boden unter seinen Füßen scheint zu schwanken. Er läßt sie in den Sessel gleiten und fällt vor ihr nieder, umklammert ihre Knie und stammelt: »Ich gehe ja zugrunde bei diesem Leben! Sage, was soll aus mir werden? Du mußt doch wissen, daß ich das nicht aushalten kann. So hab doch Mitleid mit mir.«
[S. 235]
»Sie überfallen mich, und ich soll Mitleid mit Ihnen haben? Sie geben mir Ihr Ehrenwort, mich nicht zwingen zu wollen, und machen dennoch den Versuch dazu?«
»Hast du denn kein Verständnis für die Sprache der Sinne und des Blutes?«
»Ich verlange, daß Sie sich beherrschen.«
»Das kann ich nicht mehr. Gerda — Gerda —,« stöhnte er auf, »so quäle mich nicht so — habe doch Erbarmen — ich habe ja ein Recht auf dich —«
»Ein Recht auf mich!« fährt sie auf — »meinen Sie wegen des Geldes?«
»Unsinn!« Auch er ist aufgesprungen und steht ihr jetzt in empörter Wut gegenüber — »Wer denkt an Geld! Du duldest meine Liebe seit Monaten — du ließest dich küssen — du ließest mich hoffen, daß du —«
»Das ist nicht wahr!« wirft sie ein.
»Ich habe ein Recht auf dich — ich breche mein Ehrenwort — ich nehme dich — hörst du — ich zwinge dich —« und er umschlingt sie in wildem Taumel und will sie auf das Ruhebett tragen.
Sie hat die rechte Hand frei, schlägt ihm ins Gesicht und zischt: »Sie Ehrloser!«
Da wird er kreidebleich. Seine Arme zittern, und er läßt seine Last zur Erde fallen.
Sie springt auf, hüllt sich in ihren Mantel, und herrscht ihn an: »Nach Haus! Sofort holen Sie mir einen Wagen — ich fahre allein!«
[S. 236]
»Der Wagen wartet,« stammelte er und begleitet sie hinaus. — — —
Gerda sitzt am Schreibtisch und rechnet. Das Geld muß sie so schnell als möglich an Winkelmann zurückzahlen. Das gestrige Konzert hat kaum die Hälfte der Unkosten gedeckt — die teuren Stunden — ihr Lebensunterhalt — an dreitausend Mark würde sie schon verbraucht haben — womit diese Summe decken — und wovon weiterleben?
Sollte sie jetzt — nachdem sie schon soviel Opfer gebracht — ihr ganzes Leben schon auf die künstlerische Laufbahn eingerichtet — sollte sie jetzt noch umkehren müssen — wieder versinken in den Alltag?
Reumütig in den Schoß der Familie zurückkehren?
Sie preßt die Lippen aufeinander.
Niemals!
Sie muß Rat schaffen. Woher — woher? Sie muß Geld in den Händen haben, so schnell wie möglich. Sie grübelt und sinnt. Der Kommerzienrat! Er muß helfen. Aber — ein Schütteln überkommt sie — es muß sein.
Eilig kleidet sie sich an, fährt in sein Bureau und läßt sich melden.
In seinem Privatkontor, einem elegant und luxuriös eingerichteten Herrenzimmer, welches durchaus nicht den Eindruck eines Geschäftsraumes macht, empfängt er sie.
[S. 237]
»Welch unerwarteter Besuch, mein gnädiges Fräulein!« Er geht mit ausgestreckten Händen auf sie zu, führt sie zum Sofa, rückt einen der schweren, tiefen Ledersessel davor und versinkt in dessen Polster.
»Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit zu Ihnen, Herr Kommerzienrat!«
»Das freut mich! Freut mich sehr, daß Sie Vertrauen zu mir haben. Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Fräulein von Wangenheim.«
Wieder blinzeln ihr seine Augen lüstern entgegen. Er hat den Sessel so dicht vor sie geschoben, daß seine Knie fast die ihren berühren.
Gerda hätte aufspringen mögen und davonlaufen.
»Herr Kommerzienrat,« — ihre Lippen zittern — »ich brauche Geld!«
»Geld? So, so! — Natürlich können Sie auf mich rechnen. Wieviel brauchen Sie?«
»Zehntausend Mark.«
Er sieht sie an. »Haben Sie sich mit — haben Sie sich entzweit?«
Eine flammende Röte schießt in ihre Wangen. Hochmütig und verächtlich schürzen sich ihre Lippen. Sie hätte ihn würgen mögen. So also dachte man über sie. Daß man sie für Winkelmanns Geliebte hielt, wußte sie, und es war ihr im Grunde gleichgültig gewesen. Daß man aber glauben würde, sie nehme Geld von ihm — —
Die Röte wich aus ihren Wangen und machte einer[S. 238] tödlichen Blässe Platz. Und — war es denn nicht so? War es nicht sein Geld, von dem sie lebte, ihre Stunden bezahlte? Nein — nein, schrie die Stimme in ihr, so ist es nicht! Sie hatte es geliehen — wie ein Freund dem andern borgen würde!
Aber — sie waren nicht zwei Freunde — Mann gegen Mann — zwischen ihnen stand das Geschlecht — und er liebte sie!
Der Kommerzienrat hatte sich neben sie auf das Sofa gesetzt.
»Haben Sie sich entzweit?« flüstert er mit erregter Stimme. »Kind, so sprechen Sie doch!«
»Ich habe mir von Winkelmann zehntausend Mark geborgt, um mein Studium beenden zu können. Ich bin niemals seine Geliebte gewesen; weil er mich gestern dazu machen wollte, sind wir in Zorn auseinandergegangen — Sie verstehen, daß ich ihm das Geld zurückgeben muß.«
Der Kommerzienrat, dessen kleine Augen immer größer geworden, fragt erstaunt: »Nicht seine Geliebte, ist das wahr?«
Sie will auffahren, bezwingt sich aber. »Das ist die Wahrheit!«
»Armer Kerl! Und nun wollen Sie, daß ich an seine Stelle trete?«
»Ich will Sie bitten, mir das Geld zu leihen, um ihm das seinige zurückgeben zu können. Sie bekommen[S. 239] alles gegen Zinsen zurück, ich denke, wir behandeln die Angelegenheit ganz geschäftlich.«
»Hm, ganz geschäftlich. Also zehntausend Mark gegen Zinsen. Welche Sicherheit bieten Sie mir, und wann und wie wollen Sie zurückzahlen?«
Sie sieht ihn verständnislos an. »Das weiß ich nicht.«
»Ja, Sie müssen sich doch eine Vorstellung gemacht haben, wie Sie Ihren Verpflichtungen nachkommen können und wollen.«
»Ich hoffe, bald viel Geld zu verdienen, und dann will ich zurückzahlen.«
»Viel Geld verdienen, als Konzertsängerin, die im Anfang ihrer Laufbahn steht? Es mag ja so sein, und ich will es Ihnen wünschen! Sie wären dann eine einzige unter tausend! Aber — mein liebes Kind, auf dieser Basis läßt sich kein Geschäft machen. Das wollte ich Ihnen nur beweisen, und darum sprach ich geschäftlich mit Ihnen, nun lassen Sie uns freundschaftlich verhandeln.« Er legt seinen Arm um ihre Taille und fährt fort: »Also — ich, als Ihr Freund, gebe Ihnen die zehntausend Mark und frage weder nach Zinsen noch nach Rückgabe. Ich verlange nur, daß Sie ein bißchen nett zu mir sind, so wie es ein guter Freund verlangen kann.«
»Sie wollen sich also durch die Hergabe des Geldes meine Gunst erkaufen! In klaren Worten ausgedrückt: Sie kaufen mich!«
Sie ist aufgesprungen und steht zornsprühenden Antlitzes[S. 240] vor ihm. »Kann denn ein Mann nie einer Frau gegenüber rein und uneigennützig helfen, muß denn immer das sinnliche Verlangen ins Spiel kommen? Ich verkaufe mich nicht, hören Sie? Ich will Ihr Geld nicht!«
»So beruhigen Sie sich doch, Kind, so habe ich es doch nicht gemeint. Ich sprach doch nur von Freundschaft, nicht von Liebe. Nur daß ich des öfteren ein Stündchen mit Ihnen plaudern darf, Sie besuchen kann, um Ihnen die Hand zu küssen.«
»Nein, ich will auch das nicht!«
Er ist an den Schreibtisch getreten und schreibt. »So — hier haben Sie einen Scheck über zehntausend Mark.« Er steht auf, tritt dicht zu ihr und sieht ihr in die Augen. »Überlegen Sie, ob Sie mir die Rechte eines Freundes zubilligen wollen — ich komme in ein paar Tagen und hole mir die Antwort.«
Gerda hält den Scheck in der Hand. Wie betäubt sieht sie darauf nieder. Hier die Befreiung von Winkelmann, dort die neue Fessel. — Freundschaft! — Heuchler, Betrüger! —
Sie steckt das Papier in ihr Täschchen, neigt kühl und gemessen das Haupt und schreitet zur Tür hinaus. —
Den ganzen Tag geht sie in dumpfer Betäubung umher. Unmöglich beides! Einen Ausweg, wo gab es einen Ausweg?
[S. 241]
Er hatte gesagt: ›Wovon und wann wollen Sie zurückzahlen?‹
Sie konnte ja nichts versprechen!
Sie konnte etwas erreichen, vielleicht in einem Jahr, vielleicht bedurfte es deren sechs, sieben! Sie konnte ihre Stimme verlieren! Es war doch ganz ungewiß, ob sie ihr Ziel erreichen würde. Die Angst kam über sie. Wenn nicht? Was dann — was dann?
Den Scheck hatte sie in den Schreibtisch geschlossen, sie würde ihn dem Kommerzienrat geben, wenn er käme. Dies würde ihre Antwort sein.
Zwei Tage waren bereits vergangen, und Gerda hatte das Geld noch nicht an Winkelmann zurückerstattet. Sie war wie im Fieber. Arbeiten konnte sie nicht. Die Stunden hatte sie abgesagt, sie hätte ja doch keinen Ton hervorgebracht.
Was tun? Es mußte etwas geschehen.
Sie öffnete den Schreibtisch und nahm den Scheck zur Hand. In einer Stunde konnte das Geld an Winkelmanns Konto überwiesen sein.
›Ihr Freund, der Kommerzienrat Menders!‹ hörte sie die Leute sagen.
Sie sah seine blinzelnden Augen lüstern auf sich gerichtet, sah seine feuchten Lippen sich ihr nähern, fühlte seine tastenden Hände. — — Voller Ekel warf sie den Scheck in den Kasten zurück und verschloß ihn. —
[S. 242]
Sie nahm die Zeitung zur Hand, wie konnte sie daran vergessen, heute mußten die Konzertkritiken darin stehen.
Sie fand ihren Namen und las. Auch das noch. Sie sprang auf und preßte die Hand an die pochenden Schläfen. Runtergerissen! Welche Mühe, welche Arbeit hatte sie aufgewandt, und nun dies! Noch nichts hätte sie erreicht! Weiterlernen — studieren — noch Jahre konnten vergehen, ehe sie eine fertige Künstlerin sein würde.
Man hatte ihr zugejubelt, und sie gefeiert, und nun kam da so ein Zeitungsschreiber und nannte sie eine Anfängerin mit mittelmäßiger Stimme.
Lächerlich! Wenn dem so wäre, so hätte sie diesen Beifall nicht gehabt! Aber sie wollte doch bis zu Ende lesen, was hatte er denn noch auszusetzen? So — deswegen der Beifall — ihre wundervolle, vornehme und aparte Erscheinung siegte über ihr Talent! ›Es ist ein Verbrechen des Publikums und der guten Freunde, wenn sie, bezaubert durch die Erscheinung, der Vortragenden einen Beifall zollen, der nicht ihren Leistungen, sondern ihrer Persönlichkeit gilt.‹ — So schrieb der Kritiker.
Gerda legte das Zeitungsblatt auf den Tisch und fuhr mit der flachen Hand darüber hin, als ob sie es glätten wollte.
War es wirklich nur ihre Schönheit, die wirkte?
Nicht ihre Stimme, ihre Kunst?
[S. 243]
Dann brauchte sie ja nicht zu studieren, hatte nur nötig, sich zur Schau zu stellen.
Sie lachte auf.
Also einpacken, nach Hause fahren. Stillsitzen und die Versorgung erwarten in Gestalt eines Hauptmanns. Von Garnison zu Garnison ziehen, Kinder bekommen, Wirtschaft führen.
Nach Hause? Sie hatte ja kein zu Hause mehr, den Weg hatte sie sich verlegt — sie hätte ihn auch nicht betreten — niemals.
Wieder untertauchen in die Alltäglichkeit — nimmermehr — dann lieber — — die Freundin des Kommerzienrats?
Sie würde ein sorgenloses Leben führen und die gefeierte Künstlerin spielen können. Sein Geld und ihre Schönheit würden das erreichen, und vielleicht — in Jahren — würde sie sich dennoch, kraft ihrer Kunst, Geltung schaffen.
Sollte sie Winkelmann heiraten?
Auch hier erwartete sie Glanz und Reichtum. Auch durch ihn konnte sie ihre Stimme vervollkommnen, weiterarbeiten.
Verkauft — verkauft!
Immer erst durch den Reiz ihres Körpers würde sie sich das erkaufen können.
Nun gut, so wollte sie denn ihre Schönheit ausnutzen. Aber nicht jenen beiden wollte sie sich verkaufen, nicht ihnen sollte ihr Körper gehören. Alle sollten sie[S. 244] sich ihrer Schönheit freuen, sollten Verlangen nach ihr tragen, aber — gehören würde sie keinem. Ihre Gunst und ihr Körper waren nicht käuflich. Zur Schau wollte sie sich stellen und Kapital daraus schlagen!
Sie setzte sich an den Schreibtisch und schrieb zwei Briefe. Sie schickte dem Kommerzienrat den Scheck zurück und dankte ihm für sein gefälliges Entgegenkommen, aber sie könnte keinen Gebrauch davon machen. In dem anderen bat sie den Agenten Veilchenfeld um seinen Besuch. Sie adressierte die beiden Briefe und trug sie selbst zur Post. — — —
Nun blieb ihr nur noch übrig, mit Winkelmann abzurechnen. — — —
»Ein Jahreseinkommen von zwanzigtausend Mark, Auftreten in nur erstklassigen Varietés, zwei Monate Ferien und Vorschuß von fünftausend Mark sofort.«
Der Agent schrie auf: »Fünftausend Mark, was denken Sie, sagen wir zweitausend!«
»Fünftausend, und sofort, oder ich unterschreibe nicht.«
»Ich kann nicht. Das ist ein Viertel Ihrer Jahresgage. In zwei Monaten treten wir unsere Reise erst an, wenn Sie bis dahin sterben? Sie können verunglücken! Ihre Stimme — will sagen, Ihre Schönheit, kann leiden — ich riskiere zuviel dabei.«
Gerda stand auf. »Sie müssen das riskieren oder auf mich verzichten.«
Er seufzte und zog das Scheckbuch aus der Tasche.
[S. 245]
»Gut — also viertausend.«
»Fünftausend!«
»Und wenn Sie sterben?«
»Dann buchen Sie auf Verlustkonto.«
»Das sagen Sie so ruhig.«
»Schreiben Sie, ich muß zur Bank.«
Veilchenfeld schrieb, und Gerda fuhr zur Bank und überwies an Winkelmann zehntausend Mark.
* *
*
Winkelmann hatte versucht, sich zu betäuben. Die alten Mittel. Spiel und Weiber. Er besuchte die Nachtlokale, veranstaltete tolle Sektgelage, und kam niemals allein heim. Er suchte seine Leidenschaft zu ersticken, suchte Vergessen in den Zügellosigkeiten mit käuflichen Frauen. Es gelang ihm nicht. Hielt er eine Frau in seinen Armen, so überkam ihn der Ekel vor sich selbst und vor dem Weibe, das sich ihm aus Laune oder Geldgier preisgab. Er überhäufte die Frau mit Schmähungen und hieß sie gehen, um allein zu sein. War er allein, so überkam ihn eine wilde Sehnsucht nach der einen einzigen, die ihm widerstanden, und von der er nicht los kam. Eines abends traf er ein Weib, das eine entfernte Ähnlichkeit mit Gerda hatte. Er bestellte sie für den anderen Nachmittag in seine Wohnung. Als sie kam, hatte er ein Lager von dunkelroten[S. 246] Rosen bereitet. Sie mußte sich ausziehen, mußte ihre rötlich schimmernden Haare lösen und mußte sich auf das Lager legen. Er kniete davor und betete sie an. Als er schweigend wohl so eine Stunde gelegen, streckte sie die Arme aus und zog ihn empor. Mit einem erstickenden Schrei preßte er sie in seine Arme und schloß die Augen.
Nun hatte er sie doch bezwungen, sie hatte sich ihm hingegeben.
Da fuhr er auf. »Du bist es nicht — diese gierigen Küsse — du bist ein schamloses Weib — geh — geh —« schrie er sie an.
Er vergrub sein Antlitz in die Kissen, stöhnte laut und rang mit seiner Begierde. — — —
Die Benachrichtigung seiner Bank — Überweisung von zehntausend Mark im Auftrage von Fräulein von Wangenheim — hielt er in Händen.
Nun war sie ganz von ihm gelöst. Das letzte Band, an dem er sie noch zu halten gehofft, sie hatte es zerschnitten.
Sie war fertig mit ihm.
Das Geld!
Von wem hatte sie das Geld erhalten?
Reitzenstein? Der hatte kein Vermögen.
Der Kommerzienrat?
Das Blut stieg ihm zu Kopf.
Der konnte nur einen Kaufpreis verlangt haben.
[S. 247]
Hatte sie schon bezahlt?
Das Blut in seinen Schläfen hämmerte wild.
Er ballte die Faust und zwang sich zur Ruhe.
Er ging zum Schreibtisch und entnahm ihm seinen Revolver. Er prüfte die Waffe, sicherte sie, steckte sie zu sich, und fuhr in die Pension am Steinplatz. — —
»Das gnädige Fräulein ist zur Gesangstunde und wird erst gegen Mittag zurückerwartet,« wurde ihm der Bescheid.
In der Gesangstunde! Er wußte den Weg, den sie machen mußte. Quer durch den Tiergarten — das war gut — er konnte sie stellen.
Langsam schritt er dem Tiergarten zu. Es war ein heller, sonniger Märztag, eine laue Frühlingsluft wehte, und die ersten Knospen zeigten sich an den Sträuchern. Winkelmann setzte sich auf eine Bank.
Es war einsam um ihn, soweit er den Weg überblicken konnte, sah er keinen Menschen. Er zog den Revolver und entsicherte ihn. Lächelnd betrachtete er ihn, fuhr spielend darüber hin und steckte ihn wieder in die Tasche.
So saß er wartend.
Endlich kam sie. Ganz allein. Und ringsum kein Mensch als sie und er. Langsam kam sie einher. Sie trug noch immer Schwarz, die Trauer um ihren Vater. Auf ihrem Haar schimmerte die Sonne. Es flimmerte und funkelte.
Er steht auf und geht ihr entgegen.
[S. 248]
Als sie ihn sieht, bleibt sie unwillkürlich stehen.
Er tritt dicht an sie heran.
»Sie wollen mich los sein — Sie haben mir das Geld zurückgeschickt — aber eines muß ich wissen — haben Sie« — seine Aufregung ist so groß, daß er Mühe hat, zu sprechen — »haben Sie sich dem Kommerzienrat verkauft?«
Sie mißt ihn mit einem eisigen Blick. »Was kümmert Sie das?«
Ihre Kälte und Ruhe macht sein Blut kochen, seine Hand fährt in die Tasche und umspannt den Revolver. »Du wolltest mir nicht angehören — aber wenn du — wenn du« — wieder würgt ihn die Erregung — »du sollst auch keinem anderen angehören — hörst du?«
Verächtlich sieht sie ihn an.
»Hast du ihm angehört?« schreit er jetzt laut.
»Was kümmert Sie das?«
»Ich dulde es nicht!« und er hebt die Waffe gegen sie.
Sie bleibt ruhig stehen, und hat nur das eine Wort: »Pfui!«
Da sinkt der ausgestreckte Arm, und er sagt tonlos: »Gehen Sie, gehen Sie schnell —«
Und sie geht. Geht langsam, ruhig und hoheitsvoll ihren Weg. Ist zehn Schritte gegangen, da kracht ein Schuß. Ein Zittern fährt durch ihre Ruhe. Hat er die Waffe gegen sich selbst gerichtet? Sie bleibt stehen.[S. 249] Alles tot und still, und ringsum kein Mensch. Nur er und sie. Sie lauscht atemlos.
Sie fühlt — fühlt etwas, das sie rückwärts zwingt, sie wendet sich um. Da liegt eine Gestalt am Wege — ein langer, dunkler Streif — lautlos und still. Mit schweren Schritten geht sie zurück. Und sie starrt auf die Gestalt zu ihren Füßen. Ein dünner, roter Streifen sickert langsam aus dem schwarzen Tuch, an der Stelle des Herzens hervor. Die Rechte umspannt fest den Revolver.
Sie lauscht atemlos.
Und ringsum kein Mensch.
Nur er und sie.
Zwei gebrochene Augen suchen den Himmel.
Da jagt sie von dannen. — — —
Sie steht in ihrem Zimmer.
Da draußen liegt ein Mensch — ein Mensch, der ihr Freund gewesen — der sie geliebt — den seine Liebe für sie in den Tod getrieben. — Er liegt einsam, verlassen — — Menschen werden ihn finden — — sie muß jemand benachrichtigen. — — —
Gerda stürzt hinüber zu Lotte Wunsch.
Lotte ist zu Haus und springt empor bei Gerdas ungestümem Eindringen. »Was ist geschehen, Fräulein von Wangenheim?«
»Im Tiergarten liegt Winkelmann, tot, allein! —«
Lotte starrt sie an.
[S. 250]
»Er hat mich erwartet — wir hatten Streit — er hat sich erschossen — —«
»Wissen Sie bestimmt, daß er tot ist?«
Gerda nickt.
»Man muß ihn holen, er darf da nicht liegenbleiben. Sie wissen die Stelle zu finden?«
»Ja — aber wir allein?«
»Ich telephoniere an Reitzenstein. Ist es weit von hier?«
»Nein.«
»Gut, so mag Reitzenstein uns abholen. Sie zeigen ihm den Platz. Er kann dann alles weitere veranlassen, und wir ziehen uns zurück.« — — —
Als sie zurückgekommen waren, löste sich Gerdas Aufregung in Tränen.
»Haben Sie sich einen Vorwurf zu machen, Fräulein von Wangenheim?«
»Wenn Sie mir zum Vorwurf machen wollen, daß ich seine Leidenschaft nicht erwidern konnte!«
»Daraus kann Ihnen natürlich niemand einen Vorwurf machen. Ich meine, haben Sie ihn vielleicht in dem Gedanken gewiegt — — —«
»Ich habe ihm von Anfang an gesagt, daß ich niemals die Seine werden könnte.«
Lotte schweigt. Sie hatte Gerda ihr leichtsinniges Verhalten Winkelmann gegenüber zum Vorwurf machen wollen — aber — was sollte das nutzen? Sie hatte[S. 251] mit Winkelmann gespielt, wie sie mit Reitzenstein spielte, und wie sie es noch mit vielen anderen tun würde. Mochte sie ihre Wege gehen. Vielleicht war sie auserkoren, ihre Mitschwestern an den Männern zu rächen. Sie hatte ja gezeigt, daß sie die Natur dazu hatte. Sie erweckte Hoffnungen, erteilte Gunstbezeugungen, entflammte Blut und Herzen, und schritt dann kühl und lächelnd über zerbrochene Existenzen.
* *
*
Die Berliner Kunstausstellung des Jahres 1914 war eröffnet.
Das Publikum drängte sich in den Sälen und begutachtete die neuen Schöpfungen.
In dem letzten der großen Mittelsäle, in welchem die Bildhauer zu ihrem Rechte kamen, standen vor einem Bildwerk, welches gleich einem großen Schrecken aus grünem Blattgewirr hervortauchte, zwei Menschen.
»Wie heißt dieses Ungeheuer?« fragte der alte, weißhaarige Herr den neben ihm stehenden jungen Mann.
»Der Mensch!«
»Der Mensch?« Der Alte blickte mit starkem Interesse auf das Werk.
»Das Tier, sollte darunter stehen,« sprach der Junge.
»Das Tier im Menschen — von dem die heutige Welt[S. 252] sich beherrschen läßt, mein Sohn! Dies Werk spricht vom Erkennen der Zeit.«
»Vater, du wirst doch im Ernst nicht behaupten wollen, daß wir von solch maßlosen Begierden, wie sie auf diesem Gorgonenhaupt thronen, beherrscht werden?«
»Die Menschen werden mehr davon beherrscht, als sie ahnen. Die Gier nach Reichtum und Genuß, nach Sinnenlust und Ruhm, beginnt Sitte und Moral zu überwuchern, und lockert die Bande der Nächstenliebe. Ein jeder hält nur seine persönlichen Interessen, sein eigenes Ich, im Auge, und vergißt darüber das Wohl seiner Mitmenschen.
Sieh, diese unersättliche Gier, die alles verschlingt, alles in sich hineinfrißt. Ein großer Künstler und fühlender Mensch hat dieses Werk geschaffen.«
Der Sohn suchte nach dem Namen. »Eine Frau ist es, die dieses geschaffen — ›Lotte Wunsch‹ — steht darunter.«
»Eine Frau schafft ein Werk von dieser Kraft und Stärke?«
Eine lebhafte Gruppe trat vor das Kunstwerk.
»Donnerwetter, ein Schlag ins Gesicht! Wer fühlt sich getroffen?«
Alle lachten. »Nettes Menschenbild!«
»Soll ’n Witz sein!«
»Nee, Abklatsch. Könnte euch die Vorbilder nennen, nach denen sie gearbeitet hat. Kapitales Frauenzimmer, die Wunsch!«
[S. 253]
»Ich kann die Menschen, die sich durch das Geißeln menschlicher Schwächen über andere erheben wollen, nicht leiden.«
»Wer sagt Ihnen denn, daß sie sich überheben will? Vielleicht hat sie viel durch Unbeherrschtheit gelitten. Mag sein, durch eigene — mag sein, durch die Schwachheit der anderen.«
»Meine Herren,« mischte sich der weißhaarige Herr in die Unterhaltung der Gruppe. »Dieses Werk ist ein Markstein unserer Zeit — dieses Werk fordert ein gebieterisches Halt!«
»Erlauben Sie, mein Herr!« Aus der Gruppe löst sich Herr von Reitzenstein und stellt sich gerade und aufrecht vor den alten Herrn hin. »Wovor sollen wir haltmachen? Wir, die neue Generation, sind ein zielbewußtes, starkes Geschlecht. Glauben Sie wirklich, daß, wenn ein oder der andere sich zügellos von seinen Leidenschaften beherrschen läßt, dadurch die ganze Menschheit zugrunde gehen wird? Sie vergessen, daß wir hier die Phantasie einer Künstlerin vor uns haben, die, schwelgend in der genialen Ausführung ihrer Phantasien, doch nur einen kleinen Ausschnitt der Allgemeinheit wiedergegeben hat.«
»Es sind die Phantasien eines über die Menschheit weinenden Herzens, Herr Leutnant.«
»Mag ein Herz über die Menschheit weinen, andere hingegen freuen sich des lachenden Lebens.«
»Was, mein Herr, wollen Sie unserer Zeit zum Vorwurf[S. 254] machen? Ist es nicht eine Freude, gerade in dieser Zeit zu leben? Einer Zeit der Entdeckungen, der Erfindungen, einer Zeit der Ideen und der Aufklärungen?«
»Wir sind eben moderne Menschen,« ergriff Reitzenstein wieder das Wort. »Haben Sie eine Vorstellung, was das bedeutet, mein Herr? Ein moderner Mensch ist ein freidenkender Mensch, dem es einerlei ist, was der andere tut. Der dem Menschen die menschlichen Schwächen zubilligt, weil er weiß, daß wir eben Menschen sind. Ein moderner Mensch ist ein Mensch ohne Ideale und Träume, es ist ein Mensch mit gesunden Sinnen und mit gesundem Egoismus.«
Der Weißhaarige lächelte.
»Gesunder Egoismus! Egoismus ist immer ungesund, ist nichts weiter als Eigennutz und Rücksichtslosigkeit. Der Egoismus der heutigen Zeit, das ist die Wurzel des Übels. Der Egoismus regiert die Welt. Er ist es, der Freundschaft, Liebe, Gefühl, der das religiöse Empfinden aus der Welt verdrängt hat. Er ist es, der die Menschen lehrt, sich schrankenlos ihren Begierden, ihren Leidenschaften hinzugeben.
Auch ich, meine Herren, bewundere die Errungenschaften unserer Zeit, soweit sie auf dem Gebiete der Technik und der Wissenschaften beruhen, aber ich beklage tief, daß über diesen Errungenschaften die Ideale und die Gefühlswelt versinken mußten.
Oder halten Sie es wirklich für wertvoller, daß statt[S. 255] dessen der Materialismus und der Atheismus an die Spitze getreten sind?
Wir leben in einer Zeit eminenter Entwicklungen des Hirns auf Kosten der Seele!
Schaffen Sie Gefühlswerte statt der Erfindungen, meine Herren, wenn Sie nicht wollen, daß eine Welt zusammenstürzt. Bekämpfen Sie den Materialismus, den Kultus der eigenen Persönlichkeit! Nehmen Sie den Kampf auf mit Ihrem eigenen Ich. Vielleicht bedarf es nur eines kräftigen Willensaktes — und aus Zerstörern — werden Erbauer!«
»Wie kann man von Zusammenbruch sprechen angesichts der Kulturwerte, die unsere heutige Zeit geschaffen?«
»Der höchste aller Kulturwerte, das ist die Entwicklung der Gefühlswelt, die Sie aus der Welt schaffen wollen. Schon zu tief umstrickt von Eigennutz und Selbstsucht sind die Menschen. Sie sehen nicht die Furien, die ihnen entgegenrasen, sie hören nicht den Orkan, der ihnen entgegentobt. Blind und taub wüten sie ihm entgegen. Und er wird sie einhüllen in Leid und Schmerzen, in Jammer und Not. Ich sehe die Menschen eingehüllt in purpurne Wolken und in tiefe, nachtschwarze Schatten. Schreien und Wehklagen ist in der Luft. Feurige Blitze zucken, Donnergebrüll rast durch das All. —
Ich aber freue mich. Ich werde lachen, wie — ›Der Mensch‹ — lacht«, und seine ausgestreckte Rechte wies auf das aus dem grünen Blätterwerk hervorragende Ungeheuer, sein Blick wurde hell und prophetisch:
»Denn aus Trümmern und Gebein — aus Blut und Asche wird etwas geboren werden — geboren vom unerbittlichen Schicksal — höherstehend als alle von Menschen geschaffenen Kulturwerte — daraus geboren wird:
die Seele der Menschheit!«
Der Weißhaarige ließ die ausgestreckte Rechte sinken, sein Blick erlosch, er wandte sich und ging.
Und sie hörten alle ein Lachen. Ein sonderbares Lachen. Erst klang es höhnend, toll und siegesgewiß. Dann kamen Klagelaute und Schmerzenstöne in seinen Klang, jetzt Stöhnen und Ächzen, nun wurde es leiser — und jetzt klang es silbern und hell, wuchs empor zu jubelndem Lachen und verklang zu jauchzendem Laut hoch oben in der Luft.
Lachte der Greis oder lachte das Schicksal?
* *
*
Druck von F. E. Haag, Melle i. Hann.
Die Sittenromane von Jolanthe Marès
Stimmen der Presse nachstehend
Lilli
Ein Sittenbild aus Berlin W
50. Tausend
Steif broschiert | Mark 4,50 |
Gebunden | Mark 7,— |
Lillis Ehe
Ein Sittenbild
(Fortsetzung von Lilli)
50. Tausend
Steif broschiert | Mark 4,50 |
Gebunden | Mark 7,— |
Mütterreigen
(Wie sie Mütter werden)
Steif broschiert | Mark 7,50 |
Gebunden | Mark 10,— |
Seine Beichte
Der Roman eines Lebemannes
Steif broschiert | Mark 7,50 |
Elegant gebunden | Mark 10,— |
Neu! Das große Unrecht Neu!
Aus dem Leben eines Frauenarztes
Roman
Steif broschiert | Mark 10,— |
Gebunden | Mark 12,— |
Wilhelm Borngräber Verlag Berlin
Publikum, Presse und Autoritäten über Wert und Nützlichkeit des Buches »Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin W
von Jolanthe Marès. Verlag Wilhelm Borngräber.
Lily Braun:
Das Buch »Lilli« von Jolanthe Marès ist eine ebenso glänzende wie wahrheitsgetreue Schilderung der Verhältnisse, in denen die Jugend von Berlin W heute aufwächst und unter denen sie notwendig physisch und moralisch zugrunde gehen muß. Das Buch wirkt auf jeden ernsten, anständigen Menschen tief erschütternd. Es ist ein überaus nützliches Werk sittlicher Aufklärung, das mit dazu beitragen kann, die Verhältnisse zu ändern. Es müßte allen Eltern — auch allen, die es werden wollen — in die Hand gegeben werden. Für Kinder ist nicht bestimmt. Man hat aber bisher auch die Streichhölzer nicht verboten, weil Kinder sich zuweilen daran verbrennen.
Dr. phil. Helene Stöcker:
»Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin W. — Die Erfahrungen und Schicksale dieser jungen Damen einer bestimmten Gesellschaftsklasse sind kaum dazu angetan zur Nachahmung zu reizen, wohl aber zeigen sie uns ein Bild von dem, was ist und geben dadurch am ehesten zur Abwehr und zu Änderungsversuchen Anlaß und Möglichkeit. Die Darstellung ist keineswegs so, daß sie die Grenzen dessen, was gesagt werden muß, um die Tatsachen festzustellen, überschreitet. Man kann diesem Buche nicht nachsagen, daß es etwa auffordert, dieser frivolen und leichtfertigen Lebensart nachzuleben. Im Gegenteil, es läßt die sehr ernsten und bedenklichen Konsequenzen eines solchen Lebens deutlich erkennen.
Münchener Neueste Nachrichten:
»Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin W, möchte ich literarisch nicht zu hoch einschätzen, aber diese Wertung hat es als selten mutige Anklageschrift gar nicht nötig. Es wirkt in der Zweckform vielleicht stärker, als wenn es ein vollendetes Kunstwerk wäre. Und der Ernst, mit dem es den Eltern gewidmet ist, hebt es über den Verdacht, pornographische Literatur sein zu wollen. In dem Schluß, den die Verfasserin gibt, liegt viel mehr Hoffnungslosigkeit, als sie in ihrem Vorwort vermuten läßt; er erhebt sich denn auch zu einer Anklage, die bei manchem Biedermann Entrüstung hervorgerufen hat und noch weiter hervorrufen wird. Man kann und will es einfach nicht für möglich halten, daß jene Gesellschaftsklasse, auf die man wie auf ein goldenes Märchen blickt, moralisch verseucht ist, daß ihre Töchter eine Vorurteilslosigkeit besitzen, die vom Dirnentum keinen allzu großen Abstand hat. An der Echtheit der Schilderungen ist wohl nicht zu zweifeln; dafür spricht ihre Einheitlichkeit, die richtige Zeichnung der Charaktere, oft nur mit wenigen Strichen, und die genaue Kenntnis der Lebensgewohnheiten jener Menschen. Die Verfasserin hätte uns gewiß neben den Tatsachen auch die richtigen Namen nennen können, wenn es Sinn gehabt hätte. Es ist natürlich schon eine mutige Tat, so ein Buch zu schreiben, und sie verdient uneingeschränktes Lob. Wenn es auch nur bei einigen wenigen auf fruchtbaren Boden fallen würde, wenn nur einige Eltern anfingen, nachzudenken, daß sie bisweilen selbst an der Verwahrlosung der Kinder die größte Schuld tragen, und wenn die Kultur, die man so oft eitel nennt und als äußerlichen Schliff und elegante Lebensführung betrachtet, wieder in ihrem Wesen als geistige Macht und seelischer Hochstand erkannt würde, so wäre schon etwas damit gewonnen.
Hauptmann Heinrich Peters:
»Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin W. — Man müßte das Buch in einer Reklameausgabe auch den weniger Bemittelten zugänglich machen, um möglichst vielen Eltern die Augen zu öffnen.
Dies Buch wurde gedruckt bei F. E. Haag in Melle (Hannover) für den Verlag Wilhelm Borngräber in Berlin und Leipzig. |
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Korrekturen:
S. 171: »unterfahen« → »unterfahren«