Title: Im Banne der Furcht
Sitten und Gebräuche der Wapare in Ostafrika
Author: Ernst Kotz
Release date: October 30, 2025 [eBook #77152]
Language: German
Original publication: Hamburg: Advent-Verlag, 1922
Credits: Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1922 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
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Die Fußnote wurde an das Ende des betreffenden Kapitels versetzt.
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Sitten und Gebräuche der Wapare in Ostafrika
Erzählt von Ernst Kotz
Advent-Verlag (E. V.)
Hamburg ∗ Basel ∗ Wien ∗ Budapest ∗ Den Haag
Text und Buchschmuck urheberrechtlich geschützt.
Meinem hochverehrten Lehrer,
Herrn Professor D. Carl Meinhof,
Direktor des Seminars für afrikanische und Südseesprachen
an der Universität zu Hamburg,
in tiefgefühlter Dankbarkeit gewidmet.
[S. 7]
Dem Wunsche des Herrn Missions-Sekretärs E. Kotz, seinem Buche ein kleines Geleitwort beizugeben, entspreche ich mit aufrichtiger Freude und wahrer Dankbarkeit. Aus genauer Kennerschaft von Land und Leuten hat uns der Verfasser in diesem Buche eine wissenschaftlich völlig einwandfreie Monographie über die Wapare geschenkt, die für die Völkerkunde von Ostafrika dauernd von großem Wert sein wird. Der Titel „Im Banne der Furcht“ klingt freilich etwas belletristisch, aber wer je ernsthaft über die Psyche der Farbigen in Afrika nachgedacht hat, weiß, wie schwer jeder einzelne früher unter abergläubischen und Wahnvorstellungen gelitten hat und wie erst durch die Bestrebungen der Missionare und durch die Berührung mit anderen wohlmeinenden Europäern diese schwere Last allmählich von den Schultern der Farbigen genommen wird.
Es hat eine Zeit gegeben und sie liegt nicht einmal sehr ferne zurück, in der es in vielen wissenschaftlichen Kreisen üblich war, die Mission als solche gering zu schätzen und in jeder Art zu bekämpfen; kaum daß die rein sprachlichen Arbeiten einzelner Missionare anerkannt wurden, aber das ganze Missionswesen als solches galt als sentimental und überflüssig, ja als staatsfeindlich, und es in jeder Weise einzuengen und zu hemmen, erschien manchen fast wie eine wissenschaftliche Pflicht. Gerade als ich 1885 als Direktorial-Assistent an das Berliner Museum für Völkerkunde berufen wurde, war eine solche Kampagne in vollem Gange. Ein Missionar hatte berichtet, er habe einen ganzen Berg von Götzenbildern aufgetürmt, „eine Kanne Petroleum und ein Streichholz“ und das Christentum hätte einen neuen großen Sieg gefeiert; der Mann sollte zurückberufen und wegen Vernichtung unersetzlicher wissenschaftlicher Schätze zur Verantwortung gezogen werden. Ich sandte ihm damals aus eignen Mitteln einen bescheidenen Geldbetrag und die unbescheidene Bitte, künftighin[S. 8] solche alte Schnitzwerke erst genau zu studieren und dann an ein heimisches Museum zu senden; damit war das Eis gebrochen; es entwickelte sich rasch ein für beide Teile gleich vorteilhafter Verkehr zwischen Missionaren aller Richtungen und dem Berliner Museum; zahlreiche Missionare hörten Jahr für Jahr meine Vorlesungen an der Universität, und auf dem Kolonial-Kongreß von 1910 konnte ich öffentlich erklären, daß die Interessen der Mission und die der Völkerkunde durchaus solidarisch seien. Von dieser wahren und echten Solidarität gibt das hier vorliegende Buch ein in jeder Beziehung glänzendes Beispiel. Frei von jeder törichten Prüderie berichtet es auch über allerhand intime Vorgänge im Leben der Farbigen, die dem flüchtigen Reisenden in der Regel völlig unbekannt bleiben und andererseits von den älteren Missionaren fast durchwegs als „unanständig“ mit Bewußtsein ignoriert wurden. Der Verfasser behandelt derlei Dinge aber in einer so absolut dezenten und doch wissenschaftlich korrekten Art, daß niemand an seiner Darstellung Anstoß nehmen kann.
Uneingeschränktes Lob verdienen auch die sorgfältig ausgewählten und gut reproduzierten Abbildungen, deren Zahl schon an sich darauf schließen läßt, daß der Verleger auf einen großen Absatz des Buches rechnet. Tatsächlich wird es in keiner ethnographischen oder afrikanistischen Bibliothek fehlen dürfen und ebenso wird es sicher in den weiten Kreisen der Missionsfreunde sehr viele und begeisterte Leser finden.
Ganz besonders aber sei das Buch den gebildeten Laien empfohlen, die sich aus ihm rascher und leichter ein Bild von dem Geisteszustand des farbigen Afrikaners machen können, denn aus sehr vielen größeren Reisewerken. Diese Laien werden das Buch jedenfalls alle mit der Anschauung aus der Hand legen, wie völlig verkehrt es ist, wenn immer und immer wieder von schwarzen „Wilden“ gesprochen wird. Die Kultur der Farbigen ist sicher eine ganz andere als die unserige, aber sie ist darum nicht an sich schlechter.
v. Luschan.
Berlin, 10. April 1922.
[S. 9]
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Erstes Kapitel: Negerpsychologie und
Negersprache
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Zweites Kapitel: Geburt
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Drittel Kapitel: Die ersten Lebensjahre des
Mädchens
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Namengebung
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Zahnzauber
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Schutzzauber
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Beschneidung des Mädchens
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Viertes Kapitel: Das erste Frauenfest
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Fünftes Kapitel: Das zweite Frauenfest
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Sechstes Kapitel: Die ersten Lebensjahre des Knaben
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Der Zahnzauber
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Erziehung bis zur Beschneidung und nachher
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Die Beschneidung
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Kuliwa masoro
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Siebentes Kapitel: Das Waldfest
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Eine Skizze nach dem Leben über das Pare-Waldfest
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Achtes Kapitel: Die Heirat
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Werbung, Hochzeit, Haussklave
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Ehescheidung
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Einblick in die Negerküche
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Neuntes Kapitel: Auszüge aus dem Pare-Recht
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Das Familienrecht
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Das Erbrecht
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Das Vermögensrecht
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Das Recht an beweglichen Sachen
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Der Leih- und Kaufvertrag
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Bürgschaft
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Das Strafrecht
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Diebstahl
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Körperverletzung
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Totschlag
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Das Prozeßrecht
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Zehntes Kapitel: Technik und Wirtschaftsform
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Der Hausbau
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Die Koch- und Hausgeräte
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[S. 10]
Die Schmiedekunst
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Die Jagdgeräte
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Die Kleidung
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Ackerbau und Viehzucht
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Elftes Kapitel: Formen des Kultus bei den Wapare
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Allgemeine Seelenvorstellungen
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Das Blut als Seelenträger
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Die Wachstumsprodukte
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Der Speichel
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Ausscheidungsprodukte als Seelenträger
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Die Seele im Blick
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Hauch- oder Schattenseele
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Der Name als Seelenträger
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Der Seelenwurm und andre Seelentierer
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Baumseelen
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Flüsse als Seelenträger
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Der Totemismus
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Der Nkoma-Dienst und Opfergebräuche
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Der Dämonen- und Fetischglaube
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Der Vegetations- und Dämonenkultus
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Der Fetischdienst
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Die Himmelskörper
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Zwölftes Kapitel: Der Aberglaube im täglichen
Leben
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Das Orakel
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Dreizehntes Kapitel: Der kranke Heide
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Wenn Heiden sterben
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Vierzehntes Kapitel: Mission, Islam und Neger
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Fünfzehntes Kapitel: Dichten und Denken
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Sechzehntes Kapitel: Die Not der Heiden und das
Evangelium
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[S. 11]
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gegenüber Seite
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Pare-Medizinmann (Titelbild)
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Kilimandjaro am Abend
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Goma-Wasserfall, oberer Teil
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Goma-Wasserfall, unterer Teil
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Schlucht im Paregebirge
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Trägerkarawane
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Vor Abfahrt der Zentralbahn
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Bogenschützen aus Pare
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Aus dem Mädchenfest: Zwei Novizen mit ihrer Führerin
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Einholen der Novizen zum letzten Mädchenfest
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Negertanz
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Pare-Mädchen
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Mwai mit Fellschurz und Schellengurt
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Mwai vor der Hütte mit ihren Handtrommeln
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Mgaia mit Ohrschmuck
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Darstellung auf dem Markt nach Beendigung des letzten
Mädchenfestes
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Tanz der Frauen beim letzten Mädchenfest
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Pare-Frauen
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Schülerinnen, im Vordergrunde
vabora va masambi
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Kleinkinderschule
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Tor, das zum Festplatz in dem Hain des Stammesfestes
führt
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Christenfrauen beim Maisstampfen
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Wapare beim Mpure-Essen
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Muhamed bin Ali, Kihurio
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Zahmer Hundsaffe mit seinem schwarzen Wärter
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Kiondo in Tränen
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Mwanangwa von Ntusu mit Frau und Kind
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Hirsehüter in Ntusu
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Eingeborene bei der Feldbestellung
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Bananenstauden
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Maisstapel
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Große Wäsche am Mombobach
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Missionszöglinge mit einer hl. Riesenschlange vor
einem Affenbrotbaum
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Frau mit Elefantiasis
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[S. 12]
Taubenhaus aus übereinandergetürmten Bienenstöcken
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Kleines Hospital auf der Missionsstation Friedenstal
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Schlafkrankes Mädchen
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Pare-Häuptlinge
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Missionsdirektor Conradi überreicht dem Sultan von
Majita eine elektrische Taschenlamp
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Taufe in Friedenstal, Südpare
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Missionar Kölling und Pare-Lehrer
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Missionsstation Majita
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Sprachkonferenz in Friedenstal
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Die Missionsglocke
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[S. 13]
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Chirurgisches Messer
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Senamwai
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Zwei Quirle
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Trinkschalen
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Holzmörser und Stampfer
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Töpfe
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Kürbisflaschen
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Hütte im Rohbau
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Feuerstelle
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Erfindung der „Herdringe“
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Mattensackgewebe
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Wie ein Kitangu entsteht (Boden)
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Fertiges Körbchen
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Hocker
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Werkzeuge des Fundi
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Feuerzeug
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Bienenstock
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Schwerter
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Buschmesser
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Verschiedene Pfeilspitzen
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Befestigte Pfeilspitzen
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Umwickelter Pfeilgriff
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Befestigen der Federfahnen am Pfeilschaft
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Die Fahne der Feder wird stückweise von der Spule
losgelöst
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Einquirlen der Pfeilspitze in den Schaft
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Bogen
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Schild
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Köcher
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Würgefalle
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Bohlenfalle, je nach Größe für Ratten und Raubtiere
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Hacke und Axt
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Ifingo
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[S. 15]
Wer auch immer mit den Schwarzen zu tun hat, sei es als Pflanzer, Kaufmann, Beamter oder Missionar, ein ersprießlicher Verkehr kann sich nur da entwickeln, wo man versucht, sich gegenseitig zu verstehen. Dies verlangt aber ein Studium. Wißmann sagt einmal: „Gerade weil der Neger die weit höhere Stellung des Europäers anerkennt, besteht das wirksamste Erziehungsmittel darin, ihn bis zu einem gewissen Grade als seinesgleichen anzuerkennen.“ Dieser Ausspruch ist interessant, weil er den Standpunkt vertritt, den die Mission von jeher hat einnehmen müssen und der vielfach als übertriebene Liebe zu den Eingebornen mißdeutet worden ist. Nur auf diesem Wege findet man den Schlüssel zur Erkenntnis der Negerpsyche.
Paulus schreibt an die Galater (4, 12): „Seid doch wie ich bin, denn ich bin wie ihr!“ Wir dürfen den Schwarzen immer wieder sagen: Seid doch wie wir, indem wir ihren sittlichen und kulturellen Stand zu heben suchen; erkennt ja doch auch die Bibel die bevorzugte Stellung Japhets Ham und verwandten Völkern gegenüber an. Aber der Nachsatz: „denn ich bin wie ihr“, bewahrt entschieden vor einer der übelsten tropischen Erkrankungen — dem Tropenkoller. Boetcher schreibt in seinem Buche „Rund um Afrika“, daß er nur wenige Europäer gesehen habe, die im Verkehr mit den Schwarzen ihre natürliche Stimme beibehalten hätten. „Sobald sie mit Negern sprechen, nimmt der Ton eine gewisse Schimpffärbung an, in die einige Tropfen Galle geträufelt sind.“ Das ist leider sehr wahr. Doch wer auch immer den Neger erziehen will, sei es auf religiösem oder wirtschaftlichem Gebiet: in dem Augenblick, wo er sich schämt, im Neger den Menschen anzuerkennen, hat er einen Weg beschritten, der einen wahren und dauernden Erfolg ausschließt. Je mehr man sich dagegen bemüht, den oft verschlungenen[S. 16] Wegen der Negerpsyche nachzugehen, desto leichter fällt es, sich den paulinischen Grundsatz zueigen zu machen. Und warum auch nicht? Wenn man sieht, wie die Schwarzen lieben, hassen, leiden und sich freuen, nach Stellung und Ansehen streben; wenn man in ihre Sprache eindringt und ihre Märchen und Sprichwörter liest, stellt man unwillkürlich Vergleiche mit den heimatlichen Verhältnissen an und wundert sich über die Fülle verwandter Anschauungen.
Manches wird uns bei solchen Betrachtungen mit Recht abstoßend vorkommen; aber auch der Neger ist in vielen Dingen, und ebenfalls oft mit Recht, bei weitem nicht von der Überlegenheit unsrer Sitten überzeugt. Manches wird uns zuerst unverständlich erscheinen, genau so wie der Inlandneger z. B. mit Staunen wahrnimmt, daß wir im Gasthaus für Lager und Essen bezahlen müssen, während wir dem Wirte doch wie unserm alten Bekannten die Hand drücken. Verächtlich spinnt er den Gedanken weiter aus und glaubt es fest: Die Europäer schreiben alles auf, was ihre Kinder essen oder an Kleidung gebrauchen, damit sie nachher sich alles zurückzahlen lassen können. So wenig sie für so manche unsrer Sitten die Voraussetzungen kennen, können wir uns oft ihre Beweggründe klarmachen.
Dr. Karstedt sagt in seinem lesenswerten Büchlein „Beiträge zur Praxis der Eingebornen-Rechtsprechung“: „Wenn mir ein Neger im tiefsten Unyamwezi alle Fragen glatt mit den handgreiflichsten Phantasien beantwortet, so kann ich ihn allerdings einen Lügner nennen, weil ich in keiner europäischen Sprache den Ausdruck finde, der ihn in seinem Bestreben charakterisiert, den Europäer das hören zu lassen, was er nach seiner — des Eingebornen — Meinung hören will. Trotzdem lügt der Mann im Sinne des Negers nicht [s. auch S. 165. 166]; denn was ihn zu seinen Lügen veranlaßt, ist nicht die Absicht der Täuschung des Fragenden, sondern zunächst sein Unverständnis für den Zweck dieser Fragen. Diesen allerdings klar zu machen, erfordert eine Geduld und Konzentrierung aller Sinne, die im Einzelfall aufzubringen nicht immer möglich ist. Ist es aber gelungen, dann ist die gegenseitige Verständigung nicht mehr schwer, denn es gibt kein leichter zu behandelndes Wesen als unsern Inlandsneger!“
Phot. H. Wilke.
Goma-Wasserfall, unterer Teil.Wer sich berufen fühlt, den Neger zu erziehen und versucht, ihm innerlich näherzukommen, wird seine Bemühungen von Erfolg begleitet sehen. Eins der wichtigsten Hilfsmittel bei diesem Versuche, die Negerpsyche zu verstehen, ist die Sprache. Das ist ein Gebiet, auf welchem manchmal unglaubliche Anforderungen an die Kombinationsgabe des — Schwarzen gestellt werden. Daß der Erzieher auch die Pflicht hat, sich seinen Schülern verständlich zu machen, wird zu oft vergessen. Entweder betrachtet man die Negersprache als eine derartig einfache Sache, daß sie ein eingehenderes Studium überhaupt nicht lohnt, oder man tröstet sich damit, daß man sagt: Der Neger mag Deutsch lernen! Meiner Ansicht nach wäre dann der Umgang mit den Schwarzen gerade kein Genuß mehr, ganz abgesehen von den großen Schwierigkeiten, die unsre Sprache dem Eingebornen bietet. Um so leichter wird ja dem Europäer das Erlernen der Bantusprache fallen, und erst dann, wenn diese Brücke zum Verständnis geschlagen ist, kann die Erziehung richtig einsetzen. Doch wie schon gesagt, man muß sich oft wundern, wie gut der Neger selbst das wenige, was ihm hier geboten wird, noch zu verarbeiten versteht. Und wie oft wird er bestraft, weil er zufällig nicht richtig kombiniert hatte, oder weil er genau das ausführte, was sein Herr ihm sagte, aber nicht hatte sagen wollen!
Wer an das Studium der Negersprachen mit dem Gedanken herangeht, die Sache mit einigen Lektionen abzutun, hat sich gründlich getäuscht und wird allerlei unliebsame Überraschungen erleben. Er wird Formen finden, die unsre grammatikalischen Ansichten auf den Kopf stellen, und dabei einen Reichtum z. B. der Verbformen, der direkt verwirrend wirkt und der selbst nach langen Jahren der intensiven Beschäftigung mit der Sprache noch nicht erschöpft ist. Die Buchstaben unsres Alphabetes sind bald zu Ende, aber noch lange nicht alle Laute bezeichnet. Die Hauptwörter haben keinen Artikel, werden aber dafür z. B. im Chasu in 24 Singular- und Pluralklassen eingeteilt. Noch schwieriger wird die Sache bei den Tonhöhen. Da hat ein und dasselbe Wort vier oder mehr Bedeutungen, die gänzlich voneinander verschieden sind. Der Schwarze verwechselt sie nie, weil sein Ohr geschult ist, die feinen Tonunterschiede zu hören. Der Europäer steht da in vielen Fällen vor einem fast hoffnungslosen Unternehmen. Dasselbe gilt von vielen Hauptwörtern, die, falsch betont, dem Redner oft zu einer unfreiwilligen Komik verhelfen. Wie schwer die rechte Wiedergabe der Tonhöhe in diesen „primitiven“ Sprachen ist, dafür im folgenden nur einige wenige Beispiele. Enekukoma heißt je nach der Betonung: Er wird sich töten. — Wird er sich töten? — Er wird dich töten! — Wird er dich töten? Bei allen Wörtern spielt der Ton für die wahre Bedeutung eine große Rolle und der Neger versteht uns meistens[S. 18] nur, weil er durch das Zusammenleben mit uns die „deutsche Art der Betonung“ gelernt hat, oder er errät die Bedeutung des jeweiligen Wortes aus dem Zusammenhang. Je nach der Betonung heißt makuku grüner Mais oder Schmutz oder große Hühner, mwezi Mond oder Amme, mvera Tor oder Dank, nkanga Kleiderstoff oder Rost oder Perlhühner, muto Kissen oder lange Reihe von Leuten oder Spitze, musi Stampfer oder Tag, mwaži krank oder offen, muvwa Dorn oder Blasebalg, nkungu Knöchel oder Sturm oder Nuß. Dieser kurze Hinweis wird genügen, den Leser verstehen zu lassen, wie schwer es ist, die Negersprachen wirklich richtig zu sprechen.
Will man die Sprache der Eingebornen verstehen, so muß man die Bedeutung der Gleichnisse kennen, mit denen sie ihre Rede schmücken, oder man setzt sich andauernd Mißverständnissen aus. Im Chasu heißt unser Buße tun: kuchwa muti = Baum brechen; denn bei Entsühnungen und zum Zeichen der Reue brechen sie einen kleinen Zweig durch. Kommt da ein Missionszögling zum jungen Missionar und bezeugt seine Reue mit den Worten: nnechwa muti = ich werde einen Baum brechen. Der übersetzt den Ausdruck wörtlich mit Holz spalten und erzählt gerührt seinem Kollegen, daß der Junge sich selbst erboten hätte, zum Zeichen seiner Reue Holz für ihn zu spalten....
Manchmal redet auch der Europäer wieder in Gleichnissen, über die dann der Schwarze starr ist. Ein Sergeant tadelte einen Askari (schwarzen Soldaten), der einen alten Mann trotz seines geschwollenen Fußes geschlagen hatte, und kleidete den Verweis in das klassische Kisuaheli: Sababu kupiga hii mzee, mguu yake ana mimba (statt umevimba). Übersetzt heißt das etwa: Warum du schlagen dieses alte Mann, sein Fuß ist schwanger (statt geschwollen). Es wurde uns Zuhörern schwer, die Situation zu retten und den Ernst zu bewahren. Die nur geringe Kenntnis der Eingebornensprache bildet auch den Grund für zahlreiche Mißverständnisse und Fehler, die von Afrikareisenden bei der Notierung von landesüblichen Namen für Berge, Flüsse usw. gemacht werden. Ganze Sätze sind da schon als Berg- oder Flußnamen aufgeschrieben worden. Dr. R. Kandt, der unter deutscher Herrschaft Regent von Urundi war, schreibt darüber in seinem äußerst interessanten Buche „Caput Nili“:
„Ich habe in dieser Beziehung die komischsten Mißverständnisse konstatieren können. So zeigte mir einmal ein Herr eine Rundpeilung, deren Berge von dem Eingebornen, dessen Blick der hinweisenden[S. 19] Hand des Europäers folgte, ungefähr so bezeichnet wurden: ‚Deine Hand‘, ‚Ein Berg‘, ‚Ich sehe ihn‘, ‚Ich kenne ihn‘, ‚Er ist sehr groß‘ usw. Manchmal handelt es sich in solchem Fall um Abwehrlügen der Eingebornen, manchmal macht es ihnen auch Spaß, den Europäer zu foppen; am häufigsten aber ist ein naives Mißverstehen, besonders dann, wenn keiner des andern Sprache kennt, und der gute dumme Neger glaubt, daß der Europäer auf die Objekte der Unterhaltung wegen zeigt, worauf er, ob solcher Herablassung entzückt, sich verpflichtet fühlt, jedesmal in irgendeiner harmlosen Bemerkung seinen Senf dazuzugeben, einen Senf, der protokolliert und in Karten und Atlanten verewigt wird....“
Bezeichnend für die Art und Weise, wie die sprachlich unbegabten Engländer mit den Eingebornen verkehren, war folgende Unterhaltung eines englischen Polizeisergeanten mit einem Schwarzen. Der Engländer befahl ihm: Safisha W. C. killa siku very clean, and if you don’t safisha the W. C. very clean, you will get hamsa shrain! (Reinige den Abort jeden Tag sehr sauber, und wenn du den Abort nicht sehr gut reinigst, wirst du 25 Hiebe bekommen.) Vor diesem Gemisch von Englisch, schlecht ausgesprochenem Kisuaheli und noch schlechterem Arabisch versagte selbst die Kombinationsgabe des Schwarzen. Ratlos schaute er von seinem neuen, drohend den Kiboko (Peitsche) schwingenden „humanen“ Herrn zu mir. Und der „Herr“, ebenfalls zu mir gewandt, meinte ärgerlich: The beggar does not understand his own language! (Der Kerl versteht nicht mal seine eigene Sprache!)
Sicherlich ist es in jeder Hinsicht lohnend, sich mit einer der zirka 600 afrikanischen Sprachen zu beschäftigen, ist doch auch die Wissenschaft an ihrer Erforschung äußerst interessiert. Über die Sprache unserer Vaasu kann jeder Interessierte in der kleinen Chasugrammatik[1] das Hauptsächlichste nachlesen. Hier wollen wir uns im folgenden über Sitten und Gebräuche der Leute unterhalten. Ich schicke da die Bitte an die Leser voraus, nichts Erschöpfendes zu erwarten. Viele Lücken werden noch bleiben und manche Symbolik wird auch weiterhin unverständlich sein. In China war es, glaube ich, wo ein Forscher über die Chinesen befragt wurde. „Das weiß ich noch nicht, ich bin erst 30 Jahre hier,“ gab er zur Antwort. Das ist wohl die Erfahrung eines jeden, der sich draußen mit dem Geistesleben der Neger beschäftigt: Täglich Überraschungen, täglich[S. 20] neue Einblicke in Dinge, die man bisher übersehen hatte. So wird es wohl auch noch auf Jahre hinaus bleiben. Was mir aber in etwa 13jährigem vertrauten Umgang mit dem Volke bekannt geworden ist, will ich versuchen hier mitzuteilen, und zwar wollen wir mit der Beschreibung der Geburt eines Kindes beginnen und es dann auf seinem Lebenswege begleiten. Vorher aber sei mir noch eine allgemeine Bemerkung gestattet. Glücklicherweise hat man auch in christlichen Kreisen den — zudem völlig unbiblischen — Standpunkt überwunden, demzufolge die Jugend in allen sexuellen Fragen möglichst unwissend gehalten werden sollte. Unsre Neger haben diese ungesunde Ansicht nie gehabt. Ihre Kinder erhalten die sexuelle Aufklärung früh, zum nicht geringen Teil in den weiter unten beschriebenen Fruchtbarkeitsfesten. Mit 5–6 Jahren sind wohl die meisten von ihnen mit den Vorgängen, die wir im nächsten Kapitel besprechen wollen, bekannt. Sie würden mit vollem Recht sehr erstaunt sein, wenn wir ihnen die Märchen erzählen wollten, mit denen man uns in der Jugend aus Gründen der Moral das Werden des Menschen zu erklären suchte. Demnach könnte man in den vielen symbolischen Gebräuchen und Festgesängen der Eingebornen noch einen kleinen sittlichen Kern erblicken, der sicherlich einmal vorhanden war. Aber leider haben sich die Wapare auch hierin nicht in aufsteigender Linie bewegt, sondern sind in das noch schlimmere Extrem verfallen. Bei den Heiden wird in den meisten Fällen, besonders aber gelegentlich der Fruchtbarkeitsfeste, die an und für sich anzuerkennende Aufklärung in der allerverwerflichsten, nämlich in der mit voller Absicht aufreizend gehaltenen Form geboten, einer Form, die um so bedenklicher scheint, als sie durch religiöse Vorstellungen mit dem Volkstum unlösbar verbunden ist. Mit diesen religiösen Vorstellungen aber muß sich vor allem der angehende Missionar beizeiten vertraut machen; denn niemals wird er mit Erfolg eine neue Religion zu lehren vermögen, ohne die alte zu kennen. Anderseits wird er durch seinen von Berufs wegen vertrauten Umgang mit den Eingebornen manchen Beitrag zur Völkerkunde liefern können. Solche völkerkundlichen Untersuchungen sind aber auch für weitere Kreise von Interesse. In dem Sinne schreibt Geheimrat v. Luschan, Direktor des Museums für Völkerkunde zu Berlin: „So scheinen also Mission und Völkerkunde genau ebenso auf gegenseitige Förderung und Hilfe angewiesen, wie wir längst schon eingesehen haben, daß auch politische Erfolge in den Schutzgebieten stets nur auf der Grundlage ethnographischer Erfahrungen[S. 21] erwartet und erreicht werden können, und daß Unkenntnis der ethnographischen Verhältnisse nur allzuoft von politischen Mißerfolgen und von großen Verlusten an Geld und Menschenleben gefolgt war.“
Allzu Anstößiges ist nach Möglichkeit fortgelassen worden. Ich habe versucht, den Paremann dem Leser menschlich näher zu bringen. Und sicherlich wird mancher des öftern mit dem Dichter sprechen müssen:
Wenn nun bei Erwähnung grausiger Sitten oder törichten Aberglaubens die Schwarzen wieder in den Augen des Lesers verlieren sollten, so wolle er freundlichst bedenken, daß Pauli Wort für alle gilt: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden.“ Vielleicht daß es ihm dann ein Herzensbedürfnis wird, an seinem Teil mitzuhelfen, ihnen dieses Heil zu bringen.
[1] Grammatik des Chasu, vom Verfasser, „Archiv der deutschen Kolonialsprachen“, Band X; Reimer, Berlin.
[S. 22]
Besondere Sitten und Gebräuche, die während der Schwangerschaft im allgemeinen beobachtet werden, sind mir, abgesehen von einigen Fällen, nicht bekannt geworden. Es ist bei den Schwarzen die Ansicht verbreitet, daß es Frauen gibt, die Kinder erst nach ungewöhnlich langer Zeit, etwa nach 12–16 Monaten zur Welt bringen. Für gewöhnlich rechnen sie mit dem 10. Mondmonat. Scheint sich die Niederkunft zu verzögern, oder liegen sonst schlechte oder gefahrdrohende Anzeichen vor, so wird schleunigst zum Orakel gesandt, um die Ursache erforschen zu lassen. Dieses stellt nun fest, daß die Frau von einem heiligen Hain, einer Schlange, einem Ahnengeist oder auch von einem bösen Zauberer verhext ist. Ein oft näher bezeichneter Arzt muß den Bann brechen. Hier möchte ich gleich erwähnen, daß die Wapare streng zwischen einem Arzt, dem Mganga, und dem bösen Zauberer, dem Msavi, unterscheiden. Später werde ich etwas näher darauf eingehen. Die oben erwähnte Entsühnung nennen die Leute kubažižwa mguva = das Zuckerrohr spalten. Der Medizinmann und einige Frauen begeben sich an einen Fluß oder auf einen Kreuzweg. Dort wird ein weißes Zuckerrohr und eine Papyrusstaude bis auf ein kleines oberes Ende gespalten. Beide Teile werden zusammen aufgestellt und unten auseinandergezogen, daß sich eine Art Tor bildet, welches der Arzt auf der einen und die Frauen auf der andern Seite halten. Durch dieses geweihte Tor muß die Schwangere viermal hindurchgehen, nachdem der Medizinmann auf den rechten Arm weiße Erde und auf den linken, den „schlechten“, Ruß gerieben hat. Die Frau soll „rein“ (weiß) werden, der böse Zauberer „schwarz“ (besiegt). Beim letzten Male darf die Patientin sich nicht mehr umsehen, sondern geht stracks nach Hause. Der Medizinmann reißt nun die Papyrusstaude vollends auseinander, wirft die Teile zu beiden[S. 23] Seiten des Standortes der Frau hin und murmelt seine Beschwörung: „Falls du verzaubert bist, falls ein Ahnengeist oder ein böser Zauberer dir den Leib verschlossen hat, so lassen wir alles Schlechte hier liegen. Jetzt bist du ‚weiß‘ (entsühnt) wie die Kreide auf deinem Arm.“
Nach dieser Zeremonie wird nun die Entbindung nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Frau sagt bald zu einer Nachbarin oder zu ihrer Mutter: „Navegwa, ich verspüre Wehen.“ Nachdem diese sich überzeugt hat, daß es die Eröffnungswehen sind, sagt sie: Kididi, ni nkondo = der Krieg ist wahrhaftig gekommen. Ist die Frau eine Erstgebärende, so schlafen gewöhnlich vier erfahrene Frauen bei ihr, sonst wohl auch nur zwei. Bei ganz schwierigen Fällen ist aber manchmal das Haus voll, und im äußersten Notfall werden selbst Männer hinzugezogen.
Verzögert sich der Anfang der Geburt ungewöhnlich lange, so wird wiederum das Orakel nach der Ursache gefragt. Dieses sagt oft: „Es sind die Ahnengeister, ihnen ist nicht geopfert worden.“ Die Frau gibt den Geistern dann ein Wasseropfer als Gelübde für ein später darzubringendes besseres Trankopfer. Dieses Wasseropfer heißt kuchwa mpombe. Sie nimmt dabei den Mund voll Wasser, spützt es wieder auf die Erde und betet: Saramari! Nkoma guhani! Vava nairwa iti ni we wenitea ’huo, mira tonga ushinjie, ambu mi ni nkungu mposha = Dank ihr Geister, nehmt hin! Vater, mir wird gesagt, daß du es bist, der mir dieses zufügt, aber gehe, schlafe (und kümmere dich nicht um mich) denn ich bin (jetzt in meiner Krankheit wie) eine taube Nuß (um die sich der Hamster auch nicht kümmert). Vgl. S. 199 das Verhalten des Häuptlings Mauya.
Nun werden die Geister das Kind bald in die rechte Lage rücken, und die Geburt kann vor sich gehen. Die Kreißende sitzt auf einem Klotz oder Stein. Die Lage ist ähnlich wie bei den im Mittelalter angewandten Gebärstühlen. Den Hebammendienst versieht abwechselnd eine der anwesenden weisen Frauen. Sie sitzt vor der Gebärenden und übt den Dammschutz aus (kugwira kamgamba, oder kakondavi). Nun beginnt für die arme Frau eine Leidenszeit, die aber weniger in den Schmerzen der Geburt selbst als vielmehr in dem endlosen Schimpfen der Hebammen besteht, die durch solche Redensarten die Geburt beschleunigen und günstig beeinflussen wollen. „Presse, presse, du willst das Kind nur töten, wir werden dir den Leib aufschneiden,“ und noch weniger angenehme Dinge werden der Frau zugerufen. Aber es bleibt nicht allein bei den Worten,[S. 24] sondern mit allen möglichen Kunststückchen wird versucht, eine schnelle Geburt herbeizuführen. Streichhölzchen werden plötzlich vor den Augen der Frau entzündet, oder draußen vor der Hütte wird ein Gewehr abgeschossen, damit die Frau durch den Schrecken das Kind „losläßt“, denn „die Angst hält ihr den Leib zu“. Je größer die Nervosität und das Geschrei der Hebammen wird, desto drastischer werden auch die „Hilfsmittel“, wie ich mich oft mit eignen Augen habe überzeugen können und wie mir ältere Christenfrauen erzählt haben. Da wird der Kreißenden der Mund zugehalten, oder ihr eine Bogensehne um den Finger oder gar die Nase geschnürt, damit die Ärmste durch den Schmerz verhindert wird, das Kind „zurückzuhalten“. Oder man legt ihr zur Unterstützung der Geburt gar einen großen Stein auf den Kopf. Ganz erstaunt waren Heiden und Christen, als es bei Geburten auf der Station unter der Aufsicht meiner Frau so ruhig herging, und schon viele sind seither auf die Station gekommen, um der Quälerei zu Hause zu entgehen und auch ihre Kinder vor dem Schlimmsten zu schützen.
Geht die Geburt immer noch nicht voran, so werden wohl die Bogen des Mannes, die im Hause stehen, „gelöst“, d. h. die Sehne wird abgebunden und so der Bogen entspannt, damit sich auch das Kind löse. In der höchsten Not muß die Frau sogar Harn ihres Mannes, der als Ausscheidungsprodukt Träger besonderer Seelenkräfte ist (vgl. S. 163), trinken. Eine solche Medizin ist den Leuten natürlich genau so widerlich wie uns schon die bloße Erwähnung; aber sie leben „im Banne der Furcht“. Diese Furcht erweist sich auch hier stärker als alle ästhetischen Bedenken.
Endlich wird der Kopf geboren. Die Hilfe leistende Frau bespützt ihn gleich bei seinem Erscheinen eifrig, daß er nicht wieder zurücktritt. Bald folgen die Schulter und der übrige Körper, und das Kind liegt in den Armen der Hebamme. Diese muß genau aufpassen, daß nicht etwa ein Beinchen oder Ärmchen des Neugebornen auf die Erde rutscht, sonst ist sein Leben verwirkt. Dann schreien die Frauen: „Das Kind hat den Erdboden berührt, das ist nicht unser Kind, es ist ein Unglückskind, es muß getötet werden, oder es wird uns alle umbringen.“ Dasselbe geschieht noch in vielen andern Fällen, z. B. wenn das Neugeborene mit der Plazenta in Berührung kommt oder ein Teil der Plazenta vorliegt und zuerst geboren wird. Dies alles sind Unglückszeichen, und nur durch den Tod des kleinen unschuldigen Wesens kann das der ganzen Sippe drohende Unglück abgewendet werden.
[S. 25]
Eine unsrer Christinnen, die alte Hanna, erzählte mir folgendes: Sie war mit einigen andern Frauen zur Geburtshilfe gerufen worden. Das Kind kam zur Welt, aber ein Teil der Plazenta lag vor und wurde gleichzeitig mit ihm geboren. Das Kind schrie sofort und war ganz normal, aber die andern Frauen rissen es aus Hannas Hand und sagten: „Das ist ein Unglückskind! Da ist etwas nicht in Ordnung! Das haben wir noch nicht gesehen, es muß getötet werden.“ Später holte eine Frau Wasser und goß es in einen Holzmörser, der zum Maisstampfen dient. Das arme Wesen wurde mit dem Kopf hineingehalten und elendiglich in dem Wasser ertränkt. Nachdem es tot war, wurde es in Bananenblätter gewickelt und weit fort im Busch auf einen Stein gelegt. Bald würden die Hyänen kommen und die letzten Spuren des Mordes verwischen. —
Wie viele neugeborene Kinder werden so hingemordet, nur weil irgendein unglücklicher Zufall das Herz der armen Eltern mit tödlicher Furcht erfüllt. Da offenbart sich das Heidentum in seiner ganzen Not und Finsternis. Nein, wenn man solche Einblicke in den heidnischen Jammer getan hat, dann glaubt man nicht mehr an die Geschichte von den Negern, die im tiefsten Frieden und aller Glückseligkeit wunschlos dahinleben und kein Verlangen nach dem Evangelium tragen. Deutlich vernimmt jedes Ohr, das für die Nöte des Heidentums geöffnet ist, den makedonischen Ruf der Afrikaner: „Kommt herüber und helft uns!“ Die Furcht, die in ihrer animistischen Religion begründet liegt, treibt sie von einer Schreckenstat zur andern und gar häufig zum Kindsmord. Zwillinge, Kinder die irgendwie verkrüppelt zur Welt kommen, und mag es auch nur eine Hasenscharte sein, sie sind dem Tode verfallen, weil die Medizinmänner es so lehren.
Gewiß, heute verbietet die Regierung alles dies streng; aber jeder weiß, daß trotz aller Verbote kein Zwilling am Leben bleibt. Alle regelwidrig gebornen Kinder müssen getötet werden, da sie sonst für die Eltern und die ganze Sippe eine beständige Quelle der Furcht wären. Nur von innen heraus kann da wirklicher Wandel geschaffen werden, wenn der ins Herz einzieht, der da sagt: „Ich bin’s, fürchtet euch nicht!“
Nachdem das Kind geboren ist, wird es sofort abgenabelt, da die Hauptsorge der Hebamme darauf hinzielt, das Kind aus der noch gefährlichen Nähe der Mutter zu bringen; denn würde die Plazenta mit dem Kind in Berührung kommen, so wäre es, wie schon oben dargetan, dem Tode verfallen. Der Nabel des Kindes[S. 26] wird jetzt erst mit einer Schnur aus Bananenbast oder einem Stückchen Zeug abgebunden, während das nach der Mutter zu führende Ende unabgebunden bleibt. Man muß sich wundern, daß bei diesem Verfahren, das von Asepsis weit entfernt ist, nicht alle Kinder sterben. Man sieht aber häufig schlecht verheilte Nabel.
Zögert der Austritt der Plazenta, so wird mit Arzneien nachgeholfen. Besonders ist dies der Fall, wenn einmal, was wohl nicht oft vorkommt, die Plazenta nicht geboren wird. Von einer operativen Lösung ist mir da nichts bekannt geworden, vielmehr muß die Wöchnerin Arzneien trinken, damit die Nachgeburt im Leibe „verfault“ und so abgetrieben wird. Das soll manchmal bis vier Tage dauern. Ein ganz vorzügliches Mittel, die Lösung der Plazenta zu beschleunigen, besteht bei ihnen darin, daß man die Frau sich auf die Hände stützen und mit aller Macht in eine vorgehaltene Flasche blasen läßt. Dies ist fast immer von sofortigem Erfolg begleitet und der Versuch nach meiner Erfahrung selbst bei gesunden weißen Frauen einer operativen Lösung und dem Credéschen Handgriff vorzuziehen. Die Nachgeburt wird bei unsern Wapare draußen verscharrt.
Ist das Kind zur Welt gekommen und die Mutter eine Mwai oder Erstgebärende, so geht eine Frau vor die Tür und tanzt dort, mit den Füßen heftig auf den Erdboden stampfend, einen Freudentanz, indem sie den durch ganz Afrika verbreiteten Freudentriller ausstößt. Er klingt wie ein sehr hohes, oft wiederholtes Lululu oder Lilili, wobei die Zunge sehr schnell von einer Seite nach der andern bewegt wird. In der Hütte haben die Hebammen inzwischen ein Kleid oder Fell zusammengedreht und der Frau um den Leib gebunden, um die Rückbildung der Organe zu unterstützen.
Die Frau sitzt nackt am Feuer und wird mit sehr heißem Wasser abgewaschen oder bekommt eine Massage des Kreuzes und Leibes. Bei einer Mwai bleiben die vier Frauen meist alle bis zum Ende des Wochenbettes zugegen, bei einer Mehrgebärenden wohl nur zwei von ihnen. Das Wochenbett dauert vier Tage, während welcher die Frau am Feuer liegt. Es wird dem Leser schon aufgefallen sein, daß die Zahl vier immer wiederkehrt. Sie ist die heilige Zahl und wird uns noch öfter begegnen.
Das Neugeborene schläft in dieser Zeit bei einer der Frauen. Es hat noch keinen Namen, auch sein Geschlecht wird nicht bekanntgegeben, selbst der Vater weiß nichts Näheres von seinem Kinde. Die Frauen nennen es ihren „Gast“ (mjeni wetu) oder kataa, den kleinen Leoparden. Würde es schon beim Namen, der ja ebenfalls[S. 27] Seelenträger ist, genannt werden, so würde es beständig weinen. Auch darf man die Dämonen nicht unnötig auf das kleine Wesen aufmerksam machen, da „sein Geist vorerst nur lose mit dem kleinen Körper verbunden ist“ und diese Verbindung besonders in den ersten Tagen durch den geringsten bösen Einfluß gestört werden könnte (vgl. S. 34 unten).
Am vierten Tage endlich darf auch der Vater, der bis dahin auswärts schlafen mußte, ins Haus kommen, um seine Frau zu begrüßen und sein Kind zu sehen. Ist die Mutter eine Erstgebärende, so wird der Mann von vier andern Männern feierlich ins Haus geführt. Eine der Frauen gibt dann einem Manne aus der Begleitung des Eheherren das kleine Kind mit den Worten: Hier hast du den oder die Soundso. Damit hat das Kind seinen Namen erhalten, mit welchem es auch dem Vater überreicht wird. Dann begrüßen die Eingetretenen die Hebamme mit dem Gruß, der den glücklich aus dem Kriege Kommenden dargeboten wird: (Männer:) Mcheku mpongezi! = Mutter, du bist glücklich entronnen! (Frau:) Ee apa = ja, Vater. An diese Worte schließt sich dann der gewöhnliche Gruß, den wir noch besprechen wollen. Darauf begrüßt der Mann seine Frau: Mpongezi mche wangu! = Heil dir, meine Frau! — Ist die Frau Mehrgebärende, so erwidert sie: Mpongezi nawe mwosi wangu! = auch dir Heil, mein Mann. Ist die Frau dagegen eine Mwai, so antwortet sie nur mit einem verschämten Ee! Sie erhält dann auch als besondere Auszeichnung von ihrem Ehemanne ein Geschenk in Form eines Kleides.
Wenn die Zeit der Geburt heranrückt, sucht der Ehegatte Speisevorrat für seine Frau. Die allgemein übliche Wöchnerinnenkost besteht aus getrockneten Bananen, die als Brei zubereitet und mit einer sehr fettreichen Nuß vermischt werden (makafi na makungu). Gleich nach der Geburt beginnt das Füttern des Neugebornen, und wir gehen sicher nicht fehl, wenn die Hauptursache der sehr hohen Säuglingssterblichkeit mit auf das Konto dieser Unsitte gesetzt wird. Die Wapare glauben nämlich, daß das Kind sehr hungrig zur Welt komme und ihm deshalb baldigst Nahrung zugeführt werden müsse. Die Muttermilch ist aber in den ersten zwei Tagen verpönt, da sie erst „rein“ werden muß. So streicht man nun dem armen Würmchen schon in der ersten Nacht trotz seines heftigsten Sträubens zweimal einen Brei in den Mund, den eine der Frauen herstellt, indem sie eine trockne Banane und eine der oben erwähnten Nüsse dem Kinde vorkaut. Diese erste Speisezufuhr heißt kudembua mwana, die[S. 28] Speise selbst papa ya mwana. Die Sterblichkeit der Säuglinge in den ersten Lebenstagen ist natürlich eine entsprechend hohe, da der kleine Verdauungsapparat auf eine derartige Nahrung noch nicht vorbereitet ist. Die Kinder leiden an Hartleibigkeit oder Durchfall. Die fast regelmäßige und meistens richtige Diagnose, die unsre Paremedizinmänner stellen, lautet auf Würmer. Die Leute kommen dann sehr gerne auf die Station und verlangen die weiße Wurmarznei (Santonin), welche sich eines guten Rufes unter ihnen erfreut, weil sie schon manchem Erwachsenen geholfen hat. Natürlich bekommen sie bei uns keine Arznei für die Säuglinge, sondern wir dringen auf eine naturgemäßere Lebensweise. Selbst den Heiden ist es schon aufgefallen, daß fast alle Kinder, die auf der Missionsstation geboren sind, groß und kräftig werden und nicht sterben. Es gibt auch schon sehr viele unter den Eingebornen, die ihren Frauen verbieten, den Kindern papa zu geben, aber leider ist es oft vergeblich.
Am dritten Tage etwa kommt der Medizinmann, um die Milch der Frau zu untersuchen. Er preßt sich etwas in seine Hand und prüft sie. Da heißt es dann vielleicht: „Eine Brust hat gute Milch, die andre schlechte, das Kind darf nur an die eine gelegt werden.“ Oder die Milch wird überhaupt als ungenießbar für das Kindchen erklärt. Dann soll die Ernährung ausschließlich in jenem erwähnten papa bestehen. Mancher Heide glaubt heute wohl noch dem ersten Wahrspruch des Medizinmannes, aber nicht mehr an die Nützlichkeit der Breifütterung. So kommt er dann auf die Station und kauft sich eine Kinderflasche mit Gummisauger, die wir nach den nötigen Belehrungen über peinlichste Sauberkeit gewöhnlich auch abgaben; denn Kuhmilch ist doch immer noch besser als jener schwer verdauliche Brei.
Am 4. Tage steht die Wöchnerin (mvyee) auf und fängt an, leichte Arbeit zu tun. Die Rückbildung der Organe geht bei den Schwarzen meist sehr schnell vor sich, und selten muß eine Frau ein längeres Wochenbett einhalten. Die Kinder sind bei der Geburt fast weiß oder doch ganz hellbraun. Aber in den ersten Tagen und Wochen dunkeln sie schnell nach, bis dann die Stammesfarbe erreicht ist. Hellfarbige Leute gelten für schöner als die tiefschwarzen. Ebenfalls eine Folge der abergläubischen Furcht ist der Brauch, in der ersten Zeit von dem Kinde als von einem „jungen Leoparden“ (kataa) zu sprechen. Die Kinder werden im Durchschnitt zwei Jahre und länger gesäugt, wenn nicht eine neue Schwangerschaft das[S. 29] Stillen früher verbietet. Im allgemeinen wird jedoch darauf gehalten, daß die Kinder nicht zu rasch aufeinander folgen.
Es wäre hier wohl der Platz, noch etwas über besondere Zufälle unter der Geburt und ihre Behandlung durch die eingeborenen Medizinmänner zu sagen. Wenn auch die Negerfrauen natürlicher leben als viele Europäerinnen und ihr Körper nicht durch irgendwelche äußeren Einflüsse in eine häßliche Form gedrängt worden ist, die dann später die Geburt zu einem lebensgefährlichen Vorgang machen, so kann man doch auch hier immer wieder von schweren Geburten hören, wenn auch die Mehrzahl ohne weitere Komplikationen verläuft. Ein Fall von vorliegender Plazenta ist mir bekannt geworden. Auch Querlagen, Fußlagen (mwana akingama) und Steißlagen (mwana aza mchwiri) kommen vor. Jede regelwidrige Lage hat nach der Geburt den Tod für das Kind zur Folge. Deshalb wird bei Querlagen versucht, diese beizeiten in eine Kopflage zu verwandeln. Gelingt das nicht durch den inneren Eingriff, oder wird das Kind überhaupt nicht geboren, so schreitet der Medizinmann zur Enthauptung im Mutterleibe. Der Arzt reinigt sich zuerst die Hände und schneidet die Fingernägel ganz kurz ab. Die Hände werden mit Butter eingefettet. Die Abbildung zeigt das gebräuchliche „chirurgische“ Messer. Es wird mit Bananenbast umwunden, und nur an der Spitze bleiben ungefähr 2 cm frei. Nun wird der Arm vorsichtig eingeführt und das Kind enthauptet. Läßt sich der Kopf selbst dann noch nicht herausziehen, so wird auch wohl der Unterkiefer abgeschnitten. Die anderen Teile werden dann so entwickelt. Nach der Beschreibung scheinen die Leute damit sehr gut Bescheid zu wissen, wie sie ja überhaupt als Hirten, die öfter Tiere schlachten, über den Knochenbau mehr wissen als der Durchschnittseuropäer. Kindbettfieber ist als Folge von zurückgebliebenen Teilen der Plazenta bekannt und wird mit allerlei Arzneien behandelt. Heiß zu trinkende Fleischbrühe spielt dabei eine Hauptrolle. Im allgemeinen haben die Eingebornen ziemlich genaue Kenntnisse von den Vorgängen bei der Geburt, nur daß solche Kenntnisse immer wieder durch den heidnischen Aberglauben verdunkelt und verkehrt werden.
[S. 30]
Den Namen geben nicht die Eltern sondern die Frauen, die bei der Geburt halfen. Manchmal erhält das Mädchen den Namen der Großmutter, der Knabe den des Großvaters. Doch sprechen bei der Namengebung die verschiedensten Dinge mit. Fliegt z. B. gerade ein Heuschreckenschwarm vorbei, so heißt das Mädchen etwa Nanzige (Mutter der Heuschrecken), der Junge könnte in dem Falle Senzige (Vater der Heuschrecken) genannt werden (nzige = Wanderheuschrecke). Oder das Kind wird während einer Hungersnot (nzota) geboren, dann kann der Mädchenname Nanzota, oder der Knabenname Senzota lauten. Geht im Augenblick der Geburt jemand an der Hütte vorüber, so wird dem Kinde der Name des Betreffenden gegeben. Besondere, auffallende Ereignisse, Kriege usw. beeinflussen die Namengebung gewöhnlich. Manchmal wurden Kinder, deren Anverwandte mich zur Geburtshilfe hatten rufen lassen Mwarimu (Lehrer) genannt.
Sobald die Knaben oder Mädchen zu jungen Männern und Jungfrauen heranreifen, legen sie sich neue Namen zu, bei denen sie sich auf den nächtlichen Viravu-Tänzen rufen. Da singt ein Mädchen etwa:
Das heißt:
Diesen neuen Namen führt sie nun fortan neben ihrem eigentlichen Kindernamen bis zu ihrer Verheiratung. Ähnlich geben sich[S. 31] auch die Knaben singend einen andern Namen, den sie aber oft, im Gegensatz zu den Frauen, auch als Männer noch beibehalten. Sind später in der Ehe Kinder vorhanden, so verdrängt der dann auftretende Nebenname Seng’anya, Kong’anya (Vater, Mutter des Soundso) manchmal den eigentlichen Namen.
Im vierten Monat wird das Paremädchen in die Behandlung einer älteren Frau, der Mwasirika gegeben. Deren Aufgabe besteht darin, das Durchbrechen der zwei unteren und oberen Schneidezähnchen zu überwachen. Vor allem muß sie verhüten, daß die oberen vor den unteren herauskommen. Zuerst „bringt sie die Zähne zusammen“ (kuvunganya majego), indem sie unter ziemlichem Druck eine Massage des Zahnfleisches nach der Mitte hin ausübt. Damit aber ja nicht etwa die oberen oder seitlichen Zähne auch schon durchbrechen, streicht sie auf jene Teile des Kiefers eine Zaubersalbe, die aus Eidechsenkot und einigen Kräutern besteht. Diese „Behandlung“ wird einen Monat lang fortgesetzt, und zwar geschieht es im Lichte der auf- und untergehenden Sonne, die bei unsern Wapare verehrt wird. Im selben Monat bindet die Mwasirika dem Mädchen eine Schnur um den Hals, die aus dem Bast einer weißen Banane besteht. Daran bindet sie ein ganz kleines hölzernes Gäbelchen (vom Mrushu-Baum) mit zwei Ausgängen, entsprechend den zwei neuen Zähnen, die „herausgebracht“ werden sollen. Dieses Amulett heißt Mlinga. Im nächsten Monat macht sie mit dem langen Nagel des Daumens der rechten Hand da, wo die beiden Zähne zu erwarten sind, einen Schnitt ins Zahnfleisch des Unterkiefers. Das austretende Blut wird mit einem Blatt des Mdangu-Strauches abgewischt und auf die zwei wunden Stellen eine Salbe aus Asche und Salz gelegt, welche „gräbt“ und das Zuheilen verhindert. Dann hält sie das Kind hoch in der Richtung nach Sonnenaufgang und -untergang, sie „übergibt es der Sonne“, damit auch sie das Wachstum fördere.
Am nächsten Tage wird der Eiter, der sich auf der Wunde gebildet hat, mit einem Blatt des Mdangu-Strauches entfernt. Mit einer zugespitzten Kohle werden die Wundränder noch ein klein wenig auseinandergedrängt, und die Wunde wieder mit Asche und Salz bestreut. Mit dem kleinen Gäbelchen streicht die Frau dann zwei oder viermal über das Kinn nach oben. Sie darf nicht etwa fünfmal streichen, da dann ein fünfter Zahn durchbrechen könnte, der dem Leben des Kindes ein Ende machen würde. Diese Behandlung wird[S. 32] solange morgens und abends fortgesetzt, bis die unteren Zähne durchgekommen sind. Dann wendet die Frau ihre Aufmerksamkeit dem Oberkiefer zu, um auch da das Durchbrechen der Zähne zu überwachen und vor allem zu sehen, daß die beiden mittleren Zähne zuerst durchbrechen. Sind diese auch glücklich zum Vorschein gekommen, dann ist die Tätigkeit der Mwasirika beendigt.
Die Mutter des Mädchens darf in dieser ganzen Zeit kein Kleid nähen, da ja entsprechend jedem Nadelstich ein Zahn bei dem Kinde hervorbrechen könnte. Auch keinen Pilz wird sie ausgraben, da er nur „eine Wurzel“ hat (ungerade Zahl) und vielleicht die Veranlassung würde, daß statt der erwarteten zwei bzw. vier Zähne nur einer durchkäme. Im übrigen muß sowohl die Mutter des Kindes wie auch die behandelnde Frau in jeder Weise enthaltsam leben. Andre Gewohnheiten und Gebräuche lassen sich hier schlecht wiedergeben, nur will ich noch erwähnen, daß es verpönt ist, die Zähne bis zu einer gewissen Zeit beim wahren Namen zu nennen. Sie heißen vielmehr Vujembe, die kleinen Hacken, eine Sitte, die uns erst dann verständlich wird, wenn wir wissen, daß durch solche kleinen Kniffe die dämonischen Kräfte getäuscht werden sollen. (Vgl. S. 198–200.)
Einst
gab es keine andre Möglichkeit, Afrika zu bereisen als auf diese mühsame Weise, und die Parole war „mpoa, mpoa“ = „langsam und vorsichtig“.
Phot.Lutteroth.
Jetzt
ist das Land von einem Eisenbahnnetz überzogen. — Vor Abfahrt der Zentralbahn.Die Mühe, die sich die Leute beim Überwachen dieses Vorgangs nehmen, hat ihren Grund wieder in einer abergläubischen Furcht. Die Regel bei ihnen ist folgende: Zuerst die unteren mittleren Zähnchen. Der Mondmonat, in dem das geschieht, muß unter allen Umständen vorüber sein, ehe die oberen Zähne durchbrechen. Kommen die oberen noch im selben Monat, oder kommen sie gar zuerst, oder kommen die oberen wohl im rechten Monat aber fast gleichzeitig mit anderen mehr seitlichen Zähnen, so ist damit dem armen Kinde das Todesurteil gefällt. Die Vaasu sagen dann: Mwana abuka ijego — dem Kind ist ein Zahn herausgeplatzt; während der normale Ausdruck lautet: Mwana akweža ijego — es hat gezahnt. Im ersteren Falle wird die ganze Verwandtschaft des Mannes und der Frau zusammengerufen und ihnen gesagt: „Beseht euch das Kind! Das ist nicht unser Kind! Wir haben etwas Schlechtes bei ihm gesehen!“ Wenn dann die andern den unzeitig hervorgekommenen Zahn bemerken, sagen sie: „Was sollen wir da tun? Nun kann das Kind nicht am Leben bleiben, sonst werden wir alle sterben müssen.“ Ist das Urteil im Familienrat gefällt, dann stimmen alle die Totenklage an und holen die Schüsseln, Geräte und Kleider des Kindes herbei. Später tragen die Verwandten das Kind und alle seine Sachen in den Busch. Kleine Kinder wurden einfach an den Felsen hinabgestürzt, größere erstickt. Man legte sie auch wohl, wenn sie schliefen, an das abschüssige Ufer eines Teiches oder einer hohen Klippe. Wachten sie später auf, dann wurde ihnen die erste Bewegung verhängnisvoll. Die Mutter saß währenddessen zu Hause und sang ein ergreifendes Klagelied:
Es ist ergreifend, von solcher Klage zu hören und diese Nöte des Heidentums kennenzulernen. Viele Frauen wollen in ihrem Schmerz Selbstmord begehen. Wohl hat die Regierung derartige Greuel verboten; aber der Aberglaube und die Furcht sind größer als die Scheu vor der Regierung, und solche Kinder werden auch heute noch heimlich aus dem Wege geräumt.
Es ist früher schon vorgekommen, daß ein Vater sich weigerte, trotz des Unglückszahnes sein Kind töten zu lassen. Einige Fälle sind mir bekannt geworden. Das Kind wuchs auf, aber ein Verwandter nach dem andern mußte sterben. Das Orakel sagte: „Da ist einer, der euch alle umbringen wird. Nur sein Tod kann die Geister versöhnen.“ Das Kind war nun mittlerweile, wie in einem mir mitgeteilten Falle, zum Manne herangereift, der Frau und Kinder hatte. Nachdem mancher Versuch, ihn mit Gift zu ermorden, mißlungen war, lud man ihn einst zum Essen ein. Als er seine Hand in die Schüssel tauchte, wurde er überfallen und erwürgt. Auch die Kinder mußten sterben, um den Zorn der Ahnengeister zu besänftigen.
Im Banne der Furcht! —
Sind die vier Zähnchen gut durchgebrochen und auch in dem betreffenden Monat keine weiteren hinzugekommen, so wird ein[S. 34] kleines Fest veranstaltet, das heißt „das Kind zeigen“ (kuvonyesha mwana, oder: kuvambaža mwana). Allen erschienenen Männern und Frauen wird das Kind „gezeigt“ und jeder muß sich die Zähne ansehen. Die Gäste begrüßen die glücklichen Eltern mit dem Gruß, der heimkehrenden Kriegern oder sonst Leuten, die einer schweren Gefahr entronnen sind, zuteil wird. Dabei werden Vater, Mutter und die nächsten Verwandten tüchtig an den Ohren in die Höhe gezogen, eine Zeremonie, deren Bedeutung mir nicht ganz klar geworden ist. (Vgl. Entsühnung nach dem Genuß eines toten Tieres. S. 178.)
Die Frau wird mit den Worten begrüßt: „Freundin, Heil dir!“ und sie erwidert: „Das geht uns alle an“ (denn wenn das Kind ein „Zahnkind“ geworden wäre, wären wir alle in gleiche Todesgefahr geraten; und wenn es hätte getötet werden müssen, dann wäret ihr ja ebenso traurig gewesen wie ich). Auch der Vater und die Verwandten werden ähnlich begrüßt. Die Besucher bringen dem Kinde kleine Geschenke mit, Perlenschnüre, Geld oder gar ein Stück Baumwollstoff. Die „Arzneien“ (Zaubergeräte) werden von der Mutter mit einem Säckchen voll Mais und einer Kürbisflasche voll Zuckerrohrbier zu der Frau gebracht, die die Zahnbehandlung gegeben hat. Der Säugling ist nunmehr in einen neuen Lebensabschnitt eingetreten, und die größten Gefahren, die das kleine Wesen schon in frühester Jugend bedrohten, sind glücklich überstanden, zur nicht geringen Freude der Eltern, die bis dahin oft genug für sein Leben haben zittern müssen.
Die Kinder werden in einem Lederbeutel oder in einem Tuch auf den Hüften oder dem Rücken der Mutter getragen, in welcher Lage sie schön in Schlaf gewiegt werden. Etwa vom zweiten Monat nach der Entbindung an geht die Frau ihrer gewohnten Beschäftigung im vollen Umfange wieder nach. Will sie auf dem Felde arbeiten, nimmt sie das Kind mit und setzt es auf dem Acker in den Schatten eines Baumes. In den ersten Monaten wird aber ängstlich darauf geachtet, daß nicht viele Leute das Kind zu sehen bekommen, aus Furcht vor dem bösen Blick und sonstiger Verzauberung. Das gilt im besonderen für die Zeit, solange die Zähne noch nicht durchgekommen sind, also die Möglichkeit besteht, durch Verzauberung diesen Vorgang ungünstig zu beeinflussen.
[S. 35]
Zum Schutz gegen diese Zauberer wird frühzeitig ein Medizinmann gesucht, welcher der Mutter und dem Kinde ein Amulett (kikobwa) macht, das beide vor den bösen Einflüssen schützt. Dazu schneidet er etwa 4 cm vom Hals einer Kürbisflasche ab. In diesen Zylinder werden von Fuß und Hand je ein Stückchen Zehen- bzw. Fingernagel, des weiteren ein kleines Büschel Haare und etwas Erde hineingetan, auf die man vorher den Schatten der Hände, der Füße und des Kopfes der Mutter hat fallen lassen. Die Wahl dieser Mittel läßt sich aus dem Seelenglauben der Neger erklären. (S. 164. 165.) Die Öffnungen des Behälters werden mit Wachs verschlossen. Dieses Amulett trägt das Kind an einer Schnur um den Hals. Für die Mutter wird ein gleicher Zauber bereitet und mit Nägeln und Haaren usw. des Kindes gefüllt. Der Medizinmann nimmt nun eine Schale mit Bier, setzt sich an dem Opferplatz neben der Haussäule auf die Erde und gießt etwas von dem Bier als Trankopfer für die Ahnengeister auf den Boden. Dabei betet er: Nkoma nijenjani, ambu nekirita, nde nywi vabaha, nemuarira. Ambu twekivona vwedi aho mtondo tunemukumbukawa! = Geister, helft mir! denn wenn ich auch hier behandle, ihr bleibt die Großen, denen ich vertraue. Wenn alles glücklich abläuft, so werden wir uns euer erinnern!
Der Rest des Trankopfers wird an die Hausbewohner verteilt, auch die kleinen Kinder trinken davon. Anschließend findet ein kleines Biergelage statt, bei welchem der Medizinmann den Eltern die Sorgen ob der Zähne des Kindes und seiner weiteren Entwicklung damit zu verscheuchen sucht, daß er sie auf den Schöpfer hinweist: Kiumbi ni kibaha = der Schöpfer ist groß, ihr habt eure Pflicht getan, nun laßt ihn sorgen!
Dem Kinde wird das Haupthaar nicht eher abrasiert, als bis es laufen kann. Die Mutter läßt dementsprechend ein Haarbüschel auf der Mitte des Kopfes stehen. Wird das Kind nachher krank, so wird es zum Hausarzt gebracht, der es behandeln muß. Nachdem die Zahnung glücklich vorüber ist, und das Kind laufen kann, wird der Arzt wieder gerufen. Er bringt den Ahnengeistern das versprochene Speis- und Trankopfer dar mit den Worten: „Habt Dank, ihr Geister, nun wissen wir, daß ihr mächtig seid und helfen könnt. Helft dem Kinde weiter; wenn es groß ist, wird es euch seinen Dank bringen.“
Der Rest des Trankopfers wird von allen Anwesenden getrunken, dann wieder andres Bier eingegossen, um dem Kinde und[S. 36] der Mutter den Kopf damit zu waschen, nachdem der Medizinmann ihnen die Haare abrasiert hat.
Ist das Mädchen ungefähr vier Jahre alt geworden, dann sagt die Mutter zu ihrem Manne: „Jetzt wird es Zeit, daß wir unser Mädchen beschneiden lassen, damit sie nicht das Messer (mit Verstand) sieht“, d. h. versteht, was an ihr vorgenommen werden soll und aus Angst vor dem Messer fortläuft. Die Eltern beschaffen Speisevorrat für das Beschneidungsfest. Auch ein Ziegenbock wird bereitgehalten. Dann wird für den zweiten oder vierten Wochentag nach ihrer Zählung das Beschneidungsfest angesagt. Eine ältere Frau führt gewöhnlich die Operation aus.
Die Beschneidung findet im Busch nahe bei dem Hause statt. Die Frau bindet dem Mädchen je eine Zauberschnur um den rechten Fuß und um das Handgelenk. In diese Schnur hat sie unter Beschwörung Zauberknoten hineingemacht, die den allzu reichlichen Blutverlust verhindern sollen. Nachdem die anwesenden Frauen sich im Kreise aufgestellt haben, um jedem etwa heimlich Zuschauenden die Aussicht zu versperren, nimmt eine Frau ihre Kleider ab und legt sich auf die Erde. Das Mädchen wird nun auf diese Frau gelegt, und sofort treten einige andre hinzu, die es an Armen, Kopf und Beinen festhalten. Die Operateurin schneidet dann schnell die Klitoris ab und verbirgt sie in einem kleinen Ballen Kuhmist. Auch das Blut wird sorgfältig damit aufgetupft, um nichts davon in die Hände eines bösen Zauberers fallen zu lassen, dem damit die Macht gegeben wäre, das Kind zu verhexen. Diese Kotkugel wird in einem Spalt in der Hauswand versteckt und mit Lehm verklebt. Das Mädchen wird nach Hause getragen, nachdem man ihm eine Zauberschnur um den Leib gebunden und auf die Wunde etwas Butter gebracht hat. Die Operateurin bekommt Bier und einen Vorderfuß der inzwischen geschlachteten Ziege.
Die Wunde wird jeden Tag mit einer Feder gereinigt, bis nach einigen Wochen die Heilung eingetreten ist. Im Anschluß daran müssen sich die beiden Eheleute noch einer eigenartigen Zeremonie im Hause unterwerfen, deren Wiedergabe hier nicht angängig ist.
Nach der Beschneidung wartet das Mädchen ungefähr vier Jahre, um dann das nächste Frauenfest (kuaika) durchzumachen. Inzwischen unterrichtet die Mutter es im Ackern und Kochen. Auch übt es sich im Tanzen, darf es doch bald die Tanzfeste besuchen.
[S. 37]
Mittlerweile ist das Mädchen etwa 7–9 Jahre alt geworden, und die Eltern denken daran, es in die Mysterien einzuweihen. Wenn ich schon die allgemeine Bitte voraussandte, keine erschöpfende Beschreibung aller hierher gehörigen Vorgänge zu erwarten, so möchte ich diese Bitte hier mit Bezug auf die Feste wiederholen. Man hat ja versucht, mit Alkohol und Geld die Zunge der Neger zu lösen. Es dürfte dies aber kaum der richtige Weg sein, denn dazu sitzt die abergläubische Furcht dem Neger zu tief im Herzen. Bei unsern Christenfrauen ist diese Furcht nicht mehr vorhanden, und so brauchen sie keine Rücksichten zu nehmen. Sie erzählen auch alles bis ins kleinste, wie es auf diesen Festen zugeht. Diese Beschreibungen bieten aber eine solche Fülle von Stoff, enthalten eine derartige Menge von schwer zu beschreibenden und auch höchst anstößigen Dingen, daß ich es mir versagen muß, hier darauf einzugehen, und mich deshalb nur auf die äußeren Umrisse beschränken werde. Auch die vielen Lieder, die da gesungen werden, bieten, abgesehen von ihrem fast durchweg erotischen Inhalt, wegen ihrer poetischen und altertümlichen Sprache der Übersetzung die größten Schwierigkeiten. Die Leute selbst verstehen den Sinn der Lieder zum Teil nicht mehr.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich über die Wocheneinteilung noch etwas sagen, da noch manchmal darauf Bezug genommen werden wird. Die Woche heißt ndisha, gebildet von dem Stammwort kurisha, hüten. Es ist die Hütewoche und zählt sechs Tage, nach welchen sich die Hirten ablösen. Der erste Tag heißt nguta, dann zählen sie weiter: ndisha keri = zweiter Hütetag, ndisha katatu = dritter Hütetag, bis zum fünften Tage. Der letzte Tag heißt žekisia = wenn sie (die Hütewoche) aufhört.
[S. 38]
Vor ungefähr 25 Jahren soll einer ihrer Propheten, vielleicht unter dem Eindruck der christlichen Festtage, von denen sie Kunde erhalten haben werden, den ersten und letzten Tag der Woche zu Feiertagen gemacht haben. Heute wird an den Tagen Nguta und Zekisia (dem ersten und letzten Tag der Woche) bei den Wapare auf Befehl eines ihrer großen Medizinmänner nicht geackert. Andre Arbeit ist erlaubt. Der zweite und vierte Wochentag sind die wichtigsten, an welchen man z. B. dem Schwiegervater die Morgengabe überreichen kann. Auch für die Frauenfeste sind diese Tage von Bedeutung.
Für das Fest legen die Eltern einen Speisevorrat zurecht. Zekisia, also am letzten Wochentage abends kommen 10–20 kleinere Mädchen zu der Novize, um bei ihr zu schlafen. Diese Mädchen heißen vabora va masambi = Schamschurzmädchen, denn sie tragen noch zwei Felle, ein langes hinten und ein kürzeres vorne. Ist das Mädchen in die Mysterien eingeweiht, so trägt es nur noch das bis an die Knie reichende vordere Fell, um auch dieses nach der Verheiratung gegen den eigentlichen Frauenfellschurz einzutauschen. Es wird dann entweder an jüngere Geschwister abgegeben oder als letztes Zeichen der Jungfrauenschaft zerrissen und fortgeworfen.
Am ersten Wochentage morgens ganz früh binden diese Mädchen der Novize so viele Bananenbastschnüre um den Leib, daß die beiden Schurzfelle darunter vollständig verschwinden. Dann kommen zwei alte Frauen, begrüßen den Vater und die Mutter und setzen sich erst ruhig hin, um sich dann plötzlich auf des Hauses Tochter zu stürzen, indem sie versuchen, ihr die beiden Schamschurze zu entreißen. Die kleinen Mädchen umgeben ihre Freundin, um sie zu „schützen“, aber mit Hilfe der Eltern gelingt es den beiden Frauen doch, die vielen Stricke, unter denen die Felle versteckt waren, zu durchschneiden. Nachdem eine Frau die beiden Felle gelöst hat, eilt sie vor die Hütte und stößt Freudentriller aus, in welche die andern Frauen einstimmen. Währenddessen sitzt das kleine Mädchen im Hause und weint:
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Das heißt in der Übersetzung etwa:
Die Mutter macht dem Weinen aber dadurch ein Ende, daß sie sagt: „Mach uns hier nicht nervös, wer ist dir denn gestorben, daß du so weinst?“ Das Mädchen bekommt vorläufig die beiden Schurzfelle wieder. Dann fängt die alte Frau an, sie mit Asche einzureiben, und das Mädchen selbst pudert sich am ganzen Körper damit ein. Das ist nun vier Tage lang ihre Arbeit, während welcher Zeit sie sich nicht waschen darf. Auch jeder Junge oder Mann, der in die Nähe der Hütte kommt, erhält von ihr ein Aschezeichen auf den Fuß.
Am Abend wird das Kind von zwei Mädchen besucht, die schon eingeweiht sind, das Fest aber noch nicht beendigt haben. Sie heißen vai va nyumba. Zugleich kommen auch eine Menge junger Mädchen und Männer, um im Hause der Novize die berüchtigten Bauchtänze (viravu) zu veranstalten. Die Tänze an und für sich wirken auf die Leute äußerst erregend, und den Abschluß bilden die schlimmsten Orgien in den Nachbarhäusern oder auch im Freien. Die Mädchen tragen bei diesen Tänzen ihre Kleider, die Vortänzer der Männer haben nur einen Lendenschurz aus Bananenblättern an. Sie stampfen beim Tanzen mit dumpf dröhnenden Bambusstangen auf die Erde. Diese Viravu-Tänze werden vier Tage lang abgehalten.
Am fünften Tage findet die „Beraubung“ (kidedeho) statt. Männer und die kleinen Mädchen haben keinen Zutritt, nur Frauen und die Mädchen, welche das Fest schon hinter sich haben. Die beiden Vai va nyumba zeigen der Novize, wie sie sich zu verhalten hat. Sie muß fein züchtig auf den Boden schauen und darf sich nicht einmal den Schweiß abwischen, dafür hat sie sowie die andern beiden Vai ihre Helferin (mkunjiga). Die Beraubung findet auf dem Boden des Hauses statt. Nur die Novize und einige alte Frauen und Verwandte des Mädchens begeben sich dorthin. Die Leiterin faßt das Mädchen an dem Arm und setzt sie viermal einer jeden Frau in den[S. 40] Schoß. Bei der letzten Frau angelangt, werden dem Mädchen endgültig alle seine Kleidungsstücke abgenommen und die Festabzeichen angelegt. Die Frauen singen dabei folgendes Lied:
Das heißt:
Nun bekommt sie statt der Perlenschnüre Eisenketten um Hals und Leib, sowie Ketten aus Kaurimuscheln, eiserne Hals- und Armbänder und einen Schamschurz, der aus lauter kleinen länglichen Eisenschellen besteht. Die Novize ist jetzt das geworden, was die Vaasu mit „Jungfrau des Hauses“ (mwai wa nyumba) bezeichnen. Sie wird von der Festleiterin über ihre neuen Pflichten belehrt: „Du darfst nun nicht mehr ans Sonnenlicht gehen, dein Aufenthaltsort ist dieses Haus. Nur nach Sonnenuntergang darfst du das Haus verlassen und dich draußen aufhalten. Wenn jemand ins Haus kommt, so flüchte in den äußersten Winkel; wenn jemand vorbeigeht und ins Haus hineingrüßt, so darfst du als Antwort nur pfeifen. Mit keinem Manne oder Knaben sollst du dich abgeben.“ Dies ist ein besonders wichtiges Gebot. Denn es kommt vor, daß eine solche Mwai in den Jahren, die sie nun im Hause zubringen muß, schwanger wird, besonders wenn der Vater aus Armut oder andern Gründen diese Zeit der Jungfrauschaft ungebührlich lange ausdehnt. Solche Mädchen heißen kirya. Sie werden aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen. Dem Mädchen wird das Fell eines Schafes auf den Rücken gebunden, dann wird ein Loch in die Lehmwand des Hauses gemacht und es durch diese Öffnung, das Symbol des Grabes, hinausgetrieben. Allein muß es irgendwo weit von den Seinigen die Niederkunft abwarten. Nie darf es nach Hause zurückkehren. Sieht die Mutter es zufällig später einmal auf dem Markt, so kehrt sie sofort um und weint, weil sie „die Tote“ wiedergesehen hat. Wenn sie vertrieben worden ist, stimmen die Zurückbleibenden den Totengesang an. Die Mutter klagt:
[S. 41]
Bei einem Volke wie unsern Vaasu, die den Kindern den freien geschlechtlichen Verkehr, man kann ruhig sagen, zur Pflicht machen, sind es natürlich auch in einem solchen Falle nicht etwa moralische Bedenken, die zur Ausstoßung der Tochter führen, sondern wiederum die Furcht, die Ahnengeister würden sie bei Nichtbefolgung der althergebrachten Sitte umbringen.
Die Mwai wa nyumba führt ein sehr sorgenfreies Leben, besonders wenn noch viele andre Mädchen ihrer Altersklasse im gleichen Feste sind und sie sich auf den nächtlichen Viravu-Tänzen treffen können, wo sie dann mit ihren Trommeln den jungen Leuten zum Tanz aufspielen. Denn ihre Hauptbeschäftigung zu Hause ist die, etwa sechs Handtrommeln zu schlagen, die sie mit den Stielen zwischen ihren Beinen festklemmen. Noch heute klingt mir das melancholische Ping-ping, peng-peng, pang-pang, pong-pong, pung-pung der abgestimmten Trommeln in den Ohren, das ich so oft beim Ritt durch die Landschaft aus den Hütten schallen hörte. Wenn eine Mwai Tanzgesellschaft zu sich einladen will, setzt sie sich nach Sonnenuntergang vor die Tür und trommelt. Kurze Besuche oder Ausgänge darf sie ganz früh morgens oder abends machen, doch muß sie von einer Helferin begleitet sein. Früher blieben die Mädchen oft 5–6 Jahre im Hause. Heute ist diese Sitte durchbrochen, da die meisten Vai schon fröhlich in die Schule kommen. Nur die Helferin geht auch heute noch dem Mädchen, das nur alte Kleider anziehen darf, voraus. So paßt sich das Heidentum den Forderungen und Bedürfnissen der Neuzeit an, und es entstehen neue Sitten, die die Alten erst mit Verwunderung und Verachtung betrachten. Aber der Zeitpunkt ist nicht mehr allzufern, wo die alten Sitten der Vergessenheit anheimgefallen sein werden und das Christentum den Eingebornen bessere Werte gegeben hat. Da wird dann vielleicht die alte Großmutter den staunenden Enkelkindern abends am Feuer von den Tanzfesten, den Trommeln und Schellen erzählen und von dem Leben, das sie vor vielen, vielen Jahren geführt hat als
Mwai wa nyumba.
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Etwa ein bis fünf Jahre, früher auch wohl noch länger, bleibt das Mädchen in der Hütte als „Jungfrau des Hauses“. Während dieser Zeit darf sie sich ihr Haar nicht scheren lassen, sondern sie trägt die jeder Mwai wa nyumba eigene Frisur. Zu dem Zwecke kaut sie Zuckerrohr aus, und mit dem so gewonnenen Sirup reibt sie den Kopf von Zeit zu Zeit ein. Gegen Ende der Jungfrauschaft hängen diesen Mädchen die zusammengeklebten Haare wie lange Stäbchen bis tief in den Nacken. Diese Frisur macht beim Tanzen jede Bewegung mit, und gerade darin soll, wie ich mir sagen ließ, der Hauptzweck der ganzen Manipulation liegen. Wahrscheinlich ist aber wohl, daß auch hier, wenigstens ursprünglich, aus religiösen Motiven und animistischen Vorstellungen das Abschneiden des Haupthaares verboten wurde.
Nach der oben angegebenen Zeit beraten sich die Eltern und beschließen das Mädchen „herauszubringen“, d. h. ihrer Mwaischaft ein Ende zu machen. Ihr selbst wird vorläufig nichts Näheres mitgeteilt, weil sie den Schritt aus dem Dolcefarniente einer Mwai wa nyumba ins Leben nur ungerne tun wird. Wohl aber wird ihr gesagt, sie möge zu einem sechs Tage lang währenden Kiravu-Tanz einladen. Mit ihm sollen nämlich die Festlichkeiten eröffnet werden. Diese besonderen Tänze heißen maaganya = Abschiedstänze.
Schon in jener Woche kommen hin und wieder Frauen und helfen der Mutter bei der Mehlbereitung. Der Haupttag aber ist Nguta, der erste Wochentag, an welchem alle diese Frauen zusammenkommen, um unter Freudentrillern der Mutter bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen.
Für denselben Tag hat auch der Vater seine Freunde zu sich gebeten, damit sie ihm bei der Bierbereitung helfen. Nachdem die[S. 43] Männer die Zuckerrohre geholt und auch gleich auf dem Felde geschält haben, bringen sie die Lasten nach dem Hause der Mwai. Der Vater geht mit leeren Händen dem Zuge voran. Die Männer singen:
Der erotische Text ist hier zur Wiedergabe nicht geeignet. Zu Hause angelangt, umziehen sie die Hütte viermal. Dann nehmen ihnen die Frauen die Zuckerrohrlasten ab und geben ihnen Speise.
Abends ist wieder Kiravu-Tanz. Wenn die Leute sich müde getanzt haben, singen die Mädchen (vabora va masambi und vabora va shuke) der Jungfrau folgendes Lied:
Das heißt:
Dann werfen sie sich alle in einem Winkel über der Mwai zur Erde und weinen. Nach diesem Vorgang heißt der ganze Tanz kiravu cha kuia = der Tanz des Weinens. (Siehe ähnlichen Vorgang in Hes. 8, 14. Das Weinen über den Thammus [griech. Adonis], der Liebling der Liebesgöttin Venus, dessen zeitweiliges Verschwinden in der Unterwelt von den Weibern sieben Tage lang beweint wurde. Das Fest hatte wahrscheinlich seine tiefere Bedeutung im Verschwinden des schönen Naturlebens nach Eintritt der höchsten Sonnenhitze. Man beweinte die verschwundene Schöne des Jahres und zeigte Angst vor dem kommenden Winter. So wird hier von der sorgenfreien Jugend weinend Abschied genommen.)
[S. 44]
Die Mwai selbst stimmt das Abschiedslied an:
Das heißt:
Wenn das Mädchen dann immer mehr weint, sagt die Mutter wohl kurz: „Laß nur das Weinen, wer ist denn eigentlich gestorben? Willst du denn hier im Hause wie ein Ochse großgefüttert werden, ohne zu arbeiten?“ Einige der Mädchen bleiben auch während der Nacht bei der Jungfrau, die andern gehen wieder nach Hause.
Am nächsten Morgen begeben sich die Frauen zum Festplatz, um dort geschälte Zuckerrohre auf Steinen zu einer faserigen Masse zu verreiben. Diese wird von den Männern ausgepreßt und aus dem so gewonnenen Saft das Bier hergestellt. Die Arbeit wird regelmäßig von vielen Gesängen begleitet, und die Berge hallen wider von den Freudentrillern der Frauen. Den Abschluß bildet ein Festessen. Die andern Mädchen sind schon am Morgen ganz früh in die Büsche gegangen, um dort allerlei Früchte und Pflanzen zu suchen, oder wie es offiziell heißt: kuatunda = zu pflücken. Die so gesammelten Dinge werden sorgfältig vor den Augen aller Unberufenen, besonders der Männer, verborgen, indem sie in Säckchen gesteckt oder mit Bananenblattscheiden umwickelt werden. Bei den in der kommenden und besonders der nächstfolgenden Nacht stattfindenden symbolischen Tänzen spielen diese Dinge eine große Rolle. Aber selbst dem Europäer, der mit ihren Sitten ziemlich vertraut ist, fällt es außerordentlich schwer, sich in diesem Wirrwarr von anscheinend nichtssagenden Handlungen und Gesängen zurechtzufinden und von allem die Bedeutung zu verstehen. Erschwert wird der Versuch bei den Liedern noch durch die altertümliche Sprache, der gegenüber oft meine sämtlichen Gewährsleute versagten. Vor Männern werden[S. 45] diese Dinge überhaupt streng geheim gehalten, und aus einer Heidenfrau ist unter keinen Umständen etwas herauszubringen, weil eine jede, die etwas ausplaudert, verflucht ist. So hieß es, bei diesen Forschungen das Eisen zu schmieden, solange es heiß war, denn die heranwachsenden Christenmädchen werden diese Dinge hoffentlich überhaupt nie kennenlernen. Den in jenen Jahren getauften Frauen und Mädchen war aber noch alles frisch im Gedächtnis.
Bei der Rückkehr vom „Pflücken“ singen die Mädchen:
Das heißt:
Die Gespielinnen der Mwai werden an der Tür der Hütte von einer Frau empfangen. Diese nimmt dem ersten Mädchen die „Sachen“ ab, und auch die andern bringen ihre „Geheimnisse“ ins Haus. Sie erhalten Speise, worauf die Nahewohnenden nach Hause gehen. Abends ist ein Tanz, der itunda idori = das kleine Pflücken heißt. Eingeleitet wird er damit, daß die Frauen alle die verfluchen, die sie bei ihren Festgeheimnissen belauschen. Die ganze Nacht hindurch werden schwer zu beschreibende symbolische Tänze aufgeführt, durch die der angehenden Frau und Mutter allerlei Lehren veranschaulicht werden sollen.
Am Morgen des dritten Tages gehen die Mädchen wiederum in die Büsche, kuatunda = weitere wilde Früchte usw. zu „pflücken“. Bei ihrer Rückkehr erhalten sie Speise und Bier. Auch die Männer haben sich zu einer kleinen Kostprobe eingefunden und sehen nach, ob das Bier schon gut ist.
Am Abend findet ein Tanz statt, der itunda ibaha = das große Pflücken heißt. Durch die an diesem und am vorhergehenden Tage geholten Früchte, Bananenblütenstengel usw. werden zumeist die an diesem Abend besungenen Naturvorgänge illustriert. Alle diese Tänze finden im Festhause statt. Etwaige Lauscher werden zuerst wiederum verflucht. Eine besondere Zeremonie wird mit allen den jungen Mädchen vorgenommen, die noch nie einem solchen Feste beigewohnt haben. Sie müssen sich an die Feuerstelle begeben. Auf jeder Seite steht eine Novize und eine Eingeweihte. Letztere streicht der Novize Asche an sämtliche Gelenke. Sie muß sich dann mit den[S. 46] Händen auf die Knie stützen, während die Eingeweihte von hinten herzutritt, ihr die Augen zuhält und den „Fluchtanz“ beginnt.
Eins der Lieder, die in jener Nacht gesungen werden, heißt Kaia mpelele, keyoie mpanga = der Klippschliefer weint angesichts der Höhle (die ihm doch Schutz und Versteck bietet). Damit wird auf die nunmehr bald bevorstehende Heirat des großjährig erklärten Mädchens angespielt und auf die Tatsache, daß jetzt die Sorgen erst kommen werden. Alle, die während der Tänze in der Hütte vom Schlaf überwältigt werden, „züchtigt“ man mit dem Stengel einer Schmarotzerpflanze (kasosa) bis sie wieder munter sind. Gegen Morgen werden zwei Knollengewächse (maomba a nguve) hervorgeholt, die mit Perlschnüren geschmückt sind und zwei Kinder vorstellen. Damit beginnt ein neuer Tanz und Gesang, in welchem die zukünftige Mutterschaft des Mädchens mit ihren Leiden und Freuden besungen wird. Beim Morgengrauen soll in einem weiteren Tanz der angehenden Gattin gezeigt werden, wie der Krieg mit rauher Hand das Familienglück zerstört und der Mann oft sein Leben lassen muß. Eine der Frauen steigt auf den Boden und ruft plötzlich: „Der Krieg ist gekommen!“ Die Untenstehenden stoßen daraufhin den Hilferuf aus und singen:
Das heißt:
Dabei schlagen sie mit Lianen, die Schwerter vorstellen, auf die Erde. Am Morgen des vierten Tages wird die Öffentlichkeit wiederhergestellt, indem die Frauen und Mädchen mit der Mwai vor die Tür gehen und dort noch allerlei symbolische Tänze aufführen. Zum Schluß laufen die Mädchen mit der Mwai etwas vom Hause fort, nehmen Blätter von den nahen Sträuchern, werfen sie von sich und rufen: Nandigo we, Nandigo we, na ukatahuža, ihumpa lako zilo! Die Nandigo hatte nämlich vor langen Jahren das Schlimmste getan, was eine Mwai überhaupt machen kann, sie war vor Beendigung des Festes kirya geworden. An dieses Vorkommnis[S. 47] wird erinnert, wenn die Mädchen die Blätter von sich werfen und rufen: „Du Nandigo, wenn du auch schweigst, da ist deine Seuche!“ D. h. wir wollen davon nicht angesteckt werden. Unsre Mwai ist ja nun bald aus dem Fest entlassen. Sie hat sich ordentlich gehalten und es nicht so gemacht wie du.
Die Mwai wird darauf von ihren Gespielinnen mit trocknen Bananenblättern geschmückt, und auch die Mädchen selbst behängen sich damit. Abwechselnd nehmen sie dann die Mwai auf den Rücken und tragen sie bis nach ihrem Hause. Dort gehen sie mit ihr viermal um die Hütte herum. Dann nimmt eine Frau der Mwai den Bananenblattschmuck ab und legt ihn etwas entfernt von dem Hause auf die Erde. Die Mädchen werfen ihre Bananenblätter alle dazu. Darauf befiehlt ihnen die Frau, unter diese Blätter zu kriechen und grunzende Laute auszustoßen, während sie selbst eine große Schale mit Bier über ihnen opfert, indem sie es auf die Köpfe der Kinder und in den Haufen der trockenen Bananenblätter gießt. Dabei spricht sie die bedeutsamen Worte: Muni, wala ng’ombe! = Muni, nun hast du deine Opferkühe bekommen! Die letzten beiden Worte sprechen die umstehenden Frauen laut mit. Darauf dürfen die Kinder wieder hervorkriechen, und der ganze Blätterhaufe wird angezündet. Die Mwai und ihre Gefährtinnen müssen mehrere Male durch die Flamme springen, bis das Feuer nahezu ausgebrannt ist. Mit den Füßen treten sie die glimmende Asche vollends aus und tanzen auf ihr herum. In die Asche gießt eine Frau Bier, die Mädchen vermischen sie außerdem noch mit Kuhmist. Die so hergestellte geweihte Salbe streichen sie mit einem Pinsel, den sie sich aus einer jungen Bananenstaude herstellen, jedem Manne und Burschen, der zum Biertrinken in das Festhaus kommt, auf den rechten Fuß.
Als ich von dem oben erwähnten Brauch und dem Namen Muni hörte, mußte ich sofort an Moloch und den Sonnendienst im Altertum denken. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß wir es hier mit Überresten eines solchen Dienstes zu tun haben. Daß die Kinder als Munis Opfer bezeichnet werden und sie auch durch die Flamme springen müssen, erinnert augenfällig an den Molochdienst. Herrschte doch im Altertum die Sitte, Kinder durchs Feuer zu reinigen und zu weihen, eine Taufe, die schon in der Bibel verboten ist (3. Mose 18, 21). Hoffentlich läßt sich bei andern Stämmen noch mehr über ähnliche Vorkommnisse in Erfahrung bringen, die dann auch den Namen Muni vielleicht näher erklären oder die sprachliche Ableitung besser erkennen lassen.
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Die kleinen Mädchen werden nun mit gekochten Bananen, Fleisch und Bier, die größeren Mädchen mit Maisspeisen und Bier bewirtet. Wenn sie sich sattgegessen haben, gehen sie nach Hause, die kleineren um nicht zurückzukehren, da sie bei dem Tanz in der letzten Nacht nicht anwesend sein dürfen.
Gegen 3 Uhr nachmittags gehen die Vai va shuke und die jüngeren Frauen wieder zum „Pflücken“ in den Wald. Sie bringen u. a. einen Blütenstengel der wilden Banane (irigo) mit heim. Am Festhause angekommen, ziehen sie viermal um dasselbe herum. Dann nimmt eine alte Frau dem führenden Mädchen den Sack ab, der die Festgeheimnisse (ngasu) enthält, und gibt ihnen allen Bier. Am Abend beginnt der Tanz, der die ganze Nacht hindurch währt. Ich will den Leser nicht mit einer Beschreibung der Einzelheiten ermüden. Die Vorgänge sind z. T. sehr schwer klarzulegen, wenn man nicht allzu ausführlich sein will, z. T. bleibt die Bedeutung dieser Tänze und Gesänge selbst den Eingeborenen dunkel.
Gegen Morgen wird an den oben erwähnten Blütenstengel der wilden Banane ein Strick aus Bananenfasern gebunden und dieser über die Erde geschleift. Der Irigo stellt ein Rind vor; die Mwai geht mit einem kleinen Stöckchen hinterher und treibt die „Kuh“. Die andern Frauen greifen dann auch nach dem Strick, als ob sie die Kuh rauben wollten. Die Mwai stößt den Hilferuf aus und sie lassen ihn wieder fahren. Endlich wirft die Führerin den Strick auf die Erde. Die Mwai ruft: „Laß das Fest noch nicht aufhören, mein Mann ist der Soundso.“ Die Erklärungen, die mir gemacht wurden, klangen alle sehr unwahrscheinlich. Die meisten Leute kennen die tiefere Bedeutung mancher religiösen Zeremonien selbst nicht mehr.
Unterdes ist es Morgen geworden. Nun ist der Augenblick gekommen, die Jungfrau aus dem Fest zu entlassen und sie dem Leben wiederzugeben. Die Frauen singen:
Das heißt: Mwai, wir ziehen dir nun wieder ein gewöhnliches Kleid an, wie es die andern Leute auch tragen.
Eine Frau bringt ein Schurzfell, welches heute nach der Zeremonie gewöhnlich bald mit einem Stück Baumwollstoff vertauscht wird. Auch Perlschnüre werden ihr umgehängt. Die Mwai weint bei dieser Handlung, durch die sie vor einen neuen Lebensabschnitt gestellt[S. 49] wird. Sämtliche Frauen gehen alsdann mit ihr vor die Hütte. Hier wirft sich eine von ihnen auf eine Kuhhaut und legt die Mwai über sich, ähnlich wie wir es bei der Beschneidung sahen. Haben die Frauen festgestellt, daß die Mwai noch nicht defloriert ist, so stoßen sie alle die Freudentriller aus, und die Mutter sagt wohl: „Ich habe doch eine verständige Tochter geboren, die mich nicht vor allen Leuten beschämt.“ Die Mwai wird mit Butter gesalbt, man bindet ihr den Lederschurz wieder um, und nun wird sie viermal unter Freudentrillern in die Höhe geworfen, wobei die Frauen singen: Karya ng’ombe, karya ng’ombe, eya he he! = iß die Kühe, iß die Kühe! Dadurch geben sie ihrer Freude Ausdruck, daß der Mutter nun die beiden Ziegen (Kühe), die der kommende Bräutigam für die Jungfrau zu zahlen hat, nicht verloren gehen. Dem Mädchen wird gesagt: „Nun bist du eine mwai wa shuke“ = eine bekleidete Jungfrau, die sich wieder außerhalb der Hütte aufhalten darf.
Am Nachmittag kommt der Onkel der Mwai mit vier oder sechs Kürbisflaschen voll Bier und ebenso vielen Frauen, die ihm das Bier tragen. Um die vorderste Flasche ist ein Ledergürtel gebunden, den die Mwai als ein besonderes Geschenk von ihrem Onkel erhält. Die Jungfrau wird bei seiner Ankunft von ihrer Führerin auf den Rücken genommen und alle umgehen das Haus in feierlichem Zuge viermal, indem sie wieder wie oben aus Freude ob der Unbescholtenheit des Mädchens singen: Karya ng’ombe, halele kitonga ni ndoyo, halele nitamya. Die Gäste erhalten Bier und bleiben bis zum Abend oder gar wohl die Nacht hindurch beisammen.
Die Mwai sitzt jetzt tagsüber nahe beim Hause im Freien und schlägt ihre Trommel wie zuvor. Weitere Ausgänge oder Hausarbeiten wie Wasser und Holz holen darf sie immer noch nicht übernehmen. Auch spricht sie mit jüngeren Männern nur nach Erhalt kleiner Geschenke. Noch eine oder gar mehrere Wochen vergehen. Dann ruft die Mutter wiederum ihre Gespielinnen, jene kleinen und größeren Mädchen, damit sie die Mwai auf ihrem ersten Ausgang begleiten. Die Vaasu nennen das kuramosha = aufs Feld bringen. Der geeignete Tag ist der zweite oder vierte Wochentag. Bald kann man ihren Gesang hören:
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Das heißt:
Die Jungfrau wird mit diesem Lied erinnert, wie sie sich zu verhalten habe. Fein züchtig muß sie auf die Erde schauen, langsamen, würdevollen Schrittes einhergehen, ohne sich mit jemand zu unterhalten. Wie wir noch sehen werden, haben auch die Knaben ähnliche Festregeln zu beobachten.
Die Mädchen gehen so im Gänsemarsch weiter, bis sie an ein Gehölz kommen. Dort muß sich die Mwai auf die Erde setzen und nach gewohnter Weise ihre Trommeln schlagen. Ihre Freundinnen suchen inzwischen jede eine Last Holz und binden vier Stücke zu einer besonderen Last für die Mwai zusammen. Man zeigt ihr auch einen Ast, den sie mit einer Axt abschlagen muß, da sie jetzt gewissermaßen im kleinen alle die Arbeiten verrichten soll, die sie später als mwai wa shuke (bekleidete Jungfrau) und Frau zu übernehmen hat. Die Mädchen legen der Mwai ein Tragpolster (ngata) auf den Kopf und die Miniaturholzlast darauf. Dann bekommt sie ein kleines Stöckchen, welches sie bis zum Ende des Festes behält und das sie beim Gehen auf den nunmehr bald erlaubten Ausgängen lose in beiden Händen vor sich trägt. Nachher, wenn die Mwai endgültig aus dem Fest entlassen ist, wird dieses Stöckchen verbrannt.
Die Mädchen nehmen ihre kleinen Holzlasten ebenfalls auf, und der Zug setzt sich wieder dem Hause zu unter Trommelschall und Gesang in Bewegung. Wenn die als eigentliche Festleiterin bestellte Frau sie im Festhause hört, stößt sie den Freudenruf aus und kommt heraus. Der Zug geht viermal um die Hütte herum, worauf die Frau der Führerin und der Mwai ihre Lasten abnimmt. Sämtliche Tragpolster werden aufgehoben, um nachher ebenfalls verbrannt zu werden. Im Hause werden die Mädchen dann mit Bier und Speise bewirtet.
Nachdem sich alle gestärkt haben, treten sie wiederum vor die Hütte, und die Frau setzt der Mwai unter Freudentrillern eine Kürbisflasche zum Wasserholen auf den Kopf und sagt ihr: „Jetzt bist du eine Mwai wa shuke, nun darfst du wieder Wasser holen wie die andern.“ Die Mädchen gehen dann alle an die Schöpfstelle, um Wasser zu holen.
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Des weiteren bringt die alte Frau das Mädchen in einen Bananenhain, um ihr bei einigen Hackenschlägen die Hand zu führen. Bald sagt sie dann: „Nun ist es Abend, du bist müde von der Arbeit, laß uns wieder nach Hause gehen.“ Dort angekommen, bindet ihr die Frau nach Landessitte einen kleinen Fasersack um, bringt sie in ein Bohnenfeld, führt ihre Hände zu den Bohnen, und die Mwai pflückt einige davon. Damit ist sie in alle diese Arbeiten, die ihr so lange untersagt waren, eingeführt und darf sie in Zukunft wieder verrichten. Die Frau erbittet von den Mädchen und auch von andern Leuten noch recht viele Perlschnüre, und die Mwai wird damit so geschmückt, wie das Bild es zeigt.
Bei dieser Gelegenheit will ich wenigstens erwähnen, daß es außer den hier beschriebenen Mädchenfesten noch eine Reihe anderer gibt, die den besonderen Stämmen eigentümlich sind. Sie weisen mehr oder weniger große Unterschiede auf oder sind ganz von den uns schon bekannten Festen verschieden. Das letzte Frauenfest des Stammes derer von Bwambo, der angeblichen Ureinwohner von Pare, heißt kuchungua ngovi. Sie haben die gute Sitte, daß vor erfolgter Menstruation und dem sich daran anschließenden Fest bei ihnen ein Mädchen unter keinen Umständen heiraten darf. Die Bilder zeigen drei Novizen (vai) mit den eigentümlichen, über ¾ m hohen Kronen aus den jungen, noch unentwickelten Blattrieben des Zuckerrohres. Diese einzelnen Feste ausführlich zu beschreiben, würde hier zu weit führen.
Nach Ablauf einer oder mehrerer Wochen wird die Mwai „auf den Markt gebracht“ (kufwinya mwai kiete). Jene „Frau des Festes“ legt dem Mädchen allen Schmuck an, und die ganze Gesellschaft, die sich wieder eingefunden hat, begibt sich auf den Markt. In dessen Nähe angekommen, wird die Mwai von den Mädchen auf den Rücken genommen und getragen. Auf dem Marktplatz wird sie auf Bananenblätter gesetzt, manchmal wohl auch mit einem Tuch verhüllt. Andere wiederum stehen mit nach unten gerichteten Augen ruhig da. Ist der Markt vorüber, wird die Mwai wieder ein Stück des Weges auf dem Rücken getragen, um dann mit den andern zu Fuß nach Hause zu gehen. Nun ist auch den weiter Fortwohnenden, die zum Markt gekommen sind, bekannt geworden, daß die Jungfrau ihre Festeszeit ordnungsmäßig beendet hat und damit zumeist heiratsfähig geworden ist.
Am nächsten Tage wird dem Mädchen das in langen Strähnen herunterhängende Haar abgeschoren, von der Mutter sorgfältig gesammelt,[S. 52] und auf den Dachboden gelegt, damit es ja nicht einem Zauberer in die Hände fällt, der damit Unheil über das Mädchen bringen könnte. Immer noch muß die Mwai die ihr eingeschärften Umgangsformen beobachten, langsam gehen usw. Nach ungefähr einer Woche wird dem Mädchen das neugewachsene Kopfhaar bis auf eine kleine Stelle rundherum abgeschnitten. Die stehengebliebenen Haare werden wieder so mit dem Saft von ausgekautem Zuckerrohr behandelt wie während der Festzeit selbst. Nach Verlauf von ungefähr einem Monat wird das Haar noch einmal abgeschoren, und die schon mehrfach erwähnte Frau nimmt der Mwai den Stirnperlenkranz ab und stößt den Freudentriller aus. Die Mwai entledigt sich selbst der übrigen Ketten und Schmuckstücke. Die alte Frau richtet noch die für die moralische Auffassung unsrer Wapare bezeichnenden Worte an die Mwai: „Nun bist du aus dem Fest entlassen. Wenn wir dich jetzt sehen sollten, daß du dich mit den jungen Burschen abgibst, so haben wir nichts dagegen.“ .. Die Jugend ist dahin. Bald wird ein Mann, der oft seinem Alter nach ihr Großvater sein könnte, um sie werben, und wenn die Eltern sehen, daß er reich oder vornehm ist, dann haben sie viele Mittel an der Hand, das furchtsame heidnische Herz der Tochter ihrem Willen gefügig zu machen und oft den geliebten Jugendgespielen fahren zu lassen. Von ihm nimmt sie Abschied. Tränen werden nicht dabei geweint, dazu sind sie beide zu stolz. Sie sagt ihm wohl: „Ich muß ihn nehmen!“ Vor wenigen Wochen oder Monaten hatte man ihr der Sitte gemäß beim „Tanz des Weinens“ das Festlied gesungen:
Wahrscheinlich hatte sie den Sinn dieses wie so mancher anderer Festlieder nicht verstanden. Aber bald dämmert ihr die Erkenntnis, daß sie damals wirklich Grund zum Klagen gehabt hat. Es war „das Ende, das Allerletzte“ der schönen, sorglosen Jugendzeit. — — — In den kommenden Jahren der mühsamen Feldarbeit und aufreibenden Nachtwachen in dürftigen Wachhütten wird die bald verblühte Frau oft an ihre sorglose Jugendzeit denken, die sie zum größten Teil verbracht hat als
Mwai wa nyumba.
[S. 53]
Nachdem wir uns das Hauptsächlichste aus den Frauenfesten vor Augen geführt haben, wollen wir nun versuchen, die bedeutendsten Ereignisse im Leben des Knaben kennenzulernen. Über den Zahnzauber der Mädchen ist das meiste schon unter S. 31 ff. gesagt worden und braucht hier nur noch das eine oder andre nachgeholt zu werden.
Schon in den ersten Wochen nach der Geburt wird dem Kinde eine Bastschnur oder etwas ähnliches um den Hals gebunden, „damit er nicht aussieht wie ein Toter“, denn ein Toter wird ja auch begraben, wie er geboren ist, nämlich völlig nackt und ohne Schmuck. Oder sie sagen auch wohl: „Unser Junge soll nicht aussehen wie eine ibunga, d. i. ein schlecht geformter Flaschenkürbis, dessen Hals ja ebenfalls keinerlei Schmuck aufweist.“
Während das Mädchen erst im vierten Monat in die Behandlung der Frau gegeben wird, geschieht dies bei dem Knaben bereits im dritten, in welchem er das erste Zahnamulett, das Mlinga, erhält, das wir schon beim Mädchen kennenlernten. Bis zum Durchbruch der unteren Zähne wird der Junge auf der nach unten gelegenen Hausseite behandelt. Die Behandlung der oberen Zähne wird auf der entsprechenden oberen Veranda vorgenommen. Allerlei Sympathiemittel dienen auch hier wieder dazu, den Durchbruch der gewünschten Zähne zu erleichtern und das vorzeitige „Herausplatzen“ der gefährlichen seitlichen Zähnchen zu verhüten. Dem ersteren Zwecke dient z. B. Kot von Schnecken. Wie aus dem Kopf der Schnecke die „Hörner“ hervorkommen, sollen auch auf der mit ihrem Kot bestrichenen Stelle die Zähne durchbrechen. Kot von Hyänen dient dem entgegengesetzten Zweck, nämlich der Verhütung des Durchbrechens der seitlichen Zähne. Wie diese feigen Tiere sich fast nie dem Menschen zeigen,[S. 54] sollen auch die „schlechten Zähne“ unsichtbar bleiben. Die erste Arznei heißt „Zugpflaster“, die andere „Zurückhaltungsarznei“. Sind die vier ersten Zähnchen glücklich durchgekommen, so wird das schon weiter vorn erwähnte Fest gefeiert: kumvonyesha mwana = das Zeigen des Kindes. Würde dies nicht geschehen, so müßten die Verwandten doch Befürchtungen hegen, ob alles mit der Zahnung in Ordnung sei. So aber kann jeder sich überzeugen, daß die Zähne regelmäßig gekommen sind, und keiner darf das Kind in späteren Jahren beschuldigen, daß es durch sein Dasein als „Zahnkind“ das Leben seiner Verwandten gefährde und nachträglich getötet werden müsse.
Im allgemeinen sind die Wapare sehr nachsichtig gegen ihre Kinder und mit körperlichen Strafen nicht schnell bei der Hand. Ihre Erziehung liegt ihnen aber doch am Herzen. Eine Frau, die selbst sauber ist, erzieht schon ihren Kleinen zur Reinlichkeit und versetzt ihm wohl auch, wenn das Reden nichts nützt, einen Klaps; aber die körperliche Züchtigung ist bei ihnen immer die Ultima ratio. Schon der kleine Junge ist bei irgendeiner Krankheit, nachdem der Arzt gerufen, von diesem behandelt worden, indem die betreffende kranke Stelle des Körpers mit einem kleinen Messer überall aufgeritzt und Arznei in die Wunden gerieben wurde. Dabei ging es natürlich nicht ohne viel Ach und Weh ab. Ist nun der Junge unfolgsam, so sagt die Mutter wohl: „Gleich werde ich den Doktor rufen!“ Das hilft in den meisten Fällen. Einmal ritt ich an einem Gehöft vorbei, als die Mutter gerade ihrem ungehorsamen Sohne sagte: „Siehst du, das ist der Europäer mit dem großen Tier, welches dich schon immer fressen sollte. Versprich mir, daß du dein Schwesterchen nie mehr auszankst!“ Als er mit der Abgabe des Versprechens zögerte, hielt ich mein Maultier an, und sofort gelobte er unter großem Geschrei, sich fernerhin sittsam zu betragen. Werden die Jungen größer, so machen sie sich bald über solche Drohungen der Mutter lustig. Da nimmt denn die Mutter als letztes Mittel einen großen Mattensack, tut Brennesseln hinein und auch den Bösewicht, der sich nun in dem zugebundenen Sack auf der Erde wälzt und dadurch das Verfahren zu einem immer peinlicheren macht. Diese Strafe soll eine sehr gefürchtete sein. Auch mit dem ngurunguru, dem Waldungeheuer, von welchem wir noch weiter unten hören werden, wird den Kindern gedroht. Anderseits verspricht die Mutter als Belohnung für gehorsam[S. 55] getane Arbeit, den Kindern etwas vom Markt mitzubringen, etwa schöne, reife Bananen.
Spielend lernt das Kind zu arbeiten. Dem Knaben gibt die Mutter eine wilde Frucht, bindet eine Schnur daran und sagt zu ihm: „Das ist deine Kuh, führe sie fort.“ Sie macht ihm frühzeitig einen kleinen Bogen und kleine, einfache Pfeile, wenn er auch noch nichts damit schießen kann. Ihrer Tochter gibt sie ein Stück von einer Bananenstaude, zerstößt das eine Ende etwas, daß die Fasern wie die Haare einer Mwai wa nyumba herunterhängen, und sagt dem Mädchen: „Das ist dein Kind, verwahre es.“ Mit solchem Spielzeug sind die kleinen Parekinder mindestens ebenso glücklich wie die unsern mit ihren manchmal recht kostbaren Puppen und Pferden. Neues kann außerdem jeden Tag angefertigt werden. Die Phantasie des Kindes ersetzt auch bei den Negern das Fehlende.
Wird der Junge größer, dann übernimmt er schon selbständig kleinere Arbeiten. Er bewacht während eines kurzen Ausganges der Mutter den Mais, daß die Affen nichts stehlen, oder der Vater übergibt ihm ein krankes Schäflein, damit er es in der Nähe des Hauses an einem Stricke weide. Da wird dem Jungen dann die Phantasie rege. Er sieht sich schon als Besitzer einer großen Herde, bindet sein ihm anvertrautes Schaf an einen Baum und baut sich einen kleinen Stall. Dahinein trägt er allerlei Früchte, große und kleine, das sind seine Kühe und Ziegen. Und er hat sich so in sein Spiel vertieft, daß er gar nicht bemerkt, wie sich das Schaf mit einem Ruck losreißt und in Nachbars Garten den Mais abfrißt. Erst des Vaters scheltende Stimme ruft den in sein Spiel Vertieften in die Wirklichkeit zurück. Und wenn dann der Nachbar sich seinen Schadenersatz beim Vater holt, wird dem angehenden Hirten wohl auch handgreiflich demonstriert, daß die Arbeit, wenn auch spielend erlernt, einmal erlernt eben kein Spiel mehr ist.
Mit zunehmendem Alter verfertigt der Vater seinem Sohne einen richtigen Bogen und Pfeile und unterweist ihn gleichzeitig in der Kunst des Schießens. Fast jeder etwa zehnjährige Parejunge ist schon ein kleiner Meister im Verfertigen dieser Waffen. Zuerst übt er sich, indem er etwa auf eine Bananenstaude schießt, später auf Vögel und Affen. Beim Hüten lernt der kleine Bursche auf die mannigfaltigen Vorgänge in der Natur zu achten und seine Kenntnisse von all diesem würden manchen doppelt so alten Gymnasiasten in der europäischen Großstadt in Erstaunen versetzen. So ein Junge kennt schon die meisten Bäume bei Namen, weiß von den Gewohnheiten vieler[S. 56] Tiere und der Verwendung von mehr als einer Arzneipflanze. Auf der andern Seite erwirbt er schon in frühester Jugend besonders auf den Tanzfesten mancherlei Kenntnisse, die seine Gedanken vergiften und die es ihm nachher schwer machen, sein Herz dem Christentum zu öffnen. Solange die Jungen noch klein sind, schlafen sie zu Hause. Aber schon im jugendlichen Alter werden sie auf die nächtlichen Viravu-Tänze gebracht, damit sie sich beizeiten an diese Dinge gewöhnen. Bald wird es dann nicht mehr für anständig gehalten, daß sie zu Hause bei ihren Eltern schlafen. Sie suchen sich, meistens mehrere Genossen zusammen, eine Schlafstelle bei irgendeinem Bekannten, bei dem sie bleiben, bis sich jeder von ihnen selbst ein Heim gründet.
Zu Hause wird der Knabe früh daran gewöhnt, mit seinem Vater zu essen, das Mädchen mit ihrer Mutter, damit die Kinder, wenn Gäste kommen, keine Schwierigkeiten machen; denn dann müssen der Sitte gemäß Männer und Frauen ihre Mahlzeit getrennt einnehmen.
Die Missionsschule hat natürlich etwas ganz Neues in das Leben der Kinder gebracht. Zuerst verhielten sich die Alten sehr ablehnend, weil sie glaubten, jeder, der die Schule besuchte, müßte notwendigerweise zum Christentum übertreten. Auch verlangten sie wenigstens Tagelohn für jeden Schüler. Nachdem sie aber gesehen hatten, daß viele die Schule durchmachten, ohne Christen geworden zu sein, daß sie auch nicht dazu gezwungen wurden, haben sie mit raschem Blick den dargebotenen Vorteil erkannt. Wenn auch bei vielen die Bedenken noch nicht geschwunden sind, so dringen doch die meisten Eltern erfreulicherweise bei ihren Kindern auf einen regelmäßigen Schulbesuch, wenigstens war das in Pare der Fall, wo wir auf unsern vier Stationen und den dazugehörigen Außenschulen über 2000 Knaben und Mädchen in allen Elementarfächern unterrichteten. Die Kleinen lernen im allgemeinen sehr leicht, und es ist eine Freude, sie zu unterweisen, besonders wenn man etwa 150 aufgeweckte Steppenkinder vor sich hat. Dieselben dummen Streiche, die zu Hause in der Schule verübt werden, findet man auch hier wieder, und überhaupt ist der ganze Schulbetrieb der gleiche wie in Deutschland. Sobald der Junge schreiben kann, schreibt er leidenschaftlich gern Briefe. Ja, selbst die erste schüchterne Anfrage bei der künftigen Frau geschieht heutzutage brieflich. Ist der Junge etwa 16 Jahre alt, dann wird er von der Regierung zur Steuerzahlung herangezogen. Unter deutscher Herrschaft erhielt er eine Arbeitskarte, die[S. 57] ihn verpflichtete, innerhalb vier Monaten fünf Wochen beim Europäer zu arbeiten. Die Einführung dieser Sitte war für die allgemeine Hebung des Volkes sicher von Bedeutung. So ist der Parejüngling in einem Alter, wo die meisten Europäer noch Kinder sind, schon Arbeiter, Steuerzahler und oft auch Familienvater.
Das Alter der für diese — bei unsern Wapare entschieden religiöse Handlung — in Frage kommenden Knaben ist verschieden. Manche werden in früher Jugend beschnitten, andre erst, wenn sie 8–10 Jahre alt sind. Ich selbst konnte auf die Einladung eines hiesigen Häuptlings hin einmal der Beschneidung eines etwa sechsjährigen Knaben beiwohnen. Als „Festspeise“ wurde ein Ochse geschlachtet. Weniger vornehme Väter begnügen sich mit einem Ziegenbock. Während der Mann seine Freunde zum Zuckerrohrschneiden einlädt, ruft die Frau ihre Nachbarinnen, ihr bei der Bereitung der Speise und dem Zerreiben der Zuckerrohre zwecks Bierbereitung zu helfen.
Am Abend des der Beschneidung voraufgehenden Tages richtet der Vater in seinem Hause an die Ahnengeister etwa folgendes Gebet: Nkoma, guhani luhwa lwenyu, ambu mawa enyu e uko wanga. Mrereheni uu mwana, ambu yavo henevecha mkea aha. Uu mwana ni nkungu mposha, tevonwa ni mbiba. Mukome vibamba meso, kangi hasitee verigana. — Ihr Ahnengeister, nehmt dieses Opfer von ungegorenem Bier an, denn euer gegorenes Bier ist oben auf dem Hausboden (wo es über Nacht der Gärung harrt)! Habt acht auf diesen Jungen, denn morgen wird ein Dieb hier vorbeigehen. Unser Junge ist eine taube Nuß, um die kümmert sich der Mbiba (Hamster) nicht. Macht alle die Käfer blind, sorgt dafür, daß kein Streit entsteht. — Zum Verständnis sei folgendes bemerkt: Das eigentliche Wort für schneiden, kuchwa, wird ungerne gebraucht, die Wunde würde dann schlecht heilen. Deshalb nimmt man dafür das Wort „stehlen“, der behandelnde Arzt ist der „Dieb“, der bei dem Hause vorbeikommen wird, um das Präputium zu stehlen. Der Junge wird mit einer tauben Nuß verglichen. Deshalb sollen sich die bösen Zauberer um ihn so wenig Mühe machen wie der Hamster um eine taube Nuß, die er schon beim Aufheben als solche erkennt und wieder fallen läßt. Auch werden die Geister gebeten, allen Käfern, gemeint sind die Hexen, die Augen zuzuhalten, damit sie durch ihren bösen Zauber die Wunde nicht zu einer schwer heilenden machen. Das[S. 58] würde auch geschehen, wenn die Gäste im Rausche einander Grobheiten sagen.
Zur gleichen Zeit betet der Hausarzt über seinem kleinen chirurgischen Messer zu seinen Ahnen wie auch zu den Ahnen der Familie derer, die das Fest veranstalten: „Ihr Geister, ihr habt euch doch bei Lebzeiten gekannt, helft meinem Messer, daß alles glücklich verläuft und ich ein angesehener Arzt werde, den alle Leute rufen.“
Am andern Tage findet dann die eigentliche Beschneidung statt. Etwas im Gebüsch verborgen treffen die Männer die Vorbereitungen, die in der Hauptsache im Schlachten und Zerlegen des Ochsen oder der Ziege bestehen. Sie erhalten gleich ihren Anteil, den sie mit nach Hause nehmen dürfen. Unterdes ist auch der Arzt erschienen. Schnell setzt sich einer der Männer auf ein bereitliegendes Fell. Der meist ahnungslose Junge wird gegriffen und auf dieses Mannes Schoß gesetzt. Andere halten ihn an Armen und Beinen fest, und in etwa einer Minute ist die Operation beendigt. Sie ist natürlich für den kleinen Kerl äußerst schmerzhaft, und er schreit dementsprechend unaufhörlich.
Nach Beendigung der Operation nimmt der Arzt einen Schluck Bier und bespützt damit die Wunde. Um zu verhüten, daß die Leisten oder andre Teile anschwellen, wird eine Schnur aus der Rinde des Rizinusbaumes mit vier Zauberknoten dem Knaben um den Leib gebunden. Das Präputium sowie das auf dem Fell haftende Blut wird sorgfältig in einen Ballen aus Kuhmist getan und dieser in die Wand des Hauses eingemauert. Denn wenn solche Seelenträger einem bösen Zauberer in die Hände fielen, wäre die schnelle Heilung der Wunde ausgeschlossen.
Das Messer des Arztes ist ein heiliges Messer, d. h. es wird zu nichts anderem als nur zum Zwecke der Beschneidung gebraucht. Nach der Operation findet ein Festmahl und Biergelage statt. Die Wunde wird am andern Tage von der Mutter oder vom Vater mit einer Feder gewaschen und mit feinem Sand bestreut. Ist dieser Sand am nächsten Tage festgetrocknet, so überläßt man das übrige ruhig der Natur. In etwa zwei Wochen ist alles verheilt. In diesen Tagen bedeckt der Junge nur den Oberkörper mit einem kleinen Lappen und wartet im Hause seiner Eltern die Heilung ab.
Ist der Junge etwa 7 Jahre alt, so laden die Eltern wiederum ihre Verwandten und Nachbarn ein, um für den Jungen ein offizielles[S. 59] Mehlbrei-Essen zu veranstalten, damit er dann durch das Waldfest, welches im nächsten Kapitel beschrieben wird, in die Stammesgemeinschaft aufgenommen werden kann.
Nachdem Männer und Frauen das Bier bereitet und die Frauen außerdem für genügend Speise gesorgt haben, findet am vierten Wochentage die Zeremonie statt. In dem betreffenden Hause sind nur Frauen anwesend. Die Mutter und vielleicht auch Verwandte setzen sich in dem Hause auf die Erde. Sie sind alle unbekleidet. Eine Frau nimmt nun das Kind und setzt es viermal in den Schoß der Mutter und dann auch der andern Verwandten. Dabei hört man die üblichen Freudentriller. Darauf kommt der Vater mit drei seiner Genossen herein, und auch ihm gibt man das Kind in den Arm. Der Junge (oder das Mädchen) erhält nun einen neuen Namen, gewöhnlich den seines Großvaters väterlicherseits. Der nächstgeborene Junge würde den des Großvaters mütterlicherseits erhalten. Danach heißt auch das Festessen „Namen-Mehlbrei“. In der Hauptsache ist es den Leuten, wie mir scheint, daran gelegen, einen Grund zu haben, sich nochmals tüchtig zu betrinken und gut zu essen. Bei manchen Stämmen schließt sich daran noch ein weiteres Frauenfest, mchumbi, welchem nur solche Frauen beiwohnen dürfen, die das gleiche Fest auch durchgemacht haben. Der Mutter werden Perlkränze und Schmuck umgehängt und andre Erinnerungen aus der Jugendzeit aufgefrischt, so daß sie sich für eine kurze Zeit wieder als Mwai wa nyumba fühlen kann. Eine nähere Beschreibung ist hier nicht angängig. Ich will nur noch erwähnen, daß es in dieser Zeit des Kampfes zwischen Christentum und Heidentum schon vorgekommen ist, daß Leute für ältere Kinder, die schon getauft waren und sich weigerten, das Fest mitzumachen, dasselbe auch ohne die Kinder feierten, um die hergebrachte Sitte dennoch zu befolgen.
[S. 60]
Der Mshitu oder das Waldfest ist das erste aller Parefeste. Soll es gefeiert werden, so verbreitet sich die Kunde mit Blitzesschnelle durch alle Lande, selbst bis nach Usambara hinüber. In langen Schlangenlinien kommen dann aus allen Richtungen die Festteilnehmer mit den aufzunehmenden Knaben über die Berge gezogen, und weithin erschallt eins der Marschlieder durch die stille Landschaft: Kombo ehee, kombo-e, hoe! Über dieses berühmte Mshitu sind schon allerlei Märchen erzählt worden. Was ich selbst auf verschiedenen Festen, zu denen mir von den Leuten der Zutritt erlaubt worden war, sah, und was mir dann von meinen z. T. christlichen Gewährsleuten erklärt und ergänzt wurde, will ich in der Hauptsache im folgenden erzählen. Da die Lieder, die bei diesem Fest gesungen werden, sowie auch manche der symbolischen Handlungen z. T. äußerst anstößig sind, so muß ich mich darauf beschränken, nur eine Auswahl niederzuschreiben, bzw. den Text in der Übersetzung freier wiederzugeben.
Gewöhnlich hat jeder Stamm und jede Sippe ihren eigenen Mshitu oder Wald. Diese heiligen Wälder sind in grauer Vorzeit von den Ahnen angelegt worden. Sie dürfen zwar betreten werden, aber niemand fällt einen Baum oder sucht Holz in ihnen. Jeder „Holzfrevel“ wird mit einer Ziege gesühnt, die dann im Walde geopfert werden muß, damit er wegen der „Wunde“, die er erhalten hat, versöhnt wird.
Nun kommt es vor, daß jemand kein Kind hat. Das Orakel sagt ihm, daß der Mshitu die Ursache sei. Daraufhin geht er in den heiligen Wald und bittet ihn, ihm doch zu einem Kinde zu verhelfen, oder, falls die Frau schon guter Hoffnung ist, frühere Kinder aber regelmäßig gestorben sind, das zu erwartende Kind doch leben zu lassen. Er gelobt dem Walde bzw. den Ahnen als seinen Hütern ein[S. 61] großes Opferfest, eben das Waldfest. Dieses Fest ist für die Nachkommenschaft von außerordentlicher Bedeutung, da alle Wapare behaupten, vom Walde geboren zu sein. Selbst unfruchtbare Frauen werden, wie wir noch weiter unten sehen werden, durch Beteiligung an dem Kirumbe-Tanz Nachkommenschaft erhalten. Der Mshitu wird also auch das oben erwähnte Gebet erhören, und der Mann wird die Freude haben, seinen Sohn aufwachsen zu sehen. Vergißt er nun sein Gelübde, so erinnern die Geister ihn durch Krankheit und andere Beschwerden und durch ihr Sprachrohr, das Orakel, wieder daran. Er ruft dann die Angehörigen seiner Sippe zusammen und hält eine Besprechung mit ihnen ab, als deren Ergebnis der Beschluß gefaßt wird, in einigen Wochen das Waldfest stattfinden zu lassen und nun die Vorbereitungen dazu zu treffen. Sie warten gewöhnlich bis kurz vor Beginn der Regenzeit, denn „der gleich nachher einsetzende Regen wird alle Spuren des Festes verwischen“.
Ungefähr sechs Wochen vor Beginn des eigentlichen Festes werden die männlichen Glieder der Sippe dessen, der das Fest veranstaltet, zu ihm ins Gehöft geladen und hier alle Maßnahmen besprochen, die für den ordentlichen Verlauf des Mshitu getroffen werden müssen. Der Wirt hat vorher dafür gesorgt, daß seine Gäste nicht zu verdursten brauchen und einen tüchtigen Vorrat von Zuckerrohrbier gebraut. Auf dieser Versammlung wird alles besprochen und Verabredungen über die nächsten Zusammenkünfte werden getroffen. So kommen sie am vierten Tage der folgenden Woche in der Nähe des Festplatzes zusammen, um die Wege auszuholzen und einen Tanzplatz (kiuga) zu schaffen. Diesen Kiuga-Platz nennen sie den „Minister“ des Waldes. Ihm wird ein Opfer dargebracht und er dabei gebeten, dem „Häuptling“, nämlich dem Walde selbst, Mitteilung von ihrem Kommen zu machen. Es würde zu weit führen, alle diese Vorgänge eingehend zu schildern. Es mag genügen, zu erwähnen, daß sie auch in den folgenden Wochen jedesmal am heiligen vierten Tage im Walde erscheinen, um allerlei Sühnopfer vorzunehmen und vor allem aus der Lage der Opfertiere sowie aus deren Eingeweiden und Leber zu ersehen, ob dem Walde das Opfer angenehm sein wird. Auch kommende Hungersnöte und Seuchen werden hier erkannt und vorausgesagt. Bei der letzten dieser Versammlungen wird dann die nächste Zusammenkunft in der eigentlichen Festwoche auf den zweiten Tag festgesetzt, von welchem Tage an die Männer bis zum „Schließen der Tore“ am sechsten Tage im Walde bleiben und nicht mehr nach Hause gehen.
[S. 62]
Die Kunde vom bevorstehenden Feste verbreitet sich schnell überall im Lande und auch in den ferner gelegenen Gebieten.
Beizeiten schon haben die Veranstalter einen gewöhnlich ganz alten Mann gebeten, während des Festes gewissermaßen die Funktionen des Oberpriesters auszuüben. Er heißt kimbokoko. Diesen nehmen sie nunmehr mit in den Wald. Manche erzählen, daß der Oberpriester für seine Bemühungen ein Extrarind bekäme, denn er würde nun nicht mehr lange zu leben haben. In Westusambara wohnt der eigenartige Volksstamm der nach dorthin aus der Parelandschaft Bwambo ausgewanderten Wambugu. Es sind keine Bantuneger; aber durch langen Aufenthalt in Pare haben sie die Sitten der Wapare zum Teil angenommen, besonders das Waldfest. In Chome haben sie einen großen Wald, in welchem das Fest nach einer Reihe von Jahren abgehalten wird. Zu diesem kommen dann die Wambugu in langen Zügen von den Usambarabergen nach Pare herüber. Über das Fest wußten mir weder Christen noch Heiden etwas zu berichten, da die Wambugu keinen Mann eines anderen Stammes zulassen. Als Eigentümlichkeit wurde mir nur erzählt, daß sie ihren Oberpriester, den Kimbokoko, nicht wieder mit aus dem Fest nach Hause zurückbrächten, sondern daß er im Wald getötet würde, zum Heil seiner Nachkommen. Es hätte ihn noch niemand zurückkommen sehen. Wie weit diese Angaben den Tatsachen entsprechen, konnte ich nicht mehr nachprüfen.
Bis zum vierten Tage der Festwoche ziehen nunmehr abends die Ngurunguru, „die Kinder des Waldtieres“ durch das Land, um die Leute noch besonders auf die Nähe des Festes aufmerksam zu machen. Die eigentlichen Ngurunguru sind Schwirrhölzer, etwa 30 cm lang und 10–15 cm breit, die von den Trägern an einem Bande geschwungen werden und einen brummenden Ton erzeugen. Das sind die Kinder des Waldtieres, denn selbst ist es zu groß, als daß es im Lande umherziehen könnte. Es verschlingt nur die Kinder, die ins Fest kommen, um sie dann wieder auszuspeien. Hören die Leute in den Häusern den Ton, so setzen sie Essen draußen hin. Die Ngurunguru streuen Kot oder Sand auf das Übriggebliebene, um so noch mehr ihren übermenschlichen Charakter darzutun. Finden die Hausbewohner am Morgen ein kleines Stöckchen neben dem Topf liegen, so deutet das auf die baldige Geburt eines Mädchens in dem Hause hin; ein ganz kleiner, nur angedeuteter Bogen läßt sie einen Knaben erwarten. Wenn die Ngurunguru sich vor der Tür melden, so antworten die Hausbewohner: Murye = friß ihn auf, und spielen[S. 63] damit auf die Haupttätigkeit des Waldtieres, Kinder zu fressen, an. Die Männer, die in der Zeit im Walde bleiben, haben ein Schlachtfest nach dem andern und vertreiben sich die Zeit mit Tanzen.
Am vierten Tage haben die Novizen, die das Fest zum ersten Male mitmachen sollen, sich einer besonderen Zeremonie zu unterziehen. Die Kleider werden ihnen offiziell ausgezogen, denn die Novizen müssen unbedingt nackt sein. Die Wapare nennen das lungasu luchungwa = das Fest wird aufgebunden. Die Novizen sammeln sich mit ihren Helfern (vakunjiga) in einem der Häuser aus der Nachbarschaft. Einer von den Festbereitern oder auch sonst einer aus dem Dorfe wird zusammen mit einer alten Frau erwählt, das „Fest aufzubinden“. Die Mutter eines jeden Novizen oder eine beliebige Frau setzt sich auf die Erde. Dann nimmt die erwählte Alte jeden der Jungen und setzt ihn viermal in den Schoß der anderen Frau. Der daneben stehende Mann sagt jedesmal dazu uhu, die andern erwidern uhu, darauf die auf dem Boden sitzende Frau uwa. Der Wortlaut der gleichzeitig stattfindenden Gesänge läßt sich hier schicklich nicht wiedergeben. Die Alte hat unterdes dem Novizen sämtliche Kleider abgenommen und sie dessen „Helfer“ übergeben, der sie bis zum Ende des Festes verwahrt. Sind sämtliche Jungen entkleidet, so ziehen sie alle unter Vorantritt des Mannes und der Alten viermal um die heilige Feuerstelle herum, unter Absingen der Festmarschlieder. Da der Mshitu ja ein Fruchtbarkeitsfest ist, so haben die meisten der Lieder einen für unser Empfinden anstößigen Text, doch manchen liegt auch eine anziehende Symbolik zugrunde. So lautet eins:
Es wird mit diesem Lied die Frau, die ein totes Kind zur Welt gebracht hat, mit dem Hinweis getröstet, daß selbst die doch als sehr fruchtbar bekannte Banane (die deshalb auch das Symbol der Fruchtbarkeit besonders in den Frauenfesten ist) manchmal wohl eine Traube hervorbrächte, die aber vor der Reife wieder vertrockne. Die Banane treibt jedoch neue Schößlinge. So wird auch die Frau[S. 64] nach der Feier des Waldfestes neuen Kindersegen erhoffen dürfen, Kinder, die unter dem Schutz der Ahnen auch aufwachsen werden.
Nach Beendigung des Rundganges müssen sich sämtliche Novizen mit ihren Helfern einer neben dem andern mit dem Leib auf die Erde hinlegen und die Augen mit den Händen zuhalten. Dann tritt ein Mann herzu, der unter seinem Schurzfell einen gabelförmigen kurzen Knüttel verborgen hat. Zuerst wälzt er sich auf den Rücken der auf dem Boden Liegenden herum und stößt brummende Laute aus wie das Waldtier: Vvv, vvv, vvv! Die andern antworten: Murye (friß ihn)! Endlich kniet er vor dem ersten Helfer, der bereits eingeweiht ist, nieder und hält ihm eine längere Ermahnungs- und Strafrede: „Wenn ihr euch von den Mädchen betören laßt und ihnen etwas aus dem Mshitu mitteilt, wovon Frauen doch nichts wissen dürfen, dann werdet ihr sterben.“ Zum Schluß schlägt er den auf dem Boden Liegenden mit seinem Knüttel unter Uhu-Rufen und Heha-Antworten der Übrigen heftig dreimal auf Fersen, Waden, Kreuz und Schulterblatt, den letzten Schlag gibt er besonders kräftig auf den Kopf. Nachdem alle Novizen mit ihren Helfern diese sehr eindringliche Ermahnung „angehört“ haben, erhält jeder der Burschen von seinem Helfer einen vorher bereitgelegten, ganz weiß geschälten Stock (msenge) von etwa 2½ m Länge. Diesen Stock halten die Knaben auf allen ihren Ausgängen in den Händen, sie dürfen aber nicht die Erde damit berühren, sonst heißt es ngasu yakela = die Festregel ist übertreten, der Stock will „lecken“. So wird dann der Übertreter bei der nächsten „eindringlichen Ermahnung“ besonders bedacht.
Nun setzt sich der ganze Zug wieder in Bewegung, um draußen viermal um das Haus zu marschieren. Liegt das betreffende Dorf weit von dem Festplatz ab, so begeben sie sich jetzt in langem Zuge zu den nähergelegenen Häusern, um dort die Nacht zu verbringen. Sie singen unterwegs:
Das heißt:
Das bedeutet: das Waldfest bietet durch den „Festlöwen“ dieselben Gefahren wie ein Marsch durch die Steppe mit ihren Löwen.
[S. 65]
Kommt der Zug an einen Wasserlauf, so wird Halt gemacht, und die Novizen müssen sich wieder alle nebeneinander auf die Erde legen, um mehr oder weniger heftig geschlagen zu werden. Nachdem die Vai (wie auch die männlichen Novizen heißen) in Häusern nahe beim Festplatz untergebracht sind, begeben sich die Männer in den Wald, um dort die Nacht hindurch zu tanzen. Am andern Morgen, das ist am fünften Wochentage nach kipare Zählung, werden die Vai morgens ganz früh abgeholt und auf die große, früher bereits gesäuberte Wiese geführt. Von hier aus bringt dann jeder Helfer seinen Schützling in den Wald hinein. Zuerst kommen die Kinder aus der Sippe derer an die Reihe, die das Fest veranstaltet haben. Dann folgen wohl noch zwei oder drei angesehene Häuptlinge mit den ihrigen und hierauf die andern.
Mädchen rechts mit umgehängter Schnupftabaksdose.
Im Innern des Waldes sind von den Festbereitern vier Tore aus Bäumen und Zweigen hergestellt. Durch diese Tore muß jeder Helfer seinen Schützling durchbringen. Schauerlich schallt im Düstern und in der Stille des Waldes das ungeheure Gebrumm des Waldtieres, das sich anschickt, die Neulinge zu verschlingen, um sie dann wieder auszuspeien. An jedem Tor stehen einige Wächter, die mit Knütteln die Anstürmenden zurücktreiben, so daß stets nur einer durch die etwa 75 cm hohen Tore hindurch kann. Hinter dem letzten Tor sitzt das „Waldtier mit seiner Frau“, so wenigstens glauben die Neulinge es. Zu beiden Seiten des Tores steht je ein Mann, der eine Art Bambusrohr in seiner Hand hält, dessen Ende in einen großen Topf ausmündet. Das Rohr und auch der Topf ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Der andre Mann hat einen etwas kleineren Apparat, der das weibliche Waldtier vorstellt. An diesen beiden wird nun der nackte, meist vor Kälte und Angst zitternde Junge vorbeigeführt. Die Augen hält ihm sein Helfer fest zu, denn sehen soll er das vermeintliche Ungeheuer nicht. Erst beim nächsten Waldfest darf er, nunmehr selbst zum Helfer geworden, einen kleinen Jungen durch die Tore führen und sieht dann, daß der gefürchtete Festlöwe bedeutend ungefährlicher ist als sein Ruf. Heute ist ja dem Waldfest sein Schrecken genommen, weil die Regierung gefürchtet wird. Aber in früheren Jahren war das anders. Da standen bei dem letzten Tor in der Nähe des Waldtieres eine Menge Männer, mit Knüppeln in den Händen, um die anstürmende Menge, die zum letzten Tore hinauswollte, abzuhalten und nur einzeln durchzulassen. Große Schlägereien waren an der Tagesordnung. Oft soll es vorgekommen sein, daß der nebenhergehende Mkunjiga (Helfer) gerade[S. 66] noch sah, wie sein Schützling von einem aus der Menge mit einer Keule erschlagen wurde. Ihm blieb dann die traurige Pflicht, der armen Mutter die Kleider ihres Sohnes zurückzubringen mit der Botschaft: Ngasu yammia = das Fest hat ihn verschlungen. Deshalb wurde ja auch der Mutter beim Fortgehen des Sohnes im Liede geraten, als Zeichen der Trauer einen Bananenstrick um den Leib zu binden, denn sie konnte nicht wissen, ob ihr Sohn wieder lebendig zurückkommen würde. Die glücklich Heimkehrenden aber singen, wie wir noch sehen werden: „Mutter, binde den Bananenstrick los. Denn alles ist gut verlaufen, und deinen Sohn haben wir gesund zurückgebracht.“
Sind die Vakunjiga mit ihren Schutzbefohlenen durch das letzte Tor, und am Waldtier ohne Unfall vorübergekommen, so wird den Vai von einem dort bereitstehenden Manne mit einem kurzen Stück Holz eines heiligen Baumes mittels Kreide ein Siegel auf Stirn, Schläfen und Gelenke gedrückt. Den Frauen wird gesagt: „Das ist der Speichel des Waldtieres, es hat die Knaben verschluckt, aber wieder ausgespien.“ Die Helfer gehen mit ihren Schützlingen auf die Wiese, aus welcher der Kirumbe-Tanz aufgeführt wird. Sie singen:
Das heißt:
So soll nämlich der nun zu erwartende Kindersegen werden. Hier tanzen auch sterile Frauen in derselben Hoffnung. Draußen sammeln sich die einzelnen Abteilungen und überreichen den Veranstaltern des Festes je eine Kürbisflasche mit Bier. Die Vai erhalten ihre Stöcke (misenge) wieder, und wie sie kamen, sieht man sie in großen Schlangenlinien wieder über die Berge abziehen. Dabei singen sie dann:
[S. 67]
Das heißt:
Mutter, binde dein Trauerband los, denn wir haben deinen Jungen wieder mitgebracht.
Alle möglichen Vorgänge werden nun aus dem Stegreif besungen. So sang bei einem kürzlich abgehaltenem Feste ein alter kriegslustiger Heide, als er an einem unsrer Christendörfer vorbeikam:
Das heißt:
Anstatt daß sie auch fernerhin, wie sich das für einen Varemann geziemt, Bogen und Pfeile auf ihren Ausgängen mitnehmen müssen, haben sie nur noch ein Spazierstöckchen nötig, denn Krieg gibt es ja leider keinen mehr. Das ist natürlich ein sehr vereinzelter Standpunkt früherer „Raubritter“, der in diesem Spottgesang zum Ausdruck kam. Im allgemeinen freuen sich die Leute, daß sie heute, nachdem die Regierung Ordnung geschaffen, ohne Waffen durch das Land ziehen können.
Die Veranstalter des Festes bleiben bis zuletzt im Walde. Wenn alle andern hinaus sind, beraten sie sich über die Verteilung der Häute und das Geschenk für den Kimbokoko. Das füllt den Rest des fünften Tages aus. Am letzten, dem sechsten Tage der Parewoche, werden die Tore „geschlossen“. Der Kimbokoko fängt bei dem Topf, der das Waldtier darstellte, an zu beten und opfert Bier und Fleisch der vorher geschlachteten Opfertiere. Zu dem Zweck nimmt er etwas Bier in den Mund und spützt es in der Nähe des Topfes auf die Erde. Ebenso macht er es mit einem Bissen Fleisch. Dann betet er: „Ihr Ahnen, hier habt ihr euer Opfer, das Waldfest ist aus. In fünf Jahren kommen wir wieder, um dir, o Wald, ein Opfer zu bringen. Wenn irgendeiner in der Zwischenzeit an dir frevelt, deine Ruhe stört, Holz fällt oder sonst etwas Unanständiges in dir tut, so verfolge ihn!“ — Alle: „Ja, verfolge ihn!“ — „Hat sich jemand über dieses Waldfest und seinen Veranstalter geärgert, der möge sterben!“ — Alle: „Ja, der soll sterben!“ — „Aber jeder, der das[S. 68] Waldfest und seinen Veranstalter ehrt, der möge lange leben!“ — Alle: „Ja, ewig leben!“ —
So wird auch an jedem der einzelnen Tore gebetet und damit das Tor geschlossen. Die kommende Regenzeit und die dann besonders üppig aufsprießende Vegetation wird in wenigen Wochen jede Spur des Festes verwischt haben. Bald liegt über dem Ganzen die den afrikanischen Hochwäldern eigentümliche Grabesstille. Die Sonne bemüht sich vergebens, das Gewirr von Bäumen und Schlingpflanzen zu durchdringen. Affen turnen wieder von Ast zu Ast; selten, daß ein einsames Vöglein seine Stimme für einen Augenblick erschallen läßt, sonst feierliche Totenstille. Der Mshitu hat sein Opfer erhalten .... mshitu washinjia .... der Wald schläft!
Die Festbereiter gehen nun in das Haus des eigentlichen Veranstalters, um der vorhergehenden Beratung gemäß die Felle der geschlachteten Opfertiere zu teilen. Diese sollen sich oft auf 30–40 belaufen. Die Männer bitten die Ahnen des Veranstalters, sie in den kommenden Jahren zu behüten. Dem Kimbokoko geben sie dann noch eine Strecke das Ehrengeleit, und jeder geht darauf seines Weges.
In der Zwischenzeit haben die Mütter zu Hause viel Speise gekocht und Bier bereitet. Wird der Gesang der Heimkehrenden vernommen, so kommen die Frauen alle vor dem Hause eines angesehenen Mannes oder des Häuptlings zusammen, um dort ihre Kinder zu erwarten. Sie gehen ihnen eine Strecke Wegs entgegen und stampfen tanzend vor Freude heftig mit den Füßen auf die Erde. Wenn aber die Heimkehrenden singen: Mcheku, umanyere = Mutter, gewöhne dich daran (nämlich daß du keinen Sohn mehr hast), dann weiß man: Einer ist nicht wieder zurückgekommen, das Waldtier hat ihn verschlungen.
Auf dem Gehöft werden nun Tänze aufgeführt und folgende Lieder gesungen, die ich z. T. etwas abgekürzt wiedergebe:
Das heißt:
[S. 69]
Die glückliche Heimkehr wird besungen und auf das Ende des Festes hingewiesen, bei welcher Gelegenheit die langen heiligen Stöcke (misenge, hier miziru) verbrannt werden. Aber hauptsächlich freut man sich, daß die Zurückkehrenden nun offiziell in den Stamm aufgenommene Männer sind und reicher Kindersegen zu erwarten ist. Diese Hoffnung findet Ausdruck in dem zweiten Liede:
Das heißt:
Hier wird die nunmehr zu erwartende Fruchtbarkeit besungen; manchmal werden auch einzelne Teilnehmer, um ihnen eine besondere Ehre zu erweisen, mit Namen aufgerufen und ihre Nachkommenschaft mit der Lukungu-Schlingpflanze verglichen, die, wenn sie sich ausbreitet, zahlreiche Nüsse hervorbringt. Aber in der allgemeinen Festfreude, die in diesen Tagen besonders solche ergreift, die einige Kinder oder wenigstens eins haben, soll sich keiner überheben und die Minderbegünstigten oder gar Krüppel verspotten, denn:
Das heißt:
Die Alten, die von diesem Fest keine direkten Folgen zu erwarten haben, trösten sich in der Erinnerung an die Vergangenheit mit der Freude an ihren Kindern und Enkeln:
Unterdes ist es Abend geworden. Die Vai und ihre Helfer haben sich an Speise und Trank gütlich getan und ziehen sich nun in das Haus eines älteren Mannes zurück, dessen Frau in einer andern Hütte schlafen muß. Ihre Stöcke stecken die Vai in das Dach des Hauses. Die ganze Nacht hindurch wird getanzt. Wenn einer der Helfer sieht, daß jemand vom Schlaf überwältigt wird, so stößt er den Uhu-Ruf aus. Sofort herrscht Stille, und nach einer kurzen Begründung erhält der Betreffende wegen dieses Mangels an Disziplin die oben schon erwähnte Prügelstrafe mit dem gabelförmigen Holz in mehr oder weniger gelinder Form.
Kommen Besucher, die auch an dem Tanz teilnehmen wollen, so müssen sie sich draußen kniend mit dem Uhu-Ruf melden. Sofort ist drinnen Stille, alle erwidern: Heha! Nun muß der Einlaßbegehrende die Festparole abgeben.
Wer diese Parole hersagen kann, wird ins Haus gelassen, andernfalls muß er draußen warten, oder er bekommt die bekannte Prügelstrafe. Die Wiedergabe der Parole selbst ist hier nicht angängig.
Am sechsten Tage frühmorgens fegen einige Männer einen Platz, wenn möglich in einer Höhle, rein, oder es wird ein andrer Platz vom Gestrüpp befreit. Er heißt dann kiuga. Bei Sonnenaufgang gehen die Vai mit ihren Helfern in die Landschaften, um, wie wir es schon bei den Mädchen gesehen haben, zu pflücken (kuatunda). Sie dürfen in den Garten irgendeines Mannes gehen, um hier eine Bananentraube, dort einige Zuckerrohre oder Nüsse und Mais zu holen. Auf den Gehöften erhalten sie Hühner. Sollte etwa einer der Leute den Vai die Mitnahme seines Huhnes oder anderer Dinge, die sie „gepflückt“ haben, verweigern und keinen Ersatz dafür anbieten, so stecken sämtliche Novizen ihre Misenge (Stöcke) in das Dach seines Hauses. Nun wird er bald andern Sinnes werden und ihnen mehr geben als sie erbeten hatten. Im schlimmsten Falle, wenn der Mann wirklich den Mut hätte, eine ganze Nacht zu trotzen und die Misenge in seinem Dach stecken zu lassen, so würde er sicher schon am andern Morgen mit einer Ziege erscheinen, um durch diese Sühne die Vai zum Abholen der Stöcke zu veranlassen.
Die Jungen haben einen besonderen „Pflückgesang“ und ziehen damit durch die Landschaft. Alles was sie mitnehmen, müssen[S. 71] sie mit den Händen, ohne Zuhilfenahme eines Messers, abreißen. Kommen sie unterwegs über ein größeres Wasser, so erhalten die Novizen wiederum die bekannte Prügelstrafe, die einen „schlagenden“ Beweis für ihre Männlichkeit liefern soll. Man sagt den Jungen, die dabei Miene zum Weinen machen: „Seid männlich und haltet aus; hiermit erkauft ihr euch das Recht zu heiraten.“
Nachmittags zieht der Trupp zum Kiuga (Tanzplatz) zurück, an dessen Eingang sie die oben erwähnte Parole in der Kniebeuge abzugeben haben. Unterdes haben die Mütter in die Nähe Essen hingestellt und dies durch Freudentriller angekündigt. Ein Mann holt das Essen herbei, da den Frauen jede Annäherung streng verboten ist. Die Nacht hindurch wird wiederum getanzt, während die Vai allerlei Belehrungen erhalten und Kraft- und Geschicklichkeitsproben ablegen müssen. Es wird z. B. jedem einzelnen die Aufgabe gestellt, sich auf den Rücken zu legen, Hände und Arme aufzustützen und dann mit dem Munde ein leicht in die Erde gestecktes Hölzchen herauszuholen. Entfällt einem dabei der Mut, so wird er mit der Prügelstrafe immer wieder angefeuert.
Der zweite Pflücktag verläuft ähnlich. Die Jungen bringen von ihren Ausgängen allerlei mit nach Hause, so eine Art Erdwespe. Am dritten Tage holen sie Brennesseln sowie eine Zwiebelart (kimuumuu), welche bei der Berührung mit der Haut diese sehr reizt, sowie eine Bananentraube mit geschlossener Blüte am Ende des Fruchtstandes.
Am Morgen des vierten Tages gehen die Novizen ganz früh an einen Teich, um sich zu waschen und allerlei symbolische Handlungen vorzunehmen. Dann kehren sie auf den Kiuga zurück, um dort bis zum Mittag zu tanzen. Unterdes sind die mitgebrachten Zwiebeln zerrieben worden und in Verbindung mit diesen sowie den Brennesseln und der Bananenblüte, die eine Frau darstellt, werden nun die Vai zur Belustigung der zusehenden Alten allerlei Standhaftigkeitsproben unterworfen, die sich hier nicht wiedergeben lassen, auf die aber schon Paulus in Röm. 1, 24 hingewiesen hat. Später werden die Vai an einen Baum geführt, und es wird ihnen gesagt: „Hier sind wilde Bienen, die ihr ausräuchern sollt.“ Bei dieser Gelegenheit werden sie dann mit allerlei brennesselartigen Pflanzen „gestreichelt“, z. B. unter der Nase. Jetzt, so sagt man dem Knaben dabei, hast du auch einen Bart, jetzt bist du ein erwachsener Mann und kannst heiraten. Bis alle so einzeln vorgenommen worden sind, ist es nachmittag geworden. Nun wird ein Feuer angezündet, in welchem[S. 72] sofort alle Überreste der Speisen und die Federn der verzehrten Hühner verbrannt werden. Auch die Stöcke der Vai werden bis auf ein etwa ¾ m langes Stück, welches ihnen verbleibt, ins Feuer geworfen. Um dieses Feuer tanzen die Helfer mit ihren Schützlingen und springen dann auch, ähnlich wie wir es schon beim Mädchenfeste beobachteten, durch die weihende Flamme. Die Helfer verfluchen alle, die jemals die Mysterien dieses Festes Fremden preisgeben.
Schon vorher sind an die kurzen Überreste der Stöcke Halsfedern eines Hahnes und andere geheimnisvolle Dinge von den Helfern angebunden worden. Die Frauen, die das Essen brachten, haben für ihre Kinder Öl und Perlschnüre bereitgelegt. Nunmehr salben die Helfer ihre Schützlinge und schmücken sie mit den Perlen. Wie den Mädchen werden auch ihnen Stirnkränze umgelegt. Ihre bis dahin vom Helfer verwahrten Kleider dürfen sie nunmehr wieder anziehen. Die Vai werden ermahnt, ihre Misenge quer vor sich zu halten, keinen zu grüßen, sondern stumm vor sich zu sehen. Vor dem Häuptlingshause wird noch einmal der Kirumbe-Tanz aufgeführt. Daraufhin bringt jeder Mkunjiga seinen Schützling nach Hause, wo er, falls er unverheiratet oder sonst abkömmlich ist, noch einige Tage bleibt, um den Knaben zu all seinen Verwandten zu führen. Hier wird der neu in die Stammesgemeinschaft aufgenommene junge Paremann überall mit Pfeilen, Ketten, Hellern usw. beschenkt. Frauen und Mädchen spricht er nicht eher an, bis er ein Geschenk von ihnen erhalten hat. Die Mädchen treten auf ihn zu und kitzeln ihn; aber wenn er eine Gabe erhalten will, darf er nicht lachen, sondern muß, wie es einem Manne ziemt, würdevoll und ernst dabei bleiben. Er spricht auch nur mit leiser Stimme.
Nach einer Woche etwa bringt eine ältere Frau den ganzen Trupp der Vai auf einen Acker und führt ihnen die Hände bei einigen, gewissermaßen offiziellen Hackenschlägen. Um der Tatsache ihrer Aufnahme in den Stamm möglichste Verbreitung zu sichern, werden sie später auch auf den Markt geführt, aber nicht getragen wie die Mädchen. Dann wird ihnen der Festschmuck abgenommen. In der Woche, in welcher den Novizen zum Abschluß des Mshitu auch die Misenge genommen werden, bereitet man Bier. Am vierten Tage gehen die Vai wiederum nackt aus in die Landschaft, um zu „pflücken“. Die „gesammelten“ Bananen usw. werden gekocht, und die Alten schlachten sich bei dieser Gelegenheit den Hahn, dem man vorher die Halsfedern ausgezogen hatte, um die Misenge damit zu schmücken. Alle Überreste werden in einem Feuer verbrannt und auch die kurzen[S. 73] Stockenden hineingeworfen. Wiederum müssen die Vai durch das Feuer springen; für den Fall der Preisgabe der Mysterien werden sie dabei verflucht. Nachdem die Knaben mit Öl gesalbt und mit Perlschnüren geschmückt worden sind, setzt sich der Zug zum letzten Male vom Kiuga nach dem Dorfe zu in Bewegung, wo nochmals gemeinschaftlich der Kirumbe-Tanz aufgeführt wird. Dann werden die Vai entlassen, und manche legen noch am selben Abend ihren Schmuck endgültig ab.
Damit ist das berühmte und für unsre Wapare bedeutendste Fest zum Abschluß gelangt. Ich lasse hier eine in mehr belletristischer Form gehaltene Skizze folgen. Ich hoffe dadurch dem Leser die geschilderten Vorgänge noch anschaulicher zu machen und innerlich näherzurücken.
Es ist kurz vor der Regenzeit auf den Höhen Südpares. Die Sonne hat bald ihren Tageslauf vollendet. Noch einmal vergoldet sie die Usambaraberge, küßt abschiednehmend die Spitzen Pares, um dann blutigrot fern am Horizont in die ungeheure Massaisteppe unterzutauchen. Steigt man auf eine der höchsten Erhebungen, so kann man deutlich im Norden den Kilimandjaro sehen, der sein eis- und schneebedecktes Haupt in starrem Trotz von der afrikanischen Sonne bescheinen läßt. Die Schluchten und Abhänge des östlich liegenden Usambaragebirges erscheinen jetzt nach Sonnenuntergang eine kurze Zeitlang wie in ein Farbenmeer getaucht. Hell- und dunkelgrüne, graue, gelbe, blaue und tiefschwarze Töne liegen in den zartesten Abstufungen über dem ganzen Gebirgszug. Große Rauchwolken und ungeheure Feuer, die nach Eintritt der Dunkelheit sichtbar werden, lassen erkennen, wie fleißig der schwarze Bauer auch dort dabei ist, die Acker- und Rodungsarbeiten noch vor dem ersten Regen zu beenden.
Ein verspäteter Hirte treibt die Kühe seinem Dorf zu, die säumigen durch Namensruf zur Eile antreibend: Nanzia, Ibanti: herikoni (vorwärts)! Einige Vögel singen im Busch ihr Abendlied — — — afrikanischer Abendfrieden! Es ist so still geworden, daß man das Tosen des Goma-Wasserfalles vernehmen kann. Durch die Schilfdächer der oft bis auf Rufweite auseinanderstehenden Hütten dringt dicker Rauch, der anzeigt, daß die Hausfrauen bei der Bereitung des „leckeren Mahles“ sind.
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Einige junge Mädchen stehen in fröhlicher Unterhaltung bei der Schöpfstelle beisammen. Mit einem Holzpfriemen hat jemand in den Lauf des Quellwassers ein Stück ausgehöhlte Bananenstaude so auf der Erde befestigt, daß das spärliche Wasser in ihr fortgeleitet wird. Am Ende dieser Wasserleitung kann man Topf oder Kürbiskalabasse bequem hinstellen und vollaufen lassen, ohne erst mit dem Mbobo, der Schöpfkelle, schöpfen zu müssen. Mehrere der Mädchen sind nur mit einem Fellschurz bekleidet, der den wohlgebauten Oberkörper völlig freiläßt. Andere, besonders solche, welche die Missionsschule besuchen, tragen einfache Baumwolltücher. Der Hirte mustert sie wohlgefällig und zieht grüßend vorüber. Wohl hat er seine Braut unter den Dirnen bemerkt; aber äußerlich sind beide voller Zurückhaltung. Der junge Bursche hat in der Herde auch ein Stück eigenes Vieh, einen Teil seines Brautpreises, nämlich eine Färse und einen Ochsen. Freudigen Auges betrachtet er sie, wie sie wohlgenährt sind und so sicherlich Gnade vor den Augen des künftigen Schwiegervaters finden werden.
Unterdes ist die kurze Dämmerung der Nacht gewichen. Die Mädchen haben noch von dem Tanzfest gesprochen, das am übernächsten Abend im Gehöft des alten Sempeho stattfinden soll und hoffen, alle ihre Freunde und Freundinnen zu treffen. Es wird sicherlich recht lustig werden; fatal ist nur, daß der Missionar ihnen allen am nächsten Morgen die durchschwärmte Nacht ansieht und womöglich versäumte Schularbeit unter seiner Aufsicht nachmachen läßt. Aber die eine oder andere tröstet sich damit, daß Vater oder Mutter zum Lehrer gehen und die Tochter wegen plötzlicher schwerer Erkrankung entschuldigen wird. Die Freude auf das Tanzfest läßt sie den gewichtigen Tonkrug mit Wasser leicht heben. Ein sehr praktisches, aus Bananenbast gearbeitetes Tragpolster ermöglicht es, die Last frei und sehr graziös auf dem Kopfe zu tragen. Eine jede eilt auf schmalem Pfade der Hütte der Eltern zu, die im Bananenhain versteckt liegt.
Langsam schiebt sich der Mond hinter der schwarzen Gebirgswand Usambaras hervor und taucht alles in sein sanftes Licht. Die saftgrünen Bananenblätter glänzen wie flüssiges Silber. — Abend wird es wieder; über Wald und Feld säuselt Frieden nieder, und es ruht die Welt. — Es ist eine eigentümliche Stimmung, die über einer afrikanischen Abendlandschaft liegt. Sie ist ganz verschieden von der unheimlichen Grabesstille, die über den Palmenhainen der ägyptischen Wüste selbst tagsüber brütet. Sie regt vielmehr zum beschaulichen[S. 75] Denken an. Man fühlt sich Gott näher, über die nichtigen Kleinlichkeiten des Alltags erhaben, als sei man bereits da, „wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual“; denn das Grausamste und Störendste in der Natur ist der zivilisierte Mensch. Das hat in Afrika so recht der Krieg gezeigt. — Irgendwo in der Ferne läßt ein Klippschliefer sein melancholisches „Kochiko“ ertönen. Hin und wieder trägt der Wind uns Bruchstücke einer Melodie ins Ohr, zu deren Takt einige Kinder sich im Tanze wiegen. Man denkt zurück an die eigene Kindheit, an die Heimat und die Lieben dort. Aber trotz allem Weh, das hin und wieder bei solchen Betrachtungen im Herzen aufsteigen will, erfaßt uns gleichzeitig eine heiße Liebe zu dem Lande, das uns eine zweite Heimat geworden ist. Hier fühlt man sich geborgen, weitab vom tollpulsierenden Großstadtleben, aller ungesunden Kultur und heuchlerischen Zivilisation. Die Verbindung mit den Naturkindern wird zum Bedürfnis. Man spricht ihre Sprache, man lernt ihre oft kraus erscheinenden Gedankengänge verstehen, und man gewinnt ihr Vertrauen. Erst dann kann man die so verschlungenen Wege der Negerpsyche studieren, und wer sich die Mühe nimmt, die Inlandschwarzen so kennenzulernen, der nur lernt sie recht kennen und — lieben. Wenn sie nur wüßten, die schwarzen Freunde, wie mancher von denen, die ihnen nur als bwana mkubwa (großer Herr) oder als bibi mkali (gestrenge Herrin) gegenübergetreten sind, heute eine große Sehnsucht nach ihnen und ihrem Lande im Herzen tragen und ihnen manche ungerechte Schroffheit im stillen abgebeten haben!
Doch kehren wir im Geiste in die oben beschriebene Parelandschaft zurück, so sehen wir zwei der Wasserträgerinnen, die am weitesten bis zu ihrer Hütte zu laufen hatten, plötzlich erschrocken stehen bleiben. Die jüngere unterdrückt mit Mühe ein Uwi!, den Hilferuf des Stammes. Ein schauriger Laut hat für einen Augenblick die Luft erfüllt. Es klang wie das zornige Gebrüll eines Ungeheuers, vielleicht eines Löwen, die hin und wieder ihre Raubzüge bis ins Gebirge ausdehnen. Da war er wieder! Nun schon ganz in der Nähe! Mit zornigem Gebrumm naht das Ungeheuer. Sein tiefes Vvuu ist in der ganzen Landschaft vernehmbar. So schnell wie möglich legen die beiden Mädchen die kurze Strecke bis zur Hütte der Eltern zurück. Drinnen stellen sie mit allem Ausdruck der Angst ihre Töpfe hin und fragen: „Vava, mcheku (Vater, Mutter!), habt ihr es gehört? Ein Löwe! Wir sind tot!“ Die ebenfalls in der Hütte anwesenden drei Knaben hatten sich, als das unheimliche Gebrumm ertönte, sofort in den finstersten Winkel der Hütte zurückgezogen. Sie[S. 76] wußten, daß es mit dem Waldfest in Verbindung stand. Hatte doch die Mutter bei jedem ihrer dummen Streiche auf die Zeit hingewiesen, wo sie im Mshitu, dem Waldfest, für ihre Ungezogenheiten würden zu büßen haben, wenn sie das Waldtier nicht überhaupt ganz verschlänge. So hielten sie es jetzt für sicherer zu verschwinden. Vater und Mutter tauschten heimlich ein Augurenlächeln aus, als sie die Angst ihrer Kinder sahen; aber nur heimlich! Je geheimnisvoller den Kindern die alten Gebräuche und Kulthandlungen erscheinen, desto weniger werden sie geneigt sein, das Christentum anzunehmen. Die Eltern haben ein über das Diesseits hinausgehendes Interesse daran, daß ihre Kinder an dem alten Ahnendienst festhalten. Denn wie schlecht wird ihre Stellung im Geisterreiche sein, wenn ihre eigenen Kinder keine Opfer bringen! Sind sie Christen geworden, so werden sie das natürlich nicht tun, und darum versuchen dies die Eltern mit allem Aufwand von Gewalt und List zu verhindern. Der Vater erklärt also: „Die Tiere, die draußen durch die Landschaft ziehen, sind Ngurunguru, die Abgesandten oder Kinder des Waldtieres. Dieses selbst ist zu groß, um im Lande umherzuziehen. Es bleibt im Walde, um auf die Knaben zu warten, die es frißt und dann wieder ausspeit. Seine Boten aber machen im ganzen Gebirge, ja selbst bis nach Usambara hinüber auf das bald stattfindende Wald- und Stammesfest aufmerksam.“ Hätten die erschrockenen Kinder allerdings gesehen, daß jenes fürchterliche Gebrüll von Männern hervorgebracht wird, die an einem Strick ein etwa 30 cm langes Schwirrholz durch die Luft sausen lassen, ihre Furcht hätte sich wohl gelegt. So aber erhebt der schwarze kleine Krauskopf Kiondo im Winkel ein klägliches Geheul, als ihm die Mutter droht, ihn nun diesen Waldungeheuern zum Fraße vorzuwerfen. Er hatte sich heute wieder, anstatt auf die ihm anvertraute Ziege aufzupassen, in sein Spiel mit Pfeil und Bogen vertieft. Die Mutter hatte noch feuchten, eben enthülsten Mais in einem Strohteller auf das niedrige Hüttendach zum Trocknen gestellt. Der war von der Ziege heruntergestoßen und aufgefressen worden. Ein ganz kleiner Teil lag noch auf der Erde verstreut. Als die Mutter mit einer Last Holz auf dem Kopfe nach Hause kam, fand sie ihren hoffnungsvollen Sprößling auf der Erde kniend und damit beschäftigt, eifrig den Schmutz aus dem traurigen Rest des schnell aufgelesenen Maises zu blasen, um zu versuchen, den Status quo ante wieder herzustellen. Beim Anblick der zornigen Mutter fiel dem kleinen Missetäter im Augenblick keine bessere Ausrede ein, als den Sturm für das fatale Ereignis verantwortlich[S. 77] zu machen. Aber die herrschende Windstille und des Buben schuldbewußtes Armsündergesicht nahmen seinen Ausführungen jegliche Beweiskraft, und die Mutter drohte ihm eine furchtbare Strafe an. Jetzt bot sich Gelegenheit, die Ngurunguru für ihre häusliche Pädagogik heranzuziehen, und davon wurde, wie das langanhaltende Geheul Kiondos bewies, ausgiebiger Gebrauch gemacht, bis er versprach, fortan ein wahrer Musterhirte zu sein.
Was war nun die Veranlassung, daß an jenem Abend die „Kinder des Waldtieres“ wiederum einladend das Land durchzogen? Der alte reiche Häuptling Kantu hatte von seiner Lieblingsfrau kein Kind. Alle Medizinmänner hatten ihre Kunst versucht. Das Orakel hatte auf diesen oder jenen möglichen Hinderungsgrund aufmerksam gemacht. Aber umsonst, die Frau blieb steril. Schließlich, vielleicht durch einen Traum oder durch den Wahrsager auf die rechte Spur gebracht, ging Kantu in den heiligen Wald und erbat von ihm, das heißt von seinen Hütern, den Ahnen, einen Sohn. Er gelobte ein großes Opfer, eben das Waldfest, falls sie seine Bitte gewähren würden. Im nächsten Jahr hielt er einen Sohn in seinen Armen. Etwa fünf Jahre sind darüber ins Land gezogen. Da wird der Junge schwerkrank, und das Orakel bezeichnet die Krankheit als eine Botschaft der Waldgeister, die Kantu an sein Opfergelübde erinnern, das er schnell mit einem Gebet um Genesung des Kindes erneuert. Als auch diese seine Bitte Erhörung gefunden, hat er die Angehörigen seiner Sippe und die Alten und Angesehenen des Landes zusammengerufen, und man verabredet, in etwa sechs Wochen das Fest zu feiern.
Das war also der Grund für die oben erwähnten Ngurunguru, durchs Land zu ziehen, um allen, die aufnahmefähige Söhne haben, das Nahen des Termines kundzutun. Nur Söhne kommen in Frage, denn Frauen dürfen das geheimnisvolle Dunkel des Waldes nicht betreten. Trotzdem hat das Mshitufest auch für sie als Fruchtbarkeitsfest eine hohe Bedeutung, behaupten doch alle Vapare, vom „Walde“ geboren worden zu sein, indem sie anscheinend dort die Wurzel ihrer Zeugungskraft erblicken. —
Kaum hatte sich der kleine Kiondo in seinem Winkel beruhigt, als die Ngurunguru mit starkem Brummen vor der Hütte erschienen, vom Vater drinnen der Sitte gemäß mit Murye, murye! = Friß ihn! begrüßt. Die Mutter stellt schnell etwas Essen vor die Tür, hofft sie doch am andern Morgen einen kleinen Stock daneben liegen zu finden als Hinweis auf ein bald zu erwartendes Töchterchen.
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Der Vater teilt nun seinen drei Söhnen mit, daß sie auch das Fest mitmachen müßten, um als vollberechtigte Stammesglieder zählen zu können. Kiondo ist ja eigentlich noch reichlich jung; aber in den heutigen Zeiten mit ihren modernen Ideen, welche die Jungen aus der Schule und von ihren Besuchen in den durch Trägerverkehr und Islam aufgeklärten Steppenortschaften mitbringen, ist es besser, dem Kinde die Stammeszugehörigkeit so bald als möglich zu sichern. Denn ein Mensch, der nicht im Mshitu gewesen, ist nichts, ist ein Mshundi, ein Ausgestoßener, der eine Gefahr für seine Eltern und Anverwandten bildet, indem er den Zorn der Geister auf sie herabbeschwört. Er kann nicht heiraten, kann kein Opfer darbringen; er ist eben kein Volksgenosse. Hat er aber das Stammesfest mitgemacht, so kann er schon eher Christ werden. Seinem Rücktritt ins Heidentum steht dann jederzeit der Weg offen. Was für Kämpfe die jungen Christen durchzumachen haben, welche die Teilnahme an diesem Hauptfest auf Grund ihrer neugewonnenen Überzeugung verweigern, können wir Europäer uns erst dann richtig vorstellen, wenn wir erkannt haben, welch einschneidende Folgen die Nichtbeachtung solch heidnischer Form nicht nur für den Betreffenden selbst, sondern auch für seine heidnischen Angehörigen nach ihrem Glauben hat. Diese werden natürlich in solchem Falle sämtlich mobil gemacht, um durch Güte und Gewalt den Jüngling zurechtzubringen.
So war es auch bei Kiondos Bruder, Senamwai, dem Primus der Missionsschule gewesen. Von Jugend auf schwächlich, hatte er bei einer Pockenseuche das rechte Auge eingebüßt. Aber in dem schwachen Körper wohnte ein lebhafter Geist. Schon bevor die Mission in sein Land kam, hatte Senamwai es sich angelegen sein lassen, an Hand einer alten Fibel, die aus der Regierungsschule Tanga ihren Weg ins Innere gefunden hatte, die Anfangsgründe des Lesens zu erlernen. Kaum war die Missionsschule gebaut, als er nicht nur der regelmäßigste und beste Schüler wurde, sondern in seinem Bildungsdrange den Missionar um besondere Fortbildungsstunden bat. Groß war seine Freude, als er eines Tages als Anerkennung seines Fleißes ein Neues Testament in der Kisuahelisprache erhielt. Offen kündigte er seinen Eltern an, daß er beabsichtige, Christ zu werden. Gerade hatte man den Aufbruch zum Mshitu für einen der nächsten Tage verabredet, als diese Worte Senamwais wie eine Bombe ins Haus fielen. Das gab eine schöne Aufregung; denn beim letzten Mshitu vor etwa fünf Jahren hatte Senamwai an Lungenentzündung daniedergelegen und konnte nicht mitgenommen werden. Nun boten[S. 79] seine Eltern alles auf, den Jungen zu überreden, sich nicht etwa durch die Taufe in das „christliche Fest“ aufnehmen zu lassen, bevor er den Mshitu mitgemacht habe. Unter anderm drohten sie, ihm die Herausgabe jeglichen Viehs für den Brautpreis zu verweigern, wenn er sie in die Gefahr bringen würde, einen Ausgestoßenen zum Sohn zu haben. Auch erzählte man ihm, daß er bei dem „Fest der Aufnahme“ (Taufe) in die christliche Gemeinschaft Schlangen und Krähen essen müsse und bald nach Europa geschickt würde. Übrigens habe man ihn schon beim Missionar für die Dauer des Festes vom Schulbesuch entschuldigt, und dieser habe seine Einwilligung gegeben. Ausschlaggebend aber war das Versprechen, nach Beendigung des Mshitu seiner Teilnahme am Taufunterricht auf der Mission keinerlei Schwierigkeiten mehr in den Weg zu legen. Diese Aussicht machte Senamwai dem Willen der Eltern gefügig.
Der vierte Tag der Festwoche ist herangekommen, und damit der Tag des „Aufbindens des Festes“. Jeder Neuling hat einen bestimmten Helfer, den Mkunjiga, zum Führer, der ihm sagt, was er zu tun und zu lassen hat. Sie haben sich schon alle in einem der größeren Gehöfte versammelt, und jedem Mwai werden von einer Frau unter Beobachtung sehr anstößiger Zeremonien und Absingen allerlei geiler Lieder die Kleider völlig ausgezogen. Da das Mshitufest ein ausgesprochenes Fruchtbarkeitsfest ist, so wird das sexuelle Moment in allen Liedern scharf betont. Bald darauf haben sie ihre erste Standhaftigkeitsprobe, die im vorigen Kapitel näher beschrieben worden ist, zu bestehen. Als der Mann sich auf den Rücken der auf dem Boden Liegenden herumwälzt und die Zuschauer ihr Murye! rufen, klopft dem kleinen Kiondo das Herz zum Zerspringen. Gedenkt er doch der furchtbaren Dinge, die ihm seine Mutter als Strafe für seine Unarten so oft in Aussicht gestellt hat. Früher hat er sie ausgelacht, aber hier wird ihm doch recht weinerlich zumute. Die Sache[S. 80] scheint bitterernst zu werden. Hoffen wir, daß er im stillen Besserung gelobt. Sein Bruder, Senamwai, hat ihm heute morgen erst anvertraut, daß er sich, sobald das Fest beendet sei, in den Taufunterricht des Missionars aufnehmen lassen wolle. In der christlichen Lehre, soviel hat auch er schon in der Schule gelernt, ist nichts Furchterweckendes, wie es mit den meisten heidnischen Gebräuchen und auch mit diesem Waldfest verbunden ist. Vielleicht will Kiondo sich gerade in seinem Herzen ebenfalls für das Christentum entscheiden, als er in diesem Entschluß gleichzeitig erschüttert und bestärkt wird, denn nunmehr hält der Pseudo-Waldlöwe ihnen allen eine Ermahnungsrede: „Laßt euch von den Mädchen nicht betören und teilt ihnen nichts aus unserm Fest mit, damit ihr nicht aussätzig werdet. ..“ Weil Senamwai und sein Freund Mavura zum Christentum hinneigen, fügt er jetzt noch mit besonders drohender Stimme hinzu: „Verspottet unsre Mysterien nicht und gebt sie nicht den Europäern preis! Laßt euch nicht taufen und fallt nicht von uns ab. Reden euch die Missionare zu, so sagt ihnen: Wir können das nicht tun, wir werden sonst bestimmt aussätzig werden!“
Um nun dieser eindringlichen Mahnung den nötigen Nachdruck zu verleihen, gibt er jedem der Daliegenden einige heftige Schläge mit dem Knittel auf Fersen, Waden, Kreuz, Schulterblatt und Kopf. Senamwai und Mavura erfahren hier wohl zum ersten Male, daß sie als Christen für ihre Überzeugung werden dulden müssen, denn sie werden besonders „eindringlich ermahnt“.
Die hier geschilderten Vorgänge beim „Aufbinden des Festes“ haben sich genau so in allen Dörfern des ganzen Gebirges, die Kinder zum Mshitu entsenden wollen, abgespielt. Nachmittags kommen Scharen nackter Burschen, ihre Stöcke in der Hand, einer hinter dem andern marschierend, in großen Schlangenlinien von allen Seiten angezogen, um die Nacht in Hütten zu verbringen, die in der Nähe des heiligen Haines sind. Einem dieser Züge schließen sich unsre drei Bekannten mit ihren Freunden an. Von allen Seiten hallen die Berge wider von ihrem Marschgesang: „Kommbo ehee, kommbo-e, hoe!“ Oder sie singen: „Mutter, binde dir einen Strick von Bananenfasern um, denn dein Sohn ist in die Steppe gewandert.“
Plötzlich sieht man einen der Züge haltmachen und alle Burschen sich hinlegen. Sie sind vor einem Wasserlauf angekommen, und der Gebrauch will es, daß sämtlichen Neulingen vor dem Übergang zuerst die oben geschilderte Prügelstrafe erteilt wird. Wenn die Eltern bis dahin versäumt haben mögen, den Stock anzuwenden,[S. 81] so wird hier alles in einem summarischen Verfahren nachgeholt, und mancher der Jungen wird nach solch mehr oder weniger schmerzlichem Vorspiel mit ziemlichen Bedenken dem Hauptakt, dem Verschlungen- und wieder Ausgespienwerden durch den Festlöwen, entgegensehen. Viele ärgern sich, daß die Standhaftigkeitsproben, die sie hier und später noch auszuhalten haben, gleichzeitig zur Belustigung der zuschauenden Männer erfunden zu sein scheinen. Mancher mag sich damit trösten, daß er in den nächsten Jahren auch Zuschauer sein wird, während dem einen oder andern der Geweckteren wohl eine Ahnung von der Torheit all dieser heidnischen Gebräuche kommt. Gewiß, es liegen in diesen und vielen andern Sitten auch erzieherische Momente. Aber die verderblich wirkende Schale, durch die man sich hindurcharbeiten muß, ist so dick, daß der kümmerliche ethische Kern zu teuer erkauft ist, und ob außer philosophisch veranlagten Europäern von den Negern je einer vor lauter Schale den kleinen guten Kern jemals erkannt hat? Es ist hier wie so oft der Fall, daß das Christentum den Kern, das erstrebenswerte Ziel, deutlich zeigt und auch den Weg, dies Ziel zu erreichen, während das Heidentum selbst den kümmerlichen Kern, den es noch erhalten hat, durch eine rein sinnliche Schale verdeckt, wenn nicht völlig vernichtet.
Unsre drei Freunde sind nun unter den im vorigen Kapitel beschriebenen Zeremonien von dem Waldungeheuer verschlungen und wieder ausgespien worden. Auf Senamwai hat das Fest keinen Eindruck gemacht. Im Gegenteil, ihm erscheint das Ganze recht sinnlos, und deutlich erinnert er sich einer Predigt in der Missionskapelle. Da hatte der Missionar aus dem 1. Kapitel des Römerbriefes gelesen, daß die Heiden aus der Schöpfung Gott nicht ersehen, sondern seine Herrlichkeit in das Bild des vergänglichen Menschen verwandelt hätten. Das waren ja die Ahnengeister, die im Waldfest angerufen und versöhnt werden sollten. In dem heiligen Buche hatte er weiter gelesen, daß Gott es solcher Verirrung halber zugegeben habe, daß sie in ihrem Dichten eitel geworden und ihr unverständiges Herz verfinstert worden sei. Dem schon älteren und sehr aufgeweckten Jüngling erschien plötzlich das ganze Heidentum wie das geheimnisvolle Dunkel des Mshitu, den sie soeben verlassen hatten, aus dem gleichzeitig fröhlicher Tanzgesang und die furchterweckende Stimme des Waldungeheuers erschollen war. Sie hatten mitten darin gestanden, nackt, vor Furcht und Kälte zitternd. Er wußte, daß trotz aller fröhlichen Feste und Gelage, welche die Alten so häufig in der ausgelassensten Weise abhalten, ein Gespenst ihnen auf Schritt[S. 82] und Tritt folgte: die Furcht vor ihren selbsterwählten Göttern, den Ahnengeistern, und vor dem Heer der andern zu versöhnenden Wesen. Diese Furcht ließ sie nie recht froh werden. Es war ihm, als ob dieses Gespenst in jeden Becher der Freude ein paar Tropfen Wermut träufele. Ja, sie waren im Banne der Furcht. Sie standen nackt und zitternd im Finstern, wie das Wort des Christengottes es gesagt hatte. Und weiter hatte der Missionar gelesen: „Darum hat sie auch Gott dahingegeben in ihrer Herzen Gelüste, in Unreinigkeit, zu schänden ihre eigenen Leiber an sich selbst.“ Wie viele schändliche und unanständige Worte hatte er in diesen Tagen gehört! Ja, selbst jetzt, während sie so schamlos nackend mit ihrem Misenge in den Händen dahinziehen mußten, waren sie da nicht eine lebendige Illustration der Worte: „Darum hat sie Gott auch dahingegeben“ und „sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert“? Ja, die letzten Zweifel waren ihm geschwunden. Sein Entschluß, Christ zu werden, stand fest.
Während diese Gedanken Senamwais Herz bewegten, erscholl der Gesang seiner vor und hinter ihm im Gänsemarsch gehenden Kameraden laut durch die Landschaft:
In jedem Flecken, durch den sie kommen, werden sie von den Frauen und Mädchen mit Freudentrillern empfangen. Die Mütter im Heimatdorf haben in der Zwischenzeit reichlich Speise gekocht und Bier bereitet. Sobald der Gesang der Heimkehrenden hörbar wird, sammeln sich die Frauen vor der Hütte des Häuptlings, um dort ihre Kinder zu erwarten.
Die nächsten Tage werden auf dem Kiugaplatz zugebracht, wohin die Neulinge mit ihren Helfern nach jedem „Pflückgang“ zurückkehren. Als an einem Tage der reiche aber geizige Selukindo sah, daß man ihm seinen besten Hahn „pflücken“ wollte, sprang er wütend dazwischen und verweigerte den „Dieben“, wie er die Knaben in seinem Zorn schalt, nicht nur die Mitnahme des Hahnes, sondern auch jeden Ersatz. Das war eine starke Verletzung der althergebrachten Sitte, die gesühnt werden mußte. Auf Befehl ihrer Helfer steckten also alle Vai ihre „Misenge“ in das Dach seines Hauses und zogen dann ab. Das so gespickte Dach wurde dem Alten mit der Zeit doch unheimlich, und immer wieder trat er vor die Hütte und streifte mit scheuem Blick die ihm jetzt Grauen erregenden[S. 83] weißen Stöcke. Unzweifelhaft, der Fluch des Waldes und der Ahnen würde auf ihm ruhen. Was konnte das alles für Folgen haben! Ihm graute vor der Nacht. Überhaupt fühlte er schon solch eigentümliche Mattigkeit in den Gliedern! Etwas mußte geschehen. Unter dem mit den heiligen Stöcken gespickten Dache würde er keine Ruhe finden. Noch eine Weile rang er mit seinem Geiz. Endlich machte er sich mit einem Ziegenbock auf den Weg zum Kiugaplatz, wo die Festgesellschaft diese Sühne gern entgegennahm und sogleich die Misenge durch die Vai holen ließ.
Auf diesem Kiugaplatz bleiben die Knaben mit den Alten bis gegen Ende der Woche. Durch Geschicklichkeit und Standhaftigkeitsproben muß sich jeder das „Recht auf die Frauen“ erringen. Endlich, nachdem die Knaben allen beschriebenen Zeremonien unterworfen worden sind, läßt man sie noch einmal durch die weihenden Flammen eines Feuers springen. Dann legen die Vai ihren Schmuck ab. In die Landschaft, die tagelang von Festgesängen und Freudentrillern widerhallte, ist wieder der Alltag eingekehrt. Nur die kleinen Burschen unterhalten sich wohl noch längere Zeit von dem Feste und sehen halb mit Neugierde, halb mit Bangen der Zeit entgegen, wenn auch sie von den nunmehr Eingeweihten hineingebracht werden in das
Ngasu ya mshitu.
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Vor der Verheiratung herrscht ziemlich große Sittenlosigkeit. Der Verkehr zwischen beiden Geschlechtern beginnt früh. Dem Knaben wird bei diesem Verkehr nichts in den Weg gelegt. Im Gegenteil, ihm würde ein moralisches Betragen als unmännlich ausgelegt werden und den Namen kirundu = Dummkopf eintragen. Und das möchte sich keiner sagen lassen. Es ist bezeichnend für die Auffassung unsrer Leute in dieser Sache, daß sie für einen sittenreinen Lebenswandel eines jungen Burschen, wenn er einmal beobachtet werden sollte, als Grund nur Impotenz anzugeben wissen. Ist der Vater arm, so ermahnt er wohl seinen Jungen zur Vorsicht, da er nicht genügend Kühe habe, ihm eine Frau zu „kaufen“ und auch noch für die Folgen seiner Torheiten Bezahlung zu leisten. Aber diese Ermahnung bezieht sich nicht auf den unmoralischen Lebenswandel selbst sondern nur auf seine Folgen, die in einigen wenigen Fällen ein an den Vater des Mädchens zu zahlendes Sühnegeld erheischen. Für einen impotenten Mann ist eine Verheiratung völlig ausgeschlossen, oder die Ehe wird in allerkürzester Zeit wieder aufgelöst.
Bei den jungen Mädchen besteht nun die Gefahr, daß dieser Verkehr vor Beendigung der Frauenfeste Folgen haben und sie so kirya werden könnten. Diese Furcht hat bei den Sippen, die das letzte Frauenfest nicht vor dem Eintritt der ersten Menses feiern, das Gute, daß die Mädchen im allgemeinen bis zu diesem Zeitpunkte unberührt bleiben. Dieselbe Furcht trägt aber bei den meisten andern Stämmen dazu bei, die Kinder möglichst früh die Feste durchmachen zu lassen. So kommt es, daß sie oft schon längst vor Eintritt der ersten Menses aus dem Ngasu entlassen werden und bei dieser Gelegenheit, wie wir oben schon sahen, offiziell die Erlaubnis zum Verkehr mit den[S. 85] jungen Burschen erhalten. Trotz aller Versuche ist es wohl ausgeschlossen, gegen diese sicher äußerst verderbliche Unsitte irgendwie wirksam vorzugehen. Sie wird wohl solange bestehen, bis das Christentum den Bann der Furcht gebrochen und die Anschauungen der Wapare auch in diesem Punkte veredelt hat.
Hat der Parejunge zu irgendeinem Mädchen eine Zuneigung gefaßt, so geht er eine Art Scheinheirat mit ihr ein (kugwira kiso), d. h. der Jüngling gibt dem Mädchen irgendein kleines eisernes Halskettchen od. dgl. und erhält wohl auch eine Perlschnur als Unterpfand der Liebe. Für das Mädchen hat das Pfand noch eine praktische Bedeutung. Denn für die Defloration erhält die Mutter zwei Ziegen, und zwar als ihr persönliches Eigentum. Aus diesem Grunde wird, wie wir schon am Ende des zweiten Mädchenfestes sahen, das Hymen von den Frauen einer Besichtigung unterzogen und das „reine“ Mädchen unter Freudentrillern in die Höhe geworfen. Wenn es dann mit jungen Burschen verkehrt, so findet man das ganz in Ordnung. Wenn es aber nachher nicht den festzustellen vermag, der die zwei Ziegen an die Mutter zu zahlen hat, so gilt das als sehr verwerflich, und die Mutter ist äußerst entrüstet. Denn von der ganzen Morgengabe gehören ihr nur diese beiden Ziegen. Sie bilden überhaupt das einzige Gut, über welches der Frau das Verfügungsrecht zusteht. Um so begreiflicher ist beider Wunsch, diese Ziegen nicht verloren gehen zu lassen, was nach Erhalt eines derartigen „Verlobungszeichens“ auch kaum möglich ist. Durch Rückgabe der Kette wird die Liebschaft aufgelöst.
Hat dieser freie Verkehr Folgen, so muß der Vater die üblichen drei Ziegen zahlen. Das uneheliche Kind heißt mwana wa kaya = Hauskind, nämlich das im Elternhause geborene. Früher blieb es bei den Eltern des Mädchens als ihnen gehörig. In neuerer Zeit wird oft der folgende Rechtsgrundsatz beobachtet: Ist das Kind männlichen Geschlechtes, so ist dem Vater des Mädchens ein Ochse zu zahlen, im andern Fall eine Färse. Dafür gehört das Kind dem Vater, der es gezeugt hat. Doch das ist, wie gesagt, eine neue Sitte. Früher hatte der Erzeuger kein Recht an das Kind. Er mußte nur bezahlen, und zwar selbst in dem Falle, wenn er sich mit der Absicht trug, das Mädchen zu ehelichen.
Will ein Parejüngling heiraten, so macht er seinem Vater von seinem Vorhaben Mitteilung. Hat dieser nicht genügend Rinder für die zu zahlende Morgengabe, dann sucht er eventuell ausstehende Forderungen bei seinen Schuldnern einzutreiben oder eine[S. 86] oder zwei Kühe zu borgen. Wenn er vermögend ist, steht dem Sohne nichts im Wege, auf Brautschau zu gehen. In früheren Zeiten wurden die Verhandlungen einfach zwischen den beiderseitigen Eltern geführt, die eine Verbindung ihrer Kinder wünschten und dann oft mit Gewalt durchsetzten. Heutzutage zwingt man die Kinder auch noch oft genug zu einem solchen Schritt; aber in der Regel sucht sich der junge Mwasu seine Braut selbst. Hat er ein Mädchen gefunden, das seinen Augen gefällt, dann hält er entweder selbst darum an oder sendet einen Freund als Brautwerber zu ihr. Briefliche Anfragen sind schon gar nichts Seltenes mehr, bei der Schreiblust der Neger eine begreifliche Tatsache. Und wenn man diese Briefe liest, von der ersten schüchternen Anfrage an bis zum glühenden Liebesbrief, so kommt man immer wieder zu der Einsicht: Farbe, Sprache, Sitten und manches andere mag uns sehr fremdartig anmuten; aber was das rein Menschliche betrifft, bestehen keine nennenswerten Unterschiede. Einmal las ich einen solchen Brief folgenden Inhalts: „Ich liebe Dich heiß und möchte Dich heiraten. Wenn Dein Herz so fühlt wie meins, dann werden wir nicht voneinander ablassen. Du und ich, wir sind wie der Fisch und das Wasser (d. h.: Wir können nicht voneinander lassen, ohne zu sterben).“ Um nicht den Eindruck zu erwecken, daß es schon lange gerade auf den Freier gewartet habe, stellt sich das Mädchen zuerst so, als wolle es ihm einen Korb geben. Heute, wo auch die Mädchen schreiben und lesen können, sind sie diesbezüglich etwas freier und geben oft ihrerseits die Zusage schriftlich. Sind sich die beiden einig, dann geht der Freier zu seinem zukünftigen Schwiegervater und hält um die Hand seiner Tochter an. Der sagt ihm wohl: „Wenn meine Tochter dich nur liebt, ich bin schon damit einverstanden. Komme morgen wieder her, heute abend werde ich mit ihr reden.“ Am Abend entspinnt sich etwa folgendes Gespräch:
Vater (zu seiner Frau): Du, Frau, heute hat der Soundso um unsre Tochter angehalten; frage sie doch einmal, ob sie den leiden mag.
Mutter: Nun hat sie es ja schon gehört, da brauch’ ich sie nicht nochmals zu fragen.
Tochter (verschämt): Was der Vater Dir erzählt hat, habe ich nicht verstanden.
Mutter wiederholt.
Tochter: Wenn ihr ihn liebt, dann mag er mich heiraten, gegen euren Willen will ich nichts unternehmen.
[S. 87]
Vater: Wir haben ihn gerne, es hängt nur von dir ab.
Tochter: Ich mag ihn leiden.
Am nächsten Tage spricht der angehende Bräutigam wieder vor, um sich seine Antwort zu holen. Der Schwiegervater teilt ihm mit, daß seine Tochter einverstanden sei, er aber seinen Vater sehen möchte. Dieser vereinbart später mit dem Vater des Mädchens einen Tag, an welchem er ihm die Morgengabe (kikwe) zeigen will. Die Zahl der Rinder, welche den „Kaufpreis“ bilden, schwankt etwas bei den verschiedenen Stämmen. Die Vampare haben den Satz: zwei Färsen (mori), einen Ochsen (isemuntu), vier Ziegen (ža ntaira) und noch zwei weitere Ziegen (lutara und kirongorira ng’ombe). Andre Sippen fordern zwei Ochsen, aber weniger Ziegen, die Vamuhezi gar drei Färsen, drei Ochsen und eine Ziege. Die verschiedenen Tiere tragen ihre bestimmten Namen, mit welchem oft auf die Ziegen bzw. Ochsen Bezug genommen wird, welche man während des Mädchenfestes der Sitte gemäß hatte schlachten müssen. Isemuntu, zusammengesetzt aus ise = der Vater, und muntu = des Menschenkindes, ist der Ochse, der in erster Linie dem Vater der Braut allein gehört und meistens bei irgendeiner Gelegenheit am Bratspieß sein Leben beschließt. Selbstverständlich gehören auch die übrigen Rinder ihm; aber die Söhne würden doch aufbegehren, wenn es dem Vater in den Sinn kommen sollte, ihr ganzes Erbe zu verschleudern oder gar „aufzuessen“. Die eine der Ziegen nennt man kirongorira ng’ombe = „Vorläufer der Kühe“. Am wichtigsten ist die mbuži ya lutara = „Zähl-Ziegenbock“. Mit ihm hat es folgende Bewandtnis. Am Tage der Übergabe der Kikwe bereitet der Vater des Bräutigams reichlich Bier. Vier Kalabassen trinkt man mit all den Erschienenen draußen vor dem Hause aus. Dabei machen sich die beiden Väter auf ihre Verpflichtungen aufmerksam, die für einen jeden nach Sitte und Recht bestehen und die Ehescheidung erschweren sollen. Diese Beratungen nennt man kuchunga lutara = das Gezählte (Vieh der Morgengabe) festbinden. Der Vater der Braut will nämlich die ihm als Kikwe übergebenen Kühe nicht nur eine kurze Zeit „hüten“, um sie dann wieder wegen Auflösung der Ehe zurückzuzahlen. Er hat vielmehr ein Interesse daran, die Kühe dauernd zu besitzen, was selbst nach Auflösung der Ehe unter bestimmten Umständen rechtlich zulässig ist. Nach dieser Lutara-Besprechung trägt der oben erwähnte Ziegenbock seinen Namen. Er ist deshalb so außerordentlich wichtig, weil die Ersatzpflicht für sämtliche dem Schwiegervater bereits übergebenen Kühe erst nach seiner Bezahlung erlischt. Anderseits besteht[S. 88] selbst nach erfolgter Scheidung das Eheverhältnis noch so lange, bis diese Lutara-Ziege von dem ehemaligen Schwiegervater erstattet wurde, was rechtlich oft von großer Bedeutung ist.
Hat man die vier Kalabassen leergetrunken, so wird der Bräutigam aufgefordert, seinen Schwiegervater und dessen Begleitung in das elterliche Haus zu führen, wo die Gäste im engeren Kreise nochmals bewirtet werden. Den Scheidenden gibt man eine recht bauchige Bierflasche mit auf den Weg. Es bleibt noch zu erwähnen übrig, daß man gewöhnlich der Sitte gemäß nicht alle Rinder gleich einfordert, sondern nur eine Färse und einen Ochsen. Erst nach der Geburt des ersten Kindes läßt der Schwiegervater sich das restliche Vieh geben. Dann ist nämlich die Gefahr einer Ehescheidung so ziemlich beseitigt.
Nach einigen Wochen wird die offizielle Hochzeit festgesetzt. Der Vater des Mädchens beauftragt seinen Schwiegersohn vorher noch, zwei Kalabassen mit Bier zu bringen, cha mzango (das der Werbung) und cha mvužo (das der Frage, welche die Eltern an die Tochter richteten). Eigentlich hätte man das Bier schon früher bei den betreffenden Gelegenheiten bringen sollen; aber man macht sich nicht gerne die Mühe des Bierbrauens, ehe man sicher weiß, daß die Heirat zustandekommen wird. Am Hochzeitstage verlegen die Brüder der Braut und die Nachbarn den Weg zum elterlichen Hause mit Dornzweigen, um das Einholen der Braut zu einer schwierigen Sache zu machen. Vielleicht hat früher geübter Frauenraub zu dieser Sitte mit die Veranlassung gegeben. Heute ist sie aber zu einer bloßen Form geworden, über deren eigentliche Bedeutung die Leute selbst nichts zu sagen wissen. Bald erscheint der Bräutigam mit einer Schar junger Mädchen und Frauen, die zwölf Kalabassen mit Bier tragen. Weithin hört man ihren Gesang:
Das heißt:
[S. 89]
Damit soll gesagt sein: Ich bin nicht etwa von jemand beraubt worden, daß ich nun Krieg mit ihm machen müßte (Viehraub ist Kriegsgrund). Es soll also in diesem Gesang der friedliche Charakter des „den Kühen nachgehen“ zum Ausdruck kommen. Denn sonst könnte man denken, es handle sich um jemand, der seinem geraubten Vieh nachgehe und Krieg machen wolle.
Unter jenem Wechselgesang nähert man sich dem Brauthause. Die Dornenhindernisse werden beiseitegeworfen. Die in der Nähe des Dorfes Stehenden rufen dem Zuge höhnisch entgegen: Tekaende! = sie wird nicht gehen! Der Brautzug antwortet zuversichtlich: Eneenda! = sie wird schon gehen! Vor dem Hause angekommen, singen sie:
Das heißt:
Und unter Tanz singen sie alle:
Das heißt:
Damit wird auf das Bier angespielt, welches der Bräutigam in genügender Menge mitgebracht hat und er deshalb so siegesgewiß auftreten kann.
Unter allerlei Formalitäten wird nun das mitgebrachte Bier in zwei große und mehrere kleine Kürbisflaschen gegossen, die alle ihre besonderen Namen haben. Im Hause findet darauf ein großes Festessen statt. Der reichliche Biergenuß erzeugt bald eine ausgelassene Stimmung. Endlich mahnt der Bräutigam zum Aufbruch. Der Vater bittet einen Augenblick um Ruhe, um für seine scheidende Tochter den Ahnen ein Trankopfer darzubringen. Mit dem gefüllten Trinkhorn hockt er vor dem Hausaltar nieder und betet:
„Ihr Ahnen, nehmt dies Bier! Meine Tochter übergebe ich heute ihrem Manne. Wenn sie jetzt mit ihm geht, laßt es ihr wohlergehen, daß sie friedlich lebt und Kinder bekommt, daß ich mich[S. 90] des Besitzes der erhaltenen Rinder freuen kann.“ Bei diesen Worten gießt er das Bier langsam auf die Erde.
Natürlich fehlt es bei einer solchen Hochzeit nicht an vielen anzüglichen Gesängen, die nach unsrer Anschauung die Grenzen des Schicklichen weit überschreiten. Aber es ist größtenteils die Unbefangenheit der Naturkinder solchen Dingen gegenüber, die darin zum Ausdruck gelangt. Das Natürliche ist ihnen eben natürlich, eine Auffassung, der wir auch in der Bibel oft begegnen. Sie sind sogenannte „Wilde“, die Europas übertünchte Höflichkeit nicht kennen, und die, um mit einem englischen Ausdruck zu reden „a spade a spade“ nennen. Damit will ich nicht etwa alle diese Dinge entschuldigen oder als harmlos hinstellen. Nur weil wir so leicht zur Überhebung neigen, ist es angebracht, immer wieder zu betonen, daß wir „Zivilisierte“ auch in diesem Stück nicht das geringste Recht haben, uns irgendwie besser und sittlicher zu dünken als jene Neger. Im Gegenteil hätte mancher europäische Vater, der seine Tochter „verkauft“ hat, allen Grund, vor unserm Paremann zu erröten. Denn wie oft kommt es auf unsern geräuschvollen Hochzeiten mit ihren „vielen anzüglichen Gesängen, die nach unsrer Auffassung die Grenzen des Schicklichen weit überschreiten,“ vor, daß der Hausvater aus gläubigem Herzen ohne Scheu vor seinen Gästen ein Gebet für das fernere Wohlergehen seiner Tochter spricht? — — —
Unterdes hat man zwei Nachbarskinder gebeten, der jungen Frau in ihr neues Heim zu folgen, damit sie gleichsam ein Stück ihrer alten Umgebung 3–4 Tage lang um sich hat und das Heimweh nicht aufkommen kann. Auch geben ihr die Eltern einen Mattensack mit, der mit allerlei Speisen angefüllt ist.
Die junge Frau weint vor sich hin und sagt: „Muß ich nun wirklich fort?“ Der Bruder nimmt sie kurzerhand auf den Rücken und trägt sie bis außerhalb des Gehöftes, wo er sie an den Bräutigam und seine Genossen abgibt, die sie nun so lange tragen müssen, bis sie sich mit einem kleinen Geschenk bei der jungen Frau von der Verpflichtung dazu losgekauft haben. Aus dem ganzen Wege erschallt der Hochzeitsgesang der begleitenden Frauen:
[S. 91]
Das heißt in freier Übersetzung:
(sie sprach von ihrem Bräutigam und seinen Angehörigen als von Fremden in der dritten Person. Nach ihrer Verheiratung gehört sie jedoch zum Hause ihres Mannes, denn:)
(Jetzt kann sie nicht mehr die Kühe ihrer Eltern mit: unsre Kühe bezeichnen.)
Am Hause ihrer Schwiegereltern angekommen, bleibt die junge Frau solange stehen, bis die Schwiegermutter ihr ein kleines Geschenk gegeben hat, dann erst setzt sie sich draußen nieder. Durch weitere Geschenke läßt sie sich zum Eintritt ins Haus bewegen. Auch der Schwiegervater gibt ihr ein Tuch od. dgl. und sagt ihr ein paar ermunternde Worte. Nachdem man nochmals gut gegessen und getrunken hat, ziehen sich die Neuvermählten in irgend ein Nachbarhaus zurück oder tanzen auch mit den übrigen den größten Teil der Nacht hindurch. Vier Tage lang genießen sie ungestört ihr junges Glück, empfangen Besuche von Freunden und Verwandten, die alle nicht mit leerer Hand kommen. Am fünften Tage zeigt der junge Ehemann seiner Frau die ihm gehörigen Äcker, manchmal führt ihr auch eine Frau die Hand zu einigen Hackenschlägen, die sie gewissermaßen in ihre zukünftige Arbeit einführen sollen.
Diese feierliche Einholung der Frau (mlondolo) kann sich mancher in seinen jungen Jahren nicht leisten, weil seine Eltern das viele Bier und die sonstigen Festspeisen nicht zusammenbringen können. Er begnügt sich dann damit, seinem Schwiegervater zwei Kürbisflaschen voll Bier zu bringen und nimmt dann ohne weitere Formalitäten seine Frau zu sich. Das nennt man etwas verächtlich ihurura = das Herbeischleifen. Die große Hochzeit muß aber nach der Paresitte unbedingt veranstaltet werden, evtl. noch im hohen Alter, sonst dürfen weder die eignen Kinder noch die Enkel nach dieser Form heiraten bzw. geheiratet werden. So kann man hier das Schauspiel genießen, der nachträglichen Hochzeit alter Leute beizuwohnen, die sich unter genauer Beobachtung der oben beschriebenen Formen abspielt. Die oft schon bejahrte Frau wird aus dem elterlichen[S. 92] Gehöft, wohin sie sich für eine Nacht zurückgezogen hat, abgeholt, auf dem Rücken getragen usw.
Das Paremädchen kommt völlig aufgeklärt in die Ehe. Kinder sind sehr erwünscht. Mittel zur Verhütung der Konzeption sind zahlreich bekannt, werden aber von Eheleuten wohl nie angewandt. Sonst ist künstlich mit pflanzlichen Mitteln herbeigeführter Abortus häufig (z. B. bei Kirya). Kinder, besonders Mädchen, sind schon aus dem Grunde erwünscht, weil bei ihrer Verheiratung die Morgengabe des Bräutigams den Vater mit einemmale zum reichen Manne machen kann. Aber auch Knaben sind willkommen als Stammhalter und Erben. Die Eltern hängen mit großer Liebe an ihren Kindern. Leider ist die heidnische Furcht in so sehr vielen Fällen größer als die Liebe, und aus nichtigen Gründen werden viele der unschuldigen Kleinen gemordet — Opfer des Aberglaubens unwissender Eltern.
Die beiderseitigen Angehörigen des jungen Paares springen ihm in der ersten Zeit noch oft hilfreich unter die Arme. Man schenkt der Frau allerlei Hausrat und Nahrungsmittel, um die Sorgen des Lebens noch eine Weile fernzuhalten. Doch nicht immer beginnt die Ehe so glücklich, wie hier geschildert. Mancher Vater borgt auf die von dem zukünftigen Bräutigam seiner Tochter zu erwartende Morgengabe hin tüchtig, und wenn der Tag der Hochzeit kommt, wandert der ganze Brautpreis in fremde Hände. Noch schlimmer liegt die Sache, wenn der Vater den ganzen oder größten Teil des Brautpreises borgt und dann seine Tochter dem Darleiher zur Ehe verspricht. Da muß das arme Ding oft gegen ihren Willen mit einem Manne die Ehe eingehen, der schon mehrere Frauen hat und seinem Alter nach gut ihr Vater sein könnte. Übrigens sieht es manche Mutter gar nicht ungern, wenn ein älterer Mann um die Hand ihrer Tochter anhält. „Kind,“ sagt sie, „schau nicht auf die jungen Burschen. Sie sind wohl schöner in deinen Augen; aber sie werden dich, wenn ihr erst einmal verheiratet seid, lange nicht so gut behandeln. Dieser Alte wird dich nicht schlagen, wie sie es sicher tun werden, sondern dich sanftmütig zurechtweisen.“
Nicht immer ist der volle oder „große Brautpreis“ zu zahlen. Handelt es sich um eine ältere Witwe oder eine geschiedene Frau in vorgerücktem Alter, so bezahlt man eine Kuh, oder wenn die Braut schon im Matronenalter steht, gar nur drei Ziegen. Manch junger Bursche, der gerne ein hübsches Mädchen heiraten würde, aber nicht die erforderlichen Kühe hat, heiratet so eine „Mutter“, die tüchtig für ihren jungen Gatten ackert und ihm in einigen Jahren soviel[S. 93] Kühe erarbeitet hat, daß er daran denken kann, sich noch eine jüngere Frau dazuzunehmen. Solch armen Burschen sagen die Alten: „Heirate nur eine ‚Mutter‘, damit du erst einmal ein Heim hast,“ oder, wie sie sagen, einen Platz, „deinen Bogen hinzulegen“.
Stirbt der Ehemann kurz nach der Verheiratung, so gibt der Vater des Mädchens in der Regel den Brautpreis zurück. Ist das Mädchen bereits ein- oder zweimal niedergekommen, war also schon ein paar Jahre mit dem Manne verheiratet, so behält der Vater gewöhnlich die Morgengabe. Die Frau wird dann entweder von einem Bruder des Verstorbenen geerbt (5. Mose 25, 5), oder ein neuer Freier zahlt seine Kühe an den Vater des ersten Mannes. Unter keinen Umständen ist es statthaft, daß jemand zwei Brautpreise für seine Tochter „ißt“, wie der Paremann sagt. Ist das Mädchen einmal verheiratet, so hat der Vater alle Rechte abgetreten. Wird später nochmals aus irgendeinem Grunde — Scheidung oder Tod des Gatten — die Morgengabe bezahlt, so sind immer andre Interessenten da, an die man sich zu halten hat.
Uns erinnert die Zahlung des Brautpreises zu sehr an den Abschluß eines Geschäftes, als daß sie uns auf den ersten Anblick sympathisch erscheinen würde. Auch aus Missionskreisen hat sich schon mancher dagegen ausgesprochen. Mir scheint es aber, daß die Sitte auch sehr viel Gutes an sich hat. Vor allem erschwert sie die Ehescheidung, wie wir noch weiter unten sehen werden. Und solange die christliche Auffassung von der Ehe noch nicht Allgemeingut geworden ist, kann man sich meiner Ansicht nach mit diesem Brauche abfinden und hat vorläufig noch keinen Grund, ihn aus den christlichen Gemeinden verbannt zu wünschen, ganz abgesehen von dem großen Widerstand, auf den ein Versuch seiner Abschaffung auch bei den Christen selbst stößt.
In der Regel hat der Mwasu mehrere Frauen. Früher hatte jede Frau ihr eigenes Haus. Aber seitdem für jede Hütte Steuer zu zahlen ist, hat mancher seine Frauen zusammen unter einem Dache, ein Zustand, der dem häuslichen Frieden wenig förderlich ist. Man sucht das auch nach Möglichkeit zu umgehen. So werden die Frauen in kleinen, schlechtgebauten Wachthütten untergebracht, wo sie nun die meiste Zeit zubringen müssen und gewöhnlich auch kochen. Zieht dann der Steuerschreiber der Regierung durchs Land, um die Hütten aufzuschreiben, so werden die Töpfe usw. in das „große Haus“ getragen, damit die Hütehütten nicht ebenfalls als Wohnhäuser angesprochen werden und man nicht auch für sie Steuer zu zahlen braucht.[S. 94] Das ist sicherlich ein in jeder Hinsicht unerfreulicher Zustand, der mit einem Schlage abgeschafft werden könnte, wenn man für jede weitere Frau einfach die 3 Rupien Jahressteuer erheben wollte, ohne Rücksicht darauf, ob sie ein besonderes Haus bewohnt oder nicht. Vielleicht würde dadurch die Vielweiberei etwas eingeschränkt; sicher aber würde das Versteckenspielen der Regierung gegenüber aufhören und auch die häuslichen Verhältnisse in vielen Dingen geregelter werden.
Will ein Mann eine zweite Frau heiraten, so bereitet er einen großen Topf Bier und trägt ihn zu seinem Vater, ihm gleichzeitig seine Bitte vorlegend. Hat der Vater noch genügend Kühe, so ist er damit einverstanden, und die Dinge nehmen dann denselben Verlauf, wie oben beschrieben.
Noch einer Sitte möchte ich Erwähnung tun: der Haussklaverei (vuzoro). Steht nämlich ein Bursche völlig mittellos da, weil er entweder gänzlich verwaist oder sein Vater arm ist, dann geht er zu einem reichen Mann, und bittet ihn, ihm zu einer Frau zu verhelfen, d. h. ihm ein Darlehen in Gestalt der Morgengabe zu geben. Das nennt der Mwasu kuzora = kaufen. D. h. durch das Darlehen „kauft“ der Reiche den Armen. Der Sklave heißt deshalb mzoro = der Gekaufte. Nun dürfen wir bei diesem Brauch nicht an Verhältnisse denken, die wir in Europa mit dem Wort Sklaverei zu verbinden gewohnt sind. In den meisten Fällen geht es dem Gekauften gar nicht übel, wenigstens nie so, wie wir bei dem Wort Sklave zu vermuten geneigt sind. Er nennt seinen Herrn Vater (vava), und dieser heißt ihn seinen Sohn. Das Hörigkeitsverhältnis kann jederzeit durch Rückzahlung der geborgten Rinder aufgelöst werden.
Ist der betreffende reiche Mann willens, den bei ihm Hilfe Suchenden zu „kaufen“, so trägt er ihm auf, mit seinem nächsten Verwandten, sei es auch einer Frau, zu ihm zu kommen, damit ein Zeuge da ist, der ihm den Sklaven „übergibt“. Diese Übergabe findet statt, und der Mzoro bringt seinem Vava als erste Liebesgabe zwei Kalabassen voll Bier mit, welche während der Verhandlung leergetrunken werden. Alle möglichen Fälle werden besprochen und die Rechtslage festgestellt. Sind diese Formalitäten erledigt, so sagt der „Vater“ seinem „Sohne“: „Nun geh und suche dir eine Frau!“ Alle Pflichten, die sonst der leibliche Vater bei der Verheiratung seines Sohnes zu erfüllen hat, übernimmt nunmehr der Herr. Die Hauptgegenleistung des Sklaven besteht im Hüten und Ackern. Im Hüten wechselt er sich mit seinem Herrn und dessen leiblichen Söhnen ab, so daß auch da von einer Sklaverei in unserm Sinne nicht die Rede sein kann. Oft[S. 95] stellt der „Vater“ einige seiner Kühe bei dem Hörigen unter, dessen Frau nun aus Butter und Milch einen schönen Verdienst hat. Auch die Tatsache, daß mancher Sklave weit von seinem Herrn weg wohnt, zeigt zur Genüge, daß zwischen Herr und Sklave hier ein mehr patriarchalisches Verhältnis besteht. Natürlich gibt es auch Sklaven, die ihrem Herrn trotzig begegnen und sich nicht allzu gefällig erweisen. Da hat dann allerdings der „Vater“ ein Mittel in der Hand, seinen „Sohn“ hart zu strafen. Er nimmt dem Ungefügigen ohne weiteres die Frau fort und bringt sie wieder zu ihren Eltern, um später bei ihrer Verheiratung mit einem andern seine Rinder wiederzuerhalten. Es kommt auch vor, daß der Herr selbst die Frau seines früheren Sklaven heiratet. In dieser unbeschränkten Gewalt über die Frau des Hörigen scheint mir das Bedenkliche an der ganzen Einrichtung zu liegen. Und noch eine weitere Sache: Die Hörigkeit vererbt sich, wenn der Vater nicht noch bei Lebzeiten die Schuld bezahlt hat. Die Söhne des Mannes stehen also alle nach dem Tode ihres Vaters im Sklavenverhältnis, bis es ihnen gelungen ist, das ursprüngliche Darlehen zurückzuzahlen. Verboten war es, einen Sklaven zu töten. Geschah es doch, so mußte das Lösegeld, etwa zehn Rinder, an die Verwandten des Mzoro gezahlt werden, und das Hörigkeitsverhältnis war ebenfalls gelöst.
Ist der Sklave nicht imstande, seine ihm geborenen Söhne zu verheiraten, und nimmt er zum zweitenmal die Hilfe seines Herrn in Anspruch, so sagen die Wapare: „Er ist ein Sklave für alle Ewigkeit.“ Sie nennen das kishong’o. Hat der Mzoro Töchter, so kann er den Kaufpreis für eine von ihnen an seinen Herrn überweisen und hat sich damit freigekauft. Sonst muß er bei jeder Verheiratung einer Tochter den Isemuntu-Ochsen an seinen Herrn bezahlen, gewissermaßen als Anerkennungsgebühr, weil ja die Töchter „von den Kühen des Herrn Geborene“ sind! Das heißt: Die Töchter hätte der Sklave nicht ohne die Frau, die Frau hätte er nicht ohne die ihm geliehenen Rinder. Auch alles, was sich der Sklave sonst erarbeitet, ist im Grunde genommen Eigentum des Herrn; deshalb fällt auch beim Tode des Sklaven all sein Gut an diesen und nicht an seine Verwandten. Es ist eben alles auf die geliehenen Kühe zurückzuführen, und ehe diese nicht bezahlt sind, steht das Parerecht auf seiten des Herrn.
Ehescheidungen sind bei unsern Wapare an der Tagesordnung. Uns berührt es dabei eigentümlich, daß es meistens junge Leute sind,[S. 96] die einander überdrüssig werden. Ist erst ein Kind da, so ist meistens ein festes Band um die beiden Ehegatten geschlungen. Dabei sprechen aber nicht nur ideelle Gründe mit, sondern auch materielle, wie wir noch sehen werden.
Die Ehe scheiden nennt der Paremann „das Haus töten“. Gründe sind unter anderm: Zauberei des einen Teils, schlechte Versorgung des Mannes durch die Frau, Diebereien der Frau, für welche der Mann aufkommen muß, Impotenz des Mannes oder Sterilität der Frau. Natürlich gibt es noch tausend andere Gründe; aber besonders diese beiden letzten kann man oft hören. Als Missionar hat man im Laufe der Zeit reichlich Gelegenheit, Einblicke in das Eheleben der Neger zu tun. Denn man ruft ihn zu gerne als Schiedsrichter an. Die intimsten Dinge werden da von beiden Seiten ohne Scheu vorgetragen. Manchmal werden auch eigentümliche Gründe angegeben. So kam eines Tages eine Frau zu mir, die durchaus von ihrem Manne getrennt werden wollte. Als ich sie fragte, ob der Mann sie etwa schlüge, meinte sie lakonisch: „Geschlagen zu werden, das ist das Los einer Parefrau; aber mein Mann ißt nicht mehr bei mir, deshalb will ich lieber nach Hause gehen.“ „Nicht essen“ ist übrigens nur eine Umschreibung für eine andere Art der Nichtbeachtung.
Ist die Frau steril und die Behandlung durch die Medizinmänner vergeblich gewesen, oder weigert sich der Gatte, das Orakel diesbezüglich zu fragen, so ist die Scheidung sicher zu erwarten. Der Schwiegervater wagt auch in solchen Fällen kaum, den Gatten einer unfruchtbaren Frau an die Bezahlung der evtl. noch ausstehenden Rinder zu mahnen. Tut er es aber doch, so sagt der Schwiegersohn, wie ich das selbst einmal hörte: „Wenn ich ihm die restlichen Rinder bezahle, muß er mir neben jede Kuh ein Kind stellen, denn von seiner Tochter bekomme ich doch keine, die bringt mir nichts ein.“ Darin tritt die häßliche Grundauffassung der Eingebornen mit Bezug auf die Ehe zutage. Sie ist ein Handel, bei welchem die Frau die Pflicht übernimmt, dem Manne den „Schaden“, den er durch die Bezahlung des Brautpreises gehabt hat, durch Kinder zu ersetzen. Ist diese Bedingung erfüllt, dann kann die Ehe ganz glücklich sein.
Natürlich versuchen unsre Wapare auch allerlei, die Eheleute zusammenzuhalten und eine Scheidung zu erschweren. Klagt eine Partei bei den Ältesten, dann bestellt man einen Mann, der gewissermaßen die Aufsicht über das Ehepaar führt und den schuldigen Teil feststellen soll. Sobald nun einer von den beiden sich ungerecht behandelt[S. 97] fühlt, ruft er diesen Schiedsrichter als Zeugen an, der dann sein Bestes tut, den andern zu ermahnen und die Eheleute zu versöhnen. Will aber der häusliche Friede nicht wiederkehren, wenn das Haus ein „Haus des Lärmens“ geworden ist, dann geht der Mann zum Schwiegervater, um seine Frau „zurückzubringen“. Sie haben da ein etwas drastisches Sprichwort, um auszudrücken, daß man eine Frau, wenn man ihrer überdrüssig ist, nirgends anders hinbringen kann als in ihr elterliches Haus. Sie sagen: „Der Kehrichthaufen (auf den man das Faulgewordene werfen muß) für einen Menschen ist das Elternhaus.“
Der Schwiegervater ruft in solchem Falle einige seiner Nachbarn herbei, mit deren Beistand er den Streit noch einmal zu schlichten hofft. Beide Gatten bringen ihr Anliegen vor und bitten, die Ehe aufzulösen. Doch die Männer wollen von einer Scheidung nichts wissen und suchen zu vermitteln. Sind schon verschiedene solcher Beratungen vorausgegangen, und ist Aussicht auf Einigung nicht mehr vorhanden, dann willigt der Vater ein, seine Tochter wieder in sein Haus zu nehmen. Ist der Mann als der schuldige Teil festgestellt, oder verlangt er die Scheidung ohne guten Grund, so erhält er die Morgengabe nicht wieder zurück, sondern muß warten, bis die Frau von einem andern Manne geheiratet wird, der dann die Kühe nicht an den Schwiegervater sondern an den ersten Mann zu zahlen hat. Ist die Frau dagegen überführt, so müssen dem Ehemann sofort sämtliche Kühe einschließlich der inzwischen geworfenen Kälber zurückgegeben werden. Diese Tatsache allein genügt schon, dem Vater den Gedanken an eine Scheidung seiner Tochter gründlich zu verleiden, und die Tochter fürchtet sich ihrerseits vor dem Zorn der Ihrigen, wenn sie ihnen auf diese Weise Schwierigkeiten macht. Wiederum hat für den Gatten der Gedanke, nach einer unbegründeten Scheidung vielleicht noch lange auf die Rückzahlung seines Brautpreises warten zu müssen, auch wenig Tröstliches.
Ist die Frau ihres Unrechts überführt, und sind beide willig, die eheliche Gemeinschaft wieder aufzunehmen, so nimmt sie wohl eine Kette von ihrem Hals und übergibt sie den Männern mit den Worten: „Ich habe gefehlt, hier das Zeichen meiner Buße.“ Ist sie eine Rückfällige, dann muß sie ihrem Manne Bier brauen. Hat der Mann sich verfehlt, so übergibt er wohl den Männern ein Messer od. dgl. mit einigen bereuenden Worten.
Schwieriger liegen die Verhältnisse, wenn es sich um schon lange verheiratete Eheleute handelt. Will der Mann die Ehe ohne[S. 98] guten Grund lösen, so erhält er die Kühe, wie wir schon sahen, erst von dem neuen Freier wieder. Dieser aber wird für die nunmehr alte und verblühte Frau kaum den ganzen Brautpreis zahlen, und der erste Mann hat den Schaden. Ist die Frau der schuldige Teil, so kann der Mann in den meisten Fällen wenigstens auf die Rückzahlung des ursprünglichen Brautpreises dringen. Ist die Frau oft niedergekommen, so hütet er sich wohl, auch die inzwischen geworfenen Kälber zu verlangen, da dann dem Schwiegervater für jeden Sohn, dem seine Tochter das Leben schenkte, ein Ochse und für jede Tochter eine Färse zusteht. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob die Kinder noch am Leben oder längst gestorben sind.
— Schon bei der Besprechung des ersten Frauenfestes erwähnte ich die Kirya, die armen Mädchen, die noch vor Beendigung des Festes schwanger werden. Das Mädchen wird für tot erklärt, das Totenopfer dargebracht und ein Scheingrab insofern gegraben, als die Hauswand an einer Seite aufgebrochen und das Mädchen da hinausgetrieben wird. Hier in Pare wurden sie gewöhnlich in die Steppe gejagt. Alles wird dem Mädchen gegeben, was die Eltern sich an Trommeln, Perlschnüren und anderm Festzubehör geborgt hatten, und der Verführer muß es bezahlen. Hinter dem Mädchen her wird bis an die Grenze der betreffenden Landschaft der Mageninhalt des Sühneschafes auf den Weg gesprengt, um auch das ganze Land zu entsühnen. Den Verführer kommt die Torheit übrigens recht teuer zu stehen. Außer dem Sühneschaf muß er den Verwandten und Angehörigen des fortgejagten Kindes einen oder gar mehrere Ochsen bzw. Ziegen geben, „um ihre Tränen zu trocknen“ (ža kuhanguža mashoži.) Dann wird er zur Zahlung des bei vorsätzlichem Totschlag üblichen Lösegeldes in Gestalt von zehn Kühen verurteilt (irivi). Endlich muß er noch eine Ziege schlachten, und der Häuptling läßt unter Beobachtung der bei der Blutsfreundschaft gebräuchlichen Formen den Verführer sowohl wie den Vertreter der andern Partei ihre Zustimmung zu dem Rechtsbeschluß in beschwörender Weise aussprechen. Die beiden sitzen bei dieser Zeremonie auf einem Stück Kleiderstoff, welches der Häuptling auf die Erde legt. Hiernach heißt auch der Vorgang: kugwisha shuke = Niederwerfen des Kleides. Auch hier soll der Eid ein Ende alles Haders — in diesem Falle der Blutrache — sein, weshalb sich beide Parteien eidlich versichern, daß diese Angelegenheit für alle Zeiten erledigt sei. Hat der Verurteilte zuletzt noch an den Häuptling die Abgabe in Gestalt einer Färse bezahlt, „um das Kleid wieder aufzuheben“, welches jener für[S. 99] die Blutsbeschwörung auf die Erde gebreitet hatte, so ist die Verhandlung beendigt. An der Bezahlung dieses Lösegeldes beteiligen sich natürlich alle Verwandten des Verurteilten, da es für ihn allein in den meisten Fällen unmöglich wäre, soviel Kühe zusammenzubringen.
Wenn nun solch ein armes Mädchen von irgendeinem Mann in der Steppe geheiratet wurde, so geschah das ohne die geringsten Formalitäten, da sie ja eigentlich eine Tote war. Man kann verstehen, daß mancher Bursche, der seine Heiratspläne infolge seiner Armut schon aufgegeben hatte, bei dem Gerücht: „Morgen wird oben im Gebirge eine Kirya verjagt“, neuen Mut faßte und ihr schon entgegenging, um ihr Herz und Hand anzubieten. Wir hatten seinerzeit auf der Missionsstation zwei solche junge Frauen wohnen, die, von ihren Angehörigen vertrieben, auf der Mission eine Zufluchtsstätte gesucht und gefunden hatten. Bald fanden sich viele Freier, heidnische und christliche, ein, die alle begehrten, solch „billige“ Frau heimzuführen.
Stirbt die Frau kurze Zeit nach der Hochzeit, so werden dem Witwer alle Kühe zurückerstattet. Haben beide aber einige Jahre miteinander gelebt, ohne daß der Ehe Kinder entsprossen wären, dann gibt der Schwiegervater etwa die Hälfte der Kühe wieder heraus. Manchmal stellt auch das Orakel fest, daß der Tod durch Verzauberung vonseiten irgendeines Blutsverwandten des Mädchens verursacht worden ist. Dann verlangt wohl der Gatte die Rückgabe seiner sämtlichen Kühe.
Ehebruchsprozesse nehmen einen breiten Raum in den Gerichtsverhandlungen der Wapare ein. Die Strafen weichen in den einzelnen Distrikten stark voneinander ab. In der Landschaft Vudee soll die Sache sehr leicht genommen werden. In Pare legt sich der Zorn des Ehemannes bereits nach Erhalt eines Topfes Bier. Andre lassen sich Kühe oder Ziegen zahlen. Im zwölften Kapitel werden wir noch einen Bundestrank kennenlernen, den die Frau mit ihrem Manne trinkt zum Zeichen, daß sie ihm Treue halten und er ihrem Treuschwur glauben will. Dieser Trank wird zum Gottesurteil, wenn ihn die im Verdacht der Untreue stehende Frau auf Verlangen ihres Mannes trinken muß, um ihre Schuld oder Unschuld zu beweisen. Einer ähnlichen Rechtssitte, wenn auch auf anderer Grundlage, begegnen wir bei den alten Israeliten. Bei ihnen mußte die im gleichen Verdacht stehende Frau verfluchtes Wasser trinken, welches der Priester unter einem genau von Jehova vorgeschriebenen Zeremoniell der Frau gab. Dieses Eifergesetz ist uns in 4. Mose 5, 11–31 erhalten.
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Doch nun wollen wir uns nach all diesen unangenehmen Verhandlungen wieder in die Hütte des jung vermählten Paares begeben und einmal zuschauen, was die junge Frau ihrem Gatten kocht. Der nächste Abschnitt soll uns einen wenn auch nur flüchtigen
tun lassen.
Das beliebteste Gericht ist wohl der Maisbrei, vugai oder vusoro genannt. Als Zuspeise gibt es Fleisch und eine manchmal sehr schmackhaft zubereitete Tunke oder eine einfache Tomaten- oder Gemüsesoße. Zuerst wird der trockene Mais gestampft, um ihn von der harten äußeren Schale zu befreien. Die so geschälten Körner werden zwei oder mehrere Tage in Wasser eingeweicht und dann im Mörser zu feinem Mehl verarbeitet. Das erste Stampfen heißt kusankana = schälen, das zweite kuhua = mahlen. Inzwischen hat die Hausfrau Wasser aufs Feuer gesetzt und in einem andern Gefäß einen Teil des Mehles mit warmem oder kaltem Wasser angerührt, der in das kochende Wasser geschüttet wird. In diesem Stadium heißt die Speise muswa = Schleimsuppe und wird besonders von Kranken viel genossen. Dann tut die Köchin etwas von diesem Muswa in eine Schüssel, und gibt den Rest des Mehles in den Topf, der auf dem Feuer steht. Wird der Brei nun zu steif, so gießt sie von der Reservemuswa hinzu. Der große Rührlöffel heißt mtinko. Mit diesem wird auch der Brei aus dem Topf genommen und in Strohkörbchen oder Strohtellern aufgetragen. Die Oberfläche wird vorher mit einem Maiskolben schön geglättet.
Die Gäste hocken auf der Erde um den verlockend dampfenden Brei, neben dem die Tunke und ein Gefäß mit Wasser steht, in welchem sich jeder die rechte Hand wäscht. Es ist verpönt, die Schale zum Reinigen beider Hände zu benützen. Der Betreffende wird dann wohl gefragt: „Hast du dich heute noch nicht gewaschen?“ Mit Daumen und Zeigefinger wird nun kunstvoll ein Kloß „abgeschnitten“, wie der Fachausdruck lautet, dieser in der Hand „geformt“ und in der Mitte eine Vertiefung (kirindi) eingedrückt, die zur Aufnahme der Tunke bestimmt ist, in welche der Kloß jetzt getaucht wird. Dann ist er zur weiteren Verwendung fertig.
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Mit Entsetzen hat sich schon mancher auf Anstand beim Essen haltende Schwarze von einem darüber anders denkenden Volksgenossen oder — Europäer abgewandt, nachdem er seine Tischgenossen eine Weile beobachtet hatte. Wir dürfen uns nämlich nicht denken, daß man bei den Negern nicht auf Sitte und Takt hielte. Weit gefehlt! sie haben ein außerordentlich feines Empfinden für das, was sich schickt. Nur daß sie oft andre Formen gewählt haben, ihre Empfindungen zum Ausdruck zu bringen bzw. ihren Anstand zu beweisen. Wenn z. B. der Gast nach einer wenn auch bescheidenen Mahlzeit recht kräftig und wiederholt aufstößt, so bedeutet das in unsre Sprache übersetzt etwa: „Vielen Dank für die erwiesene Gastfreundschaft! Sie sehen, ich bin völlig gesättigt, es hat mir sehr gut gemundet.“ In einer Negerhütte mag auch diese Art des Dankes die natürlichste sein; in europäischer Umgebung aber ist es etwas außerordentlich Befremdliches. Deshalb wird man das Entsetzen meiner Frau verstehen, als ihr der Regierungshäuptling auch bei uns in der Wohnung nach einem kleinen Imbiß, den er eingenommen, auf obige Weise kräftig und wiederholt „mitteilte“, daß er wohl gespeist habe.
An zweiter Stelle erscheint auf dem Küchenzettel der Parehausfrau ein Maisgericht, mpure.
Der harte Mais wird wiederum durch Stampfen im Holzmörser von den Schalen befreit. Dieser so gewonnene „reine Mais“ wird mit Wasser aufgesetzt und einige Stunden auf großem Feuer gekocht. Man gibt Gemüse, wilde Spinatsorten, Kürbis, Tomaten oder ähnliches hinzu und läßt alles auf dem Feuer gar werden. Die Speise wird gewöhnlich in einer Tonschale (kiviga)[S. 102] serviert, oft auch noch saure Milch hineingegossen. Dieses Mpure ist sehr schmackhaft.
Ein andres Essen aus grünem Mais wird auf folgende Weise zubereitet:
Ganz junger Mais wird vom Kolben gelöst und im Mörser gestampft. Die Masse wird nun in einen Topf mit Wasser getan und mit den Händen im Topf immer wieder ausgepreßt. Die Rückstände werden wieder gestampft und ausgepreßt. Beim drittenmal etwa schwimmen die Hülsen oben auf dem Wasser, werden noch einmal ausgepreßt und dann fortgeworfen. Die eßbaren festen Bestandteile (shengwa) werden im Mörser wieder gestampft, bis sie ganz fein geworden oder, wie die Parefrau sagt, „gestorben“ sind. Dann wird die Brühe unter Umrühren auf großem Feuer gekocht, bis sie sämig wird. Dieser Muswa wird in Tonschalen auf den Tisch gebracht, wollte sagen: auf die Erde gesetzt. Dabei fällt mir gerade ein, wie einer unsrer Zöglinge einmal witzig bemerkte: „Die Europäer essen auf Tischen, wir essen aber auf dem Erdball!“
Andre Speisen sind Bohnen und grüne Bananen, zusammengekocht, verschiedene Bananenarten mit der Schale gekocht und dann mit etwas Salz genossen, grüner Kolbenmais in den Hüllblättern gekocht, grüner gerösteter Mais, gekochte oder geröstete Süßkartoffeln.
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Wenn der Paremann ein Stück Vieh schlachtet, so läßt er möglichst wenig abfallen. Das Blut wird gewöhnlich gleich auf dem Schlachtplatz verzehrt. Ich war selbst Zeuge, wie es in Töpfe aufgefangen und mit dem Mageninhalt des Schlachtochsen vermengt wurde! Die Masse wird beim Kochen steif und wird mit Salz genossen. Überhaupt sind die Pareleute beim Reinigen des Magens und der Gedärme nie sehr sorgfältig. Sie scheinen den Mageninhalt bei diesen Pflanzenfressern als Gemüse anzusehen. Wir brauchen uns aber gar nicht zu sehr über diese Barbarei zu entsetzen; denn der Neger seinerseits hört mit Ekel von eßbaren Vogelnestern, Austern, Muscheln, Schnecken und Froschschenkeln.
Kinder essen die kleinen Heupferde, indem sie sie auf Holzstäbchen lebendig aufspießen und dann über dem Feuer rösten, sowie auch Ratten. Bei den Waschambaa ist die Feldratte sogar ein beliebtes Gericht. Die große Wanderheuschrecke wird allgemein als Leckerbissen geschätzt. Sie werden in einer Tonscherbe geröstet und mit Salz genossen. Auch die Termiten werden zur Zeit ihres Hochzeitsfluges in Massen gefangen und geröstet oder gar roh gegessen.
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Bienenstöcke kann man allenthalben in den Bäumen sehen. Da es keine Absperrungsvorrichtungen im Innern der Stöcke gibt, wodurch die Tätigkeit der Königin nur auf einen Teil des Stockes beschränkt würde, befinden sich sehr viele Larven in den Waben und weniger Honig. Aber der Paremann weiß sich zu helfen, indem er die kleinen Bienenlarven kurzerhand mit aufißt. Honig wird auch als Zusatz zu Zuckerrohrbier geschätzt.
Bier bereiten die Wapare vor allem von Zuckerrohr. Die geschälten Zuckerrohre werden auf Steinen zerrieben, diese Masse in das Wasser, in welchem bereits die Schalen gekocht worden sind, ausgepreßt. Zur Beschleunigung der Gärung werden Früchte des Leberwurstbaumes der Mischung zugefügt. Am andern Tag wird das bereits gegorene Bier in Kürbisflaschen gefüllt, und mittels dünner Rohrstäbchen, die zum Aufsaugen dienen, gelangt das leichte Bier in die allezeit durstigen Kehlen unsrer Wapare. Die Arbeit der Frauen ist das Zerreiben der Zuckerrohre, die Männer pressen die Masse aus. Die Lieder, die regelmäßig bei solchen Gelegenheiten gesungen werden, sind äußerst schamlos, besonders wenn das Bier für die Fruchtbarkeitsfeste bereitet wird.
Diese Aufzählung der Hauptspeisen, die einem Paremann nach günstiger Ernte zur Verfügung stehen, mag genügen, um zu zeigen, daß der Speisezettel des Schwarzen gar nicht so einförmig ist, wie man wohl annehmen möchte.
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Zur liebsten Beschäftigung des Negers und auch unsrer Pareleute gehört unstreitig das Prozessieren. Schon in früher Jugend sitzen sie auf der Baraza des Häuptlings und folgen mit Interesse den Worten der Alten. Da kann es uns nicht weiter wundern, daß schon junge Burschen eine erstaunliche Kenntnis der Rechtsgepflogenheiten ihres Stammes und der stattgefundenen Verhandlungen haben. Müssen sie doch bei jedem Prozeß des Vaters zugegen sein, um evtl. später nach dessen Tode unbillige oder bereits gezahlte Schuldforderungen abweisen zu können. Denn wenn unser Paremann einen Prozeß bei einem Häuptling oder Regierungsbeamten verloren hat, so gibt er noch lange nicht die Hoffnung auf. Sobald ein neuer Häuptling eingesetzt ist oder der Beamte seinen Europa-Urlaub angetreten hat, versucht er bei dem andern sein Heil wieder. Daher die Redensart: „Unsre Kinder werden diesen Rechtshandel nochmals ausfechten.“ Denn jedesmal ist der Mwasu überzeugt, daß der Gegner nur mit Hilfe von Bestechung des eingebornen Häuptlings seine Verurteilung erlangt hat. Er wartet also stets den günstigen Augenblick ab, um die Sache wieder aufzunehmen. So kann man immer wieder Shauris (Verhandlungen) hören, die bis auf den Urgroßvater oder noch weiter zurückgehen. Bei solchen Verhandlungen bleibt dann oft als einziger Ausweg das alte Gottesurteil übrig, dem sich die Parteien auch gerne unterwerfen.
Besprechen wir zuerst
so verweise ich betr. Ehe, Scheidung, Sklaverei und Festgebräuchen auf die vorhergehenden Kapitel. Der Ehemann und Hausvater ist das Haupt der Familie, dessen Anordnungen die andern Familienglieder[S. 106] einschließlich der Frau Folge zu leisten haben. Er bestimmt den Wohnort, evtl. in der Fremde, wohin ihn Frau und Kinder begleiten müssen. Er kauft und verkauft nach eigenem Ermessen Vieh und hat für dessen Unterbringung und Haltung zu sorgen. Er ist verpflichtet, für Kleidung und Unterhalt seiner Familie aufzukommen und in Hungersnöten etwa durch Verkauf von Vieh Speise zu beschaffen. Die Ackerarbeit nimmt ihm zum großen Teil die Frau ab; er muß natürlich auch helfen und vor allen Dingen die Felder wässern. Das ist ausschließlich Männerarbeit. Ist er außerdem das Haupt der Sippe, also der Älteste seiner Brüder, hat er das Recht, in dringenden Fällen selbständig über das Erbe zu verfügen, wenn auch erwartet wird, daß er nachher seinen jüngeren Geschwistern Mitteilung davon macht. Der Familienvater hat darüber zu wachen, daß seine Kinder rechtzeitig die heidnischen Stammesfeste mitmachen. Falls ihm ein Freier seiner Tochter nicht gefällt, kann er die Annahme der Morgengabe verweigern. Er hat das Recht, seine Tochter zu „verkaufen“, d. h. auf die zu erwartende Morgengabe hin zu borgen, indem er dem Gläubiger die Tochter „zeigt“ und ihm so deren Morgengabe als Pfand übergibt. Er verkauft mit oder ohne Zustimmung seiner Frau deren Äcker. Allerdings behält die Frau über das auf diese Weise erworbene Vieh immerhin ein gewisses Mitbestimmungsrecht. Der Mann hat seiner Frau über seine intimen Freundschaften außerhalb der Ehe keinerlei Rechenschaft abzulegen; dagegen sucht er möglichst ihre Einwilligung zu erlangen, bevor er eine zweite Frau nimmt. Für ihre schwere Stunde hat er die üblichen Speisen zu beschaffen. In Krankheitsfällen gehört es zu seinen Obliegenheiten, zum Orakel zu gehen und die Opfer heischenden Gottheiten zu befriedigen.
Da die Ehe nach Ansicht der Eingeborenen ein Kauf ist, durch den die Frau in den Besitz des Mannes übergeht, so betrachtet man die ganze Arbeit der Frau sowie auch die Kinder gewissermaßen als Zinsen des Kapitals, welches der Mann dem Schwiegervater in Gestalt der Morgengabe ausgezahlt hat. Nur die für die Defloration der Tochter gezahlten zwei Ziegen mit ihrem Nachwuchs sind unbestrittenes Eigentum der Frau. Alles andere, was sie erarbeitet, gehört dem Manne, denn er hat auch „ihre Hände gekauft“ (akombola mikono). Deshalb sagt der Schwiegervater zum Bräutigam: „Hände und Augen (Werkzeuge der Arbeit) und Ohren (deine Anordnungen anzuhören) habe ich dir übergeben, nur den Schädel zerschlage nicht!“ d. h. du hast keine Gewalt über ihr Leben.
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Müssen die Kinder den Anweisungen des Vaters Folge leisten, so haben die Söhne auch ihrerseits das Recht, von ihm die Morgengabe für ihre Frauen zu fordern. Im Falle der Weigerung können sie den Vater verklagen, wie das oft vorkommt. Ordentliche Jungen sorgen allerdings dafür, daß sie einige selbstverdiente Ziegen beisteuern können. Sind die Söhne, wie das heutzutage nicht selten ist, alle bei einem Europäer in Stellung und so nicht in der Lage, sich mit dem Vater im Viehhüten abzuwechseln, so unterstützen sie ihn mit Kleidern und Geld und zahlen auch wohl die Regierungssteuer für ihn.
Will jemand vermeiden, daß nach seinem Tode Schwierigkeiten wegen des Erbes entstehen, so bespricht er sich mit seinem Bruder in der Weise, daß sie sich gegenseitig für den Fall ihres Ablebens als Universalerben einsetzen. Um diesen Beschluß den andern und vor allem den Kindern mitzuteilen, wird ein kleines Fest veranstaltet und alle Angehörigen werden eingeladen. Der Älteste setzt den Anwesenden auseinander, worum es sich handelt. Er sagt dann seinem jüngeren Bruder: „Sterbe ich, so bist du der Erbe meines ganzen Gehöftes. Sorge für die Kinder. Helft euch gegenseitig. Gebrauche das Erbe nicht für dich allein, sondern gib jedem seinen Anteil, wenn du z. B. einen Ochsen schlachtest. Sollte eines meiner Kinder einen Teil des Erbes an sich reißen, laß ihn nur machen, er wird keinen Segen haben, denn ich werde ihn schon von der Unterwelt aus beobachten. Ihr Kinder, wenn ich tot bin, ist dieser euer Vater, habt ihr es alle verstanden?“ Dann nimmt er etwas Bier und opfert seinen Ahnen mit der Bitte, sein Testament zu bestätigen. Solches Tun nennt man kuchuma nduu = die Verwandtschaft zusammennähen.
Stirbt nun einer der Brüder, so erbt der andre sämtliches Vieh und auch die Frauen. Will eine Frau in ihr Elternhaus zurückkehren, hat sie die Berechtigung dazu. Der für sie im Falle ihrer Wiederverheiratung zu zahlende Brautpreis fällt an den Erben. Der Onkel hat mit Übernahme des Besitzes sämtliche Rechte und Pflichten eines Vaters seinen Neffen gegenüber auf sich genommen. In erster Linie muß er ihnen also zu Frauen verhelfen und ihnen auch sonst den Vater ersetzen. Das ist die alte Form der Erbfolge, die jetzt meist nur dann beobachtet wird, wenn die leiblichen Kinder des Verstorbenen noch unmündig sind. Der Erbe übernimmt gleichzeitig die Pflicht, ausstehende Schulden zu begleichen. Aus diesem Grunde[S. 108] weigert sich der Bruder oft, das Erbe anzutreten, wenn er weiß, daß zahlreiche Gläubiger vorhanden sind, deren Ansprüche aus dem hinterlassenen Vermögen nicht befriedigt werden können. Das war allerdings in früheren Zeiten kein ganz stichhaltiger Grund, sondern man mußte sich erst durch eine besondere Zeremonie von der Pflicht der Erbesübernahme befreien. Sah man nämlich, daß der Bruder über seine Verhältnisse lebte, so brachte man eine Ziege zum Häuptling, schlachtete sie dort und verteilte das Fleisch an alle Anwesenden. Auf diese Weise machte man bekannt, daß man nach dem Tode des leichtlebigen Bruders dessen Gläubigern gegenüber keinerlei Verpflichtungen übernehme. Das nennt man kukugera ibwe = sich mit einem Stein werfen, d. h. für tot erklären. Auch Kinder „wirft man mit einem Stein“, wenn man öffentlich erklärt, daß man für ihre Schulden oder strafbaren Handlungen nicht haften wolle. Im Falle der Weigerung des eigentlichen Erben halten sich die Gläubiger an die vorhandene Vermögensmasse. Leute, die später noch irgendwelche Ansprüche geltend machen, werden mit dem zu erwartenden Brautpreis für die Witwe vertröstet.
Es kommt auch vor, daß der Vater zu seinen Söhnen sagt: „Wenn ich tot bin, soll euer Onkel nur die Frauen erben, das Gut aber sollt ihr selbst verwalten. Sagt ihm als meinen Willen: Uyoe mbee ugu, usirerehe mbee ishi!“ = Sieh nach der Wohnung, aber nicht nach dem Stall, d. h. nimm die Frauen aber nicht das Vieh! Denn wenn auch vorher dargetan wurde, daß der Bruder als Universalerbe gelten kann, so ist doch dazu die Einwilligung der Kinder als der eigentlichen Erben erforderlich. In obigem Falle nimmt der Onkel nur die Witwen zu sich. Das Familiengut fällt sämtlich an den ältesten Sohn, der es für seine Brüder verwaltet. Entstehen Streitigkeiten, oder erkennen die andern in ihm einen schlechten Verwalter, so können sie darauf dringen, das Erbe gleichmäßig zu teilen; aber in den Augen der Wapare ist das keine schöne Sitte. Hat der Onkel nur die Witwen übernommen, so ist er dadurch nicht verpflichtet, irgendwelche Schulden zu zahlen. Wollen die Kinder ihn aber im Hinblick auf die so mühelos erworbenen Frauen dazu drängen, so sagen die Nachbarn ihnen: Muvusha kisago, fwiri ženyu težikaliwe? = Wollt ihr die Vogelscheuche umwerfen, damit eure Bohnen gefressen werden? Denn der Alte weiß um die Schulden eures Vaters besser Bescheid als ihr, und ihn fürchten die Gläubiger deshalb. Wenn ihr euch mit ihm überwerft, dann könnt ihr auf seinen Rat nicht mehr rechnen, und ihr werdet von den Gläubigern oft betrogen werden.
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Die Sippe der Vabwambo und Vamjema erben ihre jüngeren Stiefmütter selbst. Die Töchter sind im allgemeinen nicht erbberechtigt. Hat der Verstorbene dagegen nur eine Tochter hinterlassen und ist sonst aus der Verwandtschaft kein männlicher Erbe vorhanden, so besorgt die Schwester des Toten alles Nötige zur Reinigungsfeier und verwaltet fortan den hinterlassenen Besitz gemeinsam mit der Tochter. Nur die Vollbrüder sind berechtigt, die Morgengabe ihrer Schwester an sich zu nehmen, zu „essen“, wie die Wapare sagen. Sind keine Vollbrüder da, so übernimmt der älteste Stiefsohn als Repräsentant der Familie die Morgengabe.
Recht an Grund und Boden, Weide, Wald und Wasser.
Aller Grund und Boden gehört Gott, bzw. seinem Vertreter auf Erden, dem Häuptling, dem das Recht zusteht, Äcker an die Leute seiner Landschaft zu verteilen. Läßt sich ein Fremder bei ihm nieder, so gibt ihm der Häuptling einen Acker (mgunda), der mit Bananen bestanden ist, ein abgeerntetes Feld (mbua) und etwas brachliegendes Buschland (kisaka). Ist ihm das nicht genug, so verkauft er ihm noch mehr gegen eine oder mehrere Ziegen. Verläßt er das Land wieder, so fallen die Äcker sämtlich an den Häuptling zurück, auch das gekaufte Land; das letztere aber mit dem Unterschiede, daß der Mann nach einer etwaigen Rückkehr vom Häuptling dessen Herausgabe verlangen kann. Alles was er an Feldfrüchten nicht abernten kann, verbleibt dem Häuptling, der es meistens Leuten, die sich eben angesiedelt haben, übergibt. Davon ausgenommen ist eine Knollenart, die Jamswurzel (vile), die Parenuß (lukungu) und der Mais (mahemba), weil das Saatgut hierzu, wenigstens wenn es sich um größere Mengen handelt, gekauft wird. Diese Bestände darf der Wegziehende vorher veräußern. Zuckerrohr, Bananenhaine, Kartoffeln dürfen nicht verkauft werden, da ihre Pflänzlinge bzw. Ableger auf jedem Felde kostenlos entnommen werden können. Wenn allerdings jemand längere Zeit vorher bestimmt weiß, daß er verziehen wird, sucht er Zuckerrohr- und Kartoffelfelder möglichst schnell unter der Hand zu verkaufen. Sämtliche Felder bleiben im Besitz derselben Familie, solange sie in der Landschaft wohnt. Verkauft kann immer nur die Feldfrucht werden, der Acker selbst ist unverkäuflich. Ersteht also jemand ein Kartoffelfeld, so hat er nie und nimmer das Recht, nach Ausgraben der Früchte auch das Land zu bearbeiten. Es gehört nach wie vor dem ursprünglichen Besitzer. Bei diesen[S. 110] äußerst gesunden Verhältnissen ist Bodenwucher völlig ausgeschlossen, denn der Boden gehört Gott: msanga ni wakwe Murungu! Armut in unserm Sinne gibt es deshalb bei den Schwarzen überhaupt nicht, nur an der Küste, wo der Boden in großen Komplexen schon lange nicht mehr Gott gehört! Da zieht auch die Armut ein, wie wir sie von den Kulturländern her kennen. Das Wort, das unsre Schwarzen für Arme haben, lautet mkiva und bedeutet bezeichnenderweise ein Waisenkind oder höchstens jemand, der kein Vieh hat, — also nicht heiraten kann.
Vermehrt sich eine Familie stark, so daß die Felder nicht mehr ausreichen, geht der Vater mit einer Kürbisflasche voll Bier zum Häuptling, um für einen oder zwei Söhne neue Felder zu erbitten. Auch ist es Brauch, bei einem Manne, der über viele Felder verfügt, einen davon zum Ackern zu erbitten. Doch steht es dem ersten Besitzer auch nach Jahren frei, sein Feld zurückzufordern.
Dem Paremann gehört auf seinen eignen Äckern nur das von ihm selbst Angepflanzte. Die mancherlei wilden Kräuter, die als Zukost zu den Speisen genossen werden, sind Gemeingut. Jedermann ist berechtigt, sie auf fremdem Land zu suchen. Bäume, Schilf, Gras, wildes Obst u. a. gehört allen Bewohnern der Landschaft gemeinsam, ohne daß der einzelne, auf dessen Grund und Boden die Dinge wachsen, besonders berücksichtigt wird. Pflänzlinge von Bananen und Ableger von Zuckerrohr und Kartoffeln können auf jedem Felde, natürlich unter Schonung der Bestände, entnommen werden, ohne vorherige Benachrichtigung des Eigentümers. Der Hungrige darf sowohl Zuckerrohr als auch reife Bananen irgendwo essen, nur muß er seinen Hunger an Ort und Stelle stillen. Nimmt er etwas mit nach Hause, so ist das Diebstahl. Weide ist ebenfalls Gemeingut, allerdings nicht überall uneingeschränkt. Im südlichen Teil des Paregebirges z. B. sind überall besondere Zeichen (visimbiko) als Grenzmerkmale für die Hirten der verschiedenen Landschaften aufgestellt. Jedermann ist berechtigt, irgendwo Bäume zu fällen, sofern die Fruchtbestände des andern durch den niederfallenden Baum nicht beschädigt werden können. Ausgenommen sind natürlich heilige Bäume und solche, an welchen Nußpflanzen hochgerankt sind.
Besonders interessant ist das Wasserrecht. Eine große Anzahl kunstvoll angelegter Kanäle durchzieht das Land, durch die das kostbare Naß auf die Felder geleitet wird. In der Landschaft Kihurio fällt so wenig Regen, daß alle Kulturen bewässert werden müssen. Dort findet man wohl das größte Kanalnetz und das am besten ausgebaute[S. 111] Wasserrecht. Das Reinigen der Kanäle von Gras ist Sache der ganzen Bevölkerung. Der Wasserhauptmann macht bekannt, wann und wo mit den Reinigungsarbeiten begonnen werden soll. Wer ohne Entschuldigung zu Hause geblieben ist, dem nimmt man bei der Rückkehr nötige Gebrauchsgegenstände fort (kuhambua). Diese Pfänder können mit einer Kalabasse voll Bier oder hier mit 25 Hellern, dem Tagelohn für Arbeiter, eingelöst werden. Der Häuptling bestimmt einige Männer, die an einem andern Tage zusammen mit ihm das Wasser im Fluß dämmen sollen, um es in den Kanal zu leiten. Das ist eine wichtige Sache, denn es muß dabei den Ahnen geopfert, und alle leichtsinnig übertretenen „Kanalvorschriften“ müssen durch Besprengen mit dem Mageninhalt des Opfertieres gesühnt werden. Solche Kanalvorschriften sind u. a.: „Ein rußiger oder heißer Topf darf nicht zum Wasserschöpfen benutzt werden.“ „Frauen, die ihre Menses haben, Männer, deren Ohrläppchen gerissen ist, dürfen nicht bis an die Mündung des Kanals kommen, sondern werden bei einem bestimmten Grenzmal zurückgelassen.“ Durch Nichtbeachtung dieser Vorschriften reißt der Damm, und der Kanal wird trocken. Diese Auffassung wurzelt in der Vorstellung, daß eine Handlung leicht automatisch eine zweite auslöst, die sogar völlig andrer Natur sein kann, wenn sie nur sprachlich durch das gleiche Wort ausgedrückt wird oder sonst Ähnlichkeiten aufweist (s. S. 185, Verhalten des Häuptlings beim Pflanzen). Solche Gedankenverbindungen sind es auch, die uns Europäern zuerst oft völlig ratlos vor vielen ihrer Sprichwörter oder Rätsel stehen lassen, weil uns das Verständnis für das, worauf es ankommt, durchaus fehlt, während bei ihnen jedes Kind den Zusammenhang sofort sieht. Wie das Ohrläppchen also „gerissen“ ist, wird auch der Damm „reißen“. Kommt das Wasser im Kanal mit dem heißen Kochtopf in Berührung, in welchem schon soviel Wasser „versiegt“ (verkocht) ist, dann wird es im Kanal auch versiegen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß dieselbe Gedankenverbindung vorliegt, wenn nach Sonnenuntergang die Leute nur von Kindern geführt in manche Hirtendörfer gehen dürfen (s. S. 196). Das einfache „Hineingehen“ würde die magische Ursache für den Löwen sein, auch „hineinzugehen“. Aber das „Geführt werden“ kann er nicht nachmachen. Alles, was nach Sonnenuntergang ins Dorf hereinkommt, soll einen so ungefährlichen Charakter tragen, daß ein Kind die Führung übernehmen kann.
Wo der Kanal in den Fluß einmündet, wird ein Schaf und ein schwarzes Huhn geschlachtet. Der Wasserhauptmann betet: „Ihr[S. 112] Geister hier am Wasser, nehmt euer Opfer! Für den Fall, daß irgend jemand eure Regeln mißachtet hat, haben wir den Kanal entsühnt; nun helft, daß das Wasser unterwegs weder versickert noch durchbricht!“ So ist der Brauch in Kihurio. Jede Landschaft hat außerdem noch andre Kanalregeln. Nie darf ein Weib den Damm aufführen, um den Kanal zu füllen. Im übrigen fängt man an, sich weniger an den alten Sitten zu stören, sollen doch besonders im Gebirge allerlei schwierige Vorschriften den Kanalarbeitern auferlegt worden sein, deren man sich bei passender Gelegenheit, z. B. beim Tode des die Wassergesetze vertretenden Wasserhauptmanns, gerne entledigt.
Die Verteilung des Wassers ist genau geregelt. Im Gebirge schlachtete der Häuptling eine Ziege (mbuži ya makamba). Dabei wurde es als Gesetz bekanntgegeben, daß jeder, der Wasser auf seinen Acker leite, ehe die Reihe an ihn gekommen sei, als Buße eine Ziege an den Häuptling und eine weitere an die Ältesten des Landes zu zahlen habe. Der Wasserhauptmann hat verschiedene Helfer, welche die Verteilung in ihren Distrikten regeln. Diese Leute sehen in der Steppenlandschaft Kihurio selbst die Felder nach, um immer dem am meisten Bedürftigen das Wasser zuerst zu geben. Auch wir hielten uns an diese Wasserhauptleute und taten sehr gut daran, da sie in gewissem Sinne die Verantwortung für rechtzeitige Bewässerung mittragen. So wollte ich einmal für eins unsrer Maisfelder Wasser haben. Der betreffende Verteiler, einer unsrer Christen, bat mich aber, noch zu warten, da noch Bedürftigere da seien. Ich sagte ihm: „Gut, wenn du denkst, es hat noch Zeit, dann übergebe ich dir den Mais; wenn du siehst, daß er ‚sterben‘ will, gib uns Wasser.“ Da er tatsächlich sehr trocken war, kam der Mann schon nach einigen Tagen und mahnte uns, den Mais nunmehr zu wässern. Manchmal sind solche Dinge auch nur Proben, die dartun sollen, ob der Europäer sich der Landessitte unterwirft oder gewaltsam vorgeht. Das erstere festzustellen ist für den Schwarzen eine große Freude und für den Europäer nur nützlich.
Wird jemand dabei ertappt, daß er Wasser „stiehlt“, muß er in der Steppe 5 Rupien, den Wert einer Ziege, zahlen, doch wird die Strafe oft erlassen. Man wässert tags und nachts. Man darf erst dann das zugesprochene Wasser auf sein Feld leiten, wenn der Vordermann seine Bewässerungsarbeit beendet hat. Hat dieser statt zu wässern seine Zeit vertrödelt, kann es ihm allerdings abgenommen werden, bevor er mit seiner Arbeit fertig ist.
[S. 113]
Zum Schluß will ich noch erwähnen, daß in Kihurio das Wasser i. J. 1914 zum erstenmal ohne besondere Formalitäten in den Kanal geleitet worden ist. Ein Wolkenbruch im Gebirge hatte dem Fluß solche Wassermassen zugeführt, daß der reißende Strom die alte Mündung des Grabens vollständig verschüttete, so daß ein neuer Weg in den Felsen gesprengt werden mußte. Nach wochenlanger Arbeit wurde dann das Wasser von den Leuten selbst ohne irgendwelche Formalität in den neuen Kanal geleitet, trotzdem sich manch warnende Stimme erhob, die von einer Rache der Geister sprach. Aber die Ältesten schienen sich darüber klar geworden zu sein, daß bei der ausgedehnten Anwendung von Dynamit und Bohrstahl mit Hilfe des Missionars die Ahnengeister doch wohl weniger beteiligt gewesen sein konnten.
Findet jemand etwas, dessen rechtmäßigen Besitzer er nicht kennt, so hebt er es eine Zeitlang für ihn auf. Bringt er später den Eigentümer in Erfahrung, kann er Finderlohn (cha iziso = für das Auge) beanspruchen, der bis zu 25% des Wertes beträgt. Cha iziso nimmt man meistens nur von Fremden. Stellt sich der Besitzer nicht ein, nimmt der Finder den Gegenstand in Gebrauch, denn cha kutoa si kuiva = finden ist nicht stehlen!
Für Vieh darf niemand Finderlohn beanspruchen. Jedermann, dem Vieh zuläuft oder der herrenloses Vieh mit nach Hause nimmt, hat die Pflicht, es bekanntzugeben; sonst steht er in Gefahr, als Dieb bestraft zu werden. Stellt sich der Eigentümer erst nach Jahren ein, was aber wohl selten vorkommt, hat der Finder das Recht, von dem Nachwuchs soviel zu verlangen, wie ihm als Hirten zugekommen wäre. Es ist nämlich eine beliebte und praktische Sitte der Wapare, ihr Vieh bei verschiedenen Bekannten unterzustellen (kuvizya). So gehören meistens von der Herde, die ein Mwasu in seinem Kral hat, ihm selbst nur wenige Stück Vieh. Durch eine derartige Verteilung schützt man seinen Bestand am einfachsten gegen Seuchen und früher auch gegen Viehraub. Der Hirte erhält als Bezahlung bei Kühen deren Milch. Für das Großziehen eines Ochsen gibt man eine Ziege oder je nach Vereinbarung etwa ein Viertel des Fleisches. Dem Ziegenhirten steht der dritte Wurf zu. Sind es zwei Lämmchen auf einen Wurf, so nimmt er eins davon. Dasselbe gilt für Schafe. Bei Hühnern nimmt der Züchter abwechselnd ein bis zwei Küken als seinen Anteil. Zu erwähnen ist noch, daß Ziegen hin und wieder[S. 114] Drillinge oder Vierlinge werfen. Der Paremann fürchtet sich aber vor so reichem Segen und überläßt immer eins der Lämmer dem jeweiligen Hirten.
Die Jagd ist überall frei. Bei Treibjagden hat der Schütze, der ein Stück Wild zur Strecke gebracht hat, ein Anrecht auf die Schußprämie, bestehend in Hals und Haut des erlegten Tieres. In das übrige Fleisch teilt er sich mit den andern Jagdgenossen. Hat jemand in einer Fallgrube ein Schwein gefangen, bringt er dem Häuptling ein Vorderbein, weil er ja der Verwalter des Bodens ist. Fischfang darf von jedem ausgeübt werden.
Ist der Mwasu in Not, braucht er dringend ein Stück Vieh, so denkt er nie an sein eigenes, sondern er borgt (ela rando = er ißt Schulden). Allerdings würde ihm auch kaum ein Stammesgenosse zumuten, seine vielleicht trächtige oder melke Kuh seinem Gläubiger auszuliefern oder von seinen wenigen Ziegen in Krankheitsfällen eine zu schlachten. Das Borgen ist jedenfalls für ihn der bequemere Weg.
Will der Betreffende sich nicht ohne weiteres sein Vieh abborgen lassen, so gibt ihm der andre ein Pfand (mchunga). Das Pfand für eine Färse (mori) besteht gewöhnlich in einer Kuh, für einen Ochsen gibt man ein Mori, für eine Ziege einen Ochsen. Wie wir schon früher sahen, übergibt man auch die eigne Tochter jemand als Pfand, wenn man z. B. einen größeren Prozeß verloren hat und viel Vieh bezahlen muß. Das eigentliche Pfand bildet natürlich die Morgengabe der Tochter, „wenn sie bei der Hand genommen“ d. h. geheiratet wird. Diese Sitte hat nur die eine üble Seite, daß die Mädchen später oft gezwungen werden, den Gläubiger zum Mann zu nehmen.
Dem Gläubiger steht die Nutznießung des ihm übergebenen Pfandes zu. Im übrigen ist er nur Verwalter und hat z. B. eine Kuh mit sämtlichem Nachwuchs herauszugeben, sobald der Schuldner zahlt. Das Geliehene wird aber nicht mit Zinsen etwa in Gestalt von Nachwuchs zurückgegeben, sondern man erstattet nur den gleichen Wert dessen, was man tatsächlich geborgt hat. Der Gläubiger hat also kein Recht, ein Kalb der ihm übergebenen Pfandkuh zurückzubehalten, weil seine dem Schuldner überlassene Ziege im Laufe der Zeit zehn Lämmer geworfen hat. Anderseits haftet der Gläubiger auch in keiner Weise für das ihm übergebene Pfand. Er muß nur[S. 115] dem Schuldner sofort Nachricht zukommen lassen, wenn die Pfandkuh gestorben ist, damit dieser das Fleisch verwerten kann. Ißt er das Fleisch selbst auf, oder verkauft er es, so hat das Schuldverhältnis aufgehört. Doch darf in dem Falle der Schuldner auch nicht geltend machen, daß das Pfand bedeutend mehr wert gewesen wäre als seine Schuld. Die tote Färse wird dann eben dem lebenden Ochsen gleichgerechnet.
Läßt der Schuldner, dessen Kuh für ihn bei seinem Gläubiger ja sehr gut aufgehoben ist, zu lange nichts von sich hören, so darf der letztere nicht einfach das Pfand verkaufen, sondern muß es seinem Schuldner zurückgeben. Dann kann er auf sofortige Bezahlung dringen.
Meistens borgt man einen Ochsen und verspricht eine Färse dafür zu suchen, um dann vom Gläubiger nach der Sitte noch einen weiteren Ochsen und eine Ziege (msaguo) oder insgesamt drei Ziegen zu erhalten. Als Pfand gibt man eine Kuh, von der meistens ausgesagt wird, daß sie trächtig sei. Begeht nun jemand die Torheit, etwa weil sein Schuldner nicht ans Bezahlen denkt, dieses Pfand zu verkaufen, so schweigt der Schuldner dazu. Er kann seiner Sache sicher sein. Eines Tages erscheint er dann bei seinem Gläubiger und bringt das versprochene weibliche Kalb an. Der Gläubiger muß nun bekennen, daß das Pfand inzwischen verkauft sei, da ihm die Wartezeit auf die Erstattung der Schuld zu lange gedauert habe. Aber der Mann läßt die vereinbarte Färse bei ihm und strengt einen Prozeß an. Mit Hilfe seiner Blutsfreunde war es ihm ein leichtes, sich genau zu unterrichten, wohin seine Kuh verkauft worden ist und wie viele Kälber sie inzwischen geworfen hat. Der ursprüngliche Gläubiger wird nun verurteilt, die Pfandkuh mit ihren Kälbern zurückzuzahlen. Besteht der Kläger darauf, dieselbe Kuh wiederzuerhalten, die er als Pfand gegeben hat, so muß der Verklagte sich mit dem betreffenden Käufer ins Benehmen setzen. Weigert dieser sich, die Kühe gegen andere umzutauschen, wird er von den Häuptlingen durch allerlei Drohungen eingeschüchtert, bis er in den Tausch willigt. Gestorbene Kälber müssen von Rechts wegen auch ersetzt werden. Meistens befreien die Ältesten jedoch den Verurteilten ganz oder teilweise von dieser Pflicht. Sie sagen einfach: „Die restlichen Kühe haben wir ‚gegessen‘.“ Ist der Kläger damit nicht einverstanden, so wird ihm bedeutet, daß man im Falle seiner Weigerung, das Urteil der Ältesten und des Häuptlings anzuerkennen, seine Sache einfach fallen lassen würde.
[S. 116]
Bei Verträgen handelt es sich natürlich auch fast immer um Vieh. Ein Vertrag (kichungo = Band) ist ewig bindend. Daher das Sprichwort: Kichungo chechunguka ni cha idafa, cha momo tekichunguka = ein Bananenband (aus trockner Bananenrinde) zerreißt, aber ein Wortband (Vertrag) nicht. Ein Vertrag wird vor Zeugen (vioni) geschlossen. Hat z. B. jemand für eine Färse den üblichen Ochsen und drei Ziegen erhalten, so wird ein Kaufvertrag abgeschlossen. Der frühere Besitzer der Ziegen trifft etwa folgende Abmachungen: „Das heutige Gras (welches die Tiere gefressen haben) ist mein“, d. h. werden die Ziegen krank, so nehme ich sie zurück. „Auch morgen noch, denn morgen kommt ‚mein Gras‘ heraus. Von übermorgen ab darfst du sie mir nicht mehr zurückbringen. Werden sie dann krank, so haben sie die Krankheit auf deiner Weide bekommen.“ Ein derartiger Vertrag kann nicht rückgängig gemacht werden.
Nach Paresitte erhält man für eine Färse entweder zwei Ochsen (= vier Ziegen) und eine Ziege (den Msaguo), oder einen Ochsen (= zwei Ziegen), zwei weitere Ziegen und den Msaguo. Es kann nun bei einem solchen Kauf vorher vertraglich festgesetzt werden, daß der Käufer keine drei Ziegen, sondern einen Ochsen und die Msaguo-Ziege zu bringen hat. An diesen Vertrag muß der Käufer sich halten. Bei diesem sehr beliebten Tauschhandel wird meistens nur ein Ochse angezahlt. Der Kaufvertrag wird aber erst vollständig durch Zahlung des Msaguo. Solange die letzte Ziege nicht bezahlt ist, hat der Verkäufer jederzeit das Recht, seine Färse gegen Auslieferung der Anzahlung zurückzuverlangen, besonders wenn der Käufer unfähig ist, den Kauf auf Wunsch sofort abzuschließen. Der Verkäufer hat aber gar kein Interesse daran, den Käufer an die restliche Msaguoziege zu mahnen; denn von Rechts wegen gehört der Nachwuchs solange ihm, bis der Msaguo bezahlt ist. Es kommt sogar häufig vor, daß der Verkäufer nach Jahren den erhaltenen Ochsen zurückgibt und die Kuh mit den inzwischen geworfenen Kälbern an sich nimmt. Die Leute nennen das zwar utungulu = Raub; aber der Buchstabe des Gesetzes schützt diese „Räuber“. Trotzdem nun jeder Mwasu andauernd sieht, wie seine Nachbarn sich wegen einer nicht gezahlten Msaguo-Ziege verklagen, unterläßt er es in unbegreiflichem Leichtsinn doch immer wieder, durch den Msaguo einen Kauf abzuschließen. Daher gehören diese Prozesse zu den häufigsten.
Werden trächtige Tiere verkauft, so gehört das Kalb immer dem Verkäufer. Stirbt die Kuh, so muß der Käufer die Leibesfrucht[S. 117] (kioromori) dem Verkäufer überbringen, der sie ißt. Unterläßt er es, so muß er später dem Verkäufer ein anderes Kalb ersetzen. Oft wird auch die noch ungeborene Leibesfrucht mitverkauft. Sie wird immer mit den für ein Stierkalb üblichen zwei Ziegen berechnet. Wirft die Kuh später ein weibliches Kalb, hat der Käufer nichts nachzuzahlen. Ein solcher Kauf, der dadurch, daß die Kuh trächtig ist, ein Anlaß zu den schönsten Prozessen werden kann, wird natürlich nur vertraglich vor genügend Zeugen abgeschlossen. Wird die Leibesfrucht nicht mitgekauft, und stirbt die Kuh nachher unter der Geburt etwa durch Querlage, muß dem Käufer eine andere Kuh als Ersatz gegeben werden.
Hat ein minder begüterter Paremann einen Ochsen, so verkauft er diesen gerne gegen eine noch ungeborene Färse. Evonywa itombo, d. h. er läßt sich das Euter einer trächtigen Kuh zeigen. Wirft die Kuh ein Stierkalb, dann muß er den nächsten Wurf abwarten, der manchmal seine Hoffnungen auch nicht erfüllt. Während darüber oft Jahre vergehen können, hat er anderseits den Vorteil, endlich am Ziele seiner Wünsche angelangt, nur noch die Msaguo-Ziege zahlen zu brauchen (in den Landschaften rechts vom Sasenifluß außerdem noch eine Ziege). Er hat also eine oder zwei Ziegen gespart. Sein Kalb erhält er, sobald es entwöhnt ist und die Ngombo-Krankheit, eine Anschwellung der Halsdrüsen, überstanden hat.
War jemand wegen Aufruhrs beim Häuptling gebunden worden, so mußte er einen Ochsen (nzao) herbeischaffen lassen, um von der Bogensehne (luge), mit welcher er gefesselt war, befreit zu werden. Dieser Ochse hieß nzao ya luge. Hatte der Gebundene keinen solchen in seinem Besitz, gab er eine Färse oder eine Kuh. Diese wurde dann einfach gegen einen beliebigen Ochsen auch ohne Wissen des Besitzers eingetauscht. Das war also ein Zwangseinkauf, mit dem der Betreffende sich aber gerne zufriedengab, weil er außer dem genommenen Ochsen nichts weiter für die Kuh zu zahlen hatte.
In den früheren unsicheren Zeiten kam es oft vor, daß ein Schuldner sich seiner Zahlungspflicht dadurch zu entziehen suchte, daß er zu einem fremden Häuptling flüchtete und dessen Schutz mit einer Kuh erkaufte. Da hatte der Gläubiger dann oft das Nachsehen. In solchen Fällen hielt man sich an den Bürgen (mwikome), der die Schuld zu zahlen hatte. In späterer Zeit, als sich kein Bösewicht dem „langen Arm der (deutschen) Regierung“ entziehen konnte,[S. 118] haftete der Bürge nicht mehr in der Weise für die Schuld, sondern er hatte nur die Verpflichtung, den Schuldner im Interesse des Gläubigers aufzusuchen und zu mahnen. Heutzutage werden Bürgen hauptsächlich deshalb gestellt, weil ihr Vorhandensein den besten Beweis bildet, daß jemand seinen Prozeß als verloren anerkannt hat. Leugnet er das später ab, was oft vorkommt, so kann er durch Hinweis auf die Bürgen alsbald überführt werden. In früheren Zeiten haftete aber der Mwikome entweder für sämtliche zu zahlenden Rinder oder nur für eine Färse und einen Ochsen. Diese nannte man luimiži = Fackel; denn nachdem der Gläubiger diese vom Bürgen erhalten hatte, mußte er sich selbst auf den Weg machen, um mit seiner „Fackel“ das Haus des Schuldners nach weiteren Kühen „abzuleuchten“. Der Bürge war somit seiner Haftpflicht ledig. Ein derartiger Vertrag mußte aber gleich bei der Gerichtsverhandlung geschlossen werden. Handelte es sich nur um wenige Rinder, dann genügte auch schon ein Ochse als „Fackel“.
Auf folgende Weise wird man Bürge: Jeder, der öffentlich zur Zahlung von Rindern verurteilt worden ist, muß einen Bürgen stellen. Der Häuptling sagt ihm: Gwira ikome = stelle Bürgschaft! Dieser nimmt einen seiner Bekannten bei der Hand und sagt: Nakugwira ikome. Handelt es sich um viele Kühe, und ist der Verurteilte ein unsicherer Kandidat, so bedingt sich der Bürge aus, im Falle des Verschwindens seines Klienten nur in Höhe der „Fackel“ haften zu müssen. Der Verurteilte bittet seinen Bürgen dringend, ihm zu vertrauen. All sein Hab und Gut wolle er ihm zum Pfande übergeben. Diese schöne Absicht nützte dem Bürgen natürlich bitter wenig, wenn sein Mann eines Tages über alle Berge war. Um seiner Aussage den nötigen Nachdruck zu verleihen, nimmt der Mann sein Schwert oder Messer, leckt daran, führt es im Kreise um sein Haupt und hält es mit der Spitze auf seinen Leib. Das ist ein heiliger Schwur, dem man Glauben schenken kann. Der Mwikome läßt sich nochmals genau darlegen, für wie viele Rinder er bürgen soll. Er sagt dann für jede Ziege, die er anerkannt hat, mää, für jede Kuh ng’oo, für jeden Stier tuu-tuu.
Eine sehr beliebte Art der Bezahlung ist das Verweisen an den eignen Schuldner. Hat A von B fünf Rupien geborgt und C bei A eine Ziege im gleichen Werte, so kann A dem B vorschlagen, sich von C bezahlen zu lassen. A nimmt zu diesem Zwecke den C bei der Hand und übergibt ihn dem B. Zahlt aber C nicht schnell genug, dann kann B ihn wieder dem ursprünglichen Gläubiger A zuführen[S. 119] und damit auch gleichzeitig das Schuldverhältnis des A zu ihm selbst wiederherstellen. Nunmehr wird allerdings A rücksichtslos die Schuld von C einzutreiben suchen, da er von jetzt ab in B einen unerbittlichen Gläubiger hat, der auf jede Weise versuchen wird, zu seinem Gelde zu kommen.
Die Strafgewalt liegt in den Händen des Häuptlings, der von den Ältesten des Landes beraten wird. An diese Körperschaft hat sich jeder Geschädigte zu wenden. Selbsthilfe wird bestraft, wenn sie das erlaubte Maß überschreitet. Wenn jemand z. B. einem hartnäckigen Schuldner mit Gewalt eine Kuh fortnimmt, stößt dieser den Kriegsruf aus, denn Viehraub ist Krieg. Das langgezogene uuuwi! pflanzt sich von Mund zu Mund durch die Landschaft fort. Na hio? = wohin? fragt man und erfährt so den Ort, an den man sich mit den Waffen zu begeben hat. Dort angelangt fragt man den Schuldigen: „Warum bist du nicht zum Häuptling gegangen und hast einen Prozeß angestrengt?“ Die Kuh nimmt man ihm ab und bindet ihn selbst mit einer Bogensehne solange, bis er sich durch Zahlung des „Ochsen der Sehne“ löst. Mit diesem Sühnetier müssen „die Bogen nach Hause, die Pfeile in die Köcher und die Schwerter in die Scheiden“ zurückgebracht werden. Dieselbe Strafe, nämlich die Zahlung des Nzao ya luge, trifft den, der ohne Grund den Kriegsruf ausstößt. Der Häuptling wacht darüber, daß die Leute nicht aus Spielerei zu den Waffen gerufen werden, damit der Hilfe- und Kriegsruf im Ernstfalle nicht unbeachtet bleibt. Stößt eine Frau, die von ihrem Manne geschlagen wird, den Hilferuf aus, so ruft der Mann schnell, um Verwirrung zu vermeiden: „Hohoyo, hohoyo, es handelt sich nur um einen Mann, der sich mit seiner Frau streitet.“
Während gewaltsame Selbsthilfe ohne besondre Erlaubnis des Häuptlings nicht gestattet ist, darf man hartnäckigen Schuldnern gegenüber folgendes Zwangsverfahren anwenden. Der Gläubiger begibt sich frühmorgens vor das Haus des Schuldners und bindet dessen Haustür mit einem Strick fest zu oder legt sich einfach auf die Schwelle. Der Schuldner wagt nun nicht, sein Vieh hinaus zu lassen, damit der eigentümliche Türhüter nicht verletzt wird. Der Gläubiger tut kund, daß er sich nicht eher zu entfernen beabsichtige, als bis seine Schuld beglichen sei. Der Mann muß schließlich wohl oder übel diesem Zwange nachgeben, wenn die hungrigen Kühe immer ungeduldiger im Stalle brüllen.
[S. 120]
Bei
unterscheidet man zwischen Tag- und Nachtdieb. Ersterer wird weniger hart bestraft, weil er keine größeren Diebstähle ausführen kann. Er wird zur Zahlung von drei Ziegen verurteilt. Eine gehört dem Bestohlenen, die zweite dem Häuptling; die dritte wird öffentlich auf einem freien Platze (shigati) geschlachtet und von den Ältesten einschließlich des Diebes gegessen. Diese Ziege heißt deshalb mbuži ya shigati. Wird ein Dieb nachts ergriffen, hat er an den Bestohlenen eine Ziege (mbuži ya kidanga) zu zahlen. Der Häuptling erhält ein weibliches Kalb und die Ältesten einen Ochsen (nzao ya shigati).
Versucht jemand, ein ihm anvertrautes Rind heimlich beiseite zu schaffen, wird die hohe Diebesstrafe über ihn verhängt. Auf gewaltsame Schuldeintreibung steht, wie wir schon im vorigen Abschnitt sahen, Zahlung eines Nzao ya shigati als Buße. Viehraub wurde mit dem Tode bestraft, der den Räuber meistens bei der Verfolgung ereilte. Sonst verkaufte man ihn in die Sklaverei, konnte er sich nicht durch ein hohes Lösegeld vor diesem Schicksal bewahren.
Legt sich der Dieb aufs Bitten, so nimmt der Geschädigte ihm alles ab, was er bei sich hat. Besonders Frauen ziehen diesen Weg vor; denn als Dieb gebrandmarkt zu werden, ist bei den Wapare eine große Schande. Es soll oft vorkommen, daß die so überraschte Frau eine „Freundin“ des Bestohlenen wird; denn wenn der Ehebruch in den Augen der Leute auch ein neues Unrecht ist, so ist er doch keine Schande wie der Diebstahl.
Stiehlt jemand Parenüsse, Hühner, Kleider oder Honig, so wird er zur großen Diebesstrafe verurteilt, weil gerade diese Dinge oft weitab vom Dorfe unbeaufsichtigt sind und daher durch das Gesetz besonders geschützt werden müssen. Bemerkenswert ist es, daß der Häuptling einen unverhältnismäßig hohen Prozentsatz für sich erhält. Er repräsentiert eben die Staatsgewalt, die für Leben und Sicherheit sorgt und berechtigt ist, Strafgelder einzuziehen.
Da es, wie schon eben gesagt, eine große Schande ist, als Dieb bezeichnet zu werden, so läßt man sich das auch nicht ohne weiteres gefallen. Gelingt es dem Beschuldiger nicht, den Wahrheitsbeweis anzutreten, muß er den zu Unrecht Verleumdeten „nach Hause bringen“ (kuarosha), d. h. er nimmt durch Zahlung von einer oder zwei Ziegen die Beleidigung mit dem Ausdruck des Bedauerns öffentlich zurück.
[S. 121]
konnte bei Schwertspielen oder Fechtübungen vorkommen. Sie wurde nicht bestraft. Starb der Verletzte, so mußte der Täter zwei Rinder bezahlen, die ng’ombe ža mashoži = Rinder der Tränen, damit die Angehörigen den Toten leichter „vergessen“ konnten. Wurde der Verwundete krank, brachte der Täter ihm eine mbuži ya mshombe = Ziege zur Fleischbrühe. Wurde er wieder gesund, war die Sache erledigt. Verletzte einer den andern böswillig im Streit, mußte er außer der oder den „Ziegen zur Fleischbrühe“ auch noch eine Färse zahlen zur „Verheilung der Narbe“ (mori ya kujiva nkovu). Für ein Auge waren die übliche Buße manchmal viele „Ziegen zur Fleischbrühe“ und eine Färse sowie ein Stier als „Narbenschließer“. Zerriß jemand dem andern eins seiner künstlich ausgeweiteten Ohrläppchen, mußte er das mit einem Mori sühnen. In Notwehr begangene Verletzungen wurden nicht bestraft. Allerdings hatten sich die Angehörigen der betreffenden Sippe vor der Blutrache zu hüten. Bei schweren Verletzungen war man bedacht, so schnell wie möglich die Rinder „zur Verheilung der Narbe“ zu zahlen. Geschah das nicht, so übten die Angehörigen des Verletzten eine Erpressung nach der anderen aus. Starb der Mann schließlich, wenn auch an anderer Ursache, so verklagten sie den Täter sicherlich auf Zahlung des Blutpreises. Diesen gab man als Sühne für
und zwar unterschied man vorsätzliche Tötung (tiri) und fahrlässige Tötung (vanga). Im ersteren Falle war der große Blutpreis zu zahlen, oder der Täter wurde der Blutrache preisgegeben. Der große Blutpreis (irivi) bestand in 10–12 Rindern, wie schon S. 98 erwähnt. Für fahrlässige Tötung waren fünf Rinder zu zahlen. Handelte es sich um völlig unbeabsichtigte Tötung oder um Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, wurden nur die beiden „Rinder der Tränen“ bezahlt. Bei all diesen Zahlungen bildet ein Blutsbund zwischen beiden Parteien den offiziellen Abschluß; denn dieser im Verein mit dem „Niederwerfen des Kleides“ (s. S. 98. 99) schiebt späteren Erpressungsversuchen einen Riegel vor.
Oberster Gerichtsherr ist der Häuptling (mfumwa). Er leitet die Verhandlungen, indem er der einen oder andern Partei das Wort[S. 122] erteilt. Sehr oft findet eine Vorverhandlung vor den Ältesten oder Unterhäuptlingen statt, deren Ergebnis, sofern der Fall damit entschieden ist, dem Häuptling nur mitgeteilt wird. Natürlich handelt es sich dabei nur um unbedeutende Prozesse. Sonst ist es trotz aller Vorbesprechungen das alleinige Recht des Häuptlings, das Urteil zu sprechen (kuchwa masa = den Prozeß abschneiden).
Nachdem die Regierung überall besoldete Akiden eingesetzt hat, denen als unterster Instanz die Rechtspflege obliegt, sind viele alte Sitten in Wegfall gekommen, oder sie werden heute als Bestechung behandelt. Früher ging jeder, der eine Klage hatte, mit einer Kalabasse voll Bier zum Unterhäuptling (mlao). Mit ihm besprach er sich über die nötigen einleitenden Schritte. Der Mlao teilte ihm mit, wann er vor dem Häuptling erscheinen solle und was er als Gerichtskosten im voraus an diesen zu zahlen habe (sibiro). Handelte es sich um einen größeren Prozeß, so bestand das Sibiro in einem Mori für den Mfumwa und einer oder zwei Ziegen für die Valao. In den Augen der Wapare war dies Sibiro keine Bestechungsgabe sondern der Schlüssel, mit welchem er sich den Zugang zum Gericht verschaffen mußte. Verlor er seinen Prozeß, durfte er keinerlei Ansprüche auf Rückzahlung des Sibiro erheben. Gewann er, mußte sein Gegner auch die bezahlten Gerichtskosten in voller Höhe ersetzen. Nebenbei bemühten sich natürlich die einzelnen Parteien, durch allerlei Bestechungsversuche die Gunst der Richter zu erlangen.
Die Verhandlung wird damit eröffnet, daß der Mlao dem Gerichtshof kundtut, wer Kläger und Verklagter sei, ohne auf die Tatsachen selbst einzugehen. Dann erhält der Kläger das Wort. Eine wichtige Rolle spielte der mndumiži = Zustimmer. Dieser läßt jedesmal nach einigen Sätzen des Redenden sein zustimmendes Yee erschallen, womit gleichzeitig für Ruhe gesorgt wird. Es ist äußerst interessant, einer solchen Gerichtssitzung beizuwohnen. Die Redner überbieten sich in der treffenden Anwendung von passenden Sprichwörtern und humorvollen Redewendungen, die wahre Lachsalven bei den Zuhörern auslösen. So etwas läßt sich schlecht wiedergeben; wem es aber je vergönnt war, das alles in der Landessprache mit anzuhören, findet es leicht begreiflich, daß die Männer nirgends lieber sitzen, als auf der Baraza (Veranda) des Häuptlings. Haben die beiden Parteien sich ausgesprochen, so übernehmen zwei der Ältesten oder der Häuptling selbst und einer der Alten die Rolle des Vertreters der Anklage bzw. des Rechtsanwaltes. Mit aller List sucht man einander beizukommen, Kläger und Verklagter greifen[S. 123] helfend und richtigstellend ein. Zeugen werden vernommen. Am Ende ziehen sich die Alten zu geheimer Beratung zurück, um nach dem Eindruck, den der Gerichtshof durch die Verhandlungen erhalten hat, das Urteil zu fällen.
Wird von einem der Prozessierenden ein Zeuge namhaft gemacht, so wird dieser herbeigeholt und ihm eine Ziege als „Schuh“ d. h. als Bezahlung für die Reise in Aussicht gestellt, wenn es sich um eine große Entfernung handelt. Auch die Boten (vachanki) erhalten eine ähnliche Belohnung. Ist es nicht tunlich, den Zeugen selbst herbeizuholen, so sendet der Gerichtshof zwei Unparteiische (vamondo = Seitliche). Diese werden vorher durch den Blutsbund vereidigt, damit sie sich nicht durch eine der beiden Parteien bestechen lassen. Bei dem Zeugen angekommen, wird auch dieser durch Schließung des Blutsbundes mit einem der Boten vereidigt, die reine Wahrheit zu sagen. Dann erst teilt man ihm mit, worum es sich handelt und nimmt sein Zeugnis entgegen.
Oft ist aber kein Licht in die alten Prozesse zu bringen, weil keine Zeugen mehr leben oder überhaupt keine angegeben werden können. In dem Falle unterwerfen sich beide Parteien willig dem Gottesurteil (mashotano). Die gebräuchlichsten Gottesurteile sind folgende:
Moto wa nkuku = Hühnerfeuer; das Gottesurteil macht nämlich dem Eigensinn des Schuldigen ein Ende wie das Feuer, das alle Dinge verbrennt, deshalb moto = Feuer; Moto wa kimanganu = Betäubungs-Feuer; moto wa lagula = Lagula-Orakelfeuer; moto wa lusingu = Nadelfeuer; moto wa ntongo = Kugelfeuer.
Um die Sache kennen zu lernen, habe ich selbst einmal auf der Station ein derartiges Gottesurteil veranstalten lassen. Die Leute hatten mich gebeten, einen großen Prozeß, bei welchem es sich um mehrere Rinder handelte, zu entscheiden. Da es mir seinerzeit darum zu tun war, die Rechtssitten unsrer Leute eingehend zu studieren, nahm ich mich der Sache an. Mangels jeglicher Zeugen baten schließlich beide Parteien nach längeren Verhandlungen um das Gottesurteil mit Hühnern. Es wurden für jede Partei zwei Männer erwählt (vakendi). Derjenige, der behauptet, sein Vater oder Großvater habe die fraglichen Kühe bezahlt oder ausgeliehen, zieht sein Schwert und spricht etwa folgende Beschwörung: „Vater, haben jene wirklich unsre Kühe nicht genommen, laß sie hier und auch dort (in der Unterwelt bei euch) ‚rein‘ werden, und ich will hier und dort unterliegen. Haben sie aber die Kühe von dir erhalten, laß sie unterliegen hier und dort[S. 124] und mich ‚rein‘ werden.“ Bei diesen Worten wirft er sein Schwert auf die Erde. Dasselbe tut der Gegner nach einer ähnlichen Beschwörung. Die vier Vakendi gehen nun in die Landschaft, und zwar je zwei mit einem der Schwerter. Finden sie auf einem Gehöft einen großen Hahn, so nehmen sie ihn, ohne zu fragen und hinterlassen ihr Schwert als Pfand. Sind die beiderseitigen Sekundanten zurück, begibt man sich auf ein etwas abschüssiges Gelände. Dort werden den Hähnen von den Vakendi unter ähnlichen Beschwörungen die Hälse abgeschnitten. Alsbald läßt man sie auf die Erde fallen wo sie im Todeskampf den leichten Abhang hinunterrollen. Durch Händeklatschen und vielstimmiges mela mela = rolle rolle! sucht man sie zu höchster Leistung anzuspornen. Der Besitzer des Hahnes, der in diesem eigentümlichen Wettlauf am weitesten gekommen ist, hat den Prozeß gewonnen. In dem Falle auf unsrer Station wurde die Sache dadurch noch besonders aufregend, daß die Sekundanten der Partei, die ich vorher schon auf Grund der Verhandlung als die wahrscheinlich unterlegene bezeichnet hatte, ihren Hahn in regelwidriger Weise weit von sich warfen. Diese Unredlichkeit nützte ihnen aber wenig; denn der tote Hahn machte zum Erstaunen aller auf halbem Wege plötzlich kehrt und stolperte, heftig mit den Flügeln schlagend, den Berg etwa 1 m wieder hinauf. Das Gottesfeuer hatte deutlicher als je gesprochen, und bald waren die zu zahlenden Kühe zur Stelle.
Kimanganu ist ein Betäubungsmittel, welches man meistens zur Feststellung eines Zauberers benutzt, da der also Betäubte alle seine Verbrechen ausplaudert und so seiner Strafe zugeführt werden kann. Auch bei Diebstählen wurde es angewandt.
Ebenso dient das Lagula-Orakel als Gottesurteil. Nachdem auch hier wie überall die Beschwörung zu Hause voraufgegangen ist, begeben sich die Parteien mit ihren Vakendi zum Orakel. Der Medizinmann versetzt sich mit seinen Arzneien in Ekstase, riecht immerwährend an seiner kleinen Medizin-Kalabasse und beginnt dann mit dem Wahrsagen:
Ihr meine Leute — (die Ratsuchenden:) lagula!
Wo kommt ihr mir her? — lagula!
Erforsche, mein Freund (das Orakel)! — lagula!
Ihr kommt von Mamba — nein — lagula!
Nein, oder von Ndungu — nein — lagula!
Es riecht doch nach Ndungu — lagula!
Ja, ihr kommt von Ndungu — lagula!
Gebt es nur zu, sonst wird mein Kopf unklar — taire!
[S. 125]
Die Ratsuchenden lassen also erst dann ihr zustimmendes Taire! erschallen, wenn der Medizinmann trotz des nichtssagenden Lagula! immer wieder auf denselben Ort zurückkommt. Dann geht es weiter:
Suche, mein Freund, suche! — lagula!
Es riecht mir nach Streit — lagula!
Es riecht mir nach Streit — lagula!
Ihr streitet wegen einer Kuh — lagula!
Es handelt sich um den Msaguo — taire! taire!
Sobald also die Sache genau definiert ist, erschallt das zustimmende und den Medizinmann begeisternde taire! = wisse! d. h. du bist ein Wissender.
Es ist eine gefleckte Kuh — taire!
Die Kuh hat zwei Kälber geworfen — taire!
Man hat die Kuh jetzt versteckt — taire! taire!
Das sagen natürlich nur die Sekundanten des Bestohlenen. Das Orakel macht die Parteien und Sekundanten ausfindig; die Prozessierenden selbst sitzen schweigsam dabei:
Du bist der Kläger — taire!
Und du bist der Dieb — taire! taire!
Du hast die Kuh da und dahin gebracht — taire!
Wenn es Lüge ist, bestreitet es — taire! usw.
Das Lusingu ist eine etwa 10 cm lange Nadel, wie sie bei dem gleichnamigen Orakel gebraucht wird. Beim Gottesurteil wird sie nach voraufgegangener Beschwörung den Parteien durch die Mundwinkel gestoßen. Bei dem Unterlegenen fließt Blut aus der kleinen Wunde, bei dem andern nur eine wässerige Flüssigkeit. Das Lusingu wird bei kleineren Rechtshändeln angewandt, z. B. Diebstählen, Eheklagen u. a.
Das größte Gottesurteil ist das Ntongo in der Landschaft Chome. Es wird nur bei Zaubern angewandt. Fünf kleine Eisenkugeln wurden in einem irdenen Topf glühend gemacht und dann Schaffett und Honig darüber in den Topf gegossen, daß eine hohe Flamme herausschlug. Der im Verdacht der Zauberei stehende Mann mußte nun vier solcher Kugeln einzeln herausholen, zwischen den Händen reiben und fortwerfen. Die Dabeistehenden sangen: Mwewe, hora nyama! = Habicht, stoße aufs Fleisch, d. h. die glühenden Kugeln. Zu Hause hatte man dem Verdächtigten die Hände genau auf etwaige Schwielen und Wunden untersucht. Zeigten sich nach der Feuerprobe neue Blasen oder Wunden, so war sein Urteil gesprochen. Im andern[S. 126] Falle wurde er zum Zeichen seiner Unschuld mit weißer Erde eingerieben. Daher wird das Wort kuzera = weißwerden auch gebraucht, wenn man ausdrücken will: von falschem Verdacht befreit werden. Übrigens hat das hier verwendete Feuerholz gewissermaßen schon in erster Instanz als Gottesurteil gedient. Beide Parteien müssen nämlich vorher je zwei Holzstücke mit zwei Axtschlägen in vier Teile spalten. Gelang das dem Beklagten und dem Kläger nicht, so war der Verdacht unbegründet, und man redete dem letzteren zu, die Klage zurückzunehmen und eine Ziege oder einen Ochsen als Buße zu zahlen. Ließ dieser es aber erst auf die Feuerprobe selbst ankommen, und wurde sie bestanden, so war als Buße eine Färse zu zahlen. Auf dem ganzen Wege erschallt der Triumphruf des „Reinen“: Wee, hocha rya! Hat der Verkläger recht behalten, so ruft man: Wee, hocha sire! = Rache!
Das ist in kurzen Worten das Hauptsächlichste aus dem Verlauf der bekanntesten Gottesurteile. Während diese nun für die Beteiligten keinerlei Lebensgefahr in sich bergen, gibt es eine weitere Art der Beschwörung oder Vereidigung, die für den Schuldigen den Tod in bestimmter Frist bringt. Es ist hier nicht der Ort, Versuche zur Erklärung dieser Erscheinungen zu machen, bei denen die Furcht und Suggestion sicherlich eine Rolle spielen. Ich will nur erwähnen, daß in allen Fällen, von denen mir Kenntnis geworden ist, der eine der Gegner in der festgesetzten Frist starb.
Diese berühmteste der Beschwörungen an Eides Statt ist das „Hineingehen zum Dachfetisch“ (kungia he mpingu oder murungu wa gu). Der Verlauf ist in der Hauptsache so: die beiden Streitenden erscheinen jeder mit seinem nächsten erbberechtigten Verwandten vor dem Fetischpriester. Der Priester setzt ihnen auseinander, daß diese Eidesform keine Spielerei bedeute, sondern unwiderruflich den Tod für einen bringen müsse. Die Parteien erklären aber, bei ihrem Entschluß beharren zu wollen. Jeder hat eine Opferziege mitgebracht, von denen die eine bei der Beschwörung geschlachtet wird, während man die andre für die spätere Entsühnung aufhebt. Beide Gegner fassen die Ziege an je einem Vorderfuß und bitten den Dachgötzen, schon jetzt sein Urteil zu sprechen, indem er in dem lebendigen Tiere die Eingeweide auf der einen oder andern Seite verfaulen lassen soll. Jeder schlägt dann die Ziege mit der Hand in die ihm zugewandte Seite. Dann wird das Tier erstickt, und der Priester ersieht aus den Eingeweiden und der Leber den voraussichtlichen Ausgang der Sache. Wenn die Ermahnungen des Priesters auch jetzt die erbosten[S. 127] Parteien nicht veranlassen können, von der Anrufung des Fetisches Abstand zu nehmen, gehen beide Prozessierenden in den „Tempel“. Jeder hat ein Bruststückchen der inzwischen gerösteten Ziege in der Hand und reibt es an der Haussäule, indem er die Gottheit beschwört, seine Schuld oder Unschuld ans Licht zu bringen. Dann essen beide das Fleisch auf, und der Priester bittet den Fetisch, innerhalb einer bestimmten Frist das Todesurteil zu sprechen. Ist einer der Gegner zur festgesetzten Frist gestorben, hat der als Zeuge tätig gewesene Erbe des Unterlegenen die Ansprüche des andern zu befriedigen. Ist das vereinbart, wird die beim Priester zurückgelassene zweite Ziege getötet, um „die Beschwörungen herauszunehmen“ (kung’ola miomo). Der Erbe teilt dem Fetisch mit, daß er sich seinem Urteil unterwerfe und zur Zahlung der Rinder bereit sei. Unterläßt der Erbe das Sühnopfer, steht auch er in Todesgefahr.
Ein nicht minder gefürchteter Beschwörungseid der auch heute noch bei schwierigen Rechtsstreiten mit Erlaubnis der Behörde von den Leuten selbst angewandt wird, ist das „Topfschlagen oder Topfessen“. Beide Parteien fassen einen Tontopf mit den Händen an, spützen hinein, und jeder spricht seine Beschwörung etwa wie folgt: „Du Topf, bringe meinen Prozeß zu Ende. Bin ich im Unrecht, töte mich, ehe der Mais reif ist; ist mein Gegner im Unrecht, töte ihn zur selben Zeit!“ Nach der Beschwörung wird eine Ecke aus dem Topf geschlagen und hineingelegt. Andre brechen den Topf mit den Händen in zwei Stücke. Ganz hitzige Gegner werfen die Stücke in den Fluß, damit eine spätere Entsühnung ausgeschlossen ist und die ganze Sippe ausstirbt. Gewöhnlich aber wird der Fluchtopf bei einem Alten untergestellt, bis er sein Urteil gesprochen hat. Statt des Speichels kommt auch hier Urin als Seelenträger in Frage. Hat der Topf gewirkt und den Schuldigen getötet, so muß seinem weiteren Wirken durch ein Sühnopfer Einhalt geboten werden. Sühnmittel ist auch hier wieder der Mageninhalt des Opfertieres, beim Dachgötzen meist eine Ziege, beim Fluchtopf gewöhnlich ein Schaf.
In einem früheren Kapitel lernten wir die Blutsfreundschaft (mma) kennen, deren Verletzung ebenfalls den Tod zur Folge hat. Es gibt noch zahlreiche derartige Mima, die an Eides Statt angewandt werden, um bei schwierigen Prozessen den Schuldigen herauszufinden. Handelt es sich z. B. um einen Kuhhandel, und behauptet der erste Besitzer, die Msaguo-Ziege nicht erhalten zu haben, ohne daß Zeugen für diese Behauptung beigebracht werden können, so nimmt man seine Zuflucht zum mma wa ng’ombe — Bluteid mit der Kuh.[S. 128] Die beiden Parteien fassen die umstrittene Kuh je an einem Ohr. Der die Beschwörung leitende Mann sagt: „Du Kuh, halte still, und trenne die Streitenden.“ Diese sprechen dann ihre Beschwörungen, indem jeder sich sozusagen verpflichtet, im Falle seiner Schuld zu sterben, bevor die Kuh zum zweiten Male gekalbt hat. Der „Priester“ schießt alsdann die Kuh mit einem glatten Pfeil in die Halsader. Das hervorquellende Blut wird in einem Töpfchen aufgefangen und auch der Pfeil in diesen Topf gesteckt; denn die zu erwartende Krankheit soll ja den Schuldigen in den Leib treffen wie der Pfeil die Kuh. Beide Gegner trinken das Blut. Der Bogen wird der Kuh über den Kopf gehalten und die Sehne mit den Worten zerschnitten: „Du Kuh, bringe die Leute schnell auseinander“, d. h. sorge dafür, daß dem Betrüger schnell die Adern und Sehnen im Leibe zerreißen, wie symbolisch am Bogen vorgemacht. Der Topf wird vom „Priester“ in Verwahrung genommen, um später in bekannter Weise entsühnt zu werden.
Häuptlinge versichern sich auf ähnliche Weise eidlich ihre Friedensabsichten, was gewiß besser geholfen hat als die Haager Friedenskonferenzen. Auch Bündnisse mit der Verpflichtung gegenseitiger Heeresfolge wurden so geschlossen (mma wa nkondo). Ein im Verdacht der Zauberei Stehender muß Mma mit der Erde, die seine Opfer „gegessen hat“, oder mit Blut aus seinem eignen Knie essen.
So haben unsre Wapare in schwierigen Fällen immer Mittel an der Hand, auch verwickelte Fragen zu erledigen: Entweder das Gottesurteil oder den Bluteid, der allem Hader ein Ende macht.
Phot. Lutteroth.
Kiondo in Tränen.In den jungen Christengemeinden wird natürlich derartigen Gebräuchen nicht mehr gehuldigt. Es ist aber verständlich, daß bei einem Streitfalle der eine oder der andre resigniert sagt: „Mein Bruder leugnet nur, weil er weiß, daß ich ihn als Christ nicht mehr nach heidnischer Weise den Blutseid ablegen lassen kann. Vor dem Gottesurteil würde er sich fürchten.“ Sehr geschickt erinnerte Adamu, einer unsrer älteren Christen, gelegentlich eines Streitfalles, der vor die Gemeindeältesten gebracht wurde, an den „christlichen Blutsbund“ im hl. Abendmahl. Er wies auf die große Hilfe hin, welche die Heiden durch ihre Zaubergebräuche hätten, und illustrierte das durch folgende Geschichte: „Ein Mann hatte einst seinen Blutsfreund geschickt, Kleider für ihn einzukaufen. Der kam wieder und behauptete, er sei unterwegs von Räubern angefallen worden und er habe, um sein Leben zu retten, die Kleiderlast wegwerfen müssen. In Wirklichkeit hatte er aber die Kleider nur versteckt, um sie später zu holen. Der Besitzer blieb bei dieser Erzählung ganz ruhig und sagte nur: ‚Das macht nichts, haben die Räuber dich wirklich überfallen, dann war ich mit dabei, mein Blut ist ja in dir. Hast du die Last dagegen versteckt, so bin ich auch auf dem Gange bei dir gewesen. Unser Blutsbund ist der Richter.‘ Da fürchtete sich der Dieb und gestand sein Unrecht ein.“ Adamu erinnerte nun die Beteiligten, daß Christen nicht nur den Blutsbund untereinander gemacht hätten, sondern im Abendmahl auch mit Jesu. Wir hätten aber noch mehr Grund als die Heiden anzunehmen, daß Er, unser Bruder, überall dabeigewesen wäre, sollten uns also noch mehr hüten, die Unwahrheit zu sagen als jene. Daraufhin gestand der Beschuldigte beschämt sein Unrecht ein.
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Will der Mwasu ein neues Haus errichten, und hat er einen ihm zusagenden Platz gefunden, so säubert er diesen von allem Strauchwerk und Gras (kufora kivanza = den Bauplatz graben). Dann geht er in den Busch und fällt dünne und dickere Stämme, die er mit Hilfe seiner Frau und einiger Nachbarn an den Bauplatz bringt. Zunächst muß er sich nun Stricke besorgen, mit denen er die Latten und Balken zusammenfügen kann. Dazu dienen ihm gewisse besonders geeignete Lianenarten (kaganda, kikozi, kigwira nguluwe, luhaga, senkunde). In der Steppe werden meistens die Fasern der Sansiveren verwandt.
Um die Hauswand schön kreisförmig zu machen, schlägt er in der Mitte des Bauplatzes einen Pflock in die Erde und befestigt daran einen Strick. Diesen schlingt er um seinen Fuß, daß die Entfernung vom Mittelpunkt etwa 2 m beträgt. Dann zieht er einen Kreis, indem er mit dem angebundenen Fuß die Kreislinie auf dem Erdboden markiert. Dieser folgend, hebt er einen schmalen, etwa 30 cm tiefen Graben (mkembe) aus und gießt Wasser hinein. In den so aufgeweichten Boden stößt er die angespitzten Stangen im Abstande von etwa 30 cm. Um dieses kreisförmige Gerüst wird dann die untere Mauerlatte, bestehend aus einer Anzahl zusammengelegter dünner Stangen, in etwa 2 m Höhe befestigt. Auf diese werden später die Bodenbalken gelegt. Die Lücken in der Hauswand werden durch weitere in den Boden gestoßene Stangen ziemlich dicht ausgefüllt, Querlatten befestigt und schließlich auch die obere Mauerlatte angebracht, auf welcher die Dachsparren ruhen sollen.
Das Dach baut man auf ebener Erde, um es in halbfertigem Zustande auf das Haus zu setzen. Zu dem Zweck verfertigt sich der Mpare einen kleinen Ring von etwa 10 cm Durchmesser aus starkem[S. 131] Strick, gerade weit genug, um die vier ersten Sparren hindurchzwängen zu können. Um diese windet er kreisförmig dünne Dachlatten, dabei immer neue Sparren einschiebend. Das so gebildete kiare wird, bevor es zu schwer ist, mit Hilfe einiger Freunde auf das Haus gesetzt, wo es vollendet wird und die Sparren durch einfaches Anstecken bis auf den durch Stützen getragenen äußeren Lattenring verlängert werden (s. Abbild.). Das Dach wird mit Schilf gedeckt, im Gebirge auch mit Bananenblattscheiden (malamba). Das gut getrocknete Schilf wird in kleinen Bündeln mit Sansiverenfasern oder Lianen von unten anfangend auf die Dachlatten gebunden, während man die etwa 10 cm breite Malamba einfach von unten an um die einzelnen Latten schlingt und die Enden nach außen herunterhängen läßt.
Das Ausfüllen der Wände mit Lehm nennt man kukanda. Zu dieser Arbeit werden sämtliche Nachbarn geladen. Frauen tragen das Wasser, während die Männer den Lehm mit den Füßen kneten und das Fach- bzw. Flechtwerk damit ausfüllen. Diese Arbeit trägt den Charakter eines Festes, da sämtliche Teilnehmer Speise mitbringen, die am Ende gemeinschaftlich vertilgt wird. — Auch der Dachboden[S. 132] wird mit Lehm ausgeschmiert. Später wird die Wand innen und außen mit Sand und Kuhmist geglättet (kukuluga).
Diese Art des runden Hauses nennt man nyumba ya lukumbi, d. h. Verandenhaus. Es ist anscheinend von den in der Steppe wohnenden Wazegua übernommen worden. Die ursprüngliche Art scheint mir das nyumba ya msoma si (auf die Erde stoßendes Haus) zu sein. Bei ihm gehen Dach und Wand ineinander über. Von außen wird solches Haus bis zur Erde mit Schilf oder Bananenblattscheiden gedeckt und innen mit Lehm verschmiert. Diese Art sieht man heute fast nur noch im Gebirge. Dem mit der Kultur in Berührung gekommenen[S. 133] Schwarzen sagt das Verandahaus mehr zu, weil es geräumiger ist und man durch Aufführung einer Verandamauer leicht weitere große Räumlichkeiten schaffen kann. Ebenso hat die rechteckige Hausform schon viele Freunde gefunden, was auch vom hygienischen Standpunkte aus sehr zu begrüßen ist, da in derartige Häuser meistens Fenster eingesetzt und für Küche, Schlafraum und Stall besondere Abteilungen gebaut werden. In den andern Wohnstätten fehlen Licht und Luft dagegen fast vollständig.
Am Tage, der auf das erstmalige Ausschmieren der Wände mit Lehm folgt, zieht der Mwasu in sein neues Heim ein. Er hat es mit seinem Umzug so eilig, weil er verhüten muß, daß irgendein böser Mensch ihm einen Schabernack spielt und z. B. in der neuen Hütte uriniert. Damit hätten nämlich die den Ausscheidungsprodukten innewohnenden Seelenkräfte von dem Hause Besitz ergriffen (kuvyala nyumba) und würden den rechtmäßigen Eigentümer quälen und schließlich töten. Liegt ein derartiger Verdacht vor, so ruft der Mpare den schon des öfteren erwähnten Sühnepriester, den Mtani, der die bösen Geister vertreiben muß. Liegt dagegen kein Bedürfnis vor, den Mtani rufen zu lassen, so begibt sich der Besitzer mit den Nachbarn ins Haus. Die Frauen fegen die Hütte aus, während die Männer eine große Steinplatte herbeischleppen, die an die beiden Mittelstützen gelehnt wird. Vor diese werden zwei weitere Steine gelegt, und der Küchenherd ist fertig. Ist ein Topf zu klein, um ohne weiteres auf diese drei Steine gestellt zu werden, so klemmt die Hausfrau flache Steinstückchen zwischen Topf und hintere Herdplatte ein. Wir haben also hier die Urform vor uns, die sich im Lauf der Zeit zu unsren Herdringen entwickelt hat.
Doch zurück zu unserm Hausbesitzer. Dieser schreitet nämlich jetzt zur Zeremonie des Feueranzündens. Hierzu darf er sich keine glühende Kohle vom Nachbar holen, sondern er muß selbst neues Feuer mit Hilfe der Reibhölzer erzeugen. Dieses heilige Feuer ist ein Bild der alle Morgen neues Leben gebenden Sonne. Dann opfert er den Ahnen, indem er etwas Bier an den Fuß der Mittelstütze gießt und betet: „Ihr nkoma (Ahnen), nehmt euer Bier! Ich beziehe heute mein neues Haus. Laßt mich hier guten Schlaf finden und von Krankheiten verschont bleiben. Laßt mich hier viele Kinder zeugen und Kühe, Ziegen und Hühner züchten. Teilt das Opfer mit den Ahnen der männlichen und weiblichen Linien. Freuet euch und schlaft! — nkoma shinjiani!“ Die Erschienenen trinken den „Rest“ des Bieres (nebenbei bemerkt, übertrifft er wie immer so auch hier die[S. 134] Menge des Opferbieres um ein Erkleckliches) und nehmen wohl auch einen kleinen Imbiß, den die Hausfrau zurechtgestellt hat.
Zum Schluß noch die Bemerkung, daß der Polygamist früher für jede Frau eine besondere Hütte baute. Seit der Einführung der Hüttensteuer unterläßt man es jedoch. Dies hat allerlei das Volksleben schädigende Folgen nach sich gezogen, auf die ich schon hingewiesen habe. Mädchen- und Knabenhäuser gibt es bei unsern Wapare nicht, ebensowenig besondere Häuptlingshütten.
Die Töpferei ist ausschließlich Arbeitsgebiet der Frau, genau so wie die Anfertigung der Fasersäcke. Hat die Frau sich in einem Sack genügend Tonerde geholt, so geht sie an deren Bearbeitung. Zu dem Zwecke breitet sie den Ton auf einem großen flachen Stein aus, zerkleinert die großen Stücke und liest Steine und andre Unreinigkeiten aus. Mit Hilfe eines Holzstößers wird der reichlich angefeuchtete Ton ganz fein gestampft und dann noch mit den Händen wie Kuchenteig auf dem Stein durchgeknetet. Aus dieser Masse formt die Frau einen je nach Umfang des gewünschten Topfes verschieden großen Tonzylinder, der mit dem Stampfer durchstoßen wird. Aus diesem Mantel formt sie nun unter fortwährendem Anfeuchten und Abschaben mit einfachen Modellierhölzern die obere Hälfte des Topfes. Das untere noch auf dem Stein haftende Ende bedeckt sie sorgfältig mit grünen Bananenblättern, um den Ton dort feucht zu erhalten. Das obere Ende ist am nächsten Tage bereits soweit an der Luft erhärtet, daß die Frau den Topf umstürzen kann, um den Boden anzufertigen. Die Öffnung wird immer kleiner, so daß sie schließlich nur noch einen Finger zur Glättungsarbeit durchläßt, und schließlich wird sie sauber mit einem kleinen Stückchen Ton geschlossen. Etwa fünf Tage lang bleibt das Kunstwerk auf dem Boden stehen, um völlig auszutrocknen. Dann werden meistens mehrere zusammen in einem offenen Feuer gebrannt. Das Feuerholz wird von bestimmten Bäumen genommen (mugi, kisosongo) und ist von zunderartiger Beschaffenheit. Es wird unter und zwischen den Töpfen aufgeschichtet. Die Frau wendet die Gefäße mit einem Stock und prüft durch gleichzeitiges Beklopfen ihre Beschaffenheit. Klingen sie endlich, dann sind sie „gar“ d. h. durchgebrannt und werden zum Abkühlen hingestellt. Mit einer grünen Banane zieht die Künstlerin von der Mitte des Topfbodens ausgehend gerade Striche nach dem Rande hin, die sich sofort weiß färben und so auf dem Markte den[S. 135] neuen Topf, wenn auch in recht bescheidener Weise, verzieren. Die zum Wasserholen bestimmten Töpfe werden mit Blättern des Nkasha-Strauches rot gefärbt. Diese Gefäße sowie auch die kleineren Eßnäpfe werden vor dem Brennen mit einem etwa 4 cm breiten Punktierhölzchen am Halse bzw. am Rande verziert. Abbildungen siehe unter dem Abschnitt Negerküche auf S. 102. Während diese eigentliche Töpferarbeit ausschließlich von Frauen verrichtet wird, werden die tönernen Pfeifenköpfe nur von Männern angefertigt.
Wie schon erwähnt, gehört auch das Säckeknüpfen zu den Arbeiten, die nur von Frauen ausgeführt werden. Nachdem man aus den grünen Sansiveren-Blättern durch Klopfen die Fasern gewonnen, dann gewaschen und gereinigt hat, werden sie in langen Strähnen von etwa 5 mm Dicke zusammengeknüpft. Die Art des so gebildeten Gewebes, das übrigens meist recht weitmaschig ist, ersieht der Leser an der Skizze.
Des weiteren verfertigen die Frauen Strohteller (vitangu), in denen u. a. Maisbrei und Kartoffeln aufgetragen werden. Sie dienen auch im Handel je nach Größe als Korn- und Fruchtmaße. Die Vitangu bestehen aus einem spiralförmig aufgewickelten Stück Bananenbast, das mit einer etwa 2–4 cm breiten Palmblattschnur umsponnen wird. Die Körbchen sind äußerst haltbar. Der Preis belief sich auf etwa 15 Pfennig. Während die meisten Frauen, wenigstens im Gebirge, solche Teller und Säcke machen können, wird die Töpferkunst nur[S. 136] von kundigen Meisterinnen ausgeübt. Sie vererbt sich auf die Töchter und entbehrt auch nicht eines gewissen religiösen Einschlages, da oft Säumige von den Ahnen an ihre Pflicht, das Gewerbe auszuüben, erinnert werden.
Als Handwerker könnte man wohl die Männer ansprechen, die, wenn auch nur im Nebenberuf, Mörser, Stühle, Bienenstöcke usw. verfertigen. Eine geschlossene Hauswirtschaft im Sinne der Lehre Büchers existiert also nicht oder wenigstens nicht mehr. Nach ihr ist auf einer primitiven Stufe jeder Haushalt imstande, alle seine Bedürfnisse aus sich selbst heraus und ohne Zuhilfenahme des Tausches oder des Handels zu befriedigen. Man ist also in Erzeugung und Verbrauch von niemand außerhalb der eignen Sippe abhängig. Die Tatsache, daß im Gebirge solche Unabhängigkeit selbst heute noch größer ist als in den bereits zivilisierten Steppenlandschaften, spricht dafür, daß sie nur allmählich verlorengegangen ist bzw. verlorengeht. Dazu trägt hauptsächlich die Kultur bei. Dem schwarzen Diener, Wäscher, Maurer, Aufseher, Soldaten, Eisenbahn- oder Postbeamten fehlt die Zeit und vor allem die durch Übung erworbene Geschicklichkeit, irgendwelche Geräte selbst zu verfertigen. Er ist also mehr als sein fern von der „Zivilisation“ lebender Stammesgenosse auf den fundi, den Handwerker oder Meister angewiesen, und auch unter diesen haben sich mit der Zeit immer mehr Spezialisten ausgebildet: der eine macht Hocker, der andre Mörser oder Betten, der dritte flicht die starken Ochsenstricke. Für Pfeilgift und Schmiedearbeiten ist diese Abhängigkeit von Nachbarstämmen bzw. besonderen Schmiedemeistern wohl uralt, aus dem einfachen Grunde, weil Pfeilgifte nicht überall hergestellt werden können und die Schmiede von jeher eine besondere Kaste gebildet haben (s. S. 138).
Hocker werden aus 25 cm hohen Holzklötzen geschnitzt, Mörser aus etwa 50 cm hohen Holzzylindern. Die Werkzeuge des Fundi[S. 137] sind kleine Äxte, Kratzer und Stemmeisen mit langen und kurzen Griffen. Die langen Hefte der Stemmeisen erhalten an dem Ende, wo das Eisen befestigt wird, als Verstärkung einen Ring aus der Schale der Dumpalmenfrucht, der festsitzt wie Eisen und ein Spalten des Griffes völlig unmöglich macht. Die Abbildungen lassen auch weitere Gebrauchsgegenstände erkennen, die von Männern angefertigt werden. Interessant ist die Tatsache, daß Kürbisflaschen, die geborsten sind, wieder genäht werden unter Anwendung der gleichen Technik die unsre Schuhmacher beim Nähen haben. Die Naht wird außen mit der Milch des Mwasi-Baumes wasserdicht verklebt.
Der Apparat zur Feuererzeugung besteht aus dem Quirlholz (kinindi, Zweig des Mrinditi-Baumes) und dem untergelegten flachen Holz, nke genannt. In den Rand des Nke schneidet man einen Kerb, durch welchen dann beim Quirlen mit dem Kinindi die glühend gewordenen Holzteilchen auf das untergelegte Messer fallen. Mit Hilfe eines aus zerriebenen trocknen Bananenblattscheiden gebildeten Zunders wird die glimmende Asche zum Feuer entfacht.
Bienenstöcke verfertigt man auf folgende Weise. 100–125 cm lange Baumstämme werden mit langen Holzkeilen in der Mitte gespalten und beide Hälften ausgehöhlt. Eine etwa handbreite Öffnung auf einer der Längsseiten dient zum Ausnehmen des Honigs und wird mit einem hineingesteckten Holzplättchen verschlossen. Die beiden den Bienenstock[S. 138] bildenden Holzschalen werden zusammengeschnürt und auf einen Baum gehängt. Den Honig nimmt man gewöhnlich abends aus. Mittels Rauch werden die Bienen verscheucht bzw. in das Innere des Stockes zurückgetrieben. Dann entnimmt der Pare-Imker dem Stock soviel der begehrten Süßigkeit, wie ohne Gefahr für das Volk möglich ist. Das Bild zeigt elf übereinandergelegte Bienenstöcke, die als Taubenhaus benutzt wurden.
Die Schmiede bilden eine besondere Kaste. Das Waldfest begehen sie mit den andern Vaasu zusammen, die Frauenfeste dagegen feiern sie streng nur innerhalb der eignen Kaste. Meine Untersuchungen sind leider durch den Krieg unterbrochen worden und meine Aufzeichnungen verloren gegangen, so daß ich von den mystischen Schmiedefesten unsrer Wapare nur sehr wenig schreiben kann. Man erzählte mir, wie ich mich erinnere, daß z. B. dem Hammer als dem Hauptschmiedewerkzeug bei seiner Anfertigung geopfert würde. Der Novize, der in die „Innung“ aufgenommen werden soll, muß in der Festnacht einen großen und zwei kleine Hämmer schmieden. Dabei sollen die Teilnehmer eigentümliche Lieder singen und Totenklage halten. Den Text dieser Lieder habe ich leider mit so manchem andern Material in Afrika lassen müssen.
Die Mädchen aus der Schmiedekaste werden von den Burschen der meisten andern Sippen gemieden. Verkehr mit ihnen würde eine bestimmte Krankheit zur Folge haben. Nur Jünglinge aus der gleichen Kaste können sie ohne Gefahr ehelichen.
Die Eisengewinnung ist Arbeit der Frau. Sie holt sich zu dem Zweck am Bach den schwarzen, eisenhaltigen Sand, trägt ihn auf einen Haufen und wäscht ihn aus. Dann baut sie sich ihren primitiven Hochofen auf, der in seiner Einfachheit gegenüber den bei andern afrikanischen Völkern gebräuchlichen Öfen wohl den Urtyp darstellt. Er besteht nämlich nur aus bis zu einer Höhe von etwa[S. 140] 30 cm ringförmig aufgebauten Feldsteinen und ist in den Fugen und Ritzen nicht einmal mit Lehm abgedichtet. In das Innere dieses sehr primitiven Hochofens schiebt sie eine 100–150 cm lange Tondüse zur Luftzuführung ein. Abwechselnd stapelt sie nun Holzkohlen und Eisenstaub in dem Ringofen übereinander auf. Die Holzkohlen hat sie sich auch vorher selbst dazu gebrannt, indem sie hierfür geeignetes Holz angezündet und im rechten Augenblick mit Wasser und Erde gelöscht hat. Am Ende der Tondüse stellt sie nunmehr den Blasebalg auf, und hält diesen, nachdem das Feuer angezündet ist, mit Hilfe einer Nachbarin einige Stunden lang in Tätigkeit. Der Sand hat sich inzwischen durch die Einwirkung der Hitze in große Schlackenklumpen verwandelt. Aus diesen Schlacken (maganga) gewinnt sie dann durch Zerklopfen das darin eingebettet liegende ausgeschmolzene Eisen (menya). Diese Stückchen bringt sie zum Schmied, der sie stark erhitzt, Staub als Schweißpulver im Feuer darüberstreut und alle zu einem größeren Stück zusammenschweißt.
Die Schmiede verfertigen Waffen (wie solche aus den Abbildungen ersichtlich sind), außerdem allerlei Schmucksachen: Hals- und Armringe, kleine Eisenketten und andre Dinge, die ein Negerherz erfreuen. Da wir gerade von Waffen sprechen, will ich den Parebogen erwähnen. Er ist glatt und an beiden Enden zugespitzt. Man benutzt nur das Holz des Gare-Baumes. Die Bogensehne wird[S. 141] aus Rücken- und Fußsehnen des Rindes gefertigt. Zur Herstellung von Pfeilen eignet sich eine große Anzahl von Bäumen. Den Werdegang bei der Herstellung lassen die Abbildungen erkennen. Mit den Blättern des Mshasha-Baumes, dem Glaspapier der Eingebornen, werden die Pfeilschäfte schön glattgerieben.
Pareschilde sieht man nur noch selten. Sie bestanden aus Büffelhaut, die in der Längsrichtung durch eine mit Handgriff versehene Leiste gesteift wurde. Den Rand bildete ein Eisendraht, um den herum die Haut vernäht wurde. Zum Schutze der Hand erhielt der Schild in der Mitte eine Verstärkung. Zuletzt wurde er mit Fett eingerieben und am Feuer gehärtet. Der Köcher besteht aus Kuhhaut, die man durch ein- bis zweitägiges Lagern in einem Düngerhaufen geschmeidig macht. Das Maß für den Lederzylinder nimmt der Mwasu mittels eines Stückchens Bananenbast an seinem Arm in der gewünschten Stärke. Nach diesem Maß schneidet er sich ein rechteckiges Stück Leder für den Köcher, indem er die straffgespannte Bogensehne als Lineal benutzt. Die beiden Längsseiten werden mit Darm zusammengenäht und dann am unteren Ende eine feste, am oberen eine abnehmbare Lederkappe als Deckel angebracht.
Die hauptsächlichsten Jagdwaffen sind Bogen und Pfeile und vereinzelt, besonders bei Berufsjägern in der Steppe, der Vorderlader. Sind die Pfeile vergiftet, so bilden sie selbst für den Elefanten oder das Nashorn eine todbringende Waffe, und für solches Großwild nimmt man nur Giftpfeile. Der angehende Jäger läßt sich von einem Medizinmann behandeln, damit seine Furcht schwindet. Diese, auf Autosuggestion beruhende „Behandlung“ in Verbindung mit allerlei Amuletten, die seinen Leib schützen sollen, gibt ihm die nötige Kaltblütigkeit und Treffsicherheit. Auch am Bogen oder Gewehr werden Sympathiemittel zur Erhöhung der Schußwirkung angebracht.
Den heimkehrenden Jäger begrüßt man: Mgosi maingo? = Mann, gibt es Beute? worauf er erwidert: Žangia! = sie ist da! Einzeljagd war ziemlich selten. Beliebter waren Jagdgesellschaften oder auch Treibjagden. Man versteht es, Hunde für die Jagd abzurichten, d. h. das angeschossene Wild zu verfolgen und gegebenenfalls niederzureißen. Nach glücklich verlaufener und erfolgreicher Jagd wird das Fleisch der Beute in ganz dünne Streifen geschnitten und an Sansiverenstricken in der glühenden Steppensonne zum Trocknen aufgehängt.
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Beliebt ist die Jagd mittels Fallen und Fallgruben. Runde Fallgruben gegen die Wildschweine findet man allerorts in den Feldern. Jäger fangen damit auch gerne Giraffen. Die verschiedenen Arten der Fallen beruhen fast alle auf dem gleichen Prinzip und sind sehr wirksam. Durch die Spannkraft eines niedergebogenen Bäumchens oder durch das Gewicht eines Klotzes wird der Falle die nötige Druck- oder Zugkraft gegeben. Das vorzeitige Losschnellen der Fallenschnur wird durch ein kleines, an ihr befestigtes Querhölzchen verhindert. Dieses ist so angebracht, daß in der gespannten[S. 143] Falle der Druck auf den Köderträger übertragen und dieser solange in seiner Lage festgehalten wird, bis der Köder berührt wird. Im gleichen Augenblick wird die Hemmung ihres Haltes beraubt und die Schlinge durch die nunmehr unmittelbar auf sie wirkende Spannkraft des aufschnellenden Astes zugezogen, oder bis dahin in der Schwebe gehaltene Gewichte, wie Bohlen, Klötze, Steine, werden zum Fallen gebracht.
Fische fängt man mit der Angel. Auch Fischgift wird gerne angewandt. Man gewinnt es aus den Blättern des Mkala-Baumes. Diese werden zerstampft und in das Wasser des Flusses ausgepreßt. Durch den Saft werden die Fische alsbald betäubt und schwimmen an der Oberfläche. Sie sollen sich aber, wie die Eingebornen mir versicherten, im Wasser nach einiger Zeit wieder vollständig erholen.
Die kleinen Kinder der Wapare laufen in den ersten Lebensjahren meist nackt umher. Etwa vom dritten bis vierten Jahre an machen die Eltern ihnen Schurzfelle. Die Mädchen tragen vorn einen kleinen Schamschurz und hinten ein langes schmales Fell, das bis auf die Waden reicht. In diesem Alter heißen sie vabora va masambi = Mädchen der (beiden) Schurzfelle. Später, wenn sie die Frauenfeste durchgemacht und sie die von den erwachsenen Frauen getragenen großen Schurzfelle erhalten haben, nennt man sie bis zu ihrer Verheiratung vai va shuke = bekleidete Jungfrauen im Gegensatz zu den völlig unbekleideten vai va nyumba der Festzeit und der nur notdürftig durch die zwei Schurzfelle verhüllten Jugend.
Die Felle der Männer heißen lukopwa, wenn es sich um eine Art Toga handelt, die auf der einen Schulter zusammengebunden wird. Sie besteht aus mehreren zusammengenähten Ziegenfellen. Eine andre Art nennt man kizurwa. Wird eine Kuhhaut zum Fellkleid verarbeitet, nennt man es ikunya. Die Frauenfelle heißen mizia. Sie bestehen aus drei mittels Darm zusammengenähten Ziegenfellen.
Die Kunst des Gerbens ist den Wapare unbekannt. So versuchen sie sich ihre Kleidung auf andre und zwar ziemlich mühsame Weise geschmeidig zu erhalten. Die Technik ist ungefähr folgende: Nachdem das frische Fell in der Sonne ausgespannt und getrocknet worden ist, wird es an beiden Enden mit Verzierungen versehen, indem man zwei zickzackförmige oder sonstwie gemusterte Haarstreifen[S. 144] stehen läßt und die übrigen Haare abschabt. Bei den Mizia (Frauenschurzfellen) z. B. werden dann noch aus zwei weiteren Fellen Seitenteile und Querstreifen zugeschnitten. Die einzelnen Teile werden mit beiden Händen in kreisförmiger Bewegung gewalkt bis sie schmiegsam sind und sich gut zusammennähen lassen. Ist der ganze Schurz fertig, wird er wieder auf die Erde gespannt und mit Fett und roter Erde (ngetwa) oder einer pulverisierten Baumwurzel (ikorobohwa) eingerieben. Nunmehr werden die äußersten Streifen mit den Spannlöchern abgeschnitten (kuvambaa); das Fell wird abermals durchgewalkt und kann dann getragen werden. Das Walken (kusuka) hat jeden Morgen zu geschehen. Unterläßt man es, so wird das Fell steif, und sein Träger bewegt sich recht geräuschvoll auf seinem Lebenswege. Die Vaasu nannten die Schurzfelle wegen des Lärmes, den selbst die gut gewalkten beim Gehen verursachen, mtuka. Das Wort kam während des Krieges auf, und zuerst war ich mir über den sprachlichen Ursprung nicht klar, bis ich nach langem Bemühen auf des Rätsels Lösung kam. Mtuka ist eine Zusammenziehung des englischen Wortes motor-car, d. h. Automobil. Auf meine erstaunte Frage, die ich nach dieser Entdeckung an einige Schwarze richtete, erwiderte einer von ihnen, die Felle machten das gleiche Geräusch wie die Automobile, und außerdem röchen sie genau so schlecht wegen des zum Einreiben benutzten Fettes. Das war mir dann allerdings auch sofort einleuchtend und der anfangs ziemlich dunkle Zusammenhang klar.
Im übrigen haben die europäischen Baumwollstoffe die Fellkleidung fast gänzlich verdrängt. Als während des Weltkrieges Ostafrika völlig von der Außenwelt abgeschnitten war, kam sie allerdings wieder zu Ehren. In einer der Landschaften unsres Missionsgebietes behauptete ein Medizinmann sogar, er sei von den Ahnengeistern beauftragt, die Wapare vor dem Abfall von den väterlichen Sitten auch bezüglich der Kleidung zu warnen und forderte zum schleunigen Verkauf der noch in ihrem Besitz befindlichen europäischen Stoffe auf. Einige Heiden ließen sich einschüchtern und verschleuderten ihre Baumwollstoffe an die hocherfreute aufgeklärte Jugend. Die Kleidernot wurde nachher so groß, daß die Neger gerne 30 Mark und mehr für ein Stück Stoff von ca. 2 m Länge zahlten, wenn sie es nur bekommen konnten.
Als Schmuck werden Kettchen am Oberarm und über den Waden getragen. Häufig sieht man bis zu 25 cm lange Armspiralen aus Eisen oder Messingdraht, Hals- und Armringe sowie die verschiedenartigsten[S. 145] Halsketten aus eingeführten Glasperlen. Auch die Schamschurze der Vai va nyumba werden oft, wie aus dem Bild ersichtlich, mit Kaurimuscheln bestickt. Ziernarben (mitambara) am Körper macht man auf folgende Weise: Mit einem spitzen Haken wird die Haut an der betreffenden Stelle leicht gehoben und dann mit einem Messer geritzt. Ist auf diese Weise das Muster aufgezeichnet, dann reibt man die Schnittwunden mit einem leicht angerösteten entkernten Maiskolben. Diese Prozedur wird bis zur Heilung der Wunden fortgesetzt. Es bilden sich auf diese Weise etwa 1 cm lange „Zierschmisse“, allerdings auf ganz ungefährliche Art und Weise erworben. Beliebt bei Mädchen und jungen Frauen ist die Gesichtsbemalung mittels ätzender Pflanzensäfte. Früher war das Muster ein großer Strich von der Stirn bis auf die Nasenspitze und ein Ring von je 6–10 Punkten unter den Augen. Später entschied sich die Mode für einen Kreis mit dickem Punkt auf Stirn und Backen. Der Pflanzensaft ätzt die Haut völlig ab. Es entsteht eine Wunde, die nach ihrer Verheilung das Muster in zuerst heller, später tiefschwarzer Farbe erkennen läßt. Auch durch nur stellenweises Abrasieren der Kopfhaare versteht der Paremann sowie auch sein Weib sich das Haupt zu schmücken. Da das Haar Seelenstoffträger ist, liegen hier sehr oft animistische Vorstellungen zugrunde.
Der Leser wird aus dem Vorstehenden schon ersehen haben, daß auch im dunklen Afrika die Mode herrscht. Wenn die Schwarzen auch oft recht eigentümliche Formen wählen, sich zu schmücken, z. B. mit Ohren- und Lippenpflöcken, so haben wir dennoch kein Recht, deshalb auf sie herabzusehen; sie würden uns ihr schönes Sprichwort vorhalten: „Der Affe lacht nur deshalb über den Buckel seines Genossen, weil er den eignen nicht sieht.“ Was für Europa lange Zeit Paris war, das ist für Afrika die Küste. Von dort her dringen die jeweiligen Moden ins Innere vor: heute grellfarbige Stoffe, morgen oft recht ansprechende bunte Muster, dann wieder Tücher, die mit allerlei tiefen Sinnsprüchen in Deutsch, Arabisch oder Kisuaheli bedruckt sind, wie: „Guten Morgen Bibi, wie geht es dir?“ oder: „Guten Tag, mein Liebling!“ und dergleichen mehr. Doch wollen wir uns nun von der Mode, deren Herrschaft auch den schwarzen Ehemann recht viel Geld kostet, etwas Produktiverem zuwenden und von
sprechen. Die Wapare sind in erster Linie ein Ackerbau treibendes Volk. Daneben halten die meisten wenigstens einige Kühe, Schafe oder[S. 146] Ziegen. Die Viehzucht bildet nämlich die fast alleinige Anlage des aus der Landwirtschaft gewonnenen Kapitals. Sie ist eine ziemlich sichere Anlage und verzinst sich sehr gut. Viele Vaasu hüten ihr Vieh nicht alles selbst, sondern stellen es an verschiedenen Plätzen bei andern Leuten unter, damit sie bei einem „Bankkrach“, in diesem Falle bei einer Viehseuche oder einem räuberischen Einfall des Nachbarstammes, nicht mit einem Male alles verlieren. Dem Hirten gehört als Lohn die Milch der Kuh, bei Kleinvieh ein bestimmter Teil des Wurfes. Ochsen, die gemästet werden sollen, werden schon als Kalb kastriert und dann im Stalle noch besonders mit saftigen Bananenstauden gefüttert. Im allgemeinen ist aber Stallfütterung bei unsern Wapare im Gegensatz zu andern Stämmen nicht gebräuchlich. Natürlich gibt es auch bei ihnen „Arme“, die kein Vieh ihr eigen nennen. Die Armut der Eingebornen ist eben fast nur Besitzlosigkeit an Vieh; denn dank des gesunden und sozialen Bodenrechtes ist eine Armut in unserm Sinne unbekannt. Wer ackern will, bekommt Land und selbst Samen kostenlos. Jedem, der fleißig seine Äcker bearbeitet, ist Gelegenheit gegeben, Kapitalist zu werden, d. h. er kann den Überfluß seiner Ernte verkaufen oder gegen Vieh eintauschen. Bei einigem Fleiß kann jeder es bald zu etwas bringen, und niemand hat ein Recht, ihn ob seines Kapitals scheel anzusehen, hat doch ein jeder die gleiche Gelegenheit. Selbst das Vieh für seine Morgengabe hat sich mancher Paremann so in zäher Arbeit „erackert“, wie sie selbst sagen. Bei den Negern kann also der einzelne noch leichter seines Glückes und Wohlstandes Schmied werden, weil die Bodenverhältnisse noch ähnlich den in der Bibel von Gott niedergelegten Grundsätzen geregelt sind, wie wir das bei der Besprechung des Bodenrechtes sahen.
Die Wapare treiben Wechselwirtschaft, d. h. sie bebauen einen Acker drei bis vier Jahre und lassen ihn dann ein bis zwei Jahre ruhen. Eine bestimmte Fruchtfolge wird nicht eingehalten, man weiß aber, daß Bohnen „dem Felde Kraft geben“ und pflanzt sie zwischen den Mais. Der Zeitpunkt hierfür wird so gewählt, daß die nach der Ernte stehengebliebenen trockenen Maisstengel den dann gerade Ranken treibenden Bohnen (nkwasha) eine Stütze bieten. Legt man ein neues Feld an, so pflanzt man Mais, Zuckerrohr, Kartoffeln und Bananen zusammen, von letzteren nur einige Stauden. Im nächsten Jahre kann der Bauer dann noch einmal Mais pflanzen. Später ist das Zuckerrohr bereits zu groß, als daß noch eine Zwischenkultur gedeihen würde. Zuckerrohrfelder stehen oft sechs Jahre, bei[S. 147] guter Pflege noch länger. Es gibt folgende Arten: 1. mguva, 2. mguva mjewa, 3. mguva mjiru, 4. mguva wa mnyambe, 5. mguva wa itaga ngari, 6. mguva wa mbohwe, 7. mfushi, 8. mguva wa itamba u. a. An Bananenarten seien folgende genannt: 1. idio, 2. ižigu, 3. ihoye, 4. ndiži, 5. irurue, 6. muhalahala, 7. mremwa wa idio, 8. mremwa wa ižigu, 9. munyerere, 10. nkare u. a. Diese Arten sieht man überall. Außerdem werden in den Steppenlandschaften schon von der Küste her eingeführte Bananensorten gefunden. Von den verschiedenen Batatenarten (Süßkartoffel) seien folgende erwähnt: 1. kodingiri, 2. kiteta, 3. kagoe, 4. komkamba, 5. maloza, 6. kimbere, 7. kigingi cha ng’ombe, 8. kajungu, 9. kagi, 10. kokipau u. a. Daneben werden Bohnen, Erbsen und die Jamswurzel häufig angebaut. Durch kunstvoll in manchmal recht schwierigem Gelände angelegte Kanäle werden die Äcker in der Trockenzeit bewässert.
Wenn die Bibel sagt, daß der Mensch im Schweiße seines Angesichtes sein Brot essen soll, so ist das auch von den Schwarzen wahr. Die meisten Europäer sind ja geneigt, den Fleiß der Neger an ihrer Willigkeit zu messen, mit der sie sich uns für unsre Arbeiten zur Verfügung stellen. Daß dies ein sehr einseitiger Standpunkt ist, wird jedem Unparteiischen einleuchten. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß der Neger nicht beim Europäer arbeiten könnte oder sollte. Aber ich möchte nur der Beweisführung entgegentreten, der Eingeborne müsse schon aus dem Grunde beim Europäer arbeiten, weil er auf seinen Feldern ja absolut nichts zu machen habe, die tropische Natur bringe alles fast ohne sein Zutun reichlich hervor, die Früchte wüchsen ihm in den Mund, und das unumgänglich Notwendige mache doch die Frau. Diese Beweisführung ist durchaus irreführend und unzutreffend. Denn das tropische Klima läßt neben dem Korn auch das Unkraut üppig hervorschießen, und dies will auf den Feldern der Eingebornen genau so ausgejätet sein wie auf den Pflanzungen der Europäer. Aber es gibt noch mehr Übel. Ist das Land urbar gemacht und der Regen gefallen bzw. die Arbeit des Wässerns erledigt, dann wird der Mais gepflanzt. Gleichzeitig sind aber auch die Affen da, die sich sofort über die Pflanzlöcher hermachen und die Saatkörner wieder ausgraben. Da gilt es nun für die Eingebornen tagsüber ununterbrochen Wache zu stehen, bis nach etwa zehn Tagen der aufgegangene Mais so groß geworden ist, daß er in dem Stadium seine Anziehungskraft für die Meerkatzen verloren hat. Einige Tage später muß der schwarze Bauer bereits mit der ersten[S. 148] Reinigung des Feldes vom Unkraut beginnen, denn der Acker sieht aus wie ein großer grüner Teppich. An das erste Behacken schließt sich oft ein nochmaliges Bewässern und dann die zweite Reinigung. Damit hat sich der Mais soweit entwickelt, daß er Fruchtkolben ansetzt, ein freudiges Ereignis für den schwarzen Bauern, sowohl wie für die zahllosen Affen und Wildschweine, die den Tisch für sich gedeckt wähnen. Nun muß der Neger mit seiner Familie in den meisten Gegenden von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne Ermüden mit Pfeil und Bogen auf der Lauer liegen. Denn die Bäume ringsum sind von den grauen Meerkatzen und andern Affen belebt, die nur darauf warten, daß der Wächter ihnen einen Augenblick den Rücken zuwendet, um sofort auf Raub auszugehen. Aber auch nachts gibt es keine Ruhe. Wohl schlafen die diebischen Affen in ihren Baumverstecken; aber aus dem Dickicht kommen in großer Anzahl die gefräßigen Wildschweine. Die ganze Nacht hindurch hört man die Berge vom Trommeln auf leeren Petroleumtins und anderm Lärm widerhallen, mit welchem der Bauer die Wildschweine zu verscheuchen sucht. Wenn er auch schon beizeiten seinen ganzen Acker mit einem starken Holzzaun umgeben hat, so gewährt selbst diese mühsame Arbeit keinen unbedingten Schutz, besonders nachdem unter dem Einfluß der Witterung und vor allem der Termiten der schöne Zaun morsch geworden ist. Diese Tag- und Nachtwachen bedeuten für die ganze Familie zumeist ein Übersiedeln aus den Wohnhütten in die primitiven Wachhütten. Wer einmal auf irgendeine Weise an diesen Arbeiten teilgenommen oder wenigstens eine Kenntnis von den damit verbundenen Strapazen erhalten hat, wird sich hüten, geringschätzig davon zu sprechen.
Ist der Mais reif, so wird er geerntet, d. h. die einzelnen Kolben abgebrochen, deren sechs bis acht mit den Hüllblättern zusammengebunden und diese zuletzt zu 1–1½ m langen Büscheln (mako) vereinigt, die weithin sichtbar in den Bäumen hängen. Trotzdem diese Scheunen in der Nähe der Hütten angelegt sind, muß man immer vor den stets hungrigen Affen auf der Hut sein. Sie sind so dreist, daß man oft einen besonderen Wächter zu den Mako stellen muß. Ganz ohne sein Zutun wachsen also dem Eingebornen die Früchte doch nicht in den Mund. Darauf weist auch Prof. Weule mit sehr beachtenswerten Worten hin, wenn er sagt: „Ein Gemeingut der älteren ethnographischen Literatur ist die ständige Wiederkehr des Wortes von der Trägheit der Neger; nur die Frau arbeite und rackere sich ab, der Herr des Hauses aber liege auf der Bärenhaut und tue[S. 149] nichts. Auch diese Ansicht bedarf einer kleinen Berichtigung. Freilich arbeitet der Wilde nur das Allernotwendigste und auch dieses nur im letzten Augenblick. Es soll jedoch auch im zivilisierten Europa Leute geben, denen es nicht viel anders ergeht. Dieses Hinausschieben bis zum letzten Moment ist allem Anschein nach die Ursache für das Aufkommen des Rufs der Trägheit gewesen; in Wirklichkeit ist der Feldbauer unter den Wilden eigentlich immer tätig, indem schon der Mangel an vollkommeneren Geräten ihn zwingt, für die Arbeit des Grabens, Hackens, Reinigens, Erntens usw., auch des Hausbaues und vieler andrer Verrichtungen eine ungleich längere Zeit zu verbrauchen als der technisch weit besser gestellte Europäer. Auch die Sammler und Jäger zwingt die Ursprünglichkeit ihrer Methoden zu einer Tätigkeit, die den Körper vermutlich mehr mitnimmt als die neun oder zehnstündige Arbeitszeit in unsern Betrieben, so daß die langen Ruhepausen der Angehörigen dieser Wirtschaftsstufe schon in Rücksicht auf ihre oft unerhörten Strapazen nötig sind. Was es heißt, in glühendster Tropenhitze im heißen Kalaharisand am hellen lichten Tage ein Wild zu beschleichen, kann man so recht aus Passarges lebhafter Schilderung des Buschmannlebens erkennen. Wenn die armen Teufel hinterher essen, bis sie beinahe platzen, und wenn sie an den neuen Jagdzug erst wieder herantreten, wenn der Hunger sie dazu treibt, so ist das sehr wohl zu verstehen ...“
Das Hauptackergerät des Paremannes ist die kurzstielige Hacke. Mit ihr lockert er den Boden, reinigt die Felder vom Unkraut, macht die Pflanzlöcher und leitet bei der Berieselung das Wasser über die Äcker. Die Berieselung wird in dem regenarmen Südpare sehr viel, in der Steppe immer angewandt. Bei Besprechung der Rechtssitten sahen wir bereits, wie die ordnungsmäßige Verteilung des Wassers an die Entnehmer einem Deichhauptmann obliegt, der, besonders bei großer Trockenheit, auch nachts wässern läßt. Da die Bewässerung bei der Dunkelheit aber äußerst schwierig ist, so steht dem Bauern, der nachts an die Reihe gekommen ist, gewöhnlich das Wasser des[S. 150] ganzen Kanals zur Verfügung, während er sonst nur die Hälfte oder ein Drittel entnehmen darf. Will jemand nachts wässern, so trifft er schon am Tage vorher die nötigen Vorbereitungen. Er gräbt einen flachen Kanal, in welchem er abends das Wasser bis auf sein Feld leitet, wo es sich dann in einem Netz von kleinen ebenfalls vorher angelegten Rinnen auf den ganzen Acker verteilen kann. In diesen läßt er das Wasser „schlafen“ und beschränkt seine Tätigkeit in der Hauptsache darauf, die schadhaft gewordenen Stellen im Zuleitungskanal immer wieder auszubessern; damit das Wasser unterwegs nicht verloren geht. Beim ersten Morgengrauen hat er dann, wenn alles gut vorbereitet war, nur noch nötig, das Wasser auf die in der Dunkelheit übersehenen und deshalb trockengebliebenen Stellen (mabango) zu leiten.
Oft kommt es allerdings vor, daß ein andrer Bauer, dessen Feld auch dringend des köstlichen Nasses bedarf, den Staudamm im Hauptkanal ein wenig einreißt, um ihm weiter unterhalb Wasser für seinen Acker entnehmen zu können. Bald ist der Zuleitungskanal des ersten Bauern trocken, und der muß nun den oft weiten Weg bis zu seinem Staudamm zurücklegen, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Wiederholt sich der Fall, und werden am Stauorte Fußspuren bemerkt, so weiß der Bauer, daß es sich um einen Dieb handelt, der ihm sein Wasser stiehlt. Zornig geht er dann wohl nach Hause, um am nächsten Morgen in aller Frühe das Feld zu suchen, das in der Nacht bewässert worden ist. Den Betreffenden verklagt er dann beim Wasserverteiler. Der Dieb versucht sich auszureden. Er sei völlig unschuldig an der ganzen Sache. Der Kläger habe sich zuviel Wasser in seinen Kanal geleitet und nur dadurch sei der Damm immer wieder gerissen. Aber alle diese Ausreden werden hinfällig der Tatsache gegenüber, daß sein Feld schön berieselt ist. Wohl sucht er auch das als eine ganz zufällige Folgeerscheinung hinzustellen. Er habe, als das Wasser gekommen sei, geglaubt, es gehöre niemand, und habe es, um einen nutzlosen Abfluß auf jeden Fall zu verhüten, auf seinen Acker geleitet. Aber es hilft ihm nichts, er wird als überführt betrachtet und muß die auf Wasserdiebstahl stehende Strafe zahlen.
Oft gibt es fruchtbare oder sonst gut gelegene Stellen Land, die aber stark mit Quecken bewachsen sind. Diese werden mit einem langen Grabstock (mulo) gründlicher umgeackert, als es mit der kleinen Hacke möglich wäre. Dieser Grabstock wird in die Erde gestoßen, dicke Erdschollen werden umgebrochen und diese dann mit dem Mulo auseinandergeschlagen.[S. 151] Einen kurzen Mulo, etwa 75 cm lang, gebraucht man gerne zum Ausgraben der Bataten.
Einen Teil seiner Maisernte legt der Eingeborne auf den Boden seiner Hütte, wo er durch den Rauch wohl äußerlich völlig gebräunt, zugleich aber wirksam vor dem alles zerfressenden Bohrkäfer und der Fäulnis geschützt wird. Auch entkernter Mais und Bohnen werden in großen Tontöpfen auf diese Weise geräuchert und erhalten. Im übrigen ist das Aufbewahren von Körnerfrüchten in den Tropen eine äußerst schwierige Sache. Schon in der Trockenzeit hat man neben den diebischen Affen die Bohrkäfer und Termiten zu bekämpfen, in der Regenzeit dagegen die besonders im Gebirge fast nicht zu beseitigende Neigung zur Schimmelbildung. Kein Wunder also, daß der Neger alsbald einen Teil der Ernte bei fröhlichen Gelagen vertrinkt und daß er überhaupt nicht mehr anbaut, als zu seinem Unterhalt nötig ist. Daß aber die Produktionskraft des schwarzen Bauern, auch des Paremannes, leicht gesteigert werden kann, zeigte sich überall da, wo er für seine Produkte in irgendeinem europäischen Betriebe einen sicheren Abnehmer gefunden hatte.
Beliebt ist der Verkauf von Mais gegen Vieh. Einer der oben erwähnten großen Maisstapel, der Mako, kostet eine Ziege, also je nach Größe 4–5 Rupien. Drei Mako kosten einen Ochsen. Bei einer Hungersnot oder schlechten Ernte schnellen die Preise für einen solchen Stapel natürlich sofort in die Höhe, aber meistens nur dann, wenn man mit barem Gelde kauft. Für den Tausch gegen Vieh bleiben gewöhnlich die alten Sätze bestehen, trotzdem die Viehpreise nicht gleichzeitig mit den Nahrungsmittelpreisen in die Höhe gehen, sondern ziemlich beständig sind, besonders im Tauschhandel. Diese Erscheinung findet ihre Erklärung darin, daß nach althergebrachter Sitte der feste Satz für einen solchen Stapel eine Ziege ist. Nimmt der Bauer bares Geld, etwa 10 Rupien, so ist das ein „moderner“ Handel, über den im ungeschriebenen Gesetzbuch der Väter keinerlei Bestimmung getroffen worden ist, der folglich auch auf dem Rechtswege nicht angefochten werden kann. Würde der Verkäufer aber dem Stammesgenossen zwei Ziegen, die früher nominell nicht einmal den gleichen Wert wie 10 Rupien besaßen, abverlangen, so würde der Käufer später, wenn die Not vorbei, diesen Kauf unter Berufung auf das Gesetz rückgängig machen, bzw. auf Herausgabe eines zweiten Stapels klagen. Aber auch nach der finanztechnischen Seite hin entbehrt diese gute Sitte ihrer Begründung nicht; denn während Bargeld für den Eingebornen totes Kapital ist, welches dazu noch sehr leicht gestohlen[S. 152] werden kann, verzinst sich in Vieh angelegtes Geld im allgemeinen sehr gut.
Ehe ich dieses Kapitel beschließe, möchte ich noch darauf hinweisen, daß man auf einigen an steilen Hängen gelegenen Batatenfeldern die Anfänge einer Terrassierung beobachten kann. Die Steine werden nämlich überall zu kleinen Mauern zusammengetragen und die so gebildeten Terrassen sind bald völlig mit Erde und Bataten bedeckt. Sie erleichtern auch die an solch steilen Hängen äußerst schwierige Bewässerung, da sie das Wasser immer wieder im Lauf aufhalten und verteilen. Düngung mit Kuhmist wird eigentümlicherweise, soweit mir bekannt ist, nur auf Tabakfeldern angewandt, die man deshalb auch fast immer nahe bei der Hütte angelegt findet.
Zusammenfassend kann man wohl sagen, daß der Paremann ein den Verhältnissen seines Landes und seiner primitiven Technik entsprechend guter Bauer ist, und daß auch von ihm und seinem Ackerbau das gilt, was Prof. Weule von den Eingebornen Afrikas im allgemeinen sagt: „Die einfache Art der Urbarmachung und Bestellung des Feldes besagt keineswegs, daß der Hackbau nun auch überall eine minderwertige Wirtschaftsform sei. Wer einmal gesehen hat, wie sauber die Neger ihre oft weitgedehnten Anpflanzungen mit den vielen kleinen Feldern von Hirse und Bohnen in mehreren Arten von Mais, Maniok, Süßkartoffeln, Erdnüssen usw. halten und wie sie sie hegen und pflegen und von hohen Wachthäuschen aus mit Geschrei und Schleuderwurf die kleinen Schädlinge (Vögel), mit Bogen und Flinte die großen, die Affen, Schweine und Elefanten, zu verjagen trachten, und was sie aus dem Boden trotz der überall fehlenden Düngung herausholen, wird rasch vom Gegenteil überzeugt sein.“
[S. 153]
Die mannigfaltigsten Erscheinungen auf dem Gebiete des Seelenglaubens und des Seelenkultus fassen wir mit dem Worte Animismus zusammen (vom lat. anima = Seele). Erstrecken sich die mit dem Seelenglauben verbundenen Vorstellungen auch auf Tiere, so haben wir eine besondere Form des Animismus vor uns, den Animalismus.
Wer die Vorgänge, mit denen wir es hier zu tun haben, eingehend studieren will, den verweise ich auf das höchst interessante und ausführliche Buch: W. Wundt, „Völkerpsychologie Bd. 2, Mythus und Religion“, auf welches ich mich im folgenden des öfteren beziehe. Es wird häufig gesagt: Der Animismus sei die primitive Religion der Primitiven, und wie man von den Wirtschaftsformen der Primitiven Rückschlüsse auf die ursprüngliche Form der Wirtschaft macht, so glaubt man dasselbe auch bei der Religion tun zu können. Aber aus dem Aberglauben kann sich keine Religion entwickeln, und selbst wenn heute echt heidnischem Aberglauben ein christlicher Mantel umgehängt wird, so ist deshalb aus dem Aberglauben noch keine Religion geworden. Animismus ist keine Religion sondern Aberglaube, er ist nicht entwicklungsfähig sondern bereits degeneriert. Nur ganz wenige Spuren in ihm deuten darauf hin, daß den Urahnen göttliche Grundsätze bekannt waren. Das am Kopfe dieses Kapitels stehende Motto besagt schon, wer nach unsrer Auffassung der Urheber des Glaubens an eine in sich unsterbliche Seele ist, an eine Seele, die beim Tode nicht stirbt, sondern ewig lebt „wie Gott“; die nicht durch eine besondere Äußerung der göttlichen Lebenskräfte „die Unsterblichkeit anzieht“, sondern bereits unsterblich ist und nach dem Tode bewußt an den Schicksalen der Menschen teilnimmt bzw. dieselben[S. 154] gar beeinflußt. Es liegt nicht im Rahmen dieser Abhandlung, die theologische Seite der Frage weiter auszuführen. Die Bedeutung der Unsterblichkeitslehre erhellt aber schon aus der Tatsache, daß mit ihr jedes heidnische bzw. aus dem Heidentum übernommene Religionssystem zusammenbrechen würde und ebenso manche „christlichen“ Gebräuche, die aber, wie Wundt das überzeugend nachweist, rein heidnischen Ursprungs sind. Mit den Worten unsres Mottos wurde schon im Paradiese der Grund zum Animismus gelegt. Wundt schreibt in seiner „Völkerpsychologie“, (Abschn. „Die Körperseele“): „Gegenüber den bereits geläuterten Vorstellungen von einer rein geistigen Psyche, wie sie die griechische Philosophie entwickelt hatte, kehrte so das Christentum wieder zu der Idee der Körperseele zurück, und erst der Philosophie der Renaissance war es vorbehalten, auch hier die Gedanken der griechischen Philosophie zu erneuern, ohne damit freilich bis zum heutigen Tage dem geltenden Dogma gegenüber durchzudringen.“ Wenn man nun danach trachtet, die Gedanken der griechischen Philosophie zu erneuern und dem Christentum statt der Idee der Körperseele die der rein geistigen Psyche zu geben, so steht doch nach unsrer Überzeugung fest, daß beide Ideen mit dem Christentum und der Bibel nichts zu tun haben. Der Vorgang bliebe immer nur die Entwicklung von einer heidnischen Idee zur andern.
Die Worte: „Ihr werdet mitnichten des Todes sterben“ und der Anblick eines toten Menschen ließen sich nicht anders zusammenreimen, als daß man bei dem Toten nicht das Leben als erloschen ansah, sondern nur die Bewegung. Der Tote sieht und hört alles und nimmt an der Gestaltung der Geschicke seiner Nachkommen regen Anteil. Diese Vorstellung findet ihren Ausdruck in den Kulten, die eine Erhaltung der Leiche oder gewisser Teile derselben bezwecken. Bei einem großen Teil unsrer Wapare äußert sie sich in dem Bestreben, den Schädel als wichtigsten Knochen der Leiche aufzubewahren. Der an diesen Schädel gebundenen Körperseele werden später allerlei Speisopfer dargebracht, und man glaubt, daß die Seele davon genieße. Diese echt heidnische Vorstellung von der Körperseele fand ich z. B. auch in Rußland, Serbien und Bulgarien wieder, als ich dort die Priester dem Leichenzuge mit einem Speisopfer voranschreiten sah, das angeblich auf dem Grabe des Verstorbenen geopfert wird. Über die weitere Entwicklung dieser Art des Seelenglaubens sagt Wundt: „Da diese Methoden der Konservierung die wichtigsten Teile der Körperform, die des Angesichtes, stark beeinträchtigten, so hat hier die spätere ägyptische Sitte dadurch abzuhelfen gesucht, daß der[S. 155] Mumie das Portrait des Verstorbenen beigegeben wurde, eine Sitte, die auf dieser im übrigen schon weit fortgeschrittenen Stufe des Totenkultus noch einmal die Macht jener Assoziationen bezeugt, aus denen die Vorstellung der Körperseele hervorgegangen ist. Indem sich aber hier diese Assoziationen teilweise von dem Körper loslösen und auf dessen künstliche Nachbildung übergehen, bringt diese Erscheinung zugleich den Kultus der Körperseele in unmittelbare Beziehung zu zahlreichen andern, auf die nämliche Quelle zurückgehenden Erscheinungen. Ist es doch die gleiche, festgewurzelte Assoziation, die bis in die höheren Kulturformen hinauf in jedes einzelne Götterbild oder auf christlichem Boden in jedes Marien- oder Heiligenbild etwas von der Seele des dargestellten Wesens übergehen läßt.“ Derselbe Gedankengang ist die Ursache, daß der Neger nur mit großem Grauen sein eigenes Bild betrachtet und es auch offen ausspricht, daß ihm durch dieses ein Teil seiner Seele bzw. Seelenkräfte genommen worden sei. Ich denke hier an unsre ersten Erfahrungen mit den Wapare beim Photographieren. Glücklich hatte ich eine interessante Gruppe zusammengestellt. Als ich aber hinter den Apparat trat und das schwarze Tuch über den Kopf nahm, da liefen sie alle schreiend auseinander, weil ich, wie sie glaubten, ihre Seele in den wunderlichen Kasten sperren wollte. Auch heute noch betrachten besonders heidnische Frauen ihr Bild oft mit Ausrufen des Entsetzens. Diese Gedankenverbindung, daß nämlich die Seelenkräfte des Verstorbenen auf sein Bild übergehen, kann aber in unsrer modernen Zeit auch bedeutend freundlichere Vorstellungen auslösen. So wurde folgendes aus Wien gemeldet: „Ein Bataillon des 32. I. R. weilte bei den Schießübungen in Triest und wurde von dort nach Vasovitza kommandiert. Nächst der Ortschaft befindet sich in einer Felsennische eine Marienstatue, für die ein reicher Gutsbesitzer eine Goldkrone im Werte von 10000 Kr. anfertigen ließ. Ein Soldat, der im ganzen Regiment als sehr fromm bekannt war, verrichtete dort täglich seine Andacht. Eines Tages nun verschwand die Goldkrone vom Haupte der Marienstatue und wurde schließlich im Koffer jenes frommen Soldaten gefunden. Der gute Mann erzählte, er habe die Heilige um Unterstützung gebeten, worauf die Statue Leben bekommen und ihm die wertvolle Krone gereicht habe. Das Protokoll gelangte im Instanzenwege bis zum Kriegsminister, der sich jedoch in derlei Dingen nicht kompetent fühlte und an den Feldvikar die schriftliche Anfrage richtete, ob heute noch Wunder geschähen. Die Antwort lautete: Wiewohl auch heute noch Wunder geschehen können, ist doch[S. 156] die Mannschaft dahin zu belehren, daß ähnliche wertvolle Geschenke selbst von der hl. Maria nicht angenommen werden dürfen.“ Der fromme Soldat wurde tatsächlich freigelassen, und die Statue erhielt ihre Krone wieder.
In großen Kirchen St. Petersburgs sah ich Heiligenbilder, auf welchen die täglichen Küsse der Gläubigen tiefe Spuren hinterlassen hatten. In Kiew, der heiligen russischen Stadt, besuchten wir die Gräber einer großen Anzahl von Heiligen, die sich bei Lebzeiten ein Kloster unter der Erde gebaut hatten und auch dort gestorben waren. Während wir mit Kerzen in der Hand die finsteren Gänge durchschritten, an deren Wänden die Särge der Heiligen aufgestellt waren, konnten wir uns davon überzeugen, wie heute mitten in der Christenheit rein heidnische Gedanken genährt und erhalten werden. Denn wir sahen Mütter immer wieder ihre Kinder hochheben, damit sie die Strohpuppen küßten, die in den Särgen lagen und die Heiligen vorstellen sollten. Da der Kuß auch zu einem Symbol der Vermischung des seelentragenden Hauches geworden ist, so lag dieser unhygienischen Handlungsweise jener russischen Orthodoxen, wenn auch unbewußt, der Aberglaube zugrunde, daß die Kinder durch den Kuß der Seelenkräfte der Verstorbenen — sei es auch nur in Gestalt eines Segens — teilhaftig würden. So sehen wir den heidnischen Glauben an die Körperseele noch heute mitten in der Christenheit kräftig erhalten. Leicht ließe sich dieser Glaube in vielen andern Fällen nachweisen, und wir brauchten durchaus nicht nach Rußland zu gehen, um Material dafür zu sammeln. Ich habe diese allgemeinen Bemerkungen nur vorausgeschickt, um dem Leser die entsprechenden Gedankengänge des Paremannes näherzubringen. Denn mancher gute Christ hört heute nur mit Schaudern von den tiefstehenden, unzivilisierten Wapare, daß sie den Schädel des Vaters wieder ausgraben, um ihm ihre Opfer darzubringen und seinen Segen zu erflehen. Er übersieht nur zu leicht, daß er in vielen Fällen trotz aller Aufklärung einen Animismus in seinem Herzen bewahrt hat, der ihn in diesem Stück auf die gleiche Stufe mit dem verachteten Neger stellt. Ob in christlicher oder heidnischer Aufmachung, Aberglaube bleibt eben immer Aberglaube.
Wenden wir uns nun den Dingen zu, die für den Paremann im besonderen als Träger der Körperseele gelten, und betrachten wir zuerst die Stellung, die das Blut hier einnimmt. Die Bibel verbietet[S. 157] den Genuß des Blutes, weil „des Leibes Leben“ darin ist. Aber mit der Zeit kamen die Menschen dahin zu glauben, daß ihnen durch das Verbot des Blutes auch die ihm innewohnenden Seelenkräfte vorenthalten würden. So finden wir bei den Wapare den Brauch, die Opfertiere durch Ersticken zu töten, damit kein Blut verlorengehen kann. Dieses mit fettem Fleisch gekocht, gilt bei ihnen als besonderer Leckerbissen. Kühe werden oft zur Ader gelassen und ihr Blut in Töpfen aufgefangen. Gequirlt wird es als gute Arznei gegen Gallenbeschwerden getrunken, sonst auch mit Milch vermischt. Daß die Alten dem Blute besondere Seelenkräfte zuschrieben, ersieht man aus der Beschreibung Homers von der Hadesfahrt des Odysseus, wo die Schatten der Abgeschiedenen durch den Genuß von Blut zu vorübergehender Besinnung erwachen. Bei den Wapare hat sich dieser Gedanke am augenfälligsten in der Sitte der Blutsfreundschaft erhalten. Wie sich beim Kuß die Hauchseelen vermischen sollen, so tritt dies beim gegenseitigen Genuß des Blutes vom Freunde mit der Körperseele ein. Ich will hier versuchen, eine kurze Beschreibung der Blutsfreundschafts-Zeremonie zu geben.
Irgendein Fremder, der für eine Nacht gastliche Aufnahme in einer Hütte gefunden hat, bittet den Gastfreund, mit ihm den Blutsbund zu machen oder umgekehrt. Die Nachbarn werden eingeladen, der Handlung beizuwohnen. Die beiden Männer setzen sich auf ein am Boden ausgebreitetes Fell. Vor ihnen steht ein Strohteller mit zwei Parenüssen, von denen eine in genau vier Teile zerschnitten ist. Der Zeremonienmeister faßt nun eine Hautfalte am Leibe des einen Mannes mit der linken Hand, und der gegenübersitzende Bundesbruder faßt ebenfalls mit der Rechten zu, während die Linke seinem Gegenüber auf der Schulter liegt. Dann macht der Bundespriester mit einem kleinen Messer einen leicht blutenden Schnitt, zuerst beim einen, dann beim andern. Nun legen sich beide Männer gegenseitig die Hände auf die Schultern, nachdem jeder vorher mit einem der vier Nußstückchen das herausträufelnde Blut aufgefangen hat. Jetzt beginnt der Bundespriester mit seiner Beschwörung. Seine Worte werden von den beiden Freunden und allen Umstehenden mit einem lauten hau bekräftigt. Die Beschwörung lautet ungefähr wie folgt:
„Du Soundso — hau — du trinkst jetzt — hau — Blutsfreundschaft — hau — mit einem namens Soundso. — Wenn er zu dir kommt — und du gibst ihm nicht Speise wie deinem eigenen Kinde, — dann hast du die Blutsfreundschaft verachtet, — dann möge dein Leib[S. 158] anschwellen und platzen; — in deinem Leibe soll es (das Blut deines Freundes) wie Frösche schreien, — jawohl, wie ein kahler Bergrücken sollst du aufplatzen. — Und wenn dein Freund zu dir kommt — und du sagst, den Kerl kenn’ ich nicht, — dann sollst du auf dem Bauche kriechen müssen wie die Schlangen, — so soll es sein.“
Das feierliche hau muß der Leser hinter jedem Satzglied ergänzen. Nachdem auch dem andern Bundesbruder die Folgen vorgehalten worden sind, die eine Verletzung der Blutsfreundschaft nach sich ziehen würde, wendet sich der Priester — übrigens ein beliebiger Paremann — wieder an den ersten, um nunmehr auf beide den Segen herabzuflehen, falls sie die Bundestreue bewahren:
„Wenn du aber dies alles genau beachtest — und die Kuh deines Freundes wie deine eigene hältst, — so sollst du schön sein wie der Kibogletscher (Kilimandjaro). — Wenn die Leute von eurem Bunde hören, so sollen sie sagen: — Dieser ist nicht sein Blutsfreund, — es ist sein leiblicher Bruder. — Dann sollst du unterhalb des Wasserkanals ackern (weil es da fruchtbar ist), — ein wenig von dir soll dir Großes bringen; — aus einem deiner Rinder sollen viele werden. — Friede sei mit euch! — So soll es sein! — hau!“
Nach dieser Beschwörung reichen beide sich gegenseitig das Stückchen der Nuß mit ihrem Blut und nachher noch ein weiteres ohne Blut. Die zweite Nuß wird unter die Bundeszeugen verteilt und dient wohl als Symbol der Opfermahlzeit. Daraufhin stehen beide auf; der Hausherr hebt die Hände seines neuen Freundes empor und zeigt auf den Boden des Hauses, indem er sagt: „Wenn du einmal kommen solltest und es ist keiner hier in ‚deinem‘ Hause, so wisse: Oben findest du Bier, unten steht Speise. Du brauchst nicht zu warten, bis jemand kommt.“ — Dies alles sind nicht etwa leere Formalitäten und äußere Zeremonien, sondern der Paremann glaubt so fest an die durch das Blut übertragenen magischen Seelenkräfte, daß er es mit der Blutsfreundschaft sehr genau nimmt. Die ganze Handlung macht übrigens einen sehr feierlichen Eindruck, der durch die bilderreiche Sprache in Segen und Fluch nur noch erhöht wird.
Für den Paremann ist die Blutsfreundschaft von allergrößter Bedeutung. Um nur ein Beispiel als Beweis dafür herauszugreifen: Er mag einen Prozeß führen um eine Kuh, die weit weg, vielleicht in Usambara steht. Wird ihm diese Kuh mit allen inzwischen geworfenen Kälbern zugesprochen, so wird er durch den in der Nähe wohnenden Blutsfreund genau auf dem Laufenden erhalten, und der Verurteilte sieht sich außerstande, irgendein Stück Vieh heimlich[S. 159] beiseite zu schaffen. Wenn er sich des einen oder andern Kalbes nicht mehr erinnern sollte, — der Blutsfreund des Klägers hilft ihm denken.
Von weit größerer Wichtigkeit als heute war die Blutsfreundschaft in den alten Zeiten, als noch Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren. Da war es dann oft der Blutsbruder des in Gefahr stehenden Mannes, der an den Beratungen der Feinde seines Freundes teilnahm und ihn rechtzeitig warnen konnte.
Es kommt nun vor, daß jemand im Grunde seines Herzens gar nicht daran denkt, dem andern gegenüber die Pflichten der Blutsbruderschaft zu erfüllen. Ein solcher sagt dann statt des bekräftigenden hau das ähnlich klingende Wort hai, welches nein bedeutet, geht nach Beendigung der Zeremonie heimlich an einen Feigenbaum und reibt den Rest des Blutes auf dessen Rinde mit den Worten: „Du bist mein Freund und Bundesbruder.“
Außer diesem hier erwähnten Blutsbund gibt es noch mehrere andere derartige auf animistischen Vorstellungen beruhende Beschwörungen (mima), z. B. der Schutz- und Trutzbund zweier Häuptlinge, durch den sie sich zu gegenseitiger Hilfeleistung im Kriege verpflichten, und ein andrer mma, den der Ehemann seiner Frau zu trinken gibt, um ihrer ehelichen Treue sicher zu sein.
Auf einen weiteren Aberglauben will ich hier noch kurz hinweisen, der so recht erkennen läßt, daß man sich besonders große Seelenkräfte an das Blut gebunden denkt. Es ist ein Zauber, der dazu dient, die Schattenseele des Menschen so fest mit seinem Körper zu verbinden, daß es den bösen Zauberern unmöglich wird, den Schatten zu stehlen. Zu dem Zweck läßt sich der Paremann einen angesehenen Medizinmann kommen. Dieser ritzt die Haut des „Patienten“ an den verschiedensten Körperstellen und selbst auf der Zunge. Das so gewonnene Blut wird zusammen mit etwas Hühnerblut sowie Haaren, Zehen- und Fingernägeln und etwas Erde, auf welche man den Schatten von Kopf und Hand hat fallen lassen, auf ein Blatt gestrichen. Aus diesen Seelenträgern wird vom Medizinmann ein Amulett verfertigt und so dem Treiben der berüchtigten vasavi, der bösen Zauberer, die die Schattenseelen des Menschen stehlen, ein Riegel vorgeschoben.
Es ist mir hier natürlich unmöglich, einen auch nur annähernd vollständigen Bericht all der Sitten zu geben, in welchen die Seelenvorstellungen[S. 160] ihren Ausdruck finden. Und würde ich selbst alles das, was mir an solchen Gebräuchen in diesen Jahren zu Ohren gekommen ist, niederschreiben, so wäre es höchst wahrscheinlich nur ein geringer Bruchteil dessen, was uns ein Medizinmann mitteilen könnte, wenn er wollte.
Bei den Wapare gelten Haare und Nägel als Träger der Seelenkräfte. Läßt sich z. B. jemand vom Medizinmann behandeln, daß seine Person gegen jeglichen bösen Zauber gefeit wird, so schneidet ihm der Arzt einige Haare und den Nagel eines Fingers, gewöhnlich des kleinen Fingers ab und legt dies auf ein schwarzes Läppchen zusammen mit seiner andern Arznei. Nunmehr heißt er den „Patienten“ etwas von seinem Speichel mit der Arznei vermischen. Nachdem er dann geheimnisvolle Sprüche gemurmelt hat, wird das Läppchen zusammengebunden, und das Amulett ist fertig. Denselben Vorgang lernten wir schon bei der Besprechung des Kikobwa-Schutzzaubers kennen. Dort wurden auch die Haare sowie Zehen- und Fingernägel als kräftige Seelenträger bei der Bereitung des Amulettes mitverwandt. Unzählige Vorschriften betreffs des Scheerens der Haare sind auf den Seelenglauben zurückzuführen. So bestimmt der Arzt manchmal, daß einem kleinen Kinde nach seiner „Behandlung“ nicht eher das Kopfhaar abrasiert werde, bis er es selbst unter Einhaltung gewisser Regeln tun werde. Da hierüber manchmal zwei Jahre vergehen, so müssen dem Kinde (genau wie bei den Vai va nyumba) die Haare mit Wasser und Fett eingerieben werden, so daß sie mit der Zeit in langen Strähnen herunterhängen. Auch auf die Mutter dehnt sich diese Vorschrift oft aus. In Zukunft darf das Kind nur von diesem Arzt behandelt werden, bis die Haare wieder abgeschnitten sind. Der behandelnde Arzt wird also gewissermaßen zum Hausarzt ernannt. Für ihn hat dieser Glaube auch noch die praktische Seite, daß ihm so auf jeden Fall sein „Honorar“ nicht von einem zweiten Arzt abwendig gemacht werden kann. Wir sahen oben schon (S. 51. 52), daß die langen Haare des Mädchens, wenn es die Frauenfeste durchgemacht hat, auf dem Dachboden sorgfältig versteckt werden, um sie nicht in die Hände von Zauberern fallen zu lassen, denen damit eine gewisse Macht über das Kind verliehen wäre. Sie könnten es z. B. unfruchtbar machen. Daß südafrikanische Neger dem in der Fremde Gestorbenen eine Haarlocke abschneiden und diese dann in der Heimat begraben, ist schließlich die letzte Folgeerscheinung der Vorstellung, welche die Seelenkräfte in die Wachstumsprodukte des Körpers verlegt.
[S. 161]
Eine noch ausgedehntere Rolle in den Anschauungen unsrer Wapare spielt der Speichel als Seelenträger. Am häufigsten tritt das bei dem Brauch des Bespützens in die Erscheinung. Zauberschnüre aus Bananenbast werden vor dem Anlegen an den betreffenden Körperteil bespützt. Mit Wunden geschieht das gleiche, um die Blutung zu stillen, eine suggestive Behandlungsweise, die sich ja selbst in Deutschland noch in manchen Gegenden erhalten hat. Jede Arznei wird vor dem Gebrauch bespützt. Sobald bei der Geburt der Kopf des Kindes erschienen ist, wird dies Mittel eifrigst angewandt, um ein Zurücktreten zu verhüten. Den ungeratenen Sohn verflucht der Vater oder die Mutter, indem sie den Opferplatz an der Haussäule bespützen und ihren Fluch aussprechen. Man sagt dann: Mwana einkiwe lute = der Junge hat „Speichel“ bekommen, welcher Ausdruck deutlich erkennen läßt, daß dem Speichel die magischen Kräfte zugeschrieben werden, die ausgesprochenen Drohungen zu verwirklichen. Will der Vater seinen Sohn dagegen segnen, so spützt er leicht in dessen Hände, und dieser reibt sich die Spuren des „Seelenträgers“ ins Gesicht. Bei Sternschnuppenfällen und Kometenerscheinungen wird nach der betr. Gegend hin gespützt, um Krankheit, Hungersnot und Krieg abzuwehren, also ähnliche Vorgänge, wie sie sich in dem aufgeklärten Europa zur Zeit des Halleyschen Kometen zeigten.
Hier wäre noch die Herstellung eines Amuletts zu erwähnen, welches gegen alle Arten von Verzauberung schützen soll und aus einer Mischung von mancherlei Seelenträgern besteht. Der Medizinmann saugt zu behandelnden Personen mittels eines Schröpfkopfes Blut aus und gießt es in eine Topfscherbe, wo es zu Asche geröstet und dann mit andern Sympathiemitteln vermischt wird. Von diesem Pulver streut er einen Teil in einige kleine schwarze Läppchen. Die zu behandelnden Leute tun etwas von ihrem Speichel, Haupthaar, Augenbrauen und Wimpern sowie Finger- und Zehennägel dazu. Des weiteren bildet Erde, auf welche man den Schatten von Hand, Fuß und Kopf hat fallen lassen, einen wichtigen Bestandteil. Die Läppchen werden zusammengebunden, und die „Medizin“ ist fertig. Um sie möglichst wirksam zu machen, muß sie oft spät am Abend auf einem Kreuzwege eingegraben und nach Mitternacht beim ersten Hahnenschrei wieder hervorgeholt werden.
Der Speichel bildet übrigens schon einen Übergang von dem Begriff der gebundenen Körperseele zu dem der Hauchseele. Dies[S. 162] tritt besonders bei dem Bespützen zu Tage, indem der Name an den Speichel erinnert, die eigentliche Tätigkeit sich aber fast ganz darauf beschränkt, den Hauch zwischen den wie zum Kuß gespitzten Lippen hervorzustoßen. Hier scheint also die Vorstellung des Hauches als Seelenträger den ursprünglichen Gedanken an den magischen Speichel allmählich zu verdrängen. Einer meiner Gewährsleute erklärte mir auch das Bespützen der Medizinmänner eigentümlicherweise klipp und klar dahin, daß der „Geist“ (Hauch) des Arztes in den Kranken hineinfahren und dessen Gesundung bewirken solle.
Einige besondere Arten von Freundschaftsbündnissen oder Seelenvermischungen bestehen zwischen Eheleuten. Auch hier spielt der Speichel neben andern schon erwähnten Seelenträgern eine Rolle. Der Grund zu solchen Bündnissen bildet meistens die Eifersucht. Manchmal sind natürlich auch andre Motive vorhanden; z. B. ist mir ein Fall bekannt, wo die Frau ohne Anhang dastand und sie den Mann für jeden Fall an sich fesseln wollte. Bezeichnend für die Auffassung des Eheverhältnisses unter unsern Wapare ist die Tatsache, daß in den meisten Fällen nur die Frau sich verpflichtet, die eheliche Treue zu halten. „Der Mann kann das verlangen, er hat ja Kühe für seine Frau bezahlt!“
Sind sich beide Teile darüber klar geworden, daß sie ein solches Bündnis eingehen wollen, so nehmen sie einen kleinen Topf mit irgend einer Fleischbrühe, Bier oder Milch. Zuerst speit jeder einmal in den Topf, um dann von der Oberfläche einiger seiner Fingernägel etwas abzuschaben und es ebenfalls mit der Brühe im Topf zu vermischen. Nun fängt der Mann etwa mit der Beschwörung an:
„Wenn du die Ehe brichst, soll dich unsere Bundesspeise töten; bist du aber treu, so werde sie dir an deinem Leibe wie Öl. Wenn ich dich mit andern Männern schwatzen sehe, eifersüchtig werde und dich schlage, so soll mich die Bundesspeise töten, darum, daß ich ihr nicht getraut habe, denn sie ist ja fortan dein Tugendwächter.“
Hierauf erwidert die Frau:
„Wir machen den Bund, weil wir uns lieben. Wenn du mich schlägst und ich bin nicht untreu gewesen, so soll dich die Bundesspeise töten; gebe ich mich aber mit einem andern Manne ab, so wird mich die verwünschte Speise umbringen.“
Nun reicht einer dem andern mit zwei Händen den Topf an den Mund und läßt ihn trinken. Ist das geschehen, so schlägt der Mann eine kleine Ecke aus dem Topf, um ihn dann zu vergraben.[S. 163] Es gibt viele verschiedene Arten der Seelenvermischung zwischen Mann und Frau, von denen einige zu anstößig sind, um sie hier beschreiben zu können.
Wir sahen schon, daß man der Kreißenden, wenn die Geburt sich in die Länge zieht, Urin des Mannes zu trinken gibt, um ihr auf diese Weise besondere Seelenkräfte zuzuführen. Ich erwähnte bereits weiter oben die Amulette, welche die Wapare sich von ihren Medizinmännern gegen Verzauberung machen lassen. Oft ordnet der behandelnde Arzt an, daß sein Patient sich vier Tage lang nicht waschen solle. Nach Ablauf der Zeit zerkaut er eine Ölnuß und reibt sich mit dem so gewonnenen Brei den Körper ab. Die auf diese Weise erhaltenen, gewissermaßen konzentrierten Ausscheidungsstoffe werden den Amuletten des Medizinmannes als wertvolle Bestandteile einverleibt. Der Leser sieht, statt der christlichen Hoffnung besitzt der arme Neger nur recht traurige und unappetitliche Ersatzmittel. Bei den Tänzen, die von den Vai va nyumba bei den verschiedenen Gelegenheiten aufgeführt werden, steht immer ihre Helferin in der Nähe, um ihr den Schweiß abzuwischen. Würde jemand anders aus der Umgebung das vornehmen, so könnte er sich starken Unannehmlichkeiten aussetzen, da er sofort gefragt würde, was er mit dem Schweiße beginnen wolle. Also auch hier wiederum der Glaube, daß der Besitz von solchen Dingen, die als Seelenträger andrer gedacht werden, wenigstens zu gewissen Zeiten dem Besitzer Gewalt über die betreffenden Seelen verleiht.
Auch im Auge denkt sich der Mwasu (Mpare) besondere Seelenkräfte konzentriert. Er sieht im Auge des Sterbenden den Glanz und das Feuer erlöschen, es wird matt, er kann sein eignes Spiegelbild im Auge des andern nicht mehr entdecken. Da denkt er sich, die Seele, die dem Auge Glanz und Kraft verliehen habe, sei entwichen.
Diese Seelenkräfte im Auge, welche sich bei den meisten Menschen als ganz harmlos erweisen, können doch in manchen Fällen Unheil anrichten, indem sie durch das Sehloch austreten und im Körper anderer Krankheiten verursachen. Besonders sind es die Frauen, die durch den „bösen Blick“ vor allem kleine Kinder der Nachbarn verzaubern und töten. Als die Regierung zum Dorfbau[S. 164] aufforderte, um die ganz vereinzelt liegenden Hütten zusammenzubringen, war dieser Aberglaube ein Grund zu weiteren Befürchtungen, da es ja nun durch das nahe Zusammenwohnen den Hexen bedeutend leichter sein würde, die Kinder umzubringen. Während das Auge der Hexen und Zauberer böse Seelenkräfte ausstrahlt, ist es beim Regenzauberer das Mittel, den Regen herbeizuholen oder zu vertreiben. Selbstverständlich bedient sich der Regendoktor dazu auch noch andrer Zauberarzneien; aber es genügt schon, wenn er in der heißen Steppe wandert, daß er starr nach oben sieht, um die Wolken zu veranlassen, sich vor die Sonne zu schieben. Diese Leute werden von ihren Lehrmeistern unter den Augen geritzt und behandelt, um die Fähigkeit zu erlangen, Regen zu „ziehen“. Mit diesem ist schon der Übergang zur freien Psyche, der
gegeben. Der Schattenseele sind wir schon bei verschiedenen Gebräuchen begegnet, so beim Kikobwa-Zahnzauber. Dort läßt ja der Zauberer den Schatten des Kopfes und andrer Körperteile auf die Erde fallen, um dann von der Stelle etwas Erde in das Amulett zu bringen. Das entsprechende Chasuwort für Hauchseele ist kisuka, oder auch kivuri = Schatten. Es gibt zwei Schatten, den großen und kleinen. Letzteren können die bösen Zauberer, die Vasavi, stehlen um den Menschen zu peinigen oder zu töten. Die Legenden berichten von solchen Zauberern, welche die gefangenen Schatten nachts an die Arbeit auf dem Felde und im Hause stellen. In der Dunkelheit kommt der böse Zauberer mit seinen Amuletten und zwei Bambusstäben, die er durch Stoßen auf den Erdboden erdröhnen läßt. Bis auf einige vertrocknete Bananenblätter ist er unbekleidet. Durch eins der kleinen Fensterlöcher bläst er seinen Zauber ins Haus, dessen Bewohner nun in einen tiefen Schlaf verfallen. Dann ruft er die Schattenseele seines Opfers heraus und nimmt sie mit. Ist der Betreffende vorher von einem berühmten Arzt behandelt worden, so wird der Msavi bald merken, daß es ihm nicht möglich ist, die Schattenseele vom Körper des Betreffenden zu lösen. Gelingt es ihm aber, dann nimmt er sie mit sich nach Hause und verbannt sie in eine Höhle oder auf einen Baum. Er bringt ihr Speise und schlägt sie auch oft; dann wird der Mensch ohne Schatten immer kränker. Eigentümlicherweise glauben sie nun, daß der böse Zauberer oft die Schattenseele tötet, um damit auch dem Leben ihres früheren Besitzers ein Ende zu machen. Umgekehrt ist es nach manchen ihrer Geschichten schon vorgekommen,[S. 165] daß der Mensch vor seiner Schattenseele gestorben ist und der Schatten dann den Hausbewohnern erschien, bis auch er getötet wurde. Aber nicht immer ist der Ausgang tödlich. Begibt sich der Kranke rechtzeitig in die Behandlung eines tüchtigen Arztes, so besteht die Möglichkeit, die Schattenseele wiederum in den Körper zurückzurufen. Das geschieht unter bestimmten Zeremonien. Oft läutet der Arzt als Teil seiner „Behandlung“ mit einer Glocke und ruft: „Du Soundso, bist du in einer Höhle oder auf einem Baume, so komme wieder.“ Daß die Leute sich besonders im Anfang unsres Hierseins sehr vor jeder Photographie und besonders vor ihrer eignen fürchteten, ist demnach leicht verständlich.
Wenn man einen Paremann nach seinem Namen fragt, so gibt er für gewöhnlich einen falschen an. Ich habe oft, besonders an Orten, wo ich fremd war, Mütter nach dem Namen ihrer Kinder gefragt, und man gab mir unrichtige Auskunft. Warum geschieht das? Will man dem Europäer nur etwa vorlügen? Nein, denn auch einem Schwarzen, der ihnen unbekannt ist, sagen sie ihren wahren Namen nicht ohne weiteres. Als Erklärung dafür gaben einige meiner Gewährsleute an, daß die Fragesteller Leute sein könnten, die eine alte Schuld von Großvaters Zeiten her eintreiben wollten und nach dem Schuldner forschen. Aber man ist sich auch hier wie so oft der ursprünglichen Bedeutung der Sitten nicht mehr bewußt und sucht nach Erklärungen. Daß es sich bei der Verschweigung des Namens wenigstens ursprünglich um Dinge gehandelt hat, die in das Gebiet des Seelenglaubens gehören, zeigt ein Brauch, der allgemein bekannt ist. Es ist nämlich bei den Wapare sehr verpönt, irgend jemand bei Nacht mit Namen anzurufen. Man ruft vielmehr: „Du da unten im Hause!“ oder gebraucht ähnliche Umschreibungen. Dies geschieht, damit „dem Zauberer nicht durch den Klang des Namens der betreffende Mensch selbst überliefert werde“. Denn bei Säuglingen und überhaupt nachts, wenn die Traumseele so leicht den Körper verläßt, würde schon die bloße Namennennung genügen, einem in der Nähe befindlichen Zauberer den Raub der Seele zu erleichtern. Aus diesem Grunde legen sich die Wapare für ihre nächtlichen Tanzfeste besondere Namen zu, bei denen sie sich dann ohne Gefahr auch nachts rufen können. Natürlich sprechen da noch andre Gründe mit, die hier nicht erörtert zu werden brauchen. — Selbst die Stimme nehmen die bösen Zauberer und bringen dadurch Unheil über den Sprecher. So[S. 166] werden kleine Kinder verwarnt, des Nachts nicht zu schreien, damit sie nicht verzaubert würden. Heute, wo auf Steuerzetteln und Arbeiterkarten der Mann den Namen angeben muß, den er immer führt, wird dieser Aberglaube etwas bekämpft. Trotzdem ist es bezeichnend, daß die Leute für diese Karten fast immer falsche Namen angaben, so daß sie verschiedentlich unter Androhung von Strafen aufgefordert werden mußten, diese Sitte fallen zu lassen.
Viele Leute nahmen auf Reisen die bekannten Safari- oder Reisenamen an, eine Sitte, der ursprünglich sicher animistische Motive zugrunde lagen. Mit der Zeit merkten die Betreffenden dann bald, daß es auch noch andre Vorteile hatte, wenn man als Pendakulala = „Schlafmütze“ (solche Namen sind besonders bei den Wanyamwezi beliebt) in A. einen Diebstahl ausführen konnte, um dann in B. als Mwacheapotee = „Laß ihn nur laufen!“ wiederum aufzutauchen. Diese Erkenntnis war aber sicher eine im Laufe der Zeit erworbene.
Das Ganze ist übrigens ein Beispiel dafür, wie vorsichtig man in seinem Urteil über das eine oder andre sein muß, was beim Neger unangenehm auffällt, weil es schwer ist, den Irrgängen der Negerpsyche immer nachzugehen. Dasselbe ist auch bei ihren Übertreibungen der Fall. Der Gedanke zu lügen liegt ihnen im ersten Augenblick dabei ganz fern. Aber sie wollen durch ihre übertriebene Darstellung (z. B. des Unglücks) die Geister veranlassen, von ihnen abzustehen.
Eine eigentümliche Sitte unsrer Wapare besteht darin, die oberen vier Schneidezähne spitz zu meißeln und die unteren beiden Schneidezähne auszubrechen. Diese Operation wird bei Knaben und Mädchen etwa im achten Jahre vorgenommen. Zu dem Zweck wird ihnen ein Holz quer in den Mund gelegt, auf welches sie beißen müssen. Es soll das zum Schutz des Gaumens dienen und auch gleichzeitig das Schließen des Mundes verhüten. Dann nimmt der Operateur, der übrigens kein Arzt zu sein braucht, sein Instrument und meißelt die Zähne spitz. Später werden von einem andern Operateur die unteren Zähne ausgebrochen, falls der erste diese Kunst nicht auch versteht.
Zur Begründung dieser Sitte werden heute die wunderlichsten Dinge angegeben. Den kleinen Kindern erzählt man, daß die ungefeilten Zähne nachts aus dem Munde wandern und Kot kauen. Das dient wohl nur dazu, sie für die manchmal schmerzhafte Behandlung willig zu machen. Sonst hört man, daß für das Feilen der Zähne nur Schönheitsrücksichten maßgebend seien. Wundt aber führt auch[S. 167] diese Sitte auf den Seelenglauben zurück, indem durch das Feilen und gänzliche Ausbrechen der Zähne der Hauchseele der Austritt erleichtert werden sollte, was z. B. bei Jägern dazu diente, der Beute um so leichter habhaft zu werden. Heute sind sich jedenfalls die Leute einer solchen ursprünglich sicher vorhanden gewesenen Seelenvorstellung nicht mehr bewußt, höchstens daß sie in dem Glauben, Leute mit ungefeilten Zähnen hätten bei den Frauen kein Glück, noch leise durchklingt.
Sah man — etwa auf einem Kampfplatz — die aus dem verwesenden Leichnam kriechenden Fäulniswürmer, so mußte man auf den Gedanken kommen, daß mit ihnen Seelenkräfte den Körper verließen. Und von da war es kein allzugroßer Schritt, in gewissen Schlangen das Bild dieser Seelenträger zu sehen. Der Gedanke wird verständlicher, wenn man hört, daß auch heute noch eine in der Nähe des Dorfes getötete Riesenschlange verbrannt wird, weil im andern Falle die dem verwesenden Leibe entkriechenden Würmer alle zu Riesenschlangen würden. Der Schlangendienst beschränkt sich nicht, wie die Verehrung der Totemtiere, auf gewisse Sippen, sondern er wird allgemein unter den Wapare angetroffen. Ich will noch vorausschicken, daß die Leute für ihren Ahnendienst sowie für einige andre Götzen den Ausdruck kutasa = beten (opfern) gebrauchen, während sie bei den Seelentieren das Wort kusemba, was hier ungefähr beschwichtigen heißt, anwenden. Das mag daher kommen, daß diese Seelentiere meistens vom Orakel als die Ursache irgendeines Unglückes festgestellt werden, so daß ihr Zorn deshalb beschwichtigt werden muß. Anderseits werden ihnen aber auch Gelübde dargebracht um etwas Gutes, z. B. Kindersegen, zu erlangen, wenigstens ist das bei der Riesenschlange der Fall.
Neben der Riesenschlange wird die Puffotter verehrt. Ihr werden, wenn sie als Ursache einer Krankheit ermittelt ist, Hühner geopfert.
Sieht ein Mpare eine tote Riesenschlange am Wege liegen, so befürchtet er sofort, daß sie ihn in kommenden Tagen krank machen könnte. Um sich aber für jeden Fall ein kleines Opfer zu sichern, bricht er einen Zweig ab und spricht die für den ganzen Animismus bezeichnenden Worte: „Du Schlange, ich habe dich nicht getötet, meine Kuh hat nur zwei Beine“, d. h.: Wenn du mich krank machen solltest, so werde ich dir als Sühneopfer nur ein Huhn bringen. Für[S. 168] gewöhnlich besteht das Opfer für die Riesenschlange nämlich in einer Ziege oder einem Schaf. Das Abbrechen oder Durchbrechen eines kleinen Zweiges ist das gewöhnliche Sühnezeichen.
Oft genug mag es nun vorkommen, daß das Orakel irgendeine Krankheit im Hause des Ratsuchenden darauf zurückführt, daß der Betreffende selbst oder irgendeiner seiner Vorfahren eine Riesenschlange getötet hat. Solch ein Mann sucht nun einen andern Stammesgenossen auf, der bereits in die Riten des Schlangendienstes früher durch ähnliche Umstände eingeweiht worden ist. Er teilt ihm mit, daß das Orakel etwa die Krankheit seines Kindes auf eine früher getötete Schlange zurückführe. Er solle nun der Schlange ein Scheinopfer bringen, um sie zu veranlassen, den Kranken nicht weiter zu quälen. Dieses Scheinopfertier ist das Pfand für das der Schlange später zu schlachtende Schaf. Der Chasuausdruck lautet auch kugwira mchunga = der Schlange „ein Pfand geben“. Der Priester läßt nun den Mann, der das Opfer später bringen will, irgendein, wenn auch ihm nicht gehöriges Schaf am Ohr festhalten, während er selbst seine Hand dem Tier in den Nacken legt. Dann betet er: „Geist der Schlange, du sollst die Ursache für die Krankheit des Kindes sein. Dies Schaf hier ist dein Pfand. Stirbt das Kind, so erhältst du nichts, denn dann ist etwas anderes die Ursache gewesen. Wird es aber wieder gesund, so sollst du dein Opfer haben.“
Ist das Kind von seiner Krankheit genesen, so sucht der Vater einen Schafbock. Hat er ihn gefunden, dann ruft er wiederum den Schlangenpriester, der ihm helfen soll, das gegebene Versprechen einzulösen. Um das Opfer darzubringen, begeben sich alle Familienglieder mit dem Priester in den Busch. Der Priester erkundigt sich, ob die Schlange von einem Verwandten mütterlicher (nkeni) oder väterlicher Seite (lumeni) getötet worden sei. Ist das festgestellt, so richtet der Priester den Kopf des Schafes nach der Gegend, aus welcher die Betreffenden hergekommen sind. Alle Familienglieder treten jetzt an das Opfertier und fassen es mit einer Hand an, um damit ihre Teilnahme an dem Opfer auch äußerlich darzutun. Der Priester macht den Geist der Schlange darauf aufmerksam, daß die Familie ihr Gelübde nunmehr eingelöst habe. Alle bis auf den Priester lassen dann los und setzen sich auf die Erde in der Richtung nach der Gegend hin, wo seinerzeit die Schlange getötet worden ist. Der Priester führt jetzt das Schaf viermal um die Opfernden herum, indem er betet: „Du Schlange, ich habe dir kürzlich ein Pfand gegeben. Heute ist es eingelöst worden. Hier ist dein Schaf. Nun laß[S. 169] den Mann in Frieden, laß ihn ruhig schlafen mit all seinen Kindern, segne ihn, denn er opfert dir, gib ihm neuen Kindersegen und laß die Kinder groß werden.“
Das Schaf wird dann erstickt aber nicht enthäutet. Mit einem zweischneidigen Messer wird aus allen Körperteilen ein Stückchen herausgeschnitten und auf ein Bananenblatt gelegt. Aus den Bewegungen der Eingeweide ersieht der Priester, ob die Schlange das Opfer angenommen hat oder nicht. In letzterem Falle muß wieder die Hilfe des Orakels in Anspruch genommen werden. Ist das Opfer genehm, so legt der Priester das Fleisch an der Wurzel eines heiligen Baumes nieder. Das Schaf wird zerstückt und mit der Haut geröstet und gegessen. Die Knochen bringt der Priester zu dem eigentlichen Opferfleisch, wobei auffallend ist, daß er bei dieser Zeremonie rückwärts auf den Baum zuschreitet.
Fleisch von einem Schlangenopfer muß an Ort und Stelle verzehrt werden. Kranken, die im Dorf zurückbleiben mußten, kann man wohl etwas mitnehmen, aber es muß draußen vor dem Tor gegessen werden. Ins Dorf selbst darf man nichts davon tragen. Nach beendeter Mahlzeit waschen sich alle sorgfältig die Hände und entfernen die Fasern aus den Zähnen, um ja nicht gegen obige Regel zu verstoßen. Damit ist das Opfer beendigt. Es sei nur noch erwähnt, daß Männer für männliche Familienglieder, die verhindert sind, dem Opfer beizuwohnen, einen Grasring (ikongwe) um das Handgelenk binden, damit auch diese vertreten seien und an den durch das Opfer bewirkten Erleichterungen ihren Anteil haben. Dasselbe tun die Frauen für weibliche Verwandte. Es ist rührend zu sehen, was diese im „Banne der Furcht“ lebenden „glücklichen Naturvölker“ alles auf sich nehmen, um den Frieden zu erlangen, den ihnen doch nur einer geben kann. — Nach geraumer Zeit, manchmal erst nach Jahren, wird der Schlange das dazugehörige zweite Schaf oder „Fettopfer“ gebracht, welches sich aber von dem oben beschriebenen in der Hauptsache nur durch seinen Namen unterscheidet.
Ein weiteres Tier, welches aus animalistischen Gründen sehr gefürchtet und nicht getötet wird, ist ein großer Vogel, der mdidi. Über die Ursache, die zu dieser Furcht Veranlassung gegeben hat, ließ ich mir folgende Sage erzählen: In grauer Vorzeit hatte ein Mdidi sein Nest an einen morschen Baum gebaut. Ein Mann namens Seikwicho legte Feuer an den Baum, und so verbrannte die junge Brut des Mdidi. Seit der Zeit ruft der Vogel andauernd: Se-Seikwicho, va-vaana vangu! = Seikwicho, meine Kinder! Es geht[S. 170] einem hier wie so oft, wenn man sich die Bedeutung der Tierstimmen einmal von einem Paremann hat erklären lassen, man glaubt tatsächlich die Worte vernehmen zu können, so genau deckt sich die Nachahmung mit dem Original. — Der Seikwicho starb mit allen seinen Kindern, und seit der Zeit tut niemand dem Vogel etwas zuleide. Selbst dem toten Tiere geht man scheu aus dem Wege, um sich nicht zu verunreinigen. Das Sühnopfer für den Mdidi besteht in einem Schafbock, der auf einem Hügel erstickt und enthäutet wird. Das Fleisch läßt man unberührt dort liegen, ein Zeichen, daß die Leute den Vogel sehr fürchten, denn im allgemeinen nehmen sie von den Opfertieren den Löwenanteil für sich in Anspruch.
Deutlicher tritt noch die animalistische Wurzel zutage bei der Verehrung, die der harya (Madenhacker) genießt. Dieser Vogel ist schon deshalb bei den Leuten beliebt, weil er die Kühe von Ungeziefer reinigt. Es ist interessant zuzusehen, wie das kleine Tierchen emsig von dem Rücken, aus den Ohren und selbst vom Bauche all die bösen Zecken abliest und so die Kühe von manchem Plagegeist befreit. Wird er bei dieser Arbeit von dem Schwanz der Kuh oder gar durch ein Versehen des Hirten durch einen Steinwurf betäubt, so melkt man dem „kleinen Häuptling“ in eine Schale etwas Milch von einer schwarzen Kuh, um ihn wieder zu sich zu bringen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß das Nest des Harya einen wichtigen Bestandteil bei der Bereitung eines der Hauptgötzen der Wapare bildet. Dies Nest besteht aus Haaren, die sich der Vogel von allerlei Tieren, die er besucht, auszupft und in einem Baumloch zusammenträgt. Das Tier ist also schon allein mit seinem Neste der Lieferant wichtiger Stoffe, die wir bereits als Seelenträger kennenlernten. Aber auch dem Vogel selbst wird, falls er durch Unvorsichtigkeit getötet worden ist, ein Honig- und Ölopfer dargebracht, und zwar wird das Fett und der Honig an den Stamm eines Baumes gestrichen, in welchem solche Harya wohnen. „Denn“, sagen unsre Leute, „der Harya ist ein Häuptling, den muß man ehren.“
Auch Katzen werden manchmal vom Orakel für irgendein Unglück verantwortlich gemacht. Ist solch ein Tier vor langer Zeit getötet worden, so rächt sein Geist sich oft nach Jahren an irgendeinem Familiengliede. Der Katze wird dann auf Anraten des Orakels ein Schafbock geopfert. Der eigentümliche Stamm der Wambugu, der nach Pare eingewandert ist, scheint den Katzendienst weiter ausgebildet zu haben, wenigstens holen sich die Wapare einen Mbugupriester, der für sie das Opfer darbringt. Dieser Priester hüllt sich[S. 171] während der Zeremonie in ein schwarzes Tuch. Sämtliche Familienglieder müssen beim Opfer anwesend sein, wollen sie sich nicht der Rache des Katzengeistes aussetzen. Eine große Menge Honig und Zuckerrohrbier wird bereitgehalten. Der Priester zerschneidet ein wenig Fleisch, tut es zusammen mit Honig in eine Topfscherbe und gibt es einer mitgebrachten Katze zu fressen. Während sämtliche Anwesenden im Kreise herumstehen, sitzen der Priester und der Veranstalter des Opferfestes in der Mitte und beschwören den Geist der Katze: „Du Katze, hier ist die Sühne dieses Mannes. Sein Vorfahr hatte einen deines Geschlechtes getötet, nun laß aber ab von ihm, denn er opfert dir. Laß ihn reich werden an Vieh und Kindern.“
Der Opfernde betet dem Priester diese Worte nach. Auch Bier und etwas Speise schüttet der Priester noch auf die Erde. Diese Speise bildet übrigens eine Eigentümlichkeit des Katzenopfers, da sie sich aus lauter solchen Feldfrüchten zusammensetzt, die von der vorjährigen Ernte herrühren müssen. Das Beibringen dieser vorjährigen Früchte macht meistens ziemlich viel Mühe, da sich ja in den Tropen fast nichts überwintern läßt. Daher sagt dann auch wohl der Paremann, wenn er einen Gläubiger bezahlt hat und nach Jahren zu Unrecht zum zweitenmal zahlen soll: „Ich habe doch keine Katze getötet, daß ich noch heute damit beschäftigt sein müßte, das ‚Lösegeld‘ zusammenzusuchen;“ d. h.: Die Sache ist längst erledigt und hat mir lange nicht soviel Mühe gemacht, als wenn ich für eine Katze das reichhaltige Speisopfer hätte zusammenstellen müssen. — Einer Katze legt auch niemand einen Strick um den Hals. Solch ein Vergehen würde zur Folge haben, daß die ganze Sippe ebenfalls von ihren Feinden mit Stricken gebunden würde. Man hütet sich sogar, die Katze zu schlagen, aus Furcht sie dabei zu töten und damit die ganze Sippe vor die schwierige Aufgabe zu stellen, das Löseopfer zu bringen.
Bei dem benachbarten Stamm der Washambaa besteht eine Art von genießendem Totemismus, indem bei ihren Zauberopfern Hundefleisch gegessen wird. Unsre Wapare fürchten sich im Gegensatz dazu gerade vor toten Hunden und gehen ihnen möglichst aus dem Wege. Als Hundesühnopfer nimmt man einen Bock oder eine Ziege. Während der Geist einer getöteten Katze sich gewöhnlich erst an den Nachkommen des Betreffenden rächt, bringt ein getöteter Hund dem Übeltäter selbst Unglück, bis er das schuldige Opfer gebracht hat. Dabei ist es wie auch bei der Katze und andern Seelentieren gar nicht einmal nötig, daß man das Tier selbst getötet[S. 172] hat. Schon der Anblick eines solchen Kadavers genügt, jemand sühnepflichtig zu machen. Der Kranke läßt in dem Falle einen Hundepriester kommen und durch ihn dem Geiste des Hundes ein Pfand geben, wie wir es schon beim Schlangenopfer kennenlernten. Hundepriester sind die Washambaa. Hat der Mann keine Ziegen, so nimmt er wohl auch nur eine Hacke und gibt sie dem Hunde als Pfand, indem er verspricht, im Falle seiner Genesung damit eine Ziege zu erackern, d. h. einen Acker gegen eine Ziege umzutauschen. Der weitere Verlauf ist ähnlich wie beim Schlangenopfer.
Als letztes Seelentier will ich hier noch die Hyäne erwähnen, deren Tötung ebenfalls mit Gefahr für die Nachkommen verbunden ist. Es war ja ein sehr naheliegender Gedanke, in einem solchen Leichenräuber, der in seiner Gier selbst Knochen, also wichtige Seelenträger verschlingt, ebenfalls ein Seelentier zu erblicken. Eine gewisse Erkrankung der Atmungsorgane führt das Orakel regelmäßig auf den Geist einer von irgendeinem Vorfahren getöteten Hyäne zurück. Die Leute aus der Landschaft Chome sollen Hyänen in ihren Hütten halten, und sie sind auch die Priester, die man für ein Hyänenopfer kommen läßt.
Zuerst betet der Priester im Hause des Kranken zu dem Geist des Tieres, er möge geben, daß das ihm zu opfernde Tier „rein“ sei. Findet man nämlich bei derartigen Opfertieren in den Eingeweiden oder der Leber eigentümliche Zeichen oder Narben, so kann das Opfer nicht stattfinden, wie wir auch noch weiter unten sehen werden. Nach diesem Gebet zu Hause begibt sich der Priester mit dem Kranken oder dessen Stellvertreter in die Chomelandschaft, um dort unter Beobachtung allerlei eigentümlicher Zeremonien das Hyänenopfer darzubringen.
Bevor wir dazu übergehen, den Seelenkult zu besprechen, bei welchem man sich die Seele an den Schädel als wichtigsten Knochen gebunden denkt, müssen noch zwei Bäume erwähnt werden, die ebenfalls Gegenstand eines Kultus sind: der mdarya, ein unscheinbares Bäumchen mit apfelartigen, eßbaren Früchten und der mramba (Affenbrotbaum).
Der Mdaryabaum ist sozusagen der Stellvertreter für die Ahnengeister, der Platz, an welchem sie sicherlich angetroffen werden, ähnlich wie an Flußläufen. Um den Stamm legt man Steine, welche den Opferaltar bilden, auf welchem die Speis- und Trankopfer niedergelegt[S. 173] werden. Wird nun einer aus der Sippe derer, die den Mdaryabaum für heilig erachten, krank, so führt man dies nicht auf den Baum selbst sondern auf die Ahnengeister zurück, als deren Vertreter er gilt. Die Opferriten sind den bei der Anbetung der nkoma (Ahnenschädel) befolgten ähnlich, die wir weiter unten besprechen wollen.
Im Gegensatz zum Mdarya ist dem Affenbrotbaum eine selbständigere Stellung eingeräumt. Ihm selbst, nicht wie bei dem Mdaryabaum den Ahnengeistern, werden Speis- und Trankopfer dargebracht. Er kann den Leuten Unglück bringen, um sie an ihre Opferpflicht zu erinnern. Hat das Orakel einen Affenbrotbaum als Ursache zu irgendwelcher Krankheit festgestellt, so geht der Betreffende zum Baumpriester seiner Sippe und teilt ihm die Sachlage mit. Es wird ein Tag festgesetzt, an welchem sie mit den andern Angehörigen der Sippe das Baumopfer darbringen wollen. Jeder der Geladenen hat eine Ziege mitzubringen, außerdem genügend Bier, welches teils aus schwarzen, teils aus weißen Zuckerrohrstangen bereitet sein muß. Dann ziehen sie alle mit Weibern und Kindern zu dem heiligen Baum, der ebenfalls durch an den Stamm gelegte Steine gekennzeichnet ist. Der Priester nimmt bei der Opferung etwas Bier in den Mund, bespützt damit den Affenbrotbaum, und betet ungefähr folgendes: „Wir sind nun alle hier. Du hast nach uns verlangt. Wir haben uns auch schon lange nicht mehr sehen lassen. Wenn du uns wirklich das Unglück gebracht hast, dann laß es uns daran erkennen, daß unsre Opfertiere ‚rein‘ sind!“
Dann befiehlt er, die Ziege, die er mitgebracht hat, zu töten. Sorgfältig untersucht man die Eingeweide und die Leber auf irgendwelche verdächtigen Zeichen hin. Finden sich solche, dann nimmt man vorerst von dem Opfer Abstand, um beim Orakel die Ursache für das unerwartete Hindernis zu erforschen. Da melden sich dann oft die Ahnen, der Geist des Vaters oder der Mutter, oder sonst ein Fetisch wie der mpingu, von welchem wir noch sprechen wollen, und verlangen ihr Opfer. Der Priester wird nun beauftragt, dem betreffenden Geiste vorerst ein Scheinopfer darzubringen und ihn zu bitten, sich solange zu gedulden, bis der Mramba das seinige erhalten habe.
An dem nunmehr neu anberaumten Tage wird sich alles glatt abwickeln, die erste Ziege wird ‚rein‘ sein und damit auch die andern. Der Priester läßt kleine Stückchen Fleisch von allen Körperteilen der Ziege in einen Strohteller legen und betet dann, indem er von dem[S. 174] mitgebrachten Bier an den Baum spützt und kleine Fleischstückchen auf den „Altar“ legt, etwa wie folgt: „Du Affenbrotbaum, wenn du es bist, der uns bisher all das Unglück in unsern Gehöften und unsern Herden gebracht hat, dann sorge, daß wir das von nun an nicht mehr zu befürchten brauchen, denn heute opfern wir dir. Hilf uns, daß wir Kühe und Hühner bekommen und viele Kinder sowie reichliche Speise.“
Der eigentliche Veranstalter des Festes betet dem Priester diese Worte nach. Jetzt erhalten auch sämtliche Anwesende, die während des Gebets der beiden im Kreise um den Affenbrotbaum herumstehen, Bier, und alle bespützen damit den Baum. Dann fängt der Priester seine Beschwörung an:
Pr.: „Wer auch immer sich darüber aufhält, daß dieser Mann dem Mramba sein Opfer dargebracht hat, der soll sterben!“
Alle: „Ja, der soll sterben!“
Pr.: „Wer auch immer sagen wird: Es ist gut, daß man ihm geopfert hat, denn nun werden sie Ruhe haben, der soll leben!“
Alle: „Ja, ewig leben!“
Nunmehr werden auch die andern mitgebrachten Ziegen getötet, d. h. erstickt, und man gibt sich erleichterten Herzens den Freuden einer ziemlich reichlichen Opfermahlzeit hin.
Wenn der Paremann auch an Flüsse zieht und dort Gelübde und Opfer darbringt, so ist da wohl die Vorstellung von der Psyche vorherrschend. Man kann sich das so erklären, daß man in dem schnell dahinbrausenden Fluß, der aus dem Erdinnern kommt, wohin man die Toten gebettet hat, die flüchtige Hauchseele wiedererkennt. Wenigstens mag diese Vorstellung mit dazu beigetragen haben, das Wasser als einen weiteren Aufenthaltsort der Ahnengeister zu betrachten; denn selbst die Sippen, die den Schädel der Ahnen aufbewahren, sind sich ebenso sicher, von diesen Ahnengeistern auch an irgendeinem Flußlauf oder Teich gehört zu werden. Sind ja doch Flüsse, Teiche und Wiesen der Aufenthaltsort für alle Geister, die aus irgendeiner Ursache zu Hause nicht angebetet werden, wovon wir noch weiter unten sprechen wollen. Es ist da wieder einmal ersichtlich, wie verschlungen die Wege auf diesem Gebiete sind, indem hier die Vorstellung einer an die Knochen gebundenen Körperseele[S. 175] direkt Hand in Hand geht mit dem Glauben an eine leicht beschwingte Psyche, die in jedem Fluß oder größeren Wasser angetroffen werden kann. Es mag sein, daß diese Gedankenverbindung den Übergang zu dem Glauben an Wasserdämonen bildet oder aber daß der besonders nachts unheimlich daherrauschende Fluß und der gefährliche Sumpfsee einen Treffpunkt der Schatten bildet analog dem Blocksberg und den Kreuzwegen. So glaubt man auch tatsächlich an Flußläufen Freudentriller, Gesang, Gelächter und Trommelschlag zu hören. Da haben die Schatten ihr nächtliches Tanzgelage. Die wilden Enten auf den Flüssen nennt der Paremann „Hühner der Schatten“, welcher Ausdruck, wie mir scheint, den Aufenthalt der Schatten im Wasser mehr als einen dauernden bezeichnet. Auf diese „Hühner der Schatten“ Jagd zu machen, würde der heidnische Paremann unter keinen Umständen wagen.
Es mag nun sein, daß der Mpare den Schädel seines Vaters vergeblich um Erhörung einer Bitte angefleht hat, dann versucht er es wohl, sein Gebet am Fluß darzubringen, wo er die Ahnengeister auch anzutreffen hofft. Wohnt er in der Fremde, wo es ihm nicht möglich ist, vor den Schädeln seiner Ahnen zu opfern, so geht er wohl ohne Umschweife an irgendeinen Flußlauf, um dort sein Gelübde und später auch das Opfer darzubringen. Während des Gebetes, welches mit Anrufung der dort „seßhaften Geister“ beginnt, wirft er etwas von irgendeiner Speise oder gar nur Sand ins Wasser und gelobt Größeres, wenn seine Bitte erhört werde. Nun betet er etwa so: „Ihr Geister, die ihr hier in diesem Flusse wohnt, nehmt diesen Sand. Wenn ihr meine Bitte erfüllt, werde ich euch veranlassen, den Sand wieder auszuspeien, und ich bringe euch dafür einen Ziegenbock.“
Findet seine Bitte Erhörung, so wird bald irgendeine Krankheit den Vergeßlichen an sein Gelübde erinnern; „denn“, sagte einer meiner Gewährsmänner, „Opfergelübde sind wie Schulden, die bezahlt man gewöhnlich nicht eher, als bis man von dem Gläubiger gemahnt wird!“ Der Mann sucht nun einen Ziegenbock, borgt ihn vielleicht von Freunden oder Nachbarn. Eine Nacht muß der Bock in seinem Hause sein, um gewissermaßen in seinen Besitz überzugehen. Am Morgen bringt er zuerst an der Haussäule den Ahnen ein Trankopfer dar und bittet sie, das Opfertier möge ihnen genehm sein und in seinen Eingeweiden keine Merkmale tragen, die den Grund zu neuen Befürchtungen legen würden. Nachdem sich die geladenen Gäste durch eine Kostprobe des Opferbieres gestärkt haben, ziehen[S. 176] sie alle an jene Stelle des Flusses, wo das Gelübde abgelegt worden war. Hier betet der Betreffende: „Ihr Geister, die ihr hier in diesem Fluß wohnt. Als ich seinerzeit Trübsal hatte, da flehte ich euch an, und ihr habt mir das Erbetene gegeben, habt Dank und nehmt euren Ziegenbock.“
Dann wird das Opfertier erstickt und kleine Stückchen von allen Gliedern, beim rechten Vorderfuß angefangen, auf zwei Brathölzchen gespießt und gebraten. Von diesem gebratenen Fleisch schneidet man wieder kleine Stückchen ab, um diese mit anderer Speise und Bier unter nochmaligem Gebet in den Fluß zu schütten. Der Rest des gebratenen „Geisterfleisches“ wird von den Anwesenden als Einleitung zur eigentlichen Opfermahlzeit verspeist. Einen Teil des Fleisches nimmt jeder mit nach Hause.
Es ist möglich, daß die bei unsern Wapare bestehenden Speiseverbote nichts weiter als Ausklänge eines alten Totemismus sind. „Totems“ wurden von einigen nordamerikanischen Indianerstämmen die Tiere genannt, welche eine kultische Verehrung genossen. Unter dem Worte Totemismus faßt man heute alle Erscheinungen zusammen, die sich auf die Verehrung von Tieren beziehen. Es ist natürlich sehr schwer festzustellen, ob die eine oder andere Erscheinung dem Totemismus oder dem Animalismus zuzurechnen ist. In den Totemtieren sieht der primitive Mensch entweder seine Ahnen, von denen er auch sein Geschlecht ableitet, oder aber eine Art Schutzdämonen, die zu töten nicht in seinem Interesse liegen kann. Die erstere, genealogische Beziehung kann auf weitere Dinge wie Pflanzen, Bäume und Steine übertragen werden. Dadurch ist wiederum der Weg gebahnt für zahlreiche Wechselbeziehungen zu andern Gebräuchen, die mehr in das Gebiet des Glaubens an Felddämonen und des Fetischdienstes gehören.
Als echten Totemismus könnte man bei den Wapare die Scheu der Muhezisippe ansprechen, die graue Meerkatze umzubringen, trotzdem diese Affenart eine wahre Landplage ist. Sie dürfen aber nicht getötet werden, weil die Leute sagen, daß diese Affen ihre „Brüder“ sind. Das genealogische Moment käme also hier zum Vorschein. Die Angehörigen der erwähnten Sippe gehen sogar soweit, auch von einer fremden Person, die einen ihrer „Brüder“ getötet hat, das Lösegeld (irivi) zu fordern, welches allerdings nur in einem oder mehreren Maiskolben besteht, die der Muhezimann zum Teil für seine[S. 177] „Brüder“ in den Busch legt. Die Leute haben in ihrer Landschaft auch einen heiligen Hain, in welchem den Meerkatzen geopfert wird. Der Betreffende muß sich aber die Speisen zu dem Opfer vorher auf dem Markte stehlen und sich so der Lebensauffassung seiner „Brüder“ nähern. Die Gebete sollen ähnlich sein wie die bisher besprochenen.
Andre wieder verehren die schwarzen Ameisen. Kommen sie ins Haus, dann werden sie nicht mit Feuer vertrieben und getötet sondern nur mit Asche oder Erde bestreut. Andre nehmen wohl eine Schnecke, werfen sie in den Ameisenhaufen und sagen: „Hier ist euer Ochse, laßt uns in Frieden und geht wieder nach Hause.“ Wenn im Anschluß an diese Sitte der Beleidiger dem Beleidigten zuruft: „Dich versöhne ich mit nichts weiter als einem ‚Schnecken-Ochsen,‘“ wie man das bei den winzigen Ameisen macht, so ist das der größte Schimpf, den man ihm antun kann und den er kaum ruhig hinnehmen wird. Aber auch die Sippen, welche die Ameisen nicht unmittelbar verehren, sehen in ihnen besonders dann Abgesandte der Ahnengeister, wenn sie sich nicht aus ihren Hütten vertreiben lassen wollen. Man bringt dem unbekannten Gott, der die Ameisen gesandt hat, ein Scheinopfer dar. Ziehen sie danach ab, dann erkundigt man sich beim Orakel, wem und wo man zu opfern habe.
Des weiteren sind Krähen Tiere, die nicht getötet werden dürfen. Der Grund hierzu scheint mir in der Annahme zu liegen, daß die Genossen einer getöteten Krähe alsbald zum Fluß eilen und sich baden, wie es nach einem Todesfall üblich ist. Es heißt aber, daß die Tiere diesen Teil des Totenopfers für den darbringen, der ihren Genossen getötet hat und nun bald sterben muß. Hat man deshalb doch eine Krähe, die den Kücken nachstellte oder den gepflanzten Mais wieder aus der Erde herausscharrte, mit dem Pfeil erschossen, so macht der Schütze schnell einen Riß in sein Kleid und wäscht sich im Fluß, um durch solche bei einem Todesfall übliche Handlung den andern Krähen zuvorzukommen und die Gefahr von sich abzuwenden.
Unzählig sind die Tiere, die von den verschiedenen Sippen nicht gegessen werden dürfen. Manchmal erstrecken sich die Speiseverbote auch nur auf gewisse Teile wie Herz, Leber, Lunge. Bei der Bwambosippe z. B. müssen sich die Leute solchen Verboten unterwerfen, wenn sie verschiedene Feste mitgemacht haben, Sitten, die aufzuzählen hier zu weit führen würde. Die Wamjema essen kein Buschbockfleisch, dürfen Buschböcke aber töten und das Fleisch auf[S. 178] dem Markte verkaufen. Wenn sie ihren großen Fetisch anbeten, den murungu wa gu, den Gott des Dachbodens, dann muß jeder, der Buschbockfleisch gegessen hat oder im Verdacht steht, eine Ziege bringen, die geschlachtet wird, um den Betreffenden das verbotene Fleisch „erbrechen“ zu lassen. Der Ausdruck ist natürlich nur ein Sinnbild dafür, daß er nunmehr rein geworden ist. Wenn Frauen der Wamjema-Sippe von Männern andrer Stämme geheiratet werden, so können die Ehemänner durch einfaches Ziehen an den Ohrläppchen ihre Frauen von diesem Gebot befreien.
Nkoma bedeutet Ahnengeister und ist zugleich das Wort für die Schädel, an welche man sich die Schatten gebunden denkt. Die Nkoma bilden den Eckstein an dem ganzen Gebäude des Animismus, wie er sich bei unsern Wapare vorfindet. Mag da Freude oder Leid sein, die Nkoma sind in den meisten Fällen die Ursache. In der höchsten Not ruft man laut zu den Ahnengeistern. Sie werden gefürchtet als die Urheber von mancherlei Unglück und Krankheit, so daß man sie auf den Rat des Orakels mit allerlei Speis- und Trankopfern versöhnen muß. Andernfalls wendet man sich vertrauensvoll in den vielen Nöten des Lebens an sie. Und doch zeigt sich hier wiederum der klaffende Unterschied zwischen Christentum und Heidentum. Denn während der Christ jubelnd ausruft: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht!“ glaubt der Paremann erst dann Garantie für Frieden und Glück zu haben, wenn seine Ahnen sich möglichst nicht um ihn kümmern. Schlafen sie, dann droht ihm so leicht keine Gefahr, wachen sie auf, dann muß ein Opfer sie schnell wieder unschädlich machen. Wahrlich, ein trauriger Götzendienst, der seinen Ausdruck so recht in dem Kiparegebet findet: Nkoma shinjiani! = Ihr Geister, schlaft!
Die Opfer, welche den Verstorbenen dargebracht werden, sind keine Zauberopfer, durch welche man die Geister zwingen will, sondern reine Sühnopfer, welche die Nkoma günstig stimmen sollen. Übrigens ist der Mpare vorsichtig genug, zumeist das Opfer nur zu versprechen oder ein Scheinopfer darzubringen. Wenn z. B. das Orakel die Ahnengeister als Ursache dieses oder jenes Leides festgestellt hat, so betet er zu ihnen, indem er etwas Wasser auf die Erde spützt und aus einer Schale auf die Erde gießt (kuchwa mpombe). So nähern sich die meisten Opfer wiederum dem Begriff des Dankopfers,[S. 179] indem sie gewöhnlich erst nach Erhörung der Gebete dargebracht werden. Am Fuße der beiden mittleren Haussäulen, in der Nähe der Feuerstelle, befindet sich der Hausaltar, d. h. der Opferplatz.
Ist ein Mpare gestorben, so wird er sich nach einiger Zeit bei seinen Angehörigen in die Erinnerung zurückrufen, indem er das eine oder andere Familienglied mit Krankheit oder dergleichen plagt. Der um Rat befragte Medizinmann führt das Übel darauf zurück, daß der Schädel des Vaters noch nicht ausgegraben worden sei und bisher keine Opfer erhalten habe. Der Sohn sucht nun eine Ziege, lädt noch einige Freunde ein und geht mit ihnen an das Grab. Er legt dort der Ziege die Hände auf und betet: „Vater, du hast mich gerufen. Hier bin ich mit deinem Opfer. Laß dich schnell finden, damit ich deine Ziege schlachten kann!“ Vorsichtig wird jetzt das Grab geöffnet, bis sie auf den Schädel stoßen, den sie auf eine mitgebrachte Topfscherbe legen. Nunmehr wird die Ziege geschlachtet bzw. erstickt und das Grab mit ihrem Mageninhalt entsühnt. Dieser Mageninhalt ist nämlich das immer wieder angewandte Entsühnungsmittel. Der Sohn betet: „Vater, jetzt haben wir dich ausgegraben, wir wollen dich nach Hause bringen zu deinen Genossen. Auch dein Grab haben wir gereinigt.“ Nachdem er zweimal etwas rohes Fleisch auf das Grab gespützt hat, ist die Zeremonie beendigt. Einer trägt dann den Schädel nach Hause. Der Träger darf unterwegs niemand grüßen noch auf einen Gruß antworten. Zu Hause angekommen, wird der Schädel vorläufig auf der Tonscherbe in einem besonderen Abteil des Hauses (vusini) aufbewahrt, und man legt einen Tag fest, an welchem man wieder zusammenkommen will, um das erste Totenopfer zu bringen und den Geist der Reihe der zu verehrenden Ahnen anzugliedern (kusimika nkoma).
Es bleibt noch übrig zu erwähnen, daß man die Schädel gewöhnlich im Hause des ältesten Verwandten der Familie aufbewahren läßt, der somit auch ihr Priester ist. Am Morgen des bestimmten Tages geht dieser Priester auf den Boden des Hauses, um das dort bereitgestellte, einige Tage vorher von dem leiblichen Sohn gebraute Bier einer Kostprobe zu unterziehen. Ist es verdorben, so gerät man wieder ob dieses bösen Zeichens in Unruhe und befragt das Orakel. Im anderen Falle aber gießt der Mann ein Trankopfer am Hausaltar auf die Erde und betet: „Ihr Geister! dies ist euer Bier. Heute wollen wir euch einen Genossen zuführen, damit seine Kinder ihm hier opfern können.“ Unterdes sind die andern Teilnehmer am Opfer mit der Ziege gekommen; den Schädel[S. 180] hat man von der Scherbe fortgenommen und in einen Topf getan. Zwei verschieden geformte Kürbiskalabassen werden mit Bier gefüllt, dann wird die Ziege geschlachtet. Von dem Fleisch werden Stückchen von allen Körperteilen auf vier Brathölzchen gespießt und gebraten. Zwei sind für die Männer und zwei für die Frauen bestimmt. Ist es gebraten, so werden kleine Stückchen davon abgeschnitten und auf je einen Strohteller gelegt. Der Priester läßt sich nunmehr eine Schale voll Bier einschenken und bringt dem Schädel als dem Sitz der Körperseele das erste Gebet dar: „Du Soundso, heute haben wir dich der Reihe der Ahnen angegliedert. Hier ist dein Bier und Opferfleisch. Trink und iß und gib es deinem Vater und deinem Großvater und denen, die bei euch sind. Sag’ ihnen, daß wir dir heute ein Opfer gebracht haben, damit ihr euch freut und wir uns auch freuen können.“ Unter solchen Worten gießt er etwas Bier vor dem Topf mit dem neuen Schädel aus und legt einige Fleischstückchen mit auf die Erde. Dasselbe geschieht dann vor den andern Ahnentöpfen.
Nunmehr wendet er sich unter Beobachtung derselben Zeremonien an die weiblichen Geister, beginnend mit der Stammutter, die auch den andern von dem Opfer mitteilen soll. Nach dem Priester betet der leibliche Sohn des Toten: „Vater! du hast dich beschwert, daß wir dich nicht ausgegraben haben. Jetzt ist es geschehen, wir haben dich zu deinen Genossen gebracht usw.“ Der Rest des gebratenen Opferfleisches wird unter die anwesenden Männer und Frauen verteilt, und die gewohnte Mahlzeit schließt sich an.
Von Leuten, die keine Kinder haben, werden die Schädel nicht aufgehoben. Für sie ist auch sonst keine Möglichkeit vorhanden, unter die Ahnen eingereiht zu werden. Da soll schon mancher Vater, dessen einziges Kind die christliche Taufe empfing, geseufzt haben: „Ich hatte mir es schon so schön gedacht, einstmals Opfer zu erhalten. Aber jetzt bin ich wie einer, der kein Kind hat, und meine Hoffnung ist dahin.“ Die Flußläufe, Teiche und große Wiesen bilden den Aufenthaltsort für die Schatten, die kinderlos gestorben sind. Dahin ziehen sich auch die Urahnen zurück; denn nur zu Vater, Mutter, Großvater und Großmutter betet der Mpare. Die Schatten der Urahnen wie der Kinder halten sich an oben erwähnten Plätzen auf und freuen sich, wenn auch sie bei Gelegenheit ein Opfer erhalten.
Von Zeit zu Zeit bringen sich die Ahnen bei ihren Nachkommen in Erinnerung, der Mwasu sagt: Nkoma žirota. Man erhält erst durch die Vermittlung des Orakels Kenntnis davon, welches man wie immer sofort bei irgendwelchem Unglück oder Krankheit[S. 181] zu Rate zieht. Irgendeiner von den Ahnen, die Großeltern der Mutter oder des Vaters, oder Mutter und Vater selbst werden für die Krankheit verantwortlich gemacht. Das Orakel behauptet, einer der Ahnen fühle sich vernachlässigt und wolle ein Speis- und Trankopfer. In der schon erwähnten vorsichtigen Weise, welche die Wapare bei jedem Gelübde ihren Götzen gegenüber an den Tag legen, wird ein Scheinopfer dargebracht, und erst wenn die Genesung des Kranken die Sicherheit geboten hat, daß es sich tatsächlich um den vom Orakel als Ursache festgestellten Ahnengeist handelt, erhält er das wirkliche Opfer. Es besteht gewöhnlich aus irgendeiner gekochten Speise und Bier. Der Schädel wird aus dem Topf geholt und etwas von dem anhaftenden Schmutz und den Spinngeweben gereinigt, dann mit Öl gesalbt und auf ein Fell an den Fuß der Haussäule gelegt. Hierauf wird dem Geiste das Opfer in der schon beschriebenen Weise dargebracht.
Ein andres Opfer, welches den Ahnen etwa am sechsten Tage nach der Geburt eines Kindes von den beiden Eheleuten dargebracht wird, heißt vishindio. Es besteht aus gekochten Wurzelknollen, die zuerst der Mann und gleich nachher die Frau beim ersten Morgengrauen an einem Kreuzwege niederlegen, „damit das Neugeborene nicht ewig schläft“! Hiermit wäre schon die Überleitung zu den freiwilligen Opfern gegeben, welche die Wapare ihren Ahnen darbringen, ohne vorher durch Unglück und Orakel gemahnt worden zu sein. Sie nennen das kukezya nkoma = die Geister begrüßen. Allerlei Speis- und Trankopfer werden den Schatten dargebracht, entweder als Dank für die Erhörung von Gebeten oder aber um sie versöhnlich zu stimmen. Mancher Mwasu läßt solch eine Gelegenheit nicht vorübergehen, ohne die Ahnen in nicht mißzuverstehenden Worten an ihre Pflicht zu erinnern, ihm zu Kühen — die für das Herz eines Paremannes der Inbegriff alles Begehrenswerten bilden — zu verhelfen. Er betet wohl: „Ihr Geister, hier habt ihr ein wenig Maisbrei. Das ist meine Kuh, ihr gebt mir ja keine andere, da kann ich euch auch kein Fleisch bringen, und ihr müßt eben Mehlbrei essen.“
Einer unsrer Christen hörte einen Mann namens Konamboa, der dazu noch der Familienpriester war, in einer Schädelhöhle folgende Worte an die Ahnengeister richten: „Hier sind Leute, die euch anbeten wollen, laßt mich aber in Frieden. Kinder habt ihr mir keine gegeben, Rinder habe ich auch keine, und dazu wollt ihr immer Opfer haben, soll ich euch denn Menschen opfern? Ihr Kerle habt auch keine Ohren (mantu aa na masikio esina)!“ Daß tatsächlich die[S. 182] Ahnen oder andre Götzen im höchsten Zorn einmal so beschimpft werden, nur, um sich wahrscheinlich bald mit einem Opfer wieder versöhnen zu lassen, wurde mir auch von einem heidnischen Gewährsmann bestätigt.
Die verschiedenen Opfer und die dabei zu beobachtenden Gebräuche sind viel zu zahlreich und auch schon nach den Landschaften verschieden, als daß sie sich alle hier aufzählen ließen. Ich muß mich damit begnügen, das Hauptsächlichste anzuführen, und will deshalb nur noch eines wichtigen Gebrauches Erwähnung tun, des Kirurumo-Opfers. Dieses muß jedem Ahn einmal dargebracht werden, und zwar wartet man, bis die Geister selbst ihr Opfer fordern, was festzustellen wie immer die Aufgabe des Orakels ist. Man bespricht sich mit den Verwandten. Dann wird ein Ochse gesucht, der unbedingt unbeschnittene Ohren haben und von ganz schwarzer Farbe sein muß.
Der Opfertag ist der heilige vierte Wochentag. An den vorhergehenden Tagen werden umfassende Vorbereitungen getroffen und Bier aus dunklem und hellem Zuckerrohr gebraut. In der Nacht vom dritten auf den vierten Wochentag wird der Ochse gegen drei Uhr morgens erstickt. Dabei dürfen nur Leute tätig sein, die das Kirurumo-Opfer den Ahnen bereits gebracht haben. Der Priester betet vorher, daß alles gutgehen möchte und der Ochse im Todeskampf niemand verletze, daß ferner aus dem Befund der Eingeweide und der Leber die Annahme des Opfers bestätigt werden möge. Aus zwei Kalabassen gießt der Priester zuerst Bier von dunklem und darauf von hellem Zuckerrohr als Trankopfer auf die Erde. Der Rest wird von den Versammelten getrunken. Das Tier wird nunmehr auf die Erde geworfen und auf grausame Weise erstickt, indem ihm schwammartige, trockene Zuckerrohrfasern, Restbestände von der Bierbereitung, mit einem „schwarzen“ Zuckerrohr in Maul und Nase gestoßen werden. Bevor der an allen vieren stark gefesselte Ochse ganz tot ist, setzen sich die Nachkommen des betreffenden Mannes viermal auf das Opfertier, und zwar zuerst die Männer, dann die Frauen. Dabei sagen sie: „Vater, jetzt haben wir dich vergessen.“
Bei Tagesanbruch bringt man dem Ahn zuerst an der Haussäule ein Trankopfer dar und später, nachdem man den Ochsen enthäutet und zerlegt hat, erhält er ein weiteres Fleisch- und Bieropfer an einem Kreuzwege. Man betet: „Hier ist dein Rind. Wir haben dich nun deinen Freunden dort ebenbürtig gemacht, teile es mit ihnen, damit auch sie dir in Zukunft nichts vorenthalten!“
[S. 183]
Die Geladenen erhalten zu Hause jeder seinen Anteil an dem Fleisch und stärken sich vor ihrer Rückkehr noch durch einen guten Trunk. Am Abend bringt der Sohn seinem Vater das letzte Opfer dar und bittet um seinen Segen. Am nächsten Tage wird der Schädel des Ochsen von der Haut befreit, und nachdem die Ratten ihn im Laufe der Zeit völlig saubergenagt haben, dient er den Leuten als Stuhl. Bei der Gelegenheit sei noch erwähnt, daß man für Leute, die im Kriege erschlagen worden sind und deren Leichen man nicht aufgefunden hat, eine Ziege schlachtet, deren Schädel dann später den übrigen Ahnenschädeln beigefügt wird und die Stelle des eigentlichen Nkoma einnimmt.
Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, den Schleier, der über diesem Opferfest zu liegen scheint, zu lüften. Für das geheimnisvolle viermalige Niedersetzen auf dem Opfertier und den eigentümlichen Namen kirurumo, von dem Verbum kururuma = brummen, brüllen, donnern, abgeleitet, habe ich keine Erklärung finden können.
Nächtliche Tanz- und Trinkgelage, wochenlang anhaltende Feste, welche die Berge widerhallen machen von den Freudentrillern und Tanzgesängen, alle diese Dinge sind dazu angetan, dem Uneingeweihten das Wesen des Heidentums zu verbergen. Aber zieht man diesen Schleier etwas zurück, so sieht man, wie diesen „lustigen Naturkindern“ auf Schritt und Tritt ein grausiges Gespenst folgt: die Furcht. Da wird das Gebet zu einer ergreifenden Klage, zu einer wuchtigen Anklage gegen den Bösen, der seinen nach Frieden schreienden Kindern statt des Brotes einen Stein anbietet: Nkoma shinjiani! — — — Ihr Geister, schlaft!
Die Fülle der auf dem Gebiete des Animismus teils ineinandergreifenden, teils nebeneinander hergehenden Seelenvorstellungen mit ihren Übergängen ist eine derartig große, daß ich auch hier den sich dafür Interessierenden auf das Werk von W. Wundt, „Völkerpsychologie II, Mythus und Religion“, hinweisen muß. Das Studium dieses Werkes wird jedem, der draußen mit Negern zu arbeiten hat, oft überraschende Aufschlüsse über wohl längst bekannte aber unverstandene Gebräuche geben. Wenn ich hier zuerst vom Vegetationskultus schreiben will, dem ein Dämonenglaube zugrunde[S. 184] liegt, so muß ich dabei vorausschicken, daß die Wapare von eigentlichen Dämonen nichts zu wissen scheinen, höchstens im Unterbewußtsein. Soviel ist sicher, daß all die magischen Handlungen, von welchen wir im folgenden sprechen werden, etwas Ungenanntes bannen sollen, und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir in diesem Ungenannten die Felddämonen suchen. Wundt unterscheidet zwischen inneren, in den Pflanzen wohnenden Dämonen und solchen, die ihren Sitz in Sonnenschein, Regen und Wind haben, also äußeren. Beides fand ich hier bestätigt. Die Sippe der Vamramba schickt die Hungersnot ins Land, indem sie in einem bestimmten Haine betet, der also den Hungerdämon beherbergt. Anderseits herrscht die allgemeine Ansicht, daß alle Seuchen aus der Sonne kommen. Hier scheint also noch einmal der Sonnengott den Charakter eines Dämonen anzunehmen, während der Sonne im allgemeinen als schöpferische und erzeugende Macht eine höhere Stellung zugewiesen ist.
Wenn die Wapare sehen, daß eine Hungersnot vor der Tür steht, gehen sie zu ihrem obersten Häuptling, um ihn zu bitten, etwas gegen das drohende Unglück zu unternehmen. Dieser befiehlt jeder Landschaft die Stellung einer Ziege. Sind diese alle zusammen, dann geht eine Gesandtschaft mit einem Unterhäuptling an den Zauberer ab, der durch seine Medizin die bösen Dämonen, die schon einen großen Teil der Ernte vernichtet haben, bannen soll. Der stellt ein Sympathiemittel her, indem er allerlei Kräuter stampft und das Ganze mit einigen Exemplaren der Insekten vermengt, die die Felder des betreffenden Landes im besonderen heimgesucht haben, nach dem Grundsatz der magischen Medizin: „Similia similibus!“ Den fertigen Brei bespützt er unter geheimnisvollem Gemurmel, indem er den Atem heftig zwischen den fest zusammengepreßten Lippen hervorstößt, als ob er in eine Trompete blasen wolle. Zu Hause angekommen, verteilt der Oberhäuptling den Extrakt an die Häuptlinge der einzelnen Landschaften. Je zwei und zwei Männer sprengen diesen mit Wasser reichlich verdünnten Zauber auf die Felder ihres Bezirks. Zum Sprengen verwenden sie einen Pinsel, der in einem am Ende zerstoßenen Bananenschößling einer bestimmten Art besteht. Die Leute müssen tiefschwarze Hautfarbe haben, damit die Maisstauden und die andern Pflanzen schwarz (d. h. saftgrün) werden. Würden hellfarbige Männer das Weihwasser sprengen, so läge die Gefahr nahe, daß auch die Maisstauden eine kümmerliche hellgrüne Farbe annähmen. Das Besprengen geschieht vier Tage lang. An diesen wird unter keinen Umständen geackert. Holz darf nur gebrochen,[S. 185] aber nicht mit der Axt abgeschlagen werden. Auch der Gebrauch des Messers zum Abschneiden einer Bananentraube oder eines Zuckerrohrs ist untersagt. Die Restbestände des Zaubers werden im Hause des Häuptlings aufbewahrt. So verfährt man in Zeiten der Dürre und andrer die Ernte bedrohender Plagen, um von den Anpflanzungen zu retten, was noch zu retten ist.
In ähnlicher Weise wird ein andrer Zauber angewandt, der dazu dient, von vornherein einen reichen Ernteertrag zu sichern. Berühmte Medizinmänner, die in diesem Fach Bedeutendes leisten sollen, sind die Vamramba, die Affenbrotbaumleute. Diese Sippe soll angeblich ihre Toten bei solchen Bäumen niederlegen, die wohl ihr Totem bilden. Vorerst erhält der Zauberer für seine Mühewaltung zwei Ziegen und nach erreichtem Erfolg eine Färse und einen Ochsen. Den Leuten werden zweierlei Zaubermittel verabfolgt. Das erste verdünnt der Häuptling in einem Topf und legt etwas Saatmais in das geweihte Wasser. Am nächsten Morgen ganz früh entnimmt er dem Topf ein wenig von der Saat, macht auf seinem Acker unten und oben je zwei Saatlöcher und pflanzt den geweihten Mais. Zu beachten ist auch hier die immer wiederkehrende heilige Zahl vier. Er hütet sich, vorher etwas zu essen, weil das für alle Insekten sozusagen eine Einladung wäre, auch zu essen, und diese würden natürlich ihren Hunger an den Früchten des Feldes stillen. Hat der Häuptling den Anfang gemacht, dann kommen alle Leute der Landschaft in sein Gehöft. Jeder nimmt sich eine Handvoll des geweihten Maises aus dem Topf, schüttet eine gleiche Menge seiner mitgebrachten Saat wieder hinein und begibt sich auf seinen Acker, um zu pflanzen. Später werden die Felder mit der andern „Arznei“ besprengt unter Beobachtung derselben Regeln, wie oben beschrieben.
Ist die Erntezeit gekommen, so sendet der Häuptling Leute, die auf jedem Acker einige Maiskolben brechen und diese Steuer (mshanjo) an einem Scheidewege zusammentragen. Hier wird der Ernteschmaus gehalten. Jeder Fremde, der vorübergeht, darf teilnehmen. Was übrigbleibt, läßt man zur freien Benutzung für jedermann am Wege liegen. Damit ist die Ernte offiziell eröffnet.
Auch Seuchen an Menschen und Vieh werden durch Besprengung mit derartigem Weihwasser vertrieben. Alle Leute stehen am bestimmten Tage ganz früh gegen 4 Uhr morgens auf, und in jedem Hause werden die Feuer, die Abbilder der alten Sonne, ausgelöscht in der Hoffnung, daß auch die Seuche so erlöschen möge. Jede Frau trägt eine alte Kürbisschale mit gekochtem Mais und[S. 186] ein Stück Feuerholz. Letzteres wird beim Hause des Häuptlings niedergelegt. Der Medizinmann führt die ganze große Versammlung an einen Busch, wo die Frauen schnell ihre Schalen hinsetzen und alle, ohne rückwärts zu schauen, in das Gehöft des Häuptlings zurückkehren. Das nennt man kutaga ihumpa = die Seuche fortwerfen.
Auf dem Hofe des Häuptlingshauses erzeugt der Zauberer mit den Vinindi-Stäbchen neues Feuer, ein Abbild der nunmehr erneuerten Sonne, und verbrennt einige Zaubermittel. Die Frauen legen ihre mitgebrachten Scheite hinein, lassen sie tüchtig anbrennen und tragen diese neugewonnenen Feuer in ihre Hütten, während die ausgewählten Männer vier Tage lang mit ihrem Weihwasser durch die Landschaft ziehen und Häuser, Menschen und Vieh besprengen. Bei dieser Arbeit dürfen sie übrigens kein Wort reden und müssen selbst beim freundlichsten Gruß stumm bleiben. Ich will nicht vergessen zu erwähnen, daß allen diesen Medizinen natürlich auch das allgebräuchliche Sühnemittel, der Mageninhalt eines Schafes, beigemengt ist. Der unparteiische Beobachter muß auch hier wieder sagen: Ob der hochkultivierte Europäer sich kleine Kräuterbündel in der Kirche weihen läßt und diese dann gegen Blitzgefahr unter das Dach hängt, oder ob sich der unkultivierte Neger von seinem Medizinmann Weihwasser gegen Hungersnot und allerlei Seuchen machen läßt, es handelt sich bei beiden um die gleichen Vorstellungen. Die Kultur, selbst im Verein mit der Kirche hat oft nur die Schale verändern können, ohne den Kern zu berühren. Die reinen und einfachen Lehren des Wortes Gottes werden aber beim Neger nicht nur eine Änderung in der Lebensform bewirken sondern auch seine Gedankenwelt, besonders aber seine Seelenvorstellungen von Grund aus reformieren. Wir freuen uns, daß wir heute schon Hunderte von christlichen Negern haben, die sich schämen würden, geweihte Sträußchen oder dergleichen Dinge gegen Blitzgefahr in ihr Haus zu hängen, weil sie, die noch gestern Heiden waren, genau wissen, daß heidnischer Dämonenkult auch in christianisierter Form bleibt, was er war. Wundt bestätigt das am Ende seiner Besprechung über die Schutzdämonen, und seine Worte sollten uns Kulturmenschen, die wir wohl auf die Ideenwelt des Negers mit Geringschätzung herabblicken, nachdenklich stimmen. Wundt schreibt: „Aber die Majorität dieser mit Heiligennamen geschmückten Dämonen gilt doch den Plagen und Befürchtungen, die den Menschen vor jeder Kultur schon bedrängen. Laurentius hilft gegen Schulterschmerzen, Sebastian vertreibt die Pest, Rochus die Syphilis, Johannes der Evangelist bewahrt vor[S. 187] Vergiftung, Benediktus vor Behexung, Vincentius bringt Verlorenes zurück, Klara verhilft den Mädchen zu Männern. So hat die Kasuistik des abergläubischen Heiligenkultus jedem Heiligen sein besonderes Übel zugewiesen, gegen das seine Anrufung schützen soll. In dieser Teilung der Aufgaben gleichen die Heiligen ganz den Schutzdämonen der heidnischen Litauer oder der römischen Indigitamenta. Aber es sind nicht mehr Kulturdämonen, die angerufen werden, sondern Zauberdämonen des primitiven Animismus, die von den Kulturdämonen nur das Prinzip der Arbeitsteilung und von den christlichen Heiligen die Namen übernommen haben.“
Die Vaasu haben außerdem eine ganze Reihe von heiligen Hainen, in welchen sie Kulthandlungen vornehmen. Ob wir es nun hier mit rein animistischen Vorstellungen zu tun haben, oder ob die zu besprechenden Erscheinungen dem Dämonen- oder Fetischkult zuzurechnen sind, das wage ich nicht zu entscheiden. Ein Zaubermittel aus Holz oder Stein wird nach Wundt erst dann zum Fetisch, wenn es Objekt eines Kultus wird. Das findet hier anscheinend in einigen Fällen statt. Anderseits lassen aber die dabei üblichen Gebräuche so sehr die sonst dem Fetischkult eigentümlichen Zeremonien außeracht, daß man doch mehr an einen Dämonenkultus zu denken hat.
Im ganzen Lande zerstreut liegen die heiligen Haine, die matasio. Dicht bei unsrer Missionsstation Friedenstal liegt der berühmte Zimbwe-Hain, dessen Entstehung uns ein alter Häuptling folgendermaßen erzählte: In grauer Vorzeit fand ein Mann namens Mabeku an der heutigen Opferstätte eine junge Riesenschlange, die immer an einer Stelle liegen blieb. Da seiner Sippe die Schlange heilig war, so deckte er seinen Fund mit einem Topfe zu und pflanzte einen Isai-Baum sowie eine Jore-Schlingpflanze daneben. Die Schlange fütterte er, bis sie groß war, und machte bekannt, daß an der Stelle seines Opferplatzes kein Baum gefällt werden dürfte. So entstand mit den Jahren ein großer Hain und zahlreiche Töchterhaine, die von den Gläubigen mittels Ablegern in ihren eignen Landschaften angelegt wurden. Aber Zimbwe blieb immer der „Häuptling“, der auch bei den Gebeten in den andern Hainen als Mächtigster genannt wird. Charakteristisch für die Umwandlung, die solche Vorstellungen durchmachen können, ist die Tatsache, daß die Erinnerung an die Schlange immer mehr verblaßte und mit der Zeit der Hain als solcher angebetet wurde, der Kindersegen verleihen und den Unschuldigen an den Bösen rächen kann. Man betet also: We Zimbwe, wekininka vaana, nnekunka nzao na ndorome ya mafuta![S. 188] = Du Zimbwe-Hain, wenn du mir Kinder schenkst, so werde ich dir einen Ochsen und einen fetten Schafbock opfern! So ist der ursprüngliche Seelenkult zum Vegetations- und Dämonenkult geworden. Der Wald, der anfänglich nur den geheimnisvollen Hintergrund für den Schlangendienst bildete, tritt nunmehr als eine Art selbständiger Dämon auf, dessen Hilfe man sich durch Versprechungen von Opfertieren zu sichern sucht. Als Folge dieser Wandlung der Assoziationen wurde das Verbot, in einem solchen Walde Bäume zu fällen, immer bestimmter, indem man den Holzschlag nicht mehr als einen am Opferplatz verübten Frevel ansah, sondern vielmehr als eine dem Hain selbst zugefügte Beleidigung betrachtete. Natürlich spielen die an die Schlange sich anknüpfenden Seelenvorstellungen beim Opfer noch immer eine Rolle. So legt der Priester die Eingeweide des Opfertieres auf die Erde und ersieht aus den Bewegungen des Dick- und Dünndarmes, ob das Opfer auch der Riesenschlange und deren kleineren Genossen, ihren Boten, angenehm ist.
Der echte Dämonenkult tritt uns in andern Hainen, den sogenannten mpungi entgegen. In ihnen ist der Opferplatz nur durch Isai-Bäume gekennzeichnet, die im Kreise herumgepflanzt sind. In der Mitte steht gewöhnlich ein Topf mit unbekanntem Inhalt und ein Isai-Baum. Solch ein Mpungi macht sich auf dieselbe unangenehme Weise bemerkbar wie andre Geister. Wenn die Kinder sterben, Menschen und Vieh erkranken, sagt das Orakel: „Euer Mpungi ist die Ursache, er will ein Opfer haben.“ In der Nähe einer unsrer Stationen ist ein berühmter Regen-Mpungi. Diesem Dämon werden große Bieropfer dargebracht, wie ich selbst einmal sah. Auch ein Ochse wurde getötet. Man betet: „Du Regen(dämon), wir bringen dir dein Opfer: mach’ uns gesund und mehre uns und unser Vieh usw.“ Dieser Regendämon scheint also mit der Zeit seinen Machtbereich weit über sein eigentliches Gebiet ausgedehnt zu haben, was ja nicht sehr verwundern kann, da für unsre Wapare als Ackerbauer und Viehzüchter der Regen Lebensbedingung ist. Übrigens geht jeder, der sich Regenzauber kaufen will, zuerst in diesen Hain, um dort unter anderm mit einem der schon oben erwähnten Bananenpinsel geweihtes Wasser als Bild des Regens nach allen Richtungen in die Luft zu spritzen. Dabei wird der Regen genau so herbeigerufen, wie man sonst die Rinder ruft, nämlich: Purko ko ko! Doch meine Freizeit, die ich dieser Arbeit gewidmet habe, reicht nicht aus, alle diese mannigfaltigen Gebräuche aufzuzeichnen; daher muß ich mich mit diesen Andeutungen begnügen.
[S. 189]
Noch einen Zauber will ich erwähnen, der eine Art Hausdämon günstig stimmen soll. Er wird immer in der Nähe des Hauses angebracht und besteht in einem kleinen etwas eingegrabenen Topf, hinter welchem unter anderm ein Isai-Baum gepflanzt wird. Am Tage der Opferfeier wird Speis- und Trankopfer dargebracht. Jeder tritt herzu und macht in eines der Blätter des heiligen Isai-Baumes einen Knoten und trägt dem Dämon dabei seine Bitten vor. Diese Sitte ist wohl gleichbedeutend mit dem Gebrauch bei andern Stämmen, ihren Fetischfiguren bei besonderen Anlässen einen Nagel einzuschlagen, um sie zu gewissen Dienstleistungen zu verpflichten. Obige Zeremonie nennen die Wapare kusoma kisiko = den Kisiko-Zauber eingraben. Auf andre Eigentümlichkeiten, z. B. das Austreiben eines schwarzen Schafes und einer gleichfarbigen Färse, denen je eine Glocke um den Hals gebunden ist, kann ich hier nicht eingehen.
Während sich diese Dinge mehr oder weniger dem Fetischdienst nähern, hat der Mwasu auch andre Zaubermittel, die ins Gebiet der Magie gehören. Sie werden unter entsprechenden Beschwörungen von den Medizinmännern auf Zugangswegen vergraben und halten Seuchen, Kriege und wilde Tiere dem Lande fern. Man nennt sie mafingo (s. S. 196). Ihnen wird nicht geopfert.
Wenn ein Zauber dadurch zum Fetisch wird, daß man ihn zum Gegenstand eines Kultus macht, so ist hier an erster Stelle der berühmte Dachgötze mpingu und sein Adjutant (mlao), der mfuko oder „die Tasche“ zu erwähnen. Auch die Anfertigung dieses Fetischs kann hier nur in großen Umrissen wiedergegeben werden. Ist der Götze zufällig mit seinem Tempel verbrannt oder altersschwach geworden, dann ruft der Sippenälteste, der zugleich Mpingu-Priester ist, die ganze Sippe zusammen, um mit ihr die Beschaffung der Opferziegen und des Bieres zu besprechen, Dinge, die bei der Neubereitung des Mfuko und danach des Mpingu geopfert werden müssen. Nach einigen Tagen werden vier Männer ausgesandt, um Blätter und Rinde von bestimmten Bäumen zu holen, und zwar gehen zwei in den Gebirgswald und zwei in den Steppenbusch. Unter Beobachtung der mannigfaltigsten Gebräuche werden die Rindenstücke pulverisiert, die Blätter zu Asche verbrannt und mit der Mischung an zwanzig kleine Kürbisfläschchen gefüllt. Diese werden vorläufig in einem Mattensack aufbewahrt. Bei einer neuen Zusammenkunft werden die erste Opferziege und ein Hahn, beide von bestimmter Farbe,[S. 190] geschlachtet. Aus der Lage des geschlachteten Hahnes auf dem Erdboden und den Eingeweiden der Ziege wird ersehen, ob die Tiere „rein“ sind oder ob irgendeine andre dämonische Macht eine Forderung hat. Das Orakel erteilt in solchem Fall Aufschluß. Ist alles in Ordnung, so stoßen die Frauen viermal den Freudentriller aus, und es wird dem Mfuko im Hause ein Fleisch- und Bieropfer dargebracht. Der Priester betet an der Haussäule: „Du Mfuko, wir sind gekommen, dich neuzumachen, denn du hast uns durch allerlei Übel daran erinnert. Nun segne uns und mehre uns und unser Vieh!“ Das Fell der Ziege wird unausgespannt in der Sonne getrocknet, und jeder Mann reibt es, um es geschmeidig zu machen. Aus diesem Fell wird nun vier Wochen lang jedesmal am vierten Wochentage der Mfuko, die Tasche, genäht und ihm an der Haussäule, dem späteren Träger des Fetisches, Bieropfer dargebracht. Am vierten Wochentage der fünften Woche wird die „Tasche“ mit den kleinen Kürbisflaschen und etwa hundert Kungu-Nüssen gefüllt und feierlichst auf den Dachboden gebracht. Am vierten Tage der sechsten Woche wird dem neuen Fetisch ein Reinigungsopfer wegen der inzwischen verstorbenen Ältesten der Sippe dargebracht, damit auch er selbst, wie das bei den Hinterbliebenen der Toten üblich ist, entsühnt werde. Welche verwickelten Gedankengänge und Vorstellungen mögen wohl zu solchen Sitten geführt haben! Am vierten Tage der achten Woche hält man ein neues Zauberopfer ab, das kugera mikono = Hände hineinstecken. Der Mfuko wird vom Boden heruntergeholt und auf ein Fell gesetzt, Kürbisfläschchen und Nüsse werden herausgenommen. Der Priester heißt jeden eine oder zwei von den heiligen Nüssen nehmen und dafür sofort einige der mitgebrachten in die Tasche legen. Ein jeder muß seine Nuß kauen und vermischt den fetthaltigen Nußbrei mit ein wenig Zauberasche aus den Kürbisfläschchen. Mit dieser Salbe reibt er sich den ganzen Körper ein. Damit ist die Reihe der Mfuko-Opfer zu Ende. Der Oberpriester, in dessen Haus der Fetisch aufbewahrt wird, entläßt die Versammlung mit dem Auftrag, weitere Opferziegen für die nicht vor Jahresfrist vorzunehmende Neubereitung des Hauptfetisches Mpingu bereitzustellen.
Dieser wird nun auch unter Beobachtung aller möglichen Zeremonien zusammengestellt. Er besteht in der Hauptsache aus einer riesigen Königin der schwarzen Ameisen, einem Nest des Harya-Vogels (Madenhacker), einem entkernten Maiskolben und dergleichen mehr. Alles wird mit dem Horn eines Schafbocks zusammengebunden,[S. 191] mit Bast des Affenbrotbaumes umwickelt und dann noch überflochten. Das ganze Bündel wird mit Reihen von Kaurimuscheln benäht, und zwar erhält jede Sippe ihre besondere Reihe. Die Ameisen lernten wir schon als Seelenträger kennen, auch den Madenhacker. Wie erwähnt, besteht sein Nest nur aus Haaren von Menschen und allen möglichen Haus- und wilden Tieren. Ein Gebilde aus derartig vielen Seelenträgern eignet sich vorzüglich zur Bereitung eines Dämonenzaubers oder Fetisches. Außerdem sind die in Baumlöchern angelegten Harya-Nester sehr schwer zu finden und schon dadurch wertvoll. Der entkernte Maiskolben wird nur bei Wachthütten gesucht, in welchen die Vaasu nachts ihre Felder gegen Schweine bewachen. Durch dieses Symbol wird dem Dachgötzen Wachsamkeit mitgeteilt. Tagsüber bleibt sein Tempel, wenn man die Hütte so nennen will, stets offen, weil der Fetisch selbst darüber wacht, daß in der Hütte nichts gestohlen wird. Zahlreich sind die Tempelvorschriften. Buntgekleidet oder mit bedecktem Haupte darf keiner in den Tempel treten. Schwarz ist die Opferkleidung. Rauchen ist nicht gestattet.
Der Mpingu-Fetisch wird auf dem Dach in einem Topf aufbewahrt, wo er im Gegensatz zum Mfuko auch bei Opferfesten verbleibt, also nicht wie jener heruntergenommen wird. Unter besonderen Zeremonien werden die Novizen in die Fetischgemeinde aufgenommen, indem ihnen der Mpingu gezeigt wird. Nur auf diese Weise eingeweihte Personen werden zu den Opfern zugelassen. Die der betreffenden Sippe zugehörige Muschelreihe wird bei dieser Gelegenheit gesäubert und mit Fett eingerieben, was zu gleicher Zeit die Festigkeit der Baumfaserschnüre erhöht. Eine besondere Eigentümlichkeit des Dachgötzen besteht darin, daß ihm nur in den regenlosen Monaten geopfert wird. Der Mpingu ist für den Paremann die höchste Instanz und wird außerordentlich gefürchtet. Schwierige Rechtsfälle werden vor ihm entschieden. Die Entscheidung lautet immer für die unterliegende Partei auf Tod innerhalb einer genau angegebenen Frist.
Ein weiteres Amulett, welches ich glaube zu den Fetischen zählen zu dürfen, nennt man kidanga. Es ist ein gedrehtes eisernes Armband, und das Opfer besteht darin, daß diese Armbänder unter besonderen Zeremonien beim Schmied angefertigt werden. Vielleicht ist die Sache so, daß Kidanga der eigentliche Name für den Dämon ist und sein Name auf sein Abzeichen übertragen wurde. Daher auch das Orakel von einem Gott der Vidanga spricht (murungu wa vidanga). Erkrankt jemand an einer Art Ringwurm oder ringförmigen[S. 192] Flechte, so führt das Orakel diesen Ausschlag auf den Kidanga-Fetisch zurück. Es rät, den Dämon durch ein entsprechendes Zauberopfer zu bannen. Der Kranke borgt sich bei einem Nachbar ein solches Armband und betet etwa folgendermaßen: „Du Gott der Vidanga, bist du es, der mich krank macht, so gelobe ich dir, dein Abzeichen schmieden zu lassen, wenn du mich wieder herstellst.“ Ist das eingetreten, dann sagt er sich mit seiner Sippe bei einem Schmied an. Am bestimmten Tage erscheint er dort mit einer grünen Bananentraube, einem Hahn und zwei Kalabassen mit Bier, und zwar enthält die eine Bier aus dunklem, die andre solches aus hellem Zuckerrohr. Diese Zuckerrohrfarben werden übrigens bei allem Opferbier für den Mpingu-Fetisch vorgeschrieben. Der Schmied spützt etwas Bier auf die Stelle, an welcher sein Schmiedefeuer gewöhnlich brennt, und betet: „Du Gott der Vidanga, wenn du diesen Mann bedrängt hast, hilf, daß deine Abzeichen wohlgelingen, sonst laß sie abbrechen.“ Nunmehr schmiedet er für jedes Glied der Sippe, auch für Abwesende, einen Armring. Den Männern wird er um das rechte Handgelenk gelegt, den Frauen um das linke. Damit ist die Zeremonie beendigt.
Ich fragte einmal einen ganz alten Mann, welche Vorstellung er sich von Gott mache und was die Wapare Näheres von ihm wüßten. Er gab mir folgende Antwort: „Kiumbe ist der Schöpfer, der alles erschaffen hat. Von ihm wissen wir nichts mehr, er kümmert sich nicht um uns und wir nicht um ihn, aber die Sonne ist groß, und der Mond ist groß, der Mond gebiert die Menschenkinder.“ Ein andrer Gewährsmann drückte sich folgendermaßen aus: „Der Kiumbe ist als Schöpfer uns allen bekannt.“ Aber wenn ein Paremann nähere Auskunft über ihn geben soll, dann weiß er nichts zu sagen und kommt deshalb auf Sonne und Mond als bekanntere und vor allem sichtbare Dinge zurück. Sonne, Mond und Sterne haben noch als Nebennamen: msembeki = Ankläger, mrenge = Verräter, mloreži = Beobachter. Für diese Namen habe ich verschiedene Erklärungen gehört, die mich aber nicht ganz befriedigten. Am besten schien mir folgende Redensart den Sinn wiederzugeben: „Tötest du am Tage, so sieht dich der Tag (Sonne = Ankläger); tötest du in der Nacht, so sieht dich die Nacht (Mond = Verräter, Sterne = Beobachter).“ Reste eines uralten Sonnendienstes ähnlich dem Molochdienst glaube ich hier bei den Vaasu in dem Muni-Opfer bei den Frauenfesten gefunden zu haben (s. S. 47). Auch bei der Zahnung[S. 193] der Kinder sahen wir schon, daß die Säuglinge der Sonne „gezeigt“ werden. Ein jüngerer Häuptling erinnerte sich, daß vor etwa 20 Jahren auf einer Wiese der Sonne und dem Mond ein großes Speisopfer dargebracht wurde. Heute noch kann man in der Gerichtshalle besonders immer wieder als eine Art Eidesformel rufen hören: „Groß ist die Sonne, die uns hütet und sieht!“ Der Mond zeigt ja seinen Einfluß auf die Menschen vor allem bei den Menses der Frauen. Auch dadurch, daß die Zähne bei den Säuglingen genau nach festgelegten Mondmonaten kommen müssen, wie wir beim Zahnzauber sahen, gewinnt rückwirkend der Mond bei den Vaasu an Bedeutung.
Sieht ein Häuptling sich vom andern ohne Grund mit Krieg bedroht, so bereitet dieser in einem kleinen Topf etwas Honigbier und steigt damit auf die Spitze seiner Hütte, wo er den Topf hinsetzt und dem Schöpfer (kiumbe), dem Firmament (kilunge), der Sonne und dem Mond ein Trankopfer darbringt, indem er zweimal nach Sonnenaufgang und zweimal nach Sonnenuntergang spützt. Er bittet dabei, daß sein Feind wohl sehen möge, wie die Sonne aufgehe, aber nicht mehr wie sie untergehe. Diese Beschwörung nimmt er vier Tage lang vor und gibt am Tage des Gefechtes seinem Gegner durch Zuruf davon Kenntnis.
Auch die Ärzte gehen mit ihrer Arzneiflasche am Schluß der Behandlung vor das Haus, um gegen Osten und Westen zu spützen, indem sie der Sonne zurufen: „Nimm unsre Krankheiten an dich und geh mit ihnen dahin, wo du hingehst!“ Einen ähnlichen Vorgang lernten wir schon kennen, als wir von der Vertreibung der Seuchen sprachen. Es wurden alle Feuer ausgelöscht, ein Bild der untergehenden alten Sonne, welche die Seuchen mitnehmen sollte.
Dieses Kapitel will ich nicht schließen, ohne erwähnt zu haben, daß von der Küste her über Usambara auch in Pare ein neuer Dämon seinen Einzug gehalten hat, der mzuka. Er wird gebannt, indem man ihm unter „seinem Baum“ ein etwa 1 m hohes Hüttchen baut, worin ihm in einer Tasse allerlei Speisopfer dargebracht werden.
[S. 194]
Wenn man bedenkt, wieviel Aberglaube heute noch in europäischen Ländern herrscht, besonders bei der Landbevölkerung, so darf man sich nicht wundern, wenn auch die Wapare darin befangen sind. Da sie kein höchstes Wesen mehr kennen, sondern nur zahlreiche nebengeordnete Gottheiten, deren Zorn und unerwünschte Aufmerksamkeit durch tausend Zufälligkeiten des Lebens erregt wird, kann es nicht überraschen, wenn die Leute solchen Dingen ihre erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden und ihnen Bedeutung für ihr Wohlergehen zuschreiben. Durch Vornahme magischer Handlungen oder das Anlegen von Zaubermedizinen können sie allerlei Kräfte zwingen, ihnen dienlich zu sein. Diese an und für sich völlig harmlosen Zaubermittel haben für den Mwasu jedenfalls den praktischen Wert, daß sie sein Selbstbewußtsein oder seine Zuversicht in den glücklichen Ausgang z. B. eines schwebenden Prozesses heben und so sein Auftreten in für ihn günstiger Weise tatsächlich beeinflussen. Man kann übrigens heute dieselben Dinge, die hier die finsteren Medizinmänner verkaufen, bei uns im Anzeigenteil irgendeines modernen Blattes aufgeführt finden, z. B.: „Die Zufälligkeiten des Lebens und die ihnen zugrunde liegenden Gesetze“, für 2 Mark oder: „Lehrbuch zur Anfertigung von Amuletten und Talismanen, die Erfolg in der Liebe und sicheres Auftreten verleihen“, für 50 Pfg. usw.
Zuerst will ich die ndee mbivi und die ndee yedi erwähnen, d. h. die schlechten und die guten Vorzeichen. Hat der Mpare eine Reise angetreten, und läuft ihm gleich zu Beginn ein Buschbock, eine Riesenschlange oder eine kleine schwarze Schlangenart über den Weg, so kehrt er wieder um und befragt das Orakel, was seinem Vorhaben entgegenstehe. Dies stellt entweder fest, daß das Omen ein Warnungssignal eines wohlgesinnten Ahnengeistes war, der irgendein[S. 195] Unglück von seinem Schützling abwenden wollte oder aber die Erinnerung an ein fälliges Opfer bedeute. Im letzteren Falle bittet der Mann die betreffende Gottheit um eine glückliche Beendigung seiner Reise und seines etwaigen Prozesses. Gleichzeitig bringt er als Bürgschaft für das einstweilen aufgeschobene Dankopfer ein Scheinopfer mit Wasser dar, wie wir es schon kennenlernten.
Des weiteren hört man aus dem Schrei bestimmter Vögel und dem Gekreisch der schwarzen Meerkatzen, ob man auf der Reise Erfreuliches oder Trauriges erleben wird. Reist jemand zur Erledigung eines Prozesses und trifft als erste Person eine schwangere Frau, zwei Frauen oder auch zwei Männer, dann freut er sich, denn „das ist seine Kraft“ und bedeutet einen glücklichen Ausgang seiner Sache. Trifft er nur eine Frau, die nicht schwanger ist, so wird er wohl zu seinen Kühen kommen; aber „sie haben keine Kraft“ und werden nicht lange in seinem Stalle bleiben. Einen einzelnen Mann zu treffen, heißt den Prozeß verlieren. Auch eine beliebige Zehe kann die Rolle eines Glück- oder Unglückbringers spielen, je nach der Erfahrung des einzelnen. Stößt er sich an die Glückszehe, so hat seine Reise Erfolg und umgekehrt. Daher kommt die Redensart eines Glücklichen: „Ich habe mich an die Glückszehe gestoßen.“ Ein Mittel, welches in das Gebiet der Magie gehört, wendet der Mpare an, wenn er jemand bestimmt zu Hause antreffen will. Er bricht zu dem Zweck ein Blatt von einem Baum, legt es auf den Weg und beschwert es mit einem Stein, damit es da liegen bleibt. Wie nun der Wind vergeblich an dem beschwerten Blatt zerrt, so kann auch der andre nicht fort, sondern wird von einem unbestimmten Gefühl bewogen, zu Hause zu bleiben. Ähnlich machen es die Zauberer, wenn ein Dieb verfolgt werden soll. Sie nehmen etwas Erde aus der aufgefundenen Fußspur des Diebes und binden sie mit Bananenbast zu einem Zauberknoten zusammen. Dadurch werden die Füße des Fliehenden gleichsam gebunden, und er wird seinen Verfolgern in die Hände fallen.
Ein beliebter Zauber ist der ndere. Allerlei Sympathiemittel und Seelenträger werden zu Asche verbrannt und in einem Kürbisfläschchen mit Honig oder Fett vermengt. An dieser Masse leckt man und reibt sich ein wenig davon ins Gesicht, um so die beabsichtigte Wirkung hervorzurufen. Man hat Liebesndere, mit Hilfe dessen man ein Don Juan werden kann oder wenigstens zu einer Frau kommt, falls man bisher nur Körbe erhalten hat. Andre Ndere sichern den günstigen Ausgang aller Prozesse, vermehren das Vieh usw.
[S. 196]
Berühmt waren die Zauber, welche den Besitzer unverwundbar machten. An solche Mittel glauben die Leute auch heute noch fest, wenngleich sie zugeben, daß mit dem Erscheinen der Europäer ihren alten Medizinen die Kraft genommen worden sei. Der majimaji d. h. Wasser-Aufstand 1905 im Süden unsrer Kolonie ist auf die Umtriebe solcher Medizinmänner zurückzuführen, welche die Leute glauben machten, durch die Kraft ihrer dawa würde nur Wasser aus den Gewehren der Europäer kommen.
Andere Mittel halten die bösen Tiere ab, machen die Flüsse trotz der vielen Krokodile passierbar u. dgl. m. Hierher gehören ferner die verschiedenen Arten der mafingo, welche Kriege, Seuchen und wilde Tiere abhalten. In dem großen Hirtendorfe Makokane z. B. werden die zahlreichen Kühe und Ziegen vor den gleichfalls zahlreichen Löwen und Leoparden durch derartige Mafingo geschützt. Der Medizinmann schreibt nach Vergraben seines Zaubers den Dorfbewohnern mancherlei Verhaltungsmaßregeln vor, von deren Beobachtung die Wirksamkeit des „Ifingo“ abhängt. Z. B. darf nach Sonnenuntergang kein Kochtopf mehr aus dem Hause getragen noch Wasser oder Holz ins Dorf gebracht werden. Leute, die nach Sonnenuntergang das Dorf betreten wollen, müssen sich von einem Kinde an der Hand hineinführen lassen. (Erklärung dieses Brauches und ähnlicher Vorstellungen, S. 111.)
Esel standen bei den Wapare in schlechtem Ruf als Überbringer von Seuchen und Hungersnöten. Brachte in früheren Zeiten ein Küstenneger seinen Esel nach Pare, dann wurde der Weg hinter ihm her mit Schafmist entsühnt. Auch heute noch verbieten die alten Frauen den Mädchen, über einen Esel zu lachen, wenn sie sich auf dem Wege zum Markte befinden, da ihnen sonst nichts abgekauft werde. Dasselbe gilt für Hunde und Affen.
Kommt eine rote Ameisenart oder eine schwarze Schlange ins Haus, so geht man zum Orakel, um die Ursache festzustellen. Während die Ameisen meistens als Gesandte irgendeiner Gottheit aufgefaßt werden, die ein Opfer erheischt, ist die schwarze Schlange oft der Vorbote zu erwartender Elternfreude. Sie beißt Menschen nur auf Veranlassung irgendeiner Gottheit oder eines bösen Zauberers. Allgemeine Bestürzung ruft das Erscheinen der großen Steppeneule im Gebirge hervor, denn sie gilt als Vorbote nahender Seuchen. Schleunigst sucht man einen Medizinmann, der seinen Zauber in die Luft bläst, um die Tiere zu verscheuchen. Schreit die Eule dagegen auf dem Hause des einzelnen, so geht dieser unverzüglich zum Orakel,[S. 197] um sich die nötigen Gegenmaßregeln angeben zu lassen; denn in dem Falle ist das Tier von einem bösen Zauberer geschickt worden, und die Krankheit wird nicht lange auf sich warten lassen, wenn der Mann sich keine Gegenmedizin besorgt. Von dieser Zugehörigkeit der Eule zum bösen Zauberer ist folgendes Sprichwort abgeleitet, welches man dem Häuptling vorhält, wenn er für eine offenbar ungerechte Sache Partei ergreift: „Du bist eine Eule geworden und hältst es mit dem Zauberer.“
Der Geier bildet die Ursache der Krämpfe der Kinder, die man direkt ndeje = Vogel nennt. Erscheint das Tier im Dorfe, wird es durch einen Zauberer zum Wegziehen veranlaßt, und die Kinder läßt man behandeln. Aber auch die Haustiere können zu bösen Zauberern werden, die man sofort töten oder verkaufen muß, will man nicht das[S. 198] Leben sämtlicher Familienangehörigen verwirken. Wenn der Mwasu eine gute Milchkuh verkauft, dann kann man sicher sein, daß sie zaubert, denn ohne Grund verkauft er sein Vieh nicht. Ich habe schon verschiedentlich solche Kühe billig erstehen können. Setzt sich eine Kuh, ein Schaf oder eine Ziege nach Hundeart auf die Hinterfüße, saugen sie an ihrem eigenen Euter, oder stellen sich Kühe nach Ziegenart auf die Hinterbeine, um Gras von höher gelegenen Stellen abzurupfen, so haben sie sich damit als Zauberer dargetan und müssen samt ihrem Nachwuchs verkauft oder getötet werden. Legt ein Huhn auf einmal zwei Eier, kräht es wie ein Hahn, legt es ein Ei in der Nacht oder auf dem Dachboden, so wird es ebenfalls getötet. Dasselbe geschieht mit einem Hahn, der zufällig dabei gesehen wird, wie er sich in die Schwanzfedern beißt. Selbst leblose Gegenstände wie Bienenstöcke, aber auch Zuckerrohrstauden, Mais und andre Dinge zaubern und versetzen den armen Paremann in Todesfurcht, sobald er irgendwelche Unregelmäßigkeiten an ihnen bemerkt. Eilends sucht er Rat beim Medizinmann, um das drohende Verhängnis abzuwenden.
Bei allen Krankheiten spielt naturgemäß der Aberglaube eine große Rolle. Kleine Kinder versteckt man förmlich, um sie vor Verzauberung und bösem Blick zu schützen. Man gibt auch Knaben für Mädchen aus und umgekehrt, um den Hexen entgegenzuarbeiten. Unzählige Krankheiten führt das Orakel auf Verzauberung und bösen Blick zurück. Gegenzauber lernten wir schon bei der Besprechung der Seelenvorstellungen kennen. Da legt jemand seinem Feinde nachts eine Medizin vor die Tür, und wenn dieser am andern Morgen darüber hinwegschreitet, wird er krank. Von da war es nur noch ein Schritt zur Giftmischerei, um sich seines Feindes gänzlich zu entledigen. Die Giftmischer sind die eigentlichen bösen Zauberer oder Vasavi, mit denen die Vaganga oder Medizinmänner mit ihren Zauberarzneien nichts zu tun haben. — Eine einfache, wenn auch wenig menschenfreundliche Weise, seine Geschwüre zu heilen, ist die der Übertragung auf andre. Etwas Eiter reibt man auf eine Geldmünze, ein Stückchen Kette oder an die Früchte des Mdarya-Baumes mit den Worten: „Hier nimm meine Geschwüre, dem Finder mögen sie anhaften.“
Die Kenntnisse der Vorgänge in der Natur sind meistens durch Aberglauben stark getrübt. Der Regenbogen ist je nach der Form das Zeichen eines guten oder bösen Zauberers. Erdbeben bilden die Begleiterscheinung beim Tode eines großen Häuptlings oder Medizinmannes.
[S. 199]
Der Aberglaube unsrer Leute wurzelt in der Vorstellung von sie umgebenden Kräften und Dämonen, die ihnen als körperlose Wesen an Macht weit überlegen sind, die sie aber doch anderseits durch allerlei Kniffe zu überlisten oder gar einzuschüchtern suchen. Erinnern wir uns an das Wort von der „Opferkuh mit zwei Beinen“, also ein Huhn, welches der Mwasu einer toten Riesenschlange in Aussicht stellt, falls sie ihn, den an ihrem Tode Unschuldigen, trotzdem beunruhigen sollte. Er schiebt also Erpressungsversuchen seiner Gottheit beizeiten einen Riegel vor. Der Häuptling Mauya in Mamba kam zu mir und klagte in stark übertriebener Weise über den Mais auf seinem Felde, der unrettbar vertrocknet sei. Als ich bemerkte, daß doch sein Mais recht gut aussehe, meinte er: „So hilf mir doch schimpfen, dann kommt Regen!“ Wenn also die bösen Dämonen hören, daß man die Hoffnung auf eine gute Ernte bereits aufgegeben hat, halten sie den Regen nicht länger auf (vgl. das Gebet der Frau vor der Geburt, S. 23). Aus diesem Grunde sagt man auch von Neugeborenen: „Es ist ein kleiner Marder geboren worden, er ist aber ziemlich krank. Wir müssen uns nach Arznei umtun.“ Dabei kann das kleine Wesen munter und kräftig sein: aber man will mit solchen herabsetzenden Worten bösen Dämonen und Menschen die Lust zum böswilligen Eingreifen nehmen.
Auch die Wapare fürchten sich vor der Götter Neide. Hat jemand eine ungewöhnlich große Ernte und gerät ihm alles wohl, dann sagt man: „Das ist ein unheimlicher Segen, er wird damit nicht fertig werden, sondern vorher sterben.“ Man gibt auch die Zahl seines Viehes höchstens mit zwei an, und wenn es hundert sind, um keinerseits Neid zu erregen und eine feindliche Gesinnung der Dämonen herauszufordern. Trotzdem sucht man ihnen nicht nur durch falsche Darstellungsweise, welcher der Glaube an die Macht des gesprochenen Wortes zugrunde liegt, ein Schnippchen zu schlagen, sondern sie selbst durch Drohungen einzuschüchtern. Einer meiner Gewährsmänner erzählte mir hierzu folgendes Beispiel: „Kommt eines Tages ein Bekannter namens Madiwa zu uns und sucht seinen Onkel, der als Familienpriester zu dem Schädel seiner Großmutter beten soll. Madiwas Mais war nämlich zweimal nicht aufgegangen, und das Orakel hatte den Geist der Großmutter als Ursache festgestellt. Der Mann schalt nun seine Großmutter laut, die, anstatt ihn durch eine leichte Krankheit oder sonst ein vorübergehendes Übel an seine Opferpflicht zu erinnern, sich darauf versteift habe, seine ganze Ackerarbeit illusorisch zu machen. Er verlangte, man solle ihm den Schädel[S. 200] zeigen, er wolle für Änderung sorgen. Als wir ihm entgegenhielten, daß er doch nicht anstelle des Priesters beten könne, meinte er: ‚Beten will ich auch nicht, aber ihren Topf decke ich auf; dann mag sie eine Zeitlang so in der Sonne sitzen. Vielleicht daß ihr dann die Lust vergeht, andauernd meine Saat zu verderben.‘“ Ein ähnliches Beispiel erwähnte ich schon bei der Besprechung des Nkomadienstes. Doch wie gesagt: die Drohungen bilden Ausnahmen, lieber legt man sich auf kleine Listen. Wenn deshalb der Mwasu in seiner Krankheit mehr klagt, als unbedingt nötig wäre, oder wenn er jedem seine Leiden in den schrecklichsten Farben schildert, so liegt hier im letzten Grunde weniger Zimperlichkeit vor als vielmehr das Bestreben, böse Kräfte, die im Spiele sind, zu veranlassen, von ihm als bereits Erledigtem (nkungu mposha = taube Nuß, s. S. 23) abzustehen.
Die Wapare kennen einen Zauber, den sie ibuge nennen und der in seiner Wirkung dem Hypnotismus gleichkommt. Der Besitzer eines solchen Ibuge begibt sich abends zu dem Hause eines wohlhabenden Mannes und bläst etwas von der Medizin durch ein Fensterloch in dessen Hütte. Die Bewohner mögen gerade beim Essen sein oder ihrer Beschäftigung nachgehen, bald fallen sie in einen tiefen Dornröschenschlaf. Der Zauberer geht nunmehr in das Haus und fordert den Besitzer auf, eine Kuh loszubinden und beim Forttreiben behilflich zu sein. Unterwegs wird er wieder zurückgeschickt, und erst wenn die Diebe weit genug fort sind, weckt der Zauberer durch besondere Manipulationen die noch im Hause schlafenden Leute aus ihrer Hypnose auf.
Ein ähnlicher Erfolg im Viehraub wurde mit einer Medizin der Wateta erzielt. Sie hieß ndere ya kiteta. Der Hypnotiseur begab sich in ein Gehöft, grüßte die Anwesenden und trat an die Kühe heran. Er fragte dann wohl: „Warum willst du dem Soundso (seinem Klienten) die Kühe nicht herausgeben, die du ihm schuldest? Heute gehen sie mit mir!“ Inzwischen hatte er die Tiere an seiner Zaubermedizin lecken lassen und ihnen auch etwas davon an die Stirn gerieben. Er lief dann einfach schnell davon, und die Tiere folgten ihm. Bis die bestürzte Hausmutter, die man möglichst allein zu treffen sucht, sich von ihrem Schrecken erholt und einige Nachbarn herbeigerufen hatte, war der Dieb mit seinen Helfershelfern längst im Busch verschwunden.
So wie der Rattenfänger von Hameln Tiere und Menschen seinem Willen gefügig machte, erzählen die Wapare auch von einem Ndere ya kiteta, der Menschen dem Willen seines Besitzers völlig[S. 201] unterwarf. Es sei da hin und wieder ein Mteta ins Land gekommen, manchmal auf dem Kriegszug, habe irgendein schönes Mädchen gezwungen, an seiner Medizin zu lecken und ihr etwas davon auf die Stirn gerieben mit der Ermahnung, ihm in kürzester Zeit seine Tasche, die er ihr lasse, in sein Land und Haus zu bringen. Solch ein Mädchen habe dann allen Vorstellungen der Seinen zum Trotz einem unwiderstehlichen Drange folgend dem fremden Manne nachreisen müssen und immer nur geltend gemacht, es müsse doch die Tasche an ihren Ort bringen. Mag auch der einen oder andern Erzählung ein wahrer Kern zugrunde liegen, denn es gibt sicherlich bei den Vaasu viele Dinge, von denen sich unsre Schulweisheit nichts träumen läßt, so steht anderseits fest, daß findige Medizinmänner mit solchen Artikeln einen einträglichen Handel betrieben haben und noch betreiben.
Andre Zauberer verstehen es, sich in Zeiten der Not durch ihre Verwandlungskünste der Verfolgung zu entziehen. So soll sich der Häuptling Semnyongo noch im letzten Augenblick der Verfolgung des von Kiswani erschienenen deutschen Beamten durch Verwandlung entzogen haben. Krieger berichten, daß sie auf ihren Zügen statt der noch soeben gesehenen Herde mit ihrem Hirten plötzlich Steinen und einem Baum gegenübergestanden hätten. Auch in Leoparden können sich die Menschen verwandeln, das gehört aber schon zu der bösen Zauberkunst (vusavi), die dem Nächsten Schaden zufügen will. Der Mwasu unterscheidet streng zwischen Vasavi und Vaganga, den bösen Zauberern und den guten Zauberdoktoren. Vasavi werden mit dem Tode bestraft. Sie treiben ihr Unwesen bei Nacht. In mondlosen Nächten schleicht sich der Zauberer vor die Hütte seines Feindes, nur mit einigen dürren Bananenblättern bekleidet, und vergräbt vor der Tür seine „Medizin“. Tritt der Besitzer aus der Hütte und über die Stelle, wo das Mittel vergraben ist, so wird sein Bein anschwellen, vereitern, und zuletzt muß er sterben. Oder er ruft des Nachts den Betreffenden an, hält dabei eine Medizinkalabasse offen und schließt diese, sobald der Angerufene antwortet. Mit der Stimme hat er nun auch den „Schatten“ gefangen, und die Seele wird auf einen Baum gebunden, wo sie nachts oft schreit. Vergrabene Zaubermittel sucht man heute noch mit Hilfe des mzuza (s. u.), und oft soll in der Hütte eine wilde Jagd danach entstanden sein, denn das Zaubermittel hat hin und wieder die Eigenschaft, vor dem Wünschelrutenmann davonzulaufen. Das Verfahren, welches die Eingebornen anwenden, um jemand der Zauberei zu überführen, haben wir bereits bei der Besprechung der Rechtssitten kennengelernt. War jemand überführt,[S. 202] wurden auch seine Söhne getötet und seine Töchter in die Sklaverei verkauft. Das letzte in Kihurio stattgefundene Strafgericht dieser Art wurde mir wie folgt beschrieben: Der Zauberer wurde an einen Pfahl gebunden, glühende Kohlen wurden ihm auf den Kopf gelegt. Sein Leib wurde mit glühenden Eisenstäben „behandelt“, um die „Krankheit“ auszutreiben. Alt und jung gingen vorüber, schlugen ihn und trieben ihm Dornen in Körper und Augen. Man band ihn mit seinem Sohn zusammen an eine Stange, hob sie hoch und ließ sie auf die Erde fallen. Nachdem dies wiederholt gemacht worden war, sagte man: „Vielleicht ist es unserm Häuptling kalt.“ Er wurde in die heiße Sonne gebracht und in unmittelbarer Nähe des Körpers ein riesiges Feuer angezündet, damit er sich „wärmte“. Er endete auf dem Scheiterhaufen.
Als letztes will ich hier noch den Uzuza-Zauber erwähnen. Den Besitzer nennt man mzuza = Aufspürer. Er ist nämlich imstande, vergrabene böse Zaubermittel oder verlorene bzw. gestohlene Gegenstände aufzufinden. Seine Medizin soll er sich aus einer Hyänen- und Schweinsschnauze sowie aus einem Habichts- und Geierkopf herstellen, welche Stoffe verbrannt und pulverisiert werden. Das Geschäft ist einträglich. Macht er z. B. einen verfluchten Topf (s. unter Rechtssitten) auf einem verlassenen Hausplatz ausfindig, erhält er dafür zwei Ziegen. Ist so ein Unglückstopf gar in einem hl. Haine vergraben, verlangt der Wünschelrutenmann eine Färse als Bezahlung. Der Vorgang beim Aufspüren ist ungefähr folgender: Nachdem das Orakel den Tod eines Familiengliedes auf einen verfluchten Topf zurückgeführt hat, wird der Mzuza gerufen und ihm mitgeteilt, in welcher Gegend ungefähr der Topf zu suchen sei. Nun begibt der Zauberer sich auf die Suche. In der rechten Hand trägt er einen Gnuschwanz. Ein wenig seiner „Medizin“ vermengt er mit Erde von dem Platze, wo der Gegenstand gesucht werden soll und schnupft die Mischung zum Teil, ein wenig streut er auf den Gnuschwanz. Diesen hält er unter fortwährendem Schnüffeln an die Nase und auf die Erde, bis er die Spur und endlich auch den Ort gefunden hat, an welchem der zu suchende Gegenstand verborgen liegt. Die gute Belohnung möchte natürlich auch mancher Schwindler einstecken. Einer meiner Gewährsleute beobachtete einmal einen solchen, wie er einen kleinen Topf eingrub, um ihn nachher „aufzuspüren“. Unter gewissen Umständen sind solche Machenschaften wohl möglich, oft dagegen völlig ausgeschlossen. Denn wenn ein Mpare eine Kuh für solche Sache bezahlt, dann paßt er doch gut auf, daß man ihm keinen falschen Zauber vormacht.
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Wenn man als Missionar bemüht ist, dem Paremann möglichst sein Volkstum zu erhalten, so wird man leider immer wieder die Erfahrung machen, daß man nur einen ganz kleinen Rest seiner Sitten und Gebräuche ungefährdet ins Christentum hinübernehmen kann, weil sein ganzes Dichten und Denken vollständig mit heidnisch religiösen und abergläubischen Vorstellungen durchtränkt ist. Da werfen schon die kleinen Kinder ihre ausgefallenen Milchzähne der Sonne zu mit den Worten: „Hier, Sonne, nimm meinen Zahn, und gib mir einen neuen!“ oder man bindet dem Kinde das kleine Füßchen einer Antilope ans Bein, damit es auch bald so laufen kann wie diese. Während viele Christen die mancherlei Lebenskräfte ohne Dank gegen ihren Schöpfer hinnehmen, sucht der Neger erst durch tausend abergläubische Handlungen diese Kräfte zu bewegen, sich in der von ihm gewünschten Weise zu betätigen.
Das Orakel ist die Brücke, welche die Menschen mit der unsichtbaren Welt verbindet. Was sollte der Mwasu anfangen, wenn er kein Orakel hätte, welches ihm bei der verwirrend großen Anzahl seiner Gottheiten einen Fingerzeig gibt, welcher von ihnen zu opfern ist! Das Nzaro ist ihm der Ratgeber in allen Lebenslagen. Er plant eine Reise, will mit seinem Nachbar prozessieren, er hat eine Seuche in der Herde, er oder ein Familienglied ist krank, er hat irgend etwas verloren, seinem Kinde kommen die Zähne nicht zur rechten Zeit oder es hat Stuhlverstopfung, kurz: in allen Nöten fragt er das Orakel um Rat. Man muß gestehen, daß eine so vielseitige Einrichtung für Leute, die im Banne der Furcht gefangen gehalten sind, eine außerordentliche Hilfe bedeutet. Für 25 Heller kann man die Ursache jeder Krankheit erfahren, und man weiß, welche Gottheit ein Opfer erheischt. Berühmte Orakel sind entsprechend teurer.
Von den verschiedenen Orakeln sind die hauptsächlichsten folgende: 1. nzaro ya mbotwe; 2. nzaro ya mapande; 3. nzaro ya lusinga; 4. nzaro ya vijwiijwii; 5. nzaro ya lagula; 6. nzaro ya mlamulo; 7. nzaro ya kidonga; 8. nzaro ya ugonezi.
1. Mbotwe sind große braune Samen eines Baumes, hier „Steine“ genannt. Diese werden mit allerlei Medizinen in einem Stück Bambusrohr aufbewahrt. Soll das Orakel befragt werden, so riecht der Besitzer zuerst gründlich in den Behälter hinein, um seine Sinne für die Aufnahme der zu erwartenden Botschaften vorzubereiten. Dann ermahnt er das Nzaro mit folgenden Worten: „Du[S. 204] Orakel, Freund der Ahnen, was ich dich auch frage, bejahe es mit vier Steinen, verneine es mit einem Stein.“ Nach ihm bekannten Regeln legt er nun immer Häufchen von je fünf Samen zusammen, und aus dem übrigbleibenden Rest ersieht er ja oder nein.
2. Das Nzaro ya mapande ist eine Schere aus Holz mit vielen Gliedern, wie man sie bei uns zur Fastnachtszeit als Scherzartikel verkauft. An den Bewegungen der ausgezogenen Schere ersieht der Zauberer die Antwort der Geister.
3. Das Nzaro ya lusinga besteht aus einer etwa 15 cm langen Metallnadel, die an ihrem einen Ende einen kleinen Holzgriff trägt. Der Medizinmann reibt die Spitze in etwas Asche und versucht dann, die Nadel durch eins der bereitgelegten vier Stückchen einer Bananenblattrippe zu stoßen. Geht die Nadel glatt durch, so bedeutet das nein; bleibt sie trotz Anwendung von Kraft stecken, so hat das Nzaro die Frage bejaht.
Der Verlauf einer solchen Sitzung ist etwa folgender: Dem Nachbarn, der den Orakelspruch unentgeltlich abgibt, teilt man zur Abkürzung des Verfahrens gleich mit, daß etwa die Tochter krank sei, und es wird die Ursache festgestellt. Ein fremder Medizinmann, der für seine Mühewaltung Bezahlung verlangt, muß dagegen selbst feststellen, was den Ratsuchenden zu ihm geführt hat und damit gleichsam eine Probe seines Könnens ablegen. Er wird also in diesem Falle nach wenigen Augenblicken dem Manne sagen: „Du kommst wegen deines Kindes zu mir.“ Der antwortet: „Drücke dich bestimmter aus!“ — „Es handelt sich um deine Tochter.“ Der andre ruft nun zur Bestätigung: Taire! d. h. du bist ein Wissender, du hast es getroffen. Dann fragt der Medizinmann sein Orakel nach allen möglichen Krankheitsursachen ab: Ist es ein Ahn? Ist ein böser Zauberer im Spiel? Handelt es sich um ein getötetes Seelentier? — Jede Feststellung wird dem Klienten mitgeteilt und von diesem, wenn sie zutrifft, mit einem Taire beantwortet. Oft macht das Nzaro auch ganz bestimmte Angaben, etwa: Vor einigen Wochen oder Tagen hat dich ein Mann mit heller Gesichtsfarbe besucht. — Taire! — Der ist dann noch öfter zu dir gekommen. — Taire! — Nun, der ist es, der deine Tochter verzaubert hat. Grabe da und da nach, so wirst du mit Hilfe der Mzuza einen Zauber vorfinden. — Das Orakel hat seine Schuldigkeit getan, das Weitere ist Sache des nunmehr aufzusuchenden Medizinmannes. In wichtigen Angelegenheiten befragt man Orakel in anderen Landschaften oder gar fernen Provinzen, wo eine Kenntnis der Verhältnisse des Klienten ausgeschlossen erscheint.
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4. Das Nzaro ya vijwiijwii besteht aus einem kleinen Kürbisfläschchen, welches der Medizinmann zuerst tüchtig anraucht, worauf in der Flasche ein lautes Piepen ertönt, durch welches das geheimnisvolle Ding dem Zauberer auf seine Fragen antwortet.
5. Berühmt ist das Nzaro ya lagula, welches ebenfalls aus einem Kürbisfläschchen mit Medizin besteht. Der Zauberer setzt sich vor die Erschienenen und riecht an seiner Flasche. Dann fängt er an zu singen, die Herumsitzenden antworten im Chor: „Lagula!“ bei zutreffenden Feststellungen: „Taire!“ etwa wie folgt:
Der Medizinmann soll, wie mir Christen erzählten, die geheimsten Dinge ans Licht bringen. Da es sich oft um völlig fremde Leute handelt, die eine weite Reise zurückgelegt haben, ist auch hier eine vorherige Verständigung durch andre kaum anzunehmen.
6. Das Nzaro ya mlamulo besteht aus etwa 40 fingerlangen Stäbchen, die zu je vier abends auf den Boden gelegt und mit Mehl bestreut werden. Da gibt es eine Gruppe des bösen Zauberers, andre bezeichnen die verschiedenen Gottheiten, die als Krankheitserreger auftreten können, usw. Sind am nächsten Morgen z. B. die vier für den Dachgötzen hingelegten Hölzchen auseinandergeworfen, so ist dieser als Ursache festgestellt.
7. Das Nzaro ya kidonga besteht aus einer kleinen Medizinkalabasse, deren Inhalt, nachdem die Flasche geschüttelt wurde, glänzende Blasen wirft. Ein Medizinmann, den ich eines Tages gerade beim Wahrsagen antraf, erklärte mir nachher, daß er aus der Art der sich bildenden Blasen das Gewünschte ersehen könne.
8. Das Nzaro ya ugonezi ist ein berühmtes Orakel und erinnert an jenes zu Delphi. Nachdem der Medizinmann im Hause der Ratfragenden den ganzen Abend allerlei ihn inspirierende Lieder gesungen, seine Medizinen getrunken und Weihrauch verbrannt hat, zieht er sich in die für ihn bereitgehaltene Hütte zurück mit dem Gesang:
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Am Kopfende seines Bettes stößt er einen Stab in die Erde, an welchen er seine Medizinflaschen hängt, und dann begibt er sich zur Ruhe, während Weihrauchdämpfe die Hütte erfüllen. Im Traum erhält er von den guten Geistern Aufschluß über die schwebenden Fragen; auch manche andre Zukunftsblicke lassen sie ihn tun. Während die meisten Orakel für etwa eine Rupie zu kaufen sind, belaufen sich Ausrüstungs- und Unterrichtskosten für dieses Nzaro auf eine Färse und einen Ochsen.
Außer den aufgezählten gibt es noch andre Orakel, die unsre Wapare z. T. von fremden Stämmen übernommen haben. Die verschiedenen Nzaro eingehend zu besprechen, würde einen breiten Raum erfordern und die Darlegungen würden starken Zweifeln begegnen; sicherlich oft nicht zu Recht, denn manches wird doch unerklärlich bleiben. So suchte einer dieser Wahrsager, ein Greis mit weißem Haar, am Tage der Einnahme von Taveta 1914 den Missionar einer unsrer Nachbarstationen zu bereden, die Flagge hochzuziehen, weil Taveta von den Deutschen genommen sei. Er habe in der Nacht im Gesicht den Kanonendonner gehört und die deutsche Flagge dort wehen sehen. Zu der Zeit war uns Europäern von der tatsächlichen Einnahme noch nichts bekannt, da die Nachricht erst mehrere Tage später eintraf.
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In sehr vielen oder gar den meisten Fällen sieht der Heide in Krankheit und Tod keinen natürlichen Vorgang sondern eine Verzauberung. Daher beschränkt sich die Behandlung seitens ihrer Ärzte nicht auf die Verabfolgung der sicherlich oft recht guten Medizinen, sondern es wird viel Zauber nebenbei gemacht. Das ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Denn mehr noch als die eigentliche Arznei trägt „der Zauber“ zur Stärkung der Zuversicht und damit zur Heilung des Kranken bei. Krankheitsursachen sind u. a.:
1. Ein Ahnengeist will ein Opfer.
2. Tötung eines Seelen- oder Totemtieres. Frevel in einem hl. Hain.
3. Irgendein Vorfahr, etwa der Großvater, hat sich in einem dieser Punkte etwas zuschulden kommen lassen.
4. Ein unerfülltes Gelübde.
5. Ein Fluchtopf.
6. Verzauberung.
Ist einer von den ersten vier Punkten als Ursache festgestellt, bringt man für die Ahnen ein Scheinopfer dar; den Seelentieren oder dem Walddämon wird einstweilen ein Pfand in der bereits beschriebenen Weise gegeben. Tritt am nächsten Tage Besserung ein, so war die Angabe des Orakels richtig, sonst geht man zu einem andern Nzaro, welches etwa als Nebenursache noch Verzauberung feststellt. Nunmehr wird ein Medizinmann bestellt, der die Behandlung übernimmt. So ist der Verlauf bei leichten Erkrankungen, die sich verschlechtern. Man sendet also am vierten oder fünften Tage zum Wahrsager. Tritt die Krankheit sofort in ein heftiges Stadium, wird natürlich sogleich ein Arzt gerufen, während ein andrer Nachbar zum Nzaro läuft.
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Die Behandlung besteht hauptsächlich im Einritzen der Haut des ganzen Körpers und nachfolgendem Einreiben der pulverisierten Arzneimittel in die je nach Art der Behandlung leicht oder stärker blutenden Wunden. Andre Medizinen sind zum Einnehmen, flüssig oder in Pulverform, mit Honig vermischt. Alle Arzneien sind vorher vom Medizinmann bespützt bzw. angehaucht worden, indem der Hauch mit Hilfe der Zunge heftig zwischen den Lippen hervorgestoßen wurde. Der Kranke wird ebenfalls nach der Arzneibehandlung heftig bespützt, um ihm die Seelenkräfte des Arztes mitzuteilen und die bösen Zauberkräfte zu vertreiben. Die enge Verbindung zwischen Speichel und Hauch als Seelenträger tritt auch sprachlich in die Erscheinung; denn diese Art des „Anhauchens“ heißt im Chasu kutufia, abgeleitet von kutufa = ausspeien. Das Bespützen beschränkt sich oft nur auf die Medizinen, um ihnen größere Wirksamkeit zu verleihen. Bessert sich der Kranke durch die Behandlung nicht, so wird er oft von einem Dorf ins andre und schließlich in ganz erbärmliche Hütehütten geschleppt, um in der Einsamkeit den Einflüssen der bösen Zauberer zu entgehen.
Die mir im Laufe der Zeit bekanntgewordenen Behandlungsarten und Sympathiemittel, die bei einer schweren Krankheit angewandt werden, bilden sicherlich nur einen geringen Bruchteil der medizinischen Wissenschaft unsrer Wapare. Aber selbst dies Wenige ist zu zahlreich, um hier aufgeführt werden zu können. Nur das eine oder andre will ich aus dem Vielen herausgreifen, damit der Leser ein ungefähres Bild bekommt. Eine sterile Frau z. B. führt der Arzt an einen Mvumo-Baum, wo beide mit einem Messer in die Haut bzw. Rinde geritzt werden. Das austretende Blut der Frau reibt der Medizinmann in die Schnittwunden des Baumes und umgekehrt. Dabei spricht er: „Du Geist des Baumes, gehe in die Frau, und du Dämon der Frau, fahre in den Baum!“ Führt das Orakel die Krankheit auf einen vor Zeiten vergrabenen Topf zurück, so wird dieser durch einen Wünschelrutenmann aufgesucht und mit einem Schafopfer entsühnt.
Wie wir schon im Abschnitt über die Geburt erwähnten, haben die Ärzte ziemlich gute Kenntnisse von den hierher gehörigen Vorgängen. Nur verhüllen Furcht und Aberglaube das Gute immer allzu leicht. Enthauptungen und Wendungen im Mutterleibe, operative Erweiterung des äußeren Geburtsweges sind bekannt. Knochenbrüche werden geschient. Sind jemand durch einen Unglücksfall die Testes aufgeplatzt, so werden sie mit einer gewöhnlichen Nadel und Schafdarm[S. 209] wieder zusammengenäht. Die Ohrläppchen besonders der Frauen werden schon in der Jugend durch eingesteckte Holzplättchen und später durch Palmblattspiralen stark vergrößert, daß sie oft wie dünne Schnüre auf die Schultern reichen. Reißen sie, oder will einer, der Mode folgend, die Sache verkürzt haben, so verwundet der Chirurg die beiden Enden künstlich, legt sie aufeinander und umwickelt die Stelle mit einem Faden.
Kräuter-Dampfbäder stehen in gutem Ruf und werden häufig angewandt. Die Kräuter werden gekocht und der Topf dann vor den Patienten gestellt, der unter einer umgehängten Decke tüchtig schwitzen muß. Eine Abreibung mit dem inzwischen lauwarm gewordenen Wasser beschließt diese Art der Behandlung. Zur Ader läßt man mittels eines Schröpfkopfes (ndumiko). Dieser besteht aus einem kleinen Ziegenhorn, welches am Ende durchbohrt ist und mit einem Wachspfropfen verschlossen werden kann. Der Arzt ritzt die Haut an der zu schröpfenden Stelle, setzt das Hörnchen fest auf, saugt die Luft heraus und schließt während des Saugens die kleine Öffnung in dem Wachspfropfen mit den unteren Schneidezähnen. Bei starken Kopfschmerzen wird der Ndumiko an den Schläfen aufgesetzt, auch bei Stichen in der Brust wird er angewandt. Zauberhörnchen, welche die Vasavi dem Patienten in seinen Körper gezaubert haben, werden mittels des Schröpfkopfes wieder entfernt. Werden Zweifel laut, wie es möglich sei, daß solche Gegenstände durch die kleinen Ritzwunden hindurch ans Tageslicht befördert werden könnten, so begegnet der Medizinmann diesen mit dem außerordentlich logischen Hinweis, daß der böse Msavi beim Hineinzaubern ja nicht einmal diese Ritze gehabt habe. Was durch die heile Haut hineingehe, müsse doch durch die eingeritzte um so leichter hinausgehen. Gegen diese Logik können die Leute nichts machen, denn der „Arzt“ zeigt ihnen die ausgetretenen Gegenstände, des Patienten Lebensmut wächst, nachdem er die scheußlichen Dinge losgeworden ist, die er in der Hand des Medizinmannes gesehen hat, und diesem heiligt wohl der Erfolg die angewandten Mittel. Auch die Sühnzeremonie wendet der Arzt an, um böse Einflüsse während seiner Behandlung fern zu halten. Er nimmt zu dem Zweck ein kleines Hölzchen, bricht über dem Kopf des Kranken mehrere Stückchen ab und wirft sie fort, indem er sagt: „Das Böse, was den Mann krank macht, soll meiner Behandlung nicht entgegenstehen, sei es nun Zauber oder Ahnen oder irgend etwas anderes.“
Eine Krankheit, die früher bei den Wapare unbekannt war, ist die Besessenheit oder pepo. Diese bösen Dämonen, bzw. der Glaube[S. 210] an sie, sind von der Küste her über Usambara auch nach Pare eingedrungen und heute überall verbreitet. Unsre Wapare nehmen an, daß sie mit den Kleidern der Suaheli-Kaufleute eingeschleppt worden seien. Man glaubte nämlich, daß die Kleider, nachdem sie „aus dem Meere gekommen“ wären, von den Küstenkaufleuten in einen „Hain der bösen Seuchen“ gelegt würden, um auf diese Weise ihr Land zu reinigen und die Seuchen mit den Kleidern ins Land der Käufer abzuschieben. Deshalb brachte jeder vorsichtige Mwasumann seine Kleider, die er von reisenden Kaufleuten erstanden hatte, zuerst in eine Höhle, um sie da vier Tage „ablagern“ zu lassen. Mit dem zu diesem und ähnlichen Zwecken vorrätig gehaltenen trockenen Mageninhalt eines Schafes wurden sie dann entsühnt.
Der Mzuka ist der Oberste aller dieser bösen Dämonen. Es gibt eine große Anzahl von Pepoerkrankungen, die alle je nach ihrer Erscheinungsform ihren Namen tragen, z. B.:
1. Pepo ya Mzungu, Europäerdämon. Der Kranke trägt beim Beschwörungstanz einen weißen Turban, hält ein weißes Huhn in der Hand und ißt oft (wie die Europäer zum Entsetzen der Neger hier tun) rohe Eier.
2. Pepo ya Mnyindo, Dämon eines Küstenstammes. Der Kranke tanzt mit schwarzem Turban und schwarzem Huhn.
3. Pepo ya Mlungwana, Dämon eines Küstenstammes.
4. Pepo ya Mkwavi, Massaidämon. Der Kranke nimmt beim Tanz einen Massaispeer usw.
Fast ausschließlich sind es Frauen, die von der Besessenheit befallen werden. Der Beschwörer verspricht dem Dämon allerlei Liebesgaben, damit er die Kranke eine Zeitlang in Ruhe lasse. Bei dem immer heftiger und aufreizender werdenden Klang der Geistertrommeln wird die Kranke unruhig und fängt schließlich an zu tanzen, während der Medizinmann mit dem Dämon spricht. Reagiert die Patientin auf die erste Tanzmelodie nicht, so geht der Beschwörer zu einer andern über.
Die Pepokrankheit ist bei vielen Frauen zur Modesache geworden. Einige sind hysterisch veranlagt, bei andern ist die Tanzsucht so groß, daß jeder Vorwand benutzt wird, ihr zu huldigen. Erotische Momente spielen wohl auch mit hinein, denn man tanzt meist vor männlichen Zuschauern. Mehrere Wapare sagten mir selbst: „Die Dämonenbeschwörung ist oft nur eine Tanzlustbarkeit.“ Aber immerhin liegen in manchen Fällen doch krankhafte und merkwürdige Erscheinungen vor. So sah ich bei einem solchen nächtlichen Beschwörungstanz[S. 211] Frauen, die in ihrer Ekstase glühende Kohlen anscheinend ohne Schaden in den Mund nahmen; andre stiegen bis auf den Dachfirst und legten sich dort zum Schlafen nieder. Andre schneiden plötzlich einem Schaf die Kehle durch und trinken das hervorquellende Blut u. dgl. m. So haben die Wapare auch noch unter den Plagen andrer Stämme zu leiden. Der Islam beläßt sie nicht nur in der Furcht vor ihren Gottheiten, denen ja die meisten mohammedanischen Eingebornen im Innern nach wie vor opfern, sondern seine Träger, die Küstenleute, bringen noch neue Dämonen in ihren Vorstellungskreis, um die Herzen völlig in den Bann der Furcht zu schmieden. Für sie wie für jeden Menschen ist nur Heil im Namen dessen, der den unsaubern Geistern mit Macht gebieten konnte. Das bezeugen heute mehrere unsrer Christenfrauen fröhlichen und dankbaren Herzens. Denn seitdem sie in Jesu Tod getauft worden sind, haben sie von den bösen Geistern, die ihre heidnischen und mohammedanischen Schwestern quälen, nichts mehr zu leiden. Also nicht nur dem gesunden Heiden mit all seinen Wahnvorstellungen, die ihn peinigen, sondern in noch weit höherem Maße dem kranken Heiden können wir in seinen Nöten nur das Evangelium von Jesu bringen: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch nicht nur Kultur geben, ihr sollt auch nicht nur zu geschickten Arbeitern beim Europäer gemacht oder nur unterrichtet werden, eure eignen Äcker vorteilhafter oder in größerem Maßstabe zu bearbeiten; das sollen alles nur Folgeerscheinungen des Evangeliums sein. Aber Frieden und Ruhe will ich euch geben für eure Seelen! — Und wenn man sich nur in die Erinnerung zurückruft, daß z. B. die Mutter des zahnenden Säuglings am Ende der Zahnzeit mit dem Gruß erfreut wird, den sonst der aus Todesgefahr heimkehrende Krieger erhält, weiß man, daß die Heiden sich nach Frieden sehnen. Dies Evangelium ließ eine unsrer Christinnen auf dem Sterbebett triumphierend ausrufen: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!“ Seine Frieden bringende Kraft gab unserm treuen Lehrer Anderea Senamwai auf seinem Lager das Lied in den Mund: „Näher, mein Gott, zu Dir,“ bis der Tod ihm die singenden Lippen schloß.
Verlangt irgendein Gesunder die vorbeugende Behandlung des Medizinmannes etwa gegen Verzauberung, so muß er zuerst den „Taschenöffner“ (kichungua mfuko) in Form einer Hacke oder 25 Heller bezahlen. Gleichzeitig wird der Preis für die Behandlung (ichungwi) festgesetzt. Diese besteht gewöhnlich in einer oder zwei Ziegen, bei reichen Häuptlingen wohl auch in einer Färse. In den[S. 212] meisten Fällen ist die „Beruhigung“, die der Patient als einziges Resultat solcher Zauberbehandlung verspürt, mit der geforderten Ichungwi recht teuer bezahlt. Wird der Arzt dagegen zu einem Kranken gerufen, so hat dieser bis zu seiner Gesundung nichts zu zahlen, sondern holt erst später den Kichungua mfuko und Ichungwi nach. Stirbt der Patient, oder ist die Behandlung erfolglos, so ist an den oder die Ärzte nichts zu zahlen, jedenfalls eine ideale Auffassung des Berufes von seiten der afrikanischen Mediziner. Der Arzt ist gleichzeitig Apotheker, so daß auch in dieser Hinsicht keine Kosten entstehen. Nebenbei bemerkt, habe ich für das Biologische Institut in Amani eine Anzahl Arzneipflanzen der Wapare gesammelt, die z. T. in Berlin bestimmt wurden. Bei den meisten der eingesandten Exemplare war die ihnen hier von den Ärzten zugeschriebene Arzneiwirkung auch zu Hause bekannt. Die Vaganga werden also sicherlich eine große Reihe gut wirkender Heilkräuter kennen und wären wahrscheinlich in der Lage, auch unsre Kenntnis in diesem Stück beträchtlich zu erweitern.
Oft muß der Arzt wegen seiner ihm vorenthaltenen Bezahlung prozessieren. Andre sagen: „Wenn du mir mein Honorar nicht geben willst, unani, teheterire kucha (= nur zu, es ist noch nicht aller Tage Abend). Bei deiner nächsten Krankheit wirst du mich oder meine Kollegen vergeblich rufen.“ Folgende Geschichte erzählen sich die Leute von der Rache eines betrogenen Arztes:
Ein Mganga reiste durch die Landschaft Vwaga und wurde zu einem Schwerkranken gerufen, für dessen Heilung man ihm eine Kuh in Aussicht stellte. Die Heilung gelang ihm; aber man wollte dann nur noch eine Ziege zahlen. Als der Mganga sah, daß er betrogen werden sollte, hieß er seine Begleiter mit den von andern Patienten erhaltenen Ziegen usw. vorausmarschieren. Er selbst gab sich den Anschein, als mache er gute Miene zum bösen Spiel und wolle die Behandlung des Kranken noch vorerst zum Abschluß bringen. Sein Patient mußte in eine leere Hütte gebracht werden. Er befahl den Leuten, draußen stehen zu bleiben und jeden Schmerzensruf des Kranken genau so zu beantworten. Das war weiter nichts Verwunderliches, weil ja bei jeder Behandlung die Wechselgesänge üblich sind. Als er dann in der Hütte mit dem undankbaren Patienten allein war, stach er ihm zuerst mit einem Messer ein Auge aus. Der entsetzte Mann schrie: „Woyahae, jetzt werde ich nicht behandelt, er sticht mir ein Auge aus!“ Der Chor draußen antwortete: „Eeee, o weh, jetzt werde ich nicht behandelt, er sticht mir ein Auge aus!“ Der Arzt[S. 213] stach ihm dann auch das zweite Auge aus. Der mißhandelte Patient schrie: „Jetzt sticht er mir auch das zweite Auge aus!“ Der Chor draußen: „Eee, jetzt sticht er dir auch das andre Auge aus!“ Der Ärmste sah, daß es ihm ans Leben gehen würde und rief noch einmal: „Ihr draußen, denkt nicht, daß ich euch etwas vormache, ich werde hier getötet!“ Aber wie Hohn klang die den Draußenstehenden vom Arzte vorgeschriebene Antwort an die Ohren des Kranken: „Eee, wir denken nicht, daß du uns etwas vormachst, du wirst jetzt getötet!“ Der Mganga erstach dann den Undankbaren, bedeckte ihn mit einem Tuch und befahl den Angehörigen, nicht vor Sonnenuntergang die Hütte zu betreten, damit der Zauber nicht verderbe. Als man die Leiche abends fand, war der Mörder über alle Berge. —
Wenn die Krankheit zu Befürchtungen Anlaß gibt, so ruft der Vater seine Kinder, oder, falls sie noch zu klein sind, einen vertrauten Freund, dem er die Sorge für die Kinder und ihr Erbe ans Herz legt. Er macht ihm auch seine Gläubiger und Schuldner namhaft, damit kein Unberechtigter mit einer Schuldforderung an die Kinder herantreten noch ein Schuldner die Bezahlung verweigern kann.
Manchmal sind alle Bemühungen der Ärzte vergeblich. Der Kranke wird ohnmächtig (esempuka), die Augen werden gläsern, und der Tod schwingt seine Sense. Eifrig beugt sich der Medizinmann über den Sterbenden, um ihm durch andauerndes Bespützen seine Seelenkräfte mitzuteilen. Von Zeit zu Zeit legt er dem Kranken die Hand aufs Herz, um zu sehen, ob es noch schlägt. Ist der Tod eingetreten, dann sagt er wohl: Nkore ya Murungu teikombolwa = Gott kann man auch durch Zahlung eines Lösegeldes seine Beute nicht entreißen. Oder er nimmt gefaßt seine zahlreichen Arzneikalabassen fort mit den Worten: „Der Tod hat uns ausgelacht,“ d. h. er hat die Partie gewonnen. Sofort stimmen die Angehörigen und alle Anwesenden die Totenklage an (ntiro). Die Gattin weint, daß sie ihren Mann nicht mehr sieht:
Die Kinder beklagen den Verlust ihres Vaters, andre tragen dem Verstorbenen weinend Grüße an ihre Lieben in der Unterwelt auf. Im Augenblick ist das Haus voll mitleidiger Nachbarn, die mitweinen und die Angehörigen trösten: „Wir wollen nicht zuviel weinen, Tränen[S. 214] bringen ihn nicht wieder, sonst wäre schon mancher wiedergekommen.“ Das Begräbnis findet bald nach Eintritt des Todes statt. Während die Männer das Grab schaufeln, schweigt die Totenklage, weil man sonst auf felsigen Boden stoßen würde. Dem Toten werden beide Arme auf die Brust gelegt und die Beine hoch an den Körper angezogen. Sämtlicher Schmuck und auch die Kleider werden ihm abgenommen, und völlig nackt legt man ihn in hockender Stellung in die etwa 1½ m tiefe Grube. Dabei richtet man den Leichnam mit seinem Gesicht immer nach der Gegend, in welcher die Heimat seiner Sippe liegt. Ist das Grab bis an den Hals der Leiche zugeschaufelt, stützt man den Kopf durch vier kreuzweise eingelegte Stäbe. Diese haben den Zweck, den Schädel auch nach eingetretener Verwesung in seiner Lage zu erhalten, damit man ihn später leicht auffinden und in den „Tempel“ zu den übrigen bringen kann. Auf das fertige Grab legt man zu Häupten des Leichnams einen Stein oder Topf oder auch ein Stückchen des Mugi-Baumes, welches leicht anwächst. Übrigens sind die diesbezüglichen Sitten in den einzelnen Landschaften und Sippen verschieden. So legen andre ihre Toten auf die rechte Körperseite lang ausgestreckt ins Grab. Nach getaner Arbeit begeben sich die Totengräber wieder ins Haus, wo die Klage von neuem ertönt.
War der Verstorbene ein großer Häuptling, so wurde sein Tod jahrelang geheim gehalten, und erst im vierten Jahre nach seinem Ableben erscholl die Totenklage. In den früheren unsicheren Zeiten war das von Bedeutung. Denn die Gefahr lag nahe, daß irgendein feindlicher Häuptling auf die Kunde vom Tode seines Gegners die Tage der Verwirrung benutzte, die Hinterlassenschaft gewaltsam an sich zu reißen. So aber gewann man Zeit, alles zu regeln.
Eine eigentümliche Erscheinung bilden die vatani. Der Mtani ist eine Art Sühnepriester, der die Angehörigen fremder Sippen entsühnt. Hat z. B. jemand eine Ritualvorschrift übertreten, so bringt der Mtani das wieder in Ordnung, indem er den Ahnengeistern sagt, daß es sich in dem Falle ja nur um einen Tölpel und Dummkopf handle, der keinen Verstand besäße, der Sache sei also keine Wichtigkeit beizumessen. Diese Vatani kamen auch oft ins Sterbehaus. Sie scheinen mir mit ihren derben Späßen gewissermaßen den Sieg der Lebensfreude über alle Todestrauer zu versinnbilden. Der Mtani fragte wohl mit lauter Stimme draußen vor dem Trauerhause: „Was wird denn hier für ein Fest gefeiert? Ihr singt ja eigentümliche Lieder!“ Drinnen raunen sie einander zu: „Das ist die ‚Mtani-Pest‘.“ Der läßt sich aber nicht irre machen, weist auf den frischen Grabhügel und sagt:[S. 215] „Wer hat denn hier nach meinen Kartoffeln gegraben?“ Man bedeutet ihm, stille zu sein, der Soundso sei gestorben; aber er entgegnet, wenn irgend ein Hund stürbe, solle man doch nicht soviel Aufhebens machen. Bei solchen Späßen können manche der Anwesenden das Lachen nur schlecht unterdrücken. Der Bann, den der Todesfall auf die Herzen gelegt hatte, ist gebrochen, wenn auch auf eine uns Christen recht kläglich anmutende Art. Immerhin hat einer angesichts des Todes den Mut gefunden, zu rufen: „Es lebe das Leben!“ Etwas Ähnliches haben wir bei uns wohl in der lustigen Musik und dem Schmaus nach einem Begräbnis. Die Totenklage dauert zwei Tage. Am dritten Tage früh am Morgen versammeln sich die Verwandtschaft und einige Nachbarn im Sterbehause. Der Mtani ist auch da und nimmt sich gleich die Pfeife des Verstorbenen, um daraus zu rauchen. Die andern sagen ihm: „Du darfst doch nichts von der noch unentsühnten Hinterlassenschaft in Gebrauch nehmen!“ Der Spottvogel erwidert aber kaltblütig: „Unsinn, was ist denn da zu entsühnen, wenn so ein Kerl ins Gras beißt. Übrigens ist er mir gerade eben noch begegnet, er ist also gar nicht tot.“ Hat man noch dies und jenes besprochen und geordnet, gehen alle zum Fluß, wo der Mtani die Kleider des Verstorbenen wäscht. Die Witwe und der Erbe waschen sich am ganzen Körper, die andern nur Gesicht, Hände und Füße. Der Mtani führt dann den Zug wieder ins Haus zurück, wo er die soeben gereinigten Kleider sowie auch die Hinterbliebenen selbst mit dem Mageninhalt einer inzwischen geschlachteten Opferziege völlig entsühnt. Die Kleider übergibt er nach Vornahme noch andrer Zeremonien dem Bruder oder Erben und höhnt ihn: „Du freust dich ja doch, daß er tot ist und du all die Kleider und Frauen erben kannst!“ Und den andern ruft er glückstrahlend zu: „Doch eine schöne Sache, solch ein Todesfall; wenn der jetzt nicht gestorben wäre, hätten wir heute keinen Festbraten!“ Das gebratene Fleisch wird an die Anwesenden verteilt, das übrige nimmt man mit nach Hause. Diese Trauerfeier nennt der Mpare fwire. Am gleichen Tage finden die oft schwierigen Verhandlungen betreffs der Erbschaft statt, und die Hinterlassenschaft samt den Frauen gehen in klarliegenden Fällen in den Besitz des Bruders über.
Am folgenden Tage werden den Hinterbliebenen vom Mtani die Kopfhaare abrasiert. Einige Tage später ritzt er ihnen leicht mit einem Messer die Schläfen, Stirn und alle Gelenke. Jeder kaut eine stark ölhaltige Nuß, und reibt sich mit dem so erhaltenen Brei ein. Die Rückstände werfen sie, ohne sich umzusehen, unter einen großen Baum mit den Worten: „Das Schlechte lassen wir hier zurück!“ Damit[S. 216] sind die Reinigungszeremonien beendet. Den Abschluß bildet auch hier ein kühler Trunk des bereitgestellten Bieres. Man erzählt sich noch dies oder jenes von dem Verstorbenen und tröstet sich damit, daß „die Erde nicht auswählt“, d. h. der Tod jeden wahllos ereilt, ja, sogar den Guten eher als den Schlechten; denn „der beste Pfeil bleibt nicht lange im Köcher“!
Zu erwähnen bleibt noch, daß man für eine Mwai, die vor beendetem zweiten Frauenfeste gestorben ist, das Fest zu Ende führt, damit sie nicht unfertig in die Unterwelt fahre. Es handelt sich hier um eine ähnliche Anschauung, wie sie bei uns der Nottaufe zugrunde liegt, indem auch hier die unbiblische Art der Taufe den Charakter eines heidnischen Zaubergebrauches angenommen hat.
Hat der Tote irgendein Gebrechen, sei es eine Wunde oder eine Geschwulst, so wird das betreffende Glied abgeschnitten und besonders begraben, damit die ganze Sippe nicht an denselben Übeln erkrankt. Stirbt eine schwangere Frau, so schneidet man den Leib auf und begräbt das Kind besonders. Leute, die an den Pocken gestorben waren, ließ man unbegraben im Busch liegen. Recht barbarisch war das Verfahren, sich der Aussätzigen zu entledigen; denn starben solche Leute zu Hause, glaubte man, die schreckliche Seuche würde die ganze Sippe befallen. Merkte man also, daß die Krankheit weit vorgeschritten war, besprach man sich mit den Angehörigen der Sippe und dem Sohne, welcher seine Zustimmung zur Beseitigung des Vaters geben mußte. Dann rief man acht Vatani. Vier von ihnen nahmen den sich heftig sträubenden Kranken und schleppten ihn weit fort in den Busch unter eine große Kandelabereuphorbie. Der Aussätzige wußte natürlich beim Erscheinen der Vatani sofort, was ihm bevorstand, und verfluchte seine grausamen Henker oder bat sie flehentlich, ihn doch nicht zu töten. Diese aber hießen ihn vorwärtsschreiten. An der Stelle, wo der zu fällende riesige Baum niedergehen mußte, wurde das Opfer festgebunden. Krachend fiel dann unter den Axtschlägen der Männer die Euphorbie um und bildete sofort mit ihren dornigen Zweigen einen Grabhügel über dem Kranken. Die andern vier Vatani schafften unterdes sämtliche Kleider und Gebrauchsgegenstände des Aussätzigen herbei und legten die Sachen neben dem Baume nieder. An Ort und Stelle wurde dann eine Sühneziege geschlachtet, an deren Fleisch die Männer sich nach der grausigen Arbeit stärkten.
Krankheit und auch Tod haben für den Mwasu stets tieferliegende Ursachen, die das Orakel feststellen muß. Die überlebenden[S. 217] Verwandten lassen sich nach einem Todesfall vom Nzaro eiligst die innere Ursache angeben; denn solange das betreffende Seelentier oder der Ahnengeist, auf dessen Einfluß das Orakel den Tod zurückführt, nicht versöhnt ist, schweben sie ebenfalls in Todesgefahr. So tritt uns auch hier wiederum das Grundübel des Animismus entgegen, die Furcht, die sich den Leuten an die Sohlen heftet und sie nicht nur während der Krankheit eines Familiengliedes, sondern selbst über dessen Tod hinaus ängstigt.
Vor einigen Jahren starb Rebeka, die Frau unsres Lehrers Petero Mlungwana in Usukuma. Er war mit seiner Gefährtin einem Ruf in unser dortiges Missionsfeld gefolgt, und diese erkrankte dort nach einigen Monaten am Schwarzwasserfieber. Unsre Pare-Lehrer waren gerade in der Kapelle in Kihurio versammelt, als die Nachricht eintraf. Wie ich nachher hörte, knieten sie alle nieder und baten Gott um Kraft für ihren Genossen in der Fremde. Ein Auszug aus einigen Briefen, welche sie ihm dann schickten, möge hier als Abschluß des Kapitels Platz finden. So schrieb der Lehrer Hezekieli Kibwana aus Buiko: „An meinen Bruder Petero! Ich habe gehört, daß Deine Frau verschieden ist. Ich weiß, jetzt bist du in großer Traurigkeit; aber wir alle kennen ja die Geschichte des Hiob. Ich bitte dich, laß das Wort in Offenbarung 2, 10 in dein Herz geschrieben sein. Du kennst mich, Petero, ich kann dir nicht viel sagen, denn du bist ja kein Unwissender. Du weißt, daß Reichtum und Armut, Trauer und Freude bei Gott alles eins ist. Du weißt auch, daß Gott unfehlbar ist. Man kann ihn nicht belehren, warum hast du es nicht so oder so gemacht. Verkündige Du nur den Namen Jesu mit Macht! Mache seine Wunder und seinen Ruhm kund! Denn unsre Hoffnung besteht nicht in einem Leben auf dieser Welt sondern in dem zukünftigen. Du weißt, wenn es mir möglich wäre, so käme ich jetzt zu Dir, aber ich habe keinen Weg. (Es war während des Weltkrieges). Aber da ist einer, dem niemand den Weg versperren kann, das ist der Herr Jesus. Sein Wort wird dich stärken und dein Herz erfreuen. Ja, Bruder, dieser Tod ist der Sünde Sold, wir können dem nicht aus dem Wege gehen; unsre Hoffnung aber ist die Wiederkunft des Herrn Jesu, der uns aus aller Not erlösen wird. Dann werden wir nie mehr Trauer haben oder den Tod sehen, sondern im ewigen Reich wohnen und ewiges Leben haben. Lies 1. Thessalonicher 4, 13–18 ....“
Der Schwager des Petero schrieb: „.... Als ich hörte, daß meine Schwester gestorben sei, habe ich große Not in meinem Herzen gehabt, nicht meiner Schwester wegen; denn wenn sie im Glauben gestorben[S. 218] ist, dann steht ja geschrieben: ‚Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.‘ Aber ich habe Schmerz deinetwegen gehabt. Hat meine Schwester, bevor sie starb, noch irgendein Wort Gottes gesagt, dann schreibe mir darüber ....“
So befreit die selige Hoffnung des Christen den Heiden nicht nur im Leben von der Götzenfurcht, sondern läßt ihn auch angesichts des Todes nicht verzagen und verhilft ihm zu einer tiefer gegründeten Lebensfreude, als die faden Späße des Mtani dem Heiden zu geben vermögen. Und wenn behauptet wird, das Christentum verdüstere die Gemüter, so kann der Gegenbeweis nicht schlagender erbracht werden als durch eine kleine Christenschar, die am offenen Grabe freudig und triumphierend singt:
[S. 219]
Wohl manchem angehenden Missionar hat man in der Heimat von dem in Frieden und Bedürfnislosigkeit dahinlebendem Negervolke erzählt. Auch hat man ihm wohl die Berechtigung abgesprochen, diesem Naturvolke christliche Lehren zu bringen, nach denen es kein Verlangen trage und die auch eine viel höhere Kulturstufe zur Voraussetzung hätten. Im Missionslager dagegen wird gerade in diesen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, daß bald die Stunde schlagen wird, in der die Afrikaner sich für das Christentum oder für den Islam entscheiden.
Über die Gefahr, die der sich immer schneller ausbreitende Islam für die Kolonien bildet, ist schon vieles geschrieben worden. Man kann die Frage vom religiösen oder vom politischen Standpunkt aus betrachten, in beiden Fällen aber muß man zu dem gleichen Schluß kommen.
Wer die Stärke der Schutztruppe kennt, muß sich wundern, daß eine solch erdrückende Übermacht von Negern, zum Teil sehr kriegslustigen und kriegsgeübten Stämmen, sich von dieser Minderzahl in Schach halten läßt. Warum kommt es nicht zu einer mächtigen Erhebung mit dem Ziele, die Herrschaft der Europäer zu beschränken oder gar abzuschütteln?
Der Gründe sind natürlich mehrere; aber ein Umstand, der die Kolonisatoren unterstützt hat, ist die sprachliche Zerrissenheit Afrikas und die zum Teil dadurch bedingte Aufteilung des Landes unter kleine und kleinste Häuptlinge. Wirklich mächtige Herrscher, die großen Reichen vorstehen, gibt es mit wenigen Ausnahmen nicht. Wir hatten in Afrika, bevor die deutsche Herrschaft eingriff, dasselbe Bild wie in Deutschland vor seiner Einigung: ungezählte Häuptlinge, die sich meistens grimmig bekämpften. Die erwähnte sprachliche Zerrissenheit begünstigte diese Fehden und steht heute noch der Einigung der verschiedenen[S. 220] Stämme unter einem Häuptling im Wege, natürlich nicht als einziges Hindernis.
Es ist nun wiederholt darauf gedrungen worden, für Afrika mit seinen Hunderten von Dialekten eine Verkehrs- und Einheitssprache zu schaffen. Das Kisuaheli, die Sprache der Küstenleute, der Wasuaheli, eignet sich hierzu am besten. Der Neger ist auch sehr begierig, das Kisuaheli als die Sprache der Gebildeten zu erlernen. Hand in Hand damit geht aber leider das Bestreben der Schwarzen, den Wasuaheli in andern Dingen, besonders in der Religion, ebenfalls gleich zu werden. Da diese nun zum weitaus größten Teil Mohammedaner sind, so kommt es schließlich dahin, daß der Neger glaubt, durch seinen Übertritt zum Islam die höchste für ihn erreichbare Stufe der Bildung erklommen zu haben.
Es könnte nun jemand den Einwand erheben, daß die Leute auch aus ähnlichem Grunde zum Christentum überträten. Dies ist im allgemeinen ausgeschlossen. Während der christlichen Taufe ein oft jahrelanger Unterricht vorausgeht, sind die mohammedanischen Lehrer sehr schnell mit der Taufe bei der Hand. Und was die soziale Stellung anbelangt, so sieht der Weiße gewöhnlich doch auch den getauften Neger nicht in dem Maße für gleichberechtigt an wie das der Araber oder Küstenneger mit dem früheren mshenzi, dem Buschneger, tut, wenn er einmal nach mohammedanischem Ritus getauft worden ist. Wie oft habe ich diese Leute in der Moschee sitzen sehen, immer wieder schreiend: La illah illa Allahu. Mohammed resoul Allah! = Kein Gott außer Gott! Mohammed ist sein Prophet!, ohne daß sie die Bedeutung selbst dieser wenigen stets wiederkehrenden Worte erfaßt hätten. Aber sie fühlen sich als Mohammedaner, und dies Gefühl kann als einigender Faktor unter Umständen außerordentlich beachtenswerte Folgen haben.
Der Islam macht es seinen Anhängern nicht zu schwer. Deshalb treten denn auch alljährlich, besonders im Monat Ramazan, viele zu ihm über, ohne auch nur eine leise Ahnung von der neuen Lehre zu haben. Das Arabische bleibt dem Neger im allgemeinen ein Buch mit sieben Siegeln; aber über eine Sache hat man sich doch schnell verständigt: Haß gegen die Ungläubigen! Offiziell sind sie allerdings alle die treuesten Untertanen; aber unter der Asche schlummert das Feuer. „Du täuschst dich, es ist noch nicht so weit,“ sagte ein mohammedanischer Häuptling einem andern, der ihn 1905 zum Losschlagen überreden wollte, als im Süden Ostafrikas der große Aufstand ausbrach. Daß aber der Europäerhaß tatsächlich gepredigt wird, läßt[S. 221] sich schon daraus erkennen, daß hoch in unsern abgeschlossenen Bergen sich schon einige Leute von dem Soliman erzählt haben, der einst an der Spitze aller Anhänger des Propheten die Europäer vertreiben würde. Wenn die Mohammedaner es nun fertig bringen, den Fanatismus, der sie selbst beherrscht, auch in die Reihen der Schwarzen zu tragen, dann dürfte sich die Lage ziemlich ernst gestalten. Daß es aber möglich ist, die Neger besonders in einem einheitlichen Sprachgebiet zu fanatisieren, hat der Aufstand 1904–05 im Süden der ostafrikanischen Kolonie bewiesen, wenn auch da der Fanatismus und die teilweise Einigung noch auf die Umtriebe eingeborner Medizinmänner zurückgeführt werden konnte. In einem „wirklichen hl. Kriege, in welchem auf der einen Seite nur gläubige Moslem gegen die Ungläubigen kämpfen“ (Ausspruch eines Negerhäuptlings 1915), würde solche Einigung in Afrika für die Weißen katastrophale Folgen haben. In diesem Zusammenhange dürfte die Rede eines Schwarzen interessieren, die am 30. Aug. 1921 auf dem Panafrikanischen Kongreß in Brüssel gehalten wurde. Er sagte u. a.: „Der Augenblick ist gekommen, da die 40 Millionen Schwarzen Afrika für sich verlangen müssen. Es handelt sich aber nicht darum, England, Frankreich, Belgien und Italien zu fragen: ‚Warum seid ihr hier?‘ sondern ihnen die Weisung zu erteilen, sich zu entfernen! Der blutigste Krieg kommt noch. Wenn erst Europa seine Kräfte gegen Asien einsetzen wird, wird für die Schwarzen die Stunde gekommen sein, das Schwert für die Erlösung Afrikas zu ziehen. Wer hat den Weltkrieg gewonnen? Das Blut der Schwarzen auf den Schlachtfeldern der Weißen ..... Ihr aber wißt, welches der Dank der Weißen war ... Wir lachen über die eingebildeten Weißen und sagen: Da wir gut genug waren, uns auf den europäischen Schlachtfeldern töten zu lassen, um unsern Lehrmeistern zu helfen den Krieg zu gewinnen, so hätten sie uns wenigstens die Freiheit gewähren können, in deren Namen sie sich totschlugen. Wir haben aber auch gelernt, zu töten, und ich frage auch meine Freunde, was wird dann sein, wenn wir erst für unsre eigene Sache kämpfen werden?“
Daran läßt sich nun weiter die Frage knüpfen: Wie kommt es, daß der Islam so schnell in das Volk hineindringt? Oft begegnet man draußen bei Europäern, die allerdings in dem Falle meist allem Christentum gleichgültig gegenüberstehen, der Ansicht, daß der Mohammedanismus schon durch seine günstige Aufnahme bei so vielen Schwarzen den Beweis in sich trage, daß er die gegebene und praktischste Religion für den Schwarzen sei. Man sollte sicher auch draußen[S. 222] den Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit walten lassen; aber es ist doch sehr zu bedauern, wenn sogar von Europäern der Ausbreitung des Islam Vorschub geleistet wird. Ich will mich hier auf ein treffliches Wort Prof. D. Richters beschränken: „Der Vorschlag, die primitiven Völker dem Islam als einer ihnen angemessenen Religion zu überlassen, kommt einem Selbstmord der christlichen Kultur gleich.“ „Ev. Missionskunde“, S. 32 ff.
Vergleicht man nun die christliche und mohammedanische Missionstätigkeit, so wird man unschwer erkennen können, daß dem Islam in vielen Dingen die Wege geebnet sind. Während die christlichen Gemeinschaften teure Missionare hinaussenden, deren Unterhalt und Arbeit jährlich beträchtliche Summen verschlingt, tut der mohammedanische Händler für seinen Glauben äußerlich dieselben Dienste, ohne der Gemeinschaft auch nur die geringsten Kosten zu verursachen. Er ist überall zu finden, handelt mit dem Koran, erteilt Unterricht in demselben und macht auf alle mögliche Weise Propaganda für seinen Glauben. An Zahl sind diese Leute den Missionaren weit überlegen. Wie stände es wohl mit dem Christentum, wenn alle Weißen auch nur annähernd so eifrig für ihr Glaubensbekenntnis eintreten würden!? Solange der arabische Einfluß in Ostafrika geherrscht hat, galt auch der Islam als Religion der Gebildeten, und er ist heute noch bei sehr vielen Häuptlingen Tradition.
Es kommt hinzu, daß der Araber durch seine Hautfarbe dem Neger näher steht als der Europäer. Dies wissen die Mohammedaner geschickt auszunützen, indem sie dem Neger beibringen: „Der Islam für die Farbigen, das Christentum ist Sache des weißen Mannes, unsres gemeinsamen Unterdrückers.“ Gar mancher Neger läßt sich da bereitfinden, die Lehre des Propheten anzunehmen, besonders wenn der Häuptling und seine Großen vorangegangen sind. Daß die Unterschiede der christlichen Glaubensbekenntnisse den Negern in die Augen fallen, sie von dem Bestehen der zahlreichen mohammedanischen Sekten aber meist nur wenig Kenntnis erhalten, ist eine weitere Hilfe für den Islam.
Auch die Lehre des Propheten ist dem Neger bedeutend bequemer als das Christentum. Vor allem darf er die Vielweiberei beibehalten. Jeder, der draußen gewesen ist, weiß, was das für den Schwarzen sagen will. Aber auch sonst sind die Forderungen des Koran nicht so streng, und wenig genau nimmt man es mit den Vorschriften, die da sind. Seine Amulette trägt der zum Islam übergetretene Heide ruhig weiter. Ja, er kauft sich von seinen jetzigen[S. 223] Lehrern noch neue mit arabischen Inschriften dazu. Recht bezeichnend war die Antwort des hiesigen Regierungshäuptlings, den ich, als er wieder einmal vollständig betrunken war, auf das Enthaltsamkeitsgebot des Propheten aufmerksam machte: Allahu aallam! = Gott weiß es am besten! war seine seelenruhige Antwort. Er bleibt trotzdem ein guter Mohammedaner, haben ihm doch seine arabischen Lehrer aus dem Koran vorgelesen: „Gott gönnt euch das Leichte, nicht das Schwere. ... Er will es euch leicht machen, denn der Mensch ist zur Schwachheit geboren.“
Ein weiterer Umstand, der die christliche Missionstätigkeit vor der des Islams beeinträchtigt, ist die Haltung der weitaus meisten Europäer draußen, die, gelinde gesagt, die Missionstätigkeit nicht gerade unterstützen. Während dem Schwarzen, der den Dingen nicht auf den Grund sehen kann, im Islam Afrikas wohl auch verschiedene Sekten, aber doch als einigendes Moment neben der Sprache bei ihnen allen eine religiöse Bekenntnisfreudigkeit entgegentreten, sieht er bei den Christen, daß ein innerer religiöser Zusammenhang zwischen den wenigen „Lehrern“ und den vielen offiziellen Bekennern kaum oder nur in wenigen Fällen besteht. Solche Erwägungen, die der Neger tatsächlich macht, treiben ihn dann leicht dem Mohammedanismus in die Arme.
Durch ihn ist aber dem Neger innerlich nicht geholfen. Seine abergläubischen Vorstellungen behält er bei. Auch von seiner Furcht, dem Gepräge seiner animistischen und animalistischen Religion, wird er nicht befreit. Jesus ist hier der wahre Friedensspender, nicht trügerischen äußeren Friedens und Freudenrausches, wie ihn auch das Heidentum kennt, sondern „Friedens wie ein Wasserstrom“. Und die Erkenntnis, daß auch die Heiden durch das Evangelium diesen Frieden erlangen können, macht den Beruf des Missionars zu dem schönsten.
Wenn man sieht, wie die Heiden am Krankenbette ratlos stehen, wie sie von einem Medizinmann zum andern gehen, wie sie immer wieder den Wohnplatz wechseln, um die bösen Hausgeister loszuwerden, wie sie alle möglichen Opfer darbringen, zu denen das Orakel rät, selbst vor dem Kindermord nicht zurückschrecken aus Furcht vor den Ahnengeistern, wenn man die völlige Ratlosigkeit und Schmerzensausbrüche am Totenbett beobachten kann und dagegen z. B. eine junge Christenfrau auf ihrem Sterbelager fröhlich zeugen hört: „Ich fürchte mich nicht, ich glaube an meinen Heiland, ich weiß, daß mein Erlöser lebt, er ist mir kein Fremder,“ der zweifelt nicht mehr daran, daß[S. 224] das Christentum in Wahrheit kein Phantasiegebilde, sondern die Kraft ist, die selig macht, die auch den Heiden gebracht werden muß.
Die alte Prophezeiung der Wapare-Medizinmänner, daß einst weiße Leute mit neuen Sitten kommen würden, hat sich erfüllt. Sie sind gekommen und haben die Errungenschaften einer alten Kultur mitgebracht. Besonders die Eisenbahn hat die Verhältnisse im ganzen Lande umgestaltet. Der Schwarze versucht sich der neuen Zeit anzupassen. Daß er dabei manchmal, besonders was Kleidung betrifft, zur Karikatur wird, liegt wohl in der Hauptsache daran, daß das gesunde Entwicklungsstadium fehlt. Doch wenn man den Neger am Telegraphen, am Telephon oder vor der Schreibmaschine sieht, den Lerneifer und die außerordentliche Auffassungsgabe der Kinder in den Schulen, besonders in den Steppenschulen beobachtet, so ist man sicher, daß auch das Wort vom Kreuz von diesen Völkern verstanden werden kann, gilt ihnen doch im besonderen die Verheißung des Messias: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer!“
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Die Sprache ist der Schlüssel zur Erkenntnis der Psyche eines Volkes. In dem Maße, wie der Forscher lernt, die Sprache zu beherrschen, erschließt sich ihm das Verständnis für die Denkungsart der Leute und das ist für jeden Kolonisten nötig. Wohl jeder weiß zuerst mit ihren Sprichwörtern und Erzählungen wenig anzufangen. Schon die äußere Form, in der die Lehre geboten wird, um sie uns recht anschaulich zu machen, bringt mancherlei Unbekanntes. Durch diese uns fremd anmutende Schale können wir zum eigentlichen Kern nur langsam vordringen. Wenn z. B. das Sprichwort lautet: „Mit einem Lianenstrick zieht man nicht zwei Bienenstöcke in den Baum hinauf,“ so versteht jeder Eingeborene sofort, daß damit gesagt sein soll: „Niemand kann zwei Herren dienen.“ Er weiß, daß an einem solchen Strick jedesmal nur einer von den schweren hölzernen Bienenstöcken auf den Baum hinaufgezogen und dort aufgehängt werden kann, weil es aus vielen Gründen unpraktisch wäre, zwei zugleich daran zu befestigen. Ein derartiger Strick kann eben nur einem Stocke dienen. Wenn man das alles weiß, ist der Vorgang ganz klar. So zeigt schon dieses Beispiel deutlich, wie schwer es ist, Europäer in die Gedankenwelt der Neger einzuführen, wenn ihnen die Kenntnis der rein äußeren Vorgänge, auf die im Märchen oder Sprichwort Bezug genommen wird, fehlt. Wenn der Neger mir erklärt: „Du bist eine Eule geworden und hältst es mit dem Zauberer,“ so muß ich erst die weiter unten erklärte Anschauung kennen, bevor ich verstehen kann, welchen Vorwurf er mir mit dem Sprichwort gemacht hat. Erst mit den Jahren gewinnt man diesen Einblick in ihre Sitten und erlangt eine Kenntnis von den Feinheiten der Sprache und ihrer Grammatik. Welch wunderbare Sprachschattierungen lassen sich allein mit den Präfixen erzielen! Vor den Stamm rundu des Zeitworts runda = dumm sein, setzt man entweder[S. 226] das m- der Menschen, das ki- der Sachen oder das i- der Klasse der großen oder verächtlichen Dinge und bildet so jedesmal das Wort „Dummkopf“, aber in feiner Weise den Grad der Verachtung immer mehr steigernd. So verfügt der Neger über eine einfache und doch ausgezeichnete Möglichkeit, sein Empfinden zum Ausdruck zu bringen. Und nun erst das bantu Verbum! Hier sind die Möglichkeiten fast unbegrenzt. Ob etwas schnell oder langsam, wiederholt oder nur einmal, gleichgültig oder intensiv getan wird, ob der Handelnde zur Zeit, in die uns der Bericht versetzt, noch dabei ist oder dabei war, seine Tätigkeit auszuüben, zusammengesetzte Futura neben dem einfachen Futurum, alle diese Dinge sind nur einige der vielen Überraschungen, die unser beim Studium warten. In den meisten bantu Grammatiken werden ja solche Formen behandelt; hier will ich mich darauf beschränken, auf die Abhandlungen unsres hervorragenden Forschers der Bantusprachen, Prof. D. Meinhof von der Hamburger Universität, hinzuweisen.
Für uns Europäer erfordert es ein angestrengtes Studium und ein völliges Sichversenken in die Eigenart der Neger, bis man gelernt hat, „schwarz zu denken“. So denken lernen muß aber jeder, der irgendwelchen dauernden Einfluß auf die Leute ausüben will, und dazu ist die Sprache der Schlüssel. Ist man jedoch erst einmal in der Lage, sich mit den Negern so zu unterhalten, daß man auch von den Alten verstanden wird, oder, was noch mehr sagen will, daß man auch sie versteht, dann ist der erste Schritt zum Verständnis ihres Dichtens und Denkens getan. Gerne würde ich dem Leser einige der schönen Paremärchen erzählen, in denen sich der Humor und die großartige Beobachtungsgabe der Neger widerspiegelt. Aber ich habe die Sache nach einem Versuch als zu schwierig wieder aufgegeben. Denn wenn man erst einmal am Lagerfeuer gesessen, den Erzählungen der Leute gelauscht hat und ihnen so recht folgen konnte, ja sich oft hat mitreißen lassen von der kaum zu übertreffenden Erzählerkunst, die durch lebhaftes Gebärdenspiel wirkungsvoll unterstützt wird, dann fühlt man, daß nur ein ganz geübter Schriftsteller es wagen darf, diese Märchen und Gleichnisse ins Deutsche zu übertragen. Außerdem geht in der Übersetzung gerade das, was den Kenner dabei am meisten ergötzt, nämlich die sprachlichen Feinheiten und die Tonmalereien, verloren. So will ich mich hier auf den Versuch beschränken, einen Teil ihrer Sprichwörter (simo) wiederzugeben; denn diese kurzen Simo haben schon manchem einen besseren Einblick in die Negerpsyche vermittelt, als eine lange Abhandlung es hätte tun können.
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Der Neger ist ein guter Menschenkenner, der mit offnen Augen durchs Leben geht, wenigstens ist das von unsern Wapare wahr. Der unverdorbene Eingeborne ist äußerst feinfühlig und versteht den leisesten Tadel, der auf ihn besser wirkt als lange Schimpfreden. Er hat es seinerseits gelernt, nicht immer nach außen hin merken zu lassen, was in seinem Innern vorgeht. Deshalb läßt er sich auch durch des andern Maske nicht lange täuschen. Er ist kein Freund harter Reden, dazu mißt er dem Wort als solchem viel zu viel Kraft bei. Ein kühles und gemessenes Verhalten gilt bei ihm als ein viel würdigeres und eindrucksvolleres Zeichen der Unzufriedenheit als das bei Europäern oft so beliebte laute und polternde Schelten. Doch nun wollen wir versuchen, etwas von seiner Weltanschauung aus seinen Sprichwörtern kennenzulernen.
Auch der Parephilosoph hat den Egoismus der menschlichen Natur erkannt. Steuern, ja, die sind gut, wenn die andern sie zahlen müssen. Man stimmt dafür, daß öffentliche Arbeiten vom Stamme für die Regierung geleistet werden, solange man als Aufseher oder sonstiger „Beamter“ die andern zu solcher Arbeit heranziehen kann. Da sagen dann wohl diese „andern“: Ibuži la mwiyao telina kukoma = solange es sich um die Ziege des andern handelt, erscheint dir das Schlachten eine Kleinigkeit; aber deine eigene schonst du.
Wohl ist es Tatsache, daß des Freundes Auftrag uns oft mehr Kopfschmerzen verursacht als die eigene Sache, z. B. machen uns fremde Kinder, die uns für ein paar Tage anvertraut sind, mehr ängstliche Sorge als selbst die eignen, denn: Cha mwiyao kikuyaža meso, kangi si chako = die Angelegenheit deines Freundes läßt keinen Schlaf in deine Augen kommen, trotzdem sie dich eigentlich nichts angeht. Im übrigen aber ist, von solchen durch besondere Rücksichtnahme bedingten Ausnahmen abgesehen, jeder sich selbst der Nächste: Mwashotia ihemba erongoža lakwe = wer Maiskolben rösten will, legt seinen eignen zuerst ans Feuer, oder: Mwaimika nyoka evoka he magu akwe = wer den Platz nach einer Schlange ableuchtet, der fängt da an, wo er mit seinen Füßen steht. Erst nachdem man sich selbst sichergestellt hat, kann man auch an die andern denken. Bei diesem egoistischen Zug in der Welt ist es klar, daß der Schwache unterdrückt und im Falle des Mißlingens eines Unternehmens für alles verantwortlich gemacht wird. So würde der Paremann angesichts des Bestrebens fast der gesamten Welt, dem „verwaisten“ Deutschland die Schuld am Kriege aufzubürden, diese Unterstellung mit dem[S. 228] tiefsinnigen Spruch zurückweisen: Ihemba la mwana mkiva nilo lekomie moto = der Maiskolben des Waisenknaben hat natürlich das Feuer erstickt! Wenn alle um die Herdstelle herum sitzen und Mais rösten, dann liegen schließlich so viele Maiskolben im Feuer, daß es ausgeht. Der Waisenknabe, der nach seiner Eltern Tod keinen eigentlichen Verteidiger und Beschützer mehr hat, muß es nun erleben, daß man behauptet, ausgerechnet sein Maiskolben habe das Übel verschuldet! Der Leser kann sich denken, wie ein solches Sprichwort auch in diesem, wenn ich so sagen darf, europäischen Zusammenhang dem Neger die Lage in einem Augenblick so klar und verständlich macht, wie es eine lange Beweisführung nicht vermöchte. Er würde, wie es auch in der Vergangenheit geschehen ist, uns gleich mit einem andern Hinweis zu trösten suchen: Kushigire, teheterire kucha! = Laß nur gut sein, es hat noch nie aufgehört, wieder Morgen zu werden! Denn wenn auch die Menschen allerlei Listen ersinnen, ihre Pläne zur Ausführung zu bringen, sie müssen doch mit einer andern Kraft rechnen, die sie im letzten Augenblick noch verhindern kann, ihr Ziel zu erreichen: Muntu etega, Murungu eonza = der Mensch stellt die Fallen auf, aber Gott sieht nach, ob etwas gefangen ist (d. h. nimmt es manchmal aus der Falle und vereitelt somit die Pläne des Menschen). Diese Vorsehung ist es, die jemand oft gerade in das Unglück stürzt, das er seinem Nächsten gewünscht hatte. Deshalb warnt die Pareweisheit vor solcher Tücke: Wekimforira mwiyoa ikongo, we uneralisea = wenn du deinem Genossen eine Grube gräbst, so wirst du hineinfallen.
In den Simo der Wapare tritt es recht deutlich zutage, daß sie lachen und weinen, lieben, hassen und neiden genau wie wir. Hat ein tüchtiger Mann unter der Mißgunst der andern zu leiden, etwa dadurch, daß man ihn beim Häuptling anzuschwärzen sucht, so tröstet sein Freund ihn mit den Worten: Nkuku njewa niyo yekwahiwe ni kihama = das weiße Huhn hat (weil es sich durch die Farbe von den andern abhebt) besonders viel vom Habicht zu leiden. Manchmal bringt man auch einem unscheinbar aussehenden Manne, trotzdem er eine einflußreiche Stellung hat, nicht die rechte Ehrerbietung entgegen. Man läßt sich durch das Äußere zur Mißachtung verleiten, weil man bezweifelt, daß der andre Verstand genug habe, seinen Einfluß geltend zu machen. Aber der Parephilosoph macht auf das Gefährliche eines solchen Verhaltens aufmerksam, denn: Neri simba yebigiwe ni mvua ikee sa ifolong’o = selbst ein Löwe, wenn er vom Regen durchnäßt ist, sieht wie ein Hundsaffe aus, und: Mingori ya[S. 229] hale teina mabwe = von weitem sehen die Berge aus, als ob sie keine Felsen und Schluchten hätten. Lernt man sie aber erst einmal aus der Nähe kennen, findet man manches bedeutend anders als erwartet. Der Schein trügt eben, man muß den Dingen auf den Grund gehen, um sie richtig einschätzen zu können. Dabei sollte man auch an die Folgen einer Handlung denken. Wenn das immer geschähe, würde manche Torheit unterbleiben. Besonders die leichtsinnig veranlagte Jugend steht in Gefahr, sich durch den Schein oder die Lust des Augenblicks trügen und in Schwierigkeiten bringen zu lassen. Sie wird auf die Ntundwi-Frucht hingewiesen, die wohl eine schöne rote Schale hat, inwendig aber in der Hauptsache aus einem dicken Kern besteht. Darum heißt es: Usirerehe ntundwi kulangala, uko ndeni hena ibwe! = Laß dir die Augen von dem roten Glanz der Ntundwi-Kirsche nicht blenden, innen besteht sie fast nur aus dem Stein! Mit der Sünde, das wissen auch unsre Neger, macht man immer dieselbe Erfahrung wie mit einer andern Frucht, die „zuerst im Munde süß ist, aber nachher im Halse kratzt“.
Ja, wenn die Jugend nur immer auf den Rat der Alten hören wollte! Aber sie neigt vielmehr dazu, den Greis zu verachten, der nach all den überstandenen Lebensstürmen dem ausgewachsenen Bananenblatte gleicht, das vom Winde vollständig zerzaust und unansehnlich geworden ist. Es steht in starkem Gegensatz zu dem vom Safte strotzenden jungen Triebe. Daher die Ermahnung: We ntumburuju, usiseke isago, ambu isago nalo nekire ntumburuju! = Du frischer Trieb, lache nicht über das alte Bananenblatt, denn auch dieses war früher einmal ein frischer Trieb! So siehst du, was du später sein wirst. Wenn die Ehrerbietung, die aus solchen Überlegungen entspringt, dem Alter im allgemeinen entgegengebracht werden soll, so hat die Mutter ganz besonderen Anspruch darauf, denn: Kamango ni kamango, na kerekongomala = dein Mütterchen ist dein Mütterchen, auch wenn es runzlig geworden ist. Schöner könnte man wohl kaum zur Kindespflicht auffordern, als es hier unsre Wapare in ihrer melodischen Sprache getan haben.
Sie kennen und betonen auch den Wert der Erziehung in der Jugendzeit. Gewisse Schranken sind allerdings dabei durch die Vererbung gesetzt, denn: Ng’onji teishiga mbari = von einem Schaf darf man nur ein Schaf erwarten, und: Msese wekila magi iguhie he ikolo = wenn eine junge Henne die Eier auffrißt (anstatt sie auszubrüten), so hat sie das von der Mutter her. Mit diesen vererbten Untugenden muß man also rechnen. Was aber in der Erziehung getan[S. 230] werden kann, das muß in der Jugend geschehen. So wie man die Welsfische vor dem Räuchern in die im Handel übliche Form, nämlich Kopf und Schwanz zusammengebogen, bringen muß, weil sie nach dem Räuchern platzen würden, so muß die Erziehungsarbeit dann geschehen, wenn die Kinder noch biegsam sind. Deshalb sagt man: Koma nguluma yecheri mbisi, wekiishiga ikaoma, wekiikoma ineboika! = Biege den Welsfisch, solange er noch roh ist; wenn du ihn erst räucherst und dann biegst, wird er brechen! So erzogen, werden gerade die jungen Leute nützliche Glieder der Gesellschaft werden und ihre besonderen Aufgaben trotz oder vielmehr wegen ihrer Jugend besser erfüllen können als die Alten; denn: Miti mifuhi niyo yegerira mako = auf den niedrigen Bäumen richtet man gewöhnlich die Kornspeicher ein; die bereits hochgewachsenen eignen sich dazu weniger.
Frühzeitig werden die Kinder angehalten, sich auf dem Acker und zu Hause nützlich zu machen. Daß Müßiggang aller Laster Anfang ist, wird dem Parekinde mit dem Hinweis auf die diebischen Affen klargemacht, die sich fast ausschließlich vom Stehlen der Feldfrüchte nähren. Und warum? Ntumbiri kuiva ni kusaima = der Affe stiehlt, weil er nicht ackert.
Im Lauf der Jahre erkennt man immer mehr, mit welch feinem Verständnis der Eingeborene die einfachsten Vorgänge des täglichen Lebens betrachtet und wie er in ihnen mit der Tiefgründigkeit eines Philosophen ewige Wahrheiten findet. Er sieht den Ackersmann, der mit seiner Hacke den Boden bearbeitet. Kling! die Hacke ist auf einen Stein gestoßen. Im nächsten Augenblick wird das Hindernis auf den Haufen zu den übrigen Steinen geworfen. Bald darauf wiederum der gleiche Vorgang. Wie wollte der Bauer auch jemals mit seiner Arbeit fertig werden, wenn er anfangen würde, alle Steine, die er auf seinem Acker findet, in die Hand zu nehmen, sie lange zu betrachten oder gar zu zählen? So ist es auch mit den Sorgen dieses Lebens. Zähle sie nicht, halte dich nicht lange mit ihnen auf, wirf sie kurz entschlossen fort, damit deine Arbeitskraft nicht gelähmt wird, denn: Wekitala mabwe, tukafwinye ngemo! = Wenn du die Steine zählst, wirst du das Tagewerk nie fertigbringen.
Unser Neger ist der geborene Diplomat. Wenn es seinem Vorwärtskommen dienlich ist, läßt er fünf gerade sein, wenn ein Mächtiger diese Behauptung aufgestellt hat. Denn die Großen muß man ehren, auch wenn man nicht immer von ihrer alles andre in den Schatten stellenden Weisheit überzeugt ist. Ich sehe meine schwarzen[S. 231] Freunde im Geiste vor mir, wie sie mit dem feinen Lächeln eines, der die Schwächen und Eitelkeiten der Menschen versteht, erklären: Lumbo lwa mfumwa teluna kivivi! = Die Gesänge des Häuptlings sind ausnahmslos schön!
Auch in andrer Hinsicht ist es geraten, im Verkehr mit solchen Menschen, die Gewalt über uns haben, vorsichtig zu sein. So ist es z. B. nicht ratsam, den Häuptling auf irgendeine notwendige Arbeit aufmerksam zu machen. Man würde sich dabei nämlich nur unnötig der Gefahr aussetzen, von ihm „ehrenamtlich“ mit der Erledigung dieser Arbeit betraut zu werden. Das sind ungefähr die Erwägungen, die unserm schwarzen Philosophen vorschweben, wenn er sagt: Mwamkumbusha mfumwa viratu niye evionja = wer den Häuptling an seine (von ihm vergessenen) Sandalen erinnert, der wird dann auch beauftragt, sie zu holen.
Aber selbst ein einflußreicher Mann sollte nie zuviel von seinen Untergebenen verlangen, vor allem nicht eine Arbeit, die einem Mann überhaupt nicht ziemt. Man ist ja willens, allerlei zu machen, gleich der Ratte, die alle erdenklichen Gegenstände annagt. Aber auch sie hat doch Dinge, an die sie nicht herangeht. Einen Tabaksbeutel z. B. läßt sie unberührt liegen, da er selbst ihrem wenig verwöhnten Geschmack nicht zusagt. Ebenso darf der Häuptling in dieser Beziehung den Bogen nicht zu straff spannen, denn man würde ihm sagen: Ku ngoswe ni ngoswe, mira sikale mfuko wa tumbatu = ich bin zwar nur eine Ratte, aber den Tabaksbeutel nage ich doch nicht an. Ganz besonders gilt dies mit Bezug auf solche Launen eines Mächtigen, deren Befriedigung mit Lebensgefahr für den Untergebenen verbunden sein würde. Gewiß, die Pareweisheit läßt nicht außeracht, daß auch gefährliche Versuche gemacht werden müssen. So muß man unbedingt festzustellen suchen, ob das Pfeilgift nach einer gewissen Zeit noch stark genug ist und tödlich wirkt. Aber dazu nimmt man, und das sagt man gegebenenfalls dem Häuptling auch, keine Menschen, sondern: Vusungu vuježwa he ichura = die Wirkung des Pfeilgiftes stellt man versuchsweise an Fröschen fest.
Der Platz vor der Häuptlingshütte, wo die Prozesse verhandelt werden, ist der Ort, an welchem man die meisten Sprichwörter hören kann. Kläger und Verklagte, besonders aber die Ältesten des Landes, die als Beisitzer und Anwälte wirken, wetteifern darin, ihre Ausführungen durch solche Simo möglichst überzeugend zu gestalten. Ist da etwa ein Mann, der sich früher von seinem Nachbar eine Ziege geborgt hat, nun aber eine außerordentliche Gedächtnisschwäche[S. 232] zeigt, oder versucht bei einer Beleidigungsklage der Beleidiger seine Unschuld durch den Hinweis zu beteuern, daß er sich keiner verletzenden Äußerungen mehr entsinnen könne, so entkräftet der Kläger oder irgend jemand, der sich zu seinem Anwalt macht, diesen Beweis mit den Worten: Kihama kiivaa, nkuku teiivaa = der Habicht vergißt es (nämlich, daß er dem Huhn die Küken geraubt), das Huhn vergißt es nicht.
Sehr viele Sprichwörter der Neger sind dem Tierreich entnommen. Hier eine kleine Auswahl:
Cheho mweteni tekiirwa nywa = Tiere, die im Wasser leben, fordert man nicht zum Trinken auf. Das hieße ja Wasser ins Meer gießen. Den gleichen Gedanken wollen die Leute ausdrücken, wenn sie sagen: Ena kise teirwa: dika! = Zu jemand, der immer gastfrei ist, sagt man nicht: Koche Speise! Das versteht sich bei einem solchen Menschen, sobald er Gäste hat, ganz von selbst.
Iguro ligwirwa singo ni mwenye = nur der Herr kann seinen Hund ohne Gefahr am Halse fassen. Lehre: Mische dich nie in fremde Angelegenheiten, denn du weißt nie, welchen Ausgang sie für dich nehmen können.
Kumogwa kwa ng’ombe ni masikio, mpembe žitameia vilanga = was zur Kuh von Geburt an gehört, sind die Ohren; die Hörner kommen dann später mehr zur Zierde hervor. Wenn also mein Haus auch noch nicht so schön verputzt und geweißt ist wie deins, so erfüllt es den eigentlichen Zweck eines Hauses genau so gut: es schützt mich vor Nässe und Kälte. Das weitere kann man als nebensächlich ruhig der Zeit überlassen.
Unsre Neger wissen auch, daß man die Haut des Bären nicht verkaufen darf, ehe man ihn erlegt hat. Da sie aber keine Bären kennen, so geben sie den Gedanken ihren Verhältnissen angepaßt in folgender Form wieder: Kadeje wesinakakoma usikafutie moto! = Für das Vögelchen, das du noch nicht geschossen hast, zünde lieber noch kein Bratfeuer an!
Wurde in früheren Zeiten jemand durch das Gottesurteil der bösen Zauberei überführt, so tötete man nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Kinder und begründete das wohl mit dem Spruch: Nyoka teina ndori = bei Schlangen sieht man nicht auf die Größe, da die kleinen oft die gefährlichsten sind oder werden. Oder man sagte: Wekitema muti, isukuži lineraoka muti wa = wenn du den Baum fällst und den Stumpf stehen läßt, so wird wieder ein Baum daraus werden.
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Unsre Wapare essen die Nashornvögel gerne; noch beliebter aber sind bei ihnen die grünen und fetten Papageientauben. Deshalb sagt der Jäger: Sikakenje mivwi na mahondo, ninga žekiza nnegera-ni? = Ich werde doch meine Pfeile nicht alle auf die Nashornvögel verschießen; wenn die Tauben kommen, was soll ich dann auf die Sehne legen? Dies Gleichnis läßt sich natürlich gleich allen andern bei den verschiedensten Gelegenheiten verwerten. So gebraucht die Hausfrau es — um nur ein Beispiel anzuführen — wenn sie einen Speisevorrat aufhebt für etwa noch später kommende Gäste oder gar ihren Mann.
Die Eule ist nach der Anschauung unsrer Wapare die Dienerin des bösen Zauberers, das einzige Lebewesen, das es mit ihm hält. Ergreift nun der Häuptling, vielleicht weil er sich hat bestechen lassen, die Partei eines Mannes, der nach Ansicht aller Ältesten seinen Prozeß verloren hat, so läßt sich wohl der Kläger ob solcher offensichtlichen Rechtsbeugung in seinem Zorn auf den Richter zu den Worten hinreißen: Waoka mnkwingwi, wamuka na msavi = du bist eine Eule geworden, die es mit dem bösen Zauberer hält.
In einer ganzen Reihe von Sprichwörtern verspottet der Negerphilosoph den Gierigen, der immer in Angst lebt, er könne irgendwie benachteiligt werden, oder ihm könne das beste Stück entgehen. In seinem Bestreben, recht viel zu bekommen, schneidet er an dem Fleisch herum, bis er die Strafe hat: Msulu echwa chaa chakwe = der Gierige schneidet sich zuletzt in seinen Finger. Oder er wählt lange aus, um ja das beste Stück des bereits zerlegten Ochsen zu bekommen, auch hier zu seinem eignen Schaden, denn: Msagura maeto eguha ieto la ivende = der Wählerische greift schließlich nach einem Stück Fleisch, das einen dicken Knochen hat. Deshalb bezähme dich, du Gieriger, sonst ergeht es dir wie jener Hyäne. „Es war einmal eine Hyäne, die durch den Busch ging und an einen Scheideweg gelangte. Als sie sich die beiden Wege genau betrachtete, bemerkte sie auf beiden die Spuren von Kühen. O, dachte sie, ich werde den Kühen nachgehen, vielleicht ist eine unterwegs krank geworden und liegengeblieben. Die beiden Wege liefen zuerst nebeneinander her, und es fiel der Hyäne schwer, sich für den einen oder andern zu entscheiden, da beide Beute verhießen. So lief sie mit den linken Füßen auf dem einen und mit den rechten Füßen auf dem andern Wege. Und weil die Unersättliche in ihrer Gier keinen Weg aufgeben wollte, diese Wege aber immer weiter auseinandergingen, zerplatzte sie schließlich mit lautem Knall.“
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Die meisten solcher Weisheitssprüche lassen sich in der Heidenpredigt gut verwerten, so die folgenden: Vazoro na vazoro tevekombolana = Sklaven können sich nicht gegenseitig freimachen. Der Eingeborne hält seine Kühe nicht alle im eignen Stall, sondern stellt sie in verschiedenen Landschaften bei seinen Freunden unter, „teilt sie aus“, damit zur Zeit einer Viehseuche nicht sein ganzer Besitz auf einmal gefährdet ist. Ja, wenn er genügend hat, dann borgt er auch ganz gerne dem andern ein Stück Vieh; denn gerät man selbst einmal ins Unglück und verliert all sein Eigentum, dann kommt einem solche noch ausstehende Forderung sehr gelegen. Deshalb sagen die Vaasu: Kugwirisha si kunesha, kuinkiža ni kuvika = festhalten ist kein mehren, aber austeilen bedeutet sparen. An Hand eines solchen Spruches kann man leicht Texte wie Matth. 6, 19. 20 erklären. Oder wir wollen ihnen das Psalmwort predigen: „Auf Gott hoffe ich und fürchte mich nicht; was können mir die Menschen tun?“ Ps. 56, 12. Der kritisch veranlagte Neger hat in seinem Herzen sogleich allerlei Bedenken, wenn er sie auch nicht äußert. Er philosophiert: „Ja, so sagt ihr Europäer, ihr seid die Herren im Lande, ihr glaubt auch nicht an Zauberer, die Häuptlinge und Mächtigen im Volke können euch in der Tat nichts anhaben; aber auf uns paßt der Spruch doch wohl nicht.“ Wie gut ist es da, wenn man ihnen mit einem ihrer Sprichwörter zeigen kann, daß der Gedanke des Psalmisten bereits keimhaft in ihrem eignen Volksempfinden vorhanden ist und nur durch den christlichen Glauben veredelt werden soll. Denn unsre Eingeborenen sagen: Kizinya kigango, lukumbi lwekidofa luna-ni = wenn nur das Dach in der Mitte am Firstbalken dicht ist; wenn es auf der Veranda durchregnet, das macht nichts. Damit will der Mwasu sagen: Wenn der Oberhäuptling auf meiner Seite steht, dann brauche ich die andern nicht zu fürchten. Wie leicht hat es da der Missionar, der solche Sprüche kennt, auf Gott als den Obersten aller hinzuweisen und das Gefühl der Geborgenheit unter seinem Schutze mit Paulus zu preisen: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“
Auf der andern Seite lehrt die Negerweisheit aber auch, daß alles verloren ist, wenn der uns verläßt, auf den allein wir bauen konnten. Wenn jemand von einer Schlange gebissen wird, so ist das allerdings sehr gefährlich; aber man braucht die Hoffnung nicht aufzugeben; denn da ist der Mnkulo-Baum. Von dessen Holz läßt man sich schnell etwas auf die Wunde schaben, und das Gift wird zerstört. Die Kraft des Mnkulo-Baumes ist eben doch noch größer als selbst die des Schlangengiftes. Was für das Haus der Firstbalken, das ist[S. 235] für die Medizin das Mnkulo-Pulver. So ist Gott für uns die einzige Rettung aus irgendwelcher Not.
Doch der Parephilosoph spinnt den Gedanken des Gleichnisses weiter. Für den Schlangenbiß hast du zwar den bekannten Baum als Gegenmittel. Was kannst du aber anwenden, wenn dieser Baum, der doch schon das kräftigste aller Heilmittel ist, dich „beißt“, d. h. statt deine Rettung deine Vernichtung will? Wekiumwa ni nyoka, uneshaiwa mnkulo, mira wekiumwa ni mnkulo, uneshaiwa-ni? = Wenn du von einer Schlange gebissen wirst, schabt man dir Mnkulo(pulver) auf die Wunde, aber wenn du vom Mnkulo gebissen wirst, was dann? Die Frage bleibt unbeantwortet. Es gibt dann eben keine Rettung mehr. Nun wird plötzlich dem ungläubigsten Heiden klar, warum Könige, Große und Gewaltige an jenem Tage zu den Bergen und Felsen sagen werden: „Fallet über uns und verberget uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes (das sonst immer nur als Heiland den Menschen gegenübergetreten, jetzt als der, der die Kelter des Zornes Gottes tritt)! Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?“
Wunderbar weiß der Eingeborne in der Not zu trösten, und mancher Europäer, der mit seinem schwarzen Diener, Dolmetscher oder Soldaten gemeinsam schwere Stunden verlebte, hat das bezeugt. Angesichts des Todes, der einem sein Liebstes geraubt hat, fügt man sich in das Unabänderliche: Nkore ya Murungu teikombolwa = die Beute Gottes kann man nicht wieder auslösen. Gewöhnlich sind es gerade die besten, die früh dahingerafft werden, wie auch der Jäger die guten Pfeile zuerst verschießt. Damit tröstet man die Hinterbliebene, indem man sagt: Mivwi yedi teikaa he iziaka = die guten Pfeile bleiben nicht lange im Köcher.
Wie die Märchen, so verraten auch die Simo unsrer Wapare ihren prächtigen Humor und ihre in manchen Dingen optimistische Lebensauffassung. Selbst einer an und für sich unangenehmen Sache versuchen sie noch eine Lichtseite abzugewinnen, wie auch unser Dichter sagt: „So schwarz ist keines Unglücks Nacht, ein Blümlein hängt an seiner Kette.“ Der Eingeborne gibt den gleichen Gedanken durch das folgende drastische Gleichnis wieder: Kugwa he muti nikwo na kusea = nachdem man vom Baume heruntergefallen ist, ist man damit auch herabgestiegen. Gewiß, das Herunterfallen von einem Baum ist an und für sich nichts Angenehmes. Wenn es aber einmal Tatsache geworden und man mit ziemlich heiler Haut davon gekommen[S. 236] ist, dann gilt es zu überlegen, ob an dieser Kette nicht ein Blümlein hängt. Das ist hier der Fall; denn der Abstieg von einem hohen Baume ist nicht immer leicht und ungefährlich. Wer aber heruntergefallen ist, der ist damit der Mühe des Abstiegs enthoben. Mit solchen Erwägungen tritt der Mwasu würdig an die Seite Leberecht Hühnchens, der es bekanntlich ähnlich machte.
Eines Tages sah ein Neger, wie ein Huhn trotz seiner kurzen Füße und seines geringen Körpergewichtes auf einem schlüpfrigen Wege einen Fehltritt tat und ausrutschte. Daran knüpfte er seine Betrachtungen. Wenn das schon bei einem Huhn vorkommt und entschuldigt werden muß, wieviel mehr bei einem Menschen, der soviel größer und schwerer ist. Deshalb warnt er vor allem unbarmherzigen Richten mit den schönen Worten: Heshereta nkuku, kalando muntu = ein Huhn gleitet aus, wieviel mehr ein Mensch! Man sieht ja auch viel leichter den Splitter in des andern Auge als den Balken im eignen. So geht es dem Affen, der seine Genossen in der krummen, buckligen Haltung auf den Bäumen sitzen sieht und sich ausschütten möchte vor Lachen, weil der eigne Buckel seinen Augen verborgen bleibt: Ntumbiri iseka nundo ya mwiyae, yakwe teiwene = die Meerkatze lacht über den Buckel ihres Genossen, weil sie den eignen nicht sieht.
Ein Gläubiger, der seinen Schuldner ziemlich häufig besucht und mahnt, entschuldigt seine Ungeduld mit den Worten: Hantu hena mpengo, tehetera lumi = wo eine Zahnlücke ist, da fährt die Zunge immer wieder hin. Die Hausfrau, welche von Gästen und Besuchern, die natürlich auch bewirtet sein wollen, überlaufen wird, klagt wohl halb scherzend, halb ernsthaft: Mi ni inoo la nzieni, evecha eranoa = ich bin wie ein großer Stein am Wege, an dem niemand glaubt vorübergehen zu können, ohne sein Messer zu wetzen. Mit trefflichem Humor erinnert der Volksmund den Gast, der sich bei seinem Freunde am Fleisch einer ihm zu Ehren geschlachteten Ziege gütlich tut, daran, daß eine Liebe der andern wert ist: Wekila ibuži la mwiyao, lako libigwa ni mutwi = wenn du die Ziege deines Freundes verspeist, dann hat deine Ziege zu Hause (als Vorbote ihres nahen Todes!) bereits Kopfschmerzen. Hat man dir eine Ziege geschlachtet, wirst du deinen Freund nicht mit Bohnen und Tomatentunke abspeisen können.
Die Neger sind sehr gastfrei und nehmen anderseits die Gastfreundschaft ihrer Stammesgenossen unbedenklich in ausgedehnter Weise in Anspruch. Aber auch sie wissen, daß es zu Hause am besten ist: Hetu ni hetu = zu Hause ist zu Hause. Hat man es draußen[S. 237] noch so gut, man kann sich doch nicht so geben wie zu Hause, denn: He vujeni uia sa ng’ombe, henyu uia sa nzao = in der Fremde brüllst du nur wie eine Kuh, zu Hause brüllst du wie ein Bulle. Manche Frau mag das schon ihrem Manne, der sich nur bei andern zusammennahm und bescheiden zeigte, während er zu Hause „wie ein Bulle brüllte“, auch in diesem, ebenfalls sehr zutreffenden Sinne gesagt haben. Einen ähnlichen Gedanken drückte einmal unser schwarzer Ältester Hezekiel aus, als er seinen Brüdern vorhielt: „Wir haben zwei Gesichter, ein sanftes, gutmütiges, das zeigen wir fremden Männern und Frauen, und ein strenges, hartes, das setzen wir auf, sobald wir mit unsern eignen Frauen sprechen.“ Hoffentlich leidet keiner der lieben Leser und Leserinnen an solchem „zweiten Gesicht“ der Frau bzw. dem Manne gegenüber, und ist ihnen im Gegenteil nur die gegenseitige Liebe und das Aufeinander-Angewiesensein bekannt, von dem einer meiner schwarzen Freunde an seine Braut schrieb: We na mi tukee sa mpombe na nguluma, žesishigana mira žifwia hamwe = du und ich, wir sind wie der Fisch und das Wasser, die nicht voneinander lassen können und zusammen sterben. Damit wollte er sagen: Wir gehören zusammen und sind aufeinander angewiesen wie der Fisch auf das Wasser. Vertrocknet es, so muß er auch sterben.
Damit will ich abbrechen. Ich hoffe, die Leser haben an Hand der wenigen Sprichwörter einen kleinen Einblick in die Gedankenwelt der Wapare tun können. In meiner sprachlichen Sammlung, die leider in Afrika verbleiben mußte, hatte ich Hunderte solcher Simo zusammengestellt. Aber hier fehlt der Raum, selbst nur die alle anzuführen, deren ich mich heute noch entsinne. Wenn irgend etwas dazu angetan ist, die Schwarzen uns innerlich näherzurücken, so ist es nach meinem Dafürhalten die Beschäftigung mit ihrer Sprache und allem, was damit zusammenhängt. Dann merkt man bald: die Leute sind nicht so primitiv, wie sie durch das Fehlen der meisten technischen Errungenschaften auf den ersten Blick scheinen. Jedenfalls sind sie gute Menschenkenner, die mit ihrem gesunden Urteil meistens den Nagel auf den Kopf treffen und z. B. mit den Spitznamen, die sie dem Europäer oder auch den Stammesgenossen geben, zeigen, daß sie das Charakteristische an einer Person alsbald erfaßt haben. Ja, nicht nur trifft das bei Personen zu, sondern, was weitaus schwieriger ist, bei ganzen Völkern. Wenigstens kenne ich ein Beispiel dafür aus allerjüngster Vergangenheit. Die Engländer nahmen die Kolonie. Sie brachten Kleider, und die wurden von den[S. 238] Negern durchweg mit Jubel begrüßt. Mancher Eroberer mag den Jubel auf sich bezogen haben, das war dann fast durchweg ein Irrtum. Bald stellten die Neger auch Vergleiche zwischen den beiden Rassen an. Hier in einem kurzen kisuaheli Wortspiel das Ergebnis dieser „primitiven“ Philosophen: Wadachi maneno makali, roho mzuri. Wangereza maneno mazuri, roho mkali! = Die Deutschen: strenge Worte, gutes Herz. Die Engländer: gute Worte, strenges Herz! Wer wollte es unternehmen, die beiden Nationen noch treffender und kürzer zu charakterisieren?
Manchmal schätzt man eine Sache erst dann richtig ein, wenn man sie verloren hat. Ich habe schon mit vielen „Afrikanern“ gesprochen, die ihre Liebe zu den Schwarzen erst jetzt entdeckt und ihnen im stillen manche ungerechtfertigte Schroffheit abgebeten haben. Aber gerne haben wir die Schwarzen alle gehabt, und sie uns. Die Worte, die mir einige unsrer Waparechristen nachriefen, als wir von Afrika als Gefangene nach Indien gebracht wurden, habe ich nicht so aufgefaßt, als ob sie mir oder uns Missionaren allein gälten, sondern sie waren der Abschiedsruf aller Schwarzen an alle Deutschen: Nkwina kusia ni kuzana! = Unsre Sehnsucht hört erst auf, wenn wir uns wiedersehen! Und sie haben uns nötig. Sie brauchen nicht nur Leute, die ihnen die Errungenschaften der Technik und Kultur übermitteln, sondern sie brauchen mehr. Trotzdem sie geistig längst nicht so tief stehen, wie man gewöhnlich annimmt, brauchen sie einen Erretter. Einen Erretter aus dem Sumpfe der Immoralität — die aber nicht schlimmer ist als hierzulande; einen Erretter aus den Banden des Aberglaubens — den man aber auch bei uns reichlich findet; vor allem jedoch einen Erretter aus dem Banne der Furcht, die sie zu Dingen treibt, die man nur bei Heiden finden kann. Diese Furcht bildet ihre große Not, und von der wollen wir im nächsten Kapitel sprechen.
[S. 239]
Die heiße, helle Tropensonne lacht an einem wolkenlosen Himmel. Sie taucht die weite Steppe und die hohen Berge in ein blendendes Licht, leuchtet auch hinein in einen grausigen Abgrund, an dessen Rand ein kleiner schwarzer Säugling friedlich schläft. Wie mag er nur in diese gefährliche Lage gekommen sein? Wir sehen, daß die geringste Bewegung ihm den Tod bringen muß. Aber gleich wird ja die sicherlich schon besorgt suchende Mutter glücklich ihren schwarzen Liebling an ihrem Herzen bergen. Nun reibt er sich die Äuglein, reckt die Ärmchen und Beinchen, gerät ins Rollen — und ist im nächsten Augenblick unsern Augen entschwunden. Zur selben Zeit sitzt die arme gequälte Mutter in ihrer Hütte und klagt um ihr Kind, das als „Zahnkind“ ein Opfer der heidnischen Furcht hat werden müssen. „O weh, o weh, mein Kind, mein Kind,“ klingt erschütternd ihre Totenklage. Sie sieht im Geiste ihren Liebling am Rande der Klippe, sieht seinen zerschellten Körper am Fuße des Abgrundes, sieht, wie in der Nacht aus dem Busch ein paar feurige Augen auftauchen, verschwinden und wieder näher kommen. Im Geiste hört sie kurz darauf das schaurige, höhnische Lachen der Hyäne, die die letzten Spuren des furchtbaren Mordes verwischen wird. Da wird es Nacht in ihr, wie es draußen Nacht geworden ist; aber aus ihrem Herzen ringt sich, wenn auch mit andern Worten, doch unbewußt das ergreifende Gebet des Jeremias: „Die Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin, und uns ist keine Hilfe gekommen. Ich bin zerschlagen wegen der Tochter meines Volkes, ich gehe trauernd einher, Entsetzen hat mich ergriffen. Ist denn keine Salbe in Gilead, oder ist kein Arzt da?“ — Das ist die Not der Heiden.
Ein anderes Bild! Acht Männer ziehen durch die Landschaft. Einer von ihnen führt an einem Strick einen Schafbock, ein andrer[S. 240] trägt allerlei Eßgeräte und sonstige Sachen in seiner Hand, die wahrscheinlich dem alten kranken Manne gehören, den die andern mit sich zerren. Der Alte jammert und fleht um sein Leben, aber immer weiter bewegt sich der traurige Zug. Unter einer riesigen Kandelabereuphorbie wird der Kranke angebunden. Bald hallen durch die Stille des afrikanischen Busches die Axtschläge der Männer, die darangegangen sind, den Baum zu fällen, der im nächsten Augenblick mit gewaltigem Krachen umstürzt und den Alten unter der Last seiner dornigen und fleischigen Äste begräbt. So hatte es das Orakel angeordnet, um Unglück von der Familie abzuwenden; denn auf Schritt und Tritt verfolgt den Neger die Furcht vor den Geistern der Dämonen. — Das ist die Not der Heiden!
Ein drittes Bild! Wir befinden uns bei einer Negerhütte, aus der uns Stimmengewirr entgegentönt. Plötzlich wird die Lehmwand des Hauses durchgebrochen und ein junges Mädchen zu dieser Öffnung hinausgestoßen. Es ist fast nackt, nur mit dem Fell eines soeben geschlachteten Opferschafes bekleidet. Hinter ihr her geht ein Medizinmann und entsühnt den Weg. Weinend zieht das Mädchen in die Steppe, während die Mutter in der Hütte sitzt und klagt: „O weh, wie schmerzt der Abschied so sehr; mein Kind, wenn ich rufe, antwortet nicht mehr.“ Das Mädchen hat gegen ein Gebot der Ahnen, nicht etwa der Moral, verstoßen. Nun ist sie lebendig tot. So hat es das Orakel durch den Medizinmann verlangt und auf all das Unglück hingewiesen, das über die ganze Sippe hereinbrechen würde, wenn man sich über die Gebote der Ahnen hinwegsetze. Die Furcht ist im heidnischen Herzen stärker als die Liebe. Aber die klagenden Männer und Frauen in der Hütte sind uns die beste Antwort auf unsre Frage: Was spielt sich hier ab? — Es ist ein Kapitel aus der traurigen Geschichte der Not der Heiden.
Ein letztes Bild! Wir wollen in eine andre Hütte eintreten. Zuerst müssen wir uns an die Finsternis und den Rauch gewöhnen. Endlich können wir die Umrisse der Dinge erkennen. Wir stehen am Lager einer Frau, die soeben einem kräftigen Zwillingspaar das Leben geschenkt hat. Ermattet liegt sie da; aber sie kann keine Ruhe finden, denn aufgeregt schreien die anwesenden Frauen durcheinander. Zwillinge dürfen nicht am Leben bleiben. Der Zorn der Geister würde die ganze Sippe bedrohen. Die arme Mutter weiß, was ihnen bevorsteht. Aber doch will ihr Herz brechen. Soviel Schmerzen hatte sie aushalten müssen, so sehr hatte sie sich auf Nachkommenschaft gefreut, die das Band zwischen ihr und dem Gatten endlich fest gestalten[S. 241] würde. Mit angstvoll geweiteten Augen sieht sie nun, wie die Frauen Wasser in einen Holzmörser gießen und dann die Neugebornen mit den Köpfen so lange hineinhalten, bis sie ganz ruhig geworden sind. — Die Ahnen haben ihr Opfer; aber die Tränen, die immer wieder aus den dunklen Augen der Mutter rinnen und das Fell netzen, auf dem sie liegt, diese Tränen zeugen von der Not der Heiden ohne das Evangelium.
Wie freudig können demgegenüber unsre Christen bezeugen, daß völlige Liebe die Furcht austreibt! Wie oft kamen Christenfrauen zu uns, strahlend ihren kleinen Liebling auf dem Arm haltend. Er war ein „Zahnkind“ geworden. Lachend zeigte man uns die „bösen“ Zähnchen. „Früher hätten wir unser Kind töten lassen müssen; aber Christus hat uns von diesem Aberglauben freigemacht.“ Von solcher Freudigkeit selbst angesichts des Todes ist auch der Brief Hezekiels und Peteros, der S. 217. 218 wiedergegeben ist, ein Beweis. Ja, das ganze Denken der Heiden wird durch das Evangelium umgestaltet. Etwas Neues kommt in ihr Leben, das Furcht, Haß und Rachedurst überwindet. Davon legte nach dem Bericht eines unsrer Missionare Wazera ein gutes Zeugnis ab. „Im Jahre 1910, als Missionar R. noch unter den Wasanaki, einem Stamm in der Nähe des großen Victoria-Njansa-Sees, arbeitete — für die er schließlich auch sein Leben ließ — kam eines Tages ein wild aussehender junger Mann zu uns auf die Station, um für ein Lendentuch zu arbeiten und die Missionsschule zu besuchen. Wazera — so war sein Name — verursachte uns keine geringe Mühe, da er sehr streitsüchtig war und oft in Raufereien mit andern jungen Leuten geriet. Schließlich verließ er uns und kehrte nur dann und wann in unregelmäßigen Zeitabschnitten zurück, um seine Freunde zu besuchen. Man konnte jedesmal sicher sein, daß er auch mit irgend jemand in Streit geriet. Als er dann im Jahre 1913 darum nachsuchte, als Missionszögling aufgenommen zu werden, schien es noch, als hätte alles, was er bis dahin gehört und empfangen hatte, nur einen geringen Eindruck auf sein Geistesleben gemacht. Es war sogar fraglich, ob es überhaupt einen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Bald jedoch stellte es sich heraus, daß der ausgestreute Same aufzugehen begann. Mit ganzem Herzen und ganzer Seele gab er sich der Arbeit hin. Kehrte er abends von seiner Arbeit auf der Bananenpflanzung zur Missionsstation zurück, dann pflegte er gewöhnlich zu den andern zu sagen: ‚Freunde, wir wollen nicht mit leeren Händen zur Missionsstation zurückgehen. Hier sind einige reife Bananen, die wir mitnehmen sollten.‘ Schnell[S. 242] schnitt er die Büschel mit seinem Messer ab und begab sich dann, indem er selbst das größte trug, nach der Station.
Eines Tages wurde eine hochbetagte und schwache Frau, die die Gewohnheit hatte, jedesmal, wenn sie an unsrer Station vorbeikam, meiner Frau einen Besuch abzustatten, von einigen Burschen belästigt. Als Wazera dies hörte, stellte er sie wegen ihres Verhaltens ernstlich zur Rede und sagte darauf zu der Frau: ‚Komm, Großmutter, ich werde dich nach Hause begleiten.‘ Wenn er selbst nach Hause ging, seine Eltern zu besuchen, konnte er gewöhnlich einige besonders schöne Bananen mitnehmen, die er für sie gespart hatte. Kam er zur Station zurück, dann bereitete es ihm immer große Freude, wenn er unserm Kinde ein paar hübsche bunte Steinchen oder andre Kleinigkeiten mitbringen konnte. Zu unsrer größten Überraschung erschien er eines Tages mit einem Strauß schöner Blumen für mama wetu = unsre Mama, wie sie meine Frau nannten. Ich sage deshalb ‚zu meiner größten Überraschung‘, weil es sonst nie vorkommt, daß Blumen für einen heidnischen Afrikaner irgendwelchen Wert hätten, noch daß sie dort jemand zu schätzen wüßte. Abends aber pflegte Wazera über seinem Neuen Testament zu sitzen und darin zu lesen, bis er nicht mehr sehen konnte. Ab und zu stellte er dabei Fragen, die uns deutlich verrieten, daß der Geist Gottes an seinem Herzen arbeitete und immer mehr von ihm Besitz ergriff.
Wazera war noch gar nicht lange getauft, als wir gezwungen wurden, während eines Aufstandes unter den Eingeborenen unsre Station zu verlassen. Wazera und einige andre unsrer treuen eingebornen Christen kehrten jedoch wieder um und gingen zur Station zurück, um das Missionseigentum zu bewachen, bis es uns gelingen würde, Erlaubnis zur Rückkehr zu erhalten. Während unsrer Abwesenheit kamen eingeborne Soldaten auch nach unsrer Station und begannen alles zu nehmen, was sie gerade gebrauchen konnten. Als unsre Christen dagegen Einspruch zu erheben wagten, wurden sie ärgerlich und peitschten einige von ihnen mit der schrecklichen Nilpferdpeitsche. Vor allem aber wurde Wazera, der Aufseher, geschlagen. Ich fragte Wazera, was er nach solcher Behandlung empfunden habe. Er sagte mir darauf, daß er zuerst sehr böse geworden sei. Dann aber sei ihm eingefallen, daß Christen auch ihre Feinde lieben und denen Gutes tun sollten, von denen sie gehaßt werden. Darauf sei er hingegangen und habe für die Soldaten eine vorzügliche Mahlzeit bereiten lassen. Auf seine Einladung, zum Essen zu kommen, hätten diese aber nicht gewagt sein Haus zu betreten,[S. 243] weil sie fürchteten, umgebracht zu werden. Er habe ihnen dann das Essen hinaus ins Freie bringen lassen. Aus Furcht, daß die Speisen Gift enthalten könnten, hätten sie auch dann noch nicht eher gegessen, als bis er ihrer Aufforderung nachgekommen sei, selber an der Mahlzeit teilzunehmen. Jene Soldaten seien, nachdem sie die Station wieder verlassen hatten, zum Häuptling gegangen und hätten sich danach erkundigt, was das für Leute gewesen sein könnten, die sie drunten auf der Missionsstation getroffen hätten. Ihnen sei erklärt worden, daß es abasomi wären, d. h. ‚Leser‘, mit welchem Namen die Eingebornen dort die Christen bezeichnen.
Das Evangelium erweckt in dem bekehrten Heiden neben so manchem Neuen auch ein Gefühl der Verantwortlichkeit andern gegenüber. Der Gedanke ist dem Neger an und für sich fremd. Er versucht im Gegenteil seine Krankheiten und Gebrechen durch allerlei Sympathiemittel und Zaubereien auf den ahnungslosen Nächsten zu übertragen. Er denkt meist nur an sich, was ja bei seiner egozentrischen Weltauffassung leicht erklärlich ist. Wenn schon den Juden die Erweiterung ihres Begriffes vom ‚Nächsten‘ dringend nottat, so ist das in soviel größerem Maßstabe bei unsern Negern der Fall.
Daß nun tatsächlich der bekehrte Heide zu solchem Gefühl der Verantwortung seinen Mitmenschen, z. B. den andern Heiden in aller Welt gegenüber erwacht, dafür liefern u. a. ihre Missionsgaben einen uns oft beschämenden Beweis. Mais, ganze Zuckerrohr- und Kartoffelfelder wurden als Opfer gegeben. Ein Häuptling brachte eine Kuh, das größte Opfer, das ein Mparemann geben kann. Nichts freut sie mehr, als von dem Fortschritt der Evangeliumsbotschaft in aller Welt zu hören. Oft kamen sie noch in später Nachtstunde zum Missionar, um ihre Missionsgaben abzuliefern. ‚Es ist weiß gewordenes (Pare-Ausdruck für heiliges) Geld, das ich nicht unnötig lange mit mir herumtragen möchte,‘ sagte Petero Sebuge. Die Bibel wird ihnen ein köstlicher Schatz, der sie in Zeiten der Anfechtung tröstet und stärkt. So schreibt unser Petero Risase Anfang 1921 in einem Briefe aus Afrika an den Verfasser: ‚Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sei mit Dir alle Tage, dann möge Gott Dich trösten unsretwegen, denn ich weiß, Du hast diese Trauer bei Dir.‘
Viele Grüße von mir und eine Erinnerung, die sich nicht töten läßt. Deine Grüße habe ich sehr oft erhalten, und ich habe mich sehr gefreut. Ich kann Dir weder auseinandersetzen die Art meiner Freude, wenn ich Deine Grüße bekam, noch die Art meines Nichtseins mit Freude, wenn ich verfehlte sie zu erhalten.
[S. 244]
Was ich Dir auseinandersetzen möchte, ist dieses: Ich danke Gott viele Male, weil er mich in den Nöten, die mich erreicht haben, nicht verlassen hat. Bedeutung: Im Jahre 1917 starb mein Vater, 1918 starb auch meine Frau Maria Risase und 1919 starb auch Debora Risase, mein einziges Kind. Als diese alle starben, wurde meine Trübsal sehr groß. Im Gebetshaus war kein Prediger, von dem ich die Dinge der Wahrheit hätte vernehmen können. Mama Kotz hat meine Not gesehen, als sie einmal (aus dem Internierungslager Tanga) herkommen durfte. Und sie tröstete mich in einem Briefe, der sagte: ‚Petero, laß den Teufel nicht dein Herz verderben, denn diese Tage sind die des Endes.‘ Da vernahm ich, wie mein Herz mir sagte: Suche dir selbst geistige Speise und iß! Früher bist du gewöhnt gewesen, daß man dir das brachte, was satt macht, heute grabe selbst und iß ...“ Dann erzählt er weiter, wie das Wort Gottes ihm in jenen schweren Jahren eine beständige Hilfe gewesen sei und welche guten Erfahrungen er mit Gott gemacht habe. In mancherlei Schwierigkeiten haben die meisten von ihnen treu zum Christentum gestanden, Schmach, Verfolgung, Gefängnis und körperliche Strafen um ihres Herrn willen erduldet und mit aller Tatkraft die verwaiste Missionsarbeit aufgenommen. So ist es in jeder Hinsicht wahr, was einer von ihnen einmal sagte: „Das Evangelium hat neue Menschen aus uns gemacht.“ Und das tut in Pare besonders not, wie in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder zu zeigen versucht wurde.
Wenn sie uns auch die Wapare als Menschen erkennen ließen, die längst nicht auf so tiefer Kulturstufe stehen, wie gewöhnlich angenommen wird, so haben sie auch die Bande gezeigt, die sie im „Banne der Furcht“ gefangen halten. Sie zählen zu den Völkern, die wir als die primitiven zu bezeichnen pflegen, und die doch lieben und hassen, lachen und weinen und sich, wenn auch oft unbewußt, nach Erlösung sehnen, genau wie wir. Sie haben ein Sprichwort: „Auf meinen Hilferuf in der Wüste hin kam ein neuer Feind!“ Sie befinden sich noch in der Wüste des Götzendienstes, umgeben von den Gefahren des Aberglaubens, und stoßen bewußt und unbewußt den Ruf aus: Kommt herüber und helft uns! Kultur ohne Christentum ist aber nur ein neuer Feind und läßt die Heiden rettungslos dem Islam entgegentreiben, welcher sie weder von ihrem Heidentum noch von ihrem Aberglauben erlösen kann.
Oberstabsarzt Dr. Otto Dempfwolff schreibt in einem Artikel über die Notwendigkeit der christlichen Mission für die Kolonisation:[S. 245] „Es soll und wird das Christentum als einziger Retter auch die Naturvölker von ihrem Heidentum und Aberglauben erlösen, von den Banden befreien, die jetzt in Zaubervorstellungen und Dämonenfurcht sie hindern, ihren Geist für die Kulturgaben zu öffnen, die wir als Kolonisatoren bringen wollen.
Es kann zweifelhaft sein, ob die Fähigkeiten der Rasse und die Bedingungen des Klimas es je zulassen werden, daß die Farbigen an Leistungen den Weißen je ganz gleich kommen. Um sie aber zu dem zu entwickeln, was sie überhaupt leisten können, um sie soweit als möglich unsrer Kultur zugänglich zu machen, dazu gibt es keine bessere Methode, als ihnen das Christentum zu bringen.
Dieses allein kann dem Eingebornen neue Ideale an Stelle der von uns Weißen unbewußt zerstörten bringen und auch ihn den Sinn des Lebens lehren, so daß er begreift, was uns ‚Kultur‘ heißt: Herr über die Natur zu werden, weil man sich als Kind Gottes fühlen darf!“
Herr über die Natur und damit aus dem Banne der Furcht befreit zu werden, das wollen wir auch unsern Wapare wünschen. Dann wird Nkoma und Dämon aus ihrem Leben ausgeschaltet sein und Christus ihnen A und O werden, nämlich der Anfang zu einem neuen Leben, und aller animistischen Furcht
Ende.
Vom gleichen Verfasser empfehlen wir die Schrift
Von Schwarzen und Weißen.
Diese 64seitige Broschüre gibt in recht anregender und unterhaltender Form die Geschichte unsrer Mission im Südparegebiet (Ostafrika) wieder. Sie umfaßt einen Zeitraum von elf Jahren. Die Schilderung, wie sich die Hand Gottes in den Anfängen bekundete, unter welchen Schwierigkeiten die Arbeit aufgenommen und fortgeführt wurde, dient zur Stärkung des Glaubens. Mit regem Interesse wird der Leser die Negerküche kennenlernen, von der Schularbeit vernehmen und den Missionar in seiner recht vielseitigen Tätigkeit als Helfer der Schwarzen begleiten. Kleine Erlebnisse verschiedenster Art und zahlreiche Bilder beleben die Seiten. Das Evangelium hat Schwarze und Weiße eng verbunden, so daß weder Raum noch Zeit sie trennen können.
Man verlange Preisliste vom Verlag.
Der Advent-Verlag (E. V.), welcher durch Schwesterhäuser und Niederlagen in allen Teilen der Welt vertreten ist, verlegt christliche Bücher, Zeitschriften und kleinere Schriften, die inhaltlich rein biblische Grundsätze vertreten, in annähernd 100 verschiedenen Sprachen. Außer religiösen Themen werden auch Fragen der Gesundheit und Mäßigkeit in erschöpfender Weise behandelt; ebenso ist der Jugendliteratur ein breiter Raum angewiesen. Besonders reichhaltig ist die Auswahl in der englischen und deutschen Sprache, doch sind auch in anderen Sprachen, z. B. der dänischen, schwedischen, französischen, holländischen und spanischen eine gute Anzahl Bücher, Schriften und Zeitschriften erschienen. Die Auswahl wird ständig vermehrt. Preislisten werden auf Wunsch kostenlos zugesandt.
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