Title: Gordon, der Held von Khartum
ein Lebensbild
Author: Anonymous
Release date: March 20, 2025 [eBook #75673]
Language: German
Original publication: Calw: Verlag der Vereinsbuchhandlung, 1891
Credits: Peter Becker, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by SLUB: Sächsische Landesbibliothek - Staats - und Universitätsbibliothek Dresden. )
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.
Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.
Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei.
Vorrede.
Nachdem das vorliegende Buch in zwei Auflagen verbreitet worden ist, tritt es nun in etwas veränderter Gestalt seinen Weg aufs neue an. Zu Grunde liegen folgende Quellen:
1) Die stets siegreiche Armee, eine Geschichte des chinesischen Feldes unter Oberstlieutenant C. G. Gordon, sowie der Unterdrückung des Taiping-Aufstandes, von Andrew Wilson.
2) Die Geschichte des »Chinesen-Gordon« von A. Egmont Hake, zwei Bände.
3) Oberstlieutenant Gordon in Zentral-Afrika (1874-1879) von G. Birkbeck-Hill. Letzteres Werk besteht hauptsächlich aus Gordons Briefen aus der genannten Zeit.
4) Die Tagebücher von Generalmajor C. G. Gordon zu Khartum, nach dem Original-Manuskript gedruckt. Mit Einleitung und Noten von A. Egmont Hake.
5) Betrachtungen in Palästina von Charles George Gordon.
Außer diesen Hilfsquellen ist eine ganze Reihe kleinerer Bücher über Gordon, sowie eine nicht geringe Anzahl von Aufsätzen und Zeitungsartikeln gelesen und zum Teil auch benutzt worden. Der vorliegenden Auflage sind außerdem nachträglich bekannt gewordene Charakterzüge und Streiflichter eingefügt worden. Da und dort ist gekürzt, anderes hingegen ist ergänzt worden, so besonders die Schlußzeit in Khartum. Es wurde nichts unterlassen, das Lebensbild des trefflichen Mannes in gegebenen Grenzen zu einem möglichst vollständigen und abgerundeten zu machen.
Die neue Auflage tritt ihren Weg zu einer Zeit an, in welcher das Interesse am dunklen Weltteil reger ist denn je. Auch Deutschland hat einen Beruf in Afrika. Männer voll Hingabe wie Gordon, wie Emin Pascha, sind es, die Afrika nötig hat. Emin, der wie bekannt s. Z. als Gordons Unterstatthalter an den Äquator ging, schrieb uns unterm 2. April 1890 von Bagamojo: »Daß meine Kräfte bis zum Tod der Sache Afrikas und seiner schwarzen Kinder gewidmet sind, versteht sich von selbst.« Hat Deutschland nicht noch andere opferwillige Herzen und Hände, die für die große Arbeit der Befreiung Afrikas mit einzutreten bereit sind? »Komm herüber und hilf uns!« ist der Schrei des dunklen Weltteils. Hat die Christenheit kein Ohr? Wann wird es heißen: Die Sklavenketten sind gefallen! Gordon war wie Livingstone ein Stern am Nachthimmel Afrikas, und von beiden gilt das Wort. »sie reden noch, wiewohl sie gestorben sind.« Möchte das Lebensbild des Helden von Khartum laut reden, der darum ein Held war, weil er ein ganzer Mann und ein ganzer Christ gewesen ist.
London, im September 1890.
[S. 1]
Die Gordons sind von alter schottischer Herkunft: Clan Gordon war seit unvordenklichen Zeiten ein kriegerisches Hochlandsgeschlecht. Wer mit schottischer Geschichte, oder auch nur mit Walter Scott bekannt ist, der weiß, daß ein Clan sozusagen die erweiterte Familie ist; der alte Stammverband, ob er nun nach Hunderten zählte oder nach Tausenden, war von den Vätern her gemeinsamen Blutes, und Gordon hießen im vorliegenden Fall alle vom adeligen Clanshaupt an bis zum streitbaren Hirten. Im Laufe der Zeit hatte der Stamm übrigens auch seine Ableger, die als Gordons von so und so je nach dem betreffenden Wohnsitz sich nannten und sich so vom älteren Zweig unterschieden. Lord Byron z. B. stammte mütterlicherseits von den Gordons von Gieght. Unter dem britischen Adel giebt es jetzt noch mehrere Familien, die dem alten Stamm angehören: die Grafen von Huntley, von Aberdeen u. a. sind »Gordons«. In den kriegerischen Annalen Schottlands stößt man allerwärts auf Gordons, und mancher Gordon zog als Glücksritter in die weite Welt. Wo immer es Schlachten zu schlagen gab, da wurde der Name bekannt, in Preußen, in Polen, in Schweden, in Rußland, in Amerika. Vier Gordons fanden Lorbeeren unter Gustav Adolf. In weniger rühmlicher, wenngleich eingreifender Weise findet sich ein Gordon in Wallensteins Lager und bei Wallensteins Tod. Peter der Große lernte einen Gordon in Moskau hoch schätzen, und der eiserne Zar vergoß Thränen am Sterbebett dieses Fremdlings, der, nebenbei bemerkt, Tagebücher von historischem Wert hinterlassen hat. In Schottland selbst ehrte die englische Regierung das alte Geschlecht,[S. 2] indem sie einem der neuen Regimenter, die aus dem Chaos des Thronfolgekriegs hervorgingen, die Benennung »Gordon Highlanders« verlieh.
Im Jakobitischen Aufstand des Jahres 1745 gab es Gordons auf beiden Seiten. Lord Lewis Gordon und fünf Clanshäupter mit ihren Gordons kämpften für den Kronprätendenten Prinz Charley (Stuart), während ihr Verwandter David Gordon für die neue (hannoverische) Linie stritt. In der Schlacht von Preston Pans wurde dieser David von den Hochländern (seinen Vettern) gefangen genommen, später aber auf Ehrenwort freigegeben. Wie er dazu gekommen war, gegen die Tradition seiner Familie für die neue Königslinie einzutreten, ist jetzt nicht zu ermitteln, jedenfalls stand er in Gunst beim Herzog von Cumberland (dem zweiten Sohn des Königs Georg II.), der ihm ein Söhnchen aus der Taufe gehoben hatte. Nach der Schlacht von Culloden, die der Sache des Prätendenten den Todesstoß gab, verließ David Gordon mit seinem jungen Sohn die alte Heimat und suchte Grund und Boden in der neuen Welt. Sechs Jahre später fand er seinen Tod in Halifax, Neuschottland. Sein Sohn, des Prinzen Patenkind, war allem nach ein »Häkchen«, das sich frühzeitig in der angestammten Weise krümmte; denn kaum vierzehnjährig schlägt sich der Jüngling schon in der britischen Armee. In seinem vierundzwanzigsten Jahre, als er bereits ein erfahrener Soldat war, und zuletzt unter General Wolfe bei Quebec mitgekämpft hatte, kehrte der junge Schotte nach England zurück. In Hexham, Grafschaft Northumberland, wo er in Quartier lag, fand er in der Schwester des dortigen Geistlichen die Soldatenbraut, mit der er 1773 in die Ehe trat. Drei Söhne und vier Töchter entsprangen diesem Bund. Die Söhne verfolgten wiederum die militärische Laufbahn; der älteste fand seinen frühen Tod am Kap, der jüngste hingegen, Henry William, ein Artillerieoffizier, geb. 1786, erreichte ein hohes Alter und erlebte die erstaunlichen Erfolge der »stets siegreichen Armee« unter seinem zweitjüngsten Sohn; dieser aber, Charles George Gordon, ist unser Held.
Henry William Gordon war s. Z. in Woolwich stationiert, und Charles George wurde als der vierte von fünf Söhnen am[S. 3] 28. Januar 1833 daselbst geboren. Die Mutter stammte zwar nicht aus einer Soldatenfamilie, Unternehmungsgeist war aber auch mütterlicherseits ein ererbter Charakterzug. Ihr Vater war Samuel Enderby, ein angesehener Kaufherr, dessen Walfischfahrer von sich reden machten. Seine Schiffe befuhren ferne und unbekannte Meere; »Enderbys Land« im antarktischen Ozean zeugt selbst von geographischer Entdeckung. Dem unternehmenden Kaufherrn gehörten auch jene beiden von der englischen Regierung mit Thee verfrachteten Schiffe, die im Jahre 1773 im Hafen von Boston vor Anker lagen, als die Kolonisten erklärten: »Das Land muß gerettet werden!« In jener Nacht bemächtigte sich ein Haufe von Schein-Indianern der beiden Schiffe und leerte mit dem Thee die aufgezwungene Steuer ins Meer. Das war der Anfang der amerikanischen Freiheit.
Gordons Mutter schildern solche, die sie gekannt haben, als eine tüchtige Frau, die sich selbst in der Gewalt hatte und unter den schwierigsten Umständen immer ihren Gleichmut bewahrte. Mit wahrhaft genialem Takt habe sie immer alles zum besten zu wenden verstanden. Im Krimkrieg waren drei ihrer Söhne und mehrere ihrer nächsten Verwandten vor Sebastopol; man sah sie aber nie zaghaft, sondern immer nur damit beschäftigt, ihren Angehörigen zu Hause, wie den fernen Kriegern Gutes zu thun. Gordons Vater wird als origineller Mann, als tüchtiger Soldat von festem Charakter und angenehmer Persönlichkeit geschildert. Er hatte einen unerschöpflichen Humor, und Heiterkeit war sein Element. Übrigens war das »Gesetzbuch der Ehre« seine Richtschnur für sich und für andere. Soldat war er mit Leib und Seele, und zwar britischer Soldat, für ihn das höchste Ideal auf der Erde; es war ihm daher trotz der glänzenden Erfolge eine Enttäuschung, als sein Sohn späterhin in fremde, nämlich in chinesische Dienste trat. Ein Gordon, meinte er, sollte nur seinem eigenen Volk und Glauben dienen. Wer ihn kannte, schätzte ihn, denn er war freundlich und großmütig in all seinem Thun und von großer Gerechtigkeitsliebe; fürs übrige hatte er dies mit seinem Sohn gemein, daß er von Natur eher dazu angethan war zu befehlen als zu gehorchen.
[S. 4]
Über Gordons Jugend liegt nur wenig vor. Die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er mit seinen Eltern in Dublin, Leith und zuletzt in Korfu, wo der Vater Festungskommandant war. Obschon wir die Wahrheit des Dichterworts nicht verkennen, daß der Knabe des Mannes Vater ist, so trifft dies bei Gordon doch nicht auf den ersten Blick zu. Er soll als kleines Kind so zart und furchtsam gewesen sein, daß Kanonenschüsse, ein tagtägliches Ereignis in seines Vaters Beruf, ihn stets erzittern machten. Sehr bezeichnend ist indessen die Thatsache, daß der neunjährige Junge, ehe er schwimmen konnte, sich in Korfu öfter ins tiefe Meer warf mit der festen Zuversicht, seine größeren Gefährten würden ihn nicht ertrinken lassen. Ein sogenannter »braver« Junge war er durchaus nicht, vielmehr voller Schelmenstreiche. Sein Vater wurde nach der Rückkehr von Korfu im königlichen Arsenal zu Woolwich angestellt. Während der Schulferien geriet einst Charles Gordon mit einem seiner Brüder auf die undenkbarsten Einfälle. Ihres Vaters Wohnung lag der des Garnisonskommandanten gegenüber; es war ein altes Haus und voller Mäuse. Diese wurden fleißig weggefangen und in des Kommandanten Haus umquartiert. Viele Jahre später schreibt Gordon (aus dem Sudan 1879) einer seiner Nichten, welche die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens im königlichen Arsenal verlebt hatte: »Es freut mich zu hören, daß die Rasse der echten Gordons noch nicht ausgestorben ist. Aber sicherlich hat keines von Euch die Arsenalleute so umgetrieben wie wir seiner Zeit: sie ließen alles liegen und stehen, wenn's galt uns zu Willen sein, sie verfertigten uns zum Beispiel die herrlichsten Spritzen, die nichtsahnende Menschenkinder bis auf die Haut durchnäßten. Und unsere Armbrüste waren einzig! Ich weiß noch, wie's einmal an einem Sonntag Nachmittag im Hauptmagazin siebenundzwanzig Scheiben gab, alle scharf durchschossen — ein kleines rundes Loch zur Ventilation — und der Hauptmann konnte von Glück sagen, daß wir ihn nicht mit unsern Bolzen an die Wand nagelten.« Ob nicht solch jugendliche Kraftproben mit ihrem gutmütigen Humor schon den spätern Mann erkennen lassen? Jedenfalls sieht man den werdenden Charakter in einem Beispiel von Knabenstolz. Es ereignete[S. 5] sich einmal, daß er unverdienter Weise von seinen Mitschülern ausgeschlossen werden sollte, als diese nach London durften, um »englische Reiter« zu sehen; es ergab sich noch rechtzeitig, daß der Junge die Strafe nicht verdient hatte, er war aber nicht dazu zu bewegen, sich dem Klassenvergnügen, auf das er sich vorher doch so sehr gefreut hatte, anzuschließen. In der Kadettenschule zu Woolwich soll ein unverständiger Offizier dem Zögling einmal das Wort hingeworfen haben: »Aus Ihnen wird Ihr Lebtag nichts Rechtes«, was den jungen Hitzkopf so aufbrachte, daß er sich die Epauletten von den Schultern riß und sie seinem Vorgesetzten vor die Füße warf. Man sollte zwar denken, daß solche Insubordination den jungen Menschen leicht seine Laufbahn hätte kosten können, und Gordon selbst war im späteren Leben ein viel zu tüchtiger Soldat, als daß er diesen Jugendstreich gebilligt hätte. Auch ist es nichts weniger als ein Beweis von Unzulänglichkeit, daß er nach vollbrachter Kadettenzeit den Royal Engineers einverleibt wurde, einem Regiment, das für seine Offiziere bekanntlich eine hervorragende technische Ausbildung voraussetzt.
Im Juli 1852, also in seinem zwanzigsten Lebensjahre, erhielt er sein Unterleutnantspatent. Er saß darnach zwei Jahre lang zu Pembroke am Reißbrett. Dort gab es Pläne auszuarbeiten zur Befestigung des Hafens (Milford), die seitdem ihre Verwirklichung gefunden haben. Diese Beschäftigung wurde zuletzt zur ernstlichen Geduldsprobe für den jungen Mann, dessen Kameraden ostwärts fuhren, gen Sebastopol. Aber auch für ihn kam die Zeit, und am Neujahrstag 1855 trug das »Goldene Vließ« ihn in den Hafen von Balaclawa. Er landete mitten im tiefsten Winter.
Die Belagerung von Sebastopol dauerte elf Monate, eine schlimme Zeit für die britische Armee. Die Schlachten von Balaclawa und Inkerman waren geschlagen (Okt. und Nov. 1854), ein Winter voll namenlosen Elends folgte darauf. Wie mancher Soldat erfror in den Laufgräben! Hunger, Kälte, Krankheit waren die Verbündeten des Feindes. Innerhalb der russischen Festung gab's Nahrungsmittel, warme Kleidung, Medikamente die Fülle, während die Belagerer draußen das Allernötigste entbehrten.[S. 6] Dem ausdauernden Mut der hungernden, zerlumpten Soldaten ist kaum ein ähnliches Beispiel an die Seite zu stellen. Englische Transportschiffe fuhren zwar mit ihren Ladungen von Zelten, Teppichen und Proviant aller Art in nächster Nähe von einem Hafen zum andern, aber den Kapitänen fehlten die richtigen Instruktionen, und die Offiziere, die's mit ansahen, wußten nicht was die Schiffe enthielten!
Das war die Zeit, in der der junge Gordon seine Feuertaufe erhielt. Statt der glorreichen Erfolge sah er wochenlang nur den Jammer des Kriegs. Als Ingenieur war seine Arbeit in den Laufgräben. Infolge des Elends war da die Mannszucht nicht selten in Gefahr. Er war vielfach dem russischen Feuer ausgesetzt, hin und wieder auch dem planlosen Schießen seiner eigenen Leute. In gewisser Hinsicht war dies ein Vorbild seiner Laufbahn. Wie oft hat er im Feuer gestanden zwischen Freund und Feind, und seine wunderbarsten Leistungen waren nicht selten die, welche er allein vollbrachte, nachdem die Seinen ihn im Stich gelassen hatten.
In seinen Briefen aus der Krim beschreibt er seine tägliche Arbeit und erzählt von gefallenen Kameraden. Schon damals giebt er den ernsten Sinn und die Ergebung in Gottes Willen zu erkennen, die ihn sein Leben lang kennzeichneten. Der Lauf der Jahre hat bei ihm nur das vertieft, was sich schon früh kund gab. Der Tod hatte keine Schrecken für ihn, jeden Augenblick war er zum Sterben bereit. Wie alle gottvertrauenden Menschen wußte er, daß der Tod nur dann kommt, wenn die dem Menschen zugewiesene Lebensarbeit vollbracht ist, und in dieser Zuversicht verfolgte er furchtlos die Bahn seiner Pflicht. Einmal sauste eine ihm zugedachte russische Kugel hart an seinem Ohr vorüber; in einem Briefe an seine Mutter erwähnte er der Sache aber nur mit der soldatischen Bemerkung: »Die Russen zielen gut; ihre Kugeln sind groß und spitz.« Einige Tage später fiel sein Hauptmann; er berichtet darüber in die Heimat: »Es ist mir lieb zu wissen, daß er ein ernstgesinnter Mann war. Die Bombe platzte über ihm, und ein Splitter traf ihn im Rücken — durch einen Zufall, wie man's nennt; er war augenblicklich tot.«[S. 7] Aus dem Sudan schreibt er zweiundzwanzig Jahre später im Blick auf die Unterdrückung des Sklavenhandels: »Ich kann's vollbringen mit Gottes Hilfe und habe die feste Überzeugung, daß er mich dazu bestimmt hat, denn sehr gegen meinen eigenen Willen bin ich hieher gekommen ... Ich bin ein Fatalist geworden, wie's die Leute nennen, das heißt: ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen.« Ein andermal schreibt er: »Kein Trost kommt dem gleich, den ein Mensch hat, der sich allezeit auf Gott verläßt, der glaubt und es nicht nur mit dem Munde bekennt, sondern auch mit der That, daß alle Dinge vorher bestimmt sind. Wer so denkt, der hat den Tod schon gekostet, und die Widerwärtigkeiten des Lebens fechten ihn nicht mehr an.« Gordon hat seine Führung als eine im großen wie im kleinen von Gott vorher bestimmte betrachtet, und das ist der Schlüssel zu seinem ganzen Leben; dieser Glaube ist es, der ihn zum Helden gemacht hat. Er that immer das Beste, was in seinen Kräften stand, dem Ausgang aber sah er ruhig entgegen. »Wenn wir nur immer glauben könnten,« heißt's in einem anderen Sudan-Brief, »daß alles von Gott bestimmt und zum besten bestimmt ist, so wären wir mehr denn Überwinder; die Welt läge zu unseren Füßen ... Unglück, das uns trifft, ist in Wirklichkeit nie so schlimm als in der Erwartung, und wenn wir nur stillhalten könnten, so trügen wir's leichter. Ich kann das Dasein Gottes von seiner Vorherbestimmung und Leitung aller Dinge, der guten wie der bösen, nicht trennen; das Böse läßt er zu, aber es bleibt unter seiner Fügung.«
Nach dem Tod des Zaren, im März 1855, schritt die Belagerung stetig aber langsam vor. Ende April schreibt Gordon: »Wir schieben unsere Batterien vor, können aber nicht viel thun, ehe die Franzosen Fort Malakow eingenommen haben.« Bis Anfang Juni verharrten die Briten ziemlich unthätig. Gordon hatte nicht viel zu berichten; eine Zeile aber muß erwähnt werden: »Es ist sehr zu beklagen,« sagt der junge Leutnant, »daß wir keine rechten Feldprediger haben; ich wüßte auch nicht einen zu nennen, dem das Wohl der Soldaten wahrhaft am Herzen läge.«
Am 6. Juni eröffneten die Engländer das Feuer aus tausend Feldstücken; aber obschon Gordon schreibt: »Ich glaube nicht, daß[S. 8] sich Sebastopol noch zehn Tage halten kann,« so hielt die Festung sich doch noch zehnmal zehn Tage; und während dieser ganzen Zeit war der junge Ingenieur-Offizier auf seinem Posten in den Gräben.
Am 8. September erstürmten die Franzosen den Malakow. Die Engländer pflanzten ihre Fahne auf Fort Redan auf, wurden aber nach einer Stunde wieder daraus vertrieben. Zum wiederholten Angriff am folgenden Tage kam es nicht, denn in der Nacht räumten die Russen die Festung. Gordon schreibt:
»In der Nacht auf den 9. hörten wir eine furchtbare Explosion, und als ich um vier Uhr morgens in die Gräben ging, sah ich ein gewaltiges Schauspiel. Sebastopol war in Flammen, und als die aufgehende Sonne die Zerstörung beleuchtete, war der Effekt in der That wunderbar. Die Russen verließen die Stadt; alle Dreidecker waren in den Grund gebohrt, nur die Dampfschiffe übrig. Viele Tonnen Pulvers müssen in die Luft gesprengt worden sein. Morgens acht Uhr erhielt ich Ordre, einen Plan der Festungswerke auszuführen, und begab mich nach Fort Redan; dort hatte ich einen entsetzlichen Anblick. Die Gefallenen wurden haufenweise beerdigt, Russen und Engländer mit einander.«
Nach dem Fall von Sebastopol war Gordon bis Februar 1856 fast ausschließlich damit beschäftigt, die vom Brande verschonten Festungswerke zu demolieren, und mit dieser wenig interessanten, aber harten Arbeit schließt seine Zeit in der Krim.
Aus Gordons eigenen Berichten läßt sich wenig oder nichts über seine persönlichen Leistungen entnehmen; Oberst Chesney dagegen, ein Offizier, der vielfach Gelegenheit hatte ihn zu beobachten, stellte ihm nachmals folgendes Zeugnis aus: »In seiner bescheidenen Stellung als Ingenieur-Leutnant hat er durch seine Tapferkeit und Energie die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich gezogen und überdies eine spezielle strategische Tüchtigkeit an den Tag gelegt, die sich in den Gräben vor Sebastopol in einer persönlichen Kenntnis der feindlichen Taktik kundgab, wie kein anderer Offizier sie erlangte. Wir beauftragten immer ihn damit, ausfindig zu machen, was die Russen vorhatten!«
Auch General Jones hob seine Verdienste hervor, aber das[S. 9] war vorläufig alles, was ihm von englischer Seite an Lorbeeren zu teil wurde, da im Ingenieur-Korps das Avancement lediglich nach dem Dienstalter erfolgt. Die Franzosen verliehen ihm das Kreuz der Ehrenlegion. So jung er war, hatte er doch bereits einen guten Anfang gemacht »sein Bestes zu thun«.
Ehe wir die Krim verlassen, mag noch bemerkt werden, daß mit ihm in den Laufgräben zwei andere junge Offiziere sich auszeichneten, die berühmt geworden und neben Gordon auch im Sudan auf den Plan gekommen sind: General Sir Gerald Graham und General Lord Wolseley, beide seine lebenslänglichen Freunde.
Im Frieden von Paris verlor Rußland, was es seither durch den Berliner Kongreß wieder erlangt hat, nämlich einen Streifen Land, dessen Besitz die Beherrschung der untern Donau bedeutet. Bis 1812 gehörte dieser Landstrich den Türken. Jetzt sollte die alte Grenze wiederhergestellt werden. Eine Kommission, bestehend aus englischen, französischen, russischen und österreichischen Offizieren, wurde damit beauftragt. Der britische Abgeordnete war Major Stanton, und unter ihm die Leutnants James und Gordon. Im Sommer 1856 begab sich Gordon deshalb nach Bessarabien.
Diese neue Arbeit bot Abwechslung. Zwar waren die Salzsümpfe am Schwarzen Meer kein angenehmer Aufenthalt und Kischinew, das Hauptquartier der Grenzkommission, das schmutzigste Nest in Südrußland. Gordon und James durchritten das Sumpfland fast ein Jahr lang, heute als Grenzvermesser, die russische Landkarte untersuchend und nötigenfalls verbessernd, morgen vielleicht nur als Depeschenkuriere. Gordon fand diese Beschäftigung weit ansprechender als den Krimkrieg; nichtsdestoweniger war es ihm unwillkommen, daß er nach vollbrachter Grenzbestimmung zu einem ähnlichen Geschäft an die asiatische Grenze versetzt wurde. Er hatte Verlangen nach der Heimat und telegraphierte die Anfrage nach England, ob nicht ein anderer für ihn eintreten könne. Aber seine Tüchtigkeit war bereits notorisch und »Leutnant Gordon muß gehen«, lautete die Antwort.
In Armenien kam er zum erstenmal mit unzivilisierten Völkerschaften in Berührung und bewies schon damals durch den Takt, mit welchem er mit den Kurden-Häuptlingen umging, daß[S. 10] er ein besonderes Geschick hatte, das Vertrauen solcher Stämme zu gewinnen und sie mächtig zu beeinflussen. Sein Beruf führte ihn nach manchem interessanten Ort des berühmten Landes. Er besuchte Erzerum, Kars, Eriwan, die Ruinen von Arni, und bestieg auch den Ararat. In jenen Gegenden gewann er seinen ersten Einblick in die Art und Weise, wie die Türkei dem Sklavenhandel Vorschub leistet. Zwanzig Jahre später lernte er die Greuel der Sklaverei an der Westgrenze der muhammedanischen Welt kennen, und die schönste Arbeit seines Lebens war die, welche er der Unterdrückung jenes schändlichen Handels gewidmet hat.
Nach einem halben Jahr in jenem Land voll reicher Erinnerungen kehrte er nach Konstantinopel zurück, wo die Grenzkommission tagte, um von da nach dreijähriger Abwesenheit den Heimweg anzutreten. Im Frühjahr 1858 wurde er abermals nach Armenien geschickt, wo er bis zum Herbst damit beschäftigt war, die neue Heerstraße zwischen den russischen und türkischen Grenzländern zu untersuchen.
Das folgende Jahr verbrachte er auf der englischen Militärstation Chatham, wo er im April 1859 nach siebenjähriger Dienstzeit zum Hauptmann avancierte.
Die nächsten mit dem Juli 1860 beginnenden vier Jahre umschließen in dem Leben Gordons fast märchenhafte Ereignisse. Es ist die Zeit, die ihm den Ehrennamen »Chinesen-Gordon« brachte. Folgen wir dem Manne in den fernen Osten.
In keinem Lande der Welt ist die Gegenwart so mit der Vergangenheit verwachsen wie in China. Das hohe Alter des chinesischen Reiches ist ein einzig dastehendes Beispiel in der Weltgeschichte, und dieselben Grundsätze, die diesen Staat in seiner Jugend regierten, sind noch jetzt die Haltpunkte des »schwarzhaarigen[S. 11] Volkes«. Um eine revolutionäre Bewegung der Neuzeit wie den Taiping-Aufstand richtig zu verstehen, muß man wenigstens einen Blick gethan haben in die Gedankenwelt der alten chinesischen Weisen. Bei uns wäre es müßig, die Sachsenkriege eines Karl des Großen oder die italienischen Feldzüge eines Barbarossa zu betrachten, um beispielshalber die Politik eines Staatsmannes der Gegenwart ins richtige Licht zu setzen; in China aber gehören Einst und Jetzt so zusammen, daß Yao und Schün, die halbmythischen Kaiser, und der große Yü von vier Jahrtausenden her heute noch das »blumige Land« beeinflussen. Konfucius, der »thronlose König«, der »Lehrer von zehntausend Geschlechtern«, betont es wiederholt, er bringe nichts Neues: »Ich selbst bin nicht die Weisheit«, sagt er, »ich suche sie bei den Alten.« Und was lehrten oder glaubten nun diese Alten? Wenn man das Schu-King, dieses wohl 4000 Jahre alte »Lehrbuch der Anfänge« fragt, so lautet die Antwort: das ganze Weltall ruht auf einer göttlichen Harmonie, die im Herzen des Menschen Widerhall findet. Dieser Gedanke des Harmonischen zieht sich durchs Schu-King und alle anderen chinesischen Klassiker hin. So heißt's vom Kaiser Yao, daß, »nachdem er selbst harmonisch geworden, er die Unterthanen zum Einklang gebracht habe«, und der Kaiser Schün ist deshalb gewählt worden, weil er's verstanden hat, »seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder, ja alle dummen und einfältigen Verwandten zu harmonisieren«. Wenn das Land zerrüttet ist, so sagt man in China: »die Leute sind nicht harmonisch«.
In der Vorstellung der Harmonie wurzelt alles in China; es ist der Tien oder Himmel des Konfucius, das Schang-ti oder Göttliche der alten Schriften; und da nur der Weise wirkliches Verständnis dafür hat, so ist es sein heiliges und besonderes Vorrecht, den Himmel der Erde, die Gottheit den Menschen zu deuten. Er allein weiß, wie die wahre Harmonie sich in irdischen Dingen kundgiebt, sei's nun zwischen Herrscher und Unterthanen, zwischen Vater und Sohn oder Gatte und Gattin, Freund und Freund. Der Weiseste soll Regent sein; er sei an Gottes Statt der Beherrscher des blumigen Landes, der schwarzhaarigen Menschen, ja der ganzen Welt. Er ist der Ebenbürtige des Himmels.
[S. 12]
Es ist ersichtlich, daß die chinesische Anschauung der elterlichen Autorität, wie auch ihre althergebrachte Theorie, nur tüchtige Menschen zu Amt und Herrschertum zuzulassen, lediglich Bruchteile jenes Hauptgedankens der Harmonie sind, woraus die weitere Vorstellung sich ergiebt, daß in allen Verhältnissen des Lebens, in aller gemeinsamen Thätigkeit, gleichviel welche verschiedenartigen Kräfte in derselben sich äußern, eine symmetrische Einheit das Endziel ist. Kein Volk hat umfassendere Begriffe von Organisation und Zentralisation als die Chinesen; aber die Anschauung ist lediglich die einer organischen Einheit, in der das Niedere naturgemäß und willig dem Höheren sich unterordnet, das Gegenteil also einer nur äußeren Einheit durch Gewalt. Die Chinesen sind daher in Wahrheit ein demokratisches Volk. Nichts ist irrtümlicher als anzunehmen, daß der Kaiser oder seine Beamten, sei es theoretisch oder praktisch, eines unumschränkten Herrschertums sich erfreuen. Konfucius und alle anderen Weisen Chinas stimmen mit Plato überein, wenn er sagt: »Niemand thut gern Böses«. Daraus folgern sie, daß eine gute Regierung beim Volk willigen Gehorsam erzeuge. »Wer's versteht, mich zu besänftigen, der ist mein Fürst, wer mich unterdrückt, ist mein Feind, der Verworfene des Himmels und der Menschen!«
Über schlechte Regenten ergießt sich der göttliche Zorn und beschließt ihren Untergang. Nach chinesischer Ansicht ist ein Unglück, welches das Volk trifft, immer ein Beweis von der Untüchtigkeit oder Bosheit des Herrschers. Der Himmel zürnt, und das Volk ist in Erwartung, daß einer aufstehe, um den »Ausrottungsbefehl« zu vollziehen, und zwar trifft dieser Befehl öfters einen »geringen« Menschen. Es ist daher erklärlich, daß man sich bei politischen Bewegungen in China immer auf einen göttlichen Auftrag bezieht, mit dem ein Rückblick auf die Beispiele der Vergangenheit verbunden ist.
Ehe wir nun zur Schilderung des Taiping-Aufstands übergehen, haben wir noch zu beachten, in wie hohen Ehren die Chinesen alles Wissen halten, ihre Ehrerbietung gegen das Alter, und die Verbreitung der Bildung in allen Schichten des Volkes. Konfucius drückt die Meinung des Landes, die heute noch gang[S. 13] und gäbe ist, aus, wenn er sagt: »Die Alten, die erhabene Tugend im Reich zu verbreiten wünschten, sorgten zuerst für Ordnung in der eigenen Familie; zu diesem Zweck veredelten sie vor allen Dingen ihre eigene Person; um sich aber zu veredeln, suchten sie ihr Herz zu bessern; um das Herz zu bessern, erstrebten sie Aufrichtigkeit des Denkens; um aber aufrichtig und wahr zu denken, erweiterten sie ihre Kenntnisse.« In diesem Zusammenhang von Bildung und der so hochgeschätzten Harmonie wurzelt die Sitte der allgemeinen Prüfungen in China, welche die besten Examinanden zum Beamtenstand zulassen und selbst dem ärmsten Bauernsohn den Weg zu den höchsten Staatswürden offen halten. Unter den zahllosen Millionen des Reiches sind nur wenige, die nicht lesen und schreiben können; und selbst der gewöhnliche Chinese nimmt lebhaften Anteil am Regierungswesen. Die himmlische Regierung, vom Kaiser an durch den ganzen Beamtenstand, weiß sich daher unter der Aufsicht einer öffentlichen Meinung, die nicht zu mißachten ist.
Der Kaiser ist der Stellvertreter des Himmels, aber nicht kraft seines Amtes, sondern lediglich kraft der Art und Weise, wie er seines Amtes waltet. »Das Volk ist die Hauptsache«, lehrt die alte chinesische Weisheit; »darnach kommt der Grund und Boden; der Regent folgt zuletzt.« Das ganze Regierungsgetriebe ist nicht sowohl das Mittel, um des Kaisers Willen zur Geltung zu bringen, als eine Organisation, um die Bedürfnisse des Volkes laut werden zu lassen. Jeder Familie, jedem Dorf, jedem Distrikt, jeder Provinz in China liegt die Verpflichtung ob, sich selbst zu »harmonisieren«, und die oberste Instanz, die kaiserliche Regierung, mischt sich in nichts, wenn sie nicht speziell von den betreffenden Weisen zur Entscheidung aufgefordert wird. Giebt es Streitigkeiten, ja selbst Verbrechen in einer Familie, so ist es Sache des Familienoberhauptes, sie zu richten. Giebt es Händel in einer Dorfschaft, so haben die Ältesten eine beinahe unbegrenzte Strafgewalt, und so weiter im Distrikt, in der Provinz. Dies erklärt auch die chinesische Sitte, die Eltern für die Missethaten der Kinder zu strafen und die Gesamtheit eines Distrikts für Verbrechen innerhalb seiner Grenzen verantwortlich zu machen. Die ganze[S. 14] Wirtschaftspolitik beruht auf einem System gegenseitiger Verantwortlichkeit, was auch gegenseitige Aufsicht bedingt. Selbst der Kaiser, obgleich nominell unumschränkter Herrscher, hat einen heilsamen Respekt vor öffentlicher Censur und eventuellem Volksaufstand.
Nun geht es aber in China wie anderwärts: die Praxis bleibt oft hinter der Theorie zurück, und das blumige Land ist keineswegs ein solcher Musterstaat, wie das Ideal ihn aufstellt. Kommt das aber dem Chinesen zum Bewußtsein, so ist ihm auch im voraus gewiß, daß die Regierung, nicht aber das Volk an allen Mißständen schuld ist, und daß es Zeit ist zur Revolution zu schreiten. So lange Wohlstand herrscht, ist man zufrieden mit der Dynastie; kommen aber böse Zeiten, dann betraut der Himmel einen mit dem Ausrottungsbefehl! So ist es von jeher gewesen, und so war es, als Hung Siu-tsiuen, der Taiping, sich erhob. Seit den zwanziger Jahren unsres Jahrhunderts machten sich allerlei Übelstände im Land fühlbar und dazu kamen noch die Verwicklungen mit Europa, vorab mit England. Namentlich der sog. Opiumkrieg, den England zu Anfang der vierziger Jahre aus durchaus ungerechtfertigten Ursachen mit China führte, war von üblen Folgen für dieses Land. Die Macht der Regierung hatte bislang großenteils auf einem gewissen »Prestige« beruht. Durch die nötig gewordene Landmiliz lernte nun das Volk seine Wehrkraft kennen, und wo vorher ein Mandarin mit seinen Bütteln ausreichte, zogen jetzt bewaffnete Horden durch das Land. Die von England verlangte Kriegsentschädigung von 84 Mill. Mark brachte eine finanzielle Krisis. Verheerende Überschwemmungen des Gelben Flusses und des Jangtsze steigerten das Elend und verringerten die Einkünfte der Grundsteuer. Um allem Unglück die Krone aufzusetzen, suchte sich die Regierung damit zu helfen, daß Sträflinge sich mit Geld loskaufen konnten und die öffentlichen Ämter verkäuflich wurden. Infolge davon nahmen die Verbrechen überhand, und die zahlreiche Klasse der »Gebildeten« erachtete sich beeinträchtigt. So kam es, daß der Himmel voll drohender Wolken hing, als im Jahre 1850 der Kaiser Tao-Kwang starb und sein junger Sohn Hien-Fong an seiner Statt zu regieren anfing.
Da erhob sich ein seltsamer Mensch, der bereits genannte[S. 15] Hung Siu-tsiuen, eine Verkörperung der im Volke gärenden Umsturzgedanken.
Taiping bedeutet »großer Friede«, und der ein neues himmlisches Reich unter dieser Bezeichnung gründen wollte, war ein Dorfschullehrer der Hakka oder Fremdlinge, eines ziemlich rohen Menschenschlags, der vor zwei Jahrhunderten in die Provinz Kwang-tung gekommen und von den Punti (d. h. Einwohnern) immer mit scheelen Augen angesehen worden war. Seine verachtete Herkunft mochte mit der Grund sein, daß er im höheren Examen durchfiel. Das machte ihn halb toll; er hatte Anfälle von Epilepsie mit Zeiten der Verzückung, und in solchen Verzückungen hatte er Gesichte. Bei alledem war er ein Chinese voll Aberglauben. Aus seiner Enttäuschung entwickelte sich der Gedanke, warum sollte der »Ausrottungsbefehl« des Himmels ihm nicht werden, wie schon so manchem »Geringen« vor ihm? Nach seiner ersten vierzigtägigen Verzückung hatte er nichts Eiligeres zu thun, als ein Manifest an seine Thorpfosten zu nageln, betitelt: »Die edeln Grundsätze des himmlischen Königs, des souveränen Königs Tsiuen.« Er wollte eine neue Religion einführen und das Kaisertum stürzen. Und das Merkwürdige dabei ist, daß ein Anflug von Christentum mit unterlief! Die Engländer bekriegten ja die Regierung, die er haßte; er studierte daher christliche Traktate, die ihm in die Hände fielen. Hung hatte in seinen Verzückungen alles Mögliche gesehen und warf nun seine krankhaften Gesichte mit der neuen Lehre zusammen. Ein alter Mann war ihm erschienen — das mußte der Gott der Christen sein; er selbst war in jenen vierzig Tagen im Himmel gewesen und nannte sich den himmlischen Sohn — Christus war deshalb ohne Zweifel der ältere Bruder und er selbst der jüngere. Es ist nicht zu vergessen, daß die Provinz weit und breit verheert war; Banditen plünderten und geheime Gesellschaften unterwühlten das Land, all dies infolge des Opiumkrieges. Das Volk war daher bereit, einen Retter mit offenen Armen zu empfangen, besonders einen, der sich von der altehrwürdigen vaterländischen Idee des »Ausrottungsbefehls« getragen wähnte. Hungs christlicher Firnis über seinem barocken Heidentum hatte den Reiz der Neuheit. Auch lag in den Ansprüchen[S. 16] des Mannes, sowie in seinem ganzen Auftreten etwas von der aller Vernunft spottenden Gewalt und Anziehungskraft, wie sie ungewöhnlichen Menschen eigen ist. Massenhaft fielen ihm die Leute zu. Daß es mit seinem Christentum nicht weit her war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß er sich bei erster Gelegenheit bei einem hochgestellten Engländer erkundigte, ob die Jungfrau Maria nicht eine hübsche Schwester habe, die sich entschließen könnte, ihn, den himmlischen König, zu heiraten! Aber mit mehr als gewöhnlicher Klugheit verstand er es, die neue Religion zu seinen Gunsten auszubeuten. Und das Ergebnis ging in der That weit über das Glück eines gewöhnlichen Betrügers hinaus. Daß sich die Hakka um ihn scharten, ist begreiflich, aber auch das übrige Volk rottete sich um ihn, und bald zählten die Taipings nach vielen Tausenden. Mit Feuer und Schwert verwüstete er das große Thal des Jangtsze und näherte sich der Kaiserstadt Peking. Aus seinen Gesichten wurden himmlische Edikte, die das Los von Millionen entschieden und selbst europäische Kabinette in Atem erhielten. Es kam so weit, daß die schwarzhaarige Nation nahe daran war, samt und sonders von der herrschenden Dynastie abzufallen. Und das war um so leichter möglich, als ja (seit 1644 schon) diese Dynastie keine einheimische, sondern eine mandschu-tatarische war und also im Geruch des Fremdländischen stand. Jahrelang lag das Reich in Trümmern, und dann kam ein Ende mit Schrecken. Hung Siu-tsiuen selbst beschloß seine Laufbahn als Selbstmörder bei der Belagerung von Nanking; man fand seinen Leichnam in der mit Drachen bestickten gelben Atlaskleidung, und ganz China rief einstimmig: »Es giebt nicht Worte genug, um das Elend zu beschreiben, das dieser Mensch angerichtet hat; das Maß seiner Bosheit war voll, und der Zorn beider, der Götter und der Menschen, erhob sich gegen ihn.« Sechzehn Provinzen und sechshundert Städte hatte er verwüstet.
In Nanking, im Schatten des Porzellanturmes, hatte er in königlichem Glanze gethront. Nur Frauen durften ihn in seinem Schloß bedienen. Es waren seine zahlreichen Weiber und noch zahlreicheren Kebsweiber. Seine Verwandten machte er alle zu Wangs, d. h. zu Unterkönigen. Es gab einen Tschung Wang oder[S. 17] getreuen König, einen Ostkönig und einen Westkönig, einen Kriegerkönig und einen Geleitskönig, das waren die fünf ursprünglichen; aber bei den Taipings wurde schließlich jeder ein Wang, der es verstand, sich geltend zu machen, und es gab ihrer mit der Zeit über zweitausend. Hung selbst war zwar blutdürstig und herrschsüchtig, aber ein Feigling; es lag daher immer für ihn die Gefahr vor, daß ein im Kriegswesen tüchtigerer Wang ihn überflügeln möchte. So verlor er im Jahre 1856 in purer Selbstverteidigung seine rechte Hand, den Ostkönig. Der kam eines Tages mit der Erklärung, auch er sehe Gesichte, und nannte sich den heiligen Geist; überdies brachte er die fatale Nachricht vom Himmel, Gott Vater sei sehr böse über den Tien Wang und zwar ganz besonders darüber, daß er seine schwangeren Weiber mit Füßen trete; er, der heilige Geist, habe daher den Auftrag, ihn mit vierzig Streichen zu züchtigen. Das war ein bißchen stark und selbst für einen Taiping zuviel! Es handelte sich schließlich darum, wer Herr sein sollte, ob der Tien Wang oder der Ostkönig, und obgleich Hung es für politisch hielt, sich der Prügelstrafe zu unterziehen, so traf er doch schleunige Maßregeln, sich des Ostkönigs und seiner Botschaften ein für allemal zu entledigen. Der Nordkönig wurde damit beauftragt, und die Folge war ein Blutbad.
Der Bericht eines Engländers, der in jener Zeit Nanking besuchte und Gelegenheit hatte, das Rebellenvolk zu beobachten, wie es den »großen Frieden« mit sogenannten Gottesdiensten feierte, dürfte von Interesse sein.
»Wir wohnten einer nächtlichen Feier bei; es war ihr Sabbatanfang, Freitag nachts zwölf Uhr. Die Versammlung fand in des Tschung Wang Audienzsaal statt. Er selbst saß inmitten seines Gefolges — Frauen waren nicht anwesend. Zuerst wurde gesungen; darnach wurde ein geschriebenes Gebet verlesen und von einem Offizier verbrannt; dann wurde wieder gesungen, und man ging auseinander. Der Tschung Wang ließ mich vortreten, ehe er seinen Sitz verließ, und fragte mich, ob ich ihren Gottesdienst verstünde. Ich entgegnete, daß ich einem solchen eben zum erstenmal angewohnt hätte. Darauf wollte er wissen, wie[S. 18] wir es damit hielten. Ich sagte ihm, daß die Christen es sich angelegen sein ließen, ihren Gottesdienst mit der heiligen Schrift in Übereinstimmung zu bringen, und daß wir alles, was gegen die Schrift wäre, verwerfen müßten. Darauf versuchte er mir zu erklären, daß ihre Verschiedenheit von uns triftige Gründe habe. Der Tien Wang sei im Himmel gewesen und habe mit Gott Vater selbst verkehrt. Unsere Offenbarung sei achtzehnhundert Jahre alt; sie aber hätten eine neue, eine vermehrte Offenbarung, und diese verstatte es ihnen, ihren Gottesdienst nach einer bis jetzt noch nie dagewesenen Art einzurichten ....
»Mit Tagesanbruch setzte sich der Zug in Bewegung nach dem Palast des Tien Wang. Der Prozession voraus wurden bunte Fahnen getragen und dann folgte eine Reihe Bewaffneter; darauf kam der Tschung Wang in einem großen Tragsessel mit gestickten gelben Atlasdecken. Ihm folgten die Fremdlinge zu Pferd inmitten der berittenen Offiziere. Unterwegs schlossen sich die anderen Könige an, jeder mit einem ähnlichen Aufzug. Pauken und Trompeten verursachten einen Höllenlärm, und neugierige Menschen standen Spalier. Einen »König« zu sehen mochte nachgerade etwas alltägliches sein, aber über das Gebahren dieser Menschen konnte sich das Volk offenbar nicht genug wundern .... Der Palast des Tien Wang ist ein großes Gebäude nach Art der Konfutsischen Tempel, nur viel umfangreicher. Wir begaben uns zuerst in eine Nebenhalle, die den Namen »Morgenschloß« führte. Daselbst wurden wir dem Tsau Wang und seinem Sohn und etlichen andern vorgestellt. Nachdem man eine Weile geruht und es mit angesehen hatte, wie zwei Bedienstete ihren Respekt vor den heiligen Räumen in einem Zwischenakt damit bekundeten, daß sie sich gegenseitig in die Haare fuhren, gings weiter nach dem Audienzsaal des Tien Wang. Hier wurde ich seinen beiden Söhnen, zwei Neffen und einem Schwiegersohn vorgestellt, die mit noch andern, welche ich bereits im Morgenschloß gesehen, um den Eingang eines Alkovens saßen, über dem die Inschrift stand: »das erhabene himmlische Thor«. Der Alkoven war tief, und ganz im Hintergrund desselben zeigte man uns den Sitz des »himmlischen Königs«, der aber vorläufig leer war .... Er[S. 19] selbst, der Himmlische, war nicht erschienen; und obgleich nach Beendigung der Feier noch eine Zeit lang gewartet wurde, erschien er überhaupt nicht. Er mochte sich eines bessern besonnen haben und es für ersprießlich erachten, sein Antlitz vor Fremdlingen zu verbergen, auf deren guten Glauben nicht zu rechnen war; vielleicht hatte der Tschung Wang ihm unsere Ansicht über unechte Offenbarung berichtet, und er zog es vor, uns vorläufig nur einen Vorgeschmack seiner Herrlichkeit zu verstatten in der Hoffnung, unsere Einbildungskraft möchte bei dem leeren Sitze sich die abwesende Majestät um so erhabener denken ....
»Im Laufe des Nachmittags ließ der Tschung Wang mich zu einem Privatgespräch zu sich bitten. Durch eine Reihe von Gemächern führte man mich in sein Zimmer, wo er in einem luftigen Gewand von weißer Seide in einem Armsessel lag und sich von einem hübschen Mädchen fächeln ließ. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch gewunden mit einem Juwel über der Stirne. Er lud mich zum Sitzen ein und fragte mich allerlei über Maschinen, Landkarten, Ferngläser u. s. w., indem er offenbar annahm, daß unser einer über alles Bescheid wisse. Er wurde ganz vertraulich und war von Stund an bereit, mich jederzeit zu sehen. Bei nächster Gelegenheit zeigte ich ihm verschiedene Stellen im Neuen Testament, die mit der Lehre des Tien Wang in unverkennbarem Widerspruch stehen. Er wies es kurzerhand von sich. Im allgemeinen sprach er gern davon, daß alle Menschen Brüder wären, doch war leicht zu sehen, daß seine Religion ihn kalt ließ. Er gab zu, daß die Offenbarung des Tien Wang nicht mit der Bibel übereinstimme, jene sei aber neuer und darum glaubwürdiger ....«
Der Berichterstatter meldet weiter, es sei ihm im Verkehr mit diesen Leuten einigermaßen verständlich geworden, wie Hungs »Offenbarungen« von seinen Anhängern aufgefaßt wurden. Ihr Glaube an den Ausrottungsbefehl schien ihr Gewissen gänzlich abgestumpft zu haben und ihnen alle nur denkbaren Verbrechen gegen Andersgläubige zu verstatten. Einen Anhänger der Mandschu-Dynastie zu berauben oder zu ermorden, war ein gutes Werk. Wo sie hinkamen, führten sie die jungen Männer der Landbevölkerung gefangen mit sich und machten sie zu Rekruten, während[S. 20] die vielen hübschen Mädchen und Weiber, die man bei ihnen sah, den thatsächlichen Beweis lieferten, daß bei den Taipings »großer Friede« sich recht wohl mit Weiberraub vertrug.
Übrigens waren die Taipings bei all ihren Verkehrtheiten, um nicht eine stärkere Bezeichnung zu gebrauchen, doch in einigen Punkten zu loben. So war z. B. das Opium bei ihnen verpönt, ebenso der Sklavenhandel. Die Füße der Weiber durften bei ihnen nicht verkrüppelt werden; die Männer mußten sich das Haupthaar gleichmäßig wachsen lassen; der rasierte Schädel mit dem Zopf galt ja als Zeichen der Unterwürfigkeit gegen die Mandschu-Dynastie. Auch rühmten sich die Anhänger des Ex-Schulmeisters, die allgemeine Bildung zu fördern; aber damit war es nicht weit her. Das überall zur Schau getragene Zerrbild des Christentums prägte sich auch dem Unterrichtswesen auf, das als höchstes Wissen den Satz trieb: »Der himmlische Vater und der himmlische Bruder (nämlich Hung) sind über alle Pflicht und Sittlichkeit zu verehren.« Des Tien Wang Erlasse wurden als Lesebücher benutzt, damit es der Jugend schon geläufig würde, in ihm den Auserwählten zu erblicken, der zum Friedensherrscher über die ganze Welt bestimmt sei.
In gewissen Kreisen Englands hatte sich ein merkwürdiges Vorurteil zu Gunsten Hungs eingeschlichen. Man fragte sich, ob die Taipings nicht am Ende doch Schutz verdienten, ob das Rebellentum nicht möglicherweise der Übergang zur Zivilisation, ja Verchristlichung des Landes wäre. Erst nachdem einmal britische Niederlassungen gefährdet waren, wurde man anderer Meinung.
Die Briten hielten sich mit den Franzosen vorläufig neutral, und die Feindseligkeiten bis zum Jahr 1860 verblieben lediglich zwischen den Kaiserlichen und den Rotten des großen Friedens. Es war ein Bürgerkrieg von staunenswerter, riesiger Ausdehnung.
Im Jahr 1859 war die Sachlage die: die Mißhelligkeiten zwischen England und China waren so ziemlich beigelegt, der Friede von Tientsin war geplant und, von Kanton abgesehen, hatte das britische Militär das Reich geräumt. Der Aufruhr, der nun in seinem neunten Jahre stand, schien seine besten[S. 21] Tage gesehen zu haben; die Taipings verloren einen Ort nach dem andern und wurden wiederholt in der heiligen Hauptstadt, ihrem Hauptsitze, angegriffen. »Nanking war härter bedrängt denn je«, sagt der getreue Wang in den vor seiner Hinrichtung verfaßten Erinnerungen. Hung ließ sich das aber nicht im geringsten anfechten; mit größtem Gleichmut fuhr er fort, seinen Ministern himmlische Befehle zu geben und innerhalb der belagerten Stadt auf die Anzeichen des großen Friedens ringsum hinzuweisen. Der Tschung Wang, der die Stumpfheit der Majestät offenbar nicht teilte, kann nur sagen: »Die Zeit zur Ausrottung der himmlischen Dynastie war eben noch nicht gekommen.« Fürs übrige war der Getreue ein thätiger Krieger, und nicht weniger als sechsmal brachte er's zu stande, Nanking zu entsetzen.
Die kaiserliche Regierung aber, anstatt nun alles aufzubieten, das allmählich verglimmende Feuer des Aufstandes vollends auszutreten, beging den großen Fehler, sich abermals mit den Engländern zu überwerfen. Auf dem Wege nach Peking, wo der Friede unterzeichnet werden sollte, sah sich der britische Gesandte an der Mündung des Peiho-Flusses plötzlich einer chinesischen Streitmacht gegenüber. Die Taku-Forts waren in aller Eile repariert worden, und man wollte die britischen Schiffe nicht durchlassen. Als die Engländer trotzdem vordrangen, erfolgte eine Salve aus verdeckten Feldstücken, und drei Kanonenboote wurden in den Grund geschossen. Natürlich brüllte da der englische Löwe ob dem chinesischen Treubruch und man stand alsbald wieder auf dem Kriegsfuß. Die erneuten Angriffe der verbündeten Engländer und Franzosen im folgenden Jahre übten selbstverständlich ihre Rückwirkung auf den Aufruhr, der aufs neue um sich griff. Ein ganz direktes Resultat war ein Angriff der Taipings auf Schanghai. In dieser Stadt aber sind die englischen, resp. europäischen Handelsinteressen mit den chinesischen verwachsen; daraus ergab sich die Notwendigkeit englischer Intervention, mit andern Worten ein direkter englischer Angriff auf die Rebellen. Auch traten britische Offiziere in kaiserliche Dienste, und so wurde man mit der Zeit der Taipings Herr. Es liegt hier ein Stück historischen Ausgleichs vor: wie wir gesehen haben, wurzelte der Aufstand teilweise im[S. 22] englischen Opiumkrieg, und englische Waffen mußten schließlich dem zerrütteten Lande wieder zum Frieden verhelfen.
Eine solche Verwicklung der Dinge ist übrigens wohl nur in China möglich, daß, während die zornmutigen Verbündeten noch damit beschäftigt waren, ihre Truppenschiffe von Singapore und Hongkong herauf zu bringen, um die Kaiserlichen in Peking zu züchtigen, der General-Gouverneur von Kiangsu in Person in Schanghai eintraf und die britischen und französischen Behörden daselbst um Hilfe gegen die Rebellen anging. Unterm 30. Mai 1860 meldet der englische Bevollmächtigte dem Ministerium Russell: »Ich beschloß im Einvernehmen mit Mr. Bourboulon, daß es sich sowohl in politischer als humaner Hinsicht empfiehlt, solchen Greuelscenen hier zuvorzukommen, wie sie anderwärts stattgefunden haben ... und wir können die Küstenstädte schützen, ohne anderweitig Partei zu nehmen.«
Indessen hatten sich die reichen Kaufleute von Schanghai schon unter der Hand nach Schutz gegen die zu erwartenden Taipings umgesehen. Ein Amerikaner Namens Ward war erbötig, Truppen zu werben. Es war eine Belohnung ausgesetzt, das etwa dreißig Kilometer entfernte Sung-Kiang von den Rebellen zu säubern. Mit einer Bande von Matrosen machte Ward den Anfang, denen sich zusammengelaufenes Volk aus aller Herren Länder anschloß; auch Chinesen waren darunter, und dies war der Ursprung jenes merkwürdigen Söldnerhaufens, der sich in nicht allzuferner Zeit den Namen der »stets siegreichen Armee« erwarb und dann unter Gordon dieser Bezeichnung auch alle Ehre machte. Vorläufig nannten sich Wards Leute nach jener ersten Heldenthat das Sung-Kianger-Corps.
Die Taipings, mittlerweile nicht müßig, unternahmen große Streifzüge in diesem Jahr. Wie bereits erwähnt, hatte der getreue Wang Nanking zum sechstenmal entsetzt, was ihm übrigens nicht einmal ein billigendes Wort von Hung eintrug, auch durfte der streitbare Minister dem Himmlischen nicht vor die Augen kommen. Es ist kaum faßlich, wie dieser Mensch sich seine Unterkönige botmäßig erhielt; aber die ganze Bewegung ruhte ja eben auf den übermenschlichen Ansprüchen des wahnsinnigen Hung.
[S. 23]
Tschung Wang, der Getreue, und Jing Wang, der Heroische, auch als vieräugiger Hund bekannt, vertrieben nun die Kaiserlichen aus dem ganzen Jangtsze-Thal, Schrecken zog vor ihnen her; in einer Stadt zogen viele Einwohner es vor, ihrem Leben durch Selbstmord ein Ende zu machen, als es hieß: die Taipings sind wieder da! Ein Distrikt nach dem andern ergab sich, und »der Getreue« beschloß seinen Siegesmarsch in Sutschau, der Hauptstadt der Provinz Kiangsu, einer der reichsten Städte des blumigen Landes, die sich fast widerstandslos ergab.
»Im Himmel ist das Paradies«, sagt ein chinesisches Sprichwort, »aber auf Erden sind Su und Hang.« »Um in der Welt glücklich zu sein«, sagt ein anderes, »muß man in Sutschau geboren sein«; denn die Menschen dort sind vor allem ihrer Schönheit wegen berühmt — nach chinesischen Begriffen vermutlich. Die Stadtmauern maßen 15 Kilometer im Umkreis und außerhalb derselben erstreckten sich noch vier ansehnliche Vorstädte. Man schätzte die Einwohnerzahl auf zwei Millionen. In ganz China stand Sutschau in fabelhaftem Ruf wegen der Pracht seiner antiken und modernen Marmorbauten, seiner schönen Grabstätten, seiner Granitbrücken. Herrlich seien dort die Straßen, die Gärten, die öffentlichen Plätze; verständiger als anderwärts die Männer und schöner die Frauen. Auch die Handelsprodukte der Stadt waren berühmt, kostbare Seidenstoffe insbesondere. In dieser Stadt hielt der Getreue seinen Einzug, während die Kaiserlichen in heller Flucht sie verließen, und durch die ganze Provinz Kiangsu schien damit die Herrschaft des großen Friedens gesichert.
Der Kan Wang oder Schildkönig war zu dieser Zeit Generalissimus; dieser hatte vier Jahre in Hongkong gelebt und urteilte richtig, wenn er meinte, daß es den Taipings förderlich sein dürfte, mit den Ausländern anzuknüpfen. Wichtiger als der Besitz von Su und Hang erschien es ihm, in der Richtung von Schanghai vorzudringen, um dort europäische Dampfer zu erlangen, die auf dem Jangtsze dienlich sein sollten. Er urteilte praktisch, der Schildkönig, denn die Stimmung unter den Engländern und Amerikanern in den Hafenstädten war selbst zu dieser Zeit noch eine geteilte. Überdies mochten die Taipings wohl auf Beihilfe rechnen, denn[S. 24] die Engländer und Franzosen waren schon unterwegs, um in der Mandschurei ihre Streitkräfte zu vereinigen, von dort aus den chinesischen Kaiser aus der Ruhe seines Palastes aufzuschrecken und ihn für den bei den Taku-Forts erlittenen Schimpf zu züchtigen. In der That war auch etwas wie ein Waffenstillstand zwischen den Rebellen und den Verbündeten zu stande gekommen, wenn von einem Waffenstillstande überhaupt da die Rede sein kann, wo aktive Feindseligkeiten noch nicht ausgebrochen waren. Der englische Admiral Hope war den Jangtsze hinaufgefahren, welcher Fluß durch den Vertrag von Peking europäischen Schiffen zugängig war, und hatte unter den Mauern Nankings mit dem Tien Wang selbst unterhandelt. Das Ergebnis hievon war, daß die Rebellen sich verbindlich machten, Schanghai auf Jahresfrist in Frieden zu lassen. Die Verbündeten konnten ruhig nordwärts ziehen.
Dies ist der Punkt, an welchem das Leben Gordons in den breiten Strom der Weltgeschichte einmündet.
Im Sommer 1860 war er nach China beordert worden und nahm nun teil an der Operation gegen die Kaiserstadt. Er war dabei, als der Sommerpalast in Brand gesteckt wurde. Hören wir darüber seine eigenen Aufzeichnungen:
»Am elften Oktober erhielten wir Befehl, in möglichster Eile Schanzen aufzuwerfen und Batterien gegen die Stadt zu richten. Die Chinesen verweigerten die Übergabe des Thores, und so lang dies der Fall war, wollten wir nicht mit ihnen unterhandeln. Auch die Gefangenen sollten ausgeliefert werden. Diese waren sehr mißhandelt worden, und zwar, wie gesagt wird, im Sommerpalast selbst in Gegenwart des Kaisers ... Wir waren bereit, die vierzig Fuß hohe Mauer zu stürmen; die Chinesen hatten Bedenkzeit bis zum 13. mittags. Um halb zwölf ergaben sie sich, und wir nahmen Besitz von der Stadt. Sie erhielten weitere Frist bis zum 23., während welcher Zeit sie für jeden ihrer Mißhandlung erlegenen Engländer 200000 Mk. beibringen mußten, und 10000 für jeden Eingeborenen. Die Strafgelder wurden auch richtig gezahlt und der Vertrag gestern unterzeichnet.«
Dem englischen General, Lord Elgin, blieb nun die Entscheidung, ein Exempel zu statuieren. Die Stadt in Brand stecken,[S. 25] hätte tausende von Unschuldigen mit den Schuldigen getroffen. Im Sommerpalast aber hatten sich genügende Beweise der daselbst verübten Grausamkeiten vorgefunden; somit sollte der stattliche Palast zerstört werden. Und so wurde der Juen-Ming-Juen (Garten der Gärten) in Brand gesteckt, und der schwarze Rauch hing wie ein Trauermantel über Peking. Gordon beschrieb und beklagte die Zerstörung:
»Unsere Leute plünderten in fast vandalischer Weise, und was ein Raub der Flammen wurde, wäre nicht durch 80 Millionen Mark wieder herzustellen ... Die Pracht und Schönheit des Zerstörten ist kaum zu beschreiben ... Es that einem im Herzen weh, den furchtbaren Brand mit anzusehen ... es war ein entsetzlich entwürdigendes Geschäft für eine Armee, jedermann wollte nur plündern ...«
Die Franzosen hatten schon vorgesorgt mit der Verheerung und die kostbarsten Gegenstände einfach zusammengeschlagen.
Die beiden Armeen verzogen sich allmählich, die Engländer ins Winterquartier nach Tientsin. Gordons Aufenthalt daselbst verlängerte sich weit über sein Erwarten, nämlich bis zum Frühjahr 1862. Er war damit beauftragt, die Umgegend aufzunehmen. Öfters gab's auch einen Ritt nach den 220 Kilometer entfernten Takuforts, und einmal einen beträchtlicheren Ausflug mit seinem Kameraden Cardew nach der großen Mauer — ein ziemlich kühnes Unternehmen, denn sie durchritten da weite Gegenden, die noch nie von Europäern betreten waren. Einen vierzehnjährigen Jungen, der etwas Englisch verstand, nahmen sie mit als Dolmetscher. Ein Zelt und Kochgerät führten sie auf einem Karren mit sich. Bei Kalgan erreichten sie die 2000 Kilometer lange Mauer des Schi Hoangi, die 240 Jahre älter ist als die christliche Zeitrechnung, zweiundzwanzig Fuß hoch, und sechzehn dick. »Es war wunderschön,« schreibt Gordon, »die endlose Mauerlinie sich über die Hügel hinziehen zu sehen.« Von Kalgan schlugen sie eine westliche Richtung ein nach Taitong, wo die Mauer nicht ganz so hoch ist. Daselbst sahen sie riesige Karawanen von Kamelen, die Thee nach Rußland trugen. In dieser Gegend fanden sie sich genötigt, die Achsen ihres Karrens verlängern zu lassen; denn die[S. 26] Fuhrwerke in jenem Lande laufen breitspuriger als anderswo, und ihre Räder paßten nicht in die ausgefahrenen Geleise der Landstraßen! Der Hauptzweck ihrer Reise war, zu erkunden, ob außer dem Tschatiau-Paß noch ein anderer vom russischen Gebiet nach Peking führe. Auf einem großen Umweg in südwestlicher Richtung suchten sie lange vergeblich die Straße übers Gebirge ostwärts; erst bei Taijuen fanden sie ihren Rückweg nach Peking und Tientsin.
Im Mai 1862 erhielt Gordon Befehl, sich mit einer Abteilung Infanterie nach Schanghai zu werfen, weil dort die Taipings aufs neue die Gegend unsicher machten. Der himmlische König hatte den Engländern sagen lassen, er werde Schanghai angreifen, sobald das Jahr des Waffenstillstandes um sei. Im Januar 1862 hatte er dann auch seinen »Getreuen« in die Gegenden der Konsulatstadt geschickt, und von da an datiert die feindliche Stellung der Engländer gegen die Rebellen.
Mit dem militärischen Oberbefehl innerhalb des Distrikts betraut, marschierte Gordon zuerst nach Singpu, erstürmte die Stadt und vertrieb die Taipings aus verschiedenen Plätzen, wo sie sich festgesetzt hatten. In erster Linie sollte Gordon dafür sorgen, daß der sogenannte »dreißig Meilen Umkreis«[1] um Schanghai her von feindlichen Überfällen gesichert bleibe.
»Wir hatten einen Besuch von den Taipings,« schreibt Gordon. »In einzelnen Haufen kamen sie bis in die nächste Nähe des Stadtgebiets, steckten in Brand was sie konnten und trieben die Landleute zu Tausenden vor sich her. Wir zogen ihnen entgegen, aber ohne viel Erfolg. Gräben und Sümpfe hindern allerwärts unser Fortkommen, die Rebellen sind uns in dieser Hinsicht weit überlegen ... Es ist unfaßlich, was für Haufen flüchtigen Landvolkes nach Schanghai kommen, sobald die Taipings in der Nähe sind; mindestens fünfzehntausend Flüchtlinge sind eben hier, und keineswegs nur Weiber und Kinder, sondern stämmige Männer, die sich wohl wehren könnten, aber die Angst lähmt ihnen alle Thatkraft. Weiterhin im Land haben die Leute Unglaubliches zu leiden und viele sterben Hungers. Dieser Aufruhr ist eine entsetzliche Landplage, und unsere Regierung[S. 27] sollte alles Ernstes eingreifen, um ihn zu unterdrücken. Worte können nicht das Elend beschreiben, das überall herrscht, wo die Rebellen hinkommen; die reiche Provinz ist zur Wüste geworden.«
Für die Kaiserlichen hatte das Jahr 1861 schon einen Umschwung gebracht. Der Kaiser Hien-Fong war am 21. August auf seinem Jagdschloß in der Tartarei gestorben — im sechsundzwanzigsten Jahre seines Lebens und im elften seiner unglücklichen Regierung. Unfähig mit den großen Schwierigkeiten einer Übergangsperiode zu kämpfen, hatte er wie manch anderer Fürstenschwächling sich durch Befriedigung seiner Genußsucht zu entschädigen gesucht. Schließlich aber »ergriff seine Krankheit ihn mit erneuter Heftigkeit, und am siebzehnten Tage des Mondes schwang er sich auf mit dem Drachen als Gast der oberen Räume.« Wohl mochte die arme Seele des untauglichen Monarchen, dessen sterbliche Hülle in einem »cedernen Schloß« zur Ruhe gebettet wurde, auf ihrem Drachenritt den vorangegangenen Kaisern manches zu klagen haben. Elend und Aufruhr hatte während der ganzen Regierungszeit dieses Jünglings das himmlische Reich verheert, und Rebellen herrschten an seiner Statt; allerwärts hatte das Volk sich von ihm losgesagt, der kaiserlichen Gewalt Trotz bietend, und zur Vollstreckung der heiligen Befehle fanden sich nur schlechte Statthalter, denen die eigene Größe mehr galt als die Wohlfahrt des Volkes. Jahr um Jahr durchzogen die rebellischen Horden das Land; die Brandfackel nächtlicher Zerstörung kündete ihren Weg, und der Rauch brennender Städte und Dörfer verhüllte der Sonne Licht am hellen Tage. Ein wahnwitziger Usurpator hatte es nicht nur gewagt, den Drachenthron für sich zu begehren, sondern sich außerdem noch göttlicher Ehre vermessen, während kriegerische Heervölker der abendländischen Barbaren das Kaiserreich demütigten, ja die jungfräuliche Kaiserstadt Peking bezwangen, die noch nie einem Fremdling sich erschlossen, und den Palast des himmlischen Sohnes in Brand steckten.
So mochte der arme Kaiserjüngling gedacht haben. Wir aber erkennen in der mancherlei Trübsal die Wehen einer sich neu gestaltenden Zeit. Des Monarchen Tod öffnete Thür und Thor für neue Dinge. Der Thronerbe war ein Kind, und die Regentschaft[S. 28] neben der Kaiserin-Witwe bestand aus Vertretern der fremdenfeindlichen Partei. Als daher der Bruder des verstorbenen Kaisers, ein weitsichtiger Prinz, der die Konvention von Peking unterzeichnet hatte, an den Hof gerufen wurde, war die Hoffnung, daß er lebendig zurückkehren würde, keineswegs stark. Man hielt dafür, daß die Einladung nichts anderes bedeute, als die höfliche Erlaubnis, wie sie einem irrenden Mitglied der kaiserlichen Familie zukommt, sich in der Stille mittelst einer seidenen Schnur aus der Welt zu befördern. Zum Glück fürs Land aber war die Hauptgewalt in den Händen einer Frau von außergewöhnlichem Verstand und männlichem Charakter, nämlich der Kaiserin-Witwe, und diese erkannte alsbald, daß Prinz Kung sich besser auf die wahren Interessen des Landes verstehe, als die Ratgeber des verstorbenen Kaisers. Und während jedermann von seinem demnächstigen Selbstmord zu hören erwartete, griff er plötzlich in den Gang der Dinge ein und stürzte sofort — gleichzeitig mit dem Einzug des jungen Monarchen in Peking — durch den berühmten Staatsstreich vom 2. November 1861 die fremdenfeindliche Partei. Ihre Hauptvertreter wurden hingerichtet. Von da an datiert ein freundliches Einvernehmen zwischen den ausländischen Bevollmächtigten und der kaiserlichen Regierung. Die Zeit war in der That gekommen, da die verschiedensten Interessen in natürlicher Weise zusammenwirkten, die Taipings auszurotten und dem himmlischen Reich zu einem neuen besseren Stand der Dinge zu verhelfen.
Das Jahr 1861 war britischerseits den Rebellen gegenüber eine Zeit des Waffenstillstandes gewesen, in diesem Jahr aber hatten die Taipings ihre erste empfindliche Niederlage erlitten, ja eine Reihe von Niederlagen. Sie hatten versucht, sich des Jangtsze-Thales wieder zu bemächtigen mit besonderen Absichten auf Hangtschau. Aber obgleich dieses Jahr durch Hien-Fongs Tod eine innere Umwälzung der Monarchie mit sich brachte, so hatte die Macht der Kaiserlichen doch stetig gewonnen, und die Rebellen sahen sich mit Ende des Jahres wieder in die Gegend[S. 29] von Schanghai zurückgeworfen. Man darf die Vernichtung der Taipings daher nicht ausschließlich britischen Waffen zuschreiben.
Wie bereits erwähnt, hatten die Handelsherren von Schanghai es schon vorher für geraten gehalten, sich durch ein Privatsöldnerheer gegen Überfälle möglichst zu sichern. Der Amerikaner Ward, ein tüchtiger Soldat, und nach ihm Burgevine, ein weniger tüchtiger Glücksritter, befehligte diesen Truppenhaufen, der sich des hochtrabenden Titels der »stets siegreichen Armee« erfreute.
Die Leute des blumigen Landes haben eine Vorliebe für schöne Redensarten. Ihre Flüsse sind alle wohllautplätschernd, ihre Berge voll himmlischen Weihrauchs; das geringste Dörfchen fühlt sich als eine Pflanzstätte süßduftenden Korns, und jeder gewöhnliche Nachen ist ein Wunder der kristallenen Flut. Der Chinese findet solche Benennungen keineswegs lächerlich, er hält im Gegenteil dafür, daß der pure Wortlaut der Dinge irdisches Geschick beeinfluße. In den chinesischen Klassikern wird nichts so sehr betont als die Thatsache, daß Weisheit eine richtige Benutzung der Worte sei. Es fragte einmal einer den alten Mencius, worin er sich auszeichne; »ich verstehe mit Worten umzugehen«, war die tiefsinnige Antwort. Und anderswo wird darauf hingewiesen, wie selbst tugend- und talentvolle Menschen durch übelgesetzte Rede sich oft ganz in den Schatten stellen. Konfucius erklärte, der erste Schritt zu einer wohlgeordneten Regierung sei, »die Bezeichnung der Dinge zu verbessern«, und fügte bedeutungsvoll hinzu: »einen unpassenden Namen haben heißt in ungünstiger Lage verharren, allem Übel ausgesetzt.« Derlei Ideen sind gang und gäbe in China, und jeder Schwarzhaarige läßt sich's daher angelegen sein, sich und den Seinen schöne Namen zu gewinnen. Selbst die Regierung richtet ihre Erlasse nach dem Geschmack des Volkes ein, ob nun vom Sohne der Erde und des Himmels auf dem Drachenthron die Rede ist, oder vom Büttel des geringsten Mandarins. Daher also die Bezeichnung Tschang Seng Tschiun oder stets siegreiche Armee.
Der General-Gouverneur der Kiang-Provinzen war Li Futai oder Li-Hung-Tschang, ein tüchtiger Soldat und berühmter Staatsmann. Tseng-kwo-fan, (der Vater des kürzlich verstorbenen, bekannten[S. 30] Marquis Tseng), der kaiserliche Generalissimus, hatte ihm den Oberbefehl von Schanghai übertragen. Der englische General Staveley erklärte ihm bei seiner Ankunft, daß, obgleich die Verbündeten den Dreißig-Meilen-Umkreis verteidigen würden, die allgemeine Bekämpfung des Aufstands doch nach wie vor den Chinesen überlassen bleibe. Li machte sich sofort daran, die chinesischen Truppen auf europäische Waffen einzuüben. Wards Söldner waren bislang ihren eigenen Weg gegangen, erst nachdem er gefallen war und sein Nachfolger Burgevine sich mit Li überworfen hatte, verschmolzen die fremden Söldner mit den chinesischen Rekruten, und Li bat den englischen General, einem seiner Offiziere den Oberbefehl zu übertragen.
Der rechte Mann war bald gefunden in Gordon, der zwar noch nie im Oberkommando gestanden, der aber mehr denn irgend ein anderer für den verantwortungsvollen Posten geeignet war. Seinen Ruf von Sebastopol her hatte er in Peking und Schanghai aufrecht erhalten, und es spricht sehr für den Mann, daß er dem ehrenvollen Antrag keineswegs in blinder Aufregung Folge leistete, sondern im Gegenteil den gelassenen Wunsch vortrug, seine Arbeit der militärischen Kenntnisnahme des Terrains innerhalb des Dreißig-Meilen-Umkreises zuerst zu Ende bringen zu können, weil das für eventuelle Operationen jedenfalls von Wert sei. In einem Offizier, Namens Holland, ernannte man darum einen zeitweiligen Ersatzmann, unter dessen Führung die »stets siegreiche Armee« von den Taipings bei Taitsan glänzend geschlagen wurde. Erst im Frühjahr 1863 übernahm Gordon den Oberbefehl. Er schreibt darüber an seine Eltern:
»Ich fürchte, es wird Euch unlieb sein, daß ich das Kommando übernommen habe; es geschah nicht ohne reifliche Überlegung meinerseits. Ich halte dafür, daß es ein gutes Werk ist, diesen Aufstand zu unterdrücken; es ist eine einfache Pflicht der Menschlichkeit und kann außerdem dazu beitragen, dieses Land der Zivilisation zugänglich zu machen. Ich will nicht tollkühn handeln, und ich hoffe, bald nach England zurückkehren zu können — ich will nicht vergessen, daß das Euer Wunsch ist. Ich kann wohl sagen, daß, wenn ich mich geweigert hätte, den mir übertragenen Posten anzunehmen, die Truppen sich verlaufen hätten und der Aufruhr[S. 31] allem Anschein nach das Land noch Jahre lang im Elend erhalten würde. Ich hoffe, daß das nun nicht der Fall sein wird und daß ich Euch sehr bald Beruhigendes werde schreiben können.[2] Ihr müßt es Euch nicht zu nahe gehen lassen; ich glaube wirklich, daß ich das Rechte thue .... Ihr seid mir stets gegenwärtig und dürft Euch darauf verlassen, daß ich nichts Unbesonnenes thun will.«
Gordon hatte gerade das dreißigste Jahr zurückgelegt. Sein Heer zählte bei der Übernahme zwischen drei- und viertausend Mann mit etwa hundertundfünfzig Offizieren, war aber später erheblich stärker. Die Uniform war eine halb-europäische, aus dunklem Wollenzeug und grünem Turban bestehend; die Soldaten waren anfänglich nichts weniger als mit ihrer Montur einverstanden, denn ihre Landsleute erblickten in ihnen nur »nachgemachte fremde Teufel«; unter der Bezeichnung »fremde Teufel« fasst nämlich der Chinese alle Ausländer zusammen. Später aber, als die Armee anfing, sich wirklich als die »stets siegreiche« zu erweisen, wurden die Leute stolz auf ihre eigenartige Kleidung und hätten sich dieselbe nicht wieder nehmen lassen. Ja, soweit ging die gute Meinung eines chinesischen Statthalters, daß er dafür hielt, schon ihren Fußstapfen folge der Sieg und demgemäß Entmutigung der Rebellen; er ließ daher viele tausend Paare europäischen Schuhwerks unter das Landvolk verteilen, um die Spuren von Gordons Truppen möglichst zu vervielfältigen! Ein Oberst dieses Korps erhielt etwa fünfzehnhundert Mark pro Monat, die Majore, Hauptleute, Adjutanten u. s. w. eine entsprechende Summe in absteigender Linie bis zum Leutnant, der sich auf sechshundert Mark stellte; die Unteroffiziere circa hundert Mark in abnehmendem Verhältnis bis zum Gemeinen, dessen Sold ungefähr vierzig Mark monatlich betrug. Im Feld verabfolgte man außerdem noch Rationen. Der Oberbefehlshaber selbst erhielt eine[S. 32] stattliche Summe — 5200 Mark monatlich, also 62400 Mark im Jahr; — »aber das ist sehr gleichgültig«, schreibt Gordon.
Sämtliche Offiziere waren Ausländer. Amerikaner bildeten die Mehrzahl, dann Engländer, Franzosen, Spanier, Deutsche. Im allgemeinen waren es tapfere Leute, die sich rasch in eine gegebene Lage zu finden wußten, im Feuer meist großen Mut entwickelten, im übrigen aber leicht einander in die Haare gerieten. Die Disziplin war so scharf wie thunlich, doch war es nicht oft nötig, summarisch einzugreifen, Gordons persönlicher Einfluß machte sich bald fühlbar. Das Schlimmste war die Trunksucht; innerhalb eines Monats starben einmal elf Offiziere an delirium tremens. »Man mußte froh sein, überhaupt Offiziere zu kriegen«, schrieb einer, der aus Erfahrung reden konnte; »sie schlugen sich gut, und das war schließlich die Hauptsache.« Ein anderer schreibt: »Es waren sogar offenkundige Freunde der Rebellen unter ihnen und solche, die alle Landesgesetze in den Wind schlugen; aber Offiziere wie Gemeine lernten sehr bald einen Anführer respektieren, auf dessen Tapferkeit, Kriegsgeschick, Gerechtigkeitsliebe und persönliche Güte sie alle Ursache hatten sich jederzeit zu verlassen, einen, der sich nie selbst schonte[3], wo es Gefahr gab, und der mit fester Hand alle Privathändel darnieder zu halten wußte, die bislang dem Erfolg oft hinderlich im Wege gestanden.«
Der Kriegsschauplatz, auf welchem Gordon seine Armee innerhalb anderthalb Jahren dreiunddreißigmal ins Gefecht führte, war die von der Jangtsze-Mündung im Norden und von der Bucht von Hangtschau im Süden begrenzte Provinz Kiangsu, eine stumpfe Halbinsel, die von Hangtschau bis Nanking am Jangtsze, der Residenz des Taiping, über zweihundert Kilometer breit ist, während der Querdurchschnitt in der Mitte zwischen diesen beiden[S. 33] Punkten bis zum Meer dreihundert Kilometer beträgt. Am nordöstlichen Ende, etwa vierzig Kilometer vom Ufer entfernt, liegt inmitten zahlloser Buchten die Stadt Schanghai. Das von unzähligen Flüssen, Flüßchen und Kanälen durchzogene Land ist von fast lagunenartigem Charakter und, abgesehen von den einzelnen Hügeln, flach wie Holland, fruchtbar und reich an Dörfern und Städten. Stellenweise liegt das Land tiefer als der Spiegel des Meeres, und lange Strecken erheben sich nur wenige Fuß darüber. Der Verkehr ist größtenteils zu Schiff. Zum Manövrieren in Kriegszeiten ist es daher ein schwieriges Land, und es kam Gordon gut zu statten, daß er sich eine so gründliche Kenntnis desselben verschafft hatte. Ja, er war mit dem gesamten Kriegsschauplatz weit besser vertraut als die Rebellen, die das Land seit zehn Jahren durchstreift hatten. Er wußte genau, welche Kanäle zur Zeit schiffbar waren und welche nicht; er wußte, wo der Boden Artillerie tragen würde und wo er versumpft war. Er ging auch alsbald daran, sich durch eine kleine Flotte von Kanonenbooten zu verstärken, die in dem wasserdurchfurchten Land seiner Infanterie als Bedeckung dienen konnte und die überdies durch rasche Truppenbeförderung seine viertausend Mann in der Meinung des Feindes vervielfachte. Mit Gordons Korps kooperierte eine kaiserliche Armee; der dieselbe befehligende General war Li Adong, ein Mann, vor dessen militärischer Tüchtigkeit Gordon alle Achtung hatte. Gleichwohl hatte sich Gordon völlige Unabhängigkeit vorbehalten, und die wurde ihm auch zugestanden.
Seine »Siegreichen« brannten vor Begier, die Scharte von Taitsan auszuwetzen, er aber ließ nichts übereilen. Er hatte das eine große Ziel im Auge, den Aufruhr schnell und gründlich aufs Haupt zu schlagen, und wußte genug von den bisherigen Ergebnissen, um einzusehen, daß hitziges Scharmützeln hier und dort, oder eine Taktik der Defensive — wie z. B. das energische Sauberhalten des Dreißig-Meilen-Umkreises — oder auch wiederholtes Angreifen des Feindes in seinen Verschanzungen wie in Taitsan, durchaus ungenügend sei, wenn es sich darum handle, dem ganzen Aufstand ein Ende zu machen. Ihm erschienen plötzliche Überfälle an Orten, wo man ihn am wenigsten erwartete, der geeignetste[S. 34] Kriegsplan; denn nicht nur gewannen seine Soldaten bei ziemlich sicheren Erfolgen immer mehr an Selbstvertrauen, sondern er zwang die Rebellen sehr bald, sich allerwärts seines Erscheinens gewärtig zu halten, zu einer Stellung der Defensive also, und ließ ihnen weder Zeit noch Mut, Schanghai oder die andern Hafenstädte zu beunruhigen.
Nicht viele Tage gingen ins Land, ehe er mit zweihundert Mann Artillerie und so viel Infanterie, als seine beiden Dampfer tragen konnten, d. h. etwa tausend Mann, den Jangtsze hinaufdampfte. Etwa hundert Kilometer aufwärts, am südlichen Ufer, liegt Fusan, ein Piratennest, wo die Taipings sich befestigt und kurz zuvor einen kaiserlichen Angriff zurückgeschlagen hatten. Die Kaiserlichen waren dort verschanzt und unter ihrer Deckung brachte er seine Leute ruhig ans Land, obgleich die Taipings in ziemlicher Stärke seinen Bewegungen aus nächster Nähe zusahen. Er erreichte Fusan, und es gab eine dreistündige Beschießung; einen Ansturm warteten die Taipings gar nicht ab, sie wandten sich alsbald zurück. Fusan war der Schlüssel zu dem fünfzehn Kilometer südlicher gelegenen Tschanzu, wo eine kaiserliche Besatzung sich bisher tapfer gehalten hatte.
Die Einwohner dieser Stadt waren selbst Rebellen gewesen, hatten sich aber wieder der kaiserlichen Sache zugewandt. Der getreue Wang hatte darauf die Stadt belagert und als Beweis, was er zu thun vermöchte, die Köpfe von drei bei Taitsan erschlagenen europäischen Offizieren über die Mauern werfen lassen; allein die Einwohnerschaft hielt aus. Auf dem Wege dahin fand Gordon die Leichname von fünfunddreißig von den Taipings gekreuzigten Kaiserlichen. Er vertrieb die Rebellen mit einem Verlust von nur zwei Toten und sechs Verwundeten auf seiner Seite. Der Feind zog sich nach Sutschau zurück; ein gut Stück Land war somit den Rebellen abgenommen. Die Leute von Tschanzu empfingen ihren Befreier mit großem Jubel und bedauerten lebhaft, ihm kein Geschenk machen zu können. »Das sei nicht Mode bei ihm«, entgegnete Gordon.
Der Kaiser übrigens lohnte den glänzenden Anfang damit, daß Gordon den Titel Tsung-Ping erhielt, was annähernd durch[S. 35] Brigadegeneral wiederzugeben ist. Eine Besatzung von dreihundert Mann in Tschanzu zurücklassend, kehrten die Siegreichen nach Sung-Kiang zurück.
Nordwestlich von Schanghai liegt Taitsan, von wo in südwestlicher Richtung der Weg durch Kuinsan nach Sutschau führt. Das waren die drei Hauptorte der Rebellen, der letztere als Provinzialhauptstadt der bedeutendste. Die Taipings hatten diese Stadt seit 1860 inne. Gordon machte sich marschfertig. Es war unbekannt, welchen der drei Orte er zuerst angreifen würde; man vermutete, Kuinsan sei das Ziel. Dieser Ort, als Verbindungsglied zwischen den beiden anderen Städten, war strategisch von großer Wichtigkeit; überdies hatten die Rebellen daselbst unter einem hergelaufenen Engländer eine Kugelgießerei in voller Thätigkeit. Auf dem Wege dahin erfuhr Gordon, daß der Kommandant von Taitsan dem Gouverneur Li einen Vorschlag zur Übergabe gemacht habe, daß demzufolge ein kaiserlicher Truppenteil als Besatzung dahin abgezogen sei, daß der Taiping den Kaiserlichen aber damit nur eine Falle gestellt und dreihundert derselben enthauptet habe, deren Köpfe er als Beweis seiner Geschicklichkeit nach Sutschau und Kuinsan sandte. Gordon nahm alsbald die verräterische Stadt aufs Korn.
Kein leichtes Unternehmen! Die feindliche Garnison war zehntausend Mann stark, darunter waren zweitausend auserlesene Truppen mit französischen, amerikanischen und englischen Überläufern bei den Batterien, während er nur dreitausend Mann befehligte. Aber das war ihm einerlei, er belagerte die Stadt sofort. Nach zwei Tagen war Bresche geschossen und die Stürmenden in vollem Anmarsch. Der erste Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen. Darauf ließ Gordon seine Artillerie die Bresche über den Köpfen der Stürmenden hinweg beschießen. Dieser zweite Angriff war erfolgreicher; die Flagge der Siegreichen wehte von den erstürmten Zinnen, und die Taipings retteten sich in tollster Flucht. Gordon schreibt darüber an seine Mutter:
»Am 24. April verließ ich Sung-Kiang mit etwa dreitausend Mann, um Kuinsan anzugreifen, eine große Stadt zwischen Taitsan und Sutschau. Ehe ich aber soweit kam, erfuhr ich, daß die Taipings[S. 36] zu Taitsan vorgegeben hatten, mit den Kaiserlichen unterhandeln zu wollen, die abgesandte kaiserliche Besatzung aber verraten und vernichtet hatten. Ich änderte daher alsbald meinen Plan und marschierte nach Taitsan; am ersten Tag wurde die äußere Verschanzung angegriffen, am zweiten Tag die Stadt selbst. Die Rebellen wehrten sich tüchtig, aber es half nichts; die Stadt fiel. Taitsan ist ein wichtiger Ort und die Einnahme nach dem verübten Verrat eine verdiente; der Kommandant hat eine Kopfwunde davongetragen. Diese Stadt erschließt uns ein großes Stück Land. Die chinesischen Behörden sind voll Lobes über meine Leute. Ich bin jetzt ein Tsung-Ping Mandarin (die zweitoberste Würde) und habe viel Einfluß. Nicht daß ich das an sich schätzte, aber ich bin immer gewisser, daß ich recht daran that, das Kommando zu übernehmen. Du würdest mir ebenfalls recht geben, könntest Du Dich mit eigenen Augen von der Niederträchtigkeit der Rebellen überzeugen. Taitsan war stark befestigt, es ist eine Fu oder Hauptstadt.«
Die stets siegreiche Armee hatte ihrem Namen Ehre gemacht und ihr Anführer sich als ein Befehlshaber erwiesen, der das wahre Geheimnis der Kriegskunst kennt — das Wann, Wie und Wo des Draufschlagens. Zwanzig Jahre später, als die Araber angefangen hatten, seinen Palast in Khartum zu beschießen und er wußte, daß selbst etliche seiner zum Mahdi überlaufenden Sudanesen die feindlichen Kanonen bedienten, schrieb er in sein Tagebuch: »Es ist nicht das erstemal, daß meine eigenen Leute auf mich schießen. In der Bresche vor Taitsan waren zwei Engländer vom 31. Regiment unter den Rebellen. Der eine fiel, der andere wurde verwundet und gefangen genommen. ›Herr Gordon! Herr Gordon! lassen Sie mich nicht totschießen!‹ Lauter Befehl: ›Führt ihn weg und jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.‹ Leiser Befehl: ›Bringt ihn in mein Boot, der Doktor soll nach ihm sehen; dann schickt ihn nach Schanghai.‹ Der Mann lebt wohl heute noch.«
Die kaiserlichen Mandarine nahmen ihre Privatrache an einigen der Gefangenen, was zu Gerüchten Anlaß gab, die darauf berechnet waren, Gordon zu verleumden. Dieser schreibt mit Bezugnahme hierauf unterm 15. Juli 1863 an den Herausgeber der Schanghaier Schiffszeitung:
[S. 37]
»Ich kann bezeugen, daß die Chinesen meines Korps nicht grausamer sind als die Soldaten irgend einer christlichen Nation; als Beweis erwähne ich die Thatsache, daß siebenhundert der bei Kuinsan gefangen genommenen Taipings bei uns jetzt im Dienst stehen. Sie haben sich freiwillig unsern Fahnen angeschlossen und sich bereits gut gegen die Rebellen geschlagen. Nur eine Hinrichtung ist nötig gewesen; sie traf einen Rebellen, der es versuchte, seine Kameraden gegen die Wache aufzuhetzen, und sofort erschossen wurde. Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, daß dieses Korps aus lauter gewissenlosen Menschen bestehe. In der Hitze des Gefechts schlagen sie drauf und halten es für tapfer den Feind zu töten, wie andere Soldaten auch; aber nach der Schlacht heißt es gleich wieder gut Freund .... Wenn ein gewisser (ungenannter) »Augenzeuge« und jener »Freund der Barmherzigkeit« ihre beiderseitigen Behauptungen mit wirklichen Beweisen belegen könnten, so wäre es besser, als den Zeitungen Zuschriften zu schicken, wie diejenigen, die den Bischof von Viktoria beschäftigen. Und wenn irgend jemand der Meinung ist, das Volk wäre mit der Rebellenwirtschaft zufrieden, so dürfte er sich vom Augenschein hier leicht eines andern belehren lassen. Ich überschätze die Zahl gewiß nicht, wenn ich sage, daß nach der Einnahme von Kuinsan fünfzehnhundert der flüchtigen Rebellen von den sich massenhaft erhebenden Landleuten erschlagen wurden.«
Wir haben vorgegriffen. Daß die chinesischen Söldner in vollständiger Mannszucht standen, ist kaum anzunehmen; Gordon war ja noch keine zwei Monate im Kommando. Seine Soldaten hatten in Taitsan geplündert, was gegen seine Kriegsverordnung war. Er strafte sie aber damit, daß er ihnen keine Gelegenheit gab, ihre Beute zu verwerten; sie anderweitig zu züchtigen, dafür war es kaum der geeignete Moment, nachdem sie eben einen Sieg errungen, der, so glänzend er war, doch blutige Opfer gekostet hatte. Er überließ es den Mandarinen, die gefallene Stadt zu besetzen, und marschierte mit seinem Korps nach Sung-Kiang zurück. Dort erließ er eine Proklamation, dankte den Truppen für ihre tapfere Haltung, tadelte die Offiziere aber wegen allzu laxer Mannszucht. Um diese zu bessern, ernannte er an der Gefallenen Statt mehrere englische Offiziere aus einem in Schanghai liegenden Regiment, welche Erlaubnis hatten, ihm ihre Dienste anzubieten.
[S. 38]
Und nun ging's nach Kuinsan. Eine drohende Unbotmäßigkeit in seinem Korps wich seiner Ruhe und Festigkeit. Kuinsan war nicht nur der Schlüssel zum größeren Sutschau, sondern überhaupt zur Hälfte des rebellischen Territoriums. Die Stadt hatte eine ausgezeichnete Lage; in ihrer Mitte erhob sich inselartig, mit einer Pagode gekrönt, ein Hügel. Der Angriff konnte somit genau beobachtet werden, und zwei oder drei richtig aufgepflanzte Geschütze hätten die Stadt zur beinahe unnahbaren Festung gemacht. Der Graben um die Stadt her war über hundert Fuß breit. Die Garnison bestand aus zwölf- bis fünfzehntausend Taipings unter einem Anführer Namens Moh Wang. Der kaiserliche General Tsching war für einen Angriff von der Ostseite her, aber Gordons Kriegsgenie geriet auf eine andere Taktik, und in der That fiel die Stadt lediglich infolge seiner Manöver mit einem kleinen Flußdampfer.
Er hatte bald entdeckt, daß Kuinsan bei seiner ausgezeichneten Lage doch einen schwachen Punkt hatte, indem die Verbindung mit Sutschau in einer einzigen Straße bestand, die teilweise an einem See hinführte, teilweise zwischen einem Netz von Kanälen lag. Er brachte seinen Dampfer Hyson zur Stelle, und die Verbindung zwischen den beiden Städten war abgeschnitten. Der Hyson trug einen Zweiunddreißigpfünder und einen zwölfpfündigen Mörser. Der Kapitän war ein kühner Amerikaner, und ihm folgte eine Flottille von etwa fünfzig kleinen Segelboten mit Kanonen. Der Hyson that gute Arbeit und säuberte sehr bald die Wasserstraße von allen Taipings, als wäre er ein mächtiges Kriegsschiff gewesen; ja einmal dampfte das kühne Boot mit Gordon an Bord bis unter die Mauern von Sutschau.
Mittlerweile fand im großen Kanal ein hitziges Gefecht statt. Die Besatzung hatte nach Sonnenuntergang einen Ausfall gemacht. So zahlreich und so verzweifelt waren die Taipings, daß sie unter einem tüchtigen Anführer die »stets siegreiche Armee« völlig hätten aufreiben können. Mitten im Getümmel erschien der Hyson mit dem Aufblitzen und Donner seiner Geschütze, und — was den Taipings offenbar einen tollen Schrecken einjagte — mit dem schrillen Pfiff seiner Dampfmaschine. Der Feind geriet in verworrene[S. 39] Flucht, und ehe der Morgen tagte, war Kuinsan gefallen, ohne nur ein einzigesmal gestürmt worden zu sein. Von da an hatten die Krieger des großen Friedens eine heilsame Furcht vor dem Namen Gordon. Achthundert Mann der feindlichen Besatzung wurden gefangen genommen, und die meisten von diesen nahmen Dienst bei dem Sieger; doch war dies nicht der zehnte Teil der Mannschaft, und nur wenige Flüchtlinge erreichten Sutschau; der größte Teil muß unterwegs umgekommen sein. Gordon hatte diesen wunderbaren Erfolg fast ohne Opfer erreicht; zwei im Kampf Gefallene und fünf Ertrunkene war der ganze Verlust auf seiner Seite. Gordons Grundsatz, alle Gefangenen, die es begehrten, in seine Reihen aufzunehmen, bewährte sich glänzend. Feinde wurden zu Freunden. Auch gestattete er, so viel an ihm lag, nie, daß die Kaiserlichen Grausamkeiten verübten; Gefangene müßten so behandelt werden, sagte er, wie es Soldaten zukomme, die sich einem britischen Offizier ergeben. Sein eigener Bericht lautet:
»Die Rebellen haben diesmal tüchtig Schläge gekriegt; ich glaube nicht, daß sie sich noch lange zur Wehr setzen werden, da wir ihnen durch unsere Dampfer so weit überlegen sind. Kuinsan ist eine große Stadt, über fünf Kilometer im Umkreis, ihren Mittelpunkt bildet ein sechshundert Fuß hoher Hügel, von dem man die Gegend stundenweit beherrscht. Es ist ein merkwürdiges Land, voller Wasserstraßen und von großem Reichtum. Durch die Eroberung dieser Stadt ist es der kaiserlichen Regierung nun ermöglicht, die reichen Korndistrikte u. s. w. zu beschützen; die Landleute sind so dankbar, daß es eine Freude ist, sie zu sehen. Sie waren in schlimmer Lage vorher, mitten zwischen den Rebellen und den Kaiserlichen; sie waren aber schlau genug, sich einigermaßen dadurch zu helfen, daß jedes Dorf sich zwei Bürgermeister hielt, einen kaiserlichen und einen, der vorgab, es mit den Rebellen zu halten. Auf diese Weise entrichteten sie Steuern an beide. Was ich nun weiter zu sagen habe, könnte für Prahlerei gelten, aber ich weiß, daß Ihr alles hören wollt. Der Gouverneur der Provinz, Prinz Kung, und alle Mandarine sind froh, daß ich die Anführerschaft übernommen habe. Ich bin ein Tsung-Ping, d. h. ein Mandarin zum roten Knopf; wie Ihr Euch denken könnt, trage ich die Kleidung aber nicht. Sie schreiben mir sehr schmeichelhafte Briefe und sind äußerst verbindlich.[S. 40] Ich mag die Chinesen auch gut leiden, aber Takt ist nötig im Umgang mit ihnen, und über ihr Phlegma zornig werden nützt gar nichts; ich lasse es daher bleiben .... Sollten Gerüchte von begangenen Grausamkeiten Euch erreichen, so glaubt sie nicht! Wir haben an achthundert Gefangene gemacht; eine gute Anzahl derselben ist jetzt meiner Garde eingereiht und hat seither gegen ihre alten Freunde, die Rebellen, mitgefochten. Wenn ich Zeit hätte, könnte ich lange Geschichten erzählen, wie Leute aus entfernten Provinzen einander hier treffen, oder wie die Bauern unter meinen Soldaten Rebellen erkennen, die vor noch nicht langer Zeit ihre Dörfer geplündert haben — aber ich habe keine Zeit! Ich nahm einen Mandarin gefangen, der drei Jahre lang bei den Rebellen war; er hat jetzt eine Kugel in der Wange, die er sich neulich im Gefecht gegen die Taipings geholt hat. Die Ex-Rebellen, die ich in meine Garde aufnahm, waren alle Schlangenträger oder Hauptleute. Sowohl bei den Rebellen als bei den Kaiserlichen sind die Schlangenstandarten nämlich die Abzeichen der Anführer. Wo man eine sieht, ist immer ein Befehlshaber in der Nähe. Ihr Verschwinden bedeutet den Rückzug des Feindes. In Taitsan hielten die Schlangen auch bis zuletzt, das bewies, daß der Kampf ein hartnäckiger war. Die Wangs wußten nach der Einnahme von Fusan, daß ein »neuer Engländer im Kommando war, aber sie erwarteten ihn nicht in Taitsan.« Äußerst seltsame Gerüchte sind im Umlauf, so z. B. sollen die Rebellen mir vierzigtausend Mark geschenkt haben, damit ich Kuinsan in Ruhe lasse. Alle Mandarine hatten davon gehört, und wenn sie es glaubten, so mußte es sie wunder nehmen, daß wir trotzdem vor Kuinsan erschienen. Bu Wang und zehn andere Wangs ertranken auf dem Rückzug; jener war Befehlshaber von Sutschau und schrieb einen großthuenden Brief an General Staveley, wir wären nur ein Krämervolk, und er habe Soldaten wie Sand am Meer. Ich meinesteils hielt die Rebellen nie für so stark als man annahm; es sind nicht viel tüchtige Soldaten unter ihnen. Tschung Wang, der Getreue, ist anderwärts beschäftigt und soll nicht beabsichtigen, wieder nach Sutschau zurückzukehren. Die Einwohner von Sutschau haben ihre Weiber und ihre Habe in die Wassergegend hinter die Stadt geflüchtet. Ich fürchte, die Wangs werden lange Gesichter machen, wenn sie dort auf unsere drei Dampfer stoßen, was ihnen leicht blühen kann.
[S. 41]
Eine gründliche Kenntnis des Landes ist unschätzbar, und ich habe die Gegend genau studiert. Tschanzu ist etwa sechzig Kilometer von hier. Ich bin öfters dort gewesen; die Leute fühlen sich jetzt sicher dort, seit Kuinsan gefallen ist. Das Entsetzen der Rebellen über unsere Dampfer ist ein großes, besonders wenn Signal gepfiffen wird, das geht über ihr Fassungsvermögen .... Wir haben mehrere ehemalige Diener des Bu Wang unter den Gefangenen, und ihre Berichte sind ergötzlich. Die Wangs hatten beschlossen, meinen Dampfer in die Luft zu sprengen, und erließen eine Proklamation, daß Pulver gelegt werde; sie vergaßen nur die Hauptsache, nämlich wie das geschehen könnte — darüber hat allem nach nichts verlautet ...
Ich habe mehrere englische Offiziere, und wir begnügen uns mit der Montur, die wir auftreiben können; die Soldaten sind in hellen Lumpen ... Ja, es ist wie Du sagst, der Bezahlung wegen bin ich nicht hier. Ich halte es immer mehr für ein gutes Werk, den Aufstand zu unterdrücken, und Du würdest ebenso denken, könntest Du es nur einmal mit ansehen, mit welch dankbarer Freude die Landleute ihre Freiheit hinnehmen; die Rebellen sind ihre Tyrannen ... Die Verlegung des Hauptquartiers war ein großes Stück Arbeit.«
Gordon hatte nämlich beschlossen, Kuinsan jetzt zum Mittelpunkt seines Unternehmens zu machen, und zwar ebensowohl der Lage wegen als mit Rücksicht auf den nicht minder wichtigen Vorteil, daß er sein Korps dort in strammerer Mannszucht würde halten können als in Sung-kiang, wo die Tradition von Ward und Burgevine noch nachwirkte. Seine Leute aber billigten den Beschluß keineswegs. In Sung-kiang konnten sie etwaige Beute besser los werden, während das Plünderungsverbot in Kuinsan überhaupt so leicht nicht mehr umgangen werden konnte. Die Unbotmäßigkeit wuchs zur Meuterei. Die Artillerie weigerte sich anzutreten. Sie würden die Offiziere zusammenschießen, ließen sie Gordon schriftlich androhen. Dieser aber war ihnen gewachsen. Er rief sofort sämtliche Unteroffiziere heraus, indem er nicht zweifelte, daß unter diesen die Rädelsführer und Schreiber des frechen Schriftstücks sich befänden. Wer den Brief geschrieben, verlangte er zu wissen, und warum das Regiment sich dem ergangenen Befehl widersetze. Störriges Schweigen war die Antwort.[S. 42] Darauf erklärte Gordon mit ruhiger Bestimmtheit, er werde je den fünften Mann erschießen lassen, was mit wildem Murren aufgenommen wurde. Ein Korporal zeichnete sich hierbei besonders aus. Mit dem ihm eigenen Scharfblick erkannte Gordon seinen Mann. Mit eigener Hand zog er den Korporal aus der Reihe und ließ ihn von zwei dabeistehenden Infanteriesoldaten ohne weiteres erschießen. Die andern erhielten eine Stunde Arrest mit der Erklärung, daß, wenn alsdann der Antritt nicht erfolge und der Verfasser des Briefes nicht genannt würde, je der fünfte Mann unter ihnen erschossen werden solle. Das wirkte; das Regiment trat an, und als Gordon die verlangte Mitteilung erhielt, ergab sich's, daß der Rädelsführer eben jener Korporal war, dem er die verdiente Strafe hatte werden lassen.
Die Einnahme von Sutschau war das nächste Ziel, aber erst im Dezember wurde es erreicht. Kuinsan war im Mai gefallen.
Die Pagodenstadt Sutschau liegt am großen Kanal und ist von Wasserwegen umgeben. Gordon beschloß, sie allmählich abzuschneiden, indem er zu Wasser von allen Seiten näher rückte. Etwa fünfzehn Kilometer südlich von Sutschau liegt Kahpu am Thaihusee, wo die Rebellen zwei starke Forts innehatten, nicht weit davon die Stadt Wokong. Als Schlüssel zu dem etwa achtzig Quadratkilometer großen Thaihusee waren beide Orte von Wichtigkeit, außerdem beherrschten sie die Verbindung zwischen Sutschau und den Taiping-Städten im Süden. Dahin richtete Gordon deshalb seinen ersten Angriff und eroberte beide Orte mit etwa zweitausendzweihundert Mann Infanterie und Artillerie, sowie mit Hilfe zweier Kriegsboote, der »Feuerfliege« und dem »Heimchen«. Auch hier zeigte es sich wieder, daß rasche Bewegung Gordons Stärke war; so gab es z. B. einen ordentlichen Wettlauf nach einer Verschanzung außerhalb Wokongs, welche die Rebellen vergessen hatten zu besetzen. Als sie merkten, daß der Feind sich seine Gelegenheit ersah, wollten sie das Versäumte geschwind noch nachholen und machten sich kopfüber auf den Weg. Zwei Regimenter Gordons aber waren hinter ihnen her, so daß die Taipings eigentlich nur sozusagen zu einer Thür hinein und[S. 43] zur andern wieder hinausgejagt wurden, den Siegreichen den Posten überlassend.
Viertausend Rebellen kapitulierten; fünfzehnhundert derselben sollte Tsching unter seine Kaiserlichen aufnehmen, nachdem er sein Wort gegeben hatte, sie gut zu behandeln. Es dauerte aber nicht lange, da hörte Gordon, Tsching habe trotz seinem Versprechen etliche derselben enthauptet, eine Wortbrüchigkeit, welche Gordons ganzen Zorn herausforderte. Überdies war er unzufrieden, weil der Sold seiner Truppen seit einiger Zeit im Rückstande war. Er hatte ihnen das Plündern verwehrt mit dem Versprechen einer regelmäßigen Löhnung; nun entbehrten sie beides, und allgemeines Murren wurde laut. Es ist bezeichnend, daß nach der Einnahme von Kuinsan, einem Erfolg, der europäische Truppen mit flammender Begeisterung erfüllt hätte, die Siegreichen in ziemlicher Anzahl davonliefen! Auch hierin liegt ein Grund, warum Gordon nicht anders konnte, als Taiping-Überläufer zu Rekruten zu machen! Durch Tschings zwecklose Grausamkeit wurde das Maß seines Unmuts voll; er beschloß sein Kommando niederzulegen, und ritt in dieser Absicht nach Schanghai. Als er am dritten August dort ankam, fand er indessen eine Nachricht vor, die ihn alsbald umstimmte.
Burgevine mit etwa dreihundert Mann europäischen Pöbels und einem kleinen Dampfer hatte eben die Stadt verlassen, um sich den Rebellen anzuschließen. Burgevine ein Wang! das war allerdings eine Neuigkeit, die den Leuten von Schanghai nicht ganz einerlei war, und Gordon sah, daß er der kaiserlichen Sache nicht den Rücken wenden durfte, wenn er es nicht riskieren wollte, daß die »stets siegreiche Armee« sich ihrem alten Anführer zuwenden und mit ihm zu den Taipings übergehen sollte.
Sofort kehrte er nach Kuinsan zurück, und ernste Gedanken mochten ihn auf seinem einsamen Ritte begleiten. Wie viel hing von der Stimmung seines Korps ab! Die Leute konnten es nicht vergessen haben, wie Burgevine seiner Zeit den kaiserlichen Zahlmeister prügelte, weil er im Rückstande war, und wie er nie Anstand nahm selbst Tempelraub zu begehen, wenn sich's darum handelte, die Siegreichen zu löhnen. Kein Wunder, daß Gordon[S. 44] bei seiner Rückkehr großer Aufregung begegnete; seine Macht über die Geister machte sich aber auch jetzt wieder geltend. Er schickte sich alsbald an, seine Stellung bei Kahpu zu verstärken, und nicht zu früh, denn die mutig gewordenen Taipings machten einen Überfall, wurden aber zurückgeschlagen; doch verlor Gordon ein Kanonenboot. Burgevine war übrigens nicht bei diesem Angriff; es hieß, er bilde eine Fremdenlegion in Sutschau. Gordon hielt sich fürs nächste auf der Defensive.
»Daß Burgevine sich den Rebellen angeschlossen hat, wird den Aufstand ohne Zweifel verlängern, der sonst, nach menschlichem Ermessen, wohl noch in diesem Jahr unterdrückt worden wäre, oder doch spätestens im Laufe des Winters. Ich habe zu wenig Leute, um überall sein zu können, auch ist bei der gegenwärtigen Sachlage doppelte Vorsicht nötig. Die Kaiserlichen leiden an der Einbildung, daß sie die Rebellen im offenen Felde schlagen können, was nicht der Fall ist ... Man sucht mich zu überreden, alsbald die Offensive zu ergreifen, allein das Leben der Leute ist mir anvertraut, und ich will nichts thun, was ich von vornherein für tollkühn halten muß. So weit sind wir gut weggekommen, wir hatten in all diesen Gefechten nicht mehr als dreißig bis vierzig Tote bei sechzig bis achtzig Verwundeten. Es wäre wohl ein Unternehmen, um von sich reden zu machen, wenn ich Sutschau eroberte ohne Verstärkung abzuwarten; aber ich will nichts derartiges riskieren. Wokong ist unser, damit ist schon viel gewonnen, und wenn ich durch die Einnahme von Wusieh Sutschau von aller Verbindung abschneiden kann, wird es wohl nicht nötig sein, die Stadt zu stürmen. Ich denke, die Taipings werden sie von selbst räumen. Burgevine ist ein Thor und sieht nicht, was für Elend er übers Land bringt ....«
Unterm 11. September heißt es weiter:
»Burgevines kleiner Dolmetscher ist zu uns übergelaufen und sagt, daß sein Herr den Wangs allerlei von uns erzähle, was sie höchlich interessiere. Er sei in guter Gesundheit, aber träge. Seine Anhänger sind größtenteils Gesindel aus Schanghai .... Die Gegenwart von Europäern (bezw. Amerikanern) hat die Rebellen in nichts gebessert; sie sengen und brennen nach wie vor, wo und was sie können, und wir haben eine Menge ausgehungerter Leute hier ....«
[S. 45]
Unterm 25. September schreibt er aus dem Lager bei Sutschau:
»Ich habe nun Stellung genommen, um die Kaiserlichen zu decken, die sich in einer Entfernung von etwa fünftausend Fuß vor Sutschau verschanzt haben ... Burgevine ist in Schanghai gewesen« — nämlich um sich Munition zu verschaffen, bei welch tollkühnem Unterfangen er beinahe in Gefangenschaft geriet.
Am 30. September konnte Gordon bereits von Erfolg berichten:
»Da die Kaiserlichen durch die Patatschau-Schanzen gehindert waren, so beschloß ich, dieselben einzunehmen. Die Verteidigung war schwach und unser Verlust bei der Erstürmung ein kaum nennenswerter — fünf Verwundete .... Bei Patatschau ist eine merkwürdige Brücke, sie besteht aus dreiundfünfzig Bogen und ist dreihundert Fuß lang. Ich bedaure sagen zu müssen, daß sechsundzwanzig der Bogen gestern zusammenfielen wie ein Kartenhaus, wobei zwei meiner Leute ums Leben kamen, zehn andere retteten sich nur durch schleunige Flucht. Die Bogen stürzten einer nach dem andern mit kolossalem Lärm zusammen, und mein Boot wurde schier mit zertrümmert. Es ist mir sehr leid, denn die Brücke war einzig in ihrer Art und sehr alt, eine wahre Sehenswürdigkeit. Ich fürchte, ich bin am Einsturz schuld; ich wollte nämlich einen Bogen wegnehmen lassen, um Raum für den Durchgang eines Dampfers nach dem Thaihusee zu gewinnen, da brach die ganze Geschichte zusammen, weil ein Bogen vom andern getragen war ... Die Lage der Rebellen wird immer schlimmer; ich denke, es wird nicht lange mehr dauern, bis ich den Fall von Sutschau melden kann. Wir sind hier etwa drei Kilometer davon entfernt, am großen Kanal. Die Dampfer legen den Taipings doch das Handwerk bedeutend.«
Was den Sturz der Brücke betrifft, so bedarf Gordons Bericht der Ergänzung. Er saß eines Abends allein auf der Brüstung jener Brücke und rauchte seine Zigarre, als zwei Kugeln nach einander neben ihm auf den Stein schlugen und abprallten. Diese Flintenschüsse, die ganz »zufällige« waren, kamen aus seinem eigenen Lager, wo man nicht wußte, daß er sich gerade daselbst aufhielt. Nach dem zweiten Schuß erhob er sich und schickte sich an, zurückzurudern, um zu sehen was es gäbe. Er war noch keinen Steinwurf von der Stelle entfernt, als der Teil der Brücke, auf dem er gesessen, mit großem Gekrach einstürzte und sein Boot in[S. 46] nicht geringe Gefahr brachte. Die Hauptgefahr, der er soeben entronnen, war natürlich die gewesen, selbst mit der Brücke zu stürzen. Es ist charakteristisch, daß er die Sache in seinem Briefe mit keinem Wort erwähnt! Diese Begebenheit ist eines jener Ereignisse, die seine Leute auf den Glauben brachten, sein Leben sei gefeit.
Dieser Glaube hatte bei seinen Chinesen in der That tiefe Wurzel gefaßt. In keinem Gefecht sah man ihn selbst Waffen tragen, obschon er es meist nötig fand, den Angriff persönlich zu leiten. Seine Offiziere waren ja im ganzen sehr tapfere Leute, aber nicht immer dazu angethan, dem verzweifelten Feind stand zu halten. Bei solchen Gelegenheiten konnte man Gordon oft sehen, wie er diesen oder jenen Offizier ruhig am Arm nahm und ihn mit sich in den dicksten Kugelregen führte. Er kannte keine Furcht; ihm galt ein Musketenfeuer nicht mehr als ein Hagelwetter. Die einzige »Waffe«, die er im Treffen führte, war sein kleines spanisches Rohr, womit er die Leute dirigierte; seine Soldaten aber, die ihn fast nur als Sieger kannten und ihn mit Staunen immer kaltblütig und unversehrt sahen, meinten, es habe mit dem Röhrchen eine besondere Bewandtnis. Als »Gordons Zauberstab« stand dasselbe denn auch in glänzendem Rufe. Und dieser Ruf war etwas wert.
Die in der Festung eingeschlossenen Europäer fanden sich mittlerweile unter der Herrschaft der Taipings aufs gründlichste enttäuscht; es kam zu Unterhandlungen zwischen Gordon und Burgevine. Eine Brücke bei Patatschau war der neutrale Boden der Zusammenkünfte.
Burgevine war ein amerikanischer Abenteurer vom reinsten Wasser, Sohn eines französischen Offiziers aus der Zeit des ersten Napoleon, in Nord-Karolina geboren. Er war nicht ohne Bildung, und der Traum seines Lebens scheint der gewesen zu sein, ein Kaiserreich zu gründen. Kalifornien, Australien, Hawaii, Indien und schließlich China waren der Schauplatz seiner Unternehmungen. Trunksucht soll ihn schließlich zu Grunde gerichtet haben. Seine Entlassung aus dem Sung-kiang-Corps hatte er nicht verwinden können, und er schloß sich den Taipings an, nur[S. 47] um sich an den Kaiserlichen zu rächen. In seiner ersten Unterredung mit Gordon erklärte er, er sei der Rebellen überdrüssig und wolle sie mit seinem Anhang wieder verlassen, wenn er die Gewißheit erhalten könne, daß die Kaiserlichen ihn für seinen Verrat nicht zur Verantwortung ziehen würden. Gordon übernahm es, die Bürgschaft zu leisten, und war alsbald bereit, sowohl Burgevine als andere Europäer, die dazu Lust hätten, unter seiner Fahne dienen zu lassen. Als aber Gordon und Burgevine das zweitemal zusammenkamen, gab der letztere seine wahre Gesinnung kund. Er und Gordon könnten gemeinschaftliche Sache machen, meinte er, mit einander der Stadt Sutschau habhaft werden, unter Ausschluß beider, der Rebellen und der Kaiserlichen, sich der in dieser Stadt aufgehäuften Schätze versichern, eine größere Armee heranbilden, nach Peking marschieren und das geträumte Kaiserreich gründen. Man kann sich denken, was Gordon dazu wird gesagt haben.
Übrigens desertierten die Europäer in der Stadt einige Wochen später massenweise, und zwar mit Gordons Hilfe. So groß war ihr Vertrauen zu dem feindlichen Landsmann, daß sie ihm sagen ließen, sie gedächten einen Ausfall zu machen in der Absicht, sich seinem Schutz zu ergeben. Auf ein Raketensignal hin wollten sie den Dampfer Hyson entern. Dies geschah denn auch mit solchem Eklat, daß Tausende von Taipings hinter ihnen herstürmten, in der Meinung, es handle sich um einen wirklichen Überfall; der Hyson aber trug die Flüchtlinge davon, deren Abschiedsgrüße der Zweiunddreißig-Pfünder energisch vermittelte. Burgevine mit etlichen anderen war indessen zurückgeblieben; der Moh Wang habe Verdacht geschöpft, hieß es, weshalb sie die Sache beschleunigt hätten, ohne auf die Säumigen zu warten.
Die Mehrzahl dieser Überläufer waren Matrosen, die nach Sutschau gelockt worden waren, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Ausgehungert und zerlumpt wie sie waren, wußten sie ihrer Dankbarkeit kein Ende, und fast alle baten um die Erlaubnis, dieselbe dadurch mit der That beweisen zu dürfen, daß sie sich der siegreichen Armee einreihen ließen. Gordon aber, sobald er hörte, daß Burgevine in der Stadt zurückgeblieben und somit der Rache[S. 48] der Taipings hilflos überlassen war, richtete (16. Okt.) folgende Zuschrift an die beiden Haupt-Wangs der Belagerten:
»Es kann Ew. Exzellenzen nicht verborgen geblieben sein, daß ich bei jeder Gelegenheit, wo es in meiner Macht stand, Ihren in unsere Gefangenschaft geratenen Soldaten Barmherzigkeit erwiesen habe und es mir habe angelegen sein lassen, die kaiserlichen Behörden vor Grausamkeiten zurückzuhalten. Die Wahrheit dieser meiner Aussage kann Ihnen von solchen, die persönliche Erfahrung haben, bestätigt werden; denn mancher von Ihren Soldaten muß, nachdem Wokong in unsere Hände gefallen war, wieder nach Sutschau zurückgekehrt sein, ich habe es wenigstens keinem verwehrt, der es wünschte.
»Hierauf Bezug nehmend, erlaube ich mir Ew. Exzellenzen zu ersuchen, die Lage der Europäer in Ihren Diensten wohlwollend zu beurteilen. Ein Soldat, er mag kämpfen für wen er will, muß von loyalen Gedanken getragen werden, wenn er seine Pflicht thun soll. Und wenn einer gegen seinen Willen zu irgend einer Fahne gezwungen wird, so wird er nicht nur ein schlechter Soldat sein, sondern außerdem auch ein Unruhestifter im Regiment, den man nur hüten muß. Sollten nun solche Europäer in Sutschau sein, so erlaube ich mir, an Ew. Exzellenzen die Frage zu richten, ob es nicht viel besser wäre, solche unbehindert ziehen zu lassen, wenn das ihr Wunsch sein sollte. Sie selbst würden damit eine ständige Ursache des Argwohns los werden und sich die Billigung fremder Mächte erwerben; während Sie außerdem die Gewißheit hätten, daß Ihnen nur von außen ein Feind droht und nicht auch im eigenen Lager. Ew. Exzellenzen denken vielleicht, daß durch ein paar Hinrichtungen innere Ruhe bald hergestellt wäre; Sie würden dann aber ein Verbrechen auf sich laden, das sich früher oder später rächen müßte. Bei meinen Truppen steht es den Offizieren wie den Gemeinen frei, zu kommen und zu gehen wie es ihnen beliebt; und obschon das manchmal unbequem ist, so bin ich doch andererseits dadurch vor innerem Verrat sicher. Ew. Exzellenzen wollen sich darauf verlassen, daß Sie es zu bereuen haben werden, wenn Sie den in Ihrem Dienst sich befindenden Europäern ans Leben gehen oder sie wider ihren Willen zurückhalten. Dieselben haben nichts verbrochen, sie haben Ihnen im Gegenteil eine Zeit lang gedient; und wenn sie nun zu entfliehen suchen, so ist das nichts anderes als was jeder Mensch, ja jedes Tier in mißlicher Lage zu[S. 49] thun strebt .... Persönlichen Vorteil habe ich durchaus keinen dabei, ob die betreffenden in der Stadt zurückgehalten werden oder dieselbe verlassen. Wenn ich ihretwegen an Sie appelliere, so geschieht es lediglich aus Gründen der Menschlichkeit .... Daß diese Europäer mir Mitteilungen machen könnten, haben Ew. Exzellenzen durchaus nicht zu fürchten; Ihre Truppenstärke und Kriegsmittel sind mir längst bekannt, ich brauche mich daher nicht erst von ihnen belehren zu lassen.
»Sollte ich hinsichtlich dieser Männer vergeblich an Sie appellieren, so schicken Sie mir wenigstens die Verwundeten unter ihnen und glauben Sie, daß Sie damit eine That thun, die Sie nie bereuen werden.
»Ich schreibe dies eigenhändig, da ich mich nicht auf einen dolmetschenden Schriftführer verlassen will. In der Hoffnung, daß Sie meine Bitte gewähren, schließe ich
Ew. Exzellenzen gehorsamer Diener
C. G. Gordon,
Major-Kommandant.«
Burgevine, der diese Teilnahme an seinem Schicksal durchaus nicht verdient hatte, wurde freigegeben und verschwand für immer. In einem Brief an die Seinen beschreibt Gordon die Sache und fährt fort:
»Moh Wang fragte den Boten genau aus, u. a. ob es möglich wäre, mich zu bestechen, und mußte sich mit einem Nein begnügen. »Wird Gordon die Stadt einnehmen?« »Jedenfalls«, lautete die Antwort, und er schwieg nachdenklich. Ich höre, daß die Stadt in großer Verwirrung ist; es ist nicht sowohl die Flucht der Europäer, was die Taipings beunruhigt, als vielmehr das Bewußtsein, daß die Europäer die Sache für verloren halten. Burgevine soll gut behandelt werden; ich werde thun, was ich kann, ihn loszubringen, und dann, sobald sich einer findet, der meine Stelle einzunehmen imstande ist, werde ich mich zurückziehen ... an Ruhm und Ehren ist mir nicht gelegen ... Ich hoffe, daß die chinesische Regierung sich hinlänglich davon überzeugt hat, daß ich ehrlich an ihr gehandelt habe und daß nicht alle Engländer von Geldgier beseelt sind. Daß sie diese Überzeugung in der That gewonnen haben, das glaube ich; wenigstens kommen sie mir mit vollem Vertrauen entgegen.«
Die Tage von Sutschau waren gezählt. Die Kaiserlichen hatten südwestlich um die Stadt her feste Stellungen inne, während[S. 50] Gordon mit seinem Belagerungstrain und vor allem mit dem Dampfer Hyson die nördliche und östliche Seite gesperrt hielt. Der Hyson erwies sich stets als vorzügliches Kampfmittel; bei einer Gelegenheit wurden dreizehnhundert Taipings gefangen genommen, und ebensoviel ertranken bei einem Fluchtversuch. Aber die kaiserlichen Verbündeten unter ihrem Anführer Tsching waren es, die durch ungeschickte Taktik Gordon immer wieder an der Ausführung eines umfassenden Planes hinderten. In Schanghai und anderwärts wurden Stimmen laut, daß, wenn Gordon nicht den Gesammtoberbefehl erhalte, man den Fall von Sutschau nie erleben würde. Aber nicht nur hat er diesen Oberbefehl nie erhalten, sondern sein eigenes Korps geriet wieder an den Rand der Meuterei und war außerdem von Krankheit heimgesucht. Aber Gordon hatte in sich die Kraft eines Kriegsheeres.
Zwar wurden die Siegreichen nun mehrmals zurückgeworfen, einmal lediglich infolge einer zur unrechten Zeit geleisteten Hilfe. Bald aber kann Gordon wieder ein Gegenteil berichten.
»Wir mußten die Rebellen aufs neue aus Wokong verjagen, sie hatten trotz ihrer neulichen gründlichen Niederlage daselbst die Kühnheit, diesen Ort abermals zu besetzen. Ich schickte einen Dampfer hin, und der Erfolg war ein glänzender Sieg, fast wie der bei Kuinsan und auch aus ähnlicher Ursache. Die Rebellen waren nämlich genötigt, ihren Rückzug auf einer engen Straße zwischen dem großen Kanal und anderen Gewässern zu nehmen ...«
Es war ein Weg, der oft lange Strecken nur drei bis vier Fuß breit war und dann und wann kamen enge Brücken, die nur ein bis zwei Mann auf einmal durchließen. Auf der ganzen Strecke des Rückzugs, fünfzehn Kilometer weit, waren die Flüchtlinge unter dem Feuer der Dampfer und hatten die verfolgenden Truppen hinter sich. Der Verlust der Taipings war entsprechend.
Am 1. November wurde Fort Liku erstürmt, etwa acht Kilometer nördlich von Sutschau. Dabei ereignete sich folgendes: Einige Tage zuvor hatte Gordon zufällig einen beschriebenen Zettel gefunden. Er erkannte die Handschrift als die eines seiner Offiziere, Namens Perry, der offenbar einem Rebellenfreund in Schanghai über das Korps berichtete. Perry leugnete auch gar[S. 51] nicht, entschuldigte sich aber damit, daß seine Mitteilungen nicht aus böswilliger Absicht stammten, sondern nur vertraulicherweise einem Bekannten gelten sollten. »Gut«, sagte Gordon, »ich nehme Sie für diesmal bei Ihrem Wort und erwarte von Ihnen, daß Sie beim nächsten ›hoffnungslosen‹ Gefecht vorne dran sind.« Er selbst vergaß den Fall alsbald wieder, aber nach wenigen Tagen waren beide nebeneinander vorne dran beim Erstürmen einer Verschanzung. Eine Kugel traf Perry in den Mund, Gordon fing ihn in seinen Armen auf — er war tot.
»Wir eroberten Liku im Sturmlauf«, berichtet Gordon. »Leutnant Perry ist leider gefallen, er war ein guter Offizier. Sonst nur drei Verwundete. Die Rebellen hielten tapfer Stand, hatten vierzig bis sechzig Tote; wir machten sechzig Gefangene, eroberten drei Kanonenboote und etwa vierzig andere Boote.«
Zehn Tage später wurde ein anderer Ort Namens Wanti angegriffen, der so mit Erdwällen verschanzt war, daß das Beschießen kaum einen Eindruck machte; als Gordon aber den Ort eingeschlossen hatte, stürzten die Taipings wie toll daraus hervor, es gab ein hitziges Handgemenge, und nach einer Stunde war Wanti erobert. Gordon hatte zwanzig Tote, darunter einen Offizier; die Rebellen dreihundertfünfzig — sie waren nämlich unter das Feuer der Artillerie geraten — und außerdem gab's sechshundert Gefangene.
So wurde ein immer engerer Kreis um Sutschau gezogen. Die Wangs fingen an, mutlos zu werden.
»Uneinigkeit unter den Belagerten kann die Übergabe herbeiführen«, schreibt Gordon; »sie haben nichts mehr als für zwei Monate Reis ... Mauding am großen Kanal beabsichtigte ich zunächst durch zwei Dampfer angreifen zu lassen; es ist nur eine Stunde von hier und die Rebellen dort haben gar keine andere Wahl als sich zu ergeben. Die Kaiserlichen reden davon, ihnen Garantie anzubieten, daß ihnen das Leben geschenkt werde; die meisten wären ohne weiteres damit einverstanden!«
Wir werden bald sehen, was es mit solchen Versprechungen kaiserlicherseits auf sich hatte, und daß auch in China ein Treubruch Böses nach sich zieht.
[S. 52]
Die Belagerung war vollständig; an vierzehntausend Mann umschlossen die Stadt, von denen drei- bis viertausend unter Gordons Befehl standen. Außerdem waren noch etwa fünfundzwanzigtausend Mann kaiserliche Truppen in der Nähe; Fusan war ihr Zentrum. Die Taipings zählten vierzigtausend in der belagerten Stadt, zwanzigtausend in Wusieh und weitere achtzehntausend zu Matantschiao, wo Tschung Wang, der Getreue, den großen Kanal beherrschte.
Gordon wußte all dies, aber er wußte auch, daß der Getreue nur auf die Gefahr hin näher rücken konnte, Nanking bloßzustellen und Hangtschau preiszugeben. Tschung selbst war sich darüber klar, daß Nanking hart bedrängt war und daß der Fall der Hauptstadt dem »großen Frieden« den Todesstoß versetzen würde. Die Außenwerke von Nanking waren zum Teil schon in Feindeshand. Gordon wußte dies, denn die Kaiserlichen hatten eine Staffette abgefangen; und er beschloß, Sutschau auf der Nordseite zu stürmen. Der Angriff geschah nachts, mißlang aber, denn die innere Reihe der Außenwerke war stark befestigt und wohl bemannt. Die Angreifenden trugen weiße Turbane, um sich nächtlicherweile untereinander zu erkennen. Es schien zuerst, als ob der Überfall gelingen sollte. Gordon an der Spitze seiner Vorlinien hatte den Wall schon erstiegen, aber ein mächtiges Feuer der plötzlich in Masse erscheinenden Taipings hinderte seine Unterstützungskolonnen am Vordringen, und so mußte auch er wieder zurückweichen. Ein Kampf bei Nacht mochte den Rebellen übrigens nicht behagen; wirklichen Mut schien nur noch der Moh Wang zu haben, der sich wie ein Löwe in den vordersten Reihen wehrte, ohne Schuhe und ohne Strümpfe mitten unter den Gemeinen kämpfend. Zwanzig Europäer hielten sich zu ihm.
Am andern Morgen hatte General Tsching eine Unterredung mit dem Taiping Kong Wang und erfuhr von diesem, daß unter den Wangs in Sutschau große Uneinigkeit herrsche; außer dem Moh Wang und fünfunddreißig zu ihm haltenden Unterbefehlshabern wären die Anführer bereit, mit dreißigtausend Mann zu[S. 53] kapitulieren. Denn trotz des zurückgeschlagenen nächtlichen Angriffs wüßten die Wangs nur zu gut, daß Sutschau fallen müsse; sie schlügen daher vor, daß Gordon, um ihnen einen gewissen Schein zu retten, einen zweiten Angriff aufs Ostthor mache, wobei sie dem Moh Wang den Rückweg in die Stadt abzuschneiden gedächten, um dann ihrerseits mit dem Feind zu unterhandeln.
Am 29. November schoß Gordons Artillerie die Palissadenverschanzung zusammen und der Angriff erfolgte. Es war eine heiße Arbeit. Gräben voll Wasser mußten durchschwommen und Wälle erstiegen werden. Der Getreue selbst war von Wusieh her zu Hilfe gekommen und verteidigte die Stadt. Da ereignete es sich, daß Gordon, der mit einer Handvoll Leute ungestüm vordrang, plötzlich einen Haufen Taipings im Rücken hatte und so von den Seinen abgeschnitten war. Zurück konnte er nicht, wollte es auch nicht, also vorwärts! Er eroberte eine Redoute und hielt sich, bis Verstärkung sich zu ihm durchschlagen konnte. Die errungene Position, die er fast allein gewonnen, kam einem vollständigen Siege gleich, aber er war teuer erkauft. Neun Offiziere, meist Engländer, waren gefallen, dazu fünfzig Gemeine und es gab viele Verwundete. Aber am folgenden Tag konnte er eine Proklamation an seine Leute erlassen des Inhaltes, daß Sutschau faktisch erobert sei.
Es dauerte nicht lange, so hatten Gordon und der kaiserliche General Tsching eine Zusammenkunft mit den Wangs. Immer noch besorgt, sich den Schein zu wahren, schlugen diese jetzt vor, daß ein Angriff auf die Stadt selbst geschähe, wobei sie versprachen, sich nicht bei der Abwehr zu beteiligen, vorausgesetzt, daß die Kaiserlichen ihnen bei der Einnahme die persönliche Sicherheit garantierten. Selbst unter solchen Umständen war der Angriff mit Schwierigkeiten verbunden; die Stürmenden konnten nicht viel über fünftausend Mann beibringen, ein breiter Graben umgab die Stadt und vom Ostthore hin zog sich eine unabsehbare Reihe von Schanzen. Als der Na Wang Gordon vorschlug, die Stadt im Sturm zu nehmen, erklärte dieser daher rundweg, daß es dann unmöglich sein würde, den Soldaten das Plündern und Brennen zu verbieten, und fügte hinzu, wenn es den Wangs[S. 54] wirklich ernst sei mit ihren Vorschlägen, sie ihre Aufrichtigkeit damit bekunden sollten, daß sie dem Feinde ein Thor überließen; wollten sie das nicht, so sollten sie die Stadt entweder räumen oder um den Besitz fortkämpfen, so lange sie sich würden halten können. Daraufhin erklärten sie sich bereit, die Übergabe der Stadt durch Überlassen eines der Thore ins Werk zu setzen; und während General Tsching die Unterhandlungen zu Ende führte, machte Gordon sich alsbald auf den Weg, um beim Gouverneur die Sicherheit der Besatzung zu beantragen.
Übrigens war die Übergabe noch nicht vollzogen. Als der tapfere Moh Wang erfuhr, was seine Mit-Wangs im Schild führten, erfaßte ihn ein gewaltiger Ingrimm, und er versammelte sie alsbald um sich zum Kriegsrat. Er war der Oberbefehlshaber der Stadt. Es mag eine seltsame Szene gewesen sein, als nach der festlichen Mahlzeit und dem obligatorischen Gottesdienst diese Würdenträger mit ihren Kronen und Königsgewändern sich im Halbkreis um den Moh Wang scharten. Sofort kam es zu einem Wortwechsel. »Übergabe!« schrien die Wangs durcheinander. »Wir halten Sutschau bis zum letzten Mann!« entschied der Moh Wang. Da fuhr der Kong Wang auf, den Königsmantel von sich werfend, und stieß seinen Dolch dem Moh Wang neunmal in den Rücken. Miteinander trugen sie den Gemordeten hinaus und zerstückten seinen Leichnam. Gordon erfuhr diese Mordthat, als er eben von seinem Liebesritt zurückkehrte und das Versprechen von Li mitbrachte, dem Moh Wang und seinen Gefährten solle kein Leids geschehen. Er hatte den Moh Wang um seiner mannhaften Tapferkeit willen hochgeschätzt.
In jener Nacht ergab sich Sutschau.
Um, wenigstens so viel an ihm lag, die Plünderung zu verhüten, zog Gordon sein Korps auf einige Entfernung von der Stadt zurück, verlangte aber in Anerkennung ihrer Leistungen doppelte Löhnung für die Truppen auf zwei Monate. Allein Li handelte die Belohnung auf einen Monat herunter, was die Soldaten so verdroß, daß ihr unzufriedenes Gemurre fast in offene Meuterei überging. Ein paar Stunden Plünderung wäre ihnen lieber gewesen als alle Löhnung. Gordon konnte sich nur[S. 55] damit helfen, daß er seine Siegreichen nach Kuinsan zurück marschieren ließ.
Was die nun folgenden Ereignisse betrifft, so mochte Gordon füglich erwarten, daß er eine Stimme im Rat habe, besonders rücksichtlich des Schicksals der Wangs. Ohne ihn und seine Leute hätten dieselben noch lange stand gehalten; und er, der sein eignes Leben nie der Gefahr entzog, dessen Todesverachtung die Armee mit Siegesmut erfüllte, mochte wohl denken, daß er vor allen das Recht habe, dem überwundenen Feind das Leben zu schenken. Li und Tsching wußten auch recht wohl, daß eine menschliche Behandlung der Überwundenen nach europäischen, bezw. nach christlichen Grundsätzen beobachtet werden müsse, wo Gordon mitzureden hatte. Li hatte es diesem bestimmt zugesagt, daß Gnade vor Recht ergehen solle, hatte ihm sozusagen das Leben der Wangs geschenkt. Wie wurde aber dieses Versprechen gehalten!
Von Kuinsan zurückkehrend, betrat Gordon, nichts ahnend, die gefallene Stadt, von seinem jungen Dolmetscher begleitet. Er begab sich nach des Na Wang Wohnung. Dort fand er sämtliche Wangs im Begriff aufzusitzen. Li erwarte sie außerhalb der Stadt, um die Schlüssel der Thore von ihnen entgegenzunehmen. Es sei alles in Ordnung, versicherte Na Wang, und daraufhin sah Gordon sie ruhig ziehen, um so mehr, als Tsching ihn erst kürzlich versichert hatte, der Gouverneur habe eine allgemeine Amnestie erlassen. In aller Gemütsruhe schlenderte Gordon durch sie Stadt, sorgte für des Moh Wang Begräbnis und erreichte nach einiger Zeit das Ostthor, wo ein Haufe Kaiserlicher ihm lärmend entgegen kam. Er blieb stehen und forderte die Soldaten zu ruhigerem Benehmen auf, damit sie die Einwohner nicht unnötig alarmierten. Während er noch redete, betrat der General Tsching selbst die Stadt und erblaßte, als er Gordon sah. Dieser erkundigte sich alsbald nach den Wangs, die der Zeit nach längst von ihrer Audienz zurück sein mußten, worauf Tsching etwas hervorstotterte und sich in Ausreden verwirrte. Da schöpfte Gordon Verdacht und kehrte eiligst nach des Na Wang Hause zurück. Er fand es zerstört; die Plünderung hatte begonnen. Ein Oheim des Na Wang, der ratlos umherlief, bat ihn inständig, mit ihm[S. 56] in seine Wohnung zu gehen, um ihm behilflich zu sein, die Frauen des Na Wang in Sicherheit zu bringen. Er zögerte einen Augenblick, waffenlos wie er war, allein das Weibervolk erbarmte ihn; er beschloß, der Bitte Folge zu leisten und alsdann mit Hilfe seiner Leute dem Plündern der Kaiserlichen wo möglich zu steuern.
Man sollte denken, daß Li den heldenmütigen Gordon, dem er so viel verdankte, wenigstens vor dem Betreten der Stadt hätte warnen lassen; aber davon war keine Rede. So hatte sich Gordon in der That unwissentlich als Geisel gestellt, während der treubrüchige Futai die Wangs draußen enthaupten ließ. Die lärmenden Kaiserlichen, denen er begegnete, kamen gerade von der Hinrichtung, der Tsching selbst beigewohnt hatte. Gordons Lage war um so bedenklicher, als er sich in völliger Unwissenheit befand. Hätten die Taipings, die alsbald zu Tausenden das Haus umstellten, mehr gewußt als er, er wäre nicht lebendig aus ihren Händen gekommen. So aber betrachteten sie ihn als Geisel, bis sie ihre Anführer wieder sähen. Bis zum folgenden Morgen befand er sich völlig hilflos unter den Taipings, die von der vertragswidrigen Plünderung wohl auf Schlimmeres schließen mochten; aber es geschah ihm kein Leid. Wer weiß, ob die Leute nicht halb unbewußt in ihm den festen Mann erkannten, der ihnen Treue halten würde, wenn alle anderen sie brächen. Jedenfalls hat wohl selten ein Heerführer inmitten seiner geschlagenen Feinde dem Tod näher ins Auge geschaut als er; allein über Gordon wachte ein Höherer, dem er diente und der ihn zu noch Größerem brauchen wollte.
Am nächsten Morgen hatte er die Taipings soweit gebracht, daß sie ihm gestatteten, seinen Dolmetscher mit einem Brief an sein Boot zu entsenden, das vor dem Südthor vor Anker lag. Nichts kann bezeichnender für unsern Helden sein, als die Thatsache, daß das Schreiben auch nicht ein Wort über seine eigene Lage enthielt, wohl aber den Befehl an den Kapitän seiner Flottille, den Gouverneur Li gefangen zu nehmen und ihn festzuhalten, bis die Wangs in Sicherheit wären, ein prächtiger Plan, der aber leider mißlang. Der Taipingführer, der den Dolmetscher begleitete, kam allein mit der Nachricht zurück, die[S. 57] Kaiserlichen hätten dem Jungen den Brief abgenommen und denselben zerrissen. Darauf hin gestatteten die Taipings ihrem Gefangenen, sich selbst auf den Weg zu machen. Unterwegs wurde auch er von Kaiserlichen überfallen, die ihn wohl nicht kannten, aber es gelang ihm von ihnen loszukommen und das Ostthor zu erreichen, wo seine Leibwache lag. Diese entsandte er nun sofort zum Schutze der Taipings, die ihn die Nacht durch festgehalten hatten.
Es war immer noch sein Vorsatz, den Li gefangen zu nehmen. Während er zu diesem Zweck auf seinen Dampfer wartete, stellte Tsching sich zu einer Unterredung ein; aber Gordon weigerte ihm das Wort. Da schickte der General einen seiner Offiziere, aber diesem fehlte der Mut, dem entrüsteten Briten die Wahrheit zu sagen. Auf Gordons Frage nach den Wangs entgegnete er, er wisse nichts, doch sei des Na Wang junger Sohn in der Nähe, der werde wohl Bescheid geben können. Und von dem Sohne eines der Gemordeten erfuhr denn Gordon endlich, daß bei Gelegenheit der Audienz die Hinrichtung stattgefunden hatte. Er ließ sich sofort übers Wasser rudern und fand die kopflosen Leichname der Wangs zerhackt und zerstückt.
»Ich fand sechs Leichen«, schrieb er, »und erkannte des Na Wang Kopf.«
Wohl selten in seinem Leben ist ihm etwas so nahe gegangen. Er vergoß Thränen vor Leid und Entrüstung, vor Scham und Zorn. Überdies erachtete er seine Ehre angegriffen durch die unmenschliche That. Er hatte den Wangs zwar nicht sein Wort gegeben — das konnte er nicht — aber er hatte von vornherein mit ihnen in der Voraussetzung verhandelt, daß der Gouverneur sie anständig behandeln werde. Und die Plünderung der Stadt gegen seinen Willen und Wissen war eine weitere Kränkung. Seinem Mut und Kriegsgeschick war's in erster Linie zu verdanken, daß Sutschau gefallen, und nun hatte man ihn einfach beiseite gesetzt, ja ihn selbst in nicht geringe Lebensgefahr gebracht. Diese perfide Handlungsweise der Chinesen, für die er sich aufgeopfert, ergrimmte ihn so sehr, daß sein Zorn keine Grenzen kannte, und wohl zum erstenmal in der ganzen blutigen Kriegszeit nahm er[S. 58] eine Waffe zur Hand. Er steckte seinen Revolver zu sich, entschlossen, an des Gouverneurs eignem Leben Gericht zu üben, mochten die Folgen für ihn selbst sein, welche sie wollten. Tsching aber war ihm zuvorgekommen und hatte Li wissen lassen, daß er wohl daran thun werde, dem zornmütigen Engländer aus dem Weg zu gehen. Als Gordon das Boot des Li bestieg, fand er daher, daß dieser sich in die Stadt geflüchtet hatte. Gordon verfolgte ihn dort und versuchte während mehrerer Tage vergeblich, zuerst allein und dann mit Hilfe seiner Garde, des flüchtigen Gouverneurs habhaft zu werden. In bitterm Mißmut kehrte er nach Kuinsan zurück. Dort verlas er seinem versammelten Korps einen Bericht über das Geschehene mit dem Anfügen, daß ein britischer Offizier unter dem Gouverneur Li nicht länger dienen könne, es sei denn, daß dieser vom Kaiser zur verdienten Strafe gezogen werde.
Gordon schrieb an seine Angehörigen:
»Ihr werdet froh sein zu erfahren, daß wir wieder zu Kuinsan im Quartier sind und es wohl so bald nicht wieder verlassen werden. Ich habe weder Zeit noch Lust, Euch von dem Kampf am Ostthor zu berichten, noch von dem kaiserlichen Verrat in Sutschau — die Zeitungen werden genug darüber melden. Des Na Wang Sohn habe ich bei mir. Er ist ein gescheiter junger Mensch und sehr lebhaft, etwa achtzehnjährig. Sein armer Vater war ein recht guter Wang, besser als die meisten Kaiserlichen, mit denen ich noch zu thun hatte. Ich kann Euch nicht sagen, wie tief ich die neuesten Ereignisse beklage und zwar um verschiedener Ursachen willen. Hätte man dem Feind, der sich ergeben, Treue gehalten, so wäre es mit dem Aufstand wohl zu Ende, und die anderen Städte, die noch aushalten, wären ohne Zweifel dem Beispiel Sutschaus gefolgt. Wir hätten uns dann rühmen können, den Aufruhr mit geringem, nicht zu umgehendem Blutvergießen unterdrückt zu haben. Wenn ich nicht mit dem Na Wang unterhandelt hätte, wäre die Übergabe wohl so bald nicht erfolgt, und ich halte jetzt all meine Mühe für verloren. Ich kann mich nur damit trösten, daß alles zum besten dienen muß! Unverständlich ist und bleibt mir die Handlungsweise des Li; er kennt mich hinreichend um zu wissen, daß ein solches Verfahren mich aufbringen muß, und er handelte mit nicht[S. 59] geringem persönlichem Risiko, denn meine Truppen waren in der Nähe ....«
Während von Regierungs wegen eine Untersuchung eingeleitet wurde, verhielt sich Gordon völlig unthätig in seinem Quartier, — keine leichte Sache bei der Stimmung seines Korps. Li aber hatte sich weiß zu brennen gewußt; überhaupt wähnte man in Peking, das Hauptlob bei der Einnahme von Sutschau gebühre ihm. Gordon hatte allerdings eine Position nach der andern, die er mit seinen Siegreichen eroberte, mit Kaiserlichen besetzt. In Anerkennung dieser Thatsache erhielt Li mit der »gelben Jacke« die höchste militärische Auszeichnung. Doch erinnerte man sich auch des englischen Anführers. Ein kaiserlicher Erlaß bestimmte eine Medaille für den tapfern Tsung-Ping und außerdem ein Geschenk von siebzigtausend Mark.
Diese Summe mit vielen andern Geschenken und der Versicherung der kaiserlichen Anerkennung wurde Gordon von Li übersandt, außerdem eine erhebliche Extra-Löhnung für seine Truppen und eine besondere Summe für die Verwundeten. Diese beiden letzten Beträge nahm Gordon an; die für ihn bestimmte Summe aber wies er mit Entrüstung zurück. Ja, als die buchstäblich mit Gold beladenen Schatzträger vor ihn traten, kommandierte er: rechts umkehrt mit seinem spanischen Röhrchen. Wahrlich keine schönere That läßt sich von dem »Zauberstab« berichten. Die Chinesen wußten sich nicht zu fassen vor Verwunderung. Wo war's erhört, daß einer solche Schätze von sich wies, und wer durfte es wagen, den kaiserlichen Gesandten mit dem Kommandostab zu begegnen! Der mit der Sendung betraute Mandarin brachte ihm außerdem vier seidene Fähnchen als Ehrengabe, zwei von Li und zwei von Wang-tetai, einem die Kanonenboote der Provinz befehligenden Mandarin. Li's Ehrengabe schickte Gordon zurück, die Fähnchen des Wang-tetai nahm er an, da derselbe nicht bei jenem Treubruch beteiligt war. Der kaiserliche Erlaß wurde auf gelbem Atlas feierlich auf einen mit zwei brennenden Kerzen versehenen Tisch gelegt und so zu Gordons Kenntnis gebracht. Eine Übersetzung war dem Schriftstück beigegeben. Auf die Rückseite derselben schrieb der uneigennützige Held stehenden Fußes folgende Antwort:
[S. 60]
»Major Gordon nimmt Sr. Majestät des Kaisers huldvolle Billigung mit Befriedigung entgegen, aber er kann es nur aufrichtig bedauern, daß nach dem, was seit der Einnahme von Sutschau vorgefallen ist, es nicht in seiner Macht steht, irgend welche Geschenke kaiserlicher Gnade anzunehmen. Er entbietet kaiserlicher Majestät seinen unterthänigsten Dank für die ihm zugedachte Belohnung, welche abzulehnen man ihm gnädigst verstatten wolle.«
In einem Brief an die Seinen spricht er sich so aus:
»Um die Wahrheit zu sagen, begehre ich weder Lohn noch Ehre, weder von den Chinesen, noch von unserer Regierung. Auszeichnung habe ich nie gesucht. Ich habe das Bewußtsein, ein gutes Werk zu vollbringen, und fürs übrige gewährt mir mein Beruf an sich Befriedigung ... Ich würde das kaiserliche Geschenk auch dann zurückgewiesen haben, wenn es mit Sutschau anders gegangen wäre ... Ich weiß, daß ihr Verständnis habt für meine Lage, die keine leichte ist, und daß meine Erfolge Euch freuen. Die Rebellen sind ein grausames Volk. Der Tschung Wang hat zweitausend hilflose Menschen umbringen lassen, die nach der Ermordung der Wangs zu ihm flüchteten. Dem Li habe ich übrigens einen Denkzettel angehängt, den er so bald nicht vergessen wird.«
Die Enthauptung der Wangs hatte Gordons Lage in der That zu einer schwierigen gemacht. Seinen Kriegs- und Siegeszug nach der Gewaltthat zu Ende führen, hieß den Treubruch seiner Kollegen billigen, während andererseits seine bisherigen Erfolge vergeblich gewesen wären, wenn er alles weitere den Kaiserlichen allein überlassen hätte. Im Korps der Siegreichen gab es durch das zeitweilige Einstellen des Kampfes bereits bedenkliche Unruhen. Sechzehn Offiziere hatten kassiert werden müssen, während den Taipings offenbar der Mut wuchs. Gordon sah ein, daß er jetzt nicht mit seinen Gefühlen zu Rate gehen durfte, und beschloß deshalb, dem Gouverneur Li behufs weiterer gemeinschaftlicher Arbeit die Hand der Versöhnung zu reichen.
In den Augen chinesischer Machthaber war die Hinrichtung der Wangs ein notwendiges Übel, und als Gordon bei ruhigerer[S. 61] Stimmung anhörte, was Li zu seiner Entschuldigung beibringen konnte, erschien ihm die That, wenn auch immerhin verabscheuungswürdig, doch minder ruchlos. Nach chinesischen Begriffen hätten die kapitulierenden Wangs sich nämlich alsbald wieder als Kaiserliche gebärden sollen; sie aber erschienen vor dem Gouverneur mit vollem Haarwuchs anstatt mit rasiertem Kopfe, sie kamen auch bewehrt, und ihre Haltung war die von Männern, die auch künftig noch zu herrschen gedachten. Das kam dem Li unerwartet. Die Unterhandlungen aber aus diesem Grund abbrechen, war keineswegs thunlich, ohne eine Katastrophe herbeizuführen. General Tsching, selbst ein Ex-Rebell, kannte seine Leute und hatte dem Li dringend zur Hinrichtung geraten. »Macht die Anführer unschädlich«, sagte er, »und die Hunderttausende ihrer Anhänger gelten für nichts; so allein ist Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.« Und so erfolgte die Hinrichtung.
Um aber ehrlich und aufrichtig seinen Gang gehen zu können, machte sich nun Gordon auf den Weg zu Li und forderte ihn auf, eine Proklamation zu erlassen, die ihn von aller Teilnahme und Mitwissenschaft der Hinrichtung losspräche; alsdann wolle er den Kampf wieder aufnehmen. Es geschah, doch erst nachdem durch Hin- und Herschreiben zwischen dem englischen Bevollmächtigten und den chinesischen Behörden kostbare Zeit verloren gegangen war.
»Wenn ich meiner Neigung folgte,« schrieb Gordon damals an den englischen Gesandten, »so würde ich das Kommando jetzt niederlegen. Ich bin aus allen Gefahren unverletzt hervorgegangen, und schöne Erfolge sind mein Lohn; aber das zusammengelaufene Volk, das unter dem Namen der »stets siegreichen Armee« bekannt ist, ist eine gefährliche Rotte, und ich halte es für meine Pflicht, das Korps mit aller Vorsicht aufzulösen; so lange es aber besteht, soll es der kaiserlichen Sache dienen ... Übrigens bin ich mir bewußt, daß keinerlei persönliche Interessen mich bestimmen ....«
Die Proklamation des Li war eine umfangreiche Darstellung der Dinge, die Gordon volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Am 19. Februar 1864 zog dieser abermals ins Feld.
Die westlichen Distrikte waren noch immer in den Händen der Taipings und von desperaten Rotten überlaufen. Eine von[S. 62] Sutschau durch Jesing, Lijang und Kintang westwärts gezogene Linie durchschneidet das Rebellenland in zwei Teile, mit Nanking am obern Ende und Hangtschau am untern. Gordon beschloß auf dieser Linie zu operieren, indem er Hangtschau einem französisch-chinesischen Heeresteil unter einem Offizier Namens d'Aiguibelle überließ, während einem Mandarin mit den Kaiserlichen die Belagerung von Nanking oblag.
Strategisch war dies sehr wohl geplant, aber die Ausführung war mit Schwierigkeiten verbunden. Er verließ Kuinsan in Schnee und Hagelwetter. Bisher war Schanghai sein Proviantmagazin gewesen, jetzt in Feindesland war er lediglich auf sich selbst angewiesen, auch konnten seine Schiffe ihm nicht überall hin folgen. Überdies bestanden seine Truppen jetzt größtenteils aus Überläufern, die von Mannszucht nichts wußten.
Über Wusieh am großen Kanal ging es zuerst nach Jesing, ein trostloser Zug durch Ländereien, welche die Taipings seit Jahren innegehabt und verwüstet hatten. Der Einwohner waren nur wenige übrig geblieben — ausgehungerte Skelette, die oft froh gewesen waren, an den Leichen Verhungerter ihren eigenen Hunger zu stillen. Jesing wurde eingenommen und Lijang, das nächste Ziel, ergab sich ohne Widerstand. An tausend Mann der Garnison wurden dem Korps einverleibt. Glücklicherweise war dieser Ort wohl verproviantiert, und Gordon that sein Möglichstes, es den ausgehungerten Landleuten zu gute kommen zu lassen. Von Lijang ging es nach Kintang. Hier schienen die Taipings entschlossen standzuhalten. Gordon traf seine Vorbereitungen zur Eröffnung einer Kanonade; als diese aber eben beginnen sollte, kam schlimme Kunde. Siebentausend Taipings aus Tschantschufu, einer Stadt nordwestlich von Sutschau, also in seinem Rücken, hatten die Kaiserlichen überflügelt, Fusan überrumpelt, bedrohten Wusieh und belagerten Tschanzu, wo Gordon seinen ersten Erfolg errungen hatte. Die Rebellen hatten somit wieder im Dreißig-Meilen-Umkreis Fuß gefaßt. Gordon beschloß aber, sich vor allen Dingen Kintangs zu versichern, wo eine ebenso grausame als hartnäckige Garnison zu überwältigen war.
Eine dreistündige Beschießung erzielte eine Bresche und Gordon[S. 63] ließ stürmen. Aber der erste und zweite Angriff wurde zurückgeworfen. Und hier ereignete sich das in den Augen des Korps Unglaubliche: der »unverwundbare« Anführer erhielt einen Schuß in die Wade. Es war seine erste und einzige Verwundung. Einen seiner Gardisten, der neben ihm stand, hieß er schweigen und fuhr fort, seine Befehle zu erteilen, bis er vor Blutverlust fast ohnmächtig wurde. Daß auch der dritte Anlauf mißlang, war ohne Zweifel eine Folge von Gordons Verwundung, die ihre Rückwirkung nicht verfehlte. Nach einem Verlust von etwa hundert Toten und Verwundeten mußte sich das Korps nach Lijang zurückziehen!
Hier gab es eine neue Unglückspost; kein anderer als der Getreue in Person hatte Fusan erobert. Nun hinderte zwar Gordon seine Verwundung am Stehen, aber er konnte auch liegend Krieg führen, und die Zeit drängte. Die Taipings erließen eine Proklamation um die andere, daß Schanghai ihr Ziel wäre, und daß sie Sutschau auf dem Wege dahin zu überfallen gedächten. Waren sie doch in Wusieh, keine drei Stunden von Sutschau entfernt! Trotz seiner Verwundung machte Gordon sich alsbald auf mit vierhundert Mann Artillerie und etwa sechshundert Mann Infanterie, welch letztere samt und sonders nur wenige Tage zuvor noch Rebellen gewesen, jetzt aber bereit waren, ihm überallhin zu folgen. »Man weiß nicht, was das Erstaunlichere ist,« ruft hier mit Recht ein englischer Berichterstatter aus, »ob der Mut, oder das Vertrauen des verwundeten Anführers!«
Das überall zu Tag tretende Elend aber war über alle Beschreibung grauenhaft — ausgehungertes Landvolk auf allen Seiten; die noch Lebenden hatten keine Kraft mehr, die Toten zu begraben, die überall die Luft verpesteten. »Es ist entsetzlich!« schreibt ein Augenzeuge, »von Kannibalen zu hören ist schlimm genug, aber mit eigenen Augen Tote zu sehen, denen das Fleisch von den Knochen abgenagt ist, das übersteigt die menschliche Kraft. Man kann hier vor Ekel kaum mehr daran denken, seinen Hunger zu stillen. Die abgezehrten Leute machen Augen wie Wölfe und laufen den Booten nach in der Hoffnung, einigen Abfall zu finden.
[S. 64]
Die Taipings haben das Land rein ausgeplündert und alles Eßbare mit fortgeschleppt.«
Mit unglaublicher Geschwindigkeit drängte Gordon indessen weiter, und aufs neue wurde nun Sieg um Sieg erfochten.
Der letzte Schlag gegen die Rebellen geschah von Waisso aus. Die Taipings zogen sich auf Tschantschufu zurück, allerorts aber erhob sich das Landvolk in verzweifelter Rache, ihrer hunderte und tausende erschlagend. Tschantschufu wurde von Li belagert, und Gordon zog ihm mit dreitausend Mann zu Hilfe. Zwanzigtausend Taipings unter dem Hu Wang oder Schutzkönig, gemeinhin auch »Scheel-Auge« genannt, verteidigten die Stadt bis aufs Blut, sich tagelang wehrend. Aber Li hatte eine Proklamation erlassen, in welcher er allen, welche die Stadt verlassen würden, Pardon verhieß, den Hu Wang selbst ausgenommen, und siehe da — die Überläufer kamen massenhaft. Schließlich erstürmte Gordon die Stadt; etwa fünfzehnhundert Taipings fielen, aber auch das siegreiche Korps litt große Verluste. Es war die letzte Kriegsthat desselben. Kurz vor der Einnahme der Stadt hatte Gordon an seine Mutter geschrieben:
»Ich werde mich natürlich versichern, daß der Aufstand wirklich unterdrückt ist, ehe ich meine Leute heimschicke, da ich sonst eine große Verantwortlichkeit auf mich laden würde .... Auf Weihnachten hoffe ich bei Euch zu sein. Unsere Verluste innerhalb dieser sechzehn Monate waren doch bedeutend: von hundert Offizieren sind achtundvierzig tot oder verwundet, von dreitausendfünfhundert Gemeinen an eintausend tot oder verwundet; aber ich habe die große Befriedigung zu wissen, daß, soweit es in menschlicher Berechnung liegt, es wohl keine sechs Monate mehr dauert, bis auch die letzte Handbreit Erde den Rebellen unter den Füßen weggezogen sein wird, während der Aufruhr sonst leicht noch sechs Jahre hätte dauern können. Meine Beförderung und das Lob der Leute ist mir sehr gleichgültig, und im übrigen werde ich China so arm verlassen als ich es betreten habe, doch darf ich das Bewußtsein mit mir nehmen, daß ich als schwaches Werkzeug dazu dienen durfte, achtzig- bis hunderttausend Menschenleben zu erhalten. Ich brauche keinen anderen Lohn. Die Rebellen von Tschantschufu gehören zu den ursprünglichen Anstiftern, und obgleich manch Unschuldiger mit dabei[S. 65] sein mag, so verdienen sie doch im allgemeinen das Los, das ihrer harrt. Hättest Du eine Vorstellung von den haarsträubenden Grausamkeiten, die sie verübten, so würdest Du wohl auch mit mir sagen: Strafe muß sein. Es sind meist Ausreißer von Sutschau, Kuinsan, Taisan, Wusieh, Jefing u. s. w., die sich hier schließlich zur Wehre setzen; sie halten täglich mehrere Dutzend Hinrichtungen ab, um die mit ihnen in der Stadt Eingeschlossenen an der Flucht zu hindern.«
Am 11. Mai, zwei Stunden nach der Einnahme von Tschantschufu, sandte er in aller Eile folgenden mit Bleistift geschriebenen Brief ab:
»Liebste Mutter! Tschantschufu wurde um zwei Uhr heute von meinen Truppen und den Kaiserlichen erstürmt. Übermorgen kehre ich nach Kuinsan zurück und werde nicht mehr zu Feld ziehen. Die Rebellen sind jetzt geliefert; sie haben nur noch Tajan und Nanking. Tajan wird wohl in diesen Tagen fallen und Nanking kann sich höchstens noch zwei Monate halten. Es freut mich, Dir zu sagen, daß ich wohlbehalten aus dem Kampfe gekommen bin.
Dein treuer Sohn
C. G. G.«
Nach Kuinsan zurückgekehrt, fand er daselbst die Nachricht vor, daß die Kabinetsordre, die es einem britischen Offizier verstattete, unter der chinesischen Regierung zu dienen, aufgehoben war. Es war ein Glück für China, daß Gordons rasche Züge das Werk in der kurzen Zeit vollbrachten; die letzte morsche Stütze des Taipingtums konnte ohne ihn zusammenbrechen. Mehrere feste Plätze der Rebellen ergaben sich ohne weiteres auf die Kunde hin, daß Tschantschufu gefallen sei. Nanking allein hielt noch aus, trotz Hungersnot. Aber Gordon konnte dem endlichen Sieg dort nicht ohne Besorgnis entgegensehen, galt es doch den Bestand seiner errungenen Erfolge. Er machte sich daher selbst nach Nanking auf den Weg, wo Tseng Kwo-fan kommandierte. Von einer Anhöhe oberhalb des Porzellanturmes besichtigte er die Stadt. Die Mauer war vierzig Fuß hoch und dreißig Fuß breit. Er sah, wie einige Taipings sich an Stricken herunterließen, um außerhalb Linsen zu sammeln; man wehrte es ihnen nicht. Innerhalb der Stadt waren große leere Plätze, und an vielen Stellen waren die Wälle ganz verlassen. Die kaiserliche Belagerungslinie[S. 66] erstreckte sich weithin mit einer doppelten Reihe von Schanzen und einhundertvierzig Lehmforts, je achtzehnhundert Fuß von einander entfernt und mit je fünfhundert Mann Besatzung.
Seine »stets siegreiche Armee« verabschiedete nun Gordon auf eigene Verantwortung, jedoch im Einverständnis mit Li. Er entledigte sich dieser seiner letzten Pflicht mit derselben Festigkeit und Selbstlosigkeit, die ihn durchweg gekennzeichnet hat. Er behielt sich vor, Offiziere wie Gemeine nach Verdienst zu belohnen, und die chinesische Regierung gestattete ihm dies um so bereitwilliger, als er für sich selbst auf allen Lohn verzichtete. Jeder Offizier, der eine Verwundung davongetragen hatte, erhielt die Summe von achtzehntausend Mark; die andern je nach Verhältnis. Ein Preuße, Namens Schamroffel, der bei Sutschau um beide Augen kam, erhielt zweiunddreißigtausend Mark. Die nicht verwundeten Gemeinen erhielten je einen Monat Löhnung und Reisegeld in ihre Heimat. So wurde die stets siegreiche Armee aufgelöst, die während der sechzehn Monate unter Gordons Oberbefehl vier Hauptfestungen und ein Dutzend befestigte Plätze eingenommen und in einer Reihe von Gefechten eine Anzahl von Feinden außer Kampf gesetzt hatte, die, gering gerechnet, fünfzehnmal ihre eigene Streitkraft überstieg. Und der Aufruhr, dem sie in voller Blüte entgegengetreten, lag nun in den letzten Zügen: die hungernde Hauptstadt des Usurpators konnte sich nicht mehr lange halten.
Die kaiserliche Regierung hatte Gordon eine stattliche Belohnung zugedacht — zweimalhunderttausend Mark; allein er wies sie zurück wie vorher die siebzigtausend Mark. Und selbst von seiner während der 16 Monate bezogenen Besoldung hatte er den größten Teil nicht für sich, sondern für seine Soldaten ausgegeben. Mit Recht konnte er sagen: ich verlasse China so arm wie ich es betreten!
Li that was er konnte, seinem scheidenden Freunde mit Auszeichnung zu begegnen. Nie war ihm ein solcher Mann in seinem eigenen Volke vorgekommen, und die Ausländer, mit denen er zu thun gehabt, waren immer Leute gewesen, die sich für etwaige Dienste gut hatten bezahlen lassen. Nun lernte er die menschliche Natur von einer ganz neuen Seite kennen — daß es die vom Christentum durchdrungene, erneute menschliche Natur war, verstand[S. 67] der Chinese nicht — und eine lebenslängliche Bewunderung und Liebe für unseren Helden war das Ergebnis. Li hat es bis heute nicht vergessen, daß Gordon ihn einst im höchsten Zorn mit der Pistole verfolgte, weil er sich durch Wortbrüchigkeit eine That hatte zu Schulden kommen lassen, die der edle Sinn des Briten nicht verwinden konnte.
Es bereitete der kaiserlichen Regierung einen ordentlichen Kummer, daß Gordon sich nicht lohnen lassen wollte; ihn nach Möglichkeit zu ehren, war ihr deshalb ein Anliegen. Er wurde zum Range eines Ti-tu erhoben, d. h. zur obersten Mandarinenwürde, auch erhielt er die gelbe Jacke mit der Pfauenfeder, was den höchsten Orden im europäischen Sinne gleichkommt. »Mir liegt nichts an diesen Dingen,« schreibt er an seine Eltern, »aber ich weiß, daß sie Euch Freude machen,« und er nahm sie an, wie auch eine goldene Kette, die Prinz Kung von seinem eigenen Halse löste mit den Worten: »Dies wenigstens sollen Sie mir nicht abschlagen!« Gordon ließ sich die Kette umhängen, aber es erging dieser Kostbarkeit nicht besser als manchen anderen, die er erhalten hat. Auf der Heimreise nämlich begab es sich, daß für eine arme Soldatenwitwe gesammelt wurde. Gordon ging in seine Kajüte, und da er fand, daß seine Barschaft ihm nur eben bis in die Heimat reichen würde, kam er mit jener Ehrenkette zurück und legte sie stillschweigend auf den Teller der Witwe. Ja, selbst eine Medaille, welche die Kaiserin-Mutter von China ihm mit ihrem besonderen Dank übersandte und die er werthielt, verschwand nach einiger Zeit aus seinem Besitz. Nicht einmal seine nächsten Angehörigen wußten, was daraus geworden. Nach Jahren verriet es ein Zufall. Bei einer Hungersnot unter den Fabrikarbeitern in Manchester, welche infolge der Baumwollenkrisis während des amerikanischen Krieges ausgebrochen war, hatte Gordon, dessen Kasse oft durch Liebeswerke erschöpft war, sich seiner Medaille erinnert. Er vertilgte die Inschrift und sandte die schwere Goldmünze als Beitrag an einen Geistlichen jener Stadt. Einer, der ihn persönlich kannte, sagt von ihm, daß er sich stets grundsätzlich von Dingen trennte, die ihm wert waren oder die irgendwie der Eigenliebe Vorschub leisten konnten. »Man[S. 68] muß sich auch von seinen Medaillen trennen können,« war späterhin in Freundeskreisen eine Redensart von ihm. In einem seiner Sudanbriefe aus dem Jahr 1874 findet sich folgende Stelle: »Wie ist mir's gelohnt worden, daß ich damals die Inschrift (jener Medaille) vertilgte, tausendfältig gelohnt! Es giebt jetzt nichts mehr auf der Welt, woran mein Herz hängt. Ihre Ehren? sie sind hohl. Ihr sonstiger Tand? mir ganz gleichgültig. So lang ich lebe, schätze ich die Gottesgabe Gesundheit, das ist Reichtum genug.«
Prinz Kung ließ Gordon nicht ziehen, ohne ein chinesisches Zeugnis seiner Tüchtigkeit an die englische Regierung zu senden. »Wir wissen uns nicht zu helfen,« sagte dieser Fürst zum britischen Botschafter, »er nimmt kein Geld an, und was wir an Ehren ihm verleihen können, ist geschehen; aber auch dies schlägt er gering an, und deshalb habe ich Ihnen dies Schreiben an die Königin von England gebracht, damit sie ihm einen Lohn gebe, der vielleicht mehr gilt in seinen Augen.« Des Lobes und der Dankbarkeit in diesem Schreiben war in der That kein Ende, und die Zuschrift an die britische Majestät schloß mit den Worten: »Der Titel Ti-tu verleiht ihm den höchsten Rang in der chinesischen Armee; der Prinz möchte aber hiermit die Hoffnung aussprechen, daß wenn die englische Regierung dem Heimkehrenden irgend welche Ehrenbeförderung kann zukommen lassen, der britische Minister es nicht unterlassen möge, solche zu befürworten, damit alle Welt erkenne, daß seine Heldenthaten und seine persönlichen Eigenschaften nicht hoch genug zu schätzen sind.«
Der chinesische Brief soll irgendwo »zu den Akten« gelegt worden sein, ohne seine Bestimmung zu erreichen. Die Anerkennung seitens der englischen Regierung war jedenfalls eine sehr langsame. Dem damaligen Kriegsminister soll sogar der Name des Oberstleutnant Gordon ganz unbekannt gewesen sein! Dafür ließ die Stimme des Volkes sich hören, und »Chinesen-Gordon« lautet der aus jener Zeit stammende Ehrentitel, der unserem Helden im Volksmund noch immer anhängt. »Nie,« sagte die Times in jenen Tagen, »hat ein sogenannter Glückssoldat[4] ein feineres Verständnis[S. 69] für die militärische Ehre an den Tag gelegt, als der Mann, der nach einer Reihe von glänzenden Siegen soeben sein Schwert niedergelegt hat. Sein Heldenmut gegenüber den Widerstandleistenden, seine Barmherzigkeit gegen die Überwundenen werden nur durch sein selbstloses Außerachtlassen alles dessen überboten, was ihm persönlichen Gewinn hätte bringen können ... Das Ergebnis seines chinesischen Feldzugs läßt sich kurz dahin zusammenfassen: er fand die fruchtbarsten Distrikte Chinas verwüstet und in den Händen von räuberischen Rebellen. Die reichen Gegenden der Seidenzucht waren eine Stätte barbarischer Greuel; den altberühmten Städten Hangtschau und Sutschau drohte das Los Nankings, sie waren nahe daran, im Besitze der Rebellen zu Grunde zu gehen. Gordon hat den Aufstand mitten entzweigeschnitten, die Städte erobert, die Räuberhorden aufgelöst; und all dies nicht nur durch die Macht seines Schwertes, sondern vielfach durch die bloße Wirkung seines Namens.«
Sein Tagebuch hatte er vor seiner Abreise nach Hause gesandt.
»Ich wünsche aber keine Veröffentlichung,« schreibt er dazu, »je bälder diese Geschichte vergessen ist, desto besser; ich weiß nämlich durchaus nicht, ob wir (die Engländer) ein Recht hatten uns einzumischen. Meinesteils bin ich ruhig im Gedanken, ein Werk der Menschlichkeit vollbracht zu haben, doch kann ich nicht erwarten, daß Fernstehende es eben so ansehen und billigen.« —
Gordon war dringend nach Peking eingeladen worden, aber er lehnte die Aufforderung ab, wohl wissend, daß man ihn dort mit fürstlichen Ehren empfangen würde. In Schanghai aber hielt er sich vor der Abreise noch eine Zeit lang auf, um den Chinesen einigermaßen zu einer Armee nach europäischem Begriff zu verhelfen.
»Ich mache hübsche Fortschritte, die chinesischen Offiziere einzuüben,« heißt es in seinem letzten Brief aus China, »es geht leichter, als ich dachte!«
Und in eben jenen Tagen, während er als einfacher Exerziermeister sich bestrebte, Nützliches zu hinterlassen, fiel Nanking. Jeden Fuß breit, bis in den Palast des himmlischen Königs, verteidigten die Taipings mit verzweifeltem Mut. Hung hatte seit Monaten in seiner Teilnahmlosigkeit verharrt, die man nur[S. 70] als eine Phase seines Wahnsinns betrachten kann. Es durfte ihm niemand sagen, daß die Stadt sich nicht werde halten können; und bis zuletzt bestand er auf seiner göttlichen Herkunft. »Ich bin der Herr von zehntausend Völkern, wen sollte ich fürchten?« rief er. »Ich habe Befehl von Schang-ti (Gott) und von Jesus selbst, dies Reich zu regieren.« Als der Getreue ihm einst dringend zur Flucht riet, entgegnete er: »Fürchtest du den Tod? Ich, der wahre Herr, kann ohne Truppen bestimmen, daß das Reich des großen Friedens sich bis an die äußersten Grenzen erstrecke.« Die Berge, die Ströme, die Völker seien sein, sagte er; und ließ die andern Wangs für sich kämpfen und seine Minister schalten und walten, wie sie wollten. Nur in einem war er unerbittlich: nie durfte man ihn anders als in religiösen Phrasen und mit kriechender Unterwürfigkeit anreden. Einem die Haut bei lebendigem Körper abziehen, war von Anfang an seine Lieblingsstrafe gewesen; jetzt wollte er jeden dazu noch gevierteilt sehen, der es unterließ, von ihm anders als von dem »Himmlischen« zu reden. Die letzten Monate seines unglücklichen Daseins verbrachte er unter seinen Weibern mit religiösen Andachten. Als man ihm mitteilte, daß nur die allerwohlhabendsten Leute der Stadt noch zu essen hätten, erließ er eine Verordnung, daß die anderen sich von »duftenden Kräutern« nähren sollten, wozu er selbst ein gutes Beispiel zu geben wähnte, indem er Gemüse aus dem königlichen Garten zur Tafel befahl.
Der getreue Wang wußte wohl, wie es stand, aber Untreue gegen seinen Herrn scheint ihm nie als eine Möglichkeit vorgeschwebt zu haben. Nach dem Fall von Sutschau war er zum letztenmal nach Nanking zurückgekehrt in der Hoffnung, diese Stadt abermals zu entsetzen. Ihm selbst gelang es, Eingang zu finden, aber seine Truppen hatte er eingebüßt, weil es weithin an allem Proviant gebrach. Zu Ehren dieses Mannes sei's gesagt, daß er sich mit Aufbietung all seiner Kräfte und Mittel nun bestrebte, die Eingeschlossenen vor dem Verhungern zu schützen. Er erzählt in seinem Tagebuch, daß man sich täglich dem Himmlischen zu Füßen werfe, aber dieser gestattete keinem, das Wort Übergabe auch nur in den Mund zu nehmen. Den Rat des Getreuen, die Weiber[S. 71] und Kinder fortzulassen, verachtete er und wandte sich dem Schildkönig zu. Der Getreue aber that heimlich was er konnte, und zu tausenden verließen Weiber und Kinder die Stadt. Der kaiserliche General Tseng nahm alle auf und ließ ihnen Nahrung reichen. Der Schildkönig war ein Banditenanführer, und täglich gab es Mord und Totschlag unter den unglücklichen Taipings.
Die Tage des großen Friedens waren gezählt. Ob der tolle Schulmeister wohl je an seine Jugend zurückdachte, da er noch von keinem anderen Ehrgeiz beseelt war, als im Examen zu bestehen? Ob er sich sein bisheriges Leben vergegenwärtigte? Ströme von Blut bezeichneten seine Laufbahn durch die Länge und Breite des blumigen Landes. Friedliche Städte hatte er in Räuberhöhlen verwandelt, fruchttragende Felder in Wüsteneien. Und nun das Maß voll war und er inmitten seiner wilden Horden dem sicheren Tod ins Auge sah, krönte er sein entsetzliches Leben damit, daß er eigenhändig seine Weiber aufhängte und dann Gift nahm.
Nach seinem Tod bestieg sein ältester Sohn, Hung Fu-tien, als der »junge Herr« den angeblichen Thron; der aber war ein sechzehnjähriger Jüngling, in vollständiger Unwissenheit aufgewachsen. Die Belagerer bedrängten die Stadt mehr und mehr. Am 8. Juli wagte der Getreue einen Ausfall, wurde aber zurückgeschlagen; am 19. gelang es den Belagerern, mittelst einer Riesenmine, die vierzigtausend Pfund Pulver enthalten haben soll, die Mauer zu sprengen; sie drangen unaufhaltsam in die Stadt. Der Getreue leistete zum letztenmal Widerstand, aber die Stunde der Taipings war gekommen; bis Mitternacht hatte er noch den Palast des Tien Wang verteidigt, um den »jungen Herrn« und seine weinenden Angehörigen zu schützen, und als alles zu Ende ging, hatte er den Palast und seine eigene stattliche Wohnung in Brand gesteckt. In der allgemeinen Verwirrung, zwischen Feuer, Totschlag und Fluchtversuchen, legte er eine letzte Probe seiner seltenen Treue ab, indem er den »jungen Herrn«, der mit zwei seiner Geschwister ihn flehentlich um Rettung bat, auf sein eigenes tüchtiges Pferd setzte, während er selbst auf einem ausgehungerten Klepper zu entfliehen versuchte. »Obgleich der Tien Wang dahin[S. 72] war und alles verloren,« heißt's in seinem Tagebuch, »so konnte ich doch als einer, dem er einst wohlwollte, nicht anders, als wenigstens den Versuch machen, seinen Sohn zu retten.« Daß der Tien Wang ihm schließlich nur mit Undank gelohnt hatte, schien dieser Edelste der Taipings in seiner schönen Hingabe vergessen zu haben.
Es gelang dem »jungen Herrn« sowie auch dem Getreuen und dem Schildkönig, mit etwa tausend anderen zu entkommen; sie wurden aber bald von einander getrennt. Als der Getreue fand, daß sein Tier ihn nicht mehr tragen konnte, suchte er Schutz in einem Tempel; dort wurde er von Landleuten erkannt, die ihn knieend baten, sich den Kopf rasieren zu lassen und verkleidet zu entfliehen. »Ich bin der Diener eines Königs, der nicht mehr ist,« entgegnete er, »es wäre ein Unrecht an den Gefallenen, ließe ich mir das Haar scheren.« Er fiel in die Gefangenschaft der Kaiserlichen und wurde samt dem Schildkönig enthauptet. Während der letzten Tage seines Lebens schrieb er seine Erinnerungen, die in gedrängter, klarer und durchaus glaubhafter Darstellung den ganzen Aufstand schildern.
Was den »jungen Herrn« betrifft, so brachte des Getreuen Pferd ihn in vorläufige Sicherheit. Aber weder seine Erziehung noch sein genußsüchtiges Leben in der Gesellschaft seiner jungen Königinnen hatten ihn dazu geschickt gemacht, mit dem Unglück zu kämpfen. Nachdem er sich etliche Wochen im Gebirg herumgetrieben und angefangen, im Hunger sich den Tod zu wünschen, fiel auch er den Kaiserlichen in die Hände. Trotz seiner inständigen Bitte, ihn am Leben zu lassen, »damit er noch etwas lernen könne und sein Examen mache,« wurde er alsbald hingerichtet.
Im November des Jahres 1864 schickte sich Gordon zur Heimreise an. Die Kaufleute von Schanghai faßten seine Verdienste um China in einer äußerst anerkennenden Denkschrift zusammen, die besonders auch darauf Wert legt, daß seine edle Selbstlosigkeit viel dazu beitragen werde, die Chinesen von ihrem Mißtrauen gegen alle Ausländer zu heilen. Als Gordons Tod bekannt wurde, kamen Zeugnisse aus dem fernen China, daß man seiner dort in Liebe gedenke; und als Gordon in Khartum gefallen[S. 73] war, da schickten der Kaiser und Li und andere, die ihm ihren Dank bewahrt hatten, erhebliche Beiträge zu dem Gedächtnisfonds, damit ein würdiges Denkmal für den Helden erstehe.
Aber das schönste Zeugnis stellt ihm ein Taipingführer aus, der nach dem Fall von Sutschau geschrieben hat: »Fern sei es zu behaupten, daß Gordon um die Greuelthaten wußte. Bei aller Kenntnis des brutalen Verfahrens, dessen mancher, den Namen Engländer entehrend sich schuldig macht, glauben wir doch keinen Augenblick, daß der ehrenwerte Anführer der Armee, die sich die siegreiche nennt, jene mörderischen Greuel guthieß ... Wir wissen, daß Gordon es stets bitter beklagte, wenn Grausamkeiten verübt wurden, die er nicht verhindern konnte, und daß in seinem Herzen der Gedanke brennen muß, wie in seinem Heimatland solche Greuel vielleicht ihm zur Last gelegt werden. Möge es ihm eine Genugthuung sein zu wissen, daß unter seinen Feinden, die lieber seine Freunde wären, jene Thaten ihm nicht zugerechnet werden. Gefiele es doch dem Himmel, daß irgend ein unwürdiger Abenteurer seine Stelle einnähme, einer, den man nicht betrauern müßte, wenn er erschlagen würde! Statt dessen kann ich es bezeugen und habe es mehrmals mit eigenen Augen gesehen, wie im Schlachtgetümmel einem niederträchtigen Engländer, den Geldgier in unsere Reihen führte, die Flinte aus der Hand geschlagen wurde, wenn er von gedecktem Standpunkt aus auf den stets furchtlos sich bloßstellenden Gordon zu zielen sich unterstand. Und der solchem Meuchelmord wehrte, war immer einer unserer Anführer, ja einmal kein anderer als der Schildkönig selbst!«
»Es ist einer auf dem Heimweg,« schreibt Gordon an seine Mutter im November 1864, »aber es ist ihm nicht darum zu thun, daß es bekannt werde.« Gefeiert zu werden war, wie wir[S. 74] wissen, nicht nach seinem Geschmack; wozu auch? meinte er, er habe nur seine Pflicht gethan. Der Geschichtschreiber der stets siegreichen Armee sagt, daß er über die Persönlichkeit Gordons von ihm selbst wenig Auskunft erhalten und daß der Leser, in dem die Berichte von Krieg und Sieg mit der Verherrlichung Gordons unwillkürlich zusammenfließen, sich ohne Zweifel wundern würde, wenn er den jungen Mann und seine ruhige, zurückgezogene Art sehen könnte. Freude an energischer Thätigkeit, Selbstaufopferung und Pflichtbewußtsein seien offenbar die Triebfedern seines Wesens. Äußerlich aber habe der tief fromme Soldat nichts von all dem an sich, was sonst den kühnen Anführer einer irregulären Soldateska kennzeichne.
Kaum war Gordon im Kreise der Seinigen in Southampton angelangt, da regnete es auch schon Einladungen aus der vornehmen Welt. Er hatte den Mut, sie alle abzulehnen. Im engen Familienkreise nur ließ er sich herbei, seine chinesischen Erlebnisse zu beschreiben; und die so glücklich waren, es mit anzuhören, fanden die Berichte fast märchenhaft, fast wie eine Heldensage aus vergangener Zeit. Mit Ingrimm konnte er da wohl die Greuel des Rebellentums beschreiben, aber seine Stimme wurde stets leise, wenn von Sieg die Rede war, denn dann gewann neben der Bescheidenheit des Erzählers Mitleid mit den Überwundenen die Oberhand. Niedergeschrieben wurde nichts von all dem, außer was bewunderndes Interesse in die Herzen der Hörer eingrub. Selbst das Tagebuch, das Gordon aus China nach Hause gesandt hatte, fiel seiner Demut zum Opfer. Er wünschte keine Veröffentlichung, wie er bei der Übersendung schrieb. Leihweise fand es indessen seinen Weg in die Hände eines der Minister, und dieser war daran, es privatim drucken zu lassen, damit seine Kollegen es auch lesen könnten. Eines Abends hörte Gordon zufällig davon und begab sich stehenden Fußes nach der Wohnung des betreffenden Herrn, traf ihn aber nicht zu Hause; doch erfuhr er den Namen des Druckers, eilte zu diesem und verlangte sein Manuskript zurück mit dem Befehl, das bereits Gesetzte zu zerstören. Was jenes Tagebuch betrifft, so hat es niemand je wieder gesehen. »Ich besitze wenig auf der Welt,« pflegte er zu sagen,[S. 75] »meinen Namen könnten die Leute mir jedoch als Privateigentum lassen«. Von wie viel tausend Zungen ist der Name Gordon seither mit Bewunderung genannt worden!
Im folgenden Jahre wurde ihm die Ernennung als königlicher Ingenieur-Kommandant zu Gravesend, wo in Aussicht auf einen möglichen Krieg mit Frankreich neue Forts an der Themse aufgeführt werden sollten. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt er um diese Zeit den Ritterorden of the Bath.[5] Er war mittlerweile zum Oberst-Leutnant avanciert.
In Gravesend war er sechs Jahre, die schönste Zeit seines Lebens — arm nach außen in den Augen der Welt, reich nach innen an den christlichen Früchten der Hingabe und zwar unbewußter Hingabe und der edelsten reinsten Menschenliebe. Er selbst hat es ausgesprochen, daß es die glücklichsten, friedlichsten Tage seiner Wallfahrt waren, und damit giebt er sich selbst ein hohes Zeugnis. Wie ergreifend, wie herrlich ist das Bild des Mannes, der Thaten vollbracht wie wenige und der nun seine ganze Freude darin findet, in der Stille an den Armen, den Kranken, den Verlassenen, den leiblich und geistig Darbenden Gutes zu thun. Als eine Art Heiliger soll der Mann keineswegs gezeichnet werden; das wäre eine Übertreibung, die er selbst am meisten beklagt hätte. Er hatte seine Gebrechen wie alle Menschen, so unterlag er z. B. hin und wieder seiner Heftigkeit; seine Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Leute grenzte zuweilen ans Rücksichtslose, und wenn er sich eine Meinung in den Kopf gesetzt hatte, so war es nicht immer leicht, ihn eines anderen, vielleicht besseren, zu belehren; trotzdem aber kann der Leser aus folgenden Zügen reichlich erkennen, daß Christus in diesem Manne eine Gestalt gewonnen hatte, die den meisten Menschen, ja den meisten Christen ein beschämendes, aber andererseits auch aufmunterndes Beispiel sein kann.
Gordon war ein ideal angelegter Mensch, aber das Ideale wurde in ihm sofort real, praktisch. Sein Christentum war kein[S. 76] enges, frömmelndes, sondern eine große, tiefe, treue Liebe zu seinem Heiland, die alle Menschen als Brüder umschloß, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist! Ob und wann es in seiner Lebensentwicklung einen Zeitpunkt gab, den man seine »Bekehrung« nennen könnte, ist nicht ersichtlich — ernste Eindrücke empfing er schon in Pembroke; das aber ist nicht zu verkennen, daß ihm Gravesend zum Patmos wurde, wo sein Glaube sich höher schwang und seine Liebe sich vertiefte, wo er nach dem Worte lebte: »Simon Johanna, hast du mich lieb? Weide meine Schafe.«
Er lebte nur für andere. Sein Haus — und es war ein großes, viel zu groß für seine bescheidenen Junggesellenbedürfnisse — war Schule, Kranken- und Armenhaus in einem; ein zufälliger Besucher hätte es eher für die Behausung eines Stadtmissionars gehalten als für die Dienstwohnung eines Offiziers. Kein Notleidender klopfte je vergebens an seine Thür; alle Hilfsbedürftigen hatten ein Anrecht an ihn, aber am meisten zog sein Herz ihn zu den sogenannten Straßenjungen. Nie ging er an einem vorüber ohne ihn anzureden. Er lud sie ein, zu ihm zu kommen, und versammelte sie bei sich in Klassen, wozu mehr als ein Zimmer seines Hauses herhalten mußte. Die ganz verkommenen und heimatlosen behielt er eine Zeit lang bei sich, kleidete und reinigte sie, um sie dann, am liebsten als Schiffsjungen, unterzubringen. Er nannte sie seine »Könige« — als Deutscher hätte er wohl »Prinzen« gesagt. Einer seiner Bekannten, der ihn einmal besuchte, wunderte sich, warum auf der Weltkarte in seinem Arbeitszimmer so viel Stecknadeln mit Fähnchen angebracht waren, und erfuhr dann, daß Gordon auf diese Weise seine »Prinzen« auf ihren Fahrten begleite; und er vergaß keinen in seiner täglichen Fürbitte. Seine Prinzen vergalten ihm die Liebe aber auch mit begeisterter Anhänglichkeit. Sie vertrauten ihm und lernten von ihm mit der Wahrheit umgehen; und wenn einer Unrecht that, so wußten sie, daß sein Mitleid immer größer war als sein Mißfallen. Drei der Jungen hatten einmal das Scharlachfieber in seinem Hause; er pflegte sie und verbrachte mehrere Stunden der Nacht an ihrem Bette.
Auch die Armenschule besuchte er; an den Sonntag-Nachmittagen konnte man ihn sicher daselbst antreffen, und die es mit[S. 77] Augen gesehen haben, sagen, kein erhebenderes Bild lasse sich denken als den Helden Chinas, der den armen Kindern mit heiliger Wärme biblische Geschichten erzählte, ja mit einer Begeisterung, als führe er sie durch Kampf zum Sieg. Für jedes einzelne interessierte er sich persönlich, kannte ihre Lage, ihre Sorgen, suchte sie in ihrer Armut auf und ließ sie zu sich kommen. Der Armenschule in Gravesend hat er auch seine chinesischen Trophäen geschenkt, nämlich die seidenen Fahnen, die seine Siege bekundeten. Ein anderer hätte sie allenfalls einem Monarchen zu Füßen gelegt; ihn freute es, daß seine Armenschüler damit eine Auszeichnung gewannen. Mehr als einer jener armen Jungen, der jetzt ein gemachter Mann ist, und, was besser ist, ein Christ, dürfte ein schöneres Denkmal für den gefallenen Helden sein, als irgend eines, das seine Nation ihm zu errichten vermöchte.
Einer seiner »Prinzen« schreibt unterm 12. März 1885: »Nichts freut mich mehr, als es bezeugen zu dürfen, was der liebe gute General für mich und andere gethan hat, während er in Gravesend lebte. Zu der Zeit, als ich in seinem Hause Aufnahme fand, traf ich dort noch eine Anzahl anderer Jungen, die alle gleich mir kränklich waren; unsere Eltern hatten nicht die Mittel, uns hinreichende Nahrung zu gewähren. Der General aber hatte uns fast täglich bei sich zum Mittag- und Abendbrot, und wir durften mit ihm am selben Tisch essen. Drei von uns (darunter ich), die es am nötigsten hatten, schickte er in das Seebad-Krankenhaus nach Margate, wo er je 16 und 18 Mark wöchentlich Kostgeld für uns zahlte. Ich war ein volles halbes Jahr dort, die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, jedes drei Monate. Ich danke jetzt noch dem lieben Gott dafür; denn von jener Zeit datiert meine Gesundheit ... Später hat er mich auch auf einem Schiff untergebracht und die Lehre bezahlt; ich kann ihm nie genug danken. Ein anderer Junge, der mit mir dort war, ist jetzt Lotse, und das verdankt er auch dem General ... Es drängt mich, dies bekannt zu machen als ein Beispiel von dem, was der liebe General an vielen that. »Seine Jungen« nannte er uns. Kaum ein Abend verging, daß er nicht ein Dutzend von uns bei sich hatte, meist Fischerjungen, die nicht zur Schule gehen konnten;[S. 78] er unterrichtete uns, und wenn das Lernen vorbei war, durften wir Domino oder Schach spielen, und im Sommer gab es Cricket. Wenn die Jungen alt genug waren, brachte er sie auf Kauffahrteischiffen unter, manchmal auch in der Marine. Keinen ließ er gehen, ohne ihn mit der nötigen Kleidung zu versorgen.«
Auch später, als Gordon selbst wieder in weite Ferne zog, verlor er keineswegs das Interesse an seinen »Prinzen«. Mit manchen korrespondierte er, nach anderen erkundigte er sich, und wo Hilfe not that, schickte er auch Geld. Hier sind einige Sätze aus einem der vielen Briefe, die er an einen Freund in Gravesend richtete:
Galatz, 27. Februar 1872.
»Es freut mich zu hören, daß Georg P. verheiratet ist und daß Billy Arbeit gefunden hat ... Ich habe meinen Wagen und die Pferde verkauft — ganz unnötiger Luxus ... Meine Grüße an Birls und Ridley; diese beiden Jungen könnten manchen aus den besseren Ständen zum Muster dienen. Was den M. betrifft, so sollte er als Junggeselle bei 25 Mark wöchentlichem Verdienst etwas zurücklegen können; ich lasse ihm weniger Trunk und mehr Fleiß empfehlen. Ich bedaure, daß Sie, wie Sie sagen, beinahe angeschwindelt worden sind. Weisheit in Geldsachen geht uns beiden ab; doch ist es ein Trost, zu wissen, daß Gott uns immer wieder durchhilft, und wenn wir nicht selbst manchmal Mangel empfänden, so wüßten wir nicht, was Geben ist; von unserem Reichtum geben ist keine Kunst. Ich lasse dem Harry A. für seinen Brief danken, es freute mich von ihm zu hören. Auch der Frau K. meinen Dank — hat Karl Arbeit? Sie ist ein braves Frauchen, und es würde ihr wohlthun, wenn Sie sie besuchen wollten. Auch nach dem jungen Fordham könnten Sie sehen, erkundigen Sie sich doch, was er vorhat; in seiner Schule wird es zu erfragen sein. Das Kunstwerk von Brief ohne Unterschrift ist wohl von dem kleinen Arthur W..., sagen Sie ihm, er müsse vor allen Dingen wachsen, bis er über den Tisch sehen kann, und danken Sie ihm für den Brief. Sagen Sie der Frau M. ein tröstliches Wort ...; es thut mir sehr leid, zu hören, daß E.. seine Stelle verloren hat; sagen Sie es ihm mit einem herzlichen Gruße ....«
Es erhellt schon aus diesem Briefe, daß er sich nicht nur der Jungen annahm. An Sonntagen hielt er regelmäßig eine[S. 79] Bibelstunde für alle Armen, die kommen wollten. Gepredigt im eigentlichen Sinne hat er dabei nicht, aber wie er ihnen die Bibel auslegte und was er ihnen von der Liebe Gottes sagte, das kam vom Herzen und ging zum Herzen. Als er Gravesend verließ, haben die Armen, denen er auf diese Weise Gutes gethan, aus eigenem Antrieb ihre Scherflein zusammengelegt und ihm eine schöne Bibel geschenkt; es war eine Gabe dankbarer Liebe wie selten etwas.
Auch der Kranken nahm er sich an. Furcht vor Ansteckung kannte er nicht; er besuchte Häuser in den Armenquartieren, wohin andere zu gehen sich scheuten. Wenigstens einmal wöchentlich erschien er im Armenspital, und nie kam er mit leeren Händen. Was seine Freunde etwa ihm zuschickten, schöne Trauben oder Erdbeeren zu früher Jahreszeit, das wanderte zu den Kranken. Und die Liebe, die aus seinen Augen strahlte, und die liebliche Art seines Wesens war den Leuten erquicklicher noch als seine Gaben. Da las er denn auch ein paar Bibelworte und betete mit ihnen und verließ sie getröstet. Und sie zählten die Tage bis er wieder kam, sie richteten sich auf an seiner wahren Teilnahme, ja manches geprüfte Herz sah da den Himmel offen und lernte an den Heiland glauben, der alle Schmerzen auf sich genommen hat.
Seine einzelnen Samariterdienste sind nicht zu zählen. Er hatte eine leidenschaftliche Freude an Blumen, hatte auch einen schönen Garten zu Gravesend, wo er sie pflegen konnte, aber wenn sie erblüht waren, trug er sie in die Krankenzimmer der Armenquartiere. Er hört von einer kranken Frau und geht hin, findet sie in Kälte und Elend, da zündet er eigenhändig ein Feuer an und macht ihr eine Tasse Thee. Dann schickt er ihr eine Wärterin und bezahlt den Doktor. Die Frau lebt heute noch, voll Lobes über seine Liebesthat. Ein andermal hörte er, daß eine Familie in Gefahr ist, aus ihrer Wohnung gewiesen zu werden; er zahlt die rückständige Miete und entzieht sich dem Danke. Unter seinen besonderen Schützlingen war ein alter Mann, der seit Jahren gelähmt war: nur die linke Hand konnte er noch bewegen, auch konnte er liegend lesen. Gordon sorgte dafür, daß[S. 80] ihm täglich eine Zeitung zukam. Derselbe gelähmte Mann klagte ihm einst, daß die Fliegen ihn so quälten, weil er sich ihrer nicht erwehren könne. Gordon sagte nichts, aber am andern Tage erschien ein den Leuten anfänglich unerklärliches, mit Schleierstoff überzogenes Gestell. Es war eine Vorrichtung, den Kopf des Mannes vor den Fliegen zu schützen, ohne ihn am Lesen zu hindern.
Ja die Armen und Kranken zu Gravesend, denen er nie vorpredigte, ihr Elend sei der Wille Gottes, erinnern sich seiner mit lebenslänglicher Dankbarkeit. Ein alter Mann erzählt, seiner damals leidenden Frau seien kräftige Suppen und Wein verordnet worden, die er aus seinen Mitteln nicht bezahlen konnte, aber der gute Oberst habe, als er davon gehört, täglich eigenhändig Suppe oder Wein gebracht, und als es ihr wieder besser ging hätte er ihnen aus der Bibel vorgelesen, und das sei schön gewesen. Niemand beklagte seinen Tod aufrichtiger als dieser alte Mann, wenn es nicht jene alte Frau war, an deren Jungen er Gutes gethan hatte. Diese hatte schwer mit Armut zu kämpfen gehabt. Als es bekannt wurde, Gordon sei tot, meinte die fromme Einfalt, sicherlich würde er in London begraben werden, und schickte sich an, ihren ganzen Besitz, ein paar Fischernetze, zu verkaufen, um die Mittel zu einer Reise nach London aufzutreiben. »Ich muß sein liebes Gesicht noch einmal sehen,« sagte sie, »es mag kosten was es will, und wenn ich nachher Hungers sterbe.«
Gordon war lange in Gravesend, ehe die Leute dahinter kamen, daß der freundliche Oberst im Forthaus und der »Chinesen-Gordon« ein und derselbe waren. Äußerst bezeichnend, sowohl für ihn als für gewisse Leute, ist folgende kleine Thatsache. Er hatte von Anfang an Sonntags seinen Sitz auf der Emporkirche unter den Armen genommen. Niemand kümmerte sich darum; als es aber nach und nach bekannt wurde, was für einen berühmten Mann man in der Gemeinde habe, würdigten die Kirchenältesten ihn einer feierlichen Aufwartung und baten ihn, er möge doch herunterkommen und sich eines der gepolsterten Sitze bedienen, die für die Vornehmeren bestimmt sind. Er dankte für die Rücksicht, zog es aber vor, unter den Armen auf hölzerner Bank sitzen zu bleiben.
[S. 81]
Es ließen sich leicht noch Dutzende von Beispielen beibringen, die sein Leben in der Stille kennzeichnen, doch dürfte das Vorstehende genügen. Was eine zu Gravesend wohnende Dame, die ihn kannte, über ihn schrieb, sei jedoch nicht unterdrückt:
»Seine barmherzige Liebe umschloß alle; daß einer elend und arm war, war ihm genug, er erkundigte sich nie, ob man seine Hilfe auch verdiene. Wenn er dabei auch einmal hintergangen wurde, so war's nur selten[6], denn er hatte ein Auge, das die Leute zu durchschauen schien, es schien nutzlos, ihn belügen zu wollen. Ich habe mich oft gefragt, ob es seinem natürlichen Scharfblick zuzuschreiben ist oder vielmehr der ihm eigenen Einfalt und Selbstlosigkeit, daß er Menschen und Dinge meist in ihrem wahren Licht sah. Im Armen- und Krankenhaus war er ein ständiger Gast, und Empfänger für seine Liebesthaten gab's unzählige in der ganzen Umgegend. Mancher Sterbende schickte lieber nach ihm als nach dem Pfarrer, und weder Entfernung noch Wetter hielten ihn je ab, einem solchen Rufe zu folgen. Einen Armengottesdienst zu leiten, dazu war er immer bereit, und wo man die Hungernden zum Sichsattessen versammelte, ließ er sich nie zweimal bitten, ihnen biblische Geschichten zu erzählen. Aber in Versammlungen religiöser oder philanthropischer Art sah man ihn nie als Vorsitzenden, und öffentliches Redenhalten haßte er, besonders wenn es dazu dienen sollte, ihn persönlich zu verherrlichen. Und nichts war ihm gleichgültiger, als Essen und Trinken, sofern es ihn selbst betraf. Wir begegneten ihm einmal gegen Abend, und er nahm uns mit nach Hause, wo der Tisch für ihn gedeckt stand — eine Kanne Thee und ein trockenes Laibchen Brot. Ich machte eine scherzende Bemerkung, ob er auf trockenes Brot reduziert sei; da nahm er das Laibchen (kein großes), drückte es in ein Schüsselchen und goß den Thee darüber. ›So, nun wird es bald weich sein,‹ sagte er, ›und nach einer halben Stunde ist es einerlei, was ich gegessen habe.‹ Um ein humoristisches oder witziges Wort war er nie[S. 82] verlegen, und noch seh' ich ihn mit den Augen zwinkern, als er mir erzählte, was für enttäuschte Gesichter es manchmal unter seinen Jungen gebe, die, von ihm aufgenommen, sich einbildeten, künftig herrlich und in Freuden zu leben, und dann die Entdeckung machen mußten, daß Pöckelfleisch und Kartoffeln auch ein gutes Mittagessen abgebe. Zu seinem Garten überließ er uns freundlicher Weise den Schlüssel, damit unsere Kinder darin spielen könnten. Als wir zum erstenmal davon Gebrauch machten, bewunderten wir die frühen Erbsen und andere leckere Gemüse, die darin wuchsen, und da eben seine Haushälterin hinzu trat, machten wir eine darauf bezügliche Bemerkung. Sie erklärte uns alsbald, daß der Oberst nie dergleichen auf seinem Tisch hätte; er überlasse fast den ganzen Garten armen Leuten, die ihn anpflanzen und den Ertrag dann verkaufen dürften. So kam es, daß es bei uns zu einer Redensart wurde, »der Oberst hat kein Ich.« All sein Thun war selbstlos, und darin folgte er seinem Herrn. Nie oder selten konnte man ihn dazu bringen, von sich zu reden. In jener Zeit wurde das erste Buch über ihn geschrieben. Er lud den Verfasser zu sich ein und half ihm nach Kräften, sofern es die Einzelheiten über den Taiping-Krieg betraf, wozu er ihm seine eigenen Aufzeichnungen gab. Als er aber, durch irgend eine Bemerkung, die gemacht wurde, auf den Verdacht kam, daß in dem Buche von ihm selbst und seinen Thaten viel die Rede sein könne, da bat er sich das Manuskript aus und zerriß eine Seite nach der andern zu des Verfassers nicht geringem Entsetzen. Es war mir ein Anliegen, den Mann und seine ungewöhnliche Abneigung gegen alles Lob zu verstehen, und so befragte ich ihn einmal darüber, indem ich hinzufügte, er habe ja alles Recht, auf diese Dinge stolz zu sein. Da entgegnete er, niemand habe ein Recht, auf irgend etwas stolz zu sein, da wir alles empfangen hätten und von Natur in keinem Menschen Gutes wohne. Er setzte hinzu, daß jeder nur immer alle Ursache habe, sich zu demütigen, daß alles Medaillentragen, aller äußere Schmuck des Körpers, wie überhaupt alle Selbstverherrlichung ganz übel angebracht sei. Auch hätte keiner ein Recht, irgend etwas sein zu nennen, der sich ein für allemal dem Herrn als Eigentum ergeben[S. 83] habe. Was sollte er da zurückbehalten? ›Des lieben Gottes Eigentum zu sein,‹ sagte er zu mir, ›sollte auch Sie hindern, diese goldene Kette da zu tragen; sie sollte für die Armen verkauft werden.' Indessen gab er zu, daß nicht alle Menschen je nach ihrer verschiedenen Lage es so leicht finden möchten wie er, irdischen Besitz in solchem Licht zu betrachten. Sein Geldbeutel war immer leer infolge seiner Freigebigkeit. Ein silbernes Theeservice, das Geschenk seines Verwandten Sir William Gordon, bewahre er auf, sagte er einmal; der Wert desselben werde ausreichen, früher oder später seine Begräbniskosten zu bestreiten, ohne anderen zur Last zu fallen. So verhaßt es ihm war, von seinen Thaten zu reden, so freigebig war er mit seinen Gedanken, und manche interessante Unterhaltung führten wir mit ihm. Ein gewisser mystischer Zug, der ihm eigen war, verlieh seiner Rede einen eigenen Reiz; wir haben viel von ihm gelernt. Er besuchte uns oft, aber es war eine ausgemachte Sache, ohne daß je ein Wort darüber verloren worden wäre, daß man ihn nie auffordern dürfe, länger zu bleiben, wenn er sich zum Gehen anschickte. Ihn je zu Tisch zu bitten, wäre ordentlich eine Beleidigung gewesen: ›Ladet die Armen und Kranken ein,‹ hätte man da zur Antwort erhalten, ›ich kann zu Haus essen.‹«
Daß er neben seinen Berufsarbeiten und täglicher fleißiger Beschäftigung mit Gottes Wort so viel Zeit fand, Gutes zu thun, verdankte er einerseits seiner Gewohnheit früh aufzustehen, andererseits seinem methodischen Fleiß, der nie auf einen andern Tag verschob, was sofort geschehen konnte. »Warum sollte man etwas hängen lassen, was man gleich erledigen kann,« pflegte er zu sagen. Immer beschäftigt sein, war offenbar die äußere Bedingung seiner Zufriedenheit. Einer Dame, die sich bei ihm über die Langeweile des Mode-Lebens beschwerte, gab er den guten Rat, sich doch einmal am Waschzuber ordentlich müde zu schaffen. Einer seiner Untergebenen, der über die Arbeiten seines Berufes in Gravesend berichtet hat, schreibt unter anderem: »Wenn Gordon an der Arbeit war, dann war's Arbeit, und keiner von uns hätte es sich beikommen lassen, ihn auf irgend etwas einen Augenblick länger warten zu lassen als absolut nötig war. ›Schon[S. 84] wieder fünf Minuten verloren, die wir nie wieder haben werden!‹ konnte er ausrufen. Er hielt strenge Ordnung, aber das hinderte keinen, mit völliger Liebe und Verehrung an ihm zu hängen.«
Gordons äußere Erscheinung soll durchaus nichts Überwältigendes gehabt haben. Er war nicht groß, hatte kein stattliches Auftreten; man sah ihm den Soldaten nicht an. Wer ihm zum erstenmale begegnete, konnte aus seinem bescheidenen Äußeren nicht schließen, daß er es mit einem der tüchtigsten Offiziere zu thun habe. Daß er der »Chinesen-Gordon« war, stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben, obgleich er der denkbar offenherzigste Mensch war. Ein gewisses jugendliches Aussehen soll er bis ins mittlere Alter bewahrt haben. Die ihn kannten, stimmten darin überein, daß seine Macht über die Menschen von seinen blauen Augen ausging — »sein Gesichtsausdruck hatte nichts bedeutendes, war aber von der Art, die es ›einem anthut,‹« sagt einer seiner Mitoffiziere, ein langjähriger Freund, »und im Umgang hatte er etwas unaussprechlich bezauberndes.« Man habe sich mit unwiderstehlichem Vertrauen zu ihm hingezogen gefühlt als zu einem Mann, der es gut mit einem meine; man habe ihm nur ins Auge zu sehen brauchen um zu wissen, daß man sich felsenfest auf ihn verlassen könne, selbst wenn alle andern einen im Stich ließen. Neben der Sanftmut und Güte seines Wesens, die alle rühmen, die je mit ihm zu thun hatten, konnte er aber auch herzhaft zornig werden, wie schon angedeutet wurde. Er kannte diese seine schwache Seite wohl, und wenn einer seiner Untergebenen einen Verweis verdiente, so suchte er für den zu erlassenden Tadel gern einen Stellvertreter, aus Furcht, von der Hitze mit fortgerissen zu werden.
Wohl der schönste Zug seines Wesens war seine wunderbare Demut, die nie heller leuchtete als im Umgang mit den Armen und Niedrigen. Solchen erzählte er auch mit größter Bereitwilligkeit aus seinem Leben in China und anderwärts, worüber seinesgleichen ihn nie reden hörten. Er war höflich gegen den Geringsten und konnte einen Bettler um Verzeihung bitten, wenn er ihm eine Münze hastig hingeworfen. Wer zu jener Zeit in Gravesend wohnte, der konnte hin und wieder sehen, wie er auf[S. 85] der Straße plötzlich stehen blieb, um vielleicht einem armen Waschweib ihre Last abzunehmen, sei's Bündel oder Korb, und ihr tragen zu helfen, und war einer seiner Freunde in der Nähe, vornehm oder gering, so konnte er gewärtig sein, auch aufgefordert zu werden, mit Hand anzulegen.
Gordon war ein Christ in des Wortes vollster Bedeutung, aber einer besonderen Gemeinschaft im englischen Sinn hat er nicht angehört. Dies ist schon durch seine Lebensführung begreiflich. Auch darf man wohl sagen, daß einer, der so in der Allgegenwart, ja Gemeinschaft Gottes wandelt, über die Unterschiede hinaus ist, die uns andere, die wir noch Schüler sind, in Klassen abteilen. Er hat sein Leben, wie wir gesehen haben, nach dem Wort eingerichtet: Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der, die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten. Übrigens hielt er dafür, daß das Christentum eines Menschen sich vor allen Dingen in der gewöhnlichen Berufs- und Pflichterfüllung des Lebens bethätigen müsse. Das ist's, was der seltenen Energie zu Grunde liegt, die ihn zum großen Manne gemacht hat; das auch, was in der Gerechtigkeit, Festigkeit, Milde und Umsicht seinen Ausdruck fand, die seine Verwaltung des Sudan so rühmlich kennzeichneten. Er war überall und in allen Dingen ein Christ. Sich selbst für besser halten als andere, war nicht seine Sache. »Wir sind alle voll Schwären,« konnte er sagen, »manche verdecken ihre Schäden mit seidenen Lappen, andere haben nur Lumpen; reißt beides weg, und die Krankheit ist dieselbe.«
Auf sein inneres Leben und seine Stellung zur christlichen Lehre werden wir später zurückkommen. Die Früchte, die aus seinem Glauben erblühten, sind mit der kurzen Schilderung aus Gravesend wohl zur Genüge dargethan.
Im Jahr 1871 wurde Gordon nach Galatz geschickt, in eine ihm nicht unbekannte Gegend, wo er an der Donau-Mündung eine ähnliche Arbeit ausführen sollte wie daheim an der Themse. Die »öffentliche Meinung« aber fing an sich zu wundern, warum die Kräfte eines so eminent zum Kriegführen geschaffenen Mannes wie Gordon an eine Arbeit verschwendet würden, die jeder andere[S. 86] Ingenieuroffizier auch erledigen könne. Es war die Zeit der Asante-Sorgen, und die Zeitungen fingen an sich zu erkundigen, wo der »Chinesen-Gordon« stecke und warum man nicht ihn absende, um dem König Kofi das Handwerk zu legen. Unter den vielen Zuschriften an die öffentlichen Blätter in jener Zeit verdient ein »Mandarin« unterzeichneter Brief, den die Times brachte, hier wenigstens im Auszug wiedergegeben zu werden.
»Es ist zum Verwundern,« sagt der Schreiber, ein ehemaliger Offizier der stets siegreichen Armee, »wie wenig die erstaunlichen Thaten des Mannes, der als »Chinesen-Gordon« öfters genannt worden ist, in diesem Land bekannt geworden sind. Als einer, der in der stets siegreichen Armee unter ihm diente — welche Bezeichnung ganz gewiß nicht aus seinem Munde stammt — könnte ich lange Spalten füllen mit den Beweisen seiner unglaublichen Thatkraft, seiner über alles Lob erhabenen Um- und Vorsicht, seiner anspruchslosen Bescheidenheit, seiner Ausdauer und Herzensgüte, seines überlegenen Mutes, ja Heldenmutes. Es ist die einfache Wahrheit, daß alle, die je unter ihm gedient haben, seine militärische Tüchtigkeit, um nicht zu sagen sein Kriegsgenie, in alle Himmel erheben. Es giebt nicht viele Heerführer, denen ein ganzes Offizierkorps solch einstimmiges, begeistertes Lob zollt. Und noch wunderbarer ist die völlige Hingabe, mit der die chinesischen Truppen ihm anhingen, das unbedingte Vertrauen, das sie in irgend welches Unternehmen setzten, wenn nur er es persönlich leitete. In ihren Augen war er einfach ein Zauberer, dem alles möglich war .... In ihrem Glauben an seine gefeite Unverwundbarkeit bestärkte sie seine Gewohnheit plötzlich zu erscheinen, wenn die Truppen unter Feuer waren, wo er dann im dichtesten Kugelregen ganz ruhig dastand. Außer seinem spanischen Rohr, das die Soldaten seinen Zauberstab nannten, trug er ein kurzes Fernrohr, nie Waffen; oder richtiger, was er an Waffen trug, war unsichtbar.... Einmal nur erinnere ich mich Zeuge gewesen zu sein, wie Gordon einen Revolver zog. Es war bei Kuinsan, nachdem die Truppen ein Vierteljahr lang während der Sommerhitze im Quartier gelegen hatten. Man benutzte diese Zeit, sie einzuexerzieren, mit dem Gedanken an die geplante Einnahme[S. 87] von Sutschau. Die Hitze war entsetzlich. Ruhr und Cholera lichteten die Reihen, und die Disziplin war nicht ganz so stramm wie sonst..... Als gegen Ende September Befehl zum Abmarsch gegeben wurde — es galt die Forts und Schanzenwerke zwischen Kuinsan und Sutschau — war's besonders die Artillerie, die den Gehorsam weigerte. Eine Kompagnie wurde störrig und wollte sich nicht einschiffen ... da erschien Gordon mit seinem Dolmetscher. Er war zu Fuß, dem Anschein nach unbewaffnet und wie gewöhnlich sehr gefaßt. Sobald er zur Stelle war, erließ er durch den Dolmetscher die Ordre, daß jeder Soldat, der gesonnen sei, sich nicht einzuschiffen, vortreten solle. Nur einer trat vor. Da zog Gordon eine Pistole aus seiner Brusttasche, richtete sie gegen des Mannes Kopf und ließ ihm durch den Dolmetscher zurufen: »Marsch!« Der Mann gehorchte auf der Stelle und die ganze Kompagnie ihm nach. Sage einer — das hätte jeder andere kaltblütige und entschlossene Offizier auch erreicht! Durchaus nicht! Wenigstens gab's unter uns damals nur eine Meinung, daß der Gehorsam in diesem Fall lediglich der grenzenlosen Achtung, ja Ehrfurcht zuzuschreiben war, mit welcher das ganze Korps zu Gordon aufsah. In der That war die Stimmung der Truppen damals eine solche, daß wenn irgend ein anderer Offizier es gewagt hätte, zu handeln wie Gordon handelte, offene Meuterei und die Ermordung der Offiziere die Folge gewesen wäre .... Die wahre Ursache der beispiellosen Erfolge des Korps ist einerseits wohl in der militärischen Tüchtigkeit des Anführers zu suchen, andererseits aber in seinem Charakter und seinem ganzen Wesen, welches der Art war, daß alle, die mit ihm in Berührung kamen, unbegrenztes Vertrauen in seine Fähigkeit setzten neben dem festen Glauben, daß er mit den besten ihm zu Gebot stehenden Mitteln die besten Resultate zu gewinnen der Mann war.[7] Wer[S. 88] Gordon kennt mit seiner anspruchslosen Persönlichkeit, seiner ruhigen zurückhaltenden Art, kann von seinem wunderbaren Einfluß über ein Heer von unwissenden Soldaten und aus aller Herren Länder zusammengelaufenen Offizieren nur auf die höchsten Eigenschaften seines Charakters schließen. Um einen Vergleich zu ziehen, so möchte es scheinen, daß die unwissenden Chinesen den Mann besser zu würdigen verstanden, als gewisse wohl unterrichtete Leute hierzulande.«
Allein die Regierung hatte taube Ohren; einer aus dem Ingenieurkorps, und wäre er selbst der »stets siegreiche General«, wie das Volk ihn neuerdings nannte, sei nicht fürs Kommando bestimmt, war die Entschuldigung. Als der Khedive aber nach einiger Zeit einen Kommandanten nötig hatte und sich dazu den Oberst Gordon ausersah, hatte die englische Regierung nichts dagegen einzuwenden.
Die Sudanländer sind insbesondere durch deutsche Reisende allgemeiner bekannt geworden. Der Name »Sudan« bedeutet nichts anderes als das Land der Schwarzen und stimmt also mit der alten Bezeichnung »Äthiopien« überein, woraus sich ergiebt, daß der Sudan, heutzutage ein Land des Elends und der Knechtschaft, schon eine bessere Vergangenheit gekannt hat. Wir erblicken in ihm das Mohrenland der Bibel, das Land der Königin Kandaze. Im Propheten Jeremia ist zu lesen: Lasset die Helden ausziehen, die Mohren! Memnon, ein König von Äthiopien, zog mit zehntausend Mann den Trojanern zu Hilfe. Und auch neuerdings haben sich die Sudanesen als Soldaten bewährt, mit denen nicht zu spassen ist. Aber der Fluch Hams liegt auf dem Lande.
Sudan ist ein Gemeinname, er umfaßt die ungeheuren mittelafrikanischen Ländergebiete zwischen Ägypten im Norden und den Seen (Njansa) im Süden, zwischen dem Roten Meer im Osten[S. 89] und dem Lande Darfur im Westen. Khartum am Zusammenfluß des Blauen und Weißen Nils liegt so ziemlich in der Mitte zwischen dem Mittelländischen Meer und dem Viktoria Njansa, von Meer und See je sechzehnhundert Kilometer entfernt. Von Khartum nach der Ostgrenze des Sudans, nämlich bis zu den Hafenstädten Suakim und Massaua am Roten Meer, beträgt die Entfernung etwa sechshundert Kilometer, nach der Westgrenze bis Darfur sind es zwölfhundert. Die Hauptstationen zwischen Khartum und Ägypten sind Berber und Dongola, beide am Nil. In Berber mündet die Wüstenstraße von Suakim her, und zwischen diesen beiden Orten ist die Eisenbahnlinie projektiert, die den Sudan vom Roten Meer aus leichter zugänglich machen soll. Um die Entfernungen durch einen Vergleich zu veranschaulichen, so ist es von Kairo nicht weiter nach Petersburg als nach Gondokoro, der Hauptstadt der ägyptischen Äquatorialprovinz, während es von Khartum nach Gondokoro etwa so weit ist, als von Berlin nach Rom. Khartum und Gondokoro sind durch den Nil verbunden, durch den »Ssett« aber, eine Massenanhäufung von schwimmenden Wassergewächsen, sind diese Städte trotz aller Dampfer oft monatelang außer Verbindung.
Ägypten hat sich während der letzten sechzig Jahre in den Sudanländern ausgebreitet. Mehemet Ali mochte es redlich meinen oder nicht, als er sich anschickte, an die Stelle der herrschenden Anarchie im Sudan eine geregelte Regierung zu setzen, und seinen Sohn Ismail mit einem Soldatenhaufen und etlichen Gelehrten hinsandte, um von dem Lande Besitz zu nehmen. Dieser aber wurde mit samt seinem Gefolge von einem Häuptling verbrannt. Man wußte sich furchtbar zu rächen, und die ägyptische Gewaltherrschaft wurde aufgerichtet. Die geregelte Regierung bekundete sich in Unterdrückung und Aufstand, und die eingeführte Zivilisation beschränkte sich hauptsächlich auf Elfenbeinhandel, wogegen nichts zu erinnern gewesen wäre, wenn nicht auch das »schwarze Elfenbein«, der Negerhandel, zur Goldquelle geworden wäre. Der Sklavenhandel nahm nach und nach so zu, daß er zum offenkundigen Skandal wurde. Die arabischen Händler zahlten eine beträchtliche Abgabe an die ägyptische Regierung, die deshalb ein[S. 90] Auge zudrückte. Das Elend im Land spottete aller Beschreibung; ein ehrliches Gewerbe konnte neben dem Menschenraub nirgends aufkommen. Europäische Händler waren die Urheber des Unfugs. Um das Jahr 1860 mußten sich diese aber angesichts der öffentlichen Meinung zurückziehen. Seither haben die Araber die Negerjagd und den Negerhandel ins Unglaubliche getrieben. Die Einwohnerschaft der Sudanländer besteht nämlich aus zwei Hauptklassen, von welchen die eine, die eingewanderten Araberstämme, die natürliche Unterdrückerin der andern, der Neger, ist. Schweinfurth beobachtete die Sklavenhändler mehrere Jahre lang. Vor zwanzig Jahren, schreibt er, gab es Hunderte von Denka-Dörfern auf der östlichen Seite des Flusses, jetzt ist die ganze Strecke zur Einöde geworden. Man stößt allenthalben auf Spuren, daß Dörfer und angebaute Gegenden da zu finden waren, wo jetzt alles verwüstet ist; die Bevölkerung muß wenigstens um zwei Drittel abgenommen haben. Sir Samuel Baker ist der Ansicht, daß niemand anders als die ägyptischen Pascha an der Verwüstung des Denka-Landes schuld seien. »Das Land ist vollständig entvölkert infolge der Razzien der vom Statthalter von Faschoda begünstigten Sklavenjäger.« Er durchreiste das Land nach allen Richtungen und kam allerwärts auf Spuren zerstörter Dörfer. Im Jahre 1864 sah er die Gegend des Viktoria-Nils zum erstenmal; das Jahr 1872 brachte ihn wieder dahin. »Die in diesen Jahren stattgefundene Veränderung ist nicht zu beschreiben; damals war die Landschaft ein Garten, dicht bevölkert und voll reicher Produkte. Jetzt ist alles zur Wüstenei geworden! Niemand ist schuld daran, als die Khartumer Händler, welche Weiber und Kinder in die Sklaverei führen und plündern und zerstören, wo sie hinkommen.« »Man sieht meilenweit keine Menschenseele,« schreibt Gordon, als er den Sobat hinaufdampfte: »die Sklavenhändler haben die ganze Bevölkerung aufgerieben und die Gegend zur vollständigen Wildnis gemacht.«
Während einer Reihe von Jahren geschah nichts, um dem schändlichen Handel zu steuern. Zwar wurden Proklamationen erlassen, aber, wie Schweinfurth sagt, schien eine unüberwindliche Neigung zum Sklavenhandel jedem Türken oder Ägypter angeboren,[S. 91] der im Dienste der Regierung den Sudan verwalten half. Und als der Greuel dem Khedive endlich zu arg wurde, war dies nicht sowohl eine Regung von Mitleid mit den armen Negern, als vielmehr Furcht vor einem sich erhebenden Machthaber, der seine Oberherrschaft im Sudan bedrohte. Die Sklavenhändler zählten nach Tausenden; mit bewaffneten Horden zogen sie durchs Land, ja so mächtig wurden sie, daß sie die Abgaben an die Regierung nicht länger zu entrichten für nötig fanden. Auch das war ein Grund, ihnen das Handwerk zu legen. Unter den Sklavenhändlern war besonders einer, der durch seinen unglaublichen Reichtum, seine aus Sklaven rekrutierten Truppen, sowie durch die beträchtliche Anzahl seiner befestigten Stationen fast die Stellung eines Königs einnahm. Es war dies der berüchtigte Sebehr Rachama, der schwarze Pascha. Schweinfurth fand ihn von fürstlichem Hofstaat umgeben. Seine Gäste wurden von reichgekleideten Sklaven in mit kostbaren Teppichen behangene Vorzimmer geführt, und um den königlichen Glanz seiner Umgebung zu erhöhen, wurden Löwen herbeigebracht. Sein Reichtum und sein Aberglaube schienen einander die Waage zu halten, wenigstens wird erzählt, daß er einmal fünfundzwanzigtausend Maria-Theresia-Thaler einschmelzen ließ, um Kugeln aus Silber zu gießen, mit denen ein Feind beschossen werden sollte, der angeblich gegen Blei gefeit war. Ursprünglich ein Elfenbeinhändler, hatte er sich auf das »schwarze Elfenbein« verlegt. Er war Herr von nicht weniger als dreißig Stationen, die sich bis ins Innere von Afrika erstreckten, und sein Name verbreitete Schrecken durch den ganzen Sudan. Von den einzelnen Stationen aus wurden Streifzüge auf die Neger unternommen; auf den Stationen fanden sich die Kleinhändler ein, welche ihm die Sklaven abkauften und durch die Wüste an die Grenze schleppten. Als Schweinfurth im Jahre 1871 die Raubhöhle Schekka, Sebehrs Hauptstation an der Südgrenze Darfurs, besuchte, fand er daselbst nicht weniger als zweitausendsiebenhundert solcher Händler, die gekommen waren, um sich mit Sklaven zu versehen. Schon 1869 hatte es die ägyptische Regierung versucht, Sebehrs großer Macht einen Zügel anzulegen. Eine Truppenabteilung unter einem Anführer Namens Bellal[S. 92] folgte dem Sklavenräuber in die Bahr el Ghasal. Es kam auch zu einem Gefecht, in welchem Bellal, sowie die meisten seiner Soldaten umkamen. Sebehr selbst trug eine Fußwunde davon. Der Khedive war nicht wenig entrüstet, mußte sich aber vorläufig damit zufrieden geben, daß nicht er, sondern Sebehr Herr im Sudan war, den Tausende von Sklavenhändlern als solchen anerkannten. Zwar dem Namen nach war Sebehr ägyptischer Unterthan, aber in Wirklichkeit souveräner Herr.
Die Eroberung Darfurs war eines der mit Bellals Unternehmen in Aussicht genommenen Projekte. Dieses Land war damals noch frei. Es hatte seit vierhundert Jahren seine eigenen Sultane. Darfur ist der Kornspeicher für den westlichen Sudan, und der regierende Sultan hatte dem drohenden Überfall Bellals eine Ausfuhrsperre entgegengesetzt, was nicht nur seinem offenen Feinde, sondern auch den Sklavenhändlern ungelegen kam. Sebehr war Manns genug, einen Gegenschlag zu führen. Er plante seinerseits eine Einnahme Darfurs. Das konnte dem Khedive nicht einerlei sein. Fiel Darfur in Sebehrs Hand, dann war nichts wahrscheinlicher, als daß der ganze Sudan sich ihm ergeben würde. Der Khedive nahm zur Politik der Feigheit seine Zuflucht und beschloß, lieber mit als gegen Sebehr zu handeln, worauf ägyptische Truppen unter Ismail Pascha Jakub vom Norden her in Darfur einfielen, während die Sklavenhändler es im Süden bedrängten.
In einer Schlacht wurde der Sultan von Darfur erschossen, und als seine beiden Söhne den Leichnam decken wollten, fielen auch sie. Ihr jüngerer Bruder war ein Kind, und ein entfernterer Verwandter Namens Harun beanspruchte die Thronfolge. Darfur aber wurde unterjocht und Sebehr zum Pascha gemacht. Diese Ehre war ihm keineswegs genügend; er und seine Horden hätten das Land erobert, sagte er, ihm komme es daher zu, als Generalgouverneur die neue Provinz zu verwalten. Er hatte sogar die Kühnheit, selbst nach Kairo zu gehen, um seine Ansprüche dort geltend zu machen. Zwei Millionen Mark soll er mit sich genommen haben, um die Pascha zu bestechen. Es nützte ihm nichts, er wurde in Kairo festgehalten. Soliman, Sebehrs Sohn,[S. 93] beunruhigte an seines Vaters Statt das Land und war die Seele eines gewaltigen Aufstandes. Wie derselbe von Gordon und seinem kühnen Stellvertreter Gessi unterdrückt wurde, werden wir später hören.
Der Khedive, der den Sklavenhandel geduldet, wo nicht geschützt hatte, so lange er ihm eine Rente abwarf, verfiel auf philanthropische Motive, sobald seine Oberherrschaft gefährdet war. Durch ganz Europa posaunte er die Nachricht, daß er gesonnen sei, den greulichen Handel auszurotten. Nur zu diesem Ende habe er Sir Samuel Baker an den Äquator geschickt und nun auch den genialen Gordon berufen. Das ganze Nilbecken bis zu den Seen am Äquator wurde zu einem Teile von Ägypten erklärt. Selbst an jenen äußersten Grenzen — so lautete das vielverheißende Manifest — müßten Leib, Leben und Freiheit fürderhin als heilige Dinge gelten. Unter dieser Maske der Menschenliebe wurde Gordon, der als einer der aufrichtigsten Menschenfreunde, als einer der kühnsten Heerführer bekannt war, für den neuen Gouverneurposten in Aussicht genommen. Oberägypten sollte einen Regierungsbezirk für sich bilden, und der Elfenbeinhandel innerhalb seiner Grenzen wurde zum Staatsmonopol erklärt.
Gordon war noch in Galatz, als ihm die neue Thätigkeit angeboten wurde. Im Jahre 1872 war er in Konstantinopel mit dem ägyptischen Minister Nubar Pascha zusammengetroffen, und dieser, von seiner Tüchtigkeit überzeugt, hatte ihn gefragt, ob er nicht einen Nachfolger für Baker zu empfehlen wisse. Gordon erblickte in dem sich eröffnenden Wirkungskreise eine Möglichkeit, den geknechteten Schwarzen zu dienen, und bot im folgenden Jahr seine Dienste an, vorausgesetzt, daß der Khedive bei der englischen Regierung um ihn einkommen wolle und diese nichts dawider habe. In England schien man seiner nicht zu bedürfen, und so machte er sich auf den Weg zur Ausrichtung eines großen Berufs im Innern des schwarzen Weltteils. Es war der Tag, der die Nachricht vom Tode Livingstones nach England brachte, an welchem Gordon von London aufbrach! Jener war mit dem Gebete auf den Lippen gestorben, daß der Herr sich Afrikas erbarmen[S. 94] und einen Befreier senden möge. War es nicht wie eine Antwort auf diese Bitte, daß Gordon sich rüstete, um den Kampf mit dem großen Unrecht aufzunehmen, das jener ans Licht gebracht hatte? Die Namen Livingstone und Gordon sind wie zwei Sterne an Nachthimmel Afrikas; beide sind untergegangen; wann wird der Tag anbrechen?
Der Khedive setzte seinem neuen Statthalter denselben Jahresgehalt aus, den Baker bezogen hatte, nämlich zweimalhunderttausend Mark, Gordon selbst aber bestimmte nur vierzigtausend. Das war dem Khedive und noch andern Leuten ein Rätsel. Wer den Mann aber kannte und überdies wußte, auf welche Weise Ismail seine Schatzkammer füllte, dem war die Handlungsweise erklärlich. Gordon verabscheute einen Gewinn, der, wie er wohl wußte, dem Schweiß der Fellahs erpreßt wurde; es wäre ihm wie Blutgeld vorgekommen; er nahm daher nur so viel, als er durchaus nötig hatte. »Wie Mose, so verachte auch ich den Reichtum Ägyptens,« schreibt er. »Wir haben einen König, der mächtiger ist, denn diese alle, und bessere Güter in ihm, als die Welt uns bieten könnte. Ich beuge mich keinem Haman.«
Gordons Auftrag bestand darin, eine fast unbekannte Provinz zu ordnen, in der bewaffnete Händler ihr Wesen trieben und durch Elfenbein und Schwarze sich bereicherten. Die eingeborenen Stämme hatten sie grausam unterdrückt und gezwungen, mit ihnen Handel zu treiben, ob sie wollten oder nicht. Einige dieser Tyrannen hatten Erlaubnis, im Lande zu wohnen, vorausgesetzt, daß sie sich des Sklavenhandels enthielten; man hatte sie dem Gouverneur vom Sudan unterstellt. Dieser aber war von Khartum aus nicht im stande gewesen, seine Autorität geltend zu machen, und aus diesem Grunde hatte der Khedive die neue Äquatorialprovinz gebildet. Wenn der Sklavenhandel und das Raubwesen erst einmal abgeschafft wäre, dann sollte aller rechtmäßige Handel frei sein. Gordon sollte eine Kette von Stationen errichten, sollte versuchen, das Vertrauen der Stämme zu gewinnen und der Sklavenjagd auf alle mögliche Weise entgegenarbeiten.
Aber bei seinem kurzen Aufenthalte in Kairo hatte er mit dem ihm eigenen Scharfblick den Khedive und seine Pläne durchschaut.[S. 95] »Ich glaube, den wahren Beweggrund entdeckt zu haben,« schreibt er, »man hofft, uns Engländern Sand in die Augen zu streuen.« Trotzdem schwankte er keinen Augenblick. Er wußte, daß er in eines Höheren Dienst stand, und das gab ihm Kraft. So schreibt er einmal:
»Wer dürfte es wagen, der nicht den allmächtigen Gott auf seiner Seite hat? Ich kann es und will es thun, denn mein Leben achte ich für nichts — ich würde nur viel zeitlichen Verdruß mit dem ewigen Frieden vertauschen!« Und weiter: »Wer doch den Tod immer als Erlöser vor Augen hätte! Welche Ruhe ist des Menschen Teil, der so denkt, und was für Thaten kann er vollbringen — nichts kann ihn mehr beunruhigen, in welchem Amt er auch stehe!«
Es war Gordons Wunsch, als gewöhnlicher Passagier sich nach Suakim zu begeben; allein Nubar Pascha erklärte, der Gouverneur von Oberägypten müsse mit Gepränge reisen. Ein Gefolge wurde ernannt, und, von einem Adjutanten des Khedive begleitet, sollte Gordon mit einem Extrazug nach Suez fahren. Aber unterwegs versagte die Lokomotive, und die Reise mußte mit dem gewöhnlichen Zug fortgesetzt werden — ein Hauptspaß für Gordon. »Wir haben groß angefangen und dürfen klein aufhören,« berichtet er darüber. Von Suakim ging's durch die Wüste nach Berber; etwa zweihundertundzwanzig Mann Militär, die mit ihm an Bord waren, bildeten die Eskorte für den vierzehntägigen Marsch, dessen Länge Gordon keineswegs beklagte, denn es war ihm vor allen Dingen darum zu thun, seinen Soldaten, die von Mannszucht nichts wußten, Gelegenheit zu geben, ihn kennen zu lernen. Was persönlicher Einfluß vermag, das wußte er von China her.
Sein Generalstab bestand aus einem kühnen und in jeder Beziehung tüchtigen Italiener, dem nachmals so rühmlich bekannt gewordenen Romulus Gessi, den er als Dolmetscher schon in der Krim kennen gelernt hatte; ferner aus mehreren anderen Europäern, Namens Kemp, Russell, Anson und zwei Brüdern Linant, dem Amerikaner Long und Abu Saud, einem gewesenen Sklavenhändler und niederträchtigen Menschen, den er in Kairo[S. 96] als Gefangenen vorfand und dem er mit einem gewissen Eigensinn zutraute, daß er sich künftighin der Redlichkeit befleißigen und sich nützlich erweisen werde. Der Khedive wußte nicht recht, was mit diesem Gefangenen anfangen, der am oberen Nil als »Sultan« bekannt war, aber nichts weniger als einen guten Namen dort hinterlassen hatte. Gordons Vorschlag, sich seiner Kenntnis des Landes zu bedienen, hielt der Khedive für sehr gewagt; Gordon aber ließ sich in diesem Vertrauen nicht irre machen, und der ehemalige Sklavenjäger wurde seinem Stabe einverleibt. Die Gewohnheit Gordons, Feinde durch gutes Zutrauen zu Freunden zu machen, hat sich in seinem Leben zwar oft bewährt; Abu Saud aber hat die ihm entgegengebrachte gute Meinung nicht gerechtfertigt und Gordon viel zu schaffen gemacht, bis dieser sich durch einen Machtspruch seiner wieder entledigte.
Über Gordons Zeit im Sudan liegt ein umfangreicher Band seiner, hauptsächlich an seine Schwester gerichteten Briefe vor; wir folgen ihm ins Land der Schwarzen an der Hand dieser Briefe. Am 13. März 1874 wurde Khartum erreicht.
»Der Generalgouverneur kam in voller Uniform Deinem unter dem Donner der Geschütze landenden Bruder entgegen. Gestern stand dieser noch mit nackten Beinen im Nil und half das Boot flott machen — trotz der Krokodile, die einem nichts thun, so lange man in Bewegung ist — heute salutiert ihn die Garde, so oft er sich blicken läßt ... Ich habe seit meiner Ankunft schon Musterung gehalten und das Spital und die Schulen besucht; die kleinen Schwarzen lachten, als sie mich sahen. Ich wollte, die Fliegen suchten sich ein anderes Quartier, als die Augenwinkel dieser Kinder! Khartum ist eine schöne Stadt, was die Lage betrifft. Die Häuser sind von Lehm und haben flache Dächer ... Ich bin wohlauf bei ruhiger Zeit, trotz vieler Arbeit. Übrigens ist es wahr, Herr Selbst ist der beste Diener, den man haben kann.«
In Khartum scheint er seinen neuen Titel ausfindig gemacht zu haben, und zwar keinen geringeren als »Se. Exzellenz General Oberst Gordon, Generalgouverneur am Äquator«, ein Titel, den er mit Recht ein sonderbares Gemisch nennt. Von Khartum aus erging auch sein Erlaß an die neue Provinz, worin er den Elfenbeinhandel als Monopol der Regierung erklärte, die Einfuhr von[S. 97] Waffen und Pulver, sowie unbefugtes Waffentragen überhaupt verbot und außerdem ankündigte, daß in Zukunft niemand ohne Paß die Provinz bereisen dürfe.
Am 22. März trat er die Reise nach seiner Hauptstadt Gondokoro an. Er erwähnt der großen glitzernden Krokodile, die allabendlich mit weitoffenem Rachen auf dem Ufersand liegen, der vielen Zugvögel, die sich anschickten, den brennenden Süden mit dem Norden zu vertauschen. Hier gab es Störche, schwarze und weiße, zu Tausenden, dort Pelikane und Flamingos, auch große Nilpferde — doch sieht er vorläufig nur ihre Nasen, denn sie stehen mitten im Fluß. Die Affen kommen herdenweise und tragen ihre kerzengerade in die Höhe gerichteten Schwänze wie Speere hinter sich; die Giraffen erscheinen ihm wie wandernde Türme. Offenbar hatte er seine Freude an all dem Neuen, Ungewohnten, und beschreibt es gern der fernen Schwester. Eines Abends, als er beim stillen Mondlicht die vor ihm liegenden Schwierigkeiten zu vergessen sucht und halb träumerisch der Heimat gedenkt, erschreckt ihn ein lautes Gelächter.
»Ich war nahe daran, es für eine Beleidigung zu halten,« erklärt er spaßhaft, »aber es waren nur ein paar überschlaue Vögel, die guterdinge schienen und es gar zu lächerlich fanden, daß unsereiner den Weg nach Gondokoro unternimmt in der Meinung, dort etwas Gutes zu schaffen.«
Nicht weit davon, in einer Felsenhöhle auf der Insel Abba, hielt sich damals ein Derwisch auf, Namens Muhamed Achmet, der im Geruch der Heiligkeit stand. Wie ahnungslos fuhr Gordon an ihm vorüber! Zehn Jahre später ist dieser »Heilige«, der Mahdi, das Werkzeug seines Todes geworden.
An den ersten Wilden, die Gordon sieht, bemerkt er die Folgen der Mißhandlung.
»Wir kamen an einem Dorfe der Schilluk vorüber, die sich über unsern Anblick wunderten und erschreckt davonliefen, wenn man ein Fernrohr auf sie richtete.«
Am 22. April lief er in den Sobat ein, der oberhalb Faschoda in den Weißen Nil mündet. Hier präsentierten sich ihm die ersten seiner Unterthanen — ein Stamm der Denka. Es waren harmlose[S. 98] Leute, ein Hirtenvolk, deren Häuptling nur schwer dazu zu bringen war, an Bord zu kommen.
»Dann aber erschien er in seinem ganzen und besten Staat — einer Halskette von Glasperlen. Wir machten ihm einige Geschenke. Darauf trat er auf mich zu, nahm erst meine rechte Hand und dann meine linke, leckte sie tüchtig, packte mein Gesicht und that, als ob er mich anspeien wollte.«[8]
Man trug zu essen auf; als Häuptling verzehrte er außer seinem auch seines Nebenmannes Teil. Zum Dank wollte er Gordon die Füße küssen, aber das wurde ihm nicht gestattet; er brüllte daher mit seinem Gefolge einen Lobgesang und trug sein Geschenk, eine Kette Glasperlen, vergnügt davon; d. h. der gewandlose Herrscher war viel zu erhaben, um sie eigenhändig zu tragen, er überließ sie einem Geringeren, der sie vor ihm hertrug.
Wo der Bahr el Ghasal in den Weißen Nil einmündet, bildet das Gewässer einen See und Sümpfe. Gordons Dampfer drang stetig vor. Die Eingebornen, die er jetzt sah, hatten sich die Gesichter mit eingeriebener Holzasche grau gefärbt, elende Menschen, die offenbar kaum zu leben hatten.
»Es ist ein Rätsel, warum sie erschaffen sind! ... ihr Leben schwankt zwischen Furcht und Not. Kein Wunder, daß sie den Tod nicht fürchten ... Ich freue mich auf meine Arbeit, denn ich glaube, ich werde manche Gelegenheit finden, das Elend der armen Leute zu lindern.«
Er fuhr an einer verlassenen österreichischen Missionsstation vorüber, wo innerhalb dreizehn Jahren fünfzehn Missionare dem Klima erlegen waren, ohne auch nur einen Schwarzen gewonnen zu haben; »die Sklavenhändler hatten den Teufel hingebracht,«[S. 99] sagt ein Berichterstatter. Die nächste Station war Bohr, ein Sklavenjägernest, »wo man uns nicht allzu höflich empfing.« Am 16. April, also nach einer Fahrt von dreiundzwanzig Tagen, ankerte das Boot bei Gondokoro zum Erstaunen der Leute, die von ihrem neuernannten Gouverneur noch gar nichts gehört hatten. Seine Residenzstadt fand er in verwahrlostem Zustand, und unbewaffnet hätte er sich anfänglich in der nächsten Umgebung nicht zeigen können; die Eingebornen waren durch lange Mißhandlung allerwärts voll Mißtrauen. Gordon aber war der Hoffnung, sie mit der Zeit zu gewinnen und bessere Zustände einzuführen.
Man sieht aus seinen Briefen, wie er fleißig von Ort zu Ort zieht, vorab darauf bedacht, sich die Herzen seiner schwarzen Unterthanen geneigt zu machen. Hier schenkt er den Leuten Korn, dort bringt er sie dazu, selbst Mais anzupflanzen.
»Sie verstehen es ganz gut und thaten es nur deshalb nicht, weil der Ertrag ihnen gewaltsam entrissen wurde; sie pflanzen nur so viel, daß sie nicht geradezu Hungers sterben, und dies nur in entfernt liegenden versteckten Plätzen.«
Die Schwarzen erkannten bald einen Helfer in ihm, und einer der ersten Beweise des ihm entgegengebrachten Vertrauens war das Verlangen eines Vaters, seine Kinder, die er nicht ernähren konnte, um eine Handvoll Durra (eine Art Hirse) zu übernehmen! Gordon nahm die Kinder an und kleidete sie. Der Vater aber kümmerte sich von Stund an nicht mehr um dieselben und erkundigte sich nicht einmal nach ihnen, als er wieder in die Nähe kam. Ein anderes Beispiel von elterlicher Gleichgültigkeit erzählt Gordon so:
»Ein Mann mit seiner Frau und zwei Kindern (unsere ersten Kolonisten!) haben sich nahe bei der Station niedergelassen. Ich verabreiche ihnen täglich etwas Durra, bis das von ihnen gesäete Korn zur Ernte reift. Ich hoffe, ihr Vertrauen zu gewinnen« ....
Nach einiger Zeit lautet der weitere Bericht:
»Es scheint, daß der Mann, ehe er hierherkam, eine Kuh gestohlen hatte und deshalb seinen Wohnsitz veränderte. Allein der Eigentümer der Milchspenderin machte ihn ausfindig und verlangte[S. 100] die längst geschlachtete und verzehrte Kuh zurück. Auf meiner Runde kam ich bei der Hütte vorüber und sah nur eins der Kinder. Das andere, erzählte mir die Mutter mit befriedigtem Lächeln, hätten sie dem Mann gegeben, dem sie die Kuh gestohlen hatten. Es wäre ihnen auch gar nicht leid, sagte sie, die Kuh wäre besser!«
Wenn die Mutter eine Spur von Verlangen nach ihrem Kind an den Tag gelegt hätte, so würde Gordon es ihr wieder verschafft haben; aber sie war nichts weniger als betrübt, der Verlust einer Handvoll Durra wäre schmerzlicher gewesen. Um dieselbe Zeit kaufte Gordon einen Jungen, dessen Bruder ihn um ein Körbchen voll Korn feilbot. Die schwarzen Jünglinge hatten es offenbar mit einander ausgemacht, denn der eine lächelte so vergnügt wie der andere. Gordon nennt derartige Vorkommnisse Experimente; er wollte vor allen Dingen Land und Leute kennen lernen.
Die Sklaverei hat die Stämme so heruntergebracht, daß, wie es Gordon scheinen will, die Eltern- und Kindesliebe bei ihnen wie ausgestorben ist. »Organisierte Auswanderung wäre das Beste für dieses Land.« Aber so elend das Leben jener Schwarzen ist, so hält Gordon doch mit Recht dafür, daß es anderwärts trotz der gepriesenen Zivilisation im Grunde oft nicht besser ist.
»Für junge Leute ist dieses Klima ein äußerst niederdrückendes; wer aber einmal über die Mittagshöhe hinaus ist und gelernt hat, das Leben lediglich als eine Prüfungszeit zu würdigen, der erträgt es und freut sich sogar der Einförmigkeit. Wir sind immer selbst daran schuld, wenn wir unglücklich sind. Wir verlieren die besten Jahre unseres Lebens, indem wir nach einem Glück jagen, das auf Erden nicht zu finden ist. Das Geheimnis des Glücklichseins liegt darin, daß wir lernen, mit dem zufrieden zu sein, was uns beschert ist ... Die Schwarzen sind mit einer Handvoll Mais zufrieden; Wohlleben ist ihnen ein unbekannter Zustand; sie haben kaum einen Fetzen, ihre Blöße zu decken, und sind trotzdem glücklicher zu nennen als Hunderte von unzufriedenen Menschen bei uns zu Lande mit ihrer erbärmlichen Vergnügungssucht, wo alles hohl ist ... Heutzutage wäre niemand weniger willkommen in der Welt als unser Heiland. Man würde ihn für altmodisch erklären ... Wahres Glück besteht darin, daß man den Willen Gottes annimmt, was[S. 101] dieser auch sei. Wer so weit kommt, hat die Welt und ihre Trübsal überwunden ... Der stille Friede im Leben unseres Herrn wurzelte lediglich in seiner völligen Ergebung in den Willen Gottes. Allerdings giebt es Zeiten, die uns Kampf bringen, aber je nach der Größe des Kampfes ist dann auch das Maß der verliehenen Kraft ... Ich habe kürzlich ein elendes klapperdürres Weib aufgenommen und sie seither gefüttert; gestern hat der Tod sie ganz still geholt, und jetzt weiß sie alle Dinge. Sie hatte ihren Tabak bis zuletzt und starb sehr leicht. Welch ein Wechsel aus ihrem Elend! Ich denke, sie genügte ihrem Lebensberuf so gut, wie eine Königin Elisabeth.«
Ein andermal erzählt er der Schwester:
»Es schwankt eine Gestalt die Straße herauf — so dünn, daß der Wind nicht viel Mühe hat sie umzuwerfen; es ist eine Deiner schwarzen Schwestern, ich sehe, sie bleibt stehen und läßt den Regen über sich ergehen. Ich schicke ihr etwas Durra, das wird ihrem abgezehrten Leichnam eine Freude sein. Sie hat nicht einmal einen baumwollenen Rock an, ja ihre ganze Kleidung ist keinen halben Heller wert.«
Am folgenden Tag heißt's weiter:
»Ich muß Dir doch schreiben, wie's der schwarzen Dame ferner erging, der ich gestern in Wind und Wetter zu helfen versuchte. Ich schickte meinen Diener hinaus, daß er sie in einer der Hütten unterbringe, und dachte nicht anders, als es wäre geschehen. Die Nacht war naß und kalt und ich hörte mehrmals ein Kind schreien, stand deshalb auf und ging hinaus; da lag Deine und meine Schwester tot in einer Pfütze. Ihre schwarzen Brüder waren hin- und hergegangen und hatten keine Notiz von ihr genommen. Ich ordnete an, daß sie begraben werde, und ging weiter; fand ein etwa einjähriges Kind im Gras, das wohl die ganze Nacht in der Nässe gelegen hatte, ohne Zweifel von seiner eigenen Mutter ausgesetzt — Kinder sind hier immer eine Last! Ich trug's zurück, und da die Leiche noch immer in der Pfütze lag, machte ich mich selber daran, sie mit Hilfe einiger meiner Leute zu beerdigen. Zu meiner Verwunderung fand ich das Geschöpf lebend, brachte ihre schwarzen Brüder aber nur mit großem Mühe dazu, mit Hand anzulegen, um sie aus der Pfütze aufzunehmen. Ich ließ sie in eine Hütte tragen, ein Feuer anzünden, gab ihr etwas Branntwein ein und wusch ihr den Sand aus ihren lebensmüden Augen. Nun liegt sie da, kaum[S. 102] sechzehn Jahre alt! Ich kann nicht anders als hoffen, ihr Schiffchen schwimmt dem Hafen der Ruhe entgegen. Das Kind ist um eine tägliche Portion Durra von einer Familie angenommen worden. Ich zweifle nicht, bin sogar gewiß, daß Du Deine schwarze Schwester einmal finden und dann von ihr hören wirst, daß die ewige Weisheit alles wohl gemacht hat. Ich weiß, daß das nicht leicht zu glauben ist, aber es ist doch wahr! Ich meinesteils ziehe ein Leben unter den Elenden einem Leben trägen Genusses vor. Und es giebt überall Elend. Mancher ist in seinem Reichtum ganz so beklagenswert, wie diese arme Sterbliche. Wie schlecht ist dieser Senf angemacht, sagte einer meiner Offiziere neulich, während unsere schwarzen Brüder um uns herumlaufen und man ihnen alle Rippen zählen kann!« ...
Vierundzwanzig Stunden später:
»Laß Dir's nicht zu nahe gehen. Deine schwarze Schwester ist heute nachmittag aus diesem Leben erlöst worden, nur von mir betrauert; ihre schwarzen Brüder sind froh, sie los zu sein.«
Neben solchen Erlebnissen finden wir aber den Gouverneur alles Ernstes damit beschäftigt, den Sklavenhändlern hinderlich zu sein; bald macht er jedoch die Entdeckung, daß den Schurken durch die Regierungsbeamten Vorschub geleistet wird. Ein seinem Dolmetscher in die Hände gefallener Brief von einer Bande Menschenjäger an den Mudir (Bezirksstatthalter) von Faschoda lautete folgendermaßen: »Wir sind auf dem Weg mit zweitausend Kühen und allem anderen nach Wunsch.« Die Kühe waren von verschiedenen Stämmen gestohlen, und das ›alles andere‹ bedeutete eine Anzahl Sklaven. Die ganze Sendung wurde abgefangen, und die Sklaven soweit es möglich war in ihre Heimat zurückgeschickt; einen Teil derselben behielt er. Die Sklavenhändler erhielten Gefängnisstrafe; nach einiger Zeit aber nahm er die brauchbaren unter ihnen in seine Dienste, so z. B. einen gewissen Nassar, der ein Haupttyrann in jener Gegend war. Diesem jagte er eine Karawane von mehreren hundert Sklaven ab, die derselbe mit einer Bande bewaffneter Schwarzer nach Faschoda zu bringen hoffte; ihn selbst setzte er vierzehn Tage hinter Schloß und Riegel und schrieb dann:
[S. 103]
»Ich habe dem Hauptsklavenhändler Nassar verziehen und ihn in meinen Dienst genommen; er ist nicht schlimmer als die andern, und die Leute sind bisher nur in ihrem Thun bestärkt worden. Er ist ein tüchtiger Mensch und kann was leisten.«
Als er nach einiger Zeit seine Station an einen gesünderen Ort verlegte, berichtete er:
»Nicht ich hab's zu stande gebracht, sondern die gewesenen Sklavenhändler, die ich in meinen Dienst genommen.«
Wie mit den Taipings in China, so verfuhr er hier: zuerst überwältigte er den Feind und dann benutzte er ihn.
Im Mai hatte er den ganzen Weg nach Berber zurückmachen müssen, um seine dort liegengebliebene Ausrüstung flott zu machen. Und dann ging's wieder zurück nach dem Sobat. Es dauerte lange, bis seine Dampfer ihm nachkamen. Mittlerweile aber ist er nicht müßig, gewinnt mehr und mehr das Vertrauen der Schilluk und weiß sich in allen Lagen zu helfen, von der Verfertigung einer Rattenfalle an bis zum eigenhändigen Nähen einer Hose für einen seiner Schwarzen, an welchem wohlgelungenen Kunstwerk er seinen Spaß hat. Und wenn alle anderen in der trostlosen Wildnis mutlos werden, so bewahrt er die gute Stimmung. »Ich bin längst über den Graben des Mißmuts hinaus,« kann er sagen, denn sein Herz hat einen festen Ankerpunkt. Als er einst nach viertägiger Abwesenheit auf seine Station zurückkam, umdrängten ihn die Schwarzen, die er den Sklavenhändlern abgejagt hatte: sie wollten ihm alle die Hand geben. Das freute ihn. »Ich kann jetzt allein umhergehen und alle grüßen mich.« Kein Araber durfte das wagen, so fürchteten sie die von ihnen unterdrückten Neger. Daß die Scheiks um Gondokoro her sich ihm zuneigten, verdankte er übrigens teilweise dem Einfluß Abu Sauds. Er machte ihn zu seinem Vakil oder Unterstatthalter.
In Gondokoro geriet Gordon mit Rauf Bey in Konflikt; derselbe war Statthalter gewesen, aber, nur auf seinen Gewinn bedacht, hatte er nichts gethan, das Gordon ihm nachrühmen konnte. Zwischen ihm und Abu Saud entspannen sich alsbald Eifersüchteleien und Zwistigkeiten. Gordon fand es rätlich, ihn mit Briefen nach Kairo zu senden, d. h. sich seiner zu entledigen. Und mit[S. 104] Abu Saud mußte er bald ähnlich verfahren. Dieser hatte sich allerlei Betrügereien zu schulden kommen lassen, hatte Elfenbein unterschlagen, das für die Regierung bestimmt war. Außerdem gebärdete er sich den andern Offizieren gegenüber, als ob er Statthalter wäre. Gordon sah, daß er sich in seinem Vertrauen getäuscht hatte. Er gab ihm den Laufpaß, nicht zu früh, denn es stellte sich heraus, daß Abu Saud eine Meuterei unter den von ihm befehligten schwarzen Truppen anzuzetteln im Begriff war. Diese erklärten, sie würden ohne ihn nicht nach Dufile gehen, wohin sie das Dampfboot in Teilen tragen sollten, damit es dort wieder zusammengestellt werde. Gordon, der unlängst erklärt hatte, daß die Losung der Provinz »Hurryat«, d. i. Freiheit, sei, erwiderte, sie könnten bleiben wo sie wären, aber keine Macht der Welt würde ihn zwingen, Abu Saud mit ihnen zu schicken, denn das würde seine »Hurryat« beeinträchtigen. Da sie übrigens von der Regierung Sold nähmen, so versähe er sich ihres Gehorsams. Seine feste Haltung stellte die Ruhe her, und Abu Saud ging seiner Wege, ohne jedoch sofort die Provinz zu verlassen. Nach einigen Wochen kamen Gessi und einer der anderen Offiziere um seine Begnadigung ein, weil die Kenntnisse des Schurken eben doch dienlich waren. Gordon gab nach; »braucht doch jeder selbst Gnade,« schreibt er, »und kriegt sie auch, so er darum einkommt.« Die Zurückberufung des Menschen war aber ein Fehler; bald darauf mußte er doch nach Kairo geschickt werden.
Auch mit Krankheit hatte Gordon zu kämpfen. Er selbst, zwar zu einem Schatten abgemagert, war der einzige Gesunde unter all seinen Offizieren. Sein Zelt nannte er ein Lazaret, und Tag und Nacht wartete er der Siechen. Der eine der beiden Linant und zwei andere starben, mehrere mußten zurückgeschickt werden. »Ich bin wohl, aber sehr überreizt,« erklärte er, »was schlimm ist, wenn mir etwas quer kommt.« Damit meinte er die kleinen Widerwärtigkeiten, die immer wieder einen Teil seiner Last ausmachten. Er mußte sich um alles selbst kümmern.
»Die Hauptsache ist, immer gerecht und gradaus zu verfahren; keinen Menschen zu fürchten; alle Winkelzüge zu vermeiden, selbst wenn man für den Augenblick dabei verlieren sollte, und allen, die[S. 105] nicht parieren wollen, mit vollster Strenge zu begegnen. Es ist nicht immer leicht!«
Auf dem Wege nach Rigaf oberhalb Gondokoros wurde er von einem Scheik aufgefordert, bei ihm Quartier zu nehmen; er lehnte es ab und fand in der Nacht sein Zelt von diesem Häuptling und seiner Gruppe umstellt. Mit dem Gewehr in der Hand hieß er sie ihrer Wege gehen, und die beträchtliche Anzahl gehorchte dem »zum Schatten abgemagerten« Mann.
Ein großer Fortschritt bei den Eingebornen war, daß er ihnen den Gebrauch des Geldes beibrachte. Vorher hatte nur Tauschhandel existiert; und wenn ein Stamm zum Lasttragen bestellt war, so beanspruchte der Häuptling den Lohn, Glasperlen oder Kattun, stets für sich. Gordon entdeckte, daß die Leute schlecht dabei wegkamen, und nahm sich vor, die Vorrechte des Scheiks in etwas zu verringern. Bei nächster Gelegenheit gab er jedem Lastträger selbst einige Glasperlen; am folgenden Tage lohnte er sie mit Kupfergeld ab — jeder erhielt einen halben Piaster. Darnach bot er ihnen Glasperlen zum Verkauf an. Sie merkten den Witz auch alsbald und erklärten, sie wollten erst noch mehr Kupfer verdienen und sich dann eine größere Anzahl Perlen dafür geben lassen. Er richtete einen förmlichen Laden ein, wo allerlei zu haben war, was den Eingebornen begehrlich erschien; wie bei allen Neuerungen ging es auch hier keineswegs ohne Widerspruch ab.
Unter viel Krankheit der Stabsmannschaft ging das erste Jahr zu Ende. Gordon beschloß, das Hauptquartier auf die andere Seite des Flusses nach Lado zu verlegen, um der Sumpfluft bei Gondokoro zu entgehen. Um diese Zeit kam sein Ingenieur Kemp, der in Dufile, zweihundert Kilometer weiter oben am Nil, damit beschäftigt war, den Dampfer zusammenzufügen, mit dem der Albert Njansa erreicht werden sollte, mit der Nachricht zurück, daß von dem Unternehmen vorläufig abgestanden werden müsse. Die Stämme waren mit seiner moralisch ganz ungenügenden Mannschaft ins Treffen geraten. Doch brachte Long, der Amerikaner, bessere Kunde, der mittlerweile bei dem König Mtesa von Uganda gewesen war und sich einer guten Aufnahme bei der schwarzen Majestät erfreut[S. 106] hatte. Außerdem hatte er die Wasserverbindung zwischen Urondogani und Foweira entdeckt, wofür ihm Gordon großes Lob zollte.
Die eignen Erfolge Gordons faßt ein Sachverständiger mit folgenden Worten zusammen: »Gordon hat Wunder vollbracht in der kurzen Zeit. Bei seiner Ankunft fand er siebenhundert Mann Soldaten in Gondokoro vor, die sich nur truppweise und bewaffnet in die nächste Umgebung wagten; mit diesen hat er nicht weniger als acht Stationen besetzt. Sir Samuel Bakers Äquatorzug hat die ägyptische Regierung über 20 Millionen Mark gekostet, während Gordon bereits Geld genug nach Kairo geschickt hat, um alle Unkosten seines Unternehmens nicht nur für dieses Jahr, sondern auch für das kommende zu decken.« Es war dies lediglich ein Resultat seiner getreuen und umsichtigen Verwaltung der rechtmäßigen Einkünfte, hauptsächlich des Elfenbeinmonopols. Ein schönerer Erfolg aber war der, daß trotz seiner Strenge gegen die Araber, oder vielmehr gerade wegen dieser Strenge, die Schwarzen landauf landab angefangen hatten, in ihm ihren einzigen Helfer gegen die Unterdrücker zu erblicken. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen, so unmöglich es anfangs schien.
Der Hauptplan für das Jahr 1875 war die Verbindung Gondokoros mit dem südlicheren Foweira, die durch eine Reihe von befestigten, je eine Tagereise von einander entfernten Stationen hergestellt werden sollte. Foweira konnte zur Zeit nur durch eine beschwerliche, sechs Monate in Anspruch nehmende Reise erreicht werden und eine Karawane mußte mindestens hundert Mann stark sein. Später waren zehn Mann ausreichend, um den Weg in Sicherheit zurückzulegen, und statt der Monate genügten Wochen. Außerdem hoffte Gordon, den Äquatorbezirk von einer neuen Richtung her zugänglich zu machen, hatte er doch selbst die Schwierigkeiten der Verbindung mit Ägypten über Khartum reichlich erfahren. Nach seinem Plan sollte die Mombasbay am indischen Ozean zur Kopfstation werden, von wo aus eine Karawanenstraße durch Mtesas Land an die großen Seen führen sollte. Dem Khedive war der Vorschlag nicht unwillkommen, denn es stand mit auf seinem Programm, die ägyptische Flagge auf dem Albert Njansa wehen zu lassen. Es wurde auch ein Anfang gemacht,[S. 107] nämlich ein Pascha entsandt, um den Plan zu verwirklichen; zur Ausführung kam er aber nicht.
Gordons nächste Briefe erzählen von einem König und einem Häuptling, die ihm zu schaffen machten. Von Foweira war Nachricht gekommen, daß Kaba Rega, der König von Unyoro, sich mit den Sklavenhändlern verbündet hatte und einen Überfall auf jene Stadt beabsichtigte. Er beschloß diesen Kaba Rega seines »Stuhls«[9] zu entsetzen, und einen gewissen Rionga zum König zu machen; es war dies aber schon der Entfernung wegen leichter geplant als ausgeführt und blieb einstweilen ein Vorhaben. Der unruhige Häuptling, Scheik Bidden, war näher bei der Hand; diesem hatte Gordon im Herbst einen Boten mit Geschenken zugeschickt. Den nächsten Boten werde er umbringen, hatte der schwarze Machthaber zurückmelden lassen. Bidden beherrschte einen Distrikt in der Nähe von Rigaf, und Gordon sah, daß er nicht weit würde vordringen können, ehe er sich Bidden botmäßig gemacht hätte, der überdies ganz kürzlich einen dem Statthalter freundlich gesinnten Häuptling überfallen hatte. Das einzige Mittel, ihn Respekt zu lehren, bestand darin, ihm sein Vieh abzujagen. Gordon beschreibt diese Razzia folgendermaßen:
»Ich ließ sechzig Mann auf der Ostseite des Flusses vordringen und hundert Mann auf der Westseite, während ich selbst mit einem Offizier und zehn Mann ein Boot bestieg in der Absicht, nach den Inseln zu rudern, wo die Umzäunungen für das Vieh sich befanden. Um zehn Uhr abends stießen wir ab, es war eine wunderschöne Mondnacht. Die Entfernung bis zu Biddens Inseln betrug etwa fünf Wegstunden; und dort fangen die Stromschnellen an. Nach einiger Zeit geriet das Boot in eine Untiefe und mußte zurückbleiben. Der Offizier mit acht Soldaten marschierte voraus, mich zurücklassend ... Wir waren nicht weit von einer der Inseln und man[S. 108] konnte Stimmen unterscheiden. Ich war allein mit nur zwei Mann und einem Dolmetscher! Wir gingen eine Strecke weiter und setzten uns dann nieder ...«
Sowohl die westliche als östliche Abteilung seiner Leute sollte hier mit ihm zusammenstoßen; die sudanische Mannschaft war aber nicht sehr zuverlässig. Es war vier Uhr, und in weniger als zwei Stunden mußte es tagen. Gordon sagt, militärisch sei die Lage eine ganz schlimme gewesen, aber sie war nicht zu ändern. Er legte sich daher ruhig hin und schlief eine Weile; als er aufwachte, stand das Morgenrot am Himmel und man hörte eine Trommel, das Signal zum Melken.
»Das Vieh ist nur nachts in der Umzäunung; diese hat einen einzigen Eingang, und die Krieger schlafen in der Mitte. Für den Angriff empfiehlt sich folgende Methode; man postiert ein paar Mann am Eingange, die bei Tagesanbruch, ehe die Herde hinausgetrieben wird, mit drei Schüssen ein Zeichen geben. Wartete man, bis das Vieh im Freien ist, so kriegte man nicht leicht ein Stück. Die Helden von Herdenwächtern suchen das Weite, sobald sie schießen hören, geben aber den Alarm mit der Kriegstrommel, wenn die Flucht keine zu eilige ist. Die Umzäunung zu verteidigen, fällt ihnen nicht ein; und es ist immer am besten, sie laufen zu lassen, denn die Kühe sind die Hauptsache. Während ich also die rote Glut im Osten aufsteigen sah, ertönten uns gegenüber drei Signalschüsse, und alsbald wirbelte die Trommel. Es war aber ein schwacher Wirbel, und die anderen Trommeln schwiegen dazu ... Nach einiger Zeit erschienen unsere Verbündeten, der Scheik und seine Leute. Biddens Krieger, meldeten diese, hielten stand inmitten ihrer Kühe und schossen ihre Pfeile ab. Bald aber liefen sie doch davon, und die Herde war gewonnen. Ich entschädigte den Scheik mit dem, was keineswegs unser Eigentum war« ...
Die andere Abteilung hatte ähnlichen Erfolg, und so wurde der widerspenstige Bidden ohne Blutvergießen oder Dorfverbrennen durch einen Verlust von zweitausendsechshundert Stück Vieh gezüchtigt.
Etwa vierzehn Tage später machte Gordon einen Ausritt und, auf einen Trupp Eingeborner stoßend, fragte er sie, ob sie Biddens Leute wären. Da wiesen sie auf einen alten Mann, der[S. 109] unter einem Baume saß, und sagten bedeutungsvoll: »Bidden!« Der gefürchtete Scheik war ein blinder Greis! Gordon ging sofort auf ihn zu und schenkte ihm seine Pfeife (übrigens ein Blas-, kein Rauchwerkzeug) und eine Portion Tabak. Das freute den Alten, und er versprach dem Gouverneur einen freundschaftlichen Gegenbesuch. Als er sich einfand, gab Gordon ihm eine Anzahl seiner Kühe zurück, welche Großmut den günstigsten Eindruck auf die Stämme machte. Bidden, der Greis, war indessen nur dem Namen nach Scheik; der wirkliche Machthaber war sein Sohn.
Seine Arbeit während der nächsten Monate faßt Gordon so zusammen:
»Um es kurz zu sagen, ist's wenig genug — an einem Fluß hin befestigte Stationen errichten und Bote durchzwingen, wo die Schifffahrt fast unmöglich ist — das ist so ziemlich alles, und die Mühe ist größer als der Erfolg.«
Aber ob es auch wenig scheint, so weiß Gordon doch, daß durch anscheinend geringe Dinge oft Großes erreicht wird. Zwar weiß er nicht, daß er in der Vorbereitung auf Größeres steht, aber im Glauben, daß Gott ihn an jenen Posten gestellt hat, dringt er vorwärts, und als sein Motto für diese Zeit kann das Wort des Predigers gelten: »Alles, was dir zu thun vorkommt, das thue frisch!« Der Held von China, der Mann von Gravesend, thut überall sein Bestes, mag die übernommene Arbeit äußerlich eine glanzvolle sein oder nicht.
Die Nilbarken, »Nuggers« genannt, durch die Stromschnellen und zwischen Felsen flußaufwärts zu bringen, scheint eine Riesenarbeit gewesen zu sein; er spricht von sechzig bis achtzig kohlschwarzen, atlashäutigen Eingebornen, die jedem Boot vorgespannt sind. Die Stämme sahen es erstaunt mit an und ließen ihre Zauberer das Wasser schlagen, teils freundlich, teils feindlich gesinnt. Und wenn die Lage oft eine verzweifelte zu sein schien, so war sie doch so, daß Gordon in seiner eigentümlichen Weise schreiben konnte:
»Ich wußte mir selbst oft nur damit zu helfen, daß ich mir die Nuggers herbetete, wie einst die Truppen in China, wenn sie nicht mir nach in die Bresche wollten.«
[S. 110]
Thatkraft und Glaube waren bei ihm eng verschwistert! Er hat in jenen Tagen und Wochen lange Briefe geschrieben, die eine Kette von Schwierigkeiten berichten, aber er bewältigte sie, und nacheinander wurden die Stationen Kirri, Muggi, Labore und Dufile erreicht. Ob der Khedive mit ihm zufrieden ist oder nicht, darnach fragt er nicht.
»Ich danke Gott, daß ich's längst aufgegeben habe, mich um die Gunst oder Ungunst von Menschen zu kümmern. Ich kann ehrlich sagen, ich weiß keinen, der die Verbannung und Quälerei meines gegenwärtigen Lebens ertrüge ... Ich thue mein Bestes, soweit mein Verstand mir's zeigt, und suche gegen alle gerecht zu sein ... Was würde ich hier zurücklassen, wenn es Gottes Wille wäre, daß man mich zurückriefe — ein Zelt, Hitze bei Tag und feuchte Kälte bei Nacht, die geringste Nahrung, die sich denken läßt: trockenen Zwieback, gedörrtes Fleisch, etwas Maccaroni, das ist alles. Mit Tagesanbruch an die Arbeit und früh zu Bett (ich lege mich schon um sieben oder acht Uhr der Moskitos wegen, und wollte: sich legen hieße schlafen!) Nichts zu lesen, ein Buch ausgenommen, und dieses nicht so oft als man wünschte, weil die Ruhe fehlt, die zu andächtiger Betrachtung der göttlichen Geheimnisse nötig ist; den lieben langen Tag nichts als Plackerei, an alles selbst denken, alles selbst thun, wenn's geschehen soll, das ist zur Zeit mein Leben ... Die arme Exzellenz ist der Hauptsklave.«
Und während der ganzen Zeit lassen seine von Khartum ihm folgenden Dampfer auf sich warten. Zuletzt kann er aber doch schreiben:
»Wie froh bin ich, daß die Verbindung hergestellt ist! Gestern kam ein Mann allein von Bidden her; vor einiger Zeit wagten die Leute nur zu zwanzig und dreißig den Weg. Die Schwarzen würden sich im hohen Gras versteckt haben und hätten den Hintermann angespießt. Jetzt sind sie ganz freundlich. Ein Bari in meinem Dienst hat dieser Tage ein Schaf gestohlen, und alsbald kamen die Beschädigten zu mir, um Recht und Gerechtigkeit zu erlangen, und sie kamen nicht umsonst. Ist das nicht schön? Auch unter meinen Leuten hat eine Veränderung stattgefunden; sie fürchten die Schwarzen nicht mehr wie früher, es herrscht ein besseres Einverständnis ... Die Stämme haben viel Verkehr miteinander, und auch solche, die uns nicht kennen, wissen es jetzt, daß sie uns nicht zu fürchten brauchen.«
[S. 111]
Allerdings hatte er die Eingebornen auch von der feindlichen Seite kennen zu lernen, so z. B. schreibt er zwischen Muggi und Labore:
»Es herrscht große Aufregung auf der anderen Seite des Flusses; ein Scheik in einem roten Hemd mit zwanzig Bewaffneten läuft hin und her und Zauberfeuer sind zu sehen. Sonderbar, daß all dies Entsetzen dadurch hervorgerufen scheint, daß ich in einem Nachen überfuhr. So viel Vorstellung mußte der Anblick der Nuggers ihnen doch geben, daß wir überfahren können, wenn wir wollen ... Mein Fernglas zeigte mir eine Anzahl Eingeborne, die unter einem Baume saßen. Nach einiger Zeit stand einer auf und wandte sich gegen Norden, pflückte einige Kräuter und schwenkte sie fortwährend gegen unser Lager; darnach lief er südwärts und machte eine ähnliche Bewegung, als ob er Hilfe herbeiwinke. Ohne Zweifel war er ein Prophet, der Israel verfluchen sollte. Sie waren etwa dritthalbtausend Fuß von uns entfernt. Um ihnen ein bißchen Schrecken einzujagen, schoß ich eine Kugel so ab, daß sie etwa fünfzig Schritte zu ihrer Rechten in den Boden schlug. Da hörte das Zaubern sofort auf, und sie wunderten sich offenbar, dabei ertappt zu sein.«
Linant, der Bruder des in Gondokoro dem Fieber Erlegenen, kam um diese Zeit von einem Streifzug nach Makade zurück. Vorher war er bei Mtesa gewesen und hatte Stanley, den bekannten Afrikareisenden, dort getroffen. Gordon sollte nun abermals erfahren, was seine Araber wert waren. Er hatte an vierzig Mann über den Fluß geschickt, weil Nachricht eingetroffen war, daß einer der längst erwarteten Dampfer in einiger Entfernung fest säße. Kaum waren aber die Leute gelandet, als sie von einem Trupp Eingeborner, die sich im hohen Grase verborgen gehalten hatten, überfallen und zurückgeworfen wurden. Gordon fuhr alsbald selbst über und versuchte, durch seinen Dolmetscher eine Unterhandlung anzuknüpfen. Die Schwarzen wollten aber nichts davon wissen. Als den »Häuptling« glaubten sie ihn an seinem Schirm zu erkennen und suchten ihn zu umringen. Er ließ sie ruhig näher kommen und schickte dann eine Ladung Kugeln unter sie. Zu treffen waren sie übrigens nicht leicht, denn sobald sie den Feind schußfertig sahen, lagen sie auch schon auf dem Leib. Am folgenden Morgen schlug Linant vor, mit einem Teil[S. 112] der Mannschaft überzusetzen und den Eingebornen ein paar Häuser in Brand zu stecken. Gordon gab es zu, denn es war zu fürchten, die kampflustigen Gesellen möchten den Dampfer überfallen. Er selbst blieb zurück. Gegen Mittag hörte er schießen und erblickte Linant, den er an seinem roten Hemd erkannte. Er konnte auch seine Mannschaft beobachten, es waren gegen vierzig Mann. Mit einemmale aber waren sie verschwunden, und sein Fernrohr zeigte ihm ungefähr dreißig Schwarze, die eiligst flußabwärts liefen. Er vermutete, sie suchten den Dampfer, und schickte einige Kugeln unter sie. Nach einiger Zeit erblickt er einen einzelnen Mann von seinen Leuten, der ohne Waffen daherkam; er sandte alsbald einen Nachen über den Fluß und ließ ihn holen. Die Eingebornen hätten ihn entwaffnet, erklärte er, und die andern wären alle tot. Gordon hatte nur noch dreißig Mann bei sich, und diese waren hilflos vor Angst. Trotzdem beschloß er zu handeln. Die Station war unbefestigt und es galt Weiber und Kinder in Sicherheit zu bringen; er mußte sich nach der nächsten Station durchschlagen. Dies ließen die Eingebornen ruhig geschehen, nur daß ihr Zauberer von einem Felsen herunterschrie: »Ha ha! ta ta a!« soviel als »Geschieht euch recht!« Gordon belehrte aber den Hexenmeister mit einer Kugel, daß es unklug sei, den Feind in Schußweite zu verwünschen. Leider stellte es sich heraus, daß nicht nur fast die ganze Mannschaft, sondern Linant selbst dem Überfall erlegen war; und zwar war dieser offenbar ein Opfer seines roten Hemdes geworden, das den Schwarzen als begehrenswerte Beute erschien. Er fiel zuerst, von seiner Mannschaft verlassen, die vor Schrecken zu schießen vergaß; und als einer dahin und ein anderer dorthin lief, wurden die meisten durchspeert. Gordon betrauerte Linant um so mehr, als er ihm das unselige Hemd selbst geschenkt hatte. Aber trotz des empfindlichen Verlustes kann er die Eingebornen nicht verdammen; er kann es vielmehr begreifen, wenn sie sagen: »Wir brauchen eure Glasperlen und euren Kattun nicht — laßt uns in Frieden.« Und er denkt daran, wie ernsthaft sie zauberten, ehe sie den Überfall wagten; er sagt sogar, er hätte eine Ahnung gehabt, daß der Sieg diesmal nicht auf seiner Seite sein würde.
[S. 113]
»Es war ihnen offenbar ernst mit ihrem Beten,« schreibt er, »sie wußten, daß sie Hilfe nötig hatten, und wendeten sich an den unbekannten Gott. Denn wenn der Schwarze auch den wahren Gott nicht kennt, so kennt Gott doch ihn; und Gott ließ sie merken, daß sie beten müssen, und erhörte ihr Gebet. Rosse werden zum Streittag bereitet, aber der Sieg kommt vom Herrn.«
Trotzdem er aber so denkt, weiß er, daß die Schwarzen gezüchtigt werden müssen, was dadurch geschieht, daß er ihnen zweihundert Kühe und fünfzehnhundert Schafe entführt. Da auch des Häuptlings Tochter eingefangen wurde, ließ er dem Vater sagen, wenn er versprechen wolle, sich künftig ruhig zu verhalten, könne er sie wieder haben. Die Köpfe Linants und seiner Gefährten hatten die Schwarzen an Pfählen aufgesteckt, die Leiber aber aus Furcht vor Gespenstern begraben. Es blieb bei diesem einen Überfall, aber noch eine gute Strecke begleiteten sie Gordon in gehöriger Entfernung am Ufer hin; und mehr wie einmal konnte er »Balak und Bileam« auf den Anhöhen beobachten, wie sie ihm von Herzen alles Böse wünschten.
Im September endlich wurde Dufile erreicht, wo der Nil in einem engen Thal zwischen Hügelreihen fließt; der Fluß, dessen Wassermassen an mehreren Stellen einem See gleichen, ist dort nur etwa hundert Fuß breit. Alles umsonst! war Gordons erster Eindruck, als er nach unsäglichen Mühen so weit gekommen war. Es hieß: bis hierher und nicht weiter, die Folafälle waren die Grenze. Doch konnte er sich damit trösten, daß er die Schifffahrt wenigstens bis dahin als möglich nachgewiesen hatte, und die errichteten Stationen von bleibendem Wert waren. Nachdem er sich vierzehn Tage in Dufile aufgehalten hatte, das er als eine Insel in einem Meer von Riedgras beschreibt, zog er landeinwärts nach Faschelie, wo er eine Bande Sklavenjäger aushob. An diesem Ort erreichte ihn ein »kühler« Brief des Khedive. Gordon, den es ohnehin verlangte, eine Statthalterschaft niederzulegen, die ihn lediglich zum Entdeckungsreisenden machte, gab alsbald Befehl zu packen und schickte sich an, eine Depesche abzufertigen, die seine Rückkehr melden sollte. Als nach wenig Tagen aber ein Brief in anderer Tonart von Kairo den ersten zu vernichten[S. 114] schien, hatte er nicht das Herz, sein Amt Knall und Fall niederzulegen. Dahin aber hatte er sich entschlossen, daß er es einem seiner Untergebenen überlassen wollte, zum erstenmal den Albert Njansa zu befahren. Dieses Zurücktreten von der Ehre, die sein Werk krönte, ist so bezeichnend für den Mann, daß man ihn selbst darüber hören muß:
»Ich wünsche einen Beweis zu liefern, wie wenig von den Lobhudeleien zu halten ist, die man dem Führer einer Expedition zollt. Hat nicht mein Schiffszimmermann das Seine gethan, daß wir die Nuggers so weit gebracht haben? Es ist keine Kunst den Njansa zu befahren, wenn die Boote zur Stelle sind. Es ist die Arbeit vieler und einer hat die Ehre. N. N. schrieb mir neulich und gratulierte mir zu meinen Lorbeeren. Da muß ich ja zeigen, daß es nichts damit ist!«
Am letzten Tag des Jahres kann er schreiben:
»Endlich ist der Dampfer in Sicht, d. h. die Lastträger, welche die einzelnen Teile daherschleppen. Die Arbeit war eine entsetzliche, und das ganze Jahr ist eine Last gewesen, die manch sauren Schweißtropfen gekostet hat.«
Und Gordon erklärt seiner Schwester, die schönste Entdeckungsreise, die er sich noch denken könne, wäre der Rückweg in die Heimat.
Ein Ergebnis seines Fleißes in jener Zeit sind seine Nilkarten.
»Wir haben den Fluß (im halben Zollmaßstab per Meile) von Khartum bis Dufile und wieder von Foweira bis Mruli, und ich hoffe, entweder ich oder einer meiner Offiziere wird die Strecke von Dufile bis zu den Murchisonfällen auch noch aufs Papier bringen.«
Somit blieben drei Lücken: 1) von Kositza nach Mruli, 2) von Foweira nach den Murchisonfällen und 3) der Albertsee. Trotz seinem Vorhaben, nicht selbst den See zu befahren, füllte er diese Lücken noch aus. Die Folafälle bei Dufile, wo der Fluß etwa eine Stunde lang durch tiefe Schluchten sich stürzt, sind die einzige Strecke des ganzen Nils, die er nicht zu durchschiffen vermochte.
[S. 115]
[S. 116]
Ende Januar 1876 erreichte er Fatiko und Foweira im Lande Unyoro; dort hörte er, daß Kaba Rega mitsamt seinem Sessel sich nach Massindi davongemacht hatte. Foweira wurde nach einem
fünftägigen Marsche durch dornenbewachsenes Land erreicht. Von dort ging er nach Mruli, um dann nach Urondogani vorzudringen. Die kurze Strecke von diesem Ort bis zum Viktoriasee ist das »einzige Stückchen« Nil, das Gordon schließlich nicht selbst bereiste.
Im Februar traf er mit seinem Unterbefehlshaber Gessi in Dufile zusammen. Letzterer machte sich von dort mit zwei Booten nach den Seen auf den Weg. Er umschiffte den Albert Njansa in neun Tagen und fand ihn etwa zweihundert Kilometer lang und achtzig breit. Durch einen Sturm wurde er an eine Insel verschlagen, die voll von Kaba Regas Truppen war; diese weigerten sich aber mit seinen Leuten anzubinden, weil sie den weißen Mann für einen Teufel hielten. Gessi errichtete des Khedive Flagge am See, und die Stämme ergaben sich nacheinander. Die Schwarzen in jener Gegend waren gekleidet, während in den vorher durchreisten Nilstrecken die Menschen nackt gingen.
Die nächsten Monate bis zum August waren für Gordon eine Zeit verhältnismäßiger Ruhe; er reiste zwischen den gewonnenen Stationen hin und her, und seine Briefe bezeugen es, daß seine Gedanken in stillen Tagen sich am liebsten den ewigen Dingen zuwenden.
Im September war er wieder auf dem Marsche nach Massindi. Kaba Rega hatte die meisten seiner Anhänger verloren, während Rionga und ein anderer Häuptling sich um die Herrschaft stritten. Längere Zeit vorher hatte Gordon Mannschaft nach Massindi abgefertigt und aus erhaltener Botschaft konnte er nur schließen, daß dieser Ort von den betreffenden Truppen besetzt sei. Als er aber in die Nähe kam, fand er, daß seine Araber ihn betrogen hatten und nie dort waren, obschon der Anführer seine Meldungen von dorther datierte. Er selbst kam mit einer kleinen Anzahl und geriet durch diesen Verrat der nichtswürdigen Mannschaft förmlich in eine Falle.
Die Stämme lauerten ihm von allen Seiten her auf.
»Ich danke Gott nicht nur mit Worten, sondern aus tiefster Seele,« schrieb er, »daß er uns glücklich durchbrachte.«
Er hatte nicht hundert Leute bei sich, und von diesen war ein Drittel kaum sechzehnjährig. Die Mannschaft, die er nach seinem[S. 117] Befehl in Massindi wähnte, lag die ganze Zeit auf der faulen Haut in Keroto, eine Tagereise davon entfernt. Als er hinkam, brach er in einen »wütenden« Zorn aus, dann aber beruhigte er sich.
»Als einer, dem selbst Erbarmung widerfahren ist, konnte ich nur Gnade vor Recht ergehen lassen,« sagte er. »Sie sind ein erbärmliches Volk, was kann man von ihnen erwarten!«
Während der nächsten Wochen errichtete er noch verschiedene Stationen, von welchen aus der ägyptische Einfluß sich geltend machen sollte. Es blieb den Besatzungen überlassen, den Kaba Rega in Ordnung zu halten.
Die drei Jahre seiner persönlichen Statthalterschaft am Äquator waren eine Zeit der Pionierarbeit und der Vorbereitung für weitere drei Jahre, die nun folgten. Er sollte erst zu dem Kampf gestählt werden, der ihm bevorstand. Nur durch innerliches Wachstum geht ein Mann wie Gordon »von Kraft zu Kraft«.
Am 29. Oktober schrieb er von Khartum aus: »Es giebt englische Spatzen hier; was für eine Freude, sie zu sehen!« Anfangs Dezember war er in Kairo, und am heiligen Abend des Jahres 1876 begrüßten ihn die Seinen in der Heimat.
»Man wirft mir vor, den Engländern nicht zu trauen,« sagte der alte Khedive Ismail, als es sich um seine Absetzung handelte, »habe ich nicht noch immer dem Gordon Pascha vertraut? Der ist ein ehrlicher Mann, ein guter Landverwalter und kein Diplomat!« Ismail war darum auch keineswegs damit einverstanden, einen so tüchtigen Mann zu verlieren. Gordon aber hatte erklärt, daß er nur dann zurückkehren werde, wenn ihm die gesamte Statthalterschaft der Sudanländer übertragen würde. Seine drei Jahre am Äquator waren ja keineswegs verlorene Zeit gewesen, er hatte[S. 118] die Sklavenjagd in seinem Bezirk geschwächt, wenn nicht unterdrückt, aber von der Hauptstadt Khartum aus hatte der General-Gouverneur Ismail Jakub Pascha seinen Bestrebungen stets entgegengearbeitet. Er mußte in Zukunft ganz freie Hand haben. Daß man ihm so weit entgegenkommen werde, erwartete er keineswegs, als er sich zu einer Besprechung nach Kairo begab; der Khedive aber war zu allem bereit. Jakub wurde beseitigt, und Gordon verließ die Residenz als Oberstatthalter einer von Südägypten bis zum Äquator, und vom Roten Meer bis Darfur sich erstreckenden Provinz. Er sollte drei Vakile oder Unterstatthalter haben, einen im eigentlichen Sudan, einen in Darfur, und einen am Roten Meere. Als die beiden Hauptzwecke seiner Verwaltung war »die Vervollkommnung der Verkehrsmittel und eine völlige Unterdrückung des Sklavenhandels« in Aussicht genommen. Außerdem hieß es im neuen königlichen Bestallungsschreiben: »An der abessinischen Grenze giebt es Streitigkeiten; ich trage Ihnen auf, dieselben zu schlichten«.
Am 18. Februar 1877 machte sich Gordon zum zweitenmal nach dem Sudan auf den Weg, nicht auf sich selbst vertrauend, wohl aber stark in der Kraft seines Herrn.
»Ich ziehe allein hinauf mit dem allmächtigen Gott, der mich führen und leiten wird; wie gut ist's, sich so völlig auf Ihn zu verlassen und nichts zu fürchten, ja und des Gelingens gewiß zu sein!«
Nach des Khedive Erklärung gab es Grenzstreitigkeiten mit Abessinien. Die Lage war kurz die: nach König Theodors Tod hatte ein gewisser Kasa, unter dem Namen Johannes, sich zum Herrscher aufgeworfen, allein Johannes war, wie Gordon treffend bemerkte, nur da König, wo er sich gerade befand, anderwärts galt er nichts. Im Trüben fischend hatten die Ägypter darauf Bogos annektiert, während der rechtmäßige Regent, Walad el Michael, von Johannes gefangen gehalten, aber aus Furcht vor dem allzunah heranrückenden Nachbar unter der Bedingung freigelassen wurde, daß auch er sich gegen den gemeinsamen Feind zur Wehre setzen werde. Die Abessinier hatten zuerst die Oberhand. Walad aber ersah seine Gelegenheit, den Ägyptern sich anzuschließen[S. 119] und andere abessinische Häuptlinge aufzuwiegeln. Als nun Johannes sich von Anarchie umgeben sah, schickte er einen Gesandten nach Kairo und bot das südlich von Bogos gelegene Hamasen als Friedensopfer an. In Kairo aber nahm man gar keine Notiz von diesem Botschafter, ja man gestattete dem Pöbel, ihn auf offener Straße zu beleidigen, dann schickte man ihn zurück! Natürlich war Johannes voll Ingrimm, und im Bewußtsein, nicht zum besten gehandelt zu haben, sandte der Khedive nun Gordon als Bevollmächtigten, die Mißhelligkeiten beizulegen.
In der Wüste zwischen Massaua am Roten Meer und Keren (Senheit) spricht sich Gordon über seine Lage so aus:
»Nun ich wieder in dieser weiten Einsamkeit auf meinem Kamel bin, überdenke ich meine Lage. Dem Johannes habe ich annehmbare Bedingungen geschickt und hoffe, mit seinem einflußreichen General Alula in Senheit zusammenzutreffen. Gelingt es mir, die Sache abzuwickeln, dann gehe ich alsbald nach Khartum und von dort nach kurzem Aufenthalt nach Darfur, das in Aufruhr sein soll, doch glaube ich das nicht recht ... Die Wohlgeneigtheit des Khedive ist über alle Begriffe. Er hat Zeila, Berbera und Harrar meiner Provinz beigefügt. »Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreichs.« Was aber ist die Kehrseite? Das Opfer eines Lebens, das man erst selbst durchkämpfen muß. Sein Leben zu sofortigem Tod hingeben, ist nicht das schwerste! Aber ich habe den Kampf übernommen und will mein Leben nicht in Anschlag bringen. Und es ist mir dabei, als ob ich mit dem Khedive nichts mehr zu thun hätte. Gott der Herr muß den Kampf selbst unternehmen, ich bin zur Zeit sein Werkzeug. Die Ehre, die der Khedive mir erzeigt, hat mich gar nicht, oder richtiger nur sehr wenig bewegt; ich bin doch wohl ein bißchen stolz auf das Vertrauen, das er mir schenkt. Mancher möchte die große Verantwortung scheuen, aus Furcht, ihr nicht gewachsen zu sein; ich habe nicht daran gedacht. Ich weiß gewiß, daß mir's gelingen wird, denn ich verlasse mich nicht auf meinen Verstand — Er leitet meine Wege. Sind doch alle zukünftigen Ereignisse für einen jeden von uns vorherbestimmt. Des Negers, des Arabers, des Beduinen Laufbahn, ihr Zusammentreffen mit mir u. s. w. ist längst beschlossen. Wie kann da einer sich viel darauf einbilden, wenn er etwas zu stande bringt!« ...
[S. 120]
Er hatte eine Zusammenkunft mit Walad, und kam durch Alula zu einem Einverständnis mit Johannes, der mittlerweile von Menelek, dem König von Schoa, im Süden bedrängt war; eigentliche Erfolge konnte er aber nicht abwarten. Seine Anwesenheit in Khartum war dringend notwendig, denn die Sklavenjäger im Sudan thaten ihr möglichstes, die noch verstattete Frist auszunützen. Er beeilte sich daher. Schon auf dem Wege verschaffte er den Leuten Recht, wo er konnte. Die Thatsache, daß der neue Gouverneur einen jeden anhöre, der etwas zu klagen habe, ging wie ein Lauffeuer durchs Land. Er mußte zuletzt einen wandernden Briefkasten einführen, in welchen die Bittsteller ihr Anliegen an ihn sozusagen zur Post geben konnten. Auch das Unangenehme der Würde eines »großen Herrn« erfuhr er.
»Wenn ich absteigen will, so sind gleich acht oder zehn Mann bei der Hand, mich vom Kamel zu heben, als ob ich ein Todkranker wäre. Und wenn ich eine Zeit lang zu Fuß gehen möchte, so steigt die ganze Karawane ab; dann werde ich ärgerlich und sitze wieder auf!«
In Khartum wurde er gleich einem Könige mit Kanonenschüssen empfangen und eine feierliche Installierung fand statt. Anstatt aber eine Thronrede zu halten, sagte er nur: »Mit Gottes Hilfe will ich die Waage gerecht halten!« und das gefiel den Leuten besser als die glänzendste Rede, war doch Gerechtigkeit das, was dem armen Lande am meisten not that. Nach der Feier ließ er Geld an die Armen austeilen: in drei Tagen hatte er an zwanzigtausend Mark aus seiner eigenen Kasse verschenkt.
Als Stellvertreter des Khedive hatte er einen überaus stattlichen Palast mit einem Schwarm von Dienern, die ihn »hüteten wie einen Klumpen Gold«; das verdroß ihn. Auch hier war es den Leuten etwas ganz Neues, daß man den Statthalter sprechen konnte, ohne erst eine Menge von Schranzen zu bestechen. Bald war er so von Hilfesuchenden belagert, daß er auch hier einen Briefkasten einführen mußte, und zwar an seiner eigenen Hausthüre, wo jeder sein Begehren schriftlich einreichen konnte. Das erste, was er abschaffte, war die Peitsche (Karbatsche), mittels welcher seine Vorgänger regiert hatten. Gewaltherrschaft war nicht seine Sache. Übrigens war er nicht allgemein populär; sein Vorgänger[S. 121] Ismail Jakub hatte Verwandte in Khartum, auch eine zornmütige Schwester, die zur Begrüßung des ihr verhaßten neuen Statthalters an den Fenstern des Regierungspalastes die Scheiben einschlug und in den Gemächern die Diwane durchlöcherte! Auch sein Vakil, Halid Pascha, war von Anfang an widerspenstig. Mit dem machte Gordon aber kurzen Prozeß, er telegraphierte nach Kairo und verlangte, daß er entfernt werde; der Wunsch wurde gewährt.
Die Aufgabe, den Sklavenhandel in einem Lande zu unterdrücken, wo Menschenware seit Jahrhunderten als ein erlaubtes Mittel zum Reichwerden galt, war in der That eine große; Gordon weiß das und setzt hinzu:
»Wie Salomo bitte ich Gott um Weisheit, dies Land zu regieren; und nicht nur sie wird er mir geben, sondern alles übrige dazu. Und warum? Weil mir an dem übrigen nichts gelegen ist.«
Aber er weiß auch, daß er die Sache nicht übers Knie abbrechen läßt. Selbst Sklaven sind Besitz, der sich nicht ohne weiteres antasten läßt. Ihre Freiheit soll mit der Zeit gesichert werden, und mittlerweile sind's die Sklavenjäger, welche immer neue Zufuhr bringen, denen er Krieg auf Tod und Leben ankündigt, er, der eine Mann, kann man sagen, denn sein Militär ist fast wertlos. Sechstausend türkische Baschi-Bosuks, seine Grenzwächter, beschließt er abzudanken; denn er sieht, daß sie mit den Händlern unter einer Decke stecken. Sechstausend Soldaten aber den Laufpaß geben, in einem Lande, wo sie sich alsbald wieder als Banditen zusammenrotten können —
»Wer dürfte es wagen, der nicht den Allmächtigen auf seiner Seite hat? Ich will es thun, denn mein Leben achte ich für nichts, ich würde nur eine große Last mit der ewigen Ruhe vertauschen ... Ich bin an des Khedive Statt hier, mit unumschränkter Gewalt, und weiß es jetzt, wie machtlos er in Kairo dem Sklavenhandel gegenüber ist. Aber mit Gottes Hilfe will ich's vollbringen und habe das Bewußtsein, daß er mich dazu bestimmt hat ... Die Arbeit ist riesengroß, aber das ficht mich nicht an ... ich kenne meine Schwäche und verlasse mich auf Den, der stark ist. Ich kann nur gradaus meinen Weg gehen, den Erfolg überlasse ich Ihm ... Es[S. 122] ist in der That eine Riesenprovinz, die ich zu verwalten habe; wie froh bin ich zu wissen, daß Gott der Herr Verwalter ist; es ist sein Geschäft, nicht meines. Wenn ich unterliege, so ist's sein Wille; gelingt es mir, so gebührt Ihm die Ehre. Jedenfalls hat Er mir's gegeben, die Ehre der Welt für nichts zu achten, und die Gemeinschaft mit Ihm über alle Dinge hochzuschätzen. Möge mir alles mißlingen und ich in den Staub gedemütigt werden, wenn nur Er verherrlicht wird. Die hohe Stellung, die ich bekleide, will mich manchmal drücken, und ich kann mich nach der Zeit sehnen, wo Er mich beiseite legen wird und einen andern Wurm dies Werk thun läßt. Ich wollte, die Kampfhitze meines Lebens wäre vorüber; aber Er hält mich aufrecht und wird mich davor bewahren, je wieder an Irdisches mein Herz zu hängen.«
Wer so denkt, wie kann der anders als große Thaten thun! Ein an Gott sich haltender Mensch ist immer ein Held.
Wir haben Gordon den Ritter ohne Furcht genannt. Wie ein Recke in den alten Heldensagen zieht er aus, mit dem starken Arm seines Gottvertrauens ein Beschützer seiner Herde zu werden, und das Los der Armen in diesem traurigen Land zu mildern. Eine Armee hat er nicht, er muß sie sich erst schaffen, und zwar aus erbärmlichem Material, und einen Hauptsieg erringt er, wie wir sehen werden, ohne Armee. Er soll die Bahr el Ghasal der Macht Sebehrs, des schwarzen Pascha, entreißen; er soll einem Lande Frieden bringen und ehrlichen Handel einführen, wo die Menschen durch Unterdrückung fast vertiert sind und die Religion in Fanatismus besteht.
Er war noch keine drei Wochen in Khartum, da konnte er bereits seiner Schwester schreiben:
»Ich glaube, die Leute haben mich gern; es ist auch schön, daß, wo früher täglich zehn bis fünfzehn Menschen durchgepeitscht wurden, jetzt dies nicht bei einem mehr vorkommt.«
Damit ist nicht gesagt, daß er nicht strenge Ordnung hielt und Herr war im Amt. Die erste äußere Wohlthat, die er der Stadt erwies, war die Errichtung einer Wasserleitung; vorher mußte das Wasser aus dem Fluß herauf getragen werden. Dabei geriet er mit katholischen Missionaren in Konflikt, die flüchtigen Sklaven Versteck gewährten. Als Gordon ihnen sagte, er brauche[S. 123] dieselben zur Arbeit, begegneten sie ihm mit Anmaßung. Da schrieb er einen Brief an den Papst mit der Bitte, dieser möge seinen Dienern begreiflich machen, daß Angelegenheiten der vizeköniglichen Regierung außerhalb ihres Bereiches lägen. Als der Brief fort war, sagte er den Missionaren, er habe nach Rom geschrieben, was sie zwar aufbrachte, die gewünschte Wirkung aber nicht verfehlte.
Ende Mai verließ er Khartum. Es war der Anfang eines fünfmonatlichen Kamelrittes. Seine Anwesenheit in Darfur war dringend notwendig. Darfur hat eine in die graue Vorzeit zurückreichende Geschichte. Es gab längst Sultane von Darfur, ehe es Kurfürsten von Brandenburg gab. Auch einen alten Handel hat das Land — Sklavenhandel. Jetzt aber war Darfur in Aufruhr, und die ägyptischen Besatzungen der Städte Fascher, Darra, Kolkol u. a. von den Rebellen eingeschlossen. Eine Heeresabteilung war schon im März nach Fascher geschickt worden, von Erfolgen hatte aber noch nichts verlautet.
»Ich rechne darauf, im Lauf dieses Jahres meine achttausend Kilometer zu reiten,« schreibt Gordon. »Ich bin ganz allein, und das ist mir lieb. Ich bin ein Fatalist geworden, wie die Leute es nennen; d. h. ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen. Die großartige Einsamkeit der Wüste läßt einen fühlen, wie schwach der Mensch ist. Alles Gott anheimzustellen giebt allein Kraft, und ich kann den Tod als eine Erlösung erwarten, wenn es sein Wille ist. In meiner gegenwärtigen Lage, auf manch langem, heißem Ritt kann ich meine Gedanken um so besser ausdenken, weil ich allein bin. Ich gewöhne mich nach und nach ans Kamel, es ist ein wunderbares Tier, das weich und still geht wie auf Teppichen, recht angenehm.«
Natürlich folgte ihm die statthalterliche Leibgarde von zweihundert Berittenen. Sein Kamel, ein besonders schnelllaufendes Tier, trug ihn aber öfters weit voraus, so z. B. ganz gegen seinen Willen wie im Sturmlauf in die Grenzstadt Fodja, was ihn auf die Vermutung bringt, daß die Kamele und die Gordons als eigensinnige Geschöpfe verwandter Rasse sein möchten.
»Ich habe ein prächtiges Tier, so giebt's keines mehr; es fliegt nur so dahin, selbst zur Verwunderung der Araber. Wie ein Blitz[S. 124] fuhr ich in die Stadt hinein, und ehe die Besatzung sich recht besinnen konnte, wie ich zu empfangen sei, war ich da. Nur ein Araber hatte Schritt mit mir gehalten, und der sagte, es wäre der Telegraph! Die andern kamen anderthalb Stunden später.«
Gordon hatte im Gedanken an einen der Erwartung der Leute entsprechenden Einzug seine Marschallsuniform angelegt.
»Welch tolles Bild,« ruft er scherzend aus, »wenn die goldbetreßte Exzellenz so im Sturm anlangt, als wären alle Feinde hinter ihr her! Der Mudir war sprachlos!«
Das Land nennt er eine elende, sandige, strauchbewachsene Wüste. Den Aufruhr schreibt er lediglich schlechter Verwaltung zu. Wo vorher ein Mann den Weg nach Fascher allein zurücklegen konnte, genügten bei der jetzigen Unsicherheit kaum zweitausend Mann Militär von der Art, wie es ihm zu Gebot stand. In Omschanga findet er die erste Nachricht von der Heeresabteilung vor, mit der er das Land erobern soll. Die Truppen lagen hier und dort zerstreut, alles in allem keine dreitausend Mann — Soldaten von der »unbeschreiblichen« Sorte, mit denen er schließlich auch nichts ausrichten konnte. Doch tröstet er sich.
»Ich denke, Gott wird mir's ermöglichen, die Stämme zu gewinnen, und mit seiner Hilfe werde ich dann mit den Häuptlingen nach Fascher ziehen, die jetzt noch Rebellen sind.«
Wo in der ganzen Weltgeschichte findet sich ein ähnliches Beispiel, daß ein Feldherr auf seine Feinde rechnet, um mit ihnen Thaten zu thun! Bei ihm ist das von jeher so gewesen; es ist der Sieg des Rechts über das Unrecht, des Guten über das Böse. Und wie er in China öfters mit überwundenen Taipings die Taipings besiegte, so verläßt er sich mit seinem großartigen Vertrauen auch in Darfur auf die erst zu überwältigenden aufrührerischen Stämme.
»Nichts giebt mir größere Kraft,« sagt er, »als für die Leute zu beten; und es ist wunderbar: wenn ich dann mit einem Häuptling zusammenkomme, für den ich vorher gebetet habe, so ist es immer, als ob er schon gewonnen wäre. Darauf gründe ich meine Hoffnung auf einen siegreichen Zug nach Fascher. Truppen habe ich lediglich keine, aber der Allerhöchste[S. 125] geht mit mir, und ich verlasse mich so viel lieber auf Ihn allein. Solches Vertrauen könnte ich ja nicht haben, wenn er mir's nicht gäbe und mich nicht dazu ermutigte; ich erachte daher, daß gerade dieses Vertrauen eine Art Angeld auf Sieg ist.«
Und bezüglich seines Vorhabens, mit gewonnenen Rebellen nach Fascher zu ziehen, sagt er weiter:
»Vielleicht läßt Er's auch nicht gelingen, und Kampf mag bevorstehen. Die Herzen der Menschen sind in seiner Hand, und er lenkt sie wie er will. Er kann es aber thun, so es ihm wohlgefällt; und wer möchte etwas anderes wünschen, als daß er nach Seiner Weisheit alles leite. Die Gefahr für mich dabei ist die, daß es mich aufblasen möchte, so er's thut. Aber auch das kann und wird er verhindern. Ich mag meine Laufbahn überdenken wie ich will, so finde ich nirgends besonderen Verstand, oder Geschicklichkeit, oder Weisheit meinerseits. Meine Erfolge bisher waren eigentlich immer, was man im gewöhnlichen Leben Glücksschüsse nennt ... Ich bin nichts, gar nichts, als einer, der von Gott Almosen empfängt. Ein Sack voll Reis, den ein Kamel durch die Wüste schleppt, kann soviel vollbringen als ich oft meine, daß ich vollbringe. Aber wie verschieden urteilt die Welt!! Ich meinesteils danke Gott, daß Er mich als ein Werkzeug benutzt, und freue mich auf die vorbehaltene Ruhe. Und ich kann mich freuen mit seiner Freude, wenn den armen Menschen Hilfe wird — durch Ihn, nicht durch mich, obwohl Er sich meiner bedient.«
Und so zog er durch die Wüste als ein unverwundbarer Glaubensheld, der wie David mit seinem Gott über Mauern springt, der Völker besiegt und Städte einnimmt und dabei meint, er vollbringe gar nichts, das ihm selbst zur Ehre gereiche! Er war noch in Fodja, als ihn ein Telegramm erreichte: man brauche in Kairo sofort eine halbe Million Mark Einkünfte aus seiner Provinz! Über diese Erwartung seines irdischen Oberherrn schreibt er in die Heimat:
»Soviel ist sicher, daß ich vor der Hand in einem Sumpfe bin mit dem Sudan, aber wenn ich bedenke, wer als mein Oberschatzmeister, mein Heerführer, mein Landverwalter im Regiment sitzt, so wäre es merkwürdig, wenn ich darin stecken bliebe. Ja, hätte ich den Allmächtigen nicht zur Seite mit seiner Weisheit, ich wüßte mir wahrlich keinen Rat!«
[S. 126]
Dabei legt er aber nicht die Hände in den Schoß, sondern gürtet auch in dieser Hinsicht seine Lenden zu dem ungleichen Kampfe.
»Mit unsäglicher Anstrengung kann es mir gelingen, in zwei bis drei Jahren aus diesem Lande eine ordentliche Provinz zu schaffen mit einer tüchtigen Armee und regelmäßigen Einkünften, mit hergestelltem Frieden und aufblühendem Handel, und vor allem mit unterdrückter Sklavenjagd; und dann — ja dann gehe ich heim und lege mich ins Bett und stehe nie auf bis Mittag, und marschiere nie mehr als höchstens eine Meile per Tag. Und esse Austern zu Mittag!«
Diese scherzenden Zeilen an seine Schwester beweisen nur, daß er eine fast unübersteigliche Arbeitslast vor sich sieht.
Während er noch in Omschanga durch seine »Unbeschreiblichen« hingehalten war — keine geringe Geduldsprobe für den energischen Mann — hatte er Zeit, sich die endlose Schwierigkeit der Sklavenbefreiung weiter zu überdenken. Die Wüstenstrecken von Darfur und Kordofan sind von Beduinenstämmen durchzogen, von denen mancher mehrere tausend Krieger ins Feld stellen kann, die unter ihren kampfgeübten Scheiks keine verächtliche Macht bilden. Diese Stämme haben von jeher Streifzüge auf die Neger im Süden unternommen, oder sich Sklaven im Tauschhandel mit anderen Stämmen verschafft. Zu Gordons Zeit wurden die Sklaven selten in großen Karawanen, wohl aber von den Händlern in vielen kleinen Trupps durchs Land getrieben. So begegnete er eines Tages einem Manne, der sieben schwarze Weiber vor sich hertrieb und sie samt und sonders für seine Eheweiber ausgab; die Kinder, die nebenherliefen, nannte er seine Nachkommenschaft. Wer sollte ihm das widerlegen! Vor der Hand aber war's fast noch mehr das von den türkischen Grenzsoldaten übers Land gebrachte Elend, das Gordon Tag und Nacht beschäftigte. Und als die unterdrückten Landbewohner kamen und ihm demütig ihre Unterwerfung zu Füßen legten, sagte er ihnen, wie's ihm ums Herz war, daß sie vielmehr erwarten könnten, er, als Statthalter des Khedive, bäte sie um Verzeihung. Des Khedive Grenzwächter, die Baschi-Bosuks, dankte er seinem Vorhaben gemäß ab.
[S. 127]
»Ich habe mich auf einen Felsen gestellt und thue was recht ist, ohne mich um die Folgen zu kümmern ... Wenn Angestellte ihre Pflicht nicht thun, so besinne ich mich keinen Augenblick, sie ihrer Wege gehen zu heißen, mag man in Kairo denken was man will. Es ist jedenfalls ein großer Vorteil, ganz furchtlos zu sein. Und wenn ich selbst abgesetzt würde, so wäre es ja keine Strafe, denn ich opfere mein Leben in diesem Land.«
An vierzehn Tagen wartet er auf seine saumselige Mannschaft, ohne nur zu wissen, wo die Helden sind. Er nennt's ein trostloses Geschäft, und bei der furchtbaren Hitze in dem jammervollen Land ist's kein Wunder, wenn er ausruft: »Wollte Gott, ich wäre in der andern Welt!« Er meint, mehr als andere Menschen hätte er immer wieder durch die Mangelhaftigkeit seiner Streit- und Arbeitskräfte zu leiden; so sei's in China gewesen, und so sei's hier. Das unnötige Wartenmüssen ist es, was dem thatkräftigen Mann so schwer fällt.
»Aber es ist nicht recht, es hat jeder sein Kreuz zu tragen. Wir sind alle Knechte; heute giebt der Herr uns Arbeit, und morgen will er, daß wir warten können. Dieses Hinliegen ist mir aber sehr gegen die Natur. Und ich kann auch gar nicht sehen, was in diesem Lande schließlich zu gewinnen ist!«
Endlich kamen fünfhundert seiner Helden. Fascher hatte er aber bereits auf seine Weise ohne Schwertstreich gewonnen; die Stämme hatten sich ihm einer nach dem andern ergeben. Nun machte er sich nach Tuescha auf den Weg, von wo er eine Garnison von dreihundert mitnehmen will. In Darra warten weitere zwölfhundert. Auf diese Art kann er ein Heer von zweitausend Mann zusammenbringen. Unterwegs findet er allerwärts Arbeit, das aufrührerische Banditenvolk aus seinen Schlupfwinkeln zu vertreiben. Zuletzt beabsichtigt er, sich auf Schekka zu werfen, das er die »Höhle von Adullam« nennt, wo Räuber und Mörder hausen, nämlich die Horden Sebehr Paschas, des großen Sklavenhändlers, unter dessen Sohn Soliman. Auch diesem gegenüber, der ihm mit elftausend Mann begegnen kann, rechnet er auf keinen andern, als einen innerlichen Sieg.
»Ich bin gar nicht unruhig,« schreibt er, »und hoffe, es wird ohne Blutvergießen abgehen.«
[S. 128]
Ins Gefecht geriet er nun allerdings; aber nicht sowohl seinen Waffen, als seinem gewaltigen Geist und seiner demutstarken Seele wurde der Sieg.
In Tuescha fand er die dreihundertfünfzig Mann Garnison, welchen seit drei Jahren kein Sold bezahlt worden, beinahe ausgehungert. Das war nicht sehr ermutigend, aber Gordon war dergleichen gewohnt. War's ihm doch gegeben, seine glänzendsten Thaten einem Chaos von Unmöglichkeiten abzugewinnen. Der Aberglaube der Chinesen erblickte in seiner Hand einen Zauberstab und nannte seine Erfolge Wunder. Wohl hatte er einen Zauberstab: es war derselbe, mit dem einst Moses aus dem Felsen Wasser schlug. Die Besatzung von Tuescha war in der That so erbärmlich, daß er beschloß, ihrer Beihilfe zu entbehren, sie nach Kordofan zu schicken und mit seinen ursprünglichen Fünfhundert samt ihren schlechten Steinschloßgewehren weiterzuziehen. Ein Scheik, der versprochen hatte zu ihm zu stoßen, ließ ihn im Stich, während die Umgegend voll von kampflustigen Schwarzen war, die recht gut wußten, daß der General-Gouverneur nur mit einer Handvoll Leute des Weges komme, und ihn ernstlich bedrohten. Aber zu einem Angriff kam es nicht. »Gottlob, die Gefahr ist vorüber,« kann er schreiben. Wie groß sie war, weiß er nicht einmal; aber das weiß er, daß nur wenige es begreifen können, was es heißt Truppen anführen, in die man keine Spur von Vertrauen setzt.
»Ich habe von ganzer Seele um einen Ausweg gebetet; es gab mir ordentlich einen Stich ins Herz, wie damals, als ich mich bei Massindi (S. 116 f.) verraten fand. Nicht, daß ich den Tod fürchte, aber aus Kleinglauben fürchte ich die Folgen meines Todes; das ganze Land stünde wieder in Aufruhr. In solcher Lage zu sein, kommt einem wirklichen Schmerz gleich, es macht mich in einer Stunde um ein Jahr älter ... Auch ist es eine Demütigung. Aber gottlob! es ist vorüber ... wohl sage ich mir, daß alles zum guten Ende führen wird, aber das macht dergleichen nicht weniger peinlich. Ich glaube, ich habe in dieser Hinsicht in meinem Leben mehr gelitten als die meisten Menschen. Heute morgen z. B. (nach der überstandenen Gefahr) kam mir ein Wild schußgerecht und ich ließ mir meine Flinte reichen. Der Kerl, der sie trug, hatte sie mittlerweile[S. 129] zerbrochen; also hätte ich in einem Überfall nicht einmal meine Waffe gehabt!«
Die Charakterzeichnung Gordons wäre eine unvollständige, wenn man zu bemerken vergäße, wie er oft gerade in der schwierigsten Lage auch eine komische Lichtseite erblickte, deren er gerne Erwähnung that. So schließt der Brief, der von der vorübergegangenen Gefahr berichtet, mit folgenden Worten:
»Wir hatten auch dreißig oder vierzig Esel bei uns. Und wenn einer anfing, dann wußte ich, daß sie alle schreien mußten; es war ordentlich eine Wohlthat, den vierzigsten endlich zu hören. Da fing der erste die Reihe wieder an, und so ging's die Nacht durch! Der Darfur-Esel brummt aber nur ganz tief in der Tonleiter; die hohen Töne, die sein englischer Bruder aus frohem Herzen ausstößt, kennt er offenbar nicht.«
Als Gordon nach Darra kam, gab's auch dort Enttäuschung. Die Hilfstruppe, auf die er gerechnet hatte, war ihm entgegen gezogen und hatte den Weg verfehlt!
Die Leute von Darra waren nicht wenig erstaunt, den Generalgouverneur in ihrer Mitte zu erblicken; sie wußten sich seit einem halben Jahre von der Außenwelt abgeschnitten. Die Stämme umher waren im Aufstand; Harun, der als Anverwandter des gefallenen Sultans von Darfur die Herrschaft beanspruchte, bedrohte die Stadt, und in Schekka saß der Sohn Sebehrs mit sechstausend bewaffneten Sklaven. Gegen Harun schickte Gordon eine ziemlich starke Truppenabteilung, die auch ins Gefecht geriet und Beute machte, sonst aber keine Heldenthaten verrichtete. Ein Offizier war damit beauftragt, eine zweite Abteilung gegen die Stämme zu führen, und Gordon selbst blieb vorläufig in Darra, um den schlimmsten der Feinde, Soliman, im Auge zu behalten. Den Einwohnern der Stadt war seine Anwesenheit eine Schutzmauer, aber sie fanden auch sonst noch Ursache, derselben froh zu sein. So gab er ihnen z. B. ihre Moschee zurück, die von den Ägyptern in ein Pulvermagazin verwandelt worden war;[S. 130] freute es ihn doch, wenn die Muselmänner Gottesdienst hielten, sofern sie es nur redlich meinten. Das Land weithin war nach dreijähriger Anarchie im Elend der Hungersnot. Er beschreibt die Kinder als »nur Bäuche mit Gliedmaßen wie Fühlfäden« — eine Folge des Grasessens.
Um Solimans habhaft zu werden, tauchten verschiedene Vorschläge auf. Gordons schwarzer Schreiber z. B. ersann einen Plan, wie man ihn nach Darra locken könne, um ihn daselbst, sofern er sich nicht ergeben wolle, zu ermorden. Statt dieses »asiatischen« Einfalls, wie Gordon sich ausdrückt, kam ihm selbst ein anderer, wie nur seine Großmut ihn ersinnen konnte: er wollte den Sohn Sebehrs durch Vertrauen entwaffnen.
»Es ist mir der gute Gedanke gekommen, den Soliman zum Statthalter von Darra zu machen und ihn damit von dem Räubernest Schekka zu entfernen. Das wird ihn auch an fernerer Sklavenjagd hindern, denn seine sechstausend werden genug zu thun haben, das Land gegen die Stämme zu halten.«
Der Plan war nicht ausführbar; dennoch hoffte er Soliman ohne Waffen zu besiegen. Aus der »Höhle Adullam« erhielt er mittlerweile durch die Häuptlinge El Nur, Awad und Idris Kenntnis, die zwar Sebehrs Herrschaft anerkannten, sich aber die Regierung geneigt zu machen suchten, indem sie dem Statthalter verrieten, was dort vorging. So wußte er z. B., daß Soliman beständige Verbindung mit seinem Vater in Kairo unterhielt und daß der Aufruhr in Darfur aus Gehorsam gegen Sebehr ins Werk gesetzt wurde, als dieser seinen Anhängern sagen ließ, sie sollten »das jetzt ausführen, was unter dem Baum beschlossen worden sei.« Der schwarze Pascha regierte selbst als Gefangener noch das unglückliche Land.
Ehe Sebehr nämlich mit seinen zwei Millionen »Bakschisch« (Trinkgeld) nach Kairo ging, um die Pascha zu bestechen, hatte er alle sklavenhandeltreibenden Häuptlinge seines Gebietes unter einem großen Baum an der Straße zwischen Schekka und Obeid versammelt und ihnen einen Eid auf den Koran abgenommen, daß sie sich allerorts gegen die Regierung erheben sollten, wenn er ihnen das Wort sende. Als nun Gordon nach seiner Arbeit[S. 131] am Äquator die Statthalterschaft des Sudan übernahm und sich nach kurzem Aufenthalt in Khartum aufmachte, um die Sklavenhändler in ihrem bis jetzt sichersten Schlupfwinkel zu bekämpfen, wo die Bande sich um Soliman geschart hatte, da wußte der alte Menschenräuber, daß es damit seiner Hoffnung ans Leben ging, den Handel, von dem er seine Macht und seinen Reichtum hatte, je wieder zur alten Blüte zu bringen. So erging sein Mandat an die Raubgesellen in Schekka.
El Nur und Idris hatten sich beide mit Hinterlegung einer Strafsumme aus Schekka fortgemacht. Von ihnen erfuhr Gordon, daß Soliman festsäße bis nach der Regenzeit und sich in seiner »Höhle« vor einem Überfall gesichert erachte. Daraus ergab sich indessen keine Ruhezeit für unseren Helden. Er war noch nicht vierzehn Tage in Darra, als er schrieb:
»Heute haben sich sechshundert der Nazagats mit ihrem Scheik zu mir geflüchtet.«
Dieser Stamm hatte seinen Wohnsitz in der Nähe von Schekka und war einer der gewaltigsten im Land, der siebentausend Krieger ins Feld bringen konnte. Aber infolge der fortwährenden Plünderungen von Sebehrs Bande fingen sie an, sich zu Gordon zu schlagen; und er hörte, daß es nur der Anfang einer Einwanderung sei, indem noch andere Stämme ähnliches beabsichtigten. Sie konnten über Nacht kommen, denn »Gepäck haben sie keines und reiten wie der Blitz, ohne Bügel.« Der Vorteil einer solchen Verstärkung war aber ein zweifelhafter — wo Nahrung hernehmen für so viele in dem ausgeplünderten Land?
Eine weitere Schwierigkeit, die sich ihm um diese Zeit darbot, verstattet einen Einblick in die Ratlosigkeit, die ihn angesichts des von ihm bekämpften Greuelwesens mehr wie einmal befiel. Eine seiner Streifkolonnen hatte ihm zweihundertundzehn Sklaven in die Stadt gebracht, ausgehungerte Menschen, die ihn so flehentlich anblickten, daß ihm die Augen übergingen. Was soll er mit ihnen anfangen? wem soll er sie überlassen? Selber behalten kann er sie nicht und füttern kann er sie auch nicht. Selbstverständlich läßt er ihnen für den Augenblick etwas Durra reichen, denn sie haben seit sechsunddreißig Stunden nichts gegessen. »Ich wollte[S. 132] heute mein Leben hinlegen,« ruft er aus, »um das Elend dieser Menschen zu lindern; wie viel mehr muß Gott sich ihrer erbarmen!« Und immer mehr wird es ihm zur Klarheit, daß das Schwerste des von ihm unternommenen Kampfes nicht sowohl die Unterdrückung der Händler selbst sei, als die Versorgung der hilflosen Sklaven.
Es ist ihm öfters zur Last gelegt worden, daß er selbst Sklaven, als solche, seinen Truppen einverleibe, ja sie gegebenenfalls sogar kaufe. Er, der sein Leben für nichts achtete in dem großen Kampf gegen das Unrecht, konnte es ruhig der Zeit überlassen, sein Thun ins rechte Licht zu setzen. Er braucht Truppen gegen die Sklavenhändler; woher soll er sie nehmen? Wenn er es unterläßt, Sklaven zu nehmen und ihre Eigentümer zu entschädigen, so gehören sie nach wie vor, d. h. vertragsmäßig noch zwölf Jahre lang ihren jeweiligen Herren. Sie mit Gewalt frei machen, hieß den Aufruhr verallgemeinern. Es schien ihm der beste Weg, die Banden bewaffneter Sklaven im Land möglichst unter seine Disziplin zu bringen. Das Urteil der Leute hatte ihn nie viel angefochten. Seiner Schwester formuliert er Anklage und Entschuldigung mit den kurzen Worten:
»Ich möchte, daß Du es richtig verstehst — ›Oberst Gordon kauft Sklaven an von Regierungs wegen und läßt die Gellaba nach wie vor ihr Wesen treiben‹, heißt's in den Zeitungen. Ja, er thut's, denn nur mit Hilfe von Sklaven kann er die Sklavenhändler bekämpfen und die bewaffneten Banden unter sich bringen. Die Sklaven, die ich kaufe, sind längst ihrer Heimat entrissen, ich kann sie nicht zurückschicken, selbst wenn ich wollte. Es ist nicht, als ob ich dem Handel dadurch Vorschub leistete, nicht einmal indirekt, denn gerade dadurch gewinne ich ein Mittel, ihn zu unterdrücken.«
Die Gellaba — er nennt sie selbst Geier — sind die kleinen Händler, welche die Ware im einzelnen den Jägern abkaufen.
»Wenn wir mit Rußland im Krieg sind,« sagt er, »benutzen wir diesen Zeitpunkt nicht, um in Indien Mißstände zu unterdrücken? Ich wäre tollkühn, wollte ich mir die kleinen Leute verfeinden, ehe ich mit den Hauptsündern fertig bin.«
Er weiß, daß in Schekka an viertausend Sklaven liegen, die ihm in die Hände fallen werden, sobald er jenes Nest aushebt.
[S. 133]
»Was soll ich mit ihnen anfangen, mit Weibern und Kindern? Ich kann sie nicht in ihre Heimat zurückschicken (weithin ins Innere von Afrika, selbst wenn er im einzelnen Fall immer wüßte, wo die Geraubten zu Hause sind!) ich kann sie nicht erhalten. Ich muß sie entweder den Stämmen überlassen, oder meinen Truppen, oder den kleinen Händlern. Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich sie freigebe, so überlaufen sie das Land, und ein herrenloser Sklave ist wie ein verlorenes Schaf — das Eigentum dessen, der ihn findet. Ich muß suchen den Ausweg zu ergreifen, der für die armen Sklaven der beste ist. Was Europa dazu sagt, ist nicht die Hauptsache: es ist der Sklave, der leidet, nicht der Europäer. Das weiß ich wohl, daß wenn ich jene viertausend Sklaven den Stämmen oder den Gellaba, oder auch meinen Truppen überlasse, man in den nächsten Monaten um so viel mehr von Sklaventransport hören wird; aber dann ist wenigstens das damit gewonnen, daß die Ärmsten auf die beste Art ihre Bestimmung erreichen und nicht hier Hungers sterben.«
Als ihre Bestimmung kann man neben dem Orient überhaupt auch Ägypten betrachten, wo merkwürdigerweise der Ankauf von Sklaven auch dann noch gestattet war, als der Handel im Sudan unterdrückt werden sollte.
»Ich könnte die Verantwortung von mir abwälzen, und die Sache sich selbst überlassen — das hieße die Sklaven dem sichern Elend und dem Hungerstod preisgeben. Soll ich ein solcher Feigling sein, aus Furcht vor der Meinung des besser unterrichteten Europa? Nein, ich werde dem Transport fürs nächste Vorschub leisten. Die Leute sollen in die Zeitungen schreiben, was sie wollen. Hier sind die Sklaven, um sie her die Geier, und hier bin ich, der eine Mann, der keine Nahrung für sie hat und keine Möglichkeit, sie in ihre Heimat zurückzuschicken. Hätte ich einen tüchtigen Mann mit starkem Arm, der mir helfen könnte, jeden einzelnen Sklaven nach seinem Wunsche zu behandeln — es wäre mir lieber. Denn merkwürdigerweise haben selbst diese elenden Sklaven noch Wünsche in dieser Hinsicht — manche vertrauen sich lieber den Gellaba an, manche den Stämmen, manche meinen Truppen; nach ihrer verwüsteten Heimat verlangen sie indessen nicht zurück, denn sie wissen, daß sie dann nur anderen Stämmen zum Opfer fallen und wieder Sklaven werden. Ihre Dörfer sind zerstört; es würde lange dauern, ehe sie nur wieder auf eine Ernte hoffen könnten.... Angesichts dieser Thatsachen steht man hilflos dem Erlaß gegenüber, daß alle[S. 134] Sklaven nach zwölf Jahren frei sein sollen. Wer will sie frei machen? Man könnte gerade so gut erwarten, daß Steine und Bäume das Gesetz erfüllen, als daß die Stämme unter sich ihre Sklaven aufgeben. Man kann lediglich nichts thun, als sie an der Jagd auf neue Sklaven hindern ... Ich habe so wenig Korn hier, daß ich nicht weiß, was anfangen. Bei solcher Sorge vergeht einem der hohe Mut. Aber das weiß ich, daß ich um keinen Gewinn der Welt die übernommene Arbeit jetzt aufgebe; es wäre eine Feigheit ... Ich höre von Fascher, daß nach einem Ausfall auf Harun das Volk zu Hunderten Hungers starb oder den Pocken erlag — arme Kinder und Weiber, deren jedes sein Leben lieb hat wie wir! Schön war, daß meine Araber ihre Gefangenen freiließen — es seien ihrer zweihundertfünfunddreißig gewesen, die Arm in Arm in einer langen Kette davonwankten. Es geschah in der Hoffnung, sie vor den Gellabas zu retten, was hoffentlich gelungen ist ...
»Eine Truppe ausgehungerter Menschen ist in meinen Hof eingebrochen, ich habe sie fortschicken müssen bis morgen, in der Hoffnung, bis dahin etwas Durra aufzutreiben.«
Mittlerweile verhielt sich der von Darra abgesandte Offizier ganz unthätig, ja Gordon hörte, daß er sich vom Feind habe bestechen lassen. Kein Wunder, daß Gordon allen Mut verlor, sich auf seine Truppen zu verlassen. Er beugt sich unter diese Thatsache als unter eine Fügung Gottes. Dies hindert ihn aber nicht, sich vorzunehmen, den Mann im Betretungsfalle kriegsrechtlich erschießen zu lassen. Wie seine Truppen sich ferner verhielten, ergiebt sich aus folgendem. Die Leparden, ein zahlreicher Stamm, hatten sich gegen ihn aufgeworfen und die Verbindung zwischen Darra und Tuescha abgeschnitten. Er beschloß daher, seinen Besuch in der Räuberhöhle Schekka noch hinauszuschieben und mit einer Abteilung seiner »Unbeschreiblichen« und einer Anzahl verbündeter Mascharins den Leparden entgegenzuziehen. Es war eine schlimme Nacht, voll Sturm und Regen.
»Ich zog meinen Mantel an und setzte mich unter meinen Schirm und wünschte, es wäre Tag. Angenehm war die Lage nicht, aber ich wickelte mich ein und konnte schlafen.«
Es war ein Regen, der einem die halbe Kraft aus dem Körper spülte, sagt Gordon, aber nichtsdestoweniger führt er seine[S. 135] Leute am folgenden Tage in den Kampf — den Teil wenigstens, der bei der Hand war, und das waren nicht seine »Unbeschreiblichen«, die langsam hinterdrein kamen. Seine Verbündeten, die Mascharins, waren es, die, obgleich geringzählig, sich nicht halten ließen und die Leparden, d. h. ihre einhundertsechzig Mann starke Vorhut, gänzlich aufrieben. Als seine Truppen herankamen, besetzten sie das gewonnene Lager des feindlichen Stammes, und während Gordon mit dem Häuptling der Mascharins Kriegsrat hielt, stürmten die Leparden in zwei Abteilungen von je dreihundertfünfzig Mann daher. Sie wurden zurückgeworfen, aber wieder nicht von seinen Truppen, sondern von den tapfern Mascharins, deren Anführer Ahmed Nurra tödlich verwundet wurde. Seine Helden hielten das Palissadenwerk von der sichern Seite! Gordon befand sich in einem Zustand der peinlichsten Entrüstung. Das Einzige, was ihn zurückhielt, sich selbst unter die anstürmenden Leparden zu werfen, war der Gedanke, daß seine elenden Truppen dann gar nicht mehr wüßten, was thun. Aber gründlich verhaßt wurden ihm die Baschi-Bosuks mit ihrem Waffengeklirr, wenn der Feind nicht da war, und ihrer maßlosen Feigheit, wo's Ernst galt.
»Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, was meine Offiziere und Soldaten für Kerle sind — ihr bloßer Anblick regt mir die Galle auf!«
Der kurze Feldzug endete damit, daß er die Leparden von drei Wasserstationen abschnitt, so daß nur eine einzige, vierte Quelle ihnen blieb. Den Feind in jenen Wüstenländern vom Wasser abschneiden, heißt ihn besiegen. Die Brunnen liegen stundenweit auseinander.
»Gern hätte ich's den Frauen und Kindern und dem armen Vieh erspart, aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich den Stamm bewältigen will.«
In der glühenden Hitze kamen sie denn auch bald mit hängenden Zungen und verdorrten Lippen und baten um Gnade. Gordon nahm ihnen die Speere ab, ließ sie auf den Koran Treue schwören und schickte sie dann allesamt an die nächste Quelle.
[S. 136]
»Sie waren einen Tag ohne Wasser, ich kann's nicht ändern. Der Krieg ist ein grausames brutales Geschäft. Wie oft lesen wir in den Kriegen Israels, dass das Volk ohne Wasser war. Es ging damals nicht anders zu als jetzt.... Meine Berittenen fingen einen Scheik ein, er war über die Maßen durstig; wie gern hab ich ihm Pardon gewährt und ihn mit seinen Leuten ans Wasser geschickt ... er sagte, der Stamm sei auseinandergesprengt. Auch des Häuptlings Sohn war dabei, ein fünfzehnjähriger Junge, und wie sie gebunden in meinem Zelt hockten, sah ich, wie der arme Bursche nach Wasser lechzte. Was für eine Freude war's, ihn sich satt trinken zu lassen!«
Aber auch Streitigkeiten mußte er beilegen. Der Zankapfel war oft nur eine Handvoll Korn, oder ein irdener Topf. Ob solcher Beute gerieten zwei hintereinander, die verschiedenen Stämmen angehörten, und der eine erschoß den andern!
»Ich ließ die Stammesangehörigen des Getöteten vortreten und auch den Gefangenen; und dann fragte ich sie, ob ich ihn erschießen sollte, oder ob sie ihn haben wollten, damit er für die Hinterbliebenen des Ermordeten arbeite. Und ich war froh, zu finden, daß sie auf den letztgenannten Vorschlag eingingen. Der Mann war vorher schon der Sklave eines der Soldaten (das Wort ist mir entschlüpft, ich wollte ihn nicht so nennen!) ich habe ihn daher nur einem andern Herrn gegeben. Das Entsetzen der Leute war unbeschreiblich, als ich mich mit meinem Gewehr vor den schwarzen Mörder stellte und den Hahn spannte — es war gar nicht geladen. Ich wußte auch, daß sie seinen Tod nicht verlangen würden, denn selbst in diesen armen wilden Menschenherzen wohnt Gutes. Sie glaubten aber fest, ich würde ihn erschießen, wenn sie nicht um sein Leben einkämen, und so thaten sie's einstimmig.«
Die Leparden hielten nicht lange Frieden, kaum länger als bis ihr Durst gestillt war, und dann entführten sie Gordons Verbündeten eine Anzahl Sklaven, wofür er ihnen tausend Stück Vieh wegnahm und einen weiteren Teil des Stammes entwaffnete. Er rückte durchs Lepardenland nach Duggam vor, wo ein Gemisch von Stämmen hauste. Die Leparden gingen nach Gebel Heres zurück; er zog ihnen nach und hörte, daß Harun sie unterstützte, indem er ihnen vierzig Berittene nach Gebel Heres zur Verstärkung[S. 137] geschickt habe, während er selbst das Land weiter nördlich verwüstete. Seinem Truppenteil, den er in jener Gegend vorfand, kann Gordon das gewohnte Lob gänzlicher Untüchtigkeit ausstellen. Eine ganze Menge Fragen hinsichtlich eingebrachter Sklaven harrten seiner Erledigung.
»Ich wollte, die Gesellschaft zur Unterdrückung der Sklaverei wäre hier,« ruft er nicht ohne Ironie, »und sagte mir, was ich thun soll!«
Während er seine erbärmlichen Streitkräfte beklagt, gab's Meuterei; sein Leben war nicht sicher in ihrer Mitte. Fascher war so nahe, daß man seine Wachtfeuer von der Stadt aus sehen mußte; dort waren achttausend Mann ihm dienstpflichtiger Truppen eingesperrt — oder sollten doch dort sein. Er machte sich auf den Weg, um ihnen das Gewehr zu visitieren, und erreichte mit etlichen hundert Mann die Stadt gegen Abend nach einem »schmählichen Ritt« durch Sumpfland. Man hatte keine Ahnung von seinem Kommen und war »angenehm überrascht«. In der Stadt selbst waren viermal so viel Truppen, als er bei sich hatte, und zehnmal so viel kampierten unter Hassan Pascha Helmi drei Tagmärsche entfernt; aber von diesem Militär war nicht der geringste Versuch gemacht worden, sich nach Darra oder sonst wohin durchzuschlagen, während der Feind noch vor kurzem bis in die Nähe von Fascher Streifzüge unternommen hatte. Hassan Pascha, der die Besatzung befehligte, hatte sich schon vor Wochen in aller Gemütsruhe mit dem Hauptteil der Truppen davon gemacht. Gordon verschrieb sich den Mann. Mittlerweile konnte er von einem anderen seiner Offiziere folgenden Streich erzählen.
»Ein Muezzin oder Gebetsrufer in der Stadt war gewohnt, die Gebetsstunde nah bei der Stelle auszurufen, wo jetzt mein Zelt steht. Mein Oberstlieutenant hieß ihn schweigen, weil es mich störte; zum Glück erfuhr mein schwarzer Schreiber die Sache. Es lag nichts anderes zu Grunde als der Wunsch, den Fanatismus der Leute gegen mich aufzustacheln. Ich schenkte dem Ausrufer 40 Mark, meinen gefälligen Freund, den Oberstlieutenant, aber schickte ich nach Kedaref in die Verbannung, wo er Zeit finden wird, ähnliche Pläne auszuhecken. Ich besinne mich nie einen Augenblick,[S. 138] solche Kerle zu züchtigen. Der Gebetsrufer schreit jetzt noch einmal so laut, eben während ich dies schreibe.... Ich gebe mir alle Mühe, jenen anderen Tapfern, der sich bestechen ließ, um den Feind nicht anzugreifen, und mich neunzehn Tage in Darra hinhielt, seiner Thaten zu überführen; aber die Zeugen sind nicht besser als er selber, so wird mir nichts übrig bleiben, als meine despotische Gewalt in Anwendung zu bringen. Er nahm viertausend Mark in Geld, den Wert von tausend Mark in Straußenfedern und zehn Kamelladungen Durra als Geschenk hin, um den Stamm nicht anzugreifen.... Sebehrs Sohn ist jetzt bereit, sich mir anzuschließen in der Hoffnung, das Land um so besser zu plündern; und Harun plündert auf seine Rechnung im Norden. Ich sitze mitten zwischen diesen beiden, und um mich her sind die Stämme, die jenem feindlich sind und teilweise auch mir feindlich, während sie dem Harun günstig sind und von mir erwarten, daß ich ihnen gegen Sebehrs Sohn beistehe — das nennt man einen dreiseitigen Zweikampf.«
Es war in der That eine unerquickliche Lage, die täglich schwieriger wurde. Von den drei Feinden, mit denen er im Zweikampf stand, wäre der selbstgekrönte Sultan ohne Zweifel am leichtesten zu unterwerfen gewesen, wenn er ihn nur im offenen Felde hätte stellen können; aber abgesehen von seinem Mangel an tüchtiger Mannschaft, war er anderwärts zu sehr in Anspruch genommen, und Hassan Pascha mit seinen fünftausend Unthätigen hatte nicht den Mut, ohne die Gegenwart Gordons den Angriff zu wagen.
Es waren die eingebornen Stämme, die dem Feldherrn so hinderlich waren. Manche in nächster Nähe verhielten sich noch feindlich, und die entfernteren thaten ihr Bestes, die von ihm zur Ruhe gebrachten wieder aufzustacheln. Außerdem wurde sein Schreiber krank und für alle Einzelheiten der Verwaltung mußte er selbst einstehen. Wegen jeder Kleinigkeit drängten sich die Leute unangemeldet in des Generalgouverneurs Zelt und meinten, er könne sich ihrer nicht schnell genug annehmen. Erteilte er aber einen Befehl, so erfüllte man denselben im Leichenschritt. Seine Diener waren nicht besser als seine Soldaten. »Ich erledige täglich einen Berg von Geschäften,« schreibt er, trotz der furchtbaren Hitze, die so sengt und brennt, daß er »alle vierzehn Tage eine neue Haut[S. 139] im Gesicht hat.« Und wenn er von einem Ausritt müde heimkommt, so findet er Skorpione in seinem Zelt, oder dasselbe von einem Sturmwind umgeblasen, während seine Diener dabei sitzen, als ob es sich von selbst wieder aufrichten müsse. Dann ist er wohl manchmal niedergeschlagen und meint, es helfe alles nichts, er müsse dieses verzweifelte Land sich selbst überlassen, aber sein hoher Mut gewinnt auch in solcher Lage die Oberhand und er sieht durch den Wolkenhimmel doch wieder die Sonne scheinen.
Er hatte sein Hauptaugenmerk zur Zeit auf Harun gerichtet, denn der Verdacht war ihm gekommen, ob Hassan mit seinen fünftausend nicht ähnlichen Verrat treibe, wie jener andere, der sich hatte bestechen lassen. Und obschon es fast täglich Unternehmungen gegen die feindlichen Stämme oder Streifzüge auf höchstnötigen Proviant zu leiten gab, so traf er doch energische Vorbereitungen, einer etwaigen Krisis zuvorzukommen. Da hieß es mit einemmal, der »Sultan« sei verschwunden und niemand wisse wohin. Somit hatte er neben verlorener Mühe vorläufig das Nachsehen.
Während er so sein Bestes thut, der kleinen wie der großen Mühseligkeiten Herr zu werden, kommt ihm die Nachricht, daß sein schlimmster Feind ausgebrochen ist und sich anschickt, Darra zu belagern. Gordon weiß, daß Soliman sechstausend bewaffnete Sklaven mit sich führt, während er selbst zwar seine »unbeschreiblichen« Helden hat, sich aber nicht im geringsten auf sie verlassen kann, — eine Wendung der Dinge, vor der alle bisherigen Schwierigkeiten erblaßten. Gordons Genie aber erweist sich nie glänzender als in einer Lage, die völlig hilflos erscheint. Da gürtet sich der Held zum Einzelkampf und erringt einen Sieg, der durch Waffen allein nicht zu gewinnen wäre. Schrieben wir einen Roman, es ließe sich nichts Romantischeres denken, als solche Siege über große Bedrängnis; da es sich aber um Thatsachen handelt, so ist es eben die großartige Kindeseinfalt des heroischen Mannes, die stets mitten ins Feuer geht, den Umstand vergessend, daß er einer ist gegen viele. Gordon verlor keinen Augenblick. Seine Armee und alles zurücklassend, bestieg er sein Kamel und ritt allein und unbewaffnet nach Darra. Von diesem gewaltigen[S. 140] Ritt, eine der wunderbarsten Leistungen in seiner ganzen wunderbaren Laufbahn, lassen wir ihn selbst an seine Schwester berichten. Es ist hierbei nur zu bemerken, was übrigens von allen seinen Briefen gilt, daß er stets frisch nach der That schrieb und nicht im entfernteren daran dachte, daß je ein größerer Leserkreis an seinen Berichten sich erfreuen würde.
»Etwa um vier Uhr nachmittags erreichte ich Darra, lang vor meinem Gefolge, nachdem ich in anderthalb Tagen 140 Kilometer zurückgelegt hatte. Etwa zwei Stunden vor Darra geriet ich in einen Schwarm von Fliegen, die mich und mein Kamel so quälten, daß wir mit immer größerer Eile vorwärts drängten. Ich denke mir, die Königin des Geschmeißes muß darunter gewesen sein. Wenigstens dreihundert umschwärmten den Kopf des Kamels und ich ritt einfach in einer Wolke. So hatte ich doch wenigstens ein Gefolge von Fliegen, wenn sonst keines. Die Leute in Darra waren sprachlos, ich überfiel sie wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Als sie sich erholt hatten, feuerten sie eine Salve ab. Mein armes Gefolge! wo das war, wußte kein Mensch. Denke Dir Deinen Bruder, einen einzelnen, staubigen, sonnverbrannten Menschen auf seinem Kamel und über und über mit Fliegen bedeckt, wie er so ganz unerwartet im Divan erscheint. Die Leute starrten mich an wie gelähmt. Zu essen gab's nicht viel nach meinem langen Ritt, aber eine ruhige Nacht, in der ich alles Elend vergessen konnte. Bei Tagesgrauen stand ich auf, zog die goldene Uniform an, die der Khedive mir geschenkt hatte, und ging hinaus, um meine Truppen zu besichtigen. Darnach bestieg ich mein Pferd, und mit einem Geleit von meinen Räubern von Baschi-Bosuks ritt ich hinaus in das Lager der anderen Räuber, das ich in einer halben Stunde erreichte. Der Sohn Sebehrs kam mir entgegen — ein ganz hübscher Junge, etwa zwanzigjährig — und ich ritt mit ihm durch das Räuberlager. Ich schätzte, es waren ihrer dreitausend, Männer und Burschen, die er bei sich hatte. Ich ritt mit ihm bis an sein Zelt; dort waren die Häuptlinge versammelt und nicht wenig überrascht, mich in ihrer Mitte zu sehen. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben und kehrte dann zurück, indem ich den Sohn Sebehrs einlud, mich mit seinen Angehörigen in meinem Divan zu besuchen. Sie kamen denn auch richtig und hockten im Halbkreis um mich her, während ich ihnen in gewähltem Arabisch meine Meinung beibrachte: erstens, daß ich wohl wüßte, daß sie neuen Aufruhr gegen die Regierung[S. 141] im Schild führten, und zweitens, daß sie mir glauben dürften, daß ich lediglich dazu gekommen sei, sie zu entwaffnen und zu vernichten. Diesen Bescheid nahmen sie stillschweigend entgegen und entfernten sich dann, um sich's zu überlegen. Es dauerte nicht lange, so erhielt ich ein Schreiben mit der Zusicherung ihrer Unterwerfung und dankte Gott dafür! Rings umher haben sie das Land verwüstet, und ich konnte es nicht ändern. Mich dauern nur die armen Leute, die es traf, darunter die mir Verbündeten, die mit mir nach Wadar (gegen die Leparden) zogen und ihr Eigentum unbeschützt zurückließen. Was für Jammer überall! Aber der Allerhöchste sieht es, und er kann helfen. Ich kann's nicht. Die verblümten Gesichter der Schurken, als sie meine Anklagen vernahmen, und die merkwürdige Gebärdensprache bei meinem ungenügenden Arabisch hättest Du mit ansehen sollen! Es ist noch keine drei Tage her, daß Sebehrs Sohn seine Pistole dreimal auf meinen Kavaß (eine Art Polizeisoldat) abfeuerte, weil der Ärmste krank war und ihm nicht entgegenkommen konnte ... Du hättest sein Gesicht sehen sollen und seine Versicherungen der Treue mit anhören, als ich ihm dies vorrückte. Schließlich habe ich ihm verziehen. Maduppa Bey hat mir seither erzählt, daß der Sohn Sebehrs sich nach der Unterredung mit mir hingelegt und kein Wort gesprochen hätte, so daß die Araber meinten, ich hätte ihn mit Kaffee vergiftet! ... Man sieht ihm an, daß er ein verwöhntes Kind ist, dem die Rute nicht schaden würde. Ich habe mir Mühe gegeben, freundlich mit ihm zu reden, aber er wirft mir nur wütende Blicke zu. Armer Junge! er wird noch manch bittere Erfahrung machen müssen, ehe er die Nichtigkeit des Irdischen erkennt; bisher war er Herr inmitten einer kriechenden Schar von Sklaven, konnte thun was er wollte, Leute umbringen, wann es ihm einfiel, und soll nun auf einmal nichts sein! Indessen — ›fahret mir säuberlich mit dem Knaben Absalom‹ — ich will suchen, nach diesem Wort zu handeln. Es ist ein zierlicher Bursche in einer Jockei-Jacke von blauem Sammet. Die ganze Sippschaft kam bis an die Zähne bewaffnet, als sie sich in meinem Divan einstellten.«
Nachdem Gordon Soliman und seiner Horde den Standpunkt klargemacht, beschloß er, die »Höhle Adullam« auszufegen, und sandte eine Abteilung seiner Truppen ab, um Schekka zu besetzen. Im feindlichen Lager war man übrigens keineswegs einer Meinung: ein Teil der Sklavenjäger war für Unterwerfung, der[S. 142] andere für Krieg. Soliman selber war in einem Zustand unbändigster Wut, und wenn er nur die Scheiks zu gemeinsamem Handeln hätte bringen können, so wäre ein neuer Aufstand erfolgt. Die Leute waren aber moralisch überwältigt: einer nach dem andern erklärte dem Generalgouverneur seine Unterwerfung, und dem Sohne Sebehrs blieb zuletzt nichts übrig, als sich Gordons Befehl zu fügen, der ihn nach Schekka zurückkehren hieß. Er wolle das thun, sagte der Bursche, wenn Gordon ihm zuerst Feierkleider schenke nach dem herkömmlichen Brauch und als Beweis, daß er mit ihm zufrieden sei. »Ich habe keine Feierkleider,« erwiderte jener und fügte hinzu, daß sein Betragen ein viel zu anmaßendes sei; er wisse ja nicht einmal, was sich des Khedive Statthalter gegenüber schicke, der ihn — einen eingebildeten Jungen — mit ganz unverdienter Milde behandle. Das war dem Sohne Sebehrs eine bittere Pille, aber er mußte sie schlucken. Von Schekka aus sandte er dann einen Brief, in dem er sich Gordons getreuen Sohn nannte und eine Statthalterschaft begehrte. Darauf wurde ihm die Antwort, daß ehe er in Kairo gewesen sei, um sich dem Khedive persönlich zu unterwerfen oder sonst eine nicht mißzuverstehende Probe der Treue abgelegt habe, der General-Gouverneur ihm keinen Posten anvertrauen werde, und wenn es ihn sein Leben koste. Diesen Bescheid schickte ihm Gordon durch die Scheiks. Ehe diese sich verabschiedeten, fragte Gordon einen derselben, ob er Kinder habe; der Mann bejahte es. »Nun,« rief Gordon, »sagen Sie selber, ob eine Tracht Schläge dem Burschen nicht heilsam wäre!« Und der Scheik gab es zu.
Während er so mit den Sklavenhändlern fertig wurde, hörte er, daß sein schwarzer Schreiber, dem er bis dahin vollkommen getraut hatte, ebensowenig »bakschischfest« war, als die meisten seiner Untergebenen: er hatte sechstausend Mark Bestechungsgelder angenommen. Dergleichen Erfahrungen waren Gordon ein wahrer Schmerz. Dann kam ein Eilbote von Fascher, wo er doch über fünftausend Mann Militär wußte, mit der Nachricht, daß ein panischer Schrecken die Stadt befallen habe; Harun hatte nämlich von weither von sich hören lassen. Da verlor Gordon ob solcher bodenloser Feigheit die Geduld. Er ließ ihnen zurücksagen,[S. 143] sie sollten nicht sterben vor Angst, die Sklavenhändler würden ihnen demnächst zu Hilfe kommen.
In der zweiten Septemberwoche machte er sich selber nach Schekka auf den Weg. Als Soliman von seinem Kommen hörte, lud er ihn ein, in seinem Hause abzusteigen, was Gordon auch ohne weiteres annahm. Er und die anderen Raubgesellen empfingen ihn mit aller Unterwürfigkeit, ja sie kamen ihm wie ihrem König entgegen. Sebehrs Sohn war sogar ganz bescheiden und trug diesmal keine Sammetjacke; seinen Wunsch nach einer Statthalterschaft konnte er jedoch nicht unterdrücken. Gordon ließ sich aber nicht durch Unterthänigkeit bestechen, sondern erklärte dem Bittsteller, er müsse vor allen Dingen Vertrauen zu verdienen suchen. Doch war er persönlich freundlich gegen diesen »Absalom«, wie er ihn nannte, und schenkte ihm sogar sein eigenes Gewehr.
Übrigens blieb er nur zwei Tage in dem Räubernest, und das war gut, denn er hatte keine Schutzwache bei sich, und, wie sich später herausstellte, wurde während seiner Anwesenheit Kriegsrat gehalten, ob es thunlich und ratsam sei, sich an ihm zu vergreifen! Daß es nicht geschah, ist ein Wunder, das sich nur damit erklären läßt, daß seine vollständige Gleichgültigkeit gegen persönliche Gefahr wie lähmend auf seine Feinde wirkte; es war die Großartigkeit seines Wesens, die sie entwaffnete. Und wie Daniel aus der Löwengrube, so ging er aus dem Nest der Sklavenräuber hervor.
Es war auf dem Weg nach Schekka, daß er folgenden Brief schrieb:
»Weiterhin im Land hausen noch an sechstausend Sklavenhändler, die sich wohl ergeben werden, nun ich den Sohn Sebehrs und seine Häuptlinge überwältigt habe. Es ist nicht zu sagen, wie groß die Schwierigkeit ist, mit all diesen bewaffneten Horden das Rechte zu treffen. Ich trenne sie in einzelne Haufen und hoffe sie so mit der Zeit zu bewältigen. Man kann sie doch nicht alle totschießen! Haben sie nicht auch ihre Rechte, die man berücksichtigen muß? Hatten die Pflanzer (in Amerika) keine Rechte? Hat nicht selbst unsere Regierung einst Sklavenhandel gestattet? Ich hätte viel darum gegeben, Sie und die Herren von der Gesellschaft zur[S. 144] Unterdrückung des Sklavenhandels in jenen drei Tagen in Darra zu haben, als man nicht wußte, ob die Sklavenhändler sich zur Wehre setzen würden oder nicht. Eine schlechtbefestigte Stadt, eine feige Besatzung, unter der nicht einer war, der nicht vor Angst zitterte; und auf der andern Seite eine handfeste entschlossene Bande, die sich aufs Kriegshandwerk versteht, gut schießen kann und zwei Feldstücke bei sich hat. Ich hätte gern gehört, was Sie und die anderen dazu gesagt hätten! Ich sage dies nicht, um mich zu rühmen, denn Gott weiß, wie groß meine Sorge war — nicht um mein Leben, denn ich bin längst dem abgestorben, was einem das Leben lieb macht, den Annehmlichkeiten und der Ehre und Pracht dieser Welt — sondern meiner armen Schafe wegen hier in Darfur und anderwärts. Ihr sagt dies und das und handelt nicht darnach; ihr gebt Beiträge und meint, ihr habt eure Pflicht gethan; ihr lobt einander u. s. w. Es ist auch natürlich. Gott hat euch Dinge gegeben, die euch an diese Welt binden, ihr habt Frauen und Kinder. Ich habe keine und bin frei — gottlob. Verstehen Sie mich recht: wo es mir nötig erscheint, da kaufe ich Sklaven und ich hindere es nicht, wenn gefangene Sklaven nach Ägypten verbracht werden; und im Punkte der dienstpflichtigen Sklaven will ich Freiheit haben, das zu thun, was mir recht scheint und was Gott selbst in seiner Barmherzigkeit mir nahe legt; aber den Sklavenjägern will ich das Genick brechen, und wenn es mich mein Leben kostet. Ich kaufe Sklaven für meine Armee und mache sie zu Soldaten gegen ihren Willen, damit sie mir helfen die Sklavenjagd unterdrücken. Ich thue dies am hellen Tag aller Welt gegenüber, und trotz all euren Beschlüssen. Meint ihr, es würde mir das Herz brechen, meiner Würden entsetzt zu werden? ich würde mich zurücksehnen nach der entsetzlichen Ermüdung des ewigen Kamelreitens, nach all dem Elend, das ich mit ansehen muß, nach der Hitze, und nach der Plackerei meines persönlichen Lebens? Stellt euch einmal meine Reisen vor in diesen sieben Monaten! Tausende von Kilometer zu Kamel, und es wird so fortgehen, wenigstens noch ein Jahr lang. Sie finden es nur hie und da nötig, sich auf Gott zu verlassen — ich fortwährend, Tag und Nacht. Ich will damit sagen, daß Sie nur hie und da eine schwere Prüfung haben — etwa wenn Ihnen ein Kind krank ist — die Sie erkennen läßt, wie völlig schwach und hilflos Sie sind. Ich bin fortwährend in solcher Lage. Der Körper lehnt sich dagegen auf — es ist oft mehr als man tragen kann.
[S. 145]
Zeigen Sie mir den Mann — und ich will mir von ihm helfen lassen — der Geld, Ruhm, Ehre verachtet, dem es einerlei ist, ob er je seine Heimat wieder sieht, der sich allein auf Gott verläßt als die Quelle alles Guten und den Machthaber über alles Böse, einen, der bei gesundem Körper und mit thatkräftigem Geist dem Tod entgegensieht, der ihn einst von allem erlösen wird. — Sie sagen, Sie wissen keinen? nun dann lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe wahrlich genug an meinem Leben zu tragen und brauche keine weitere Last.
»Auf einen Unterschied zwischen hier und Amerika muß ich Sie aufmerksam machen: man hört hier nie davon, daß Eigentümer ihre Sklaven zu harter Feldarbeit benutzen. Sie sind entweder Dienstboten oder im Truppendienst der Händler; es sind meist muntere flinke Kerle, gewandt wie Antilopen, auch wieder wild und schonungslos, ein Schrecken dieser Länder, und mit einem Prestige weit über das Militär der Regierung hinaus. Sie sind die Stärke der Sklavenhändler. — In Kedaref sollen sich ein paar Griechen niedergelassen haben, die eine Menge Sklaven auf Plantagen beschäftigen. Ich habe vor, sie aufzugreifen. Kurz, der Zustand der Neger hier ist weit besser, als er je in Westindien war, und ich behaupte, daß die Leute hier nicht so herzlos sind, als einst die Pflanzer mit all ihrer Bildung und ihrem Christentum.
»Ihre Ansicht über den Mohammedanismus teile ich nicht. Nach meiner Ansicht giebt es Muselmänner, die christlicher sind als manche Christen. Wir alle sind mehr oder weniger Heiden. Haben Sie je das Buch gelesen »Das moderne Christentum ein zivilisiertes Heidentum«? Ich war dieser Ansicht lange, ehe ich es las. Ich mag einen rechten Muselmann wohl leiden; er schämt sich seines Gottes nicht und sein Privatleben ist ein ziemlich reines; allerdings erlaubt er sich viele Weiber, auf der anderen Seite aber begnügt er sich mit seinen eigenen. Kann man das immer von den Christen sagen?
»Was geht mich das Ministerium des Äußeren an, oder ich das Ministerium? Ich brauche seine Hilfe nicht; es wäre unrecht gegen den Khedive, wollte ich sie annehmen. Außerdem »derer ist mehr, die bei mir sind, denn derer, die bei ihnen sind.« Ich brauche keine Helfer außer dem Allmächtigen ... Nein, mein Lieber — richten Sie Ihr Leben in Wahrheit nach dem Christentum ein, dann erst wird es Sie befriedigen. Das Christentum der meisten[S. 146] Leute ist ein schales, kraftloses Ding und führt zu gar nichts. Ein gutes Mittagessen ist ihnen wichtiger; es giebt nur einige wenige, die Gott dazu antreibt, sich wirklich um ihre schwarzen Brüder zu kümmern. ›Ach die armen Sklaven!‹ und ›darf ich Ihnen noch ein Stückchen Salm anbieten?‹ heißt es da in einem Atem.«
Mitte September zog er nach Obeid, weil sein Diener das feuchte Klima bei Schekka nicht ertragen konnte. Da kam es ihm vor, als erhielte seine Karawane einen ungewöhnlichen Zuwachs und es dauerte nicht lange, so entdeckte er den Sachverhalt — etwa achtzig Männer und Weiber und Kinder in Ketten. Natürlich packte er den Sklavenhändler; es war einer jener Geier. Und da hieß es denn, es sei dessen eigene Familie! Hätte Gordon sie befreit, so wären sie liegen geblieben und Hungers gestorben. So blieb nichts übrig, als einem Sklaventransport den oberstatthalterlichen Schutz zu gewähren! nur daß den armen Geschöpfen die Ketten abgenommen wurden.
Diese Reise scheint besonders ermüdend gewesen zu sein.
»Keine Sonntage für mich,« schreibt er, »es ist Last und Hitze jeden Tag, ob ich auf meinem Kamel bin oder im Zelt.«
Und überall Sklaven; manche kauft er, andere, die in der Glut fast verdursten, schickt er ans Wasser. Ihr Elend bekümmert ihn, und er hätte sein Leben gelassen, nicht einmal, sondern wieder und wieder, um den Handel mit Menschenware von der Erde zu vertilgen. Und doch weiß es niemand besser als er, daß er nichts thun kann, als neue Einfuhr möglichst verhindern. Daß er mit dem Räubernest in Schekka fertig geworden war, leuchtete wie ein Stern am Horizont seines Lebens und gab ihm die Hoffnung, daß bessere Tage kommen würden.
Ende September gelangte er nach Obeid und war vierzehn Tage später in Khartum. Der Ruhm seines Siegeszugs war vor ihm hergegangen. Die Leute konnten sich nicht genug über seine Kühnheit wundern; solcher Mut, solche Willenskraft, solche unwiderstehliche Energie war den schlaffen Menschen in diesem schlaffen Land unfaßlich. Und die Geschwindigkeit, mit der er seine riesengroße Provinz bereiste, wäre jedem andern als eine Unmöglichkeit erschienen. Seine Beamten fühlten sich ordentlich ihrer Trägheit[S. 147] nicht mehr sicher. »Der Pascha kommt!« war ihnen ein Schreckschuß, der besser wirkte, als Aussicht auf die Peitsche. So beherrschte der freundliche, wohlwollende Mann mit seinem felsenfesten Willen das Land.
Am 14. Oktober 1877 war Gordon nach Khartum zurückgekehrt und schon am 23. begab er sich auf eine neue Reise. Die Arbeitslast, die er vorfand, hatte er in einer Woche bewältigt. Er sei nur noch ein Schatten seiner selbst, schreibt er; und jene Woche nennt sogar er eine harte Zeit. Auf Schritt und Tritt belagerten ihn die Leute mit Bittschriften, ihn mit Geschrei verfolgend. Sich ihrer mit Gewalt entledigen, das brachte er nicht über sich.
»Ich lasse sie eben schreien, denn wie kann ich jedem seinen Willen thun oder jeden Gefangenen frei geben? Hätte ich nicht meinen Gott zum Trost,« fährt er fort, »und das Bewußtsein, daß Er Generalgouverneur ist, wie sollte ich's weiter führen?«
Nachdem er seine Regierungsgeschäfte in Khartum erledigt und einen Mörder hatte hinrichten lassen, machte er sich über Berber nach Hellal auf den Weg, um daselbst mit Walad el Michael zu verhandeln. Die Reise den Nil hinunter war die erste wirkliche Ruhezeit, die ihm seit dem Vorfrühling 1874 im Sudan zu teil wurde. Und während er so mit stillem Gemüt den Nil hinabsegelt, spricht er sich brieflich über seinen Beruf aus. Sein englischer Biograph bemerkt hierzu, man höre da zum erstenmal ein Wort von ihm, das für Selbstüberhebung gelten könnte.
»Wie köstlich war die Ruhe heute auf dem Nilboot. Voriges Jahr um diese Zeit war ich auf meiner Heimreise vom Äquator her. Wieviel ist seither geschehen, bei Dir, bei mir, und in Europa! Mir ist so wohl zu Mut. Wenn ein Stern seine Höhe erreicht, so sagt man: er kulminiert; nun, mir ist auch, als ob ich kulminiert hätte — ich möchte weiter und höher hinauf. Doch weiß ich, daß ich hier bin, so lange es Gottes Wille ist; mit diesem Bewußtsein fuße ich wie auf einem Felsen und bin zufrieden. Mancher andere[S. 148] möchte wohl auch hoch steigen, aber ohne die damit verbundene Last; mir macht umgekehrt die Last die Ehre lieb und ich danke Gott dafür. Er hat mir's gelingen lassen, und wenn's auch kein sehr glänzender Erfolg ist, so ist's ein handgreiflicher, der bleibenden Wert hat. Jene Stelle im Propheten Jesaia habe ich mir zugeeignet, und soweit es in meiner Macht steht, suche ich sie zu bewahrheiten.«
Er meinte die Stelle Jesaia 19, 20:
»Welcher wird ein Zeichen und Zeugnis sein dem Herrn Zebaoth in Ägyptenland. Denn sie werden zum Herrn schreien vor den Beleidigern; so wird er ihnen senden einen Heiland und Meister, der sie errette.«
Warum aber soll das Selbstüberhebung sein? Ist es nicht vielmehr die Rede eines Menschen, der mit Paulus sagen kann: »Ich habe mehr gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist?«
In Berber wurde zu seiner Ankunft die Stadt festlich erleuchtet, und der Generalgouverneur, »der Beklagenswerte, mußte zwei Stunden umherlaufen und den Leuten zulieb ihre trüb brennenden Ampeln bewundern — ein wahres Opfer!« Darein fügte er sich, die acht oder zehn Hofschranzen aber, mit denen man ihn umgab, hieß er ihrer Wege gehen. Sich bewachen lassen, war nicht seine Art. Auch in Berber war an Arbeit kein Mangel — Bittschriften, Briefe, Telegramme zu Dutzenden. Im ganzen Land meinten die Leute, er sei nur dazu da, ihre Privatangelegenheiten zu erledigen. Von fünfzig Stunden her telegraphiert einer, es sei ihm ein Sklave entlaufen; ein anderer, er habe Händel mit seiner Frau und ein Nachbar hätte sich drein gelegt — als ob es nirgends Bezirksgouverneure gäbe. Jenem flüchtigen Sklaven wird der Generalgouverneur nicht nachgegangen sein, auch jene Ehehändel nicht geschlichtet haben; Spital und Gefängnis aber ließ er nicht unbesucht.
Auf der Weiterreise nach Dongola mußte er sich über schlechte Kamele beklagen, die Ruhe und Stille der Wüste mit ihren klaren taulosen Nächten war ihm indessen eine wahre Erquickung nach der langen Kampfzeit und nach der feuchten Hitze in Darfur.[S. 149] In Meraui, dem angeblich südlichsten Grenzpunkt altägyptischer Zivilisation, erreichte er den Fluß wieder. Hier hatten die Leute seit Jahren keinen Statthalter zu Gesicht bekommen und verfolgten ihn mit Klaggeschrei. In Dongola hörte er, daß Walad el Michael Senheit bedrohe, und Gordon hatte keine Truppen. Auch ein Telegramm vom Khedive fand er vor, in welchem seine Anwesenheit in Kairo begehrt wurde. Er machte sich daher nach Ägypten auf den Weg, aber schon nach einer Tagreise bestürmten ihn Telegramme vom Sudan mit der Nachricht eines abessinischen Einfalls. Ras Arya, ein Heerführer des Johannes, bedrohte Sennaar und Fazolie, südlich von Khartum. Es schien ihm unglaublich; aber in Khartum war auch nicht ein Mensch, auf den er sich nötigenfalls hätte verlassen können; so eilte er denn nach Dongola zurück und von dort durch die Bajuda-Wüste in fünftägigem Ritt nach Khartum. Es war blinder Lärm gewesen; man hatte ein paar abessinische Grenzmänner gesehen und sie auch zurückgeworfen.
Drei Tage hielt er sich in Khartum auf, dann bestieg er abermals sein Kamel, um über Abu Haras, Kedaref und Kassala nun doch erst den Walad el Michael aufzusuchen, ehe er nach Kairo ging. Gordon hätte gewünscht, den König Johannes zu einem Einverständnis mit Walad zu bringen, wonach der König dem unruhigen Häuptling Hamasen überließe, das überdies sein angestammtes Erbe war, allein Johannes war ein Starrkopf. Walad war für die Ägypter ein böser Grenznachbar; man war seiner nie sicher. Das einfachste wäre gewesen, ihn dem abessinischen König in die Hände zu liefern, aber selbst ägyptische Politik hätte nach dem Vorausgegangenen dies für schmählich gehalten. Man hoffte, Gordon würde es zu stande bringen, die ägyptische Ehre mit möglichstem Gewinn zu retten. Somit war er denn auf dem Wege nach Senheit, wo Walad lag.
Unterwegs fand er wie gewöhnlich Ursache, sich über sein Gefolge zu beschweren; er hatte es zu eilig für seine gemächlichen Araber, und wo sie konnten, erwiesen sie sich hinderlich.
In Kassala sah er den Heiligen, Scherief Seid Hakim, einen Abkömmling Mohammeds, mit dem er schon einmal zusammengetroffen[S. 150] war, und der sich damals in seiner Würde verletzt fand, weil sein unwissender europäischer Gast sich neben ihn auf den Ehrendivan setzte. Diesmal war der Heilige etwas herablassender und ließ sich sogar eine Zwanzigpfundnote (400 Mark) schenken. Als Gegengeschenk that er Gordon die Ehre an, ihn zu bitten, sich zum Turban zu bekehren und ein Muselmann zu werden. Er war nicht der erste, der dem Generalgouverneur diese Bitte vortrug!
Als er Senheit erreichte, fand er, daß Walad sich in seinem Lager zu Hellal befand, und mußte zwei hohe Berge übersteigen, um dasselbe zu erreichen. Es war ein ähnliches Unternehmen wie sein Besuch in der Räuberhöhle zu Schekka.
»Die Leute in Senheit waren so furchtsam, daß ich beschloß, mich in Gottes Hand zu stellen und hierher zu reiten. Der Weg über zwei Berge war über alle Beschreibung; den zweiten zu übersteigen war eine entsetzliche Arbeit. Walad el Michael und seine Banditen lagen auf einem hohen Berg. Er hat volle siebentausend Mann bei sich, die alle bewehrt sind. Sie standen in Reih und Glied, um mich zu empfangen, und sein Sohn kam mir entgegen. Michael, hieß es, sei krank, oder gab vor es zu sein. Darnach begrüßte mich ein Trupp Priester mit heiligen Bildern. Michael empfing mich liegend — er habe ein böses Knie; aber die Leute zu Senheit sagen, es wäre nicht wahr. Dann führte man mich in mein Zelt, und ich muß sagen, ich gedachte der Löwengrube. Wir waren miteinander in einer zehn Fuß hohen Umzäunung eingesperrt. Ich wurde zornig, denn ich sah wohl, was meine Leute (zehn Soldaten) davon hielten. Ich wandte mich an den Dolmetscher und sagte ihm, daß wenn Michael vorhabe, mich als Gefangenen zu betrachten, es ihm frei stünde, daß er es aber würde büßen müssen. Das war Kleinglaube von mir, dies zu sagen! Der Dolmetscher und Michaels Sohn waren indessen so überaus höflich und voller Entschuldigungen, daß ich vorläufig wohl noch kein Gefangener bin. Ich erläuterte meine Bemerkung dahin, daß wenn es in Senheit bekannt würde, wie man mich hier logiere, man dort allerdings für meine Sicherheit fürchten müßte, und der Telegraph würde solches nach Kairo melden.«
Die Nacht verlief ungestört, abgesehen von quälenden Flöhen, welches Ungeziefer in jenen Himmelsstrichen nur in hoher Bergluft gedeiht. In der Morgenfrühe sammelten sich die Priester[S. 151] um des Gastes Gefängnis her und sangen ihre Hymnen — »wahrscheinlich um den bösen Geist zu bannen,« meinte Gordon. In einem späteren Brief heißt es übrigens:
»Die Priester (in Abessinien) versammeln sich morgens um drei Uhr und singen eine Stunde lang in eigentümlich melodischer Weise davidische Psalmen. Es hat für den aus dem Schlaf erwachenden Hörer etwas tief Ergreifendes.«
Am folgenden Tag hatte er eine Unterredung mit Walad und machte ihm den Vorschlag, beim König von Abessinien um Pardon einzukommen. Der »Patient« wies dies energisch von sich und meinte im Gegenteil, die ägyptische Regierung thäte wohl daran, ihm weitere Distrikte (zum Plündern) zu überlassen; auch erklärte er sich bereit, die abessinische Stadt Adowa zu überfallen. Zwar wußte Gordon, daß er den listigen Verbündeten auf diese Weise leicht dem Johannes in die Hände spielen könnte, aber Verrat war nicht seine Sache, und er brachte Walad durch eine beträchtliche Geldsumme fürs nächste zur Ruhe.
»Wie verhaßt mir diese Abessinier sind,« schreibt er, »den Walad mitgerechnet; sie haben auch gar nichts Anziehendes. Ihr Christentum ist ein totes; und was ihre Zivilisation betrifft, so sind sie nicht viel besser als die Stämme am Äquator. Wäre es nicht der europäischen Regierungen wegen, ich kümmerte mich nicht um diesen Johannes. Meine Beduinen von Darfur und hier herum sind andere Leute. Manche der jüngeren Leute haben eine Haltung, die man ordentlich beneiden möchte. Ich könnte nie durch mein Äußeres imponieren, aber diese jungen Ismaels sind lauter Prinzen.«
Den König Johannes nennt er anderswo »einen richtigen Pharisäer«, und sagt von ihm, er führe eine Sprache wie das alte Testament, abends betrinke er sich und am frühen Morgen singe er Psalmen; wenn er in England wäre, ginge er zu den Methodisten und hätte eine Bibel so groß wie ein Handkoffer. Gordon war offenbar froh, den Abessiniern den Rücken kehren zu können und begab sich nach Massaua am Roten Meer, um dort eine Antwort von Ras Barin, dem abessinischen Grenzgeneral, abzuwarten. Er hatte nämlich dem Könige den Vorschlag gemacht, wenigstens Walad el Michaels Truppen Pardon zu gewähren,[S. 152] damit sie sich nach Abessinien flüchten könnten, wenn er sich etwa zu einem Angriff genötigt sehen sollte. Die Antwort aber blieb aus. Johannes lag zu Feld gegen Menelek, den König von Schoa, und so wenig umfangreich das Land ist, wußte niemand genau zu sagen, wo das wäre. Gordon wartete eine Zeit lang und trat dann über Suakim und Berber den Rückweg nach Khartum an. Unterwegs erhielt er einen zweiten Befehl vom Khedive, sich in Kairo einzufinden, um an Finanzberatungen teilzunehmen. Der bloße Gedanke daran war ihm verhaßt; überdies meinte er, nach seinem Nomadenleben im Sudan sei er weniger als je dazu geeignet, an höfischem Leben Gefallen zu finden. Es war Ende Dezember; über sechstausend Kilometer Wüstenritt lagen hinter ihm in diesem Jahr, und leider hatte er unterlassen, die Binde um Brust und Hüfte zu tragen, die beim Kamelreiten der fortwährenden Erschütterung wegen nötig ist. Die schlimmen Folgen zeigten sich nun.
»Ich habe mir das Herz oder die Lungen verrüttelt und habe ein Gefühl in der Brust als ob alles verrenkt wäre ... Wahrlich, obwohl ich lieber hier bin, als sonstwo auf der Welt, es wäre besser tot sein, als dies Leben führen. Ich habe meinem Schreiber mit der Bitte Entsetzen verursacht, mich zu begraben wo ich sterbe und jeden Araber einen Stein auf mein Grab werfen zu lassen, damit ich doch auch ein Denkmal hätte. Es ist sonderbar, so gute Fatalisten die Leute hier sind, eine solche Anspielung ist ihnen doch ein Greuel; sie meinen, es hieße den Tod mit Namen rufen, obschon sie zugeben, daß es vorherbestimmt ist, wann einer sterben soll.«
Gordon begab sich nach Kairo. Mit Dampf und Segel ging's nilabwärts und die Residenz wurde anfangs März erreicht. Der Khedive hatte seinem Oberstatthalter eine Aufforderung zur Hoftafel entgegentelegraphiert, aber der Zug hatte Verspätung, und als Gordon den vizeköniglichen Palast erreichte, fand sich's, daß die Hoheit anderthalb Stunden auf ihren Gast gewartet hatte. Staubig wie er war, mußte Gordon sich zu Tisch setzen, und alle Auszeichnung wurde ihm zu teil. Er wurde aufgefordert, als Präsident der Finanzkommission zu figurieren. Sein Platz bei der Tafel war zur Rechten des Khedive, und sein Quartier[S. 153] war ein Palast, in dem sonst nur fürstliche Gäste untergebracht werden. Aber die Pracht seiner Umgebung und die glänzende Bedienung waren für Gordon verlorene Liebesmüh.
»Meine Leute wissen sich nicht zu helfen vor Verwunderung, und ich auch nicht. Ich wollte, ich wäre wieder glücklich auf meinem Kamel.«
Einem Engländer, der ihn besuchte, erklärte er, er komme sich vor wie eine Fliege in diesem großen Haus. Und seiner Schwester schrieb er, es sei die helle Quälerei; er lege sich um acht Uhr schlafen, das sei noch das beste, denn er gehe abends nicht in Gesellschaft. Ismail hoffte, Gordon werde ihm aus seiner bedrängten Lage helfen. »Ich kenne keinen, zu dem ich größeres Vertrauen hätte,« schrieb der Khedive, allein die Geldangelegenheiten Ägyptens sind in den Händen europäischer Kapitalisten; englische und französische Koupon-Abschneider hatten mitzureden; wie hätte der ehrliche Gordon da mit seinem Rat durchdringen können, der kurz und gut der war, die Zinsen der europäischen Anleihen von 7 auf 4 Prozent herabzusetzen!? Kein Wunder, daß er die ganze Bande von Diplomaten und Juden gegen sich hatte, die in Kairo mitregieren. Nein, Gordon war kein Finanzrat[10] und war froh, wieder seine Wege zu gehen.
»Ich verließ Kairo wie ein gewöhnlicher Sterblicher, ohne Extrazug, und bezahlte mein Billet. Die Sonne, die so glanzvoll aufging, hatte einen ganz bescheidenen Untergang ... Die Last ist groß — ich wünsche, die Zeit der Ruhe wäre da; aber die kommt nicht, bis ich sein Werk vollbracht habe. Hier bin ich — sende mich!«
[S. 154]
Die Reise ging über Suez, Aden, Zeila nach Harrar; er wollte den Raouf Pascha, der als grausamer Tyrann dort schaltete, abermals seines Amtes entsetzen; es war derselbe, dem er vier Jahre vorher eine Züchtigung hatte zu teil werden lassen. In Harrar blieb er nur so lang als nötig war, um Ordnung zu schaffen; dann kehrte er nach Zeila zurück, wo er nach »achttägigem fürchterlichem Marsch« am 9. Mai 1878 anlangte. Müde wie er war, ging's alsbald weiter nach Massaua und Berber. Ihn verlangte nach Khartum zurück, wo ein Berg von Arbeit seiner harrte. Das Volk freute sich seiner Rückkehr und treulose Beamte zitterten; nicht weniger als acht seiner hochgestellten Untergebenen entsetzte er ihren Würden. Aber nur zu gut wußte er, daß er mit eingefleischter Veruntreuung im ungleichen Kampf stand, weil Ägypten wie die Türkei im Regierungswesen von oben bis unten durch und durch faul ist; und Menschenkraft, selbst die eines Gordon, reicht da nicht aus, auf die Dauer zu bessern.
Die erste Nachricht von außen, die ihn in Khartum erreichte, war die, daß Walad el Michael in Abessinien eingefallen sei und sich des Ras Bariu bemächtigt habe. Somit waren Gordons Briefe an Johannes jetzt in Walads Hand, was dem Schreiber übrigens kein großer Kummer war. Walad wußte nun, wessen er sich zu versehen hatte, und daß Gordon, obschon er sich von ihm lossagte, bei Johannes um sein Leben eingekommen war.
Die zweite ungleich bedenklichere Nachricht war ein erneuter und verstärkter Aufstand der Sklavenjäger. Soliman hatte sich in die Bahr el Ghasal zurückgezogen, wo die ganze Bande der aus ihren Nestern verjagten Sklavenhändler sich zur letzten verzweifelten Gegenwehr um ihn scharte. Während Gordon den Menschenhandel im Norden im Schach hielt und die Verbindungen der Räuber mit ihren Märkten abschnitt, erhob sich Soliman im Süden, und seine Horden überfluteten die Bahr el Ghasal.
»Ich habe den ganzen Besitz der Sebehrfamilie konfisziert,« schrieb Gordon, als er dies vernommen, »und sende eine Truppenabteilung gegen den Sohn.«
Diese Unterwerfung persönlich zu leiten war ihm schon deshalb nicht möglich, weil durch Anhäufung des Ssett in den[S. 155] Flüssen und Seen die Verbindung der Bahr el Ghasal mit Khartum oft monatelang abgeschnitten ist. Der Generalgouverneur durfte seine Provinz auf eine solche Möglichkeit hin nicht verlassen. Aber außerdem war eine Zeit der Schwierigkeiten angebrochen, der selbst seine Energie oft manchmal erliegen wollte. Die Paschas in Ägypten arbeiteten ihm geradezu entgegen.
»Ich stehe so ziemlich mit ganz Kairo auf dem Kriegsfuß, und Dornen sind mein Teil. Aber diese Arbeit ist mir nun einmal übertragen, ich will sie durchführen, und Gott wird mich von allem Übel erlösen. Wenn man sich von den irdischen Dingen nur immer innerlich frei halten und sie dem göttlichen Walten überlassen könnte, wie viel leichter wäre dann alles! Ich verzweifle nicht, aber wenn ich sehe, daß trotz aller Anstrengung kein wirklicher Fortschritt erreicht wird, dann überfällt mich ein Überdruß und ich wollte ich wäre daheim ... Seit die einsamen Kamelritte hinter mir liegen, habe ich keine erquicklichen Gedanken mehr ... Die fortwährenden Händel sind sehr niederdrückend und täglich möchte ich rufen: Wie lang, Herr, wie lang! Ich habe nie einen ruhigen Tag ... Aber so schwer es auf mir liegt, so ist es doch besser hier arbeiten, als anderwärts ein nutzloses Leben führen.«
Man sieht hieraus und aus ähnlichen Stellen, daß selbst ein Glaubensheld wie Gordon seine Stunden hat, wo er innerlich gebrochen ist und wie David und Hiob und andere Gottesknechte zu Zeiten meint, daß das Böse siegen werde. Auch körperlich hatte er zu leiden.
»Ich war mehrere Tage recht unwohl und so allein in meinem großen einsamen Haus. Und dann schleppte ich mich von einem Zimmer ins andere, weil die Gedanken mir keine Ruhe ließen. Bei all dem habe ich den großen Trost, mich nie vor dem Tod zu fürchten.« Und einige Wochen später: »Gottlob ich bin fast wieder wohl, aber ich war zwei Tage recht elend. Die ganze Stadt ist krank dieses Jahr. Aber so krank ich war (und zwar gleichzeitig mit meiner Dienerschaft — alles lag darnieder), war es mir doch lieb, in meinem großen Haus allein zu sein und niemand zur Last zu fallen ... Ich glaube, mein armer Kopf hat nie mehr nutzlose Arbeit vollbracht als in jenen beiden Nächten. Bittschriften verfolgten mich und wenn ich meinte sie erledigt zu haben, so waren sie von neuem da; es war entsetzlich.« Und hieran knüpft er die nicht leicht zu[S. 156] beantwortende Frage an seine Schwester: »Was möchtest du lieber, nach einem kampflosen Leben die ewige Seligkeit in geringerem Maße erreichen, oder durch ein Heer von Prüfungen hier durch müssen, um die ewige Seligkeit in größerem Umfang zu gewinnen? Merke, die ewige Seligkeit, als eine vollständige, in beiden Fällen! Ich weiß nicht, was ich wählen würde, ich möchte lieber nicht wählen, obschon ich ein abgehärteter Mann bin, denn dies Leben ist eine fürchterliche Schule.«
Unter den äußeren Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, war der trostlose Zustand der Finanzen nicht die geringste: das Volk war über und über besteuert, aber mehr als zwei Drittel der Schatzung ging nie ein. Die Steuereinnehmer waren wie die weiland römischen Zöllner, die nebenher ihre eigenen Geschäfte machten. Gebt uns ein Sechstel als »Bakschisch«, sagten sie den Leuten, dann stellen wir euch ein Zeugnis aus, daß ihr nicht mehr zahlen könnt. Als Gordon die Verwaltung antrat, fand er, daß es vorher allgemein üblich war, den Gouverneur zu bestechen, um z.B. eine Stelle zu erhalten, und zwar so, daß ein Bewerber zwölftausend Mark »Bakschisch« für eine Anstellung zahlte, die ihm kaum mehr als ein Drittel dieser Summe an Jahresgehalt eintrug. Natürlich lag der Schluß nahe, daß die Beamten auf ganz andere Einkünfte als ihren Gehalt ihr Augenmerk richteten. Gordons Wachsamkeit legte manchem das Handwerk; das System war aber so eingerissen, daß er sich anfänglich der ihm zukommenden »Bakschisch«-Gelder gar nicht erwehren konnte; er legte sie in die Verwaltungskasse. Aber Ägypten selber betrachtete das abhängige Land nur als eine Geldquelle, und nicht zufrieden mit rechtmäßigen Einkünften, wie z. B. dem Ertrag des Elfenbeins, war es unter den ägyptischen Paschas ganz üblich, ihr eigenes Defizit aus dem Sudan zu decken. Selbst der Khedive telegraphierte seinem Statthalter Gordon, so oft er sich in Geldverlegenheit befand.
»Ich bin hinter den Büchern gewesen,« schreibt dieser, »und habe einen guten Streich geführt. Die Finanzverwaltung von Kairo telegraphierte um eine halbe Million Mark, die der Sudan dorthin schulde. Ich habe die (alten) Abrechnungen nachgesehen und finde, das umgekehrt Kairo dem Sudan hundertachtzigtausend Mark schuldet!«
[S. 157]
Er ließ sich nie dran kriegen, von keinem Vizekönig und keinem Minister. Im ersten Jahr seiner Verwaltung fand er ein Defizit von über fünf Millionen Mark in seinen Finanzen, im zweiten Jahr hatte er's auf eine Million heruntergebracht, und mit der Zeit hoffte er der Schulden ganz Herr zu werden und rechtmäßige Überschüsse nach Kairo zu schicken. Er hatte oft Ebbe in der Kasse und dabei die fortwährenden Schwierigkeiten mit dem Sklavenhandel — »wahrlich, man ist hier nicht auf Rosen gebettet!« rief er aus.
Denn bei aller übrigen Not hatte er ein wachsames Auge auf die Sklavenwirtschaft. Im Juli z. B. meldete er:
»Wir haben in diesen zwei Monaten zwölf Sklaventransporte abgefangen; auch ist mir ein Brief von einem Händler in der Bahr el Ghasal in die Hände gefallen, worin dieser seinen Abnehmern schreibt, er habe eine Menge Sklaven bereit, wisse aber nicht, wie sie landabwärts bringen. Er wird sich wundern, die Antwort von mir zu erhalten ... So weit es in meiner Macht steht, soll dieser Handel aufhören.«
Einige Wochen später wurde von seinen Leuten eine Karawane von neunzig Sklaven aufgefangen, die Überbleibsel von einer viermal größeren Anzahl, die über achthundert Kilometer weit durch die Wüste hergeschleppt worden waren; die wenigsten davon waren über sechzehn Jahre alt, die meisten ganz junge Kinder.
»Es fällt mir schwer, die Händler nicht nach Verdienst zu züchtigen (ihm selbst waren ja die Hände über ein gewisses Maß hinaus gebunden); aber ich darf nicht vergessen, daß Gott es zuläßt, und ich muß nach dem Gesetz handeln. Ich thue mein Bestes, und fürs übrige ist Er Generalgouverneur.«
In der Bahr el Ghasal waren, wie bereits gemeldet, die Sklavenjäger in erneutem Aufstand, und zwar abermals infolge eines geheimen Aufruhrs Sebehrs, jener Geißel Zentral-Afrikas, von welchem der ganze Greuel ausging. Der schwarze Pascha hoffte seiner Gefangenschaft in Kairo dadurch ledig zu werden, daß man ihn als den einen Mann, der die Bahr el Ghasal zu beschwichtigen vermöchte, nach dem Sitz des von ihm selbst hervorgerufenen Aufruhrs schicken würde. Sein Sohn Soliman war[S. 158] sein Stellvertreter. Und daß er so rechnete, war keineswegs weit vom Ziel geschossen; Gordon erlebte es in den nächsten Monaten, daß rücksichtlich des Sudaner Budgets Nubar Pascha ihm von Kairo aus den Vorschlag machte, ihm den Sebehr als eine Art Finanzbeirat zu schicken. Derselbe hoffte den Sudan so zur Blüte zu bringen, daß Ägypten in kurzer Zeit auf eine halbe Million Mark Einkünfte von dorther werde rechnen können. Gordon meldete zurück: ja, eine halbe Million aus Sklaventransporten, er begehre solcher Hilfe nicht.
Der Umfang des Aufstandes war anfänglich weder in Kairo noch in Khartum bekannt; später stellte es sich heraus, daß die Hauptsklavenhändler die Provinzen des Sudan von vornherein unter sich verlost hatten und sich mit der Hoffnung trugen, ihre Fahnen auf den Mauern Kairos wehen zu lassen. Keineswegs ein unmöglicher Traum! Auch als jener Aufstand unterdrückt war, erklärte es Gordon als seine Meinung, daß irgend ein entschlossener Anführer den Sudan gegen Ägypten aufwiegeln könne, wie das ja auch durch den Mahdi seither geschehen ist. Es sind nicht nur die Sklavenjäger, die das Brandmaterial in jenen unglücklichen Ländereien ausmachen, obschon diese an sich zu jener Zeit mächtig genug waren, um Ägypten in Atem zu erhalten, ein weiterer Zündstoff ist in den arabischen Stämmen vorhanden, die vor Hunderten von Jahren übers Rote Meer herüberkamen und sich im Innern von Afrika festsetzten. Diese Araber sind kriegstüchtige Leute, stolz auf ihre Abkunft und nach moslemischen Begriffen von sittlicher Lebensart. Diese sind es hauptsächlich, die sich dem Mahdi anschlossen, um die verhaßten Ägypter zu vertreiben, und sie waren es, die in jenem Aufstand Solimans Horden verdoppelten und verdreifachten. Fürs übrige stehen sie den Negern näher als den Ägyptern; sie selbst aber treiben Sklavenhandel, und Solimans Banditen waren zum Teil Angehörige dieser Stämme. »Unser ist das Land,« war der Schlachtruf jener Araber, »wir brauchen keinen Effendina (Khedive) hier!« »Wären Sebehr und seine Leute nicht so verruchte Sklavenjäger,« schrieb Gordon, »und hätten sie sich nicht solch furchtbare Grausamkeiten zu schulden kommen lassen, es wäre für den Sudan vielleicht[S. 159] besser gewesen, die Aufrührer hätten ihren Zweck erreicht. Und — fügte er fernsichtig bei, — wenn England und Frankreich sich nicht besser vorsehen und für eine gerechte Verwaltung sorgen, so ist ein Sichlosreißen des Sudan von Ägypten nur noch eine Frage der Zeit.«
Gordon verlor keinen Augenblick, den Aufruhr zu dämpfen, und da er nicht selbst den Rebellen entgegenziehen konnte, so entsandte er Gessi, seine rechte Hand, einen tüchtigen Soldaten, der uns schon vom Äquator her bekannt ist und den Gordon bei dieser Gelegenheit folgendermaßen beschreibt:
»Romulus Gessi, Italiener, neunundvierzig Jahre alt; kurz, von gedrungener Gestalt; ein kaltblütiger, entschlossener Mann, und in praktischen Dingen ein geborenes Genie.«
Auf seinem Wege nilaufwärts stieß dieser tapfere Soldat auf reichliche Beweise, daß die ägyptischen Beamten eigenen Gewinnes halber mit den Händlern unter einer Decke steckten. Nicht nur begegneten ihm bei jeder Wendung mit Menschenware beladene Boote, sondern sogar Dampfer, die unter der Flagge der Regierung dem Sklaventransport Vorschub leisteten. Auf einem der Boote fand er an dreihundert Schwarze und unter diesen einige Lastträger, die als freie Menschen mit Ladungen von Elfenbein und Getreide nach Lado gekommen waren. Ibrahim Fansi aber, der dortige Statthalter, bemächtigte sich ihrer und verschiffte sie auf seine Rechnung in die Sklaverei. Zum Glück begegneten sie einem handfesten Befreier. Gessi war auf dem Wege nach den Äquatorialdistrikten, um auf den verschiedenen Stationen seine Streitmacht zu vervollständigen. Auf dem Rückwege landete er seine Mannschaft in Gaba Schambil, aber erst mit Anfang September konnte er durch das überschwemmte Land westwärts ziehen und infolge der Regenzeit mußte er wochenlang in Rumbehk am Bahr el Rohl bleiben. Dort erreichte ihn die Nachricht, daß der Sohn Sebehrs sich zum Herrn der Bahr el Ghasal aufgeworfen habe, daß er in Dem Idris die ägyptische Besatzung überfallen und vernichtet habe, wodurch ein beträchtlicher Vorrat von Kriegsbedarf in seine Hände gefallen sei. Die Häuptlinge der Araber in der Umgegend wandten sich ihm auf diesen Erfolg hin massenweise[S. 160] zu, und solche, die es nicht thaten, metzelte er nieder. Weiber und Kinder erlagen entweder seiner Grausamkeit oder wurden in die Sklaverei geschickt. Rings umher hatte er die Leute ihrer Kornvorräte beraubt, so daß sie zu Hunderten Hungers starben.
Soliman hatte sechstausend Mann, und es verlautete, er beabsichtige einen Überfall auf Rumbehk; Gessi hatte nur dreihundert reguläre Truppen mit zwei Feldstücken und etwa siebenhundert schlechtbewaffnete Irreguläre. Er erwartete noch bis dreihundert Mann Verstärkung und machte sich alsbald daran, Rumbehk zu befestigen. Seine von Gordon erwartete Hilfe blieb aber aus, weil sein Schreiben an den Generalgouverneur fünf Monate lang nach Khartum unterwegs war! Hilfe von den benachbarten Bezirksstatthaltern erhielt er nicht. An Beamten scheint die Provinz keinen Mangel gelitten zu haben. In Dem Idris hatte sich eine »fabelhafte Anzahl« derselben die Langeweile mit Tricktrackspielen vertrieben, während Jussuf Bey, der Bezirksgouverneur, ein ruchloses Leben führte, worin seine Untergebenen, sämtlich seine Neffen und Vettern, ihn nach Kräften unterstützten. Ägyptische Wirtschaft! Am 17. November verließ Gessi seine feste Stellung, und das war der Anfang eines Kriegs- und Siegesmarsches, das Ergebnis einer Energie, wie sie nur aus Gordons Schule hervorgehen konnte. Unaufhaltsam durch das Land der Ströme vorwärtsdringend und auf Flößen übersetzend — einmal inmitten von Krokodilen — verschanzte er sich in dem am gleichnamigen Fluß gelegenen Dorfe Wau. Dort kamen ihm die Eingebornen Hilfe suchend von allen Seiten entgegen. Über zehntausend Menschen hatte Soliman aus den Dörfern der Bahr el Ghasal geraubt. Ein Araberhäuptling schloß sich ihm mit siebenhundert Bewaffneten an und nun warf er sich auf Dem Idris, welche Stadt er befestigte, eines Überfalls von Soliman gewärtig.
Der Sohn Sebehrs aber hatte sich überraschen lassen; bei dem überschwemmten Lande wähnte er Gessi noch in weiter Ferne und war selbst im Begriff, in seine Höhle zu Schekka zurückzukehren. Als ihm aber die Nachricht von der Nähe des Feindes kam, sammelte er rasch seine Streitkräfte, über zehntausend Mann, und warf sich auf Dem Idris. So sicher war er seiner Sache,[S. 161] daß er schon die Stricke in Bereitschaft hielt, um Gessi und seine Handvoll Leute zu binden. Viermal kam es zum Angriff, und viermal wurde er zurückgeschlagen, das erstemal am 27. Dezember, wobei er tausend Tote und fünf Standarten zurückließ. Aus Mangel an Munition konnte Gessi den zurückgeworfenen Feind nicht verfolgen. Dieser machte vierzehn Tage später einen neuen Angriff und wurde abermals zurückgeschlagen. Soliman und seine Häuptlinge hatten sich vorher im Kriegsrat mit einem Eidschwur auf den Koran zu Sieg oder Tod verbündet. Durch Überläufer wußte Gessi davon und verband sich seinerseits mit seinen Leuten, ihr Leben so teuer als möglich zu verkaufen. So wenig Kriegsbedarf hatte Gessi, daß er nach dem ersten Angriff die Kugeln des Feindes sammeln und wieder gießen lassen mußte. Er sah aber, daß den schwarzen Soldaten der Sklavenhändler der Mut gebrach, daß die Araber mit gezückten Schwertern hinter ihnen standen und den Zagenden den Garaus machten. Am folgenden Morgen kam es zum dritten Angriff und sieben Stunden lang wütete der Kampf. Endlich wichen die Horden Solimans. Dieser war in verzweifelter Wut von seinem Pferd gesprungen und weigerte sich zu fliehen; wenn der Tod ihn nicht finde, wolle er ihn suchen, schrie er, aber seine Leute schleppten ihn mit Gewalt davon. Abermals nach vierzehn Tagen, in der Nacht des 28. Januar 1879, stürmte der Feind heran. Eine von Solimans Bomben setzte ein Strohdach in Brand, und das Lager stand in Flammen. Gessi war dadurch gezwungen, den Kampf im offenen Feld zu wagen, aber nach drei Stunden hatte er die Sklavenhändler in die Flucht geschlagen.
Im März erhielt er Zufuhr von Pulver und Blei und konnte es wagen, den Feind in seiner Verschanzung anzugreifen. Solimans Lager bestand aus einem Verhau von Baumstämmen, im Zentrum war eine feste Verschanzung, die sechs- bis achttausend Mann deckte, und darum her standen statt der Zelte Reisighütten. Eine Rakete der Angreifenden fiel ins Lager, und im Augenblick brannte alles lichterloh. Die Rebellen suchten mit verzweifelten Anstrengungen des Feuers Herr zu werden, aber bald stand auch die äußere Einpfählung in Flammen, und den[S. 162] Banditen blieb keine Wahl als einen Ausfall zu machen. Sie wurden auf ihr brennendes Lager zurückgeworfen und retteten sich zuletzt in wilder Flucht. Ihr Verlust war ein beträchtlicher. Die Nacht senkte sich auf Gessis müde Schar, die seit dreizehn Stunden der Nahrung ermangelte. Am andern Morgen bemächtigten sie sich des halbverbrannten Lagers; verkohlte Leichen bedeckten die Stätte und weithin lagen die auf der Flucht Umgekommenen. Mangel an Schießbedarf verhinderte Gessi abermals, seinen Sieg auszubeuten. Der Statthalter von Schekka, als der nächste, der Zufuhr hätte verschaffen können, ließ ihn im Stich, und als die Pocken in Dem Idris ausbrachen, war seine Lage in der That eine traurige.
Während der tapfere Italiener den Sohn Sebehrs auf diese Weise im Schach hielt, war Gordon, wie wir gesehen haben, an der Arbeit in Khartum. Der Anfang 1879 brachte ihm nicht weniger als drei Einladungen nach Kairo; er umging sie mit der Antwort, daß der Zeitpunkt ein kritischer und eine Folgeleistung für ihn mit der Niederlegung seines Amtes gleichbedeutend sei. Während er täglich seine wirkliche Rückberufung erwartete, erhielt er die Nachricht vom Fall seines Gegners, des Nubar Pascha selbst. Gordon hatte dem Gessi deshalb keine Verstärkung schicken können, weil Nubar ihm das Militär verweigert hatte. Es war bei dieser Gelegenheit, daß dieser ihm statt eines dringend nötigen Regiments Soldaten den Sebehr anbot! Gordons Sorge um Gessi nahm täglich zu, und wiederholt telegraphierte er dem Khedive um Genehmigung eines Zuges seinerseits nach Kordofan und Darfur. Mitte März machte er sich dann nach Schekka auf den Weg.
Den Zweck seines die Unterstützung Gessis bezweckenden Unternehmens beschreibt Gordon folgendermaßen:
»Erstens galt es, die Anhänger des Sohnes Sebehrs in Kordofan zu verhindern, den Sklavenhändlern Hilfe zuzuführen; zweitens, dem Feind den Rückzug abzuschneiden und Sebehrs Horden zu verhindern, in Darfur einzufallen und sich daselbst mit dem angeblichen Sultan zu vereinigen, der im Hügelland noch sein aufrührerisches Wesen trieb; und drittens, Gessi moralischen Beistand zu gewähren sowie ihm den nötigen Kriegsbedarf zukommen zu lassen.«
[S. 163]
In größter Eile drang Gordon vorwärts nach Schekka. Durch Gluthitze bei Tag und empfindliche Kälte bei Nacht, über sandige Strecken und verdorrtes Gras trug sein Kamel ihn durch die wasserlose Wüste. Der Weg ging über Obeid, wo die Leute »sauer sahen, weil er Handel und Gewerbe durch Unterdrückung der Sklavenjagd beeinträchtigte.« Da und dort faßte er unterwegs Sklavenkarawanen ab, konnte die Händler aber nur durchpeitschen und ihnen die verbotene Ware abnehmen.
Persönlich hatte er »keinen sehnlicheren Wunsch, als sie zu erschießen,« — es war lediglich das Gesetz,[11] das ihn daran verhinderte.
Auf einem nächtlichen Ritt in jener Zeit aber sah er einen Ausweg, den Greuel besser als bisher zu unterdrücken.
»Von gestern abend halb sieben bis halb vier diesen Morgen habe ich auf meinem Kamel gesessen. Und auf diesem langen Ritt zeigte sich mir eine Möglichkeit den Sklavenhandel zu vernichten, dadurch nämlich: 1) wer im Lande Darfur wohnt, muß eine Aufenthaltskarte haben; 2) niemand darf das Land betreten oder es verlassen ohne Paß für sich und sein Gefolge. Auf diese Weise kann niemand im Land verweilen, ohne seine Erwerbsquelle nachzuweisen, und niemand kann ohne Kenntnisnahme der Regierung darin umherreisen. Ein Zuwiderhandeln dieser Verordnung wird mit Gefängnis oder durch Beschlagnahme des Besitzes der Schuldigen bestraft.«
Er berichtete dies der Schwester als einen guten Nachtgedanken, den er aber nicht seinem eigenen klugen Kopf zuschrieb, denn es steht in Klammern daneben: »So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, der bitte von Gott, der da giebt einfältiglich[S. 164] jedermann, und rückt es niemand auf.« Allerdings sieht er nur zu bald ein, daß sein Nachtgedanke zwar theoretisch gut, aber praktisch unausführbar ist; denn wer sollte der Paßanwendung Nachdruck verleihen? Am 8. April erreichte er Schekka, »diese Sündenhöhle.« »Das Entsetzen der Sklavenhändler« — es waren ihrer mehrere hundert beisammen — »war groß«.
Am Tage vorher hatte ihn die Nachricht von Gessis Erfolgen erreicht, dem um diese Zeit auch die ersehnte Verstärkung geworden war. Während Gordon in Schekka dem Greuel den Boden sozusagen unter den Füßen wegzog, errang Gessi in der Bahr el Ghasal neue Siege. Die armen Schwarzen wußten sich nicht zu fassen vor Glück! Ein Dorf ums andere wurde ihnen zurückerobert, und ihre grausamen Unterdrücker fanden die verdiente Strafe. Mehr als zehntausend jener Unglücklichen schenkte er ihre Heimat wieder. Einmal brachten seine Späher ihm acht Sklavenjäger ins Lager und mit ihnen achtundzwanzig zusammengekoppelte Kinder. Er ließ die Schurken sofort erschießen. Ein paar Tage später hängte er eine ganze Reihe derselben im Wald auf. Kein Tag verging, daß nicht ein Negerhäuptling kam und sich ihm mit Dankesthränen zu Füßen warf; jetzt endlich konnten sie's glauben, daß es eine Regierung gebe, der es obliege, sie zu schützen.
Am 1. Mai verließ er Dem Idris und suchte den Sohn Sebehrs in seinem eigenen Nest auf, das seinen Namen trug — Dem (d. h. Stadt) Soliman. Der Überfall war in Plan und Ausführung ein so glänzender, daß der junge Bandit ums Haar in seine Hände gefallen wäre. Die Stadt wurde erobert, und die reichen Vorräte kamen Gessis Truppen sehr zu statten. Der Sohn Sebehrs aber war zu einem andern Sklavenjäger, einem der mächtigsten Rebellen, Namens Rabi, entkommen. Mit sechshundert Mann machte sich Gessi auf den Weg, ihn zu verfolgen. Durch das verwüstete Land, das nach Rache gegen den Feind schrie, drängte der Rächer. Der Hunger folgte ihm auf den Fersen, zog vor ihm her, er achtete es nicht. Er erreichte ein Dorf, das noch die Spuren der vor kurzem verschwundenen Einwohner trug; es war spät am Abend, er fand Obdach vor dem[S. 165] strömenden Regen, aber nicht eine Handvoll Durra. Da ging seinen Leuten der Mut aus. Mit Tagesanbruch rief er sie zusammen und sagte ihnen, daß er keine Nahrung für sie habe, daß aber der Feind nicht weit sei, und was sie ihm abjagen könnten, gehöre ihnen. Da feuerte der Hunger die Mannschaft an und weiter ging's im Sturmschritt. Sie kamen an Gräbern vorüber und scheuchten Raubvögel von ihrem Fraß auf, fanden unbeerdigte Leichen und frische Fußstapfen, dann Häuser und ein ausgestorbenes Dorf. Da stürzte ihnen ein weißes Weib mit aufgelöstem Haar und fast ohne Kleidung entgegen, sie trug ein Kind an der Brust, und ihr abgehärmtes Gesicht sprach von Schrecken und Jammer. Mit strömenden Thränen sank sie dem Anführer zu Füßen. Ihr Mann, ein ägyptischer Offizier, war bei dem Überfall von Dem Idris niedergemetzelt und sie als Beute entführt worden. Von ihr erfuhr Gessi auch, daß der Feind nicht weit war.
In den Häusern gab's wenigstens genug Durra, die ausgehungerten Soldaten zu sättigen. In der folgenden Nacht lagerten sie in einem dichten Wald; Kundschafter wurden ausgeschickt. Die brachten nach zwei Stunden Nachricht von weithin leuchtenden Wachtfeuern. Gessi hielt dafür, daß er auf eine Sklavenkarawane gestoßen sei, denn die Hauptbande vermutete er in einem noch entfernteren Dorfe. Er teilte seine Mannschaft in der Absicht, die Karawane zu umgehen und sich zuerst der Rebellen zu versichern; aber die eine Abteilung verfehlte ihren Weg und kam mit Sklavenhändlern ins Gemenge. Schüsse fielen, und in wenig Augenblicken war die Bande auseinandergesprengt. Einige Händler fielen ihnen in die Hände, und diesen wurden nun dieselben Ketten angelegt, unter denen eben noch ihre Opfer geseufzt hatten. Ihr Anführer war Abu Snep, einer der berüchtigtsten Sklavenhändler in der ganzen Bahr el Ghasal. Aber der Rebellenhaufe hatte die Schüsse vernommen, und plötzlich — es war noch dunkle Nacht — erleuchtete eine Feuersbrunst den Himmel; die flüchtigen Banditen hatten das Dorf angezündet, und als Gessi es in der Morgenfrühe erreichte, fand er einen rauchenden Trümmerhaufen. Nirgends eine Menschenseele, nur ein kleines Sklavenbübchen, das[S. 166] sich in der Verwirrung versteckt hatte. Das Kind berichtete, daß Soliman selbst keine vierundzwanzig Stunden vorher im Dorf gelagert hatte.
In der folgenden Nacht stellten sich sieben Männer in Gessis absichtlich nicht erleuchtetem Verhau ein, seine Truppen für die Bande Rabis haltend, die sie in der Nähe wußten; sie sagten, sie seien vom Sultan Idris entsandt, der alsbald hinterdrein käme und Rabi möchte ihn zum Anschluß erwarten. Gessi schickte durch einen der sieben die Antwort, daß er den Sultan da und da zu sehen hoffe. Die anderen sechs wurden zu Gast gebeten und sahen sich in kurzem als Gefangene.
Gessis Plan war alsbald entworfen; er beabsichtigte sich Rabis zu versichern und dann den nachkommenden Sultan Idris zu empfangen. In größter Eile ging's vorwärts. Mit Tagesanbruch überfiel er jenen in seinem Lager, vernichtete seine Horde, bemächtigte sich aller seiner Vorräte und seiner Flagge, und nur der Häuptling selber entkam durch die Schnelligkeit seines Pferdes. Dann, in der Richtung zurückfallend, wo er seinen »Verbündeten« wußte, ließ er sein Zelt aufschlagen und Rabis Standarte daneben pflanzen. Seine Leute legte er im Umkreis in Hinterhalt; darnach schickte er ein halb Dutzend Schwarzer aus, die wie von ungefähr dem Sultan in die Hände gerieten. Wem sie gehörten? war die Frage. Dem Rabi, lautete die Antwort, und sie wären auf der Jagd. Da sandte Idris sie zurück, um seine Ankunft binnen einer Stunde zu melden. Ein plötzlicher Sturmwind und Regenguß trieb ihn und seine Leute vorwärts, und Schutz suchend, lief die Bande im Durcheinander in die Falle. Da krachte ein Signalschuß und Musketenfeuer knatterte um sie her. So groß war ihre Verwirrung, daß nicht einer die Gegenwehr versuchte. Idris und etliche seiner Araber waren die einzigen, die entkamen, und das nur, weil sie sich im Wetter unter einen Baum geflüchtet hatten und dadurch etwas zurückgeblieben waren. Reiche Beute fiel in Gessis Hand. Er kehrte nach Dem Soliman zurück, das er vor neun Tagen verlassen hatte, seine Rückkehr glich einem Triumphzug. Die Sklavenhändler in der Umgegend schienen in alle Winde zerstreut. Das Volk hatte sich erhoben und die[S. 167] Flüchtigen mit Pfeil und Speer verfolgt. Die gefangenen Anführer brachte Gessi in Ketten mit sich, während die besiegte Mannschaft Lasten von erbeutetem Elfenbein hinter ihm herschleppte. In Dem Soliman fanden die Rächer eine wohlverdiente Ruhe.
Indessen hatte Gordon in Schekka mit den fast unbezwingbaren Schwierigkeiten seiner Verwaltung ritterlich weiter gekämpft. Auch um diese Zeit schrieb man ihm wieder von Kairo und begehrte zweihundertundvierzigtausend Mark aus dem Sudan. Er meldete zurück: »Wenn die zerlumpten Truppen hier Kleidung und Löhnung haben, dann kann man wieder davon reden.«
In Darfur fand er die alte Mißwirtschaft: »Ich verzweifle am ägyptischen Regiment!«[12] Immer wieder ist's ihm sonnenklar, daß das Hauptelend des Landes von der Gewinnsucht der Beamten ausgeht.
»Ich habe dem Khedive telegraphiert, den Sohn des Sultans Ibrahim herzuschicken (der in Kairo festgehalten wurde) und mit ihm die rechtmäßige Sultansfamilie hier wieder einzusetzen, denn mit diesem Diebspersonal von Beamten ist eine gerechte Regierung unmöglich.... Mich kennen die Leute von Darfur und haben Vertrauen zu mir ... ich werde dann dem Harun, der noch immer seine Ansprüche behauptet, schreiben, daß es ihn nichts nützt, länger gegen Ägypten und den rechtmäßigen Sultan aufkommen zu wollen, daß ich ihn angreifen könnte, daß das aber nur neues Elend übers Land bringen würde und ich ihn deshalb auffordere, mir zu helfen, Land und Leute für den jungen Sultan zu gewinnen.«
Es war immer wieder Gordons Politik, mit Großmut den Feind zu gewinnen, dem geschlagenen Feinde voran zum nächsten Siege zu eilen und den noch gegen ihn ankämpfenden aufzufordern, ihm zu helfen, zu thun, was recht ist! Oft ist ihm diese wunderbare Taktik gelungen, manchmal auch nicht. Harun wollte nichts davon wissen. Wir werden später sehen,[S. 168] wie gerade an dieser hochherzigen Gewohnheit Gordons, Feinde zu seinen Mitarbeitern zu machen, die ihm entgegentretende Politik ihre Handhabe fand, ihn dem Verderben zu überlassen. Seine Großmut war oft zu gut für die Welt und darum ihr unverständlich; Krämerseelen nannten ihn einen Enthusiasten. Ja, es war der göttliche Enthusiasmus, der den Sünder für seine Sünde züchtigt, ihn selbst aber wieder aufrichtet, der den Saulus zu Boden schlägt und im Paulus sein Rüstzeug gewinnt.
Und wieder der Sklavenhandel:
»Gott ist mein Zeuge, wenn ich diesen Greuel vernichten könnte, ich ließe mich heute nacht noch erschießen; dies beweist wenigstens mein heißes Verlangen, aber ich mag kämpfen wie ich will, ich sehe wenig Hoffnung, dieses Übel zu bewältigen.«
In Stunden des Kleinmuts war ihm in dieser Zeit der erste Gedanke gekommen, sein Amt als Generalgouverneur niederzulegen, weil er fühlte, daß er das Land nicht so regieren konnte, wie es seinem eigenen Herzen genügte. Daran knüpfte sich für ihn die Frage: soll er, wenn er die glänzendere Würde niederlegt, sich nach Darfur zurückziehen und sein Leben dort opfern? Durch dauernde Anwesenheit in jenem Land, in dem das ganze Greuelwesen wurzelt, könnte er vielleicht das ersehnte Ziel erreichen. Manch einer (besonders wenn die Frage ihm nicht selbst gilt) möchte hier sagen, das ist ja ein schöner Beruf, für den man gern sterben könnte! Es ist auch nicht der Tod, den Gordon fürchtet, sondern die »lange Kreuzigung in diesem fürchterlichen Land.« Seine Körperkräfte sind geschwächt und der physische Mut gebricht ihm, solch ein Kreuz auf sich zu nehmen.
»In den Tod gehen, ja, aber ach! es wäre ein langes, langes Hinsterben, und ich vermag es nicht!«
Mittlerweile ist er rüstig wie immer, wenigstens das Beste zu thun, was in seiner Kraft steht.
»Diesen Abend wurden sieben eingefangene Händler mit dreiundzwanzig Sklaven vor mich gebracht; das Elend dieser letzteren war unsäglich — es waren Kinder von kaum drei Jahren darunter, die durch diese Wüste hergetrieben worden sind, vor der es mir auf meinem Kamel bangt ... Ich höre, daß andere auf dem Weg sind,[S. 169] und manche von den armen Weibern haben nicht einen Fetzen, um sich zu decken. Wir haben in diesen neun Monaten wenigstens zweitausend abgefangen, und das ist wohl nicht der fünfte Teil der Karawanen, die hier durch sind. Und wie viele sind unterwegs umgekommen? ... Ich habe mit einigen Häuptlingen gesprochen, es ist trostlos zu hören, daß mehr als ein Drittel der Bewohner dieses Landes in die Sklaverei geschleppt worden ist ... Ich höre, daß Kalaka in großer Aufregung ist, seit mein Kommen in Aussicht steht. Ein Sklavenhändler dort soll einen Mann erschossen haben; ich werde ihn dafür erschießen lassen, wenn ich hinkomme. Ich werde wohl eine beträchtliche Anzahl dort wegfangen. Sie wissen sich nicht zu helfen, kein Schlupfwinkel ist mehr übrig, denn die Beduinen helfen mit.«
Diese notgedrungenen Freunde fingen eine Menge Händler weg, und die Sklaven liefen umher wie herrenlose Schafe, wurden auch immer wieder von Händlern aufgeschnappt, die sie gern als ihr Eigentum betrachteten. Die aufgegriffenen Sklavenhändler züchtigte Gordon stets nach dem — zwar ungenügenden — Gesetz; er ließ sie durchpeitschen und setzte sie, wo er konnte, hinter Schloß und Riegel.
Ehe er Schekka verließ, um nach Kalaka weiter zu ziehen, hörte er noch von Gessis namhaften Erfolgen. Die Straße nach Kalaka trug überall Spuren, daß die Händler des Weges gezogen waren. An manchen Orten bleichten Schädel und Menschenskelette zu Hunderten; hier und dort lagen die Schädel aufgehäuft, ein grauenhaftes Denkmal des entsetzlichen Handels. Wie viele Tausende von armen Schwarzen mochten da vorbeigetrieben worden sein! Man fragt sich, wohin sie nur alle geschleppt werden? Ein Teil wird als Dienstsklaven verwendet, besonders in den Küstenländern des Roten Meeres; die ganze mohammedanische Welt aber ist, teils offenkundig, teils heimlich, eine Empfangsstätte für Sklaven, meist Weiber und Kinder. Das Haremswesen verschlingt alljährlich eine große Anzahl. Im Blick auf dieses Endziel des schändlichen Handels möchte man fast sagen: es ist ein Glück, daß die meisten unterwegs erliegen! In Kalaka hob er ein ganzes Nest von Händlern aus und wenigstens tausend Sklaven, welch letztere er den eingebornen Stämmen überlassen mußte. Und[S. 170] weiter ging's durch die Wüste nach Darra, nach Fascher und Kobeh an der obersten Grenze des Landes. Was für Reisen! Er sagte einmal in jener Zeit: nur kraft seines Kamels sei er einigermaßen Herr im Land. Auf dem Weg nach Kolkol an der äußersten Nordwestgrenze wurde er mit seiner Schar von etwa hundertundfünfzig Banditen überfallen und mehrere Stunden lang ging es ihm mit seinen Leuten »hinderlich«, wie er sagte; aber schließlich zogen die Räuber, die »seine Kamele und seine Sachen« wollten, den kürzeren. In Kolkol angekommen, hatte er die Länge und Breite der ägyptischen Herrschaft durchreist. Er faßt seine Eindrücke in die Worte zusammen: »Das Elend dieser verkommenen Länder ist unsäglich — die Regierung selbst hat sie in eine Wüstenei verwandelt.« Kolkol nannte er ein Gefängnis; es hatte seit zwei Jahren niemand den Weg dahin gefunden. Die Garnison war in entsetzlichem Zustand. Aus diesem verlassenen Nest sandte er eine ganze Bande hilfloser Besatzung nach Khartum, vierhundert Araber mit Weibern und Kindern. Von dieser äußersten Grenze des Elends trat er den Rückweg nach Khartum an, zunächst über Fascher, Omschanga und Tuescha. Während seiner kurzen Abwesenheit hatten sich die Banditen wieder in Schekka gesammelt und von dort sich ins Innere des Landes geschlagen. Obschon er auf diesem Zuge mehrere tausend Sklaven weggefangen und viele Händler bestraft hatte, so stand der greuliche Betrieb doch alsbald wieder in Blüte.
»Es ist anzunehmen, daß in diesen zwei Jahren allwöchentlich etwa 600 Sklaven hier durch sind! Während meiner Amtszeit! Habe ich da Ursache stolz zu sein?«
Bei dem vorhandenen Wassermangel war das Elend der Ärmsten oft über alle Beschreibung; und meist konnte er mit den Befreiten nichts anfangen, als sie den Eingebornen überlassen. So ging's auch mit ein paar hundert Sklaven, die er in und um Tuescha aufgegriffen hatte. Er ließ sie vor sich kommen und sagte ihnen, daß er keine Möglichkeit hätte, sie in ihre Heimat zurückzuschaffen, daß sie aber jetzt frei wären. Sie waren alle damit einverstanden, sich den Leuten dort anzuschließen. Drei schwarze Weiber wurden vor ihn gebracht, um über die Händler[S. 171] ausgefragt zu werden, und als Beweis, daß selbst im größten Elend die Eitelkeit oft oben auf ist, erzählt er, daß eine derselben sorgfältig eine Ecke des schmutzigen Fetzens aufknöpfte, den sie als Kleidungsstück um sich gewickelt hatte, und etliche Glasperlen daraus zum Vorschein brachte; die hing sie sich um den Hals und guckte dann um so zufriedener in die Welt. Aber von anderen, besonders von einem kaum vierjährigen Bübchen sagt er, daß das Lachen ein Ding sei, das ihn nie ankäme, die Bitterkeit seines jungen Lebens sei zu groß!
In Tuescha sah er Gessi wieder, der ihm um Jahre gealtert schien; vielleicht konnte Gessi dasselbe von ihm sagen. Wie wir gesehen haben, hatte Gessi dem Räubervolk in der Bahr el Ghasal tüchtige Schläge versetzt und nebenbei reiche Ladungen an Elfenbein erobert. Nur Soliman selbst war ihm bis jetzt noch immer entkommen; doch waren seine Tage gezählt! Gordon belohnte den heldenmütigen Italiener, indem er ihn zum Pascha der Osmanlie zweiter Klasse ernannte und ihm vierzigtausend Mark dazu schenkte. Während er selbst nach Khartum zurückkehrte, wandte sich der neue Pascha wieder seinem Kampfgebiet zu. Schon nach wenigen Tagen brachte ein Überläufer ihm die Nachricht, daß Soliman im Schild führe, sich mit Harun zu vereinigen. Alsbald machte er sich auf, dies zu verhindern. Der Sohn Sebehrs versuchte sein Heil in der Flucht in der Richtung von Gebel Marah, einem schwierigen und wenig bekannten Hügelland. Neunhundert seines Gesindels waren mit ihm: Rabi mit siebenhundert entrann auf andern Wegen. Gessi, der seine Streitkräfte noch nicht zusammengezogen hatte, konnte mit nur zweihundertundneunzig Mann zur Verfolgung sich aufmachen; aber diese waren wohlbewaffnet und durch die unlängst errungenen Siege innerlich gehoben. Durch einen mit bewundernswerter Kühnheit ausgeführten Eilmarsch überraschte er Soliman und die Seinen in einem Dorf Namens Gara zu früher Morgenstunde im Schlaf. Drei Tage und drei Nächte hatte der unaufhaltsame Pascha sich und seiner Schar kaum Ruhe gegönnt und dem Feind auf Querpfaden den Weg abgeschnitten. Wie manches friedliche Dorf hatte die ruchlose Horde Solimans auf ähnliche Weise zur Nachtzeit überfallen![S. 172] Wie manche Wohnstätte hatten sie mit Feuer verwüstet und die nichts ahnenden Bewohner mit sich geschleppt! Das Blut war in Strömen geflossen, und viele Tausende von Menschen waren durch sie dem Elend der Sklaverei verfallen. Jetzt war die Stunde der Rache gekommen.
Mit seiner geringen Streitmacht wagte Gessi es nicht, das Dorf zu umstellen. Er wagte es nicht einmal, sie dem Feind zu zeigen, sondern hielt sie im Wald zurück, um jenen über die Anzahl zu täuschen. Dem Soliman gab er zehn Minuten Bedenkzeit, die Waffen zu strecken; ergebe er sich in der kurzen Frist nicht, so habe er keine Gnade zu erwarten. Die schlaftrunkene Bande glaubte sich von Gessis ganzer Streitkraft umringt und ergab sich im Schrecken der Überraschung. Einige der Sklavenhändler hatten sich beim ersten Alarm in den Wald geflüchtet, die meisten aber, unter ihnen Soliman selbst, gehorchten dem Befehl und legten ihre Waffen nieder. Als der Sohn Sebehrs entdeckte, mit wie wenig Leuten Gessi ihn überwältigt hatte, erfaßte ihn ein wilder Ingrimm. »War das eure ganze Anzahl?« schrie er. »Sie genügte!« entgegnete ihm Gessi kaltblütig. Da brach jener in Zornesthränen aus — »wäre mein Vater hier gewesen, wir wären nie erlegen! Es sind ihrer nur dreihundert, und ihr (seine Häuptlinge) meintet, es wären dreitausend!«
Den Tag über ließ Gessi sie im Dorf bewachen und sie verhielten sich ruhig; als es aber dunkel wurde, schien Leben über sie zu kommen, und er vermutete, daß Botschaft zwischen ihnen und ihren entlaufenen Gefährten hin- und hergehe. Sie planten ein Entkommen in der Nacht, in der Hoffnung, ihren Verbündeten Abdulgassin zu erreichen, der mit seiner Bande nicht allzuweit entfernt war. Gessi entdeckte die Pferde seiner Gefangenen, die gesattelt bereit standen. »Nun,« schrieb er, »sah ich, daß die Zeit gekommen war, diese Schurken ein für allemal unschädlich zu machen.« Er traf eine Auswahl. Ihren bewaffneten Sklaven war er erbötig Leben und Freiheit zu schenken, wenn sie zu ihren Stämmen zurückkehren wollten. Dazu waren sie mehr als bereit und er ließ sie unter dem Geleite seiner Mannschaft ziehen. Die kleineren Sklavenhändler, etwa hundertfünfzig an der Zahl, machte[S. 173] er zu Gefangenen. Die Haupträdelsführer aber, d. h. Soliman und zehn andere, wurden erschossen. Dazu hatte er Gordons Vollmacht. Zwei Jahre vorher in der »Höhle Adullam« hatte dieser sie gewarnt, daß sie die Sklavenjagd mit ihrem Leben würden büßen müssen, sofern sie nicht davon abließen. Sie hatten die Warnung in den Wind geschlagen, und nun war das Maß ihrer Bosheit voll. Keiner zeigte Reue. Dem Sohn Sebehrs schien der Mut zu entfallen, denn er sank vor dem Schuß zu Boden; ein anderer vergoß Thränen; die übrigen aber gingen ohne Spur von Rührung in den Tod. Auf diese Nachricht versprengte der Schrecken Abdulgassins Horde und auch Rabi mit den Seinen floh.
Damit war der Sklavenhandel für den Augenblick aufs Haupt geschlagen, und da die Eingebornen sich nun auch allerwärts gegen ihre Bedrücker erhoben, so fanden die flüchtigen Händler nirgends einen Schlupfwinkel. Abdulgassin, die Hyäne dieses Landes, der ganze Dörfer entvölkert hatte, wurde später eingefangen und erschossen. Rabi entkam — wohin wußte niemand. Nun war Friede und eine Zeit der Ruhe kam über die gequälten Neger, die sich in ihren Heimstätten wieder ansiedeln konnten; sie wußten ihrer Freude kein Ende, schrieb Gessi.
So wurde die Macht Sebehrs in seinem Sohne gebrochen, aber noch war er selber unbestraft. Der schwarze Pascha war ein König gewesen, der mächtigste aller Sklavenhändler in der Welt. Weithin, bis ins Innere von Afrika hinein, hatte er seine festen Plätze und Raubhöhlen; ganze Länder hatte er verwüstet, wo vorher die schwarzen Stämme in verhältnismäßigem Wohlstand ihr Naturleben führten. Mit fürstlichem Glanz hatte der greuliche Menschenräuber im Lande geherrscht; aus einem Strom von Thränen und Blut war sein Reichtum gewonnen worden, und nun war der Strom versiegt. Ihm selbst schien der verdiente Lohn zu werden; denn unter dem Nachlaß seines Sohnes fanden sich Briefe von seiner Hand, die ihn als den Anstifter des ganzen Aufstandes verrieten. Er wurde in Kairo vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. »Es wird ihm nichts geschehen,« sagte Gordon, als er's vernahm; und so war es! Er blieb nicht nur[S. 174] am Leben, sondern wurde sogar eines Gnadengehaltes für würdig erachtet. Warum? muß ein Rätsel bleiben. Der abgesetzte König der Sklavenhändler wurde nach wie vor in Kairo festgehalten und hat seine zweitausend Mark monatlich aus der vizeköniglichen Kasse bezogen! Die verkehrte Schwäche, die ihm das Leben schenkte, hat viel dazu beigetragen, daß Gordons und Gessis glänzende Erfolge den greulichen Menschenhandel im Sudan zwar zu unterdrücken, aber nicht auszurotten vermochten. Sebehr war und blieb eine Macht der Finsternis, und die Schlußszene von Gordons Lebensdrama, die tieftragische, ist zweifelsohne mit sein Werk.
Auf dem Rückweg nach Khartum erfuhr Gordon in Fodja, daß Gessi den Soliman und seine Genossen überwältigt und erschossen hatte. Er selbst hatte dem Sklavenhandel in Darfur mehr wie einen empfindlichen Schlag versetzt. Zwar war er zu der Überzeugung gekommen, daß eine völlige Vernichtung des Unwesens ein Ding der Unmöglichkeit war, insolange nämlich als die ägyptische Regierung nicht von Grund aus eine andere würde; aber für den Augenblick lag der Greuel am Boden und das gequälte Land atmete auf. In Fodja erreichte ihn auch die zweite Nachricht, daß die seit Monaten drohende Umwälzung in Kairo stattgefunden und daß Ismail zu Gunsten seines Sohnes Thewfik abgedankt hatte. Es lag ihm ob, den Regierungsantritt des neuen Khedive in den Sudanländern zu verkündigen.
»Es ließ mich kühl,« sagte Gordon, »ich telegraphierte an die verschiedenen Unterstatthalter und quittierte dem Cherif Pascha den Empfang der Anzeige — damit begnügte ich mich.«
Ismails Glückswechsel ließ ihn übrigens nicht kalt, er nahm aufrichtigen Anteil an seiner Demütigung, obschon er seine Politik öfters beklagt, ja getadelt hatte. Die Veränderungen in Kairo, welche mit dem neuen Khedive die dem Sklavenhandel freundlichen Pascha wieder ans Ruder brachten, bestärkten ihn aber ohne Zweifel in seinem bereits gefaßten Vorsatz, sein Amt niederzulegen. Er hatte das übernommene Werk vollbracht, so weit es ihm möglich schien;[S. 175] die Würde an sich hatte keinen Reiz für ihn. Mit diesen Gedanken kehrte er nach Khartum zurück.
Um diese Zeit erhielt er einen Brief von seinem alten Freunde, dem Gouverneur Li in China, folgenden Inhalts:
»Sehr freute es mich von Ihnen zu hören. Es sind vierzehn Jahre, seit wir uns trennten, und wenn ich Ihnen auch bisher nicht geschrieben habe, so spreche ich doch oft von Ihnen und gedenke Ihrer mit großer Teilnahme. Die Wohlthaten, die Sie China erwiesen haben, verschwanden nicht mit Ihrer Person, sondern sind jetzt noch in den Gegenden fühlbar, in denen Sie eine so wichtige und thatkräftige Rolle spielten. Das Volk segnet Sie um des Friedens und des Gedeihens willen, dessen es sich seither erfreute. Ihre Erfolge in Ägypten sind durch die Welt erschollen; ich lese oft in den Zeitungen von Ihrem edlen Werk am obern Nil. Sie sind ein Mann, der sich stets zu helfen weiß, in was für Lagen Sie sich auch befinden. Ich hoffe, daß Ihnen ein langes Leben geschenkt werde, denn Sie verbreiten Segen um sich her, wohin auch immer Ihr Beruf Sie führt. Ich lasse es mir ernstlich angelegen sein, mein Volk auf eine höhere Stufe zu bringen und dieses Land mit andern Ländern innerhalb der »vier Meere« in einem Bruderbündnis zu vereinigen. Ich beantworte Ihre Fragen: — Kwoh Sung Ling hat sich vom öffentlichen Leben zurückgezogen und erfreut sich der Ruhe. Jang Ta Jen ist schon lang gestorben. Dem Sohn des Na Wang geht es gut, er ist Regimentsoberst mit fünfhundert Leuten unter ihm. Die Pataschau-Brücke, die Sie teilweise zerstörten, ist bald nach Ihrer Abreise wieder aufgebaut worden und ist in recht gutem Zustand. — Kwoh Ta Jen, der chinesische Minister, schrieb mir, daß er die Freude hatte, Sie in London zu sehen. Ich wollte, ich wäre auch dabei gewesen; aber die Pflichten dieses Lebens führen die verschiedenen Menschen in verschiedene Teile der Welt und es ist eine weise Einrichtung der Vorsehung, daß wir nicht alle am selben Orte sind. Ihnen Glück und Segen wünschend meinen Gruß.«
An diesem Brief des alten Chinesen kann man nur seine Freude haben; steht es doch nicht bloß zwischen den Zeilen zu lesen, daß Gordons Werk dort ein bleibendes war.
[S. 176]
Gordon verließ Khartum Ende Juli und erreichte Kairo am 23. August. Acht Tage später begab er sich als außerordentlicher Gesandter zum König von Abessinien. Thewfik setzte offenbar Vertrauen in ihn, obschon er halb und halb gefürchtet hatte, daß Gordon beabsichtige, sich als Sultan im Sudan aufzuwerfen. »Das würde unser einem aber doch nicht passen,« meinte Gordon. Seine abessinische Reise bezog sich auf die alten Wirren. Mit ihm ging sein schwarzer Schreiber Berzati Bey, der in seinem Dienst stand seit er jenen anderen der Bestechlichkeit wegen entlassen hatte und dem er nachrühmte, daß er die unschätzbare Eigenschaft besessen habe, es ihn wissen zu lassen, wenn er anderer Meinung war als er. Dieser Berzati stammte aus einer alten muselmännischen, in Khartum ansässigen Familie. Als Schüler eines namhaften Gelehrten dieser Stadt erlangte er eine tüchtige Bildung. Die Geschichte des Landes kannte er von Grund aus und verstand sich auf verschiedene Geheimschriften. »Er war in diesen drei Jahren mein bester Freund,« sagt Gordon, »obwohl wir manchmal hintereinander gerieten. Ich verdanke ihm viel; denn ob er zwar ein guter Patriot und fester Muselman war, riet er mir doch stets ehrlich zum Besten des Volkes .... Er hat übrigens seine Last — vier Weiber; hat mancher doch an einer genug. Ein paar Männer wie Berzati Bey könnten Ägypten aufhelfen; aber solche sind selten. Spötter nennen ihn den ›schwarzen Gnomen.‹«
Die Abessinier hatten das Grenzland Bogos inne. Am 11. September 1879 machte sich Gordon von Massaua zu einer Zusammenkunft mit dem in Gura lagernden Alula auf den Weg. Unterwegs schrieb Gordon:
»Wir sind einer Karawane begegnet, die von Gura kommt ... Sie brachte die Bestätigung der Nachricht, daß Alula auf des Königs Befehl den Walad el Michael und alle seine Offiziere gefangen genommen habe, und daß Walads Sohn, Metfin, erschlagen sei. In Massaua traf mich die Kunde, daß Abdulgassin, der letzte der Anführer von Sebehrs Banditen, eingefangen und auf meinen Befehl erschossen worden sei. Er war jener Schurke, der einen Negerknaben umbrachte und in dessen Blut seine Flagge tauchte. (Bei der Einnahme von Dem Idris, um den Himmel günstig zu stimmen!) So[S. 177] giebt's immer mehr Lücken in meiner Fürbitte für die Feinde. Sebehrs Anführer und Walads Sohn, sie waren alle in mein Gebet eingeschlossen. Ich gestehe, ich bin dieses Leben müde, es wäre mir kein Kummer, wenn Walads Bande mir unterwegs auflauerte.«
Wie charakteristisch ist dieser Brief für den Schreiber! Als Soldat giebt er den Schurken ihren verdienten Lohn, er läßt sie erschießen; als Christ hat er es nie unterlassen, sie mit Namen in seiner Fürbitte vor Gott zu bringen!
Gordon litt auf dieser Reise viel von der Hitze. Er nennt sich einen Hiob voll Schwären. Aber wenn auch der Körper schwach ist, seine Aufgabe führt er durch und entwirft sich seine Pläne auf dem Ritt durch die Wüste.
»Ich bin entschlossen, entweder mit oder ohne des Königs Hilfe mit Walad und seinen Leuten fertig zu werden und dann mit Johannes selbst ins reine zu kommen.«
Unter Hilfe verstand er nicht Waffen, sondern ein Versprechen, daß Walads Truppen, wenn sie Bogos räumten, eine Zuflucht gewährt werde. Wo Barmherzigkeit am Platze war, unterließ er es gewiß nicht, darauf hinzuarbeiten! Er erreichte Gura halbtot von seinem Wüstenritt und vernahm, daß Alulas Lager auf einem steilen Berg sich befand, und weil sein Lasttier erschöpft war, so erstieg er die Höhe mühsam zu Fuß. Er fand den abessinischen Befehlshaber in einem niedern, langen Gezelt von Baumzweigen, an dessen oberem Ende Alula auf einem Diwan saß, wie eine Mumie in weiße Tücher gewickelt, die nur die Nase sichtbar ließen.
»Feierliche Stille herrschte; und alle Anwesenden waren gleich ihm vermummt, als ob meine Nähe sie vergiften könnte. Die Figur auf dem Diwan regte sich nicht, und war wirklich so eingewickelt, daß mich ein Verlangen ankam, dem Mann nach dem Puls zu fühlen. Der Mensch muß krank sein, dachte ich. Durchaus nicht — es war Freund Alula!«
Und Gordon sah, als Alula nach einiger Zeit die weiße Hülle etwas fallen ließ, daß er ein ganz kräftiger, sogar hübscher junger Mann von etwa dreißig Jahren war. Auch den andern schien nach und nach die Furcht vor Gift zu vergehen. Gordon fand die Audienz aber tödlich langweilig, denn Alula schien ihm durch[S. 178] Schweigen imponieren zu wollen. Nach langer Pause gestattete er ihm zu rauchen, was eine besondere Vergünstigung war, indem der König einen Befehl erlassen hatte, allen Rauchern die Nase abzuschneiden. Gordon lehnte es ab und betrachtete sich einstweilen die Priester, die den Hofstaat vervollständigten. Viel erreicht wurde bei dieser Gelegenheit darum nicht, weil Alula vorläufig nur den einen Zweck verfolgte, dem Gesandten mit wenig Höflichkeit zu begegnen. Ägypten hatte Abessinien schlecht behandelt, Gordon wußte sich daher über den unmanierlichen Empfang zu trösten.
»Bei der nächsten Audienz aber werde ich meinen sudanischen Thronsessel mitbringen, sowie einen geeigneten Sitz für den schwarzen Gnomen.«
Als Alula jedoch verlangte, daß der Gesandte am Fuße des Berges kampiere und täglich zu ihm hinaufklettere, schlug ihm Gordon dies rundweg ab; das wisse er im voraus, daß er in diesem Falle dann stets schlechter Laune zur Audienz kommen würde, was den Verhandlungen gewiß schädlich wäre. Alula gab dies zu und ließ ihm ein Zelt neben sich aufschlagen. Als ägyptischer Gesandter war Gordon in der Feldmarschallsuniform. Die Audienzen führten zu dem Beschluß, daß Gordon zum König Johannes selbst reisen sollte und daß Alula bis auf weiteres sich der Feindseligkeiten zu enthalten versprach.
Der König befand sich in Debra Tabor bei Gondar, zwölf Tagereisen von Gura entfernt. Aber geduldig wie immer, wenn's Arbeit gab, machte Gordon sich auf den Weg durch ein entsetzliches Land und über die steilsten Berge »über die Kruste des Erdballs hinschleichend.« Bei Adowa kam er an der Bergeinöde vorüber, in der Walad el Michael festgehalten wurde.
»Die Abessinier setzen ihre Staatsgefangenen nämlich auf unzugängliche Berge, die Amba genannt werden. Es giebt deren drei verschiedene Arten: erstens solche, die so steil sind, daß der Gefangene in einem Korb durch einen Flaschenzug hinaufgeschafft wird; zweitens, andere, die durch einen einzigen Fußweg zugänglich sind; und drittens solche, deren Höhe auf zwei oder drei Wegen erreicht werden kann. Auf diesen Amba befindet sich kultivierbares Feld[S. 179] und auch Wasser. Ein Gefangener kann da existieren und in Vergessenheit seine Sünden bereuen, bis eine neue Revolution ihn vielleicht auf den Thron setzt.«
Unterwegs vernahm Gordon, daß ein aufrührerischer Häuptling ihn zu überfallen gedenke, aber trotzdem gelangte er ungefährdet nach Debra Tabor. Der König selbst gab zu, daß er auf den denkbar schlechtesten Wegen zu ihm geführt worden war. Gordon schloß daraus, daß Alula den Gesandten auf diese liebenswürdige Weise von der Unwegsamkeit des Landes zu überzeugen hoffte, damit dieser Ägypten von etwaigen Kriegsgedanken zu heilen vermöchte.
Als er den abessinischen Hof erreichte, wurde er alsbald vorgelassen. Der König saß auf seinem Thron, neben ihm stand Ras Arya, sein Vater, der Itagé oder Hohepriester, und ein Stuhl war für den Gesandten hingestellt. Da ertönten Kanonenschüsse, »das ist Ihnen zu Ehren,« erklärte der König und bedeutete ihm alsbald, er sei entlassen. Ein paar erbärmliche, halbfertige Hütten waren das Gesandtschaftsquartier. Bei Tagesanbruch erscholl das Psalmensingen, das Gordon in Alulas Lager früher schon vernommen hatte.
Von dieser Audienz hat außerdem folgendes verlautet. Der König saß auf seinem Thronsessel, und der für den Gesandten bestimmte Stuhl stand auf niederer Stufe in ziemlicher Entfernung; Gordon hatte den Stuhl genommen und sich in die Nähe des Königs gesetzt, um ihm begreiflich zu machen, daß er als Ägyptens Vertreter von der abessinischen Majestät nicht allzu geringschätzig zu behandeln sei. Da fuhr der König ihn an: »Wissen Sie nicht, Gordon Pascha, daß ich Sie dafür auf der Stelle hinrichten lassen kann?« »Gewiß,« sagte Gordon, »ich bin auch bereit dazu, wenn es des Königs Wille ist.« »Was — bereit zu sterben?« rief Johannes entsetzt. »Ich bin immer bereit,« entgegnete der Pascha ruhig; »der König würde mir durch einen gewaltsamen Tod sogar einen Dienst erweisen, den meine Religion mir selbst nicht gestattet, indem ich dadurch von aller Not erlöst würde, welche die Zukunft mir noch bringen kann.« Da erblaßte Johannes vor Entsetzen. »Dann hat meine Gewalt keine Schrecken für Sie?!« stammelte[S. 180] er. »Durchaus keine,« war die kurze Antwort. Worauf der König: »Sie sind entlassen!«
Die Verhandlungen waren ganz unbefriedigender Natur und mitten darin erklärte Johannes, er müsse sie abbrechen und Gesundbrunnen trinken, »ganz à la mode,« sagt Gordon; »der Brunnen sprudelt durch ein Bambusrohr in einer alten Hütte.« Auch dort wurde nichts weiter erreicht. Johannes hatte vielerlei Begehren: Bogos, Massaua und andere Städte, dann einen Abuna[13] (Erzbischof) und zwanzig bis vierzig Millionen Mark, wollte aber seinerseits lediglich nichts einräumen. Gordon versprach den Abuna, indem er seinen Privateinfluß geltend machen wolle, aber Bogos und sonstige Ländereien werde Ägypten nicht abtreten. Er wahrte die ihm anvertrauten Interessen und betrachtete sich lediglich als des Khedive Sendboten. Johannes glaubte ihm in persönlicher Weise beikommen zu können. »Sie sind ein Engländer und ein Christ,« sagte er, worauf ihm Gordon rasch entgegnete: »Hier bin ich ein Ägypter und Muselmann.« Als der Gesandte seine Bitten zu Gunsten der Soldaten vorbrachte, wurde Johannes zornig und hieß ihn seiner Wege gehen. Einen Brief an den Khedive werde er ihm nachschicken.
Und so begab sich Gordon auf den Rückweg. Der Brief wurde ihm auch nachgesandt; er lautete folgendermaßen: »Ich habe das Schreiben erhalten, das Sie mir durch jenen Menschen sandten; ich will keinen geheimen Frieden mit Ihnen schließen. Wollen Sie Frieden, so wenden Sie sich an die Sultane von Europa.« Auf dem Rückweg wurde Gordon, sei es mit, sei es ohne des Königs besonderen Befehl, von dessen Vater mit hundert und zwanzig Abessiniern überfallen und gefangen genommen. Mehrere Tage lang wurde er im Lande hin- und hergeschleppt und mußte sich viel Widerwärtigkeiten gefallen lassen. Geld erwies[S. 181] sich als den Schlüssel, der ihn schließlich durchließ; es kostete ihn achtundzwanzigtausend Mark, Massaua zu erreichen.
»Das durchgemachte Elend lasse ich unbeschrieben,« sagt Gordon, »Gottlob, es ist vorüber. Zwischen zwei Abessiniern zu schlafen, ist kein Vergnügen, und so verbrachte ich meine letzte Nacht in diesem Land.«
Den König Johannes schildert Gordon als einen grausamen, halbverrückten Menschen.
So endete diese ganz nutzlose Mission, und Gordon kehrte nach Ägypten zurück. Auch in diesem Jahre (1879) lagen über dreitausend Kilometer Kamelritt hinter ihm und zwölfhundert hatte er in Abessinien auf Maultieren zurückgelegt. In den drei Jahren seiner Oberstatthalterschaft beliefen sich seine Kamelreisen auf etwa vierzehntausend Kilometer. Abgesehen von den Schwierigkeiten, dem neuen Khedive zu dienen, war es Zeit, daß er sein Amt niederlegte; der britische Konsulatsarzt in Kairo fand seine Nervenkraft erschöpft und ihn auch sonst leidend; die körperliche Übermüdung, die vielen Sorgen und die ungenügende Nahrung der letzten drei Jahre hatten selbst einer eisernen Gesundheit, wie der seinigen zugesetzt. Er sollte nach England zurückkehren und ruhen. Der Abschied von Kairo war kein angenehmer; es gab noch Verhandlungen mit den Pascha, denen er stets die Wahrheit sagte. Aber er konnte Ägypten nicht anders machen als es war; einem der Pascha schickte er zu guterletzt noch telegraphisch das Wort: »Mene Mene Tekel Upharsin«, und dann schiffte er sich nach England ein. Mochten die Pascha denken was sie wollten, die Wünsche von Tausenden geleiteten ihn. Im Sudan blieb er dem Volk in dankbarer Erinnerung als der gute Pascha. So lang er da war, waltete Gerechtigkeit im Land; als er fort war, wußten es die Unterdrückten nur zu gut, was sie an ihm verloren hatten.
[S. 182]
Gordon sollte in England der Ruhe pflegen. Das war leichter gesagt, als gethan. Energischen Naturen ist oft nichts eine größere Last als das Nichtsthun. Gordons Erholungszeit war eine kurze. England empfing seinen Helden mit Genugthuung, die Presse sprach von ihm als dem »ungekrönten König«. Man wußte von seinem heroischen Kampf gegen den Sklavenhandel, man bewunderte den unscheinbaren bescheidenen Mann, der waffenlos das Werk einer Armee vollbracht, den Held von Gottes Gnaden; man ärgerte sich über den Khedive, der seinen besten Diener so wenig zu schätzen wußte, und man sagte sich, daß wenn ausländische Einflüsse sich nicht geltend machten, der Sklavenhandel alsbald aufs neue erblühen werde, da Gordon Afrika den Rücken gewandt habe. Daß nicht viele Jahre vergingen, ehe das Land in schlimmerer Lage war als vorher, ist eine bekannte Thatsache.
Im Grunde aber kannte England seinen Helden doch nicht; erst seit es ihn verloren, hat das Land ihn wirklich schätzen lernen. Daß man seiner in englischen Diensten nicht zu bedürfen schien, ist erklärlich, wenn man bedenkt, was für ein Mann er war. Seine Stärke lag in dem Glauben, der Berge versetzt; höheren Orts mochte er als eine Art Fanatiker gelten, der nicht überall zu brauchen war: Paule, du rasest! Auch bei seiner diesmaligen Anwesenheit in England ging Gordon geflissentlich allen Ehren aus dem Wege; mit wahrer Kriegslist soll er die Leute umgangen haben, die ihn gern eingeladen und zum großen Mann gemacht hätten. Er verbrachte mehrere Wochen mit den Seinen und zog sich dann (im Winter 1880) nach Lausanne zurück. Einen Sohn seines kurz vorher verstorbenen Bruders nahm er mit sich.
Ein englischer Geistlicher, der ihn daselbst kennen lernte, beschreibt ihn folgendermaßen: »Der Fremde war von nur mittlerer Größe und wohl gebaut; sein Gesicht von tiefen Linien durchfurcht; seine schöne breite Stirn und ein sehr entschlossener Mund[S. 183] schienen auf ungewöhnlichen Ernst des Denkens, sowie auf praktischen Verstand zu deuten. Er schien beides, sanft und stark; eine gewisse Weichheit lag in seiner wohllautenden kraftvollen Stimme und sprach aus seinen ausdrucksvollen blauen Augen. Nach einiger Zeit redete er mich an, und da ich leidend war, so erbot er sich mir zur Begleitung auf kurzen Spaziergängen. Unsere Unterhaltung wandte sich bald auf Dinge des Glaubens, und die Unmittelbarkeit, die Einfachheit und der tiefe Ernst, mit dem er sich darüber aussprach, machte einen großen Eindruck auf mich.« Mehrere Tage vergingen und sein neuer Freund erfuhr zwar seinen Namen, hatte aber keine Ahnung, daß er es mit dem Gordon Chinas und des Sudans zu thun habe. Weder sein Gespräch, noch sein Aussehen verriet es. Als der Geistliche eines Tages in sein Zimmer trat, fand er ihn über arabischen Dokumenten. »Das sind Todesurteile,« sagte Gordon aufsehend. »Todesurteile! ei, wer sind Sie denn?« rief der Geistliche fast entsetzt. »Wissen Sie das nicht?« entgegnete er ruhig; »ich war Generalgouverneur vom Sudan, und bin es noch dem Namen nach; indem ich nun diese Schriftstücke unterzeichne, ist's damit zu Ende.« Gordon stand damals in seinem achtundvierzigsten Jahr.
Nach London zurückgekehrt bot sich ihm neue Arbeit an. Die Leute trauten ihren Ohren nicht, als sie hörten, der gewesene Generalgouverneur vom Sudan hätte die Stelle eines Privatsekretärs unter dem neuernannten Generalgouverneur von Indien, Lord Ripon, angenommen. Daß er damit sozusagen vom Herrn zum Diener wurde, das war, sofern es Gordon betraf, nicht das Erstaunliche, denn er schätzte eine Stellung überhaupt nur, insoweit sie ihm einen Wirkungskreis bot, Gutes zu schaffen; aber es war ein verfehlter Schritt, und bald genug sollte er das selbst einsehen.
»In einer schwachen Stunde,« schrieb er, »hatte ich die Stelle angenommen. Aber kaum war ich in Bombay gelandet, so sah ich auch, daß ich auf einem solchen unverantwortlichen Posten nicht hoffen konnte, einen guten Zweck zu erreichen. Überdies war es mir alsbald klar, daß meine Ansichten mit denen der übrigen Beamten durchaus nicht harmonierten, und so legte ich die Stelle nieder ... Es war besser, die Sache rasch vom Zaun zu brechen, noch ehe ich[S. 184] von Staatsgeheimnissen Kenntnis erhielt, die mich unter diesen Umständen nichts angingen. Ich hätte ja freilich ein paar Monate bleiben können und dann einen bösen Finger oder sonst was kriegen, was meinen Abschied motiviert hätte. Aber die übernommene Arbeit war mir eine so verhaßte, daß es besser war, sie sofort niederzulegen, um so mehr, als das Urteil der Welt mir ganz gleichgültig ist ... Es gehört mit zu den Geheimnissen der Vorsehung, daß wir Menschen manchmal (in gutem Glauben) Schritte thun und sie alsbald bereuen; so ging es mir, indem ich diese Stelle annahm.«
Die wahre Erklärung ist die, daß ihm klar wurde, er werde sich nie mit einer Verwaltung einigen können, die dem reichen Indien große Schätze entzieht, ja fürstliche Gehälter für englische Beamten, während über Millionen Hindu ein übers anderemal Hungersnot hereinbricht. Mit derlei Regierungsresultaten konnte er »durchaus nicht harmonieren«. Er hat übrigens mit dem ihm eigenen Humor folgendes als Grund seines Rücktritts angegeben: »Wie kann ich einen Posten bekleiden, auf dem fortwährend Toilette zu machen ist — Frack zu Festessen, Frack zu Soireen, Frack zu Bällen, Frack und Orden, Orden und Frack — kein Wunder, daß ich davonlief!«
Er beschäftigte sich als nächstes mit dem Gedanken, sich nach Sansibar einzuschiffen, um den dortigen Sultan zu einem Unternehmen gegen die Sklavenhändler zu bewegen, als ihm eine Aufforderung von seinen alten Freunden in China zuging, sie zu besuchen. Das Telegramm lautete: »Bitte, kommen Sie und urteilen Sie selbst. Es ist eine Gelegenheit Gutes zu thun, die benutzt werden sollte. Arbeit, Stellung, Bedingungen lassen sich gewiß zu Ihrer Befriedigung ordnen, wenn Sie hier sind. Nehmen Sie sechs Monate Urlaub und kommen Sie!« Die Antwort des »ungekrönten Königs« war seiner würdig:
»Gordon kommt mit erster Gelegenheit nach Shanghai — Bedingungen ihm gleichgültig.«
Seine Regierung zögerte mit dem Urlaub, da man nicht recht wußte, was zu Grunde lag. Hierauf erklärte er dem Kriegsministerium seinen Wunsch, aus englischen Diensten entlassen[S. 185] zu werden, und schiffte sich nach Hongkong ein. Er wußte selbst nicht, was er in China etwa für Arbeit finden würde — es war eine Zeit drohender Feindseligkeiten zwischen den Chinesen und Russen — das aber wußte er und hatte es auch seiner Eingabe beigefügt, daß er Friede und nicht Krieg zu befürworten gedachte. Endlich gewährte man ihm den gewünschten Urlaub und gab ihm sein Entlassungsgesuch zurück. In Petersburg war die Aufregung nicht gering, als es bekannt wurde, daß der »Chinesen-Gordon« nach China unterwegs sei. Der Mann war ja eine bedenkliche Verstärkung des Feindes.
In China traf Gordon mit seinem alten Kampfgenossen, dem Staatsmann Li, zusammen und ließ sich die Sachlage von ihm erklären. Da schien es ihm abermals das allein Richtige, seine Stellung als englischer Offizier niederzulegen, um zu Rat und That freie Hand zu haben. Er telegraphierte nach London:
»Nach Unterredung mit Li-Hung-Tschang wünscht derselbe mein Hierbleiben. Ich kann China in dieser Krisis nicht im Stich lassen und wünsche Freiheit, nach Gutdünken zu handeln. Ich bitte daher mein Abschiedsgesuch zu gewähren.«
Sein Aufenthalt in China war zwar ein kurzer, aber lang genug, um nicht nur jenem Land, sondern einem ganzen Weltteil einen unschätzbaren Dienst zu leisten; denn ihm ist es zu verdanken, daß ein Völkerkrieg zwischen Rußland und China nicht zum Ausbruch kam. Er war ein Militärgenie, wie es wenige giebt; er hatte es aber längst gelernt, kriegerische Ehren für nichts zu achten, und freute sich, einen Einfluß zu besitzen, der einem großen Land den Frieden erhielt. Er hinterließ außerdem den Chinesen allerlei guten Rat; man hatte dort nicht vergessen, was man diesem Manne verdankte, und hörte ihn gern. An Li hatte er jetzt seine Freude. Dieser hatte seit der Taipingszeit Gordons gute Meinung gerechtfertigt und sich als einen der tüchtigsten Berater der Regierung im blumigen Land erwiesen. Und was China seither an Fortschritt erreicht hat, ist sein Werk. Als er den Mann wieder sah, von dem er so viel gelernt hatte, fiel er ihm um den Hals und küßte ihn. Der stets siegreiche General ist seither aus dem Kampf dieser Welt in den »großen Frieden«[S. 186] hinübergegangen, in China aber ist sein Einfluß, wie Li in jenem Brief sagte, mit seiner Person nicht verschwunden.
Im Winter 1881 finden wir Gordon wieder in England. Die Zeitungsschreiber fingen an sich zu wundern, was man wohl als nächstes von ihm hören werde. Das Kriegsministerium hatte auch sein zweites Entlassungsgesuch nicht angenommen. Er hätte am liebsten schon damals einen langgehegten Plan ausgeführt und sich im heiligen Lande eine Zeit der Ruhe gegönnt, aber noch lagen andere Dinge dazwischen. Es war das Jahr der irischen Wirren. Er machte einen Besuch auf der Schwesterinsel und fand, daß die niederen Volksschichten daselbst — aus was für Ursache war ihm gleichgültig — elender und verkommener sind als die Armen irgend eines andern ihm bekannten Landes. Der hoffnungslose Zustand Irlands schnitt ihm ins Herz. Mit seiner gewohnten Freimütigkeit veröffentlichte er seine Ansichten in der Times, die von dem Gedanken ausgingen, daß eine Nation, die s. Z. vierhundert Millionen Mark für die westindischen Neger erübrigen konnte, ein ähnliches für die Irländer zu thun im stande sein dürfte. Seine an sich höchst beachtenswerten Vorschläge waren aber viel zu opferwillig, als daß sie den maßgebenden Kreisen eingeleuchtet hätten. In gewohnter Weise leerte er seinen eigenen Beutel in Irland und mußte sich von einem Bekannten in Dublin zur Rückreise nach London aushelfen lassen.
Um diese Zeit erreichte eine Todesnachricht England, die ihn tief betrübte: am 30. April 1881 war Romulus Gessi im französischen Spital zu Suez nach längerem Leiden gestorben. Der tapfere Italiener war ein Opfer des Landes geworden, für das er mit Gordon sein Leben eingesetzt hatte. Kehren wir für einen Augenblick in die Bahr el Ghasal zurück. Nachdem Gessi dort[S. 187] den Sklavenhändlern den Garaus gemacht hatte, blieb er daselbst als Statthalter. Nun das Greuelwesen unterdrückt war, konnte er das fruchtbare Land einen Garten nennen. Die Schwarzen hielten sich zu ihm und Land und Leute schienen sich von dem Jammer zu erholen. Gordons Nachfolger in Khartum aber, kein anderer als jener berüchtigte Rauf, den Gordon früher wegen Tyrannei zweimal gezüchtigt hatte und in welchem die ägyptische Regierung ihren Ersatzmann zu erblicken schien, als sie Gordon verlor, machte es ihm unmöglich, in seiner Stellung zu verbleiben. Am 25. September 1880 legte er sie nieder, als gerade ein Dampfer die Reise nilabwärts unternahm. Lassen wir ihn das entsetzliche Ende selbst erzählen:
»Zu spät sah ich meine Thorheit ein. Die Grasverstopfungen im Nil hatten sich aufs neue angehäuft, und das Boot war der schweren Arbeit, sich durch den Ssett zu ringen, nicht gewachsen. Die Maschine war eine schwache, nur vierzig Pferdekraft, und durch die Nachlässigkeit des Kapitäns war sowohl der Holzvorrat als die Zahl der Matrosen viel zu gering. Die vorhandene Nahrung war für fünfundzwanzig Tage berechnet, wir waren drei Monate unterwegs; fünfhundertsechzig Seelen waren an Bord, und obgleich wir Tag und Nacht arbeiteten, war an kein Vorwärtskommen zu denken. Die Nahrung ging zu Ende. Meine Soldaten wurden mutlos; weithin nichts als Sümpfe, und Hungersnot in der schrecklichsten Lage war unser Los. Es waren einige Sklavenhändler an Bord, die ich sehr gegen ihren Willen nach Khartum mitnahm; diese verbreiteten die Nachricht, daß ich sechzig Säcke voll Korn versteckt hielte; ich konnte die Soldaten nur heißen, das Schiff durchsuchen und essen was sie fänden. Dann behaupteten die Händler, ich hätte das Korn (vor der Abfahrt) verkauft; Drohungen wurden laut, und von da an ging ich nur mit geladener Pistole umher. Die Hungersnot nahm zu. Zuerst wurden die Lederüberzüge der Betten gegessen und dann das Schuhwerk. Im Fluß fand sich hie und da eine nahrungshaltige Pflanze, aber leider in geringer Menge. Und zuletzt nährten sich die Lebendigen von den Toten. Was mich am Leben erhielt, war zuweilen ein Fisch, den meine Diener mit einem gebogenen Draht[S. 188] fingen. Ein Nugger begleitete uns, und so lange der Besitzer desselben Nahrung hatte, teilte er sie großmütig mit mir. Gern wären wir zurückgekehrt, aber vor uns und hinter uns hatte der Wind die entsetzlichen Massen zusammengetrieben, und weithin war durch heftigen Regen das Land ein See. Das Holz gebrach und wir verbrannten ein Boot. Der Tod lichtete unsere Reihen täglich; zuerst starben die Kinder, dann die Weiber. Der Truppenbefehlshaber schloß sich in seine Kajüte ein und erwartete sein Schicksal. Niemand wollte mehr arbeiten; nur der Kapitän, zwei Heizer, vier Matrosen und der Steuermann unterstützten mich noch. Langsam brachten wir das Schiff vorwärts, aber es war wenig genug, was wir mit ausgehungertem Körper leisten konnten. Soweit das Auge reichte, saß das Boot wie in einer dichten Wiese fest. Überall um uns her lagen die Toten; niemand rührte einen Finger, die Leichen zu entfernen. Die Luft war verpestet und das Wasser auch. Aasvögel waren unsere Gäste. Von den fünfhundertfünfzig Seelen, welche die Reise antraten, waren nach zwei Monaten noch hundert übrig — hundert Skelette, nicht menschliche Körper. Am letzten Tag des Jahres machte ich mein Testament und legte es auf den Tisch in meiner Kajüte. Nach zwei Tagen hörte ich Schüsse, es war ein Signal des Dampfers »Bordeen« von Khartum. Unsere Abreise dorthin war telegraphisch gemeldet worden; aber der Generalgouverneur besann sich lang, bis er uns Hilfe entgegenschickte. Der »Bordeen« hatte eine tüchtige Maschine und schleppte uns bald durch den Ssett. Auf dem uns erlösenden Dampfer fanden wir eine Bande von Sklavenhändlern, die landaufwärts wollten, um aufs neue ihre Menschenjagd zu beginnen: neues Elend, Raub, Mord und Qualen jeder Art erwartete die armen Stämme, die kaum angefangen hatten, aufzuatmen. Um ein bißchen Elfenbein zu erlangen, sollte wieder Blut in Strömen fließen. An einer Station fanden wir eine Herde gestohlener Ochsen und tausend Sklaven. Die Händler, die sich wie Heuschrecken von allen Seiten her einfanden, kauften die Armen und trieben sie vor sich her.«
Gordon wußte nur zu gut, daß menschlich geredet sowohl er als Gessi vergeblich gearbeitet hatte. Auf seinem Weg nach[S. 189] Mauritius kehrte er in Suez ein und besuchte das Grab seines Kampfgenossen.
Gordons nächster Aufenthaltsort nämlich war die Insel Mauritius; er begab sich dahin als Ingenieur-Kommandant. Einer seiner Mitoffiziere war zu dem Posten ausersehen, fand sich aber aus Familienrücksichten bewogen, einen Ersatzmann zu suchen, was nicht gegen die englische Militäreinrichtung verstößt. Jeder andere hätte sich mit der auf diese Weise übernommenen Stelle einer schönen Geldentschädigung erfreut. Gordon machte hiervon eine Ausnahme; ihm genügte es, einem andern einen Gefallen zu erweisen. Die zehn Monate, die er auf der schönen Insel verbrachte, waren äußerlich eine stille und friedliche Zeit für ihn. Berufsmäßig machte er verschiedene Vorlagen zur Beherrschung des indischen Ozeans. Er besuchte die Seyschellen, deren Schönheit ihn so entzückte, daß er schrieb: »Ich habe den Ort gefunden, wo einst der Paradiesgarten war!« Seines Erachtens sind diese Inseln die Überreste eines versunkenen Landes. Im März 1882 wurde er Generalmajor, und im folgenden Monat begab er sich ans Kap.
Die Verbindung zwischen der Insel Mauritius und der Kapstadt ist keine sehr rege, aufs nächste Passagierboot hätte er wochenlang warten müssen, das paßte nicht in Gordons Plan, er benutzte deshalb ein kleines Frachtsegelschiff, das zufällig in Mauritius vor Anker lag. Von dieser Reise, die einen vollen Monat in Anspruch nahm, liegt ein hübscher Bericht vor. Der Kapitän, ein Schotte, führte ein Tagebuch, in welchem allerlei Charakteristisches über Gordon seine Stelle fand. So z. B. war Gordon, der sich auf vier Uhr nachmittags angesagt hatte, erst um Mitternacht erschienen; er habe erfahren, sagte er, daß man ihm in der Stadt ein Abschiedsfest zugedacht hatte, er hasse dergleichen, habe daher am Morgen einen heimlichen Ausflug aufs Land unternommen und sei erst bei Nacht und Nebel zurückgekehrt. Am andern Vormittag war der zur Abfahrt sich richtende Schoner nichtsdestoweniger von Gordons Freunden umlagert, die ihn nicht fortließen, ohne ihm Lebewohl zu wünschen, und zwar waren diese »Freunde« keineswegs nur seine Mitoffiziere oder Notabilitäten[S. 190] der Stadt, vielmehr Arme, denen er gewohntermaßen Gutes gethan, und Kinder! Unter den Kleinen, die ihm da ihre Anhänglichkeit bekundeten, war ein Büblein, das Gordon der Schiffsmannschaft als »mein Lieblingsschäfchen« vorführte. Das Bübchen brachte dem berühmten Mann als Abschiedsgabe zwei Flaschen Wein, die Gordon mit dem freundlichsten Lächeln von der Welt annahm, aber nicht selbst trank; er soll selten ein Glas Wein getrunken haben. Kindern und großen Kindern, d. h. Eingebornen, hat er allem nach seine beste Liebe zugewandt. Der Generalgouverneur von Sudan hat sich mehr denn einmal unter seine Schwarzen auf den Boden gesetzt und mit Thränen in den Augen angehört, was sie ihm aus ihrem Leben erzählten. Kein Wunder, hatte er solche Macht über sie! Einer englischen Dame, die er einst in ihrer Kinderstube traf, sagte er: »Sie können wohl nichts im Leben schwer nehmen mit diesen kleinen Geschöpfen um Sie her.« Man fragt unwillkürlich, warum ging dieser Mann allein durchs Leben? Die Gattin des Kapitäns auf jener Reise, die ihren Mann auf seinen Fahrten begleitete, wagte eines Tages die Frage an ihren Gast, warum er sich denn nicht verheiratet habe. Gordon schwieg ein paar Augenblicke, dann sagte er langsam: »Ich habe nie eine kennen gelernt, die aus Liebe zu mir bereit gewesen wäre, die Annehmlichkeiten des heimischen Herdes und vielleicht liebe Verwandte zu verlassen, um mich dahin zu begleiten, wohin die Pflicht mich ruft, vielleicht mit raschem Entschluß ans Ende der Welt, eine, die bereit gewesen wäre, Gefahren und Schwierigkeiten mit mir zu teilen, vielleicht mich zu stärken in Stunden der Not. Solch eine habe ich nie kennen gelernt, und nur eine solche könnte mein Weib sein!«
Darauf ist nichts weiter zu sagen.
Gordon litt sehr an Seekrankheit auf dieser Reise, und wollte mehrmals ans Land gesetzt sein. Der Kapitän schreibt darüber in sein Tagebuch: »Wie viel verschiedene Arten von Mut muß es doch geben!« Ihn wunderte, daß den tapfern Gordon, doch gewiß ein mutvoller Mann sondergleichen, die Seekrankheit so anfocht. Nach überstandenem Jammer war es aber wieder Gordon, welcher aller Herzen auf dem Schiff gewann, der kranken Matrosen wartete[S. 191] (es gab allerlei Krankheit an Bord) ihnen vorlas und Stückchen aus seinem Leben erzählte. Dem Kapitän gestand er eines Tags, tausend Mark sei zur Zeit sein ganzer irdischer Besitz, und diese Summe hatte er dem Schotten angeboten, wenn er den Kurs ändere und ihn ans Land setze. Unter seiner »fahrenden Habe« befand sich eine Kiste, über deren Inhalt der Kapitän und seine Frau vergeblich sich den Kopf zerbrachen: sie war voll Holz »vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen«, wie Gordon gelegentlich versicherte; auf den Seychellen-Inseln wachse nämlich ein merkwürdiger Baum, der sonst auf der ganzen Welt nicht anzutreffen sei, das müsse der Baum des Paradieses sein. Die Stücke Holz, die er mit sich führte, schätzte Gordon darum über alles! Diese zuversichtliche Idee wird seinem »wahren Gottesdienst« keinen Eintrag gethan haben. Die Schiffsmannschaft, die an jener Kiste ungläubig vorüberging, sah Gordon auch mit seiner Bibel auf Deck, oft stundenlang in Gedanken versunken, den Blick wie träumend aufs weite Meer geheftet. In solchen Stunden wird das in ihm gewachsen sein, was ihn zum mutvollen Mann und Helden von Khartum gemacht hat.
Das südafrikanische Stück seiner Laufbahn ist als ein fruchtloses bezeichnet worden, aber mit Unrecht; es sind nicht immer die äußeren Erfolge, die den Wert einer Sache ausmachen. Der selbständige und selten großmütige Charakter des Mannes tritt nie klarer zu Tag, als in diesen kurzen Monaten seines sogenannten Mißlingens.
Es ist bekannt, daß die Engländer seit einer Reihe von Jahren sich sowohl mit den Boeren als auch mit den Eingebornen von Südafrika überworfen hatten; verschiedene Kriege sind die Folge gewesen. Es war besonders einer derselben, der Gordons Interesse erregte. Schon im Frühjahr 1881 telegraphierte er an den Minister des Kaplandes: »Der ›Chinesen-Gordon‹ bietet seine Dienste auf zwei Jahre an, um Basutoland zu beruhigen,« d. h. den Krieg zu beendigen und die Basuto im Wege der Verwaltung zu friedlichen Verhältnissen zurückzubringen. Dieses Anerbieten blieb vorläufig unbeantwortet. Ein Jahr vorher hatte die Regierung ihm die Befehlshaberschaft der Kaptruppen mit einem[S. 192] Gehalt von dreißigtausend Mark angeboten, welchen Posten er als einen rein militärischen abgelehnt hatte. Im Frühjahr 1882 nun, als die Lage im Basutoland zu einer ernsten sich gestaltet hatte, sprach man ihm telegraphisch den Wunsch aus, sein Anerbieten annehmen zu wollen. Lediglich im Gedanken, daß er Gutes wirken könnte, war er alsbald bereit, sich den Basuto zu widmen, und setzte mit charakteristischer Selbstlosigkeit seinen Gehalt auf etwa die Hälfte der angebotenen Summe herunter, »weil die Verhältnisse des Kaplandes mehr nicht rechtfertigten!« Als er aber nach seiner unerquicklichen Segelschiffreise die Kapstadt betrat, übertrug man ihm gerade jenen Oberbefehlshaberposten über die Kolonialtruppen, den er zwei Jahre vorher von England aus abgelehnt hatte, während er doch gekommen war, sich der Basutofrage anzunehmen. Es scheint, daß ein anderer damit beschäftigt war, die Angelegenheiten der Basuto zu verwalten oder mißzuverwalten, und daß die Regierung den Mut nicht hatte, jenen andern zu entfernen. Gordon ließ sich's in der Hoffnung gefallen, daß die Umstände ihm den Weg bahnen würden. Es dauerte auch nicht lange, so gestaltete sich die Grenzlage zu einer so drohenden, daß man ihn beauftragte, sich durch eigene Anschauung hinsichtlich der Überfälle der Boeren und der Unruhen im Basutoland zu orientieren. Das war im Juni.
Die Basuto sind ein interessanter Zweig der Kafferrasse, und zwar der volkreichste und vorgeschrittenste, letzteres aus dem einfachen Grund, weil das Christentum bei ihnen Eingang gefunden hat. Vor etwa fünfzig Jahren hatte der Stamm einen Oberhäuptling Namens Moschesch, auch »Herr des Berges« genannt, weil er einen Berg mit einer kleinen Festung versehen hatte, die ihm und seinen Getreuen als Zuflucht im Krieg dienen sollte. Die andern Stämme und selbst seine eigenen Häuptlinge verwickelten ihn oft in Kämpfe; er selbst aber, obschon tapfer und furchtlos, war ein friedliebender Mann. Er hatte von Dr. Moffat und anderen Missionaren gehört, die in benachbarten Gegenden und besonders unter den Korannas arbeiteten, welcher Stamm, von Natur ein kriegerischer, sich neuerdings friedlich verhielt. Da schickte er dem Häuptling der Korannas eine Anzahl Ochsen zum[S. 193] Geschenk mit der Bitte, ihm dafür »einen Beter zu senden, der die Basuto in der Religion unterrichten könne, welche die Leute friedlich stimme.« Evangelische Missionare aus Paris, die nicht lange vorher in Südafrika angekommen waren und einen Wirkungskreis suchten, hörten davon und besetzten das neue Arbeitsfeld. Moschesch empfing sie mit Freuden und bestimmte selbst den Platz für ihre erste Station, am Fuß seines Festungsberges. Moschesch lebte bis 1870. Vor seinem Scheiden glaubte er Anzeichen einer besseren Zukunft für sein Land und Volk zu erblicken. Eins seiner letzten Worte an die Missionare war: »Lasset mich zu meinem Vater gehen, ich bin schon ganz bereit dazu!« Sein letzter Wille lautete: »Laßt die Missionare nicht müde werden, mein Volk zu unterrichten, besonders aber meine Söhne.«[14]
Schon vorher hatten sich die Basuto im Pitso (jährliche Volksversammlung) mit Begeisterung für »unsere Mutter die Königin von England erklärt.« Man kann es nur bedauern, daß die britische Kolonialpolitik dieses Volk gegen seinen Willen von der Kapstadt aus regiert haben will. Sie hatten sich freiwillig der englischen Regierung unterstellt unter Vorbehalt ihrer Rechte. Sie entrichteten eine Kraalsteuer und waren es zufrieden, daß britische Beamten im Land weilten. Indem aber ihr Wohlstand wuchs und ihre Zahl zunahm, verdoppelte und verdreifachte sich die Steuer; anstatt nun den Ertrag derselben zum Besten des Landes zu verwenden, bereicherte derselbe vertragswidrig den Säckel der Kapregierung. Aber das allein war's nicht, was die Basuto aufbrachte. Bekanntlich sind vor etwa zwanzig Jahren ergiebige Diamantenfelder in Südafrika entdeckt worden. Die Basuto strömten herzu, um als Taglöhner in den Gruben zu arbeiten; statt in Geld bestand ihre Löhnung aber in Flinten und Schießbedarf,[S. 194] ohne Zweifel ausgediente Militärwaffen, welche die Eigentümer der Felder billig gekauft hatten. Die Kapregierung wußte um diese Waffenverbreitung, ja sie hatte dieselbe genehmigt. Auf diese Weise erlangten die Basuto beträchtlichen Kriegsbedarf. Nach zehn oder zwölf Jahren entdeckte die Kapregierung das Mißliche dieser Sache und erließ ein Entwaffnungsgesetz, die Basuto sollten die Waffen ausliefern, welche sie durch ihrer Hände Arbeit und mit dem Vorwissen der Regierung redlich erworben hatten! Es war eine Ungerechtigkeit sondergleichen, und die Basuto verweigerten den Gehorsam. So verwickelte sich die Kapregierung in einen Krieg, an dem sie allein die Schuld trug und in welchem sie einen Vorteil fürs nächste nicht erringen konnte. Das war die Sachlage, als sie Gordon berief, der wie überall so auch hier mit seinem gerechten Sinn alsbald auf den Grund sah. Er verfaßte einen Bericht, in welchem er es unumwunden als seine Meinung erklärte, daß die Basuto weniger zu tadeln wären als die Kapregierung; diese habe vor allen Dingen ihr Unrecht gut zu machen und dann erst könne sie die Basuto zum Frieden mahnen; übrigens liege der Hauptfehler darin, daß man die Basuto gegen ihren Willen der unmittelbaren Regierung Englands entzogen und sie der mittelbaren der Kapregierung unterstellt habe. Er schlug vor, diesen Fehler dadurch gut zu machen, daß man die Basuto-Häuptlinge zusammenberufe und die Bedingungen ihrer Unterwerfung unter die Kapregierung mit ihnen berate. Außerdem riet er dringend, die loyale Gesinnung der Basuto dadurch zu ehren, daß man ihnen das Bewußtsein der unmittelbaren Verbindung mit England zu erhalten suche, indem man einen Bevollmächtigten der britischen Krone in Basutoland wohnen lasse. Man gab ihm keine Antwort.
Die Mißhelligkeiten zogen sich hin, aber Gordons wärmste Teilnahme war auf Seite der »feindlichen« Eingebornen, wie aus folgender Depesche ersichtlich ist:
»Es ist mir unmöglich, gegen Stämme zu kämpfen, gegen die meines Erachtens ungerecht verfahren wird. Der Sekretär für die Angelegenheiten der Eingebornen hat das Unrecht zugestanden, aber ein solches Zugeständnis allein genügt meinem Gewissen nicht.«
[S. 195]
Es kann hiernach nicht wunder nehmen, daß Gordon nach wenigen Monaten seine Stelle niederlegte. Ehe er jedoch vollständig mit der Kapregierung brach, wurde er aufgefordert, als Privatmann nach Basutoland zu gehen und mit dem Häuptling Masupha zu verhandeln. Er nahm die Sendung an und ging allein und unbewaffnet. Daß er unversehrt zurückkam, ist ein Wunder; denn während Gordon als Friedensbote bei den Basuto verweilte, benutzte ein Kapminister die Gelegenheit, einen andern Häuptling gegen Masupha aufzuhetzen. Es ist lediglich Gordons persönlichem Einfluß zuzuschreiben, mit dem er stets das volle Vertrauen der Eingebornen zu gewinnen wußte, daß er aus dieser Lage unversehrt hervorging. Masupha sah, daß sein Gast an diesem Verrat keinen Anteil hatte, und ließ es ihn nur mit verdoppelter Hochachtung entgelten. Wenn solche Dinge in Südafrika seitens der Regierung vorfallen, dann kann man sich nur mit Gordon auf Seite der Eingebornen schlagen. Daß er daraufhin seinen Abschied einsandte und bei seiner Abreise nach England die Kapstadt links liegen ließ, ist nicht mehr, als von ihm zu erwarten war.
Als Beweis, wie wichtig es ihm erschien, die Basuto auf freundschaftlichem Wege bei ihrer Loyalität zu erhalten, bot er sich selbst an und war willens, sich zwei Jahre lang um den geringen Gehalt von sechstausend Mark bei dem Häuptling Masupha niederzulassen. Es war ein Opfer der Uneigennützigkeit, dessen man jedoch entbehren zu können glaubte. Zum Schluß noch seine Abschiedsrede an die Basuto, die ihn durchaus als den gebornen Beherrscher von Eingebornen, ja als einen Hirten der schwarzen Herde kennzeichnet:
»Als ein Freund der Basuto bin ich hier; ich habe mich als ihr Freund erwiesen, denn als man mich als Feind schicken wollte, um sie zu bekämpfen, weigerte ich mich zu kommen. Nun ich aber hier bin, möchte ich den Basuto Gutes thun. Die Basuto sind zum Rechten geneigt. Ich frage den Häuptling und sein Volk: Wie kann Basutoland für die Basuto erhalten bleiben? Und ich sage, daß die (britische) Regierung es wohl meint mit dem Land. Die Königin wünscht nicht, daß die Kolonie den Basuto ihr Land[S. 196] nehme; aber sowohl die Kolonie, als die Königin fürchten, daß die Basuto von den Boeren aufgegessen werden, wenn sie sich von ihnen zurückzieht. Ich mag die Boeren gut leiden, sie sind tapfer und wollen unabhängig sein; als sie kämpften, war es für ihre Freiheit. England hätte sie schlagen können, aber es wäre unrecht gewesen. Was aber glauben die Basuto, daß den Boeren lieber ist — die Basuto oder ihr Land? Ihr Land meine ich wohl. Wenn nun die Kolonie dieses Land sich selbst überließe, so hätten die Basuto bald Not mit den Boeren und es gäbe Krieg. Ich blicke zehn Jahre voraus und sehe boerische Anpflanzungen hier: das gefällt mir nicht, es gefällt der Kolonie nicht, und der Königin nicht, und dem Basuto gar nicht. Deshalb sage ich zu den Basuto: haltet euch an die Regierung. Sagen die Basuto: Wir sind stark und können uns wehren und brauchen niemand über uns, und wollen keine Steuern zahlen, so antworte ich: mir persönlich ist es einerlei, ob sie Steuern zahlen oder nicht. Ich kann sie nicht dazu zwingen. Aber mein Herz ist betrübt, wenn ich an die Basuto denke. Ich sehe die Boeren hier, wie sie das Land an sich reißen. Ich versetze mich in Masuphas Lage und frage mich: was ist das Beste für mein Land und mein Volk. Ich weiß wohl, daß es in Basutoland Leute giebt mit zwei Zungen. Ich aber denke, daß einer mit einer Zunge die Wahrheit spricht. Ich glaube, daß Gott euch zu Christen gemacht hat. Ihr seid Schafe unseres Herrn Jesu und Er hat euch lieb. Wenn die Boeren euch aus eurem Lande verdrängen, so ist es mir kein Verlust und kann uns allen gleichgültig sein, sobald wir einmal begraben sind. Darin aber wünsche ich, daß die Basuto mir folgen. Habt alle nur eine Zunge. Ich kann mich nicht schwarz machen; ich kann den Masupha und sein Volk nicht zwingen zu thun, was mir gut scheint, ich überlasse es dem Herrn Jesus, der alles recht macht. Das ist's, was ich euch sagen wollte: thut, was euch gut dünkt, aber überlegt es wohl, und bittet Jesus um Rat.«
Eine Zeit der Ruhe war endlich für Gordon gekommen: er verbrachte sie nicht »im Bett bis Mittag« und dann mit »Austernessen«,[S. 197] wie er's im Sudan einmal scherzweise als sein Ideal hingestellt hatte, sondern er nahm seine Bibel und seine Meßinstrumente und ging nach Jerusalem, um die Topographie der heiligen Stätten zu erforschen. Und zwar that er dies ebenso sehr mit dem geschulten Auge des Ingenieurs, als mit dem gläubigen Herzen des Christen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen waren originell, wie alles an diesem Mann. Seinen eigentümlichen Ideen über Dinge, die er in Jerusalem gesehen, kann zwar nicht jeder folgen; sie sind zum Teil absonderlich; der lebendige Glaube aber, der dabei sein Herz erfüllt, ist ein leuchtendes Vorbild für uns alle. Der Bischof von Derry sagt schön: »Gordon ist zwar kein berufsmäßiger Theologe, aber er ist etwas viel Besseres; und ich meinesteils würde mich scheuen, einen zu kritisieren, an dem ich in jeder Hinsicht nur hinaufsehen kann, selbst wenn ich seiner Beweisführung nicht immer vernunftmäßig beizutreten im stande bin. Er ist uns allen ein Vorbild des Glaubens an den lebendigen Gott.«
Vier Punkte waren es hauptsächlich, die Gordon beschäftigten; erstens der wirkliche Ort der Kreuzigung; zweitens die Grenzlinie zwischen den Stämmen Benjamin und Juda; drittens die Frage, wo die Hebroniter wohnten, und viertens die Lage des Gartens Eden. Wie einer von Gordons englischen Biographen treffend bemerkt, ist's der gläubige Christ und der Mann vom Sappeur-Korps, den wir hier in einer eigentümlichen Verschmelzung von Mystizismus und mathematischem Vermessungstrieb begegnen; für den einsichtsvollen Kritiker ist es interessant, Gordons originellen, wenn gleich etwas seltsamen Gedanken zu folgen. Wir begnügen uns mit nachgehendem von mehr allgemeinem Wert.
Gordon hat in Palästina fleißig mit der Feder hantiert und im Laufe eines Jahres mehrere Tausend Briefseiten nach England geschickt. Etliche seiner Freunde, insbesondere jener Geistliche, den er in Lausanne kennen gelernt hatte, stellten dann aus diesen Briefen ein Büchlein: »Betrachtungen in Palästina« (London 1884) zusammen, das mit seinem Wissen und Willen bald nach seiner Abreise nach Khartum veröffentlicht wurde. Die Herausgabe des kleinen Buches war eine Art Vermächtnis, denn es ist bekannt[S. 198] geworden, daß Gordon die letzte Reise nach Khartum mit dem bestimmten Vorgefühl antrat, er werde England nicht wieder sehen. Von dem Büchlein hoffte er, es möchte »manchen Gläubigen zu neuen Gedanken anregen und dazu beitragen, daß Gottes Wohnungmachen in uns mit mehr Klarheit erfaßt werde. Das ist das große Geheimnis (Ps. 25). Er schuf uns, um ein Haus — einen Tempel — zu haben, in dem Er wohnen kann. Ohne uns ist er wohnungslos. Er bedarf unser, und wie sehr bedürfen wir seiner! Es ist mir ein Trost in meiner Schwachheit hier (in Khartum 3. März 1884) zu wissen, daß Er alles leitet, und es ist die reinste Meuterei, im Herzen oder gar mit der That gegen Seine Führung sich aufzulehnen. Möge Sein Name verherrlicht werden; möge dieses arme Volk hier gesegnet und getröstet werden; möge ich selbst gedemütigt werden, damit ich die Gegenwart Seines Geistes in meinem Herzen um so gewisser erfahren darf! Das ist mein ernstliches Gebet.«
Gordon ging weiter als die meisten Christen, die sozusagen damit zufrieden sind, daß Christus für sie genug gethan hat. Er suchte Wachstum und fand die Heiligung in der Gemeinschaft mit Gott in und durch Jesus. Daher erkannte er in den Sakramenten den von Gott verordneten Weg, dieses große Ziel zu erreichen. Nicht, daß er in der heiligen Taufe und im heiligen Abendmahl den einzigen Weg erblickte, auf dem Gottes Gnade dem Sünder zu teil werden kann, aber er verkündet ihren hohen Wert als wesentliche Bestandteile des Heiles und des christlichen Glaubenslebens. Ihm steht es fest, daß jeder Christ, Mann, Weib oder Kind, zur Priesterschaft Gottes berufen ist, und daß die Glieder der wahren Gemeinde selbst vor den Engeln durch die Gegenwart des heiligen Geistes ausgezeichnet sind, ja, daß sie wie beim Pfingstfeste des heiligen Geistes voll werden können.
Was die nachfolgende Übersetzung von Gordons Ansicht über die Sakramente anlangt, so machen wir nochmals darauf aufmerksam, daß wir es mit einem Teil der aus seinen Briefen zusammengestellten »Betrachtungen« zu thun haben, also mit seinen eigenen von Freunden zusammengetragenen Worten. Er ist daher nicht gerade für die Zusammenstellung verantwortlich, doch hat[S. 199] er von Khartum aus die ihm mitgeteilten Korrekturbogen gebilligt. Aus diesem Grund ist das Nachstehende auch nicht als eine erschöpfende Betrachtung anzusehen, wohl aber sind es tiefe Gedanken, die für den deutschen Leser um so merkwürdiger sind, als weder die Wiedergeburt in der heiligen Taufe, noch die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Jesu Christi im heiligen Abendmahl im allgemeinen von den englischen Christen geglaubt wird.
Die Taufe geht dem heiligen Abendmahl voraus; ihr Vorbild muß daher auch in der Geschichte der ersten Menschen dem Essen der verbotenen Frucht voraus gehen.
Das Essen des Leibes und Blutes (Brot und Wein) im Sakrament dient zur Ernährung und Belebung des neuen Menschen. Es bedingt sichtbare Gestalt und äußerliche Handlung. Es schließt ein die Handlung eines Wiedergeborenen. Die Taufe wird Wiedergeburt genannt. Sie ist das Siegel der Einverleibung in den Leib Christi, die Kirche; sie wird auch ein Begrabenwerden und Auferstehen genannt, ein Ablegen des fleischlichen Leibes (Kol. 2, 11-12).
Adams Geschichte besteht aus Geschaffenwerden, Essen, Tod. Die heilenden Sakramente, Taufe und Abendmahl, sind die Fortsetzung dieser Geschichte. Nach dem Genuß der verbotenen Frucht war der Mensch tot in Übertretung und Sünde, von Gott getrennt und daher der innewohnenden Gegenwart des heiligen Geistes verlustig. Die Taufe ist das Sakrament, das den toten Menschen belebt — seine Auferweckung; der Genuß des Abendmahls erhält ihn am Leben.
Durch das verbotene Essen verfiel der Mensch dem Tode; die Taufe erweckt ihn aus dem Tode und das heilige Abendmahl nährt ihn vom Baum des Lebens.
In der Taufe wird ein Element — Wasser — eine materielle Substanz mit des Menschen Leib in äußerliche Berührung gebracht; im Abendmahl werden die Elemente, Brot und Wein, in des Menschen Leib aufgenommen.
[S. 200]
Im Essen liegt die Verbindung des heiligen Abendmahls mit dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Im Wasser liegt die Verbindung der Taufe mit einem vorsündlichen Ereignis, und dieses Ereignis ist die Schöpfung. Die Geschichte des Menschen ist Geschaffenwerden, Essen, Tod; Auferstehung oder Neuschaffung oder Wiedergeburt, Essen und ewiges Leben. In der Schöpfung müssen wir daher die Erklärung der Taufe suchen. »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer und der Geist Gottes schwebete auf den Wassern.«
Durch das Wort Gottes wurde die Erde aus den Wassern gerufen. Das ist die Schöpfung, und wie des Menschen Leib aus Erde gemacht ist, so darf man sagen, daß er aus den Wassern hervorgerufen worden ist durch das Wort Gottes, durch den heiligen Geist.
Hierin liegt die Analogie zwischen der Schöpfung, dem Ruf ins Leben, und der Taufe. Die Erde war tot sozusagen bis sie ins Leben gerufen wurde. So ist der Mensch tot sozusagen bis er wiedergeboren wird. Der Zustand der Erde vor der Schöpfung war ein toter. Der fleischliche Mensch ist tot. Der Zustand der Erde vor der Schöpfung war gleich dem Zustand des Menschen, als der Engel ihn aus dem Garten trieb.
Was Gottes Wort durch den heiligen Geist an der Erde vollbrachte, als es wüste, leer und finster auf der Tiefe war, das muß am fleischlichen Menschen vollbracht werden, ehe er leben kann. Durch den Ruf Christi und die Arbeit des Geistes kommt er zur Erkenntnis, daß er in einem Zustand der Sünde und Finsternis tot ist; und das äußere Zeichen solcher Erkenntnis ist, daß er getauft, bildlich untergetaucht wird ins Wasser, das seine Rückkehr ins Nichtssein bedeutet und somit die Neuschaffung ermöglicht.
Und wie die Erde einst mit Wasser bedeckt und tot war, so bedeckt die Taufe den Menschen bildlich mit Wasser, um seinen Tod anzudeuten, um öffentlich zu bezeugen, daß er den Tod als seinen Lohn anerkennt; und wie die Erde als eine neue Schöpfung aus dem Wasser hervorging, so ist der Mensch nach der Taufe[S. 201] eine neue Kreatur und dazu geschickt, vom Baum des Lebens im heiligen Abendmahl sich zu nähren.
Ich sage damit nicht, daß die Taufe als äußerliche Handlung den Menschen vom Tod errettet, wie ich auch nicht sage, daß das Abendmahl einem andern als dem gläubigen Empfänger ein Genuß zum Leben ist. Die Taufe ist ein Auferstehen vom Tod, und das Abendmahl ist ein Genuß zum ewigen Leben. Die Taufe an sich macht den Menschen nicht zum Christen. Wer nicht vorher ein Christ ist, der wird es nicht durch die Taufhandlung. Nach Röm. 4, 10. 11 war die Beschneidung das Siegel eines Bundes, dem Abraham durch den Glauben schon angehörte; ebenso ist die Taufe das Siegel eines bereits bestehenden Bundes, welcher ist ein Bund des Glaubens und des Innewohnens des heiligen Geistes.
Und wie der Gläubige im Abendmahl des Leibes und Blutes Christi teilhaftig wird, so wird der Gläubige in der Taufe aus dem Tod erweckt, er empfängt im Wasserbad die Vergebung der Sünde und die Einwohnung des heiligen Geistes, der schon an ihm gearbeitet hat; denn wie könnte er glauben, wenn der heilige Geist seine Seele nicht in den Stand setzte, zu bekennen, daß Jesus der Herr ist!
Ich hebe es noch einmal hervor, daß 1) in der heiligen Taufe das Element des Wassers mit dem Körper in äußerliche Berührung gebracht wird; daß 2) im heiligen Abendmahl Brot und Wein in den Körper aufgenommen werden; daß 3) das heilige Abendmahl in dem ersten Essen (der verbotenen Frucht) sein Gegen- und Vorbild hat und daß es 4) höchst wahrscheinlich ist, daß das andere Sakrament, die Taufe, in analoger Weise auf ein vorsündliches Ereignis sich bezieht. Mir ist schon lange der Gedanke gegeben worden, daß das dritte Kapitel des Evangeliums Johannes so zu verstehen ist, daß zwischen der natürlichen und der neuen Geburt ein Sterben liegt. Nikodemus verstand das nicht (V. 4), so klar es scheint. Er meinte, daß das Fleisch geheilt und für den Himmel geschickt gemacht werden könnte. Es war ihm unverständlich, daß der natürliche Mensch, weil getrennt von Gott, wirklich tot ist. Die Taufe ist also ein[S. 202] offenes Bekenntnis, daß der natürliche Mensch hoffnungslos schlecht und tot ist und nichts Gutes zu thun vermag; und daß sie bildlich ein Begrabenwerden des natürlichen Menschen und eine Neuschaffung oder Auferstehung vom Tod enthält. Im Abendmahl verkünden wir Christi Tod; die Taufe verkündet, daß der Mensch im natürlichen Zustand tot ist und vom Tod erstehen muß. Ein neugeborenes Kind ist tot in Gottes Augen, die Eltern aber, die es im Glauben zur Taufe bringen, empfangen (an seiner Statt) die Verheißung.
Ich kann nicht umhin, dafür zu halten, daß beide, die Taufe und das heilige Abendmahl, mit des Menschen Leib zu thun haben, denn die Elemente in beiden Fällen sind von dem Leib nicht zu trennen. Die Elemente werden in der Taufe äußerlich, im Abendmahl innerlich angewandt.
Der aber ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleische geschieht (Röm. 2, 28. 29). Und ebenso bei der Taufe: der Mensch ist nicht darum ein Christ, weil er getauft ist. Kann einer nicht glauben ohne getauft zu sein, und kann in diesem Fall sein Nichtgetauftsein nicht als Getauftsein angesehen werden? Es giebt viele Stellen in der Schrift, die es klar zeigen, daß die Taufe an sich ohne Glaube kein nütze ist; und daraus erkennen wir, warum viele, die getauft sind, den heiligen Geist nicht haben.
Meiner Meinung nach hätten sich die Ausleger, welche über Taufe und Abendmahl geschrieben haben, manchen Irrweg gespart, wenn sie die drei ersten Kapitel des ersten Buches Mose besser erwogen hätten. Mir hat es seit Jahren Gedanken gemacht, was von der Taufe zu halten ist, doch ist es mir schon vor etlichen Jahren klar geworden, daß zwischen zwei Geburten ein Tod liegen muß (Joh. 3). Ich halte dafür, daß im Taufwasser die Sündenschuld zurückbleibt, so wie natürliches Wasser die Unreinigkeit der Gegenstände zurückbehält, die darin gewaschen werden. Es scheint mir aber nicht, daß der heilige Geist das Wasser in anderer Weise als Träger benutzt, als indem er es wirksam macht, die Sünde abzuwaschen. Als Jesus[S. 203] (der, obgleich ohne Sünde, sich als Mensch der Taufe unterzog) aus dem Wasser heraufstieg, kam der heilige Geist über ihn. Gott ist aber nicht an die Taufe gebunden, denn Johannes war voll des heiligen Geistes von Mutterleibe an, und Kornelius hatte den heiligen Geist empfangen vor der Taufe. Die Gläubigen gehen als Kinder Adams ins Taufwasser und gehen als Kinder Gottes daraus hervor.
Die Unterlassung der Taufe in gewissen Fällen anlangend, so fiel der heilige Geist auf Kornelius, ehe er getauft war (Apostelgesch. 10, 44). Mag auch jemand das Wasser wehren, daß dieser nicht getauft werde? Als Petrus und Johannes hinunter nach Samaria gingen (Apostelgesch. 8, 15-16), fanden sie, daß auf des Philippus Predigt hin die Leute glaubten und sich taufen ließen, sie empfingen den heiligen Geist aber erst durch der Apostel Handauflegung.
Aus diesen beiden Stellen ersehen wir, daß der heilige Geist nicht notwendigerweise mit der Taufe dem Täufling gegeben wurde, daß er aber auch nicht dem gläubigen Ungetauften versagt war. Paulus beschnitt Timotheus um der Juden willen (Apostelgesch. 16, 3). Die Beschneidung ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern Gottes Gebot halten (1 Kor. 7, 19). Um der Juden willen beschneidet Paulus zwar den Timotheus, den Titus aber (Gal. 2, 3) will er nicht beschneiden. Dies zeigt, daß er nach der jedesmal von Gott ihm gegebenen Einsicht handelte. Indem er den Timotheus beschnitt, fügte er sich dem Urteil der Juden, gegen welches zu verstoßen er sich gewissermaßen fürchtete; oder warum hätte er sonst diesen jüdischen Gebrauch vollzogen? Wenn ich sage, daß er fürchtete, den Juden Anstoß zu geben, so meine ich damit, daß Gott ihm die Einsicht verlieh, daß es, um weiser Absichten willen und zur Vermeidung der Uneinigkeit recht sei, sich zu fügen. Ich glaube daher, daß wir z. B. gerechtfertigt wären, die Taufe bis auf weiteres zu unterlassen, wo der öffentliche Fanatismus sich dagegen auflehnt. Denn die Taufe macht einen nicht zum Christen, so wenig wie die Beschneidung einen zum Juden macht. Das bildliche Ausziehen des Fleisches durch die äußerliche Taufe ist nicht mehr nütze,[S. 204] als das bildliche Abthun der Unreinigkeit des Fleisches durch die äußerliche Beschneidung.
Wie bereitwillig gewährte Paulus dem Kerkermeister die Taufe (Apostelgesch. 16, 33). In derselben Stunde der Nacht, als dieser ihm die Striemen abwusch, verkündete ihm Paulus das Wort des Herrn und taufte ihn alsbald. Der Kerkermeister wusch des Apostels Striemen, und der Apostel wäscht ihm im Wasserbad die Sünden ab. Die Apostelgeschichte ist in erster Linie ein Missionslehrbuch; warum sind wir denn so vorsichtig mit der Taufe unter den Heiden? Fehlt uns selber der rechte Glaube? Paulus taufte in jener Nacht nicht nur den Kerkermeister, sondern alle, die in seinem Hause waren. Zu Philippi, der Hauptstadt des Landes (Apostelgesch. 16, 12), war das Gefängnis gewiß groß und es waren ohne Zweifel viel Leute in des Kerkermeisters Haus. Da drängt sich einem wohl die Frage auf, ob der Kerkermeister und alle, die in seinem Hause waren, alle die Katechismusfragen unserer heutigen Missionare hätten beantworten können!
Was hat der Mensch durch jenes erste verbotene Essen verloren? (Ich brauche nicht gern das Wort »Sündenfall« — die Schrift nennt es nicht so.) Er verlor den heiligen Geist. Was gewinnt der Mensch im andern Essen? Er gewinnt den heiligen Geist. Es ist von Wert hierüber nachzudenken.
Der Verlust des heiligen Geistes ist Trennung von Gott, Tod; so sind wir in Gottes Augen von Natur tot, und wenn wir in das Taufwasser untergetaucht werden, so bekennen wir uns bildlich tot bei dem Begräbnis im Wasser.
Adam, der erste Mensch, entstieg dem Wasser der ersten Schöpfung. Er sündigte, das ganze menschliche Geschlecht war in ihm und starb in ihm, somit sind wir alle tot in den Augen Christi und verfallen damit der Gemeinstatt aller, dem Grab, dem Orte der Toten. Wir bekennen, daß wir beim Hineingehen ins Wasser der Taufe dasselbe sind, was Adam war. Wir gehen mit dem neuen Adam, Christus, als neue Kreatur aus der Taufe hervor. In ihm sind wir nicht länger tot; wir leben. Unser Hervorgehen aus der Taufe ist unser Auferstehen, und in Ihm[S. 205] erhalten wir (was wir vorher verloren hatten) den heiligen Geist, welcher unser Leben ist.
In Adam sind alle Menschen geschaffen, sie sterben mit ihm, werden zu Staub und gelangen an einen Ort, aus welchem sie alle kamen. Was ist der Sammelplatz aller Menschen? — Das Grab. Christus aber, der zweite Adam, versammelt uns aus dem Grab in ihm selber, in der neuen Geburt. Indem wir im Taufwasser untertauchen, verbildlichen wir unsern Zustand; und indem wir uns so bildlich ins Grab des Wassers legen, können wir daraus als neuer Mensch zu Christus gesammelt werden. (Im Griechischen steht das Wort [Greek: synagôgê] [Sammlung], gebraucht von dem Sammeln der Wasser ebenso wie [Joh. 11, 52] für das Zusammenbringen der Kinder Gottes, die zerstreut waren.) Die Taufe besagt im Bild, daß wir im Taufwasser in den ersten Zustand 1 Mos. 1 zurückkehren, und im neuen Adam, Christus, gehen wir daraus hervor. Wir kosten vom Baum des Lebens. Wir gelangen zur Auferstehung, die sich im 22. Kapitel der Offenbarung abspiegelt, wo von einem Strom die Rede ist und vom Baum (Holz) des Lebens, von Gott und dem Lamme.
Ehe der heilige Geist in uns erneut wird (es ist auf dieses Wort zu achten, denn es deutet an, daß der Mensch ihn einmal besessen und dann verloren hat), müssen wir im Bild begraben werden, müssen unsern Tod und unsern hoffnungslosen Zustand erkennen. Denn wie das Salböl nicht aus das Fleisch gegossen werden kann, so kann der Fleischlichgesinnte den heiligen Geist nicht empfangen. Fleischlichgesinntsein ist eine Feindschaft wider Gott und kann den heiligen Geist nicht empfangen (Röm. 8, 7 und 9, ein gar ernstes Wort!).
In der Taufe wird der natürliche Leib in der Erwartung gesäet, daß der geistliche Leib auferstehe. In der Taufe bekennen wir uns zur Notwendigkeit solchen Säens; wir bekennen, daß wir in natürlichem Zustand zu nichts nütze sind als (mit dem verweslichen Körper) gesäet und begraben zu werden.
Der erste Adam wurde ins Leben gerufen und starb und ist bildlich in der Taufe begraben. Der zweite oder letzte Adam,[S. 206] Christus, ist der lebendigmachende Geist (der Herr vom Himmel), der von den Toten auferweckt.
(1 Kor. 15.)
Wir ersehen hieraus, daß die Taufe eine wichtige Sache ist. Denn die wahre Taufe, sei es bei unmündigen Kindern durch ihre Stellvertreter, die Paten, so diese gläubig sind, sei es bei Erwachsenen, ist der Bedeutung nach nichts anderes als ein Bekenntnis, daß das Fleisch nichts Gutes zu vollbringen vermag. Und mir scheint, daß diese Ansicht eine Stütze für die Kindertaufe ist, denn es handelt sich darum, etwas das tot ist und das sich nicht selbst helfen kann zu begraben. Ein kleines Kind ist tot hinsichtlich des eigenen Willens u. s. w.; indem es nun bildlich durch seine gläubigen Stellvertreter in der Taufe begraben wird, ergiebt sich hieraus die Hoffnung, daß es in Christo auferstehen wird — ja unser Glaube an Gott kann nicht anders als dies glauben.
Wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, der von seiner fleischlichen Natur frei werden möchte, an Christus glaubt und getauft wird, so glaube ich, daß ein solcher den heiligen Geist in seinem Leibe empfängt. Die Elemente des Segens, dessen er in seinem Leibe teilhaftig wird, sind in dem einen Falle Brot und Wein, in dem andern ist es Wasser, in welchem er den fleischlichen Leib ablegt. In beiden Sakramenten sind die Elemente stofflich, und beide sind geheiligt für den Leib durch den heiligen Geist: das eine zur Erhaltung des neuen Lebens in Christo, das andere zur Auferstehung von den Toten in Christo, welcher ist der neue Adam.
War nicht das Essen der verbotenen Frucht ein Zerreißen der Einheit mit Gott und, infolge davon, die Bildung einer Einheit mit dem Satan? Und was ist der Glaube anderes als eine Fähigkeit, die unmittelbar aus der Gegenwart des heiligen Geistes kommt? »Niemand kann Christus einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist,« auch andere Stellen beweisen dies. Der[S. 207] Glaube ist eine unmittelbare Wirkung der Einwohnung des heiligen Geistes. Da kann kein Glaube sein, wo der heilige Geist nicht seine Wohnung hat. Einer der sagt, er glaube an Christus, aber nicht an die Gegenwart des heiligen Geistes in ihm selber, ist entweder ein Lügner und Ungläubiger, oder er macht Gott zum Lügner.
Daraus folgere ich, daß jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der nicht aus der Gemeinschaft mit Christus durch den heiligen Geist entspringt, genau dasselbe ist, was das Essen der verbotenen Frucht war. Andererseits ist jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der durch den heiligen Geist in der Gemeinschaft mit Christus wurzelt, ein Essen vom Baum des Lebens.
Ferner, gleichwie das Essen der verbotenen Frucht sowohl durch Wort oder Gedanken, als durch die That geschehen kann (im verbotenen Essen im Paradies gipfelten Gedanke und Wort in der That), so kann das Essen von dem Baum des Lebens, Christus, auch durch Wort und Gedanke geschehen, ist aber wesentlich eine That. Das Einssein mit Christus durch die Einwohnung des heiligen Geistes ist das A und O alles Lebens, und diese Anschauung empfiehlt sich selbst unserer Vernunft. Das Ergebnis dieses Einsseins ist ein Fruchtbringen. Es bedarf keiner Anstrengung; wenn wir das Einssein suchen und pflegen, so müssen die Früchte des heiligen Geistes die natürliche Folge sein.
Nur durch den heiligen Geist ist Leben oder Gemeinschaft mit Christo möglich. Die Erlösung oder die Wohlthat des Sühnopfers unseres Herrn kann nur dann von uns erfaßt werden oder uns zu gute kommen, wenn der heilige Geist in uns wohnt. »Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.« Röm. 8, 9. Wer das nicht hat, was die Gemeinschaft ausmacht, kann nicht mit Christo vereinigt sein. Und es ist klar, daß die Ausgießung des heiligen Geistes erst die Folge von Christi Leiden war; er konnte nicht eher herkommen, als bis Christus aufgefahren war. Nach Christi Himmelfahrt kam der heilige Geist hernieder, nicht vorher.
Wie mancher bekümmerten Seele wäre es ein unaussprechlicher Segen zu wissen, daß der einzige Weg, um heilig oder[S. 208] Christus ähnlich zu werden, der ist, die Gegenwart des heiligen Geistes in uns zu suchen und zu pflegen. Die Früchte leugnen, welche der heilige Geist bringt, hieße die Gottheit des heiligen Geistes leugnen. Wenn ich daran denke, wie lange ich in der Irre ging und wie nutzlos ich mich abmühte am alten Menschen zu flicken, so kann ich nicht genug Nachdruck hierauf legen. Menschlich geredet, was für ein Segen wäre es für mich gewesen, wenn einer mir mit dem Wort zu Hilfe gekommen wäre (es steht übrigens deutlich genug in der Bibel): ›Suche du des heiligen Geistes in dir selbst gewiß zu werden und kümmere dich sonst um nichts!‹ Wer an Christum glaubt, der hat Gott den heiligen Geist lebendig in sich. Diese Wahrheit im täglichen Leben zu pflegen ist alles was wir nötig haben, und Er nährt uns durch die Schrift. Alles übrige kommt dann von selbst.
In einem jüdischen Schulbuch fand ich die Geschichte des sog. Sündenfalles ausgelassen, und als ich einen Rabbiner darüber fragte, sagte er mir, daß die Juden dieselbe nicht als etwas Wirkliches anerkennen, sondern alle ihre Gebrechen aufs goldene Kalb zurückführen. Das ist begreiflich, denn sie meinen, sie können durchs Gesetz gerecht werden, indem sie aber das goldene Kalb als den Grund ihres Sündenfalles ansehen, ist ihnen der Sündenfall ein jüdisch-nationales Ereignis.
Betrachten wir den Sündenfall.
Der Baum des Erkenntnisses des Guten und Bösen war ein Baum, an dem man lernen konnte, was gut und was böse ist. Indem der Mensch von diesem Baum aß, wurde er wie Gott, denn Gott der Herr sprach: Siehe Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist.
Auch ist zu bemerken, daß das Verbot, von dem Baum zu essen, gegeben wurde, ehe das Weib aus Adams Rippe gebaut war; so daß Eva im Garten erschaffen wurde und Adam außerhalb desselben. Und Adam wurde aus dem Garten getrieben;[S. 209] der Eva geschieht dabei keine besondere Erwähnung. Dem Weib wurde kein Grund angegeben. Zu Adam sprach Gott: »dieweil du gegessen hast.« Die Strafe des Essens, der Tod, »du mußt sterben,« muß in Beziehung gebracht werden zu dem Worte »weil du gegessen hast, verflucht ist der Acker, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.«
Eph. 2, 2. »In welchen (Sünden) ihr weiland gehandelt habt, nach dem Lauf dieser Welt, nach dem Fürsten, der in der Luft herrschet, nämlich nach dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des Unglaubens.« Der Fürst, der in der Luft herrschet, der Satan, hat also sein Werk in den Kindern des Unglaubens (Ungehorsams), und er begann dieses Werk im Menschen, als der Mensch im Ungehorsam gegen Gott von der verbotenen Frucht aß.
Wir dürfen annehmen, daß wenn Gott dem Menschen mit einer einzigen Ausnahme alles gewährte, eben diese Ausnahme ihren Grund in dem dem Menschen drohenden Schaden hatte. Hätte Eva nicht von dem, was verboten war, gegessen, dann hätte der Geist des Ungehorsams, Satan, sein Werk in ihr nicht beginnen können. Und wir mögen es betrachten wie wir wollen, so viel ist klar, daß sie durch die Thatsache ihres Essens dem Satan die Thür öffnete und er in ihrem Herzen Eingang fand.
1 Kor. 10, 20 zeigt, daß den Götzen opfern einer Gemeinschaft mit den Teufeln gleichkommt: »was die Heiden opfern, das opfern sie den Teufeln und nicht Gott. Nun will ich nicht, daß ihr in der Teufel Gemeinschaft sein sollt«.
Der gesegnete Kelch aber ist die Gemeinschaft oder das Teilhaftigwerden des Blutes Christi. Das Brot, das wir brechen, ist die Gemeinschaft oder das Teilhaftigwerden des Leibes Christi, 1 Kor. 10, 16.
Das Trinken vom Kelch des Herrn ist die Anteilnahme an des Herrn Tisch; und das Trinken von der Teufel Kelch ist die Anteilnahme an der Teufel Tisch. Durch dieses ganze Kapitel zieht sich die Gegenüberstellung von zweierlei Essen, von zweierlei Opfern, und von zweierlei Folgen solchen Essens (d. i. solcher[S. 210] Anteilnahme), von zwei Genossenschaften, zwei Gemeinschaften, welche in der Thatsache von zweierlei Essen und den Folgen solchen Essens gipfeln, nämlich die Gemeinschaft mit dem Wesen, an dessen Tisch der Mensch sozusagen sich setzt, welche Gemeinschaft ein Teilhaftigwerden der Eigenschaften dieses Wesens bedeutet.
Mögen wir nun über die Bedeutung der Worte streiten wie wir wollen, so läßt sich's nicht hinwegerklären, daß nach Joh. 6, 56 Christus in dem Menschen wohnet, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt; und nach dem 53. Vers dieses Kapitels haben wir kein Leben in uns, so wir das nicht thun. Darnach ist es klar, daß dieses Essen sein Wohnungmachen in uns bedeutet; während nach 1 Kor. 10 ebenfalls klar ist, daß solche, die den Teufeln opfern (oder mit ihnen Gemeinschaft haben, was nach V. 20 dasselbe ist), auch den Teufeln in sich Wohnung verstatten. Nun kann darüber kein Zweifel sein, daß Evas Essen vom verbotenen Baum eine Gemeinschaft mit dem Teufel war, erstens darum, weil der Satan wirklich mit ihr verkehrte, zweitens weil es nicht eine Gemeinschaft mit Gott war, und drittens weil es im Geist des Ungehorsams geschah. Dabei lasse ich alle Opfer des mosaischen Ceremonialgesetzes außer Frage und beschäftige mich nur mit dem Sündenfall und der Wiederherstellung des Zustandes vor dem Fall, in welcher der Hauptpunkt das Sakrament ist, durch welches wir des Herrn Tod verkünden, bis daß Er kommt.
Wir glauben, daß Brot und Wein kraft göttlicher Einsetzung die werkzeugliche Ursache des geheimnisvollen Teilhaftigwerdens Christi ist, wodurch Er ganz unser wird und wir so eng mit ihm verbunden werden, als sein Fleisch sein Fleisch und sein Blut sein Blut ist. Durch Brot und Wein, durch das Essen und Trinken seines Leibes und Blutes, d. h. durch die thatsächliche Handlung solcher Nießung wird das feste Band geknüpft. Dabei glauben wir nicht, daß das Brot Fleisch wird und der Wein Blut, so wenig als die verbotene Frucht verwandelt worden ist.
Ich denke, es steht fest, daß der Fürst, der in der Luft herrschet, darum Eingang in uns fand und in den Kindern des Unglaubens sein Werk hat, weil Eva und Adam von der verbotenen Frucht aßen. Sie traten aus der Gemeinschaft mit Gott[S. 211] und wurden der Gegenwart des heiligen Geistes verlustig, durch den wir Gemeinschaft mit Gott haben. Dies führt zur Wiederherstellung in Christo, wenn er uns die Gemeinschaft mit dem heiligen Geist wiederherstellt, »die Verheißung des Vaters« und ein Unterpfand des Erbes. Nach Rom. 8, 11 wird der Geist des, der Jesum von den Toten auferwecket hat, unsere sterblichen Leiber lebendig machen durch den Geist, der in uns wohnet. Ich denke mir, daß der heilige Geist zuerst mit der Seele in Gemeinschaft ist, und daß Er dann durch die erweckte Seele den sterblichen Leib auferweckt. Da der heilige Geist nur in geistiger Weise an der Seele arbeiten kann, die geistiger Natur ist, so fragen wir, auf welche Weise kann der Leib erfaßt werden, der durch eine thatsächliche Handlung (durch Essen) der Gewalt des Bösen anheimfiel? Ich beantworte diese Frage mit aller Vorsicht, aber es erscheint mir sowohl vernunft- als schriftgemäß, daß er durch dasselbe Mittel auch wieder geheilt wird, das den Fall bewirkte und dem Teufel den Zugang verstattete, nämlich durch Essen.
Das Sakrament von des Herrn Nachtmahl steht in enger Verbindung mit der Auferstehung des Leibes. »Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage auferwecken.« Und wir wissen, daß, so wir würdig zu seinem Sakrament kommen, wir seinen Leib in unsern Leib und sein Blut in unser Blut empfangen zur Reinigung von aller Sünde. Wäre es denkbar, daß unsere Leiber je umkommen könnten, nachdem sie einer so engen Gemeinschaft mit der Gottheit teilhaftig geworden sind, als das Essen seines Leibes und das Trinken seines Blutes in sich schließt?
Wir müssen annehmen, daß der Leib beim Sündenfall in vorzüglichem Maße thätig war, denn er genoß thatsächlich, was verboten war, und hier bei diesem zweiten Essen ist ebenfalls der Leib in demselben Maße thätig. Beim ersten Essen brachte der Leib die Seele zum Opfer (denn der Seele konnte es an sich nichts verschlagen, ob gegessen wurde oder nicht); beim zweiten Essen bringt die Seele den Leib zum Opfer. Beim ersten Essen trug der Leib den Sieg davon; beim zweiten Essen bleibt der Seele der Sieg.
[S. 212]
Warum sind wir alle so tot? Warum wird unser Fleisch nicht belebt? Viele unter uns sind wahre, ernste Christen. Warum sind sie so trübselig? Sie haben die Barmherzigkeit Gottes in Christo erfahren, aber es ist, als ob die Seele bei ihnen an einen Leichnam gefesselt wäre — an ihren Leib. Sie glauben oder hoffen, daß sie ihrer Seligkeit gewiß sind, aber sie werden dieser Gewißheit nicht froh. Warum schleppen sie den toten Leib mit sich herum? Er atmet den Geruch des Verderbens aus, er ist träge und beschwerlich. Kann er nicht zum Leben gebracht werden? Wahrlich ich glaube, der Grund des Übels liegt in der Mißachtung des heiligen Abendmahls. Wenn er auch ein toter Leib ist, so kann er doch essen; und wenn die Seele durch den heiligen Geist zum Leben erweckt ist, warum sollte sie den toten Leichnam nicht zu bewegen suchen, den Leib und das Blut Christi in sich aufzunehmen, woraus ihm Leben zu teil werden wird. Es mag zuerst nur ein schwaches Fünklein sein, ja es mag scheinen, als ob er nur um so mehr Verwesung von sich ausscheide, aber er wird bald voll Leben sein und dieses Leben wird das ewige Leben sein. Er wird den Tod nicht schauen, sondern die Auferstehung des Lebens.
Was für Vorbereitung ist nötig um zu essen? Ich meine, wenn ein Baum mit einem Zaun zu umgeben ist, so ist es der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, denn dieser Baum existiert noch immer. Aber hüten wir uns, den Baum des Lebens einhegen zu wollen! Gott selbst hat uns den Weg dazu in Christo bereitet. Es ist gar nichts nötig als das eine: »Ich bin krank; ich möchte gesund werden; ich hasse und verabscheue mich selbst; ich habe nur schwache Hoffnung, daß es mir Segen bringen wird, aber ich will Ihm vertrauen, und zu seinem Gedächtnis will ich thun, was Er mich thun heißt.« Kann jemand am Erfolg zweifeln? In Summa — nichts ist nötig als erstens Kranksein, zweitens Verlangen nach Gesundheit und drittens Gehorsam gegen des Herrn Gebot.
Ich glaube, die meisten geben das erste und das zweite zu. Warum nicht auch das dritte? Es ist so gar wenig, und wie unendlich ist der Segen. Zweifelst du, so laß mich dich an die[S. 213] verbotene Frucht erinnern; wie gering schien die Übertretung, und die Folgen waren derartige, daß der allmächtige Gott selbst ins Fleisch kommen und den Tod leiden mußte, um den Schaden zu heilen.
Was für Anstrengungen machen die Menschen, um körperliche Leiden zu heilen, was für Summen läßt man es sich kosten. Welche Krankheitsdiagnosen werden gemacht und doch — selbst die wirksamsten Arzneien können das sichere unausbleibliche Ende nur um ein kurzes hinausschieben. Wahrlich, wenn man es sich so angelegen sein läßt, körperliche Leiden zu untersuchen, wie viel mehr sollte man die Ursache und das Heilmittel der geistlichen Krankheit erforschen. Denn daß wir geistlich krank und nicht so sind, wie wir sein sollten, daran zweifelt wohl keiner.
Wenn im natürlichen Leben ein Gift in den menschlichen Körper geraten ist und ihn mit seiner schädlichen Wirkung durchdringt, so muß in denselben Körper ein Gegengift aufgenommen werden, um mit seinen heilenden Kräften jene bösen Folgen zu vernichten.
Einer, der vergiftet ist, fragt nicht lange, auf welche Weise das Gegengift wirkt; er versteht die gute Wirkung des Gegengiftes vielleicht so wenig, als er die schädliche Wirkung des Giftes zu erklären weiß; er weiß nur, daß er leidet und geheilt werden möchte. Er nimmt das Gegengift in gutem Glauben; vielleicht hat er auch das Gift sozusagen in gutem Glauben genommen, denn im allgemeinen sucht der Mensch sich nicht selbst zu vergiften. Der Mensch sucht auch nie das Böse, weil es böse ist; er sucht vielmehr etwas (vermeintlich) Gutes im Bösen. Es genügt dem Menschen also zu wissen, daß er geistlich vergiftet ist, um Heilung zu begehren.
Ist es ein Zufall, daß das erste Gebot Gottes, das Er dem Menschen gab, und eines der letzten Gebote Christi an seine Jünger, und durch sie an die ganze Welt, beides von einem Essen handelt? Gott sprach: »Du sollst nicht davon essen« — Jesus spricht: »Nehmet, esset, das ist mein Leib!«
[S. 214]
Eine wirkliche Substanz (Brot) soll in den vergifteten Körper aufgenommen werden, und zwar nach dem Gebot des Herrn, und sie ist der Träger, durch welchen Christus dem vergifteten Körper seine göttlichen Eigenschaften mitteilt; gerade so, wie die verbotene Frucht der Träger war, durch welchen der Teufel dem Körper seine bösen Eigenschaften mitteilte und ihn vergiftete.
Der Mensch aß in völliger Unwissenheit hinsichtlich der Folgen des Essens von der verbotenen Frucht, denn er konnte nicht wissen, was der Tod sei; ebenso kann der Mensch in völliger Unwissenheit hinsichtlich der Folgen vom Brot des Sakraments essen.
In jenem Fall aß er im Vertrauen auf sich selbst und im Mißtrauen gegen Gott und in Gemeinschaft mit dem Teufel.
In diesem Fall soll er im Vertrauen auf Gott und im Mißtrauen gegen sich selbst essen und in Gemeinschaft mit Gott.
Der Welt ist dieses wie jenes eine Thorheit, aber es ist Weisheit bei Gott.
Wir sagten vorhin, der Mensch sucht nie Böses, weil er böse ist, sondern er sucht (vermeintlich) Gutes im Bösen. Eva suchte Gutes in der verbotenen Frucht, aber sie suchte es im Vertrauen auf sich selbst und im Mißtrauen gegen Gott.
Ein kleines Kind kann verstehen, daß es ein Heilmittel braucht, wenn es krank ist, und nimmt selbst eine widrige Arznei von seiner Mutter, weil es ihr vertraut. Der Mensch kann deshalb das sakramentale Gegengift verstehen, wenn er weiß, daß er geistlich vergiftet ist; aber der höchste Verstand kann weder ergründen die Tiefe des ersten Bundes mit Satan, noch die des zweiten Bundes mit Christus.
Ich frage nun, was ist nötig, damit der Mensch esse von diesem Sakrament? Nichts, als daß er seine geistliche Krankheit erkenne und geheilt werden möchte. Die meisten Menschen wissen es auch wohl, daß sie krank sind, und wären auch gern gesund.
Warum wird das Gegengift im Sakrament so vernachlässigt? weil es so einfach ist, darum hält es die Welt für Thorheit und des Herrn Tisch ist verachtet. (Mal. 1, 7.)
Zum Schluß noch die Frage: ist nicht das Abendmahl des[S. 215] Herrn das einzige aus der sichtbaren Kirche, was auch im Himmel bleiben wird? (Luk. 22, 18.) Es ist wesentlich das Hochzeitsmahl der Kirche; es ist das äußerliche Pfand des gegenseitigen Einwohnens des Menschen in Gott und Gottes im Menschen. (Offenb. 3, 20.)
Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Gordon während jenes Ruhejahres im heiligen Land. Im Juli schrieb er seinem Freund: »Es ist ein Gefühl der Ermattung über mich gekommen, nicht der Unzufriedenheit, aber ein Verlangen, die Bürde abzuwerfen. Ich glaube, daß es gut für mich ist, hier zu sein, sonst wäre ich ja nicht hier, und Gott schenkt mir tröstliche Gedanken, aber der Körper ermattet, und es scheint mir ein selbstsüchtiges Leben. Doch sind alle Forschungen, die ich hier mache, interessant, und mein gottgeschenkter Glaube verhindert mich, es für ein nutzloses Leben zu halten.« Es ist die Energie des Mannes, die hier zum Vorschein kommt; er will nicht nur glauben, er will seinen Glauben auch bethätigen. Bei den Londoner Maiversammlungen 1885 hat Missionar Hall aus Jaffa einer großen Versammlung unter atemloser Stille von seinem acht Monate langen Umgang mit Gordon erzählt. In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft sagte Gordon zu ihm: »Ich habe keine rechte Ruhe, ich bin in dieses Land gekommen, um eine Zeit lang in der Stille zu sein, mich mehr mit dem Wort Gottes zu beschädigen und nebenher die heiligen Stätten zu untersuchen. Aber es befriedigt mich nicht; ich bin unruhig, ich muß etwas für Gott thun. Glauben Sie, wenn ich nach Jaffa käme, daß ich dort Arbeit finden könnte?« Die Folge der bejahenden Antwort des Missionars war, daß Gordon sich in Jaffa einmietete. »Eines Tages,« erzählte Hall, »erhielt ich ein Schreiben von dem Komitee des Inhalts, daß ein Missionshaus in Nablus (Sichem) errichtet werden sollte und daß Baupläne einzusenden seien. Ich schrieb an den Missionar Fallscheer in Nablus, worauf dieser mich in Jaffa besuchte und es beklagte, daß er nichts vom Baufach verstehe. In Jaffa gebe es keinen Baumeister, und sich bei einem Baumeister in Jerusalem Rats zu holen, sei eine kostspielige Sache. Ich gab das zu und[S. 216] entgegnete: »Es ist eben ein Mann hier, der sich aufs Planzeichnen versteht; ich weiß zwar nicht, ob man ihn damit belästigen darf — wir wollen es aber versuchen.« Und so begaben wir uns in Gordons Wohnung. Wir hatten uns nicht den günstigsten Augenblick gewählt, denn es war vormittags, welche Zeit Gordon der Betrachtung des Wortes Gottes widmete. Wir fanden ihn in Hemdärmeln an seinem Tisch sitzen. Er erkundigte sich nach unserm Begehren. »Wir möchten Ihren Rat holen wegen eines Missionshauses, das in Nablus gebaut werden soll,« sagte ich, und um unserm Bedürfnis nach Bauplänen näher zu kommen, fügte ich dies und jenes hinzu. Da unterbrach er mich: ›Ich weiß, was Sie wollen — Sie brauchen nicht so vorsichtig mit mir zu reden; Sie möchten einen Beitrag haben.‹ Darauf erwiderte ich, daß wir keinen Beitrag von ihm wollten, wohl aber etwas Besseres als Geld, nämlich die Baupläne, wenn er sie uns entwerfen wolle. ›Baupläne,‹ rief er, ›ei gern!‹ und nahm sofort Papier und Bleistift zur Hand, notierte sich wie viel Zimmer nötig seien, was für Fenster und Thüren, was die Lage des Bauplatzes sei u. s. w. Noch am Abend desselben Tages brachte er uns die schönsten Pläne, die man sich denken konnte. Am andern Tage bestellten wir Handwerksleute, und Gordon machte einen Kostenüberschlag für jeden. Das Missionshaus steht jetzt in Nablus. Einige Zeit später sagte ich ihm, daß ich mich fast gefürchtet hätte, ihn um die Baupläne zu bitten. ›Meinen Sie, ich hätte Ihre Bitte übel genommen,‹ sagte er. ›Wozu bin ich denn nach Jaffa gekommen, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß, wenn Sie mir etwas für das Reich Gottes zu thun geben könnten, Sie mir einen Dienst erweisen würden? Ich war nicht recht mit mir zufrieden, weil ich mich ins heilige Land zurückgezogen hatte, anstatt mit meinen Kräften mich in Gottes Arbeit zu stellen.‹ In diesem Sinn hatte er die Pläne entworfen.« Missionar Hall fügte dem bei, daß er von Gordon mehr Aufschluß über geistliche Dinge erhalten habe, als sonst von irgend einem Menschen, mit dem er je in seinem Leben zu thun gehabt. Gordon fand auch sonst in Jaffa Arbeit von der Art, wie er sie in Gravesend gefunden hatte. Ein bekannter schottischer Geistlicher, der kürzlich in Palästina[S. 217] reiste, kam mit einem armen Dragoman zusammen, der ihm nicht genug davon sagen konnte, wie Gordon ihn und seine Frau in Krankheit besucht und in Ermangelung eines Stuhles sich mit seinem neuen Testament auf den Boden gesetzt habe, um ihnen von Christus zu erzählen. Dabei hatte er ausfindig gemacht, daß sie eine große Doktorrechnung hätten, und diese in aller Stille bezahlt. In Jerusalem und den Dörfern umher habe er den Armen viel Gutes gethan, und diese trauerten um ihn, wie um ihren Vater.
Überall wo Gordon hinkam, dasselbe Urteil über ihn! Er aber sagt: »Wie wenig Christus-ähnliche Menschen giebt es doch — wer unter uns ist Ihm gleich? Keiner, bis alles von uns genommen ist; dann erst können wir werden wie Er und eins sein mit Ihm. ›Selig sind die geistlich Armen, denn das Himmelreich ist ihr,‹ heißt es; und nur die Armen ohne Geld und ohne Ansehen im vollen Sinne des Wortes können durch die dunkle Grabesthüre zu der Ruhe eingehen, die uns behalten ist .... Ich wollte, daß alle die Gewißheit des ewigen Lebens hätten! Es ist ja gerade, weil wir arm und unwert sind, daß wir Eingang finden. So lange wir uns für besser halten als andere, sind wir weit vom Himmelreich entfernt. Wir müssen den Gedanken fahren lassen, daß wir im geringsten bei Gott etwas zu gut haben könnten, wir sind ja alle und nur seine Schuldner. Nach Ephes. 2, 10 sind wir zu guten Werken geschaffen, in denen wir wandeln sollen. Wenn uns Gott also vorher dazu bereitet hat, daß wir dies oder jenes Gute vollbringen, wo bleibt da noch Ehre für uns?« Nicht genug kann er es betonen, daß man alles, im großen wie im kleinen, Gott anheimstellen soll; es gäbe nicht so viel unzufriedene Gesichter in der Welt, meint er, wenn die Leute das lernten. Der Glaube, daß Gott im Regiment sitzt, sei ihm sein lebenlang eine unversiegbare Quelle der Kraft gewesen, die ihn nicht nur für die Gegenwart und Zukunft stark mache, sondern die ihm selbst das Vergangene zurecht bringe. Das sei es ja, was der Herr von uns haben möchte, daß wir ›seine Freunde‹ seien, und nicht seine Knechte. Und wenn Er uns in eine schmerzliche Lage geraten lasse, so geschehe dies darum, damit[S. 218] wir Ihn um so besser kennen lernten und an uns selber erführen, wie stark Er ist, zu helfen. Gordons völlige Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Menschen ist die Kehrseite dieser Gotteszuversicht, und Menschenlob nennt er eine Trennungswand zwischen der Seele und ihrem Gott (Joh. 12, 43).
Aus einem Briefe vom 4. Juli 1876:
»Das menschliche Leben ist eine Rückreise zu unserm Urquell, Gott, der sich uns als die ewige Wahrheit, Liebe, Weisheit und Allmacht offenbart hat. Als Begriffe erkennen wir diese seine Eigenschaften bereitwillig an; das ist aber kein Herzensglaube. Wir stoßen auf Widersprüche, wir sind blind. Er öffnet uns die Augen nach und nach, und hilft uns durch manches sogenannte Unglück ihn immer besser kennen lernen. Er offenbart sich verschiedenen Menschen in verschiedener Weise, aber das Endziel aller ist, Ihn zu erkennen. So wie der Mensch in diese Welt geboren ist, hängt ein Schleier vor seinen Augen, der ihm Gott verhüllt. Dem in der Christenheit aufwachsenden Menschen tritt Gott in beidem, im geschriebenen und im Mensch gewordenen Wort nahe, aber wenn er dies auch mit seinem Verstand erfaßt, so ist in diesem Leben doch vieles unverständlich, und der Schleier bleibt. Jede schmerzliche Erfahrung aber und jede Prüfung macht einen Riß in die Hülle und er sieht dann, was er vorher nur als toten Buchstaben geglaubt hatte ... Ein Samenkorn göttlichen Wesens ist in unser Herz gelegt; und dieses Gottgeborene in uns sollte dem Ausgang des Kampfes zwischen Fleisch und Geist ruhig entgegensehen können. So oft der Geist über das Fleisch Herr wird, so oft giebt es einen weiteren Riß in der Hülle und wir erkennen Gott immer besser. Wenn dem Fleisch der Sieg bleibt, so verdichtet sich der Schleier. Zuletzt aber, wenn das Unausbleibliche, der Tod eintritt, dann reißt der Schleier mitten entzwei und das völlige Schauen beginnt. Das Fleisch ist überwunden, der Geist aber lebt.«
Geben wir noch ein Schlußwort Gordons. Es ist ein Wort, das er vor einer Reihe von Jahren geschrieben hat, er hätte es in jenen letzten Monaten schreiben können, als er von seinem Volk verlassen, mit seinem nie wankenden Heldenmut in Khartum eingeschlossen war:
[S. 219]
»Die Welt ist ein weites Gefängnis mit grausamen Hütern. Einsam und verlassen sitzen wir in unseren Zellen und warten auf Erlösung. An den Wassern der irdischen Freude und vollen Genüge weilen wir — so denkt das Fleisch und der Irdischgesinnte; aber es sind die Wasser zu Babel voll Jammer für unsere Seele, und wir sitzen und weinen, wenn wir der Heimat gedenken, von der ein so schmaler Strom, der Tod, uns trennt.
»Unsere Harfen hängen an den Weiden, und unsere Widersacher heißen uns fröhlich sein, wir sollen ihnen ein Lied singen, als wären wir daheim. Wie aber sollen wir des Lammes Lied singen im fremden Lande, die wir in der Wildnis sind, wo niemand uns kennt?
»O wären wir doch daheim, wo die Gottlosen aufhören mit ihrem Toben, und die ruhen, die viele Mühe gehabt haben; wo der Kampf zu Ende ist und die heiße Arbeit vorüber, wo die Krone des Lebens uns werden wird; wo wir Ihn schauen werden, der all unsere Not kannte, der unser Elend mit uns trug, der unserer müden Seele Trost gab. Und siehe, es ist kein neuer Freund, es ist der alte!
»Bist du müde? Er war es auch. Bist du betrübt? Er war es auch. Findest du dich in deiner Liebe unverstanden und begegnet man dir mit Kälte? Ihm ging es nicht besser.
»In Seinem großen Erbarmen hat Er sich unter all Seine Brüder erniedrigt. Wie müde, wie einsam, wie betrübt war Er auf dieser Erde; ein Mann der Schmerzen, der Leid trug mit Geschrei und Thränen. Und sollten wir über unser Elend murren, das doch bald vorüber ist? Bringt nicht jeder Tag uns der Heimat näher? Kein dunkler Fluß, sondern zerteilte Wasser liegen vor uns; und der Welt bleibt ihr Lohn. Sie ist Erde, und wir schütteln ihren Staub von den Füßen.
»Ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe, selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit — ruhen von Trübsal, von Mühe und Last, von Herzweh, Thränen, Hunger, von all dem Jammer seufzender Seelen, die hier im Gefängnis, ohne Frieden sind, von Krieg und Kriegsgeschrei und allem Hader.
[S. 220]
»Es ist eine lange, mühselige Reise, aber schon sehen wir das Ziel. Die Meilenzeiger unserer Jahre fliegen dahin, und für die Last jedes Tages wird uns die Kraft gegeben, die uns not ist (5 Mos. 33, 25. englische Übersetzung). Wer weiß wie nahe das Ende, wie bald der Pilger daheim sein wird im schönen Lande, wo Ströme lebendigen Wassers fließen, wo keine Not mehr sein wird, noch Leid, noch Schmerzen, und wo er ewig ruhen darf bei seinem himmlischen Freund.
»Der Sand verrinnt — Tag und Nacht, Nacht und Tag — schüttle du nicht das Glas. Trage deine Last, leide wie Er litt.«
Während Gordon sein stilles Jahr in Palästina verlebte, gelangte man daheim zur Erkenntnis, daß der Zustand in den Armenquartieren der reichen »City« ein Schandfleck für England sei. Es war das Jahr, in dem »der bittere Notschrei Londons« in allen Ohren wiederklang. Es wurden Untersuchungen eingeleitet, und die Enthüllungen, die es gab, entsetzten die feine Welt. Wohl war es teilweise ein Sensationsinteresse, es lag ein gewisser Kitzel darin, die sogenannten untersten Schichten aufzuwühlen, aber man fing doch ernstlich an, auf Besserung der Zustände zu drängen. Es wurden Komitees ernannt und Sitzungen gehalten, auch in der Folge mancherlei gethan. Ob das Los der Armen seither ein merklich gebessertes ist, bleibe dahingestellt; dergleichen wird wohl weniger durch Komitees, als durch einzelne Menschen erreicht, denen die Liebe gegeben ist, unter den Elenden zu leben. Es giebt solche, aber ihrer sind wenig. Der Notschrei drang bis ins heilige Land, und Gordon lieh ihm ein williges Ohr; ja er fing an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in Whitechapel[S. 221] und Spitalfields nicht eine ähnliche Arbeit für ihn gebe, wie s. Z. zu Gravesend, ob ein Leben der Samariterliebe im Herzen von London nicht die Lösung für seine Zukunft wäre, die ihn nur um so völliger in Anspruch nehmen würde, als der Jammer in jenen Höhlen der krassesten Armut und Verkommenheit weit über dem steht, was in der kleinen Themsestadt zu finden ist, deren Gassenjungen seine »Prinzen« waren.
Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Während Gordon sich in Gedanken mit seinen armen Brüdern und Schwestern in der englischen Hauptstadt beschäftigte und die Aussicht ihm eine liebe wurde, sich dieser »Innern Mission« zu widmen, brachte anderswo ein König ganz andere Pläne zu Papier und versah sich des Träumers in Palästina, als des Mannes, der sie ihm verwirklichen sollte.
Es war der König von Belgien, der in Gordon den Mann erblickte, welcher als Stanleys Nachfolger die Hoffnungen des »freien Kongostaats« ihrem Ziel entgegen führen sollte. Wahrscheinlich hat Stanley selbst auf Gordon hingewiesen; und dieser war zu allem bereit, was dazu dienen konnte, dem Sklavenhandel im Innern von Afrika entgegen zu arbeiten und den umnachteten Weltteil den Einflüssen christlicher Zivilisation zu erschließen. Der Plan war kein geringerer, als vom Kongo aus dem Njamnjamlande und den Gebieten der Rituellen beizukommen und auf diese Weise die verschiedensten Negerstämme zu einem Bund gegen die Sklavenwirtschaft im Sudan zu vereinigen. Es war gegen Ende des Jahres 1883, daß die belgische Aufforderung Gordon erreichte. Schon drei Jahre vorher, als er sein Amt im Sudan niederlegte, hatte er bei Gelegenheit einer Audienz in Brüssel seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, dem König in dieser Sache zu dienen, wenn es sich so fügen sollte, daß man seiner bedürfe. Und als dieser ihn nun an sein Versprechen mit dem Bemerken erinnerte, daß der Zeitpunkt gekommen sei, der unter Gordons Leitung zu den schönsten Hoffnungen am Kongo berechtige, war es die gewohnte Schlagfertigkeit des Mannes, die stehenden Fußes die palästinischen Studien abbrach und die Pläne hinsichtlich der Armen Londons auf eine künftige Zeit verschob. Er wartete[S. 222] nicht einmal ein richtiges Passagierboot ab, sondern verließ Jaffa bei erster bester Gelegenheit mit einem Frachtschiff, das ihn um ein kleines mit samt der Ladung auf den Meeresboden gebettet hätte. Am letzten Abend des Jahres 1883 erreichte er Genua und nahm den Schnellzug durch die Neujahrsnacht nach Brüssel. Es war der Anfang des für ihn so verhängnisvollen Jahres 1884, aber noch ahnte er nicht, daß Khartum sein Ziel war. Er gedachte der Kongo-Arbeit, die seiner harrte, und seine Seele war stille zu Gott.
»Ich war allein in meinem Koupé,« schrieb er den Freunden in Jaffa, »und habe auch an euch alle gedacht!«
Und die Freunde in Jaffa wußten, was er damit sagen wollte. Sie gehörten mit zu der Liste von etlichen hundert ihm Nahestehender, deren er vor Gott gedachte. Wer diese Liste hätte durchsehen können — ein König hier, ein alter Netzstricker dort, die seine Fürbitte brauchten!
Der belgische König war entzückt, einen so trefflichen Bevollmächtigten gewonnen zu haben, und Gordon ging nach England, um sich von den Seinen zu verabschieden. Sein Entlassungsgesuch aus dem englischen Dienst hatte er eingesandt. Noch vor Ende Januar wollte er wieder in Brüssel sein, um von dort die Reise nach dem Kongo anzutreten. Wie ganz anders sollte es kommen!
Daß im Sudan alles drunter und drüber ging, wußte er. Kein Jahr war vergangen, nachdem er seine Statthalterschaft niedergelegt hatte, da kamen Hilferufe genug von Khartum her, welche den guten Pascha zurückverlangten, der allein im stande war, dem geknechteten Volk eine Schutzmauer gegen seine Unterdrücker zu sein. Der Sklavenhandel war neu aufgeblüht und von Ägypten war keine Rettung zu erwarten. Die englische Bevormundung der ägyptischen Frage, die sich kurzer Hand als eine Koupon-Politik bezeichnen läßt, hatte nicht viel Gutes erreicht; und sowohl die englischen als die ägyptischen Minister waren viel zu sehr von dem Arabi-Aufstand in Anspruch genommen, als daß man Zeit gehabt hätte, im Sudan zum Rechten zu sehen. Dort war unter Gordons Nachfolger in der Statthalterschaft, jenem[S. 223] berüchtigten Rauf Pascha, eine böse Zeit angebrochen. Die Erpressung seitens der Beamten war ärger denn je, und als im Mahdi ein angeblicher Befreier sich erhob, war der Zündstoff im Lande in einer Weise angehäuft, daß der Aufruhr wild empor loderte.
Wie es mit der Gelderpressung durch übermäßige Besteuerung aussah, beschrieb der Times-Korrespondent Power, den Gordon in Khartum vorfand, und der einer der drei Engländer war (Gordon und Stewart die beiden andern), die des Landes Märtyrer wurden.
»Wenn die Leute hier ihre Acker bebauen wollen,« lautete der Bericht, »so müssen sie eine Steuer zahlen; und um Wasser aus dem Nil auf ihre Äcker zu leiten, ohne welches das Land nutzlos ist, müssen sie eine zweite Steuer zahlen. Wenn das Korn dann geerntet ist, kommt die dritte Steuer, ehe sie es verkaufen dürfen. Ist die Ernte gut, so wird die Steuer verdoppelt, damit neben der Regierungskasse der Privatbeutel des Pascha nicht zu kurz komme. Lassen die Leute unter diesen Umständen den Ackerbau liegen, dann kriegen sie die Karbatsche aus guter Rhinozeroshaut. Wenn der Bauer für Weib oder Kind ein armseliges Kleidungsstück kauft oder seine Lotterfalle von Haus wetterfest zu machen sich getraut, dann heißt's, er müsse Geld versteckt haben, das noch nicht besteuert sei. Kurz, die Leute müssen zahlen und zahlen und wieder zahlen, ob sie wollen oder nicht, ob sie können oder nicht; und wer nicht arbeitet, wird bis aufs Blut gequält, bis er mithilft, die Beamten zu bereichern. Wer ein Boot auf dem Nil hat, muß achtzig Mark zahlen, wenn er nicht unter ägyptischer Flagge fährt, und die Erlaubnis, die Flagge zu führen, kostet ebenfalls achtzig Mark. Dies ist's, was in erster Linie am Aufruhr schuld ist, nicht der Mahdi; und ich wünsche aus tiefster Seele, daß jeder Ägypter aus dem Land gejagt werde. Die Zustände der Sklavenwirtschaft, so beklagenswert sie sind, sind immerhin noch besser, als solch ein Regiment ägyptischer Blutsauger.«
Zwischen dem Mahdi des Sudan und jenem Schulmeisterkönig des großen Friedens in China ist eine gewisse Ähnlichkeit[S. 224] unverkennbar; der Aufstand war beidemal der eines falschen Propheten, welcher eine himmlische Sendung vorgiebt, um ein im Elend verkommenes Volk für seine Zwecke zu gewinnen. Beiden gelang es in erstaunlicher Weise, mit ihren Horden das Land zu verheeren und Träume einer goldenen Zukunft auszustreuen.
Der Mahdi wollte nichts Geringeres sein, als der Messias der moslemitischen Völker.
Die zum Islam »Bekehrten« sind in Zentral-Afrika nach Millionen zu rechnen, und mit der Lehre Mohammeds hatte sich in jenen Ländern auch die Erwartung verbreitet, daß in der Fülle der Zeit ein Mahdi, d. h. Führer, erscheinen werde, dem es vorbehalten sei, das Werk des Propheten mit Schwerteskraft zu vollenden, um die Gottlosigkeit von der Erde zu vertilgen, das unschuldig vergossene Blut der Imams zu rächen und ein Reich der Gerechtigkeit aufzurichten.
Es hat zu verschiedenen Zeiten Mahdi gegeben, und der, dem es neuerdings gelang, die Messiashoffnungen seiner Glaubensgenossen zu seinen Gunsten auszubeuten und die unterdrückten Stämme bis zu seinem im Sommer 1885 erfolgten Tode um sich zu scharen, war ein Eingeborner der Provinz Dongola, ein noch nicht vierzigjähriger Mann von hoher geschmeidiger Gestalt, schwarzem Bart und hellbrauner Gesichtsfarbe. Er hieß Mohammed Achmet und war der Sohn eines Schiffszimmermanns Namens Abdallah. Mohammed war der jüngere von mehreren Brüdern und wurde in seiner Jugend gleich diesen zum väterlichen Handwerk angehalten. Eine Abneigung dagegen machte sich jedoch früh bei ihm bemerkbar; er zog sich gern von den Menschen zurück und beschäftigte sich stundenlang mit dem Koran. Als junger Mensch entlief er der Heimat infolge einer Tracht Prügel; ging nach Khartum und schloß sich der »Medressu« oder freien Schule eines Fakir an, der zu Hoghali, einem Dorfe östlich von Khartum, dem Lehrwesen oblag. Diese Schule gehörte zum Grab des Scheik Hoghali, des hochverehrten Schutzheiligen von Khartum; und der Hüter des Schreins, obschon er für die freie Schule aufkommt und die Armen speist, erfreut sich einer schönen Einnahme seitens der andächtigen Wallfahrer. Er giebt vor, ein[S. 225] Abkömmling des ursprünglichen Hoghali und durch diesen Mohammeds selbst zu sein. Hier also ließ Mohammed Achmet sich nieder und befleißigte sich des Studiums der Religion. Nach einiger Zeit begab er sich nach Berber und besuchte die Schule des Scheik Ghubusch, der ebenfalls eines Heiligenschreins wartete. Im Jahr 1870 schloß er sich einem andern Fakir an, dem Scheik Nur el Daim (das ewige Licht). Dieser fand ihn soweit vorgerückt in der Religion, daß er ihn selbst zum Scheik oder Fakir bestellte, worauf der neue Lehrer sich auf die Insel Abba im Weißen Nil zurückzog. Dort lebte er eine Zeit lang in beschaulicher Stille, indem er sich in einer Höhle verbarg und stundenlang den Namen Gottes hersagte, viel fastete und Weihrauch verbrannte. Bald stand er im Geruch absonderlicher Heiligkeit; es sammelten sich Derwische um ihn, er wurde reich und heiratete eine Menge Weiber, die er sich umsichtigerweise unter den Töchtern der angesehensten Scheiks erwählte. Allerdings soll der wahre Moslem mit vier Weibern sich begnügen, und der kluge Heilige that dies auch, indem er, so oft er aufs neue Hochzeit hielt, eine der überzähligen älteren Gattinnen der Ehre seines Harems verlustig erklärte.
Im Frühjahr 1881 schrieb er an alle übrigen Fakire und offenbarte sich ihnen als den vom Propheten verheißenen Mahdi: er habe göttlichen Befehl erhalten, den Islam zu erneuern, derselbe müsse die Religion der Welt werden, ein Gesetz, eine Freiheit müsse die Gläubigen verbinden, und wer nicht gesonnen sei ihn anzuerkennen, sei er Christ, Heide oder Mohammedaner, müsse von der Erde vertilgt werden. Dieses Manifest richtete er u. a. auch an Mohammed Saleh, den gelehrten und einflußreichen Fakir von Dongola, indem er ihn aufforderte, mit seinen Derwischen in Abba zu ihm zu stoßen. Dieser aber benachrichtigte die Regierung von dem Vorhaben Mohammed Achmets und fügte als sein Privaturteil die Anmerkung bei, der Mensch müsse geistig gestört sein. Auch die Ulema von Khartum erklärten sich gegen ihn, ebenso wurde er in Kairo und Konstantinopel verworfen und als falscher Prophet gebrandmarkt. Gleichwohl fand der Mahdi Anhänger genug; ihm schlossen sich alle an, die das ägyptische[S. 226] Regiment haßten, vorab die Sklavenhändler, die wohl wußten, daß sie unter einem Aufruhrregiment ihr Raubwesen nur um so besser würden treiben können. Ja Gordon war der Ansicht, daß Sebehr von Anfang an die Hand mit im Spiel hatte, daß er den Mahdi, wenn er ihn nicht förmlich anstiftete, so doch jedenfalls bestärkte, alles, um durch Aufruhr und Anarchie in den Sudanländern seine Freilassung und Rücksendung zu erzwingen. Jedenfalls gehörte ein Verwandter Sebehrs von Anfang an zu des Mahdi Helfershelfern.
So viel ist sicher, daß der Glaube an die wahre Mission des Mahdi rasch um sich griff. Rauf Pascha konnte das bedenkliche Wachstum seiner Macht kaum unbeachtet lassen und schickte einen Botschafter nach der Insel Abba. »Als ich dieselbe erreichte,« berichtete dieser, »empfing mich Mohammed Achmet inmitten von mehreren Hunderten seiner Getreuen; in der Rechten hielt jeder ein Schwert. Der Mahdi saß auf einem erhöhten Thron, mit dem Stab des Propheten in der Hand. Auf meine Frage, was er beabsichtige, beschrieb er mir seine angebliche Sendung. Ich erwiderte ihm, daß wir alle so gut Muselmänner wären, als er selber. Das bestritt er, weil wir den Christen gestatteten, auf ihre Weise Gottesdienst zu halten, und weil unsere Regierung Steuern erhebe. Ich riet ihm, seine Pläne ruhen zu lassen, denn er könne doch nichts gegen eine Regierung ausrichten, die über Truppen und Schießbedarf und Dampfer verfüge. Darauf entgegnete er: ›Wenn eure Soldaten auf uns schießen, so werden ihre Kugeln uns nicht treffen; und wenn ihr mit euren Dampfern kommt, so werden diese untergehen.‹«
Die Kriegs- und Eroberungszüge des Mahdi während der Jahre 1881-83 zu verfolgen würde zu weit führen. Es genüge zu sagen, daß eine Provinz nach der andern, eine Stadt nach der andern ihm zufiel. Es war die Zeit der Arabi-Wirren in Ägypten; man war dort kaum in der Lage, sich viel um den Mahdi zu kümmern. Die wichtige Stadt Obeid ergab sich ihm im Anfang des Jahres 1883.
Erst nachdem Arabi mit Hilfe der Engländer nach Ceylon verschifft war, konnte man sich ägyptischerseits gegen den Mahdi[S. 227] wenden. Derselbe hatte verkündigt, daß er mit der Zeit auch berufen sei, Kairo und Konstantinopel zu seiner Sendung zu bekehren. Was die Statthalter im Sudan bisher gegen ihn unternommen hatten, war meist mißglückt und schon im August 1882 hatte Khartum in Belagerungszustand erklärt werden müssen. In diesem Jahr wurde das ägyptische Militär der Provinz unter die Anführerschaft des englischen Obersten Hicks gestellt, der mit noch andern Briten und verschiedenen sonstigen Europäern, darunter auch ein Deutscher, Major von Seckendorff, in des Khedive Dienste trat; denn da der Mahdi an alle wahren Moslemin appellierte, so hielt man es für geraten, ihm mit nichtmohammedanischen Kräften entgegenzutreten. Hicks Pascha war ein tüchtiger Offizier, der in Indien gedient hatte. Nach verschiedenen erfolgreichen Voroperationen verließ Hicks Khartum im September 1883 an der Spitze von zehntausend Mann mit der Absicht, den Mahdi aus Obeid zu vertreiben. Es war der unglücklichste Kriegszug, der je unternommen wurde. Ob und inwieweit Hicks der Unvorsichtigkeit zu beschuldigen war, ist nicht zu sagen, denn die näheren Einzelheiten der furchtbaren Katastrophe werden wohl nie ans Tageslicht treten. Das einzige, was verlautete, waren die Worte eines Zeitungskorrespondenten: »Wir wagen kein Geringes, indem wir unsere Verbindungslinien verlassen und über dreihundert Kilometer weit in ein unbekanntes Land vordringen. Die Brücke hinter uns ist sozusagen abgebrochen. Der Feind zieht sich vor uns zurück und das Land ist ausgeplündert. Wassermangel ist unsere große Sorge; die Kamele halten's nicht aus.« Und Schweigen umhüllte die Unternehmung, bis nach Wochen die Schreckensnachricht in Khartum einlief, daß Hicks Pascha mit seinen Zehntausend bis auf den letzten Mann aufgerieben sei. Der Mahdi hatte sie in eine wasserlose Wüste gelockt. Es soll eine dreitägige Schlacht stattgefunden, Hicks selber, als einer der letzten, seinen Tod gefunden haben. Gordon war der Ansicht, daß die Armee großenteils verdurstet sei. So viel ist sicher, daß nicht ein Europäer entkam und daß die ägyptischen Truppen bis auf wenige Mann aufgerieben wurden; oder wahrscheinlich richtiger — denn es war ägyptisches Militär von der »unbeschreiblichen«[S. 228] Sorte — was von den Truppen überblieb, schloß sich dem Mahdi an. Es war eine Niederlage wie im Teutoburger Wald, und ein Schrei des Entsetzens hallte durch England. Der 1., 2. und 3. November 1883 ist das mutmaßliche Datum der verhängnisvollen Schlacht.
Nach dieser Unglückspost waren noch zwei Engländer im Sudan: der bereits erwähnte Times-Korrespondent Power und Oberst Coëtlogon, der krank in Khartum zurückgeblieben war, als Hicks den unseligen Marsch unternahm. Die Folgen des Sieges für den Mahdi waren kaum zu überschätzen. Darfur war für den Khedive verloren; was an Provinzen oder Stämmen bis jetzt noch loyal war, ging zu den Rebellen über. Ein panischer Schrecken hatte das Land befallen; er machte sich in Kairo geltend, und im fernen England erlitten die ägyptischen Papiere aufs neue eine bedenkliche Baisse.
Ägypten wird nicht in Kairo, sondern in London regiert. Das Kabinet Gladstone hatte sich bis jetzt geweigert, dem Mahdi mit englischer Macht zu begegnen, und als nach Hicks Niederlage der Sudan einem unentwirrbaren Knäuel von Schwierigkeiten glich, erging seitens des britischen Ministeriums der einem Befehl gleichkommende gute Rat nach Kairo, die Sudan-Provinzen fahren zu lassen. Sir Evelyn Baring, der englische Agent in Ägypten, sollte den Khedive dahin beeinflussen, daß eine feste Stellung auf der Suakimlinie vorläufig das Beste wäre. Wenn der Mahdi erst einmal diese Linie überschritten hätte, dann wäre es den Friedensministern an der Themse immerhin noch früh genug gewesen, ihm mit Heeresmacht zu begegnen. Die englischen Interessen in Ägypten freilich mußten sicher gestellt werden; der Kontre-Admiral Hewett im Roten Meer und Baker Pascha zu Land sollten dieselben wahren.
Die Macht des Mahdi wuchs unterdessen lawinenartig, und nicht nur in Ägypten wurde die Meinung laut, daß eine Räumungspolitik nicht das Beste wäre. Daß des Khedive Grenztruppen den fanatischen Horden des falschen Propheten gewachsen sein würden, glaubte niemand; englisches oder türkisches Militär allein konnte sein Vordringen hindern. Aber auf englische Truppen sollte nicht[S. 229] gerechnet werden, und was die Türken beträfe, meinten die Ratgeber, wie sollte man es dem Beherrscher der Gläubigen selbst zumuten, einen heiligen Krieg mit Waffen zu unterdrücken? Denn daß es ein heiliger Krieg sei, das glaubten Tausende; und die Begeisterung in den Sudanländern nahm überhand, nun der längstverheißene Befreier gekommen schien. Die plötzliche Machtentfaltung des Mahdi hatte den Unterdrückten Thür und Thor geöffnet; er sprach von Freiheit und das seufzende Land erhob sich gegen das Joch der verhaßten Ägypter. Gordon hatte dies vorausgesehen. Hatte er nicht vor Jahren gesagt, daß ein beherzter Anführer jederzeit die Sudan-Völker zu einem gewaltigen Aufstand würde vereinigen können? Er hatte damals auch gesagt, daß gewisse Leute schlafen würden, bis es zu spät sei. Es waren nicht nur die Sklavenhändler, sondern vielmehr noch die zahllosen bewaffneten Araberstämme, in denen Gordon das Brandmaterial erblickte. Ein Anführer war erschienen, und allem nach einer, dem es an Mut nicht fehlte.
In England also war beschlossen worden, die Sudan-Provinzen zu räumen; welche Anarchie alsdann daselbst herrschen würde, das fragte man sich vorläufig nicht. Ein lebhafter Depeschen-Wechsel zwischen London und Kairo fand statt. In Ägypten nämlich stieß die Räumungspolitik auf Widerstand. Das Ministerium Cherif erklärte, die Verwaltung des Sudan sei ihnen von der Pforte anvertraut, und die Räumung lasse sich deshalb nicht so ohne weiteres vollziehen. Cherif Pascha fügte seinerseits hinzu: »Wir haben Tausende von getreuen Unterthanen im Sudan, und nichts auf der Welt soll mich dazu bringen, diese Leute dem Mahdi zu überantworten. Ich bin überzeugt, daß ich recht habe; die Zukunft wird zwischen mir und dem Kabinet Gladstone in dieser Sache richten.«
Damit legte das Ministerium Cherif sein Amt nieder und ein neues Kabinet unter Nubar Pascha trat ans Ruder. Als man diesem glückwünschend die Meinung aussprach, daß das neue Ministerium im Hinblick auf die vorhandene Krisis ein von der Klugheit zusammengerufenes zu sein scheine, entgegnete er trocken, dem sei ohne Zweifel so, das Wort Minister werde in[S. 230] Ägypten zur Zeit nur leider von dem lateinischen Wort minus hergeleitet, das weniger als nichts bedeute. So viel war aber sicher, daß, obschon das neue Ministerium bereit war, sich seine Aufgabe von England diktieren zu lassen, damit noch keineswegs Mittel und Wege gefunden waren, die ägyptischen Besatzungen, um die es sich handelte, aus den dem Aufruhr überladenen Sudanländern zurückzuziehen. An Vorschlägen fehlte es nicht, aber der eine war so unausführbar wie der andere.
Zwischen Dongola und Gondokoro standen etwa zwanzigtausend Mann ägyptischer Truppen mit Weib und Kind, und in allen Bezirken gab's Beamte, die das Brot der Regierung aßen und deren Lage täglich kritischer wurde. Unter den verschiedenen Garnisonsplätzen war Khartum selbst der Hauptort, dessen elftausend ägyptische Unterthanen einen Hilferuf nach dem andern ergehen ließen — inständige Bitten, einen Rückzug ins Werk zu setzen. Khartum war damals schon wie eine von allem Verkehr abgeschnittene Insel; jene elftausend Menschen hätten sich unmöglich selbst nach Ägypten durchschlagen können. Das Land umher war dem Mahdi zugefallen, und fürs übrige benutzten die zum Feind sich schlagenden Stämme gern die Gelegenheit, den Ägyptern alle bisherige Unterdrückung mit Zinsen heimzugeben. Daß damit manchem sein verdienter Lohn geworden, unterliegt keinem Zweifel; aber, wie es immer geht, leiden mit einem Schuldigen zehn Unschuldige.
Übrigens war nicht einmal das Nubar-Ministerium bereit, Khartum ohne weiteres fahren zu lassen; man hoffte diese Stadt für den Khedive halten zu können, selbst wenn man das Land dem Mahdi überließe — eine thörichte Hoffnung, welche die Schritte für den Rückzug der Besatzungen so lange verzögerte, bis es zu spät war.
Daß England eine Verantwortung in der Sache hatte, liegt auf der Hand; die Räumungspolitik war britischer guter Rat; und es gab in England Leute genug, die sich für die Besatzungen ereiferten und es für schmählich erklärten, diese im Stich zu lassen. In jenen Tagen sprach Gladstone selbst das Wort aus: »Darin sind wir alle einig, daß Maßregeln getroffen werden müssen, um[S. 231] den sichern Rückzug der Besatzungen zu ermöglichen.« Die einzige Maßregel, zu welcher das britische Kabinet sich bis dahin aber verstehen konnte, war die Grenzverteidigung unter Baker Pascha, ein klägliches Auskunftsmittel angesichts der Sachlage. Denn auch im östlichen Sudan griff der Aufruhr mit Riesenschritten um sich. Die Küstendistrikte des Roten Meeres fielen nacheinander der Rebellion anheim, während die Besatzungen von Suakim, Tokar, Trinkitat und Sinkat täglich in schlimmere Not gerieten. Jede Post brachte bedenklichere Nachrichten. Das englische Volk wurde ungeduldig und erklärte, die britische Ehre stehe auf dem Spiel. Da fiel wie ein Blitzstrahl eines Morgens die Nachricht ins Land — Gordon geht nach Khartum!
Noch während Gordon in Jaffa weilte, waren Stimmen in England laut geworden, daß er der Mann sei, der allein im stande wäre, der Lage im Sudan Herr zu werden. Auf Engelrat könne man zwar heutzutage nicht warten, meinte eine dieser Stimmen, allein es wäre wünschenswert, daß die öffentliche Meinung zu Gladstone spreche: »So sende nun hin gen Joppen und laß herrufen einen Gordon, mit dem Zunamen der Chinese; der wird dir sagen, was du thun sollst.« Und als Gordon nach seiner Brüsseler Audienz in der ersten Januarwoche 1884 in England eintraf und es bestimmt schien, daß er nach wenigen Tagen nach dem Kongo abreisen werde, da ging ein Sturm durch die Zeitungen, daß man diesen Mann verlieren könne; er habe sich zwar dem König von Belgien verbindlich gemacht, allein das sei kein Hindernis, König Leopold werde jedenfalls zurücktreten, wenn England seines Sohnes bedürfe. Auf diesen Wink der Presse hin antwortete die Regierung vorläufig damit, daß sie es nicht für nötig fand, Gordon aus dem englischen Dienste zu entlassen, wenn er als Bevollmächtigter des Königs von Belgien an den Kongo gehen sollte; fürs übrige ließ man ihn am 16. Januar nach Brüssel abreisen. Keine zwölf Stunden aber vergingen, da berief man ihn telegraphisch zurück, und frühmorgens am 18. war er wieder in London. Außer den[S. 232] Ministern wußte kein Mensch davon. Nachmittags um 3 Uhr hatte er Audienz, die er selbst folgendermaßen beschrieb:
»Wolseley (der bekannte General) brachte mich ins Ministerium und ließ mich im Vorzimmer warten; dann kam er zurück und sagte: ›Es ist beschlossen, den Sudan zu räumen, und England will für die künftige Regierung der Sudanländer keinerlei Gewähr leisten. Wollen Sie gehen?‹ ›Ja,‹ sagte ich. Da hieß er mich eintreten, und ich sah die Minister. ›Hat Wolseley Ihnen unsere Wünsche mitgeteilt?‹ fragten sie. ›Ja,‹ entgegnete ich, ›England will für die künftige Regierung des Sudans keine Gewähr bieten, und ich soll gehen und das Land räumen.‹ — ›Das ist's,‹ sagten sie; ›wie bald können Sie gehen?‹ — ›Sofort,‹ entgegnete ich und reiste am selben Abend ab.«
Das war eine frohe Stunde am andern Morgen, als es hieß: »Gordon ist nach Khartum abgereist!« Die Zeitungen überboten einander mit Glückwünschen, und wie die Times sagte, war es unmöglich, das Gefühl der Erleichterung zu beschreiben, welches das Land auf und nieder bei der Nachricht erfüllte, daß Gordon es übernommen habe, als Friedensbote nach dem Sudan zu gehen. Mit diesen Worten ist auch die diesem übertragene eigenartige Mission charakterisiert. Die englische Regierung, die keine Truppen senden wollte, um dem Mahdi zu begegnen, war wissentlich oder unwissentlich von dem allgemeinen Glauben angesteckt, daß Gordon an sich ein Heer sei, und so schickte man ihn, um durch seinen persönlichen Einfluß ein Ziel zu erreichen, wozu man sonst Armeen und Millionen braucht. Nicht um einen Krieg zu führen, zog der Held aus, sondern um auf seine Weise den Sudan aus dem Aufruhr zu retten; er sollte den ägyptischen Unterthanen den Rückzug ermöglichen, mit dem Mahdi unterhandeln und das Land sozusagen an die Sudanesen zurückgeben. Es lag etwas so Romantisches in diesem Ausziehen eines für viele, daß das Herz des Volkes davon ergriffen wurde und die Wünsche aller ihn begleiteten. Gordon selbst soll gesagt haben: »Ich soll dem Hund den Schwanz abschneiden, und ich will es thun, es mag kosten was es will.« Einen einzigen Kampfgenossen hatte er, Oberst Stewart, den er sich zum Begleiter ausgebeten hatte, derselbe, der früher schon von Regierungswegen im Sudan gewesen war.
[S. 233]
Nur wer Gordon nicht kannte, mochte sich wundern, wie er so schnell zur Abreise bereit sein konnte; der Leser aber versteht es wohl jetzt, daß dieser Mann allezeit und in allen Lagen reisefertig war. Auf Erden angewachsen war er nirgend und seine persönliche Ausrüstung kümmerte ihn wenig. Es hat ihn an jenem Nachmittag des 18. Januar einer gefragt: »Haben Sie denn auch alles, was Sie brauchen?« Die Antwort lautete: »Ich habe, was ich immer habe, dieser Anzug ist gut genug. Ich gehe wie ich bin.« »Ja, aber haben Sie auch Reisegeld?« »Das hätte ich beinahe vergessen. Der König von Belgien hat mir vierhundert Mark geliehen; die muß er wieder haben, und ohne Geld kann ich natürlich nicht fort.« Als man ihm aber vierzigtausend Mark mitgeben wollte, meinte er, das brauche er nicht, viertausend thäten es auch.
Daß es keine leichte Mission war, die er übernommen, daß Gefahren aller Art vor ihm lagen, wußte niemand besser als Gordon selbst, aber das focht ihn nicht an. Sein letztes Wort auf englischer Erde war ein Telegramm an seinen Freund, jenen Geistlichen, welchen er in Lausanne kennen gelernt hatte:
»Ich gehe nach Khartum; wenn er mit mir geht, ist alles wohl.«
Der Telegraphist hatte er und nicht Er gesetzt; aber der Empfänger dieser Botschaft sagte mit Recht, daß in diesen kurzen Worten Gordons Lebensgeschichte niedergelegt sei. Gordon ging allein und nicht allein; »der Herr der Heerscharen geht mit mir,« schrieb er unterwegs.
Unterwegs, an Bord der Tanjore, zwischen Brindisi und Port Said, brachte er den Zweck seiner Sendung im Licht des ministeriellen Auftrags zu Papier, in welchem Schriftstücke er betonte, daß es seitens des englischen Kabinets ausgemacht sei, für die künftige Regierung des Sudan keinerlei Gewähr zu leisten, daß England es aber unternommen habe, dem Land seine Unabhängigkeit zurückzugeben und ägyptische Unterdrückung nicht länger zu dulden; daß bei dieser Absicht sein Auftrag darin bestehe, einen sicheren Rückzug der Garnisonen und anderer ägyptischen Unterthanen zu bewerkstelligen und daß die Art und Weise dieses[S. 234] Rückzuges von den Umständen abhängen werde. Nachdem er damit seine Mission gekennzeichnet hatte, zeigte er weiter, wie sich dieselbe am besten ausführen lasse. Er schlug vor, daß man das Land den Erben der verschiedenen Sultane übergeben könne, die vor der ägyptischen Eroberung die Sudan-Provinzen beherrschten, und daß es diesen überlassen bleiben müsse, den Mahdi anzuerkennen oder nicht. Ferner machte er darauf aufmerksam, daß die Rückzugskolonnen eines Angriffs seitens des Mahdi wohl gewärtig sein müßten, in welchem Fall er voraussetzte, daß die Regierung es billigen würde, wenn er zu den Waffen griffe.
Es war Gordons Absicht, sich direkt durch den Suezkanal nach Suakim zu begeben und von dort durch die Wüste und über Berber nach Khartum zu gelangen. Er glaubte seiner Sendung als Friedensbote an das unglückliche Land besser genügen zu können, wenn er direkt hinkomme, ohne sich erst mit Ägypten ins Einvernehmen zu setzen. Als er aber in Port Said eintraf, war Sir E. Baring mit noch anderen von Kairo gekommen, um ihn aufzufordern, sich dahin zu begeben. Auch war die Nachricht angelangt, daß die Suakim-Route nun vollständig in den Händen der Rebellen und somit abgeschnitten sei. Er fügte sich den Umständen und hielt sich zwei Tage in Kairo auf. Großer Freundlichkeit seitens des Khedive hatte er sich nicht versehen, denn mit seiner Meinung über dessen Politik hatte er nie und nirgend hinter dem Berg gehalten; trotzdem sprach jener ihm seine volle Befriedigung darüber aus, daß er die Beruhigung des Sudan übernommen habe, und verlieh ihm zu diesem Zweck seine alte Oberstatthalterwürde. Allerdings war dies unter den vorliegenden Umständen mehr Form als Inhalt; des Khedive Firman aber beauftragte ihn nicht nur mit der Räumung des Landes, sondern mit der Reorganisation desselben, wenn es möglich wäre, die Provinzen der Anarchie zu entreißen. Gordon ging also einerseits als englischer Friedensbote nach Khartum, andererseits aber kehrte er in diese Hauptstadt als der Generalgouverneur der Provinz zurück, um sie so lange zu halten, bis man den Sudan sich selbst überlassen könne. Es lag kein Widerspruch in dieser doppelten Sendung, war doch der Zweck beider derselbe. Die englische[S. 235] Regierung billigte die Haltung des Khedive, und Sir E. Baring versicherte Gordon, daß der völlige Beistand beider, der englischen wie der ägyptischen, Behörden zu Kairo ihm gewiß sei.
Ehe Gordon die ägyptische Hauptstadt verließ, empfahl er die Wiederernennung eines Sultans von Darfur als ein Stück richtiger Taktik gegenüber dem Mahdi. Infolge dieses Rates wurde Emir Abdel Schakur, der rechtmäßige Erbe, vom Khedive als Beherrscher der Provinz anerkannt, die seinem Vater vor Jahren entrissen worden war. Der junge in Ägypten aufgewachsene Sultan verließ Kairo unter Gordons Schutz, entpuppte sich unterwegs aber als ein unfähiger Weichling. Am 26. Januar wurde die Reise nach Khartum angetreten. Der Weg sollte über Assuan nach Wady Halfa gehen, von wo aus Gordon durch die nubische Wüste nach Abu Hamed zu ziehen gedachte, um von da aus Khartum mit einem Nilboot zu erreichen.
Ob Gordon aber die bedrängte Stadt je sehen werde, das wurde nicht nur in England, sondern alsbald durch die ganze Welt zur Tagesfrage; der Held auf seinem Ritt durch die Wüste war ein Gegenstand der lebhafteren Teilnahme. Wußte man doch, daß der Feind in allen Richtungen streifte, daß aufrührerische Scheiks mit ihren Stämmen den Friedensboten stündlich überfallen konnten. Es war eine Wüstenstrecke von vierhundert Kilometer, die der furchtlose Gordon mit seinem Geleitsmann Stewart und einem geringen Gefolge von nicht zehn Mann auf raschen Kamelen zu durcheilen gedachte. Khartum war von Kairo aus benachrichtigt worden, daß Gordon in drei Wochen daselbst einzutreffen gedenke. »Es ist erstaunlich,« rief der junge Power, der ihn dort sehnlichst erwartete; »es hat noch nie einer diese Reise unter einem Monat gemacht. Gordon aber mit Schwert und Bibel fährt wie ein Wirbel durchs Land.«
Kein Feind belästigte ihn, der alte Zauber zog vor ihm her, oder wie er es nannte, ihn geleitete die Wolke bei Tag, die Feuersäule bei Nacht, und er war sicher in Feindesland. Eine friedliche Begegnung hatte er auf dem halben Wege, nämlich den letzten Flüchtling von Khartum, dem es gelang Kairo zu erreichen; es war dies ein Deutscher, Namens Bohndorff, der mit Dr. Junker[S. 236] im Njamnjamlande wissenschaftliches Forschungen obgelegen hatte, bis es fast zu spät war zu entkommen. Sie waren alte Bekannte; Gordon hatte mit diesem Deutschen früher schon am Weißen Nil verkehrt. Bohndorff beschrieb die Begegnung: eine Staubwolke am Horizont und ein sich daraus loslösender Reitertrupp, der Anführer voraus, und man erkannte von weitem den ernsten Eifer, der ihn seinem Ziele entgegentrug. Von Bohndorff erfuhr Gordon, wie es in Khartum stehe, daß außer den beiden Engländern Power und Coëtlogon nur ein Europäer noch dort sei, nämlich der österreichische Konsul Hansal, welche Bemerkung übrigens eine Anzahl ansässiger Griechen außer acht ließ. An sechzigtausend Seelen, worunter zahlreiche Flüchtlinge aus der Umgegend, wären in der Stadt — ein Bild der Sorge und Niedergeschlagenheit — doch werde die Ruhe aufrecht erhalten, und Oberst Coëtlogon lasse sich die Befestigung angelegen sein.
Wenn man in England und anderwärts um Gordon sorgte, so war dies nicht ohne Grund, denn die Nachrichten aus dem östlichen Sudan waren nichts weniger als beruhigend. Am 4. Februar erlitt Baker Pascha mit seinen vierthalbtausend Ägyptern und etlichen englischen Offizieren eine gründliche Niederlage bei Trinkitat, als er einen Versuch machte, Tokar und Sinkat zu entsetzen. Er hatte sein Bestes gethan, die erbärmliche Mannschaft, welche ihm zu Gebote stand, einen zusammengeworfenen Haufen ägyptischer Gendarmerie, türkischer Baschi-Bosuks und Schwarzer aus dem Sudan, annähernd kriegstüchtig zu machen; aber gleich beim ersten Zusammenstoß mit des Mahdi Heerführer, Osman Digna, überfiel die Helden eine Todesangst, und sie machten nicht einmal den Versuch Stand zu halten. Die einen schossen ihre Flinten ab und schrieen um Gnade, während die anderen ihre Waffen von sich warfen und in wilder Flucht davon stürzten. An hundert Offiziere, darunter die Mehrzahl der englischen Offiziere, kamen um, und nur ein kleiner Teil der Truppen gelangte nach der Uferstadt Trinkitat zurück, von wo sie ausgezogen waren. Baker selbst kam nur wie durch ein Wunder davon, nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, seine flüchtigen Helden zum Stehen zu bringen.
[S. 237]
Osman Digna war der Mann, diesen Sieg auszubeuten. Man erwartete, daß er sich auf Suakim werfen werde. Ringsumher hatte er die Stämme gewonnen, und selbst in dieser Hafenstadt brachte der Schrecken viele dazu, sich für den Mahdi zu erklären. Sinkat fiel; die Besatzung hatte sich gehalten, bis der letzte Hund verzehrt war. Man schlachtete die Pferde; noch ein Sack voll Korn war übrig, und der tapfere Kommandant Thewsik Bey hatte erklärt, daß wenn bis zum achten Februar keine Hilfe komme, er den letzten verzweifelten Ausfall machen müsse, um einen besseren Tod zu finden, als das Verhungern innerhalb der Mauern. Er erfuhr nichts von Baker Paschas Niederlage, und nachdem auch sein letzter Hilferuf ungehört verhallt war, vernahm die Welt, daß die Belagerung von Sinkat mit einem todesmutigen Ausfall der Besatzung geendet habe, der ägyptischen Truppen ein weit rühmlicheres Zeugnis ausstellte, als man seither zu hören gewohnt war.
Das war Wasser auf die Mühle der Opposition in England; es gab eine heiße Debatte im Parlament. Gladstone erklärte, man sei deshalb der Besatzung von Sinkat nicht zu Hilfe gekommen, weil man nichts thun wolle, was irgendwie von Folgen für jene anderen Besatzungen sein könne, die Gordon zu retten versuche. Es sei geboten, sich ruhig zu verhalten. Angesichts dieser Erklärung jedoch und unter dem Drucke der öffentlichen Meinung wurde der britische General Graham, zur Zeit in Kairo, damit beauftragt, Tokar zu entsetzen. Noch ehe derselbe aber mit seiner Mannschaft in Trinkitat gelandet war, hatte Tokar sich ergeben, und die Besatzung war zum Feind übergegangen. Der Fall von Kassala wurde als das nächste erwartet, und auch die Ufer-Distrikte um Massaua her schienen dem Mahdi zuzufallen; es blieb nichts übrig, als die Araber unter Osman Digna bei Suakim zu erwarten und von dort zurückzuwerfen.
Osman Digna war ein tüchtiger Soldat; er war Sklavenhändler gewesen und jetzt die rechte Hand des falschen Propheten. Dieser hatte ihn auf dem Sklavenmarkt zu Obeid kennen gelernt und mit großem Scharfblick seine Brauchbarkeit erkannt; er hatte ihn für seine Pläne gewonnen, worauf er ihm den Ost-Sudan[S. 238] übertrug, damit er dort Land und Leute für seine angebliche Mission gewinne. Mit siegreichen Waffen hatte Osman Digna des Propheten Werk seither ausgerichtet; jetzt aber galt es einem englischen General und englischen Linientruppen stand zu halten; er erlitt seine erste Niederlage und wurde ins Innere des Landes zurückgeworfen. Keineswegs aber streckte er die Waffen, und so spann sich ein englischer Separatkrieg im Ost-Sudan hin, während die Räumung des Landes auf friedlichem Weg ins Werk gesetzt werden sollte! Osman Digna bekämpfte man, den Mahdi wollte man nicht bekämpfen, und die Parteien stritten sich im Parlament.
Und Gordon? Er wußte von all dem nichts. In felsenfestem Vertrauen eilte er durch die Wüste, unbesorgt um seine eigene Sicherheit, während man auf Kanzeln und Rednerbühnen seiner gedachte, während viel tausend Herzen ihm ein Engelgeleit in den Gefahren wünschten, die ihn umgaben. Gefahren? Er sah sie nicht! Einem Scheik, der ihm quer kam, sagte er: »Wenn ihr Frieden wollt, ich bringe ihn; sucht ihr Krieg, so bin ich bereit.« Und der verzagenden Khartumer Garnison meldete er telegraphisch seine Nähe mit den Worten: »Ihr seid Männer und nicht Weiber. Seid guten Muts, ich komme.«
War schon in England die Befriedigung eine allgemeine gewesen, als Gordon nach Khartum sich auf den Weg machte, so war's noch ein anderes in Ägypten. Eine Begeisterung sondergleichen erfüllte Land und Leute bei seinem Kommen. Man wußte dort ungleich besser, was man an ihm hatte, als daheim in England. Die Thaten seiner früheren Statthalterschaft waren auf aller Lippen; man sprach von ihm als einem Unüberwindlichen, dessen bloße Gegenwart Wunder wirken werde in dem zerrütteten Land. Des Mahdi Kriegsheer werde in nichts zerstieben wie Dunst vor der Sonne, rief das Volk, und des guten Pascha feste Hand werde alle Wunden heilen, die jener geschlagen. »Ich gehe, um die Ehre Ägyptens zu retten,« war Gordons letztes Wort an Nubar; daß er Englands Ehre in seiner Hand trug, wußte[S. 239] er nicht minder. Auf jenem Wüstenritt nach Abu Hamed durchstritt er im Geist die Kämpfe, die es zu liefern geben würde, und hätte er nur verwirklichen können, was sein hoher Sinn und sein unbefangenes Auge als das richtige erkannten, hätte man ihm nur freie Hand gelassen, es ließe sich wohl ein anderes Lied singen von der Heldenzeit in Khartum. Als die glitzernde Sandwüste hinter ihm lag, wußte er, was er zu thun habe, und stand gegürtet zur Schlacht.
Er brauchte nicht weit vorzudringen, um Beweise zu finden, daß ägyptische Beamtenwirtschaft des Mahdi Handlangerin war; diesen hielt er übrigens für weniger stark als die Sage ging. So fand er die Eisenbahnarbeiter zu Assuan in größter Armut, weil ihre Löhnung seit Monaten im Rückstand blieb; der Hunger hatte da dem Propheten Glauben verschafft, und Gordon telegraphierte alsbald an Sir E. Baring, er solle den Leuten ohne weiteren Verzug ihr Geld schicken. Ebenso entdeckte er, daß der Aufstand zwischen Suakim und Kassala lediglich der Habsucht zweier Paschas zuzuschreiben war. Diese waren mit den Scheiks des Hadendoa-Stammes eins geworden, ihnen für Truppentransporte sieben Thaler für jedes Kamel zu geben; als die Hadendoas aber etwa zehntausend Mann durch die Wüste befördert hatten, erhielten sie je einen Thaler, während die übrigen sechs ganz ohne Zweifel im Privatbeutel der Pascha stecken blieben. Da erhob sich der Stamm, schloß sich Osman Digna an, und das Resultat war Bakers Niederlage.
Als erste Abschlagszahlung in der Räumungspolitik hatte Gordon schon von Korosko aus an Nubar Pascha telegraphiert:
»Eine Anzahl Weiber und Kinder sind nach Ägypten auf dem Weg; suchen Sie einen menschenfreundlichen Mann, daß er sich ihrer annehme.«
Und nachdem er in Abu Hamed an die englische Regierung berichtet und darauf hingewiesen hatte, daß es so unpraktisch wie unrecht wäre, den Sudan sich selbst zu überlassen, ehe man von geordneten Verhältnissen daselbst reden könne, bestieg er ein Nilboot und erreichte Berber am 11. Februar.
Hier erließ er seine Proklamationen. Den Einwohnern der[S. 240] Stadt Berber sagte er, daß er gekommen sei, Frieden zu bringen, ja Freiheit von aller Unterdrückung, daß er bereit sei ihnen zu helfen, Ruhe und Ordnung herzustellen, und daß er ihnen zeigen wolle, wie das Land sich künftighin selber regieren könne. Alle vorenthaltenen Rechte sollten ihnen wieder werden; er habe nur den einen Wunsch, Gerechtigkeit walten zu lassen und Blutvergießen zu verhindern. Alle rückständigen Steuern bis zum Ende des Jahres 1883 seien gestrichen und alle Steuern des laufenden Jahres auf die Hälfte reduziert. Der Sudan gehörte nicht fremden Erpressern, sondern von jetzt ab den Kindern des Landes. Der beste Beweis, daß man ihm glaubte, liegt wohl darin, daß etliche hundert Leute sich um Ämter bei ihm meldeten; von großer Freude erfüllt illuminierten sie ihm zu Ehren ihre Stadt. Der englischen Regierung, die ihn gewarnt hatte, sich ja nicht in unnötige Gefahr zu begeben, konnte er hierauf erwidern, es habe keine Not, die Leute wären im Gegenteil froh und dankbar, von einer Oberherrschaft befreit zu werden, die ihnen nur Elend gebracht habe. Er hielt sich nur wenige Tage in Berber auf, aber es genügte, um seinen alten Einfluß geltend zu machen und ihm das volle Vertrauen der Stadt zu sichern. Und nun gar die Weiterreise nach Khartum! In englischen Zeitungen war die Besorgnis oben auf, wie sich Gordon durch die aufrührerischen Stämme durchschlagen werde; der Weg durch die Wüste sei nichts gewesen gegen die weit größere Gefahr der Nilreise, lägen doch die schwarzbraunen Feinde im Hinterhalt an beiden Ufern des Flusses, ihre Speere seien lang und ihre Hinterlist groß. Nichts dergleichen! Sie bildeten Spalier am Fluß hin für den Befreier des Landes, der sich auch gar nicht scheute, unter ihnen umher zu gehen. Sie kannten ihn alle. Und je weiter er vordrang, um so größer die Begeisterung; das Volk empfing seinen Retter mit Frohlocken, gleich einem Schutzengel, der eine Weile entschwunden war und nun zurückkommt aus der unbekannten Welt des Friedens, nach der man sich sehnt.
Auch in Khartum wußte man, wessen man sich zu ihm zu versehen habe. Sein Manifest war ihm vorausgeeilt. Es lautete folgendermaßen:
[S. 241]
»Vernehmet, daß ich gekommen bin, das Land aus der Not zu befreien, in die es geraten ist, Ruhe herzustellen und Blutvergießen der Moslems zu verhindern, den Einwohnern einen geordneten Wohlstand zu sichern, Weib und Kind ihnen zu schützen und all der Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu steuern, die an diesem Aufruhr schuld sind.
»Ich habe aus diesem Grund alle rückständigen Steuern vergangener Jahre erlassen und habe die Steuern des laufenden Jahres, sowie alle unter Rauf Pascha eingeführte Besteuerung auf die Hälfte herabgesetzt. Ich will euch vor Ungerechtigkeit schützen, damit der Ackerbau und Handel erblühe und Wohlstand gedeihe. Ich gebe euch das Recht zurück, die Sklaven, die in eurem Dienste sind, zu behalten, und weder die Regierung noch sonst jemand wird es euch künftighin wehren. Haltet Frieden; gebt euch nicht dem Verderben hin und bleibt fern von des Teufels Weg. Benachrichtigt alle Einwohner von der guten Kunde, auf daß sie den Weg der Gerechtigkeit betreten und vom Bösen sich abwenden.
»Wer mich sehen will, der komme und fürchte nichts.
Gordon
Generalgouverneur des Sudan.«
In Khartum herrschte nur Freude, in England aber gab's böses Blut, als diese Proklamation bekannt wurde. Was, der will den Leuten im Sudan erlauben ihre Sklaven zu behalten, anstatt ihnen von der Freiheit der christlichen Zivilisation zu sagen, die alle frei macht! Der Sturm, der bei dieser Erklärung in gewissen Kreisen losbrach, lieferte den ersten Beweis davon, daß England seinen Gordon noch nicht kannte. Unbegreiflicher Mensch dieser Gordon, glaubt der, mit schlechten Mitteln könne man Gutes thun? England, das in aller Welt sich als den Befreier von Sklavenketten rühme, sei durch solche Haltung geschändet. Die wenigsten Leute hatten die kühle Überlegung, Gordons Urteil zu verstehen.
»Was für tolles Zeug!« rief er aus, als ihm die Nachricht von dem Entsetzen kam, das sein Manifest in England hervorgerufen. »Ist es nicht offenkundig erklärt worden, daß der Sudan geräumt werde und die Sudanesen sich selbst überlassen bleiben sollten? Wenn das Volk aber hier seinen Willen hat, so hält es Sklaven. Was hätte es genutzt, die Leute an den kraftlosen Vertrag von 1877[S. 242] zu erinnern, wenn man sie sich selbst überlassen will? Und ist nicht der eine Zweck meiner Sendung der, die Garnisonen und andere ägyptische Flüchtlinge womöglich ohne Blutvergießen aus dem Land zu bringen? Was ich den Leuten über die Sklaven gesagt habe, war nicht mehr und nicht weniger als eine Plattheit!«
Und anderswo erinnert er seine Ankläger daran, daß er während der Jahre seiner Kämpfe mit den Sklavenjägern nicht einen Finger geregt habe, die Sklaven im Hausstand, d. h. die leibeigenen Dienstboten, zu befreien, während er doch mehr wie einmal sein Leben einsetzte, der Sklavenjagd das Genick zu brechen. Gordon hat immer dafür gehalten, daß es ein Unrecht an den Leuten wäre, ihnen zwangsweise und ohne Vergütung die hergebrachten Dienstsklaven zu nehmen, und es war ein zu klar denkender Kopf, um sich über die Zukunft des Landes, das er räumen sollte, auch nur einen Augenblick einer Täuschung hinzugeben. Die harmlose Ansicht, daß der sich selbst überlassene Sudanese keine Sklaven halten werde, konnte ihn nicht beeinflussen, und nur ein Fanatiker hätte nach Khartum gehen können und sagen: »Hier bin ich und bringe euch im Namen zweier Nationen eure Unabhängigkeit zurück. Das Land sei künftighin euch überlassen, lebt darin nach eurem herkömmlichen Brauch. Haltet Frieden miteinander und Gott schenke euch Gedeihen, aber daß ihr euch nicht untersteht, eure Dienstboten als Sklaven zu betrachten« — wenn doch der altherkömmliche Brauch den dienenden Stand leibeigen macht! Der bemittelte Sudanese hält Sklaven wie die Juden und Römer im Altertum. Gordon wußte das; vielleicht dachte er auch daran, daß Paulus dem Philemon seinen entlaufenen Sklaven zurückschickte. Hoffentlich denkt niemand, man wolle hiermit der Sklaverei das Wort reden; es soll nur der sentimentale Eifer damit ins Licht gestellt werden, der sich berufen fand, Gordon unbesehen zu verdammen.
Am 18. Februar erreichte er Khartum. Als er durch die Straßen ging, drängten sich die Leute zu Hunderten um ihn; alle wollten ihm die Hand küssen. Einige freudetolle Weiber gingen so weit, ihm die Füße küssen zu wollen, und zweimal lag der Generalgouverneur am Boden, ehe er sich's versah. Er hatte[S. 243] nur wenige Worte gesprochen, aber es waren Worte voll goldener Hoffnung: »Ich bin ohne Soldaten, aber mit Gott zu euch gekommen, um der Not dieses Landes zu steuern,« sagte er. »Ich will nicht mit Waffen, sondern durch Gerechtigkeit hier kämpfen. Die Zeit der Baschi-Bosuks ist vorüber.«
Das war ein Jubel! Kein Wunder, daß Power schon nach wenig Tagen schreiben konnte: »Gordon hat aller Herzen gewonnen. Er ist Diktator hier; der Mahdi gilt nichts mehr. Es ist erstaunlich, den Einfluß dieses einen Mannes über Tausende zu sehen. Mütter bringen ihm ihre kranken Kinder, daß er sie anrühre.« Wo er sich blicken ließ, rief das Volk: Sultan! Vater! Retter! und wer etwas zu klagen hatte, dem lieh er sein Ohr. Noch ehe die Sonne unterging, die seinen Einzug beleuchtete, ließ er alle Rechnungsbücher der ägyptischen Regierung, alle Peitschen und Marterwerkzeuge auf dem freien Platz vor seinem Palast aufhäufen und anzünden; es war das Autodafé der Unterdrückung, lachend und weinend tanzten die Leute um dasselbe her. Er besuchte das Gefängnis und ließ alle Ketten fallen; Hunderte schmachteten da, Männer, Weiber und Kinder, Schuldige und Unschuldige — er gab ihnen allen die Freiheit. Ein alter Scheik wurde aus einem Tragbett vor ihn gebracht; der Ex-Statthalter Hussein Pascha Cherif hatte den Ärmsten bastonnieren lassen, bis seine Füße nur noch unförmliche Massen blutenden Fleisches waren. Gordon sagte nicht viel, aber er telegraphierte alsbald nach Kairo und forderte, daß jenem Hussein tausend Mark von seinem Gehalt abgezogen würden, die dem Opfer seiner Grausamkeit zu gut kommen sollten. Dann ließ er das Gefängnis anzünden, und weit in die Nacht hinein verkündeten die Flammen, daß es mit solcher Tyrannei auf immer vorbei sei.
So that der weise Mann was er konnte, um die Mithilfe des Volkes für die große Arbeit zu gewinnen, die er übernommen hatte. Er öffnete die Thore der Stadt und erklärte den Markt frei, der bisher nur durch »Bakschisch« den Händlern offen stand. Und gleich vom ersten Tag an sahen die Leute die ihnen von früher in angenehmer Erinnerung stehende Brieflade wieder, welche an der Hauptthüre des Regierungspalastes zu dem Zweck angebracht[S. 244] war, daß jeder, auch der geringste, mit dem Oberstatthalter verkehren könne, so er es begehre. Als nach einiger Zeit Oberst Coëtlogon Khartum verließ, um seinen Weg nach Ägypten und England zurückzufinden, gab Gordon ihm die Versicherung mit, daß die Zurückbleibenden in der Stadt so sicher wären wie ein Spaziergänger im Kensington Park. Was den jungen Power betrifft, so hat sich dieser so für Gordon begeistert, daß er sich für Khartum entschied, so lang Gordon bleibe. »Er vollbringt Wunder hier,« meldete er der Times.
Militärische Änderungen anlangend, so hatte Gordon bestimmt, daß die eingeborenen Truppen in Khartum verbleiben, während die weiße Mannschaft nach Fort Omderman auf der anderen Seite des Weißen Nils sich zurückziehen sollte, wo sie mit ihren Familien und den andern auf »Reisegelegenheit« wartenden Ägyptern bleiben würden, bis man sie nilabwärts schaffen könnte. Einen Neger, der sich unter Bazaine in Mexiko das Kreuz der Ehrenlegion erworben hatte, ernannte er zum Truppenbefehlshaber, was allgemeine Befriedigung hervorrief. Seinen Geleitsmann, den Oberst Stewart, ließ er den Weißen Nil hinauf dampfen, damit er rekognosziere und Gordons Proklamation auch dort bekannt mache. Auf der ersten Strecke, etwa sieben Stunden weit, schien das Land ruhig; dann erreichte er ein aufrührerisches Dorf, wo die Leute übrigens froh waren zu hören, daß er Frieden bringe. Es lagen etwa fünfhundert Mann bewaffnete Rebellen in demselben. In einem Dorf weiterhin fand sich ein Scheik, der kurz zuvor vom Mahdi zum Bezirksstatthalter ernannt worden war, damit er die Gegend für den Propheten gewinne. Andere Scheiks, mit denen Stewart verkehrte, erklärten ihm, daß ihnen nichts übrig bleibe, als sich dem Mahdi anzuschließen, wenn ihnen nicht von einer tüchtigen Regierung Schutz würde. Ganz Gordons Ansicht, die er bis zuletzt festhielt; den Sudan sich selbst überlassen, ehe der Mahdi aufs Haupt geschlagen ist, heißt nichts anders, als die Leute zwingen, ihn anzuerkennen.
Der Mahdi saß zur Zeit noch in Obeid, etwa dreihundert Kilometer von Khartum entfernt. Dort hingen ihm die Araberstämme an, deren jeder sechs- bis achttausend Berittene ins Feld[S. 245] bringen konnte. Seine Macht war zwar allem nach überschätzt worden, aber Gordon verlor keine Zeit, es der englischen Regierung nahe zu legen, daß sein Einfluß, oder vielmehr die Furcht vor ihm, das Land regiere, und daß es dringend geboten sei, ihm entgegenzutreten; eine geringe Abteilung indischer Truppen nach Wady Halfa zu beordern, würde vorläufig genügen. Man nahm seinen Rat nicht an!
Gordons Friedensbotschaft war nun allerdings von bester Wirkung gewesen, allein diese Wirkung erstreckte sich nicht weit über Khartum hinaus, und selbst in dieser Stadt wurde ein Nachlassen der guten Stimmung fühlbar, wie aus einer Proklamation hervorgeht, die Gordon schon Ende Februar erließ, worin er strengere Maßregeln ankündigte und solchen, die im geheimen die Rebellen begünstigten, anzeigte, daß er ein Auge auf sie habe. Viele Stämme um Khartum her, und wiederum zwischen dieser Stadt und Berber und Dongola, waren aufrührerisch und mehr oder weniger eine wachsende Quelle der Sorge für ihn; während die Bevölkerung zwischen Suakim und Kassala teils in offenem Aufruhr war, teils den Lauf der Dinge abwartete, um an den Sieger sich zu halten. Es war ihm klar, daß Khartum selber früher oder später keine andere Wahl haben würde. Khartum würde sich halten, so lange er dort sei, was aber, wenn er die Besatzungen zurückgezogen und das Land geräumt habe? Er würde die Anarchie zurücklassen und nichts würde dem Volk übrig bleiben, als den Mahdi anzuerkennen. Er betonte es in seinen Depeschen immer schärfer, daß England die Verpflichtung obliege, dem Volk die Möglichkeit einer Regierung an die Hand zu geben, die sich werde behaupten können; es müsse dies ein Mann sein, der dem falschen Propheten gewachsen sei, einer der Einfluß im Land habe, der die persönliche Macht besäße, sich als Herrscher geltend zu machen, der das Volk zusammenhalten würde, selbst wenn er es durch Furcht regiere. Es galt zwischen zwei Übeln zu wählen, und der Mahdi war für das Land von zwei Machthabern weitaus der schlimmere. In der Art und Weise, wie das Volk ihm selber zugefallen war, hatte Gordon erkannt, daß es sich nach einem kraftvollen Herrscher sehne und einem solchen sich[S. 246] mit Freuden ergeben würde; er sah sich vergebens nach einem solchen um, unter den Scheiks und kleinen Sultanen war keiner, der Manns genug gewesen wäre, sich nur einen Tag zu halten. Er blickte weiter und sah nur einen, der im stande wäre in die Bresche zu treten, und Gordon schlug ihn vor — es war sein Todfeind Sebehr Rachama.
Wenn eine Bombe aus blauem Himmel in die englische Welt gefallen wäre, es hätte kein größeres Erstaunen verursacht, als die über Kairo in London eingelaufene Nachricht, daß Gordon als beste Lösung der Frage, wie der Sudan zu Ruhe und Ordnung zurückzubringen sei, der britischen Regierung vorgeschlagen habe, den alten Sklavenhändler Sebehr ins Land zu setzen, damit er es gegen den Mahdi halte. Gordons Rat, dessen Ausführung er bis zuletzt für den richtigen, weil einzig möglichen Ausweg hielt, ging dahin, daß England dem schwarzen Pascha einen moralischen Halt gewähren sollte — wie es beim Amir von Afghanistan geschieht — und dazu auf zwei Jahre einen jährlichen Beitrag von zwei Millionen Mark. Zwar könne man den Türken das Land überlassen, aber diese müßten dann noch ganz anders unterstützt werden, abgesehen davon, daß man damit wieder eine Fremdherrschaft aufrichte. Sebehr sei der eine Mann aus den Sudanländern selbst, der dem Mahdi gewachsen sei; dieser könne dann immerhin als »Papst« sich geltend machen, wenn jener als Sultan die weltliche Herrschaft in fester Hand halte. Die Sudanesen würden ihn als ihren Landsmann mit Freuden anerkennen und seiner Überlegenheit sich fügen, wodurch eine einigermaßen ordnungsmäßige Regierung möglich werde, während sonst alles in Anarchie versinke. Was die Sklavenjagd betreffe, so sei sie einst schlimm genug unter dem schwarzen Pascha gewesen, sie würde aber zehnmal schlimmer werden unter dem Mahdi; Sebehr sei also auch in diesem Stück das geringere Übel von zweien. Fürs übrige wollte Gordon den Sebehr teilweise durch Vertrauen gewonnen haben. Sebehr sollte die ihm zugedachte[S. 247] Würde unter der Bedingung annehmen, daß er als Beherrscher des Sudans kein Sklavenjäger sein werde, und Gordon wollte es selbst übernehmen, daß diese Bedingung darum jenem nicht allzuviel freie Wahl ließe, weil er, Gordon, die eigentlichen Jagdreviere am Äquator seine eigene Sorge hätte sein lassen, indem er dort im Auftrag des Königs von Belgien den Kongostaat weiter ausgestaltet und die hilflosen Negerstämme um sich gesammelt hätte. Es war die alte Politik Gordons, wo anderes fehlschlug, durch seine Feinde selbst das gesteckte Ziel zu erreichen; diese Politik mag den wenigsten Leuten einleuchten, man kann aber nur daran erinnern, daß es in Gordons Leben an Belegen nicht fehlt, wie gerade diese Taktik zu glänzenden Erfolgen geführt hat. Gordon war der letzte, der Sebehrs früheres Leben guthieß, und besser als sonst jemand kannte er die Geschichte verübter Greuel, die dieser zu verantworten hatte, ja, die er durch den Tod seines Sohnes und seine eigene zehnjährige Gefangenschaft hatte büßen müssen; dies aber hinderte ihn nicht, die politische Tüchtigkeit des Mannes anzuerkennen, und da seine Energie, seine Umsicht und sein Organisationsvermögen jetzt zu Besserem zu gebrauchen waren als zu Aufwiegelungen und Sklavenrazzien, so riet er, diese Eigenschaften zum Besten des Landes zu verwenden. Daß Sebehr ihn als seinen Züchtiger haßte und unter Umständen mit eigener Hand erstochen hätte, das kümmerte ihn keinen Augenblick, ja er ging so weit, den Vorschlag zu machen, er und Sebehr miteinander wollten die gewünschte Ordnung im Sudan aufrichten und miteinander würde es ihnen gelingen. Nur ein Mann wie Gordon konnte auf solche Pläne geraten, und hätte man ihm freie Hand gelassen, er hätte sie sicherlich ausgeführt! Daß die überklugen Diplomaten, die seinen Antrag im Kabinettsrat mit der Lupe der Staatswissenschaft untersuchten, sich nicht mit ihm einigen konnten, ist begreiflich; man kann sie auch aus Gründen der Theorie nicht tadeln, man kann aber darauf hinweisen, daß ihre Klugheit in der Folge zu Schanden geworden ist. Freilich hätte auch Gordon eine Täuschung erleben können, wenn man ihm Sebehr bewilligt haben würde, aber selbst dann hätten die Resultate kaum so sein können, wie sie jetzt geworden[S. 248] sind. Welche Ströme Blutes sind nicht geflossen, seit die staatsmännische Vorsicht ihr Verdikt gesprochen hat, und wie sehr ist der Sudan zur Zeit ein Chaos der Anarchie und Sklavenräuberei!
Der schwarze Pascha war hiernach der Punkt, wo die Meinungen auseinandergingen, und von da ab entwickelte sich die Haltung der englischen Politik, welche Gordon im Stich ließ.
Wie wenig Gordon bei seinen Ratschlägen der Blindheit beschuldigt werden kann, geht aus seinem Hinweis hervor, daß die von ihm befürwortete Ernennung Sebehrs zum Beherrscher des Sudan die reinste Ironie des Schicksals wäre. Hatte doch Sebehr von jeher gegen die ägyptische Regierung agiert und Aufstände angezettelt, um seine Rücksendung zu erzwingen.
In Gordons Tagebüchern vom September und Oktober heißt es:
»Hätte man uns den Sebehr Pascha geschickt, als ich es beantragte, so wäre Berber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gefallen, und man stünde jetzt mit einer Regierung im Sudan dem Mahdi gegenüber. Man hielt für gut, es wegen seiner Vorgeschichte als Sklavenhändler zu verweigern. Angenommen, der Grund sei ein triftiger, so ist er in solange trotzdem ein ganz thörichter, als wir keine Schritte thun, den Sklavenhandel künftighin in diesen Ländern zu hindern. Es kommt einfach darauf hinaus: Ich schicke den A. nicht hin, weil er das und das thun könnte, aber ich lasse den B. dort, der ebenfalls so handelt.«
»Ich bin nicht dafür, den Sudan zu halten, es ist ein ganz nutzloses Land, das wir nicht verwalten könnten, und die Ägypter nach den neuesten Ereignissen noch weniger. Ich suche nur den Weg, wie man sich mit Ehren und mit möglichst geringen Unkosten daraus zurückziehen kann (wir dürfen nicht vergessen, daß wir an all diesem Wirrsal schuld sind) ... es ist für mich lediglich die Frage, sich mit Anstand zurückzuziehen. Sebehr würde die Schaggyeh (einen Beduinen-Stamm) und die Khartumer beruhigen und er würde mit dem Mahdi ins reine kommen. Dann könnten wir das Land verlassen ... Soviel ist sicher, daß ihr nur mit Hilfe Sebehrs (oder der Türken) vor dem November 85 auf Rückzug rechnen könnt!! Die Türken wären[S. 249] unter den jetzigen Umständen die beste, wenn auch kostspieligste Lösung. Die könnten den Sudan halten; gebt ihnen vierzig Millionen. Nach den Türken ist Sebehr mit zehn Millionen das Beste; er würde den Sudan eine Zeit lang halten. In beiden Fällen giebt's hier Sklavenhandel. Aber Ägypten wäre gesichert und ihr könntet bis Januar 85 hier fertig sein. Ist euch keiner dieser Auswege recht, dann seid darauf gefaßt, daß es hier noch gerade genug Plackerei geben und euer Feldzug schließlich ein völlig zweck- und glanzloser sein wird.«
Hat je ein Prophet den Ausgang eines Unternehmens bestimmter vorhergesagt?
Unterm 8. November heißt es in dem Tagebuch weiter:
»Es liegt auf der Hand, daß wenn Sebehr mit euch käme und in quasi unabhängiger Stellung zum Regenten ernannt würde ... ihm die Leute massenhaft zufielen, die den Mahdi und seine Derwische herzlich satt haben, sich aber an ihn halten müssen, weil ihr das Land räumen wollt; sogar unsere Anhänger werfen wir dem Mahdi in die Arme. Sebehrs Einsetzung würde euch auch die Arbeit in der Sennar-Gegend sparen ... Mit den Booten, die ihr habt, hätte er die Nil-Verbindung bald hergestellt. Und was den Sklavenhandel betrifft, so ist der Mahdi zehnmal schlimmer als Sebehr, auf den man durch Hilfsgelder einwirken könnte, daß er in Schranken bliebe. Sebehr wäre für uns eine Art Vermittelung zwischen dem Davonlaufen und der fortwährenden Gegenwart von Truppen im Land. Der Mahdi wäre nie im stand, das Volk gegen Sebehr aufzuhetzen. Nur weil man den Leuten keinen Mittelpunkt bietet, müssen sie sich an jenen halten. Hätte man den Sebehr kommen lassen, der Mahdi hätte lange nicht so viel Anhang; und wäre er hier gewesen, so wäre Berber nicht gefallen.«
Wir haben vorgegriffen, doch ist aus diesen Mitteilungen ersichtlich, daß Gordons Vorschlag keine plötzliche Eingebung, keine Unüberlegtheit war; es war vielmehr ein Gedanke, der durch jede neue Erfahrung bei ihm sich vertiefte. Es folgt hier eine frühere Depesche an Sir E. Baring, den Vertreter Englands in Kairo, die in gedrängten Sätzen Gordons Ansicht in der Sebehrfrage klar und eingehend darlegt.
[S. 250]
Khartum, den 8. März 1884.
»Die Ernennung Sebehrs ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit des Rückzugs der ägyptischen Angestellten von Khartum, sowie der Besatzungen von Sennar und Kassala.
Ich sehe keine andere Möglichkeit, dies ins Werk zu setzen, als eben durch ihn, der als ein Eingeborner dieses Landes ein Mittelpunkt für die Bessergesinnten werden wird, die sich um so eher ihm anschließen werden, weil sie wissen, daß er sich hier in seiner Heimat niederlassen wird.
Ich bin nicht der Ansicht, daß die Thatsache, dem Sebehr auf zwei Jahre Hilfsgelder zu bewilligen, mit der Räumungspolitik unverträglich wäre.
Was das Halten von Sklaven betrifft, so könnten wir es auch dann nicht unterdrücken, wenn wir selbst im Sudan blieben. Ich habe immer gesagt, daß der Vertrag vom Jahre 1877 unausführbar ist, also würde Sebehrs Ernennung in dieser Hinsicht durchaus keinen Unterschied machen.
Mit der Sklavenjagd hätte es nach Räumung der Bahr el Ghasal und der Äquator-Provinzen von selbst ein Ende.
Sollte Sebehr nach Ablauf von zwei Jahren und nachdem er Hilfsgelder eingesteckt hat, sich jener Gegenden zu bemächtigen suchen, so könnten wir leicht von Suakim her einen Druck auf ihn ausüben, welcher Ort nach wie vor in unserer Hand bliebe.
Ich halte dafür, daß Sebehr mit dem Sudan selbst und mit der Befestigung seiner Stellung zu viel zu thun haben wird, als daß ihm Zeit bliebe, sich um jene Gegenden zu kümmern.
Was die Sicherheit Ägyptens betrifft, so war Sebehr lange genug in Kairo, um unsere Macht kennen gelernt zu haben; er würde es sich nicht leicht beikommen lassen, etwas gegen Ägypten zu unternehmen. Ich glaube im Gegenteil, daß er Handelsvorteile in einem Bündnis suchen würde, denn er ist ein geborener Krämer.
Das Zurückziehen der Besatzungen anlangend, so habe ich bis jetzt nur das erreicht, daß die Invaliden, die Witwen und Kinder der in Kordofan Gebliebenen flußabwärts geschickt werden.
Nach heutigem Bericht ist Sennar ruhig.
Auch Kassala wird sich infolge von Grahams Sieg ohne Mühe halten, aber die Verbindung ist abgeschnitten, sowie auch die Verbindung mit Sennar.
Es wird unmöglich sein, der Straße nach Kassala und Sennar[S. 251] Herr zu werden oder die ägyptischen Truppen von hier weg zu befördern, wenn Sebehr nicht kommt. Sein Kommen würde die ganze Sachlage ändern.
Die Äquator-Provinzen und die Bahr el Ghasal sind soweit sicher, aber ich kann die dortigen Besatzungen nicht zurückziehen, ehe der Nil steigt, was in zwei Monaten zu erwarten ist.
Dongola und Berber sind ruhig, aber ich fürchte, daß der Weg zwischen Berber und Khartum nicht lange mehr offen sein wird, denn auf der ganzen Strecke treiben des Mahdi Anhänger ihr Wesen.
Am Blauen Nil ist eine Besatzung von tausend Mann von den Rebellen eingeschlossen, doch fehlt es ihnen nicht an Proviant; ehe der Nil steigt, kann ich ihnen nicht zu Hilfe kommen.
Auch Darfur, soweit ich Nachricht habe, ist ruhig; der neueingesetzte Sultan läßt sich hoffentlich angelegen sein, Anhang unter den Stämmen zu gewinnen.
Es ist ganz unmöglich, einen andern Mann als Sebehr mit Erfolg hier einsetzen zu wollen. Kein anderer hat soviel Einfluß wie er. Hussein Pascha Khalifa könnte nur mit Dongola und Berber fertig werden.
Wird Sebehr nicht hierher geschickt, dann fehlt alle Aussicht, die Besatzung zu retten; das fällt schwer ins Gewicht zu seinen Gunsten.
Auch ist es unmöglich, das Land zwischen Sebehr und anderen Häuptlingen zu teilen; keiner der andern könnte sich auch nur einen Tag gegen die Helfershelfer des Mahdi halten; auch Hussein Pascha Khalifa würde fallen.
Die Häuptlinge weigern sich, gemeinsame Sache zu machen; Loyale und Rebellen stehen einander gegenüber.
Es ist durchaus nicht zu fürchten, daß Sebehr sich je mit dem Mahdi unter eine Decke stecken werde. Sebehr wird hier weit größere Macht besitzen als der Mahdi und wird sich nicht scheuen, ihm dies begreiflich zu machen.
Der Mahdi ist mit dem Papst zu vergleichen, Sebehr aber würde Sultan sein; da ist keine Gefahr, daß die zwei sich einigen.
Sebehr ist dem Mahdi fünfzigmal gewachsen. Er ist auch aus guter Familie (ein direkter Abkömmling der Abassiden), genießt Ansehen und würde die Sultanwürde gut bekleiden; der Mahdi ist von all dem das Gegenteil und ein Fanatiker dazu.
[S. 252]
Ich zweifle gar nicht, daß Sebehr, dem die Stämme verhaßt sind, die Aufruhrsaat gesäet hat und zwar in der Hoffnung, daß man ihn dann hier nötig haben würde, um Ordnung zu schaffen.
Es ist die Ironie des Schicksals, die ihm seinen Wunsch erfüllt, wenn er hierher geschickt wird.«
Gordon predigte mit dieser klaren Auseinandersetzung tauben Ohren, die Minister im fernen England und außer Zusammenhang mit Land und Leuten, erklärten Sebehrs Ernennung für eine Unmöglichkeit; die öffentliche Meinung würde sich dagegen auflehnen, hieß es. Und als Berber von den Rebellen bedroht wurde, zog man sich auf den Standpunkt der Friedenspolitik zurück und verweigerte eine Truppensendung.
Schon im März 1884 war die Lage Khartums eine bedenkliche geworden. Etliche Kilometer nördlich von der Stadt befindet sich das kleine Halfaja, woselbst eine Truppenabteilung von achthundert Mann, welche Gordon mit Waffen versehen hatte, von viertausend Rebellen eingeschlossen war. Der Ort liegt am Fluß, aber neuerdings war auch die Schiffahrt abgeschnitten. Die Besatzung hielt mutig aus und Gordon beschloß, ihr zu Hilfe zu kommen. Die Rebellen wurden täglich kühner und waren der Stadt selbst schon so nahe gerückt, daß ihre Kugeln den Palast erreichten. Es schien, als ob man sich auf die Verteidigung Khartums beschränken müsse, allein der Versuch, jene Getreuen zu entsetzen, sollte gemacht werden. Gordon hatte drei Dampfer kriegstüchtig gemacht und mit Geschütz versehen; mit diesen und zwölftausend Mann zog er aus. Nach zwei Tagen hatte er mit Verlust von zwei Mann die Belagerten entsetzt, und mit der Besatzung von Halfaja, ihren Kamelen und Pferden und einem beträchtlichen Vorrat von Kriegsbedarf kehrte er nach Khartum zurück. Der Jubel in der Stadt soll keine Grenzen gekannt haben, aber nur zu bald stand der öffentlichen Freude die Unglückspost gegenüber, daß Schendi den Rebellen erlegen und Berber bedroht sei. Die Khartumer selbst erlebten auf ihren Sieg eine böse Niederlage. Denn als die Rebellen fortfuhren, sich in der Nähe der Stadt zu postieren und den Palast zu beschießen, beschloß Gordon einen zweiten Ausfall, den er den ägyptischen Truppen unter ihren eigenen Offizieren übertrug.[S. 253] Er selbst beobachtete die Bewegungen vom Dach des Palastes aus. Die feindliche Linie erstreckte sich mehrere Kilometer weit am Blauen Nil hin. Die Ägypter drangen stetig vor und der Feind zog sich hinter die Dünen zurück, die, teilweise mit Bäumen und Strauchwerk bewachsen, eine natürliche Schutzwehr bilden. Es schien, als ob die Rebellen den Kampf weigern wollten, und die andern rückten ihnen nach, ihre Anführer voraus, bis diese wie von einem plötzlichen Schrecken ergriffen unversehens kehrt machten und auf ihre eigene Mannschaft eindrangen. Es entstand Unordnung; in die gebrochenen Reihen stürzten sich die berittenen Rebellen und die Flucht der Ägypter war die Folge. Ein Rebell durchrannte mit seinem Speere sieben Flüchtlinge in sieben Minunten. Das fürchterlichste Gemetzel zog sich bis in die Nähe von Khartum. Es war in jeder Hinsicht eine schimpfliche Niederlage. Die überbleibende Mannschaft aber war laut in der Anklage gegen ihre beiden Anführer, welche den ganzen Reißaus ins Werk gesetzt hatten. Es wurden sogar Beweise beigebracht, daß einer derselben einen Kanonier zu Boden schlug, der sein Geschütz gegen den Feind richten wollte. Sieben Stunden nach dem Gefecht lagen noch Verwundete umher; zum Glück waren es nur zwanzig, denn die Araber machten den Verwundeten den Garaus wo sie konnten. Oberst Stewart holte sie heim mit einem der Dampfer und brachte sie ins Lazaret. Weithin lagen die Erschlagenen, zweihundert an der Zahl, während der Feind nur vier Mann eingebüßt hatte.
Den beiden Anführern wurde übrigens ihr Lohn zu teil; die Leute brandmarkten sie einstimmig als Verräter, welche absichtlich gegen ihre Mannschaft kehrt gemacht hatten, um für den Feind eine Öffnung zu gewinnen. Beide Pascha, Said und Hassan, wurden vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen. In Hassans Wohnung fand sich ein beträchtlicher Waffenvorrat vor, und es ergab sich überdies, daß beide den Truppen ihre Löhnung vorenthalten und selbst eingesteckt hatten. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, früher oder später zum Feinde überzugehen. Die Stimmung Khartums litt übrigens nicht durch diese Niederlage. Die Bevölkerung war voll guter Zuversicht zu ihrem Statthalter und es fehlte nicht an handgreiflichen Beweisen der Opferwilligkeit.[S. 254] Ein wohlhabender Araber bot Gordon ein unverzinsliches Darlehen von siebentausend Thaler an, ein anderer war erbötig, zweihundert Mann auf eigene Kosten zu bewaffnen. Die Stadt war bereit, sich an Gordon zu halten, der sie seinerseits nicht im Stich lassen würde. Die Rebellen schickten täglich ihre Grüße über die Mauern und schienen es besonders auf den Regierungspalast abgesehen zu haben, der nach kurzer Zeit mit Kugeln gespickt war. Den Statthalter selbst, der viele Stunden auf seinem Dach verbrachte, traf keine; sie fielen zu seiner Rechten, sie fielen zu seiner Linken, er selbst schien gefeit wie früher.
Dem falschen Propheten hatte Gordon anbieten lassen, er wolle ihn zum Sultan von Kordofan ernennen, wenn er zu unterhandeln bereit sei. »Ich bin der Mahdi,« lautete die großartige Antwort. Drei bewaffnete Derwische erschienen eines Tages vor Khartum und begehrten Audienz. Sie wurden vor Gordon gebracht. Ihr Auftrag war, die Feierkleider zurückzubringen, die dieser dem Mahdi als Friedensgeschenk übersandt hatte. Darauf produzierte sie ein Derwischgewand, das Gordon anlegen sollte, um sich damit als Muselman und Anhänger des Propheten Mohammed Achmet, des Mahdi, zu bekennen. Es läßt sich denken, daß jener mit nicht allzuviel Zeremonie für die zugedachte Ehre sich bedankt hat. Von Stund an war es klar, daß von einer Räumung des Landes keine Rede sein konnte, wenn nicht der Mahdi wie einst Pharao mit Gewalt, im gegenwärtigen Falle mit Waffengewalt, belehrt wurde, daß er diese Leute müsse ziehen lassen. Auf britische Truppen aber war nicht zu rechnen und Gordon sah, daß ihm nichts weiter übrig blieb, als selbst zu handeln; auch war er rasch entschlossen und erließ an alle ägyptischen Truppen, welche durch die Wüste nordwärts zogen, den telegraphischen Befehl zurückzukehren.
Es läßt sich hier passender Weise Gordons Ansicht über den Abfall vom Glauben einschalten. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, daß der Mahdi nicht alle Europäer in diesem Stück so fest fand wie unsern Helden. Als Obeid in die Hände des falschen Propheten fiel, soll nur einer der dortigen römischen Missionspriester Treue gehalten haben, alle andern mitsamt den Nonnen trieb die Angst[S. 255] dem Mohammedanismus in die Arme. Die letzteren gingen sogar noch weiter, und traten mit dortigen Griechen in ein nominelles Ehebündnis, um sich vor Gewalt zu schützen. Da wird der Papst einen schönen Lärm schlagen, meinte Gordon, das ist ja eine Union der katholischen Kirchen. Es ist übrigens nicht dieser Scherz, worauf wir hinweisen wollten, sondern auf folgende Stelle in seinem Septembertagebuch:
»Was die an den Mahdi und an verschiedene Araber-Häuptlinge geschriebenen Briefe anlangt, so gebe ich zu, daß sie scharf waren, aber es ist keine Kleinigkeit, wenn ein Europäer aus Furcht vor dem Tod seinem Glauben abschwört; es war nicht so vor alters, und sollte auch heute nicht so leicht von statten gehen, wie das Vertauschen eines Rockes mit einem andern. Wenn der christliche Glaube auf Einbildung beruht, dann werft ihn immerhin ab; aber es ist niedrig und ehrlos das zu thun, um sein Leben zu retten, wenn man ihn für den wahren Glauben hält. Was kann stärker sein als diese Worte: ›Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater!‹ Die alten Märtyrer betrachteten solche als ihre Feinde, die sie davon abzuhalten suchten, ihren Glauben frei zu bekennen. Und was für Männer hatten wir in England zur Zeit der Glaubensverfolgungen, als die Reformation sich Bahn brach, und damals galt es nicht um das, um was es hier gilt; es handelte sich dort nur um die Messe, während es sich hier um unsern Herrn und sein Leiden handelt.... In politischer wie moralischer Hinsicht ist es besser für uns, nichts mit den abtrünnigen Europäern im arabischen Feldlager zu thun zu haben. Verrat führt nie zu gutem Ende, und mag es uns gehen wie es will, so ist es besser wir fallen mit reinen Händen ..... Mit Ehren zu erliegen, ist besser als ein Sieg mit Unehren, und auch die Ulema in der Stadt sind dieser Meinung. Sie wollen nichts mit Verrat zu thun haben.«
Wo im obigen Punkte stehen, hatte Gordon angemerkt, wenn die Tagebücher je gedruckt würden, sei es vielleicht gut, die ganze Stelle zu unterdrücken, denn kein Mensch habe das Recht, einen andern zu richten.
Es mag eine schwere Zeit inneren Kampfes für Gordon gewesen sein, als es ihm aus den englischen Depeschen immer klarer wurde, daß man ihm nicht nur die Hilfe Sebehrs verweigerte,[S. 256] sondern überhaupt gesonnen war, ihn sich selbst zu überlassen — Krieg sollte vermieden werden; und das Schlimmste war noch, daß die Hälfte der abgesandten Depeschen ihn gar nicht erreichte. Es fehlte nicht an dringenden Vorstellungen seinerseits, und wochenlang schien Schweigen die Antwort zu sein. Wohl war er mit dem Gedanken ausgezogen, daß er als ein Friedensapostel kraft seines persönlichen Einflusses die ihm übertragene Mission erfüllen solle. Daß seine Regierung ihm aber gegebenen Falls unter die Arme greifen, daß sie ihn mindestens nicht im Stich lassen würde, das sollte keiner Vorversprechungen bedurft haben! Gordon hatte wieder und wieder erklärt, daß es ganz unmöglich wäre, die ägyptische Besatzung von Khartum zurückzuziehen, ohne die Stadt dem Mahdi zu überantworten und, was noch schlimmer wäre, die ägyptischen Besatzungen von Kassala, Sennar, Berber, Dongola und weiterhin in der Bahr el Ghasal ihrem Schicksal zu überlassen; dies aber erschien ihm als eine Feigheit, zu der er die Hand nicht bieten wollte. Was den Aufstand an sich betrifft, so war Gordon der Ansicht, daß es zu jener Zeit noch nicht tausend Mann englischer Truppen bedurft hätte, um gründlich aufzuräumen. Und als es klar war, daß englisches Militär zu diesem Zweck nicht vorhanden sei, kam er um die Erlaubnis ein, an die Türken zu appellieren; auch dies wurde ihm verweigert. Es war um diese Zeit, im März, daß der verlassene Held in einer eigentümlichen Depesche der englischen Regierung wie den ägyptischen Behörden seinen Dank für alle bisherige Beihilfe aussprach und die Erklärung beifügte, die betreffenden Machthaber hätten alles gethan, was von ihnen zu erwarten sei. Gordons englischer Biograph, Hake, macht darauf aufmerksam, daß diese Worte, so satirisch sie auf den ersten Blick erscheinen, auch nicht die Spur von Hohn enthalten, daß sich vielmehr die einfache und männliche Haltung des Mannes darin auspräge, von Stund an die Verantwortung der Lage auf seine Schultern zu nehmen als einer, der sich gezwungen sieht, der Übermacht der Umstände nach bestem Ermessen in eigener Kraft entgegen zu treten. In der Freiheit des Handelns aber lag die eine Hoffnung, die Tausende zu retten, deren Ankerpunkt er war. Es liegt etwas unendlich[S. 257] Rührendes darin, daß Gordon sich, abgesehen von seinem Pflichtgefühl überhaupt, für die ägyptischen Besatzungen aufopferte, für Menschen, die er im besten Fall immer nur als »Schafe« kennen gelernt hatte und von denen er nie viel Gutes sagen konnte. Diese Thatsache ist nicht der geringste Edelstein in der Krone des unvergleichlichen Mannes. Ein schönes Streiflicht hiezu giebt uns sein Tagebuch unterm 27. Oktober:
»Nicht weil ich dieses Volk hochachte, befürworte ich es, ihnen zu helfen, sondern weil sie ein so kraftloses, selbstsüchtiges Geschlecht sind, und weil dies die Frage unserer Pflicht ihnen gegenüber nicht beeinflussen kann. Die Erlösung der Menschen hätte nicht stattgefunden, käme unser Verdienst dabei in Betracht.« Und anderswo: »es ist ja gerade, weil wir so unwert sind, daß der Herr uns erlöst hat.«
Selbst im eigenen Lager war Gordon vor Verrat nicht sicher, und die Wohlgesinnten waren ein verzagtes Volk. Hake vergleicht ihn treffend mit dem kühnen Schiffsführer, der mit fester Hand ans Steuer tritt, um, so es möglich ist, die ihm anvertrauten Seelen in der Sturmnot zu retten. Ein Segel am Horizont war in Sicht gewesen, ja die eigene englische Flagge, aber trotz seiner Notsignale beharrte der ferne Segler auf seiner Bahn. Man hatte ihm nur zurücksignalisiert: »Ihr habt Boote und könnt euch davonmachen; laßt das Schiff sinken, es ist doch nicht zu retten.« Nicht so der Tapfere; trug sein Schiff doch kostbare Dinge, Schätze, die er nicht gering achtete, als da sind die Ehre des Mannes und die des Volkes, dem er angehört, und Gerechtigkeit, ja Erbarmung gegen die Hilflosen, die an ihn sich halten. Ist sein Schiff anderen nicht so viel wert, daß sie es retten, so will er thun was er kann, und lieber mit versinken, als ehrlos davongehen. Er ruft sein Schiffsvolk zusammen und sagt ihnen: »Selbst ist der Mann!« Er heißt sie die nutzlose Notflagge einziehen und zeigt ihnen, wie das lecke Schiff noch flott zu halten ist. Er beseelt sie mit einem Heldenmut und die Verzagenden legen Hand an, seiner Führung vertrauend. Wohl hätten sie Rettungsboote, sagt er ihnen, aber nicht für alle, und wer die eigene Haut retten wolle, der könne es immerhin versuchen. Die Sturmflut steigt, Wellen türmen sich auf Wellen,[S. 258] und zwischen den Wogen gähnt das Grab. Das ferne Segel, die ihm teure Flagge verschwindet am Horizont. Wohl kostet es ihn bitteren Schmerz, doch wächst der Mut ihm mit der Not. Noch ist es Tag, er will thun, was er kann als Schiffsherr und Steuermann; und kommt die Nacht, so ist Gott über ihm und ist auch dann noch da, wenn kein Polarstern mehr leuchtet.
Und Gordon blieb in Khartum, als englische Saumseligkeit sich zurückzog. Wer will es ihm verargen, daß die Haltung der Regierung, auf die er sich verlassen hatte, ihn mit Entrüstung erfüllte? Mit nackten Worten meldete er derselben, daß, möchten sie thun, was sie verantworten könnten, er nie und nimmer eine Besatzung verlassen werde, die an ihn sich klammere, daß er allen und jeden Versuch machen werde sie zu retten, ob solche Versuche auf den Leisten der Diplomatie paßten oder nicht. Die Khartumer hätten ihm ihr Geld geliehen, er hätte sie veranlaßt ihr Getreide billig zu verkaufen, er könne sein Schicksal von dem ihren nicht trennen.
»Soweit ich die Lage beurteilen kann,« telegraphierte er am 5. Mai an Sir E. Baring, der für ihn die englische Regierung vertrat, »ist sie einfach die: Sie erklären es als Ihre Absicht, weder Khartum noch Berber mit Truppen zu Hilfe zu kommen, und Sie verweigern mir Sebehr. Ich betrachte mich unter diesen Umständen frei, zu handeln wie die Lage gebietet. So lange es möglich ist, werde ich hier feststehen, und wenn ich den Aufruhr unterdrücken kann, werde ich es thun. Vermag ich es nicht, dann ziehe ich mich an den Äquator zurück und überlasse Ihnen den unauslöschlichen Schimpf, die Besatzungen von Sennar, Kassala, Berber und Dongola im Stich gelassen zu haben, mit der Gewißheit obendrein, daß Sie den Mahdi früher oder später doch noch werden vernichten müssen — und dann unter größeren Schwierigkeiten als jetzt — wenn Sie anders Ägypten nicht auch fahren lassen wollen.«
Dieses Telegramm war sozusagen Gordons letzter Hilferuf an die englischen Minister; er verhallte ungehört. Die Stimme des Volkes zwar erhob sich und wollte den Helden nicht verlassen sehen. Auch im Parlament kam die Sache wieder und wieder zur Sprache. Lord Granville erklärte, daß wenn Gordon sich verlassen fühle, es nur deshalb sein könne, weil die englischen[S. 259] Telegramme ihn nicht erreichten; und Gladstone gab die keiner Auslegung bedürfende Erklärung ab, daß es Gordon jederzeit frei stünde, seinen Auftrag niederzulegen und nach England zurückzukehren! Die öffentliche Meinung in jenen Tagen glich einer wogenden See; Gordons Telegramm konnte nichts anderes als Teilnahme hervorrufen. In einer Versammlung englischer Bürger wurde einstimmig erklärt: »Wir verwerfen die Politik, die im Begriff ist, Gordon im Stich zu lassen, als eine unwürdige und das Land entehrende.« Und sowohl in dieser Versammlung als anderwärts wurde darauf hingewiesen, daß Gordons eigenartige Mission selbst den Ministern gegenüber von der Voraussetzung nicht zu trennen wäre, daß er nach seiner Einsicht handeln müsse, und daß man ihm, als er die Sendung übernahm, zu verstehen gegeben hätte, Unterstützung würde ihm nötigenfalls werden. Es seien leere Versprechungen gewesen; er habe um Geldmittel telegraphiert, man habe sie ihm verweigert; er habe nachgewiesen, daß Sebehr die beste Lösung der Frage sei, man sei ihm entgegengetreten; er habe um Truppen nachgesucht, man habe ihn benachrichtigt: er dürfe nicht darauf rechnen.
Selbst Privatpersonen erklärten sich bereit, für die Regierung in die Bresche zu treten. Eine wohlhabende Dame bot in der Times hunderttausend Mark an, in der Hoffnung, daß durch freiwillige Beiträge eine genügende Summe zusammenkommen würde; anderthalb Millionen Mark wurden gezeichnet, eine Schar Freiwilliger sollte ausziehen, um England die Schande zu ersparen, den Helden und seine beiden opferwilligen Gefährten umkommen zu lassen, es wurde nicht genehmigt. Der Horizont wurde täglich dunkler. Dringende Mahnrufe ergingen an die Regierung von dem belagerten Berber; man könne nicht helfen, hieß es. Hilfe thue dort in sechzehn Stunden not, und ein Zuzug brauche ebenso viele Wochen. Daher unterblieb er. Das letzte, was man von Berber hörte, war die Botschaft, daß Hussein Khalifa die Stadt nur noch mit der Hoffnung halte, daß englischer Entsatz auf dem Wege sei; und als sich die Hoffnung als eine leere erwies, hieß es auch dort: Wir sind verlassen, wenn Gott uns nicht hilft. Von Kairo war Nachricht nach London gekommen, daß in Berber[S. 260] ein panischer Schrecken den Rebellen in die Hände arbeite, und wenn die telegraphische Verbindung nach Khartum noch einmal benutzt werden solle, dann sei keine Zeit zu verlieren.
Und Berber fiel, unter Greuelszenen, wie sie den Sudan-Krieg kennzeichnen. Es war das Vorspiel für Khartum. Es war die Brandglocke. Noch wäre es Zeit gewesen, um dort zu löschen, allein man schlief ruhig weiter, ob nicht ein Regenguß vom Himmel, oder sonst was zu Hilfe käme und eigene Anstrengung ersparte. Und Schweigen fiel auf die verlassene Stadt. Depeschen blieben aus, man wußte nicht mehr wie es dort ging. Fünf Monate lang keine Nachricht oder doch nur unzuverlässige Gerüchte. Doch das wußte, wer es wissen wollte — sein vergangenes Leben bürgte dafür — daß Gordon die Pflicht für sein Volk wie ein Held erfüllte. Hatten die Seinen ihn verlassen, so war Gott mit ihm, und er wagte den Kampf.
Gordon verlor keine Zeit, die Verteidigung Khartums ins Werk zu setzen. Seine erste Sorge war der Proviant. Es ergab sich, daß die Stadt eine fünfmonatliche Belagerung würde aushalten können. Den Armen wurde eine tägliche Ration bewilligt. Der leeren Kasse half er durch Papiergeld auf, und es beweist das Vertrauen der Leute, daß ihnen sein Wort für Zahlung galt. Auf diese Weise hielt er sein unzuverlässiges Militär zusammen und verhinderte wenigstens um jene Zeit das Desertieren. Um die Stadt her legte er Sprengminen, und in Erwartung der unbeschuhten Füße etwaiger Sturmläufer war der Boden weithin mit Glasscherben und zu ähnlichen Zwecken angefertigten Stachelnüssen bestreut, nämlich mit eisernen Nüssen, die, wie sie auch fallen, eine oder mehrere ihrer Spitzen nach oben kehren. Zwischen den Minen waren Drahtangeln angebracht, um den anlaufenden Feind zu Fall zu bringen. Gordon war entschlossen, sich und die Stadt so teuer als möglich zu verkaufen. An Schießbedarf fehlte es glücklicherweise nicht. Auch ließ die Gesundheit der Stadt nichts zu wünschen übrig, und der Nil war im Steigen;[S. 261] letzteres war ein Hauptfaktor in Gordons Berechnung, welcher sich bei dem Angriff auf die Rebellen hauptsächlich auf seine Dampfer verließ.
Keine Woche verging, ehe er die Scharte der Dünen-Niederlage auswetzte, und zwar eben durch einen der Dampfer, der mit einer Kruppkanone unter den Rebellen aufräumte. Es war Gordons Genie, das aus gewöhnlichen Nilbooten Kriegsschiffe schuf, die ihrem Zweck vollkommen genügten. Manchen heißen Arbeitstag verwandte er selbst darauf, diese Schiffe mit Eisenplatten und mehrfach übereinandergelegten Holzdielen zu panzern und zum Spießrutenlaufen zwischen den von den Rebellen besetzten Ufern kugelfest zu machen. Seine Dampfer begleiteten sechs Barken, auf denen er zwanzig Fuß hohe Türme errichtete, die seine Schützen trugen. Die Flotte muß einen seltsamen Anblick gewährt haben, Gordon war aber offenbar stolz auf ihre Tüchtigkeit.
Saati Bey war Flottenführer. Fast täglich wagte das kleine Geschwader den Ausfall aus der blockierten Stadt und kehrte öfters mit Beute — Vieh und Getreide — zurück, was nicht mit Geld aufzuwiegen war. Überhaupt konnte Gordon nur auf die Schiffe rechnen, wie aus seiner nicht ohne bitteren Humor abgefaßten Notiz hervorgeht:
»Unsere Dampfer halten sich prächtig; das ist ein Vorteil zu Wasser, daß die Mannschaft nicht davonlaufen kann, sondern wohl oder übel stand halten muß!«
Es fehlte auch nicht an kleinen Gefechten, wodurch wenigstens das erreicht wurde, daß man sich die Rebellen auf Armslänge vom Leibe hielt; einen Angriff auf die Stadt selbst wagten dieselben nicht mehr, nachdem sie mit den Sprengminen Bekanntschaft gemacht hatten. Als Berber gefallen war, schlossen sich an den Mahdi auch die Schaggyeh-Beduinen an, die das Land nordwärts von Khartum inne hatten. Damit war die Isolierung der Stadt eine vollständige.
Die Spannung in England nahm mit den Sommermonaten zu. Bei dem Ausbleiben aller glaubwürdigen Nachrichten malte man sich die Lage der Stadt noch schlimmer aus, als sie damals in Wirklichkeit war; man sah sie dem hohläugigen Hunger einerseits,[S. 262] den fanatischen Horden des Mahdi andererseits in die Arme fallen, man sah den heroischen Gordon mit seinen tapferen Gefährten, wie sie, von aller Welt verlassen, den sinkenden Mut von Tausenden aufrecht erhielten, obschon ihnen selbst kein Hoffnungsstern leuchtete. Und als endlich verlautete, der Regierung habe das Gewissen geschlagen und Entsatzungstruppen würden abgehen, da hielt mancher dafür, wie es sich ja leider auch als wahr erwiesen hat, daß das Ministerium der Verspätungsmaßregeln auch hier wieder mit dem guten Willen hinterdrein kommen werde.
Am 29. September, nach fünfmonatelangem Schweigen brachte die Times Nachrichten von Khartum. Die Aufzeichnungen Powers[15] waren am Abend vorher angelangt, und das englische Volk las mit klopfendem Herzen, wie es den drei Söhnen Englands in der belagerten Nilstadt erging; hatte man doch die Hoffnung aufgegeben, je wieder Beruhigendes von ihnen zu vernehmen. Die hier folgenden Notizen zeigen mit der Kürze von Depeschen, wie Gordon, Stewart und Power zwischen dem ersten Mai und letzten Juli mannhaft auf ihrem Posten standen und Khartum bis dahin gehalten hatten.
»1. Mai. — Der befehlende Offizier der Sappeurs legte eine Sprengmine mit achtundsiebzig Pfund Pulver, trat aber unglücklicherweise selbst darauf und wurde mit sechs seiner Leute zerschmettert.
»3. Mai. — Ein Mann berichtet von einer englischen Armee in Berber.
»6. Mai. — Energischer Angriff seitens der Araber auf die Befestigungen am Blauen Nil; die Minen, die wir bei Buri legten, brachten ihnen große Verluste.
»7. Mai. — Starker Angriff von einem gegenüberliegenden Dorf; neun Minen explodierten und wir hörten nachher, daß es die Rebellen einhundertundfünfzehn Tote kostete. Die Araber[S. 263] schossen ununterbrochen. Oberst Stewart vertrieb sie mit zwei prächtigen Salven aus einem vor dem Palast aufgestellten Kruppschen Zwanzigpfünder aus ihrer wichtigsten Stellung. Während der Nacht brachen sie Schießscharten in die Mauern, aber am 9. verjagten wir sie, nachdem sie das Dorf drei Tage innegehabt hatten.
»25. Mai. — Oberst Stewart, durch eine feindliche Kugel verwundet, während er eine Mitrailleuse vor dem Palast leitete, ist jetzt wieder hergestellt.
»26. Mai. — Bei einem Manöver auf dem Weißen Nil schoß Saati Bey eine Bombe in ein arabisches Pulvermagazin. Gewaltige Explosion, an sechzig Bomben platzten.
»Während der Monate Mai und Juni tägliche Dampferexpeditionen unter Saati Bey. Unsere Verluste unerheblich. Viel Vieh eingebracht.
»25. Juni. — Cuzzi, der englische Konsul von Berber, der bei den Rebellen ist, brachte unsern Linien Bericht vom Fall Berbers. Er ist auf dem Weg nach Kordofan.
»30. Juni. — Saati Bey hat den Rebellen vierzig Ardeb Korn abgejagt, und zweihundert Araber sind dabei gefallen.
»10. Juli. — Saati Bey machte einen Angriff auf Gatareeb, nachdem er Kalkala und drei andere Dörfer in Brand gesteckt hatte; er und drei seiner Offiziere fielen. Saatis Verlust ist keine Kleinigkeit.
»29. Juli. — Wir haben die Rebellen aus Buri am Blauen Nil verjagt; es hat sie viel Tote gekostet, uns ziemlich Munition und achtzig Gewehre eingetragen. Die Dampfer rückten bis El-Efan vor, säuberten dreizehn Schanzen und zerschmetterten zwei Kanonen. Die ganze Belagerung bisher hat uns keine siebenhundert Mann gekostet.
»31. Juli. — Mit dem heutigen schließt der fünfte Monat der Belagerung. Gestern schickte ich über Kassala einen übersichtlichen Bericht über unsere Lage und die hauptsächlichsten Ereignisse seit dem 25. März. Bis 23. April ging wöchentlich mehrmals Nachricht ab; nach diesem Datum war's unmöglich Botschaft nach Berber zu bringen. Wir sind jetzt seit fünf Monaten[S. 264] eng belagert, die arabischen Geschosse erreichen den Palast von allen Seiten.
»Seit 17. März ist kein Tag ohne Beschießung vergangen, trotzdem berechnen sich unsere Toten von Anfang an höchstens auf siebenhundert. Verwundungen, die im ganzen leicht sind, gab's viele. Seit die Stadt eingeschlossen ist, läßt General Gordon den Armen Zwieback und Korn verabreichen, und bis jetzt hat niemand ernstlich Not gelitten. Aber Teuerung herrscht, und die Lebensmittel sind enorm im Preis gestiegen; Fleisch, wenn man's überhaupt kriegen kann, kostet acht oder neun Schilling per Ober. Die Klassen, die sich nicht unterstützen lassen können, leiden am meisten.
»Mit der Nachricht, die uns vorgestern erreichte, ist unsere letzte Hoffnung dahin, daß unsere Regierung uns zu Hilfe kommen werde. Wir haben noch Mundvorrat auf zwei Monate, und dann bleibt uns nicht übrig als zu fallen. Mit den Truppen, die uns zu Gebot stehen, und den vielen Weibern und Kindern ist es ganz unmöglich daran zu denken, sich durch die Araber durchzuschlagen. Wir haben nicht genug Dampfer, um alle fortzuschaffen, und nur mit Hilfe der Dampfer können wir den Rebellen begegnen.
»Ein berittener Araber genügt, um zweihundert von unserer Mannschaft in die Flucht zu schlagen. Als Saati Bey fiel, hatten ihrer acht mit Speeren zweihundert der unsern angegriffen, deren jeder sein Gewehr trug. Die Kerle nahmen sofort Reißaus und kümmerten sich nicht darum, daß Saati und sein Vakil erschlagen wurde. Ein schwarzer Offizier hieb drei jener Araber zusammen, und die anderen fünf genügten, die ganze Truppe der unsern davonzujagen. Ein Berittener, der dazu kam, sprengte durch die flüchtige Schar und schlug sieben zu Boden. Oberst Stewart, der keine Waffen trug, kam wie durch ein Wunder davon; die Araber hatten ihn nicht gesehen. Was kann man mit solchen Truppen anfangen? Die Neger sind die einzigen, auf die wir uns verlassen können.
»Der Ausfall der schwarzen Mannschaft unter Mehemet Ali Pascha am 28. dieses war glänzend; die Araber müssen schwere Verluste gehabt haben. General Gordon hat es den Soldaten[S. 265] verboten, die Köpfe der erschlagenen Rebellen einzubringen, die Zahl läßt sich daher nur mutmaßen. Wir eroberten bei dieser Gelegenheit sechzehn Bomben, ziemlich viel Kartätschen und Patronen, eine schöne Anzahl Gewehre, an zweihundert Lanzen, sechzig Schwerter und einige Pferde. Wir hatten vier Tote und etliche Leichtverwundete. Dieser Sieg hat uns die Rebellen eine Zeit lang vom Hals geschafft, die unsere Linien bei Buri am Blauen Nil unablässig, selbst nachts, beschossen.
»Den folgenden Tag, am 29. dieses, rückte unser Geschwader, d. h. fünf Kriegsdampfer und vier mit Türmchen und Geschütz versehene Barken, nach Giraffa am Blauen Nil vor. Ich ging mit. Wir säuberten dreizehn kleine Forts, stießen aber bei Giraffa auf zwei beträchtlichere Verschanzungen — Erdwälle mit starken Palissaden aus Palmstämmen. Die eine trug zwei Kanonen. Wir beschossen diese Verschanzungen acht Stunden lang, bis wir die beiden Kanonen mit unserem Kruppschen Zwanzigpfünder endlich zum Schweigen brachten. Die Gewehre der Araber knatterten unaufhörlich; unsere Panzerboote aber können einen Kugelregen aushalten, und so hatten wir nur drei Tote bei zwölf oder dreizehn Verwundeten. Gegen Abend verjagten wir die Rebellen, die ziemlich zahlreich waren.
»In etwa drei Tagen beabsichtigt General Gordon zwei Dampfer gegen Sennar zu schicken. Wir hoffen, daß sie den Dampfer »Mehemet Ali« wieder kapern, den die Rebellen dem Saleh Bey neulich abjagten. General Gordon ist wohl auf, und Oberst Stewarts Wunde ist wieder heil. Auch ich bin wohl und guter Dinge.«
Man atmete auf in England bei dieser Nachricht und war stolz auf die drei Tapferen, die sich so rühmlich hielten. Und ob der Freude vergaß man im ersten Augenblick, wie lange die Botschaft unterwegs war! »Wir haben noch Mundvorrat auf zwei Monate und dann bleibt uns nichts übrig, als zu fallen,« so schrieb man am 31. Juli in Khartum, und am 29. September wiederhallten diese Worte in England. Noch ein Tag fehlte an der gesteckten Frist. Wie stand es jetzt um Khartum?
[S. 266]
Am 30. Juli schrieb Gordon an Sir E. Baring:
»Besten Dank für Ihre guten Wünsche. Der Nil ist jetzt hoch, und wir hoffen, in wenigen Tagen offene Route nach Sennar zu haben. Unsere Verluste bis jetzt sind nicht ernstlicher Art. Stewart war leicht verwundet, ist aber wieder hergestellt. Seien Sie überzeugt, daß wir diese Gefechte nicht suchen, aber wir haben keine andere Wahl, denn der Rückzug wäre nur dann möglich, wenn wir die Zivilbeamten und ihre Familien im Stich ließen, wogegen die allgemeine Stimmung der Truppen sich auflehnt. Ich habe keinen Rat zu geben. Wenn wir Sennar entsetzen und den Blauen Nil säubern können, wären wir stark genug, Berber zurückzuerobern, d. h. wenn Dongola sich halten kann. Nicht ein Pfund von Ihren Hilfsgeldern ist hier angelangt; es ist dem Feind in Berber in die Hände gefallen. Und ich mißgönne es den Arabern nicht, denn es ist doch nur ein Teil von dem, was die ägyptischen Pascha dem Land erpreßt haben. Es sollten vier Millionen Mark nach Kassala geschickt werden; man muß diesen Besatzungen wenigstens mit Geld zu Hilfe kommen. Khartum kostet zehntausend Mark per Tag. Wenn der Weg nach Berber frei wird, werde ich Stewart mit dem Tagebuch hinschicken, d. h. wenn er einwilligt. Das dürfen Sie glauben, wenn es irgend eine Möglichkeit gäbe, dieses erbärmliche Scharmützeln einzustellen, so würde ich sie ergreifen, denn mir ist der ganze Krieg verhaßt. Die Leute sind dagegen, daß ich die Stadt verlasse, aus Furcht, daß alles noch schlimmer würde, wenn mir etwas zustieße; so sitze ich immer auf Sohlen, wenn die Mannschaft draußen ist. Wenn ich irgend jemand hier ans Ruder stellen könnte, so würde ich es thun, aber es ist niemand da; alle tüchtigen Kräfte zogen mit Hicks aus und sind geblieben. Als Beweis, wie gut die Araber schießen, hat der eine Dampfer neunhundertundsiebzig und der andere achthundertundsechzig Verletzungen im Rumpf. Seit unserer Niederlage am 16. März haben wir nur etwa dreißig Tote und fünfzig oder sechzig Verwundete gehabt, was sehr wenig ist. Wir haben wohl eine halbe Million Patronen verschossen. Die Leute halten sich im ganzen gut ... Es mag taktlos klingen, aber wenn wir je davon kommen, so geben Sie dem Stewart einen Orden, aber nur mir nicht. Ersparen Sie mir die Unannehmlichkeit es abzulehnen, aber ich hasse solches Zeug. Wenn wir davonkommen, so ist es lediglich durch Gebetserhörung und nicht aus eigener Kraft; fürs übrige ist's dann eine Genugthuung, hier gewesen[S. 267] zu sein, so trostlos es manchmal ist. Stewarts Tagebuch ist sehr ausführlich. Ich will nur hoffen, daß es Sie erreicht, wenn ich's schicken kann. Landminen werden künftig unsere beste Verteidigung sein; wir haben die Außenwerke damit bedeckt, bis jetzt haben sie allen Angriff abgehalten und tüchtig aufgeräumt ... Wir haben einen Khartum-Orden von drei Graden — Silber mit Vergoldung, Silber und Zinn — eingeführt, eine Granate mit der Umschrift »die Belagerung von Khartum«. Sogar Frauen und Schulkinder haben ihn schon erhalten; ich bin daher sehr populär bei den schwarzen Damen. Wir haben Papiergeld im Wert von einer halben Million Mark in Umlauf gesetzt, und von Kaufleuten habe ich eine Million geliehen, beides auf Ihren Kredit hin! Auch habe ich einhundertundsechzigtausend Mark Papiergeld nach Sennar geschickt. Was die Steuern betrifft, so zahlt man uns nur in Blei, woraus Sie abnehmen mögen, daß Sie eine schöne Rechnung hier zusammenkriegen. Die Truppen und die Leute im ganzen sind gutes Muts ... Ich glaube, daß eine schreckliche Hungersnot durchs ganze Land das Finale sein wird. Ein Spion brachte gestern die Nachricht, die ›Königin von England‹ sei in Korosko — vielleicht ist es ein Schiff. Sieben Mann, ich mitgerechnet, sind die ganze Verstärkung, deren der Sudan seit der Hicks-Niederlage sich rühmen kann! während wir euch sechshundert Mann Militär und zweitausend Mann Zivil zugeschickt haben — wir lachen manchmal darüber. Ich werde Khartum nicht verlassen, ehe ich jemand an meine Stelle setzen kann. Wenn die Europäer, die hier sind, suchen wollen, den Äquator zu erreichen, so will ich ihnen mit den Dampfern dazu behilflich sein; aber nach all dem, was hinter uns liegt, kann ich die Leute nicht im Stich lassen. — Ich habe Ihnen ja gesagt, daß der Weg über Wady Halfa am rechten Nilufer hin der beste wäre; hätte Berber sich gehalten, so wäre es eine Vergnügungsfahrt. Eine andere Möglichkeit wäre, von Senheit nach Kassala und von da nach Abu Haraz am Blauen Nil; jedenfalls sicher bis Kassala, aber ich fürchte, es ist zu spät. Wir müssen uns selber durchhelfen, so gut wir können. Wenn Gott uns seinen Segen dazu giebt, so wird uns der Sieg; wenn es nicht sein Wille ist, so ist es auch recht ...
»Warum benutzen Sie die Geheimschrift? Ist ganz unnötig, die Araber haben ja keine Dolmetscher. Sie sagen, es sei Ihr Ziel, den Sudan zu räumen; gut, aber die Araber haben auch ein Wort[S. 268] dreinzureden, ehe sie die Ägypter ziehen lassen. Es wird alles zum besten dienen. Ich wiederhole zum Schluß, wir verteidigen uns so lang wir können, und ich lasse Khartum nicht im Stich. Noch hoffe ich, wenn ich auch bis jetzt kein Wie sehe, daß Gott uns einen Ausweg zeigen wird.«
In einer Nachschrift heißt es:
»Sie fragen in Ihrem Telegramm vom 5. Mai: warum ich darauf bestehe, hier zu bleiben, wenn doch England sich zurückziehe? Antwort: ich bleibe hier, weil die Araber uns eingeschlossen haben und niemand durchlassen. Überdies würden mich die Leute festhalten, wenn ich ihnen nicht vorher zu einer Regierung verhälfe oder sie mitnähme, was nicht möglich ist. Niemand verließe das Land lieber als ich, wenn es sein könnte.«
Im Laufe des August schreibt er an einen Offizier der königlichen Marine zu Massaua:
».... Eine ganze Reihe kleiner Gefechte mit den Arabern, die wir gottlob zurückgeschlagen haben. Der Weg nach Sennar ist jetzt offen, und wir haben im Augenblick nichts von den Arabern zu befürchten. Wir beabsichtigen morgen einen Angriff und wollen einen Ausfall auf Berber machen; Stewart und die beiden Konsuln (der Engländer Power und der Franzose Herbin) wollen den Versuch wagen, nach Dongola zu entkommen. Wir würden Berber zerstören und wieder auf unser Piratennest zurückfallen ... Ich denke, wir halten Khartum in alle Ewigkeit, wir sind dem Mahdi gewachsen. Hat er Reiterei, so haben wir Dampfer. Wir sind sehr bös auf euch zu sprechen, denn seit dem 29. März hat kein Sterbenswort von der Außenwelt uns erreicht. Ich habe schon zweitausendachthundert Mark für einen Spion hingelegt, und ihr habt dem armen Teufel zwanzig Thaler gegeben (wenigstens behauptet er das), um von Massaua nach Khartum zurückzugelangen. Ich habe ihm vierhundert Mark draufgelegt ... Wir haben wieder Mundvorrat auf fünf Monate und hoffen noch mehr wegzufangen ... Unser Vaterland spielt keine sehr edle Rolle, weder Ägypten noch dem Sudan gegenüber. Ich wollte, ich hätte ein paar von euren Artilleristen hier, denn unsere Kanonade ist erbärmlich. Meine Empfehlung an die Offiziere.«
Und weiter am 26.: »Ich schrieb Ihnen vorgestern, daß wir einen Ausfall auf die Araber machen wollten. Es ist uns gottlob[S. 269] gelungen, das feindliche Lager einzunehmen. Der arabische Befehlshaber ist gefallen (R. I. P.). Unsere Verluste noch unbekannt. Der Sieg hat uns auf drei Seiten, wenigstens in nächster Nähe, Luft verschafft. Übrigens können die Araber ihre Niederlage teilweise den Deserteuren zuschreiben, die im Augenblick des Angriffs in ziemlich großer Anzahl zu uns überliefen. Meine Flotte hat sich glänzend gehalten, worauf meine Freunde von der königl. britischen Marine stolz sein können ... Wir und die hiesigen Truppen haben wenigstens ein Band, das uns zusammenhält; sie wissen, daß sie in die Sklaverei verkauft werden, wenn die Stadt fällt, und wir wissen, daß wir nur durch eine Verleugnung unseres Herrn unser Leben retten könnten. Und ich glaube, uns ist diese Alternative noch verhaßter als den Soldaten jene. So Gott will, wollen wir den Sieg erringen ohne Hilfe von außen. Spione von Kordofan melden, daß der Mahdi mit sechsundzwanzig Kanonen auf Khartum loszieht. Das ist nicht mehr als ich erwartete; ich habe von Anfang an gedacht, daß es hier zur Entscheidung kommen wird. Will's Gott, ist der Erfolg nicht auf seiner Seite; wir haben gethan, was wir konnten, um Khartum wohl zu befestigen. Mißglückt es ihm, dann ist es auch mit ihm zu Ende.«
Daß Gordons tapferer Mut aufrecht blieb, ergiebt sich aus diesen Briefen. Sie zeigen auch, daß er sich entschlossen hatte, seine beiden Gefährten Stewart und Power ziehen zu lassen und allein zurückzubleiben; es hatte dies einen doppelten Grund. Zum ersten war Gordon wohl schon damals zur Gewißheit gelangt, daß es einen harten Kampf ums Leben gelten würde, und er wollte seinen Waffengefährten Gelegenheit geben, dem fast sichern Tod zu entgehen; zum andern aber hoffte er, durch ihre Berichte die saumselige Regierung zum Handeln zu bringen. Denn daß man in London zu einem Entschluß in dieser Richtung gekommen war, davon hatte er damals noch keine Kenntnis. Warum er sich seinen Gefährten nicht anschloß, bedarf keiner weiteren Erklärung. Er blieb zurück in reinster Selbstaufopferung. Daß er sich solchen Edelsinn nicht selbst beimaß, erhöht nur die Größe seines Handelns. Er selbst spricht sich in seiner Weise so darüber aus:
»Was man auch sagen mag über unser hiesiges Aushalten, es ist bares Geschwätz, wir hatten ja keine andere Wahl; und wenn[S. 270] man wissen will, warum ich mich nicht mit Stewart aus dem Staub gemacht habe, so ist die Antwort einfach die, daß die Leute hier nicht so dumm gewesen wären, mich gehen zu lassen, also was hat sich's da mit Großthaten und Selbstaufopferung!«
Dennoch war's ein vollkommenes Opfer in jeder Hinsicht, ja ein Opfer im eigentlichsten Sinn, und Gordon wußte das! Während seines Aufenthaltes in Jerusalem hatte er hinsichtlich der englischen Beamtenwirtschaft in Ägypten geschrieben: »Mir ist, als ob dies Unrecht nur mit Blut zu sühnen wäre.« Und im März schrieb er von Khartum: »Wolle Gott diese Sünde nicht an unserem Volk heimsuchen, möge die Strafe auf mich fallen, geborgen in Christo. Das ist meine Bitte! Und möge Er sich des Volkes hier erbarmen, ihnen Friede schenken.« Übrigens konnte Gordon nur hoffen, daß der Dampfer »Abbas« die kleine Schar sicher durch die feindlichen Linien tragen würde, er weigerte sich daher ihre Abreise anzubefehlen; er setzte ihnen auseinander, daß sie durch ihr Bleiben die Lage von Khartum nicht zu bessern vermöchten, während sie möglicherweise durch ihr Gehen der belagerten Stadt einen großen Dienst erweisen könnten. Beide Genossen entschlossen sich unter der Bedingung zu gehen, daß Gordon ihnen nicht nachsagen würde, sie hätten ihn in der Not verlassen. Es war ein Wettstreit der Großmut. Stewart wollte absolut nicht ohne den direkten Befehl seines Vorgesetzten gehen. »Nein,« sagte dieser, »zwar fürchte ich die Verantwortlichkeit nicht, aber ich will Sie nicht in eine mögliche Gefahr schicken, die ich nicht mit Ihnen teile.« Bei der Abreise von London hatte er den ihn an den Bahnhof begleitenden Freunden gesagt:
»So viel ist sicher, daß wo er in Gefahr sein wird, ich sie teilen werde; und wo ich in Gefahr gerate, wird er nicht weit davon sein.«
Aber alles war so ganz anders gegangen, als man es damals hoffte und erwartete, und die Kampfgenossen trennten sich. Gordon that zu ihrer Sicherheit, was er konnte, indem sein Geschwader ihnen über Berber hinaus das Geleite gab; auch ermahnte er sie, sich in der Mitte des Stromes zu halten und wegen Holzbedarf nur an einsamen Orten zu landen. Am[S. 271] 10. September verließ seine Mannschaft die Stadt und kehrte nach einem Siege über die Rebellen dahin zurück, während der Dampfer »Abbas« Stewart und Power mit noch etwa vierzig anderen stromabwärts trug.
Schon anfangs Oktober gelangte die Unglückspost nach England, daß der »Abbas« im Nil gestrandet und seine Mannschaft dem Feind in die Hände gefallen sei. Man hoffte eine Zeit lang, Stewart sei mit dem Leben davon gekommen, aber nach wenigen Wochen war's auch mit dieser Hoffnung zu Ende. Monate vergingen jedoch, ehe man die Einzelheiten mit Gewißheit erfuhr, und zwar durch den Heizer des Dampfers, der aus der arabischen Gefangenschaft entkam und folgendes berichtete:
Nachdem das Geschwader Berber bombardiert hatte, kehrte die kleine Flotte nach Khartum zurück, und der »Abbas« setzte seine Reise fort, gelangte auch sicher bis über Abu Hamed. Am 18. September aber stieß der Dampfer auf den Grund. Es war in des Scheik Wad Gamrs Land, und man hatte seit einiger Zeit bemerkt, daß die Leute auf beiden Seiten landeinwärts den Hügeln zu liefen. Als es sich ergab, daß der »Abbas« festsaß, wurde ein Rettungsboot mit dem Nötigsten beladen und als Landungsplatz eine nahe Insel in Aussicht genommen; das Boot ging viermal hin und her. Darnach vernagelte Oberst Stewart selbst die Kanonen und ließ sie über Bord werfen; ebenso die Kisten mit Schießbedarf. Die Eingeborenen hatten sich mittlerweile in großer Anzahl auf dem rechten Ufer versammelt und schrieen: »Gebt uns Frieden und Korn!« »Friede,« riefen die Gestrandeten zurück. Soliman Wad Gamr, der Scheik, war in einem kleinen Haus in der Nähe; auch er fand sich am Ufer ein und rief den Schiffbrüchigen zu, sie sollten nur furchtlos herüber kommen, die Soldaten müßten aber ihre Waffen niederlegen, sonst würden seine Leute sich fürchten. Und nachdem Oberst Stewart mit seinen Gefährten beraten hatte, setzte er mit den beiden Konsuln (Power und Herbin) und einigen andern über und betrat das Haus eines blinden Fakirs Namens Etman, um daselbst mit dem Scheik über den Ankauf von Kamelen zu unterhandeln. Er gedachte den Weg nach Dongola durch die Wüste[S. 272] fortzusetzen. Außer Stewart, der einen Revolver trug, hatte niemand Waffen. Und während er und seine Begleiter mit dem Scheik verhandelten, beschäftigten sich die übrigen mit der Landung. Es dauerte nicht lange, da bemerkten diese, daß Soliman aus dem Hause stürzte und seinen Stammesangehörigen, die in einem Haufen beisammen standen, mit einem Wassereimer, den er hin und her schwenkte, ein Zeichen gab. Da warfen sich diese mit ihren Speeren teils auf die Mannschaft am Ufer, teils auf das Haus. Der Heizer versteckte sich mit einigen anderen und wurde später gefangen genommen. Oberst Stewart und seine Gefährten aber wurden unbarmherzig niedergemacht und ihre Leichen in den Fluß geworfen. Dann teilten sich die Mörder in die Beute. Es war selbst nach arabischen Begriffen ein schändlicher Verrat. Stewarts Tagebuch über den bisherigen Verlauf der Belagerung Khartums, das Gordon als einen Schatz bezeichnete, wurde mit allen übrigen Schriftstücken, Briefen u. s. w., die der »Abbas« trug, dem Mahdi ausgeliefert.
Gordons »Tagebücher« beginnen mit dem Tag, an dem er sich von seinen Gefährten trennte. Die vier ersten sind an Stewart gerichtet, die beiden letzten an den befehlenden General des Entsatzheeres. Es sind diese Tagebücher einfach die niedergeschriebenen Gedanken eines Menschen, der niemand mehr hat, gegen den er sich aussprechen kann. Er bespricht darin die Sachlage von allen Seiten, keinen möglichen Einwurf läßt er unbeantwortet; er bringt die militärische Stellung zu Papier und arbeitet die zu verfolgende Taktik aus. Er macht Aufzeichnungen der täglichen Nebendinge, die nicht selten humoristischer Art sind — z. B. seine Gewohnheit, schwarze Überläufer mit den Spiegeln im Palast Bekanntschaft machen zu lassen, damit die Leute sich doch auch einmal selbst zu Gesicht bekämen. Die Tagebücher sind daher umfangreich, obschon sie nur einen Zeitraum von drei Monaten umschließen. Er stellt darin auch das Verfahren der Regierung in ein helles Licht, aber er thut es mit der Ruhe eines Menschen, der sich in einer höheren Hand weiß, als in der der irdischen Machthaber und dem Ausgang, so oder so, ohne viel Aufregung entgegen sieht. Nichts steht deutlicher in diesen Aufzeichnungen, als daß der Schreiber[S. 273] bis zuletzt an dem seltenen Gottvertrauen festhielt, das manche nur als Fatalismus zu belächeln wissen, das er selbst aber treffend dahin kennzeichnet:
»Wenn das Buch unseres Geschickes einmal aufgeschlagen ist, dann ist Ergebung unsere Pflicht, in der Zuversicht, daß uns alles zum besten dienen soll. So lang dieses Buch noch mit Siegeln versiegelt ist, ist es etwas anderes. Und es kann mir niemand nachsagen, daß ich mit diesem Glauben die Hände in den Schoß legte und alles über mich ergehen ließ.«
Es war sein Gottvertrauen und nichts anderes, das ihn dazu befähigte, die Gefährten ziehen zu lassen und allein weiterzukämpfen, und wie er überhaupt immer mehr an alles andere als sich selbst dachte, so erwähnte er dieses Alleinseins mit keinem Wort. Wohl mag er's empfunden haben! Wenn er aber schreibt: »Eine Maus hat jetzt bei Tisch Stewarts Platz eingenommen, sie scheint sich nicht zu fürchten, denn sie holt sich kecklich aus meinem Teller, was ihr gefällt,« so meinen wir, er hätte nicht leicht mit wenig Worten mehr sagen können.
Ja, Gordon war allein, aber die Stadt will er halten, ob Hilfe noch komme.
Es war in der ersten Augustwoche 1884, als Gladstone, dem Drängen des Volkes nachgebend, sich anschickte, eine Entsatz-Expedition ins Werk zu setzen; bisher war standhaft erklärt worden, die Notwendigkeit zu militärischen Operationen liege nicht vor. Das Kriegsministerium that sein Möglichstes, die verlorene Zeit nachzuholen. Am letzten August verließ der erwählte Heerführer, Lord Wolseley, London unter den Zurufen und Glückwünschen einer Menge Volks, die sich am Bahnhof versammelt hatte.
Wolseleys Instruktionen sind beachtenswert. Es gelte, Gordon zu retten, sagte die Regierung, ihrer Politik getreu bleibend, daß der Sudan England nichts angehe. Das Entsatzheer solle sich daher aller und jeder offensiven Operationen enthalten. Der Auftrag erstreckte sich nicht auf die Besatzungen von Kassala und[S. 274] Sennar, noch weniger auf die Bahr el Ghasal oder die Äquator-Provinzen. Die Regierung setzte sogar Zweifel darein, daß es sich als nötig erweisen werde, bis Khartum vorzurücken; jedenfalls sollten die britischen Operationen möglichst beschränkt werden. Einigermaßen in Widerspruch mit dieser Vorschrift folgte die weitere Anordnung, daß, nachdem ein sicherer Rückzug für General Gordon und Oberst Stewart, sowie für die ägyptischen Truppen und Zivilbeamten in Khartum gewonnen sei, General Wolseley Vorkehrungen treffen solle, um dem Sudan, insbesondere aber der Stadt Khartum, eine geordnete Regierung für die Zukunft zu sichern. Bezeichnender Weise erhielt dieser Sudan-Entsatzzug den Namen »Expedition zur Rettung Gordons«.
Der Held in Khartum erfuhr davon auf eigentümliche Weise. Er erzählt in seinem Novembertagebuch, daß eine Post ihn erreicht habe. Die Briefe waren in alte Zeitungen gewickelt, darunter war der »Standard« vom 1. September, und »nicht mit Gold aufzuwiegen,« sagt Gordon, »waren wir doch seit dem 24. Februar ohne alle und jede Nachricht!« Dieses Zeitungsblatt aber beschreibt die Abreise Lord Wolseleys, um Gordon zu befreien. »Nichts dergleichen,« erklärt Gordon, »sondern um die eingeschlossenen Truppen zu entsetzen!« Anderswo spricht er sich so aus:
»Nicht energisch genug kann ich es ablehnen, daß dieser Zug meinetwegen ins Werk gesetzt wird. Es geschieht lediglich, um die Ehre Englands zu retten, um die Besatzungen und andere aus einer Lage zu befreien, in welche die englische Politik in Ägypten sie gebracht hat. Ich unternahm den ersten Zug zum Entsatz, was jetzt kommt, ist der zweite. Was mich betrifft, so könnte ich mich ja jederzeit davon machen, wenn das alles wäre. Überlegt euch aber einmal, was es auf sich hätte, wenn die erste Expedition davon liefe und ihre Dampfer in des Mahdi Hände fallen ließe, wäre das nicht eine böse Vorarbeit für die zweite Expedition, welche Englands Ehre retten will, indem sie die Besatzungen befreit? Beide Expeditionen gelten der Ehre Englands, das liegt auf der Hand. Ich bin gekommen, um die Besatzungen zu retten und es ist mir nicht gelungen. Nun kommt Earle (der mit Wolseley kam); hoffen wir, es gelingt ihm. Zu meiner Befreiung kommt er aber nicht! Mit dem Entsatz der Garnison, das gab von Anfang an jeder zu, stand[S. 275] unsere nationale Ehre auf dem Spiel. Wenn Earle nun das gewünschte Resultat erreicht, so verpflichtet er sich die »nationale Ehre«, die ihn hoffentlich auch belohnen wird; mich geht das nichts an, ich bin höchstens zu tadeln, daß es mir nicht gelungen ist. Jedenfalls bin ich nicht das gerettete Lamm und wills's nicht sein.«
Gordon baute überhaupt nicht auf die Erfolge des Feldzugs, der vier Monate früher hätte unternommen werden sollen. Es ist auch nicht leicht zu erklären, warum man sich im April nicht zu den Maßregeln verstehen konnte, die man im August doch ergriff!
»Die Möglichkeit liegt natürlich auf der Hand,« schrieb Gordon, »daß Khartum der Expedition noch vor der Nase weggeschnappt wird; man wird gerade noch dazu kommen, d. h. zu spät. Vielleicht hält man es dann für nötig, die Stadt zurückzuerobern, aber das wäre ganz nutzlose Mühe und würde auf beiden Seiten nur unnötig viel Blut kosten. Wenn es so weit kommt, dann kann das Entsatzheer nichts besseres thun, als den Schwanz einziehen und ganz still wieder umkehren. Denn wenn Khartum einmal gefallen ist, dann ist die Sonne untergegangen und die Leute werden sich nicht viel um die Planeten (d. h. die andern Garnisonsstädte) kümmern.«
Der Leser weiß, daß, wie Gordon ahnte, Wolseleys Truppen »gerade noch dazu kamen«; man weiß auch, daß sie unverrichteter Dinge umgekehrt sind. Und zwar trifft Offiziere und Mannschaft kein Tadel; manch Tapferer hat sein Leben gelassen, und die Geldopfer berechnen sich nach Millionen. Der Fehler war der, daß es von Anfang an zu spät war.
Von Kairo nach Assiut wurden die Truppen per Bahn befördert und von dort per Nildampfer nach Assuan, wo die Schwierigkeiten der Expedition ihren Anfang nahmen. Ende September trafen die Flußboote von England dort ein, mit welchen man die Mannschaft und den Kriegsbedarf nach Dongola zu verbringen beabsichtigte, und vierhundert kanadische Bootsleute waren ihrer besonderen Tüchtigkeit halber auf Wolseleys Wunsch dazu verschrieben worden. Die Boote durch die Nilschnellen oberhalb Wady Halfa zu bringen, bot fast unübersteigliche Hindernisse und die Beförderung durch die Wüste mit Kamelen nicht minder;[S. 276] und als die Truppen endlich in Dongola angelangt waren, lag schon eine Riesenarbeit hinter ihnen, obgleich sie vom Feinde selbst noch nichts gesehen hatten.
Dongola wurde anfangs November erreicht, und am 14. dieses Monats erhielt Wolseley Nachricht von Gordon vom 4., die ihm abermals zu wissen that, daß keine Zeit zu verlieren sei. Er benachrichtigt den britischen Heerführer, daß in Metammeh fünf Dampfer mit neun Kanonen seiner Befehle harren. Mit andern Worten, sobald er hört, daß der Hilfszug im Anmarsch ist, kommt er selbst seinen angeblichen Rettern zu Hilfe!
»Noch vierzig Tage können wir aushalten,« berichtet er, »darnach wird's schwer sein ... Der Mahdi ist etwa acht Meilen von hier ... Sennar ist ruhig, und man weiß dort, daß Ihr kommt ...«
Wolseley that sein möglichstes, das Vorrücken zu beschleunigen, auch bedurfte es kaum seiner packenden Proklamation, die Truppen anzufeuern. Daß Gordon die Stadt bis zu ihrem Kommen halte, das war Offizieren wie Gemeinen genug. Durch den Mudir von Dongola hörte man ferner aus der belagerten Stadt, daß, als der Bote Khartum verließ, dreißig Barken voll Korn vom Blauen Nil eingebracht worden seien, und daß die Leute all ihre Hoffnung auf Gordon setzten; daß sogar aus des Mahdi Lager Überläufer zu ihm kämen; daß er seinen Bedarf an Schießpulver selbst fabriziere, daß er zwölf Dampfer auf dem Fluß habe, und daß das Volk anfange, sein Regiment dem des Mahdi vorzuziehen. Was letztere Behauptung und die Nachricht von Überläufern aus des Mahdis Lager betrifft, so erklärt Gordon in seinem Tagebuch dies damit, daß es überall an Nahrung gebreche und der Glaube im Umlauf sei, in Khartum leide man nicht Mangel; der Bauch regiere die Welt.
So viel war sicher, daß der Mahdi Obeid verlassen und bei Omderman angesichts der belagerten Stadt seine Stellung genommen hatte. Es war der 21. Oktober, das Neujahr der Moslem, als Gordon das Geschick der Abbas, den Tod Stewarts und Powers erfuhr; es bekümmerte ihn tief. Nach Omderman aber, woher ihm die Nachricht gekommen, telegraphierte er: »Ich[S. 277] lasse dem Mahdi sagen, daß es mir nichts ausmacht und wenn er mir den Untergang von zwanzigtausend Dampfern wie die Abbas, den Tod von zwanzigtausend Offizieren wie Stewart Pascha meldet. Ich hoffe den englischen Entsatzzug bald hier zu sehen, wenn der Mahdi mir aber zu wissen thut, daß die Engländer den Schwierigkeiten erlegen sind, so ist mir auch das einerlei. Ich bin hier wie Eisen!«
Der Mahdi machte einen Angriff auf die Stadt. Gordon begegnete ihm mit seinen Dampfern und achthundert Schwarzen; es kostete einen achtstündigen heißen Kampf, aber es gelang ihm, die Araber zurückzuwerfen und sie durch seine Sprengminen aus ihrer Stellung zu vertreiben. Der geschlagene Mahdi hat hierauf für gut gehalten, sein Angesicht eine Zeit lang zu verbergen und sich in eine Höhle zurückzuziehen. In dieser weissagte er, man werde sich sechzig Tage lang ruhig verhalten, darnach aber werde das Blut in Strömen fließen. Diese »Weissagung« ist so ziemlich auf den Tag in Erfüllung gegangen.
Weihnachten und Neujahr ging vorüber, da schien es endlich Ernst werden zu wollen. Das englische Heer rückte in zwei Kolonnen, die eine unter Earle, die andere unter Sir Herbert Stewart durch die Bajuda-Wüste vor. Das Ziel Stewarts waren die Gakdul-Brunnen, die auch erreicht wurden; hier wurde eine feste Stellung gewonnen. Am 15. Januar 1885 bewegte sich der Zug weiter nach den Abu Klea-Quellen, etwa hundertundzwanzig Kilometer von Metammeh und Shendi am Nil. Dort kam es zur Schlacht. Hoffnungsvoll waren die Truppen vorgerückt; einzelne Araber, auf die sie unterwegs stießen, rissen des Mahdi Abzeichen von ihren Gewändern und erklärten, sie würden den falschen Propheten nie anerkannt haben, hätten sie gewußt, daß die Engländer kämen. Bei Abu Klea war der Feind zehntausend Mann stark. Die englische Kolonne zählte nicht viel über tausend. Es gab eine heiße Arbeit, aber den Briten blieb der Sieg; doch kostete er schwere Opfer. Sir Herbert Stewart selbst wurde tödlich verwundet; neun andere Offiziere fielen, darunter etliche der tapfersten, die England aufzuweisen hatte, außerdem gab es an Toten fünfundsechzig Gemeine, und fünfundachtzig Verwundete.[S. 278] Über tausend Araber bedeckten das Schlachtfeld. Unter Sir Charles Wilson, dem nach Stewarts Verwundung der Oberbefehl zufiel, erreichte die britische Abteilung den Nil, wo Gordons Dampfer der Befreier mit der frappanten Meldung harrten: »Alles wohl in Khartum; wir können uns noch jahrelang halten! — C. G. G. 29. Dez. 84.« Hart auf die Siegesbotschaft von Abu Klea trug der Telegraph diese Kunde nach England, und alle Welt jubelte, daß die Hilfe doch nicht zu spät gekommen sei, daß der tapfere Held sich gehalten habe, und daß seine eigenen Dampfer in wenigen Tagen die englischen Landsleute ihm zuführen würden. Daß Gordons Meldung darauf abgesehen war, den Feind zu täuschen, daß sie das gerade Gegenteil von dem bedeuteten, was ihr Wortlaut besagte, das mutmaßte man vor übergroßer Freude nicht.
Und doch war es so! Schon am 14. Dezember hatte ein Geheimbote die (ebenfalls für den Feind bestimmte) Nachricht gebracht: »Alles wohl in Khartum.« Aber eben derselbe Bote brachte dem britischen Oberbefehlshaber eine Privatmeldung ganz anderer Art:
»Wir sind auf drei Seiten belagert — bei Omderman, Halfaja und Hoggi Ali droht Angriff. Kampf ununterbrochen Tag und Nacht. Der Feind kann uns nur aushungern. Haltet eure Truppen zusammen, der Feind ist zahlreich. Bringt möglichst viel Truppen. Noch halten wir Omderman und die Verschanzung gegenüber.
Der Mahdi hat Erdwälle in Schußweite von Omderman aufwerfen lassen; er selbst aber bleibt außerhalb der Schußweite.
Vor ungefähr vier Wochen haben des Mahdi Truppen Omderman angegriffen und einen Dampfer außer stand gesetzt. Wir haben dafür eine der feindlichen Kanonen demontiert.
Drei Tage später haben sie uns wieder auf der Südseite angegriffen; wir haben sie zurückgeworfen.
Saleh Bey und Slaten Bey sind gefangen in des Mahdi Lager.
Unsere Truppen hier leiden Mangel. Was noch an Proviant da ist, ist wenig; etwas Korn und Zwieback.
Kommt sobald wie möglich; am besten über Metammeh oder Berber. Rückt auf diesen beiden Linien vor. Versichert euch der Stadt Berber, ehe ihr vorrückt. Hütet euch, den Feind euch im Rücken zu lassen, und wenn ihr Berber habt, dann laßt mich's wissen.
[S. 279]
Haltet den Feind möglichst in Unwissenheit über eure Bewegungen.
In Khartum giebt's weder Butter noch Datteln und sehr wenig Fleisch, alle Lebensmittel sehr teuer.«
Das klang anders, als »wir können noch jahrelang aushalten!« Aber diese Meldung wurde nicht nach England telegraphiert; oder, wahrscheinlich richtiger, man hielt für gut, sie in den Regierungsbureaus zurückzuhalten. Wie ein Donnerschlag aus klarem Himmel fiel daher am 5. Februar 1885 die Botschaft ins Land: Khartum ist gefallen!
Sir Charles Wilson war in guter Zuversicht mit zwei von Gordons eigenen Dampfern von Metammeh abgefahren. Er erreichte das Ziel am 28. Januar, zwei Tage zu spät; des Mahdi Geschütze begrüßten ihn bei der Ankunft, er konnte sich nur wieder zurückziehen — am 26. war Khartum gefallen!
Wer vermag es, die letzten drei Monate in ihrem ganzen Ernst sich zu vergegenwärtigen, der nicht selbst als Augenzeuge mit in der eingeschlossenen Stadt war! Das Bild wird sich erst dann völlig entrollen, die Schlußszene von Gordons Leben wird erst dann mit voller Klarheit beleuchtet sein, wenn die Bücher aufgethan werden, in denen aller Menschen Thun verzeichnet steht. Einigermaßen aber sind wir, weil im Besitz seiner Aufzeichnungen, dennoch wie Augenzeugen.
Kehren wir zu der Zeit zurück, da er mit einem Heldensinn und einer Großmut, die ihresgleichen sucht, die Gefährten ziehen ließ, um, wenn möglich, ihr Leben zu retten und allein, der einzige seines Volkes, in der unseligen Stadt zurückzubleiben. Wie oft hatte Gordon es früher ausgesprochen, daß er bereit wäre, sein Leben hinzugeben für seine »armen Schafe«, die Schwarzen im Sudan. Es war nicht bloße Redensart. Er hat es gethan, sofern ein Mensch für andere sich opfern kann. Es liegt ein merkwürdiger Brief von ihm vor, den er an die Freunde in Jaffa richtete, als Khartum ernstlich bedroht war und er nicht wußte,[S. 280] wie bald die Übermacht von außen, oder der Verrat von innen die Stadt dem Feind überliefern würde.
»Es ist eine Lage, in des man seine Hoffnung nur noch auf Gott setzen kann,« schreibt er. »Zwar sollte dies uns genügen, aber wer nicht selbst in der Lage war, kann kaum verstehen was es heißt: ›Wir wissen nicht, was wir thun sollen, unsere Augen sehen nach dir‹ (2 Chron. 20, 12). Der Aufruhr an sich wäre nichts, wenn wir nur ordentliche Truppen hätten, aber die haben wir nicht, und ich muß mich daher ganz auf Gott verlassen. Es klingt sonderbar, so zu schreiben, als ob Er nicht genug wäre! Es ist meine Menschennatur, die so schwach ist, daß der Mangel mich — zwar nicht immer, aber manchmal — bedrückt. Was für veränderliche Geschöpfe sind wir doch und voll Widerspruch; halb Fleisch, halb Geist. Und doch arbeitet Gott an uns und will uns zu Bausteinen machen für seinen Tempel. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich zwischen zwei Seiten hin und herschwanke. ›Ist meine Hand verkürzt?‹ heißt's auf der einen, und ›schlechterdings kein Ausweg aus dieser Lage!‹ auf der andern. Es ist ein fortwährender Kampf. Ich werde Ruhe finden im Grab. Denkt nicht, daß ich Euer vergesse; denn als Hiob für seine Freunde bat, da wandte der Herr sein Gefängnis (Hiob 42, 10). Lassen Sie Ihre Kinder für mich beten, denn bei Menschen ist keine Hilfe. Wie wunderbar ist das Zurichten der Bausteine, und wie ungern lassen wir uns behauen! Aber dennoch habe ich es gewagt, vor Ihn zu treten, und habe es von Ihm begehrt, die Sünden dieser auf mich zu legen, in Christo. Gott mit Euch. Habt Dank für Eure Fürbitte.«
Von allem, was wir über Gordon wissen — und wie reich sind die Zeugnisse — ist dieser Brief wohl das Wunderbarste, etwas, das uns tief ins Herz greift. Wie treu ist der Mann, der sein Leben einsetzt, der mit der ganzen Bürde eines hilflosen Volkes auf seinen Schultern, mit der Bitte vor seinen Herrn tritt, ihre Sünden auf ihn zu legen! Wenn es wahr ist, daß er schließlich durch Verrat fiel, so fehlt nur, daß er hinzugesetzt hätte: sie wissen nicht, was sie thun!
Noch hatte er das Volk auf seiner Seite, das in ihm seine Schutzmauer erblickte; aber der Hunger kam, und der Zweifel that sein Werk, wie aus seinen Worten hervorgeht: »die Leute[S. 281] mußten uns für Lügner halten.« Die Engländer kommen, war lange der Trost; aber sie verzogen und kamen nicht. Und dem Volk sank der Mut.
»Während ihr eßt und trinkt und sicher in euren Betten schlaft,« schreibt er, »wache ich mit meinen Leuten Tag und Nacht, ob es uns gelingen möchte, uns gegen den falschen Propheten zu halten.«
Und wenn selbst seine Leute schliefen, so wachte er. In der Mitte der Stadt hatte er sich einen Turm errichtet, von dem er das Land weithin übersah. Wenn der Tag graute und andere wachen konnten, dann ruhte er. Den Tag über kämpfte er den Kampf mit dem Nahrungsmangel und dem Kleinmut in der Stadt; und wenn die Nacht sich senkte, bestieg er seinen Turm und hielt die Wache, allein unter dem Sternenhimmel mit seinem Gott um den Sieg ringend, die Hilfe erflehend, die versagt schien. Wer kann es ermessen, wie die Heldenseele in mancher langen Nacht im Kampf für »dies Volk« sich erschöpfte und immer wieder zum Anlauf bereit stand, wie oft auch ein neuer Tag heraufstieg und keine Rettung brachte!
Nichts tritt in den Tagebüchern klarer zu Tag, als daß Gordon, so völlig er auch das Ende in eine höhere Hand legte, alles that, was in seiner Macht stand, daß er die ihm anvertraute Stadt Schritt um Schritt verteidigte. Nichts unterließ er, was er thun konnte; sein Auge war überall, und sein heroischer Mut war sozusagen täglich neu. Es war eine Zähigkeit in der Natur dieses Mannes, die um so erstaunlicher ist, als er's nicht genug betonen kann, daß Menschenhilfe kein nütze ist. Bis auf den letzten Blutstropfen ringt er um das Geschick der Stadt, und doch geht sein Glaube von dem Gedanken aus, daß eben dieses Geschick vorherbestimmt ist. Für den einsichtsvollen Leser liegt hier durchaus kein Widerspruch vor. Er erkennt es als seine Pflicht zu ringen, bis das ihm noch verborgene Geschick sich erfüllt. Oder um abermals an sein Wort zu erinnern: »Wenn das Buch der Dinge, die sich ereignen sollen, einmal aufgeschlagen ist, dann ist Ergebung für uns das Richtige; vorher ist es etwas anderes. Und es kann[S. 282] niemand sagen, daß ich bei diesem Glauben die Hände in den Schoß gelegt habe.«
Seine Ergebung in den Willen Gottes, wenn die Ereignisse einmal erfüllt sind, hindert ihn z. B. auch durchaus nicht daran, in seinen Aufzeichnungen der englischen Regierung ihren Anteil an der Schuld recht gründlich unter die Augen zu halten.
»Wenn ich nicht dächte, daß alles vorherbestimmt und zwar zum besten bestimmt ist, so könnte ich ganze Oktavbände voll Zorn loslassen, so oft ich auf dieses Thema komme. Ich sehe gar nicht ein, warum ich die Stadt auf halbe Rationen setzen soll, nur um die Belagerung um so viel zu verlängern; wenn ich es thäte, so hätten wir eine Katastrophe noch vor der Zeit, wo eine solche bei ganzen Rationen zu erwarten ist. Ich wäre ja ein Engel (unnötig zu bemerken, daß ich das nicht bin), wenn ich nicht bitterbös auf unsere Regierung zu sprechen wäre. Ich will suchen mich über diese Sudan-Wirtschaft und all diese unentschlossene Politik zu beruhigen; aber wenn mir meine schönen schwarzen Soldaten draufgehen, so möchte ich doch den sehen, der beim Gedanken an unsere Machthaber den hellen Zorn unterdrücken könnte!«
Der gutmütige Ausfall auf seine Schaf-Soldaten thut seiner Gesinnung in diesem Stücke jedenfalls keinen Eintrag. Die Politik der Engländer, sagte er, lasse sich kurz dahin zusammenfassen: sie weigerten sich, den Ägyptern in der Sudan-Frage zu helfen, sie verboten den Ägyptern, sich selbst zu helfen, und sie wollten nichts davon hören, daß andere ihnen helfen. Er bestritt keineswegs das Recht der englischen Regierung nach ihrer Einsicht zu handeln, das aber warf er ihr vor, daß sie selber nicht wußte, was sie wollte, als es an der Zeit war, ja oder nein zu sagen. Hören wir ihn in seinem Oktober-Tagebuch:
»Was der gegenwärtige Hilfszug an Menschenleben und Geldopfern kosten kann, ist nicht zu ermessen und wird vollständig zwecklos sein; die Unschlüssigkeit unserer Regierung ist an allem schuld. Hätte man von Anfang an gesagt: ›Es geht uns nichts an und wir regen keinen Finger, wenn die Besatzungen im Sudan umkommen‹, hätte man nichts gethan um Tokar zu entsetzen, hätte man mir nichts von Entsatz telegraphiert (s. Telegramm vom 5. Mai, Suakim, und vom 29. April, Massaua), statt dessen vielmehr die drei Worte:[S. 283] Hilf dir selber! dann könnte kein Mensch sich beschweren. (Gordon fügt in Parenthese bei, daß, während einerseits Baring im Namen der Regierung telegraphierte, daß britische Truppen zum Entsatz Berbers nicht bewilligt würden, der englische General Graham andererseits Befehl erhielt, den Osman Digna anzugreifen.) Aber die Regierung wollte das nicht sagen, daß sie die Besatzungen im Stich zu lassen gesonnen sei, und darum unterblieb das ›Hilf dir selber‹. Das ist's, was uns die Hände gebunden hat. Hätte ich die Flucht ergriffen, so wäre ich selbst unserer Regierung gegenüber ein Deserteur gewesen; andererseits freilich hat mein Bleiben den gegenwärtigen Hilfszug nötig gemacht. Baring meldete mir klar und deutlich den Befehl, nicht ohne spezielle Erlaubnis der Regierung an den Äquator zu gehen. (Wenn Gordon sich nämlich hatte retten wollen, so wäre das sein Ausweg gewesen.) Ich rechte durchaus nicht darüber mit der Regierung, daß sie den Sudan hat fahren lassen. Es ist ein erbärmliches Land und nicht wert, daß man es halte; aber das sage ich: die Regierung hätte im März den Mut haben sollen zu sagen: ›Hilf dir selber!‹ Damals hätte ich es thun können; jetzt bin ich Ehren halber an dies Volk gebunden, nachdem sechs Monate in unnützem Widerstand hingegangen sind ... Ich sage dies, weil niemand die Geld- und Menschenopfer dieses Hilfszugs mehr beklagt als ich, und niemand kann die Schwierigkeiten besser ermessen als ich; nach allem aber was hinter uns liegt und dank der Unschlüssigkeit unserer Regierung haben wir keine andere Wahl. Es handelt sich für uns jetzt darum, wie wir mit unserer Ehre und mit möglichst geringen Opfern am besten davon kommen. Gebt das Land den Türken, das ist die einzige Lösung der Frage. Hoffentlich denkt niemand, daß ich aus Eigensinn Schwierigkeiten mache; wollte Gott, ich wäre glücklich fort von hier, wo ich seit Februar keine ruhige Stunde gehabt habe! ... Bis vor kurzem waren wir völlig im dunkeln, ob die Regierung die Besatzungen im Stich lassen will oder nicht. Hätte ich meinen Posten verlassen, so hätte man mich als Deserteur darum zur Verantwortung ziehen können, weil ich die Dampfer und Kriegsvorräte in des Mahdi Hand hätte fallen lassen. Denn wenn ich Reißaus nehme, so dauerte es keine fünf Tage und der Mahdi wäre hier ... Ich wiederhole, die englische Regierung wäre, sofern es mich betrifft, aller Verantwortung ledig, hätte man mir nur den Entschluß übermittelt: ›Hilf dir selber, wir lassen die Besatzungen im Stich.‹ Dann hätte ich[S. 284] gewußt, woran ich bin, hätte den Leuten sagen können, daß auf Hilfe nicht zu rechnen ist, und hätte keine sechs Wochen gebraucht, um den Äquator zu erreichen. Und ich hätte das in Ehren thun können; denn sobald es einmal feststand, daß man uns im Stich ließ, mußte mein Hierbleiben darauf hinauslaufen, daß ich mit den Khartumern eingeschlossen würde, was ihre Lage nicht bessern konnte, im Gegenteil den Mahdi nur um so mehr aufbringen mußte.«
Wir geben diese Stellen gern ausführlich, weil die Anklage damit am besten widerlegt ist, die hin und wieder gegen Gordon laut geworden, er habe sich die Folgen seines Bleibens selbst zuzuschreiben.
Weiter sagt er:
»Hätte ich einen Versuch gemacht mich zu retten, so hätten die Leute hier etwa so geurteilt: ›Sie sind zu uns gekommen, und wir vertrauten Ihnen; wären Sie nicht gekommen, so hätte wohl mancher von uns sein Heil in der Flucht versucht, so aber verließen wir uns darauf, was Sie für uns thun würden. Wir haben seit Monaten Entbehrung über Entbehrung gelitten, um die Stadt zu halten. Wären Sie nicht gekommen, so hätten wir uns dem Mahdi ergeben; jetzt aber, nach unserm langen Widerstand, haben wir keine Barmherzigkeit von ihm zu erwarten, und er wird das vergossene Blut bitter an uns rächen. Sie haben unser Geld entlehnt und uns versprochen, es solle uns sicher wieder gegeben werden; wenn Sie uns verlassen, so ist alles verloren. Es ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit, bei uns zu verharren und unser Los zu teilen. Wenn die englische Regierung uns im Stich läßt, so ist das kein Grund, daß Sie uns im Stich lassen, nachdem wir uns all die Zeit her an Sie gehalten haben.‹ ›Und darum,‹ fügt Gordon mit Nachdruck hinzu, ›erkläre ich ein für allemal, daß ich den Sudan nicht verlasse, bis jeder sich hat retten können, der's nötig hat, bis eine Regierung hier aufgerichtet ist, die mich meiner Pflicht entbindet. Und wenn jetzt ein Befehl kommt, der mich gehen heißt, so werde ich nicht gehorchen, sondern bleibe hier und falle mit der Stadt und teile ihre Not.‹«
Er giebt anderswo zu:
»Ich fürchte, ich bin ein allzu selbständiger Offizier, aber so bin ich und kann's nicht ändern. Ich habe nicht einmal Verstecken mit meinen Vorgesetzten gespielt! Wenn ich die Regierung wäre,[S. 285] würde ich so einen, wie ich bin, nie anstellen; denn ich bin unverbesserlich.«
Aber er sagt auch:
»Ich bin mit dem Auftrag abgesandt worden, den Sudan zu räumen, und nicht um Reißaus zu nehmen und die Besatzungen im Stich zu lassen.«
Mit andern Worten, zu einem ehrlosen Auftrag hätte er sich nicht bereit finden lassen, und nachdem er einmal abgesandt war, will er die Hand zu einer Ehrlosigkeit nicht bieten. Sehr richtig macht er auch darauf aufmerksam, daß, wenn die Regierung mit ihrer langen Saumseligkeit recht hatte, es dann auch recht gewesen wäre, dabei zu verharren.
»Das ist mir ein Rätsel,« sagt er, »wenn es jetzt wohl gethan ist, uns zu Hilfe zu kommen: warum war's nicht recht, das früher zu thun? Es ist ganz schön von den Schwierigkeiten der Regierung zu reden, aber das läßt sich nicht leicht wegerklären, daß eine stille Hoffnung im Hintergrund war, ein Zuhilfekommen könnte durch unsern Fall erspart werden! Was mich persönlich angeht, so will ich niemanden Vorwürfe machen; aber es ist mir nicht sehr darum zu thun, mit Verehrung von Leuten zu reden, seien sie wer sie wollen, die sich mit solchen Hintergedanken abgeben können ... Ich weiß in der ganzen Weltgeschichte kein Beispiel von ähnlicher Handlungsweise, wenn ich nicht etwa auf David mit Uria dem Hethiter Bezug nehmen will, und da war eine Eva im Spiel — eine Entschuldigung, die im vorliegenden Fall meines Wissens nicht existiert. Ich wiederhole, ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn man den Besatzungen nicht helfen will, ich verdamme nur die Unschlüssigkeit. Man hatte nicht den Mut ehrlich zu sagen: wir lassen euch im Stich; man verhinderte es, daß ich an den Äquator ging, mit dem stillen Vorsatz, mir nicht zu Hilfe zu kommen, und — soll ich sagen mit der Hoffnung? ... (›März, April u. s. w. sechs Monate! hält er noch immer aus?‹) ja, das ist's, was ich der Regierung vorwerfe.«
Es ist schwer, den Machthaber in London ein gerechteres Zeugnis über ihr Verhalten zum Sudan auszustellen, als Gordon es hier thut, und der Leser hat hoffentlich genug Beweise davon in diesem Buch, daß Gordon nicht aus persönlichen Rücksichten[S. 286] so redet; für sich selbst begehrt er nichts; er will heute sein Leben hingeben, wenn es sein muß, aber schwarz will er nicht weiß nennen und Unehre nicht für Ehre gelten lassen, und er wird nur gegen die bitter, die solches von ihm zu erwarten scheinen. Er ist sich selbst treu geblieben, und das kostete ihn sein Leben. Daß er nie wieder nach England zurückkehren und keinen Heller Entschädigung annehmen werde, spricht er mehr denn einmal in seinen Tagebüchern aus. Er hätte diesen Entschluß ohne Zweifel auch ausgeführt.
Daß des Mahdi Machtentfaltung auf den Fanatismus des Volks zurückzuführen sei, giebt Gordon nicht zu; er sagt vielmehr, seiner Erfahrung nach gebe es selbst in jenen fanatischen Ländern heutzutage nicht viel reinen Fanatismus mehr. Es handle sich bei den meisten Leuten vielmehr lediglich um den irdischen Besitz; es sei eher eine Art Kommunismus unter der Flagge der Religion. Und Gordons alter Humor macht sich geltend, als er erfährt, daß nicht einmal der Mahdi ein ehrlicher Fanatiker, sondern ein »Humbug« sei. Ein aus dem feindlichen Lager entronnener Grieche erzählte ihm nämlich, daß der Mahdi Pfeffer unter den Fingernägeln habe, damit ihm Thränen zu Gebot stünden, wenn er Audienz gebe. Auch begnüge er sich, wo er gesehen werde, mit ein paar Körnlein Durra, in den verborgenen Räumen seiner Wohnung aber lebe er herrlich und in Freuden und versage sich selbst geistige Getränke nicht.
»Ich muß gestehen,« sagt Gordon, »seit ich das weiß, habe ich allen Geschmack am Mahdi verloren; bis jetzt konnte man sich doch wenigstens damit trösten, daß man es mit einem anständigen Fanatiker zu thun habe, der an seine Sendung glaubt. Wenn einer sich aber mit Pfeffer unter den Fingernägeln abgiebt, so ist's wirklich eine Demütigung, sich ihm ergeben zu sollen! ...«
Da übrigens Thränen doch im allgemeinen als ein Beweis der Aufrichtigkeit gelten, so setzte Gordon hinzu, das Rezept lasse sich vielleicht auch Staatsministern empfehlen.
Unter den Mohammedanern seiner nächsten Umgebung, nämlich seinen Dienstboten, machte er ähnliche Entdeckungen.
[S. 287]
»Wenn sie nicht mit Essen beschäftigt sind, dann sind sie am Beten; und wenn sie nicht beten, dann schlafen sie oder sind krank. Man hat wirklich Mühe, sie in den Zwischenpausen zu kriegen; es ist schlechterdings nichts mit ihnen anzufangen, wenn sie auf eine dieser vier Festungen sich zurückziehen, essen, beten, schlafen oder krank sein, und sie wissen es. Man wäre ja ein Bengel, wenn man sie daraus verjagen wollte (was ich übrigens doch manchmal thue). Es gilt einen Befehl abzufertigen, man sieht sich nach seinem Diener um, und der Mensch hält seine Andacht. Ich muß sagen, es ist ein prächtiges Land, um einen Geduld zu lehren! Es ist auch höchst seltsam, aber so oft ich Ursache habe aufgebracht zu sein, was wohl täglich mehrmals vorkommt, ist die ganze Dienerschaft mit ihren Gebetsverrichtungen beschäftigt. Ihre Religion folgt sozusagen der Tonleiter meiner Stimmungen. Sowie ich guter Laune bin, sind sie Heiden.«
Gordons natürliches hitziges Temperament machte sich bis zuletzt geltend; aber seine Zornausbrüche sind von so viel Gutmütigkeit erfüllt, daß ihnen der Stachel genommen ist. Wie er selbst einmal bemerkte, schienen ihn die Leute gerade dann am liebsten zu haben, wenn ihm, wie das Sprichwort sagt, der Gaul durchging. So ereignete es sich zwei Monate vor dem Ende, daß eines Abends spät durch drei Sklaven die Nachricht nach Omderman gebracht wurde, die Araber gedächten am folgenden Morgen einen Angriff zu machen. Es wurde nach Khartum gemeldet, aber der Telegraphist meinte, es wäre auch am andern Morgen noch Zeit, dem Generalgouverneur die Depesche vorzulegen. In der Frühe wurde Gordon durch ein heftiges Schießen bei Omderman geweckt, die Araber hatten in der That einen bedeutenden Angriff gemacht, und Gordons Dampfer mußten erst noch geheizt werden. Es folgten mehrere Stunden, die, wie er sagte, ihn um Jahre älter machten — es war das heißeste Gefecht, das die Belagerten bis dahin ausgehalten hatten. Als Gordon vernahm, daß der Telegraphist eine Hauptschuld trug, dem es oft genug eingeschärft worden war, zu jeder Stunde Gordon nötigenfalls zu wecken, bestrafte ihn dieser mit ein paar tüchtigen Ohrfeigen, die ihn aber alsbald reuten und ihn veranlaßten, dem Geohrfeigten fünf Thaler zu schenken. Er dürfe[S. 288] ihn totschlagen, erwiderte der Telegraphist, ein schwarzbrauner Jüngling, denn er sei ja sein Vater! Ein andermal handelte es sich darum, einen neugebauten Dampfer zu taufen. Die Leute wollten ihn »Gordon« nennen, was er mit dem Bemerken ablehnte, es sei keine Gefahr vorhanden, daß die Stadt ihn je vergessen werde, habe er doch die meisten von ihnen auf alle mögliche Weise seinen Zorn schon fühlen lassen; sie sollten den Dampfer lieber »Sebehr« heißen!
Daß Gordon durch die ganze schwere Belagerungszeit dem Ausgange ruhig entgegen sah, wissen wir; daß es nicht ohne viel innerliches Leiden abging, spiegelt sich wieder und wieder in den Tagebüchern ab. Merkwürdig ist folgende Stelle:
»Oft, seit wir eingeschlossen sind, haben wir die Frage aufgeworfen, ob es wirklich unmännlich ist, sich zu fürchten, wie die Welt sagt. Ich sage offen, daß ich fortwährend in Furcht schwebe und zwar recht gründlich. Ich fürchte die möglichen Folgen der Gefechte. Todesfurcht ist's nicht, die habe ich gottlob ja längst überwunden; aber ich fürchte Niederlagen und was sie bringen. Man spricht von ruhigen Leuten, die sich durch nichts anfechten lassen — es giebt keine, d. h. es giebt Leute, die es äußerlich nicht zeigen, was sie innerlich fühlen. Daraus folgere ich, daß ein Heerführer nicht in vertrautem Umgang mit seinen Offizieren leben soll, denn sie beobachten ihn mit Luchsaugen und nichts ist ansteckender als Furcht. Mich hat es schon fuchswild gemacht, wenn ich etwa vor Besorgnis nicht essen konnte und dann merkte, daß es meinen Tischgenossen ebenso ging.«
Wenn Gordon auch nicht Furcht im gewöhnlichen Sinn, so doch Besorgnis in reichlichem Maße kannte, so ist's kein Wunder. Er hat es öfters ausgesprochen, daß es eine Art Verhängnis in seinem Leben war, in all seinen Kriegsunternehmungen es mit mehr oder weniger wertlosen Truppen zu thun zu haben. Das Jahr in Khartum setzte auch in dieser Hinsicht seinem Leben die Krone auf; und was die Zivilverwaltung betrifft, so stand es damit nicht besser. Wenn etwas geschehen sollte, so mußte er selbst darnach sehen, und die Last eines jeden Departements lag auf seiner Schulter.
[S. 289]
»Einen jeden Befehl, und wo sich's doch um das Interesse der Leute selbst handelt, muß ich zwei-, dreimal wiederholen. Ich kann wahrlich sagen, ich bin des Lebens müde; Tag und Nacht, Nacht und Tag ist's eine fortdauernde Plage.«
Von den Baschi-Bosuks, die ihm ja von jeher ein Dorn im Auge waren, kann er zuletzt nur noch sagen, er werde sie in Watte einwickeln und aufheben; all seine übrigen Ägypter, die Offiziere nicht ausgenommen, ist er bereit, den heranziehenden Engländern zu schenken in der Hoffnung, daß er sie dann nie wieder sehen möchte. Nachdem der »Abbas« seine Gefährten davon getragen hatte, war nicht ein Mensch in der Stadt, auf den er sich verlassen konnte; er nennt es eine peinliche Lage. Der österreichische Konsul Hansal war zwar noch da; als Gordon aber hörte, derselbe beabsichtige sich mit seinen sieben Frauenspersonen zum Mahdi zu schlagen, hatte er nur die eine Antwort: »Ich hoffe, er wird es thun!«
Noch am 3. Dezember entwirft Gordon ein Programm, wie zu helfen sei, und wenn auch von zweifelhafter Moral, so wäre es doch für die Engländer der kürzeste Weg aus der Patsche:
»Die britische Entsatz-Expedition kommt, um britische Unterthanen aus der Not zu retten, lediglich aus diesem Grunde; man findet, daß einer dieser Unterthanen hier Befehlshaber ist; man rettet ihn, und ehe er sich retten läßt, setzt er, an der Genehmigung des Khedive nicht zweifelnd, Sebehr als seinen Nachfolger ein, dem es zufällig verstattet worden war, sich als Privatmann in Familienangelegenheiten nach Khartum zu begeben. Wer kann da der britischen Regierung einen Vorwurf machen — kein Mensch. Sie hat den Sebehr nicht eingesetzt, und des Thewfik Regierung geht sie nichts an; man ist nur gekommen, um die eigenen Unterthanen zu retten, und Gordon ist der Mann, der die Ernennung Sebehrs zu verantworten hat! Nicht einmal Thewfik hat eine Verantwortung in der Sache, denn Gordon hat es auf seine eigene Verantwortung hin gethan! Ist das nicht ein prächtiger Plan? Denn erstens reinigt er die britische Regierung von aller Schuld, zweitens legt er mir die Schuld auf, und in dem Wetter, das über mich ergehen wird, werde ich so gründlich übergossen werden, daß man — ich will nicht schimpfen, noch die Monate zählen — sagen[S. 290] wir, daß man den bisherigen Verzug dabei ganz übersehen wird. Ja man wird am Ende gar die Regierung noch tadeln, einem solchen Subjekt von britischem Unterthan überhaupt zu Hilfe gekommen zu sein. Das Ministerium kann sich dann ins Fäustchen lachen, und die Fabel bleibt aufrecht erhalten, daß der Sudan oder Ägypten uns nichts angeht. Der Gegenpartei wird's der reine Verdruß sein, wenn die Regierung auf eine so anständige Weise aus ihrer Patsche kommt, während die Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels und alle Tugendhelden in Europa die Schalen ihres Zorns über mich ausgießen. Und ich entgehe auf diese Weise allen Ehren und Belohnungen, denn man wird höhern Orts nur zu gern die Gelegenheit ergreifen und sagen: ›Nach solch niederträchtiger Handlungsweise kann man den Mann ja nimmer anstellen,‹ als ob sie nicht wüßten, daß er »Belohnungen« so wie so nicht annähme! Es kann mir überhaupt gleichgültig sein, was über mich gesagt wird, denn da ich nicht wieder nach England zurückkehren will, so kann viel in die Zeitungen geschrieben werden, was ich nicht sehe. Es ist in jeder Hinsicht ein vorzügliches Programm!«
Und weiter meint er, er wisse wohl, was über ihn gesagt werden würde, jedenfalls einen wisse er, der ausrufen werde:
»Mein lieber Gordon, wie kann man so handeln — wären Sie doch lieber gestorben, ehe Sie sich so weit vom Pfad der Rechtlichkeit verirrten!«
»Vergnügte Weihnachten!« setzte er trocken hinzu.
Am Tag, da er dies schreibt, berichtet er von drei Schlachten, während die Stadt fortwährend beschossen wird; und abends nach sieben fingen die Araber noch einmal an, weil die Zinkenisten in der Stadt das ›Salaam Effendina‹ (das ägyptische ›Heil unserm Fürsten, Heil!‹) aufspielten. Am 5. Dezember beschließt er einen Ausfall, um dem Fort Omderman zu Hilfe zu kommen, das in bedrohter Lage war.
»Ich habe nun fast alle Hoffnung aufgegeben, die Stadt zu retten,« sagte er, »dieser Ausfall ist ein letzter Versuch, um die Verbindung mit Fort Omderman wieder herzustellen.« Am folgenden Tage schrieb er: »Ich habe den Gedanken aufgegeben, eine Landung bei Omderman zu bewerkstelligen, wir haben keine Möglichkeit es zu thun.« Am 7. Dezember: »Heute der zweihundertundsiebzigste[S. 291] Tag unseres Eingeschlossenseins. Die Araber haben von ihren Kanonen bei Guba acht Bomben abgeschossen, eine fiel in der Nähe des Palastes, richtete aber keinen Schaden an.«
Daß Gordon am zweihundertundsiebzigsten Tag seiner hoffnungslosen Verteidigung der Stadt nicht leichten Herzens sein konnte, bedarf gewiß nicht des Nachweises; dennoch kann er seine Belagerungsnotizen an jenem Tag mit dem Satz unterbrechen:
»Mein Truthahn hat eines seiner Weiber umgebracht, Grund unbekannt; wahrscheinlich geheime Korrespondenz mit dem Mahdi, oder sonst eine Haremstreulosigkeit.«
Es war Gordons Art und Weise, einen unliebsamen Gegenstand mit einem Gewaltsprung zu verlassen, als ob er einen Scherz machen müßte, um der Sorge Herr zu werden. Gold aber wird durchs Feuer bewährt; auch Gordon mußte hindurch. Was mag er innerlich gelitten haben im Blick auf die ihn umgebende Not einerseits, in Gedanken an seine Landsleute und ihr Verhalten andererseits! »Der Allmächtige hilft mir durch!« schreibt Gordon. Hätte dies tapfere Herz nur gewußt, wie England, ja, wie die ganze weite Welt in jenen Tagen um ihn sorgte — aber es war ihm versagt. Er stand im Feuer in großer Einsamkeit, der Allmächtige allein war bei ihm.
Die Belagerung stand nun im zehnten Monat, und nicht nur sah man der Erschöpfung der Lebensmittel entgegen, sondern, was fast noch schlimmer war, auch der Schießbedarf ging auf die Neige. Zwar wurde unter Gordons Aufsicht Pulver bereitet und sein Arsenal lieferte täglich mehrere tausend Patronen — der Verbrauch aber war zu groß. Am 11. Dezember bringt sein Tagebuch die Notiz:
»Ich habe der ganzen Besatzung Extralöhnung für einen Monat gegeben, nachdem sie bereits solche für drei Monate erhalten hat; ja ich würde nicht zögern, ihnen zwei Millionen Mark zu bewilligen, wenn ich dächte, es hielte die Stadt.«
Das sind inhaltsschwere Worte, nur noch mit Geld oder Geldversprechungen war seine Mannschaft bei der Fahne zu halten!
Am 14. Dezember schließen die Tagebücher folgendermaßen — es ist Gordons letzte Botschaft an seine Landsleute:
[S. 292]
»Die Araber haben heute früh zwei Bomben auf den Palast abgefeuert. Vorrat: 546 Ardeb Durra und 83525 Oke Zwieback! Halb elf Uhr — die Dampfer sind bei Omderman mit den Arabern im Gefecht, und ich sitze auf Kohlen. Halb zwölf Uhr — die Dampfer sind zurück; den Bordeen traf eine Bombe in die Batterie; nur ein Mann der Unsrigen verwundet. Morgen soll der Bordeen mit diesem Tagebuch abgehen. Hätte ich zweihundert Mann vom Entsatzzug zu befehligen, mehr sind nicht nötig, so würde ich gerade unterhalb Halfaja die Araber angreifen und dann nach Khartum vorrücken. Ich würde mich dann mit dem Nord-Fort in Verbindung setzen und weiteres Handeln von den Umständen bestimmen lassen. Das merkt euch, wenn der Entsatz, und ich verlange nicht mehr als zweihundert Mann, nicht in zehn Tagen hier ist, kann die Stadt fallen; und ich habe gethan, was ich konnte, für die Ehre unseres Landes. Lebt wohl.
C. G. Gordon.«
Er hat die Stadt nicht zehn, sondern noch dreimal zehn Tage gehalten; aber was nach dem 14. Dezember geschehen, wird schwerlich je in völlig authentischer Weise bekannt werden. Ohne Zweifel hat er bis zum letzten Tag seine Notizen niedergeschrieben, aber sein siebentes Tagebuch ist entweder in die Hand des Mahdi geraten oder in der allgemeinen Zerstörung zu Grunde gegangen.
Gordon wußte wohl, daß die Besatzung zum äußersten gebracht war. Allerlei Anzettelungen in der Stadt und geheime Unterhandlungen mit dem Mahdi nahmen überhand. Es ist bemerkenswert, daß Gordon, selbst eine redliche Seele wie wenige, sein Leben lang immer wieder die Erfahrung machen mußte, daß andere ihn im Stich ließen oder gar mit Treubruch ihm begegneten. Es bringt ihn zu dem Geständnis, daß der Mensch von Natur ein trügerisches Geschöpf sei. Psalm 116, 11 lautet in der englischen Übersetzung: ›Ich sprach in meiner Eile (Übereilung): alle Menschen sind Lügner‹; das hätte der Psalmist auch mit Bedacht sagen können, schrieb Gordon im September 1884. Ob die Stadt durch direkten Verrat fiel, wie man in der ersten Zeit nach der Katastrophe allgemein annahm, ist nicht klar erwiesen, so viel nur ist gewiß, daß die ausgehungerte Besatzung zur Übergabe bereit war, daß Gordon also allein stand in der großen[S. 293] Not. Der Mahdi war durch Überläufer aufs genaueste von allem unterrichtet, und es war seine Absicht, die Stadt zuletzt ohne Schwertstreich durch Hunger zu bezwingen.
Gordons Tagebuch unterm 14. Dezember enthielt die letzte bestimmte Nachricht über Khartum. Die Lage der Stadt war schon damals eine äußerst kritische, »sie kann in zehn Tagen fallen,« schrieb er. Den noch vorhandenen Mundvorrat giebt er an jenem Tage auf 83525 Oke Zwieback und 546 Ardeb Durra an. Nach seinen fast wöchentlichen Angaben der Vorräte läßt sich berechnen, daß bei Einschränkung der Durra-Rationen die Verabreichung des Zwiebacks an die Truppen bis zum 14. Dezember nicht geschmälert worden war, und daß der an diesem Tag erwähnte Vorrat allein durch den Bedarf der Truppen in etwa achtzehn Tagen erschöpft sein würde. Aber schon am 22. November hatte Gordon den Armen der Stadt 9600 Pfund Zwieback verabreichen müssen. Er bemerkte dabei: »Ich bin entschlossen, daß wenn die Stadt fällt, der Mahdi blitzwenig hier zu essen finden soll.« Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß es von da ab nötig war, den ärmeren Einwohnern Rationen zu bewilligen, und selbst bei größter Sparsamkeit mußte der Vorrat mit dem 1. Januar 1885 so ziemlich auf der Neige sein.
Man versetze sich in die Lage der von allen Seiten eingeschlossenen Stadt an jenem 14. Dezember, dem 277sten Tag ihrer Not! Es war fast auf die Stunde zu berechnen, wie lang die letzten ärmlichen Nahrungsmittel noch ausreichen konnten, schon jetzt ist Hunger die tägliche Losung, Entkräftung der Mannschaft und drohender Verrat sein Gefolge. Keine Nachricht vom Entsatzheer, wie ängstlich man desselben auch harrt, und täglich schwächer wird die Hoffnung, daß es rechtzeitig eintreffe, täglich geringer wird der Mut der Mannschaft und täglich giebt's Überläufer zum Feind.
In all dieser Not, wie ein Fels in der Brandung, steht ein Mann, äußerlich wohl auch geschwächt, aber innerlich mit stets wachsendem Mut, mit seinem alten Gottvertrauen, seinem kindlichen Glauben, die eine Zuversicht des erliegenden Volks — ein Mann voll unbesiegbarer Widerstandskraft, allezeit wachsam,[S. 294] allezeit erfinderisch, voll Hingabe seiner selbst, voll Mitleid für ›dies Volk‹. »Ich halte aus,« kann er sagen, »aber die Haare sind mir grau geworden vor übergroßer Sorge und Anstrengung.« Wie nah ist die Hilfe — er weiß es nicht. Bis fast zuletzt konnte er sich retten — er thut es nicht. Er steht auf seinem Posten, getreu bis in den Tod.
Etwa am 6. Januar erließ Gordon eine Verkündigung, in welcher er es den Einwohnern freistellte, zum Mahdi zu gehen. Dieser Erlaubnis wurde massenhaft Folge geleistet. Der hochherzige Gordon schrieb selbst an den Mahdi und forderte ihn auf, diesen armen Moslem Schutz und Nahrung zu gewähren, wie er selbst es seit neun Monaten gethan habe. Es ist berechnet worden, daß von den im September gezählten 34000 Einwohnern nur etwa 14000 zurückblieben. Den sinkenden Mut der Besatzung suchte Gordon durch tägliche Ansprachen zu beleben, er verwies immer wieder auf den nahenden Entsatzzug, er lobte seine Truppen, daß sie bisher ausgehalten, und selbst diese armen Menschen mußten sich an seinem eigenen unerschütterlichen Entschluß aufrichten, die Stadt nicht zu übergeben.
Am 13. Januar fiel Fort Omderman, ein schwerer Schlag für die eingeschlossene Besatzung, die ihres Außenwerks auf der Westseite des Weißen Nils damit verlustig ging; auch konnten die Araber durch Errichten von Batterien den Weißen Nil jetzt gänzlich für Gordons Dampfer schließen, während ihre eigene Position durch die gewonnene Flußverbindung zwischen dem Dorf und Lager Omderman ungleich verstärkt war. Am 18. Januar, nachdem die feindlichen Außenwerke bist fast an die Stadt vorgeschoben waren, machten die Belagerten einen Ausfall und ein verzweifelter Kampf fand statt. Von der Besatzung fielen etwa zweihundert, und obgleich des Mahdi Verluste beträchtlich gewesen sein sollen, so ist doch nicht ersichtlich, daß ein Vorteil für die Belagerten errungen wurde. Nach der Rückkehr der Besatzung in die Stadt hielt Gordon eine Anrede an die erschöpfte Mannschaft. Er lobte ihren tapfern Widerstand und redete ihnen eindringlich zu, den Mut nicht fallen zu lassen, Hilfe sei nahe, die Engländer könnten täglich kommen und dann sei alles gut! Wie erschöpft mag er selbst gewesen[S. 295] sein, der große Held, von dem gesagt wurde, daß er um diese Zeit nie mehr schlief!
Die Zustände innerhalb Khartums waren verzweifelte; alle Esel, Hunde, Katzen, Ratten waren aufgezehrt, eine kleine Quantität Gummi wurde täglich an die Truppen verabreicht, und aus der zerriebenen Holzfaser einer Palmenart wurde Brot bereitet. Gordon berief die namhaftesten Einwohner mehrmals zum Kriegsrat und ordnete an, daß die Stadt aufs gründlichste nach Nahrung durchsucht wurde; das Ergebnis war aber ein geringes, nur vier Ardeb Durra in der ganzen Stadt, und diese wurden für die Truppen beschlagnahmt.
Mittlerweile gelangte die Nachricht von der Niederlage der Kerntruppen des Mahdi bei Abu Klea ins feindliche Lager und rief Bestürzung und Zorn unter den Arabern hervor; auch ist gesagt worden, daß bei dieser Gelegenheit Unzufriedenheit mit des Mahdi Regiment laut geworden sei. Die Rebellen verlangten stürmisch einen Angriff auf die Stadt. Das war am 20. Januar. Am 22. folgte die weitere Nachricht, daß die von Abu Klea vordringenden Engländer den Nil bei Metammeh erreicht hätten (wo Gordons Dampfer auf sie warteten), man schloß hieraus, daß dieser Ort in ihren Händen sei, daß somit nichts am Vorrücken sie hindere, und dies bestimmte den Mahdi zu einem sofortigen Angriff, ehe die englische Hilfe Khartum erreichen könne. In Khartum selbst war ein unklares Gerücht von der Schlacht bei Abu Klea und der Ankunft der Engländer bei Metammeh laut geworden. Wie nah war die Erlösung, der Lohn für alle Treue, die ruhmvolle Rechtfertigung des ausharrenden Heldenmuts!
Es sollte anders kommen. Gordons schwarze Truppen standen unter dem Befehl von Farragh Pascha, einem freigelassenen Sklaven, der seine Erhebung Gordon verdankte, und dieser ist's, den die Anklage traf, die Stadt durch Verrat dem Mahdi überliefert zu haben. Wohl möglich, daß es sich so verhält, nachgewiesen ist es nicht; nur so viel ist gewiß, daß der Mahdi mit ihm unterhandelte, ihm Bedingungen zur Übergabe machte. Es ist bekannt geworden, daß Gordon am 23. einen stürmischen Auftritt mit Farragh Pascha hatte; ein den Fall Khartums überlebender Augenzeuge[S. 296] erklärte als die Ursache desselben, daß Gordon ein Fort am Weißen Nil, das unter Farraghs Befehl stand, ungenügend besetzt gefunden habe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Farragh bei dieser Gelegenheit einen Vorschlag fallen ließ, die Stadt zu übergeben. Gordon soll ihm mit einer Ohrfeige geantwortet und Farragh den Palast in hohem Zorn verlassen haben.
Am folgenden Tag berief Gordon abermals einen Kriegsrat. Höchst wahrscheinlich kamen Farraghs Vorschläge bei dieser Gelegenheit zur Sprache, und die Meinung, daß die Stadt nicht länger zu halten sei, scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Gordon aber erklärte, er werde sie halten. Am 25. war Gordon leicht erkrankt, es war ein Sonntag, er zeigte sich nicht öffentlich, doch hatte er verschiedene Unterredungen mit namhaften Leuten der Stadt. Er war sich offenbar über das nahe Ende klar. Es ist gesagt worden, daß er gegen Abend an Bord der »Ismailia« nach der Insel Tuti übergefahren sei, um eine Mißhelligkeit der dortigen Besatzung beizulegen. Dadurch entstand das Gerücht, daß er im letzten Augenblick an Bord seines Dampfers entkommen sei. Der Umstand aber, daß beide Dampfer den Siegern in die Hände fielen, ja daß die Ismailia vom Mahdi zu seinem Einzug in Khartum benutzt wurde, sowie die genaue, von verschiedenen Zeugen bekräftigte Nachricht von Gordons Tod machte es unmöglich, jenem Gerücht lange Glauben zu schenken, ganz abgesehen davon, daß Gordon nicht der Mann war, sich im letzten Augenblick zu retten. »Mit Gottes Hilfe gedenke ich nicht lebend in ihre Hand zu fallen, somit bleibt nur der Tod,« hatte er einige Wochen zuvor in sein Tagebuch geschrieben. Wenn er an jenem Abend nach Tuti überfuhr, dann kehrte er zu einer späten Stunde in seinen Palast nach Khartum zurück.
In der Nacht vom 25. auf den 26. Januar verließen viele ausgehungerte Soldaten ihre Posten auf den Wällen, um Nahrung in der Stadt zu suchen, während andere vom langen Fasten zu schwach waren, für sie einzutreten. Es wurde dies in der Stadt bekannt, und eine Anzahl der erschreckten Einwohner bewaffnete sich und ihre Sklaven, um auf den Wällen Dienst zu thun. Dies war nichts ungewöhnliches, nur daß in dieser Nacht mehr Freiwillige[S. 297] als zuvor sich einfanden. So nahte der verhängnisvolle 26. Vor Tagesgrauen geschah der feindliche Überfall. Das Bourré-Thor am äußersten Ostende der Verteidigungslinie am Blauen Nil und das Mesalamieh-Thor auf der Westseite gegen den Weißen Nil waren die Hauptpunkte des Angriffs. An jenem Posten hielt die Besatzung stand, am Mesalamieh-Thor hingegen gelang es den Arabern in die Festungswerke einzudringen. Ob Verrat in dieser Stunde im Werk war, ist nur zu mutmaßen, sicher ist, daß es der ausgehungerten Mannschaft an aller Widerstandskraft gebrach. Die Feinde füllten den Graben mit Stroh- und Reisigbündeln u. s. w. und erstiegen den Wall.
Oberst Kitchener vom Entsatzzug, ein durch langen Aufenthalt im Sudan mit den Arabern und der arabischen Sprache wohlvertrauter Offizier, dessen Zusammenstellung der spärlichen Berichte obiges entnommen ist, hält dafür, daß Khartum infolge des plötzlichen Angriffs fiel, als die hungernde Besatzung zu erschöpft war, um sich hinreichend zur Wehre setzen zu können.
Nachdem die Araber in die Stadt eingedrungen waren, stürmten sie tobend und mordend durch die Straßen, jeden niedermachend, der ihnen in den Weg kam, was den Schrecken der Überfallenen nur erhöhte und den letzten Versuch Widerstand zu leisten lahmte. Als der Morgen gespensterbleich am fernen Horizont graute, stand die mordende Horde in nächster Nähe des Palastes. Jetzt waren sie siegesgewiß. Das gellende Geschrei, mit welchem die Streiter des Halbmonds dies bekundeten, weckte Gordon aus dem kurzen Schlaf, den die frühe Morgenstunde ihm gebracht hatte. Seit Monaten hatte er sich keine Nachtruhe gegönnt, er der Wächter und Hüter der ihm anvertrauten Stadt. Welch ein Weckruf! er wird ihm nicht unerwartet gekommen sein. Er erhob sich, zum letztenmal nahm er eine Waffe zur Hand, er wußte, daß er sie bald niederlegen werde, der lange Kampf war zu Ende. Gordon verließ den Regierungspalast mit etlichen seiner Leute und machte den Versuch, das Arsenal im katholischen Missionshaus zu erreichen; diesen Ort hatte er längst für den letzten Kampf ausersehen und hergerichtet.
Mit großer Ruhe und den Seinen etwas voraus nahte[S. 298] Gordon der kleinen Kirche. Das kurze Zwielicht der Wüste wich dem aufdämmernden Tag, über den hohen Palmen am Blauen Nil erglühte der Osthimmel im Morgenrot. Noch hingen die Schatten der verhängnisvollen Nacht über der verlorenen Stadt. Verworrenes Geschrei erscholl auf allen Seiten von erbarmungslosen Siegern und hilflos Besiegten. Das Schwert des Islam war aus der Scheide. Auf dem freien Platz zwischen dem Regierungspalast und der kleinen Missionskirche stand Gordon mit seiner Schar, als eine Bande von Arabern aus der nächsten Straße hereinstürzte. Einen kurzen Augenblick standen beide einander gegenüber, dann krachte ein Musketenfeuer, der aufgehende Tag erzitterte, und Gordon fiel zum Tod getroffen.
Die Wüste breitete ihr Schweigen über seine sterbliche Hülle, nichts weiter hat verlautet. Des Mahdi Horden plünderten und mordeten in der Stadt, das Blut der Besiegten floß in Strömen, und als der entsetzlichen Arbeit Einhalt geschah, und die Stadt aus hundert Wunden blutend, den Blick wieder erhob, war ihr Held, ihr Märtyrer, ja selbst sein Leichnam, ihr entrückt.
Die denkwürdige Belagerung von Khartum währte 317 Tage; nie war einer erliegenden Besatzung die Hilfe so nahe, und kein Kriegsheld ging je in einen schönern Tod.
Gordon wußte, daß er in den Tod ging, er schrieb verschiedene Abschiedsbriefe, die ihre Bestimmung erreichten; es sind die Worte eines, der das dunkle Thal schon vor sich sieht. Seiner Schwester schrieb er:
»Gott der Herr regiert, und da Er zu Seiner Ehre und unserem Besten regiert, so geschehe Sein Wille. Ich hin ganz zufrieden und kann mit Lawrence[16] sagen, ich habe versucht, meine Pflicht zu[S. 299] thun .... Wenn Gott es einem Menschen geschenkt hat, viel im Umgang mit Ihm zu leben, so kann der Tod für einen solchen nichts Schmerzliches sein; ja, was ist der Tod für den gläubigen Christen!«
Es steht wohl auf jeder Seite der Lebensgeschichte dieses Mannes geschrieben, daß er seinem Gott vertraute — in seltener Weise vertraute. Sollte es Leser geben, die fragen, was hat ein Mann wie Gordon nun vor anderen voraus, hat er nicht in schmählicher Weise, von Freunden verlassen, von Feindeshand fallen müssen, und der Gott, dem er vertraute, hat ihm nicht geholfen? so giebt Gordon selbst die Antwort darauf in den tiefrührenden Worten an seine Schwester:
»Du darfst nicht vergessen, daß unser Herr niemand versprochen hat, ihn das Glück und den Frieden in diesem Leben finden zu lassen. Er hat uns im Gegenteil Trübsal verheißen. Wenn es also ein übles Ende nimmt nach dem Fleisch, so ist Er dennoch treu. Was Er thut, geschieht in Liebe, und Sein Erbarmen ist über mir. Mein Teil ist Ergebung in Seinen Willen, wie dunkel derselbe auch sei.«
Einem fernerstehenden Freund schrieb er:
»Alles vorbei. Ich erwarte die Katastrophe innerhalb zehn Tagen. Es wäre nicht so gegangen, hätten unsere Leute besser dafür gesorgt, mir Nachricht zukommen zu lassen. Lebt alle wohl. — C. G. Gordon.«
Dem Sir Charles Wilson, der ihm mit einem Teil der Entsatz-Mannschaft die erste Hilfe bringen sollte, schrieb er, er hoffe, daß nach Gottes Willen die Engländer rechtzeitig kommen könnten, um ihn und andere zu retten, aber er fürchte, sie würden zu spät kommen; er wisse, daß Verrat im Anschlag sei, und er könne es nicht hindern. Noch jetzt stünde es in seiner Macht sich zu flüchten, aber das wolle er nicht; er werde auf seinem Posten bleiben und nicht zuletzt noch davonlaufen. Gefangen nehmen lassen werde er sich nicht; also bleibe der Tod.
Und so starb der Held. Die heiße Schlacht war verloren[S. 300] er aber war dennoch ein Sieger, einer von denen, die gekrönt werden nach dem Kampf. Daß die unverwelkliche Krone ihm wurde, wer könnte daran zweifeln! Aber auch eine irdische Krone der Ehren ist ihm behalten, wie wenigen seines Geschlechts, in der Bewunderung, ja, in der Liebe von Tausenden, die um ihn trauern wie um einen nahestehenden Freund. Nicht nur England, die weite Welt erkannte den Verlust. Wie mit leuchtenden Buchstaben stand es auf einmal vor aller Augen, dieser Mann war ein Held in unserm Jahrhundert, wie sonst nur Sage und Sang aus längst vergangenen Zeiten uns von Helden berichten, und er ist tot! Die Kunde traf England ins Herz. Wer an jenem 5. Februar, der die Nachricht brachte — den »schwarzen Donnerstag« hat man ihn seither genannt — durch die Straßen von London ging, der konnte auf allen Gesichtern lesen, daß Trauer auf das Land gefallen war. Seit der indischen Meuterei hat nichts das Land in ähnlicher Weise erschüttert, wie der Fall von Khartum. Es war, als handelte es sich für jeden um einen persönlichen Verlust. Hoch und nieder, reich und arm hatten nur die eine Klage: Gordon ist tot! Kein König ist je so betrauert worden. England wußte es jetzt, was es an ihm verlor, und viele Tausende schlugen dabei an ihre Brust. Was einer seiner Landsleute aussprach, als es sich um ein Gordon-Denkmal handelte, war die Stimmung des Volkes seinen Führern gegenüber:
Nur erwähnt sei die Thatsache, daß am Abend des Tages, der ganz England mit Trauer erfüllte, einer am andern Morgen erschienenen Zeitungsnotiz zufolge Gladstone die komische Oper[S. 301] mit seiner Anwesenheit beehrte! Wie zu erwarten stand, hielt dieser Minister dem gefallenen Helden Englands einen glänzenden Nachruf im Parlament; als er aber mit einem namhaften Beitrag dem projektierten Denkmal beitreten wollte, da lehnten sich Stimmen aus allen Volksklassen in der Tagespresse dagegen auf. Was das Denkmal für eine Gestalt annehmen solle, ob die eines Spitals in Port Said, oder in England — im Gedanken an Gordons »Prinzen« — die eines Rettungshauses für verwahrloste Knaben, darüber ist viel verhandelt worden. Ein Ehrendenkmal von Stein ist äußerst bezeichnender Weise erst lang nachher zu stand gekommen. Gordon braucht keines. Am 10. Mai 1886 wurde eine Anstalt unter dem Namen »The ›Gordon‹ Boys Home« eröffnet, in welcher verwahrloste Jungen im allgemeinen, wenn auch nicht ohne Ausnahme für den Soldatenstand erzogen werden. Schon im Herbst 1885 wurde ein Anfang dazu gemacht, die nötigen Mittel flossen aber nur spärlich. Wäre eine ungenannte Dame nicht mit der schönen Summe von hunderttausend Mark zu Hilfe gekommen, welche Gabe sie bei der Eröffnung verdoppelt hat, die Anstalt wäre vielleicht noch heute nicht eröffnet! Wie Gordons Bruder, Sir Henry Gordon, übrigens treffend bemerkt hat, bestehen in England bereits gegen fünfhundert derartige Rettungshäuser, und es hätte dem bescheidenen und praktischen Sinn Gordons mehr entsprochen, die Zinsen des eingegangenen Kapitals in unmittelbarer Weise für arme Kinder zu verwenden, wenn man sie in bereits bestehenden Anstalten untergebracht, oder sonst für ihr Fortkommen gesorgt hätte, wie Gordon selbst in Gravesend gethan, als eine neue Anstalt zu errichten, deren bloße Gründung die gezeichneten Mittel verschlingen mußte. — Vom englischen Parlament sind auf Wunsch der Königin Viktoria vierhunderttausend Mark bewilligt worden, die Gordons verwitweten Schwestern und Schwägerinnen, nach deren Tod aber seinen zahlreichen Nichten und Neffen zu gut kommen sollen. Für diese Bestimmung diente sein vor der Abreise nach Khartum verfaßtes Testament als Richtschnur. Nicht als ob er viel zu hinterlassen gehabt hätte, nur den Wert seines Offizierspatents, etwa zwölftausend Mark. Er konnte ja nie Geld in der Hand behalten, so[S. 302] lang es Hilfsbedürftige gab, und wenn er gerade bei Kasse war, so war eine ›milde Gabe‹ von zwei oder mehr tausend Mark nichts ungewöhnliches bei ihm.
Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes ist ein Saatkorn im Acker der Zeit; es wird aufgehen und Frucht bringen, und von Gordon gilt das Wort: er redet noch, wiewohl er gestorben ist. Die Schönheit eines solchen Lebens wird von allen anerkannt, selbst von denen, die am wenigsten die Kraft besitzen, das darin gegebene Vorbild nachzuahmen. Viele aber werden sich daran aufrichten und suchen, an ihrem Teil etwas von der Kraft zu gewinnen, die Gordon stark machte. Im Kampf stehen wir alle. Helden im großen Sinn können nicht alle sein; aber die Selbstaufopferung, die Demut, die kerngesunde Aufrichtigkeit des Mannes können auch andere erreichen. Das Wunderbare bei Gordon war, daß der natürliche Mannesmut seines Wesens mit der christlichen Demut eins wurde und ihn zum idealen Menschen gestaltete. Es ist ein Beweis, daß das Christentum die natürliche Eigenart des Menschen nicht vernichtet, sondern sie veredelt und zu ihrer schönsten Blüte bringt. Und bei Gordon hat sich dies so völlig bewährt, daß ihm nicht leicht ein ebenbürtiger Charakter an die Seite zu stellen ist. Wir blicken auf und nieder in der Geschichte der Völker, wo finden wir einen, in dem jede Gestalt der Selbstsucht so völlig unterdrückt war, der in all seinem Denken und Thun nur um andere sorgte? wo einen, der es sich so ernstlich angelegen sein ließ, sein Leben nach dem Willen Gottes in der Nachfolge Christi zu gestalten? wo einen, der den seltenen Mut in solchem Maße besaß, sich um Menschenurteil nicht zu kümmern, wo es mit der Stimme des Gewissens oder dem Wort der Schrift im Widerspruch steht? Reichtum, Ehre, die Würde hoher Stellung, alles galt ihm nichts, oder doch nur so viel als er glaubte, dadurch Gelegenheit zu finden, Gutes zu vollbringen. Von dem Verlangen, sich einen guten Namen zu machen, das sonst auch vortrefflichen Menschen selbst dann noch anhängt, wenn gröbere Gebrechen überwunden sind, war er völlig frei. Sein einziger Ehrgeiz, wenn man es so nennen kann, war der Wunsch, seinem Gott zu dienen und seinen Mitmenschen Gutes zu thun. Und[S. 303] wie viel ließe sich von seinen anderen Eigenschaften sagen, seinem unerschöpflichen Humor, seinem frischen Sinn, seiner unendlichen Thatkraft, seinen Mut, seiner Tapferkeit, seiner Menschenfreundlichkeit, seiner hochherzigen Treue! Ja, es ließe sich das ganze Register menschlicher Tugenden aufzählen, und man hätte nur wenige Gebrechen seines Wesens dagegen zu stellen, obschon er selbst der erste war, sich mit Paulus unter den Sündern den vornehmsten zu nennen.
Es war nicht möglich, die Lebensgeschichte dieses Mannes zu schreiben, ohne hervorzuheben, welch rückhaltlose Bewunderung er verdient. Gordon selbst sagte einmal, und gewiß mit voller Aufrichtigkeit: Lieber tot sein, als gelobt werden! Die edelsten Handlungen seines Lebens hat er so angesehen, als ob sie sich von selbst verstünden; sie waren auch nichts anderes, als die natürliche Frucht seines vom Christentum durchdrungenen Wesens, und in diesem Sinn allerdings selbstverständlich. Es ist gesagt worden, daß Gordon ein idealer Mensch gewesen sei, der nicht recht ins neunzehnte Jahrhundert paßte; wenn dem so wäre, dann müßte man das Jahrhundert bedauern und die Menschen, die darin leben. So viel ist sicher, Gordon war einer von den wenigen, die den Mut haben, ihr Ideal in allen Dingen, in jeder Lage zur Geltung zu bringen, d. h. so zu leben, wie er es mit seinem innersten und besten Wesen als gut erkannte. Gäbe es doch viele Idealisten in diesem Sinn!
Es gehört mit zu den Rätseln des Lebens, warum Menschen wie Gordon oft in der Fülle ihrer Kraft abgerufen werden. Er war fast auf den Tag zweiundfünfzig Jahre alt; wie viel hätte er noch hier thun können beides zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen! Aber, wie Staupitz einst zu Luther sagte, es braucht der Herr auch in der andern Welt tüchtige Leute, und wenn Er hier Arbeit für solche hat, nicht minder dort. Der Himmel ist nicht nur ein Land der Harfen und Kronen und des Ruhens von allem Jammer der Zeitlichkeit; wohl das, aber er ist auch ein Land des völligeren Gottdienens, wo es, um mit den Worten des Gleichnisses zu reden, Städte zu verwalten giebt, was diese nun sein mögen. Und als Gordon aus dem Kampf[S. 304] seines Lebens in die Wohnungen des Friedens einging, wird er wohl die Stimme seines Herrn vernommen haben, die zu ihm sagte:
»Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines Herrn Freude.«
[1] englische Meilen = 45 Kilometer.
[2] Die Sohnestreue des Mannes giebt sich öfter kund. Ein Missionar, der ihn im Sudan kennen lernte, sagt unter anderem: »Es ist seine Art, rasch von einem Gegenstande zum andern überzugehen. Mitten im Gespräch unterbrach er mich z. B. mit der Frage: Haben Sie an Ihre Mutter geschrieben? Und auf meine bejahende Antwort fuhr er fort: Das ist recht; lassen Sie nur immer Ihre Mutter wissen, wie's Ihnen geht. Wie lieb hat meine Mutter mich gehabt!«
[3] Schon vor Sebastopol hatte Gordon hievon einen Beweis gegeben. Er kam einmal dazu, wie ein Korporal seine Leute zum Aufwerfen einer Schanze mitten in den Kugelregen schickte, während er selbst gedeckt stand. Gordon sprang ohne ein Wort zu sagen hinzu und legte mit den Soldaten selbst Hand an. »Man muß die Leute nie etwas thun heißen, wovor man sich selbst scheut,« belehrte er nach vollbrachter Arbeit den Korporal.
[4] »Soldier of fortune« sagte die Times — »Held von Gottes Gnaden« wäre richtiger.
[5] Von Heinrich IV. zur Belohnung für ausgezeichnete Kriegsdienste gestiftet und so benannt, weil die Ritter als Sinnbild ihrer geistigen Reinigung vor der Aufnahme ein Bad nehmen mußten.
[6] »Die ihn angeschmiert haben,« sagte ein Armer, »haben's selber am meisten bereut, wenn sie merkten wie gut er war; und erst recht leid mußte es ihnen thun, als sie hörten, er sei tot!«
[7] Obschon ein Kriegsheld wie wenige, so war er's doch keineswegs aus Liebe zum Krieg. Er selbst sagt: »Die Leute irren sich, wenn sie meinen, ein Krieg sei etwas Glorreiches. Es ist nichts anders als organisierter Totschlag, Plünderung, Grausamkeit. Und es sind nicht die Soldaten, auf die die schlimmste Last fällt, sondern Frauen und Kinder und alte Leute. Man mag's betrachten wie man will, so ist der Krieg ein rohes, grausames Handwerk.«
[8] Diese etwas eigentümliche Begrüßungsformel beschreibt der englische Afrikareisende Petherick folgendermaßen: »Der Häuptling ergriff meine rechte Hand und spuckte herzhaft hinein; dann blickte er mir ernsthaft ins Gesicht und wiederholte die Zeremonie mit aller Umständlichkeit. Im ersten Augenblicke stand ich verblüfft, dann erfaßte mich ein wütendes Verlangen, den Menschen durchzuprügeln; er guckte mich aber so leutselig an, daß ich statt der ihm zugedachten Züchtigung mich damit begnügte, ihm seinen Gruß mit gleicher Münze heimzugeben, und zwar mit reichlichen Zinsen. Da überkam ihn eine gewaltige Freude: ich müsse ein großer Häuptling sein! sagte er zu seinem Hofstaat.«
[9] Sir Samuel Baker erzählt in seinem Buch »Ismailia«, daß der Thron der Könige von Unyoro aus einem sehr kleinen und alten, aus Holz und Kupfer verfertigten Stuhl besteht, der seit Generationen von König auf König übergeht und als ein Talisman gilt. Gelänge es einem Feind, des Stuhles habhaft zu werden, so würde der König so lange aller Autorität verlustig sein, als der kostbare Sessel nicht wieder zurückerobert würde. Der König und sein Sitz sind deshalb fast unzertrennlich; wo er hingeht nimmt er ihn mit.
[10] Als Streiflicht hierzu dient folgendes: Gordon schreibt auf dem Weg nach Kairo anläßlich der von ihm nicht gebilligten Anstellung eines jener europäischen ›Mitregenten‹: — »Ich habe meinen Gehalt von hundertzwanzigtausend Mark auf die Hälfte herabgesetzt; ich habe genug mit sechzigtausend Mark, und die andern sechzigtausend können dem Land das wieder ersetzen, was diese Anstellung kostet. Aber ich fürchte, ich thue dies mehr aus Zorn als in Liebe ... Je älter man wird, um so besser lernt man so an seinen Nebenmenschen handeln, als wären sie leblose Gegenstände, d. h. für sie thun was man kann, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, ob sie es einem Dank wissen oder nicht. So handelt Gott gegen uns. Er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Dank findet er selten; im Gegenteil, er wird selbst meist vergessen.«
[11] Der ungenügende Zustand des Gesetzes ergiebt sich aus folgender Mitteilung Gordons: »Ich besitze vier Erlasse, 1. einen persönlichen Befehl des Khedive, alle Sklavenhändler mit dem Tod zu bestrafen; 2. den Vertrag (zwischen der englischen und ägyptischen Regierung, zur Unterdrückung des Sklavenhandels, Alexandrien 4. August 1877), welcher Sklavenjagd als Raub, beziehentlich als Raubmord kennzeichnet; 3. eine gleichzeitige Verordnung des Khedive, welche dieses Verbrechen mit Gefängnis von fünf Monaten bis zu fünf Jahren bestraft haben will; 4. ein Telegramm des Nubar Pascha folgenden Wortlauts: >Der An- und Verkauf von Sklaven in Ägypten ist gesetzlich gestattet‹«!
[12] Mit welcher Klarheit Gordon in die Zukunft sah, ergiebt sich aus diesem im April 1879 geschriebenen Satz: »Wenn die Befreiung der Sklaven i. J. 1884 im eigentlichen Ägypten stattfindet, und die Regierung in ihrem gegenwärtigen System verharrt, dann ist ein Aufstand hier (im Sudan) zu erwarten; unsere (die englische) Neuerung aber schläft ruhig weiter, bis es zu spät ist, und dann handelt man à l'improviste.«
[13] Die abessinische Kirche erhält seit Jahrhunderten ihren Abuna von der koptischen Kirche in Alexandrien; durch die Mißhelligkeiten zwischen den Regierungen entbehrte Abessinien zur Zeit dieses Würdenträgers und der König hatte niemand, der ihm seine Feinde exkommunizierte.
[14] Leider hat in letzter Zeit der Branntweinhandel im Basutoland Eingang gefunden mit traurigen Folgen für die Eingebornen. Nicht ernstlich genug kann es den europäischen Regierungen, die in Afrika Einfluß gewinnen, ans Herz gelegt werden, diesem verderblichen Handel möglichst zu steuern. Das ist doch der geringste »Schutz,« den die europäischen Machthaber den unwissenden Eingebornen Afrikas angedeihen lassen können!
[15] Gordons Aufzeichnungen, oder richtiger Stewarts Tagebuch aus dieser Zeit, das, wie Gordon in seinen »Tagebüchern« bemerkt, auch als sein Tagebuch anzusehen sei, ist, wie späterhin ersichtlich, dem Mahdi in die Hände gefallen, weshalb über diese fünf Monate nur spärliche Berichte vorliegen.
[16] Sir Henry Lawrence, der in Indien vorzügliche Dienste leistete und während der Meuterei bei der Verteidigung von Laknau fiel — ein tüchtiger Soldat und demütiger Christ. Er hatte den Wunsch geäußert, daß man ihm keine andere Grabschrift setzen möge als: »Hier liegt Henry Lawrence, der versucht hat, seine Pflicht zu thun.«