The Project Gutenberg eBook of Jungen

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Title: Jungen

Vierzehn Geschichten von kleinen ganzen Kerlen

Author: Hans Aanrud

Illustrator: A. Andresen

Lisbeth Bergh

Translator: Friedrich Leskien

Marie Leskien-Lie

Release date: March 6, 2025 [eBook #75541]

Language: German

Original publication: Leipzig: Verlag von Georg Merseburger, 1910

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK JUNGEN ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiqua sind "kursiv" dargestellt.

Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

Hans Aanrud

Jungen

Vierzehn Geschichten
von kleinen ganzen Kerlen


Mit Bildern

von

Lisbeth Bergh


Erstes bis drittes Tausend


Leipzig

Verlag von Georg Merseburger
1910


Einzige autorisierte Übersetzung aus dem Norwegischen von Dr.
Friedrich Leskien und Marie Leskien-Lie. Einbandzeichnung nach einem
Bild von L. Bergh von A. Andresen.
Alle Rechte vorbehalten.



Von Hans Aanrud erschienen:

a) für Kinder und Erwachsene

Sidsel Langröckchen, Erzählung

brosch. M. 2,25 geb. M. 3,—

Kroppzeug, zwölf Geschichten von kleinen Menschen und Tieren

brosch. M. 2,25 geb. M. 3,—


b) für Erwachsene

Erzählungen, sechzehn Geschichten

brosch. M. 3,— geb. M. 4,—


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig


Inhaltsverzeichnis.

  Seite
Der Gemeindejunge 1
Amunds neue Ski 12
Wenn die Graugänse fliegen 22
In Großvaters Auftrag 36
Kirchenexamen vor dem Bischof 49
Die Mütze, die auf der Wolke war, um Gold zu holen 67
Der erste Arbeitstag 80
Alexander und Buzephalos 92
Holzvermesser Ole Pedersen 106
Ranzenräuber und Zottelbär 114
Tischler Simen und der Blaufuchs 126
Die Kvinstöljungen 140
Erste Liebe 154
Wie Hans und Marte die Henne hüteten 173

[S. 1]

Der Gemeindejunge.

Die Sonne hatte schon längst ihren ersten goldenen Morgenstreifen über die Tannenwipfel ganz oben an der Westseite des Tals gesandt, war langsam die hintere Talwand bis auf den Talboden heruntergeschlichen und wollte eben beginnen, an der östlichen Talseite hinaufzukriechen, die bisher im Schatten gelegen hatte. Aber gerade als sie zwischen den Tannenwipfeln hoch oben hervorgucken wollte, war nichts mehr da, was sich hindernd dazwischenstellte, und auf einmal rieselte ihr gelbes warmes Licht in zitternden Wellen über die ganze Talseite hinab, es schlüpfte zwischen dem winzig kleinen jungen Laub hindurch, liebkoste das feine zarte Gras, das eben begonnen hatte hervorzusprießen, glitt glitzernd über die rauschenden Frühlingsbäche hin, die nach dem kleinen trüben Fluß unten im Talgrund hinabströmten, und füllte das ganze Tal mit seinem Licht. Mit einem Male war das ganze keimende, sprießende Leben des Frühlingsmorgens erwacht, aber die großen[S. 2] wohlgepflegten Höfe lagen noch still da, mit verschlossenen Türen und in der Sonne glitzernden Fensterscheiben, nur hin und wieder stieg ein blauer Rauch aus den Essen kerzengerade in die klare Luft.

Ein kleiner Junge mit offnen blauen Augen kam und guckte durch das rotgestrichene Gattertor, das nach dem ebenen breiten Hofplatz auf Opsal führte. Nie hatte er etwas so Schönes gesehen wie das weißgestrichene Gebäude und die merkwürdige Treppe mit dem Geländer außen dran. Und alle die anderen langen, rotgestrichenen Häuser!

Es war alles gerade, wie er sich die Königsschlösser gedacht hatte, von denen in den Märchen die Rede war. Es fehlte nur ein König drüben auf der Treppe, sonst war alles genau so! Er mußte unwillkürlich noch einmal nachsehen; es war aber keiner da.

Er war nicht gerade ein Staatskerl, der kleine Junge, der dort durch das Gattertor guckte. Auf dem Kopfe hatte er einen durchlöcherten Strohhut, der so weit hinten im Nacken saß, daß der blonde Schopf gut zu sehen war, der fast bis über die großen blauen Augen und eine kleine wichtige Nase herunterhing. Eine Jacke trug er nicht, nur eine karrierte Unterjacke, die an den Ärmeln geflickt war. Die Hosen, die nur aus Flicken bestanden, reichten nicht weit über die Knie, so daß man die großen Frauenstiefel,[S. 3] in denen er ging, ganz sehen konnte; sie waren viel zu groß, die Schäfte gähnten um die dünnen Waden, da die Riemen nur für die Hälfte der Löcher ausgereicht hatten, und die Spitzen bogen sich vorn nach aufwärts. Im Arm trug er ein Bündel, das in ein dunkles karriertes Tuch eingewickelt war.

Es war der acht Jahre alte Tor aus Stubsveen, dem obersten Häuslerplatz ganz oben am Waldrand drüben auf der anderen Talseite; er sollte heute seine Stellung als Gemeindejunge auf Opsal antreten.

Plötzlich zuckte er zusammen, bewegte sich nicht etwas da drüben auf dem Hof? Er blickte hin. Nein, es war wohl nichts. Alles war so still; ob sie wohl noch nicht aufgestanden waren? War das eine Art, mitten am hellichten Tage! Er sah nach der Sonne, die jetzt bis über die obersten Tannenwipfel gekommen war.

Nein, es war doch wohl noch sehr früh. Die Uhr hatte auch die letzten Tage drüben in Stubsveen gestanden. Er mußte warten.

Er wandte sich um, stützte den Ellbogen an das Gatter und den Kopf in die Hand und sah über das Tal hin und weit an der anderen Seite hinauf.

Da lag Stubsveen — er hatte es nie aus so weiter Entfernung gesehen. Es war aber auch[S. 4] nicht viel daran zu sehen, er hatte nicht gewußt, daß es so armselig aussah und so unermeßlich hoch oben lag.

Übrigens durften sie sich nicht einbilden, daß es so armselig war, wie es von hier aussah; sie konnten nicht den Söller auf der anderen Seite sehen, und dort war auch das Kammerfenster, das machte viel aus. Er guckte wieder nach dem Hof, — Opsal sah auch nicht so prächtig aus von da oben, wie es war. So kam er also doch nach Opsal. Die kleine Ane mußte sich damit begnügen, nach Hoel zu kommen; — nun! Hoel war schon auch prächtig genug, aber mit Opsal ließ es sich nicht vergleichen.

Er mußte daran denken, wie er und Ane neulich gegen Ende des Winters am Fenster drüben in Stubsveen knieten und über das Tal blickten und sich aussuchten, wo sie in Dienst gehen wollten, wenn sie groß wären. Ane war gleich bereit zu sagen, daß sie nach Opsal wollte, aber da hatte Tor gesagt, daß er dorthin wollte, denn er wäre ein Junge, und er wäre der Älteste, und sie wäre nur ein Mädchen; aber Ane war hartnäckig, und da zankten sie sich. Da wurde zuerst Ane von ihm durchgeprügelt und dann er von seiner Mutter; ja sie konnten sagen, was sie wollten, es war nun einmal so, daß die Mutter ein bißchen zu viel zu Ane hielt; denn die konnte auch manchmal[S. 5] unartig sein; — wenn er es vielleicht öfter war, so war er auch ein Jahr älter.

Seine Augen glitten unwillkürlich nach Hoel hinüber, einem andern großen Hof, ein Stück davon entfernt.

Ob Ane wohl jetzt bis nach Hoel gekommen war? Vielleicht stand sie auch da und wartete; es sah auch nicht aus, als ob sie dort aufgestanden wären.

Ane konnte einem richtig leid tun, sie war so still und kümmerlich, als sie sich hier unten am Gatter trennten.

Ach, Ane konnte doch auch furchtbar gut sein. Wenn er es sich recht überlegte, so war sie wohl doch viel, viel besser als er. Ja, das war kein Zweifel, das hatte sich besonders in der letzten Zeit gezeigt. Denselben Tag, wo er sie durchprügelte, war der Vater krank geworden, es war Lungenentzündung, und Ane weinte viel mehr als Tor, als der Vater krank war, und als er starb, und als sie ihn zur Kirche fuhren und Erde auf ihn warfen.

Ja natürlich, er fand es auch so traurig, wie irgend möglich, aber es lag jetzt auf einmal so vieles auf ihm, daß er zum Weinen keine rechte Zeit hatte. Erstens mußten sie den furchtbar dicken Doktor mitten im schlimmsten Tauwettermorast bis nach Stubsveen hinaufschaffen, und wenn er auch wütend war über[S. 6] den Weg und das Fahrzeug und die ganze Schererei, so war es doch ein Aufzug, der nicht eigentlich zum Weinen war, — sie konnten darüber denken, wie sie wollten. Dann kam die Leichenstrohverbrennung — er mußte es noch selbst anzünden — und dann waren so viele Leute da, der Tischler und viele alte Weiber, und dann gab es ein Leichenbegängnis mit Geschenken und so vielen guten Dingen, wie er nie oben in Stubsveen gesehen hatte, und dann fuhren sie mit vier Schlitten nach der Kirche, und er durfte auf dem Schlitten, der gleich hinterm Sarge fuhr, hinten aufsitzen.

Wenn er alles wahrheitsgemäß überdachte, so hatte er eigentlich nicht mehr als einmal geweint, und das war — hinterher; es geschah obendrein hauptsächlich, weil die Mutter so sehr weinte, als sie von dieser Gemeinderatsversammlung, oder wie sie es nannten, nach Hause kam, wo bestimmt worden war, daß er und Ane in der Gemeinde untergebracht werden sollten —, ja sie sollten nur nicht sagen, daß er der Gemeinde zur Last fiel, denn der Bauer von Opsal hatte ihn umsonst genommen und gesagt, ein solcher Junge wäre wohl imstande, sein Essen und seine Kleider zu verdienen.

Aber Ane, die Ärmste, weinte die ganze Zeit. Auch heute früh, als sie von zu Hause fortzogen,[S. 7] weinte sie so bitterlich, daß sie nicht einmal den Kaffee herunterbekommen konnte; aber auch da wollten ihm keine Tränen kommen. Erst als er sich hier unten am Gatter, das nach Hoel hinaufführte, von Ane trennen sollte und er ihre kleine weiche Hand nahm und sagte: Leb' wohl denn, kleine Ane, schnürte ihm etwas die Kehle zusammen, und er mußte sich schnell umwenden und weitergehen; es war ja nicht gerade notwendig, es sehen zu lassen; aber auch da schluchzte Ane, er sah es deutlich an ihrem Rücken, als er sich umwandte, wie sie eben im Begriff war, so klein und kümmerlich durch das Gattertor zu gehen.

Wenn er sie wiedertraf, sollte Ane wirklich sein Taschenmesser bekommen, das sie so gern haben wollte; er selbst würde es nicht mehr so nötig haben, er müßte doch zusehen, bald ein Scheidenmesser zu bekommen.

Er blieb eine Weile stehen, dann guckte er wieder durch das Gatter. Wahrhaftig, dort war der König draußen auf der Treppe, ein großer starker Mann in schlohweißen Hemdsärmeln. Aber er hatte keine Krone auf, nur eine kleine Schirmmütze, die weit hinten im Nacken saß.

Unsinn, das war natürlich der Bauer selber. Wie er sich dehnte und in der Morgensonne wohl fühlte!

Ja, jetzt mußte er wohl hin und sich zur Stelle melden.

[S. 8]

Er öffnete vorsichtig das Gattertor, schlüpfte durch und machte es hinter sich wieder zu, ohne sich umzuwenden; — es war, als machte es ihm Mühe, zurück zu blicken. Er blieb einen Augenblick stehen, zog die Hosen herauf und schob den Hut noch weiter in den Nacken. Dann hielt er die Arme in zwei großen Bogen von den Seiten ab und ging vorwärts, langsam und mit langen Schritten wie ein Erwachsener, die Augen die ganze Zeit auf den Mann auf der Treppe gerichtet.

Als er näher kam, fiel es ihm offenbar schwer, gerade draufloszugehen, und so näherte er sich in einem großen Bogen der untersten Treppenstufe. Er nahm die paar Stufen, blieb stehen, machte eine tiefe Verbeugung mit dem Kopf, führte die eine Hand an seine weiße Mähne und streckte die andere aus:

Guten Tag!

Opsal nahm die kleine braune Hand, die ganz in seiner großen Faust verschwand, und sah mit verhaltenem Lächeln auf ihn herunter.

Guten Tag. Sind so erwachsene Burschen schon so früh unterwegs?

Ja, das sind sie. Es ist schönes Wetter heute.

Opsal fuhr fort ihn anzusehen. Tor sah weg, setzte den Fuß vor und suchte eine erwachsene Stellung einzunehmen:

[S. 9]

Du bist der Opsal selber, scheint mir.

Ja, sie nennen mich so. Aber was bist du für ein Bursche?

Tor sah sehr erstaunt aus.

Weißt du das nicht? Ich sollte ja jetzt dein Knecht sein.

Meiner? Sieh mal einer an, da bist du wohl mein neuer Knecht aus Stubsveen. Wie heißt du?

Weißt du das auch nicht? Ich heiße Tor.

Ja richtig. Du bist wahrhaftig zeitig unterwegs.

Ich finde eher, daß man hier spät aufsteht. Wir beginnen den Tag früher oben bei uns.

Hm. Und jetzt hast du vielleicht vor gleich für immer dazubleiben?

Ja, das war die Meinung.

Tat es dir denn nicht leid, von Mutter wegzugehen?

Die Kehle wollte sich Tor wieder zuschnüren, aber er biß die Zähne zusammen und schluckte alles schnell herunter.

Ach, du weißt — aber man kann doch nicht sein Lebenlang am Schürzenband hängen.

Opsal lächelte.

Ja, willkommen denn, und geh dann mal in die Küche und sieh zu, daß du etwas zu essen bekommst; du hast wohl Hunger nach dem langen Weg, den du schon hinter dir hast.

[S. 10]

Aber ist es nicht unrecht, mit Essen zu beginnen, ehe ich etwas getan habe?

Ja, was hast du dir eigentlich gedacht, daß du hier auf Opsal tun willst?

Das, was du von mir verlangst.

Glaubst du, daß du das alles kannst?

Nach dem, was ich gehört habe, sollst du kein unbilliger Mann sein; übrigens — er betrachtete Opsal von oben bis unten mit seinen offenen blauen Augen — kann es schon sein, daß ich imstande wäre, Dinge zu tun, die du selbst nicht bewältigen könntest.

Was sollten denn das für Dinge sein?

Tor antwortete rasch:

Die Kälber durch das Gebüsch jagen.

Der Opsal sah sich selber an, und dann lächelte er Tor zu:

Du bist wohl ein großer Schelm.

Tor sah ihm lächelnd gerade in die Augen:

Ja, wenn ich nur nicht hier auf Opsal meinen Meister finde.

Opsal nahm ihn an der Hand: So, jetzt mußt du mit hereinkommen und dir die Leute und die Einrichtung ansehen, und wenn es dir gefällt, dann ist es wohl am besten, ich ernenne dich gleich zu meinem Großknecht.

[S. 11]

Jetzt hast du mich wohl wieder zum besten, Opsal; aber vielleicht könnte ich auch das fertigbringen.

Sie gingen Hand in Hand hinein.

So hielt der Gemeindejunge seinen Einzug auf Opsal.


Deko

[S. 12]

Amunds neue Ski.

Amund schielte unter der Felldecke hervor:

Ane Marja? — A—ne Mar—ja! Sagte der liebe Gott etwas davon, wie lange es dauern sollte, bis ich meine Ski bekäme? Er lauschte. Nein, Ane Marja schlief wohl schon. Teufel auch! er mußte es jetzt wissen, denn so ging es nicht weiter.

Ane Marja hatte gesagt, daß alle artigen Jungen Ski vom lieben Gott bekämen, und da konnte kein Zweifel sein, daß er sie bekommen würde. Aber es war ihm darum zu tun, sie bald zu bekommen; Ane Marja und der liebe Gott sollten nur wissen, wie es war, drüben auf dem Südfeld zu stehen und alle die anderen Jungen Schlitten fahren zu sehen. Und die Skibahn, die jetzt war! Wenn der liebe Gott selbst zum Skilaufen zu alt war, so mußte er doch wissen, daß Amund im Frühling keine Ski brauchte, wenn der Schnee entweder zu weich oder zu hart war. Nein, sollte er welche haben, so mußte es jetzt sein. Er konnte auch nicht begreifen, warum es so lange[S. 13] dauerte. Denn artig war er gewesen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag hatte Ane Marja es gesagt, und jetzt war schon Hochneujahr, und in dieser ganzen Zeit hatte er sich nicht mit der kleinen Liese gezankt, nicht einmal, als die Lakritzenstange in seinem Kasten anfing kleiner zu werden, — ja, denn es konnte niemand anders als Liese sein, die daran schuld war. Er hatte nur den Kasten zugeschlossen, denn da hörte doch alles auf. Sie konnten doch nicht verlangen, daß er sie alles aufessen lassen sollte. Nein, daran konnte es nicht liegen. Jon Rönningen hatte schon vor langer Zeit Ski bekommen, — Amund glaubte übrigens nicht, daß diese Ski so wundervoll wären, wie Jon immer tat, — und er war gar nicht artig; — ein richtiger Lümmel; — und wie er fluchte!

Und dann Hans Svebakken. Er hatte zu Weihnachten welche bekommen; ach ja, das war nicht ganz unbillig; denn er war artig; er hatte Amund gestern zweimal seine Ski geborgt, um auf dem Südfeld darauf zu laufen.

Nein, er konnte es nicht begreifen. Wenn es wenigstens so gewesen wäre, daß es viele gab, die Ski haben sollten, so konnte man dem lieben Gott verzeihen, daß er nicht genug fertigbekommen hätte; aber es waren ja nur Amund und Lars Sagbakken, die keine hatten.

[S. 14]

Ach ja, er glaubte schon, daß er sie vor Lars bekommen würde, denn Lars sagte gestern: Hol' mich der Teufel, und das war ein Fluch, hatte Ane Marja gesagt.

Aber, du liebe Zeit — warum konnte er sie nicht gleich bekommen? Es war schade um jeden Tag, den es länger dauerte.

Sie meinten wohl doch, daß er nicht artig genug wäre. Aber er hatte getan, was er konnte, — und Amund zog wieder den Kopf unter die Felldecke.

Wenn Lykkelin bald Zicklein bekommen hätte, so würde er sich weder von Ane Marja noch vom lieben Gott haben hereinreden lassen; denn Lykkelin hatte immer Zwillinge, und für das Fell von ihnen hätte er schon ein Paar Ski bekommen, — wenn sie auch nicht so besonders gut gewesen wären —; aber Lykkelin setzte in diesem Jahre aus. Sie sollte erst Mitte Februar Junge haben.

Er steckte den Kopf wieder hervor.

Nein, er mußte es sich noch einmal überlegen, woran es wohl liegen könnte. Hatte er etwas getan, was nicht recht war? Ja, er hatte das Band aus dem Schlitten genommen, damit Liese ihn nicht brauchen sollte; aber das konnte er doch machen, wie er wollte, denn es war sein Schlitten. Doch, er war artig gewesen. Aber sie glaubten vielleicht nicht an ihn?

[S. 15]

Ach, er würde gern den Schlitten und die Lakritze weggeben, wenn er sie nur bald bekäme!

Die Lakritze?

Sollte er es damit versuchen, um ihnen zu zeigen, daß es ernst war? Ja, das wollte er tun.

Er richtete sich vorsichtig auf den einen Ellbogen auf und horchte, ob Ane Marja schlief. Ja, sie schlief.

Dann kroch er vorsichtig unter der Felldecke hervor und schlich sich leise durch das Zimmer bis an seine Truhe. Den Schlüssel hatte er daruntergelegt. Er öffnete sie, nahm die Lakritzenstange heraus und wickelte sie aus. Dann ging er ans Fenster. Es war am besten, sie dahin zu legen, da konnte der liebe Gott sie durch die Fensterscheibe sehen.

Er hielt inne und überlegte, ob er sie erst kosten sollte. Nein, lieber nicht. Der liebe Gott sollte sehen, daß er es ernst meinte.

Er legte sie hin und schlich wieder in sein Bett zurück. Jetzt war es getan. Er fühlte sich ganz sicher. Das konnte nicht fehlschlagen, morgen noch würde er Ski bekommen. Er glaubte schon darauf zu laufen, und er begann darüber nachzudenken, wie er sich den andern Jungen gegenüber verhalten wollte.

Lars Sagbakken sollte sie vielleicht ein- oder zweimal borgen dürfen, wenn Amund sie nicht selbst[S. 16] brauchte. Aber gegen Jon Rönningen wollte er ordentlich stolz sein. Er hatte nicht vergessen, wie er neulich die Ski von Hans Svebakken borgte. Da hatte Jon, der Lümmel, gesagt, er sähe aus, als habe er Kartoffeln in der Hosenklappe.

Ja, das kam davon, wenn man Hosen mit Klappe trug. Von jetzt an wollte er eine Hose zum Knöpfen haben mit Trägern, wie die größeren Jungen. Ja, Jon wollte er es schon wiedergeben. Er wollte ihm sagen, er sähe aus, als ob er Milchbrei in den Knien habe, denn Jon hatte krumme Beine.

Dann schlief er ein.

Und er träumte, daß er dastand und dem lieben Gott zusah, der im Begriff war, Ski zu tischlern; aber bisweilen kam es ihm auch vor, als wäre es nicht der liebe Gott, sondern der Tischler Ola, denn er hatte dieselben krummen Finger und denselben Riß über dem einen Knöchel.


Am Morgen schlief er so lange, bis Ane Marja und Liese aufgestanden waren. Er schielte nach dem Fenster hin, als er die Hosenklappe zumachte. Wahrhaftig, die Lakritzenstange war kleiner geworden. Er beeilte sich, hinaus zu kommen.

Liese stand hinter der Tür und sah nach, ob er böse wurde.

[S. 17]

Er erblickte sofort Ane Marja. Es war, als ob sie da stand und auf ihn wartete. Dann sah er sich um. Oh! Da standen sie an die Wand gelehnt, neu und fein, geteert bis an die Bindung. Er blieb wie gebannt stehen. Er sah sie und Ane Marja abwechselnd mehrere Male hintereinander an, dann fingen die Mundwinkel an zu zittern und sich krampfhaft weiter auseinanderzuziehen, beinahe bis an die Ohren, zu einem unendlichen Lächeln, und als er etwas sagen wollte, zog er den Atem ein, so daß er es nicht herausbekommen konnte.

Ane Marja strich ihm übers Haar. Ja, sie sind für dich, aber jetzt mußt du wirklich ein guter Junge sein und weder aufschneiden noch fluchen, sonst nimmt der liebe Gott sie wieder weg.

Er ging um sie herum und betrachtete sie von allen Seiten mit demselben Lächeln, und dann wagte er sie wegzunehmen.

Nein, so wunderschöne Ski hatte er noch nie gesehen; wie die Spitzen in die Höhe standen und wie elastisch sie waren! Ob es wohl Birkenholz war! Nein, es war Tanne; ja, das war auch am besten. Birkenski waren Plunder, denn sie zogen sich so sehr.

Dann mußte er prüfen, ob die Bindung paßte.

Ja, es — waren — prächtige — Ski!

Er mußte gleich hinüber nach dem Südfeld.

[S. 18]

Dort waren sie schon versammelt, Jon Rönningen und Hans Svebakken und alle die andern, die Ski hatten, ja, sogar Lars Sagbakken, der keine hatte, stand schweigsam und kümmerlich da und fror. Er tat Amund heute richtig leid.

Es herrschte ein großer Lärm und Spektakel. Schon von weitem sahen sie Amund kommen, und Jon rief:

Nein, seht Amund mit den weiten Hosen, jetzt hat er Schneereifen bekommen!

Amund vergaß, daß er nicht aufschneiden sollte:

Auf den Schneereifen habe ich keine Angst vor dir, auch wenn du doppelt soviel Milchbrei in den Knien hättest.

Dann sollten sie die Ski ansehen und begutachten.

Jon musterte sie genau:

Sie wären nicht sehr aufgebogen.

Oh, sie wären allemal so gut, wie die Birkenstöcke von Jon, die beide Enden in die Luft setzten.

Und dann werden sie nicht nach hinten zu schmäler. Sie würden nicht schnell gehen.

Nein, aber dafür trügen sie auch, wenn der Schnee locker war. Die Ski sollten auch nicht wie ein Backholz sein.

Und wie stand es, hatten sie die richtige Biegung?

Jon nahm den einen auf und untersuchte ihn.

[S. 19]

Ja, etwas gebogen waren sie, aber nicht gleichmäßig, zuviel am Vorderende; bei lockerem Schnee würden sie unten einschneiden, und bei hartem würden sie sich kreuzen.

Aber sie wären elastisch!

Elastisch! Glaubte er vielleicht, daß das ein Vorzug wäre, wenn die Spitzen wie ein Tauende hin und her schlügen! Nein, die Thelemärker, die zwanzig Ellen hohe Sprünge ausführten, hätten steife Vorderenden mit einer ganz feinen Biegung —, so fein wie ein Flitzbogen. Solche wie diese könnten nicht einmal einen kleinen Satz aushalten, geschweige denn einen richtigen Sprung.

Doch Amund wollte ihm zeigen, daß sie es aushalten könnten. Er erbot sich, überall nachzufahren, wo Jon mit seinen Birkenstöcken es ihm vormachte.

Ja, sie könnten es ja erproben, — nur über den Weg da unten.

Dann machten sie sich auf, Jon voran, und Amund hinterher über das Südfeld hin. Jon nahm den Sprung und kam gerade auf den Weg unten an. Die Knie waren ihm etwas wackelig, aber er sprang zu, so daß er hinüberkam.

Es war das erstemal, daß Amund sich an etwas derartiges wagte, und darum hingen ihm die Hosen hinten auch noch weiter herunter als gewöhnlich, wie[S. 20] er ganz zur Seite auf seinen Stock geneigt tiefe Furchen in den Schnee grub, so daß es stob. Er bekam zu wenig Schwung, kam nicht über den Wegrand, die Ski blieben stecken und knacks — —; trotz seiner Hinterladung flog Amund kopfüber in den Schneehaufen.

Er sprang wie verrückt wieder in die Höhe. Er glaubte einen Knacks gehört zu haben. Er packte den einen Ski und riß und zerrte an ihm wie wahnsinnig, bis er ihn draußen hatte — das Vorderende war mitten durchgebrochen.

— Damit war diese Herrlichkeit vorbei. Mit dem anderen nahm er sich viel Zeit. Er mußte den Handschuh tief in den Mund stecken und zubeißen, um das Weinen zu unterdrücken.

So etwas hätte er sich nie träumen lassen.

Ganz betäubt nahm er sie bei der Bindung, einen in jede Hand, ohne sie anzusehen und begab sich auf den Heimweg.

Es ging langsam. Er war so seltsam dünn und klein und krumm in den Hosen, wie er den ausgetretenen Weg neben der Rinne mehr heraufkroch als ging, und es konnte schon sein, daß die Hosen beinahe hinten aufstießen. Er sah gerade in den Schnee, auch als er an den Kameraden vorbeikam, und sie ließen ihn in Ruhe; es kam ihm vor, als wären sie auf einmal so still geworden.

[S. 21]

Er ging nach Hause, und suchte so zu gehen, daß ihn niemand sah. Die Ski versteckte er gut unter dem Vorratsgebäude zwischen einigen Brettern. Dann eilte er hinauf in die Kammer.

Wenn es so ging, so wollte er seine Lakritze wieder haben. Er ging schnell ans Fenster.

Wahrhaftig sie war schon halb aufgegessen!

Er nahm sie mit einem Ruck:

Gib mir meine Lakritze wieder, mein Junge, — und dann wickelte er sie gut ins Papier und schloß sie in seine Truhe ein.


Deko

[S. 22]

Wenn die Graugänse fliegen.

Unter dem großen einsamen Ebereschenbaume oben auf der Höhe auf der Südseite des Hofes stand Ivar, beide Hände tief in den Hosentaschen, und sah über das Tal und nach dem Himmel im Süden.

Es war schon richtiger Frühling in der Luft. Nur ganz oben an den Talrändern und auf den nach Norden gewendeten Abhängen lag noch Schnee, die Südabhänge und die langgestreckten Äcker waren schneefrei, und die Erde dampfte unter der milden Sonne. Oben in dem kleinen Tannendickicht lärmten die Elstern noch wie im Winter, aber auf den Äckern stolzierten die Krähen ernsthaft herum, lüfteten die Flügel, als ob es zu warm wäre, und schwelgten in all dem Gewürm, das die Sonne hervorlockte. Die Ackerfurchen entlang — Per Madslien versuchte bereits auf dem Südacker zu pflügen — gingen die Bachstelzen, die echten Frühlingsvögel, und zwitscherten und wippten mit dem Schwanz. Die Bäume trugen schwellende Knospen, die noch nicht aufgesprungen waren, und[S. 23] an den Feldrainen guckte hier und da eine kleine, gelbe, rundliche Blume hervor; aus dem Tal herauf ertönte eine tiefe Kuhglocke und dazwischen hinein die Glocken des Kleinviehes mit ihrem scharfen hohen Ton, und durch all das Geläute schnitt der einförmige, langgezogene, melancholische Ton einer Weidenflöte — der Hirtenjunge mußte schon eine Weide gefunden haben, die ihre Rinde hergab. Die Luft war von Tönen aller Art erfüllt, die sich zu einer einzigen mächtigen Frühlingsstimmung mischten.

Ivar schickte einen Jodler hinab, der Hirtenjunge antwortete und entlockte dann seiner Flöte einen langen, klagenden Ton. Es war so lockend, eine solche Unruhe in allen Dingen, daß es unmöglich war, still zu stehen und sich zu Hause zu halten; Ivar erhob schon den Fuß, um hinunterzurennen. Aber plötzlich richtete er seine Blicke wieder nach oben, dorthin, wo die Talränder im Süden sich zusammenschlossen.

Er zog den Fuß zurück, blieb mit offnem Munde stehen, riß die Hände aus den Taschen und hielt sie schützend vor die Augen.

Ja, da waren sie!

Gerade über dem Einschnitt am Talende erschien ein kleiner dunkler Streifen, hoch oben in der Luft segelnd, gleichmäßig und taktfest, immer vorwärts!

[S. 24]

Das war die erste Schar Graugänse, auf die Ivar nun schon so viele Tage gewartet hatte.

Seine Wangen röteten sich, er machte eine Wendung, als ob er ins Haus laufen wollte, bedachte sich aber; es war doch zu herrlich zu stehen und zu sehen, wie sie vorüberzogen.

Die Schar kam näher, bog ein wenig nach der westlichen Talseite ab, es sah aus, als stiegen sie immer höher, je näher sie kamen. Bald konnte er die einzelnen unterscheiden, voran war eine große, starke als Wegweiser, dahinter die große Schar in zwei Linien, die in einer Spitze vorn zusammenliefen. Sie flogen gleichmäßig und sicher mit taktfesten Flügelschlägen.

Als sie mitten vor ihm waren, packte ihn die Lust, diese Regelmäßigkeit zu zerstören. Die Mutter und Großmutter hatten ihm beide gesagt, daß er das nie tun dürfte, aber ehe er recht wußte, wie es kam, stand er da mit ausgestreckter Hand und zeigte auf die Schar.

Im selben Augenblick schwankte die vorderste in der Schar und kam aus der Reihe, dann noch eine und noch eine, sie gerieten auseinander, sanken herab, verlangsamten den Flug, es war, als ob sie mit einmal die Kraft verlören und in die größte Verwirrung kämen.

Lange, hilflose Schreie drangen aus der Luft[S. 25] hernieder, verloren sich in der Ferne, und merkwürdig, es klang, als kämen sie von allen Seiten.

Ebenso plötzlich wurde Ivar von einer starken Angst gepackt, als habe er etwas ganz Schlimmes begangen —, er wußte doch, daß es Sünde war, auf die Graugänse zu zeigen. Er begann ein Vaterunser zu beten — das hatte er gehört, war die einzige Art, es wieder gut zu machen.

Der Wegweiser tat ein paar kräftige Flügelschläge, kam an die Spitze und bog mehr nach Osten ab; eine nach der andern arbeiteten sie sich wieder in die Höhe und bildeten wieder ihre Reihen, bald gewann auch die letzte mit ein paar kräftigen Schlägen den Anschluß wieder, die Schar glitt weiter mit taktmäßigen Flügelschlägen genau nach Norden.

Ivar stand und folgte der Schar langsam mit den Blicken und wurde gerade mit dem Vaterunser fertig, so daß er ihnen das Amen nachnicken konnte, als sie den Tannenwald, der sich in blauer Ferne im Norden hinzog, erreichten und verschwanden.

Es war, als sei die Freude daran ausgelöscht, aber er mußte nun doch wohl zur Großmutter hineingehen.


Drinnen in der Auszüglerstube saß seine Großmutter, die alte Beret Madslien, in ihrem Lehnstuhl[S. 26] und brummte. Sie war klein und zusammengeschrumpft und saß in der Ecke zwischen dem Kachelofen und dem Bett, wohlverpackt in gestrickte Tücher, mit großen gestrickten Socken an den Füßen und einem dunkelkarierten Tuch über dem gestrickten Ohrwärmer. Die Tür zur Stube stand angelehnt, und von drüben drangen Stimmen herüber. Beret murmelte etwas vor sich hin, zog mit Mühe den Ohrwärmer zur Seite und horchte:

Hm! Hm! Ach nein, sie waren schon vorsichtig und sprachen leise, daß sie es nicht hören sollte! Was sie wohl wieder heimlich vorhaben mochten? O nein, sie sollten sich nicht einbilden, daß sie so davonkämen.

Oline!

Keine Antwort. Sie nahm ihren Krückstock, der in der Ecke am Ofen stand und klopfte auf die Diele.

Oline!

Ja — hier bin ich, Mutter! Was willst du?

Eine energische Frau mittleren Alters erschien in der Tür.

Ich kenne niemand, der so ist wie du, Oline. Nicht zu kommen, wenn ich dich rufe.

Ich kam ja so schnell ich konnte, Mutter! und es handelt sich wohl auch um nichts Besondres.

Nein, wenn du nur selber schwatzen kannst, so[S. 27] ist es dir gleich, ob ich den ganzen Tag allein sitze. Wer ist drüben?

Meinst du es sei jemand drüben?

O ja, ich hörte es wohl! Wer ist drüben? Ich will es augenblicklich wissen, hörst du?

Ja, ja, es ist ja nur Marthe Moen.

Was will sie?

Oline machte sich irgendetwas am Schranke zu schaffen und antwortete nicht.

Hörst du nicht, Oline! Sollte man es für möglich halten! Was sie will, frage ich?

Ach nichts, sie wollte bloß hören, ob sie ein Ferkel haben könnte, wenn wir welche bekommen.

Hm, hm! hat man so was gehört. Du hast doch nicht etwa auch ihr eins versprochen?

Sie saß eine Weile ruhig und sah gerade vor sich hin. Dann hatte sie das Ganze vergessen und fragte plötzlich:

Sind Fremde drüben?

Oline warf einen scharfen Blick auf sie, schüttelte leise den Kopf und sagte in milderem Tone:

Ich sagte dir doch, daß Marthe Moen da ist!

Nein, ist sie da? Mit ihr muß ich reden. Bitte sie, daß sie zu mir herauskommt, ehe sie geht.

Ja, das will ich tun, und Oline ging wieder hinüber.

[S. 28]

Eine Weile danach kam Ivar in die Kammer.

Ihr Gesicht hellte sich auf, sowie sie ihn sah.

Nein, bist du es Ivar!

Ja, Großmutter; ich kann dich von den Graugänsen grüßen — jetzt sind sie da!

Pst — sie winkte mit der Hand nach der Tür — mach die Tür zu, Ivar, daß uns niemand hört.


Sie hatten ihre Geheimnisse, die beiden, und das war so zugegangen:

Es war lange her, daß die alte Beret Madslien das kleine Auszüglerstübchen verlassen hatte. Sie war alt, und obwohl sie gut eingehüllt war, fror sie beständig. Ihre Hände waren ganz in Ordnung, aber wenn sie in ihren Stuhl gekommen war, so saß sie da und konnte sich nicht allein erheben. Gesicht und Gehör hatte sie so einigermaßen bewahrt, aber mit den anderen Sinnen war es nicht mehr weit her, namentlich hatte sie ganz ihr Gedächtnis und ihre Urteilskraft verloren. Wie alle alten Leute war sie eigensinnig und neugierig geworden, und es war unmöglich, ihr etwas recht zu machen; wenn sie um etwas gebeten hatte, so war sie im nächsten Augenblicke unzufrieden, wenn man es ihr gab.

Meist ließ sie ihre schlechte Laune an Oline, ihrer eigenen Tochter und der Mutter des Jungen, aus,[S. 29] weil sie am meisten um sie war. Sie bildete sich ein, daß sie ganz unglaublich viel zu erzählen habe. In Wirklichkeit war kein Zusammenhang in ihren Reden, es war dies und jenes, was weit, weit zurücklag, als ihr Mann noch lebte, und was sie nur noch in den gröbsten Zügen in der Erinnerung hatte und oft durcheinander mischte. Ab und zu hörte Oline ihr ja zu, aber sie merkte wohl, daß erwachsene Leute ihr nicht aufmerksam folgten, oft sogar lächelten, und das verursachte ihr Ärger. So war es gekommen, daß sie Ivar zu ihrem Vertrauten gewählt hatte. Er hörte ruhig zu, und es schmeichelte ihm, daß die Großmutter immer so vorsichtig war und flüsterte, damit kein anderer es hören sollte.

Es war namentlich eins, womit sich die Großmutter diesen Winter abgequält hatte. Sie wollte ins Freie hinaus. Und das wollten sie ihr nicht erlauben. Einmal im Winter hatten sie ihr scheinbar nachgegeben, sie in die Stube hinüber und nach der Tür geführt, aber als sie so weit gekommen war, war sie plötzlich zornig geworden, »weil es derartig in der Stube aussähe« und hatte wieder in die Kammer zurückverlangt.

Und seitdem — sie hatte wohl verstanden, daß sie ihr damals nur zum Schein nachgegeben hatten — sprach sie nie mehr zu den Erwachsenen von ihrem Wunsche, hinauszukommen; aber mit Ivar sprach sie[S. 30] um so mehr davon: Sie wäre nur vor Sehnsucht krank, sie wäre sicher, sie würde gesund werden, wenn sie nur das Tal zu sehen bekäme und die Wiesen, und die Sonne fühlte. Und das sollte an dem Tage sein, wo die Graugänse kämen, denn dann wäre der Frühling da.

Die beiden hatten nun miteinander ausgemacht, daß Ivar ihr an jenem Tage hinaushelfen sollte, ohne daß die andern etwas davon wüßten — deshalb hatte er drüben auf dem Hügel gestanden und nach den Graugänsen gespäht, heute und viele Tage vorher.


Die Großmutter war sehr eifrig, noch ehe Ivar die Tür geschlossen hatte. Dann warf sie einen langen Blick nach dem Fenster, beugte sich zu ihm und flüsterte:

Flogen sie schön in Reih und Glied? Das ist ein gutes Zeichen.

Er fuhr zusammen, wurde feuerrot und antwortete nicht gleich. Sie fragte auch nicht noch einmal, sondern sah ihn nur fragend an. Da sagte er:

Ja, Großmutter, sie flogen sehr schön, wie ein Schneepflug.

So sieh zu, daß du deine Mutter aus der Stube bekommst, damit wir durchkönnen.

[S. 31]

Er ging nach der Tür.

Nein, warte ein bißchen Ivar, zieh das oberste Kommodenfach auf, da findest du ein Stück gebrannten Zucker.

Du weißt, ich bekam das letzte gestern, Großmutter.

So, so; ich möchte dir gern etwas schenken. Sieh nach, ob du etwas findest, was du haben willst.

Er ging hin, zog das Fach auf, und seine Finger griffen nach einem silbernen Herzen. Sie sah es.

Ja, ja, das sollst du haben, Ivar.

Er war hocherfreut, aber da fiel sein Blick auf die Großmutter, und er dachte daran, daß er nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Nein, Großmutter, ich kann es ja später einmal haben, sagte er kleinlaut, legte es wieder ins Fach und ging hinaus. Bald darauf kam er schnell wieder herein, nahm einen Stuhl und trug ihn hinaus. Dann kam er wieder herein:

Mutter ist mit Marthe Moen im Schweinestall.

So?

Ja, und nun habe ich einen Stuhl an die Südwand gestellt. Komm nun, Großmutter!

Er reichte ihr den Krückstock und setzte die Spitze ordentlich auf der Diele zurecht, daß er fest stehen sollte, darauf stemmte er die Achsel unter ihren andern[S. 32] Arm und richtete sich auf. Sie kam in die Höhe. Sie war sehr eifrig, und die Spannung verlieh ihr Kräfte; es ging leichter, als sie erwartet hatte. Über die Türschwelle nach der Stube ging es gut, denn sie war ganz niedrig, aber als sie die Stube erst hinter sich hatten, wurde es schlimm. Sie mußte sich an den Türpfosten lehnen, und er beugte sich nieder und hob ihr den einen Fuß über die Schwelle, — sie konnte ihn nicht so hoch heben. Dann mußte sie sich ein wenig drehen, damit er auch den andern hinüberheben konnte.

Ein Schauder überfiel sie, es war, als würde sie noch kleiner, als sie durch die Tür kam und die frische Luft ihr entgegenschlug. Doch sie ermannte sich und versuchte zu lachen:

Was für ein Unsinn, soll ich nicht hinauskommen, ich bin ja frisch wie in der Jugend!

Eifriger setzten sie ihren Gang längs der Wand fort, bald waren sie an der Ecke. Da fing sie an müde zu werden. Das erste, wonach sie sah, war der Stuhl. Er stand noch ein Stück weit entfernt, zwischen beiden Fenstern. Sie krochen weiter. Ein paar Schritte vom Stuhle entfernt konnte sie nicht mehr, ließ den Stock los, streckte die Hand hilflos, sehnsüchtig nach der Stuhllehne aus, taumelte einen Schritt weiter, riß Ivar mit sich und bekam gerade[S. 33] den Stuhl zu fassen. Sie sank schwer darauf nieder, und Ivar setzte sie zurecht.

Die Sonne schien warm auf die Hauswand, das Bachesrauschen kam in steigenden und fallenden Wellen, Vögel zwitscherten, Insekten summten, — der Frühling lag in der Luft.

Ivar stand da und sah sie an. Es fiel ihr schwer, den Kopf aufrecht zu halten, sie hob ihn langsam, begann an der einen Seite und ließ den Blick langsam rund um den ganzen Gesichtskreis wandern, aber es war ein matter und gleichgültiger Blick, und dann sank der Kopf wieder nach vorn und sie sah vor sich hin. Angst und Enttäuschung überfielen Ivar:

Ist es dir nicht gut, Großmutter?

Sie fuhr zusammen, schauderte, als sie seine Stimme hörte — im selben Augenblick fuhr auch ein kalter Luftzug um die Ecke.

Hm! Alles wird verdorben! Die Flur ist nicht wie in alten Tagen.

Ivar machte große Augen.

Wie war es denn damals Großmutter?

Viel, viel schöner. Und die Sonne ist auch nicht mehr warm! Ja, nichts hat mehr seine richtige Ordnung. Ich will wieder hinein, mich friert! Hu!

Ivars Stimme zitterte, und er hatte Tränen in den Augen:

[S. 34]

Ja, ja, Großmutter, wir wollen wieder hinein! Komm!

Hu, wie kalt! Nein, ich kann nicht, du mußt deine Mutter holen!


Am folgenden Tage waren eine Menge Leute in dem kleinen Auszüglerstübchen. Die Großmutter lag im Bett und phantasierte. Der Doktor war eben fort und hatte gesagt, es sei Lungenentzündung, und es sei nicht wahrscheinlich, daß die Großmutter in ihrem Alter sie überstehen würde. Die anderen waren ruhig und sprachen leise, aber sie weinten nicht weiter. Oline mußte doch hier und da, wenn die Großmutter im Fieber etwas recht Seltsames sagte, den Schürzenzipfel gebrauchen. Nur Ivar stand im Winkel beim Schranke und weinte unaufhaltsam. Niemand konnte es begreifen, denn Kinder pflegen so etwas nicht so ernst zu nehmen. Er hatte auch gestern den ganzen Tag geweint, und daher hatten sie ihn nicht weiter gescholten, und niemand hatte ihm von dem Ausspruch des Doktors erzählt, daß sie sich gestern erkältet habe, und daß er gewissermaßen daran schuld sei.

Es war ganz still in dem Kämmerchen, nur die Großmutter phantasierte und Ivar schluchzte.

Plötzlich wurde die Großmutter still. Nach einer Weile stieß sie einen leisen Klagelaut aus und sah[S. 35] sich um. Dann sagte sie mit einem seltsam milden Klang in der Stimme, so daß alle hörten, daß sie bei Bewußtsein war:

Ist es Ivar, der so weint?

Ja, sagte Oline. Ivar, die Großmutter fragt nach dir.

Er ging hin, warf sich vor dem Bett auf die Knie und flüsterte:

Es war nicht wahr, Großmutter; denn ich zeigte gestern auf die Graugänse.

Ja, aber dann betetest du ein Vaterunser, wie ich dich gelehrt habe.

Darauf sagte sie leicht mit einem Lächeln:

Nein, wahrhaftig Oline, das hätte ich bald vergessen. Ivar soll das silberne Herz von mir haben.

Das war das letzte, was die Großmutter sagte.


Deko

[S. 36]

In Großvaters Auftrag.

Burman saß auf dem Schwanz draußen im Hof im Sonnenschein. Er blickte mit dem einen Auge verstohlen nach den Hühnern, die vorsichtig in einem großen Bogen um ihn herumgingen und sich nicht getrauten ihm zu nahe zu kommen, und mit dem andern verfolgte er, was sich sonst im Hof zutrug: die Katze, die sich am Hause lang drückte und sich jedesmal flach auf den Boden legte, wenn die Turmschwalben wie schwarze Streifen vorüberflogen, daß es in der Luft pfiff, die Bachstelzen, die hin und her trippelten und Insekten fingen, und die beiden kleinen Ferkel, die drüben an der Stalltür herumwühlten. Er döste leise vor sich hin, denn es gab heute nicht viel zu tun, die Hühner schienen nicht in den Garten gehen zu wollen, und die Haustür war geschlossen, so daß die Ferkel nicht hineinkommen und Unheil anstiften konnten.

Da ging die Tür vorsichtig auf und Burman drehte den Kopf. Es war der kleine Jon, der auf[S. 37] die Steinfliesen hinauskam und die Tür behutsam hinter sich schloß.

Was das wohl bedeuten sollte? Er sah sich so schlau um und trug etwas unter der Jacke.

Als Jon sich ein wenig umgesehen hatte, eilte er über den Hof hinter das Vorratsgebäude; er machte auch einen kleinen Bogen um Burman, denn die beiden waren nicht besonders gute Freunde. Jon fand, daß Burman häßlich war mit seinen langen Zotteln, und dann wedelte er nie mit dem Schwanz, wenn er ihn streichelte und sah ihn auch nie an, sondern blickte nur geradeaus und saß ganz still oder ging seiner Wege. Und das tat Burman, weil er der Ansicht war, er hätte wichtigeres zu tun, als sich mit so einem Jungen einzulassen, der einem lästig genug werden konnte, wie er aus seinen jüngeren Tagen wußte.

Eine Weile darauf kam Jon zurück — jetzt hatte er nichts mehr unter der Jacke —, er ging hinunter und stellte sich auf den großen Stein auf der anderen Seite des Hauses.

Burman blickte ihm nach, bis er um die Ecke war, dann erhob er sich, sah sich noch einmal um und trottete hinter das Vorratsgebäude, er wollte sehen, was Jon dort hingelegt hatte. Er schnüffelte ein wenig herum und dann fand er verborgen unter einer Steinfliese an der Wand ein Tuch, in das etwas eingewickelt[S. 38] war; an dem Geruch merkte er gleich, daß es Butterbrot war. Hm, es war am besten, heute ein Auge auf Jon zu haben!

Er ging wieder in den Hof, etwas weiter vor als vorher, so daß er am Haus vorbeisehen konnte, setzte sich gleichgültig auf den Schwanz und tat nicht dergleichen.

Da stand Jon auf dem Stein und lehnte sich an die Wand. Er hatte wahrhaftig auch den neuen Schal um. Er stand mit einem sehr ernsten und vornehmen Gesicht da und versuchte tiefe und feine Verbeugungen mit dem Kopfe zu machen, und bei jedem Mal sagte er:

Guten Tag.

Endlich schien es ihm, als ob er es könnte.

Eine tiefe Verbeugung:

Guten Tag! Seid Ihr Peter Sandvold?

Er antwortete auch für den andern:

Ja, der bin ich. Aber nimm erst mal Platz.

O, danke, ich finde schon Platz.

Woher kommst denn du?

Ich bin von Sörbö — ich sollte hierher gehen und dich vom Großvater grüßen und dir sagen, er erwartete dich in den nächsten Tagen, da er etwas hätte, was er unbedingt mit dir besprechen müßte.

Nein, was du nicht sagst. Ja, dann geh bitte in die Gaststube und gedulde dich bis morgen.

[S. 39]

Er wiederholte es noch einmal, aber als er das drittemal anfangen wollte, kamen die Leute zum Frühstück, und er setzte sich auf den Stein und tat nicht dergleichen.

Die Sache war, daß Jon sich vorgenommen hatte, heute einen Auftrag vom Großvater zu besorgen, doch das sollte niemand wissen, nicht einmal Großvater selber.

Der alte Jon Sörbö, der Großvater, war jetzt so alt und schwach, daß er schon das dritte Jahr zu Bett lag. Er war nicht krank, aber die Kräfte reichten nicht länger, und das Gedächtnis begann auch allmählich nachzulassen. Wie alle seinesgleichen war er ziemlich quengelig geworden; wenn er sich erst etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es nicht leicht, es ihm auszureden. Und trotzdem alle versuchten, ihm, soweit es anging, seinen Willen zu lassen, so fand er doch oft, daß sie unbillig gegen ihn waren, und es gab eigentlich nur einen, der wirklich gut mit ihm auskam und sein Vertrauter war; das war der kleine Jon — der hieß ja auch nach dem alten Jon und war der zukünftige Hofbesitzer, der alles auf Sörbö wieder in die gute alte Ordnung bringen sollte, — denn der Alte fand, daß Jons Vater, der jetzt den Hof hatte, sich in vielen Dingen ganz seltsam anstellte.

Im Frühjahr nun hatte der alte Jon es sich in[S. 40] den Kopf gesetzt, daß er absolut mit seinem alten Freund, Peter Sandvold, sprechen müßte. Was er eigentlich von ihm wollte, wußte er wohl selber nicht so recht, aber die Sehnsucht nach dem alten Freunde war da. Erst machte er dem Sohne nur eine Andeutung, indem er sagte:

Jetzt, wo es auf den Sommer geht, werde ich wohl so weit zu Kräften kommen, daß ich auf sein kann, und da will ich den Peter Sandvold besuchen, ich muß notwendig etwas mit ihm besprechen.

Er sah, wie der Sohn in den Bart lächelte, als er antwortete:

Ja, das solltest du wirklich tun, Vater.

Aber der Sommer kam und Jon fühlte sich nicht kräftig genug um aufzustehen.

Daher sagte er eines Tages:

Du mußt nach Peter schicken; ich muß ihn sprechen.

O ja, das will ich gern bei Gelegenheit tun.

Doch der Alte verstand wohl, was das hieß, und schickte den kleinen Jon hinterher, und der konnte später berichten, daß der Vater drüben in der Stube gesagt hätte:

Es ist Unsinn, bei Peters hohem Alter, aber wir wollen so tun, als ob wir damit einverstanden wären, dann vergißt er es bald.

[S. 41]

Seitdem vertraute der Alte sich keinem anderen als dem kleinen Jon an. Er spekulierte und spekulierte, wie er es anfangen sollte, eine Botschaft zu senden. Weit war es ja, auf der Landstraße zwei und eine halbe Meile, aber quer über den Bergrücken knapp eine, wenn man den direkten Weg durch den Wald einschlug. Gestern nun hatte der kleine Jon ihm heimlich Feder und Papier gebracht, und er versuchte zu schreiben: aber es ging nicht und sie waren einig, daß sie warten müßten, bis der kleine Jon schreiben gelernt hätte; aber er sollte erst zum Herbst in die Schule kommen.

Als der Alte das hörte, seufzte er:

Herrgott, das wird ein langes Wartejahr.

In diesem Augenblicke tauchte in dem kleinen Jon der Gedanke auf, über den Bergrücken hinüber zu Peter Sandvold zu gehen, um ihm Großvaters Botschaft zu überbringen.

Das war es, was er heute heimlich vorhatte, und dafür hatte er den Reiseproviant verborgen.

Er blieb ruhig stehen, bis die Schnitter die Sensen hingelegt, gegessen und sich zur Ruhe ausgestreckt hatten.

Darauf eilte er hinter das Vorratshaus, holte das Bündel mit dem Proviant und machte sich auf den Weg.

[S. 42]

Burman war das einzige Lebewesen auf dem Hofe, das ihn sah.

Er drehte sich um, setzte sich ganz ruhig wieder hin und sah nach der Höhe hinauf.

Er wollte wohl zu Sjur Pladsen, dahin war er oft allein gegangen.

Auf einmal spitzte Burman die Ohren — da schlug er den Waldweg ein, und jetzt war er auch schon im Walde verschwunden.

Burman begann mit seiner tiefen Stimme zu bellen, daß es zwischen den Häusern und über das Tal hin hallte.

Bald darauf trat Jons Vater auf die Schwelle, zornig, weil er geweckt worden war.

Kaum hörte Burman die Tür gehen, so bellte er noch lauter, lief ein paar Sprünge den Weg aufwärts und sah sich um.

Verdammter Köter! Uns alle zu wecken!

Burman bellte weiter.

Pfui, willst du ruhig sein! — er nahm einen Stein und warf nach ihm.

Burman jagte mit eingeklemmtem Schwanz auf den Hof zurück, legte sich mit einem beleidigten Blick nieder und sagte nichts mehr.

Als sie nach der Frühstückspause herauskamen, bellte er wieder hartnäckig nach dem Wege, der in die[S. 43] Höhe führte, hin. Die Männer folgten der Richtung mit den Blicken, und einer sagte:

Was hat der Hund? Ob sich ein Landstreicher gezeigt hat.

Aber der Bauer antwortete:

Ach was, Unarten sind es. Pfui, willst du ruhig sein, wenn es nichts zu bellen gibt — darauf gingen sie alle wieder aufs Feld und Burman legte sich wieder still auf dem Hofe nieder, die Augen spähend nach der Höhe gerichtet.

Als sie zu Mittag wiederkamen, probierte Burman es noch einmal, sprang bellend den Weg hinan und wieder zum Bauern zurück, wieder hinauf und wieder zurück. Doch da wurde der Bauer ernstlich böse:

Pfui, willst du ruhig sein, — er gab ihm einen Tritt, daß er fortrollte — hat man je so einen Köter gesehen.

Während sie hineingingen, sandte Burman ihnen einen langen Blick nach, dann trottete er, den Schwanz schwer hinter sich herschleppend mit weit heraushängender Zunge in der heißen Sonnenglut langsam bergauf.

Der kleine Jon war gewohnt, sich allein herumzutreiben, und niemand hatte ihn vermißt. Erst als sie gegessen hatten, sagte die Mutter:

Wo mag der kleine Jon sein? Hat ihn einer gesehen?

[S. 44]

Nein, niemand hatte ihn seit dem Frühstück gesehen.

Sollte er beim Großvater draußen sein?

Sie ging in die Kammer hinaus und fragte.

Nein, der Großvater hätte ihn seit dem frühen Morgen nicht gesehen, er hätte es so eilig gehabt.

Sie begann unruhig zu werden und suchte im Hofe überall, wo er sich sonst aufhielt. Die Angst wuchs, sie kam herein und bat eins der Mädchen, zu Sjur Pladsen hinaufzuspringen und zu sehen, ob er da wäre.

Ihre Unruhe begann die andern anzustecken, und alle fingen an, sich zu wundern.

Das Mädchen kam zurück und sagte, Sjur hätte nichts von ihm gesehen.

Da gingen sie hinaus, einer nach dem andern, umkreisten alle Häuser, guckten hinein, und schließlich begann die Mutter ihn zu rufen.

Bei dem Rufen schien über alle die Angst zu kommen, und bald rief jeder nach einer andern Richtung. Keine Antwort.

Da erinnerte sich der Bauer an Burman:

Sollte der Junge in den Wald gelaufen sein; der Hund benahm sich heute zu merkwürdig!

Ja, daran erinnerten sich alle. Sie fingen an Burman zu locken und waren nicht wenig verwundert,[S. 45] als er nicht kam, denn Burman entfernte sich nie vom Hofe.

Ja, sagte der Bauer, da bleibt nichts anderes übrig, wir müssen das Heu liegen lassen und in den Wald ziehen.


Als der kleine Jon den Waldweg aufwärts stieg, stieß er auf einen sehr steilen, steinigen Hügel, auf den die Sonne mit aller Kraft herniederbrannte. Aber das kümmerte ihn weiter nicht, und er stieg mutig darauf los; je weiter er kam, um so krümmer wurden seine Knie und der Hosenboden wurde so merkwürdig schwer; als er halb oben war, mußte er Halt machen und die Jacke ausziehen. Er nahm sie über den Arm und zog weiter.

Nach einer Stunde war er oben, und nun ging der Weg sanft ansteigend im Walde weiter.

Er setzte sich — er meinte, er müßte nun doch bald da sein; er wußte allerdings nicht ganz genau, wie lang eine Meile war, aber so übermäßig weit konnte es jetzt nicht mehr sein. Vielleicht war er dem Hof ganz nahe und hatte sich bloß nicht richtig danach umgesehen.

Er blickte vorwärts.

Nein, nichts als dichter Wald zu beiden Seiten des Weges; er mußte sich vielleicht beeilen, wenn er bis zum Abend da sein wollte.

[S. 46]

Er stand auf und lief weiter; jetzt kam ihm sein Auftrag wieder in den Sinn:

Eine tiefe Verbeugung:

Guten Tag! Seid Ihr Peter Sandvold?

Ja, der bin ich — aber nimm erst mal Platz, bitte.

O, danke, ich finde schon Platz!

Wo kommst du her?

Von Sörbö, ich sollte hierhergehen und dich vom Großvater grüßen und sagen, du möchtest bald kommen und ihn besuchen, er müßte durchaus mit dir etwas besprechen.

Nein, sieh an; dann gehe bitte in die Gaststube und gedulde dich bis morgen.

Die Gedanken liefen weiter:

Und dann gehe ich in die Kammer und sie bieten mir Bewirtung und Kaffee und Gebäck, und abends lege ich mich in ein Daunenbett so hoch, so hoch — —

In diesem Augenblicke flog ein Birkhahn gerade vor seinen Füßen auf und er erschrak, daß er schluckste. Er sah gerade so viel von ihm, daß er erkannte, daß es ein Vogel war, aber der Schrecken saß in ihm.

Er blieb eine Weile ganz still stehen, ehe er sich umsah. Da sah er, daß der Weg verschwunden war und er mitten im Walde stand.

Pah, den Weg würde er wieder finden. Er ging nach der Seite, aber er war jetzt so merkwürdig[S. 47] vorsichtig geworden, als ob er Angst hätte, daß ein Zweig krachte, wenn er die Füße aufsetzte.

So ging er lange. Es war seltsam, als ob die Erde den Weg verschlungen hätte. Und so unheimlich still! Er fuhr zusammen und horchte, wenn nur ein Eichhörnchen mit einem Tannenzapfen raschelte.

Er ging und ging, schneller und schneller, schließlich rannte er; es knackte so unheimlich, es raschelte überall; die Mundwinkel verzogen sich wie zum Weinen, aber es kam nicht zu Tränen, nur vorwärts ging es in immer schnelleren Sprüngen; es war, als verfolge ihn etwas, als käme es auch von den Seiten, er lief und lief, — — — bis er über eine Baumwurzel stolperte und im Heidekraut unter einer großen Tanne liegen blieb.

Er erhob sich rasch mit einem Schrei in sitzende Stellung, jetzt, dachte er, hatte es ihn gepackt.

Nein, es war nichts; aber es war ihm, als ob es rings im Walde auf ihn lauerte; er wagte nicht sich zu rühren, sondern kroch nur tiefer unter die Tannenzweige, gerade als ob der kleine Fleck ihm Sicherheit gewährte.

So blieb er lange sitzen, und spähte und forschte nach allen Seiten in ängstlicher Spannung.

Da hörte er hinter sich, wo er hergekommen war, etwas rascheln.

[S. 48]

Er drückte sich unter die Tannenzweige und riß die Augen weit auf. Da kam es, etwas Großes, Schwarzes — immer näher - gerade auf ihn los — — — er sah einen Schwanz, der sich vergnügt in die Luft streckte, ein paar sanfte Augen sahen ihn an.

Er brach in Tränen aus und schlang beide Arme um Burmans Hals.

Diesmal hatte Burman nichts dagegen; er legte sich nieder und leckte ihm Gesicht und Hände.


Am nächsten Tage bekam der kleine Jon Wagen und Kutscher, um auf der Landstraße hinzufahren und zu fragen, ob Peter Sandvold auf Besuch zum alten Jon Sörbö kommen könnte.


Deko

[S. 49]

Kirchenexamen vor dem Bischof.

Es ist ein strahlender Sommermorgen oben auf einer Sennhütte. Sie liegt gerade am Talrand mit Aussicht bis hinunter, umgeben von kleinen niedrigen Wäldchen, die sich auf dem sanften Abhang nach den kahlen Höhen hinaufziehen. Die Sonne ist schon längst am Himmel — sie geht um drei auf — und scheint auf die drei oder vier kleinen Sennhütten herab, wo sich die Türen eben wie kleine, schwarze Rachen geöffnet haben und wo lange blaue Rauchstreifen mit einer leise südlichen Neigung emporsteigen. Auf der Schattenseite der Tannen glitzern die feinen Tauperlen in den Tannennadeln und den Spinneweben, und in den Frauenmänteln und Salbeiblättern auf der Wiese liegen große, glänzende Tropfen. Die Luft ist klar und still; die bewaldeten Gipfel ringsumher und der Neusäterberg im Hintergrund rücken ganz nahe in der hohen, klaren Luft. Über den Tannenwipfeln schwärmen einige Krähen, und in dem Steinhaufen drüben auf der Wiese huschen ein paar[S. 50] Wiesel hin und her. In Wald und Feld herrscht tiefe Stille.

Da ertönt ganz in der Ferne der Klang einer tiefen Glocke, und unter dem Neusäterberg kommt eine Herde wie ein langer weißer Streifen vor, — die Uhr geht so unglaublich schnell drüben auf dem Neusäter.

In der obersten Sennhütte, vor der eine lange flache Wiese sich hinzieht, öffnet sich die Kuhstalltür, der Hirtenjunge kommt auf die Wiese heraus mit einem Milcheimer in der Hand, den Strohhut weit hinten im Nacken, und blinzelt gegen die Sonne. Er geht hin, öffnet das Zauntor, geht zum Kleinvieh hinein und beginnt die Ziegen zu melken. Er bewegt die Lippen, als spräche er mit sich selbst, es sieht aus, als ob seine Gedanken wo anders weilen, er achtet nicht auf die Ziegen, die sich an ihn herandrängen, um die ersten zu sein. Die Schafe liegen in dichten Haufen und wiederkäuen, die Ziegen dehnen sich; nirgends ist Lärm. Aus dem Kuhstall hört man wie die Hörner gegen die Wand stoßen, jedesmal wenn eine Kuh aufsteht.

Auf einmal entsteht Lärm:

Lykkelin! Du sollst nicht die Schafe mit deinen Hörnern stoßen!

Die Schellenziege, Lykkelin, war drüben in einer Ecke vom Viehgatter aufgestanden, streckte sich, und[S. 51] stieß an ein Schaf, daß es in den Rippen krachte, dann schwankte sie mitten durch die Schafe hindurch, so daß ein breiter Weg entstand, bis zum Hirtenjungen, der rittlings über Blaasale saß und sie melkte. Dort drückte sie sich an seinen Schenkeln entlang, bis sie ihren Kopf in derselben Höhe hatte wie Blaasale. Blaasale bog ihren Kopf so weit weg, wie sie konnte und sah nach der andern Seite. Doch plötzlich fühlte sie Lykkelins scharfes Horn unter ihrem Kinn, und machte einen Satz, so daß der Hirtenjunge hinter sie zu sitzen kam und der Milcheimer umkollerte.

Den Teufel auch — — —!

Er sprang auf und setzte Lykkelin nach.

Großer Aufruhr entstand, die Schafe liefen gerade gegen das Gatter, daß es krachte, die Schellen klingelten, als wäre ein Hund in der Herde.

In Jesu Namen, was ist denn los, Gudbrand!

Es war die Mutter, die durch die Kuhstalltür heraussah.

Es ist diese elende heimtückische Lykkelin; die Milch von sechs Ziegen hat sie umgeworfen und mich in den Dreck gesetzt, aber ich werde — hol mich der Teufel — —

Er machte einen Satz und faßte Lykkelin drüben in einer Ecke. Da packte er sie beim Bart:

Ich werde dich lehren, dich anständig zu betragen![S. 52] Weißt du, was du getan hast? Du hast mich in den Dreck gesetzt. Weißt du nicht, daß ich dein Herr bin, und daß ich heute vor dem Bischof examiniert werde! Könntest du vielleicht dem Bischof antworten, du Wüterich! Ja, kratze nur mit dem Fuß, diesmal — er schüttelte sie hart am Bart, so daß Lykkelin einen verzweifelten Sprung machte und wieder los kam.

Teufel —

Nein, du darfst heute nicht so fluchen, Gudbrand, denke an den Bischof!

Ach, ich denke schon, der Bischof hätte auch ein kleines Gebet angefangen, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre.

Pfui, wie du redest, Gudbrand! Du wirst so großmäulig, daß ich mir nicht zu helfen weiß. Geh hinein und nimm dein Buch und lies den zweiten Artikel noch einmal durch, denn die Werke des heiligen Geistes kannst du gar nicht, ich werde die übrigen Ziegen melken.

Doch, allerdings, die kann ich; ich war gerade mitten im dritten Artikel, als Lykkelin zustieß. Ich will es nicht mehr durchkauen, blos weil es ihnen einfällt, uns mitten im Sommer zu prüfen. Und dann glaube ich schon, daß ich trotzdem einer bin, der seinen Mann steht.

[S. 53]

Ja, meinetwegen, wenn du die Schande haben willst! Es ist wirklich der Mühe wert, daß ich mich abplage, um dir neue Schuhe und eine neue Jacke zu verschaffen, daß du wie anständiger Leute Kind aussehen sollst, wenn du dahin kommen willst und dich als Heiden zeigen. Denn du hast den ganzen langen Sommer nicht in die Bücher gesehen außer in den letzten Tagen!

Sie war mitten in das Viehgatter hineingekommen und nahm ihm den Milcheimer fort.

So geh herein, und wasch dich wenigstens und zieh dich an, du mußt bald gehen!

Gudbrand ging langsam hinein.

Dann rief sie ihm nach:

Es liegt ein reines Hemd auf dem Bordbrett über dem Bett.

Jetzt fingen sie auf der unteren Sennhütte an, das Vieh loszubinden. Es entstand ein Brüllen und Meckern und Schellenläuten und die Hirten lockten die Ziegen, daß es gegen den Neusäterberg hallte. Sie zogen in langer Reihe am Zaun entlang den Berg herauf, voran das Kleinvieh, rasch und lebhaft über die Wiese hin springend und sich balgend; hinterher kamen die Kühe, langsam und schwer und sahen sich um.

Kjersti Nerlien folgte selbst mit und trieb sie an; am Gatter blieb sie stehen und blickte hinüber. Ihre[S. 54] beiden Kälbchen blieben auch stehen und standen und kauten an ihrem Rock.

Bist du noch beim Melken, Randine?

Ja, und du treibst schon die Tiere heraus! Bei mir dauert heute alles so gräßlich lange.

Ja, du hast wohl keine Hilfe heute? Gudbrand muß doch zum Kirchenexamen?

Ja, es kommt doch noch dazu; er bekam die Schuhe gestern Abend spät.

Ja, für ihn ist das keine Sache, er ist ja so tüchtig im Lernen; ich bin wirklich froh, daß mein Sigvart noch zu jung ist.

Ach, ja, ich habe mich so für ihn abgemüht, daß ich hoffe, er wird mir wenigstens nicht Schande machen, aber es ist nun einmal sonderbar, wo soviele Kinder von besseren Leuten hinkommen.

Gudbrand kam wieder heraus, furchtbar fein, mit neuen Schuhen, neuer Jacke, neuem Schal und gewaschen, daß das Wasser ihm von den Haaren triefte. Er trat vorsichtig und sprang auf die Steine, um die neuen Schuhsohlen nicht zu beschmutzen. Er fühlte sich wie ein anderer Mensch, beinahe erwachsen. Er zog an der Weste, und rückte den Schal gerade, steckte die Hände erst in die Hosentaschen, aber die waren so weit unten, daß er die Knie hätte krumm machen müssen; dann steckte er sie in die Jackentaschen[S. 55] und spreizte sie weit nach beiden Seiten. Das war männlicher, fand er.

Da haben wir den Jungen, der vor den Bischof soll, sagte Kjersti, so fein wie ein neugeprägter Groschen. Das ist meiner Treu ein Junge, der sich vor Pröpsten und Bischöfen sehen lassen kann.

Gudbrand antwortete nicht; er blieb mit weit auseinander gespreizten Beinen stehen und spuckte aus dem einen Mundwinkel:

Sind das deine Kälber?

Ja, das sind meine.

Es sind ganz schöne Kälber.

Da verstehst du viel davon, sollte ich meinen, sagte die Mutter.

Bist du so weit fertig, daß wir sie jetzt losbinden können? Es ist keine Art, daß wir so weit hinterher sein sollen!

Ja, jetzt bin ich fertig; aber du sollst heute nichts mit dem Losbinden zu tun haben; du hast ja die neuen Sachen an.

O doch, es ist schon am besten, daß ich selber dabei bin. Wenn sie ungehütet herumgehen sollen, so ist es am sichersten. Ich werde Lykkelin auf den rechten Weg setzen. Es ist eine eigene Sache, wenn man den ganzen Tag wegbleibt.

Er öffnete das Gattertor, und Schafe und Ziegen[S. 56] drängten sich so hastig herbei, daß sie zwischen den Torpfosten stecken blieben und sich mühsam hindurch pressen mußten. Hüpfend und um die Wette laufend zogen sie über die Wiese, wobei einige besonders vorlaute Ziegen hier und da einen Abstecher machten; eine machte eine Wendung nach dem Schweinekoben, um zu sehen, ob nicht ein bißchen Mehlbrei übrig wäre, eine andere steckte den Kopf zum Kuhstall hinein, ob nicht Salz verschüttet wäre, eine dritte preßte den Kopf durch die Stäbe des Gatters und streckte den Hals nach einem Büschel Gras drinnen auf der Sennwiese.

Als Gudbrand sie gesammelt hatte, erteilte er Lykkelin seine Befehle. Jetzt sollte sie es ihm danken, daß er ihr sein Vertrauen geschenkt hatte; sie sollte nicht vor dem Abend nach Hause kommen; aber da sollte sie auch kommen und alle mit sich haben. Und sie täte am besten, nicht nach den Hammerbergen hinunterzugehen, denn es war so schwer, von dort wieder hinaufzukommen, daß sie die Milchziegen nicht mitbekommen würde, sie sollte sich oben auf den Lövhügeln halten. Damit fuhr er fort, solange die Sennhütte zu sehen war, aber als er hinter das erste Wäldchen kam, ließ er sie ziehen und legte sich hinter eine kleine Tanne. Hier zog er das Buch unter der Weste vor; es war am sichersten, die Heiligung noch ein wenig[S. 57] durchzugehen. Man konnte nie wissen, worauf sie kämen und das Stück: warum nennt man die Kirche heilig, war so furchtbar lang. Er las es zweimal durch, machte das Buch zu und versuchte — nein — noch einmal — dann versuchte er wieder. — —

Er merkte nicht, daß das Vieh vorüberzog, merkte nicht, daß ein Kalb an der Tanne vorbeikam, bis es sich erschreckt auf die Seite warf, den Schwanz in der Luft. Aber da standen auch Kjersti und die Mutter dort.

Nein, du hast aber einen feinen Jungen, Randine! Liegt er nicht da und lernt!

Hat es dich doch noch gepackt, Gudbrand, jetzt wo es dir auf den Nägeln brennt! Es war aber auch die höchste Zeit!

Sie hatte es wohl gemerkt, daß Gudbrand schon seit langer Zeit das Buch mit sich in den Wald geschmuggelt hatte, aber sie hatte nicht dergleichen getan. Und jetzt sagte sie zu Kjersti:

Ja, Gott weiß, wie es gehen wird! Ich habe ihn den ganzen Sommer kaum ein Buch in die Hand nehmen sehen.

Gudbrand stand ein wenig verlegen auf:

Es fiel mir ein, daß Marten Madslien gesagt hat, es hätte in den Blättern gestanden, daß wir ein neues Fragebuch bekommen würden, das kürzer[S. 58] sein sollte, und da fand ich, ich müßte 'mal nachsehen wie lang das wäre. Es ist wohl nicht zu erwarten, daß es viel besser wird.

Er steckte das Buch unter die Weste und stolzierte zurück nach der Sennhütte.

Eine Weile darauf lief er den Abhang hinunter mit dem Gesangbuch, dem neuen Testament und einem Päckchen Waffeln unter dem Arme.


Die kleinen Kirchenglocken hatten zum erstenmal geläutet.

Von allen Seiten kamen Leute herbeigeströmt, schüttelten sich die Hände und stellten sich schweigend in Reihen längs der Kirchhofsmauern oder in dem Torweg der Wagenschuppen auf. Wer von weit her kam, suchte schwitzend mit der Jacke über dem Arm den Schatten und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Wer Konfirmanden hatte, gab ihnen die letzten Ermahnungen und schickte sie auf den Kirchplatz, wo sich die Kinder in Scharen versammelt hatten, eine Schar für jeden Schulkreis. Sie standen schweigend da und sahen sich um, sie warteten auf die Schulmeister.

Die Erwachsenen redeten auch nicht viel, nur einige Worte, wenn einer gefahren kam, und hin und wieder beschatteten sie die Augen mit der Hand[S. 59] und blickten nach dem Pfarrhof hinüber, wo die Fahne in der stillen Luft hin und her flatterte.

Die kleine Holzkirche lag so weiß da in der Sonnenglut und bekam Risse von der Hitze, daß es krachte. Es glitzerte in den Fenstern, alle Türen standen weit offen, und in dem Fensterchen hoch oben im Turm stand der Glöckner auf beide Arme gelehnt und spähte. Er sollte läuten, wenn er die Geistlichen in dem Pfarrhoftor sah.

Die Schulmeister kamen, stellten ihre Kinder in langen Reihen auf und sagten ihnen, was sie zu tun hätten.

Wenn der Bischof durch die Kirche schritt, sollten die Jungen sich verbeugen und die kleinen Mädchen einen Knicks machen, aber nicht alle auf einmal, sondern immer erst, wenn der Bischof an ihnen vorbeikäme.

Sie sollten laut antworten und nicht vergessen, dem Bischof gerade in die Augen zu sehen, wenn er sie fragte, denn das hätte er gern.

Dann hatten sie nichts mehr zu sagen, und es entstand eine feierliche Stille. Es konnte schon sein, daß ihnen die Stimme ein wenig gezittert hatte, und große Schweißtropfen traten ihnen auf die Stirn.

Dann mit einem Male zitterten die Glockenschläge durch die Luft, daß der Turm schwankte. Im selben Nu blickten sie alle nach dem Pfarrhof.

[S. 60]

Ja, da kamen sie durch das Gittertor alle miteinander. Nein, was für ein leutseliger Bischof, der zu Fuß ging!

Und dann begannen sie in die Kirche hineinzuströmen. Jeder Schulmeister führte seine Kinderschar herein und stellte sie auf. Die Erwachsenen setzten sich in die Stühle dahinter, hin und wieder gaben sie den Kindern einen Puff, nahmen ihnen das Frühstückspaket weg und reichten ihnen ein Buch.

Gudbrand hatte keine Anverwandten da, und er hatte vergessen, die Bücher herauszunehmen. Er legte das Bündel zwischen die Kniee, aber die Hand zitterte ihm, als er den Knoten aufmachte. Er steckte das Tuch in die eine Jackentasche und die Waffeln in die andere, so daß sie hervorguckten, und nahm die Bücher in die Hand.

Die Sonne schien durch die hohen Fenster, sie streifte die beiden Stühle, die für den Bischof und den Propst hingestellt waren, fiel auf die Kniebank und den Altar, bis hinein in die Nische zu den zwölf Aposteln. Noch knarrte hin und wieder eine Kirchenstuhltür, doch dann konnte man deutlich hören, wie die Blätter der hohen Birke, die gerade vor dem Fenster stand, leise gegen die Scheiben streiften.

Dann wandten sich auf einmal alle Köpfe um, und alle Jungen hielten den Atem an, bis sie ihre[S. 61] Verbeugung hinter sich hatten; denn da kamen sie, zuerst der Bischof mit dem goldnen Kreuz auf der Brust und schwarzem glänzendem Seidenkäppchen, hinterher der Propst und zum Schluß der Pfarrer in langsamen, feierlichen Schritten durch die Kirche und grüßten mit kleinen ernsten Verbeugungen nach beiden Seiten.

Es war beinahe eine Erleichterung, als sie oben am Altar niederknieten und der Küster wie gewöhnlich vorkam und das Eingangsgebet verlas. Als er fertig war, räusperte man sich und scharrte wie sonst, und der Kirchendiener lief mit der Mütze in der Hand um den Altar und jagte einen Hund, der sich eingeschlichen hatte, hinaus.

Darauf hielt der Propst eine Rede, und dann begann das Kirchenexamen.

Es kribbelte Gudbrand förmlich im Magen, während die Fragen und Antworten fielen, und das nahm zu, je näher es an ihn herankam. Das Blut schoß ihm in die Backen, wenn einer dastand und stotterte und stammelte; er hatte sich halb gewandt, war beinahe im Begriff, einen Schritt vorzugehen und hielt die ganze Zeit seine Augen auf den Bischof gerichtet. Wenn er ihn nur fragen wollte!

Aber der Bischof stand in lauschender Stellung da, die sanften blauen Augen auf den, den er fragte,[S. 62] geheftet, und wenn die Antwort endlich einigermaßen zustande kam, nickte er viele Male mit dem Kopf und tat einen Schritt zur Seite.

Sie schlichen sich mühselig weiter, alle saßen aufmerksam lauschend da, nickten und warfen sich Blicke zu. Es herrschte eine solche Spannung, daß es fast wie eine Erlösung wirkte, als ein milder Regenschauer im Sonnenschein draußen fiel und die nassen Birkenblätter gegen das Fenster zitterten.

Gudbrand vergaß sich, als es so lange dauerte. Er stand und betrachtete das glänzende Laub. Doch auf einmal erschrak er bis in die Knie. Da stand der Bischof gerade vor ihm, und der Schulmeister hatte die Frage begonnen, ehe er zuhörte:

Wir hörten neulich, daß im dritten Artikel steht: die heilige, christliche Kirche.

Kannst du mir sagen, warum die Kirche heilig genannt wird?

Da hatte er es; wie gut, daß er es noch durchgegangen hatte! Es wurde ihm schwarz vor den Augen, er konnte nicht auf das erste Wort kommen.

Nun? Warum wird die Kirche heilig genannt? Weil —

Weil der heilige Geist durch seine heiligen Gnadenmittel sein Werk der Heiligung an allen ihren Gliedern ausführt, darum wird die Kirche heilig[S. 63] genannt trotz der Sünde und Armseligkeit, die sich in ihr findet.

Der Bischof nickte viele Male, und der Schulmeister ließ einen Blick über die Gemeinde streifen.

Sein Werk der Heiligung in allen ihren Gliedern, — fuhr der Schulmeister fort. Wer sind die Glieder der Kirche?

Gudbrand überlegte.

Gehörst du zu den Gliedern der Kirche?

Ja.

Und ich?

Ja.

Und der Bischof?

Gudbrand dachte nach. Er fand nicht, daß es anging, daß er mit dem Bischof zusammengehörte, und darum flüsterte er, daß nur der Schulmeister es hörte:

Nein.

Überlege es dir einmal; gehört nicht der Bischof zu den Gliedern der Kirche?

Doch.

Der Bischof nickte.

Nun denn, wer gehört also zu den Gliedern der Kirche?

Gudbrand ging ein Licht auf.

Alle, die an Christum glauben.

[S. 64]

Richtig. Aber —, kannst du aus dir allein an Christum glauben?

Nein.

Wer verhilft dir zum Glauben?

Der heilige Geist.

Was steht darüber in dem dritten Artikel?

Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der heilige Geist hat mich —

Richtig. Würde es Klugheit oder Torheit sein, wenn du glaubtest, daß du aus eigener Kraft an Christum glauben könntest?

Torheit.

Wenn nun der Bischof sagte, daß es anginge, wer wäre dann klüger, du oder der Bischof?

Gudbrand überlegte. Der Bischof wurde ein wenig unruhig und wollte zum nächsten übergehen, blieb aber lauschend stehen.

Nun? Wer wäre dann der Klügste, du oder der Bischof?

Nein, das ging nicht an, wenn alle zuhörten zu sagen, er wäre klüger als der Bischof:

Der Bischof wäre der Klügste.

Der Bischof schüttelte heftig den Kopf. Dann ging er zu ihm hin und strich ihm sanft über das Haar:

[S. 65]

Nein, mein Junge, dann wärst du klüger als der Bischof.

Ja, sagte der Schulmeister, du meintest aber, auf so etwas könnte unser gottesfürchtiger Bischof nie verfallen, nicht wahr?

Ja.

Das war recht, mein Junge, mit Gottes Hilfe wird er das nicht tun, sagte der Bischof, strich ihm noch einmal über den Kopf und ging dann weiter.


Die Sonne stand schon tief über dem Neusäterberg, als Gudbrand der Sennhütte zustrebte.

Lykkelin war schon mit der ganzen Herde nach Hause gekommen, und sie lagen jetzt satt und zufrieden am Viehgatter und wiederkäuten. Die Ziegen drehten sich nur ein wenig um und meckerten, als er kam. Die Mutter war drinnen im Kuhstall und melkte; sie sah ihn nicht, ehe er hereinkam. Er nahm sich viel Zeit und schob den Riegel behutsam vor.

Nein, da bist du ja, Gudbrand? Wie war es denn?

Ach, es war wohl ungefähr, wie man erwarten konnte, denke ich.

Konntest du antworten?

Ach, du weißt, ich wußte schon das meiste, was sie fragten.

[S. 66]

Erzähle doch!

Da gibt es nicht weiter viel zu erzählen, finde ich. Und dann sagte er plötzlich: Nein, jetzt muß ich schon meine alten Sachen anziehen und anfangen zu melken; man kann nicht den ganzen Tag nur zum Staate da sein.

Mehr bekam die Mutter nicht aus ihm heraus. Sie begann zu fürchten, daß er seine Sache nicht gekonnt hätte. Eine Weile darauf kam er in seinen alten Sachen wieder heraus und begann die Ziegen zu melken. Gudbrand war so unglaublich verschlossen.

War denn der Bischof freundlich?

Ach ja, er war nicht gerade unangenehm.

Hat er etwas zu dir gesagt?

Ach ja, er hat schon auch etwas gesagt.

Was hat er denn gesagt?

Ach, — man darf nicht alles glauben, was man hört.

Was sagst du da?

Ja, wenn du's durchaus wissen willst, so kann ich es auch gern sagen. Sie fragten mich nach allen Richtungen hin aus, und du verstehst, ich blieb ihnen keine Antwort schuldig. Und dann, als sie nicht weiter kamen, dann sagten sie alle, ich wäre klüger als der Bischof, aber das können sie wohl nicht im Ernst gemeint haben.

Deko

[S. 67]

Die Mütze, die auf der Wolke war, um Gold zu holen.

Per lag hinter dem großen Stein oben auf Storbakken und blickte hinunter. Er konnte gerade auf den Hof sehen, der dicht darunter lag. Es war früh am Morgen, die Sonne war eben aufgegangen und schien auf die blanken Scheiben, daß sie glitzerten, und mitten zur Haustür herein, die wie ein schwarzer Rachen offen stand.

Per hatte die Mütze auf dem dunklen Schopf weit nach hinten geschoben und lag da und warf die Beine bis fast in den Nacken. Er fand schon, daß Christian gern die Nase aus den Federn stecken könnte, ehe Hänschen aufwachte.

Unten auf dem Hof gingen die Hühner und gackerten und scharrten mit den Füßen, der Hahn stand auf der Scheunenbrücke und krähte und krähte, die Schwalben flogen durch den Sonnenschein wie stahlblaue, metallglänzende Streifen, oben auf dem Scheunendache schwatzte eine Elster und aus der Esse stieg ein[S. 68] hellblauer Rauch hoch in die Luft. Trotzdem war es ganz still, — man sah keinen Menschen, sie waren wohl alle draußen auf dem Felde und mähten.

Endlich trat Christian in die Haustür. Er strich sich den hellen Schopf aus den Augen, blinzelte gegen die Sonne, die ihm gerade ins Gesicht schien, hielt die Hand vor die Augen, und blickte nach oben. Nein, er sah nichts; nur einen blauen Rauch über dem Rand von Storbakken. Er kam aus der Häuslersesse. Ja, er glaubte, er konnte sehen, daß er nach Kaffee roch.

Hallo, Per! Keine Antwort. Nein, Per hatte wohl noch keinen Morgenkaffee bekommen.

Er steckte die Hände in die Tasche und wollte umkehren.

Da ertönte ein: Hallo, Christian!

Er blieb stehen: Hallo, Per!

Per sprang auf und schlug Purzelbäume hinunter, Hallo, Christian! — Hallo, Per! — Hallo, Christian! — Hallo, Per!

Und Per sprang und schlug Purzelbäume und kollerte hinunter, und die ganze Zeit schallte es hinaus in die Morgenluft: Hallo, Christian! Hallo, Per!

— — Per war vom Häuslerplatz und Christian war vom Hof. Sie waren gute Freunde und pflegten den ganzen langen Tag zusammen zu sein, und das war nicht zu verwundern, denn es gab weit und[S. 69] breit keine solchen forschen Jungen wie sie, und niemand, der solche Sachen hatte. Sie hatten eine Mühle und eine Säge, die gingen, wenn im Bach genug Wasser war, und dann hieß Per der Müller und Christian der Obersägemeister; wenn sehr viel Wasser da war, so stauten sie das Wasser erst und ließen es dann laufen und flößten Holz; doch da hatten sie andre Namen, denn da hieß Christian Zimmermann Pedersen und Per Inspektor Wasserfall, von dem Mal her, wo er fiel und auf den Hosenboden mitten in den Bach zu sitzen kam. Wenn der Bach trocken war, trieben sie Landwirtschaft; sie hatten Hof und Sennhütte und Vieh, Großvieh und Kleinvieh und Schäferhund. Die Kühe waren runde Steine und der größte, der so ungeheuer groß und glänzend war, war der Bulle Dybendal; und die Schafe waren Tannenzapfen und eine merkwürdige kleine runde Wurzel, die der Knecht ihnen zugeschnitten hatte, war der Schäferhund: Bärenbeißer, und der hatte mehr als einmal mit dem Bären zu tun gehabt. Sie hatten auch einen Bogen, mit dem sie auf die Jagd gingen und Pfeile, die so unwahrscheinlich hoch flogen, daß der beste einmal bis auf die Wolke gegangen und dort oben liegen geblieben war, — sie fanden ihn erst viel später im Gras wieder, als es geregnet hatte. Und da erzählte ihnen der Knecht, daß er wahrscheinlich wieder heruntergeregnet[S. 70] wäre, und daß sie gut nachsehen sollten, ob nicht Gold an ihm wäre, denn oben auf der Wolke wäre Gold. Doch er war so glatt, daß nichts an ihm hängen geblieben war, und als sie ihn teerten, bekamen sie ihn nicht mehr so hoch.

Doch in der letzten Zeit waren Per und Christian umgezogen. Die Mühle und die Säge standen da und Bärenbeißer mußte allein auf das Vieh achtgeben. Es war oft genug langweilig gewesen, daß Hänschen immer mit sein wollte; denn es war nun einmal nichts für Zimmermann Pedersen und Inspektor Wasserfall, stets den Jungen zum Aufpassen zu haben; aber da war nichts zu machen gewesen, — er kam stets, wenn er wußte, wo sie sich aufhielten. Aber jetzt waren sie sehr darauf aus, es verborgen zu halten, wo sie ihre Zuflucht hatten; sie schlichen sich früh weg und blieben den ganzen halben Tag fort. Sie hatten sicher etwas vor, wovon Hänschen lieber nichts wissen sollte.

Das erste, was Per sagte, als er in die Haustür hinunterkam, war auch: Ist er auf?

Nein, er schlief, als ich hinausging.

Hast du den Fünfpfünder instand?

Ich sollte es meinen! Und Per zog ein großes Kuhhorn hervor, in das er Zündlöcher gebohrt hatte. Hast du Futter für ihn?

[S. 71]

Ach ja, ich denke schon, und Christian zeigte einen großen Beutel mit Pulver vor.

Die Sache war, daß sie oben auf dem Boden ein Fäßchen Minenpulver gefunden hatten, und davon durfte niemand etwas wissen, denn Pulver war streng verboten.

Ja, dann ist es am besten, daß wir fortkommen.

Sie schlichen sich leise über den Hof und sahen sich jeden Augenblick um; dann als sie um die Ecke des Vorratshauses waren, fingen sie an die Straße entlang zu laufen.

Halt, Christian! Ich sehe dich schon.

Es war Hänschen, der in die Haustür hinausgekommen war, und das letzte Ende von ihnen gesehen hatte, als sie um die Ecke verschwanden.

Er hatte nur Hosen und Schuhe anbekommen, oben war er im bloßen Hemd. Er hatte Eile gehabt, denn Hänschen verstand sehr wohl, daß sie sich von ihm fortschleichen wollten und hatte sich vorgenommen, auf sie aufzupassen.

Halt, hörst du! Ha—a—lt!

Er schrie, bis er an der Ecke des Vorratshauses vorbeikam und Per und Christian ruhig im Grase liegen und in die Luft blicken sah.

Er sagte nichts, sah sie nur ein wenig zweifelnd an, und setzte sich auch ins Gras. Er wollte schon auf sie aufpassen.

[S. 72]

Per und Christian blinzelten einander zu und begannen Purzelbäume zu schlagen. Nach einer Weile durfte auch Hänschen mitmachen. Dann spielten sie mit andern Dingen. Auf einmal sagte Christian:

Du, Hänschen, wollen wir zum Jahrmarkt reisen?

Ja—a! Hänschen wurde strahlend vergnügt.

Du fängst an.

Nein, du wirst mich nicht zum Narren haben! Du fängst an!

Ja, gern. Ich hatte ein Füllen!

Hänschen sprach ihm nach: Ich hatte ein Füllen!

Meins wurde ein Pferd.

Meins auch.

Ich zähmte meins.

Ich zähmte meins auch.

Dann reiste ich zum Jahrmarkt in Grundset.

Dann reiste ich zum Jahrmarkt in Grundset.

Da traf ich einen Mann, der einen Bären hatte.

Da traf ich einen Mann, der auch einen Bären hatte.

Da vertauschte ich mein Pferd gegen den Bären.

Da vertauschte ich auch mein Pferd gegen den Bären.

Da traf ich dich.

Da traf ich dich.

Da nahm mein Bär deinen Bären und fraß ihn auf.

[S. 73]

Bild

[S. 74]

Hänschen bekam zuerst ein langes Gesicht; aber dann wurde er wütend:

Du mogelst, Christian, du sagtest zuerst guten Tag, und darum wird es mein Bär, der deinen auffrißt.

Nein, es war meiner, der deinen auffraß.

Nein, meiner! Hänschen war am Weinen: ja, so laß uns noch einmal anfangen, dann wirst du sehen!

Nein, dein Bär ist aufgefressen.

Ä—h ä—h, es war meiner. — ä—h ä—h.

Nein, meiner!

Ä—h, Mutter! er sagt ä—h ä—h, daß sein Bär meinen auffraß! Hänschen lief hinein, um es der Mutter zu sagen; er vergaß, daß er auf sie hatte aufpassen wollen.

Als er glücklich in der Haustür drin war, machten sich Per und Christian eilends aus dem Staube und verschwanden.

Drüben in Svartdalen, ein gutes Stück vom Hofe entfernt, hatten sich Per und Christian eine Höhle eingerichtet, vor der ein Haselwäldchen stand, so daß sie nicht gesehen werden konnten, wenn man nicht auf die oberste Höhe hinaufkam und gerade auf sie hinunterblickte. Dorthin hatten sie das meiste von ihren Sachen gebracht; dort hatten sie einen Herd gebaut,[S. 75] dort hatten sie ihre Schmiede, dort zündeten sie ihre Feuer an; aber das wagten sie nicht oft zu tun, aus Angst, daß man den Rauch sehen könnte. Hier fühlten sie sich sicher, hier hatten sie Sprühmännchen angezündet, und hier hatten sie mit Tüten und Sturmhutstielen zu schießen versucht; aber damit ging es nicht, die Tüten brannten nur an und die Sturmhutstiele platzten; es konnte also nicht die Rede davon sein, mit ihnen in die Wolke nach Gold zu schießen, — denn das war es eigentlich, was sie vor hatten. Aber heute hatten sie den Fünfpfünder, heute sollte es Ernst werden.

Sie mußten erst Probeschüsse machen, ehe sie in die Wolke schossen. Sie machten ein Feuer an, gossen das Pulver in das Horn und stopften es voll mit Gras.

Es knallte nicht sehr stark; das Horn sprang nur einige Ellen nach rückwärts und der Grasbüschel ein wenig nach vorwärts.

Pah, es war nicht stark genug geladen, der Fünfpfünder mußte festgemacht werden, und dann mußte eine Kugel hinein; ja, dann wurde es eine Kanone, die schon gehen sollte; sie würden mindestens quer über das Tal schießen können.

Sie luden von neuem und legten einen großen Stein hinein und befestigten den Fünfpfünder zwischen[S. 76] zwei Steinen. — Nein, sie mußten ihn vielleicht ein wenig wegrücken? — Ja, es wäre schade um die Leute am Talende, wenn man ihnen die Häuser niederschoß; sie mußten ihn auf den Wald richten.

Das taten sie denn und zündeten an.

Ja, diesmal knallte es wahrhaftig! Der Schuß ging! Konnte Per nichts drüben am Abhange sehen! Ja, denn Christian schien es deutlich, als fiele eine Tanne um, als der Schuß losging.

Ob es eine ganze Tanne war, konnte Per nicht sagen, aber er sah jedenfalls, daß ein Tannenwipfel herunterfiel.

Es war schon fraglich, ob sie eine bessere Kanone auf der königlichen Festung hätten.

Ach nein, das war nicht anzunehmen. Mit der konnten sie sicher bis in die Wolke schießen.

Ja, das war sicher. Aber was sollten sie hinaufschicken? Es mußte etwas sein, in das das Gold hereinkommen konnte.

Sollten sie etwa Pers Zipfelmütze hinaufschicken? Vielleicht kam sie dann vergoldet wieder herunter.

Ja, Christian wunderte sich schon, was sie zu Hause sagen würden, wenn sie mit vergoldeten Mützen und Goldstücken in den Taschen heimkämen. Da könnten sie Pulver kaufen — ein ganzes Faß voll!

Ho—ho! erklang es gerade über ihnen. Der[S. 77] Fünfpfünder und der Pulverbeutel wurden schnell beiseite gebracht, ehe sie hinaufblickten.

Dort lag Hänschen:

Ach bitte, vergoldet doch auch meine Mütze!

Per und Christian waren wirklich ärgerlich. Sie versuchten Hänschen alles Mögliche einzubilden. Sie boten ihm den besten Bogen an, wenn er gehen und nichts sagen wollte. Doch Hänschen hatte den Knall gehört, sie könnten ihm nichts weismachen, — wenn sie nicht seine Mütze vergoldeten, so ginge er spornstreichs nach Hause zu Mutter und sagte, daß sie Pulver hätten, und da würde es einen andern Tanz geben.

Ja, da gab es keinen andern Rat, als sich mit Hänschen abzufinden und ihn zu besänftigen. Sie zeigten ihm alle ihre Herrlichkeiten und er versprach, daß er gar nichts vom Pulver sagen wollte; aber da sollten sie seine Mütze zuerst vergolden.

Ja, das wollten sie auch gern tun, und bald hatten sie alles vergessen und waren wieder gleich eifrig. Es war wohl am sichersten, sie banden einen Stein an die Mütze, denn sonst kam sie nicht wieder herunter, ehe Regenwetter war.

Das war am besten. Wie wollten sie es machen?

Sie könnten das Kanonenende fest in die Erde stecken, den Stein hineintun, ihn mit einer Schnur an[S. 78] der Mütze festbinden und die Mütze oben darauf hängen.

Der Vorschlag wurde angenommen. Dann schütteten sie das Horn fast halb voll mit Pulver, luden gut und machten sich fertig. Es war ein feierlicher Augenblick und alle standen atemlos da, als Christan endlich einen Brand nahm.

Gebt jetzt acht! — Er brachte den Brand an das Zündloch.

Frrrr—s—piff—paff—puff!

Sie standen in einem Lichtscheine wie von einem starken Blitze und schraken alle drei so zusammen, daß sie umfielen.

Sie sahen ein wenig blaß aus, als sie sich so weit erholt hatten, daß sie einander ansehen konnten. Sie hatten den Pulverbeutel so weit in die Nähe gesetzt, daß er mit draufgegangen war.

Das war ein Schuß, sagte Christan.

Ja, das war ein Schuß, sagte Per.

Sahst du die Mütze?

Es war mir, als sähe ich sie undeutlich, als sie vorbeiflog.

Ist sie denn jetzt auf der Wolke? fragte Hänschen.

Wir wollen froh sein, wenn sie nicht noch weiter ist.

Kommt sie denn bald wieder herunter?

[S. 79]

Oh, das wird wohl noch eine Weile dauern.

Sie blieben alle drei stehen und starrten in die Luft. Nach einiger Zeit bekam Hänschen einen müden Nacken und sah wieder nach unten. Da ist sie!

Die Mütze hing oben im Haselbusch.

Ja, dann mußte sie aber auch schnell wieder heruntergeflogen sein, wenn sie sie nicht hatten kommen sehen!

Ja, Per war es, als hätte er einen Streifen gesehen, gerade als Hänschen es sagte, — da war sie sicher gekommen.

Sie hatten viel Mühe damit, sie herunter zu bekommen. Draußen war nichts zu sehen; sie waren sehr gespannt, was drinnen sein konnte. Als sie sie herunter bekamen, war weiter nichts zu entdecken, als ein großes Brandloch im Innern.

Das war seltsam. Wer hätte gedacht, daß das Gold da oben so heiß wäre; denn es hatte sicher ein Goldklumpen darin gelegen, der das Loch gebrannt hatte und dann herausgefallen war.

Vielleicht lag er in dem Haselbusch drinnen.

Sie suchten lange. Ach nein, der konnte weit von hier heruntergefallen sein. Ja, ja, morgen mußten sie den kleinen Blecheimer nehmen und hinaufschicken, denn da mußte der Goldklumpen drinnen bleiben, wie warm er auch war.

— — Als sie an dem Tag nach Hause kamen, hielten sie alle drei gut zusammen und Hänschen war so gut und artig und so vorsichtig, daß niemand seine Mütze zu sehen bekäme.

Er wollte schon nicht klatschen.

Als die Mutter ihnen allen dreien das Essen hinstellte, sagte Hänschen, während sie dasaßen und aßen. Du, Mutter, heute sind Per und Christian so gut zu mir gewesen, daß ...

Das ist brav von ihnen, aber da mußt du auch gut sein.

Ja, ich werde so gut sein, daß ...

Wie gut willst du denn sein?

Ach, ich werde gar nichts davon sagen, daß Per und Christian meine Mütze in die Wolke schossen! ...


Deko

[S. 80]

Der erste Arbeitstag.

Christian richtete sich auf den Ellbogen in die Höhe, kroch nach dem Kopfende und guckte aus dem Fenster dicht daneben.

Es war noch beinahe dunkel in der geräumigen Häuslerstube. Draußen war Dämmerung, gerade am Übergang zum Tag, nur einzelne von den größten Sternen waren sichtbar an dem blauen klaren Herbstmorgen.

Wieviel Uhr es wohl war? Ja, zu spät durfte er nicht kommen, die Schande sollten sie ihm nicht antun, — und dann konnte das auch einen Abzug vom Tagelohn bedeuten. Ein ganzer Kerl mußte den ganzen Tagelohn haben. Es war übrigens seltsam, er hatte vergessen zu fragen und Ola Nordlien hatte auch nichts vom Tagelohn gesagt!

Er drehte sich, so daß er im Bett saß und blickte hinüber nach dem anderen Bett am anderen Fenster, wo die Mutter lag.

Mutter! Mut—t—ter!

Die Mutter drehte sich ein paarmal um, ehe sie aufwachte, dann schlug sie die Augen auf:

Ja. Was willst du, Christian?

Du hörtest nicht, ob Ola Nordlien etwas davon sagte, wieviel Tagelohn er geben wollte?

[S. 81]

Und darum weckst du mich, du unartiger Junge!

Ich dachte auch, es wäre vielleicht Zeit, daß du den Kaffee aufsetztest. Denn wer auf Arbeit soll, braucht Zeit, um richtig munter zu werden.

So leg dich jetzt wieder hin. Ich werde es schon nicht verschlafen.

Aber Christian schlief nicht wieder ein, und was das anbetrifft, er hatte auch die ganze Nacht nicht viel geschlafen. Denn gestern abend, als er sich eben hinlegen wollte und schon mit den Hosen in der Hand dastand, war etwas geschehen.

Ola Nordlien war selbst hereingekommen, hatte guten Abend gewünscht und gesagt:

Jetzt bin ich im ganzen oberen Dorf herumgezogen und habe Leute zum Kartoffellesen gedungen, und da wollte ich 'mal vorsprechen, ob vielleicht auch hier ein Knecht zu haben wäre.

Nein, ich habe jetzt keinen Knecht hier, hatte die Mutter gesagt; der Per hat jetzt mit dem Kuhstall auf Opsal zu tun, und ich erwarte ihn vor den Feiertagen nicht zurück.

Hast du niemanden? Ich finde, da steht ein großer Bursche drüben am Bett. Nach ihm dort hatte ich fragen wollen.

Da kann einer glauben, daß Christian sich aufrichtete.

Du willst also mit zum Kartoffellesen? fuhr die Mutter fort.

[S. 82]

Ja, und darum habe ich ein ganzes Heer von solchen Kerlen zum Auflesen gemietet, die Kulsvejungen und Sagbakjungen und Jens Perhus.

Die Mutter lächelte und sah zu Christian hinüber.

Ja, ich weiß nicht, was Christian dazu sagt, du mußt mit ihm selbst reden.

Da verstand Christian, daß er durfte.

Ola Nordlien wandte sich dann zu ihm und sagte so ernst, als spräche er zu einem erwachsenen Knecht:

Ja, hast du wohl Lust, morgen zu uns zu kommen und uns beim Kartoffellesen zu helfen, Christian?

Christian zog die Hosen wieder in die Höhe und knöpfte die Klappe zu, so gut es sich in der Eile machen ließ. Dann setzte er sich auf die Bank, schlug die Knie übereinander, spuckte weit aus und sagte:

Ja, eigentlich habe ich nicht viel Zeit, aber da du Mangel an Leuten hast, so muß ich wohl kommen.

Das war der Grund, warum Christian nicht wieder einschlief, — denn zu spät kommen wollte er nun einmal nicht und dann gab es auch viel anderes zu überlegen, einmal, wie er sich ausrüsten sollte, und dann auch, wie er sich benehmen sollte.

[S. 83]

Der Morgen schlich langsam weiter, es kam ihm vor, als ob die Uhr gar nicht von der Stelle rückte — vielleicht war sie auch stehen geblieben; ein paarmal versuchte er, sich laut zu räuspern oder zu husten, um zu sehen, ob die Mutter nicht aufwachen wollte. Und als die Mutter endlich aufgestanden war und kaum den Kaffeekessel mit Wasser gefüllt hatte, da stand auch Christian mitten im Zimmer.

Er hatte noch viel zu tun. Erst untersuchte er, ob alle Knöpfe an der Hose richtig fest saßen. Nein, einer hing bloß an einem Faden; der mußte befestigt werden; ein Knecht mußte Hosen haben, die es vertrugen, daß er ordentlich zufaßte. Dann kam der Gürtel an die Reihe, — er mußte ein neues Loch machen, um ihn enger zu bekommen, er war nämlich zu weit, und sollte es zu einer richtigen Kraftanstrengung kommen, so war es am besten, daß er ordentlich eng war. Und den neuen Schal wollte er lose drüber hängen lassen; das würde sich gut machen, wenn er kam, und später wenn er den Rock auszog, und ihn dann schön zusammengefaltet darauf legte.

Lange ehe der Kaffee fertig war, war Christian angezogen und gerüstet, bis auf das Heu in den Stiefeln und die Zipfelmütze auf dem Kopf, und er ging aus und ein und sah aus, als hätte er sehr viel zu tun. Und als der Kaffee endlich fertig war, nahm es nicht lange Zeit ihn herunterzukriegen, obgleich er gewaltig viel[S. 84] essen mußte, um seinen Mann zu stellen und bald stand die Mutter und blickte ihm nach und bat ihn, gehorsam zu sein und sein Bestes zu tun, während er, die Zipfelmütze bis über die Ohren, mit langen, wiegenden Schritten wie ein Erwachsener den Abhang nach Nordlien hinuntertrabte.

Als er nach Nordlien hinunterkam, war es ganz still draußen im Hof, er sah nichts anderes, was sich bewegte, als den Rauch, der langsam in gerader Linie aus der Esse emporstieg, und hörte nichts anderes als das gleichmäßige Kauen der Pferde im Stall, — sie bekamen ihr Morgenfutter drinnen vor einem so strengen Tag.

Es dauerte indessen nicht lange, bis er hörte, daß Ola Nordlien auf den Beinen war und im Hause herumfuhr und weckte, und als er herauskam und Christian erblickte, sagte er:

Das ist meiner Treu ein richtiger Junge, der zuerst auf dem Platz ist, und da setzte Christian den einen Fuß vor und sagte:

Ja, ich finde, wir hätten schon anfangen müssen, wenn wir bis zum Abend etwas ausrichten wollen.

[S. 85]

Allmählich wurde es lebhaft auf dem Hof. Die Leute des Hofes selber waren aufgestanden und kamen heraus, gähnten und dehnten sich, und von dem oberen Dorf kam der eine nach dem andern, Erwachsene und Kinder, Häusler und Häuslerinnen, und Ola Nordlien ging herum und fand Hacken und Eimer und lieferte sie aus, und Trampelpeter, der Knecht, ließ die Pferde heraus, um sie zu tränken.

Christian war der kleinste von ihnen allen, und er hielt sich auch so weit im Vordergrund, daß er ihnen auffiel. Trampelpeter, der ein loses Mundwerk hatte, sagte auch gleich:

Nein, was ist das für eine Kartoffel, die ist ja mächtig groß.

Christian wurde sehr wütend auf den Lümmel, aber sein Zorn legte sich, als Ola Nordlien gleich sagte:

Das ist mein Großknecht. Du, Christian, du mußt ein bißchen ein Auge auf Trampelpeter und die anderen haben.

Christian sah ihn ein wenig unsicher an, und seine Mundwinkel fingen an zu zittern; denn er wußte zwar, daß er ein tüchtiger Junge war, aber eine solche Auszeichnung hatte er trotzdem nicht erwartet.

Ist das dein Ernst, Ola Nordlien?

Ja, natürlich ist es mein Ernst.

[S. 86]

Jetzt waren sie alle versammelt, mit Ausnahme von dem Faulpelz Jens Perhus, den sie langsam die Straße herunterschlendern sahen. Christian rief ihm zu, er möchte sich gefälligst beeilen und dann sagte er:

Jetzt mußt du die Pferde anschirren, Trampelpeter. Jetzt müssen wir anfangen, und er nahm seinen Eimer über den Arm, warf die Hacke über die Schulter und ging mit langen Schritten an der Spitze des ganzen Zuges hinüber nach dem Kartoffelfeld.

Sie verteilten sich über eine lange Kartoffelfurche, ein Erwachsener zum Graben und ein Junge zum Auflesen, und Christian richtete es so ein, daß er abwechselnd vor Ola Nordlien selber und vor Trampelpeter auflas, denn die gruben nicht die ganze Zeit, — Ola mußte eine neue Furche aufpflügen, wenn die eine geerntet war, und Trampelpeter sollte die Kartoffelsäcke zum Hof fahren.

Ola setzte den Pflug an und pflügte eine Furche um, so daß die schönen weißen Kartoffeln über die schwarze feuchte Erde hinausrollten, alle Rücken bückten sich, um zu graben, und alle die kleinen Hände gingen wie Trommelschlägel, um aufzulesen; es wuchs schnell an in den weißen Säcken, die in einer Reihe hinter ihnen standen, denn Christian und einige andere wetteiferten, wessen Sack am schnellsten voll würde, und[S. 87] wer seinen Eimer am öftesten leeren könnte, — es ging scharf zu beim Kartoffellesen auf Nordlien an dem Tage.

Die erste Zeit verging sehr rasch, ehe Christian sich's versah, war die Frühstückszeit da und sie sollten zurück und essen. Als sie gegessen hatten und draußen im Hofe saßen und satt und zufrieden ausruhten, sagte Ola Nordlien:

Ja, so geht es, wenn man einen tüchtigen Großknecht hat; ich weiß mir keinen besseren Rat, als daß ich Christian doppelten Tagelohn bezahle, wenn er Jens Perhus wirft; aber daran zweifle ich, denn Jens ist zäh.

Christian zögerte eine Weile, aber dann stand er auf, zog den Gürtel bis ins neue Loch, spuckte in die Hände und sagte:

Ja, so komm heran, Jens.

Sie fuhren aufeinander los, und keiner gewann gleich; aber schließlich sank Christian auf die Kniee und in demselben Augenblicke sprang der Gürtel entzwei. Er stand mit rotem Gesichte auf und hielt den Gürtel vor.

Ja, ich verlor, aber hier siehst du, Ola Nordlien, wäre der Gürtel so stark gewesen wie ich, so hätte ich ihn geworfen.

Dann begannen sie von Stärke zu reden, und Trampelpeter, der gern für sehr stark gelten wollte, sprach[S. 88] davon, daß er eine Tonne Kartoffeln auf den Wagen heben könnte.

Ja, das kann ich auch — mit dem Maule, sagte Christian ganz trocken und ernst, so daß Ola Nordlien und die andern lachten; aber seitdem waren Trampelpeter und Christian nicht besonders gut aufeinander zu sprechen.

Die Zeit bis Mittag verging nicht ganz so schnell, es war tüchtig warm geworden und die Sonne stand ihnen gerade auf dem Rücken. Es kann schon sein, daß Christian das eine oder andere Mal nach der Sonne schielte, um zu sehen, ob es nicht bald Zeit wäre, aber er sagte nichts, er las ebenso schnell und er machte auch darauf aufmerksam, daß Jens Perhus kniete anstatt den Rücken zu beugen. Das war keine Art, wenn etwas ausgerichtet werden sollte, Jens sollte, bitte, seinen faulen Rücken beugen. Aber als es gegen Abend ging, kam es doch vor, daß Christian selber ein wenig Erde auf die Kniee bekam, wenn es niemand sah, und er war bedeutend runder im Rücken geworden, als er am Morgen war. Doch da war auch Ola Nordlien gleich fertig, und er schickte ihn nach dem Hofe, um seine Hacke umzutauschen; er verstand, daß Christian sich einmal ausruhen mußte.

Bild

Endlich war es Abend geworden, die Sonne war untergegangen, die Pferde waren auf die Wiese[S. 89] gelassen, alle hatten gegessen und standen draußen im Hofe, bereit nach Hause zu gehen, die Männer mit den Pfeifen im Munde und die Frauen schon ein gutes Stück auf dem Heimwege — sie mußten nach Hause und die Kühe für den Abend melken.

Der Wagen mit der letzten Kartoffelladung stand am Kellerloch und Trampelpeter stand und lehnte sich daran.

Er blickte sich heimlich um, tat aber, als wäre er ganz in Gedanken, wie er den einen Kartoffelsack am Sackband nahm und ihn auf die Erde herunterhob. Kurz darauf hob er ihn auf dieselbe Weise wieder in den Wagen und sah sich heimlich um. Ja, sie hatten es beobachtet und Ola Nordlien sagte auch gleich:

Ja, du hast doch Kräfte, Per. Was meinst du, Christan?

Ach, das war doch nicht so gefährlich.

Da wurde Trampelpeter böse.

Nein, hört mal den Burschen da. Er nahm wieder den Sack und hob ihn herunter. Du mußt viel Brei essen, ehe du so weit bist, daß du ihn wieder auf den Wagen kriegen kannst.

Vielleicht könnte ich es gleich tun, meinte Christian.

Ja, wenn du das kannst, so will ich der schlechteste Bursche im ganzen Kirchspiel sein.

[S. 90]

Da bist du mein Zeuge, Ola Nordlien, borg mir bitte einen Sack. Und ehe Trampelpeter ein Wort gesagt hatte, hatte Christian den leeren Sack auf den Wagen gesetzt und begann die Kartoffeln aus dem einen in den andern zu füllen. In unglaublich kurzer Zeit war er fertig und warf den leeren Sack hinterher auf den Wagen.

Jetzt sind die Kartoffeln und der Sack dort und jetzt bist du der schlechteste Bursche im ganzen Kirchspiel, Trampelpeter.

Trampelpeter spuckte weit aus und lief ins Haus.

Ola Nordlien lachte, bis ihm die Tränen kamen.

Ja, wenn jemand doppelten Tagelohn verdient hat, so bist du es, Christian. Sollen wir gleich abrechnen oder kann ich dich morgen wieder bekommen?

Du verstehst, ich muß dir helfen, bis du mit den Kartoffeln fertig bist.

Als Christian allein seinen Nachhauseweg über die Abhänge hinaufschlenderte, fühlte er sich merkwürdig schwach in den Knieen. Es war am besten, daß er sich ein wenig hinsetzte. Er hatte nur ein paar Minuten bis nach Hause, aber er konnte sich trotzdem ein wenig ausruhen, und so setzte er sich an den Wegrand.

Auf einmal fing der Kopf an zu nicken, erst nach der einen, dann nach der anderen Seite; ehe er sich's[S. 91] versah, hatte er sich hintenüber gelehnt und war süß eingeschlafen.

Die Mutter hatte im Fenster gestanden und zugesehen. Gleich darauf war sie bei ihm:

Du mußt jetzt aufwachen und nach Hause kommen, Christian. Du hast dich wohl heute ordentlich angestrengt.

Bist du es Mutter? Wo bin ich? Er rieb sich die Augen.

Du bist hier draußen eingeschlafen, Christian.

Bin ich eingeschlafen? Du, Mutter — es ist vielleicht am besten, du erzählst das nicht so, daß der Lümmel, der Trampelpeter, es hört. — Übrigens eine Schande ist es nicht, denn ich habe auch doppelten Tagelohn verdient.


Deko

[S. 92]

Alexander und Buzephalos.

Blaß und blau, dünn und mager stand der kleine Stadtjunge am Gatter und guckte nach den Schafen, die in der Nähe weideten, bereit, über den Zaun zu setzen, wenn sich eine Gefahr zeigte. Er überlegte, ob es nicht mit dem Widder möglich sein sollte, seinen großen Plan von Alexander und Buzephalos ins Werk zu setzen.

Da kam ein kleiner untersetzter, breitgebauter Bursche daher, braun und schwarz auf einmal, die Hände wie ein Erwachsener bis an die Ellbogen in den Hosentaschen, mit langen Hosen, die einen ledernen Hosenboden hatten, und mit wiegenden Schritten nach Art der Erwachsenen.

Der Stadtjunge fühlte unwillkürlich nach, ob er noch seinen Skalp hätte, und setzte die Mütze so, daß er nicht zu sehen war.

Vielleicht war es ein Indianer? Man mußte auf dem Lande auf alles gefaßt sein. Nein, die gingen nicht so gerade drauf los, wenn sie auf dem Kriegspfad waren — dieser lief gerade auf ihn zu.

[S. 93]

Der Bauernjunge blieb stehen, spuckte wie ein Großer aus dem einen Mundwinkel und hütete sich, den Hosenboden zu zeigen. Es war zu dumm mit dem Hosenboden; keiner der andern Jungen hatte einen solchen, und es hatte auch einen Tanz gegeben, bis die Großmutter das Leder hatte darauf setzen dürfen. Aber es war noch schlimmer, daß gestern beim Gewitter der Blitz hineingefahren war. Der Knecht auf Opsal hatte es deutlich gesehen, wie er hineinfuhr — ja, er wußte selbst, daß das Leder den Blitz anzog —, und die Hosen waren seitdem so schwer gewesen. Und jetzt bliebe der Blitz darin, bis sie entzwei gingen, hatte der Knecht gesagt; aber dann verschwände er auch mit solcher Eile, daß der ganze Kerl umfiele.

Bist du der Stadtjunge, der den Sommer auf Opsal liegen soll, um fett zu werden?

Ja.

Ja, du siehst auch aus, als ob du es nötig hättest.

Nein, das war kein Indianer, das war eher ein verkleideter Räuber.

Der Bauernjunge betrachtete ihn von oben bis unten. Er schien ihm nicht gerade ein forscher Kerl zu sein; es konnte nicht schwer sein, ihn durchzuprügeln. Aber wie furchtbar fein er war! Nirgends ein Lederfleck.

[S. 94]

Hast du deine guten Hosen auch Werktags an?

Hm, er war gewiß ein verkleideter Räuber, wie sie in Italien zu Hause sind. Fiel die Lederhose von ihm ab, so stand er sicher in voller Rüstung da mit goldenem Gürtel und Pistolen. Es war am besten, sich nicht ängstlich zu zeigen; mutige Jungen gefielen den Räubern.

Ich könnte noch einmal so feine Hosen haben, wenn ich nur wollte. Und mit verächtlicher Kopfbewegung wandte er sich gleichgültig um und sah wieder nach den Schafen.

Der Bauernjunge wandte sich auch nach dem Zaun um, stützte sich mit dem Ellbogen dagegen und legte die Backe in die flache Hand.

Was du auch für feine Hosen hast — einen so riesengroßen Widder hast du doch noch nie gesehen, nicht wahr?

Aber ich habe den Elefanten gesehen; der ist dreimal, ja hundertmal so groß.

Aber nicht so stark. Ich kann ihn gerade festhalten, wenn ich ihn an den Hörnern packe, und dann ist er wütend.

Aber der Elefant ist so stark, daß hundert Mann, ja noch mehr dazu gehören, um ihn festzuhalten. Er könnte dich weit, weit wegschleudern, — ungefähr eine Meile weit.

[S. 95]

Hm! Glaubst du vielleicht, ich wäre nicht stark?

Nicht so stark.

Da spuckte der Bauernjunge in die Hände, ging einen Schritt vorwärts, und stellte sich in Bereitschaft.

Soll ich dem lieben Gott deine Schuhsohlen zeigen?

Das klang drohend. Dem Stadtjungen fielen auf einmal alle Gefahren ein, denen seine Helden, Robinson, Karl von Rise und Gustav Vasa ausgesetzt gewesen waren. Als er auf das Land reiste, hatte er sich genau ausgedacht, wie er sich gegen Indianer und Räuber schützen wollte; aber er konnte sich auf keinen einzigen Kniff besinnen. Es pflegte auch immer Hilfe zu kommen von irgendeinem, der im Hinterhalt lag! Er spähte schnell umher, ob nicht wenigstens Netta, das Kindermädchen, das mit war, um auf ihn aufzupassen, im Hinterhalt lag; aber er sah nur den Widder, der aufmerksam geworden war und den Kopf mit den großen krummen Hörnern emporgerichtet dastand und sie anstarrte.

Der Bauernjunge streckte den Arm aus, um ihn vor der Brust zu packen.

Da fiel ihm plötzlich etwas ein, was er in der Schule gehört hatte. Er heftete die großen, erschreckten Augen auf seinen Gegner und sagte:

Sklave, wagst du es, Hand anzulegen an Cajus Marius?

[S. 96]

Der Bauernjunge ließ den Arm sinken. Dieser seltsame Ausspruch kam ihm gänzlich unerwartet. Es ging wohl auch nicht recht an, ihn durchzuprügeln. Er trat ein paar Schritt zurück, und im selben Nu bekam er einen Stoß auf den Hosenboden.

Es war der Widder, der sich in den Streit mischte.

Da bekam der Stadtjunge Mut; es war ja gerade wie in den Geschichten: die Hilfe kam unerwartet. Jetzt würde er schon gewinnen — wenn auch nicht gerade den Skalp nehmen, so doch jedenfalls ihm einen Denkzettel geben. Der Widder ging ein paar Schritt zurück und die Reihe kam jetzt an ihn. Da bekam er einen Stoß mitten vor den Bauch, so daß er neben seinem gefallenen Gegner lag.

Mit einem Satz waren sie beide über den Zaun, sie wußten nicht wie.

Das erste, was der Bauernjunge untersuchte, war, ob seine Lederhose ein Loch bekommen hatte.

Dann drohte er mit geballter Faust durch den Zaun.

Das sollst du nicht umsonst getan haben, du Schweinehund.

Der Stadtjunge zog ein etwas langes Gesicht, doch dies gab ihm wieder Mut. Es war, als ob sie sich auf einmal ganz gut kennten und gute Kameraden geworden wären.

Hat er dir weh getan?

Ach nein, es muß anders kommen, ehe es weh tut. Er drohte wieder: Ich werde dich schon zähmen!

Als der Stadtjunge das Wort zähmen hörte, tauchte gleich sein Lieblingsgedanke wieder in ihm auf:

Ob sie Philipp und Alexander sein sollten und der da Buzephalos?

Davon wußte der andere nichts; er kannte keinen andern Philipp als den Apostel Philippus und dann Philipp Storsveen, und Alexander und Buzephalos hatte er nicht einmal nennen hören.

Darüber konnte der andere ihm Bescheid geben. Philipp war König von Mazedonien; das war ein Land weit, weit von hier, gerade so weit auf der andern Seite der Stadt, und es war lange her, sicher über hundert Jahre, und Alexander war dort Kronprinz. Philipp hatte ein Pferd, das sie Buzephalos nannten, und das konnten sie nicht zähmen, so sehr sie sich anstrengten.

Da muß es ein Pferd aus Valders gewesen sein; denn das sind die schlimmsten.

Nein, es war ein Araber.

Nun, das wäre so ziemlich derselbe Schlag, soviel er wenigstens wüßte.

[S. 97]

Das war es wohl auch, und es war so toll und wild, daß es über alle Gartentore und Zäune in der Stadt sprang und Kirschen fraß. Dann berief Philipp sein ganzes Volk, den Diener und den Kutscher und die Generäle und die Minister und die Feuerwehr und die Schutzleute, und sagte, sie sollten so viel Elfenbein bekommen, wie sie zu tragen vermöchten, wenn sie den Buzephalos zähmten.

War er nicht selber Manns genug, sein Pferd zu zähmen?

Doch; aber für ihn, den König, ging es nicht an. Dann begannen sie; die Generäle zuerst; sie dachten nun einmal, sie wären die besten; aber viele von ihnen kamen gerade hinauf, da warf sie Buzephalos auch schon ab, daß es nur so rauchte. Selbst der Kutscher, der die beiden andern Pferde auf einmal lenken konnte, kam nicht weiter als bis ans Tor.

Dann kam Alexander an die Reihe. Er nahm Anlauf und saß mit einem Satz im Sattel, — nein, das ist wahr, einen Sattel hatte er nicht. Und dann ging es fort — aber Alexander blieb sitzen — über die Gartentore und über die Hausdächer, und schließlich waren sie verschwunden.

Blieben sie weg?

Sie warteten sicher über eine Stunde. Da kamen sie denselben Weg zurück, und da war Buzephalos so zahm, daß er sich hinlegte wie ein andres Kamel.

Hm! Ganz so toll trieb es der Braune auf Opsal[S. 98] nicht, als sie ihn im Frühjahr zähmten. Aber sie mußten den Stangenzaum anwenden. Das hat Alexander wohl auch getan.

Ja, davon wußte der andere nichts.

Doch, das hatte er ganz bestimmt getan. Und dann war es nicht so gefährlich. Vor dem Stangenzaum mußten sie klein beigeben, wie ausgelassen sie auch waren, — wenn sie ihn nicht auf die Zähne zu nehmen verstanden. Aber den Kniff kannte wohl Buzephalos nicht, denn den kannten nur die ausgefahrenen Hemärkingsmähren.

Es dauerte nicht lange, bis sie einig waren, diesen Plan auszuführen. Sie nahmen gleich die Titel an. Der Stadtjunge sollte selber Philipp von Mazedonien sein und der Bauernjunge Alexander, und jetzt hieß es immer nur König und Prinz. Netta mußten sie als General verwenden, und Alexander glaubte schon, daß er seine Großmutter bewegen würde, die Feuerwehr zu bilden. Die Zaunpfähle sollten die Schutzleute sein. Mazedonien sollte sich gerade vom Zaun bis an den Kuhstall erstrecken, und die Scheunenbrücke sollte das Schloß sein; da sollte der Thron errichtet werden. Alexander mußte genau lernen, wie er sich als Prinz zu benehmen, das Zepter zu berühren, und sich vor dem Thron zu verneigen habe. Dann verfaßte der Stadtjunge den Aufruf an das Volk von[S. 99] Mazedonien, und am nächsten Tag sollte Buzephalos gezähmt werden. Darauf trennten sie sich mit königlichem Gruß und hochtrabenden Titeln.

Alexander hatte bis spät am Abend damit zu tun, seiner Großmutter dies alles zu erzählen, und schließlich bekam er auch ein halbes Versprechen von ihr, daß sie als Feuerwehrmann mitmachen wollte, wenn gutes Wetter wäre. Aber wieviel er auch davon sprach, wie sie angezogen sein und wie sie aussehen sollten, so konnte er seine Großmutter doch nicht dazu bringen, sich über die Hose auszusprechen. Er hielt es indessen für so selbstverständlich, daß er die neuen Hosen anhaben müßte, wenn er Alexander sein sollte, daß er in dem sicheren Glauben einschlief, sie wäre derselben Meinung. Aber am Morgen, als er angezogen werden sollte, kam die Großmutter doch mit der Lederhose.

Ob sie nicht mehr wüßte, daß er Alexander sein sollte?

Doch, aber Großmutter meinte, daß diese gut genug wäre. Die Sonntagshosen müßten geschont werden.

Das ging aber nicht an, Alexander hätte keine Lederhosen.

Wenn er so schlimm war, seine Kleider zu zerreißen, so hat er schon auch welche gehabt, als er klein war.

[S. 100]

Ja, aber Philipp von Mazedonien war auch klein; er hatte keine.

Es wäre etwas anderes mit den Stadtleuten, sie wären ständig im vollen Staat.

Sie müßte doch verstehen, daß das nicht anginge. Der Blitz wäre auch hereingefahren. Sie könnte den Knecht auf Opsal fragen.

Er sollte das nicht glauben; sie hätten ihn nur zum Besten.

Ja, sie sollte sehen, wenn sie ein Loch bekäme, so —

— Ja, dann wäre es am besten, wenn es die alten Hosen wären; — und er mußte sie trotz allem anziehen.

Es war unglaublich, wie lange Großmutter brauchte, bis sie fertig war! Er hatte Zeit, es sich viele Male hin und her zu überlegen, wie er Buzephalos am besten lenken sollte, und er hatte sich schon längst einen Knoten ausgedacht, mit dem er das Tau so fest machen wollte, daß das Horn eher abgehen würde, als daß der Knoten aufginge.

Endlich war Großmutter fertig, und sie zogen zusammen den Berg hinunter.

Im Hof trat ihnen Philipp von Mazedonien und sein General entgegen, die dort auf sie warteten. Philipp hatte eine rote Papierkrone auf dem Kopf,[S. 101] ein Schwert an der Seite und einen abgebrochenen Harkenstiel in der Hand. Das war Mazedoniens Zepter. Er streckte dem edlen Prinzen als Zeichen seiner königlichen Gnade das Zepter entgegen, daß er es berühren sollte; doch Alexander war von dem Staat so geblendet, daß er es vergaß. Oben auf der Scheunenbrücke war der Thron errichtet. Es war ein Stuhl mit einer Fußbank darauf.

Philipp begann seine Befehle zu erteilen. Großmutter bekam den Befehl, Buzephalos zu holen und ihn an den Zaun zu binden.

Dann bestieg Philipp von Mazedonien seinen Thron. Er schwang sein Zepter, blickte über Mazedoniens Land und Leute und hielt folgende Rede:

Meine Generäle, Minister, Kutscher, Feuerwehrleute und Schutzleute! Ich, König Philipp, der Größte von Mazedonien tue hierdurch kund, daß ich meine königliche Gnade und hundert Ellen Elfenbein dem geben werde, der mein wildes Pferd Buzephalos, das im Schloßhof festgebunden steht, zähmen kann.

Netta und Großmutter zogen sich auf die Scheunenbrücke zurück, wie ihnen befohlen worden war.

Darauf blickte er sich vorwurfsvoll um:

Wagt es niemand? Sind alle Mazedonier solche Feiglinge? Wenn ich nicht König wäre, würde ich es selbst tun.

[S. 102]

Da trat Alexander vor. Er verneigte sich ehrerbietig vor dem Throne. Philipp streckte sein Zepter aus, und er berührte es.

Das ist recht, mein Prinz, jetzt kann ich sehen, daß es noch Männer in Mazedonien gibt.

Alexander machte kehrt und näherte sich Buzephalos, der dastand und am Tau riß. Er machte runde Ellbogen und schlenkerte mit den Armen.

So groß war er sich noch nie vorgekommen. Er konnte es nicht lassen, einen verstohlenen Blick auf Philipp und Mazedoniens Volk zu werfen, und der Mund war breiter und lachender, als es sich streng genommen für einen Prinzen ziemte. Jetzt sollte er doch einmal zeigen dürfen, was er für ein forscher Kerl war.

Er biß die Zähne zusammen und nahm einen so kräftigen und tiefen Anlauf, daß die Hosen fast hinten aufstießen. Es mißglückte.

Ja, das hatte er sich gedacht; sie waren zu schwer, weil der Blitz darin war.

Er versuchte es noch einmal. Und diesmal gelang es.

Da saß er. Der Widder machte einen Satz, doch da er nicht los kam, drückte er sich an den Zaun, so daß Alexander Gelegenheit bekam, das Tau zu lösen. Er löste es und warf im selben Nu wieder einen Blick auf die Mazedonier.

[S. 103]

Doch da sprang das Hinterteil von Buzephalos auf einmal in die Luft, und das Tier lief ein paarmal um sich selbst. Alexander schreckte zusammen, so daß er das Tau los ließ und sich mit beiden Händen an der Wolle festklammerte.

Philipp sprang auf den Thron hinauf, schwang das Zepter und rief:

Suche dir ein anderes Königreich, Alexander, Mazedonien ist für dich zu klein.

Jetzt flog Buzephalos in langen Sätzen immer schneller und schneller davon; bald war er ganz hinter den Ställen verschwunden. Alexander hing fest, und das letzte, was sie sahen, war eine breite Lederhose, die zwischen dem Halse und der Lende von Buzephalos hin und her geworfen wurde, als er sich über die Grenze von Mazedonien hinaus begab.

Nach kurzer Zeit kam er wieder auf der anderen Seite vom Hauptgebäude zum Vorschein und lief dann in rasender Eile um das Vorratshaus herum. Alexander hing noch immer darauf, und da der Widder ihn nicht los werden konnte, schlug er wieder den Kurs über die Grenzen von Mazedonien und gerade auf das Schloß zu, ein. Er wollte zu Leuten kommen und nahm seine Zuflucht zur Großmutter.

Da verlor Philipp völlig den Kopf. Er erhob sich auf dem Thron und schleuderte sein Zepter gegen das Tier.

[S. 104]

Bild

[S. 105]

Buzephalos erschrak, machte eine schnelle Wendung und stieß gerade gegen den Thron von Mazedonien, so daß dieser umfiel, erschrak immer mehr und sprang mit einem gewaltigen Satz die Brücke hinunter.

— — Als Buzephalos weiter galoppierte, war er allein.

Netta nahm sich des gefallenen Königs Philipp an, der Nasenbluten hatte und weinte, und Großmutter lief schnell hinunter, um nach Alexander zu sehen.

Der erhob sich mit königlichem Zorn, zeigte mit der einen Hand einen Riß in der Hose, und mit der anderen drohte er der Großmutter:

Das hatte ich dir gleich gesagt, Großmutter, es geht nicht an, Alexander zu sein, wenn man eine Lederhose hat, in die der Blitz gefahren ist.


Deko

[S. 106]

Holzvermesser Ole Pedersen.

Das letzte, was ich am Abend vor dem Einschlafen sah — es war in einer dieser herrlichen Sennhütten dicht unterhalb der Rondaneberge — war eine Leiter, die auf den Boden unter dem Dach hinaufgezogen wurde. Einen Augenblick vorher war der Hirtenjunge Ole dort hinaufgekrochen — in vollem Anzug, mit schwarzem Rock und den Strohhut auf dem Kopf, wobei die Bergstiefel mit den großen, blanken Hackeneisen gegen die Stufen der Leiter klapperten. Dann rumorte er eine Zeitlang da oben; er zog wohl die wichtigsten Kleidungsstücke aus. Darauf wurde es still; dann schnarchte er, und bald schliefen wir alle miteinander, die Sennerin in dem einen Bett, ich, der ich auf einer Fußtour war, im andern und Ole auf dem Boden.

Das erste, was ich am Morgen hörte, war die Sennerin, die zum Boden hinaufrief:

Ole, jetzt mußt du aufwachen, jetzt wollen wir gleich die Ziegen melken.

Nichts rührte sich auf dem Boden, niemand antwortete, und die Sennerin machte eine Wendung nach dem Herd, wo der Kaffeekessel schon kochte und brodelte.

Dann fing sie wieder an:

[S. 107]

Ole, jetzt mußt du aufstehen.

Keine Antwort. Sie machte sich noch ein wenig unten zu schaffen; dann stellte sie sich gerade unter den Boden und ich sah, daß sie lächelte:

Pedersen, jetzt ist's Zeit aufzustehen.

Heh —? antwortete es oben vom Boden.

Jetzt muß Holzvermesser Pedersen aufstehen.

Niemand antwortete; aber im selben Nu kam der alte Strohhut mitten in die Stube hineingesegelt und blieb in dem breiten Sonnenstreifen liegen, der sich vom Fenster schräg durch das Zimmer zog. Einen Augenblick darauf kam der eine Bergstiefel mit einem schweren Krach hinterher; kurz danach der andere. Dann kam die Leiter, sie wurde vorsichtig vom Boden heruntergelassen und schließlich kam Ole rückwärts heruntergestiegen, die Hosenträger hinten herunterhängend, den schwarzen Rock über dem einen Arm und die zusammengebundenen Strümpfe über dem andern. Er kam in die Stube herunter, schnitt Gesichter gegen die Sonne und dehnte sich nachdrücklich. Darauf setzte er sich auf die äußerste Ecke des Herdes und begann sich anzuziehen. Er löste die Strümpfe voneinander, zog einen an, spuckte in die Hände und zog das Strumpfband lang. Es ging langsamer und langsamer, als er es festband und es ging sehr langsam, als er nach dem andern Strumpf griff. Als er ihn halbangezogen hatte, hörte er ganz auf und neigte sich bedenklich tief nach der einen Seite, als ob er vom Herd herunterfallen wollte; — es war ja auch recht früh am Morgen. Da sperrte er plötzlich die Augen weit auf, biß die Zähne zusammen, zog die Strümpfe mit einem Ruck an und schnürte das Strumpfband ordentlich zu. Im Handumdrehen hatte er die Hosenträger angeknöpft und den Rock angezogen. Dann dehnte er sich wieder und spazierte geradeswegs in die Bergstiefel hinein, die mitten im Zimmer standen und gähnten; sie gingen von allein an. Dann stand er einen Augenblick da und sah den Strohhut an, ging dann hin und schlug die Tür weit auf. Darauf kam er noch einmal zurück, blickte wieder den Hut an:

[S. 108]

Der elende Hut! damit versetzte er ihm mit dem Fuß einen Stoß, daß er aus der Tür flog, ging selbst nach und machte die Tür hinter sich zu.


Als ich aufgestanden war, erfuhr ich von der Sennerin, warum Ole Holzvermesser Pedersen hieß; — ja, sein Vater hieß Peder, mit Pedersen hatte es also seine Richtigkeit; aber Holzvermesser war er nun doch nicht. Bei der Holzvermessung im Frühjahr hatte einer der Vermesser Pedersen geheißen, und Holzvermesser waren die großartigsten Menschen, die Ole gesehen hatte. Er war den ganzen Tag dabei, und plötzlich ging er hin und gab dem Holzvermesser die Hand:

Guten Tag, ich höre, wir haben denselben Namen.

Nein, was du nicht sagst, heißt du auch Pedersen?

Ja, und darum wollte ich fragen, ob du mich nicht als Holzvermesser annehmen könntest?

Nein, das kann ich nicht, solange du den Hut da hast, — dies geschah im frühsten Frühjahr, und Ole hatte schon den Strohhut aufgesetzt — du mußt eine Talermütze aufhaben, um Holzvermesser zu werden, — ja, und schwarzen Rock.

Seit der Zeit konnte Ole seinen Hut nicht recht leiden; einen Rock hatte er bekommen.


Ich ging hinaus und traf Ole, der dabei war, die Ziegen zu melken. Ich versuchte ein Gespräch über die Ziegen mit ihm anzuknüpfen; aber er wollte nicht recht dran und war sehr wortkarg. Ich fragte ihn, was er werden sollte, doch er wollte nicht mit der Sprache heraus. Dann sagte ich:

Es sind schöne Balken hier im Schafstall.

[S. 109]

Ja der Grundbalken ist wohl 12: 10 gewesen und derselbe Stamm hat noch einen Balken 8: 10 geliefert.

Nein, das doch wohl nicht!

Ole sah mich sehr überlegen an.

Du bist sicher kein Holzvermesser?

Nein, das bin ich nicht.

Das merke ich.

Damit war diese Unterhaltung zu Ende.

Als Ole kurz darauf die Ziegen durch das steile Birkenwäldchen hinuntertrieb, das auf beiden Seiten am Flußabhang lag, schlich ich ihm nach.

Es war ein herrlicher Morgen mit Sonnenstreifen rings auf allen Bergen und grauem Gestein, so weit man hinaufblicken konnte, bis hoch, hoch in die Luft, und unten frische grüne Birkenabhänge bis hinunter an die klaren glitzernden Flüsse und Bäche im Talgrund.

Von der Sennhütte drüben stieg ein langer blauer Rauch empor, und an den Abhängen standen die Ziegen zu zweit an den kleinen Birken und rupften das Laub ab. Auf einer kleinen Lichtung im Birkenwald stand Ole und blickte sich vorsichtig um, und dicht am Waldrand lag ich, ohne gesehen zu werden.

Als Ole eine Weile ruhig gestanden hatte, riß er den Hut ab und warf ihn auf die Erde. Darauf ging er auf eine Birke zu.

Guten Tag. Wird hier Handel getrieben?

Er antwortete selber für den andern: Ja.

Hast du Talermützen?

Ja, hier ist dieselbe, die Holzvermesser Pedersen hat.

Ja, das sehe ich; denn ich kenne ihn. Aber ich will nicht mehr als zwei Kronen dafür geben.

Zwei Kronen für eine Talermütze, das ist eine seltsame Rechnung.

Seltsam oder nicht, ich gebe nicht mehr.

[S. 110]

Ja, dann kommt kein Geschäft zustande.

Ja, du weißt, ich könnte schon geben, was du verlangst; aber wenn ich es mir überlege, so habe ich nicht mehr als zwei Kronen bei mir.

Kannst du denn nicht wiederkommen?

Hm, ich habe auch nicht mehr als zwei Kronen, soviel ich mich besinnen kann. Könntest du mir die eine Krone nicht so lange borgen?

Ich pflege nicht zu borgen.

Ja, aber du könntest doch mal eine Krone auf meine Rechnung aufschreiben?

Ja, das könnte ich schon mal. Welchen Namen darf ich aufschreiben?

Du kannst Holzvermesser O. Pedersen schreiben.

[S. 111]

Dann tat er, als nähme er die Mütze in Empfang und setzte sie auf. Darauf griff er in die Innentasche seines Rocks und holte einen Bleistift und ein Notizbuch vor. Er buchstabierte laut, während er schrieb:

O. Pedersen, Holzvermesser, hat folgende Dimensionen bekommen.

Jetzt müßt ihr die Axt gut anlegen, Leute, und nicht schneller, als ich rufe. Fegt den Schnee dort weg; wir müssen sehen, was wir vermessen. Dann tat er, als ob er an einem Holzstapel entlang ging.

Hm, dieser soll also zwölf sein. Fangen wir also an.

Er fing an; und jedesmal, wenn er rief, tat er einen Schritt zur Seite und machte einen Vermerk ins Buch.

Zwölf Ellen lang, acht und ein halb Zoll dick! Ditto! Ditto! Zwölf zehn! Hübscher Stamm! Zwölf acht! Zwölf neun! Zwölf — pfui, das ist ein schlechter Stamm — den müssen wir auf zwölf acht heruntersetzen! Zwölf zehn. Zwölf — ganz krumm, der soll wohl zum Bootsbau dienen? Der ist morsch; den nehmen wir nicht. Zwölf zwölf! Bravo! Noch einmal ditto, zwölf acht und ein halb! Zwölf neun! Zwölf zehn! Ditto! Ditto! Gut gearbeitet, Leute, jetzt nehmen wir einen Schnaps!

Damit trollte sich Ole zur Sennhütte; denn es gab viel zu tun, und er durfte nicht lange fort sein.

Als ich aufbrach, verabschiedete ich mich auch von Ole, und da gab ich ihm die Krone, die ihm, wie ich wußte, an seiner Talermütze fehlte.

[S. 112]
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[S. 113]

Er sah mich ein wenig erstaunt an und wollte mir die Hand reichen. Aber dann griff er plötzlich an den Hut und nahm ihn ab; er sah erst aus, als ob er ganz feierlich sein und mit dem Hut in der Hand sich durch Handschlag bedanken wollte.

Doch dann schleuderte er den Hut weg, griff langsam und feierlich in die Innentasche seines Rockes und holte Bleistift und Notizbuch hervor.

Er hielt es in der Hand und schrieb sehr sorgfältig mit ernstem Gesicht. Endlich riß er das Blatt heraus, steckte das Buch und den Bleistift in die Tasche und reichte mir das Blatt: Bitte sehr!

Ich habe den Zettel noch, und er sieht so aus:

Handschrift

Seitdem habe ich Ole nicht wieder gesehen; aber ich habe gehört, daß er eine Talermütze bekommen hat; Holzvermesser ist er wohl noch nicht geworden; aber das wird er schon mit der Zeit.

Deko

Ranzenräuber und Zottelbär.

[S. 114]

Während die Sennerin auf der nördlichen Kvinstölhütte im Begriff war, das Vieh loszubinden, schlich sich Christian einen Augenblick an das Sennhüttenfenster und steckte den verbogenen Messingkamm zu sich.

Darauf ließ er das Kleinvieh hinaus und trieb es schnell über den Hügel hin.

Heute vergrub er die Hände nicht in den Hosentaschen, wie er zu tun pflegte, er fühlte die warme Morgensonne nicht und blickte nicht nach den blauen Bergen. Er fühlte sich etwas schwach und zitternd in den Knien und kümmerte sich gar nicht um die zärtlichsten Ziegen, die sich immer zu hinterst hielten, den Kopf umdrehten und ihm entgegenmeckerten. Der einzige, um den er sich kümmerte, war der große Bock, der Ranzenräuber hieß, seit er letzten Frühling Christians Ranzen geöffnet und ihm das Brot und den Schinken weggefressen hatte.

Denn heute galt es. Gestern waren sie auch auf den südlichen Kvinstöl gekommen, und jetzt sollte[S. 115] entschieden werden, wer diesen Sommer Oberhirte sein würde, er oder Per Nordberg, und Oberhirte sollte der sein, der den stärksten Bock hatte.

Letztes Jahr hatte Christian verloren, da hatte Zottelbär über Ranzenräuber gesiegt. Darein hatte Christian sich finden müssen, und es war auch gar nicht so ärgerlich gewesen, solange sie auf der Sennhütte waren, denn es zog keine andern Nachteile nach sich, als den Schimpf, den schwächeren Bock zu haben — und da räumte auch Per ein, daß es nach Zottelbär keinen besseren Bock gäbe als Ranzenräuber — und dann durfte der Oberhirte immer den Platz wählen, wo sie die Herden trennen sollten, wenn sie zusammen gewesen waren. Aber im Winter war es ärgerlich gewesen; da trafen sich Per und Christian nur in der Schule, und da konnte Per es nicht sein lassen, davon zu reden und Ranzenräuber, so daß alle es hörten, einen ganz gewöhnlichen Bock zu schimpfen. Und außerdem war es nicht sicher, daß es so ganz richtig zugegangen war, als sie letztes Jahr aneinander gerieten; Per hatte ein Viertel Tabak für Zottelbär gehabt, das er ihm während der Mittagsruhe gegeben hatte, und trotzdem hätte dieser sicher nicht gewonnen, wenn er nicht Ranzenräubers Vorderfuß zwischen die Hörner bekommen und ihn beinahe ausgerenkt hätte.

[S. 116]

Christian schob den neuen Strohhut in den Nacken und warf einen Blick nach der Sennhütte zurück. Ja, jetzt war sie nicht mehr zu sehen.

Er lockte:

Komm, komm Ranzenräuber!

Ranzenräuber legte den Kopf schief nach hinten und meckerte. Darauf drehte er um und kam langsam, die langen Hörner hoch in die Luft streckend, auf Christian zu.

Christian stellte sich in Bereitschaft, streckte beide Hände vor und packte ihn an den Hornenden:

Laß dich mal erproben!

Ranzenräuber, der das Spiel kannte, stellte sich auch in Bereitschaft und begann zu schieben. Nach kurzer Zeit stieß er Christian gegen einen Birkenstamm, daß es krachte.

Ja, schwach bist du nicht, aber du mußt dir nicht einbilden, daß ich meine ganze Kraft anwandte.

Christian kniete nieder und holte den Messingkamm hervor. Der Bock schmiegte sich an ihn.

Jetzt sollst du geputzt werden für die Musterung.

Er kämmte den Bart und die Büschel an der Stirn und an den Seiten, die blauen Zotteln fielen so seidenweich und fein, wie Christian sie noch nie gesehen hatte. Das war hübscher als die langen schwarzen Zotteln vom Bären.

[S. 117]

Als er fertig war, betrachtete Christian den Bock noch einmal genau, und dann trotteten die beiden Seite an Seite der Herde nach, die weit vorangekommen war.

Bald waren sie oben auf der Höhe und blickten den Abhang nach dem Riesenmoor hinunter.

Ja, wenn sie zur richtigen Zeit auf dem südlichen Kvinstöl lockten, so konnte Per jetzt nicht mehr weit sein.

Christian begann zu jodeln, daß es durch das Birkenwäldchen schallte.

Sogleich ertönte von weit unten her die Antwort. Ja, da war Per.

Christian faßte Ranzenräuber am Nacken und ging vor der Herde den Abhang hinunter. Die ganze Zeit jodelte er, und die ganze Zeit antwortete es noch lauter, er konnte hören, daß Per auch schnell heraufkam. Dort sah er etwas Weißes hinten zwischen den Birken auftauchen. Ob wohl Per auch einen neuen Strohhut hatte? Er hatte wenigstens geglaubt, das für sich zu haben.

Bald waren sie einander so nahe gekommen, daß sie sich verstehen konnten:

Heh Junge, hier kommt der Oberhirte.

Heh hier auch! Hier kommt einer, der über dem Oberhirten ist!

[S. 118]

Was kannst du für dich ins Feld führen?

Einen blauen Bock mit hohen Hörnern, einen forschen Jungen mit neuem Hut!

Und was hast du?

Einen schwarzen Bock mit höheren Hörnern, einen forschen Jungen mit feinerem Hut!

Wann soll der Kampf stattfinden?

Wenn die Sonne zwischen der Tiefkluft und der Kvinhornschnute steht.

Da sollst du beide, den Bock und den Jungen, treffen.

Wo soll die Schlacht stattfinden?

Auf der Ebene zwischen dem Riesenmoor und dem Blausee.

Dort wirst du beide, den Bock und den Hut, treffen.

Sie gingen näher aneinander. Als sie ein paar Schritt entfernt waren, rief Per:

Jetzt sollen die Kämpfer sich begrüßen.

Das meine ich auch.

[S. 119]

Sie führten die Böcke gegeneinander vor und ließen sie los. Sie beschnoberten sich ein wenig, legten die Köpfe schief, und fingen an, sich leise zu reizen, indem sie die Mähnen erhoben. Sie waren auf dem Sprunge, aufeinander loszufahren.

Da nahmen Per und Christian jeder den seinen wieder — der Kampf sollte erst am Nachmittag stattfinden — und führten sie zur Herde zurück. Als sie sie wegführten, warfen sie beide einen verstohlenen Blick nach rückwärts, sie fanden eigentlich beide, daß der Bock des anderen seit dem letztem Jahre unglaublich groß geworden war.

Als sie die Böcke zurückgeführt hatten, trafen sie wieder zusammen, das Nähere zu verabreden. Sie waren beide nicht mehr sicher, und darum schnitten sie gewaltig auf und erzählten sich, wie sie das feinste Gras auf der Weide pflücken und es den Böcken während der Mittagsruhe geben wollten, und als Per zum Schluß ein Viertel Tabak vorzeigte, tat Christian dasselbe, und noch dazu war seiner vom Äußersten in der Rolle, während der von Per nur Einlage war. Dann entstand ein Streit wegen der Hüte; es war ja schon etwas, wenn man sich den feinsten Hut gesichert hatte, für den Fall, daß man den schwächsten Bock bekam. Und dann trennten sie sich, um zur Mittagsruhe nach Hause zu ziehen.

Christian hatte während dieser Mittagsruhe nicht viel Zeit zum Essen, er mußte gleich wieder hinaus und auf der Weide Gras für Ranzenräuber pflücken. Als er den Hut und den Schoß voll hatte von dem feinsten und zartesten, das er finden konnte, ging er auf die Wiese an der Sennhütte und legte es auf einen Haufen dicht am Viehgatter. Darauf ging er[S. 120] in das Gehege hinein, störte Ranzenräuber, der ruhig dalag und wiederkäute, und zog ihn heraus.

Er führte ihn an das Gras, doch der schnoberte nur daran, sah Christan an und schmiegte sich an ihn. Als er das getan hatte, legte er sich ganz ruhig nieder und kaute weiter.

Ja, ja, er würde schon fressen, wenn man ihm Zeit ließe. Christian legte sich auch hin in die Sonnenglut am Zaun, streckte sich aus und legte den Hut über das Gesicht.

Die strahlendste Sommersonne strömte auf die grüne Bergwiese nieder. Es war so still, daß das Hermelin aus der Mauer guckte und die Bachstelze ungestört ihr Nest im Ziegenstalle besuchte, wo das ganze Kleinvieh lag und schlief oder döste oder wiederkäute. Bald schlief auch Christian mit all den andern unter dem hohen blauen Himmel, wo es keine Wolke gab und wo sich auch kein Windhauch regte.

So lagen sie lange.

Plötzlich fuhr Christian in die Höhe und stützte sich auf die Ellbogen.

[S. 121]
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Er hatte etwas Unangenehmes geträumt, konnte sich aber nicht darauf besinnen, was es war, und es dauerte auch eine Weile, bis er sich klar machen konnte, wo er war. Er rieb sich die Augen. Doch, jetzt besann er sich. Er war ja auf der Sennhütte und hatte sich draußen zum Schlafen hingelegt.

Er tastete umher.

Wo er wohl den Hut hingelegt hatte?

Dann fiel ihm der Bock ein, und er sah zu ihm hinüber. Da riß er freilich die Augen auf. Dort stand Ranzenräuber am Zaun und zupfte an etwas Weißem.

Es war der Hut! Ein Stück von der Krempe war das einzige, was übrig war! Das übrige hatte er gefressen, und dort lag das ganze feine Gras unberührt!

Er wurde furchtbar wild, ergriff eine Stange, um den Bock durchzubläuen. Doch er besann sich und ließ sie fallen:

Nein, da hätte ich acht Groschen drum gegeben — —. Aber meinetwegen, wenn du mich heute zum Oberhirten machst, so soll er dir gegönnt sein.

Da hast du ein Viertel Tabak zum Nachtisch.

Den fraß Ranzenräuber.


Am Nachmittag trafen sich Per und Christian auf der verabredeten Stelle, jeder mit seinem Bock.

Es war nicht so feierlich wie am Vormittag; denn Christian, der nur in der Mütze erschien, mußte gleich Bericht erstatten, wie es dem Hut ergangen war,[S. 122] und da fühlte Per sich sehr überlegen; denn nun hatte er doch jedenfalls in der einen Richtung gesiegt. Und er konnte auch erzählen, daß Zottelbär während der ganzen Mittagsruhe Gras gefressen hatte; Christian wurde ganz verzagt.

Auf einer kleinen grünen Ebene sollte der Kampf stattfinden, mitten zwischen einem mit Birken bewachsenen Hügel und dem Rand vom Riesenmoor. Gegen das Moor war sie durch eine schmale, tiefe Rinne abgegrenzt, wo nur ein wenig Wasser durchsickerte.

Sie führten die Böcke vor und ließen sie einige Schritte voneinander los. Ranzenräuber hob gleich die Mähne, Zottelbär blieb faul stehen und sah sich um. Ranzenräuber ging vor und schnoberte an ihm. Zottelbär schnoberte wieder, sah aber ganz sanft aus.

Christian und Per standen jeder auf seiner Seite von der Ebene und wagten kaum zu atmen.

Ranzenräuber versuchte seinen Gegner zu reizen, aber der andre nahm es gemütlich, darauf wagte er sich heran, legte den Kopf schief und wollte ihm mit seinem spitzen Horn einen Stoß in die Seite versetzen. Doch Zottelbär war auf seinem Posten. Er warf rasch den Kopf zur Seite, so daß die Hörner mit einem Knall zusammenstießen. Jetzt hob auch der andere die Mähne und bekam blitzende Augen. So balgten sie sich eine Weile herum. Endlich erhob[S. 123] sich Ranzenräuber auf die Hinterbeine, Zottelbär stellte sich in Bereitschaft, und sie krachten gegeneinander los, als sollten die Hörner mitten entzweibrechen.

Damit hatte der Kampf begonnen. Er sollte hart und lang werden. Im Anfang wandte Zottelbär eine List an, er ließ den andern sich auf die Hinterbeine erheben und nahm nur den Stoß entgegen, das strengte die Kräfte weniger an und es fiel ihm schwer, sich aufzurichten, denn er hatte so viel Zotteln. Aber der andere durchschaute ihn bald, und dann reizte er nur, bis Zottelbär auch in die Höhe mußte. Zottelbär war schwer, und das gab seinen Schlägen viel Wucht, so daß Ranzenräuber jedesmal die Hörner schüttelte, sobald er einen Stoß bekommen hatte. Aber er gab sich darum doch nicht. Endlich machte Zottelbär eine rasche Wendung und bekam seinen linken Vorderfuß zwischen die Hörner; es sah häßlich aus.

Christian stürzte vor.
Das ist nicht erlaubt!
Aber Per stürzte auch vor:
Willst du sie in Ruhe lassen!

Sie waren nahe daran, gegeneinander loszufahren, aber im selben Nu kam der Fuß los, und sie gingen an ihre Plätze zurück.

[S. 124]

Der Kampf hatte jetzt eine gute halbe Stunde gedauert, und Zottelbär fing an stark zu keuchen; er wollte gern zwischen jedem Stoß eine kleine Pause machen und ausruhen. Doch dazu bekam er keine Zeit. Endlich kam die Entscheidung. Nach einem starken Stoß, glaubte er, würde er einen Augenblick Ruhe haben, aber Ranzenräuber rannte gewaltig gegen ihn an. Sie waren dicht an die tiefe Rinne am Moorrand gekommen und bums — da lag Zottelbär unten, so daß die Zotteln um ihn herumstanden.

Christian schrie vor Freude.

Sei ruhig, rief Per, das ist gemogelt!

Zottelbär kletterte wieder heraus, triefend von Wasser und Moorerde.

Ranzenräuber wollte gleich auf ihn losstürzen. Er wehrte sich, zog sich aber seitwärts zurück. Als Ranzenräuber im Ernst einen Anfall machte, lief er fort.

Hurra! rief Christian und sprang hoch in die Luft. Hier siehst du den Oberhirten, den Jungen mit dem Bock und dem Hut.

Er griff nach dem Kopf, um den Hut zu schwingen, kriegte aber nur die Mütze zu fassen. Er wurde auf einmal ganz kleinlaut.

Per war auch dazugekommen:

Ja, Oberhirte bist du, aber hier ist der Junge mit dem Hut!

Nein, das ging Christian zu weit:

[S. 125]

Der elende Hut! Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß Ranzenräuber den fressen würde!

Glaubst du vielleicht, daß ihm deine Mütze lieber wäre?


Deko

Tischler Simen und der Blaufuchs.

[S. 126]

Er war also wahrhaftig wieder dagewesen! Mitten in die Kuhstalluke hatte er seine Schnauze gesteckt!

Nein, das war zu ärgerlich!

Jon Stubsveen kam hinter dem Kuhstall hervor und ging geradeswegs auf seinen Vater zu, der in Festtagskleidern in der Haustür stand, die Arme von sich streckte und gähnte. Es war am frühen Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages und glänzend weiß und kalt.

Jon zog die Mütze schief über das eine Ohr, das dem Nordwind zugewandt war, setzte den Fausthandschuh in die Seite und den einen Fuß vor.

Er ist wahrhaftig wieder dagewesen, Vater.

Mundwinkel und Kniee zitterten ihm.

Ist es nicht ärgerlich, daß der Fuchs sich jede Nacht an die Häuser heranschleicht, und man nicht einmal das passende Werkzeug hat, um ihm eins aufs Fell zu brennen!

[S. 127]

An diesen Fuchs hatte Jon jetzt lange Zeit Tag und Nacht gedacht und darüber nachgegrübelt, wie er ihn fassen könnte. Stubsveen lag so weit abseits, daß sich der Fuchs in den klaren Nächten bis an die Häuser heranwagte. Als sie im Herbst das Schwein schlachteten, hatten sie nämlich einen Teil der Eingeweide auf den Misthaufen vor die Kuhstalluke geworfen, und dort war der Fuchs jetzt manchmal und grub und fraß. Jeden Morgen ging Jon hin und sah nach, ob er dagewesen war, und mit jedem Tag wurde er ärgerlicher. Er hatte eine seiner Hasenfallen dort aufgestellt; aber der Fuchs war natürlich um sie herumgegangen. Nein, er hätte eine Flinte haben sollen! Aber er wußte nicht mehr als einen Menschen, der eine hatte, und das war Tischler Simen. Er mußte versuchen, ob er zu ihm gehen dürfte.

Wäre es nicht am besten, ich ginge zu Tischler Simen und borgte seine Flinte; da sollte er weiß Gott dran glauben müssen.

Ach, du bist ein Dummrian! Glaubst du, daß es angeht, mit der Donnerbüchse zu schießen, die noch dazu nur eine Steinschloßflinte ist?

Oh, Simen hatte schon einen Blaufuchs damit geschossen, und noch dazu einen, der so scheu und vorsichtig war, daß er sich niederlegte, als der Schuß losging; er hat es selbst erzählt.

Ja, da wird es wohl wahr sein!

Doch, es ist wahr; er bekam noch fünfzig Taler für das Fell.

Dann ist es sonderbar, daß er nicht reicher ist, als er ist.

Bitte, laß mich hingehen, Vater? Vielleicht ist das auch ein Blaufuchs! Und wenn es nur ein Rotfuchs ist, so lohnt es doch den Schuß, denke ich; da bekommt man sieben Mark fürs Fell.

Ach, du bist ein Quälgeist. Bilde dir nur nicht ein, daß ich dich mit der Donnerbüchse schießen lasse.

Ich würde ihn schon kriegen. Ich würde ihn schießen, daß er hinpurzelt.

[S. 128]

Per Stubsveen sah auf den Jungen herunter und kratzte sich hinterm Ohr. Er mußte an den feinen, scheuen Fuchs denken, der herumschlich und den langen buschigen Schwanz auf dem Schnee hinter sich herzog. Hm, zu dem Geschäft gehörten erwachsene Leute. Nun, er wollte mit hinter den Kuhstall gehen und sich die Sache ansehen.

Sie gingen; Jon ging voran, und zeigte:

Siehst du, Vater, er hat die Schnauze mitten in die Luke gesteckt.

Sieh mal einer den Schelm an! Es ist sicher auch ein großer Kerl gewesen.

Groß? Sicher so groß wie ein besseres Schaf! Sieh, wie er herumgelaufen ist.

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[S. 129]

Ja, und gekratzt hat! So ein Schelm!

Per drohte mit der Faust in der Richtung nach dem Acker, wo die Spur sich verlor. Jetzt war er ganz von der Geschichte mit dem Fuchs erfüllt.

Jon wurde mutiger.

Darf ich, Vater?

Meinetwegen, damit du nur Frieden gibst! Aber es wäre doch am besten, sie machten es selber.

Er sollte Simen fragen, ob er nicht heute nachmittag mit seiner Büchse herüberkommen wollte; er könnte auch sagen, es wäre noch etwas vom Weihnachtsbranntwein da.

Jon war schon auf dem Wege, als ihm das letzte nachgerufen wurde.

[S. 130]

Er sprang davon in dem hellen knirschenden Wintermorgen. Wenn ihm jemand begegnete, hatte er keine Zeit Halt zu machen; er lächelte nur so seelenvergnügt über das ganze Gesicht, daß die Leute stehen blieben und sich nach ihm umsahen.

Bald war er unten im Tal angekommen und fing an, auf der andern Seite emporzusteigen.

Jawohl, es war schon möglich, daß es doch ein Blaufuchs war. Es schien ihm, als habe er ein Stückchen von ihm drüben an dem Ackerhügel gesehen; — ja, sicher war er es gewesen! Je länger er ging und darüber nachdachte, um so sicherer wurde er; hellblau war er gewesen! Ja, natürlich, den ganzen Kerl hatte er gesehen. Sie sollten ihn nur erwischen, dann würde er nach der Stadt gehen und das Fell verkaufen! Aber sie sollten in der Stadt nur nicht glauben, daß sie ihn übers Ohr hauen könnten. Er wußte, was ein Blaufuchspelz wert war. Es nützte nichts, ihm fünf oder zehn zu bieten, er würde sechzig verlangen. Dann würde er sich eine Büchse kaufen, und dann wollte er nichts anderes tun als Blaufüchse schießen; höchstens vielleicht einmal einen Auerhahn zum Vergnügen mit zwischendurch —; wenn der auch nicht mehr als vier Mark wert war.

[S. 131]

Als er zum Tischler Simen hinaufkam, sah er diesen in der Tür stehen, die Brille auf der Nase und die Schirmmütze weit in den Nacken geschoben.

Jon lächelte breit, grüßte wie ein Erwachsener und trat darauf ein.

Wie es wäre, ob er seine Flinte instand hätte?

O ja, er dächte doch.

Er sollte ihn nämlich von dem Fuchs grüßen und sagen, er schliche jetzt drüben auf Stubsveen jede Nacht an den Ställen herum; — ja, und niemand könnte wissen, ob er nicht auch drinnen gewesen wäre.

Gerade, was Simen immer gesagt hatte, die Füchse hatten sich verzogen! Hier auf dieser Seite des Tals hatte sich kein Fuchs mehr sehen lassen, seit[S. 132] er vor drei Jahren einem den Schwanz weggeschossen hatte! So, nach Stubsveen waren sie also hinübergekommen?

Ja, daran könnte kein Zweifel sein!

Der Vater ließe grüßen und sagen, es wäre so viel übrig, daß es noch zu einem Schluck langte.

Na, da wollte er einmal nach der Flinte sehen; er hätte sie jetzt drei Jahre nicht in den Händen gehabt.

Drei Jahre?

Nein, wozu sollte er sie brauchen, wenn es keine Füchse gab? Freilich, das Federwild hätte ja zugenommen, seit der Fuchs fortblieb, daß es nur so wimmelte; aber daraus machte er sich nichts. Und die Flinte paßte auch nicht für Vögel; es wäre schwierig, die Entfernung so abzupassen, daß man die Vögel nicht in Fetzen schoß, und dann knallte sie auch so, daß es sich nicht verlohnte, wegen eines lumpigen Vogels das ganze Dorf aufzuschrecken.

Ob sie denn gut ginge?

Er hätte bisher noch keinen Fehlschuß damit getan; aber, versteht sich, es müßte einer auch damit umzugehen wissen.

Simen ging in die Kammer und kam mit der Flinte wieder herein. Es war eine alte verrostete Soldatenflinte mit Steinschloß. Jon glaubte nie etwas Schöneres und Prachtvolleres gesehen zu haben.

[S. 133]

Ist sie geladen?

Nein, sie muß erst gereinigt werden.

Er wurde ganz still und geheimnisvoll, Simen, als er mit zitternden Händen die Flinte auseinanderzunehmen begann, und Jon saß atemlos dabei und sah zu, wie die eine Schraube nach der andern herausgenommen wurde und jede an einen andern Platz gelegt wurde, damit sie nicht durcheinander kämen. Und die ganze Zeit, während Simen auseinanderschraubte und putzte und mit Leinöl schmierte, innerlich und äußerlich, sprach er davon, was er alles mit dieser Flinte geschossen hätte. Ja, es wäre gar nicht unwahrscheinlich, daß auch auf Menschen damit geschossen worden wäre, denn soviel er wüßte, wäre sie mit im Kriege 1814 gewesen, und so gute Flinten wie die, womit auf Menschen geschossen worden wäre, gäbe es jetzt gar nicht mehr; es wäre gerade, als ob man hinterher mit ihnen nicht mehr fehlen könnte.

Die Flinte war geschmiert und wieder zusammengesetzt. Nun, es wäre wohl am besten, sie gleich zu laden. Denn das müßte genau gemacht werden; was das Futter anlange, so könne kein Pastor genauer und wählerischer sein als so eine Flinte. Damals, als er dem Fuchs bloß den Schwanz wegschoß, so daß er ihm davonging, hätte er ein oder zwei Pulverkörner zu wenig darin gehabt; darum fiel der Schuß in den Schwanz und nicht hinab in den Rücken weiter oben.

Er suchte ein altes Pulverhorn hervor und einen Lederbeutel mit Schrot, nahm Pulver aus dem Horn und wog und wog in der Hand, schüttete es dann in den Lauf, überlegte eine Weile, sah ins Leere, als ob er zählte, und nahm eine kleinere Portion und sandte sie der ersten nach.

[S. 134]

Jon stand dabei und riß die Augen auf. Er hatte nie geahnt, daß dazu so viel Kunst gehörte.

Nein, du bist ein Meister, sagte er voller Bewunderung.

Pst, sagte Simen, man soll nicht reden, wenn man lädt.

Er stopfte vorsichtig Werg auf das Pulver. Dann legte er die Flinte vorsichtig aufs Bett.

Jetzt wollen wir die Erbsen mischen. Er griff in die Westentasche und holte eine Portion kleiner Nägel hervor, nahm sie in die Hand und wog sie, nahm dann den Lederbeutel, schüttete etwas Schrot dazu und mischte beides zusammen.

Hm! Er griff wieder in die Tasche nach Nägeln, mischte sie dazu und flüsterte: »Ja, nun denke ich, das wird genügen« und schüttete die Mischung in den Lauf. Dann stand er wieder still und überlegte, griff noch einmal in die Westentasche und zog einen langen Nagel hervor. Er kniff die Lippen energisch zusammen:

Ich denke, wir bieten ihr den auch noch, dann sind wir sicher!

[S. 135]

Kurz darauf stapften Jon und Simen über das Tal hinüber nach Stubsveen.


Es ist schwer zu sagen, wer von den dreien, Jon, Per oder Simen, am eifrigsten war, als sie am Abend in Stubsveen um den Tisch saßen und Kaffeepunsch tranken — das heißt die beiden Alten, Jon bekam keinen, er war zu klein. Die Geschichten, die erzählt wurden, nahmen kein Ende, vom Blaufuchs, vom Rotfuchs und vom Weißfuchs. Nein, das hier wäre kein Blaufuchs, meinte Simen, da wäre er sicher; da hätte er sich nicht so nah an die Häuser gewagt, und da würde das Ganze auch nicht viel Nutzen haben, denn der wäre zu schlimm; entweder er legte sich nieder, oder er spränge in die Höhe, wenn der Schuß fiele. Da müßte man entweder drunter oder drüber halten und es darauf ankommen lassen, ob er spränge oder sich niederlegte. Er hätte damals drunter gehalten, als er den Blaufuchs schoß.

Sie waren solche Helden geworden, Peter und Simen, daß Jon beinahe nicht mit gedurft hätte, als sie sich später abends in den Stall begaben, um Wacht zu halten. Aber er ließ nicht nach; es war ebensogut sein Fuchs.

Ihretwegen — nur müßte er mäuschenstill sitzen. Sie dürften kein Glied rühren.

Da könnten sie sicher sein!

Sie gingen alle drei nach dem Stall, nahmen die Branntweinflasche mit, und Peter gab seiner Frau den Befehl, das Feuer nicht ausgehen zu lassen und Kaffee bereit zu halten, wenn sie mit der Beute kämen.

Sie nahmen an der Stallluke Platz. Simen und Per nahmen einen Heusack und setzten sich ordentlich zurecht, so daß sie aus der Luke heraussehen konnten.

Simen hielt das hintere Ende der Flinte mit gespanntem Hahn und steckte den Lauf eben durch die Luke. Jon saß auf einem Melkschemel etwas zur Seite und lugte durch einen Spalt in der Wand. Wer den Fuchs zuerst sah, sollte nichts sagen, sondern Simen nur leise an der Jacke zupfen.

[S. 136]

Es war behaglich und warm im Stall; die Kühe lagen und schnarchten und käuten wieder, so daß die Hörner in unregelmäßigen leisen Schlägen gegen die Wand schlugen.

Durch jede Ritze drang die Kälte ein, begegnete der Wärme von drinnen und bildete mit ihr im Verein große Büschel von glitzerndem Reif um jede Ritze. Draußen war heller Mondschein; sie konnten so klar und scharf sehen wie am hellichten Tage, und es glitzerte über den Äckern, und das Mondlicht zitterte auf den bereiften Bäumen auf der Höhe drüben. Tiefste, friedliche Ruhe herrschte draußen, kein Laut war zu hören, keine Bewegung zu sehen.

Sie hatten wohl eine halbe Stunde gesessen; die Wärme und die Stille fingen an, sie schläfrig zu machen.

Wie wär's, wenn wir noch einen Schluck nähmen? flüsterte Per.

Und ob, sagte Simen.

So verging wohl noch eine halbe Stunde, da flüsterte Per wieder:

Ich schlafe beinahe ein; nehmen wir noch einen Schluck?

Das wäre nicht dumm.

Wieder saßen sie eine Weile. Dasselbe wiederholte sich. Aber dann wurde es still — lange.

Jon saß und sah so eifrig durch den Spalt, daß er keine Zeit hatte, nach den andern zu sehen. Es war merkwürdig, wie still sie waren. Eben wollte er sich nach ihnen umdrehen — aber da — mit einem Male hielt er den Atem an und riß die Augen weit auf.

[S. 137]

Bewegte sich nicht dort etwas am Fuß des Ackerhügels? Ja, ja, da erschien der Kopf! Da war er!

Erst kam eine Schnauze und ein paar spitze Ohren zum Vorschein, und der Kopf wandte sich nach allen Seiten. Dann tauchte er ganz auf, langsam und vorsichtig, blieb stehen, den einen Vorderfuß in der Luft, bereit auszureißen; so stand er eine Weile und sah sich um; dann setzte er den Fuß vorsichtig nieder und schlich ein paar Schritte vorwärts. Er war so fein und schlank und geschmeidig, wie er dastand mit dem langen Schwanz.

Als er einige Schritte vorwärts getan hatte, hielt er inne, wandte sich plötzlich und schlich nach einer andern Richtung.

Jon konnte nicht begreifen, daß Simen nicht schoß; aber er mußte wohl eine Absicht damit haben!

Oh, wenn er wieder davonginge. Da schlich er hin, schlug einen großen Bogen und verschwand im Gebüsch oberhalb des Ackers.

Jon holte Atem und starrte. Nein, er konnte ihn nicht mehr sehen.

Doch, da!

Plötzlich steckte er den Kopf wieder vor, oben auf dem Hügel, und jetzt viel näher; er witterte und sah nach dem Stall hinunter. So stand er eine Weile, immer den einen Fuß erhoben; dann schlug er wieder[S. 138] einen Bogen, kam schräg den Hügel hinab, schlug wieder einen Bogen und spähte. Jetzt war er dicht heran.

Simen mußte ihn sehen, er saß ja mitten vor der Luke. Jon beugte sich herüber und faßte nach seiner Jacke. Er verwandte keinen Blick von dem Fuchs, während er zupfte.

Rrrro—ro! tönte es in diesem Augenblick, so daß es im Stall schallte. Es war Simen, der einen gewaltigen Schnarcher tat, als er erwachte.

Jon sah, daß der Fuchs herumfuhr und gleichzeitig einen mehrere Meter langen Satz machte; dann noch einen und noch einen, immer rascher und rascher über den Acker hin; es war, als ob er den Schnee gar nicht berührte. Das letzte, was er sah, war der lange buschige Schwanz, der wie ein Steuer in die Luft stand, während der Fuchs mit einem ungeheuren Satz den Ackerhügel herabsprang und verschwand.

Er sprang auf und fiel, so lang er war, über Per, der ebenfalls aufwachte.

Im selben Augenblick donnerte es los, als ob der Stall einfiele; die Kühe sprangen auf und rissen an den Ketten. Simen rollte vom Sack herunter; die Flinte hatte ihm einen gewaltigen Stoß versetzt.

Simen hatte den Fuchs gerade gesehen, als er den letzten Sprung machte und, ohne irgendwie zu[S. 139] zielen, drückte er los, lange nachdem der Fuchs weg war.

Hast du ihn gesehen? rief Per.

Ja, und es war doch ein Blaufuchs, sagte Simen. Er sprang in die Höhe, als ich schoß.

Jon saß das Weinen in der Kehle:

Nein, und wenn du noch nie gelogen hast, jetzt lügst du — Tischler Simen.


Deko

[S. 140]

Die Kvinstöljungen.

Ho—o—iho! scholl es über die Höhen, so daß vom fernen Kvinkampen her das Echo antwortete. Von der andern Seite ertönte der tiefe Laut eines Bockhornes, und gleichzeitig schmetterte eine schrille hohe Ziegenhornpfeife dazwischen. Unablässig erklang der Jodler, das Horn blies lauter und lauter, und die Pfeife trillerte immer höher, bis der Ton so hoch wurde, daß er sprang und wegblieb. Und die Töne trafen sich und mischten sich miteinander und mit dem Echo aus der Ferne, das von immer weiter herkam, schwächer und schwächer; und Glocken, tiefe und hohe, schlugen an und erklangen drein, und die Ochsen brüllten, die Kühe folgten ihrem Beispiel, die Ziegen meckerten — — es war am Morgen und auf dem Kvinstöl ließen sie das Vieh heraus.

Es war ein Morgen so klar und frisch, wie er im Juli im Gebirge es nur sein kann, so einer, an dem Volk und Vieh sich so leicht fühlen, als ob sie fliegen könnten, wo selbst alte Kühe ihre Würde vergessen, den Schwanz hochschlagen und Kälbersprünge machen.

An solch einem Morgen ist immer Leben auf der Senne; aber es war doch den ganzen Sommer noch nicht vorgekommen, daß Per Oppigar das Horn so stark geblasen und Jens Melbö so hoch auf der Ziegenhornpfeife geschmettert und Peter Nerigar, den die andern Peter Flapps nannten, wenn sie zornig auf ihn waren, so gejodelt hatte wie heute. Es war klar, daß etwas besonderes los war.

Sie zogen jeder aus seiner Hütte aus — es gab nur drei auf dem Kvinstöl — trennten das Kleinvieh von den Rindern, die heute von den Sennerinnen selber in den Wald gelockt wurden und setzten davon, jeder nach seiner Richtung, Per gerade über den Storhaug, die andern in einem großen Bogen drum herum. Aber hinter dem Hügel, als sie außer Sicht waren — es brauchte niemand zu wissen, daß sie zusammen hüteten — vereinigten sie sich wieder, und je mehr sie sich einander näherten, um so mehr jodelten und bliesen sie und riefen nach ihren Ziegen, daß es über die Berge schallte; und als sie sich trafen, trieben sie alle drei Herden in einen Haufen zusammen, — heute war es selbstverständlich, daß auch Peter Flapps seine mit denen der andern zusammentreiben durfte. Und als das wohl besorgt war, jodelte Peter[S. 141] wieder, und Per blies in sein Horn, daß ihm die Augen aus dem Kopfe standen und Jens trillerte so schrill und lange auf der Ziegenhornpfeife, daß er rot wurde wie ein Puterhahn.

Dann rief Per: So wollen wir die Neusäterjungen empfangen; sie sollen hören, daß es die Kvinstöljungen sind, die kommen.

Wenn sie nur kommen? meinte Jens.

Sie müßten sich schämen, wo sie so viele sind! meinte Per.

Peter Flapps schlug ein Rad, daß die Bergschuhe aneinander schlugen. Sie können kommen so dicht wie eine Schafherde, sie sollen das bekommen, was sie verdienen.

Die Kvinstöljungen zogen nämlich heute in den Krieg.

Sie hatten gehört, daß die Hirten in alten Tagen, wenn sie über die Weiden uneinig waren, zusammenkamen und kämpften. Es sollte sogar irgendwo weit drinnen in den Bergen — ja, ob es so sehr weit war, wußten sie nicht recht —, kann sein, es war näher, als einer glaubte — ein Moor liegen, das Siebenhirtenmoor hieß. So hieß es, weil dort einst sieben Hirten zusammengetroffen waren, um Abrechnung zu halten. Sie hatten sich sogar Spieße aus Wacholder gemacht und sie über schwachem Feuer[S. 142] erhitzt, so daß sie hart wie Stein und zäh wie Horn geworden waren, und sechs waren auf dem Platze geblieben, der siebente kam mit einem Spieß im Leib gerade noch bis nach Hause und erzählte, wie sich die Sache zugetragen hatte. So hart ging es jetzt nicht mehr zu, das war in alten Tagen geschehen. Aber es kam doch vor, daß die Hirten auch heute noch miteinander rauften; nur hier auf diesen lumpigen Sennhütten ging es so friedlich zu. Aber es war doch ganz hübsch, mit den Neusäterjungen ein bißchen über die Weiden zu verhandeln. Freilich hüteten die Neusäterjungen nicht oft auf dieser Seite und niemals auf den Kvinstölweiden, aber sie könnten es doch einmal tun, und könnten sie erst das, so könnten sie auch bald von der Senne selber Besitz ergreifen. Und vielleicht dachten sie auch an etwas derartiges, den Neusäterjungen war nicht zu trauen. Und wovon sollten ihre Schafe dann fett werden? Sie hatten immer gehört, daß die Weidegrenze von Kvinstöl zwischen dem Blauwasser und dem Hvidtskjägstein verlief; aber es war doch die Frage, ob sie nicht weiter gehen durften, es war wohl das sicherste, ein Stück dazu zu erobern. Die magern, langbeinigen Neusäterschafe konnten ihr Futter wo anders suchen, es war überhaupt kein guter Schlag; — ihre Sache war es jedenfalls nicht, sie zu füttern.

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Darüber hatten sie nachgedacht und gesprochen viele, viele Male; aber es war nichts daraus geworden, bis vorgestern, als Lars Sagbakken kam und nach dem Neusäter hinüberwollte, um Pferde zu suchen. Da hatte Per ihn ohne weiteres gebeten, er sollte den Neusäterjungen sagen, sie möchten sich übermorgen am Hvidtskjägstein einstellen — so viele wie Lust hätten —, die Kvinstöljungen wollten mit ihnen über die Weidegrenzen reden. Sie dachten nicht anders, als daß Lars Sagbakken sich seines wichtigen Auftrages erinnert hätte und erwarteten, daß die Neusäterjungen kommen würden, denn heute sollte es entschieden werden.

Die Herde zog weiter und zerstreute sich über die Moore. Die drei blieben eine Weile stehen.

Wie viele, glaubst du, werden kommen? fragte Jens.

Es sind 10 Hütten dort, erklärte Per, aber nur 8 sind bewirtschaftet, und dann sind drei Mädchen dabei, es kommen also wohl nur fünf, und selbst wenn ein Mädchen dabei ist, so werde ich nicht die Schande auf mich nehmen, mich an einem Frauenzimmer zu vergreifen.

Ich auch nicht, sagte Jens. Ich gedenke den einen Schuh auszuziehen und sie damit über die Köpfe zu schlagen.

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Bild

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Nein, dazu sind sie zu gefährlich, meinte Peter, man darf sie nicht so nahe kommen lassen; ich mache es so, ich werfe mich kopfüber auf die Hände und treffe sie mit den Absätzen vor die Brust; da sollst du mal sehen, wie sie hinfliegen — und er warf sich vornüber, krachte aber mit dem Hinterteil auf die Erde, daß der Hügel dröhnte.

Nein, meinte Per, man soll ihnen gerade nahe kommen, so daß sie nicht zum Schlagen ausholen können. Ich werde sie so beim Kragen nehmen, ganz weit oben und ihnen die Daumen hinter die Ohren setzen und zudrücken, da werden sie kraftlos und fallen hin wie die Mehlsäcke.

Ja—a, das wollte Jens auch tun, oder vielleicht würde er es doch lieber mit dem Überschwung versuchen.

Es wäre vielleicht besser, sie übten sich ein bißchen, meinte Per, Peter sollte der Neusäterjunge sein.

Hei, du Neusäterlümmel, hier sind die Kvinstöljungen. Wer hat dir erlaubt, bis an den Hvidtskjägstein zu hüten.

Peter brüllte dagegen: Ich frage keinen Kvinstöllümmel, wo ich hüte. Komm nur heran, so werfe ich dich so hoch in die Luft, daß du nie wieder herunterkommst.

Danach siehst du gerade aus! Wie lange Beine[S. 146] haben deine Schafe? Die können wohl über das Schafstalldach wegschreiten?

Jens stand da und hörte zu und war so erfüllt davon, daß er die Luft einzog und schluckste.

Jedenfalls können sie leicht über so einen Kvinstölbengel wegspringen und noch ein Stück dazu. Ich habe nicht solche Lämmchen wie die Kvinstölhirten.

Komm her, so werde ich dem lieben Gott deine Schuhsohlen zeigen.

Komm du her! und Peter warf sich kopfüber und kam wieder auf die Beine.

Per stürzte auf ihn los und packte ihn beim Kragen, sie kämpften, bis sie hinstürzten, Per zu unterst. — Jens auf Peters Rücken los, um ihn herunterzukriegen. Nach einer Weile standen sie auf. Da sagte Per: Diesmal kriegtest du mich unter. Aber das wäre nicht geschehen, wenn du ein Neusäterjunge gewesen wärest. Denn wenn ich böse werde, bin ich doppelt so stark. Glaubst du das etwa nicht? Dann komm nur noch einmal heran.

Sie fuhren wieder aufeinander los, und diesmal kam Peter zu unterst.

Da siehst du's, du Neusäterbengel, und Per stand auf, drehte sich auf dem Absatz und juchzte, daß es schallte.

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Jetzt mußten sie nach und die Herden wenden, dann nahmen sie die Richtung auf den Hvidtskjägstein, und sie liefen und sprangen und riefen und juchzten und bliesen, bis sie die Herde wieder beisammen hatten. Dann zottelten sie langsam hinterher und schwatzten.

Das meiste taugte nichts, was sie drüben auf dem Neusäter hatten. Langbeinige Schafe, Kühe, die nur in die Hörner wuchsen, und verhungerte Hirten. Und hatten sie vielleicht ein Horn zum Blasen? Und wenn sie einen von ihren kümmerlichen Böcken hundert Jahre fütterten, so bekamen sie doch kein solches Horn, wie Per seins. Ja freilich, so eins gab es auf dem ganzen Westfjeld nicht wieder — aber auf dem Neusäter hatten sie nichts, was auch nur annähernd damit zu vergleichen war.

Was sollten sie nun eigentlich mit den Neusäterjungen machen, wenn sie sie verhauen hatten? Sollten sie sie als Kriegsgefangene mitnehmen, oder sie laufen lassen. Sie waren gewiß so gefräßig, daß es nicht anging, sie als Gefangene zu behalten. Nein, sie würden ihnen bis fast nach dem Neusäter folgen und sie zwingen, eine Grenze zwischen den Weidegebieten zu errichten. Sie sollten Steine schleppen müssen, daß ihnen der Schweiß aus ihren herunterhängenden Hosenböden tropfen sollte. Und sie sollten kein großes Stück[S. 148] auf dieser Seite des Neusäters behalten, da konnten sie sicher sein.

Je näher sie dem Hvidtskjägstein kamen, desto vorsichtiger wurden sie und desto leiser sprachen sie. Es konnte doch sein, daß sie ziemlich zäh und kräftig waren, diese Neusäterjungen. Wer sollte zuerst vorgehen? Jens meinte, das müßte Per sein, aber Per fand, es wäre richtiger, Peter ginge zuerst, weil er der größte wäre, aber Peter fand gerade, Jens als der kleinste sollte vorangehen, sonst könnten die Neusäterjungen Angst kriegen und ausreißen. Nein, da fand Jens es schon am besten, sie gingen alle auf einmal vor, damit die Neusäterjungen nicht jeden einzeln verhauen sollten, denn sie sollten fest zuhauen. Ja, das taten sie denn auch.

Jetzt näherten sie sich dem Hvidtskjägstein. Es war wohl das beste, sie gingen vor der Herde, denn sonst könnten diese Neusäterhallunken sie ihnen wegnehmen und nach dem Säter treiben. Sie machten es so. Jetzt hatten sie nur noch einen Hügel vor sich. Sollten sie nun schreien und auf dem Horn blasen und auf der Ziegenhornpfeife pfeifen? Nein, besser war es wohl, sie gingen still vor und sahen erst, wie viele es waren. Man konnte gar nicht wissen, ob sie nicht Hilfstruppen mithatten. Sehr wahrscheinlich, daß das Dutzend voll war. Sie schlichen auf den Hügel,[S. 149] so still wie möglich, krochen unter Deckung von Büschen vorwärts, so weit, daß sie die kleine Ebene, wo der Hvidtskjägstein lag, übersehen konnten.

Da lag er ganz ruhig im Sonnenschein, — keine Menschenseele war zu sehen.

Die Jungen erhoben sich und sahen einander an. Sie horchten, ob sie nicht in der Ferne einen Laut von ihnen vernähmen. Nein!

Endlich sagte Per: Sollte der Trottel, der Lars Sagbakken es nicht ausgerichtet haben? Ob sie sich nicht getrauten? Ich glaube eher das letztere, meinte Peter; sie werden wohl von den Kvinstöljungen gehört haben. Ja, nun jodeln wir.

Und Peter setzte mit einem Jodler ein, und Per blies das Horn, und Jens ließ seine schrille Ziegenhornpfeife ertönen, daß es weithin schallte.

Rücken wir also über die Grenze! Sie sollen sehen, daß die Kvinstöljungen vor niemand Angst haben und hüten, wo sie wollen. — Ja, das machen wir, bis an ihre Sennhütten heran. Sie lockten ihre Tiere, die springend herankamen, und dann rückten sie an der Spitze der Herde vorwärts. Sie jodelten und bliesen und pfiffen und schimpften auf die Neusäterjungen, als ob sie so nahe wären, daß sie es hören könnten. So ging es eine lange Zeit fort.

[S. 150]

— — Plötzlich blieben sie alle drei mit offenem Munde stehen und lauschten. Es kam ihnen vor, als ob sie ein schwaches Jodeln hörten. Peter jodelte vorsichtig zur Antwort. Ja, da ertönte es wieder ganz schwach und gar nicht weit fort. Was hatte das zu bedeuten? Waren es die Neusäterjungen, die sich in einen Hinterhalt gelegt hatten? Da war es wohl am besten, vorsichtig vorzugehen, aber hin mußten sie und nachsehen, was es war. Sie hielten auf einmal inne mit jodeln und blasen. — Leise schlichen sie vorwärts. Endlich kamen sie über einen Hügel, und zwischen einigen verkrüppelten Birken hindurch sahen sie auf eine kleine Ebene.

— — Auf einem Stein mitten in der Ebene saß ein kleiner, hübscher, zerlumpter Junge und blickte nach der Richtung, wo sie waren, und um ihn herum lag wiederkäuend eine Herde Ziegen und Schafe.

Es war so schön und still und friedlich hier, daß sie eine Weile liegen blieben und sich nur umsahen.

Endlich sagte Peter: Ob nicht doch noch andere dabei sind, die sich versteckt haben?

Sie spähten lange umher, aber da sie niemanden sahen, beschlossen sie vorzurücken. Es sollte aber mit Kraft geschehen. Sie standen auf, und auf ein Zeichen von Per, begann Peter wie verrückt zu jodeln, und Jens trillerte auf seiner Pfeife so hoch, daß der[S. 151] Ton sprang, und Per selber setzte mit seinem Horn ein, daß es hallte.

Die Tiere rings um den kleinen Jungen sprangen auf, blieben stehen und glotzten, und der Junge sprang vom Stein herunter und blieb stehen.

Sie marschierten vor, Peter schlug ein Rad mitten auf der Ebene, und so näherten sie sich dem kleinen Jungen. Per ging gerade auf in los, spuckte in die Hände und sagte: Willst du Prügel haben?

Aber das schien der kleine Junge nicht zu verstehen; er richtete ein paar große Augen auf sie, machte eine tiefe Verneigung mit dem Kopf und sagte ganz friedlich: Guten Tag!

Pers Hände sanken herunter, er blieb mit offenem Munde stehen. Das kam so unerwartet, daß er nicht wußte, was er sagen sollte, und so brachte er nur ein leises: Guten Tag! Bist du draußen und hütest? heraus.

Ja, — und du auch, sehe ich.

Ja.

Es entstand eine lange Pause.

Du bist wohl vom Neusäter?

Ja, das bin ich.

Wie steht es dort?

Oh, danke gut, kann ich wohl sagen, nur Farskoll ist recht schlecht auf den Beinen.

[S. 152]

Wieder lange Pause.

Er ist wohl nicht mit einer Botschaft von mir bei euch drin gewesen, der Lars Sagbakken.

Nein, nicht daß ich wüßte.

Nein, er war wohl nicht. Ja, es war auch nichts weiter.

Wieder entstand eine Pause. Schließlich sagte Per:

Ein mächtiger Bock, den du hast.

Ach nein, der ist wohl nichts besonderes.

Doch, der ist groß, das ist sicher. Ich habe kaum so einen gesehen.

Ein schönes Horn, was du hast.

Ach ja, es ist ganz gut. Hast du keins?

Nein, ich kann mir keins anschaffen.

Haben es die Hirten gut auf dem Neusäter?

O ja, Tonetta, meine Sennerin, ist sehr gut.

Kriegst du manchmal Rahm?

Der kleine Junge machte verwunderte Augen.

Nein, den kriege ich nicht. Aber jetzt muß ich nach meiner Herde sehen, sonst läuft sie mir fort.

Hast du nicht Lust, einmal nach dem Kvinstöl zu kommen?

Doch, Lust hätte ich schon. Dem Tobias sind ein paar Schafe weggekommen, und da darf ich vielleicht mit ihm gehen, um danach zu fragen.

[S. 153]

Ja, komm und besuch mich, da sollst du so viel Rahm kriegen, wie du essen kannst. Hast du nicht Lust, mein Horn zu leihen?

Es leuchtete in seinen Augen auf, aber er sagte:

Das kannst du doch nicht entbehren?

Ach, pah, du kannst es ja mitbringen, wenn du kommst, um nach den Schafen zu fragen — und er hängte ihm das Horn um den Hals.

Danke schön. Lebewohl und auf Wiedersehn.

Gleichfalls!

Und der kleine Junge zog seiner Herde nach und blies auf dem Horn, und sie hörten ihn noch lange, während sie über Stock und Stein davonrannten und ihre Herde suchten, die mittlerweile verschwunden war. An diesem Abend kamen die Kvinstöljungen ohne Herde heim, und das ist die größte Schande, die einem Hirten widerfahren kann.


Deko

[S. 154]

Erste Liebe.

Jeden Tag, eine ganze Woche lang hatte Ole gestanden und zur Küchentür hinausgeguckt, wenn der Student nach Hause kam, um zu sehen, ob er nicht irgendein verdächtiges Paket in der Hand oder in der Rocktasche hätte. Und das hatte seine Gründe. Es war kein Zweifel, daß der Student ihm etwas zum Geburtstage schenken würde, der gerade in acht Tagen war, sonst hätte er ihn wohl nicht so genau ausgefragt, wann er wäre und ob er viel geschenkt kriegte; und der Student war unbeschreiblich nett, also das war sicher; jetzt handelte es sich eigentlich nur noch darum, was es sein würde, denn es gab eigentlich nur eins, was sich Ole wünschte.

Ole war zehn Jahre alt und wohnte in der Welhavenstraße droben bei seiner Mutter Madame Hansen, die sich ihren Unterhalt mit Waschen in den Häusern und Zimmervermieten verdiente, und was das schlimmste war, Ole war gewiß verliebt. Bis vor kurzem hatte er selber gar nichts davon gemerkt gehabt. Das ganze[S. 155] Jahr, seit sie nun hier wohnten, war er jeden Nachmittag im Hof gegenüber gewesen und hatte die gleichaltrige Elsa Holm getroffen, die Tochter der Oberzollinspektorswitwe Holm. Vorigen Winter hatten sie eine große Schneefestung gehabt und einen großen Schneemann als Schildwache, und wenn Ole in die Festung kam und rief »Heraus!« dann kam Elsa jedesmal eilends die Küchentreppe herunter. Bisweilen hatten sie auch auf die Eisbahn nach Tullinlökken hinunter zum Schlittschuhlaufen gedurft, Frau Holm hatte ihn sogar gebeten, ihrer Tochter zu helfen und aufzupassen, daß sie nicht zu lange bliebe. Aber er hatte nur ein Paar ganz alte Schlittschuhe gehabt, die er sich geborgt hatte und die ihm nie richtig passen wollten, so daß es kein großes Vergnügen gewesen war. Und im Frühjahr hatten sie zuerst mit Murmeln gespielt und Elsa hatte alle seine gewonnen, obwohl sie ganz kleine Hände hatte und nicht halb so weit werfen konnte wie er; aber sie war nett gewesen und hatte ihm welche geliehen, wenn er keine mehr hatte. Und später, als es wärmer wurde, hatten sie Verstecken gespielt durch alle Treppen und Keller, — er erinnerte sich noch, wie Elsa in den Kohlenkeller gefallen war, und er sie schwarz wie ein Schornsteinfeger wieder herauszog — nur die Zähne und die Augen leuchteten[S. 156] weiß, gerade wie bei einem Neger, den er einmal gesehen hatte.

Aber dann war Elsa aufs Land gereist und bis zum September fortgeblieben. Der Sommer war ganz unterhaltend vergangen, denn er hatte ein paar Jungen kennen gelernt, mit denen er unten im Meer gebadet und Krabben gefischt hatte; aber je länger es dauerte, um so öfter fing er an, in den Hof hinüberzugucken, ob Elsa noch nicht zu Hause gekommen wäre. Und als er eines Tages erfuhr, daß sie am Abend zuvor gekommen sei, rannte er in den Hof hinüber, setzte sich auf die Abfallkiste und trommelte mit den Absätzen dagegen, wie er es sonst gemacht hatte. Aber sie kam nicht. Er stand auf und rief: »Heraus!« so laut er konnte, viele Male. Aber auch daraufhin kam sie nicht. Da gab er es für diesen Tag auf, versuchte es aber am nächsten Tage wieder und so jeden Tag, aber jedesmal wurde er schüchterner und unsicherer; es kam ihm vor, als ob ihn alle Menschen ansähen und sich wunderten, was er dort im Hofe wollte. Schließlich gab er es auf und setzte nie mehr seinen Fuß in den Hof; aber wenn der Student nicht zu Hause war, stand er immer an dessen Fenster und guckte nach der Haustür gegenüber, denn ihre eigene Stube ging nach dem Hof hinaus.

Nach einiger Zeit konnte er nicht mehr widerstehen[S. 157] und er beschloß, sie auf der Straße zu treffen, wenn sie aus der Schule kam. Am ersten Tage hatte er kein Glück; sie kam in Begleitung ihrer Mutter; er tat, als ob er sie nicht sähe und verbarg sich in einem Torweg. Den nächsten Tag kam sie allein. Er fühlte, wie etwas unter der Weste zu pochen begann, und er hatte einen ganz heißen Kopf, als er die Mütze zog und tat, als ob er vorbeigehen wollte. Sie richtete ihre blauen Augen treuherzig auf ihn, so daß er unwillkürlich stehen blieb, die Mütze wieder auf den Kopf setzte und auf seine Füße sah.

Sie hätten sich lange nicht gesehen!

Ja, sie käme nicht mehr in den Hof.

Sollten sie denn diesen Winter keine Festung wieder bauen?

Ja, sie wollte schon gern, aber —

Sie könnten ja im Nebenhof spielen, wenn es ihr in ihrem Hofe unangenehm wäre.

Er hatte das unwillkürlich gesagt und fühlte, wie er feuerrot wurde, als sie ihn treuherzig fragend ansah.

Sie dürfte nicht mehr; sie wäre jetzt zu groß, um mit Straßenjungen zu spielen, hätte die Mutter gesagt.

Ole verstand nicht, was darin lag; er stand und suchte, was er noch sagen könnte, aber dann fühlte er, wie etwas wie Zorn in ihm aufstieg — er wußte[S. 158] nicht warum, — und so grüßte er mit der Mütze und wollte gehen.

Sie blieb stehen und blickte ihm nach:

Du, Ole?

Ja?

Mutter hat gesagt, ich dürfte auf die Eisbahn, den ersten Tag, wo Eis wird; — willst du dann kommen und mich schieben?

Ole machte kehrt, nahm Stellung und führte die Hand nach militärischer Art an die Mütze (er war einexerziert worden, damals, als der Kadett bei seiner Mutter wohnte): Zu Befehl!

Dann machte er wieder kehrt und ging.


Seitdem gab es nur ein Ding in der Welt, was Ole sich wünschte, und das waren ordentliche Schlittschuhe, solche mit Mechanik zum Anschrauben.

Er hatte gescharrt und gespart, so daß er schließlich drei Kronen und fünfundzwanzig Öre besaß; aber da war vor einem Monat die Mutter krank geworden und konnte drei Tage nicht auf Arbeit gehen, und da hatte sie ihn gebeten, ihr das Geld für Holz und Kohlen zu borgen, und da konnte er natürlich nicht nein sagen, so gern er auch gewollt hätte; — denn sie hatte es nicht leicht, die arme Mutter. Er wußte wohl, daß er es wiederbekommen würde, sobald sie es hätte; aber da konnte es zu spät werden; seitdem hatte er nicht mehr als sechzig Öre zusammengebracht, und dafür konnte er ja nicht einmal ein paar alte mit Riemen bekommen. Jetzt setzte er seine ganze Hoffnung auf den Studenten und sein Geburtstagsgeschenk.

[S. 159]

Er hatte gleich daran gedacht, als der Student anfing ihn zu fragen, welcher Tag es wäre. Und er hatte dann auch öfters, wenn er mit etwas, das er beim Kaufmann geholt hatte (denn alle solche Dinge hatte Ole zu besorgen), zurückkam, versucht, das Gespräch auf Schlittschuhlaufen und ähnliche Sachen zu bringen, so daß er meinte, der Student müßte ihn verstanden haben. Denn er begriff manchmal so unglaublich leicht; mehrmals hatte er Dinge aus Ole herausgelockt, die dieser durchaus nicht hatte erzählen wollen; erst hinterher, wenn der Student angefangen hatte, ihn zu necken, hatte er gemerkt, daß er es doch gesagt hatte. Ja, es war zweifellos, er mußte es verstanden haben. Wenn er nun nur auch wollte!

Ole stand in der Küchentür und spähte. Es war die Zeit, zu der der Student nach Hause zu kommen pflegte. Seine Spannung war von Tag zu Tag gewachsen, und seit ein paar Tagen hatte eine unglaubliche Kälte eingesetzt, so daß man jeden Tag erwarten konnte, sie würden auf Tullinlökken anfangen, die Bahn zu gießen. Er hatte es dem Studenten sogar heute morgen rund heraus gesagt, aber der hatte nicht darauf geantwortet, er war immer so kurz angebunden in seinen Antworten, wenn er über einem Buche saß.

Vielleicht hatten sie mit dem Gießen schon angefangen?

Es war zu dumm, er hätte ebensogut sagen können, der Geburtstag wäre acht Tage früher, der Student würde es wohl kaum erfahren haben.

Da hörte er ihn auf der Treppe, jetzt zog er die Schlüssel heraus, jetzt ging die Vorsaaltür.

[S. 160]

Ole spähte.

Ja, wahrhaftig, er hatte etwas in Papier gewickelt in der Manteltasche.

Hm, ja, es konnte übrigens recht gut auch nur eine Flasche sein; aber es sah doch nicht richtig danach aus. Wenn er es nur herausnehmen wollte! Nein, da ging er hinein — zum Teufel —, der Student nahm immer den Mantel mit hinein, wenn es kalt war.

Er konnte ja immerhin hineingehen und fragen, ob er einen Auftrag besorgen sollte. Aber da mußte er noch etwas warten; es würde zu komisch aussehen, wenn er gleich angestürzt käme.

Er schlich sich auf den Vorsaal hinaus, blieb stehen und horchte. Jetzt zog der Student den Mantel aus, — er hörte, daß ein Bindfaden durchschnitten wurde und das Rascheln von Papier. Dann klirrte etwas.

Er klopfte.

Er hörte etwas auf die Erde fallen, und nach einer Weile tönte es »Herein«.

Er trat rasch ein, nahm Stellung und grüßte militärisch.

[S. 161]

Befehlen der Herr Student etwas?

Dabei richtete er die Blicke nach dem Bett. Es war deutlich, daß etwas rasch darunter gestoßen worden war, aber er konnte nichts sehen, weil die Decke zu weit herunterhing.

Nein danke, Ole, jetzt nicht.

Ole blieb eine Zeitlang stehen, dann beugte er sich rasch herunter, als ob er etwas vom Boden aufnehmen wollte. Es war so dunkel unter dem Bett — aber wahrhaftig, blinkte da nicht etwas?

Der Student wurde aufmerksam:

Was gibt's?

Ich dachte, es wäre eine Stecknadel.

Na, also für jetzt nichts weiter.

Ole machte kehrt und verschwand.

Ja, diesmal, meinte er, hätte er den Studenten doch gefangen; es wäre doch seltsam, wenn es nicht die Schlittschuhe gewesen wären, die er so rasch verborgen hatte.

Nein, daß er seinen Geburtstag nicht acht Tage früher verlegt hatte. Es wäre doch übrigens immer noch möglich, daß er oder die Mutter sich geirrt hätten, vielleicht war er doch eher. Er mußte einmal in der Bibel nachsehen; da stand es aufgeschrieben.

[S. 162]

Er ging und holte das Buch vom Regal. Da stand es: Ole Christian Hansen, geboren am 2. Dezember 1886. Ja, das war leicht möglich, daß sie Dezember statt November geschrieben hatten; darum war es nicht sicherer, weil es dastand.

Es kam eine solche Unruhe über ihn, daß er nirgends still sitzen konnte. Bald war er auf dem Vorsaal und griff nach der Mütze, bald war er in der Küche, bald in der Kammer drinnen und versuchte seine Aufgaben für morgen zu lernen, schließlich kniete er auf einem Stuhl am Fenster nieder und hauchte ein Loch in das Eis.

Ja, wahrhaftig, es war ordentlich kalt draußen. Doch was war das? Da sprangen zwei Jungen über den Hof mit Schlittschuhen um den Hals. Hatten sie etwa schon mit Gießen begonnen? Das mußte er sehen.

Er stürzte in den Vorsaal hinaus, riß die Mütze vom Haken und eilte in langen Sprüngen bis herab nach Tullinlökken.

Ja, sie hatten angefangen. Da standen mehrere Männer mit langen Wasserschläuchen und spritzten, daß das Wasser schäumte. Sie spritzten schon zum zweiten Male darüber; es fror augenblicklich. Und eine Masse Jungen standen herum und sahen zu, alle die Schlittschuhe um den Nacken gehängt oder in der Hand, auch ein paar rotbäckige kleine Mädchen.

Ein paar von den eifrigsten saßen schon auf den Bänken und schnallten an, es war am besten, sich bereit zu halten; in ein paar Stunden oder so, würden sie draufgelassen, hatte einer von den Männern gesagt.

Es war ungefähr zwei Uhr, und die Kinder aus mehreren Schulen kamen vorbei:

[S. 163]

Ole sah, wie sie einen Augenblick still standen und dann fast davonrannten; es galt heimzukommen, schnell Mittag zu essen und die Schlittschuhe vorzusuchen.

Ja, die hatten Schlittschuhe!

Da sah er auch Elsa auf der andern Seite der Straße; — nie hatte er sie so schnell gehen sehen, sie vergaß rein, sich umzusehen und mit der Schulmappe zu schlenkern, wie sie gewöhnlich tat.

Nein, das ging nicht an, — er mußte das letzte Mittel probieren.

Kurze Zeit darauf stand er wieder mit militärischem Gruß im Zimmer des Studenten:

Befehlen der Herr Student etwas?

Nein, danke, Ole!

Der Student sah nicht auf. Nach einer Weile merkte er, daß Ole gegen seine sonstige Gewohnheit stehen geblieben war, nachdem er Bescheid erhalten hatte.

Nun, willst du noch etwas?

Da tat Ole einen Schritt vor, suchte seiner Stimme einen forschen Klang zu geben, aber es kam doch recht schüchtern heraus:

Jetzt gießen sie.

Der Student sah verwundert auf.

[S. 164]

Was tun sie?

Sie gießen.

Wo?

Auf Tullinlökken.

Der Student drehte sich auf dem Stuhl um, sah Ole schelmisch an und sagte:

Ja, was geht mich das eigentlich an, Ole?

Nein, ich ging nur vorbei und da sah ich — da dachte ich — laufen der Herr Student nicht Schlittschuh?

Doch, manchmal.

Kannst du den Studentenschwung?

Nein, und du?

Nein.

Es entstand eine lange Pause. Der Student blickte ihn die ganze Zeit mit freundlichem Spott an, so daß Ole schließlich die Augen niederschlagen mußte. Wie sollte er nun eigentlich sein Anliegen vorbringen?

Da sagte der Student:

Du wolltest gewiß noch etwas, Ole?

[S. 165]

Nein — ja — ich mußte daran denken, daß du mich einmal fragtest, wann mein Geburtstag wäre, und — ich sagte, er wäre heute in acht Tagen.

Ja?

Ja, und seitdem ist mir eingefallen, daß — daß ich — vielleicht — nicht ganz sicher bin, daß ich es nicht ganz gewiß weiß.

Weißt du es nicht ganz gewiß?

Ole wurde rot:

Ja, ich weiß es schon, — aber sie könnten es in der Bibel vielleicht falsch aufgeschrieben haben.

Der Student bekam einen merkwürdig schlauen Ausdruck um die Augen:

Ja, es könnte ja leicht sein, daß er später wäre, so um Weihnachten herum?

Nein, das ganz und gar nicht. Ist es ein Fehler, so ist er früher — das fühle ich.

Ja, wann hattest du denn gedacht, daß er sein könnte?

[S. 166]

Ich, ich habe immer gemeint, er müßte etwa heute sein.

Nein, so was. Das wäre wirklich dumm, wenn er heute wäre.

Warum denn?

Ja, denn ich hatte gedacht, dir — hier machte der Student eine Pause — einen Schlitten zum Geburtstag zu schenken. Aber nun ist es heute zu spät dafür.

Oles Herz hüpfte vor Freude anfangs, aber als er das Wort Schlitten hörte, war es vorbei mit der Freude. Es wäre ja auch ganz hübsch, einen Schlitten zu besitzen, aber das war es nicht, was er sich wünschte. Es waren also doch keine Schlittschuhe gewesen, was der Student heute mit nach Hause gebracht hatte.

Er stand ein Weilchen ruhig und sagte dann leise:

Ja, weiter war es nichts. Und sicher ist es wohl auch nicht, daß der Geburtstag heute ist.

Er drehte sich langsam um und wollte zur Tür hinaus.

Du, Ole!

Ja.

Das ist wirklich dumm. Ich sitze hier und denke daran — wenn du damit zufrieden bist, so — habe ich — er ging und tastete unters Bett — so habe[S. 167] ich hier etwas, was du vielleicht brauchen könntest — er hielt ihm ein paar blinkende Schlittschuhe hin, aber daraus machst du dir wohl nichts?

Das kam Ole so überraschend, daß sein Lächeln noch breiter ausfiel als gewöhnlich; es war nicht mehr weit von den Mundwinkeln bis zu den Ohren. Er faßte die Hand des Studenten und sagte so recht von Herzen:

Danke! Das ist das, was ich von allem am liebsten haben will.

Sie begannen nun anzuprobieren, ob die Schlittschuhe paßten, und ob die Schrauben richtig säßen, — solche Schlittschuhe, glaubte Ole, hätte kaum einer von den andern.

Nach einer Weile sagte der Student:

Du, Ole, warum wolltest du eigentlich gerade heute Geburtstag haben?

Ole blickte auf und wurde rot:

Es war mir nur darum zu tun, gleich auf die Bahn zu kommen.

Sollst du jemand dort treffen?

Nein, ich habe gar nicht versprochen, jemand zu schieben.

Nun, sie läuft wohl besser als du?

Nein, das tut sie nicht.

Wer, sie?

[S. 168]

Ole machte sich eifrig an den Schlittschuhen zu schaffen und antwortete nicht. Der Student stand am Fenster und sah hinaus.

Da geht schon die Elsa mit den blonden Haaren. Da ist die Bahn wohl fertig.

Ole hatte sich mit den Schlittschuhen unterm Arm der Tür genähert. Wahrhaftig, hatte der Student auch das aus ihm herausgelockt!


Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen durch den Frostnebel über den Platz, nur einen kleinen Streifen, so daß das blanke Eis einen roten Schimmer bekam.

Es war ein Lärm und Geschrei und Spektakel von all den hundert frischen kräftigen Kindern, die sich herumtummelten. Da waren große Jungen, die liefen mit den Händen auf dem Rücken und flottem Schwung — sie hatten alle engzugeknöpfte Jacken an —; da waren andre, die liefen rückwärts und zogen Achten und Schleifen, bis sie plötzlich mit einem andern Schlittschuh zusammengerieten und plötzlich auf dem Eise saßen; da waren kleine Mädchen, die setzten die Beine gerade vorwärts wie Schlittenkufen und wollten die Füße am liebsten einwärts stellen; von jedem Alter waren sie da, bis herab zu den ganz kleinen, die fielen und aufstanden bis ins Unendliche, und jedesmal einen Freudenschrei[S. 169] ausstießen, als hätten sie ein Meisterstück vollführt. Da gab es Finnenschuhe und Schnürschuhe, und Schuhe, die vorn den Rachen aufsperrten. Da gab es rote Handschuhe und blaue Handschuhe und bloße blaue Finger; da gab es rote Mützen und blaue Mützen und Pelzmützen; da gab es Ohren, die wie Rosen glühten, Halstücher, die oft herumgewickelt waren, und nackte Hälse; hier und da sah man auch ein nacktes Knie hervorgucken, wo die Strümpfe und die Hosen nicht zusammenhalten wollten. Aber eins hatten sie alle: rote Wangen und blaue Augen und Kehlen, die vor Freude jubelten.

Nahe beim Platz holte Ole Elsa ein; — er hatte sie unterwegs beinahe vergessen. Es zuckte ihm in den Gliedern, als er den Lärm hörte und das Getümmel sah; — nein, wahrhaftig, dazu hatte er jetzt eigentlich keine Zeit; aber er mußte ihr wohl beim Anschnallen helfen. Er vergaß zu grüßen, rief nur, sie sollte sich beeilen und verhalf ihr zu einem Platz auf einer Bank. Er hatte solche Eile, daß er die Riemen verwirrte, so daß es länger dauerte, als er wollte. Endlich hatte er ihr die Schlittschuhe angeschnallt, und er sah, wie sie sich unbehilflich ein Stück fortbewegte, während er hastig die seinigen anschraubte. Ja, es sah aus, als brauchte sie einen, der sie schöbe, — da blieb sie stehen, als warte sie[S. 170] auf ihn. Er lief ein paar Bogen über die Bahn und rund um sie herum auf einem Bein — ein klein wenig spielte er sich vor ihr auf.

Soll ich dich schieben?

Ja, wenn du willst.

Er faßte sie und begann sie quer über den Platz zu schieben; es ging schwer und langsam; — da stieß einer an sie an, so daß sie beide hinfielen, sie standen auf und es ging von neuem los. So kamen sie einmal um den Platz.

Hei, Ole, komm und spiel mit Indianer, — es war »Krischan«, mit dem er im Sommer zusammen Krabben gefischt hatte, der vorbeisauste, verfolgt von einem andern.

Ole blieb stehen und kratzte sich unter der Mütze; er hatte schon Lust, aber —

Soll ich dich noch weiter schieben?

Ja, bitte!

Und Ole schob, und er zog und versuchte vorsichtig, sie an der Hand zu nehmen, so daß sie nebeneinander liefen; aber da fiel sie hin, und so mußte er wieder anfangen wie vorher.

Hm — im Grunde war das nicht ganz so unterhaltend, wie er sich gedacht hatte; aber wenn Elsa ihre glänzenden Augen auf ihn richtete und lachte, so fühlte er sich wieder erleichtert und schob sie rund[S. 171] herum, viele Male und tat, als ob er Christian und die andern, die nach ihm riefen, nicht hörte. Schließlich begannen sie, ihn ziemlich nah zu umkreisen und zu rufen:

Seht den Kavalier!

Er biß die Zähne zusammen und fuhr davon, aber in seinem Innern gelobte er sich, daß Christian bei der ersten Gelegenheit Prügel dafür haben sollte.

Plötzlich sagte Elsa:

Jetzt muß ich nach Hause; Mutter erlaubt nicht, daß ich länger draußen bin.

Können wir nicht noch ein bißchen bleiben, nur noch einmal herum?

Ja, aber nur einmal.

Das taten sie, und Elsa setzte sich auf die Bank und hielt den Fuß hin. Er schnallte ihr die Schlittschuhe ab, behielt aber seine eigenen an. Er wollte sehen, ob sie daran dächte, allein zu gehen. Nein, sie blieb stehen. Er setzte sich also, machte seine auch los, und sie trotteten die Straße hinauf, viel langsamer, als sie gekommen waren. Sie sprachen nichts miteinander, bis sie an die Haustür kamen. Da sagte Ole:

Gehst du morgen wieder?

Ja, wenn ich darf; es ist so hübsch, sich schieben zu lassen.

[S. 172]

Ole blieb in dem Flur stehen, bis er sie oben auf der Treppe hörte; dann schlüpfte er heraus und rannte wieder herunter — immer dicht an den Häusern.


Ole kam spät heim, und er empfand ein wundervolles Gefühl im ganzen Körper, als er im Bett lag. Aber Christian hatte er nicht getroffen. Im Einschlafen hatte er — o diese Männer! — seinen ersten treulosen Gedanken:

Wenn Elsa morgen nicht durfte, — vielleicht würde es beinahe ebenso hübsch. Da könnte er auch den Christian verhauen.


Deko

[S. 173]

Wie Hans und Marte die Henne hüteten.

Auf dem Hof draußen stand eine alte Henne auf einem Bein, drehte den Kopf und blinzelte mit den runden klaren Augen.

Dicht daneben lag der fünfjährige Hans. Hinten aus der Hosenklappe guckte ihm der Hemdzipfel, er schlenkerte mit den Beinen und sah die Henne an, als ob er mitten durch sie hindurchsehen wollte; er wagte kaum zu zwinkern. Heute würde er sie die ganze Zeit ansehen und den Blick nicht von ihr wenden.

In der Stube drinnen saß Marte, seine siebenjährige Schwester, und lugte vorsichtig zum Fenster hinaus; sie behielt beide im Auge.

Sie sollten beide heute auf die Henne aufpassen.

Die Henne war alt und war so lange allein gewesen, daß sie sich allerhand Streiche angewöhnt hatte. Sie wechselte jedesmal das Nest, wenn sie ihr die Eier genommen hatten, und versteckte sie an den unglaublichsten Stellen, wo es niemand einfiel, zu suchen;[S. 174] — einmal hatte sie die Eier in ein paar hohe Grasbüschel gleich neben die Türschwelle gelegt, und da lag sie und brütete acht Tage, ehe sie sie fanden. Und sie war so ausspekuliert klug geworden, daß es beinahe unmöglich war, sie zu hüten. Einmal, als die Mutter selber auf sie aufgepaßt hatte, so daß sie nicht entwischen konnte, hockte sie nieder und legte das Ei mitten auf die nackte Erde.

Da hatte die Mutter für je acht Eier, die sie fänden, ein Ei als Prämie ausgesetzt. Nun hatte sie vor zirka vierzehn Tagen wieder ihren Platz gewechselt, so daß es jetzt sechs bis sieben Eier sein mußten und heute sollte sie wieder legen — die Mutter hatte nachgefühlt.

Es war ein brennend heißer Sommertag, die Insekten summten durch die Luft, die Schwalben flogen zwitschernd hin und her nach ihren Nestern am Stallgiebel, und im hohen Gras an der Wand entlang schlich die Katze dahin, hob vorsichtig ihre Pfoten und schielte nach oben, wie sie wohl die Nester erreichen könnte.

Hans lag in der warmen Sonne und sah nach der Henne. Sie stand auf einem Bein, blinzelte gegen die Sonne und sah ihn lange an. Dann tat sie plötzlich gleichgültig, machte ein paar Schritte, scharrte in der Erde und tat, als fände sie etwas zum Aufpicken.

[S. 175]

O, nein, auf diese Art sollte sie ihn nicht hintergehen; er kannte ihre Faxen.

Nach einer Weile blieb sie stehen, sah wieder auf und schielte zur Seite:

Nein, er lag immer noch da und verfolgte sie mit den Augen; — sie blieb wieder auf einem Bein stehen und blinzelte; das konnte langweilig werden, wenn es lange dauerte.

Hans fand auch, daß es sich lange hinzog; jetzt hatte er gewiß eine Stunde hier gelegen.

Nein, sie war so abgefeimt, daß sie sah, wohin er seine Augen richtete. Er mußte tun, als ob er wo anders hinsähe. Er schielte nach dem Fenster.

Oh, er sah wohl, wie Marte den Kopf schnell wegzog; ja, sie konnte gern dort stehen, er war am nächsten, er würde sie diesmal zuerst finden.

Er sah wieder nach der Henne. Sie war ein paar Schritte gegangen, während er wegblickte und stand jetzt wieder still. Nein, er mußte so tun, als ob er nach der Stallecke sähe, dann vielleicht —

Er tat es. Im selben Augenblick strichen zwei Schwalben neben ihm mit lautem Geschrei dicht an der Erde hin — sie hatten die Katze erblickt. Diese schlug mit der Pfote nach ihnen; — wahrhaftig, bei einem Haar hätte sie eine erwischt! Es kamen mehr;[S. 176] alle begannen sie am Boden hin zu fliegen, sie zu foppen und auszuschelten.

Ach, wie dumm sie war, daß sie sie nicht erwischte, — sie duckte sich nur, legte die Ohren zurück und verkroch sich tiefer ins Gras. Es half nicht; da kniff sie aus, verschwand um die Ecke und in den Stall. Sieh, da zerstreuten sich die Schwalben und flogen wieder von und nach ihren Nestern.

Zu dumm, daß der Eckbalken am Stall so glatt war, daß er nicht daran in die Höhe klettern konnte; — sonst hätte er das niedrigste Nest erreichen können. Das wäre fein gewesen, ein paar von den Jungen zu haben; sie waren schon so groß, daß sie die schwarz und weißen Köpfe zum Nest hinaussteckten. Wenn er ein paar kriegte, so würde er ihnen ein Bauer zurechtmachen, und für Nahrung würde er auch sorgen, — es gab so kolossal viel Fliegen am Fenster.

Da würde Marte neidisch werden; — sie sollte sie nicht einmal zu sehen kriegen; oder doch vielleicht, wenn sie ihm für jedesmal eins von ihren Eiern gäbe; — sie hatte wohl schon vier, und er erst drei — —

Eier —?

Wo war die Henne? — Fort.

Zum Teufel, hatte sie ihn auch diesmal genarrt?

[S. 177]

Bild

[S. 178]

Er stand auf, stampfte mit dem Fuß auf und war dem Weinen nahe.

So eine gemeine Henne, so ein infames Vieh. Kaum ließ er sie aus den Augen, so war sie auch schon entwischt.

Ja, dann also das nächste Mal; er guckte nach dem Fenster, — — denn Marte hatte sie doch wohl auch nicht gesehen? Sie war übrigens vom Fenster verschwunden. Da kam sie heraus.

Sie sah so verschlagen aus. Ob sie vielleicht doch —?

Hast du die Henne gesehen, Hans?

Nein, — du?

Nein.

Es stak bestimmt etwas dahinter. Marte tat so gleichgültig. Er wollte schon auf sie aufpassen.

Ich glaube fast, sie ist in den Stall gegangen, sagte er, — ich will dort nachsehen — er wußte wohl, daß sie dort nicht war, denn da hatten sie jeden Winkel abgesucht.

Laß mich zuerst, sagte Marte, und tat, als ob sie hinlaufen wollte.

Nein, ich will zuerst — und Hans sprang davon.

Ja, es war deutlich, sie wollte ihn forthaben, denn sie tat gar nichts, um zuerst zu kommen. Er wollte sie schon überlisten!

[S. 179]

Er schlüpfte in den Stall und guckte durch eine Ritze. Sie stand erst ruhig und blickte sich vorsichtig um, dann schlich sie auf den Zehen an der Stallwand entlang. Er kam heraus, schlich bis zur Ecke und streckte den Kopf vor.

Ah, eben war sie im Begriff, die großen Brennnesseln zur Seite zu biegen.

Dort hatte sie also die Henne hineinschlüpfen sehen.

Er stürzte vor, gerade auf ihren Rücken los:

Ich weiß es, ich fand sie zuerst.

Sie fielen beide in die Brennnesseln. Die Henne flatterte schreiend davon.

Sie standen auf; — es brannte schrecklich an Gesicht und Händen.

Eine Weile standen sie da und starrten sich an, Hans die Mundwinkel verzogen, bereit zu weinen, Marte beide Hände voller Rührei in die Höhe haltend.

Plötzlich klatschte ihm die eine Hand hinter die Ohren, daß das Rührei spritzte, und er zu Boden kollerte.

Dann fingen sie beide an zu heulen.

Die alte Henne schalt fürchterlich drüben auf dem Hofplatz.


Deko

Im Verlage von Georg Merseburger, Leipzig, erschienen von


Alexander L. Kielland


übersetzt von


Dr. Fr. Leskien und Marie Leskien-Lie
herausgegeben und durchgesehen vom Verfasser
mit Buchzeichnungen von

A. Andresen, R. Carl, M. Loose, H. Schittenhelm, A. Sommer


a) Gesammelte Werke


========Inhalt:========


Bd. I: Garman & Worse

a) Schiffer Worse, b) Garman & Worse. Zwei Romane. Brosch. 5 M., geb. 6 M.

Bd. II: Novellen, Novelletten Schnee, Else.

Brosch. 5 M., geb. 6 M.

Bd. III: Abraham Lövdahl

a) Gift, b) Fortuna, c) Johannisfest. Drei Romane. Brosch. 5 M., geb. 6 M.

Bd. IV: Arbeiter.

a) Arbeiter, b) Jakob. Zwei Romane. Brosch. 5 M., geb. 6 M.

Bd. V: Rings um Napoleon. Brosch. 6 M., geb. 7 M.

Nachlese: Menschen und Tiere. Skizzen u. Studien. Br. 3 M., geb. 4 M.


Alle Bände sind auch einzeln zu haben. — Einzelne 6 Bände geb. 35 M.

Gesamtpreis für alle 6 Bände in eleganter Kassette gebunden 30 M., ohne Kassette broschiert 25 M.


b) Werke in Einzelausgaben

Rings um Napoleon.

IX. und X. Tausend. Brosch. 6 M., geb. 7 M.; in 2 Bände geb. 8 M.

Schiffer Worse. Roman.

Brosch. 2.25 M., geb. 3 M.

Garman & Worse. Roman.

Novellen, Novelletten, Schnee und Else.

Brosch. 5 M., geb. 6 M.

Gift. Roman. Brosch. 2 M., geb. 2.75 M.

Fortuna. Roman. Brosch. 2 M., geb. 2.75 M.

Johannisfest. Roman.

Brosch. 1.50 M., geb. 2.25 M.

Menschen und Tiere. Skizzen und Studien.

Brosch. 3 M., geb. 4 M.

Arbeiter. Roman. Brosch. 2.75 M., geb. 3.50 M.

Jakob. Roman. Brosch. 2.25 M., geb. 3 M.


Anmerkungen zur Transkription:

Im Original sind die Dekorationen am Ende der Geschichten "Kirchenexamen vor dem Bischof" und "Holzvermesser Ole Pedersen" aus Platzgründen entfallen. Sie wurden in dieser Fassung eingefügt.

Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.