Title: Unterricht in der Beredsamkeit
Author: Marcus Fabius Quintilianus
Editor: Otto Güthling
Translator: W. Nicolai
Release date: March 16, 2025 [eBook #75632]
Language: German
Original publication: Leipzig: Verlag vonPhilipp Reclam jun. Leipzig, 1916
Credits: Richard Scheibel and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Das Original ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachige Passagen in Antiqua. Es gibt
außerdem einige griechische Ausdrücke .
Besondere Schriftschnitte werden im vorliegenden Text in einer serifenlosen Schrift
dargestellt.
Einige wenige offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Uneinheitliche Schreibweisen von Eigennamen wurden wie im Original belassen.
Die Fußnoten des Vorworts wurden als Endnoten an das Ende des Vorworts gesetzt.
Seite 45: der Begriff „hinzunehmen” wurde wie im Original belassen. Vom Zusammenhang her wäre jedoch vermutlich „hinzuzunehmen” zu schreiben (das Urteil des Calvus an manchen Stellen hinzunehmen?).
Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter geschaffen. Ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt werden.
Marcus Fabius Quintilianus [A], über dessen Lebensverhältnisse uns nur wenige Zeugnisse erhalten sind, lebte im 1. Jahrhundert n. Chr. Daß Calagurris[B] in Spanien und nicht Rom sein Geburtsort gewesen ist, ist wohl nicht zu bezweifeln. Weniger sicher ist die Angabe seines Geburtsjahres. Früher hat man das Jahr 42 angenommen, es ist indessen besonders aus seinen eigenen Erwähnungen des im Jahre 59 verstorbenen Domitius Afer wahrscheinlich, daß diese Zeit um einige Jahre zu spät ist, und das Jahr 35 wahrscheinlich das Jahr seiner Geburt ist. Seinen Vater, der Rhetor war, erwähnt er IX, 3, 73. Wenn er auch bisweilen seinen Jugendunterricht erwähnt (I, 2, 23; II, 4, 26), so nennt er doch nirgends seine Lehrer; nur die ausgezeichneten Redner führt er an, die zu hören er Gelegenheit gehabt hat, wie Julius Africanus (X, 1, 118; XII, 11, 3), Servilius Novianus (X, 1, 102), Galerius Trachalus, Vibius Crispus, Julius Secundus (XII, 9, 11). Nachdem er um das Jahr 59 in seine Heimat zurückgekehrt war, hielt er sich daselbst als Lehrer der Beredsamkeit acht Jahre (bis 68) auf, in welchem Jahre ihn Galba, der Statthalter im tarrakonensischen Spanien war, mit sich nach Rom zurücknahm.
Seit dieser Zeit begann er in Rom teils als Sachwalter aufzutreten, teils rhetorischen Unterricht zu erteilen.
Daß er auf dem Forum in Prozeßsachen geredet, sagt er IV, 2, 86, und an einer andern Stelle (VII, 2, 24) beklagt er sich über die Nachlässigkeit der Stenographen, welche seine Reden in ganz verfälschter Form unter das Publikum gebracht hatten. Dagegen gelangte er als Lehrer der Beredsamkeit zu großem Ansehen, so daß sein Name sprichwörtlich gebraucht wurde. Und als Vespasian Gehälter für die Lehrer aus dem Fiskus anwies, neben welchen natürlich das Honorar der Schüler bestehen blieb, war Quintilian der erste, der ein solches erhielt; angeblich bezog er ein Gehalt von 18000 Mark. Unter seinen Schülern sind die berühmtesten der jüngere Plinius (Briefe II, 14, 10; VI, 6, 3) und die Enkel der Schwester Domitians, Domitilla, die Söhne des später (95 oder 96) hingerichteten Flavius Clemens, vielleicht auch Cornelius Tacitus. Aus seinem Unterrichte sind die libri duo artis rhetoricae (zwei Bücher über Rhetorik), vielleicht auch die gegen seinen Willen in die Öffentlichkeit gelangten sermones (Gespräche) hervorgegangen; eine Frucht seiner Studien war auch die Schrift de causis corruptae eloquentiae (Über die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit), die man früher irrigerweise in dem Dialoge des Tacitus über die Redner wiederzuerkennen vermeint hat.
Nach zwanzigjährigem öffentlichen Lehramte trat er etwa um 91 von demselben zurück und erhielt bald darauf durch Domitian consularia ornamenta (Rang und Vorteile eines Konsuls). In dieser Zeit begann er, von vielen Seiten aufgefordert, die Abfassung des umfassenden Werkes de institutione oratoria (Unterricht in der Beredsamkeit), das innerhalb zweier Jahre vollendet, dann aber einer wiederholten Feile und Durchsicht unterworfen wurde. Jedenfalls ist es vor dem 96 erfolgten Tode Domitians vollendet worden, denn nur so lassen sich die auffallenden Schmeicheleien gegen diesen abscheulichen Kaiser (IV, 1, 2; X, 1, 91) und das bereitwillige Eingehen auf die Verdächtigung der Philosophie, die gerade unter dieser Regierung den heftigsten Verfolgungen ausgesetzt war, erklären, aber nie und nimmer entschuldigen. Dem Werke geht eine kurze Zuschrift an den berühmten und unserm Schriftsteller befreundeten Buchhändler Trypho voraus, auf welche die Widmung an den Rhetor Marcellus Victorius folgt, dessen Sohn Quintilian unterrichtet hatte.
Von seiner Gattin, die ihm im noch nicht vollendeten 19. Lebensjahre durch den Tod entrissen wurde, hatte er zwei Söhne, von denen der eine im 5., der andere im 10. Lebensjahre starb. In ergreifender Weise gibt er seinem Schmerze über diese Schicksalsschläge im Vorwort zum VI. Buche Ausdruck. Sein Todesjahr läßt sich nicht nachweisen; wahrscheinlich hat er ein Alter von ungefähr 70 Jahren erreicht. Die Annahme, er sei 118 gestorben, ist sicherlich nicht richtig.
Den Inhalt der zwölf Bücher „Unterricht in der Beredsamkeit” gibt Quintilian in dem Vorwort zum I. Buche also an:
„Das erste Buch wird nämlich das enthalten, was dem Berufe des Rhetors vorangeht. Im zweiten werden wir die ersten Anfänge bei dem Rhetor und die Fragen über das Wesen der Rhetorik behandeln. Fünf weitere Bücher sollen der Erfindung (denn daran wird sich auch die Anordnung anschließen) und vier dem rednerischen Ausdruck (wobei das Auswendiglernen und der Vortrag seine Stelle erhält) gewidmet werden. Dazu kommt noch ein Buch, in welchem der Redner selbst von uns herangebildet werden soll, und worin wir, soweit es unsere schwache Kraft vermag, über die Sitten desselben handeln wollen, über die Grundsätze, nach welchen er Prozesse übernehmen, sich davon unterrichten und sie führen soll, welche Gattung der Beredsamkeit er wählen, wann er aufhören soll, Prozesse zu führen, und von seinen nachherigen Studien.” Also ein vollständiges Lehrbuch der Rhetorik, das von dem ersten Jugendunterrichte an bis zu dem Auftreten des ausgebildeten Redners enzyklopädisch alles umfassen sollte, was auch in einer der öffentlichen Beredsamkeit nicht sehr geneigten Zeit erforderlich war. Quintilian stellt an den Redner höhere sittliche Ansprüche und baut auf sittliche Grundsätze sein System des gesamten rhetorischen Wissens. Er hat weniger die zahlreichen Werke griechischer Autoren benutzt, als vielmehr sich seinem großen Meister und Vorbilde Cicero angeschlossen (VII, 3, 8: Ich wage kaum, in meiner Ansicht von Cicero abzuweichen). Daher sind die Beziehungen auf griechische Quellen (Dionysios von Halikarnaß und Cäcilius) im ganzen selten, und selbst da ist nicht immer sicher, ob er auch wirklich aus Originalen geschöpft hat; wenigstens lassen sich so die Ungenauigkeiten erklärten. Dagegen sind überall zahlreiche Belege für ein eindringendes Studium ciceronianischer Schriften vorhanden, das auch auf die Reinheit und Sauberkeit der Darstellung den besten Erfolg geübt hat.
So ist es denn nicht zu verwundern, daß dies reichhaltige Lehrbuch zu allen Zeiten großes Ansehen genossen hat und selbst im Mittelalter vielfach benutzt worden ist. Auch Friedrich der Große hat den Quintilian sehr hoch geschätzt; das beweist das Kabinettsschreiben des Königs an den Staatsminister von Zedlitz vom 6. September 1779:
„Da ich gewahr geworden, daß bei den Schul–Anstalten noch viele Fehler sind, und daß besonders in kleinen Schulen, die Rhetoric und Logic, nur sehr schlecht oder nicht gelehrt wird, dieses aber eine vorzügliche und höchst nothwendige Sache ist, die ein jeder Mensch, in jedem Stande, wissen muß, und das erste Fundament, bei Erziehung der jungen Leute sein soll, denn wer zum besten raisoniret, wird immer weiter kommen, als einer, der falsche consequences zieht, so habe euch hierdurch Meine eigentliche Willens–Meinung dahin bekannt machen wollen: wegen der Rhetoric, ist der Quintilien, der muß verdeutschet, und darnach in allen Schulen informirt werden, sie müssen die jungen Leute traductions und discourse selbst machen lassen, daß sie die Sache recht begreifen, nach der Methode des Quintilien, man kann auch Abrégé daraus machen, daß die jungen Leute, in den Schulen, alles desto leichter lernen, denn wenn sie nachher auf Universitäten sind, so lernen sie davon nichts, wenn sie es nicht aus den Schulen schon mit dahin bringen.”
Friedrich August Wolf nennt Quintilian „einen trefflichen Autor, teils der Sache, teils der herrlichen Sentiments wegen, besonders das zehnte Buch, welches eine Repetition der griechischen und römischen Literatur sei”. Das zehnte Buch bildet ein in sich abgeschlossenes Ganzes, das auch ohne speziellere Kenntnis der übrigen Bücher verständlich und von allgemeinerem Interesse ist. Vgl. Karl Eduard Güthling in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1869, S. 881 ff., und Eckstein, Lateinischer und griechischer Unterricht 1887, S. 268 f.
Der Neubearbeitung der Nicolaischen Übersetzung von Quintilians Unterricht in der Beredsamkeit, Buch X, habe ich eine Einleitung und erläuternde Anmerkungen hinzugefügt; beides hielt ich zur Förderung des Verständnisses der Schrift für nötig. Zugrunde gelegt habe ich, von einigen Änderungen abgesehen, die Ausgabe von E. Bonnell, 6. Auflage von H. Röhl, die, wie auch die Ausgabe von G. T. A. Krüger, 3. Auflage von G. Krüger, mir bei der Übersetzung und Erklärung gute Dienste geleistet hat.
Goldschmieden bei Breslau,
den 1. Juni 1926.
O. Güthling.
Die bisher angegebenen stilistischen Regeln[1] sind zwar für die Theorie unentbehrlich, tragen aber zur wirklichen Beredsamkeit wenig bei, wenn nicht jene sichere Gewandtheit hinzukommt, welche bei den Griechen ἕξιϛ heißt; ob wir diese nun in höherem Grade durch Schreiben, durch Lektüre oder durch Übung im Reden erreichen, ist, wie ich weiß, noch eine offene Frage, mit welcher wir uns eingehender zu beschäftigen hätten, wenn wir uns mit einem von diesen drei Dingen begnügen könnten. Allein sie sind alle so unzertrennlich miteinander verwachsen, daß man sich vergeblich in einem bemüht, wenn man die anderen unberücksichtigt läßt. Denn die Beredsamkeit wird weder Festigkeit noch Kraft besitzen, wenn sie nicht durch Übung im Schreiben erstarkt ist, und ohne das Vorbild der Lektüre wird wiederum jene Arbeit der rechten Ausbildung entbehren [2]. Wer aber Stoff und Form der Beredsamkeit beherrscht, die Worte jedoch nicht für alle Fälle in Bereitschaft hat, macht sich zum Wächter toter Schätze[3]. Nun wird jedoch manches – trotz seiner Notwendigkeit – für den Redner nicht gleich von vornherein große Bedeutung haben. Denn da des Redners[4] Beschäftigung im Sprechen besteht, so ist Gewandtheit hierin offenbar durchaus erforderlich und hiermit zu beginnen, darauf folgt dann die Nachahmung und endlich fleißige Beschäftigung mit Schreiben. Wie man aber einerseits die höchste Vollendung nur durch Anfangen von unten erreichen kann, so erscheint andererseits dem schon weiter Fortgeschrittenen der Anfang bereits recht unbedeutend. Wir aber führen hier nicht aus, wie der künftige Redner zu bilden ist – worüber wir schon hinlänglich oder doch so gut, wie es uns möglich war, geschrieben haben[5] –, wir haben es vielmehr mit der Frage zu tun, wie der Athlet, welcher von dem Lehrer schon durch alle Stufen hindurchgeführt ist, zum Kampfe vorbereitet werden muß. Wir wollen also einen Schüler unterrichten, welcher mit der Auffindung und Disposition des Stoffes bereits vertraut ist und sich mit der Wahl des Ausdrucks, sowie mit der Wortstellung hinreichend beschäftigt hat; dieser soll jetzt erfahren, wie das von ihm Gelernte auf die leichteste Art anzuwenden ist.
Es kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß sich der Schüler gleichsam Schätze sammeln muß, die er nach Belieben verwenden kann; diese bestehen aber in dem gehörigen Vorrat von Worten und Gedanken. Die Gedanken sind aber in jedem einzelnen Falle verschieden oder doch nur in wenigen Fällen gleich, die Worte muß er für alle in Bereitschaft haben. Wenn nun nur ganz bestimmte Worte zur Bezeichnung der einzelnen Gegenstände verwendet würden, so würde hierdurch die Arbeit sehr vereinfacht, denn die Worte würden sich dann zugleich mit den Gegenständen aufdrängen. Da aber bei verschiedener Gruppierung des Inhalts bald diese, bald jene Ausdrücke treffender oder glänzender oder wirkungsvoller oder wohlklingender erscheinen, so müssen dieselben nicht allein in vollem Umfang bekannt, sondern auch stets in Bereitschaft sein und dem Redner gleichsam vor Augen stehen, so daß er sie urteilend mustern und ihrem Werte entsprechend auswählen kann. Ich kenne Leute, welche alle gleichbedeutenden Redewendungen auswendig zu lernen pflegten, damit ihnen sofort von der ganzen Fülle eine zur Hand sei, und welche dann, sobald sie eine davon angewendet hatten, um die Wiederholung zu vermeiden, eine andere gleichbedeutende Wendung wählten, wenn kurz darauf ein ähnlicher Ausdruck notwendig war. Das ist knabenhaft und erfordert unfruchtbaren Kraftaufwand, ja es ist nicht einmal von Nutzen: man häuft so eine Menge auf, von der man dann ohne Urteil das erste beste wählt. Wir aber müssen uns einen Vorrat mit Urteil anschaffen, indem wir künftige rednerische Tüchtigkeit, nicht marktschreierische Gewandtheit im Auge haben. Dies werden wir dadurch erreichen, daß wir die besten Schriftsteller lesen und hören. Durch ein derartiges Studium lernen wir nicht nur, die Gegenstände zu bezeichnen, wir erfahren auch, welche Bezeichnung in jedem einzelnen Falle die beste ist. Denn fast alle Worte – einige wenige, welche das Schamgefühl verletzen, ausgenommen – lassen sich in der Rede anwenden. Denn wenn die Jambendichter[6] und die Dichter der alten Komödie [7] auch bei Anwendung solcher Ausdrücke sich Ruhm erworben haben, so genügt es uns, uns auf unser Fach zu beschränken. Alle Worte, mit Ausnahme der genannten, sind irgendwo ganz besonders gut verwendbar. Denn oft muß man auch gewöhnliche und volkstümliche gebrauchen; was nämlich an glänzenden Stellen durch seinen unreinen Klang verletzen würde, erscheint, wo es am Platze ist, als treffend. Um darüber ein Urteil zu gewinnen und nicht allein die Bedeutung der Worte kennenzulernen, sondern auch ihre Flexionen und Quantität der Silben, so daß wir sie überall nur an passenden Stellen anwenden, dazu müssen wir viel lesen und viel hören, wie wir ja durch das Hören von Anfang an die Sprache gelernt haben. Daher haben auch Kinder, welche auf Befehl irgendeines Königs von stummen Ammen in der Einsamkeit erzogen wurden[8], zwar einzelne Laute ausgestoßen, zusammenhängend aber nicht gesprochen.
Es gibt aber auch andersgeartete Ausdrücke, welche trotz der Verschiedenheit der Laute ein und dasselbe bezeichnen, ohne daß im Gebrauch ein Unterschied der Bedeutung fühlbar wäre, wie die beiden Ausdrücke für Schwert (ensis und gladius), andere wieder bezeichnen im eigentlichen Sinne allerdings etwas Verschiedenes, übertragen haben sie jedoch die gleiche Bedeutung, so die beiden Ausdrücke ferrum und mucro (Eisen und Spitze). Nennen wir doch mißbräuchlicherweise „Erdolcher” (sicarii) auch alle diejenigen, welche mit einer beliebigen andern Waffe einen Mord vollbracht haben. Andere Bezeichnungen gewinnen wir durch Umschreibung mit mehreren Worten. Hierher gehört pressi copia lactis, eine „Menge gepreßter Milch” (für „Butter”)[9]. Eine große Mannigfaltigkeit des Ausdrucks erhalten wir jedoch hauptsächlich durch Umgestaltungen wie scio „ich weiß”, non ignoro „ich weiß wohl”, non me fugit oder non me practerit „es entgeht mir nicht”, quis nescit? „wer weiß nicht?”, nemini dubium est „es ist keinem zweifelhaft”. Aber auch von dem Nächstliegenden kann man entlehnen. Denn intellego, sentio, video („ich verstehe, erkenne, sehe ein”) sagen oft dasselbe wie scio („ich weiß”). Reiche Fülle an solchen Ausdrücken wird uns die Lektüre geben, so daß wir dieselben nicht, wie sie uns einfallen, sondern wie es der Sinn erfordert, anwenden. Denn nicht immer haben diese Wendungen dieselbe Bedeutung, und wie ich von einer Wahrnehmung des Geistes nicht richtig sage: video „ich sehe”, so von einer sinnlichen Wahrnehmung nicht richtig: intellego „ich sehe ein”, und wie einerseits mucro „die Spitze” zu dem Begriffe gladius „das Schwert” gehört, so nicht auch andererseits „Schwert” zu dem Begriffe „Spitze”. —
Aber macht man sich auch auf diese Weise eine Menge von Ausdrücken zu eigen, so muß man doch nicht nur, um seine Wortkenntnis zu erweitern, lesen oder Zuhörer sein. Denn in allen Fächern, welche wir lehren, sind Beispiele weit wirksamer als die aufgestellten Kunstregeln, sobald der Schüler so weit gekommen ist, daß er die Beispiele ohne ein Fingerzeichen auffassen und aus eigenen Kräften befolgen kann: denn worauf der Lehrer der Beredsamkeit nur hinweisen kann, das offenbart der Redner.
Bald fühlen wir uns beim Lesen, bald beim Hören mehr angeregt. Der Redner wirkt auf unser Gemüt schon durch den lebendigen Hauch[10], durch seinen Geist, er reißt uns hin, nicht durch das Bild von einem Gegenstand, sondern durch den Gegenstand selbst. Alles hat Leben und Bewegung; das gleichsam erst Entstehende hören wir mit wachsender Teilnahme. Nicht nur der Ausgang eines Prozesses, auch die Person des Redners flößt uns Interesse ein. Dazu kommt die Aussprache, die angemessenen Bewegungen, ein den Anforderungen jeder Stelle entsprechender Vortrag – wohl das Wichtigste, alles dies ist zum Lehren in gleicher Weise geeignet.
Hingegen ist beim Lesen das Urteil weit sicherer, da es beim Hören öfter von der persönlichen Zuneigung und dem Geschrei der Menge beeinflußt wird. Eine geheime Scheu warnt uns vor zu großem Selbstvertrauen, wenn gleichzeitig selbst Fehlerhaftes der großen Menge gefällt, und die Zuhörer auch das, was ihnen mißfällt, loben. Freilich kann auch das Gegenteil eintreten, daß nämlich ein verkehrtes Urteil auch den besten Reden nicht Gerechtigkeit widerfahren läßt. Von solchen Einflüssen ist das Lesen frei und nicht, wie die Gerichtsrede, rasch vorüberrauschend, im Gegenteil läßt dasselbe eine häufigere Wiederholung zu, sei es, daß man über den Inhalt eines Werkes noch zweifelhaft ist, oder es dem Gedächtnis fester einprägen will. Ich gebe aber den Rat, das Gelesene immer und immer wieder gründlich zu behandeln; denn wie wir Speisen erst kauen und mit Speichel anfeuchten, bevor wir sie hinunterschlucken, damit sie besser verdaut werden, so soll das Gelesene nicht im rohen Zustande, sondern erst, nachdem es durch häufiges Wiederholen seine Sprödigkeit vollständig verloren hat, dem Gedächtnis zur Nachahmung eingeprägt werden.
Lange Zeit nun dürfen nur die besten Schriftsteller, welche das ihnen geschenkte Vertrauen am wenigsten täuschen, gelesen werden, und zwar muß dies mit Genauigkeit und einer sich bis auf den Buchstaben erstreckenden Sorgfalt geschehen: mit einem Durchstöbern einzelner Teile ist nichts getan, sondern das von uns gelesene Buch ist wieder ganz von vorn anzufangen, besonders wenn es sich um eine Rede handelt, deren Vorzüge häufig mit Absicht verborgen gelassen werden. Denn oft bereitet der Redner vor, verbirgt seine Ansicht, lauert auf und, was erst in der Mitte seine Wirkung tun soll, bringt er im ersten Teile vor. So gefällt es uns an seinem Platze nicht sonderlich, solange wir noch nicht wissen, warum es gesagt ist. Wir müssen es daher wiederholen, nachdem wir von allem Kenntnis genommen haben. Es ist aber von größtem Nutzen, die Prozesse zu kennen, wenn wir die zugehörigen Reden in der Hand haben, und womöglich die Gerichtsreden von beiden Parteien zu lesen: so die gegnerischen Reden von Demosthenes und Äschines[11], so die Reden des Servius Sulpicius und des Messalla[12], von denen der eine für die Aufidia, der andere gegen sie gesprochen hat, so die des Pollio und des Cassius bei Gelegenheit der Anklage des Asprenas[13] und sonst viele. Ja, wenn beide auch keineswegs von gleichem Werte sind, so wird man doch von ihnen Kenntnis nehmen müssen, um den Prozeß kennenzulernen: so ist gegen Ciceros Reden[14] die des Tubero gegen Ligarius und die des Hortensius für Verres zu halten. Auch wird man mit Nutzen untersuchen, wie verschiedene Leute den gleichen Prozeß geführt haben. So hat über das Haus Ciceros Calidius[15] gesprochen, und Brutus für Milo eine Rede zur Übung verfaßt, wenn auch Cornelius Celsus[16] irrigerweise annimmt, er habe sie auch gehalten. Pollio und Messalla haben dieselben Personen verteidigt, und in meiner Jugend waren glänzende Reden von Domitius Afer[17], Crispus Passienus[18] und Decimus Lälius[19] für Volusenus Catulus[20] im Umlauf.
Auch soll man beim Lesen nicht von vornherein der Überzeugung sein, daß alles, was die hervorragendsten Schriftsteller gesagt haben, unter allen Umständen vollkommen sei. Auch sie straucheln ab und zu, sie erliegen der Last, sie zeigen sich nachgiebig gegen die Willkür ihres Genies, auch sie sind nicht immer in voller Anspannung und werden müde; scheint doch dem Cicero[21] ein Demosthenes und dem Horaz selbst sogar Homer manchmal zu schlafen. Denn, wie hoch sie auch stehen, sie sind doch Menschen, und denjenigen, welche in jedem ihrer Worte das Gesetz der Beredsamkeit ausgedrückt finden, passiert es gar oft, daß sie die schwächeren Partien nachahmen (das ist nämlich leichter) und die höchste Stufe der Ähnlichkeit erreicht zu haben glauben, wenn sie den Großen ihre Fehler abgesehen haben. Gleichwohl muß man ein Urteil über so große Männer in bescheidener und besonnener Weise aussprechen, um nicht – was so häufig geschieht – das zu tadeln, was man nicht versteht. Und wenn man einmal nach einer Seite hin irren muß, dann möchte ich noch lieber, daß ihren Lesern alles gefalle, als daß ihnen vieles mißfalle.
Von höchstem Nutzen für den Redner, behauptet Theophrast[22], sei das Lesen der Dichter, ein Urteil, dem sich viele anschließen. Und das mit Recht. Denn bei ihnen kann man den hohen Gedankenflug, Erhabenheit im Ausdruck, mannigfache Bewegung im Affekte und angemessene Behandlung der Charaktere erwerben. Besonders sind es die durch tägliche Anwaltstätigkeit auf dem Forum abgenutzten Talente, welche durch die Süßigkeit der Poesie ihre Frische wiederfinden, und das ist der Grund, weshalb Cicero meint[23], man müsse in dem Lesen der Dichter Erholung suchen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß der Redner nicht in allen Stücken dem Dichter folgen darf, nicht in der freien Wahl der Worte und der Ungebundenheit der Konstruktionen. Die Poesie ist der Darstellung des schönen Scheins gewidmet, und sie hat – abgesehen davon, daß sie nur dem Genusse dient und diesem Ziele zustrebt, indem sie Nichtwirkliches, ja sogar Nichtglaubliches darstellt – auch darin einen besonderen Schutz, daß sie, gebunden an die Gesetze der Metrik, nicht immer den treffendsten Ausdruck benutzen kann, sondern gezwungen ist, von dem geraden Wege abweichend auf gewisse Auswege im Ausdruck zu verfallen, wobei nicht allein einzelne Worte mit anderen vertauscht werden müssen, sondern auch Verlängerungen, Verkürzungen, Umstellungen und Teilungen einzutreten haben. Doch wir (Redner) müssen kampfgerüstet im Felde stehen, über die wichtigsten Dinge entscheiden und nach dem Siege streben. Dann dürfen freilich die Waffen durch langes Liegen und Rosten nicht leiden, sondern sie müssen einen schreckenverbreitenden Glanz haben, wie es der des blinkenden Stahles ist, welcher Sinn und Auge blendet, nicht wie es der des Goldes und Silbers ist, welcher – unkriegerisch, wie er ist – dem Besitzer eher Schaden als Nutzen bringt.
Auch die Geschichtswerke, wie sie in breitem, erfreulichem Strom dahinfließen, können dem Redner Nahrung zuführen; allein auch sie muß man mit dem Bewußtsein lesen, daß die meisten ihrer Vorzüge für den Redner Fehler bedeuten. Denn die Geschichte steht der Poesie[24] sehr nahe, und was sie bietet, ist gewissermaßen ein Gedicht in ungebundener Sprache, ihr Zweck ist Erzählung, nicht aber Beweise zu geben, und ihr ganzes Ziel richtet sich nicht auf gerichtliche Tätigkeit oder auf eine Kampfbereitschaft für den Augenblick, sondern ihre Werke werden verfaßt der Nachwelt zum Gedächtnis, dem Verfasser zum Ruhm. Deshalb muß sie durch seltenere Ausdrücke und freiere Konstruktionen Abwechslung in die Darstellung zu bringen suchen. Daher müssen wir (die Redner) dem Richter gegenüber, der von vielerlei Gedanken eingenommen und häufig auch ungebildet ist, nicht, wie gesagt[25], nach der Kürze des Sallust greifen, die dem Ohre des unbeschäftigten und gebildeten Zuhörers in so hohem Grade vollkommen erscheint, ebensowenig wird der Richter, dem es nicht sowohl auf den Glanz der Darstellung als auf die Zuverlässigkeit des Gesagten ankommt, bei einem Redner von der reinen, gesunden Fülle des Livius hinreichend Aufklärung finden. Deshalb hält M. Tullius[26] nicht einmal Thukydides oder Xenophon zur Ausbildung des Redners für nützlich, obwohl er von dem einen sagt, daß er „die Kriegstrompete blase”, von dem andern, daß „die Musen durch seinen Mund gesprochen hätten”. Gleichwohl dürfen wir bei Abschweifungen auch diesen der Geschichtschreibung eigenen Glanz anwenden, nur müssen wir wohl im Gedächtnis haben, daß wir für unsere Gerichtsreden nicht Athletenmuskeln, sondern Soldatenarme brauchen, und wir dürfen nicht meinen, daß das bunte Gewand, dessen Demetrius aus Phaleron sich, wie man sagt, bediente, in dem Staub des Forums wohl angebracht sei. Noch in anderer Beziehung kann man Nutzen, der gar nicht unbedeutend ist, aus der Lektüre der Historiker ziehen – das gehört allerdings nicht hierher –, nämlich indem man Kenntnis der Tatsachen und Beispiele erhält, mit denen der Redner hauptsächlich ausgestattet sein muß, damit er in seinen Zeugnissen nicht auf den Prozeßführenden angewiesen ist, sondern die Hauptmenge derselben mit sorgfältiger Auswahl dem Altertum entnehmen kann; diese eignen sich um so besser dazu, als sie von dem Vorwurf der Parteilichkeit frei sind.
Wenn aber die Redner von der Lektüre der Philosophen vielfach abhängig waren, so geschah das zu ihrem Schaden, da sie jenen doch selbst in den besten Teilen ihrer Reden nachstanden. Denn über das Rechte, Gute und Nützliche und die entgegengesetzten Begriffe reden sie hauptsächlich, auch sind ihre Beweisführungen scharf, und in Rede und Gegenrede können die Sokratiker[27] den künftigen Redner vorzüglich bilden; aber auch für sie gilt das gleiche Urteil. Wir müssen uns nämlich darüber klar sein, daß selbst, wenn wir über die gleichen Gegenstände sprechen, ein großer Unterschied zwischen Gerichtsrede und wissenschaftlicher Untersuchung, zwischen Forum und Hörsaal, Prozeß und gelehrter Vorschrift besteht.
Da wir nun der Meinung sind, daß ein so großer Nutzen in der Lektüre liege, so werden, glaube ich, die meisten fordern, daß wir auch das in unser Werk aufnehmen, welche Schriftsteller gelesen werden sollen, und worin der besondere Vorzug der einzelnen Autoren besteht. Aber jeden für sich zu behandeln, würde eine Arbeit von endloser Ausdehnung sein. Wenn nämlich M. Tullius im Brutus in so viel tausend Zeilen nur über die römischen Redner spricht und dennoch über alle seiner Zeit angehörige, mit denen zusammen er lebte, mit Ausnahme des Cäsar und Marcellus[28] Stillschweigen beobachtet, wo wird da ein Ende zu finden sein, wenn ich jene und die, welche später gelebt haben, und sämtliche Griechen durchgehe? Daher war jene kurze Anweisung, welche sich in dem Briefe des Livius an seinen Sohn findet[29], die kürzeste und sicherste: nämlich man solle Demosthenes und Cicero lesen und die anderen, je nachdem sie Demosthenes oder Cicero ähnlich wären. Das ist zweifellos die Quintessenz auch unseres Urteils. Denn nur wenige oder vielmehr kaum einer von denen, welche aus dem Altertum zu uns herübergerettet sind, wird sich finden, der mit richtigem Urteil gelesen nicht einigen Nutzen bringen wird; wie denn auch Cicero bekennt, von jenen Schriftstellern des Altertums, die bei all ihrem Geist der Kunst entbehren, sehr viel gelernt zu haben. Und nicht viel anders urteile ich über die neueren. Denn wer hofft nicht, wenn auch nur für den kleinsten Teil seines Werkes, ein Gedenken der Nachwelt? Sollte es wirklich einen solchen geben, so werden wir ihn gleich bei der Lektüre der ersten Zeilen erkennen und ihn dann so rasch aus der Hand legen, daß uns das Experiment keinen großen Zeitverlust kostet. Aber nicht das, was für einen beliebigen Teil unserer Wissenschaft Bedeutung hat, ist in gleicher Weise auch zur Bildung des rednerischen Ausdrucks, wovon wir hier sprechen, geeignet.
Bevor wir uns jedoch auf das einzelne einlassen, müssen wir erst einiges Allgemeine über die verschiedenen Ansichten vorausschicken. Einige nämlich meinen, daß man nur die Alten lesen müsse, und urteilen, daß in allen anderen nicht die natürliche Beredsamkeit und männliche Kraft sei; andere entzückt das Pikante und Üppige des Modernen und die Kunst, mit der sie die Lust der unerfahrenen Menge zu erregen wissen. Auch von denen, welche den rechten Weg zur Beredsamkeit verfolgen wollen, halten die einen nur das Knappe und Dürftige und der Verkehrssprache Nahestehende für das Gesunde und in Wahrheit Attische, während andere für einen höheren Geistesflug und für eine erregtere, geistvollere Schreibweise eingenommen sind; auch gibt es nicht wenige Liebhaber des milden, glänzenden und blühenden Stils. Über diesen Unterschied will ich ausführlicher reden, wenn ich die Schreibweise untersuchen werde; unterdessen will ich in großen Zügen andeuten, welche Lektüre diejenigen wählen müssen, welche sich eine sichere Fähigkeit in der Redekunst erwerben wollen; einige nämlich – und gerade die hervorragendsten – will ich herausgreifen. Es ist dann für die aufmerksamen Leser leicht zu beurteilen, welche den von mir genannten am nächsten stehen; es möge sich daher keiner beklagen, daß ich vielleicht einige übergangen habe, die seinen besonderen Beifall finden; denn das gebe ich zu, daß eine größere Anzahl gelesen werden muß, wie ich nennen werde. Jetzt will ich aber die verschiedenen Arten der Lektüre durchgehen, die ich für die, welche sich dem Rednerberuf widmen wollen, für nützlich halte.
Wie also Aratus[30] mit Jupiter anfangen zu müssen glaubt, so werden wir geziemend mit Homer beginnen. Denn wie dieser selbst sagt, daß dem Ozean aller Flüsse und Quellen Lauf entspringe [31], so ist er Muster und Ursprung für alle Arten der Beredsamkeit. Ihn dürfte niemand in Behandlung eines bedeutenden Stoffes durch Erhabenheit, der Schilderung alltäglicher Vorgänge durch Schlichtheit des Ausdrucks übertreffen. Er ist zugleich blühend und kurz, lieblich und ernst, bald durch seine Fülle, bald durch seine Kürze bewundernswert und nicht nur als Dichter, sondern auch als Redner hervorragend. Denn um hier über diejenigen seiner Reden, welche Worte des Lobes, der Ermahnung, des Trostes enthalten, zu schweigen: entwickelt nicht das neunte Buch, welches die Gesandtschaft an Achilles enthält, oder der in dem ersten Buche erzählte Streit der Führer oder die im Rate gehaltenen Reden des zweiten Buches alle Kunstregeln, die in Prozessen und Ratsversammlungen angewendet werden? Daß dieser Dichter milde und erregte Leidenschaften in seiner Hand gehabt habe, wird auch der Ungebildetste nicht leugnen. Weiter, hat er nicht in dem Eingang seiner beiden Werke in wenigen Versen das für Anfänge gültige Gesetz, ich sage nicht beobachtet, sondern auch aufgestellt? Denn er macht sich den Hörer geneigt durch die Anrufung der Göttinnen, welche, wie man glaubt, die Beschützerinnen der Sänger sind, er erweckt die Aufmerksamkeit desselben, indem er die Größe des Gegenstandes vor Augen stellt, und er führt ihn in das Verständnis ein, indem er die Hauptsachen kurz zusammenfaßt. Wer aber könnte kürzer erzählen, als der Bote, welcher den Tod des Patroklus meldet[32], wer anschaulicher als der, welcher die Schlacht zwischen den Kureten und Ätolern berichtet[33]? Auch die Gleichnisse, Steigerungen, Beispiele, Abschweifungen, Bezeichnungen der Gegenstände und Beweise, sowie die übrigen Arten von Beweisführung und Widerlegung sind so mannigfaltig, daß auch die, welche über die „Künste” geschrieben haben, die meisten Beispiele diesem Dichter entnehmen. Endlich welcher Epilog ließe sich wohl vergleichen mit den Bitten des den Achill anflehenden Priamus[34]? Geht Homer nicht überhaupt in Worten, Sentenzen, Figuren und in der Anlage des ganzen Werkes über das dem menschlichen Geiste gesteckte Maß hinaus? So ist es schon etwas Großes, nicht: seine Vorzüge nachzuahmen – denn das ist unmöglich, aber sie mit Verständnis zu erfassen. Er aber läßt zweifellos alle in jeder Art der Beredsamkeit weit hinter sich, besonders die Epiker, eben weil eine Vergleichung in einem ähnlichen Gegenstand am deutlichsten wird. Ganz selten reicht an ihn heran Hesiod[35], dessen Gedicht zum großen Teil mit Namen angefüllt ist. Gleichwohl sind seine Sentenzen wegen der in ihnen enthaltenen Vorschriften von Wert. Ebenso verdient die Leichtigkeit der Wortfügung und Komposition Billigung, und ihm muß der Preis in der mittleren Stilgattung[36] zuerkannt werden. Bei Antimachus[37] dagegen wirbt die Kraft und Würde und das über das Gewöhnliche Erhabene des Ausdrucks um Beifall. Aber obwohl ihm die Gelehrten fast übereinstimmend den zweiten Rang zuerkennen, so fehlt es ihm doch so sehr an Schwung, Lieblichkeit, guter Anordnung und überhaupt an Kunst, daß es ein deutliches Beispiel dafür ist, daß „an zweiter Stelle stehen” und „ebenbürtig” sein etwas sehr Verschiedenes ist. Panyasis[38], der von beiden etwas hat, erreicht, wie man meint, in der Rede die Vorzüge beider nicht, den einen übertrifft er jedoch in der Wahl des Stoffes, den andern in der Anordnung. Apollonius[39] ist in den von den Grammatikern aufgestellten Kanon nicht gekommen, weil Aristophanes und Aristarch[40] keinen ihrer Zeitgenossen darin aufgenommen haben, er hat jedoch ein nicht zu verachtendes Werk verfaßt von einem gewissen gleichmäßigen Fluß. Dem Stoff des Aratus[41] fehlt das bewegende Moment, da keine Abwechslung, keine Leidenschaft, keine Person, keine Rede von irgend jemand darin vorkommt. Seine Kräfte reichen jedoch für das Werk aus, dem er sich gewachsen gefühlt hat. Bewundernswert ist in seiner Art Theokrit [42]; aber jene ländliche Hirtenmuse meidet nicht nur scheu das Forum, sondern selbst auch die Stadt. Doch ich glaube von allen Seiten mir Namen verschiedener Dichter zurufen zu hören. Wie? Hat Pisander[43] nicht die Taten des Herakles schön besungen? Und sind dem Nikander [44], Macer[45] und Vergil[46] umsonst gefolgt? Wie? Sollen wir den Euphorion[47] übergehen? Hätte derselbe nicht den Beifall des Vergil gefunden, so würde dieser es gewiß nicht in den Eklogen des mit chalkidischem Verse geschmückten Gedichtes gedacht haben[48]. Wie? Stellt Horaz[49] ohne Grund den Tyrtäus[50] dem Homer an die Seite? Und doch steht gewiß keiner der Kenntnis dieser Dichter so fern, daß er nicht leicht ein Verzeichnis derselben aus einer Bibliothek entlehnen und seiner Bibliothek einverleiben könnte. Ich weiß daher recht wohl, welche ich übergehe, und verwerfe sie keineswegs, da ich gesagt habe, sie wären alle von Nutzen. Aber zu jenen werden wir erst zurückkehren, wenn die Kraft schon ausgebildet und gefestigt ist, sowie wir uns bei großen Gastmählern oft der Abwechslung wegen zu den geringen Speisen wenden, nachdem wir uns an den besten gesättigt haben. Dann werden wir auch Zeit finden, die Elegie zur Hand zu nehmen, für deren bedeutendsten Vertreter Kallimachus[51] gilt. Den zweiten Platz nimmt auf diesem Gebiete nach der Meinung der meisten Philetas[52] ein. Aber bis wir diese mit Leichtigkeit verbundene Festigkeit, von der ich gesprochen habe, erreicht haben, müssen wir uns an die besten Schriftsteller gewöhnen und den Geist mehr durch vieles Lesen als durch das Lesen vieler bilden und Kolorit gewinnen lassen. So wird von den drei[53] durch das Urteil des Aristarch aufgenommenen Jambendichtern zur Erlangung der ἕξις (Fertigkeit des Stils) hauptsächlich Archilochus nur beitragen. Dieser besitzt die größte Kraft des Ausdrucks, kurze, kräftige und blitzende Gedanken, viel Blut und Nerven, so daß einige meinen, wenn er manchmal weniger bedeutend erscheine, so sei das eine Folge des Stoffes, nicht seines Talentes. Von den neun lyrischen Dichtern[54] ist bei weitem der hervorragendste Pindar durch den prachtvollen Schwung seines Geistes, seine Sentenzen und Figuren und durch einen äußerst glücklichen Reichtum an Gedanken und Figuren, den man mit der Fülle eines Stromes vergleichen könnte; daher glaubt Horaz[55] mit Recht, es könne ihn keiner nachahmen. Wie geistesgewaltig Stesichorus[56] ist, zeigen schon seine Stoffe, wenn er große Kriege und berühmte Führer besingt und die Last epischer Stoffe mit der Lyra bewegt. Er verleiht nämlich den Personen im Handeln und Reden die nötige Würde, und würde, wenn er nur Maß gehalten hätte, am nächsten an Homer heranreichen, aber er leidet an übertriebener Breite und fließt über, was zwar zu tadeln ist, jedoch als ein Fehler, der aus innerem Reichtum entsprungen ist. Alcäus[57] wird für einen Teil seines Werkes[58] nicht mit Recht mit dem goldenen Plektron beschenkt, da nämlich, wo er bei Verfolgung der Tyrannen[59] auch zur Stärkung des sittlichen Gefühls beiträgt, und wo er in der Rede kurz, großartig und an Gewalt der Worte hauptsächlich einem Redner ähnlich ist; aber er versteht auch zu scherzen und sich zu Liebesgetändel herbeizulassen; für erhabenere Stoffe ist er jedoch geeigneter. Der sonst schlichte und einfache Simonides[60] kann doch wegen des Treffenden seines Ausdrucks und einer gewissen Anmut empfohlen werden; besonders besteht sein Vorzug in Erregung des Mitleids, so daß einige in dieser Beziehung ihn allen Schriftstellern, welche derartige Gegenstände behandelt haben, vorziehen.
Die alte Komödie bewahrt die echte Grazie der attischen Sprache fast allein, besonders aber besitzt sie auch eine redselige Freimütigkeit und ist in Verfolgung des Lasters von vorzüglicher Schärfe; jedoch auch in den anderen Beziehungen besitzt sie sehr viel Kraft. Denn sie ist erhaben, gewählt und anmutig, und es steht vielleicht kein poetisches Erzeugnis – abgesehen von Homer, den man wie Achill immer ausnehmen muß – der Redekunst näher oder ist mehr geeignet, Redner heranzubilden. Es gibt eine größere Anzahl von Dichtern dieser Gattung; Aristophanes jedoch, Eupolis und Kratinus sind die bedeutendsten[61].
Tragödien hat zuerst geschaffen Äschylus[62], der erhaben und ernst und gewichtig, häufig bis zur Fehlerhaftigkeit, aber meist auch ungeschliffen und ungeordnet ist. Daher haben die Athener den späteren Dichtern erlaubt, seine Dramen in verbesserter Gestalt[63] in den Wettkampf zu bringen, und auf diese Weise sind viele mit dem Preis gekrönt worden. Aber viel glänzender sind die Leistungen des Sophokles und Euripides[64] auf diesem Gebiete: wer von diesen beiden – bei dem eigentümlichen Wege, den ein jeder von ihnen eingeschlagen hat – der bessere Dichter sei, ist eine vielbesprochene Streitfrage. Ich nun beantworte diese Frage, welche mit dem gegenwärtig behandelten Stoffe nichts zu tun hat, nicht. Das jedoch muß jeder zugeben, daß für die, welche sich auf eine rednerische Tätigkeit vorbereiten, Euripides von viel größerem Nutzen sein wird. Denn er nähert sich in seiner Ausdrucksweise (welche natürlich von den Leuten getadelt wird, denen der Ernst, die Erfahrenheit und der Klang der Sophokleischen Verse erhabener erscheint) mehr der Manier des Redners, reich an Sentenzen, wie er ist, und den Weisen verwandt in den Aussprüchen, welche von jenen überliefert sind, und in Rede und Gegenrede jedem von denen vergleichbar, welche auf dem Forum für beredt gegolten haben, bewundernswert aber besonders in der Darstellung aller Affekte, und wohl unübertroffen in der Zeichnung der Mitleid erregenden. Ihn hat nach seinem eigenen Zeugnis in hohem Grade bewundert und – allerdings auf einem andern Gebiete – nachgeahmt Menander[65], welcher schon allein, meiner Ansicht nach wenigstens, fleißig gelesen, zur Ausbildung alles dessen, was wir vorschreiben, hinreichen würde; eine so glückliche Erfindungsgabe und Redegewalt besitzt er, so beherrscht er alle Verhältnisse, Personen, Affekte. Etwas Richtiges haben daher gewiß die gesehen, welche glauben, daß die dem Charisius[66] zugeschriebenen Reden von Menander verfaßt seien. Aber mir scheint Menander als Redner weit mehr Billigung als in seinen dichterischen Werken zu verdienen, was mir jeder zugeben wird, wenn er nicht etwa die Gerichtsreden, welche „Epitrepontes”, „Epikleros” oder „Locroe” enthalten, für schlecht erklären, oder behaupten will, die außergerichtlichen Reden in „Psophodee”, „Nomothetes”, „Hypobolimäus” seien nicht in jeder Beziehung vollendete rednerische Meisterwerke. Ich glaube jedoch, daß er von um so größerem Vorteil für die Kunstredner sein wird, weil diese jeder Lage der Streitfrage entsprechend mehrere Rollen übernehmen müssen, von Vätern und Söhnen, von Soldaten und Bauern, von Reichen und Armen, von Zornigen und Abbittenden, von Sanftmütigen und Rauhherzigen. In allen diesen Rollen wird von unserem Dichter ein bewundernswerter Takt beobachtet. Er hat allen Dichtern dieser Gattung den Ruhm vorweggenommen und sie alle durch den Glanz seiner Berühmtheit verdunkelt. Gleichwohl bieten auch andere Komiker, wenn sie mit Nachsicht gelesen werden, manches Nachahmenswerte, besonders Philemon[67], welcher zwar verkehrterweise in dem Urteil seiner Zeitgenossen oft dem Menander vorgezogen wurde, immerhin aber dem allgemeinen Urteil zufolge für den zweiten zu gelten verdient.
Geschichte haben viele vortrefflich geschrieben; zwei jedoch scheinen zweifellos vor allen übrigen durchaus den Vorrang zu verdienen, deren Vorzüge trotz ihrer Verschiedenheit fast in gleicher Weise Lob geerntet haben. Gedrängt, kurz und sich selber in Zucht haltend ist Thukydides[68]; angenehm, durchsichtig und von einer gewissen Breite Herodot[69], jener ist in Darstellung von heftigen Affekten, dieser in der Schilderung milder Regungen vorzüglicher, jener ist für die öffentliche Rede, dieser für das Privatgespräch vorbildlich, Thukydides wegen seiner Gewalt, Herodot wegen seiner Liebenswürdigkeit bewundernswert. Theopomp[70] steht diesen am nächsten, in der Geschichtschreibung zwar weniger bedeutend, wie die genannten, einem Redner aber näher verwandt, da er lange Redner war, bevor er zu diesem Werk sich entschloß. Auch Philistus[71] verdient nach diesen der Schar der guten Schriftsteller beigezählt zu werden als Nachahmer des Thukydides, der zwar bedeutend weniger kraftvoll, aber auch viel klarer als sein Vorbild ist. Ephorus[72] bedarf nach Ansicht des Isokrates der Sporen. Bei Clitarch[73] lobt man das Talent, zieht aber seine Glaubwürdigkeit in Frage. Der lange Zeit nachher lebende Timagenes[74] verdient schon deshalb Beachtung, weil er die unterbrochene Tätigkeit auf dem Gebiete der Geschichtschreibung mit neuem Ruhme wieder aufgenommen hat. Xenophon habe ich nicht zu erwähnen vergessen; er muß aber unter den Philosophen aufgeführt werden[75].
Es folgt nun die große Schar der Redner, da ja bekanntlich zu Athen in einem Zeitalter zehn gelebt haben[76]. Unter diesen war bei weitem der hervorragendste und beinahe der Maßstab für jede rednerische Tätigkeit Demosthenes[77]: eine solche Gewalt besitzt er, so gedrängt ist bei ihm alles, so gleichsam mit Muskeln umkleidet und frei von überflüssigen Zutaten und so maßvoll, daß man kein fehlendes und kein überflüssiges Wort bei ihm entdecken kann. Von größerer Fülle und Breite und erhabenerer Ausdrucksweise ist Äschines[78] in demselben Maße, wie er Demosthenes nachsteht an Kraft und Knappheit; er hat mehr Fleisch und weniger Muskeln. Besonders anmutig und geistreich ist Hyperides[79], aber er ist einem weniger bedeutenden Vorwurf mehr gewachsen, um nicht zu sagen, für einen solchen mehr begabt. Der Zeit nach geht ihm Lysias[80] voraus, welcher scharfsinnig und geschmackvoll ist und überaus vortrefflich, wenn es für einen Redner genug ist, zu belehren; denn bei ihm ist nichts Phrase, nichts Gesuchtes – doch ist er einer reinen Quelle ähnlicher wie einem mächtigen Strome. Isokrates[81], der in den verschiedenen Gattungen der Rede glänzend und geschmückt und der für die Ringschule besser als für den Kampf geeignet ist, erstrebt jeden nur möglichen Reiz des Ausdrucks, und das mit Recht. Für Hörsäle ist er gerüstet, nicht aber für Gerichtsverhandlungen. In der Erfindung voll Leichtigkeit, voll Eifer für das Wohlanständige, in dem Ausbau so sorgfältig, daß seine Sorgfalt Tadler gefunden hat. Ich glaube nun nicht, daß die von mir besprochenen Redner nur gerade diese Vorzüge besessen haben, wohl aber, daß diese ihre hervorragendsten gewesen sind; ferner bestreite ich nicht, daß auch andere bedeutend gewesen sind. Ja, ich gebe zu, daß Demetrius von Phaleron[82], obwohl er zuerst die Beredsamkeit heruntergebracht hat, viel Talent und Redegewandtheit besessen hat, wie er auch deswegen der Erwähnung wert ist, weil er von den Attikern ungefähr der letzte ist, welcher den Namen eines Redners verdient, und da ihn Cicero in der mittleren Art der Beredsamkeit allen anderen vorzieht.
Ich komme zu den Philosophen, aus welchen M. Tullius für die Beredsamkeit sehr viel gewonnen zu haben behauptet; wer zweifelt, daß unter ihnen besonders Plato[83] durch die Schärfe seiner Schlußfolgerungen sowie durch eine Art göttlicher und homerischer Beredsamkeit den Vorrang verdient? Denn vieles geht hinaus über die Prosa, welche die Griechen als eine „Rede zu Fuße” bezeichnen, so daß er mir nicht von einem menschlichen Geiste beseelt, sondern gleichsam durch das Delphische Orakel beseelt erscheint.
Was soll ich die Anmut des Xenophon [84] erwähnen, die frei ist von jeder Affektation und durch keine solche zu erreichen? Scheinen doch die Grazien selbst seine Sprache gebildet zu haben, und man könnte auf ihn mit Recht das übertragen, was die alte Komödie über Perikles bezeugt: „Auf seinen Lippen habe die Göttin der Überredung gethront.” Wozu soll ich an die Eleganz der übrigen Sokratiker erinnern, wozu an Aristoteles[85]? Muß man doch bei ihm zweifeln, ob er sich durch seine wissenschaftlichen Kenntnisse oder durch die Menge seiner Schriften oder durch die Kraft und Milde seiner Beredsamkeit oder durch den Scharfsinn seiner Neuerungen oder durch die Mannigfaltigkeit seiner Werke einen größeren Ruhm erworben hat.
Theophrast[86] aber besitzt in so hohem Grade jenen göttlichen Glanz der Rede, daß er davon auch seinen Namen erhalten haben soll. Weniger Wert auf die Beredsamkeit legten die alten Stoiker; aber auf der einen Seite sind ihre Vorschriften von sittlichem Gehalt, und auf der andern Seite sind sie in Sammlung von Beispielen und Beweismitteln für ihre Vorschriften besonders stark, jedoch mehr scharfsinnig in Verwendung der Tatsachen, wie glänzend in der Darstellung – ein Vorzug übrigens, nach welchem sie nicht strebten.
Die gleiche Anordnung, wie bei der Durchmusterung der griechischen Schriftsteller, werden wir auch bei der Behandlung der römischen innehalten.
Wie also bei jenen Homer, so wird bei uns Vergil[87] die beste Bürgschaft für einen glückverheißenden Anfang bieten, er, der von allen Dichtern dieser Gattung, von griechischen sowohl wie von unseren, ihm unstreitig am nächsten steht. Ich möchte in bezug auf ihn dieselben Worte gebrauchen, die ich als junger Mann von Domitius Afer[88] gehört habe, der mir auf meine Frage, wer seiner Meinung nach dem Homer am nächsten käme, antwortete: „An zweiter Stelle steht Vergil, so jedoch, daß er dem ersten Platze näher als dem dritten steht.” Und in der Tat, mag er auch – und mit ihm unsere Nation – dem himmlischen und unsterblichen Genie jenes nachstehen, so besitzt er doch um so mehr Sorgfalt und Fleiß schon deshalb, weil er sich mehr abmühen mußte; wieweit wir daher auch an hervorragender Kraft den Griechen nachstehen mögen, so gleichen wir doch diesen Mangel vielleicht durch Gleichmäßigkeit wieder aus. Alle übrigen folgen erst weit später. Denn Macer[89] und Lucretius[90] soll man zwar lesen, aber nicht um seinen Stil zu bilden, d. h. einen festen Grund für die Beredsamkeit zu legen, da sie zwar beide auf ihrem Gebiete elegant sind, der eine aber gewöhnlich, der andere schwierig im Ausdruck. Der Ataciner Varro[91] ist in dem Werke, durch welches er einen berühmten Namen erlangt hat, Übersetzer, zwar schätzenswert als solcher, aber zur Bildung der Beredsamkeit nicht reich genug. Den Ennius [92] wollen wir verehren wie einen durch sein Alter ehrwürdigen Hain, in dem gewaltige und uralte Eichen weniger ästhetisches Wohlgefallen wachrufen als heilige Scheu. Andere stehen uns näher und sind für den in Rede stehenden Zweck wichtiger. Voll Schelmerei ist zwar auch in seinen epischen Gedichten Ovid[93] und voll Bewunderung für das eigene Genie, aber in einzelnen Partien verdient er doch Lob. Wenn aber für Cornelius Severus[94] auch gilt, daß er mehr ein geschickter Verskünstler[95] als ein guter Dichter ist, so würde er doch mit Recht den zweiten Platz in Anspruch nehmen, wenn er nach dem Muster des ersten Buches den Sizilischen Krieg zu Ende geschrieben hätte. Den Serranus[96] ließ ein frühzeitiger Tod nicht zur vollen Entwicklung kommen; die Werke aus seiner frühesten Jugendzeit verraten jedoch sowohl eine außerordentliche Begabung als auch ein für dieses Alter bewundernswertes Streben nach richtiger Schreibart. Einen großen Verlust hatten wir kürzlich durch den Tod des Valerius Flaccus[97]. Voll jugendlicher Heftigkeit war auch die poetische Anlage des Saleius Bassus[98], welche auch in seinem Greisenalter nicht zur Reife gelangt ist. Auch Rabirius und Pedo[99] verdienen gelesen zu werden, wenn Zeit dazu vorhanden ist. Lucanus[100] ist feurig, schwungvoll und reich an wertvollen Gedanken, aber er verdient, um mich frei auszusprechen, mehr von den Rednern als von den Dichtern nachgeahmt zu werden. Soviel epische Dichter haben wir aufgezählt; den Germanicus Augustus[101] haben wir übergangen, weil ihn von den begonnenen dichterischen Bemühungen die Sorge für Länder und Völker abrief, und es den Göttern nicht gefallen hat, ihn zu dem größten Dichter zu machen. Was jedoch übertrifft die Werke, in denen der Jüngling Erholung von Regierungssorgen suchte, an Erhabenheit, feiner Bildung und Vorzügen jeder Art? Wer hätte auch Kriege besser besingen können, als ein Feldherr, der sie so geführt hat? Wem hätten die Kunst beschützenden Göttinnen ein willigeres Ohr leihen sollen? Wem hätte die befreundete Gottheit der Minerva lieber ihre Kunst offenbaren sollen? Es werden dies künftige Jahrhunderte mit größerer Fülle preisen, jetzt wird sein Ruhm auf diesem Gebiete durch den Glanz seiner übrigen Tugenden verdunkelt. Uns jedoch, die wir das Heiligtum der Poesie verehren, wirst du, Cäsar, verzeihen, wenn wir darüber kein Stillschweigen beobachten, sondern mit den Worten Vergils bekennen:
„Daß unter siegendem Lorbeer hindurch sich dir schlinge der Efeu[102].”
Auch in der Elegie nehmen wir es mit den Griechen auf, für deren reinsten und elegantesten Vertreter ich den Tibull[103] halte; manche ziehen den Properz[104] vor. Ausgelassener als beide ist Ovid, strenger Gallus[105].
Die Satire freilich gehört uns vollständig an. — In ihr hat sich zuerst Lucilius[106] hohen Ruhm erworben, er, der bis auf den heutigen Tag so ergebene Bewunderer hat, daß sie kein Bedenken tragen, ihn nicht allein den auf dem gleichen Gebiete tätigen Schriftstellern vorzuziehen, sondern allen Dichtern überhaupt. Ich bin von der Meinung dieser ebenso weit entfernt, wie von der des Horaz, welcher die Rede des Lucilius einem schlammigen Bache vergleicht und behauptet, sie enthalte überflüssige Zutaten. Denn er besitzt eine wunderbare Bildung und hohen Freimut und Schärfe und reichen Witz. Viel geglätteter und reiner ist Horaz[107] und, wenn ich nicht durch zu große Vorliebe für ihn bestochen werde, von hoher Vollendung. Vielen berechtigten Ruhm hat sich auch allerdings durch ein einziges Buch Persius[108] verdient. Auch in der Gegenwart gibt es bedeutende Schriftsteller auf diesem Gebiete, die sicher einen Namen haben werden. Eine andere Art von Satire, die ihr buntes Aussehen nicht durch die Anzahl verschiedener Rhythmen erhält, hat Terentius Varro[109] geschaffen, der gelehrteste von allen Römern. Er hat eine große Anzahl sehr gelehrter Werke verfaßt und sich als ein Meister der lateinischen Sprache und ein Kenner der Altertümer jeder Gattung und der griechischen Geschichte sowohl als der unsrigen gezeigt, jedoch ist er von höherem Werte für die Wissenschaft als für die Beredsamkeit. Der Jambus als besondere Gattung ist von den Römern nicht sehr kultiviert worden, sondern von wenigen in Sammlungen anderer Gedichte eingereiht worden; seine Schärfe wird man finden bei Catull[110], Bibaculus[111], Horaz, obwohl bei jenem der epodische (ein kürzerer) Vers eingelegt ist. Von den lyrischen Dichtern ist aber Horaz fast der einzige, welcher gelesen zu werden verdient [112]; denn zuweilen steigt er an bis zum Erhabenen und ist voll Anmut und Grazie und voll Abwechslung in den Wendungen und im Ausdruck mit dem glücklichsten Erfolge kühn. Will man noch einen hinzunehmen, so wird es der kürzlich gestorbene Cäsius Bassus[113] sein, aber ihn übertreffen bei weitem an Genie die Lebenden.
Von tragischen Dichtern aus der alten Zeit wirken Attius und Pacuvius[114] durch das Gewicht ihrer Gedanken und durch die Wucht ihres Ausdrucks, sowie durch das würdige Auftreten ihrer Personen erhaben. Wenn ihnen aber der Glanz und in dem Ausbau ihrer Werke die letzte feilende Hand fehlt, so scheint das mehr ein Fehler ihrer Zeit als ihres Talentes gewesen zu sein. Eine größere dichterische Kraft schreibt man dem Attius zu, während die, welche Anspruch auf Gelehrsamkeit machen, den Pacuvius für den gelehrteren erklären. Der Thyestes des Varius[115] aber kann jedem griechischen Trauerspiel an die Seite gestellt werden. Ovids Medea scheint mir zu zeigen, wieviel dieser Mann hätte leisten können, wenn er sein Genie gezügelt und nicht statt dessen verwöhnt hätte. Von meinen Zeitgenossen ist bei weitem der hervorragendste Pomponius Secundus[116], welchen die älteren Leute allerdings für zu wenig tragisch hielten, dem sie jedoch Bildung und Schönheit des Ausdrucks in hohem Grade zugestehen mußten. In der Komödie bleiben wir am weitesten zurück. Wenn auch Varro der Meinung des Älius Stilo[117] folgend sagt, die Musen würden in der Sprache des Plautus[118] geredet haben, wenn sie lateinisch hätten reden wollen, wenn auch die Alten den Cäcilius[119] mit hohem Lobe feiern, wenn auch die Komödien des Terenz[120] auf Scipio Africanus zurückgeführt werden (welche auf diesem Gebiete die geschmackvollsten sind und bis heute noch mehr in Gunst stehen würden, wenn sie sich in den Schranken des Trimeters gehalten hätten), so erreichen wir doch kaum einen leichten Schatten der griechischen Vorbilder, so daß ich zu der Überzeugung gekommen bin, daß die römische Sprache nicht fähig sei, jene Anmut in sich aufzunehmen, welche allein den Attikern vorbehalten war, wie auch die Griechen sie in anderen Dialekten ihrer Sprache nicht erreicht haben. In der Togata (der nationalen römischen Komödie) zeichnet sich Afranius[121] aus: hätte er nur nicht – die eigenen Sitten verratend – durch Darstellung widriger Knabenliebe häßliche Stoffe verwertet.
Unsere Geschichtschreibung dagegen steht der griechischen nicht nach. So würde ich mich nicht scheuen, dem Thukydides Sallust[122] gegenüberzustellen, auch wird es Herodot nicht übelnehmen, wenn ich ihm T. Livius[123] gleichstelle, welcher in der Erzählung wunderbar anmutig und äußerst klar ist, besonders aber in den Reden mehr, als sich ausdrücken läßt, beredt, so sehr ist alles, was ausgesprochen wird, den Ereignissen und besonders auch den Personen angepaßt; und die Regungen des menschlichen Herzens, zumal die sanfteren, hat, um hier nur wenig hervorzuheben, gewiß kein Historiker passender ausgedrückt. So hat er jene göttliche Lebhaftigkeit Sallusts durch eine Reihe verschiedener Vorzüge erreicht. „Sie seien einander mehr ebenbürtig als ähnlich” – scheint mir daher auch äußerst treffend Servilius Nonianus[124] gesagt zu haben, unter dessen Zuhörern auch ich mich befunden habe. Er war ein Mann von gutem Kopfe und reich an geistreichen Gedanken, aber weniger knapp, wie es die Würde der Geschichtschreibung fordert. Diese wußte vorzüglich zu wahren der ihm der Zeit nach etwas vorausgehende Bassus Aufidius[125], wenigstens in den Büchern über den Germanischen Krieg, er, der durch seine Darstellungsweise vollen Beifall verdient, in einigen Werken jedoch hinter seinen Kräften zurückbleibt. Es lebt noch und krönt den Ruhm unseres Zeitalters ein Mann[126], welcher der Erinnerung späterer Jahrhunderte würdig ist; einst wird sein Name genannt werden, jetzt dürfen wir ihn nur andeuten. Liebhaber findet auch nicht mit Unrecht der Freimut des Cremutius[127], obwohl jetzt das beseitigt ist, was jenem einst geschadet hatte; aber einem hohen Gedankenflug und kühnen Wendungen wird man auch in dem begegnen, was übriggeblieben ist. Auch sonst würden noch treffliche Schriftsteller zu nennen sein; aber wir geben eine Übersicht über die Gattungen und durchmustern nicht ganze Bibliotheken.
Was nun unsere Redner anbetrifft, so haben sie es dahin gebracht, daß sich die lateinische Beredsamkeit auf einer Höhe befindet, auf welcher sie sich mit der griechischen messen kann; denn den Cicero [128] würde ich jedem ihrer Redner kühnlich an die Seite stellen. Ich weiß auch recht wohl, wie viele Widersacher ich mir dadurch wachrufe, zumal da ich es mir nicht vorgenommen habe, jetzt eine Vergleichung zwischen ihm und Demosthenes anzustellen, denn diese gehört nicht hierher, da ich glaube, daß Demosthenes vor allen gelesen oder besser auswendig gelernt werden muß. Die Vorzüge dieser beiden Redner scheinen mir meist die gleichen zu sein, so Anlage, Anordnung, Einteilungsmethode und die Art der Vorbereitung und Beweisführung, alles endlich, was zur Erfindung gehört. In der Wahl des Ausdrucks besteht jedoch eine nicht unbedeutende Verschiedenheit. Jener ist gedrängter, dieser wortreicher, jener in seinen Schlußfolgerungen knapper, dieser breiter, jener kämpft immer mit scharfsinnigen Worten, dieser häufig auch mit gewichtigen; auf der Seite jenes läßt sich nichts hinwegnehmen, auf der Seite dieses nichts hinzusetzen, jener besitzt mehr Sorgfalt, dieser mehr natürliche Begabung. An Witz und Rührung, jenen beiden so überaus wirksamen Affekten, übertreffen wir auf jeden Fall die Griechen. Und zugegeben, daß jenem die Sitte des Staates, Epiloge zu halten [129] unmöglich machte, so hat doch auch uns die Verschiedenheit der lateinischen Sprache (von der griechischen) vielerlei, was die Attiker bewundern, nicht erlaubt. In betreff der Briefe[130] freilich, welche von beiden existieren, und der Dialoge[131], in welchen der Grieche nichts geleistet hat, gibt es keinen Wettstreit. In dem Punkte müssen wir jedoch nachstehen, daß jener früher lebte und größtenteils Cicero zu seiner Größe herangebildet hat, denn mir scheint M. Tullius, indem er sich ganz der Nachahmung der Griechen hingab, die Kraft des Demosthenes, die Fülle des Plato und die Anmut des Isokrates nachgebildet zu haben. Jedoch eignet er sich nicht allein das, was an jedem das Beste ist, durch Studium an, sondern die meisten oder vielmehr alle glänzenden Vorzüge gewann er aus dem glücklichen Reichtum seines unsterblichen Genies. Denn er sammelt nicht, wie Pindar [132] sagt, Regenwasser, sondern in lebendigem Strahle strömt er Fluten aus; er, der uns durch ein Geschenk der Vorsehung geboren wurde, damit die Beredsamkeit in ihm alle ihre Kräfte erprobe. Denn wer kann sorgfältiger belehren, wer stärker bewegen? Wer hat je eine so große Anmut besessen? So erscheint es, als ob er das, was er erzwingt, durch Vorstellungen erreichte, und als ob der Richter, wenn er durch die Gewalt seiner Rede mit fortgerissen wird, nicht von ihm gewaltsam ergriffen würde, sondern ihm folgte. Dann ist in allem, was er sagt, eine so gewichtige Bestimmtheit, daß man sich schämt, anderer Meinung zu sein, und daß er die Glaubwürdigkeit nicht eines Anwalts, sondern eines Zeugen oder Richters besitzt, indem ihm zugleich alles dies, wovon kaum jemand das eine oder das andere bei angestrengtester Arbeit erreichen könnte, ohne Mühe von der Hand geht, wobei sein Stil, an dessen Schönheit nichts heranreicht, gleichwohl die glücklichste Leichtigkeit an den Tag legt. Deshalb sagten seine Zeitgenossen nicht mit Unrecht, er sei ein König in den Gerichten, und deshalb wird der Name Cicero bei der Nachwelt schon nicht mehr für den Namen eines Menschen, sondern für den Namen der Beredsamkeit selbst gehalten. Auf ihn wollen wir daher blicken, er sei unser Vorbild; und wem Cicero ausnehmend gefällt, der kann sich sagen, daß er in der Beredsamkeit Fortschritte gemacht habe. Einen großen Reichtum an Erfindung besitzt Asinius Pollio[133], auch eine große Sorgfalt, so daß er darin manchen sogar zu weit zu gehen scheint, endlich Klugheit und Lebendigkeit genug: von der Schönheit und der Anmut des Cicero ist er jedoch so weit entfernt, daß er um ein Jahrhundert früher gelebt zu haben scheinen könnte. Messalla [134] hingegen ist glänzend und durchsichtig und in seiner Rede gewissermaßen ein Bild seiner Vornehmheit (vornehmen Gesinnung), an Kräften jedoch schwächer. Wenn C. Cäsar[135] aber sich ausschließlich dem Forum gewidmet hätte, so würde kein anderer von den unsrigen gegen Cicero in Betracht kommen. Eine so bedeutende Kraft besitzt er, so viel Scharfsinn, so viel Feuer, daß man deutlich sieht, er habe mit dem Geiste Reden gehalten, der ihm seine Siege gewinnen ließ; er schmückt dies jedoch alles mit einer wunderbaren Eleganz der Diktion, in welcher er ganz besonders Meister war. Viel Geist und besonders in der Anklage ein feiner, weltmännischer Sinn war dem Cälius [136] eigen, einem Manne, der verdient hätte, eine bessere Gesinnung und ein längeres Leben zu haben. Ich habe Leute gefunden, welche den Calvus[137] allen vorzogen, ich habe aber auch solche gefunden, die dem Cicero glaubten, wenn er sagt, jener habe durch fortgesetztes Schmähen auf ihn das Blut der Wahrheitsliebe verloren, aber seine Redeweise ist feierlich und würdevoll, streng und häufig auch leidenschaftlich. Er war ein Nachahmer der Attiker, und sein frühzeitiger Tod hat Unrecht an ihm verübt, da er im Begriff war, noch etwas Höheres zu leisten. Auch Servius Sulpicius [138] hat nicht mit Unrecht sich einen hohen Ruhm durch drei Reden erworben. Viel Nachahmenswertes bietet, wenn man ihn mit Urteil liest, Cassius Severus [139]. Wenn dieser seinen übrigen Vorzügen Abwechslung und Würde des Ausdrucks hinzugefügt hätte, würde er unter die Vorzüglichsten zu zählen sein. Denn er besitzt sehr viel Talent, außerordentliche Schärfe, weltmännische Bildung und große Glut, aber er folgt mehr seiner Laune als einem wohlüberlegten Plane. Wie übrigens bittere Witze, so ist häufig die Bitterkeit schon allein imstande, Lachen zu erregen. Die große Menge der anderen bedeutenden Redner aufzuzählen würde zu weit führen: von meinen Zeitgenossen sind Domitius Afer und Julius Africanus [140] bei weitem die bedeutendsten. Was die Kunst der Diktion und die ganze Ausdrucksweise betrifft, so ist jener vorzuziehen und unbedenklich in die Reihen der Alten zu stellen. Dieser dagegen ist affektvoller, er geht aber in der Anwendung von Wortspielen zu weit, ist in der Komposition häufig zu breit und mit übertragenen Ausdrücken nicht sparsam genug. Auch noch in jüngster Zeit gab es (auf diesem Gebiete) bedeutende Geister. So war Trachalus [141] meist erhaben und ziemlich leicht verständlich und erfüllt von dem besten Streben; wenn man ihn hörte, erschien er jedoch noch bedeutender. Denn er besaß ein so glückliches Organ, wie ich es bei keinem andern Redner gefunden habe, und eine Aussprache und Haltung, wie sie auch für die Bühne ausgereicht haben würde, kurz alles Äußerliche war in reichem Maße bei ihm vorhanden. Auch Vibius Crispus[142] ist ein klarer, angenehmer und dem geistigen Genuß dienender Redner, geeigneter jedoch für Privat– als für Kriminalprozesse. Julius Secundus [143] würde sich, wenn er länger gelebt hätte, einen wahrhaft berühmten Namen bei der Nachwelt erworben haben; zu seinen übrigen Vorzügen hätte er nämlich, wie er schon im Begriff stand, das, was er vermissen läßt, hinzugefügt: die größere Kampfbereitschaft und eine Sorgfalt, die sich nicht allein auf den Ausdruck, sondern auch auf den Inhalt erstreckt. Obgleich er aber durch den Tod daran verhindert wurde, behauptet er doch einen bedeutenden Platz: so groß ist seine Redegabe, so bestechend seine Anmut bei der Behandlung jedes beliebigen Stoffes, so durchsichtig, maßvoll und glänzend seine Art sich auszudrücken, so treffend die Wahl seiner Worte, auch wenn sie entlehnt sind, so anschaulich sind einzelne seiner gewagten Redewendungen.
Die, welche nach uns über die Redner schreiben werden, haben eine reiche Gelegenheit, die jetzt Lebenden mit vollem Rechte zu loben; gibt es doch auch heute noch ausgezeichnete Talente, welche des Forums Glanz verherrlichen[144]. Denn die schon älteren Redner vor Gericht streben den altbewährten nach, und in deren Fußtapfen tritt wiederum der betriebsame Fleiß der jüngeren, welche das Beste erstreben.
Noch sind die übrig, welche über Philosophie geschrieben haben, ein Fach, in welchem die römische Literatur bis auf den heutigen Tag nur sehr wenig formgewandte Schriftsteller aufzuweisen hat. In gleicher Weise, wie sonst überall, ist in diesem Fache M. Tullius als ein Nebenbuhler Platos aufgetreten. Ganz vorzüglich und weit mehr, wie in seinen Reden, hat Brutus dem gewichtigen Inhalt die rechte Form verliehen; man merkt, daß er glaubt, was er sagt. Eine Reihe Schriften hat auch Cornelius Celsus verfaßt als Nachfolger der Sextier[145], nicht ohne Geschick und Anmut. Plautus[146] ist in der stoischen Philosophie für die Kenntnis des Systems brauchbar, für die epikureische Philosophie ist ein zwar nicht bedeutender, aber äußerst lesbarer Gewährsmann Catius [147]. Absichtlich habe ich Seneca[148] bei Besprechung der einzelnen Arten der Beredsamkeit bisher übergangen wegen der fälschlich über mich verbreiteten Meinung, daß ich ihn verurteile und ihm feindlich entgegentrete. Dieser Vorwurf traf mich, während ich bemüht war, die verfallene Beredsamkeit, welche durch Unarten aller Art entstellt war, zu strengeren Regeln zurückzuführen; damals befand sich aber fast nur dieser Schriftsteller in den Händen der jungen Leute. Ihn wollte ich nun nicht vollständig verbannt wissen, aber ich wollte auch nicht dulden, daß er besseren Schriftstellern vorgezogen würde, welche jener unaufhörlich angriff, da er sich bewußt war, daß er Beifall ernten könne, wenn er von jenen in der Redeweise abwich, daß er aber auf denselben verzichten müsse, wenn er in den gleichen Stücken wie jene gefallen wolle. Sie liebten ihn aber mehr, als daß sie ihn nachahmten, und blieben in demselben Grade hinter ihm zurück, wie jener sich von den Alten entfernte. Denn es wäre nur zu wünschen, daß sie jenem Manne ebenbürtig oder wenigstens ähnlich geworden wären, aber er gefiel ihnen nur durch seine Fehler, von welchen ein jeder diejenigen, welche er gerade kannte, nachzubilden bemüht war; und wenn sich dann einer rühmte, er schreibe denselben Stil, so brachte er den Seneca in schlechten Ruf. Seneca hat auch im ganzen betrachtet viele bedeutende Vorzüge: Reichtum des Geistes und Leichtigkeit der Produktion, einen unermüdlichen Fleiß und viele Kenntnisse, wobei es ihm jedoch häufiger widerfuhr, daß er von denen, welchen er Einzeluntersuchungen übertragen hatte, getäuscht wurde. Er hat übrigens fast jedes Gebiet des Wissens in seine Behandlung gezogen; denn man hat von ihm Reden, Gedichte, Briefe und Dialoge. In der Philosophie ist er zwar nicht sorgfältig genug, durch seinen Kampf gegen die Unsittlichkeit jedoch von hervorragender Bedeutung. In seinen Werken finden sich viele herrliche Aussprüche und vieles, was seines sittlichen Gehaltes wegen lesenswert ist; aber in seinem Stile ist viel Verschrobenes, was deshalb so äußerst verderblich wirkt, weil es voll von anziehenden Fehlern ist. Man möchte wünschen, daß er mit seinem Geiste, aber mit dem Urteile eines andern geschrieben habe; denn wenn er manches als geringwertig erkannt hätte, wenn er das Auffallende nicht bevorzugt hätte, wenn er nicht alles ihm Entsprungene gut befunden hätte, und wenn er den gewichtigen Inhalt nicht durch die Fülle kleinlicher Details verdeckt hätte, dann würde er mit der allgemeinen Beistimmung der Gebildeten und nicht mit der Vergötterung von Knaben belohnt werden. Gleichwohl ist er auch so den schon Sicheren und durch strengere Lektüre Gefestigten zum Lesen zu empfehlen, schon deshalb, weil er immerhin das Urteil zu üben vermag. Denn vieles ist an ihm billigens–, vieles auch bewundernswert. Nur treffe man die richtige Auswahl, was er selbst hätte tun sollen; denn seine natürliche Anlage berechtigt uns zu dem Wunsch, daß ihm ein edleres Ideal vorgeschwebt hätte; was ihm als künstlerisches Ideal erschien, hat er auf jeden Fall zum Ausdruck gebracht.
Aus diesen und anderen lesenswerten Schriftstellern entlehne man den Wortschatz, die Redewendungen und die Kompositionsmethode, sodann muß der Geist nach dem Vorbilde aller ihrer Schönheiten seine Richtung erhalten. Denn daran darf man nicht zweifeln, daß die Kunst zum großen Teil auf Nachahmung beruht. Denn wie das schöpferische Hervorbringen das ursprüngliche gewesen ist und die Hauptsache bleibt, so ist es doch auch nützlich, das so Hervorgebrachte nachzuahmen. Und das ist ein sich durch das ganze Leben hindurchziehendes Prinzip, daß wir das selbst hervorbringen wollen, was uns an anderen gefällt. So bilden die Knaben die Züge der Buchstaben nach, um Übung im Schreiben zu erlangen, so die Musiker die Stimme ihrer Lehrer, so die Maler die Werke ihrer Vorgänger, so betrachten die Landleute eine bereits bewährte Methode der Bodenkultur als Muster: kurz, wir sehen, daß die Anfänge jedes Könnens nur nach den für die einzelnen Disziplinen aufgestellten Vorschriften gelernt werden können. Und in der Tat müssen wir den vorzüglichen Meistern entweder ähnlich oder unähnlich sein: ihnen ähnlich macht uns selten die Natur, häufig die Nachahmung. Der Umstand aber gerade, daß uns die Nachahmung die Beherrschung von allem so bedeutend leichter macht, wie sie denen war, die kein Vorbild hatten, schadet, wenn sie nicht mit Vorsicht und Urteil ausgeübt wird.
Vor allem reicht die bloße Nachahmung nicht aus, schon deshalb, weil nur ein träger Geist mit dem, was von anderen erfunden ist, zufrieden sein kann. Denn wie wäre es in jenen Zeiten gegangen, die ohne Vorbild waren, wenn die Menschen geglaubt hätten, sie dürften nur das tun oder denken, was sie schon kennengelernt hatten? Natürlich wäre nichts erfunden worden. Wie sollte es also unrecht sein, wenn wir etwas erfinden wollten, was vorher noch nicht existiert hat? Oder sind etwa jene noch Ungebildeten durch die bloße Schöpferkraft ihres Geistes dahin geführt worden, daß sie so vieles hervorbrachten, wir aber sollen zum Suchen und Forschen nicht einmal durch die sichere Gewißheit bewegt werden, daß diejenigen, welche gesucht haben, auch gefunden haben? Und während diejenigen, welche in keinem Gegenstande einen Lehrer gehabt haben, reiche Schätze auf die Nachwelt vererbt haben, so soll uns der Besitz dieser Schätze nicht dazu dienen, neue zutage zu fördern, sondern wir sollen nur von fremder Wohltat leben, wie gewisse Maler sich nur das Ziel stecken, daß sie mit Maß und Richtschnur Kopien anfertigen lernen?
Auch das ist eine Schande, dann zufrieden zu sein, wenn man den Gegenstand, den man nachbildet, erreicht hat. Denn wie würde es wiederum ergangen sein, wenn niemand mehr zustande gebracht hätte als der, den er sich zum Vorbild nahm? In der Dichtkunst wären wir dann nicht über Livius Andronikus[1], in der Geschichtschreibung nicht über die Jahrbücher der Priester[2] hinausgekommen, ja wir würden noch mit Flößen Schiffahrt treiben; es würde keine Malerei geben außer der, welche die äußersten Linien des Schattens, den ein in der Sonne befindlicher Körper hervorgebracht hat, umschreibt. Und wenn man alles genau prüft, wird man sich überzeugen, daß keine Kunst so geblieben ist, wie sie bei ihrer Erfindung war, und daß keine bei ihren Anfängen stehengeblieben ist, wenn wir nicht vielleicht gerade unsere Zeit zu einer vollsten Unfruchtbarkeit verurteilen wollen, daß erst jetzt nichts wächst. Nichts wächst aber durch bloße Nachahmung.
Wenn wir aber zu dem Früheren nichts hinzufügen dürfen, wie können wir da erwarten, daß es je einen vollendeten Redner geben wird, da doch unter denen, welche wir bis auf den heutigen Tag als die bedeutendsten bezeichnen, sich keiner befindet, an dem man nicht etwas vermissen oder tadeln könnte. Aber auch die, welche das höchste Ziel nicht erstreben, müssen mehr wetteifern als nachfolgen. Denn wer danach strebt, andere zu überholen, wird zwar vielleicht keinen Vorsprung gewinnen, aber doch auf gleicher Höhe bleiben. Keiner kann aber die gleiche Höhe mit dem erreichen, dessen Fußtapfen er unter allen Umständen folgen zu müssen glaubt; denn notwendig muß der Nachfolgende auch der Zurückbleibende sein. Ferner bedenke man, daß es meist leichter ist, mehr zu leisten, als das Gleiche. Denn die Ähnlichkeit ist so schwer herzustellen, daß nicht einmal die Natur in diesem Punkte so viel geleistet hat, daß die anscheinend ganz ähnlichen oder gleichen Dinge sich nicht durch irgendwelches Merkmal unterscheiden.
Dazu kommt, daß jedes Objekt, welches einem andern ähnlich ist, notwendig geringwertiger als dieses ist, und sich zu ihm verhält wie der Schatten zum Körper, das Bild zu einem Antlitz, die Darstellung des Schauspiels zu den wirklichen Leidenschaften. Dies ist nun auch der Fall bei den Reden. Denn in denen, welche uns zum Vorbild dienen, ist Natur und wirkliche Kraft, hingegen hatte alle Nachahmung etwas Gemachtes und fremder Vorschrift Angepaßtes. Daher kommt es auch, daß Deklamationen weniger Saft und Kraft haben als wirkliche Reden, weil der behandelte Gegenstand dort ein wirklicher, hier ein erfundener ist. Dazu kommt, daß dasjenige, was bei einem Redner das bedeutendste ist, sich nicht nachahmen läßt: Geist, Erfindungsgabe, Kraft und Leichtigkeit, kurz alles, was kunstmäßig nicht gelernt werden kann. Daher glauben die meisten das, was sie gelesen haben, ganz wunderbar schön nachzubilden, wenn sie einzelne Ausdrücke oder ein bestimmtes Satzgefüge aus einer Rede herausnehmen, während die Worte doch im Laufe der Zeit aus Gebrauch und neu in Gebrauch kommen, da der Sprachgebrauch ihnen zur sichersten Regel dient und sie nicht von Natur gut oder schlecht sind (denn an und für sich sind sie nur Klänge), sondern je nachdem sie glücklich und treffend verbunden oder nicht sind, und ihre Fügung sowohl dem Inhalt angemessen, wie durch ihre Abwechslung dem Ohr angenehm ist.
Deshalb ist in diesem Zweige des Studiums alles mit der peinlichsten Genauigkeit zu prüfen. Zuerst, welche Schriftsteller wir nachahmen sollen; denn es gibt sehr viele, welche ihren Ehrgeiz darein setzen, gerade die schlechtesten und fehlerhaftesten nachzubilden; ferner, was wir bei den von uns erwählten nachzuahmen lernen sollen. Denn auch bei bedeutenden Schriftstellern finden sich viele Fehler, wegen deren sich auch die Gelehrten gegenseitig zur Rechenschaft gezogen haben; freilich wäre zu wünschen, daß die, welche das Gute nachbilden, in demselben Grade ihr Vorbild überträfen, wie die das Schlechte Nachbildenden es tun. Auch möge es denen, welche Urteil genug hatten, die Fehler zu vermeiden, wenigstens nicht genug sein, ein bloßes Bild der Vorzüge wiederzugeben, gleichsam nur die oben befindliche Kruste oder vielmehr jene Figuren des Epikur[3], welche der Oberfläche des Körpers entströmen sollen. Das pflegt aber denen zu begegnen, welche ohne tiefere Kenntnis der Vorzüge eines Schriftstellers sich an das rein Äußerliche der Rede anlehnen; wenn diesen dann die Nachahmung gut vonstatten gegangen ist, dann unterscheiden sie sich in Wortlaut und Rhythmus nicht sehr von ihrem Vorbilde, reichen aber an dasselbe in Kraft und Erfindungsgabe nicht hinan. Meist geraten diese aber auf Abwege und entlehnen die den Vorzügen am nächsten liegenden Fehler; dann werden sie schwülstig, wo sie erhaben sein sollen, dürftig, wo sie knapp zu sein gedachten, tollkühn, wo tapfer, liederlich, wo vergnügt, maßlos, wo blumenreich, nachlässig, wo einfach. So kommt es, daß die, welche irgend etwas Geist– und Inhaltsloses rauh und schmucklos zum Ausdruck gebracht haben, sich den Alten gleichdünken; die, welche Schmuck und Sentenzen entbehren, sind natürlich Attiker, die, welche durch verkürzte Perioden dunkel sind, übertreffen den Sallust und Thukydides, die Traurigen und Nüchternen treten in die Fußtapfen des Pollio, die Faulen und Nachlässigen schwören – falls sie nur irgendwelche Umschreibungen gebraucht haben –, so würde sich Cicero ausgedrückt haben. Ich habe Schüler gekannt, die dann die Art jenes göttlichen Meisters der Rede nachgebildet zu haben glaubten, wenn sie an den Schluß ein esse videatur („zu sein schien”) gesetzt hatten. Daher ist es die Hauptsache, daß jeder das, was er sich zum Vorbild nehmen will, versteht und weiß, warum es gut ist.
Dann ziehe er bei der Übernahme einer solchen Arbeit seine Kräfte in Betracht. Denn es gibt Nachahmenswertes, dem entweder die Schwäche seiner Natur nicht gewachsen ist, oder dem die Verschiedenheit derselben widerstrebt. So soll der, dessen Gemütsart für das Zarte empfänglich ist, nicht das Kräftige und Bestimmte allein bevorzugen, und so soll umgekehrt der, dessen Talent zwar kräftig aber ungebändigt ist, nicht durch Neigung für das Zarte seine Kraft vergeuden, ohne die beabsichtigte Eleganz erreichen zu können; denn nichts widerstreitet dem Geschmack in so hohem Grade, wie wenn ein weicher Stoff hart bearbeitet wird. Allerdings habe ich auch geglaubt, daß der Lehrer der Beredsamkeit, den ich im zweiten Buche[4] ausgerüstet hatte, den Schülern nicht allein offenbaren solle, wozu seiner Meinung nach ein jeder von Natur geeignet sei; vielmehr muß er auch das Gute, was er in ihnen findet, fördern und, soweit es möglich ist, das Fehlende hinzufügen und Verbesserungen und Änderungen mit ihnen vornehmen: dann ist er ein Lenker und Bildner fremder Gemüter. Schwerer ist es, die eigene Natur zu bilden. Aber auch jener Lehrer wird in den Punkten, wo ihm die Natur hindernd im Wege steht, sich nicht überflüssig bemühen, wie sehr ihm auch am Herzen liegt, daß das Richtige im vollsten Maße bei seinen Zuhörern vorhanden ist.
Auch das ist ein Fehler, welcher häufig gemacht wird, daß wir in unseren Reden die Dichter und die Geschichtschreiber, in den Werken jener Künste Redner und Deklamatoren nachahmen zu müssen glauben; jedes Gebiet hat da seine eigenen Gesetze, seine eigenen Kunstcharakter. Die Komödie liebt nicht den Schritt auf dem erhabenen Kothurn, und umgekehrt schreitet die Tragödie nicht auf der Sandale einher. Gleichwohl hat die ganze Kunst der Rede etwas Gemeinsames; und dieses Gemeinsame müssen wir nachahmen. Häufig begegnet es auch denen, welche sich einer einzelnen Gattung zugeneigt haben, daß sie auch bei Behandlung von ruhigen und die Leidenschaft nicht erregenden Fällen die Schneidigkeit nicht ablegen, wenn ihnen diese bei irgend jemandem gefallen hat, oder daß sie in strengen und ernsten Rechtsfällen der Wichtigkeit des Gegenstandes nicht entsprechen, wenn ihnen das Zarte und Anmutige gefallen hatte. In der Tat ist aber nicht allein zwischen den einzelnen Rechtsfällen ein großer Unterschied, sondern auch zwischen den einzelnen Teilen einer Rede, und man muß bald milde, bald schneidig, bald erregt, bald ruhig, bald um zu belehren, bald um zu bewegen, sprechen, was alles durchaus ungleiche und verschiedene Anforderungen an den Redner stellt. Deshalb würde ich auch nicht dazu raten, sich einem einzigen, dem man in allen Stücken folgt, zu eigen zu geben. Der weitaus vollendetste Redner der Griechen ist Demosthenes, in mancher Beziehung verdienen jedoch an einzelnen Stellen andere den Vorzug, an den meisten er. Aber der, welcher hauptsächlich nachgeahmt zu werden verdient, verdient deshalb nicht allein nachgeahmt zu werden.
Wie denn? Kann man nicht zufrieden sein, wenn man alles so sagt, wie es M. Tullius gesagt hat? Ich für meine Person würde es sein, wenn ich es in jedem Punkte erreichen könnte. Was würde es jedoch schaden, die Gewalt Cäsars, die Schneidigkeit des Cälius, die Sorgfalt des Pollio, das Urteil des Calvus an manchen Stellen hinzunehmen? Denn abgesehen davon, daß es ein Gebot der Klugheit ist, das, was bei einem jeden Redner das beste ist, zu seinem Eigentum zu machen, so muß man andererseits auch bedenken, daß bei der ungeheuren Schwierigkeit der Sache das Vorbild nur zum geringsten Teile diejenigen, welche ihr Augenmerk nur auf einen Schriftsteller lenken, dauernd begleitet. Da es also dem Menschen so gut wie versagt ist, das gewählte Vorbild vollständig wiederzugeben, müssen wir die Vorzüge einer größeren Anzahl vor Augen haben, damit von diesem das eine, von jenem das andere haften bleibt, und wir dann ein jedes am passenden Orte anbringen können.
Die Nachahmung aber, um das hier nochmals zu wiederholen, bestehe nicht nur in einer Wiedergabe von Worten. Darauf ist vielmehr das Auge zu richten, wieviel edles Maß jene Männer in Darstellung von Ereignissen und Personen beobachtet haben, wie sie ihren Plan, ihre Disposition gestaltet haben, wie endlich alles, was nur auf unser Vergnügen abzuzielen scheint, Überwindung des Gegners bezweckt; es ist darauf zu achten, welcher Inhalt für den Eingang der Rede gewählt ist, auf welche Weise und mit wieviel Abwechslung die Erzählung geboten wird, mit welcher Kraft Beweis und Widerlegung durchgeführt ist, mit welchem Geschick Affekte jeder Art erregt werden, und zum Vorteil der Sache der Beifall des Volkes gewonnen wird, welcher dann am vollkommensten ist, wenn er willig folgt und nicht mit Mühe herbeigezogen wird. Erst, wenn wir dies völlig erkannt haben, ist unsere Nachahmung die richtige. Wer hierzu nun eigene Vorzüge hinzufügt, so daß er das Fehlende ergänzt, das Überflüssige abschneidet, der wird der vollendete Redner sein, welchen wir suchen; und ein solcher müßte gerade jetzt in vollkommener Gestalt auftreten, wo uns weit mehr Beispiele einer trefflichen Beredsamkeit vorliegen, wie denen zu Gebote standen, die bisher die größten Redner waren. Denn diese werden sich auch den Ruhm erwerben, daß sie ihre Vorgänger übertroffen, ihre Nachfolger aber belehrt haben.
Das sind nun die Hilfsmittel, welche uns von außen geboten werden; unter denen aber, welche wir uns selbst verschaffen müssen, ist das mühevollste, aber auch das wirksamste der Griffel [1]. Ihn nennt nicht mit Unrecht M. Tullius[2] den besten Bildner und Lehrmeister der Rede, ein Ausspruch, welchem er dadurch besonderen Nachdruck verleiht, daß er ihn dem Lucius Crassus[3] in seinem Buche „Über den Redner” in den Mund legt, und so sein eigenes Urteil mit dem Ansehen dieses Redners verbindet. Man muß demnach so eifrig und soviel wie möglich schreiben. Denn wie der tief aufgegrabene Boden für Erzeugung und Ernährung der Saat geeigneter wird, so wird ein Wachstum, welches nicht nur auf oberflächlicher Bemühung beruht, die Früchte der Studien zu reicherer Entfaltung und zu festerem Bestehen bringen. Ohne daß wir hiervon fest überzeugt sind, wird jene für den Augenblick erworbene Beredsamkeit nur eine nutzlose Geschwätzigkeit verleihen und Worte, welche die Lippen sprechen.
Hier sind die Wurzeln, hier die Grundlagen, hier die Schätze, welche gleichsam in geheimer Schatzkammer[4] verborgen sind, um daraus hervorgeholt zu werden, wenn es bei plötzlich eintretendem Bedürfnis die Verhältnisse fordern. Kräfte sollen wir uns hauptsächlich erwerben, welche für einen mühevollen Kampf ausreichen und durch den Gebrauch nicht erschöpft werden. Denn die Natur selbst wollte nicht, daß irgend etwas Großes schnell zustande komme, und stellte gerade dem schönsten Gelingen schweres Mühen voran[5], wie sie auch für die natürliche Geburt das Gesetz gab, daß die größeren Tiere länger in dem Mutterleib verbleiben sollen.
Da die vorliegende Frage aber eine zweifache ist, wie man nämlich und was man schreiben muß, so will ich auch bei der Behandlung diese Reihenfolge innehalten. Anfangs geschehe das Schreiben langsam, aber natürlich nicht träge; man suche den besten Ausdruck und begnüge sich nicht mit dem ersten Einfall; glaubt man etwas gefunden zu haben, so prüfe man es; hat man es geprüft, so disponiere man; denn Inhalt und Worte bedürfen der Auswahl, und alles ist einzeln auf seinen Wert hin zu untersuchen. Dann erst richte man sein Auge auf die Wortstellung und suche auf alle Weise Wohlklang zu erzielen; nicht aber erhalte jedes Wort die Stellung, welche der Zufall anbietet. Um dies mit aller Sorgfalt auszuführen, müssen wir häufiger das zuletzt Geschriebene wieder durchlesen. Denn abgesehen davon, daß wir so das Folgende besser mit dem Vorhergehenden verbinden, gewinnt auch die Wärme des Gedankens, welche durch langes Schreiben abgekühlt ist, von neuem an Kräften und nimmt gleichsam einen Anlauf, als ob die Strecke frisch zurückgelegt würde; wie wir es bei einem Wettspringen wohl sehen, daß die Beteiligten weiter ausholen und bis zu dem Hindernis, um welches es sich im Wettstreit handelt, eine Strecke Anlauf nehmen, und wie wir beim Werfen den Arm nach rückwärts führen und im Begriff, Wurfgeschosse zu schleudern, die Bogensehne rückwärts spannen. Immerhin soll man die Segel dem Winde überlassen, solange er weht, vorausgesetzt, daß nur dieses Sichgehenlassen nicht zur Täuschung verführt: denn alles gefällt uns, während es geschrieben wird, sonst würden wir es nicht schreiben. Wir wollen aber dann uns zu einer Prüfung zurückwenden und das mit bedenkenerregender Leichtigkeit Geschriebene von neuem behandeln. So soll Sallust geschrieben haben; und in der Tat verrät auch sein Werk selbst die Arbeit. Daß auch Vergil nur sehr wenige Verse an einem Tage verfaßt habe, bezeugt uns Varius. Nun ist die Lage eines Redners allerdings eine andere. Daher empfehle ich diese Langsamkeit und Sorgfalt für den Anfang. Denn zunächst muß man das erreichen und festhalten, daß man so gut wie möglich schreibt; Schnelligkeit wird schon die Übung verleihen. Allmählich werden die Gedanken sich leichter einstellen, die entsprechenden Ausdrücke werden sich finden, die Verteilung des Stoffes wird sich anschließen, kurz, alles wird wie bei einer wohlorganisierten Dienerschaft am angewiesenen Platze tätig sein. Alles in allem gilt dies: Durch Schnellschreiben erreichen wir nicht, daß wir gut schreiben, wohl aber durch Gutschreiben, daß wir schnell schreiben lernen. Aber gerade dann, wenn wir jene Fähigkeit erlangt haben, müssen wir dagegen arbeiten und gleichsam die durchgehenden Pferde mit Zügeln festhalten, was uns nicht sowohl aufhalten, als uns neuen Antrieb verleihen wird. Ich glaube nämlich nicht, daß man die, welche im Schreiben eine gewisse Übung erlangt haben, zu der unglückseligen Strafe, sich mit beständiger Selbstkritik zu quälen, zwingen soll. Denn wie sollten die ihren Berufsgeschäften als Sachwalter nachkommen, die über dem Studium einzelner Teile eines Prozesses alt werden? Es gibt aber Leute, denen nichts genügt, die alles ändern und alles anders ausdrücken wollen, wie es ihnen der Augenblick eingibt, solche Zweifler und Selbstquäler, welche es für Fleiß halten, wenn sie sich das Schreiben möglichst schwer machen. Ich kann nicht einmal sagen, welche wohl den größten Fehler begehen, ob die, denen alles von ihrer Hand Herrührende gefällt, oder diejenigen, welchen nichts davon gefällt. Denn es passiert auch talentvollen Jünglingen häufig, daß sie in Bemühung völlig aufgehen und in beständigem Stillschweigen verharren nur aus dem allzu heftigen Wunsch, gut zu reden. Ich erinnere mich recht wohl, daß mir in bezug hierauf Julius Secundus, mein Altersgenosse und, wie bekannt, mein lieber Freund, ein Mann von außerordentlicher Beredsamkeit, aber von sehr großer Bedenklichkeit, eine Bemerkung seines Oheims erzählt hat. Dieser war nämlich Julius Florus[6], der hervorragendste Redner in Gallien [7] – denn dort befaßte er sich erst mit Beredsamkeit – und auch sonst wie wenige beredt und eines solchen Verwandten würdig. Als dieser den Secundus, welcher zu jener Zeit noch die Rednerschule besuchte, traurig sah, fragte er nach der Ursache seines kummervollen Gesichtes. Da gestand ihm der Jüngling, es sei schon der dritte Tag, daß er trotz aller Anstrengung keinen Anfang für ein ihm zur schriftlichen Ausarbeitung gestelltes Thema finden könne, was ihm nicht nur für den Augenblick Kummer bereite, sondern auch für alle Zukunft verzweifeln lasse. Da antwortete ihm Florus lächelnd: „Hast du denn vor, besser zu reden, wie du kannst?” So ist es in der Tat: wir müssen uns Mühe geben, so gut wie möglich zu reden, jedoch entsprechend unseren Fähigkeiten; denn zum Vorwärtskommen hilft uns der Eifer, nicht der Unmut. Die Fähigkeit aber, auch eine größere Arbeit mit einer gewissen Schnelligkeit schreiben zu können, wird uns nicht allein die Übung verleihen, welche zweifelsohne viel dazu beiträgt, sondern auch das vernünftige Nachdenken. Wenn wir nicht auf dem Rücken liegend die Decke ansehen, einen Gedanken hinmurmeln und abwarten, was uns einfalle, sondern wenn wir uns klarmachen, was der Gegenstand erfordert, was der Person entspricht, welcher Art die Zeitumstände und die Gemütsart des Richters ist, und so auf menschenwürdige Weise ans Schreiben gehen, dann gibt uns die Natur selbst Anfang und Fortführung des Themas an die Hand. Denn das meiste ist greifbar und springt in die Augen, wenn wir sie nicht schließen; deshalb suchen auch die Ungebildeten und Bauern nicht lange nach einem Anfang, und wir müssen uns um so mehr schämen, wenn die Bildung uns Schwierigkeit bereitet. Wir dürfen daher nicht immer das Entlegenste für das Vortrefflichste halten und dann verstummen, wenn sich uns nicht etwas bietet, nachdem wir erst haben suchen müssen. In den entgegengesetzten Fehler verfallen diejenigen, welche das Thema zunächst mit eilendem Griffel durchlaufen und der Begeisterung und dem Schwung des Augenblickes folgend aus dem Stegreif niederschreiben; dafür haben sie den Namen silva (Wald, hier „ungeordnete Masse, unverarbeiteter Stoff”) erfunden; sie gehen dann wieder durch und verbessern, was sie nur so hingeworfen haben, aber Worte und Rhythmus lassen sich verbessern, in dem hastig zusammengeschriebenen Inhalt bleibt die alte Oberflächlichkeit. Es wird also richtiger sein, von vornherein Sorgfalt anzuwenden und den Gegenstand gleich so zu behandeln, daß unser rednerisches Kunstwerk nur noch ziseliert, nicht aber völlig neu gearbeitet werden muß. Bisweilen jedoch sollen wir uns den Affekten überlassen, in welchen der Schwung mehr wie die Sorgfalt wirksam wird.
Daraus, daß ich diese Nachlässigkeit beim Schreiben verurteile, wird zur Genüge klar, wie ich über die bekannte Liebhaberei des Diktierens denke. Denn bei dem noch so schnellen Schreiben bewirkt die Hand, welche der Schnelligkeit des Gedankens nicht folgen kann, eine gewisse Verzögerung; der hingegen, dem wir diktieren, drängt uns, und wir schämen uns wohl auch zu zögern oder stehenzubleiben oder zu ändern, indem wir gleichsam den Mitwisser unserer Schwäche fürchten. So kommt es, daß uns nicht nur Undurchgearbeitetes und Zufälliges, sondern indem wir nur den Zusammenhang mehren wollen, zuweilen auch Unpassendes entschlüpft, was weder beim Schreiben noch beim Freisprechen passiert.
Wenn aber der Schreiber langsam im Schreiben oder unsicher im Lesen, kurz, ein Stümper ist, wird der Lauf gehemmt, und das bereits im Innern bestehende Bild geht durch die Verzögerung bisweilen auch bei einem heftigen Auftritt verloren. Dann wird auch, da wir nicht allein sind, das lächerlich, was eine stärkere Gemütsbewegung zu begleiten pflegt und was wiederum zur Erregung unseres Inneren beiträgt, wie die Hände stark bewegen, die Mienen lebhaft spielen lassen, Schenkel und Seite schlagen, was Persius[8] meint, wenn er von gewissen Rednern behauptet: „Und er schlägt nicht auf die Brüstung und beißt sich die Nägel nicht ab.” Kurz, um mit einem Wort zu sagen, was für den Redner das förderlichste ist: es ist die Einsamkeit, welche im Diktieren aufgegeben wird, obwohl doch niemand bezweifelt, daß ein menschenleerer Ort und die tiefste Stille für den Schriftsteller am geeignetsten sei. Man darf jedoch nicht gleich auf die hören, welche glauben, daß am geeignetsten hierzu Haine und Wälder seien, weil da ein freier Himmel und eine schöne Gegend den Geist für das Erhabene empfänglich und schöpferisch mache. Mir scheint ein derartiger Aufenthalt auf jeden Fall mehr genußreich, als zum Studium anregend zu sein. Denn das, was an sich selbst der Ergötzung dient, muß uns notwendig von der eifrigen Beschäftigung mit der Arbeit ablenken, welche wir uns vorgenommen haben. Denn man kann nicht mit gutem Gewissen seine Aufmerksamkeit auf viele Dinge zugleich richten, jeder Blick aber auf einen andern Gegenstand läßt uns die vorgenommene Arbeit aus dem Auge verlieren. Die Schönheit des Waldes, ein vorüberfließender Fluß, das Rauschen der Baumwipfel, der Gesang der Vögel, der freie Blick in die Weite beansprucht unsere Aufmerksamkeit in dem Grade, daß ein solcher Genuß mehr zu einem Sichgehenlassen als zu angestrengter Gedankenarbeit einladet. Besser machte es Demosthenes[9], der sich an einem Orte verbarg, wo man keinen Laut hören konnte und keine Aussicht genoß, damit die Augen den arbeitenden Geist nicht ablenkten. Wenn wir bei Nacht arbeiten, so richten wir es am besten so ein, daß die Stille der Nacht, das verschlossene Zimmer und nur ein einziges Licht uns gleichsam birgt und so vor Störung sichert. Aber wie zu jeder gelehrten Beschäftigung, so braucht man hauptsächlich zu einer solchen eine gute Gesundheit und eine mäßige Lebensweise, welche eine solche hauptsächlich verleiht, da wir die von der Natur selbst zur Ruhe und Erholung bestimmte Zeit zur eifrigsten Arbeit benutzen. Wer jedoch nur so viel Zeit der Nacht verwendet, wie er sich vom Schlafe absparen kann, wird nicht fehlgehen. Denn ein fleißiges Arbeiten wird die Ermüdung schon von selbst verhindern, und die Tageszeit genügt vollauf, falls wir sie hierfür frei behalten, zu einer Beschäftigung bei Nacht zwingt die Not. Immerhin ist aber das Arbeiten bei Licht, falls wir es mit frischen Kräften und nach vorhergegangener Erholung beginnen, am freisten von Störung.
Aber Stille und Abgeschiedenheit und ein ganz sorgenfreies Herz sind zwar sehr wünschenswert, können aber nicht immer uns zuteil werden; deshalb soll man nicht gleich, wenn etwas störend dazwischenkommt, das Buch wegwerfen und den verlorenen Tag beklagen, sondern der Störung entgegentreten und durch Gewöhnung so weit kommen, daß die Stärke des Willens alle Hindernisse überwindet; wenn dieser mit aller Anstrengung auf die Arbeit gerichtet ist, wird von dem, was Auge und Ohr berührt, nichts bis zum Geist dringen. Oder fügt es der Zufall nicht häufig so, daß wir in Gedanken versunken uns Begegnende nicht sehen und vom Wege abirren? Man muß gegen die Ursachen zur Trägheit nicht nachgiebig sein. Denn wenn wir glauben, nur nach genossener Erholung, nur heiteren Gemütes, nur frei von jeder andern Sorge geistig tätig sein zu können, werden wir stets einen Grund haben, nachsichtig mit uns zu sein. Deshalb soll in der wogenden Menge, auf der Reise, beim Gastmahl der denkende Geist sich selbst eine Einsamkeit schaffen.
Was soll auch sonst werden, wenn wir einmal mitten auf dem Markt, umgeben von so vielen Richtern unter Wortwechsel und Geschrei, sofort eine zusammenhängende Rede halten sollen, wenn wir die paar Worte, welche wir auf dem Wachs aufzeichnen wollen, nur in der Einsamkeit wiederfinden können? Daher ersann Demosthenes, obwohl ein großer Verehrer der Einsamkeit, seine Reden am Ufer, wo die Wogen mit heftigem Gebrause brandeten, und gewöhnte sich so, dem Stimmengewirr einer Volksversammlung furchtlos gegenüberzutreten.
Auch etwas weniger Wichtiges – obwohl bei den Studien nichts geringfügig ist – will ich nicht übergehen, nämlich daß man am besten auf Wachs schreibt, wo man das Geschriebene leicht wieder ausstreichen kann, falls nicht schwache Augen die Benutzung von Pergament fordern, das zwar größere Deutlichkeit bietet, jedoch durch das häufige Hinundherbewegen der Hand zum Eintauchen des Schreibrohres ermüdet und den Zug der Gedanken hemmt. In beiden Fällen jedoch lasse man auf der entgegengesetzten Seite einen Raum frei, auf welchem für Zusätze freier Platz ist. Denn manchmal verleitet der zu enge Raum zur Faulheit im Verbessern und läßt das neu dazwischen Geschriebene mit dem alten zusammenfließen. Dann möchte ich, daß die Wachstafeln nicht übermäßig breit wären, da ich es selbst erlebt habe, wie ein junger Mann, welcher sonst eifrig war, übermäßig lange Reden hielt, weil er sie nach der Anzahl der Linien maß; und wie dieser Fehler, dem sich durch fortgesetzte Ermahnung nicht abhelfen ließ, durch eine Änderung der Schreibtafeln beseitigt wurde. Es muß auch ein Platz frei bleiben, auf welchem von den Schreibenden das kurz aufgezeichnet wird, was ihnen außerhalb des engeren Zusammenhanges, d. h. aus Teilen der Rede, mit deren Ausarbeitung sie augenblicklich nicht beschäftigt sind, einfällt. Denn häufig kommen uns sehr gute Gedanken in den Sinn, die wir weder einreihen noch aufsparen dürfen, weil sei dann entweder vergessen werden oder die mit ihnen Beschäftigten in dem weiteren Gedankengang stören, und die deshalb am besten niedergeschrieben werden.
Ich gehe zu der Nachbesserung über, dem bei weitem nützlichsten Teil des Studiums; hat man doch nicht ohne Grund behauptet, der Griffel sei in nicht geringerem Grade tätig, wenn er Geschriebenes wieder vernichtet. Zu dieser Tätigkeit gehört aber Hinzufügen, Hinwegnehmen und Ändern. Nun ist ein Urteilen leichter und einfacher, wenn es sich darum handelt, zu ergänzen oder wegzulassen; das Schwülstige aber zu vereinfachen, das Matte zu beleben, das Üppige zu beschränken, das Ungeordnete zu ordnen, das Unzusammenhängende dem Zusammenhang einzureihen, das zu stark Hervorgehobene zurückzudrängen: dies alles erfordert doppelte Mühe; denn auf der einen Seite muß man das, dem man bereits seinen Beifall geschenkt hatte, verurteilen, und auf der andern Seite das, was einem fern gelegen hatte, neu hinzu erfinden. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß es sich empfiehlt, erst dann zu dem Geschriebenen wie zu einer neuen oder fremden Arbeit zurückzukehren, wenn man es eine Zeitlang beiseitegelegt hat, damit uns das von uns Verfaßte nicht wie kleine Kinder sich einschmeicheln und gefallen. Aber auch dies kann zumal dem Redner nicht immer zuteil werden, da er häufig für das Bedürfnis des Augenblicks schreiben muß, man muß auch im Verbessern ein Ende finden können. Es gibt nämlich Leute, welche zu dem Geschriebenen jedesmal in der Voraussetzung, es sei fehlerhaft, zurückkehren, und die jede beliebige Änderung vorziehen, als ob das zuerst Geschriebene nicht das Recht habe, das Bessere zu sein; diese sind den Ärzten vergleichbar, welche auch am gesunden Fleisch schneiden. Die Folge davon ist, daß überall Narben sind, daß es an eigentlichem Gehalt fehlt, und daß Verbesserungen zu Verschlechterungen werden. Man gelange also endlich zu einer Freude an dem Geschaffenen oder doch zur Zufriedenheit mit demselben, damit die Feile glätte, aber nicht zerreibe. Auch in dem Zeitaufwand muß man Maß halten; denn wenn es heißt, Cinna[1] habe die Smyrna in einem Zeitraum von neun Jahren geschrieben, Isokrates aber an dem Panegyricus mindestens zehn Jahre gearbeitet, so geht das den Redner nichts an, da sein Beistand wertlos ist, wenn er so langsam erfolgt.
Zunächst müssen wir uns darüber verbreiten, was hauptsächlich diejenigen, welche sich Fertigkeit erwerben wollen, schreiben müssen. Nun gehört eine Auseinandersetzung über die Stoffe, welche an erster, zweiter oder darauffolgender Stelle zu behandeln sind, nicht hierher (denn das ist schon im ersten Buch, wo wir einen Studienplan für die Knaben, und im zweiten Buch, wo wir einen solchen für die älteren Schüler entworfen haben, geschehen), sondern es ist die auf unser gegenwärtiges Thema bezügliche Frage zu beantworten, wodurch Fülle und Leichtigkeit hauptsächlich erreicht werden.
Griechisch in das Lateinische zu übersetzen, hielten unsere Redner der alten Schule für das beste. Dies behauptet Crassus in Ciceros Schrift „Über den Redner” häufig getan zu haben[1]; dies schreibt Cicero seinerseits oft vor[2], ja er gab sogar die Bücher Platos und Xenophons [3], welche er dementsprechend übersetzt hatte, heraus; dies fand auch den Beifall des Messalla, und viele seiner Reden sind auf diese Weise entstanden, so daß er mit der äußerst schmucklosen und für Römer sehr schwierigen Rede des Hyperides für Phryne[4] in die Schranken treten konnte. Die Berechtigung einer solchen Übung liegt auch auf der Hand. Denn an Fülle des Inhalts sind die griechischen Schriftsteller sehr reich und sie zeigen in der Beredsamkeit die größte Kunst; bei der Übertragung dieser kann nun der Übersetzer so verfahren, daß er stets den treffendsten Ausdruck wählt; denn wir gebrauchen ausschließlich die Worte der eigenen Sprache. Viele von den Redewendungen, welche zum Schmuck dienen, in abweichender Weise zu bilden, ist schon deshalb notwendig, weil die römische und die griechische Ausdrucksweise meist voneinander verschieden sind.
Aber auch die Übertragung aus dem Lateinischen dürfte wohl gleichfalls sehr förderlich sein. Was die Gedichte anbetrifft, wird dagegen niemand Widerspruch erheben, ist es doch eine Art der Übung, welche Sulpicius ausschließlich betrieben haben soll. Denn der erhabene Geist der Dichtung kann der Rede einen höheren Schwung geben, und die Ausdrücke, welche der poetischen Freiheit entsprechend kühner sind, haben nicht in gleicher Weise das Treffende des Ausdrucks zur Voraussetzung. Dagegen ist es uns erlaubt, den Gedanken selbst rednerische Kraft zu verleihen, Fehlendes zu ergänzen, Breites zu kürzen. Auch möchte ich die Forderung aussprechen, daß eine Umschreibung nicht erklärende Erweiterung sei, sondern ein Wettkampf und Streit bei Darlegung des gleichen Gedankens. Deshalb weiche ich auch von denen ab, welche die Übertragung lateinischer Reden mißbilligen, weil jede Veränderung notwendig eine Verschlechterung im Gefolge haben müsse, falls wir die besten Reden hierzu verwendeten. Denn wir haben gar nicht immer Grund, daran zu verzweifeln, dies oder jenes besser auszudrücken, als es bereits geschehen ist; auch ist die römische Beredsamkeit nicht so nüchtern und arm, daß man über einen Gegenstand nur auf eine Weise gut reden kann. Oder kann etwa der Schauspieler durch seine Bewegungen bei den gleichen Worten Abwechslung schaffen, während die Rede zurückstehen muß, indem ein Gegenstand rednerisch so behandelt werden kann, daß über den gleichen Stoff jedes weitere Wort überflüssig wäre? Aber gesetzt auch, daß das von uns Gefundene weder besser noch gleichwertig sei, so kann es doch dem Vorbild sehr nahe kommen. Oder kommt es etwa nicht vor, daß wir selbst über denselben Gegenstand zweimal und häufiger reden und manchmal in zusammenhängender Auseinandersetzung? Sollten wir etwa nur mit uns selbst in Wettstreit treten können, mit anderen hingegen nicht? Denn vorausgesetzt, daß nur auf eine Art ein Gegenstand rednerisch gut behandelt werden könnte, müßten wir zu der Meinung kommen, daß uns von unseren Vorgängern ein weiteres Vorgehen abgeschnitten sei: in der Tat aber sind die Möglichkeiten ungezählte, und gar viele Wege führen zu demselben Ziele. Ihren eigenen Reiz hat die Kürze, ihren eigenen wiederum die Fülle, nach anderen Gesetzen muß das Übersetzte, nach anderen das Ursprüngliche beurteilt werden, das eine läßt sich in schlichter, einfacher Redeweise, das andere in künstlich figürlicher Rede besser ausdrücken. Kurz, das eigentlich Bildende bei dieser Übung ist die ihr innewohnende Schwierigkeit. Dazu kommt noch das gewichtige Moment, daß die besten Schriftsteller auf diese Weise mit großer Sorgfalt studiert werden. Denn wir durcheilen ihre Schriften nicht in sorgloser Lektüre, sondern wir behandeln alles einzelne und dringen notwendigerweise in die Tiefe ein und lernen ihre Vorzüge dadurch schätzen, daß wir sie nicht nachahmen können.
Aber nicht allein Fremdes zu übertragen, sondern auch unser Eigenes auf verschiedene Arten zu behandeln, wird von Nutzen sein, in der Weise, meine ich, daß wir einzelne Gedanken auswählen und diesen so häufig wie möglich eine andere Wendung geben, sowie dasselbe Wachs immer wieder in andere Formen gegossen zu werden pflegt. Am meisten Fertigkeit, glaube ich, aber werden wir uns gerade bei Behandlung der einfachsten Gegenstände erwerben. Denn der Mangel an Können bleibt gar leicht verborgen, wenn man es mit einer vielgestaltigen Menge von Personen, Streitfällen, Ort– und Zeitverhältnissen, Warten und Taten zu tun hat, da sich dann von allen Seiten eine Fülle von Stoff darbietet, aus welcher man etwas auswählen kann. Erst das ist ein Prüfstein eines tüchtigen Könnens, wenn man das, was von Natur knapp ist, ausführlich zu behandeln versteht, wenn man das Unbedeutende steigert, dem Ähnlichen Abwechslung, dem Gewöhnlichen Reiz verleiht und über eine kleine Anzahl von Gegenständen ausführlich geistreich redet.
Hierzu werden am besten beitragen die Untersuchungen über zweifelhafte Fragen, welche, wie wir bemerkten[5], „Thesen” genannt werden; pflegte sich doch Cicero mit diesen zu üben, als er schon einen hohen Rang im Staate einnahm[6]. Dieser Übung ist die Widerlegung und das Beweisen einzelner Sätze verwandt. Denn da ein solcher Satz entweder ein Urteil oder eine Vorschrift enthält, so kann auf der einen Seite die Sache selbst, auf der andern Seite das Urteil über dieselbe untersucht werden. Dazu kommen die sogenannten Gemeinplätze, welche bekanntlich auch von Rednern[7] bearbeitet worden sind. Denn wer diese nur, indem er bei der Stange bleibt, ohne auf Abwege zu geraten, erschöpfend behandelt hat, der wird gewiß in dem, was mehrfache Abschweifungen zuläßt, um so reicher und für alle Fälle gerüstet sein. Laufen doch alle auf allgemeine Fragen hinaus. Denn es ist wohl kein Unterschied, ob wir sagen: der Volkstribun Cornelius [8] soll in Anklagezustand versetzt werden, weil er einen Antrag verlesen hat, oder ob wir fragen: wird die Amtsgewalt verletzt, wenn ein Beamter seinen Antrag dem Volke selbst vorliest, ob wir vor Gericht die Streitfrage aufstellen, ob Milo[9] den Clodius mit Recht getötet habe, oder ob wir sie formulieren: darf man einen Feind und staatsgefährlichen Bürger töten für den Fall, daß er sich in ebendem Augenblick nicht feindlich zeigt? Ferner: Hat Cato die Marcia dem Hortensius[10] unbeschadet seiner Ehre übergeben? oder: Ziemt so etwas einem rechtschaffenen Manne? Über eine Person wird das Urteil gesprochen, um den Wert einer Handlung wird der Streit geführt. Was aber die Deklamationen, wie sie in den Rhetorenschulen geübt werden, betrifft, so sind diese, falls sie nur der Wirklichkeit entsprechend und richtigen Reden verwandt sind, nicht allein, solange das Fortschreiten noch ein langsames ist, von großem Nutzen, da sie das Erfinden und Disponieren in gleicher Weise üben, sondern auch, wenn es schon zu einem gewissen Abschluß gelangt ist, und der junge Redner schon Lorbeeren auf dem Forum geerntet hat. Denn die Beredsamkeit erhält Befruchtung und Glanz gleichsam durch eine angenehmere Speise und erholt sich, nachdem sie in dem beständigen harten Kampf der Prozesse müde geworden war. Deshalb muß man in manchen zur Übung geschriebenen Aufsätzen die Breite der Geschichtschreibung anwenden und sich an der Ungezwungenheit der Dialoge mit Vergnügen üben; selbst mit Dichtern sich spielend zu beschäftigen wird nicht ohne Wert sein, sowie die Athleten sich an Muße und ausgesuchterer Kost erfreuen, nachdem sie auf einige Zeit dem Zwang in Speise und regelmäßiger Übung entsagt haben. Deshalb scheint mir auch Cicero der Beredsamkeit so große Förderung gebracht zu haben, weil er sich auch zu diesen nicht abseits gelegenen Studien gewendet hat. Denn wenn uns die Prozesse allein Stoff liefern, dann wird notwendig der Glanz schwinden, die feineren Organe werden an Geschmeidigkeit verlieren, und die Schärfe des Geistes wird im täglichen Kampfe stumpf werden.
Wie aber den im Gerichtskampf geübten und gleichsam im militärischen Dienstverhältnis befindlichen Rednern diese süße Speise Erfrischung und Stärkung bietet, so dürfen die Jünglinge nicht zu lange bei diesem bloßen Abbilde wahrer Verhältnisse verweilen und sich nicht an inhaltslose Fiktion gewöhnen, damit sie nicht aus jenem Wirken in der Dämmerung des geschlossenen Raumes, mit welchem sie durch langjährige Gewöhnung vertraut geworden sind, wie von dem Glanze der Sonne aufgeschreckt werden, sobald sie es mit einem wirklichen Prozesse zu tun haben. So ging es, wie man sagt, selbst einem Porcius Latro[11], welcher ein berühmter Lehrer der Beredsamkeit war. Als er, der sich einen großen Ruf durch seine Lehrtätigkeit erworben hatte, eine Rede auf dem Forum zu halten hatte, sah er sich zu der dringenden Bitte gezwungen, man möge die Sitzung in das Gerichtslokal verlegen. So ungewohnt war ihm der freie Himmel, daß man hätte glauben können, alle seine Beredsamkeit sei von Wand und Decke abhängig.
Deshalb möge ein Jüngling, welcher Stoff und Form in der rechten Weise zu gestalten von seinen Lehrern mit Fleiß gelernt hat (was keine grenzenlose Aufgabe ist, wenn die Lehrer ihre Sache verstehen und guten Willen haben), und der auch einige Übung erlangt hat, sich, wie es auch bei unseren Vorfahren geschah, einen Redner zur Nachfolge und Nacheiferung erwählen; bei Gerichtsverhandlungen sei er so häufig wie möglich anwesend und ein fleißiger Zuschauer bei dem Gerichtsverfahren, bei welchem er später selbst eine Rolle spielen wird. Dann soll er entweder die gleichen Verteidigungsreden, welchen er beigewohnt hat, schriftlich ausarbeiten, oder auch andere, aber solche, welche der Wirklichkeit entnommen sind, und er soll sich jetzt mit scharfen Waffen üben, wie wir es bei Gladiatorenspielen sehen, nach dem Beispiel des Brutus, welcher für Milo schrieb. Das ist besser, als Entgegnung auf die Reden der Alten schreiben, wie es Cestius[12] mit der Rede Ciceros für Cestius tat, obwohl er aus der Verteidigungsrede die Sache der andern Partei nicht hinreichend kennen konnte.
Noch schneller aber wird der Jüngling zum Ziele gelangen, wenn ihn sein Lehrer nötigt, bei seinen Deklamationen so sehr wie möglich der Wahrheit treu zu bleiben und die Stoffe vollständig zu bearbeiten, während er sich bisher die leichtesten und dankbarsten aussuchte. Freilich steht dem in zweiter Linie namhaft gemachten Punkt die allzu große Menge der Schüler und der Brauch, die Klassen an bestimmten Tagen deklamieren zu lassen, hindernd im Wege, einigermaßen auch die Urteilslosigkeit der Väter, welche die Deklamationen zählen und nicht nach ihrem Werte beurteilen. Aber ein vernünftiger Lehrer (wie ich im ersten Buche ausgeführt habe) [13] wird sich nicht mit einer größeren Anzahl von Schülern, als er vertragen kann, belasten; er wird zu große Weitschweifigkeit beschneiden, so daß er nur alles das, was die Streitfrage betrifft, vorbringen läßt, nicht wie es in der Methode einiger liegt, auch das, was in irgendwelchem Zusammenhang mit dem Stoff steht; auch wird er die Zeit, in welcher die aufgegebenen Vorträge gehalten werden müssen, lieber um mehrere Tage ausdehnen oder die Stoffe zu teilen erlauben. Das fleißig Ausgearbeitete wird von höherem Nutzen sein als eine größere Anzahl von nur begonnenen Versuchen, welche der Schüler gleichsam nur gekostet hat. In diesem Fall nämlich pflegt es so zu gehen, daß das einzelne nicht den rechten Platz erhält, und daß die Eingänge der Reden nicht innerhalb der gehörigen Grenzen bleiben, indem die Jünglinge blühende Redewendungen überall zusammensuchen und auf diesen Teil zusammenhäufen. Daher kommt es, daß sie in der Besorgnis, für den Vortrag der späteren Partien keine Zeit zu haben, die vorhergehenden durch Redeschmuck aller Art unklar gestalten.
Der Ausarbeitung größerer schriftlicher Arbeiten am nächsten verwandt ist die Anfertigung von Entwürfen im Kopf, welche ebenfalls von jener Übung ihre Kräfte empfängt und zwischen dem mühevollen Verfassen von Aufsätzen und dem Glückswurf der Improvisation in der Mitte steht und vielleicht am häufigsten zur Anwendung kommt. Denn längere Aufsätze anzufertigen, dazu sind wir nicht überall und nicht immer imstande, für Anfertigung von nicht aufgeschriebenen Entwürfen ist Zeit und Ort meist reichlich vorhanden. Ein solcher Entwurf umfaßt in wenigen Stunden selbst große Prozesse; er wird, sogar in der Dunkelheit der Nacht, wenn der Schlaf unterbrochen ist, gefördert; für ihn findet sich mitten in der Tätigkeit etwas freie Zeit, und für ihn läßt man keinen Augenblick unbenutzt. Auch gibt er nicht nur, wie es wohl genug wäre, eine Anordnung des Stoffes, sondern er verbindet auch die Worte und webt die ganze Rede so zusammen, daß ihm zur vollen Fertigstellung nur die schreibende Hand fehlt; übrigens haftet im Gedächtnis das meist weit treuer, was nicht durch die Mühe des Schreibens weniger fest aufgefaßt ist.
Aber auch zu dieser Fähigkeit des Entwerfens in Gedanken kann man nicht plötzlich oder schnell gelangen. Denn erstlich müssen wir durch vieles Schreiben eine Sicherheit in der Form erlangt haben, welche uns bei dem Entwerfen in Gedanken begleitet; dann ist allmählich die Erfahrung zu gewinnen in der Weise, daß wir uns nur an kleinen Aufgaben versuchen, deren treue Wiedergabe nicht schwierig ist; dann müssen wir unsere Fertigkeit vermehren, indem wir so wenig Neues hinzunehmen, daß wir eine Mehrbelastung nicht spüren, und endlich durch beständige Übung, welche hauptsächlich in einer Schulung des Gedächtnisses beruht, größere Stoffmassen umfassen; deshalb muß ich auch verschiedenes an jenem Orte, wo vom Gedächtnis die Rede sein wird, behandeln. Es kommt mit der Zeit dahin, daß der, bei welchem der Geist sich willig zeigt, durch eifriges Studium erreicht, daß bei ihm das, was er nur in Gedanken entworfen hat, ihm bei der Rede ebenso gegenwärtig ist, wie das, was er geschrieben und auswendig gelernt hat.
Cicero wenigstens ist Gewährsmann dafür, daß Metrodor [1] aus Skepsis und Empylus[2] aus Rhodos und von unseren Rednern Hortensius das in Gedanken Entworfene in ihren Gerichtsreden wörtlich wiedergaben.
Wenn aber vielleicht einmal während des Sprechens die Rede die Färbung der Improvisation erhält, so soll man nicht ängstlich bei dem vorher Ausgedachten haften bleiben. Hat doch auch dieses nicht eine so sorgfältige Ausarbeitung erfahren, als daß man nicht auch einem glücklichen Zufall Raum gönnen könnte, da doch häufig auch in das Geschriebene plötzliche Einfälle einfließen.
Deshalb ist bei dieser ganzen Art der Übung so zu verfahren, daß wir leicht den Entwurf verlassen und ihn wiederfinden können. Denn wie es das erste ist, von Hause eine stets in Bereitschaft gehaltene und sichere Fülle des Wortschatzes mitzubringen, so wäre es andererseits die größte Torheit, die Gaben des Augenblicks zurückzuweisen. Daher soll der in Gedanken ausgearbeitete Entwurf in der Weise beschaffen sein, daß uns der Zufall nicht außer Fassung bringen, wohl aber zustatten kommen kann. Durch ein starkes Gedächtnis aber wird erreicht, daß das von uns im Geiste Zusammengefaßte mühelos unseren Lippen entströmt, und daß uns die Sorge, das Zurückschauen und Anklammern an das Gelernte den Blick auf das Folgende nicht trübt, sonst würde ich selbst eine übermütige Improvisation einer übel zusammenhängenden Vorbereitung vorziehen. Denn es ist schlimm, wenn man nach rückwärts suchen muß, weil wir, während wir so suchen, von anderem uns abwenden müssen und die Gedanken aus dem Gedächtnis schöpfen, anstatt aus dem Stoff. Wenn man aber beides suchen muß, so ist dessen mehr, was noch gefunden werden kann, als dessen, was schon gefunden worden ist.
Der größte Gewinn aber des Studiums und gleichsam der reichste Lohn für ein langes Arbeiten ist die Fähigkeit, aus dem Stegreif zu reden. Wer diese nicht erlangt hat, sollte meiner Ansicht nach wenigstens auf den Beruf des gerichtlichen Anwalts verzichten und seine einseitige Fertigkeit der schriftlichen Darstellung lieber an anderen Stoffen ausüben. Denn einem Manne von wirklicher Gewissenhaftigkeit steht es nicht wohl an, eine Hilfeleistung zum allgemeinen Nutzen zu versprechen, welche in den Momenten augenblicklicher Gefahr versagt, einem Hafen vergleichbar, in welchen ein Schiff nur bei leichtem Winde einlaufen kann. Wird doch in unzähligen Fällen ein plötzliches Eingreifen nötig, sei es der Staatsgewalt gegenüber oder bei plötzlich angestelltem Gerichtsverfahren. Wenn ein solcher Fall nun – ich will nicht sagen irgendeinem unschuldigen Bürger – aber einem seiner Freunde und Verwandten passiert, soll er dann stumm dastehen und in Gegenwart derer, die seine Verteidigung verlangen und dem Untergang preisgegeben sind, wenn ihnen nicht Hilfe zuteil wird, Aufschub, Abgeschiedenheit und Stille suchen, bis die rettende Rede geschmiedet und dem Gedächtnis eingeprägt und Stimme und Lunge wohlvorbereitet sind? Und wie könnte man wohl vernünftigerweise auf die Forderung verzichten, daß der Redner jeden Zwischenfall benutzt? Wie soll es denn werden, wenn er seinem Gegner antworten muß? Denn häufig bleibt das, was wir vermutet hatten und wogegen wir geschrieben hatten, aus, und der ganze Prozeß nimmt plötzlich eine andere Wendung, und wie der Steuermann dem Andringen der Stürme gegenüber, so muß der Redner bei einer plötzlich veränderten Wendung des Prozesses sein Verfahren ändern. Was erreicht man denn schließlich mit den vielen schriftlichen Übungen, mit anhaltender Lektüre und mit langandauerndem Studium, wenn man dieselbe Schwerfälligkeit wie ein Anfänger behält? Die Vergeblichkeit der vorangegangenen Arbeit muß der wahrhaftig zugeben, der auf dem gleichen Gebiete immer derselben Anstrengung bedarf. Mit diesen Worten will ich nicht gesagt haben, daß der Redner der Improvisation den Vorzug geben soll, sondern daß er sie zu leisten vermag. Dies werden wir aber am besten auf folgende Weise erreichen.
Zunächst soll der Weg, den die Rede einzuschlagen hat, bekannt sein; denn der Wettlauf kann nicht glücken, bevor wir wissen, welche Richtung und welchen Weg wir einschlagen müssen. Dabei genügt es nicht, die einzelnen Teile einer Gerichtsrede genau zu kennen oder den einzelnen Streitpunkt richtig zu disponieren, obwohl das die Hauptsache ist, sondern man muß auch wissen, was in jedem dieser Teile zuerst vorzubringen ist, was an zweiter Stelle und was nachher; ferner was seiner Beschaffenheit nach so eng zusammenhängt, daß es weder seinen Platz vertauschen kann noch eine Trennung verträgt, ohne daß Verwirrung entsteht. Wer aber planmäßig redet, der läßt sich vor allem durch die Reihenfolge der Ereignisse selbst führen, daher kommt es hauptsächlich, daß auch weniger geübte Leute am leichtesten in der Erzählung den Faden behalten. Dann muß man jeden Augenblick gegenwärtig haben, worauf sich die Untersuchung bezieht, und nicht umhergaffen oder durch das, was sich von anderer Seite den Blicken darbietet, in Verwirrung geraten und nicht aus Unzusammengehörigem die Rede zusammenschweißen wie Seiltänzer, welche bald hier, bald dort sind und an keinem Orte verharren. Außerdem soll man Maß und Ziel einhalten, was ohne Disposition nicht möglich ist. Nachdem das Thema nach Kräften erschöpft ist, sei man sich bewußt, daß man fertig ist.
Das bisher Ausgeführte ist Sache der Theorie, das Weitere ist eine Frucht praktischer Übung. Damit wir uns eine Fülle der besten Ausdrücke der bereits gegebenen Vorschrift entsprechend aneignen, muß die Redefertigkeit durch viele und gewissenhafte Stilübung eine so sichere geworden sein, daß auch das vom Augenblick erzeugte Wort dieselbe Färbung wie etwas Geschriebenes erhält. Wir werden daher, nachdem wir viele schriftliche Aufsätze gefertigt haben, auch viele Übungen im mündlichen Vortrag anstellen. Denn Gewöhnung und Übung bringt hauptsächlich Fertigkeit hervor, und wenn man hierin Pausen eintreten läßt, wird nicht allein jene Lebhaftigkeit matter, sondern die Zunge selbst wird stumpf und müde. Denn obwohl es einer gewissen natürlichen Beweglichkeit dazu bedarf, daß wir im Sprechen weiterbauen können, und daß der im voraus gebildete Gedanke an das eben Gesprochene anknüpft, so kann doch kaum natürliche Anlage oder künstliche Berechnung uns zu einer so vielseitigen Tätigkeit führen, daß wir gleichzeitig Erfindung, Disposition, Ausdruck und die Reihenfolge des Inhalts in genügender Weise beachten, und daß wir dabei noch den eben gesprochenen Worten, den darauffolgenden und denen, welche im weiteren Verlaufe folgen sollen, Beachtung schenken, indem wir zugleich unsere Stimme und Sprache und die äußeren Bewegungen kontrollieren. Denn die Aufmerksamkeit muß weit vorauseilen und sich mit dem Folgenden beschäftigen: so viel man im Reden aufbraucht, so viel muß aus dem noch Ausstehenden zur Ergänzung herangezogen werden, so daß äußerer und innerer Fortgang gleichen Schritt halten müssen, wenn wir nicht stehenbleiben und stutzen und schließlich kurze und abgerissene Sätze nach Art der Schluchzenden ausstoßen wollen.
Es gibt nun eine gewisse prinziplose Fertigkeit, welche die Griechen ἄλογοϛ τριβή („eine der Vernunft nicht bedürftige Beschäftigung”) nennen; sie läßt uns die Hand beim Schreiben bewegen, die Augen beim Lesen über die Zeile, ihr Ende und den Anfang der neuen gleiten und das Folgende bereits aufnehmen, ehe man das Vorhergehende ausgesprochen hat. Diese mechanische Fertigkeit bringt auf der Bühne jene Wunder der Gaukler und Taschenspieler zustande, welche darin bestehen, daß sie das in die Hände anderer scheinbar von selbst kommen lassen, was sie dahinein getan haben, und daß es auf ihren Befehl wieder zurückkehrt. Aber diese mechanische Fertigkeit wird nur dann von Nutzen sein, wenn zuvor die Kunst, von welcher wir schon sprachen, vorhanden ist, durch welche das an sich Unvernünftige zu einem vernünftigen Zwecke verwendet wird. Denn wer ohne Ordnung, Schmuck und Fülle redet, der scheint mir nicht zu reden, sondern zu toben. Und das zusammenhängende Reden ohne Vorbereitung werde ich an sich nie bewundern, da ich es auch bei schimpfenden Weibern reichlich gesehen habe; wenn es aber von Feuer und Geist getragen wird, dann trifft es sich häufig, daß die sorgfältigste Vorbereitung an die Wirkung einer Improvisation nicht heranreicht. In einem solchen Falle pflegten dann die alten Redner, wie Cicero sagt[1], zu sagen, ein Gott habe mitgewirkt. Die Ursache hiervon liegt auf der Hand. Tiefgreifende Erregungen und lebhafte Vorstellungen lassen in vollem Zuge die Rede ausströmen, während die Lebhaftigkeit derselben durch den Aufenthalt des Schreibens verringert wird, die, wenn einmal etwas verlorengegangen ist, nicht wieder gewonnen werden kann. Auf jeden Fall kann jene schwungvolle Kraft der Rede sich nicht äußern, wenn der Redner jene unglückselige Wortklauberei anwendet, und bei jedem Ausdruck einen Anstoß findet, sondern die Rede wird, wenn auch jeder Ausdruck peinlich korrekt ist, nicht sowohl aus einem Guß, als Stückwerk sein.
Daher muß man die zuvor bezeichneten lebhaften Vorstellungen, welche, wie ich gesagt habe[2], von den Griechen als Bilder der Phantasie bezeichnet werden, in sich aufnehmen, und es muß alles, was der Gegenstand unserer Rede werden soll, Personen, Tatsachen und die damit verbundenen Gefühle von Furcht und Hoffnung ins Auge gefaßt und in die Glut des Affekts getaucht werden: denn das Herz ist es, was beredt macht, und die Kraft der Vorstellung.
Daher fehlen auch den Ungebildeten die Worte nicht, wenn sie nur von einem lebhaften Gefühle erregt sind. — Ferner ist der Geist nicht auf einen einzigen Gegenstand, sondern auf mehrere zugleich zu richten, so wie wir bei einer geraden Straße, wenn wir sie mit den Augen durchmessen, nicht allein das Ende sehen, sondern alles in ihr und an ihren Seiten Befindliche bis zum Ende. Einen Anreiz zum Reden trägt auch ein berechtigter Ehrgeiz in sich; während man sich daher beim Schreiben an der Einsamkeit erfreut und jede Gesellschaft ängstlich meidet, wird der improvisierende Redner durch die Zahl der Zuhörer wie der Soldat durch das Blasen der Trompeten angefeuert. Denn auch einen schwierigen Gedanken läßt die Nötigung des Redens zum Ausdruck gelangen, und einen glücklichen Schwung erhöht der Wunsch zu gefallen. So sehr geht alles auf Belohnung aus, daß auch die Beredsamkeit, wieviel Vergnügen sie auch in sich selbst trägt, sich hauptsächlich durch den augenblicklichen Gewinn von Ruhm und Anerkennung leiten läßt. Nur möge keiner zu seinem Talente eine so große Zuversicht haben, daß er hoffe, es könne ihm dies sofort beim ersten Anlauf glücken, vielmehr muß man, wie bei dem Entwurf im Kopfe, die Gewandtheit im Extemporieren von kleinen Anfängen allmählich zur Vollendung führen, welche nur durch Übung erreicht und behauptet werden kann. Man muß es aber hierin so weit bringen, daß der im Kopf zuvor überlegte Entwurf nicht unter allen Umständen besser wie die Improvisation ist, wohl aber sicherer, eine Fertigkeit, welche sich viele nicht nur in Prosa, sondern auch in Versen angeeignet haben, wie Antipater[3] aus Sidon und Licinius Archias[4], wenn man Cicero Glauben schenken darf; damit will ich aber nicht gesagt haben, daß nicht auch manche in unserer Zeit es so weit gebracht haben und es noch bringen. Obwohl ich es nun nicht für etwas so außerordentlich Billigenswertes halte (denn es ist weder besonders nützlich noch notwendig), so meine ich doch, daß es denen, welche sich zur Tätigkeit auf dem Forum vorbereiten, ein vortreffliches Vorbild gibt, wenn man in ihnen so große Hoffnungen erweckt. Gleichwohl soll das Zutrauen zu dieser Gewandtheit nie ein so großes sein, daß wir nicht wenigstens einen kurzen Augenblick – der fast nie fehlen wird – erübrigen, um das, was wir sagen wollen, mit unserm geistigen Auge zu überblicken, wozu wenigstens bei Gerichtsverhandlungen und auf dem Forum immer Gelegenheit sein wird; denn niemand tritt als Gerichtsredner auf, ohne sich über den schwebenden Rechtsfall zu unterrichten. Manche Kunstredner verleitet ein verkehrter Ehrgeiz, daß sie sich sofort zu reden erbieten, sobald eine Streitfrage aufgeworfen ist, ja daß sie um ein Wort bitten, mit dem sie anfangen wollen, was besonders abgeschmackt und schauspielermäßig ist. Freilich verlacht ihrerseits wieder die Beredsamkeit ihre Anhänger, die sie so herabwürdigen, und sie, welche Törichten gebildet erscheinen wollen, erscheinen Gebildeten töricht. Wenn jedoch irgendein Zufall eine so plötzliche Ausübung der Beredsamkeit verlangt, so wird man einer besonderen Regsamkeit des Geistes bedürfen; man muß dann alle geistige Kraft auf den Gegenstand lenken und vorderhand auf stilistische Sorgfalt verzichten, wenn Inhalt und Form gleich sorgfältig zu behandeln nicht möglich ist. Dann gewinnen wir auch Zeit durch ein langsameres Sprechen und eine zurückhaltende und gleichsam zögernde Redeweise, die jedoch so anzuwenden ist, daß wir zu überlegen, nicht aber steckenzubleiben scheinen. So werden wir verfahren, während wir noch im Begriff sind, den Hafen zu verlassen, und solange uns noch der Wind treibt, ohne daß die Segel vollständig klar sind. Bald aber werden wir auf der Fahrt die Segel in Ordnung bringen, die Taue zurechtmachen und uns in volle Fahrt begeben. Dies würde ich mehr befürworten, als daß man sich einem nichtigen Strudel von Worten überläßt, eine Beute für die Stürme, welche einen, wohin sie wollen, tragen werden.
Es bedarf aber eines ebenso großen Fleißes, um diese Fertigkeit zu erhalten, wie um sie zu erwerben. Das theoretische Wissen verliert sich nicht, wenn es einmal recht erfaßt worden ist; auch die schriftliche Übung büßt durch Unterbrechung nur wenig von der Raschheit ein; diese Fertigkeit dagegen, immer zum Reden gefaßt und in Bereitschaft zu sein, wird lediglich durch Übung erhalten. Dies erwerben wir uns dann am besten, wenn wir täglich vor einer Anzahl von Zuhörern zu reden haben, deren Urteil und Gutachten wir mit ernstlicher Sorge entgegensehen; denn daß man die eigene Kritik fürchtet, kommt selten vor. Immerhin ist es besser, wenn wir uns allein im Reden üben, als wenn wir uns überhaupt nicht üben. Eine andere Übung, welche an jedem Orte und zu jeder Zeit, wenn wir nicht etwas anderes tun, stattfinden kann, besteht im bloßen Denken und der Behandlung umfangreicherer Stoffe ganz still (indem wir jedoch gleichsam im Innern mit uns reden), und sie ist zum Teil nützlicher als die zuletzt genannte; denn man wird bei dieser eine sorgfältigere Anordnung treffen als bei jener, wo wir den Zusammenhang der Rede zu unterbrechen fürchten. In anderer Beziehung ist wieder die vorhergenannte Übung von größerem Nutzen, so zur Erlangung einer kräftigen Stimme, einer geläufigen Aussprache und guter körperlicher Bewegungen, welche, wie gesagt, auch ihrerseits den Redner in Erregung bringen, wie denn auch das Bewegen der Hände und das Stampfen mit dem Fuße ihn belebt, gleichwie es die Löwen mit dem Schweif machen. Man muß sich aber mit Eifer dem Studium hingeben immer und überall. Ist doch auch fast nie ein Tag so mit Geschäften belastet, daß nicht ein kurzer Augenblick für eine gewinnbringende Tätigkeit, wie Cicero den Brutus sagen läßt [5], sei es für Schreiben, Lesen oder Redeübungen erübrigt werden könnte, wie denn auch C. Carbo[6] selbst im Felde solche Redeübungen anzustellen pflegte. Auch das darf ich nicht übergehen, was Cicero gleichfalls empfiehlt[7], daß unser Sprechen niemals nachlässig sein möge; gleichviel, was wir zu reden haben und wo wir es tun, immer besitze es eine relative Vollkommenheit. Und schreiben soll man zu keiner Zeit mehr als dann, wenn wir viel aus dem Stegreif reden. Denn so bewahren wir uns die Gediegenheit, denn Leichtigkeit gehört zu den folgenden Gedanken, und die Leichtigkeit des Ausdrucks, welche sonst in Oberflächlichkeit ausarten würde, erhält frische Nahrung aus der Tiefe, sowie die Landleute die zu oberst liegenden starken Wurzeln eines Weinstockes, welche ihn nur auf der Erdoberfläche befestigen, abschneiden, damit die schwächeren weiter in die Tiefe wachsen und so erstarken. Und vielleicht fördert beides, mit Sorgfalt und Fleiß ausgeführt, einander in der Weise, daß wir durch das Schreiben sorgfältiger reden und durch das Reden mit größerer Leichtigkeit schreiben lernen. Man muß deshalb, so oft es irgend geht, schreiben, und falls keine Gelegenheit vorhanden ist, sich durch Überdenken des Stoffes bemächtigen; ist beides versagt, so soll man doch darauf hinwirken, daß weder der Redner in Verlegenheit gesetzt, noch sein Klient verlassen scheint.
Vielbeschäftigte Anwälte pflegen es aber meist so zu halten, daß sie das Notwendigste und auf jeden Fall den Anfang aufschreiben und das übrige, was sie im Gedächtnis haben, in Gedanken disponieren, plötzlichen Einwürfen aber aus dem Stegreif entgegentreten. Daß M. Tullius so verfahren ist, geht aus seinen Aufzeichnungen hervor. Es sind aber solche auch von anderen in Umlauf, welche aufgefunden in der Gestalt, in der sie ein Redner niedergeschrieben hatte, später in Bücher eingeteilt worden sind, wie die Notizen über die Prozesse, welche Servius Sulpicius geführt hat, von welchem noch drei Reden vorhanden sind; aber gerade diese ebengenannten Aufzeichnungen sind von einer peinlichen Genauigkeit, daß ich glauben möchte, sie seien von ihm selbst für die Nachwelt bestimmt gewesen. Ciceros Notizen dagegen, welche nur für den Augenblick berechnet waren, hat sein Freigelassener Tiro gesammelt; eine Tatsache, welche ich nicht anführe, damit sie denselben zur Entschuldigung diene, und als ob ich ihnen meinen Beifall versagte, sondern um die Bewunderung für dieselben zu erhöhen. Bei dem freien Sprechen billige ich es vollständig, wenn man sich kurze Notizen in eine Rolle macht, welche man auch in der Hand behalten und ab und zu einsehen darf. Hingegen mißfällt mir die Vorschrift des Länas[8], sogar bei dem, was wir geschrieben haben, den Hauptinhalt in ein Gedenkbuch und einzelne Hauptabschnitte einzutragen[9]. Denn das Vertrauen auf dieses Gedenkbuch läßt uns im Memorieren nachlässig sein und macht unser Reden stockend und formlos. Möchte ich doch nicht einmal, daß man das aufschreibt, was man vollständig auswendig lernen will; denn hier kommt es auch vor, daß unsere Gedanken an ebendiesem Aufgeschriebenen haften bleiben, und daß wir auf das, was ein glücklicher Augenblick uns eingibt, verzichten. Unsicher und schwankend werden wir dann, da wir das Aufgeschriebene verloren und Neues zu suchen nicht den Mut haben.
Über das Gedächtnis werde ich in dem nächsten Buche sprechen und darf dies hier nicht schon anfügen, weil ich anderes vorausschicken muß.
Erstes Kapitel
[1] Dieselben sind in den beiden vorhergehenden Büchern enthalten.
[2] Genauer: „Die Arbeit wird wie ein Schiff ohne Steuermann hin und her schwanken.” Der Sinn ist demnach, daß, wie das Schiff den Steuermann nötig hat, so bedarf der Lernende des durch die Lektüre dargebotenen Vorbildes guter Schriftsteller.
[3] Eigentlich „wird wie über verschlossenen Schätzen brüten”. Ähnlich heißt es bei Vergil, Äneide VI, 610:
Oder welche für sich auf erworbenen Schätzen gebrütet; Horaz, Satiren I, 1, 70:
Du liegst voll Gier auf den Säcken,
Die du zusammengerafft.
[4] Nicht eigentlich der Redner, sondern derjenige, welcher ein Redner werden will.
[5] S. VIII, Vorwort 24; 5, 9; VII, Vorwort 1.
[6] Das sind Verfasser von Spottgedichten; der berühmteste, Archilochus, wird weiter unten charakterisiert.
[7] Aristophanes, Eupolis, Kratinus.
[8] Dies bezieht sich wohl mit einigen Abweichungen auf die zuerst von Herodot (II, 2) mitgeteilte Überlieferung, auf welche Weise der ägyptische König Psammetich zu erfahren versucht habe, welches Volk das älteste sei.
[9] Oder „Käse”, wie Vergil, Eklogen 1, 81.
[10] Im Gegensatz zu dem toten Buchstaben.
[11] Die Reden um den Kranz.
[12] Servius Sulpicius Rufus war der berühmteste Rechtsgelehrte zur Zeit Ciceros. Er wird als Verfasser von drei Reden genannt. In dem nicht weiter bekannten Prozesse der Aufidia wird er IV, 2, 106 als Verteidiger derselben bezeichnet; Messalla ist dann also der Ankläger. Doch ist nichts Näheres über den Fall bekannt. Über Messalla, Pollio und Cassius s. weiter unten.
[13] Cajus Nonius Asprenas, ein Freund des Augustus, wurde von Cassius angeklagt, weil bei einem von ihm gegebenen Gastmahl 130 Personen vergiftet worden waren. Der Prozeß endigte mit seiner Freisprechung.
[14] Die entsprechenden Reden Ciceros sind die für Ligarius und gegen Verres. Ligarius, der nach der Schlacht bei Thapsus in die Gewalt Cäsars gekommen und in die Verbannung geschickt war, wurde, als seine Brüder seine Begnadigung und Zurückberufung betrieben, von Tubero wegen seines Verhaltens in Afrika angeklagt.
[15] Freund und Zeitgenosse Ciceros.
[16] Cornelius Celsus, zur Zeit des Tiberius, ein Mann von umfassender Gelehrsamkeit, hatte über Rhetorik, Jurisprudenz, Landwirtschaft, Medizin, Kriegskunst und Philosophie geschrieben; erhalten ist nur seine Schrift de medicina.
[17] Er war aus Nemausus in Gallien.
[18] Crispus Passienus der Jüngere, Stiefvater des Kaisers Nero, gestorben 49 n. Chr.
[19] Vielleicht Lälius Balbus unter Tiberius.
[20] Der Fall ist nicht näher bekannt.
[21] Wo Cicero dies gesagt hat, ist unbekannt; die Stelle des Horaz steht ars poetica 359.
[22] In seinem Buche über die Rhetorik.
[23] Rede für den Dichter Archias 12.
[24] Das ist die antike Auffassung der Geschichtschreibung, welche sich von der modernen wesentlich unterscheidet.
[25] IV, 2, 45.
[26] Der Redner 39; 62.
[27] Hiermit sind offenbar die auch uns zum Teil erhaltenen Schriften des Plato, Xenophon und Äschines Socraticus gemeint.
[28] Brutus 248.
[29] In einer nicht auf uns gekommenen rhetorischen Anweisung.
[30] Aratus lebte um 270 v. Chr. am Hofe des Königs Antigonus Gonatas von Mazedonien. Seine Phänomena beginnen mit den Worten: Ἑκ Διὸϛ ἀρχώμεσθα (mit Zeus wollen wir anfangen). Dieses Werk bespricht Quintilian weiter unten.
[31] Ilias XXI, 196.
[32] Antilochus, Ilias XVIII, 18 ff.
[33] Phönix, Ilias IX, 529 ff.
[34] Ilias XXIV, 486 ff.
[35] Um 800 v. Chr., Verfasser des didaktischen Gedichtes „Werke und Tage”, einer „Theogonie” und eines Gedichtes „Der Schild des Herakles”.
[36] Der Stil, welcher in der Mitte steht zwischen dem schlichten attischen und dem überladenen asiatischen.
[37] Epischer Dichter aus Kolophon, lebte gegen das Ende des Peloponnesischen Krieges. Sein Hauptwerk war das Epos Thebaïs.
[38] Aus Halikarnaß, um 480 v. Chr., Oheim Herodots, Verfasser eines epischen Gedichtes Herakleia in 14 Büchern.
[39] Geboren zu Alexandria, aber als rhodischer Bürger gewöhnlich „der Rhodier” genannt, Vorsteher der Bibliothek in Alexandria um 190 v. Chr., Verfasser des noch erhaltenen Gedichtes „Argonautika”.
[40] Die alexandrinischen Kritiker, besonders Aristophanes aus Byzanz und sein Schüler Aristarch, veranstalteten im 2. Jahrhundert v. Chr. ein Verzeichnis der mustergültigen Dichter und Schriftsteller, das auch in späterer Zeit gewöhnlich als maßgebend anerkannt wurde.
[41] S. Anm. 30.
[42] Der berühmte Idyllendichter aus Syrakus, um 275 v. Chr.
[43] Aus Kamirus auf Rhodos, um 640 v. Chr., Verfasser einer „Herakleia”.
[44] Nikander, wahrscheinlich aus Kolophon, lebte um 450 v. Chr. zum Teil am Hofe des Königs Attalus III. von Pergamus und schrieb außer vielen didaktischen Werken „Alexipharmaka” und „Theriaka” über Bisse giftiger Tiere.
[45] Ämilius Macer aus Verona, gestorben 16 v. Chr., schrieb „Ornithogonia” und „Theriaka”.
[46] Quintilian scheint, durch die Gleichheit des Titels veranlaßt, an die Georgika Vergils gedacht zu haben. Doch läßt sich nicht nachweisen, daß bei Abfassung dieses Gedichtes die Georgika des Nikander als Vorbild gedient haben. Des letzteren Lehrgedicht über die Bienen (Melissurgika) kann vielleicht Vergil benutzt haben.
[47] Euphorion aus Chalkis auf Euböa, geb. um 276 v. Chr., lebte in Athen, dann seit 220 in Antiochia als Vorsteher der Bibliothek. Seine epischen Gedichte und Elegien wurden wegen ihres mythologischen und antiquarischen Stoffes fleißig gelesen und von Cornelius Gallus nachgebildet.
[48] Eklogen 10, 50.
[49] In der ars poetica 401.
[50] Tyrtäus, um 685-668 v. Chr., aus Aphideä in Attika, berühmt durch seine Marsch– und Schlachtlieder, durch die er im Zweiten Messenischen Kriege die Spartaner zum Kampfe begeistert haben sollte.
[51] Kallimachus aus Kyrene, um 260 v. Chr., lebte in Alexandria. Er erlangte hohen Ruhm durch seine Elegien, die von den römischen Dichtern Catull, Properz und Ovid nachgeahmt wurden.
[52] Philetas aus Kos, Freund des Theokrit, Lehrer des Ptolemäus II. Philadelphus, um 280 v. Chr., von Properz und Ovid nachgeahmt.
[53] Die beiden hier nicht Genannten sind Simonides aus Samos, um 660 v. Chr., und Hipponax aus Ephesus, um 540 v. Chr., ein scharfer Satiriker.
[54] Nicht angeführt sind Alkman aus Sardes, um 620 v. Chr., Sappho aus Lesbos, um 600 v. Chr., Ibykus aus Regium, um 540 v. Chr., Anakreon aus Teos, später am Hofe des Polykrates von Samos, Bakchylides aus Kos, um 465 v. Chr. – Pindar, geb. 522 v. Chr. in Kynoskephalä bei Theben, hochgeachtet von Fürsten und freien Bürgern im Leben und nach seinem Tode 441 v. Chr.
[55] Oden IV, 2:
[56] Stesichorus aus Himera auf Sizilien, geb. um 630 v. Chr., der berühmteste Dichter Siziliens, starb hochbetagt in Catana. Vgl. über ihn Horaz (Oden IV, 9, 4 ff.):
Zwar glänzt Homer als erster in Sängerreih'n,
Doch schweigt darum die Muse des Pindar nicht,
Noch Ceas Lied, Alcäus' Schlachtruf,
Oder Stesichorus' ernste Dichtung.
[57] Aus Mytilene auf Lesbos, 611-580 v. Chr.
[58] Gemeint sind die Gedichte des Alcäus, welche den zehnjährigen Bürgerkampf seines Vaterlandes behandeln.
[59] Myrsilus und Pittakus.
[60] Simonides aus Julis auf Kos (556-486 v. Chr.), lebte teils in Athen am Hofe des Hipparch, teils an dem des Hiero in Syrakus. Mit ersterem war er befreundet, ebenso mit Themistokles, Pausanias, Anakreon u. a. Er besaß weltmännische und wissenschaftliche Bildung und war mit einem vorzüglichen Gedächtnis ausgestattet.
[61] Aristophanes aus Athen, zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, trat schon früh mit Komödien auf. Er lebte noch 386 v. Chr. – Eupolis dichtete angeblich schon im 17. Jahre Komödien, mit Aristophanes befreundet, dann entzweit. – Kratinus aus Athen, ebenfalls Zeitgenosse des Aristophanes, durch persönliche Satire gefürchtet, schuf den komischen Stil.
[62] Äschylus, geboren in dem attischen Demos Eleusis 525 v. Chr., führte in großer Zeit ein bewegtes Leben und übte auf die Gestaltung der Tragödie nicht geringen Einfluß, gestorben 456 v. Chr. Von 70 Tragödien sind uns noch 7 erhalten.
[63] Uns ist nichts von einer Verbesserung seiner Stücke oder von der Erlaubnis zur Aufführung seitens der Athener bekannt.
[64] Sophokles, geb. 496 v. Chr. in dem attischen Demos Kolonos, der größte Tragödiendichter des Altertums, gest. 406. Von 86 Tragödien sind 7 erhalten, von denen einige auch heute noch aufgeführt werden. – Euripides, geb. in Salamis 480 v. Chr., trat früh als Dichter auf, gest. 406 in Pella, hochgeehrt von dem König Archelaus.
[65] Menander aus Athen, 342-290 v. Chr. Von seinen mehr als 100 Komödien haben wir nur noch Bruchstücke, zum Teil allerdings ziemlich umfangreiche (so gerade in den hier genannten Epitrepontes), dagegen Nachbildungen in mehreren Stücken des Terenz.
[66] Ein athenischer Redner, Zeitgenosse des Demosthenes.
[67] Aus Soli oder Syrakus, gest. 262 zu Athen, fast 100 Jahre alt. Von seinen mehr als 90 Komödien ist nur wenig übrig. Zwei Stücke von ihm hat Plautus frei nachgebildet.
[68] Thukydides aus Athen, 471-396 v. Chr.
[69] Herodot aus Halikarnaß, 484 bis gegen 410 v. Chr.
[70] Theopomp aus Chios, geb. um 378 v. Chr., schrieb auf Veranlassung seines Lehrers Isokrates Hellenika, als Fortsetzung des Thukydides, und 58 Bücher Philippika, eine allgemeine Geschichte seiner Zeit. Beide Werke sind verlorengegangen.
[71] Philistus aus Syrakus, Zeitgenosse der beiden Dionysios', 356 v. Chr. in hohem Alter getötet. Er verfaßte sizilische Geschichten.
[72] Ephorus, aus dem äolischen Kyme, Verfasser einer Geschichte Griechenlands von Anfang an bis zum Jahre 340 v. Chr.
[73] Clitarch aus Megara, Geschichtschreiber Alexanders d. Gr.
[74] Timagenes aus Alexandria, Freund des Asinius Pollio, schrieb ebenfalls eine Geschichte Alexanders d. Gr.
[75] S. weiter unten.
[76] Außer den fünf genannten: Antiphon, Andocides, Isäus, Lycurgus und Dinarchus.
[77] Aus dem Demos Päania, 384-322 v. Chr.
[78] Äschines aus Athen, 389-314 v. Chr., Gegner des Demosthenes.
[79] Hyperides aus Athen, geb. 390 v. Chr., wie Demosthenes tätig im Kampfe gegen Philipp von Mazedonien, in Ägina auf Befehl des Antipater 322 hingerichtet.
[80] Lysias, geb. in Athen um 435 v. Chr., berühmter Lehrer der Beredsamkeit, starb in hohem Alter 353 v. Chr.
[81] Isokrates, geb. in Athen 436 v. Chr., ein Schüler des Sokrates, ebenfalls berühmt als Lehrer der Beredsamkeit. Er starb 94 Jahre alt wenige Tage nach der Schlacht bei Chäronea 338 v. Chr. eines freiwilligen Todes.
[82] Demetrius von Phaleron, 317-307 v. Chr. fast unumschränkter Statthalter in Athen; darauf gestürzt, fand er in Ägypten freundliche Aufnahme. Er starb in Oberägypten 283 in der Verbannung an dem Bisse einer Schlange.
[83] Plato, geb. 427 v. Chr., gest. 347, der größte Schüler des Sokrates.
[84] Xenophon, aus dem attischen Demos Erchia, geb. um 434 v. Chr., Schüler des Sokrates, bekannt durch seine Teilnahme an dem Zuge des jüngeren Kyros, wegen seiner Vorliebe für Sparta 399 verbannt, lebte dann in Skillus bei Elis, darauf in Korinth, gest. 355.
[85] Aristoteles, geb. 384 v. Chr. zu Stagira in Mazedonien, Lehrer Alexanders d. Gr., berühmtester und gelehrtester Philosoph des Altertums, starb in Chalkis 322.
[86] Theophrast war zu Eresos auf Lesbos 371 v. Chr. geboren, wurde 322 Nachfolger des Aristoteles als Lehrer der peripatetischen Schule zu Athen und starb 287. Er soll ursprünglich Tyrtamos geheißen und erst von Aristoteles den Namen Theophrast erhalten haben.
[87] Publius Vergilius Maro (geb. 15. Oktober 70 v. Chr., gest. 19. September 19 v. Chr.) ist im Altertum und im Mittelalter überschätzt, später unterschätzt worden. Erst in neuerer Zeit ist ihm die ihm gebührende Wertschätzung wieder zuteil geworden.
[88] Ein berühmter, von Quintilian oft genannter Redner.
[89] S. Anm. 45.
[90] Titus Lucretius Carus lebte von 98-55 v. Chr., schrieb das noch erhaltene Lehrgedicht „Von der Natur der Dinge”.
[91] Publius Terentius Varro Atacinus, 82-36 v. Chr., aus Atax in Gallia Narbonensis, verfaßte eine freie Nachbildung der Argonautika des Apollonius, schrieb ein episches Gedicht „Der Sequanerkrieg” und versuchte sich auch in der Satire.
[92] Quintus Ennius, geboren zu Rudiä in Kalabrien 239 v. Chr., berühmt durch die uns noch in Bruchstücken erhaltenen Annalen, ein historisches Epos in Hexametern; auch dichtete er Tragödien und Komödien. Er starb 169.
[93] Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr. bis 17 n. Chr. — Unter seinen „epischen Gedichten” sind die Metamorphosen zu verstehen.
[94] Freund des Ovid.
[95] Kann wegen des folgenden Lobes nicht im geringschätzigen Sinne genommen werden.
[96] Der Name Serranus beruht nur auf Konjektur.
[97] Von Valerius Flaccus, gest. um 88 n. Chr., haben wir noch sein Gedicht Argonautika.
[98] Saleius Bassus, Zeitgenosse Vespasians; über seine Schriften ist nichts Näheres bekannt.
[99] Beide Zeitgenossen Ovids.
[100] Marcus Annäus Lucanus aus Corduba, lebte 39-65 n. Chr., verfaßte ein Epos Pharsalia, das sich durch rhetorisches Pathos auszeichnet.
[101] Gemeint ist Domitian, der nach der Besiegung der Chatten den Titel Germanicus annahm.
[102] Eklogen 8, 13.
[103] Albius Tibullus, römischer Ritter, etwa 59-18 v. Chr.
[104] Sextus Aurelius Propertius, um 54-15 v. Chr., Altersgenosse Tibulls.
[105] Cajus Cornelius Gallus, aus Forum Julii, ein vertrauter Freund Vergils (1. Ekloge 10), endete durch Selbstmord 26 v. Chr.
[106] Caius Lucilius aus Suessa Auruncorum, römischer Ritter, 180 bis 102 v. Chr., Freund des jüngeren Scipio Africanus und Lälius.
[107] Quintus Horatius Flaccus, 65-8 v. Chr.
[108] Aulus Persius Flaccus aus Volaterrä, römischer Ritter, lebte 34-62 n. Chr., Verfasser von sechs noch erhaltenen Satiren.
[109] Marcus Terentius Varro aus Reate, 116-27 v. Chr. Von seinen zahlreichen Schriften sind nur erhalten drei Bücher von der Landwirtschaft, sowie Bruchstücke eines größeren Werkes Über die lateinische Sprache und der etwa 96 Satiren.
[110] Quintus Valerius Catullus, geb. zu Verona 86 v. Chr., gest. 54 v. Chr. „Der größte Dichter, den Rom gehabt hat, ist Catullus” (B. G. Niebuhr).
[111] Furius Bibaculus, geb. 102 v. Chr. zu Cremona, von Horaz (Satiren II, 5, 41) verspottet.
[112] Über dieses Urteil Quintilians vgl. K. E. Güthling in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1869, S. 886, wo derselbe mit Recht sagt: „Aber es ist zum Erschrecken, wenn es bald nachher heißt: Lyricorum Horatius fere solus legi dignus. Ich bekenne offen, daß mir Lachmanns Urteil, das er im philologischen Seminar mehr als einmal ausgesprochen hat, des Horatius Oden seien glatt wie Marmor, aber auch kalt wie Marmor, und zwei bis drei beliebige Episteln des Horatius seien ihm mehr wert, als alle Oden zusammengenommen, eine ganz gerechte Schätzung des Lyrikers Horatius zu enthalten scheint, sosehr mich dies Urteil anfangs frappierte. Sprache und Versbau sind unübertrefflich vollendet; das ist aber auch das beste, was man von diesen Oden sagen kann. Diejenigen von ihnen, die aus der Stellung des Dichters zum Hofe hervorgingen, haben alle ein gemachtes, hohles Pathos, sind arm an fruchtbaren Gedanken, und ich will es gern unentschieden lassen, ob sie der Vorwurf unwürdiger Schmeichelei treffe oder nicht. Die übrigen bewegen sich in einem sehr engen Gedankenkreise, den sie allerdings mit Geschick variieren, so daß der nicht sehr aufmerksame Leser über der schönen Form und einem zahllose Male in anderm Gewande wiederkehrenden Gemeinplatz die Armut des Inhalts übersieht. Den meisten, ja fast allen den fehlt die jugendliche Frische, die Leidenschaft und Glut der Empfindung, welche den Leser hinreißt. Das ist auch natürlich; war doch der Dichter ein Vierziger, als er zur Leier griff, und daß die Beschäftigung mit der Satire keine besondere Vorbereitung für die Lyrik abgegeben hat, versteht sich wohl von selbst. Um Quintilians Urteil über Horatius zu verstehen und zu würdigen, mag das Gesagte genügen; dem Lyriker Horatius stellen wir getrost den Catullus entgegen, nein, wir stellen ihn aus voller Überzeugung über Horatius. Wenn Quintilian den Catullus nur als Jambographen anführt, so ist das nicht zu bewundern; er gehört ja zu den „Alten”, nicht zu den Kunstpoeten, als deren Repräsentant und Verfechter in der Augusteischen Zeit Horatius, wie das seine Polemik gegen ältere Dichter zeigt, vorzugsweise zu betrachten ist. Niebuhrs Urteil über Catullus (vgl. Catullus, übersetzt von Stromberg, Vorrede) ist bekannt; vor fünfundzwanzig Jahren habe ich es auf Niebuhrs Namen angenommen, jetzt unterschreibe ich es aus eigener Überzeugung. Es sei zum Schutze des von unserm Rhetor totgeschwiegenen Lyrikers hiermit an dasselbe erinnert.”
[113] Cäsius Bassus, Freund des Persius, kam angeblich 79 bei dem Ausbruche des Vesuvs um.
[114] Lucius Attius, von 170 bis etwa 90 v. Chr. — Marcus Pacuvius aus Brundusium, geb. um 220 v. Chr., starb in einem Alter von 90 Jahren.
[115] Lucius Varius Rufus, 74-14 v. Chr., Epiker und Tragiker, Freund des Vergil und Horaz. Vgl. Horaz, Oden I, 6, 1; Satiren I, 10, 44; Episteln II, 1, 247; 3, 55.
[116] Publius Pomponius Secundus lebte unter den vier ersten Kaisern nach Augustus; gest. um 60 n. Chr.
[117] Lucius Älius Stilo, Rhetor und Altertumsforscher, Lehrer des Cicero und Varro.
[118] Titus Maccius Plautus, um 254-184 v. Chr.
[119] Cäcilius Statius aus Insubrien, Zeitgenosse des Ennius, um 219-166 v. Chr.
[120] Publius Terentius Afer, um 194-159 v. Chr., kam aus Afrika in früher Jugend als Sklave nach Rom, wo er erzogen und freigelassen wurde.
[121] Lucius Afranius, Zeitgenosse des Terenz, um 150 v. Chr.
[122] Cajus Sallustus Crispus, 87-34 v. Chr.
[123] Titus Livius, 59 v. Chr. bis 17 n. Chr.
[124] Servilius Nonianus, Konsul 35 n. Chr., gest. 60 oder 61 n. Chr. Er war ein tüchtiger gerichtlicher Redner und wandte sich sodann dem Studium der Geschichte zu. Er beschrieb die Zeit des Untergangs der Republik und die Gründung der Monarchie.
[125] Aufidius Bassus lebte unter Tiberius. Er schrieb Geschichtswerke über die erste Kaiserzeit sowie über den Germanischen Krieg und starb unter Nero.
[126] Quintilian meint vielleicht Cornelius Tacitus.
[127] Cajus Cremutius Cordus, freimütiger Geschichtschreiber zur Zeit des Tiberius.
[128] Marcus Tullius Cicero war geboren 106 v. Chr., ermordet 43 bei Cajeta.
[129] Bezieht sich in dieser Allgemeinheit nur auf die gerichtlichen Reden vor dem Areopag.
[130] Die sechs unter dem Namen des Demosthenes überlieferten Briefe sind unecht.
[131] Bezieht sich auf die meisten philosophischen Schriften Ciceros, ebenso auf „Brutus” und „vom Redner”.
[132] In den vorhandenen Gedichten Pindars ist diese Äußerung nicht zu finden.
[133] Cajus Asinius Pollio, 76 v. Chr. bis 5 n. Chr., der bedeutendste Redner nach Cicero und zur Zeit des Augustus. Quintilian erwähnt ihn oft, Horaz hat ihn Oden II, 1 verherrlicht.
[134] Marcus Valerius Corvinus Messalla, 64 v. Chr. bis 8 n. Chr., Staatsmann und Feldherr, besonders aber auch Redner. Vgl. Horaz, Oden III, 21.
[135] Cajus Julius Cäsar, 100-44 v. Chr.
[136] Marcus Cälius Rufus, 88-48 v. Chr., Freund Ciceros.
[137] Cajus Licinius Calvus, 82 bis etwa 47 v. Chr., Freund des Catull und selbst Dichter.
[138] Servius Rufus, der berühmteste Rechtsgelehrte zur Zeit Ciceros.
[139] Cassius Severus, geb. 44 v. Chr., wegen seiner scharfen Zunge nach der Felseninsel Seriphos verbannt, wo er um 30 n. Chr. starb.
[140] Domitius Afer aus Nemausus (Nismes), gest. 59 n. Chr. — Julius Africanus aus Gallien, blühte unter Nero.
[141] Marcus Galerius Trachalus, Konsul 68 n. Chr., der dem Kaiser Otho seine Reden verfaßt haben sollte.
[142] Quintus Vibius Crispus, unter Nero als Denunziant (delator) von trauriger Berühmtheit, lebte noch als Greis unter Domitian.
[143] Er lebte unter Vespasian; er gehört auch zu den in Tacitus' Gespräch über die Redner teilnehmenden Personen.
[144] Nach Tacitus (Gespräch über die Redner) und Plinius (Briefe): Aper, Marcellus, Maternus, Messalla u. a.
[145] Vater und Sohn, Zeitgenossen des Cäsar und Augustus, Anhänger der pythagoreischen Lehre. – Über Cornelius Celsus siehe Anmerkung 16.
[146] Nicht näher bekannt; vielleicht ist der Name falsch überliefert.
[147] Von Geburt ein Insubrer, Zeitgenosse Ciceros.
[148] Lucius Annäus Seneca, Sohn des Rhetors gleichen Namens, geboren zu Corduba in Spanien um 2 n. Chr., gestorben 65.
Zweites Kapitel
[1] Livius Andronikus aus Tarent um 240 v. Chr., der erste dramatische Dichter Roms.
[2] Damit sind die vom pontifex maximus angefertigten annales maximi gemeint, eine nüchterne Aufzählung der denkwürdigsten politischen und religiösen Begebenheiten, fortgesetzt bis zum Pontifikat des Mucius Scävola 130 v. Chr.
[4] Buch 2, Kap. 8.
Drittes Kapitel
[1] D. h. das Schreiben.
[2] Über den Redner I, 150; 257.
[3] Lucius Licinius Crassus, berühmter Redner, 140-91 v. Chr. Die zweite Hauptperson in der erwähnten Schrift Ciceros ist Marcus Antonius (142-87 v. Chr.), der Großvater des Triumvirs Antonius.
[4] Vergleichung mit dem Teile des römischen Staatsschatzes, der für die äußersten Notfälle reserviert war.
[5] Der Gedanke erinnert an das bekannte Wort Hesiods („Werke und Tage” 289): Doch vor die Tugend setzten den Schweiß die unsterblichen Götter. Vgl. auch Epicharmus bei Xenophon „Erinnerungen an Sokrates” II, 1, 20:
Nur für Arbeit wird das Gute von den Göttern uns verkauft.
[6] Vielleicht derselbe, an welchen Horaz Epistel I, 3 und II, 2 gerichtet hat.
[7] Wie sehr in Gallien die Beredsamkeit in der Kaiserzeit blühte, zeigt der von Caligula zu Lugdunum veranstaltete Wettkampf der griechischen und lateinischen Beredsamkeit.
[8] Satiren 1, 106.
[9] S. die bekannte Erzählung bei Plutarch, Leben des Demosthenes Kap. 7.
Viertes Kapitel
[1] Cajus Helvius Cinna, Freund Catulls, Verfasser eines epischen Gedichtes „Smyrna”, das noch erhalten ist. — Der Panegyrikus des Isokrates ist eine Festrede, die vor der Festversammlung bei den Olympischen Spielen gesprochen worden und uns noch erhalten ist. Vgl. Plutarch, „Leben der zehn Redner” IV, 15: Den Panegyrikus schrieb er in zehn, nach anderen in fünfzehn Jahren.
Fünftes Kapitel
[1] S. 1, 155.
[2] Z. B. im Anfange der Bücher „Von den Pflichten” und „Vom höchsten Gut und Übel”.
[3] Von Plato hat Cicero den Timäus und Protagoras, von Xenophon den Ökonomikus übersetzt.
[4] Eine Hetäre, welche der Gottlosigkeit angeklagt war und von ihrem Liebhaber Hyperides verteidigt wurde.
[5] III, 5, 15.
[6] S. Briefe an Atticus IX, 4, 9. Hierher gehören die Paradoxa, die Cicero in seinen letzten Lebensjahren verfaßt hat.
[7] Z. B. Cicero und Hortensius.
[8] Er hatte als Tribun einen Antrag gestellt, gegen dessen Vorlesung durch den Herold ein anderer Tribun Einsprache erhob. Cornelius las nun den Antrag selbst vor und wurde dafür wegen Majestätsvergehens angeklagt, jedoch von Cicero glänzend verteidigt.
[9] Das Gefolge des Milo und das des Clodius gerieten aneinander, ein Sklave Milos verwundete Clodius, Milo eilte herbei und tötete ihn. Da er infolgedessen angeklagt wurde, verteidigte ihn Cicero in der uns erhaltenen Rede.
[10] Der jüngere Cato (Uticensis) trat dem Redner Hortensius seine Frau Maria förmlich ab und nahm sie dann wieder zurück, nachdem sie sechs Jahre mit Hortensius bis zu dessen Tode zusammengelebt hatte.
[11] Marcus Porcius Latro, Redner und Freund des Augustus.
[12] Lucius Cestius Pius, ein sehr angesehener griechischer Rhetor zur Zeit des Augustus, der nur lateinisch vortrug.
[13] I, 2, 15.
Sechstes Kapitel
[1] Metrodorus aus Skepsis, einer Stadt in Mysien, akademischer Philosoph und Rhetor, Schüler des Karneades.
[2] Der Rhetor Empylus wird sonst nirgends erwähnt.
Siebentes Kapitel
[1] Wo, läßt sich nicht nachweisen.
[2] VI, 2, 29 f.
[3] Dichter der alexandrinischen Schule im 2. Jahrhundert v. Chr.
[4] S. Cicero, Rede für Archias 18.
[5] Vielleicht zu beziehen auf Cicero „Der Redner” 34.
[6] Cajus Papirius Carbo, Konsul 120 v. Chr.
[7] Wo, ist nicht nachzuweisen.
[8] Popilius Länas, Rhetor zur Zeit des Tiberius; Quintilian erwähnt ihn noch III, 1, 21; XI, 3, 183. Sonst ist er nicht näher bekannt.
[9] Vielleicht stammen diese Worte aus einer Schrift des Popilius Länas.
Einleitung | 3 | |
1. | Kapitel: Vom Wörtervorrat | 8 |
2. | Kapitel: Von der Nachahmung | 39 |
3. | Kapitel: Art und Weise der schriftlichen Übungen | 47 |
4. | Kapitel: Von der Nachbesserung | 56 |
5. | Kapitel: Über den Gegenstand der schriftlichen Übungen | 58 |
6. | Kapitel: Sammlung des Gedankenstoffes | 65 |
7. | Kapitel: Wie die Fertigkeit, aus dem Stegreif zu reden, erworben und erhalten wird | 68 |
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