Project Gutenberg's In Purpurner Finsterniß, by Michael Georg Conrad This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: In Purpurner Finsterniß Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert Author: Michael Georg Conrad Release Date: April 29, 2012 [EBook #39565] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK IN PURPURNER FINSTERNIß *** Produced by Jens Sadowski
Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.
Verlag von C. F. Tiefenbach
Separat-Conto
Leipzig.
Meinem genialen Kameraden
Juliane Déry
Grege wußte, daß kein Abmahnen fruchtete, wenn Jala ihren Willen durchsetzen wollte.
Wie tief und schmerzlich seine Wunde am Fuß, hatte er ihr verheimlicht. Immer noch sickerte Blut durch den leichten Verband. Als er die Tropfen mit dem Finger wegstrich, griff Jala nach seiner Hand, so daß an der ihrigen, an der inneren Fläche zwischen Daumen und Zeigefinger, ein rothes Blutzeichen haften blieb. Lächelnd besah es Grege, es hatte die Form eines Sterns.
— Also Du ziehst voraus, meine süße Hoffnung?
— Ja, Grege. Ich bin voll Unruhe. Und wenn ich vorzeitig raste, schwinden meine Kräfte. Kann ich irren?
— Nicht leicht, Jala. Geradeaus im versandeten Kanalbett, bis in die Dünen, die wir noch in der Nacht erreichen. Du hast die frische Brise, vom Meer herüber, immer im Gesicht. Verlaß Dich darauf. Bis die Luft wechselt, bin ich Dir wieder nahe. Ich muß, muß mich jetzt eine Weile schonen, meiner Wunde wegen.
— Schmerzt Dich die Wunde? Warum läßt Du sie mich nicht befühlen?
— Es ist nicht viel, Jala. Sie heilt, wenn ich kurze Rast halte.
— Du bist so voll Kraft und Gesundheit, mein Held. Und wir wachsen in der herrlichen Einsamkeit. Ich hätte mich nie so stark geglaubt, als in dieser Bewegung, die mich beschwingt.
— Es ist eine Flucht, Jala.
— Nie mehr zurück, nie mehr! Hinaus in unsere Welt, in unser freies Himmelreich! Säume nicht zu lange, Grege, laß Deine Jala nicht zu lange ohne Dich! Hast Du nirgends etwas wahrgenommen mit Deinem scharfen Blick, das uns bedrohen könnte?
— Nirgends. Die Luft ist vollkommen rein. O, ich muß lachen, weißt Du. Sie haben sich selbst des Mittels zu unserer Verfolgung beraubt, unsere Oberweisen von Teuta, seit sie die Luftfahrt verboten und alle Schwinggondeln in ihrem Lande zerstört. Und die Wege, die wir auf ebener Erde durch die Wüsteneien ihrer Grenze gegangen, sind der Lahmheit ihrer Häscher verschlossen. Weit, weit liegt jetzt Teuta mit seiner unterirdischen Herrlichkeit hinter uns. Kaspe, ihr wortreicher Oberrichter, ist langsamer in Entschlüssen und Bewegungen, als eine Schnecke, und Ao, ihr Oberpriester, schläft und verdaut.
— Du nennst nur Ao und Kaspe. Vergiß nicht, daß noch ein Dritter im hohen Rathe sitzt.
— Ach, Minus meinst Du? Der Dich einmal mit widerlichen Anträgen belästigte? Den hat nur Dein Anblick entzündet. Wenn Du aus seinen Augen bist, bist Du ihm auch aus den Sinnen. Der ist kein Verfolger. Der findet andere Ablenkungen. Ein schwacher Querkopf, dem es genügt, wenn er nichts Anderes haben kann, den heiligen Wortschatz von Teuta hüten zu helfen. Nein, dieser hohe Oberlehrer von Teuta wird uns nicht gefährlich. Ich kenne ihn. Er hat mich einst unterrichtet.
— Du beschwichtigst mich, Grege, dennoch bin ich voll Unruhe.
Sein Auge umfing ihren jugendlich-kräftigen Leib mit einem tiefen zärtlichen Blick.
— Die hat andere Ursache, süßes Weib.
— Also folg’ mir bald, Grege.
Dann reichte er ihr noch eine Handvoll Surro in die Tasche, ein Zehrungsmittel seiner eigenen Erfindung, das in Nußgröße die Kraft des Brodes und Weines und die labende Frische der Quelle barg, und ließ sie ziehen.
Er wußte, wie wohl und sicher ihr war, wenn sie uneingeschränkt ihren Willen hatte. Er wußte auch, daß in ihrer Einsamkeit seine Seele mit ihr war.
So legte er sich zur Ruhe nieder. Die Augen fielen ihm zu, das Bild der Wandernden einschließend. Er entschlummerte. Ein lebhaftes Jucken seiner Wunde erweckte ihn, er mußte doch eine geraume Zeit durchschlafen haben.
— Jala wird sich um mich bangen. Ach, die weite Landschaft, endlos! Aber er war so schlaftrunken und in seinen Gliedern erschlafft, daß er sich nicht zu erheben vermochte. Nein, sie hatte recht, Ruhe thut nicht gut. Er wird sich jetzt doppelt anstrengen müssen, sie einzuholen. Wer weiß, wie groß der Vorsprung ist, den sie bei der ausdauernden Stetigkeit ihres Schrittes vor ihm gewonnen, die rastlose Pilgerin.
Und in Gedanken malte er sich ihr einsames Dahinschreiten aus, ihre hoheitsvolle Haltung in der grenzenlosen Schweigsamkeit dieser unendlichen, sonnenhellen, weißen Landschaft mit der hochgewölbten Himmelskuppel. Eine schwebende Seele, die nur im Banne des Leibes mit der Fußsohle die Erde berührt. Die verkörperte Sehnsucht nach den höchsten Räthseln des Lebens und deren eigenpersönlichster Lösung. Eine wandelnde Flamme mit eigenem Gluthherd, aus sich selbst ihre Nahrung schöpfend zu immer stärkerem Glanze, unfaßbar allem Gemeinen.
— Jala, Jala, ich verbrenne an der Sehnsucht nach Deiner Schönheit, wenn ich länger säume.
Und er schnellte auf, schwang seinen Stab hoch und zwang sich, mit schmerzendem Fuße ihren Spuren zu folgen.
Er erinnerte sich genau aus alten Schilderungen, durch welche seltsamen Gegenden ihn jetzt sein Schicksal führte, die große Befreiung.
Alles in der Welt war seither ein Abstreifen, ein Tiefer-Zwingen, ein Unterdieerdebringen.
Was lag rings unter dem Sande gebettet? Städteleichen über Städteleichen. Für blühende Gemeinwesen haben sie sich gehalten, und ihre Blüthe war eine Wurzelfäule. Ihr Aufstreben war ein maskirter Niedergang. Eine Kraft schlug die andere, eine Kraft fraß die andere. So wurde immer weniger Kraft, bis sich Alles in platte Gleichheit und Unkraft wandelte und unter den Erdboden kroch. Ein unterirdisches Geschlecht. Ein naturscheues Geschlecht. Was übrig geblieben war von alten Kulturen, Künsten und Herrlichkeiten, eine Kuriosität für die Gaffer, ein Hohnlachen für die Wissenden, ein Spott für die Langeweile der Feiertage.
Aber ihr Gewimmel giebt ihnen die erstickende Macht. Ihre Vielzahl erdrückt den Einzelnen. Da winde sich Einer heraus, wenn ihm Hunderte gleich an den Beinen und Armen hängen!
— Jala, Du freilich bist ein solches Wunder! Du schreitest über Köpfe und Tröpfe weg. Du hast auch mich schreiten gelehrt. Was haben diese Nichtse aus Niemandsland und Niemandsgeschlecht aus mir gemacht, dem Sprossen alter Könige? Heiliger Gott Bimbam, ist’s denn glaublich? Und erst eine Blinde mußte mir die Augen öffnen? Ein Kind Ao’s, des frommen Komödianten, mußte mir Ernst beibringen und Selbstachtung? So oder so, jetzt stell’ ich meinen Mann.
Er vergaß seiner Wunde und der endlos sich dehnenden Länge des gleichförmigen Weges in diesen bald stillen, bald lauten Selbstgesprächen. Er zog die leichte Kapuze tiefer in’s Gesicht, die Sonnenstrahlen abzuwehren, die mit den Reflexen der Sandfläche sich verbündeten, ihn desto heißer zu stechen.
Ermüdet ließ er endlich den Kopf sinken, schloß die Augen und tastete sich mit dem Stabe weiter. Sollte er’s besser haben als Jala, sein Weib, die blinde Seherin? Ueberwindet sie nicht alles Ungemach im Purpurglanze der Finsterniß, im hellen Muthe des Alleinseins, die starke Pilgerin?
Greges Ohren summten.
Er blieb plötzlich stehen. Er bog sich nieder und befühlte seine Wunde an der Ferse. Kein Blut mehr. Aber in den Zehen und in der Wade fühlte er schmerzenden Krampf von dem ungleichmäßigen Auftreten. Instinktiv war er die lange Zeit her nicht mit der ganzen Sohle des wehen Fußes, sondern nur mit den Zehen aufgetreten. Er hinkte.
Hörte er nicht eine Stimme? Wer rief?
Er fuhr auf, spähte geradeaus, lauschend. Es war nicht Jala’s Ton.
Er schlug die Kapuze zurück, wendete sich betroffen um.
Zwei Männer entstiegen ihrem Luftschiff, einer altmodischen Schwinggondel, zweimal Stabeslänge kaum, hinter ihm.
Es durchzuckte ihn.
Fremdlinge zum Glück, ganz offenbar, ihrer Tracht nach. Also wenigstens keine Häscher aus Teuta.
— Wer bist du, Hinkender? Wohin des Weges in dieser Wüste?
Das gab ihm die Fassung wieder. Er stützte sich auf seinen Stab und blickte die Fragenden scharf an.
Hochaufgeschossene Gesellen mit schlanken Knochen, durchgearbeiteten Muskeln und Sehnen, keine Spur von Fett, mit blonden Bärten, kalten, festen Augen mit herrischem, unerbittlichem Blick gleich Stoßvögeln.
Er antwortete nicht. Mit vorgestrecktem Arm machte er eine abweisende Bewegung in dem Sinne: Was kümmert’s Euch? Laßt mich! Ich will nichts mit Euch zu schaffen haben.
— Ist Dein Mund so krank wie Dein Fuß? Hinkt auch Deine Zunge?
Und sie lachten kalt.
Der Eine näherte sich ihm, während der Andere mit dem Fuße den Anker, mit der Hand das Steuer der Schwinggondel festhielt.
— Du kannst mit uns ziehn. Unser Fahrzeug trägt drei.
Das sprach der Aeltere. Genau hingesehen, hatte er nicht ein Gesicht wie ein Todtenkopf? Wahrhaftig. Und wie er grinste! Hing sein Bart nicht leblos, wie angeklebt?
— Du gehst in die Irre, scheint es, wir bringen Dich zurück.
— Du kannst uns von Nutzen sein, wenn Du gefällig den Mund öffnen willst. Wir grüßen Dich!
Aber es klang nicht wie Gruß.
Grege biß die Zähne zusammen, ärgerlich, daß er nicht schnell den rechten Entschluß fand. Wie würde Jala handeln?
Da lachte er auf: — Ich erwidere Euren Gruß. Nun laßt mich in Frieden. Ich suche mein Weib.
Er stieß seinen Stab auf und wollte sich zum Gehen wenden.
— Er sucht sein Weib in dieser Wüstenei! lachten jetzt die Fremden.
Sie wechselten rasch verständige Blicke. Sein Weib? Wäre das auch mitzufangen? Eine doppelte Beute? Das Fahrzeug hat Raum und Tragkraft auch für vier. Oder macht er nur Flausen? Fragt sich überdieß, ob das Weib nicht eine Katze, die schwer zu bändigen. Sicher ist sicher. Schließlich ist der Teutamann doch die Hauptsache.
Nach wenigen Schritten fühlte sich Grege angehalten. Der eine Fremde, der jüngere vertrat ihm den Weg.
— Höre, Mann aus Teuta!
— Woher weißt Du das?
— Ferner sind alle bewohnten Länder. In deinem Zustande kann man nur aus dem nächsten kommen. Auch Dein Gebahren deutet darauf und Dein bartloses Gesicht. Nur in Teutas Land ist die Gleichheit so strenges Gesetz, daß sich Keiner den Bart darf sprossen lassen. Alle sind dem gleichen Willen unterthan, bartlos zu gehen mit glattgeschabtem Gesicht.
— So sieh’ doch, jetzt sproßt mir der Bart. Ich habe nichts mehr mit der glatten Gleichheit Teutas zu schaffen. Und ich eile meinem Weibe nach. In Teuta sind die Weiber Allen gemeinsam. Keiner darf dort der Ausnahme sich rühmen, eines eigenen Weibes eigener Mann zu sein länger, als die Zeit der Begattung währt.
— Köstlich, wie du Bescheid weißt!
— Gut, ich habe Dir, dem Fremden, meine Sache gesagt. Nun hindere mich nicht länger.
— Willst du Gewalt gegen unsere Wißbegierde brauchen? Setz’ Dich zu uns und belehre uns. Wir sind Forscher. Wir ziehen auf Kundschaft aus nach seltenen Sitten. Du hast eine geläufige Zunge und einen lahmenden Fuß. Dein Fuß kann in unserem Fahrzeug ruhen, Deine Zunge sich behaglich in Allem ergehen, was uns wissenswerth. Du bist uns ein guter Fund.
— Aus welchem Lande kommst Du, daß Du eine solche Sprache zu mir, dem Freien, wagst?
— Angelos sind wir, wie Du bald erfahren sollst, und Du — ein Freier gewesen.
Nach kurzem Ringen war Grege überwältigt, gefesselt und in die Gondel gelegt.
Im Nu stieg das Fahrzeug in die Luft wie ein Geier.
Die Winde schliefen. Kein Laut in der Luft. Müdes Flimmerlicht.
Was am warmen Boden knisterte, war der feinkörnige Sand, unter Jalas Sandalen, so oft sie den Fuß hob und senkte in wachsender Ermüdung. Es waren keine Schritte mehr. Die Gelenke zitterten vor Ueberanstrengung.
Jala war heute mehr Meilen gewandert, als gestern und ehegestern, von jagender Sehnsucht gepeinigt, endlich an’s Ziel zu gelangen.
Grege, der Getreue, warum war er um Hochmittag zurückgeblieben? Bis zum Abend versprach er sie einzuholen, wenn er seine Wunde gepflegt. Jala konnte ja des Weges nicht fehlen, in der geraden Linie des übersandeten Kanales mit der leichten dünenartigen Böschung auf beiden Seiten. War das nicht seine feste Meinung?
Nun kam ihr doch der Gedanke, sie möchte irre gegangen sein. Ihr tastender Stab fühlte keinerlei Erhöhung mehr am Wege.
Jala hielt an, lauschend, den Kopf zurückgelegt, das Gesicht in der Richtung der scheidenden Sonne, die Lider tief über den blinden Augensternen. Keines Dinges wurden ihre Sinne im Verweilen inne, außer ihrer brechenden Müdigkeit.
So beschloß sie, zu rasten, bevor volle Erschöpfung sie zwänge, und Grege’s, des Getreuen, zu harren.
Ausgestreckt, in seitlicher Lage, die aufeinandergepreßten Handflächen unter die linke Wange geschoben, ruhte sie am Wege, wie entseelt.
Auf ihre Schulter senkte sich, leicht wie ein Hauch, mit bebenden Flügeln ein gelber Schmetterling.
— Wenn Grege jetzt mich so fände, seine muthige Jala! dachte sie. Dann verwehte ihr Bewußtsein, bis sich’s wieder verdichtete im Traum.
Ihr lichtgraues Wanderkleid, überstaubt, hatte die Farbe des Sandbodens, ihr aschblondes Haar, in ungeordneten Locken aus der Kapuze hervorquillend, die Farbe der verdorrten Gräser und Halme.
Das Gesicht, sonst mattweiß, hatte auf der langen Wanderung in freier Luft und Sonne sich ins Bernsteinfarbige gedunkelt. Um die weichen Umrisse der Nase, des Mundes und des Kinns wie über die geschmeidige Fläche der Wange schwebte ein Lächeln der Ergebenheit jungheißer Leibeslust in den leidvollen Sieg der Seele, gemischt mit der Erinnerung an die tiefwühlenden, schauerlich-süßen Wonnen, die sie im Zauber ihrer ersten wildfreien, sich selbstbejahenden Liebe genossen.
Immer tiefer, immer inniger schien der ausgestreckt rastende Körper in den warmen Boden zu versinken, abgeflacht zu Schemen und Schatten.
Wie eine große, selige Mattigkeit war die Dämmerung über die Welt gekommen, wie ein tiefausholendes Verschwingen in langen, lauen Rhythmen.
Am Horizonte das Meer in weingelben Streifen, veilchenblau geädert, letzte, verklingende Liebkosung aus der strahlenfeurigen Zärtlichkeit der versunkenen Sonne.
Jala sah es im Traum, ganz so. Und ihr Herz erfüllte es wie heiliger Rausch beim Kusse des Geliebten. Und wie von stummer Musik getragen, schwebte sie mit Grege im lichten Gefilde, zwischen feierlichen Sonnenblumen, um deren hohe Stengel zierliche Schlingrosen rankten, in süßen Düften die seidenweiche Luft gebadet.
Nun sah sie dies: Heilig, aus nächtiger Finsterniß tauchend, die Insel, das Ziel der Pilgerschaft, die Heimath, das freie, ungetrübte Glück, Grege’s Himmelreich und das ihre.
Ausland und Fremde war ihr die weite, feste Erde gewesen, wo die Vielzuvielen und Zusammenhängenden wohnen, der dichte, drückende Schwarm der Gleichmäßigen, die traurigen Völker, verblödet im Glück des Niemalsunglücklichseins und des stumpfgewordenen Willens.
Nie, seit sie wußte, hatte sie sich Mensch mit solchen Menschen gefühlt.
Wie war das gekommen, daß sie anders war? Ein Trotz für sich und ein Widerspruch allen Anderen? Ein drohendes Aufbäumen in ihrem Fürsichsein und eine beständige Gefahr? Ein Verdacht, der zur herrischen Ueberzeugung wuchs, daß die Ordnung rings nur ein feiges Elend sei, dem ein Held erstehen müsse, der Alles erlöse, indem er Alles aus den Fugen schlägt? Und sie die Heldin des Helden?
Wie war das gekommen?
War’s eine verborgene Erbschaft aus ihrem Stammlande Friska, die jetzt in gesammelter Kraft aus ihrem stillen Herzensschrein hervorbrach, ihre Gedanken zu feurigen Pfeilen spitzte, ihre Empfindungen mit sprengenden Elementen lud?
Oft hatte Jala nach Zeichen gesucht, sich’s zu deuten in gegenständlichen Bildern, da die erklärenden Worte versagten.
War es ihre Blindheit, darin sie das neue Sehen fand?
War das eine Deutung, daß in jener Sturmnacht des jauchzenden Frühlings, als die Reife des Weibes im Wunder der Liebe ihren Leib verwandelte, das Licht aus ihren Augen floh und die Seele so hellsichtig wurde, als schwämme sie in Blitzen?
Schuf Grege, der Heiße, Treue, Unvergleichliche, den Unterschied zur dauernden Gestalt, daraus die neue Menschheit wachsen mußte? Konnte sie darum nimmer von ihm lassen?
— Auf der Insel die Erfüllung! seufzte Jala im Traume.
So verging die Zeit.
Plötzlich erwachte Jala in süßer Erschütterung.
Langsam richtete sich ihr Oberleib vom Boden auf.
— Nicht versinken, nicht unter die Erde! In die Höhe! Grege! Grege!
Was war das Alles? Was?
Ihre Hand tastete nach dem Stabe. Sie zog sich daran empor, sie straffte ihren Körper zu voller Höhe. Fremd. Allein.
— Grege! Grege!
Es war ein Nothschrei aus tiefster Seele. Ein Schrei in’s Leere.
Das schwarze Schweigen der Nacht verschlang ihre Stimme.
Kaspe und Ao saßen in ihrem geheimsten Berathungssaal, dreißig Klafter tiefer, als die übrigen Amtsstuben, unter der gemeinen Erde.
Es war ein weiter, magisch erleuchteter und wie ein Treibhaus durchwärmter Raum, zeltartig mit Teppichen und seidenen Geweben ausgekleidet, so daß keine Wand zu sehen. Von der Decke hingen Reihen verschiedenfarbiger Schnüre für die Luft-, Licht- und Tonleitungen. Die Mitte nahm ein kleiner runder Tisch ein mit dem Tastwerk und dem Spiegel.
Der oberste Diplomat von Teuta, Titschi und sein junger Gehilfe Soundso hielten ihnen abwechselnd den Wochenvortrag.
Ein Theil war nunmehr erledigt, der auf die allgemeinmenschliche Stimmung der Teutaleute bezügliche.
— Alle satt? fragte Ao, der dicke Oberpriester, sich auf dem fahrstuhlähnlichen Polstersitz streckend.
— Alle ruhig? fragte Kaspe, der schmächtige Oberrichter.
— Alle satt und ruhig, antwortete Titschi mit verbindlichem Lächeln.
— Also Alle glücklich, nickte Ao.
— Wie üblich, bestätigte Kaspe.
— Ist es Euch, Hoheiten, nicht um einen Zehntel Grad zu warm? fragte Soundso. Ich meine, es müßte uns um einen Zehntel Grad zu warm sein.
Ao drehte den Ring an seinem kleinen Finger der linken Hand, die mit einem feinen Faden umwickelt war, der magnetische Apparat spielte, mit einem zarten Ton entwich das Zehntel überschüssiger Wärme durch die Temperaturorgel.
Alle nickten. Soundsos Hautempfindung war unfehlbar.
— Ist es Euch, Hoheiten, nicht um eine Zehntausendstel Kerze zu hell? fragte wieder Soundso. Ich meine, es müßte uns um eine Zehntausendstel Kerze zu hell sein.
Alle stimmten bei.
Ao berührte den Ring an seinem kleinen Finger der rechten Hand, der Apparat spielte, mit einem feinen Duft kam die gewünschte Milderung der Helligkeit in den Raum. Die Talare der hohen Räthe schimmerten um die Idee einer Schattirung tiefer in ihrem purpurnen Seidenglanz. Der goldgelbe Ton der Zeltgewebe und Tücher stumpfte sich um ein kaum Merkliches. Aber die hohen Räthe empfanden die schwache Veränderung als eine Mehrung ihrer sinnlichen Behaglichkeit.
— Die Abschaffung sämmtlicher Luftfahrzeuge für das gemeine Volk hat sich bewährt? fragte Kaspe mit zirpender Stimme. Es finden keinerlei Entweichungen mehr nach oben statt, die Teutaleute halten sich zufrieden am Rücken der Erde? Es wurde keinerlei Verunreinigung der Luft durch Schwinggondeln mit Flüchtigen und Durchbrennern bemerkt?
— Die Luft ist vollkommen geschlossen, erwiderte Titschi, seine etwas geknickte Gestalt erhebend.
— Freiheit und Gleichheit herrschen im Lande innerhalb der Grenzen der gemeinen Wohlfahrt. Ungetrübt ist das gemeine Glück, dank der Idealität unserer Zustände. Gott und sein Volk sind das A und das O, und ich bin, durch beider Willen, ihrer frommen Fürsorge treuer Knecht, so lange ich im geheiligten Amte stehe — sprach der Oberpriester in schläfriger Feierlichkeit.
— Ja, Hoheit, Deiner Tugenden Lohn ist Allen sichtbar, Du verdaust gut, Du schläfst gut. Dem Volke Gottes kann es an nichts mangeln, betheuerte im weichsten Ton Titschi, der oberste Diplomat.
— Wie war das Ergebniß der letzten Zeugungsperiode? nahm Kaspe das Wort.
Titschi rieb sich die feine Schnüffelnase. Er blätterte in einem winzigen Notizbuche, das mit allerlei krausen Abbreviaturen vollgekritzelt war.
Abtheilung I zwischen Fünfzehn und Fünfundzwanzig sehr gut, Abtheilung II zwischen Achtundzwanzig und Fünfunddreißig gut, Abtheilung III zwischen Vierzig und Fünfundvierzig mäßig, Abtheilung IV zwischen Achtundvierzig und Fünfzig gut, Abtheilung V Rest ungenügend.
— Wir werden uns mit dem Oberphysikus benehmen müssen. Vielleicht, daß er eine Abkürzung der Schonperioden gutheißt und eine Erweiterung der Abtheilungen nach unten und oben vorschlägt, lallte Ao schlafsüchtig.
— Nach oben, das wird wenig nützen, bemerkte Soundso mit pfiffiger Miene, es liegt in der Natur, daß die Leute mit der Zeit flau und bequem werden und sogar angenehmeren Pflichten sich entschlagen.
Soundso hatte sich diesmal verschnappt. Niemand nickte.
Das riß Ao aus seiner Schlummerstimmung.
— Natur? rief er merklich überrascht, beinahe vorwurfsvoll, was hat in Teuta die Natur zu sagen? Ich schaudere schon vor dem Wort zurück. Größe und Glück unseres Teutalandes, seine Einzigkeit und sein Ruhm begründen sich darauf, daß wir über die Natur hinaus sind, seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden. Alles ist Mechanik und Mystik. Damit stehen und fallen wir. Das ist unser Lebensgeheimniß. Das ist unsere Macht. Mechanik und Mystik, das sind die beiden Pole unseres Staates, um den uns die Welt beneidet. Soundso, ich rufe Dich zur Ordnung. So lange ich hier meines Amtes walte, ich, Ao, will ich das Wort Natur in diesem Zusammenhange nicht mehr hören. Hüte Deine Lippen, Soundso. Auch Deine Werthung der Pflichten, nach ihrer größeren oder geringeren Annehmlichkeit, ist Ketzerei, wenn man der Sache auf den Grund geht. Du bist gewarnt.
Alle stutzten. So lebhaft hatten sie den würdevollen Ao schon lange nicht mehr gesehen.
— Das macht die Jugendlichkeit meines vortrefflichen Gehilfen, daß er sich so verschnappt hat, beschwichtigte Titschi, mit einem mahnenden Zwinkerblick auf Soundso.
Der junge Diplomat hatte sofort die gefügigste Lammsmiene aufgesteckt, als hätte er nie das kleinste Wässerchen getrübt.
Titschi fuhr im trockensachlichen Tone fort: Ja, Hoheiten, der Oberphysikus wird uns Bescheid sagen. Inzwischen will ich feststellen, daß keinerlei ernste Gefahr im Verzuge ist.
Nun zirpte auch Kaspe: Der Bevölkerungsrückgang ist durchaus normal und giebt zu keinen Befürchtungen Anlaß, so lange wir in der Lage sind — und wir sind es, wie seit fünfzig Jahren stets — den Slavakos die festgesetzte Zahl an jungem Tauschvolk alljährlich und pünktlich gegen die Einlieferung der bedungenen Nahrungsfrüchte zu liefern. Wir können sogar, bei der nächsten Erneuerung des Vertrages, mit der Schätzung unserer Leistung hinaufgehen und stärkere Gegenleistung fordern.
Soundso konnte hier eine sachliche Bemerkung nicht unterdrücken.
— Eines Tages möchte sich’s doch ereignen, daß Teutaland nicht mehr so viel Tauschvolk produzirte, um die genügende Nahrung geliefert zu erhalten. Und bei allen Fortschritten der Technik werden wir nicht leicht dahin kommen, das Volk mit Luft zu ernähren. Auch die Surros kriegt man auf die Dauer satt. Der Magen nimmt sie nicht mehr an. Er will natürliches Originalfutter zur Abwechslung. Unsere Vorfahren thaten nicht gut, die Landwirthschaft zu zerstören und uns ganz den Künsteleien der Techniker und Chemiker zu überliefern oder gar den dilettantischen Erfindern vom Schlage Greges. So hängen wir von den Slavakos ab. Wenn denen einmal Unheil zustößt, sind wir ohne Früchte. Es könnte sich auch ereignen, daß sie unsere menschliche Tauschwaare zurückwiesen. Womit wollten wir sie dann verpflichten? Oder sie führen ein System des Lebens ein, das ihnen selbst genügend Menschen lieferte. Was dann, Hoheiten? Gestattet meiner Jugendlichkeit diese bescheidenen Gedanken.
— Zukunftsgespenster! Die schrecken uns nicht. Die Slavakos werden im Gegentheil immer nachdrücklicher auf unsern Menschenersatz angewiesen sein.
— Wie das? fragte Ao, der seine Schläfrigkeit vollkommen bezwungen zu haben schien.
— Sehr einfach. Wie ich aus zuverlässigen Berichten weiß, sind bei den Slavakos wieder einige neue religiöse Sekten entstanden, welche es mit den Lehren ihres Heiligen, den sie unter den größten Auserwählten ihrer Rasse vor zweitausend Jahren entdeckten, noch viel strenger nehmen. Toistoji nennen sie sich. Diese Toistoji setzen ihre Seligkeit in absolute Enthaltung von jedweder Fortpflanzung aus eigenem Samen und wählen ihre Anhänger aus den jüngsten Jahrgängen . . .
— Beachtenswerth, rief Ao erbaut, das nächste Mal erbitten wir uns weitere Aufschlüsse, Kaspe. Die Zeit ist heute zu vorgerückt. Ich habe noch andere Fragen. Zunächst die: Wie stehen wir zu den Angelos? Hat sich unsere Abschließungszone gegen sie erweitert? Ist unsere Grenze genügend geschützt? Die Angelos verharren in der Barbarei ihrer alten Ordnung und sind Feinde unserer Ruhe. In jedem Blutstropfen lauert ihre Herrschgier. Liegt nichts Verdächtiges vor?
Als Titschi den Kopf schüttelte, räusperte sich Soundso, als wolle er wieder das Wort nehmen. Aber nun kam ihm Titschi zuvor, um nicht durch eine neue Verschnappung seines jungen Gehilfen umständliche Erörterungen und damit eine lästige Verlängerung der Sitzung herbeizuführen.
— Nein, es liegt nichts vor. Seit Jahren ließ sich keiner von diesen Störenfrieden an der Grenze unseres Reiches blicken. Unsere Abschließungszone gegen das Meer hat sich inzwischen um weitere bedeutende Flächen vermehrt, der Wüstengürtel hat sich verbreitert. Die sanften Slavakos, obwohl sie immer weiter nach Westen drücken, sind unsere vertragsmäßigen Freunde. Die Frankos scheinen wirklich stille Leute geworden zu sein, von liebenswürdiger Gesinnung. Weitab wohnen die kleinen Völker, die ihrer turbulenten Neigungen zwar noch nicht ganz Herr geworden sind, aber zu fernen Abenteuern jeden Anlaß verloren haben. Ich kann mir kein friedlicheres Bild unserer Beziehungen zur Umwelt denken. Je tiefer der Trieb unserer Leute im Leben und Bauen geht, desto weniger Angriffspunkte bieten wir.
— Ja, unter der Erde ist gut und sicher wohnen, zirpte Kaspe. Schade, daß wir die alten Kulturdenkmäler nicht auch unter die Erde bringen können. Das Königsschloß, das Gotteshaus, die Kaserne, das Museum, das Zuchthaus — gäbe es wirklich kein Mittel, sie tiefer zu legen? In der Luft ist ohnehin die Verwitterung so stark, daß uns die Unterhaltungskosten mit der Zeit drückend werden können. Oder wollen wir sie wie die Fabrik mit ihren neunundneunzig Schlöten ruhig dem Verfall und dem Einsturz überlassen? Sattgesehen hat man sich in den vielen Jahrhunderten auch daran. Ich glaube nicht, daß unsern Teutaleuten das Herz an diesem Gerümpel hängt. Für diesen Ausfall erfinden sie sich reichlich neue Vergnügungen.
— Neue Vergnügungen, lispelte Soundso mit lächelnder Lammsmiene, ja, das ist das herrliche Problem, neue Vergnügungen, Hoheiten!
— Mein kluger Soundso vergißt, daß bei uns Alles Eintracht und Zufriedenheit athmet. Probleme sind Keime für Umwälzungen. Diejenigen, welche Revolutionen gemacht haben, dulden nicht, daß man nach ihnen welche machen wolle. Mit Recht oder Unrecht, so ist’s.
— Der Ton wird bedenklich, sagte Ao feierlich, ich hebe die Sitzung auf.
Der Oberpriester faltete die Hände, der Saal hüllte sich in purpurne Finsterniß. Der Oberpriester drückte den Daumen an den Knopf des Riemens, der um sein linkes Knie geschnallt war, sofort spielte der Mechanismus, der die Hoheiten mit sammt ihren Polstersesseln durch die sich öffnenden Wände in die Gänge schob, wo ihrer die Fahrstühle für die privaten Gemächer in der höheren Region harrten.
Soundso flüsterte seinem Meister ins Ohr:
— Der Alte wird schwach.
— Ein Idiot.
Minus, der Oberlehrer, zog die winzigen Hörröhrchen aus der Ohrmuschel und schlenkerte sie nervös spielerisch an dem rothen Seidenfaden. Sein Blick war seltsam unruhig.
— Na? fragte Bim, der Oberphysikus, und verzog sein längliches Gesicht zu einem neugierigen Lächeln.
— Eine Mittheilung von Ao. Soundso hat ihn gekränkt. In der Wochensitzung. Heillose Worte sind gefallen. Ich soll prüfen.
— Heillose Worte? Von Seite Aos?
— Nein. Soundso versündigte sich am heiligen Wortschatz.
— Schon wieder? Ich werde seinen Geisteszustand beobachten lassen. Mir ist er längst verdächtig. Also Frevelworte ausgestoßen?
— Hm.
Minus spitzte den Mund und blies in die hohle Hand.
— Na, Hoheit?
— Vor bald zweitausend Jahren sprach Einer das Sprüchlein: „Worte sind Schall und Rauch.“ Das wirkt fort, Bim. Man nimmt die Worte zu leicht. Viel zu leicht . . . Eine schleichende Gefahr. Auch bei uns. Gehörtes verführt . . .
Bim nickte. Sein längliches Gesicht zeigte düstere Nachdenklichkeit.
— Wie hat der vor bald zweitausend Jahren gesagt?
— „Worte sind Schall und Rauch.“
— Hab’ ich nie gehört. Ich verneige mich vor Deiner Gelehrsamkeit. Worte nicht bloß Schall? Worte auch Rauch? Also haben damals Worte geraucht, in jener primitiven Zeit? Einfach kanibalisch: Worte, die rauchen. Worte die nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen belästigen. Die brändeln und stänkeln. Puh, Minus, kehren solche Zeiten wieder? Glaubst Du, großer Wissender?
— Wenn eine Jugend, wie dieser Soundso, in die Staatsgeschäfte hineinwächst, Bim. Gehörtes verführt, sei überzeugt.
— Jawohl, Hoheit. Wort, Aetherschwingung, Seele, Alles in eins. Furchtbare Gewalt. Wenn nun Worte auch noch schallen und rauchen! Aufruhr, Umwälzung, Umsturz, ja wahrhaftig, Umsturz! Und was — —
Bim bekam plötzlich seinen Hustenanfall und drehte seinen langen dünnen Hals verzweiflungsvoll, daß die Wirbel knackten.
— Hm, machte Minus, indem er wieder die winzigen Hörröhrchen in die Ohrmuschel steckte.
— Na? fragte Bim, nachdem er sich von seinem Anfall erholt hatte.
— Eine Mittheilung von Kaspe. Soundso scheint ihm verdächtig. Seit der Wochensitzung. Worte, Worte, Worte.
— Schon wieder? Was hab’ ich vorhin gesagt? Darf ich nun erfahren?
— Der Gehilfe unseres Oberdiplomaten erregt Aergerniß auf allen Seiten.
— Ich bitte um die Worte, zum Thatbestand.
— Aber vorläufig ganz unter uns, Oberphysikus. Amtsgeheimniß.
— Vertrauliche Mittheilung, versteht sich. Schätzbares Material unter dem Siegel der Verschwiegenheit.
Aug’ in Aug’, daß sich ihre Nasenspitzen fast berührten, dann den Mund am Ohr: Vernimm, Bim — Natur — angenehmere Pflichten im Sexualen, hörst Du? — Probleme, herrliche Probleme sogar.
Dann blickten sie sich starr an.
— Soundso?
— Soundso. Und dieser Mensch, Minus, sollte er nicht des Schlimmsten fähig sein? Ist das nicht ein keimender Entartungstypus in unserem normalen Gemeinwesen? Ist das nicht ein stetig sich aufbauender Seuchenheerd in unserem musterhaft gesunden Land?
— Ich ahne, Bim.
— Schon damals. Meine unglaubliche Entdeckung des Urstoffs, alle Geister hat sie erschüttert, ihn hat sie kalt gelassen. Mehr noch: er hat sie still verhöhnt. Und er wagt Worte, wie Natur, Probleme, angenehmere Pflichten vor dem Oberpriester auszusprechen.
— Und vor dem Oberpriester!
— Und vor dem Oberpriester. Gerade vor dem, der meine unglaubliche Entdeckung mit dem höchsten Lob auszeichnete. Weißt Du noch?
— Das Lob ja. Sehr ergreifend. Wie lautete doch gleich Deine herrliche Entdeckung? Die Worte sind mir nicht gegenwärtig.
— O Minus, Hoheit: Urstoff! Die Materie, aus welcher die Atome bestehen, ist nicht qualitativ verschieden, sondern die verschiedenen Atome sind nur verschiedene Qualitäten derselben Materie, und diese Materie ist der Urstoff.
Minus zog die Augenbrauen hoch, daß sie wie ein schwarzes Runzel-Dreieck über den erstaunten Augen standen. In seinem Sinne dachte er: O du blöder, aufgeblasener Frosch, mit deinem dummen Gequake — aber seinem Munde entschlüpften klügere Worte.
— Herrliche Entdeckung, herrliche Definition. Ja, das sind Ideen, nicht Schall und Rauch. Davon wird eine neue Entwicklung ausgehen. Neue Probleme werden hervorsprießen, neue —
Bim spreizte erschreckt die fünf Finger der linken Hand in die Höhe und legte die rechte dem Sprecher auf den Mund.
— Oh! Oh! Wenn uns ein sterbliches Wesen gehört hätte, Minus, Hoheit! Oh! Entwi— Entwicklung, gehört das nicht auch zu den verpönten Worten unseres staatlichen Sprachschatzes, so gut wie neue Probleme? Stehen wir nicht auf dem Gipfel? Wohin mit Entwi— Entwicklung? Wäre das nicht Schwindel eines Schwarmgeistes? Wir bauen aus, wir vertiefen, wir fügen hinzu, aber entwickeln? Nein. Wir haben einen Standpunkt, unser erreichtes Ziel, da ist nicht Raum für etwas Zielloses, Unübersehbares. Entwicklung — wem schauderte da nicht? Sturz in’s Bodenlose — wem — — —
Bim bekam schon wieder seinen Hustenanfall, daß die Halswirbel knackten.
Minus hatte sich bei Bim’s emphatischer Strafpredigt langsam umgewendet. Jetzt drehte er ihm das Gesicht wieder zu, mit unerschütterter Ruhe:
— Bim, ich bitte, wem sagst Du das? Mein Amt gestattet mir, mich auch einmal über meinen Standpunkt zu stellen, um — Andere zu prüfen. Du hast die Prüfung bestanden. Glänzend. Wie vorauszusehen. Der Mann des Geistes beglückwünscht den Mann der Körperlichkeit.
— Der Ebenbürtige verneigt sich, Hoheit.
Sein längliches Gesicht versuchte durch ein säuerliches Lächeln den aufsteigenden Aerger zu dämpfen.
Nein, es ist mehr als Fopperei von diesem obersten Gelehrsamkeitsverwalter, es ist ein Stich in’s Boshafte, fast in’s Größenwahnsinnige dabei, dem nichtsahnenden Oberphysikus mit solchen Scherzen zu kommen. Man könnte sich ordentlich fürchten, wenn unter Kollegen solche Neigungen herrschend werden. Das ist kein glücklicher Ton im hohen Rath des glücklichsten Volkes. Einem meuchlings mit Prüfungen zu kommen, mit hinterlistigen Gesinnungs-Erforschungen! Und gerade ihm, dem tadellosen Bim, dem unersetzlichen Physikus, der die Wissenschaften mit Fünden und Entdeckungen weitreichender Art beglückt und dabei über die Gesundheit der Teutaleute mit solchem Eifer wacht!
Was weht denn jetzt für ein Wind in den auserlesensten Köpfen, wenn ein Mann von der Gelehrsamkeit und Würde eines Minus Schabernack treibt? Kommt damit nicht eine gefährliche Unsicherheit in alle Beziehungen derer, die der Wille des Volkes auf die wichtigsten Posten gestellt?
— Ja, ich beglückwünsche Dich, Bim! begann plötzlich der Oberlehrer wieder. Du bist ein Mann von hohen Gaben. Wie viele Jahre giebst Du mir noch? Damit ich dem würdigen Teutavolke mich nützlich erweise, der Weisheit meiner hohen Kollegen immer näher komme?
— Wieso das?
— Wir wissen, oder auch nicht, je nachdem, Bim, daß die Erde nichts ist als ein erstarrter winziger Sonnenabfall, ein kleiner Dreckspritzer, ein Sandkorn in der unendlichen Wüste der Welten. Wir wissen, welche Gase an der Fläche der fernsten Sterne glühen. Macht das Dein Herz größer? Dein Leben fröhlicher? Wir wissen, daß man vor tausend Jahren, bevor die Chinesenherrschaft in Europa triumphirte, Welträthsel zu lösen im Begriffe war, von denen wir heute keine Ahnung haben. Daß man damals fast das Problem gelöst hatte, aus dem Dunstkreis der Erde hinaus und in die Sphäre des Mondes hineinzufahren. Hat dieser Aufschwung gehindert, daß dennoch ganz Europa in die Brüche gegangen? Daß all’ die großen Reiche des Kontinents verschwunden und wir nur armselige Reste sind? Wie viele Jahre noch?
— O, Hoheit.
— Wie viele Jahre giebst Du mir und Dir noch?
— Wie kommst Du auf solche Gedanken, Minus? Wir sind beide in guter Verfassung.
— Wir sind zwar die ältesten Mitglieder noch nicht im hohen Rath, Bim. Bei der nächsten Musterung, wer weiß? Dem Volke schmecken mit einem Male die Alten nicht mehr, stell’ Dir das vor! Es geht wie ein Traum der Verjüngung durch die Herzen der kleinen Teutawelt. Meine Späher und Zeichendeuter wollen sich nicht geirrt haben. Hast Du noch nichts bemerkt?
— Keinen Schimmer, hauchte der Oberphysikus ermüdet.
— Fehlt Dir etwas, Oberphysikus? Deine Lippen zittern. Hast Du Zahnweh?
— Aber, ich bitte.
— Wie viele Zähne hast Du noch? Hast Du überhaupt noch Zähne?
— Die sitzen noch ganz solide.
— Sind Deine Kiefer noch stark genug, das Gebiß zu tragen?
— Ich begreife nicht, Hoheit.
— Richtig, ich vergesse, daß man in Deinen Jahren wohl auf diesen Zierat verzichtet.
— Zierat, Minus? Zähne sind ein Instrument der Gesundheit. Erinnere Dich, daß ich einst ein vielgepriesenes Mittel erfunden, dieses Instrument zu schärfen.
— Hast Du das, Bim? Ich erinnere mich nicht. Nach Dir kam aber einer, der Speiseformen erfand, wodurch die Arbeit dieses Instruments überhaupt überflüssig wurde. Haben die Teutaleute Deiner Erfindung Ehre erwiesen, wirklich, Bim?
Der Oberphysikus biß die Zähne zusammen — es war keine vollständige Garnitur, und griff sich mit der Hand an die Stirn. Dann warf er einen hilflosen Blick auf den unbegreiflichen Frager.
Der aber fuhr unerbittlich in seiner starren Weise fort:
— Wie ein Traum der Verjüngung. Meine Späher und Zeichendeuter sind zuverlässig. Hast Du nie einen ähnlichen Traum geträumt?
— Nie, Minus.
— Hättest Du’s doch. Vielleicht hätte Dein Scharfsinn einen Sporn mehr erhalten. Du hättest uns ein durchgreifendes Verjüngungsmittel erfunden, Bim. Warum läßt Du uns sterben?
— Sterben wir? Hoheit, noch leben wir.
— Nein, wir sterben. Du irrst, Oberphysikus. Wir sterben — wir sterben an der Jugend der Anderen. Grausame Todesart. Sie macht lächerlich.
— Du quälst Dich und mich, Minus. Warum quälen wir uns mit solchen Fragen?
— Weil sie zeitgemäß sind.
— Aber sie stehen heute nicht auf der Tagesordnung, Minus, Hoheit.
— Das ist nicht ihr Fehler. Das ist unser Fehler.
— Du verschwendest Deinen Geist, Minus.
— Verschwende ich ihn?
— O, sicher an keinen Unwürdigen. Aber immerhin — —
— Bist Du so sicher, Bim? Ich habe oft zu Thoren geredet, wenn ich vermeinte, zu Weisen zu sprechen. Man nimmt die Worte zu leicht. Viel zu leicht. Daher die schleichende Gefahr. Aber vorläufig ganz unter uns. Oberphysikus, Amtsgeheimniß!
Bim wußte nicht mehr, was er denken sollte. Irgendwo und bei irgendwem stand’s nicht richtig.
Er starrte seinen hohen Kollegen vom hohen Rathe an.
Nein, da war wirklich guter Rath theuer. Aus diesen Mienen war keine Erklärung für die sonderbaren Worte zu schöpfen.
— Sollen wir uns die grausame Todesart gefallen lassen, Bim? Weißt Du? Die den Sterbenden lächerlich macht, weil er sein Gestorbenwerden nicht merkt? Die Anderen aber, an denen er stirbt, die merken’s, Bim! und lachen und weinen, die Unerbittlichen.
— Niemand stirbt so im Lande der Teutaleute. Ich fasse Deine Besorgniß nicht, Minus.
— Sie lachen und weinen, die Unerbittlichen. Mit ihren Thränen verhöhnen sie den Unglücklichen. Ihre Thränen sind Salz in offene Wunden.
— Minus, nie habe ich Jemand von unserem Volke weinen sehen. Im edlen Lande der Teutaleute kennt man keine Thränen. Man kennt sie nicht. In alten Zeiten, ja, wo es noch Fürsten gab und Soldaten, Tyrannen und Knechte. Da kam’s zu blutigen Thränen. Im Staat des Kapitalismus, der folgte, noch schlimmer. Dann der Zusammenbruch, dann die sozialistischen Quälereien. Das besserte wenig. Die Menschen verlernten das Weinen nicht. Aber in unserem Weltalter der gemeinsamen Güte! Thränen, Minus! Das ist vorbei. Das ist die Auszeichnung der Teutaleute, ihr besonderes Wesen. Ihr Gleichmuth, denke doch, ihre Sittsamkeit, ich bitte Dich, ihre Geduld. Wir können ruhig sterben, Minus.
— Warum thun wir’s nicht? So stirb doch, Bim! Schaffe Platz der Jugend! Was zögerst Du? Ich will sehen, ob Du ein Ende machst. Bestelle Dir wenigstens einen Gehilfen, wie Titschi sich einen Gehilfen bestellt hat. Nimm Dir einen Soundso. Die einzige Form, die unser Gesetz gestattet, in Staatsgeschäften unser Leben zu dehnen. Aber Alles das thust Du nicht, Du wartest ab. Du greifst nicht vor. Du läßt’s drauf ankommen. Du willst gestorben werden. Deine Feigheit wählt die grausamste Todesart.
— Minus!
— Ja, so sind wir. So seid ihr. Ich nicht. Ich mache ein Ende. Heute noch. Ich habe Sehnsucht, loszukommen, ohne Hohn.
Diese Wendung überraschte Bim mehr, als Alles Uebrige. Also darauf spielten die krausen Wendungen und Worte. Aus sich selbst heraus kam dem edlen Minus der Ueberdruß, der Unmuth.
— Bedenke doch, Minus, wer uns auf den Posten gestellt. Und da sollen wir flüchten, ohne Noth, aus trauriger Laune? Des Volkes Wohl ist uns anvertraut — —
— Des Volkes Wohl! Ich mache ihm meine Reverenz — —
— Gut denn. So sagen wir (und kost’ es mir den Kragen, wenn’s ein Späher hört), die Beherrschung des Volkes, was dasselbe ist, befriedigt Dich das nicht?
— Beherrschung? Fühlst Du das Zeug zu einem Herrscher, zu einem Gott in Dir, Bim? Ich hänge an meiner Schwäche. Ich rühme mich meiner Unvollkommenheit. Nicht die kleinste Herrgöttlichkeit reizt mich.
— Des Volkes Wohl liegt in seiner Beherrschung, Minus.
— Aber nicht mein Wohl. Und warum können wir das Volk beherrschen? Weil wir ihm die Flügel gestutzt und den Sinn verwirrt haben. Ein geistvolles Geschäft, über ein solches Volk zu herrschen!
— Das Volk ist mündig und frei in seinen Entschlüssen, Minus.
— Ist’s das? Bestellt sich der Mündige einen Vormund? Duldet der Freie Obere, die sich mit „Hoheit“ anreden lassen? Ein mündiges freies Volk jagte Dich und mich und alle Hoheiten zum Kuckuck, kröche aus der Erde heraus und liefe frei in die Sonne und allen Winden nach, wie die Thiere des Waldes, wie die Vögel des Himmels.
— Darauf sage ich, der Oberphysikus, Dir dieses: Deine Gelehrsamkeit ist Dir zu Kopf gestiegen. Das sind Alles transszendentale Theorien, die Du aus alten Poeten, Philosophen und anderen Narren aufgelesen. Ich weiß mich frei davon, drum kann ich ruhig reden.
Minus lächelte wie Einer, dem wirklich vielerlei im Kopfe durcheinander geht. Wiederholt setzte er sein Hörröhrchen ein. Alles blieb stumm. Von keiner Seite eine neue Meldung. Ist die Welt todt?
Bim hüstelte aufgeregt. Er fühlte sich der Erschöpfung nahe. Solchen unerfreulichen Sachen war er nicht gewachsen. Das Herumräthseln an unentwirrbaren Dingen ging allen seinen Fähigkeiten wider den Strich. Dieser Minus, nein, niemals hatte er ihn in einem solchen Zustande gesehen. Ein Knäuel von Widersprüchen. Eine Windsbraut von tollen Stimmungen.
— Ja, ja, Bim. Die Sonne, der Wald, der Himmel, die Thiere.
— Erlaube, das ist Alles furchtbar ungesund. Teuta aber ist gesund geblieben, weil es der Sonne, dem Himmel ausgewichen ist bei Zeiten, weil es die Wälder vertilgt, die überflüssigen Thiere beseitigt hat. Diesen vergangenen Dingen können nur zwei Menschensorten nachschwärmen: Poeten und Verliebte. Und mit ihnen haben wir seit Annodazumal in Teuta aufgeräumt, gründlich.
— Haben wir das, alter Bim?
— Eine weite, ruhige, gradlinige Fläche ist die Erde im Teutaland. Alles ist klar und bestimmt nach Maß und Gewicht. Dieser Zustand soll erhalten bleiben, er ist der denkbar glücklichste für unsere Menschen. Das empfand ich in meiner Jugend, das bestätigt mein Alter. Eine Wissenschaft, die anders lehrt, ist falsch. Sie zerstört den Frieden, unser höchstes Gut.
Minus hörte nicht mehr, in müden, schmerzlichen Gedanken versunken. Nie hätte er überhaupt den klugen, beschränkten Schwätzer so lange angehört, außer der Gewohnheit des Amtes, oder es sei denn, er spielte Komödie mit ihm, oder sich im Witz zu üben, oder in der Geduld. Aber heute! —
Die Hörröhrchen brannten förmlich im Ohr. Der Fernsprecher wußte ihm so wenig zu melden, wie der Fernseher. So oft er sich an den Spiegel wandte, es kam kein Bild. Und der Fernsprecher narrte ihn mit der Wiederholung altbekannter Dinge.
Endlich eine Nachricht, die wie ein Blitz auf seine Erwartung schlug.
— Spurlos verschwunden, stöhnte er nach einer Weile. Ao weiß nichts. Kein Mensch weiß was. Jala, Unglückliche!
— Jala, wie? Die schöne Blinde? Ich hatte sie in meiner Irren-Abtheilung zur Beobachtung. Dann entwich sie — —
— Das sagst Du mir jetzt erst?
— Fragtest Du?
— Nein, das wußte ich. Was weißt Du, daß ich nicht weiß? Berichte!
— Nichts von Belang. Ganz dem Gegenstande entsprechend. Sie entwich. Sie wird ein Ende gemacht haben. Sie war unheilbar. Unheilbar, aber still und unschädlich. Damit ist die Sache wohl erledigt. Teuta ist ruhig.
— Ich danke. Fahr’ ab, Bim, und hüte Deine Zunge.
— Eine Närrin weniger, das regt in unserem Lande keinen Menschen auf. Eine Närrin weniger, ich bitte Dich. Das stürzt keine Rechnung um.
— Fahr’ ab, Bim. Jala ist keine Närrin und — mehr als Eine. Schluß. Fahr’ ab.
Der Mechanismus spielte, der Oberphysikus saß vor der Thür.
Schwarze Nächte folgten den dunklen Tagen. Niedrig, wolkenschwer lastete das Firmament auf der naß erkalteten Erde, ohne Sonne, ohne Mond, ohne Sterne.
Aus den Nebeln, die das Meer verhüllten, klang gedämpft der schwermüthige Gesang der Wellen am Strande.
Aus der tiefen Stille der Ferne über den Wassern kam es zuweilen wie hartes Grollen und Stoßen und Stürzen, als machte sich weit dahinten, verborgen in dichter Finsterniß, der Sturm fertig, um mit wuchtigen Schlägen bald über die Fluth hinweg in’s Land zu fallen in wüthender Heerfahrt.
Zwischen den letzten hohen Dünen, die in weitem Bogen den Strand umgürteten, lag, tief eingebettet, eine Siedlung von Schifferhütten: Eine Weltfremde in den düsteren Zeiten des verlorenen Himmels, bewohnt von wenigen Familien uralter Eingeborener, zu denen sich ab und zu von Wind und Wetter verschlagenen Insulanern oder Flüchtlingen aus den platten Hinterländern einige Neulinge gesellten, um unter dem Schutze des Gastrechts die Härte des Lebens zu überwinden. Etliche zogen wieder ab bei günstiger Wetterwende, Etliche, die sich anzufreunden und innigeres gegenseitiges Gefallen zu erwecken vermochten, blieben dauernd, Andere verschwanden spurlos, nachdem sie kurze Rast und Labung genossen.
Die Bleibenden erfrischten und vermehrten mit ihrer neuen Kunde aus entlegener Welt den Geist und mit ihrem Blute die Körperlichkeit der einsam hausenden Siedler und hüteten sie vor Erstarrung in der Einförmigkeit des Daseins zwischen den Dünen.
Dennoch blieb die Zahl der Bewohner der Schifferhütten beschränkt. Das Meer forderte beständig seine Opfer, und das Gesetz der Auslese übte seine Gewalt am schwächeren Nachwuchs.
So gab’s keine Bedrängniß an neuen Menschen, und das Blut und die Sitten der Eingeborenen aus alter Zeit behielten die Oberhand. Wie bei den Ahnen, die einst mit Bären gerauft und in den Wäldern, die in längst verschwundenen Epochen bis an’s Meer stießen, den Ur gejagt, war das Geschlecht blondmähnig und von seltener, aus blauen Augen und ruhig rauhen Manieren blitzender Kraft, in seinen besten Exemplaren.
Das große Wort aber führten einige schwarze Rundköpfe in den länger werdenden Abenden der Sommerflucht, über die endlosen Nächte des Winters hinweg, bis zur Sonne Wiederkehr in triumphirendem Glanz.
Diese Rundköpfe waren weit unten von den wälschen Küsten heraufgekommen, die in weißen Felsen und Klippen starren. Sie wußten viel zu erzählen von waghalsigen Fahrten und blutigen Abenteuern, und aus der ältesten Geschichte ihrer Voreltern berichteten sie von Kriegszügen, Revolutionen und Umstürzen, mit solcher Fabulirkunst, als wären diese bunten, unglaublichen Dinge gestern erst geschehen, leibhaft, unter aller Augen, und lagen doch weit zurück um Jahrtausende, als die Menschheit noch lärmte und tobte, und in streitbaren Wanderungen die Völker gegeneinander losgingen und noch nicht so stille und bedachtsam geworden waren wie heute.
Besonders aber floß den schwarzen Rundköpfen der Mund über von ihrem kriegerischen Nationalgott Polium. Zweimal sei dieser Schlachtengott Polium erschienen, denn ohne ihn geschehe nichts Gewaltiges in Europa, und in hundert Jahren werde er wieder erscheinen und den Angelos und Amerikanos den Garaus machen. Alle Nachbarvölker habe er bei seinem zweiten Erscheinen mit feurigen Schlangen gepeitscht und das Antlitz Europas mit Blut gewaschen und Schaaren Gewappneter durch die halbe Welt geschoben, daß unter ihren Fußtritten die Erde gebebt.
Das Alles war längst, längst vergangen. Aber es hatte seine Spuren zurückgelassen, sogar im Gedächtniß der rundköpfigen, kleingewachsenen Männer mit der unermüdlich behenden Zunge.
Wenn sie erzählten, mußte man staunen über so außerordentliche Dinge. Aber wenn draußen der Sturm dazu brüllte, Blitze in die schwarze, sich rasend aufbäumende Wogenwildniß schleudernd, als sollte sich die Erde spalten und der Wolkenhimmel in Schlünden und Abgründen schmetternd versinken, da klang das alte Heldenlied so glaubhaft, daß jeder Zweifel wich.
Nein, es konnte keine Fabel sein.
Wie das Meer in seinem Aufruhr, wie Sturm- und Gewitternacht heute noch, wenn die Jahreszeiten sich kreuzen, so war einst die Menschheit, ehe die große Helle und Stille über sie kam.
Auch die Angelos, die drüben auf der großen Insel, weit weg vom Strande, hausten, und von denen zuweilen noch Einzelne in listiger Fahrt herüberkamen, bestätigten dies. Ja, sie hatten selbst noch mancherlei Manieren an sich, die an die wilden Menschenzeiten gemahnten, etwas Gewaltthätiges, Tückisches, Raubthierhaftes, das namentlich den Leuten, die aus Teuta stammten, beängstigend erschien und von ihnen als drohende, unausrottbare Feindseligkeit empfunden wurde, gegen die ausreichender Schutz nicht leicht sei. Aller Vorsicht und Ordnung zum Trotz.
— Gieb Acht, in dieser Nacht wird der Sturm noch losbrechen, wie wir lange keinen gehabt, sprach der blondmähnige Schiffer Willem Mom zu seinem Nachbar Fix, dem kleinen Schwarzkopf, der heute wieder unermüdlich in alten See- und Räubergeschichten gekramt und vom Hundertsten in’s Tausendste fabulirt hatte.
— Alles kehrt wieder, Willem Mom.
— Schlechtes Wetter, jawohl.
Sie wollten, heute als Wächter bestellt, dieweil Alles in den Hütten schlief, der Auffahrt des Wetters näher zusehen. Sie krochen auf den Kamm der Düne. Zu sehen aber war in der mond- und sternenlosen Nacht nicht viel. Dicke Schwärze, zuckende Blitze, grollender Donner, regenschwere Luft.
— Es gab eine Zeit, Willem Mom, da fuhren da draußen ungeheuere eiserne Maschinen in schwarze Rauchwolken gehüllt, Dampfschiffe genannt, die an die tausend Menschen faßten.
— Das ist vorbei, Fix.
— Damals gab es auch Eisenbahnen, mit hundert Wägen, einer am andern, die faßten noch mehr, die fuhren auf dem platten Land, durch die Berge, über Brücken.
— Das kommt nicht wieder.
— Warum, Willem Mom?
— Das ist zu plump. Die Menschheit hat keinen Geschmack mehr am Plumpen.
— Na, mag sein. Jetzt ist man für das Kleine, Flinke. Jeder für sein kleines, unterseeisches Boot. Du kannst recht haben. Aber das kriegen sie auch wieder satt.
— Dann erfinden sie was Neues, Fix. Hast Du den Blitz gesehen? Der hat sich durchgehauen, und von einer solchen Dicke. Da liegt Kraft drin.
— Jawohl.
— Früher hat man sie in Drähten aufgefangen, fingerdick, von schwerem Metall. Jetzt thut’s ein haarfeiner Faden, oder gar nichts. Das geht, wie man will.
— Aber die Blitze, die so wild herumfahren, mit dem prächtigen Donner, he, Willem Mom!
— Ja, die gezähmten sind stumm, in der Gewalt der Menschen, sie leuchten nicht einmal unterwegs.
— Und wo sie dennoch Licht geben, geben sie gleich Musik dazu, hab’ ich mir sagen lassen. In Teuta sollen sie wunderbare Sachen machen.
— Ich sag’ Dir, Fix, den Teutaleuten ist auch nicht wohler in ihrer Haut, als uns, wenngleich sie sich für das erste Volk auf Erden halten.
— Das thut schließlich jedes. Ich hätte schon Lust, einmal dahinein zu sehen, nach Teuta.
— O, die sperren sich ab, die sind sich selbst genug, Fix. Und immer tiefer in die Erde hinein, da ist nicht beizukommen.
— Wenn einmal die Wolken ’runterbrechen, müssen sie alle miteinander ersaufen. So eine Nacht, wie jetzt diese da, meinst Du nicht, das gäbe eine Ueberraschung für die Teutaleute! Klitsch, klatsch, Alles unter Wasser, Willem Mom!
— Das kommt nicht. Merkwürdig, die haben Alles ausgerechnet. Da geht Alles trocken über ihr Land weg. Nichts kommt aus der Luft herunter, was sie nicht haben wollen. Die lassen sich nichts auf die Köpfe fallen.
— Was trinken sie denn in ihrem trockenen Land?
— Das haben sie sich abgewöhnt, Fix.
Fix lachte.
— Das wäre unser Fall, Willem Mom. So ein Leben ohne Feuchtigkeit. Und was glaubst Du von ihrem Essen?
— Das haben sie sich wahrscheinlich auch abgewöhnt.
Fix lachte wieder.
— Na, hör’ mal, das ist ja geisterhaft. Da können sie ja auch nackt gehen, denn zu sehen ist da wohl nichts.
— Thun sie auch, Fix. Wie die Würmer. Drum verkriechen sie sich tief in die Erde, wo’s hübsch warm ist.
Fix war ungemein belustigt von diesem Bericht.
— Höre, Willem Mom, das müssen wir sehen. Ist da keine Möglichkeit?
— Sehr schwer. Das ist schon das stärkste Abenteuer, nur davon zu träumen. Wär’ auch hineinzukommen, heraus kämen wir gewiß nicht mehr.
— Oho! Es sind doch schon Teutaleute zu uns herübergekommen, hört’ ich.
— Das schon, wenn auch ungeheuer selten.
— Nun also, Willem Mom.
— Jawohl. Aber die sind nicht echt. Die sind aus der Art geschlagen. Oder sie haben etwas Verrücktes angestellt.
— Noch Verrückteres, als es schon die Anderen treiben? Kanntest Du so Einen?
— Jawohl.
— Davon mußt Du mir einmal erzählen, Willem Mom. Jetzt fröstelt mich. Ich denke, wir haben von der Nacht genug. Wir legen uns schlafen. Oder glaubst Du, es ereigne sich noch was? Der Nebel wird immer dicker. Was ist da zu sehen? Es rührt sich nichts.
In der That, die Welt war wie mit Finsterniß verhängt. Auch das Blitzen und Donnern hatte nachgelassen. Das Getöse des Meeres klang gedämpfter.
Plötzlich war’s, als gingen die Falten der Nebelgardine auseinander, als würden sie emporgezogen von oben. Eine schmale Lichtung that sich auf, in einem Strich, weit hinaus auf die wogende See. In ungewöhnlicher Schönheit tauchte der Mond mit voller Scheibe aus der bewegten Horizontlinie auf, gerade im Mittelpunkte der Lichtung, deren schwarze Wände sich in dunkles Gold färbten, und violettrothe Lichter spiegelten auf der bauschigen Fluth.
Die beiden Männer standen wie gebannt von so viel Schönheit.
— Da spricht man von einem Zauberland, begann Fix leise, ergriffen. Was sagst Du dazu, Willem Mom?
Der aber deutete auf den Strand hinab, in die Lichtung hinein, und steckte den Kopf vor, um schärfer zu sehen.
— Da unten bewegt sich was, Fix. Hart am Wasser hin. Siehst Du?
— Ein Thier? Wo? Ich entdecke nichts. Sprich doch, wo?
— Es geht aufrecht wie ein suchender Mensch, ein wenig gebückt.
— Richtig. Wer kann denn zu dieser Stunde von den Unsrigen noch am Strande sein?
— Niemand von den Unsrigen. Das ist was Fremdes, sicher, was ganz Fremdes.
— Verirrtes, ohne Zweifel. Jetzt ist’s weg, rechts hinein. Am Ende doch nur ein Schatten, ein Wolkenschatten. Wollen wir nachsehen, Willem Mom? Meinst Du?
— Ja, wir wollen nachsehen, bevor der Mond wieder verschwindet.
Die Männer hatten erst wenige rutschende Schritte im feuchten Sande abwärts gethan, als in der That leichte Wölkchen, die wie Rauch an der Mondscheibe vorüberzogen, sich mehr und mehr verdichteten. Im Nu war das Spiel des Lichtes wieder in nächtiger Finsterniß verloren. Nur der weiße Strand grenzte noch in trüber Helle sich schwach von dem schwarzen Wasser ab.
— Mehr nach rechts, Willem Mom.
— Dort liegt’s, noch fünfzig Schritte. Hast Du eine Ahnung, was das sein könnte?
— Ein Mensch. Wir werden ja gleich sehen.
Und sie stapften in großen Schritten weiter, die Beine hochziehend im nachgiebigen Sande.
— Etwas Verhülltes, langausgestreckt, Willem Mom.
Nun standen sie davor.
— Heda! rief Fix.
Willem Mom beugte sich schweigend nieder.
— Greif nicht zu, lass’ mich erst reden, rief Fix wieder, auf die andere Seite tretend. — Heda, rühr’ Dich!
Willem Mom hatte den Körper bereits am Kopfende erfaßt und bemühte sich, ihn vorsichtig aufzurichten. Die Gestalt lag der Länge nach, auf dem Gesicht, die Stirn auf den gekreuzten Armen.
— Hier ein Stab, sieh mal, Willem Mom.
— Greif lieber da zu, an der Schulter, Fix, daß wir ihn umwenden.
— Maustodt, Willem Mom, wie vom Blitz erschlagen. Es rührt sich nicht. Wär’s nur nicht so stockfinster, daß man sehen könnte. Das steckt wie in einem nassen Sack. Am Ende doch was Angeschwemmtes. Nicht das Richtige, was wir von oben gesehen. Glaubst Du?
— Lass’ mich nur machen. Faß unten, ziehe die Beine, richte die Füße, Fix.
Willem Mom hatte sich niedergekniet und hielt nun den Oberleib in seinen Armen, mit den Ohren nach der Brust und dem Herzen suchend.
— — Ein Weib, Fix, sagte er leise. Fass’ den Arm und fühle nach dem Puls!
Inzwischen streifte er mit der Hand über den Hals zog die Kapuze zurück und seine Finger verfingen sich in einer Fülle von Haaren.
— Ich finde keinen Puls, Willem Mom.
— Das ist eine haarige Geschichte. Was machen wir nur gleich, Fix?
— Also wirklich ein Weib, Willem Mom? Du wirst recht haben, die Glieder sind schlank und zart. Ich will’s noch einmal mit einer Anrede versuchen.
— Schweig’, Fix. Sie ist jung und schön, das sieht man im Finstern. Wir müssen sie lebendig machen. Das geht nicht mit Redensarten. Reibe die Handflächen kräftig. Ich will’s an der Brust und im Rücken versuchen.
Und schweigend machten sich die Männer, an’s Werk.
Der Himmel blieb verhüllt. Das Meer beschwichtigte sich, die Wogen schwankten sanfter an den Strand und lindes Rauschen erfüllte die Luft wie elegische Musik.
Willem Mom zog seine warme Jacke aus und umwand damit den Oberleib des Weibes. Dann eilte er geschäftig, ihre Füße von den Sandalen zu befreien und einen Fuß nach dem andern in seine Hände zu pressen.
Fix athmete heftig, so angestrengt bearbeitete er die Hände und die Arme.
— Sie rührt sich, Willem Mom, wahrhaftig, sie rührt sich. Ihre Finger zucken.
— Am besten, wir tragen sie in meine Hütte. Ich nehme sie auf meine Schulter, Fix.
— Nein, in meine Hütte, die ist näher und geräumiger. Ich habe auch Stärkungsmittel. Heda, Weib, komm’ zu Dir und zu mir!
— Sei kein Narr, Fix. Lass’ los, ich bin Manns genug.
— Willem Mom, ich sag’ Dir, sei nicht gewaltthätig. Heda, Weib, schlag die Augen auf! Siehst Du mich?
Ohne sich weiter um Fix zu bekümmern, hatte Willem Mom mit einer raschen kraftvollen Bewegung das Weib auf seine Schulter geladen und versuchte davonzueilen wie mit einer kostbaren Beute.
Fix nahm den Stab vom Boden und stapfte mit seinen kürzeren Beinen mühsam hinter dem hochgewachsenen, weitschrittigen Kameraden drein, aufgeregt, ärgerlich, hitzige Worte in die graue, kühle Luft prustend.
Und Willem Mom immer vorwärts, keuchend, mit offenem Munde, mit stechenden Blicken die Finsterniß durchbohrend, um ohne Umweg die Buchtung zu finden, von der aus der kürzeste Pfad durch einen Düneneinschnitt in die Siedlung und zu seiner Hütte zu gewinnen war. Mit starken Armen hielt er die schlanke Gestalt umfangen. Er fühlte ihre Brüste an seiner rechten Wange, wärmer und wärmer, und plötzlich war ihm als höbe sich ihr herabhängender Arm und suche sich um seinen Hals zu legen.
— Recht so! rief er mit stoßendem Athem. Halte Dich fest, ich bin stark.
Aber da that er einen Fehltritt, kam in eine Senkung und stürzte mit seiner Last zu Boden.
Mit schwerem Druck kam er auf das Weib zu liegen, das er im Schreck noch gewaltsamer an sich preßte.
Wie aus schmerzhafter Empfindung entrang sich der Brust des Weibes der erste Laut, der wie ‚Grege‘ klang.
— Grege! Du thust mir weh! seufzte die zarte Stimme.
— Sie lebt, sie spricht! jubelte Willem Mom und bemühte sich mit äußerster Anstrengung, im weichenden Sande sich aufzurichten.
— Was beginnst Du da? schrie Fix, der ihn nun eingeholt hatte. Ganz Leidenschaft, schwang er drohend den Stab. Willem Mom saß auf der Böschung, das Weib auf sein Knie ziehend.
— Alles gewonnen, Fix, sie lebt, sie lebt. Siehst Du? rief er fröhlich. Und der Schweiß perlte ihm von den Schläfen und tropfte auf die weiche weibliche Hand, die auf seiner Schulter ruhte.
Fix kniete vor der Gruppe nieder, griff nach der andern Hand, drückte sie in der seinigen und riß gierig die Augen auf, um die Formen des weiblichen Gesichts zu erspähen.
— Du bist jung und schön, es ist keine Gefahr mehr. Wer bist Du? Ich schütze Dich!
— Schweig’, Fix! Sie bedarf der Ruhe. Du erschreckst sie mit Deiner Heftigkeit.
Offenbar war sie wieder in Bewußtlosigkeit zurückversunken.
Um nicht unnütz die Zeit zu verlieren, kamen die Männer überein, gemeinsam die Fremde zu tragen. Keiner wollte sie dem Andern überlassen, der Weg war ansteigend und schwierig, und so war’s das Vernünftigste, sich in die Last zu theilen.
Dann ging’s vorwärts, der Siedlung zu. Keiner sprach unterwegs mehr ein Wort.
An der ersten Hütte, die erleuchtet war, machten sie Halt. Es war die Willem Mom’s, dessen alter Vater, an Schlaflosigkeit leidend, sich ein kleines Feuer angeschürt hatte, um Thee zu kochen.
— Hier Vater, mach Platz’ auf dem Lager, wir bringen menschliches Strandgut. Ein Weib.
— Ein Weib? rief der Alte. Dann weckt ein anderes Weib zur ersten Hilfe.
Aber da waren nicht viele Umstände zu machen.
— Sie kommt nicht aus dem Wasser, Vater, es bedarf nicht des Umkleidens. Warmes Lager und einen warmen Schluck.
Schon war Fix mit der Theekanne zur Hand.
Bald war alles Zweckdienliche vollbracht. Die Fremde belebte sich auf dem wohligen Lager, im Dämmerlicht der stillen Hütte.
— Wo? Wo bin ich? war ihre erste Frage.
— Hier bei uns, öffne die Augen, Kind! rief der Vater Mom.
— Ist Grege da?
Die Männer sahen sich an.
— Wer ist Grege? fragte Fix, sich über sie neigend.
Sie schwieg. Wie eine Todte lag sie wieder da, den Leib langausgestreckt, die Hände über der Brust gefaltet.
Laßt sie ruhen, sagte Vater Mom. Aber in ihm selbst war eine seltsame Unruhe. Nach geraumer Weile hob er die Leuchte hoch. Der Lichtschein ergoß sich über das jugendliche Antlitz, daß es zu lächeln schien, und entzündete den Glanz der reichen blonden Haare. Die Männer standen betroffen vor so edler Schönheit.
Auch durch die Fenster drangen jetzt die Lichtboten des sich sonnig hellenden Morgens und schlüpften durch die angelehnte Thür.
— Sie träumt wohl, meinte Fix. Seht ihr Gesicht, wahrhaftig, es lächelt.
— Oeffne die Augen, sieh’ uns an, bat Willem Mom.
Endlich bewegten sich ihre Lippen: — Dank Euch. Ich habe nicht Augen zum Sehen.
— Sie redet irr, flüsterte Fix.
Als er sein Gesicht dem ihrigen näherte, daß sie den Hauch seines Athems spürte, wehrte sie mit schwacher Handbewegung ab. Zwischen Daumen und Zeigefinger erschien ein blaßrother Stern.
Fix entging er nicht.
— Ist da nicht eine Spur von Blut an ihrer Hand? wollte er fragen. Aber schon hatte sie ihre Hand wieder gefaltet, und die Anderen waren mit eigener Beobachtung beschäftigt.
— Warum willst Du uns nicht sehen? fragte Willem Mom in zärtlichem Tone. Wie heißt Du?
— Ich bin Jala, die Blinde, kam es wehmuthsvoll aus ihrem Munde.
— Die??
— Sie ist blind! rief Willem Mom erschüttert.
— Das ist ja nicht möglich! fuhr Fix leidenschaftlich auf.
Vater Mom schüttelte seinen alten grauen Kopf: — Nicht möglich? Es giebt kein Unglück, das nicht möglich wäre.
Dann, gegen das Lager gewendet:
— Ist’s wirklich so? Bist Du blind?
Jala hob zitternd ihre Augenlider empor. Zwei große blicklose Augen enthüllten sich wie wolkenverschleierte, unergründliche Sterne.
Die Lider fielen wieder herab, und um den Mund zuckte ein stolzer Schmerzenszug.
— Jala heißt Du? fragte Vater Mom, die Hände gefaltet.
Sie nickte und seufzte:
— Meine Augen sind bei Grege. Ist er noch nicht hier? Der wird Euch Alles sagen.
— Wo kamst Du her? Wer ist Grege? fragten die Männer durcheinander.
Der Frühwind sprang über’s Meer und jagte die Thür auf.
Flammend grüßte jetzt die Sonne in’s Gemach.
Jala lag wieder da, still, wortlos, Lippen und Augen wie in tiefem Sinnen geschlossen, ein schmerzliches Geheimniß des Lebens sich selbst und ihren Rettern.
— Ich will eine Frau rufen, sagte der alte Mom. Das geht über Männerwitz.
Die Luft klar wie Krystall.
Der Himmel blaßblau, mit einigen büschelförmigen Wölkchen zur Rechten und Linken, die einzeln sich bewegten, wie von gegensätzlichen Kräften getragen.
Und unten auf Erden schien ein Sturm zu toben.
Keiner wußte mehr Raths, seit der Apparat versagte.
So ging’s die Nacht hindurch, so den zweiten Tag.
Erfreulicher Weise führte die Flugbahn durch milde Temperaturen, selten gekreuzt von einer kalten Strömung. Wie weit von der Erde entfernt, war kaum mehr zu schätzen.
Bei dem Zusammenstoß mit dem räthselhaften unbemannten und dunklen Riesenfahrzeug waren alle Instrumente verloren gegangen, die Leuchte dazu und alle Mittel, bei Insichttreten anderer Fahrzeuge Zeichen zu geben.
Gewiß, es war ein Wunder, daß man bei dem ungeheuren Anprall im wilden Wirbel des Fallwindes überhaupt nicht vollständig scheiterte.
Wie nun das Abenteuer enden würde? Keiner konnte es wissen. Der steuerlose Flug spottete jeder Berechnung.
Nur den einen Schluß ließ die andauernde blaßblaue Färbung des Himmels und die krystallene Klarheit der Luft zu, daß man sich den Regionen des Pols näherte. Also lächerlich weit ab vom Ziel.
Und richtig, wie das Wetter tief unten ausgelärmt hatte, war fremdes weißes Land in ungeheuren Flächen zu erkennen.
— Vielleicht, daß wir uns an den Eisnadeln des Pols ein wenig anspießen zum Verschnaufen, spottete der Jüngere.
— Und einem Eisbären das Fell über die Ohren ziehen, damit es uns den Buckel wärme. Uebrigens ein spaßhafter Anblick, die alte Mutter Erde in dieser Rieseneismütze. Wann wird die gute Dame die Mode wieder ändern und sich Urwälder hinter den Ohren wachsen lassen und sich Palmenzweige auf den Scheitel stecken? Was meint unser Freund Grege aus dem gelehrten Teuta?
— Siehst Du, Grege, begann wieder der Jüngere, in dieser programmwidrigen Weise die Welt umkreisen, darin besteht das eigentliche Reisevergnügen. Das erfrischt und bildet zugleich. In Deinem Teuta wärst Du nie dazu gekommen, aus solcher Höhe den Wundern der Schöpfung in die Töpfe zu gucken.
Grege mußte die Kaltblütigkeit und Laune dieser Leute bewundern. Besonders der Aeltere, der mit dem Todtenkopf, war von einer verblüffenden Ruhe. Außer seinem wehenden Bart, an dem man förmlich die Richtung und den Wechsel des Windes ablesen konnte, hatte er nichts Bewegtes an sich. Selbst seine Lippen schienen beim Sprechen starr zu bleiben. Und er sprach nicht am wenigsten. Dergleichen hatte Grege noch nie erlebt. Der baroke Humor in dieser Situation absoluter Hilf- und Rathlosigkeit war ihm eine Offenbarung. Daß er selbst meist die Zielscheibe ihrer Hänseleien wurde, nahm er seinen Entführern schon gar nicht mehr übel in der gemeinsamen Noth.
Von der Ausfahrt bis zum Zusammenstoß mit dem irrenden Luftschiff in den ersten vom ausziehenden Wetter stichdunklen Nachtstunden hatten sie kein Wort an ihn gerichtet. Sie ignorirten den Gefesselten in seiner knirschenden Betäubung vollständig.
Bald nach dem Zusammenstoß lösten sie seine Fesseln, und ihr erstes Wort an ihn war Spott. Aber es klang ihm nicht bös, eher humoristisch.
— So, Mann, jetzt bist Du frei, wie wir, Du kannst Dich nach Herzenslust bewegen und hingehen, wo es Dir beliebt.
In der geisterhaften Geräuschlosigkeit der Fahrt durch den nächtigen Weltraum war ihm so beispiellos unbegreiflich zu Muthe, daß er kaum einen bestimmten Gedanken denken konnte.
Nach dem ungeheuerlichen Sturz und Wirbel des Fahrzeugs im Trichter des Fallwindes hatten auch seine Entführer allerdings eine Zeitlang das Spotten vergessen und hantirten ernst und schweigend in der Gondel herum. Als sie sich vergewissert hatten, daß vorerst nichts zu unternehmen war, als dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, richteten sie einige freundliche Worte an ihn.
— Nimm’s uns nicht übel, wir hatten’s besser mit Dir vorgehabt. Wir werden Dich für die ausgestandene Angst schadlos halten, sobald wir geborgen sind. Dann wirst Du auch eine liebenswürdigere Meinung von uns gewinnen. Willst Du frei sein, Flüchtling?
Und der Aeltere nahm ihm die Fesseln ab.
Grege hatte seither kein Wort mit ihnen gewechselt. Er vermied auch, ihnen in die Augen zu sehen. Er fürchtete das kalt Beherrschende, das starr Bannende ihres Blicks. Es ging etwas von ihnen aus, das entwaffnete und lähmte. Alle Schrecken seiner ersten Ueberwältigung und Fesselung vermeinte er wieder zu fühlen, wenn er ihnen in die Augen sah. Jetzt erst, wo ihr Schicksal ein gemeinsam ungewisses war und gemeinsam der Selbsterhaltungstrieb neuen Katastrophen gegenüber, fand er sich in’s Unvermeidliche und fühlte sich fast als ein mit ihnen auf Leben und Tod Verbündeter.
Nur wenn er an Jala dachte, war’s mit seiner Fassung vorbei.
— Jala, meine muthige, arme Jala, wenn Du wüßtest! Das war ein übler Anfang. O über die verwünschte Wunde!
Und er fühlte die Geliebte fast in körperlicher Nähe, hergezogen durch die schmerzlich überquellende Sehnsucht seiner Seele.
Dann aber sah er sie als märchenhafte Erscheinung in unmeßbarer Ferne wieder verschweben und sich selbst und seine Genossen wie außerhalb aller Welt, losgelöst von allem irdisch Menschlichen, und eine dumpfe Ruhe folgte auf die bittere Erregung.
— Seid Ihr gewiß, daß wir uns in der Nähe des Pols bewegen? fragte er seine Peiniger.
— Die unendlichen Schneelagen da unten und die schimmernden Gletscher schließen den Zweifel aus.
Die Strahlen der versinkenden Sonne schrägten über die schneeige Erde und lockten aus dem Weiß ein wunderbares Spiel zarter Farben.
Grege machte große Augen. Er strengte seine Sinne an.
Wie unfaßbar neu und von seltsamer Majestät war das Schauspiel, das die Erde aus dieser fabelhaften Höhe bot!
Gleich schwarzen Flecken saß das Wasser zwischen der Landschaft ewigen Schnees. Diese schwarzen Arabesken im Farbenspiel waren doch Wasser? Er mochte nicht fragen.
Die Gletschergipfel und die Zinken der Eisberge flammten auf wie ein Feuerwerk. Eine lange rosige Dämmerung legte sich darüber.
Schloß er die Augen, dann nahm die Nacht Alles unter ihren dunklen Mantel. In der Höhe aber brannten die Lichter des Himmels in kaltem, wundersamem Glanz.
Endlich kam das Prunkstück der Nacht, der volle goldene Mond, getragen von einem zuckenden Schimmer, der aus der Erde heraufzubrechen schien.
Selbst die Angelos verstummten vor dieser großartig einfachen Schönheit in dieser weltentrückten Höhe, wo Alles nur in himmlischer Reinheit als Licht und Farbe wirkte, keine Form für sich bestand, außer in den Zuständen dieser beiden Medien und ihrer einzigen Idealität.
Keiner hätte vermocht, in Worte zu fassen, was sie bei diesem Tiefblick in das All und ihre eigene unwillkürlich erschauernde Seele empfanden, keiner ein Bild gefunden, um diese Stimmung auszudrücken. Es war das äußerste Raffinement des Reizes, den die Natur auf menschliche Wesen auszuüben vermochte, in diesen fremden Regionen.
— Das geht bis zur Stupidität, sagte der Jüngere, um sich aus dem Zauber zu lösen, und über die Stupidität geht nichts.
— Ganz meine Meinung, bestätigte der Aeltere.
— Aber wird damit etwas wett gemacht? fragte Grege mit dunkeler Stimme, die Augen aufschlagend, wie im Traum.
— Diese Frage an das Schicksal steht uns Menschen immer frei. So oft wir sie auch wiederholen, klüger werden wir nicht dabei, erwiderte der Aeltere. Lass’ ruhig Deinen Bart wachsen, Grege, und wisch’ Dir den Mund. Wir thun das Gleiche.
Grege versank in Schweigen, das auf’s Neue zu einem schlummerähnlichen Zustand überleitete. Die Einförmigkeit der Bewegung war so unerschütterlich, daß er glaubte, er hinge still in der Luft, regungslos, und doch schwebte die Erde unter ihm fort und die Ereignisse nahmen ihren Gang. Aber er war so unbetheiligt an Allem — — so verwandelt — — —
Hinter seinen geschlossenen Augenlidern sah er in purpurner Nacht einen Stern blinken, geliebte erblindete Augen, feucht schimmernd von Thränen, von der Sehnsucht geweint und der Verzweiflung.
Die Angelos zuckten die Achseln über den Entschlummerten.
Der Aeltere zog ein feines Elfenbeinkämmchen aus der Tasche und strich damit seinen Bart.
— Originell ist er immerhin, dieser Typus.
— Eine Hilfe in dieser verwünschten Irrfahrt ist er uns freilich nicht. In normaler Lage wäre er seinen Preis werth. So aber kann er uns selbst theuer zu stehen kommen.
— Hoffentlich bringen wir ihn mit heiler Haut heim, die Rückkehr überhaupt vorausgesetzt.
— Wenn wir nicht gezwungen werden, ihn als Ballast hinauszuwerfen. Wir gondeln bedenklich tief, da unten ist’s Meer. In seinen Schlünden zwischen Eisbergen zu landen, dünkt mich kein wünschenswerther Abschluß unserer Fahrt. Schlechtes Geschäft. Verdammt kalter Wind, der da unten streicht.
Der Jüngere hatte diese Worte rauh herausgestoßen. In seinen Augen blitzte es seltsam.
— Zweifellos sind wir verloren, wenn wir noch länger mit sausender Geschwindigkeit auf dieser schiefen Ebene abwärts gleiten. Lassen wir den Teutamenschen fliegen oder nicht, das ist jetzt die Frage. Es geht auf Tod und Leben.
— Er schläft. Der Augenblick ist günstig. Mit einem Griff und Wurf ists gethan. Opfern wir ihn! Fort damit! Bist Du nicht entschlossen?
— Sicher, das ist rasch zu machen. Vielleicht warten wir doch noch eine Minute, bevor wir die Beute preisgeben. Eine kleine Schwenkung der Luft und wir gewinnen neue Kraft. Ich bin nun nicht sicher, daß wir den Pol in der Nähe haben. Der Lichtschein ist noch zu schwach. Das ist kein Polarlicht von der richtigen Stärke.
— Ebenso zweifellos ist, daß wir außerhalb des vernünftigen Kurses in der reinen Wüstenei irren. Kein einziges Fahrzeug weit und breit. Die verlassenste Gegend der Welt. Wir können uns nur über der öden Platte befinden. Für das Polarlicht ist die Jahreszeit nicht genügend vorgerückt. Das Ding funktionirt noch nicht. Ich bin für den kurzen Prozeß. Schleudern wir auf gut Glück die Last hinaus. Finden wir den Rückweg, können wir uns ein anderes Exemplar einfangen.
Grege fuhr aus einem furchtbar bösen Traume ächzend auf und richtete sich stracks empor, mit gesträubtem Haar, in bleichem Schrecken: Man hatte seine Jala erschlagen. Seine Jala erschlagen in der Irrniß, an fernem Strand! Sein Herz sprach ihm zu, es sei nicht möglich. So Grauenvolles und Sinnloses — ganz unmöglich. Dennoch rang er in schneidendem Weh die Hände. Eher müsse die Welt, die ganze lumpige Welt in Trümmer gehen — —
Blitzschnell faßte ihn der Jüngere von hinten, kreuzte ihm die Arme um den Leib und stieß ihn mit dem Knie hoch.
Instinktiv und in blinder Verzweiflung mit der Kraft der Todesangst schlug Grege mit den Beinen nach rückwärts so wuchtige Stöße, daß der überraschte Aeltere, vom Anprall getroffen, rücklings über den Bord stürzte, ohne die schwankende Gondel noch haschen zu können. Der Todtenkopf! Lautlos flog er in die Tiefe. Das Werk eines Wimpernzuckens, eines Augenaufschlags. Und die Luft muckste nicht, die Gondel kreischte nicht. Ein Mensch, der sich den Hals bricht, sonst nichts. Ganz zufällig.
— Das hast Du gut gemacht, kreischte der Jüngere mit verzerrtem Gesicht, seinem Opfer nach der Gurgel fahrend mit eiserner Faust.
Grege hatte Blitze, Feuerschlangen und rothe Sterne vor, den Augen, blutigrothe.
— Oho! Jala!! schrie er, wie ein Verrückter.
Und mit einem Stoß in die Herzgrube und einem fast gleichzeitigen Schlag von übermenschlicher Energie in die Augen streckte Grege seinen Gegner nieder.
Wie rother Qualm brach’s durch die Luft, und eine frische Strömung hob das Fahrzeug.
— Jala, das dank’ ich Dir! Jala, Lebendige! —
Auf geheimnißvollen Pfaden flog das Fahrzeug weiter.
Nach unten war nichts zu sehen als ein riesiges Wolkengeschiebe, ein Zug von grauen Ungethümen, die die Erde verhüllten. Die Luft voll Salz.
Grege fühlte sich zum ersten Mal wieder als ganzer Mann, seit er die ihm aufgedrungene Fehde mit den Angelos so tapfer ausgefochten. Es war eine neue Kräftespannung in ihm geboren, er fühlte sich so frei und gehoben.
Hei, das war ein wirkliches Erlebniß, an dem er muthvollen, redlichen Antheil hatte. Den Einen beseitigt, den Andern zusammengehauen, das war ein Weg zur Klärung der dunklen Verhältnisse von Mann zu Mann.
Nun hieß es noch Ausdauer den unsichtbaren Mächten des Luftreiches gegenüber bewähren. Zähe auf der Hut sein! Mit der dumpfen Ergebung und wehmuthsvollen Beschaulichkeit war gebrochen.
Achtung, daß sich kein neues Unheilgespinnst um die Seele legt! Daß der Feind dich nicht mit Ränken umgarnt!
Der gezüchtigte Angelo gewann überraschend schnell seinen Gleichmuth wieder.
An den empfangenen Streichen hatte er einen Maßstab für die Leistungsfähigkeit seines Gegners gefunden.
Das war seine Erleuchtung, daß er an dem Teutamann nicht mehr einen Gefangenen, sondern einen erprobten Gegner hatte.
Mit der Vergewaltigung eines Schwächeren war’s vorbei.
Grege verhehlte sich’s nicht, daß die neue Seite des Lebens in ihrer Mischung von Brutalität und Bosheit, so sehr sie auch allen Lehren und Sitten der Teutaleute daheim wider den Strich ging, ein nicht zu unterschätzendes Gefühl der Frische und Behaglichkeit in ihm geweckt habe. Die Gefahr selbst, die seine Nerven unausgesetzt gestrafft hielt, empfand er als eine Bereicherung seiner Männlichkeit.
Ja, er empfand es als angenehmen Kitzel, seinem Gegner mit scharfgespitzten herausfordernden Fragen auf den Leib zu rücken.
— Möchtest Du’s noch einmal mit mir versuchen? Meinst Du, allein Fäuste und das Recht zu haben, sie gegen den Mitmenschen zu erheben? Meinst Du, daß von Dir zu mir ein anderes Gesetz gilt, als von mir zu Dir?
Und als der Angelo stirnrunzelnd schwieg, fuhr Grege beherzt fort:
— Sag’ jetzt, wie willst Du Dein Verhalten vor mir rechtfertigen?
— Die Antwort eilt mir nicht, entgegnete der Angelo trutzig. Gieb mir von Deiner Speise, wenn Du noch Vorrath hast, der Hunger frißt mich.
Grege fand in seiner Tasche noch einige Surro-Kugeln, davon reichte er ihm eine.
— Da, nimm und wohl bekomm’s! Wir müssen den Rest eintheilen.
— Ich hoffe, daß wir heute noch zu Speise und Trank kommen.
— Warum hoffst Du das?
— Sieh dort hinüber, die lichten Punkte! Wir haben guten Kurs, endlich!
In der That bemerkte jetzt Grege zu seiner freudigen Ueberraschung, daß sich auf der nämlichen Luftlinie in nicht allzu weiter Entfernung zwei andere Fahrzeuge hielten.
— Sobald Anruf möglich, können wir uns Anknüpfung suchen. Geht’s gut, werden wir uns schleppen lassen.
— Und dann?
— Dann kehren wir heim.
— Wie verstehst Du das?
— Wir haben bewohntes Land unter uns. Das Inselreich der Angelos ist nicht fern. Dort ist unser Ziel.
Grege stutzte. Also in’s Land der Feinde, unentrinnbar, in die Gefangenschaft.
— Unser Ziel? Was hast Du mit mir vor? fragte er und faßte den Mann kühn in’s Auge.
— Ich werde Dich absetzen, lautete die Antwort mit gespielter Harmlosigkeit.
— Was heißt das, mich absetzen? Heraus mit Deinem letzten Gedanken!
— Du wirst unser Gast sein.
— Grege schüttelte den Kopf. Alles bäumte sich in ihm auf.
— Und wenn mir das nicht behagt?
— Es wird Dir behagen. Man wird Dich mit offenen Armen empfangen.
— Wenn ich aber nicht empfangen sein will?
— Man wird Dir die Ehre anthun, Dich als ein seltsames Kulturwunder zu feiern. Ist Dir das zu wenig?
Grege sann nach, wie er mit einem schlagenden Wort wie mit einem Hieb die unsichtbare Fessel zu durchhauen vermöchte, an der dieser freche Mensch ihn noch in Unterthänigkeit zu halten wähnte. Aber er fand es nicht. Innerlich stand ihm nur dies fest: keine Ueberrumpelung durfte mehr glücken, keine weitere Entziehung der Freiheit mehr möglich sein, um keinen Preis. Das Entsetzliche durfte sich nicht vollenden.
Endlich sagte er entschlossen: Wenn wir am Lande sind, werde ich frei meiner Wege geh’n, als Niemandes Knecht.
— Vergiß nicht, daß vor Allem noch eine Rechnung zu begleichen ist.
— Was für eine Rechnung?
— Mit einem Kameraden zog ich aus, ohne ihn kehr’ ich heim. Durch Deine Schuld. Du hast Ersatz zu bieten. Die Rechnung ist einfach.
— Die Rechnung ist falsch! Ich erkenne sie nicht an, der Schuldige bist Du!
— Das wird sich zeigen, ereifere Dich nicht.
Heiß stieg’s in Grege auf. War das nicht empörend, so allen Thatbestand und Sachverhalt zu verkehren und gegen ihn zu wenden? Er der Schuldige, weil er als der Angegriffene in verzweifelter Nothwehr gehandelt?
Aber er fühlte sofort, daß da mit Gründen und Erklärungen nichts mehr zu richten sei. Nur eine That konnte aus dieser ruchlosen Verstrickung retten. Die That des Stärkeren. Nur Gewalt konnte ihm Recht bringen.
Also mußte er der Gewaltthätige sein, wollte er nicht dem Unrecht unterliegen. Das war das Gesetz, das außerhalb der Bannmeile von Teuta galt: Schaffe Dein Recht aus eigener persönlicher Macht, wende Gewalt an!
Nun erst wurde ihm der tiefe Sinn und die unbewußte Verantwortung seiner Flucht aus Teuta klar.
Was hatte ihn gegen die Gemeinschaft der Teutaleute empört, was hatte ihn aus ihrer Gesellschaft in die Flucht gejagt? Ein Gefühl und ein geheimer Bund mit dem Weibe. Jetzt setzte sich ihm in lichte Erkenntniß und Pflichtbewußtsein um, was bisher nur dunkler Drang in ihm gewesen. Jetzt galt’s die Probe auf die Berechtigung seiner Selbstbestimmung.
Seine Flucht vor denen, die hinter ihm sind, verwandelte sich in Kampf gegen die, die vor ihm sind.
Die stille That wird zum hellen Aufruhr, zum lauten Kampf. Nicht mit den Beinen ist die Freiheit zu erlaufen, nicht als Geschenk des Zufalls wird sie eingeheimst. Als Siegespreis will sie erstritten sein.
Grege’s Augen leuchten. Er strich sich die Haare aus der heißen Stirn. Er drückte die Hand auf die pochende Brust.
Er brauchte nur den Arm auszustrecken, so stieß er auf den Feind. Er brauchte nur unbedacht den Rücken zu wenden, so war seine eigene Niederlage besiegelt. Das ganze Luftreich stille, starre, theilnahmslose Natur. Und setzte er den Fuß auf die Erde, so wuchsen ihm zu dem einen Feind eine Legion aus dem Boden.
Sogar daheim fahnden sie nach ihm als Einen, der das Staats-Gesetz gebrochen und den Gesellschafts-Vertrag verletzt.
Das war jetzt sein Weltbild: Feindschaft ringsum. Seine Welterkenntniß: Teuta, aller Weltwirklichkeit entfremdet, vegetirte im Irrwahn. Die Teutaleute spielten eine traurige Rolle in der Weltgeschichte. Sie zehrten vom Gnadenbrot ihrer Nachbarn. Der nächste Sturm konnte das Kartenhaus ihres eingebildeten Glücks über den Haufen blasen.
Er wünschte, das ganz Teuta bei ihm in der Gondel säße und sein Geschick seit dreimal vierundzwanzig Stunden theilte. Diese Lektion könnte genügen. Sogar für die Weisesten im hohen Rath.
— Wie war das mit dem Weibe, Grege? Zogst Du wirklich hinter einem Weibe her, als wir Dich einluden, in unser Fahrzeug zu steigen? fragte der Angelo mit boshaftem Lächeln.
— Habe ich je nach Deinem Weibe gefragt? entgegnete Grege kurz.
— Warum hast Du nicht gefragt? Deiner Wißbegierde sind keine Schranken gesetzt, junger Mann. Willst Du meine Leibspeise wissen? Willst Du den Stand meiner Sippe kennen? Willst Du wissen, woraus ich mein bestes Vergnügen ziehe? Oder interessirt Dich meine Hausnummer? Frage frisch drauf los. Spute Dich. Ich verhehle Dir nichts. Nicht einmal meinen Namen.
— Dein Name ist Schurke! Wie ihn auch Deine Zunge aussprechen möge, Schurke immer und ewig.
— Tobe Dich aus, bevor’s zu Ende geht mit unserer Luftfahrt und Du unter gesittete Menschen kommst, Grege. Wonach gelüstet Dich? Versage Dir nichts, ich bitte Dich.
Grege’s Blicke irrten unstät. Der maßlos kalte Hohn preßte ihm das Herz zusammen. Eine rettende Eingebung, Jala!
Merkte er, wie die Erde näher stieg? Wie auf wenige Hundert Meter eine weite Wiesenlandschaft sich dehnte? Wie ein anderer Geruch die Luft durchdrang, deren Salzgehalt ihm so lange fremdartig die Nase gekitzelt?
Er achtete nicht der halb gierigen, halb befriedigten Späherblicke seines Feindes. In einem einzigen Gedanken konzentrirte sich ihm Alles.
Ohne den Kopf auffällig zu wenden, hielt der Angelo scharf Auslug und berechnete bereits die Minute und den Platz, wo sich die Landung ermöglichen ließ. Uebermäßig günstig schätzte er zwar den Ort nicht, aber er war geübt genug, alle Vortheile rasch zusammen zu fassen — jedenfalls würde er auch hier Mittel finden, seine Beute auf den Boden und in Sicherheit zu bringen.
Und im feurigen Ueberschlag der Ergebnisse war’s ihm jetzt ein geschäftlich verdammt angenehmer Gedanke, daß er ohne Theilhaber von dem abenteuerlichen Beutezug heimkehrte. So floß der Gewinn ganz in seine eigene Tasche. Die ethnographische Menschengarten-Gesellschaft für vergleichende Rassen- und Sittenforschung mußte ihm sogar noch ein Uebriges zulegen für dieses lang gesuchte vollkommene Teuta-Original in Anbetracht der überwundenen Gefahren. Vielleicht ließe sich auch sonst noch Erkleckliches aus dem Kerl schlagen. Zum Beispiel im aristokratischen Damen-Klub für sexuelle Experimentir-Physiologie und Hypnose. Auch der Sportverein für Züchtung reiner Menschenrassen, dem sämmtliche königliche Prinzen angehörten, könnte für diesen rasseechten Versuchs-Mann interessirt werden. Kurz und gut — Kalkulation und kein Ende.
Da — alle Wetter!
Grege, wie von unsichtbaren Händen hinausgeschleudert, baumelt am Anker.
Eins, zwei, drei liegt er in der geringen Tiefe. Eilig sinkt mit ihm die Erde.
Das Fahrzeug nimmt einen neuen, überraschend schnellen Aufstieg. Jede gesunde Möglichkeit ist vorbei, dem Flüchtling wieder nahe zu kommen. Ihm nachstürzen, wär’ sicherer Todessprung.
— Alle Wetter! Verdammt, verdammt! So als Angelo überlistet und betrogen!
Nein, dieser Bim. Teuta hatte noch keinen aufdringlicheren Oberphysikus erlebt. Was ihm nur plötzlich durch’s Gehirn gestiegen sein mochte, daß er jetzt Projekt auf Projekt thürmte? Das ist ja unheimlich. Dieser Narrentanz senilen Ehrgeizes und Erfinder-Wahnsinns. Teuta, ruhig und glücklich, so zu behelligen!
Ao war entschlossen, seine Hand nicht dazu zu bieten. Diese wissenschaftlich-technischen Neuerungen sind gefährlicher Unsinn.
Der Oberpriester warf noch einen Blick auf Bim’s Blätter und Tafeln, dann schob er sie ärgerlich bei Seite.
— Ewig diese sogenannte Wissenschaft! Wird man nie Ruhe vor ihr haben? Hypothetisches Helium, Linie D 3 Sonnenspektrum, Wellenlänge 587,74. Zweimal diese Galgenziffer neben einander. Wo er das nur wieder gestohlen hat! Eine neue Beleuchtung — nein, ich mag nicht mehr. Teuta ist hell genug. Was meinst Du, Minus?
— Zumal jetzt, Ao, wo uns diese Flucht-Geschichte auf den Nägeln brennt. Mir ist wahrhaftig Amt und Leben verleidet. Der ganze Kram ist mir zuwider. Ich kann nicht mehr. Alles bricht mir zusammen.
Ao kniff die wässerigen Augen ein und seufzte:
— Mir auch, mir auch, Minus. Ach, ach, Theuerster!
— Jala ist aus Deiner Sippe. Mit allem schuldigen Respekt, Oberpriester, Herrlicheres habt ihr nie hervorgebracht.
— Sag’ Unglückseligeres. Könnten wir einen Schleier darüber breiten! Wir haben schon so Vieles vertuscht, zum gemeinen Wohl, ließe sich nicht auch dieses vertuschen? Denk’ nach, Minus!
— Wenn uns nicht zugleich dieser Grege abginge. Das Volk ist erregt. Er war sein Liebling. Soundso nährt die Gährung. Er läßt durchblicken, wir hätten diesen letzten königlichen Sproß beseitigt. Und es giebt kein Fest, wenn das Volk nicht dem Grege in’s Antlitz sehen kann.
Ao machte ein bekümmertes Gesicht.
— Können wir für ihn nicht einen Anderen unterschieben? Sag’, Minus, ginge das nicht? Es kommt doch nur auf die Illusion an. Nur auf die Illusion. Auf das Bild, das sich die Leute machen, suggestiv.
— Es giebt nicht seines Gleichen im Lande. Keiner ist so schön gewachsen wie er. Oder weißt Du Einen? Sein still gefaßter Geist ist so harmonisch entwickelt, wie seine Muskulatur. Mag hier ein Wunder der Vererbung vorliegen oder nicht, es ist so. Er überragt. Mag’s zum Grundgesetz unserer Weltgleichheit stimmen oder nicht, die Thatsache ist unfehlbar. Sag’ ich zuviel? Keiner hat seine heldische Würde, seinen Liebreiz, seinen Zauber, Ao. Er und Jala! Ist es nicht wie ein Symbol, daß Beide gleichzeitig verschwunden?
— Laß jetzt Jala aus dem Spiel. Die war keine öffentliche Person, keine Staatseinrichtung, sozusagen, aber Grege, freilich, der war Schauspiel von Staatswegen und Augenweide für Alle.
— Das Volk hatte seinen Narren an ihm gefressen.
— Ja, ja, Minus, das Volk! Es frißt auch wieder an einem Andern seinen Narren. Es will seine Komödie haben, das ist Alles.
— Und eben die spielte ihm Grege mit seinen ausgezeichneten körperlichen Gaben zum Entzücken vor. Die Leute waren aufgelöst in Wonne. Ihr Zwerchfell war erschüttert wie ihr Herz, wenn er in seinem königlichen Komödiantenpomp hervortrat und die höfischen Zeremonien aus der alten Zeit vorspielte. Er war ihr Gott und Fürst und Hanswurst in diesem Augenblick in einer Person. Eine Art künstlerischer Dreieinigkeit zum Gaudium der Massen. Das war sein großer Erfolg. Ich glaube nicht einmal, daß ihm die Sache persönlich Spaß machte. Aber daran liegt nichts. Die schaulustige Menge amüsirte er königlich.
Ao stimmte bei und wackelte mit seinem glänzenden Fettkopfe. Dann flüsterte er mit speckiger Stimme:
— Minus, unter uns: das entscheidet in der Welt, wer der größte Komödiant ist. Der größte Komödiant wird immer das Herz des Volkes für sich haben.
— Das ist das Furchtbare in der Welt, daß sie im Grunde schrecklich und doch ohne Ernst ist. Drum hat auch das lächerliche Wort Uebermensch so viel Glück gemacht. Und das Zarathustra-Fest alle Feste besiegt.
Und Grege alle andern Volksbelustiger in den Schatten gestellt.
— Das Zarathustra-Fest gipfelte in diesem Uebermenschen. Weiß denn Bim nicht Rath?
— Geh’ mir mit Bim!
— Immer quält er uns mit seinen Entdeckungen und Erfindungen. Kann er denn da nichts machen?
— Das ist ja lauter dummes Zeug, was er macht. Du hast’s vorhin selbst gesagt. Linie D 3, Sonnenspektrum, Wellenlinie — läßt sich daraus ein Grege fabriziren, Ao? Oder eine Jala?
— Sprich mir nicht von Jala. Sie gehört nicht hierher. Das ist Deine persönliche Kümmerniß, Minus. Leider. Ein Mann in Deinen Jahren und Würden sollte darüber hinaus sein, erlaube das harte Wort. Ein Weib geht uns, als Gefühlsgegenstand, so wenig an wie das hypothetische Helium.
— Du thust Dich leicht, Ao.
Der Oberpriester blies die Backen auf und machte die Augen rund wie Glaskugeln:
— Das Gesetz ist da. Teutas unverbrüchliches Gesetz: Hänge Dein Herz an kein Weib!
— Soll ich’s an Bims Helium hängen? Das Herz ist eben auch da.
Ao machte sich kleiner und senkte den Kopf zwischen die fetten Schultern.
— Für das Gemeinsame, Minus, nur für das Gemeinsame. Ach, muß ich die Rebellion an den Besten erleben! Zerbrich Dein Herz, Mann vom hohen Rath, fügt sich’s nicht in’s Gesetz!
— Ich bitte Dich, Oberpriester, was redest Du!
— So lange ich das erste Wort im Lande habe, weiß ich kein anderes, darf ich kein anderes wissen. Drücke mich nicht mit Deinem unrechtmäßigen Begehr. Ich kann nicht mehr. In Teuta ist kein Raum für leidenschaftliche Ueberschwänglichkeiten. Darum reinliche Scheidung zwischen Mann und Weib und strengste Regelung des Verkehrs. Keinen Mischmasch der Gefühle. Ich erliege der Last des Regiments, wenn sich solche Dinge häufen. Wie ruhig und glatt ging Alles die vielen schönen Jahre her, und nun auf einmal steigt mir ein Wirrsal um’s andere auf den Nacken. Ach, ach . . . .
— Gut, ich werde ein Ende machen.
— Ja, thue das. Nimm Vernunft an, Du mein Bester. Entsage dem thörichten Weiblichen. Mach’ ein Ende. Du bist zu alt zum Tanzen. Mach’ ein Ende.
— Noch vor dem Zarathustra-Fest.
— Recht so. Noch vor dem Zarathustra-Fest. So bist Du Deiner würdig. Teutaland wird Dir’s danken. Und wegen Greges will ich die Aeltesten vom Festbund vernehmen. Es sind kluge Leute. Die werden uns heraushelfen. Um Jala wollen wir jetzt nicht weiter jammern. Mach’ ein Ende. Mach’ Frieden mit Deinem Herzen.
— Gewiß, das will ich.
— Gut, Minus, ich habe Dein Wort. Nun sollst Du auch wissen, daß Du damit dem hohen Rath einen Stein des Aergernisses aus dem Wege räumst. Kaspe und Titschi hatten Wind von Deiner Sache und nahmen Anstoß daran. Allerlei Schwierigkeiten, Du verstehst mich.
— Ja, ich verstehe Dich, guter Ao.
— Und nun verlaß’ mich. Morgen wirst Du dem hohen Rath eine Erklärung geben. Ich bin todtmüde. Mich verlangt nach Ruhe. Ganz Teuta peinigt die Sehnsucht nach Ruhe. Dich nicht auch?
— Mich auch. Leb’ wohl, Ao, leb’ wohl.
Minus kämpfte schwer.
Sein Wille wurde, soweit er zurückdenken mochte, seiner Neigungen nicht Herr. Seine Nerven ließen sich nicht an die Ordnung binden. Sein Blut wollte sich keinem Zuspruch fügen. Alles war Widerstreit in ihm, Alles lag sich in den Haaren. Sein Befinden hatte sich dabei bis zur Unerträglichkeit verschlechtert.
Ewig sich selber Feind und Kriegsschauplatz sein und vor der Welt den sanften Meister der geistigen Zucht spielen? Den lächelnden Herrscher, der nur auf Siege blickt und auf Ruhmesbahnen schreitet, während er thatsächlich von Niederlage zu Niederlage taumelt und voll ist bis zum Halse von bitterem Ekel über sich und seine Mitwelt?
Fürwahr, eine plumpe Lügenpeterei war dieses ganze Leben, zu dem er sich als Angehöriger des Teutavolkes verdammt sah. Ein Genist von Ungeheuerlichkeiten der ganze Verkehr von Mensch zu Mensch. Nirgends Zug und Schwung, ein ewiges Hinkriechen und Beiseiteschleichen. Die Dümmsten die Verhätscheltsten, die Aberwitzigsten die Belobtesten.
Und diesen müffigen Lebensbrei auslöffeln, mit zugehaltener Nase, Tag für Tag, bis endlich die Sickerquelle des Bewußtseins und Begehrens im elenden Hinsiechen sich von selbst verstopft?
Da war noch ein bleicher Schimmer von Glück in einer ungewöhnlichen Holdseligkeit des Weibes. Er ist erloschen. Da war noch eine schwache Betäubung im Verkehr mit den Ausnahmegeistern der Vergangenheit. Gespensterspiel, nichts weiter. Was blieb? Nichts, was die Persönlichkeit über den Verdruß mit sich selbst hinaushebt. Nichts, was zu einer äußersten Kraftprobe befeuert. Nichts, was die verpönten Laster Verachtung, Zorn, Haß, Rache zu geheiligten Tugenden umwandelt. Eine einzige Nichtigkeit Alles. Und nun schleicht das Alter heran, die Verstumpfung der letzten kümmerlichen Daseinsreize, die Verzweiflung, die nicht einmal sich selbst mehr ernst nehmen kann.
— Minus, verkadavere Dich, endgiltig, bevor es zu spät ist. Sogar der hohe Rath, der lächerliche hohe Rath, hat Wind . . .
Sein Auge glühte, sein Gesicht bedeckte tiefe Blässe.
Sein Fahrstuhl hielt vor der Thür seines Gemaches. Wie ein Schatten war er durch die lange Kreisbahn gehuscht, die aus der Tiefe der Beamten-Region zur oberen Schicht führte. Hier lag die Wohnung im neunundneunzigsten Bezirk, dicht an der Grenze der Männerhauptstadt.
Eine Mauer mit vielen Thoren, die mystische Inschriften trugen — wie: Wille zur Macht, Selbstverneinung, Bejahung des Lebens, Nullpunkt der Gefühle, Schwelle des Unbewußten — trennte die Männerhauptstadt vom Jenseits der Frauenhauptstadt. Denn das war der Triumph der moralischen Entwickelung in Teuta: Anerkennung der Gleichheit in der Trennung, Freiheit in der Bethätigung des Sonderwesens als Gattung, Mechanisirung der Empfindung bis zur Vernichtung der persönlichen Wahltriebe.
Vom Diesseits der Männer zum Jenseits der Frauen waren die Verkehrswege streng geregelt. Es gab offene Zeiten und geschlossene Zeiten.
Jetzt war geschlossene Zeit. Drum fiel es Minus auf, daß eine vermummte, zierliche Gestalt, aus dem Jenseits kommend, in später Nacht, ohne Fahrzeug sich herübertastete, mit kleinen, unsicheren Schritten, im Schein des verminderten Lichts.
— Wer da? rief Minus und öffnete seinen Mantel, um durch seinen purpurnen Talar als Mann vom hohen Rat sich auszuweisen und in Respekt zu setzen.
Die zierliche Gestalt schlug die Kapuze zurück und erwiderte lächelnd:
— Soundso grüßt Minus, Hoheit.
— Ach, Soundso, Du, auf Schleichwegen?
— Auf Schleichwegen, ja, wenn Du willst. Im Späherdienst.
— Kehr’ ein bei mir, auf eine Minute. Du bist mir ein willkommener Zeuge.
— Wenn ich dienen kann, gern, auf eine Minute. Kaspe erwartet mich, bei Titschi.
— In diplomatischer Sendung versäumst Du auch bei mit Deine Zeit nicht. Du kannst dann übrigens den Hoheiten Schönes von mir melden.
Beide traten ein. Ein weites Gemach, durch verstellbare Schirmwände in mehrere kleine Räume geteilt, empfing sie. Minus bewegte mit dem Fuß einen Knopf am Boden, sofort ward milde Dämmerung.
— Laß Dich hier nieder, Soundso, Du wirst ermüdet sein.
Minus ging bis zur nächsten Abtheilung.
Von dort aus führte er, ungesehen, das Gespräch.
— Darf ich Mitwisser sein, Soundso?
— Bis zu einem gewissen Punkt, gewiß! antwortete Soundso, den Flüsterton etwas erhöhend.
— Bist Du durch das Thor des siebenfachen Schweigens gegangen?
Soundso blieb stumm.
— Und durch das Thor der sieben Seligkeiten?
Soundso seufzte wollüstig.
— Sahst Du auch die Ecke links vom Thor zum süßen Salböl, wo die apokalyptischen Leuchter stehen?
Soundso schnalzte leise mit der Zunge: Ich habe den Kopf durchs Gitter gesteckt, das Thor war verschlossen und Blut auf der Schwelle.
— Die alte, ewig junge Geschichte. Ach, glückliche Jugend . . . . Und hat das Mondlicht Dich wonnig umflossen?
Soundso schwieg, erinnerungstrunken lächelnd. Wenn der Esel Minus wüßte . . .
— Also reden wir vom Dienst, Soundso. Ist Dir’s gefällig?
Soundso räusperte sich. — Kann ich leise sprechen, hörst Du?
— Ich verstehe Dich gut. Wem galt Deine Auskundschaftung?
— Einer Entwichenen. Einer Künstlerin der schön gemessenen Bewegung . . .
— Wenn Du den Namen verschweigst, denk’ ich an Jala. Einverstanden?
Soundso schwieg. Er zog die Kapuze wieder über, bis an die Stirn.
— Hat man Spuren? Nähere Umstände?
— Man weiß den Tag und vermuthet die Richtung.
— Die Richtung des untergehenden Gestirns. Ist’s so?
— Du sprichst im Bilde, Minus.
— Und sonst? fragte Minus mit merklich erregter Stimme.
Soundso schwieg.
— Hat man Hoffnung auf Wiederkehr?
— Einer ist mit ihr gegangen, Einer ist geblieben.
— Schließt das die Hoffnung aus? Ist der Gebliebene verdächtig? Möchtet ihr seiner los sein?
Soundso schwieg.
Lauschende Stille. Soundso glaubte, Minus athmen zu hören.
Die Pause verlängerte sich.
Soundso schlug die Kapuze zurück. Ein kaum vernehmbares Geräusch wie von sich entfernenden schleichenden Schritten.
Dann stockendes Leben in vollkommener Ruhe. Soundso hörte nur noch seinen eigenen Athem.
Schwül beklemmender Duft dickte die Luft.
— Minus, ich denke die Audienz ist zu Ende. Entlasse mich mit gütigem Gruß, bitte.
Eine Weile tödtliche Stille.
— Grüße Du mich! kam es verröchelnd aus dem Hintergrunde.
Soundso verzog das Gesicht. Das ist mir schlechter Geruch und unerfreulicher Ausgang, dachte er.
— Aber man kann ja sehen, sagte er halblaut und machte wenige Schritte gegen den Hintergrund.
— War das Dein letztes Wort, Hoheit? rief er stehen bleibend. Kann ich mich zurückziehen?
Es ward ihm keine Antwort.
Im Umdrehen kam er mit dem Fuß an den Knopf am Boden.
Plötzlich stand er im Dunkeln.
— Ich bedanke mich, der Narr eines Verrückten zu sein, ich werde meine Maßregeln ergreifen, daß mir Keiner zuvorkommt, murmelte er. Jeder geht seine eigenen Wege schließlich.
Und er tastete sich schleunig zum Ausgang. Er glaubte genug zu wissen. Und er versprach sich Nutzen von diesem Wissen.
Der Oberpriester hatte sein Schläfchen genossen. Ganz so erquickt wie sonst fühlte er sich nicht.
Er rieb sich die Augen und die brummenden Unterschenkel. Er schien nicht ganz bequem gelegen zu haben. Dann wischte er sich die Mundwinkel aus, die im Schlafe stets ein wenig geiferten.
Ja, ja, so ein Schläfchen, das ist doch das Beste. Man ist wie im Paradiese. Nun heißt es wieder an die rauhe Wirklichkeit denken und die Sorgen des Amtes herantreten zu lassen, eine nach der andern.
Was denn zunächst? Ja, was denn? Und er sann. Da drohte ihn noch einmal der Schlummer zu überfallen. Die dicken Augenlider wollten nicht halten. Ach, das viele Denken.
Er ächzte. Er gähnte und ächzte wieder. So ein oberstes Wächteramt, das lastet schwer, selbst auf den Stärksten. Diese ganze Menschheit zu behüten vor Schwankungen und Störungen ihres Glückes, daß Alles stets seinen rechten Weg gehe, daß die Maschine nicht nothleide — das strengt an, kein Wunder. Und als Aufseher der Aufseher, in dieser etwas bunten Mischung der Charaktere, da galt es doppeltes Gehirnschmalz aufwenden, wenn Alles klappen sollte. Und das war sein Ehrgeiz, daß unter seinem Regiment Alles schön klappte.
Bis jetzt, in allen Hauptsachen wenigstens, klappte Alles. Dies Verdienst konnte ihm Niemand schmälern. O, er verstand zu führen, zu richten und zu schlichten.
Und er gähnte und lächelte. Eine Ehrentafel war ihm sicher. Eine glänzende Ehrentafel. Keinem seiner Vorgänger stand er jemals nach, keinem. Bei der nächsten Wahl wird man ja sehen. In ganz Teuta findet man keinen Besseren. Da können sie in alle Winkel leuchten.
Was denn nun zunächst? Und er kämpfte einen neuen Gähnanfall muthig nieder.
Eine feine Klingel ertönte, musikalisch abgestimmt, in rhythmisirter Kadenz. Eine ganze Arie.
Ao wälzte sich in Positur.
Er spitzte die Ohren. Er las die Klänge, ohne sie sich zu übersetzen. Sein Gehirn arbeitete noch ganz wunderbar mechanisch.
— Titschi will mir seinen Soundso zu einer Meldung schicken. Ach so. Die Geschichte mit Minus, Grege und so weiter. Nein, jetzt nicht. Ich will erst die Aeltesten hören, die guten, klugen, vergnügten Leute vom Festbund. Titschi ist ja eine gewiegte, zuverlässige Kraft.
Er bewegte sich auf seinem schwingenden Polster an den kleinen Mitteltisch mit dem Tastwerk.
— Titschi ja, aber mit seinem Soundso soll er mir vom Halse bleiben.
Er nahm seine Amtsmiene an und ließ seine dicken Finger würdevoll auf den Tasten spielen.
— So, jetzt kann’s losgehen. Minus interessirt mich jetzt nicht, er soll mit sich selbst fertig werden. Grege und Jala, was sie nur forttrieb? Besser finden sie’s doch nirgends. Aber wo der tolle Eigenwille anfängt, da ist kein Halten mehr.
Wieder ertönte eine Klingel. Diesmal für den Hör- und Sprechapparat.
— Na, na, na. Das ist ja keine Musik, das ist Sturmläuten. Was? Minus ist mit sich fertig geworden? Um so besser. Hab’s ihm eindringlich genug gerathen. Ueber das Weitere kann er mir morgen persönlich Bericht erstatten. Ich lasse Minus grüßen.
Er machte eine Pause, sich von der Anstrengung ein wenig zu erholen.
Dieser Minus, so stolz und eigenwillig, wahrhaftig, das war ein schmeichelhafter Erfolg für die Beherrschungsgabe Aos: Minus nimmt Vernunft an, Minus bringt dem oberpriesterlichen Hüter der Gesetze ein Herzensopfer!
Ao lächelte und tippte mit dem kleinen Finger auf eine zierliche Flasche. Sofort antwortete ein duftiger Sprühregen. Ao hielt seine Glatze vor, das flüssige Aroma aufzufangen. Das süße Bad floß ihm über Stirn und Nase.
— Aber, aber! Schon wieder? Ich kann nicht mehr, die Aeltesten erwarten mich im Berathungssaal. Wie? Falsch verstanden, ich? Minus — was? Feierlicher Abgang, eigenhändig? Das wär’ gegen alle Verabredung. Soundso bezeugt’s? Dabeigewesen? Das lass’ ich mir doch nicht aufbinden. Hat keine Wahrscheinlichkeit für sich. Minus wird den Soundso als Augenzeugen zu sich einladen, um diesem vorwitzigen Jüngling so etwas vorzumachen, Verzeihung, Titschi, das glaubt Dein Scharfsinn selbst nicht. Wie? Bis morgen. Der Irrthum wird sich aufklären. Ich hab’ jetzt wirklich an Anderes zu denken, wie gesagt, Die Aeltesten erwarten mich. Ich kann mir nicht Alles durcheinander bringen lassen. Eins nach dem Andern. Also bis morgen. Schluß.
Ao zog sich die Hörröhrchen aus den Ohren. Gut, nun würde er morgen Gelegenheit haben, diesen aufdringlichen Soundso einmal gründlich aufsitzen zu lassen. Der blinde Uebereifer verdient die Lektion.
Mit liebevoller Umständlichkeit ordnete der Oberpriester seinen weitläufigen Leib in die Polster des Fahrstuhls, drückte auf eine Klappe, schloß die Augen und ließ sich in sanftem Gleiten in den Berathungssaal befördern.
Die Aeltesten waren bereits zur Stelle. Sie hatten sich inzwischen die Zeit mit der gelehrten Untersuchung einer Frage vertrieben, die jüngst ein spitzfindiger Schüler aufgeworfen: Wenn ein Gesetzesbeschluß zu Stande käme, daß die Teutaleute statt zu gehen auf allen Vieren kriechen müßten, wie lange bliebe dies ruhig geübtes Recht? Und sie kamen überein, daß sich der Zeitraum nicht übersehen ließe. Die heilige Macht des Gehorsams wäre stark genug, eine Gewohnheit zu schaffen, daß die herrlichen Teutaleute schließlich nur mit neuem Zwang davon abzubringen wären, auf allen Vieren zu kriechen. Es läge sicher ein wonniger Reiz in dem Bewußtsein jedes richtigen Teutamenschen, eine gesetzliche Bewegungsart zu pflegen, die von keinem anderen Volke angenommen wäre. Bei festlichen Aufzügen könnte das Kriechen vor dem Gehen überdies ungewöhnliche Pikanterien voraushaben und die positiven Lustgefühle vermehren. Aus diesem Grunde habe man schon im deutschen Alterthume, wie zuverlässige Sagen melden, sogenannte Spring-Prozessionen gehabt, das heißt religiöse Aufzüge, die nicht feierlich geschritten, sondern gehüpft wurden. Dergleichen auf allen Vieren zu machen, sei aber entschieden noch sehr viel aparter und anregender.
Plötzlich war Ao hereingehuscht.
Die Aeltesten verneigten sich. Ihr Sprecher begann:
— Deine Hoheit hat gewünscht, uns hier zu sehen. Wir sind zur Stelle.
— Seid gegrüßt, Freunde! Wählt Euch bequeme Plätze, der Anlaß unserer Begegnung zwingt uns wohl zu längerer Unterredung. Euer Befinden ist gut?
— Wie das ganz Teuta’s. Das Volk ist glücklich. Es sieht unserem schönsten Feste mit gehobenem Gemüthe entgegen.
— Und doch scheint mir diesmal nicht Alles in glatter Ordnung, und die Vorbereitungen zum Zarathustra-Feste erfüllen mich mit einiger Sorge. Drum ließ ich Euch hierher bitten.
Wieder verneigten sich die Aeltesten. Ihr Sprecher tauschte mit ihnen einen orientirenden Blick, dann nahm er, als Ao nachsinnend schwieg, das Wort:
— Von unserer Seite wurde nichts versäumt, dem Feste den gewohnten Glanz zu bewahren. Wir haben vorhin sogar eine kleine Neuerung erwogen, die eine pikante Abwechslung in die Sache zu bringen nicht ungeeignet sein dürfte.
— Beim großen Mysterium, liebe Freunde, sprecht mir nicht von Neuerungen, noch von Pikanterien. Nur das bewährte Alte hält uns auf der Höhe. Im Neuen liegt meist eine Gefährdung der Sicherheit. Nur nichts, was unsere gewohnte Ruhe erschüttern könnte, ich beschwöre Euch. Stört die anmuthigen Kreise des Ueberlieferten nicht in unserem Staate.
Der Sprecher lächelte und blickte auf die Spitze seines vorgestreckten, leise wippenden Fußes.
Ao folgte seinem Blick und sein Auge haftete mit Ueberraschung an dem leise wippenden Fuße. Nun sahen auch die Uebrigen forschend auf den nämlichen Punkt.
— Ei, ei, ich gewahre eine Spitze, wo männiglich seither eine Rundung zu sehen die liebe Gewohnheit hatte. Seit wann trägt man denn die Fußbekleidung gespitzt?
Alle neigten die Köpfe und blickten schärfer hin. Richtig, der Sprecher trug Filzschuhe wie alle Welt in Teuta, nur erschienen sie, abweichend vom allgemein üblichen Muster, nach vorn weniger gerundet, als vielmehr in einer Spitze verlaufend. Und die Aeltesten, mit Ausnahme des Sprechers, nickten dem Oberpriester beifällig zu, seiner außerordentlichen Beobachtungsgabe ihre Bewunderung auszudrücken.
— O, ich bitte, es ist nicht der Aufmerksamkeit werth, kam es entschuldigend von den Lippen des Sprechers. Es ist nichts, als ein Versuch, mir mit dem Fuße das Tasten zu erleichtern. Meine Zehen sind seit einem kleinen Unfalle etwas empfindlich geworden, und die Jahre haben das Licht meiner Augen geschwächt.
— Es handelt sich also um keine absichtliche Neuerung im Schuhschnitt, mein Freund? Um keine eitle Modelaune, die von unseren Gesetzen, wie Ihr Alle wißt, verpönt ist?
— Keineswegs, Hoheit. Wie sollte ich mir in meinen alten Tagen solche Extravaganzen erlauben, die dazu noch gegen das gemeine Gesetz verstoßen! Nein, nein, nein, Hoheit. Nur aus persönlicher Nothdurft hab’ ich mir diese Abweichung gestattet.
Ao nickte befriedigt, und die Aeltesten nickten befriedigt mit.
— Du wirst wieder zur runden Form zurückkehren, sobald Deine Zehen gekräftigt sind? fragte Ao liebreich.
— Gewiß, das werde ich.
— Gut, ich habe Dein Wort. Und nun laßt uns, nach diesem glücklich erledigten Zwischenfall, unserer Tagesordnung die gebührende Aufmerksamkeit zuwenden.
Die Aeltesten legten sich in ihre Polster zurück.
— Wie gesagt, meine Freunde, die Vorbereitungen zum Zarathustra-Feste, die Eurer Obhut vom Volke unterstellt sind, erfüllen mich, gelinde ausgedrückt, mit einiger Sorge.
Alle schwiegen ein wenig beklommen, denn der Ton des Oberpriesters schien wirklich überraschende Dinge von zweifelhafter Annehmlichkeit anzukündigen. Auch war’s, als suche er mühsam nach dem Worte.
— Wir werden nichts versäumen, Deine Sorgen zu zerstreuen, oder, sollte uns dies nicht gelingen, sie Dir tragen zu helfen, unterbrach der Sprecher die Stille. Denn die Miene des Oberpriesters machte den Eindruck, als ob er das rechte Wort immer noch nicht gefunden habe.
— Es ist mir in der That diesmal nicht leicht, meine Freunde, Euch die Sache so vorzutragen, daß Ihr sofort und ohne Beängstigung ein klares Bild von der Lage bekommt, in die uns ein noch nicht genügend aufgeklärtes Ereigniß versetzt hat.
— Ein Ereigniß? Ein uns noch unbekanntes Ereigniß? In unserem still geordneten, glücklichen Teuta? fragten vier Stimmen durcheinander.
Die Aeltesten blickten ahnungsvoll vor sich hin.
In diesem Augenblicke ertönte der Silberton der Klingel.
Der Oberpriester setzte die Hörröhrchen ein und lauschte lange mit gesenktem Kopfe.
Endlich seufzte er auf:
— Zwei Ereignisse.
— Zwei sogar? Das ist viel auf einmal.
— Fast zuviel, meine Freunde. Ich bitte um Eure Diskretion. Es stehen hohe Dinge auf dem Spiel. Nun will Alles doppelt sorgsam überlegt und behandelt sein. Kommt näher, seid gefaßt, wir werden gleich sehen.
Seiner Handbewegung folgend, schwangen sie sich näher, Allen voran der Sprecher, so daß sie von hinten um den Oberpriester gruppirt mit diesem zugleich in den Spiegel des Fernsehapparates blicken konnten.
— Geduldet Euch, das Bild wird gleich erscheinen.
Alle starrten auf den Spiegel, dessen leere blitzblanke Fläche sich allmählich mit den Zügen eines Menschengesichtes zu beleben begann, bis das Bild mit fast plastischer Deutlichkeit den Rahmen füllte.
— Ein Todtenantlitz! rief der Sprecher. Ein Todtenantlitz, fürwahr, täuschen mich meine schwachen Augen nicht.
— Sie täuschen Dich nicht. Seht Ihr, meine Freunde? Kennt Ihr ihn?
— Minus? fragte Einer verzagt. Ist’s nicht Minus?
Und wie aus einem Munde, Alle zugleich: — Minus!
— O weh! Dann müssen wir das Fest absagen. Trauer im Volke läßt kein Freudenfest zu! entfuhr’s dem Sprecher in der ersten Erregung.
— Das wäre die beste Lösung, dachte Ao, halblaut murmelnd, und warf dem Sprecher einen dankbaren Blick zu.
Aber der Anblick des Todtenantlitzes hielt die Aeltesten noch gebannt.
— Minus vom hohen Rath! bemerkte der Eine mit kläglicher Stimme. Man sieht’s ihm gar nicht an.
— Ja, man sieht’s ihm gar nicht an, wiederholte der Zweite.
— Wahrhaftig, Du hast recht, fiel der Dritte ein.
— In der That, es ist so, der Vierte.
— Ich bitte Euch, meine Freunde, was meint Ihr? Was ist in der That und wahrhaftig so, daß man’s ihm gar nicht ansieht, unserm Minus vom hohen Rath? Sprecht Euch deutlicher aus, was meint Ihr? Sprecher, sprich Du, was meint man? Ist Euch etwas kund, das mir verborgen geblieben? Wißt Ihr eine besondere Ursache seines plötzlichen Todes? Sprecht Euch umständlich aus, ich bitte Euch. Er rührt sich nicht mehr, er sieht und hört Euch nicht mehr. Sein schönes, kluges Antlitz starr und bleich wie Wachs, und einst in der sprudelnden Lebhaftigkeit seiner Einfälle so beweglich.
— Beweglich, das ist das Wort, Hoheit, athmete der Sprecher auf.
— Beweglich! fielen die Anderen mit eindringlicher Betonung im Chore ein. Beweglich!
Ao bewegte die Hand, das Bild im Spiegel verschwand.
— Beweglich? Ihr sprecht in Räthseln, Freunde.
— Er galt doch als der Beweglichste im hohen Rath? fragte der Erste, seine Mitältesten der Reihe nach anblickend.
— Das war im Volke sein Ruf, Hoheit. Minus galt als der Beweglichste, bestätigte der Sprecher mit Kennermiene.
— Als der Beweglichste im hohen Rath, intonirte der Chorus zur Bekräftigung.
— Soll damit eine Kritik ausgesprochen sein? fragte der Oberpriester, seine Stimme erhöhend, daß sie scharf und spitz klang.
— Mit Verlaub, Hoheit, Beweglichkeit ist an und für sich wohl nichts Kritisches, begann der Sprecher und ließ durchmerken, daß in dieser plötzlich sich aufbauenden Diskussion die weisen Aeltesten so gut ihren Mann zu stellen fähig wären, wie irgend einer vom hohen Rath.
— Unser Sprecher drückt unser gemeinsames Empfinden aus, Beweglichkeit ist an und für sich nichts Kritisches.
— So lange der Gegenstand nicht kritisch als ein kritischer festgestellt ist, auf den sich die Beweglichkeit bezieht, erklärte der Sprecher mit einer Deutlichkeit, die von seinen Mitältesten als äußerste in diesem Augenblick erlaubte Grenze des Aussprechbaren empfunden wurde.
— Diese Feststellung steht heute wohl nicht auf der Tagesordnung, lenkte der Zweitälteste ein.
— Es stände uns auch nicht zu, diese Feststellung festzustellen. Wir sind kein Todtengericht. Wir sind die Vertreter vom Festbunde, bemerkte der Sprecher wie zur Selbstbelehrung.
Endlich griff Ao wieder ein, nachdem er schnell die eigenthümliche Stimmung, die ihm befremdend aus den versteckten und doch so hartnäckigen Wechselreden der Aeltesten entgegenschlug, sich deutlich zu machen versucht hatte. Er fühlte, daß das Ueberraschende des Ereignisses geeignet sein mußte, die Leute zu plötzlichen und unüberlegten Gefühlsausbrüchen zu drängen. Mit ruhiger Güte und Geduld war daher der Wurzel dieses sonderbaren Verhaltens wohl näher zu kommen.
— Ihr seid mir als liebe, kluge, verständige Leute bekannt, ich begreife, daß Euch das plötzliche Ableben eines so hohen und verdienten Vertreters unseres Volkes erregen muß. Wer schätzte Minus nicht, den geehrten Meister und Hüter des Wortes und des Geistes, der im Worte wohnt? Den Verwalter und Aufseher unseres heiligen Sprachschatzes? Wer liebte ihn nicht? Und jetzt ist er todt. Nicht wahr, meine Freunde, wer liebte ihn nicht?
— Und wen liebte er nicht, nicht wahr, Hoheit? Er war so beweglich, der gelehrte Minus.
Schon wieder dieses thörichte, aufreizende Wort.
— Beweglich? Im Angesichte des Todes frag’ ich Euch, wollt Ihr mit der Sprache herausrücken oder nicht?
Der Oberpriester sprach langsam, mit vibrirender Stimme und gab seinem Gesicht einen ungewöhnlichen Ausdruck erhabener Würde.
Das schien zwar den Aeltesten nicht übermäßig zu imponiren, doch konnten sie sich des Gefühls nicht erwehren, daß jetzt wohl nicht der geeignete Augenblick und hier auch nicht der rechte Ort sei, ihre versteckten Angriffe gegen den verstorbenen Minus fortzusetzen. Es mußte also ein Abschluß gefunden werden.
— Nun, Sprecher, führe Deine Sache offen! fuhr der Oberpriester fort.
— Minus hat sich einen hohen Ruf in seinem Amte erworben. Neben seinem Amte pflegte er jedoch Liebhabereien, die im Volke nicht immer günstig beurtheilt wurden. Aus der Frauenstadt sind oft seltsame Gerüchte über seine dortigen Besuche zu uns gedrungen. Beweglich war er in seinen Neigungen, schroff, wenn ihm eine Herzensgeschichte nicht nach Wunsch glückte. Das, Hoheit, ist die Meinung im Volke. Anderes wollten auch meine Mitältesten nicht andeuten.
— Habt Ihr Beweise?
Der Sprecher, die ermuthigenden Blicke seiner Mitältesten gewahrend, nahm sich kein Blatt vor den Mund.
— Hoheit, Beweise? Es kommt darauf an, was man als Beweise gelten lassen will. Zum Beispiel geht seit einigen Tagen das Gerücht, Minus habe eine Person aus der Frauenstadt an sich gelockt und für seine Privatzwecke versteckt. Jedenfalls ist die Person seitdem nicht mehr zum Vorschein gekommen. Du selbst, Hoheit, kennst die Person.
— Ich kenne keine Person, auf welche diese Andeutung paßt.
— Dann kennst Du Jala nicht?
— Jala? Was geht Euch Jala an?
— Jala, die Tänzerin, geht uns so viel und so wenig an, wie jedem Unbetheiligten an der Geschichte. Aber Thatsache ist, daß Jala verschwunden ist. Und Volkes Stimme sagt: Minus’ Hand hat sie verschwinden gemacht. Sein Zauber hat sie beseitigt.
— Ebenso gut könntet Ihr behaupten, Minus habe Grege beseitigt. Denn auch Grege ist verschwunden.
— Wer? riefen Alle zugleich. Grege? Die Hauptperson unseres Zarathustra-Festes? Der unvergleichliche Uebermensch?
— Jawohl, Grege ist vom Schauplatz verschwunden.
Erst ging ein lebhaftes Murmeln und Geberdenspiel durch die Gruppe der Aeltesten, dann aber trat der Sprecher mit dem entschiedenen Worte auf:
— Fehlt uns Grege, so hat auch ihn Minus beseitigt. Minus hat ihn gemeuchelt.
Und die Anderen unterstützten ihn mit dem einhelligen Ruf: Das ist Minus’ Werk! Keiner ist listiger, als er.
Ao war außer sich. Sind das die guten, klugen, vergnügten Aeltesten vom Festbund? Das sind Empörer, Verleumder, Verschwörer. Aber er nahm all’ seine Kraft zusammen. Wenn je, so galt es jetzt, den Leuten Ueberlegenheit zu zeigen und sich die Zügel nicht entschlüpfen zu lassen. Das war ja einfach unheimlich, dieses Aufbäumen, diese Selbstherrlichkeit, dieses Losgehen auf eigene Faust. Wo wollte denn das hinaus? Was war in der Welt von Teuta vorgegangen?
Der Berathungssaal mit seinem gedämpften Licht, seinen stillen, tiefen Farben, seiner ruhigen, milden Luft hatte selten so viel Aufregung zu schlucken gehabt, wie heute.
Von der Decke, aus den Ecken, aus jeder Falte der Tapeten und Teppiche schien dem Oberpriester der Widerhall des Widerspruchs in die Ohren zu klingen. Schlechte Musik fürwahr.
— Habt Ihr Euch ausgetobt, meine Freunde? Seid Ihr im Stande, ein Wort aus weisem Munde zu vernehmen?
Da hob der Sprecher an: Wer tobt hier, Hoheit? Man ruft uns hierher und tischt uns die unglaublichsten Ereignisse auf. Das Zarathustra-Fest steht vor der Thür, und wir haben seinen geheiligten programmgemäßen Verlauf zu verantworten, wie alljährlich. Minus ist aus dem Lande der Lebendigen geschieden und mit ihm Jala und Grege. Wie wollen wir da Feste feiern? Wie wollen wir uns vor dem Volke verantworten?
— Begreift Ihr denn nicht? Darum hab’ ich Euch ja berufen lassen, daß wir uns über den planmäßigen Festverlauf verständigen, in dieser wirrsalreichen Zeit. Das Volk soll sein Fest und seine ungeschmälerte Freude haben. Mehr denn je brauchen wir öffentliche Heiterkeit. Es war des edlen Minus letzter Gedanke, dem Volke ein Freudenbringer zu sein. Ihr verkennt ihn, liebe Freunde, Ihr mißdeutet seine Handlungen. Freiwillig ist er aus dem Leben gegangen —
— Freiwillig? Ist das möglich? Freiwillig einer vom hohen Rath?
— Jawohl, staunt, freiwillig ist er aus dem Leben gegangen, damit der störenden Reden ein Ende werde. Er hat sein Leben seinem geliebten Volke zum Opfer gebracht, damit neue Freuden daraus erblühen.
Der Sprecher rückte einen Schritt zurück. Dann begann er kopfschüttelnd:
— Wir fassen das nicht. Sein Tod macht das schönste Fest zur Unmöglichkeit, denn er hat nicht nur den Zwang zur Trauer im Gefolge, er hat auch das Wiedererscheinen Greges und Jalas vernichtet. Wo sollen wir die Verschwundenen suchen, vorausgesetzt, daß sie überhaupt noch am Leben sind? Oder sollen wir für das Fest anderweitig Ersatz schaffen?
Ao athmete auf.
— Ich danke Dir, Sprecher. Das ist das Problem. Du hast den Kern der Sache getroffen. Nun können wir rasch vorwärts schreiten in der Verständigung. Erstens: Ist das Fest möglich, wenn wir den Tod des edlen Minus geheim halten? Außer Titschi und Soundso haben wir zunächst keine Mitwisser. Und das sind Meister der Diplomatie. Zweitens: Wißt Ihr Ersatz für Grege? Denn Grege ist verschwunden, ohne das nachweisliche Verschulden des Minus.
Die Auseinandersetzung des Oberpriesters wurde abgebrochen durch erneutes lebhaftes Ertönen der Klingel.
Kaspe, der Oberrichter meldete sich. Er habe mit Ao dringend zu sprechen. Die Späher hätten wichtige Nachrichten gebracht. Es bestehe gegründeter Verdacht, daß Soundso den Tod des Minus herbeigeführt. Soundso sei zur kritischen Stunde beobachtet worden, wie er unter erschwerenden Umständen das Gemach des Minus verlassen. Soundso habe zweifellos ein Verbrechen begangen in der Absicht, das Zarathustra-Fest zu stören und das Volk gegen den hohen Rath aufzuwiegeln.
— Ich bitte Euch, liebe Freunde, wo steht mir der Kopf? jammerte der Oberpriester.
— Da ist eine Schraube im Weltmechanismus los, rief ein Aeltester.
— Dergleichen Dinge sind unerhört, einfach unerhört, fiel entrüstet der Sprecher ein. Der Glanz Teutas trübt sich.
Kaspe erschien, schmächtiger als je, fieberhaft aufgeregt.
— O, Du Unglücksbote! wimmerte ihm der Oberpriester entgegen. Beim heiligen Mysterium, wer bringt Ordnung in diese tolle Welt? Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Und diese guten Leute wissen es auch nicht. Oberrichter, Kluger der Klügsten, konntest Du nicht vorbauen?
— Was verlangt Ihr nicht Alles von meiner Wenigkeit. Ich thue, was meines Amtes ist. Die Ereignisse dieser Tage entzogen sich menschlicher Berechnung. Meine Häscher sind ausgesandt, Soundso aufzujagen und zu fangen.
— Ist denn der auch fort? fragte der Oberpriester bestürzt.
Kaspe nickte. Man wisse noch nichts Genaues. Jedenfalls halte er sich versteckt. Titschi selbst habe ihn seit der Todtmeldung des Minus nicht mehr gesehen und vergeblich allerorts nach ihm gefragt. Seine Spur verliere sich in der Frauenhauptstadt, wohin er sich in Verkleidung begeben habe. Das sei die letzte sichere Nachricht, die man über den Verdächtigen erhalten.
Die Aeltesten steckten in heimlichen Reden die Köpfe zusammen.
Dann müsse man sich an Titschi halten. Der sei unter allen Umständen für seinen Gehilfen haftbar, meinte der Oberpriester. Sofort müsse er eingeladen werden, hier zu erscheinen. Und der Oberpriester ließ seine Hand auf dem Tastwerke spielen.
Ob ihre Anwesenheit jetzt noch nothwendig sei? fragte der Sprecher im Namen der Aeltesten. Ob man sie nicht zu einer späteren Stunde wieder herbescheiden wolle?
Ao antwortete nicht. Er lauschte mit eingesetzten Hörröhrchen.
— Wir müssen wegen des Zarathustra-Festes zu einem Beschlusse kommen, meine Freunde, verweilt noch.
— Wegen des Festes? zirpte Kaspe. Da ist nicht viel zu beschließen, dünkt mich, Hoheit Operpriester. Wir verkündigen dem Volke stille Zeit und verschieben das Fest. Von Staatswegen, Punktum.
— Das war auch mein erster Gedanke, bemerkte der Sprecher bescheiden. Und meine Mitältesten theilen ihn. Nur können wir die Verantwortung nicht tragen. Das Volk erwartet von uns Vergnügen, nicht Entsagung und Trauer.
— Das Volk! Das Volk! zirpte Kaspe mit bitterem Lächeln. Soll’s das Volk besser haben, als wir vom hohen Rath? Das Volk wird sich in seine Rolle finden müssen, wie wir uns in die unserige finden. Suggerirt ihm das Zweckentsprechende, und es wird sich zufrieden geben. Es empfindet weiß oder schwarz, je nachdem es ihm vorgestellt wird.
Titschi ließ melden, er könne jetzt leider nicht abkommen, er habe alle Hände voll zu thun. Die Beschlüsse des Oberpriesters mache er unbesehen zu den seinigen.
— Auch der läßt uns im Stiche, jammerte der Oberpriester. Hörst Du, Kaspe, ich solle beschließen! Beim heiligen Mysterium, was soll ich denn beschließen?
Und sein Gesicht nahm einen bis zum Komischen dummen Ausdruck an.
Nun machte der hohe Oberrichter den Schlagfertigen, wie stets bei feierlichen Anlässen.
— Beschließe eine ergreifende Trauerkundgebung großen Stils für den herrlichen Minus! Zwar sei sein Tod geheimnißvoll, aber unwiderruflich, er soll den Leuten leid thun, aber sie nicht in allzutiefe Kümmerniß stürzen.
Der Sprecher der Aeltesten lächelte. Er nahm sich die Freiheit.
— Gefällt Dir meine Formel nicht? Sie ist überraschend, findest Du? Gerade das ist ihr Werth. Das Volk wird zur Abwechslung im Gefühle der Ueberraschung sein Behagen finden und uns Zeit lassen, Alles auf’s Beste zu ordnen. Ich bitte Euch, Ihr Aeltesten, da Ihr nun doch eingeweiht seid, unterstützt uns und haltet reinen Mund über alles Unaufgeklärte. Sucht auch aus der Trauer Genuß und Kurzweil für das gute Volk zu schlagen.
— Ach, das Volk, wer hält uns das Volk vom Leibe! Dieses nimmersatte Ungeheuer! ächzte der Oberpriester.
Die Aeltesten aber grinsten dem Oberrichter freundlich zu.
— Gefällt Dir mein Vorschlag, Hoheit?
— Ach, Oberrichter, mir gefällt Alles, was Ordnung schafft und Ruhe stiftet.
Sein verzweifelt dummes Gesicht glänzte wieder in einem Schimmer intelligenter Zuversicht.
— Lasse das meine Sorge sein, Ao.
— Ich danke Dir, Oberrichter. Ich danke auch Euch, Ihr Aeltesten, treue Freunde. Beliebt es Euch, daß wir uns zurückziehen? Die nächste Stunde wird Alles in die rechten Wege leiten. Oberrichter, ich bitte um Deine Begleitung. Laß’ uns Titschi aufsuchen.
— Wenn wir ihn nicht gerade im Bette antreffen, ist’s möglich, daß wir ihm nicht unwillkommen sind. Aber ich folge Dir gern zum hohen Diplomaten, obwohl ich mich gern selbst ein wenig auf die faule Haut legte.
Ao überfiel bei diesen Worten des Oberrichters die Angst des Nichtbegreifens. Wie konnte nur Kaspe so im Handumwenden diesen gleichgiltigen Ton anschlagen? Stand denn nicht Alles auf dem Spiele? Hatten sich nicht unglaubliche Dinge ereignet? Und nun that Kaspe, als handle sich’s um irgend eine Verabredung zum Frühstück.
Titschi empfing die hohen Amtsbrüder richtig im Bett. Er habe seinen faulen Tag, sagte er aufgeräumt. Und das Lustigste von Allem sei, daß man den Leichnam des Minus nicht auffinde. Sogar die Todten flüchteten aus Teuta!
Das war nun allerdings das stärkste Stück, das der hohe Rath jemals dem Teutavolke geboten.
Die vergnügte Zarathustra-Feier mußte verschoben werden auf unbestimmte Zeit, um der großen Trauerkundgebung willen zu Ehren des Minus, und die Trauerkundgebung konnte nicht stattfinden, weil sich der Leichnam der verstorbenen Hoheit aus dem Staube gemacht. Fabelhaft!
Man fand nicht einmal Zeugen, den Tod des Minus festzustellen.
Der die erste Nachricht vom Tode des hohen Oberlehrers dem obersten Diplomaten überbrachte, war allerdings eine vertrauenerweckende amtliche Person, Soundso.
Aber als Soundso als einziger Augenzeuge über die näheren Umstände des überraschenden Todesfalls vernommen werden sollte, war er verschwunden. Und als man die Leiche zu einer imposanten Trauerkundgebung verwerthen wollte, war von ihr nirgends eine Spur zu entdecken.
Konnte die Erscheinung des Todtenantlitzes im Fernseh-Spiegel des hohen Rathes auf Täuschung beruht haben? Oder auf Suggestion oder sonst einer Betrügerei?
Alle diese so schwer genommenen Vorgänge spielten sich natürlicher Weise nur im engsten Kreise von drei oder vier Personen des hohen Rathes und der Aeltesten ab.
Das Volk wußte auch nicht eine Silbe davon, oder wenigstens nicht mehr, als man für gut fand, ihm direkt oder indirekt mittheilen zu lassen.
Unanfechtbar waren bloß zwei Thatsachen: Titschi lag im Bett und redete sich auf die Folgen der Ueberanstrengung ohne nähere Begründung hinaus, und Soundso vermochte trotz der eifrigsten Bemühungen nicht zur Stelle gebracht zu werden.
Und ein Todtenpomp als Ersatz für die diesmalige Zarathustra-Feier erwies sich als unmöglich, da nicht der geringste passende Leichnam aufzutreiben war. Die Ungeheuerlichkeit einer großartigen öffentlichen Leichenfeier ohne Leichnam konnte nicht einmal mehr von dem Oberpriester Ao ernsthaft in Erwägung gezogen werden.
Der Oberrichter Kaspe strengte sich scheinbar auf’s Aeußerste an und ließ alle Minen seines ausgezeichneten Späherdienstes springen. Vergeblich.
— Ihr seht, ich bin so perplex wie ihr, piepste er.
Der Oberdiplomat kroch immer tiefer in’s Bett und konnte mit nichts als mit virtuosen Redensarten und Trugschlüssen dienen.
So fiel Alles auf den unglückseligen Oberpriester zurück. In seinem Gehirn preßte sich die ganze Thatsachenreihe zu einer einzigen Halluzination zusammen. Bald trat ihm der heiße Schweiß auf die Stirn und seine Glatze dampfte, bald fror ihn, daß er sein Schädeldach wie eine Eisdecke fühlte, die vor Frost zu bersten droht.
— Kinder, legt mir die Zwangsjacke an, ich bin verrückt. Ich werde tobsüchtig, es geschieht ein Unglück. Ach, ich ärmster Ao!
Titschi wälzte sich im Bette und versicherte, daß es ihm große Freude mache, von seinem hohen Kollegen so aufopfernd getröstet zu werden.
Kaspe lächelte säuerlich und erklärte alle Welt für Uebelthäter, denen man beim besten Willen nichts mehr recht machen könne. Nicht einmal zum Einfangen seien sie mehr zu haben. Alle Liebesmüh’ sei umsonst. Diese unnahbar edlen Spitzbuben!
Wahrhaftig, Ao, der würdige Oberpriester, schnitt jetzt Grimassen wie ein Verrückter.
— Nimm sie beim Kragen, hollah, da sind sie! rief er mit schiefgezogenem Munde dem Oberrichter zu. Dabei schlug er mit der Faust auf die eigene Brust.
— Wer denn? Wo denn?
— Grege hier, Soundso hier, Minus hier, die Lebendigen und die Todten, Alle durcheinander, die Aeltesten dazu, seid Ihr denn blind? Alle sind sie in mich hineingeschlüpft. Ich beherberge sie. Ich bin ihr Schlupfwinkel, ihr Diebsnest, ihr Hehler. Greif zu, Oberrichter!
Und er wand und krümmte sich wie eine getretene Schnecke.
— Du machst Deine Sache sehr gut, Oberpriester! rief Titschi und streckte seinen Diplomatenkopf aus der Bettdecke hervor. Ich wünschte, daß ganz Teuta dieses Schauspiel sähe. Beim heiligen Bimbam, das genügte als Ersatz für das Zarathustra-Fest. Du bist ein großer Künstler, Ao! Herrlich, herrlich!
— Zu Eurem Narren habt Ihr mich gemacht, stöhnte Ao mit geiferndem Munde und brach in den Polstern zusammen.
— Der arme Mensch hat wieder seinen Anfall, flüsterte Kaspe. Soll ich vielleicht den Bim herbeirufen?
— Verschon’ mich mit diesem Querkopf. Aos Anfall, nein, es lohnt nicht der Mühe. Der Gute krabbelt sich von selbst wieder in die Höhe. Bliebe er einmal unten, he, Kaspe, was denkst Du von der Führung der obersten Geschäfte?
Ein fahler Blitz zuckte über des Oberrichters verlederte Mienen. Mit gedämpfter Stimme meinte er, ein wenig zurückhaltend:
— Wie denkst Du darüber? Deine Meinung ist mir werthvoll.
Titschis scharfes Auge hatte das Mienenspiel bemerkt. Er wollte schweigen. Die Sache war noch nicht reif. Der ehrgeizige Kaspe!
Aber der Oberdiplomat konnte sich das Vergnügen nicht versagen, dem Streber nach dem Vorsitz im hohen Rathe ein höhnendes Hoffnungsalmosen hinzuwerfen:
— Sei getrost, Kaspe, wenn ich wieder gesund bin, werde ich mich für Dich in’s Zeug stürzen. Auch meine Agenten werden für Dich Stimmung machen. Aos Fall ist Deine Erhöhung. Das Volk wird ihm’s nie verzeihen, daß es unter seinem Regiment so wenig Vergnügen gehabt. Ruhe, Stille, Ordnung — lächerlich: Vergnügen will das Volk haben, Feste, Apotheosen! Und nun geht unter Aos genialer Führung sogar die Zarathustra-Feier, das glänzendste Narrenfest der Welt, in die Brüche. Kaspe, mein Kompliment! Das hast Du gut eingefädelt!
Der Oberrichter neigte leicht den Kopf wie zu gnädigem Danke. Es hatte ihn jedesmal, so oft Titschi herausfordernde Andeutungen dieser Art gemacht, das Gefühl beschlichen, als sollte er vergiftete Pillen schlucken.
Endlich rührte sich Ao wieder. Sein Aussehen war erbarmungswürdig.
— Bim — ruft mir den Bim, ich bitte. Ich habe Vertrauen zu Bim. Er kann mir helfen. Ich bin ja so krank. Merkt Ihr denn nichts? Gar nichts?
— Ja, hoher Oberpriester, wenn Du Vertrauen zu Bim hast! Mit Vergnügen! Ich bin für Deine Anregungen immer empfänglich.
Titschi streckte sein langes, dünnes Bein aus dem Bette — die Bewegung sah drollig aus, aber Niemand schien Sinn dafür zu haben — und mit der großen Zehe drückte er auf den Knopf des Tastwerks, und auch die übrigen Zehen begannen zu spielen.
— Du sollst gleich Deinen Bim haben, Ao. Hast Du sonst noch Wünsche?
— Hunger hab’ ich, guter Titschi, Hunger.
— Hunger? Da sieh einmal. Vielleicht auch Durst? Die Lebensgeister sammeln sich. Du brauchst nur zu befehlen, Oberpriester.
— Ja, auch Durst. Ach, mir ist noch immer elend. Ihr habt mich verrückt und elend gemacht.
Titschi spielte wieder mit dem Fuße auf dem Tastwerk. Bald öffnete sich die Wand und ein Tischchen glitt herein, mit winzigen Schüsselchen und Fläschchen.
— Mische Dir selbst Dein Labsal, Unüberwindlicher!
Ao mischte sich mit zitternder Hand Festes und Flüssiges und führte es zum Munde.
— Was habt Ihr inzwischen beschlossen? Hab’ ich lange geschlafen, Freunde?
Sein wässeriger Blick ging vom Einen zum Andern, während sein Mund kaute.
— Hast Du gut geschlafen, Ao? fragte Kaspe.
— Ja, geschlafen und geträumt. Nach dem schlimmen Anfall oder mitten hinein.
— Hast Du Schönes geträumt? fragte Titschi.
— Wie man’s nimmt. Ich hatte etwas Blühendes und Duftiges in der Hand. Dann verwandelte sich’s in schwarzen Staub mit schlechtem Geruche. Ich glaube, Deine Luft ist nicht gut, Titschi.
— Ich fürchte, Du thust meiner Luft Unrecht. Ist meine Luft nicht köstlich? Bezeuge Du’s, Oberrichter Kaspe.
— Ja, die Luft Titschis ist gut.
Ao wischte sich den Mund: Mag sein. Wir werden ja Bim’s Urtheil hören. Was habt Ihr beschlossen, Freunde?
— Wir haben beschlossen, daß Alles nach Deinem allweisen Willen gehen soll, erwiderte Titschi mit halbabgewandtem Gesicht.
— Wo ist mein Wille? Wo habt Ihr meinen Willen?
— Das mußt Du Bim fragen. Er wird gleich erscheinen.
Richtig, Bim, der Oberphysikus, erschien, eilfertig, mit dienstbereiter Miene. Sein Auge strahlte, seine Stirn leuchtete, als käme er direkt aus der Sonnenhöhe der Weisheit niedergefahren.
Gewiß, so dachte er, würden ihn die hohen Freudespender und Volksregenten von Teuta so schleunig in ihre Mitte fordern, um von seiner neuesten wissenschaftlichen Entdeckung zu hören. Und nun war er da, gewappnet mit seiner Gelehrsamkeit, umgürtet mit seinem Tiefsinn, ein Held des Geistes, der treffliche Oberphysikus. Und er fühlte sich begrüßt und beglückwünscht durch ihr schweigsames Erwarten. Die guten Leute müssen’s doch ahnen —
Offenbar: Alle schwiegen, Alle erwarteten, Alle ahnten.
Nur Ao ächzte leise und machte ein gequältes Gesicht.
— Jawohl, Hoheiten, die That ist mir gelungen, begann Bim.
— Hast Du ihn gefunden? fiel ihm Ao gleich in’s Wort.
— Ich habe ihn gefunden und halte ihn fest, er wird mir nimmer entwischen.
Aller Augen rundeten und befeuerten sich und drangen auf den gewaltigen Bim ein.
Er hat ihn gefunden! Unglaublich!
— Leicht war’s ja nicht, Hoheiten, fuhr er mit Selbstgefühl fort. Leicht war’s ja wahrhaftig nicht. Die Zahl der Hemmnisse und Irrwege war erstaunlich groß. Aber nun halt’ ich ihn. Er entschlüpft mir nicht mehr. Er ist kein Schemen, er ist ein Sichbethätigendes, ein Wesen, welches die ganze, weite Schöpfung in sich trägt und die Bedingung ihrer Erscheinung ist, er ist das Urleben, die Urkraft des Weltalls selbst.
— Mit Vergunst, von wem sprichst Du, hoher Oberphysikus? unterbrach Titschi den Strom der Rede.
— Einen Augenblick, ich bin gleich zu Ende. Es bedarf nicht vieler Worte. Die Wahrheit ist groß, aber einfach. Nachdem ich ihn — —
— Namen nennen! rief Kaspe dazwischen. Namen! Denn es sind leider Viele flüchtig.
— Unterbrecht ihn nicht, bat Ao. Seine Hülfe ist so werthvoll.
— Nachdem ich ihn, nein, bitte, stört mich nicht, Alles hängt am richtigen Wort, wie Minus sagt.
— Minus! Ihn hast Du?
Der Oberrichter konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. Seine Erwartung war auf’s Aeußerste gespannt. Er litt förmlich unter der Erregung. Der Bauch that ihm weh vor Ungeduld.
— Nachdem ich das Atom — —
— Das Atom! Hört, hört!
— Das Atom!
— Das Atom?
Eine solche Enttäuschung. Man hätte sich’s im Voraus denken können. Aber immer auf’s Neue fiel man bei dem gediegenen Oberphysikus und Welträthsellöser Bim darauf herein. Ein solcher Blender!
Titschi, halb hämisch, halb sich belustigend: — Hoheiten, das Atom ist der Anfang aller Dinge, lassen wir’s dem guten Bim, damit er auch an das Ende der Dinge gelange, die uns heute beschäftigen.
Bim ließ sich nun aber mit Fleiß nicht mehr aus dem Konzept bringen. Nicht um eine Welt. Und wenn sie bersten sollten.
— Was ich vorhin definirte, war der neue Begriff des Raumes, des Weltraumes. Und das ist meine eigenste Entdeckung. Nachdem ich das Atom als das durch seine Bewegung den Raum Erfüllende, durch seine Verkettung zu Molekülen Körperbildende erkannt, lautet meine Antwort auf die Frage: Was ist Materie? konsequent: Die Materie ist der Ausdruck der Selbstbewegung des Raumes, nicht Geschöpf, sondern Funktion des Raumes.
Ao hielt sich die Ohren zu, Kaspe schüttelte den Kopf, Titschi kroch unter die Bettdecke.
— So, Hoheiten, habe ich den neuen Begriff des Weltraums und seiner Bedeutung gefunden. Nehmt ihn hin, meinen Fund.
— Und Du verzichtest, uneigennützig, wie immer, auf den Finderlohn, musterhafter Gelehrter. Etwas Anderes wäre uns zu dieser Stunde lieber gewesen. Aber man muß Deiner Wissenschaft für Alles danken. Sieh hier unsern hohen Titschi, er ist leidend, sieh hier unsern unersetzlichen hohen Ao, er ist krank, und ich selbst — —
Ao lächelte schwermüthig: — Was mich betrifft, ich fühle mich nicht mehr krank. Bim besitzt eine seltene Kraft. Aber im Anderen wünschte ich jetzt seine Hülfe zu haben. Was nützen neue Begriffe!
Titschi kroch aus dem Bette: — Weißt Du, was inzwischen in Teuta und seinem hohen Rathe vorgegangen ist, während Du bei den Atomen im Weltraum weiltest?
— Nun?
— Weißt Du uns des Minus Hingang und Verbleib zu definiren?
— Minus? Er ist eingetreten in’s große Mysterium? Ist er das?
— Woher weißt Du das, Bim?
— Minus hat mir sein Wort gegeben, daß er das thun werde. Also hat er sein Versprechen erfüllt.
— Ja, das hat er.
Nun wurde Kaspe aufmerksam. Endlich ein Körnchen im Bimschen Spreuhaufen, das auf eine Spur leiten könnte. Kaspe stellte die Zwischenfrage:
— Welcherlei Art war das Versprechen, Bim?
— Seinem Alter und seiner Gebrechlichkeit zuvorzukommen und ein Ende zu machen.
— Wie konntest Du ein solches Versprechen annehmen? fragte Titschi.
— Es war mir wissenschaftlich interessant, sonst nichts.
— Sonst nichts? fragte Ao, seine Kaubewegungen unterbrechend.
— Nein, hoher Oberpriester.
— Und alles Drum und Dran des Vorgangs? warf wieder Kaspe im Kreuzverhöre ein.
— Wenn die Sache geschehen ist, werde ich das Material für meine Forschungen zu sammeln suchen. Meine Schüler werden mir an die Hand gehen. Minus ist mir stets ein interessanter Fall gewesen.
Bim schlug befriedigt die Beine übereinander, kreuzte die Arme und legte sich in die Polster zurück. Es war doch eine Lust zu leben, so lange das Dasein an merkwürdigen Versuchen so reich war. Daß Minus nun selbst noch ihm in die Schlinge gegangen war, erfüllte ihn mit innigem Behagen. Was kümmerten ihn die Sorgen der Andern? Sie werden auch noch an die Reihe kommen, diese widerborstigen Herrschaften. Er nahm sich fest vor, sie Alle zu überleben. Ihm mußte der Sieg bleiben. Der Sieg über ihre wissenschaftliche Stumpfheit wie über ihr hochfahrendes Wesen. Der Stärkere war er, so wenig sie’s auch merken mochten. Das hatte ihm wieder diese Unterredung bestätigt. Hat nicht auch Minus die Waffen vor ihm gestreckt, der unheimliche Oberlehrer, dieser Abgrund verschlagener Weisheit?
Und er stierte lächelnd vor sich hin, keine Notiz mehr von den Andern nehmend und ihren rathlosen Mienen, ganz in seinen Selbstgenuß versunken.
— Das Fest! das Fest! murmelte apathisch Ao.
— Beruhige Dich, Oberpriester, das Teutavolk führen wir auch über die festlose Zeit hinweg, prahlte der Oberrichter mit piepsender Stimme und mit einem schiefen Blick nach Titschi.
— Natürlich führen wir’s drüber hinweg. Worüber führten wir’s nicht hinweg? Laßt mich nur erst wieder aus dem Bette sein!
Ao war in seiner kummervollen Erschöpfung eingeschlafen. Was half ihm Bim?
Es herrschte tiefe Stille.
— Bei den ewigen Atomen! schrie mit einem Male Bim aus seinen Gedanken auf.
Todtenbleich tauchte Minus am Eingang aus der Wand hervor, auf seinem Fahrstuhl liegend.
— Lebendig und todtbeglückt grüß’ ich Euch.
Hinter ihm erschien Soundso, pfiffig lächelnd.
— Gespenster! piepste der Oberrichter schreckensvoll.
— Das überleb’ ich nicht, röchelte Ao.
Sogar dem kühlen Oberdiplomaten erschien das unvermuthete Bild ein starkes Stück.
Nicht weniger fremd, als die Luftregion der Polargegend, war Grege, als er zu Bewußtsein kam, die Landschaft, in der er sich nach dem Absprung aus der Luftgondel fand.
Aber er war auf fester Erde und ganz allein, und diese Thatsache dünkte ihm vorerst köstlich genug, ein wahres Himmelsgeschenk.
Schon daß der Absprung ihm nicht den Tod gebracht, empfand er nach wieder erlangtem Bewußtsein und kritischer Untersuchungsfähigkeit, als eine Wiedergeburt zu neuem Leben.
Von dem Falle her schmerzte ihn eigentlich nichts außer dem Fußgelenke. Erst wie er sich erheben und auf die Beine stellen wollte, fühlte er, daß nicht Alles unbeschädigt geblieben.
Auch die Wunde zwischen dem Knöchel und der Fußsohle schien wieder aufgebrochen und blutete ein wenig.
Als er die kleinen rothen Tropfen auf der Haut gewahrte, stand ihm wie eine Vision der blaßrothe Blutstern an Jalas Handfläche vor Augen, und aus dem blaßrothen Blutstern wuchs wie eine lichte Erscheinung die ganze Gestalt des geliebten fernen Weibes.
Jala! Die Seelen grüßten sich.
An ein Weiterschreiten war vorerst nicht zu denken. So ließ er sich wieder auf den gastlichen fremden Boden sinken, den ein reichlicher Gras- und Mooswuchs wie ein weiches Polster überdeckte.
Nie hatte er im Teutalande, dem steinigen und sandigen, Gras und Moos von solcher Dichtigkeit und Weichheit gesehen. Wie auf einem guten Bette ruhte der Körper.
Dämmernder Abend verhüllte die Ferne. Alles war geheimnißvoll, still, fremd, beschwichtigend.
Schrecken- und Angstgefühle wie weggeblasen. Keinerlei Furcht. Dafür eine herrlich erhebende Empfindung durch Seele und Leib von Hoffnung und Zuversicht. Förmlich athmen und schwelgen konnte Grege in dieser Alles durchdringenden Empfindung wie in einer neuen, wunderkräftigen Luft.
— Jala, wo weilest Du? Wo ich?
Er lag auf dem Rücken, die Glieder ausgestreckt, und starrte in den Himmel.
Stern um Stern trat hervor, und in ihrem zarten Glitzerschein entdeckte er schwebende Punkte, aber in solcher Höhe, daß kein Luftfahrer im Stande sein konnte, den an die weiche, wohlige Erde geschmiegten Körper auch nur zu ahnen. Grege lächelte.
Freiheit! Hoffnung! Jala!
Wo er auch weilen mochte, der Boden, der seinen Körper so fest und weich trug, wie in Liebesarmen, konnte nur einem edlen, gastlichen Lande gehören.
Freiheit! Hoffnung! Jala!
Wie süße Musik sang in seiner Seele und in seinen Nerven die Hoffnung.
Und gewiß, er konnte ihr vertrauend lauschen. Wie aus den Schatten der Nacht die glänzenden Sterne, die Morgenröthe und der lichte Tag, so werden aus dem Unglück die Freuden geboren und die Tröstungen der Freiheit. Wie der Wanderer in den Thälern der Trübsal die sonnigen Höhen der Befriedigung, wie der Held im Kampfgetümmel die Wonnen des Sieges ahnt, so wähnt sich der Hoffende jeder Gefahr entronnen.
— Jala!
Erst ganz langsam wuchs in Grege die Empfindung, so sicher und herrlich stehe es mit seiner Befreiung doch nicht, wenn er hier auf dem Boden der räuberischen Angelos raste, denn wie solle ihm, dem Fremdling ohne jeden Ausweis, ein volles Recht unter diesem übermüthigen und gewaltthätigen Volke werden? Und wie würde er seinen Weg hinausfinden, aller Mittel entblößt, sich die Gunst der Leute zu erkaufen?
— Jala!
Nun stieg ein Zweifel in ihm auf, der seiner Hoffnung Kraft lieh und sein Siegesbewußtsein zu lodernden Flammen anblies: Muß dieser Boden das Land der Angelos sein? Kann sich der Mann im steuerlosen Fahrzeug, das ein Spiel allen Launen der Winde und magnetischer Strömungen gewesen, nicht im letzten Augenblick noch im Wege getäuscht haben? Möglich war Eins und das Andere, entschieden Nichts.
Also Grund genug zum Zweifeln und kein Grund zum Verzweifeln.
Aus luftiger Höhe gesehen und im Wirbeltanze steuerloser Fahrt, im Her und Hin, im Auf und Nieder der zufälligen Lenkung, wer will die nordischen Länder unterscheiden und eins mit Bestimmtheit nennen? Zwischen Meere von gleicher Farbe gebettet, in Wiederholung der Insel- und Halbinselform sich alle gleichend im Zuschnitt, jedes mit mächtigen Felsen, die starr aufragen in wilder Gebirgsart — —
Grege kam aus dem erwägenden und in Bildern malenden Denken wieder in den Zustand des Traumlebens, Gesicht und Gehör empfingen ferne Bilder, die sich zum vollen Wirklichkeitseindruck verdichteten, während sein Leib unbeweglich auf dem Boden ausgestreckt blieb.
— Grege! Grege!
Es war Jala’s Stimme. Wahrhaftig, sie war’s. Ihr Ruf hallte über Berg und Thal und über das stille Meer. Süß, schmeichelnd, flehend, bebend wie Flötenton.
— Grege, wo bist Du? Wo bist Du? Ich bin hier, siehst Du mich nicht? Ich suche dich, Grege, Grege!
Wahrhaftig. Und nun sah er Alles. Sie war ausgegangen in die Weite, ihn zu suchen. Am Meere hin führte sie der Weg, dann über Schluchten, auf steile, bleiche Felsen kletterte sie und hing sich mit blutenden Fingern an die Gipfel, an die Wolken — —
— Grege! Zu Hilfe! Rette mich!
— Jala, hier! Was willst Du in der fernen Höhe? Hier bin ich, hier, Du wirst stürzen, ich beschwöre Dich! Siehst Du mich denn nicht? Hier, Jala, hier bin ich. Wende Dein Gesicht, meine Arme sind Dir geöffnet, so komm’ doch, komm’ — — komm’ herab zu mir — — —.
Er konnte nicht mehr. Das Entsetzen nahm ihm die Stimme. Er fühlte nur, wie ihm die Augen aus dem Kopfe traten, mit aller Gewalt den Blick der Verschwindenden nachzusenden, ihre letzten Züge im Verschweben in unmeßbarer Ferne einzufangen. Er fühlte nur, wie krampfhaft lauschend sein Ohr sich anstrengte, noch einen Laut, noch ein verschwimmendes Zittern ihrer Stimme durch den himmelweiten Luftraum zu erhaschen.
Vergebens.
Schrecken und Sehnsucht im fiebernden Gehirn, im stürmisch pochenden Herzen ließen ihn noch einmal herausschreien: Sprich, sprich, Jala, sprich!
Noch einmal war’s ihm, als vermöchte er ihre Züge zu sehen, in ihr verrinnendes Angesicht zu blicken, die gleitenden Umrisse ihrer schönen, hoheitsvollen Gestalt zu erkennen in den schrecklich fernen Aetherweiten der Unendlichkeit. Dann löste sich Alles in gleichmäßig helles, unbestimmt zitterndes Licht, von feinen Silberwölkchen durchzogen, ferner, immer ferner und lautlos verschwindend hinter dicht heranziehenden schwarzen Purpurwolken, die allmählich den ganzen Himmelsraum erfüllten in majestätisch düsterem Gewoge.
Grege mußte lange in starrer Bewußtlosigkeit gelegen haben. Sein Leib war steif und durchkältet, als sich die Besinnung wieder einstellte, sein Gehirn von einer unsäglichen Müdigkeit.
Nur mit harter Mühe konnte er sich entschließen, die Augen zu öffnen und den Kopf ein wenig zu erheben, mit heftigen Schmerzen im Nacken, als die kitzelnden Betastungen an seiner Nase, seinem Munde und seinen Ohren nicht nachließen. Auch an den inneren Handflächen und zwischen den Fingern hatte er die Empfindung, als ob eine lange leckende Berührung mit einem feinborstigen, nervös warmen Gegenstande von kräftiger Lebendigkeit stattgefunden.
Durch die Lidspalte gewahrte er ganz nahe seinem Gesicht eine mächtige Hundeschnauze. Das heißt: er rieth auf eine Hundeschnauze, denn in Teuta hatte er nie diesen braven Vierfüßler gesehen, in seinem thierfeindlichen Lande war die Bekanntschaft mit dem edlen Thierleben nur aus alten Erzählungen und Bildern zu schöpfen. Teutas alleinseligmachende, unvergleichliche Musterkultur hatte ja alle Hausthiere verbannt und seit Jahrhunderten nur den reinen Staatsmenschen als einzig würdiges Material für die Darlebung der höchsten Vernunft gezüchtet.
Durch die Lidspalte gewahrte Grege jedoch nicht bloß die mächtige Hundeschnauze, sondern auch ein scheinbar unmittelbar der Erde entströmendes vibrirendes Flimmerlicht, das nach der überstandenen so intensiv durchlebten Vision einen schmerzlichen Reiz auf seine Sehnerven ausübte. Erst wie er merkte, daß dieses Licht nicht an etwas Einzelnem haftete, sondern gleichmäßig ausgegossen, wie eine helle Luftschicht über dem Boden schwebte, öffnete er ohne Furcht vor neuen Visionen und Schmerzen weit das Auge und versuchte, sich emporzurichten.
Fröhlich bellend umsprang ihn der große, zottige, goldbraune Hund. Wie ein Gruß neuen Lebens klang ihm die merkwürdige nie gehörte Stimme. Es lag so viel Aufmunterndes, Liebreiches in diesen schallenden Lauten, eine reizvolle Naturfrische in den Intervallen, daß Grege bis in’s Innerste davon getroffen war.
Der Hund machte noch einmal die tanzenden Bewegungen unter freudigem Gebell, dann stellte er sich straff wie ein Wächter zwischen die Beine Greges und faßte den halbaufgerichteten Fremdling fest in’s Auge.
Grege nickte ihm zu.
— Ja, wer bin ich, mein Thier? Und wer bist Du, daß Du mich so herzlich begrüßt hast? Du nimmst wohl Interesse an dem seltsamen Gast? Oder haben Dich die Angelos geschickt, mich aufzuschnüffeln und zu wecken? Oder schickt Dich Jala mir als Bote?
Der Hund beschnupperte ihn die Brust hinauf bis in’s Gesicht, schüttelte eifrig den buschigen Wedel und begann wieder zu bellen und zu springen, als wollte er sagen: Was weiß ich? Du gefällst mir und das Weitere wird sich finden. Mach’ nur, daß Du endlich vom Fleck kommst, Du langer Schläfer und Faulpelz. Daß ich Deinem guten Geruch vertraue, siehst Du wohl, also vertraue auch mir. Erhebe Dich, komm! Mach’ Sprünge wie ich! Und hinter Dir steht noch Jemand erwartungsvoll, nein, bist Du aber schwerfällig — siehst Du denn nicht?
Den Bewegungen des lustigen Thieres folgend, wendete Grege den Oberleib und blickte rückwärts.
— Ach, ein Weib! stieß er überrascht hervor und stützte die Hände auf den Boden, um sich besser zu drehen und deutlicher zu sehen.
Sie saß fünf, sechs Schritte hinter ihm auf dem Boden. Lächelnd stand sie auf, die eine Hand auf dem Kopfe des großen Hundes, mit der andern eine grüßende Geste machend. Von Gestalt mäßig hoch, doch kräftig. Lichtblondes Haar, in schönen Zöpfen, die ihr über die Schulter hingen. Den jugendlichen Leib in einem festen, wenig faltenreichen, ärmellosen Gewand, von einem Gürtel umspannt, die Füße nackt, wie die Arme. Die ganze Erscheinung strammer, frischer, kerniger als Jala, die Züge gewöhnlicher, aber in Allem eine große Kraft und ungezwungene Herzlichkeit. Ach, die großen dunklen Feueraugen voll sprühender Gewalt!
— Angelos? Wohnen hier Angelos?
Das Weib trat mit dem Hunde einen Schritt näher und schüttelte lächelnd den Kopf. Der Hund sah neugierig zu ihr auf, als wollte er ihre Blicke und Worte auffangen.
— Mein Name ist Maikka. Hier sind keine Angelos.
Der Hund stellte sich bellend auf die Hinterbeine und legte ihr die mächtigen Pratzen auf die Schultern.
— Maikka? Keine Angelos? Ich danke Dir.
— Du bist groß, blond, stark, wie unsere Männer, aber ich merke, daß Du fremd bist. Ist Dir etwas Schlimmes widerfahren? Du siehst verstört aus. Lange lagst Du regungslos. Mir bangte um Dich, bis Dich mein Hund weckte.
Sie war noch einen Schritt näher getreten. Der Hund lief von ihr zu Grege und berührte ihm mit dem Kopfe liebkosend die Schulter.
Grege verharrte sinnend in der Betrachtung der beiden gütigen Wesen. In dem allgemeinen Lichtscheine, der die freie weite Nachtlandschaft erfüllte, gewann das Weib in dem schlichten weißen Gewande etwas so Vergeistigtes, daß Grege sich fragte, ob er nicht wieder dem Zauber einer Vision oder sonst einem Spuke zum Opfer gefallen. Die Stimme klang so schmelzend und doch so bestimmt und war so voll Seele und Natürlichkeit, wie das Bellen des Hundes.
— Komm, Maikka, berühre mich wie Dein Hund.
— Hier! Sie reichte ihm die Hand. — Warum erhebst Du Dich nicht? Bist Du müde von der Wanderung? Welches Weges bist Du gekommen?
Nun erschien Grege erst recht Alles wie ein Traum. Welches Weges er gekommen! Durch die Luft!
Aber kaum hatte er zu erzählen begonnen, da unterbrach ihn Maikka.
— Seltsames ist Dir begegnet. Die Erzählung wird lange werden nach dem abenteuerlichen Anfang. Hast Du hier kein Heim, so folge mir in das meinige. Auch scheinst Du erschöpft zu sein und noch der Ruhe zu bedürfen. Dein Gewand ist auch nicht im besten Zustand. Hast Du mit den Elementen gekämpft?
— Ja, Maikka, das hab’ ich. Aber glaube mir, ich bin ein friedsamer Mensch und trage keinen Streit in die Welt.
Maikka reichte ihm lachend auch die andere Hand Und an ihren beiden Händen sich fassend, sprang Grege vom Boden auf, mit so leichtem Schwunge, daß ihm selbst die Freude wieder kam über die Tüchtigkeit seines Leibes.
— O Du hast eine tapfere Gestalt, gut für den Streit und schön für den Frieden. Warum verhehlst Du mir Deinen Namen?
— Grege heiß’ ich und komme aus Teutaland, ein Flüchtling. Nun weißt Du’s. Ich habe nichts Uebles gethan, ich bin nur mir selbst nachgegangen, nur meiner Freiheit hab’ ich mich gewehrt.
— Aus Teutaland bist Du geflohen? Allein?
— Jala floh mit mir, mein Weib. Wo ist sie nun? Wo bin ich nun? Sprich, gütige Maikka, in welchem Lande begrüßest Du mich?
Maikka lachte: — Du verstehst die Worte zu setzen wie ein Dichter. Nordika heißt das Land. Ist Dir das fremd? Du sprichst seine Sprache, ein wenig anders zwar, doch verstehen wir uns. Wir sind verwandt. Teuta freilich, o Teuta!
Und sie schüttelte ihm beide Hände und lachte frisch, recht von Herzen, aber doch nicht in einem unzarten Tonfall. Auch der Hund tanzte und schlug seine vergnügtesten Töne an.
— Teuta macht Dich lachen, Maikka. Kennst Du Teuta?
— Davon und von vielem Anderen später. Willst Du mein Gast sein? Ich führe Dich eine Straße, die ist so grasig wie eine Parkwiese. Kannst Du schwimmen?
Grege nickte. Die einzige Leibesübung, die den Teutaleuten als vornehm-menschlich und staatserhaltend galt, war das Schwimmen. Das Schwimmen in großen unterirdischen Bassins.
— Gut, dann kannst Du über den See schwimmen. Das wird Dich von Deiner Starrheit erholen. Willkommen in Nordika noch einmal. Du wirst ein schönes Land kennen lernen, Teutamann Grege.
— Gute Leute hoffe ich.
— Gewiß.
— Was lieben die Leute in Nordika?
— Nichts, Grege, und Alles — was Liebe verdient.
— Ich will sagen: wofür haben sie die meiste Neigung? Oder: wovor haben sie Respekt?
— Vor nichts, Grege, und vor Allem — was Respekt verdient.
— Merkwürdig, Maikka.
— Jawohl, Du wirst schon sehen.
Unter diesem Gespräche hatten sie bereits eine Strecke auf der grasigen Straße zurückgelegt. Grege fühlte sich wunderbar stark, obwohl er Hunger spürte.
Der Hund kürzte sich den Weg durchaus nicht. In weitem Bogen umkreiste er die Herrin und ihren Gast. So oft er eine dichtere Lichtbahn kreuzte, machte er einen hohen Satz.
— Die Beleuchtung in hiesiger Art ist mir neu und überraschend. Man watet hier förmlich in feinem Licht. In Teuta kennt man das nicht.
— In Teuta!
Maikka lachte wieder. Fest und geschmeidig, in anmuthigen Schritten und Bewegungen ging sie voraus, zuweilen stehen bleibend, bis der Gast an ihrer Seite war. Aber ihre Lebhaftigkeit ließ sie gleich wieder den Vormarsch nehmen.
— Wir lassen die Erde selbst leuchten, ohne viel Künstelei. Der Boden ist hier so reich an Leuchtstoff. Man brauchte nur sinnreich dem Magnetismus die Bahn freizumachen. Das ist unser Nordlicht, nur daß es nicht in hohem Bogen steigt. Sieh, wie der Himmel sich sammetdunkel über die lichte Erde spannt. Man merkt nur am Mond und an den Sternen, daß es Nacht ist.
Sie blieb vor Grege stehen und blitzte ihn mit leuchtenden Augen an.
— Ueber dem See ist geringerer Schimmer, da muß Deine Haut leuchten! Bist Du sehr geübt in Muskelarbeit?
Grege mußte beschämt verneinen. Obwohl er daheim in natürlichem Drange mancherlei Uebungen gemacht, ganz insgeheim, da sie wider die öffentliche Ordnung verstießen, fühlte er doch, daß er als Angehöriger eines Volkes von Rutschern, Hockern und Liegern mehr verweichlicht war, als sich mit einer kräftigen Ausbildung von Muskeln und Sehnen verträgt.
— Ich habe ein kleines einsitziges Boot am Ufer. Wenn Du willst, kannst Du rudern und ich schwimme hinterdrein mit meinem Fox. Wir sind Luft-, Land- und Wassermenschen, nach Belieben, Grege.
Und wieder klang ihr frisches, seelenvolles Lachen in die stille schimmernde Nacht.
All’ seinen Lebtag hatte Grege kein solches Lachen in Teuta gehört. Lautes Lachen vertrug sich dort überhaupt nicht mit der staatlichen Wohlanständigkeit. Nur an den hohen Feiertagen bildete das Lachen einen Bestandtheil der offiziellen Freude, eine anerkannte Programm-Nummer sozusagen.
— Rudern? fragte Grege. Und nun wollte er auch mit einer Ueberlegenheit aufwarten, denn es berührte ihn peinlich, auf diesem fremden Boden einer wenn auch verhaltenen, so doch offenbar systematischen Geringschätzung seines Teutalandes zu begegnen.
— Ja, rudern! Rudert man bei Euch daheim nicht, Grege?
— Darüber sind wir längst hinaus. Auf unsern unterirdischen Seen gehorchen unsere Fahrzeuge einem Druck mit dem Finger, so wunderbar ist der Mechanismus unserer elektrischen Einrichtungen.
— Das haben wir auch, das hatte man, wenn auch gröber und umständlicher, schon vor tausend Jahren. Aber das Rudern ist noch viel älter, und deswegen nicht weniger schön, zur Abwechslung. Es stärkt die Brust, man muß breit ausathmen, alles hat einen so poetischen Takt, und man bekommt prachtvolle Arme. Da fühl’ einmal her!
Maikka hielt ihm beide Arme hin. Grege griff danach. Fox deutete das als Aufforderung zu einem Hochsprung. Kaum hatte Grege seine Hände um die herrliche Rundung des prallen Fleisches gelegt, da sauste zwischen den Köpfen und über die ausgestreckten verbundenen Arme auch schon Fox mit mächtigem Sprung durch die Luft.
— Hier ist der See und dort das Boot! rief die lachende Maikka.
Fox plätscherte bereits geräuschvoll schnaufend im Wasser.
Grege stand unentschlossen.
— Nun? Mein Gast hat die Wahl!
— Schade, daß das Boot nicht zweisitzig ist, bemerkte Grege galant ausweichend.
Maikka schlagfertig: — Aber das Wasser ist für zwei Schwimmer. Wenn Du darauf hältst, schwimmen wir Seite an Seite um die Wette und stoßen das Boot noch vor uns her. Mir nach!
Damit hatte sie schon den Gürtel gelöst, Ober- und Untergewand abgestreift und in das Boot geworfen, die Zöpfe hoch um den Kopf gesteckt — und platsch! tauchte ihr schimmernder Leib im kräuselnden Wasser auf und nieder. Wie ein Fisch in seinem Elemente, so sicher und schön war jede Bewegung.
— Herrlich, herrlich! Flink, Grege!
Wie von physischem Zwang erfaßt, entledigte sich Grege seiner Kleidung, sie flog wie von selbst ins Boot, und halb taumelnd fiel er ins Wasser. Fast besinnungslos arbeitete er mit Armen und Beinen. Er hatte nur das eine Gefühl, daß er auf Tod und Leben etwas Unerhörtes ausführe. Seine Schläfen pochten, seine Lunge schwoll, sein Athem prustete gewaltsam. Und neben ihm kicherte und schlängelte, wogte und wiegte die Nixe in den schönsten Schwimmkünsten, das Boot mit einzelnen, kräftigen Armstößen vor sich hertreibend.
Einmal war sie ihm so nahe, daß er ihren Ellbogen und Fuß an seinem Leibe spürte. Dann war’s ihm wieder, als schlüpfe sie unter ihm durch oder gleite über seinen Rücken hinweg. Dann wieder, als sitze sie rittlings auf ihm. Dann wieder, als walle der See auf in einem Getümmel von weißen Frauenleibern und jeder Wassertropfen sei erfüllt von Kichern und Lachen und aus der Tiefe breche heißer Phosphorglanz.
Das Ufer, endlich! Grege war nicht wenig erstaunt, es heilen Leibes erreicht zu haben. Er sah sich schon als Leiche angeschwemmt, von zärtlich würgenden Nixenarmen erstickt.
Fox war der Erstangekommene. Er schüttelte sich — und sein Bellen schallte wie Siegesruf.
Auf seinen Appell kamen zwei Dienerinnen an das Ufer geeilt, die Herrin zu empfangen. Sie schienen nicht sonderlich überrascht, auch noch einen nackten Mann zu finden. In behender Dienstfertigkeit verrichteten sie das Zweckmäßige.
Bevor Grege die neue Situation zu überschauen vermochte, steckte er schon in den warmhüllenden Kleidern, und Maikka stand lächelnd vor ihm, als hätte sie ein Zauber von einem Ufer unverändert zum andern gehoben. Nur ihre Wangen schienen etwas blässer und ihre großen Augen glühten dunkler.
— Und nun rasch in’s wohnliche Gemach, mein tapferer Gast! Ist Alles bereit?
Die Dienerinnen bejahten. Grege wandelte wie im Traum, den lebhaften Schritten Maikkas folgend.
Was war das für eine Welt?
In Teuta gab’s für den Mann vom Jünglingsalter an keinen freien, offenen Verkehr mit dem Weibe. Hier die Männerstadt, dort die Frauenstadt. Die Thore wurden von Staatswegen geschlossen und geöffnet. Nur in der „offenen Zeit“ gab’s Verkehr zwischen Mann und Weib, nach strengen offiziellen Regeln. Auch bei festlichen Aufzügen konnten Männergruppen mit Frauengruppen verkehren, nicht anders jedoch, als nach der Anweisung der Festordner. Sonst im gesammten Leben stand der Mann für sich, das Weib für sich. Die Kinder waren den Weibern zur Aufzucht zugetheilt, bis man sie mit dem fünfzehnten Jahr gleichfalls nach dem Geschlechte trennte.
Grege war aus Teuta entwichen, weil er ein geliebtes Weib für sich, für sich ganz allein, haben wollte. Und weil er nicht heimlich sündigen wollte. Denn das wußte er, heimlich gesündigt wurde in Teuta. Thore thaten sich heimlich auf, die geschlossen sein sollten. Aber es stand Strafe darauf, wenn Einer in der Frauenstadt betroffen wurde, der nicht von Amtswegen dort zu thun hatte.
Und alles Uebrige, was so einengend und häßlich war, und trotz aller Vererbung und Gewöhnung einzelnen Naturen bis auf’s Blut zuwider. Aber was wollten die Ausnahmen gegen die Regel! Und das Volk pries sich frei und glücklich unter der aufgezwungenen Regel — und sich zu preisen schätzte es nicht als seinen geringsten Stolz, sich zu preisen und zu rühmen als das bevorzugteste Volk der Zivilisation!
Was war das für eine Welt nun, in die Maikka, die Zauberhafte, ihren Gast Grege führte?
In einem Föhrenhain stand das Haus und in dem Hause war ein hohes Gemach, reich geschmückt mit allerlei Bildwerk und entzückend traulich zugleich in all’ seiner Einrichtung. Schönheit, Lust, geistige Kraft — wie schmolz das ineinander und schuf eine Luft, in der die freie Seele athmete wie in einem Himmelreiche!
Die Dienerinnen kamen und brachten in künstlerisch gearbeiteten silbernen Gefäßen, Krügen und Schüsseln allerlei Labung, dazu Obst, Backwerk, süße Säfte die Fülle. Die Dienerinnen, hübsche, junge Mädchen, verschwanden schweigend, auf einen Wink der Herrin, und ließen diese mit ihrem Gaste allein.
— Es sind meine Schülerinnen, Grege, darum dienen sie mir so folgsam und bescheiden. Wenn sie in die Jahre kommen, wo die Lehrzeit überstanden, sind sie frei, wie ich. Du bist in einem freien Lande, bei freien Menschen, in Nordika, Grege. Und nun setz’ Dich zu mir und iß!
Maikka legte ihm vor, warme Speisen aus den verdeckten Schüsseln.
Grege saß wie betäubt. Er schüttelte endlich den Kopf, griff nach den Früchten, einem Stückchen Backwerk und schänkte sich von dem süßen Saft einen Schluck in sein Glas.
— Warum nimmst Du nicht von den warmen Pastetchen? Sie sind köstlich. Sieh, wie sie mir schmecken! Ist es wider die Teuta-Regel?
— Allerdings. In diesem Falle ist die Regel wie ein geleisteter Schwur.
Maikka, obwohl sie im Hause ernster schien, als im Freien, lachte laut auf und rückte ihren Sitz näher dem seinigen.
— Merke dies, mein Gast: Teuta-Schwüre gelten in Nordika nicht. Jetzt bist Du ein freier Mann in einem freien Lande.
— Aber noch kein neuer Mensch, Maikka. Das Alte lastet.
— Der neue Mensch wird die alte Last abschütteln.
Aus einem Nebengemach tönte lieblicher Mädchengesang.
— Das ist das Nachtlied, Grege. Gleich werden meine Dienerinnen erscheinen, Dich zu Deinem Lager zu geleiten. Schlaf wohl! Ich will noch nach Fox und meinen Thieren sehen.
— Noch ein Wort, gütige Maikka: Du sprachst vorhin von Schülerinnen. Also bist Du Lehrerin?
— Ja, Grege, das bin ich. Gut Nacht. Deine persönlichen Erlebnisse erzählst Du mir morgen.
Der Mann aus Teuta hat eine traumschwere Nacht in Maikkas Heim verbracht.
Erst sehr spät ist er fest eingeschlafen. Zuerst schüttelte ihn eine wüthende Sinnlichkeit, dann klärte sich die Begierde ab zu heißer Sehnsucht nach der fernen Geliebten. An welchen bleichen Gestaden mochte sie nun ihres Verlassenseins Kummer bergen?
Ob wohl die zauberhafte Gastfreundin ein Mittel wüßte, die Getrennten einander nahe zu bringen? Schätze von Geist, Erfindung, Thatkraft, Güte stehen dem Weibe Nordikas zu Gebote. Könnte ihm die kluge Lehrerin nicht eine Nothhelferin werden?
Er fühlt es, sein Herz hat keine Falten vor ihr. Ihr kann er wie einer Schwester das Zarteste und Schmerzlichste anvertrauen.
Ja, ja, ja.
Wie warmer Frühlingssonnenschein wehte es über seine Seele, und behaglich streckte sich sein Leib in den leichten, duftigen Hüllen des Lagers. Ein neues Leben lachte ihn an, mit zuversichtlichen Maikka-Augen.
Dann schlichen sich die Dämonen in seine sonnigen Träume, löschten die himmlische Helle, machten Alles schwarz und schwer, schoben Alles irr und wirr durcheinander, peinigten ihn mit Fratzen und Hundegekläff und warfen ihn schließlich in den See. Alles schien für ihn verloren in gräßlicher Hilflosigkeit. Da tauchte Maikka zu ihm hinab, umschlang ihn mit süßen Blicken und weichen Armen und in seligen Wirbeln strudelten sie in die Tiefe. Bis in die letzten Gründe des Nichtsmehrvonsichwissens — —
Lieblicher Mädchengesang tönte in seinen späten Schlaf.
Das war das Morgenlied.
Nun schlief er noch wonniger und fester, der abgehetzte glückliche Narr der Träume.
Mit einem Male rüttelte ihn ein energischer Weckruf: Fox brach mit mächtigem Gebell in das Gemach, die Gardinen flogen von den Fenstern, wie Feuerpfeile schossen die Sonnenstrahlen herein, und von der Thür her tönte eine glockenhelle Stimme: — Ein schlechter Mann, der nicht der Erste sein will!
Und plötzlich war Alles wieder still und dämmerdunkel.
Grege rieb sich die Augen und schob in tiefem Nachdenken die Beine vom Lager. Er strich über die Knie, er strich über die Waden, er befühlte die heile Wunde, er befühlte seine Wange mit dem sprossenden Bart, er glitt mit beiden Händen über die Brust den Leib hinab: Er war er, kein Zweifel.
Wie klang’s?
„Ein schlechter Mann, der nicht der Erste sein will!“
Und wessen Stimme war’s?
Ja, ja, Maikka’s Stimme. Richtig. Maikka. Die Gastfreundin. Die edle Herrin dieses Heims. Wo ist sie? Soll er nach ihr rufen?
Er sprang auf, tastete umher, erwischte eine Schnur an der Wand. Ein Ruck. In freier Nacktheit stand er im hereinfluthenden Sonnenlicht. Rasch suchte er nach seinen Kleidern. Er fand nichts als einen neuen weißen, weiten, weichen Mantel. Er ging zur nächsten Thür, im Gehen den Mantel um sich nehmend. Er öffnet und steht in einem Baderaum. Grege traut kaum seinen Augen: Zwei Dienerinnen, hübsche, junge Mädchen, wie gestern, erwarten ihn, ihm ihre Dienste schweigend zu leisten.
Nach dem Bade reichen sie ihm ein neues Gewand, bestehend aus Hemd, Wams und kurzem Beinkleid. Er fragt nach seinen alten Kleidern. Sie verneinen, sie wissen von nichts.
Nachdem er mit ihrer Hilfe angekleidet, öffnet die Eine eine Thür, die Andere geht voran, und zwischen beiden Mädchen schreitet Grege, die Sinne fast umflort wie im Traume, in das hohe Speisegemach.
Die Dienerinnen laden ihn ein, mit freundlicher Handbewegung, am gedeckten Tische Platz zu nehmen, und entfernen sich wortlos.
Grege steht, wie verzaubert, in Erwartung. Aber es rührt sich nichts. In dem hallenartigen Raum, durch mildes, gleichmäßiges Oberlicht erleuchtet, die Wände mit Landschaftsbildern in zarten Farben geschmückt, athmet eine sanfte Stille. Alles umfängt hier den Menschen so weich und innig und doch so bestimmt in verborgener, lebendiger Kraft. Nichts Flaues, Zugerichtetes, Ausgelebtes, Mechanisches wie in Teuta. Eine tiefe, starke Seele durchzieht Alles. Selbst das Schweigen spricht wie Musik an.
Grege steht immer noch, von all’ den überraschenden Eindrücken erfüllt — aber es fällt kein Wort, es zeigt sich kein Gesicht, ihn aus dem Banne zu erlösen und ihn sich selbst zurückzugeben, daß er sich frei und überlegsam mit der ungewohnten Umgebung in bewegte Harmonie setze, daß er nicht nur empfange, sondern auch aus seiner Persönlichkeit Einiges spende. Er ist doch nicht bloß eine Figur, die man schiebt und richtet und hinstellt, wo ein fremder Wille, und wäre es der freundlichste, sie haben will?
Seine Stirn runzelt sich. Ist das eine Schaustellung, eine Komödie, die sich ein unsichtbares Publikum mit ihm aufgespart hat? War das der Weg, um seiner Natur Freiheit und Würde der Selbstbestimmung zu verschaffen? Mit der Gewaltthat der rohen Angelos ist er fertig geworden, will ihn jetzt die Feinheit der Gastfreundschaft überlisten, daß er selbst in ein fremdes Joch schlüpfe?
Sein Blick gleitet über den zierlich gedeckten Tisch. Zwischen den kunstvoll gearbeiteten Gefäßen prangt ein bunter Strauß — Blumen, so schön und farbenreich, wie er in Teuta noch keine gesehen. Doch was soll ihm das? Eine Handvoll Surros genügte ihm, den Hunger zu stillen. Er selbst war chemischer Künstler genug, sobald er die Rohstoffe und einige zweckmäßige Werkzeuge hatte, sich seine Speise in winziger und doch kraftreicher Form herzustellen. Hier war das Meiste aus der Hand der Natur, ohne viel Menschenwerk: Früchte, Eier, Säfte, dazu barbarische Sachen, die den Tod von Thieren zur Voraussetzung hatten, unvereinbar mit Teutas strengen Kultursitten. Und warum sollten Teutaschwüre in Nordika nicht gelten, für ihn nicht gelten?
Sein Blick umkreist die Wände. Nirgends die Spur von jenen zahlreichen Apparaten, mit denen man in Teuta umgeben ist, um jederzeit auf dem Wege des Hörens und Sehens sich in jede beliebige Ferne mitzutheilen und von überall her Mittheilungen zu empfangen. Auch auf dem Tische und am Stuhle keinerlei Verständigungsmittel. Unvermögen in mechanischen Künsten wird dies kaum sein, wohl aber berechnete Absicht. Gewiß, auf seiner ersehnten Insel würde er sich auch einrichten ohne verwickelte Maschinerie. Aber hier? Im Lande der magnetischen Zaubermächte? Der leuchtenden Erde?
Grege schloß einen Augenblick die Augen mit der Hand.
Dann fiel sein Blick auf seine neue Kleidung. Ein weiches und doch starkes Gewebe von lichtbrauner Farbe, ungewöhnlich im Schnitt, jedoch nicht unbequem. Die Figur tritt männlicher hervor, in energischeren Umrissen, als in den sack- und mantelartigen Gewändern, welche Teuta’s Staatsweisheit vorschreibt. Aber mit welchem Recht hat man ihm die alten Kleider vorenthalten?
Nichts rührt sich? Warum erscheint Maikka nicht?
Er blickt gegen die Thür, durch welche ihn die Mädchen eingeführt. Sie ist in die Wand eingefügt und wie diese bemalt, ohne unterscheidendes Merkmal.
Wie er sich umwendet, ist der Tisch in den Boden versunken. Der Raum ist leer.
Grege lächelt. Nun ist er um sein Frühstück gekommen.
In demselben Augenblick treten durch eine unkenntliche Thür auf der gegenüberliegenden Seite zwei Jünglinge, gekleidet wie er, und winken ihm, ihnen zu folgen.
Er gehorcht. An der Thür bleibt er noch einmal zögernd stehen und sieht zurück. Der Raum ist licht, still, leer, wie zuvor.
Die Jünglinge sind frische, prächtige Gestalten. Darum dürften sie aber doch den Mund aufthun, dachte Grege, dem das ewige Schweigen endlich unheimlich wurde.
Sogar Fox schien sich Schweigen gelobt zu haben. Was hätte Grege darum gegeben, jetzt sein fröhliches Bellen zu hören. Und wäre der Hund in der Nähe, könnte auch die Herrin nicht ferne sein. Warum kümmert sie sich heute nicht persönlich um ihren Gast?
Was sich jetzt knurrend meldete, das war Greges Magen. Das Frühstück als Licht- und Schattenspiel hatte nichts Sättigendes. Aber war’s nicht Greges eigene Schuld, daß er nicht zugegriffen?
Die Jünglinge führten ihn schweigend vorwärts, in raschen, taktmäßigen Schritten, durch einen langen Laubgang, dessen grüne Wände so dicht und hoch waren, daß sich Grege keinen Begriff von der Oertlichkeit machen konnte. Weißer Sandpfad, grüne, mauerdicke Hecken, darüber ein Streifen vom sonnenwarmen blauen Himmel, geradaus, in perspektivisch verschwindender Linie.
Das Tempo des Dahinschreitens wurde immer eiliger, so daß Grege gar nicht Zeit hatte, eine Frage an seine behenden Führer zu thun. Schließlich ging’s im regelrechten Dauerlauf. Wie von einer geheimnißvollen Macht getrieben, ahmte Grege Alles nach. Er wäre nicht mehr im Stande gewesen, zurückzuschauen oder zurückzubleiben. Vorwärts, vorwärts, ohne Besinnen! Links und rechts in den Hecken schien ein Vogel laut zu werden, bald flog auch einer herüber oder hinüber. Vorwärts, vorwärts!
Grege hielt den Mund offen, um voller zu athmen. Seine Brust arbeitete, seine Haut wurde schweißwarm.
Plötzlich hielten die Jünglinge an und ordneten sich mit Grege zu einer Reihe.
Der Eine hob die Hand hoch, wie zum Kommando. Grege begriff nicht gleich. Nun zählte der Andere: eins, zwei — drei!
„Ein schlechter Mann, der nicht der Erste sein will!“
Wurde das Wort wirklich gesprochen oder sauste es ihm nur in der Erinnerung an die letzte Nacht durch den Kopf?
Bei drei sprang Grege mit seinen Wettläufern a tempo ab, in kurzen, hüpfenden Schritten, wie sie — wer aber nicht als der Erste am Ziele erschien, war der junge Mann aus Teutaland.
Das Ziel war ein natürliches, die Ausmündung des Laubganges in eine weite, lustige Halle von leichter Holzarchitektur mit reicher Schnitzerei im Gebälke. Es war ein eleganter Bau, bestimmt zu Spielen und allerlei Leibesübungen, mit, und ohne Geräthschaften.
Es gab keinen Ausweg. Grege mußte eintreten.
Er war erstaunt, eine große Gesellschaft von Jünglingen und Jungfrauen in dem Raume zu finden, der ihm beim ersten Blicke von ganz unübersehbarer Ausdehnung dünkte. Noch erstaunter aber war er, als aus den Reihen der Jungfrauen ihm plötzlich Maikka entgegentrat.
— Willkommen, Gast! Damit reichte sie ihm die Hand.
Endlich der erste gesprochene Gruß an diesem seltsamen Morgen. Nach der merkwürdigen Wettlauferei mit nüchternem Magen fühlte Grege, wie sein Gesicht eines gewissen grimmigen Ausdrucks sich nicht erwehren konnte, auch fand er keine freundliche Erwiderung auf Maikka’s Willkomm. Er begnügte sich mit einer stummen Verneigung.
Maikka musterte ihren Gast von Kopf zu Fuß und schien sehr befriedigt.
Grege aber blickte sie an, als wollte er fragen: Wie komm’ ich daher, was thue ich in diesem Haufen fremder Menschen? Was treibst du selbst hier, außerordentliche Frau? Ist das hier deine Schule, dein Lehramt?
Die kluge Frau las ihm die Fragen von den Augen ab.
— Ich kann Dir nicht jede einzelne Person vorstellen, aber jede ist würdig, von Dir gekannt und geschätzt zu werden.
Grege nickte höflich.
Maikka fuhr fort: — Wir üben uns hier im Ring- und Reigenspiel, im Springen und Schlagen. Nimm theil, Grege!
Das war wieder mit der bezwingend lieben Stimme gesagt und mit dem süßen Sprühen der dunklen Augen begleitet.
Bevor Grege überlegte und zu irgend etwas entschlossen war, hatte er schon einen langen Stab in der Hand und stand in Reih und Glied und machte, so gut es gehen wollte, die kommandirten Sprünge mit. Dergleichen hatte er noch nie erlebt. Nicht einmal zur Empörung und zum Widerspruche wurde ihm in diesem „freien Lande“ Zeit gelassen. Ohne Besinnen wurde er mit fortgerissen.
Eine Pause. Lachend und plaudernd standen Alle, so zwanglos wie möglich, jedoch ohne die Reihe aufzulösen.
Maikka trat, mit lieblich geröthetem Antlitz, denn sie hatte alle Sprünge mit ausgeführt, auf Grege zu: — Wie gefällt es Dir?
Grege: — In Teuta hätte mich’s verrückt gemacht.
— Und hier beglückt es Dich, das ist der Unterschied! fiel ihm Maikka in’s Wort.
Mit zweimaligem Aufsetzen der Sprungstange flog sie wieder an ihren Platz vor der ersten Reihe. Sie kommandirte einen Sing-Reigen, der von der Hälfte der Jünglinge und Jungfrauen, paarweise am Stabe verschlungen, ausgeführt wurde.
Der Gast aus Teuta konnte nicht genug schauen, so anmuthig und heldenhaft schön waren die Bewegungen und Stellungen dieser blühenden Menschen, und so jubelnd und innig ihr Gesang. Er glaubte die Verse zu vernehmen:
Frisch, frei und froh, mein Kind!
Dein Sinn sei leicht wie der Wind,
Dein Muth bewährt wie Gold,
so bleibt das Glück dir hold —
Trala, Dir hold, trala, Dir hold.
Fest in Treue stets geschlossen
Sind wir stolzen Volkes Sprossen
Dir in Liebe zugewandt,
Nordika, heiliges Vaterland —
Heil, Vaterland! Heil, Vaterland!
Die ferneren Strophen des langen Sing-Reigenspiels überhörte Grege, nur der feurige Klang und der stürmische Rhythmus nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen, wie das herrliche Schauspiel der kunstvollen, aber wie selbstverständliche Natur wirkenden Verschlingungen und Figuren sein Auge entzückte.
Am Schlusse dröhnte es förmlich wie Wetterbrausen mit elektrischen Schlägen:
Nordika, heiliges Vaterland!
Denn auch die nicht mittanzende Hälfte fiel jetzt aus voller Kehle in den Gesang mit ein — aber Maikkas Stimme glaubte Grege wie Trompeten-Ton über dem harmonischen Gewoge schweben zu hören. Das war ihm ein unerhörter Ohrenschmaus. Und das berauschend aufsteigende, machtvoll ausklingende
Heil, Vaterland! Heil, Vaterland!
ging ihm durch Mark und Bein. Thränen traten ihm in die Augen. Von dieser alles bezwingenden Gewalt des Gesanges und der Vaterlandsliebe hatte er seither keine Ahnung gehabt.
In Teuta kannte man das Gefühl der Vaterlandsliebe überhaupt nicht. Dort galt nur der Begriff vom „Staat“ und „Reich“ als eines künstlich aufgebauten Gesellschafts-Körpers, an dem nur der Verstand, aber niemals das Gefühl betheiligt war, auch gab es dort keinen natürlich quellenden Enthusiasmus für irgend etwas, sondern nur eine eingelernte Ruhmredigkeit, die sich in erhitzten Phrasen ergoß, ohne echtes Feuer, ohne natürliche Wärme. Und wo fiele es den Teutaleuten, Jünglingen und Jungfrauen, Männern und Frauen, jemals ein, ein Lied anzustimmen, einen gemeinschaftlichen Gesang steigen zu lassen, die Seele losbrechen zu lassen in einer Fluth von Tönen und wuchtigen Harmonien? Wenn sie singen jemals gelernt hatten, heute hatten sie’s sicher verlernt, seit Menschengedenken hat man im Teutareich keinen Volksgesang gehört. Warum fehlt das dort? Weil die Seele fehlt. Weil Alles in seelenlose Mechanik umgewandelt ist. Drum kennt man auch nur mechanisches Musikmachen, ohne Sinn und Gefühl, wie man nur verstandesmäßige Staatsbegriffe kennt, ohne Vaterlands-Empfindung.
Und Grege liefen die Thränen über die Wangen, er stand betäubt, selig erschüttert und todtbetrübt zugleich.
— Nun? fragte Maikka, mit glänzenden Augen und hochklopfender Brust auf ihn zutretend. — Was sagt Teuta dazu?
Grege wischte sich die Augen und schüttelte den Kopf: — Nie hätte ich das geglaubt, nie habe ich das gehört, kein Mensch hat mit daheim davon gesagt.
Maikka gab ihm einen leichten Schlag auf die Wange: — Du bist ein guter Mensch, aber Deine Landsleute daheim sind arme Murmelthiere. Das haben sie von ihrer größenwahnsinnigen Abgeschlossenheit und Verbohrtheit.
— Woher weißt Du das, Maikka? Woher kommt Dir all’ die Kenntniß? Bist Du je bei uns gewesen?
Sie ließ ihre Augen und Zähne blitzen und lachte mit dem ganzen Gesicht: — Nein, danach hat mich nicht gelüstet. Aber wir haben einen guten Kundschafter. Wir sind von Allem unterrichtet, Du närrischer Königssproß von Teutaland.
Plötzlich wurde sie sehr ernst, und als Grege, verblüfft von ihrem letzten Wort, mit Fragen auf sie eindringen wollte, legte sie den Finger an ihre Lippen.
— Und nun, mein Gast, hab’ ich eine halbe Stunde Zeit, ich bin schon seit fünf Uhr an der Arbeit, lass’ uns einen Gang in die Sonne machen.
Sie gab einem Jüngling einen Wink, flüsterte ihm ein paar Worte zu und entfernte sich mit Grege durch einen schmalen Heckenpfad hinter der Halle, hinaus in’s Freie.
Scheu betrachtete Grege die neben ihm schreitende Frau von der Seite.
Sie errieth seinen Blick und beantwortete ihn mit einem anderen, der sagte: — Verbeiß nur Deine Frage, Grege. Darauf bekommst Du keine Antwort. Das ist Staatsgeheimniß. Vorläufig wenigstens.
Und Grege verstand den Blick und biß sich auf die Zunge.
Maikkas beweglicher Geist ließ ihm keine Zeit zum Grübeln und Tüfteln.
— Sprich, Grege, bist Du beschlagen in europäischer Geschichte?
— Ich glaubte es, bis gestern. In Nordika zweifle ich daran.
— Lass’ hören: Was hinterließ uns der Mensch der Steinzeit?
— Eine Erinnerung.
Maikka lachte hellauf: — Das ist Poeten-Ausrede für sachliches Nichtwissen.
— Teuta kennt und duldet keine Poeten. Du thust mir Unrecht, Maikka.
— Ach, Du willst Dich drücken. Du gebrauchst Ausflüchte. Ernsthaft, Grege: Was hinterließ uns der Mensch der Steinzeit?
— Kehrichthaufen, Kjökkenmöddinger.
— Sehr gut. Und was hinterließ uns der Mensch der industriellen und kapitalistischen Metallzeit?
— Auch Kehrichthaufen. Ruinen, Museen, Arsenale, einen traurig zusammengeschrumpften Rest Menschheit. Kehrichthaufen, wie ich sage.
Als Maikka schwieg, fügte er wie entschuldigend bei: — Für Nordika gilt das wohl nicht.
— Doch, doch, zum Theil auch. Wir hatten vor tausend Jahren auch an dem großen europäischen Krach mitzutragen und die Zeche mitzubezahlen. Unsere Menschheit ist der Zahl nach gleichfalls bös zurückgegangen. Aber das gab schließlich die einzige Möglichkeit, die Völker Europas, soweit sie kulturfähig waren, auf eine neue Bahn zu bringen. Es war geradezu ein Segen, ein grausamer Segen, daß über vier Fünftel der europäischen Bevölkerung in jenen Katastrophen draufgegangen sind. Was nach dieser furchtbaren Musterung übrig geblieben, war doch eine Art Auslese. Natürlich blieb auch noch schlechter Kleinkram übrig, eben weil er Kleinkram war und durch allerlei günstige Zufälle mit durchschlüpfen konnte.
— Namentlich bei uns in Teuta. Wir haben es heute noch auf keine Million Menschen gebracht, behaupten unsere Volkszähler.
Maikka blieb eine Sekunde sinnend stehen, dann ließ sie ihre Augen auf Grege blitzen: — Du bist ein herrlicher, natürlicher Ausnahmemensch, mit Dir kann man reden. Hör’ mal, Grege, was Ihr in Teuta treibt, schreit doch zum Himmel. Das ist eine Staatskunst von Idioten und Feiglingen. Da Ihr doch einmal keine freien Naturmenschen sein wollt, meinetwegen, so fristet Euch als Staatskünstler durch. Aber wenn man nicht mit der Natur hausen kann, muß man gleich ein Verbrecher gegen die Natur sein? Hör’ mal, Grege, hör’ mal!
— Ich verstehe nicht, Maikka, was meinst Du?
— Wär’s möglich, daß Du für die Schmach Deiner Teutaleute selbst so wenig Empfindung hättest?
— Sprich deutlich, ich bitte Dich! Wie soll ich nun plötzlich hier, an Deiner Seite, an Alles denken, was je Schmachvolles daheim in Teutaland geschehen? Sprich, Maikka! Was stürmt hier nicht an unbeschreiblichen Eindrücken auf mich ein — und da soll mir Schmachvolles gegenwärtig sein, das weit hinter mir liegt?
In düsterem Ernst fand ihre Stimme nur tiefe, rauhe Töne, als sie, die Hand auf Grege’s Schulter legend, halblaut hervorstieß: — In Teutaland verhandelt man die Leibesfrucht gegen die Brotfrucht, man frißt seine eigenen Kinder — und spielt den Fleischverächter? Weißt Du, was das für ein Volk bedeutet? Kennst Du den Fluch, den die Natur auf solche Verbrechen setzt?
Grege zuckte zusammen.
— Kein Volk hat Zukunft, das seine Jugend preis giebt oder verschachert. Grege, begreifst Du das nicht?
— Ich beschwöre Dich, Maikka!
Sie hatte jetzt ganz die unheimlich visionäre Art Jalas in Ausdruck und Stimme. Jedes Wort gab Grege einen Stich in’s Herz.
— Beschönige nichts, Grege, bei Deinem Heil! rief sie. — Oder ich muß Dich wie einen Tollen aus meiner Nähe jagen.
Und als Grege sie streng fixirte, mit bebenden Lippen, als suche er vergeblich nach dem rechten Wort, fuhr sie mit wachsender Leidenschaftlichkeit fort: — Das geht durch Eure ganze Geschichte, seit Jahrtausenden. Nie hattet Ihr Respekt vor der Jugend, vor dem eigenen Nachwuchs. Ihr habt sie geistig und körperlich gemartert, wo ihr konntet. Ihr habt sie in den Zeiten des Mittelalters durch Eure blödsinnigen Gelehrten in Schule und Kirche den Alterthümlern überliefert, den Römern und Griechen und Juden und ihrem blutigen Aberwitz, ihre Köpfe entnervt und ihre Seelen belastet und ihre Gemüther verdüstert. Ihr habt sie dann in Kasernen, Zuchthäuser, Fabriken gesperrt, jede heilige Individualität mit Füßen getreten, Jahrhunderte lang sie ausgeschunden um elender Idole willen. Ihr habt sie dem Moloch des Militarismus, des Industrialismus, des Mammonismus zu Hunderttausenden hingeworfen, wie man einem Geier Aas hinwirft — —
— Halt ein, Maikka!
— Ihr habt sie gepeinigt mit jeder denkbaren Pein, mit Verfolgung, Hunger, Noth und Elend in tausend Gestalten, Ihr habt sie als Dünger über alle Erdtheile gestreut, und die armen Mädchen als Weihrauch auf alle Lasterpfannen gelegt in der Ehe, in der Prostitution, in den — — der Millionenstädte — —
— Bis der große europäische Krach kam und die große Schicksalswende, Maikka. Ich bitte Dich, halte Maaß. Das that man in jenen unseligen Zeiten nicht bei uns allein, das geschah, stärker oder schwächer, fast in allen Ländern Europas. Und wenn die Todten, die die Vergangenheit nicht alle begraben konnte, an die Ufer der neuen Zeit geworfen wurden — sprich, Maikka, welches Völkerhaus hat heute nicht noch seinen Leichnam?
— Du fabelst wieder in Bildern wie ein Poet, trotzdem Ihr in Teutaland keine Poeten duldet. Aber gut, Du sollst Recht haben. Den giftigsten und stinkendsten Leichnam jedoch beherbergt Euer Haus, Teutaland.
— Bei meinem Leben, Maikka! Er soll hinausgeschafft werden!
Sie griff mit beiden Händen nach seinen Schultern, schüttelte sie, bohrte ihren Blick hinauf in sein flammendes Auge: — Das soll ein Held gesprochen haben, Grege. Und nun schnell weiter, weiter, weiter, mich fröstelt im Schatten. Sonne, Sonne, himmlische Sonne! Freie Luft im freien Licht!
Sie waren in einen Hain mit weißschimmernden Birken und jungen Blutbuchen eingetreten, in deren flüsterndem Laub die goldenen Strahlen spielten. Maikka mußte Grege mit sich fortreißen. Denn nun waren in seinem Lockenkopfe die Gedanken rebellisch geworden und in seiner Brust war ein seltsamer Rumor.
Er zwang Maikka zum Stillestehn.
— Bist Du nicht von Deinem ursprünglichen Gedankengang abgewichen, Maikka?
— Nein, nein. Oder gleichviel. Komm’ nur, wir haben schon den rechten Faden gesponnen. Soll ich’s sagen? Dein grimmiges Teuta-Gesicht zuerst und dann Deine Thränen — weiß ich’s? Das hat mich eben erregt und außer mich gebracht. Grege, merk’ Dir’s, mit mir ist nicht zu spaßen!
— Mit mir wohl auch nicht.
— Das will ich hoffen, Grege. Du mußt ein ganzer Mann sein.
Nun hatte sie ihren lieben Herzenston wieder, ihre klare Güte.
— Aber nun will ich Dir auch mit einer Frage kommen, Maikka. Anknüpfend an den Kehrichthaufen. Was glaubst Du, daß unsere Zeit hinterläßt?
— O, ich kann nur für Nordika gut stehen, Grege: Freude wird sie hinterlassen. Freude, die aus dem Lebensmuthe quillt. Freude, die neuen Muth schafft. Mach’ doch nicht wieder jenes Gesicht!
— Der Muth muß aber nicht bloß eine Quelle, er muß auch einen Gegenstand haben, Maikka!
— Freilich. Den größten und höchsten, den’s giebt: Immer mehr Freude und Schönheit. Aber das ist schließlich dasselbe: Freude, Schönheit. Die Mittelalterlichen nannten es das Göttliche und verdarben sich das Menschliche damit und verekelten sich mit ihrem Himmel die Erde. Sieh’ mal den lustigen Käfer, wie er behende über die Rinde läuft. Schön und drollig, nicht? Weiß er, woher und wohin? Kümmert er sich um den letzten Grund der Dinge?
— Wir nennen’s in Teuta das Mystische.
— Schweig’ mir von Teuta jetzt. Das Mystische!
— Du glaubst nicht daran? An das unerforschliche Wesen, das uns hegt und trägt?
— Fällt mir nicht ein. Kümmert uns Nordika-Menschen nicht. Das Mystische! Nicht im Mindesten kümmert’s uns. Wir hegen und tragen uns selber. Ja, wir erlauben uns das, Grege.
Und nun lachte sie wieder.
— Warum leben wir eigentlich, Maikka?
— Weil wir da sind und weil uns das Leben gefällt. Sehr einfach.
— Und wenn Dir das Leben einmal nicht gefällt?
— Dann warte ich, bis es mir wieder gefällt. Ich ertrag’s in der Hoffnung, daß es mir wieder gefällt. Interessant ist’s ja immer, mit und ohne.
— Mit und ohne, was heißt das?
— Mit und ohne Gefallen. Aber hör’ mal, Grege! Stell’ dich nicht dumm!
— Ich glaube, Maikka, Deine Vernunft ist so stark, daß sie mich in die schönsten Kinderträume zurückführen könnte.
— Muß man Dich erst dahin zurückführen? Mit Vernunft? Ich bin mit Vernunft mittendrin, in jedem Märchen, Du Märchenprinz. Mittendrin!
Sie lachte, so übermüthig und ansteckend, daß Grege mitlachen mußte, ob er wollte oder nicht.
— Du solltest mir Deine Geschichte erzählen, Grege. Aber siehst Du, sonderbar, ich erzähle mir sie selbst. Ich weiß Alles. Hörst Du? Alles!
— Ich erkläre, daß Du dann mehr weißt, als ich selbst. Vieles in meinem Leben ist mir wie verriegelt und versiegelt, ich kann nicht dahinter kommen. Wieder Anderes, weite Strecken meiner Jugend — ach, was rede ich!
— Nun?
— Ist so verschattet, daß ich’s nicht mehr entziffern kann, es ist wie eine alte verblichene Handschrift.
Sie setzte wieder mit ihrem hellen Lachen ein: — Poeten-Flausen! Was man nicht weiß, zählt nicht. Das mag so oder anders gewesen sein, was liegt daran? Nur das Bewußte ist das Wirkliche. Das Andere ist einfach nicht da, für uns nicht da. Was soll’s uns also?
— Das ist leicht gesagt. Hinweglachen läßt sich’s auch nicht, was in unserem Leben dagewesen ist. Das bleibt unserem Schicksal einverwoben. Denk’ nur an das Gesetz der Vererbung, das uns so Vieles mitschleppen läßt, wovon wir kaum eine Ahnung haben. Aber hat es uns nicht doch am Kragen, ob wir’s wissen und wollen, oder nicht?
— Vererbung! Wenn das so schrecklich buchstäblich zu nehmen wäre, dann hätten wir die Ehre, heute sammt und sonders stumpfsinnige, schmutzige Chinesen zu sein, wir Europäer. Schau’ mich an, Grege: Bin ich stumpfsinnig? Bin ich schmutzig? Bin ich chinesisch?
Und sie stand vor ihm, die verkörperte Fröhlichkeit. Alles an ihr strahlte von Gesundheit und heiterem Geist. Sie ballte die Hände und streckte die Arme straff aus und mit ihren kräftigen Füßen stampfte sie den Boden.
Grege legte den Arm über den Rücken und besah sich das schöne Menschenbild lächelnd. Etwas Gegensätzlicheres zu seiner Jala hätte, er sich nicht vorstellen können. Weiter kam er in seinem Vergleiche nicht. Er konstatirte, daß er ein Wunder erlebe, darin sich die Schöpfung von einer neuen Seite offenbare. Tiefer vermochte er jetzt mit seinem Denken nicht einzudringen. Denn erstens gefiel Maikka seinen Sinnen über alle Maßen gut, zweitens wünschte er, weniger Hunger zu haben, als er in der That hatte.
— Ja, Du bist sehr schön und sehr klug, Maikka. Und wenn ich Dich als Symbol von Nordika nehmen darf, so muß ich sagen: Beneidenswerthes Land!
— Ach, wie pathetisch! Nun, so nimm mich halt — als Symbol. Nimm mich! Nordika hat nichts dagegen.
Er starrte sie entzückt an, mit offenem Munde.
Sie drehte sich rasch und eilte aus dem Hain.
— Mir nach! Hier ist Nordika!
— Ach so, ja! stotterte Grege und ging ihr gemessenen Schrittes nach. — Humor hat das Weib, dachte er, und so was, wie diesen Weibshumor, hat man in Teuta auch nicht. Armes Teuta!
In dem nämlichen Augenblick hatte aber auch Maikka gedacht: Humor hat der schöne Teutamann nicht und Schneidigkeit des Gefühls offenbar noch weniger. Armer Grege, mit dem Vererbungsgesetz magst Du für Dich und Deine Teutaleute recht haben. Ihr habt den Chinesen noch im Blut. Am frühen Morgen nach einem reichlichen Frühstück und blutwärmender Bewegung schon so schlaff — —
Eine reiche Landschaft dehnte sich vor Greges Blicken in der hellen Sonne. Breit und friedlich zog ein Fluß aus dem See; so weit man sehen konnte, reihte sich Hügel an Hügel in grünem Glanze, ohne große Höhen und Tiefen, von einem eigenartigen sanften Charakter, der Grege ergreifend zum Herzen sprach. Und Haine, kleinere Baumgruppen und einzelne Baumriesen über das Ganze verstreut. Daraus hervorlugend, roth und braun, eine Unzahl von Häusern, fast alle von gleicher Höhe, aber ungemein malerisch und anheimelnd in dem steten Wechsel mit Wiesen, Feldern und Baumwuchs. Und Vögelschwärme in der sonnigen, seidenweichen Luft hin und her.
— Im Winter ist das Alles weiß, schneeweiß! erklärte Maikka mit einem Anflug von Spott. — Aber auch das ist schön, weil sich dann der Frühling um so bunter ausnimmt. Abwechslung belebt das Vergnügen, nicht wahr, Grege?
— Ich habe Dergleichen nie gesehen. Nur in meiner Phantasie, gewiß, da versetzte ich mich oft in ähnliche Landschaften, und Jala erzählte mir von ihrer Insel — —
— Ach so, Jala. In Teuta selbst habt Ihr nichts von alledem, nichtwahr?
Grege verneinte mit Kopfschütteln.
— Das ist der Unterschied, Grege. Ihr hockt in einer einzigen Riesenstadt, wenn man das so nennen darf, beisammen. Wir kennen keine Stadt, oder vielmehr bei uns ist die Stadt über das weite Land zerstreut, die Häuser sind hineingesät zwischen Wiesen und Flußufer und Wälder — was weiß ich! Schau hin, da liegt ja Alles vor Deinen Augen, und wo der Horizont abschließt und Du nichts mehr siehst, da geht’s noch weit fort, nach allen Himmelsgegenden, bis ans Meer mit seinen Fjorden und Inseln. Alles Nordika, immer Nordika.
— Wie ein einziger Körper!
— Jawohl, mein Gast, sehr richtig, wie ein einziger Körper.
Und nun wandelte sie wieder die Lust des Spottens und Irreführens an. Sie zog den Mund ein wenig schief und die Mundwinkel zuckten schalkhaft.
— Wie ein Körper, Du hast’s verrathen. Und verräthst Du auch wie wir’s machen, damit wir uns auf diesem weitflächigen Körper auskennen? daß wir uns in diesem Gewimmel von Häusern in der Landschaft nicht verlaufen? Erräthst Du’s?
— Ihr macht’s wie wir. Ihr verseht Alles mit Nummern und Ueberschriften, denk’ ich.
— Nein, gefehlt, mein Gast! Wir machen’s nicht wir Ihr. Das wäre uns zu mechanisch, zu langweilig. Wir sind geistreicher. Oder anschaulicher, wenn Du willst. Wir sehen den Körper des Landes als wirklichen Körper vor uns, als menschlichen Körper, und benennen die einzelnen Landestheile mit den menschenkörperlichen Namen. Unsere Landestheile oder Kreise sind also wie Körpertheile benamst und zwar genau nach dem echten anatomischen Zusammenhang des Leibes, von unten nach oben, von Süden nach Norden. Jeder, der seinen Körper kennt, findet sich auch im Lande zurecht, und wenn er weiß, wo er sich befindet, findet er überall hin, ohne viel zu fragen oder Nummern und Ueberschriften zu studieren. Wenn Jemand zum Beispiel im großen Zehen des linken Fußes ist und will nach dem rechten Knie oder nach der Nase oder dem Wirbel, so wird ihm das Suchen der Richtung keine Schwierigkeiten machen. Verstehst Du?
Grege fand das wirklich praktisch, aber so spaßhaft zugleich, daß er nun auch lachen mußte.
— Siehst Du jetzt, daß wir ein durchaus fröhliches und vernünftiges Land sind? Der gestrenge Teutamensch lernt bei uns das Lachen.
Ein Flug wilder Tauben rauschte ihnen über die Köpfe hinweg. Grege blickte und horchte auf.
— Aber nun, mein Gast, wo glaubst Du, an welchem Körpertheil wir uns jetzt befinden?
Der hungrige Grege strich sich mit der Hand über den Magen.
Sein Mund jedoch sprach: — Auf dem Herzen.
Er sagte das so kindlich weich, mit so unschuldigem Blick seiner schönen Augen, daß es Maikka durchbebte.
Und sie betrachtete ihn eine Weile schweigend, mit innigem Wohlgefallen.
Sollte sie ihm sagen, daß sie ihn gefoppt habe?
Nein, noch nicht.
— Wüßtest Du eine poetischere Eintheilung und Benennung unseres Landes?
Grege blickte ihr tief in’s Auge, besann sich ein wenig, dann antwortete er im vorigen Tone, nur wärmer und herzlicher: — Ich wüßte nicht, aber — vielleicht doch.
— Sprich! sagte sie und ergriff seine Hand.
— Nach Sternbildern.
— O Du Poet! Und in welchem Sternbild befänden wir uns jetzt?
— Im Morgenstern, Maikka.
— Das ist wunderlieb gesagt. Wenn’s nur nicht falsch wäre, Grege!
— Wieso?
— Weil der Morgenstern nur ein Stern ist, kein Sternbild!
Er erröthete ein wenig über seinen astronomischen Schnitzer, fügte jedoch lachend und schlagfertig hinzu: — Nun denn, so erheben wir den einzigen Morgenstern zum Range eines Sternbildes. Erblicken wir doch auch in dem einzigen Augenpaar eines lieben Menschen den ganzen Himmel!
Maikka drückte ihm mit warmem Drucke die Hand und schwieg still entzückt über die schöne Deutung.
Grege machte sich sanft von ihr los, seiner Jala gedenkend, die ihm mit ihren armen erblindeten Augen mehr war als alle Himmel und alle Sternbilder.
Schweigend wandelten Maikka und Grege am leise rauschenden Flusse hin.
— Wo ist Fox? fragte Grege plötzlich.
— Auf der Jagd.
— Auf der Jagd?
— Ja.
Neues Schweigen.
— Sind das Bauern, die Leute drüben im Feld? begann Grege wieder, im Gehen zögernd.
Maikka, aus ihren Gedanken heraus, ohne den Kopf zu erheben: — Wir sind alle Bauern in Nordika. Bauern und Kulturstädter im älteren Sinne zugleich — und das ist unser neuer Sinn.
— Neuer Sinn? sprach ihr Grege nachdenklich die letzten Worte nach.
— Neuer Sinn, ja, Grege: Mitten in der Natur arbeitsam zu leben und der Kultur froh zu werden. Alle Bauern und Arbeiter und Geistmenschen zugleich, da kommt kein Gefühl zu kurz. Keins.
Grege, in einer anderen Gedankenrichtung: — Also herrscht auch in Nordika die wirthschaftliche Gleichheit? Es giebt nicht Obere und Untere im Besitz, nicht Satte und Hungrige — —
— Nicht Herren und Sklaven, Grege. Unser Land ist Freiland, unser Volk ist eine einzige große Familie: Gemeineigenthum aller Grund und Boden, Austausch der Fähigkeiten und Dienst unter Gleichgestellten.
— Aber wer Fähigkeiten nicht oder nicht genügend einzusetzen hat, oder wer die Gleichstellung mit bösem Willen lohnt?
— Da haben wir seit Jahrhunderten eine feste Praxis, Grege: Absolute Dummköpfe und Thunichtgute verladen wir auf eine entlegene Insel hoch im Norden. Da belästigen sie uns weiter nicht mehr. Also nimm Dich zusammen und halte Dich brav! schloß sie lachend.
— — —
Inzwischen lenkte Maikka ihren Gast vom Flusse ab auf einen Hain zu, aus dem ein freundliches Haus schimmerte.
— Meine Zeit ist um, Grege. Ich muß wieder an die Arbeit. Aber Du kannst mich begleiten und dem Unterrichte beiwohnen. Der Unterricht ist im Garten. Es ist keine Kleinkinderschule. Es ist Volksschule. Für Alt und Jung. Du zögerst?
Grege machte ein melancholisch lächelndes Gesicht.
— Warum blickst Du so sonderbar tiefsinnig, Grege?
— Ich habe furchtbar Hunger, Maikka.
— Du hast doch gefrühstückt?
— Mit den Augen, Maikka. Mein Magen ist noch nüchtern.
Er kam beflügelten Schritts gerade rechtzeitig, um auch heute noch einem Theil des Unterrichts beizuwohnen, den die bewundernswürdige Maikka im Freien gab.
Ueber den grünen Rasen bewegten sich noch andere Leute dem Versammlungsplatze zu, lichte, leichtfüßige Mädchengestalten, reifere Frauen und Männer.
Die Schule ist öffentlich. Außer denen, die ungezwungen ihre Ehre dareinsetzen, einen ganzen Kursus regelmäßig mitzumachen, fühlen Andere das Bedürfniß, je nach Zeit und Gelegenheit soviel mitzunehmen, als sie erhaschen können.
Grege merkte an ihrem ernsten Wesen, daß ihnen die Wissenschaft etwas Heiliges sein müsse, von dem sie sich im tiefsten Innern berührt fühlen. Mitten in die Alltagsgedanken ein paar seltene Anregungen gestreut zu erhalten und im Vorübergehen eine feinere Kenntniß mitzunehmen, wie man auf einem Gang über die Wiese den Duft einer Blume mitnimmt, schien ihnen ein gewohnter Genuß zu sein. Keines kümmerte sich um’s Andere. So gab’s auch keine Störung der Aufmerksamkeit, wenn ein Hörer sich entfernte, ein Anderer schweigend und gesammelt herankam.
Alles griff hier ineinander: Natur, Fähigkeit, Arbeit, Lernbegier, Idealität der freien Persönlichkeit, edles Gemeinschaftsgefühl eines starken Volksgeistes. Nirgends etwas künstlich Gemachtes, äußerlich Erzwungenes. Kein dogmatisches System. Keine Verkürzung irgend einer persönlichen oder menschheitlichen Gerechtsame zu Gunsten einer mechanischen Ordnung. Es mußte, das fühlte Grege mit wachsender Bewunderung, eine ungeheuer glückliche Veranlagung mit einer unausgesetzten Kulturarbeit durch lange Zeiträume zusammengewirkt haben, um einen solchen Volkszustand wie etwas Selbstgewachsenes herzustellen. Alles athmet hier Geist, Gesundheit, Schönheit, Zufriedenheit. Nirgends merkt man etwas von jener Tüftelei und Aengstlichkeit, von jener schlaffen und entnervenden Vielregiererei und Klugschwatzerei, von all’ jenen maskeradehaften Würdespielereien, die ihm sein Teutaland so widerlich gemacht hatten.
Und trotzdem — es war sein Teutaland, er lernte hier ein Gefühl kennen, das ihm seither fremd geblieben war, das Gefühl der Mitverantwortlichkeit. Wenn Teuta vor Nordika zurückstehen mußte, so mußte er persönlich vor den Nordikaleuten zurückstehen. Wenn Teuta vor Nordika sich schämen mußte, so mußte er sich vor Maikka schämen. Das verfing hier nicht mehr, daß er sich erhaben dünkte über seine Volksangehörigen; das gab ihm keine rechtfertigende Größe und Sonderstellung, daß er von daheim Reißaus genommen. Womit wollte er’s begründen, daß es ihn nichts angehe, was seine Blutsverwandten aus ihrer Volksgemeinschaft gemacht? Wäre es nicht unmännlich, sich auf die schaffende Gewalt der historischen Ereignisse hinauszureden, gerade hier in Nordika, wo er in jedem Blick, in jeder Miene, in der ganzen Haltung der Leute, ohne Unterschied des Geschlechts und der Jahre, lesen konnte von dem ruhig stolzen Ichgefühl, das in seiner Lebensgestaltung sich frei und selbstschöpferisch weiß und jede sklavische Unterwerfung unter eine blinde Fügung ausschließt?
Und neben diesem Gefühl der Mitverantwortlichkeit für seines Volkes Thun und Leiden, für der Heimath Größe oder Erbärmlichkeit wuchs in Grege das heiße Verlangen, seine Gastzeit in Nordika zu seiner eigenen Belehrung und Festigung auszunützen. Seine Jala blieb ihm unverloren, das war ihm heiliger Glaube, und müßten Wunder geschehen, um ihn mit dem geliebten Weibe wieder zusammen zu führen, gut, so würden eben Wunder geschehen.
War es nicht auch ein Wunder, daß er jetzt hier stand, unangefochten, in sicherer Gastfreundschaft, und den Worten einer Meisterin des Lebens und Wissens wie dieser Maikka lauschen konnte, umweht von würziger Luft, umflossen von mildem Sonnenlicht? Und stieg’s nicht wie ein Schwur in seiner Seele auf, das hier Erlebte und Erfahrene dereinst mit Posaunen seinen Volksgenossen zu verkünden, damit sie erwachten aus ihrem ärmlichen Geistesdämmer und stumpfen Genußleben, daß sie sich aufrafften zu einem bedeutungsvollen, inhaltreichen Dasein? Hatte das Leben in Teutaland überhaupt einen nennenswerthen Inhalt? Schuf es eine innige starke Freude den Lebenden? Gab es dort einen öffentlichen Geist, der über so beredte Zeugen gebot wie diese geisterfüllte Maikka? Was galten seinen Teutaleuten überhaupt die Frauen, waren sie ihnen mehr als sinnliche Werkzeugsnaturen, als minderwerthige Nebengeschöpfe? Trotz der Gleichheit?
Und wie war das Alles so geworden?
Aus dem Munde Maikkas selbst konnte er’s jetzt hören, was in der Kulturarbeit des Volkes des Weibes Kopf und Hand geschaffen.
Die Einrichtung dieser freien Volkshochschule selbst war Frauenwerk. Nicht dem Manne nachäffend, in Nachschriften und Abklatsch und Zerrbildern, sondern aus dem selbständigen, dem männlichen durchaus gleichgeachteten Wesen der Frauenseele heraus. Im Tüchtigen so tüchtig wie der Mann, im Ergötzlichen so viel reicher und zarter als er. Und nichts mit dem heimlichen bösen Blick und Blut des erzwungenen Wettbewerbs, des kämpferischen Schrankenbruchs. Alles frei, naiv, selbstverständlich. Eine Kraft, die geradaus geht, weil sie nie und nirgends gehemmt wird, die nichts verdirbt und nichts zerstört, weil sie kein willkürliches Hinderniß zu überwinden hat. Diese heitere Entfaltung im Nebeneinander vom Weiblichen und Männlichen gab allem Werk soviel reine, überschüssige Schönheit. Keine hämische Kritik vom Einen zum Andern, kein Mißtrauen, keine Bosheit — daher dieses natürliche Gedeihen zu allseitiger Freude. Eins fördert das Andere, Keines wird des Anderen Nachtheil. So belebt und hebt sich Alles in dem gleichen Geiste, wie in dem gleichen Sonnenstrahl das Verschiedene zu Hochwuchs und Blüthe gelangt und mit seiner besonders gesegneten Art sich und die Anderen erquickt.
Ja, Nordika-Frauen haben diese Volkshochschule ersonnen und ausgeführt. Die Zurichtung des großen Gartens und die Bauwerke darin, den Unterrichtsplan und den größten Theil der Lehre — Alles dankt man ihnen. Die tüchtigsten Maurerinnen und Schreinerinnen haben den Bau aufgeführt und die phantasievollsten Malerinnen und Schnitzerinnen haben ihn mit Bildern und Zierrath geschmückt. Die Vorhänge sind von den geschicktesten Teppichweberinnen gewoben. In die Herstellung und Unterhaltung der Parkanlagen ringsum haben sich die erfindungsreichsten und emsigsten Gärtnerinnen getheilt.
Haushaltung und Hausfleiß, Musik und Malerei, dramatische Kunst und Literatur, Natur- und Kulturgeschichte werden hier von zahlreichen Lehrkräften, die ihre Probe in der Ausübung bestanden, dem lernbegierigen Volke in freier Wahl vorgetragen. Und keine Wissenspolizei bewacht die einzelnen Lehren. Der gesunde Verstand, die emsige Forschung, die praktische Anschauung und Erfahrung, die unabhängige Kritik sind ebenso viele und bessere Wächter, als irgend ein Einzelner von Amtswegen.
In Teuta hingegen, Grege mußte lachen und zürnen zugleich! In Teuta sitzt ein leberkranker Querkopf, wie dieser Minus, als „Hoheit Oberlehrer“ im „obersten Rath“ und hütet den „heiligen Wortschatz“ — und nie dürfte ein Mann oder gar ein Weib sich beikommen lassen, gegen diese ruhmreiche Ordnung, die den Bestand und das Glück Teutas verbürgt, zu verstoßen, oder es wartet ihrer der „große Fluch“ der Verdammung zu „ewiger Verhöhnung“ beim Zarathustra-Feste!
Greges Augen schweiften über die schönen Menschengruppen, die den Park und die Halle füllten und den Worten der Meisterin Maikka lauschten. Maikka stand auf einem erhöhten Platz, vor einem großen Tisch. Sie sprach vollkommen frei, ohne Buch oder Heft, und im Eifer der Rede ging sie manchmal hin und her, bald die Hände auf dem Rücken, bald mit eindringlichen Bewegungen ihre Worte begleitend, den Kopf leis auf die Seite geneigt. Eine Bewegung gefiel Grege besonders gut. Wenn Maikka nämlich die fünf Finger der linken Hand an den Spitzen zusammendrückte und sich damit gegen die Stirn fuhr, als wollte sie sagen: Nun, liebe Leute, nehmt einmal eure fünf Sinne zusammen, damit ihr gut versteht, die Sache ist nicht so einfach. Das sah allerliebst aus. Die ersten Reihen der Zuhörer, auf losen Bänken, rückten nahe an die Sprecherin heran, die hinteren Reihen verloren sich aus der an drei Seiten offenen sechseckigen Halle in den Garten, und hier saßen die Uebrigen theils auf dem Rasen, theils auf Feldstühlen, oder sie lehnten zwanglos an den Bäumen oder sie gingen lauschend vor den dichten, grünen Bosketts auf und ab, denn die Anlage war so geschickt, daß sich kein Wort der Sprecherin verlor. Und wenn zuweilen ein Vögelein im Busch dazu zwitscherte, oder eine Zikade von der Wiese herüber dazu zirpte, so wirkte das gesprochene Wort um so inniger und ergreifender in dieser großen, fein abgetönten Harmonie der Natur. Mag der Wind in den Wipfeln lauschen oder sausen, mag ein Wolkenschatten über die Köpfe ziehen, was macht das der in sich gefesteten Ruhe und Heiterkeit des Geistes? Kommt aber gar ein wildes Wetter und rauscht der Regen nieder, so rückt man in der Halle zusammen oder flüchtet in die Nebenräume oder unter die Zelte. Im schlimmsten Falle wird der Vortrag abgebrochen und jeder rettet sich wie er mag.
— Wie ist’s im Winter? fragte Grege, als ihm Maikka auf einem Gang über die Felder die schulischen Einrichtungen Nordikas des Weiteren erklärte.
— Der Winter ist womöglich noch köstlicher als Studierzeit. Da beziehen wir in Abtheilungen besondere Räume. Jeder Bezirk — nein, ich habe Dich doch ein wenig genarrt mit meiner Landeseintheilung in Herz, Magen, Nieren, Mund, Schlund — hast Du Hunger, sprich? — jeder Bezirk hat seine Schulkolonie und seine Volkshochschule. Im Winter wohnen wir Alle, die mit der Schule als Lehrende und Lernende zu thun haben, möglichst dicht beisammen. Also ein großes, behagliches, wissenschaftliches Familienleben. Die Mahlzeiten und Unterhaltungen sind gemeinschaftlich. Das Hauptgebäude jeder Schulkolonie enthält außer den Vortragssälen, der Turnhalle, den Bibliothek- und Lesezimmern u. s. w. auch ausreichende Wohnräume für die ständigen Schüler.
— Auch Werkstätten, Spielräume?
— Aber selbstverständlich. Sogar Schwimmbäder für die Reinigung wie zu lustigen Wasserfesten, während draußen die Welt in Eis starrt und kracht, sogar Theater und Alles, was Geist und Herz erfreut.
— Ach, Maikka, das sind für mich so neue Ideen- und Lebenskreise, daß ich meinem Kopf ordentlich zureden muß, das Alles aufzunehmen und in Ordnung zu behalten.
— Das wundert mich nicht, mein Gast. Nur Zeit nehmen und Zeit lassen, das ist das ganze Geheimniß, um mit Allem fertig zu werden. Das ist für uns in Nordika unsere beste Kunst. Wir haben immer und zu Allem Zeit. Uns plagt nie das Gefühl, daß wir Etwas versäumen. Drum leben wir auch so furchtbar lang, das heißt, das Leben kommt uns nicht kurz und zeitbeschränkt oder überladen vor.
— Eine Zwischenfrage! Du gestattest schon, Meisterin, daß ich als beflissener Schüler Alles durcheinander frage. Warum sieht man bei Euch all’ die tausend Apparate nicht, in den Häusern, an den Wänden, an den Wegen, die bei uns in Teuta auf Schritt und Tritt geräuschlos den Verkehr vermitteln und so viel Zeit sparen helfen?
— O, weil wir ohnehin Zeit genug haben. Weil wir kein Gespensterleben führen mögen, sondern überall persönlich dabei sein wollen. Weil tausend Dinge, die Euch wichtig scheinen, uns nicht im geringsten kümmern. Und so noch ein Dutzend Weilweil. Siehst Du, die Menschheit hat nie weniger Zeit gehabt, also auch nie weniger gelebt, als im großen Maschinen-Weltalter. Sie sahen Alles, hörten Alles, beschwatzten Alles, bekrittelten Alles, wußten Alles — nur Eines nicht, daß das wahnsinnige Narrethei und kein Menschenleben ist. Ist auch nichts dabei herausgekommen, kein Glück, keine Schönheit, kein Friede, keine Freude. Das Maschinen-Weltalter! Wir in Nordika haben es auch damals nicht so toll getrieben, wie die Anderen, die weiter unten wohnen in der Geographie und sich als die Spitzenreiter der Zivilisation bejubelten, bis sie in den Graben purzelten, wie blinde Eseltreiber. Nein, wir haben bei Zeiten damit aufgeräumt. Alles überflüssige Maschinenwerk ist bei uns abgethan. Schon lange.
— Ja, das war gut. Ich erinnere mich, in Teuta hat man immer etwas Mechanisches unter den Füßen, unter dem Gesäß, zwischen den Fingern, in den Ohren, vor den Augen und —
— Nichts im Kopf! wollte Maikka herausplatzen, aber sie fand es eben so erleichternd, wenn sie bloß kräftig lachte.
— Wenn wir Eure Schulen hätten! rief Grege nach einigen Sekunden, nachdem er sinnend stehen geblieben.
Maikka entschlug sich auch jeder übermüthigen Glosse zu diesem Teuta-Seufzer. Als ob ein Volk von Pedanten, Worthütern, Silbenstechern, Buchstaben- und Paragraphenfuchsern durch die Schulvermehrung nicht noch schlimmer und dümmer würde! dachte sie für sich. Gar keine Schule einige Menschenalter hindurch, eine radikale Hungerkur fünfzig Jahre lang für diese Wortfresser! Das brächte sie vielleicht zum eignen Nachdenken und zu thatenfroher Anstrengung. Aber nein, sie wollte ihm willig Auskunft geben ohne Harm und ohne Falsch.
Sie entwickelte ihm also die Grundsätze, denen Nordikas Bevölkerung die sogenannte Bildung verdankt. Sie wies ihn darauf hin, daß das im jungen Menschen sehr zart und allmählich erwachende Seelenleben weder durch eine große Menge von Eindrücken, noch durch Unverständliches verwirrt und in seiner Entwicklung belastet werden dürfe. Das Kind solle vor seinem achten Jahre überhaupt keinerlei systematische Anleitung in irgend etwas, das wie ein Unterrichtsfach aussehe, erhalten. In der ersten Schule, zu der kein Kind vor seinem zehnten Jahre zwangsweise verpflichtet werden dürfe, sei nur in den Grundelementen der Anschauung und des Wissens, also im Lesen, Schreiben, Zeichnen, Rechnen, sowie in der vaterländischen Geschichte zu unterweisen, ja nicht abzurichten oder anzuquälen. Erst im jugendlichen Alter, und hiezu rechnete Maikka wie alle ihre unterrichteten Landsleute die Zeit vom achtzehnten bis dreißigsten Lebensjahr, sei der gesunde Mensch im Stande, das geistig Aufgenommene ohne Gefährdung seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens zu erfassen, durch eigene Gedankenthätigkeit zu verarbeiten und in Wirklichkeit zu verwerthen. Da bleibe der Mensch in natürlichem Wachsthum, ohne zu künstlicher Blüthe und raschem Verwelken gepeinigt oder zu allerlei Krüppelhaftigkeit im Geistigen und Leiblichen herangezüchtet zu werden. Wie alt an Jahren Grege zum Beispiel sie schätze?
Er stutzte. Denn nach seiner Schätzung mußte hier ein Widerspruch mit ihren Worten vorliegen. Wie konnte sie schon Meisterin in so jugendlichem Alter sein? Er ließ den Blick wiederholt über ihre blühende, kernige Gestalt hin- und hergehen, er prüfte die Linie ihres so schön geschnittenen Mundes mit den jauchzend rothen Lippen, er prüfte die Winkel ihrer großen, blaublitzenden Augen mit den langen, dunklen Wimpern und den hohen Bogen der dichten, fast schwarzen Brauen — nirgends ein Fältchen oder Runzelchen oder sonst ein verrätherisches Zeichen, das über die Jugend hinauswies. Gewiß, sie war älter als Jala, mindestens vier bis fünf Jahre älter, vielleicht gleichalterig mit ihm selbst, aber das Reifejahr, das er soeben erst aus ihrem eigenen Munde mit dreißig festsetzen hörte, konnte er ihr unmöglich geben.
— Lach’ mich nicht aus, Maikka, aber so Ende der Zwanzig, nein, wär’s möglich?
— Doch, doch, mein scharfsinniger Herr. Daran liegt uns Nordika-Frauen nichts. Ich fragte nur Deiner Menschenkenntniß wegen. Bei uns giebt’s keine alten Menschen, verstehst Du, nur langlebige giebt’s. Ich bin schon drei Jahre im Amt. Jawohl, volle drei Jahre.
Grege wollte in Verwunderung ausbrechen.
— Nein, mein Schüler, hör’ mich ernsthaft zu Ende und bleibe bei der Sache, nicht bei der Person. Unsere erwachsenen Schüler, gleichgiltig ob männlich oder weiblich, müssen sich um die Lehrer schaaren, ebenfalls gleichgiltig, ob weiblich oder männlich, im fleißigen Verkehr mit ihnen ihr Wissen ergänzen, ihr Selbstvertrauen stärken und ihre eigene Lebensanschauung entwickeln. Denn eingepaukt wird hier nichts. Vorgeschrieben als unfehlbare Lehre auch nichts. Auch in Respekt und Heldenverehrung wird nicht gearbeitet. Jeder kann seine Muster suchen, wo er will, und sich zu ihnen stellen, wie ihm persönlich gutdünkt. Glaube mir, Grege, in Nordika kommen die richtigen Leute, mögen sie auch verschiedene Wege einschlagen, immer an dasselbe Ziel. Der Gipfel eines Berges kann von verschiedenen Seiten bestiegen werden, nicht wahr? Der Weg eines Strebenden muß sich jederzeit individuell bestimmen, nach Gemüthsart, Geisteskraft, Charakter. Ein Jeder muß sich den ihm am besten zusagenden Weg nach eigener Erkenntniß wählen, ohne damit das Recht zu erwerben, andere Wege, als den seinigen, als falsche zu verketzern. Das ist ja selbstverständlich. Die Eigenart eines jeden Einzelnen bedingt auch einen verschiedenartigen Ideenkreis.
— Jawohl, rief Grege lebhaft, Ideenkreis! Jeder seinen Ideenkreis in voller Freiheit.
— Die Fähigkeit, sich in den Ideenkreis Anderer hinein zu versetzen und dann erst zu beurtheilen, ob diese betreffenden Anderen den kürzeren oder den weiteren Weg zum Ziele wandeln, Grege, siehst Du, das ist wichtig.
— Ja, sehr.
— Und wer diese Fähigkeit hat, der ist weit entfernt von rechthaberischem Absprechen, von prahlerischem Weisheitsdünkel, von der dummen Meinung, alle echte Erkenntnis für sich allein gepachtet zu haben.
— Wie wir Teuta-Leute! Ach, Eure Schulen, Maikka! Worauf erstrecken sich die Vorträge in Euren Volkshochschulen?
— Vor Allem auf die Sprache, Geschichte und Kunst des eigenen Landes, dessen Verfassung und gesetzgeberische Entwicklung.
— O, Entwicklung, verpöntes Wort in unserem heiligen Teuta.
— Dann auf allgemeine Geschichte, Naturwissenschaften, Geographie, Mathematik, Gesang. Außerdem werden praktische Arbeiten in den Werkstätten, in Haus, Feld und Garten und so weiter geübt. In den geschlossenen Kursen werden Abends einige Theile des Vorgetragenen einer ungezwungenen allgemeinen Besprechung unterzogen. Dadurch lernen die Schüler eine Sache von mehreren Gesichtspunkten betrachten und ihre Gedanken deutlich ausdrücken. Der Unterricht ist überall für beide Geschlechter gemeinsam, auf allen Lehrstufen und in allen Schulkolonien. So bleibt der Geist natürlich, gesund und rein, die Menschen überheben sich nicht gegenseitig. Sie genießen den vollen Segen der Arbeit. Keiner betrügt den Anderen um die Früchte seines Schweißes, wie es in jenen ruchlosen Zeiten war, wo einzelnen Wenigen Alles, der Mehrzahl nur der Hungerlohn zum „Existenz-Minimum“ gehörte. Jetzt schafft Einer für Alle, und Alle für Jeden, sie sehen in der Arbeit keine Last, sondern eine freudvolle Pflicht und eine Ehre. Ohne diesen Geist kein allgemeiner Wohlstand, keine blühenden Genossenschaften, kein Nordika! Verzeih, Grege, aber wir Leute hier oben beten unsere Heimath an!
Grege schritt still, gedankenvoll.
— Ja wir verehren unseren Boden, wir haben Ehrfurcht vor unserer Natur. Wenn ein Bauer einen jungen Wildling veredelt, entblößt er das Haupt, wenn er einen alten Baum niederschlägt, entblößt er wieder das Haupt. Der Landbau ist eine heilige Kunst. Wer den Pflug gut zu führen und eine schöne Furche zu ziehen weiß, ist so gut ein Künstler wie der, der ein Bild malt oder einen Spruch dichtet. Wer die Sense schwingt und eine Mahd gefällig hinlegt, oder einen Erntewagen mit Garben symmetrisch vollschichtet, ist so bedeutend in der Kunst, wie der Tänzer oder wie der Sänger oder wie der Architekt. Die Kunst, das ist die Seele des Volks. Und ein Volk kann nie genug Seele haben und nicht genug Freude, sich darüber zu freuen. Siehst Du, Grege, drum freu’ ich mich allweil so unbändig.
— Ah, dieses Feuerherz! murmelte Grege bebend in sich hinein.
Er fühlte die zehrende Glut, die dieses Wesen auf ihn überstrahlte. Es war wie ein lohender Brand, und er stand dabei, unentrinnbar, mitten in der Flammenzone.
Rasch führte er seine Hand zum Gesicht und betrachtete die Stelle, wo Jala’s Blutstern war. Verblaßt, verschwunden. Nein, nicht verschwunden, in die Haut hineingekrochen, in sein eigenes Blut versunken. In seiner Blutbahn kreiste jetzt Jalas Stern, wie ein Licht, das im Dunkel seinen Gefühlen leuchtet, damit sie nicht in Irrniß gerathen.
Und Grege küßte heimlich die kleine Stelle an seiner Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger.
Dann blickte er froh beglückt in Maikkas leuchtendes Angesicht.
— Warum sprichst Du nicht, Grege? Schläfst Du — oder bist Du hungrig?
— Nein, nein! Es ist Alles in Ordnung. Wunderschön ist, was ich sehe, wunderschön ist, was ich höre. Es ist herrlich hier. Ich weiß nicht, wie ich Dir genug danken soll, Maikka, unvergleichliche Meisterin.
Der Lobspruch klang wohl männlich und echt. Und am dankbaren Gemüthe des schönen, stattlichen Teutamannes zweifelte Maikka auch nicht. Aber sie hatte doch etwas Anderes erwartet. Viel mehr Kraft und Ueberschwang der Empfindung. Freilich, wo soll das herkommen, wenn man aus dem vertrackten Teuta stammt! Und immer Meisterin, Meisterin! Mußte er denn das schülerhafte Achtungsgefühl in Alles hineintragen?
Sie waren jetzt in einer Gegend von entzückender Abgeschlossenheit. Hohe, breitwipfelige Bäume drängten sich zu beiden Seiten des Weges und überschatteten ihn so vollständig, daß Grege ein Frösteln über seine nackten Glieder laufen fühlte. War’s wirklich nur die Schattenkühle, was ihn erschauern machte?
In schweigender Betrachtung eilte er vorwärts.
— Wahrhaftig, er hat Hunger und wittert die Meierei da oben! dachte Maikka und beschleunigte die Schritte. Dabei blickte sie auf seine nackten Beine und Füße und fand, daß sie schön gewachsen und für einen körperlich wenig geübten Teutamann erstaunlich muskulös waren. Gute Rasse verrieth sein Leib in jedem Glied und in der ganzen Struktur und Haltung. Im Wuchs konnte er neben dem gelungensten Nordikamenschen mit Ehren bestehen. Er war ein edler Recke in seiner Art, das war zweifellos. Und der jugendlich sprossende Blondbart stand ihm ausgezeichnet. Maikka hatte mit ihrem Gast keinen schlechten Fund gemacht. Sie betrachtete ihn mit heftigem Wohlgefallen; denn wie er im Schatten dahinschritt, sich straffend und reckend, um das Frostgefühl nicht merken zu lassen, bot er wirklich das Bild eines Helden aus der Wiege des reinen Germanenthums. Maikka konnte sich nicht verhehlen, daß sie jetzt nicht unaufgelegt wäre, mit ihm in das romantische Traumland der skandinavischen Mythologie zurückzuschwärmen, mit ihm Held und Heldin in göttlicher Leidenschaftlichkeit zu spielen, mit ihm zu ringen und — sich von ihm überwältigen zu lassen. Jawohl, auch dies — vollkommen überwältigen. Ihn dann aber für seinen Sieg mit einem Sturm von Zärtlichkeiten zu züchtigen, daß ihm das heiße Blut dampfend aus den Poren spritzte.
Grege eilte, eilte —
Sie blieb stehn, folgte ihm mit funkelnden Augen, riß den Mund auf, daß ihr Gebiß schimmerte, wie eines edlen Raubthiers Rachen, dann schrie sie ihm mit bebenden Nüstern zu: — Halt! Gelehriger Schüler! Weißt Du, wo Du wandelst? Weißt Du, wie ich Dich sehen möchte? Als reißigen Nordlandssohn, in Brünne, Bärenfell und Flügelhelm! Du — Dich!
Stracks hatte er sich gewendet, wie angedonnert. Als gälte es, sich zu plötzlichem Kampfe zu rüsten, mit einem Feind, der aus dem Boden gewachsen, zehn Schritte vor sich. Grege stützte die Fäuste in die geschmeidige Hüfte, stemmte einen Fuß vor den andern, hoch hob er den Kopf auf dem starken Nacken: — Halloh, Maikka!
Sie streckte den linken Arm und wies durch die dunklen Stämme in die Lichtung gen Westen, wo das ungeheure Meer heute ruhig wie an Ketten in den Fjorden lag:
— Von dort, Teutamann Grege, flog der kraftstrotzende nordische Aar sieghaft über die Welt, über Fluth und Flur, sein Name schon erfüllte die abgelebten Völker mit Angst und Schrecken, daß sie bebten bis in die vermorschten Knochen, bis in’s Mark! Wiking, halloh, auf’s Drachenschiff! Wiking, los!
Und ihr Schrei endigte in einem gellenden konvulsivischen Lachen.
Grege stand wie eine Tanne, deren Wurzeln den Fels umklammern, und die ohne Schwanken im Sturmestoben den Blitz erwartet.
Am nächsten Nachmittage, als die Sonne schräge Feuerpfeile durch die dunklen Stämme schoß, fanden sich Grege und Maikka wieder an der nämlichen Stelle ein, um ihre Wanderung fortzusetzen.
Er hatte noch keine Zeit gefunden, ihr den Bericht seines Lebens zu Ende zu erstatten. Was er ihr gestern Abend erzählte, auch von Jala — daß sie blind geworden, verschwieg er ihr — schien wenig Eindruck auf sie zu machen. Sie verlangte auch nicht Weiteres zu hören.
Seine Kindheitsgeschichte interessirte sie nicht.
Seine Liebesgeschichte entlockte ihr kaum ein spöttisch-mitleidiges Lächeln.
Seine königliche Abstammungs-Fabel von einem gefangenen Friska-Fürsten fand sie geschmacklos. Alles Dekadente berühmt sich seiner Abstammung und pocht auf Ahnenreihen. Sie warf an dieser Stelle seiner Erzählung nur die Bemerkung hin: — Was liegt an Vorfahren? Daß man Vorfahr werde und Nachkommen habe, die die Welt mit Glanz erfüllen, daran liegt etwas. Vielleicht liegt auch an den Nachkommen nichts, wer weiß!
Seine Stellung als Zarathustra-Protagonist dünkte ihr barok, um kein verletzenderes Eigenschaftswort zu gebrauchen. Uebrigens behielt sie sich vor, hinsichtlich Zarathustras ihm, auf den Zahn zu fühlen. Seine geschichtlichen Kenntnisse erschienen ihr lückenhaft. Er gab seine Urtheile mit einem Wortprunk, der ihr als afterpoetisch und unwissenschaftlich zuwider war.
Den Hinweis auf seine nächsten Zukunftspläne nahm sie mit ironischem Kopfnicken auf: — Du willst auf die Insel? Was willst Du dort? Frei sein? Wovon, wozu? Ein Herr sein, wem? Schöpfer, wessen? Welchen Inhalt soll Deine Kraft, Deine Jugend auf der einsamen Insel haben? Ist ein Weib ein Inhalt?
Kurz, sie ließ kein gutes Haar an ihm.
Und nun hatte sie ihn hierher bestellt, und sie standen, wo sie gestern gestanden.
— Was hast Du heute gearbeitet? begrüßte sie ihn.
Grege schüttelte unmuthig den Kopf.
— Du sehnst Dich von hier fort?
Er schwieg.
— Es geht jetzt keine Post an Dein romantisches Gestade. Zu den Angelos kannst Du jedoch noch in dieser Woche gelangen.
Grege wehrte heftig ab.
— Nächst Nordika ist Angela das einzige Land, das ich Dir empfehlen möchte. Du könntest dort viel lernen, doch schätze ich Dich noch nicht reif dafür. Willst Du nach Teuta zurück?
Grege besann sich. Sein Gesicht nahm einen seltsam entschlossenen Ausdruck an: — Noch nicht. Noch lange nicht, Maikka.
Sie empfand den Ton, mit dem er ihren Namen aussprach, wie eine Liebkosung. Aber sie wollte jetzt keine Liebkosung aus seinem Munde.
Ein Nebenpfad zweigte ab, der in Gartenland führte.
— Schau Dich um, Grege. Jeder Zoll ist hier bebaut. Solche Blumen, Kräuter und Früchte sieht man selten.
Grege bejahte stumm.
— Vor hundert Jahren war’s nicht so. Der Boden ist trächtiger geworden. Vielleicht das Klima sogar milder.
Maikka deutete auf niedrige Birnbäume, die sich unter der Last der Früchte bogen. Quitten hingen über einen niedrigen Zaun, der die Gartenstücke abgrenzte. Von einem Spalier lachten Pfirsiche und Pflaumen aus dem Laub. Dann kamen zwischen den Baumgeländen Beete wie besät mit Reseda und Flammenblumen. Malven und Sonnenrosen glänzten in süßen Farben über den Zaun.
— Ihr habt wohl große Freude an den Blumen, in Nordika?
— Wir haben auch große Freude am Kohl, Grege.
— Und Ihr eßt von Allem?
— Von Allem, was uns schmeckt. Euch in Teuta schmeckt ja nur das Chemische, das künstliche Präparat, nicht das natürlich Gewachsene, nicht wahr?
— In Teuta! Geh’ mir mit Teuta, Maikka. Ich bin doch nicht Teuta?
— Nicht ganz. Aber ein großes Stück davon.
Sie schöpfte tief Athem.
Grege wollte die Pause benützen, eine Blume zu brechen.
— Laß das. Jetzt bricht man keine Blumen. Sag’ mir lieber: Was haben Deine Teutaleute eigentlich? Was für Hauptvorzüge des Geistes und Gemüths, meine ich.
Er fühlte etwas Bitteres in sich aufsteigen. Dieses ewige Examiniren!
— Was sollen sie haben, das Andere nicht hätten? Vielleicht etwas mehr Humor, Maikka.
— Humor? Unfreiwilligen vielleicht. Sprudelnden kaum.
— Nenn’ ihn Sinn für Ulk, wenn Du willst.
— Wahrhaftig, Grege, das will ich. Sinn für Ulk. Du kannst davon singen und sagen. Dein Hinweis gestern Abend auf Deine öffentliche Stellung im Teutareich als — Ulkist! Zarathustraismus — Ulkismus!
— Maikka, es ist wirklich schade um die duftige Sonnenluft, daß wir sie mit solchen Gesprächen erfüllen.
— O, kümmere Du Dich um unsere Luft. Die ist reich und kann etwas abgeben. Oder ziehst Du vor, Gedichte herzusagen? Nein, gerade jetzt recht. Euer Zarathustra-Kult ist eine Hanswurstiade. Da fliegt das Wort. Fang’s! Und gleich noch eins, dann ist’s ein Paar: Wer die Hanswurstiade mitspielt, ist ein Hanswurst, und wer den Zarathustra mimt, ist ein Komödiant und zwar kein guter.
Grege fuhr auf: — Respekt!
— Ja, Respekt vor Allem, was Respekt verdient. Das ist eins unserer Staatsgrundgesetze.
Und nun prasselte das Gefecht los. Er immer verbitterter, dann herrischer, hochfahrender; sie immer schärfer, stachelnder. Auf jeden Trumpf setzte sie einen stärkeren Trumpf, an jeden Einser hängte sie eine Null, dann gab’s einen Zehner.
Bis sie mit einem Mal einlenkte oder einzulenken schien.
— Den Komödianten brauchst Du mir nicht übel zu nehmen, Grege. Gesetzt, Deine Vorfahren waren Könige, oder wenigstens kleine regierende deutsche Fürsten, wie sie vor tausend oder anderthalb tausend Jahren — ich will einmal ein historischer Stegreifrechner sein, nach Teuta-Art, mit weitem Spielraum und elastischer Grenze — also wie sie damals an den Kanten des großen Preußenreichs noch herumblühten, ja, blühten, um kein anderes botanisches Wort zu wählen. Diese Deine Vorfahren machten einen Hof und hielten sich neben anderen Hofbeamten, die vielleicht auch nur Hofkomödianten waren, noch besondere Hofschauspieler. O, Deine Vorfahren, die Fürsten, zeichneten sie nicht wenig aus, ihre berufsmäßigen Hofschauspieler. Sie machten Hofschauspieler, wenn sie hübsche, anstellige Damen waren, zu ihren Maitressen, oder gar zu ihren Frauen, oder traten persönlich an die Spitze ihrer Hofschauspieler-Truppe als Leiter, als Führer, und machten mit ihnen Gastreisen im Reiche umher und bedeckten sich als Musageten mit Ruhm, der für sie auf andere Weise nicht mehr zu gewinnen war. Glaubst Du, daß ich darin etwas Verletzendes sehe? Hier in Nordika, wo man die Kunst am höchsten stellt? Glaubst Du, daß es in jenen Zeiten am Ende nicht besser gewesen, die Fürsten hätten sich mit dem Kunstruhm begnügt und die Kunst des Regierens Anderen überlassen? Und nun, Grege, hör’ mich ohne Zorn an: Achtest Du’s für ausgeschlossen, daß Du der Abkömmling — eines Abkömmlings eines jener Schauspieler-Fürsten sein könntest und daß Du gerade darum berechtigt wärst, auf die doppelte Erbschaft zu pochen? Ist das nicht verständig geredet, Grege? Hättest Du Grund in dem kleinen Teuta von heute einen Theil der Erbschaft als Schmach zu empfinden, da er doch in jenem großen Reich von damals als unbezweifelte Ehre galt? Man muß nur Alles aus dem richtigen Gesichtswinkel nehmen.
Grege hatte sich über den Zaun gebeugt und streifte mit der Nase schnuppernd an einer hochstengeligen Tulpe.
— Duftlos, lächelte er.
Maikka lächelte gleichfalls, indem sie auf seine Bemerkung einging: — Vorsichtiger ausgedrückt, Deine Nase findet keinen Duft daran. Wollen wir künftig beide vorsichtiger im Ausdruck sein? Der Tulpe verschlägt’s ja nichts, aber unserer Nase und was als empfindlicher Mensch noch dranhängt, kann’s zu statten kommen.
Mit freundlichem Ernst, der nahe an wiedergewonnene sanfte Liebenswürdigkeit grenzte, fuhr Grege im Weitergehen fort: — Ich möchte wissen, Maikka, giebt’s auch Blödsinnige in Nordika?
Maikka fand die Frage überraschend. Sie erwog sie einen Augenblick. Dann betrachtete sie forschend Grege’s Gesicht. Nein, der Ausdruck so wenig wie der Frageton ließ einen beabsichtigten Doppelsinn vermuthen.
— Blödsinnige, Grege? Ja, leider, aber nur wenige.
— Taubstumme?
— Ich vermuthe.
— Blinde?
— Blinde? Blindgeborene oder Blindgewordene?
— Einerlei. Ich unterscheide jetzt nicht.
— Ja, Grege.
— Wo sind diese Bedauernswerthen?
— In einer besonderen Anstalt. Draußen, in der Nähe des großen Fjords.
— Warst Du einmal dort, Maikka, sie zu besuchen?
— Vor Jahren einmal. Es ist lange her. Ich hatte einen erblindeten Freund draußen.
— O, einen erblindeten Freund! Der Arme! Ist er nimmer sehend geworden?
— Doch, ich hörte davon. Er hat das Augenlicht wieder erhalten, zum Theil wenigstens.
Eine große Bewegung erfaßte Grege.
— Maikka, liebe Maikka, das ist ja wunderbar. Der glückliche Unglückliche, nein, nein, wahrhaftig, er wurde wieder sehend?
— Ja, Grege, das wurde er, wie ich bestimmt hörte.
Er mußte an sich halten, um im Uebergefühl der Ahnung einer gleichen seligen Möglichkeit für seine Jala Maikka sich nicht an den Hals zu werfen und zu weinen wie ein himmlisch beschenktes Kind. Er kämpfte die Wallung tapfer nieder.
— Und die näheren Umstände seiner Genesung? Maikka, sag’ doch!
— Weiß ich nicht. Er verließ bald die Anstalt und siedelte in einer fernen Gegend sich an, mit andern Freunden. Und so verloren wir uns aus den Augen.
— Sonderbar, sonderbar.
— Daß man sich, kaum sehend geworden, wieder aus den Augen verliert, Grege? Dies findest Du sonderbar?
— Ja, auch dies. Maikka, sprich, könntest Du mir die Anstalt draußen am großen Fjord einmal zeigen?
— Gewiß, an meinem nächsten freien Tag. In kommender Woche.
— Der Verkehr mit der Außenwelt, ich meine mit den Fjords und so, ist wohl schwer?
— O, Du kannst leicht allein hinauskommen. Bist Du sehr ungeduldig?
— Gewiß nicht, Maikka. Ich kann warten. Aber warum soll ich Dir immer zur Last fallen?
— Du fällst mir nicht zur Last. Im Gegentheil, Grege. Und da sich nun einmal Alles so gefügt hat, möchte ich wirklich gern dabei sein. Du bist fremd, ich kann Dir in Manchem helfen. Abgesehen vom Besuch in der Anstalt, möchte ich dabei sein, wenn Du unsern großen, schauerlich-schönen Fjord zum ersten Mal siehst. O, mach’ Dich auf ein ungeheures Schauspiel gefaßt, Grege.
— Das will ich, Maikka. Es wurde ihm erstickend heiß. Er riß sein Wams auf, daß die Luft über seine nackte Brust strich.
Und er ergriff ihre Hand, treuherzig und schlicht von der Seite, im Gehen, und drückte sie innig.
Maikka erwiderte den Druck und hielt seine Hand mit der ihrigen fest.
So schritten sie eine Weile hin, schweigend, in heißen Gedanken.
Es war ein Nehmen und Geben von Herz zu Herz in Seligkeit. Und jedes hatte einen anderen Himmel, darein die Seele geflogen war, und war doch nur eine einzige Wonne, ein einziges Glück, wenn auch in verschiedener Mischung und Färbung.
Wehmuthstrunken verlor sich Greges Blick in die sonnenverschleierte Ferne, er wendete den Kopf ein wenig seitwärts, von Maikka ab. Diese aber sah gierig an seiner Gestalt hinauf, bis an seinem feinen, vom Haar beschatteten Profil ihr Auge haften blieb in zärtlicher Bewunderung: — Er ist schön, glühend schön, mein Grege — und ihre schwellenden Lippen feuchteten sich in dunklem Roth, als wäre süßer Thau auf sie gefallen.
Beide fuhren plötzlich erschreckt auseinander.
Fox war ihnen nachgeschlichen und mit einem Satz — hopp! über ihre verschlungenen Hände hinüber und davon, feldeinwärts, mit Gebell.
— Wem gehört das streunende Thier eigentlich, Maikka?
— Dir, mir, uns Allen, hauptsächlich dem, der es am meisten lieb hat. Und das wechselt. Neulich wich er mir eine Woche lang nicht von der Seite. Jetzt scheint das anders zu sein. Und dann das Jagdvergnügen, weißt Du.
Grege’s Gedanken waren schon wieder auf anderer Fährte.
— Wie kommen wir hinaus, an den Fjord, in die Anstalt?
— Wir kutschiren, Grege.
— Wie ist das?
— Wir nehmen einen kleinen, zweisitzigen Wagen und spannen ein Pferd vor, ein recht flinkes.
— Das ist doch unglaublich schwierig und altmodisch.
— Das Kutschiren? In unserem Falle tausendmal schöner, als das träge Hinausgleiten mit der Elektrischen oder das schläfrige Gondeln in der Luft.
— Aber es ist gefährlicher und wir verlieren Zeit.
— Wir verlieren Zeit, Grege, wenn wir bei einander sind? Ich bitte Dich! Gefährlich, was heißt gefährlich? Das ist schließlich Alles . . . für den Aengstlichen.
— Aber anstrengend muß das Kutschiren sein, nicht?
— Das ist ja das Schöne am Altmodischen, wie Du sagst, daß es anstrengend ist. Sieh’ mal hinüber, dort hinter der Allee rutscht die Elektrische dahin, und wir gehen doch auch hier zu Fuß und schlendern und wählen uns Pfade nach Belieben. O, das Kutschiren! Das wirkt stärkend auf Geist und Gemüth, das giebt Witz und Widerstandskraft, das stählt die Nerven. Du wirst hüpfen vor Freude, glaub’ mir, Grege.
— Ihr nehmt doch Alles anders in Nordika. Diese Art der Weiterbeförderung bin ich gar nicht gewohnt.
— Eben darum, Grege! Ist nicht das Ungewohnte das Belebende? Fühlst Du das nicht? Frag’ einmal Deine Beine! Haben sie nicht Freude am Marschiren? Sind sie nicht vergnügt, daß sie sich an Allem kräftig betheiligen dürfen, was wir unternehmen?
Grege lachte.
— Frag’ sie doch, Du eigensinniger Mensch! Und Maikka lachte mit.
Links und rechts auf der Flur tauchten arbeitende Menschen auf. Von einem eingefriedigten Weideplatz schallte Muhen und Blöken herüber. Man hörte Sensen dengeln, Leute sich zurufen, Vögel singen.
Wieder wechselte Maikka den Weg. Sie wählte einen, der, ganz mit jungen Birken umbuscht, gar still und heimlich war.
— Du, Maikka, ich habe meine Beine gefragt.
— Nun?
— Sie sind müde und hungern nach Ruhe.
— O, ihr ewigen Hungerleider! Gleich jetzt sollt ihr gefüttert werden. Die armen hungrigen Beine. Wartet, ich weiß ein Mittel.
Und sie kniete sich vor Grege nieder und bearbeitete ihm die Waden, eine nach der andern, mit beiden Händen, energisch, durch Streichen, Kneten, Drücken, Klopfen, dann preßte sie ein Knie um’s andere und schlug lachend mit der Handschneide in die Kniekehle, daß Grege einknickte.
Dergleichen hatte noch kein Weib an ihm probirt.
— Hör’ auf, Maikka, das schmerzt ja. Gräßlich schmerzt’s.
— Nachher wird’s Dir wohl thun. Gieb mir die Hände, heb’ mich auf. Und nun vorwärts!
Grege riß sie so stramm auf, daß sie an seinen Leib flog und einen Augenblick an seiner Brust lag.
— Maikka, was müssen die Leute denken!
— Daß Du ein Narr bist! Und sie eilte lachend voraus: — Hier giebt’s übrigens gar keine Leute. Nur Blumen, Bäume und liebes Vieh.
Als Grege nicht gleich folgte, sondern seine schmerzenden Waden rieb, duckte sich Maikka auf den Boden und machte sich klein, ganz klein, zu einem Häufchen.
Wie ein spielendes Mädchen rief sie neckisch: — Allahopp, Fox, über mich hinüber! Eins, zwei — drei!
Und wahrhaftig, die zwingende Gewalt ihres Auges, ihrer Stimme und Stellung war so groß, daß Grege einen Anlauf nahm und über das kauernde Weib hinwegsetzte. Seine Fußfohlen streiften ein wenig ihre elektrischen Haare.
Sie sprang auf, klatschte in die Hände: — Himmlisch! Aber jetzt müssen wir ernsthafte Leute sein und wieder vernünftig reden. Hast Du mich lieb, Grege?
— Ist das vernünftig geredet?
— Enorm, wenn Du ja sagst.
Da eilte mit hochgeschwungenem Schwanze ein rothes Kätzchen über den Weg, eine piepsende Maus im Mäulchen.
— Ah, siehst Du, Grege, die war auch an der Arbeit.
— Und wir schlagen die Zeit mit Spielereien todt.
— Sie verdient’s nicht besser. Ich habe Freistunde. Und Du lernst doch was unterwegs, Du dummer Mensch, nicht? Mach’ die Augen auf, jetzt wird’s interessant.
Und voll unerschöpflichem Uebermuth griff sie ihm am Nacken hinauf und packte seinen Kopf und drückte ihn nach links.
— Was ist das dort, Grege?
— Ein Haus.
— Gut geantwortet. Ein Haus. Und was hat das Haus?
— Ein Dach, Fenster, eine Thür.
— Sehr gut geantwortet. Und zur Thür treten wir ein.
— Durch die Thür, Maikka, nicht zur Thür.
— Himmel, macht der Schüler Fortschritte. Jetzt ist er schon über seinen Meister und korrigirt ihn.
— Nicht Meister, Meisterin, mit Verlaub.
— Wer sagt Dir, Grege, daß ich eine Meisterin bin, also ein Weib? Bin ich denn ein Weib? Was weißt Du vom Weibe? Dann müßtest Du ja ein Mann sein! Bist Du ein Mann? Dann müßtest Du ja das Weib lieben! Und Du liebst mich ja nicht. Also!
— Das ist eine tolle Geschichte, murmelte er erhitzt.
— Nein, das ist keine tolle Geschichte, das ist ein logischer Schluß, Du verzauberter Prinz aus Märchenland.
Und sie schritt hart an seiner Seite und drängte ihn mit einem Druck, ihrer Schulter links vom Pfad in einen langen Gang von wilden Weinranken, der gerad auf das Haus zuführte. Sie hielt plötzlich vor Grege still und hauchte in fieberhafter Erregung, athemlos: — Gieb mir einen Kuß. Ich verdurste.
Und er küßte sie auf die duftigen Haare und auf die Stirn.
Sie aber schlang sich an seinem Körper in die Höhe, suchte seinen Mund mit ihren Lippen und saugte sich daran fest.
In jäher Leidenschaft loderte Greges Blut. Er preßte Maikka, daß sie aufschrie und zu Boden fiel, wie er plötzlich die Arme öffnete.
Als er sich den Mund wischte, fand sich Blut an seinen Händen, an der Stelle von Jalas Stern.
— Du bist eine Wilde, knirschte er.
— Du bist ein, Starker, stöhnte sie am Boden. Ich fürchte, Du hast mir weh gethan.
— Wer wohnt in dem Hause?
— Niemand außer Ingeborg, meiner Großmutter. Willst Du sie kennen lernen? Dann komm! Heb’ mich auf, ich bitte Dich.
Er nahm sie auf seine Arme und trug sie wie ein Kind, festen Schritts durch die Laube über die Schwelle. Da stellte er sie nieder.
Die Thür war offen. Niemand in der Wohnung. Die Stube ganz einfach, sauber und behaglich, wie in Erwartung lieber Gäste. Durch die Fenster ein Blick wie ins Paradies. An den Wänden ein paar seltsame alte Bilder und Uhren, auf dem Sims altes, blaues Porzellan und mattglänzende Zinngefäße. Ueber einem großen, tiefen, lederbezogenen Lehnstuhl ragte das Bild einer gravitätischen alten Dame, mit einer wunderbaren großen Haube von blendendem Weiß.
— Das ist Großmutter. Das Bild ist von mir gemalt. Gefällt es Dir? Ich werde Dich auch malen.
— Aber nicht so.
— Nein, du bekommst keine Haube. Du bekommst einen Flügelhelm. Nun setz’ Dich in den Großvaterstuhl und raste, Du Starker. Hast Du Hunger?
Er bejahte und verneinte zugleich.
— Der Mundvorrath wird knapp sein, lächelte sie mit stechend glänzenden Augen, die immer größer zu werden schienen, als wollten sie ihn verschlingen.
— Der Mundvorrath, was ist das? fragte Grege.
Und Maikka warf sich über ihn und schlüpfte förmlich in ihn hinein und küßte ihn, als wollte sie ihm die Seele aus dem Leibe küssen.
Und Grege ließ sie gewähren.
Denn sie gehabte sich, als sei außer ihr und Grege jetzt Niemand auf der Welt.
Außer dem berauschend süßen Duft der Blumen, der vom Garten durch Thür und Fenster fluthete, schien wirklich in diesem Augenblick nichts Lebendiges da zu sein. Und wie eine immer dichtere Wolke von Wohlgerüchen umhüllte der Athem der tausend Blumen das einzige Menschenpaar, daß es aus seliger Betäubung kaum mehr erwachte.
Als das Irdische wieder sein Recht forderte und die Seligen aus dem Himmel wieder zurück auf die Erde kamen, etwas ermüdet von der weiten Reise durch den Aether, fanden sie sich immer noch allein in der Stube.
— Ich erinnere mich jetzt, Großmutter Ingeborg ist zu dieser Zeit nie daheim, wenn sie wohl ist. Und die Glückliche ist nie unwohl. Nun will ich die Wirthin machen.
Maikka verließ die Stube und kam mit einem Krug Milch und einem großen Pfefferkuchen zurück.
— Hier, Grege, lass’ Dich erquicken. Ich bin schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Und Du?
Grege schüttelte mit irrem Lächeln den Kopf, dann nahm er aus Maikkas Händen den Krug und that einen tiefen Zug.
Die Reise an den Fjord mußte verschoben werden. Das Wetter verbot jeden größeren Ausflug. Seit einer Woche war die Luft voll Ungewitter und Stürme, die kaum ausgerast, sich stets neu zu gebären schienen in überschäumender elementarer Gewalt.
Grege versuchte, da er die meiste Zeit in Maikkas Bibliothek zubrachte, einmal systematischen Studien in der Völkerkunde obzuliegen. Es wollte ihm nicht gelingen. Die Sammlung fehlte, die Konzentration der Gedanken, die allein zu einem eindringenden Verständniß den Weg bahnen kann und mit dem Verständniß die Lust am wachsenden Schatz der Erkenntniß rege erhält. Grege fluchte oft auf Teuta, das in seinem versteinerten Bildungswesen aller wirksamen Mittel sich beraubte, dem jungen Volk den Sinn für wahre wissenschaftliche Anstrengung zu schärfen. Wieviele unschätzbar werthvolle Jugendjahre mußte er daheim vergeuden, um das todte Zeug sich einzupauken, das der blinde Autoritätsfanatismus der Schulgewalthaber von Staatswegen als alleinwissenswürdig verordnet. Jetzt erst ging ihm ein Licht auf über die Geistesnacht, die in Teuta Jung und Alt gefangen hielt. Daheim fühlte er, wie viele seiner begabteren Jugendfreunde, sich nur unbefriedigt von dem gelehrten Quark, der sich nicht verdauen lassen wollte, der schwer und wüst blieb, trotz aller mechanischen Einordnungsspiele, und sich nie in gesunden, kräftigenden Lebenssaft verwandelte. Doch über die Ahnung, daß das nicht das Rechte sei, daß es Besseres, Gesünderes, Neueres, Fröhlicheres geben müsse, konnte er nicht hinaus kommen. Jede Sehnsucht nach dem sonnigen Leben frischer Erkenntniß wurde dem jungen Volke mit der pfiffigen Formel ausgeredet: Das Alte ist das Bewährte, das Neue ist das Gefährliche, wir sind mit dem Alten das erste Bildungsreich der Welt geworden, also haltet Euch an unserer Autorität, Ihr werdet den Segen der überlieferten Kulturideale und Kulturschätze schon noch an Euch verspüren, auch wenn sich Euer unreifes Gefühl jetzt dagegen wehrt; Ihr müßt Euch auf denselben Wegen vorwärtsarbeiten, auf denen wir in die Höhe gekommen sind, alle anderen Wege sind verderblich für Ordnung, Zucht und Sitte, für den Bestand des Staates, der für einen richtigen Teutamann das Theuerste sein muß auf der Welt. So will’s unsere Weisheit, denn sie ist auf die tiefste Einsicht in die Naturnothwendigkeit aller Dinge gegründet. Will das Ei klüger sein als Henne und Hahn?
Gluckgluckgluck, zippzippzipp —
Und Grege schlug das Buch zu und lachte zornig auf, wenn er an die anmaßliche Frechheit und lebensmörderische Aufschneiderei seiner Teuta-Autoritäten gedachte. Na, auch diese Ilios wird stürzen.
— Du lachst aber komisch, Grege, rief Maikka, die in der Nähe saß und emsig ihren nächsten Vortrag vorbereitete.
— Ein Wunder. Wenn Du meinen verwüsteten, verödeten Kopf hättest, Du würdest noch Anderes thun.
— Gewiß würde ich das. Ich würde ihn wieder herzurichten und urbar zu machen suchen. Ich würde die Wüstenei langsam, langsam, aber beharrlich in Fruchtland verwandeln. Zeit lassen! Du bist noch so jung, Grege! Du wirst Deine Welt noch erobern, glaube mir!
Ja, er glaubte ihr. So lange er sie vor sich hatte wenigstens, so leib- und geistesmächtig, so willensstark, so unerschütterlich selbstständig. In ihrer unmittelbaren Atmosphäre da lebte und brodelte Alles, und war doch voll reifer Klarheit und lachendem Sonnenschein. Aller Verstandesbesitz war ihr zugleich Gefühlsbesitz. Da lag nichts fremd auseinander. Da quoll Alles brunnentief und vollkommen frisch und unmittelbar, gesund und natürlich aus einem innerlichen Zentrum, aus einem überreichen Kernpunkt.
Und wer von ihrer magnetischen Anziehungskraft berührt wird, der kommt nimmer los.
— Nimmer los? rief’s wie ein fernes, müdes Echo in seiner Brust.
Und wer von dem geheimnißvollen Duft ihres Blutes genossen hat, dem wallt das eigene Blut in seltsamer Leidenschaft und wilder Begeisterung, und es ist, als wüchsen ihm Zauberflügel an den Schultern, und kann doch sich nicht aufschwingen und in seiner eigenen Höhe schweben und fliehen wohin er mag. Sie befreit und lähmt zugleich.
— Befreit und lähmt zugleich? rief wieder das Echo, noch ferner und müder.
Aber da klang Maikkas Stimme, und obwohl er abgewandt saß, glaubte er doch zugleich ihre Blicke in seinem Auge und Gehirn zu spüren.
— Was sagtest Du, Meisterin?
— Ich sagte, Du solltest Geduld haben. Das Wissen ist wie das unendliche Meer. Nur ein träumendes Kind wähnt, es in der Eile und mit der hohlen Hand ausschöpfen zu können. Das merke Dir, wer einmal von diesem Wasser getrunken, den wird ewig dürsten.
— Und was arbeitest Du jetzt?
— Ach, ich bohre auch hartes Holz. Hast Du schon von der Gesteinsbildung durch Pflanzen gehört?
Grege wiederholte sich leise die Frage. Nein, er erinnerte sich nicht, davon gehört oder darüber nachgedacht zu haben.
— Aber von der Gesteinsbildung, oder der bedeutenden Betheiligung an ihr durch die Thierwelt wirst Du gehört haben? Auch davon nicht?
— Ist das etwas Mechanisches? Etwas was unser Teuta-Oberphysikus nachtüpfeln könnte?
Maikka lachte kurz und schrieb weiter.
— Liebe Meisterin, wenn’s nichts Mechanisches ist, kannst es nicht von mir verlangen. In Teuta lehrt man nur das Mechanische.
— Unsinn. Du bist jetzt in Nordika.
— Gut. Also wie ist’s damit? Mit der Gesteinsbildung durch Thiere zunächst!
Maikka legte den Stift in das Buch und streckte die Arme aus, die ihr ein wenig steif geworden waren.
— Hast Du noch nicht darüber nachgedacht, wie zum Beispiel die ragenden Kreidefelsen an der Küste der Angelos oder die Dolomitenfelsen in den Alpen oder gewisse Inseln im stillen Ozean entstanden sind?
— Ich bitte Dich, wie soll ich darüber nachdenken, da ich das Alles noch niemals gesehen habe, niemals dort gewesen bin?
Maikka schüttelte den Kopf, halb ärgerlich, halb mitleidig.
— Du bist ein großes Kind, Grege. Hast Du denn wenigstens nicht Abbildungen davon gesehen?
— Gestatte, daß ich verneine.
Sie schnellte von ihrem Sitze auf, entnahm aus einem Schrank einen riesigen Folianten und legte ihn vor Grege auf die Tafel.
— Such’ Dir selbst das Nöthige auf, ich habe jetzt wenig Zeit. Den ursprünglichen Baustoff zu den Dolomiten in den Alpen haben kalkabsondernde Seethiere geliefert, die Inseln im stillen Ozean wurden von Korallenthieren gebaut, und die Küsten der Angelos bestehen zum größten Theil aus den Kalkgehäusen der mikroskopischen Foraminiferen.
— Foramif — —?
— Foraminiferen, Urthiere, die mit den bloßen Auge nicht wahrzunehmen sind.
— Gut, schön, großartig. Aber ich weiß nicht, ob ich mir diesen werthen Namen der unsichtbaren Kalklieferanten der Angelos jemals werde merken können. Schadet nicht. Es genügt mir, daß Du ihn weißt. Ich glaube Dir auf’s Wort. Wie ist’s nun mit den Pflanzen?
Maikka lief, turnerische Bewegungen beim Sprechen ausführend, zwischen den Büchergestellen hin und her.
— Daß auch die Pflanzenwelt am Aufbau der Erde wacker mit gearbeitet, wird Dir einleuchten.
— Leuchtet mir ein, natürlich. Man konnte den armen kleinen Thieren diese Arbeit nicht allein aufhalsen. Weiter im Text, Meisterin!
— Du weißt doch Etwas von den Bergwerken?
— Na und ob! Unser Teutavolk wohnt zu Dreiviertheilen unter der Erde in den Riesenräumen der ehemaligen Bergwerke des zweiten Jahrtausends und zu einem Viertheil zwischen den kolossalen Schuttbergen, welche die alten Bergwerksvölker über der Erde aufgeschichtet. Das waren die unsichtbaren Bauthiere unseres Landes.
— Hätten sie die Löcher lieber wieder mit den Schuttbergen ausgefüllt, das wäre für euch Teutamenschen heilvoller gewesen. Solchen feigen Erdschlupfern muß man den Boden zuschütten, damit sie zu ihrer besseren Natur gezwungen werden.
— Dagegen wende ich nichts ein, Maikka. Aber es war nun einmal das Schicksal des allzeit tiefsinnigen Teutavolks, in der Noth der Zeiten — vergiß das nicht! — sich in die Tiefen der Erde zu flüchten. Später, wie’s immer geschieht, bleibt man im schützenden, warmen Loch hocken und macht sich aus der Noth eine Tugend und rechtfertigt sie mit der Staatsweisheit. Fatal, aber unvermeidlich.
— Hinter diese Unvermeidlichkeit erlaube ich mir ein Fragezeichen zu setzen. Bei einiger Ueberlegung und Energie hätte der Schlupfwinkel in der Noth nicht auch der letzte Zufluchtsort in der guten Zeit bleiben müssen.
— Die Macht der Anpassung, der Gewohnheit, Maikka!
— Auf die sich alle historischen Faulpelze hinausreden. Der neue Geist baut sich einen neuen Körper und schafft sich neue Wohnstätten.
— Wir hatten eben keinen neuen Geist.
— Das ist wahr, den hattet ihr in Teuta niemals.
— Siehst Du, jetzt zanken wir uns schon wieder. Es ist komisch, wir können keine zehn Worte wissenschaftlich miteinander reden, geht der Zank los. Ach, Maikka —
— Das nennt man nicht zanken, in der Wissenschaft, sondern opponiren.
— Danke, Meisterin! Fahre jetzt mit den Pflanzen fort, ich werde Dir nicht einmal opponiren. Ich sitze still und spitze die Ohren.
— Das sollst Du auch nicht, Grege.
— Was soll ich denn? rief er jetzt in komischer Verzweiflung und sprang von seinem Sitz.
Maikka schob seinen Arm in den ihrigen.
— Das sollst Du: Mit mir spazieren. Da spricht und hört sich’s gemüthlicher.
Und nun schritten sie selbander den Saal ab, Arm in Arm, Meisterin und Schüler. Und um größere Fläche zur Verfügung zu haben, öffnete Maikka einen zweiten und dritten Saal, und im taktmäßigen Gehen übte die kluge Meisterin laut dozirend ihren nächsten Schulvortrag ein, mit dem erwünschten Genuß, im Probehörer zugleich einen geliebten Menschen in warmer Fühlung zu haben. Draußen klatschte der Regen unablässig und erkältend an die Scheiben, so daß sie sich innen mit feuchtem Hauch überzogen.
Ab und zu warf Grege ein bewunderndes Wort dazwischen, dann drückte die Sprecherin seinen Arm mit besonderer Innigkeit.
— Algen? Großartig!
— Ja, es sind fast ausnahmslos Algen, die in dieser Weise bei der Aufspeicherung der Kalkstein-Vorrathskammern thätig gewesen sind. Sie sind Gesteinsbildner ersten Ranges. Lange haben die Naturforscher geschwankt, ob sie die Algen zu den Thieren oder zu den Pflanzen stellen sollen.
— Die Naturforscher! lächelte Grege.
— Sie leben im Meere . . .
— Die Naturforscher?
— Die Algen leben im Meere, besonders auf den Korallenriffen und gleichen äußerlich Polypen-Stöcken, da ihr ganzer Körper mit einer Kalkschicht bedeckt ist und steinhart erscheint. Diese Korallen-Algen, von den ältesten Naturforschern, am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts noch, Nulliporen genannt, haben in früheren Zeiten der Entwicklung unserer Erde mächtige Gesteinsschichten aufgebaut. Vor hundert Jahren noch hat man bei Ausgrabungen in den Ruinen von Paris ungeheure Massen von Baustein gefunden, der aus Foraminiferen-Schälchen gebildet ist, während man in den Ruinen von Wien hauptsächlich Bausteine fand, die aus den Gerüsten von Kalkalgen gewachsen sind.
— Und in den Ruinen von Berlin? fragte Grege dazwischen.
— Dort liegt das Meiste noch unberührt. Aeltere Ausgraber, namentlich amerikanische Archäologen, versicherten, die Arbeit lohne zu wenig, da man bislang noch nichts eigenartig Werthvolles gefunden. Eine andere Gruppe von Algen bilden die Erbauer des Travertins, jenes Kalkgesteins, aus dem die ungeheuren Bauten des altklassischen Roms und zum Theil auch des päpstlichen Roms errichtet sind. Hier sind die Ausgrabungen nicht wieder aufgenommen worden, seit die Päpste unter dem Pontifex Nathanael Rothschild IX. Europa verlassen und die letzten Reste des Vatikanismus nach Amerika gerettet haben. Denn auch die Nebenpäpste in Konstantinopel und Sevilla haben damals, ihres unersprießlichen Wirkens müde, den europäischen Staub von ihren Pantoffeln geschüttelt, und haben ihre Statthalterei über den Ozean getragen, nach Südamerika und Australien.
— Was ich ihnen nicht verdenke, meinte Grege still für sich.
— Die großartigsten Bildungen dieser Algenart, aus der Gruppe der . . . der . . . Schizophyceen, finden sich in Amerika. Unter den heißen Quellen des Yellowstone-Parks haben die Mammuthsprings gewaltige Travertinmassen abgesetzt, die eine Ausdehnung von über zwei Quadratmeilen und eine Höhe von einigen tausend Fuß erreichen. Auf dem glänzenden Weiß der ungeheueren Travertin-Terrassen heben sich gelbe und rothe, grüne und braune Streifen und Flecken in Menge ab und zeigen den Lauf des herabrinnenden Wassers. Es sind die Anzeichen eines üppigen Algenwuchses, der je nach der Temperatur des Wassers bald diese, bald jene Farbe zeigt. So erscheinen bei 65 Grad nur weiße Algen, die in der Regel mit seidenglänzendem Schwefel bedeckt sind, bei etwas geringerer Temperatur stellen sich grüne Farben ein, bei noch geringerer Wärme kommen die rothen und orangefarbigen und in den kühlsten Becken sind sie olivenbraun.
— Das muß ja prachtvoll aussehen, rief Grege und blickte schwärmerisch auf die gelehrte Meisterin, die unermüdlich weiter dozirte.
Sie kam noch auf die Betheiligung der Moose bei der Sinterbildung, auf die kieselschaaligen, mikroskopischen Bazillarien, auf die Infusorienerde und vieles Andere zu sprechen.
Endlich brach sie ab. Grege war schon lange vor ihr ermüdet und vermochte ihren Ausführungen nicht mehr zu folgen. Aber er fand begeisterte Worte, ihr seine Bewunderung auszusprechen. Wie ein Mensch nur das Alles im Kopf behalten und so anschaulich wiedergeben könne!
Aber jetzt möge er zur Abwechslung etwas Anderes hören, etwas Ungelehrtes, Unwissenschaftliches, gestand er ihr. Etwas Drolliges und Phantastisches, sonst halte sein Gehirn nicht mehr aus. Es brumme förmlich in seinem Kopf.
— Ganz nach Prinzenart! spottete Maikka. Und ich büffle mit Vergnügen noch eine halbe Stunde an der Ausarbeitung meines Vortrages.
— Ja Du, ein Weib!
— Warte, für diese Artigkeit sollst Du eine Extrabelohnung haben.
Grege spitzte schon den Mund und warf sich in Positur.
Aber er hatte sich diesmal verrechnet.
Maikka war an den Schrank geeilt, der ihre bibliographischen Raritäten und Kostbarkeiten enthielt.
Sie schleppte eine mächtige Kupferstichmappe herbei.
Grege nahm ein altes, vergilbtes Blatt heraus, besah es nachdenklich.
Ein nacktes Weib, knieend, die Hände vor das Gesicht geschlagen, vor sich das weite, stille Meer. Heißes Sonnenlicht. Ein starres Schweigen im Himmel und auf Erden. Ein erschütterndes Alleinsein des Endlichen mit dem Unendlichen. Ein verzweifeltes Fragespiel. Als Schlußruf: Was gehen wir uns an, was haben wir miteinander zu schaffen? Nein, Grege wollte jetzt nicht an Jala denken. Jetzt nicht. Er ertrüge es nicht.
— Viel zu ernst, klagte er und reichte das Blatt Maikka, die ihm über die Schulter sah.
— Barbar! Ein Max Klinger aus dem neunzehnten Jahrhundert. Seine wohlgezählten elf Jahrhunderte alt und so frisch und schön in seiner Empfindung, wie der junge Tag. Ein Blatt, so werthvoll wie ein Märchenschatz Indiens: „An die Schönheit“. Und Dir viel zu ernst? Gut, ich weiß Dir Passenderes.
Wieder eilte sie an den Schrank, der ihre bibliographischen Raritäten und Kostbarkeiten enthielt.
Diesmal brachte sie einen mäßig starken Band, in Leder gebunden, arg von der Zeit mitgenommen, und schlug ihn mit feierlicher Miene wie ein Buch voll schauerlich geheimnißvoller Beschwörungen vor Grege auf.
— Kniee nieder, Barbar aus Teuta, und falte die Hände wie die alten Gläubigen zum Gebet!
Es war der letzte Band der „Fliegenden Blätter“ aus dem Jahre 2001, Jubiläumsausgabe, das Einzige, was von deutschen Zeitschriften für die Nachwelt übrig geblieben.
An der Thür erschien eine Dienerin mit der Meldung, daß der Aelteste des Bezirks bereit sei, Grege zu empfangen und ihn auf dem Rathhaus erwarte.
Maikka lächelte triumphirend, denn sie hatte hinter dem Rücken Greges die Sache eingefädelt.
Grege lächelte befriedigt, denn er hatte hinter dem Rücken Maikkas um den Empfang nachgesucht.
So hatten beide Theile einen vergnügten Tag.
Die Dienerin hatte Grege einen großen braunen Mantel und einen breitkrämpigen, weichen, braunen Filzhut gereicht. Ob er statt der Sandalen vielleicht Schuhe wünsche? Ja. So brachte sie auch ein Paar bequeme Schuhe und nahm ihm die Sandalen ab.
Grege machte sich auf den Weg. Der Regen hatte nachgelassen. Die Luft war angenehm, aber für Greges Empfinden, nach dem langen Aufenthalt im geschlossenen Bibliotheksaal, zu wenig warm. Er zog sich den Mantel dicht um den Leib, hüllte auch die Arme darein.
Maikka wischte den Wasserdunst von der Fensterscheibe und blickte Grege nach.
— Odin als Wanderer. Er ist jünger und elastischer, dabei doch männlicher geworden. Seit er von Freyas Aepfeln genossen . . .
Und sie setzte sich stillvergnügt wieder an ihre Arbeit, nachdem sie die kostbaren Werke von Greges Tisch genommen und sorglich in den Schrank geschlossen.
Der zwischen den verziehenden Wolken sanft hervorblauende Himmel hellte auch die Scheiben auf, deren Dunstbelag in raschen Rinnen abtropfte.
Der ernste Saal mit seinen etwas einförmigen Büchergestellen und Schränken, Tischen und Pulten gewann im wachsenden Licht eine heitere Stimmung, wie von freundlichen Geistern durchleuchtet. Es war wie ein erleichtertes Aufathmen nach dem Druck der trüben Elemente, die während des langen Regnens auf der Erde gelastet und ihre harten Schatten auch in diese lichte Stätte der Erkenntniß und Aufklärung geworfen.
Maikka legte ab und zu den Stift weg und rieb sich die Hände. Sie war sehr zufrieden. Die Arbeit schmeckte ihr vortrefflich.
Grege machte manchen Umweg. Zufällig kam er an Großmutter Ingeborgs Gartenhaus vorüber, das nicht auf der geraden Linie zum Rathhaus lag. Heller, etwas zitteriger und gebrochener Gesang klingt heraus. Großmutter Ingeborg singt. Sie ist also daheim, das Herz ist ihr voll und sie strömt den Ueberfluß in Tönen aus. Das Glück wohnt in dem Haus. Grege lächelte und schickte ihm einen eiligen Gruß hinein. Grege grüßt das Glück. Wie das klingt, und wie ist es wahr!
Der Gedanke: Grege grüßt das Glück! schwellte seine Brust und beflügelte seine Schritte. Wie reich und schön ist das Leben in Nordikas Freiheit, wie licht und leicht. Sogar die Wissenschaft, die Gesteinskunde . . .
Ein Trupp Mädchen geht an ihm vorüber, plaudernd, unbefangen. Von einem Altan sieht ein Mann herab. Auf einer stattlichen Birke schüttelt sich ein Vogel das Wasser aus dem Gefieder. Ein Hahn sitzt auf dem Zaun und dreht den Kopf so, daß ihm die plötzlich hervorleuchtende Sonne gerade durch den rothen Kamm scheint.
Dort ist das Rathhaus.
Ein Gebäude wie ein anderes, nur größer, nur reicher bemalt in Braun und Grün, und mit Sinnbildern und Schildereien auf den weißen Wandflächen zwischen den Balken des oberen Stocks. Der untere Stock ist Steinbau.
Das Thor steht offen, Grege steigt eine Treppe hinauf. Er schlägt den Mantel auseinander und nimmt den Hut ab. Es ist ihm fast ein wenig zu warm geworden. Er betritt den Raum, wo offenbar Versammlungen abgehalten werden. Keinerlei Einrichtungsgegenstände. Nur umlaufende Bänke an den Wänden, diese licht getäfelt, die Decke blau gemalt.
Grege wendet sich einem breiten Wandelgang zu, an dessen Ende eine Thür einladend offen steht.
Ein alter Herr tritt ihm entgegen, ein Herr, eine wirkliche „Hoheit“ (o Teuta!), kein gewöhnlicher Durchschnittsmann. Er ist wohl achtzig- oder neunzigjährig, seine hohe Gestalt ein wenig gebeugt, sein dunkelblauer, mantelartiger Anzug sitzt lose auf ihm, langes, weißes, lockiges Haar wallt auf seine Schultern. Grege erinnerte sich nicht, je in ein würdevolleres und zugleich freundlicheres und gütigeres Greisenantlitz geblickt zu haben. Seine Wangen sind zwar gefurcht, aber von lebendiger Färbung, aus seinen blaugrauen Augen, von mächtigen weißen Brauen überbuscht, leuchtet Männlichkeit und Wohlwollen zugleich. Ein patriarchalischer Herr. Klarheit und Entschiedenheit thronen auf seiner Stirn.
Mit höflicher Handbewegung grüßt er Grege und ladet ihn zum Nähertreten ein.
Nun sitzen sie in einem dunkelgetäfelten, behaglichen Gemach auf Lederpolsterstühlen einander gegenüber. Durch die beiden mäßig großen Fenster sieht Grege auf grüne Baumwipfel, beregnet und besonnt, die Wassertropfen wie glänzende Kugelperlen an den Blatträndern.
Der Patriarch lächelt: — Ich bin der Aelteste dieses Landschafts-Bezirks und heiße Dich willkommen. Du bist Grege?
— Grege aus Teuta.
— Du bist uns vom Himmel gefallen, Maikka hat mir’s erzählt, unsere brave Meisterin.
— Ja, ich danke ihr viel.
Grege fühlt sein Herz stärker klopfen. Also hat sie schon von ihm berichtet?
— Du hast Seltsames erlebt. Du kannst Dich in Nordika vom Ungemach Deiner Reise erholen. Es ist uns interessant, einen jungen Mann aus Teuta zu sehen. Das ereignet sich nicht oft. Ich habe mir die Leute dort nicht so stattlich gedacht. Du bist der Erste aus Teuta, den ich sehe und spreche, und bin kein Jüngling mehr. Blüht Dein Land?
Grege lächelte ein wenig zweifelhaft.
— Euer Wesen hat viel Merkwürdiges und Abgeschlossenes. Aus den Berichten habe ich Mancherlei gelesen, das mir unverständlich geblieben. Von ganz fremdartigen Ansichten und Einrichtungen.
— Das wird wohl sein. Die großen Nöthe und Wechselfälle unserer früheren Geschichte . . .
— Nun, wir in Nordika haben auch nicht immer Blüthenzeiten gehabt. Kannst Du mir sagen, wie Euer großes Gemeinwesen verwaltet wird?
Grege kratzte sich hinter den Ohren und fühlte, daß er jetzt ein feierlich verlegenes, fast dummes Gesicht mache.
— Wie kann ich das wissen? Das ist eigentlich ein Geheimniß. Wie das Meiste, was unseren Staat und seine Einrichtungen betrifft.
— Sogar für Euch Teutaleute selbst?
— Wir haben viele und verwickelte Traditionen. Es ist ein Mechanismus, in welchem nur Diejenigen Bescheid wissen, die durch Wahl zugelassen werden und sich dann eingehend damit beschäftigen. Wir Anderen nehmen es auf Treu und Glauben.
— Und freut Euch der Ordnung. Und seid stolz auf Euer friedliches Glück.
— O, nicht immer. Von meinen Altersgenossen weiß ich manche unzufrieden, und ich vermuthe, daß auch unter dem älteren Volk Viele mit Vielem nicht einverstanden sind. Aber die Tradition, die Gewohnheit, der Glaube an die Nothwendigkeit, daß, wie es ist, für Teuta vernünftig und nützlich ist, läßt nichts aufkommen. Dann die Eigenthümlichkeit des Verkehrs untereinander, der eben kein Verkehr, sondern eine stetige Absonderung von Mann zu Mann, von Geschlecht zu Geschlecht, von Altersstufe zu Altersstufe ist und zur Grundlage die Späherschaft hat, so daß Keiner dem Andern so recht von Herzen traut. Wer an die Majestät des Staates rührt, ist ein verlorener Mann, er ist vollkommen isolirt und fällt aus dem Schutze der ehrbaren Meinung.
— Habt Ihr viele Gesetze?
— O, o, ein ganzes Netzwerk von Gesetzen, darein wir uns seit Jahrhunderten verstrickt haben. Da ist gar nicht mehr herauszukommen. Alles ist bei uns Gesetz und Regel. Unser Volk weiß gar nicht anders. Es steckt blind darin, wie in einer zweiten Natur. Und unsere Obersten sind die Hüter, daß an dieser zweiten Natur ja sich nichts verändere, daß sie wie eine Kruste uns umkleide, ohne Ritzen und Sprünge.
— Seltsames Volk seid Ihr. Daß Ihr so weiterlebt in dieser Haft, ist erstaunlich, bloß naturgeschichtlich angesehen. In der Wissenschaft von der Regierung galt seit alten Zeiten, seit den Römern der Satz: „Das Verderben des Staates sind die Gesetze.“ Besonders jene Gesetze, welche neben einem ausgesprochenen Zwecke noch unausgesprochene Absichten verfolgen. Aber da muß jedes Volk selbst zusehen. Selbst ist das Volk.
— Wie ist das hier in Nordika geschehen, daß es sich so frei und schön entwickelte?
— Unsere Vorfahren der letzten Jahrhunderte haben fleißig probirt, in jeder Landschaft anders. Bis sie das Zweckmäßige gefunden. Als Fertiges ist ihnen nichts in den Schooß gefallen. Da will ich Dir ein Beispiel erzählen. Nicht von dieser Landschaft, sondern einer weiter nach Norden gelegenen. Da hat vor ungefähr hundert Jahren ein gewisser Holger die Gegend gesellschaftlich organisirt, als der Anarchismus anfing, den Leuten alle Freude zu nehmen. Grundsatz war sittsames Leben, warme Herzlichkeit, einfache Kost, schlichte Gewandung. Wer sich dazu verpflichten wollte, konnte mitarbeiten, wer nicht, mochte sehen, wie er sich weiter brächte. Es war eine winzig kleine, bald verschwindende Zahl, die nicht mitthun mochte. Aller Besitz war selbstverständlich gemeinsam. Jeder mußte seine individuellen Wünsche dem Gemeinwohle unterordnen. Das war nicht schwierig, unter Gemeinwohl verstand man nichts Hinterlistiges. Um ihre Geisteskräfte zu stärken, gaben die Volksgenossen das Eheleben auch in der bescheidensten Form auf. Alles war gemeinsam, aber mit Ausschluß jeden Zwangs auf die Gefühle, kein Mann konnte ein Weib, kein Weib einen Mann zu seiner Lust zwingen. Die gemeinsame Verwaltung der Bedürfnisse wurde mit Klugheit und Sparsamkeit geordnet. Die gemeinsame Regierung trat nur in außerordentlichen Fällen in Gestalt einer allgemeinen Versammlung zusammen, der Aelteste war der Vorstand, jedes Mitglied der Versammlung hatte Stimme, die besten Köpfe gaben den Ton, die Dummen wurden niedergelacht. Als die Genossenschaft in ihrer Blüthezeit stand, machte Einer, vielleicht ein Witzbold, den Vorschlag, dem Volke vorzuschreiben, was ein Jeder essen, anziehen, wann er zu Bett gehen und aufstehen, wie er grüßen sollte und dergleichen Kindereien. Es mögen wohl kleine Unzweckmäßigkeiten vorgekommen sein, aber dieser Vorschlag war doch nicht gut. Er wurde jedoch nicht niedergelacht, wie sich’s geziemt hätte, sondern angenommen. Und von da ab war die Freude nur noch von kurzer Dauer. Man brauchte Aufpasser, die feststellten, ob Einer Schlag neun Uhr zu Bett gegangen und Schlag sechs aufgestanden, ob in der Nacht die Thüren vorschriftsmäßig geschlossen, ob keiner bei der Arbeit ein Werkzeug muthwillig verdorben. Kurz, in Holgersland war die Freude weg. Es gab Vorhalte, Strafpredigten, Verstimmungen, Feindschaften. Da kam einmal harte Wintersnoth in’s Land, die Schutz- und Nährmittel reichten nicht. Die Leute mußten bei den südlichen Nachbarn Hilfe ansprechen. Unter denen war ein starker Mann, der sagte nein, wir geben ihnen nichts, bis sie ihre Dummheit abthun. Was geschah nun? Die Nachbar-Genossenschaften tauschten erst ihre Meinungen und dann erst dauernde Hilfe aus, und so entstand schließlich ein Bund zwischen ihnen mit einem verbesserten Verwaltungs- und Regierungssystem. So ging’s weiter. Eine Landschaft borgte von der andern und lernte von der andern, sie verbündeten sich und bekamen immer zweckmäßigere Ordnung. In dem Maaße wie sie gesicherter und stärker wurden, wuchs ihre Freiheit und Freude. Was die Einen probirten und ihnen einschlug, nahmen die Andern an, was fehlschlug, ließen auch die Andern bleiben. Auf diesem Wege sind wir zu unserm heutigen Nordika mit den guten Zuständen gekommen.
Der Patriarch bat um Entschuldigung, daß er so lange gesprochen, das Alter mache nun einmal redselig.
Grege dankte für das Gehörte. In Teuta sei die Sache freilich nicht so gegangen. Und jetzt sei sie wohl auch nicht mehr so zu machen. Grund und Boden sei von anderer Art und die Menschen auch. Ein Unglück geradezu sei es, daß sie in so dichten Massen beisammen hockten und sich nicht von einander loszulösen und sich weit herum im Lande auszubreiten wagten. Alles Land weit um Teuta herum sei Wüstenei, die Wälder verschwunden, die Flüsse versumpft, von Garten- und Feldbau nicht im Traum zu reden. Die Teutaleute hätten keinen Muth und keine Fähigkeit dazu, obwohl sie von den vor tausend Jahren stärksten deutschen Völkerschaften stammten, die im einstigen Reich, das von der Nordsee bis an die Alpen ging, die oberste Führung hatten in allen Dingen. Die Teutaleute hätten aus dem Zusammenbruche der sogenannten europäischen Kulturstaaten nur Trümmer gerettet und diese allerdings zu einer eigenartigen Kultur ausgebaut, aber seines Lebens werde man dabei nicht froh.
— In welchen Künsten und Wissenschaften liegt Eure Stärke jetzt?
Grege antwortete mit Ueberzeugung:
— In der Feinmechanik und in der Chemie. Wir haben die winzigsten und feinsten Werkzeuge und unsere Handwerker haben Finger wie einst die geschicktesten Chinesen. Wir können Alles nachmachen auf künstlichem Wege. Wir sind selbst schon fast Automaten geworden. In der Chemie der Nahrungsmittel sind wir gleichfalls kaum zu übertreffen.
Der Patriarch nickte mit einem Lächeln, das Grege erschreckte und demüthigte.
— Ich hörte Wunderbares. Man sagt, Ihr könntet die Menschen, zumal die Kinder, hundertweis verschwinden lassen und die Leichname der ältesten Leute chemisch verflüchtigen.
Grege senkte den Kopf und murmelte: — Ja, das können wir auch.
Er mußte an die zornige Rede Maikkas über den Tauschhandel mit den Slavakos denken, und wie er jetzt von unten herauf durch’s Fenster schielte, vermeinte er ihr strafendes Gesicht durch die Scheiben zu sehen. Nichtswürdig war dieser Zustand in Teutaland, mit so bohrendem Schmerz und so ehrlicher Scham hatte er’s nie gefühlt. Wenn ihm Jala ein Kind in Teuta geboren, er, Grege selbst, wäre nicht vermögend gewesen, zu verhindern, wenn es das Loos slovakischer Tauschwaare getroffen, daß man es von der Brust der Mutter weg den Fremden zugeworfen. Im barbarischsten Alterthum hätte man nichts Naturwidrigeres ersinnen können.
Mit flammendrothem Gesicht hob Grege den Kopf und sah den Blick des hoheitsvollen Aeltesten streng auf sich gerichtet.
Der Greis lächelte wieder: — Euere Chemiker sollten das Ueberlebte nicht erst verflüchtigen, wenn es zum stinkenden Leichnam geworden. Bei Euch sollten einmal die Jungen statt der Alten am Räderwerke des Staates sitzen.
— Wenn das ginge, sagte Grege tonlos.
— Wenn’s nicht geht, freilich, dann geht’s nicht. Das müßt Ihr wissen.
Der Greis erhob sich, rückte den Stuhl, ließ sich aber nach einem Blick durch’s Fenster wieder auf dem Sitze nieder.
— Wir versäumen nichts, Grege. Der Regen setzt frisch ein. Ich mag jetzt nicht gehen. Vielleicht magst Du noch Eins mit mir plaudern. Zum Beispiel von dem äußeren Bilde Teutas. Davon kann ich mir keine rechte Vorstellung machen. Wie sieht das aus? Ganz verschieden von unserem Land natürlich. Keine Wiesen, Gärten, Felder, rothe Häuser, Weideplätze mit Thieren, Fluten mit Ackerleuten — das Alles nicht. Aber was denn und wie denn? Euere Straßen sind Gänge und Schläuche in der Erde, Euere Seen liegen tausend Klafter tief unter dem Boden, nicht ganz so tief Euere Versammlungssäle, Euere Spielplätze, Euere Werkstätten und Wohnungen — und Alles von unten herauf beleuchtet, von oben herunter schweigend belebt. Ist das so? Hat Euch Euere Gemüthsart so nach unten gewöhnt? So eine Art Nibelheim, ja?
— Ja, so eine Art Nibelheim.
Grege stützte die Arme auf die Knie, legte das Gesicht in beide Hände und murmelte: Nibelheim, Nibelheim.
— Nicht sehr heiter und so weiter, he? Aber es ist Deine Heimath. Sie ist Dir so heilig, wie uns die unserige. Ihre Seele ist Deine Seele. Du trägst sie in Deinem Blut mit Dir. Sie ist in Deinen Träumen bei Nacht . . . Hab’ ich recht, Grege? Es giebt kein natürlicheres Gefühl als Heimathgefühl. Meine Väter wohnten schon vor fünfhundert Jahren auf diesem Boden.
Grege nickte traurig.
— Und aus sich heraus formen sich die Menschen ihre Heimath wieder, aus dem Gesunden und Jugendlichen stammen die Veränderungen und Verbesserungen. Mit unserem Wissen wächst unser Wesen, und wir gestalten es weiter in’s Breite und Große, in unserer Umgebung. Maikka . . .
Grege hob den Kopf, seine Augen leuchteten in blauem Feuer.
— Maikka sagte mir, daß Du noch länger bei uns bleiben und lernen willst. Es ist so schön, jung zu sein und zu lernen und zu leben, nicht wahr? Man soll die Augen nicht verschließen vor dem Fremden, denn es lehrt uns das Eigene tiefer erkennen. Und man soll sich selbst seine Zweifel sagen und sich nicht autoritätsfürchtig vor sich selber ducken, so wenig wie vor den Anderen. Hast Du strebsame Freunde daheim, die treu zu Dir stehen?
— Die muß ich mir noch schaffen.
— Schaffe sie Dir.
Grege hätte dem Patriarchen mit dem weißen Lockenhaar und den gütigen Augen und dem beredten Munde um den Hals fallen — und Vater! rufen mögen. Vater! Wem hätte er in Teuta diesen Namen geben können, geben mögen? Das ganze junge Volk dort, war’s nicht eine vaterlose Waisenbrut, im Dunkel erzeugt, im Dunkel verloren, trotz aller künstlichen Helle und Hilfe?
— Ich hoffe Dich wieder zu sehen, Grege. Du bist mir stets willkommen. Heute Abend machen unsere jungen Leute Musik im großen Versammlungssaal und führen Tänze auf. Du bist eingeladen.
Grege sagte zu.
Er wußte nicht, daß Maikka bereits über seinen Abend verfügt hatte.
Und er war ihr zu Willen und verbrachte die Nacht in Ingeborgs Gartenhaus und „grüßte das Glück“.
Da war nichts zu machen: Maikka hatte heute wieder ihren lachhaften Tag. Nichts Ernsthaftes verfing bei ihr, Grege mochte sich anstellen, wie er wollte. Auf seine tiefsinnigsten Fragen nach den letzten Dingen im Leben und Denken, im Schaffen und Schalten hatte sie nur die eine Antwort: Du bist ein Narr — Alles kommt von den Sinnen, und der letzte Grund aller Dinge ist die Freude an sich selber. Was aus der Freudlosigkeit gewalzt wird, ist Blech. Grege, noch einmal, wenn Du mich anmoralisirst und anphilosophirst, so nehme ich all’ meinen Muth zusammen und verachte Dich, Amen.
Und dann brach das Lachen los. Eine ganze Symphonie, ein ganzes Konzert, eine ganze Oper, ein ganzes Musikdrama, eine ganze Weltdichtung in lauter Lachtönen. Und wie sie ein anderes Register zog, da klang’s bald wie ein Choral, bald wie ein Schelmenlied, bald wie Lerchentriller, bald wie Amselruf, bald wie Nachtigallenschluchzen. Und immer neu und immer schön bei aller Tollheit.
Gestern, allerdings, da hatte auch sie mit des Lebens harter Pflicht wacker gekämpft. Zunächst in aller Frühe geschwommen und geturnt mit einigen Schulschützlingen unterschiedlicher Art, die sie erst zugewiesen erhalten, dann einer Konferenz mit Berufsgenossinnen beigewohnt zur Festsetzung des Arbeitsplanes für die nächste Woche, in der sie sich zum Ausflug an den Fjord mit Grege etwas mehr Freizeit herausschlagen mußte, dann am Nachmittag in der Volkshochschule ihren großen Vortrag über die Betheiligung der Pflanzenwelt an der Gesteinsbildung gehalten mit darauffolgender Demonstration und Besprechung, dann noch Dieses und Jenes, wobei sie ihren ganzen Kopf einzusetzen hatte.
Aber heute blieb ihr der volle Nachmittag und Abend frei. Und für sie gab’s nichts Inhaltsreicheres als das Nichtsthun in der Freiheit. Gast Grege wußte davon zu sagen.
— Du bist jetzt meine Welt- und Selbstschau, rief sie und schleppte ihn auf den Thurm und auf die Fohlenwiese und in den Todtenhain (genannt „Liebesgarten der Abgeschiedenen“, wo die Asche der Abgeschiedenen auf die Beete gestreut wird und ein herrlicher Rosenflor weithin seine Düfte sendet, gleich letzten süßen Liebesgrüßen) und in die unterirdischen Werkstätten (denn alle Hantirungen, die mit störendem Lärm, Gepoche und Gehämmer verbunden waren, mußten abseits von den Häusern in kellerartigen Räumen verrichtet werden, in ganz Nordika) und auf das Rathhaus und in eine Haushaltungsschule, wo es nur so von weißbeschürzten, rothwangigen Mädchen schwirrte.
— Hast Du die Mädchen gern, Grege? Lieber als die Buben? Wie viele könntest Du einmal lieben von ganzer Seele, sag’? Wie groß ist Euer Herz in Teuta?
Oft fand er auch ein schalkhaftes Wort zur Entgegnung, oft wußte er dem Ansturm des Kobolds gar nicht Stand zu halten.
Merkwürdig war es für ihn, zu beobachten, mit welcher Gewandtheit dieser Neckgeist die Uebergänge in die verschiedensten Gefühls- und Aeußerungsweisen fand, je nach der Umgebung und dem zufällig mehr oder weniger freiwilligen Zuhörerkreis. Ohne Komödie oder erzwungene Heuchelei, völlig aus einem überreichen Anpassungsvermögen heraus und aus lebendigster Schulung. Alles Schroffe und Verletzende war überwunden wie alle lähmende Absichtlichkeit. Diese Nordika-Leute unter sich waren wie ein reingestimmtes Instrument, wo sich Alles zu Akkorden fügt, je nach dem angeschlagenen Grundton, je nach der durchklingenden Tonart. Und wo ja einmal ein Mißton aufzitterte, da antwortete eine kluge Pause, bis es wieder stimmte.
Nur im Umgang mit ihm, dem ausgearteten Teutamann, in welchem so viel Dogmatisches, Verbohrtes, Pathetisches verschlüpft steckte, das nicht auszutreiben war, griff Maikka zuweilen fehl und traf nicht den gesuchten Ton. Da konnte sie dann herrisch aufbrausen und zu Gewaltsamkeiten des Ausdrucks sich fortreißen lassen, daß Grege verblüfft war.
Dankbar fühlte er, wie unendlich viel er von dieser urwüchsigen und doch so verfeinerten Frauennatur lernte. Neue Horizonte eröffnete sie ihm, neue Erkenntnißquellen, davon er in seiner Teuta-Beschränktheit seither keine Ahnung hatte. Es war ihm ein Geistes- und Herzensfrühling, und wenn er über sich und seine frischaufgeschossenen Pläne und Zukunftshoffnungen nachdachte, stieg er in sich selbst herum wie in einem blühenden Wunder. Jetzt erst glaubte er an sich, an seinen besonderen Beruf, in der Fülle der Klarheit, die in Nordika über ihn gekommen war. In seinen Gedanken fügte sich Lichtpunkt an Lichtpunkt, bis sie sich zu einem hellen Ganzen verbanden, nicht mehr zerrissen, nicht mehr verschwimmend, sondern zusammengehalten wie von einem festen Kern, dessen innere Kraft durchgriff bis zum äußersten Kreis.
Aber lachen, lachen wie Maikka — nein, das würde ihm und seinen Teutaleuten wohl nimmer gelingen. Das setzte Siege über so wesentliche Teuta-Thorheiten voraus, daß noch Generationen daran sich die Zähne ausbeißen mußten. Nur das stand ihm unverrückbar fest, daß der Kampf jetzt begonnen werden mußte, mit einem wuchtigen Schlag. Noch wirbelte Alles gährend durcheinander in seinem Gefühle, wenn er sich all’ die Widerstände und Verwicklungen ohne Ende ausmalte. Doch auch hier wird Rath werden, je näher die Zeit der That rückt. Erst im Angesicht der Ereignisse selbst fallen die besten Entscheidungen. Hinein — und durch!
— Sag’ mir, Maikka, wer sitzt in Nordika über Euch zu Gericht, ich meine, wer entscheidet zum Beispiel über die Bedeutung eines Lehrers oder einer Lehrerin?
— Nun aber die Frage! Darüber kann doch vernünftigerweise nur ein Gericht und kein anderes entscheiden, und das sind die Schüler. Wo in aller Welt könnte es anders sein? Wer entscheidet denn bei Euch über die Befähigung eines Schneiders? Doch nicht ein Kollegium von Schneidern? Doch nur Diejenigen, welche sich das Maaß nehmen lassen und das Schneiderwerk an ihrem Leibe tragen? Ein Jeder kann doch nur von Denjenigen gerichtet werden, an denen er sein Werk ausübt, nicht von Denjenigen, die mit ihm das gleiche Werk ausüben, denn die möchten aus irgend einem begreiflichen Hintergedanken heraus an dem Werke ihres Mitbewerbers immer Etwas zu mäkeln haben. Hast Du noch mehr solche Fragen? Geht meine Antwort Euern Teuta-Idealen und Staatsweisthümern wider den Strich? Wer entscheidet in Teuta über die Lehrer?
— Der hohe Oberlehrer, der Hüter des heiligen Wortschatzes.
— Da kommt ein Graben, gieb Acht, daß Du nicht auf den Bauch fällst und Dir dabei das Genick brichst.
Und sie lachte über diese „Teuta-Möglichkeit“, daß sich ihre Hüften bogen. Es war auf dem Wege zur Fohlenwiese.
— Schau’ dort das Mädel, Grege, roth wie eine Rose. Wer sitzt über die Rose zu Gericht? Eine andere Rose?
Grege, komisch angeregt, antwortete im parodirenden gelehrigen Schülerton: — Die Nase, die daran riecht, das Auge, das sich an der Farbe entzückt, die Finger, die schmeichelnd daran tasten . . .
— Und sich am Dorn stechen, vollendete Maikka im gleichen Ton, und sie fand den Spaß sehr gut. So viel Laune hätte sie heute dem ernsten Staatsdenker Grege wahrhaftig nicht zugetraut.
Die Fragen in bunter Reihe, sprunghaft über die verschiedensten Gebiete, freuten Grege. Und wie die Mückenschwärme in der sonnigen Luft, so tanzten die Gedanken in seinem Kopf.
— Du, Maikka, wie ist’s in Nordika mit dem Kinderzeugen?
— Frage die Mütter auf der Fohlenwiese. Wir werden gleich dort sein.
— Halten’s die Menschen hier wirklich auch so? Wer hat, der giebt, und wer empfängt, der richtet sich darauf ein?
Grege nahm einen Anlauf, immer lustiger zu werden. Maikka hingegen zog es vor, jetzt ernst zu bleiben. Das heißt, sie zog es eigentlich nicht vor, es kam ihr so.
— Bei einem natürlich gebildeten Volk, das auf sich hält, besteht die freie Wahl-Liebe, nicht wahr? Das Kinderhaben und die Ehe, die sich auf längere oder kürzere Zeit oder auf Lebensdauer daranknüpfen mag, ist Sache des Gefühls und der wirthschaftlichen Erwägungen. Leuchtet Dir das ein, Grege?
Grege eilte, mit einer neuen Frage zu kommen, denn plötzlich fühlte er, als Teutamann, bei dem verhaßten Zustand in seinem Lande, brüchigen Boden unter den Füßen. Er wollte die Szene von neulich nicht noch einmal heraufbeschwören.
— Geschichtlich ist die Ehe doch ein widerspruchsvolles Gewächs.
— Sicherlich, Grege.
— Bei unseren germanischen Vorfahren, so vor ein und zwei tausend Jahren, wie es die Geschichte ausweist, ging’s ein wenig kraus zu.
Maikka brauste auf:
— Ein wenig kraus nur? Unsinnig ging’s zu, unsinnig bis zum Ekelhaften. Mit der damaligen Auffassung von Liebe und Ehe waren doch alle Naturbegriffe gefälscht und alle Moralbegriffe obendrein. Sie hatten’s auch dafür. Wenn man an ihre Ehe-Dramen denkt, fragt man sich, in welchem Tollhaus die Vernünftigen und in welchem Schweinestall die Sittlichen gelebt haben. Und darauf hatten sie noch ein kirchliches und ein staatliches Patent. Neunzehntel aller Sorgen, Quälereien und Lumpereien einerseits, aller Poetastereien und Gefühlsquaseleien andererseits drehten sich um ihr „Ewigweibliches“, was in ihrer Lebenspraxis doch nur ein Ewigabgeschmacktes war. Dazu hatten sie ihre „Frauenfragen“ jahrhundertelang, und nichts vom Standpunkt der Natur aus in direkter Frage, sondern immer aus der verdrehten Kampfperspektive und aus dem Gegensatz der Geschlechter und ihrer Dekadenz. Sich gegenseitig die Kette abzunehmen und der Natur ihren Lauf zu lassen, auf diese Lösung kamen sie nicht.
— Konnten sie nicht kommen, Maikka, eben weil sie ihre Natur verloren hatten. In Nordika habt Ihr gut reden. Ihr wißt nicht, wie schwer man sich mit der Natur zusammenfindet, wenn man seit Jahrhunderten in allen Stücken mit ihr auseinander ist.
Plumps! Und diesmal lag Grege richtig auf der Nase. Er strauchelte über einen ersten und fiel über einen zweiten Draht, der am Boden gezogen war.
Maikka wußte nicht, wo hinaus vor Vergnügen.
— Siehst Du, wie schnell man die Natur findet, wenn man die Kultur übersieht!
— Wie man nur so über Alles lachen kann, Maikka! Ich habe mir wirklich am Schienbein weh gethan.
— Kränkt sich das Schienbein, wackelt die Wade vor Schadenfreude. Warum soll ich nicht lachen? Lacht nicht auch der Himmel über uns?
— Er hat auch schon über uns geweint, fürchte ich.
— Und wird’s hoffentlich noch öfter thun, auch wenn wir ihm keine Veranlassung bieten, aus freien Stücken.
Hinter einer mächtigen Dornhecke lag die Fohlenwiese. Es waren nur einige ältliche Stuten in der Nähe, die faul am Boden lagen, während sich die Sonne in ihrem glatten, brandrothen Rücken spiegelte. Weiter drüben tummelte sich das jüngere Pferdevolk.
Maikka fand schnell den Eingang. Mit Händegeklatsch und Zuruf jagte sie die Thiere auf. Bevor ihr Grege in den umhegten Raum folgen konnte, hatte sie sich bereits auf den Rücken des ihr zunächst stehenden Pferdes geschwungen.
Sie saß rittlings, knotete sich mit der rechten Hand in die weiße Mähne und wendete sich nach Grege um.
— Mir nach, Grege!
Und sie flog dahin, die Haare im Wind. Ihr braunes Röckchen flatterte. Ihre nackten Arme und Beine leuchteten.
Wie sollte er nun das wieder verstehen? Wollte sie ihn völlig verrückt machen? Das Schauspiel war ja an sich ganz lustig anzusehen, diese galoppirende Amazone war ihm eine nagelneue Erscheinung. Er würde sich jedoch hüten, ihr nachzumachen und den Hals zu riskiren. Die anderen Stuten betrachteten ihn sinnend, mit vorgelegten Ohren, dann trabten sie fort, Maikka nach.
Maikka ritt drüben mitten in die weidende Heerde, sprang ab und schwang sich auf ein anderes Pferd, das sie als das Leitroß erkannte. Ihr Lieblingspferd war heute nicht da, vermuthlich wegen anderweitiger Berufserfüllung. Das war nämlich der Zuchthengst, ein herrlich edler und intelligenter Kumpan, unter dessen ritterlicher Obhut die gesammte Fohlenwiese stand. In seiner Abwesenheit führte das Leitroß, gleichfalls ein tadelloses Thier, das Regiment.
— Wohin Du mit mir willst, vorwärts! Hipphipp!
Das Thier griff aus und jagte rund um die Umzäunung, und der ganze Trupp hintendrein mit Gewieher und Gepruste, bis die Reiterin vor Grege hielt, der erschreckt zurückwich.
— Siehst Du, Teutamann, das ist gerittene Mythologie. Magst Du Dich zu mir aufsetzen? Willst Du’s griechisch oder altnordisch?
Grege mußte ihr nun doch Beifall klatschen. Sie sah prachtvoll aus. Verklärt animalisch. Wie ein höheres Thier. Und er hätte wahrhaftig etwas darum gegeben, wenn er sich fähig gefühlt hätte, sich zu ihr aufzuschwingen und mit ihr einen Ritt zu wagen.
Mit jähem Gedankensprung warf ihm Maikka die Frage zu: — Hör’, Grege, kannst Du Dir Deinen Nationalheiligen Zarathustra hoch zu Roß denken? Nein? Er war kein Reitersmann? Er hat nie vom Rücken eines edlen Rosses auf die Welt hinabgesehen, wie ich auf Dich jetzt hinabsehe? Er ist nie der aufgehenden Sonne entgegen, der untergehenden Sonne nachgeritten? Er hat nur Phantasieflüge gemacht, ohne Schluß und Schenkeldruck? Das Pferd gehörte nicht zu seinen heiligen Thieren?
— Was Du für Einfälle hast, Maikka. Zarathustra hoch zu Roß, die Umwerthung der Werthe zu Pferd!
— Dann werthe schleunigst seine Umwerthung um. Alle weltbewegenden Offenbarungen wurden der Menschheit vorgeritten, das Christenthum auf einem geduldigen Eselein, der Mohamedanismus auf einem feurigen Araber. Und Dein Zarathustraismus kommt zu Fuß?
Grege war gedankenvoll herangetreten und reichte ihr die Hand. Sie glitt vom Pferde in seine Arme.
— Das viele Lachen hat mich dumm gemacht, wahrhaftig. Plötzlich fühle ich meinen Kopf so leer. Laß uns den Heimweg suchen.
Sie hing sich an seinen Arm und folgte ihm schweigend im heraufziehenden Abendfrieden.
Sie war wie verwandelt.
— Ueber Zarathustra, fing sie später leise an, aber es war doch, als klinge wieder ein verhaltenes Lachen durch, — über Zarathustra muß ich mit Dir noch besonders reden. Es sind die letzten Mucken, die ich aus Deinem Kopf vertreiben muß. Kennst Du den vollständigen Zarathustra?
— Die hauptsächlichsten seiner Reden, ja. Alle zu lesen wird in Teuta nicht für gut gehalten. Auch von den Kommentaren sind uns nur wenige erlaubt.
— Daran liegt nichts. In meiner Bibliothek kannst Du Alles finden. Aber sag’ mir, was weißt Du von seinem Leben?
— Nicht mehr, als unsere Autoritäten verkündigen. Er lebte um die Wende des zweiten Jahrtausends. Er war ein Heiliger und ein Märtyrer. Erst fünfhundert Jahre nach seinem Tode wurde er anerkannt. Bei Lebzeiten mußte er sich wahnsinnig stellen, um seinen Henkern zu entgehen. Nachdem er gestorben war, hörte man noch fünfzig Jahre seine Stimme aus dem Sarge murmeln, und über seinem Grab sah man bei Tag seinen dunklen Schatten und bei Nacht seinen lichten Schein als Abbild der entschwundenen Gestalt.
— Das glaubst Du Alles buchstäblich?
— Es war jedenfalls ein wunderbarer Mann.
— Welcherlei Wunder hat er verrichtet, nachweislich? Daß er Euch Teutaleuten die Köpfe verdreht hat und daß Ihr, als Gegenleistung, ihm seine Lehre, soweit sie vernünftig ist, verdreht habt, ist eigentlich so wunderbar nicht. Welcherlei andere Wunder also?
— Er hat den damals mächtigsten Papst der Welt, einen Musikzauberer, der in Bayreuth einen Tempel errichtet hatte, als modernen Minotaurus entlarvt, in einer mit Blut und Galle geschriebenen Schrift „Der Fall Wagner“, die seitdem verschollen ist, weil die Verbündeten des Zauberers alle vorhandenen Exemplare an sich gebracht und vernichtet haben. So stark wirkte die Schrift, daß der Zauberer seinen Tempel verließ und nach Italien floh. Dort trat ihm Zarathustra persönlich entgegen und setzte ihm so stark zu, daß der in die Enge Getriebene keinen Ausweg mehr wußte, als sich aus einem Palast in Venezia in das Meer zu stürzen. Aber selbst im Meere ließ ihm Zarathustra keine Ruhe. Sein Athem trieb den Leichnam durch alle Meere, um die ganze Halbinsel Italia herum, bis er an der Sirenen-Insel angeschwemmt und neben den Gebeinen eines anderen Zauberers aus dem Alterthum, Vergilius, bestattet wurde. Später gruben ihn die Gläubigen wieder aus und bestatteten ihn heimlich in seinem Tempel in Bayreuth.
— So lehrt Euere historische Wissenschaft in Teuta? Das läuft Dir wie Auswendiggelerntes über die Lippen. Hast Du darüber auch nachgedacht?
— Man braucht wohl nicht Alles buchstäblich zu glauben. Aber das ist die Lehre unserer ersten Autoritäten.
— Das läßt sich hören. Erzähl’ weiter. In diesem Ton. Er sei ein Heiliger und ein Märtyrer gewesen, lehrt Ihr. Wie begründet Ihr das?
— Zum Heiligen macht ihn nicht bloß sein beispielloser Wahrheitsmuth, sondern auch sein enthaltsames Leben. Damals schwelgte die ganze Welt in einem braunen Taumeltrank, Bayerisch-Bier genannt, und die Gelehrten und Ungelehrten vertilgten täglich und die Nächte hindurch unmenschliche Mengen dieser giftigen Flüssigkeit. Zarathustra predigte dagegen, zum allgemeinen Aergerniß. Namentlich die Leute waren wüthend auf ihn, die diesen Trank in riesigen Fabriken oder Apotheken, Brauereien genannt, herstellten und damit fabelhafte Summen gewannen, denn sie hatten besondere Bierbahnen um die ganze Erde gebaut, so daß fortwährend ein ungeheurer Bierstrom mit tausend Nebenflüssen und Kanälen den Planeten überschwemmte. Diese Leute verfolgten den bierfeindlichen Zarathustra bis auf’s Blut und hetzten ihn von Land zu Land. Endlich entfloh er ihnen in’s Hochgebirg, in die Eiswüsten der Alpen. Er führte stets einen Becher bei sich, aus den Quellen oder von der Milch der Gletscher zu schöpfen oder den Regen des Himmels aufzufangen. Die übrige Nahrung brachten ihm die wilden Thiere zu, Adler und Schlangen. Gehaßt und verfolgt wurde er auch von den Frauen, die nur um der physischen Wollust willen stets die Männer um sich haben und sie als Werkzeugsthiere für ihre sinnliche Befriedigung unterjochen wollten. Denn in jenen Zeiten kannte man die freie, natürliche Liebe nicht. Man kannte nur die Zwangsehe und die Prostitution. Diesen Einrichtungen trat der heilige Zarathustra entgegen, wie einem giftigen Gewürm setzte er ihren Anhängern den zermalmenden Fuß auf den Nacken. Ueber die Frauen jener Zeit hing er die Tafel auf: „Es ist besser in die Hände der Räuber, als in die Träume eines brünstigen Weibes zu fallen.“ Einige alte Jungfrauen, die seine Lehre billigten, folgten ihm nach und verließen ihn nicht, so lang er in der Ebene und in den großen Städten weilte, unter den gefährlichen, ausschweifenden Bestien. Sie bildeten seine Leibgarde und Schutzwacht.
— Auch das läßt sich hören, Grege. Du hast Deine historischen Autoritäten gut inne. Und welches war das Ende Deines heiligen Märtyrers nach der Lehre der Teutaleute? Sag’ Dein Sprüchlein zu Ende!
— Als er seinen Tod nahen fühlte, floh sein Geist in den Leib eines mystischen Mechanikers und tadellosen Gelehrten, der viele Geheimnisse der griechischen Götter ergründet hatte, und wirkte hier noch lange in schrecklichen Schriften. Die Jugend war Feuer und Flamme für ihn. Die Alten versuchten ihn Anfangs zu widerlegen. Als sie aber sahen, daß sie von den Jungen nur verlacht wurden, ließen sie’s und schüttelten betrübt die Köpfe. Von Staatswegen, im Interesse von „Thron und Altar“, wie damals die Formel lautete, versuchte man ihn durch Todtschweigen umzubringen. Allein das gelang auch nicht. Körperlich konnte man seiner nicht habhaft werden, weil er die Gabe besaß, nach Belieben die Gestalt zu wechseln.
— Wie nennt sich bei Euch jener tadellose Gelehrte?
— Nietzischki, denn er stammte von dem inzwischen von der Erde verschwundenen Volksstamme der Polen. Und hier beginnt schon unser Mysterium. Der Name Nietzischki darf in Teuta nur einmal im Jahre öffentlich ausgesprochen werden, am Zarathustra-Feste, und zwar nur von mir . . . das heißt, wenn ich dabei bin . . . wenn ich wiedererscheine . . .
— Ach, Grege, mir wird von alledem so dumm. Ich fürchte, ich fürchte . . .
— Was fürchtet meine Maikka? fragte Grege zärtlich, in kindlicher Sprechweise, wie sich selbst unbewußt.
— Ich fürchte, daß auch etwas von einem fremden Geiste, der sein Ende nahen fühlt, in mich gefahren. Wenn ich ihn beherberge, werde ich gleichfalls Schrecken wirken müssen. Sag’ mir noch eins: Welche Zarathustra-Lehre stellt Ihr an die Spitze des mysteriösen Systems?
— Die geheimnißvollen Gegensätze: „Man soll die lieben, die Gewalt haben.“ „Man soll alles überwinden, was Gewalt hat . . .“
— Nun wohl, Teutamann, schaff’ Dir Gewalt an, und ich werde Dich lieben. Versuche Gewalt über mich zu haben, und ich werde Dich überwinden. Gut Nacht.
Und sie riß sich von ihm los und eilte davon, wie von Gespenstern gejagt.
Und Grege stand allein im Felde, und vor ihm senkte sich die Finsterniß des Himmels herab auf die purpurne Erde. Er stand wie in einem Traum, mit schmerzlichem, allmählichem Erwachen, als wäre der Leib von der Seele verlassen gewesen und müßte sich erst Alles wieder ineinander finden. Was hatte er vorhin erzählt? . . . War das Erträumtes, Erdachtes, Erinnerung an einst Erlebtes, mit späteren Lehren und Phantasien und zugeflogenen Irrthümern Vermischtes?
Noch eine Minute, und Nordika begann zu leuchten.
Grege wußte lange nicht, wohin sich wenden. Es war ihm, als hörte er ein gellendes Lachen in den leuchtenden Lüften, wie an jenem Abend, da ihn Maikka auf das Drachenschiff beschied.
Der Wind hat sich gedreht und setzt den Laubkronen im Schulhain lebhaft zu. Er bringt den Duft von den Bergen am großen Fjord und weht die Haare um Grege’s Ohren und jagt manchmal eine Locke über die Nase hinweg — und mit den Gedanken im Hirn macht er’s noch schlimmer, die jagt er bald wie Spreu, bald wie eine Schaar ängstlicher Vögel vor sich her, und Grege greift nach der Locke und streicht sie hinter’s Ohr, wo sie nicht halten will, und er drückt die flache Hand über die Augen und an die Stirn, aber es nützt nichts, die Gedanken bleiben nicht fest und nicht einmal die Sinne halten Stand.
Was soll denn all’ die Unruhe? Wer schafft denn all’ den Unbestand? Ist’s nur der Wind? Oder die Frau, die da droben steht, im verschleierten Licht, und vom Schlagschatten eines vorspringenden Balkens in eine schwarze und eine weiße Hälfte getheilt wird? Es ist nicht Maikka. Maikka hütet das Haus. Es ist ihr nicht just. Die da droben steht, Grege weiß nicht einmal ihren Namen, giebt ihr an Beredtsamkeit nichts nach, und ihre Gedanken lassen an Schärfe nichts zu wünschen übrig. Ihre Stimme hat nicht Maikka’s Klang und Glanz; ihre Bewegungen sind nicht so eindringlich, ihre ganze seelisch-körperliche Art erinnert an eine Andere. An wen denn? Warum findet er’s nicht? Warum formt sich überhaupt kein Bild in seinem Kopf? Warum dieses Gewirr von Linien und Lichtern?
Sind’s die Zuhörer, die ihm all’ die Unruhe und den Unbestand schaffen?
Es sind dieselben Leute, die er schon oft an dieser Stelle gesehen, und wenn es nicht dieselben sind, so sind es ähnliche. Einfache, schlichte, aufmerksam lauschende Gesichter, reinliche Seelen in reinen Gewändern, geweihte Gefäße ehrlicher Wissenschaft. Dieselbe Gruppirung wie sonst, nur die Reihen dichter, und mehr Jünglinge und Männer als Mädchen und Frauen. Das ist’s nicht, was Grege so zerstreut macht.
Der Wind bringt den Duft von den Bergen und von den fernen Wassern . . . Das flüsternde, raschelnde Birkenlaub . . . Warum warst Du noch nicht am Fjord? Warum schwingst Du Dich nicht über’s Meer, die Gestade abzusuchen? . . . Was sprechen die in Teuta von Dir, von ihr? Wie feiern sie das große Fest? Was für Possen verüben sie da? Wer trägt diesmal Krone und Mantel und gaukelt mit dem Szepter? . . . Wie lange noch? . . . Wie . . .
Den Zuhörern entschlüpften Beifallsrufe. Die Aufmerksamkeit wird erregter, leidenschaftlicher.
Was spricht sie denn, die beredte Frau mit den strengen Mienen und der ernstgehaltenen Gestalt? Ihre Haare sind dunkler, als die der Meisten hier. Alles hat eine dunklere Färbung, auch ihre Gedanken, und die Weltbilder, die sie entrollt . . .
Von Katastrophen, von Umstürzen, von Zusammenbrüchen.
Grege strengte sich an, mehr zu hören und festzuhalten, als einzelne Worte und Sätze. Er will seiner Unruhe Herr werden, er will seine Nerven zäumen und zügeln mit festem Willen, er will sich selbst überwinden . . . Wie Alles überwunden werden muß, was nur Flüchtigkeit, Störniß, Wesensfremdes, damit der Kern der Persönlichkeit rein und stark wachse, keine Zerstreuung die Triebkraft mindere . . . Eine große Aufgabe schafft große Verantwortung, Selbstverantwortung . . . Hier unter fremden Leuten, fremden Dingen, fremden Gewohnheiten, fremden Anschauungen, fremden Begriffen, warum findet er sich nicht selbst geschlossener, warum fühlt er sich nicht selbst gesammelter, gerade heute, wo er dem Banne Maikkas, der Wirkung ihrer mächtigen Natur entrückt ist? Wo er wieder einmal, ganz er selbst, sich in eigenem Vollbesitz haben könnte?
Der Wind bringt den Duft von den Bergen am großen Fjord — warum läuft er nicht dem Wind entgegen, hinaus an’s Meer? Warum zögert er hier? Was fesselt ihn? Weit von hier liegt sein Ziel, warum rührt er sich nicht von der Stelle? Schöpft er hier seine volle Freude, ein Spielball wechselnder Eindrücke, fluthender Suggestionen, überraschender Beglückungen, denen das Gefühl seiner eigenen persönlichen Herabwürdigung folgt wie der Schatten dem Licht? Mit welchen Augen müßten ihn die Hörer hier, in deren Mitte er, seiner selbst nicht mächtig, den Lauschenden spielt, mit welchen Augen müßten sie ihn betrachten, wenn sie Augen für ihn hätten? Bedeutet er für sie etwas Ernsthaftes, für das man mehr haben muß, als gastliche Zuvorkommenheit und menschliche Duldung? Und an der Seite Maikkas, ist er da mehr als der Planet, der die Sonne umkreist, damit sie ihm von ihrem Ueberschwange spende, damit sie ihrer Ueberfülle ledig werde und ihres Uebergewichtes stolz bewußt, da sie ihn in ihre Bahnen reißt? Wenn ihn seine Volksgenossen von Teuta jetzt so sähen, würden sie nicht mit Fingern auf ihn zeigen und höhnen: Seht, ist dieser da der eigenwillige, stolze Grege, der große Unbefriedigte, dem Teutas Herrlichkeiten zu gering? Nun zehrt er von fremder Kost und ist des Dankes voll! Seht seine Ergebenheits-Miene! Wie er in Bewunderung kniet, wie er auf fremden Wink läuft — und wahrhaftig, trägt er nicht auch fremde Kleider auf dem Leibe und vielleicht fremde Verpflichtungen in der Seele, er, der daheim Niemand verpflichtet sein wollte?
Und wie er dieser inneren Stimme aus der Heimath lauschte, brachen die Zuhörer rings um ihn in hellen Beifall aus, also daß er erschreckt auffuhr und beinahe laut rief: Was geht das Euch an? Und er versuchte, aus der dichten Gruppe herauszukommen und fortzueilen, da er doch nicht vermochte, dem Vortrage der Meisterin mit Nutzen zu folgen aus innerer Zerstreutheit und Flucht der Gedanken. Aber immer neue Zuhörer waren beigeströmt, und rückwärts standen sie Kopf an Kopf, weit in den Garten hinein. So konnte er nicht entweichen.
Wieder mühte er sich, gleich den Anderen, der Rednerin ein williges Ohr zu leihen und sein Interesse an den Faden ihres Vortrags zu knüpfen. Allein es gelang ihm nicht. Was er zu hören wähnte, dünkte ihm nur ein Spiel mit geistreichen Worten, ein glänzendes Gewebe von Behauptungen, deren Richtigkeit er nicht zu prüfen vermochte. Und für oratorische Musik allein war er diesmal nicht empfänglich. Was die Anderen elektrisirte, ließ ihn unbewegt. Die Anderen? Was gingen ihn die Anderen an?
Gestern — seine Gedanken vagabundirten schon wieder in Erinnerungs-Bildern — gestern war er in ihrem Laboratorium gewesen. Er wurde freundlich zugelassen und erhielt was er wünschte. Es wurde ihm eingeräumt, selbst zu arbeiten und Versuche anzustellen. Als er alle Stoffe und Werkzeuge an der Hand hatte, bereitete er sich seine Surros. Längst hatte ihn danach gehungert, denn er fing an, den naturalistischen Leckerbissen Nordikas abgeneigt zu werden. Seine Surros, heimlich bereitet nach seiner eigenen Erfindung, mundeten ihm zwar nicht so köstlich wie daheim, aber sie dünkten ihm doch über alle Vergleiche gut. Er bot sie den Anderen zum Kosten an, sie lehnten dankend ab. Einige probirten zwar ein wenig davon, fanden sie aber nicht nach ihrem Geschmack. Ob das Arzeneimittel für Kranke wären? fragten sie. Maikka selbst, der er einige Kugeln überreichte, leckte mit der Zungenspitze daran, um dann lächelnd zu erwidern, sie wolle sie doch lieber „zum ewigen Andenken“ aufbewahren, als sie von ihrem Magen verarbeiten lassen. Dann preßte sie schnell ihre Lippen zwischen seine Lippen und züngelte von einem Mundwinkel zum andern wie ein verliebtes Schlänglein und schwor hoch und heilig, die Natur sei doch so viel süßer und nahrhafter, als alle chemischen Künsteleien — und je mehr man von ihr genieße, desto heftiger wecke sie die Begierde und aus schöner Sättigung wachse immer schönerer Hunger . . . Die Unersättliche! Und das Ende war, wie immer, daß ihr blühender Wille ihn bis zur Trunkenheit betäubte und unterjochte. Und mochte er sich zehnmal als männlichster Mann fühlen, Siegerin blieb das Weib in närrischer Unverwüstlichkeit, und ihr Geist frohlockte und wurde des Jubels in ihrem Blute nicht müde.
Wieder ging zustimmendes Murmeln durch die Reihen. Die Sprecherin wiederholte den vom Beifall unterbrochenen Satz, so daß auch Grege die Worte vernahm: „Krakehler und Kritiker waren sie, unbotmäßige Naturen, schöpferischer Ordnung abhold, all’ ihren Gelüsten ließen sie die Zügel schießen, bis sich aus dem sozialistischen Chaos die zweite Revolution gebar, die mit einer neuen Militär-Diktatur endigte. So wurde am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mit den letzten Trümmern einer dekadenten ideologischen Weltreformkomödie blutigster Sorte aufgeräumt“.
Zwanzigstes Jahrhundert! Die uralten Geschichten, was sollten sie ihm heute? Er konnte die Begier der Nordika-Leute nicht begreifen, mit der sie diese schimmeligen Historien verschlangen. Und dieselben Leute konnten seinen Surros keinen Geschmack abgewinnen!
Während der Strom der großen Geschichtsrede an seinen Ohren weiterrauschte, gedachte er seines zweiten Besuchs bei dem Landschaftsältesten. In seiner Bewunderung des gütigen und klugen Patriarchen war ihm bei der Begrüßung die Anrede „Hoheit“ entschlüpft, wie sie in Teuta vor den Staatspersonen üblich. Und wie Abendwetterleuchten zuckte es aus des Patriarchen Augen, während sein Mund geschlossen blieb. Dann sprach er: „Hoheit! Soll das ein auszeichnender Titel sein, so merk Dir dieses, Grege: In Nordika darf sich Jeder jeden beliebigen Titel beilegen. Nun, was meinst Du, was geschieht? Keiner betitelt sich, selbstverständlich. Also erspare mir die Scham, Dir für den Titel danken zu müssen. Steck ihn wieder ein. Du bist unter den Menschen von Nordika. Uns in’s Auge zu sehen und den Mund aufzuthun, genügt. Wir kennen uns von einander und zu einander. Mehr bedarf’s nicht. Sei gegrüßt, Grege!“
Wahrhaftig, er möchte jetzt aus seiner Haut fahren. Alles rappelt und zappelt in ihm. Wie ihn die Leute umdrängen, ihm auf den Leib rücken mit ihrem heißen Dunst. Sie schwitzen vor Aufmerksamkeit. Kein Wort, keinen Ton, keinen Schnaufer wollen sie sich entwischen lassen. Sie hören mit dem Munde, mit den Augen, mit dem ganzen Leibe. Sie sind so bei der Sache, als wären sie selbst nur Theile von der Rednerin, mit ihr verwachsen, ein Herz und eine Seele, ein einziger Geist mit ihr, als sprächen sie Alle aus ihrem Munde, als hörten sie sich selbst und genössen sich selbst. Er allein ein Abgesonderter. Einer, der seine eigene Atmosphäre mit sich trug, undurchdringlich. Und sie drückten auf ihn, sie preßten ihn. Sie schnürten ihn in seine Atmosphäre ein, daß ihm die Knochen krachten, die Seele erstickte . . . Es wurde ihm schwarz vor den Augen . . . Er sank in den Boden, er war verschwunden . . . Die Seele verflogen . . .
Wohin? Wie lange?
Ein Anfall wie tiefe Ohnmacht.
Als er wieder zu sich kam, saß er in einer bequemen Ecke, auf einem niedrigen Stuhl, und er gewahrte, daß einige Frauen in seiner Nähe sich um ihn bemüht haben mußten. Sie betrachteten ihn mit mütterlich zufriedenen Augen. Und er fand Lust und Sicherheit in diesem Blick. Er athmete breit auf, wie aus einem guten Schlaf. Gesammelt und gekräftigt. Und wie er sich umsah, war Alles so bestimmt und wie er lauschte, war Alles so deutlich.
Die Schaar der Zuhörer stand noch wie vorhin, nur die Spannung war gewichen. Frei und fröhlich leuchteten die Gesichter. Und eine andere Stimme klang von der Rednertribüne. Eine helle, jugendstarke Stimme. Eines Mannes Stimme. Wie eine Glocke, die hoch hängt und doch wie aus froher Brust tönt und Widerklang in allen Seelen weckt.
Grege erhob sich, um besser zu sehen. Richtig, ein prächtiges Bild von einem Mann. Grege staunte, freudig überrascht.
— Die Besprechungen haben begonnen, belehrte ihn sein Nachbar. Es würden sich heute noch Viele zum Worte melden. Das Thema sei auch fesselnd wie kein anderes, und Jeder habe da etwas Besonderes aus eigener Auffassung beizutragen.
Und Grege folgte dem Sprecher mit wachsendem Genuß. Kein Satz entging ihm. Er glaubte niemals eine öffentliche Rede so leicht verstanden zu haben.
Manches kam drollig heraus in urwüchsiger Derbheit und wurde belacht wie ein guter Witz.
Jetzt wieder, und Grege lachte mit.
Das beirrte den Sprecher nicht, daß er in so ernster Sache Heiterkeit entfesselte. Die Heiterkeit befruchtete ihn. Sie jagte ihm die verstecktesten Gedanken heraus.
— „Und daß ich noch dieses sage. Der Krach in Europa hat, wie die Hauptrednerin schon angedeutet, viele Ursachen gehabt. So viele, daß man sie so wenig zählen kann, wie Rattenschwänze in einem dunklen Kellerloch. Darf ich noch bei einigen verweilen? Also gut. Von den auffälligsten haben wir zwar genug gehört: Machtpolitik, die sich die ganze Welt unterthan machen wollte, weil die ganze Welt ein einziger Marktplatz geworden war, wo Alles schacherte und schwindelte, und kolossale Güter, damals werthvoll, den späteren Geschlechtern gleichgiltig, wie faules Fallobst zu Haufen lagen, trotzdem gleichzeitig überall Noth herrschte. Je mehr ein Staat hatte, desto mehr wollte er, und je mehr er räuberte, desto armseliger wurde er. Was sie an erbeuteten Reichthümern heimbrachten, schuf ihnen neue Armuth, was ihre Macht zu vermehren schien, saugte ihnen die Kräfte aus. Die Magazine starrten von kostbaren Gewändern — und das Volk lief in Lumpen; die Speicher platzend voll von Nahrungsmitteln — und das Volk verhungerte; die Gewölbe vermochten das Gold nicht zu fassen — und das Volk bettelte um elende Pfennige; die Fluren wurden gepeitscht Früchte hervorzubringen, wie die Arbeiter gehetzt wurden, Waaren zu fabriziren — und für Produkte und Fabrikate waren keine Abnehmer da, denn die Spekulanten gaben nichts her, es war ihr Besitz, von dem sie sich nur gegen hohe Gegengabe trennen wollten. Und diesen Widersinn belegten sie mit den großartigsten Rechtstiteln. Das Alles saß ihnen im Kopf so fest, daß sie erst in langwierigen Revolutionen und Kriegen sich die Köpfe zerschmeißen mußten, um ein wenig heller zu werden. Das ging so zwei, drei Jahrhunderte fort. Die sozialistischen und kommunistischen Experimente zwischen einer Militärdiktatur und der anderen führten nicht zum Ziele. Die Menschen waren zu tief herabgekommen, und vom autoritären Staat konnten sie sich nicht trennen, und der Heeresdienst und der Gottesdienst fraßen weiter, denn Alles war von der Furcht durchseucht, und in ganz Europa traute sich Niemand über die Straße. Vor allen schöpferischen Phantasiemenschen hatte man eine Heidenangst. Die freien Künstler, Dichter, Zeitungsschreiber waren verhaßt. Man verfolgte sie, und wo es anging, jagte man sie fort. Strolche und Genies fanden nur Schutz, wenn sie sich einsperren ließen, das nannte man in der Rechtssprache „Nummero Sicher“. Den Strolchen bekam das gut, den Genies weniger. Philosophen wurden dem Hungertodt preisgegeben, Poeten, Maler, Musiker bei der geringsten Veranlassung wegen „groben Unfugs“ oder „Lästerung“ in harte Strafe genommen. Nur wer mit todten Stoffen zu thun hatte, wie Mechaniker und Chemiker, blieb unbehelligt. Der sozialistische Staat war wie der alte Klassenstaat gezwungen, von den schlechten Gewohnheiten der Menschen zu leben. Die Kassen blieben leer, wenn die Menschen nicht in Lasterhaftigkeiten schwelgten. Die Lebensmittelsteuer warf wenig ab, weil die Mehrzahl wenig und schlecht aß. Aber das Laster des Trunkes, des Tabakrauchens, der Ausschweifung und anderer Giftgenüsse brachte Geld in die Kasse. Dabei wurde das Volk immer nervenelender, gehirntoller, überreizter, den wahnwitzigsten Revolutionsideen geneigter und allen geistigen und leiblichen Krankheitsstoffen zugänglicher. Revolution war der Dauerzustand Europa’s geworden, Revolution in der erbärmlichsten, feigsten Form. Zuchthäuser, Irrenhäuser, Spitäler bedeckten ganz Europa. Nun kam noch das Schönste. Nachdem Amerika Ostasien sich unterworfen, drängte sich das Chinesenvolk in Millionen-Horden gegen Westen. Keine Grenzsperre half. Die Schlitzaugen und Schlenkerbeine überflutheten zunächst das südliche und mittlere Europa und pflanzten einen Riesenkaktus mitten in den schon arg verwilderten Garten der abendländischen Kultur . . . In Rom war es dem getauften Judenthum gelungen, in Nathaniel Rothschild I. einen Papst seiner Rasse auf den Stuhl Petri zu bringen. Dem klugen Pontifex glückte es, auch das Chinesenthum zur Taufe zu bewegen, und plötzlich schien der vatikanische Katholizismus eine neue Heilsmacht zu begründen, die sänftigend auf die wahnsinnig aufgeregten Geister zu wirken vermochte, wie Oel auf stürmische Wogen. Um die Gelehrten und Denker, die trotzig bei Seite standen in dem großen Zersetzungsschauspiel des europäischen Geistes, für die kirchliche Propaganda zu gewinnen, widerrief der judenchristliche Papst kraft seiner Unfehlbarkeit alle die aufrührerischen Dogmen seiner Vorgänger in der Statthalterei Christi und zuletzt seine eigene Unfehlbarkeit. Um das Maaß seines vizegöttlichen Edelmuthes gerüttelt voll zu machen, bekleidete er die berühmtesten Abkömmlinge der einst wegen arger Ketzerei verfolgten Familien mit dem Purpur, ernannte die Führer der Freigeisterei zu Ehrenkardinälen, machte einen Panizza zu seinem Geheimkämmerer und versetzte die einst berüchtigsten Häuptlinge des Antisemitismus unter die Heiligen. Doch auch das brachte keine Dauerwirkung mehr hervor. Die zwölf Judenchristenpäpste, die noch folgten, boten ihr übermenschliches Beherrschungstalent umsonst auf, der Kirche zu neuem Leben zu verhelfen und ihr einen durchgreifenden Einfluß auf das zerrüttete Europa zu verschaffen. Sie hatte ihre Rolle ausgespielt. Die Theilung der Macht mit Nebenpäpsten schwächte sie in ihrem Mittelpunkt bis zur Bewußtlosigkeit. Es gab keinerlei Halt mehr für die europäischen Völker. Der ideologische Verzweiflungstraum des letzten Fürsten des größten europäischen Mittelreichs gab das Signal zum großen Vernichtungskampf, der die neue Weltwende einleitete. Fürst Willibald XXXIII. zerbrach sein Schwert und erklärte in seinen Staaten Militärgewalt und Heeresdienst für abgeschafft und den Gottesfrieden aufgerichtet mit allen Völkern, die an den Grenzen wohnten. Ganze Stämme, die das große Verderben witterten, wanderten schleunig aus und suchten neue Wohnsitze in fernen Welttheilen, so die Bavaren, die Alemannen, die Franken vom Main und Rhein bis zur Elbe. Wie Meeresfluth in rasendem Sturm brachen von Ost und West zugleich die Völker in das Mittelreich ein, und es entspann sich ein Kampf wie die Menschheitsgeschichte keinen je gesehen hat und hoffentlich keinen mehr sehen wird . . . Schließlich waren sämmtliche Völkerschaften Europas in diesen ungeheuren Kampf verwickelt. Es war kein Kampf von Riesen, es war ein Kampf von bestialischen Zwergen, bewaffnet mit den furchtbarsten Zerstörungs-Werkzeugen des Maschinen-Weltalters. Die religiöse Drillung der Kirche, welche durch lange Jahrhunderte den Geist der Völker sich unterworfen wähnte, erwies sich nach der ethischen Seite vollständig wirkungslos. Sie hatte die Raubthier-Instinkte der Menschen nicht hinausgetrieben, sondern nur krank gemacht. Nirgends tauchte ein großer Feldherr auf, der die Massen, ineinander verbissen wie wüthende Thiere, gebändigt und zu einem festen Ziel geleitet hätte. Es folgten Schlachten ohne Entscheid, ohne Ende, bis Neunzehntel aller Kämpfenden aufgerieben waren und unter den Uebriggebliebenen das große Sterben, die „chinesische Pest“ begann. Das war Europas Untergang als einer geordneten Kulturstaatengruppe. Während inzwischen Angelland und Amerika in listiger Weise die übrigen Erdtheile unseres Planeten ihrer Herrschaft unterwarfen, verendete die herrschaftstolle alte Welt, und der grauenhafte, durch Generationen und Generationen sich hinziehende Selbstmord der europäischen Zivilisation hatte mit dem letzten Todesröcheln der Völker sein Ende erreicht. Die große Tragödie, die größte der Weltgeschichte, war ausgespielt. Mit gebrochenem Auge und zerfetzten Gliedern und ausgerissenen Eingeweiden und verschüttetem Blute starrte der Riesenleichnam zum mitleidlosen Himmel empor . . . Was auf dem europäischen Festlande an Kulturvolk noch übrig blieb, war winzig an Zahl, sammelte sich in den nächsten Jahrhunderten an den Küsten, an den Flußläufen, an den Abhängen der Gebirge und hob sich allmählich wieder unter dem Sammelnamen der Slavakos, der Frankos, der Teutaleute und so weiter aus Verwesung, Schutt und Trümmer der alten Kulturwelt zu neuem, bescheidenem Genossenschaftsdasein. Am glücklichsten war bei dieser furchtbaren Auslese im europäischen Zusammenbruch das Nordland weggekommen. Es wurde nur an den Grenzen gegen Süden von der Verheerung gestreift, und im Innern blieb es friedlich auf seine ruhige Kraft gestellt . . .“
Das war, was Grege im Verlaufe des Vortrags zu verstehen glaubte. In Teutaland hatte er die Geschichte anders gehört. Aber diese Darstellung des jungen Nordika-Sprechers ergriff ihn mächtig. Er folgte auch den übrigen Rednern, die noch das Wort nahmen, um einige Punkte in abweichender Auffassung und Beleuchtung zu zeigen. Besonders reizvoll war es ihm, wie eine frische, rothwangige Frau von niedlicher Gestalt als scharfe Kritikerin auftrat und dem Schilderer des Zusammenbruchs der europäischen Staatenwelt einige Verstöße gegen die „historisch festgelegte Wahrheit“ nachzuweisen versuchte. Doch wollte sie sich nicht weiter in jene „schauerliche Jammer-Ecke“ verkriechen, sondern aufzeigen, wie aus dem Meere von Herzeleid, in welchem die alten Völker versunken waren, gleich begrünten Inseln der neue Lebensmuth emporwuchs und die kleinen überlebenden Völker zu zweckmäßiger Ordnung ihres Daseins trieb. Gewiß, sie waren welthellsichtig geworden. Sie hatten aus der grauenvollen Katastrophe, die so ungeheuerliche Elendswurzeln wie Kapitalismus, Geldwirthschaft, Weltmarktspekulation, Konkurrenztollheit, Herrscherwahn glücklicherweise mitvernichtete, verfeinerte Organisations-Instinkte gerettet. Mit dem Verschwinden der erdrückenden Uebervölkerung war in der großen europäischen Wüste den winzigen Völkern der ruhigen Jahrhunderte der Kampf um’s Dasein zwar nicht erspart, doch hatte er viel erträglichere Formen angenommen. Und die besten Kultur-Errungenschaften lebten in vergeistigter Art als stille Erbschaft weiter. Von nun an konnten die kleinen, gesonderten Völker ihre angestammten Wesenszüge ungestört pflegen und in fester Gemeinarbeit aus dem eigenen Boden ihren Unterhalt ziehen. Aus der Bedürfnißlosigkeit erwuchs ihnen immer stärker die innere Unabhängigkeit. Sie hatten scharf Acht geben gelernt, daß die Menschenvernunft keine Sprünge wider die Natur mache. Die Herrschaftslosigkeit ließ sie selbst die wohlthätigen Regeln finden, unter welchen die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gesundheit und Schönheit am besten gedeihen und das Wohlbefinden des Einzelnen mit dem Wohlbefinden der Gesammtheit sich vereinige. Alle die alten sozialistischen, kommunistischen, anarchistischen Utopien, aus der hartköpfigen Prinzipienreiterei oder der phantastischen Schwärmerei des zweiten Jahrtausends geboren, waren für die Menschen des dritten Jahrtausends nur noch belächelte Erinnerungen, wie der reife Mensch in der Fülle seiner Lebenserfahrungen die bald heiteren, bald schlimmen Verirrungen seiner brausenden Jugendzeit belächelt. Ein stilles Hausglück ist über Europa gekommen, und auf dem Festlande hat kein Nachbar den andern zu fürchten und kein Volk sich des anderen zu schämen. Man unterhält keinen aufdringlichen, belästigenden Verkehr von Volk zu Volk, man ist sich selbst genug und wohnt doppelt vergnügt auf seinem Boden, weil man fühlt, wie von allen Seiten gesunde Lüfte hereinwehen und keine böse Gewohnheit an der Grenze siedelt.
Und dann ließ sie ihre Rede in einem munteren Loblied auf Nordika ausklingen, dem Lande des Lichts und der Lust. Damit aber Niemand sie für allzu eigenliebig halte, wolle sie die Erklärung nicht unterdrücken, daß sie auch von den ferner wohnenden Völkern, sogar vor dem Teuta-Volke, herzliche Hochachtung empfinde.
Sogar vor dem Teuta-Volke! Und mit dieser spöttischen Betonung — sogar!
Grege zuckte auf. Er empfand den Beifall, den die Zuhörer der Schlußwendung spendeten, wie einen Schlag in’s Gesicht.
„Ein schlechter Mann, der nicht der Erste sein will!“
„Ein schlechtes Volk, das nicht das Erste sein will!“
Alles was sich seit Wochen an Empörung, Verzweiflung, Sehnsucht, Hoffnung, Glücksempfinden, beleidigtem Stolz, wildem Heldentrotz in Greges Seele aufgestaut, das brach jetzt mit Ungestüm hervor und riß ihn selbst, wie von der Fluth des blutig gekränkten, übergewaltigen Ich- und Heimathsgefühles fortgewirbelt, auf die Tribüne.
Wie ein ekstatischer Seher stand er da, im heiligen Zorn erglüht, das Haupt zurückgebeugt, die Augen weit und groß, ganz Pupille, die vollen Lippen halbgeöffnet, bebend vom zurückgehaltenen Wort. Unter den zürnenden Gesten seiner nach oben ausgreifenden Arme wuchs seine Gestalt.
Es war ein Ereigniß, niemals war ein Fremder da oben gestanden, niemals hatte ein Einheimischer das Schauspiel einer solchen Erregung geboten.
Die ersten Sätze kamen stoßweise, wie aus einer stockenden Maschine, rauh und zerrissen im Ton, von einer Wucht, die sich selbst im Wege steht und über sich selbst hinaus Bahn sucht.
— Ich muß hier mitreden, liebe Leute. Ich muß. Kein Mensch in der Welt soll sagen, daß ein Teutamann geschwiegen, wenn Teuta Ungebühr geschehen. Ich bin ein Teutamann, ganz einfach, ohne Verdienst und Würdigkeit. Ich kenne mein Land, ich weiß um sein Volk so viel, als man zu wissen braucht, um keine Verachtung zu dulden. Ich sage nicht, daß das hier geschehen, ich klage Niemand an, ich empfinde nur, daß ich selbst verächtlich wäre, wenn ich nicht laut und öffentlich für mein armes Land Zeugniß ablegte. Ja, mein armes Land, weil Niemand in der Fremde die Schmerzen kennt, die wir aus Liebe zu ihm im Herzen tragen. Aus hilfloser Liebe und stummer Sehnsucht. Seltsam ist unsere Seele, und nicht immer von uns selbst begriffen. Gedrückt kam sie aus alter Weltordnung und flüchtete sich zwischen Berge und in Höhlen, und keine Neuordnung wollte ihr gelingen, also daß sie ihre Flügel zum Schwunge öffnen könnte, rauschend und jauchzend in freier Luft, Sonnenaufgängen und Heldentagen und Heldenglück entgegen. Wer den Himmel offen gefunden, segne sein Schicksal, aber er werfe keinen kränkenden Vorwurfsblick auf den, der noch, aus eigener oder fremder Schuld, am Rücken der Erde klebt . . . Hab ich genug gesagt, oder duldet Ihr noch ein Wort? Ich weiß, ich spreche Eure liebe Sprache, o meine Brüder, nur nothdürftig, und vielleicht bereite ich Euren Ohren Qual. Aber Ihr seht, daß wir uns in Teuta bemühen, im Geiste unseren Volksverwandten nahe zu bleiben. Alle aufgeklärteren Männer lernen die germanischen Hauptsprachen. Duldet Ihr noch ein Wort? Oder ist’s genug?
— Wer ist er? Ein Gast? Maikkas Freund? Weiter reden! Das Herz ist ihm voll, er spreche! tönten die Stimmen der Zuhörer durcheinander.
— Herrliches hab’ ich bei Euch geschaut, Leute von Nordika, und hohen Glückes die Fülle genossen, nach peinvoller Irrfahrt. Ihr habt mich Wege gelehrt, die mein Fuß allein nicht gefunden. Ihr habt mit Worte gesagt gleich Räthsellösungen, auf die mein eigener Verstand allein wohl noch lange nicht gekommen. Mit Blitzen habt Ihr mein Dunkel erleuchtet, mit Schönheit meine vergrabene Lust wie vom Tode erweckt. Es ist mir, als hättet Ihr mir eine neue Seele gegeben, als hätten mir die brausenden Winde, die hier über das Land wehen, aus geheimnißvollen Vorzeiten Grüße gehaucht . . . und der Väter Geist . . . ist über mich gekommen . . . Das soll nicht verschwendet sein von heut auf morgen, das will ich als kostbaren Schatz meinem Volke bringen, als Euer Gastgeschenk bei meiner Heimkehr. Nimmer sollt Ihr gering von meinem Lande denken, denn es hat keinen Undankbaren zu Euch geschickt. Unauslöschlich wird mein Dank sein und zum Segen wachsen wie ein guter Same, der tausendfältige Frucht bringt . . .
— Er ist ein Dichter! Er spricht entzückend! Er ist schön, ein Sänger und Held zugleich! Daß aus Teutaland Solches kommt? riefen die Hörerinnen.
— Nicht weiß ich, was ich Euch als Gegengabe bieten soll, denn Ihr seid reich an jeglichem Gut, und ein Mehrer Eurer Erkenntniß und Freudigkeit zu sein, das kann Keinem gelingen, der von anderen Völkern kommt, am wenigsten mir oder meinen Volksgenossen. Aber wie ich unbescheiden genug bin, hier unsere Armuth zu bezeugen, so will ich stolz genug sein, daheim Eure Ueberlegenheit zu rühmen und Eure Kraft als ein Beispiel aufrichten, daran die verborgenen Kräfte meines Volkes in’s Licht wachsen sollen, damit Eure Achtung vor dem fremden Wesen den bitteren Geschmack verliere, wenn Ihr von Teuta sprecht. Wir sind verwandten Blutes, und in verwischten Zügen lebt ein alter Zusammenhang. Wir haben heute gehört, wie wunderbar die Schicksale der Völker, wie aus den verderblichsten Heimsuchungen und schaudervollsten Niedergängen die Menschheit sich auf Zukunftspfade rettet, die ihr ein geheimnißvoller Lenker weist. Wer weiß, ob nicht auch Teutaland seinen Blutsverwandten wieder näherrückt, gereinigt von Irrthümern, gewachsen in seinen Vorzügen, ein treuer Bundesgenosse in Zeiten neuer Bedrängniß, oder, noch lieber, ein fröhlicher Theilnehmer an gemeinsam bereitetem Glück. Wenn Ihr heute an Teuta denkt, freilich, da ist’s als blicktet Ihr in eine große Finsterniß, aber ich sehe, von dieser Stelle aus, mit meinem inneren Auge, mit dem Auge der feurig und hoffnungsvoll erglühenden Seele, wie ein stiller, heißer Purpurglanz über die Finsterniß sich breitet gleich zeugender Liebe, und wie die Finsterniß unter dem Kusse liebenden Lichtes in göttlicher Umarmung empfangende Mutter wird und aus ihrem Schooße den Geist der Helle gebiert, der, eine Sonne der Zukunft, die trübe Teuta-Nacht in seligen Tag verwandelt. O, daß nichts uns störe, wenn die brünstige Liebe ihr himmlisches Zeugungswerk verrichtet, damit der Wonne des Empfangens die selige Frucht entsprieße. Ich grüße mein Teuta unter Nordikas Himmel, der mein Herz der Freude und Hoffnung erschlossen hat und meine Seele stark gemacht, das Kühnste zu wagen. Ich grüße die herrliche Welt!
So endete Greges Rede, die als düster zürnende Abwehr begonnen, wie eine Apotheose, in deren Strahlenglanz sich Alles an die Brust fliegt, überwältigt vom Gefühl, und der Vorhang sich senkt unter Umarmung und Kuß. In seiner dichterischen Phantasie hat sich das Zeitliche zum Ewigen erhoben, der Einzelfall zum typischen Ereigniß, das Persönlichkeits-Lustgefühl zum jauchzenden Lustschrei der lebens- und glückeshungrigen Gattung.
Jubelnd umringten ihn die Zuhörer. Allen hatte er aus der Seele gesprochen, Jungen und Alten, Männern und Weibern.
Den ganzen Abend sprach man von nichts Anderem. Die Improvisation des Teutamannes galt Allen für wichtiger, als der historische Probe-Vortrag der neuen Meisterin.
Maikka bedauerte, Grege nicht gehört zu haben.
In jener Mischung von Herzlichkeit und Spott, von Sympathie und Hohn, wie sie ihr in den letzten Tagen gegen ihren Gastfreund meist über die Lippe floß, sagte sie zu ihm: — Du sprichst wie ein Gott, das weiß ich. Aber um in Teuta gründliche Politik zu machen, braucht man einen Teufel.
— Einen . . .?
— Ja, Grege. Einen Teufel. Etwa in der Art Eures wackeren . . . nein, das ist Staatsgeheimniß. Mach’ Dich gefaßt. Jetzt aber dies: Geh’ in die Bibliothek und studire den ganzen Zarathustra. Sein Kapitel vom Staate wollen wir zusammen lesen, wenn Du Geduld hast. Dann wollen wir auch den blöden Legendenkram, den Ihr Euch in Teuta um Zarathustra-Nietzischki habt wachsen lassen, in alle Winde jagen. Dergleichen Fabeleien sind wahrhaftig für eine Kinderstube zu dumm. Ein Volk mit solcher göttlich kritiklosen Leichtgläubigkeit ist übrigens für jeden Umsturz reif — wenn der rechte Umstürzer kommt.
— Der rechte Teufel, in Deiner Lesart.
— Jawohl, Grege. Oder der rechte Zarathustra. Das ist das Nämliche.
— Zarathustras Wiedergeburt also, oder Wiederkehr.
Grege meinte das doppelsinnig. Unwillkürlich, ohne Ueberlegung. Und ein Schauder flackerte heiß über sein Gehirn. Und vor seinen Augen brannte eine jähe Röthe.
— Zarathustras Wiederkehr! kam es noch einmal wie lallend von seinen Lippen.
Plötzlich schrie er Maikka an: — Dein Staatsgeheimniß, ich will Dein Staatsgeheimniß wissen! Wie lange foppst Du mich noch, Weib?
Maikka, nach einem langen, bohrenden Blick, vor dem Grege schier erblaßte und das Feuer seiner Augen zurückwich, wie vor dem Druck einer stärkeren Flamme: — Frag’ mir’s ab, Teufel! Kannst Du nur Blinde bannen? Zwinge die Sehenden! Thu’ mir Gewalt an!
Inzwischen hatten in Teuta die Vorbereitungen zum großen Nationalfeste und was damit zusammenhing — und was hing bei den herrschenden Einrichtungen nicht damit zusammen? — ihren Fortgang genommen.
Ihren Fortgang!
Ihren Fortgang so, wie seit Generationen und mit besonderem Glanze unter dem glorreichen Regimente Aos und seiner Hoheits-Genossen alle Staatsangelegenheiten ihn zu nehmen pflegten. Hinten herum. In Schlangenlinien. Im Zickzack. Im plötzlichen Schuß mit plötzlichem Zurückweichen und Stehenbleiben: Was war’s — was nun? In Auf- und Abschwüngen. Im Taumelgang. Rechter Hand, linker Hand, Alles vertauscht. Im Arabeskenstil. Kurz: urteutahaft.
Der kleine, geschmeidige, zähe Soundso nannte das boshaft „Die Politik des altneuen Kurses.“
Das Gaukelspiel mit dem todten und wieder lebendig gewordenen Minus hat ihn übrigens im hohen Rath zum berühmtesten, einflußreichsten und gefürchtetsten Mann gemacht. Es war sein gelungenster Meisterstreich.
Sein eigener Meister Titschi ist darüber vor Neid todtkrank geworden.
Bim war nahe daran, seinen Verstand zu verlieren, für den genialen Entdecker ein starkes Stück.
Ao entschloß sich im ersten Schreck zu einer Entfettungskur, und zwar zu einer radikalen, mit heimlicher Auslandsreise, nach dem damals in der bewohnten Welt berühmtesten Entfettungskurort Isaria auf den Ruinen und zwischen den Scherbenbergen einer uralten Kunst- und Wunderstadt im Süden. Die Ruinen stammten von dreihundertfünfundsechzig Tempeln und einem Nothtempel für den dreihundertsechsundsechzigsten Tag in den Schaltjahren, und die hohen und weitläufigen, von amerikanischen Alterthumsforschern bereits labyrinthartig durchschnittenen Scherbenberge entstammten den unzerstörbaren Resten von Milliarden von litergroßen Gefäßen, in welchen in der deutsch-christlichen Vorzeit die Trankopfer dargebracht wurden. Dargebracht einer Gottheit, die seit der Zerstörung ihrer Heiligthümer nur noch ein sagenhaftes Dasein in einigen wenig beachteten Literatur-Fragmenten, genannt das „Kommersbuch“, Abtheilung „Kneiplieder“, fristete. Die Hüter des heiligen Wortschatzes in Teuta ließen jedoch diese Literatur-Fragmente um ihrer aufrührerischen Tendenz willen niemals in die Hände der Jugend gelangen. Hoheit Minus las in seinen schlaflosen Nächten manchmal in diesen bedenklichen Blättern und mußte diesen gelehrten Genuß regelmäßig mit einem argen Kopfweh am nächsten Morgen büßen. Auch wenn ihn unerwiderte Liebe gepeinigt, flüchtete er, um Schlimmes mit Schlimmerem zu kuriren, gern zu seinem „Kommersbuch“. Einige sprachliche Formen, die keine Philologie mehr zu erklären vermochte, wie „Krambambuli“, „Jupeidi, jupeida“, und die wohl vor anderthalbtausend Jahren der heiligen Tempel-Liturgie der Oberpriester angehörten, fesselten ihn oft dermaßen, daß er Herz- und Hüftweh darüber vergaß.
Der große Minus! Nun war er wirklich todt, und nur dem außerordentlichen Diplomaten-Geist des Soundso war’s gelungen, ihn als sprechende Spukgestalt im hohen Rath vorzuführen und damit das ganze Kollegium zu revolutioniren.
Die große Noth der Regierenden in ihrer unzulänglichen Weisheit und der dämonische Ehrgeiz des Strebers hatten Soundso auf einen Gedanken gebracht, der zuvor von keinem regierenden Teuta-Gehirn gedacht worden war. Und wie jeder geniale Gedanke, war er so naheliegend und so verblüffend einfach: Man ersetzt die abgängigen Kapazitäten durch elektromagnetische Automaten — und der Staat ist gerettet.
Und in einem Staate, wo die Feinmechanik und alle technischen Täuschungs-Fertigkeiten auf der höchsten Blüthenstufe angelangt sind, ist es doch fürwahr keine Hexerei, einen Automaten zu hexen, der zu Allem zu gebrauchen ist, zum Staatsmann wie zum Komödianten?
Zuerst führte Soundso seinen leichenblassen, Geistergrüße flüsternden Minus-Automaten vor. Die Wirkung ließ, wie erklärlich, nichts zu wünschen übrig. Hierauf ließ er den Mann in der Kraft und Würde seines Oberlehrerthums fabriziren, wie ihn das Volk verehrte, und mit jenen Redensarten im Leibe, vor denen sich das Volk stumm verneigt wie vor Orakeln. Der Phonograph hatte eine Menge solcher Staatssprüche aufbewahrt, zu beliebigem Gebrauche, je nach der augenblicklichen Nothdurft: „Wissen ist Macht, Bildung macht frei“, oder „Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben“, oder „Ich bin müde, über Sklaven zu herrschen, der Geringste im Lande steht meinem Herzen so hoch und so nahe, wie mein leiblicher Bruder“, oder „Wer dem Interesse des Staates zuwiderhandelt, der verdient zerschmettert zu werden“, oder „Wem’s im Teutareiche nicht behagt, der blase den Staub von seinen Pantoffeln, und es wird ihm wohler werden“.
Gewiß, die Hoheiten, nachdem sie sich von der ersten Verblüffung erholt hatten, fanden am Werke Soundsos Allerlei auszusetzen. Kaspe, der Oberrichter, fühlte ein Frösteln von der Brustwarze bis in den kleinen Zehennagel: Bestand nicht die Gefahr, daß man mit dieser fürchterlichen Technik schließlich die gesammte Jurisprudenz und Rechtspflege automatisire, so daß der ganze Richterstand, soweit er sich noch auf lebendiges Blut, Haut und Knochen berufen kann, um seine Existenz gebracht wäre? Lauter billige, unbestechliche, unfehlbare Automaten auf den Richterstühlen, wäre das nicht das Ende aller Herrlichkeit?
Der kluge Kaspe piepste natürlich diese intellektuellen Angstprodukte nicht heraus, sondern bemerkte bloß fachmännisch: — Das will Alles noch wohlerwogen und an unserem überlieferten Rechtsbestande gemessen sein. Jedenfalls würde diese Neuerung die Erlassung von bezüglichen Verordnungen und Schutzmaßregeln erheischen.
— Wirklich erheischen, Hoheit Oberrichter? fragte Hoheit Oberpriester Ao, der von der Idee der Entfettungskur rasch zurückgekommen war. Wir halten doch die ganze Geschichte vor dem Volke geheim, absolut geheim. Wir sagen nicht: Das ist der Automat Minus, das ist — gestatte das Beispiel — der Automat Oberrichter. Bewahre! Für das Volk giebt’s überhaupt keine Automaten. Das Volk muß glauben oder sich geberden und verhalten, als glaube es: Der Minus ist der Minus, der Oberrichter ist der Oberrichter, Hoheit ist Hoheit! Amen. Was dahinter steckt, das behalten wir für uns allein, meine hohen Freunde.
Soundso hörte zu und lächelte, bescheiden in seiner Größe, groß in seiner Bescheidenheit. Alle Finessen der Schauspielerei waren in seiner Gewalt.
Titschi abschließend: — Den Minus also hätten wir, unser hohes Kollegium ist vollzählig, und unserem gemeinsamen Auftreten bei der Nationalfeierlichkeit steht nichts im Wege. Automat Minus wird beim Zarathustrafest seine Schuldigkeit thun, ohne jede Störung, wir können uns auf seine amtsgemäße Haltung verlassen?
— Ja, Hoheiten, dafür verbürge ich mich! sprach Soundso sich verneigend.
Titschi: — Fehlt uns nur Grege. Der unmenschliche Uebermensch, der uns den Streich gespielt, sich nicht erwischen zu lassen.
Soundso: — Den schaffe ich zur Stelle, den fabrizire ich auch. Ich habe ihn bereits in Arbeit gegeben. Der Original-Grege mag uns gewogen bleiben. Die Kopie übertrifft ihn.
Allen Hoheiten entrang sich ein Ausruf des Entzückens. Doch nahmen Kaspe und Bim den ihrigen wieder zurück. Das sei zu viel des Glückes auf einmal. Ob man dem Volke wirklich eine solche umfangreiche Täuschung bieten könne, ohne Gefahr der Entdeckung?
Soundso tippte auf eine Feder im Minus-Mechanismus und sofort öffnete der Automat den Mund: — Volk? Sprecht mir nicht vom Volke! Heerdenvieh läßt sich Alles bieten. Dixi.
Alle waren blaß vor Schreck. Darüber, daß Minus unerwartet sprach mit geisterhafter Plötzlichkeit. Und noch mehr darüber, was er sprach. Wenn bei der öffentlichen Feierlichkeit die Maschine die Bosheit beginge, etwas Ungehöriges zu sagen, etwas zu verlautbaren, was nicht für die Ohren des Volkes wäre?
Soundso beruhigte die Aengstlichen. Er tippte den Kunstmenschen leise an.
Automat Minus nickte: — Alles für das Volk und durch das Volk, es giebt nichts Selbstherrliches außer dem Volke, die Herrschenden sind nichts ohne seinen Willen, und mit seinem Willen nicht mehr als des Staates erste Diener.
— Das läßt, sich hören, Hoheit Minus. Brav gesprochen, Maschine Oberlehrer. Das ist ein Automat, der seinem Herrschberufe Ehre macht, spottete vergnügt der Oberdiplomat.
Ao und Bim betrachteten das künstliche Ding immerhin noch mit geheimem Grauen.
Der Oberpriester machte kein Hehl daraus: — Hoheiten, wenn ich nicht meinen weichen, warmen Bauch mit den Verdauungsbewegungen unter mir fühlte, ich wüßte nicht, bin ich ein Automat oder ein Mensch. Die Täuschung ist unheimlich. Man muß sich zusammennehmen, den Glauben an seine eigene Lebendigkeit nicht zu verlieren. Soundso könnte ein furchtbares Spiel mit uns treiben, wenn er bei unsern Lebzeiten unsere automatischen Doppelgänger anfertigen ließe und gegen uns selbst in’s Feld führte.
Bim warf sich in die Brust: — Ich entdecke, also bin ich. Die mechanische Puppe wird das niemals von sich sagen können. Damit ist meine Priorität und Identität festgestellt.
Soundso lächelte verschmitzt: — Vielleicht gelingt es uns auch noch, Automaten mit Bim’schem Entdeckergenie anzufertigen.
Der Oberphysikus empfand nach einigem Besinnen diese Aeußerung als dreiste Ueberhebung. Aber er wollte nicht weiter darauf eingehen. Er addirte sie einstweilen zu den übrigen Frechheiten, die sich dieser Junge mit dem listigen Armensündergesicht schon gegen ihn herausgenommen.
Ao: — Du sagst „uns“, Soundso, „vielleicht gelingt es uns“. Wer sind diese „uns“? Hast Du sie sicher in Deiner klugen Macht, daß sie uns nicht verrathen?
— Sehr zeitgemäße Frage, piepste der Oberrichter. Soeben habe ich sie im Stillen bei mir selbst erwogen.
Soundso kam diese Frage gelegen, er hatte sie längst erwartet.
— Meine Hoheiten werden erstaunt sein, wenn ich bekenne, daß meine Automatenfabrik vollkommen meinem Willen unterthan ist, obwohl sie in der Frauenstadt liegt.
Alle wie aus einem Munde: — In der Frauenstadt?
— Auf mein Wort. Und hierin ist auch der Grund, warum ich von den Spähern selbst in „geschlossener Zeit“ und ohne „amtlichen Auftrag“ öfters in der Frauenstadt beobachtet worden bin. Ich habe zu der Denunziation geschwiegen. Ich weiß, daß man geneigt war, meinen heimlichen Aufenthalt in der Frauenstadt zu meinen Ungunsten zu deuten und meine Führungsliste damit zu belasten. Ich wußte, daß die Zeit meine Rechtfertigung bringen wird.
— Mit männlicher Kunstfertigkeit war das nicht zu machen? inquirirte Kaspe.
— Nicht mit dieser Vollkommenheit. Da gehören die geübtesten und feinsten Frauenfinger dazu, solche Automaten herzustellen. Ich habe lange gesucht und geprobt. Und ich konnte mich nur mit den fähigsten und verschwiegensten Frauen einlassen.
Titschi fand, daß ihn sein Schüler in allen Listen übertreffe.
— Wir können uns darauf verlassen, begann Ao wieder, wenn wir die Zarathustrafeier um weitere vierzehn Tage verschieben, daß Du uns den Automaten Grege zur Stelle bringst?
— Unfehlbar. Meine Frauen haben Grege schon in Arbeit. Er reist sichtlich seiner Brauchbarkeit entgegen.
— Herrlich! Nie fühlte ich mich einem Manne mehr verpflichtet.
Soundso schloß die Augen, beschämt von so viel Anerkennung. Im Innern sah er sich in einem unaufhaltsamen Siegeszug, umjubelt von ganz Teuta, durch den einmüthigen Willen des dankbaren Volkes mit dem Purpur des ersten Vertreters des Staates geschmückt. O dieser impotente hohe Rath, er wird zermalmt werden von den Rossen seines Triumphes, zu Brei zerquetscht von den Rädern seines Siegeswagens. Ja . . . ja, gleich jetzt den Augenblick genützt und den Hoheiten eine neue Stichkarte in’s Gesicht geworfen. Das Unternehmen kann nicht mißlingen, und selbst wenn’s mißlänge . . . Es soweit gefördert zu haben, war eine unvergleichliche That. Los!
— Noch eine Kleinigkeit, die ich im Interesse unseres staatlichen Ansehens in die Hand zu nehmen mir erlaubte, wünsche ich vor den Hoheiten nicht länger geheim zu halten. Ich bin der Tänzerin Jala auf der Spur. Ja, ich darf sagen, ich habe die Person bereits, wenn auch erst sozusagen am Ende eines langen Fangseiles. Bis zum Zarathustrafest hoffe ich sie dem Festordner abliefern zu können.
Kaspe kniff die Lippen zusammen: Er und seine Späher übertrumpft! Wie war das möglich? Was vermag denn dieser junge Mensch noch Alles? Mit welchen Mächten steht er im geheimen Bunde? Seine Verdienste fangen an verdächtig zu werden.
Die reine Teufelei!
Aber der Oberrichter stimmte mit den Anderen laut in die Bewunderung ein und wünschte dem Handstreich des jungen Diplomaten glänzendes Gelingen.
Ao dachte für sich: Gut, daß Minus hinüber ist. Mit Jalas Rückkehr hätte der sündhafte Tanz auf’s Neue begonnen.
— Bevor wir, meine Freunde vom hohen Rath, in unseren heutigen Berathungen weiterschreiten, erübrigt uns noch, unserem ausgezeichneten Soundso für seine sinnreichen Leistungen den Dank im Namen Teutas auszudrücken.
Die Hoheiten stimmen zu, mehr oder weniger gequält von allerlei „Erwägungen“.
Automat Minus legt die Hand auf die Brust und nickt gleichfalls, während sich seine Augenlider gefühlvoll senken.
— Die Aeltesten vom Festbund haben die Inspektionsreise durch die Feststraßen ausgeführt und haben sich zum Bericht angemeldet. Wir haben vorher noch Anderes zu erledigen. Die Leute können warten. Daß wir sie in unser Automaten-Geheimniß nicht einweihen, erachte ich für selbstverständlich. Ist einer von Euch, Hoheiten, anderer Meinung?
Automat Minus, Hoheit, öffnete den Mund: — Je Weniger um das Heil des Staates wissen, desto besser wird es behütet.
Der Ton klang ein wenig sarkastisch.
Die hohen Räthe lächelten. Einfach zauberhaft, wie Soundso sein Geschöpf dirigirte.
Ao legte nun verschiedene Fragen nach der Ausstattung des Festprogramms vor. Er wünsche, daß es diesmal besonders reich und glänzend gestaltet werde. Nachdem für den hohen Rath all’ die Schrecknisse und Aengste der jüngsten Zeit so glücklich überwunden sind, soll das Volk für die Verschiebung durch um so belustigendere Spenden entschädigt werden.
Oberrichter Kaspe, Hoheit, nahm das Wort.
Er pries sich, in der angenehmen Lage zu sein, eine Abtheilung des Festzuges, worin die „politisch-sozial verdächtigen Schattirungen“ vorgeführt und der Verhöhnung preisgegeben würden, diesmal großartig ausstatten zu können. Zahlreiche Verdächtige seien ihm von seinen Spähern notirt. Ein gewisser Geist der Empörung schien im letzten Jahre lebhafter um sich gegriffen und mehr Opfer als sonst gefordert zu haben: — Das kommt uns natürlich sehr erwünscht. Wir werden ein Exempel statuiren, des hohen Festes würdig.
— Ja, aber . . . fragte Ao ängstlich, ein wirklicher „Geist der Empörung“?
— Bei der Jugend, allerdings, Hoheit Oberpriester. Natürlich in jenen Schranken, der zwar keine Erschütterung des Staates befürchten, aber immerhin eine Erweiterung unserer Machtbefugnisse und eine Verstärkung unseres Druckes auf die Köpfe zweckmäßig erscheinen läßt.
— Ach so. Ich dachte schon . . .
— Nein, Ao, davon ist keine Rede. Aber ich werde mir eine größere Anzahl Burschen herausfangen, die ihre Zunge in politischen Diskussionen allzu frei spazieren ließen.
— Was? Man diskutirt in Teuta? Die Jungen diskutiren?
— Hoheit Oberpriester, beruhige Dich. An sich ist die Sache ja furchtbar harmlos. Aber um ein Exempel zu statuiren . . . Man weiß ja, wie wohlthätig das wirkt. Ernster ist folgender Fall: Im neunundneunzigsten Bezirk haben Etliche die Werkzeuge zerstört, also sich am Gemeineigenthum vergriffen. Eigenthum verdient unter allen Umständen höheren Schutz, als die persönliche Freiheit, denn es ist todte Sache und kann sich nicht wehren, erstens, und zweitens, das Eigenthum drückt die Macht des Staates aus. Wer sich im Geringsten am Eigenthum vergreift, vergreift sich am Staate.
— Sehr richtig, Oberrichter Kaspe.
— Sodann lasse ich eine Anzahl Individuen vorführen, welche die Heiligkeit unserer sittlichen Ordnung verletzt haben. Man hat sie zu unangemessener Zeit an den Thoren gesehen, welche zur Frauenstadt führen. Die Thore waren zwar verschlossen, allein die Absicht war nicht zu leugnen, unserer staatlich patentirten Sittlichkeit ein Bein zu stellen oder auch zwei.
— Strafe muß sein, lächelte Soundso.
Ao, beglückt: — Es ist mit angenehm, in so schwierigen Fragen, die Menschenkenntniß erfordern, unsern Freund Soundso unsere Ueberzeugung theilen zu sehen.
Kaspe fuhr mit wichtiger Stimme fort: — Nachdem unser gelehrter Minus als Automat den Tod überwunden hat und in den Augen des Volkes würdig weiterlebt, muß dafür gesorgt werden, daß sich seinem Rufe keine Kränkung nahe. Es sind mir einige Leute bezeichnet worden, die ihm Ehrenrühriges hinsichtlich seiner zärtlichen Neigungen nachzusagen wagten. Das ist schwere Beamtenbeleidigung. Wir können die Frevler mit um so ruhigerem Gewissen in Strafe nehmen, als ein . . . Automat gewiß von exemplarischer Keuschheit ist. Ich werde also eine Anzahl solcher Verleumder in den Zug einstellen lassen.
Ao: — Von Rechtswegen. Ich bewundere Deine feinsinnige Gesetzesanwendung, Oberrichter Kaspe. Was man unserem Minus bei seiner ersten Lebenszeit mit einigem Schein von Berechtigung in Bezug auf seine erotischen Bedürfnisse nachsagen konnte, braucht er sich als Automat nicht gefallen zu lassen.
Nach einer kleinen Pause, die er mit Drücken und Streichen seines glucksenden Kehlkopfes ausfüllte, begann er wieder: — Noch eine ziemlich heikle Sache wünschte ich bei dieser Gelegenheit von den Hoheiten entschieden, es geht jetzt in Einem hin. Unsere Staatsreligion ist ja, unter uns gesagt, Religionslosigkeit und unser Gottesglaube Gottlosigkeit. Ist es nun weise, frage ich, und liegt es im Interesse des Staates . . . hm, hm . . . eine milde Praxis gegen diejenigen zu beobachten, welche vom „hohen Mysterium“, vom „großen Unbekannten“, von der Formel „Gott und sein Volk“ nicht mit dem herkömmlichen Respekte reden? Den Purpur der Gläubigkeit vielleicht gar besudeln?
— Bewahre! Keine milde Praxis! Nur das nicht! Streng bis zum Aeußersten! Religion, Mysterium, hoho, die Fundamente aller Autorität, nur daran nicht rühren lassen bei den heutigen Zeitläuften.
— Gut, Hoheiten, ich verstehe. Ich werde in Eurem Sinne das Weitere veranlassen.
Oberrichter Kaspe lehnte sich befriedigt zurück. Er hat seines verantwortungsvollen Amtes mit Eifer gewaltet. Er hat sich um Teutas Rechtspflege verdient gemacht und den Glanz des Nationalfestes durch seine juridische Strenge erhöhen helfen.
Nun beugte sich der Oberdiplomat Titschi vor.
— Es sei mir gestattet, unsern Minus in seiner automatischen Amtsführung zu unterstützen. Es ist mir bekannt geworden, daß in einigen Bezirken verbotene Worte ausgesprochen worden sind. Man wird keine Beweise von mir verlangen, wenn ich mich auf die Zeugschaft unseres ausgezeichneten Soundso berufe. „Probleme“, „Entwicklung“ und ähnliche vom heiligen Wortschatze verpönte Begriffe sind von jungen Leuten, zweifellos in agitatorischer Absicht, wiederholt auf öffentlichen Plätzen, wo mindestens zwei Personen versammelt waren, ausgesprochen worden. Unbetheiligte Hörer haben Aergerniß daran genommen. Es liegt also ein qualifizirtes Verbrechen am heiligen Wortschatze vor. Ich werde die Verbrecher unserem Oberrichter zur Abwandlung überweisen.
Auch Bim konnte mit einigen interessanten Missethätern aufwarten. Im physikalischen Institut ist er hinter Schreckliches gekommen. Gut befähigte Schüler haben statt Bims wissenschaftliche Entdeckungen auszubauen und ihm mit eigenen Entdeckungen unter die Arme zu greifen, sich mit der Muse in ekstatische Umarmungen gestürzt, die nicht ohne strafwürdige Folgen geblieben sind. Drei Hefte, frisch mit Liedern beschrieben, zum Theil sogar selbst illustrirt, wurden bereits konfiszirt. Eins enthielt ein aufreizendes Liebeslied mit dem verrückten Titel „An eine blinde Seherin“, ein anderes eine hochverrätherische Spott-Hymne an den Teuta-Staat und eine Ode „Auf einen sprossenden Bart“. Mit dem vorschriftsmäßigen Rasiren schienen es diese „Dichter“, die mit ihren Schmierereien sich über die offizielle Staats-Weisheit erhaben dünken, nichts weniger als genau zu nehmen. Hierin ist eine Herabwürdigung staatlicher Einrichtungen zu erkennen. Wenn die Hoheiten es verlangen, würde er gern eine Anzahl straffälliger Barthaare als Beweisstücke vorlegen. Also bitte er wegen Bartwuchses und Dichterei die von ihm Bezeichneten als Rebellen zu bestrafen.
Kaspe und Titschi nickten beifällig. Soundso rieb sich schmunzelnd sein glattgeschabtes Kinn.
Ein ungewöhnlicher Straf-Wetteifer hatte die Hoheiten ergriffen.
— Je mehr, desto besser! gähnte Ao. Die schwarzen Festzugs-Abtheilungen werden dem Teutavolke mehr Vergnügen bereiten, als die purpurnen. Das liegt in der menschlichen Natur.
Hierauf wurde die Liste der Auszuzeichnenden durchgesprochen.
Soundso befürwortete namentlich weibliche Verdienste. Alle seine Freundinnen hatten sich um den Staat verdient gemacht. Seine Vorschläge wurden mit Begeisterung angenommen.
— Ob wir nicht doch des Guten zuviel gethan? fragte am Schlusse Oberphysikus Bim zweifelnd.
Ao, der langen Verhandlung müde, versprach noch einmal eine Revisions-Sitzung anzuberaumen.
Die Aeltesten des Festbundes wurden zur Berichterstattung vorgerufen. Sie traten mit verdrossenen Gesichtern ein, vom langen Warten.
Automat Minus wurde zur Begrüßung auf sie losgelassen.
Die guten Leute merkten nichts. Die Maschine arbeitete tadellos.
Soundso versicherte dem Oberpriester noch einmal in’s Ohr, daß der Automat Grege womöglich noch besser ausfallen werde . . . Und Jala werde das Fest verschönen . . . leibhaftig!
Maikka lud Grege ein, mit ihr in’s Vorrathshaus zu kommen, damit sie sich ausrüsteten für die Reise.
Grege betrachtete seine Gefährtin mit ruhig ernstem Blick und ließ sie schalten.
— Wir wandern in rauheres Land, zu kernfesten, wetterharten Leuten, da müssen wir uns entsprechend kleiden, daß wir der Natur trotzen und den Menschen gefallen. Wir wollen nicht als unerfahrene Fremdlinge erscheinen.
Sie legte Grege eine kurze lederne Kniehose vor, einen langen hellen Rock, dazu eine rothe, pelzbesetzte Mütze und einen Tuchmantel von grauer Farbe.
— Daß ich’s nicht vergesse, auch ein großes Gürtelmesser mußt Du Dir an die Seite stecken. Von Gestalt wie ein alter Nordlandskönig, darfst Du in der Kleidung schon ein wenig wie ein heutiger Bauer aus dem Gebirge aussehen.
Für sich wählte sie gleichfalls einen grauen Tuchmantel. Ihre übrige Tracht sollte aus einem weitärmeligen weißen Hemd, einem rothen Mieder und einem kurzen schwarzen Rock bestehen.
Den Kopf behielt sie unbedeckt, die dicken blonden Flechten ringsum wie einen schimmernden Rahmen mit goldenen Nadeln festgesteckt.
Grege hatte sich Surros bereitet und eine volle Tasche davon bereit gelegt. Maikka hingegen versah sich mit derberer Landkost, mit einer Schichte dünner Fladbrode und einem großen Stück gepökelten und gedörrten Rindfleisches, dazu nahm sie noch gedörrte Birnschnitze und Konserven.
— Soll das Alles verzehrt werden? fragte Grege.
— Je nachdem. Mit Schaugerichten wollen wir uns nicht belasten. Aber wir müssen für alle Fälle mit Nahrung versehen sein. Deine Surros flößen mir, wie Du weißt, wenig Vertrauen ein. Du hast nur Hunger, ich jedoch Appetit wie ein Wolf. Wir kommen in Meer- und Gletscherluft. Du hast die Eisprobe zu bestehen, Grege.
— Ich bin auf Alles gefaßt. Nichts schreckt mich mehr. Führe mich nur bald in das bewußte Asyl. Ich habe lange genug Glückliche gesehen. Nun will ich auch wieder das Unglück grüßen.
— Nur nicht pathetisch, Grege!
— Deine Warnung ist gut gemeint, aber überflüssig. Ich werde Niemand mehr mit zu viel Worten zur Last sein.
— Nun thust Du gekränkt, Grege!
— Nein, Maikka. Du wirst mich nicht mehr schwach finden. Ich bin Dir tief verpflichtet.
— Ich bin ja zufrieden mit Dir. Sei doch gut. Du hast die Feuerprobe bestanden, nun werden wir zusammen doch auch die Eisprobe bestehen, wie?
Sie sagte das mit einem nixenhaften Lächeln auf den Lippen.
Und sie strich ihm zärtlich über den Bart, dessen dichter Wuchs über die Wangen herab, an der Oberlippe und am Kinn seidenweich und von gleichmäßig schöner goldblonder Farbe war. Eine wollüstige Kühle entströmte ihrer Hand.
— Dein Vollbart wird prächtig. Ich wünschte mir ihn nur ein wenig rauher und struppiger. So ein recht zottiger Knebelbart, daß ich d’ran baumeln könnte, wird Dir wohl nicht wachsen. Gieb’ mal Acht, was wir im Gebirge für Zottelbären-Männer entdecken werden. Für mich. Für Dich natürlich die entsprechende Weiblichkeit, gemüthstief, harmlos, still zutraulich . . .
— Du willst mich reizen, Maikka. Wann fahren wir ab?
— In einer Stunde.
— Und wir kutschiren?
— Bis zur nächsten Gäodrom-Station. Dort besteigen wir ein Luftschiff bis in die Berge. Und das Uebrige machen wir zu Fuß, bis uns das Meer entgegenrauscht, oder auch nicht. Wir werden stilles Wetter haben, frisches Wetter. So freue Dich doch, daß ich Dir Beförderung in allen Farben biete! Wahrhaftig, ich streiche Dir das Leben wie Honig um den Mund.
In aller Heimlichkeit packte sie auch Greges alten Pilgermantel mit ein, denn es könnte sie die Lust anwandeln, ihren Gast zu abenteuerlichen Bergbesteigungen zu verführen, und wer weiß, wie da das Wetter wird, und wieviel Kleider es kostet. Sie lachte spitzbübisch in sich hinein. Grege wird Augen machen, wenn er den alten verschlissenen Freund, den sturmerprobten, wieder entdeckt. Und in den Mantel wickelte sie das in Teuta verbotene Zarathustra-Fragment: „Der Purpur-Staat oder vom neuen Götzen“, ein dünnes Heftchen. Das wollte sie, falls Unwetter sie in eine Berghöhle bannte, mit Grege lesen, umrauscht vom Flügelschlag der Steinadler. Und noch ein schmächtiges uraltes Büchlein packte sie dazu, die „Sprüche von Jesus Sirach“, darin sie die Stelle mit einem dicken rothen Strich umrahmte: „Errette den, dem Gewalt geschieht, von dem, der ihm Unrecht thut und sei unerschrocken, wenn Du urtheilen sollst. Bekenne das Recht frei! Diene einem Narren nicht in seiner Sache und sieh seine Gewalt nicht an, sondern vertheidige die Wahrheit bis in den Tod!“
Die Stunde war um. Und nun sausten sie auf einem hochräderigen Zweisitz dahin. Maikka sprach zunächst mehr mit ihrem Pferd, als mit ihrem Reisegenossen. Es hatte einen zierlichen, doch kräftigen Leib von gelber Farbe, einen großen, klugen Kopf, eine aufrechtstehende, kurzgehaltene weiße Mähne.
— Vorwärts, Tema, mach’ Deinem Stammbaum Ehre! Du kannst Dir so viel auf Deinen Stammbaum einbilden, wie der stumme Mann, der hier bei mir sitzt. Du bist aus edlem Hause.
Grege überhörte die Anspielung. Er saß in Gedanken versunken. Vergangene Nacht lüpfte Maikka ihr Staatsgeheimniß, ohne ihm das letzte Wort zu sagen. Es genügte auch so, ihm wichtige Zusammenhänge aufzudecken und seinem Rückkehrsplan nach Teuta neue Grundlagen zu geben und stärkere Ziele seinen nächsten Unternehmungen in der Heimath. Bestimmte Persönlichkeiten tauchten jetzt aus dem Dunkel des Teutastaates auf und rückten ihm drohend in’s Gesichtsfeld: Minus, Titschi, Soundso. Alle drei hatte er seither nur als Oberfläche genommen und ihre starren Wurzeln und Triebe in der Tiefe übersehen. Mit allen Dreien würde er zunächst den Kampf aufzunehmen haben. Minus ist der Gefährlichste, als der böse Geist von Teuta, unter dessen Fuchtel die Entwicklung der Jugend sich schmerzlich windet. Minus, den er für einen pessimistischen Querkopf mit allerlei verkehrten Launen gehalten, ist ein wilder Egoist, dem im Staate nichts heilig ist, als seine Herrschlust, ein ironischer Volksverächter. Titschi fischt im Trüben und hat sich den Soundso herangezogen zum Handlanger, der Alles wagt. Alle spielen nur mit dem Staate und nützen die ihnen vom verblendeten Volke eingeräumte Machtstellung für ihre Sonderzwecke. Sie spucken ganz Teuta auf den Kopf. Soundso hat überdies ein Netz von Verräthereien um sich gesponnen. Er muß mit eiserner Hand gefaßt und zerdrückt werden. Ohne Rücksicht. Alles was in Nordika und bei den Angelos über die inneren Zustände des Teutastaates ausgestreut worden ist, weist auf ihn zurück. Maikka hat ihm das geradeheraus bestätigt. Soundso unterhält mit Nachbarstaaten Nachrichtendienst. Sein Ehrgeiz ist ungemessen. Er will eine große Rolle spielen um jeden Preis. Er arbeitet mit den anfechtbarsten Mitteln auf eine erste Stellung im Staate los. Er hält’s mit den Alten und mit den Jungen. Die Frauen hat er aufrührerisch gemacht. Hier gilt’s den ersten Streich, um ihn aus dem öffentlichen Vertrauen heraus zu werfen . . . Bei den Angelos soll er persönlich eine Zeitlang gewesen sein, auch bei den Frankos, in geheimer Kundschaft seines Meisters Titschi . . . Maikkas Aussage klang in diesem Punkte ziemlich bestimmt . . . Und der Werthvolle Hinweis Maikkas: Dieses ganze lichtscheue politische Gesindel, das im hohen Rathe von Teuta nistet, könne durch einen einzigen eisernen Charakter von kühner Offenheit hinweggefegt werden. Das ist ein Fingerzeig des Schicksals, der jedes Programm aufwiegt. Wie eine Windsbraut hineinfahren, zur rechten Stunde. Aber welches ist die rechte Stunde? Jede Stunde, die sich die Windsbraut selbst schafft . . .
— Grege, bist Du taub? Wie oft muß ich Dich anrufen? Unser Pferdchen Tema möchte wissen, wie’s bei Euch um die Vaterschaft steht, in Teuta?
— Wie das? fuhr Grege aus seinem Grübeln auf. Ich bitte um Entschuldigung, Maikka. Ich dachte gerade . . .
— Das thun wir auch, Tema und ich. Drum fragen wir Dich. Auf wen lauten bei Euch die Geschlechtsregister?
— Auf die Mutter selbstverständlich. Der Vater ist gleichgiltig.
— Das will sagen?
— Genau das, daß der Vater gleichgiltig ist. Kinder stehen auf Mutterecht. Zur bestimmten Zeit ziehen bestimmte Jahrgänge von Männern durch bestimmte Thore — und kehren wieder zurück. Alles Uebrige bleibt den Müttern, wieder bis zu einer bestimmten Zeit.
— Genug, Grege. Tema schüttelt die Ohren und wehrt mit dem Schwanze ab, mag nichts weiter hören. Schau’ Dir die Gegend an. Ehemaliges Sumpfland. Und jetzt! Die blühenden Gärten sind uns nicht über die Grenze geflogen. Schau’ Dir auch die Leute an. Siehst Du einen einzigen häßlichen Menschen?
— Keinen.
— Alles ist, wie’s gemacht wird, Land und Leute. Ich gestatte Dir die Nutzanwendung dieses Satzes. Hott, Tema!
Dann fuhr Maikka fort: — Deine Bemerkung neulich über die schwebende Bevölkerungszahl war zutreffend und gut formulirt. Jedes gesunde Volk muß sein Wachsthum in der Hand behalten. Seine Vermehrung an Ort und Stelle darf über die bestimmte Zahl nicht hinaus. Die Tollheit der verkrachten Staaten des Maschinen-Weltalters war, daß sie sich in’s Blaue hinein vermehrten. Daß sie sich eine Uebervölkerung schufen. Als ob sich mit den überschüssigen Massen auf dem heimischen Boden etwas anderes erzeugen ließe, als Bedrängniß, Elend, Unsinn, Katastrophen. Und dann kamen ihre verdrehten Sozialpolitiker mit ihren einseitigen Systemen und wollten da das rabiat gewordene Leben hineinpressen. Wie diese durch die militärische Drillwuth verdummten Menschen durch ihre ewig fehlgeschlagenen Experimente sich nicht belehren ließen, daß man mit Massen wohl Kriege führen, aber keine sozialen Probleme lösen könne, ist zum Lachen. Was die unglücklichen Volksmassen, die Vielzuvielen, noch mehr durcheinander brachte, war die sogenannte Presse oder die Zeitungen, von denen täglich ungeheure Ballen verschluckt wurden. Der Aermste las täglich seine Zeitung, sie gehörte zu seiner Mahlzeit, und den Allerärmsten ersetzte sie oft die Mahlzeit. Das war eine ungeheure Verirrung, ein Unsegen, der nicht wenig den Krach der europäischen Zivilisation beschleunigen half. Die Presse nannte sich selbst eine Großmacht, auch wenn nichts groß an ihr war, als ihr Format und ihr gemeiner Unsinn und ihre Lügenhaftigkeit. Sie wirkte wie ein schleichendes Gift. Die wahnbethörten Massen glaubten an die Zeitungen wie an eine Gottheit, obwohl sie sich alle untereinander widersprachen, sich stets in den Haaren lagen und sich der schimpflichsten Dinge bezichtigten. Von diesen Zuständen können wir uns heute kaum eine Vorstellung machen. Die politische Presse ist auch in Europa in dem großen Massengrab der Kulturkadaver mitverscharrt worden. Aber so lange sie da war, sorgte sie dafür, daß sie den Massen unentbehrlich blieb. Die Massen, die Volksmassen! Es ist unheimlich daran zu denken. Millionenweise hockten sie auf dem engsten Raum beieinander . . . Fünf bis zehn Millionen oft in einer einzigen Stadt. Gräßlich. Dazu hatten sie noch die zwei Grundthorheiten: Humanität und Internationalismus. Ihre Humanität bestand darin, daß sie alles Unsinnige, Kranke, Verdorbene, Gefährliche mit ausgesuchter Schonung und einem fabelhaften Aufwand von Mitteln behandelten, während sie den ehrlichen, gesunden Leuten Luft und Licht und Freiheit nahmen. Und was hatten sie von ihrem Internationalismus? Daß sie sich gegenseitig in die Töpfe guckten, gegenseitig beargwöhnten, gegenseitig belogen, betrogen, bekriegten, sich gegenseitig neue Bedürfnisse und Verlegenheiten anzüchteten, statt daß sie sich in Ruhe ließen, in vornehmer Entfernung blieben und jedes Volk für sich daheim auf eigenem Grund sich begnügte und sein Leben nach seiner eigenen Art organisirte. Durch den Internationalismus ist das örtlich Dumme und Verfehlte über die ganze Erde verbreitet worden, und was als örtlicher Seuchenheerd hätte isolirt bleiben sollen, ist als Weltgift zu allen Völkern geflossen. So mußte aus der Menschheit, die nur in einzelnen reingehaltenen Völkern und Völkergruppen mit genau regulirtem Wachsthum gedeihen kann, ein wüster Mischmasch werden, ein wühlender Krater — der dann in der bekannten Weise eruptiren und Alles zum Bersten bringen mußte. Ist das Alles richtig betont worden in dem neulichen Probevortrag meiner Mitarbeiterin?
— Ich glaube wohl, Maikka. Doch hättest Du die Sache noch besser gemacht.
— Nun setze ich den Fall, Ihr würdet in Teuta den bekannten Skandal abstellen und Eure Menschenproduktion, die mir jetzt schon zu üppig scheint, ließe sich nicht gleich in der wünschenswerthen Weise eindämmen, was würdest Du thun, um den Ueberschuß an Nachwuchs zweckmäßig zu verwenden?
— Ich würde eine Auswanderung nach Jahrgängen vorschlagen und die verödeten Theile des alten Deutschreiches besiedeln. Wo einst die Alamanen und Bavaren wohnten, gäbe es gewiß große Stücke Landes zu kolonisiren.
— Und wie würdest Du diese Jahrgänge Deines verhockten Höhlenvolkes fortbringen? Wenn sie nicht freiwillig gingen?
— Ich würde eine Bundesgenossin erwarten, die sie hinaustriebe.
— Die wäre?
— Die Noth, die bittere, unbezwingliche Noth, Maikka, die leibliche und vielleicht noch mehr die geistige Noth.
Windschnell flog Tema mit dem leichten Gefährt auf der musterhaft gepflegten Fahrstraße dahin. Links und rechts Gehöfte mit thätigen Menschen. Keinerlei Neugier schien sie zu plagen. Kaum, daß einmal ein älteres Weib auf die Straße trat, dem Gefährt nachzublicken.
Die Luft war leicht bewegt, der Himmel verschleiert.
Nun ging es eine längere Strecke sanft bergan. Tema wählte sich die gemächlichste Gangart.
— Es fällt mir auf, Maikka, daß die Hausthüren nicht gegen die Straße gehen, alle gegen den Hof- oder Gartenraum.
Sie antwortete mit ihrer alten Munterkeit: — Weil die Menschen sonst zu viel schwatzen, und die Weisheit liegt nicht auf der Straße.
— Aber sie kutschirt zuweilen vorüber, versuchte Grege mit Spott.
Maikka drückte ihm rasch die Zügel in die Hand: — Flink, kutschire Du, dann stimmt’s.
Grege stellte sich ungeschickt, Tema merkte sofort den Regierungswechsel und machte keinen Schritt mehr.
Maikka lachte über seine Unbeholfenheit: — Wo hast Du seither Deine Augen gehabt? Solche Dinge sieht man sich doch im Nu ab. Achtung, so, zwischen dem vierten und kleinen Finger den Riemen durchziehen — der kleine ist zu schwach? — also zwischen dem dritten und vierten, und den Daumen so legen, so. Und nun die Ellbogen einwärts an den Leib, die Beine nicht auseinander, Alles in Fühlung, Alles in festem Schluß, ein einziger Kraftkomplex, keine Zerstreuung. Arme ruhig, im Handgelenk sitzt der Witz . . . Und das will ein Staatenlenker sein, ein geborener. Halt, halt, mach’ mir das Thier nicht kopfscheu, Zügel jetzt ganz locker, Du greifst ja zu, als hättest Du eine abgetriebene Schindmähre vorgespannt, nicht ein edles Roß, das eine edle Leitung gewohnt ist. Hör’ mal, Grege, Tema verbittet sich dergleichen robuste Eingriffe in ihre eigene Intelligenz. Sie ist nur willfährig in der Illusion, daß der Mensch auf dem Bock in seinen Fähigkeiten wenigstens nicht unter ihr stehe. Raubst Du ihr diese Illusion, dann macht sie in ihrem Jugendfeuer mit dem Fuhrwerk und seinem Beherrscher kurzen Prozeß.
— Die Noth lehrt kutschiren, Maikka.
— Umgekehrt ist auch gefahren, Grege. Die Noth zwingt das Thier, sich einen Kutscher gefallen zu lassen, der das Kutschiren nicht gelernt hat. Bis es über die Noth Herr wird und den Kutscher mitsammt seiner Kutsche über den Haufen wirft. Die Geschichte hat schon Manchem nicht bloß den Kutscherthron, sondern das Leben gekostet.
— Ist’s so recht, Maikka?
— Betrachte Temas Verhalten, und Du wirst die Antwort wissen. Das gute, vernünftige Thier! Es nimmt einen Teutamann an, in der Hoffnung noch einen erträglichen Kutscher aus ihm zu machen, damit er ein besseres Fortkommen in der Welt finde! Alles wendet sich zu Deinem Heil!
— Die Noth, die Noth, wie ich vorhin sagte, Maikka. Der die Noth erleidet und der sie beobachtet und dem sie zu Herzen geht, Alle ziehen schließlich am gleichen Strang und müssen sich verständigen.
— Das ist sehr staatsmännisch gesprochen. In der alten Zeit nannte man das, weißt Du wie? Opportunitäts-Politik. Der Karren gerieth trotzdem immer tiefer in den Dreck.
Grege runzelte die Stirn. Sein Blick hatte etwas eigenthümlich Starres, Fanatisches.
— Dreck freilich, wo der überlegene Geist fehlt, den nur das Schicksal sendet oder vorenthält. Die Noth zwingt auch das Schicksal, Maikka.
— Das ist mir zu mystisch, Grege. Es giebt eine Form der Noth, da lacht sich auch das Schicksal in’s Fäustchen. Hunger! Gemeiner Hunger! Das Schicksal hat unter der alten Weltordnung jährlich Millionen Menschen verhungern lassen, kein Geist hat die armen Hungertodes-Kandidaten errettet. Freilich, damals kannte man Deine Surros noch nicht, das Surrogat aller Surrogate.
— Dein Hohn, Maikka, ist schlechte Kost. Ich fürchte, er bleibt mir im Magen liegen.
— Laß ihn liegen und schaff’ Dir einen neuen Magen an.
— Ich will mir’s merken, Maikka.
— Und merk’ Dir gleich noch dies dazu: Ihr Teutaleute habt Euch an Surrogaten verdorben. In Allem. Nehmt wieder natürliche, starke Kost, so wächst Euch ein natürlicher, starker Geist. Schafft Euch eine neue Küche und neue Köche an. Dann habt Ihr das Schicksal in Eurer Gewalt. Braucht keine slovakische Surrogat-Politik mehr. Das Geheimniß aller Umwälzungen und Neuordnungen liegt in der Küche. Nun, ich würde Euch Surrogat-Menschen einen Küchenzettel schreiben, der sich gewaschen hat: Rohes essen, Quellwasser trinken, und an den hohen Festtagen Blut! . . . Gieb mir die Zügel, Grege, die arme Tema dauert mich . . .
Die Landschaft jenseits der Höhe wurde einförmiger. Der Pflanzenwuchs kümmerlicher. Von Bäumen waren nur noch Birken, Eschen, Erlen und Ebereschen zu sehen. Die Straße führte über moorigen Grund. Selten war ein Gehöft zu entdecken. Hie und da ein Mensch in eigenthümlich langem, grauem Gewand, das den Leib sackartig umhüllte, kaum zu unterscheiden, ob Mann oder Weib.
— Du fragst nicht, Grege?
— Was soll ich fragen? Frage Du für mich. Du hast mich verwöhnt . . . oder verdorben. Du nimmst mir Alles ab. Teufelsweib!
Maikka lachte: — So nimm doch wieder Alles zurück! Du bist die Macht, die durch Herkommen herrschende Macht, mußt mich also bekämpfen. Als Opposition bin ich von Haus aus der schwächere Theil, ich will die Herrschaft erst erringen. Wo hast Du jemals eine Macht gesehen, die sich schwach macht, sich selbst schwach macht . . . hü, Tema! . . . um die Opposition mit gleichen Waffen zu bekämpfen? Du mußt mit Deiner altererbten Gewalt die Opposition aufreiben! . . . Hübsch auf dem gebahnten Wege bleiben, Tema, sonst führst Du die Opposition in den Morast! Frage, Grege, frag’!
Greges Stirnfalte grub sich tiefer. Der fanatische Zug verstärkte sich.
— In Teufelsnamen, Weib, in welche schlimme Gegend führst Du mich?
— Recht so, Grege, die Frage hat wenigstens Lokalfarbe. Das ist die christliche Gegend. Und die wollte ich Dir mit Absicht zeigen. Sie ist interessant genug. Hier haust die letzte christliche Sekte von Nordika, vielleicht von Europa. Und daß wir hier überhaupt fahren und athmen können, ohne Gefahr für unsere Gesundheit, ist ihr Verdienst. Bevor sich die Christen hier niederließen, war das ein tödtliches Fiebersumpfland. Ihre Aufopferung, ihr Fleiß brachten es auf den heutigen Stand. In hundert Jahren werden wohl hier auch Gärten blühen und Kornfelder wogen und Fruchthaine die Landschaft beleben. Diese Christen nehmen ihren Beruf mit jenem himmlischen Ernst, der an jeden Buchstaben des Evangeliums glaubt. Sie glauben an das Jenseits und bereiten sich darauf vor, wie auf ihre wahre Heimath. Von der Erde und den Menschen begehren sie nichts, als Duldung und die Erlaubniß, sich ihnen nützlich zu erweisen. Sie pflegen die kranke Erde und die kranken Menschen und trösten die Mühseligen und Beladenen, die hilfesuchend zu ihnen kommen. Sie selbst drängen sich Niemand auf.
— Die Mühseligen und Beladenen in Nordika? fragte Grege erstaunt, mit warmer Antheilnahme.
— Du vergißt doch nicht das Ziel unserer Reise, Grege? Gerade die Mühseligen und Beladenen sind es, zu denen wir wollen, nicht wahr? Zu den armen Blinden, Taubstummen, Blöden, draußen im Asyl am Fjord. Nun ja, das Asyl ist Christenwerk. Sie haben es erbaut und bestreiten seine Unterhaltung. Das ist die einzige öffentliche Thätigkeit dieser letzten christlichen Sekte in unserer Volksgemeinschaft. In ganz Europa giebt es meines Wissens kein offizielles, kirchlich organisirtes Christenthum mehr. Diese letzten Christen leben unter uns vollkommen frei, ohne jede andere Organisation als ihre unermüdliche Arbeit. Außer durch ihr Leben der Nächstenliebe versuchen sie keinerlei Propaganda. Nur den Mühseligen und Beladenen verkündigen sie das Evangelium, nur den ohne Verschulden Armen. Und wenn diese das Evangelium annehmen und wieder zur Gesundheit kommen, so setzen sie das christliche Leben und die Arbeit der Barmherzigkeit an Anderen fort — oder auch nicht, ganz wie es ihnen das Herz eingiebt.
Grege fragte nachdenklich: — Sind das nun geborene Unglückliche oder erst unglücklich Gewordene, die wir im Asyle finden werden?
Maikka erklärte sich die seltsame Frage aus dem überraschenden Eindruck, den die christianisirte Gegend auf Grege’s Gemüth machte, und antwortete treuherzig: — Nein, das sind keine geborenen Unglücklichen. Nordika ist so wenig grausam wie irgend ein anderes zivilisirtes freies Land. Wem die Natur gleich bei der Geburt das Unglück angethan hat, dem wird die traurige Last des Weiterlebens nicht auferlegt. Sobald die Unabwendbarkeit des Unglücks feststeht, wird Vorsorge getroffen, daß die Natur ihr mißglücktes Geschöpf wieder zurücknimmt. Kein Mensch kann wollen, daß einem anderen Menschen die Erde ein Jammerthal sei, von der Geburt an, ein langes Leben hindurch. Wenn sich die Starken mit den Schwachen, die Gesunden mit den Kranken, die Vollsinnigen mit den Blödsinnigen, die Sehenden mit den Blinden ihr Leben lang herumschleppen wollten, würde da nicht jeder höhere Zweck der Menschheit vereitelt?
— Die Sehenden mit den Blinden ihr Leben lang . . . gewiß, Maikka. Aber das Christenwerk, wahrhaftig, da muß man Ehrfurcht haben. Es liegt wie ein unverlöschlicher Himmelsglanz . . .
— Ich verstehe Dich, Grege. Wie späte Abendröthe liegt’s auf dieser jahrtausendalten christlichen Tradition. Wie wehmüthige Poesie. Man kann es manchmal nachfühlen in gewissen seltenen Stimmungen. Dann begreift man auch die einstigen Massenwirkungen der Gläubigkeit, wie ganze Völker sich mit der Poesie des Verscheidens gesättigt, wie sie die evangelische Tradition, selbst in dogmatischer Verunstaltung, in das innerste Mark eingesogen, wie sie mit weltfremder Sehnsucht ihre Nerven, mit Jenseits-Visionen ihre Träume erfüllt haben. Es war erhaben und schauerlich zugleich, wie jede Massenwirkung. Aber wäre die Welt jemals licht, froh und sinnvoll geworden, wenn der kirchliche Bann nicht von ihr gewichen wäre? Grabes-Poesie, Jenseits-Poesie, Menschenopfer ohne Zahl wurden ihr gebracht, daß sie gespenstisch blühe. Und siehe, die Gespenster sind doch überwunden.
— Poesie, ja . . . Poesie, lallte Grege, wie mit schwerem Kopf.
— Brr! rief Maikka. Nein, nichts mehr davon. Das Leben selbst Poesie, das volle, heiße, gegenwärtige Leben! Grege, Grege, was sinnst Du? . . . Es giebt keinen Gespenster-Gott und Grege ist sein Prophet! Hü, Tema!
— Du spottest schon wieder, unverwüstlicher Spottvogel!
— Sprich, Grege, geht Dir in Nordika an lebendig gelebter Poesie etwas ab? Ist Nordika nicht ein Idyll zwischen Erd’ und Himmel?
— Ja, ja, wie man’s nimmt . . . ein Idyll . . .
— Nun ja, bei uns ist das Leben ein Idyll, bei den Angelos ein Epos, bei den Teutaleuten, na, Grege?
— Ein Drama.
— Richtig, Teutamann, ein düsteres Drama mit Satyrspiel wie bei den klassischen Alten. Sieh nur zu, daß das Satyrspiel nicht am Anfang kommt . . . Tema, hü! Nun werden wir’s ja bald haben, jenseits des Hügels ist die Gäodrom-Station. Dann hinein in alle Lüfte!
Grege hob den Kopf hoch mit suchendem, erinnerungsvollem Blick.
— Sing mir ein Lied! Ein lustig Lied, Mann! Tema hört das Singen gern, es trabt sich leichter beim Singen. Im Namen Tema’s bitt’ ich Dich. Tirilire uns eine fidele Teuta-Weise! Pfeife!
Ein finsteres Seitwärtsblicken war die Antwort.
— Verzeih’, Grege, ich hab Dich überschätzt. So juble wenigstens. Schrei Hojoho! Wir sind aus dem christlichen Armesünderland heraus, aus der Niederung der evangelischen Barmherzigkeit. Bergan, Höhenluft, Höhenlicht, die Herzen auf, die Welt ist so schön!
Grege jubelte nicht und schrie nicht. Starr und kalt saß er da.
Maikka hingegen schrie und jubelte und sang und pfiff durcheinander und fand dabei noch Zeit zu dem Gedanken, daß der Mann an ihrer Seite doch eigentlich ein unheilbar pessimistisch durchseuchtes Individuum, ein waschechtes Teuta-Subjekt sei. Ein Mondkalb. Ein unausgetragener Stier. Ein Wasserkopf. Ein dreifacher Uhu. Am besten, man sperrte ihn in den Asyl-Käfig am Fjord. Zur Erheiterung der Unglücklichen. Hü! Den Glücklichen bereitet er doch nur Mißbehagen. Dieser schwarze Teutaklex in der goldenen Nordika-Sonne . . . Diese moderige Mumie im Garten der Lust . . .
Und sie lachte und sang in den höchsten Tönen und stieß den Takt mit dem Ellbogen in Grege’s Seite . . . Und um ihn recht empfindlich zu treffen, improvisirte sie ein Spottlied auf den Hunger.
Eben wollte ihr Grege den Mund zuhalten, und wenn das zu ihrer Beschwichtigung nicht genügte, sie vom Sitze herunterwerfen, als der Wagen um die Ecke eines jungen Wäldchens bog und vor dem Stationshause hielt. Das ist ja kein Weib, das ist ein Berserker . . .
— Angekommen! rief sie, warf dem Pferde die Zügel auf den Rücken und sprang herab. Sie reckte und dehnte sich und sah plötzlich wieder ganz manierlich aus.
Ein hübsch gewachsener Jüngling kam ihr grüßend entgegen.
— Mein Sohn Ole, Gast Grege . . . Wie lebst Du hier? . . . Ist ein Gäodrom bereit? . . . In einer halben Stunde? . . . Das paßt uns. Packe unseren Reisekram ein, ich will mein Pferd versorgen . . . Du kommst nicht mit, Ole? . . . Schade. Uebermorgen sind wir wieder hier . . . Du giebst uns wenigstens einen verlässigen Fahrer mit? . . . Abgemacht . . . Das Wetter ist nicht sonderlich, ich weiß, Ole . . . Aber warum ist mein Gast nicht einen Monat früher gekommen, zu den „weißen Nächten“? . . . Ach, Ole, Du glaubst nicht, diese Teutaleute kommen überall zu spät . . . Es ist mir eine große Freude, daß Du so stramm geworden bist, ich bin stolz auf Dich, Ole . . . Der Alte läßt Dich auch grüßen. Auf Wiedersehen! . . . Großmutter Ingeborg? . . . Natürlich, sie ist lustig wie immer. Auf Wiedersehen! Gefällt Dir mein Gast? Er ist ein drollig lieber Mensch . . . Wiedersehen!
Die Fahrt begann mit einem kräftigen Imbiß. Maikka hieb mit blitzenden Zähnen in ihre Fladbrote ein, die sie mit duftigen Konserven belegt hatte. Grege fand gleichfalls Geschmack an diesen Broten. Die Luftgondel strich nicht hoch. Zu sehen war vorerst nichts sonderlich Bemerkenswerthes. Die fernen Berge waren wolkenverhüllt. In der nächsten Landschaft reihten sich Gehöfte, Blockhäuser und Sommerbauten zu niedlichen Ortschaften. Viehherden mit glänzenden Kugeln an den Hörnerspitzen, gleich Leuchtkäferchen im dunklen Grün, sandten ab und zu einen Laut von der Erde herauf. Die Luft hielt sich feierlich still.
Der Imbiß war zu Ende. Maikka schüttelte die Brotkrumen auf die Erde hinab. Einem Flug Elstern, der in der Nähe des Gäodroms unten vorübersauste, warf sie Reste von gedörrtem Fleische zu.
— Kennst Du diese Vögel, Grege? Man heißt sie hier Gertrudsvögel. In einigen Gegenden stehen sie in hoher Verehrung. Magst Du die Geschichte hören, die man sich von ihrer Erschaffung erzählt?
Gern mochte er sie hören. Die Erzählung wird ihm wie Musik die Ohren schließen, daß seine Gedanken desto ungestörter in die eigene Seele tauchen können wie in einen Ozean wildwogendender Empfindungen und dann wieder ordnend darüber schweben wie der Schöpfergeist über dem Chaos.
Und es beliebte Maikka, recht wie eine Märchentante zu erzählen, während die Gondel ruhigen Kurs hielt.
— Die Elster war in uralter Zeit ein Weib, welches einmal von Odin beim Teigkneten überrascht wurde. Sie erkannte aber den Gott nicht, da er wie ein armer, sterblicher Wanderer gekleidet war. Um Odins willen, gieb mir ein wenig zu essen, ich komme weit her über die Felder, redete der Gott sie an. Gertrud, so hieß das Weib, kniff ein Stückchen von dem Teige ab. Und als sie es formend im Backtroge hin- und herrollte, wuchs es zusehends und ward bald so groß, daß es den ganzen Trog füllte. Nein, rief sie, das ist zuviel für Dich. Und sie legte das so wunderbar groß gewordene Stückchen bei Seite und kniff ein noch kleineres Stückchen ab, als das erste war. Aber auch dieses wuchs und füllte den Trog. Und so ein drittes und viertes. Je mehr Stücke sie bei Seite schaffte, desto mehr wuchs ihre Habgier und ihres Herzens Härtigkeit. Im Stillen dachte sie: Wenn der Bettler erst fort ist, so theile ich meinen ganzen übrigen Teig in lauter winzige Stückchen und knete die größten Brode daraus. Ein solches Wunder kehrt nicht leicht wieder. Und laut sagte sie zu dem Wanderer: Mach’ nur, daß Du fortkommst, ich kann Dir nichts geben, mein Haus ist selber arm, möge Dir Odin gnädig sein. Nun geh’! Da erzürnte der Gott und öffnete ihr die Augen. Und als sie erkannte, wem sie das Brod verweigert hatte, fiel sie auf die Kniee und flehte um Vergebung. Aber der Gott sprach: Der Ueberfluß hat Dein Herz verhärtet und ist Dir zum Unsegen geworden. Jetzt sollst Du arm werden, auf daß Dir die Armuth zur Besserung gereiche. Zwischen Baum und Borke sollst Du Deine Nahrung suchen und im Troge wird Dir kein Brod mehr wachsen. Da umklammerte das Weib die Füße des Gottes und netzte sie mit Thränen. Und der Gott sprach: Wenn Deine Reue aufrichtig ist, will ich die Strafe von Dir nehmen, sobald Dein ganzer Leib sich in Trauer kleidet. Dann wirst Du auch gelernt haben, hinfort die Gottesgabe recht zu brauchen. Gertrud floh vor dem Angesichte Gottes und ward in eine Elster verwandelt, und alsobald bedeckte sich ihr Leib mit schwarzem Gefieder, da ihre Trauer schon begonnen hatte. Nur die Federn am Bauche und an den Flügeln waren noch weiß. Wie sie aber älter wurde, wurden auch sie dunkler, bis sie von schwärzlicher Farbe waren. Wenn sie dereinst ganz schwarz sind, dann hat Gertrud genug gebüßt und ihre Strafe wird aufgehoben. Bis dahin steht der Gertrudsvogel unter dem Schutze des strafenden und verzeihenden Gottes, und Niemand thut ihm ein Leid an. Das ist die schöne Geschichte von der Erschaffung der Elster, und wer sie richtig hört, dem rührt sie das Herz und bewahrt seine Seele vor Habsucht . . . Ist Dein Herz gerührt, Grege?
Er nickte mit stummem Lächeln.
— Nun ist die Reihe an Dir. Erzähl’ uns ein Märchen. Sieh, wie sich der Himmel umschattet!
Grege blickte lauschend auf. Eine feine Röthe stieg ihm in die Stirn.
— Wohlan, an jenem unvergeßlichen Tage war’s. Das jüngste Gericht war vorüber. Ein schweres Stück Arbeit. Es hatte vom ersten Hahnenschrei in der Frühe bis zum Abend und tief in die Nacht gedauert. Mit starren Sternen stand die Mitternacht über dem Thal Josaphat, und der Weltenrichter saß noch auf seinem Stuhle, unbeweglich, mit den schweren Händen auf den Knieen, den Blick geradeaus in die Unendlichkeit. Von unten kam kein Laut, die Erde war wie ausgestorben. Alles war vollbracht. Die Seligen im Himmel und die Verdammten in der Hölle. Außer ihnen nirgends mehr eine lebendige Menschenseele. Der Weltenrichter erwog, ob er wirklich Alles recht gemacht, ob er kein Versehen begangen und Alles nun in Ewigkeit so bleiben solle, wie er’s entschieden. Er lauschte seinen eigenen Gedanken und spähte, ob sie kein Echo weckten. So scharf er auch seine Ohren spannte, er vernahm nichts als den verhallenden Jubel im Himmel, denn die Seligen schliefen nach Mitternacht allmählich ein, ermüdet von dem übergroßen Glück, und mit dem verhallenden Jubel vernahm er zugleich das Jammergeheul aus der Hölle, das von Stunde zu Stunde markerschütternder und gräßlicher anschwoll und den Himmel umbrüllte und den ganzen Weltraum erfüllte, denn die Verdammten konnten sich in ihr entsetzliches Schicksal nicht finden und nie mehr ein Auge schließen. Der Weltenrichter vermochte sich von seinem Stuhl nicht zu erheben, aus Angst, durch seine Bewegung die Einen in ihrem Schlafe zu stören, die Anderen in ihrem wachenden Elend noch rasender zu machen. Und er sehnte den Morgen herbei und den ersten Hahnenschrei und dachte nicht daran, daß es hinfort keinen Morgen und keinen Hahnenschrei mehr geben könne und die Mitternacht mit starren Sternen stillstehen müsse über dem Thal Josaphat. Denn das Ende war ja da und Alles entschieden, unwiderruflich, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Da der Himmel mit seinem Glück, dort die Hölle mit ihrem Unglück — und dazwischen das leere Nichts, unabänderlich. Wie also kein Morgen dämmerte und kein Hahnenschrei das Frühroth ankündigte, so lange der Weltenrichter auch wartete, erkannte er plötzlich, daß er selbst sich um jeden Wechsel gebracht und ihm nichts mehr zu schauen und zu hören bliebe, als das Himmelreich mit seinem Jubelschwall und das Höllenreich mit seinem Jammergeheul; Engelsreigen und Teufelstänze. Und er seufzte und beklagte seinen Eifer, der diese strenge Ordnung geschaffen und alle Ueberraschungen und alle Phantasie auf ewig vernichtet hatte. Und wenn er’s nun recht bedachte, so war er ein einsamer Gott geworden, dem nichts Neues mehr passiren konnte, und mit dem Gefühl des Ewignämlichen, Phantasielosen kam ihm das Bewußtsein, daß seine eigene Jugend verschwunden sei und er sich nun auf ein stilles thatenloses Alter einrichten müsse. Und da schauderte der Gott vor sich als seinem eigenen Weltenrichter, sein pedantisch peinliches Gesetz hatte ihm diesen Streich gespielt. Dieser Stuhl mußte nun sein Thron bleiben immerdar. Und in schwere Trauer versank der Gott und seine alte Erdensehnsucht ergriff ihn immer brünstiger, also daß seine Wimpern zuckten und Thränen seinem Auge entquollen. Unbeweglich stand über ihm die Mitternacht mit starren Sternen und unter ihm die entvölkerte Erde mit dem Thale Josaphat, wie Vorwurf und Gewissensbiß . . . Siehe da, in freier Luft, nicht vom entschlummerten Himmel und nicht von der ruhelos tobenden Hölle her, nahte sich sanft schwebend eine Gondel aus weiter Ferne, näher und näher, bis sie fast sein Angesicht berührte, und sie ließ sich zu seinen Füßen nieder. Zwei Menschen entstiegen dem lustigen Fahrzeug: ein lichtes, lachend süßes Weib und ein Mann . . . Sprachlos war der Gott bei ihrem Anblick, er mußte sich erst fassen, so überraschend war das Ereigniß. In frohem Erstaunen rief er: Wie seid Ihr denn entkommen? Wißt Ihr nicht, das schreckliche jüngste Gericht, sagt doch, sagt doch! . . . Wir haben uns auf einer Lustfahrt verspätet, vergieb uns! lautete ihre Antwort. Ja, Menschen, Menschen! rief er glückselig, und immer wieder: Menschen, Menschen! . . . Wahrhaftig, keine Engel und keine Teufel, keine Heiligen und keine Verdammten, nur Menschen! Und Entzücken erfaßte den Ewigen und er rief: Ach, Menschen, wie lebte der Gott ohne Euch! Schafft mir mein Menschenreich auf Erden wieder! . . . Und er fand kein Wort zu sagen, wie ergriffen er war und wie sehr ihm das lichte, lachend süße Weib gefiel. Da erschien an der Seite des Mannes plötzlich ein zweites Weib, wie ein Schemen, geisterhaft düster, daß selbst der Gott erschrak. Mit geschlossenen Augen stand es da, die Lippen dünn und farblos, gramvoll die Züge . . . Was willst Du? fragte der Gott. Da blieb es stumm und auch die Augen öffneten sich nicht . . . Mann, welches von den Zweien ist Dein Weib? fragte der Gott. Da blickte der Mann mit Augen, ganz Seele und verzehrende Kraft der Sehnsucht, auf das lichte, lachend süße Weib — und reichte der stummen, bleichen Gestalt die Hand, erst zögernd, dann fest, daß es wie erwachendes Leben sie durchströmte und ihre Augen weit sich öffneten wie Sterne, die aus dem Dunkel tauchen, und er schritt mit ihr aus der Mitternacht dem neuen Erdenmorgen entgegen. Das andere Weib aber zog der Gott zu sich empor und nahm es an seine Brust: Du sollst bei mir bleiben und mit Deinem süßen Lachen, Deinem wundervollen Menschenlachen Alles übertönen, den feierlichen Jubel des Himmels und den Jammerlärm der Hölle, daß ich mich doppelt der Erde erfreue, ich, Dein seliger Gott, und Heil erblühe dem neuen Geschlecht . . . Und also entschwand lachend der Gott mit dem lachend süßen Weib in die purpurne Finsterniß der Unendlichkeit. Wie Rosenzauber wob sich das Frühroth über die Erde.
— Grege, Grege! rief Maikka in tiefer Bewegung.
Unaussprechliches klang aus diesem Ruf. Und mehr als der Ruf, sagten ihre Thränen, die ihr in großen Tropfen über die Wange rollten.
Der Erzähler saß starr und stark, wie Einer, dem die schwerste Ueberwindung gelungen, ohne Siegerfreude. Das schied den Menschen vom Gott.
Maikka streckte ihm ihre Hand hin: — Bitte Deinen Gott, daß er zuvor mein Herz von Dir wende. Sonst könnte er meines Lachens niemals froh werden, in alle Ewigkeit nicht. Sein jüngster Tag wäre nicht sein letzter Irrthum gewesen . . . Bitte ihn . . . warne ihn . . .
Runaug, die liebliche Tochter des Wirths am Fjord, hatte in aller Frühe Grege geweckt, wie er gewünscht. Harmlos, wie ein kleines Kind, stand sie an seinem Lager und tippte nach seiner Hand. Aber als Grege sie lange und tief ansah und sie überschüttete mit stummen Seelenfragen, da kam es wie ehrfurchtsvolle Scheu über sie vor dem fremden Manne. Wo hatte er diese lichte, liebliche Gestalt schon gesehen? In welchen Gefilden, in welchen Weltzeiten war er schon Hand in Hand mit ihr gewandelt und hat mit ihr die süßen Blüthenträume der ersten Liebe geträumt? Wo hatte er diese knospenden Muttergottesbrüstchen schon geküßt? . . . Angstvoll zitterte ihre Stimme, als sie im Zurückweichen ihm mittheilte, daß Alles bereit und geordnet sei, seine Reisesachen und Kleidungsstücke, und der Bootsmann ihn in einer Stunde erwarte . . .
Grege hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. War’s der ungewohnte Meergeruch? Einmal war er aufgestanden, hatte den Holzriegel zurückgestoßen und durch die Luke auf das Wasser geblickt. Das Meer hatte vorher gestürmt und seine Wogen an den klippenreichen Strand geworfen, donnernd, in verzweifelter Brandung . . . Jetzt lag es ruhiger, die hellgrünen Wellen schienen nur noch ein lustiges Spiel zu treiben, die Morgenlichter spiegelten sich in den feuchten Stellen der Felsen, und weiter hinaus leuchtete der Aether in tiefem Blau über die beruhigte Welt. Das blitzschnelle Unterwasserboot würde leichte Arbeit haben . . .
Er streckte sich wieder auf das Lager, aus Fellen bereitet. Bild um Bild, in wilder Jagd, zogen die letzten Erlebnisse vor seinem in Ruhelosigkeit fiebernden Geiste vorüber. Die heiße Thalsonne über der mittagsmüden Atmosphäre der Bergschlucht, darein das Asyl gebettet war. Eine Sammlung von niedrigen, schlichten Häuschen zwischen steinigen Landstücken in der verbreiterten Schluchtmündung. Und Alles so weiß und reinlich und himmelsstill. Fern darüber die Gletscher, die mit gigantischen Armen diese menschenentrückte Welt zu umfassen und gegen das Meer zu schützen und dem Himmel entgegenzutragen schienen.
Aber er selbst, Grege, auf einem Felsblock vor dem Häuschen der Blinden, den Blick auf die offene Thür, auf deren Schwelle eine singende Frau saß, die Hände im Schooß gefaltet, den Kopf mit den geschlossenen Augen zurückgelehnt, an den Thürpfosten, Alles übergossen von dem zarten Licht, das durch eine alte, wetterzerzauste Föhrenkrone sich den Weg bahnte. Dann aus dem Häuschen Choralmusik wie von einem orgelartigen Instrument, gedämpft, zaghaft, bis die Akkorde sich zu einer breiten, ruhigen Melodie fanden. Die singende Frau, wie von dieser Melodie körperlich berührt, um die Hüfte gefaßt und aufgehoben, setzt einen Fuß vor den andern und beginnt zu wandeln, voll Zuversicht in ihrer Blindheit, von einer Seite des Gärtchens zur andern, die gefalteten Hände lösend, so oft sie an der alten Föhre vorüberkam, um deren Stamm mit welker Hand zu streicheln. Ein Ameisen-Wanderzug kreuzte den Weg in demüthiger Eile, und jedesmal, wenn die Blinde darüber schritt, schwer, täppisch schlurfend, zertrat ihre breite Sohle was von dieser stillen Karawane gerade darunter kam. Ihr Gesicht hatte einen verklärt stupiden Ausdruck . . . Ein uraltes Lied, eine uralte Weise, und immer voll seliger Inbrunst die nämliche Strophe wiederholend, also daß sie Wort für Wort Grege’s Gedächtniß sich einprägte, sang die wandernde und ameisenmordende Blinde zu der begleitenden Musik:
Befiehl Du Deine Wege
Und was Dein Herze kränkt,
Der allertreusten Pflege
Dess’, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Giebt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da Dein Fuß gehen kann.
— Und keine Hoffnung auf Heilung? fragte Grege die mütterliche Christin, die als Aufseherin waltete.
— Mein Pflegling ist zu alt und begehrt sie kaum mehr. Sie ist vor zehn Jahren erblindet, an einer Krankheit im Wochenbett. Ihre Kinder sind todt. Sie steht allein in der Welt. Sie ist nicht unglücklich, glaube das ja nicht, sie ist wahrhaftig nicht unglücklich.
— Hat man keine Fälle wunderbarer Heilung?
— Doch, man hat solche Fälle beobachtet. Einmal eine junge Frau, durch eine große Gemüthserschütterung erblindet, ist ebenso durch eine andere Gemüthserschütterung wieder zum Licht gekommen.
— Gemüthserschütterung? Wie verstehst Du das, christliche Frau?
— Ein plötzliches großes Glück zum Beispiel . . .
— Es giebt auch Aerzte! warf er leicht hin, nur um noch etwas zu sagen.
— Liebe ist der beste Arzt, antwortete die Christin. Die Wunder der Liebe und des Glaubens. Hast Du das Lied gehört? Es hat in zweitausend Jahren seine Kraft nicht verloren . . .
Aber Grege achtete nicht mehr auf die Lobpreisungen der Christin. Er eilte davon, und wie Nachhall der Orgelmusik tönte es in seiner Brust: Ein plötzliches großes Glück, ein Wunder der Liebe . . .
Am Abend. In der Sennhütte, halbwegs zwischen dem Asyl und dem Fjord, war ein wandernder Spielmann eingekehrt. Der große Raum für Käsbereitung verwandelte sich in einen Tanzplatz. Die Sennen und Bauern entledigten sich ihrer Oberkleider. Erst sanfte Reigen mit Gesang, gleich wehmüthigen Nachtigallenliedern, dann immer wildere Spielmannsweisen und ausgelassenere Tänze. Alle Anwesenden schwangen die Beine in dem zum Ersticken heißen Raum. Und wer Allen voran, im leidenschaftlichen Wirbel des Augenblicks jedes Glück mit gierigen Sinnen an sich saugend, wer? Ja, schön war sie, dämonisch, und ihre Blicke und Bewegungen schleuderten Feuerbrände in die Herzen der Männer, der „Zottelbären“ . . .
Unbemerkt im Trubel der Lust entkam Grege.
In der Herberge am Strand erfuhr er, daß sich das Blitzboot für den Morgen nach Angela rüste und noch Raum für einen Fahrgast sei. Zwei Nordika-Männer fuhren mit, die Grege an jenem Probevortrag-Abend mit Dank und Händedruck begegnet waren und ihm starke Freundschaft bewahrten. Sie hatten auch Greges Vertrauen gewonnen und waren erfreut über das Wiedersehen am Meer. Ein Auftrag vom Aeltesten trieb sie zu eiliger Fahrt nach Angela. Raschen Entschlusses schloß sich ihnen Grege an. Sie versprachen ihm jede erwünschte Fürsorge, da sie aller Verhältnisse kundig waren.
Nun trat Runaug zum zweiten Mal an Greges Lager mit der Meldung, daß es höchste Zeit sei, sich in die Bootshalle zu begeben, sein Mantelsack sei bereits fortgeschafft.
— Sofort! rief er und sprang auf. Noch eine Frage: Ist die . . . Frau, Du weißt, mit der ich angekommen, zurückgekehrt vom Berge?
— Nein. Niemand hat sie wieder gesehen. Sie wird wohl auf dem Berge genächtigt haben.
Jetzt erschien auch Runaugs Vater unter der Thür und spornte zur Eile.
— Lebt Alle wohl und nehmt meinen besten Dank. Grüßt mir Euer gastliches Land . . . und die Frau, wenn sie vom Berge wiederkehrt.
— Das soll geschehen, sagte der Wirth und reichte dem Scheidenden die Hand. Und nimm, nach alter Schiffersitte, noch einen Räthselspruch zum Geleite mit, der Deine Gedanken im Unwetter festhält: Was wir gefangen, warfen wir weg; was wir nicht gefangen, tragen wir bei uns!
Runaug lächelte dem Fremdling nach, mit leisem Herzklopfen.
So verließ Grege Nordika, um nach glücklicher Fahrt in Angela zu landen.
Die Reisegenossen aus Nordika bewährten sich Grege als treue Freunde. Mit klugem Rathe wiesen sie ihm die Wege im fremden Lande.
Am ersten Tage blieben sie noch bei ihm und unterrichteten ihn in allen wissenswerthen Dingen, damit er das Wichtigste sehen und seine Rückkehr an den Strand oder vielleicht gleich bis hart an die Grenze des Teutastaates bewirken könne.
Auf einer elektrischen Schwingbahn merkwürdiger Bauart geleiteten sie ihn in einen Vorort der Hauptstadt und brachten ihn in eine Herberge, genannt „Zum tollen Junker Heinz“. Grege, der sentimentalen Auffassung der irdischen Dinge entwöhnt, nahm das Neue mit ruhigem Gleichmuthe hin. Das Ueberraschendste traf ihn nur als eine Sehenswürdigkeit, die man als objektive Erkenntniß aufspeichert, in der Erwartung, sie dereinst in wirkende Kraft umzusetzen, im Zentrum des eigenen schöpferischen Wesens, das berufen ist, sich seine Welt zu gestalten.
Es rührte ihn wenig, daß hinter seinem Rücken eine ungeheuere Stadt mit Millionen Menschen gährte und brodelte. Sobald sich das Wetter aufgehellt, wird er sich in die Metropole der Angelos begeben, mit der stillen Sicherheit des Forschers, den keine feindliche Macht erschreckt.
Jetzt stürmt es draußen und sintfluthartige Regengüsse stürzen auf das Dach, so daß sich sein kleines Gemach mit trommelndem und plätscherndem Geräusch erfüllt. Das würde nicht lange anhalten, hatte man ihm gesagt, hierzuland sei schroffer Wechsel. Die Dunkelheit nimmt zu, Grege sorgt mit einem Fingerdruck auf den Lichtträger für künstliche Helle.
Er ist just in der Stimmung, das Zarathustra-Fragment zu entrollen. Auf dem Bauche liegend — das Lager ist raffiniert elastisch gebaut — und den Kopf auf den aufgestützten Armen, mit den gespreitzten Fingern die vornüber wallenden Haare zurückhaltend, beginnt er laut in das Geräusch des Unwetters die lapidaren Sätze Zarathustras hineinzusprechen, als handle sich’s um den Genuß einer Dichtung, zu welcher die Elemente selbst die Begleitmusik machen.
Seine Stimme hebt und senkt sich, psalmodirend, den Sinn übertragend in Klang und Rhythmik:
„Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten.
Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich Euch mein Wort vom Tode der Völker.
Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: Ich, der Staat, bin das Volk.
Lüge ist’s! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben.
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin.
Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten.
Dieses Zeichen gebe ich Euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten.
Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt — und was er auch hat, gestohlen hat er’s.
Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beißt er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide.
Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich Euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!
Viel zu Viele werden geboren: für die Ueberflüssigen ward der Staat erfunden!
Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Vielzuvielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!
Auf der Erde ist nichts Größeres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes — also brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Kniee!
Ach, auch in Euch, Ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden!
Ja, auch Euch erräth er, Ihr Besieger des alten Gottes! Müde werdet Ihr vom Kampfe, und nun dient Eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen!
Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen, — das kalte Unthier!
Alles will er Euch geben, wenn Ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den Glanz Eurer Tugend und den Blick eurer stolzen Augen.
Ködern will er mit Euch die Vielzuvielen! Ja, sein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren!
Ja, ein Sterben für Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes!
Staat nenne ich’s, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller — das Leben heißt.
Seht mir doch diese Ueberflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl — und Alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach!
Seht mir doch diese Ueberflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen.
Seht mir doch diese Ueberflüssigen! Reichthümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld, — diese Unvermögenden!
Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern über einander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe.
Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, — als ob das Glück auf dem Thron säße! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron — und oft auch der Thron auf dem Schlamme.
Wahnsinnige sind sie mir Alle und kletternde Affen und Ueberheiße. Uebel riecht mir ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese Götzendiener.
Meine Brüder, wollt Ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt in’s Freie!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei der Ueberflüssigen!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer!
Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht.
Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth!
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.
Dort, wo der Staat aufhört, — so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Uebermenschen? —
Also sprach Zarathustra.“ — — —
Mit verzücktem Gesicht starrte Grege lange auf die Blätter, visionär, wie entrückt in ferne Vergangenheit, während er im Tone Zarathustra’s weiter sprach, improvisirend, wie sein Doppelgänger. Doppelgänger? War er’s nicht selbst gewesen, der die nämliche Rede schon gehalten, damals . . . damals, Wort für Wort . . . als das neunzehnte Jahrhundert seinen tollen Kehraus tanzte . . . in der großen Einsamkeit zwischen den dunklen Bergen, in die er geklettert, weltmüde, aus dem Süden herauf, dessen Sonne sich in seinen Kopf gesenkt, also daß das Hirn in wildem Feuer stand . . . Eisberge unvermögend, den Brand zu löschen . . .
Unsinn, Unsinn!
Dann sprang er auf und lachte so grimmig und grell . . . wie einst jene Frau, als sie ihn auf das Drachenschiff entbot.
Jawohl, das würde er, bei allen Göttern und Uebermenschen, selbst Alles noch so gefunden haben, wie es Zarathustra vor tausend Jahren herausgearbeitet . . .
Besser so, jetzt geht es desto schneller . . . Krystallhart schossen seine Gedanken in einander zu unzerreißbarem Gefüge . . .
Es klopfte an der Thür. Grege überhörte es. Da trat ein ältlicher, schwarz gekleideter Mann herein, mit humoristischer Verbeugung. Ein langer Kauz, ein schlotteriges Knochengestell.
— Ich bin der Wirth zum tollen Junker, begann er, wie ein Schauspieler, der eine komische Rolle hersagt, — ich bin der Wirth zum tollen Junker Heinz, und weiß derowegen nicht, ob die Meinung, über deren Vorhandensein bei mir keinerlei persönliche Verantwortlichkeit mich trifft, das Glück hat, dadurch an Bedeutung zu gewinnen, daß sie mit den Absichten meines Gastes übereinstimmt.
— Was sollen die Umschweife? Schnell, was giebt’s? Ich habe keine Zeit, Mann!
— Nämlich, ich übe das vortreffliche Geschäft eines Herbergvaters in Ihrer Majestät der Kaiserin von Indien und Königin von Jerusalem und anderer Weltgegenden Landen erst seit geschlagenen acht Tagen. Wessenmaßen ich mir in aller Unerfahrenheit allerlei Gesindel, so ich für Gentlemen gehalten, benebst der hohen Polizei, mit Respekt zu sagen, auf den Hals gezogen. Derohalben giebt’s erstens kund zu thun, daß Ihr keine Gastfreundschaft auf Staatskosten bei mir zu erwarten habt, sondern alles Genossene und etwa noch zu Genießende entweder baar berappen oder in geordneter Arbeit ersetzen oder andere Unterkunft als beim tollen Junker Heinz suchen müßt; zweitens giebt’s von Polizeiwegen zu ergründen, welcherlei Arbeit Ihr zu leisten vermögt, welches Euer Nam’ und Art und mit welcherlei staatsnützlichen Absichten Ihr Euch in Angelland aufzuhalten gedenkt.
— Narrenspossen! Sagt mir rund heraus, was Euer Begehr!
— In aller Rundung, gut. Gentleman, seid Ihr ein Gentleman oder etwas Anderes?
— Ich bin’s.
— Gut. Woher kommt Ihr und auf welchem Wege?
— Aus Nordika, durch Wasser und Luft.
— Aus Nordika? Nun, da könnt Ihr Euch rühmen. Eine lustige Gegend. Hat uns manchen leichten Gesellen an’s Land und manches gelüstige Dirnlein in’s Bett geworfen. Gut. Ihr seid ein Gentleman aus Nordika. Sehr gut. Habt Ihr kuranten Tauschwerth bei Euch oder vermögt Ihr Euch durchzuarbeiten, wenn unsere hohe Polizei, mit Respekt zu sagen, Euch den Brotkorb der Gastfreundschaft zu hoch hängt aus obrigkeitlichen Erwägungen? Ihr habt das Glück, Euch in einem weise und streng geordneten Staate Eueres Aufenthaltes zu freuen, Gentleman.
— Ich muß sagen, wenn das Euer Ernst ist, so überrascht Ihr mich. Von all’ diesen Dingen haben mir meine Reisegenossen nichts mitgetheilt.
— Darf ich lachen, Gentleman? Euere Reisegenossen kannten vermuthlich den neuen Wirth zum tollen Junker Heinz und den neuen ehrenwerthen Polizeipräsidenten nicht. Das Alte ist vergangen, Gentleman, siehe, es ist Alles neu geworden, und bedenkliche Dinge bereiten sich vor in unserem Weltreich beider Hemisphären. Derowegen bin ich gehalten, Euch so zu fragen, wie ich’s thue, selbst auf die Gefahr hin, den Beifall eines so großen Weltreisenden, Gentleman, zu verscherzen.
— Je nun, Mann, was soll ich da sagen?
— Was man so die Wahrheit nennt, wenn’s Euch beliebt. Zu welcher Gilde gehört Ihr? Zu Nummero Eins der Reichen oder zu Nummero Zwei der armen Schlucker? Im tollen Junker Heinz haben vor Jahrtausenden schon die reichsten Leute der Welt gewohnt, Ihr braucht Euch nicht zu geniren. Kennt Ihr zum Beispiel Sir John Falstaff, Gentleman?
— Nein.
— Der ist hier die größten Summen schuldig geblieben. Seine Rechnung könnt Ihr heute noch im Schlot sehen, im Originalschlot, er wurde beim Umbau des Hauses sorgfältig verpackt und mit Brief und Siegel in’s British Museum abgeliefert. Dort steht er noch. Die größten Gelehrten aller Rassen machen dort seit tausend Jahren die umfänglichsten Studien. Ah, Sir John Falstaffs Rechnung, notabene mit doppelter Kreide, im Schlot des Wirthshauses zum tollen Junker Heinz, Gentleman, vergeßt nicht, das ist eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten im British Museum, da ist unser königlich kaiserlicher Menschengarten ein Hundestall dagegen.
— Ah das, richtig. Wo ist . . . dieser Hundestall zu sehen? Zuverlässig?
— In Kensington. Das ist eine ganze Stadt, keine kleine Anlage. Ihr könnt, gedenkt Ihr die Eintrittsgebühr von fünf Guineas zu sparen, Euch selbst dort ausstellen und fortpflanzen lassen, ich schätze Euch, nach verläßlicher Erfahrung, als einen der wohlgestaltetsten Männer in musterhafter Kondition, echte Nordika-Rasse. Ihr werdet Furore machen, mein Wort, Gentleman.
— Ich bitte Euch, ’meine Person aus dem Spiele zu lassen. Durch ernsthafte Belehrung über diesen Menschengarten würdet Ihr mich zu Dank verbinden. Setzt Euch, erzählt. Wir sind Gentlemen, nicht? Und vor einander sicher? Also erzählt!
Der Wirth strich sich mit der breiten Hand über das ganze Gesicht, schnitt eine lächerlich komische Fratze, setzte sich Grege gegenüber und begann:
— Gentleman, das ist mal so, Alles was bei uns Mensch heißt, die Polizei eingeschlossen, mit Respekt zu sagen, hat seinen Narren an diesem königlich-kaiserlichen Menschengarten gefressen, zum Ersten, weil er amüsant ist — lacht Ihr gern, Gentleman? es ist zum Wälzen, mein Wort darauf! — zum Zweiten, weil die Welt nicht seines Gleichen hat. Angelos-Idee, kein amerikanischer Humbug, Yankee-Doodle, Gott verdamm’ mich!
— Zur Sache!
Der Wirth schlug die klapperdürren Beine über einander und spuckte seitwärts an die Wand: — Gott verdamm’ mich, wenn ich nicht mitten drin bin in der Sache. Bevor ich Wirth wurde, war ich Leichenschauer, bevor ich Leichenschauer wurde, war ich . . . ich weiß nicht was, aber vorher, Gentleman, war ich einer der respektabelsten Aufseher im Königlich-Kaiserlichen, also in eben diesem Menschengarten. Das verliert sich nicht. Derohalben bleibt ein Mann meiner Kondition mittendrunterdrin, Gentleman. O, ich habe Sachen gesehen, Thatsachen . . .
— Ist das Alles? Ich danke.
— Nein, das ist noch nichts. Ich verschnaufe nur, die Erinnerung überwältigt mich. Geduld, Gentleman. Wer nicht drin war, weiß sich das nicht zusammen zu reimen. Da sind nun Gegenden in Europa mit mangelhaftem Menschenwuchs. Sehr interessante Rassen, aber sie werden schlechter und schlechter, wegen Unzulänglicher Behandlung, und endlich sterben sie aus, wie der Auerochs, wie das Einhorn, das wir noch im Wappen haben, oder wie der größte Dichter Shakespeare, der bekanntlich niemals gelebt hat. Andere Rassen kreuzen sich aus Verzweiflung oder sonst einer schlechten Laune — nicht alle Völker haben den Humor, wie wir Angelos, oder wie Ihr drüben in Nordika! — Und aus diesen Kreuzungen kommt nichts Feines. Wie also, damit wir die Rassen rein und vollzählig erhalten, in guten Exemplaren, kapabel zur Fortpflanzung, amüsant zum Ansehen und nützlich für den Staat und das Geschäft? Wir sind in Angelland, Gentleman. Wir besitzen ganz Afrika, Asien haben die verdammten Amerikanos in die hohlen Backenzähne gesteckt. Wir besitzen ganz Afrika, und nächstens, wenn wir daheim keine Revolution bekommen oder nachher, nehmen wir ganz Europa, ohne Nordika, selbstverständlich, wasmaßen die Nordikaner unsere besten Freunde sind. Aber das übrige Europa ganz, wir werden’s ausputzen, auflackiren, poliren, präsentabel machen, ertragsfähig. Ein großes Geschäft, würdig unserer Firma. Verstanden, Gentleman? Wir besitzen ganz Afrika, gut. Die schwarze Rasse ist, ehe wir dazu gekommen, ausgetilgt worden. Es giebt keinen Hottentotten mehr, leider.
— Das bezweifle ich.
— Nein, mein Wort darauf, es giebt keinen mehr, Gentleman. Nicht eine Nasespitze von einem Hottentotten, nicht soviel, daß es zu einem Beefsteak langt. Nicht einmal in unserem Menschengarten. Da sind nun in Europa noch einige brauchbare Italianos, Spaniolen, Hungaren, Bavaren, Juden — und was weiß ich.
— Teutaleute, nicht?
— Auch. Gut, Gentleman. Auch Teutaleute, sehr gut. O, das ist eine Historie, da komm’ ich sofort darauf zurück. Also wir verschaffen uns von diesen interessanten Völkerschaften auserlesene Exemplare — kein leichtes Geschäft, Gentleman, eine Tigerjagd ist nicht so schwierig und gefährlich, als einen gesunden Rassenmenschen auszuspähen und geräuschlos einzufangen, mein Wort darauf. Es giebt verdammte Hunde. Mein leiblicher Bruder ist dabei umgekommen, neulich erst . . .
Grege rückte einen Schritt zurück: — Keine Familienszenen, das wäre indiskret. Also Ihr habt die reinen Exemplare in Eurem Menschengarten, paart sie — was dann?
— Zur Fortpflanzung werden nur die Gelungensten zugelassen, und von deren Nachzucht wieder nur die Gelungensten, nach strenger Prüfung. Die mißlungenen Nachwuchsexemplare werden kastrirt.
— Das leuchtet mir ein. Und mit den Brauchbaren, die sich immer weiter vermehren, was geschieht da?
— Gut gefragt, Gentleman. Diese kommen als Setzlinge in unsere Kolonien, nach Afrika, und später, wenn wir ganz Europa haben, in ihre Originalländer, unter Aufsicht, daß sich die Geschichte nicht wieder kreuzt und verunreinigt. Bis die Menschheit vollständig umgepflanzt ist.
— Und wenn sich im Garten ein zu starker Ueberschuß ergiebt, oder wenn einzelne Paare durch Krankheit oder Tod zerrissen werden?
— Da giebt’s zu lachen, großartig, Gentleman. Reiche, vornehme Herrschaften, Damen und Herren, erlegen dem Staate hohe Werthe, dafür dürfen sie sich überzählige oder paarlose Individuen auswählen, zu sich nehmen, versteht Ihr, Gentleman? Auf bestimmte Zeit, nur so, damit es nicht wie Sklavenhandel aussieht. Wenn Wahlzeit ist, Gentleman, hui hui . . . und bei Prinzen und dergleichen Leuten auch wenn keine Wahlzeit ist, hui hui! Zu sich nehmen, auf Zeit, versteht Ihr den Humor von der Sache? Das Vergnügen an rasse-echtem Zeitvertreib? Versteht Ihr unseren Sport und seinen Witz, seinen sehr feinen Witz, Gentleman? Hui hui . . . Wir lieben die Welt, weil wir sie haben.
— Hm.
— Sehr gut, hm. Das muß man gesehen haben. Das ist eine Handvoll Guineas werth.
— Brechen zuweilen auch die Eingefangenen aus?
— Sehr selten. Liebevollste Behandlung, Komfort, nicht wahr, die Wenigsten finden’s so gut daheim. Lästig vielleicht manche Experimente, medizinische Aufsicht, Training . . . hm . . .
— Und was geschieht mit den Ausbrechern, wenn man sie erwischt?
— Nicht sehr viel, mehrmalige Auspeitschung, Tretmühle, je nach Befund. Wir Angelos sind die humanste Nation der Welt.
— Was ist sonst noch da?
— Spezialitäten für die Menschen- und Sittenforschung gelehrter Professoren und solcher Kerls. Spielarten, wie sie durch Berufs-Entartung entstehen, Agrarier aus Ostelbien, das heißt deren Nachkommen aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert mit vererbten Abnormitäten, Hofprediger und als Gegensatz Hungerkünstler, aus Schullehrer-Dynastien mit einem halben Hundert Ahnen, Spiritisten, Juristen . . . seht’s Euch selbst an, Gentleman. Ueberhaupt viel zu sehen bei uns, nicht wahr? Habt Ihr unsere Schatzkammern gesehen? Unsere Lagerhäuser? Wir Angelos leben auf allen Seiten der Welt, wenn Europa auch nur unsere Rückenfront sieht. Die Leute in Europa, pflegen wir Angelos zu sagen, sehen von der ganzen Welt nur, was sie auch vom Mond sehen, stets die nämliche Seite. Wir nehmen sie von allen Seiten, wir drehen auch den Mond noch herum, mein Wort darauf, Gentleman . . . Verdammtes Regenwetter heute, man kann keinen Hund vor die Thür jagen. Ihr verliert Zeit, wenn Ihr hier hockt. Habt Ihr unsere Schiffe gesehen? Ihr glaubt wohl, wir hätten nur Blitzboote? Wir haben neben den allerneuesten Fahrzeugen auch die guten alten, offene und gedeckte Schiffe, mit Segeln und mit Panzerthürmen . . . Jetzt eilt mir’s, Gentleman.
— Noch einen Augenblick . . . Der Regen platscht fürchterlich . . .
— Die hohe Polizei, mit Respekt zu sagen, erwartet die Erklärungen, Gentleman. Worüber wir vorhin noch im Zweifel, ob Gilde eins oder zwei . . .
— Setzt Euch noch eine Minute. Ihr spieltet auf eine Historie von Teuta an, dem wunderlichen Land, vorhin. Erzählt mit das, bitte! Ich bin ein Freund komischer Geschichten, wie Ihr seht.
— Gott verdamm’ mich, Gentleman, das hätte ich wahrhaftig vergessen. Wurde da vor Wochen vom Königlich-Kaiserlichen ein sehr famoses Teutaweib erworben, von vornehmem Wesen, mit den vollkommensten Merkmalen echter Rasse, jung, intelligent, aber . . . aber . . .
— Stumpfsinnig. Ein Teutaweib! Weiter!
— Nicht stumpfsinnig, aber auch nicht vollsinnig.
— Also verrückt!
— Nein, Gentleman, Ihr rathet schlecht. Blind.
— Blind?
— Wie ich sage. Eine Blindschleiche kann nicht blinder sein.
Grege fixirte den Erzähler, ohne sich zu rühren, mit kalter Sachlichkeit.
— Ihr denkt, ich binde Euch einen Bären auf, Gentleman. Ich kann’s nicht so nobel geben. Ich diene Euch mit Wahrheit, die ist billiger.
— Nicht so. Ich lege mir nur die Frage vor: Was wollen die guten Leute mit einem blinden Weibe?
— Gentleman, ich lege Euch die Frage vor: Was wollen die Menschen mit blinder Liebe? Ist Blindheit immer ein Nachtheil? Die blinde Person war sehr werthvoll. Unerachtet ihrer Blindheit konnte sie in die Tinte blicken.
— Was konnte sie?
— In die Tinte blicken, die Zukunft errathen. Sie war eine Seherin . . . Ich mache mir meine Gedanken, vielleicht ließ man sie gerade darum laufen. Sie wird unheimliche Dinge gesehen haben, vom Sturz der Welt. Es ist nicht immer gut, Alles vorher zu wissen. Lieber selbst Alles über den Haufen werfen, heute, als zu wissen, daß es morgen Andere thun und man kann’s nicht hindern. Blind drauflos ist eine gute Sache, Gentleman. Es ist eine kritische Zeit. Derohalben, es ist so mein Gedanke, ließ man das Frauenzimmer wieder auf Teuta los. Dort kann sie Schlimmes prophezeien, so viel sie will, und Unheil anrichten. Wir pfeifen auf fremdes Unglück, wenn wir nicht damit spekuliren. Die Teutaleute verstellen sich, wißt Ihr, Gentleman, das sind verfluchte Halunken. Schließlich verrathen sie sich gegenseitig, wie dieser rundköpfige Kretin. Was meint Ihr, Gentleman?
— Alles ist Geschäft . . . Bitte, fahrt fort. Vom rundköpfigen Kretin.
— Sehr gut, Gentleman, Ihr seid ein großer Gelehrter, Ihr kennt die Welt. Die ganze Weltgeschichte ist ein Geschäft. Ihr versteht mich, Ihr seid ein geriebener Kopf, Ihr verdientet ein Angelo zu sein. Ich seh’s an Euren Augen, Ihr habt viel erlebt.
— Keine Anzüglichkeiten, bitte. Uebrigens könnt Ihr Recht haben.
— Hab’ ich, Gentleman. Euer Wille geschehe. Was wollt’ ich sagen? Das Komische an der Historie ist etwas Anderes. Erstens, daß das Weib von ihrem eigenen Liebhaber, einem rundköpfigen Kretin, dem Königlich-Kaiserlichen in die Hand gespielt worden ist. Ein starkes Stück, nicht wahr, Gentleman? Zweitens, daß die Königlich-Kaiserliche das Geschäft nicht aufrecht erhalten konnte, sie mußte die Waare wieder herausgeben.
— An den schuftigen Liebhaber? In der That ein komischer Fall.
— Wieder schlecht gerathen, Gentleman. An Teuta selbst. Auf diplomatische Einmischung. Die Diplomatie von Teuta kam dem Liebhaber auf die Schliche. Das Weib war eine Staatsperson und stand offenbar auch mit einem jungen Diplomaten des Landes in zarten Beziehungen. Der Rundkopf, der sich weniger begünstigt glaubte, suchte sich mit einem guten Geschäft zu revanchiren. So mag’s wenigstens sein. Der junge Diplomat zerschlug den Handel und brachte seinen Schatz wieder heim. Versprach dafür dem Königlich-Kaiserlichen gelegentlich zur Entschädigung selbst etwas Geeigneteres zu liefern. Aber die lachhafteste Seite der Sache, Gentleman, die errathet Ihr auch nicht. Ganz Angelland wälzte sich acht Tage lang in diesem Spaß, trotz der ernsten Zeiten. Wahrhaftig, die Zeiten sind ernst, auch ohne den neuen Polizeipräsidenten. Wir werden nächstens nun doch mit den Amerikanos zusammen ein Hühnchen pflücken und ihnen ein Pflaster in die Visage kleben müssen, Gentleman.
— Nun, die lachhafteste Seite? Kommt zu Ende!
— Ja so. Gut. Der junge Diplomat erklärte, Teuta werde den Angelos den Krieg erklären, wenn sich die Rückgabe des Teutaweibes nicht schleunigst abwickelt. Krieg mit Teuta, Gentleman, seht Ihr das Bild? Teuta gegen Angelland! Ja, die Zeiten sind lachhaft in ihrem Ernst. Wie gefällt Euch die Historie?
— Sie ist köstlich. Wißt Ihr nicht den Namen des Weibes? fragte Grege etwas dringender.
— Natürlich. Alles hat Spottlieder darauf gesungen. Zala hieß es, Gentleman.
— Jala, vielleicht Jala, besinnt Euch.
— Diesmal mögt Ihr Recht haben, Gentleman. Uebrigens Zala oder Jala, das ändert nichts am Spaß.
— Wahrhaftig nicht.
Grege erhob sich, rieb sich mit etwas krampfhafter Lustigkeit die Hände: — Ich dank’ Euch für die feine Geschichte. Man kann daraus lernen. Sie hat mir ordentlich Appetit gemacht.
— Wonach, Gentleman? Die Küche steht Euch zu Diensten. Oder ein Glas Punsch oder . . .
— So nicht, nein. Appetit nach dem kriegerischen Teuta. Das möcht’ ich mir nun doch einmal besehen, so schnell als möglich.
— Gut, Gentleman. Doch versäumt nicht, Euch zuvor unser Land gut anzusehen, dann findet Ihr in Teuta noch mehr zu Eurer Heiterkeit. Ihr bedürft der Aufheiterung, glaubt mir, fehlt Euch etwas? Leidet Ihr an kalten Füßen? Ich meine nur, Gentleman, Ihr habt einen erregbaren Kopf. Oder an Nachtschweiß? Ich bitte um Vergebung. Gewiß, Gentleman, Ihr bedürft meiner medizinischen Kenntnisse nicht, ich bin zwar Leichenschauer gewesen und mein letztes Weib selig Leichenfrau, aber Ihr seid gesund wie ein Lachs. Unsere sozialen Einrichtungen sind sehenswerth. Wir haben auch eine sehr interessante königlich-kaiserliche Familie, zahlreich wie sämtliche Patriarchen des Orients, und mit einem Hof, wo die urältesten Zeremonien gemacht werden. Ich empfehle Euch das, Ihr werdet’s mir danken, es ist ungeheuer sehenswerth. Wir salben Könige, die nichts zu thun brauchen, als sich salben zu lassen, um dann in Majestät und Ruhe eine unglaubliche Zivilliste zu verzehren und uns mit ihrem Anblick zu erfreuen. Alles Uebrige besorgen wir selbst. Die Einrichtung ist bewährt. Eine Sache ist gut, so lange man dran glaubt oder Andere zu unserem Nutzen dran glauben. Wir haben viele Völkerschaften, die dran glauben. Also sind unsere Könige so nützlich wie unsere oberste Kaiserin. Und es ist immer ein schönes Bild.
— Könnt Ihr mir nicht behilflich sein, daß ich Fahrgelegenheit nach Teuta finde?
— Sehr wohl, Gentleman. Aber erst unsere Sache mit der hohen Polizei, mit Respekt zu sagen. Zu welcher Gilde gehörig soll ich Euch melden?
— Gilde? Zunft? Zur Schelmen-Zunft!
— Ausgezeichnet, Gentleman. Ihr seid ein Witzbold.
— Und Euer Name?
— Drachenschiff!
— Hui! Ihr versteht die Polizei zu bedienen, mit Respekt zu sagen. Und tragt Ihr Werthe bei Euch, Legitimationen? Wißt, die Weltlage ist kritisch, und der Polizeipräsident ist neu und der mächtigste Mann im Rath.
Grege hob die beiden Schriften auf und warf sie auf den Tisch, Zarathustra und Jesus Sirach: — Hier, Wirth von der Schelmenzunft der tollen Junker, meine Familienpapiere!
— Sehr gut, Gentleman, das genügt. Genügt’s nicht, kann’s Euch den Hals kosten. Aber was geht mich Euer Hals an? Ich eile, die Polizei zu befriedigen, mit Respekt zu sagen.
— Und vergeßt mir die Fahrgelegenheit nicht!
— Bei Sir John Falstaffs Andenken, hier wird nichts vergessen, Gentleman. Gottbei!
Der Wirth entfernte sich, sein hohes, schlotteriges Knochengestell in dem schwarzen Futteral mit der komischen Fratze gebückt durch die niedrige Thür schiebend.
Grege warf sich auf’s Lager und wand sich in Krämpfen wie ein Epileptiker. Es ging vorüber. Der letzte Gram war abgeschüttelt.
Er sah in den Spiegel und grüßte ein fremdes Gesicht. Teufel!
Tage lang ließ die Fahrgelegenheit auf sich warten. Das zwang ihn, zu wandern, die Kreuz und Quer, in Unrast seine kritischen Speere schleudernd auf Alles, was ihm begegnete. Daß hier Alles in’s Titanenhafte, Kolossale getrieben war, selbst das Niedrige, Gemeine, Widersinnige, Tyrannische war das Besondere, was ihm neu und sympathisch erschien. Und in Alles hinein schlug die See, das Weltmeer. In den Augen der unbeirrte Blick auf fernste Horizonte, Nacht und Nebel durchbohrend. Aus jeder Tasse Thee hört man die Brandung aus der Weltweite ferner, reicher Inseln. Die Menschen wie verkürzte Mastbäume. Ein Seevolk! Wer die See hat, hält die Welt, hält das gewaltige Leben in seiner Faust. Grege ging dieser Gedanke auf Schritt und Tritt nach. Der Stempel des Weltbeherrscher-Bewußtseins schlug ihm überall prahlerisch entgegen, selbst in der Verzerrung ein an sich wundervoller Trieb zur Größe. Die Wuth auf die Amerikaner, die sogar in deren Nachäffung Orgien feierte, erquickte ihn. Hasseskraft, das war das Ehrfürchtigste, was er an den Angelos zu rühmen lernte, und ein dämonischer Humor, der jeder Verzweiflung Herr wird, schöpferischer Haß, weltüberwindender Humor des Alleinherrschenwollenden, dem der Eroberungsfanatismus zum sechsten Sinn geworden.
Das Allermerkwürdigste dünkte ihm — und das war vielleicht der Schlüssel, sich Angellands räthselhafte Macht zu erklären: Alles Alte war lebendig erhalten und in lenzfrischem Saftgang mit dem Neuen. Alles Gegenwärtige schien gewachsen wie aus einem einzigen Wurzelkomplex, der bis in den tiefsten Boden der Vergangenheit reichte, mit vielen jüngeren, üppig genährten Seitenwurzeln. Der kleine Erdzipfel Europa war den Angelos nur ein Nebending, das sie nur als einer ihrer künftigen Stützpunkte kümmerte. Ihr Reich war die Welt, nicht das Bischen europäische Scholle. Wo ein Angelo lebte, zu Wasser und zu Land, da pflanzte er seine wuchtige Eigenart auf und formte es rücksichtslos zu seiner Heimath. So ward er überall der Herrscher, und saß überall auf seinem Eigenen, und pflückte überall die Freuden der Heimath . . .
Was es an öffentlichen Einrichtungen zu besehen gab, die ganze Fülle der Gesichte eines in’s Riesige entwickelten Volkslebens, nahm Grege mit, dem königlich kaiserlichen Menschengarten allein ging er aus dem Wege. Er wußte genug davon. Und er wollte keine Gefühle zwecklos verpuffen . . .
Alles zusammengerafft zu einem Vorstoß, nach einem Ziel: Teuta! Kalte Ueberlegung. Keine Vergeudung der Thatkraft durch Exzesse des Temperaments . . .
In Teuta — klingt’s nicht wie ein Märchen? — hat bereits Einer den Kopf zu erheben und den Angelos mit Fehde zu drohen gewagt? Um Jalas willen? Und dieser Eine . . . war nicht Grege?
Teufel!
Und hieß der Teufel Soundso, was ging ihn das Weib an?
Zweifellos, den ganzen Vorgang diplomatisch angesehen, handelte sich’s um mehr, als um das Weib. Das Weib war nur Deckblatt, um die Leidenschaft zu entflammen. Aus dem entfachten Brand waren dann ganz andere Dinge zu holen.
Grege grübelte sich allerlei neue Zusammenhänge in das Jala-Abenteuer. Wer war der rundköpfige Kretin, dessen Namen der Wirth nicht wußte oder nicht sagen wollte?
Aber die letzte große That war allein entscheidend. Die wartete auf ihn. Das fühlte er. Welche That? Festzustellen in’s Einzelne vermochte er sie nicht. Er sah sie vor sich wie einen rothen Kern, der immer glühender wurde, eingehüllt in einen dicht geballten schwarzen Nebel. Wenn die Stunde gekommen, mußte der glühende Kern die Nebelhülle sprengen, und Alles stand im großen, freien Licht, sonnenklar. Das war die leuchtende That, aus dem Dunkel geboren. Die Offenbarung des Geheimnisses, das sein Leben in sich trug, die Wiederbelebung einer großen Vergangenheit, die Neugeburt der königlichen Seele . . .
Er schüttelte den Kopf. In der ungeheuren Wirklichkeit Angellands verflog plötzlich alle Mystik. Grege knirschte: — Ganz Teuta auf Schiffe packen und hinaus! Es zwingen, auf Seeschlangen durch das Weltmeer zu reiten, wie die urgermanischen Vorfahren im Norden . . .
Wer lacht so grell?
Teufel!
Ao war halbtodt. Er war, um seine Glieder ein wenig an die Bewegung in freier Luft zu gewöhnen und auf die Mühsal des Festzuges vorzubereiten, ein Stündchen in der Oberwelt gewesen, gegen Abend, und hatte eine ganz kleine Strecke der unendlichen Feststraße in Begleitung der Aeltesten vom Festbund abgeschritten, richtiger, abgewatschelt. Das hohe Amt verlangte dieses Opfer. Nach Aos Gefühl war’s ja einfach menschenunwürdig, überhaupt sich in der Oberwelt zu bewegen. Er haßte die freie Luft. Er konnte sie nicht riechen. Und erst das freie Licht! Giebt’s etwas Brutaleres als freie Luft und freies Licht, etwas Undisziplinirteres? Was nahm sich das natürliche Licht nicht für Frechheiten heraus, trotz der Abendstunde, trotz der späten, herbstkündenden Jahreszeit! Der Wolkenhimmel gegen Westen ein lodernder Feuerberg, der letzte Sonnenstrahl noch ein brennender Stachel mit Widerhaken, einem das Auge aus dem Kopf zu reißen!
Dieser feurige Unfug konnte nichts Gutes bedeuten.
Freilich, die Aeltesten vom Festbunde jubelten, das Wetter werde nach einer solchen Abendröthe prachtvoll werden und das Fest und sein feierliches Gepränge in nie gesehenem Glanze erstrahlen lassen.
— Nein, rief Ao, diese späte Hitze wird uns bös zusetzen. Der halbe Zug wird auf dem Wege liegen bleiben, Weiber und Kinder wird man nicht mehr vom Flecke bringen, die Springer und Tänzer werden toll werden oder wie Fliegen umfallen, die heiligen Stationen am Gotteshaus, am Museum, an der Kaserne werden mit kranken Nachzüglern und Invaliden sich füllen, kurz, es wird ein unerträglicher Skandal sein.
Und das Alles komme davon, daß man das Fest zum dritten Mal verschoben, diesem überspannten Soundso zu lieb, statt es für dieses Jahr ausfallen zu lassen. Dem Volk von Teuta hätte man diese Probe auf seine Geduld und Ergebung in den Willen des hohen Rathes ganz gut auferlegen dürfen. Es habe an seinem stillen Glück ohnehin Vergnügen genug und bedürfe eigentlich nicht des festlichen Lärmes, wenigstens nicht jedes Jahr. Und bis zum nächsten Jahre hätte der sinnreiche Soundso Zeit gehabt, noch mehr Ueberraschungen auszuhecken. Uebrigens, im Vertrauen gesagt, sei es nicht einmal der Beruf des jungen Diplomaten, sich in diese Dinge zu mischen und dem Volk von Teuta mit Ueberraschungen zu imponiren. Das sei auch ein Zeichen der Zeit, daß sich der Geist der Jugend überhebe und auf allerlei ungewöhnliche „Effekte“ sinne. Ein gediegenes Staatsleben, wie das unseres Teutavolkes, könne wohl auf diesen Luxus verzichten. Und im Sinne des göttlichen Uebermenschen Zarathustra und des großen Mysteriums unserer Nationalgottheit ließen sich diese Dinge kaum rechtfertigen.
Diese weihevollen Klagen und Anklagen kümmerten leider die Aeltesten vom Festbunde wenig. Ao mußte, nachdem er die kurze Strecke gegangen, sich in einer Sänfte noch in’s Gotteshaus und in’s Museum schleppen lassen, um sich durch den Augenschein von den Erneuerungen zu überzeugen und oberpriesterlich zu bestätigen, daß Alles in schönster Ordnung. Das Gotteshaus und das Museum lagen an entgegengesetzten Punkten der bald zickzack-, bald schlangenförmigen Feststraße an den Abhängen der uralten grauen Schuttberge, mit breiten Freitreppen, und da, wo die Feststraße in einer großen Spirale endigte, stand auf einem, die anderen um Weniges überragenden Schuttberge das Königsschloß, auf dessen Terrasse der Schlußaktus der Feier mit einer grotesken Parodie auf das antike Herrscherthum gespielt wurde. Das festlich erregte Volk lagerte sich dann in weitem Umkreise auf die Abhänge der Schuttberge, auf Freitreppen und Terrassen und erlabte sich unter Gejohle an der von dem Festkönige Grege improvisirten Verspottungs-Komödie, die in Reden, Geberden und Tänzen bestand, parodirend nachgeahmt den alten Hof-Zeremonien der Majestätsperiode früherer Jahrtausende.
So war es immer, und so sollte es auch diesmal sein, nur mit dem geheimgehaltenen Unterschied, daß jetzt Soundso’sche Automaten die lebendigen Figuren ersetzten. Nur die Schlußnummer mußte wegfallen, weil sie für einen Automaten zu gefährlich war und leicht zu seiner Entlarvung führen könnte. Sie bestand in der Hauptsache darin, daß der Festkönig sich die Krone vom Haupte nehmen und in dieselbe, die Reihen der in der Spirale stehenden Festgenossen abschreitend, die Trinkgelder — alten Münzen nachgeahmte Spielmarken — einsammeln mußte für seine gelungene Arbeit, und mit den Trinkgeldern bekam er zugleich die tollsten Stichelreden . . . Statt dieser Scene hatte Soundso eine groteske Tanznummer zugebilligt erhalten, für welche er die grandioseste Ueberraschung versprach, wenn man ihm Zeit zu deren Durchführung lasse und das Fest noch um eine Woche verschiebe. Soundso setzte seinen Willen im hohen Rathe durch, nachdem er die Aeltesten vom Festbunde für seinen Plan gewonnen hatte. Was setzte er nicht durch? Die Hauptrolle bei diesem Tanze sollte eine der merkwürdigsten Tanzkünstlerinnen spielen, deren Namen er noch geheimhalte, und das Volk würde dabei das Schauspiel einer bis — zur Nacktheit verhüllten wunderschönen Frau haben, einer Frau, die nicht einmal mit eigenen Augen sehe, was sie dem begeisterten Teutavolke biete, so daß auch die naivste Keuschheit keinerlei Anstoß nehmen könne . . .
Ao schüttelte ächzend den Kopf, als ihm die Aeltesten vom Festbunde diesen Plan Soundsos mit beredtem Munde priesen, während die Sänftenträger die oberpriesterliche Leibeslast im Schweiße des Angesichtes zum Gotteshause emporschleppten. Das Gotteshaus war, wie die übrigen Baudenkmäler der versunkenen Kulturepochen, wie das Museum, die Kaserne, das Zuchthaus u. s. w., in verjüngtem Maßstabe nach berühmten antiken Mustern erbaut. Jedes Jahr waren Reparaturen nöthig, von deren Güte sich der Oberpriester oder ein Anderer vom hohen Rath persönlich überzeugen mußte.
Als Ao das Gotteshaus betrat, war gerade die heilige Kommission damit beschäftigt, die Reliquien Zarathustras auf ihre Unversehrtheit zu prüfen und die Orgel spielen zu lassen. Die heilige Kommission begrüßte den Oberpriester ehrfurchtsvoll und lud ihn ein, die Prüfung mit seiner persönlichen Theilnahme zu beehren. Nachdem der Heiligthumsschrein mit sieben Schlüsseln geöffnet war, stellte die Kommission fest, daß die Siegel, welche der seidenen Umhüllung der Reliquien im vorigen Jahr von Staatswegen aufgedrückt worden waren, unverletzt seien. Dann wurden die Heiligthümer einzeln der Umhüllung entnommen und dem Oberpriester gezeigt: zuerst das Gewand der Mutter Zarathustras, hernach der ungenähte Rock des Vaters Zarathustras, endlich die Windeln und das Lendentuch Zarathustra’s selbst. Ao fand, daß die Sachen in Anbetracht ihres hohen Alters einen merkwürdig frischen Geruch bewahrt hätten, und gar nicht moderig dufteten. Worauf ihm die heilige Kommission lächelnd erwiderte, das käme erstens vom spezifischen Heiligkeitscharakter der Gegenstände, zweitens von der vorzüglichen irdischen Qualität der in jenen Zeiten verarbeiteten Rohstoffe, drittens von einem patentirten, diskret verwendeten Reliquien-Mottenpulver, dessen man selbst bei dem wirkungsvollsten Mysterium dieser Art nicht ganz entrathen könne.
Hierauf wurden die Heiligthümer auf die Galerie des Thurmes getragen, um von dort herab beim Zarathustrafeste dem gläubigen Teutavolke gezeigt zu werden. Wunder haben sich dabei niemals ereignet. Das Volk erwartete auch keine, es hatte an seiner objektiven Gläubigkeit vollkommen genug. Die religiösen Gefühle waren Privatsache, wie schließlich auch Glaube oder Nichtglaube.
Diese und andere Vorübungen für das Gelingen des Festes waren beendigt . . . und Ao war halbtodt vor Anstrengung.
Wenn ihn nur heute noch die Welt in Ruhe ließe, damit er sich bis morgen von den Strapazen erholen könnte.
Aber die Welt ließ ihn nicht in Ruhe. Und die Welt hieß Soundso.
Athemlos flog der Diplomat herein: — Hoheit, sie will nicht.
— Wer will nicht?
— Jala.
— Der Automat Jala?
— Jala in Person, Hoheit.
— Hast Du sie denn?
— Seit vorgestern! Tiefstes Staatsgeheimniß!
— Schweig, mich trifft der Schlag . . .
Ao versank zu einem runden Klumpen in die seidenen Polster.
Der hohe Rath wurde herbeigerufen.
Soundso erlebte nicht die erwartete Genugthuung. Die Hoheiten nahmen sich heraus, seine Eigenmächtigkeit zu tadeln. Er erbot sich, Jala sofort persönlich vorzustellen, damit sie den Hergang ihrer Befreiung aus fremden Tyrannenhänden schildere. Das fehle noch, daß ihm seine That im Interesse des Staates zum Vorwurfe gemacht werde, Undank habe seither nicht zu den Fehlern des Teutavolkes und seiner Regierenden gehört.
Darauf wurde erwidert, daß das ganze Jala-Abenteuer den hohen Rath überhaupt nicht kümmere. Ja, hätte Soundso statt der übelberathenen Frauensperson den Verführer Grege eingeliefert, das wäre etwas Anderes gewesen. Jala besitze nicht die Qualität, den hohen Rath zu interessiren, bestätigte Bim.
Der Automat des galanten Minus träumte schweigend hinter einem Schirm in der Ecke. Der Fall Jala war in seinem Maschinen-Herzen nicht vorgesehen. In seinem Sprechapparat hatte der süße Name keine Stelle.
Soundso ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Abgesehen davon, daß sie in der Schlußnummer des Festes hervorragend beschäftigt sei und zum Theil den Grege — diesen jetzt geradezu staatsgefährlichen Menschen — ersetzen müsse, da man dem Automaten gewisse Verrichtungen nicht anvertrauen könne, gebe Jala wichtige Anhaltspunkte, die schließlich doch noch auf die Spur des ehrlosen Flüchtlings leiten müßten.
— Wichtige Anhaltspunkte! höhnte Kaspe. Grege hat das verliebte Frauenzimmer aus den heiligen Bezirken der Frauenstadt fortgelockt, um die Thörin unterwegs sitzen zu lassen. Großartiger Aufschluß!
Daran den Flüchtling Grege fassen zu wollen, komme ihm vor, als wolle man nach dem Schweif eines verschwundenen Kometen greifen.
Worauf Soundso kühl erwiderte, wenn es ihm gelüste, diesen Griff zu thun, werde er nicht mit leeren Händen vor dem hohen Rath erscheinen. Er wolle sich übrigens gern verpflichten, zu einer kleinen intimen Nachfeier des unter so außerordentlichen Umständen ermöglichten Nationalfestes den biederen Onkel Grege herbeizuschaffen, in Ketten und Banden, wenn der hohe Rath seinen Einfluß aufbiete, die widerspänstige Jala willfährig zu machen. Es sei dies ganz einfach eine Frage der staatlichen Autorität. Soll diese von der Halsstarrigkeit der Tänzerin mit Füßen getreten werden? Er, Soundso, wasche seine Hände in Unschuld.
Das wirkte.
— Gut, piepste Kaspe. Ich ersuche Hoheit Ao zu befehlen, daß uns die Tänzerin sofort vorgeführt werde.
Ao ertheilte den Befehl. Jala war im Museum in sicherem Gewahrsam.
Soundso flog ab, um zuvor noch den Grege-Automaten herzubringen. Es sollte eine kleine Seelenfolter angewendet werden. Automat Grege, das war Soundsos plötzliche Idee, müsse auf Befragen bejahen, daß er soeben eingefangen und hierher geschleppt worden sei, um schwere Strafe zu erleiden, wenn Jala sich nicht dem Willen des hohen Rathes unterwerfe.
Inzwischen ließ sich der Vertreter des Slavakos, zur Nationalfeier eingeladen, bei dem Oberpriester zur Begrüßung melden.
Ao erklärte, daß wichtige Staatsgeschäfte ihn verhinderten, den Mann zu empfangen, er ließe für den Gruß danken und erwidere ihn.
So ließ sich jedoch der Mann nicht abspeisen. Er schickte die mißmuthige Antwort herein, daß es dem obersten Beamten des Teutastaates erwünscht sein müsse, ihn unter allen Umständen zu sehen, da es sich nicht bloß um eine förmliche Begrüßung, sondern zugleich um eine wichtige diplomatische Unterredung in Staatsangelegenheiten, wenigstens aber um eine klärende Vorbesprechung handle, an deren gutem Erfolg die Teutaleute ein stärkeres Interesse zu nehmen hätten, als die Slavakos.
— Ich weiß, belehrte Titschi den Oberpriester, daß die Ernte mager ausgefallen ist und die Slavakos uns härtere Bedingungen stellen wollen.
— Ich kann und mag nicht, kreischte der Oberpriester. Ich wette, das hat uns auch wieder dieser . . . vortreffliche Soundso angezettelt. Wir können jetzt keine fremden Zeugen im hohen Rathe brauchen. Der Mann muß sich gedulden bis nach dem Feste. Ich muß mich auch gedulden.
— Ueberdies hab’ ich jetzt die Register nicht zur Hand, fügte Bim mit selbstbewußter Miene bei.
Titschi lächelte wie Einer, dem’s Spaß macht, wenn eine Geschichte verkehrt angefaßt wird oder ein Hungriger einen versalzten Brei vorgesetzt erhält.
Erhitzt fuhr Soundso herein, mit seinem schwarzverhüllten Grege-Wundermechanismus, und stellte ihn neben den Minus-Automaten in die Ecke, Gesicht gegen Gesicht.
Der Vorhang ging zurück. Eine hohe Frauengestalt trat einen Schritt vor und blieb im Halblicht vor dem versammelten hohen Rathe stehen, hinter ihr verhuschten zwei Führer. Nie hatte ein Frauenfuß diesen der obersten Staatsleitung geweihten Raum betreten.
Es war ein Ereigniß.
Alle schwiegen. Soundso drückte einen Knopf. Der große, zeltartige Saal erschimmerte in goldenem Licht.
— Sie ist fürwahr sehr schön, flüsterte Titschi dem Oberpriester zu.
Die hohen Räthe verständigten sich durch Mienenspiel, daß der Oberrichter Kaspe das Wort führen solle. Soundso nahm zwischen seinen Automaten Minus und Grege Platz, in gespannter Erwartung.
Kaspe begann zu piepsen: — Wir wollen’s kurz machen, Hoheiten. Du bist Jala?
Aller Blicke hingen am Gesicht der Gefragten. Mit geschlossenen Augen stand sie da, im vollen Licht, hoch aufgerichtet in edler Schlankheit, unbewegt wie eine Statue, stolz und bescheiden, herb und ergeben, über ihre Züge ein Geist ergossen, der aus einer höheren Sphäre stammte, aus dem Jenseits des All-Wissens aus Leid und Liebe und Glückesverzicht.
Bim machte in selbstgefälligem Entdeckerdrang für sich die Beobachtung, daß eine gewisse Linie des Leibes und ein gewisser Zug im Gesicht Jalas geheime Mutterschaft verrathe.
— Du bist Jala? wiederholte der Oberrichter.
— Ihr wißt es.
Die Stimme klang wie tiefer zitternder Geigenton.
— Du sollst am Zarathustratage tanzen und willst nicht?
— Ihr wißt es.
Der Ton klang fester.
— Was bestimmt Dich dazu, Dich der Zarathustrafeier zu verweigern? Hat Dich Grege das geheißen?
Jala schwieg. Der Name Grege schien sie zu erregen, daß es wie leises Beben über ihren Leib lief. Ihr linker Fuß rutschte ein wenig vor, also daß die Sandalenspitze unter dem Saum des lichtgrauen Gewandes hervorkam.
— Was sagt Grege dazu? rief Kaspe.
Soundso fuhr mit dem Kopfe auf und nickte dem Frager aufmunternd zu.
— Wenn Grege Dich Deiner Pflicht gemahnte, würdest Du die Antwort finden, Schweigsame?
Pause.
— Grege ist nicht ferne, Jala! Warum sprichst Du nicht?
Da öffnete Jala zögernd die Lippen und sprach leise: — Was in ihm ist, ist zugleich außer ihm.
— Das ist uns keine Antwort. Wirst Du tanzen, wenn Grege beim Feste erscheint und gewissenhaft seine Schuldigkeit thut, wie er sie sonst gethan?
Jala durchzuckte es schmerzlich. Fest preßte sie die Lippen aufeinander, daß kein Laut der Klage ihre Seele verrathe.
Der Oberrichter fuhr fort: — Wenn Du seine Stimme vernimmst und seine Hand die Deinige berührt, vor allem Volk? Wenn der Uebermensch in des Wiedersehens Seligkeit Dich an seine Brust zieht?
Soundsos Finger erzitterte über der Klaviatur in seines Grege-Automaten Brust. Ein Wort von Grege jetzt — und Alles war gewonnen . . . oder verloren. Soundso zog schnell die Hand zurück und fühlte nach der Brust des Automaten Minus, indem er den Finger durch eine handgroße Oeffnung im Rücken auf die Sprechmaschine des Oberlehrers legte. Mit der andern Hand winkte er dem Oberrichter ab, um selbst das Wort zu nehmen:
— Hoheiten, ersucht unseren Freund Minus, daß er zunächst selbst für Grege, seinen einstigen Schüler, eine Bitte an Jala richte!
— Hoheit Minus, sprich in Greges Namen!
Der Automat sprach sofort mit täuschender Eindringlichkeit: — Was Du thust, bedenke des Volkes Wohl, das Dein eigenes ist.
Jala wendete den Kopf ein wenig nach der Seite, woher die Stimme kam, prüfend. Sie hob langsam die Hand und legte sie an die Stirn.
— Hast Du gehört, Jala? fragte Kaspe.
Nach einem Augenblicke des Sinnens antwortete Jala: — Ich habe eine Stimme gehört, aber ich fühle sie nicht.
Soundso erbleichte, aber er rief sofort, mit gewohnter Schlagfertigkeit:
— Ihr habt’s vernommen, Hoheiten, Jala hat kein Gefühl für des Volkes Wohl, also auch kein Gefühl für ihr eigenes. So wird dem hohen Rathe nichts übrig bleiben, als zu beschließen, daß Grege dem Feste ferngehalten werde, und als Flüchtling seine Strafe erleide. Grege werde der Abtheilung der Verbrecher gegen die Staatsgesetze eingereiht, daß er auf der Schwelle des Zuchthauses dem festlichen Volke schimpfliche Abbitte leiste. Dies mein Antrag!
Und sofort fügte Soundso das äußerste Wagniß bei. Er öffnete seinem Grege-Automaten den Mund, daß die weich und volltönenden Worte unter der Hülle wie aus geheimnißvoller Ferne und doch in der Nähe erklangen: — Meine Brüder, seht, ich lehrte Euch den Uebermenschen, was fordert Ihr noch?
Titschi begriff die Gefahr des Augenblicks und rief mit starker spitziger Stimme: — Schweig! Ich verwahre mich dagegen, daß Grege hier zum Worte zugelassen wird. Er soll seine Beschwörungsformeln bis morgen versparen, wo er dem Volke Rechenschaft zu geben hat. Ihr seht, daß es selbst Jalas, seiner Mitschuldigen, Verlangen ist, daß die Gerechtigkeit gegen Beide ihren Lauf nehme.
Und wie erlöst aus peinlicher Lage, rief der gesammte hohe Rath einmüthig: — Ja, so geschehe es! Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf!
Jala empfand den Lärm der Stimmen, die Greges Worte verschlangen wie ein trüber Strudel den vom Himmel gefallenen Regentropfen, mit verzehnfachter Stärke. Es war ihr wie ein Brüllen, Sausen, Zischen, Tosen, Stoßen, wie der spukartig sich ankündigende Groll des ganzen Volles, der morgen in immer wüster anwachsendem Geschrei und Zornausbrüchen ihr Schweigen wie Greges männlich schönes Wort in den Staub treten wird. Grege . . . und wär’s ein Wahnbild, eine Halluzination gewesen . . . Grege lebt und sein Athem . . . sein Athem? . . . Nein, seinen Athem fühlte sie nicht, mit dem Klang der Stimme ist seine Seele verweht . . . Aber seine Stimme war’s, seine lang entbehrte herrliche Stimme . . . Wie soll sie seine Seele zurückrufen, daß sie auch seinen Athem spüre, was soll sie beginnen, daß er ihr nahekomme mit seinem vollen, warmen Leben . . . Ihre Kniee halten sie nicht mehr . . . Aber nein, Niemand soll sie schwach sehen, Niemand, auch Grege nicht . . . Grege? Grege? War das Grege wirklich, war’s nicht ein Gaukelspiel? Wie wäre Grege hier, ohne sie an seine Brust zu reißen, sie zu vertheidigen vor dieser machttollen Sippe, vor aller Welt, wie ein Löwe sein Eigenthum an sich reißt und mit seinem Leben vertheidigt? . . . Bei der ewigen Liebe . . .
— Man führe Grege ab! gebot Kaspe.
Und Jala bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, dann streckte sie die Arme geradeaus nach vorn, wie beschwörend, und ließ sie schlaff an den Leib zurückfallen.
— Ich werde tanzen.
Soundso rührte sich nicht von der Stelle, sein Triumph schnellte ihn nicht empor, als ihn die Hoheiten beglückwünschend umringten. Bim selbst konnte sich nicht verhehlen, daß es ein wahres Wunder gewesen, ein solches Weib zu täuschen und unter fremden Willen zu zwingen.
Ao hatte die ganze Zeit kein persönliches Wort zur Sache gefunden. Die Geschichte ging ihm über den Horizont. — Mechanik und Mystik! murmelte er endlich und bat, das Licht zu vermindern, es sei zuviel der Helle für seine Augen.
Die Abendwolken, die Ao wie lodernde Feuerberge erschienen, sah Grege mit anderen Augen und anderen Gedanken.
— Eine Armee von Titanen, mit gezückten Schwertern, Reiterschaaren, anstürmend auf feurigen Rossen, in wildem Schnauben hinein in den Kampf! In schmählicher Flucht die Feinde vor sich her jagend! Wem eine solche Heimkehr beschieden wäre an der Spitze eines kampfbegeisterten Kriegsvolks!
Aber er wußte, das sind Wolkenbilder am Himmel, heroische Phantasien. Auf europäischer Erde findet sich diese Wirklichkeit in Wehr und Waffen mit blitzender Entscheidungskraft nicht mehr. Und sein Gruß an den heimathlichen Boden, den jetzt sein Fuß wieder betreten, war ein Seufzer, jenen schönen Zeiten nachgesandt, wo der Kampf zwischen Männern nicht mit Worten, sondern mit Blut geführt wurde, wo das Höchste vom Gegner gefordert wurde als Einsatz, sein lebendiges Leben, seine lebendige Freiheit. Sieg oder Tod!
Grege trug wieder sein Pilgerkleid und seinen Stab wie damals, als er ausgezogen . . . Als Fremden zeigte ihn jetzt nur sein wallendes Haar, sein mit vollem Barte umrahmtes, luftgebräuntes Gesicht, sein ungewöhnlich straffer Gang, sein raubthierkühner, harter Blick.
Wenn er jetzt die Nacht durchwanderte, könnte er bis zum Morgengrauen in Teuta sein und den hohen Rath allarmiren.
Er beschloß jedoch, einige Stunden unmittelbar vor der verschlafenen Stadt zu rasten, und dann, wenn das offizielle Leben gegen Mittag erwachte, aus nächster Nähe in den heiligen Bezirk einzubrechen.
In der Dämmerleuchte des abnehmenden Mondes fand er eine geeignete Lagerstätte an der hinteren Böschung des Schuttberges, der das Königsschloß trug. Keinerlei Empfindungen drängten sich vor, er legte sich mit wunderbarer Gelassenheit auf den bedeutungsvollen Boden nieder. Rasten wollte er in Sicherheit, nichts weiter, kein Gedanke vor- oder rückwärts sollte ihn stören, keine Empfindsamkeit des Eindrucksvermögens seinen Gleichmuth erschüttern. Seine Seele war ein stilles, ehernes Meer, die Stürme lagen gefesselt auf dem Grund . . . Er schlief ein, und schlief lange, fest, traumlos.
Die Sonne ging hoch am blaßblauen, wolkenlosen Himmel. Sie ward seine Weckerin. Und er lächelte ihr entgegen. Wer verschläft in Teuta den Morgen nicht, in diesem Reiche der Murmelthiere und Faulpelze? fragte er sich mit gemüthlicher Selbstironie.
Aber plötzlich wurde er ernst und zeigte sein strenggefaßtes Gesicht. Was bedeutet das eigenthümliche Getöse, Gesumme, Geflöte von künstlichen Instrumenten, Gepolter von Trommeln, das heisere Gewirr von Männer-, Weiber-, Kinderstimmen, von taktmäßig herausbrechenden Zurufen? Und jetzt gar dieser monotone Prozessionsschrei: Zara — thuuu — stra, Zara — thuuu — stra, Zara — thuuu — stra?
In welcher Zeit stand er denn? Die Nationalfeier ist doch längst vorüber? Aber das festliche Getöse wälzt sich näher und näher, es steigt auf von den Zickzack- und Schlangenlinien und Spiralen der Feststraße, pflanzt sich verstärkt über die Freitreppen und Terrassen der Kulturdenkbauten fort und erfüllt die Luft über ganz Teuta! Es setzt einige Minuten aus, das sind die Haltepunkte an den Stationen, dreimal drei Böllerschüsse werden gelöst, die Pauken und Trommeln wüthend bearbeitet — da defilirt der hohe Rath vor dem Gotteshaus und die Reliquien werden von Jungfrauen zum Thurm hinausgehalten . . . Das ist Alles so sicher und richtig, daß es kein Traum sein kann. Und Hochmittag naht, da erreicht die Feier ihren Höhepunkt vor dem Königsschloß mit der widerlichen Verspottungsposse und dem greulichen Taumel der Pöbelwonne . . . Und Zarathustra, Uebermensch und König, Gott und Affe zugleich, spottet seiner selbst zur Erheiterung des großen, freien, gebildeten Teutavolkes und giebt ein Schauspiel tiefster sittlicher Erniedrigung zur Stärkung der Staatsautorität . . . Ist’s nicht so? Ist’s nicht immer so gewesen, so lange er selbst, Grege, aus blöder Tradition an diesem Verbrechen an allem wahrhaft Heiligen und Hohen sich betheiligte . . . als gezwungener Komödiant?
Und Grege kletterte an der Rückenböschung, die ihm die heißen Strahlenreflexe der Sonne in’s Gesicht schlägt, höher und höher, den Stab krampfhaft in der Faust . . . Wenn das Alles so ist, wie es sein muß, weil es gar nicht anders sein kann . . . beim ewigen Zarathustra, wer ist heute sein Hanswurst, da Grege es nicht ist? Grege nie und nimmer es sein wird?
Hat er einen Doppelgänger?
Und wie Grege am Hinterbau des Königsschlosses sich aufrichtete und hart an der Mauer sich vorsichtig nach vorn tastete, da durchschauerte es ihn mit einem Male: Die Stunde ist da! Plötzlich, unentrinnbar! Was sich da unten vor ihm abspielt, ist die große Nationalfeier seines Teutavolkes, was sich da gegen ihn heraufbewegt, ist die Spitze des Zuges, der hohe Rath mit den Trägern der Götterbilder, Alles im Prunkglanze des offiziellen Purpurs. Unter einem Baldachin, getragen von Jünglingen, flankirt von Jungfrauen . . . wer denn? Grege’s leibhaftige Gestalt! Sein Kopf, sein Gang, seine Art die Arme zu halten, seine Art durch Kopfnicken zu grüßen, seine Stimme! Seine Stimme, wahrlich und gewiß, sein Tonfall und die liturgische Betonung, wie sie ihm zu eigen, wenn er anstimmte, wie jetzt sein Doppelgänger anstimmt: — Meine Brüder, seht, ich lehrte Euch den Uebermenschen, was fordert Ihr noch? und das Volk in gewaltigem Unisono erwiderte, wie es jetzt erwidert: — Wir fordern Deinen Schutz, auf daß wir lange und herrlich leben im Lande der Väter, darein Du uns gesetzt, ein Beispiel den Völkern . . . und der hohe Rath schlendert bedeutsam gemächlich und wundert sich über nichts, hier der würdevolle Oberpriester, geleitet von Kaspe und Bim, dort der querköpfige Oberlehrer und Hüter des heiligen Wortschatzes Minus, geleitet von Titschi und Soundso — Alles echt und dennoch eine Lüge, ein satanisches Gaukelspiel! Ist er selbst Grege, oder ist er’s nicht? Er zupft sich am Bart, er kneift sich in den Arm, er stößt mit seinem Stock auf, und da zeichnet die Sonne seinen langen Schatten an die Wand des Königsschlosses, und wenn er noch einen Schritt vorwärts macht, läuft sein Schatten über die Königsterrasse und schlägt die Freitreppe hinab und den hohen Rath mitten in’s Gesicht. Er ist er selbst, Grege! Und wie er einen Schritt zurückweicht, Deckung an der Mauer suchend, fällt sein Blick auf den weiten, unabsehbaren Zug kreischenden, lärmenden, dunkelgekleideten Volkes, gleich einer zuckenden schwarzen Schlange sich dahinwälzend zwischen den grauen, sonnig bestrahlten Schuttbergen, und nur zwei lichte Gruppen fallen aus der schwarzen Linie: die kleine Gruppe der weißverschleierten Tänzerinnen, die sich an den Händen führen, und die unverhältnißmäßig große Gruppe der Büßer in weißen Hemden, die Arme über die Brust gekreuzt. Und unwillkührlich gehen seine Augen von einer lichten Gruppe zur andern: Woher die vielen, vielen Sünder an Teutas Staatsherrlichkeit, und woher die edle Gestalt, die zwischen den niedlichen Tänzerinnen hervorragt wie eine hohe Lilie zwischen Gänseblümchen? Aber immer lauter und betäubender umbraust sein hohes Versteck der Prozessionslärm, wie Schnauben und Keuchen kommt’s die Freitreppe herauf . . . Der hohe Rath, umwallt von den Flatterwölkchen der Weihrauchfässerschwinger . . . Der schwarzbärtige Vertreter der Slavakos . . . o Scheußlichkeit! . . . der Baldachin mit den Pfauenwedeln . . . o Gaukelspiel und Sinnentrug . . . die heiligen Götterbilder und Symbole auf hohen Tragstangen, die wehenden rothen Banner des Festbundes . . . „Meine Brüder, seht, ich lehrte Euch den . . .
Grege flüchtet durch eine Seitenpforte in das Königsschloß und nimmt hinter dem geschlossenen Hauptportal, das auf die Terrasse geht, Stellung, den Mantel fest um den Leib gezogen, den Stab in der Hand wie ein Herold . . . Die Stunde ist da! Die Stunde ist da! . . . Außen Bewegung und Schlurfen der Schritte, wachsendes Getöse, Kommando zur Gruppirung, Böllerschüsse, Trommelwirbel, das Volk ordnet sich die Freitreppe herauf und staut sich unten in den weiten Spiralen . . . in wenigen Minuten geht das hohe Portal auf, Zarathustra-König tritt unter dem Baldachin hervor und hinauf auf die Portalschwelle die Tänzerinnen schließen einen Reigen auf der Terrasse . . . der hohe Rath und die hohen Abgeordneten nehmen auf den Polsterstühlen Platz, die Weihrauchwölkchen verschwimmen in der sonnigen Luft . . . Minus erhebt mächtig die Stimme . . . der Aktus beginnt in lautlosem Lauschen des Volkes . . . Minus, der Hüter des heiligen Wortschatzes von Teuta, begrüßt das heilige Symbol des großen Mysteriums in wohlgesetzter Rede, verneigt sich und ersucht den Uebermenschen, seines Amtes zu walten, sich dem Volke als König vorzustellen und seinen Jahresspruch herzusagen.
Unter donnerndem Beifall beginnt der Uebermensch:
Aufwärts fliegt unser Sinn,
Achtet der Stunde,
Teuta’s erhabenes Volk — —
Da kreischt das Portal im Rücken des königsherrlichen Automaten auf und Grege der Pilger schreitet leibhaft hervor.
Todtenstille. Die Aeltesten vom Festbund und der hohe Rath blicken entsetzt auf Soundso. Der ist so verblüfft wie sie. Wer änderte den Festplan? Der Automat deklamirt unerschütterlich weiter mit wundervollen Armbewegungen. Was will der Fremde? ruft Soundso in die Deklamation hinein und eilt herzu . . . Grege setzt ihn mit einem kräftigen Druck auf den Boden . . . Schlägt mit dem Stab dem Automaten die Krone vom Kopf, daß sie über die Terrasse hinweg und die Freitreppe hinabklirrt, reißt ihm den Hermelin von der Schulter und das goldene Scepter aus der Hand — und der Automat deklamirt, eine entlarvte Puppe, unerschütterlich weiter . . . Ebenso unerschütterlich schreitet Grege unter dem bleichen Entsetzen des Volkes in seinem Zerstörungswerke weiter . . .
Will Euer Wille befehlen,
Wohlan, ich bin sein Symbol — —
Das Symbol lag im Nu klappernd am Boden, die Maschine rasselte noch einmal, dann war sie stille.
Automat Minus, blitzschnell in seiner Natur von Grege erkannt, theilt dasselbe Loos. Sein feingearbeiteter Kopf rollt ihm von der Schulter, der Purpurmantel entsinkt der Puppe . . .
Die blinde Jala fühlt, daß sich Ungeheures ereignet: — Sprich, wer bist Du, der so Entsetzliches schafft? ruft sie mit hellgebietender Stimme in das stumme Schauspiel hinein.
Der Bann ist gebrochen, tausendstimmiges Echo ruft von allen Seiten, von oben bis unten, von Spirale zu Spirale und pflanzt sich auf der Feststraße fort: Wer bist Du? Wer bist Du? Wer bist Du, der so Entsetzliches schafft?
Die zahlreiche Gruppe der Männer und Jünglinge im Büßerhemde durchbricht die Reihen und stürmt, von einem gemeinsamen Gefühl gejagt, von einer gemeinsamen Vision magnetisch angezogen, die Treppen hinauf, auf die Terrasse, mit dem Kampfrufe: Zu ihm! Zu ihm! Er ist der Befreier!
Und wieder ruft das tausendstimmige Echo von unten: — Er ist der Befreier! Er ist der Befreier!
Und eine furchtbare Naturgewalt rüttelt und schüttelt die Massen, und wie Donnerstimme hallt’s: Heil dem Befreier! Heil dem Befreier!
Jala, ihrer nicht mehr mächtig, sie hat den Befreier erkannt, taumelt einen Schritt vorwärts, die ganze ungeheure Bewegung ist ihr durch die Seele gegangen — die hehre, lichte Gestalt sinkt an Grege’s Brust.
Es bildet sich ein dichter Kreis um Mann und Weib, alle Blicke sind starr, jeder Mund ist stumm, Grege erhebt den Stab und schwingt ihn über seinem Haupte, während er mit dem andern Arme Jala an sich preßt: Volk von Teuta, Zarathustras jüngste Stunde ist gekommen, Zarathustras des Richters und Erlösers! Heil dem Volke! Heil dem Erlöser!
So war das Zeichen zum neuen Leben, zur Wiedergeburt im Kampfe gegeben, und das weiße Banner des heiligen Aufruhrs weht von der Königsburg, bis der Sieg erfochten.
Als am Abend die Terrasse von den Trümmern des Automaten-Gaukelfestes gesäubert wurde, berührte ein Arbeiter die Sprechmaschine in der Brust des eisernen Hüters des heiligen Wortschatzes, und plötzlich begann die kopflose Puppe der entlarvten Hoheit zu rasseln: — Ao ist ein Idiot — Bim ist ein altes Grauthier — Titschi ist ein entlaufener Strandräuber — Kinder sind heilig überall, wir schütteln sie wie Wanzen ab. — Man muß dem Volk in’s Gesicht schlagen, das muntert seinen Verehrungstrieb auf — Man muß Possen mit ihm treiben, dann fühlt es sich der Gottheit nahe . . .
In derselbigen Nacht wurde Grege durch einmüthigen Beschluß des Volkes zum obersten Leiter der gemeinsamen Angelegenheiten ausgerufen, der Vertreter der Slavakos mit Soundso über die Grenze gejagt.
— Da habt Ihr Euren Tribut.
Ao und seine Hoheiten erhielten einstweilen freies Quartier im Museum.
Grege ließ eine Luftgondel ausrüsten, um bis zum Anbruch des nächsten Tages Botschaft nach Nordika zu schicken. Der schimpfliche Vertrag mit den Slavakos wurde durch ein Freundschaftsbündniß mit dem Brudervolke von Nordika ersetzt.
Dann fielen die ersten Hammerschläge zur Zertrümmerung der Mauer, welche die Stadt der Männer von der Stadt der Frauen trennte.
Dem Oberrichter Ex-Hoheit Kaspe war es gelungen durchzubrennen und bei Willem Mom am Strande Unterschlupf zu finden. Dort zirpte und piepste er bis an sein Ende über des Teutareiches Untergang . . .
Und noch weht das Banner des heiligen Aufruhrs von der Königsburg in Teuta, bis der volle Sieg über die alte Elendsordnung erstritten ist und Keiner mehr unter der Erde vegetirt, der berufen ist zu einem glücklichen Leben im Lichte der Sonne.
Wenn scharfer Nord das Fahnentuch bewegt, tönt es aus den klatschenden Falten des Banners wie Maikkas Lachen.
Ende.
Druck von C. G. Röder in Leipzig.
Die folgenden Korrekturen am Originaltext wurden vorgenommen:
End of Project Gutenberg's In Purpurner Finsterniß, by Michael Georg Conrad *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK IN PURPURNER FINSTERNIß *** ***** This file should be named 39565-h.htm or 39565-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/9/5/6/39565/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.