The Project Gutenberg EBook of Yester und Li, by Bernhard Kellermann

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Title: Yester und Li
       Die Geschichte einer Sehnsucht

Author: Bernhard Kellermann

Release Date: July 24, 2012 [EBook #40314]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Produced by Jens Sadowski





Titel

 

 

 

Verlagslogo

 

 

 

 

 

 

Bernhard Kellermann
Yester und Li. Roman

 

 

 

 

Meiner Schwester Erika

 

 

 

Bernhard Kellermann

YESTER und LI
Die Geschichte einer Sehnsucht

 

• 3. Auflage •

 

 

 

BERLIN und LEIPZIG • 1905
Magazin-Verlag Jaques Hegner

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vom Verleger vorbehalten
Gedruckt in der Spamerschen
Buchdruckerei zu Leipzig

 

 

 

 

I.

Ginstermann kam spät in der Nacht nach Hause. Es mochte zwei Uhr sein. Vielleicht auch drei Uhr. Vielleicht noch später. Er wußte es nicht. Langsam, ganz langsam war er durch die Straßen gewandert.

Über den Boden seines Zimmers war ein Schleier von Licht ausgebreitet, der leise zitterte, als er die Türe schloß. Der Mond schien durch die Vorhänge. Auf den Blechgesimsen pochte es, dumpf, in unregelmäßigen Zwischenräumen, wie ein Finger. Es sickerte, rieselte, die Tiefe schluckte. Der Schnee ging weg.

Ginstermann machte Licht. Es war ihm, als sei noch eben jemand im Zimmer gewesen, als sei er jetzt noch nicht allein. Auf dem Tische lagen seine Manuskripte verstreut, wie er sie am Abend verlassen hatte, die Kleidungsstücke auf den Stühlen, das Kissen auf der Ottomane in der gleichen Lage.

Er blickte zum Fenster hinaus, in den dunklen Hof hinab, er übersah den Kram seines Zimmers, die Skizzen an den Wänden. Alles erschien ihm sonderbar, rätselhaft, wie von einem Finger berührt, der es veränderte.

Draußen klopften die Tropfen, und es schien, als ob sie eine seltsame Sprache redeten. Ein leiser Hauch drang durch die Vorhänge, und auch der Hauch schien geheimnisvolle Worte mit sich zu führen.

Wer spricht zu mir? dachte Ginstermann.

Will mir diese Nacht alle Wunder der Welt und meiner Seele zeigen, um mich zu verwirren? Alles schwankt und fällt, was eben noch feststand. Alle Begriffe sind verworren. Ist es nicht, als sei ich aus langem Schlafe erwacht, und folgten mir wunderbare Träume in mein Erwachen?

Wer bin ich? Ich habe vergessen, wer ich bin, und weiß nur, daß ich ein anderer bin, als der ich zu sein glaubte.

Und welch geringen Anlasses bedurfte es, um meine Seele zu verwandeln?

Wer aber bist du? daß du solche Macht über mich hast?

Wer aber bist du, daß ich nicht an dir vorübergehen kann wie an anderen Menschen . . . . . .

Er sann und sann.

Da wurde es Morgen.

II.

Diesen Abend ereignete sich etwas Außergewöhnliches: Ginstermann ging mit zwei Damen über die Straße. Mit zwei jungen Damen in eleganten Abendmänteln.

Ginstermann, der wochenlang seine vier Wände nicht verließ, den man nie in Begleitung sah, den noch niemand mit einer Dame hatte gehen sehen.

Sie kamen von einer Abendunterhaltung, die Kapelli, der Bildhauer, seinen Bekannten anläßlich seiner Hochzeit gab. Kapelli, der seit Jahren mit seiner Geliebten zusammenlebte, war schließlich, da sie ein Kind erwarteten, auf den Gedanken gekommen, sich trauen zu lassen. Ginstermann wohnte im gleichen Hause und war mit den Bildhauersleuten befreundet. Die Damen gehörten zu Kapellis Kundschaft und waren aus irgend einem Grunde eingeladen worden.

Kurz nach zehn Uhr brachen die Mädchen wieder auf. Sie waren kaum eine Stunde dagewesen.

Fräulein Martha Scholl hätte noch große Lust gehabt, länger zu bleiben. Sie äußerte das in Worten und Mienen. Aber Fräulein Bianka Schuhmacher war nicht dazu zu bewegen, trotzdem Kapelli und seine Frau alles aufboten. Sie gab vor, sie werde zu Hause erwartet. Vielleicht langweilte sie die Gesellschaft auch.

Zur allgemeinen Verwunderung hatte sich Ginstermann erboten, die Damen nach Hause zu begleiten.

Sie gingen alle drei langsam, wie vornehme Leute. Die Mädchen dicht nebeneinander, er links von ihnen. In gemessenem Abstand, als sei noch eine vierte Person da, die unsichtbar zwischen ihm und den Mädchen schreite.

Es sei nicht einmal kalt.

Nein, sehr angenehm sogar.

Und man habe doch erst März. Im März sei es für gewöhnlich noch sehr unfreundlich.

Ginstermann erwiderte nichts mehr darauf, und sie schwiegen wieder.

Eine eigentümliche Unruhe erfüllte ihn. Die Ereignisse des Abends hatten ihn verwirrt.

Noch immer hörte er die Worte, mit denen er den Mädchen seine Begleitung angeboten, in sich klingen. Das war gar nicht seine Stimme gewesen. Wieder und wieder sah er sich aufstehen, den Stuhl unter den Tisch schieben und Fräulein Bianka Schuhmacher in ihre klugen, durchsichtigen Augen hinein fragen, ob es ihnen nicht unangenehm wäre, wenn er mit ihnen ginge. Das war alles so unerklärlich rasch und ohne eigenen Willen geschehen. Er erinnerte sich, daß seine Hand zitterte, als er ihr beim Anlegen des Abendmantels behilflich war: der Stoff dieses Mantels hatte sich so sanft angefühlt wie Schnee.

Und dann dieses zufällige Wiedersehen . . .

Da war wiederum Kapellis Atelier, ein Saal nahezu infolge des Meeres von Zigarettenrauch und der drei feierlich verschleierten Lampen, mit den abgetretenen Teppichen an den Wänden, die wie kostbare Gobelins aussahen, den Oleanderstöcken und der Menge Gesichter, deren Augen glänzten. Und er trat ein. Verwirrt durch den ungewöhnlichen Anblick, den Kopf noch erfüllt von der Arbeit des Tages. Und all die glänzenden Augen richteten sich auf ihn, Hände winkten, und man rief seinen Namen. „Bravo, der Einsiedler!“

Da war Kapelli, im schwarzen Festrock, der ihn veränderte, mit dem gutmütigen Philistergesicht und den genialen Augen; Frau Trud, lachend wie immer, das goldblonde Köpfchen wiegend, eine zinnoberrote Schleife vorgebunden; die Faunsmaske des Malers Ritt, das verschwimmende bleiche Gesicht der Malerin von Sacken, ganz in Schwarz, eine Tragödie in ihrem Lächeln; Knut Moderson, der Karikaturenzeichner, Maler Maurer, der Lyriker Glimm, der blonde Goldschmitt und eine Menge anderer noch.

Und da waren zwei junge Damen, die er nicht kannte, und bei denen man ihm seinen Platz anwies.

Zwei verdutzte, erstaunte, ihn anstaunende braune Augen, mit Goldflitterchen darin, ein Puppengesichtchen, frisch, glänzend wie eine Kirsche, Grübchen in den Wangen.

Und daneben zwei kühle, fragende Augen, blaßgrün wie Wasser, die jeden Zug seines Gesichtes mit einem Blick aufnahmen, ein feines, nervöses Antlitz, gleichsam durchsichtig, wie es Brustleidende haben. Ein Legendenantlitz. Und dieses Antlitz hatte er schon gesehen. Hatte er schon gesehen.

Ah — Kapelli hatte es modelliert. Es war die Büste die er „Seherin“ genannt hatte. Das waren diese schmalen, halbgeöffneten Lippen, die zögernd den Duft von Blüten einzuschlürfen schienen. Und die markierten Schläfen, die bebenden, elfenbeinernen Nasenflügel. Wenn sich dieses schmale Antlitz zurückneigte, und die großen Augen sich auf ein Ziel in der Ferne hefteten, so war es ganz genau die „Seherin“.

Kapelli hatte nicht umsonst seine prächtigen Augen.

Aber dieses Legendenantlitz hatte er früher schon gesehen. Irgendwo, vor Jahren vielleicht. Er täuschte sich unmöglich. Und während sie rings von Siry sprachen, dem Dichter Siry, der sich vor einigen Wochen erschoß, sann er darüber nach, wo er dieses Gesicht schon gesehen hatte.

Und da fiel es ihm ein. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn.

Welch ein Zufall! Nun wußte er es.

Das war im Hoftheater, vorigen Winter.

Und er sann . . . . .

Der blonde Goldschmitt, der ewig Lebendige, erzählte irgend etwas. Von seinen Fußwanderungen. Vorigen Sommer. Von mittelalterlichen Städtchen, die in der Dämmerung versanken und von Kornfeldern, die in der Sonne kochten, und vom Meer, das er in einer Sommernacht hatte leuchten sehen. Und vom Walde — ah, vom Walde. Goldschmitt, der Malerdichter. Er sprach nur in Superlativen, ebenso seine Mienen. Und fortwährend strich er sich mit den Fingern über das strähnige Haar, das von der Stirne bis in den Nacken lief, eine einzige Welle. Und Dichter Glimm saß, ohne eine Silbe zu sprechen, die Zigarette zwischen den Lippen, durch die Wimpern ins Licht blickend, und ließ sich durch Goldschmitts Schilderungen Stimmungen suggerieren.

Dieser Goldschmitt erzählte in der Tat gut. Er sah impressionistisch, immer Licht, immer Farbe, ein roter Klecks auf dem Kirchturmdach, und das Bild war fertig.

Dazwischen kam Kapelli mit der Zigarettenschachtel und beugte sich über den Tisch, so daß ein Büschel grauer Haare über seine Stirne fiel. Wenn er sprach, so funkelten die Vokale gleich leuchtenden Steinen, und man verspürte Lust, ihn zum Singen aufzufordern.

An den Tischen lärmten und lachten sie, und ewig war Ritts nasale Stimme zu hören.

Und Fräulein Scholl hing mit den Blicken an Goldschmitts Lippen und hielt die Zigarette mit steifen, ungewohnten Fingern, hier und da Tabak von den Lippen nehmend. Sie schüttelte den Kopf, wenn sie lachte, und die Wellen ihrer Haare wippten. Diese Haare waren von genau der gleichen Farbe wie ihre Augen. Ihre Zähne waren schneeweiß, klein, Puppenzähne, und zuweilen blitzte eine goldene Plombe auf. Manchmal unterbrach sie den Erzählenden und begann eine ähnliche Schilderung, um mitten darin abzubrechen, da ihr der Ausdruck fehlte. Dann blies sie stets eine dünne Rauchwolke in die Luft.

Daneben ihre Freundin, reserviert im Wesen. Sie lächelte liebenswürdig. Sie rauchte nicht. Sie hielt die Augen auf Goldschmitt gerichtet und brachte ihn einigemal in Verwirrung, als er sich ungeschickt ausdrückte. Es war, als beobachte sie genau, was um sie vorging, und bilde sich über alles ein Urteil. Dazwischen wieder lachte sie herzlich, wie ein Kind, als sei sie für einen Augenblick eine andere geworden. Wenn sie sprach, so sprach sie schön und ohne Hast. Ihre Stimme erinnerte an die Töne einer Geige, sie war weich und gedämpft. Diese Stimme drang tiefer als in die Ohren und erweckte das Bedürfnis, sie bei geschlossenen Lidern zu hören. Gleichzeitig klang der kühle Stolz einer sich abschließenden Seele aus ihr.

Und er saß und sann.

Wie seltsam es doch ist, dachte er, das Schicksal hat die Menschen an Fäden und führt sie zusammen und auseinander und wieder zusammen, je nach seiner Laune.

Hier also traf er sie wieder.

Schon angesichts der Büste hatten seine Gedanken hartnäckig eine Erinnerung in ihm auszulösen gesucht. Er entsann sich dessen noch deutlich.

Aber nun stand sie klar vor seinen Augen, wie an jenem Abend.

In leuchtend weißem Kleide sah er sie vor sich, auf Marmorstufen stehend, mitten im Licht. Und sie hielt die großen Augen auf ihn geheftet, gleichsam erstarrt vor Freude. Als sei er ihr Geliebter und nach langer Fahrt über ferne Meere unerwartet zurückgekehrt. Er stieg die Stufen zum Foyer hinauf und hielt unwillkürlich den Schritt an, betroffen durch den Ausdruck dieses Blickes. Und sah sie an.

Das alles währte nicht länger als eine Sekunde. Es war sonderbar, wie ein Rätsel.

Sie hatte ihn heute nicht einmal wieder erkannt. Trotzdem war es ihm, als ob ihr Blick zuweilen über seine Züge tastete und etwas suchte.

Dann erhoben sich die Damen, und auch er stand auf. Und ohne eigentlich daran gedacht zu haben, bot er ihnen seine Begleitung an.

Und nun ging er neben ihnen her.

Und war noch so verwirrt durch die Eindrücke des Abends, daß er kein Wort zu sprechen vermochte.

All die vielen Gesichter schwebten ihm noch vor Augen, lächelnd, lachend, mit den Augen zwinkernd, er hörte immer noch das Gewirr von Stimmen, und da war wieder die verschleierte Lampe, das mit Zigarettenasche bestreute Tischtuch, Goldschmitt, Glimm, Fräulein Scholl und daneben Fräulein Schuhmacher.

Er sah sie ganz deutlich vor sich. Ihre hellen Augen, ihre schmalen Lippen, die leise und vornehm lächelten, ihre Hand. Er hatte noch nie eine solche Hand gesehen. Sie erschien ihm wie ein denkendes, selbständiges Wesen.

Und wieder empfand er jenen undefinierbaren Schrecken wie in jenem Moment, da er in seinem Gegenüber jene Dame vom Hoftheater entdeckte.

Ah — das war auch zu sonderbar. Das mochte jetzt über ein Jahr her sein.

Wiederum aber war es ihm unerklärlich, wie ihn dieser alltägliche Zufall in derartige Aufregung versetzen konnte. War ihm diese Spannung rätselhaft, mit der er jeder Bewegung dieses Mädchens gefolgt war, jeder noch so unmerklichen Veränderung dieses durchsichtigen Antlitzes.

Das war absolut nicht mehr die Objektivität, mit der er sonst seine Modelle studierte.

Wurde er nicht komisch vor sich selbst, daß er mit den jungen Damen lange Straßen entlang ging? Wenn er aber ehrlich sein wollte, so mußte er sich gestehen, daß es ihm auf der anderen Seite unangenehm gewesen wäre, hätte ein anderer diese Rolle übernommen. Daß es ihm gleichzeitig eine physische Befriedigung bereitete, neben dem schlanken Mädchen einherzugehen.

Er dachte an sein verlassenes, dunkles Zimmer, das er liebte nahezu wie einen Menschen. Er sah sich bei der Lampe sitzen und schreiben, wie er es Tag für Tag, seit zwei Jahren gewohnt war. Er sah seine Manuskripte auf dem Tische liegen, mit der großen Rede Rammahs, die er in der Mitte abgebrochen hatte, um zu Kapelli hinunterzusteigen. Es erschien ihm töricht, daß er seine Arbeit im Stiche gelassen hatte. Kapelli hätte es ihm gewiß nicht übel genommen, wenn ihm auch Frau Trud einige Zeit böse gewesen wäre. Nun würde er die große Rede, die Rammah, der Gefangene, an die Königin Lehéhe zu richten hatte, beendigt haben. Rammah, der seinen Kopf aufs Spiel setzte, um noch einmal das Antlitz seiner Geliebten zu sehen.

Und er dachte an Rammah und Lehéhe, die Königin. Und wiederholte sich im Geiste die Szene und die Worte, die der Gefangene zuletzt sprach.

Rammah sagte: Gib dem Gefangenen eine Hand voll Ton, er wird das Bildnis seines Weibes formen, bei Tag, bei Nacht, in jeder Miene — so formt ich Euer Bildnis, Königin, bei Tag, bei Nacht, aus Wolken, Steinen, Wasser, Bäumen, Wind, in jeder Mime, stolz und milde, lächelnd, strahlend, wie ich es sah.

Und nun sollte er erzählen, daß ihn seine Qual zu den Mönchen getrieben.

Aber seine Rede verwirrte sich.

Eine unerklärliche Erregung erschütterte Ginstermanns Wesen.

Während er sich diese Worte wiederholte, erschien es ihm, als empfände er sie inniger als am Abend, als kämen sie aus dem Tiefsten seines Wesens. Und Lehéhe, die Königin, hatte sich verändert. Nicht mehr die orientalischen Züge, die schmale gebogene Nase, das blauschwarze glatte Haar, nun trug sie die Züge des Mädchens, das ihm zur Seite schritt . . . . .

Ginstermann hüllte sich dichter in den Mantel und gab sich Mühe, auf andere Gedanken zu kommen.

Die Gewänder der Mädchen rauschten sanft. Es war ihm, als gingen sie sehr rasch. Diese Vorstellung wurde dadurch verstärkt, daß man ihre Schritte nicht hörte. Es war frischer Schnee gefallen.

Die Straßen erschienen breiter und öder. Dunkle, unnatürlich große Fußspuren liefen über die Trottoire. Die Bogenlampen leuchteten trüb, umflimmert von feinem Schneestaub, den ein großes Sieb über sie zu schütteln schien. Dunkle Gestalten tauchten lautlos auf, verschwanden lautlos. Irgendwohin. Schatten gleich, die die Straßen einer toten Stadt durchwandern.

Und sie selbst glichen solchen Schatten.

Ginstermann hatte das peinliche Gefühl, daß die Mädchen auf eine Anrede seinerseits warteten. Ja, vielleicht belustigten sie sich über ihn, der nichts wußte, als vor sich hinzugrübeln. Es war nicht ausgeschlossen, daß Fräulein Scholl ihre Freundin in den Arm kniff und in sich hineinkicherte.

Aber ein Seitenblick überzeugte ihn, daß sie beide in Gedanken versunken waren, die nicht in direktem Zusammenhang mit dieser Wanderung standen.

Beide lächelten. Aber dieses Lächeln war grundverschieden. Bei Fräulein Schuhmacher hauchte es aus den halbgeöffneten Lippen, bei Fräulein Scholl sprühte es in den Wangengrübchen.

Es schien, als denke die eine über etwas Hübsches nach, das in der Vergangenheit ruhte, die andere über etwas Hübsches, das aus der Zukunft schimmerte.

Fräulein Schuhmacher ging mit geöffneten Augen und blickte zu Boden, als beobachte sie das Spiel ihres Schattens, der bald vorauseilte, bald unter ihren Schritten durchschlüpfte. Ihr Profil war von vornehmer, reiner Linie. Die Stirne gedrückt und eigensinnig. Der Mund der eines Menschen, der wenig gelacht und viel gelitten hat.

Fräulein Scholl hielt die Augen geschlossen, und diese geschlossenen Augen lächelten.

Während ihre Freundin leicht vornübergebeugt schritt, das Wippen der Libelle im Gang, ging sie aufrecht, mit steifem Stolze. Den Kopf etwas auf die Brust gesenkt.

Man konnte sie sich gut als würdevolle Dame vorstellen.

Ginstermann sann darüber nach, was er den Damen sagen könne.

Der Wunsch erwachte in ihm, ihnen durch irgend eine Bemerkung aufzufallen.

Er war oftmals nahe daran zu beginnen, aber stets fand er die Bemerkung deplaziert oder banal. Die einleitende Bemerkung, einleitende Frage forderten sein Lächeln heraus infolge ihrer Ähnlichkeit mit den Ballgesprächen in den Witzblättern. Mit nervöser Hast suchte er in seinem Kopfe nach einem Gedanken, den er hätte anbringen können. Er hätte sich gern geistreich, witzig gezeigt. Er hätte den Mädchen gern etwas mit nach Hause gegeben, ein kleines souvenir de Ginstermann, etwas, das sie noch beschäftigte, während sie sich entkleideten. Etwas Frappierendes, das sie kopfschüttelnd zu fassen suchten, ein schönes Wort, das noch auf der Schwelle ihres Schlafes vor ihnen schimmerte.

Aber seine Gedanken schleppten altes Zeug herbei, das einem jeder von den Lippen ablas, wenn man es aussprechen wollte. Oder Einfälle, die er früher irgendwo geäußert, und suchten ihn zur Kolportage seiner eigenen Gedanken zu verführen.

Was sollte er diesen Mädchen sagen?

Sollte er ihnen einen Vortrag halten über die Schuld im modernen Drama, über die Phonetik des Dialogs?

Über die seelische Armut eines Mädchens aus guter Familie? Über Bücher, Theater, Musik?

Sollte er ihnen die Grimasse der modernen Gesellschaft mit höhnenden Strichen skizzieren?

Sollte er ihnen sagen: Meine Damen, so kahl wie dieser Baum hier ist unsere Zeit an Schönheit und dem Wunsche nach ihr. Aber es werden Generationen kommen, deren Schönheitsdurst so gewaltig sein wird, daß man das herrlichste Weib des Landes, nackt, auf geschmücktem Wagen durch die Stadt führen wird.

Was sollte er sagen? Sollte er sagen —?

So sehr er sich bemühte, er fand nichts.

Er hatte es verlernt, mit Menschen zu verkehren, mit jungen Damen angenehm zu plaudern. Die Jahre seiner Einsamkeit hatten ihm die Lippen verschlossen.

Wußte er, was diese Mädchen interessieren konnte?

„Ach, wie entzückend!“ tief Fräulein Scholl plötzlich aus und blieb stehen. „Ist es nicht herrlich?“

Der Marmorpalast der Akademie lag vor ihnen.

Vom bleichen Lichte des Mondes durchstrahlt, umgeben von dunklen Häusermassen, stieg er empor aus wipfelkahlen Bäumen wie ein heiliges Denkmal, durch eine Luftspiegelung aus einer herrlichen Welt herübergetragen. In seiner mehr denn totenhaften Stille, die nicht mehr das Ohr, nur die Phantasie faßte, in seiner sanften Schönheit stand er außerhalb alles Irdischen, außerhalb der Zeit, bereit, jeden Augenblick zu versinken und trivial-praktische Häuserklumpen zu enthüllen.

Ginstermann wußte: Das ist der Palast eines gewaltigen Königs. Der König ist gestorben und liegt aufgebahrt auf dunklem Sarkophage inmitten des Palastes. Zu seinen Füßen kauert sein Weib. Pechpfannen umflammen das Lager. Und morgen wird der Palast in Flammen stehen, und den Platz werden Menschen erfüllen, tränenlos in ihrer Trauer, als ein starkes Volk. Und Priester werden das Blut von tausend Kriegern in die rauchenden Trümmer gießen, dem Geliebten zu opfern.

„Ist es nicht überwältigend?“ flüsterte Fräulein Scholl.

„Es ist schön,“ sagte Ginstermann.

Fräulein Schuhmacher streifte ihn mit einem Blicke, wie um die Gedanken zu erraten, die er ihnen vorenthielt.

Fräulein Scholl wohnte in der Schackstraße. Sie begleiteten sie bis zur Türe, dann gingen sie weiter. Die Leopoldstraße hinunter.


Sie gingen nun allein.

Mit der Entfernung der Freundin war die Last auf Ginstermanns Seele um das Doppelte gewachsen.

Seine Verwirrung steigerte sich, und er fühlte, wie er die Herrschaft über seine Gedanken verlor. Vergebens strengte er sich an, seine Gefühle zu entwirren. Er empfand wiederum den schwindelartigen Zustand, der ihn ergriff, als er aufstand, um den Damen seine Begleitung anzubieten. Gewohnt, immer Herr der Situation und seiner selbst zu sein, empfand er ihn als eine demütigende Peinigung. Es war ihm, als habe man ihn in eine Narkose versetzt, gegen die sich seine halbbetäubten Sinne erfolglos sträubten.

Gleichsam ohne selbständigen Willen schritt er neben diesem Weibe einher. Einem Trabanten ähnlich, der in die Bahn eines mächtigen Sternes geriet. Die Seele dieses Weibes hatte sich der seinigen bemächtigt und lockte ihn mit der Gewalt ihres Rätsels.

Diese Situation, das Schweigen, aus dem man heraushören konnte, was man wollte, wurde ihm unerträglich.

Er richtete sich auf, steckte die Hände in die Manteltaschen, bemüht, sich vor sich selbst das Aussehen eines gleichgültigen Menschen zu geben.

Er hörte ihre Schritte über den Boden gleiten, ihre Kleider rauschen, er bemerkte jede Bewegung ihres Kopfes, ihrer Hand, ohne jedoch sein volles Bewußtsein zurückfinden.

Die Straße war schnurgerade, wie ein Lineal. Blendend weiß in der Nähe, von düsterem Rauch erfüllt in der Ferne. Beschneite Pappeln flankierten sie, die ihnen in langsamem Zuge entgegenpilgerten.

Dann und wann krauchte ein Schatten heran. Die Helmspitze eines Schutzmannes blitzte auf. Eine Katze überschritt geschmeidig die Straße, behutsam Pfote um Pfote in den Schnee setzend.

Jeder, der an ihnen vorüberkam, blickte sie an. War es ein Herr, so musterte er zuerst seine Begleiterin, dann ihn; war es eine Dame, so galt ihm der erste Blick. Alle dachten sich etwas. Sie dachten, es sind Liebesleute, die sich gezankt haben und nun still, voneinander entfernt ihre Straße gehen. Oder sie dachten, es sind Leute, denen die aufkeimende Liebe die Lippen verschließt und schwermütige Gedanken eingibt.

Während seine Sinne dies mechanisch beobachteten, rang seine Seele mit der fremden Gewalt, die auf ihn eindrang.

Er wollte froh sein, wenn er wieder allein war. Auf der andern Seite jedoch fürchtete er diesen Moment und suchte er nach Möglichkeiten, ihn hinauszuschieben. Mit ärgerlichem Schrecken dachte er daran, daß er zum ersten und voraussichtlich zum letzten Male neben diesem Weibe ging, das seiner Seele nicht gleichgültig war. Und daß er es nicht verstanden hatte, diese günstige Lage auszunützen, das Wesen dieses Mädchens zu ergründen, und dadurch seine Gedanken vor der peinigenden Gier zu behüten, mit der sie ein ungelöstes Rätsel zu umkreisen pflegten.

Da vernahm er plötzlich ihre Stimme.

Er verstand ihre Worte nicht und mußte sich erst ihren Klang ins Gedächtnis zurückrufen, bevor er sie erfaßte.

„Kennen Sie denn meine Gedichte?“ antwortete er lächelnd, erfreut, daß das Stillschweigen gebrochen war.

Sie hatte gesagt: Ich kenne ein Gedicht von Ihnen, Herr Ginstermann, das sehr schön ist.

„Ja,“ erwiderte sie, „ich habe sie gelesen. Ein Herr machte mich darauf aufmerksam. Viele sind mir zu herb, zu bitter, aber dieses eine ist sehr schön, und ich empfand das Bedürfnis, Ihnen das zu sagen, bevor wir uns trennen. Es heißt: Martyrium.“

„Das war mein erstes, Fräulein Schuhmacher.“

„Ihr erstes?“

„Ja. Ich trottete meine Straße. Da kam es. Ganz von selbst, ich hatte früher nie Verse geschrieben.“

Sie schwieg und blickte sinnend zu Boden.

Da erschrak Ginstermann. Diese wenigen Worte erlaubten ihr, eine Menge Schlüsse auf sein damaliges Innenleben zu ziehen.

„Der Gedanke ist schön, und das Bild ist schön,“ fuhr sie leise fort, „es hat einen tiefen Sinn. Ich kenne kein Gedicht, das einen so tiefen Eindruck in mir hinterlassen hätte.“

Er wußte, daß dieses Gedicht gut war, zu seinen besten gehörte. Aber keine einzige Besprechung hatte es besonders hervorgehoben. Um so seltsamer erschien es ihm, daß sie darauf gekommen war.

Das Gedicht war sehr einfach. Ein Mann, der vor einem Weibe in unverhüllter Schönheit kniet, bittet es, ihm den Dornenkranz der Liebe, mit dem es ihn krönt, tief, tief ins Haupt zu drücken.

„Hier bin ich nun zu Hause,“ sagte Fräulein Schuhmacher und blieb stehen.

Sie standen vor einer Villa in modernem Stile, deren originelle Architektur Ginstermann schon früher aufgefallen war. Zwei Fenster der ersten Etage waren matt erhellt, als läge ein Kranker im Zimmer.

Ginstermann griff an den Hut, da es sich nicht schickt, eine Dame vor der Türe noch zu verhalten.

Aber sie schien es nicht zu bemerken.

Ihr Blick ruhte auf seinem Antlitz, und wieder gewann er die Vorstellung, als suche sie nach irgend etwas.

„Wir sahen uns übrigens schon einmal,“ begann sie von neuem, und ihr Blick traf voll den seinigen.

An diesem Blicke erkannte er sie.

Hier ist ein Mensch! dachte er, freudig erschreckend. Er fühlte, wie die Erregung in langer Welle durch seinen Körper lief.

Diese Augen waren hell und durchsichtig, als brenne ein Licht hinter ihnen. Er wußte, hinter diesen Augen wohnt jemand.

„Ja, im Hoftheater,“ erwiderte er, und er lächelte und blickte ihr in die Augen. Es erschien ihm, als seien sie langjährige Bekannte.

„Ich verwechselte Sie damals mit jemandem,“ fuhr sie fort, und ihre Lippen zuckten sonderbar, als unterdrückte sie ein Lächeln.

Er habe das sofort bemerkt.

Fräulein Schuhmacher blickte zum Himmel empor, aus dem große nasse Flocken fielen.

„Es taut,“ sagte sie, „ich glaube, es wird nun wirklich Frühling.“

Das klang einfach, aber eine krankhafte Sehnsucht nach dem Frühling lag in dem Tone ihrer Stimme und den Blicken, mit denen sie die großen Flocken verfolgte.

Dann bot sie ihm die Hand, indem sie ihm für die Begleitung dankte. Sie sah ihn dabei an, aber es schien, als blickte sie durch ihn hindurch.

Ginstermann entgegnete: „Ich danke, Fräulein Schuhmacher.“ Das „Ich“ betonend.

Sie blickte ihn mit leichter Verwunderung an.

Er aber wiederholte: „Ich danke.“ In der gleichen Betonung.

Da drückte sie ihm die Hand, jedoch ohne eine andere Sprache als die der Höflichkeit einer modern denkenden Dame.

„Adieu,“ sagte sie, „auf Wiedersehn.“

„Adieu,“ sagte er.

Sie nickte und ging. Im Augenblick war sie verschwunden.

Ein dunkles, schweres Tor glitt lautlos hinter ihr ins Schloß, lautlos, unaufhaltsam.

Ginstermann stand allein auf der Straße. Plötzlich fühlte er, daß es düster und kalt war.

Er stand noch eine Weile, dann wandte er sich und machte einige zögernde Schritte. Etwas hielt ihn zurück. Und nun blitzte es auf. Sie hatte gesagt: auf Wiedersehen. Sie hatte gesagt: auf Wiedersehen. Er hörte ganz deutlich ihre geschmeidige, leicht verschleierte Stimme. Aber das allein war es nicht.

Er ging wieder auf die Stelle zurück, wo er sich von ihr verabschiedet hatte, gleichsam als höre er hier ihre Stimme mit größerer Deutlichkeit in seinem Gedächtnis wiederklingen.

Sie hatte das „Wieder“ betont. Das war es.

Es war keine Höflichkeitsformel, mechanisch gesprochen. In dieser Betonung lag der Wunsch, ihn wiederzusehen und zugleich eine gewisse Freude, ihn kennen gelernt zu haben.

Nun erst ging er seiner Wege.

Nach geraumer Zeit bemerkte er, daß er die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.

Er machte Kehrt und überschritt, als er sich der Villa näherte, die Straße, um nicht gesehen zu werden.

Im Eckzimmer der ersten Etage war Licht. Rötliches, sanftes Licht, das durch das geöffnete Fenster wie feiner Dunst in die Straße hauchte.

Er erschrack, ohne zu wissen weshalb, als er es bemerkte.

Da wanderte die Flamme einer Kerze an den dunklen Fenstern der anstoßenden Zimmer vorbei und verschwand in dem Zimmer, das matt erleuchtet war.

Ginstermann stand, verborgen im Schatten einer Pappel, und wartete. Er wartete lange und in sonderbarer Erregung, als spiele sich in dem Zimmer da droben etwas ab, was entscheidend für sein Leben sei. Und doch war es nur der Besuch eines Kindes bei seiner Mutter, vor dem Schlafengehen.

Die großen, weißen Flocken fielen langsam auf ihn herab, ihn gleichsam durch ihr geheimnisvolles, sanftes Abwärtsgleiten in einen Zustand der Betäubung versetzend.

Das Licht erschien wieder und wanderte an den Gardinen vorüber. Aus seinem Auf und Ab erkannte er ihren Schritt. Er bildete sich ein, das Schließen einer Türe zu vernehmen.

Und nun erschrak er, daß er unwillkürlich tiefer in den Schatten zurücktrat.

Sie war ans Fenster gekommen. Und sie blickte genau auf den Baum, der ihn verbarg.

Etwas wie eine tödliche Angst packte ihn, sie könne ihn durch den dicken Baum hindurch bemerken.

Zum ersten Male sah er, wie schlank sie war!

Endlich wandte sie den Kopf, und er atmete auf.

Sie trat zurück und schloß das Fenster. Er hörte es, als stände er dicht darunter, über ihre Hand, die den Knopf drehte, flossen die Vorhänge zusammen, und fingen den Schatten ihrer Gestalt auf.

Das Verlangen erfaßte ihn, irgend etwas zu unternehmen, zu rufen, irgend etwas zu rufen, nur um sie noch eine Sekunde zurückzuhalten.

Da wurden die Vorhänge licht.

Er ging nach Hause.

III.

Ginstermann verlebte die folgenden Wochen in gewohnter Zurückgezogenheit.

Wie früher ließ er sich des Mittags seine Mahlzeit auf das Zimmer bringen, um nicht genötigt zu sein, in einem lärmenden Lokal zu speisen und mit gleichgiltigen Leuten ein Gespräch führen zu müssen. Nur des Abends, wenn die Dämmerung herabsank, und es dunkler war, als wenn alle Lampen in den Straßen brannten, verließ er zuweilen das Haus, um einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Diese Spaziergänge benutzte er dazu, sich in Gedanken auf die Arbeit des Abends vorzubereiten.

Die Ereignisse jenes Abends hatten ihm zu denken gegeben.

Zu nüchterner Vernunft zurückgekehrt, hatte er mit Erstaunen wahrgenommen, mit welcher Schnelligkeit er die Herrschaft über seine Seele verloren. Wenn er sich daran erinnerte, wie er hinter der Pappel stand und auf das schlanke Mädchen am Fenster blickte, so sah er gleichsam einen Fremden vor sich, dessen Gebaren er kopfschüttelnd und mitleidig lächelnd beobachtete.

Er erklärte sich diese Erregung als eine Reaktion seines Gehirns, das sich seit Jahren in rastloser Tätigkeit befand, immer auf der Flucht vor alten und der Jagd nach neuen Gedanken, sich kaum die notdürftigste Ruhe und Zerstreuung gönnend.

Jenes unscheinbare Erlebnis war für ihn das gewesen, was für den Nüchternen ein Schluck Wein ist, es hatte ihn berauscht. —

Ginstermann hatte früher ein Leben ohne Maß und Ziel gelebt, teils von seinen lebendigen Sinnen getrieben, teils von dem Wunsche, den Hunger seiner Seele an möglichst vielen Eindrücken zu stillen. Erst seine reisende Erkenntnis gebot ihm eine Regulierung seiner Lebensweise, wenn er seine Seele nicht durch Erinnerungen überlasten wollte.

Sie riet ihm zur Vorsicht angesichts der Empfindsamkeit seiner Seele, die eine Leidenschaft in jungen Jahren noch gesteigert hatte.

Jahre der Einsamkeit und Verinnerlichung ließen Erkenntnisse in ihm reifen, die ihm Welt und Menschen in neuem Lichte zeigten.

Er erkannte, daß das, was man im allgemeinen Leben nannte, ärmlich und nüchtern war gegen ein Leben in der Phantasie, gegen die Beschäftigung mit den ewigen Ideen, die geheimnisvoll die Jahrtausende regieren, das Tun der Menschen bestimmen.

Nach und nach war er zur gänzlichen Unfähigkeit gelangt, mit den Menschen zu verkehren.

Er verachtete, er bemitleidete sie.

Sie waren ihm zu wenig Luxuswesen, zu wenig Dichter, ohne freie Gefühle, ohne den Wunsch nach Flügeln. Ihre Ziele waren klein und kläglich und reichten nicht über den Tag hinaus. Die gesicherte Existenz im Himmel hatte sie vergessen lassen, daß der Mensch auch auf der Erde etwas zu vollbringen hatte.

Seine Geschlechtsgenossen waren ihm nicht sympathisch. Ihre rohen Sinne, ihre Lüsternheit, ihre vergiftete Phantasie stießen ihn ab. Die Widerstandslosigkeit, mit der sie sich den von der Masse diktierten Gesetzen und ihren Trieben unterwarfen, machte sie ihm erbärmlich.

Das Weib schien ihm erst auf einer Durchgangsstufe zum Menschen angelangt zu sein. Das Unklare, Vorurteilsvolle, das Spekulierende, das wenig Schöpferische, seine Freude an glitzernden Dingen ließen es ihm als ein Wesen erscheinen, das um tausend Jahre hinter dem Manne zurück war und sich nicht Mühe gab, diesen Vorsprung einzuholen. Es lebte von den Erkenntnissen des Mannes, ohne dies einzugestehen und ihm Dank zu wissen, es lebte von seiner Seele, ohne ihm etwas dagegen zu geben.

Auf die Suche zu gehen nach einem Gefährten, einer Gefährtin, hatte er schon lange aufgegeben, da ihn die Erfahrung lehrte, daß in jedem neuen Menschen wieder der alte steckte, dem er mißmutig und gelangweilt den Rücken gedreht hatte.

Nicht als ob er in Zeiten geistiger Ebbe nicht unter seiner Vereinsamung gelitten hätte. Es geschah manchmal, daß er des Nachts mit fiebernden Augen in die wogenden Visionen seiner Phantasie starrte, und gleichzeitig sein Herz in ihm vor Hunger und Sehnsucht pochte.

Er war entstanden aus Mann und Weib und deshalb zerklüftet. Er hatte das empfindsame, lebensfrohe Gemüt seiner Mutter geerbt und den hochmütigen Verstand seines Vaters. Diese beiden, Gemüt und Verstand, lebten in ungleicher Ehe. Er pflegte über seine weichen Empfindungen spöttisch zu lächeln. Er stand skeptisch jeder Erscheinung gegenüber und entkleidete sie des Tandes, mit dem gutmütige Dummköpfe sie geschmückt. Im Grunde seiner Natur aber lebte das Bestreben, alle Dinge wiederum zu verklären und mit einem Schmucke zu versehen, wie ihn seine Seele liebte.

In den folgenden einsamen Abenden, die ihm eine ruhige Sammlung seiner Gedanken erlaubten, gelang es ihm, die Fremdkörper wiederum auszuscheiden, die seiner Seele gefährlich zu werden gedroht hatten.

Er machte Nachträge in sein Tagebuch, revidierte seine Aufzeichnungen, blätterte in alten Manuskripten, ließ wieder und wieder die ewigen Fragen Revue passieren, nach neuen Gesichtspunkten, neuen Perspektiven suchend.

Indem er die Entwicklung seines inneren Menschen überblickte, erkannte er mit Deutlichkeit, daß sein Weg in die Höhe führte. Abgründe lagen zwischen ihm und der Welt. Und alle Brücken waren gefallen. Er hatte ihre Irrtümer und Götzen überwunden.

Mit Genugtuung bemerkte er, daß er gewachsen war, seit er sich das letzte Mal sah, daß seine Seele fortfuhr, ihr Licht in die Finsternis zu schleudern.

Und mit dieser Erkenntnis kam frischer Mut über ihn und neuer Stolz. Ein ungestümer Schaffensdrang erfüllte sein Wesen. Fiebernd vor Schaffensfreude und Finderglück verbrachte er seine Tage und Nächte.

Draußen schneite und stürmte es. Es war ihm gleichgültig, ob das Jahr vorwärts oder rückwärts ging.

Der Vorfall von neulich entwich in weite Fernen und verlor an Leben und Bedeutung. Das schlanke Mädchen tauchte nur dazwischen in seinen Gedanken auf und versuchte ihn mit großen, schimmernden Augen zu bannen. Aber sie brachten ihm keine Gefahr mehr. Blick und Farbe erloschen, sobald er es wollte.

Und nur, wenn sein Gehirn müde war von langer Arbeit, stieg der Wunsch in ihm auf, das Mädchen wiederzusehen, sich zu erfreuen am Klange dieser Stimme, der Klarheit dieser Augen. Aber des Morgens erwachte er stets heiter, sorglos und ohne Wünsche.

Der Wert jenes Weibes verringerte sich keineswegs in seiner Vorstellung. Er war überzeugt, daß sie einen reiferen, höheren Typus repräsentierte, als ihre Schwestern, die er kannte.

„In seinem Herzen jedoch wohnte die Sehnsucht nach einem Weibe hinter den Sternen. Singe hieß sie, das ist: ich bin nicht.“

Seine Gefühle gehörten den Gestalten, die er schuf, seine Gedanken gehörten ihnen.

Seine Seele gehörte seiner Arbeit, seinem Ziele.

IV.

Es war nun wirklich Frühling geworden.

Finsternis und Rauch des Winters waren verschwunden, und die Kälte vorüber, die einem wie eine Katze ins Genick sprang, wenn man das Haus verließ.

Über den Häusern wölbte sich ein wolkenloser Himmel gleich einer ungeheuren Flagge von blaßblauer Seide. Weiche, laue Luft hauchte durch die Straßen. Die Stadt erschien wie aus einem klaren, duftenden Bade gestiegen.

Die Trottoire waren reingefegt von Sand und Schlacke, erfüllt von Spaziergängern. Jeder, dem es möglich war, ging zu Fuß, um die herrliche Luft und die wärmende Sonne zu genießen. Man trug Kleider von hellerer Farbe, und aus den Herzen der Menschen war der Mißmut entwichen, den der zu Ende gehende Winter erzeugt. Aus ihren Augen spiegelte der junge blaue Himmel. Wagen, besetzt mit Frauen und Kindern in schmucken Frühlingsgewändern, flogen an den Spaziergängern vorüber, und aus den Gesichtern der Insassen strahlte die Freude, bald den Wald und die Wiesen zu sehen.

Ginstermann hatte den Entwurf seines Dramas beendigt und benutzte das verlockende Wetter, um sich zu erholen, neue Kraft und neuen Blick für die Ausarbeitung zu gewinnen. Er wanderte stundenlang in den Straßen umher, mit wachen Augen und Ohren für alles, was um ihn vorging.

Er trug einen hellen Sommeranzug, der ihn ganz veränderte. Mit seinen schwarzen Augen und Haaren, dem elfenbeingelben Teint seines schmalen Gesichtes erschien er wie ein Südländer. Die ewige Zigarette im Munde, schlenderte er einher, wie einer, der den ganzen Tag nichts zu tun hat, als spazieren zu gehen und Zigaretten zu rauchen.

Auf einer dieser Promenaden — es war gegen Abend — sah er sie. Fräulein Bianka Schuhmacher.

Und ein eigentümliches Erschrecken durchlief ihn, als er sie gewahrte.

Eine schlanke Dame ging mit einem Herrn über den Odeonsplatz. Gestalt und Gang dieser Dame riefen augenblicklich das Bild von Fräulein Schuhmacher in ihm wach.

Voller Spannung sah er sie näherkommen.

Sie trug ein graues Jackett, das ihr bis an die Knie reichte, einen kleinen schwarzen Hut mit silbergrauem Schleier herum.

Sie bemerkte ihn nicht, sie plauderte eifrig und vergnügt mit ihrem Begleiter. Dieser war schlank, schmalbrüstig, größer noch als sie, mit hübschem, für einen Mann zu hübschem Gesicht, dessen Teint an den eines Kindes erinnerte. Er trug einen dünnen blonden Schnurrbart, und über seine Wange lief ein haarfeiner Schmiß.

Kleidung und Bewegungen verrieten den Mann der feinen Gesellschaft, dem der Sinn für das Korrekte, Tadellose angeboren ist.

Sie gingen nun gegenüber von ihm, eine Straßenbreite entfernt.

Der blonde hübsche Herr schüttelte leicht den Kopf voller Vergnügen über eine Bemerkung seiner Dame.

Er hörte das Mädchen sprechen und den Herrn antworten. Er verstand nichts, nur, daß er „Du“ zu ihr sagte.

Da hielt sie plötzlich im Plaudern inne, und ihr Blick traf unvermittelt den seinigen. Groß, ruhig, mit einem verborgenen Lächeln in den Augen sah sie ihn an.

Er zog den Hut.

Sie dankte, aber mehr mit den Augen als dem Neigen des Kopfes, das kaum wahrnehmbar war.

Der blonde hübsche Herr grüßte hastig und tief, ja mit einem gewissen Respekte, wie um durch die Achtung, die er einem Bekannten seiner Begleiterin zeigte, ihr seine eigene Ehrerbietung auszudrücken.

Ginstermann überschritt unwillkürlich die Straße, um den beiden unauffällig nachsehen zu können.

Sie waren bei einer Kunsthandlung stehen geblieben, und er bemerkte, wie Fräulein Schuhmacher den Kopf nach ihm wandte, während sie plauderte. Er blickte aber im selben Moment weg und tat, als habe er es nicht bemerkt.

Das Merkwürdige war, daß ihre Blicke ihn nicht auf der anderen Seite der Straße gesucht hatten.

Eine Weile kämpfte er mit der Versuchung, den beiden zu folgen und ihnen nach geraumer Zeit wie zufällig wieder zu begegnen. Allein es kam ihm schülerhaft, seiner unwürdig vor, und er setzte seinen Weg fort. Er blickte sich auch nicht mehr um, obschon es ihm eine förmliche Anstrengung kostete, seinen Kopf gerade zu halten, den eine unsichtbare Hand zu drehen versuchte.

Aber seine Gedanken, die eben noch wie wohlerzogene Kinder gefolgt hatten, vermochte er nicht mehr zu lenken.

Sie gingen mit den beiden durch die Straßen, blieben mit ihnen bei den Auslagefenstern der Magazine stehen, lauschten auf ihre Gespräche und das vertrauliche „Du“ des hübschen Herrn.

Zu Hause angelangt, versenkte er sich in sein Manuskript, überzeugt, daß er sich dadurch zur Ordnung zwinge. Er sah sich getäuscht.

Seine Gedanken fuhren fort, neben den beiden einherzugehen, sie traten mit ihnen in die Geschäfte, beteiligten sich an der Auswahl des Gegenstandes und schlüpften zwischen ihnen und der Verbeugung des Kommis zur Türe hinaus. Sie stiegen mit ihnen in eine Droschke, sahen zu, wie sie an einem tadellos gedeckten Tisch, an dem noch einige andere Leute saßen, dinierten. Sie hörten sie plaudern, mit den Bestecken klappern, beobachteten, wie die Tafel aufgehoben wurde, und man sich zur Ruhe in Sessel niederließ. Das alles, während er Worte vor sich las, die nur zögernd blasse und unzusammenhängende Eindrücke erweckten.

Ärgerlich über sich sprang er endlich auf und nahm den Hut. Aber mitten auf der Treppe wandte er wieder um und kehrte in sein Zimmer zurück.

Er lächelte über sein Betragen.

Weshalb sollte er eigentlich fortlaufen, fragte er sich.

Was kümmerte ihn dieses Mädchen? Was kümmerte ihn ihr Verlobter?

Daß jener hübsche blonde Herr mit seinem rosigen Teint der Verlobte von Fräulein Schuhmacher war, erschien ihm außer Zweifel. Die respektvolle Vertraulichkeit, mit der er mit ihr plauderte und lachte, die ihr geltende Achtung, mit der er vor ihm den Hut gezogen, bewiesen ihm das zur Genüge.

Aber was kümmerte ihn das?

Sollte ihm das Mädchen deshalb begehrenswerter erscheinen, weil ein anderer seine Seele besaß?

Zudem hatte sie ihn ja kaum gegrüßt, als scheue sie sich, ihrem Verlobten merken zu lassen, daß dieser Mensch in seinem lächerlichen Sommeranzug sie kenne.

Unerklärt blieb allerdings, weshalb sie sich nach ihm umgewendet hatte.

Aber das war nicht von weiterer Bedeutung.

Vielleicht in Gedanken, vielleicht um zu sehen, ob er ihr und ihrem hübschen Kavalier nachgaffe. Vielleicht hatte sie zu ihm gesagt: Du guck, das ist der, der das Gedicht „Martyrium“ geschrieben hat.

Und der Blonde hatte geantwortet: Der mit den niedergetretenen Absätzen?

Und sie hatten gelacht.

Hatte er nicht deutlich ein Lächeln in ihren Zügen aufsteigen sehen, das sie Mühe hatte, so lange zu unterdrücken, als er herblickte?

Auf- und abgehend, erfand er einen Dialog, in dem die beiden über ihn witzelten. Dadurch geriet er allmählich in eine heitere Stimmung, die ihm über den Vorfall hinweghalf.

Er setzte sich an seine Arbeit, und nun hatten die Repliken plötzlich Klang und Sinn. Er arbeitete bis spät in die Nacht hinein und legte sich zufrieden mit sich nieder, noch während des Einschlafens mit dem Schicksale seiner Gestalten beschäftigt. —

Am anderen Morgen fand er ein Billett im Briefkasten. Es hatte folgenden Inhalt: Weshalb sah man Sie denn solange nicht mehr? Ich vermutete, Sie seien erkrankt. Gruß, auf Wiedersehen, Bianka Schuhmacher.

V.

Die Leopoldstraße ist eine schöne Straße.

Jeder, der sie kennt, wird das zugeben müssen.

Zu beiden Seiten stehen Paläste und Villen in endloser Reihe, von Gärten umgeben, die ein geschulter Gärtner pflegt. Die Portale sind massiv, von kunstvoller Schmiedearbeit, vergoldet, jedes in seiner Art ein vollendetes Werk. Die Fassaden verraten das verfeinerte Auge des Architekten in Proportionen und Schmuck.

Das sind nicht Häuser, in denen die Menschen schlafen, kochen und sich vor Kälte und Nässe schützen, das sind Heime, in denen die Menschen leben.

Hier gibt es kostbare Gardinen mit verschwenderischen Falten, hier blickt das Auge in stilvoll eingerichtete Zimmer mit schimmernden Rahmen an den Wänden.

Feine Leute erscheinen an den Fenstern, feine Leute kommen die Stufen herab. Die Herren in Uniform, mit Seidenhüten, die Damen in süßfarbenen Toiletten mit geschmeidigen, wohltuenden Bewegungen, den Abglanz der Sorglosigkeit auf dem gepflegten Antlitze.

Die Pappeln stehen in geordneten Reihen, ehrwürdig, ein hundertjähriges Geschlecht, bilden sie Spalier, gleichsam um die Fußgänger vor den vorbeirollenden Wagen zu schützen und vor dem Anblick der rohen, schwitzenden Arbeit zu bewahren. Es ist, als ob die freie Natur, der Wald, das Feld hereingepilgert kämen. Sie sind der Anfang eines Weges, der auf die Wiesen führt, und man fühlt sich gleichsam entfernter von der fauchenden, surrenden, stauberfüllten Stadt.

Im beginnenden Frühjahr bot die Straße ein berückendes Bild. Die Bäume, die Sträucher schlangen ihre frischgrünen Zweige in zierlichen Tanzgesten um die harten Ecken der Häuser, so daß Paläste und Villen den Eindruck erweckten, als hätten die Maler sie ersonnen, nicht die Architekten gebaut. Die Pappeln begannen zu knospen, und ab und zu schlüpfte ein kleiner Vogel aus ihrem Geäste.

Ginstermann hatte an all dem Gefallen.

Schon früher war er gerne diese vornehme Straße hinabgegangen, in der letzten Zeit kam er öfter heraus. Wenn er gerade Zeit hatte. Des Mittags, um sich in der Sonne zu wärmen, des Abends, um die süße Luft zu schlürfen, die schon gewürzt war von dem Duft der Blumen und Sträucher, die noch gar nicht blühten. Und hier außen war die Luft auch klarer als in den Straßen der Stadt, die nach dem Dunste und Schweiße des Tages rochen.

Auch war es angenehm, hier zu gehen, wo man nicht von Vorbeieilenden angerannt wurde, wo nicht das ununterbrochene Rufen, Pfeifen und Klingeln jede Melodie ertötete, die leise aus dem Innersten des Empfindens sang.

Er wollte sich etwas erholen, sein Blut von den schädlichen Stoffen reinigen, die der dumpfe Winter und das ewige Zimmersitzen in ihm erzeugten. Deshalb gönnte er sich diese Spaziergänge. Zudem arbeitete er, während er ging. Er trug stets ein Notizbuch bei sich, in das er alles, was ihm bemerkenswert schien, verzeichnete. Und vielleicht würde er auch Fräulein Bianka Schuhmacher treffen. Ein Paar Worte mit ihr wechseln können, oder sie würde am Fenster stehen, und er konnte zu ihr hinaufgrüßen.

Jedesmal, wenn er sich ihrem Hause näherte, überschritt er die Straße und setzte auf der anderen Seite ebenso gemächlich seine Wanderung fort, als sei er ganz zufällig über die Straße gegangen, und stände dort drüben nicht eine Villa, deren Fenster man von hier aus unauffällig überfliegen konnte.

Dabei erfüllte ihn stets eine prickelnde Angst, der gefürchtete und ersehnte Moment könne eintreten. So sehr er sich freute, sie zu sehen, so unangenehm wäre es ihm auf der anderen Seite gewesen, von ihr gesehen zu werden.

Hie und da unternahm er auch noch des nachts einen Spaziergang hier heraus, um nachzusehen, ob das Eckzimmer beleuchtet war. Brannte Licht, so war er befriedigt. Er wußte, sie ist da droben, liest, schreibt oder träumt, verspotteten ihn aber die weißen Gardinen der dunklen Fenster, so wurde er unruhig und machte sich alle möglichen Gedanken.

Dazwischen wiederum vergingen Tage, ohne daß er sein Zimmer verließ. Hartnäckig blieb er zu Hause. Sein Betragen erschien ihm albern und kindisch. Sein Stolz erwachte. Sein wahnwitziger Stolz, der es für entwürdigend hielt, sich mit einer anderen Person zu beschäftigen als der eigenen.

Dieser Stolz rief ihm zu: Bist du es, Ginstermann? Bist du des Alleinseins schon müde?

Dann vergrub er sich wieder in seine Arbeit, grübelte er über seinen Problemen und wandelte er auf der freien, selbstherrlichen Höhe seiner Vernunft.

Aber da war eine Sehnsucht in ihm, die zuerst leise nagte, pickte, dann pochte, brauste, um endlich wie ein Sturm durch ihn zu fahren, der ihn vor sich hertrieb.

Er erschien wieder in der Nähe der Villa, morgens, mittags, nachts.

Er schrieb in Gedanken tausend Billette, um sich ihr zu nähern.

In trockenem, sachlichen Tone dankte er ihr darin für ihren Gruß und grüßte er sie wieder.

Hätte er nicht das Recht dazu? Hatte sie ihm nicht ebenfalls geschrieben?

Aber er zerriß sie auch alle wieder in Gedanken und warf die Schnitzel sorgfältig in den Ofen. Er, jener Ginstermann, der die dünkelhafte Flachheit des Weibes, sein halbtierisches Wesen in Aphorismen und Zynismen gegeißelt hatte, die die Runde in der Bohême machten, sollte ein Billet an eine junge Dame schreiben? Und wenn auch diese junge Dame zehnmal besser war als ihre Schwestern, lauerte nicht das Weib in ihr?

Was trieb ihn zu ihr? Weshalb hatte sie ihm geschrieben? Wer war sie?

Es waren stets die gleichen Gedanken, die in seinen Reflexionen wiederkehrten wie die Figuren eines mechanischen Theaters.

Seine Überzeugung ging dahin, daß es das beste sei, sich von diesen Ideen zu befreien, wenn er sich Klarheit über das Mädchen verschaffte. Würde er sie einigemal gesprochen haben, so konnte er sich ein sicheres Urteil bilden und demgemäß handeln.

Aber er vermochte sie nirgends zu finden. Vermutlich saß sie in einer Laube des Gartens, der über die Villa blickte, mit Büchern und Zeitschriften ihre Tage verbringend.

Zu Kapelli kam sie schon lange nicht mehr, die Büste war längst fertig. Ein paarmal hatte sie die Bildhauersleute besucht, aber stets zu einer Zeit, wo er abwesend war.

Endlich löste sich das Rätsel.

Er hatte eine halbe Nacht im Café zugebracht, um mittels Lektüre diese wie Schildwachen in seinem Kopfe hin- und hergehenden Gedanken zu verscheuchen, und wollte vor dem Nachhausegehen sich — wie er es nannte — nach ihrem Befinden erkundigen.

Da bemerkte er noch Licht in ihrem Zimmer. Aber es war kein Licht, bei dem man liest oder schreibt, es war gedämpftes, sorgfältig gedämpftes Licht, wie es in Krankenzimmern brennt.

Er erschrak bei dieser Wahrnehmung, als sei etwas Übernatürliches geschehen.

Nun wußte er es: sie war krank.

Der Schmerz übermannte ihn augenblicklich. Er nahm den Hut ab, stand starr wie eine Säule und flüsterte: Sie ist krank.

Er trottete nach Hause, immer wieder stehen bleibend und wiederholend: Sie ist krank.

In seinem kahlen, trostlos toten Zimmer angekommen, nahm er einen Blaustift und schrieb mit großen, stumm-wehklagenden Lettern an die Wand: Sie ist krank.

Er blies das Licht aus. Ach, wozu brauchte er Licht.

Er schritt in seinem Zimmer auf und ab, immerzu.

Seine Schritte sagten: Sie ist krank. Seine Uhr sagte: Sie ist krank. Krank, krank, knarrte eine lockere Diele.

Draußen sang der Südwind. Der Tag graute. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Zwei Herren kommen die Granittreppe herab, gehen durch den Vorgarten hindurch.

Der eine ist alt, lächelt das Lächeln des Stoikers in seinen weißen Bart, der andere ist jung, hübsch und schmalbrüstig. Er hat die rosigen Wangen eines Kindes.

Ginstermann steht hinter einer Litfaßsäule und beobachtet sie. Er will aus ihren Mienen lesen, was in den Gehirnen dieser beiden vorgeht. Aber das Gesicht des Alten ist verschlossen und verbirgt alles hinter diesem stoischen Lächeln, das Gesicht des Jungen ist zu hübsch, um Gedanken verraten zu können.

Sie gehen an ihm vorüber. Der Alte sagt, mit dem Kopfe nickend, als sei er mit einer Stahlfeder am Rückgrat befestigt: Jawohl, jawohl, jawohl. Sein Handschuh entfällt ihm. Der Junge bückt sich rasch und gelenkig und hebt ihn auf.

Danke, sagt der Alte, — jawohl.

Sonst vernimmt er nichts.

Er folgt den beiden. Im Abstand von zwanzig Schritten. Aber ihre Gestikulationen sind korrekt und beherrscht, auch sie verraten nichts.

Hinter dem Siegestor ist der Junge plötzlich verschwunden, spurlos, als sei er in die Luft zerstoben. Der Alte aber geht langsam mit steifen Schrittchen die Straße hinauf. Er tritt in ein Haus, verläßt es nach einer Viertelstunde wieder. Er biegt in eine Seitenstraße, tritt abermals in ein Haus, verläßt es nach einer Viertelstunde wieder. Das wiederholt sich einigemal.

Endlich verschwindet er hinter einem Portale. Er kehrt nicht zurück. Ein großes Emailschild ist an dem Portale angebracht, darauf steht: Wirkl. Geheimrat Prof. Dr. von Gagstetter.

Ginstermann begibt sich in das nächstbeste Zigarrengeschäft.

„Pardon,“ sagt er, „ich will nichts kaufen, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit ersuchen. Das Adreßbuch, bitte sehr. Es ist da etwas vorgekommen, man braucht einen Arzt, einen Spezialisten.“

Eine Dame überreichte ihm das Buch. „Bitte schön,“ sagt sie höflich, ihn mit dem Interesse der Teilnahme betrachtend.

G, g — g — a b c d — g

Gagstetter — Spezialist für Krankheiten der Atmungsorgane.

„Danke, vielen Dank!“

„Bitte schön.“

VI.

Das gedämpfte Licht im Eckzimmer brannte nun elf Tage.

Ginstermann ging hinaus ins Freie und machte ein Sträußchen zusammen aus Primeln, Veilchen, Weidenkätzchen und sprossenden Buchenreisern, und was er sonst noch auffinden konnte, Gräsern und Halmen. Auch ein winziges Johanniskäferchen, mit kleinen schwarzen Pünktchen auf dem roten Schild, packte er mit hinein. Diesen Strauß sandte er der Kranken. Er legte keine Karte bei.

Sie sollte nicht wissen, von wem er sei. Er freute sich in dem Bewußtsein, daß sie diese Frühlingskinder in die Hände nahm, ihren Duft einsog und vom Frühling und der Genesung träumte. Auch glaubte er ihre Gedanken angenehm zu beschäftigen, dadurch, daß er ihnen freien Spielraum ließ, nach dem Geber zu suchen.

Das Licht brannte nun siebzehn, es brannte nun achtzehn Nächte. Stets gleich gedämpft, stets gleich ruhig, es schien nicht mehr verlöschen zu wollen.

Aber eines Tages würde es doch verlöschen, das wußte Ginstermann. Einmal da würden diese Fenster da droben schwarz sein, und am Tage darauf würden Wagen vorfahren, aus denen Leute in schwarzen Kleidern stiegen. Er wußte es ganz genau. Und während seines ganzen Lebens würden ihn zwei Gedanken beschäftigen. Sie war das Weib, das die Natur für dich schuf, hieß der eine, sie war es doch nicht, der andere.

Ginstermann war Tag und Nacht auf den Beinen. Er bemühte sich, Fräulein Scholl aufzufinden, aber es war vergebens. Er hatte vor, ein Dienstmädchen zu bestechen, aber das wäre unfein gewesen. Hundertmal stand er vor dem Portale mit dem Emailschild: Wirkl. Geheimrat Prof. Dr. v. Gagstetter, mit dem Vorsatze, bei dem Arzte Erkundigungen einzuziehen.

Was aber hätte der Arzt denken sollen? Er hätte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und sein kluges Philosophenlächeln gelächelt. Konnte er seine Liebe fremde Augen sehen lassen? Im übrigen, was hätte all das genützt? Er konnte nichts tun, als auszuharren, geduldig auszuharren.

Manches Mal dachte er, ja schien ihm eine untrügliche Ahnung zu sagen: Dieses Licht da droben, hörst du, mein Freund, brennt am Lager einer Toten. Er verbrachte dann eine schwere Nacht und war glücklich, am andern Tage nicht die Wagen mit den schwarzgekleideten Leuten vor dem Hause halten zu sehen.

Das Licht brannte nun einundzwanzig Nächte.

In der zweiundzwanzigsten waren die Fenster dunkel.

Ginstermann vermochte es nicht sofort zu fassen. Er strengte die Augen an, ob nicht doch, ganz leise, ganz leise das Licht da droben noch schimmere. Er wartete, er wartete.

Die Fenster waren und blieben dunkel. Sie blieben, Gott weiß es, sie blieben dunkel. Dunkel! Er konnte es gar nicht begreifen.

Noch im Laufe des Abends war er hier außen gewesen. Nicht der kleinste Umstand deutete darauf hin, daß das Unausdenkbare eingetreten sei. Heute morgen hatte das Zimmermädchen die Fenster geputzt und dabei gesungen.

Ginstermann fühlte sich wie befreit. Das Gespenst, das ihn eingehüllt hatte, lange Tage hindurch, löste sich von ihm. Er atmete auf, lange und tief.

Langsam ging er die Straße hinab, das Glück der Erlösung genießend und die Freude, daß es besser mit ihr ging.

Plötzlich hörte, sah, fühlte er wieder wie früher. Der ausgeschaltete Strom seiner Empfindungen kam wieder in Bewegung.

Er trat in ein Café, dessen erleuchtete Fenster vor ihm lagen. Er brauchte Licht, Menschen! Sein Glück drehte ihn im Wirbel.

Hier war es hell, ungewohnt hell, es gab Menschen, wenn auch nicht viele. Mit der Befriedigung eines, der eine schwere Zeit hinter sich hat, ließ er sich auf ein Plüschsofa nieder.

Das Café war in modernem, sympathischen Stile gehalten. Polster von karmoisinrotem Plüsch mit schwarzen, senkrechten Streifen, Tische und Stühle rot gelackt wie Gartenmöbel. Ein Fries nackter, einander nachlaufender Männer mit den gleichen Bewegungen an den Wänden. Das Ganze machte den Eindruck feierlichen Pompes.

Das ist ein Raum für die still Glücklichen, dachte Ginstermann.

Das Lokal war schlecht besetzt. In der Ecke, Ginstermann gegenüber, saßen zwei junge Leute. Der eine lag phlegmatisch in seinem Sessel, die Beine ausgestreckt, die Hände in den Hosentaschen, und lachte, wobei sich sein Zigarrenstumpen auf und ab bewegte zwischen den Zähnen. Der andere sprach aufgeregt, immerzu, mit der Begeisterung der ersten geistigen Gärung, er sprach mit Händen und Füßen und warf jedesmal die Streichhölzer um, wenn er seine Zigarette anzünden wollte. Sein Zuhörer lachte nur.

„Ihr Menschen seid so wesenlos und schemenhaft wie die Moose auf dem Meeresgrund,“ rief der Erregte aus, „und wiederum seid ihr so dick und unverschämt stumpf wie ein Balken!“

Etwas im Hintergrunde saß eine Dame vor geleertem Glase, den Hut ins Gesicht gesetzt, mit der Lektüre der Wiener Karikaturen beschäftigt. Man sah die nackten Beine nur so strampeln.

In einer Nische hatten ein Herr und eine Dame Platz genommen. Das Gesicht des Herrn fiel durch leichenhafte Blässe und Bewegungslosigkeit auf und eine Falte über der Nasenwurzel, scharf wie der Schnitt eines Messers. Die Dame sah Ginstermann nicht, er erblickte nur den in einem enganliegenden, stahlgrauen Ärmel steckenden Arm, wenn sie gewohnheitsmäßig in die Höhe griff, um die Frisur zu richten. Er hörte sie dazwischen kurze Fragen stellen und schloß aus ihrer Stimme und Betonung, daß sie geistreich war.

Im Seitenkabinett spielten zwei Herren stillschweigend Billard. Der eine war der Cafetier, seinem Wesen und seiner Kleidung nach.

Ein junges, hübsches Mädchen bediente. Ihre Kollegin saß auf einem Stuhle und war eingenickt. Sie hob nur dazwischen die schlafschweren Augenlider, als habe sie im Schlummer das ungeduldige Klopfen des Löffels an eine Tasse gehört.

Es machte Ginstermann Vergnügen, all das zu beobachten, während ein Teil seiner Gedanken unausgesetzt das glückliche Ereignis des Abends umkreiste.

Er fühlte sich behaglich hier und brach sogar in Lachen aus, als der Lebhafte ihm gegenüber in lachendem Zorn ausrief: „Dann nehme ich mein Rückgrat heraus und schlage es an dir ab, mein Lieber!“

Das hübsche Mädchen brachte ihm den Kaffee und blieb ein Weilchen bei ihm stehen. Es war ein blutjunges Ding mit mandelförmigen Augen, aus denen die Schwermut der Keuschheit blickte. Niemand hätte sie in dieser Stellung vermutet.

„Sagen Sie, Fräulein,“ begann Ginstermann, „kann man nicht zu Ihrer Taufe eingeladen werden?“

Das Mädchen lachte und blickte ihn verdutzt an, halb argwöhnisch, eine Keckheit hinter dieser Frage vermutend.

Nun, sie sei doch noch so jung, daß sie unmöglich schon getauft sein könne.

Sie brach in Lachen aus und wandte sich halb ab, nach den Gästen sehend. Dabei klimperte sie mit dem Gelde in der Tasche ihrer schneeweißen Schürze.

„Wir werden Sie ‚Rehäuglein‘ taufen,“ fuhr Ginstermann fort — da berührte jemand seine Schulter.

Es war der Akademiker Goldschmitt. „Uff, Ginstermann?“ rief er aus.

Der Maler war verblüfft, Ginstermann hier im Café zu treffen, mehr noch, ihn bei einer Unterhaltung mit einer Kellnerin zu ertappen. Seine Verblüffung steigerte sich aber noch, als er Ginstermanns Aufgeräumtheit bemerkte. Er war nur gewöhnt, ihn als einen verschlossenen, düsteren Menschen, der sein geistiges und seelisches Leben hinter einer regungslosen, hochmütigen Miene verbarg, zu sehen.

Ginstermann für seine Person war froh, nun jemanden zur Unterhaltung zu haben. Er sprach und lachte immerzu. — Er begann von den Bildern des jungen Malers zu sprechen und lobte sie. Er gab seiner Meinung über zeitgenössische Größen Ausdruck, die er sich erst während des Sprechens bildete. Er legte dem Akademiker seine Anschauungen über Zweck und Ziel der bildenden Kunst klar. Er warf ihm Händevoll Gedanken hin, die er verwerten könne.

Dabei dachte er an ganz andere Dinge.

Es ging besser mit ihr, also war alles gut.

Goldschmitt hörte aufmerksam zu und wartete auf den zündenden Funken. Er breitete seine Pläne und Ideen vor ihm aus, ob er sie für gut finde.

Ginstermann fand alle für gut, sogar für sehr gut.

„Sie werden Ihren Weg machen,“ sagte er und stieß mit ihm an.

Der Maler konnte sich nicht enthalten, nach der Ursache von Ginstermanns Lustigkeit zu fragen.

„Ich feiere heute Geburtstag,“ erwiderte ihm Ginstermann, den wahren Sinn dieser Antwort selbst erst herausfindend, nachdem er gesprochen.

Einige Gäste traten geräuschvoll ins Lokal, und wie auf ein Zeichen wurde es lauter, kaffeehausmäßiger. Die verschlafene Kellnerin stand auf und ging langsam mit schwerfälligem Wiegen der Hüften zwischen Büfett und Tischen hin und her. Die einzeln sitzende Dame legte das Blatt aus der Hand und begann mit unmerklich lächelnden Blicken unter dem Hute hervorzusehen.

Der Lebhafte in der Ecke hatte ein Glas umgeworfen, das ganze Tischtuch triefte. Er plauderte weiter, während das Rehäuglein den Schaden gut machte. Sein Freund lachte, daß sich alle Gäste umwandten und mitlachten. Sein Mund war rund wie ein Taler.

„Betrachten Sie mal diesen Menschen,“ sagte Ginstermann.

Goldschmitt entgegnete: „Das ist Spiegel, er hat dieses Café hier entworfen.“

Das wollte Ginstermann nicht glauben.

„Sie, Spiegel,“ rief Goldschmitt über das Lokal, „haben Sie dieses Café entworfen oder nicht?“

Der Angerufene drehte schnell den Kopf, rief: „Jawohl!“ und setzte seine Disputation fort, ehe Ginstermann sein Gesicht sehen konnte, das ihn nunmehr interessierte.

Um zwölf Uhr brachen sie auf. Ginstermann war in sehr aufgeräumter Stimmung und lachte immerzu. Er drückte dem Rehäuglein ein Zweimarkstück in die Hand und sagte:

„Morgen um zehn, da bin ich wieder da, und Sie werden mir dann herausgeben.“ Goldschmitt, der Knicker, gab keinen Pfennig Trinkgeld, er sah dem Mädchen nur mit einem kurzen, warmen Blick in die Augen, den niemand bemerkte, der nicht Ginstermanns scharfe Beobachtung besaß.

„Bleiben Sie recht brav, Rehäuglein,“ scherzte Ginstermann und schüttelte ihr wie ein alter Bekannter die Hand.

An der Nische vorbeigehend, in der der Herr mit seinem leichenblassen Gesicht saß, blickte sich Ginstermann um. Zwei helle Augen, die Ähnlichkeiten hatten mit denen von Fräulein Schuhmacher, waren auf ihn gerichtet. Sie erblickten nicht den Mann in ihm, sie suchten nach dem Menschen in ihm. Zu diesen Augen gehörte ein Gesicht von seltener Häßlichkeit.

Goldschmitt protestierte anfangs dagegen, daß Ginstermann ihn nach Hause begleite, aber er mußte nachgeben.

Arm in Arm gingen sie die Straße hinunter, und Ginstermann unterbrach plötzlich das Gespräch und sagte: „Wissen Sie was, Goldschmitt, dieses Sie ist zu fade, nennen wir uns du.“

„Also du, wie du meinst,“ versetzte der Maler.

Vor dessen Wohnung angelangt, versuchte ihn Ginstermann, noch durch eine neuaufgeworfene Frage zu halten. Aber Goldschmitt wollte schlafen gehen, er müsse morgen zeitig heraus.

„Eines will ich dir noch sagen, Ginstermann, wenn du wieder ins Café kommst, so gieb dem Mädchen kein Trinkgeld. Du sollst ihr kein Trinkgeld geben. Das Mädchen ist meine Braut. Aber — notabene — nicht daß du meinst — — gute Nacht.“ —

Ginstermann wanderte langsam nach Hause.

Es war eine herrliche Nacht, die tausend süße Geheimnisse barg. Im Himmel hatten sie alle Kerzen zur großen Mette angezündet. Die Erde lag gebettet in feuchtwarme Luft und dem Geruche frischer Wiesen, von Liebe und Fruchtbarkeit träumend gleich einem Weibe.

Ginstermann hatte nicht die mindeste Lust, schlafen zu gehen, aber er war müde. Die Haustüre öffnend, sah er Maler Ritt, die Zigarette im Mund, in jeder Hand eine Flasche tragend, über den Vorplatz gehen.

Die Türe seines Ateliers war angelehnt, und der Lichtschein, der daraus strömte, erhellte Ritts boshaft-gutmütiges, verlebtes Faungesicht. Im Atelier pfiff jemand „La Paloma“.

„Nanu?“ sagte der Maler, „hä-hä!“ und zog erstaunt die Brauen in die Höhe.

Ob er nicht ein wenig eintreten wolle? Auf eine Zigarette? Nicht?

Ginstermann war auf den Maler nicht sonderlich gut zu sprechen, aber er trat ein. Er hatte so gar keine Lust zum Schlafengehen, und dann war Ritt doch nicht schlechter und nicht besser als jeder andere Mensch. Und heute, wo ein besonderer Tag war . . .

Es ging besser mit ihr, folglich war alles gut.

Er trat in eine Wolke bläulichen Zigarettenrauches. Der Schirm der Lampe schwebte einer rotglühenden Kugel gleich darin. Die Wolke kam infolge ihres Eintritts in Bewegung, und um die rotglühende Kugel schaukelten phantastische Figuren. Im gleichen Moment bemerkte er ein mattschimmerndes Gesicht, dessen glänzende Augen auf ihn gerichtet waren, den weißen Saum eines Unterrockes, und nach links blickend abermals ein blasses Gesicht, aus dem eine senkrechte Rauchsäule emporstieg.

Zwei Damen in eleganten Kostümen lagen auf Ottomanen, halb in Kissen und Puffs versunken. Sie blickten ihn beide an, und obschon ihre Augen von verschiedenem Schnitt und ungleicher Farbe waren, lag doch der nämliche Ausdruck in ihnen, lüsterner Glanz. Sie rührten sich nicht und blieben ruhig liegen, als Ritt Ginstermann mit ostentativer Pose und einer Menge Bemerkungen, wie ein Tierbändiger ein seltenes Exemplar, vorstellte.

„Dieser Mann hat den sanften Blick der Taube, aber die scharfen Krallen des Geiers, meine Damen,“ schloß er.

Sie lachten alle, und Ginstermann gab ihnen die Hand.

Die eine erwiderte mit einem zögernden Druck, die andere reichte ihm die Rechte mit müder Grazie und ließ sie sofort wieder auf das Kissen zurückfallen.

Wo er nur immer diese hübschen Frauen auftreibt, dachte Ginstermann.

Ritt ging umher und füllte die Gläser, die auf niedrigen Taburetts standen, so daß sie bequem zur Hand waren. Dabei strich er der einen der Damen leise über die Haare, als ob er eine Mücke verscheuche. Ihre Augen folgten ihm, und weiße Zähne schimmerten hinter lächelnden Lippen.

Es war nicht die, die Ginstermann die Hand gedrückt hatte.

Der Maler legte sich auf zwei Stühle und forderte Ginstermann auf, ein Gleiches zu tun.

„Bei mir können Sie lernen, wie man angenehm lebt,“ rief er aus. „Die Leute amüsieren sich in den Pausen ihrer Arbeit, ich arbeite in den Pausen meiner Vergnügungen, die Leute wollen sich schonen, ich will mich auf angenehme Art zugrunde richten — hähä. Darin beruht der Unterschied meiner Lebensauffassung und der der Welt. Wir leben nur eines Atemzuges Länge, laßt uns atmen, Freunde! Prosit!“

Man stieß an. Ginstermann dachte an das Mädchen in der Leopoldstraße und trank sein Glas bis zum Boden leer.

Ritt fuhr fort, in seiner näselnden, dünnen Stimme die Freude zu preisen, die den Menschen über sein tierisches Ahnentum erhebe.

Der Maler vermochte nicht eine Minute zu schweigen. Er befand sich unausgesetzt in nervös lustiger Erregung.

Ein Genie von Geburt, hatte ihn sein ausschweifendes Leben frühzeitig zu einer totalen Erschlaffung seines Willens geführt, so daß er zum Spielball seiner Triebe geworden war. Von Zeit zu Zeit schloß er sich vollständig von der Welt ab, um sich wiederum die nötige Achtung vor sich selbst zu geben, und da schuf er ein Bild, von dem jeder einzelne Pinselstrich den Eindruck der Inspirativen erweckte. Seine Schöpfungen hatten ihn berühmt gemacht. Aber allen haftete etwas an, was an einen verzweifelten Sieg erinnerte, als seien sie einem vorbeisausenden Augenblick entrissen. Er hatte keine Zeit zur Sammlung, seine Seele war zerrüttet.

Niemand hätte das Alter des Malers genau zu bestimmen vermocht. Am Tage sah er vierzig, bei Lampenlicht dreißig Jahre alt aus. Sah man ihn aus einiger Entfernung, so erweckte seine schlanke, elegante Figur den Eindruck eines Zwanzigjährigen.

Sein Gesicht war welk, ausgetrocknet, mit matten Augen, die nahezu wimpernlos waren. Er trug einen dünnen, langen Spitzbart, der einige Dutzend Haare hatte, über seine Züge lag etwas Täppisches, Kindisches ausgebreitet, das zeitweise verdrängt wurde durch den Ausdruck mühsam verborgenen Grauens vor etwas Entsetzlichem, das er selbst nicht kannte, vor dem Wahnsinn.

Ginstermann suchte Ritt deshalb zu meiden, weil er in ihm ein Stadium entdeckte, aus dem er sich glücklich emporgearbeitet hatte. Diese nervöse Lustigkeit des Malers, seine Gier, sich fortwährend zu betäuben, seine Freude an Orgien, sein bramarbasierendes Reden, das alles erinnerte ihn an seinen früheren Zustand.

Er empfand Mitleid mit ihm, sah aber auf der anderen Seite ein, daß der Versuch, den Abwärtsgleitenden zu retten, vergebens gewesen wäre. Ritt würde ihm ins Gesicht gelacht haben, weil er sich gescheut hätte, den Zusammenbruch seines Inneren einzugestehen.

Eine der Damen sang, als Ritt geendet, ein französisches Chanson, dessen Refrain lautete: Achète moi un homme, maman, if you please, maman.

Die beiden anderen sangen den Refrain mit, und schließlich fiel auch Ginstermann ein.

Nach jedem Vers brachte Ritt einen Trinkspruch aus, einen paradoxer als den andern.

Ginstermann saß vergnügt in seinem niederen Sessel, er war zu müde, um aufzustehen. Es gefiel ihm auch gut. Zur Abwechslung konnte sogar ein Einsiedler mal seine Höhle verlassen.

Die eine der Damen betrachtete ihn durch ihre Lider hindurch mit schillernden Augen, während sie sang.

Man stieß wieder an. Aber Ginstermann war zu müde, nach einem Glase zu greifen.

Zur vollständigen Genesung braucht man immerhin vierzehn Tage, dachte er, je nachdem, je nachdem. Da fühlte er, wie jemand ihm mit der Hand über das Gesicht strich, und er schlief ein. Hinter der Wand hörte er noch Gelächter und Ritts näselndes „Bravo, bravo!“ —

Da stieß ein Vogel mit großen Fittichen gegen seine Stirne, und er öffnete die Augen.

Vor ihm saß eine Dame mit schillernden Augen und lächelte. In ihrer Hand hielt sie ein Kissen mit einer Geste, als wolle sie es nach ihm werfen.

Nun fiel es ihm erst ein, wo er war.

Das war Ritts pompöses Studio, dort stand sein neuestes Bild „Mädchenreigen“ und hier die rotglühende Lampe, und richtig, diese Dame hatte ihm beim Eintreten die Hand gedrückt. Die anderen aber waren nicht zu sehen.

Er war noch voller Schlaf und bewegte die Lippen, um zu sprechen.

„Sie holen Wein,“ sagte das Mädchen, das auf der Ottomane saß, und blies sonderbar lächelnd gegen die Glut ihrer Zigarette.

Er stand auf und gab ihr die Hand, um sich zu verabschieden.

„Sie kommen nicht sogleich wieder“, flüsterte das Weib und blickte ihn an. Ihre Hand bebte.

In seinem Kopfe schwindelte es. Er sagte, sich herabbeugend und lächelnd: „Ich bin müde.“ Ihre Augen waren dicht vor den seinen. Funken tanzten darin. Diese Augen waren wie Magnete, die ihn festhielten. Nun entfernten sie sich, und zwei Reihen weißer Zähne unter roten Lippen kamen näher. Er stand noch immer und hielt diese heiße, zitternde Hand in der seinigen. Da fühlte er eine Hand an seinem Nacken, und ein warmer Hauch traf sein Gesicht.

Dieser Hauch stieß ihn ab. Er richtete sich auf und kam zum Bewußtsein.

„Adieu“, sagte er und ging hinaus.

Ihn schwindelte. Die kühle Luft hier außen tat wohl. Ein paar tiefe Atemzüge, und sein Kopf war klar.

Er stieg die Treppe hinauf. Es war vier Uhr.

An der Tür der Malerin von Sacken, seiner Nachbarin, flimmerte ein kleines Sternchen. Auch sie hatte noch Licht. Alle Leute waren noch wach und waren guter Dinge.

Es war heute ein ganz besonderer Tag!

Er freute sich nun auf die Ruhe und den Moment, wo er sich in seine Decke wickelte mit dem Gedanken, daß nunmehr keine Wagen mit schwarzgekleideten Leuten zu befürchten seien.

Plötzlich lauschte er. Hier hatte jemand geschluchzt!

Es war so stille, daß er das Rollen eines Wagens von der Straße her hörte. Und nun vernahm er wiederum unterdrücktes Schluchzen.

Da drinnen hielt der Gram einen Menschen wach.

Diese Laute nach all dem Lachen des Abends wirkten auf ihn wie eine niederschmetternde Anklage, als trüge er an dem Schmerze jenes Weibes Schuld.

Fräulein von Sacken klopfte eines Abends bei ihm an, um ihn nach der Zeit zu fragen, da sie nicht schlafen könne, wenn ihre Uhr stehe. Aber sie kam nicht deswegen. Sie kam, um mit einem Menschen ein paar Worte wechseln zu können, da die Einsamkeit sie peinigte. Ginstermann erriet das. Und nach kurzem Gespräche fragte sie ihn, ob er wisse, was die drei schrecklichsten Dinge im Leben seien. Sie beantwortete ihre Fragen selbst, indem sie sagte: Die Einsamkeit, die Gestaltungssehnsucht und der Ehrgeiz.

Daran dachte er jetzt. Er sah sie noch deutlich an der Türe stehen und jene drei Worte sprechen, deren jedes einzelne eine Tragödie birgt. Sie waren ihm erschienen wie drei hohe, finstere Tore, hinter denen er nackte Menschenleiber in wortloser Qual sich winden sah.

Heute war sie im Kampfe mit den drei Bestien unterlegen. Er aber wollte ihr helfen. In seiner glücklichen Stimmung konnte er den Schmerz dieses Weibes um so tiefer begreifen.

Er begann an seiner Türe zu rütteln, mit dem Fuß dagegenzustoßen.

Das Schluchzen hörte augenblicklich auf.

Eine Weile wartete er, dann ging er an die Türe der Malerin und pochte behutsam.

„Wer da?“ fragte eine jähe, ängstliche Stimme.

Er, Ginstermann, er bitte um Verzeihung, aber —

Fräulein von Sacken öffnete.

„Herr Ginstermann?“ sagte sie mit leiser, vom Weinen noch unsicherer Stimme und lächelte verwundert.

Ob das nicht zum Verrücktwerden sei: nun habe er seinen Schlüssel verloren und könne nicht in sein Zimmer. Er habe noch Licht gesehen und sich erlaubt, anzuklopfen. Vielleicht habe sie einen Schlüssel oder Haken oder sonst ein Instrument zum Öffnen. Wenn er sie aber im Arbeiten störe —

Ach nein — das sei allerdings unangenehm.

„Treten Sie ein bißchen ein, es findet sich vielleicht etwas.“

Er wäre so frei. Wenn er aber störe, so müsse sie es ruhig sagen.

Im Zimmer brannte eine Lampe ohne Sturz. Auf dem Tische lagen Briefe umhergestreut, von denen einige auseinander geschlagen waren.

Der Anblick der mit allerlei billigem Tand maskierten Ärmlichkeit dieses Mädchenzimmers schmerzte ihn um so mehr, als er noch Ritts vornehmes Atelier mit gedämpftem Lichte, Teppichen und den in Zigarettenrauch gebetteten zwei schönen Frauen in der Erinnerung trug.

Hier roch es nach Terpentinöl und welken Blumen. Die Möbelstücke warfen harte, zackige Schatten im unmittelbaren Lichte der kahlen Lampe.

Der mächtige, abenteuerliche Schatten der Malerin bewegte sich über Wände und Decke.

Fräulein von Sacken war eine große, üppige Erscheinung. In ihrem schwarzen Kleide, mit dem nervösen, bleichen, leicht zerfließenden Gesicht, das von früherer Schönheit zeugte, erschien sie Ginstermann wie die Maitresse eines Fürsten, die den Abschied bekommen hat, da ihre Schönheit verging, und ihr üppiger Körper anfing, seine reinen Formen zu verlieren. Eine sanfte Schwermut erfüllte ihre Züge, als trauere sie über ein verfehltes Leben. Sie hatte große Augen von matter Schwärze mit langen, strahlenförmigen Wimpern. Diese Augen flehten um etwas, das niemand erriet.

Man gewann den Eindruck, daß sie die Nächte in einem Sessel verbringe und vor sich hingrüble, während Tränen ihren dunklen Augen entfielen.

Ginstermann kannte ihre Geschichte. Sie war die Tochter eines höheren Offiziers, und ihre Angehörigen hatten sich aus irgendeinem Grunde von ihr losgesagt und ihr eine knappe Rente ausgesetzt. Sie sprach mit mühsam verhaltener Bitterkeit von ihnen, und ihr Streben ging dahin, einmal ein gutes Bild zu malen, das ihren Namen bekanntmachte, und die Rezension des Werkes ihren Verwandten zuzuschicken. Aber sie sah diese Hoffnung von Jahr zu Jahr mehr verblassen. Man wies jedes ihrer Bilder zurück. Sie hatte mit dem Stilleben begonnen, war dann zum Porträt, vom Porträt zum Genre, zur Landschaft, übergegangen, um schließlich wieder beim Stilleben anzukommen, fest überzeugt, daß sie nur hierin etwas leisten könne.

Das bißchen Talent, das sie mitgebracht, hatte sich längst zerrieben und im verzweifelten Studium alter Meister verloren. Wie es mit allen kleinen Talenten geht, die angesichts einer großen Schöpfung kläglich absterben.

Das Grauen vor der künstlerischen Unfruchtbarkeit war ihr größtes Leiden.

Die Malerin kramte in der Kommode und brachte einige Schlüssel herbei.

„Vielleicht passen die“, sagte sie.

Ginstermann prüfte die Bärte und legte sie kopfschüttelnd beiseite.

„So geht es, wenn der Mensch Unglück hat“, sagte er. „Nun ging ich heute mal aus, seit einem Jahre ist es das erste Mal wieder. Der Mensch sollte nicht so schwach sein, aber ich war heute in einer Stimmung, in einer Stimmung, in der die Leute Selbstmord begehen.“

Er schwieg und sah mit finsterer Miene zu Boden, auf ihre Gegenrede wartend.

„Ich habe Sie stets um Ihre gleichmäßige Ruhe beneidet, Herr Ginstermann.“

„Ein Mensch kann lächeln, während in seinem Innern die Hölle tobt, Fräulein Sacken“, fuhr Ginstermann fort, vor sich hinbrütend. „So einer bin ich. Aber wir tragen ja alle unsere Tragödie in uns herum, ich und Sie und Kapelli und Ritt, alle. Unsere entwickeltere Empfindungsfähigkeit ist schuld daran. Und wir Schaffenden haben neben all den menschlichen Sorgen auch noch die um unsere Arbeit. Gegen diese sind alle anderen nichtig. Weiß man aber, ob all unser Kämpfen einen Sieg vorbereitet? Daß wir das nicht wissen, daran leiden wir. Die einen haben mit Erfolg begonnen und mit Niederlagen geendet. Die anderen fielen aus einer Enttäuschung in die andere und sprengten plötzlich die Schlacke, die sie einhüllte. Solange wir nur das Bewußtsein haben, etwas zu leisten, einmal, gleich wann, so können wir glücklich sein. In unseren schwachen Stunden verläßt es uns, und um uns heult das Elend. Ein Erfolg läßt sich eben nicht vom Himmel reißen, man muß Geduld haben.“

„Viel Geduld!“

„Viel Geduld. Aber nehmen wir an, man hat nie Erfolg, nie Erfolg.“

„Niemand erträgt das.“

„Ich aber sage Ihnen, trotzdem müßte man es ertragen, trotzdem müßte man sich noch glücklich schätzen, stolz sein. Ich frage, kann es uns nicht gleichgültig sein, ob ein verblödetes Publikum uns zujubelt oder uns verlacht? Für wen schaffen wir? Für uns, sonst für niemanden. Wir sollten uns genügen lassen an der Erkenntnis, daß wir überhaupt entwickeltere Wesen sind, feiner, selbständiger empfinden als jene Erbarmungswürdigen, blind, taub und seelenlos Geborenen da draußen. Die Gabe, originelle Eindrücke aufnehmen zu können, des vermittelnden Kunstwerkes entbehren zu können, die sollte uns stolz machen, wenn wir auch nicht die Kraft besitzen, diese gesammelten Eindrücke zum Kunstwerk zu verdichten. Und dieser Stolz sollte uns über alles hinwegtragen, über die Misere des Daseins, über das Gespötte der Welt, das Achselzucken unserer Angehörigen. Man prostituiert sich vor sich selbst, wenn man nur einen Gedanken daran verschwendet. Man sollte, man sollte — aber dazu ist man immer noch zu klein, zu beengt im Blicke.“

Er schwieg.

Die Malerin lehnte am Tische, den Blick zu Boden gerichtet und lächelte. Aber das war nicht ihr stereotypes, wehmütig-liebenswürdiges Lächeln, es war das Lächeln des Befreiten, des Aufatmenden.

Nach einer Weile stand Ginstermann auf. In verändertem Tone sagte er: „Nun sehen Sie, nun habe ich meinen Schlüssel gefunden. Ist das nicht kostbar! Im Futter meiner Westentasche hat er gesteckt.“

„Haben Sie ihn gefunden?“ fragte sie mechanisch.

„Ja,“ entgegnete er, „und nun gute Nacht, und nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, daß ich Ihnen mit meinem Lamento gekommen bin. Es ist menschlich, sich dazwischen Luft machen zu müssen. Morgen bin ich wieder jener, den Sie um seine göttliche Ruhe beneiden.“

Sie nahm seine Hand, sie legte die Linke noch darauf und preßte sie. Ihre Augen waren feucht, ihre Brust wogte. Mit einem Blick, den er sein Leben nicht vergessen würde, sagte sie:

„Es muß doch einen Gott geben!“

„Wieso?“ fragte Ginstermann verdutzt.

VII.

Das waren schlimme Tage.

Und mehr noch schlimme Nächte.

Des Tags wurde Ginstermann von einer unsinnigen Sehnsucht, Fräulein Schuhmacher zu treffen, in den Straßen herumgetrieben, des Nachts marterte er sein Gehirn mit Plänen, wie dies herbeizuführen sei.

Jeden Morgen harrte er voller Ungeduld auf den Schritt des Postboten auf der Treppe. Meistens ging er an seiner Türe vorbei, pochte er aber, so eilte er, schwindlig vor Erregung, um zu öffnen. Allein es war stets eine nichtssagende Mitteilung von seinem Verleger, seinem Agenten, eine Offerte, ein Mahnbrief, ein Zeitungsausschnitt.

Sobald es recht Tag war, verließ er das Haus, um auf die Suche zu gehen. Er spähte in alle frequentierten Geschäfte, er ließ keine Droschke vorbei, ohne sich die Insassen anzusehen. Er bestieg eine Straßenbahn und fuhr kreuz und quer in der Stadt herum, eifrig die Trottoire absuchend.

Manchmal, in der Meinung, sie entdeckt zu haben, verfolgte er eine Dame, die in Gestalt und Gang etwas Ähnliches mit ihr hatte. Nach kurzer Zeit bemerkte er jedoch immer, daß ihn irgend eine Nebensächlichkeit genarrt hatte. Bald war es die Fasson des Hutes, die Farbe des Gürtels, die Art den Schirm zu tragen, das Kleid aufzuraffen, bald war es die Form der Hand, des Ohres, des Kinnes. Dann stand er still, keuchend vom Lauf, zornig und betrübt darüber, daß er so gar kein Glück hatte, um bald darauf in die nächste Straße zu verschwinden, von einer Ahnung, sie hier zu treffen, angetrieben.

Stundenlang belagerte er in möglichst unauffälliger Weise die Villa in der Leopoldstraße. Er studierte die Plakatsäule, bis er alle Annoncen auswendig wußte, das eine Auge stets auf das dunkle Portal und auf das Eckzimmer im ersten Stock gerichtet. Darin hatte er es bis zu einer gewissen Genialität gebracht. Er kannte bereits den Bäcker, der das Brot brachte, den Fleischer, der das Fleisch brachte, das Dienstmädchen, die Köchin und einen alten Mann, der täglich Punkt 1 Uhr eintrat, um das Haus nach einer knappen halben Stunde wieder zu verlassen.

Er begriff nicht, was mit ihr sein könne. Daß sie vollständig genesen war, schloß er daraus, daß jeden Abend bis zwölf, ja bis ein Uhr Licht in ihrem Zimmer brannte.

Verreist konnte sie also auch nicht gut sein, oder kam ihr Geist jeden Abend und zündete sich die Lampe an, Romane zu lesen, wie?

Zudem sah er dann und wann auch ihren Schatten auftauchen und verschwinden. Einmal sah er sogar ihre Hand, das war ein Ereignis.

Wenn man gegenüber auf die Staffel trat und sich auf die Fußspitzen stellte, so konnte man den Lüster aus Orchideenblüten wahrnehmen, deren Kelche das Licht ausströmten. Und weit hinten etwas Blinkendes, wie der Arm einer Statuette.

Als Knabe hatte er sich einmal mit der Erfindung eines Spiegels beschäftigt, mit Hülfe dessen man um die Ecke sehen könnte. An diesen Spiegel mußte er immer denken. Er hätte ihn auch benützt, ein einziges Mal wenigstens. Auch mit dem Telemikrophon ohne Draht wäre etwas zu machen gewesen.

Seinen Ahnungen schenkte er schon lange keinen Glauben mehr. Nichtsdestoweniger war er doch enttäuscht, sie nicht auftauchen zu sehen, wenn ihm seine Gedanken eingeflüstert hatten, du wirst sie am Siegestor treffen. Oftmals dacht er: Zähle bis tausend, und sie tritt aus der Türe. Er zählte, bei neunhundert erfaßte es ihn wie ein Schwindel, bei tausend öffnete sich auch die Türe, aber es war nur eine Täuschung seiner erregten Sinne.

Spät in der Nacht kehrte er stets erst zurück, todmüde vom Wandern, Warten und Zermartern, mit einer Sehnsucht, die wie Wogen gegen die Wände seiner Brust schlug.

Er warf sich aufs Bett, aber der Schlaf schien ihn vergessen zu haben. Es war, als ob sein Gehirn all die nichtigen Eindrücke des Tages aufgespeichert habe. Wie in einem Kaleidoskop zuckten Bilder vor ihm auf, um wie auf ein unmerkliches Rütteln zu versinken und andere entstehen zu lassen. Leute grüßten, Posten präsentierten, Menschen liefen zusammen, ein Zug elektrischer Wagen staute sich. Hier entkam eine Frau mit knapper Not einer sausenden Kutsche, dort fuhren zwei junge Mädchen auf blitzenden Bicycles hintereinander, Gesichter gingen an ihm vorüber, bald unnatürlich groß und nah, als wollten sie durch ihn hindurchgehen, bald klein, scharf, wie durch ein Verkleinerungsglas gesehen. Der ganze wirre Lärm der Straße war in ihm, Pfeifen, Schreien, Worte, Gelächter kam zu seinen Ohren wieder heraus. Hier sagte jemand: Ei der Tausend — ah, recht sehr! Hier fiel ein Stock klappernd aufs Pflaster.

Nachdem diese infolge des plötzlichen Abgeschlossenseins von der Außenwelt hervorgerufene Reaktion seiner Sinne nachgelassen, trat sie in seine Gedanken. In Hunderten von Situationen. Sie ging an der Seite des schmalbrüstigen Herrn über die Straße, sie saß in einem Wagen und verneigte sich grüßend, sie stand am Fenster und warf Apfelsinenschalen in den Vorgarten, sie betrat die Loge im Theater, sie saß bei der Lampe über eine Mappe gebeugt.

Endlich war er soweit, seinen Gedanken eine bestimmte Richtung geben zu können. Er dachte an den kommenden Tag, er dachte an die kommenden Tage. Er entwarf tausend Bilder des plötzlichen Wiedersehens. Er schmiedete tausend Pläne.

Denn, so sagte er sich, wenn es nicht so gehe, so wolle er List anwenden.

Er hielt sich für einen geriebenen Burschen, der sich in den Himmel einschlich, wenn es ihm darum zu tun wäre. Es waren verwegene, verblüffende Pläne, wie sie im Gehirn eines Einbrechers und Intriganten entstehen. Oft brach er in lautes Lachen aus, so burlesk, so genial erschienen sie ihm.

Besonders gelungene arbeitete er bis ins kleinste Detail aus, und häufig brach er in der Mitte ab, um von vorn zu beginnen, da ihm seine Vorstellungen immer noch lückenhaft erschienen.

Seht ihr dieses alte Männchen die Ludwigsstraße hinabtrippeln? Jedermann wettet, es ist ein kleiner Rentner, ein pensionierter Galerieaufseher. Seht wie behutsam er die Straße überschreitet, wie er seine Kinnbacken bewegt, wie er mit dem Rohrstock nach Papierknäueln stochert. Seht seinen weißen Bart, sein kluges, pfiffiges Gesicht, ein Studienkopf, der einer jungen Malerin recht in die Augen stechen kann. Ha, Schauspieler Ling ist ein Meister in der Maske, alle Kritiker sagen das. Achtung! ein Tandem schnurrt hinter dir her . . .

Was ist hier geschehen? Die Brücke ist vollgepfropft von Menschen und Wagen, daß sie sich biegt. Da drunten — seht, dort! Weshalb jammert dieses Weib so und liegt auf den Knien?

Platz da — Platz gemacht! Ein Körper durchschneidet die Luft, über ihm schlägt das Wasser zusammen. Es ist eine Turmlänge bis da hinunter. Dort, dort! Seht! — Hoch! Hoch! Das Wasser läuft nur so herunter an ihm, er hat den ganzen Fluß in den Kleidern. Ach, keinen Dank, Frau, machen Sie doch keine Geschichten. Der Schlag eines Wagens öffnet sich: Herr Ginstermann darf ich Ihnen den Wagen anbieten? . . .

Man müßte den alten Herrn, ihren Vater, im Kaffeehaus zu treffen suchen, mit ihm über Politik und Münzensammlungen, über den unentdeckten Vulkan in Hinterindien, über sonst etwas sprechen. Irgendwo ist ein alter Herr stets zu packen . . .

Vergessen wir unsern kleinen Rentner nicht. Nun klingelt er. Ein Dienstmädchen. „Das gnädige Fräulein besaßen die große Liebenswürdigkeit, mich zu bestellen.“ Ein Kleid rauscht. Eine schlanke, blasse Dame. Das Männlein blinzelt, schüttelt den Kopf.

„Nein — nein — ich muß irr gegangen sein. Ich möchte eine Dame namens Won — Wonderneß sprechen.“

„Ich bedaure.“

„Leopoldstraße 12?“

„Allerdings.“

„Diese Dame ist Malerin, sie bestellte mich bis drei Uhr, Leopoldstraße 12.“

„Ich kenne niemanden dieses Namens. Aber fragen Sie mal nebenan nach, bei Major von Hörmann. Es ist da eine Dame zu Besuch —“

„Zu Besuch — richtig, zu Besuch! Ich danke vielmals, ich bitte um Entschuldigung. Ein alter Mann —.“ Das Männlein macht einen Kratzfuß und steigt vorsichtig die Treppe hinunter.

„Bei Major von Hörmann, gleich nebenan.“

„O, ich danke, vielen Dank, Euer Gnaden“ . . .

Wo brennt es? Es brennt noch nicht, Herr Schutzmann, aus dem Keller schlägt Rauch. Wenn man schnell alarmiert. — Ja, wo denn? Leopoldstraße, diese moderne Villa . . . Sein Gehirn arbeitete mit der Schnelligkeit eines Motors, über den der Maschinist die Herrschaft verloren. Er versuchte alles nur Denkbare, um einschlafen zu können. Während sein Körper wie tot lag, befand sich sein Gehirn in hellster Aufregung. Er zählte bis hundert und zurück, er lauschte auf das Ticktack seiner Taschenuhr, er dachte: Sommer, du liegst im Gras, Hitze schwingt, Bienen brummeln; alles war umsonst.

Bald kletterte er auf eine Pappel, um sie zu sehen, bald zechte er mit dem alten Mann, der täglich um ein Uhr die Villa betrat, um etwas aus ihm herauszulocken, bald schlug er eine tollwütende Dogge zu Boden, die sich auf den schlanken hübschen Herrn mit seinem Kindergesicht stürzen wollte.

Gegen Morgen erst versank er in einen schweren, traumlosen Schlaf, und er wußte sich nie zu besinnen, bei welcher Gelegenheit er eingeschlafen war.

Er erwachte meist mit dem jähen Schrecken, er höre ihre Stimme unten in Kapellis Ateliers.

So vergingen einige Wochen.

VIII.

Ginstermann erzählt:

Heute aber, nachdem ein fortgesetztes Mißgeschick mich gänzlich mutlos gemacht hatte, heute aber — meine Herrschaften, verzeihen Sie diese Phrase — lächelte mir endlich Fortuna!

Ja, Fortuna lächelte mir!

Holdrio!

Meine Damen, meine verehrten Damen und Herrn. Ich wandere zurück an den „Wällen Jerusalems, des ewigen“, ich bin weit draußen in der Vorstadt gewesen. Es wird Abend, ein trüber, trauriger Abend, als hätte ihn mein Herz geboren. Ein feiner Regen rieselt herab.

Ein niederträchtiger, unverschämter Regen, der meine Zigarette näßt, daß sie zu kohlen beginnt. Dieser Umstand allein würde bei normalen Verhältnissen genügt haben, mich mißmutig zu machen. Jetzt schlug er dem Faß den Boden aus.

Es ist zuviel, es ist zuviel, alles was recht und billig ist.

Ich werde geradezu wütend. Aber plötzlich, durch all meine Misere hindurch lächelte mir der holde Sonnenblick Fortunas.

Nur Geduld. Bei großen Momenten halte ich große Reden der Einleitung, wie ein Gourmand die Delikatessen einer sorgfältigen Betrachtung unterzieht, um seinen Genuß zu steigern.

Also es regnet, und das Pflaster ist naß. Meine Zigarette ist erloschen, und ich schreite mit düsteren Blicken meine Straße. Das bewußte Haus kommt näher.

Ein geschmackloses, ein lächerliches Haus, das Experiment eines Architekten, der in modernem Stil macht. Macht ist gut gesagt.

Wie gesagt und überhaupt — betrachten Sie, bitte dieses Haus!

Ich hätte Lust, Ihnen jetzt einen kleinen Vortrag zu halten über moderne Architektur im speziellen, über moderne Kunst im allgemeinen. Eventuell mit Ihnen ein kleines Exkursiönchen durch die Baustile aller Zeiten und Völker zu unternehmen, über die phrygische, lykische, syrische Kunst hinweg, hinein in die babylonisch-assyrische, mit Ihnen den Palast des Königs Sargon zu Chorsabad zu besichtigen und den Tempel des Chunsu zu Karnak zu durchwandern. Hier im Schatten des Säulenwaldes würde es mir ein besonderes Vergnügen sein, Ihnen, wenn Sie wünschen, meine Ansichten über die rituellen Gebräuche dieser Völker auseinanderzusetzen.

Aber zur Sache! Ich sehe, die Damen langweilen sich.

Ich gehe an diesem Hause vorüber, empört über seine Geschmacklosigkeit, über die höhnisch lächelnde Verschlossenheit, mit der mich seine vierundzwanzig Augen verfolgen — da höre ich meinen Namen rufen.

Ganz leise, als äffe mich ein Spuk.

Meine Herrschaften!!

Ich wende den Kopf, von vornherein überzeugt, daß ich mich täuschte, da erblicke ich eine weibliche Gestalt unter der Türe.

Ich rege mich nicht von der Stelle, ich starre sie nur an, über mir sausen Flammen.

„Guten Abend,“ sagt sie und lächelt mir zu.

Endlich gehe ich näher. „Guten Abend, Fräulein Schuhmacher.“

Sie hat ein Tuch umgeschlagen, und aus einem in der Dämmerung leuchtend blassen Gesichtchen blicken ihre glänzenden, großen Augen. Geschmeidig wie eine Katze huscht sie die Stufen herunter.

Ruhig, ohne die geringste Erregtheit, sage ich: „Ich konnte mir gar nicht denken, wer mich anrufen könne.“

Sie gibt mir ihre schmale Hand, und ihre Finger sagen: Grüß Gott.

„Ich sah Sie vor einer Stunde die Straße hinuntergehen.“

„In Schwabing ist ein Neubau eingestürzt.“

„Ach ja, ich vernahm davon. Wie traurig, sechs Tote, sagt man.“

„Ja, sechs Tote. Ich wollte mir das ansehen. Nicht aus kleinlicher Neugierde natürlich, studiumhalber. So ein Unglücksfall enthüllt die Herzen, man sieht sie wahr.“

„Sprechen wir nicht von so traurigen Dingen,“ unterbricht sie mich, und, indem sie mir einen Brief zeigt, sagt sie: „Ich will ihn in den Kasten stecken.“

Auch ihre Hand leuchtet, so blaß ist sie.

Ihre Stimme ist leise, teilweise klanglos, mit singendem Tonfall. Dann und wann funkelt es wie mattleuchtende Steine darin. Ich vermute, daß sie das Englische gut ausspricht. Lautlos geht sie neben mir, mit der Linken das Kleid aufraffend, mit der ihr eigenen Biegung des Handgelenkes, auf den Fußspitzen schleichend, wenn besonders nasse Stellen kommen. Ihre Schultern sind schmal, zart, sie heben und senken sich unmerklich beim Atmen wie die Flügel eines Falters, der aus einer Blüte trinkt. Ihr Gesicht blickt wie eine Knospe aus dem seidenen Tuche, durchsichtig, ihre Seele ausstrahlend. Jetzt erst erkenne ich, wie ähnlich das Porträt ist, das Kapelli geschaffen.

Ein feiner Duft strömt aus dem Tuche, auf ihren Stirnlöckchen sprühen die Regentropfen wie Tau.

Wir sprechen nur weniges. Sie erzählt mir, daß sie krank war, nicht sonderlich, Schlaflosigkeit. Ich danke ihr für ihr Billett von damals.

Wir stehen wieder vor dem hohen, dunklen Tore.

„Wir werden demnächst abreisen,“ sagt sie, mit der Fußspitze vorsichtig in den Rand einer kleinen Pfütze tippend.

„Mama ist leidend. Der Arzt rät uns, nach Italien zu geben. Aber Mama ist nun wieder kränker geworden, so daß wir die weite Reise vorläufig nicht wagen können.“

Sie tippt noch immer mit der Fußspitze in die kleine Pfütze und blickt zu Boden.

„Ach, Ihre Frau Mama ist leidend?“

„Ja, leider.“ Sie sieht auf und blickt mich an.

„Vielleicht sehen wir uns noch einmal, Herr Ginstermann?“

„Mit Vergnügen, allein —“

Ob ich gerne in den Englischen Garten ginge.

„Sehr häufig sogar.“

„Vielleicht treffen wir uns dort. Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, so würde ich vorschlagen, uns am Samstag um 3 Uhr dort zu treffen. Ein bißchen plaudern, nicht?“

„Sehr gerne, sehr gerne.“

„Können Sie Samstag?“

„Haha — ja —,“ ich besinne mich etwas, „o ja, Samstag sehr gut. Gewiß, gewiß, sehr angenehm.“

„Ja, aber der Garten ist groß.“

Am Monopteros vielleicht, wenn ihr das recht sei.

„Natürlich, es ist ja egal. Also Monopteros, nicht? Gute Nacht, Herr Ginstermann.“

„Guten Abend, Fräulein Schuhmacher.“

Sie nickt mir nochmals zu und schlüpft ins Haus.

Meine Brüder, meine Brüder!

Die Leopoldstraße hinauf geht ein Mann, die Augen zusammengekniffen, um nicht herauszulachen. Die Hände in die Rocktaschen vergraben, um nicht die Leute am Rock zu fassen und zu schütteln, die Zehen verkrampft in den Schuhen, um nicht zu tanzen.

So gehen die Menschen, denen das Glück ins Herz fiel.

Das bin ich.

Er läuft in die aufgespannten Schirme hinein, zieht den Hut, entschuldigt sich mit einem Schwall von Worten. Jemand tritt ihn auf den Fuß und sagt: Pardon. Er wendet sich um und ruft lachend: Bitte sehr, bitte sehr, hat gar nichts zu sagen. Er geht auf einen Schutzmann zu und fragt, wo es nach der Feldherrnhalle gehe. Immer geradeaus. — Ob man sich nicht verlaufen könne? Nicht? Herzlichen Dank.

Er deutet auf eine Plakatsäule und sagt: Eine Villa am Chiemsee ist gegen Blauplätze zu vertauschen. Offerten unter „Chiemsee“. Vermittler verbeten.

Das bin ich.

Er bleibt stehen und spricht: Geehrte Dame, ich wünsche Ihnen eine hübsche, langwierige Krankheit. Eine Krankheit, die Ihnen erlaubt zu essen, zu trinken, was Sie bevorzugen, zu tanzen, wenn Sie Lust haben, die Sie aber wie Millionen Nadeln durchfährt, wenn Sie abreisen wollen. Diese hübsche Krankheit wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, o geehrte Dame.

Das bin ich, liebe Brüder, das bin ich!

IX.

Nachdem die ersten Wogen des Glückes zurückgeebbt waren, fand Ginstermann die Kraft, sich zu fassen. Das vibrierende Wonnegefühl, das sein ganzes Wesen durchzitterte, löste eine still-übermütige Stimmung in ihm aus.

Seine Seele hielt inne in dem ekstatischen Tanz und versank in einen Zustand köstlicher Ruhe, durch die die Zuversicht auf etwas Herrliches schimmerte.

Er kam sich vor wie einer, der nach einer wahnsinnigen Jagd, gepeitscht von der Furcht, sein Ziel zu verfehlen und in grausigen Wäldern zu verkommen, die Zinnen der ersehnten Stadt in der Abendsonne zu seinen Füßen leuchten sieht.

Gemächlich ließ er sich vom Strom der Menschen treiben.

Es schien ihm, als sehe er mit neuen Augen, hörte er mit neuen Ohren, seien alle seine Sinne verändert, wie die Sinne eines, der lange Zeit in einem stillen Zimmer krank gelegen. Gewohnt täglich, in jeder Minute Nahrung zu sich zu nehmen, stürzten sie sich heißhungrig auf alles, was sie umgab. Aber unterhalb dieser Flucht von Eindrücken zogen unaufhörlich stille, sanftfarbene Bilder durch sein Inneres, halb unbeachtet, und es kam vor, daß Menschen und Häuser plötzlich ihre Körperhaftigkeit verloren, und er durch sie hindurch in ein Traumland blickte.

Der Regen hatte mit einem Male aufgehört, nachdem er die Menschen den ganzen Tag über gelangweilt hatte, und die Sonne schüttete noch im Sinken Hände voll blitzender Funken über die Stadt. Eine ungewöhnlich gespenstische Beleuchtung herrschte, gleich dem Leuchten auf dem Antlitze eines Sterbenden.

Die Leute gingen alle mit gelb-durchscheinenden Gesichtern, deren Wimpern sprühten, einher, wie Wesen, die ein Zauber für einige Stunden dem Dasein zurückgibt. Diese magische Lichterscheinung schien auf ihre Bewegungen, auf ihre Stimmen zu wirken, und nur die stumpfen Nerven der Arbeiter und Greise blieben unberührt von diesem Einflusse, dem sich selbst Pferde und Hunde nicht entziehen konnten, mit ihrem alltäglichen Gebaren den Zauberspiegel in Stücke schlagend.

In den Hauptstraßen gab es nahezu ein Gedränge, so viele Leute hatte das Verlangen herausgetrieben, noch einen Schluck dieser kristallklaren, kräftigen Luft zu erhaschen.

Die Wagen glitten pfeilschnell vorüber, und das Prasseln der Pferde, die stramm in den Zäumen gingen, verschwand ebenso unvermittelt, als es auftauchte. Als wären sie auf Wiesengrund eingebogen. Die elektrischen Cars schossen wie die losgekoppelten Wagen eines Zuges in Abständen hintereinander her, den Strom des Verkehrs für Augenblicke in zwei Arme teilend. In den Magazinen brannten die Lampen und zogen unwillkürlich den Blick der Passanten auf die ausgebreiteten Herrlichkeiten. Blasse Gesichter mit verblasenen Schatten unter den glänzenden Augen wanderten durch den Lichtschein.

Aus dem Panoptikum tönte das atemlose Tschin-tschin des Automaten, laut, seelenlos und jäh abbrechend, als habe man für einen Moment die Türe eines Vergnügungslokales geöffnet.

Ginstermann lächelte in der Erinnerung daran, daß er vor drei Jahren an dieser mit Plakaten beklebten Türe gestanden und den Vorbeieilenden mit verbindlichem Lächeln die grellbunten Zettel in die Hand gedrückt habe.

Er trat in einen Laden, um sich eine Tüte Datteln zu kaufen. Das Fleisch der süßen Früchte zwischen den Zähnen zerreibend, die Steine aufs Pflaster schnellend, nahm er promenierend sein Abendbrot ein.

Plötzlich entstand über den Häuptern der Menschen ein kurzes Knistern und Prasseln, die Bogenlampen sprühten auf. Eine ungeheuere Reihe leuchtender Perlen hing aus dem düsterblauen Himmel herab, ein glitzerndes Gewebe von Licht über Häuser und Menschen werfend.

Die Szenerie veränderte sich dadurch mit einem Schlage.

Die Gebäude schienen gewachsen zu sein, einige glichen Ruinen mit mächtigen Breschen darin, andere wieder erweckten den Eindruck, als seien sie aus ihrer Starrheit erwacht und machten Miene, die Straße hinabzuwandern.

Die Menschen, infolge des phantastischen Abendleuchtens in stille Schwärmerei versunken, sprühten nun laute Fröhlichkeit. Sie lächelten alle, selbst dann, wenn sie nicht lächelten. Sie gingen zu Paaren, in Gruppen, einig in dem Vorsatze, den Abend lustig zu verbringen. Herren und Damen gingen Arm in Arm einher, eifrig plaudernd. Sie sprachen zumeist von nichtigen Dingen, aber es war ja wohl mehr die Freude des Sprechenden, zu diesen Ohren sprechen zu können, und mehr die Freude des Lauschenden, diese geliebte Stimme zu hören, als die nichtssagenden Dinge selbst, was diese Einmütigkeit hervorrief. Sicherlich stand ihnen allen noch ein besonderes Glück in Aussicht, ein Kuß im Hausflur, ein abendliches Zusammensein.

Die Leute sahen ganz anders aus als vor wenigen Minuten. Es war, als seien sie rasch zu Hause gewesen, Toilette zu machen. Man sah überall frisch gewaschene Gesichter, schneeweiße Kragen und Lackschuhe. Die Bewegungen erschienen vornehmer, theatralisch nahezu bei aller Unbefangenheit.

Der Lärm der Wagen wurde sonderbar, Rufe, Schreie, Gepfeife geheimnisvoll. Man bezog alles auf sich, wenngleich es weitab hörbar war.

Dazwischen bemerkte Ginstermann ein Gesicht, das ihn interessierte. Ein originelles, stolzes Antlitz, in dem ein intensiver Denkprozeß, ein tiefes Seelenleben so lange gearbeitet hatten, bis Vater und Mutter darin zurücktraten, und ein neuer Mensch hervorkam, ein Adam sozusagen. Solche Leute hätte er gerne angesprochen.

Eine Frau ging am Arme ihres Mannes vorüber, mit einem transparenten Gesichtchen, blauen, hellgewaschenen Augen voll träumerischen Sinnens. Sie war guter Hoffnung. Der Blick der beiden begegnete sich, und Ginstermann erkannte, daß es wunderbar feine Menschen waren. Er wähnte ihre Seelen klingen zu hören, als sie sich ansahen.

Heute hatte er die Fähigkeit, die Herzen der Menschen unter den Kleidern zu sehen. Traum war es und Sehnsucht, Kampf und Liebe, was er darinnen sah. Er erblickte sich selbst in ihnen. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erfüllte ihn, wie nie zuvor. Wie ein Stückchen Holz unter anderen Spänen die Bewegung der Welle, die sie trägt, mitmacht, schien er alle Bewegungen dieser tausend Seelen mitzumachen. In der Einsamkeit seines Zimmers, der Abgeschiedenheit seiner Gedankenwelt war dieser Kontakt gelockert worden und nun, da ein Erlebnis sein einigermaßen vernachlässigtes Gefühlsleben befruchtet hatte, verstand er die Sprache wieder, die dieser Spiegel zu ihm redete.

Im Begriffe, seiner Behausung zuzusteuern, bemerkte er ein kleines Hündchen, dessen possierliche Art zu laufen ihm auffiel. Es lief wie ein kleines Maschinchen, und man hätte glauben können, es bewege sich in drolliger Absicht nicht schneller vom Platze, während es die Beinchen wie verrückt bewegte.

Eine Dame ging neben ihm her. Es war Fräulein Scholl.

Ginstermann überschritt die Straße und rief sie an. Sie wandte sich mit einer drehenden Bewegung um, als befände sie sich auf dem Eise. Sie entdeckte ihn nicht sofort.

„Ach, Sie!“ rief sie dann mit vergnügtem Lachen, ihm die Hand entgegenstreckend, viel höher, als es nötig gewesen wäre.

Ihr Puppengesichtchen strahlte, und sie schüttelte Ginstermanns Hand, als seien sie langjährige Bekannte. Sie war braun in braun gekleidet. Brauner Hut, braunes Kostüm, dazu kamen noch ihre mattbraunen Haare und ihre Augen von altgoldener Farbe. Das sensitive Auge eines Malers schien diese Nüancen zusammengestimmt zu haben.

Ginstermann erkundigte sich, wo sie denn die letzten Wochen gesteckt habe.

„Ich bin in Berlin gewesen,“ sagte sie, den Berliner Jargon nachahmend.

Das gab sofort Stoff zur Unterhaltung. Sie erzählte ihm von der Hin- und Rückfahrt, von all den harmlosen Abenteuern und Erlebnissen eines jungen Mädchens. Häufig lachte sie in der Erinnerung an diese Begebenheiten, Ginstermann im Unklaren lassend, was ihre Heiterkeit derart erregte.

Er hörte ihr gerne zu. Ihre unvollständigen Sätze, ihr Lachen, die dazwischen geworfenen Berliner Redensarten belustigten ihn. Es war komisch zu beobachten, wie sie, mitten in ihrer Heiterkeit sich an die Würde erinnernd, die eine junge Dame zu bewahren hat, plötzlich ihr Lachen dämpfte, ihre Bewegungen überwachte und in korrekten Sätzen sprach.

Ihr Wesen war voll kindlicher Anmut und jener am Tage liegenden Fröhlichkeit, wie sie Menschen besitzen, die das Leben nur von der sonnigen Seite kennen und infolge ihrer optimistischen und wenig polemischen Veranlagung auch nie dazu kommen, seine dunklen Seiten zu erfassen.

Allmählich verstand es Ginstermann, das Gesprächsthema auf ihn mehr interessierende Gegenstände zu lenken.

Er fragte, ob sie ihre Freundin schon besucht habe.

„Natürlich doch,“ entgegnete sie, „gleich am Montag.“ Und ihn anblickend, setzte sie hastig dazu: „Bei dieser Gelegenheit habe ich auch Sie gesehen, Herr Ginstermann.“

„Mich?“

„Ja, Sie standen am Siegestor und studierten die Skulpturen.“

„Nein, niemals. Montag? Da bin ich gar nicht hier gewesen, Fräulein.“

Sie lachte ungläubig und sagte, sie könne ihren Kopf wetten. Sie habe auch geklingelt — sie war zu Rad — aber er habe nichts gehört.

Es wäre wirklich schade um ihren Kopf.

Aber, sie würde ihn auf keinen Fall verlieren.

Eine Weile stritten sie sich wie die Kinder.

Sie gingen die Ludwigsstraße hinunter, die noch länger aussah als am Tage. Die elektrischen Lampen hingen in endloser Reihe, riesigen glühenden Tropfen gleich, die an den Drähten entlang rollten.

Ginstermann brachte alles mögliche aufs Tapet, wofür sich seine Dame interessieren konnte. Sie sprachen von Kleidern, Theater, Literatur. So gut er konnte, paßte er sich ihrem Gedankengang an und vermied es, sie auf irgendwelche Irrtümer aufmerksam zu machen, so unangenehm sie ihn auch berühren mochten. Es wäre ihm als ein Verbrechen erschienen, diese Mädchenseele durch Aufklärungen in Unruhe zu versetzen. In früheren Zeiten hielt er dies für seine Pflicht. Sie fand alles wunderbar und entzückend, und nur das wirklich Wertvolle, das fand sie langweilig und verrückt. Dazwischen äußerte sie wiederum Anschauungen, die zu ihren früheren in direktem Widersprüche standen, Splitter aus dem Geistesleben anderer, die an der Oberfläche ihres Geistes haften geblieben waren.

Hin und wieder warf er eine Frage ein, die sich auf Fräulein Schuhmacher bezog. Er erhielt stets bereitwillig Auskunft. Schließlich machte er einen wahren Sport daraus, von jedem nur immer geeigneten Punkte des Gespräches auf die Freundin überzuspringen, sich und seiner Begleiterin ein wenig Komödie vorspielend. Auf diese Weise erfuhr er, daß sich die Mädchen in Berlin kennen gelernt hatten, daß Fräulein Schuhmacher aus Hamburg stammte, wo ihr Vater eine große Möbelfabrik besaß, daß ihr Bruder Offizier in Berlin sei, daß sie bei schönem Wetter alle Morgen nach Schleißheim radelten, und eine Menge anderer Dinge. Es machte ihm Freude, von der Geliebten zu hören, andererseits bereitete es ihm Vergnügen, zu sehen, daß die Harmlosigkeit seiner Begleiterin seine Absicht nicht bemerkte, obschon er in seiner übermütigen Laune so weit ging, jede Frage mit den Worten: was ich noch fragen wollte, einzuleiten.

Am Ziele angelangt, plauderten sie noch eine Weile im Hausflur.

Ihre Stimmen hallten leicht, als sprächen die Wände mit, und wenn Fräulein Scholl in ihr herzliches Lachen ausbrach, so schien dieses Lachen nach geraumer Zeit wieder durchs Stiegenhaus herabzukommen. Am Treppenpfosten brannte eine elektrische Lampe, eine Laterne vorstellend, an der der bekannte Savoyardenknabe lehnte, dieser Fratz mit seinem Glimmstengel im Munde. Die Wände schmückten Stuckkartuschen, ausgefüllt mit Amoretten, die Blumengirlanden hielten. Eine Putte in so unglücklicher Lage, daß man befürchtete, sie könne jederzeit aus dem Rahmen fallen und sich den Kopf an der Kante des Gesimses entzweischlagen.

„Zum Abschied“, sagte Ginstermann, „sollten Sie mich eigentlich noch Ihrem Hündchen vorstellen, Fräulein Scholl.“

Sofort einverstanden damit, machte sie die Herrschaften mit tänzelnder Grazie bekannt: „Herr Ginstermann — Fräulein Bijou.“

Ginstermann lüftete den Hut und machte seine Verbeugung.

Fräulein Bijou kläffte: wä! und machte Miene, auf Ginstermann loszufahren, eifersüchtig und wütend über die lange Vernachlässigung.

Darüber lachten beide, daß das ganze Treppenhaus mitlachte.

Fräulein Bijou kläffte und umkreiste, auf drei Beinen hüpfend und mit dem Schweife wedelnd, die Lachenden.

Seine Herrin nahm es auf den Arm und drückte es zärtlich gegen die Wange.

„Eine gescheite Dame“, sagte Ginstermann, „sehen Sie nur das Gesichtchen. Ja, ein wirkliches Gesicht! Moderner Hund, neurasthenisch, das Geschlecht gehört seit Jahrhunderten zur Aristokratie.“

Er nahm den Hut ab, um sich zu verabschieden.

„Ach, Sie wollen schon gehen?“

„Ich kompromittiere Sie ja.“

„Sie kompromittieren mich nicht im mindesten. Tante ist verreist, und mein Bruder kommt nie vor 1 Uhr nach Hause. Er kneipt immer. Es würde ihm rasend Spaß machen, Sie kennen zu lernen. Wollen Sie Ihren Tee bei mir nehmen, Herr Ginstermann, ja?“

Dabei sah sie ihn bittend an.

In diesem Augenblick liebte er sie wirklich. Den Ausdruck des Erstaunens über diese Einladung verbergend, erwiderte er: „Ich muß leider ablehnen. Danke. Ich muß an meine Arbeit. Zu Hause bei mir sitzt einer, der es nicht erwarten kann, seinen Kopf zu verlieren im dritten Akt.“

Sie setzte das Hündchen ab und reichte ihm die Hand.

„Nun denken Sie wohl schlimm von mir, weil ich Sie einlud, mit heraufzukommen?“

„Da müßte ich in erster Linie schlimm von mir selbst denken.“

Sie verstand nicht sofort, dann sagte sie:

„Nun ja, wenn Sie arbeiten wollen —“

Sie blieb noch immer stehen, drehte den rechten Fuß auf dem Absatze und stichelte mit der Schirmspitze nach der Fußspitze.

„Adieu,“ sagte sie dann schnell, in dem Wunsche, heiter zu erscheinen wie vordem, und gab ihm nochmals die Hand, die er herzlich drückte.

Sie war rund und kurz, heiß.

„Adieu, Fräulein Scholl und nochmals Dank für Ihre liebe Einladung.“

Fräulein Scholl sprang rasch die Treppe hinauf.

Bijou rannte aus der Türe und kläffte Ginstermann nach. — — — — — — — — — — — —

Ginstermann ging nach Hause, setzte sich an den Tisch und schrieb:

Das Herz.

Da war ein Mann, vor langer Zeit. Habuck hieß er, das ist: der Gestorbene. Er war bleich, weiß wie Zucker sein Gesicht, seine Hände. Seine Augen waren dunkel wie Kohlen, seine Lippen schmal, von bläulicher Farbe. Ein Lächeln umkräuselte sie, scharf wie Gift. Sah er Kinder an, so begannen sie zu schreien, blickte er junge lachende Mädchen an, so weinten sie und trauerten ihr ganzes Leben. Er ging durch die Straßen und lächelte. Da wurden alle Menschen stumm, als sei ihr Herz entzweigesprungen.

Sein Lächeln, das sagte: Weshalb lacht ihr?

Einmal kam er durch ein Dorf, da tanzten sie unter der Linde. Er ritt auf einem mageren, starken Pferde und ritt ganz langsam. Die Fiedel verstummte, und die Paare standen erschrocken still. Niemand lachte mehr, niemand regte sich mehr, sie standen wie gelähmt. Der Spielmann versuchte ein Liedchen anzustimmen, da rissen die Saiten wie Zunder.

„Es ist Habuck!“ flüsterten die Mädchen und hüllten das Gesicht in die Schürze.

Der Spielmann wackelte mit dem Kopfe und streckte die Zunge heraus. Man kann ihn noch heute so sehen.

Habuck war ein Tyrann. Habuck wollte die Menschen knechten, wahnsinnige Herrschsucht raste in seinem Gehirn. Seine Gesetze hingen gleich zweischneidigen Schwertern zu Häupten des Volkes. Sein Stolz war so groß, daß er sagte: Erdengöttlein, meine Schultern reichen bis an deinen Bart.

Er verbrachte die Nächte beim Wein und brütete, wie er das Lachen töten könne, auf der ganzen Erde. Er schlief nie, er starb nie, er lebte ewig.

Oftmals raste er gegen sich selbst und nannte Gott einen Feigling, da er unsichtbar mit ihm kämpfte. Dann warf er sich auf sein Pferd und durchritt die Welt. Ohne Rast, ohne inne zu halten.

„Habuck kommt übers Feld,“ riefen die Leute und stürzten in ihre Häuser. Sie krochen in die Betten und verstopften sich die Ohren, denn wer den Hufschlag seines Pferdes hörte, in dem klang er fort, bis er irrsinnig wurde.

Eines Abends ritt Habuck über eine große Heide. Violett das Kraut, violett der Himmel. Sturm ringsum und rasendes Wetter.

Am Waldesrand stand ein Weib, das auf ihn wartete.

Es stand mitten im Wege und wich nicht.

Habuck blickte es an, aber es wich nicht. Und sonderbar, sein Pferd blieb stehen, als er über das Weib wegreiten wollte.

„Ich habe dir etwas zu geben,“ sagte das Weib.

Habuck fragte: „Was willst du?“

„Ich habe dir etwas zu geben,“ wiederholte das Weib und trat nahe an ihn heran.

„Nimm es,“ sagte es, „ich habe es gefunden und bringe es dir. Du hast es verloren, als du ein Knabe warst.“

Und als Habuck zögerte, warf sie es ihm in den Schoß und verschwand.

Er fand nichts in seinem Sattel und ritt weiter.

Der Sturm schwieg, das Wetter schwieg. Die Vögel begannen zu trillern im Walde, es war spät in der Nacht.

Er kam an eine Schenke, stieg ab und trat ein.

„Wer bist du?“ fragten die Leute.

Niemand kannte Habuck mehr. —

Das schrieb Ginstermann. Es fiel ihm vorläufig nichts Besseres ein.

X.

Samstag.

Ginstermann sprang aus dem Bette, mit beiden Füßen zu gleicher Zeit, und sagte: „Samstag.“

Er hatte lange und tief geschlafen und fühlte sich in erwartungsvoll heiterer Stimmung angesichts dieses Tages, aus dessen Dämmerung das große Glück wetterleuchtete.

Es war noch sehr zeitig. Die Kamine, die auf den Dachfirsten ritten, warfen noch nicht den mindesten Schatten. Der Tag kam mit sanftem Blau am Himmel herauf. Die Dämmerung vor sich hertreibend, in deren niedersinkenden Schleiern die Sonne in Tausenden von unsichtbaren Funken sprühte.

Durch die geöffneten Fenster strömte frische, würzige Luft, gesättigt mit dem Geruche der Wälder und dem kühlen Atem der Quellen, noch nicht verdorben vom Staub der Teppiche und den Küchendünsten. Der Hof lag noch ruhig. Es war ein richtiger Feiertagmorgen.

Sein Zimmer war hell und freundlich, wie zum Empfang eines Gastes hergerichtet, aus Möbeln und Wänden schien die Sonne der letzten Wochen zu strahlen. Er gewann es lieb, wie einen treuen Freund, den man einige Zeit hindurch vernachlässigt hat. Tisch und Stühle, Bücher und Skizzen an den Wänden waren ihm alte Bekannte, die treu bei ihm aushielten ohne Dank zu heischen.

Er erinnerte sich an jene Morgen, da er erwachte, verpackt in einen Block von Kälte und Finsternis, in wüster Betäubung von der Arbeit der Nacht und lächelte. Das war nun vorbei. Ein Traum hatte ihn auf einen anderen Planeten getragen. Hier gab es nur Sonne und Gesang. Das gütige große Leben winkte ihm wiederum und lud ihn ein, im Reigen mitzutanzen.

Ginstermann schritt nackt in seinem Zimmer auf und ab. Es gehörte dies zu seinen Liebhabereien.

Das Gefühl von Kraft und Gesundheit erfüllte ihn in einem Maße, wie er es nie zuvor empfunden. Es schien ihm, als ob er gewachsen wäre. Seine Brust war gleichsam breiter geworden, den Lungen mehr Raum zum Atem erlaubend, seine Sehnen straffer. Die Müdigkeit war weg, der gebeugte Rücken, die bleischweren Füße. Als hätte er einen wüsten Rausch ausgeschlafen.

Er wettete, mit der Faust Löcher in die Wand schlagen zu können, die Decke zu sprengen, wenn er sich streckte.

Köstlicher aber als all das, war die Stille, der Friede seiner Seele, die einer Wiedergeburt entgegensah.

Eine übermütige Melodie summend, die ihm der junge Tag als Morgengeschenk gegeben, trat er vor den Spiegel, ließ die Muskeln seiner Arme spielen, reckte die Brust, beugte den Kopf zurück, sich erfreuend an dem Schnellen der Sehnen, der Überschneidung der Schulter, der energischen Linie seines Armes, als studiere er einen fremden Körper.

Man sollte nicht versäumen, dachte er, jede freie Stunde nackt zu gehen. Was für Bewegungen würde man bekommen, welche Elastizität, welche Genüsse von Schönheit könnte man sich verschaffen, abgesehen von der Bereicherung seiner anatomischen Kenntnisse. Nackt müßten die Menschen in Gärten wandeln, voll Ehrfurcht vor der Schönheit ihrer Schwestern und Brüder, und die Welt nähme von neuem ihren Anfang, Schönheit und Erkenntnis ihr zweifaltiger Gott.

Endlich ging er an die Toilette. Er überschwemmte seinen Körper mit Wasser und lief fröstelnd und pustend im Zimmer umher, eine solche Menge Fußspuren hinterlassend, als habe ein Rudel Wilder hier getanzt. Er hatte sich einen netten Anzug angeschafft, denn es erschien ihm unmöglich, in seinem geschossenen blaugrauen Sommeranzug mit einer vornehmen Dame im Englischen Garten zu promenieren. Allerdings hatte er nahezu seine ganzen Ersparnisse hinlegen müssen, aber das war ja vorläufig einerlei. Fix und fertig trat er vor den Spiegel. Der Anzug saß außerordentlich gut, als sei er für seine Figur geschnitten. Er machte in seiner dunkelgrauen Farbe einen ruhig-vornehmen Eindruck.

Zur Vervollständigung setzte er auch seinen netten Strohhut auf, dessen verräterischen Glanz er mittels Wasser abgeschwächt hatte, und erblickte nun im Spiegel einen elegant, nahezu geckenhaft gekleideten jungen Mann, der sonderbarerweise sein Gesicht hatte.

Er lüftete grüßend den Hut und sagte: „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“ dabei lächelnd mit freudigen Augen. Seine Wangen überzog ein Hauch von Röte, und diese Erscheinung machte ihn verblüfft wie ein Wunder. Gemächlich nahm er seinen Tee, rauchte er seine Zigarette. Er hatte Zeit. Unendlich viel Zeit, die mit den raffiniertesten Kunstkniffen vertrieben sein wollte.

„Gehen die Lahmen zu Tanze, Antonio?“ sagte er zu sich. Er lachte und erwiderte sich selbst: „Wenn die Toten neugierig werden, Pietro, weshalb sollen die Lahmen nicht tanzen?“

„Ein Toter wird wieder lebendig, mein Sohn, wenn er sieht, wie sein Waffenbruder die Flucht ergreift.“

„Man merkt, daß du schon lange gelegen bist, tapfrer Held, selbst dein Witz ist nicht mehr frisch.“

„So frisch noch, um das Faule deiner Ausflüchte zu spüren, Antonio. Ein Antonio, der beim Junggesellenmahl des Colonna den Degen in den Tisch stieß und rief —“

„Man merkt, daß du selbst wenig Gedanken besitzt, da du Raum im Kopfe hast, die Gedanken anderer Leute aufzubewahren.“

„Donna Claudia —“

„Nun muß deine Zunge ein Loch haben, da sie einen Weibernamen aussprach.“

„Die Schnelligkeit deiner Einwürfe beweist mir, was mir gar nicht mehr bewiesen zu werden brauchte. Donna Claudia läd zum Tanze, und das ganze männliche Venedig schläft nicht mehr vor Aufregung, wie eine Jungfrau vor der Hochzeit. Wenn man euch hört, so glaubt man, ihr speistet sechs Teufel an einer Gabel, aber das Lächeln einer Frau macht euch zu tänzelnden Pudeln. Don Luigi, dessen Zunge scharf war wie ein Rasiermesser, um dessen Degen die Leute einen Halbkreis beschrieben, ertrank in den Wangengrübchen eines rosigen Mädchens, Freund Fabio, der noch mit halbem Schädel kämpfte und mit dem Satan in persönlicher Korrespondenz stand, gab seine Narben für den Kuß eines zierlichen Frauenknöchels. Und Antonio —“

„Antonio ist nach Palermo abgereist.“

„Antonio, der beim Festmahl des Colonna sagte: Wenn mein Herz Langeweile hat, so frage ich es: Hast du Langeweile, mio bambino? Sollst eine Puppe haben, eine feine Puppe, die Mama und Papa sagt, wenn man sie auf den Bauch drückt — dieser nämliche Antonio, ihr Herren, so hört doch! schlüpft in den Balg eines Papageis, wenn Donna Claudia zum Tanze läd.“

„Ein Fisch könnte sich ertränken.“

„Ein Weib könnte die Wahrheit sagen.“

„Ich wünschte nur, Pietro, die Marchesa Colombi könnte Zeugin deiner mannhaften Entrüstung sein.“

„Die Marchesa Colombi? Der Mond falle dir auf den Bauch, Freundchen!“ —

Er erfand einen Dialog, in dem sich zwei blasierte Schlingel gegenseitig den Rest ihrer Gefühle zum Vorwurf machten. Daran reihte sich eine Szene bei Donna Claudia, Antonio—Claudia, und ein Zwiegespräch der Marchesa Colombi mit einer Maske in einer Fensternische, die mit einer klatschenden Ohrfeige endigte. Pietro, dieser freche Patron, mußte unbedingt seinen Lohn haben.

Da begann Kapelli in seinem Atelier einen Heidenspektakel zu vollführen, er trieb Nägel in ein Brett, und die Gäste der Donna Claudia gingen nach Hause.

Von der Straße her drang das Lärmen des erwachten Verkehrs. Die Gemüseweiber riefen mit singender Stimme ihre Waren aus, die Glocke des Kehrichtwagens zeterte.

Ginstermann ging auf und ab, dann trat er ans Fenster und blickte hinaus, um sich die Zeit zu vertreiben.

Aus dem Fenster gegenüber lehnte sich eine Magd, die plumpen Brüste breitgedrückt auf dem Gesims, und warf mit schwingender Bewegung des fleischigen Armes Kartoffelschalen in den Hof. Darauf zog sie sich schleunigst zurück, den Mund aufsperrend, um das Lachen zu verhalten. Sie sah aus wie eine Schießscheibe. Im Hofe wurde eine gutmütig-kreischende Weiberstimme laut, die augenblicklich eine Menge Gesichter an die Küchenfenster lockte.

Eine Zeitlang beobachtete er das Treiben des Hofes, das an die Daseinsäußerungen von harmlosen Tieren erinnerte, dann erwachte wiederum die Melodie von vorhin in ihm, in bestimmterem Rhythmus, mit halbgehörtem Texte, und plötzlich, ohne sich eigentlich über diesen Vorgang klar zu werden, trällerte er vor sich hin:

Juhei, juhei, der Tag ist da,

er tanzt als wie ein Narr herum,

mit heija—halleluija

tanzt er die alten Häuser —

ja alten Häuser um. Juhei!

Juhei, juhei, der Tag ist da,

ein wilder, kecker Bengel,

mit heija—juhaheirassa

hält er mich untern Pumpen —

ja untern Pumpenschwengel. Juhei!

Juhei, juhei, der Tag ist da,

mit einem Strauß von Düften,

dann hängt er mich mit juhaha

an einen hohen Kirchenturm —

ja Kirchenturm zum Lüften. Juhei, Juheirassassassa!

Er wiederholte den Singsang, veränderte die Melodie, dichtete ein paar Strophen dazu, bis er endlich des Spaßes überdrüssig wurde.

Er sah auf die Uhr.

Es war sieben, noch nicht sieben.


Der Wind trug das Singen des Glockenspiels von St. Anna herüber in den Park. Ginstermann stand und lauschte. Bei den einundzwanzig Wunden des Cäsar! es war schon wieder eine Stunde um.

Heute schlief Phöbus auf seinem Kutschenbock, wie seinerzeit am Tage von Gilgal. Jede Minute ging so gemütlich als möglich und trank eine Tasse Schokolade, bevor sie die Parole an die folgende abgab.

Ginstermann promenierte seit Mittag im Englischen Garten, um nicht zu spät zu kommen, wie er sagte. Er hatte hastig und ohne jeglichen Appetit, als habe er das Reisefieber, sein Mittagsbrot eingenommen und war, ohne recht zu wissen wie, in den Park gekommen. Den Vormittag über hatte er sich in den Straßen, auf dem Bahnhofe herumgetrieben, eine solche Menge beobachtend, erlebend, erfindend, daß es geschrieben einen Folianten gäbe, ohne aber seine Ungeduld, seine Langweile nur eine kleine Weile bannen zu können. Eine Zeitlang hatte er bei dem Auslagefenster eines Reisebureaus gestanden, wo die kleinen Zinnschiffe auf gemalten Ozeanen wimmeln, und einen kurzen Ausflug nach Südamerika, Australien und Japan unternommen, mit einigen Zusammenstößen, Seeräuberüberfällen und einer kleiner Robinsonade auf einer niedlichen Koralleninsel in der Südsee.

Es war angenehm, hier zu gehen, auf den gepflegten, reingekehrten Wegen. Durch die halbhohen Wiesen hindurch, deren Gräser und Blumen der Wind leise wiegte, oder unter den hohen Bäumen mit den in der Sonne flitternden Blättern.

Das war ein Tag, von einem Gotte, der ein Dichter und ein Maler war, geschaffen. Duftende Blüten, bunte verliebte Falter, ein blauer Himmel, der der Sonne das Feuer in einem einzigen Kusse zurückgab, ein Tag, der einen Engel auf die Erdenkinder hätte neidisch machen können.

Zur Mittagszeit gab es nur wenig Leute. Ab und zu eine Bonne mit Kindern, ein Reiter, der auf den Sandsteigen vorbeistampfte, ein Wagen, ein Mann, der vor sich hinsann. Hinter den Bäumen blinkten die Villen wie eine Reihe weißer, lächelnder Zähne. Die Stadt surrte in der Ferne, eine atemlose, keine Sekunde stillestehende Maschine.

Mit jeder Viertelstunde wuchs in Ginstermann eine sonderbare Angst, die ihn wie ein Schwindel im Kreise drehte. Als ob man zu einem sagte: Noch eine kleine Weile, und die Türe springt auf, und du stehst vor dem Schicksal, das dir deinen Platz im Leben anweisen wird. Es war das nämliche Gefühl, das er empfand, als bei der Premiere seines ersten Dramas der Vorhang in die Höhe stieg, und er das gefüllte Haus in der Dämmerung liegen sah, das gekommen war, ihn zu richten. Und doch war es nichts als ein harmloses Rendezvous mit einer jungen Dame.

Als es zwei Uhr schlug, stieg er zum dutzendsten Male den Hügel hinauf, auf dem der Monopteros, ein schlanker Rundtempel aus weißem Marmor, errichtet war.

Hier würde er sie treffen. In einer Stunde würde sie hier oben stehen . . .

Er blickte über die Wiesen, die Baumwipfel, die Stadt.

All das war ihm wohlbekannt. Jeder Weg, jeder Baum, jeder Turm. Er hatte vorigen Sommer hier oben zu Mittag gegessen, als es ihm nicht sonderlich gut ging, zwei Monate lang.

Er ging unter den Säulen umher und las Namen und Monogramme, die von einem Herzen eingeschlossen waren. Erinnerungen an verliebte Leute. Er bemerkte ein häßliches Wort und rieb es mit einem Steinchen weg, damit nicht ihre Augen zufällig darauf fallen konnten.

Dann stieg er wieder herab und ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder, die ihm erlaubte, den Tempel im Auge zu behalten, ohne daß er den Ausgang sah. Er wollte sie nicht kommen sehen, sondern plötzlich sollte ihre Gestalt ihm aus den schlanken, weißen Säulen heraustreten.

Hier war es sehr still, und er träumte, wie sie aussehen würde, was sie spräche. Vor ihm standen die hohen, ernsten Bäume mit schweren, schattensatten Wipfeln, Büsche zwischen ihren Stämmen, Blumen und allerlei Kraut unter diesen Büschen. Drei Wälder, verschieden an Größe und um so üppiger und farbenprächtiger, je mehr sie sich dem Erdboden näherten. Es hämmerte, es klopfte, knackte da und dort, Fliegen mit schillernden Flügeln summten über den Weg, Vögel schwankten von Ast zu Ast. Das war so eigentümlich, so märchenhaft, daß man wähnte, jede Minute müsse sich das Gebüsch teilen und etwas Sonderbares hervorkommen.

Ginstermann spann sich in diese Märchenstimmung hinein, bis ihn das glucksende Lallen eines kleinen, wie eine Puppe herausgeputzten Mädchens weckte. Das Kind blieb vor ihm stehen, mühsam das Gleichgewicht haltend, und lief plötzlich auf ihn zu und fiel ihm mit jauchzendem Lachen nahezu in den Schoß. Es legte die Fäustchen auf seine Knie und blickte ihn zutraulich mit großen, wasserblauen Augen an, aus denen das wunderliche Traumland seiner Seele schimmerte.

Die Mutter, eine schmale, kleine Frau in Trauerkleidern, eilte mit mädchenhaft flüchtigen Schritten herbei und versuchte die Kleine wegzuziehen.

„Aber bitte, lassen Sie die Kleine doch,“ sagte Ginstermann, „ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß sie Zutrauen zu mir hat.“

„Sie belästigt Sie. Herzchen, Du belästigst den Herrn!“

„Nein, nein, aber keineswegs. So hübsche Kinder belästigen mich nie.“

Die junge Mutter nahm neben ihm Platz, sich nochmals entschuldigend. Ihr Wesen hatte etwas Gedrücktes, Hoffnungsloses an sich, als sei sie mühsam der Verzweiflung entronnen. Ihr schwarzes Kleid war abgetragen und spielte an den Armen und der Brust ins Grünliche. Mit krankhafter Schamhaftigkeit versuchte sie die Schuhe unter dem Rocksaum zu verbergen, da sie rissig waren.

Ginstermann nahm das Kind auf die Knie und schaukelte es, dabei trällernd:

Die Schweden sind kommen — habn’s Pulver mitg’nommen . . .

Die Kleine lachte und klatschte vor Vergnügen mit den Patschhändchen.

„Sie wird ihnen lästig fallen,“ hub die Mutter wieder an, ihm mit einem Blicke ihrer traurigen, verschleierten Augen dankend.

„Sie sehen ja, daß das Vergnügen ganz auf meiner Seite ist. Was verlangen Sie für das Kind? Ich kaufe es Ihnen ab. Drei, fünf Millionen?“

Aber das Weib lächelte nicht. Sie blickte den Weg hinunter zu einem kleinen Manne in komisch kurzem Gehrocke, der heftig hustete.

„Es läuft auf jeden Herrn zu, denn es hat keinen Vater.“

Sie sagte das mit einer Stimme, die ihren ganzen Schmerz ausdrückte.

Denn es hat keinen Vater, wiederholte Ginstermann innerlich.

Er fuhr fort, das Kind zu schaukeln, dann sagte er:

„Wer ein solches Kind hat, darf eigentlich nicht traurig sein.“

Sie blickte immer noch zu dem hustenden Männlein hinunter.

„Ach,“ sagte sie, „er hätte mich ja sicher geheiratet. Er ist gestorben. Er war drei Tage krank, dann ist er gestorben. Nun ist er tot.“

Das Mädchen jauchzte und fuhr mit gespreizten Fingerchen nach Ginstermanns Gesicht.

„Fällt es Ihnen noch nicht lästig?“

„Ach nein. Hören Sie doch diese Stimme! Wie eine Glocke. Und dieses Haar, das sie hat, feiner wie Seide.“

„Darf ich Sie etwas fragen, ja? Und Sie werden mir Ihrer Überzeugung gemäß antworten?“

„Bitte, bitte.“

Ob er an ein Wiedersehen im Himmel glaube!

Dabei sah sie ihm direkt in die Augen.

„Nun auf jeden Fall doch! Da gibt es doch einfach keinen Zweifel.“

Auf ihrem Gange wohne einer, ein Doktor, ein Schriftsteller, der sage, nur die Dummen glaubten es noch. Seine Hausfrau habe es ihr erzählt.

„Ja, ein Schriftsteller,“ entgegnete Ginstermann, „die glauben alle nichts. Ich kann Ihnen aber etwas sagen, Sie brauchen gar nicht so lange zu warten.“

Das verstünde sie nicht.

Sehr einfach. In ein paar Jahren hätte sich ihr Kind entwickelt, und aus dem Kinde würde alsdann der Vater heraustreten. Zum Beispiel an der Bildung der Stirne, an einer Bewegung, in der Stimme würde sie ihn erkennen. Und somit in ihrem Kinde auch dessen Vater erblicken.

Sie sann vor sich hin, beglückt von dieser Eröffnung und sah im Geiste das Kind heranwachsen und seinem Vater gleichen.

Dann erzählte sie Ginstermann leise, in unvollständigen Sätzen, die Geschichte ihrer Liebe, um sich das Herz dadurch zu erleichtern. Sie war Telephonistin und ihr Bräutigam Zeichner in einer Möbelfabrik. Er war sehr geschickt. Sie hatten sich durchs Telephon kennen gelernt. Schon als sie das erste Mal seine Stimme gehört, habe sie ihn lieb gewonnen. Und eines Abends war er hinter ihr hergekommen und hatte gerufen: 23—75. Das war die Nummer seines Geschäfts. Sie sei auf den Tod erschrocken. Und dann hätten sie einander geliebt. Aber dann sei er krank geworden, nur drei Tage krank gelegen und gestorben. Und sie habe ihre Stellung verloren, als das Kind kam und sei nun Kontoristin. Gegenwärtig habe sie Urlaub, drei Tage.

Ginstermann hörte ihr von Mitleid ergriffen zu. Er schmiedete Pläne, auf welche Weise man das arme Weib erfreuen könne. Hätte er Geld gehabt, so würde er ihr soviel als möglich zugestellt haben: Ein Freund ihres Bräutigams, der Möbelzeichner K. habe diese Schuld abzuzahlen. Er bitte wegen der Verzögerung um Entschuldigung. Auch beschäftigte ihn der Gedanke, auf die Direktion zu gehen und dem Beamten die Nichtswürdigkeit seiner Handlungsweise vorzuhalten, ein junges Mädchen deshalb zu entlassen, weil es der Stimme seiner Natur gefolgt war.

„Wenn Ihnen die Kleine aber lästig wird —? — — Es regnete ein wenig und ich hatte den Schirm aufgespannt, an jenem Abend. Da kam er hinter mir her und sagte: 23—75. Ach, ich bin auf den Tod erschrocken —“

In diesem Momente schlugen die Uhren drei.

Ginstermann erschrack, die Töne durchliefen seinen ganzen Körper.

Er stand hastig auf und sagte, bebend vor Erregung:

„Entschuldigung, ich muß gehen. Es ist drei Uhr. Um drei Uhr muß ich gehen. Auf Wiedersehen.“

Zwischen den Säulen auf dem Hügel war noch nichts zu sehen. Kein Schatten, nicht der Verdacht eines Schattens.

Drei Uhr und nichts zu sehen. Ginstermann wurde von einer lähmenden Angst befallen und hielt den Schritt an.

Wie ein Blitz fuhren ihm hundert Möglichkeiten durch den Kopf, die sie abgehalten haben mochten, und die eine verblieb hartnäckig als die wahrscheinlichste: Sie wollte nicht, sie hatte es sich anders überlegt. Was sollte sie mit ihm?

Nun hatte er drei Tage gefiebert, und seine Sehnsucht hatte sich die Flügel lahm geflogen nach diesem Moment — und sie kam nicht.

Er stand und blickte mit bitterem Lächeln zu Boden.

„Gut! Es war vorbei. Das Leben hatte ihn genarrt!“

Aber plötzlich schrak er zusammen. In dem Bilde, das unbewußt seine Netzhaut spiegelte, hatte sich etwas geändert.

Sie stand oben.

Sie stand wirklich und wahrhaftig oben.

Schlank und weiß stand sie zwischen den schlanken, weißen Säulen und blickte über die Wiese.

Es fiel Ginstermann nicht ein, hinauf zu eilen. Er blieb ruhig hinter seinem Busche stehen und beobachtete sie.

Sie ging langsam im Kreise umher, dann blieb sie stehen und schrieb mit dem Sonnenschirm auf den Boden. Sie wartete.

Ist es nicht köstlich, dachte Ginstermann, sie wartet! So steht jemand, der wartet! Oder schreibt man sonst mit dem Schirm auf den Boden? Oder steht man sonst in solch nachdenklicher, nachlässiger Haltung?

Er götzte sich eine Weile an diesem Gedanken, dann eilte er, was er konnte und langte ganz außer Atem oben an.

„Da sind Sie ja!“ sagte sie und lächelte.

Ihre Stimme klang klarer und voller als neulich, da sie krank gewesen. Mit einem kurzen verstohlenen Blick überflog sie sein verändertes Äußere.

Er schämte sich nun, es kam ihm vor, als beleidige er sie durch diese spießbürgerliche Rücksichtnahme, und er verwünschte Anzug und Hut.

„Ja, da bin ich“, sagte er, indem er ihr die Hand gab. Es fiel ihm sonst nichts ein, all die hundert Anreden, die er sich zurecht gelegt hatte, waren in seinem Kopfe verschwunden wie durch ein Loch.

Sie habe schon gedacht, er sei irgendwie verhindert.

Dies sagte sie leichthin, in verletzend gleichgültigem Tone, der Ginstermann augenblicklich die Fassung zurückgab.

„Ich würde nicht verfehlt haben, Sie das wissen zu lassen,“ entgegnete er.

Sie gingen den Hügel hinab und blieben an der Wegkreuzung stehen, unwillkürlich.

„O, das ist ja gleich“, sagte Fräulein Schuhmacher und schlug den Fahrweg ein.

Sie begannen zu plaudern. Anfangs tasteten sie unsicher nach einem Gesprächsthema, das Interesse für jeden besaß und jedem gestattete, etwas dazu zu geben, und huschten sie über die Oberfläche einer Menge von Fragen hinweg, bis sie schließlich in glattes Geleise kamen.

Ginstermann war nicht vollständig bei der Sache. Ein Chaos von Gefühlen wirbelte in ihm. Ist es nicht herrlich, neben ihr zu gehen, dachte er.

Ein Mann macht eine Reise um die Erde und spricht nach seiner Rückkehr zum erstenmal wieder mit seiner Geliebten. So kam es ihm vor.

Nachlässig schlenderte er neben ihr her, den Hut in den Nacken gerückt, die Hände in den Hosentaschen, wie er es bei guter Laune zu tun pflegte. Er war nicht bedrückt durch ihre Nähe, wie früher, er fühlte sich befreit, ohne die peinigende Unruhe, unter der er zu leiden hatte, wenn er fern von ihr war. Er schlürfte sein Glück mit dem lachenden Leichtsinn eines, der nicht daran denkt, daß der Becher einen Boden hat.

Es war ihm auch gar nicht darum zu tun, die Seele dieses Mädchens auszuhorchen. Wozu sollte sein Verstand das ergründen, was sein Herz längst wußte. Er war ihr Freund, mochte sie seine Gefühle erwidern oder nicht, und er war selig in dem Gedanken, einen Menschen zu wissen, dem er sich ohne die Scham des Schenkenden geben konnte, wie er war.

Sein Inneres glich jenem Fleckchen Land, durch das sie schritten, erschauernd unter der gütigen Sonne, Leben und Blüten quellend.

Kommst du nach Hause, Wanderer, so sage, du habest einen gesehen, den das Leben mitten auf den Mund küßte, dachte er, als jemand an ihnen vorüberging.

Emanzipation? Welches seine Meinung über die Emanzipation des Weibes sei?

Er nahm dieser Frage gegenüber seine feste Stellung ein. Diese Stellung suchte er ihr zu charakterisieren. Er vertrat die Frauenbewegung in ihrer radikalsten Form, wenngleich er da und dort seine Bedenken hegte. Die soziale Stellung des Weibes hielt er für einen Punkt sekundärer Bedeutung, mehr war es ihm um die Erweiterung des Erkenntnisvermögens der Frau zu tun. Die Frau müsse es vor allem lernen, ihre Kinder zu erziehen. Sie müsse begreifen lernen, daß das seelische Wohl des Kindes vor sein leibliches Wohl gehe.

„Die Tatsache ist betrübend“, sagte er, „daß der seelische Zusammenhang des erwachsenen Kindes und seiner Mutter ein lediglich auf natürlichen Gesetzen basierter ist; ein gezwungener also, kein aus einem freien Bedürfnis heraus entstandener.“

Dann sprach er von dem Verhältnis des Weibes zum Manne, das kein von der Natur vorgeschriebenes, in seelischem Sinne natürlich, sondern von der Kultur erwünschtes sei.

Das waren für ihn alte Dinge, über die er Bücher geschrieben hatte, und er dachte vieles andere, während er sprach.

Wie schön die Nachdenklichkeit sie macht, dachte er. Es ist nicht Schönheit im Sinne der Welt, es ist eine neue Art von Schönheit, für die man besonders entwickelte Augen haben muß. Und man weiß nicht, liegt sie in der Linie ihres Profils, liegt sie in der durchsichtigen Tiefe ihrer Augen, darüber die Wimpern sprühen. Man braucht es auch nicht zu wissen. Wie ist es, dachte er, findet ein Mann in einem Weibe, dessen Seele er liebt, seine Schönheit heraus, er, sonst kein anderer, oder liebt ein Mann nur das Weib, das seinen unbewußtesten Schönheitsgesetzen nach schön ist?

Ist es nicht unglaublich, dachte er, wie gut Breite und Höhe und die Farbe des Hutes mit der Form ihres Kopfes, dem Teint ihres Antlitzes harmonieren?

„Allgemein gesprochen“, schloß er seine Ausführungen, „freut es mich, daß das Weib strebt, weil ich hoffe, daß der Mann dann um so mehr streben wird.“

„Wie oft gab es das“, ergriff Fräulein Schuhmacher das Thema wieder, „daß ein Mann wirklich und wahrhaftig als Freund, als Kamerad mit einer Frau lebte? Ich befürchte, nicht oft. Sprechen Sie heute als Weib mit einem Manne, und Sie werden fühlen, daß er Ihnen etwas verbirgt, daß er Ihnen etwas vorenthält von seiner Meinung, irgend etwas, das ich nicht sagen kann, ja, daß er sie gar nicht für ernst nimmt, Ihre Bemerkungen erst ausbaut, zur Höhe führt, und Ihnen dadurch beweist, wie wenig Sie berechtigt sind, sich an so etwas heranzuwagen. Ich empfinde das und bin betrübt deshalb. Und ich glaube, alle Frauen empfinden es. Dieses Lächeln der Überlegenheit hassen wir, weil wir merken, wie berechtigt es ist. Deshalb arbeiten wir, nur deshalb, wir wollen uns eine Gleichstellung mit dem Manne in jeder Hinsicht erringen.“

Dieses Zugeständnis aus dem Munde eines jungen Mädchens zu hören, machte Ginstermann einigermaßen verwundert. Hier war wirklich ein Weib, das den grundlosen Dünkel seines Geschlechts, sich für etwas Höheres zu halten, überwunden hatte.

Fräulein Schuhmacher blickte einem Falter nach, der über die Wiese gaukelte, dann fuhr sie fort: „Und die Gelehrten wollen wissen, daß das Weib nie konkurrenzfähig mit dem Manne werden könne. Welches Weib soll da nicht verzagen?“

O wozu sprechen, dachte Ginstermann. Wozu sprechen? Er war gekommen, lediglich, um neben ihr einherzugehen, das süße Gefühl ihrer Nähe zu empfinden, die Blumen am Wege anzusehen, die Schwalben in der Luft zu verfolgen. Wenn sie nun sprach, so hörte er nicht ihre Worte, nur ihre Stimme. Nie hatte er noch eine solche Stimme gehört. Das koste, ohne kosen zu wollen. Das war wie ein weicher, weicher Arm, der sich um den Nacken schlingt. Ihre Worte waren wie Teppiche, so weich, so sanft. Sie hat Elfenbein in ihrer Stimme, Elfenbein, sagte er jubelnd zu sich, als er das gefunden.

Andererseits aber war er ärgerlich, sich so passiv zu verhalten. Er, der sich nichts Herrlicheres wußte, als ein lebendiges Gespräch, er, der ewige Kampflustige, er, der um sich zu unterhalten, die Stühle seines Zimmer rings um sich stellte und mit ihnen konversierte.

Welch herrlicher Tag doch heute war! Wie? und welche Mühe es gekostet hatte, die Stunden zu vertreiben. Seit fünf Uhr morgens.

Ich werde mich bei ihr bis auf die Knochen blamieren, dachte er, und gleichzeitig, wie er sie neben sich gehen sah, die Harmonie ihrer Seele in den Augen, dem Antlitze, dem Gange, wenn man doch ihre Hand fassen könnte und ihr sagen: Sehen Sie es denn nicht?

Aber wozu das wiederum? Man mußte stets daran denken, daß man Proletarier und sie eine vornehme Dame war. Wozu also?

Sie konnten ihn mit glühenden Zangen zwicken, er würde doch nicht reden. „Vergessen Sie nicht, Fräulein Schuhmacher“, antwortete er ihr, „daß es sich in erster Linie absolut nicht um eine intellektuelle Ausbildung handelt, nicht darum auch, Kunstwerke zu schaffen, sondern um eine Steigerung und eine Verfeinerung der Empfindung. Wo bleiben da ihre famosen Gelehrten?“

Ein Lächeln strahlte aus ihren Augen. „O, ich weiß“, sagte sie, „man müßte ja sonst verzweifeln. Hierin sind unsere Fähigkeiten denen des Mannes gleich. Ja, vielleicht — ja vielleicht . . .“ Sie brach einen Zweig und roch an den Blättern.

Der Park war nun belebt. Zwischen den Büschen leuchteten die hellen Gewänder der Damen. Wagen und Radfahrer glitten die Straße dahin, als zöge sie ein rascher Strom. Man vernahm Plaudern und Lachen, gedämpft durch das Laub und die warme Luft, bald nah, bald ferne, bald schien es aus der Luft zu kommen, bald aus der Erde.

Ein Reiter überholte sie in flinkem Tempo. Es war Maler Ritt. Er wandte ihnen, indem er den Hut lüftete, sein Gesicht zu und verzog es zu einer indiskret lächelnden Grimasse. Es schien, als sei der Teufel in elegantem Reitdreß, geschniegelt und gebügelt an ihnen vorbeigeritten. Um ihnen seine Geschicklichkeit im Reiten zu zeigen, gab er dem Pferde die Sporen, so daß es unvermittelt in Galopp überging.

Eine Weile sprachen sie von ihm. Fräulein Schuhmacher gestand, wie ganz anders dieser Mann, dessen Bilder sie bewunderte, ja verehrte, in ihrer Vorstellung lebte, bevor sie ihn persönlich kennen lernte.

„Er ist mir sehr unsympathisch,“ urteilte sie, „ja er widert mich an. Ich kenne ihn nicht, aber es steht fest, daß ich mich nicht in ihm täusche. Ich glaube nicht, daß er Charakter besitzt. Es gibt so wenig Menschen mit Charakter, finde ich, Frauen wie Männer. Die meisten haben die Seele einer Dirne, bei der es aus- und eingeht.“

Ginstermann dachte nicht mehr an die bunten Falter und Blumen, an die Schwalben da droben, er hörte zu.

„Ich kenne überhaupt nur einen Mann“, fuhr sie fort und blickte Ginstermann an: „Das ist mein Bruder.“

Und sie begann von ihrem Bruder zu erzählen, dessen Vorzüge im hellsten Lichte ihrer abgöttischen Schwesterliebe strahlten. Sie wurde nicht müde, ihn zu loben und schien gar nicht zu bemerken, daß ein Teil dieses Lobes auf sie selbst zurückfiel.

Ginstermann freute sich über diesen Beweis ihres Vertrauens und wußte sie durch Fragen zu veranlassen, fortzufahren. Der Ton, in dem sie seine Verdienste rühmte, war voll von aufrichtigster Verehrung, so daß er, eine kleinliche Eifersucht überwindend, schließlich dahin kam, diesen Beneidenswerten selbst zu verehren und zu lieben.

Nicht nur, daß er sich bis zu dem, was sie Charakter nannte, durchgerungen hatte, da war noch etwas anderes:

„Wenn ich ihm in die Augen sehe“, sagte sie, „so brauche ich nicht in Angst zu sein, seine Vergangenheit darin zu entdecken, dann er hat keine Vergangenheit.“

Das durchfuhr Ginstermann wie ein Stich. Er mußte an die Zeit denken, wo er sich betäubte, um nicht zu verzweifeln.

Seine Fröhlichkeit war wie fortgeblasen. — Er fühlte zwischen sich und dem Mädchen eine Mauer emporwachsen, die sie für alle Zeiten trennen würde.

Er war nahe daran, ihr zu sagen: Sehen Sie her! Sehen Sie mir in die Augen. Graut es Ihnen? O, wenn sie es nicht sehen, so will ich Ihnen sprechen davon, sprechen!

Und doch fand er nicht den Mut dazu, er war zu feige.

Der Himmel verdüsterte sich, und wie ein riesiges Schattenbild zog seine Vergangenheit langsam darüber.

Stumm schritten sie nebeneinander her. Sie mit Gedanken an ihren Bruder, er mit Gedanken an sich beschäftigt. Sie gingen voneinander entfernt.

Im Hintergrunde stampfte die große Maschine, die wippenden Zweige streuten Goldstaub auf den Weg.

Es war Ginstermann als peitschten sie seinen Rücken. — —

Nach einiger Zeit bat Fräulein Schuhmacher Ginstermann, dessen plötzliche Mißstimmung ihr auffallen mußte, ihr einiges über seine Arbeiten zu verraten.

„Es ist ihr gleichgültig, wer ich bin“, dachte dieser bitter, „sie geht nur mit mir, weil die Zeitungen von mir schreiben.“

„Was arbeiten Sie gegenwärtig. Ich interessiere mich dafür, es ist nicht Neugierde.“

Ginstermann blickte sie an und lächelte. Nein, es war nicht Neugierde. Das versöhnte ihn einigermaßen mit sich. Einerseits fühlte er sich in seiner Eitelkeit dadurch geschmeichelt, auf der anderen Seite tat es ihm ordentlich wohl, daß jemand von ihm wissen wollte.

Er fuhr fort zu lächeln und sagte: „O, das ist nicht so einfach zu sagen. Das ist sehr kompliziert alles. Jemandem das auseinandersetzen zu wollen —“ Er räusperte sich.

Eine heiße Welle überflutete ihn. Nein, war das nicht sonderbar? Jemand wollte wissen, was er schrieb?

Sollte er ihr die Hände küssen?

Er dachte gar nicht mehr an vorhin. Er dachte nur das eine: Jemand intressiert sich für dich, Freundchen. Das tut einem armen Hunde ordentlich wohl, wenn jemand kommt und mit der Hand über ihn streicht, wie? Haha.

Und er begann zögernd Gedanken und Pläne auszukramen. Seine Hände bebten, er suchte ungeschickt nach den deckenden Ausdrücken, seine Lippen zitterten.

Es war auch das erste Mal, es war auch das erste Mal!

Schamhaftigkeit durchschauerte ihn, während er sie sachte in das Innerste seiner Seele führte und ihr all die Dinge zeigte, die noch keines Menschen Auge erblickt. Da gewahrte er wie reich er war, und Stolz erfüllte ihn.

Anfangs hing er allen Ideen einen Schleier über, der sie verallgemeinerte, dann ließ er, seine letzte Scham überwindend, die Schleier sinken und ließ ihr sein Innerstes nackt sehen, so bitter, so süß, so albern und verrückt es ihr auch erscheinen mochte.

Heiße Blutwellen durchliefen seinen Körper, er zitterte vor Erregung. Sein Antlitz, das er sonst beherrschte oder verstellte, lebte auf, Zug um Zug löste sich und diente zum Ausdruck. Es war, als sei er aus langjährigem Schlafe erwacht.

Er sprach mit leiser, eindringlicher Stimme, durch die Tränen fielen. Seine Seele pulsierte in feinen Worten.

Zum erstenmal vernahm er seine eigene, wirkliche Stimme!

Er nahm dazwischen den Hut ab, strich sich durch die Haare, er blieb stehen und zündete sich mechanisch eine Zigarette an. Oft hielt er den Schritt an und sah dem Mädchen in die Augen, immerzu sprechend. Seine Augen fieberten, er lachte und von all dem wußte er nichts.

Sie gingen denselben Weg immer hin und her. Wohl ein dutzendmal. Wie auf Kommando drehten sie am Ende immer um.

Fluten stiegen in ihm, quollen in ihm, brausten heraus. Er hatte tausend Hoffnungen, tausend Pläne.

„Ich will nicht auf den Trümmern kauern und schluchzen, wie die anderen alle, ich will aufbauen, neu aufbauen! Hier ist euer Weg, hier ist euer Ziel! Wacht auf, wacht auf, um der Menschheit willen! Fort mit Schlaf, fort mit Lüge!“

Er fand nicht Ende, nicht Anfang. Von jedem Gedanken liefen tausend Gänge zu tausend anderen. Alles was unbewußt in ihm geschlummert, brach ans Licht, reiste in dieser Stunde blitzschnell heran. Ein ungeheures Rad mit blitzenden Speichen schwang in ihm, angetrieben von einer unbekannten Kraft.

Eine Blüte fiel herab und blieb auf ihrer Schulter liegen, er nahm sie weg, ohne jeden Gedanken.

Und er baute weiter, immerzu, der Höhe entgegen. Alles, was ihm sonst unfaßbar gewesen, rückte in das Sehfeld seiner Erkenntnis. Mit beiden Händen konnte er wegwerfen, seiner Schätze wurden nicht weniger, es war wie ein Zauber.

Zuweilen fragte er sich zwischen all diesen Strömungen: wie kommt das? Wie ist das möglich? Bin ich sehend geworden? Und weshalb sage ich ihr das, gerade ihr? Weshalb reißt es mich hin, ihr den Fanatiker der Idee zu zeigen, der ich bin, nachdem sie mich jahrelang in Schweigen gehüllt?

Endlich hielt er inne. Seine Worte gehorchten nicht mehr, er brach in nervöses Lachen aus.

Fräulein Schuhmacher faste nach seiner Hand und drückte sie.

Sie gingen still nebeneinander her. Die Gedanken, die er gesprochen, umgaben sie wie eine sie begleitende Atmosphäre.

Sie kamen am Wasserfall vorüber und blieben stehen, das Bild und den toten Rhythmus des Tosens mit halben Sinnen genießend.

Auf einen Felsblock saß eine Dame und zeichnete. Sie hatte eine spitze abgeknickte Feder auf dem Hute und der übergeschlagene Fuß wippte unmerklich auf und ab. Ginstermann bemerkte das, so sonderbar es ihm auch erschien. Und während die Wellen in ihm noch weiterrauschten, dachte er: Hier sitzt immer jemand, der zeichnet, oder jemand der liest, oder einer, der verzweifelt nach einem Verse sucht.

Sie gingen weiter, und Fräulein Schuhmacher sagte nach langem Sinnen: „Wollen Sie mir nicht etwas aus Ihrem Leben erzählen, Herr Ginstermann?“

Das klang wie eine Bitte, die sie schüchtern vortrug und am liebsten wieder zurückgenommen hätte. Eine leise Röte stieg in ihre Wangen, sie beugte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel empor, den ihre Augen hell spiegelten.

„Von meinem Leben?“ erwiderte Ginstermann und lachte kurz auf.

„Von Ihren Eltern, Ihren Geschwistern. Haben Sie Geschwister?“

„Ich habe weder Geschwister noch Eltern, Fräulein Schuhmacher.“

Sie blickte ihn an und war erstaunt, daß er heiter lächelte.

„Wie das?“

„Ich war noch nicht achtzehn Jahre, als man mir Urlaub für mein ganzes Leben gab. Ich hatte so etwas wie eine Dummheit begangen.“

Er lachte wieder, ganz vergnügt.

„Ich begreife das nicht.“

„Ich bin glücklich, wenn ich daran denke. Der Haß macht glücklich, Fräulein Schuhmacher.“

Pause.

Dann fuhr Ginstermann ganz von selbst fort:

„Ich komme einen dunklen Weg. Niemand könnte das fassen, selbst wenn man es ihm erzählen könnte. Niemanden kann man es erzählen. Man müßte keine Scham mehr haben. Ich habe das Bewußtsein, daß Tausende in dem schwarzen Sack stecken geblieben und nicht mehr ans Licht gekommen wären. Ich kann Ihnen nichts sagen. Nehmen wir an, ich sollte erzählen, ich schlich mich in die Ställe und stahl den Kühen die Rüben aus den Barren — so könnte ich höchstens sagen: dann und wann hat es mich auch gehungert. — — Hunger und Durst ist das wenigste. Mit dem Stolze eines Königs geboren zu sein und die Demütigung eines Bettlers ertragen zu müssen, ist schon schwerer. Aber bei all der Misere, Sehnsucht nach Glück und Licht und Liebe und all das Ungegorene mit sich schleppen zu müssen, das ist keine Kleinigkeit. Ich kann Ihnen nichts sagen, niemand sagt das. Es ist vorbei und heute lache ich darüber. Sie ahnen ja nicht, was alles an Herrlichem und Leuchtendem auf dem dunklen Sumpfe schwimmt. Im allgemeinen ist auch nichts dahinter. Es ist eine Vergünstigung des Schicksals. Was ist dabei, Tausende erleben dasselbe, es ist keine Tat. Man blickt ein bißchen ins Leben, sieht dem Schicksal etwas bei der Arbeit zu. Man lernt das eher begreifen, was andere später begreifen müssen. Der Mensch ist nichts, wird nichts. Mysterien walten über uns, wir nennen sie Schicksal. Schicksal ist alles. Das Schicksal hockt und lauert. Irgendwo hockt es und lauert.

Einer geht seine Straße und denkt, ich bin gefeit. Er geht sorglos. Andere sieht er fallen, er ist gefeit. Er geht sorglos. Aber hinter dem 121. Kilometerstein hockt sein Schicksal und lauert. Es haut ihn zusammen. — O, der Mensch ist ohnmächtig, das lernt man. Und für diese Ohnmacht möchte er sich rächen und deshalb ist er schlecht. Wir nennen es so. Aber das kümmert das Schicksal nicht.

Es zieht Furchen in den Sand, wie die Kinder, die spielen, und setzt die Menschen hinein: hier mußt du laufen, hier du. Es drückt ihm die Hirnschale ein, es reißt ihm einen Fuß aus. Er krabbelt weiter. Aber da kommt einer daher, dessen Weg den seinen kreuzt, der hat die Kunst gelernt, Hirnschalen zu flicken, Beine einzusetzen. Das nennt man Glück. Aber dieser Wunderdoktor kommt selten. — Und dabei all unsere Sehnsucht, unsere kindische, göttliche Sehnsucht — —! Glauben Sie nicht, daß das alles Unsinn ist, es ist manche Wahrheit darin.“

Er nahm eine neue Zigarette aus dem Etui und sagte lachend:

„Nun will ich Ihnen mal etwas Lustiges erzählen. Einmal war ich Erdarbeiter bei einem Bahnbau im Gebirge. Die Arbeit tat meinem Körper sehr gut, den Feierabend benutzte ich dazu, zu schreiben. Ich setzte mich in den Wald und schrieb. Oft schrieb ich in der Mittagspause, in glühender Sonne, während die anderen auf dem Gesichte lagen und schliefen. Des Nachts schrieb ich in der Baracke, in der über fünfzig Leute schliefen, bei einem Stumpen Licht. Ich mußte mich in acht nehmen, denn sonst setzte es Spott und Prügel. Es waren gute Kerle, trotzdem sie roh waren. Sie litten an Elend. Sie litten auch noch an etwas anderem. Deshalb betranken sie sich, deshalb fluchten sie, sie wußten es aber nicht. Sie hatten ein zottiges, irrsinniges Tier in sich, das immerzu im Kreise ging. Das war ihre Seele, ihre geschändete Seele. Einmal nun erwischten sie mein Buch. Es war ein dickes Notizbuch. Einer, ein dicker, runder Bursche mit dem Gesichte eines Metzgerhundes las es vor. Bei jedem Worte wieherte die Bande. In der Ecke da saß ein Schwindsüchtiger mit herabhängendem Chinesenbart, der machte aus jedem Worte eine Zote. Da kam nun einer im Buche vor, der denselben Vornamen hatte wie einer meiner Kollegen. Das gab Hallo. Und als etwas Abfälliges über ihn gesagt wurde, schrieen alle: Schlage ihn tot! Der, ein bärenhafter Kerl stieg über eine Kiste und schlug mich auf den Kopf, daß ich umfiel. Es war nur Scherz. Die anderen stießen mich herum wie einen Fußball. Natürlich nur Scherz. Schließlich wollten sie mein Buch zerreißen und es mir zum „Fressen“ geben. Aber ein alter Arbeiter stand auf und sagte: Nein! Sonst nichts. Da warfen sie es mir ins Gesicht — ich habe noch heute die Schrammen unter dem Auge — und ich hatte es wieder. — Ist das nicht kostbar? Ich könnte Ihnen eine Menge solcher Geschichten erzählen.“

„Nein, bitte, nein, ich habe an dieser einen genug.“

Ginstermann erwiderte: „Sie haben recht, wozu auch immer schwätzen.“

„Ich höre Sie gerne erzählen, aber so bittere Geschichten machen mir keine Freude. Und von solchen Leuten —“

„Nein, sagen Sie nichts über diese Leute, Sie sollten sie kennen. Später da dichtete ich ihnen Lieder. Revolutionäre, sehnsüchtige. O, Sie hätten sie sehen und hören müssen, wenn sie sangen. Eine Seele waren sie, ein Haß, eine Klage. Es war, um in den Wald zu gehen und zu weinen.“

Er lächelte und fuhr in anderem Tone fort: „Nun habe ich noch eine Geschichte für Sie gefunden. Das war in Ungarn. Ich schrieb da in einem kleinen Bureau. Da lernte ich ein Mädchen kennen. Sie hatte so gute Augen, daß ich es wagte, sie anzusprechen, als es niemand bemerken konnte. Dann mußte ich fort und sie erlaubte mir an dem und dem Tage an das Gitter ihres Gartens zu kommen, um ihr Adieu zu sagen. Ich kam. Es war bitter kalt. Sie hatte noch zwei Schwestern dabei, die ihr so ähnlich sahen, daß man sie für Abzüge einer gleichen photographischen Platte hätte halten mögen. Sie gab mir die Hand zum Gitter heraus. Dann ging sie zu den Schwestern zurück. Sie standen in einer Reihe auf einem Hügel. Und plötzlich zogen sie etwas aus der Tasche und drei goldene Bälle flogen durch die Luft. Orangen. Sie taten es mit der gleichen Bewegung und riefen dabei ein und dasselbe ungarische Wort. Ich verstand es nicht. Ich habe es auch vergessen und nur, wenn ich sehr heiter bin, so klingt es mir in den Ohren. Dieses ist mein schönstes Erlebnis.“

Fräulein Schuhmacher lächelte. „Es ist schön, so wie Sie es erlebten,“ sagte sie. „Vielleicht finden Sie noch eines?“

„Nein, nein. Es ist genug. Wieviel habe ich heute nur gesprochen. Ich sprach in drei Jahren nicht soviel. Tatsache. Und das ist nicht richtig. Wir sollten stumm gehen und lauschen und sehen, sehen und lauschen, und uns über das herrliche Dasein freuen.“

„Finden Sie es so herrlich?“

„O ja, sehr.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe Sie nun nicht.“

„Wenn ich Ihnen erklären sollte, weshalb ich das Leben herrlich finde, so müßte ich Ihnen wiederum eine lange Rede halten, und das wollen wir nicht.“

„Ich bitte Sie darum.“

„Schön, wenn Sie es wollen. Nun ich meine, es gibt doch unzählige Freuden und Herrlichkeiten. Da gibt es schon ganz einfache Dinge. Z. B. ich stelle mir rot vor. Rot. Das ist herrlich. Oder ich mache die Augen auf und sehe irgend etwas. Diese Baumgruppe, dieses Kind dort auf dem Wege, eine Fliege. Ist das nicht schön? Man zirpt an eine Saite, und das ist schön. Ich spreche noch gar nicht von Musik, von Kunst! Man kann tausendfältig genießen, wenn man seine Sinne nicht verschließt. Alles wird Erlebnis, das Kleinste. Hier ist es ein schön gesprochenes Wort, da ein kluges Vogelköpfchen, und so fort. Und nun kommen erst die eigentlich seelischen, die aus den Beziehungen von Mensch zu Mensch entstehen. Sie gehen über die Straße — wozu Worte! Und dann ist es der Schmerz, die Sehnsucht, die Arbeit, die Freude und das Erwarten eines besonderen Glückes, ohne das niemand leben würde . . .“ — —

Der „große Tag“ neigte sich seinem Ende zu.

Sie gingen nach Hause, durch die treibende, bunte Menge hindurch, die die Wege überflutete.

Sie sprachen nur noch weniges und hingen ihren Gedanken nach.

Ginstermann hätte gerne noch um ein Viertelstündchen gebeten, aber er befürchtete, ihre Güte zu mißbrauchen.

Auf der Straße zwischen den öden Häusern, inmitten des brutalen Lärmens des Verkehres, verwandelten sie sich beide in andere Menschen, als sie im Park, in der Sonne gewesen.

Fräulein Schuhmacher war wiederum die kühle, vornehme Dame, als die er sie kennen gelernt hatte.

Aber beim Abschiednehmen war sie liebenswürdig und herzlich wie während des Spazierganges.

„Ich werde Ihnen schreiben, wenn ich wieder kommen kann, nicht? Ist es Ihnen angenehm? Adieu, und seien Sie recht fleißig. Auf Wiedersehen!“

Sie schüttelte ihm die Hand und ging.

Ginstermann schritt langsam die Leopoldstraße hinauf, ganz langsam.

Was für einen Monat haben wir, meine Brüder? sagte er.

Wir haben Mai!!


Ginstermann ging nicht sogleich nach Hause.

Er kehrte in den Englischen Garten zurück und schritt langsam, den Hut in der Hand, dieselben Wege, die er mit ihr gegangen.

Die Sonne blitzte hinter der Stadt, die Wipfel der Bäume streckten sich ihrem erlöschenden Lichte entgegen. Dämmerung kam und schob die Leute den Ausgängen zu.

Jene auffallende Sicherheit und Ruhe, die Ginstermann während des Nachmittages erfüllte, fiel in dem Moment, wo er allein war, gleich einer Schleuse, und die Flut seiner Empfindungen ergoß sich mit dreifacher Wucht. Er saß inmitten der Stunden dieses Tages, und jede einzelne breitete ihre Herrlichkeiten vor ihm aus.

Er durchlebte nochmals jede einzelne Minute und das Erlebnis gewann an Schönheit und Tiefe, da seine Phantasie es verklärte und durchleuchtete. Jedes Wort, das Fräulein Schuhmacher gesprochen, klang in ihm wieder, so deutlich und lebendig, als spreche sie neben ihm. Ihre kurze Frage: wie das? wolle ihn nicht mehr verlassen. Sie ging neben ihm her. Schloß er die Augen, so leuchtete ihm ihr Gesicht entgegen, in jedem Ausdruck, den er zu sehen wünschte. Sie wandte ihm sachte die Augen zu, wenn er redete, sie lächelte, wenn er scherzte, sie kräuselte die Stirne, wenn er ein Paradoxon aussprach. Er entdeckte abermals, wie wesenhaft ihre Hände waren, wie schmal und gewölbt ihre rosigen Fingernägel, die kaum merkbare Asymetrie ihrer Stirne.

Als er den Wiesenweg entlang schritt, den sie während seines Vortrages hin- und hergegangen, fand er Spuren ihrer Schirmspitze. Dies mutete ihn an wie eine reale Hinterlassenschaft.

Hier sagte sie dies und jenes, ein gelber Falter schaukelte über die Wiese, ein roter Sonnenschirm wanderte dort hinter den Büschen. Er wußte jede Einzelheit ganz genau.

Heute war der Tag seiner Wiedergeburt. Er hatte einen Menschen kennen gelernt, er hatte sich einem Menschen zu erkennen gegeben, das war das große Ereignis.

Eines nur war bitter. Jene Erkenntnis, daß ein Abgrund sie trennte.

„Wenn ich ihm in die Augen sehe, so brauche ich nicht zu befürchten, seine Vergangenheit darin zu entdecken, denn er hat keine Vergangenheit.“

Welch unerschütterlich herrlicher Glaube lag in ihrem Tone und welch grausige Abneigung vor dem Menschen, bei dem sie dies zu befürchten hatte.

Ein Schleier war gesunken, und er hatte eine Sekunde ihre Seele gesehen. Mit Furcht und Bangen. —

Müde vom Laufen und Sinnen, steuerte er endlich seiner Wohnung zu.

Durch die Straßen hauchte ein schwüler lautlos böser Wind, Bangen in den Herzen der Menschen erweckend. Die Sterne flackerten wie Kerzen, über die ein Luftzug streicht. Eine dunkle Wolkendecke schob sich über die Residenz, die Erde darunter zu ersticken.

Bei Bildhauer Kapelli war noch Licht.

Ginstermann schob den Kopf zur Türspalte hinein und sagte guten Abend.

Die beiden Leutchen saßen aneinandergeschmiegt auf dem Sofa, eine niedergebrannte Kerze vor sich auf dem Tische.

„Kommen Sie doch herein,“ sagten sie mit vom Glücke schwermütiger Stimme.

Er trat ein und saß eine Weile, den Hut im Nacken, bei ihnen und scherzte mit gedämpfter Stimme, obschon kein eigentlicher Grund zum Leisesprechen da war.

Die Augen von Frau Trud erschienen wie blaue Flämmchen, die hinter Gaze brennen.

„Mai, Juni, Juli,“ sagte sie, ungewöhnlich lächelnd. Sie sann vor sich hin, dann warf sie den Kopf zurück, damit ihr nicht die Tränen aus den Augen fielen, und lächelte wieder.

Ihr Gesichtchen war verklärt durch mädchenhafte Schamhaftigkeit und das Mysterium, das sich in ihrem Schoße vollzog, durchschauerte ihr ganzes Wesen.

Sie hatte ihren blonden kleinen Kopf, um den goldene Funken sprangen, an den ihres Gatten gelehnt und Kapellis grauer Haarbüschel hing über ihre Schläfe. Ihre Lippen waren rot, wie geschminkt, und Ginstermann fiel es auf, daß sie eine Schleife von genau der gleichen Farbe trug.

Sie atmeten alle beide in gleichen Zügen.

Ginstermann hörte auf zu scherzen und mit der Andacht vor dem Gefühle, das diese beiden Menschen zu einem gewandelt, zog eine schmerzlich-süße Sehnsucht nach einem Zustande in sein Herz, dem er keinen Namen zu geben vermochte.

Er schwieg schließlich ganz und nur sein Mund lächelte noch.

Alle drei sahen sie in die Flamme auf dem Tische, als sähen sie die Bilder ihrer Träume darin.

An den Fenstern knisterte es wie von feinem Sande, den eine Hand dagegen warf.

Ginstermann flüsterte.

„Bianka,“ flüsterte er.

Er erschrak und sah auf. Aber die beiden hatten nichts gehört.

Er ging.

Aus dem Zimmer der Malerin von Sacken drang lautes Sprechen und Lachen. Er erkannte Maler Ritts Stimme. Etwas verwundert über die neue sonderbare Freundschaft trat er in sein Zimmer.

Der Wind lag auf dem Boden und sprang an ihm empor, als er die Türe öffnete.

Da begann es in der Ferne zu grollen, und dumpf rollte der Donner über die aufhorchende Stadt.

Ginstermann sagte: „Das ist mein Schicksal!“

Er sagte es mit unterdrücktem Jauchzen in der Stimme.

Er lehnte sich gegen die Türe, den Kopf in den Nacken gebeugt, immer noch das Lächeln von vorhin auf den Lippen.

XI.

Ginstermann hatte es aufgegeben, gegen das Geschick zu kämpfen, das auf ihn einbrauste.

Noch war es nicht soweit gekommen, daß er sich ihm als Sklave ergeben mußte, noch konnte er sich verschenken.

Und so verschenkte er sich.

Er hatte sich gegen das Leben abgeschlossen, alle Fugen seiner Seele verstopft. Nun war es doch gekommen, heimtückisch in seiner Güte, furchtbar in seiner Liebe. Wie ein glühender Sturmwind fuhr es daher. Mit tausend Stimmen, mit Posaunen rief es ihn.

Die Posaunen des Lebens riefen ihn!

Nicht ohne Grauen folgte er dieser Stimme, aber er folgte mit der versteckten Sicherheit eines Menschen, der weiß, daß er sich zuletzt, ganz zuletzt, wenn es ihn an seiner Brust zerdrücken möchte, durch einen Sprung retten kann.

Und wenn nicht — nun dann sollte er untergehen.

Er hatte solange geherrscht über sich und andere, er hatte Sehnsucht, einmal zu dienen, er hatte immer geschenkt, verschwendet, er wollte nun nehmen, gierig nehmen.

Der Kampf gegen sein Schicksal war das Wahnsinnige, Erschöpfende gewesen, nun, da es sein Freund war, nahm er Geschenke und Hiebe ohne Trotz und Schmerz entgegen.

Blank und frisch, reingescheuert lag die Erde. Der Himmel lockte, die Sonne sang und sang, er blieb eigensinnig zwischen seinen vier Wänden.

Er wußte, wenn du nach Schleißheim gehst, zwischen acht und neun Uhr morgens, so kannst du sie sehen, wie sie mit der kleinen Scholl auf dem Rad vorbeiklirrt, aber er ging nicht. Er wollte sich keine Freude mehr stehlen. Selbst mußte sie zu ihm kommen, ganz von selbst.

Sie würde ihm ja schreiben. Ich schreibe Ihnen, wenn ich wieder kann, hatte sie ja gesagt.

Oder hatte sie es nicht gesagt? Sie hatte es gesagt, natürlich!

Und noch hatte er ja zu zehren von dem großen Glücke von neulich.

Es war entzückend, nichts, gar nichts zu tun, auf der Ottomane zu liegen und Zigaretten zu rauchen. Die Wirklichkeit versank und herrliche Träume wuchsen aus ihr empor wie mattleuchtende Tulpen, deren Kelche sich leise neigten.

Dazwischen dachte er daran, etwas zu schreiben. Er war voll von Liedern.

Doch ließ er sie singen, klingen in sich, wozu sollte alles Papier werden? Er wollte seiner Seele diese Lieder nicht rauben, sie sollten diese zarten langstieligen Blumenkelche umschweben.

Bekam er Langeweile, so sprach er bei den Bildhauersleuten vor.

Er fühlte eine seelische Zusammengehörigkeit mit ihnen und es fiel ihm nicht im Schlafe ein, sich daran zu erinnern, daß er sie früher verliebte Tierchen genannt, die in den Stall gehörten.

Er las in einem Buche, während Kapelli arbeitete, er spielte Karten mit ihnen, wenn es Feierstunde gab, er sah Frau Trud beim Nähen zu.

Sein Aussehen hatte sich geändert. Er sah frischer denn sonst aus, blühend gleichsam, nahezu wie ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren. In seinen Augen, die sonst düster brannten, sprühte das helle Feuer der Lebenslust.

Eines Morgens standen zwei Büsten auf dem Tische, als er bei Kapelli eintrat. Es war Biankas Porträt. Er erschrak vor Freude.

Diese beiden ganz gleichen Köpfe wirkten, länger betrachtet, verwirrend schmerzhaft auf ihn. Er sah im Geiste eine unendliche Reihe desselben Kopfes vor sich und wurde nervös bei dieser Vorstellung.

Kapelli lachte über dieses Gefühl. Seine Sinne waren abgestumpft, dadurch, daß er wochenlang dieses Gesicht studiert hatte. Für ihn war es ein Kopf, ein beliebiger Kopf, ein Geschöpf von ihm.

„Ich würde ihnen eine Büste schenken, Ginstermann,“ sagte er. „Wenn Sie wollen.“

Ginstermann überflog, überglücklich durch dieses Geschenk, das zu erbitten ihm sein Zartgefühl verboten hätte, des Bildhauers Gesicht, ob er nicht einen schelmischen Zug darin entdecke. Aber Kapelli war vollständig von seiner Arbeit eingenommen und knetete mit nervösem Ernste an seiner Skizze herum, jene argwöhnisch-forschende Härte in den Augen, die das unausgesetzte gewissenhafte Vergleichen zwischen Modell und Arbeit erzeugt.

Also konnte er annehmen.

„Ich danke, Kapelli,“ sagte er, „diese Büste gehört zum Besten, was Sie geschaffen haben — haha.“

Er legte das Taschentuch um sie und trug sie behutsam in sein Zimmer hinauf, sehr behutsam.

Nun stand sie auf seinem schmalbrüstigen, hohen Bücherregal.

Anfangs beunruhigte in dieser Gast. Er war nicht mehr allein. Gleichzeitig ein Gefühl der Scham, ohne ihr Wissen etwas von ihr zu besitzen. Aber sein Egoismus brachte gar bald sein Gewissen zur Ruhe, und schließlich wurde ihm die Büste eine wonnige Erlösung.

Er mochte sich noch so sehr in Träumereien verlieren, immer wieder gelangte er auf irgend einem Wege zu diesem Bildnis. Seine Gedanken, ja seine Bewegungen wurden dadurch beeinflußt. Etwas Weltfernes, etwas Reines, Heiliges erfüllte ihn, ohne daß er sich erst dazu hätte erziehen müssen.

Sein Zimmer wurde zu einem Tempel, dessen Gottheit Bianka war. Die Vorhänge waren stets zugezogen, so daß feierlich gedämpftes Licht herrschte. Schien die Sonne gegen die Scheiben, so erfüllte eine schwärmerisch-gelbe, verheißende Beleuchtung das Gemach, dunkelte es draußen, so versank der Raum in Schwermut und scheues Wünschen.

Oft stand er dicht vor der Büste und verharrte lange in der Betrachtung. Dann waren nur Bianka und er im Zimmer, sonst nichts, weder Stuhl noch Tisch.

Eigentlich konnte man nicht gut Büste sagen. Es war ein Mittelding zwischen Büste und Maske. Der Hinterkopf war weggeschnitten, wodurch das Edle, Durchgeistigte des Antlitzes noch hervorgehoben wurde.

Es war ein Antlitz, wie es Kranke haben, so zart, so durchscheinend, gleichsam überstrahlt von einem Lichte, das aus dem fernen Lande glänzte, wohin diese großen sehnsüchtigen Augen blickten. Die Nasenflügel schienen zu beben, der Mund zu zittern unter diesem Lächeln, diesem schmerzlich verlangenden, dürstenden Lächeln jener Menschen, die das Schicksal auf diese Welt verschlug.

Ich leide, sagte dieses Lächeln, aber ich möchte es euch verbergen, denn ihr würdet mein Leiden nur mißverstehen.

Die Spitzen der Finger schmiegten sich, als wollten sie das pochende Herz beruhigen, an die Brust, während die übrige Hand in den Block überging.

Er verbrachte die Tage hinter verschlossener Türe, mit dem Egoismus des Glücklichen, der Scheu des Verbrechers, der Scham des Liebenden.

Er nannte sie „Bianka“, wenn er zu ihr redete. Wenn seine Gedanken zu ihr redeten, von denen er nicht einmal wußte, was sie sprachen. Ach, alles war Keim in ihm, Knospe, er hätte keine Worte gefunden, als solche, die die Lippen vieler bereits profanierten. Er wünschte es auch nicht. Alles war Musik in ihm und schwebender Klang. Selbst Bianka sagte er nicht, nur seine Lippen bewegten sich, als liebkosten sie diesen Namen.

Feiertage waren das. Was er, der Gottlose, nie kannte, das lernte er jetzt kennen in seiner ganzen Süße: Andacht, himmlische, inbrünstige Andacht.

Oft war es ihm, als wäre er gar nicht, als ginge er als Traum eines höheren Wesens einher.

Aufs neue erschloß sich ihm Mensch und Menschentun, da er die Liebe kennen lernte, die ledig aller Leidenschaft war. O, wie glatt und kalt waren doch die Speere der Vernunft! Sie mordeten. Die Liebe, die so weich ist wie Mutterlippen, die heilte. Nun wurde ihm der große Prediger lebendig, der diese armen Menschen alle an seine Brust nahm und die Tränen seiner unendlichen Liebe in ihre bitteren Herzen träufelte.

Gelobet seist du!

Und die armen Menschen hatten dies Erbe verloren. Sie lebten auf dem Kerichthaufen des Tages und scharrten schwatzend und zeternd ekle Klumpen und bunte Fetzen. Sie waren Schlacke, die kein Hauch mehr erwärmte, kein Feuer mehr glühend machte. Der Mensch war ja tot! Seinen Gott hatte er verloren und nicht mehr soviel Seele in sich, in schüchterner Kinderinbrunst zum Menschen zu beten. —

Eines Abends verließ Ginstermann das Haus — die Beleuchtung in seinem Zimmer war so schal und müde — und kehrte mit einem Paketchen in Fließpapier zurück.

Er hatte Blüten eingekauft, mit denen er sein Heiligstes schmückte.

Es waren zartfarbene exotische Blüten von märchenhafter Gestalt, lange geschweifte Kelche, die einen süßen Duft ausatmeten. Er wußte nicht, wie man sie nannte. Verwunschene Prinzessinnen waren es, höchst einfach.

Er lag auf der Ottomane und betrachtete das Bildnis, während sich seine unklaren Gefühle zu einem Zuge stummjauchzender Verse ordneten, die in seiner Seele hin- und herzogen, eine feierliche Prozession in Weiß und Gold.

Alle Tage ersetzte er die Blüten durch neue.

Der Tag versank um ihn, er dachte häufig gar nicht mehr daran, daß jenes Weib, das er hier anbetete, wirklich existierte.

Ohne die geringste Ungeduld wartete er auf ihr versprochenes Billett.

Auf einem seiner Einkäufe begegnete ihm Fräulein Scholl. Die kleine reizende Scholl sagte: „Fräulein Schuhmacher reist demnächst ab.“

Er hörte es ohne Schmerz und dachte: „Sie wird dir schreiben, wenn sie wieder kommen kann.“

Es eilte ja gar nicht, es eilte ja gar nicht.

Einmal entstand das Verlangen in ihm, ihr ein Fest zu geben.

Er nahm seine ganze Barschaft und handelte weiße Rosen dafür ein. Sie waren klein wie ein Taubenei, und jede hatte hundert zarte Blätter. Es war eine ungeheure Menge und doch waren es noch lange nicht genug.

Er arbeitete fiebernd vor Festesfreude an der Ausschmückung. Er rannte fort und besorgte Draht, er rannte fort und besorgte Seidenpapier für die Lampe, er rannte fort und besorgte duftende Kräuter.

Die Büste stand nun in einer Laube weißer Rosen, bleicher, keuscher, sehnsüchtiger als diese. Rosen lagen auf der Schulter, vor ihr auf dem Teppiche, aus einer kleinen Schale stieg der Rauch duftender Kräuter empor, ein dünner Faden, der oben einen sich drehenden Kelch bildete. Die Lampe war in gelbes Seidenpapier gehüllt und sah aus wie ein Stern, der werden will.

Es war schön! Ach, ihr hättet es sehen müssen!

„Bianka!“ jubelte Ginstermann. „Bianka!“

Allerdings hätte man es sich noch viel, viel herrlicher denken können. Eine Laube aus weißen Rosen mit goldenem Himmel zwischen den Ranken, wie auf den Gemälden der alten Meister. Und ganz aus der Ferne die Stimme einer Geige. Einer einzigen Geige, leise und süß, eine Melodie, die er in sich hatte, schüchtern anbetend, verschämt sehnsüchtig.

Und in den Pausen dieser ewigen Melodie hätten die Stimmen von Jungfrauen jauchzen müssen, so unendlich ferne und verweht vom Schwingen grüner Palmzweige.

Ergriffenheit bemächtigte sich seiner, er breitete die Hand über die Augen, als ob er weinen müsse.

Bianka blickte ihn an. Ihre Augen bekamen Farbe und Ausdruck, während das Gesicht bleich und still blieb. Sie zürnten ihm nicht wegen des Frevels, zu dem ihn seine Liebe verleitete. Sie blickten mild und gut.

Dieser Abend war eine einzige Köstlichkeit.

Seine Träume in dieser Nacht waren noch erfüllt davon. Bianka schwebte durch sie, bald mild lächelnd, bald stolz fliehend.

Er saß auf einem Sterne, weit ab von der Sonne, die Sonne erschien wie ein winziger Funke. Bläuliches Licht um ihn. Er hatte aus den anderen Sternen Biankas Namen gebildet, der sich flimmernd durch den Raum spannte, wie eine silberne Brücke. Er saß und schluchzte. Weshalb schluchzte er? Er wußte es nicht. Da strich etwas über seine Haare, ein Gewand flüsterte, das war Bianka. Er sah sie nicht, aber er wußte, daß sie es gewesen.

Und wieder, da eilte er durch einen Lilienwald. Das weiße Gewand Biankas schimmerte vor ihm. Aber so sehr er eilte, er erreichte es nie. Er rief, aber der Wald verschluckte seinen Ruf, ohne ihn weiterzugeben. Plötzlich wurden die Lilien so dicht, daß er nicht mehr durchzukommen vermochte. Und Biankas Augen blickten ihm entgegen. Sie lächelten grausam und höhnisch. Da begann der ganze Wald zu wandern und voller Schrecken erwachte er.

Wieder — wieder — da gingen sie durch eine Wiese von gläsern-durchsichtiger Farbe. Er und sie. Sie schritten Hand in Hand. Er war jung, schön war er. Sie war bald Kind, bald Jungfrau — Sie gingen im gleichen Schritt, sonderbar pathetisch, als trüge sie eine Melodie.

Da begann sie zu singen. Leise, flüsternd.

„Als Kinder spielten wir auf blumiger Wiese“, sang sie.

„In unseren Träumen spürten wir unsere Hände“, sang er.

Ihre Schritte zogen eine leuchtende Spur durch die Flur.

Sie blieben stehen, legten sich die Hände auf die Schultern und blickten einander an. Aus ihren Augen züngelte eine goldene Flamme.

„Wohin gehen wir?“

„Bis an die Pforte.“

„Bis an die Pforte?“

„Bis an die weiße Pforte.“ — —

Die nächsten Tage verbrachte Ginstermann mit Arbeit. Es hieß, sich nun verzweifelt einzuschränken. Für die wenigen Gegenstände, die er verkaufen hatte können, war ihm lächerlich wenig geboten worden. Er war auf Viertelkost gesetzt. Aber das kümmerte ihn herzlich wenig. Die Not hatte für ihn nichts Furchterweckendes mehr; Gewohnheit und sein momentaner Gemütszustand ließen sie ihn als eine Freundin betrachten, eine alte Bekannte, mit der man Scherze treibt. Schmerzlich war nur der Umstand, daß er jetzt seine Blumenopfer unterlassen mußte, und wenn er nun arbeitete, geschah es weniger in der Absicht, Brot zu schaffen, als vielmehr Blüten erwerben zu können.

In der ersten Zeit ging es nur langsam vorwärts, sein Geist war der Disziplin entwöhnt; aber dann hatte er eine Menge glücklicher Einfälle, und es gelang ihm noch in derselben Woche, eine satirische Plauderei loszubringen. Für die Hälfte des Honorars kaufte er Blumen, die er mit glückseligem Jauchzen über sein Heiligstes streute.

Er war stets guten Mutes.

In den Pausen seiner Arbeit stand er in Betrachtung der Büste versunken. Dann verfiel er auf den Gedanken, Briefe an Bianka zu schreiben, die er natürlich nicht absandte.

Es waren Briefe, die nur er verstand, sonst niemand. Sie jauchzten und jubilierten, sie stammelten vor Glück. Hymnen nannte er sie, Hymnen an Bianka. Nie sollte ein Mensch sie zu lesen bekommen, er nahm sich vor, sie zu verbrennen — bei Gelegenheit.

Tage gingen. Regen kam.

Regen. Unaufhörlich klopfte er an die Scheiben.

Dieser kleine Umstand genügte, Ginstermanns Stimmung zu verändern.

Sein Zimmer erschien ihm eng, ein Käfig, ein Kerker. Es war ihm, als habe die Zeit ihn vergessen, als lebe er allein auf dem Planeten, während alles schon schlief.

Unruhe überfiel ihn und namenlose Sehnsucht.

Oft, während er schrieb, sprang er auf und sagte laut: „Weshalb schreibt sie nicht?“ Er mußte seine Arbeit stundenlang unterbrechen, da ihm die Sehnsucht keine Ruhe ließ.

Er sah nach seinem Kalender. Heute war der siebzehnte Tag danach.

Er ging des Nachts wieder in der Leopoldstraße auf und ab. Er lauerte auf der Schleißheimer Chaussee. Allein die Straßen waren wenig verlockend zum Radfahren. Und dann regnete es auch. Bei Regenwetter fahren junge Damen nicht Rad. Er lachte; den Weg hätte er sich ersparen können.

Weshalb schrieb sie nicht?

Sollte er schreiben? Nein, das hieße wenig Vertrauen zeigen.

Also wartete er.

Seine Arbeit bestand nun darin, von der Morgen- zur Mittagspost, von der Mittags- zur Abendpost zu warten.

Eine Stunde hat sechzig Minuten und eine Minute sechzig Sekunden, meine Freunde!

Wenn er grübelnd über den Papieren saß, so hörte er häufig Pochen an der Türe. Öffnete er, so fand er jedoch niemanden vor. Oder er vernahm das Rauschen von Frauenkleidern, hörte sie sprechen im Hofe drunten.

Und dann diese Stille, diese Einsamkeit. Diese beängstigende Stille, die schwerer und schwerer wurde und ihn zu erdrücken drohte. Diese Einsamkeit, in die Rufe und Poltern der Straße wie Hohn drangen.

Sah er die Büste stehen, die er nur geschmückt gewohnt war, so verursachte ihm dies ungeheure Qual. Er trat davor und sagte, schmerzlich lächelnd:

„Das Schiff mit Gold muß jeden Tag eintreffen.“

Wie alle Einsamen, sprach er viel laut vor sich hin. In letzter Zeit jedoch geschah es häufiger denn gewöhnlich, und er gefiel sich in den absonderlichsten Bildern.

Eines Tages nun kam der Briefbote und brachte ihm einen Wertbrief mit fünfhundert Mark.

Er riß, schwindelig vor Glück, das Kuvert auf und schlug auf den Tisch, um sich zu überzeugen, daß es keine Sinnentäuschung war. Es lagen fünf Hundertmarkscheine darin. Ein Brief seines Verlegers, er solle ihm das Geld übermitteln.

Ginstermann warf die Scheine auf den Tisch und ging mit geballten Fäusten umher.

„Welcher Schuft will mir eine moralische Schuld mit Geld bezahlen!“ rief er aus. Irgend so etwas stak dahinter. Er witterte es. Oder wer sonst sollte ihm das Geld zuschicken? Er kannte niemanden. Er dachte an Bianka, schämte sich aber augenblicklich, er dachte an Fräulein Scholl, lachte aber darüber. Diese Dame lebte in dem holden Wahne, ein Dichter schwimme in Gold. Faktisch!

Eine ungeheure Wut gegen den Unbekannten, der seinen Stolz bestechen wollte, packte ihn.

Dann hielt er den Schritt an, und er fühlte, wie sein Herz stille stand und jeder Tropfen Blutes aus seinem Gesichte wich.

„Nein, nein“, rief er, „das ist nicht denkbar!“

Nun war er da, der Gedanke, und er brachte ihn nicht mehr los.

Die Hand seiner Vergangenheit hatte nach ihm gegriffen.

„Lieber Freund“, sagte er zu sich, auf der Ottomane kauernd, „du bringst deine Vergangenheit nicht mehr los, und wenn du dir das Gehirn aus dem Kopfe schlägst. Eine Schlinge liegt um deinen Fuß und zieht sich zu, wenn du ausschreiten willst. Du kannst nicht mehr gehen, wohin du willst.“

In seinem Gehirn wirbelten die Gedanken wie die Flügel einer Turbine, seinen ganzen Körper durchzitternd.

Nach einer Weile fand er seine Fassung zurück.

„Was ist dabei“, sagte er sich und legte das Kuvert in ein Schubfach. „Ich werde es herausbringen. Im übrigen geht man nicht rückwärts in die Zukunft hinein, mein Freund.“

Er nahm den Hut, um spazieren zu gehen. Es darf nicht so fortgehen, dachte er. Er kramte in seinen Papieren, zog ein dünnes Manuskript hervor und steckte es in die Tasche, um es auf die Redaktion zu tragen.

Es waren Gedichte, Gedichte an Bianka. Das kam ihn hart an, aber es mußte sein. Das Leben erlaubte keine Zimperlichkeit. Er wollte sie unter fremdem Namen veröffentlichen, damit Bianka nicht etwa den Verrat entdecken konnte.

„Du verzeihst“, sagte er, die Büste anblickend, und ging.

Nun war er traurig, sehr traurig. Es half nichts, daß er sich zurief: Mut, Mut!

Im Hausflur traf er Fräulein von Sacken, die glücklich lächelnd Ritts Atelier verließ.

„Guten Tag“, sagte sie und bot ihm lächelnd die Hand.

„Guten Tag“, erwiderte er und ging an ihr vorbei.

Ritt sah zur Türe heraus und grinste.

„Kommen Sie, Ginstermann!“ rief er ihm zu.

Ginstermann hatte keine Lust.

„Nur eine Sekunde!“

So trat er also ein. Ritt führte ihn zu einem Bilde, das auf der Staffelei stand. Es war ein Stillleben, Karpfen waren es.

„Wie finden Sie es? Ich habe dem armen Weib ein bißchen geholfen.“

Es war prächtig gemalt, aber Ginstermann sagte nichts.

Für ihn gab es keine Farben mehr, kein Leben und Lachen. Eine dunkle Traurigkeit hüllte ihn ein.

„Die Sacken ist doch eigentlich noch ein hübsches Weib, nicht?“ lächelte Ritt.

Ginstermann erwiderte mechanisch: „O, gewiß“, und ging.

Es war ihm alles einerlei.

Ob das Bild gut oder schlecht war, ob Fräulein Sacken hübsch oder nicht mehr hübsch war, das konnte ihm doch ganz gleichgiltig sein. — — —


Ginstermann schloß seine Türe auf, streckte den Kopf ins Zimmer und lachte.

Er trug ein kleines Paketchen in Fließpapier, das er sorgfältig enthüllte.

Dumpfe Luft und schwermütiges Licht erfüllten sein Zimmer. Er zog die Vorhänge auseinander und öffnete die Fenster. Die Sonne wirbelte ins Zimmer und überschüttete die Büste mit goldenen Küssen.

„Im Tempel des Lebens ist die Sonne der Strahl der Kerzen und frische Luft Weihrauch!“ jauchzte er pathetisch.

Der Duft von Veilchen, die er mitgebracht, erfüllte das Gemach. Das ganze Haus stand gleichsam in einem blühenden Garten. Ein bescheidener Schmuck lagen sie auf der schneeweißen Schulter, ihr wunderholdes Blütenantlitz an Hals und Brust Biankas schmiegend.

Weshalb hatte sie ihm nicht geschrieben?

Nun wußte er es, und er wußte es doch nicht.

Sie hatte gesagt: „Oft dachte ich daran, Sie zu einem kurzen Spaziergang aufzufordern, aber ich unterließ es stets. Ich weiß nicht, weshalb.“

Sie wußte nicht, weshalb.

Er war durch die Straßen gegangen, als er plötzlich seinen Namen hörte. Er sah sich um, er sah hinüber: Fräulein Schuhmacher stand drüben, und Fräulein Scholl und Fräulein Bijou waren auch dabei.

Eine ganze Stunde hatten sie zusammen gebummelt. Sie hatten Einkäufe gemacht für die Reise. Die Mädchen waren in die Magazine getreten, und er hatte sich die Auslagen betrachtet und sie stets, wenn sie zurückkamen, gefragt, was sie Schönes gekauft hätten. Einmal war er sogar mit in das Geschäft eingetreten. Es sollte eine Aschenschale für den Bruder, den Offizier in Berlin, gekauft werden. Obgleich er Bianka ein feines Verständnis zutraute, hatten ihn doch ihre Sicherheit und ihr reifer Geschmack verblüfft. Sie prüfte Stück um Stück, und er sah stets an ihrem Blicke, was ihr an der Arbeit mißfiel. Endlich entschied sie sich für die einfachste Schale, die zu finden war. Keine Figur, keine augenfällige Originalität, eine vornehme Form, ein paar sprechende Linien. Er sah erst jetzt, wie schön die Schale tatsächlich war.

Die kleine Scholl meinte allerdings, die Schale sei langweilig und geschmacklos.

Bianka würde in vierzehn Tagen abreisen. Wenn es der Zustand der Mama erlaubte, vorausgesetzt. Einige Zeit würden sie in Montreux zubringen, dann für immer nach Nizza übersiedeln. Ihr Vater wollte in Nizza eine Villa kaufen.

Es gab auf der Welt Leute, die eine Villa in Nizza kaufen konnten, es gab wiederum solche, die nicht ein Billett nach Nizza zu erschwingen vermochten. Es gab Leute, deren Seele in Sorglosigkeit erblühte, es gab solche, deren Seele von banalen Widerwertigkeiten zerfressen wurde, wie ein Stück Zucker von Ameisen.

Aber sie würde doch wieder nach München kommen?

Nein, voraussichtlich nicht.

Nicht, nicht. Jawohl nicht.

Nun gut, es waren ja noch vierzehn Tage, vier—zehn Tage.

Und morgen würde er sie wieder im Englischen Garten treffen.

Kann man mehr verlangen.

Morgen, morgen, morgen — —!

Er nahm einen Briefbogen und schrieb. Den 21. Tag danach. Bianka, du sollst mich nicht töten. Herrliche, weißt du, nie liebte mich jemand, nun sterbe ich daran. Deine Güte, deine endlose Güte! Die Güte in deinen Augen, die Güte in deinem Lächeln, diese Güte in deinem Händedruck. Töte mich nicht, du Erlöserin zur neuen Qual . . . .

XII.

Der Nachmittag war vorüber.

Bis man den Mund auf- und zumachte, war er schon vergangen.

Ginstermann ging in der Dämmerung seines Zimmers auf und ab. Er wollte sich sammeln zur Arbeit. Da waren so sonderbare Gedanken in seinem Kopfe, die gegen die Gehirnwände pickten und ans Licht wollten.

Es würde etwas Überraschendes werden, das fühlte er.

Aber vorläufig kam er noch nicht dazu. Er war zu vergnügt, zu vergnügt. Er mußte ununterbrochen lachen, gerade als ob er Lachgas eingeatmet hätte. Schon heute Nachmittag hatte er diesen eigentümlichen Lachreiz verspürt.

Eine Menge komischer Erlebnisse fielen ihm ein und beschäftigten ihn. Da war die kleine Sängerin di Ballo, die ihn an den Haaren zupfte und mit ihrer affektierten Stimme flötete: O, noch einmal laß mich in deine schönen Augen blicken, in deine tiefen schwarzen Funkelaugen! Und da war Sergeant Köderiz, den sie jeden Abend betrunken nach Hause fuhren. Dieses Lächeln, wenn er auf dem Karren lag! Er träumte von schönen Frauen, die ihm die nackten Arme um den Hals schlangen und seinen roten Schnurrbart zirpelten.

Wenn der Mensch unglücklich ist, so denkt er an alle schlimme Stunden, ist er glücklich, an alle amüsanten Erlebnisse, das ist doch erklärlich.

Und er, Ginstermann, war heute glücklich!

Was war am Nachmittage alles geschehen? O, es waren Herrlichkeiten über Herrlichkeiten passiert.

Bianka war sehr liebenswürdig gewesen und hatte ihn ausgezankt seines übernächtigen Aussehens wegen. Sie ahnte ja nicht, was ihn nicht schlafen ließ, das war das Großartige! Er hatte ihr das feierliche Versprechen ablegen müssen, nicht mehr soviel Tee zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Drei wollte sie gestatten. Glücklich darüber, daß sie ihn ein wenig bemutterte, hatte er ihr es versprochen.

Dann waren sie zusammen in den Chinesischen Turm gegangen und hatten Kaffee getrunken. Es hatte zu regnen begonnen. Ganz herrlich, während die Sonne schien. Wie geschliffene Brillanten fiel es durch die Sonnenstrahlen. In einem Regen glitzernder Steinchen waren sie geschritten.

„Wollen wir nicht ins Restaurant treten?“ hatte er gefragt.

„O ja, es wird besser sein.“

Und da war nun das Komische geschehen: er hatte sein Portemonnaie vergessen. Tatsächlich! Glaubt man es? Ein Mensch, der absolut nichts zu tun hat, vergißt sein Portemonnaie. Und er lud eine junge Dame zu einer Tasse Kaffee ein!

Im übrigen freute es ihn, daß er sich so vortrefflich beherrschen konnte. Es lag am Tage, an ihm war ein großer Mime verloren gegangen. Er konnte in aller Ruhe über die gleichgültigsten Dinge sprechen, ja, er konnte Bianka durch sein Benehmen, seine Nonchalance sogar beweisen, wie wenig sie ihn im Grunde interessierte. Und das alles, während es in seinem Innern fieberte, daß er die Finger verkrampfen mußte, daß er die Augen schließen mußte, damit sie nicht die Flammen seines Herzens darin sähe.

Sie durfte nichts erraten, nicht das mindeste, bei Gott, sie durfte nicht einmal Verdacht schöpfen.

Was war noch geschehen? Was war noch geschehen?

Ach, es war noch etwas Sonderbares geschehen. Das war, als sie Abschied nahmen.

Bianka hatte gesagt: „Es ist ganz merkwürdig, wenn Sie den Kopf neigen, so sehen Sie einem Freunde von mir sprechend ähnlich.“

Und ohne seine Gegenrede abzuwarten, war sie fortgefahren: „Er war ebenso alt wie Sie. Er war Komponist von starker Begabung. Man prophezeite ihm eine große Zukunft.“

Was aus ihm geworden wäre?

Es sei nichts aus ihm geworden. Er sei zugrunde gegangen. —

Es war noch eine Menge geschehen; eine ungeheure Menge.

Und auf dem Heimwege war er noch der kleinen Scholl begegnet.

„Herr Ginstermann!“

Aber er hatte keine Zeit gehabt, nicht eine Sekunde. Er gab ihr die rechte Hand, sagte: Guten Abend, wie geht es? dann reichte er ihr auch schon die Linke, und fort war er. „Verzeihung, ich will arbeiten“, rief er dem verdutzten Mädchen zu.

Ja, nun wollte er auch arbeiten. Dieses Zerstreutsein mußte ein Ende nehmen. Er wollte die Geschichte zweier Auserwählten schreiben!

Die Begierde zu schreiben erfaßte ihn so heftig, daß er kaum erwarten konnte, bis die Lampe in Ordnung war.

Aber im gleichen Momente leuchtete die Büste auf, und nun konnte er den Blick nicht mehr von ihr wenden.

Das war Bianka, Bianka! So war Bianka. Ebenso stolz, ebenso unnahbar. Sie, blickte ihn nicht an, sie sah durch ihn hindurch, irgendwohin in eine Ferne, die ihre Phantasie geschaffen. Genau wie die lebende Bianka, wenn sie ihn anblickte.

Wie hatte Kapelli das fertig gebracht? War er ein Seelenseher?

Ein Zweig granatroter Blüten lag vor der Büste. Er hatte sie heute morgen gekauft. Sie hatten ein Vermögen gekostet, ein Landgut sozusagen, eine Domäne, aber er kaufte sie. Es waren indische Blüten mit einem wunderbaren Namen. Der Zauberer, bei dem er sie erstand, hatte ihn genannt. Er war so weich, so duftend, alle Märchen aus Tausendundeiner Nacht barg dieser Name.

Er stand auf und trat vor die Büste.

Tränen traten in seine Augen. Es war, als schluchze es in ihm. Sein Herz quoll über. Er war nicht mehr eins, sein Wesen löste sich auf in tausend Teilchen, die ihr alle dienten, sie anbeteten. Tausend Lippen flüsterten lautlos ihren Namen.

O, wie liebte er sie! O, was hatte er ihr alles zu danken!

Er flüsterte etwas. Es war keine Sprache, die die Menschen reden. Es waren Laute, die aus seinem Innersten kamen.

„Ava — ava“, flüsterte er.

Er wußte nicht, was es hieß, aber in die Sprache des Pöbels übertragen, bedeutete es vielleicht: ich liebe dich!

Nach langer Weile erst ließ ihn dieser Bann los.

„Adieu“, sagte er leise und begab sich wiederum an den Tisch zurück. —

Am nächsten Tag trifft er sie wieder. Sie machen zusammen Einkäufe. Er trägt die Paketchen, alle Taschen hat er voll. Sie ist heute liebenswürdiger denn je. Das bringt ihn dazu, sich kleine Scherze zu erlauben. Zum Beispiel über die Art, wie sie die Augenbraue hochziehe, wenn jemand an sie stoße. Und über ihre Augen erlaubt er sich diesen Scherz: „Ihre Augen sind so klar, Fräulein Schuhmacher, daß ich mich nicht wundern würde, plötzlich Forellen drinnen schwimmen zu sehen.“

Sie lächelt und sagt: „Sie sind ein Schelm! — Warten Sie, ich will hier Handschuhe kaufen.“

Er wartet geduldig und ungeduldig in einem, das Griffchen ihres Sonnenschirmes liebkosend, den sie ihm überlassen hat.

So geht es fort. Am nächsten Tag, am übernächsten. Des Glückes Ewigkeit ist nun gekommen.

Und heute hat sie ihn eingeladen, sie zu besuchen. Er nahm die Einladung mit ungeschickter Verblüffung entgegen.

Sie lachte und sagte: „Kommt Ihnen das so wunderbar vor?“

Und da lachte auch er.

Noch etwas Herrliches, Sinnverwirrendes. Etwas, an das er nicht denken kann, ohne die Augen dabei zu schließen.

„Adieu“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Aber sie zog sie wieder zurück und streifte den Glacé ab. Und sie gab ihm ihre nackte, weiße Hand, deren feine Knochen er fühlte. Sie hat eine Hand, die in Versen spricht!

Und nun befindet er sich in Biankas Tabernakel. Hier ist keine Farbe laut, kein Licht laut, kein Geräusch laut. Das Zimmer atmet leise, es ist ein Wesen. Auf der Konsole klingt das Ticken einer Uhr, und jedes Kling-kling siebt feinen Silberstaub auf den Teppich.

Niemand würde es wagen, hier laut zu sprechen, nicht ein Barbar.

Er befindet sich in einer Erregung, wie er sie noch nie empfand. Und er stand schon vor großen Männern, vor Theaterdirektoren und tausend Zuhörern.

„Bitte“, läd sie ihn ein, Platz zu nehmen. Sie trägt ein Hauskleid mit weiten Ärmeln und Spitzenmanschetten.

Ob er sich auf den Puff oder in den Schaukelstuhl setzen dürfe?

Nach Belieben.

So setzt er sich in den Schaukelstuhl.

„Ich habe die Schaukelstühle so gerne“, sagt er, „schon als Kind war ich verliebt in sie. Da hatte ich eine Tante, Tante Anna. Die besaß einen Schaukelstuhl. Ich besuchte sie so häufig als möglich. Obschon sie Katzen hatte. Nebenbei, sie hatte so viele Katzen, daß keine Woche verging, ohne daß eine starb.“

Sie zündet die Kaffeemaschine an.

„Rauchen wir?“ fragt sie.

Er zappelt aus seinem Stuhl heraus und nimmt eine Zigarette.

Sie rauchen und plaudern.

Dann, während sie den Kaffee serviert, sagt sie: „Nun müssen sie lesen. Sie haben doch etwas mitgebracht!“

Natürlich, er hatte die ganze Tasche voll.

So liest er also. Kleinigkeiten, Stimmungen, Gedichte.

Das eine gefällt ihr gut, das andere wieder weniger. Eines entzückt sie sogar.

Es heißt: Der Sohn. Da ist eine Mutter, die nichts besitzt als einen Sohn. Er reist. Kommt er zurück, so küßt er sie. Erst heiß, dann innig, dann kühl. Zuletzt sind seine Lippen wie Eis, sie berühren kaum die ihrigen. Sie ahnt, er kommt nicht wieder. Ihre Angst, ihr Schmerz. Er kommt auch nicht wieder. Ein Telegramm aus fernem Lande.

Diese Geschichte nimmt sie und trägt sie zu ihrer Mama hinaus.

Ihre Mama habe es ergriffen.

Er verneigt sich tief.

Dann zeigt sie ihm das Bild ihres Bruders. „Sie müssen ihn kennen lernen“, sagt sie. Sie ist so gut.

Und hierauf sehen sie eine Weile zum Fenster hinaus. Sie stehen so dicht, daß sich ihre Hände nahezu berühren. Er kämpft einen entsetzlichen Kampf, nicht ihre Hand leise zu liebkosen. Sollte er sie um die Erlaubnis bitten, ihr über die Hand streichen zu dürfen? Sie könne ihm dann seine Hand abschlagen lassen. Oder er würde ihr versprechen, morgen tot zu sein.

Sie plaudern wieder, ja sie lachen zusammen. Er sitzt wieder in seinem Schaukelstuhl und fühlt sich behaglich. Er schaukelt sich leicht. Plötzlich bemerkt er es, erschrickt und sitzt still.

Endlich muß er aufbrechen.

Sie bittet ihn, noch zu bleiben, aber er geht. „Nein, nein, es ist so schon zu lange.“

O, er wäre schon noch geblieben, lange bis zur Unverschämtheit. Aber es ging nicht — er hatte zuviel von diesem starken Kaffee getrunken.

Immer mußten so kleine, boshafte Teufelchen im Spiele sein — —

Wieder ein Festtag. Sie holen zusammen den Bruder vom Bahnhof ab. Er hatte depeschiert: Komme drei Uhr. Gruß Theo. Und nun holten sie ihn ab. —

Ginstermann träumte noch eine Menge glücklicher Situationen durch, bis schließlich seine Sehnsucht ihn freiließ.

Nun war die Zeit zur Arbeit gekommen. In ihm redete und klang es. Es stieg wie die Wasser eines Brunnens.

Er nahm die Feder und schrieb:

Das Haus im Hain.

Yester und Li wohnten in dem Haus im Hain und waren noch nicht sechzehn Jahre alt.

Sie wußten nicht, wann und wie sie in das Haus gekommen. Eines Morgens erwachten sie auf gemeinsamer Lagerstätte und lächelten einander zu. Sie hatten ihre Hände im Schlafe gefaßt.

„Hörst du, Yester“, sagte Li und lauschte verzückt, „das ist Killi-hiwi!“

„Killi-hiwi singt am schönsten von allen“, erwiderte Yester, den Atem verhaltend.

Killi-hiwi saß jeden Morgen auf einem Rosenzweig vor dem Fenster und zwitscherte. Er war so klein wie ein Taubenei, seine Stimme war Silber. Er sang jeden Morgen zu ihrem Erwachen und war dann den ganzen Tag nicht zu erblicken.

Das Haus stand in einem Hain weißer Birken, junger weißer Birken mit hellgrünem Laub. Es war klein und weiß, schneeweiß. Wie eine Flocke Schnee sah es von weitem aus. Es hatte blinkende Fenster, die Tag und Nacht offen standen, und blitzende Beschläge an der Türe. Die Türe war aus grünem Glase. Eine Treppe führte in den Garten, auch sie war aus grünem Glase. Rings um das Haus standen Beete von Hyazinthen, oder von Mohn, oder blauen Kuckucksblumen. Das ganze Jahr. Über Nacht wuchsen stets neue.

Yester und Li wußten es nicht anders. Sie wunderten sich nicht darüber. Sie streiften den ganzen Tag umher. Der Hain war sehr groß, sie waren noch nie an sein Ende gekommen. Sie dachten auch gar nicht, daß er ein Ende haben müsse. Sie trugen weiße Schleiergewänder die von ihren Schultern herabfielen. Sie jagten einander und jauchzten von früh bis nachts. Immer hatten sie Sonne und einen Himmel, der funkelte wie ein blauer Edelstein. Des Nachts stand ein großer grüner Stern über ihrem Hause, und er wagte erst zu erlöschen, wenn die Sonne wiederkam.

Vor dem Hause, da war eine tiefe runde Quelle mit einer Bank aus weißem Marmor herum. Sie sah aus wie ein tiefes klares Auge und Li meinte, der Himmel blicke aus dem Grunde. Man sah selbst am Tage die Sterne durch den Brunnen wandern, so tief war er.

Li saß oft auf der Bank und warf Steinchen ins Wasser. Und jedesmal, wenn Li ein Steinchen warf, gurgelte es, und ein goldener Fisch mit kreisrundem Mäulchen und Edelsteinen auf dem Rücken tauchte auf und fragte: Was befiehlst du?

Er mußte kommen, er mußte fragen.

Li befahl nichts, sie freute sich an dem drolligen Kerlchen und ließ ihn oft hundertmal kommen. Er wurde nicht böse.

Yester aber stand, während sie spielte, an eine Birke gelehnt und sah ihr zu. Sie erschien ihm selbst wie eine Blume. Ihre Hand zart und durchscheinend wie die Blüten der Hyazinthe. Ihr Haar spiegelte sich im Wasser, in der Quelle schien ein Feuer zu brennen, es zerrann in goldene Fäden, wenn der Fisch auftauchte, aus dem Grunde schien ein seltsamer flimmernder Blumenkelch zu wachsen. Ihre Augen blickten heller aus dem Wasser, als sie in Wirklichkeit waren. Sie erschienen grün wie die Blätter der Birken, durch die die Sonne scheint.

Dann besann er sich jedesmal, was er ihr Liebes erweisen könne.

Yester liebte Li über alle Maßen. Li liebte Yester über alle Maßen.

Ihr Haus lag im endlosen Hain, und der endlose Hain lag am Morgenrot. —


Der Damm war gebrochen. Die Einfälle fielen über ihn her wie ein Rudel hungriger Tiere. Irgend jemand schien ihm die Geschichte zu diktieren und er schrieb, schrieb: fieberhaft schrieb er.

Das große Glück der Inspiration war über ihn gekommen. Es durchschauerte ihn am ganzen Körper. Da gab es kein Zögern, keinen Zweifel, keine Pause. Alle Geheimtüren seiner Seele sprangen auf, alle Schönheiten, die er aufgespeichert, lagen funkelnd vor seinen Blicken, alle Stimmungen, die er empfunden, strömten aus ihm und hüllten ihn in ihren Duft. Während er noch am ersten Kapitel schrieb, arbeitete einer in ihm am letzten.

Er saß inmitten eines Gartens, Blumen wuchsen vor seinen Augen empor, entfalteten ihre märchenhaften Kelche, aus den Kelchen stiegen Wunder, zerfielen, andere quollen heraus. Flammen stürzten von den Bergen ringsum und hüllten ihn ein, weiße Flammen. Aus ihnen rief es, aus ihnen klang es. Er war das Herz einer Welt, und alles strömte nach ihm.

Das war der Hain, der in der Sonne zitterte, das waren die Blumenbeete, über die die Falten des Windes streiften. Das waren die bunten Vögel, die seltsame Worte sangen.

Das war Li. So schritt Li, so sprang Li, so lachte, so weinte Li. Und das waren Yesters glückstrahlende Augen, das war seine Art, über die Bäche zu fliegen, wenn Li ihm rief, so umschlang, küßte er Li. So waren ihre Sonntage, so ihre keuschen Liebesnächte.

So war ihr Glück, so war das Glück überhaupt, rein von aller Erde.

Er fand kein Ende. Wie eine große Woge trug es ihn dahin.

Wo ist Yester? Yester ist fort. Drei Tage fort. Li weint und läuft umher und ruft in alle Winde. Yester verfolgte einen Falter, den sie gerne gehabt hätte. Endlich schimmert sein Gewand im Hain. Er geht langsam, erschöpft von der Jagd. Den Falter trägt er zwischen den Fingern. Li schwenkt den Schleier und ruft: „Ye—ster — Ye—ster —!!“

Li! Li!!

Und Yester saust wie ein Wind über die Wiese, er spürt keine Müdigkeit mehr.

Bogen um Bogen füllte er.

Und er schrieb immer nur über den ewigen Lenz, der jeden Tag neu und herrlich ist.

Seine Lampe verlosch. Er brannte die Kerze an.

Und nun war er fertig. Er jauchzte. „Fertig!“ jauchzte er.

Noch klang es in ihm weiter. Das war Lis Jubeln, Yesters Rufen, das war der Hufschlag des sonderbaren Reiters, das war das Jubilieren der Vögel, als ihnen ein Kind geboren ward, das war der krächzende Ruf der Geier, die, eine dunkle Wolke, nach dem Menschenlande flogen und riefen: Krieg — Krieg. — —

Er ging ans Fenster und zog die Gardinen auseinander.

Allah ist groß — es war Tag.

Langsam mit wankenden Füßen ging er im Zimmer hin und her. Er blieb vor der Büste stehen und küßte ihre Schulter.

Das war ja keine Sünde. Heute hatte er sich dieses Recht verdient.

Aus Kapellis Atelier erscholl Gesang. Er mußte hinunter, nichts hätte ihn mehr zu halten vermocht. Er konnte keine Sekunde mehr allein sein.

Er nahm Hut und Manuskript und ging die Treppe hinunter. Er hielt sich am Geländer fest, um nicht zu stürzen.

Kapelli empfing ihn, als sei er ein Gespenst.

„Mensch!“ rief er. „Kommen sie als Ihr eigener Gipsabguß?“

Nein, aber diese Nacht habe etwas wie ein kleines Feuerwerk in seinem Kopfe stattgefunden.

„Ah!“ Der Bildhauer betrachtete ihn mit gutmütiger Verachtung. Er liebte Erzesse nicht.

„Gebummelt, Kapelli, gebummelt. Und zuletzt noch ein kleines Abenteuer mit einer Dame, die den reizenden Namen Li hatte.“

Aber da kam Frau Trud, fix und fertig angekleidet bis auf die Schleife, lachend, und frisch, wie aus dem Ei gesprungen.

„Guten Morgen“, sagte Ginstermann, in Sprache und Miene einen Betrunkenen kopierend.

Sie wich erschrocken zurück. „Hu, was hat er denn?“

Kapelli machte ihr ein Zeichen. Dann ging er auf ihn zu und richtete ihn energisch in die Höhe.

„Ginstermann, heute abend kommen Sie zum Tee, nicht? Adieu, Sie schlechter Kerl!“ sagte er halb ärgerlich.

Aber da zog Ginstermann sein Manuskript aus der Tasche und schlug es auf den Tisch, daß es nur so krachte.

„Sehen Sie her! Diese Nacht!“

„Nanu?“ Kapelli betrachtete das Manuskript und sagte lachend: „So ein Filou, er ist ganz nüchtern.“

Frau Trud machte sich daran, die Bogen zu zählen, ungläubig den Kopf schüttelnd. In einer Nacht? Das sei ja unmöglich. Und das könne ja niemand lesen.

Nein, kein Mensch könne das entziffern. Was zum Beispiel das da hieße?

„Schwesterseele, holde!“

O, das könne ebensogut Stiefelknecht heißen. — Und das da?

„Die silbernen Lerchen der Nacht steigen empor.“

Hahahaha.

Da seien die Sterne gemeint.

Hahahaha.

Ginstermann fiel in einen Stuhl, seine Knie zitterten.

Er sah noch wie Frau Trud aus einer weißen Kanne Kaffee einschenkte und während er sich auf das heiße Getränk freute, versank er in einen senkrechten, bodenlosen Schacht, an dessen Wänden er sich vergebens festzuklammern suchte. Das Lachen Frau Truds flatterte über ihm wie ein Schwarm Vögel, der höher und höher stieg.

Nach einem kleinen Jahrtausend hörte er im Halbschlafe eine gedämpfte Stimme. Es war Fräulein von Sacken, die sprach. Sie sagte, er sei hier gewesen und habe das Bild gesehen. Er habe sie beglückwünscht!

Da erwachte er vollständig. Fräulein von Sacken ging eben zur Türe hinaus, elastischer, stolzer denn sonst. Eine Lampe brannte auf dem Tische, Kapelli saß bei der Zeitung, eine dicke Zigarre im Munde, aus der eine mächtige Wolke wirbelte.

Er fand sich auf dem Sofa liegend, die Füße in eine Decke gehüllt, ein Kissen unter dem Kopfe. Ohne Kragen.

Da kam Frau Trud durch die Portiere, machte einen Knix und rief, kindlich lachend: „Guten Morgen, Langschläfer!“

XIII.

Am Tage darauf trafen sie sich wieder, Bianka und Ginstermann.

Sie trafen sich nun beinahe jeden Tag.

Es waren herrliche Sonnentage. Der Vormittag noch frisch von der Kühle der Nacht, der Nachmittag von einer alles durchdringenden Wärme, gerade noch erträglich, der Abend von einer stillstehenden Schwüle, die der Nachtfrische wie ein Block trotzte. Der Himmel wie ein weiches blauflimmerndes Meer, durch das schneeweiße Wolken segelten, langsam, ohne Aufhören, rings um die Erde herum.

Auf den Straßen war es leer, Pflaster und Gebäude warfen die Glut der Sonne verstärkt zurück. Die Menschen gingen ermattet, die Augen zusammengezogen; die Pferde setzten im Halbschlaf ihren müden Trab fort, wunderliche Schattenflecke unter ihren Schritten zerschlagend.

Im Englischen Garten war es schön wie im Paradies. Alles blühte, was noch nicht ausgeblüht hatte, die Wipfel waren von strotzender Fülle, die Wiesen standen am höchsten, bunt wie ein Teppich, übersät von einem Heere Falter und Bienen. Die Hitze tanzte über den Wegen, die hellen Kleider der Frauen und Kinder leuchteten weithin, in der Vorstellung Jauchzen und helle Lieder erweckend.

Bianka und Ginstermann gingen meist vereinsamte Wege. Sie mochten die vielen Leute nicht, die herumtollenden Kinder. Im Schatten der Büsche schritten sie, umsurrt von tausend Insekten, das Schwatzen des Tages in der Ferne. Waren sie müde, so suchten sie eine abgelegene Bank auf, die Ginstermann „Zum schlafenden Brahmanen“ getauft hatte.

Nachdem sie sich ausgesprochen hatten über das, was sie Probleme, Fragen, letzte Dinge nannten, drehten sich ihre Gespräche zumeist um ihre persönlichen Erlebnisse und Wünsche.

Je mehr Ginstermann Bianka kennen lernte, um so mehr bewunderte er sie. Sie war so rein, so keusch, wie ein Weib nur sein kann, das Erziehung und Selbstüberwachung vor unreinen Dingen bewahrte. Ihre krankhafte Scheu vermied es, die Motive der menschlichen Handlungen bis an die Wurzeln zu verfolgen.

Alles verklärte sich in ihren Augen, sie trug noch ein Ideal vom Menschen in sich. Die Menschen waren für sie gefallene Engel, die man bemitleiden müsse, nicht Tiere, die sich zum Menschen emporgerungen. Sie hatte noch wenig erlebt, wünschte auch nicht, viel zu erleben, in der Furcht, ihre Unberührtheit und Selbständigkeit zu gefährden. Sie gehörte nicht zur Klasse der Frauen, die mit ihren Eroberungen großtut, sie schien es sogar unangenehm zu empfinden, wenn einer sie tiefer, als die Höflichkeit es erheischt, grüßte, wenn einer sich nach ihr umwendete oder ihr folgte.

Ihr Urteil war schüchtern, anspruchslos, ihre Verwirrung oft kindlich. Sie maßte sich nicht an, wie es Frauenart ist, mit einer Handbewegung das Resultat einer Kulturarbeit abzuurteilen, mit einem Lächeln zu verspotten.

Ginstermann fühlte sich in ihrer Nähe ruhig, gleichsam geborgen. Er vergaß die Kämpfe der letzten Tage, die Jahre, die hinter ihm lagen. Seiner geistigen Überlegenheit war er sich wohl bewußt, ebenso aber auch seiner seelischen Verstümmelung und Zerrissenheit im Gegensatze zu ihrer Harmonie und zielbewußten Energie.

Bianka schenkte ihm Vertrauen, behandelte ihn mit zurückhaltender Herzlichkeit, wie einen Freund, nahezu wie einen Freund. Ihr Benehmen tat ihm wohl. Es gab ihm seinen Glauben zurück, der da und dort wankend geworden war, ein neuer Stolz kam über ihn. Etwas von ihrem Wesen strömte in ihn über, glühte die Schlacke in ihm aus, er wurde rein, indem er Biankas Freundschaft genoß.

Seine Anschauungen festeten sich, nachdem er den Maßstab reguliert hatte, der sich während seiner Einsiedlerzeit verzerrte. Es war wunderbar, zuweilen hatte er Augenblicke, die ihm alle Dinge in momentaner Bewegungslosigkeit zeigten, bis ins Innerste und Geheimste erkennbar. Und es hatte nur dieses kleinen Anstoßes bedurft. Gleichsam wie ein Gefäß eisigen Wassers, das schon die Kristalle birgt, ein unmerkliches Rütteln zur Erstarrung bringt.

Ihr Benehmen war Tag für Tag das gleiche. Sie empfing ihn freundlich, entließ ihn mit einem freundlichen Wort, führte kleine Wortkriege mit ihm in ganz objektivem Tone, lachte und scherzte. Nie, daß sie ihn durch eine Bemerkung, eine Miene von sich gedrängt hätte, nie, daß eine Laune, ein Verletzttun in ihm die Ahnung hätte aufkeimen lassen, daß er Macht über sie besitze.

Er bewegte sich in stets gleichem Abstande um sie. Es war, als habe sie einen Kreis um sich gezogen, den sie im Verkehr mit ihm nie überschritt und nie überschreiten ließ.

Einmal allerdings ereignete sich etwas, das diese seine Anschauung für Minuten ins Wanken brachte.

Sie promenierten im Park, Weg hin, Weg her, als sie einer kleinen schmalen Frau begegneten, die ein niedliches Mädchen in blendend weißem Kleide an der Hand führte. Die kleine, mädchenhafte Frau blickte sie erschrocken, ja entsetzt an mit blauen, blindglänzenden Augen und wandte nicht den Blick von ihnen. Das Mädchen streckte glucksend und lallend die Hände nach Ginstermann aus. Es war die Comptoiristin, die Witwe des Möbelzeichners.

Ginstermann grüßte und ging, von einer Erregung gepackt, weiter. Da fühlte er den Blick Biankas auf sich gerichtet. Sie war totenbleich, und ihre Augen verrieten Schmerz und Angst. Aber nur einen Augenblick, dann beherrschte sie sich. Und als Ginstermann ihr die Geschichte dieses unglücklichen Weibes erzählt hatte, ergriff sie impulsiv seine Hand und sagte: „Verzeihen Sie mir, ich habe Sie in Gedanken beleidigt.“ —

In seinen freien Stunden trieb sich Ginstermann ruhelos umher, Bianka vor Augen, in Bianka lebend. Nahte die Zeit ihrer Zusammenkunft heran, so wurde er ruhiger, trennte er sich von ihr, so krochen aus allen Winkeln seiner Wesenheit die alten Gespenster hervor, um ihn zu martern.

Einst war Bianka verhindert zu kommen. Das war ein schlimmer Tag, das war ein schlimmer Tag! Und das Billett, das er am nächsten Morgen erhielt, bedeckte er mit Tränen der Freude.

Aber natürlich, wenn Sie Besuch haben, natürlich! — rief er immerzu aus.

Da war ein Mann, der schlich des Nachts scheu wie ein Verbrecher zu einem Hause da draußen. Wie auf einer Woge von Blüten thronte es. Und er koste die Klinke der Türe. Niemand darf es wissen, niemand!

Da war ein Mann, der saß Nächte durch auf einem Hügel, drei Stunden entfernt von der Stadt. Und dieser Mann sprach: Dort über den Bergen bist Du nun, Geliebte! Meine Gedanken wandern zu dir über die Berge. Meine Seele breitet die Schwingen, siehe, in ihren hohlen Händen ist Blut, Geliebte! Das ist das Blut meines Herzens, Geliebte. Schläfst du? Hast du auf sie gewartet mit der bittren Last? Wachst du, Geliebte? Da, zwischen dir und mir, da ist eine Wiese, dort begegnen wir uns des Nachts und bringen einander Sehnen und Tränen des Tages, Geliebte —

Niemand darf es wissen, niemand!

Da ist ein Mann, der sitzt auf einer einsamen Bank im Park. Ein Vogel flötet im Gebüsch. Und dieser Mann spricht mit jemandem, der nicht da ist. Du hättest es sehen müssen, Beste, sahst du’s mir nicht an den Augen an. O, was fieberte ich, nun ist es vorbei, Beste, nun ist ja alles gut.

Niemand darf es wissen, niemand! —

Zuweilen jedoch überfiel ihn ein Zustand vollkommenster Gleichgültigkeit.

Es kam ihm unsinnig vor, daß er jenes Mädchen im Englischen Garten spazieren führte, daß er sich überhaupt durch sie aus dem Gleichgewichte hatte bringen lassen. Weshalb liebst du sie eigentlich, fragte er sich. Sie ist hübsch, ihre Sprache ist melodisch, ihr Gang ist aristokratisch, das alles hat dich bestochen. Ihre weißen Elfenbeinhände mit. Aber ist sie auch die, die du in ihr anbetest? Ist es nicht das Ideal des Weibes überhaupt, das du dir gebildet hast, was du in ihr anbetest? Sie ist es gar nicht. Deine Liebe gilt ihr gar nicht. Vielleicht einer in Australien, irgendwo. Und das, was du rein an ihr nennst, keusch, was ist das eigentlich? Es ist Indolenz, sonst nichts. Oder was sollte es sonst sein? Mit Fischblut in den Adern hat man es leicht, sich rein zu halten, mein Freund. Und dieses hübsche, elegante Mädchen hat dich bezwungen? Was bist du nun? Du bist zum Objekt geworden, o, Schmach über dich! Groß warst du einst und ein Herrlicher in deiner Einsamkeit. Lache doch über dich, wenn du nicht ehrlich genug bist, um über dich zu weinen. Was war dein Ziel? Herrschen will ich und sie alle zu meinen Füßen wissen. O, mein Held, mein tapfrer, kühner Held! Heil dir! —

So dachte er auch einst, als er neben Bianka ging. Und diese Anschauung gab ihm ein Lachen, ein kurzes höhnisches Lachen. Da zuckte sie zusammen. Er war unglücklich, ihr wehe getan zu haben und maskierte sein Benehmen so gut als es ging. —

Diese Stimmungen waren nur von kurzer Dauer. Dann überfiel ihn wieder jene namenlose Sehnsucht und Qual, die wie lohende Flammen über ihm zusammenschlug und ihn verbrannte.

Er bat sie um etwas Liebe, nur etwas Liebe sollte sie ihm geben, für all seine Glut nur einen kleinen winzigen Tropfen.

Keinen winzigen Tropfen? Keinen winzigen Tropfen?

Es war hart für einen Mann seines Stolzes, so demütig zu lieben!

Wieder und wieder träumte er von einem Glücke, das nie werden würde. Sie lebten in einem Hause abseits der Straße. Er kannte es ganz genau, dieses Haus, das Gärtchen davor, alles. O, in diesem Hause lebten glückliche Leute. Alle nichtssagenden Details, alle harmlosen Kleinigkeiten eines Lebens zu zweien durchlebte er. Er lag des Nachts neben ihr auf dem Lager und koste sachte die Haare der Schlafenden. Er schlich sich fort, um Mohn zu holen, den sie so sehr liebte, und legte ihn ihr auf die Decke, damit sie ihn beim Erwachen finde. Er löste ihr die Schuhe und küßte in Demut ihren Fuß. Er saß mit ihr auf dem Rasen und las vor, was er geschrieben hatte.

So oft es anging, versuchte er Fräulein Scholl zu treffen. Sie hatte dreimal in der Woche Violinstunde, das war sehr günstig. Er wartete auf sie, schwätzte mit ihr, ausschließlich von dem Verlangen beseelt, irgend etwas von Bianka zu hören, einige Worte sprechen zu können über sie, ihren Namen von den Lippen der Freundin zu vernehmen.

Einmal traf er im Hausflur ein Kind, ein Mädchen, schmächtig, zart, mit blonden Haaren und klaren Augen, die denen Biankas glichen.

„Wie heißt Du?“ fragte er die Kleine, bemüht, sie für sich zu stimmen.

„Camilla.“

Könntest du nicht Bianka sein, dachte er. Bianka ein Kind und ich ein Kind, und wir beide Gespielen. Unsere Gärten, die stießen zusammen und im Zaun da wäre ein Loch. Wir schlüpften hin und her, zwitscherten zusammen wie Vögelein.

Und dann — und dann — —

Weshalb war das Leben so grausam, so geizig mit seinen Freuden, so karg. All das dachte er, während er bei dem Kinde kniete.

„Nun wollen wir uns etwas kaufen“, sagte er zu ihm und lächelte. „Komm!“

Dieses Kind liebte er. Weil es Biankas klare Augen hatte, Augen ohne Grund, von einer Tiefe, aus der es flüsterte, die alles in sich hineinzog.

Camilla wohnte in seinem Hause, das war gut. Er schmeichelte sich mit Süßigkeiten und Märchen ein bei dem Kinde, so daß es schließlich von selbst auf sein Zimmer kam.

Sie nannte ihn „Onkel Ginster“.

„Ich heiße Henri“, sagte er zu ihr. „Du sollst Henri sagen. Du sollst auch du zu mir sagen, ganz als ob ich ein kleiner Bub wäre.“

„Ari“, sagte sie.

„So sage Heiner. Ich heiße auch Heiner.“

„Heiner, ach ja, Heiner!“

Stundenlang hielt er die Kleine auf dem Schoß, dieses zarte, warme Körperchen an sich schmiegend. Er erzählte immerzu Geschichten.

Das waren ganz einfache, drollige Kindergeschichten, aber für einen, der sie verstand, waren sie mehr, weit mehr.

Er küßte die Kleine. „Du bist ein Dieb!“ rief es in ihm. Aber er küßte sie doch. Einmal in der Dämmerung, als er in Träumen versunken war, sprach er vor sich hin, jedes Wort stellte sich von selbst ein: „Beide Hände wollte ich gierig voller Edelsteine halten und alle rieselten sie mir durch die Finger. Du als der schönste bist mir geblieben. Kind, Kind, wenn du wüßtest, wie ich deine Mutter liebte — Kind —“

Da wurde er sich der Worte bewußt, er sprang auf und stellte Camilla hart auf den Boden.

„Bist du böse, Heiner?“

Er lächelte. „Nein, Süße, Heiner ist nicht böse — Heiner ist — Heiner ist — o, geh heute, Schätzlein — morgen, gelt. Heiner ist heute — geh, Schätzlein“ — —

Bianka ahnte von all dem nichts. Wie sollte sie auch? In ihrer Nähe war er ruhig, beherrscht. Und gesprochen hatte er noch keine Silbe, woraus sie es hätte entnehmen können.

Er gehörte zur Klasse jener Menschen, die innerlich verbluten und doch lächelnd sagen: ich verspüre nichts.

Er erinnerte sich daran, daß er als Knabe am längsten seinen Finger über eine brennende Kerze gehalten, wenn sie „Spartaner“ spielten, oder daß er jeden im „indischen Duell“, wie sie die Austragung ihrer Ehrenhändel nannten, besiegte, weil keiner drei Tropfen glühenden Siegellacks ohne Zucken der Hand ertrug.

Er wußte, er würde schweigen und wenn er sich die Energie an den Gehirnwänden abschaben müßte.

Er hatte nicht das Recht, ihr von seiner Liebe zu reden, weil er nicht mehr rein war.

Diese fortwährenden Seelenkämpfe drückten seinem Gesicht ihre Spuren auf. Er war bleich, um seinen Mund zuckte ein krampfhaft schmerzliches Lächeln. Seine Augen waren größer geworden — so schien es ihm — ein düsteres Feuer brannte auf ihrem Grunde. Sah er sich im Spiegel, so war es ihm, als blicke ihn ein Fremder an, einer, der unheimliche Dinge in seinen Augen hatte.

Die Menschen mit den heißen Herzen, schrieb er in sein Tagebuch, sind nicht gut daran. Alle Menschen wollen sie lieben und von allen Menschen geliebt werden. Wer aber liebt sie?

XIV.

Eines Nachmittags, gegen sechs Uhr, empfing Ginstermann den Besuch einer Dame, die er schon irgendwo gesehen hatte.

Sie trug ein Kleid von weißer durchsichtiger Seide mit kleinen rosa Röschen darauf, einen goldenen Gürtel, einen hellen Hut mit kleinen rosa Röschen, sie trug einen Schleier.

Ginstermann stand auf und sein Herz pochte, daß er es fühlte.

Er hatte ganz in Gedanken herein gesagt, und nun trat eine Dame ein in weißem Seidenkleid mit kleinen rosa Röschen darauf, und goldenem Gürtel, eine Dame, die er kannte. Ihre Haare waren so sonderbar weißblond, wie Stroh, das lange in der Sonne gelegen hat.

Die Dame stand schweigend an der Türe und hob mit zierlicher Handbewegung den Schleier. Da erkannte er sie mit den Augen, er hatte seinem Herzen nicht glauben wollen.

Er stand wie gelähmt. Seine Augen waren ohne Blick, als zerflössen sie.

Die Dame trat auf ihn zu und gab ihm die Hand. Ohne jeden Willen hatte er ihr die Hand gegeben, ohne Druck.

„Mein Gott, Henri!“ sagte sie bewegt, verwirrt, nahezu wie er selbst.

Sie hatte noch dieselbe Stimme.

Und er entgegnete: „Guten Tag, gnädige Frau.“

Sie lächelte voller Scham, voller Verwirrung und sah sich nach einem Stuhle um, ihre Erregung zu verbergen.

„Bitte“, sagte Ginstermann und schob ihr seinen Arbeitssessel hin.

Sie nahm Platz, setzte den linken Fuß über den rechten, dann den rechten auf die Fußspitze des linken und bewegte ihn leicht hin und her. Ihre Hände strichen über die Lehnenrundung des Sessels, immer auf und ab.

Nach geraumer Zeit sagte sie, ganz leise: „Ich habe dich gesucht, überall gesucht, aber ich fand dich nirgends. Du warst wie von der Erde verschwunden.“

Er saß ihr gegenüber und lächelte erstarrt. Sie bemerkte es nicht, sie sah zu Boden, dem Spiel ihres Fußes zu.

„Dann las ich von dir und hörte, du seist Dichter geworden. Ich wußte es ja damals schon, daß du ein Dichter bist.“

Sie blickte auf, zu ihm hin, voll Vertrauen auf die Wirkung ihrer letzten Worte. Sie war schön, ihre blaßgrauen Augen tief, erfüllt von verborgener Leidenschaft. Hellbraune Pünktchen schwebten darin wie gefangene Luftbläschen.

„Du wirst mich verurteilen, Henri, ich weiß es. Aber ich versichere dich — glaube es mir — ich konnte damals nicht anders handeln. Glaube es mir. Ich erzähle dir einmal alles. Ich hatte Sehnsucht, Sehnsucht, dich wiederzusehen, ich hatte auch den Mut dazu. Ich bin da, siehst du. Es steht bei dir, ob du meinen Besuch erwidern willst oder nicht. — Ich wohne in Starnberg. Mein Gatte ist gestorben, verunglückt bei einer Segelpartie in Nizza —.“

„Nizza“, sagte ein Echo in Ginstermann.

„Ich wohne in Starnberg. — Willst du nichts sprechen? Wie ging es dir denn?“

„Danke, es ging.“

„Vielleicht bin ich dir noch soviel, daß du mich Freundin nennen kannst, Henri?“

Ginstermann stand auf und sagte, ebenso leise wie sie, ebenso kühl, als sie herzlich sprach: „Nein, gnädige Frau.“

Die Dame erhob sich und blickte ihn an. Ihre hellgrauen Augen überzog ein Schleier.

„Glaube es mir, ich konnte damals nicht anders. Mein Gatte — du sollst alles hören. Ich hatte so große, große Sehnsucht nach dir — — willst du mir nicht die Hand geben, Henri?“

„Doch, gnädige Frau. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.“

„Willst du mich nicht anders nennen. Hast du meinen Namen vergessen?“

„Ja, gnädige Frau.“

„Adieu, Henri. Ich sage trotzdem Henri zu dir.“

Ginstermann zog ein Schubfach auf und nahm ein Kuvert heraus.

„Ich habe Ihnen dieses Kuvert zurückzugeben, danke.“

Sie sagte: „O“, blickte ihn zusammenzuckend an und nahm das Kuvert. „Besuche mich doch“, bat sie wieder, „nur einmal, einen Augenblick! Als — Feind, wenn du willst. Du weißt ja nicht, was die Liebe ist.“

Nein, er wußte nicht, was die Liebe ist.

Sie stand eine Weile, ließ das Kuvert in den Sessel gleiten und wandte sich zur Türe. Da fiel ihr Blick auf Biankas Büste, wie ein Blitz, so kurz zuckte er darüber.

Ginstermann nahm abermals das Kuvert und sagte: „Sie haben dies vergessen, gnädige Frau.“

Sie nahm es, zerknüllte es langsam, dann wandte sie sich nochmals um. Sie lächelte.

„Vielleicht besuchst du mich doch einmal, Henri?“ sagte sie. Sie wollte ihm ihre Niederlage nicht eingestehen.

Ihr Antlitz war weiß wie ihr Kleid, und die rosa Röschen darauf schienen röter zu sein.

Sie ging.

Langsam glitt ihr Schritt die Treppe hinab. —

Ginstermann goß sich ein Glas Wasser ein und trank es auf einen Zug hinunter. Das Glas stellte er auf einen Stuhl, da es zum Tisch zu weit war.

Er kauerte sich auf die Ottomane und blieb sitzen bis es dunkel wurde.


An der Decke entstand ein gelber trüber Fleck, den eine Petroleumlampe aus dem Küchenfenster gegenüber hereinwarf. Es war furchtbar still. In der Ferne wurde mit Bestecken geklappert. Ein Wagen rasselte auf der Straße. Dann war es wieder still, furchtbar still. Der schmutziggelbe Flecken an der Decke schwankte, glitt zum Fenster hinaus, erschien wieder an einer anderen Stelle.

Ginstermann saß immer noch auf der Ottomane.

Die Stille spannte sich über ihn wie eine Glocke von Glas.

Ein Pfiff schrillte und lief gleich einem Risse über diese Glocke. Schritte kamen, die Huppe eines Automobils ertönte, und Surren erschütterte die Luft. Fräulein von Sacken rief draußen über das Geländer, und eine Menge schwatzender, lachender Damen trampelte die Treppe herauf.

Ginstermann stand auf und machte Licht.

Nun war es überwunden.

Er zog das unterste Fach seiner Kommode auf und kramte darin. Bündel von Zeitschriften Manuskripten, Briefen warf er auf den Boden. Ein Päckchen Briefe in dunkelroten Enveloppen trug er an den Tisch. Sie waren abgenutzt vom vielen Herumtragen und die Schrift verwischt vom Regen.

Diese Briefe las einer vor Jahren jeden Morgen und jeden Abend. Diese Briefe waren einst für einen das, was Gebete für Leute sind, die die Verzweiflung beschwören.

Er nahm den obersten und hielt ihn über die Lampe. Das Papier begann zu kohlen, zu knistern, eine kleine blaue Flamme sprang von oben herab und fraß sich am Rande wie eine feurige Schlange entlang. Das Kuvert bog sich auf und der glühende Saum kroch auf die Anrede: mon petit coeur zu, verschlang sie, und gleichsam als ihr Gespenst tauchten die Worte in bronzegrüner Tinte auf der dunklen Asche auf.

Er warf den Brief in den Ofen und die anderen dazu. Verbaffende Rauchwolken quollen aus den Fugen, die Flamme brauste auf und nun bog sich ein Stück Pappe in der Glut hin und her. Das Bildnis einer Frau tauchte einen Moment auf, neigte sich vor und zurück wie in entsetzlicher Qual und stürzte endlich als weiße Asche in das Häufchen Glut, das aussah wie ein klippiges, winziges Gebirge, das in der Sonne glüht.

Ginstermann stand, den roten Widerschein der Glut in den Augen, und lächelte.

Nun war es überwunden.

Er holte jene Päcke Manuskripte und Zeitschriften herbei und warf sie in die verglimmende Asche. Ein Fanatismus, alles zu zerstören, was ihn an seine früheren Jahre erinnerte, erfaßte ihn.

Hier und da warf er einen Blick in die Blätter. Es waren die Aufzeichnungen eines verbitterten, höhnischen Menschen, dessen Seele ein Erlebnis zerstört hatte. Ungeheure Zynismen, Verwünschungen, Flüche.

Da war auch ein Kapitel über das Weib darunter. Ginstermann lachte, als er es überflog, er las es nicht zu Ende.

Der wüste Lärm von Kneipen, das Lachen eines Wahnsinnigen, der Geruch von Branntwein, das Gekreische von Dirnen stieg aus diesen Blättern.

Er las all das nicht ohne jenen Schrecken, den einer empfindet, der einer Gefahr entronnen ist, in der er ohne sein Wissen schwebte.

Sein Blick fiel auf ein Blatt, das die Überschrift trug: Der letzte Stern.

Es war eine eigentümliche Geschichte. Sie lautete:

Eines Morgens fanden die Leute bei ihrem Erwachen die ganze Erde mit Sternen bedeckt. Alle Sterne waren des Nachts vom Himmel gefallen. Sie erschraken gewaltig und blickten bleich und höhnisch zu gleicher Zeit auf die Propheten, die sie gelehrt hatten, die Sterne anzubeten. Haha! schrien sie, die Sterne sind heruntergekommen diese Nacht!

Einige Vorwitzige hatten sich aufs Feld gemacht und sich den Sternen genähert. Kommt! schrien sie, kommt! Und sie wälzten sich vor Lachen.

O, ihr Lügner von Propheten, ihr Diebe von Propheten, so seht doch, seht doch — hahaha! Das also sind eure heiligen Sterne, das!

Und sie spien den Propheten ins Gesicht.

Das nämlich hatte sich herausgestellt: Die Sterne waren Pappe, bronzierte Pappe, nichts als bronzierte Pappe.

Hahaha, ihr Hunde! Seht ihr, Pappe, bronzierte Pappe!

Den ganzen Tag zeterten und höhnten sie. Die Sterne schlugen sie in Fetzen, dieselben Sterne, vor denen sie früher die Stirnen beugten.

Die Propheten standen gesenkten Hauptes, das Gesicht trauernd und grübelnd in die langen Bärte gedrückt. Gegen Abend begannen sie, den andern bei der Zerstörung der Sterne zu helfen, dieser Sterne aus bronzierter Pappe.

Bis auf einen, einen alten, ganz alten mit schneeweißen Haaren. Der stand wie aus Stein.

Es wurde Nacht. Da geriet der Greis in Verzückung und deutete gen Osten. „Seht!“ rief er, „seht!“

Alle sahen hin. Es war ein Wunder. Dort oben blinkte ein Stern, ein winziger Stern mit grünem Lichte.

Hoho, schrien sie, hoho?

„Seht! Seht!“

Sie aber schüttelten die Köpfe und lachten. „O, du eisgrauer Narr“, höhnten sie, „du hast den Verstand eines neugeborenen Kalbes! Begreifst du — ha! Alle Sterne waren nichts als bronzierte Pappe, so wird auch dieser bronzierte Pappe sein!“

„Weshalb fiel er nicht? Seht ihr nicht, wie er leuchtet und sprüht! Der ist aus reinstem Golde!“

„Alle Sterne — siehst du nicht — Narr! Bronzierte Pappe! — O, Narr, uns betrügst du kein zweites Mal!“

„Weshalb aber fiel er nicht?“ Und der Greis deutete mit erhabenem Triumphe zu dem letzten Stern empor.

Da gab es einige wenige, die zu lachen aufhörten — — —

Dieses Blatt wanderte nicht in die Flammen.

Die Papiere hatten eine starke Hitze verursacht. Ein dichter Qualm zog die Decke entlang und wirbelte lustig zum Fenster hinaus. Er hatte alle Mücken, die an der Decke gesessen, in Aufregung versetzt, und sie summten wie verrückt umher.

Ginstermann saß und blickte in die Glut. Er lächelte. Seine Irrjahre waren vorbei, da drinnen sanken sie in Asche. Nichts verband ihn mehr mit ihnen. Er fühlte, daß sich seine Seele erneuert hatte.

Lange saß er bis alles kalt und tot war da drinnen. — —

Wenn aber die Vergangenheit vergangen ist, Bianka? flüsterte er . . .

XV.

Die Würfel sind gefallen.

Alles ist verloren. —

Bianka lächelt und sagt: „Es war sehr töricht von mir. Wie hübsch hätten wir den Nachmittag bei mir verplaudern können.“

Ginstermann entgegnet: „Aber bitte. Nein, das wäre zuviel der Liebenswürdigkeit gewesen. Sie waren ohnedies so gütig gegen mich.“

Er verbeugt sich einigemal und lächelt. Er verbeugt sich linkisch und lächelt erstarrt. Da sind einige Muskeln um seinen Mund, die sich verzerrt haben.

Bianka merkt das nicht. Sie sieht nicht, daß seine Augen wie ausgetrocknet sind, seine Haare vom Schweiße an die Stirne kleben, daß er bleich ist wie eine Wand.

Es ist gut, daß es dämmert.

Sie stehen wieder in dem Vorgärtchen vor der dunklen schweren Türe und morgen geht die Reise. Adieu! Morgen geht die Reise. Um 11 Uhr.

Ein Mann muß sich beherrschen können, er muß stehen, bis er tot hinschlägt. War er nicht ein ganzer Kerl, ein ganzer Kerl! Das Messer war ihm bis ans Heft ins Herz gefahren, mitten ins Herz und er hatte nicht gezuckt. Er hatte gelächelt und geplaudert, als habe sie ihm etwas Schönes geschenkt. Sie sollte nicht wissen, daß sie ihn heute nachmittag getötet hatte.

Jetzt sei es allerdings zu spät. Es gäbe auch noch eine Menge Besorgungen für die Reise.

Aber selbstverständlich. Wann sie fahre?

Sie lächelt, da er schon einigemal gefragt hat, und erwidert: „Um ½11. In Bellinzona machen wir die erste Station. Mamas halber.“

Sie sieht an den Fenstern hinauf, eine unbegreiflich lange Zeit, dann tritt sie näher und blickt ihn an. Noch einmal schwebt dieses zarte, rätselhafte Antlitz vor ihm, und diese klaren graugrünen Augen locken zum letzten Mal tote Wünsche.

Aber sie bleiben tot, nicht einer regt sich mehr.

„Sie werden mir doch dann und wann schreiben, Herr Ginstermann?“

„O gewiß, wenn sie es erlauben. Ein paar Zeilen —“

„Erinnern Sie sich stets daran, daß Sie da unten im Süden eine Freundin haben, die Ihnen für alle Zeiten und Fälle eine Freundin sein möchte, wollen Sie das?“

Er dankt ihr, indem er sich verbeugt.

Er werde sich stets daran errinnern. Für alle Zeiten. Er danke ihr, ja er danke ihr tausendmal für all ihre Güte. Er wisse, daß auch Sie sich oft an den herrlichen Sommer errinnern werde.

Fließend, ohne einen Fehler in der Betonung, spricht er. Es ist ihm, als sei da ein Zweiter neben ihm, dem er voll Bewunderung und Erstaunen zuhöre.

Dann schüttelt sie ihm die Hand.

„Adieu. Morgen um ½11, bestimmt! Am Bahnhof. Adieu. ½11 Uhr, nicht? Adieu!“

Das sagt sie leicht hin, etwas hastig und steigt die Treppen hinauf.

Ginstermann wendet sich augenblicklich und geht zur Gartentüre hinaus. Er geht stolz und aufgerichtet. Der Wind wirft ihm boshaft lachend eine Hand voll Staub ins Gesicht.

Da ruft sie ihn nochmals. Sie steht auf der obersten Treppe, mit einer Geste als wolle sie herabsteigen, um ihm noch etwas zu sagen. Aber sie steigt nicht herab, sie spricht nichts, sie hebt nur die Hand, um zu winken. Aber sie winkt auch nicht.

„Adieu, Fräulein Schuhmacher!“

Die Türe fällt ins Schloß, mit jenem eigentümlichen, dumpfen Laut einer Türe, die sich für immer geschlossen hat. Er sieht sie noch da oben stehen, die Hand erhoben. Und nun sieht er nur noch die Hand.

Er sieht die Türe an und lächelt, er blickt am Haus entlang und lächelt.

Dann geht er. —

Die Sache Henri Ginstermann — Bianka Schuhmacher ist erledigt: Ginstermann ist geschlagen!

Nun war es vorbei.

Ein tränenloses Schluchzen erschütterte seine Brust und gleichzeitig lachte er.

Weshalb ereignete sich nichts? Weshalb fiel kein Haus ein, kam nicht ein Stück vom Himmel da droben herunter?

Aber er hatte es ja nicht anders verdient. Nein, wenn er einem Menschen einen Vorwurf machen konnte, so war er dieser Mensch selbst. Weshalb war er so verblendet gewesen, abermals an einen Menschen zu glauben? Sein Herz einem jungen Mädchen zu Füßen zu legen, das achtlos und blind darüber hinwegschritt? Noch immer war er jener Tor, der sein Herz auf den Händen durch die Straßen trug und die Leute fragte, ob sie es nicht haben wollten, da es zu schwer von Liebe sei für ihn. Er hatte es als Kind seinen Eltern schenken wollen, sie hatten es nicht angenommen, er hatte es später Frauen und Freunden schenken wollen, sie hatten es verspottet und mißhandelt, und wieder, wieder —? O, er war ein Tor! Die Menschen waren zersprungene Geigen, die keinen Ton mehr gaben, die Menschen waren zu arm an Liebe, um einen Hund damit ernähren zu können. Die Menschen waren ein Pack von Krämern, Kirchgängern, Wucherern, Handwerkern und Barbaren. Aber die Menschen waren keine Menschen. Diesen Titel hatten sie einigen Großen gestohlen und sich umgehängt wie einen Orden.

Das war ja des Hades Maskengarderobe, was da ging und stieg und sich brüstete nach Pfauenart, Ekel verbreitend und üblen Geruch. Als geputzte Bälge kamen sie daher, stupid und leer ihre Augen, aus denen ihr Magen blickte.

Er spie aus, er spie ihnen seine ganze Verachtung vor die Füße.

Hoho! Einer der Leichname fand diese Grabrede für zu bündig. Wohl Psalme, du Schuft?

Ginstermann erwiderte kein Wort. Er stand still, die Fäuste in den Rocktaschen und maß ihn mit messerscharfen Blicken, den Kopf kampfbereit gesenkt. Ein ganzer Kreis von Leuten bildete sich um ihn. Einen nach dem andern fixierte er und einer nach dem andern stahl sich fort.

Sie hatten alle Angst, diese Feiglinge. Es war sonderbar, niemand lächelte, niemand erwiderte eine Silbe. Diese Leute hatten Furcht vor ihm. Es war eine Wonne, seine Macht zu fühlen.

„Wäre doch wenigstens noch etwas vom Kain, vom Tiger in euch!“ sagte er, verächtlich die Lippen zuckend.

Er wandte sich voller Abscheu und ging. Mit herausfordernden Blicken, den Kopf scharf nach jedem wendend, der ihn anblickte, schritt er die Straße entlang. Einigemal blieb er stehen, lachte, hustete, um einen Kampf zu provozieren.

Sie hatten Angst, alle. So ein feiges Gesindel waren diese Kreaturen!

Der Wind blies ihm entgegen in heftigen Stößen, mit seinen riesigen Fittigen bald die Straße fegend, bald die Wipfel der Pappeln beugend. Die Straße herauf flogen Karossen in Wirbeln von Staub, eine hinter der anderen. Kamen sie aber vorbei, so waren gar keine Karossen darin, nur der Wind. Der sprang lachend heraus. Plötzlich war das Trottoir mit schwarzen Sternchen übersät und eine dunkle Wolke senkte sich bis nahe an den Erdboden herab, Finsternis verbreitend. Der Wind stand, ein jammerndes Gespenst, in wirbelnde Lappen gehüllt, inmitten der Straße und drehte sich im Kreise. Durch eine Wolke von Staub hindurch sah man Leute, die betend die beiden Hände gen Himmel streckten. Die Häuser wankten, die Wagen neigten sich, die Erde drehte sich schneller unter den Füßen — da erhielt sie einen Stoß und stand still, die Leute taumelten.

Ginstermann spürte einen heftigen Schmerz an der linken Schläfe. Er war gegen eine Staffel gefallen. Er wollte sich erheben, aber es ging nicht. Ein paar Leute standen um ihn herum, die Augenbrauen in die Höhe gezogen. Ein Student, die Mensurmütze über dem glatten Schädel, näselte ein lateinisches Wort.

Da stand Ginstermann augenblicklich auf und ging weiter. Seine Füße waren wie mit Blei ausgegossen. Um ihn rauschte es, es regnete.

Seine Schläfe schmerzte, in die Augenbraue sickerte es.

„So geht es, wenn man sich aufregt, mein Freund“, sagte er zu sich und lächelte, als wolle er einem hübschen Mädchen gefallen.

Die Häuser standen wieder aufrecht, die Leute hörten auf zu tanzen und zu taumeln.

Er bog links ab und ging in den Englischen Garten.

Das aufziehende Regenwetter hatte die Leute vertrieben. Der Park lag still und traurig, die Bäume verschleiert, als erwarte er einen Leichenzug. Man betrat ihn nicht ohne Bangen und Grauen.

Ginstermann blieb stehen und lauschte. Unzählige Spechte klopften an den Bäumen. Endlich entdeckte er, daß es das pochende Blut in seinen Ohren war. Die Baumgruppen erschienen ihm wie zusammengeduckte Ungeheuer, denen einer, der das nicht bemerkte, unfehlbar in den Rachen lief. Aber er war nicht so töricht. Im übrigen wußte er auch recht gut, daß es ganz gewöhnliche Bäume waren, nichts weiter. Dort oben stand der Monopteros.

Sonnentempel, Tempel der Seligkeit! Haha!

Er sah aus wie die Arbeit eines Zuckerbäckers, die nun im Regen elend zerweichen mußte.

Hahaha, gerade so. Er war Teig, weicher Teig war er.

Er blieb stehen.

„Zur Sache“, sprach er, „wir wollen es kurz machen. Hier war es, gerade hier.“ Oder war es nicht hier? Er mußte — wo war es? Er mußte — bei allen Heiligen — doch die Stelle finden, wo er begraben lag! Haha, das wäre noch hübscher! Zur Ruhe, zur Ordnung! Was hatte sie gesagt? Ein Dutzend Worte. Hier war es angegangen, also mußte es hier neben diesem kleinen Bäumchen sein.

Er kniete nieder und machte ein winziges Kreuz in den Sand.

„Henri Ginstermann, gestorben am Herzeleid. Bete ein Vaterunser, o Christ!“

Aber vielleicht war es doch nicht hier? War das nicht dumm, nicht dumm, messieurs? Man mußte ins reine kommen.

Er lief den Weg hinab und setzte sich auf eine Bank. Dann stand er auf und sagte: „Sie haben recht, die Sonne sticht hier unerträglich. Man sitzt wie im Brennpunkt einer Lupe.“ Langsam schritt er, als ginge er neben Bianka einher.

Ah, nun wußte er alles, jede Einzelheit. Hier ging Bianka, hier er. Ihre Schatten liefen wie folgsame Pudel links von ihnen.

Er wußte alles ganz genau. Plötzlich war eine Jalousie in seinem Kopfe in die Höhe gegangen.

Sie sprachen von der Reise, sie sprachen von der Reise. Und sie sprachen auch vom mutmaßlichen Wetter. Jawohl. Und sie sprachen auch davon, wie schön der Sommer gewesen wäre. Auch vom Sommer. Gut. Reise, Wetter, Sommer. Gut. Es stimmt. Bianka — ja, nun kam es. Wie kamen sie nur darauf? Ach, richtig, sie sprachen ja vom Sommer. Wie schön er gewesen wäre. Bianka — nur Vorsicht — bis zu dem Büschel Löwenzahn dort ungefähr von der Reise, bis zur Wegkreuzung vom Sommer, wie schön er gewesen wäre — von hier an — jawohl. Alles in Ordnung. Hier ging ein alter Herr mit einem glatten Elfenbeinknopf am Spazierstock an ihnen vorüber, so daß er näher zu Bianka hinüber mußte. Bianka spielte mit den Quasten ihres Sonnenschirmes, und er bemerkte, daß die Naht des Handschuhes am Ballen etwas geplatzt war. Haha, er entsann sich sogar auf Dinge, die er kaum recht beobachtet hatte. Und Bianka sagte:

„Eigentlich ist es doch recht selten —“ Oder begann sie nicht so? Es war da etwas wie ein helles A am Anfang ihres Satz es. „Das passiert nicht oft, daß man einem Menschen begegnet. Mir passierte es sehr selten. Und deshalb freut es mich, daß ich Sie kennen gelernt habe.“ Nun blieb sie stehen, sah ihn an und fuhr fort, indem sie lächelte: „Wie sonderbar es begann, da im Theater, da bei Kapelli, nicht? Und dieser Sommer — es war alles hübsch.“ Sie stockte, besann sich, ging weiter.

Er entgegnete nichts darauf. Von einer freudigen Ahnung durchschauert, wartete er auf das, was sie nun sprechen würde. Sie hatte gleichgültig gesprochen, wie einer, der etwas Besonderes folgen lassen wird. Es war wie eine Einleitung und hinter ihrem letzten Wort stand etwas wie ein großer Doppelpunkt.

Nun wird sie es sagen, dachte er und es flimmerte ihm vor den Augen vor Erregung.

Aber sie setzte ihre Rede nicht fort. Sie schwieg.

Er wartete noch immer, noch immer. Da begann sie über Nizza zu sprechen.

Sie sprach nichts weiter, nichts sonst, keine Silbe. „Es war hübsch, hörst du, Ginstermann? — hübsch war es.“

Und hier war es, hier.

O, es war in der Tat hübsch, außerordentlich hübsch. Sie können sich nicht vorstellen, wie hübsch es war, Herr Ginstermann. Wir gingen einige Wochen zusammen, wir unterhielten uns, Sie eröffneten mir ihre Ideen, Herr Ginstermann, ja vielleicht liebten sie mich auch ein bißchen. Addieren Sie, bitte, addieren Sie. Summa: hübsch.

Er umschritt das kleine Kreuzchen im Sande und lachte.

„Hier liegen die Träume eines Toren“, begann er in pastoralem Tone, „hier liegt die Sehnsucht eines Narren — hahaha. Sie ertranken in der Tiefe einer Mädchenseele. Ich will mein Senkblei in deine Seele werfen, sagte der Narr, ob sie tief sei, ich will es gegen ihre Wände schlagen lassen, ob sie Ton wiederhallen, ob sie Silber singen. Da ertranken seine liebsten Kinder in der bodenlosen Tiefe — hahaha —!“

Plötzlich hielt er inne und richtete sich auf. Ein unheimlicher Gedanke stieg in seinem Kopfe empor, riesengroß, ein graues Gespenst ohne Form und Ausdruck.

„Du bist wahnsinnig“, sagte er leise zu sich, damit es niemand höre außer ihm.

Das Gespenst sank wie ein Schatten auf ihn herab und hüllte ihn ein. Sein Herz ging in langsamen Stößen, er stand wie gelähmt. Eine Ewigkeit.

Rings um ihn rieselte der Regen, der Park lag wie ein Leichnam, starr und still. Die Stille flüsterte, sie flüsterte unverständliche, grauenhafte Dinge. Der Wind stieß wie die Flügel eines Schwarmes von Vögeln an seinen Kopf.

In seinem Kopfe da ging ein schweres Pendel hin und her, das alle Gedanken, die aufstehen wollten, niederschlug. Und er lauschte auf das, was diese Stille flüsterte.

In der Ferne schlug eine Uhr.

Das war eine Uhr, dachte er. Jawohl, eine Uhr. Und das hier ist ein Weg, und das da bin ich, Henri Ginstermann, dem sie in der Jugend einen schlimmen Untergang prophezeiten. Und das hier ist meine Hand. So nennt man das Ding. Ich kann es bewegen.

Was ist geschehen, was ist geschehen mit mir, dachte er.

Nun haben sie mich in die Luft eingemauert, wie ein Luftbläschen in Glas eingemauert ist. Angst lähmte ihn.

Drüben am Wege ging eine Gestalt, in einen sonderbaren Mantel gehüllt.

Nun kommt er, dachte er, den großen Holzhammer unterm Mantel, um dir auf den Kopf damit zu schlagen.

Aber nein, was war mit ihm geschehen?

Plötzlich bewegte er die Füße und ging. Fort, fort aus diesem Garten, dessen tausend graue erloschene Augen dich anblicken, fort, fort.

Er lief hastig, quer durch die Wiesen, um die Gebüsche zu vermeiden.

Endlich war er auf der Straße. Er wurde ruhiger. Hier gab es Menschen und Schutzleute, er war geborgen.

Nach und nach kehrte die Reaktion seiner Sinne zurück. Langsam, mit dumpfem Kopfe schlich er an den Häusern entlang. Es war noch nicht spät, es dämmerte. Der Himmel war düster und erschien wie ein unendlich tiefer Sack, aus dem flimmernde Fäden hingen. Die Bogenlampen brannten, die Telephondrähte schimmerten und liefen rasch in die Dämmerung hinein, als hätten sie es sehr eilig, an den Leitungsdrähten der Straßenbahn sprühten zornige, grüne Flammen auf.

Die Cafés waren erleuchtet, die Türen gingen auf und zu. Durch einen Vorhang sah er ein grünes Billard, über das sich ein Herr mit langen weißen Manschetten beugte. Der Kopf einer Kellnerin ging hinter der Scheibe vorüber und verdeckte für einen Moment das ganze Billard.

Er war fähig, diese Eindrücke aufzunehmen, ohne aber sonst Kraft zum Denken zu besitzen. Man hat alle Drähte in meinem Kopfe durchschnitten, dachte er.

Seine Schläfe brannte. Das Bedürfnis, sie mit kaltem Wasser zu netzen, trieb ihn über die Brücke, in die Anlagen. Dort stieg er zum Fluß hinunter. Die Böschung war gepflastert, er mußte vorsichtig sein. Der Fluß rauschte vorüber, blitzschnell, mit hundert Zungen nach ihm leckend. Schon daran, die Hand nach dem Wasser auszustrecken, hörte er über sich rufen. Er wandte erschrocken den Kopf und glitt aus. In Todesangst klammerte er sich an den Steinen fest.

Es war ihm, als habe ihn der Fluß schon in seine brausende Tiefe hinabgezogen. Ohne sein Vorhaben auszuführen, kroch er wieder in die Höhe; kalter Schweiß bedeckte seine Stirne. Er schleppte sich weiter, müde ging er wie ein alter Gaul.

Er ging lange, bis die Häuser klein und niedrig wurden. Trüb leuchteten ihre Augen, einige hatten viele, wiederum welche waren blind von oben bis unten.

Auf der Straße spielten Kinder. Es waren kleine Mädchen. Sie hatten einen Kreis gebildet und schritten um ein Mädchen herum, das in der Mitte saß, die Hände vor dem Gesicht. Dabei summten sie ein Lied. Es war ein weicher flüsternder Gesang, wehmütig durch die Dämmerung schwebend.

Ginstermann stand und lauschte. Aus diesem Summen der Mädchen da sprach es zu ihm, wie aus dem Flüstern der Stille im Park.

Und nun verstand er.

Sterben, sprach es.

Er ging und lächelte vor sich hin, von diesem weichen, kosenden Sang gefolgt, der: sterben sagte. Wie die weichen Arme eines Unsichtbaren umschlang es ihn und küßte ihm dies Wort auf den Mund.

Die Häuser hatten ein Ende. Frei lag das Feld vor ihm.

Über die Ebene lief hurtig ein kühler Wind. Er nahm den Hut ab und ließ sich die Stirn von ihm kühlen. Das war sanft und wohltuend, er mußte an die schmalen kühlen Lippen seiner Mutter denken, wenn sie ihm die Wangen küßte.

Es regnete nicht mehr. Im Westen glomm ein schmaler, düsterroter Saum, die Nacht schlug wie das ungeheure schwermütige Lid eines Vogelauges über der Erde zusammen.

Die Luft war gewürzt vom Geruche des triefenden Waldes, der Wiesen. Er roch die Nacht heraus.

Er kniete nieder und küßte die Erde.

Adieu, sagte er. Er stand noch eine Weile: Das war der Wald, hier das Feld, dort oben der Himmel. Adieu.

Dann wandte er sich der Stadt zu. Er wollte nach Hause.

Nun konnte er plötzlich wieder denken. Aber all seine Gedanken liefen diesem einen Ziele zu, — ruhig, ohne Schmerz, erfüllt von Weihe, die dieses Ziel über sie hauchte.

Die ganze Stadt war Licht, Lärm, Lachen. Menschen fluteten, Menschen, die dieses Licht, diesen Lärm, dieses Lachen liebten, die die kleinen süßen Abenteuer liebten. Es brauste nah, in der Ferne. Es läutete, klingelte.

Aber lauter und klingender wie der Lärm des Verkehrs ging hoch oben ein Brausen über die Stadt. Es lief durch die Straßen, riß die Fenster auf, fuhr durch die Häuser, fuhr in die Brust der Menschen, und blies die Glut ihrer Herzen zu Flammen: Das Leben!

Nun lag es hinter ihm. War es nicht schön gewesen? O, es war köstlich gewesen. Es hatte ihm die große Freude, den großen Schmerz gegeben. Was sollte es mehr? Er hatte sich satt getrunken an seinen Schönheiten, er hatte seinen Rätseln gelauscht.

Er war müde, er sehnte sich nach der großen Ruhe, nach der Rückkehr in das Nichts, wo die atemlose Flucht der Erscheinungen ein Ende hatte.

Bei einem Waffenladen blieb er stehen. Die Läufe blitzten, die runden hohlen Augen blickten ihn wie etwas Bekanntes an. Wie unschuldige Wichtchen schlummerten die Kugeln in den Schachteln, plump und dick ein Schädel in Stücke reißend, klein, nur den Stich einer Nadel an der Schläfe hinterlassend.

Aber er ging weiter. Er hatte zu Hause ein scharfes, scharfes Rasiermesser. Damit wollte er sich die Adern durchschneiden, und während das Blut in langsamen Stößen seinem Körper entwich, noch an all das Herrliche denken, das ihm das Leben schenkte. —

Als er seine Treppe emporstieg, sah er Frau Trud vor der Tür des Ateliers stehen. Es schien als warte sie auf jemanden.

„Ach, Sie sind es“, sagte sie. Sie sah angegriffen aus und hatte gelbe Ringe um die Augen.

Ginstermann erschrak, als er sie erblickte, es war ihm, als errate sie seine Absicht. Sie betrachtete ihn auch so sonderbar, versteckt argwöhnisch. Sie ließ ihn sicher nicht ohne weiteres vorbei.

„Was ist mit Ihnen, Herr Ginstermann?“ fragte sie mit jäher, erschrockener Stimme.

„Mit mir, wieso denn nur?“

„Wie sehen sie nur aus. Ist Ihnen etwas zugestoßen?“

Diese Besorgnis, diese mütterliche Anteilnahme machte ihn bewegt.

„Ach nein“, erwiderte er. „Gute Nacht, Frau Trud.“

Er gab ihr die Hand und sah ihr mit einem tiefen Blick in die Augen.

Oben wandte er sich nochmals um und rief: „Grüßen Sie Kapelli, ich werde ihn demnächst wieder mal besuchen.“

Er zitterte noch, als er in seinem Zimmer angelangt war.

Hatte sie etwas gemerkt? Wie konnte sie das?

Nachdem er abgeschlossen hatte, zündete er die Lampe an. Dann spähte er unter das Bett, ob niemand drunter versteckt sei, der ihn beobachten konnte. Die Vorhänge zog er zu.

Er ging zur Büste, blickte sie eine Weile düster lächelnd an und hob sie herab.

Er preßte sie an die Brust und küßte sie auf den Mund.

„Bianka“, sagte er, „leb wohl. Wer du auch seist, ich danke dir. Du warst das Schönste, das Leuchtendste in meinem Leben. Du gabst mir ein tiefes Erlebnis. Nie hat ein Mensch Schönres erlebt. Dafür danke ich dir. Weißt du, wie ich dich liebe? Sieh, ich bin irrsinnig geworden, so liebe ich dich. Irrsinnig, du meine Bianka. Vielleicht hätte ich dich glücklich gemacht. Wir wissen es ja nicht. Leb wohl. Wenn du von meinem Tode hörst, so härme dich nicht. Verzeih!“

Tränen rollten über seine Wangen, während er sie lächelnd betrachtete. Er öffnete den Schrank und stellte die Büste behutsam hinein. Sie sollte es nicht sehen.

Da pochte es an seiner Türe.

Er erschrak heftig und fragte stockend: „Wer da?“

„Kapelli.“ Ob er nicht Lust habe, den Abend mit ihnen zu verbringen. Bißchen Karten spielen.

„Nein, danke schön.“

„So machen Sie doch mal auf!“

Ginstermann ging an die Türe, unschlüssig ob er öffnen sollte.

Dann rief er: „Ich will arbeiten, Kapelli. Stören Sie mich nicht länger.“ Aber Kapelli pochte nochmals.

Ginstermann beugte sich herab und blies durchs Schlüsselloch.

„Ich werde Sie die Treppe hinunterblasen“, rief er, sich zum Lachen zwingend.

„Na, dann also gute Nacht.“

Kapelli stieg die Treppe hinab, hielt inne, kam wieder ein paar Stufen herauf, stieg abermals hinunter und schloß endlich die Türe seines Ateliers hinter sich.

Was wollen sie nur, dachte Ginstermann. Diese beiden guten Leutchen, sie ahnen wohl etwas? Morgen wird Kapelli sagen: Armer Kerl, der Ginstermann. Und des Nachts werden sie stumm in ihren Betten liegen und an mich denken.

Und Kapelli wird hinter dem Sarg hergehen, seinen engen schwarzen Rock über dem Bauche zugeknöpft, einen Zylinder auf dem Kopf. Und er wird im Sarge liegen und Grimassen schneiden. Aber nein, er wird hübsch ruhig bleiben. Im übrigen wußte es man nicht. Niemand weiß, was ein Toter tut, wenn der Deckel aufgeschraubt ist. Noch besaß niemand soviel Mut sich neben einen Toten in den Kasten zu legen und zu beobachten, was er tut. Einer seiner Bekannten wird ein paar Worte am Grabe sprechen: Bläh — bläh — Henri Ginstermann ist tot. Er hat „Das Ebenbild Gottes“ geschrieben — bläh — bläh — er hat auch Verse geschrieben — man weiß nicht, woran er gestorben ist, vielleicht ist er am Leben gestorben — bläh — bläh —

Ginstermann setzte sich auf die Ottomane und sann vor sich hin. Seine Hände zitterten, die Pulse hüpften in seiner Schläfe; in seinem Kopfe da rauschte es, rings herum.

Da gab es noch jemanden, den die Nachricht stutzig machen wird. Dieser jemand wird sagen: Henri Ginstermann? das ist ja mein Sohn. Seine Mutter hatte ihn doch ein bißchen gerne, früher. Nun ja, bei jenem Skandal — kann eine anständige Dame da anders handeln. Ein Schüler, ein Junge von siebzehn Jahren, der sich mit einer verheirateten Frau einläßt! Puh, puh! Aber nein, früher. Als er noch zwölf Jahre alt war. Bis er den Ring stahl. Stahl, das ist ja nicht richtig. Er legte ihn ja abends wieder auf den Toilettetisch. Er hatte ihn nur in der Sonne funkeln lassen, weil das seine Augen entzückte. Sie hatten ihn allerdings Dieb genannt. Dieb zischten sie alle. Und er wurde in eine dunkle Kammer gesperrt, die ganze Nacht. Da kam der Teufel mit seiner ganzen Verwandtschaft. Die Holzwürmer schlugen mit den dicken Köpfen auf die Dielen. Die Mäuse nagten die Balken ab, um ihn in einen tiefen Schacht hinabzustürzen. Eine Uhr rasselte wie ein Sterbender. O, das war schon mehr als Geisterspuk. Des Morgens kam ein graubleicher Bursch zur Türe heraus, dem diese Nacht mit ihrem Schrecken wie ein Frost auf die Seele gefallen. Seitdem haßte er sie, seine Eltern und Geschwister, seine Mitschüler und Lehrer, alle Menschen. Und er schlief trotzig in der Geisterkammer, ohne Furcht, da er sich dem Teufel verschrieben hatte, der ihm jetzt nichts mehr tat. Ja, selbst die Mörder fürchtete er nicht mehr. Sollten sie ruhig zum Fenster hereinsteigen und ihn erdolchen. O, es war nur ein Spaß! — Hoho, aber plötzlich da wurde es anders. Niemand liebte ihn, bis er eine junge hübsche Frau kennen lernte.

Weshalb sieht man so finster in die Welt, lieber Henri? — Wollen wir Musik zusammen machen, wie? — Wollen wir in den Garten gehen und die Blumen ansehen? — Armer Bub wie haben sie dich hergerichtet? — Nein, nicht küssen, nicht küssen, Schlingel!

O juhei, o juhei — wie herrlich ist das Leben! — Wie, abgereist? Gnädige Frau ist abgereist? So so. Er lebt acht Tage als Waldmensch, frißt Moos und Schnecken und heult wie ein Irrer durch die Nächte. — Hinaus! sagt der Vater, hinaus! Sein Finger deutet gegen die Türe. Er biegt ihn im Gelenk ab, damit es recht theatralisch aussieht. Haha, welche Großartigkeit. Wie ein Feldherr: alle Fünftausend. Hinaus, hinaus! Alle Türen zu. Einer dreht sich im Kreise, ein ganzer Kreis von Fingern deutet: Hinaus! — Ein Zug braust durch die Nacht. Hahaha, Freundchen, es ist nicht so einfach, sich unter einen rasenden Zug zu werfen, dazu gehört die Gewandtheit eines Seiltänzers. Wie, die Hand haben sie sich blutig geschlagen, Mylord? O, das schadet nichts. Ein bißchen Blut, wir sind doch kein kleines Mädchen, wie? — Die Bauern sind ein mitleidig Volk, sie geben Brot, sie hetzen auch ihre Hunde. Nur Scherz. Es schläft sich gut im Wald, bei den vielen Mücken und Ameisen. Man träumt von Gendarmen, das ist nur angenehm. Denn wenn man erwacht, so sieht man nichts um sich als Büsche und Kräuter, und der Mond spannt silberne Saiten zwischen den Stämmen. Drauf greifen Elfenfinger ihre Lieder. Ist das nicht herrlich? — — In Böhmen liegt ein Bauernhof. War es nicht ein hübscher Bauernhof? Die Bäume herum, die Tannen dahinter auf dem Hügel wie finstere Borsten auf einem Ungeheuer. Und Segtschin, der Wahnsinnige, wie er mit den Zähnen fletscht. Er kann die Deutschen nicht leiden. „Ich renne ihm die Mistgabel durch den Leib!“ Ach, eine Mistgabel, ich bitte Sie, Verehrtester, Sie werden doch so ein Ding nicht fürchten. Und da ist Hesse, der defraudierte Bahnbeamte aus Baden. Er hat eine Kneipe in Rumänien. „Willst du das Weib da küssen, du Kleiner! Ha! Ein Patron, ißt und trinkt drei Wochen bei mir und will das Weib da nicht küssen, wenn ich es befehle. Hund, marsch — oder — ah — sie ist ja ein kleines Schweinchen, die Sonja — aber — hahaha!“ Sein betrunkenes Gesicht mit dem Ausdruck eines Metzgerhundes schwillt auf vor Wut, als ob es zerplatzen wollte. Ach, nun ist es gar nicht mehr Hesse, nun ist es Herr Trutt, der Kaufmann Trutt mit seinem Doppelkinn, seinem Fettnacken, seinen schielenden Augen, seiner fettrasselnden Stimme. Dieser Halunke, der will, daß man sich für ein paar Gulden kaput arbeitet. Aber was will nur Hesse mit dem Bohrer. Nein, es ist kein Bohrer, es ist ein Spazierstock. Und doch ist es ein Bohrer, ein Bohrer so lang wie ein Spazierstock. Mit diesem Bohrer kommt er auf ihn zu, den Bohrer schwingend. Aber so groß seine Schritte auch sind, er kommt nicht näher. Er baumelt wie an den Hüften festgeschraubt, schlägt mit Armen und Füßen, den Bohrer schwingend. „Ich will dir den Kopf anzapfen, Kleiner, gib acht. Sonja, schlage ihn, du sollst dich betrinken, bis du platzt, Schweinchen!“

Was wollen denn diese vielen Leute? Sie stehen um Hesse herum und deuten auf ihn, alle auf ihn. Und sie schielen alle und haben viereckige und verschrobene Köpfe. Es ist eine ganze Mauer von Leuten, es sind tausend Köpfe. Lauter Köpfe; unter ihrer Verzerrtheit verbirgt sich ein bekanntes Gesicht. Segtschin fletscht mit den Zähnen — und da ist auch Kapelli! He, Kapelli! Zum obersten Stockwerke dieses lebendigen Gebäudes sieht er heraus. Er spuckt herunter. Ah, nun ist er über ihm. Hoho, über ihm sind auch Köpfe! Überall, rings um ihn Köpfe, die sich unaufhörlich verzerren zu entsetzlichen Grimassen, bald den, bald jenen darstellend. Da ist ja auch jenes Weib, Ritts Freundin mit den weißen Händen. Sie wirft ihm Sofakissen an den Kopf. Ich schlage dich doch noch tot, du Kleiner, flüsterte Hesse plötzlich dicht neben ihm und schwingt einen Weinheber über seinem Kopfe. Seine Augen sind blutunterlaufen und aus seinem roten Schnurrbart strömt der Geruch von Branntwein. „Sie leugnen also jede höhere Bestimmung des Menschen, mein Herr, wie, wie? Sie gestatten, mein Name ist Spi.“ „Ja, zum Teufel, mein Herr —“ „Spi ist mein Name, gestatten — Sie leugnen also jede höhere Bestimmung des Menschen, mein Herr? Hier stehe ich, Spi.“ „Die Bestimmung des Menschen kann nicht hoch genug sein. Ich sage mir, sie ist keine göttliche, sondern eine vom Menschen selbst gegebene, deshalb nicht minder hoch. Der große Mensch und Gott fließen in eins zusammen, — ja, zum Henker, mein Herr, wer sind Sie eigentlich?“ „Spi, gestatten.“ „Speien Sie mir doch nicht immer ins Gesicht, wenn Sie Ihren verfluchten Namen aussprechen! Meine Behauptung gleicht also — ja, wo stecken Sie denn?“ „Hier, Spi —“ „Teufel —!“ „Spi, ich bin unsichtbar, gestatten, Spi ist mein Name.“ „Lassen Sie mich doch — lassen Sie mich doch —!“ „Aber was wollt ihr denn, was wollt ihr denn, ihr hängt ja Camilla auf!“ „Hier hinauf, geehrter Bruder im Herrn, auf den hohen Baum, sie will die Welt sehen, und deshalb hängen wir sie so hoch hinauf, seht, wie niedlich sie ist, wie des Jairi Töchterlein — —“

Da erscholl ein mächtiger Schlag.

Ginstermann stand inmitten des Zimmers, er taumelte, er stolperte über einen Stuhl, der am Boden lag.

Er starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen.

Ein Gedanke rang in seinem Kopfe, aber er kam nicht zur Klarheit.

Er suchte sich auf etwas zu besinnen. Was war denn eigentlich? Was war das alles? Was wollte der phosphoreszierende Schädel dort? Ein Gespenst, hu? Oder — nein, eine Lampe. Seine Lampe. Sehen so die Lampen aus?

Ja, es konnte auch eine Lampe sein.

Er fand für einige Augenblicke die Besinnung zurück. Das war sein Zimmer, hier stand sein Tisch, dort das Bücherregal, auf dem Biankas Büste gestanden. Diese Büste hatte er in den Schrank getan.

Er ging an den Schrank, um nachzusehen. Aber er wagte ihn nicht zu öffnen. Er wußte, etwas unsagbar Gräßliches hockte darin. Da entdeckte er ein Gesicht an der Wand. Dieses Gesicht bewegte sich nach derselben Richtung, nach der er sich bewegte. Es war ein Kreidefleck mit Augen darin, die wie Tiger heraussprangen. Ah, das war ein Spiegel und das Gesicht darin war das seinige.

„Ich komme gleich nach“, rief er aus und ging an den Waschtisch.

Was wollte er nur? Er hatte doch etwas aus dem Waschtisch nehmen wollen. Sollte er beten, daß Gott ihm aus seiner Wirrnis herausführe. Haha, vielleicht durch einen hübschen Engel mit bleichen, lilienzarten Händen? Gott? Was war Gott?

„Sie wissen nichts!“ sagte ihm jemand ins Ohr. Das war Dichter Glimms Stimme. Er zeigte die Zähne wie ein Eichhörnchen. Aber er war gar nicht zu sehen.

„Sie wissen nichts!“ wiederholte er. O, dieser Heuchler. Die ganze Zeit hatte er sich als Atheist aufgespielt.

„Wer setzte die Urzelle in die Welt, mein Lieber? Weshalb haben alle Völker, alle Völker den Drang nach Gott, he? Antworten, antworten!“ „Ist die Welt?“ „Geflunker — Geflunker! Antwort? Wer ist Gott? Ich lasse Sie nicht los. Sie — Dummkopf, Sie.“ „Ich bin Gott, Gott ist in uns. Jeder hat sein Mekka in sich.“ „So sagten Sie in Ihrem Drama, Freund — in Ihrem traurigen Machwerk, das Sie Drama nennen — hahaha!“

Nein, was wollte er nur! Was erhielt er für Besucher?

Er stand und starrte an die Wand. Da zappelte etwas. Auf hohen Spinnenbeinen kroch es daher, den gequollenen Körper vorwärtsschiebend. Unsinn, es war ein Tintenfleck! Jemand hat ein Tintenglas einmal gegen die Wand geschleudert — glaubt es, ihr Leute! Spinne? Es sah aus wie Pinien. Er hatte, seit er hier wohnte, stets an Pinien gedacht.

Nun löste es sich von der Wand und zappelte durch die Luft.

Er wich zurück und schrie. Ein dumpfer Schlag und Klirren.

Er verschwand in ein Loch und sank in tiefe, tiefe Nacht.

Ach, wie gut tat die Finsternis! Und wie herrlich war es zu sinken, immerzu zu sinken.

Hatte er es doch dabei? Ja, natürlich. Das Rasiermesser! Es tat nicht weh, nein, nein. Die Adern werden schlaff und die große selige Müdigkeit kommt. Muß man tiefer schneiden? Er mochte nicht mehr. Er war müde. Und auf seinem Kopfe saß einer, so schwer wie ein Zentner.

„Guten Tag, ihr Herren, guten Tag, ihr Frauen.“

He! was ist das. Was sind das für Leute? Graue Gesichter. Es sind die Selbstmörder der letzten Woche. Hahaha, der Tod verliert seine ganze Kundschaft. Und wer ist der dort? Hehe? Mit seinem purpurnen Schlips. Siry! Siry! Siehst du, hier an der Schläfe habe ich ein winziges Loch. Ich kämme das Haar darüber, immer elegant! —

Was wollt ihr denn mit der Decke? So, bin ich nackt? Danke.

Die große selige Müdigkeit . . .

Ich höre nichts mehr, weshalb pocht ihr mir? Weshalb ruft ihr mir?

Möchten sie pochen — ruhig pochen — mochten sie rufen, ruhig rufen . . . . .

XVI.

Eines Tages hörte Ginstermann im Halbschlafe Sankta Lucia singen.

Er wußte, daß er schlief und vernahm seinen Atem. Er wußte auch, daß er träumte und ihm der Traum das Lied sang. Es schien ihm, als schwebe er auf einer weißen flaumigen Wolke dahin. Er lag in heißer Sonne, die auf seiner Stirne wie Sternchen knisterte. Die Wolke trug ihn über ein herrliches paradiesisches Land. Orangenhaine tief unten, glitzernde Flüsse, ein blauer Golf, über den die weißen Segel streichen. Eine Stadt mit funkelnden Zinnen und geschmückten Straßen. Alles eigentümlich und märchenhaft, in satten, leuchtenden Farben, von Gesang durchzittert.

Sankta Lucia — Sankta Lucia . . . Ganz leise, aus der Tiefe herauf. Es war eine weibliche Stimme.

Nun brach das Lied ab und jemand lachte, ganz nah. Eine Frauenstimme, dieselbe, die eben gesungen, rief laut ein seltsames Wort. Da ertönte die Melodie eines Leierkastens, die sich entfernte.

Er schlief wieder vollständig ein, um durch die Melodie des Leierkastens abermals geweckt zu werden. Sie klang von weit herüber. Wieder begann die Stimme von vorhin das gleiche Lied zu singen. Es war eine herbe bäurische Stimme, deren Alt blechern zitterte. Und nun hörte er ein Geräusch, als schnitte jemand ein Buch auf.

Er versuchte die Lider zu öffnen, die wie angeklebt waren. Plötzlich sprangen sie auf, ein blauer Schleier zog an seinen Augen vorbei. Er wurde dünn, durchsichtig, und das Bild eines Herrn, der an einem Tisch saß und las, erschien. Der Herr las eine Broschüre in grünem Umschlag. Es war ein blonder, schlanker Herr, mit rosigem Teint und einem feinen Schmiß auf der linken Wange.

Dort stand sein Bücherregal und dort hing ein Strohhut, unter dem er sich unwillkürlich sein Gesicht vorstellte. Nun wandte der Herr ein Blatt um, ein feines Geräusch verursachend. Seine Finger waren außerordentlich lang und braun.

Das war doch Traum, doch Traum. Er schloß wieder die Augen.

Da, nach einer Ewigkeit, sagte jemand — und er empfand, daß der Betreffende beim Sprechen lächelte — dicht neben ihm: „Wie fühlen Sie sich?“

Er schlug erschrocken die Augen auf und gewahrte den Herrn, der am Tisch gesessen, vor sich, ein Lächeln auf seinem dünnen Schnurrbart.

Der verbeugte sich leicht und sagte: „Dr. Scholl.“

Ginstermann sann eine Weile nach, dann kam ihm der Gedanke, daß dies wohl der Bruder von Fräulein Scholl sein müsse, und daß er krank gewesen sei.

Er stützte sich auf die Ellbogen und richtete sich etwas in die Höhe.

„Erklären Sie mir, bitte —? Bin ich krank?“ fragte er.

Der blonde freundliche Herr ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bette nieder und entgegnete:

„Sie hatten etwas Fieber, Herr Ginstermann. Nun ist es vorbei. Wie fühlen Sie sich?“

„O danke. Es ist mir, wie soll ich sagen — wie als Kind, wenn ich lange und tief geschlafen hatte.“

„Sie werden sich wohl etwas wundern, wie ein Wildfremder zu Ihnen hereinkommt?“

Er hatte sich gar nicht darüber gewundert, aber jetzt war er erstaunt darüber.

Der Blonde lächelte, und Ginstermann bemerkte, daß es kein glückseliges Kinderlächeln sei, wie es ihm vorhin geschienen, sondern ein sanftes, seelenvolles Lächeln, wie er es noch nie gesehen.

Und der Blonde sagte: „Mich haben zwei junge Damen zu Ihnen geschickt.“ Er hatte hellbraune Augen, die innen mit Gold ausgeschlagen zu sein schienen.

Zwei junge Damen hatten ihn hierhergeschickt. Das Blut stieg ihm in den Kopf, ganz langsam, so daß er die Bewegung der Welle verspürte. Er ließ sich zurück in die Kissen fallen.

„Also Fieber hatte ich? Das ist ja eine heitere Geschichte“, sagte er und lächelte. Nein, er lachte.

Zwei junge Damen hatten ihn hierhergeschickt! Zwei!

Er blickte zum Fenster hinaus, das offenstand. Ein tiefblauer Himmel leuchtete über den Dächern, wie frisch mit Lack überzogen. Es war also noch Sommer. Plötzlich schien es ihm, als sei er lange Jahre krank gewesen.

Er schloß die Augen, das satte Blau da draußen in der Erinnerung genießend.

„Wie lange bin ich krank gewesen?“

Er sei acht Tage krank gewesen.

„Ich soll Ihnen die besten Grüße von meiner Schwester und Fräulein Schuhmacher bestellen.“

Ginstermann drückte die Augen zu und zog die Brauen in die Höhe, um seine Erregung zu verbergen.

„Das ist aber zu sonderbar. Acht Tage und ich weiß nichts davon?“

„Nun müssen Sie sich allerdings etwas schonen. Sie dürfen nicht soviel arbeiten. Sie haben ja ihre ganzen Nerven ruiniert.“

Er durfte nicht so viel arbeiten. Jawohl.

Er setzte sich aufrecht und drückte dem jungen Arzt die Hand.

„Meinen Dank, Herr Doktor. Auch für die übermittelten Grüße. Ich lasse sie erwidern. Fräulein Schuhmacher ist gesund in Nizza angekommen?“

„Sie ist noch gar nicht abgereist.“

„So, Fräulein Schuhmacher —“

„Nein. Es gab ein Hindernis.“

„Jawohl.“

Ginstermann lag eine Weile still. Nun erfüllte ihn Friede, süßer Friede. In den Höfen drunten lachten Kinder. Es war als seien es seine Gedanken, die dort drunten herumsprangen und jauchzten.

Diese unerwartete Mitteilung hatte ihn ganz munter gemacht. Alle Gegenstände bekamen scharfe Linien, jede Kleinigkeit konnte er unterscheiden. An seiner Türe war während seiner Krankheit eine neue Leiste eingesetzt worden. In der Nähe des Schlosses.

Diese Entdeckung machte ihn stutzig. Er versuchte, sich dies zu erklären, aber seine Gedanken wurden bald müde und gerieten auf andere Wege.

Wie kommt dieser Doktor zu dir, dachte er. Wieso wußten diese Leutchen, daß du krank bist? Überhaupt, was hatte sich da alles ereignet? Zum Beispiel, wie kommt diese Leiste an deine Türe?

Das war vor acht Tagen und er hatte Fieber gehabt. Nun entsann er sich, daß es am Tage vor Biankas beabsichtigter Abreise gewesen. Er hatte sich im Englischen Garten herumgetrieben, dann wäre er nahezu in die Isar gefallen. Was hatte er nur an der Isar zu suchen gehabt? Mädchen, die einen Reigen tanzten — waren nicht auch Mädchen, die einen Reigen tanzten, mit im Spiele gewesen.

Seine Gedanken verwirrten sich, nur unklare Erinnerungsbilder tauchten in ihm auf. Aber schließlich, so sagte er sich, wird sich all das noch finden. Die Hauptsache ist, daß Bianka noch nicht abgereist ist.

Es war etwas dazwischen gekommen.

Ah — wie gesund er doch war! Eine wohltuende Mattigkeit floß durch seinen Körper, bei jedem Atemzug fühlte er seine Gesundheit. Diese erquickende Luft! Nur heiß war es, sehr heiß.

Mücken schwirrten herum, durch ihr Summen in der Vorstellung die Hitze vergrößernd. Andere wieder klebten an der Decke, den Rücken nach unten gekehrt, ohne herunterzufallen. Eine Schwalbe wippte am Fenster in die Höhe und zwitscherte. Sie hatte unter dem Dache ihr Nest. Nun hatte er die Glocke der Straßenbahn vernommen, weit in der Ferne, gedämpft.

Alles war weich und sonnig, zart wie lauwarmes Wasser. Er mußte an blühende Apfelbäume denken. Einen ganzen Hain blühender Apfelbäume sah er vor sich. Das Gras war hellgrün und zart wie Frühlingssaat. Um die Stämme der Bäume herum stand ein Kranz von Veilchen, deren Duft er verspürte.

Dr. Scholl hatte die Farben der Apfelblüte im Antlitz. Er war viel zu schön für einen Mann und hätte gut als Frau gehen können. Selbst sein Schmiß war weibisch. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Schwester war augenfällig. Dieselben flaumigen, hellbraunen Haare, dieselben goldbraunen warmen Augen.

War das nicht eine wunderbare Verkettung? Wie kam er hierher?

Zwei Damen hatten ihn geschickt. Also stak Bianka ihm Spiel.

Bianka, Bianka . . .

Wie gut es doch ist, wenn man zuweilen nicht stirbt, dachte er. Das Bewußtsein, daß sie noch hier war, da draußen in der Leopoldstraße, erfüllte ihn mit tiefinnerer Freude.

Er liebte sie so sehr. Er liebte sie mit einer sanften, tiefen Liebe.

Tränen traten ihm in die Augen, so daß er sie schließen mußte.

„Sind Sie müde?“ fragte der Arzt.

Ach nein, er sei nicht ein bißchen müde.

Das waren seltsame Dinge. Er hatte nun lauter Frühlingslandschaften im Kopfe, sacht glitt ein Bild in das andere über. Das war Bianka, in Bildern dargestellt.

Dr. Scholl ging an den Tisch und brachte ihm einige Briefe. Es waren einige Geschäftskuverte und zwei Billette von Biankas Hand.

Ginstermann öffnete zuerst die geschäftlichen Mitteilungen. Eine Absage, ein Brief von seinem Verleger, der ihm meldete, daß die erste Auflage seiner Gedichte abgesetzt sei.

„Nun habe ich in zwei Jahren 500 Exemplare meiner Gedichte verkauft, Herr Doktor!“ sagte er lachend. „Er schreibt es. Ist das nicht einfach enorm?“

Dr. Scholl lachte ebenfalls.

Dann nahm er Biankas Billette zur Hand.

Ob er denn krank sei. Er solle ihr umgehend Mitteilung zukommen lassen. Das andere: Weshalb er nicht auf den Bahnhof gekommen sei. Die Abreise sei abermals verschoben worden, noch ganz zuletzt.

War das nicht zuviel? Nicht doch ein wenig zuviel? Bedenkt! Für einen, der acht Tage im Fieber gelegen.

O, nun — nun — o, nun liefen ja plötzlich goldene Stege ins Land hinein.

Er lag still, die Briefchen in seiner Hand drückend. Das Glück hatte ihn berauscht, es rieselte durch seine Glieder. Ein Blutstropfen schien es dem anderen zuzurufen.

Er versank in Träumereien. Die Stille trug ihn hoch in den Äther hinauf, wohin kein Vogel mehr fliegt. Dort schwebte er und Biankas Antlitz, durchsichtig wie Kristall, schwebt vor ihm her. Sein Blick sank in den ihrigen, und keine Macht der Welt konnte ihre Blicke trennen.

Da tickte es. Wie ein rastloser, winziger Wanderer schritt es auf silbernen Schuhen dahin. Die Uhr in der Tasche des Arztes tickte.

Und der Arzt sprach etwas. Er sprach wohl schon lange? Was sagte er nur?

„. . . ich vermisse das Schicksal, den Kampf mit dem Schicksal, der den Menschen zum Herren macht, um ihn zuletzt niederzuwerfen. Immer rechnet der Mensch mit dem Menschen ab . . .“

Ah, er sprach über moderne Literatur.

„Und wie es im Drama ist, so ist es auch im Roman. Weder das moderne Drama noch der moderne Roman ist bis jetzt geschaffen. Wir leben in keiner schöpferischen Zeit.“

Die Zeit sei allerdings unfruchtbar, leider, warf Ginstermann ein und drehte den Kopf zur Wand.

Ob ihn das Sprechen störe?

„Aber nein, keineswegs. Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Doktor.“

Er hörte nur halb, was der Doktor sagte. Titel und Namen klangen an sein Ohr, ohne daß er sie recht vernahm. In ihm zogen des Traumes bunte Bilder, sanft und unaufhörlich.

„. . . seine Darstellungskraft ist bewundernswürdig. Aber es ist alles zu wenig von seiner Seele durchleuchtet, scheint mir, nie erwärmt von ihr. Der Torso ist zu kolossal, als daß er ihn durchleuchten könnte. Die anderen sind Pygmäen gegen ihn, allerdings. Man braucht nur an Germinal zu denken.“

„Wie sie die Straße dahinziehen — Brot — Brot! Die ganze geknechtete Menschheit schreit das mit, gleich einem Echo.“

. . . Da schaukelte eine Rose über dem Abgrund. Das Mädchen wollte sie haben. So stieg er hinab. Den Leuten da droben gerann das Blut in den Adern. „Das ist die Rose“, sagte er und verbeugt sich. Sie antwortet: „Ihr mußtet sie holen.“

„. . . Ich befürchte, daß der Import von Osten unserer Entwickelung schadet. Für Rußland mag er ja Fortschritt bedeuten. Hier muß sich erst eine Sozietät bilden. Diese Ideen haben wir ja schon längst überwunden. Ich für meine Person muß bei seinen Büchern nahezu historisch denken. Nehmen Sie ‚Auferstehung‘, ich finde —“

„Unser Ziel ist der Einzelne.“

„Natürlich. Wir dürfen auch schon an die Ausbildung von Individualitäten denken . . .“

. . . Im ganzen Lande läuten die Glocken. Was ist geschehen? In den Korridoren des Schlosses flüstern sie, Verwirrung in den bleichen Gesichtern. Niemand will es tun. Wer könnte es auch. Sie wissen alle, wie sehr sie den Bruder liebte. Wer soll ihr die Kunde bringen — keiner will. Das Los. Wer es zieht, der muß. Er muß. Er tut es nicht. Er geht hin und stirbt . . .

„. . . Was für die Malerei der Impressionismus ist, der sie zur Konkurrenz befähigt mit der Kunst der Renaissance, ist für die Literatur die Psychologie. Komplikationen — ach, was — —“

. . . kling — klang — klung — o Skule, König Skule — es heulen die Hunde, sehn sie den Mond — klung — klung — es weinen die Weiber, stirbt ein Spatz — o Skule, König Skule, du bist in deinen Bauch verliebt, in deinen dicken Bauch verliebt, und härmst dich, du kannst ihn nicht küssen — klung — klung . . . „Schweig, Narr! Verstimmt ist deine Leier. Roselind ist morgen tot.“ — Der Narr zieht ab. Was soll er hier bei König Skule noch? Er schneidet seine drolligsten Grimassen, greift einen Mißakkord und geht schellenklingelnd zur Tür hinaus.

Klung — klung — je schöner ein Weibchen in der Welt — je eher es dem Tod gefällt — klung — — kling — klung —

König Skule sitzt und sinnt. Neben ihm der Page bietet umsonst den Pokal. Da hinter dem golddurchwirkten Vorhang schluchzt es. Ein Mädchen schlüpft heraus, das Gesicht in den Schleier gedrückt, und geht durch den Saal.

Um die Burg murmelt das Volk: Roselind?

Wieder öffnet sich der Vorhang, und ein Mädchen geht durch den Saal, das Gesicht verhüllt wie das erste.

König Skule greift nach dem Becher, ohne ihn zu nehmen. Er knirscht mit den Zähnen, er muß an die heißen Schlachten denken.

Und nun tritt ein dürrer, schwarzer Mann aus dem Vorhang. Sein Gesicht ist wachsfahl und ohne Leben.

König Skule fragt ihn mit den Augen. Der Arzt schüttelt langsam den spitzen Kopf.

„Wann?“ fragt König Skule. Der Arzt antwortet ihm mit scharfen, ruhigen Blicken.

„Wenn das Gold in den Bergen glüht? Wenn der Abendstern aus den Tannen kommt?“

Der Arzt nimmt den Becher und schüttet den Wein auf den Boden.

„Ehe dieser Wein verdampft, o Herr.“

„So laß in die Posaunen stoßen.“

Die Posaunen rufen. Was rufen sie? Wer sich das Herz bei lebendigem Leibe aus der Brust schneiden lasse, fragen sie. Der Zauberer kündete, das würde Roselinds Leben retten.

Still wird’s um die Burg.

Die Posaunen rufen.

„Nimm dies!“ König Skule entblößt die Brust.

„Es ist alt. Es muß ein junges sein.“

Am Boden dampft der Wein. Der Flecken kriecht in sich zusammen.

An der Wand geht eine Türe auf, die niemand je sah. Sechs Jungfrauen in düstern Schleiern treten heraus, beugen sich und schreiben mit dem Finger auf den Boden, heben die Arme, lüften den Schleier: bleiche Schädel grinsen. Sie verschwinden. Ihre düstern Schleier schlüpfen durch den Vorhang.

Dort draußen weint es leise. Das ist die Königin. Zwei Söhne fielen ihr in der Schlacht.

Roselind — — —?

Ein Pilger kommt. Sie führen ihn herein. Der Pilger kniet vor König Skules Thron und spricht: „Ich bringe dir mein Herz.“

Stille. Im Garten sticht ein Spaten Erde aus.

Der Flecken am Boden ist so groß wie eine Hand.

Kling — klang — klung — klang — macht des Narren Zither. Er hockt auf dem Fensterbrett und grinst. „O Skule — König Skule —“

„Werft ihn in Ketten!“ befiehlt der König. Ein Diener stutzt und geht. Gilt das dem Narren, der singend in wilder Schlacht neben Skule ritt?

„Ich bringe dir mein Herz.“

Der König hebt die Hand.

In einer wachsfahlen Hand zuckt ein dünnes Messer. Eine wachsfahle Hand reißt einen blutigen Klumpen in die Höhe.

Stille.

Das Schluchzen hört auf. Ein Mädchen erscheint vor dem Vorhang und hebt verzückt die Hände.

Der Teppich schnurrt zurück: Da steht Roselind und lächelt.

Die Fanfaren jauchzen, die Hörner lachen.

Roselind! Roselind! jubelt tausendstimmig das Volk.

Es tropft. Aus dem blutigen Klumpen tropft es auf den Boden. Tipp—tapp—tipp—tipp . . .

„Bringt mir den Narren! Füllt den Becher!“

„Klung—klung—kling— ich wäre dir nicht fortgelaufen, Skule . . .“ —

Dr. Scholl hatte sich erhoben. Er nahm den Hut vom Tisch und trat, sein Gespräch beendend, wieder ans Bett.

„Man erlebt da Dramen, glauben Sie es mir.“

Richtig, er hatte von seiner Praxis gesprochen.

„Wir Ärzte lernen die Menschen kennen. Es gibt viele Qual in dieser Welt. Wenn ich wiederkomme, so erzähle ich Ihnen noch mehr. Das muß Sie ja interessieren.“

„Natürlich. Ich lerne da ohne jede Mühe. Sie geben mir Extrakt.“

„Besonders die Geschichte von dem Alten, der sich mit Fluchen und Fäusten gegen den Tod wehrt, müssen sie mir nochmals erzählen.“

„Adieu.“

Eine Türe ging. Er schrak zusammen, als der Drücker ins Schloß schnappte.

Wie still es doch war. Seine Kissen flüsterten bei jedem Atemzuge. Er lag im heißen Dünensand, und das Meer plätscherte . . .

Roselind — Roselind . . .

Roselind ist Hagewolfs, des schönsten und mutigsten Recken, ehelich Gemahl.

Wie eine Krone, glitzernd von Steinen, flammend von Zinken, auf dunklen Locken, liegt ihre Burg auf schwarzem ewigen Walde. Halali heißt der Wald. In Skules Reichen ist nicht Schöneres.

Hagewolf fuhr übers Meer, zum Siege. Schwert des Tor nennt ihn das Volk.

Roselind ist schön. An allen Höfen flüstern die Saiten: Roselind ist schön.

Nach Halali! Nach Halali! Noch in der Nacht werden die Pferde gesattelt. —

Am Tore vor Roselinds Schloß, da kauert ein Pilgrim. Die Nacht ist lang. Zwölf Meere an Finsternis birgt diese Nacht. In den Büschen glühen die Rosen. Es sind Menschenherzen, die Roselind in die Büsche warf. Auf dem Tore stecken an Speeren zwei Köpfe. Königssöhne. Blut tropft ins Gras. Bei jedem Tropfen hört man weit hinter den Bergen Frauen schluchzen.

Der eine öffnet die blauen Lippen und spricht: „Weh dir! Weh dir!“ Der andere schlägt die schwarzen Lider in die Höhe und spricht: „Entfleuch! Entfleuch!“

Die Nacht ist lang! Die Nacht ist lang!

Mein Sohn, mein Sohn, jammert es überm Meer. Liebster mein, Liebster mein, schluchzt es weit hinter den Bergen.

Nun faucht der Morgenwind aus dem schwarzen Walde und bläst die Herzen in den Büschen aus. Ein Schwarm feuriger Vögel streicht über den Wald.

Ein Mädchen steigt auf die Treppe, weiße Blütenbänder um den perlmutterschillernden Leib, legt die Hände an den Mund und ruft: Über der Herrin Land — leuchtet der Son — ne Brand — —! — leuchtet der Sonne Brand! antwortet in der Ferne eine Stimme . . . . Der Sonne Brand . . . .

Jauchzen. Rot glühen die Zinnen aus Granat.

Die Köpfe am Tore sind steif und stumm.

„Mach auf.“

„Wen suchst du, Armer?“ — „Ich suche Roselind.“ — „O, weh dir!“

Hörner lachen. Ein Tor springt auf: Roselind und das Gefolge reiten heraus.

Roselind ist schön, flüstern die Saiten im ganzen Lande . . .

Neben ihr auf schwarzem Hengste, ein dürrer, schwarzer Mann mit wachsfahlem Antlitz. Sein Gewand starrt von bunten Steinen.

„Kommst du übers Meer? Wen suchst du, Fremdling?“

„Ich suche dich.“

Roselind lächelt. Dieses Lächeln sagt: du stirbst.

„Ich sterbe gern für dich.“

Der Schwarze mit dem wachsfahlen Antlitz richtet die Augen scharf wie ein Messer auf des Pilgrims Gesicht. Es ist weiß wie Schnee, blutleer das Geäder.

„Er ists,“ sagt er.

Roselind neigt sich im Sattel. „Du bists. König Skule suchte dich durchs ganze Land. Dein Leben ist dir geschenkt. Erbitte dir eine Gnade.“

Der Pilgrim beugt das Knie.

Roselind wirft ihm ein Band Perlen hin. „Er soll hundert Pferde mit Geschmeide haben!“

„Ich will nicht dein Gold.“

„König Skule gibt dir einen Thron.“

„Was nützt mich König Skules Thron?“

„Beeile dich!“

„Ich will —“

„Werde nicht kühn!!“

„Ich möchte den Saum deines Gewandes küssen, Roselind!“

Hahaha — lacht das Gefolge — hahaha . . . . Fort stürmts in den Wald. Hahaha . . . .

Halali heißt der Wald . . . .

Hier versank Ginstermann wiederum in Schlaf.

XVII.

Es gab eine Menge Neuigkeiten.

Frau Trud hatte einem Mädchen das Leben geschenkt.

Kapelli erzählt es eben Ginstermann. Er saß auf der Bettkante bei ihm und rauchte seine Zigarre.

„Heute morgen um fünf Uhr“, sagte er und alle Vokale funkelten. „Es ist ein Prachtwesen!“

Er hatte die Blicke auf eine Skizze an der Wand gerichtet, und Ginstermann sah es ihm an, daß er Mühe hatte, sein Glück zu ertragen. Während der ganzen Nacht war er wohl in seinem Atelier auf und ab gegangen, zusammenschreckend bei jedem Geräusch, jedem Schrei im Nebenzimmer, bebend vor Angst, vielleicht hatte er auch ein wenig gebetet. Nun war er erlöst und glücklich. In seinen Augen glänzte die Freude. Ein neuer Lebenstag begann für ihn, über dem nicht mehr die beunruhigenden Schatten der letzten Zeit schwebten.

Ginstermann nahm an seinem Glück teil, denn sowohl Kapelli als Frau Trud hatte er sehr gern, im Innersten seines Herzens aber nagte ein Gefühl, das er nicht die Aufrichtigkeit besaß, Neid zu nennen.

Es gab noch manches andere.

Kapelli stand der Auftrag zu einem Brunnen in Aussicht. Wenn er ihn bekam — er rechnete bestimmt darauf — so hatte er Beschäftigung auf ein Jahr — da wollte er sich in der Nähe der Stadt ein Atelier mieten. So etwas wie ein Haus im Freien, Bäume herum, ein Garten, in dem Frau Trud das „Schnuckerl“ spazieren fahren konnte, meinte er.

Maler Ritt hatte auf sein letztes Bild hin eine Professur erhalten. Er feierte seit fünf Tagen ein Fest in seinem Studio drunten und hatte Tag und Nacht ein Rudel Herren und Damen zu Gaste. Mit einer Ziehharmonika machten sie Musik, alle Anwesenden waren als Zigeuner kostümiert, und man konnte nicht zum Hause hinausgehen, ohne über einen im Flur liegenden Bezechten hinwegsteigen zu müssen.

„Was aber sagen Sie zur Sacken, Ginstermann?“

Fräulein von Sacken war in allen Besprechungen ganz hervorragend gelobt worden.

Unsere neueste Entdeckung heißt Sacken, schrieben sie. Und: Man sah nur selten Fische so gemalt. Großes ist von dieser Künstlerin zu erwarten.

„Es ist ihr zu gönnen, selbstverständlich. Nun ja, Ritt hat ihr ein bißchen geholfen, aber das geht uns nichts an“, meinte Kapelli.

Ginstermann kleidete sich an, um Frau Trud persönlich zu beglückwünschen. Auf der Treppe begegnete ihm Fräulein von Sacken. Sie trug wie sonst ein schwarzes Kleid, das die Fahlheit ihres leicht schwammigen Gesichtes erhöhte. In ihren Augen wohnte der alte, unnennbare Kummer, und erst als Ginstermann ihr die Hand zur Gratulation schüttelte, leuchtete helle Freude darinnen auf, von der man übrigens nicht wußte, ob sie echt oder gemacht war. Sie ließ ihn nicht vorüber, ohne daß er die Rezensionen gelesen hatte.

„Jetzt können Sie ruhig sterben,“ scherzte er, indem er ihr nochmals die Hand drückte.

„Ja“, entgegnete sie und blickte zu Boden, als suche sie irgend etwas; „besondere Genugtuung bereitet es mir, meinen Angehörigen den Beweis erbringen zu können, daß ihr Spott ungerecht war.“

Sie blickte auf, und der Haß flackerte noch in ihren Augen. Ginstermann hätte nie und nimmer solch wilden Stolz und elementare Leidenschaft in diesem bescheidenen, schwermütigen Weibe vermutet.

Sie lächelte und sagte: „Sie wissen ja, daß mich Herr Ritt bei der Arbeit unterstützte.“

Auf ein paar Pinselstriche käme es nicht an.

„Ich habe meinen Lehrer für heute abend eingeladen. Wollen Sie mir nicht auch das Vergnügen schenken, Herr Ginstermann?“

Er müsse leider aus Gesundheitsrücksichten ablehnen.

„Nicht? — Sie sehen nicht gut aus, in der Tat. Ihr Gesicht ist noch um etwas schmäler und blässer geworden.“ „O, und graue Haare haben Sie auch bekommen, eine ganze Menge“, setzte sie lächelnd dazu. —

Frau Trud war vergnügt und zu Scherzen aufgelegt wie sonst. Aber es schien, als ob sie nur lache und scherze, um ihre Ergriffenheit dahinter zu verbergen. Sie war außerordentlich blaß und geschwächt, und oft sprach sie so leise, daß man sie nicht mehr verstand. Kapelli mußte sie fortwährend ersuchen, den Mund zu halten.

Ginstermann küßte sie, bewegt von dem anspruchslosen Heroismus, mit dem sie ihr Martyrium ertrug, auf die Stirne. Das war sein Glückwunsch und gleichzeitig sein Dank für „neulich“. Es kümmerte ihn nicht, daß Kapelli dabei stand, und Kapelli kümmerte es auch nicht. Frau Trud dankte ihm mit einem Blick voller Liebe, als sei er ihr Geliebter.

Natürlich mußte er auch das Kind sehen.

Mein Gott! es war ein runzeliges Tierchen mit schneeweißen Härchen auf dem unförmigen Kopfe. Er konnte es nur mit Überwindung betrachten.

„Es hat dieselben blauen Augen wie ich, sehen Sie?“ sagte die Mutter. „Es wird überhaupt ein hübsches Kind werden, nicht?“

Er konnte das mit dem besten Willen nicht herausfinden.

„Wenn es so fortfährt, sicherlich“, sagte er.

Kapelli trug sich allen Ernstes mit dem Gedanken, diese „Skizze von Mensch“ in Gips abzugießen. Und zwar gleich morgen.

„Die Lippen werde ich dann etwas retouchieren. Oder finden Sie nicht, diese Unterlippe da ist etwas zu breit? Trud hat ja zwar —“

Frau Trud machte ihm eine geballte Faust, die sich aber augenblicklich zu einer verlangend ausgestreckten Hand löste.

Kapelli küßte sie.

„Du sollst nicht so viel reden“, sagte er.

„Ich hab ja nun gar nichts gesagt“, Frau Trud darauf.

Ginstermann wandte sich ab, um seine Bewegungen zu verbergen.

Die Sehnsucht nach dem Weihe, mit dem man eins ist, die in jedem Manne lebt, erwachte in ihm, die Sehnsucht nach dem Kinde, ohne die nie ein Mensch groß ward, stand in ihm auf.

Weder dies, noch das, sagte er sich.

Das wußte er, nie sollte er ein Weib haben. Nach Bianka würde er nicht mehr fähig sein, ein Weib zu lieben. Das wußte er, nie sollte er ein Kind haben. Er würde nicht imstande sein, seine Seele mit der eines Weibes zu vermischen, nachdem ihm das Schicksal Bianka gezeigt.

Andere Sterne! Andere Sterne!

Ach, da war ja noch die Erinnerung — und die Arbeit! —

Er ging.

Er stieg die Treppe hinunter, um im Hofe nach seiner kleinen Camilla zu sehen. Er wollte ihr nur die Locken streicheln.

Bei Maler Ritt wurde getanzt. Füße schlürften, und zuweilen stieß jemand gegen die Türe. Eine Violine spielte einen berückenden, schwermütigen Walzer, viel zu zart für das wüste Schleifen der Tanzenden.

Hoi — hoi! rief dazwischen Ritts scharfe Stimme. Die Rufe hörten sich an wie das Knallen einer Peitsche, mit der er die Ermatteten antrieb.

Camilla war nicht zu sehen. Er begab sich in das Vorderhaus, um in ihrer Wohnung nachzufragen. Eine ausgetrocknete Alte mit in den Brillengläsern zerfließenden, erschreckend großen Augen öffnete. Von ihr erfuhr er, daß Camilla ausgezogen sei. Eine Weile besann er sich, ob er sie in ihrer netten Wohnung aufsuchen sollte. Vielleicht würde er sie treffen, wenn er am Hause auf und ab ging.

Aber er war zu müde, und dann war ja all das unsinnig.

Er legte sich wieder nieder und nahm ein halbfertiges Manuskript, das von der „Religion der Gottlosen“ handelte, zur Hand, um sich auf andere Gedanken zu bringen. —

Noch einige Tage und er war gänzlich hergestellt.

Dr. Scholl besuchte ihn jeden Nachmittag. Sie waren Freunde geworden. Ginstermann liebte das offene, kluge Wesen des jungen Arztes. Dieser Mann hatte die Eigentümlichkeit, die radikalsten Anschauungen wie etwas Selbstverständliches zu äußern, und das tat wohl. Ein immenses Wissen erlaubte ihm, spielend Unmengen von Material aus allen Gebieten herbeizubringen, an der Hand desselben Schlüsse zu ziehen, zu begründen, zu widerlegen. Es war eine Lust, mit ihm zu diskutieren. Man brauchte nicht mehr im Jargon zu sprechen, nicht zu befürchten, mißverstanden zu werden, keine noch so feine Nüance ging verloren, und selbst da, wo der Ausdruck fehlte, sprach eine Gebärde, das Stocken selbst. Ihre Gespräche griffen wie die Zähne zweier Räder ineinander.

Noch nie hatte sich Ginstermann so sehr und so angenehm in der Beurteilung des Wertes eines Menschen nach seinem Äußeren getäuscht. —

Ginstermann hatte Bianka ein Billet zugeschickt, worin er ihr für ihre Grüße dankte und ihr seine Genesung mitteilte.

Tags darauf erhielt er eine Einladung ihrerseits zu einem kurzen Spaziergang.

Werter Freund, schrieb sie, werter Freund.

XVIII.

Drei Uhr.

Jetzt kommt sie quer durch die Wiese, weiß in weiß gekleidet wie immer, und steigt den Hügel zum Monopteros hinauf. Sie atmet auf, blickt die Wege entlang, geht zwei-, dreimal im Kreise umher, schreibt mit dem Sonnenschirm auf die Fliesen, sieht auf die Uhr und geht wieder hinab. Ganz langsam. An der Wegkreuzung wartet sie noch ein Weilchen, dann geht sie wieder quer durch die Wiese, weiß in weiß, den Körper leicht vornüber gebeugt.

Ginstermann ist nicht hingegangen.

Noch in letzter Minute besann er sich eines anderen.

Er hatte dieses Wiedersehen, an das nicht mehr zu denken gewesen war, während der Nacht in der Vorstellung vorausgelebt, mit allen Worten und Mienen, dem Parke in der Sonne, den schießenden Schwalben im Äther. Er hatte verzückten Auges in ihr strahlendes Antlitz geblickt, er hatte ihre geschmeidige Hand in der seinigen gehalten, ihr Guten Tag und Adieu gesagt — er hatte in die dunkle Nacht einen Teppich von Sonne und Wonne gewoben: und er war nicht hingegangen.

Das war nicht leicht, es war durchaus nicht leicht.

Er wollte sie nicht wiedersehen, das war es.

Nun saß er in seinem Sessel und lauschte auf das Schlagen der Uhren und sprach: Jetzt kommt sie quer durch die Wiese, weiß in weiß gekleidet wie immer, und steigt den Hügel zum Monopteros hinauf —

Adieu Bianka!

Das war nicht leicht, das war durchaus nicht leicht. Er hatte sie ja doch immerhin ein bißchen lieb, wie?

Sein Entschluß lastete auf ihm wie ein Ungeheuer. Alles wirbelte in ihm herum, seine Gedanken verwirrten sich, eisige Angst kroch an sein Herz.

Noch war es möglich, ihr zu begegnen . . .

Aber nein, er wollte nicht. Diesem letzten tapferen Gedanken wollte er Treue bewahren.

In großen, aufgeregten Schritten ging er in seinem Zimmer hin und her, während die zwei Gegner in seinem Kopfe sich stritten. Heute wollte er sich den Beweis liefern, daß er noch einen freien Willen besaß.

Um seine Gedanken abzulenken, ging er bedächtig wie ein Galeriebesucher an den Wänden entlang, seine Blicke auf die vergilbten Blätter bohrend. Da war Knopfh, ein Frauenbildnis. Aufs Papier gehaucht, ein Schleier, der jeden Augenblick zerfließen konnte. Von solchen Frauen wissen die Dichter. Bist du eine Schwester von ihr? Ein Frans Hals: Die Hille Bobbe. Eine ehrwürdige Matrone, haha. Böcklin. Böcklin! Balestrieri: Beethoven. Beethoven. Wer schluchzt hier? Weshalb sind wir von Erde, o, weshalb? — Und hier stand ein Satz. Kurios. Ein Satz mit Blaustift an die Wand geschrieben. Wer ist „sie“? Kennt ihr „sie“? Und dort dieser Tintenfleck. Wer hatte das Tintenfaß geschleudert? Und weshalb? Einer, den die Launen eines Weibes zum Jähzorn reizten, einer, den seine Ohnmacht zur Raserei brachte, der seine Steine suchte und sie in Staub zerfallen fand? Hier hatte jemand an die Wand gekritzelt: 22. März, und einen Lorbeerkranz herum.

Wie viele hatten hier gelebt, gelitten, gelacht? Könnte man nicht ein dickes Buch schreiben: Historie eines chambre garnie?

Und zuletzt einer, dessen Gehirn in Flammen gestanden, einer der irre Worte flüsterte und endlich sagte: Adieu. Einer namens Ginstermann.

Da war ein Mädchen, das kannte einen jungen Mann, der Komponist war. Und man prophezeite ihm eine große Zukunft.

Und dieses Mädchen . . .

Perlen steigen. Elfenbeinperlen, glitzernde Perlen. Eine Fontäne. Sie neigt sich, beugt sich, wie der tanzende Leib eines schlanken Weibes, das mit beiden Händen funkelnde Perlen auf den Rasen streut. Sie beugt sich und küßt den Boden. Sie sinkt zusammen, murmelt, sie wächst, rauscht, jubelt. Singende Vögel mit silbernen Flügeln steigen aus ihr und verschwinden im Äther. Zarte, schmale Hände mit Ringen an den Fingern gleiten über die Tasten des Flügels, Kinderhände. Und das Klavier wogt, die Decke wogt, der Boden wogt.

Und der dunkle Lockenkopf des Spielenden schwebt regungslos über den elfenbeinernen Tasten.

Hinter ihm sitzt ein Weib. Ein schlankes, junges Weib. Das schmale Haupt geneigt; regungslos. Als sei es tot. Und die funkelnden Perlen regnen über sie. Wie glühende Tropfen fallen sie ihm ins Herz, wie Lippen, kühle Lippen berühren sie seinen Körper. Und der glitzernde Leib der Fontäne schlingt seine Arme um das Weib und preßt es an sich und küßt es. Küßt es. Auf den Mund. Und umhüllt es. Ein Name klingt, ein Name klingt. Und es spricht und singt. Das sind die silbernen Vögel. Sie fliegen ihm ins Herz.

Die zarten, schmalen Hände mit Ringen an den Fingern ruhen auf den Elfenbeintasten.

Und das dunkle Lockenhaupt des Spielenden schüttelt sich. Wendet sich.

Der Spielende steht auf und lächelt.

Das junge Weib aber hat Tränen in den Augen.

Wissen Sie, wie das hieß?

Weshalb fragen Sie mich das?

Und das dunkle Lockenhaupt beugt sich herab. Beugt sich herab. Und zwei Lippen berühren eine Stirne. Zwei Lippen berühren einen Mund. Sie sind heiß.

Das junge Weib regt sich nicht.

Das junge Weib regt sich nicht.

Es liebt ihn.

Ah, wir dürfen keine Kinder sein, sagt der Mann und lächelt. Er lacht. Seine Augen sind schwarz und blitzen.

Es war ja nur eine Improvisation.

Und wieder gleiten die schmalen zarten Hände mit Ringen an den Fingern über die Elfenbeintasten.

Und wieder lauscht das junge Weib.

Die silbernen Vögel singen seinen Namen.

Und wieder . . . .

Und wieder . . . .

Die schwarzen blitzenden Augen werden matt und trüb, die schmalen zarten Hände zittern.

Und er geht zugrunde . . . . er geht zugrunde.

Und das Mädchen sieht einen Mann, der dem Komponisten ähnlich sieht. Besonders wenn er den Kopf neigt. Und das Mädchen tastet mit seinen Blicken über sein Gesicht und sucht. Und wenn er den Kopf neigt . . . . Werter Freund . . . .

Aber drinnen in dem Herzen des jungen Mädchens, da singen die silbernen Vögel so süße Lieder. Immerzu. Sie sterben nimmer . . . . Martyrium! Martyrium!

Aber dieser andere, der dem Komponisten ähnlich sieht, dieser andere . . . .

Nun wollte er Bianka schreiben.

„Verehrte Freundin!“ begann er.

Er lächelte und wiederholte: Verehrte Freundin.

Er entschuldigte sich wegen seines Ausbleibens. Er sei ihr diese Handlungsweise schuldig, glaube er. Sie müsse wissen, wer er sei, dann könne sie ja entscheiden, ob sie ihn wiedersehen wolle oder nicht.

Das sah aus wie eine Beichte, ohne eine solche zu sein. Er schrieb so sachlich als möglich. Schrieb und schrieb, enthüllte ihr seine Vergangenheit, ohne ihr etwas zu verbergen, ohne etwas dazuzutun, ohne zu beschönigen, ohne zu verschlimmern.

Als sei er ein gewissenhafter Biograph, der die Liebes- und Leidensgeschichte eines Landfremden darzustellen habe.

Er bereute nichts, was war, das war. Ach, es war das Schicksal eines jungen Mannes von heute, von ehedem und morgen, was war es sonst. Freilich wäre es für ihn, der sich Aristokrat fühlte, nicht nötig gewesen, den Entwickelungsgang des Pöbels zu absolvieren.

O, er hätte ihr gerne gebeichtet. Ungefähr seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und ihr erzählt, wie das kam und jenes kam, was er erduldete an Leib und Seele, wie er sich freute, sie kennen zu lernen, wie er sie liebte. All das. Aber das ging ja nicht.

Er wollte ihr Urteil durch nichts beeinflussen. Aus diesen dürren Tatsachen heraus sollte sie abwägen, ob er ihr Freund sein könne oder nicht.

Was sollte ihm eine geschenkte Freundschaft, eine erschlichene Freundschaft?

Wahrheit sei unser erstes Gebot, Wahrheit unser zweites und drittes, unser letztes Gebot.

Zum Schlusse dankte er ihr nochmals, in feierlichen, ernsten Worten.

Dabei ereignete es sich, daß er bewegter wurde, als er war. Die Versuchung flüsterte ihm zu, irgend ein Wort, ein kleines, kleines Wort einzustreuen, das ihr ein Schlüssel zu seinem Empfinden hätte sein können, ein Verräterchen, wie unbemerkt der Feder entschlüpft.

Er lächelte der Versuchung. —

Es war spät, als er den Brief zum Kasten trug.

Schwüle Abenddämmerung brütete über den Häusern, über welchen der tiefblaue Himmel zurückwich. Die Luft war schal, verbraucht von den Lungen der Stadt, erfüllt von Staub, der sich langsam senkte. In der Ferne brodelte der Kessel des Verkehrs, die Melancholie der sinkenden Nacht mit wirrem Murmeln und Stöhnen begleitend. Die Laternen blitzten. Sie erschienen wie die stechenden, frechen Augen von Dirnen, die an den Straßenecken warteten. Irgendwo heulte ein Hund.

Ginstermann ging mit den raschen, elastischen Schritten eines, der sich selbst bezwang.

Er schob den Brief in den Kasten. Ohne Laut fiel er auf.

Nun ruhten seine lohenden Wünsche, seine irren Träume, seine fiebernde Sehnsucht hinter diesen metallnen Zähnen. —

In dieser Nacht schloß er kein Auge.

Die Sterne gingen über den hellen Himmel, schlüpften hinter den dunklen Kamin, kamen wieder hervor und glitten vorbei. Neue kamen. Endlich flimmerten sie schemenhaft hinter grauen Schleiern. Himmel und Erde schliefen. Dann hauchte ein süßlich-grauer pastellner Ton über die Dächer, Scheiben blinkten, ein müdes, verschlafenes Gesicht tauchte an den Fenstern auf: der Tag.

Es schlug sechs, sieben, acht.

„Nun ist er dort,“ sagt er, und die Augen fielen ihm zu.

XIX.

Sonne!

Überall Sonne! Rote Sonne!

Ginstermann und Bianka gingen wiederum im Englischen Gatten. Still nebeneinander, ohne zu sprechen. Selbst als sie sich da droben am Monopteros die Hand gaben, sprachen sie nichts. Nur der Druck ihrer Hände redete, und sie verstanden sich.

Es war ein heißer Tag; die Sonne in Milliarden funkelnde Körperchen aufgelöst, vibrierte in der Luft, bis hinauf zum paradiesisch blauen Himmel. Der Geruch von Heu und der Duft der Linden erfüllten den Park. Überall glitzerte und leuchtete es. Hier blitzte das metallene Halsband eines Hundes, dort blendete das Dach eines Kinderchaischens, die Speichen der Herrschaftswagen glitzerten, grellfarbene Sonnenschirme flogen hinter den in der Sonne sich ausdehnenden Büschen vorüber. Die Augen der Menschen strahlten, als brenne ein Stern in ihrer Brust, die Kleider der Mädchen leuchteten, die quer durch die Wiesen wandelten.

Es war ein Tag des Lichtes.

Im Chinesischen Turm war Konzert. Lustig und ungeniert bliesen die Blechinstrumente durch den ganzen Garten, ebenso grell wie Sonne und Farben.

Bianka trug ein duftig weißes Kleid, das sie größer, blühender machte. Einen weißen Ledergürtel, einen Sonnenschirm von derselben Farbe. Selbst ihre Schuhe waren weiß.

Sie ging in ihrer nachdenklichen, verträumten Art neben Ginstermann einher. Ihr Haar flimmerte, wo die Sonne es traf. Den Mund hatte sie geschlossen, um ihre Augen zogen Ringe. So erschien sie älter, gereifter denn sonst.

Sie schritten ihre gewohnten Wege. Am Wasserfall blieben sie stehen, die Kühle zu genießen. Das Wasser wirbelte, ein ewig bewegter Spiegel des Laubes, des Himmels, in bunten Arabesken zwischen den lechzenden, üppigen Ufern. Dazwischen sprühte feiner Wasserstaub bis zum Geländer herauf, den die Haut, die Lippen gierig einsogen. Gegen die sonnige Wiese war es hier dunkel; ein Sonnenstrahl tanzte auf dem Wasser, ein sprühendes, lustiges Feuerchen, das hartnäckig Fuß zu fassen suchte, wie durch ein Brennglas auf ein und dieselbe Stelle dirigiert.

Sie gingen durch die Hauptallee, auf deren vom Sprengen dunkelen Boden Streifen von Sonne lagen, die wie Schlangen eilig an den Kleidern der über sie Schreitenden emporkletterten. Ein schillernder Laufkäfer eilte über den Weg. Er lief, was er konnte, als sei die Angst vor dem Zertretenwerden bei seinem Geschlechte, das Jahrhunderte in einem öffentlichen Garten lebte, zum Instinkt geworden.

„Sehen Sie, wie schön!“ sagte Bianka.

Das war das erste Wort heute. Sie schienen beide aufzuatmen und dem Zufall dankbar zu sein, der ihre Lippen löste.

Da kam ein Wagen und zerquetschte den Käfer. Seine schillernden Flügel standen weit auseinander.

„O“, rief Bianka aus, „sehen Sie nicht hin!“

„Das war ein Stück Schicksal“, versetzte Ginstermann, das Bild des zerquetschten Käfers vor Augen.

Wiederum schwiegen sie, an das Schicksal denkend, das über den Menschen waltet, jedes in seiner Art.

Das Schicksal hält die Menschen in einem Sieb und rüttelt. Wer über einer Masche ist, fällt durch, dachte Ginstermann.

Bianka blieb stehen und blickte ihn an.

Heute sei die Hitze unerträglich.

Das sei ein kleines Italien.

Ja.

Dieses „ja“ zitterte, weil sie es lächelnd aussprach.

Wann geht nun die Reise?

Bald, bald.

Ob ihre Mama kränker geworden sei, weil man sie abermals verschob?

„Nein.“ Sie lächelte mit leiser Wehmut. „Dieses Mal ist es etwas anderes gewesen“, sagte sie.

Sie wandt den Kopf und sah durch die Bäume hindurch über die Wiese, wo Männer und Frauen das Heu zusammenrafften. Eine Magd blickte direkt zu ihnen her, als ob sie sie neugierig beobachte; aber sie konnte sie natürlich gar nicht sehen. Ihr Gesicht war ein roter Klecks, sonst nichts.

Dann blickte sie ihn wieder an, und er las in ihren Augen, daß sie nun über den Brief sprechen würde. Er erschrak und suchte nervös in seiner Tasche nach irgend etwas.

Tschin—da—tschin—da—dadada — macht die Musik in der Ferne.

„Ich habe es Ihnen schon geschrieben, aber ich möchte es Ihnen wiederholen“, sagte sie, „ich finde nicht die Worte, um Ihnen für dieses Vertrauen zu danken!“

Sonst sagte sie nichts. Sie gab ihm die Hand, die er bewegt drückte.

Sie standen eine Weile beide beklommen. Bianka lächelte unmerklich, und dieses Lächeln ging auf seine Lippen über.

Tatatra—tatatra—bum — machte die Musik.

„Und nun wollen wir plaudern, mein Freund.“

Es war das erste Mal, daß sie ihn „Freund“ nannte.

Sie gingen weiter und sprachen von allerlei Dingen, die die Welt eben beschäftigten oder die Welt auch nicht beschäftigten. Aus irgend einem Anlaß kam Bianka darauf, ihn zu fragen, ob er ein Bild von sich besitze.

Nein, er besitze kein Bild von sich, erwiderte er.

Sie erriet seine Gedanken und kam ihm zuvor: „Nein, nicht.“ Und sie schüttelte den Kopf und wiederholte: „Nein, nicht . . . Es ist ja Sitte unter Freunden — aber lieber nicht.“ Das sagte sie ganz leise.

Die Schatten der Bäume streckten sich, die Wiese wurde rot.

Bianka mußte nach Hause.

Wie stets dachte er: Soll ich sie bitten, noch ein Viertelstündchen zu bleiben. Oder auch nur noch zehn Minuten? Mit Tränen in den Augen bitten?

Nie liebte er sie mehr als heute.

Sie ahnte ja nicht, wie allein er war, wenn sie gegangen. Wie einer, auf einer öden einsamen Insel, vor dessen Augen ein Segel vorüberzog. —

Wieder kam der Abschied.

Bianka sah auf ihre Hände. Der Mittelfinger ihrer Rechten trug einen weißen Däumling. Sie bewegte ihn leicht und lächelte.

„Ich habe mich geschnitten“, sagte sie. Dann riß sie mit einem Ruck den Däumling herab und bot ihm die Hand.

Ihre Augen waren groß und tief, voll von einem Ausdruck, den er sich nicht zu deuten wußte.

„Adieu!“

Er lächelte ein verzerrtes Lächeln und wiederholte mechanisch mit den Lippen: „Adieu“. —

Das war alles so schnell geschehen, daß er es nicht zu fassen vermochte.

Nun wollte er einen recht gescheiten Menschen bitten, ihm dies zu erklären!

Dann kam es wie Rausch über ihn. Er hatte ihr geschrieben, alles geschrieben und trotzdem — trotzdem —!

Heil Bianka! Heil Ginstermann!

Und: Heil Bianka! Heil Ginstermann! brauste es ringsum.

War er nicht ein Tor gewesen, seine Wünsche, seine Hoffnung so schnell in einen schwarzen Sarg zu sperren und tief in die Erde zu versenken? Ein dunkler Vorhang mit Fragen und Schlangen darauf war gestiegen, und vor ihm lag köstlicher Morgen mit klarer Frische und klingendem Äther!

Er ging in den Park zurück, er ging einsame Wege. Er ging ganz langsam.

Er legte sich unter einen Busch ins hohe Gras und breitete das Taschentuch übers Gesicht. So sah es aus, als wolle er sich vor den Mücken schützen.

Er weinte, still und leise. Das große Glück schluchzte in ihm.

Lange lag er so.

Da kamen Schritte, und eine tiefe Stimme sagte: „Das Betreten des Rasens ist verboten.“

Ein Schutzmann.

Er stand auf und lächelte ihm unter Tränen zu.

„Ich gehe schon. Ich danke Ihnen, mein Herr.“ Grüßte und ging.

Die Dämmerung füllte als blauer Dunst die Straßen, über die Stadt herauf stieg jauchzend die Röte des Abends. Ein vereinzelter Stern flimmerte mitten darin, wie ein winziges Loch, das einer in den Himmel gestochen hatte, um herab auf die Erde blicken zu können.

Die Menschen fluteten, plaudernd und lachend. Jeder trug sein Glück mit sich. Der heiße Sommertag hatte sie in übermütige Stimmung versetzt. Schöne Mädchen glitten durch die Menge, von der Liebe träumend. Die Herren ließen keine Dame vorbei, ohne sich nach ihr umzublicken und Scherze über sie zu machen, etwas lose Scherze.

Ginstermann war allen gut. Er liebte sie, wie man Kinder liebt, und freute sich ihres Tuns.

Der Mensch war zur Freude auf der Welt, wenn er einen Zweck hatte.

Man mußte es ihm lehren! Man müßte ein Evangelium der Freude schreiben! Über die Freude führt der Weg zur Liebe, die Freude lacht all das Kleinliche und Mißgünstige fort aus seiner Brust.

Er schlenderte in den Straßen umher, bis es dunkel wurde.

Dann überkam ihn der Wunsch, Bianka zu sehen. Er wollte ihr einen kurzen Besuch abstatten und hierauf die Nacht im Freien zubringen, um seine Freude auszukosten. Urplötzlich war diese Sehnsucht in ihm erwacht und trieb ihn nun ungeduldig seiner Wohnung zu.

Er wollte die sehen, deren Freund er war, die für ihn das Leben bedeutete, das warme, große Leben, ohne das er tot war.

In der Nähe seines Hauses ging er an einem Mädchen vorüber, das da, ein Hündchen an der Leine, gemächlich promenierte.

Es war Fräulein Scholl. Er blieb stehen und blickte sich um.

Auch sie war stehen geblieben und wandte ihm den Blick zu.

„So etwas!“ lachte sie, ihm die Hand voller Vergnügen hinstreckend. „Das sind Sie! Ich denke mir, wer sieht dich nur so an?“

„Guten Abend, Fräulein Scholl! Welches Unglück führt Sie denn durch diese Straße?“

„Ich bin auf dem Heimwege begriffen, ich habe meine Freundin besucht. Die Hanna Klett.“

Jawohl, die kenne er. Das sei die mit den vielen Sommersprossen und den unschuldigen Augen.

Fräulein Scholl blickte ihn an und lächelte verlegen.

„N—nein“, sagte sie.

„Nicht?“ Er lachte. „Seien Sie nicht böse. Ich kenne das Fräulein nicht.“

Das wäre auch gar nicht möglich.

Natürlich.

Wieso natürlich?

Naja — haha — es sei natürlich ebensogut möglich.

Sie blieb stehen und wirbelte die Leine um Bijouchens Näschen. „Weshalb sind Sie mir eigentlich böse, Herr Ginstermann?“ Sie sah zu Boden.

Er, ihr?

Ihre Augenlider gingen schnell auf und ab. „Ich sehe Sie gar nicht mehr, wenn ich in die Violinstunde gehe.“

Ach so. Nun, sie wisse doch, daß er krank war.

„Ja, aber —? Nun ja, Sie haben nichts gegen mich?“

„Nicht das mindeste.“

Sie lächelte: „Ich dachte, ich hätte Sie irgendwie gekränkt. — Geht es Ihnen nun wieder gut?“

Sie gingen an einem Bäckerladen vorbei, und für einen Augenblick huschte der Lichtschein über ihr Gesichtchen. Ginstermann bemerkte, daß sie an der Unterlippe nagte. Das war nicht mehr jenes naive, lustige Mädchen, mit dem man seine Scherze trieb, das war ein Weib, das empfand und litt.

„Ja, danke. Ihr Bruder hat mich schnell kuriert.“

„Er hat mir von Ihnen erzählt.“ Sie blickte ihn an, und ein Lächeln schimmerte in ihren dunkelgoldnen Augen.

„Was sagte er? Hat er mich recht angeschwärzt.“

„Ach nein — er sagte — er sagte: an Ihnen sei was.“

„So, was ist denn an mir?“

„Ach Gott!“ Das war Martha Scholl von neulich.

Sie waren an seiner Türe angelangt, und Ginstermann ersuchte sie, eine Sekunde zu warten, er wolle nachsehen, ob die Post nichts gebracht habe. Eilig stieg er in sein Zimmer hinauf. Er entzündete ein Streichholz und flüsterte, als das marmorweiße Antlitz aufleuchtete: Bianka. Dann sprang er wieder rasch die Treppe hinunter.

Biankas Antlitz schwebte vor ihm, während des ganzen Weges, den er mit Fräulein Scholl zurücklegte. Es war ihm unmöglich, seine Gedanken davon loszulösen, und er unterhielt seine Dame herzlich schlecht. Ein paarmal mußte er sie um Wiederholung ihrer Bemerkung ersuchen, da er nicht gehört hatte.

Ich will ja nichts als deine Freundschaft, Bianka, sie allein macht mich unsäglich glücklich, dachte er, während er Fräulein Scholl antwortete: „In Genf ist es prächtig, da haben Sie allerdings recht.“

Glaube mir, nie soll ein Gedanke über die Grenze hinausgehen, die du mir gesetzt hast, Bianka, Herrlichste — und er sagte: „In so einer Pension muß es recht lustig hergehen, stelle ich mit vor.“

Sie hatten Biankas Namen noch nicht genannt, ganz zuletzt sprach Fräulein Scholl von ihr.

„Sind Sie nicht recht glücklich, daß Fräulein Schuhmacher noch hier ist?“ fragte Ginstermann.

„Ja, o freilich. Ich darf gar nicht an den Abschied denken.“

„Das begreife ich. Fräulein Schuhmacher ist ja Ihre Freundin. Ich denke, auf diese Freundschaft können Sie stolz sein. Fräulein Schuhmacher ist sehr exklusiv, wie ich weiß.“

„Ja, Bianka ist sehr wählerisch.“

„Fräulein Schuhmacher“ —

Da unterbrach sie ihn. Sie müsse jetzt gehen.

Aber sie ging gar nicht, obschon sie ihm hastig die Hand hingestreckt hatte. Sie besann sich auf irgend etwas, dann rief sie mit einer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit: „Adieu, Herr Ginstermann“, und sprang in den Hausflur hinein.

Bijou galoppierte hinter ihr her.

Ginstermann ging einigermaßen verwundert über ihr Benehmen weiter. Er wanderte langsam die Leopoldstraße hinunter, an all die Qual denkend, die er hier auf und ab geschleppt hatte.

Bianka hatte Licht. Er blieb stehen und winkte mit der Hand zu dem erleuchteten Fenster hinauf.

Vielleicht denkt sie an mich, dachte er, freudig erschreckend bei dem Gedanken.

Eine Stunde darauf befand er sich wieder im Englischen Garten.

Wie komme ich nur hierher, sagte er lächelnd zu sich.

Die Nacht war ganz weiß.

Übergossen vom Schein des Mondes, der allen Dingen das Körperhafte nahm, erfüllt vom Geruch des Heus, der Linden, zitternd im Gezirpe eines Heeres von Grillen, das die Stille zauberhaft erhöhte, lag der Garten da gleich einem Schmuckkästchen, von einem mit Tausenden von blitzenden Steinen übersäten Deckel abgeschlossen.

Ah — das war ein Hain, auf dessen Wiesenteppichen die Elfenreigen der Maler schweben, aus dessen Schatten die Poeten ihre Spuk- und Traumgeister springen lassen.

Hier stand Yester und Lis Haus!

Er nahm den Hut ab und schritt die kühlen Laubgänge entlang, die ihre Blütenzweige wie liebende Arme um ihn schlangen, ergriffen von all den Wundern der Welt um ihn her und seines Herzens. Geschichten fielen ihm ein, hundert Geschichten zugleich, die ihm all dieser Garten erzählte. Und in all diesen Geschichten, da liebte einer ein Mädchen mit einer innigen, demütigen Liebe. So umgab er Bianka mit einem Kranz von Träumen, die sie keusch kosend umhüllten, wie die weißen Rosen die Prinzessinnen im Märchen.

Auf den Bänken im Schatten, da saßen Liebesleute, sich inbrünstig umschlingend, sie flüsterten, sie stammelten, sie küßten sich, ja sie schluchzten. Vögel zwitscherten im Traum, lautlos strichen Schatten über die Wiese, dunklen Wipfeln zu. In den Bächen tanzten des Mondlichts silberne Fische.

Auch den Monopteros besuchte er, ihn mit heiliger Scheu betretend. Dieser Tempel war heilig durch die Reinheit seiner Kunst, geheimnisvoll in der weißen Pracht, dieser Tempel war geweiht durch Biankas Fuß.

Er lehnte sich gegen eine der kühlen Säulen und blickte hinunter, hinüber. Das Zirpen der Grillen, die Stille trug ihn empor, er erschien sich wie ein Wesen, aus dem Äther herniedergestiegen.

Die Wiesen schimmerten unter ihm mit dem Schatten der Heuhäuschen, die Bäume zogen wie Rauch im Silberlichte, aus der Silhouette der Stadt stieg der Lichtschein gleich weißem Opferrauche.

Ferne, seltsame Laute ertönten, als ob die Stadt in unruhigem Schlafe rede.

Er verbrachte die Nacht im Garten. Biankas Geist war ihm nahe, umgab ihn, alle Worte, die sie zusammengesprochen, alle Gefühle, die sie hier empfunden, schwebten um ihn.

Leise singend ging er seine Wege. Er saß auf einer Bank und schrieb in den Sand. Ava — ava — abala — schrieb er. Er wußte nicht, was es hieß.

Sein Wesen löste sich auf, der Zauber der Nacht war in ihm, er war ein Hauch dieser Nacht selbst.

Was ist der Mensch? Ist er eine Blume, die sich frei bewegt? Ist er ein Hauch aus fernen Gärten, der Gestalt angenommen?

Der Park erklang in silbernem Gesange. Eine Wolke trug ihn dahin, und über ihm schwebten die Sterne, den glitzernden Perlen einer ungeheuren Fontäne gleich. Im Geiste nahm er sein Herz aus der Brust und hob es hoch in den Händen den Sternen entgegen und rief: Segnet es, segnet es . . .

Früh am Morgen ging er nach Hause. Es war kühl geworden, und sein Blut floß langsam durch den Körper —

Als er die Treppe hinaufstieg, knarrte oben ein Schritt. Er erschrak nicht, er lebte noch zu sehr in seinen Träumen. Ein Mann stand in der Ecke, die Hand am hinaufgeschlagenen Rockkragen, mit nassen, verquollenen Augen. Es war Ritt. Er lächelte und huschte an ihm vorüber.

Ginstermann dachte, was mag er gewollt haben, und legte sich nieder.

Der Schlaf kam, er fühlte wie er, ein Hauch, über ihn strich.

Zwischen Wachen und Schlaf vernahm er leisen Gesang und eine Sekunde lang tauchte es vor ihm auf: Sommermorgen. Frische. Ein Hain blühender Akazien, mitten drin ein weißes Haus. Vögel zwitschern, o, des Duftes! Und aus dem Hause tönt eine weiche Frauenstimme. Aus dem fernsten Zimmer kommt ihr Gesang.

O tu mio carissimo — o tu mio cuore . . .

Blüten wirbeln, weiß in weiß, das Haus, der Hain verschwinden.

Ferne noch: O tu mio carissimo — o tu mio cuore . . . .

XX.

Am Tage darauf erhielt Ginstermann folgenden seltsamen Brief:

Werter Herr Ginstermann!

Sie werden gewiß verwundert sein über die Zeilen, aber es läßt mir keine Ruhe. Ich habe gestern deutlich empfunden, daß sie eine andere lieben.

Ich werde Ihnen nie zürnen, denn diese andere ist tausendmal besser und klüger denn ich, ich werde Sie bis zum Tode lieben.

Verzeihen Sie mir dies. Nun heirate ich den ersten Besten. Ihre X. X.

PS. Antworten Sie mir, bitte, nichts darauf. Sprechen Sie mich auf der Straße nicht mehr an, ich bitte Sie. D. O.

Da fiel ihm dies ein: Einer kommt zu einem Weibe und sagt: Siehe, du Herrlichste, was du verlangst, ist geschehen. Ich habe mir die linke Hand abgeschlagen. Das Weib lacht: Es war ja nur Scherz, mein Freund. — Ein andrer kommt und spricht: Du bist häßlich wie eine Unke. Nun werde ich dich schlagen! Ja, schlagen werde ich dich! Das Weib lächelt: Schlage mich, schlage mich doch, Liebster!

Dies fiel ihm ein. Er wußte nicht mal, ob er die Geschichte erfunden oder gelesen habe.

XXI.

„Kann ich weiter lesen?“

„Ja, lesen Sie weiter.“

Sie saßen zusammen auf einer einsamen Bank aus Birkenstämmen, der Ginstermann den Namen „zum schlafenden Brahmanen“ gab.

Über ihnen die grüne Flut der Wipfel, die sich schläfrig hin und her wiegte. Ab und zu fiel ein Stückchen Sonne, ein Stückchen blauer Himmel zu ihnen herunter.

Sie waren ganz allein.

Und Ginstermann fuhr fort:

Yester kehrte spät in der Dämmerung zurück.

Er trug einen Strauß blauer Glockenblumen und war so müde. Die Sonne, die ihm noch in den Augen brannte, hatte ihn müde gemacht. Er war am Bache gesessen und hatte dem Spiel der Fische zugesehen. Es war ihm so eigen zumute.

Fahl leuchtete das Haus zwischen den Birken, fahl leuchteten die Hyazinthen, in denen es stand.

Die Dämmerung machte alles bleich und bläulich dunstend.

Da stand Li! Da stand Li!

Sie hatte das Gewand abgestreift und stand durchsichtig wie Marmor und regungslos. In der Hand hielt sie eine Hyazinthe, das Haupt geneigt, ohne daran zu riechen. Sie stand schon lange so.

Yester näherte sich ihr mit leisen, bebenden Schritten und glitt vor ihr in die Knie. Da bemerkte sie ihn. Sie jauchzte, schlang ihre Arme um seinen Nacken und küßte seine Haare.

Er umschlang sie und küßte ihre Lippen.

„Li! Li!“ flüsterte er.

Sie sah ihn an. „Deine Stimme ist ganz anders,“ sagte sie.

Er lächelte und bettete ihren Kopf an seine Brust.

Lis Augen waren tief und voller Rätsel. Sie hatte den Wald in den Augen, mit all seinen scheuen Tieren, seinen weißen Blumen, seinen purpurnen Schatten.

Ein schwüler Wind hauchte. Die Hyazinthen neigten ihr weißes Haupt und atmeten schwermütig süßen Duft.

Da fing Li plötzlich an zu weinen.

Yester erschrak so sehr, daß er keine Worte fand, sie zu fragen, sie zu beruhigen.

„Li, Li,“ flüsterte er in seiner Ratlosigkeit.

Li preßte die Wange an seine Brust und weinte.

Der Wind hauchte, und von den Bäumen fielen weiße Blüten auf ihre Haare, ihre Schultern. Die Birken sangen.

„O Li, o Li — Li, o Li?“

Li hielt im Weinen inne und lächelte zu ihm empor.

„Ich sehne mich so, Liebster,“ sagte sie leise, ganz leise.

Immer noch fielen Blüten auf sie herab. Die Hyazinthen dufteten stärker, sie litten mit Li.

„Ist es nicht schön bei uns, Li?“

Li nickte.

„Ist der Wald nicht herrlich? Duften die Blumen nicht köstlich, glitzert nicht der Tau an den Rosen des Morgens?“

Li nickte.

„Und lieb ich dich nicht?“

„O Yester!“

„Und doch — und doch — Li?“

„Ich sehne mich so, Yester. Yester, ich sehne mich so . . .“

Im Hain schlug süß ein Vogel. Bald nahe, bald ferne. Weit drinnen im Walde, da antwortete es ihm. Im selben süßen Tone. Nun waren es zwei, nun drei, nun waren es viele. Sie lockten sich mit schmelzender Stimme, sie antworteten einander mit ihrem süßesten Liede. Es sang der ganze Hain.

Da droben gingen die Sterne, gingen langsam die Sterne und lauschten.

Der Wald sandte seine Gerüche, die Wiesen, die Quellen. Schatten glitten durch die Büsche, jagten sich, fanden sich. Aus den Blüten sahen Augen, schöne, sanfte Augen.

In der Ferne schrie ein Pfau.

Da verstand Yester die Sehnsucht in Lis Augen.

„Li, Li,“ schluchzte er.

Der Hain sang, der Wald sandte seine Gerüche, die Wiesen, die Quellen. Da droben gingen die Sterne, gingen langsam die Sterne und lauschten . . .

Yester und Li wurde ein Knabe geboren. Es war zur Zeit, als blaue Tulpen das Haus umstanden, und deshalb nannten sie ihn „Blaue Tulpe“.

Alle Tiere des Waldes kamen, um ihn zu sehen. Die Hirsche, die Rehe, die Rotkehlchen, die Eidechsen, die Bienen. Elfen brachten ihm ein Gewand, das sie aus ihren Haaren gewoben, Erdmännlein golden Geschmeide und Spielzeug, das sie gefertigt.

„Blaue Tulpe“ hatte die tiefen, klaren Augen Lis. Er hatte Lis Haare, Lis Stimme, er hatte Lis leichte Füße, Lis Lachen, er hatte Lis gütiges, goldenes Herz.

Von Yester hatte er die tiefe Farbe der Lippen, von Yester hatte er — die Art, Li zu lieben . . .

Weiter vermochte Ginstermann nicht zu lesen. Tränen kamen in seine Stimme. Er mußte innehalten, um nicht in Weinen auszubrechen.

Sie saßen beide und waren stille.

Über ihnen rauschte die grüne Flut, die Stämme tönten.

Bianka stand auf. Ohne Ginstermann anzublicken, sagte sie: „Wir sind so allein.“

Und sie ging.

Ginstermann blieb noch eine Weile sitzen, die Hände vor die Augen gepreßt, dann stand er auf, ihr zu folgen.

XXII.

Wie war es doch gewesen?

Gestern hatte er bei Kapelli vorgesprochen, um ihm das Gedicht vorzulesen, das am Feste der Taufe gesungen werden sollte. Sie hatten probiert und probiert, und Kapelli auf seiner Laute nach einer Melodie gesucht, während Frau Trud sich schüttelte vor Lachen.

Da ging die Türe auf, ohne daß es zuvor gepocht hätte, und die Malerin von Sacken trat ein.

„Verzeihung“, sagte sie, „ich habe gar nicht geklopft,“ und lachte.

Kapelli erklärte ihr, daß das längst aus der Mode sei.

Sie schüttelte Frau Trud, Kapelli und ihm die Hand und lachte. Dann blieb sie stehen und atmete tief auf, auf ihren Wangen brannten rote Flecken:

„Ich komme eben vom Sekretariat, Kinder!“

„— mit Kri — kra — kri — kra — krallen, mit Krallen an den Fingern,“ summte Kapelli und klimperte in den Saiten.

„Vom Sekretariat?“

„Ja!“ Sie setzte sich, stand wieder auf. „Vom Sekretariat — soeben bin ich gerufen worden — — mein Bild ist von der Staatsgalerie angekauft!“

Alle schüttelten ihr die Hände, teilnehmend an ihrer Freude, froh, sie endlich glücklich zu sehen.

„Ich gri — gra — gratuliere!“ sang Kapelli mit hellem Tenor.

Da veränderte Fräulein von Sacken plötzlich ihr Wesen und blickte sie mit triumphierenden Augen an. „Nun noch das!“ rief sie. „Erst die Rezensionen und nun noch das! O, was wird sich diese feige Gesellschaft schämen, diese nichtswürdige, erbärmliche Gesellschaft, was wird sie sich schämen!“

Damit war sie zur Türe hinaus, ohne jeden Gruß.

Die drei sahen einander an, eines verblüffter wie das andere, bis schließlich Kapelli in lautes Lachen ausbrach.

Und nun heute?

Er kam spät nach Hause und fand das ganze Haus in Aufregung. Kapelli stand unter der Türe und winkte ihn herein.

„Kommen Sie schnell!“ rief er. Er war erregt wie noch nie.

Da war das Atelier finster, und da saß Frau Trud am Tisch und schluchzte.

Als er eintrat, stand sie auf und schluchzte lauter.

Kapelli umschlang sie und drückte sie sanft auf das Sofa zurück.

„Wein nur, wein nur Trud,“ sagte er, selbst dem Weinen nahe.

Ja, was denn nur sei?

Kapelli ging in eine Ecke, wie um etwas zu suchen.

„Nun ja — die Sacken —“

Das war es, die Malerin hatte sich erschossen . . .

„Warum nur? Warum nur?“ stieß Frau Trud heraus. „Gerade jetzt —!“

Ginstermann wußte es.

Ganz plötzlich war ihm die Erleuchtung gekommen. Er wußte alles, die ganze Tragödie des armen Weibes lag vor seinen Blicken enthüllt.

Er ging hinunter zu Ritt und pochte. Keine Antwort. Er rüttelte an der Türe.

Dann begab er sich hinaus in den Hof und klopfte energisch gegen die Scheiben. Nichts regte sich.

„Schuft!“ rief er. Er schlug die Scheibe ein und rief hinein in das finstere Atelier.

„Ah, öffnen Sie nur, Sie Wicht!“

Seine Stimme hallte wieder. Er fühlte, daß niemand im Zimmer war.

Er ging wieder an die Türe zurück und entzündete ein Streichholz.

„Verreist.“

„Der Schuft ist durch, der Schuft ist durch!“ —

Am anderen Tage, in aller Frühe, vernahm Ginstermann vom Korridor herein die Stimme eines alten Herrn, eine schnarrende, unangenehme Stimme, aus der er aber doch die Stimme der Toten heraushörte. Es war ihr Vater.

Schritte kamen und gingen. Ein Wagen fuhr in den Hof. An allen Fenstern erschienen gefühllos-neugierige Gesichter. Ginstermann zog die Vorhänge zusammen und wandte den Fenstern den Rücken zu.

Schwere Schritte stampften die Treppe hinab, gedämpfte Rufe wurden hörbar.

„Heben Sie höher!“ befahl die schnarrende, unangenehme Stimme.

Ginstermann öffnete die Türe. Ein dunkler großer Sarg schwankte auf den Schultern schwarzgekleideter Männer um die Biegung der Treppe.

Er erschien ihm wie einer, der sich im Starrkrampf befindet und winken möchte und nicht kann.

„Da drinnen liegt ein Mensch!“ sagte er und begab sich zurück in sein Zimmer.

Er zog ein Schubfach auf und zählte seine Barschaft. Es waren knapp zwanzig Mark. Das Geld nahm er und bestellte einen Kranz dafür. Einen Kranz aus blutroten Rosen. Er wollte auch am Grabe der Sacken sprechen, er!

Am Abend pochte es, und ein kleiner, stämmiger Herr mit weißem Schnauzbart, kurzen Haaren und rotem Gesicht trat in sein Zimmer.

„Major von Sacken“, sagte er, sich kühl verbeugend.

Ginstermann lud ihn ein, Platz zu nehmen, und erkundigte sich nach seinen Wünschen.

„Ich möchte Sie fragen, mein Herr, ob Sie meiner Tochter irgendwie näher standen?“

Nein, er sei ihr nicht näher gestanden.

„So? Ha, das ist sonderbar, mein Herr!“ Er warf ein Päckchen Briefe auf den Tisch und blickte Ginstermann höhnisch an.

Ginstermann ließ sich dadurch nicht beirren. Er öffnete einen Brief, der seine Adresse trug. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen. Die Bitte, diese Briefe zu verbrennen, da sie es nicht vermocht habe. Und dann noch etwas.

Und dann noch etwas . . .

Der Major starrte auf den Boden, vor sich hinblasend, als wolle er eine kleine Windmühle in Gang halten.

Ginstermann legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, ihn durchdringend anblickend:

„Sie haben ein Verbrechen begangen, Herr Major!“

Der alte Herr stand auf und maß ihn.

„Wie können Sie es wagen —!“

Ginstermann wiederholte, seinen Blick erwidernd: „Sie haben ein Verbrechen begangen, Herr!“

Der alte Herr wurde dunkelrot im Gesicht und hob die Faust empor, seine Augen waren stahlgrau.

Ginstermann wich nicht vom Fleck, er sagte im gleichen Tone wie vorhin:

„Sie haben ein Verbrechen begangen, Herr!“

Da brach der Alte zusammen, wie durch einen Hieb. Er sank in den Stuhl und krallte die Finger in seinen Kopf.

„Wer konnte es denn wissen!“ schrie er.

Dann stand er auf und räusperte sich.

„Was wollen Sie — mit Ihrem Verbrechen — das ist ja heller Unsinn. Nein, sage ich, nein, Sie kennen die Verhältnisse nicht. Meine Tochter mag Ihnen geschrieben haben, was sie will! Gut. Mein Herr, meine Tochter achtete Sie, sie schrieb Ihnen ja noch zuletzt. Gut. Ich möchte nicht, daß wir als Feinde scheiden. Meine Tochter achtete Sie — gut — adieu, mein Herr!“

Er streckte Ginstermann die Hand hin.

Aber Ginstermann blickte ihn abweisend an, ohne seine Hand zu nehmen.

Da wurde der Alte kreidebleich. Er stand lange Zeit, dann wandte er sich der Türe zu und stolperte über die Schwelle. Schon draußen, blickte er nochmals um, noch ebenso blaß wie zuvor.

„Adieu, mein Herr“, sagte er mit gebrochener, weicher Stimme.

XXIII.

Der Hymnus der Morgenröte.

11. Hymnus an Bianka.

Stimme vom Berge:

Gott ist groß! — Licht gleißt sein Antlitz.

Sein Lächeln

Streut Rosen und Myrrhen

Auf das dunkle Haupt der Welt.

Stimme in der Ferne:

— — — scheucht die Schatten

In ihr finstres Reich

Mit goldnen Pfeilen. — Groß ist Gott!

Chor der Betenden:

Der das Licht aus dem Dunkel schlug,

Die Erde schöpfte aus der schwarzen Flut,

Ist unser Herr!

Gestalt gab dem Elefanten, dem Kamel,

Dem einhöckrigen, dem zweihöckrigen,

Dem Büffel, dem Krokodil,

Das Korn, die Lotos schuf,

Wind und Regen uns gibt und Weide unsrer Herde,

Ist unser Herr!

Chor der Suchenden:

Wir gehen rechts — wir gehen links,

Wir gehen links — wir gehen rechts,

Wissen wir’s?

Wir gehen vorwärts — wir gehen zurück,

Rund herum um das Glück.

Das finden wir nicht.

Uns trägt der Rücken eines Tiers.

Das kennen wir nicht.

Wir pochen an der dunklen Wand,

Ob nicht die Pforte einmal springt,

Die keiner fand.

Wir trinken Nächte,

Uns trinkt die Nacht.

Wir schleppen die Kette von Menschenleid,

Die endlose Kette von Menschenleid,

Die jedes Herz noch schwerer macht,

Durch die engen Dornentore der Zelt.

Und tragen sie ringsherum um die Welt,

Und immer ringsherum um die Welt,

Und harren der Stunde, da sie fällt.

Und suchen das Lachen.

Und suchen unsere Ewigkeit.

Und tasten weinend der Finsternis Pfade.

Rate!

Rate!


Eine Stimme singt:

Mit Blüten bestreu ich euch,

Ihr Bittren!

Mit süßen,

Wohlriechend wie der Morgenwind,

Die in den ewigen Gärten sprießen,

Die ferne von der Erde sind . . .


Alles, was klingt,

Zerspringt.

Das tiefste Meer

Verrinnt.

Alles, was Staub ist,

Wird Wind.

Wird Wind!

Alle Zeit

Ist ein Flügelblinken der Ewigkeit.

Und denkst du an den letzten Tag

Gibt’s keinen Tag!

Öffne dein Herz.

Schwester, Bruder,

Bruder, Schwester,

Öffne dein Herz!

Die Zeit der Saat — naht!

Denke an mich:

Die Lebensgebärerin,

Die Lebensernährerin,

Die Lebenserweckerin,

Die Lebensvollstreckerin

Bin ich!

Denke an mich:

Was schläft, das muß reden.

Was tot ist, will ich töten.

Und keine Tiefe ist mit zu tief,

Die ich nicht rief.

Flügel schenk ich dir, die tragen

Dich über die Erde.

Wer über der Erde

Nicht lebt,

Lebt nicht

Auf der Erde,

Und nimmer ist’s nötig,

Daß er begraben werde.

Denke an mich:

Die Lebensgebärerin,

Die Lebensernährerin,

Die Lebenserweckerin,

Die Lebensvollstreckerin

Bin ich!

Im Herzen des Alls,

Da quillt ein See,

Er hat nicht Grund.

Gott warf sein Herz hinein,

Daß ich entsteh!

Gott warf sein Herz hinein,

Warf seines Sohnes Herz hinein,

Warf aller Weisen und Guten

Herz in den See,

Daß ich entsteh!

Öffne dein Herz,

Schwester, Bruder,

Bruder, Schwester,

Öffne dein Herz.

O, öffne dein Herz!

Die Zeit der Saat — naht!

Schmücke dich!

Den Blühenden trägt die weite Flut zur Ewigkeit,

Der Dorre sinkt!

Die Ewigkeit liebt wüste Gärten nicht!


Chor der Erlösten, jubelnd:

Liebe! Liebe!!

Chor der Verlornen, schluchzend:

Die Ewigkeit liebt wüste Gärten nicht . . . . . .

XXIV.

Der letzte Tag.

Ginstermann stand fröstelnd am Fenster und sah ihn grau über die Dächer kommen. Und voller Bangen frug er ihn in sein verschlossenes Antlitz hinein: Was bringst du mir?

Er hatte versucht zu schlafen, umsonst. So war er wieder in seine Kleider geschlüpft und auf und ab gegangen in seinem Zimmer, auf und ab, diese dunkle, ewige Nacht voller seltsamer Rufe und gequälter Schreie hindurch.

Was wird morgen sein, was wird morgen sein? frug seine Qual.

Bianka war für ihn ein großes Feuer, durch das ihn das Geschick peitschte. Wie würde er hervorkommen? Würde es ihn verbrennen?

Liebe Freunde, er wollte sich ja zusammennehmen. Er wollte ja ringen, soweit seine Kräfte reichten. Aber tief in seinem Innern, da lebte eine verzweifelte Überzeugung: er sah einen schwanken und stürzen. Er wollte kämpfen, so lange es ging.

„Wer gab dir diese Macht, Bianka?“ rief er aus. „Ein Lächeln von dir kann mich selig machen, du kannst mich in ein Land schicken, von dem kein Schiff mehr zurückkehrt. Mache meiner Qual ein Ende, so oder so, heute mache ihr ein Ende. O Vernunft, wie ohnmächtig bist du!“

Alle Kämpfe der letzten Monate tobten in ihm, alle zugleich, und diese dunkle Einsamkeit stand vor ihm, starr, unerbittlich, riesengroß, wie sein Schicksal selbst, zu dessen Füßen er lag.

Dumpf schlugen die Uhren. „Hörst du“, rief er, „nun treiben sie die Nägel in deinen Sarg. Das Schicksal hat seinen Pfeil auf dich abgedrückt, du magst dich krümmen und winden, wie du willst, er wird dich erreichen.“

Da draußen stöhnte die Nacht. Es waren die Todesschreie der Getroffenen, die auf der unendlichen, dunklen Wahlstatt sanken, die Leben heißt.

All die Kämpfe — und zuletzt doch verzweifeln! Und doch verzweifeln!

So war sein Leben: er ward und ging und geriet in ein Bordell. Er entkam und ging und geriet in das Herz eines jungen Mädchens. Immer geriet er, immer geriet er. Der Mensch geht nicht, er gerät! Das ist die letzte Wahrheit.

Und hier sollte er enden. Er, der noch vor kurzem über sein Leben gesehen hatte wie über weite, weite Ebenen!

Er sah seine gespenstisch flackernden Augen im Spiegel und nickte. „Jaja, du bist gezeichnet!“

Aber vielleicht, vielleicht würde sich die dunkle Wand doch teilen und ihm einen schmalen Pfad zeigen, auf dem er entweichen konnte?

Vielleicht, vielleicht würde er Bianka auch wiedersehen? Da sah er einen vor sich, der von Dorf zu Dorf zog, in den Schenken sang und lustige Verse deklamierte, um seine Schlafstätte zu verdienen. Er wanderte nach Süden, immerzu nach Süden.

Es gab wohl hundert Möglichkeiten, Hunderte und abermals Hunderte von Zufällen.

Da ist ein Theater, vollgepfropft von Menschen, Was spielt man? Man spielt: Yesters Tod. Wißt ihr, was Liebe ist, ihr Leute? Nun tritt einer vor die Rampe und verbeugt sich. Sein Lächeln ist traurig, seine Augen erstorben. Ich habe mein Herzblut für dieses Stück gegeben, ihr da drunten, das ihr applaudiert. In der ersten Sitzreihe — er verbeugt sich tief und lächelt . . .

Da ist der Kurgarten eines Weltbades. Die elegante Welt promeniert, die Kapelle spielt. Aus Tristan und Isolde. Sie spielt gut, sie spielt für verfeinerte Ohren. Auf einer Bank am Wege sitzt ein Bettler. Er kam zu Fuß hierher, seine Schuhe sind zerrissen. Grau und welk ist sein Gesicht, vom Trunk verwüstet seine Augen. Er hat sein Ziel verfehlt, er ging zugrunde. Einst war er ein König. Die Allee herauf wandelt eine schlanke Frau am Arme ihres Gatten. Sie sind glücklich, sie sind vornehm, hinter ihnen geht ein Diener mit silbernen Knöpfen. Die schlanke Frau streift den Bettler mit einem kurzen Blick. Sie ist reich, sie ist glücklich, was kümmert sie der Bettler? Heute, morgen, jeden Tag. Die Kapelle spielt sanfte Weisen, die vornehme Welt zieht vorbei. Die schlanke Frau sieht in des Bettlers verwüstete Augen. Er hat sein Ziel verfehlt, einst war er König. Was kümmert sie der Bettler? Und heute — heute kommt ein Diener mit silbernen Knöpfen an die Bank am Wege und spricht: „Jemand interessiert sich für Sie. Man bittet Sie, Ihren Namen zu sagen.“ Da erhebt sich der Bettler und geht. Weit, weit, so weit ihn seine Füße tragen . . . .

Endlich graute der Tag.

Er wuchs, er wuchs, es wurde ganz helle.

Ginstermann hätte sich gerne von irgend einem Gotte eine kleine Ewigkeit erbeten, um sie zwischen Nacht und Tag zu schieben. Nur eine kleine Ewigkeit. Aber unaufhaltsam flogen die Minuten. Keine Macht der Welt hielt auch nur eine Sekunde auf. Ja, man mußte eilen, um mitzukommen.

Es war ein trüber Tag. Zeitweise regnete es.

Aber Bianka würde kommen, so konnte sie unmöglich von ihm gehen.

Den Vormittag über saß Ginstermann auf den Treppen des Monopteros. Als die Glocken zu Mittag läuteten, begab er sich in die Stadt, weit hinein, um die Zeit zu verscheuchen, die ihm nun endlos deuchte. Er trieb sich auf dem Bahnhof herum, sah Züge gehen, hereinbrausen, er ging zur Parade an der Feldherrnhalle, hörte die Wache mit Rumtata und vielen Kommandorufen aufziehen, betrachtete sich die Fremden, die auf den Staffeln herumsaßen und lauschten.

Kurz vor drei stieg er wieder den Hügel zum Monopteros hinauf.

Bianka stand schon oben.

„Ich bin etwas früher daran“ sagte sie, sich gleichsam entschuldigend.

Seit wann sie schon da sei?

Ungefähr zehn Minuten.

Wenn er es nur geahnt hätte!

Bianka trug ein graues Kleid und graue Glacé, so grau wie der Himmel.

Sie lächelte, aber ihr Lächeln war nicht wie früher.

Der Park war wie ausgestorben, die Wege naß und aufgeweicht. Das Gras lag am Boden, die Blätter hingen schlaff. Aus den grauen Tüchern da droben fielen vereinzelte Tropfen, ein weißer Fleck, wie ein transparenter Öltropfen auf grauem Papier, zeigte den Stand der Sonne.

Bianka brach ein Zweigchen zwischen den Fingern.

„Wir werden kein hübsches Reisewetter haben.“

Aber es sei kühl. Wie qualvoll wäre doch die Hitze in den Waggons.

„Ja, das ist allerdings ein Vorteil.“

Nach und nach kamen sie in ein leidliches Gespräch. Sie sprachen von ihren Zusammenkünften, bei Kapellis Fest angefangen. Sie ließen alle diese herrlichen Tage an sich vorüberziehen, ergänzten ihre Erinnerungen und lachten wohl auch über dies und jenes. Ja, sie lachten. Ginstermann kam in die Laune, Scherze zu machen, die er stets einigemal wiederholte. Und Bianka lachte mit. Eins wie das andere war bemüht, möglichste Alltagsstimmung vorzugeben, ohne zu erwarten oder zu wünschen, daß der andere sie für ernst nehme.

Hier geschah das, hier sprachen Sie das, sagte Bianka, während sie die bekannten Wege schritten.

Auch die Stelle passierten sie, wo Ginstermann einst im Wahnsinn das Kreuzchen eingegraben. Er schloß die Augen, um es nicht zu sehen.

Was wird morgen sein, was wird morgen sein, dachte er, und jedesmal zerriß sein Herz. Seine Lippen aber scherzten in gleichgültigem Tone.

Es begann zu regnen. Rings um sie rauschte es.

„Wollen Sie nicht Ihren Schirm aufspannen?“

„Nein, nein.“

„Wollen Sie nicht ins Restaurant treten?“

„Nein, nein.“

So schritten sie im Regen, der ihre Hüte zerweichte.

„Ich reise gar nicht gerne“, sagte Bianka, „gar nicht gerne.“ Dann lachte sie nervös und fügte hinzu: „Morgen um diese Zeit bin ich in Mailand, im schönen Mailand.“

„Und übermorgen in Nizza?“

„Voraussichtlich.“ Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf, um das Wasser aus dem Hutrande zu schaffen.

„Aber Sie bleiben doch nicht immer in Nizza?“

„Nein, Papa trägt sich mit dem Gedanken, nach Kairo überzusiedeln.“

„Nach Ka—iro!“

Seine Zähne schlugen aufeinander, während er dieses Wort wiederholte. Er biß sich in die Lippen und hieb mit dem Stocke Blätter vom Gebüsch.

Dann lachte er heraus.

„Das ist ein kleiner Katzensprung — das ist ein kleiner Katzensprung!“ rief er aus.

Bianka sah ihn an und bat ihn mit den Augen, sich zu fassen.

„Das ist ja in Afrika!“ lachte er. „In Afrika!“

Tränen traten ihm in die Augen, so sehr er auch dagegen ankämpfte.

Bianka nahm seine Hand und flüsterte: „Bitte.“

„Bitte“, flüsterte sie.

Er hatte sich auch sofort wieder und ging plaudernd neben ihr her. Aber seine Gedanken waren nicht bei seinen Worten. Er dachte daran, daß Bianka nach Kairo übersiedeln würde. Da gab es zwei Wege: einen übers Meer, einen über Kleinasien.

Heizer, Steward?

Ah, es war ja vorbei. Er würde es nicht ertragen. Morgen würde er schon verzweifeln.

Da stand Bianka still und sagte: „Wir müssen nun Abschied nehmen.“

„Ja“, sagte er rauh, „einmal muß der Teufel aus der Schachtel.“

Bianka blickte zu Boden, sie war ganz bleich.

Sie soll nur auch leiden, weshalb ließ sie mich nicht in Ruhe, dachte Ginstermann und richtete sich straff auf, ein bitteres Lächeln auf den Lippen.

Dann ging sie weiter, um bald wieder stehen zu bleiben.

„Wollen wir nicht noch einmal zu unserem Monopteros hinaufsteigen“, fragte sie und lächelte.

„Wie Sie wünschen.“

Nun galt es, sich zusammenzunehmen. Seine Hände bebten bei jedem Pulsschlag, in seinem Kopfe wimmelten verrückte Einfälle. Um keine Torheiten zu begehen, fing er an, von seinen Plänen zu sprechen.

„Nun werde ich arbeiten, arbeiten, viel arbeiten. Ich habe da so etwas im Kopfe. Da kommt einer drinnen vor, der im Sterben liegt. Aber zuvor will er sich noch den Spaß machen, seiner Umgebung die Wahrheit zu sagen. Er zertrümmert alle Heiligtümer, macht ein halbes Dutzend Menschen unglücklich. Nun empfehle ich meinen Geist in Gottes Hände, höhnt er und ist tot. Punkt. Hoffentlich wird es nicht verboten . . .“

Da tauchte der Monopteros vor ihren Blicken auf, und jäh brach er ab.

Jetzt kommt der Abschied, jetzt kommt der Abschied, rief es in ihm. Zorn, Wut, Schmerz schüttelten ihn, er hätte niederstürzen mögen und jammern wie ein Kind.

Sie waren oben.

Bianka sah über den Park hinüber nach den Türmen der Stadt, deren Spitzen blinkten.

Die Sonne arbeitete sich durch die Wolken, und Milliarden Fünkchen fielen durch ihre Strahlen. Irgendwo begann ein Fink zu rufen. Auf dem Wege drüben gingen zwei Herren. Ein braungefleckter Hühnerhund sprang in großen Sätzen über die Wiese. Irgend jemand pfiff, aber der Hund kümmerte sich den Teufel um seinen Herrn.

Bianka wandte ihm den Blick zu.

Blässe bedeckte ihr Gesicht, ihr Haar sah ganz golden aus. Die schmalen, durchsichtigen Lippen waren halb geöffnet, die Pupillen ihrer Augen groß.

Da gewahrte er, daß sie litt, ja, daß dieses Leiden nicht von heute war. Diese Stunde ließ es ihn erkennen. Vielleicht hatte sie ebenso gerungen wie er.

Aber das hielt kein Mensch länger aus, er wandte das Gesicht ab und sah dem Hühnerhund auf der Wiese drunten zu.

Bianka legte ihm die Hand auf die Schulter. Diese leichte Hand drückte ihn fast zu Boden. Aber er war mutig und lächelte, obschon er ihr hätte zu Füßen stürzen und ihre Knie umklammern mögen.

„Wir müssen uns jetzt adieu — sagen,“ flüsterte sie. So leise. Es war nur ein Hauch.

„Ja“, sagte er, laut.

„Wir müssen jetzt voneinander gehen“, flüsterte sie, so leise wie vorhin. Ihre Augen wurden größer, ihr Lächeln erstarrte.

Sie nahm die Hand von seiner Schulter und blickte in die Sonne.

„Es ist so schön. Gerade jetzt.“

Die Sonne hatte die Wolken durchbrochen und leuchtete aus einer phantastischen, ungeheuren Grotte von blendendem Bernstein.

„Ja, es ist schön“, wiederholte Ginstermann ohne Gedanken.

In allernächster Nähe sagte jemand unvermittelt laut: Das ist ja nicht möglich, das ist ja nicht möglich! Und ein anderer lachte und hustete.

Das ist schon möglich, Sie Esel, dachte Ginstermann.

Die Sonne überstrahlte Biankas Antlitz, so daß es durchgeistigter, ätherischer erschien. Die Sonne tauchte bis auf den Grund ihrer Augen.

Bianka streckte ihm die Hand hin, von der sie den Glacé gestreift hatte.

Ginstermann lächelte schmerzlich, dann nahm er mit raschem Griffe ihre Hand und sagte:

„Adieu!“ So tapfer als möglich sagte er es. Adieu! —

Bianka blickte ihn an, ein unnennbarer Ausdruck erfüllte ihr Gesicht, jede Linie verändernd.

Im nahen Laubgang pfiff jemand einen Gassenhauer.

Bianka zog ihn sanft an die Brust und küßte ihn auf die Lippen.

Ihr Herz pochte gegen das seine.

Er gab ihr den Kuß zurück.

„Liebster!“ hauchte sie, und ihre Augen glänzten in Tränen.

Dann wandte sie sich rasch, sprang die Stufen hinab und verschwand im Laubgang.

Ginstermann stand betäubt. Er stand ganz im Licht.

Ein braungefleckter Hühnerhund springt über die Wiese.

Ein braungefleckter Hühnerhund springt über die Wiese . . . .

XXV.

Ginstermann ging nach Hause. Ginstermann setzte sich in einen Sessel. Ginstermann dachte nichts.

Er fühlte nur, daß er glücklich war, befreit, erlöst, gerettet! Er fühlte nur, daß ihn neue Kraft durchströmte.

Die Stunden gingen, er saß und dachte nichts.

Am Abend pochte es, und er sagte herein.

Bianka trat ins Zimmer.

Er faßte es nicht sofort, und doch war er auch nicht überrascht.

Sie blieb an der Türe stehen und sagte: „Bleib, bleib.“

So blieb er auf derselben Stelle stehen.

Sie blickten einander an, eine Ewigkeit.

„Wollen Sie nicht Platz nehmen, Bianka?“ fragte er endlich.

Sie antwortete ihm mit einem langen Blick.

„Sage doch du zu mir.“

„Willst du nicht Platz nehmen, Bianka?“

Nein, nein — o, nur schnell — sie wolle nicht Platz nehmen. Sie wolle gleich wieder gehen. Der Wagen warte unten. Sie wolle — sie sei nur gekommen, um es ihm zu sagen . . .

Aber sie setzte sich doch. Auf einen Stuhl nahe der Türe.

Lange Zeit war es stille, dann begann sie mit leiser Stimme:

„Weshalb ich nicht kann — das will ich dir sagen, Liebster.“

„Sag es, sag es, Bianka, Herrlichste.“

Sie sann vor sich hin, sie blickte ihn an, sie blickte ihn voller Qual an.

Dann schüttelte sie den Kopf und breitere die Hände vors Gesicht.

Sie brach in Weinen aus.

Erst nach geraumer Zeit wagte er es, näher zu treten. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, ganz sachte.

„Bianka?“

Da schluchzte sie laut auf und tastete nach seiner Hand, die Linke auf die Augen pressend.

Er führte ihre Hand an seine Lippen, ganz sachte.

Plötzlich hörte sie auf zu weinen. Sie erhob sich. Ganz dicht kamen sie zu stehen. Unwillkürlich rückte sie den Stuhl zurück.

„Ich kann nicht“, flüsterte sie, ihn mit den Blicken beschwörend. Sie sah zu Boden und schüttelte sonderbar den Kopf.

„Härme dich nicht, Beste“, sagte er,

Sie ging zur Türe, ging hinaus. Die Türe stand offen.

Er wagte es nicht, ihr zu folgen, er blieb auf der gleichen Stelle stehen. Er wußte . . .

Da kam sie zurück. Sie nahm seine beiden Hände.

„O du!“ stammelte sie.

Sie küßte ihn auf die Lippen, sie beugte sich herab und küßte ihn auf das Herz.

Sie lächelte verzückt.

Dann ging sie . . . . .

XXVI.

Drei Uhr morgens.

Auf dem Geleise, das nach Süden führt, geht ein Mann. Weit weg liegt die Stadt.

Er geht immerzu.

Die Nacht ist klar und frisch, ringsum dampfen die Wiesen. Kein Laut. Der Mond steht am Himmel und alle seine Sterne.

Der Mann wandert immerzu, auf dem Geleise, das nach Süden führt.

Zur Linken ein Garten. Schimmernde Wipfel, ein bleicher Giebel. Der Duft von Rosen steigt in die Nacht.

Der Mann klettert über den Zaun. Ein Hund schlägt an.

Der Mann geht gemächlich von Stock zu Stock und reißt die Rosen ab. Ein Hund zerrt an der Kette und kläfft. Das kümmert den Eindringling nicht. Er plündert die Stöcke, dann steigt er wieder über den Zaun und setzt gemächlich seinen Weg fort.

Wo die Geleise in den Wald einmünden, macht er Halt.

Er wirft die Rosen über die Schienen.

Dann wartet er.

Er steht und wartet.

Eine Stunde. Ein Hahn kräht von weit her.

In der nebligen Ferne erscheint ein dunkler Punkt.

Es schnaubt, es rast, Eisen klingt in Eisen.

Der Mann tritt zurück.

Der Zug rast heran, der Zug rast vorbei.

Er entblößt sein Haupt.

Ende.

 

 

 

Anmerkungen zur Transkription


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