The Project Gutenberg eBook of Man kann nie wissen: Komödie in vier Akten

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Title: Man kann nie wissen: Komödie in vier Akten

Author: Bernard Shaw

Translator: Siegfried Trebitsch

Release date: February 1, 2006 [eBook #9810]
Most recently updated: December 26, 2020

Language: German

Credits: Produced by Michalina Makowska

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MAN KANN NIE WISSEN: KOMÖDIE IN VIER AKTEN ***

Produced by Michalina Makowska

Man Kann Nie Wissen

(Komödie in vier Akten)

George Bernard Shaw

Übersetzung von Siegfried Trabisch

Die erste deutsche Ausgabe dieser Komödie führte den Titel "Der verlorene Vater".—Die Hauptperson heißt im Original nicht Fergu McNaughtan, sondern Fergus Crampton. Shaw, der Hauptmann sehr verehrt, wollte die festumrissene Vorstellung, die wir mit dem Namen Crampton verbinden, nicht stören und änderte ihn in McNaughtan um, womit zugleich die Übertragung eines Wortwitzes möglich wurde, der im Original eine Rolle spielt.

Anmerkung des Übersetzers.

PERSONEN

Frau Clandon
Gloria }
Dolly } ihre Kinder
Philip }
Dr. Valentine, Zahnarzt
Fergus McNaughtan
McComas, Rechtsanwalt
Justizrat Bohun
Ein Kellner
Ein Stubenmädchen
Ein Kellnerjunge
Ein Koch

Ort: Ein englisches Seebad.
Zeit: 1896.

ERSTER AKT

(An einem schönen Augustmorgen des Jahres 1896 im Operationszimmer eines Zahnarztes. Es ist nicht das übliche winzige Londoner Loch, sondern das beste Zimmer einer möblierten Wohnung an der Strandpromenade in einem vornehmen Seebad. Der Operationsstuhl mit Gasschlauch und Zylinder steht zwischen der Mitte des Zimmers und einer der Ecken. Wenn man durch das dem Stuhl gegenüberliegende Fenster in das Zimmer hineinsieht, erblickt man den Kamin in der Mitte der dem Beschauer gegenüberstehenden Wand. Links eine Tür. Über dem Kaminsims befindet sich ein Diplom in einem Rahmen. Vor dem Kamin steht ein breiter schwarzlederner Sessel, rechts in der Ecke ein sauberer Schemel und eine Bank mit Schraubstock, Werkzeugen, einem Mörser und einem Stößel darauf. In der Nähe dieser Bank befindet sich ein dünnes peitschenartiges Gerät, das mit einem Ständer, einem Pedal und einer übertrieben großen Kurbel versehen ist. Da man dieses Marterwerkzeug als Zahnbohrer erkennt, blickt man schaudernd nach links, wo man ein anderes Fenster, darunter einen Schreibtisch mit Löscher und Mappe sieht. Vor dem Schreibtisch ein Stuhl. In seiner Nähe, gegen die Türe zu, ein lederüberzogenes Sofa. Die gegenüberliegende rechtsseitige Wand wird hauptsächlich von einem langen Büchergestell eingenommen. Der Operationsstuhl steht dem Beschauer dicht gegenüber; in handlicher Nähe links davon befindet sich der Instrumentenschrank. Man bemerkt, daß die zahnärztliche Einrichtung samt Apparaten neu ist. Die mit einem Muster von Girlanden und Urnen geschmückten Tapeten im Geschmack eines Leichenbestatters, der Teppich mit seiner symmetrischen Zeichnung von reichen, kohlkopfartigen Blumensträußen, der gläserne Gaskronleuchter mit Prismen, die ebenfalls prismengeschmückten, vergoldeten, blauen Armleuchter in den Ecken des Kaminsimses und die Goldbronzeuhr unter einem Glassturz zwischen ihnen, deren Nutzlosigkeit durch eine billige amerikanische Uhr betont wird, die respektlos daneben gestellt ist und jetzt auf zwölf Uhr mittags zeigt: alles das vereinigt sich mit dem schwarzen Marmor, der dem Kamin das Ansehen einer Familiengruft en miniature gibt, um Kaufmannsanständigkeit im Anfang der Regierung der Königin Viktoria, den Glauben ans Geld, Bibelfetischismus, Furcht vor der Hölle, die immer im Kampf mit der Furcht vor der Armut liegt, instinktives Entsetzen vor dem leidenschaftlichen Charakter der Kunst, der Liebe und der römisch-katholischen Kirche, und im allgemeinen die ersten Früchte der Geldherrschaft in den Anfängen der industriellen Revolution anzudeuten.)

(Nicht das Leiseste von diesen Traditionen liegt über den zwei Personen, die jetzt gerade im Zimmer sind. Die eine davon, eine sehr hübsche, sehr kleine Dame, deren winzige Figur mit der elegantesten Lebhaftigkeit gekleidet ist, gehört einer späteren Generation an: sie ist kaum achtzehn Jahre alt. Dieses liebe kleine Geschöpf gehört offenbar weder zu dem Zimmer, noch auch zu dem Lande; denn seine Gesichtsfarbe, obgleich sehr zart, ist von einer heißeren Sonne als der Englands gebräunt worden; aber trotzdem besteht für einen sehr feinen Beobachter ein Zusammenhang zwischen der jungen Dame und England. Sie hält nämlich ein Wasserglas in der Hand, und auf ihrem winzigen, energisch geschnittenen Mund wie auf ihren eigentümlich geschweiften Augenbrauen bemerkt man eine sich rasch verziehende Wolke spartanischer Hartnäckigkeit. Wenn man die kleinste Gewissenslinie zwischen ihren Augenbrauen entdecken könnte, würde ein Pietist wohl die schwache Hoffnung hegen, in ihr ein Schaf im Wolfspelz zu finden—ihr Kleid ist nämlich verwünscht hübsch—aber sowie die Wolke flieht, ist ihre Stirnlinie so vollkommen frei von jedem Sündenbewußtsein wie die eines Kätzchens.)

(Der Zahnarzt, der sie mit der Selbstzufriedenbeit des erfolgreichen Operateurs betrachtet, ist ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren. Er macht nicht sehr den Eindruck eines Arbeitsmenschen: unter der geschäftsmäßigen Art und Weise des neuetablierten Zahnarztes, der auf der Suche nach Patienten ist, bemerkt man die leichtsinnige Liebenswürdigkeit des noch unverheirateten, auf der Suche nach lustigen Abenteuern befindlichen jungen Mannes von Welt. Er ist nicht ohne Ernst im Benehmen, aber seine straff gespannten Nasenflügel stempeln diesen zum Ernste eines Humoristen. Seine Augen sind klar, flink, von skeptisch mäßiger Größe und doch ein wenig wagelustig; seine Stirn ist prächtig, hinter ihr ist viel Raum; seine Nase und sein Kinn sind kavaliermäßig hübsch. Im ganzen ein anziehender, beachtenswerter Anfänger, dessen Aussichten ein Geschäftsmann ziemlich günstig einschätzen würde.)

(Die junge Dame ihm das Glas reichend:) Danke schön. (Trotz ihrer mattgelben Hautfarbe spricht sie ohne den geringsten fremden Akzent.)

(Der Zahnarzt setzt es auf den Rand des Instrumentenschrankes:) Das war mein erster Zahn!

(Die junge Dame entsetzt:) Ihr erster?!… Wollen Sie damit sagen, daß Sie an mir angefangen haben, zu praktizieren?

(Der Zahnarzt.) Jeder Zahnarzt muß einmal mit jemandem den Anfang machen.

(Die junge Dame.) Jawohl, mit jemandem im Spital—aber nicht mit
Leuten, die bezahlen.

(Der Zahnarzt lachend:) Oh, das Spital zählt natürlich nicht!… Ich meinte nur: mein erster Zahn in meiner Privatpraxis.—Warum wollten Sie kein Lachgas haben?

(Die junge Dame.) Weil Sie mir sagten, daß das noch fünf Schilling extra kostete.

(Der Zahnarzt unangenehm berührt:) Oh, sagen Sie das nicht! Da hab' ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen wegen der fünf Schillinge weh getan.

(Die junge Dame mit kühler Dreistigkeit:) Nun, das haben Sie auch. (Sie steht auf:) Warum auch nicht?… Es ist Ihr Beruf, den Leuten weh zu tun. (Es macht ihm Spaß, in dieser Weise behandelt zu werden, und er kichert heimlich, während er fortfährt, seine Instrumente zu reinigen und wieder wegzulegen. Sie schüttelt ihr Kleid zurecht, blickt sich neugierig um und gebt an das Fenster.) Sie haben aber wirklich eine schöne Aussicht auf das Meer von diesen Zimmern aus! —Sind sie teuer?

(Der Zahnarzt.) Ja.

(Die junge Dame.) Ihnen gehört aber nicht das ganze Haus?

(Der Zahnarzt.) Nein.

(Die junge Dame kippt den Stuhl, der vor dem Schreibtisch steht, um und betrachtet ihn kritisch, während sie ihn auf einem Fuß herumwirbelt:) Ihre Einrichtung ist aber nicht die allermodernste; nicht wahr?

(Der Zahnarzt.) Sie gehört dem Hausherrn.

(Die junge Dame.) Gehört ihm dieser hübsche bequeme Rollstuhl auch?
(Sie zeigt auf den Operationsstuhl.)

(Der Zahnarzt.) Nein, den habe ich gemietet.

(Die junge Dame geringschätzig:) Das habe ich mir gedacht! (Sie blickt umher, um noch mehr Schlüsse ziehen zu können:) Sie sind wohl noch nicht lange hier?

(Der Zahnarzt.) Seit sechs Wochen.—Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen?

(Die junge Dame, an der die Anspielung verloren gebt:) Haben Sie
Familie?

(Der Zahnarzt.) Ich bin unverheiratet.

(Die junge Dame.) Selbstverständlich. Das sieht man.—Ich meine
Schwestern… eine Mutter… und sowas.

(Der Zahnarzt.) Nicht hier am Ort.

(Die junge Dame.) Hm… Wenn Sie sechs Wochen hier sind und mein Zahn der erste war, dann kann Ihre Praxis nicht sehr groß sein?

(Der Zahnarzt.) Bis jetzt nicht. (Er schließt den Schrank, nachdem er alles in Ordnung gebracht hat.)

(Die junge Dame.) Nun denn, Glück auf! (Sie nimmt ihre Börse aus der
Tasche:) Fünf Schillinge macht es, sagten Sie, nicht wahr?

(Der Zahnarzt.) Fünf Schillinge.

(Die junge Dame nimmt ein Fünf-Schilling-Stück heraus:) Rechnen Sie für jede Operation fünf Schillinge?

(Der Zahnarzt.) Ja.

(Die junge Dame.) Warum?

(Der Zahnarzt.) Das ist mein System. Ich bin eben, was man einen
Fünf-Schilling-Zahnarzt nennt.

(Die junge Dame.) Wie nett!—Hier! (Sie hält das Silberstück in die
Höhe:) Ein hübsches neues Fünf-Schilling-Stück—Ihre erste Einnahme!
Machen Sie mit dem Instrument, mit dem Sie den Leuten die Zähne
anbohren, da ein Loch hinein und tragen Sie's an Ihrer Uhrkette.

(Der Zahnarzt.) Danke sehr.

(Das Stubenmädchen erscheint an der Tür:) Der Bruder der jungen Dame.

(Die hübsche Miniaturausgabe eines Mannes, augenscheinlich der Zwillingsbruder der jungen Dame, tritt lebhaft ein. Er trägt einen terrakottfarbenen Kaschmiranzug; der elegant geschnittene Rock ist mit brauner Seide gefüttert. In der Hand hält er einen braunen Zylinder und dazu passende, loh*braune Handschuhe. Er hat die mattgelbe Gesichtsfarbe seiner Schwester und ist nach demselben kleinen Maßstabe gebaut wie sie. Aber er ist elastisch, muskulös und von entschlossenen Bewegungen und hat eine unerwartet tiefe und schneidige Sprechwiese. Er besitzt vollendete Manieren und einen vollendeten persönlichen Stil, um den ihn ein doppelt so alter Mann beneiden könnte. Anmut und Selbstbeherrschung sind ihm Ehrensache, und obgleich dies, richtig betrachtet, nur die moderne Art knabenhafter Verlegenheit ist, so ist doch die Wirkung seines Wesens auf ältere Leute verblüffend und wäre bei einem weniger für sich einnehmenden jungen Menschen unerträglich. Er ist die Schlagfertigkeit selbst und hat im Augenblick seines Eintretens eine Frage bereit:)

(Der junge Mann.) Komme ich noch zu rechter Zeit?

(Die junge Dame.) Nein, es ist schon alles vorüber.

(Der junge Mann.) Hast du geheult?

(Die junge Dame.) Oh, fürchterlich! Herr Doktor Valentine—mein Bruder Phil. Phil: das ist Herr Dr. Valentine, unser neuer Zahnarzt. (Dr. Valentine und Philip verneigen sich voreinander. Sie fährt in einem Atem fort:) Er ist erst seit sechs Wochen hier und ist Junggeselle. Das Haus gehört ihm nicht, und die Einrichtung gehört seinem Hausherrn, aber die nötigen Gegenstände für seinen Beruf hat er gemietet. Er hat meinen Zahn wundervoll auf den ersten Ruck herausgekriegt. Und wir sind sehr gute Freunde.

(Philip.) Du hast wohl eine Menge Fragen gestellt, was?

(Die junge Dame als ob sie unfähig wäre, das zu tun:) O nein!

(Philip.) Das freut mich. (Zu Dr. Valentine:) Sehr liebenswürdig von Ihnen, nichts gegen uns zu haben, Herr Doktor. Wir sind nämlich noch nie in England gewesen, und unsere Mutter hat uns darauf vorbereitet, daß die Leute uns hier einfach nicht ertragen würden.—Kommen Sie, frühstücken Sie mit uns.

(Dr. Valentine erschreckt über das Tempo, in dem ihre Bekanntschaft fortschreitet, ringt nach Atem, aber er hat keine Gelegenheit zu sprechen, da die Unterhaltung der Zwillinge reißend und andauernd ist.)

(Die junge Dame.) O ja, sagen Sie zu, Herr Doktor!

(Philip.) Im Marine-Hotel um halb zwei.

(Die junge Dame.) Wir werden dann Mama erzählen können, daß ein achtbarer Engländer versprochen hat, mit uns zu frühstücken.

(Philip.) Kein Wort mehr, Herr Doktor; Sie werden kommen!

(Dr. Valentine.) Kein Wort mehr?… Ich habe überhaupt noch kein Wort
gesagt… Darf ich fragen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe?…
Es ist mir wirklich ganz unmöglich, mit zwei mir vollständig
Unbekannten im Marine-Hotel zu frühstücken.

(Die junge Dame vorlaut:) Ach, was für ein Unsinn!… Ein Patient in sechs Wochen! Kann Ihnen doch ganz einerlei sein?

(Philip gesetzt:) Nein, Dolly: meine Menschenkenntnis bestätigt Herrn
Doktor Valentines Ansicht; er hat recht.—Erlauben Sie, daß ich Ihnen
Fräulein Dorothea Clandon, gewöhnlich Dolly genannt; vorstelle. (Dr.
Valentine verneigt sich vor Dolly. Sie nickt ihm zu.) Ich bin Philip
Clandon—wir sind aus Madeira—aber trotzdem bis jetzt ganz achtbare
Leute.

(Dr. Valentine.) Clandon?… Sind Sie verwandt mit—

(Dolly mit einem unerwarteten Verzweiflungsschrei:) ja, wir sind's!

(Dr. Valentine erstaunt:) Verzeihen Sie—

(Dolly.) Ja, ja, wir sind es!… Alles ist zu Ende, Phil! Man weiß alles über uns in England! (Zu Dr. Valentine:) Oh, Sie können sich nicht vorstellen, wie entsetzlich es ist, mit einer berühmten Persönlichkeit verwandt zu sein und nirgends um seiner selbst willen geschätzt zu werden.

(Dr. Valentine.) Aber entschuldigen Sie: der Herr, an den ich dachte, ist durchaus nicht berühmt.

(Dolly ihn anstarrend:) Der Herr?…

(Philip ist auch erstaunt.)

(Dr. Valentine.) Ja. Ich wollte Sie fragen, ob Sie zufällig die
Tochter des Herrn Densmore Clandon aus Newbury Hall sind.

(Dolly ausdruckslos:) Nein.

(Philip.) Na, Dolly, woher weißt du das?

(Dolly aufgeheitert:) Oh, ich vergaß, natürlich—vielleicht bin ich's!

(Dr. Valentine.) Wissen Sie das nicht?

(Philip.) Ganz und gar nicht.

(Dolly.) Ein kluges Kind—

(Philip sie kurz unterbrechend:) Sch! (Dr. Valentine fährt bei diesem Laut ängstlich zusammen. Obwohl er kurz ist, klingt er doch so, als ob ein Stück Seidenzeug durch einen Blitz entzweigeschnitten würde. Er ist das Resultat langer Übung und soll Dollys Indiskretion verhindern.) Die Sache ist die, Herr Doktor: wir sind die Kinder der berühmten Frau Lanfrey Clandon, einer Schriftstellerin von großem Ruf—in Madeira. Kein Haushalt ist vollkommen ohne ihre Werke. Wir sind nach England gekommen, um diese Werke los zu werden. Sie heißen "Abhandlungen für das zwanzigste Jahrhundert".

(Dolly.) Die Küche des zwanzigsten Jahrhunderts!—

(Philip.) Das Glaubensbekenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Dolly.) Die Kleidung des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Philip.) Das Betragen des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Dolly.) Die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Philip.) Die Eltern des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Dolly.) Geheftet einen halben Dollar—

(Philip.) Oder auf Leinwand aufgezogen, zum häufigen Familiengebrauch, zwei Dollar. In keinem Hause sollten diese Werke fehlen.—Lesen Sie sie, Herr Doktor; sie werden Ihre Seele veredeln.

(Dolly.) Aber nicht, solange wir hier sind, wenn ich bitten darf.

(Philip.) Richtig! Wir ziehen Leute mit unveredelten Seelen vor. Unsere eigene Seele befindet sich nämlich in dieser frischen und unverdorbenen Verfassung.

(Dr. Valentine zweifelhaft:) Hm!

(Dolly ahmt ihn fragend nach:) Hm…?—Phil, er zieht Leute vor, deren
Seelen veredelt sind.

(Philip.) Wenn das der Fall ist, müssen wir ihn mit dem andern
Familienglied bekannt machen, mit der "Frau des zwanzigsten
Jahrhunderts", unserer Schwester Gloria!

(Dolly dithyrambisch:) Dem Meisterwerk der Schöpfung!

(Philip.) Der Tochter der Wissenschaft!

(Dolly.) Dem Stolz Madeiras!

(Philip.) Dem Inbegriff der Schönheit!

(Dolly wird plötzlich prosaisch:) Unsinn, keinen Teint!

(Dr. Valentine verzweifelt:) Darf ich endlich auch ein Wort sagen?

(Philip höflich:) Entschuldigen Sie—bitte.

(Dolly sehr liebenswürdig:) Verzeihen Sie.

(Dr. Valentine versucht, väterlich zu ihnen zu sein:) Ich muß euch jungen Leuten wirklich einen Wink geben.

(Dolly bricht wieder aus:) Na, das ist wirklich gut! Wie alt sind Sie?

(Philip.) Über dreißig.

(Dolly.) Nein.

(Philip zuversichtlich:) Doch!

(Dolly emphatisch:) Siebenundzwanzig!

(Philip unerschütterlich:) Dreiunddreißig!

(Dolly.) Unsinn!

(Philip zu Dr. Valentine:) Ich wende mich an Sie, Herr Doktor!

(Dr. Valentine sich verwahrend:) Nein wirklich—(Er ergibt sich:)
Einunddreißig.

(Philip zu Dolly:) Du hast also unrecht gehabt!

(Dolly.) Du auch!

(Philip plötzlich gewissenhaft:) Wir vergessen unsere gute Erziehung,
Dolly.

(Dolly reuig:) Ja, das tun wir.

(Philip sich entschuldigend:) Wir haben Sie unterbrochen, Herr Doktor.

(Dolly.) Ich glaube, Sie waren eben im Begriff, unsere Seele zu veredeln.

(Dr. Valentine.) Tatsache ist, daß Ihr—

(Philip ihm zuvorkommend:) Unser Aussehen?…

(Dolly.) Unsere Manieren?…

(Dr. Valentine ad misericordiam:) Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich sprechen!

(Dolly.) Die alte Geschichte—wir reden zu viel!

(Philip.) Das tun wir. Schweigen wir alle beide! (Er setzt sich auf den Arm des Operationsstuhles.)

(Dolly.) Mm! (Sie setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und hält ihre Lippen mit den Fingerspitzen zu.)

(Dr. Valentine.) Danke. (Er holt den Schemel von der Bank in der Ecke, stellt ihn zwischen sie und setzt sich mit einer richterlichen Miene. Sie beobachten ihn mit größtem Ernst. Er wendet sich zuerst an Dolly: ) Darf ich Sie vor allem fragen, ob Sie schon jemals in einem englischen Seebad gewesen sind? (Sie schüttelt langsam und feierlich den Kopf. Er wendet sich zu Phil, der auch rasch und ausdrucksvoll seinen Kopf schüttelt.) Das habe ich mir gedacht!… Nun, Herr Clandon, unsere Bekanntschaft ist erst von kurzer Dauer, aber von großer Redseligkeit gewesen, und ich habe genug beobachtet, um überzeugt zu sein, daß Sie beide keine Ahnung haben, was das Leben in einem englischen Seebade bedeutet. Glauben Sie mir, es kommt weder auf die Manieren noch auf das Aussehen an… was das betrifft, genießen wir eine in Madeira unbekannte Freiheit. (Dolly schüttelt heftig den Kopf.) O ja, das dürfen Sie mir glauben. Lord de Crescis Schwester radelt in Kniehosen, und die Pastorsfrau tritt für Reformkleider ein und trägt hygienische Schuhe. (Dolly blickt verstohlen nach ihren eigenen Schuhen. Dr. Valentine bemerkt das und fügt flink hinzu:) Nein, das ist nicht die Art Schuh, die ich meine. (Dollys Schuh verschwindet.) Wir machen uns nicht viel aus Kleidern und Manieren in England, weil wir, als Volk, weder gut gekleidet sind noch Manieren haben. Aber—und nun frage ich Sie: Nehmen Sie's mir nicht übel, wenn ich aufrichtig bin? (Sie nicken.) Ich danke.—Nun, eins müssen Sie in einem englischen, Seebad haben, bevor irgend jemand sich mit Ihnen sehen lassen darf—und das ist ein Vater… ein lebendiger oder ein toter. (Er sieht sie abwechselnd mit Nachdruck an. Sie begegnen seinen Blicken wie Märtyrer.) Muß ich annehmen, daß Sie diesen unumgänglich nötigen Bestandteil Ihrer gesellschaftlichen Ausrüstung außer acht gelassen haben? (Sie stimmen ihm durch melancholisches Kopfnicken zu.) Dann muß ich Ihnen leider sagen, falls Sie die Absicht haben, längere Zeit hierzubleiben, daß es mir unmöglich sein wird, Ihre liebenswürdige Einladung zum Frühstück anzunehmen. (Er erheht sich, als ob er nun Schluß machen wollte, und setzt den Schemel wieder an die Wand.)

(Philip erheht sich mit ernster Höflichkeit:) Komm, Dolly! (Er reicht ihr den Arm.)

(Dolly.) Adieu. (Sie gehen zusammen mit vollendeter Würde zur Tür.)

(Dr. Valentine von Gewissensbissen überwältigt:) O bleiben
Sie—bleiben Sie! (Sie bleiben stehen und wenden sich Arm in Arm um.)
Ich komme mir wirklich wie ein vollkommener Tölpel vor.

(Dolly.) Daran ist Ihr Gewissen schuld, nicht wir.

(Dr. Valentine energisch, läßt allen Anspruch auf berufsmäßige Manieren beiseite:) Mein Gewissen?… Mein Gewissen hat mich zugrunde gerichtet.—Hören Sie mich an!… Ich habe mich schon zweimal in verschiedenen Teilen Englands als achtbarer praktischer Arzt niedergelassen. Beide Male bin ich gewissenhaft gewesen und habe meinen Patienten statt dessen, was sie hören wollten, immer die nackte Wahrheit gesagt. Die Folge davon war mein Ruin.—Nun habe ich mich hier als Zahnarzt niedergelassen—als Fünf-Schilling-Zahnarzt, und habe ein für allemal mit dem Gewissen abgeschlossen; dies hier ist meine letzte Hoffnung. Ich habe mein letztes Goldstück für den Umzug ausgegeben und habe noch keinen Schilling Miete bezahlt. Ich esse und trinke auf Kredit, mein Hausherr ist reich wie ein Jude und hart wie Stahl. In sechs Wochen habe ich fünf Schillinge verdient. Wenn ich um Haaresbreite vom geraden Wege der strengsten Achtbarkeit abweiche, so bin ich verloren.—Ist es unter solchen Umständen recht und billig, mich zum Frühstück einzuladen, wenn Sie ihren eigenen Vater nicht kennen?

(Dolly.) Na, schließlich ist unser Großvater Stiftsherr der
Lincoln-Kathedrale.—

(Dr. Valentine wie ein Schiffbrüchiger, der ein Segel am Horizont sieht:) Was? Sie haben einen Großvater?

(Dolly.) Nur einen.

(Dr. Valentine.) Meine lieben guten jungen Freunde, um des Himmels
willen, ja warum habt ihr mir das denn nicht gleich gesagt?… Ein
Stiftsherr der Lincoln-Kathedrale! Das bringt natürlich alles in
Ordnung!—Entschuldigen Sie mich einen Augenblick; ich will nur meinen
Rock wechseln. (Er ist mit einem Satz an der Türe und verschwindet.
Dolly und Philip starren ihm erst nach, dann starren sie einander an.
Da sie ohne Publikum sind, sinken sie sofort in sich zusammen und
werden Alltagsmenschen.)

(Philip stößt Dollys Arm fort und gebt übellaunig zum Operationsstuhl: ) Dieser elende bankerotte Zahnschlosser tut so, als ob es für uns eine Ehre wäre, ihm ein Frühstück zu bezahlen! Wahrscheinlich seit Monaten sein erstes anständiges Essen! (Er gibt dem Stuhl einen Stoß, als ob der Dr. Valentine wäre.)

(Dolly.) Das ist doch zu stark! Ich kann das nicht länger ertragen,
Phil! Hier in England fragt einen jeder Mensch sofort, ob man einen
Vater hat oder nicht.

(Philip.) Ich will es auch nicht länger ertragen. Mama muß uns sagen, wer er war!

(Dolly.) Oder wer er ist! Vielleicht lebt er noch.

(Philip.) Das will ich nicht hoffen. Kein lebender Mensch soll sich mir als Vater aufspielen!

(Dolly.) Vielleicht hat er aber eine Menge Geld?!

(Philip.) Das bezweifle ich. Meine Menschenkenntnis sagt mir, daß er seine liebe volle Familie nicht so leicht los geworden wäre, wenn er eine Menge Geld besessen hätte… Immerhin, trachten wir, die Dinge im günstigsten Licht zu sehn. Verlaß dich darauf, er ist tot! (Er geht an den Kamin, bleibt mit dem Rücken gegen das Feuer stehen und streckt sich. Das Stubenmädchen erscheint. Die Zwillinge strahlen gleich wieder in ihrem früheren Glanz, als sie sich beobachtet wissen.)

(Das Stübenmadchen.) Zwei Damen fragen nach Ihnen, gnädiges Fräulein.
Ich glaube, die Frau Mutter und das Fräulein Schwester.

(Frau Clandon und Gloria treten ein. Frau Clandon ist eine Dame zwischen vierzig und fünfzig, mit einer leichten Neigung zu sanftem, seßhaftem Fett und einem ansehnlichen Rest von Schönheit—letzterem nicht um so weniger darum, als sie offenbar der alten Frauensitte gefolgt ist, d.h. nach der ehelichen Verbindung keine Ansprüche in dieser Beziehung mehr erhoben hat. Man könnte sie fast verdächtigen, zu Hause eine Haube zu tragen. Sie trägt sich mit Kunst und gut, wie es Frauen als ein Teil guter Manieren von Tanz- und Anstandslehrern gelehrt wurde, bevor diese durch den modernen künstlerischen Kultus von Schönheit und Gesundheit verdrängt wurden. Ihr flachsblondes, von Silberfäden durchzogenes Haar ist gewellt, in der Mitte gescheitelt, geflochten und hinten zu einem Knoten gewunden. Gute Beobachter eines gewissen Alters können daraus schließen, daß Frau Clandon in ihrer Mädchenzeit genügend Individualität und guten Geschmack besessen hat, um sich der seither vergessenen Mode des Chignons energisch zu widersetzen. In Kürze: sie ist in Kleidern und Manieren für ihr Alter auffallend unmodern, aber sie gehört in das Vordertreffen ihrer eigenen Zeit (etwa 1860-80), in einer eifersüchtig betonenden Haltung des Charakters und Verstandes und darin, daß sie eher eine Frau mit kultivierten Interessen als mit leidenschaftlich entwickelten persönlichen Neigungen ist. Ihre Stimme und die Art, sich zu geben, sind durchaus freundlich und menschlich. Sie gibt sich gewissenhaft den gelegentlichen Liebkosungen hin, durch die ihre Kinder ihr ihre Achtung bezeugen, jedoch machen Kundgebungen persönlichen Gefühls sie heimlich verlegen. In ihr lebt mehr menschenfreundliches als menschliches Gefühl; sie begt starke Gefühle, was soziale Fragen und Grundsätze, nicht aber was Menschen betrifft; nur kann man beobachten, daß diese ihre Verständigkeit und außerordentliche Zurückhaltung im Persönlichen, die ihre Beziehungen zu Gloria und Phil nicht anders erscheinen lassen, als es die zwischen ihr und den Kindern irgendeiner anderen Frau sein könnten, in Dollys Fall nicht standhält;—obgleich fast jedes Wort, das sie an diese richtet, notwendig ein Protest gegen irgendeinen Bruch des Dekorums ist, so ist doch die Zärtlichkeit in ihrer Stimme hier unverkennbar, und es ist nicht überraschend, daß eine jahrelang so geartete Kundgebung Dolly rettungslos verzogen hat.)

(Gloria hat die Zwanzig kaum überschritten, ist aber eine viel furchterregendere Dame als ihre Mutter. Sie ist die Verkörperung geistigen Hochmuts. Ihrem heftigen, unduldsamen, berrschsüchtigen Charakter hält bloß die Unerfahrenheit ihrer Jugend die Wage, und gegen ihren Willen wird er in Zucht gehalten durch die fortgesetzte Gefahr, von ihren jüngeren leichtlebigeren Geschwistern lächerlich gemacht zu werden. Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist sie ganz Leidenschaft, und der Kampf zwischen ihrer Leidenschaft, ihrem hartnäckigen Stolz und ihrer übertriebenen Feinheit hat eine eisige Kälte des Betragens zur Folge. Bei einer häßlichen Frau würde das alles abstoßend wirken; aber Gloria ist eine anziehende Frau. Ihr tief kastanienbraunes Haar, ihre olivenfarbene Haut, ihre langen Wimpern, die grauen beschatteten Augen, die oft wie Sterne glänzen, zart geschweifte, volle Lippen und eine volle, geschmeidige, jedoch muskelkräftige Gestalt sprechen in hochmütiger Freimütigkeit zu Einbildungskraft und Sinnen. Man könnte sie für ein sehr gefährliches Mädchen halten, wenn Glorias sittlicher Eifer nicht auch in einer sehr edlen Stirn zum Ausdruck käme. Ihr tailor-made Kleid aus safranbraunem Tuch erscheint von rückwärts gesehen konventionell, aber eine Bluse von meergrüner Seide hebt das Konventionelle der Kleidung mit einem Schlage auf und unterscheidet sie sofort—so wie die Zwillinge—von den gewöhnlichen modernen Strandmenschen.)

(Frau Clandon macht ein paar Schritte vorwärts und blickt umher, um zu sehen, wer da ist. Gloria, die es absichtlich vermeidet, den Zwillingen irgendein Interesse für sie zu zeigen, geht an das Fenster und blickt, in Gedanken versunken, ins Weite.—Das Stubenmädchen, anstatt sich zurückzuziehen, schließt die Tür und wartet davor.)

(Frau Clandon.) Na, Kinder!… Hast du noch Zahnschmerzen, Dolly?

(Dolly.) Geheilt! Gott sei Dank. Ich hab' ihn mir herausziehen lassen. (Sie setzt sich auf die Stufe des Operationsstuhls. Frau Clandon nimmt den Sessel, der vor dem Schreibtisch steht.)

(Philip mischt sich vom Kamin aus gravitätisch ins Gespräch:) Und der Zahnarzt, ein erstklassiger Fachmann von größtem Ruf, wird mit uns frühstücken.

(Frau Clandon sieht sich ängstlich nach dem Stubenmädchen um:) Phil!

(Das Stubenmädchen.) Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich warte auf den
Herrn Doktor. Ich habe ihm etwas auszurichten.

(Dolly.) Von wem?

(Frau Clandon verdrießlich:) Dolly!

(Dolly faßt ihre Lippen mit den Fingerspitzen und unterdrückt einen kleinen Heiterkeitsausbruch.)

(Das Stubenmädchen.) Bloß vom Hausherrn, gnädiges Fräulein.

(Dr. Valentine kommt in einem blauen Serge-Anzug, mit einem Strohhut in der Hand, in bester Laune zurück, ganz atemlos infolge der Eile, mit der er sich umgezogen hat. Gloria wendet sich vom Fenster ab und mustert ihn mit kalter Aufmerksamkeit.)

(Philip.) Erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache, Herr Doktor.—Meine
Mutter, Frau Lanfrey Clandon.

(Frau Clandon verneigt sich, Dr. Valentine verneigt sich, selbstbewußt und der Situation gewachsen.) Meine Schwester Gloria. (Gloria verneigt sich mit kalter Würde und setzt sich auf das Sofa. Dr. Valentine verliebt sich auf den ersten Blick und ist entsetzlich verwirrt. Er dreht seinen Hut nervös zwischen den Fingern und macht Gloria eine schüchterne Verbeugung.)

(Frau Clandon.) Ich höre, daß wir das Vergnügen haben werden, Sie heute zum Frühstück bei uns zu sehen, Herr Doktor?

(Dr. Valentine.) Ich danke—ich—wenn Sie gestatten—ich meine, wenn Sie so liebenswürdig sein wollen—(Zum Stubenmädchen verdrossen:) Was ist los?

(Das Stubenmädchen.) Der Hausherr wünscht Sie zu sprechen, bevor Sie ausgehen, Herr Doktor.

(Dr. Valentine.) Sagen Sie ihm, daß ich mit vier Patienten beschäftigt bin. (Die Clandons sehen überrascht aus, mit Ausnahme von Philip, der unerschütterlich ruhig bleibt.) Aber wenn er etwa zwei Minuten warten wollte, so würde ich hinunterkommen und ihn einen Augenblick sprechen. (Er verläßt sich darauf, daß sie die Situation begreift.) Sagen Sie ihm, daß ich zu tun habe, aber daß ich mit ihm zu sprechen wünsche.

(Das Stubenmädchen bestätigend:) Jawohl, Herr Doktor. (Sie gebt ab.)

(Frau Clandon im Begriff aufzustehen:) Ich fürchte, wir halten Sie auf.

(Dr. Valentine.) Durchaus nicht, durchaus nicht! Ihre Anwesenheit wird hier von größtem Vorteil für mich sein. Ich bin nämlich seit sechs Wochen die Miete schuldig und habe bis zum heutigen Tage keinen einzigen Patienten gehabt. Meine Unterredung mit dem Hausherrn wird nun infolge des sichtlichen Aufschwungs meines Geschäftes viel besser ablaufen.

(Dolly ärgerlich:) O wie gräßlich langweilig von Ihnen, das alles auszuplaudern! Und wir haben gerade eben behauptet, daß Sie ein hochangesehener Fachmann allerersten Ranges sind.

(Frau Clandon entsetzt:) O Dolly! Dolly! wie kannst du so grob sein!
(Zu Dr. Valentine:) Bitte, entschuldigen Sie meine Kinder, diese
Barbaren, Herr Doktor!

(Dr. Valentine.) O bitte, bitte, ich bin schon an sie gewöhnt.—Wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bitten würde, fünf Minuten zu warten, während ich unten meinen Hausherrn abfertige?

(Dolly.) Aber beeilen Sie sich, wir sind hungrig!

(Frau Clandon wieder protestierend:) Aber liebe Dolly!

(Dr. Valentine zu Dolly:) Gut, gut! (Zu Frau Clandon:) Besten Dank. Sie sind sehr gütig—ich werde nicht lange ausbleiben. (Während er abgeht, wirft er einen raschen Blick auf Gloria. Sie betrachtet ihn sehr ernst. Er wird sehr verlegen.) Ich—äh—äh—ja—ich danke—ich danke Ihnen… (Es gelingt ihm endlich, sich aus dem Zimmer zu drücken, aber sein Abgang ist bemitleidenswert.)

(Philip.) Habt ihr gesehen? (Auf Gloria zeigend:) Liebe auf den ersten Blick. Du kannst seinen Skalp deiner Sammlung einreihen, Gloria.

(Frau Clandon.) Scht! scht… ich bitte dich, Phil! Er kann es gehört haben!

(Philip.) Ach, der nicht—! (sich zu einer Szene vorbereitend:) Und nun gib acht, Mama. (Er nimmt den Schemel, der neben der)

(Bank steht, und setzt sich majestätisch in die Mitte des Zimmers, die vorhergegangene Demonstration Valentines kopierend.)

(Dolly fühlt, daß ihr Platz auf der Stufe des Operationsstuhles nicht der Würde dieses Anlasses entspricht; sie erhebt sich und schaut wichtig und entschlossen drein. Sie geht an das Fenster und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Kante des Schreibtisches, ihre Hände hinter sich auf den Tisch legend.)

(Frau Clandon betrachtet beide, verwundert, was da kommen wird.)

(Gloria wird aufmerksam.)

(Philip streckt sich, legt die Handknöchel symmetrisch auf die Knie und trägt seinen Fall vor:) Dolly und ich, wir haben letzthin mancherlei besprochen, und infolge meiner Menschenkenntnis glaube ich nicht, glauben wir nicht, daß du… (er spricht sehr pointiert, mit Pausen zwischen den Worten:) die Tatsache in ihrer ganzen Tragweite erfaßt hast…

(Dolly setzt sich mit einem Satz auf den Tisch:)… daß wir erwachsen sind!

(Frau Clandon.) Wirklich?… In welcher Beziehung habe ich euch Anlaß zu Klagen gegeben?

(Philip.) Nun, wir fangen an zu fühlen, daß es gewisse Dinge gibt, über die du uns etwas mehr ins Vertrauen ziehen könntest.

(Frau Clandon erhebt sich.) Die ganze Sanftmut ihres Alters ist plötzlich fort, und eine merkwürdig harte, würdevolle, aber verbissene, vornehme, jedoch unerschütterliche Aufregung, die Art der alten Vorkämpferin der Frauenbewegung, überkommt sie:) Phil, nimm dich in acht! Vergiß nicht, was ich dich immer gelehrt habe! Es gibt zwei Arten des Familienlebens, Phil, und deine Menschenkenntnis erstreckt sich vorläufig nur auf die eine. (Rhetorisch:) Die Art, die du kennst, ist auf gegenseitige Achtung gegründet, auf der Anerkennung des Rechtes eines jeden Mitglieds des Hauses, auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung (ihre Betonung des Wortes "Selbstbestimmung" ist bedeutsam:) in seinen persönlichen Angelegenheiten. Und weil du dieses Recht immer genossen hast, scheint es dir so selbstverständlich, daß du es nicht mehr schätzest;—aber (mit beißender Schärfe:) es gibt noch eine andere Art des Familienlebens. Ein Leben, in dem Ehemänner die Briefe ihrer Frauen öffnen und von ihnen Rechenschaft für jeden Pfennig ihrer Ausgaben und jeden Augenblick ihrer Zeit verlangen, ein Familienleben, in welchem Frauen dasselbe von ihren Kindern fordern! Ein Familienleben, in welchem kein Zimmer abgeschlossen und keine Stunde heilig ist, in welchem Pflicht, Gehorsam, Liebe, Heim, Sittlichkeit und Religion verabscheuenswerte Tyrannen sind und das Dasein eine vulgäre Kette von Strafen und Lügen bedeutet, von Zwang und Unterdrückung, Eifersucht, Argwohn und gegenseitigem Beschuldigen—oh! Ich kann es dir nicht beschreiben: zu deinem Glück weißt du nichts davon. (Sie setzt sich und holt Atem.

(Gloria hat mit glänzenden Augen zugehört und teilt den ganzen
Unwillen ihrer Mutter.)

(Dolly ganz unempfänglich für Rhetorik:) Siehe "Die Eltern des zwanzigsten Jahrhunderts", Kapitel über Freiheit, passim.

(Frau Clandon berührt liebevoll ihre Schulter, selbst durch ein Spottwort von ihr besänftigt:) Meine liebe Dolly, wenn du nur wüßtest, wie froh ich bin, daß dir das alles nur einen Scherz bedeutet, so bitter ernst es mir auch ist. (Wendet sich etwas entschlossener zu Philip:) Phil, ich frage dich niemals nach deinen Privatangelegenheiten; du wirst dir doch nicht einfallen lassen, mich nach den meinigen zu fragen—wie?

(Philip.) Ich glaube, wir sind es uns selbst schuldig, zu erklären, daß die Frage, die wir an dich richten wollen, ebensosehr unsere Angelegenheit wie die deine ist.

(Dolly.) Überdies kann's nicht gut sein, daß jemand eine Menge Fragen in seinem Innern verschlossen herumtragen soll. Das hast du getan, Mama! Aber schau, wie entsetzlich es dafür aus mir hervorbricht.

(Frau Clandon.) Ich sehe, ihr müßt eure Frage stellen. Also tut es.

(Dolly) und (Philip gleichzeitig:) Wer—(Sie halten inne.)

(Philip.) Nun aber, Dolly! Soll ich diese Angelegenheit führen oder du?

(Dolly.) Du.

(Philip.) Dann halte deinen Mund. (Dolly tut das in des Wortes buchstäblicher Bedeutung:) Der Fall ist einfach folgender: Als der Zahnschlosser—

(Frau Clandon protestierend:) Phil!

(Philip.) Zahnarzt ist ein häßliches Wort. Der Mann des Goldes und des Elfenbeins fragte uns also, ob wir die Kinder des Herrn Densmore Clandon aus Newbury Hall wären. Gemäß deinen, in der Abhandlung über das Betragen im zwanzigsten Jahrhundert, ausgesprochenen Lehren und deinen uns wiederholt persönlich erteilten Ermahnungen, die Zahl unserer unnötigen Lügen zu beschränken, haben wir wahrheitsgetreu geantwortet, daß wir es nicht wüßten.

(Dolly.) Das wußten wir auch nicht!

(Philip.) Sch! Die Folge davon war, daß der Gummiarchitekt bezüglich der Annahme unserer Einladung große Schwierigkeiten machte, obgleich ich bezweifle, daß er in den letzten vierzehn Tagen etwas anderes genossen hat als Tee und Butterbrot.—Nun bin ich aber dank meiner Menschenkenntnis zu der Überzeugung gelangt, daß wir einen Vater gehabt haben müssen und daß du wahrscheinlich weißt, wer das war.

(Frau Clandon, deren Erregung wiederkehrt:) Halt, Phil! Dein Vater bedeutet weder etwas für dich noch für mich. (Heftig:) Das genügt! (Die Zwillinge schweigen, sind aber nicht befriedigt. Sie machen lange Gesichter.)

(Gloria, die dem Streit aufmerksam zugehört hat, mengt sich plötzlich ein. Vortretend:) Mutter, wir haben ein Recht zu wissen, wer unser Vater ist!

(Frau Clandon erhebt sich und wendet sich zu ihr:) Gloria! "Wir?" Wer ist "wir"?

(Gloria, entschlossen:) Wir drei. (Ihr Ton ist nicht mißzuverstehen, sie setzt zum ersten Male ihre Entschlossenheit der ihrer Mutter feindlich entgegen. Die Zwillinge treten sofort zum Feinde über.)

(Frau Clandon verletzt:) "Wir" pflegte sonst in deinem Munde "du und ich" zu bedeuten, Gloria.

(Philip erhebt sich entschlossen und setzt den Schemel beiseite:) Wir tun dir weh—also lassen wir's sein. Wir dachten nicht, daß es dich so unangenehm berühren könnte. Ich will es nicht wissen.

(Dolly den Tisch verlassend:) Ich schon gar nicht.—Oh, schau nicht so traurig drein, Mama! (Sie blickt ärgerlich auf Gloria.)

(Frau Clandon führt ihr Taschentuch rasch an die Augen und setzt sich wieder:) Ich danke dir, Liebling. Ich danke dir, Phil.

(Gloria unerbittlich:) Es ist unser gutes Recht, das zu erfahren,
Mutter!

(Frau Clandon entrüstet:) Ah! Du bestehst also darauf!

(Gloria.) Sollen wir es nie erfahren?

(Dolly.) O Gloria—nicht doch! Das ist unmenschlich!

(Gloria mit ruhigem Hohn:) Was hat man davon, wenn man schwach ist? Du hörst, was hier mit diesem Herrn geschehen ist, Mutter. Ganz dasselbe ist auch mir widerfahren.

/*
(Frau Clandon) Was meinst du?
(Dolly) }(alle zusammen:) O erzähle!
(Philip) Was ist dir passiert?
*/

(Gloria.) Oh, nichts von Belang! (Sie wendet sich ab und geht an den Armstuhl vor dem Kamin, in den sie sich, fast mit dem Rücken gegen die andern, niederläßt. Da alle erwartungsvoll schweigen, fügt sie, über die Schulter sprechend, mit gemachter Gleichgültigkeit hinzu:) An Bord des Schiffes hat mir der erste Offizier die Ehre erwiesen, um meine Hand anzuhalten.

(Dolly.) Nein, um meine Hand!

(Frau Clandon.) Der erste Offizier?… Ist das dein Ernst,
Gloria?—Was hast du ihm geantwortet? (Sich verbessernd:)
Entschuldige, ich bin nicht berechtigt, danach zu fragen.

(Gloria.) Die Antwort war ziemlich einfach: ein Mädchen, das nicht einmal weiß, wer sein Vater ist, kann einen solchen Antrag nicht annehmen.

(Frau Clandon.) Du wolltest ihn doch sicherlich auch nicht annehmen?

(Gloria wendet sich ein wenig um und erhebt ihre Stimme:) Nein. Aber gesetzt den Fall, ich hätte Lust gehabt—

(Philip.) Hat diese Schwierigkeit dich auch abgehalten, Dolly?

(Dolly.) Nein. Ich habe seinen Antrag angenommen.

/*
(Gloria) Was?
(Frau Clandon) }(alle zugleich rufen:) Dolly!
(Philip) Na, ich muß sagen!
*/

(Dolly naiv:) Er sah so blödsinnig aus!

(Frau Clandon.) Aber warum hast du das getan, Dolly?

(Dolly.) Aus Spaß wahrscheinlich. Er mußte meinem Finger für den
Ehering Maß nehmen. Du hättest das auch getan.

(Frau Clandon.) Nein, Dolly, das hätte ich nicht! Tatsächlich hat mir der erste Offizier einen Heiratsantrag gemacht; aber ich habe ihm gesagt, er möge sich derlei Scherze für Frauen aufheben, die jung genug wären, daran Spaß zu haben… Er scheint meinen Rat befolgt zu haben. (Sie erhebt sich und geht an den Kamin:) Gloria, ich bedauere, daß du mich für schwach hältst. Aber ich kann dir nicht sagen, was du verlangst. Ihr seid alle zu jung.

(Philip.) Das ist ein überraschendes Außerachtlassen der Prinzipien des zwanzigsten Jahrhunderts.

(Dolly zitierend:) "Beantworte alle Fragen deiner Kinder und beantworte sie aufrichtig, sobald sie alt genug sind, sie zu stellen. "—Siehe "Die Mutterpflichten im zwanzigsten Jahrhundert"—

(Philip.) Seite eins—

(Dolly.) Kapitel eins

(Philip.) Satz eins.

(Frau Clandon.) Liebe Kinder, ich habe nicht gesagt, daß ihr zu jung seid, um es zu erfahren—ich sagte, ihr wäret zu jung, um von mir ins Vertrauen gezogen zu werden.—Ihr seid sehr begabte Kinder—alle— aber es freut mich um euretwillen, daß ihr noch sehr unerfahren seid und daher auch sehr teilnahmslos. Ich aber habe Erfahrungen gesammelt, über die ich nur mit Leuten sprechen könnte, die durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe. Ich hoffe, daß ihr euch für solche Mitteilungen nie eignen werdet. Aber ich will dafür sorgen, daß ihr alles, was ihr wissen möchtet, erfahren sollt.—Genügt euch das?

(Philip.) Ein neuer Vorwurf, Dolly!

(Dolly:) Wir sind teilnahmslos!

(Gloria lehnt sich in ihrem Stuhl vor und sieht ernst zu ihrer Mutter auf:) Mutter, so hab' ich's nicht gemeint; teilnahmslos wollt' ich nicht sein.

(Frau Clandon zärtlich:) Gewiß nicht, mein Herz.—Glaubst du, daß ich dich nicht verstehe?

(Gloria sich erhebend:) Aber Mutter—

(Frau Clandon etwas zurückweichend:) Ja?…

(Gloria hartnäckig:) Es ist Unsinn, zu behaupten, daß unser Vater uns nichts angehe.

(Frau Clandon zu plötzlichem Entschluß herausgefordert:) Erinnerst du dich an deinen Vater?

(Gloria nachdenklich, als wenn die Erinnerung eine zärtliche wäre:)
Ich weiß es nicht bestimmt… ich glaube.

(Frau Clandon grimmig:) Du weißt es nicht bestimmt?

(Gloria.) Nein.

(Frau Clandon mit ruhiger Festigkeit:) Gloria, wenn ich dich jemals geschlagen hätte, (Gloria weicht zurück, Philip und Dolly sind unangenehm berührt; alle drei starren sie empört an, während sie schonungslos fortfährt:)—absichtlich geschlagen—ganz klar bewußt—in der Absicht, dir weh zu tun—mit einer eigens für diesen Zweck gekauften Peitsche… glaubst du, daß du dich daran erinnern würdest?

(Gloria stößt einen Ruf beleidigter Abwehr aus:) Oh!

(Frau Clandon:) Das würde deine letzte Erinnerung an deinen Vater gewesen sein, wenn ich euch nicht von ihm fortgenommen hätte. Ich habe ihn eurem Leben ferngehalten: haltet ihr ihn nun dem meinen fern, indem ihr nie wieder in meiner Gegenwart von ihm redet.

(Gloria bedeckt einen Augenblick schaudernd ihr Gesicht mit den Händen. Da sie jemanden vor der Tür hört, wendet sie sich ab und tut so, als wäre sie damit beschäftigt, die Namen der Bücher im Bücherschrank zu besehen.)

(Frau Clandon setzt sich auf das Sofa.)

(Dr. Valentine kehrt zurück:) Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu lange warten lassen. Mein Hausherr ist wirklich ein außergewöhnlicher Kerl!

(Dolly lebhaft:) Oh, erzählen Sie uns das!—Auf wie lange hat er Ihnen die Zahlungsfrist verlängert?

(Frau Clandon außer sich über ihres Kindes Manieren:) Dolly! Dolly!
Liebe Dolly! Gewöhne dir doch das Fragen ab!

(Dolly verstellt demütig:) O bitte, verzeihen Sie… Aber Sie werden es uns erzählen—nicht wahr, Herr Doktor?

(Dr. Valentine.) Die Miete will er gar nicht haben. Er hat sich an einer brasilianischen Nuß einen Zahn gebrochen und mich gebeten, ihn zu untersuchen und dann mit ihm zu frühstücken.

(Dolly.) So rufen Sie ihn herein und ziehen Sie ihm den Zahn gleich aus; dann wollen wir ihn auch zum Frühstück mitnehmen! Sagen Sie dem Mädchen, sie soll ihn heraufholen. (Sie läuft zur Glocke und klingelt energisch. Dann wendet sie sich mit plötzlichem Bedenken zu Dr. Valentine und fügt hinzu:) Ich nehme an, daß er ein angesehener Mann ist… wirklich angesehen?

(Dr. Valentine.) Sicherlich! Nicht wie ich.

(Dolly.) Ganz gewiß?

(Frau Clandon ringt schwach nach Atem, aber ihre Kraft zum
Protestieren ist erschöpft.)

(Dr. Valentine.) Ganz gewiß!

(Dolly.) Dann los—bringen Sie ihn herauf!

(Dr. Valentine blickt zögernd auf Frau Clandon:) Ohne Zweifel würde er entzückt sein, wenn—wenn—

(Frau Clandon erhebt sich und sieht auf die Uhr:) Ich würde mich sehr freuen, Ihren Freund kennen zu lernen, wenn Sie ihn zum Kommen bewegen können. Aber ich kann jetzt nicht auf ihn warten; ich habe um dreiviertel eins im Hotel eine Verabredung mit einem alten Freund, den ich achtzehn Jahre lang—seit ich England verließ—nicht gesehen habe. —Wollen Sie mich also entschuldigen, bitte?

(Dr. Valentine.) Gewiß, Frau Clandon.

(Gloria.) Soll ich mitkommen?

(Frau Clandon.) Nein, mein Kind. Ich will allein sein.

(Sie geht ab, sichtlich noch ziemlich erregt. Dr. Valentine öffnet ihr die Tür und folgt ihr.)

(Philip bedeutungsvoll zu Dolly:) Hm hm…

(Dolly bedeutungsvoll zu Philip:) Aha! (Das Stubenmädchen hat dem
Glockenzeichen Folge geleistet:) Führen Sie den alten Herrn herauf.

(Das Stubenmädchen verblüfft:) Gnädiges Fräulein?

(Dolly.) Den alten Herrn mit den Zahnschmerzen.

(Philip.) Den Hausherrn!

(Das Stubenmädchen.) Herrn McNaughtan?

(Philip.) Heißt er McNaughtan?

(Dolly zu Philip:) Das klingt rheumatisch, nicht wahr?

(Philip.) Wahrscheinlich hat er Gichtknoten.

(Dolly über die Schulter zum Stubenmädchen:) Führen Sie Herrn
Gichtknoten herauf.

(Das Stubenmädchen verbessernd:) Herrn McNaughtan, gnädiges Fräulein.
(Ab.)

(Dolly wiederholt den Namen wie eine Lektion:) McNaughtan—McNaughtan—McNaughtan—McNaughtan… (Sie setzt sich nachdenklich an den Schreibtisch:) Ich muß diesen Namen lernen, oder der Himmel weiß, wie ich ihn nennen werde.

(Gloria.) Phil, kannst du an diese entsetzliche Mitteilung glauben, die uns die Mutter eben über unsern Vater gemacht hat?

(Philip.) Oh, es gibt viele Menschen solchen Schlages. Der alte Chamico pflegte seine Frau und seine Töchter mit einer Pferdepeitsche durchzubleuen.

(Dolly verachtungvoll:) Ja, ein Portugiese!

(Philip.) Menschen, die Tiere sind, haben immer viel Ähnlichkeit, ob es nun Portugiesen oder Engländer sind, Dolly. Verlaß dich auf meine Menschenkenntnis. (Er nimmt seine Stellung auf dem Kaminteppich mit einem verantwortlichen altklugen Aussehen wieder ein.)

(Gloria mit bekümmertem Gewissen:) Ich glaube nicht, daß wir jemals unser altes Rätselspiel "wer mag unser Vater sein" wieder spielen werden.—Dolly, tut's dir um deinen Vater leid—den Vater mit dem vielen Geld?

(Dolly.) Und du, wie steht es mit deinem Vater, dem einsamen alten Mann, mit dem zärtlichen kummervollen Herzen? Der ist dir nun auch durch die Binsen gegangen, wie es scheint.

(Philip.) Es steht außer Zweifel, daß der alte Herr ein zerplatzter Aberglauben ist. (Man hört Dr. Valentine vor der Tür mit jemandem sprechen:) Aber still—er kommt!

(Gloria nervös:) Wer?

(Dolly.) Gichtknoten.

(Philip.) Sch! Aufgepaßt! (Sie nehmen ihre besten Manieren zusammen.)

(Philip setzt mit leiser Stimme zu Gloria hinzu:) Wenn er fein genugist, daß man ihn zum Frühstück einladen kann, nick' ich Dolly zu; und wenn sie dir zunickt, lad ihn sofort ein.

(Dr. Valentine kehrt mit seinem Hausherrn zurück. Herr Fergus McNaughtan ist ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, groß, abgehärtet und sehnig, mit einem furchtbar hartnäckigen, übellaunigen, habgierigen Mund und einer gebieterisch streitsüchtigen Stimme. Dabei ist er ungemein nervös und empfindlich, was man an seiner dünnen, durchsichtigen Haut und an seinen schmalen Fingern erkennen kann. Seine daraus folgende Fähigkeit, unter der Unbeliebtheit, die sein Temperament und seine Halsstarrigkeit über ihn bringen, stark zu leiden, kommt in seinen ernsten, schmerzlichen Augen zum Ausdruck, in dem klagenden Ton seiner Stimme, einem schmerzlichen Mangel an Vertrauen auf das Willkommen, das man ihm bieten wird, und in einer fortgesetzten, aber nicht sehr erfolgreichen Bemühung, seine angeboren unhöflichen Manieren zu verbessern und seine Empfindlichkeit abzustreifen. Seine kühn geschweiften Brauen und seine Stirn verraten deutlich einen befähigten Menschen; ein Zeichen beschränkter Geldmittel oder geschäftlichen Mißkredits ist an ihm nicht bemerkbar. Er ist gut gekleidet und könnte auf den ersten Blick für den wohlhabenden Chef einer von einer alten Familie der Geschäftsaristokratie ererbten Firma gehalten werden. Sein marineblaue Rock ist nicht nach dem üblichen modernen Muster; es ist nicht gerade ein Lotsenrock, aber der Zuschnitt seines Anzugs, die großen Knöpfe und breiten Aufschläge würden besser auf eine Schiffswerft als in ein Kontor passen. Er hat Gefallen an Dr. Valentine gefunden, der sich aus seiner Vierschrötigkeit nichts macht und ihn mit einer respektlosen Menschlichkeit behandelt, für die er Dr. Valentine heimlich dankbar ist.)

(Dr. Valentine.) Darf ich die Herrschaften bekannt machen?—Herr
McNaughtan—Fräulein Dorothea Clandon—Herr Philip Clandon—Fräulein
Gloria Clandon. (McNaughtan steht da und verbeugt sich nervös. Sie
verbeugen sich alle:) Nehmen Sie Platz, Herr McNaughtan.

(Dolly auf den Operationsstuhl zeigend:) Das ist der bequemste Stuhl,
Herr—McNaughtan.

(McNaughtan.) Ich danke. Aber will nicht das gnädige Fräulein da sitzen—? (Er zeigt auf Gloria, die neben dem Stuhl steht.)

(Gloria.) Ich danke Ihnen, Herr McNaughtan. Wir wollen gerade gehn.

(Dr. Valentine weist ihn mit gutmütiger Entschiedenheit nach dem Stuhl:
) Setzen Sie sich—setzen Sie sich. Sie sind müde.

(McNaughtan.) Na, da ich weitaus der Älteste unter den Anwesenden bin, darf ich vielleicht—(Er beendigt den Satz, indem er sich mit etwas gichtischer Gebärde in den Operationsstuhl setzt. Inzwischen nickt Philip, der ihn während seines Ganges durch das Zimmer kritisch studiert hat, Dolly zu, und Dolly nickt Gloria zu.)

(Gloria.) Wenn wir recht verstanden haben, sind wir schuld, daß Herr
Dr. Valentine nicht mit Ihnen frühstückt; da wir ihn mithaben wollen.
Meine Mutter wird sich nur sehr freuen, wenn Sie auch mitkommen.

(McNaughtan, nachdem er sie einen Augenblick ernst betrachtet hat, dankbar:) Ich danke Ihnen, ich werde mit Vergnügen erscheinen.

/* (Gloria) (murmeln:) Ich danke Ihnen sehr für… (Dolly) } (höflich: ) Es freut uns außerordentlich, daß… (Philip) Wir sind wirklich entzückt, Ihre… */

(Die Unterhaltung stockt. Gloria und Dolly blicken erst einander und dann Dr. Valentine und Philip an. Die beiden Männer, der Lage nicht gewachsen, sehen von ihnen fort, einander in die Augen und sind augenscheinlich dadurch so verwirrt, daß sie wieder zurückschauen und den Augen von Gloria und Dolly begegnen. So sucht einer das Auge des andern der Reihe nach, und sie sehen alle auf nichts und sind total verlegen. McNaughtan sieht sich um und wartet auf die andern, bevor er beginnt. Das Stillschweigen fängt an, unerträglich zu werden.)

(Dolly plötzlich, um die Unterhaltung aufrechtzuerhalten:) Wie alt sind Sie, Herr McNaughtan?

(Gloria schnell:) Ich fürchte, wir müssen eilen, Herr Doktor.—Es
bleibt also dabei, daß wir uns um halb zwei Uhr im Marinehotel treffen.
(Sie geht zur Tür, Philip folgt ihr, Dr. Valentine geht an den
Glockenzug.)

(Dr. Valentine.) Punkt halb zwei. (Er klingelt:) Vielen Dank. (Er begleitet Gloria und Philip zur Tür und geht mit ihnen hinaus.)

(Dolly, die sich inzwischen zu McNaughtan hingeschlichen hat:) Lassen Sie sich Lachgas geben—das kostet noch fünf Schillinge extra, aber die Sache ist es wert.

(McNaughtan belustigt:) Ausgezeichnet! (Sie ernster betrachtend:) Sie wollen also wissen, wie alt ich bin—wirklich? Ich bin siebenundfünfzig.

(Dolly mit Überzeugung:) Sie sehen auch so alt aus.

(McNaughtan grimmig:) Jawohl, das ist wahrscheinlich der Fall.

(Dolly.) Warum sehen Sie mich so forschend an? Ist etwas an mir nicht in Ordnung? (Sie befühlt ihren Hut, ob er in Ordnung ist.)

(McNaughtan.) Sie erinnern mich an wen.

(Dolly.) An wen?

(McNaughtan.) Nun—Sie haben eine merkwürdige Ähnlichkeit mit meiner
Mutter.

(Dolly ungläubig:) Mit Ihrer Mutter?!… Meinen Sie nicht vielleicht mit Ihrer Tochter?

(McNaughtan bricht plötzlich haßerfüllt aus:) Nein—verlassen Sie sich darauf, daß ich nicht meine Tochter meine!

(Dolly teilnahmsvoll:) Tut Ihnen der Zahn sehr weh? (McNaughtan.)
Nein, nein—es ist nichts. Ein Anfall von Erinnerungen, nicht von
Zahnschmerzen, Fräulein Clandon.

(Dolly.) Heraus damit! "Wurzelnden Gram ausreuten dem
Gedächtnis"[*]—mit Lachgas, fünf Schillinge extra.

[Footnote *: MacBeth, 5. Akt, 3. Szene (Schlegel und Tieck).]

(McNaughtan rachsüchtig:) Nein, kein Schmerz. Eine Beleidigung, die mir einst zugefügt wurde! Ich kann Beleidigungen nicht vergessen—und ich will sie nicht vergessen! (Sein Gesicht legt sich in unversöhnliche Falten.)

(Dolly McNaughtans Ausdruck kritisch betrachtend:) Ich glaube nicht, daß wir Sie werden leiden mögen, wenn Sie über erlittenem Unrecht brüten.

(Philip der unbeobachtet wieder eingetreten ist und sich hinter Dolly geschlichen hat:) Meine Schwester meint es ehrlich, Herr McNaughtan, aber sie ist indiskret.—Nun, Dolly, fort! (Er geht mit ihr zur Tür.)

(Dolly in einem vollkommen hörbaren Flüsterton:) Er behauptet, daß er
erst siebenundfünfzig ist—er hält mich für das Ebenbild seiner
Mutter—er haßt seine Tochter—und… (Sie wird durch die Rückkehr Dr.
Valentines unterbrochen.)

(Dr. Valentine.) Fräulein Clandon ist schon voraus.

(Philip.) Vergessen Sie nicht—Punkt halb zwei.

(Dolly.) Bitte, lassen Sie Herrn McNaughtan so viel Zähne übrig, daß er mit uns essen kann. (Sie gehen ab.)

(Dr. Valentine kommt herab zu seiner Instrumentenlade und öffnet sie.)

(McNaughtan.) Das ist ein verzogenes Kind, Herr Doktor! Das richtige
Früchtchen der modernen Erziehung! Als ich im Alter dieser jungen
Dame war, hatte ich immer die letzte Tracht Prügel frisch in der
Erinnerung, um mich gute Manieren zu lehren.

(Dr. Valentine nimmt Zahnspiegel und Sonde von der seiner Lade gegenüber befestigten Platte:) Wie gefiel Ihnen ihre Schwester? (McNaughtan.) Die war Ihnen lieber, nicht wahr!

* * * * *

(Dr. Valentine überschwenglich:) Sie hat mich ergriffen, als ein
Wesen—(Er besinnt sich und fügt prosaisch hinzu:) Doch das hat nichts
mit dem Geschäft zu tun. (Er stellt sich hinter McNaugthans rechte
Schulter und nimmt seinen berufsmäßigen Ton an:) Aufmachen, bitte.

(McNaughtan öffnet den Mund.)

(Dr. Valentine steckt den Spiegel hinein und untersucht seine Zähne:) Hm!… Na, den haben Sie nett abgebrochen—wie schade! So ein prächtiges Gebiß zu ruinieren!—Warum knacken Sie damit Nüsse auf? (Er zieht den Spiegel zurück und tritt vor, um mit McNaugthan zu sprechen.)

(McNaughtan.) Ich habe immer mit den Zähnen Nüsse geknackt—wozu hat man sie denn? (Entschieden:) Das richtige Mittel, seine Zähne in gutem Zustand zu erhalten, besteht darin, daß man sie an Knochen und Nüssen genügend abnützt und sie täglich mit Seife putzt—mit gewöhnlicher Schmierseife!

(Dr. Valentine.) Seife?… Warum mit Seife?

(McNaughtan.) Als Junge fing ich damit an, weil man mich dazu anhielt, und seitdem hab' ich's immer getan. Und ich hab' in meinem ganzen Leben keine Zahnschmerzen gehabt!

(Dr. Valentine.) Finden Sie das nicht ziemlich ekelhaft?

(McNaughtan.) Ich habe gefunden, daß die meisten Dinge, die mir gut getan haben, ekelhaft waren; aber ich wurde angelernt, mich damit abzufinden, und man sorgte dafür, daß ich mich damit abfand. Jetzt bin ich daran gewöhnt;—wahrhaftig, ich liebe den Geschmack, wenn die Seife wirklich gut ist.

(Dr. Valentine macht gegen seine Absicht eine Grimasse:) Sie scheinen sehr sorgfältig erzogen worden zu sein, Herr McNaughtan.

(McNaughtan grimmig:) Jedenfalls bin ich nicht verzogen worden!

(Dr. Valentine lächelt vor sich hin:) Sind Sie dessen ganz sicher?

(McNaughtan.) Wie meinen Sie das?

(Dr. Valentine.) Nun, Ihre Zähne sind gut—ich gebe es zu; aber ich habe in manchem Mund, der mit sich sehr nachsichtig umging, ebenso gute gesehn. (Er geht an den Rand der Lade und vertauscht die Sonde mit einer andern.)

(McNaugthan.) Es kommt nicht auf die Zähne an, sondern auf den
Charakter.

(Dr. Valentine versöhnlich:) Oh! Auf den Charakter—ich verstehe.
(Er nimmt die Behandlung wieder auf:) Etwas weiter, bitte—hm!… Der
da wird heraus müssen—er ist nicht mehr zu retten. (Er zieht die
Sonde zurück und tritt wieder seitwärts an den Stuhl, um zu plaudern:)
Fürchten Sie sich nicht, Sie werden gar nichts fühlen; ich werde Ihnen
Lachgas geben.

(McNaughtan.) Unsinn, Mensch! Ich brauche kein Lachgas! Heraus damit! Zu meiner Zeit hat man den Leuten beigebracht, notwendige Schmerzen zu ertragen.

(Dr. Valentine.) Oh! Wenn Sie Schmerzen gern mögen—schön. Ich werde Ihnen so weh tun, wie Sie nur wollen—ohne für den günstigen Einfluß auf Ihren Charakter irgendeinen Preisaufschlag zu verlangen.

(McNaughtan erhebt sich und starrt ihn an:) Junger Mann, Sie schulden mir sechs Wochen Miete!

(Dr. Valentine.) Richtig.

(McNaughtan.) Können Sie mich bezahlen?

(Dr. Valentine.) Nein.

(McNaughtan zufrieden mit seinem Vorteil:) Das habe ich mir gedacht.
—Wann, glauben Sie, werden Sie zahlungsfähig sein, da Sie nichts
Besseres wissen, als sich über Ihre Patienten lustig zu machen? (Er
setzt sich wieder.)

(Dr. Valentine.) Mein lieber Herr McNaughtan. Meine Patienten haben nicht alle ihren Charakter an Schmierseife gebildet.

(McNaughtan packt ihn plötzlich am Arm, während Dr. Valentine sich wieder nach der Lade wendet:) Desto schlimmer für sie! Ich sage Ihnen, Sie verstehen meinen Charakter nicht! Wenn ich all meine Zähne entbehren könnte ich würde sie mir, einen nach dem andern, von Ihnen ziehen lassen, um Ihnen zu zeigen, was ein tüchtiger, abgehärteter Mann aushalten kann, wenn er sich einmal dazu entschlossen hat. (Er nickt Dr. Valentine zu, um diese Erklärung zu bekräftigen, und läßt ihn los.)

(Dr. Valentine, dessen sorglose Scherzhaftigkeit sich gar nicht stören läßt:) Und Sie wollen noch mehr abgehärtet werden, nicht wahr?

(McNaughtan.) Ja.

(Dr. Valentine schlendert fort zur Glocke:) Für mich sind Sie als
Hausherr—schon abgehärtet genug.

(McNaughtan quittiert diesen Scherz mit einem Brummen grimmigen Humors.)

(Dr. Valentine klingelt und fragt in heiterer, beiläufiger Weise, während er auf die Antwort wartet:) Warum haben Sie nie geheiratet, Herr McNaughtan? Eine Frau und Kinder würden Ihnen Ihre Abhärtung schon ein wenig ausgetrieben haben.

(McNaughtan mit unerwarteter Wildheit:) Was zum Teufel geht Sie das an?!

(Das Stubenmädchen erscheint an der Tür.)

(Dr. Valentine höflich:) Bitte, etwas warmes Wasser. (Sie zieht sich zurück, und Dr. Valentine geht wieder an die Lade, durch McNaughtans Grobheit durchaus nicht aus dem Konzept gebracht. Er setzt die Unterhaltung fort, während er eine Zange aussucht und sie sich zur Hand legt, zusammen mit einem Sperrholz und einem Trinkglas:) Sie fragten eben, was zum Teufel mich das angeht… Nun, ich habe vor, mich selbst zu verheiraten.

(McNaughtan mit brummiger Ironie:) Natürlich, Mensch—natürlich! Wenn ein junger Mann auf den letzten Heller heruntergekommen ist und in vierundzwanzig Stunden von seinem Hausherrn gepfändet werden soll, dann heiratet er. Das habe ich schon öfter beobachtet.—Gut, heiraten Sie und werden Sie unglücklich!

(Dr. Valentine.) Oh, gehen Sie, was wissen Sie davon?

(McNaughtan.) Ich bin kein Junggeselle!

(Dr. Valentine.) Dann gibt es also eine Frau McNaughtan?

(McNaughtan zusammenzuckend, mit einem Gefühl des Unwillens:) Ja—der
Teufel soll sie holen!

(Dr. Valentine unerschütterlich:) Hm!… Am Ende sind Sie auch Vater, nicht nur Ehemann, Herr McNaughtan?

(McNaughtan.) Drei Kinder!

(Dr. Valentine höflich:) Der Teufel soll sie holen—was?

(McNaughtan eifersüchtig:) Nein, Herr: die Kinder gehören mir so gut wie ihr.

(Das Stubenmädchen bringt einen Krug heißes Wasser herein.)

(Dr. Valentine.) Danke. (Er nimmt ihr den Krug ab und bringt ihn an den Stuhl; dann fährt er in dem gleichen nachlässigen Ton fort:) Ich möchte wirklich gern Ihre Familie kennen lernen, Herr McNaughtan. (Er gießt etwas warmes Wasser in das Trinkglas.)

(Das Stubenmädchen geht hinaus.)

(McNaughtan.) Ich bedaure, Sie nicht vorstellen zu können. Ich bin so glücklich, nicht zu wissen, wo sie alle sind, und ich bin's zufrieden, solange sie mir nicht in den Weg kommen.

(Dr. Valentine tut mit einer Bewegung seiner Augenbrauen und Schultern die leise an den Glasrand klirrende Zange in das Glas heißen Wassers.)

(McNaughtan.) Meinetwegen brauchen Sie das Dings da nicht zu wärmen; ich habe keine Angst vor dem kalten Stahl. (Dr. Valentine beugt sich vor, um den Gasschlauch und den Zylinder neben dem Stuhl in Ordnung zu bringen:) Was ist das für ein schweres Ding?

(Dr. Valentine.) O nichts! Ich setze bloß meinen Fuß darauf, wenn ich den nötigen Stützpunkt für einen kräftigen Zug bekommen will.

(McNaughtan sieht gegen seinen Willen beunruhigt aus.)

(Dr. Valentine steht aufrecht neben ihm und setzt das Glas mit der Zange in Bereitschaft. Er fährt fort mit herausfordernder Gleichgültigkeit zu plaudern:) Sie raten mir also, mich nicht zu verheiraten, Herr McNaughtan? (Er bückt sich, um die Kurbel an den Apparat zu befestigen, durch die der Stuhl gehoben und gesenkt werden kann.)

(McNaughtan reizbar:) Ich rate Ihnen, mir den Zahn nun zu ziehen und endlich aufzuhören, mich an meine Frau zu erinnern! Vorwärts, Herr! (Er klammert sich an lit Stuhllehnen und stählt sich.)

(Dr. Valentine setzt ab, die Hand auf der Kurbel, siebt ihn an und sagt:) Um wie viel wollen Sie wetten, daß ich den Zahn herauskriege, ohne daß Sie es spüren?

(McNaughtan.) Um Ihre sechswöchige Miete, mein Junge! Mich foppen Sie nicht!

(Dr. Valentine nimmt die Wette mit Freude an und dreht die Kurbel kräftig hinauf, so daß der Sessel steigt:) Abgemacht! Sind Sie bereit? (McNaughtan, der beunruhigt über sein plötzliches Gehobenwerden die Stuhllehnen losgelassen hat, kreuzt die Arme, setzt sich steif aufrecht und bereitet sich auf das Schlimmste vor. Dr. Valentine läßt den Rücken des Stuhles plötzlich zu einem stumpfen Winkel hinab.)

(McNaughtan packt mit festem Griff die Stuhllehnen, während er zurückfällt:) Au! Nehmen Sie sich in acht, Mensch! Ich bin ganz wehrlos in dieser La—

(Dr. Valentine hält ihm mit dem Sperrholz geschickt den Mund offen und erfaßt das Mundstück des Gasschlauchs:) Sie werden gleich noch wehrloser sein! (Er preßt das Mundstück über McNaughtans Mund und Nase und lehnt sich dabei über McNaugthans Brust so zurück, daß er ihm Kopf und Schultern gut in den Stuhl niederhalten kann.)

(McNaughtan stößt einen unartikulierten Laut in das Mundstück aus und versucht, Dr. Valentine zu packen, den er sich gegenüber glaubt. Nach einem Augenblick greifen seine Arme ins Leere, senken sich und fallen herab. Er ist vollständig bewußtlos.)

(Dr. Valentine wirft mit einem Ausdruck nachdenklichen Triumphes das Mundstück rasch beiseite, nimmt die Zange geschickt aus dem Glas und der Vorbang fällt.)

ZWEITER AKT

(Die Terrasse des Marinehotels—eine viereckige gepflasterte Planform, die in der Sonne funkelt und auf der Seeseite von einer Brustwehr aus schweren Stützpfeilern eingefaßt ist, die wie schwerfällige Ölkrüge aussehen und eine breite steinerne Mauerkappe tragen.)

(Der Oberkellner des Etablissements, der damit beschäftigt ist, auf einem Frühstückstisch Servietten zu ordnen, wendet dem Meere den Rücken zu und hat das Hotel zu seiner Rechten; zu seiner Linken, in der Ecke, befindet sich in der Nähe des Meeres die Flucht von Stufen, die hinunter zum Strand führen. Wenn er vor sich die Terrasse hinunterblickt, sieht er gegenüber, etwas zu seiner Linken, einen Herrn in mittleren Jahren, der auf einem eisengitternen Stuhle an einem kleinen eisernen Tische sitzt, auf dem sich eine von drei Wespen umschwirrte Zuckerdose befindet. Er liest den "Standard" und hat seinen Schirm aufgespannt, um sich gegen die Augustsonne zu schützen, die—es ist noch nicht ein Uhr nachmittag—seine ausgestreckten Beine röstet. Ihm gegenüber, auf der Hotelseite der Terrasse, steht eine Gartenbank von der gewöhnlichen Strandpromenadenform. Besucher treten durch einen Eingang in der Mitte der Fassade ins Hotel, wohin man über ein paar Stufen gelangt, die sich auf einem breiten, erhöhten, gepflasterten Viereck erheben. Näher an der Brüstung ist ein geheimer Weg in die Küche durch ein kleines Gitterportal maskiert. Der Tisch, an dem der Kellner sich beschäftigt, ist sehr lang. Er steht quer über der Terrasse und ist mit fünf Gedecken versehen; vor jedem Gedeck steht ein Stuhl, und zwar befinden sich zwei Stühle auf jeder Längsseite und ein Stuhl an der dem Hotel zugewandten Schmalseite. Gegen die Brustwehr lehnt ein zweiter, als Büfett eingerichteter Tisch, von dem aus serviert werden soll.)

(Der Kellner ist in seiner Art ein bemerkenswerter Mensch. Ein zarter alter Mann mit weißen Haaren und sanften Augen, jedoch so freudig und zufrieden, daß in seiner ermutigenden Gegenwart Ehrgeiz sich als Gemeinheit gerügt fühlt und Einbildungskraft als Verrat an dem überströmenden Reichtum und Interesse der Wirklichkeit. Er hat jenen gewissen Ausdruck, der Menschen eigen ist, die in ihrem Beruf hervorragend sind und die, im Bewußtsein der Nichtigkeit des Erfolges, von Neid unberührt bleiben.)

(Der Herr an dem eisernen Tischchen ist nicht für den Strand gekleidet. Er trägt seinen Londoner Gehrock und Handschuhe; sein hoher Zylinder steht auf dem Tisch neben der Zuckerdose. Die vortreffliche Verfassung und Qualität dieser Kleidung, der goldgeränderte Zwicker, mit dem er den "Standard" liest und die "Times", die an seinem Ellbogen über der Ortszeitung liegt—alles weist auf seine Achtbarkeit hin. Er ist ungefähr fünfzig Jahre alt, glatt rasiert und kurzgeschoren. Seine Mundwinkel sind absichtlich herabgezogen, als hätte er sie im Verdacht, hinaufschnellen zu wollen, und wäre entschlossen, ihnen den Willen nicht zu lassen. Er hat große, weite Ohren, Augen von der Farbe des Stockfisches und eine energische Stirn, die er resolut offen trägt, als wenn er, wiederum, in seiner Jugend beschlossen hätte, wahrheitsliebend, großmütig, unbestechlich zu bleiben, es ihm aber niemals gelungen wäre, diese geistige Gewöhnung automatisch und unbewußt zu machen. Trotzdem macht er durchaus keinen lächerlichen Eindruck; kein Zeichen der Dummheit oder Willensschwäche ist an ihm bemerkbar;—im Gegenteil, er würde dem Anblick nach überall für einen Menschen von mehr als durchschnittlichen geschäftlichen Fähigkeiten und geschäftlicher Verantwortung gehalten werden. Augenblicklich genießt er das Wetter und das Meer zu sehr, um die Geduld zu verlieren; aber er hat alles Neue in seinen Zeitungen durchgelesen und ist gegenwärtig auf die Inserate angewiesen, die aber nicht interessant genug sind, ihn für die Dauer zu fesseln.)

(Der Herr gähnt und verzichtet auf die Zeitung als ungenießbar:)
Kellner!

(Der Kellner.) Bitte? (Er nähert sich ihm.)

(Der Herr.) Wissen Sie ganz bestimmt, daß Frau Clandon vor dem
Frühstück zurückkommt?

(Der Kellner.) Ganz bestimmt. Sie erwartet den Herrn um dreiviertel auf Eins. (Der Herr, den des Kellners Stimme sofort besänftigt, sieht ihn mit einem lässigen Lächeln an. Der Kellner hat eine ruhige, sanfte, melodische Stimme, die seinen alltäglichsten Bemerkungen ein sympathisches Interesse verleiht; er spricht mit dem süßesten Anstand, ohne seine H's zu verschlucken oder sie zu verlegen, oder in irgendeine andere Vulgarität zu verfallen. Der Kellner sieht nach der Uhr und fährt fort:) Es ist noch nicht so viel, nicht? Erst zwölf Uhr dreiundvierzig… nur noch zwei Minuten muß sich der Herr gedulden.— Schöner Morgen, nicht wahr?

(Der Herr.) Ja. Sehr frisch im Vergleich zu London.

(Der Kellner.) Ja. Das sagen alle unsere Gäste.—Eine sehr angenehme
Familie, die von Frau Clandon.

(Der Herr.) Sie mögen sie? (Der Kellner.) Ja. Sie haben ein sehr unbefangenes, einnehmendes Betragen—wahrhaftig, sehr einnehmend. Namentlich die junge Dame und der junge Herr.

(Der Herr.) Fräulein Dorothea und Herr Philip wahrscheinlich.

(Der Kellner.) Jawohl. Die junge Dame sagt immer, wenn sie mir einen Befehl erteilt oder so etwas: "Sie wissen, William, daß wir Ihretwegen in dieses Hotel gekommen sind, weil wir gehört haben, was für ein vollendeter Kellner Sie sind." Der junge Herr sagt mir immer, daß ich ihn sehr an seinen Herrn Vater erinnere, (der Herr fährt auf bei diesen Worten:) und daß er von mir erwartet, daß ich mich gegen ihn auch wie ein Vater benehmen werde. (Mit beruhigendem sonnigem Tonfall: ) Oh, so liebenswürdig… wirklich, sehr höflich und freundlich sind sie!

(Der Herr.) Sie sollen seinem Vater ähnlich sein! (Er lacht über diese Idee.)

(Der Kellner.) Oh, wir dürfen nicht zu ernst nehmen, was die
Herrschaften sagen. Wenn es wahr wäre, so würde die junge Dame die
Ähnlichkeit natürlich auch bemerkt haben.

(Der Herr.) Hat sie das nicht?

(Der Kellner.) Nein. Sie fand, ich hätte mit der Shakespear-Büste in der Stratford-Kirche Ähnlichkeit; deshalb nennt sie mich auch "William"—mein richtiger Name ist Walter. (Er wendet sich um, will nach dem Tisch zurückgeben und erblickt Frau Clandon, die über die Stufen vom Strand her die Terrasse heraufkommt.) Da ist Frau Clandon. (Zu Frau Clandon, in einem bescheiden vertraulichen Tone:) Ein Herr ist da, der Sie sprechen will, gnädige Frau.

(Frau Clandon.) Es werden noch zwei Herren mit uns frühstücken,
William.

(Der Kellner.) Sehr wohl, gnädige Frau. Danke schön, gnädige Frau.
(Er zieht sich in das Hotel zurück.)

(Frau Clandon kommt nach vorn und sieht sich nach ihrem Besucher um, geht aber an dem Herrn vorbei, ohne irgendein Zeichen des Erkennens zu geben.)

(Der Herr sieht verschmitzt nach ihr unter dem Schirm hervor:)
Erkennen Sie mich nicht?

(Frau Clandon sieht ihn scharf und ungläubig an:) Sind Sie Finch
McComas?

(McComas.) Können Sie das nicht raten? (Er schließt den Schirm, stellt ihn zur Seite, pflanzt sich mit den Händen in den Hüften lustig vor ihr auf und laßt sich betrachten.)

(Frau Clandon.) Mir scheint, Sie sind es wirklich! (Sie reicht ihm die Hand. Der Händedruck, der folgt, ist der alter Freunde nach einer Langen Trennung:) Wo ist Ihr Bart?

(McComas komisch feierlich:) Würden Sie einen Anwalt mit einem Bart beschäftigen?

(Frau Clandon zeigt auf den Zylinder, der auf dem Tischchen steht:)
Ist das Ihr Hut?

(McComas.) Würden Sie einen Anwalt mit einem Sombrero beschäftigen?

(Frau Clandon.) Ich habe Sie während der ganzen achtzehn Jahre in
Gedanken mit einem Bart und einem großen, runden Hut vor mir gesehen.
(Sie setzt sich auf die Gartenbank. McComas nimmt seinen Platz wieder
ein.) Gehen Sie noch immer zu den Versammlungen der philosophischen
Gesellschaft?

(McComas ernst:) Ich besuche keine Versammlungen mehr.

(Frau Clandon.) Finch, ich merke, was mit Ihnen vorgegangen ist! Sie sind respektabel geworden!

(McComas.) Und Sie nicht?

(Frau Clandon.) Nicht im geringsten.

(McComas.) Sie halten noch immer an Ihren alten Ansichten fest?

(Frau Clandon.) Fester denn je.

(McComas.) Was Sie sagen!… Und sind Sie noch immer bereit, öffentlich zu sprechen, trotz Ihres Geschlechts? (Frau Clandon nickt. ) Halten Sie sogar noch immer an der Ansicht fest, eine verheiratete Frau sei berechtigt, ihr eigenes Vermögen von dem ihres Gatten zu trennen? (Frau Clandon nickt wieder.) Sind Sie noch immer Vorkämpferin für die Lehre Darwins von der Abstammung der Arten und für John Stuart Mills Schrift über die Freiheit? (Sie nickt.) Lesen Sie noch immer Huxley, Tyndall und George Eliot? (Sie nickt dreimal.) Und verlangen Sie noch immer für die Frauen so gut wie für die Männer den Zutritt zur Universität, die Ausübung aller Gewerbe und das parlamentarische Wahlrecht?

(Frau Clandon energisch:) Jawohl. Ich bin nicht um Haares Breite davon abgewichen, und ich habe Gloria dazu erzogen, mein Werk dort fortzusetzen, wo ich es abgebrochen habe.—Das ist es auch, was mich nach England zurückgeführt hat. Ich fühlte, daß ich kein Recht hatte, meine Tochter lebend in Madeira zu begraben—mein Sankt Helena, Finch! —Sie wird wohl ausgezischt werden, wie ich es wurde—aber sie ist darauf vorbereitet.

(McComas.) Ausgezischt?… Meine liebe gute Frau Clandon, heutzutage könnte Gloria mit allen diesen Ansichten sogar einen Erzbischof heiraten.—Sie haben mir eben vorgeworfen, daß ich respektabel geworden bin. Sie haben sich geirrt—ich halte an unsern alten Meinungen fest, ebenso wie damals—ich gehe nicht in die Kirche, und ich tue nicht so, als ob ich es täte. Ich bekenne, was ich bin: ein radikaler Philosoph, der für Freiheit und für die Rechte des Individuums eintritt, wie mein Meister Herbert Spencer es mich gelehrt hat. Werde ich ausgezischt?… Nein! Ich werde nachsichtig belächelt, wie ein altmodischer Kauz! Ich bin vollständig erledigt, weil ich mich geweigert habe, das Knie vor dem Sozialismus zu beugen.

(Frau Clandon entsetzt:) Sozialismus!

(McComas.) Ja, Sozialismus—vor Ablauf eines Monats wird Fräulein
Gloria bis über die Ohren drin sein, wenn Sie sie hier loslassen.

(Frau Clandon mit Emphase:) Aber ich kann ihr beweisen, daß der
Sozialismus ein Trugschluß ist!

(McComas pathetisch:) Dadurch, daß ich es bewies, habe ich alle meine Schüler verloren, Frau Clandon. Nehmen Sie sich in acht, lassen Sie Gloria ihren eigenen Weg gehen. (Etwas bitter:) Wir sind altmodisch geworden, die Welt denkt, wir seien hinter ihr zurückgeblieben! Es gibt nur noch einen einzigen Ort in England, wo Ihre Anschauungen für vorgeschritten gelten würden.

(Frau Clandon spöttisch und nicht überzeugt:) Die Kirche vielleicht?

(McComas.) Nein, das Theater.—Und jetzt zur Sache. Warum haben Sie mich hierher kommen lassen?

(Frau Clandon.) Nun, zum Teil, weil ich Sie wiedersehen wollte.

(McComas mit gutmütiger Ironie:) Danke!

(Frau Clandon.) Und zum Teil, weil ich möchte, daß Sie den Kindern alles erklären. Sie wissen nichts. Und jetzt, wo wir nach England zurückgekehrt sind, ist es unmöglich, sie noch länger im unklaren zu lassen. (Aufgeregt:) Finch, ich kann mich nicht dazu entschließen, es ihnen zu sagen… ich—(Sie wird durch die Zwillinge und Gloria unterbrochen. Dolly kommt hastig die Stufen heraufgestürzt, im Wettlauf mit Philip, der ein schreckliches Tempo mit einer ungestörten Korrektheit des Betragens verbindet, die ihn jedoch das Rennen kostet. Dolly erreicht ihre Mutter zuerst und stößt durch die Heftigkeit ihrer Ankunft die Gartenbank beinahe über den Haufen.)

(Dolly atmenlos:) Es ist alles in Ordnung, Mama! Der Zahnarzt kommt, und seinen alten Hausherrn bringt er mit!

(Frau Clandon.) Liebe Dolly, siehst du Herrn McComas nicht?

(McComas erhebt sich lächelnd.)

(Dolly mit langem Gesicht, das offensichtlich die größte Enttäuschung ausdrückt:) Der?!… Wo sind die wallenden Locken?

(Philip sekundiert ihr warm:) Und wo der Bart?!—Der Mantel?—Das poetische Aussehen?!

(Dolly.) Oh, Herr McComas! Sie haben sich ganz und gar verdorben!
Warum haben Sie nicht gewartet, bis wir Sie gesehen haben?!

(McComas verdutzt, aber seinen Humor zusammennehmend, um sich der schwierigen Lage gewachsen zu zeigen:) Weil für einen Rechtsanwalt achtzehn Jahre eine zu lange Zeit ist, um sich da nicht die Haare schneiden zu lassen.

(Gloria auf der andern Seite von McComas:) Guten Tag, Herr McComas. (Er wendet sich um, und sie ergreift seine Hand und drückt sie, mit einem geraden, aufrichtigen Blick in seine Augen:) Wir freuen uns, Sie endlich zu sehen.

(McComas.) Fräulein Gloria, nicht wahr? (Gloria lächelt zustimmend und zieht ihre Hand mit einem letzten Druck zurück. Sie tritt hinter die Gartenbank und neigt sich über die Lehne neben Frau Clandon:) Und dieser junge Herr?

(Philip.) Ich wurde in einer verhältnismäßig prosaischen Laune getauft.
Ich heiße—

(Dolly ergänzt sein Zitat für ihn, deklamatorisch:) "Ich heiße Norval, auf den Grampianhügeln"…

(Philip ernsthaft deklamierend:) "mein Vater weidet seine Herde, nur ein Schäfer"—[*]

[Footnote *: Norval ist der Sohn eines alten Bauern im Trauerspiel
"Douglas" von John Horne (1724-1808).]

(Frau Clandon unterbrechend:) Meine lieben Kinder, seid nicht so albern!—Alles erscheint ihnen hier so neuartig, Finch, daß sie in der tollsten Laune sind. Sie halten jeden Engländer, dem sie begegnen, für einen Witz.

(Dolly.) Ja, das ist er auch! Wir können nichts dafür!

(Philip.) Meine Menschenkenntnis ist recht ausgedehnt, Herr McComas; aber es ist mir unmöglich, die Bewohner dieser Insel ernst zu nehmen.

(McComas.) Ich vermute, Sie sind der junge Herr Philip? (Er bietet ihm die Hand.)

(Philip nimmt McComas' Hand und betrachtet ihn feierlich:) Ich war der junge Philip—das war ich durch viele Jahre. Genau so wie Sie einmal der junge Finch gewesen sind. (Er schüttelt ihm einmal die Hand; dann läßt er sie fallen und ruft gedankenvoll aus:) Wie sonderbar ist es doch, so auf seine Knabenzeit zurückzublicken!

(McComas starrt ihn an, durchaus nicht erfreut.)*

(Dolly zu Frau Clandon:) Hat Finch schon was zu trinken bekommen?

(Frau Clandon abwehrend:) Liebes Kind, Herr McComas wird mit uns frühstücken.

(Dolly.) Hast du sieben Gedecke bestellt? Vergiß nur nicht den alten
Herrn!

(Frau Clandon.) Ich habe ihn nicht vergessen, mein Kind. Wie heißt er?

(Dolly.) Gichtknoten.—Er wird um halb zwei hier sein. (Zu McComas:)
Sind wir so, wie Sie sich uns vorgestellt haben?

(Frau Clandon ernst, sogar etwas gebieterisch:) Dolly, Herr McComas hat euch etwas Ernsteres mitzuteilen als das.—Kinder: ich habe meinen alten Freund gebeten, die Frage, die ihr heute morgen an mich gerichtet habt, zu beantworten. Er ist sowohl der Freund eures Vaters als auch der meine, und er wird euch die Geschichte meines Ehelebens besser erzählen, als ich es könnte.—Gloria, bist du nun zufrieden?

(Gloria ernst und aufmerksam:) Herr McComas ist sehr gütig.

(McComas nervös:) Durchaus nicht, mein Fräulein, durchaus nicht. Doch das kommt ziemlich plötzlich… ich bin kaum darauf vorbereitet—

(Dolly argwöhnisch:) Oh! wir wollen auch gar nichts Vorbereitetes hören.

(Philip ihn ermunternd:) Sagen Sie uns die Wahrheit.

(Dolly nachdrünklich:) Die nackte Wahrheit!

(McComas gereizt:) Ich hoffe, Sie haben die Absicht, ernst zu nehmen, was ich zu sagen habe?

(Philip mit tiefem Ernst:) Ich hoffe, daß es das verdient, Herr McComas. Meine Menschenkenntnis lehrt mich, niemals zuviel zu erwarten.

(Frau Clandon abwehrend:) Phil—

(Philip.) Ja Mutter, schon gut. Entschuldigen Sie, Herr McComas, stoßen Sie sich nicht an uns.

(Dolly versöhnlich:) Wir meinen es gut.

(Philip.) Schweigen wir beide!

(Dolly hält ihre Lippen fest. McComas nimmt einen Stuhl vom
Frühstückstisch, setzt ihn zwischen den kleinen Tisch und die
Gartenbank, so daß Dolly zu seiner Rechten und Philip zu seiner Linken
zu stehen kommt. Er setzt sich mit der Miene eines Mannes, der im
Begrift steht, eine lange Auseinandersetzung zu beginnen. Die
Clandons beobachten ihn erwartungsvoll.)

(McComas.) Hm!—Ihr Vater—

(Dolly.) Wie alt ist er?

(Philip.) Sch!

(Frau Clandon sanft:) Liebe Dolly, wir wollen Herrn McComas nicht unterbrechen.

(McComas mit Nachdruck:) Ich danke Ihnen, Frau Clandon—ich danke!
(Zu Dolly:) Ihr Vater ist siebenundfünfzig Jahre alt.

(Dolly mit einem Satz, überrascht und aufgeregt:) Siebenundfünfzig?!…
Wo lebt er?

(Frau Clandon zurechtweisend:) Dolly! Dolly!

(McComas sie unterbrechend:) Lassen Sie mich dies beantworten, Frau Clandon. Die Antwort wird Sie sehr überraschen.—Er lebt hier, an diesem Ort.

(Frau Clandon erhebt sich sehr böse, setzt sich aber wieder sprachlos nieder. Gloria beobachtet sie ganz starr.)

(Dolly mit Überzeugung:) Ich wußte es!… Phil—Gichtknoten ist unser
Vater!

(McComas.) Gichtknoten—?!

(Dolly) Oder McNaughty… oder sonst wie—was weiß ich! Er sagte mir, ich sähe seiner Mutter ähnlich; ich wußte es ja, daß er seine Tochter meinte.

(Philip sehr ernst:) Herr McComas: ich möchte Ihre Gefühle auf jede mögliche Art berücksichtigen—aber ich warne Sie! Wenn Sie den langen Arm des Zufalls derart verlängern, daß Sie mir einreden wollen, der hier lebende Herr McNaughtan sei mein Vater, so weigere ich mich, auf Ihre Auskünfte auch noch einen Augenblick weiter einzugehen.

(McComas.) Und warum, wenn ich bitten darf?

(Philip.) Weil ich diesen Herrn gesehen habe und er gänzlich ungeeignet ist, mein Vater, oder Dollys Vater, oder Glorias Vater, oder der Mann meiner Mutter zu sein!

(McComas.) Oh, wirklich?—So. Dann muß ich Ihnen sagen—ob Sie es nun gern hören oder nicht—: er ist tatsächlich Ihr Vater und der Vater Ihrer Schwester und Frau Clandons Gatte.—Nun, was sagen Sie dazu?

(Dolly weinerlich:) Sie brauchen nicht so böse zu sein! Gichtknoten ist ja nicht Ihr Vater!

(Philip.) Herr McComas, Ihr Benehmen ist herzlos. Sie finden hier eine Familie, die den unsagbaren Frieden und die Annehmlichkeit genießt, verwaist zu sein—wir haben niemals das Antlitz eines Verwandten gesehen—niemals ein Band anerkannt, mit Ausnahme des Bandes einer frei gewählten Freundschaft—und jetzt wollen Sie einen Mann in die intimste Verwandtschaft mit uns hineinstoßen, den wir nicht kennen….

(Dolly heftig:) Einen entsetzlichen alten Mann! (Vorwurfsvoll:) Und
Sie fingen an, als ob Sie einen ganz netten Vater für uns hätten!

(McComas ärgerlich:) Woher wissen Sie, daß er nicht nett ist? Und welches Recht haben Sie, sich Ihren eigenen Vater zu wählen? (Seine Stimme erhebend:) Ich muß Ihnen sagen, Fräulein Clandon, daß Sie zu jung sind, um—

(Dolly unterbricht ihn plötzlich mit Heftigkeit:) Still! Das hab' ich ja ganz vergessen… hat er Geld?

(McComas.) Er hat sehr viel Geld.

(Dolly entzückt:) Oh, was habe ich immer gesagt, Phil?

(Philip.) Dolly, wir haben den alten Mann vielleicht zu schnell verurteilt.—Fahren Sie fort, Herr McComas.

(McComas.) Ich werde nicht fortfahren, junger Herr. Ich bin zu empört, zu verletzt dazu.

(Frau Clandon kämpft mit ihrem Zorn:) Finch, können Sie die ganze
Sachlage mit allen Folgen überblicken? Wissen Sie, daß meine Kinder
diesen Mann zum Frühstück eingeladen haben und daß er in einigen
Augenblicken hier sein wird? (McComas ganz außer sich:) Was!…
Meinen Sie—soll ich wirklich annehmen—ist es…

(Philip nachdrücklich:) Ruhig Blut, Finch! Denken Sie darüber langsam und sorgfältig nach.—Er kommt—kommt zum Frühstück.

(Gloria.) Wer von uns soll ihm die Wahrheit sagen? Habt ihr darüber nachgedacht?

(Frau Clandon.) Finch, Sie müssen es ihm sagen!

(Dolly.) Oh, Finch ist ganz unbrauchbar, um so was zu sagen! Schau doch, was er damit angerichtet hat, daß er es uns gesagt hat!

(McComas.) Man hat mich nicht zu Worte kommen lassen. Ich protestiere.

(Dolly ergreift schmeichlerisch seinen Arm:) Lieber Finch, nicht böse sein!

(Frau Clandon.) Gloria, wir wollen hineingehen; er kann jeden
Augenblick kommen!

(Gloria stolz:) Rühr' dich nicht vom Fleck, Mutter. Ich werde mich auch nicht rühren. Wir dürfen nicht davonlaufen.

(Frau Clandon sie zurechtweisend:) Mein Kind, so können wir nicht zu Tisch gehen. Wir kommen gleich wieder. Wir müssen kein Heldentum posieren. (Gloria zuckt zusammen und geht stumm ins Hotel:) Komm, Dolly! (Als sie sich der Hoteltüre nähert, kommt ihr der Kellner daraus entgegen. Er trägt ein Servierbrett, auf dem sich Teller für die zwei hinzugekommenen Gedecke befinden.)

(Der Kellner.) Sind die Herren schon da, gnädige Frau?

(Frau Clandon.) Es kommen noch zwei. Sie werden gleich da sein. (Sie geht ins Hotel. Der Kellner geht mit seinem Geschirr an den Serviertisch.)

(Philip.) Ich habe eine Idee—Herr McComas. Die Mitteilung, die Sie zu machen haben, erfordert doch einen Mann von unendlich viel Takt, nicht wahr?

(McComas.) Es gehört sicherlich Takt dazu.

(Philip.) Dolly, wessen Takt ist dir erst heute morgen aufgefallen?

(Dolly ergreift die Idee mit Begeisterung:) O ja! ich weiß, wen du meinst! William!

(Philip.) Das ist der Mann! (Rufend:) William!

(Der Kellner.) Zu Befehl, junger Herr.

(McComas entsetzt:) Der Kellner?!… Nein! Nein! Das kann ich nicht zugeben, ich—

(Der Kellner taucht zwischen Philip und McComas auf:) Ich stehe zu
Diensten.

(McComas setzt sich außer Fassung. Sein Gesicht wird aschfahl, und seine Augen werden bewegungs—und ausdruckslos. Er setzt sich total verdutzt.)

(Philip.) William, erinnern Sie sich an meine Bitte, mich als Ihren
Sohn zu betrachten?

(Der Kellner mit respektvoller Nachsicht:) Gewiß, junger Herr?—Alles, womit ich Ihnen dienen kann.

(Philip.) William: Ihre Karriere als mein Vater hat kaum begonnen, und schon ist ein Rivale auf der Bildfläche aufgetaucht.

(Der Kellner.) Ihr wirklicher Vater, junger Herr? Nun, das war früher oder später zu erwarten, nicht wahr? (Er wendet sich mit einem glücklichen Lächeln zu McComas:) Sind Sie es, gnädiger Herr?

(McComas kommt durch seine Entrüstung wieder zu Kräften:) Nein, ganz gewiß nicht, Gott sei Dank! Meine Kinder wissen, wie sie sich zu benehmen haben!

(Philip.) Nein, William, dieser Herr hätte nur mein Vater werden können! Um ein Haar wäre er's geworden. Er hat um meine Mutter angehalten, aber sie hat ihm einen Korb gegeben.

(McComas beleidigt:) Ich muß doch bitten—Wahrhaftig, diese Frechheit—

(Philip.) Sch!—Infolgedessen ist er nur unser Anwalt geworden.
—Kennen Sie einen gewissen McNaughtan in dieser Stadt?

(Der Kellner.) Der schieläugige McNaughtan, junger Herr, vom krummen
Knüttel—meinen Sie den?

(Philip.) Das weiß ich nicht!—Finch, hält er ein Wirtshaus?

(McC omas erhebt sich empört:) Nein, nein, nein! Ihr Vater, Herr, ist ein sehr bekannter Schiffsrheder, einer der angesehensten Männer der Stadt!

(Der Kellner, auf den das Eindruck gemacht hat:) Oh, verzeihen Sie, gnädiger Herr—ein Sohn des Herrn McNaughtan—meine Güte!

(Philip.) Herr McNaughtan wird mit uns frühstücken.

(Der Kellner verlegen:) Zu Befehl, junger Herr. (Diplomatisch:) Er frühstückt für gewöhnlich wohl nicht mit seiner Familie?

(Philip nachdenklich:) William—er weiß nicht, daß wir seine Familie sind. Er hat uns seit achtzehn Jahren nicht gesehen—er wird uns nicht erkennen. (Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, setzt sich Philip mit einem Sprung auf den Eisentisch und beobachtet den Kellner mit zusammengekniffenen Lippen und baumelnden Beinen.)

(Dolly.) Wir wollen, daß Sie ihm diese Neuigkeit mitteilen, William!

(Der Kellner.) Aber ich sollte meinen, daß er's errät, wenn er Ihre
Mutter sieht, gnädiges Fräulein?

(Philip starrt den Kellner hingerissen an; seine Beine stellen ihre
Bewegung ein.)

(Dolly verwirrt:) Daran habe ich nicht gedacht!

(Philip.) Ich auch nicht! (Er verläßt den Tisch und wendet sich vorwurfsvoll zu McComas:) Sie auch nicht!

(Dolly.) Und Sie wollen ein Anwalt sein?

(Philip.) Finch, Ihre berufliche Unzulänglichkeit ist erschreckend!
—William, Ihr Scharfsinn beschämt uns alle.

(Dolly.) Sie sind wirklich Shakespear sehr ähnlich, William!

(Der Kellner.) Aber nein! Es ist nicht der Rede wert, gnädiges Fräulein… ich schätze mich glücklich, junger Herr. (Er gebt bescheiden zum Frühstückstisch zurück und legt die beiden hinzugekommenen Gedecke auf, das eine an die Schmalseite in der Nähe der Stufen und das andere so, daß noch ein drittes hinzukommen kann an der von der Balustrade am weitesten entfernten Seite.)

(Philip ergreift plötzlich McComas' Arm und führt ihn gegen das Hotel zu:) Finch, kommen Sie und waschen Sie sich die Hände.

(McComas.) Ich bin überaus ungehalten und verletzt, Herr Clandon—

(Philip ihn unterbrechend:) Sie werden sich schon an uns gewöhnen.
Komm, Dolly!

(McComas schüttelt ihn ab und geht ins Hotel. Philip folgt ihm mit unerschütterlicher Gemütsruhe.)

(Dolly, die ihnen folgt, wendet sich einen Augenblick auf den Stufen um:) Halten Sie Ihre fünf Sinne beisammen, William—es wird drunter und drüber gehen!

(Der Kellner.) Zu Befehl, Sie können sich auf mich verlassen, gnädiges
Fräulein.

(Dolly geht ins Hotel.)

(Dr. Valentine kommt leichten Fußes die Stufen vom Strand herauf, McNaughtan folgt ihm störrisch. Dr. Valentine hat einen Spazierstock, McNaughtan trägt—entweder weil er alt ist und friert, oder um seinen unmodernen Seemannsanzug zu verbergen—einen leichten Überzieher. Er bleibt vor dem Stuhl, den McComas eben verlassen hat, in der Mitte der Terrasse stehen, stützt die Hand auf die Lehne und gibt sich so ein bißchen Kraft.)

(McNaughtan.) Die vielen Stufen machen mich schwindlig. (Er fährt sich mit der Hand über die Stirn:) Ich habe dieses höllische Gas noch immer im Leibe. (Er setzt sich in den Eisenstuhl, so daß er seine Ellbogen auf den kleinen Tisch aufstützen und den Kopf in die Hände stützen kann. Er erholt sich bald und beginnt seinen Überrock aufzuknöpfen. Inzwischen fragt Dr. Valentine den Kellner aus.)

(Dr. Valentine.) Kellner!

(Der Kellner tritt vor zwischen die beiden Gäste:) Zu Befehl?

(Dr. Valentine.) Ist Frau Lanfrey Clandon zu Hause?

(Der Kellner mit einem süßen Lächeln des Willkommens:) Zu dienen, Herr Doktor, wir erwarten Sie. Dies ist der bestellte Tisch. Frau Clandon wird gleich da sein.—Die junge Dame und der junge Herr haben soeben von ihrem Freunde gesprochen.

(Dr. Valentine.) Wirklich?

(Der Kellner sanft melodisch:) Zu Befehl. Die jungen Herrschaften
sind sehr ausgelassen—eine spaßhafte Ader sozusagen, gnädiger Herr.
(Rasch zu McNaughtan, der sich erhoben hat, um seinen Überrock
abzulegen:) Verzeihen Euer Gnaden—gestatten Sie… (Er hilft ihm den
Überrock ausziehen und nimmt ihn an sich:) Ich danke sehr.
(McNaughtan setzt sich wieder, und der Kellner nimmt die unterbrochene
Melodie wieder auf:) Des jungen Herrn letzter Witz ist, daß Sie sein
Vater sind, gnädiger Herr.

(McNaughtan.) Was?!

(Der Kellner.) Nur ein Spaß, Euer Gnaden—sein Lieblingsspaß. Gestern sollte ich sein Vater sein—heute, als er erfuhr, daß Sie kommen würden, gnädiger Herr, versuchte er sofort mir einzureden, daß Sie sein Vater wären—sein lang verlorener Vater. Achtzehn Jahre lang hat er Sie nicht gesehen—sagt er.

(McNaughtan verblüfft:) Achtzehn Jahre?…

(Der Kellner.) Zu Befehl. (Mit sanfter Schlauheit:) Aber ich war seinen Späßen gewachsen, gnädiger Herr. Ich sah, wie ihm die Idee kam, als er hier stand und über einen neuen Scherz nachdachte, den er sich mit mir machen könnte.—Ja, gnädiger Herr, das ist so seine Art. Sehr vergnügt, liebenswürdig, sehr frei und sehr umgänglich—wahrhaftig, gnädiger Herr! (Verändert wieder seinen Rhythmus, um zu Dr. Valentine, der seinen Stock in eine Ecke der Garunbank lehnt, zu sagen:) Darf ich so frei sein?… (Er nimmt Dr. Valentines Stock.) Danke schön.

(Dr. Valentine geht an den Tisch und studiert das Menü.)

(Der Kellner wendet sich wieder zu McNaughtan und fährt in seinem Liede fort:) Sogar der Herr Anwalt ist auf den Scherz eingegangen, obgleich ich sozusagen im Vertrauen mit ihm über den jungen Herrn gesprochen hatte… Ja, ich versichere Ihnen, Sie würden nicht glauben, wozu die ehrenwertesten Berufsmenschen Londons auf einem Ausflug, wenn die Meerluft sie anbläst, imstande sind!

(McNaughtan.) Oh, sie haben also einen Anwalt bei sich?

(Der Kellner.) Ja, der Familienanwalt, gnädiger Herr. Ein Herr McComas. (Er geht mit Rock und Stock zum Hoteleingang, glücklicherweise ohne zu ahnen, welchen bombenartigen Eindruck er mit diesem Namen auf McNaughtan gemacht hat.)

(McNaughtan erhebt sich in wütender Erregung:) McComas! (Ruft:) Dr.
Valentine! (Ruft grimmiger:) Dr. Valentine! (Dr. Valentine wendet
sich um.) Das ist eine Falle, eine Verschwörung! Das ist meine
Familie—meine Kinder—mein Satan von Weib!

(Dr. Valentine kalt:) Was Sie nicht sagen! Ein interessantes
Zusammentreffen. (Er geht wieder daran, das Menü zu studieren.)

(McNaughtan.) Zusammentreffen?… Es wird nicht stattfinden! Lassen
Sie mich fort! (Ruft den Kellner an:) Geben Sie mir meinen Überzieher!

(Der Kellner.) Ja, gnädiger Herr! (Er kehrt um, lehnt Dr. Valentines Stock vorsichtig an den Frühstückstisch, schüttelt den Überzieher behutsam und hält ihn McNaughtan zum Anziehen hin.) Ich scheine dem jungen Herrn unrecht getan zu haben—ist es so, gnädiger Herr?

(McNaughtan.) Rrrh! (Er hält inne, im Begriff in die Armel au schlüpfen, und wendet sich mit plötzlichem Argwohn zu Dr. Valentine:) Doktor, Sie sind im Einverständnis! Das haben Sie angestiftet! Sie—

(Dr. Valentine entschieden:) Unsinn! (Er wirft das Menü fort, geht um den Tisch herum an die Balustrade und sieht gleichgültig hinaus.)

(McNaughtan ärgerlich:) Was zum Teufel—(McComas kommt aus dem Hotel,
Philip und Dolly folgen ihm. Er wankt bei McNaughtans Anblick einen
Moment zurück.)

(Der Kellner unterbricht McNaughtan sanft:) Fassung, gnädiger Herr! Hier kommen sie. (Er ergreift Dr. Valentines Stock und eilt, den Rock über seinen Arm werfend, ins Hotel.)

(McComas zieht die Mundwinkel entschlossen herab, geht auf McNaughtan zu, der zurückweicht und mit den Händen auf dem Rücken ihn böse anstarrt. McComas sieht mit offenerer Stirn denn je McNaughtan an, mit der Majestät eines fleckenlosen Gewissens.)

(Der Kellner flüstert Philip während seines Abgangs zu:) Ich hab' es ihm beigebracht, junger Herr.

(Philip.) Unschätzbarer William! (Er tritt vor, an den Tisch.)

(Dolly leise zum Kellner:) Wie hat er's aufgenommen?

(Der Kellner leise zu ihr:) Erst war er erschrocken, gnädiges
Fräulein—dann aber in sein Schicksal ergeben… wirklich sehr ergeben.
(Er geht mit Stock und Rock in das Hotel.)

(McComas hat McNaughtan durch sein Anstarren aus der Fassung gebracht:
) Da wären Sie also, Herr McNaughtan!

(McNaughtan.) Ja, da bin ich—in einer Falle gefangen—in einer ganz gemeinen Falle!—Sind das meine Kinder?

(Philip mit tödlicher Höflichkeit:) Ist das unser Vater, Herr McComas?

(McComas.) Ja—es—(Er verliert selbst die Fassung und hält inne.)

(Dolly förmlich:) Es freut mich sehr, Ihnen wieder zu begegnen. (Sie kommt nachlässig hinter dem Tisch hervor und tauscht unterwegs mit Dr. Valentine ein Lächeln und ein Wort des Grußes.)

(Philip.) Erlauben Sie mir, meine erste Pflicht dem Gaste gegenüber zu erfüllen und Ihren Wein zu bestellen. (Er nimmt die Weinkarte vom Tisch; seine höfliche Aufmerksamkeit und Dollys achtlose Gleichgültigkeit belassen McNaughtan auf dem Standpunkt der zufälligen Bekanntschaft, die sie am Morgen beim Zahnarzt gemacht haben. Diese Erkenntnis berührt den Vater mit so heftiger Qual, daß er über und über zittert. Seine Stirn wird feucht, und er starrt seinen Sohn schweigend an. Dieser ist sich seiner eigenen Gefühllosigkeit genug bewußt, um sich seines Humors und seiner Gewandtheit außerordentlich zu freuen. Er fährt freundlich fort.) Finch, darf ich für den alten respektablen Familienanwalt irgendeinen alten verstaubten Portwein bestellen?

(McComas bestimmt:) Nur Apollinaris—ich will lieber nichts
Erhitzendes nehmen. (Er wendet sich nach der andern Seite der
Terrasse, wie ein Mann, der eine Versuchung von sich gewiesen hat.)

(Philip.) Doktor—?

(Dr. Valentine.) Würde Lagerbier zu gemein gefunden werden?

(Philip.) Wahrscheinlich. Bestellen wir welches. Dolly trinkt es auch. (Wendet sich zu McNaughtan mit heiterer Höflichkeit:) Nun, Herr McNaughtan, was dürfen wir Ihnen bestellen?

(McNaughtan.) Was soll das heißen, Junge?

(Philip.) Junge?… (Sehr feierlich:) Wessen Schuld ist es, daß ich ein Junge bin? (McNaughtan reißt ihm die Weinkarte grob aus der Hand und tut unschlüssig so, als ob er sie lese. Philip überläßt sie ihm mit vollendeter Höflichkeit.)

(Dolly über McNaughtans Schulter blickend:) Der Whisky steht auf der vorletzten Seite.

(McNaughtan.) Laß mich zufrieden, Kind.

(Dolly.) Kind?… Nein, nein, das geht nicht! Sie können mich
"Dolly" nennen, wenn Sie wollen; aber Sie dürfen nicht "Kind" zu mir
sagen! (Sie hängt sich in Philip ein, und die beiden stehen vor
McNaughtan und betrachten ihn wie einen exzentrischen Fremden.)

(McNaughtan wischt sich die Stirn in Schmerz und Wut und dennoch sogar durch ihr Spielen mit ihm erleichtert:) McComas, ha! Das wird ein—ein nettes Frühstück werden!

(McComas kleinmütig:) Ich sehe nicht ein, aus welchem Grunde es nicht nett werden sollte. (Er blickt äußerst trübe drein.)

(Philip.) Das Gesicht von Finch ist schon allein ein Festessen.

(Frau Clandon und Gloria treten aus dem Hotel. Frau Clandon nähert sich mit mutiger Selbstbeherrschung und mit deutlich zur Schau getragenem würdigem Benehmen. Sie hält auf der obersten Stufe inne, um Dr. Valentine anzureden, der ihr gerade in den Weg kommt; Gloria bleibt auch stehen und betrachtet McNaughtan mit einem gewissen Widerwillen.)

(Frau Clandon.) Es freut mich, Sie wiederzusehen, Herr Doktor. (Er lächelt. Sie geht weiter und steht McNaughtan gegenüber in der Absicht, ihn mit vollständiger Selbstbeherrschung anzusprechen; aber sein Anblick erschüttert sie. Sie hält plötzlich inne und sagt ängstlich, mit einem Anflug von Gewissensnot in der Stimme:) Fergus, du hast dich sehr verändert.

(McNaughtan grimmig:) Das will ich meinen! Ein Mann verändert sich in achtzehn Jahren.

(Frau Clandon verwirrt:) So…so habe ich's nich gemeint. Ich hoffe, du bist gesund.

(McNaughtan.) Ich danke.—Nein! nicht meine Gesundheit; mein Glück, da steckt die Veränderung, die du meinst, nicht wahr? (Plötzlich ausbrechend:) Sehen Sie sie an, McComas—sehen Sie sie an und—(Halb lachend, halb schluchzend:) und sehen Sie mich an!

(Philip.) Sch! (Er zeigt auf den Hoteleingang, wo der Kellner eben erschienen ist:) Still! Haltung vor William!

(Dolly berührt McNaughtans Arm warnend:) Hm!

(Der Kellner geht an den Serviertisch und winkt nach dem Kücheneingang, aus dem ein Kellnerjunge mit Suppentellern beraustritt, ein Koch mit weißer Schürze und Kappe folgt ihm mit der Suppenschüssel. Der Kellnerjunge bleibt und serviert, der Koch geht hinaus und kommt von Zeit zu Zeit, die Gänge auftragend, wieder herein. Er tranchiert, aber er serviert nicht. Der Kellner tritt an das in der Nähe der Stufen gelegene Ende des Frühstückstisches.)

(Frau Clandon, nachdem sich alle vor dem Tisch vereinigt haben:) Ich glaube, die Herrschaften sind einander heute alle schon begegnet… doch nein, entschuldigen Sie. (Vorstellend:) Herr Dr. Valentine—Herr Rechtsanwalt McComas. (Sie geht an das Ende des Tisches, das dem Hotel zunächst ist.) Fergus, willst du dich obenan setzen—bitte.

(McNaughtan) Ha! (bitter:) Obenan!

(Der Kellner hält ihm den Stuhl mit harmloser Ermutigung hin:) Hier, ich bitte.

(McNaughtan fügt sich und nimmt Platz.)

(Der Kellner.) Danke schön.

(Frau Clandon.) Herr Doktor, wollen Sie hier Platz nehmen—(Sie weist auf den Stuhl in der Nähe der Balustrade:) neben Gloria. (Dr. Valentine und Gloria nehmen ihre Plätze ein, Gloria neben McNaughtan und Dr. Valentine neben Frau Clandon.) Finch, Sie muß ich auf diese Seite setzen, zwischen Dolly und Phil. Wehren Sie sich, so gut Sie können. (Die drei nehmen die übriggebliebene Seite des Tisches ein; Dolly sitzt neben ihrer Mutter, Philip neben seinem Vater und McComas zwischen ihnen. Die Suppe wird aufgetragen.)

(Der Kellner zu McNaughtan:) Bouillon oder Suppe?

(McNaughtan zu Frau Clandon:) Spricht in dieser Familie niemand ein
Tischgebet?

(Philip ihn schnell unterbrechend:) Sehen wir erst einmal zu, was wir zu essen und zu trinken bekommen werden.—William!

(Der Kellner.) Zu Befehl? (er gleitet leise um den Tisch herum an
Philips linke Seite; auf dem Wege flüstert er dem Kellnerjungen zu:)
Suppe!

(Philip.) Zwei kleine Lager für uns Kinder, wie gewöhnlich, und ein großes für diesen Herrn (er zeigt auf Dr. Valentine), eine große Flasche Apollinaris für Herrn McComas.

(Der Kellner.) Zu dienen.

(Dolly.) Nehmen Sie etwas Whisky dazu, Finch?

(McComas entrüstet:) Nein, nein, ich danke!

(Philip.) Nummer vierhundertdreizehn, wie immer für meine Mutter und
Fräulein Gloria, und—(wendet sich fragend zu McNaughtan:) was nehmen
Sie?

(McNaughtan mürrisch und im Begriff, beleidigend zu antworten:) Ich—

(Der Kellner honigsüß dazwischentretend:) Es ist schon gut, junger
Herr. Wir wissen hier, was Herr McNaughtan liebt. (Er geht ins Hotel.)

(Philip seinen Vater ernst betrachtend:) Sie haben also die schlechte
Gewohnheit, Wirtshäuser zu besuchen!

(Der Koch, dem ein Kellner mit übereinandergetürmten heißen Tellern folgt, bringt den Fisch aus der Küche und beginnt, ihn auf dem Serviertisch zu zerlegen.)

(McNaughtan.) Du hast deine Lektion von deiner Mutter gut gelernt.

(Frau Clandon.) Phil! bedenke gefälligst, daß deine Scherze Leute, die nicht daran gewöhnt sind, auf-* zubringen imstande sind und daß dein Vater heute unser Gast ist.

(McNaughtan bitter:) Ja, ein Gast an der Spitze meines eigenen Tisches!
(Die Suppenteller werden weggenommen.)

(Dolly teilnahmsvoll:) Ja, das ist peinlich, nicht wahr? Aber uns ist es ebenso peinlich.

(Philip.) Sch! Wir sind beide taktlos. (Zu McNaughtan:) Wir meinen es gut, Herr McNaughtan, aber wir sind noch nicht sehr geübt in unseren Rollen als Kinder. (Der Kellner kommt aus dem Hotel mit den Getränken:) William, kommen Sie und stellen Sie das gute Einvernehmen wieder her.

(Der Kellner ermunternd:) Mit größtem Vergnügen, junger Herr. (Setzt die Getränke vor:) Ihr kleines Lager; (zu McNaughtan:) Ihr Whisky und Soda, (zu McComas:) Ihr Apollinaris; (zu Dolly:) ein kleines Lager, (zu Frau Clandon, Wein einschenkend.) vierhundertdreizehn, gnädige Frau; (zu Dr. Valentine:) Ihr großes Lager; (zu Gloria:) vierhundertdreizehn, gnädiges Fräulein.

(Dolly trinkend:) Auf das Wohl der Familie!

(Philip trinkend:) Auf Heim und Herd! (Der Fisch wird herumgereicht.)

(McComas mit einem sichtlich erzwungenen Versuch, Familiengemütlichkeit anzuregen:) Na, nun geht's ja eigentlich doch ganz gut.

(Dolly kritisierend:) Eigentlich…? Warum "eigentlich", Finch?

(McNaughtan sarkastisch:) Er meint, daß es trotz eures Vaters
Anwesenheit doch ganz gut geht.—Habe ich Sie richtig verstanden, Herr
McComas?

(McComas aus dem Text gebracht:) Nein, nein—ich habe nur "eigentlich" gesagt, um den Satz abzurunden. Ich—ich—

(Der Kellner taktvoll:) Turbot?

(McComas überaus dankbar für die Unterbrechung:) Bitte, Kellner, bitte.

(Der Kellner halblaut:) Bitte, bitte. (Er geht an den Serviertisch zurück.)

(McNaughtan zu Philip:) Hast du schon an die Wahl einen Berufes gedacht?

(Philip.) Ich sehe mich danach um.—William!

(Der Kellner.) Zu Befehl?

(Philip.) Was glauben Sie: wie lange müßte ich in die Lehre gehen, um ein wirklich tüchtiger Kellner zu werden?

(Der Kellner.) Das kann nicht gelernt werden, junger Herr. Das liegt im Charakter. (Vertraulich zu Dr. Valentine, der etwas zu suchen scheint:) Brot für das gnädige Fräulein?… Hier, bitte. (Er reicht Gloria Brot und fährt im bisherigen Tonfall wieder fort:) Sehr wenige sind dazu geboren, junger Herr!

(Philip.) Sie haben wohl nicht selbst so etwas wie einen Sohn—was?

(Der Kellner.) Jawohl, junger Herr. O ja. (Zu Gloria, seine Stimme wieder senkend:) Noch etwas Fisch, gnädiges Fräulein? Sie dürften sich nicht viel aus Braten machen zum Frühstück.

(Gloria.) Nein, ich danke. (Die Fischteller werden weggenommen.)

(Dolly.) Ist Ihr Sohn ebenfalls Kellner, William?

(Der Kellner bedient Gloria mit Geflügel:) O nein, gnädiges Fräulein.
Dafür ist er zu heftig. Er ist vor den Schranken tätig.

(McComas gönnerhaft:) Schenkkellner—was?

(Der Kellner mit einem Anflug von Melancholie; als wenn er sich an
eine durch die Zeit gelinderte Enttäuschung erinnerte:) Nein, gnädiger
Herr—andere Schranken, Gerichtsschranken. Ihr Gewerbe, Herr
Rechtsanwalt. Königlicher Anwalt.

(McComas verlegen:) Oh, entschuldigen Sie.

(Der Kellner.) Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr. Ein sehr begreiflicher Irrtum!—Ich habe schon manchmal gewünscht, es wäre ein Schenkkellner aus ihm geworden! Dann hätte er mir nicht halb so lange auf der Tasche gelegen. (Beiseite zu Dr. Valentine, der wieder etwas zu suchen scheint:) Hier ist das Salz, Herr Doktor.

(Fährt wieder fort:) Ja, ich mußte ihn bis zu seinem siebenunddreißigsten Jahr erhalten. Aber jetzt geht es ihm gut—recht zufriedenstellend, wirklich! Er plaidiert nicht unter fünfzig Guineen.

(McComas.) Das ist die Demokratie, McNaughtan, die moderne Demokratie!

(Der Kellner ruhig:) Nein, nicht die Demokratie, bloß Erziehung, gnädiger Herr—Stipendien, Cambridge, Sidney-Sussex Collegium, gnädiger Herr. (Dolly sieht ihn am Armel; er neigt sich zu ihr, und sie flüstert ihm etwas ins Ohr:) Ingwerbier im Steinkrug, gnädiges Fräulein? Sofort! (Zu McComas:) Für ihn war es ein Glück, er hatte nie Lust zu wirklicher Arbeit. (Er geht ins Hotel und läßt die Gesellschaft etwas übermannt von dem vornehmen Stande seines Sohnes zurück.)

(Dr. Valentine.) Wer von uns darf es wagen, diesem Manne noch einen
Befehl zu erteilen?

(Dolly.) Ich hoffe, er nimmt es mir nicht übel, daß ich ihn um
Ingwerbier geschickt habe.

(McNaughtan halsstarrig:) Solange er Kellner ist, ist Aufwarten sein Geschäft! Wenn ihr ihn behandelt hättet, wie ein Kellner behandelt werden soll, so würde er geschwiegen haben.

(Dolly.) Das wäre jammerschade gewesen! Vielleicht gibt er uns eine
Empfehlung an seinen Sohn, der könnte uns doch in die Londoner
Gesellschaft einführen.

(Der Kellner erscheint wieder mit dem Ingwerbier.)

(McNaughtan brummt wütend:) Londoner Gesellschaft,… Londoner
Gesellschaft!… Du passest in gar keine Gesellschaft, Kind!

(Dolly ihren Gleichmut verlierend:) Wissen Sie, Herr McNaughtan, wenn
Sie glauben—

(Der Kellner leise an ihrer Seite.) Ingwerbier, gnädiges Fräulein.

(Dolly abgelenkt, findet ihre gute Laune nach einem tiefen Atemzug wieder und entgegnet sanft:) Ich danke Ihnen, *lieber* William. Sie sind gerade im rechten Augenblick gekommen. (Sie trinkt.)

(McComas, macht eine neuerliche Anstrengung, die Unterhaltung in leidenschaftslose Bahnen zu lenken:) Gestatten Sie, daß ich das Thema wechsle, Fräulein Clandon: welches ist die Landesreligion Madeiras?

(Gloria.) Ich glaube, die portugiesische Religion. Ich habe nie danach gefragt.

(Dolly.) Zur Fastenzeit kommen die Diener und knien vor der Herrschaft nieder und beichten alles, was sie begangen haben, und die Herrschaften müssen so tun, als ob sie ihnen verziehen.—Geschieht das auch in England, William?

(Der Kellner.) Für gewöhnlich nicht, gnädiges Fräulein. Vielleicht in einigen Teilen Englands; aber ich habe noch nichts davon gehört. (Er fängt einen Blick der Frau Clandon auf, als der Kellnerjunge ihr die Salatschüssel reicht.) Sie wollen ihn unangemacht, gnädige Frau?—Ja, ja, ich habe welchen für Sie. (Zu seinem jungen Kollegen, ihn anweisend, Gloria zu bedienen:) Hier herüber, Joe. (Er nimmt eine Extraportion Salat vom Serviertisch und setzt sie neben Frau Clandons Teller. Während er das tut, bemerkt er, daß Dolly ein saures Gesicht macht.) Nur etwas Brunnenkresse ist irrtümlicherweise hineingekommen, gnädiges Fräulein. (Er nimmt ihr den Salat fort:) Entschuldigen Sie. (Zum Kellnerjungen, ihn anweisend, Dolly noch einmal zu bedienen:) Joe! (nimmt das frühere Thema wieder auf:) Die meisten sind Mitglieder der anglikanischen Kirche, gnädiges Fräulein.

(Dolly.) Mitglieder der anglikanischen Kirche? Wie hoch ist der
Jahresbeitrag?

(McNaughtan springt zum allgemeinen Entsetzen empört auf:) Sie sehen, wie meine Kinder erzogen worden sind… da sehen Sie es… Sie hören es! Ich rufe Sie alle zu Zeugen auf—(Er wird unverständlich und ist im Begriff, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, ohne die Folgen zu berücksichtigen, als der Kellner ihm rücksichtsvoll den Teller fortnimmt.)

(Frau Clandon fest:) Setze dich, Fergus. Es ist gar kein Anlaß zu diesem Auftritt. Du mußt bedenken, daß Dolly hier wie eine Ausländerin ist.—Bitte, setze dich!

(McNaughtan unwillig nachgebend:) Ich bin im Zweifel, ob ich mich noch an diesen Tisch setzen soll, wo ich all das mit anhören muß. Ich bin wirklich im Zweifel.

(Der Kellner.) Käse, gnädiger Herr?… Oder wünschen Sie eine kalte süße Speise?

(McNaughtan verwirrt:) Was?… O Käse—Käse!

(Dolly.) Bringen Sie Zigaretten, William.

(Der Kellner.) Hier, gnädiges Fräulein. (Er nimmt eine
Zigarettenschachtel vom Serviertisch und setzt sie neben Dolly, die
eine auswählt und sich zu rauchen anschickt. Dann gebt er an den
Serviertisch zurück, um Wachshölzer zu holen.)

(McNaughtan starrt Dolly entsetzt an:) Sie raucht?!…

(Dolly am Ende ihrer Geduld:) Wahrhaftig, Herr McNaughtan, ich fürchte, ich verderbe Ihnen das Essen; ich werde meine Zigarette am Strand rauchen. (Sie verläßt plötzlich den Tisch und läuft ärgerlich die Stufen hinunter. Der Kellner will ihr die Wachshölzer geben, aber sie ist fort, bevor er sie erreichen kann.)

(McNaughtan wütend:) Margarete, rufe das Mädel zurück!… rufe sie zurück, sag' ich!

(McComas versucht Frieden zu stiften:) Gehen Sie, McNaughtan, machen Sie sich nichts daraus! Sie ist die Tochter ihres Vaters, weiter nichts.

(Frau Clandon mit tiefem Groll:) Das hoffe ich nicht, Finch. (Sie erhebt sich. Alle erheben sich ein wenig.) Herr Doktor, nicht wahr, Sie entschuldigen mich? Ich fürchte, Dolly ist über diesen Vorfall ganz außer sich, ich muß zu ihr gehen.

(McNaughtan.) Um ihre Partei gegen mich zu ergreifen—was?!

(Frau Clandon ihn ignorierend:) Gloria, willst du mich bei Tisch, so lange Ich fort bin, vertreten, liebes Kind? (Sie geht auf die Stufen zu. McNaughtans Augen folgen ihr mit bitterem Haß; die übrigen beobachten sie in verlegenem Schweigen und fühlen sich von dem Zwischenfall sehr peinlich berührt.)

(Der Kellner hält Frau Clandon am Rande der Stufen auf und bietet ihr eine Schachtel Wachsbölzer an:) Die junge Dame hat die Streichhölzer vergessen, gnädige Frau. Wenn Sie so gütig sein wollten, gnädige Frau—

(Frau Clandon nimmt, durch den Zauber seiner süßen und ermunternden Stimme überrascht, den Ton dankbarer Höflichkeit an:) Ich danke Ihnen sehr. (Sie nimmt die Wachshölzer und geht hinab an den Strand.)

(Der Kellner zieht seinen Gehilfen durch die Küchentür mit sich ins
Hotel und überläßt die Gesellschaft sich selbst.)

(McNaughtan sich in seinen Stuhl zurückwerfend:) Eine Mutter nach
Ihrem Geschmack, McComas! Eine Mutter nach Ihrem Geschmack!

(Gloria standhaft:) Ja—eine gute Mutter!

(McNaughtan.) Und ein schlechter Vater—das meinst du doch, was?

(Dr. Valentine erhebt sich entrüstet und wendet sich zu Gloria:)
Fräulein Clandon, ich—

(McNaughtan wendet sich zu ihm:) Dieses Mädchen heißt McNaughtan, Herr
Doktor—nicht Clandon! Wollen Sie sich meiner Familie in den
Beleidigungen meiner Person anschließen?

(Dr. Valentine ihn nicht beachtend:) Ich bin außer mir, Fräulein Clandon! Es ist meine Schuld—ich habe ihn hergebracht—ich bin für ihn verantwortlich, und ich schäme mich für ihn!

(McNaughtan.) Was meinen Sie damit?

(Gloria erhebt sich; kalt:) Es ist nichts geschehen, Herr Doktor.—Ich fürchte, wir sind alle ein bißchen kindisch gewesen; unsere Zusammenkunft ist mißglückt. Wir wollen sie abbrechen und Schluß machen. (Sie schiebt ihren Stuhl zur Seite und wendet sich den Stufen zu; als sie an McNaughtan vorbeikommt, fügt sie mit nachlässiger Ruhe hinzu:) Adieu, Vater. (Sie geht die Stufen mit kalter, verdrießlicher Gleichgültigkeit hinab.)

(Alle blicken ihr nach und bemerken daher die Rückkehr des Kellners nicht, der, mit McNaughtans Rock und Dr. Valentines Stock, mit ein paar Schals, Sonnenschirmen und einem weißen Leinensonnenschirm und einigen Feldstühlen beladen, aus dem Hotel kommt.)

(McNaughtan für sich, Gloria mit verzerrtem Gesichtsausdruck nachblickend:) Vater—Vater!… (Er schlägt mit der Faust heftig auf den Tisch:) Jetzt—

(Der Kellner den Überzieher anbietend:) Ich glaube, das ist der Ihre, gnädiger Herr.

(McNaughtan starrt ihn an, reißt dann den Überzieher grob an sich und geht längs der Terrasse gegen die Gartenbank zu. Er kämpft mit seinem Rock bei seinen ärgerlichen Bemühungen, ihn anzuziehen. McComas erhebt sich und eilt ihm zu Hilfe. Dann nimmt er seinen Hut und Schirm von dem kleinen Eisentisch und wendet sich den Stufen zu. Inzwischen bietet der Kellner, nachdem er McNaughtan mit unveränderter Süßigkeit für die Abnahme des Überziehers gedankt hat, etwas von seiner Last Philip an.)

(Der Kellner.) Die Sonnenschirme für die Damen, junger Herr.—Das Meer blendet heute stark, das ist sehr schädlich für den Teint… Ich werde die Strandstühle selbst hinuntertragen.

(Philip.) Sie sind alt, Vater William, aber Sie sind der aufmerksamste
Mensch, den ich kenne.—Nein, behalten Sie die Sonnenschirme und geben
Sie mir die Strandstühle. (Er nimmt sie.)

[Footnote: Zitat aus einem Gedicht von Southey.]

(Der Kellner mit schmeichlerischer Dankbarkeit:) Zu gütig, junger Herr.

(Philip.) Finch, teilen Sie mit mir. (Er gibt ihm welche.) Kommen Sie!
(Sie gehen zusammen die Stufen hinunter.)

(Dr. Valentine zum Kellner:) Lassen Sie mich auch etwas hinuntertragen. .. einen von diesen. (Er will ihm einen Sonnenschirm abnehmen.)

(Der Kellner diskret:) Der gehört der jüngeren Dame, Herr Doktor. (Dr. Valentine überläßt ihn dem Kellner.) Wenn Sie gestatten wollten, so glaube ich, Sie sollten lieber dies hier nehmen. (Er legt den Sonnenschirm auf McNaughtans Stuhl und zieht aus seiner hinteren Fracktasche ein Buch. Ein Damentaschentuch ist zwischen den Blättern als Lesezeichen eingelegt.) Das ist das Buch, in dem die ältere junge Dame jetzt gerade liest. (Dr. Valentine ergreift es eifrig.) Danke schön. Schopenhauer, wie Sie sehen. (Er nimmt die Sonnenschirme wieder auf.) Ein sehr interessanter Autor, Herr Doktor, namentlich was die Damen betrifft. (Er geht die Stufen hinab.)

(Dr. Valentine im Begriff, dem Kellner zu folgen, erinnert sich an
McNaughtan und ändert seinen Entschluß. Er geht ziemlich aufgeregt zu
McNaughtan:) Nein, wirklich, McNaughtan: schämen Sie sich denn gar
nicht?

(Mc Naugthan streitsüchtig:) Mich schämen?… Weshalb?

(Dr. Valentine.) Weil Sie sich betragen haben wie ein Bär!… Was wird Ihre Tochter von mir denken, daß ich Sie hergebracht habe?

(McNaughtan.) Ich habe noch keine Zeit gefunden, darüber nachzusinnen, was meine Tochter von Ihnen denkt.

(Dr. Valentine.) Nein, Sie haben nur an sich gedacht! Sie sind ein krankhafter Egoist!

(McNaughtan tiefbekümmert:) Sie hat Ihnen ja gesagt, was ich bin—ein Vater—ein seiner Kinder beraubter Vater!—Was sind die Herzen dieser Generation?… Muß ich herkommen nach all den Jahren, um zum ersten Male zu sehen, was aus meinen Kindern geworden ist—ihre Stimmen zu hören!… und soll mich dabei wie ein richtiger Gast benehmen!… platze zufällig in das Frühstück herein—heiße Herr McNaughtan!… Was für ein Recht haben meine Kinder, mit mir so zu sprechen?… Ich bin ihr Vater—leugnen sie es?… Ich bin ein Mann mit allgemein menschlichen Gefühlen!… Habe ich keine Rechte, keine Ansprüche?… Was für Menschen habe ich in all den Jahren um mich gehabt?… Diener, Angestellte, Geschäftsfreunde!… Aber ich habe ihre Achtung genossen—ja ihre Güte!… Würde einer von diesen Leuten so mit mir gesprochen haben, wie dieses Mädchen?… Würde einer von denen über mich gelacht haben, wie dieser Junge die ganze Zeit über mich gelacht hat? (Wild:) Meine eigenen Kinder—Herr McNaughtan! Meine—

(Dr. Valentine.) Aber, aber!… Es sind ja nur Kinder! Das einzige von ihnen, das etwas wert ist, hat Sie "Vater" genannt.

(McNaughtan.) Ja, "adieu, Vater"—adieu! O ja! Dies Kind hat sich an mein Herz gewendet—mit einem Dolchstoß.

(Dr. Valentine nimmt das sehr übel auf:) Hören Sie, McNaughtan, lassen Sie die in Ruh! Sie hat Sie sehr gut behandelt. Ich habe eine viel schlimmere Stunde beim Frühstück zugebracht als Sie.

(McNaughtan.) Sie?…

(Dr. Valentine mit wachsender Heftigkeit:) Ja—ich! Ich habe neben ihr gesessen und habe während der ganzen Zeit nicht ein einziges Wort mit ihr gesprochen—nicht ein einziges Wort konnte ich finden—und nicht ein Wort hat sie für mich gehabt!

(McNaughtan.) Nun?

(Dr. Valentine.) Nun… nun?… (Spricht sehr ernst und immer
schneller:) McNaughtan, wissen Sie, was heute mit mir vorgegangen ist?.
.. Sie glauben doch nicht, daß ich die Gewohnheit habe, meinen
Patienten so mitzuspielen, wie ich Ihnen heute mitgespielt habe?

(McNaughtan.) Hoffentlich nicht.

(Dr. Valentine.) Der Grund ist, daß ich entweder völlig verrückt bin, oder vielmehr früher nie wirklich im Besitze meines gesunden Menschenverstandes gewesen bin. Jetzt bin ich zu allem fähig—ich bin endlich erwachsen—ich bin ein Mann geworden—und Ihre Tochter ist es, die einen Mann aus mir gemacht hat!

(McNaughtan ungläubig:) Sind Sie in meine Tochter verliebt?

(Dr. Valentine, seine Worte ergießen sich nun in einem wahren Strom von seinen Lippen:) Verliebt?… Unsinn!… Es ist viel mehr und viel höher als Liebe… es ist Leben, Glaube, Kraft, Gewißheit, Paradies…

(McNaughtan unterbricht ihn mit beißendem Hohn:) Unsinn, Mensch! Was haben (Sie), um eine Frau zu unterhalten?… Sie können sie nicht heiraten.

(Dr. Valentine.) Wer will sie denn heiraten?… Ich will ihre Hände küssen, ich will zu ihren Füßen knien, ich will für sie leben, ich will für sie sterben… und das soll mir genügen! Sehen Sie ihr Buch an—sehen Sie! (Er küßt das Taschentuch:) Wenn Sie mir Ihr ganzes Geld anböten für diese Gegenstände, die mir als Ausrede dienen, an den Strand hinunterzugehen und mit ihr wieder zu sprechen,—ich würde Ihnen nur ins Gesicht lachen. (Er geht übermütig gegen die Stufen zu, wo er dem vom Strande heraufkommenden Kellner direkt in die Arme läuft. Die beiden bewahren einander vor dem Umfallen, indem sie sich gegenseitig eng um den Leib fassen und sich umschlungen herumdrehen.)

(Der Kellner zart:) Sachte, Herr Doktor—sachte!

(Dr. Valentine über seine eigene Heftigkeit unangenehm berührt:)
Entschuldigen Sie!

(Der Kellner.) Bitte, Herr Doktor—bitte. Das ist ganz natürlich in Ihrem Alter.—Das gnädige Fräulein hat mich um ihr Buch heraufgeschickt; dürfte ich mir erlauben, Sie zu bitten, es ihr sofort zu bringen?

(Dr. Valentine.) Mit Vergnügen!—Und wollen Sie mir erlauben, Sie mit der sechswöchentlichen Einnahme eines Zahnarztes zu beschenken… (Er bietet ihm Dollys Fünf-Schilling-Stück an.)

(Der Kellner, als ob diese Summe seine höchsten Erwartungen überträfe:
) Danke vielmals, Herr Doktor—tausend Dank!

(Dr. Valentine stürzt die Stufen hinunter.) Ein sehr übermütiger junger Mann, sehr männlich und gut gewachsen!

(McNaughtan in brummiger Herabsetzung:) Und wird sehr schnell ein Vermögen machen—zweifellos! Ich weiß, wieviel seine sechswöchentlichen Einnahmen betragen. (Er geht über die Terrasse an den eisernen Tisch und setzt sich.)

(Der Kellner philosophisch:) Ja, gnädiger Herr, man kann nie wissen… Das ist mein Wahlspruch, wenn Sie gütigst verzeihen wollen, daß ich so ein Ding habe. (Der Philosoph wird einen Augenblick vom zart fühlenden Kellner zurückgedrängt:) Sie wissen vielleicht selbst nicht, daß Sie Ihr Getränk noch nicht berührt hatten, als die Gesellschaft aufbrach. (Er nimmt das Glas vom Frühstückstisch und setzt es vor McNaughtan hin.) Ja, gnädiger Herr—man kann nie wissen… Sehen Sie nur meinen Sohn: wer hätte je gedacht, daß er es dahin bringen würde, einen seidenen Talar zu tragen als königlicher Anwalt? Und dennoch verdient er heute nicht weniger als sechzig Pfund bei jedem Prozeß, gnädiger Herr. Was für eine Lehre!

(McNaughtan.) Nun, ich hoffe, er ist Ihnen dankbar und weiß, was er
Ihnen schuldet.

(Der Kellner.) Wir vertragen uns sehr gut—wahrhaftig, sehr gut in Anbetracht der Verschiedenheit unserer Stellungen. (Mit einem zweiten seiner unwiderstehlichen Übergänge:) Ein Stückchen Zucker wird, ohne den Trank merklich zu süßen, die Fadheit des Sodawassers beseitigen. Erlauben Sie, gnädiger Herr. (Er wirft ein Stückchen Zucker in das Glas:) Aber wie ich ihm sage: worin besteht schließlich der Unterschied? Ich muß einen Frack anziehen, wenn ich zeigen will, was ich bin, und er muß eine Perücke und einen Talar anlegen, wenn er zeigen will, was er ist. Wenn mein Einkommen vorwiegend aus Trinkgeldern besteht und ich doch so tun muß, als ob ich nicht darauf aus wäre, so besteht sein Einkommen vorwiegend aus Gebühren, und auch er muß, wie ich wohl verstehe, so tun, als wäre er nicht darauf aus. —Wenn er Geselligkeit liebt und ihn sein Beruf in Berührung mit allen möglichen Gesellschaftsklassen bringt, der meine tut das auch. Wenn es für einen Advokaten nicht günstig ist, der Sohn eines Kellners zu sein, so ist es auch für einen Kellner nicht günstig, der Vater eines Advokaten zu sein. Ich versichere Ihnen, es gibt Leute, die darin eine große Dreistigkeit sehen!—Kann ich Ihnen sonst noch etwas besorgen, gnädiger Herr?

(McNaughtan.) Nein, danke. (Gedemütigt und bitter:) Ich hoffe, man wird nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich hier noch eine Weile sitzen bleibe. Hier stör' ich jedenfalls nicht die Gesellschaft am Strande.

(Der Kellner gerührt:) Es ist sehr gütig von Ihnen, gnädiger Herr, daß
Sie tun, als ob Sie nicht wüßten, daß Ihre Anwesenheit hier eine
Auszeichnung und eine Ehre für uns alle ist… wirklich sehr gütig!
—Je mehr Sie sich hier zu Hause fühlen, desto glücklicher werden wir
sein.

(McNaughtan mit scharfer Ironie:) Zu Hause!

(Der Kellner nachdenklich:) Nun ja, gnädiger Herr, das ist auch Ansichtssache. Ich behaupte immer, der große Vorzug eines Hotels besteht darin, daß es Schutz bietet vor dem Familienleben.

(McNaughtan.) Ich habe diesen Segen heute nicht gehabt.

(Der Kellner.) Ja, das haben Sie auch nicht—jawohl, weiß Gott! Immer geschieht das, was man nicht erwartet hat, nicht wahr? (Er schüttelt den Kopf:) Man kann nie wissen, gnädiger Herr—man kann nie wissen! (Er geht ins Hotel.)

(McNaughtan stützt sein abgehetztes, jammervolles Gesicht mit den hartblickenden Augen in die Hände:) Familie—Familie! (Er legt seine Arme auf den Tisch und neigt den Kopf darauf; aber da er eben jemanden kommen hört, setzt er sich wieder kerzengerade auf. Es ist Gloria, die allein die Stufen heraufkommt, ihren Sonnenschirm und ihr Buch in Händen. McNaughtan sieht sie trotzig an. Die brutale Hartnäckigkeit seines Mundes und die sehnsüchtigen Augen stehen zueinander in pathetischem Widerspruch. Sie geht an das eine Ende der Gartenbank und lehnt sich mit dem Rücken dagegen und sieht auf McNaughtan herab, wie erstaunt über seine Schwäche. Sie ist zu neugierig auf ihn, um kalt zu bleiben, aber das Verwandtschaftverhältniß ist ihr höchst gleichgültig:) Nun?…

(Gloria.) Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen.

(McNaughtan sie fest anblickend:) Wirklich? Das ist überraschend! Du begegnest deinem Vater nach achtzehn Jahren und du hast wahrhaftig den Wunsch, ihn "einen Augenblick" zu sprechen!—Das ist rührend—wahrhaftig! (Er bleibt sitzen, den Kopf in die Hand gestützt, und blickt, in düsteres Nachdenken versunken, hinunter und von ihr fort.)*

(Gloria.) Was Sie da sagen, scheint mir alles so unsinnig, so unberechtigt. Was für Gefühle haben Sie von uns erwartet? Was sollen wir für Sie tun? Warum sind Sie gegen uns weniger höflich als andere Leute?… Sie können uns augenscheinlich nicht recht leiden—warum sollten Sie auch?—aber trotzdem sollten wir einander doch begegnen können, ohne zu streiten.

(McNaughtan, über dessen Antlitz ein schwerer grauer Schatten streicht:
) Machst du dir klar, daß ich dein Vater bin?

(Gloria.) Vollkommen.

(McNaughtan.) Begreifst du, was mir als deinem Vater gebührt?

(Gloria.) Zum Beispiel—?

(McNaughtan erbebt sich, als ob er ein Ungeheuer zu bekämpfen hätte:)
Zum Beispiel—… zum Beispiel—?…
Pflicht—Liebe—Achtung—Gehorsam!

(Gloria gibt ihre sorglose Stellung auf und stellt sich ihm schnell und stolz gegenüber:) Ich gehorche nur meinem Sinn für das Rechte; ich achte nichts, was nicht edel ist! Das ist meine Pflicht. (Sie fügt weniger fest hinzu:) Was Liebe anbelangt, so liegt die nicht in meiner Macht—ich glaube nicht, daß ich genau weiß, was Liebe eigentlich ist. (Sie wendet sich, mit sichtlichem Widerwillen gegen dieses Thema, ab und geht an den Frühstückstisch, zu einem bequemen Stuhl hin, wo sie ihr Buch und ihren Sonnenschirm niederlegt.)

(McNaughtan folgt ihr mit den Augen:) Meinst du wirklich, was du sagst?

(Gloria wendet sich um; rasch und streng:) Entschuldigen Sie: aber das ist eine unhöfliche Frage. Ich spreche ernst mit Ihnen und ich erwarte auch, daß Sie mich ernst nehmen. (Sie nimmt einen der Stühle, wendet ihn fort vom Tisch und setzt sich etwas müde nieder.) Können Sie diese Dinge nicht kühl und vernünftig besprechen?

(McNaughtan.) Kühl und vernünftig?… Nein, das kann ich nicht!
Verstehst du? Das kann ich nicht!

(Gloria mit Nachdruck:) Nein—das kann ich nicht verstehen. Ich habe keine Sympathie für—

(McNaughtan fährt nervös zusammen:) Halt, sprich nicht weiter! Du weißt nicht, was du tust! Willst du mich toll machen? (Sie runzelt die Stirn, denn sie findet eine solche Laune unerträglich. Er setzt rasch hinzu:) Nein, ich bin nicht zornig—wirklich nicht! Warte, warte—laß mir nur etwas Zeit, mich zu besinnen. (Er steht einen Augenblick da und runzelt die Stirn und ballt die Hände in seiner Aufregung. Dann nimmt er den Stuhl vom Ende des Frühstückstisches und setzt sich neben Gloria. Mit einer rührenden Anstrengung, sanft und geduldig zu sein, sagt er:) Ich glaube, jetzt bin ich so weit. Jedenfalls will ich es versuchen.

(Gloria fest:) Sehn Sie: alles geht, wenn man es nur energisch zu Ende denkt.

(McNaughtan mit plötzlichem Schreck:) Nein, das tu nicht! Denke nichts—ich will, du sollst fühlen! Das ist das einzige, was uns helfen kann. Höre! Weißt du—aber vor allem—ich vergaß: wie heißt du eigentlich? Ich meine deinen Kosenamen. Sie können dich nicht gut Sophronia nennen.

(Gloria mit erstauntem Widerwillen:) Sophronia?…Mein Name ist Gloria.
Ich werde immer so genannt.

(McNaughtan, dessen Zorn zurückkehrt:) Dein Name ist Sophronia, Mädchen! Du wurdest nach deiner Tante, meiner Schwester, Sophronia getauft! Sie hat dir deine erst Bibel mit deinem Namen darin geschenkt.

(Gloria.) Dann hat mir meine Mutter einen neuen Namen gegeben.

(McNaughtan ärgerlich:) Sie hatte kein Recht dazu! Ich werde das nicht zugeben!

(Gloria.) Sie hatten kein Recht, mir den Namen Ihrer Schwester zu geben. Ich kenne sie nicht einmal.

(McNaughtan.) Unsinn! Alles lasse ich mir nicht bieten: das hat seine
Grenzen! Ich will das nicht haben—verstehst du?

(Gloria erhebt sich; warnend:) Sind Sie entschlossen, in diesem zänkischen Ton fortzufahren?

(McNaughtan entsetzt, bittend:) Nein, nein—setze dich! Willst du? (Sie sieht ihn an und läßt ihn in Ungewißheit. Er zwingt sich, den verhaßten Namen auszusprechen:) Gloria!

(Sie gibt ihrer Befriedigung mit einer leichten Bewegung der Lippen Ausdruck und setzt sich:) Nun also—du siehst, ich habe nur den Wunsch, dir zu zeigen, daß ich dein Vater bin, mein—mein liebes Kind. (Die Zärtlichkeit ist so kläglich unbeholfen, daß Gloria gegen ihren Willen lächelt und sich vornimmt, ein wenig nachsichtig zu sein.) Höre mich an. Was ich dich fragen will, ist folgendes; Entsinnst du dich meiner nicht? Du warst ein ganz kleines Kind, als man dich von mir nahm, aber du konntest schon alles recht gut verstehen. Kannst du dich wirklich an niemanden erinnern, den du geliebt hast, oder— (schüchtern:) wenigstens auf Kinderart leiden mochtest? Besinnst du dich nicht auf jemanden, in dessen Arbeitszimmer du sein und seine kleinen Schiffe ansehn durftest, die du für Spielzeug hieltest? (Er sieht ihr ängstlich in die Augen, als suchte er nach irgendeiner Antwort. Dann fährt er dringender und weniger hoffnungsvoll fort:) Auf jemanden, der dich tun ließ, was du nur wolltest, und dir nie ein böses Wort gab, dir höchstens sagte, du solltest still sein und nicht sprechen? Auf jemanden, der dir etwas war, was dir sonst niemand gewesen ist—der dein Vater war!

(Gloria ungerührt:) Wenn Sie mir das alles noch lange so schildern, dann werde ich mir zweifellos bald einbilden, daß ich mich daran erinnere. Aber tatsächlich erinnere ich mich an gar nichts.

(McNaughtan sehnsüchtig:) Hat deine Mutter dir nie von mir erzählt?

(Gloria.) Sie hat Ihren Namen mir gegenüber nie erwähnt. (Er stöhnt unwillkürlich auf. Sie blickt ihn ziemlich verachtungsvoll an und fährt fort:) Doch! Ein einziges Mal—und da geschah es, um mich an etwas zu erinnern, was ich auch vergessen hatte.

(McNaughtan blickt hoffnungsvoll auf:) An was?

(Gloria erbarmungslos:) An die Peitsche, die Sie eigens gekauft hatten, um mich zu schlagen.

(McNaughtan mit den Zähnen knirschend:) Oh! Das aufzutischen, um dich mir zu entfremden, wo du es nie zu wissen brauchtest! (Mit pfeifendem, schmerzhaftem Atem:) Fluch ihr!

(Gloria aufspringend:) Sie Elender! (Mit heftigem Nachdruck:) Sie
Elender—Sie wagen es, meine Mutter zu verfluchen!

(McNaughtan.) Hör' auf, oder du wirst es noch einmal bereuen! Ich bin dein Vater!

(Gloria.) Wie ich dieses Wort hasse! Wie ich das Wort "Mutter" liebe!
Es wäre besser, Sie gingen.

(McNaughtan.) Ich—ich ersticke—du willst mich töten!
Etwas—ich—(Seine Stimme erstickt, er ist einer Ohnmacht nahe.)

(Gloria gebt zur Balustrade; kühl und nicht verlegen um ein
Auskunftsmittel, ruft sie zum Strand hinunter:) Doktor Valentine!

(Valentine antwortet von unten:) Bitte!

(Gloria.) Kommen Sie doch einen Augenblick herauf! Herr McNaughtan braucht Sie. (Sie geht an den Tisch zurück und schenkt ein Glas Wasser ein.)

(McNaughtan seine Sprache wiedererlangend:) Nein! laß mich in Ruhe! Ich brauche ihn nicht. Ich fühle mich vollkommen wohl! Ich brauche seine Hilfe nicht und deine auch nicht! (Er erhebt sich und rafft sich zusammen.) Du hast recht, es ist besser, wenn ich gehe. (Er setzt seinen Hut auf.) Ist das dein letztes Wort?

(Gloria.) Ich hoffe. (Er starrt sie einen Augenblick an, nickt grimmig, als wenn er damit einverstanden wäre, und geht ins Hotel. Sie sieht ihm mit gleicher Festigkeit nach, bis er verschwindet. Dann macht sie eine Bewegung der Befreiung und wendet sich zu Dr. Valentine, der die Stufen heraufgelaufen kommt.)

(Dr. Va1entine keuchend:) Was ist los? (Er siebt sich um:) Wo ist
McNaughtan?

(Gloria.) Fort. (Dr. Valentines Gesicht drückt plötzliche Freude, Furcht und Durchtriebenheit aus. Er hat eben bemerkt, daß er mit Gloria allein ist. Sie fährt gleichgültig fort:) Ich glaubte, er fühle sich nicht wohl; aber er hat sich wieder erholt. Er wollte nicht auf Sie warten—es tut mir leid. (Sie geht ihr Buch und den Sonnenschlrm holen.)

(Dr. Valentine.) Um so besser! Er geht mir ohnedies auf die Nerven nach einer Weile. (Tut so, als ob er sich vergäße:) Wie kommt dieser Mann nur zu so einer wundervollen Tochter?

(Gloria stutzt einen Augenblick und antwortet ihm dann mit höflicher, aber absichtlicher Verachtung:) Das scheint der Versuch zu einem Kompliment zu sein. Erlauben Sie mir, Sie gleich darauf aufmerksam zu machen, Doktor, daß Komplimente eine sehr öde Unterhaltung abgeben. Bitte, lassen Sie uns auf eine vernünftige und gesunde Weise Freunde sein, falls wir Freunde werden sollen. Ich habe nicht die Absicht, mich zu verheiraten; und wenn Sie diese Lage der Dinge nicht annehmen wollen, so wäre vorzuziehen, unsere gegenseitige Bekanntschaft nicht fortzusetzen.

(Dr. Valentine vorsichtig:) Ich verstehe. Gestatten Sie mir nur eine einzige Frage?—Sind Sie gegen die Ehe als gesellschaftliche Einrichtung im allgemeinen, oder haben Sie nur etwas dagegen, mich persönlich zu heiraten?

(Gloria.) Ich kenne Sie viel zu wenig, Herr Doktor, um über Ihre persönlichen Vorzüge irgendeine Meinung zu haben. (Sie wendet sich mit unendlicher Gleichgültigkeit von ihm fort und setzt sich mit ihrem Buch auf die Gartenbank:) Ich halte die Bedingungen einer heutigen Ehe nicht für solche, die irgendein Weib annehmen könnte, das sich selbst achtet.

(Dr. Valentine schlägt sofort in den Ton herzlicher Aufrichtigkeit um, als ob er Glorias Bedingungen ehrlich annähme und von ihren Grundsätzen entzückt und beruhigt wäre:) Oh, da haben wir denn schon einen Punkt gemeinsamer Sympathie! Ich bin ganz Ihrer Ansicht: die heutigen Eheeinrichtungen sind höchst ungerecht. (Er nimmt seinen Hut ab und wirft ihn fröhlich auf den eisernen Tisch.) Nein! ich für mein Teil möchte all diesen Unsinn loswerden. (Er setzt sich so unbefangen neben sie, daß sie nicht daran denkt, etwas dagegen einzuwenden, und führt mit Enthusiasmus fort:) Finden Sie es nicht auch entsetzlich, daß ein Mann und eine Frau einander nur zu kennen brauchen, um verdächtigt zu werden, daß sie Heiratsabsichten haben? Als ob es keine andern Interessen gäbe—keine andern Unterhaltungsmöglichkeiten— als wenn die Frauen zu nichts Besserem fähig wären!

(Gloria interessiert:) Ah, nun fangen Sie endlich an, menschlich und vernünftig zu sprechen, Herr Doktor!

(Dr. Valentine mit einem Aufleuchten seiner Augen über den Erfolg seiner Jägerlist:) Selbstverständlich! Zwei intelligente Menschen wie wir…! Ist es nicht erfreulich in dieser dummen, von Konventionen gefesselten Welt, einmal mit jemandem auf demselben Boden zusammenzutreffen?… mit einem vorurteilsfreien, aufgeklärten, hellen Geist?

(Gloria ernst:) Ich hoffe, in England vielen solchen Menschen zu begegnen.

(Dr. Valentine zweifelbaft:) Hm… Es gibt eine Menge Menschen in
England—nahezu vierzig Millionen—es sind nicht alles schwindsüchtige
Mitglieder der hochgebildeten Klasse, wie die Leute in Madeira.

(Gloria jetzt ganz von ihrem Gegenstand erfüllt:) Oh, in Madeira sind alle Leute dumm und vorurteilsvoll!—Es sind schwache, sentimentale Geschöpfe! Ich hasse Schwäche; und ich hasse Sentimentalität!

(Dr. Valentine.) Das ist der Grund, warum Sie so begeistern können!

(Gloria mit einem leichten Lachen:) Kann ich begeistern?

(Dr. Valentine.) Ja. Stärke ist ansteckend.

(Gloria.) Schwäche ist es—das weiß ich.

(Dr. Valentine mit Überzeugung:) Sie sind stark! Wissen Sie, daß Sie mir heute morgen die Welt ganz umgewandelt haben? Ich war schwermütig und machte mir Gedanken wegen meiner unbezahlten Miete, beunruhigte mich über die Zukunft… da traten Sie ein: ich war geblendet! (Ihre Stirn bewölkt sich ein wenig. Er fährt rasch fort:) Das war natürlich albern—aber wahr und wahrhaftig, es geschah etwas mit mir! Erklären Sie es, wie Sie wollen—mein Blut wurde—(er zögert und sucht nach einem genügend leidenschaftslosen Wort)—mit Sauerstoff vermengt, meine Muskeln spannten sich, mein Geist klärte sich, mein Mut wuchs. —Das ist sonderbar, nicht wahr? Wenn man bedenkt, daß ich durchaus kein sentimentaler Mensch bin.

(Gloria unbehaglich, erhebt sich:) Gehen wir zurück an den Strand.

(Dr. Valentine zu ihr aufblickend, düster:) Wie? Sie haben das auch?

(Gloria.) Was?

(Dr. Valentine.) Angst.

(Gloria.) Angst?…

(Dr. Valentine.) Ja, daß irgend etwas geschehen könnte. Es kam plötzlich über mich, gerade ehe Sie vorschlugen, daß wir weglaufen sollten zu den andern.

(Gloria erstaunt:) Das ist sonderbar—sehr sonderbar! Ich hatte dasselbe Gefühl.

(Dr. Valentine.) Wie merkwürdig! (Er erhebt sich:) Nun, sollen wir fliehen?

(Gloria.) Fliehen?… O nein, das wäre kindisch! (Sie setzt sich wieder. Er setzt sich neben sie und beobachtet sie mit ernster Sympathie. Nachdenklich und etwas verwirrt fügt sie hinzu:) Ich wüßte aber zuweilen gern die wissenschaftliche Erklärung für solche gelegentlichen Einbildungen.

(Dr. Valentine.) Ja, die möchte ich zuweilen auch gern wissen. Es ist ein merkwürdig hilfloses Gefühl—nicht wahr?

(Gloria lehnt sich gegen das Wort auf:) Hilflos?…

(Dr. Valentine.) Ja. Ist es nicht, als ob die Natur—nachdem sie uns jahrelang erlaubt hat, uns selbst anzugehören und zu tun, was wir für richtig und vernünftig halten—plötzlich ihre große Hand erhöbe und uns, ihre zwei kleinen Kinder, am Kragen packte, um uns, gegen unsern Willen, auf ihre eigene Weise für ihre eigenen Zwecke dienstbar zu machen?

(Gloria.) Ist das nicht etwas phantastisch?

(Dr. Valentine mit einem neuen und erstaunlichen Übergang zu einem Ton äußerster Sorglosigkeit:) Das weiß ich nicht—ich frage nicht danach! (Vorwurfsvoll losbrechend:) O Fräulein Clandon—Fräulein Clandon—wie konnten Sie nur!

(Gloria.) Was hab' ich getan?

(Dr. Valentine.) Diese Verzückung in meine Seele schleudern!—Ich bemühe mich aufrichtig, vernünftig zu sein—ja wissenschaftlich—wie immer Sie mich wünschen… aber… aber—Oh, sehen Sie nicht, womit Sie meine Phantasie erfüllt haben?!

(Gloria mit empörter verachtungsvoller Härte:) Ich hoffe, daß Sie nicht so albern und nicht so gemein sein werden—von… "Liebe" zu sprechen!

(Dr. Valentine mit ironischer Eile, eine solche Schwäche in Abrede zu stellen:) Nein, nein, nein, nicht Liebe! Wir sind zu gescheit, an so was zu denken! Wir wollen es Chemie nennen! Sie können nicht leugnen, daß es so etwas wie eine chemische Tätigkeit, eine chemische Wahlverwandtschaft, eine chemische Verbindung gibt. Sie ist die unwiderstehlichste aller Naturkräfte… Nun, Sie ziehen mich unwiderstehlich an—chemisch.

(Gloria verachtungsvoll:) Unsinn!

(Dr. Valentine.) Natürlich ist das Unsinn, dummes Mädel! (Gloria weicht mit empörter Überraschung zurück.) Ja, ein dummes Mädel sind Sie!—Das ist eine wissenschaftliche Tatsache! Sie sind ein eingebildeter Philister—ein weiblicher Philister! Das sind Sie! (Er erhebt sich:) Jetzt sind Sie wahrscheinlich fertig mit mir—für immer! (Er geht an den eisernen Tisch und nimmt seinen Hut.)

(Gloria setzt sich mit vollendeter Ruhe, wie eine Lehrerin in einer Hochschule, die dem Photograpben sitzt:) Das beweist mir nur, wie wenig Sie meinen wirklichen Charakter verstehen—ich bin nicht im geringsten beleidigt. (Er schweigt und setzt seinen Hut wieder hin.) Ich bin immer bereit, mich von meinen Freunden auf meine Fehler aufmerksam machen zu lassen, Herr Doktor—selbst wenn diese Freunde mich so ungeheuerlich mißverstehen wie Sie! Ich habe viele Fehler—sehr große Fehler sogar, aber wenn ich etwas nicht bin, so ist es das, was Sie einen Philister nennen.

(Sie preßt ihre Lippen fest zusammen und blickt ihn standhaft und herausfordernd an, während sie gefaßter ist denn je.)

(Dr. Valentine kehrt an das Ende der Gartenbank zurück, um Gloria mit mehr Nachdruck gegenüber zutreten:) O doch, das sind Sie! Mein Verstand sagt es mir—meine Kenntnisse sagen es mir—meine Erfahrung sagt es mir.

(Gloria.) Entschuldigen Sie, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß Ihr Verstand und Ihr Gefühl und Ihre Erfahrung nicht unfehlbar sind—ich hoffe es wenigstens.

(Dr. Valentine.) Ich muß diesen aber glauben. Es sei denn, Sie wollten, daß ich meinen Augen, meinem Herzen, meinen Instinkten und meiner Einbildungskraft glaube, die mir alle über Ihre Person die ungeheuerlichsten Lügen erzählen.

(Gloria, deren Fassung anfängt nachzulassen:) Lügen?…

(Dr. Valentine hartnäckig:) Ja, Lügen. (Er setzt sich wieder neben sie.) Oder soll ich vielleicht glauben, daß Sie das schönste Weib der Erde sind? Erwarten Sie das von mir?

(Gloria.) Das ist lächerlich und etwas persönlich noch dazu.

(Dr. Valentine.) Natürlich ist es lächerlich!—Aber es ist das, was mir meine Augen sagen. (Gloria protestiert mit einer verachtungsvollen Bewegung:) Nein, ich schmeichle Ihnen nicht—ich sage Ihnen doch, daß ich meinen Augen nicht traue. (Sie schämt sich darüber, daß ihr das auch nicht ganz recht ist.) Erwarten Sie, daß ich hier sitzen und wie ein Kind heulen werde, wenn Sie aus Widerwillen gegen meine Schwäche nichts von mir wissen wollen?

(Gloria beginnt einzusehen, daß sie, um standhaft zu bleiben, kurz und bündig sprechen muß:) Warum sollten Sie das wohl, bitte?

(Dr. Valentine läßt absichtlich eine Gefühlsbewegung in seiner Stimme zittern:) Natürlich werde ich das nicht! Ich bin kein solcher Esel! —Und doch sagt mir mein Herz, daß ich heulen würde—mein närrisches Herz. Aber ich will ein ernstes Wort mit meinem Herzen reden und es zur Vernunft bringen. Und liebte ich Sie tausendmal, so will ich der Wahrheit dennoch standhaft ins Antlitz sehen… Ist ja doch auch ganz leicht, vernünftig zu sein… Tatsachen sind Tatsachen. Wo sind wir hier? Nicht im Himmel, sondern im Marine-Hotel! Die Zeit ist nicht die Ewigkeit, sondern halb zwei Uhr nachmittags. Was bin ich? Ein Zahnarzt—ein Fünf-Schilling-Zahnarzt!

(Gloria.) Und ich bin ein weiblicher Philister.

(Dr. Valentine leidenschaftlich;) Nein, nein, das kann ich nicht ertragen! Eine Illusion muß mir bleiben—die Illusion über Sie! Ich liebe Sie. (Er wendet sich zu ihr, als ob er der Lust, sie zu berühren, nicht länger widerstehen könnte. Sie erhebt sich zornig und ist auf der Hut. Er springt ungeduldig auf und tritt einen Schritt zurück.) Oh, was bin ich für ein Narr—was für ein Idiot! Sie verstehen mich nicht… Ich könnte ebensogut zu den Steinen am Strand sprechen! (Er wendet sich entmutigt ab.)

(Gloria beruhigter infolge seines Rückzuges und etwas reuig:) Es tut mir leid. Ich möchte nicht teilnahmslos sein, Herr Doktor,—aber was soll ich sagen?

(Dr. Valentine kehrt zu ihr zurück, und an die Stelle seines Sichgehenlassens tritt ein verbindlicher und ritterlicher Respekt:) Sie können nichts sagen, Fräulein Clandon. Verzeihen Sie mir. Ich allein trage alle Schuld—oder richtiger, ich habe eben Pech gehabt. Sehen Sie, es hing alles davon ab, ob Sie mich gern möchten. (Sie ist im Begriff zu sprechen, er unterbricht sie aber mit bittenden Gebärden: ) Oh, ich weiß—Sie dürfen mir nicht sagen, ob Sie mich gern mögen oder nicht; aber—

(Gloria wappnet sich sofort mit ihren Grundsätzen:) Ich darf nicht?… Warum nicht?… Ich bin ein freies Weib! Warum soll ich es Ihnen nicht sagen dürfen?

(Dr. Valentine weicht ängstlich zurück; bittend:) Nicht! Ich könnte es nicht ertragen!

(Gloria nicht länger verachtungsvoll:) Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich halte Sie für sentimental und für ein wenig überspannt—aber ich habe Sie gern.

(Dr. Valentine fällt wie zermalmt in den Eisenstubl:) Dann ist alles vorüber! (Er ist ein Bild der Verzweiflung.)

(Gloria nähert sich ihm; verwirrt:) Aber warum denn?

(Dr. Valentine.) Weil gernhaben nicht genügt! Jetzt, wo ich ernstlich darüber nachdenke, weiß ich selbst nicht, ob ich Sie gern habe oder nicht.

(Gloria blickt mit erstauntem Interesse auf ihn herab:) Das tut mir leid.

(Dr. Valentine. Im Schmerz zurückgehaltener Leidenschaft:) Oh,
bemitleiden Sie mich nicht! Ihre Stimme zerreißt mir das Herz!
Lassen Sie mich allein, Gloria. Sie wühlen mich in meinen tiefsten
Tiefen auf, Sie verwirren und beleben mich zugleich!—Ich kann den
Kampf dagegen nicht aufnehmen—ich kann es Ihnen nicht sagen—

(Gloria bricht plötzlich nieder:) Oh, hören Sie auf mir zu sagen, was
Sie fühlen: ich kann es nicht ertragen!

(Dr. Valentine springt triumphierend auf, seine ersterbende Stimme klingt jetzt stark und jubelnd:) Ah! Er ist endlich gekommen—der Augenblick meines Mutes!—(Er ergreift ihre Hände; sie blickt ihn entsetzt an.) Der Augenblick *unseres* Mutes! (Er ziebt sie an sich, küßt sie mit ungestümer Kraft und lacht knabenhaft.) Es ist geschehen, Gloria—es ist alles vorüber—wir sind ineinander verliebt! (Sie kann nur nach Luft ringen.) Aber was für ein Ungeheuer waren Sie, und was für ein Hasenfuß bin ich gewesen!

(Philips Stimme vom Strande rufend:) Doktor Valentine!

(Dollys Stimme.) Doktor Valentine!

(Dr. Valentine.) Leben Sie wohl… vergeben Sie mir. (Er küßt ihr rasch die Hände und läuft zu den Stufen, wo er der heraufkommenden Frau Clandon begegnet. Gloria, ganz verloren, kann ihm nur nachstarren.)

(Frau Clandon.) Die Kinder suchen Sie, Herr Doktor. (Sie siebt sich ängstlich um:) Ist er fort?

(Dr. Valentine verwirrt:) Er?… (Sich erinnernd:) Oh, McNaughtan!
—Der ist schon längst fort, Frau Clandon. (Er läuft in gehobener
Stimmung die Stiegen hinunter.)

(Gloria auf die Bank sinkend:) Mutter!

(Frau Clandon stürzt ängstlich auf sie zu:) Was ist geschehen, mein
Kind?

(Gloria mit tief bekümmertem, anklagendem Vorwurf:) Warum hast du mich nicht ordentlich erzogen, Mutter?

(Frau Clandon erstaunt:) Kind, ich habe mein môglichstes getan!

(Gloria.) Oh, du hast mich nichts gelehrt—gar nichts!

(Frau Clandon.) Was ist mit dir?

(Gloria mit dem größten Nachdruck:) Ich schäme mich—schäme mich—schäme mich—(Da sie unerträglich errötet, bedeckt sie ihr Gesicht mit den Händen und wendet sich von ihrer Mutter ab.)

(Vorhang)

DRITTER AKT

(Der Salon der teuern ebenerdigen Wohnung, welche die Clandons im Marinehotel gemietet haben. Eine bis auf den Fußboden reichende zweiflügelige Fenstertür führt in den Garten. In der Mitte des Zimmers steht ein massiver, von Stühlen umgebener Tisch, der mit einer kastanienbraunen Decke bedeckt ist. Kostspielig eingebundene Hotel- und Eisenbahnführer liegen darauf. Ein Besucher, der durch die Fenstertür käme und zu diesem Mitteltisch ginge, würde den Kamin zu seiner Linken haben und einen Schreibtisch an der Wand zu seiner Rechten, in der Nähe die Tür, die weiter hinten ist. Er würde, wenn dies seiner Geschmacksrichtung entspräche, die pflaumen- und bronzelackfarbigen Mauerverzierungen von Lincrusta Walton mit Sockel und Kranzgesims und die Goldbronze-Konsolen in den Ecken bewundern können. Zu beiden Seiten des Fensters sieben Vasen auf Pfeilerpiedestalen aus gesprenkeltem Marmor mit Untersätzen aus poliertem schwarzem Holz. Zunächst der Vase, in der nächsten Nähe des Kamins, steht ein verzierter Schrank, dessen Mittelfach eine Tür aus Holzmosaï[*or i?]k verschließt und dessen durch gewölbte Glasscheiben abgerundete Kanten Gestelle mit billigem blauem und weißem Steingutgeschirr schützen. Ein Teetisch aus Bambusrohr mit zusammenklappbaren Seitenbrettern steht gegenüber auf der andern Seite des Fensters.—An den Wänden hängen Bilder, gemalte Ozeandampfer und Hunde von Landseer. In einer Linie mit der Türe, aber auf der andern Seite des Zimmers befindet sich eine Ottomane; auf dem Kaminteppich stehen zwei bequeme dazu passende Stühle. Über dem Fenster ist eine massive Messingstange angebracht, an der ein Paar rotbraune Ripsvorhänge mit mattgrünen Zierborten hängen. Kurzum, ein Zimmer, das danach eingerichtet ist, den Gefühlen des Bewohners von seiner eigenen Wichtigkeit zu schmeicheln und ihn mit der täglichen Ausgabe eines ganzen Pfundes für die Benützung auszusöhnen.)

(Frau Clandon sitzt am Schreibtisch und liest Korrekturen. Gloria lehnt am Fenster und starrt in gequälter Träumerei ins Weite. Die Uhr auf dem Kaminsims schlägt Fünf mit schwachem Klirren, da die Glocke gegen das marmorne schwarze Ehrengrab, in das sie eingemauert ist, nicht aufkommen kann.)

(Frau Clandon.) Fünf! Ich glaube, wir brauchen nicht länger auf die
Kinder zu warten; sie trinken gewiß außer Haus Tee.

(Gloria müde:) Soll ich klingeln?

(Frau Clandon.) Ja, mein Kind.

(Gloria geht an den Kamin und klingelt.)

(Frau Clandon.) Endlich bin ich mit den Korrekturen fertig. Gott sei
Dank!

(Gloria durchschreitet das Zimmer unaufmerksam und tritt hinter den
Stuhl ihrer Mutter:) Was für Korrekturen?

(Frau Clandon.) Die neue Auflage der "Frauen des zwanzigsten
Jahrhunderts".

(Gloria mit einem bittern Lächeln:) Es fehlt noch ein Kapitel.

(Frau Clandon beginnt ihre Korrekturen zu durchstöbern:) Glaubst du?… doch nicht.

(Gloria.) Ich meine ein ungeschriebenes. Vielleicht werde ich es für dich schreiben—sobald ich erst den Schluß weiß. (Sie geht an das Fenster zurück.)

(Frau Clandon.) Gloria! ein neues Rätsel?

(Gloria.) O nein! das alte Rätsel.

(Frau Clandon verlegen und ziemlich verwirrt, nachdem sie ihre Tochter einen Augenblick beobachtet hat:) Mein Kind—

(Gloria zurückkommend:) Ja?

(Frau Clandon>) Du weißt, daß ich niemals Fragen stelle.

(Gloria neben ihrem Stuhl kniend:) Ich weiß, ich weiß! (Sie wirft plötzlich ihren Arm um den Hals ihrer Mutter und umarmt sie beinahe leidenschaftlich.)

(Frau Clandon sanft Lächelnd, aber verlegen:) Aber mein Kind, du wirst ganz sentimental!

(Gloria zurückfahrend:) Nein, nein—o sage das nicht—oh! (Sie erhebt sich und wendet sich mit einer Bewegung von Frau Clandon ab, als ob sie sich losrisse.)

(Frau Clandon sanft:) Liebes Kind, was ist geschehen? Was—(Der
Kellner kommt mit dem Teebrett herein.)

(Der Kellner sanft:) Danach haben Sie wohl geklingelt, gnädige Frau?

(Frau Clandon.) Ja, ich danke. (Sie wendet ihren Stuhl vom
Schreibtisch fort und setzt sich wieder.)

(Gloria geht an den Kamin und kauert sich dort mit abgewandtem Gesicht in einen Stuhl.)

(Der Kellner setzt das Brett einstweilen auf den Mitteltisch:) Das habe ich mir gedacht, gnädige Frau. Sonderbar, wie die Nerven nachmittags ohne Tee nachzulassen beginnen. (Er holt den Teetisch und setzt ihn vor Frau Clandon bin und spricht dabei:) Der junge Herr und das gnädige Fräulein sind eben zurückgekommen, gnädige Frau. Sie waren in einem Boote auf dem Meer. Sehr angenehm an einem schönen Nachmittag wie heute, sehr kräftigend. (Er nimmt nun das Teebrett vom Mitteltisch fort und setzt es auf den Teetisch.) Herr McComas kommt nicht zum Tee, gnädige Frau. Er ist fortgegangen, Herrn McNaughtan zu besuchen. (Er nimmt zwei Stühle und setzt sie rechts und links vom Teetisch hin.)

(Gloria blickt auf und fragt entsetzt:) Und der andere Herr?…

(Der Kellner verfällt unbewußt einen Augenblick in die Tonart eines Liedes, das er als Knabe gesungen, beruhigend:) Oh, der kommt, gnädiges Fräulein—oh, der kommt. Er hat gerudert und ist eben in die Apotheke gelaufen, sich etwas für seine wunden Handflächen geben zu lassen. Aber er muß gleich hier sein, gnädiges Fräulein!

(Gloria erhebt sich in unbezwingbarer Angst und läuft zur Tür.)

(Frau Clandon sich halb erhebend:) Glo—(Gloria geht hinaus; Frau
Clandon starrt den Kellner an, dessen Haltung unbeweglich bleibt.)

(Der Kellner heiter:) Sonst noch etwas gefällig, gnädige Frau?

(Frau Clandon.) Nein, danke.

(Der Kellner.) Ich habe zu danken, gnädige Frau.

(Als er sich zurückziehen will, kommen Philip und Dolly in fröhlichster Laune bereingestürmt; er hält ihnen die Tür auf, geht dann hinaus und schließt sie.)

(Dolly gierig:) Oh, gib mir schnell etwas Tee! (Frau Clandon schenkt ihr eine Tasse ein.) Wir sind in einem Boot auf dem Meer gewesen. Dr. Valentine wird gleich da sein.

(Philip.) Er ist nicht an Seefahrten gewöhnt.—Wo ist Gloria?

(Frau Clandon ängstlich, während sie ihm Tee eingießt:) Phil, mit Gloria ist etwas los. Ist etwas passiert? (Philip und Dolly sehen einander mit unterdrücktem Lachen an.) Was ist es?

(Philip setzt sich an ihre linke Seite:) Romeo—

(Dolly setzt sich an ihre rechte Seite:)—und Julia!

(Philip nimmt seine Teetasse Frau Clandon ab:) Ja, liebe Mama: die alte, alte Geschichte—Dolly, nimm nicht die ganze Milch. (Er reißt ihr die Kanne geschickt fort.) Ja, im Frühling—

(Dolly)—kann eines Jünglings Phantasie—

(Philip)—leicht Liebesblüten treiben… Ich danke. (Zu Frau Clandon, die ihm die Biskuits gereicht hat:) Das kommt übrigens auch im Herbst vor. Diesmal ist der Jüngling—

(Dolly.) Doktor Valentine.

(Philip.) Und seine Phantasie hat Gloria in einem Maße gehuldigt, daß er sie—

(Dolly)—geküßt hat—

(Philip.)—auf der Terrasse—

(Dolly ihn verbessernd:)—auf die Lippen—vor allen Leuten!

(Frau Clandon ungläubig:) Phil—Dolly—spaßt ihr? (Sie schütteln den
Kopf.) Hat sie es geduldet?

(Philip.) Wir haben erwartet, ihn vom Blitze ihrer Verachtung zu Boden geschmettert zu sehen—

(Dolly.)—aber es geschah nichts dergleichen—

(Philip.) Es schien ihr ganz recht zu sein.

(Dolly.) Soweit wir es beurteilen konnten… (Sie fällt Philip, der im Begriff ist, sich noch eine Tasse einzugießen, in den Arm:) Nein, du hast die zweite Tasse abgeschworen!

(Frau Clandon sehr beunruhigt:) Kinder, ihr dürft nicht hier sein, wenn Doktor Valentine kommt. Ich muß darüber sehr ernst mit ihm sprechen.

(Philip.) Um ihn nach seinen Absichten zu fragen?… Was für eine
Verletzung der "Grundsätze des zwanzigsten Jahrhunderts"!

(Dolly.) Du hast ganz recht, Mama! Stelle ihn zur Rede. Schlage soviel du nur kannst aus dem neunzehnten Jahrhundert heraus, so lange es dauert.

(Philip.) Sch! er kommt!

(Dr. Valentine tritt ein:) Ich bedaure sehr, mich verspätet zu haben, Frau Clandon. (Sie ergreift die Teekanne:) Nein, ich danke, ich trinke niemals Tee. Fräulein Dolly und Phil haben Ihnen wohl schon erzählt, was mir passiert ist.

(Philip erhebt sich; wichtig:) Ja, Doktor, wir haben es Mama erzählt.

(Dolly erhebt sich gleichfalls; bedeutungsvoll:) Wir haben es Mama sehr genau erzählt.

(Philip.) Es war unsere Pflicht. (Sehr ernst:) Komm, Dolly! (Er bietet Dolly seinen Arm, die sich einhängt. Sie sehen Dr. Valentine mitleidig an und gehen Arm in Arm ernst hinaus. Dr. Valentine sieht ihnen verwirrt nach, dann blickt er Frau Clandon fragend, wie um eine Erklärung bittend an.)

(Frau Clandon erhebt sich und verläßt den Teetisch:) Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, Herr Doktor. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, wenn Sie erlauben. (Dr. Valentine setzt sich langsam auf die Ottamane nieder. Sein Gewissen prophezeit ihm eine schlimme Viertelstunde. Frau Clandon nimmt Philips Stuhl und setzt sich bedächtig in gemessener Entfernung.) Ich muß zunächst ein wenig Nachsicht für mich erbitten. Ich bin im Begriff, über einen Gegenstand zu sprechen, von dem ich sehr wenig, vielleicht gar nichts verstehe. Ich meine—Liebe.

(Dr. Valentine.) Liebe!

(Frau Clandon.) Ja, Liebe.—Oh, Sie brauchen nicht so beunruhigt dreinzuschauen, Herr Doktor—ich bin nicht in Sie verliebt.

(Dr. Valentine überwältigt:) Wahrhaftig, Frau—(Sich erholend:) Es würde mich mehr als stolz machen, wenn Sie es wären.

(Frau Clandon.) Ich danke Ihnen, Herr Doktor; aber ich bin zu alt, jetzt nach damit anzufangen.

(Dr. Valentine.) Anzufangen?!… Haben Sie nie—?

(Frau Clandon.) Niemals. Mein Schicksal ist sehr alltäglich gewesen. Ich habe geheiratet, bevor ich alt genug war, zu wissen, was ich eigentlich tat. Wie Sie sich selbst überzeugt haben, war die Folge davon eine bittere Enttäuschung für uns beide, für meinen Mann und für mich. So kommt es, daß ich, trotzdem ich verheiratet bin, niemals verliebt war… ich habe in meinem ganzen Leben keine einzige Liebesangelegenheit gehabt. Und um ganz aufrichtig zu sein, Herr Doktor, was ich von den Liebesangelegenheiten anderer gesehen habe, hat nicht dazu beigetragen, mich diesen Mangel bedauern zu lassen. (Dr. Valentine, der sehr verdrießlich dreinschaut, blinzelt skeptisch nach ihr hin und sagt nichts. Sie errötet ein wenig und fügt mit unterdrücktem Ärger hinzu:) Sie glauben mir nicht.

(Dr. Valentine bestürzt, da er seine Gedanken erraten sieht:) Aber, warum denn nicht… warum nicht?

(Frau Clandon.) Lassen Sie sich sagen, Herr Doktor, daß ein der Menschheit gewidmetes Leben Begeisterungen bietet und Leidenschaften kennt, die bei weitem die selbstsüchtigen Verblendungen und Sentimentalitäten eines Liebesromanes übersteigen. Ihre Begeisterungen und Leidenschaften—sind das nicht, nicht wahr? (Dr. Valentine weiß wohl, daß Frau Clandon ihn deswegen geringschätzt, und antwortet negativ mit melancholischem Kopfschütteln.) Ich dachte mir's. —Nun, dafür bin ich im Nachteil, wenn ich diese sogenannten Herzensangelegenheiten besprechen muß, in denen Sie ein Fachmann zu sein scheinen.

(Dr. Valentine unruhig:) Worauf spielen Sie an, Frau Clandon?

(Frau Clandon.) Ich glaube, Sie wissen es.

(Dr. Valentine.) Gloria?

(Frau Clandon.) Ja, Gloria.

(Dr. Valentine streckt die Waffen:) Nun ja, ich bin verliebt in Gloria. (Er unterbricht sie, da sie im Begriff ist zu antworten:) Ich weiß schon, was Sie sagen wollen: Ich habe kein Geld.

(Frau Clandon.) Ich frage sehr wenig nach Geld, Herr Doktor.

(Dr. Valentine.) Dann sind Sie aber ganz anders als alle andern Mütter, die mit mir gesprochen haben.

(Frau Clandon.) Ah, nun kommen wir zur Hauptsache, Herr Doktor! Sie sind ein alter Praktikus! (Er öffnet die Lippen, um zu widersprechen. Sie unterbricht ihn mit einiger Entrüstung:) Oh, glauben Sie doch nicht, daß ich nicht genug gesunden Menschenverstand besitze, um zu wissen—so wenig ich von solchen Dingen verstehe—daß ein Mann, der bei einer einzigen Begegnung, mit einer Frau wie meine Tochter so weit kommen konnte, kaum ein Neuling sein kann!

(Dr. Valentine.) Ich versichere Ihnen—

(Frau Clandon unterbricht ihn:) Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Herr Doktor. Es war Glorias Sache, sich selbst zu schützen, und Sie haben das Recht, sich nach Gefallen zu unterhalten.

(Dr. Valentine protestierend:) Mich unterhalten?… Oh, Frau Clandon!

(Frau Clandon unnachgiebig;) Bei Ihrer Ehre, Herr Doktor, meinen Sie es ernst?

(Dr. Valentine verzweifelt:) Bei meiner Ehre, ich meine es ernst! (Sie sieht ihn forschend an. Sein Sinn für Humor bricht bei ihm durch, und er fügt verschmitzt hinzu:) Allerdings habe ich es immer ernst gemeint; und dennoch—bin ich hier, wie Sie sehen!

(Frau Clandon.) Das ist es gerade, was ich ahnte. (Streng:) Herr
Doktor, Sie sind einer von den Männern, die mit den Gefühlen der
Frauen spielen.

(Dr. Valentine.) Warum auch nicht, da doch nur die Sache der
Menschheit es verdient, ernst genommen zu werden? Aber ich verstehe.
(Er erhebt sich und nimmt seinen Hut; mit förmlicher Höflichkeit:) Sie
wünschen, daß ich meine Besuche in Ihrem Hause einstelle.

(Frau Clandon.) Nein. Ich bin klug genug zu wissen, daß für Gloria die beste Möglichkeit, Ihnen zu entkommen, die ist, Sie nur besser kennen zu lernen.

(Dr. Valentine wirklich beunruhigt:) Oh, sagen Sie das nicht, Frau
Clandon! Das glauben Sie doch nicht—nicht wahr, nein?

(Frau Clandon.) Ich habe großes Vertrauen zu der gesunden Schule, die
Glorias Geist seit ihrer Kindheit durchgemacht hat.

(Dr. Valentine erstaunlich erleichtert:) Oh—oh! oh! dann ist's recht! (Er setzt sich wieder und wirft seinen Hut übermütig beiseite, mit der Miene eines Menschen, der nun nichts mehr zu fürchten hat.)

(Frau Clandon empört über seine Sicherheit:) Wie meinen Sie das?

(Dr. Valentine wendet sich ihr vertraulich zu:) Soll ich Sie auch etwas lehren, Frau Clandon?

(Frau Clandon steif:) Ich bin immer gern bereit zu lernen.

(Dr. Valentine.) Haben Sie jemals das Thema Geschützkunst—Artillerie,
Kanonen, Kriegsschiffe und so weiter—studiert, Frau Clandon?

(Frau Clandon.) Hat die Geschützkunst irgendwas mit Gloria zu schaffen?

(Dr. Valentine.) Sehr viel!—Zur Erläuterung nämlich.—Während dieses ganzen Jahrhunderts war der Fortschritt der Artillerie ein Zweikampf zwischen dem Fabrikanten von Kanonen und dem Fabrikanten von kugelsichern Panzerplatten. Man baut ein Schiff, das gegen die besten Geschosse der bekannten Kanonen undurchdringlich ist—da erfindet jemand ein besseres Geschoß und bringt das Schiff zum Sinken. Sofort baut man ein schwereres, gegen die Geschosse der neuen Kanone undurchdringliches Schiff—da erfindet wieder jemand ein noch besseres Geschoß und bringt das Schiff wieder zum Sinken. Und so weiter.—Nun, der Zweikampf der Geschlechter vollzieht sich auf dieselbe Weise.

(Frau Clandon.) Der Zweikampf der Geschlechter?…

(Dr. Valentine.) Ja. Sie haben doch vom Zweikampf der Geschlechter gehört, nicht wahr?—Oh, daran habe ich nicht gedacht! Sie sind lange in Madeira gewesen, der Ausdruck ist nach Ihrer Zeit aufgekommen. Brauche ich ihn zu erklären?

(Frau Clandon verachtungsvoll:) Nein.

(Dr. Valentine.) Natürlich nicht.—Was geschieht denn nun in diesem Geschlechterzweikampf?… Die altmodische Mutter bekam eine altmodische Erziehung, um gegen die Ränke des Mannes gerüstet zu sein. Gut. Sie kennen das Resultat. Der altmodische Mann hat sie herumgekriegt. Die altmodische Frau entschloß sich nun, ihre Tochter wirksamer zu wappnen—irgendeine Waffe zu finden, gegen die der altmodische Mann nicht aufkommen könnte. Sie gab ihrer Tochter deshalb eine wissenschaftliche Erziehung—Ihr System! Diese neue Ausrüstung hat den altmodischen Mann mattgesetzt: er jammerte, das sei nicht gerecht, unweiblich und weiß Gott was alles. Aber das half ihm nichts, und so mußte er seinen altmodischen Angriffsplan aufgeben—Sie wissen ja Bescheid—auf die Knie fallen und Liebe und Gehorsam schwören—und so weiter.

(Frau Clandon.) Entschuldigen Sie: das hat das Weib geschworen.

(Dr. Valentine.) Wirklich?—Sie haben vielleicht recht—ja natürlich, es war das Weib!—Nun gut. Was hat der Mann getan? Genau dasselbe, was der Kanonengießer tat—er ging einen Schritt weiter als die Frau, bildete sich wissenschaftlich und schlug sie auf dieser Linie genau so, wie er sie auf der alten Linie geschlagen hatte. Ich war noch nicht dreiundzwanzig Jahre alt und hatte schon gelernt, die frauenrechtlerische Frau herumzukriegen; es ist schon lange her, daß man das herausgefunden hat. Sie sehen, meine Methoden sind gründlich modern.

(Frau Clandon mit ruhigem Widerwillen:) Zweifellos.

(Dr. Valentine.) Aber gerade deswegen gibt es eine Mädchensorte, gegen die diese Methode nutzlos ist.

(Frau Clandon.) Bitte, welche Sorte ist das?

(Dr. Valentine.) Das gründlich altmodische Mädchen. Wenn Sie Gloria in der ehemals üblichen Weise erzogen hätten, so würde ich achtzehn Monate gebraucht haben, um so weit zu kommen, wie ich heute nachmittag in achtzehn Minuten gekommen bin.—Ja, Frau Clandon: die Frauenemanzipation hat Gloria in meine Hände geliefert, und Sie waren es, die sie den Glauben an die Frauenemanzipation gelehrt hat.

(Frau Clandon erhebt sich:) Herr Doktor, Sie sind sehr gescheit.

(Dr. Valentine erhebt sich gleichfalls:) Oh, Frau Clandon!

(Frau Clandon.) Aber Sie haben mich nichts Neues gelehrt. Adieu.

(Dr. Valentine erschrocken:) Adieu?!—Oh, darf ich sie nicht sehen, bevor ich gehe?

(Frau Clandon.) Ich fürchte, sie wird erst zurückkommen, wenn Sie gegangen sind, Herr Doktor. Sie hat das Zimmer eigens verlassen, um Ihnen auszuweichen.

(Dr. Valentine gedankenvoll:) Das ist ein gutes Zeichen. Adieu. (Er verneigt sich und wendet sich offenbar sehr befriedigt zur Tür.)

(Frau Clandon beunruhigt:) Warum halten Sie das für ein gutes Zeichen?

(Dr. Valentine dreht sich in der Nähe der Tür um:) Weil ich eine Todesangst vor ihr habe; und es scheint, daß sie eine Todesangst vor mir hat. (Er will nun gehen, steht aber an der Türschwelle plötzlich Gloria gegenüber, die eben eingetreten ist. Sie sieht ihm standhaft ins Auge. Er starrt sie hilflos an, dann suchen seine Blicke Frau Clandon, dann wieder Gloria; er ist vollkommen außer Fassung.)

(Gloria bleich und sich nur mühsam beherrschend:) Mutter, ist es wahr, was Dolly mir gesagt hat?

(Frau Clandon.) Was hat sie dir gesagt, mein Kind?

(Gloria.) Daß du mit diesem Herrn über meine Angelegenheiten gesprochen hast?

(Dr. Valentine murmelnd:) Mit diesem Herrn—oh!

(Frau Clandon scharf:) Herr Doktor—können Sie einen Augenblick schweigen? (Er blickt sie kläglich an, dann geht er mit einem verzweifelten Achselzucken an die Ottomane zurück und wirft seinen Hut darauf.)

(Gloria betrachtet ihre Mutter vorwurfsvoll:) Mutter, was hattest du für ein Recht dazu?

(Frau Clandon.) Ich glaube, ich habe nichts gesagt, wozu ich nicht ein
Recht gehabt hätte, Gloria.

(Dr. Valentine bestätigt das dienstfertig:) Nichts… nicht das geringste. (Gloria sieht ihn mit sprachloser Entrüstung an.) Verzeihen Sie. (Er setzt sich beschämt auf die Ottomane.)

(Gloria.) Ich glaube nicht, daß irgend jemand das Recht hat, über Dinge auch nur nachzudenken, die mich allein angehen. (Sie wendet sich ab, einen schmerzlichen Kampf mit ihrer Erregung zu verbergen.)

(Frau Clandon.) Liebe Gloria, wenn ich deinen Stolz verletzt haben sollte—

(Gloria wendet sieb um:) Mein Stolz—mein Stolz—oh, er ist fort! Ich weiß jetzt, daß ich keine Kraft besitze, auf die ich stolz sein könnte. (Wendet sich wieder ab.) Aber eine Frau, die sich nicht selbst zu beschützen weiß, die kann niemand beschützen. Niemand ist auch nur berechtigt, es zu versuchen… nicht einmal ihre Mutter! Ich weiß, daß ich dein Vertrauen verloren habe, genau so wie ich die Achtung dieses Mannes verloren habe—(Sie hält inne, um einen Seufzer zu unterdrücken.)

(Dr. Valentine stöhnend:) Dieses Mannes—! (Er murmelt wieder:) Oh!…

(Frau Clandon mit gedämpfter Stimme:) Bitte, schweigen Sie, Herr
Doktor.

(Gloria fährt fort:)—aber ich bin wenigstens berechtigt, mit meiner Schande allein zu bleiben. Ich bin eins von jenen schwachen Geschöpfen, die geboren sind, um von dem erstbesten Mann, der ein Auge auf sie wirft, gemeistert zu werden, und ich muß mein Schicksal erfüllen. Erspare mir wenigstens die Demütigung deiner Rettungsversuche. (Sie setzt sich, das Taschentuch an den Augen, an das entferntere Ende des Tisches.)

(Dr. Valentine aufspringend:) Hören Sie mal—

(Frau Clandon.) Herr Dokt—

(Dr. Valentine unbekümmert:) Nein! Ich will sprechen! Ich habe nahezu dreißig Sekunden geschwiegen. (Er geht zu Gloria hin:) Fräulein Clandon—

(Gloria bitter:) Oh—nicht Fräulein Clandon—Sie wissen ja, daß man es sich ganz gut gestatten darf, mich Gloria zu nennen.

(Dr. Valentine.) Nein, ich will das nicht. Sie werden mir es nachher vorwerfen und mich der Mißachtung beschuldigen. Es ist eine herzzerreißende Lüge, daß ich Sie nicht achte. Es ist wahr, daß ich Ihren früheren Stolz nicht geachtet habe. Warum sollte ich es auch? Er war nichts als Feigheit. Ich habe Ihren Verstand nicht geachtet—davon besitze ich selbst etwas mehr; er ist eine männliche Spezialität. Aber als Sie mich in meinen Tiefen aufgewühlt hatten! —als mein großer Augenblick gekommen war!—als Sie mich tapfer machten!—ah, da, da, da!

(Gloria.) Da achteten Sie mich, meinen Sie.

(Dr. Valentine.) Nein, das nicht:—da betete ich Sie an! (Sie erhebt sich rasch und wendet ihm den Rücken zu.) Und diesen Augenblick werden Sie mir niemals nehmen können. So—nun ist mir einerlei, was geschieht! (Er geht auf und ab und stößt einen frohen Ausruf aus, mit dem er sich an niemand besonders wendet:) Ich weiß sehr gut, daß ich Unsinn rede—aber ich kann nicht anders. (Zu Frau Clandon:) Ich liebe Gloria—und damit basta!

(Frau Clandon mit Nachdruck:) Herr Doktor, Sie sind ein sehr gefährlicher Mensch. Gloria, komm her.(Gloria wundert sich ein wenig über diesen Befehl, gehorcht aber und bleibt mit gesenktem Kopf rechts von ihrer Mutter stehen; Dr. Valentine steht auf der andern Seite. Frau Clandon spricht nun mit nachdrücklichem Hohn:) Frage diesen Mann, den du begeistert und tapfer gemacht hast, wie viele Frauen das vor dir getan haben. (Gloria sieht plötzlich mit einem Aufflammen eifersüchtigen Ärgers und Staunens auf.) Wie oft er die Falle gestellt hat, in die du ihm gegangen bist; wie oft er sie mit ganz denselben Redensarten geködert hat; wieviel Übung er als Duellant im Zweikampf der Geschlechter hat, der seinen eigentlichen Lebensberuf ausmacht.

(Dr. Valentine.) Das ist nicht recht, Frau Clandon! Sie. nützen mein
Vertrauen aus!

(Frau Clandon.) Frage ihn, Gloria!

(Gloria gebt in einem Wutausbruch mit geballten Fäusten auf ihn los:)
Ist das wahr?!

(Dr. Valentine.) Bitte, seien Sie nicht böse—

(Gloria unterbricht ihn; unerbittlich:) Ist das wahr?! Haben Sie das alles jemals schon gesagt?… haben Sie das alles jemals schon empfunden?… für eine andere Frau?

(Dr. Valentine geradeheraus:) Ja.

(Gloria erbebt ihre geballten Hände.)

(Flau Clandon springt entsetzt an ihre Seite und hält ihre erhobenen
Arme auf:) Gloria, liebes Kind—du vergißt dich!

(Gloria gibt mit einem tiefen Seufzer ihre drohende Stellung langsam auf:)

(Dr. Valentine.) Bedenken Sie: eines Mannes Fähigkeit zur Liebe und zur Bewunderung ist wie jede andere seiner Fähigkeiten: er muß sie oft weggeworfen haben, bevor er wissen kann, was ihrer wirklich wert ist.

(Frau Clandon.) Das ist auch eine seiner eingelernten Redensarten.
Gloria, nimm dich in acht!

(Dr. Valentine sich verwahrend:) Oh!

(Gloria zu Frau Clandon, mit verachtungsvoller Selbstbeherrschung:)
Glaubst du, daß ich jetzt noch gewarnt zu werden brauche? (Zu Dr.
Valentine:) Sie haben versucht, mich dahin zu bringen, Sie zu lieben!

(Dr. Valentine.) Jawohl.

(Gloria.) Nun, Sie haben damit nur erreicht, daß ich Sie hasse—leidenschaftlich hasse!

(Dr. Valentine philosophisch:) Es ist überraschend, wie klein doch der Unterschied zwischen Haß und Liebe ist. (Gloria wendet sich entrüstet von ihm ab. Er fährt zu Frau Clandon gewendet fort:) Ich kenne Frauen, die ihre Männer lieben und sich dabei genau so gegen sie benehmen.

(Frau Clandon.) Entschuldigen Sie, Herr Doktor, aber wäre es nicht besser, Sie gingen?

(Gloria.) Meinetwegen brauchst du ihn nicht fortzuschicken! Er ist mir jetzt nichts mehr und er wird Phil und Dolly amüsieren. (Sie setzt sich mit geringschätziger Gleichgültigkeit an den Tisch, in die Nähe des Fensters.)

(Dr. Valentine lustig:) So ist's recht! Das ist die vernünftige Art, es aufzufassen. Gehen Sie, Frau Clandon Sie können einem bloßen Schmetterling, wie ich es bin, nicht ernstlich böse sein.

(Frau Clandon.) Ich habe gar kein Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor; aber ich will nicht annehmen, daß Ihre beklagenswert leichtsinnige Veranlagung einzig schamlos und nichtswürdig ist—

(Gloria für sich, aber laut:) Ja, schamlos und nichtswürdig!

(Frau Clandon.)—Deshalb ist es vielleicht besser, wenn wir Phil und
Dolly rufen lassen und Ihnen gestatten, Ihren Besuch auf die übliche
Weise zu beenden.

(Dr. Valentine, als wenn sie ihm das größte Kompliment gemacht hätte:)
Sie sind zu liebenswürdig, Frau Clandon—ich danke Ihnen!

(Der Kellner tritt ein:) Herr McComas, gnädige Frau.

(Frau Clandon.) O gewiß! ich lasse bitten.

(Der Kellner.) Er läßt fragen, ob er Sie nicht im Lesezimmer sprechen dürfte, gnädige Frau.

(Frau Clandon.) Warum nicht hier?

(Der Kellner.) Nun, wenn ich es sagen darf, gnädige Frau: ich glaube,
Herr McComas fühlt, er hätte leichteres Spiel, wenn er mit Ihnen in
Abwesenheit der jüngeren Mitglieder Ihrer Familie sprechen könnte,
gnädige Frau.

(Frau Clandon.) Sagen Sie ihm, daß die Kinder nicht hier sind.

(Der Kellner.) Sie behalten die Tür im Auge, gnädige Frau, und passen scharf auf aus irgendeinem Grunde.

(Frau Clandon geht:) Nun gut, so will ich zu ihm gehen.

(Der Kellner hält ihr die Tür auf:) Ich danke, gnädige Frau. (Sie
geht hinaus. Er kommt ins Zimmer zurück und begegnet dem Auge Dr.
Valentines, der wünscht, daß er sich entferne.) Sofort, Herr
Doktor—nur das Teegeschirr. (Er nimmt das Teebrett:) Entschuldigen
Sie, Herr Doktor—ich danke sehr. (Er gebt hinaus.)

(Dr. Valentine zu Gloria:) Hören Sie! Früher oder später werden Sie mir verzeihen… verzeihen Sie mir gleich.

(Gloria erbebt sich, um ihre Erklärung an ihn intensiver zu machen:)
Niemals! so lange Gras wächst und Wasser fließt—nie—nie—nie!

(Dr. Valentine unerschrocken:) Auch gut. Mich kann nichts unglücklich machen—ich werde nie wieder unglücklich sein, nie, nie, nie, so lange Gras wächst und Wasser fließt!! Der Gedanke an Sie wird mich immer mit jauchzender Freude erfüllen. (Ein höhnisches Wort ist auf ihren Lippen. Er unterbricht sie rasch:) Nein, das habe ich noch zu keiner gesagt… Das ist das erstemal!

(Gloria.) Wenn Sie es der nächsten Frau sagen, wird es nicht zum ersten Male sein!

(Dr. Valentine.) O nicht, Gloria, nicht! (Er kniet vor ihr nieder.)

(Gloria.) Stehen Sie auf—stehen Sie auf! Wie können Sie es wagen?

(Philip und Dolly stürzen, wie gewôhnlich um die Wette laufend, ins
Zimmer. Sie prallen zurück, als sie sehen, was vorgeht. Dr.
Valentine springt auf.)

(Philip diskret:) O entschuldigen Sie.—Komm, Dolly. (Er wendet sich um und will geben.)

(Gloria geärgert:) Die Mutter wird gleich wieder da sein, Phil. (Streng:) Bitte, wartet hier auf sie. (Sie geht an das Fenster und sieht, mit dem Rücken gegen die andern, hinaus.)

(Philip bedeutungsvoll:) O wirklich—hm hm…

(Dolly.) Aha!

(Philip.) Sie scheinen sehr gut aufgelegt zu sein, Doktor?

(Dr. Valentine.) Das bin ich auch. (Er tritt zwischen sie:) Nun so hören Sie: Sie beide wissen doch, was hier vorgefallen ist, nicht wahr? (Gloria wendet sich rasch um, als ahnte sie eine neue Beleidigung.)

(Dolly.) Alles.

(Dr. Valentine.) Nun, es ist alles vorbei. Ich wurde abgewiesen—verachtet. Ich werde hier nur noch geduldet. Sie verstehen doch?… es ist alles vorbei. Ihre Schwester will von meinen Huldigungen absolut nichts wissen, sie will nicht einmal geruhen, auch nur das kleinste Interesse für mich zu haben. (Gloria ist zufrieden und wendet sich verachtungsvoll wieder zum Fenster.) Ist das klar?

(Dolly.) Es geschieht Ihnen recht—Sie haben es gar zu eilig gehabt.

(Philip ihm auf die Schultern klopfend:) Machen Sie sich nichts
daraus—nicht einmal Ihre Seele wäre Ihr Eigentum geblieben, wenn
Gloria Sie geheiratet hätte. Sie können jetzt ein neues Kapitel Ihres
Lebens beginnen.

(Dolly.) Kapitel siebzehn ungefähr, nicht wahr?

(Dr. Valentine durch diesen Scherz aus dem Text gebracht:) Nein—sagen Sie nicht solche Sachen! Gerade gedankenlose Bemerkungen dieser Art richten das größte Unglück an.

(Dolly.) O wirklich? Hm hm!

(Philip.) Aha! (Er geht an den Kamin und pflanzt sich dort in seiner gesuchtesten Stellung als Haupt der Familie auf.)

(McComas, der sehr ernst aussieht, tritt rasch mit Frau Clandon ein, deren erste Sorge Gloria ist. Sie blickt suchend umher und ist im Begriff, zu ihr ans Fenster zu eilen, da kommt ihr Gloria mit deutlichen Zeichen des Vertrauens und der Liebe entgegen. Endlich setzt sich Frau Clandon, Gloria stellt sich hinter ihren Stuhl. McComas wird auf seinem Wege nach der Ottomane von Dolly angerufen.)

(Dolly.) Nun, was bringen Sie Gutes… Finch?

(McComas düster:) Sehr ernste Nachrichten von Ihrem

Vater. Fräulein Clandon,—sehr ernste Nachrichten. (Er gebt zur
Ottomane und setzt sich.)

(Dolly, auf die das tiefen Eindruck macht, folgt ihm und setzt sich rechts neben ihn.)

(Dr. Valentine.) Vielleicht ist es besser, wenn ich gehe.

(Mc Contas.) Um keinen Preis, Herr Doktor! Sie geht die Sache sehr an.
(Dr. Valentine nimmt einen Stuhl vom Tisch fort und setzt sich
rittlings, über den Rücken gelehnt, in die Nähe der Ottomane.) Frau
Clandon, Ihr Mann beansprucht die Aufsicht über seine zwei jüngeren
Kinder, die nicht majorenn sind, für sich.

(Frau Clandon erschrickt und blickt sich instinktiv sofort nach Dolly um, um zu sehen, ob sie in Sicherheit ist.)

(Dolly ergriffen:) Oh, wie nett von ihm! Er hat uns lieb, Mama!

(McComas.) Es tut mir leid, Sie darüber eines Besseren belehren zu müssen, Fräulein Dorothea.

(Dolly in Ekstase; girrend:) Dorothee-ee-ee-a! (Lehnt sich ganz überwältigt an seine Brust:) O Finch!

(McComas nervös wegrückend:) Nein! nein—nein! nein!

(Frau Clandon zurechtweisend:) Liebste Dolly! (Zu Mc Comas:) Laut unserer Trennungsurkunde fällt mir die Aufsicht über die Kinder zu.

(McComas.) Sie enthält auch die Verpflichtung, daß Sie sich ihm weder nähern noch ihn in irgendeiner Weise belästigen dürfen.

(Frau Clandon.) Nun, habe ich das etwa getan?

(McComas.) Ob das Benehmen Ihrer jüngeren Kinder dem Gesetze nach eine Belästigung ist, das ist eine Frage, die vielleicht ein Advokat entscheiden müßte. Jedenfalls beklagt sich Herr McNaughtan, nicht nur belästigt worden zu sein, sondern er behauptet auch, daß er planmäßig hergelockt wurde und daß Herr Dr. Valentine dabei als Ihr Vertreter die Hand im Spiel gehabt hat.

(Dr. Valentine.) Was?… wie??…

(McComas.) Er behauptet, daß Sie ihn betäubt haben, Herr Doktor.

(Dr. Valentine.) Das habe ich allerdings getan. (Sie sind erstaunt.)

(McComas.) Aber zu welchem Zweck?

(Dolly.) Um fünf Schillinge extra zu verdienen!

(McComas zu Dolly kurz angebunden:) Ich muß Sie wirklich bitten, Fräulein Clandon, unsere sehr ernste Unterredung nicht durch ungehörige Unterbrechungen zu stören. (Heftig:) Ich bestehe darauf, daß ernste Angelegenheiten ernst und würdig besprochen werden! (Diesem Ausbruch folgt eine um Entschuldigung bittende Stille, die selbst Herrn McComas aus dem Text bringt. Er hustet und beginnt von neuem, sich an Gloria wendend:) Fräulein Clandon: ich habe ferner die Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Ihr Vater auch die Überzeugung gewonnen hat, daß Dr. Valentine Sie zu heiraten wünscht.

(Dr. Valentine geschickt unterbrechend:) Ja, das wünsche ich auch.

(McComas beleidigt:) Dann dürfen Sie nicht erstaunt sein, Herr Doktor, wenn der Vater der jungen Dame Sie für einen Mitgiftjäger hält.

(Dr. Valentine.) Das bin ich auch! Glauben Sie, daß eine Frau von meinen Einkünften leben kann? Einen Schilling pro Woche?

(McComas empört:) Ich habe nichts mehr hinzuzufügen, Herr Doktor. Ich werde zu Herrn McNaughtan zurückkehren und ihm sagen, daß diese Familie kein Ort für einen Vater ist. (Er gebt zur Tür.)

(Frau Clandon mit ruhiger Würde:) Finch! (Er bleibt stehen:) Wenn der Herr Doktor nicht ernst sein kann—Sie können es. Setzen Sie sich. (Nach einem kurzen Kampf zwischen seiner Würde und seiner Freundschaft unterliegt McComas und setzt sich, diesmal zwischen Dolly und Frau Clandon.) Sie wissen so gut wie ich, daß all dies eine Komödie ist und daß Fergus diese Dinge ebensowenig glaubt wie Sie. Geben Sie mir jetzt einen wirklichen Rat—Ihren aufrichtigen freundschaftlichen Rat. Sie wissen, ich habe Ihrem Urteil immer vertraut. Ich verspreche Ihnen, daß die Kinder sich ruhig verhalten werden.

(McComas fügt sich:) Nun, nun.—Was ich sagen möchte, ist dies. Nach der alten Übereinkunft zwischen Ihnen und ihm, Frau Clandon, war Ihr Mann furchtbar benachteiligt.

(Frau Clandon.) Wieso, wenn ich bitten darf?

(McComas.) Nun Sie, eine emanzipierte Frau, waren gewöhnt, die öffentliche Meinung zu verachten und auf das, was die Welt über Sie sagen könnte, keinerlei Rücksicht zu nehmen.

(Frau Clandon stolz darauf:) Ja, das ist richtig! (Gloria beugt sich vor und küßt ihre Mutter auf die Haare—eine Zustimmung, die sie äußerst verwirrt.)

(McComas.) Andererseits hatte Ihr Mann, Frau Clandon, einen großen
Abscheu vor allem, was ihn in die Zeitungen bringen konnte. Er mußte
Rücksicht auf sein Geschäft sowohl wie auf die Vorurteile seiner
altmodischen Familie nehmen.

(Frau Clandon.) Seine eigenen Vorurteile nicht zu erwähnen.

(McComas.) Er hat sich ja ohne Zweifel schlecht benommen, Frau Clandon.

(Frau Clandon verachtungwoll:) Zweifellos.

(McComas.) War es aber ausschließlich seine Schuld?

(Frau Clandon.) War es die meine?

(McComas rasch:) Nein, selbstverständlich nicht.

(Gloria ihn aufmerksam betrachtend:) Das glauben Sie nicht wirklich,
Herr McComas.

(McComas.) Mein liebes Fräulein, Sie setzen mir sehr scharf zu, aber ich will Ihnen nur so viel sagen: Wenn ein Mann eine unpassende Ehe eingeht—dafür kann niemand, wie Sie wissen, das ist oft nur zufällige Unvereinbarkeit der Geschmacksrichtungen—wenn er durch dieses Unglück der häuslichen Liebe beraubt wird, die—wie ich glaube—der Grund ist, warum ein Mann heiratet,—wenn, kurz gesagt, seine Frau schlimmer ist als gar keine Frau—woran sie natürlich unschuldig sein kann—ist es da gar so erstaunlich, daß er die Dinge zuerst verschlimmert, indem er ihr Vorwürfe macht und dann in seiner Verzweiflung sogar gelegentlich zu viel trinkt oder anderweitig Sympathie sucht?

(Frau Clandon.) Ich habe ihm keine Vorwürfe gemacht, ich habe einfach mich und die Kinder von ihm befreit.

(McComas.) Ja. Aber Sie haben harte Bedingungen gestellt, Frau Clandon. Sie hatten ihn in Ihrer Gewalt—Sie haben ihn in die Knie gedrückt, als Sie damit drohten, die Sache zu veröffentlichen, indem Sie die Gerichte um eine gesetzliche Scheidung anriefen. Nehmen Sie an, er hätte diese Macht über Sie gehabt und dazu benützt, Ihre Kinder von Ihnen fortzunehmen und sie so zu erziehen, daß Sie bis auf Ihren Namen vergessen wären… was würden Sie dabei fühlen?… Was würden Sie tun?… Wollen Sie nicht auch seinen Gefühlen etwas Nachsicht zeigen—? aus reiner Menschlichkeit?

(Frau Clandon.) Ich habe nie Gefühle bei ihm entdeckt. Ich habe sein heftiges Temperament entdeckt und seine—(sie schaudert:) alles übrige seiner gewöhnlichen Menschlichkeit.

(McComas gedankenvoll:) Frauen können sehr hart sein, Frau Clandon.

(Dr. Valentine.) Das ist wahr!

(Gloria zornig:) Schweigen Sie! (Er fügt sich.)

(McComas nimmt seine ganze Kraft zusammen:) Lassen Sie mich eine letzte Bitte aussprechen, Frau Clandon. Glauben Sie mir, es gibt Männer, die sehr viel Gefühl, ja Güte haben, die aber unfähig sind, sie auszudrücken. Was Sie an McNaughtan vermissen, ist jener bloß äußere Anstrich von Zivilisation, die Kunst, wertlose Aufmerksamkeiten zu erweisen und auf reizende liebenswürdige Art unaufrichtige Komplimente zu machen. Wenn Sie in London lebten, wo die ganze Gesellschaftsordnung auf falscher Kameradschaftlichkeit aufgebaut ist und Sie mit einem Menschen zwanzig Jahre zusammen sein können, ohne herausgefunden zu haben, daß er Sie haßt wie Gift, dann würden Ihnen die Augen bald aufgehen. Dort tut man unfreundliche Dinge auf freundliche Art; man sagt Bitterkeiten mit süßer Stimme; man gibt seinen Freunden immer Chloroform, wenn man sie in Stücke reißt. Aber denken Sie an die Kehrseite der Medaille! Denken Sie an die Leute, die auf unfreundliche Weise Gutes tun—an Leute, deren Berührung schmerzt, deren Stimme schneidet, deren Temperament zuweilen mit ihnen durchgeht—die es fertig bringen, Menschen, die sie lieben, zu verletzen und zu quälen, selbst dann noch, wenn sie sie versöhnen wollen—und die trotzdem ebensoviel Liebe brauchen wie wir andern… McNaughtan hat ein entsetzliches Temperament, ich gebe es zu; er hat keine Manieren, keinen Takt, keine Anmut—er wird nie imstande sein, irgend jemandes Neigung zu gewinnen, wenn dieser nicht seine Sehnsucht danach auf Treu und Glauben hinnimmt. Soll er gar keine Liebe haben, nicht einmal Mitleid?… auch nicht von seinem eigenen Fleisch und Blut?

(Dolly ganz gerührt:) Oh, wie wundervoll, Finch!… wie lieb von Ihnen!

(Philip mit Überzeugung:) Finch, das nenne ich
Beredsamkeit—wahrhaftig Beredsamkeit!

(Dolly.) O Mama, geben wir ihm noch eine Chance! Behalten wir ihn zum
Essen!

(Frau Clandon unbewegt:) Nein, Dolly: ich habe kaum etwas vom Lunch gehabt.—Mein lieber Finch, es ist ganz zwecklos, mit mir über Fergus zu sprechen. Sie sind nicht mit ihm verheiratet gewesen—aber ich.

(McComas zu Gloria:) Fräulein Clandon, ich habe bis jetzt davon abgesehen, mich an Sie zu wenden, weil Sie sogar noch unbarmherziger als Ihre Mutter gewesen sind, wenn das wahr ist, was mir McNaughtan gesagt hat.

(Gloria trotzig:) Sie wenden sich von der Stärke der Mutter an die
Schwäche der Tochter!

(McComas.) Nicht an Ihre Schwäche, Fräulein Clandon—ich wende mich vom Verstande der Mutter an das Herz der Tochter.

(Gloria.) Ich habe gelernt, meinem Herzen zu mißtrauen. (Mit einem zornigen Blick auf Dr. Valentine:) Wenn ich könnte, ich würde mir das Herz aus dem Leibe reißen und es fortwerfen. Meine Antwort ist die Antwort meiner Mutter! (Sie tritt zu Frau Clandon und umarmt sie. Aber Frau Clandon, unfäbig, diese Art zur Schau gestellter Neigung zu ertragen, befreit sich, so rasch sie, ohne Glorias Gefühle zu verletzen, nur kann.)

(McComas besiegt:) Nun, das tut mir leid—sehr leid. Ich habe mein
Möglichstes getan. (Er erbebt sich und ist im Begriff, in tiefster
Unzufriedenheit fortzugehen.)

(Frau Clandon.) Aber was haben Sie denn erwartet, Finch? Was verlangen Sie?… Was sollen wir tun?

(McComas.) Vor allem sollten Sie beide, Sie und McNaughtan, das Gutachten eines Advokaten einholen, um zu erfahren, inwieweit McNaughtan durch die Trennungsurkunde gebunden ist. Warum nun nicht dieses Gutachten gelegentlich einer freundschaftlichen (ihr Gesicht wird hart)—oder sagen wir neutralen—Zusammenkunft mit McNaughtan einholen, und zwar am besten sofort? Der Einfachheit und Bequemlichkeit halber schlage ich dieses Hotel vor… Gleich heute abend—was meinen Sie dazu?

(Frau Clandon.) Aber woher sollen wir dieses Gutachten so schnell bekommen?

(McComas.) Es ist beinahe aus den Wolken auf uns herabgefallen. Auf meinem Rückwege von McNaughtan hierher begegnete ich einem hervorragenden Rechtsanwalt, einem Manne, dem ich eine Sache vor Gericht anvertraut habe, die ihn zuerst berühmt gemacht hat. Er bleibt von Samstag bis Montag hier, um Seeluft zu atmen und einen Verwandten, der hier wohnt, zu besuchen. Er war so freundlich, mir sein Erscheinen für den Fall zuzusagen, daß es mir gelänge, eine Zusammenkunft der Parteien zustande zu bringen. Er wird uns mit seinem gewiegten Rat zur Seite stehen.—Lassen Sie uns doch diese Gelegenheit zu einer ruhigen, freundlichen Familienzusammenkunft benützen; gestatten Sie mir, meinen Freund herzubringen, und ich will versuchen, auch McNaughtan zum Kommen zu bewegen. Bitte, stimmen Sie zu! Einverstanden?

(Frau Clandon nach einem Augenblick der Überlegung, bedeutungsvoll:) Finch! ich brauche kein Rechtsgutachten, weil ich die Absicht habe, mich von meinem eigenen Gutachten leiten zu lassen. Ich wünsche nicht, Fergus wieder zu begegnen, weil ich ihn nicht mag und weil ich nicht glaube, daß eine Zusammenkunft irgendwie nützen könnte. (Sie erhebt sich:) Aber da Sie die Kinder überzeugt haben, daß er nicht ganz hoffnungslos ist, tun Sie, was Ihnen beliebt.

(McComas nimmt ihre Hand und schüttelt sie:) Ich danke Ihnen, Frau
Clandon.—Paßt Ihnen neun Uhr?

(Frau Clandon.) Vollkommen.—Phil, klingle, bitte.

(Philip klingelt.) Wenn ich aber angeklagt werden soll, mich mit Herrn Dr. Valentine verschworen zu haben, dann würde es, glaube ich, besser sein, er wäre zugegen.

(Dr. Valentine sich erhebend:) Ich bin ganz Ihrer Ansicht. Ich halte meine Anwesenheit für äußerst wichtig.

(McComas.) Ich glaube, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich hege die größten Hoffnungen auf eine glückliche Lösung. Inzwischen leben Sie wohl. (Er gebt hinaus und begegnet dem Kellner, der die Tür für ihn offen hält.)

(Frau Clandon.) Wir erwarten um neun Uhr Besuch, William. Könnten wir nicht schon um sieben Uhr statt um halb acht dinieren?

(Der Kellner an der Tür:) Um sieben, gnädige Frau? Gewiß, gnädige Frau. Es wird sogar eine Erleichterung für uns sein heut abend, wo so viel zu tun ist. Wir haben Konzert, und die Illumination ist zu arrangieren und sonst noch allerlei, gnädige Frau.

(Dolly.) Illumination!

(Philip.) Konzert!—William: was ist denn los?

(Der Kellner.) Heute ist Maskenball, gnädiges Fräulein.

(Dolly und Philip stürzen gleichzeitig auf ihn zu:) Maskenball?!

(Der Kellner.) Jawohl, junger Herr. Der Regatta-Klub gibt das Fest zum Besten des Rettungsbootes. (Zu Frau Clandon:) Wir haben oft solche Abende, gnädige Frau; Lampions im Garten, sehr hübsch, sehr lustig und harmlos—wirklich! (Zu Philip:) Eintrittskarten zu fünf Schilling bekommt man unten im Bureau, junger Herr. Damen in Herrenbegleitung zahlen die Hälfte.

(Philip erfaßt seinen Arm, um ihn fortzuziehen:) Fort ins Bureau,
William!

(Dolly ergreift atemlos seinen andern Arm:) Schnell, bevor alle Karten weg sind! (Sie zerren ihn mit sich weg aus dem Zimmer.)

(Frau Clandon.) Um des Himmels willen, was haben sie vor? (Abgehnd:) Ich muß wirklich nachsehen und sie zurückrufen. (Sie folgt ihnen und spricht im Abgeben weiter.)

(Gloria starrt Dr. Valentine kühl an und sieht dann bedächtig auf ihre
Taschenuhr.)

(Dr. Valentine.) Ich begreife, ich bin schon zu lange dageblieben.
Ich gehe.

(Gloria mit berablassender Förmlichkeit:) Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Ich bin mir bewußt, etwas scharf… vielleicht grob gegen Sie gewesen zu sein.

(Dr. Valentine.) Durchaus nicht.

(Gloria.) Meine einzige Entschuldigung ist, daß es sehr schwer fällt, jemandem Respekt und Achtung zu bezeugen, dessen würdeloser Charakter weder Respekt noch Achtung fordert.

(Dr. Valentine prosaisch:) Wie kann ein Mann würdevoll auftreten, wenn er verliebt ist?

(Gloria durch Valentines Redensart von ihrem bochtrabenden Stil abgebracht:) Ich verbiete Ihnen, mir solche Dinge zu sagen. Es sind Beleidigungen.

(Dr. Valentine.) Nein—es sind Torheiten. Aber ich kann nichts dafür, ich muß sie begehen.

(Gloria.) Wenn Sie wirklich verliebt wären, würden Sie nicht töricht sein. Liebe verleiht Würde, Ernst, ja sogar Schönheit.

(Dr. Valentine.) Glauben Sie wirklich, daß ich davon schön werden würde? (Sie wendet ihm mit kältester Verachtung den Rücken.) Ah, Sie sehen, daß Sie es nicht ernstlich meinen! Die Liebe kann dem Manne keine neuen Gaben schenken; sie kann nur die Gaben, mit denen er geboren wurde, entwickeln und erhöhen.

(Gloria geht wieder zu ihm hin:) Mit welchen Gaben sind Sie geboren, wenn ich bitten darf?

(Dr. Valentine.) Mit Leichtigkeit des Herzens.

(Gloria.) Und Leichtigkeit des Verstandes—und Leichtigkeit des
Glaubens und Leichtigkeit alles dessen, was einen ganzen Mann ausmacht.

(Dr. Valentine.) Ja, die ganze Welt gleicht jetzt einer Feder, die im
Lichte tanzt—und Gloria ist die Sonne. (Sie erbebt ärgerlich den
Kopf.) Entschuldigen Sie—ich gehe. Um neun bin ich wieder da. Adieu.
(Er läuft lustig hinaus und läßt sie in der Mitte des Zimmers zurück.
Sie starrt ihm nach.)

(Vorhang)

VIERTER AKT

(Das gleiche Zimmer. Neun Uhr. Niemand ist da. Die Lampen sind angezündet, aber die Vorhänge sind nicht zugezogen. Das Fenster steht weit offen, und die Girlanden der Lampions leuchten an den Zweigen der Bäume, darüber ein sternbesäter Himmel. Das Orchester im Garten spielt Tanzmusik, die die Meeresbrandung übertönt.)

(Der Kellner tritt ein und führt McNaughtan und McComas in das Zimmer. McNaughtan sieht ängstlich und gedrückt aus. Er setzt sich müde und mutlos auf die Ottomane.)

(Der Kellner.) Die Damen sind in den Garten gegangen und sehen sich die Masken an. Wenn Sie einstweilen gütigst Platz nehmen wollten—ich werde sie rufen. (Er ist im Begriff, durch die Fenstertür in den Garten zu gehen, als ihn McComas aufhält.)

(McComas.) Halt, einen Augenblick.—Wenn noch ein Herr kommt, führen
Sie ihn unverzüglich herein. Wir warten auf ihn.

(Der Kellner.) Zu Befehl. Darf ich um seinen Namen bitten?

(McComas.) Er heißt Boon. Frau Clandon kennt ihn nicht, er wird Ihnen also vielleicht seine Karte geben. Wenn er es tut, so vergessen Sie nicht, daß sein Name B. O. H. U. N.[*] geschrieben wird.

[Footnote *: Der Name Bohun wird Boon (spr. Bun) ausgesprochen. Es ist ein hocharistokratischer Name, der auf die Abstammung von den normannischen Eroberern hinweist, die im Jahre 1066 nach England gekommen sind. Der Name Boon ist alltäglicher. McComas sagt dem Kellner, daß er einen Herrn Bohun erwartet. Da fällt ihm ein, daß der Herr dem Kellner wahrscheinlich seine Karte für Frau Clandon geben wird, und da er annimmt, daß William nicht wissen dürfte, daß der Name Bohun auf der Karte "Boon" bedeutet, so macht er ihn aufmerksam, wie der Name buchstabiert wird. (Anm. des Übers.)]

(Der Kellner lächelnd:) Da können Sie sich vollkommen auf mich verlassen, gnädiger Herr. Ich heiße selbst Boon, obgleich ich hier fast nur unter dem Namen Balmy Walters bekannt bin. Eigentlich sollte ich auch ein H. U. einfügen; aber es ist besser, wenn ich mir diese Freiheit nicht herausnehme. Meine Name würde dann auf Normannenblut hindeuten, gnädiger Herr—und Normannenblut ist keine Empfehlung für einen Kellner.

(McComas.) Gut, gut. "Treue Herzen sind mehr wert als Adelskronen, und schlichte Ehrlichkeit mehr als Normannenblut."[*]

(Der Kellner.) Das hängt zum großen Teil von der Stellung ab, die man im Leben einnimmt. Wenn Sie Kellner wären, würden Sie bald finden, daß Ehrlichkeit und Treue Ihnen ebensowenig helfen können wie Normannenblut. Ich finde es am zweckmäßigsten, wenn ich meinen Namen B. OO. N. schreibe und meinen Verstand möglichst zusammennehme.—Aber ich halte Sie auf; verzeihen Sie mir—Ihre Leutseligkeit ist selbst schuld daran. Ich werde den Damen sagen, daß Sie hier sind, gnädiger Herr. (Er geht durch die Fenstertür in des Garten hinaus.)

(McComas.) McNaughtan, ich kann mich auf Sie verlassen, nicht wahr?

(McNaughtan.) Ja, ja; ich werde ruhig bleiben; ich werde geduldig sein; ich werde mein Möglichstes tun.

(McComas.) Bedenken Sie, ich habe Sie nicht preisgegeben. Ich habe
Ihrer Familie gesagt, daß sie ganz allein Schuld an allem trüge.

(McNaughtan.) Mir haben Sie gesagt, daß ich einzig und allein der
Schuldige wäre.

(McComas.) Ihnen habe ich die Wahrheit gesagt.

(McNaughtan klagend:) Wenn die Kinder nur gerecht gegen mich sein werden!

(McComas.) Mein lieber McNaughtan, sie werden nicht gerecht gegen Sie sein—in ihrem Alter ist das von ihnen gar nicht zu verlangen. Wenn Sie fortfahren, solche unmögliche Bedingungen zu stellen, dann können wir nur ebensogut gleich wieder nach Hause gehen.

(McNaughtan.) Aber ich habe doch sicher das Recht—

[Footnote *: Ein Zitat aus Tennysons "Lady Clara Vere de Vere."]

(McComas ungeduldig:) Sie werden Ihr Recht nicht durchsetzen.—Jetzt frage ich Sie aber ein für allemal, McNaughtan: sollte Ihr Versprechen, sich gut zu benehmen, nur bedeuten, daß Sie nicht ohne Anlaß aufbrausen würden? In diesem Falle… (Er bewegt sich, als ob er geben wolle.)

(McNaughtan jämmerlich:) Nein nein, lassen Sie mich doch! Ich bin genug herumgestoßen und gequält worden—ich verspreche Ihnen, mein Möglichstes zu tun. Aber wenn dieses Mädchen sich wieder erlauben wird, mit mir so zu sprechen und mich so anzusehen—(Er bricht ab und vergräbt den Kopf in die Hände.)

(McComas beschwichtigend:) Na na, es wird schon alles gut werden, wenn Sie nur dulden und sich gedulden wollen. Nehmen Sie sich zusammen, es kommt jemand.

(McNaughtan ist zu sehr entmutigt und niedergeschlagen, sich viel daraus zu machen, er verändert seine Stellung kaum.)

(Gloria kommt aus dem Garten. McComas geht ihr bis an die Fenstertür entgegen, so daß er zu ihr sprechen kann, ohne von McNaughtan gehört zu werden.)

(McComas.) Hier ist Ihr Vater, Fräulein Clandon. Seien Sie gut zu ihm. Ich will Sie einen Augenblick mit ihm allein lassen. (Er geht in den Garten.)

(Gloria tritt ein und geht kühl bis in die Mitte des Zimmers.)

(McNaughtan blickt sich betroffen um:) Wo ist McComas?

(Gloria gleichgültig, aber nicht unliebenswürdig:) Hinausgegangen, um uns allein zu lassen. Wahrscheinlich aus Zartgefühl. (Sie bleibt neben ihm stehen und siebt ihn sonderbar an:) Nun, Vater?

(McNaughtan eine Art Galgenhumor durchbricht seine Hilflosigkeit:) Nun, Tochter? (Sie betrachten einander einen Augenblick mit melancholischem Humor.

(Gloria.) Reichen wir uns die Hände. (Sie reichen einander die Hände.)

(McNaughtan ihre Hand haltend:) Mein liebes Kind, ich habe mich heute nachmittag leider zu sehr ungehörigen Worten über deine Mutter hinreißen lassen.

(Gloria.) O bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin heute selbst sehr hochmütig und eingebildet gewesen; ich bin seitdem zur Vernunft gekommen—o ja, ich bin zur Vernunft gebracht worden! (Sie setzt sich neben seinen Stuhl auf den Boden.)

(McNaughtan.) Was ist dir zugestoßen, mein Kind?

(Gloria.) O sprechen wir nicht davon! Ich habe mich als die Tochter
meiner Mutter aufgespielt, aber das bin ich nicht. Ich bin die
Tochter meines Vaters. (Sieht ihn an; scherzend:) Das ist ein tiefer
Sturz—nicht wahr?

(McNaughtan ärgerlich:) Was! (Sie behält ihren wunderlichen Ausdruck bei. Er streckt die Waffen:) Nun ja, liebes Kind, ich nehme an, daß du recht hast… es wird wohl so sein. (Sie nickt liebenswürdig.) Ich fürchte, ich bin manchmal etwas reizbar, aber ich weiß immer, was recht und billig ist, selbst wenn ich nicht danach handle… Kannst du das glauben?

(Gloria.) Das glauben?… Das ist doch ganz mein Fall—auf ein Haar! Ich weiß auch stets, was recht ist und meiner würdig und stark und edel—genau so gut, wie sie es weiß. Aber, ach! ich tue Dinge… und ich gestatte anderen Leuten, Dinge zu tun—!

(McNaughtan etwas mürrisch, gegen seinen Willen:) "So gut, wie sie es weiß"… du meinst deine Mutter!…

(Gloria rasch:) Ja, meine Mutter. (Sie wendet sich auf den Knien zu ihm hin und ergreift seine Hände.) Nun hören Sie mich an: keinen Verrat an ihr—kein Wort—keinen Gedanken gegen sie! Sie steht über uns—über Ihnen und mir—himmelhoch über uns!—Sind Sie damit einverstanden?

(McNaughtan.) Ja ja, ganz wie du willst, mein liebes Kind.

(Gloria ist nicht befriedigt, läßt seine Hände los und zieht sich von ihm zurück:) Sie mögen sie nicht?

(McNaughtan.) Mein Kind, du bist nicht mit ihr verheiratet gewesen—aber ich! (Sie steht langsam auf und betrachtet ihn mit wachsender Kälte.) Sie hat mir ein großes Unrecht zugefügt, indem sie mich heiratete, ohne mich wirklich zu lieben.—Aber nachher war alles Unrecht auf meiner Seite, das glaube ich selbst. (Er reicht ihr wieder die Hand.)

(Gloria ergreift sie; fest und warnend:) Nehmen Sie sich in acht—das ist ein gefährliches Thema. Mit meinen Gefühlen, meinen elenden, feigen, weiblichen Gefühlen—kann ich auf Ihrer Seite stehen; aber mit meinem Gewissen stehe ich auf der Seite meiner Mutter.

(McNaughtan.) Ich bin mit dieser Teilung sehr zufrieden, liebes Kind.
Ich danke dir.

(Dr. Valentine tritt ein, Gloria wird sofort vorsätzlich hochmütig.)

(Dr. Valentine.) Entschuldigen Sie, aber es ist mir nicht gelungen, einen Diener zu finden, mich anzumelden. Selbst der unfehlbare William scheint auf dem Maskenball zu sein. Ich wäre auch gern hingegangen, mir fehlen aber die fünf Schillinge für eine Eintrittskarte.—Wie geht es Ihnen, McNaughtan? Besser—was?

(McNaughtan.) Ja, ich bin wieder Herr meiner Sinne, Doktor, ohne Ihnen dafür Dank schuldig zu sein.

(Dr. Valentine.) Was sagen Sie zu Ihrem undankbaren Vater, Fräulein Clandon? Ich habe ihn von einem qualvollen Schmerz befreit, und er beschimpft mich dafür.

(Gloria kalt:) Ich bedaure, daß meine Mutter nicht da ist, Sie zu empfangen; es fehlen noch ein paar Minuten an neun, und der Herr, von dem Herr McComas sprach, der Rechtsanwalt, ist noch nicht gekommen.

(Dr. Valentine.) Doch, doch—ich bin ihm begegnet und habe ihn gesprochen. (Mit lustiger Bosheit:) Der wird Ihnen gefallen, Fräulein Clandon—er ist der Verstand in Person; man kann sein Gehirn förmlich arbeiten hören.

(Gloria ignoriert die Stichelei:) Wo ist er?

(Dr. Valentine.) Er hat sich eine falsche Nase besorgt und ist auf den
Maskenball gegangen.

(McNaughtan knurrig, sieht auf seine Uhr:) Es scheint, daß alle auf diesen Maskenball gegangen sind, statt die festgesetzte Stunde unserer Zusammenkunft einzuhalten.

(Dr. Valentine.) Oh, er wird pünktlich erscheinen—ich traf ihn schon vor einer halben Stunde. Ich mochte ihn nicht um fünf Schillinge anpumpen und ihn begleiten, deshalb schloß ich mich dem Volke an und habe vor dem Gitter so lange zugesehen, bis Fräulein Clandon durch diese Glastür ins Hotel getreten war.

(Gloria.) So weit ist es also gekommen: Sie folgen mir öffentlich, um mich anzustarren?

(Dr. Valentine.) Ja. Man sollte mich anketten. (Gloria wendet ihm den Rücken zu und geht an den Kamin. Er begegnet dieser verachtungsvollen Behandlung mit Gleichgültigkeit und begibt sich auf die entgegengesetzte Seite des Zimmers.)

(Der Kellner erscheint an der Fenstertür und führt Frau Clandon und
McComas herein.)

(Frau Clandon hereineilend:) Ich bedaure unendlich, daß ich Sie alle habe warten lassen!

(Ein majestätischer Fremder, dem ein Domino, eine falsche Nase und eine Schielbrille ein groteskes Aussehen verleihen, erscheint in der Glastür.)

(Der Kellner zu dem Fremden:) Verzeihen Sie, Herr—aber das ist eine Privatwohnung. Wenn Sie erlauben, will ich Ihnen die American-Bar und die Speisesäle zeigen. Hier, wenn ich bitten darf!

(Er tritt in den Garten zurück und zeigt den Weg in der Überzeugung, daß der Fremde ihm folgen werde. Der Riese geht jedoch direkt bis an das Ende des Tisches vor, wo er mit ausdrucksvoller Gemächlichkeit zuerst die falsche Nase und dann den Domino ablegt, die Nase in diesen einrollt und das Bündel auf den Tisch wirft, etwa wie ein Preisboxer seinen Handschuh fortschleudert. Man erkennt jetzt einen starken großen Mann, zwischen Vierzig und Fünfzig. Er ist glattrasiert und von einer Blässe, die durch nächtliches Studium verursacht ist und die durch das steife schwarze Haar, das kurzgeschoren und geölt ist, noch verstärkt wird. Seine Augenbrauen gleichen den Roßhaarmöbeln des früheren Viktorianischen Zeitalters. Er ist ein physisch und geistig grobkörniger, schlauer und mit allen Hunden gehetzter Mensch. Sein Auftreten ist recht imponierend und beunruhigend. Wenn er spricht, so erhöht seine mächtige, drohende Stimme, seine eindrucksvolle Redeweise, seine kräftige unerbittliche Manier und die unterjochende Macht seiner äußerst kritischen Art zuzuhören noch den Eindruck, den er hervorruft, bis zum Furchterregenden.)

(Der Fremde.) Mein Name ist Bohun. (Allgemeine Ehrfurcht.) Habe ich die Ehre, mit Frau Clandon zu sprechen? (Frau Clandon verbeugt sich, Bohun verbeugt sich.) Fräulein Clandon? (Gloria verbeugt sich, Bohun verbeugt sich.) Herr Clandon?

(McNaughtan besteht so ärgerlich, als er es nur immer wagt, auf seinem wahren Namen:) Ich heiße McNaughtan!

(Bohun.) O wirklich? (Ohne weiter von ihm Notiz zu nehmen, wendet er sich zu Dr. Valentine:) Sind Sie Herr Clandon?

(Dr. Valentine, der sich etwas darauf zugute tut, sich nicht imponieren zu lassen:) Sehe ich danach aus?—Ich heiße Valentine. Ich bin der, der ihn betäubt hat.

(Bohun.) Ach so. Dann ist Herr Clandon noch nicht anwesend?

(Der Kellner kommt ängstlich durch die Fenstertür herein:) Verzeihen Sie, gnädige Frau, aber können Sie mir vielleicht sagen, was aus diesem—(Er erkennt Bohun und verliert seine ganze Selbstbeherrschung. Bohun wartet unbeweglich, bis sich der Kellner wieder gefaßt hat. Nachdem er eine rührende Verwirrung nur Schau getragen hat, rafft er sich soweit auf, Bohun mit schwacher, aber zusammenhängender Stimme anzusprechen:) Entschuldige… warst… warst du das?

(Bohun ohne Gewissensbisse:) Ich war es.

(Der Kellner gebrochen:) Ja. (Unfähig seine Tränen zurückzuhalten:)
*Du* mit einer falschen Nase, Walter! (Er sinkt fast ohnmächtig vor
dem Tisch in einen Stuhl.) Verzeihen Sie, gnädige Frau—ein kleiner
Schwindelanfall.

(Bohun befehlend:) Sie werden ihm verzeihen, Frau Clandon, wenn ich
Ihnen sage, daß er mein Vater ist.

(Der Kellner mit gebrochenem Herzen:) O nein, nein, Walter—dein Vater ein Kellner… und dazu noch die falsche Nase… was werden sie von dir denken!

(Frau Clandon geht zu William hin; dann in der liebenswürdigsten Weise: ) Ich bin entzückt, das zu hören, Herr Justizrat. Ihr Vater ist uns während der ganzen Zeit unseres Hierseins ein sehr guter Freund gewesen. (Bohun verneigt sich ernst.)

(Der Kellner den Kopf schüttelnd:) O nein, gnädige Frau! Sie sind zu gütig—sehr vornehm und gnädig, wahrhaftig! Aber ich fühle mich sehr verlegen, sobald ich nicht in meinem eigenen Tun und Lassen bin… Entschuldigen Sie, daß ich der Vater dieses Herrn bin. Es ist doch schließlich nur der Zufall der Geburt—nicht wahr, gnädige Frau? (Er erhebt sich, schwach:) Bitte, verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe. (Mit nach der Tür gerichteten Augen schleicht er von Stuhl zu Stuhl am Tisch entlang.)

(Bohun.) Einen Augenblick! (Der Kellner hält inne, sein Mut sinkt.) Nicht wahr, Frau Clandon, mein Vater war Zeuge dessen, was sich heute zugetragen hat?

(Frau Clandon.) Ich glaube, ja, größtenteils.

(Bohun.) Dann werden wir ihn brauchen.

(Der Kellner bittend:) Ich hoffe, es wird nicht nötig sein. Ich habe heute abend infolge des Maskenballes sehr viel zu tun—wirklich sehr viel zu tun!

(Bohun unerschütterlich:) Wir werden dich brauchen!

(Frau Clandon höflich:) Bitte, nehmen Sie Platz.

(Der Kellner ernst:) Oh—bitte, bitte, gnädige Frau! Ich darf mich nicht setzen, ich muß eine Grenze ziehen; ich dürfte nicht gesehen werden, wenn ich so etwas täte, gnädige Frau. Ich danke Ihnen trotzdem. (Er blickt mit einem verstörten Gesicht, das ein Herz von Stein rühren müßte, alle Anwesenden der Reibe nach an.)

(Gloria.) Verlieren wir unsere Zeit nicht. William wünscht nur, uns weiter gut bedienen zu dürfen. Ich hätte gern eine Tasse Kaffee.

(Der Kellner wird sichtlich heiterer:) Kaffee, gnädiges Fräulein? (Er stößt einen kleinen Seufzer der Hoffnung aus.) Zu Befehl, gnädiges Fräulein. Das ist sehr zeitgemäß und richtig. (Zu Frau Clandon, furchtsam, aber erwartungsvoll:) Womit kann ich Ihnen dienen, gnädige Frau?

(Frau Clandon.) O ja—es ist hier sehr heiß. Ich glaube, wir könnten eine Rotweinbowle trinken.

(Der Kellner strahlend:) Rotweinbowle, gnädige Frau? Gewiß, gnädige
Frau!

(Gloria.) Oh, dann will ich auch lieber Rotweinbowle statt Kaffee.
Geben Sie etwas Gurke hinein.

(Der Kellner entzückt:) Gurke, gnädiges Fräulein—ja! (Zu Bohun:)
Haben Sie einen besonderen Wunsch, Herr? Sie mögen keine Gurke.

(Bohun.) Wenn Frau Clandon mir gestattet, so nehme ich einen schottischen Whisky mit Soda.

(Der Kellner.) Sehr wohl! (Zu McNaughtan:) Irischen Whisky für
Sie—nicht wahr, Herr McNaughtan? (McNaughtan stimmt mit einem
Grunzen zu. Der Kellner sieht Dr. Valentine fragend an.)

(Dr. Valentine.) Ich mag gern Weinbowle mit Gurke.

(Der Kellner.) Zu Befehl. (Zusammenzählend:) Weinbowle—einen schottigen Whisky mit Soda—und einen irischen.

(Frau Clandon.) Ich glaube, das ist alles.

(Der Kellner wieder er selbst:) Zu Befehl, gnädige Frau—sofort! (Er
tummelt sich durch die Fenstertür hinaus und hat die ganze
Stufenleiter der menschlichen Glückseligkeit in wenig mehr als zwei
Minuten durchlebt.)

(McComas.) Ich glaube, jetzt können wir anfangen.

(Bohun.) Es wäre besser, wir warteten noch auf Frau Clandons Mann!

(McNaughtan.) Wen meinen Sie? Ich bin ihr Mann!

(Bohun schlägt sofort seine Krallen in den Widerspruch, zwischen dieser und der früheren Behauptung:) Sie haben doch eben behauptet, daß Sie McNaughtan heißen!

(McNaughtan.) So heiße ich auch.

/*
(Frau Clandon) ) (alle vier) ( Ich—
(Gloria) ) (sprechen) ( Meine—
(McComas) ) (gleichzeitig:) ( Frau—
(Dr. Valentine)) ( Sie—
*/

(Bohun bringt mit zwei Donnerworten alle zum Schweigen:) Einen Augenblick! (Tödliches Schweigen.) Bitte, erlauben Sie mir. Setzen Sie sich alle! (Sie gehorchen demütig. Gloria nimmt den Satteltaschenstubl vom Kamin. Dr. Valentine schleicht nach der dem Fenster gegenüberstehenden Ottomane, von der aus er Gloria sehen kann. McNaughtan setzt sich mit dem Rücken gegen Dr. Valentine auch auf die Ottomane. Frau Clandon, die sich die ganze Zeit möglichst auf der entgegengesetzten Seite des Zimmers zu schaffen gemacht hat, um McNaughtan auszuweichen, setzt sich in die Nähe der Tür. Links von ihr sitzt McComas. Bohun setzt sich wie ein Richter an die Ecke des Tisches auf der selben Seite wie Frau Clandon. Als sie alle sitzen, fixiert er McNaughtan und beginnt:) Wie es scheint, heißt in dieser Familie der Vater McNaughtan und die Mutter Clandon—wir haben also schon auf der Schwelle unseres Falles ein Element der Verwirrung.

(Dr. Valentine steht auf und spricht zu ihm hinüber, mit einem Knie auf der Ottomane:) Aber das ist doch furchtbar einfach—

(Bohun vernichtet ihn mit seiner Donnerstimme:) Jawohl! Frau Clandon hat einen anderen Namen angenommen—das ist die einleuchtende Erklärung, die selbst herauszufinden Sie mir nicht zutrauen. Sie unterschätzen meinen Verstand, Herr Doktor Valentine!

(Dr. Valentine will protestieren, aber Bobun läßt ihn nicht zu Worte kommen.) Nein: ich will nicht, daß Sie darauf antworten; ich will, daß Sie nachdenken, wenn Sie wieder glauben, mich unterbrechen zu müssen.

(Dr. Valentine niedergedrückt:) Das heißt wirklich, einen
Schmetterling aufs Rad flechten! Was ist denn da weiter dabei?
(Ersetzt sich wieder.)

(Bohun.) Ich will Ihnen sagen, was dabei ist! Es ist dabei, daß—wenn diese Familienzwistigkeit ausgeglichen werden soll, wie wir es alle hoffen—Frau Clandon den Namen ihres Mannes wieder wird annehmen müssen, wie es sich gehört und gesellschaftlich üblich ist.

(Frau Clandons Gesicht nimmt den Ausdruck äußerst entschlossenen Widerstandes an.) Oder Herr McNaughtan wird sich ent-* schließen müssen, sich "Clandon" zu nennen. (McNaughtan sieht fest entschlossen drein, nichts dergleichen zu tun.) Sie halten das zweifellos für eine ganz einfache Angelegenheit, Herr Doktor. (Er sieht erst Frau Clandon und dann McNaughtan scharf an.) Ich bin anderer Ansicht! (Er wirft sich in seinen Stuhl zurück und runzelt heftig die Stirn.)

(McComas furchtsam:) Ich glaube, wir sollten vielleicht lieber erst damit anfangen, die wichtigsten Fragen zur Sprache zu bringen.

(Bohun.) McComas, die wichtigsten Fragen werden uns keinerlei Schwierigkeiten machen—das tun sie niemals. Die Kleinigkeiten sind es, die den Schiffbruch noch im Hafen verursachen. (McComas sieht drein, als ob er dies für ein Paradoxon hielte.) Sie sind nicht meiner Ansicht—was?

(McComas schmeichelnd:) Wenn ich es wäre—

(Bohun ihn unterbrechend:) Wenn Sie es wären, so würden Sie sein, was ich bin, anstatt das zu sein, was Sie sind.

(McComas unterwürfig:) Gewiß, lieber Justizrat, Ihre Spezialität—

(Bohun unterbricht ihn wieder:) Meine Spezialität ist es, recht zu haben, wenn andere Leute unrecht haben. Wenn Sie meiner Ansicht wären, dann würde ich hier unnütz sein. (Er nickt ihm zu, wie um die Sache abzufertigen, und wendet sich dann plötzlich und heftig an McNaughtan: ) Nun, und Sie, Herr McNaughtan? Welcher Punkt dieser Angelegenheit liegt Ihnen am meisten am Herzen?

(McNaughtan beginnt langsam:) Ich möchte in dieser Sache allen
Egoismus beiseite lassen—

(Bohun unterbricht ihn:) Das tun wir alle, Herr McNaughtan. (Zu Frau
Clandon:) Sie wollen doch auch allen Egoismus beiseite lassen, Frau
Clandon?

(Frau Clandon.) Ja. Schon mein Hiersein zeigt, daß ich mich nicht an meine eigenen Gefüllte kehre.

(Bohun.) Das tun Sie wohl ebensowenig, Fräulein Clandon—nicht wahr?

(Gloria.) Gewiß nicht.

(Bohun.) Ich dacht' es mir. Das tun wir alle nicht.

(Dr. Valentine.) Mich ausgenommen. Meine Absichten sind egoistisch.

(Bohun.) Das sagen Sie, weil Sie glauben, daß eine Pose der Aufrichtigkeit auf Fräulein Clandon einen besseren Eindruck machen wird, als eine Pose der Interesselosigkeit. (Dr. Valentine ist durch diese treffende Bemerkung vollkommen entdeckt und vernichtet. Er nimmt seine Zuflucht zu einem schwachen, wortlosen Lächeln. Bobun, zufrieden, jetzt alle Auflehnung vollständig unterjocht zu haben, wirft sich mit einer Miene in seinen Stuhl zurück, als wäre er nun bereit, alle Wünsche der Parteien geduldig anzuhören.) Nun, Herr McNaughtan, beginnen Sie. Es ist abgemacht: aller Egoismus wird beiseite gelassen! Die Menschen beginnen immer damit, das vorauszuschicken.

(McNaughtan.) Aber ich meine es wirklich so, Herr Justizrat.

(Bohun..) Gewiß. Jetzt zu Ihrer Sache!

(McNaughtan.) Es handelt sich um die Kinder. Jeder vernünftige Mensch wird zugeben, daß das selbstlos ist.

(Bohun.) Nun, was ist's mit den Kindern?

(McNaughtan mit Ergriffenheit:) Sie haben—

(Bohun fällt wieder über ihn her:) Halt! Sie sind im Begriff, von
Ihren Gefühlen zu sprechen—tun Sie das nicht! Ich sympathisiere mit
Ihren Gefühlen, aber sie haben nichts mit meinem Geschäft zu tun.
—Sagen Sie uns genau, was Sie verlangen. Das ist es, was wir wissen
müssen.

(McNaughtan unbehaglich:) Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten,
Herr Justizrat.

(Bohun.) Gut, ich will Ihnen helfen. Was haben Sie gegen die gegenwärtige Lage Ihrer Kinder einzuwenden?

(McNaughtan.) Ich verwahre mich gegen die Erziehung, die sie genossen haben! (Frau Clandons Stirn legt sich in bedrohliche Falten.)

(Bohun.) Und was schlagen Sie vor—das geschehen soll, um das jetzt zu ändern?

(McNaughtan.) Ich meine, daß sie sich ruhiger, einfacher kleiden sollten.

(Dr. Valentine.) Unsinn!

(Bohun wirft sich, durch diese Unterbrechung empört, sofort in seinen
Stuhl zurück:) Ich warte. Wenn Sie fertig sind… Herr Doktor. Wenn
Sie ganz fertig sind!

(Dr. Valentine.) Was haben Sie gegen Fräulein Clandons Kleidung einzuwenden?

(McNaughtan hitzig zu Dr. Valentine:) Meine Ansicht ist ebenso wichtig wie die Ihre!

(Gloria warnend:) Vater!

(McNaughtan gibt kläglich nach:) Dich hab' ich ja nicht gemeint, meine Liebe! (Er wendet sich mit ernster Dringlichkeit zu Bohun:) Aber die beiden jüngeren Geschwister! Sie haben sie nicht gesehen, Herr Justizrat… wahrhaftig, ich bin überzeugt, Sie wären auch der Ansicht, daß in der Art, wie die sich kleiden, etwas sehr Auffallendes, beinahe Herausforderndes und Frivoles liegt.

(Frau Clandon ungeduldig:) Glaubst du, daß ich ihnen ihre Kleider aussuche? Das ist wirklich kindisch!

(McNaughtan erhebt sich wütend:) Kindisch!…

(Frau Clandon steht entrüstet auf.)

/* (McComas) ) (McNaughtan, Sie ) (alle erbeben sich (haben versprochen— (Dr. Valentine) ) und sprechen (Lächerlich, sie ) gleichzeitig:) (kleiden sich reizend! (Gloria) ) (Bitte, wollen wir uns (nicht vernünftig (benehmen? */

(Lärm. Plötzlich hören sie ein warnendes Gläserklirren aus dem hinter ihnen gelegenen Zimmer. Sie wenden sich schuldbewußt um und sehen, daß der Kellner eben aus dem Gartenschank zurückgekehrt ist und sein Servierbrett erklingen läßt. Während er damit behutsam an den Tisch kommt, wird es totenstill.)

(Der Kellner zu McNaughtan, ein hohes Glas beiseite auf den Tisch stellend:) Ihr irischer Whisky, gnädiger Herr. (McNaughtan setzt sich ein wenig beschämt. Der Kellner stellt einen anderen Kelch und ein Siphon auf den Tisch beiseite und sagt zu Bohun:) Schottischer Whisky mit Soda für den Herrn Rechtsanwalt. (Bohun winkt ungeduldig mit der Hand. Der Kellner setzt eine große Bowle in die Mitte des Tisches.) Die Weinbowle.

(Alle nehmen ihre Plätze wieder ein. Es herrscht Frieden.)

(Frau Clandon demütig zu Bohun:) Ich fürchte, wir haben Sie unterbrochen, Herr Justizrat.

(Bohun ruhig:) Das haben Sie. (Zum Kellner, der binausgeht:) Warten
Sie einen Augenblick.

(Der Kellner.) Gern. Womit kann ich dienen? (Er stellt sich hinter
Bohuns Stuhl.)

(Frau Clandon zum Kellner:) Entschuldigen Sie, daß wir Sie aufhalten.
Der Herr Justizrat wünscht es.

(Der Kellner, der sich jetzt ganz wohl fühlt:) Aber, gnädige Frau—durchaus nicht, es ist mir ein Vergnügen, der Gedankenarbeit seines geübten und mächtigen Geistes folgen zu dürfen—das ist sehr anregend, sehr unterhaltend und lehrreich—wahrhaftig, gnädige Frau!

(Bohun nimmt den Gang der Ferhandlung wieder auf:) Nun, Herr
McNaughtan, wir warten auf Sie! Ziehen Sie Ihren Einwand gegen die
Kleidung Ihrer Kinder zurück oder beharren Sie dabei?

(McNaughtan erörternd:) Herr Justizrat, versetzen Sie sich einen Augenblick in meine Lage: ich habe nicht nur an mich allein zu denken—da ist meine Schwester Sophronia und mein Schwager—und ihr ganzer Kreis. Sie haben einen großen Abscheu vor allem, was nur irgendwie—nur irgendwie—nun…

(Bohun.) Na, heraus damit!… Ausgelassen?—laut? bunt?

(McNaughtan.) Ja. Ich meine das natürlich in keinem ruchlosen Sinne—aber—aber (verzweifelt damit herausplatzend:) die beiden Kinder würden meine Leute durch ihr Auftreten abstoßen! Sie passen nicht zu ihren eigenen Verwandten. Das ist es, worüber ich mich beklage!

(Frau Clandon mit unterdrücktem Zorn:) Herr Dr. Valentine, haben Sie irgend etwas Ausgelassenes oder Vorlautes an Phil und Dolly bemerkt?

(Dr. Valentine.) Ganz gewiß nicht! Das ist der reinste Unsinn.
Nichts kann geschmackvoller sein.

(McNaughtan.) Ja, Sie finden das natürlich geschmackvoll!

(Frau Clandon.) William, Sie sehen eine Menge Menschen aus der guten englischen Gesellschaft: sind meine Kinder auffallend und überladen gekleidet?

(Der Kellner versichernd:) O durchaus nicht, gnädige Frau! (Überzeugend:) O nein, gnädiger Herr, durchaus nicht! Hübsch und geschmackvoll, ohne Zweifel—aber dabei sehr gewählt und nobel—sehr fein und hochklassig! Wahrhaftig, es könnten Sohn und Tochter eines Dechanten sein, gnädiger Herr. Man braucht sie nur anzusehen, nur zu—(In diesem Augenblick wirbeln ein Harlekin und eine Kolombine ins Zimmer, die zu der Musik im Garten, die eben den Schluß eines Walzers spielt, tanzen. Das Kleid des Harlekin besteht aus abwechselnden Vierecken (I Zoll im Quadrat) von türkisblauer und goldfarbener Seide, seine Pritsche ist vergoldet und seine Maske aufgeschlagen. Der Rock der Kolombine gleicht einem Feld im Herbst, orangegolden und mohnblumenrot; eine winzige Samtjacke stellt die Staubfäden der Mohnblume vor.—Sie schwirren zwischen McComas und Bohun herein, ein erlesenes, blendendes Paar, und dann zurück in einem Kreis bis an das Ende des Tisches hin, wo sie, da der letzte Walzertakt eben verklingt, in der Mitte der Gesellschaft ein lebendes Bild stellen: Harlekin beugt sein linkes Knie und Kolombine steht auf seinem rechten Knie mit über den Kopf gebogenen Armen. Im Gegensatz zu ihrem Tanz, der reizend graziös war, ist diese Pose keine sehr glückliche und droht mit einer Katastrophe zu enden.)

(Die Kolombine schreiend:) Hebt mich herunter! Ich werde gleich fallen! Papa, heben Sie mich herunter!

(McNaughtan läuft ängstlich zu ihr hin und ergreift sie an den Händen:
) Mein Kind!

(Dolly springt mit seiner Hilfe herunter:) Danke schön, das war lieb von Ihnen. (Philip schiebt seine Pritsche in seinen Gürtel, setzt sich auf den Rand des Tisches und schenkt etwas Weinbowle ein.)

(McNaughtan geht sehr verblüfft an die Ottomane zurück.) Oh, war das lustig! O Gott! (Sie setzt sich mit einem Satz auf die Tischkante; keuchend:) Oh, Weinbowle! (Sie trinkt.)

(Bohun mit mächtiger Stimme:) Das ist die jüngere Dame, nicht wahr?

(Dolly gleitet vom Tische herunter; geängstigt von Bohuns mächtiger
Stimme und seinem Benehmen:) Ja. Bitte, wer sind Sie?

(Frau Clandon.) Das ist Herr Justizrat Bohun, Dolly. Er war so freundlich, heute abend zu uns zu kommen, um uns zu helfen.

(Dolly.) Oh, dann wollen wir seinen Eintritt segnen—

(Philip.) Sch!

(McNaughtan.) Herr Justizrat—McComas! ich wende mich an euch! Ist das in Ordnung? Würden Sie die Familie meiner Schwester tadeln, wenn sie sich dagegen verwahrte?

(Dolly errötet; drohend:) Fangen Sie also schon wieder an?

(McNaughtan versöhnlich:) Nein, nein—es ist in deinem Alter vielleicht selbstverständlich.

(Dolly hartnäckig:) Lassen Sie mein Alter aus dem Spiel!—Ob mein
Kleid hübsch ist, will ich wissen!

(McNaughtan.) Ja, liebes Kind—ja—(Er setzt sich mit Zeichen der
Unterwerfung.)

(Dolly nachdrücklich:) Gefällt es Ihnen?

(McNaughtan.) Mein Kind, wie kannst du nur glauben, daß mir das gefällt oder daß ich damit einverstanden bin?

(Dolly entschlossen ihn nicht auszulassen:) Wie können Sie es hübsch finden und es dann nicht leiden mögen?

(McComas erhebt sich ärgerlich und entrüstet:) Wahrhaftig, ich muß sagen—

(Bohun, der Dolly mit der größten Zustimmung angehört hat, macht sich sofort über ihn her:) Still, unterbrechen Sie nicht, McComas! Die Methode der jungen Dame ist vollkommen richtig! (Zu Dolly mit furchtbarem Nachdruck:) Fahren Sie fort zu fragen, Fräulein Clandon,… fahren Sie fort, rasch!

(Dolly.) Aber Sie sind ein regelrechter Gewaltmensch! Gehen Sie immer so vor?

(Bohun erhebt sich:) Jawohl. Versuchen Sie nicht, mich aus dem Text zu bringen, mein Fräulein! Sie sind zu jung dazu. (Er nimmt den Stuhl des McComas, der neben Frau Clandons Stuhl siebt, und stellt ihn neben seinen eigenen.) Setzen Sie sich! (Dolly gehorcht wie bezaubert, und Bohun setzt sich wieder. McComas, seines Stuhles beraubt, holt sich einen anderen, der zwischen dem Tisch und der ottomane steht:) Nun, Herr McNaughtan, die Tatsachen stehen vor Ihnen—alle beide. Sie glauben zwar, daß Sie Ihre beiden jüngsten Kinder gern bei sich hätten, aber das würde Ihnen gar nicht gefallen—(McNaughtan versucht zu protestieren, aber Bohun gibt das unter keinen Umständen zu:) Nein, das gefiele Ihnen gar nicht. Sie glauben zwar, daß Sie das gern hätten, aber ich weiß das besser als Sie. Sie verlangen, daß diese junge Dame aufhört, sich des Abends wie eine Bühnen-Kolombine und des Morgens wie eine moderne Kolombine zu kleiden… nun, sie wird das nie tun—niemals! Sie glaubt, sie wird es einmal tun, aber—

(Dolly ihn unterbrechend:) Nein, das glaube ich auch nicht! (Entschlossen:) Ich werde es niemals aufgeben, mich hübsch zu kleiden—niemals! Wie Gloria zu jenem Mann in Madeira gesagt hat: nie—nie—nie, so lange Gras wächst und Wasser fließt!

(Dr. Valentine erhebt sich in furchtbarer Aufregung:) Was?… was?!… (Er beginnt sehr rasch zu sprechen:) Wann hat sie das gesagt?… Zu wem hat sie das gesagt?

(Bohun wirft sich in einen Stuhl, mit intensivem, mitleidigem Protest:
) Herr Doktor Valentine—

(Dr. Valentine hitzig:) Unterbrechen Sie mich nicht! Dies ist etwas sehr Ernstes! Ich muß wissen, zu wem Fräulein Clandon das gesagt hat—ich bestehe darauf!

(Dolly.) Vielleicht erinnert sich Phil. Welche Nummer war es? Numero drei oder Numero fünf?

(Dr. Valentine.) Numero fünf!!!!

(Philip.) Mut, Doktor, es war noch nicht Numero fünf. Es war nur ein zahmer Seeoffizier, der immer bei der Hand war—der geduldigste und harmloseste Mensch von der Welt.

(Gloria kalt:) Was wird jetzt erörtert, wenn ich fragen darf?

(Dr. Valentine mit rotem Kopf:) Entschuldigen Sie… ich bedaure, gestört zu haben. Ich will Sie nicht länger belästigen, Frau Clandon. (Er verneigt sich vor Frau Clandon und geht, kochend vor unterdrückter Wut, rasch durch die Fenstertür in den Garten.)

(Dolly.) Hm hm…

(Philip.) Aha!

(Gloria.) Bitte, fahren Sie fort, Herr Justizrat.

(Dolly dazwischenfahrend, als Bohun die Stirn furchtbar runzelt und sich zusammenrafft, zu einem neuerlichen Ringen mit dem Fall:) Sie wollen uns einschüchtern, Herr Justizrat.

(Bohun.) Ich—

(Dolly ihn unterbrechend:) O ja, das wollen Sie! Sie glauben, daß es nicht so ist—aber es ist so. Ich sehe es an Ihrem Stirnrunzeln.

(Bohun nachgebend:) Frau Clandon, ich erkenne aus freien Stücken an, daß Sie kluge, hellköpfige, gut erzogene Kinder haben… wollen Sie mir dafür das Mittel angeben, das sie dazu bringen kann, den Mund zu halten?

(Frau Clandon.) Dolly! liebste Dolly—!

(Philip.) Unsere alte Unart, Dolly! Ruhe! (Dolly hält sich den Mund.)

(Frau Clandon.) Nun, Herr Justizrat, bevor Sie wieder anfangen…

(Der Kellner leise:) Beeilen Sie sich—rasch!

(Dolly ihm zublinzelnd:) Lieber William!

(Philip.) Sch!

(Bohun platzt gegen Dolly plötzlich ganz unerwartet mit einer Frage los:) Haben Sie die Absicht, sich zu verheiraten?

(Dolly.) Ich!… Nun, Finch nennt mich mit meinem Vornamen…

(McComas.) Was soll das heißen?—Herr Justizrat, natürlich spreche ich die junge Dame als alter Freund ihrer Mutter bei ihrem Vornamen an.

(Dolly.) Ja. Sie nennen mich als alter Freund meiner Mutter "Dolly". Aber warum nennen Sie mich "Dorothee-ee-a?" (Mc Comos erhebt sich entrüstet.)

(McNaughtan erhebt sich ängstlich, um ihn zurückzuhalten:) Beherrschen
Sie sich, McComas. Wir wollen nicht heftig werden—haben Sie Geduld.

(McComas.) Ich will keine Geduld haben! Sie tragen die beklagenswerteste Charakterschwäche zur Schau, mein lieber McNaughtan! Ich finde das einfach unerhört!

(Dolly.) Herr Justizrat, bitte, schüchtern Sie Finch ein wenig für uns ein.

(Bohun.) Das will ich.—McComas, Sie machen sich lächerlich. Setzen
Sie sich!

(McComas.) Ich—

(Bohun winkt ihm gebieterisch, sich zu setzen:) Nein, setzen Sie sich—setzen Sie sich! (McComas setzt sich verdrießlich nieder, und McNaughtan folgt sehr erleichtert seinem Beispiel.)

(Dolly zu Bohun demütig:) Ich danke Ihnen.

(Bohun.) Nun hören Sie mich alle an. Ich enthalte mich jeder Meinung darüber, McComas, wie weit Sie sich in der durch die junge Dame angegebenen Richtung eingelassen oder nicht eingelassen haben. (McComas ist im Begriff zu protestieren.) Nein, unterbrechen Sie mich nicht!—Wenn sie Sie nicht heiratet, heiratet sie einen andern; das ist die beste Lösung der Schwierigkeit, die dadurch entsteht, daß sie nicht den Namen ihres Vaters trägt.—Die andere Dame hat die Absicht, sich zu verheiraten.

(Gloria errötend:) Herr Justizrat!

(Bohun.) Doch, Sie haben die Absicht. Sie wissen es nicht, aber es ist so.

(Gloria erhebt sich:) Halt! Hüten Sie sich davor, Herr Justizrat, für meine Absichten einzustehen.

(Bohun erhebt sich:) Es hat keinen Zweck, Fräulein Clandon. Sie werden mich nicht unterkriegen. Ich sage Ihnen, daß Ihr Name bald weder Clandon noch McNaughtan lauten wird. Und wenn ich wollte, könnte ich Ihnen sagen, wie er lauten wird. (Er geht an das andere Ende des Tisches, rollt seinen Domino auf und legt die falsche Nase auf den Tisch. Da er sich erhebt, erheben sich alle, und Philip geht an das Fenster. Bohun gibt dem Kellner durch eine Bewegung zu verstehen, daß er ihm beim Anziehen des Dominos helfen soll.) Herr McNaughtan, Ihre Absicht, die Gesetze anzurufen, ist Unsinn. Ihre Kinder werden alle majorenn sein, bevor Sie eine Entscheidung erreichen können.

(Indem er dem Kellner erlaubt, den Domino um seine Schultern zu legen: ) Ich kann Ihnen nur raten, ein freundschaftliches Übereinkommen zu treffen. Wenn Sie Ihre Familie nötiger haben als Ihre Familie Sie, dann werden Sie bei diesem Übereinkommen allerdings schlecht wegkommen; —wenn Ihre Familie Sie aber nötiger hat als umgekehrt, dann werden Sie schon besser wegkommen. (Er schüttelt den Domino, so daß er in Falten fällt, und ergreift die falsche Nase. Dolly starrt ihn bewundernd an.) Die Sache liegt für Ihre Angehörigen insoweit günstig, als sie alle persönlich sehr angenehme Menschen sind. Und Ihre Stärke, Herr McNaughtan, liegt in Ihrem Einkommen. (Er stülpt die falsche Nase auf und ist wieder in grotesker Weise verwandelt.)

(Dolly auf ihn zulaufend:) Oh, jetzt sehen Sie ganz menschlich aus!
Ich möchte mit Ihnen tanzen—ein einzigesmal! Können Sie tanzen?
(Philip nimmt seine Harlekinrolle wieder auf und bewegt seine Pritsche,
als wenn er Bohun und Dolly bezaubern wollte.)

(Bohun mit Donnerstimme:) Ja, Sie glauben, daß ich nicht tanzen kann—aber ich kann es. Kommen Sie! (Er packt sie und tanzt mit ihr durch die Fenstertür in gewaltsamer Weise, aber mit beflissener Sicherheit und Anmut hinaus. Inzwischen stellt der Kellner geschäftig die Stühle an ihre gewöhnlichen Plätze zurück.)

(Philip.) "Auf! Bis zum Morgen tanzt und trink und minnt"[*]—William!

[Footnote *: Byrons "Childe Harold" Canto III Strophe 22. (Anm. des
Übers.)]

(Der Kellner.) Zu dienen, junger Herr?

(Philip.) Können Sie meinem Vater und Herrn McComas zwei Dominos und zwei falsche Nasen verschaffen?

(McComas.) Was fällt Ihnen ein—ich verwahre mich dagegen—

(McNaughtan.) Nicht doch! Was ist denn da weiter dabei? Nur einmal,
McComas! Wir wollen doch keine Spielverderber sein.

(McComas.) McNaughtan, Sie sind nicht der Mann, für den ich Sie gehalten habe. (Scharf:) Tyrannen sind immer Feiglinge. (Er geht angewidert zur Fenstertür.)

(McNaughtan folgt ihm:) Na, nichts für ungut! Wir müssen ihnen etwas zugute halten.—Können Sie uns irgendeinen Umhang verschaffen, Kellner?

(Der Kellner.) Gewiß, gnädiger Herr. (Er folgt ihnen an die
Fenstertür und bleibt dort stehen, um die Herren vorausgehen zu lassen.
) Hier bitte—Sie wünschen Dominos und Nasen?

(McComas ärgerlich im Abgehen:) Ich werde meine eigene Nase tragen.

(Der Kellner schmelzend:) Selbstverständlich, gnädiger Herr: die falsche Nase wird ganz leicht darüber gehen. Es ist viel Platz dafür, gnädiger Herr—viel Platz! (Er geht hinter McComas hinaus.)

(McNaughtan wendet sich an der Fenstertür nach Phil um mit einem Versuch zu gemütlicher Väterlichkeit:) Komm, mein Junge, komm! (Er geht.)

(Philip folgt ihm heiter:) Ich komme schon, Papachen, ich komme schon! (An der Schwelle der Fenstertür hält er inne, blickt McNaughtan nach, wendet sich dann phantastisch mit seiner um seinen Kopf wie einen Heiligenschein gebogenen Pritsche um und sagt mit gedämpfter Stimme zu Frau Clandon und Gloria:) Habt ihr das Ergreifende dieser Worte empfunden? (Er verschwindet.)

(Frau Clandon mit Gloria allein:) Warum ist Doktor Valentine so plötzlich fortgegangen? Das verstehe ich nicht.

(Gloria verdrießlich:) Ich weiß nicht.—Doch—ich weiß es. Komm, sehen wir ein wenig dem Tanz zu. (Sie gehen nach der Fenstertür zu und begegnen Dr. Valentine, der vom Garten mit raschen Schritten hereinkommt, mit mürrischem Gesicht und bewölkter Stirn.)

(Dr. Valentine steif:) Entschuldigen Sie. Ich dachte, die
Gesellschaft wäre schon auseinandergegangen.

(Gloria nörgelnd:) Warum sind Sie dann zurückgekommen?

(Dr. Valentine.) Ich bin zurückgekommen, weil ich kein Geld bei mir habe und dort ohne ein Fünf-Schilling-Billett nicht hinausgelassen werde.

(Frau Clandon.) Hat Sie hier irgend etwas verletzt, Herr Doktor?

(Gloria.) Kümmere dich nicht um ihn, Mutter. Das soll eine neue
Beleidigung für mich sein—weiter nichts.

(Frau Clandon kaum fähig, sich vorzustellen, daß Gloria wohlüberlegt einen Wortwechsel heraufbeschwören könnte:) Gloria!

(Dr. Valentine.) Frau Clandon, habe ich irgend etwas Beleidigendes gesagt?… Habe ich irgend etwas Beleidigendes getan?

(Gloria.) Sie haben stillschweigend zu verstehen gegeben, daß meine
Vergangenheit der Ihrigen gleicht—das ist die allerschwerste
Beleidigung.

(Dr. Valentine.) Ich habe nichts dergleichen zu verstehen gegeben. Ich behaupte, daß meine Vergangenheit, mit der Ihren verglichen, tadellos gewesen ist.

(Frau Clandon äußerst entrüstet:) Herr Doktor!

(Dr. Valentine.) Na, was soll ich mir dabei denken, wenn ich erfahren muß, daß Fräulein Clandon andern Männern genau dieselben Reden gehalten hat wie mir—wenn ich von mindestens fünf früheren Liebhabern hören muß und einem zahmen Seeoffizier noch dazu! Oh, das ist zu arg!

(Frau Clandon.) Aber Sie glauben doch sicher nicht, daß diese Dinge ernst gewesen sind—harmlose Scherze von Kindern—Herr Doktor?

(Dr. Valentine.) Ihnen sind es vielleicht Scherze—vielleicht auch ihr. Aber ich weiß, was die Betroffenen dabei gelitten haben. (Mit possierlich echtem Ernst:) Haben Sie jemals an die vernichteten Existenzen gedacht—an die Ehen, die in der Rücksichtslosigkeit der Verzweiflung geschlossen wurden—an die Selbstmorde—die—die—die—

(Gloria unterbricht ihn verachtungsvoll:) Mutter, dieser Mensch ist ein sentimentaler Esel! (Sie rauscht fort an den Kamin.)

(Frau Clandon empört:) Oh, meine teuerste Gloria! Der Herr Doktor wird das grob finden.

(Dr. Valentine.) Ich bin kein sentimentaler Esel mehr! Ich bin für immer von jeder Sentimentalität geheilt. (Er setzt sich zornig.)

(Frau Clandon.) Sie müssen uns allen verzeihen, Herr Doktor. Die Frauen müssen die falschen guten Manieren ihres Sklaventums erst verlernen, bevor sie sich die echten guten Manieren ihrer Freiheit aneignen können.—Halten Sie Gloria nicht für gemein. (Gloria wendet sich erstaunt um.) Sie ist es wirklich nicht.

(Gloria.) Mutter, du entschuldigst mich bei *ihm*!

(Frau Clandon.) Mein Kind, du hast manchen Fehler der Jugend und auch manchen ihrer Vorzüge, und Herr Doktor Valentine hat wohl zu altmodische Ideen über sein eigenes Geschlecht, als daß er sich gern einen Esel nennen ließe.—Aber wollen wir jetzt nicht lieber nachsehen, was Dolly anstellen mag? (Sie gebt an die Fenstertür. Dr. Valentine erhebt sich.)

(Gloria.) Geh du ohne mich, Mutter. Ich habe mit Herrn Doktor
Valentine ein Wort allein zu sprechen.

(Frau Clandon überrascht, will sich dagegen verwahren:) Meine liebe Gloria… (Sich besinnend:) Entschuldige—selbstverständlich, wenn du es wünschest. (Sie verneigt sich gegen Dr. Valentine und geht hinaus.)

(Dr. Valentine.) Oh, warum ist Ihre Mutter nicht Witwe—sie ist sechsmal so viel wert als Sie!

(Gloria.) Nun höre ich endlich das erste Wort aus Ihrem Munde, das
Ihnen Ehre macht.

(Dr. Valentine.) Unsinn! Nun—sagen Sie mir, was Sie mir zu sagen haben, und lassen Sie mich gehen.

(Gloria.) Ich habe Ihnen nur das eine zu sagen: Sie haben mich heute nachmittag einen Augenblick auf Ihr Niveau herabgedrückt. Glauben Sie, daß ich nicht auf meiner Hut gewesen sein würde, wenn mir das schon einmal passiert wäre, daß ich nicht gewußt hätte, was kommen würde, und meine eigene elende Schwäche gekannt hätte?

(Dr. Valentine sie leidenschaftlich auszankend:) Sprechen Sie nicht in dieser Weise darüber! Was liegt mir an Ihren inneren Eigenschaften mit Ausnahme von Ihrer Schwäche, wie Sie das nennen? Sie haben sich für sehr sicher gehalten—nicht wahr?—Verschanzt hinter Ihren fortschrittlichen Ideen! Es hat mir Spaß gemacht, die ziemlich leicht über den Haufen zu werfen.

(Gloria dreist, da sie fühlt, daß sie jetzt mit ihm machen kann, was sie will:) Wirklich?

(Dr. Valentine.) Aber aus welchen Gründen habe ich das getan?—Weil es mich gereizt hat, Ihr Herz zu wecken, die Tiefen in Ihnen aufzuwühlen. —Und warum hat mich das gereizt? Weil meine Natur es bitter ernst mit mir gemeint hat, als ich mit ihr nur zu scherzen meinte… Wer von uns beiden ist erwacht, wie dann der große Augenblick gekommen war—wer wurde aufgewühlt in seinen tiefsten Tiefen?… Ich! Ich! —Ich wurde hingerissen. Sie waren nur beleidigt… empört! Sie sind nur eine ganz alltägliche junge Dame—zu alltäglich, um zahmen Seeoffizieren zu erlauben, so weit zu gehen, wie ich heute ging… weiter nichts. Ich will Sie nicht mit den üblichen Entschuldigungen behelligen.—Leben Sie wohl. (Er geht entschlossen zur Tür.)

(Gloria.) Bleiben Sie! (Er zögert.) Aber wollen Sie auch verstehen, daß ich Ihnen durchaus nicht entgegenkomme, wenn ich Ihnen jetzt die Wahrheit sage?

(Dr. Valentine.) Pah! Ich weiß, was Sie mir jetzt sagen wollen. Sie glauben, daß Sie nicht alltäglich sind—daß ich recht hatte—daß jene Tiefen in Ihrer Natur dennoch vorhanden sind… Es schmeichelt Ihnen, das zu glauben. (Sie weicht zurück.) Nun, ich gebe zu, daß Sie in einer Hinsicht nicht alltäglich sind: Sie sind ein gescheites Mädchen. (Gloria unterdrückt einen Wutschrei und gebt ihm drohend einen Schritt entgegen.) Aber Sie sind noch nicht erweckt worden. Ich war Ihnen gleichgültig… ich bin Ihnen gleichgültig… meine Tragödie ist es gewesen, nicht die Ihre. Leben Sie wohl! (Er wendet sich nach der Tür; sie beobachtet ihn, entsetzt darüber, daß er ihrer Macht entschlüpft. Die Türklinke in der Hand, hält er inne, wendet sich dann wieder Gloria zu und reicht ihr die Hand.) Wir wollen als Freunde auseinandergehen.

(Gloria außerordentlich erleichtert, kehrt ihm mit größter
Absichtlichkeit den Rücken:) Adieu.—Ich hoffe, Sie werden von Ihrer
Wunde bald genesen.

(Dr. Valentine mit Freude, da er erkennt, daß er doch schließlich Herr der Situation ist:) Gewiß werde ich das—solche Wunden heilen, ohne zu schmerzen. Schließlich kann mir meine Gloria doch niemand rauben.

(Gloria sieht ihm rasch ins Gesicht:) Was meinen Sie?

(Dr. Valentine.) Die Gloria meiner Einbildung.

(Gloria stolz:) Behalten Sie diese Gloria—die Gloria Ihrer Einbildung. (Ihre Erregung beginnt stärker durch ihren Stolz hindurchzubrechen.) Die wirkliche Gloria, die empörte…die beleidigte…die entsetzte—jawohl!—die vor Scham fast zum Wahnsinn gebrachte, als sie erfuhr, daß all ihre Selbstbeherrschung niederbrechen konnte bei der ersten Begegnung mit—mit—(Ihr Gesicht errötet wieder über und über, sie bedeckt es mit ihrer linken Hand und ihre Rechte legt sie auf Dr. Valentines linken Arm, um sich zu stützen.)

(Dr. Valentine.) Nehmen Sie sich in acht—ich bin schon wieder nahe dran, den Verstand zu verlieren! (Sie nimmt allen ihren Mut zusammen und läßt die Hand, die ihr Gesicht bedeckt, auf Dr. Valentines rechte Schulter fallen, wobei sie sich ihm zuwendet und ihm gerade in die Augen schaut. Er beginnt auf-*) *(geregt zu protestieren:) Gloria, seien Sie vernünftig—es hat ja keinen Zweck—ich habe keinen Heller!

(Gloria.) Können Sie denn keinen verdienen? Andere Leute können es doch.

(Dr. Valentine halb entzückt, halb erschrocken:) O niemals! Ich würde Sie unglücklich machen—Teuerste, Geliebte—ich müßte ein erbärmlicher Mitgiftjäger und Abenteurer sein—(Sie umschlingt ihn fester und küßt ihn:) O Gott! (Atemlos:) Oh… ich—(Er keucht:) Ich kenne die Frauen noch immer nicht… keine Ahnung habe ich… die Erfahrungen von zwölf Jahren genügen nicht!

(In einer Aufwallung von Eifersucht stößt sie ihn von sich fort, und er taumelt zurück in den Stuhl wie ein vom Wind verwehtes Blatt. Da tanzt Dolly mit dem Kellner ins Zimmer, Frau Clandon und McComas folgen ihr, auch tanzend, und Philip pirouettiert auf eigene Faust herein.)

(Dolly sinkt atemlos auf den Stuhl vor den Schreibtisch:) Oh, ich bin atemlos! Sie tanzen wundervoll Walzer, William!

(Frau Clandon sinkt in den Lederfauteuil vor dem Kamin:) Oh, wie konnten Sie mich nur zu einer solchen Torheit verleiten, Finch! Ich habe seit der Soiree in South Place vor zwanzig Jahren nicht getanzt.

(Gloria bestimmt, zu Dr. Valentine:) Stehen Sie auf! (Dr. Valentine erhebt sich unterwürfig.) Lassen wir jetzt alles falsche Zartgefühl beiseite. Sagen Sie meiner Mutter, daß wir entschlossen sind, uns zu heiraten.

(Ein Schweigen sprachlosen Erstaunens. Dr. Valentine, sprachlos vor panischem Schrecken, starrt alle an. Er will sichtlich davonlaufen.)

(Dolly bricht das Stillschweigen:) Nummer sechs!

(Philip.) Sch!

(Dolly ausgelassen:) Oh, meine Gefühle! Ich kann sie kaum beherrschen!
Ich möchte jemanden küssen,—und in der Familie ist das verboten!
Wo ist Finch?

(McComas heftig losbrechend:) Nein! zum Donnerwetter!

(McNaughtan erscheint an der Fenstertür.)

(Dolly zu McNaughtan laufend:) Oh, Sie kommen gerade recht! (Sie küßt ihn.) Nun—(zieht ihn vor, zu Dr. Valentine und Gloria:) segnen Sie sie!

(Gloria.) Nein! nichts davon—nicht einmal im Scherz. Wenn ich einen
Segen brauche, so werde ich meine Mutter darum bitten.

(McNaughtan zu Gloria, schmerzlich enttäuscht:) Soll das heißen, daß du dich mit diesem Herrn verlobt hast?

(Gloria entschlossen:) Ja.—Haben Sie die Absicht, unser Freund zu sein, oder—

(Dolly unterbrechend:)—oder unser Vater?

(McNaughtan.) Ich würde gern beides sein, mein Kind, aber—!… Herr
Doktor Valentine, ich wende mich an Ihr Ehrgefühl—

(Dr. Valentine.) Sie haben ganz recht. Es ist einfach Wahnsinn. Wenn wir zusammen auf einen Ball gehen wollen, werde ich Sie um fünf Schillinge anpumpen müssen, um mir die Eintrittskarte zu lösen. —Gloria, übereilen Sie nichts—Sie werfen sich fort! Es ist das beste, wenn ich alledem ein Ende mache und niemals irgendeinem aus Ihrer Familie wieder begegne. Ich werde keinen Selbstmord begehen, ich werde nicht einmal unglücklich sein: es wird eine Befreiung für mich sein—ich—ich fürchte mich—ich fürchte mich wahrhaftig—es ist die reine Wahrheit.

(Gloria entschlossen:) Ich verbiete Ihnen zu gehen!

(Dr. Valentine verzagt:) Nein, Liebste, selbstverständlich nicht, aber
… Oh, wenn doch nur jemand einen Augenblick vernünftig sprechen und
uns alle zur Vernunft bringen wollte! Ich kann's nicht… Wo ist
Bohun?… Bohun ist der Mann! Phil, gehen Sie und beschwören Sie
Bohun.

(Philip.) Aus der ungeheuren Tiefe. Ich gehe. (Er läßt seine
Pritsche durch die Luft sausen und schießt durch die Fenstertür fort.)

(Der Kellner harmonisch zu Dr. Valentine:) Wenn Sie gestatten, daß ich mir ein Wort zu sagen erlaube, Herr Doktor: Opfern Sie wegen fünf Schillinge nicht Ihr Lebensglück. Wir werden uns nur zu sehr freuen, Ihnen das Billett auf Kredit zu besorgen, und Sie können die Sache ordnen, wann es Ihnen beliebt,—wann immer es Ihnen passen wird. Es wird mich nur sehr freuen, es wird mir ein Vergnügen und eine Ehre sein, Herr Doktor.

(Philip erscheint wieder:) Er kommt! (Er schwingt seine Pritsche vor dem Fenster. Bohun tritt ein, nimmt seine falsche Nase ab und wirft sie auf den Tisch, während er an Philip vorübergeht und zwischen Gloria und Dr. Valentine tritt.)

(Dr. Valentine.) Es handelt sich darum, Herr Justizrat—

(McComas unterbricht, vom Kamin aus:) Entschuldigen Sie, Herr Doktor, die Sache muß von einem Anwalt vorgetragen werden.—Es handelt sich um eine Verlobung zwischen diesen beiden jungen Leuten. Sie hat etwas Vermögen und (sieht McNaughtan an:) wird wahrscheinlich einmal noch viel mehr haben.

(McNaughtan.) Möglich. Ich hoffe es.

(Dr. Valentine.) Und er hat keinen Heller.

(Bohun nagelt Dr. Valentine sofort auf diesen Punkt fest:) Dann bestehen Sie auf einem Ehevertrag.—Das verletzt Ihr Zartgefühl?… Das tun die meisten vernünftigen Vorsichtsmaßregeln. Aber Sie bitten mich um meinen Rat. Das ist er. Machen Sie einen Ehevertrag!

(Gloria stolz:) Er soll einen Ehevertrag bekommen.

(Dr. Valentine.) Mein lieber Herr Justizrat, ich, für meine Person, brauche Ihren Rat nicht—geben Sie ihr einen guten Rat.

(Bohun.) Sie würde ihn nicht befolgen. Wenn Sie ihr Mann sein werden, wird sie auch Ihren Rat nicht befolgen… (Wendet sich plötzlich an Gloria:) Nein, das werden Sie nicht—Sie glauben, daß Sie es werden, aber Sie werden es nicht. Er wird an die Arbeit gehen und seinen Unterhalt verdienen… (Wendet sich plötzlich an Dr. Valentine:) O ja, das werden Sie—Sie glauben es nicht, aber Sie werden es! Sie wird Sie schon dazu anhalten.

(McNaughtan nur halb überzeugt:) Dann, Herr Justizrat, halten Sie diese Verbindung also nicht für unklug?

(Bohun.) O doch! Alle Verbindungen sind unklug. Es ist unklug, geboren zu werden—es ist unklug, zu heiraten—es ist unklug, zu leben—und es ist klug, zu sterben.

(Der Kellner drängt sich unauffällig zwischen McNaughtan und Dr. Valentine:) Wenn ich mir höflichst erlauben darf, fortzusetzen: Dann ist es etwas Trauriges um die Weisheit. (Zu Dr. Valentine:) Glück auf, Herr Doktor, Glück auf! Jeder Mensch fürchtet die Ehe, wenn es dazu kommt—aber sie geht oft ganz angenehm aus, sehr fröhlich und selbst glücklich—von Zeit zu Zeit. Ich war niemals Herr in meinem eigenen Hause. Meine Frau war wie Ihre Braut, befehlshaberisch und herrschsüchtig veranlagt. Mein Sohn hat diese Eigenschaften von ihr geerbt. Aber wenn ich mein Leben zum zweitenmal zu leben hätte, ich würde es wieder so leben!… ich würde es genau wieder so leben—wahrhaftig!—Man kann nie wissen, Herr Doktor… man kann nie wissen.

(Philip.) Erlauben Sie mir zu bemerken, daß, wenn Gloria sich wirklich entschlossen hat—

(Dolly)—die Sache besiegelt und Doktor Valentine erledigt ist. Wir verpassen bloß alle Tänze.

(Dr. Valentine zu Gloria, galant, sich so gut er kann, aus der Affäre ziehend:) Darf ich um einen Walzer bitten?—

(Bohun widerspricht in seiner tiefsten Oktave:) Entschuldigen Sie—diesen Vorzug beanspruche ich als Rechtsbeistandshonorar! Darf ich um die Ehre bitten?—Ich danke. (Er tanzt mit Gloria fort und verschwindet unter den Lampions, und läßt Dr. Valentine nach Luft schnappend zurück.)

(Dr. Valentine wieder zu sich kommend:) Dolly: darf ich bitten—(Fordert sie zum Tanze auf.)

(Dolly.) Unsinn! (Weicht ihm geschickt aus und läuft um den Tisch herum an den Kamin:) Finch! Mein Finch! (Sie fällt über McComas her und zwingt ihn zu tanzen.)

(McComas protestierend:) Ich bitte, halten Sie ein—wahrhaftig—(Er wird durch die Fenstertür davongerissen.)

(Dr. Valentine macht eins letzte Anstrengung:) Frau Clandon, darf ich bitten—

(Philip ihm zuvorkommend:) Komm, Mütter! (Er ergreift seine Mutter und wirbelt mit ihr fort.)

(Frau Clandon zurechtweisend:) Phil—Phil—(Sie teilt McComas'
Schicksal.)

(McNaughtan folgt ihnen mit greisenhafter Heiterkeit:) Ho! ho! ho! ho! ho! (Er gebt in den Garten und kichert über den spaß.)

(Dr. Valentine sinkt auf die Ottomane und starrt den Kellner an:) Als ob ich schon verheiratet wäre!…

(Der Kellner betrachtet den im Zweikampf der Geschlechter Gefallenen mit liebenswürdiger Teilnahme und schüttelt langsam den Kopf.)

(Vorhang)

Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Mann Kann Nie Wissen, von George
Bernard Shaw.

End of Project Gutenberg's Man Kann Nie Wissen, by George Bernard Shaw