Es war in den Jahren, da einen1-1 weder die Wissenschaft noch der Geldbeutel durch ihre Schwere drücken, als sich etliche Studenten von Erlangen1-2 aufmachten, um die Welt zu besehen, ob sie auch wirklich so rund sei,1-3 wie der Herr1-4 Professor sagte. Es1-5 waren ihrer1-6 drei, die dies Experiment machen wollten. So1-7 verschieden sie auch sonst waren, in einem1-8 waren sie eins: sie waren drei wackere Musikanten. Der eine sang einen hohen Tenor und brauchte keine Feuerleiter, um zum hohen C hinaufzuklettern; der zweite hatte eine schöne melodische Mittelstimme, und des Basses Grundgewalt1-9 war dem dritten verliehen. In hübschem „wassergeprüften“1-10 Sacke verpackt war das Notenbuch eines jeden umgehängt, um gleich losschießen zu können. Zwei hatten einen ehrlichen Ranzen, der dritte aber hatte von einer „Nichte“1-11 eine Reisetasche, mit Blumenbouquetten verziert, erhalten und trug sie derselben zu Ehren. Die Finanzmittel waren sehr mäßig und auf kein „Hotel du Lac“1-12 oder desgleichen, wohl aber auf die niedere Tierwelt berechnet, auf „Bär“ und „Ochsen,“ „Hirsch“ und „Schwan“ und im Notfall auch auf Heuschober und Tannenbäume. Aber die klingenden Stimmen und die klingende und singende Brust waren mehr wert als die klingenden Münzen. „Hat2-1 man nichts2-2 mehr, dann sieht man auch nichts mehr, so2-3 wird rechts abgeschwenkt und umgekehrt,“ das war die Reiseparole. So die drei.
Derweilen sie ausziehen und mit feinem Instinkt die Gassen vermeiden, in welchen es noch etwas zu zahlen2-4 gab, ging zu London in Regentstreet Nr.2-5 86 ein großer hagerer Herr, dem man den Engländer auf tausend Schritt ansah, in seiner Stube auf und ab. Auf dem Tische lagen der rote Bädeker,2-6 der auf englisch „Murray“ heißt, und Landkarten. Er hatte offenbar Reisegedanken. Und niemand hinderte ihn daran,2-7 weder sein Weib noch sein Geld. Denn das erste besaß er nicht, desto mehr aber vom zweiten. Ob ihn am Fuß das Zipperlein plagte oder im oberen Stockwerke der Spleen, oder ob er um diese Zeit überhaupt gewohnt war, sich in London unsichtbar zu machen, das weiß der Verfasser nicht zu sagen.—Er öffnete das Fenster und schaute hinaus auf die wogende Straße, auf der sich in der lauen Sommernacht die Leute herumtrieben, klopfte an sein Barometer2-8 und sah nach, wie viel Uhr2-9 es darauf geschlagen,2-10 und klingelte zuletzt. Ein alter rotköpfiger Bedienter in herrschaftlichem Kleide kam herein. „James, wir reisen2-11 morgen um 10 Uhr. Du wirst2-12 die Koffer packen und nichts vergessen. Den Thee habe ich hier, die Maschine ist dort. Sorge für alles, alter Junge, und für Dich selbst. Du weckst mich früh um 6,“ so befahl in weichem Tone der Herr dem Rotkopf.—
„Gehen wir weit?“ fragte dieser den Herrn, „und auf3-1 wie lange ungefähr?“
„Nun, James, ein paar Wochen werden uns gut thun. Wohin, das weiß ich selbst noch nicht, wir gehen zuerst nach dem Kontinent, und das andere findet3-2 sich.“
„Immer noch der alte,“3-3 murmelte der Rotkopf, als er draußen war,—„man weiß nie, wohin es3-4 geht.“
Am nächsten Morgen fuhren die beiden nach London Bridgestation und sausten mit dem Zuge nach Dover.3-5
Derweilen aber stieg im lieben, deutschen Vaterlande ein Pärchen in die bekränzte Hochzeitskutsche. Sie kamen vom Hochzeitsaltar und Hochzeitsessen und hatten sich in der Stille davongemacht. Nur die Mutter der Braut war mitgegangen und hatte dem Töchterlein das graue Reisekleid angelegt und es3-6 mit Thränen gesegnet. Es ist ja freilich nur ein Schritt aus dem Elternhause in die Hochzeitskutsche, aber es ist eben nicht ein Schritt wie ein anderer. Darum schaute ihr die Mutter noch lange nach, bis der Wagen um die Waldecke bog und ihren3-7 Blicken entschwand. Die zwei freuten sich, daß sie endlich ohne Onkel und Tanten waren und fuhren fröhlich in die Welt hinein zur Eisenbahnstation.
„Nun geht’s3-8 in die weite, weite Welt hinein, liebes Kind,“ sagte der junge Mann, „da wirst du, Sandhase,3-9 deine blauen Wunder sehen.“
„Ach, bei uns ist’s auch schön,“ meinte das junge Frauchen, „aber mit dir fahre ich schon4-1 in die weite Welt hinein. Es ist mir zwar ein wenig gruselig dabei zu Mut4-2 vor den vielen Menschen, was man da reden soll.“
„Sag’ du ihnen nur,4-3 daß du mich lieb hast, und daß es4-4 keinen bessern Mann auf der Welt giebt als mich,“ meinte bescheiden4-5 der junge Eheherr, „dann hast du gewiß nichts dummes gesagt.“
So fuhren die zwei von dannen und wußten nicht, daß der Landgerichtsassessor Robert Berneck aus Buchau4-6 im bayrischen Wald sich bereits Jahre lang4-7 auf eine Reise gefreut hatte. Endlich hatte er Urlaub erhalten. Ein stiller Mondschein4-8 lagerte sich schon über das Haupt des Mannes, wiewohl er erst in dem Anfang der Vierzig stand. Das Amtsleben hatte ihm das ganze bayrische4-9 Wappen, den Löwen mitsamt den blauweißen Weckschnitten derart ins4-10 Gesicht gestempelt, daß kaum noch eine Spur des eigentlichen Menschen zu sehen war, der in früheren Jahren nicht so ganz übel4-11 gewesen sein mochte.—Er hatte lange zu thun, bis er seine Siebensachen bei einander hatte. Nachgerade hatte er sich an so viele Bedürfnisse gewöhnt, und vorsorglich für alle Zukunft wanderte4-12 in das Ränzlein, das er noch aus alten Tagen besaß, eine ganze Haushaltung nebst einer Apotheke. Utensilien, wie Salben für frisch gelaufene Blasen an den Füßen, Opodeldoc4-13 für mögliche Verletzungen, Kamillenthee für Leibschneiden, Storchenfett für Entzündungen waren nicht vergessen. Eine neue graue Joppe mit grünem Aufschlag, ein spitziger Tyrolerhut mit Gemsbart,5-1 alles elegant5-2 hergestellt nach seiner Angabe, vollendeten den Anzug. Bergschuhe, mit dicken Nägeln beschlagen, wurden angezogen, und der Alpenstock, den er von einem Freund geerbt hatte, stand auch bereit. Als seine Lena, die niederbayrische Haushälterin, hereintrat und ihren Herrn so sah, schlug sie die Hände zusammen und meinte im stillen, ihr Herr sei5-3 wohl nicht ganz bei Trost.5-4 Denn bisher hatte sie ihn nur in seinem ehrbaren Landassessorrock und in der Mütze mit der Krone5-5 und dem „L“ darunter gesehen und hatte jedesmal vor ihm einen Knix gemacht, als ob er die „Hochwürden“ des Orts wäre,5-6 jetzt aber war er ihr5-7 ganz in die Abteilung „Mensch“5-8 heruntergesunken.
„Nun, Lena, gefall’ ich dir nicht so?“ meinte der Landgerichtsassessor. „Ja,“ sagte sie, „jung schaun’s schon völlig aus, aber halt a bissel verputzelt und kennen thut’s Ihna koan Mensch hier in der Gegend.“
„Das will ich gerade, Lena. Ich will Mensch sein, ganzer, voller Mensch, und hingehen, wo mich niemand kennt und ahnt, daß ich ein Beamter bin.“
„A Mensch will er sein,“ murmelte die Lena vor5-9 sich, „sonst hat er als5-10 gesagt, daß er a Aktenvieh sei.“
„Morgen geht’s5-11 fort, Lena, hier sind die Schlüssel, und wecken thust mich auch, denn ich muß fort,5-12 eh’ mich einer von den Herren hier sieht.“
„Da haben’s völlig recht,“ meinte die Lena, „denn koan Mensch thät’s Ihna für unsern gnädigen6-1 Herrn halten.“
Des Morgens früh blies der himmelblaue6-2 Postillon hinaus in die frische Morgenluft. Der Postexpeditor schmunzelte, als er den Landgerichtsassessor so „verputzelt“ sah und wünschte „allerseits6-3 eine glückliche Reise.“ Nach fünf Stunden saß die graue Joppe im Eisenbahncoupé und that völlig fremd den Reisenden gegenüber.
Und wieder saßen derweilen im Zuge von Stuttgart6-4 her eine trotz ihrer Dreißig noch jugendlich aussehende Dame mit drei gleichgekleideten jungen Mädchen von fünfzehn bis siebzehn Jahren. Wer6-5 sich einigermaßen auf Menschen zu verstehen glaubte, dem schien es ganz klar: „Institutsvorsteherin nebst drei Pflegebefohlenen.“ Die letzteren mußten wohl von denen6-6 sein, die zur geringen Freude der ersteren auch die großen Ferien dableiben, weil ihre Eltern selbst verreist sind. Anna, Lina und Elsa hießen die drei Mädchen, die immer lachten, wenn6-7 sie der Blick ihrer Hüterin nicht traf. Denn alles kam ihnen lächerlich vor. Jugendlust und Freude, Unschuld und Kindlichkeit schauten aus den6-8 Augen, sie schienen so froh, dem6-9 Schulszepter entronnen zu sein, und wären,6-10 wenn man sie aufs Gewissen gefragt hätte, am liebsten allein gereist. Und doch schaute die Dame nicht grämlich drein; nur dann, wenn6-11 das Lachen zu toll wurde, oder wenn eine aus der wohlgefüllten Reisetasche einen allzugroßen Brocken hinunterwürgen wollte, sah sie mahnend auf. Wenn sie aber still einmal schlief, da zuckte es7-1 über die schönen Züge wie Sonnenschein, als dächte7-2 sie ihrer eigenen schönen Jugendtage.
So verschieden diese sämtlichen Reisenden auszogen, keiner dachte, daß sie sich alle an einem7-3 Orte unter einem Dache finden würden, und doch geschah es so. Alle hatten dasselbe Ziel gewählt: das Salzkammergut.7-4 Die einen wollten von da über die Tauern7-5 hinuntersteigen nach Kärnthen7-6 und von da hinab nach Italien—die andern kamen schon daher und wollten den Weg durchs Salzkammergut zurück.7-7
Die Studenten waren im Stellwagen, der von Werfen7-8 nach Lend fährt, bereits mit der „Institutsvorsteherin“ bekannt geworden, die mit ihren Pflegebefohlenen vorn im Coupé saß. Aber freilich nicht so,7-9 daß sie einander gesehen hätten. Das7-10 geschah aber so: Auf der Fahrt flatterte ein blauer Schleier aus dem Coupé lustig heraus am Wagen hin, worin hinten die Studios saßen. Da dachte der eine:7-11 „Wer mag wohl7-12 hinter dem blauen Schleier sein?“ Er träumte sich in den Gedanken hinein und zuletzt ward7-13 der Schleier bei seiner Flatterhaftigkeit7-14 festgehalten und mittelst einer Stecknadel ihm ein beschriebener Zettel angesteckt. Der Vers war von den dreien in Kompagnie geschmiedet und lautete:
Blauer Schleier—blauer Himmel! |
Er flatterte hinüber und ward dort angehalten. Man hörte von drüben nichts als ein Kichern und Lachen, und bald darauf flatterte der Schleier wieder hinaus in die Luft. Ein neuer Zettel war angesteckt. Und darauf stand:
Fehlgetroffen!8-3 Nichts von
Bläue, |
Wieder ward der Schleier von den dreien gefangen, der Zettel abgenommen und bald flatterte wieder ein neuer Vers hinüber:
Auch ein altes, graues Fräulein |
Noch zweimal ging der Schleier hin und her; den8-7 Studenten ging aber allmählich die Poesie aus, und sie zogen die Liederbücher hervor und fingen an zu singen. Im ganzen Stellwagen ward’s still, als die frischen Studentenlieder8-8 so hinaus in die Luft schmetterten.
Als man in Lend ausstieg, wo sich der Weg teilt nach der Gastein9-1 durch die finstere Klamm, und nach Zell9-2 am See dem Pinzgau9-3 zu—trafen die Studenten mit ihren Korrespondentinnen zusammen. Der zweite Tenor schritt auf die „Vorsteherin“ zu9-4 und entschuldigte sich in wohlgesetzten Ausdrücken über9-5 die Freiheit, die sie sich erlaubt. „Sie haben sich nicht zu entschuldigen, Sie haben uns durch Ihre Verse und Ihren Gesang die Fahrt verschönert. Hier in der herrlichen Natur ist auch dem Menschen mehr gestattet als in den dumpfen Städten,“ antwortete das Fräulein. Die drei jungen Mädchen kicherten sich9-6 wieder an, als sie die flotten Poeten sahen und gaben verlegen Antwort auf ihre Fragen. Nach einer Stunde trennte man sich.9-7 Die Studenten zogen dem Pinzgau zu, das Fräulein mit ihrem Anhang hinauf nach Gastein. Man wünschte sich9-8 allerseits eine glückliche Reise. Die Studenten sangen am Postwagen noch eins9-9 von den blauen Augen:
Meiner Liebsten blaue Augen |
Die blauen Schleier nickten dankend und fuhren hinauf den steilen Weg.—
Auf dem Pasterzengletscher,9-10 der sich hinter dem Fuscherthal9-11 hinaufdehnt, schritt eine hagere Gestalt in verwittertem9-12 Lodenkittel, grünen, hohen Strümpfen und spitzem Hut einem etwas behäbigen Herrn voran, der öfters stehen blieb und sich10-1 den Schweiß von der Stirn wischte. So sicher der Alte trotz des schweren Ranzens und dicken Plaids einherstieg, immer schweigend und ruhig voran, so keuchend kam der zweite hinterher. Das Alpensteigen schien ihm ein ungewohntes Geschäft und Vergnügen zu sein, und er machte ein so verzweifeltes Gesicht, als wollte10-2 er zu sich selber sagen: „Das war wieder einmal ein mordsdummer Streich von dir, daß du dich hast da hinauf locken lassen,10-3 du hättest10-4 auch die Berge von unten ansehen können.“ Aber jetzt war10-5 nichts mehr zu machen, zurück war der Weg noch mühsamer als hinauf, darum vorwärts über den Schnee und die Eisschrunden!
„Geben’s fein Obacht, daß10-6 nit fall’n und nit z’ lang stehen bleiben! Dös thut koan gut,“ mahnte der alte Führer.
„Ja, Ihr10-7 habt gut reden,“ keuchte der Hintermann. „Ihr seid die Sach’ gewohnt, aber unsereins,10-8 was alleweil in der Stuben sitzt, brächt’s10-9 halt nit fertig.“
Der geneigte Leser merkt, wen er vor sich hat. Es ist unser Landgerichtsassessor, der so keucht und spricht. Hundertmal hat er schon den Pasterzengletscher und alle anderen Gletscher in der Welt verwünscht und an seine Lena gedacht, die es jetzt so gut habe,10-10 weil ihr Herr fort sei, und er hatte sich doch10-11 so auf die Sommerfrische gefreut und sich einmal recht „auslaufen“ wollen. Jetzt that ihm jeder Knochen weh, und nur eins tröstete ihn: eine Rast im Tauernhause,10-12 die ihm in baldige Aussicht gestellt wurde.
Sie11-1 sollte ihm eher, als er dachte, zu teil werden.
Der alte Führer stand nämlich plötzlich still, schaute nach allen Seiten hin und witterte wie ein Gemsbock in die Luft hinaus. Er beobachtete genau den Zug der Wolken, den Schnee unter den Füßen und die einzelnen Bergspitzen. Der Landgerichtsassessor spitzte auch die Ohren so hoch wie sein spitziger Tyrolerhut, aber er merkte trotz allen Spitzens11-2 nichts. Endlich brach der Alte das Schweigen und sagte: „Gnädiger11-3 Herr! Können’s Ihnen nit a bissel anstrengen? Es ist so a Schneetreiben im Anzug und gut wär’s schon, wenn m’r unterkimmet!“ Das fuhr dem Assessor in die Glieder, denn er hatte in Geschichten schauriges vom Schneetreiben gelesen. „’s ist doch11-4 nicht gefährlich?“ sagte er halblaut.
„Ha, g’fährlich is11-5 rechtschaffen schon, wenn wir noch auf’m Eis sind. Aber so schnell kommt’s grad nit.“
Der Assessor vergaß seine Blasen und seine nassen Füße und trieb zur Eile. Der Alte verbiß sich das Lachen über seinen Trabanten. Sie stiegen rüstig zu. Ringsumher ward es immer finsterer, die Bergspitzen gingen in leichtes Grau über, und dem Assessor jagten schon einzelne spitzige, eisharte Körner ins Gesicht. „Das ist der Anfang vom Schneetreiben,“ sagte er vor sich hin,11-6 und vor seinem Geiste stand die behagliche Amtsstube in Buchau, wo im Winter der Buchklotz knallte und der Amtsdiener fragte: „’s wird11-7 dem Herrn Assessor doch nicht zu kalt sein?“—Nach stundenlangem Marsche, auf welchem jeder so seine eigenen Gedanken hatte, während der Schnee immer dichter fiel, zeigte sich in der Ferne ein Haus.
„Dös ist das Tauernhaus, gnädiger Herr, do können’s Ihna ausruhen.“
„Wie weit ist’s noch bis hin?“12-1 fragte der Assessor.
„Ha, so a zwanzig Büchsenschuß12-2 werden’s12-3 völlig sein,“ meinte der Alte. Der Assessor wußte jetzt gerade so viel wie vorher. Denn er hatte mit Büchsenschüssen nur bei Gelegenheit von Forstfreveln zu thun und wußte über die Tragweite des Geschosses keinen weitern Bescheid.
Endlich erreichten sie im dicksten Gestöber das Haus. Der Alte schob den Riegel an der Thür zurück, schüttelte den Schnee vom Lodenrock und vom Ranzen, den er abwarf, und schritt mit seinem Herrn der Thüre zu. Als sie dieselbe öffneten, drang ihnen ein warmer Duft entgegen, der dem Assessor die Hitze in die vom12-4 Schneetreiben gehörig verarbeiteten Wangen jagte.
Eine bunte Gesellschaft saß schon an den Tischen12-5 und wandte sich neugierig nach dem Ankömmling um, der sofort auch vom Kopf bis zur Fußsohle gemustert ward. Der Assessor grüßte verlegen zuerst nach den Damen hinüber, deren12-6 vier auf einem Klümplein bei einander saßen, eine ältere und drei jüngere. Neben ihnen saß ein junges Paar. Alle hatten sich’s bequem gemacht. Um den großen Ofen hingen die nassen Kleider und dampften aus, und zwölf Schuhe standen unten und warteten aufs Trocknen. Es ist so etwas eigenes, wenn Leute sich’s schon heimisch gemacht haben in einem Gasthause, als ob sie da zu Hause wären,13-1 und dann einem Wildfremden, der noch dazukommt, zuschauen, bis dieser sich auch langsam häuslich niederläßt. Die ersteren haben das Gefühl der Sicherheit und schauen von ihrem festen Sitze herunter auf den, der sich erst seine Unterkunft gründen muß. Der Assessor suchte sich13-2 eine Ecke aus, dicht unter dem grobgeschnitzten Kruzifix,13-3 das aus den verdorrten Palmsonntags-Birkenzweigen hervorschaute, in die sich die Fliegen als ihr Nachtquartier verzogen, und bestellte sich einen roten Tyroler.13-4 Lang saß er nicht allein, denn draußen hörte man13-5 Stimmen, und drei junge Leute traten dicht beschneit herein. Die drei jungen Damen schauten auf und steckten die Köpfe zusammen und kicherten, als sie dieselben hereinkommen sahen. „Da sind sie wieder,“ sagte die kluge Elsa, „ganz gewiß sie sind’s.“13-6 Ja, sie waren’s, die Studenten vom Werfener Stellwagen her.
„Was tausend!13-7 Bei diesem Wetter kommen Sie hier herauf, meine Damen,“ sagte der erste Tenor. „Wir wären13-8 fast verunglückt; das ist Ihnen13-9 ein schauderhaftes Wetter, da sollte man keinen Hund, geschweige denn eine Dame, herausjagen.“
„Hatten Sie keinen Führer?“ fragte die Dame, über die letzte Artigkeit13-10 etwas lächelnd.
„Führer? Jamais!13-11 Wir gehören zum Verein „Selbsthilfe“. ‚Als13-12 der Nase nach,‘13-13 hatte der letzte Senne gesagt, ‚da können’s nit fehlen.’ Und da sind wir endlich mit unsern verfrorenen Nasen hier aufgestoßen, als wir das Licht flimmern sahen, denn von Nasen war rein nichts mehr zu sehen, so14-1 rot sie auch funkelten.“
Die drei standen immer noch, der Assessor verwunderte sich und gedachte der schönen Zeit, wo auch er sich einst die Freiheit genommen,14-2 ohne weiteres mit wildfremden Mägdlein anzubinden. Das Pärchen aber begriff bald den Zusammenhang der Sache und freute sich des Wiedersehens der Fremden, denn in aller Eile hatten die geschwätzigen drei Elstern14-3 den jungen Eheleuten von ihrer Begegnung mit den Studenten und von den Gedichten erzählt.
Dem dicken Tauernwirt dauerte die Sache mit der Vorstellung etwas zu lange, und er fragte darum die drei: „Schaffen’s auch einen roten Tyroler—?“
„Ja freilich, teurer Onkel,“14-4 rief der Baß, „roten und weißen und grauen, wie’s kommt, nur etwas nasses bei dem nassen Wetter.“
Der Assessor lachte wieder in seiner Ecke und rückte etwas näher. So war er auch einst in eine Herberge gefallen und hatte gefragt: „Herr Wirt! Was kostet das Mondviertel in Essig und Öl, ich zahl’s.“ Die drei setzten sich zu ihm, er stellte sich vor, und bald waren sie im tiefsten Gespräch. Der Assessor war froh, daß eine goldene Brücke von ihm zu den Damen hinüber geschlagen war, denn er fühlte sich längst zu irgend einer passenden Rede verpflichtet und hatte nur nicht gewußt, wie sie anbringen. Jetzt wurde auch er durch die Studenten vorgestellt, und die Tische rückten zusammen. Man erzählte sich,14-5 woher man kam. Das Pärchen, das15-1 wir von früher kennen und in die Hochzeitskutsche geleitet haben, kam von Italien herauf, die Damen von Gastein kamen ebenfalls daher, die Studios hatten sich im Pinzgau herumgetrieben und kamen den Weg des Assessors.
„Ich muß mir nur15-2 einmal die Wirtschaft hier ansehen, Ihr Leute,“ sagte der zweite Tenor, „denn das ist immer das erste,“15-3 und fort war er. Nach einer starken Viertelstunde kam er von seiner Entdeckungsreise zurück.
„Nun, wie schaut’s15-4 aus?“ riefen die zwei andern Studenten.
„Wie’s ausschaut? Gar nicht ausschauen thut’s.15-5 Draußen heult’s und stürmt’s, und wenn’s so fortmacht, so sind wir morgen alle hier eingeschneit, daß an ein Fortkommen nicht zu denken ist. Das ist das erste. Zum15-6 andern: mit dem Schlafen ist’s alle15-7 für diese Nacht. Der bessere und schönere Teil der menschlichen Gesellschaft, diese Damen hier, werden auf Stroh schlafen. Für Mannspersonen aber ist kein Raum in dieser Hütte. Das einzige Bett hat ein natureller Engländer inne, und zu seinen Füßen wird sein Sancho Pansa15-8 schlafen, ein Rotkopf, sage ich Euch, so brennend, daß man die Pfeife an ihm anzünden kann. Der Engländer kocht sich eben seinen Thee auf höchsteigner Maschine, und der Rotkopf hilft ihm. Er fragte mich, da die Thür offen stand, etwas auf englisch, und ich sagte ihm mein einziges englisches Wort, aber fein,15-9 ‚Yes’ sagte ich, und damit war’s gut.15-10—Aber das beste habt Ihr nicht gesehen: Da hinten15-11 sitzt Euch15-12 in einem Mordsqualm eine Stube voll biedrer15-13 Leute bei einander, alte und junge, Kerls16-1 wie die Gemsböcke und wie die alten Tannen mit weißem Flechtenmoos behaftet, und dazwischen am Spinnrocken sitzt ein Mägdlein mit treuherzigen blauen Augen. Die erzählen sich16-2 Geschichten, aber zu verstehen ist16-3 kein Wort. Aber in der Küche da prasselt’s,16-4 da giebt’s Kaiserschmarren und Krapfen. Zu essen giebt’s genug, das ist immerhin anerkennenswert. Wir bleiben hier unten16-5 und richten uns häuslich ein für diese Nacht. So, nun wißt Ihr Bescheid, und die Verhandlung kann beginnen. Herr Assessor—comment16-6 trouvez-vous cela?—sagt der Franzose, und der Deutsche fragt: „Um Vergebung, was ist Ihre geneigte Ansicht hierüber?“
Der zweite Tenor sprach das alles in einem Atemzug und so drollig, daß alle lachten. Der Assessor war verblüfft; er hatte sich im stillen schon auf sein Zimmer gefreut, um dort allerhand chirurgische Operationen vorzunehmen, mit denen sein Ranzen in genauer Verbindung stand.
Bald dampften die Schüsseln auf dem Tische, denn alle16-7 hatten sich zu einem einzigen vereint, und der Assessor saß mitten unter den jungen Mädchen, zu seiner Rechten das ältere Fräulein. Die Studenten teilten sich mit dem jungen Eheherrn in die anderen. Das Gespräch war lebendig, jeder wußte von Abenteuern, von Gemsjägern und Sennerinnen zu erzählen, und am16-8 aufgeräumtesten war der Assessor.
Nach dem Imbiß baten die Damen, es16-9 möchten doch die Studenten wieder ein Lied singen, wie damals im Stellwagen. Schnell waren diese bei der Hand, und fröhlich klangen die Terzette durch den warmen Raum. Unvermerkt hatte sich17-1 die Thür aufgethan, und aus der hintern Stube waren die Insassen hergewandert, als sie vorne singen hörten. Der alte Führer des Assessors vorndran, und zwischendrin die flachsköpfige Spinnerin.
„Dös sollt’ mi doch rechtschaffen Wunder nehma, wenn mein Herr17-2 singen könnt’,“ sagte der Alte. „Der giebt sonst koan Laut17-3 von sich“—und wirklich, er sang zu seinem eigenen und des Führers Erstaunen. Er hatte ja eine herrliche Baritonstimme, aber seit Jahren hatte er kein Lied mehr gesungen, wie er behauptete. Aber hier bei den fröhlichen Stimmen gingen ihm Herz und Lippen auf. Zur Vorsorge hatten die Studios noch Noten für eine vierte Stimme mit, wenn je einmal sich noch ein Musikant unterwegs zum Quartett fände.17-4 Es17-5 waren ja alte, liebe Lieder, die sie sangen, die er einst auch in jüngeren Tagen bei Ständchen und Morgengrüßen gesungen. Fröhlich klang das alte Quartett:
Mir ist auf der Welt nichts lieber17-6 |
„Herr Assessor, Ihre schöne Nachbarin in Buchau soll17-7 leben!“ rief der muntere zweite Tenor, „die Tochter des Landgerichtspräsidenten.“
„Der17-8 ist leider selbst noch ledig,“ antwortete trocken der Assessor. „Mir wohnt nichts17-9 gegenüber als ein Schmied, dessen Gesellen mich morgens um vier Uhr aus dem süßen Schlummer jagen, das ist eine grausame Nachbarschaft.“
Er war eben daran, seinen Jammer näher zu beschreiben, als durch die Hauptthüre der hochaufgeschossene Engländer mit seinem Rotkopf im Gefolge eintrat.
sagte leise der zweite Tenor, auf den Rotkopf schauend. Die Mädchen hielten sich die Taschentücher vor den Mund, der Eheherr griff nach seinem roten Tyroler und steckte tief das Gesicht in das Glas. Nur die „Institutsvorsteherin“ und der Assessor hielten Balance18-3 mit sicherm Takte. Der Engländer aber sagte in etwas englisiertem, aber sonst anständigem Deutsch:
„Ich haben18-4 gehabt sehr großes Vergnügen in meinem Zimmer, zu hören solch schönes Gesang. Ich komme zu bitten, daß ich noch mehr höre.“
Er sagte das mit solch edlem Anstand, daß einer der Studios aufstand, ihm seinen Stuhl anzubieten und ihn einzuladen, wenn ihm die Gesellschaft behagte,18-5 sich niederzulassen. Er stellte ihm alle vor und bat ihn dann ebenfalls zu sagen, „woher18-6 des Landes, woher der Männer er sei.“18-7—„Sie sehen, ich bin Engländer, und James ist es auch, der gute alte Junge. Der Name ist nicht notwendig—nennen Sie mich Mr. Brown, und ich bin’s zufrieden,“ sagte er lächelnd. „Wir sind heute Mittag gekommen durch Salzkammergut—beautiful indeed—und konnten18-8 nicht mehr weiter. Aber singen Sie, meine Herren, singen Sie, ich bitte.“—Schnell waren die Sänger zusammen, sprachen zuerst leise mit einander und setzten plötzlich kräftig ein in die Weise:
Treu19-1 und herzinniglich, |
Die Verse verklangen. Der Engländer war außer sich vor Freude, als er die heimische Weise klingen hörte. „Das ist beautiful—, aber wo haben Sie ein ähnliches deutsches Lied?“—Die Studios besannen sich.
„Nun, singen Sie: ‚Ännchen von Tharau’!“,19-3 E-1 sagte die „Institutsvorsteherin.“
„Richtig, los! eins, zwei, drei, ’Ännchen von Tharau’ ist’s die mir gefällt!“ rief der zweite Tenor. Sie sangen frisch herunter:
Ännchen von Tharau ist’s, die mir
gefällt, |
„Das ist ein schönes Volkslied, das müssen Sie mir geben. Aber was ist das „Verknotigung?““20-1 E-2
„Ja, wissen Sie, das ist etwas besonderes. Zum Exempel, wenn ein Jüngling und eine Jungfrau sich so ein bißchen stark lieb haben, so ist das „Verknotigung“. Das kommt von dem Liebesband her, und wenn die zwei Bänder zusammenkommen und geknüpft werden, giebt’s allemal dort eine „Verknotigung“. ‚Der Ausdruck ist obsolet,’ sagt der Herr Professor auf seiner Hitsche20-2—aber er20-3 ist gut, sehr gut,“ sagte der zweite Tenor.
„O, well, Sir—sehr gut! ich verstehen jetzt „Verknotigung“. Ich lieben sehr das Volkslied20-4 der Deutschen.“
„Holla!“ rief der zweite Tenor, „das können Sie hier20-5 haben, Mr. Brown, aus bester Quelle. Heda, ihr Mannsleut’, singt’s20-6 einmal einen Steirer!20-7 Meint Ihr denn, wir singen umsonst hier? Jeder, wer zuhört, zahlt20-8 einen Zwanziger Münz.20-9 Wenn Ihr aber selber singt, braucht’s nix zu zahlen!“
Die Leute schauten sich verdutzt an, und keiner sagte ein Wort. Endlich brach der alte Führer das Schweigen:
„Wär’20-10 schon völlig recht, junger Herr, aber wir Leut’ singen halt anders als d’ Stadtleut’ und könnet’s nit gar schön. Für uns is schon völlig schön genug, draußen auf der Almen—aber für Euch nit!“
„Ach was—Ihr singt wie’s20-11 Euch ums Herz ist.“
„Habt Ihr denn keine Zither?“ fragte der Assessor.
„Freilich, freilich, a Zithern is schon da bein’n Tauernwirt. Johann, der gnädige Herr will dein Zithern haben,“ rief der Alte.
Der Tauernwirt brachte sie herbei, der Assessor stimmte mit kundiger Hand schnell das gute Instrument und spielte mit ungemeiner Fertigkeit einen „Herzog-Maxländler“21-1 und dann einen „Steierischen“ in optima forma.21-2
Im Hintergrunde bewegten sich schon die Füße; die Leute waren elektrisiert, und vorab der Alte mit dem Gemsbarte21-3 zog bald das eine, bald das andere Bein hinauf und zuckte mit21-4 den Armen wie ein Hampelmann, den man21-5 an der Schnur zieht. Plötzlich klang’s21-6 aus dem Hintergrund:
Und zwoa Blattln21-7 und zwoa Bleamle |
Eine helle Stimme sang’s; es war die Spinnerin. Der Assessor begleitete sie, und bald darauf schallte es:21-10
B’hüat’21-11 dich Gott, mein
kleans Dioandl, |
Es21-12 sang’s ein stämmiger Bursche. Aber der Alte warnte gleich darauf mit dem Verse:
„Gescheit22-1 sein, gescheit
sein, |
Der Engländer war außer sich vor Freude; das hatte er ja22-2 schon längst gewünscht zu hören, aber niemand hatte ihm den Gefallen gethan, trotzdem er oft den Leuten Geld geboten hatte. Aber fürs22-3 Geld sangen sie wohl22-4 drunten im Flachland, die nachgemachten Tyroler in Glacéehandschuhen, aber da oben nicht. Aber jetzt waren die Leute guter Dinge.22-5 Die Studenten holten die Sängerin vor. Der Engländer nahm sich22-6 den Tauernwirt auf die Seite und redete mit ihm. Der Rotkopf verschwand und kehrte mit etlichen Flaschen zurück. Bald brodelte es22-7 aufs neue in der Küche von Kaiserschmarren, auf dem Tische aber dampfte eine prächtige Bowle. Verschämt setzten sich die Leute aus der Hinterstube herein in die Herrenstube und bekamen vollauf zu essen und frischen Tyroler zu trinken, während die Studenten kunstgerecht den Punsch mit Hilfe des Engländers zurecht machten. Alles war ein Geschenk von Mr. Brown, das er anzunehmen bat, als Beitrag dafür,22-8 daß er nicht singen könne.
Der Assessor spielte,22-9 die drei Studenten sangen, die Bauern hörten zu, und der Tauernwirt schmunzelte in der Ofenecke und freute sich, daß heute Abend was22-10 draufging, und segnete das Schneetreiben, das ihm die Gäste in seine Klause gejagt.—Draußen stürmte es noch lustig zu—aber was thut’s,22-11 wenn
Im Ofen hell der Kienspan blitzt, |
So war’s auch hier, die Fremden waren durchs Unwetter eine Familie geworden. Die Studenten hatten sich schnell unter die Eingebornen gemacht,23-1 und die kluge Elsa war ihnen nachgefolgt. Der Rotkopf hatte sich23-2 den Alten mit dem Gemsbart ausgewählt, den er trotz allen Anschreiens nicht verstand. Der Engländer unterhielt sich mit der „Vorsteherin“ im feinsten Englisch. Der Assessor aber rückte zu dem jungen Ehepaare. Die zwei andern Mädchen zog’s23-3 auch hinüber zu der Else und langsam rutschten sie an der Wand bis hinüber zu ihr.
„Wie wär’s,23-4 meine Herrschaften, wenn jeder von uns eine Geschichte aus seinem Leben erzählte?23-5 Mit dem Schlaf wird’s23-6 doch nicht viel werden heute Nacht, nicht wahr, Mr. Brown, trotz Ihres hohen23-7 Bettes, und das Stroh für Sie, mein Fräulein,23-8 kann warten, bis Sie sich darin verkriechen—“ sagte plötzlich der unermüdliche zweite Tenor.
„Ach ja—das wäre23-9 schön,“ meinten die Fräuleins;23-10 denn sie wußten sich geborgen, daß sie nichts zu erzählen brauchten, weil sie noch nichts erlebt hatten.
„Wer fängt an?“ riefen sie alle.
„Wir werden den Halm ziehen?“ Sie zogen und den kürzesten zog der junge Eheherr. Alle lachten, denn er war bis jetzt der schweigsamste gewesen, und hatte sich nur an dem süßen Geplauder seiner Frau erfreut.
„Nun denn, wenn es sein muß, werde ich Ihnen unsere Hochzeitsgeschichte erzählen. Annlieschen, erschrick nicht, wenn du dabei etliche Male vorkommst, denn sonst ist’s keine Hochzeitsgeschichte,“ sagte er zu seiner Frau, „denn dazu gehören immer zwei.“
„Ja, mach’s aber nur nicht zu arg, Hans.“
„Wes Zeichens24-1 und Standes ich bin, brauchen Sie nicht zu wissen, noch wie wir heißen. Wo wir her24-2 sind, merken Sie vielleicht an unsrer Sprache, die so etwas niederrheinisch24-3 klingt. Aber wir sind ehrlicher Leute Kind24-4 und haben noch keine silbernen Löffel gestohlen.—Also so war’s: Ich lebte mit einer Schwester auf einem Dorfe und war nahe daran, ein Einsiedler zu werden. Die Schwester wußte so gut, was mir lieb war, und ich wußte, was sie gerne hatte, und so gedachte ich mein Leben still zu beschließen als Einsiedler. Aber es24-5 kam anders. Plötzlich kam es24-6 wie das Schneetreiben heute und jagte mich in den Ehestand hinein. Meine Schwester hatte just ihr Kaffeekränzchen mit ihren Gespielinnen, in welchem nebenbei auch gestrickt24-7 wurde. Die Strickkörbchen wanderten24-8 von Kränzchen zu Kränzchen. Die Nächstfolgende nahm die Körbchen immer mit nach Hause. Es24-9 war die Reihe an einem muntern, rotwangigen Mädchen. Sie nahm die Körbchen am Schluß des Kränzchens. Es war schon spät, und ich mußte sie ehrenhalber begleiten. Da fiel mir plötzlich ein, daß sie sich mit den Körbchen schleppte, und ich bat: „Ach bitte, geben Sie mir doch24-10 die Körbchen.“24-11 „Nein,“ sagte sie, „kein einziges.“ Da fuhr mir’s25-1 durch den Sinn: Jetzt oder nie!—„Ha,“ sagte ich—„Fräulein, wirklich, Sie geben mir kein Körbchen? Dann bin ich der glücklichste Mensch, dann geben Sie mir einen Kuß.“ Und ehe sie sich’s versah, hatte ich ihr um die Straßenecke herum einen Kuß gegeben. Sie weinte und lachte zugleich, und ich sagte: „Komm,25-2 wir wollen gleich umkehren und es der Schwester sagen.“ Wir kehrten Arm in Arm um und stellten uns als Braut und Bräutigam vor. Die Schwester zog mich auf die Seite und sagte: „Sieh, Hans, die25-3 habe ich immer gemeint. Sie hat dich auch lieb, das weiß ich.“—Und nun sehen Sie: das ist das Annlieschen hier, meine liebwerte, herzallerliebste Frau.“—
Alle schauten sie lachend an; aber in ihr halbverlegenes und in ihrer Verlegenheit um25-4 so hübscheres Angesicht brannte25-5 plötzlich zum Erstaunen aller—ein kräftiger Kuß. Der kam von der „Institutsvorsteherin,“ welche die junge Frau warm umschlang. „Sie glückliches Menschenkind!“ sagte sie. Die Studenten waren ob25-6 Kuß und Rede höchst verwundert. In dem zweiten Tenor stieg ein leises Ahnen und Zweifeln auf, es25-7 möge doch am Ende mit der „Institutsvorsteherin“ nicht völlig seine Richtigkeit25-8 haben, denn das sei doch nicht nach Knigges25-9 ‚Umgang mit Menschen’ gehandelt und geredet. Als er ihr tief ins Angesicht schaute, ward’s ihm noch klarer. Sie deuchte ihm wirklich schön zu sein, zu schön für eine Pensionsmutter.25-10
Am meisten hatte aber der Assessor mit seiner Konfusion zu kämpfen. Die ganze Hochzeitsgeschichte kam ihm so wunderbar vor. Auch er blickte hinüber zu der „Institutsvorsteherin“ und konnte sich26-1 das26-2 nicht mit der gehaltenen Würde eines „Pensionsdrachen“ vereinigen.
Der Eheherr aber fuhr fort: „Nun hatten wir kurze Verlobungszeit,26-3 denn bei mir26-4 waren, von den Eltern her, Kasten und Schränke voll von selbstgesponnenem Flachs und Leinen. Meine Schwester räumte bald das Feld, denn sie selber hatte eine alte Liebe, der sie aber nicht eher nachhängen wollte, als bis sie mich versorgt wußte. Die Hochzeit war bald, und die Hochzeitsreise ist es, auf der wir uns befinden. Wir wußten zuerst nicht wohin26-5 und kamen mit der Kutsche an einen Knotenpunkt der Eisenbahn gefahren.26-6 „Annlieschen,“ sag’ ich, „wo26-7 der erste Zug jetzt hinfährt, ob nach Norden oder Süden, da fahren wir hin.“ Annlieschen war’s zufrieden, wie sie überhaupt mit allem zufrieden ist. Also der Zug geht nach Süden. Wir fahren nach Kassel.26-8 Ich sage: „Hast26-9 du Kassel gesehen, dann siehst du auch Frankfurt26-10 am Main, wo die deutschen Kaiser einst gehaust.“ Sagt26-11 Annlieschen: „Ja wohl—dahin laß mich mit dir, mein Geliebter, ziehen.“26-12 Dort regnet’s in Strömen. Wir sitzen im Westend-Hotel und sehen uns26-13 den Regen an. „Anneliese,“ sag’ ich, „das ist langweilig—wir gehen26-14 nach dem schönen Heidelberg,26-15 da ist’s sonnig und wonnig.“ Aber in Heidelberg, dem Wetterloch,26-16 war’s noch schlimmer. Sitzt26-17 im „Ritter“26-18 dort ein Herr, der sagt: „Freiburg27-1 im Breisgau—da ist’s schön, herrlich!“—und Anneliese sagt wieder: „Dahin, dahin u.s.w.“27-2 Ich gehe mit ihr nach Freiburg, auf den Blauen27-3—„da schimmert was,“27-4 sag’ ich. „Anneliese—guck27-5 mal27-6—weißt du, was das ist?“ „Nein,“ sagt die Anneliese. „Siehste27-7—das27-8 sind die Alpen.“ Anneliese sagt wieder: „Dahin laß uns ziehen.“ Wir ziehen durch die Schweiz nach dem Sankt Gotthard,27-9 wo wir eingeregnet werden. Da sitzen zwei Brautpaare in gleicher Nässe, die wollten27-10 nach Italien. Italien! das stach27-11 mich wie ein Skorpion. „Annlieschen—Italien!—Land,27-12 wo die Citronen blühen27-13—dahin laß uns ziehen!“ Wir hatten zwar nichts bei uns als einen kleinen Reisesack in der Hand zu27-14 tragen, aber ich sage: „Es27-15 kennt uns niemand.“ Also nach Italien! Wir waren in Mailand27-16 und Genua.27-17 Ich sage: „Annlieschen—weißt du, was da hinten liegt am blauen Meere?“ „Nein,“ sagt sie, „wat27-18 soll da liegen?“ „Da liegt Rom—! Rom! Neapel—’s ist ein Katzensprung—also „Annliese avanti!“,27-19 womit der Italiener so viel meint, als wenn der Deutsche „Vorwärts“ sagt. Und schließlich standen wir auf dem Vesuv.27-20 Von dort ging’s27-21 rasch zurück über Venedig27-22 und nun hier herauf nach den Tauern, und da wurden wir festgeschneestöbert.27-23—So, meine Herrschaften, nun wissen Sie Bescheid, wen Sie vor sich haben.“
„Beautiful indeed,“ sagte der Engländer. „Sie haben großes27-24 Mut. Ich sehr lieben Italien.“
Die drei jungen Mädchen waren vor Vergnügen außer sich, also die28-1 hatten Italien gesehen, während sie selbst in Venedig umkehren mußten! Die Frau kam ihnen nun doppelt interessant vor. Sie meinten zwar, man müßte es den Leuten immer am Gesicht ansehen, wenn sie in Italien gewesen,28-2 aber Anneliese sah so rotbackig drein, und ließ es sich so vortrefflich schmecken, und sie merkten nicht das geringste Absonderliche. Nur daß der junge Eheherr ein Spaßvogel war, der in trockenster28-3 Art mit dem fettesten Pinsel malte, das leuchtete ihnen ein.
Die Studenten aber ließen die Köpfe hängen. „Ach,“ sagte der zweite Tenor, „wenn unsereinem so etwas mal28-4 in dem Garten28-5 wüchse! Da lernt man seinen Horatius28-6 und Virgil im finstern Loch28-7 und sieht sein Leben28-8 nichts davon,28-9 nicht einmal einen Italiener, von nahem! Beatus ille!“28-10
Derweilen der Studio so klagte, stimmte der Assessor die Saiten und fing plötzlich mit schöner, tiefer Stimme das Lied zu singen an:
Kennst28-11 du das Land, wo die
Citronen blüh’n, |
Er sang so schön und herzergreifend, daß alles28-13 stille ward.
„Waren Sie schon in Italien?“ fragte der Engländer.
„Ja, ich war schon da, vor29-1 Jahren,“ sagte leise und ernst der Assessor. Er schnitt damit29-2 aber jedes weitere Gespräch ab. Man merkte es ihm am Tone an, daß dort etwas von Bedeutung in seinem Leben geschehen sein mußte, womit er nicht herausrücken wollte.
„Sie haben das Lied so schön gesungen,“ sagte die „Vorsteherin“—„so schön wie ich es nur einstens von einer Freundin gehört. Aber merkwürdig ganz mit demselben Klange und derselben Auffassung. Es ist doch eigen, wie plötzlich Erinnerungen auftauchen, die sich an irgend ein Lied oder Wort oder einen Klang so unzerreißbar heften!“
„Und Ihre Freundin war auch in Italien?“ fragte der Assessor.
„Ja—sie ist ganz dort,“ entgegnete die Dame wehmütig. „Sie schläft unter den Cypressen an der Cestiuspyramide,29-3 auf dem Kirchhofe der Protestanten zu Rom.“
Den Assessor durchzuckte es.29-4 Es29-5 kämpfte in ihm, ob er weiter fragen sollte. Endlich fragte er doch: „In welchem Jahre war es?“
„Es war im29-6 Jahre 18.., am 20. Mai, daß sie entschlafen.“
Der Assessor stützte den Kopf in beide Hände und sprach kein Wort. Alle schauten still und stumm auf ihn,—am meisten betroffen aber war die „Vorsteherin.“ „Ich habe Ihnen doch29-7 nicht wehe gethan?“ sagte sie in weichem, mildem Tone.
Der Assessor schaute sie klar und tief mit feuchten Augen an. „Wohl und wehe zugleich, Fräulein Milla!—denn keine andere sind Sie, wiewohl ich Sie nie gesehen, die treueste Freundin meiner unvergeßlichen Elsa.“—Er reichte ihr die Hand und hielt sie lange fest.
Nun aber war das Erstaunen an ihr. Ihr Auge leuchtete und eine durchsichtige Röte flammte über die schönen Züge. „Sie sind es, Robert?—Und so sehen wir uns30-1 zum ersten Mal in diesem Leben?“
Die andern im Kreise schwiegen. Jeder ehrte den Schmerz, den er doch nicht völlig verstand.
„Sehr merkwürdig,“ sagte der Engländer leise zu den andern. „Bitte, singen Sie ein Lied, das ist das beste für die Wunden.“ Schnell waren die drei Studenten beisammen und sangen mit heller Stimme:
Es30-2 ist bestimmt in Gottes
Rat, |
Als sie geschlossen, stand der Assessor auf, drückte jedem die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen von Herzen. Vergeben Sie mir den Augenblick, wo ich mich verloren habe und Ihnen vielleicht schwach erschienen bin.“ Die „Vorsteherin“ war noch immer still in sich versunken. Endlich brach der Assessor wieder das Schweigen.
„Da Sie so unvermutet Zeugen einer gemeinsamen Erinnerung geworden, so lassen Sie mich Ihnen auch mitteilen, was wir erlebt. Ich darf wohl kurz sein: Es war in meinen Universitätsjahren. Ich war wie Sie, meine Herren, ein fröhlicher Bursche, dem der Himmel voll Baßgeigen31-1 hing. Wir sangen auch, wie Sie, Quartette und weckten die Leute des Morgens31-2 in der Ruhe und des Abends im Schlaf mit unserm Gesang. Da wurden wir eines Tages gebeten, auf einer Hochzeit zu erscheinen und dem jungen Paare zu singen, dafür31-3 sollten wir dann auch mitfeiern. Was thut man nicht als Student, um ein gut Glas Wein zu erjagen? Wir sangen und mischten uns unter die Gäste, die aus allen Himmelsgegenden zusammengeflogen waren. Wir Studenten kamen unter die Brautjungfern zu sitzen. Ich ahnte nicht, daß das die Wendung meines ganzen Lebens werden sollte.31-4 Wir scherzten und sangen; aber mit meiner Nachbarin geriet ich sehr bald ins tiefste Gespräch. Ich hörte und sah nichts mehr als nur sie. Noch nie hatte ein Mensch im31-5 Leben so schnell mich verstanden, und so seelenvoll mit mir verkehrt. Ich war ja31-6 ein Waisenkind, bei fremden Leuten auferzogen, ohne Geschwister, und hatte nie gewußt, was eigentlich ein fühlendes Herz sei. Die Kameraden hatten mich wohl31-7 aus meiner Philisterhaftigkeit und Menschenscheu herausgejagt, aber Zutrauen zu Menschen hatte ich nicht gefaßt. Aber dies Mädchen mit ihrer weichen Stimme, ihren seelenvollen Augen und den geistvollen, blitzenden und doch so warm leuchtenden Gedanken hatte mir eine Welt aufgeschlossen, die ich nicht kannte. Ich wagte es,32-1 ihr von meinem traurigen Leben zu erzählen. Ich weiß nicht, was ich noch alles sagte, mir brannte der Kopf und der Boden unter den Füßen. „Wenn sie nur meine Schwester wäre,“32-2 so dachte ich und sprach es ihr auch aus. Sie schaute mich dabei mit einem wunderbaren Blicke an. Da begann eben der Tanz, ihre Mutter holte sie weg, und sie verlor sich32-3 in den Reihen der Tanzenden. Ich konnte nicht tanzen, aber das Bild verlor sich nicht, ich mußte sie immer mit den Augen verfolgen. Mit einem Male war sie fort,32-4 verschwunden mit ihrer Mutter. Ich hörte, daß sie plötzlich erkrankt sei. Nach dem Tanze mußten wir noch singen; aber ich sang verkehrt, und wir warfen beinahe um. Als die Sache zu Ende war, schlich ich still unter das Fenster des Gasthofes, in welchem sie wohnte; es32-5 war noch Licht oben. Sie war krank, und ich dachte mir gleich das schlimmste. Am folgenden Tage hörte ich, daß sie wirklich schwer vom Typhus erfaßt sei, der wohl in ihr gelegen und den die Aufregung der Hochzeit beschleunigt hatte. Wochen kamen und gingen. Endlich durfte32-6 sie wieder ins Freie. Wir Studenten benutzten den ersten Abend ihrer Genesung, ihr ein Ständchen zu bringen. Stille öffneten sich die Fenster in der lauen Nacht, und unser Gesang tönte hinauf. Die Mutter lud uns mit der Familie, die damals Hochzeit feierte, bald darauf ein. Ich sah Elsa wieder, die Züge waren unverändert, nur die leichte Röte ihrer Wangen erschreckte mich und der starke Glanz in den Augen. Sie reichte mir die Hand und sagte: „Sie haben gewiß das Ständchen mir gebracht.“ Ich wurde rot bis über die Ohren und gestand. Ich sagte noch mehr; ich sagte, wie ich um sie gelitten während dieser Zeit und jeden33-1 Abend stundenlang unten an der Ecke gestanden, um zu sehen, ob das Licht noch brenne.“
„Ja, ja,“ sagte sie, „ich war selbst ein brennend33-2 Licht, das hin-33-3 und herflackerte zwischen Leben und Tod. Merkwürdig! Ihre Lebensgeschichte hat mich oft in den33-4 Fieberphantasieen verfolgt; ich sprach immer von einem Waisenknaben, der mich gebeten hätte,33-5 seine Schwester zu sein. Mutter fragte mich manchmal, wer es denn sei,33-6 aber ich kannte Ihren Namen nicht. Ich habe aber von einer Freundin gehört, die mir erzählte, wie einer von den Sängern jeden Tag da unten gestanden und hinaufgeschaut. Ich dachte, das ist gewiß der „Bruder.“
„Es33-7 flocht sich seit jener Zeit ein inniges Freundschaftsband zwischen uns. Nach ihrer Genesung zog sie mit der Mutter weit weg, aber ich durfte mit ihr korrespondieren. Ich lernte nun mit eisernem Fleiß, um meine Studien33-8 zu vollenden. Ich war nicht unbemittelt, und wenn alles gut ging, so konnte ich ihr nach drei Jahren ein Heim bieten. So arbeitete ich fast über meine Kräfte bei Tag und Nacht. Mein Trost waren Elsas Briefe. Plötzlich blieben diese aus. Ich bekam keine Antwort mehr. Auf meine dringenden Bitten an die Mutter schrieb diese endlich, „der Gesundheitszustand Elsas sei derart,34-1 daß sie jede Aufregung vermeiden müsse.“ Das34-2 warf mich vollends nieder. Ich war ohnehin schon durch übernächtige Arbeiten erschüttert, aber das gab mir den letzten Stoß. Wochenlang lag ich zwischen Leben und Tod. Als ein alter Mensch bin ich vom Bette aufgestanden, da fand ich zwei Briefe—von der Hand dieses Fräuleins hier, einer nahen Freundin Elsas, die34-3 mir Aufschluß gaben. Die Mutter hatte nämlich ihr und ihres Kindes Vermögen bei einem Bankhause verloren. In ihrer Not wandte sie sich an einen Onkel Elsas, der eben so alt wie reich war. Er half auch, aber ließ allmählich seine Absicht auf die Hand Elsas merken. Als er deutlicher damit hervortrat, wehrte sie sich aufs34-4 entschiedenste. Die Mutter sah mit gramvollem34-5 Herzen der Sache zu. Vor Elsa stand die Möglichkeit, durch die reiche Heirat der Mutter zu helfen. Sie liebte mich—aber es deuchte ihr zu lange, bis ich ihr ein Heim bieten könnte, und überhaupt—ich hatte ja doch bisher nur wie ein Bruder zu ihr gestanden. Die Mutter hatte dem Onkel das Geheimnis unserer Liebe unbedacht verraten, und er verbot, als Bedingung seiner weiteren Hilfe, jedes weitere Korrespondieren mit dem jungen Manne. Elsa hatte mir dies durch ihre Freundin schreiben lassen und wartete auf Antwort. Da eben erkrankte ich, und alle meine Briefe blieben uneröffnet bis zu meiner Genesung. Ich öffnete den zweiten Brief, dessen kurzer Inhalt war: Elsa konnte mein Schweigen nicht anders auslegen, als daß ich sie vergessen. Aber sie blieb dennoch fest und standhaft und wollte lieber alle Mittel des Onkels ausschlagen, als einem Manne die Hand geben, den sie nicht liebte. So arbeitete sie denn die Nächte durch,35-1 um ihre Mutter und sich zu erhalten. Aber die zarte Gesundheit fing an zu wanken: der Typhus hatte damals doch eine krankhafte Reizbarkeit der Lunge35-2 zurückgelassen, die35-3 jetzt wieder aufs neue sich Bahn brach. Nach dem Lesen der Briefe wäre35-4 ich fast wieder in Krankheit gesunken, aber es galt ein anderes Leben als das meinige. Ich schrieb der Freundin, mein Vermögen stehe zur Verfügung und schickte sofort eine Summe, um Elsa und ihre Mutter zum Aufenthalte im Süden zu bewegen. Meine Staatsprüfung machte ich halb krank und begehrte nach meiner Anstellung sofort Urlaub, der mir aber verweigert wurde. Ich hielt bei der Mutter um die Hand Elsas an, die derweilen nach Nizza35-5 gegangen. Elsa schrieb die glücklichsten Briefe, ihre Gesundheit stärkte sich von Tag zu Tage. Ich hatte mir endlich Urlaub beim Minister erwirkt. Elsa war nach Florenz35-6 gegangen, in Rom wollten wir uns treffen. Ich eilte über die Alpen, kam in Rom an und flog zum „Hotel Minerva“. Das Stubenmädchen, das35-7 mich melden sollte, schaute mich groß35-8 an und sagte: „Sind Sie ein Doktor? Signora35-9 ist sehr krank, o sehr krank!“ Ich öffnete bebenden Herzens35-10 die Thüre. Ein Nachtlicht brannte durch die dämmerige Stube. „Ist Robert noch nicht da?“35-11 hörte ich eine weiche, sanfte Stimme fragen. Ich fühlte mein Herz hörbar schlagen und winkte der Mutter. „O er ist gewiß da, ich fühl’ es,“ sagte die Kranke. So trat ich ans Bett. Ja, da lag sie, eine sterbende Blume. Tags zuvor hatte sie einen heftigen Blutsturz gehabt, der ihr die letzte Kraft nahm.—Erlassen Sie mir, das Wiedersehen zu beschreiben. Elsas Leben flammte noch einmal auf. Sie hatte sich soweit erholt, daß sie mit uns vor die Thore Roms fahren konnte. Wir kamen an der Cestiuspyramide am Monte Testaccio36-1 vorbei. „Eine Pyramide,“ rief sie leuchtend,36-2 „laß uns zur Pyramide fahren!“ Wir bogen ein. Es war schon Abend. „Ach da ist ja ein Kirchhof,“ sagte sie leise. „Wer wird da begraben unter diesen schönen Cypressen?“—„Die deutschen36-3 Ketzer,“ sagte unser Vetturin, „die nicht an Madonna glauben.“ Elsa war still geworden. Ich wickelte sie fester in den Plaid, da es sehr kalt wurde. Wir fuhren nach dem Gasthof. In der Nacht überfiel sie ein zweiter Blutsturz, sie schaute mich mit einem großen, langen Blick an, dann umschlang sie meinen Hals und sagte: „Leb wohl, mein guter Bruder, mein—“ da stockte ihr Atem, das Leben war entflohen.“
Nach einer Weile fuhr der Assessor fort: „Zwei Tage darauf haben wir sie unter den Cypressen dort begraben, sie—und mein Leben mit ihr. Achtzehn Jahre sind darüber hin.36-4—Ich habe mich fern vom Treiben der Menschen still in den bayrischen Wald geflüchtet und über der Arbeit wohl36-5 mich, aber nicht meine Elsa vergessen. Der Aktenstaub hat sich mir übers Herz gelagert, und ich bin nachgerade beim philisterhaften Junggesellen angelangt. Mir37-1 ist aber, als wäre ich heute von einem langen Schlafe und schweren Traume erwacht. Fräulein Milla, Sie sind schuld, und Sie, meine Herren, mit ihren Liedern. Wissen Sie, wohin ich möchte?37-2 Nach Rom zur Cestiuspyramide; nur eine37-3 Stunde will ich dort unter den Cypressen ruhen und dann wieder heim37-4 zum Landgericht in meine Klause und zu der alten Lena, die so oft die Pyramide im Bilde beschaut und mich fragt, ob das auch eine Kirche sei.“—
Der Assessor schwieg. Der treuherzige, zweite Tenor schlang den Arm um ihn und sagte ihm als Trost ins Ohr: „Ich bin auch ein Waisenkind!“
Fräulein Milla, die „Vorsteherin“, war noch ganz in ihre Gedanken verloren, die Vergangenheit zog an ihr vorüber. Sie hatte die Todesnachricht ihrer Freundin von Roberts Hand empfangen, dann aber nichts mehr gehört, da die Mutter Elsas aus Gram ihre Tochter nicht lange überlebte.
Das Reden wurde ihr37-5 offenbar schwer. Zuletzt aber faßte sie sich und sagte: „Finden Sie keine Ähnlichkeit unter diesen Mädchen mit Ihrer Elsa? Schauen Sie sie37-6 einmal37-7 recht37-8 an!“
Der Assessor sagte: „Ja, die eine fiel mir schon lange auf, aber ich traute doch nicht ganz meinem Urteil.“
„Nun ja, sie sind nicht aus der Art geschlagen. Sie wissen, daß Elsa einen Bruder hatte, der nach dem Tode der Mutter in unserm Hause erzogen wurde. Er heiratete später meine jüngste Schwester, und das37-9 sind ihre Kinder. Sie hielten mich wohl38-1 alle, meine Herren, für eine gestrenge Institutsdame! Ich bin es nicht, wir haben uns nur fremden Leuten gegenüber die Maske auferlegt, um unbelästigt durchzukommen. Ich bin die Tante der Kinder.“
Jetzt ging auch den Studios ein Licht38-2 auf, und sie begriffen die heitere38-3 „Vorsteherin“. Es war derweilen Mitternacht geworden. Der Engländer saß tief versunken da. Die Geschichte hatte ihn wunderbar getroffen, er redete kein Wort mehr, sondern stand auf und verbeugte sich artig gegen die Damen, schüttelte aber dem Assessor warm die Hand, als wäre er sein bester Freund. Den Studenten dankte er für den Gesang und rief seinen James.
„James—du räumst38-4 unsere Stube aus, daß die Damen da schlafen können. Wir werden das Stroh suchen.“
Trotz aller Gegenvorstellungen von Seiten Fräulein Millas blieb’s38-5 dabei.
Die Eingeborenen hatten schon längst ihr Lager gesucht.
Draußen war’s stille geworden, das Schneetreiben hatte sich gelegt.
Die Studenten schliefen bald den gesunden Jugendschlaf, aber der Assessor blickte noch lange hinaus in die mondhelle, glänzende Nacht und über das große Leichentuch, das der Schnee über die Matten und Bergspitzen geworfen.
Der Tag graute. Die Führer waren früh auf, um dem Wetter nachzuspüren und den Schnee zu prüfen. Mit einiger Vorsicht konnte man es schon wagen, weiter zu ziehen. Der Assessor war schon munter und wartete auf Fräulein Milla, sie hatten sich39-1 ja noch so viel zu sagen! Milla erschloß ihr Herz dem vereinsamten Freunde ihrer Elsa, und ihm war39-2 es, wie wenn ein lang verhaltener Strom endlich sich Bahn brechen durfte.
Die Studenten zählten indessen „die Häupter39-3 ihrer Lieben,“ d. h.39-4 ihre Gulden und Kreuzer und addierten und subtrahierten die Zeche. Da trat auch der Engländer herein. Die drei grüßten ihn freundlich.
„Nun wohin?“39-5—fragte er.
„Wohin?—heim, wo wir hergekommen. Wir werden noch ein Konzert veranstalten, ehe wir diesen Platz verlassen.“
„O nein,“ sagte der Engländer, „Sie sollen nicht heim, Sie sollen sehen Italien mit mir, wenn Sie wollen, und mir dann und wann ein Lied singen.“
Die Studenten wußten nicht, wie ihnen geschah.
„Mr. Brown,“ sagte der zweite Tenor, „das ist sehr edel von Ihnen, aber zu teuer für Sie, denn wir sind allesamt mit einem guten Magen behaftet.“
„Das ist gerade sehr schön, das liebt Mr. Brown sehr. Ich gehe nach Oberitalien,39-6 und Sie begleiten mich, und James und wir werden viele Freude haben. Topp—eingeschlagen!“39-7
Die drei schlugen herzhaft ein. Über das schöne Gesicht des Engländers zog ein Schimmer der Verklärung. So hatten sie ihn noch nicht gesehen.
Die Führer mahnten zum Aufbruch. Der alte Gemsbart40-1 nahm das Ränzel des Assessors.
Der junge Eheherr zog mit seiner Frau und den Damen abwärts der Ebene zu,40-2 die andern hinab nach Italien. Man hatte sich gegenseitig die Namen und Adressen mitgeteilt, und alle schieden, indem40-3 sie das Schneetreiben segneten, das sie zusammengeweht. Der Tauernwirt sandte allen noch einen hellen Juchzer nach, denn Mr. Brown hatte ihm seinen40-4 guten Kaiser Franz Joseph40-5 in Gold als Extrageschenk zurückgelassen. — — —
Der Verfasser könnte nun hier schließen, aber die geneigte Leserin ist neugierig, und möchte für ihr Leben40-6 gern wissen, wie das schließlich noch geendet hat. Darum will er noch ein paar Worte hinzufügen:
An einem schönen Tag, das Jahr darauf, klopft’s40-7 am Niederrhein bei40-8 dem jungen Eheherrn, als er gerade seinen kleinen Schreihals herumtrug. „Annlies! avanti!“ riefen draußen zwei Stimmen. Dem Eheherrn wird’s40-9 ganz italienisch zu Mut, und er ruft: „Entrate pure!“40-10—d. h. „als40-11 herein!“ Da stehen zwei vor ihm und schauen ihn an. „Nun—wer sind wir?“ fragen sie.
Der Eheherr aber rief in die Küche: „Annlies! avanti!“—ein Hochzeitspaar!“ „Milla!“ rief die junge Frau—„seid41-1 Ihr’s?“ Ja, da standen sie, der Assessor und seine Frau. Sie waren auf der Hochzeitsreise und wollten41-2 zur Cestiuspyramide.
Der Assessor war damals bald umgekehrt, denn ihn trieb ein anderer Gedanke nach Hause. Er war durch jenen Abend dem Leben zurückgegeben und hatte Milla seine Hand gereicht. Alles wanderte41-3 fort, Blasenpflaster, Opodeldoc und Storchfetttopf, und Milla sah aus, wie41-4 wenn sie eben in die Zwanzig gekommen. Was die alte Lena dazu gesagt, wird billig verschwiegen.—
Der zweite Tenor ist41-5 schon lange ein würdiger Pfarrherr. In seinem Hause ist’s41-6 behaglich englisch41-7 eingerichtet. Am Abend brummt der Theekessel, und der Pfarrherr raucht vom feinsten41-8 dazu.41-9 Zu seiner Seite sitzt ein munteres Weibchen immer vergnügt und heiter;—sie heißt Elsa mit Vornamen, die kluge unter den drei Schwestern. Bei ihrer Hochzeit war Mr. Brown der Brautführer und Milla die Brautmutter. Die andern zwei Studenten waren die Ehrgesellen dabei, und der Assessor, der längst schon ein angesehener Landgerichtsrat ist, gab ihnen den Rat, seinem41-10 Beispiele baldigst zu folgen. An der Hochzeitstafel klang41-11 „Ännchen von Tharau“ noch einmal; aber Mr. Brown wußte jetzt, was „Verknotigung“ war.