MÜNCHEN BEI GEORG MÜLLER
Einzige vom Verfasser autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Edgar Mesching
Aimé Leboeufs Abenteuer / Aus den Briefen der Claire Valmont / Florus und der Räuber / Der Schatten der Phyllis / Tante Sonjas Chaiselongue / Flügel
Zweite Auflage
Copyright by Georg Müller München
1911
Diese
bescheidene
Arbeit überreicht
Gabriele Mesching
der Übersetzer
Berlin / am
31./18. Aug.
1911
Madame de Tombel pflegte Mittwochs ihr Purgativ zu nehmen, an solchen Tagen verliess sie erst abends das Haus, ich war deshalb sehr erstaunt, als ich um zwei Uhr nachmittags an ihrem Hause vorüberging, sie nicht nur im Garten lustwandeln, sondern auch schon in Toilette zu sehen.
Sie antwortete nicht auf meinen ehrerbietigen Gruss, was ich dem Gespräch mit dem Gärtner zuschrieb, in dessen Begleitung sie den geraden Gartenweg auf- und abging, wobei sie sich bald zu diesem, bald zu jenem Strauche Herbstrosen neigte. Aber sowohl an den verwunderten Blicken des alten Sulpice, als auch am erregten roten Gesicht der Dame sah man, dass die Erklärungen des Gärtners ebenso zerstreut und nachlässig angehört wurden. Obgleich ich mit einem Stück Spitzen zu den jungen Largillac gesandt worden war, veranlasste mich das Unerhörte, das vor meinen Augen vor sich ging, meinen Gruss mit erhobener Stimme zu wiederholen. Auf mein lautes:
„Guten Tag, teure Madame de Tombel!“ wandte die Angerufene mir ihr volles, von grauen Locken umrahmtes Gesicht zu, das jetzt gerötet war, und antwortete, als bemerke sie mich erst eben:
„Ach, Sie sind es, Aimé? Guten Tag, guten Tag,“ und als sie sah, dass ich nicht weiterging, fügte sie hinzu: „Was haben Sie denn da in der Hand, Proben?“
„Nein, gnädige Frau, das haben die jungen Largillac für Mademoiselle Clémentine gekauft und gebeten es hinzuschicken.“
Es interessierte sie den Einkauf zu sehen und sie sagte etwas träumerisch vor sich hin:
„Wahrscheinlich wird die Zahl Ihrer Kundinnen sich bald um eine vergrössern, eine Verwandte kommt zu mir.“
„Wir sind erfreut sie willkommen zu heissen,“ antwortete ich mit einer Verbeugung. „Belieben Sie das Fräulein von weit her zu erwarten?“
„Aus Paris; aber es ist noch nicht bestimmt, so dass Sie, bitte, nichts ausplaudern, Aimé, weder Papa Mathieu und vor allem nicht Mademoiselle Blanche, . . .“
„Weshalb sollte ich wohl, gnädige Frau,“ begann ich gerade, als Madame de Tombel, welche die Strasse übersehen konnte, der ich den Rücken zukehrte, das Gespräch abbrach und ins Haus stürzte, wobei sie dem zurückbleibenden Gärtner zurief:
„Wie wird’s nun mit unserem Bouquet zum Willkommen?“
Ich kehrte mich um und erblickte eine Dormeuse, die unbemerkt durch den Schmutz herangefahren war. Bis zum Wagendach war sie mit Bündeln, Koffern und Kissen vollgepackt. Die Diener und Mägde von Madame de Tombel drängten sich zwischen dem Kutschenschlag und dem Haustor. Dann sah ich den Hut der Angekommenen mit seinen im scharfen Winde flatternden Bändern couleur „Adonis mourant“. Diane und Mameluk umsprangen sie bellend und von den obersten Stufen der halbdunkeln Treppe kam die Stimme von Madame de Tombel:
„Louise, Louise, mein Kind!“
Als Augenzeuge erregte ich mit meiner Erzählung von der Ankunft der Verwandten Madame de Tombel’s zu Hause, bei Tische grosse Neugier. Als Véronique, nachdem sie das Fleisch vor Papa Mathieu zum Zerschneiden hingestellt hatte, sich an unseren Tisch setzte, beteiligte auch sie sich an den allgemeinen Fragen, indem sie bemerkte: „Ist sie wenigstens unverheiratet, diese Dame?“ Aber ich wusste, ausser von den Bändern der Angekommenen, von nichts zu erzählen, so dass der Prinzipal sich wieder daran machte den Braten zu zerlegen und Mademoiselle Blanche mit einem Lächeln meinte:
„Man kann nicht sagen, dass Aimé ein guter Beobachter wäre.“
„Er hat sofort gesehen, was er, als Kaufmann, braucht: die Farbe der Bänder; was für Bänder waren es denn: aus Lyon oder St. Étienne?“ meinte Papa Mathieu.
Alle lachten und fingen an zu essen. Zwischen Braten und Käse sprach man bereits nur von den jungen Largillac und von Geschäften. Aber mein Kopf war ganz von der angereisten Dame in Anspruch genommen: was für Haare sie habe, welch ein Gesicht, was für Kleider, ob sie reich sei, ob verheiratet oder ledig und dergleichen mehr. Nach dem Abendbrot sass man, wie gewöhnlich, vor der Tür, um den warmen Abend zu geniessen, und wie gewöhnlich, erhob sich auch Papa Mathieu gähnend zuerst, um sich zur Ruhe zu begeben, denn er sah das Aufstehen mit der Morgenröte voraus, ihm folgte die Hausfrau und Véronique, und, wie gewöhnlich, blieb ich mit Mademoiselle Blanche allein auf den Stufen der Treppe vor der Haustür sitzen. Wir unterhielten uns leise darüber was morgen für ein Wetter sein werde, wie die Arbeit heute gegangen, weshalb Mameluk wohl belle, ob es bald einen Feiertag gäbe, — aber ich war zerstreut und hätte beinahe vergessen Mademoiselle Blanche zum Abschied zu küssen, die sich in ihr grosses Tuch gehüllt hatte und böse zu sein schien. Nachdem ich Néron von der Kette gelöst hatte, sah ich nach der Pforte, verschloss die Gartentür, das Haustor, löschte das Licht aus, stieg mit einer Kerze hinauf in mein Zimmer und legte mich schlafen, ohne an Mademoiselle Blanche, als an meine wahrscheinliche Braut zu denken, die mein Prinzipal und seine Gattin mir, ihrem Adoptivsohne, zugedacht hatten, der von Kindesbeinen in der Familie aufgewachsen war und weder Eltern, noch Heimat, noch die Kirche kannte, in der ich Jean, Aimé, Ulysse, Bartholomé getauft worden war.
Aus der ziemlich dunkeln Werkstatt konnte man einen Teil des gegenüberliegenden Hauses mit seinem Ziegeldache und dem langen Zaun sehen, der der einzige gestrichene in unserer Stadt war. Dann sah man noch das Strassenpflaster, das Schild der Bäckerei, den rotbraunen Hund, der vor der Pforte lag, den blauen Himmel, in der Luft umherfliegende Spinneweben. Und das alles erfasste mein Auge wahllos, nicht deshalb, weil mein Verstand von einem Gedanken ausschliesslich beherrscht wurde, sondern, im Gegenteil, infolge einer eigentümlichen Leere in meinem Kopfe. Ungeachtet der ersten Septembertage war es sehr heiss und in der Erwartung von Honorés Rückkehr, der zu ein paar Kunden geschickt war, schlummerte ich auf der Bank, vergeblich bemüht mich zu erinnern, welche und wieviele Stücke gestern für Madame Louise de Tombel geholt worden waren, als mich plötzlich eine Stimme weckte, die sagte:
„Schlafen Sie, teurer Monsieur Aimé?“
Vor mir stand in der Tür, von der Sonne beschienen, ganz in Rosa, mit Schönheitspflästerchen im lächelnden, runden Gesicht, einen Schäferhut von der Seite an die hohe toupierte Frisur gesteckt, Madame Louise de Tombel in eigener Person. Obgleich sie schon an die drei Wochen in der Stadt lebte, hatte ich Madame Louise noch nicht in der Nähe zu Gesichte bekommen, weil sie nicht nur die Kirche und die Promenade nicht besuchte, sondern überhaupt sehr selten auf die Strasse hinausging. Wie es hiess, verbarg sie sich ihrer Schulden wegen oder vor der Eifersucht ihres Gatten, den sie in Bruxelles verlassen hatte. Sie war von mittlerem Wuchs, etwas üppig, hatte ein rundes Gesicht mit lustigen braunen Augen, einem kleinen Munde und einem geraden Stumpfnäschen. Ich war so verwirrt, dass ich kaum imstande war ihre Fragen vernünftig zu beantworten, um so weniger, als das Bologneser Hündchen, das mit ihr gekommen war, mich die ganze Zeit anbellte. Ich war, die Käuferin begleitend, zur Tür hinausgetreten und blieb dann auch auf der Strasse stehen, bis Honoré kam, den ich zu Bageot geschickt hatte, um zu fragen was die Largillac geantwortet hätten! Honoré weckte mich grinsend aus meinen Träumen, ich brauste auf und begann ihn zu schelten, dass er so lange fortgewesen, dass der Laden voll Staub, die Proben vermengt seien usw. Sein ganzes Leben an Waren, an Käufer denken müssen, den ganzen Tag, und dazu noch an einem so heissen, im dunkeln Laden sitzen, nichts sehen, nirgendwohin ausfahren, da wird man unwillkürlich schlechter Laune und lässt sich ein grobes Wort entschlüpfen.
Honoré machte sich schweigend daran den Fussboden zu kehren und rückte geräuschvoll die Sessel ab. Ich hatte ihm den Rücken zugekehrt und blieb eine Zeitlang mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen vor der Tür stehen, schliesslich sagte ich, so freundlich, wie ich konnte:
„Hör’ mal Honoré, Madame Louise de Tombel war persönlich hier, da müsste man doch . . . .“
Honoré hörte, sich auf den Besen stützend zu, und der Staub, den er aufgewirbelt hatte, tanzte in der Sonne.
Da die Demoiselles Bageot zu uns zu Besuch gekommen waren, so spielten wir vor dem Abendessen auf der Wiese, die zum Teiche führt, Blindekuh: Mademoiselle Blanche, die Demoiselles Bageot, Honoré und ich. Es dämmerte bereits und das Abendrot verblasste hinter den Linden; über dem Teiche leuchtete schon der Silberschein des Mondes, und die Gänse, die man noch nicht nach Hause getrieben hatte, stimmten mit lautem Geschrei in unsere Heiterkeit ein. Mademoiselle Blanche, die einzige ganz in Weiss, schimmerte, wie Corrigane, hie und da durch die Büsche, die jungen Mädchen liefen mit Geschrei dahin, und wenn ich die Tochter meines Prinzipals gefangen hatte und ihr die Augen mit einem dünnen Tuche verband, kehrte sie ihr Gesicht mit den Augen, die schon nicht mehr sehen konnten, und den blonden Locken zu mir und sagte seufzend:
„Ach, Aimé, wie liebe ich Sie!“
Als Rose Bageot fangen musste, kam der Junge vom Bäcker aus den Gebüschen hervor, rief mich durch ein Zeichen zu sich heran und drückte mir, bemüht von den anderen nicht bemerkt zu werden, ein zusammengefaltetes Papier in die Hand. Ich trat hinter einen dichten Busch, entfaltete das parfümierte Blättchen, aber beim unsicheren Lichte des Mondes konnte ich die Worte der nachlässig hingeworfenen feinen Zeilen nicht entziffern.
„Gefangen, Monsieur Aimé! Hier also habe ich Sie erwischt, und das ganz zufällig, weil ich in diesen Graben fiel und ohne Sie zu bemerken auf die andere Seite hinüberging!“ schrie Rose, mich so schnell am Ärmel fassend, dass ich kaum Zeit hatte den Brief in die Hosentasche zu stecken, da ich beim Spiel kein Gilet anhatte. Die Gäste gingen, von Honoré begleitet, im Mondschein fort und nahmen noch lange im Chor auf der Strasse Abschied. Ich hatte Kopfschmerz vorgeschützt und eilte nach oben. Véronique ging lange nicht fort und quälte mich mit ihren ärztlichen Ratschlägen; endlich war ich allein, steckte eine Kerze an und las:
„Wenn Sie ein kühnes und empfindsames Herz besitzen, ohne das man der Liebe einer Frau nicht würdig werden kann, wenn Sie nicht durch einen Schwur gebunden sind — werden Sie Mittwoch um halb acht Uhr bei der Kirche St. Roche sein; aus der ‚Rue des Quarante Vièrges‘ wird eine Frau mit einem Korbe am rechten Arme herauskommen, an Ihnen vorübergehend, wird sie Sie mit dem Ellenbogen berühren, was die Aufforderung ihr zu folgen sein wird. Gehen Sie auf der anderen Seite der Strasse, ohne Ihre Führerin aus dem Auge zu lassen, und Sie werden sehen, welch ein Lohn des Mannes harrt, der erfüllt, was sein anziehendes und ehrliches Gesicht verheisst. Als von einem edlen Manne wird von Ihnen vollkommene Diskretion erwartet.“
Die Frau war an den Seitenflügel des Hauses von Madame de Tombel herangetreten, blieb stehen und winkte mich mit der Hand an ihre Seite. Ich schlüpfte ihrem beim Schein der Sterne kaum sichtbaren Kleide nach durch ein Pförtchen, das ich vorher nie vermutet hatte. Nach ein paar Schritten über den Gartenweg, betraten wir das Haus durch eine bereits geöffnete Tür: meine Begleiterin fasste mich bei der Hand und führte mich sicher, ohne Kerze, durch eine Reihe von Zimmern, die matt, nur von den durchs Fenster funkelnden Sternen erhellt wurden.
Ich stiess an einen Stuhl, wir blieben stehen; ich konnte das Klopfen meines Herzens vernehmen und hörte Mäuse pfeifen; gedämpft, wie aus der Ferne, kamen Klänge eines Clavecins herüber. Vor der Tür, hinter welcher die Klänge laut wurden, machte meine Begleiterin halt und klopfte zweimal; die Musik verstummte, die Tür ging auf und wir betraten ein kleines Zimmer mit leichten Paravents im Hintergrunde, die Dochte der eben verlöschten Kerzen auf dem Instrument glimmten noch rauchend, das Zimmer wurde von einer Nachtlampe erleuchtet, die in einer durchsichtigen rosa Schale brannte.
„Warten Sie,“ sagte die Frau, die durch eine andere Tür das Zimmer verliess. Nachdem ich eine Weile gestanden hatte, setzte ich mich und begann das Zimmer zu betrachten. Ich war selbst über meine Ruhe erstaunt. — Irgendwo schlug es acht. Eine andere Uhr antwortete dumpf in der Ferne. Auch die Bronzeschäferin vor dem Spiegel läutete fein achtmal. Mir scheint, ich war eingeschlummert und erwachte, weil ich gleichzeitig das Licht einer Kerze dicht vor meinen Augen spürte, einen Kuss und den Schmerz von einem heissen, auf meine Hand geträufelten Wachstropfen fühlte. Vor mir stand in reizendem Negligé Madame Louise de Tombel, die mich mit dem Arm umfing, in dessen Hand sie einen himmelblauen Porzellanleuchter mit einer Kerze hielt. Durch meine jähe Bewegung fiel die Kerze zu Boden und verlöschte. Madame de Tombel flüsterte mir unter Lachen und Küssen zu:
„Er schlief, er schlief in der Erwartung! O Ausbund von Tugend!“
Sie war augenscheinlich zufrieden mit mir, denn sie hatte mir ein neues Stelldichein nach vier Tagen gewährt und begleitete mich durch zwei Zimmer, von wo mich dieselbe alte Marguerite hinausgeleitete. Es war schon hell, ich eilte an einer grossen Pfütze vorbei, blieb aber doch stehen, um mich zu spiegeln, wobei ich mich bemühte meine Züge zu betrachten, als seien es die eines Fremden. Ich sah ein rundliches Gesicht mit hellgrauen Augen, einer Stumpfnase, einem grossen Munde und vollen goldigen Brauen, die Wangen waren pfirsichfarben und mit einem leichten Flaum bedeckt; kleine Ohren, lange Beine und ein hoher Wuchs vervollständigten das Äussere des glücklichen Sterblichen, welcher der Liebe von Madame Louise de Tombel gewürdigt worden war.
Als ich einmal zur gewohnten Stunde zu Louise kam, fand ich sie in Tränen aufgelöst und verstimmt; sie teilte mir mit, dass gewisse Dinge sie nach Paris riefen, und sie wisse nicht, wann und ob sie überhaupt zurückkehren werde. Ich war wie vom Schlage gerührt und hörte die weiteren Einzelheiten des nahenden Unheils nur schlecht.
„Ich gehe mit Ihnen,“ erklärte ich, mich erhebend.
Louise sah mich durch Tränen erstaunt an.
„Meinen Sie?“ sagte sie vor sich hin und schwieg.
„Ich kann nicht ohne Sie leben, das würde sein, wie der Tod!“ und ich sprach lange und heiss von meiner Liebe und Bereitschaft, meiner Geliebten, wohin auch immer, zu folgen. Dabei ging ich im Zimmer vor Madame de Tombel auf und ab, die schon aufgehört hatte zu weinen. Endlich, als ich schwieg, sagte sie mit ernster, fast ärgerlicher Stimme:
„Das alles ist sehr schön, aber Sie denken nur an sich. Ich aber kann nicht in Paris mit einem Liebhaber en titre erscheinen.“ Und bemüht durch ein Lächeln die Grausamkeit der ersten Worte zu mildern, fuhr sie fort: „Es gäbe einen Ausweg, aber ich weiss nicht, ob Sie mit ihm einverstanden sein werden.“
„Ich bin zu allem bereit, um bei Ihnen sein zu können.“
„Reisen Sie mit mir, aber als mein Diener.“
„Diener?!“ rief ich unwillkürlich aus.
„Nur anderen Menschen gegenüber, die wir nicht brauchen, werden Sie Diener heissen, für mich werden Sie, wirst du, mein Aimé, mein geliebter, ersehnter Herr sein!“ Und sie umschlang meinen Hals mit ihren Armen und bedeckte mein Gesicht mit schnellen, kurzen Küssen, die schwindelig machen. Wir verabredeten, dass ich einen Tag vor der Abreise Madame de Tombels einen Vorwand finden sollte in Geschäften irgendwohin zu reiten, mich aber in entgegengesetzter Richtung auf den Weg machen und auf der ersten Poststation Louise erwarten würde. So kam auch alles. In regnerischer Dämmerung ritt ich die von Kindheit auf bekannte schmutzige Strasse mit im kalten Winde flatterndem Mantel entlang und dachte an das bleiche Gesicht von Mademoiselle Blanche, die das Näschen an die Fensterscheibe gedrückt, mir nachgesehen hatte, als ich fortritt, und dachte an ein anderes rundliches Gesicht mit braunen lustigen Augen und einem geraden Stumpfnäschen, das ich auf der kleinen Poststation, weit von meiner Heimatstadt, die ich vielleicht für immer verliess, wiedersehen würde, — und es war nicht nur der Regen, der mir ins Gesicht peitschte, wovon meine Wangen nass wurden.
O ihr birkenumrandeten Strassen, herbstlich klaren Fernen, neuen Gesichter, Begegnungen, spät abends die Ankunft, die Weiterreise am hellen Morgen, des Schwagers lustiges Horn, Dörfer, buschige bunte Haine, Klöster und den ganzen Tag und den Abend und die Nacht die sehen und hören, die mir das Teuerste war — welch ein Glück hätte das sein können, welch eine Freude, wenn ich nicht als ihr Diener mitgereist wäre, der die Pferde besorgte, in der Küche sein Abendbrot ass, im Stalle schlief, und nicht wagen durfte seine Louise zu küssen, zärtlich mit ihr zu plaudern. Ausserdem klagte sie während der ganzen Reise über Kopfschmerz. In Paris erwartete uns am Stadttor ein alter Mann mit Pferden und einer Karosse; er war augenscheinlich schon vorher benachrichtigt worden, denn er fragte uns, ob er die Ehre habe, Madame de Tombel gegenüberzustehen und stellte sich als Abgesandter des Grafen vor. Er führte uns in ein kleines Hotel, das in einem dichten Garten gelegen war. Mir wurde in der Mansarde ein Zimmer angewiesen, aus dem eine geheime Treppe gerade ins Schlafzimmer von Madame führte.
„Dieser Bauernjunge ist ganz dumm, ausserdem werde ich die Tür verschliessen und den Schlüssel an mich nehmen,“ warf Louise, den fragenden Blick des alten Dieners beantwortend, hin. „Aimé war unterwegs unersetzlich,“ fügte sie hinzu, während sie die Kerzen vor dem hohen Spiegel anzündete und uns ein Zeichen machte, hinauszugehen.
Wir fanden oft genug Gelegenheit mit Louise allein zu sein, aber ich war sehr erstaunt, als am Ende des Monats der Alte mir Geld gab, wobei er brummte:
„Der Graf sollte diesem Nichtsnutz, der den lieben langen Tag keinen Finger rührt, nicht noch Lohn zahlen.“
Ich schwieg und nahm das Geld, aber bei der ersten Gelegenheit bat ich Madame de Tombel mir dies alles zu erklären. Sie wurde etwas verlegen, sagte aber:
„Wir haben doch selbst abgemacht, dass es für dich, mein Aimé, praktischer ist, vor den Leuten als mein Diener zu gelten. Das hindert uns doch nicht, uns zu treffen, nicht wahr? Geld aber schadet niemals. Was das Brummen des Haushofmeisters anbetrifft, lohnt es sich darauf zu achten? Immerhin solltest du, um die Aufmerksamkeit abzulenken, dich mit irgend etwas beschäftigen.“
Zu fragen, wie der Graf dazu käme, mir Lohn zu zahlen, kam mir nicht in den Sinn, und bald wurde ich fast zu einem wirklichen Lakai, der sich mit den Dienern der Nachbarhäuser zankte, mit ihnen Karten spielte und in die Kneipen lief, gegen den Haushofmeister grob wurde, ohne dass mich das alles sonderlich bedrückt hätte.
Die wenig zahlreichen Gäste von Madame de Tombel bestanden aus älteren vornehmen Herren, die zu dieser jungen Schönen kamen, um mit ihr zu Mittag zu speisen, am Kamin zu plaudern oder eine Partie Karten zu spielen. Sie brachen immer zeitig auf. Madame de Tombel selbst fuhr selten, nur um Einkäufe zu machen, am Tage aus. Sehr selten, drei-, viermal im Monat, besuchte sie die Oper. Häufiger als die übrigen war nur der Graf de Chèvreville bei uns. Er war der einzige, der allein kam. Seine Besuche machte er zu verschiedenen Tageszeiten und er durfte auch das Schlafzimmer von Madame betreten. Ich bemerkte, dass Louise nach seinen Besuchen besonders zärtlich zu mir war, aber ich teilte diese Beobachtung aus Furcht vor ihrem Spott nicht mit ihr, wünschte nur im geheimen, dass die gräflichen Besuche häufiger wären. Einmal wurde ich mit Briefen zum Grafen und dem Herzog de Saucier gesandt, bei dem ich noch niemals gewesen war. Louise lud die beiden, glaube ich, zum Mittagessen ein. Ein alter Diener nahm meinen Brief und liess mich im grossen halbdunkeln Vorzimmer auf Antwort warten. Ich setzte mich auf eine hölzerne Truhe. Neben mir sass, in Gedanken versunken, ein blasser junger Mann in einem abgetragenen langen Rock. Er war blond und hatte eine lange Nase. Nachdem er eine Zeitlang so dagesessen hatte, wandte er sein Gesicht zu mir, als bemerke er mich erst jetzt. Dabei fielen mir seine tiefroten Lippen und seine scharfen und zerstreuten, durchdringenden und dabei doch nicht sehenden Augen auf. Er schien mir betrunken oder nicht ganz bei Sinnen zu sein.
Nach dem er mich flüchtig und doch aufmerksam betrachtet hatte, fragte er:
„Sie müssen wahrscheinlich bei diesem Regenwetter noch Briefe austragen?“
„Ja, es ist so, ich muss zum Grafen de Chèvreville.“
„So? . . . nun, wie stehen Sie sich denn mit Ihrem Herrn?“
„Wie soll ich mich mit ihm stehen? Und weshalb nennen Sie den Grafen meinen Herrn?“
„Natürlich macht Ihre Diskretion Ihnen Ehre, mein Lieber, aber unter guten Bekannten sollte es keine Geheimnisse geben und wir wissen doch ausgezeichnet, dass die bezaubernde Madame de Tombel sich, sozusagen, des Schutzes dieses guten Grafen erfreut . . .“
Der Lakai kam mit der Antwort zurück und unterbrach unser Gespräch. Zu Hause erfuhr ich von den Dienern, dass der junge Mann, der sich mit mir unterhalten hatte, ein Sohn des Herzogs, François de Saucier gewesen, den sein Vater für irgendwelche dummen Streiche und aus schmutzigem Geize mit dem Gesinde zusammen hielt. Durch meine Entdeckung erregt, konnte ich drei Nächte nicht Schlaf finden. Ich beschloss, ohne mich zu verraten, alles selbst zu erfahren.
Am Morgen suchte ich mit dem ganzen Hause den Schlüssel, den ich in meine eigene Tasche gesteckt hatte. Da am nächsten Tage der Schlosser gerufen werden sollte, so musste ich meinen Entschluss noch am selben Abend ausführen, was mir durch den Besuch des Grafen de Chèvreville erleichtert wurde. Als er sich, wie gewöhnlich, mit Madame de Tombel in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, wartete ich eine halbe Stunde und stieg die Treppe aus meinem Zimmer vor die bekannte Geheimtür hinunter. Neugierig sah ich durchs Schlüsselloch. Obgleich mein Herz zu springen drohte und es in meinen Ohren sauste, als ich Louise mit dem Grafen in zärtlicher Umarmung auf dem Sofa erblickte, obgleich ich ganz von Entrüstung und Bitterkeit erfüllt war, die durch die Hässlichkeit und das Alter des Grafen noch verschärft wurden, folgte ich dennoch schweigend den Bewegungen der beiden, und erst, als mir der Augenblick günstig schien, drehte ich den ins Schlüsselloch gesteckten und für verloren gehaltenen Schlüssel um.
„Treulose!“ rief ich, ins Zimmer tretend. Louise hatte sich so schnell von der Seite des Grafen entfernt und ihre Kleider in Ordnung gebracht, dass nur die Gründlichkeit meiner Beobachtungen mir nicht gestattete mich als Opfer eines Irrtums zu betrachten.
„Weder Schwüre, noch Versprechungen, noch Liebe!“ . . . begann ich.
„Nicht übel,“ unterbrach mich Louise, die bereits ihre Haltung wiedergewonnen hatte. „Das ist, glaub ich, aus Rotrou? Sie verwenden Ihre Mussestunden mit Nutzen, indem Sie Tiraden aus Tragödien auswendig lernen, jetzt sollen Sie noch mehr freie Zeit dazu haben, da Sie schon morgen mein Hôtel verlassen werden.“
„Sie sind in der Tat viel zu nachsichtig gegen alle diese Leute, teure Madame de Tombel,“ sagte der alte Graf.
„Ja, und Sie sehen, wie ich bestraft werde!“ antwortete Louise lebhaft. „Aber es ist das letztemal. Weshalb aber sind Sie hier?“
Jetzt wandte ich mich an de Chèvreville. Ich erzählte ihm von meinen Beziehungen zu Louise in der Absicht ihn durch Eifersucht von diesem Weihe abzustossen. Sie hörte stumm mit einem boshaften Lächeln zu. Und ihre Augenbraue, über der ein Schönheitspflästerchen in Gestalt eines Schmetterlings angeklebt war, zuckte.
„Sie täuschen sich, mein Lieber, wenn Sie glauben, dass ich für Ihre Geschichten ein besonderes Interesse habe,“ bemerkte der Graf.
„Kein Wort davon ist wahr,“ flüsterte Louise.
„Als ob ich das nicht wüsste,“ meinte der Graf, ihre Hand drückend.
Verzweifelt fiel ich mitten im Zimmer auf die Knie.
„Louise, Louise, und mein Schlaf, als ich Sie erwartete? Und das wundervolle Erwachen? Und die alte Marguerite? Und die Reise nach Paris? Und das Muttermal auf dem linken Bein?“
Der Graf lächelte. Madame de Tombel hatte sich erhoben und sagte.
„Sie tun mir leid, Aimé, aber wirklich, Sie sind nicht bei Troste.“
„Beruhigen Sie sich, teure Madame de Tombel,“ sagte der alte Graf und küsste ihre Hand.
„Kanaille!“ stiess ich, aufspringend, hervor, „heute noch verlasse ich dein widerliches Haus!“
„Um so besser. Apropos, vergessen Sie nur nicht den gestohlenen Schlüssel abzugeben,“ warf Louise hin.
Ich weiss nicht, wie ich auf die Brücke gelangte; es war augenscheinlich schon spät, denn die Lichter in den Buden am Kai waren verlöscht und niemand kam vorüber. Müde vom Umherirren durch unbekannte Strassen, von Liebe, Eifersucht und Wut zerrissen, ohne mir sagen zu können wohin ich meine Schritte lenken solle, lehnte ich mich ans Brückengeländer und begann in den schwarzen Fluss hinunterzustarren, auf dessen vom Winde gekräuseltem Wasser der Widerschein einiger weniger Sterne zitterte. Der Gedanke an Selbstmord lockte und schreckte mich zugleich. Die Hauptsache war, dass man dann nicht an die Zukunft zu denken brauchte. Aber das Wasser ist so dunkel, wahrscheinlich sehr kalt; beim Ertrinken steht so viel unwillkürlicher Kampf mit dem Tode bevor, es ist dann schon besser sich zu erhängen, das kann man auch am Tage tun, wenn alles viel heiterer ist. Unter solchen Gedanken hatte ich nicht bemerkt, dass ein Häuflein Menschen mit einer Laterne die Brücke betreten hatte; alle waren der Kälte wegen in ihre Mäntel eingewickelt, den Stimmen nach konnte man annehmen, dass die Gesellschaft aus zwei Frauen und vier Männern bestand. Als die Leute an mich herangekommen waren, leuchtete der Laternenträger mir ins Gesicht und sagte mit grober Stimme:
„Was ist das für ein Kerl? Ein Selbstmordkandidat?“
„Ha! ein bekanntes Gesicht,“ kam es aus der Gruppe, „ist das nicht gar das Küken von Madame de Tombel, der bezaubernden Louise?“
„Ein Aas — diese Dame,“ sagte eine heisere Frauenstimme.
„Aber was macht dieser kleine Adonis hier? Warum steckt er nicht im Bette seiner Herrin, sondern steht auf der Seinebrücke herum?“ fragte ein Mann von niederem Wuchse mit seiner Fistelstimme.
„In der Tat, wohin gehen Sie allein, ohne Mantel, zu dieser Stunde? Das ist durchaus nicht so ungefährlich!“ meinte, mich beiseite nehmend, François de Saucier (ich erkannte ihn jetzt an Augen und Nase). Ich erzählte ihm kurz, aber ziemlich verwirrt, meine Geschichte. Er lächelte und sagte ernst:
„Wunderschön, aber ich sehe bloss, dass Sie sehr naiv sind, und dass Sie kein Obdach haben. Diese Nacht verbringen Sie am besten mit uns. Wir überlegen dann was weiter zu tun sein wird. Über Nacht kommt Rat, nicht wahr?“ Dann schloss er sich wieder der Gesellschaft an und erklärte laut:
„Freunde, Mademoiselle Colette, für heute vergrössert sich unsere Gesellschaft um diesen reizenden Jüngling, er heisst Aimé, wer hat etwas dagegen? Als Herrin des Hauses hast du das erste Wort, Colette.“
„Er ist der Siebente und läuft Gefahr ohne Anschluss zu bleiben,“ sagte ein hochgewachsenes Frauenzimmer, das Colette angeredet wurde.
„Oder noch schlimmer, er raubt jemand von uns seinen Anschluss.“
„Zum Teufel, so rührt euch doch, auf der Brücke bläst ein Höllenwind und das Licht in der Laterne geht zu Ende! Zu Hause werden wir uns schon verteilen,“ rief der Laternenträger.
„Colette, Colette,
So kommt es, ich wett’:
Keinen Gruss mehr,
Keinen Kuss mehr,
Vergessen die Eide.
In dürftigem Kleide
Naht das Alter auf Krücken,
Um dich niederzudrücken
Ins letzte schmale Bett,
Colette, Colette!“
So sang ein Mann in langem rotem Gilet, ein Bein über das andere geschlagen, die Gitarre aufs Knie gestützt, den Kopf mit dem roten dicken Gesicht zurückgeworfen. Colette spielte mit dem Marquis Karten, wobei sie den Sänger wütend von der Seite ansah. Die kleine Ninon tanzte, ganz bei der Sache, ein Menuett ohne Kavalier, der Schauspieler deklamierte mit seinem hohen Tenor:
„O Herrscher, wenn deine Wünsche sich
Mit des Volkes Vorteil deckten,
Wenn auch der letzte Bauer noch
Vermöchte Schutz beim Thron zu finden!“
Mir gegenüber sass, sich zu de Saucier haltend, ein junger Mann, den alle „Durchlaucht“ anredeten. Er trug einen bescheidenen Anzug, hatte aber äusserst kostbare Ringe von seltener Schönheit an den Fingern. Seine Augen hatten etwas, was sie den Augen des Marquis eigenartig ähnlich machten. Später begriff ich, dass es die Verbindung von Aufmerksamkeit und Zerstreutheit, von Schärfe und Blindheit war, was sie gemeinsam hatten. Der Hund unter dem Tische kratzte sich, mit der Pfote klopfend, die Flöhe aus dem Fell; wenn Colette ihm einen Fusstritt gab, heulte er auf.
„Das ist unter Freunden unehrenhaft: Du hast eine Volte geschlagen.“
„Liebe Colette, Sie haben sich versehen!“
„Was? Glaubst du vielleicht, dass ich blind bin?“
„Nein, es scheint, dass Mademoiselle unrecht hat,“ bemerkte leise der Mann mit den Ringen.
„Es ist kein Wunder, dass Sie für François Partei ergreifen.“
„Um dich niederzudrücken
Ins letzte schmale Bett,
Colette, Colette . . .“
„Mich macht dieses Gesinge wild! Jacques, hör’ auf!“
„Wie werde ich dann mein Menuett tanzen?“
„Und himmelwärts erhöbe sich das Stimmenmeer
Von dir, befreiter, freier Bürger . . .“
Colette trank mit einem Zuge ihren Wein aus. Mir war es, als träumte ich. Der Streit wurde immer hitziger. François beugte sich zu Colette und sagte:
„Nun, küssen Sie mich, meine liebe Colette, mein Engel, meine Seele.“
„Würde mir grad noch fehlen jeden Schmutzfinken, jeden Herumtreiber zu küssen! Was, weiss ich etwa nicht woher du dein Geld hast? Vom herzoglichen Papa natürlich? Was genierst du dich? Wir sind hier unter uns und ich speie dir ins Gesicht, wenn du noch zu mir kriechst. Du weisst selbst, was du weisst!“
„Ihre Worte beleidigen auch mich, Madame,“ sagte, sich erhebend, der junge Mann mit den eigenartigen Augen.
„Ach, fühle sich beleidigt, wer mag. Ihr seid mir alle bis zum Halse! Und was schleppt ihr euch hierher, wenn ihr uns nicht braucht?“
„Wer beleidigt? Wer wagt Frauen zu beleidigen?“ brüllte der im roten Gilet und warf seine Gitarre fort.
„So kommt es, ich wett’,
Colette, Colette . . .“
sang die kleine Ninon, ihr Menuett tanzend, weiter.
François hatte seinen Degen gezogen und drang auf den parierenden Schauspieler ein. Colette kreischte:
„Geoffroi! Geoffroi! . . . .“
Der Hund hellte.
„Ich bin verwundet,“ rief der Schauspieler und sank auf einen Stuhl.
„Gehen wir!“ rief François’ Freund mir zu und zog ihn, der auch etwas schrie, am Rockärmel mit auf die Strasse hinaus. Draussen war es schon fast hell.
Der Dienst beim Herzog de Saucier war natürlich schwerer, als das Leben bei Madame de Tombel. Für die Besorgung des ganzen, wenn auch zur Hälfte vernagelten, aber immerhin grossen Hauses gab es ausser mir nur noch den verschlafenen, gefrässigen, faulen Maturin, der geradewegs vom Dorfe kam, und obgleich der alte Herzog nicht besonders auf Sauberkeit erpicht war, und der junge Hausherr uns half, gab es übergenug zu tun. Zu essen gab’s knapp, die Kleider, die wir bekamen, waren alt und von anderen Leuten abgetragen. Wir schliefen von elf Uhr abends bis Sonnenaufgang. Ich war jung, mir fiel das nicht besonders schwer, um so weniger, als auch der Marquis, mit dem ich mich, trotzdem sein Vater knurrte, immer mehr befreundete, unser Leben in jeder Hinsicht teilte. Und wir gingen oft zusammen aus, um uns in ihm bekannten Spelunken herumzutreiben, wo wir spielend und zechend so lange zu sitzen pflegten, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen, um die Zimmer aufzuräumen. Er war mit mir aufrichtig, besonders, wenn er betrunken war, aber ich verstand nicht alles von seinen Bekenntnissen, obgleich sie mich mit Furcht und Neugier erfüllten. Aber François ausführlich ausfragen, um mir Klarheit zu verschaffen, wollte ich nicht aus Feigheit und Angst, ich könnte aufhören ihn zu lieben. Wir waren wiederholt auch bei Mademoiselle Colette, die François des Streites wegen nicht mehr grollte, und an anderen Orten, fast immer in Begleitung des jungen Mannes, dessen Namen ich nicht kannte, und den alle „Durchlaucht“ anredeten. Ich wusste, dass François häufig von ihm Geld nahm, und einmal, als wir die Treppen zu Ninon hinaufstiegen, hörte ich diese zu Colette sagen:
„Dieser dumme Geliebte des kleinen Marquis ist heute gründlich hereingefallen!“ . . . .
Mir schien, dass sie François und dessen Freund meinte. Ich sagte ihm nichts wieder, aber diese Worte gruben sich tief in mein Gedächtnis. Einmal — wir hatten den Fürsten lange nicht gesehen — kam François spät nach Hause, er war wütend, betrunken, verstimmt.
„Was ist Ihnen, François?“ fragte ich, ohne von meinem Rock aufzusehen, den ich bei einer Kerze flickte.
Ohne zu antworten, seufzte François noch tiefer auf und legte sich, mit dem Gesicht zur Wand, aufs Bett.
Mir schien es, dass er weine.
„Was ist mit Ihnen, François? Sagen Sie es mir. Sie wissen es doch, dass ausser dem Fürsten, niemand Sie so liebt, wie ich. Nun, sprechen wir von Ihrem Freunde, wollen Sie?“ fügte ich hinzu, als François keine Antwort gab.
François wandte mir sein Gesicht mit den verweinten Augen zu:
„Wenn Sie verstehen würden, Aimé! . . . Aber Sie sind ja ein unwissender Knabe, wenn Sie mich vielleicht auch liebhaben.“
„Nun, sprechen wir dann von Ihrem Freunde.“
„Warum quälen Sie mich? Wir werden ihn niemals mehr wiedersehen, er ist nicht mehr.“
„Ist er ermordet, gestorben?“ rief ich aus.
„Nein, er lebt — er hat vorgestern geheiratet,“ sagte François, der, ohne sich zu bewegen, die Oberlage anstarrte.
Ich schwieg, obgleich ich nicht begriff, weshalb die Heirat des Fürsten ihn uns raube.
Aus den Augen François’, die offen und gerade vor sich hinstarrten, flossen Tränen, ohne dass sich sein Gesicht verzog, das fast zu lächeln schien. Nachdem ich das Licht geputzt hatte, setzte ich mich wieder aufs Bett.
„Sie sind darüber sehr traurig?“
François nickte schweigend mit dem Kopfe.
„Alles geht vorüber, alles vergisst man, man findet Neues; ich hatte Louise und habe sie verloren, ich weine nicht, und doch fesselt die Liebe fester aneinander, als die Freundschaft.“
„Du verstehst nichts,“ presste der Marquis hervor, und kehrte sich wieder zur Wand.
Die Uhr schlug zwölf. Ich musste irgend etwas tun. Ich fasste die Hand de Sauciers, der noch immer zur Wand gekehrt dalag, und begann sie zu küssen, während mir selbst die Tränen aus den Augen flossen.
„Lösch die Kerze aus, der Alte wird schimpfen. Und ich tu dir wirklich leid?“ flüsterte François und umarmte mich in der Dunkelheit.
François war verstimmt, er hatte aufgehört zu trinken, wurde noch frömmer, als er es schon immer gewesen, lag oft im Bett, und unsere freundschaftlichen Gespräche, vor denen ich die Angst verloren hatte, während die Neugier immer lebhafter wurde, schienen ihn nur wenig zu zerstreuen. Mit zärtlicher Sorge suchte ich sein Leid zu mildern. Einmal stieg ich, um etwas zu holen, in das obere Stockwerk und fand François auf dem Treppenfenster sitzen. Die Kleiderbürste lag neben ihm, er war in Gedanken versunken und schien die Landschaft nicht zu sehen, auf die seine Augen gerichtet waren. Aus dem Fenster konnte man die roten Dächer der niedrigeren Gebäude überschauen, ein Stückchen der Seine schimmerte in der Ferne, über ihr blaues Wasser schossen Boote mit vom starken Winde geschwellten Segeln vorüber, am anderen grünen Ufer stand eine Reihe grauer Häuser, Vogelschwärme zogen unter dem wolkenlosen Himmel dahin. Ich rief François an.
„Bist du müde?“ fragte ich, in sein blasses Gesicht blickend.
„Ja, ich kann nicht mehr länger so leben! . . . Und ich wollte dir das schon längst sagen, Aimé, der du jetzt mein einziger Freund und Genosse bist: weisst du woran ich die ganze Zeit denke, was mich beunruhigt und mich immer bleicher werden lässt?“
„Vielleicht bist du jetzt erregt und sagst es mir lieber hernach?“
„Nein, es ist einerlei, ich habe beinahe schon meinen Entschluss gefasst. Siehst du,“ der Marquis machte eine Pause und fuhr schneller und im Flüsterton fort. „Ich bin der einzige und legitime Sohn des Herzogs — er ist reich, aber du siehst wie er mich behandelt, schlechter, als einen Lakai. Später wird das Geld, sowieso, mir gehören, wenn ich es vielleicht nicht brauchen werde. Das Leben meines Vaters wird sich in nichts ändern, wenn er nicht mehr dieses mir bestimmte Geld bewachen wird. Und so habe ich denn beschlossen es selbst schon jetzt zu nehmen.“
„Du willst deinen Vater bestehlen?“ rief ich aus.
„Wenn du willst — ja!“ und er begann wieder darüber zu reden und bat mich, ihm behilflich zu sein.
„Dann werden wir fliehen müssen?“
„Wir müssen fliehen; wie ich dir dankbar bin für dieses ‚wir‘!“ sagte er lebhaft und wurde rot.
Erregt liess ich mich auf den Stufen der Treppe nieder und hörte seinen Plänen von einer Flucht nach Italien zu.
„Aber zuerst muss man zu Suzanne Bache, das kann morgen am Abend oder am Tage, nach der Messe, geschehen. Ich werde dem heiligen Christophore eine Kerze stiften, damit alles glatt ausgeht.“
„Wird es Ihnen nicht leid tun, Ihren Vater zu verlassen?“ fragte ich, aufstehend, um nach unten zu gehen.
„Leid tun? Nein, mir ist jetzt alles gleichgültig, so kann ich nicht leben; ausserdem werden Sie ja mit mir sein?“
„Gewiss!“ sagte ich und stieg die Treppe hinunter.
Als wir das zweite Stockwerk des kleinen Hauses betraten, sahen wir eine Frau, die, über einen Trog gebeugt, Wäsche wusch. Das Zimmer war mit warmem Dampf gefüllt, man hörte nur das Plätschern des Wassers und das Klatschen der Leinwand. Wir blieben auf der Schwelle stehen und die Frau fragte uns:
„Wen suchen Sie?“
„Madame Suzanne Bache,“ antwortete François.
„Ich glaube, sie ist zu Hause und allein — treten Sie näher,“ sagte die Frau, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
„Sind Sie es, de Saucier? Treten Sie ein,“ ertönte eine Stimme aus dem Nebenzimmer. In einer kleinen Kammer, in der eine Menge Kleider herumlag, stand am Fenster auf einer Erhöhung ein Tisch und ein Stuhl; dort sass, einen Haufen von Lumpen durchsuchend, eine etwa dreissigjährige Frau mit nichtssagendem blassem Gesicht. Sie trug ein dunkles Kleid. Nachdem sie uns begrüsst hatte, fragte sie nach einigem Schweigen:
„Womit kann ich dienen, teurer Marquis?“
„Sie wissen selbst, was wir brauchen, Suzanne.“
„Ist das Ihr Freund? Weiss er?“ wies sie mit dem Kopf auf mich.
„Ja, wir brauchen beide deine Prophezeiung vor einem wichtigen, sehr wichtigen Schritt,“ sagte François und liess sich auf eine Truhe nieder, nachdem er die darauf liegenden Bündel auseinander geschoben hatte.
„Vor einem wichtigen, sehr wichtigen Schritt,“ wiederholte die Bache nachdenklich, nahm die Karten, breitete sie auf dem Tisch auseinander, mischte sie darauf, legte sie wieder auf den Tisch und begann, nachdem sie sie ungemischt zum drittenmal auseinander gelegt hatte, mit tonloser Stimme:
„Was ihr zu tun vorhabt, das tut. Es wird Geld geben. Eine Reise. Weiter gehen die Schicksale auseinander. Dir, François de Saucier, droht Krankheit und vielleicht der Tod. Dein Freund wird noch lange den gefahrvollen Weg des Reichtums weiter gehen und ich sehe nicht das Ende dieses Weges. Nimm dich vor Karossen, rothaarigen Weibern und Menschen in acht, deren Namen mit ‚G‘ beginnt. Dir droht Gefahr von Wasser, aber du wirst sie überstehen. Der Ältere geht früher in den Tod, als der Jüngere, viel, viel früher.“
Sie schwieg in Gedanken versunken, als sei sie eingeschlafen.
„Ist das alles?“ fragte de Saucier, sich erhebend, leise.
„Alles,“ antwortete Suzanne tonlos, wie vorher.
„Ich danke Ihnen, Sie haben uns einen guten Dienst geleistet,“ sagte François, legte Geld auf den Tisch vor die noch immer regungslos dasitzende Frau und trat mit mir auf die Strasse hinaus.
Ich wollte unten, in François’ Zimmer, warten, um aufzupassen, ob nicht jemand komme, und nach oben laufen, wenn meine Hilfe nötig werden sollte.
Als de Saucier fortging, steckte er ein Messer in die Tasche, küsste mich und sagte:
„Genossen auf Leben und Tod?“
„Auf Leben und Tod,“ antwortete ich, vor Kälte zitternd. Seine Schritte waren verklungen; eine unter den Tisch gestellte Kerze beleuchtete nur spärlich das Zimmer, den Tisch, eine Flasche und zwei halbgeleerte Gläser mit Montrachet. Die Zeit verstrich unglaublich langsam; ich fürchtete mich, im Zimmer auf und ab zu gehen, um nicht den schlafenden Maturin zu wecken, deshalb sass ich am Tisch und betrachtete, den Kopf auf die Hand gestützt, mechanisch die Bank, das Bett des Marquis, den Sack, den wir für die Flucht vorbereitet hatten, das Gebetbuch und den Rosenkranz, den de Saucier nach der Kirche fortzuräumen vergessen hatte. Jemand kam die Treppe herunter, ich horchte auf: de Saucier trat bleich, mit einer Schatulle in der Hand, ins Zimmer. Das Messer fiel aus seiner Hosentasche. Er stellte die Schatulle auf den Tisch, füllte das Weinglas und schlürfte gierig den im Lichte der wieder hervorgeholten Kerze goldig schimmernden Wein.
„Schlief er?“ fragte ich. François nickte mit dem Kopfe.
„Alles?“ fragte ich wieder, auf die Schatulle deutend. Er nickte wieder stumm und streckte sich plötzlich mit unter dem Kopfe verschränkten Armen aufs Bett aus.
„Was ist dir? Wir müssen doch fliehen! Der Herzog kann jeden Augenblick erwachen, er kann es bemerken. Haben wir nicht ausgemacht bei Jacques zu übernachten, um morgen abzureisen?“
„Lass; ich bin müde,“ antwortete François und schlief ein. Ich steckte die Schatulle in den Sack, wartete eine Zeitlang und begann wieder François zu wecken. Ich sah das Messer am Boden liegen, hob es auf, und besah ob es nicht blutig sei, aber es war rein. Die Kerze war zu Ende gebrannt und begann knisternd zu verlöschen. François sprang plötzlich auf, drängte mich zu Eile und begann in der Dunkelheit nach dem Haustürschlüssel zu suchen. Wir sprachen flüsternd und traten geräuschlos auf. Endlich gingen wir durch den Korridor zur kleinen Haustür, die auf eine Nebenstrasse führte, auf die wir glücklich, ohne von einem der Hausbewohner bemerkt worden zu sein, hinausgelangten. Den Sack schleppte ich. Der Mond schien noch, obgleich es schon hell wurde, und ich atmete erleichtert die kalte Luft ein. So verliessen wir Paris, um unser Glück im fernen und gesegneten Italien zu suchen. Ich war damals achtzehn Jahre alt.
Schon in Paris stellte es sich heraus, dass François, statt der Schatulle aus Palisanderholz, in der der Herzog einen grossen Teil seines Geldes aufbewahrte, eine ähnliche aus dunkelm Eichenholz mitgenommen hatte, in welcher, ausser Rechnungen und Schlüsseln, sich nur eine Summe von Louisdors befand, die gerade ausreichte ohne Sorgen nach Italien zu gelangen, keinesfalls aber uns der Mühe enthob unser Glück weiter zu suchen. Die Schlüssel warfen wir fort, die Rechnungen wurden verbrannt. Nachdem wir weidlich auf unser Schicksal geschimpft hatten, beschlossen wir, da das Geld für ein sorgenloses Leben, sowieso, nicht reichte, es auszugeben, ohne zu geizen. Dieser leichten und angenehmen Beschäftigung gaben wir uns mit einem solchen Eifer hin, dass wir, als wir in Prato angelangt waren, bemerkten, das Geld reiche kaum noch, um nach Florenz zu gelangen und uns dort einzurichten. Dafür aber hatten wir neue Hüte, modische geblümte Kamisols und gefütterte Mäntel, denn der Winter nahte. François’ Mantel war schokoladenfarben, meiner, weil ich blondes Haar hatte, himmelblau. Im Gasthofe am Domplatz bewohnten wir ein Zimmer im zweiten Stock. Neben uns lebten zwei Frauen, anscheinend Italienerinnen. Ich hatte Gelegenheit sie im Korridor zu sehen, als sie zur Messe gingen. Die ältere war klein von Wuchs, hatte eine lange Nase, war ganz in Schwanz gekleidet und schien mir buckelig zu sein, die jüngere, eine etwas magere Blondine, sah mit ihrem bleichen, ein wenig verlebten und schmachtenden Gesichtchen, in einem bescheidenen rosa Fähnchen ganz anziehend aus.
„Habe nichts Besseres zu tun, als jeder Herumtreiberin meine Aufmerksamkeit zu schenken,“ antwortete mir François, als ich ihm meine Beobachtungen mitteilte. Abends ging er mit einem Florentiner, dessen Bekanntschaft er schon unterwegs gemacht hatte, und die er sehr schätzte, weil er glaubte, später aus ihr Vorteil ziehen zu können, in die nächste Taverne. Ich ging nicht mit. Zu Hause horchte ich auf das Geräusch bei unseren Nachbarinnen.
Durch die dünne Bretterwand konnte man hören, dass die Frauen sich anschickten, zu Bette zu gehen. Die Alte brummte laut und schimpfte auf italienisch, die Junge trällerte vor sich hin, während sie, augenscheinlich beim Auskleiden, auf und ab ging, denn von Zeit zu Zeit hörte man, wie Kleidungsstücke aus einer Ecke des Zimmers in die andere geworfen wurden. Ich hustete, der Gesang verstummte, man begann leiser zu sprechen, lachte über irgend etwas, dann wurde an die Wand geklopft, ich tat dasselbe. Darauf wartete ich eine Weile. Als ich hörte, dass im Nebenzimmer alles still geworden war, entkleidete ich mich, und legte mich, ohne die Rückkehr des Marquis abzuwarten, zu Bett. Ich wurde von einem entsetzlichen Lärm geweckt; aus dem Korridor drang Weibergeschrei zu mir herüber, dazwischen die Stimme François’. Im Gang war Licht. Ich steckte, ohne mich anzukleiden, meine Nase durch die geöffnete Tür.
Die Alte aus dem Nebenzimmer drang in einem Deshabillé, das sie durchaus nicht schöner machte, auf François ein, der ohne Gilet und Schuhe, in grösster Unordnung des übrigen Anzuges sich gegen unsere Tür zurückzog; einige Frauen im Häubchen und Männer in Nachtmützen standen mit Kerzen in den Händen im Korridor, aus dem Nebenzimmer klang Schluchzen herüber. Die Alte schrie:
„Es gibt ein Gesetz! Es gibt eine Ehre! Wir sind Edeldamen. Wann hat man gehört, dass sich einer in ein fremdes Zimmer einschleicht sich entkleidet und macht, als sei er in einem öffentlichen Hause?“
François meinte, er habe sich in der Zimmertür geirrt und geglaubt, im Bette schlafe sein Freund.
„Geht man mit seinem Freunde so um, wie mit einer Frau, die man . . . die man . . .“ Hier wurde ihr Geschrei durch ein noch lauteres aus dem Nebenzimmer übertönt.
„Die Ärmste, die Ärmste! Gut, dass ich mich diese Nacht an die Aussenseite des Bettes legte und kitzelig bin. Wasser! Haben Sie nicht Wasser?“
Sie schob mich aus unserem Zimmer heraus auf den Korridor, betrat unsere Nummer, aus der sie gleich wieder mit einem Glase Wasser herauskam. Nachdem das Geschrei noch lange Zeit gewährt hatte, gingen die Leute schliesslich auseinander. Die Alte rief uns noch zum Schlusse nach:
„Ich werde es dabei nicht bleiben lassen! Es gibt ein Gesetz!“
François hatte seine Kleider zurückbekommen, machte jedoch die Entdeckung, dass sein Geldbeutel aus seinem Kamisol verschwunden war. Auch meiner war nicht mehr auf dem Tische, auf den ich ihn gelegt hatte. Infolgedessen hatten wir nicht einmal Geld, um nach Florenz zu gelangen.
Die Sonne schien grell in das Zimmer, das fast genau so aussah, wie das unsrige. Die Buckelige wickelte, während der Auseinandersetzung mit uns, Garn ab, Signorina Pasqua sass mit gefalteten Händen am Fenster und schien nicht das geringste Interesse an unserem Gespräch zu haben. François bemühte sich vergeblich die alte Dame zu einem Geständnis und zur Wiedergabe des gestohlenen Geldes zu bewegen, sie stellte sich taub und einfältig und machte, als begreife sie nichts, von Zeit zu Zeit brachte sie den gestrigen Vorfall wieder in Erinnerung und sprach davon, dass es ein Gesetz gäbe. Um nicht der Versuchung zu erliegen die schlaue Buckelige zu verprügeln, trat ich, als ich vom Streit gerade genug hatte, ans Fenster, wo Signorina Pasqua im Hauskleide mit gefalteten Händen dasass. Sie lächelte ein wenig und sah mich von unten nach oben mit etwas schielenden Augen an.
„Ihnen ist diese Geschichte vom verschwundenen Gelde auch langweilig geworden?“
„Ja, um so mehr, als bei der Sache nichts Vernünftiges herauskommen will.“
„Da kann auch nichts Vernünftiges herauskommen: wer hat denn jemals gehört, dass man verlorenes Geld zurückerhalten hätte? Ihr Freund bemüht sich vergebens.“
„Es bleibt ihm halt nichts anderes übrig, als sich so eifrig zu bemühen, denn wir sitzen ohne einen Groschen und können nicht einmal bis nach Florenz.“
„So? . . .“ fragte sie, als interessiere sie sich jetzt mehr für unsere Angelegenheit, dabei glitt ihr, dünner Finger dem Fensterrahmen entlang, wo eine verspätete Fliege summte. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, wandte sie sich plötzlich den Streitenden zu und sagte mit etwas scharfer, aber klangvoller, reiner Stimme:
„Höret, meine Lieben! Wir sind euch mit Signor Aimé gar nicht für euren Disput dankbar, um so weniger, als er ganz aussichtslos ist. Sie müssen sich damit zufrieden geben, dass das Geld spurlos verschwunden ist, aber wir können darüber beraten, wie Sie unter so traurigen Umständen zu handeln haben. Und mir scheint,“ fuhr sie, die Augen zusammenkneifend, fort: „mir scheint, dass wir vorzüglich zu einem Übereinkommen gelangen können und es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass wir dasselbe Ziel im Auge haben, meine Freunde . . .“
Und sie begann ihren Plan zu entwickeln.
In der Nähe des Ponte Vecchio hatten wir uns eine anständige Wohnung gemietet, gaben uns für zugereiste Venezianer aus und legten uns den Namen der Grafen Gozzi bei. Die alte Buckelige trug den angeblichen Grafentitel mit Würde und wir bemühten uns die liebenswürdigen Cousins der falschen Cousine zu spielen. Signorina Pasqua zeigte sich täglich auf der Promenade, kleidete sich schlicht und befand sich immer in meiner oder François’ Begleitung. Sie machte mit wohlhabend scheinenden Leuten Bekanntschaften, erzählte von ihren Unglücksfällen, von der zeitweilig bedrängten Lage der uralten Familie Gozzi, lud ihre Bekannten zu sich ein, wo sie höflich und bescheiden empfangen wurden. Signorina Pasqua spielte Clavecin und sang Arien und französische Lieder, wir schlugen zur Zerstreuung ein Spielchen vor. François gewann, aber nicht viel, denn er fürchtete, man könnte darüber sprechen und wartete auf eine günstigere Gelegenheit für einen entscheidenden Coup. Wenn einmal neue Bekannte, nicht so sehr durch die Reize, als durch das Mienenspiel und das Getue der gebeugten Jungfrau hingerissen, etwas wagten, so erhob die Buckelige ein Geschrei und wir traten als Beschützer der Unschuld auf, indem wir den Streit durch Waffen zu entscheiden oder den Skandal für Geld niederzuschlagen in Vorschlag brachten, wobei wir mit unseren Verbindungen in Venedig drohten. So lebten wir etwa einen Monat lang. Der Verdienst wurde brüderlich geteilt, Ersparnisse machten wir nicht, aber wir konnten sorglos, ohne uns Vergnügungen zu versagen, leben. Schliesslich verliebte sich in Signorina Pasqua der junge Spaladetti, der Sohn eines jüdischen Goldschmiedes und Wucherers. Seine Schönheit war etwas süsslich, ungeachtet seiner Herkunft, war er freigebig, treu und leidenschaftlich, ausserdem war er, glaub ich, noch unschuldig und hoch von Wuchs. Er begann, der Signorina nach allen Regeln der Kunst mit Blumensträussen, Serenaden, Soupers, Spazierfahrten, Sonetten, Geschenken und Fensterpromenaden den Hof zu machen. Das wusste denn bald auch die ganze Stadt zum grössten Leidwesen des alten Spaladetti und zur Freude unserer lieben Cousine.
Einmal, als ich mit Pasqua vor den Stadtmauern spazierenging, trafen wir den jungen Giuseppe Spaladetti hoch zu Ross in einem lila Sammetgewande. Als er uns bemerkte, stieg er vom Pferde, übergab dieses seinem berittenen Diener, der ihm folgte, denn der Sohn des Wucherers war bestrebt, ein vornehmes Leben zu führen und für einen Stutzer aus hohem Hause gehalten zu werden, und bat um die Erlaubnis, uns begleiten zu dürfen. Mit übertriebener Ehrerbietung und etwas orientalisch schnörkelhaft, so dass die Schönheit der Bilder den Mangel an Geschmack ausgleichen musste, sagte er leidenschaftlich und schüchtern der Signorina Artigkeiten, während ich nebenher ging und die Miene eines Menschen aufsetzte, der die Natur geniesst. Als wir auf dem Rückwege am Hause Tornabuoni vorüberkamen, sahen wir den alten Ieronymo Spaladetti im Gespräche mit dem Herrn des Hauses unter einem eisernen Fackelhalter sitzen. Als wir an ihn herangekommen waren, rief er seinem Sohne zu:
„Giuseppe, hierher!“
Wir blieben stehen, die Signorina gab den Arm des jungen Spaladetti frei, der seinem Vater antwortete:
„Wenn ich die Gräfin Pasqua nach Hause begleitet haben werde, kehre ich sofort zu Euch zurück, Signor.“
„Was gibt es da allerhand Abenteuerinnen zu begleiten!“ schrie der Alte, seinen pelzverbrämten Rock zusammenraffend, während ich, zu einer Rauferei bereit, die Hand an den Griff meines Degens legte.
„Ich bitte Euch, mein Vater, daran zu denken, was Ihr saget.“
„Still geschwiegen! Ich, dein Vater, der dich erzeuget hat, befehle dir: lass ab von ihr!“
Pasqua schmiegte sich an mich, Giuseppe entgegnete erbleichend:
„Ich flehe Euch an, Vater, keine Befehle zu erteilen, die ich, wie Ihr im voraus wisset, nicht erfüllen werde.“
„Wie?“ rief der Alte aus, und eine Flut von Schimpfworten ging auf seinen Sohn nieder. Die jüdischen Flüche, der genuesische Akzent, die Schnelligkeit und Leidenschaftlichkeit der Rede, das halborientalische Gewand und der hohe Wuchs des alten Goldschmiedes und wir, verlegen dem Alten gegenüberstehend, das alles zog die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden an. Pasqua, die in Ohnmacht zu fallen drohte, flüsterte Giuseppe zu:
„Gebt nach, verlasset uns. Später . . . morgen . . . ich bin die Eure . . . für immer.“ Spaladetti flammte auf und sagte laut:
„Ich werde das nicht vergessen, Gräfin!“ Hierauf trat er an den Alten heran, fasste ihn am Ärmel und murmelte:
„Gehen wir, Vater, ich bin bereit.“
„Gräfin, Gräfin . . . dass dich der Teufel hole! Aber ich kriege dich noch!“ knurrte der Jude, während ich meine angebliche Cousine zum Arno hinunterzog. Als wir nach Hause gekommen waren, sang Pasqua Kanzonen von Scarlatti und setzte sich dann schweigend, ohne auf unsere Scherze einzugehen, ans Fenster und blieb dort lange bei verlöschten Kerzen sitzen, bis der Mond schon längst verschwunden war. Sie hatte die Hände auf den Schoss herabsinken lassen und schien über etwas ernst nachzudenken.
Giuseppe hatte sich aufs Clavecin gestützt, an dem unsere Cousine gesungen hatte, und flüsterte leidenschaftlich, auf ihre mageren, rosig glänzenden Finger herabschauend:
„Ich bete Eure Hände an, Pasqua, niemand hat so wunderbare Hände, ich werde Euch ein Schmuckkästchen mit Ringen aus dem Laden meines Vaters schenken, es sind prächtige Amethysten darunter und Topase, rosenrot, wie Eure Haut.“ Pasqua sang, die Augen halbgeschlossen, mit dünner feiner Stimme:
„Wie der Schwan, noch sterbend will ich singen,
Sterbend noch sing ich voll Liebeslust,
Liebend dich nur pocht in meiner Brust
Heiss mein Herz und will vor Liebe springen . . .“
Die Buckelige spielte aus Langerweile mit François Karten um Schokolade, ich sah zum Fenster hinaus, im Hause drüben konnte man eine Küche sehen, in der Köche das Abendessen bereiteten. Plötzlich klopfte es an die Tür. Wir fuhren alle auf. François liess den alten Spaladetti herein, dem Sbirren und noch andere Leute folgten.
„Vater, Ihr hier? Wozu?“ schrie Giuseppe, der aufgesprungen war und Signorina Pasqua mit seinem Körper deckte.
„Sind das die Leute, die wir suchen?“ fragte der Sergeant, sich an Ieronymo wendend. Dieser nickte mit dem Kopfe. „Die ihr euch für die Grafen Francesco und Aimé Gozzi, die Gräfinnen Giulia und Pasqua ausgebet, im Namen des Gesetzes werdet ihr befragt, mit welchem Recht ihr euch diesen Titel und diesen alten Namen angeeignet habet? Erkennet Ihr, geehrter Graf, diese Leute, die Ihr in Venedig gesehen haben müsstet?“ wandte er sich an einen Greis mit einer runden Brille und in grauem Kamisol, der mitgekommen war. Dieser sah uns der Reihe nach lange an, schüttelte den Kopf und sagte:
„Nein, nein, ich habe sie niemals gesehen.“
„Ist er auch selbst ein Graf? Verrückt ist er oder betrunken! Hinaus aus unserem Hause!“ schrie François. Giuseppe zankte mit seinem Vater, das Zimmer mit Gurgellauten erfüllend. Signorina Pasqua weinte in den Armen von Signora Giulia, die mit Würde irgendeine Erklärung abgab. Der Lärm wurde immer grösser. Klirrend kreuzten sich die Degen. Die Sergeanten riefen durch das Fenster nach Hilfe. Die Frauen fielen in Ohnmacht. François sank, vom alten Juden verwundet, zu Boden und riss, im Fallen auf die Tasten des Clavecins schlagend, die Kerzen vom Instrument mit. Im Halbdunkel stürzte ich mich in diese Richtung und bohrte mein Messer in den mageren Rücken von Ieronymo, der, sich krümmend, aufheulte. Ich lief durch das Zimmer, plötzlich wurde ich am Bein gepackt und fiel auf die Buckelige.
„Nimm im Vorzimmer eine von unseren Roben, rette dich,“ flüsterte sie mir zu. Eine kleine Abteilung der Wache nahte dem Hause: ich wartete hinter der Haustür bis sie an mir vorbei war, zog mir das unterwegs mitgenommene Frauenkleid an, warf mir ein Tuch über den Kopf und lief durch die leere schallende Strasse immer weiter vom Lärm fort.
Als ich mich genügend weit vom Hause entfernt hatte, um vor einer Verfolgung sicher zu sein, blieb ich stehen. Vor Erregung, vom Laufen und den doppelten Kleidern floss mir der Schweiss in Strömen den Körper herab. Ich trat in eine dunkle Mauernische, warf mein Kamisol und die Hosen ab und behielt der Sicherheit wegen nur das Frauenkleid an. Darauf band ich mir das Tuch sorgfältiger um den Kopf. Nachdem ich die mir unbekannte Strasse ein Stück entlanggegangen war, bemerkte ich, dass mir ein Mensch folge, der seinem Gang und Äusseren nach, dem geistlichen Stande anzugehören schien. Als er an der Strassenecke stand, pfiff er. Kaum war ich in die Nebenstrasse eingebogen, als ich mich von etwa sechs Männern, mit Larven vor den Gesichtern und ohne Laterne, umringt sah. Sie warfen mir etwas über den Kopf, was mich am Schreien hinderte, hoben mich auf und trugen mich auf ihren Armen davon, trotzdem ich mit meinen Füssen ihre Bäuche bearbeitete. Bald sah ich ein, dass ich mich vergeblich widersetze und hörte, in mein Schicksal ergeben, auf, mich zu wehren. Wir gingen ziemlich lange durch die Strassen, dann, nach dem dumpfen Schall der Schritte zu urteilen, durch lange Korridore, schliesslich stellte man mich auf die Beine und nahm mir die Binde ab. Ich war, wie mir schien, allein in einem stockfinsteren Raum. Ich tastete mich bis zu einem Stuhl, der an der Mauer stand. An der Wand tastete ich mich zu einem Bette, auf dessen Rand ich mich niederliess, ohne zu wissen, was weiter folgen werde. Bald jedoch stellte es sich heraus, dass ich im Zimmer nicht allein sei. Feiste, weiche Hände betasteten mich behutsam, als wollten sie mein Kleid aufnesteln und ich hörte flüstern:
„Fürchtet Euch nicht, holde Jungfrau, fürchtet Euch nicht, Ihr befindet Euch in Sicherheit, Ihr werdet nur Liebe und Ehrerbietung finden.“
Ich wurde fast nackt ausgekleidet; ich war müde und wollte schlafen, deshalb streckte ich mich ohne Umstände auf das Bett an der Wandseite aus. Das Flüstern, unterbrochen von Küssen, hörte nicht auf:
„Wie glücklich bin ich, dass Ihr mein Flehen erhört habet und mit diesem bescheidenen Lager fürliebnehmen wollet.“ Die Hände glitten über meine Schultern, den Rücken, die Lenden . . . Plötzlich schnellte mein Nachbar, wie von der Tarantel gestochen, vom krachenden Bette empor:
„Heilige Jungfrau! Sohn Gottes! Bewahre mich vor Versuchung!“ Da ich mich nicht regte und schwieg, so begab sich mein gottesfürchtiger Partner noch einmal auf Rekognoszierung, die nicht weniger trostlos verlief. Schliesslich unterbrach ich das Schweigen:
„Signor, Ihr täuschet Euch nicht und seid auch nicht in Versuchung geführt worden, ich bin tatsächlich weit davon entfernt eine Jungfrau zu sein. Bin ich nun aber schon einmal hier, so werde ich auch bis zum Morgen dableiben, um nicht Euch und mich selbst einer Gefahr auszusetzen; wenn alle zur Frühmesse gehen werden,“ meinte ich (denn ich hatte bereits begriffen, wo ich mich befand), „werde ich mich unbemerkt entfernen.“ Fassungslos sagte der Bruder, nachdem er einige Zeit geschwiegen hatte:
„Ihr habet recht, mein Sohn, und der Herr, der Wasser in Wein verwandelt hat, er möge Euch morgen helfen hinauszukommen. Jetzt bleibet auf diesem, wenn auch schmalen Lager liegen. Die an Euch geübte Gastfreundschaft wird mir helfen mein Missgeschick zu vergessen.“
„Amen,“ antwortete ich, und kehrte mich zur Wand.
Der Herr, der Wasser in Wein verwandelt hat, half mir nicht unbemerkt hinauszukommen, denn noch vor Sonnenaufgang weckte uns ein Klosterdiener und befahl uns im Namen des Abtes ins Refektorium zu kommen, wo die gesamte Bruderschaft bereits versammelt war. Der Abt antwortete kaum auf unseren Gruss, als man uns ins Refektorium hineinführte. Wir wurden abseits von der Brüderschaft aufgestellt. Mir war das Gesicht mit einem Tuche verhüllt worden. Nachdem der Abt auf die Bedeutung und die Wichtigkeit der Mönchsgelübde hingewiesen hatte, fuhr er mit einer Handbewegung in die Richtung, wo wir standen, fort:
„Aber siehe, in unserer so musterhaften Herde, in unserem vom Geruche der Frömmigkeit erfüllten Kloster, hat sich ein Schaf finden lassen, das die Herde verdirbt, hat sich ein Bruder finden lassen, der das Gelübde der Keuschheit, das Gebot des Gehorsams vergessend, im geheimen vor uns ein Weib in seine Zelle führt, die Nacht mit diesem Weihe zubringt, in unsere Umfriedung Sünde, Tod und Fluch trägt.“ Mein Mönch weinte, sich die feiste Brust schlagend, wobei er immerfort murmelte: „Mea culpa, mea culpa.“ Die übrigen Mönche schwiegen vorwurfsvoll. Als ich die Wendung der Dinge sah, die mir nichts Gutes verhiess, trat ich vor und sagte bescheiden, aber deutlich:
„Heiliger Vater, ehrwürdige Brüder, ihr beschuldiget ohne Grund diesen guten Bruder. Die Augenscheinlichkeit seines Vergehens wird sofort in ein Nichts zusammensinken, wenn ihr erfahret, dass ich kein Weib, sondern ein Mann bin, der vor Mördern Rettung suchend, glücklich war unter dem Dache dieses Klosters Zuflucht zu finden. Gott ist mein Zeuge, ausserdem beweist die Natur selbst die Wahrhaftigkeit meiner Worte.“ Hier hob ich meine Robe auf, und solange die Brüderschaft, überrascht durch das, was man an einem Manne sehen kann, der keine Hosen anhat und seinen Rock bis zum Gürtel schürzt, wie versteinert dastand, ging ich schnell durch eine Seitentür hinaus in den Garten, von wo aus ich ohne Mühe auf die Strasse gelangte.
Ich hatte mich davon überzeugt, wie wenig ein Frauenkleid vor Zufällen schützt, deshalb war ich zuallererst darauf bedacht das meinige loszuwerden. Nachdem ich es sorgsam im Gebüsch an der Heerstrasse versteckt hatte, begann ich, als wäre ich bis aufs Hemd ausgeraubt worden, laut um Hilfe zu rufen, bis ein vorüberfahrender Bauer mich zu sich nach Hause mitnahm und mir ein Paar alte Hosen und ein ahgetragenes Kamisol schenkte. Beim Bauern traf ich einen Kaufmann aus Venedig, der gerührt von meiner Lage und, glaub ich, auch von meinem Äusseren, mir vorschlug ihn nach Venedig zu begleiten, um Verkäufer in seinem Laden zu werden. Obgleich ich nicht die Absicht hatte mich lange mit diesem Gewerbe zu befassen, ging ich doch auf seinen Vorschlag ein, in welchem ich eine Möglichkeit erblickte nach Venedig zu kommen, wohin es mich zog, wie einen echten Grafen Gozzi. Die Reise bot ausser den unbekannten Städten nichts Interessantes, denn Vivarini reiste bescheiden, ja geizig, und liess mich zudem keinen Schritt weit von sich. Das alles machte den Entschluss in mir reifen ihn bei der ersten Gelegenheit zu verlassen. In Venedig kam noch das Gezänk einer alten Haushälterin, schlechtes Abendessen und das tagelange Herumstehen vor den Ladentischen des halbdunkelen Warenlagers dazu. Schliesslich erklärte ich dem Signor, dass ich ihn verlasse, er murmelte etwas von Undankbarkeit der heutigen Jugend, aber eigentlich war mein Abgang ihm ziemlich gleichgültig. Ich hatte schon vorher mit dem Gondoliere Rudolfino verabredet, dass ich, als sein Gehilfe, zu ihm in Dienst treten werde. Ich vertauschte das ruhige, aber langweilige Leben bei Vivarini gegen das armselige eines Ruderknechtes, das jedoch mehr Möglichkeiten zu unerwarteten Begegnungen bot. Und in der Tat verhüllte so manches Mal die dunkele Nacht oder der Vorhang des „Felze“ das Glück des jungen Gondoliere und der Dame, die sich von ihm rudern liess, aber es gab nicht einen einzigen Fall, der irgendwelche ernstere Folgen nach sich gezogen hätte.
Es war ein Fest, man riss sich förmlich um Gondeln. Meine, die ich sorgfältig gesäubert und mit gewaschenen Teppichen geschmückt hatte, nahm ein Abbate mit seiner Dame. Ich interessierte mich nicht besonders für die Zärtlichkeiten meiner Fahrgäste und beobachtete mehr die vorübergleitenden Gondeln, besonders eine, die sich die ganze Zeit neben uns hielt. In ihr sassen zwei ganz gleich gekleidete Damen, beide mit Perlen geschmückt, jede mit einer gelben Rose im Haar. Sie waren ohne Begleiter, blickten einander in die Augen und lächelten. Die Sonne versank in eine Wolke. Über den ganzen Hafen glitten Gondeln mit Musik. Einige hatten schon ihre Laternen angezündet. Die schwüle Windstille schien ein Gewitter anzukünden. Die Vergnügungen hatten ihren Höhepunkt erreicht, als das Gewitter losbrach. Der Himmel hatte sich ganz plötzlich verdunkelt, es donnerte, ein Platzregen goss herunter, die Musik verstummte, ohne Ordnung eilten die Gondeln dem Kanal zu. Das alles sah der Lust, die eben hier geherrscht hatte, so unähnlich, dass ein Philosoph sich darüber durchaus lehrreiche Gedanken hätte machen können. Aber ich musste vor allem daran denken meine Gondel in Sicherheit zu bringen. In der fürchterlichen Enge hörte ich mit Entsetzen, wie unser Boot krachend an etwas anrannte; ich warf auf alle Fälle meinen einfachen Anzug ab. Und Scham und Nächstenliebe vergessend, war ich bereit mich ins Wasser zu stürzen und meine Passagiere im Boote, das sich bereits mit Wasser zu füllen begann, der Willkür des Sturmes zu überlassen. Da trieb der Sturm wieder die umherirrenden Gondeln zusammen, ich hörte ein neues, noch drohenderes Krachen und sprang — nicht ins Wasser, sondern in die nächste vorbeieilende Gondel, wozu ich natürlich nicht so nackt zu sein gebraucht hätte. Die Damen im Perlenschmuck und mit den gelben Rosen hatten sich aneinandergeschmiegt und waren bleich.
„Entschuldiget, Signorine!“ rief ich aus, als die Gondel sich unter meinem Sprunge auf die Seite neigte. Sie schrien gleichzeitig leise auf, es war, als hätte sie mein unerwartetes Erscheinen und der Anblick, den ich bot, erschreckt. Dann drängten sie ihren Gondoliere zur Eile.
Nackt, wie ich war, wurde ich durch eine Reihe von, dem Anschein nach, nicht geheizten Gemächern mit vernagelten Fenstern in ein kleines Zimmer geführt, in dem ein Kamin knisterte, dessen flackerndes rötliches Feuer die dunkeln Mauern beleuchtete. Die Damen im Perlenschmuck und mit den gelben Rosen sassen stumm auf einem Sofa an der Wand und sahen einander lächelnd an. Ich schämte mich meiner Nacktheit und fror, deshalb wandte ich mich an die Damen:
„Vielleicht hat einer eurer Diener, meine guten Signorine, ein überflüssiges Gewand, denn ich habe es kalt und bin nicht gewohnt nackt vor Damen zu erscheinen, ohne dass es mir peinlich wäre.“
Sie fuhren fort zu schweigen und, als ich meine Bitte wiederholte, kehrten sie mir gleichzeitig ihre Gesichter zu und blickten mich unverwandt und starr an, so dass es schien, als belebe nur das flackernde Kaminfeuer ihre Züge. Ihr Schweigen machte meine Lage noch sonderbarer und peinlicher. Ich beschloss nicht zu staunen und mir weiter keinen Zwang anzutun, nahm den Mantel, den jemand auf einen Stuhl geworfen hatte, und setzte mich ans Feuer. Eine der Damen sagte leise:
„Den Mantel, lasset den Mantel!“
Aus einem Schrank, der sich als Geheimtür erwies, trat eine alte Frau mit einer Kerze und einer Kanne Wein, sie stellte schweigend beides auf den Tisch, auf dem ein Abendessen gedeckt war, zündete an verschiedenen Stellen des Zimmers Kerzen an und schlug die schweren gelben Vorhänge auseinander, welche ein Bett verhüllt hatten. Ich begann unruhig zu werden.
„Ist Ambrosio zu Hause?“ fragte die eine der Damen.
„Wo sollte er denn sonst sein?“ entgegnete die Alte.
„Schläft Ambrosio?“ fragte die andere der Damen.
„Was sollte er sonst tun?“ entgegnete wieder die alte Dienerin.
„Heute musst du mehr essen, Bianca, morgen bist du an der Reihe,“ sagte die eine Dame.
„Ja, morgen bin ich an der Reihe,“ bestätigte die andere Dame.
„Wozu diesen Mantel?“ fragten dann beide laut zu gleicher Zeit.
Ich hielt es nicht mehr aus, stand auf, warf den Mantel ab, denn ich hatte mich schon erwärmt, und sagte laut:
„Machet das Mass eurer Güte voll, rettet mich, gebet mir ein Glas Wein, ein Stück Brot, um meine geschwächten Kräfte zu stärken.“
Die Uhr schlug zehn, beide Damen gähnten gleichzeitig, begannen, wie nach dem Schlaf, ihre Augen zu reiben und sahen mich erstaunt an, als versuchten sie, sich an etwas zu erinnern, schliesslich sagte die Ältere, die Bianca angeredet wurde, mit tönender Stimme, die ganz anders klang, als ihre frühere:
„Jetzt entsinne ich mich . . . Der schöne gerettete Jüngling vom Meere? Gewiss, Abendessen, Wein, aber nicht den Mantel, nicht den Mantel! Die Frist ist vorüber, wir sind frei! Schwester, welch ein Körper, o welche Vollkommenheit!“
Der Wein funkelte rot in den breiten Gläsern, die kalten, aber würzigen Speisen, die reichlich aufgetragen waren, reizten den Hunger, im Hintergrunde schimmerte weiss das Bett. Die Damen waren lebhaft geworden, mit glänzenden Augen und geröteten Wangen betrachteten sie mich, wie Kinder, und machten naive entzückte Bemerkungen, die mich staunen liessen. Schliesslich gab die Jüngere, Catharina, ihr Haar auflösend, das Zeichen zum Schlaf. Ohne die Kerzen zu verlöschen, brachten wir vor dem riesigen Spiegel im Hintergrunde des Himmelbettes, fast schlaflos, diese lange, für Verliebte allzu kurze Nacht zu.
Laute Stimmen weckten mich; vor mir auf dem Bette, hinter den herabgelassenen Vorhängen, lag ein bescheidener, aber derber und sauberer Männeranzug. Ein Mann sagte mit rauher Stimme geärgert:
„’s ist noch gut, dass es euch gelungen ist, statt des Giovanni, diesen Narren herzubringen. Aber welche Unvorsichtigkeit! Welche Unvorsichtigkeit! Haben meine Damen das bedacht? An einem Festtag, vor allen Leuten sich in der Gondel hinauszuwagen und dazu noch zu einer solchen Stunde, zu einer solchen Stunde! Rechtfertigt euch nicht! Genügen euch die leeren Zimmer vielleicht nicht zu Spaziergängen? Die alte Ursula ist nicht schuld daran, die dreht, seit dieser Taugenichts davongelaufen ist, die Maschine allein. Ich wiederhole, es ist gut, dass ihr diesen Kerl hergelockt habet, aber dass das in Zukunft nicht wieder vorkommt!“
Ich blickte durch den Spalt zwischen den Vorhängen: im Zimmer ging ein riesiger pockennarbiger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren auf und ab. Er trug keine Perücke, sondern hatte um seinen Kopf ein seidenes Tuch gewunden. Die bleichen Damen sassen mit müden, angegriffenen Gesichtern und matten Augen auf dem Sofa nebeneinander und versuchten von Zeit zu Zeit schüchtern sich zu rechtfertigen. Die Sonne liess ihr Licht auf ihre Gesichter fallen und machte diese den gestrigen ebenso unähnlich, wie es das Zimmer war, das ein Werktagsaussehen hatte, nicht aufgeräumt war. Die gelben Rosen lagen, nicht ausgekehrt, auf dem Boden, die Perlen, neben dampfenden Tassen mit Schokolade auf dem Tische. Nachdem er hinter meinen Vorhängen Geräusch gehört hatte, trat der Mann, den Damen mit dem Finger drohend, in den Schrank, durch den gestern die Alte erschienen war, und verschwand. Ich bekam meine Schokolade, später ein Mittag-, dann ein Abendessen. Zwischen den Mahlzeiten spielten die Damen Gitarre und sangen leise zweistimmig Lieder. Gegen acht Uhr, als das Abendessen schon fertig war, und wir mit Signorina Bianca an der geöffneten Schranktür plauderten, erblasste die Dame plötzlich, schloss halb die Augen und wurde eigentümlich sich selbst wieder ähnlich, wie ich sie gestern gesehen hatte. Sie sprach leise und mit Unterbrechungen, während auch hinter der Tür verschwommene Stimmen hörbar wurden.
„Alcide da Buonovente . . . ja . . . Ihr werdet es nach neun Nächten finden . . . es wird nichts geschehen . . . der Tod, der Tod . . . zehntausend Louisdors . . . . der Rest im linken Schiebfach des Sekretärs . . . .“
Ich stürzte erschreckt zu Signorina Catharina, die den Finger an den Mund hielt, um mir Schweigen zu gebieten, und mich ans Fenster zog, während die bleiche Bianca fortfuhr, unverständliche, abgebrochene Sätze zu murmeln, als beantworte sie ihr allein vernehmliche Fragen.
Eines Morgens befahl mir Signor Ambrosio mich anzukleiden und ihm in die nächste Kirche zu folgen. Er sagte mir:
„Aimé, ich werde Euch ein grosses Geheimnis enthüllen, welches das Glück Eures Lebens werden kann; vorher jedoch muss ich Gewissheit haben, dass Ihr dieses Geheimnis niemand verraten werdet, deshalb werdet Ihr mir vor dem Altar ein Schriftstück vorlesen, das ich bei mir in der Tasche trage.“
Die gewisse Feierlichkeit, mit der diese einleitenden Worte vorgetragen wurden, die halbdunkele Kirche mit ihren wenigen Betern, der erste Ausgang nach ziemlich langer Zimmerhaft, das alles hatte mich selbst in gehobene Stimmung versetzt. In der Kirche, beim Altar, wo die ewige Lampe vor den geweihten Gaben des heiligen Abendmahles brannte, las ich das Folgende:
„Ich, Jean, Aimé, Ulysse, Bartholomé schwöre vor unserem Herrn Jesus Christus, seiner heiligen Mutter, der heiligen Jungfrau Maria und allen Heiligen, ewiges Schweigen darüber zu bewahren, was ich vom ehrenwerten Signor Ambrosio, Pietro, Ieronymo Scalzarocca erfahren werde, und niemand, weder Bruder, noch Vater, noch Sohn, noch Mutter, noch Schwester, noch Tochter, noch Onkel, noch Neffen, noch sonst einem Verwandten oder einer Verwandten, keinem Freunde, keinem Manne und keiner Frau dasselbe eröffnen, noch mit mir selber, weder mündlich noch schriftlich darüber sprechen, auch nicht sagen werde: „ich könnte etwas erzählen, wenn ich nicht durch ein Versprechen gebunden wäre“, oder: „ich weiss etwas“, oder andere Andeutungen machen werde. Möge Gottes Strafe mich, als einen Eidbrüchigen, treffen, möge ich der Seligkeit des Paradieses verlustig gehen, wenn ich diesen Schwur nicht halte, den ich vor den geweihten Gaben des heiligen Abendmahles, dem unbefleckten Leibe des Herrn, leiste, am Tage der Märtyrer, der Päpste Clytus und Marcellinus, im Monat Aprilis, am sechsundzwanzigsten Tage, zu Venedig. Amen. Das zu halten gelobe ich, Jean, Aimé, Ulysse, Bartholomé. Und alles das ist wahr, wie die ewige Seligkeit der gerechten Seelen und die ewigen Martern der reuelosen Sünder wahr sind. Amen, amen, amen.“
Wir gingen schweigend nach Hause. Nachdem Signor Ambrosio mich in ein kleines dunkeles Zimmer, eine Art Ablegeraum, geführt hatte, zündete er eine Laterne an. Ich erblickte eine ganze Kette von Rädern, Hebeln, Achsen, die allem Anschein nach auf irgendeine geheime Art mit dem Nebenzimmer in Zusammenhang gebracht waren. Die alte Ursula setzte diese Räder mit grosser Anstrengung mittels eines Griffes in Bewegung, wobei ihr der Schweiss in Strömen von der Stirn floss. Ambrosio begann wieder mit einer gewissen Wichtigkeit auf dem pockennarbigen Gesichte:
„Höre, Aimé, ich teile mein grösstes Geheimnis mit dir. Siehst du, diese ganze Anlage ist ein Schritt zum grossen Perpetuum mobile; jedoch der letzte Schritt ist noch nicht getan. Noch fehlt dem grössten Werke des menschlichen Genius die Krone. Den Leuten aber, deren Spott kleinmütig macht, will ich das Werk bereits in der äusseren Gestalt seiner künftigen Vollkommenheit zeigen. Einstweilen ersetzen deshalb meine eigenen Hände, die schwachen Arme dieser alten, mir ergebenen Frau, und von jetzt ab auch die deinen, mein Sohn, den ewigen Stoss der Bewegung.“ Er umarmte mich begeistert, während die schweisstriefende Ursula leise stöhnte.
Bald hatte ich alles erfahren: die Signorine, Bianca und Catharina, waren Hellseherinnen, die täglich von Signor Scalzarocca in magischen Schlaf versenkt wurden, der bekanntlich die menschlichen Fähigkeiten so wundersamer Weise schärft. Diese ihre Fähigkeit benutzte Scalzarocca zu Wahrsagungen und zur Beantwortung von allen möglichen Fragen. Ausser dieser Beschäftigung und der mit dem Perpetuum mobile, trieb er noch Alchemie, zu welchem Zwecke er sich täglich für zwei, drei Stunden ganz allein, selbst ohne mich, den er doch in die Elemente der Magie und der Stellung des Horoskopes einzuführen begonnen hatte, in ein entlegenes Zimmer zurückzog. Ich kam selten aus dem Hause. Bald musste ich das Perpetuum mobile drehen, bald sass ich bei den Damen oder las im Albertus Magnus.
Eines Morgens, während unserer Beschäftigungen, sagte mir Ambrosio ernst und aufrichtig, dass er uns bald verlassen werde und mich mitnehmen könne, dass die beiden Damen jedoch mit der alten Ursula nach Ferrara ziehen sollten. Er, Scalzarocca, selbst werde von einem deutschen Herzog, als astrologischer Rat und Maitre de plaisir an dessen Hof geladen und in den nächsten Tagen träfen die Abgesandten des Herzogs ein, um ihn abzuholen. Hierauf entfernte er sich ins Laboratorium. Da Ursula die Maschine drehte, so benutzte ich die freie Zeit, um einem Duett der Damen, die auf dem Sofa sassen, zuzuhören. Meine Träume von der bevorstehenden Reise, von Elixieren, Horoskopen, von Geld, von in der Ferne winkender Grösse wurden durch einen fürchterlichen Knall unterbrochen, der das ganze Haus erschütterte.
„Was ist das?!“ riefen beide Damen, vom Sofa aufspringend, aus.
„Das war oben!“ entgegnete ich, erbleichend.
„Zu Hilfe! Der Herr, der Herr!“ schrie Ursula, die in der Tür zum Ablegeraum erschien. Ich befahl ihr zu schweigen und eilte die Treppe hinauf an die verschlossene Tür:
„Signor, Signor! Was ist mit Euch geschehen?“ rief ich und trommelte mit den Fäusten an die Tür, hinter der nur ein atemraubender Geruch hervorquoll. Ausserstande, die eisenbeschlagene Tür aufzubrechen, stieg ich auf einen Stuhl und sah durch das Fenster im Rauche, der das ganze Zimmer erfüllte, Signor Ambrosio am Boden ausgestreckt daliegen. Das Fenster einschlagen, durch das ätzender Qualm herausdrang, und ins Zimmer springen, war das Werk eines Augenblicks. Scalzarocca lag mit verbranntem Gesicht, ganz in Rauch gehüllt, neben einer gesprungenen Retorte, er war ohne Zweifel tot. Es wurde an die Tür geklopft und als ich von innen mit dem Schlüssel öffnete und hinaustrat, flüsterte Ursula entsetzt:
„Die Abgesandten des Herzogs!“
Ich war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen, aber plötzlich erfüllte Entschlossenheit meinen Verstand mit kalter Ruhe. Ich verschloss die Tür, befahl Ursula zu schweigen und stieg wichtig und langsam die Treppen zu den rosigen jungen Deutschen hinunter.
„Ihr seid vom Herzog Ernst Johann nach mir gesandt?“ fragte ich ruhig. Die Deutschen verbeugten sich und begannen gleichzeitig:
„Wir haben die Ehre mit . . .?“
„Ja, Ihr sprechet mit dem berühmten Ambrosius, Petrus, Hieronymus Scalzarocca.“
„Aber, ehrenwerter Herr, man sagte uns . . . machte uns auf Eure Jahre aufmerksam . . . .“
„Am Tage der heiligen Jungfrau Praxedis, den einundzwanzigsten Juli, werde ich fünfundvierzig Jahre alt werden,“ sagte ich würdevoll und lächelte träumerisch vor mich hin. Als ich den zweifelnden Blick der Deutschen gewahrte, fügte ich, auf die an der Tür herumstehende Ursula weisend, hinzu: „Diese Frau wird Euch meine Worte bestätigen. Dem Weisen erschliessen sich alle Geheimnisse der Natur, und selbst die Jahre haben, wie Gift und Verleumdung, keine Macht über ihn.“
Die Deutschen hörten mit halboffenem rosigem Munde ehrfurchtsvoll zu, während der ätzende Rauch aus Scalzaroccas Laboratorium in einem feinen Streifen sich an der Oberlage hinzog.
„Und Ihr glaubet, dass dieses Elixier den Flug der Zeit in unseren Zügen unsichtbar machen kann, dass mit vierzig Jahren unsre Augen glänzen, unsre Zähne schimmern, unsre Wangen blühen werden, unser Haar so üppig, unsere Stimme klangvoll sein wird, wie mit zwanzig Jahren?“ So sprach die kleine Prinzessin Amalia, während sie sich mit mir im Schlossparke unter den beschorenen Bäumen erging. Ich sah in ihr rundes, rötlich glänzendes kleines Gesichtchen, mit den runden hervorquellenden Augen, die so erschreckt-naiv in die Welt blickten, während das winzige Persönchen in einem grünlichen Kleide, das mit grell-rosa Buketts übersät war, hüpfenden Ganges über den Weg trippelte und den kleinen chinesischen Fächer bald auf- und bald zuklappte. Dann sagte ich:
„Glaubet mir, Prinzessin, dieser Wundertrank kann nicht bloss den Lauf der Zeit aufhalten, er kann die Zeit wiederbringen, dass die Rosen, die schon zu verschwinden begonnen, wieder auf den Wangen erblühen und das Feuer der Augen, das als schwacher Funke glimmte, wieder in fröhlichen Flammen zu spielen beginnt. Ihr sehet in mir selbst das anschauliche Beispiel dafür.“
Da wir durch eine abgelegene Allee zum See, auf dem Schwäne hinglitten, hinuntergingen, lehnte sich die Prinzessin zärtlich auf meinen Arm und flüsterte noch zärtlicher:
„So dass auch mir, die sich schon bereit macht, auf alles zu verzichten, noch Hoffnung lächeln kann?“
„Prinzessin!“ rief ich aus, „jeder wird bestätigen, dass das Elixier, zu dem Ihr ohne Ursache zu greifen Euch herabliesset, bereits begonnen hat, seine Wirkung auszuüben.“
„Ach, Ambrosius, teurer Meister, sprechet zu mir, als mein Freund und nicht, wie ein Hofmann meines Bruders . . .“ Und die Prinzessin begann sich darüber zu beklagen, dass die Herzogin sie, die unglückliche Amalia, auf alle Art in den Hintergrund dränge, sie verfolge und sie mit ihrem Bruder, dem Herzog, zu veruneinigen trachte, weil sie selbst unter dem Einflusse des alten Rates von Hohenschwitz stehe, der ein schlauer und heimtückischer Höfling sei. Dieser Bericht war mir nicht neu, ebensowenig, wie die leidenschaftlichen Blicke, die Amalia mir schenkte. Ich küsste ehrerbietig ihre Hand, versprach alles aufzubieten, was in meinen Kräften stehen würde, um die Eintracht in der herzoglichen Familie wiederherzustellen, und ohne den Kopf nach dem zweiten Handkusse zu erheben, sagte ich kaum hörbar:
„Wann werden wir uns wiedersehen, göttliche Gönnerin?“
„Mittwoch abend, im kleinen Pavillon,“ antwortete die Prinzessin erfreut und tänzelte, wie eine hinter die Kulissen abgehende Ballerina, in eine Seitenallee. In Gedanken versunken war ich fast bis ans Gitter des Parkes weiter gegangen, als ich weibliche Stimmen vernahm. Mir schien, dass über die herzogliche Familie gesprochen werde, deshalb blieb ich stehen, denn ich wollte mir die Unterhaltung zunutze machen.
„. . . . nein, nein, das weiss man schon, die Mutter der seligen Herzogin, Therese Pauline und deren Mutter, Pauline Therese, und auch ihre Mutter, Ernestine Viktoria, bei allen, allen ist es, wie man sagt, so gewesen: das erste Kind ein Sohn, dann sechs Töchter. Und — denk an mein Wort! auch unsere Herzogin — Gott geb’ ihr eine leichte Geburt — wird als erstes Kind den Thronerben gebären.“
„Gäb’s Gott!“
„Und alle rothaarig, wie die Füchse . . .“
„Nun, dieser kann auch schwarze Haare bekommen.“
„Was willst du damit sagen, Barbara?“
„Hast du das Jugendbildnis des Rates gesehen, das in seinem Speisesaal hängt?“
„Dummheiten! Das geht uns nichts an! Ich glaub’s nimmer!“
„Gewiss, ich sag’s ja auch: meine Sache ist, dass die Kühe gefüttert werden, dass sie rein sind und gemelkt werden, ja, das ist meine Sache, aber was die herrschaftlichen Angelegenheiten anbetrifft, so bewahre mich der Herr davor, nicht wahr?“
Hier trat ich aus der Allee heraus, beantwortete den ehrerbietigen Gruss der beiden Viehmägde und ging langsam meinem Schlossflügel zu, an den Pfützen vom gestrigen Regen herum, in denen der grellrote Widerschein der vom Sonnenuntergang geröteten Wolken glühte.
Ich trat dem Diener nach eilig in das grosse rote Zimmer, in dem ich den Herzog Ernst Johann am offenen Fenster im Gespräch mit seinem jungen Bruder, Philipp Ludwig, antraf. Durch das Fenster sah man auf eine gerade, bereits gelb gewordene Weissbuchenallee. Mit weiten Schritten, irgendeinen König, den er sich zum Muster gemacht, nachahmend, kam der Herzog mir entgegen und drückte fest meine Hand. Dann fragte er mich nach dem Ergebnis meiner Beobachtungen und Berechnungen. Herzog Ernst Johann war hager, mittelgross von Wuchs, hatte eine lange Nase, ein skrophulöses Gesicht und schmale Schultern. Er ähnelte seinem Bruder Philipp Ludwig, der ein wenig frischer aussah mit dem etwas fieberhaften Rot auf den Backenknochen und den glänzenden hervortretenden Augen. Indem ich hier und da aufgegriffene Gerüchte in Einklang brachte, mich der Unterweisungen meines Lehrers, der aus magischen Büchern geschöpften Formeln und Verordnungen entsann, konnte ich, mehr oder weniger erfolgreich, die Zweifel meines Herrn lösen, Ratschläge in laufenden Angelegenheiten erteilen und Voraussetzungen über künftige Ereignisse machen. Der junge Herzog stand an den Fensterrahmen gelehnt und schien erleichtert die durch den Regen erfrischte Luft einzuatmen.
„Ew. Liebden werden einen Thronerben haben,“ sagte ich langsam, um dem Inhalt meiner Rede mehr Bedeutung zu geben: „Ew. Liebden werden einen Sohn haben, aber Eure Freude wird durch das Blut verstorbener Vorfahren und einen Knoten getrübt werden, der aus verschiedenen Fäden geknüpft, demjenigen Unheil droht, der ihn löst.“ Der Herzog hörte mir gespannt und errötend zu, drückte mir wieder die Hand und murmelte im Fortgehen:
„Ein Sohn, das ist das Erste, das andere wollen wir später in Erwägung ziehen.“
Ich hatte mich ehrerbietig verneigt und begleitete ihn zur Tür. Dann kehrte ich zu Philipp Ludwig zurück, dessen dunkle Gestalt sich noch immer scharf vom bereits erblassten Abendhimmel abhob.
„Also, mein junger Freund!“
Er wandte sich hastig zu mir und rief mit gerührter und begeisterter Stimme:
„Meister, Meister, ich neige mich vor Eurem Wissen, Eurer Wissenschaft, Eurer Person, ich verehre Euch, nehmet mich, lehret mich, leitet mich, sehet — ich bin ganz der Eure!“ Er warf sich an meine Brust und barg seinen Kopf an meiner Schulter.
Die Herzogin Elisabeth Beatrix sass, im Hinblick auf ihre sich dem Ende nähernde Schwangerschaft, in weitem Gewande, in einen tiefen Sessel zurückgelehnt, da und blickte mit verschämtem Stolz auf ihren hinter den Armen des Sessels hervorragenden dicken Leib. Herzog Philipp Ludwig, der Rat und ich standen vor ihr und lauschten auf ihre leise, absichtlich noch leidender verstellte Stimme:
„Teurer Meister Ambrosius, Ihr handelt vielleicht nicht ganz überlegt, wenn Ihr Euch in unserem betrüblichen, freilich bloss leichten Familienzwist so offen gegen mich, gegen unseren ehrenwerten Freund, den verdienstvollen Rat, auf die Seite der Prinzessin Amalia stellet. Die krankhafte Einbildungskraft der armen Prinzessin und Eure Vertrauensseligkeit tragen allein die Schuld an alledem, teuerer Meister.“
„Ich bin überzeugt, dass der Meister sich, wie immer, nur von den edelsten Gefühlen hat leiten lassen,“ mischte sich Philipp Ludwig mit Leidenschaftlichkeit ein, indem er einen Schritt vortrat. Elisabeth Beatrix schlug ihre Augen zu dem Sprecher auf und senkte sie dann wieder auf ihre mageren Hände, die sie über dem Magen gefaltet hatte, worauf sie bemerkte:
„Ich habe auch gar nichts anderes gedacht, lieber Schwager!“
„Ew. Liebden, ich bin weit davon entfernt den Kreis meiner Befugnisse zu überschreiten und ich kann überhaupt nur ganz bescheiden zu handeln beginnen, wenn der gnädige Herzog sich selbst an mich um meinen ohnmächtigen Rat wenden sollte . . .“
Der Rat lächelte und bemerkte:
„Und deshalb, ehrenwerter Scalzarocca, wäre es uns erwünscht Euch mehr vom Wohle der Untertanen und der Förderung des Ansehens unseres guten Herzogs, als von den krankhaften Illusionen der unglücklichen Prinzessin geleitet zu sehen.“
„Ich bin überzeugt, dass der Meister immer von Gefühlen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit geleitet wird,“ erhob der junge Herzog wieder seine Stimme.
„Ich habe die gleiche Überzeugung, aber häufig überwiegt die Empfindsamkeit des Augenblickes die Erwägungen des klaren Verstandes zum Schaden der Gerechtigkeit,“ bemerkte Hohenschwitz.
„Aber der Meister wird jetzt auch unserer unbedeutenden Persönlichkeiten bei den Beratungen gedenken, nicht wahr?“ fragte die Herzogin, die den Versuch machte ihr eingefallenes Gesicht zu einem freundlichen Lächeln zu verziehen.
Ich hielt die Audienz für beendet, verneigte mich schweigend und ging in die Antichambre hinaus, wo ein Livreediener vor einer träufelnden Kerze schlummerte. Es schlug dumpf elf Uhr, als ich eine Tür zufallen und die hohen Stiefelabsätze des herzoglichen Bruders klopfen hörte, der mir mit jugendlichem Schritte nachlief. Ich blieb, den Griff der Ausgangstür in der Hand, stehen.
Als Lieschen vor dem kleinen Pavillon stand, legte sie den Finger an den Mund und öffnete die Tür, aus der das Licht in langen Streifen auf den Gartenweg, das Beet und den Rasen fiel, um in den Berberizensträuchern zu verschwinden. Die Prinzessin sass in schmachtender Stellung auf dem Sofa und liess träge die Finger über die Saiten einer Laute an grünem Bande gleiten. Wenn das kurze Ritornell schloss, fing sie es von vorne an, ohne mit dem Gesang einzusetzen. Ich war eingetreten und blieb an der Tür stehen; Die Prinzessin tat, als errate sie an den im Zugwinde flackernden Kerzen, dass jemand hereingekommen sei und flüsterte:
„Bist du es, Lieschen?“
„Prinzessin,“ sagte ich leise.
„Ambrosius!“ rief Amalia aus, mir schnell ihr, im Kerzenschimmer noch mehr, als sonst, glänzendes rundes Gesicht zukehrend, wobei sie die Laute aus den Händen gleiten liess, dass sie dumpf auf den dicken Teppich unter dem Tische aufschlug.
„Prinzessin . . .“ sagte ich noch leiser.
„Ambrosius!“ rief Amalia schmachtend und liess sich wieder aufs Sofa gleiten.
„Prinzessin,“ flüsterte ich fast, liess mich vor ihr aufs Knie sinken und bedeckte ihre Hand mit Küssen.
„Ambrosius,“ seufzte Amalia zwischen meinen Küssen. Beim Aufstehen stiess ich mit dem Fuss an die Laute, die einen schwachen Ton von sich gab. Durch das Fenster sah man grosse Sterne. Die Prinzessin sass verwirrt, mit gerötetem Gesicht in Erwartung meiner Rückkehr da. Plötzlich wurde laut an die Tür geklopft. Ich ordnete meine Perücke und öffnete dem erregten Lieschen die Tür.
„Der Herzog . . . verlangt . . . die Herzogin ist von einem Sohne entbunden worden,“ murmelte das Mädchen.
„Von einem Sohne?“ fragte ich zerstreut.
„Ambrosius!“ rief mir die Prinzessin zu, die sich mit süssem Lächeln etwas vom Sofa erhoben hatte.
„Prinzessin,“ antwortete ich und winkte der zurückbleibenden Dame einen Abschiedsgruss zu.
Die Sterne flimmerten grell über den Sträuchern beim Boskett. Ein im allgemeinen Trubel vergessener Springbrunnen plätscherte leise. Im Korridor traf ich den Bruder des Herzogs, der mich beim Mantel ergriff und mich abgebrochen und erregt ansprach:
„Meister, Meister, sehet, Eure Voraussagung ist eingetroffen, Euer Stern steigt, Euer Weg ist hell und strahlend: wie ich Euch liebe!“
Im Gehen ihn mit einem Arm umfassend, sagte ich:
„Ja, mein Freund, mit der Geburt dieses Kindes beginnt etwas Neues.“
Von der Treppe oben kam ein Diener mit einer Kerze geeilt:
„Meister, der Herzog bittet Euch unverzüglich ins Eckzimmer.“
Ich betrat einen dunklen Gang, aus dessen Tiefe, hinter verschlossenen Türen hervor, Kindergeschrei ertönte.
Ein glückliches Lächeln hinter affektierter Wichtigkeit verbergend, unterhielt sich Herzog Ernst Johann mit mir über Regierungsgeschäfte, während der Rat dastand und über unsere Vertraulichkeit lächelte, die seinen Einfluss zu verringern drohte. Die Paare gingen im Schritte der Polonaise an der seit kurzem wiederhergestellten Herzogin vorüber, die in einem Lehnstuhl unter einem hohen an der Marmorsäule angebrachten Kandelaber sass; sie war magerer und etwas hübscher geworden, und zum Takte der lauten Musik, die von den Galerien erschallte, machten die Tanzenden ihre Verbeugungen vor ihr. Diener reichten Früchte umher und Philipp Ludwig stand in roter Uniform, hohen Kanonenstiefeln und weissen hirschledernen Hosen, einem Porträt Moritz’ von Sachsen etwas ähnlich, an der gegenüberliegenden Tür und sah, die Arme über der Brust gekreuzt, mit leuchtenden Augen zu uns herüber. Trompetenstösse kündeten im Garten den Beginn des Feuerwerkes an. Die erste Rakete war schon aufgestiegen und zerstäubte in buntfarbigem Regen, als wir mit Philipp Ludwig, nachdem ich das Gespräch mit dem Herzog beendet hatte, den glänzend illuminierten Park betraten. Als wir die Grotte mit dem „Raube der Sabinerinnen“ erreicht hatten, liessen wir uns auf einer Steinbank nieder. Das grüne Licht der Laternen, die man auf die Terrassen des künstlichen Wasserfalles gestellt hatte, beleuchtete uns phantastisch. Eine Zeitlang sassen wir schweigend da und sahen einander bedeutungsvoll an.
„Nun,“ unterbrach Philipp Ludwig das Schweigen, „wir können zufrieden sein, mein teurer Lehrer: wir stehen am Tore zu Grösse, Reichtum, Einfluss!“
In der Stimme des jungen Mannes schienen mir feindselige Noten mitzuklingen, weshalb ich mich beeilte ihn so zu unterbrechen:
„Mein lieber und teurer Freund, Ihr täuschet Euch, wenn Ihr glaubet, dass Einfluss, Reichtum und Ansehen mich so unwiderstehlich anziehen. Nur die Möglichkeit mehr Gutes zu tun freut mich bei der Erhöhung meiner Stellung. Und glaubet mir, ich lege mehr Wert auf Eure Zuneigung zu mir als auf das Aufsteigen meiner Ehrenämter.“
Wie man beim Schein der Laternen hinter dem Wasser sehen konnte, war das Gesicht Philipp Ludwigs traurig. Ich wollte ihn trösten, denn der arme Jüngling tat mir wirklich leid, obgleich ich den Grund seiner Trauer bloss vermutete, ohne ihn genau zu kennen, deshalb begann ich von seinen bevorstehenden wissenschaftlichen Beschäftigungen zu sprechen, aber das Gesicht des herzoglichen Bruders klärte sich kaum auf und nur ein fast nicht bemerkbares Lächeln spielte um seine Lippen. Nachdem er meine Worte angehört hatte, sagte er unerwartet:
„Meister, Ihr seid ein reiner Mensch, Ihr kennet die Liebe nicht, das Weib ist Euch fremd, deshalb liegt die Zukunft offen vor Eurem Blick und Ihr fürchtet Euch nicht Geheimnissen auf den Grund zu sehen. Und darum liebe ich Euch!
Und bevor ich noch Zeit gefunden mich zu besinnen, hatte er sich gebeugt und schnell meine Hand geküsst. Verlegen rief ich aus: „Was ist Euch, Prinz?!“ Und ich küsste seine Stirn.
„Nichts, ich bitte Euch, achtet nicht darauf,“ erwiderte tonlos Philipp Ludwig.
„Und dann könnet Ihr Euch in bezug auf meine Person irren; und wenn Ihr mich dann so erblicken werdet, wie ich wirklich bin, so wird Eure Unzufriedenheit mit mir wegen der Euch bereiteten Enttäuschung eine nur um so grössere sein.“
„Nein, Meister, nein, mein Teurer, redet nicht schlecht von Euch, ich kenne Euch besser, als Ihr selbst,“ sagte der Prinz zärtlich und lehnte, wie in Sehnsucht, seinen Kopf an meine Schulter.
Es war zum erstenmal, dass die Prinzessin es wagte zu einem Stelldichein zu mir auf mein Zimmer zu kommen. Wenn es auch gefährlicher war mich aufzusuchen, als mich in ihren Gemächern zu erwarten, so wurde das Wagnis doch durch die vollkommene Ungestörtheit während des Beisammenseins selbst reichlich belohnt. Ich hatte einen Geschäftsbrief beendigt und sass vor meinem Pult, auf dem eine Kerze brannte, in einen Stuhl zurückgelehnt. Ich bemühte mich nicht an die nahe Stunde des Stelldicheins zu denken. Ich war weit davon entfemt die Prinzessin zu lieben oder sie zu begehren, durch meine Stellung und eine gewisse am herzoglichen Hofe herrschende Strenge war ich genötigt mich mehr zu zügeln, als ich es gewohnt war, und ich hatte eine gewisse Sehnsucht nach dem freien Leben in Italien und unwillkürlich kehrte ich in Gedanken immer wieder zum Bruder des Herzogs zurück, dessen zärtliche, fast verliebte Ergebenheit mich aufrichtig rührte. Nachdem ich meinen Brief versiegelt hatte, versank ich, den Kopf auf die Hand gestützt, in die bewegungslose Flamme der Kerze starrend, in Nachdenken. Von einem leisen Klopfen an die Tür geweckt, liess ich eine kleine Gestalt in einem dunkellila Mantel, der vom Regen fast schwarz geworden war, ins Zimmer. Es war Prinzessin Amalia. Ich beeilte mich sie an das brennende Kaminfeuer zu setzen und goss ihr ein Glas Wein ein. Glücklich lächelnd, reichte die Prinzessin mir, ohne ein Wort zu sprechen, die Hand, welche ich ehrerbietig an meine Lippen zog. Dann legte ich meinen Arm auf die Lehne des Stuhles, in dem Amalia sass. Sie schmiegte sich an mich und blickte zärtlich und glücklich zu mir auf. Der Wind rüttelte an den Fensterrahmen, über den Mond jagten Wolken, der Regen schien aufgehört zu haben. Es klopfte wieder an die Tür, dieses Mal schnell und fest; Amalia sprang erbleichend auf.
„Was ist das?“ flüsterte sie.
„Seid ruhig, fürchtet Euch nicht,“ flüsterte ich, sie wieder in den Stuhl drückend, den ich mit seiner hohen Lehne zur Tür kehrte, nachdem ich über die Prinzessin einen grossen orientalischen Schal geworfen hatte. Man fuhr fort, immer stärker an die Tür zu klopfen und die Stimme Philipp Ludwigs wurde laut:
„Meister, Meister, ich bin’s, Prinz Philipp, machet auf!“
Die leuchtenden Augen des Jünglings, sein erregtes, ungleich gerötetes Gesicht, seine bebenden Hände, zeugten davon, dass sein Zustand ein aussergewöhnlicher sei.
„Was ist mit Euch, mein Freund?“ sagte ich, ein wenig zurücktretend.
„Ich habe mich entschlossen . . . ich bin entschlossen . . . und hier bin ich, um es Euch zu sagen . . .“ stiess der Prinz, der in seiner Erregung fast schön war, mit Unterbrechungen hervor.
„Beruhiget Euch, vielleicht wird es Euch gelegener sein, mir später das mitzuteilen, was Ihr auf dem Herzen habet?“
„Nein, nein! Jetzt! Gleich, o Meister! Höret, ich habe mich entschlossen. Ich schütte mein Herz vor Euch aus . . .“ rief der Prinz, und noch ehe ich die Möglichkeit hatte, irgend etwas zu tun, warf er sich in den Lehnstuhl, auf dem die versteckte Amalia sass.
Ein zwiefacher Schrei gellte durch das Zimmer: der Prinz hatte den Schal von Amalia, die, in eine Ecke des Stuhles gedrückt, ihre Augen zusammenkniff, heruntergerissen und starrte sie an wie einen Basilisk.
„Meister, ich hasse Euch . . .!“ zischte er, als er mir sein in Tränen gebadetes Gesicht zukehrte, und lief, die Tür hinter sich zuschlagend, aus dem Zimmer.
Zum kleinen Souper waren, ausser mir, noch der Rat von Hohenschwitz und die lustige Kammerfrau, Bertha von Liebkosenfeld, geladen; Prinz Philipp war nicht erschienen, er hatte sich krank gemeldet, Prinzessin Amalia und die Herzogin Elisabeth Beatrix, beide in Kleidern mit chinesischem Muster, sassen zu beiden Seiten des Herzogs, den Rat und mich zu Tischnachbarn, während die Liebkosenfeld Ernst Johann gegenübersass und mit ihrer vollen rosigen Gestalt unseren Kreis abschloss. Das Orchester spielte aus „Dardanus“, die Diener (der grösseren Intimität wegen waren ihrer nur zwei befohlen) schenkten Wein ein, und der Herzog unterhielt sich, um die Etikette aufzuheben, über den Tisch laut mit der lustigen Bertha, die ihm mit einem Lachen antwortete, das zwei Reihen blendendweisser Zähne sehen liess.
„Ew. Liebden haben recht mit der Annahme, dass das Herz, so unter meinem linken Auge angeklebet, kein Zufall sei. Ich bin bis zum Wahnsinn verliebt, allein der Gegenstand meiner Verehrung ist allzu hoch und unerreichbar,“ sagte Bertha, ihre grossen blauen Kuhaugen senkend. Hohenschwitz hustete laut, nahm eine Prise, nieste und putzte seine Nase mit einem grünseidenen Tuche.
„Ohne jemand kränken zu wollen, frei von Parteilichkeit, einzig um das Wohl des Landes besorgt, ernennen wir Euch, lieber Scalzarocca, zu unserem Rat und ersten Minister. Der Bitte Gehör schenkend, welche der unserem gerechten Herzen nicht weniger nahestehende von Hohenschwitz kürzlich äusserte, gewähren wir ihm die Möglichkeit, in Ruhe und Frieden die ihm in so reichem Masse verliehenen philosophischen Fähigkeiten zu entwickeln.“
Die Herzogin war etwas blass geworden, gab dem Diener das Zeichen, die bereits vorher gefüllten Schaumweinkelche zu reichen. Sie wählte selbst den Kelch, den sie dem Herzog gab, dann reichte sie zum Zeichen besonderer Huld jedem von uns den seinen mit eigener Hand. Von Hohenschwitz hustete angestrengt.
Bertha von Liebkosenfeld lachte laut auf, als der Herzog über eine kleine Unpässlichkeit klagte und sich in seine Gemächer zurückzog.
Vor mir stand ein junger Mann, fast noch ein Knabe, ohne Perücke, in bescheidenem schwarzem Kamisol, blass, mit glänzenden Augen und spitzem Kinn und entwickelte mir utopistische Ideen von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, sprach von grossen Ereignissen, welche angeblich herannahten, von Welterschütterung und neuer Sintflut. Ich fragte ihn:
„Ihr seid Engländer?“
„Nein, ich bin Franzose und habe mich an Euch, als an meinen Landsmann, um Förderung gewandt.“
„Ja, ich kenne Eure Angelegenheit, sie wird geordnet werden, aber Eure Worte interessieren mich auf das lebhafteste; Ihr saget, dass diese Schwärmereien eine ganze Masse von Leuten beseelen, welche nicht nur um der eigenen Befreiung willen zu handeln bereit sind?“
„Wir werden die Welt befreien!“
„Befreien? Wovon befreien? Von mir zum Beispiel?“
„Von den Tyrannen!“ rief der Knabe, dessen Gesicht rot geworden war.
„Aber Vorurteile, Sitten, unsere Gefühle schliesslich, sind grausamere Tyrannen, als die gekrönten Häupter. Es heisst doch ganz mit Recht:
„Tyrannin ist die Liebe, herrscht über königliche Macht,
Den stolzen Simson selbst hat sie zu Fall gebracht . . .“
Ein Diener überreichte mir einen Zettel, auf dem mit Bleistift geschrieben stand:
„Freund, rettet Euch, der Herzog ist nach dem gestrigen Souper an den Blattern gestorben. Eure wütendsten Feinde haben die Macht in Händen. Im besten Falle droht Euch die Verbannung. Nützet die Zeit. Euer Freund.“
Ich sah den Jüngling an, der bereit war seine Rede fortzusetzen, und sagte:
„Euer Anliegen wird, meinen Worten entsprechend, erledigt werden,“ und beantwortete mit einem wohlwollenden Lächeln seine ehrerbietige, wenn auch würdige Verbeugung. Als ich allein geblieben war, sah ich durch das Fenster lange in den feinen Regen hinaus, der in eine Pfütze tröpfelte, dann klingelte ich nach meinen Kleidern.
Im Saal, in dem schon die Kandelaber angesteckt waren, befand sich nur Bertha von Liebkosenfeld. Sie stand mitten im Zimmer und las einen Zettel. Ihr rosiger feuchter Mund lächelte. Als sie mich bemerkte, winkte sie mich zu sich heran, legte ihre Hand auf meine Schulter und sagte:
„Meister, nur im Unglück erkennet man seine wahren Freunde. Glaubet mir, dass ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Entschuldigt, teure Tante, dass ich Euch so lange nicht geschrieben habe, aber über diesem Umzuge haben wir alle den Kopf verloren; jetzt kommt alles nach und nach in Ordnung, und gestern wurde schon das Schild aufgehängt; Papa macht alles selbst, ärgert sich und schilt uns und gestern kam es mit ihm so weit, dass er sein Gilet mit dem Hinterteil nach vorne angezogen hatte. Mama lässt Euch vielmals grüssen; ich habe ein eigenes Zimmer, aber neben dem ihrigen und die Tür lasse ich zur Nacht offen stehen, weil ich immer noch derselbe Hasenfuss geblieben bin. Papa hat, ausser Jean und Pierre, nur noch einen Lehrling und dann noch Jacques Mobert, der unlängst zu uns in Dienst getreten und, wie ich glaube, von hier gebürtig ist. So ein sonderbarer Kauz! Er kam, sich zu verdingen, in später Nacht, als wir uns schon schlafen legen wollten; Papa hätte ihn beinahe, ohne weiter zu reden, davongejagt, aber schliesslich ging alles gut aus. Arbeit gibt es, gottlob! viel, so dass Papa sich ordentlich müde arbeitet; aber was ist dabei zu machen, man muss doch auf irgendeine Art leben. Was soll ich Euch über Lachaise-Dieu sagen? Es ist das ein ganz kleines Städtchen mit einem alten Kloster, das wie eine Festung aussieht, in der Ferne kann man Berge sehen. Ich weiss nicht, ob wir es hier nicht sehr langweilig haben werden, obgleich wir schon einige Bekanntschaften gemacht haben. Einstweilen kommt man noch, wegen der Einrichtung, zu nichts. Lebet wohl, liebe Tante, entschuldigt, dass ich wenig schreibe — ich habe furchtbar wenig Zeit und dann ist es auch so heiss, dass mein Hals ganz nass ist. Ich küsse Euch usw.
Eure Euch liebende Nichte
Claire Valmont.
*
15. September 172*.
Ich danke Euch, liebes Tantchen, für das Wintermäntelchen, das Ihr mir gesandt habt. Wirklich, Ihr seid zu vorsorglich, da Ihr mir Euer liebes Geschenk jetzt geschickt habet, wo wir noch in Kleidern auf die Strasse gehen. Ich erkenne das liebe Tantchen Rosalie sowohl in dieser Aufmerksamkeit, als auch in der Wahl des Zeuges! Wo habt Ihr bloss einen solch prächtigen Stoff gefunden? Hauptsächlich einen mit solchem Dessin? Diese so grellen Rosen mit den grünen Blättern auf goldig-gelbem Grunde sind der Gegenstand der Bewunderung aller unserer Bekannten, die uns besonders besuchen, um Euer Geschenk zu sehen, und ich warte mit Ungeduld auf die Kälte, um diese Pracht einzuweihen. Wir sind alle gesund, wenn wir auch bescheiden leben und uns nirgendwo zeigen. Zu Hause macht uns Jacques viel Spass; das ist ein sehr lustiger, lieber junger Mann, talentvoll und arbeitsam, so dass Papa nicht genug Lob finden kann. Mütterchen gefällt es nicht, dass er nicht zur Kirche geht und nicht fromme Gespräche liebt. Natürlich ist das nicht gut, aber man kann diesen Fehler mit seiner Jugend entschuldigen, um so mehr, als Jacques ein sehr bescheidener Jüngling ist: er treibt sich nicht herum, spielt nicht und trinkt nicht. Noch einmal danke ich Euch, liebe Tante, für den Wintermantel und bleibe
Eure Euch liebende Nichte
Claire Valmont.
*
2. Oktober 172*
Teures Tantchen, ich wünsche Euch von ganzem Herzen Glück zu Eurem Geburtstage (es ist doch schon das neunundsechzigste Lebensjahr, in das Ihr tretet!) und wünsche Euch ihn mit weniger dunkeln, weniger gemischten Gefühlen zu begehen, als ich sie eben habe. Ach, Tante, Tante. Ich bin so gewöhnt Euch alles zu schreiben, dass es mir viel leichter fällt Euch ein Geständnis abzulegen, als Père Vital, unserem Beichtvater, den ich doch bloss einige Monate kenne. Wie soll ich beginnen? Und womit? Ich zittere, wie ein kleines Mädchen, und nur die Erinnerung an Euer liebes, gutes Gesicht, das Bewusstsein, dass ich für Tante Rosalie immer noch dieselbe kleine Claire bin, verleiht mir Mut. Entsinnet Ihr Euch, dass ich Euch von Jacques Mobert schrieb, nun also, Tante, ich liebe ihn. Erinnert Euch an Eure Jugendzeit, an Regensburg, an den jungen Heinrich von Monschein und geht nicht zu streng ins Gericht mit Eurer armen Claire, die dem Zauber der Liebe nicht widerstanden hat . . . . Er hat versprochen Vater alles zu sagen und mich nach Weihnachten zu heiraten, aber zu Hause argwöhnt niemand etwas und bitte verratet mich nicht. Wie mir leichter geworden ist, seit ich Euch gestanden habe. Ich liebe besonders seine Augen, die so gross sind, wenn er küsst, und dann pflegt er sich mit den Augenbrauen an meine Wangen zu reiben, was bezaubernd angenehm ist.
Verzeihet mir, liebe Tante, und seid nicht bös auf Eure arme
Claire Valmont.
Ich wollte bloss noch sagen, dass Jacques gar kein Hiesiger ist und in Lachaise-Dieu kennt niemand ihn, wir haben es uns ganz ohne Grund eingebildet. Aber ist das eigentlich nicht ganz gleichgültig? Nicht wahr? . . .
*
6. Dezember 172*.
Es ist wahr, dass ein Unglück niemals allein kommt! Mama bemerkte gestern meine Taille und fing an mich auszufragen und ich gestand alles. Ihr könnt Euch Mamas Kummer, Papas Zorn vorstellen. Er schlug mich ins Gesicht und sagte: „Ich habe nie geglaubt, eine Dirne zur Tochter zu bekommen“, dann ging er fort und warf die Tür zu. Mama tröstete sich unter Tränen selbst, so gut sie konnte. Wie Ihr mir fehlet, liebe Tante, Eure Liebkosungen, Euer Rat. Jetzt gehe ich nirgendwohin aus und ich werde keine Gelegenheit haben Euern Mantel einzuweihen. Aber schrecklicher, als alles, ist, dass Jacques unsverlassen hat. Ich bin überzeugt, dass er sich in seine Stadt aufgemacht hat, um den Segen seiner Eltern zu erbitten; wie dem aber auch sein möge, er ist nicht da, und meine Langeweile und Niedergeschlagenheit wird durch seine Abwesenheit nur noch grösser. Mir scheint, dass alle von meiner Schande wissen, und ich fürchte mich ans Fenster zu treten; ich nähe ohne zu rasten, obgleich es mir jetzt schon schwerfällt lange gebückt zu sitzen. Ja, eine schwere Zeit ist für mich gekommen. Wie das Lied singt:
„Plaisir d’amour dure qu’un moment,
Chagrin d’amour dure toute la vie.“
Lebet wohl usw.
Eure Euch liebende
Claire.
2. Juni 172*.
Ihr habet wohl geglaubt, liebe Tante, dass ich schon tot sei, als Ihr so viele Monde keinen Brief von mir erhieltet. Zum Unglück bin ich noch am Leben. Ich will ruhig alles erzählen, was vorgefallen ist. Jacques ist nicht da, möge Gott ihm seine Bosheit vergeben, wie er uns von den Ränken Satans erlöst hat. Am 22. Mai kam ich mit einem Kinde, einem Knaben, nieder. Aber, allgütiger Gott, was war das für ein Kind: ganz behaart war es, ohne Augen, mit deutlich sichtbaren Hörnern auf dem Kopfe. Man fürchtete für mein Leben, als ich mein Kind zu sehen bekam. Mein Kind, wie schrecklich! Desungeachtet wurde beschlossen, es nach dem Ritus der heiligen katholischen Kirche zu taufen. Während des heiligen Sakramentes fing das für die Taufe vorbereitete Wasser zu dampfen an, es erhob sich ein fürchterlicher Gestank, und als die Anwesenden, nachdem der ätzende Dampf sich verzogen hatte, die Augen wieder öffnen konnten, erblickten sie im Taufbecken, statt des Kindes, einen grossen schwarzen Rettich. Mögen wir vor den Ränken Satans verschont bleiben. Könnet Ihr Euch den ganzen Kummer, das ganze Entsetzen und die Freude darüber vorstellen, dass wir nicht völlig ins Verderben gestürzt worden sind. Als man mir alles erzählte, was in der Kirche vorgefallen, war ich wie wahnsinnig. Bei uns wurde eine Messe gelesen und jeden Tag wird mit geweihtem Wasser gesprengt. Für mich werden Gebete um Austreibung böser Geister gelesen. Père Vital riet meinen Organismus vom bösen Samen zu reinigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ihr würdet mich nicht wiedererkennen, liebe Tante, so habe ich mich in dieser Zeit verändert. Nicht jeden trifft ein solches Unglück. Aber Gott erhalte alle, die ihre Zuversicht auf ihn setzen. Lebet wohl usw.
Eure Euch liebende
Claire Valmont.
*
15. Juni 172*.
Ich schreibe Euch wieder, liebe Tante, weil ich glaube, dass Ihr Euch unserer Angelegenheiten wegen beunruhiget. Nach meiner Reinigung begannen die Einwohner auch bei sich die Überbleibsel der Spuren des bösen Geistes auszurotten. Man erinnerte sich an alle Arbeiten, die Jacques Mobert (obgleich es besser wäre ihn Teufel Beelzebub zu nennen) gemacht hatte: Stiefel, Halbstiefel, Schuhe und Kanonenstiefel, und nachdem sie alles auf dem Platze vor der Abtei zu einem Haufen geschichtet hatten, wurde es verbrannt. Nur der alte Uhrmacher Limosius weigerte sich seine Stiefel herzugeben, weil ihm, wie er sagte, dauerhafte Stiefel wichtiger seien, als ein alberner Aberglaube. Aber er ist natürlich ein Jude und Gottloser, der nicht um die Errettung der unsterblichen Seele besorgt ist. Lebet wohl, liebe Tante, usw.
Ich verbleibe Eure Euch liebende
Claire Valmont.
Jedesmal, wenn Ämilius Florus die gegenüberliegende, aus demselben rotglänzenden Stein gebaute Mauer erreichte, kehrte er ungestüm sein bleich gewordenes Gesicht um, und seine schallenden Schritte, die der gewöhnlichen Leichtigkeit seines Ganges so unähnlich waren, machten den greisen Sklaven und den stummen Knaben, die auf der Erde sassen, zusammenfahren, und sie blickten erschreckt auf, wenn die Ränder des blauen Gewandes ihres Herrn sie bei seinen hastigen Wendungen streiften.
Als wäre er vom Hin- und Herlaufen ermüdet, schickte er den Alten hinaus, mit geschlossenen Augen den Kopf schüttelnd, um zu zeigen, dass er die Wirtschaftsberichte nicht zu hören wünsche. Der Knabe, der zu dem jetzt sitzenden Florus herangekrochen war, küsste ihm die Knie und versuchte, einen Blick von ihm aufzufangen. Florus pfiff dem grossen zottigen Hunde und sie traten alle drei in den Garten hinaus, wo sie wieder hintereinander auf und ab zu gehen begannen. Zuerst ging schweigend und mit grossen Schritten der Herr, dicht hinter ihm trippelte der stumme Knabe, den grossen Kopf schüttelnd, schritt der Hund als Letzter in der Reihe. Durch den zweiten Spaziergang beruhigt, betrat Florus das Haus und schrieb den bereits angefangenen Brief weiter:
„. . . Dir wird es eine Kinderei scheinen, was ich mich anschicke Dir zu sagen, aber diese Kleinigkeit raubt mir die Ruhe und das Gleichgewicht meiner Seele, deren jeder bedarf, dem die Würde des Menschen etwas gilt. Dieser Tage traf ich einen Mann aus dem Volke, den ich vorher niemals gesehen hatte, aber von so bekanntem Aussehen, das ich — teilte ich die Lehre der Brahmanen von der Seelenwanderung — geglaubt haben würde, wir seien einander schon in einem früheren Leben begegnet. Und noch sonderbarer ist es, dass der Gedanke an diese Begegnung, der in meinem Kopfe stark geworden ist, wie Bohnen aufquellen, wenn man sie zur Nacht in Wasser legt, mir keine Ruhe lässt, und ich bin bereit hinzugehen und selbst diesen Menschen zu suchen, weil ich mich nicht entschliessen kann, mich jemand anzuvertrauen und mich selbst meiner Schwäche schäme. Vielleicht hängt das alles vom ungenügenden Zustande meiner Gesundheit ab: häufige Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Niedergeschlagenheit und grundlose Angstgefühle gestatten nicht, sie befriedigend zu nennen. Der Mann, den ich traf, hatte ungewöhnlich helle graue Augen, gebräunte Hautfarbe und dunkles Haar; an Wuchs und Körperbau gleicht er mir. Calpurnia meinen Gruss, küsse die Kinder; die Amphoren habe ich schon längst in Dein Stadthaus geschickt. Nochmals vale.“
Der Arzt schwieg eine Weile und fragte:
„Mit welch einem Zustande hat der deinige am meisten Ähnlichkeit, Herr?“
„Ich kenne den Zustand eines Menschen nicht, der ins Gefängnis geworfen worden ist, aber ich glaube, dass der meinige diesem am nächsten kommt. Seit einiger Zeit fühle ich mich in meinen Bewegungen behindert, die Willensfreiheit selbst scheint beschränkt; ich will gehen und kann nicht, will atmen und ersticke, mich beherrscht eine dunkle Unruhe und unbestimmte Angst.“
Florus schwieg, als sei er ermüdet, und erbleichend, begann er wieder:
„Vielleicht wirkt auf meine Vorstellung vom Gefängnis ein Traum, den ich vor Ausbruch meiner Krankheit hatte.“
„Du hattest einen Traum?“
„Ja, einen so deutlichen, handgreiflichen! Und sonderbar: es ist, als hätte er bis jetzt nicht aufgehört, und wenn ich wünschte (davon bin ich überzeugt), könnte ich ihn ununterbrochen weiter träumen und dich, mein Freund, für ein Gespenst halten.“
„Wird es dich aufregen, wenn du ihn mir erzählst?“
„Nein, nein!“ wiederholte Ämilius hastig, die Schweisstropfen fortwischend, die an seiner Stirn hervorgetreten waren. Und er begann, als mache es ihm Mühe, sich zu erinnern, abgerissen zu sprechen, und bald hob sich seine Stimme zu lautem Schreien, bald sank sie zu raunendem Flüstern herab:
„Sage es niemand, was du hören wirst . . . schwöre es . . . . vielleicht ist es gerade die Wahrheit. Ich weiss nicht . . . . ich habe gemordet — denke nichts . . . es war — dort, im Traume. Ich floh, lange irrte ich umher, ich nährte mich von Früchten (ich entsinne mich, es waren wilde Kirschen), stahl Brot, Milch geradewegs aus den Eutern der Kühe auf dem Felde. Ach, die Sonne brannte und betäubend war der Dunst der Sümpfe! Als ich durch das Hafentor ging, wurde ich, unter dem Verdacht ein Messer gestohlen zu haben, ergriffen. Ein hochgewachsener rothaariger Händler, (ja, „Titus“ nannten sie ihn), hielt mich fest: ich fühlte mich schwach und war fassungslos; ein rothaariges Frauenzimmer lachte laut, ein rotgelber Hund winselte zu meinen Füssen, auf dem Pflaster lag eine Nelke, gepanzerte Soldaten gingen vorüber . . . man schlug mich . . . die Sonne sengte. Dann Finsternis und stickige Kühle. O Kühle der Gärten, der klaren Quellen, des Bergwindes, wo bist du?“ . . .
Und Florus schwieg entkräftet und liess sein Haupt sinken. Der Arzt sagte: „Schlafe ein“, und ging hinaus zum Schaffner über den Kranken zu sprechen. Der stumme Knabe lauschte mit gierig geöffneten Augen und offenstehendem Munde. Gegen Abend rief Florus die alte Amme. Vor ihm kauernd sprach die Alte, die ihre Märchen und Kindheitserinnerungen erschöpft hatte, ohne Zusammenhang von dem, was ihre alten Augen gesehen und ihre taub werdenden Ohren gehört hatten. Sich in ihren Mantel wickelnd, zischelte sie mit zahnlosem Munde:
„Söhnchen, vor ein paar Tagen sah ich am Hafentor einen Mörder: er hielt das Messer in der Hand, aber sein Anblick war nicht fürchterlich; hell, ach, so hell waren seine Augen, dunkles Haar, wie ein Knabe sah er aus. Mein Schwager, der Händler Titus, hat ihn festgehalten . . .“
Florus schrie auf und packte sie am Arm:
„Hör auf! Hör auf! Geh! Titus? sagst du Titus, Hexe?“
Der Knabe stürzte, vom Geschrei erschreckt, ins Gemach.
Viele Tage dauerte noch dieser Kampf, und der Kranke wiederholte, mehr als einmal: „Ich kann nicht mehr: es geht über meine Kraft!“ und das heimlich an ihm nagende Leiden hatte sein früher blasses Gesicht erdfahl gemacht. Dunkle Schatten umrandeten seine Augen und die Stimme kam wie aus ausgedörrter Kehle. Er schlief keine Nacht und quälte den stummen Knaben mit seiner Angst.
Eines Morgens erhob er sich vor Sonnenaufgang und verlangte Hut und Mantel, als mache er sich auf den Weg. Der Alte unterdrückte jede Frage, und bloss seinen Blick beantwortend, befahl Florus:
„Du wirst mir folgen!“
Der Gang des Herrn war wieder frei und leicht; auf den eingefallenen Wangen röteten sich wieder Rosen. Sie entfernten sich durch Strassen und über Plätze weit von Hause, ohne dass der Sklave den Zweck des Ganges zu erraten vermochte. Schliesslich, wie sie haltmachten, als hätten sie das Ziel erreicht, entschloss er sich zu fragen:
„Du wirst hier eintreten, Herr?“
„Ja.“
Die Stimme des Florus klang sorglos. Sie betraten das Gefängnis. Da man Florus als reichen und vornehmen Mann kannte, so gestattete man ihm, ohne Schwierigkeiten, wenn auch gegen Entgelt, sich zu überzeugen, ob unter den Eingekerkerten sich nicht sein, angeblich vor kurzem entlaufener Sklave befände. Schnell und aufmerksam durcheilte er das Gefängnis bis hinab zum letzten Kellerverlies. Er suchte mit einem Blicke, als hätten seine Augen das alles schon früher gesehen. Atemlos fragte er:
„Sind alle Sträflinge hier? Es gibt keine mehr?“
„Mehr sind keine da, Herr. Gestern ist einer entflohen . . .“
„Entflohen? Sein Name?“
„Malchus.“
„Malchus?“ wiederholte er, aufhorchend. „Helle Augen, gebräunte Haut, schwarzhaarig?“ fragte Florus erfreut.
„Ja, du hast recht, Herr,“ nickte der Gefängniswärter mit dem Kopfe.
Als Ämilius Florus aus dem Gefängnis trat, war er heiter, wie nie zuvor, er plapperte wie ein Kind, seine Augen, die die dunklen Schatten nicht verloren hatten, glänzten.
„Mein alter Mummus, sieh nur: war jemals der Himmel so sanft, so lieblich die Bäume und Blumen?! Wir wollen zu Fuss auf mein Landgut gehen: wilde Kirschen werd ich essen und Milch trinken geradewegs aus den Eutern der Kühe. Sanft werden die Tage verrinnen! Du wirst mir ein Mädchen verschaffen, das nach Gras, Ziegen und etwas auch nach Lauch riecht, den stummen Lukas nehmen wir nicht mit aufs Land. Ach, alter Mummus, bin ich nicht gesund, wie jemals? Die Wolken — als sei es Frühling, als sei es Frühling!“
Morgens machte Florus sich freudig auf den Weg, das heimliche Haus seines Landgutes verlassend, um auf schmalen und breiten Wegen ausgedehnte Spaziergänge zu machen. Gorgo, die der Alte seinem Herrn zugeführt hatte, war still, schweigsam, gehorsam und schlicht, wie ein Kälbchen; ihren gebräunten Körper gab sie leicht und in Reinheit hin; wenn sie zu Hause wartete, sang sie alte Lieder.
Lukas, der Stumme, der selbst aufs Gut hergelaufen war, begleitete seinen Herrn überallhin, Freude in den traurigen Augen und im müden Knabengesicht. Schweigend folgte er, Florus keinen Augenblick in seiner plötzlich wiedergekehrten Heiterkeit verlassend. Immer nur über Bergpfade schweifen, im blumenbunten Grase ruhen, auf dem Rücken liegend, ohne Aufhören zur blauen Feste hinaufstarren, einfache ländliche Lieder singen und den Stummen die Doppelflöte dazu blasen lassen! Die weissen, grellweissen, blendend weissen Wolken standen still über Hain und Fluss; sie warteten. Milchspuren auf den Lippen, unrasiert, mit rotem Munde küsste Florus Gorgo, das städtische Schmachten vergessend, auf den Lauchgeruch nicht achtend. Der stumme Lukas weinte im Winkel. Tag reihte sich an Tag, wie im Kranze sich eine Blume an die andere flicht.
Eines Abends war es, als werde Florus mitten im sorglosen Spiel von tiefer Niedergeschlagenheit befallen oder von einem unsichtbaren Feinde ergriffen. Mit plötzlich heiser gewordener Stimme sagte er: „Was ist das? Woher kommt diese Finsternis? Dieser Kerker?“ Und er legte sich auf das niedrige Lager, kehrte sich zur Wand und seufzte schweigend. Leise kam Gorgo herein und umarmte ihn, der sie nicht ansah. Florus wehrte ihr und sagte:
„Wer bist du? Ich kenne dich nicht! Nicht jetzt. Gib acht, das knarrende Schloss wird den schlafenden Wächter wecken.“
Schweigend trat Gorgo zurück und der Stumme schlich sich, wie ein Hund, wieder herein und küsste die herabhängende Hand des Florus.
Es war eine schwüle Nacht für die Diener, die vor dem Schlafzimmer des Florus schlummerten. Nur Lukas war, stumm und ergeben, bei seinem Herrn geblieben. Lange konnte man nur die Schritte des auf und ab gehenden Ämilius hören. Gegen Morgen umfing die Diener der leise Schlaf vor Sonnenaufgang. Plötzlich wurde die Luft von einem Schrei zerschnitten, der Menschenstimme nicht ähnlich war. Es war, als hätte ein Unirdisches, das Echo weckend, gerufen: „Der Tod!“
Die zögernden Diener, die an die Tür gepocht hatten, wurden vom stummen Knaben ins Gemach hineingelassen, dessen Gesicht vom Schreck bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. „Der Tod! Der Tod!“ wiederholte er mit wilder, Worte auszusprechen nicht gewohnter Stimme. Die Diener stürzten sich, ohne über die Laute des Stummen zu staunen, zum Lager, auf dem der Herr mit zurückgefallenem Kopfe und schwarz gewordenem Gesicht bewegungslos dalag. Lukas kehrte zum Lager zurück, als habe er eben erst diesen Platz verlassen, und brach lautlos zusammen.
Mit der Schreckensbotschaft eilte man schnell zum Arzt und zum Schaffner.
Der Stumme hörte nicht auf zu wiederholen: „Der Tod! Der Tod!“ als habe er die Sprache nur für diese Worte allein wiedererhalten.
Florus lag mit zurückgefallenem, schwarz gewordenem Gesicht da, eine Hand hing leblos herunter. Der Arzt hatte den Körper untersucht, den unzweifelhaften Tod festgestellt und wies staunend den Schaffner auf einen schmalen, schwarzen, blutunterlaufenen Striemen, der am Halse des Verstorbenen aufgequollen war und sich durch nichts erklären liess. Der einzige Zeuge von Ämilius Florus’ Tode, der stumme Lukas, sprach, das göttliche Stammeln des wunderbaren Schreckes überwindend, der ihm die Gabe der Rede zurückgegeben:
„Der Tod! Der Tod! Wieder in Banden . . . er geht, geht: wirft sich, wie ermüdet, aufs Lager . . . kein Wort sprach er zu mir; gegen Morgen begann er unruhig zu röcheln; ich stürzte zu ihm, er schlug, röchelnd, die Augen zu mir auf. O Götter! Der Morgen leuchtete rot durchs Fenster. Florus lag, schwarz geworden, regungslos da . . .“
Man hatte Lukas über Trauer und Besorgungen für die Leichenfeier vergessen.
Kaum begann es am nächsten Morgen hell zu werden, so erschien ein barfüssiger, zerlumpter, von niemand gekannter Greis, und bat, Florus zu sehen. Der Schaffner, der glaubte, irgendeine Aufklärung über den Tod seines Herrn zu erhalten, trat zu ihm hinaus. Der Ankömmling schien hartnäckig und schlicht. Ringsum heulten sich scharende Hunde.
„Du wusstest nicht, dass mein Herr, Ämilius Florus, gestorben ist?“
„Nein. Es ist gleichgültig. Ich erfüllte, was man mir befohlen.“
„Wer befahl dir?“
„Malchus.“
„Wer ist es?“
„Jetzt ein Hingegangener.“
„Er ist gestorben?“
„Gestern morgen wurde er gehängt.“
„Kannte er meinen Herrn?“
„Nein. Er entbietet ihm, dem Unbekannten, Gruss und sendet ihm die Todesbotschaft. Bei euch werden Stumme reden.“
„Sie reden schon,“ sagte Lukas, der herangekommen war und die schmutzige Hand des Greises küsste.
„Willst du nicht den Verstorbenen sehen?“
„Wozu? Er hat sich im Gesicht sehr verändert?“
„Sehr.“
„Jenen hat die Schlinge auch verändert. Er hat ein grosses Zeichen am Halse . . .“
„Hast du viel zu sagen?“
„Nein, ich gehe fort.“
„Ich gehe mit dir!“ sagte Lukas freundlich zum Unbekannten.
Die Sonne hatte den Hof schon rosig gefärbt und die gemieteten Klageweiber liessen, ihre abgemagerten Brüste entblössend, durchdringendes Wehgeschrei zum Himmel aufsteigen.
Als der alte Nektanebes, von einem scharfen und einsam durch die Abendkühle gellenden Schrei getroffen, die Augen von den ausgeworfenen Netzen erhob, sah er einen kleinen Nachen in der Lichtsäule der beim Untergehen sich im Wasser widerspiegelnden Sonne und einen Menschen, der vergebliche Anstrengungen machte ans Land zu schwimmen. Die Netze fahren lassen, zu jener Stelle hinüberrudern, wo der Ertrinkende zu sehen war, sich ins Wasser werfen und mit dem Geretteten auf den Armen wieder in sein Boot steigen — war das Werk weniger Minuten. Das Mädchen hatte das Bewusstsein verloren. Die natürliche Röte war von ihren Wangen gewichen und um so deutlicher sah man die Schminke in ihrem mageren länglichen Gesicht. Erst als der Alte sie behutsam auf die Bastmatten in seiner Hütte niedergelegt hatte — denn er war nichts mehr, als ein armer Fischer — schlug die Gerettete die Augen auf und seufzte, als erwachte sie aus tiefem Schlafe, wobei mit den ersten Lebenszeichen auch ihr Kummer wiederkehrte, denn reichliche Tränen entströmten unaufhaltsam ihren hellbraunen Augen und sie begann, wie in hitzigem Fieber, sich hin und her zu werfen und beklagte laut und bitter ihr Los. Aus ihren unzusammenhängenden Worten und Ausrufen erfuhr Nektanebes, dass sie eine reiche Erbin und Waise sei, die ein herzloser Jüngling verschmäht habe, und dass sie dann in einem Anfall von Verzweiflung den Versuch gemacht, ihr Leid in den Wassern des Flusses zu versenken. So erfuhr er auch, dass sie Phyllis hiess. Übrigens hätte er das auch ohne ihre Worte erraten können, denn das Haus ihrer Eltern, die jetzt schon tot waren, lag nicht weit vom Ufer des Flusses, wo Kähne zu Lustfahrten und anderem Gebrauch ihrer Besitzer angepflockt waren. Beim Sprechen weinte sie und umschlang mit ihren Armen den Hals des alten Fischers, sich an ihn schmiegend, wie ein Säugling sich an seine Amme schmiegt, er aber streichelte ihr Haar und tröstete sie, so gut er konnte.
Der Morgen und ein tiefer Schlaf brachten die Beruhigung, welche die Trostworte nicht gebracht hatten. Im Köpfchen der zärtlichen Phyllis tauchten heiterere Gedanken und Pläne auf. Sie erklärte Nektanebes genau, wie er zum Hause des grausamen Pankratius gehen und die täuschende Nachricht erfinden solle, dass ihr Tod bereits eingetreten sei; dabei sollte er beobachten, um es ihr mitzuteilen, wie dessen schönes Gesicht mit dem unwandelbaren Hauche von Langeweile sich verändern werde, wenn er ihm zur Bestätigung seines Berichtes den angeblich in den Falten der Gewänder der Ertrunkenen gefundenen Zettel und den gestreiften Schleier übergeben werde. Sie klatschte in die Hände, als sie den Abschiedsbrief beendet hatte, und drängte voll Erregung und Freude den Alten zu Eile. Der Bote musste nicht wenig Strassen durchwandern, ehe er das kleine, aber wohleingerichtete Landhaus des Pankratius erreichte. Als man den alten Fischer zu ihm hineinführte, war der junge Herr des Hauses damit beschäftigt mit einem hochgewachsenen Knaben in himmelblauem leichtem Gewande Ball zu spielen. Als er hörte, dass der Brief von Phyllis komme, deren Garten sich zum Flusse hinabzieht, fragte er, ohne das Siegel zu erbrechen und seine dunklen eingelegten Locken ordnend: „Hat dich die Herrin selbst gesandt?“
„Nein, aber es war ihr Wunsch diesen Brief in deinen Händen zu sehen.“
„Es ist ohne Zweifel ihre Handschrift, lasset sehen, was dieses liebe Schreiben uns bringt.“
Ein Lächeln umspielte noch die Lippen des Jünglings, als er den letzten Brief des Mädchens zu lesen begann, aber allmählich verfinsterte sich seine Stirn, die Brauen hoben sich, die Lippen pressten sich zusammen und seine Stimme klang erregt und rauh, als er, den Brief in sein Gewand bergend, fragte: „Ist es Wahrheit was in diesem Briefe steht?“
„Ich weiss nicht, was die arme Herrin geschrieben hat, aber dieses, das habe ich mit eigenen Augen gesehen“ — und er liess jetzt den geschickt erfundenen, übrigens zur Hälfte der Wahrheit entsprechenden Bericht vom angeblichen Tode der Phyllis folgen. Der Schleier, von dem Pankratius bestimmt wusste, dass er dem Mädchen gehöre, überzeugte ihn vollends von der Wahrheit der traurigen Erfindung, und nachdem er den Fischer, reich belohnt, entlassen hatte, kehrte er zerstreut zum Ballspiel mit dem hochgewachsenen Knaben zurück, das ihn täglich zwischen Bad und Mahl zu beschäftigen pflegte.
Phyllis hatte sich hinter der niederen Tür versteckt und wartete lange auf die Rückkehr ihres Wirtes, während sie den Arbeiten in den Gemüsegärten zusah, bis die Sonne schon begann unterzugehen und die Schwalben schreiend ganz niedrig dahinschossen, dass sie mit den Flügeln fast das stille Wasser streiften. Endlich hörte sie das Geräusch der Kiesel, die unter den Füssen des bergansteigenden Alten hinunterrollten.
Sieben- oder achtmal liess die verschmähte Phyllis sich die Einzelheiten der Begegnung mit Pankratius wiedererzählen. Sie wollte wissen, was er zuerst gesagt und was er darauf gesagt habe, und wie er gekleidet gewesen und wie er ausgesehen habe: ob er traurig oder gleichgültig, blass oder blühend gewesen, — und Nektanebes strengte vergeblich sein altes Gedächtnis an, um die hastigen und abgebrochenen Fragen des Mädchens zu beantworten.
Am nächsten Morgen sagte er: „Wie denkst du, Herrin? Du musst in dein Haus zurückkehren, da du doch unter den Lebenden weilst.“
„Nach Hause? Um nichts in der Welt! Dann erfahren ja alle, dass ich noch lebe; du vergissest, dass ich eine Tote bin!“
Und Phyllis lachte laut auf. Ihre lebensprühenden Augen und Wangen machten den Scherz ihrer Erfindung noch lustiger.
„Ich bleibe bei dir: am Tage, wenn du in die Stadt gehst, lege ich mich zwischen die Beete, und unter den reifen Melonen wird mich niemand gewahren, und am Abend wirst du mir erzählen, was du am Tage gesehen hast.“
Schliesslich bewog der Fischer die junge Herrin, ihrer alten Amme, die auf einem Landgute in der Nähe von Alexandria lebte, im geheimen ein Zeichen zu geben, ihr aufrichtig alles zu erzählen und dort abzuwarten, was Zeit und Schicksal bringen würden. Er selbst versprach, jeden Tag alles über Pankratius zu berichten, was mit Phyllis irgendwie in Zusammenhang stehen sollte.
„Wann soll ich denn dorthin fahren?“
„Ich setze dich selbst im Boote über.“
„Durch die ganze Stadt? Als lebendige Leiche?“
„Nein, du wirst am Boden liegen unter einem Gewebe.“
„Die Wächter werden dich für einen Dieb halten und dich verhaften.“
„Ich werde dich mit Bastmatten bedecken.“
Phyllis war Waise und konnte daher ihr Verschwinden leicht verhehlen und friedlich bei der alten Manto auf dem Landgute leben. Vom Morgen bis zum Abend konnte sie die Blumen befragen, ob der ferne Jüngling sie lieben werde. Bald zupfte sie die Blumenblätter einzeln aus den Kelchen, bald schlug sie mit den Blättern um sich, über eine ungünstige Antwort geärgert und freute sich kindlich über eine günstige. Da die Aufregungen der Liebe ihr die Esslust nicht geraubt hatten und das bescheidene Mahl des Landgutes ihrem vom Nichtstun launischen Geschmack nicht genügte, so wurde bald das Geheimnis ihres Lebens auch der Schaffnerin ihres Stadthauses bekannt, die ihr täglich mit dem alten Fischer bald süsses Ingwergebäck, bald lecker gebratenes Wild, bald Pasteten mit Hahnenkämmen, bald eine in zartem Honig abgekochte Melone sandte.
Die alten Füsse des Nektanebes konnten kaum den schnellen und jungen Schritten des Pankratius und seines Begleiters folgen. Es war schon Abend, vom Meere drang der Geruch von Salz und Tang herüber, in den Herbergen wurden grosse Laternen angezündet und man hörte Musik, Matrosen gingen, zu vieren und mehr einander unter die Arme gefasst, über die Strasse und unsere Wanderer kamen immer weiter in dunkle leer gewordene Stadtteile. Endlich betraten sie, den Vorhang aus geflochtenem Rohr zurückschlagend, ein Haus, das wie ein Lupanar oder eine Schenke für den Hafenpöbel aussah. Nektanebes folgte ihnen nicht gleich, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und wartete auf andere Gäste, um unbemerkt hineinzukommen. Schliesslich gewahrte er fünf Matrosen, von denen der jüngste sagte: „. . . und sie legte ihm einen Schwamm an Stelle des Herzens in den Leib; am Morgen fing er an zu trinken, der Schwamm fiel heraus und da starb er.“
Der Fischer, der mit ihnen zugleich hineingegangen war, konnte sich zuerst, durch seine Armut und sein Alter vom Besuche solcher Orte entwöhnt, nicht zurechtfinden. Lärm, Rufe, das Klirren der Lehmkannen, Gesang und das Klappern einer Handtrommel erschütterten die stickige, dicke Luft. Sängerinnen sassen, sich mit den Händen den Schweiss und die herunterfliessende Schminke aus dem Gesichte wischend, vor dem Vorhang. Auf dem Tische tanzte zwischen Weinkrügen ein nacktes, zehnjähriges Nubiermädchen, in geschickten Schlangenwindungen ihren Kopf zur Ferse herabbeugend. Ein dressierter Hund, der mit Hilfe von grob aus Holz geschnittenen Zahlen die Summe des Geldes in den Beuteln der Gäste erriet, erregte lauten Beifall. Pankratius sass, seine Caracalla noch tiefer ins Gesicht gezogen, was seine Augen fremd und glänzend machte, mit seinem Begleiter am Ausgang. Er hielt den Alten an und sagte: „Hör mal, bist du es, der mir die Nachricht vom Tode der unglücklichen Phyllis gebracht hat? Ich habe dich gesucht, ich, der Redner Pankratius, aber still . . . . Komme morgen nach dem Mittag zu mir; ich habe dir etwas zu sagen: die Verstorbene raubt mir meine Ruhe.“ Er sprach flüsternd, war blass und seine Augen sahen unter der Kapuze fremd aus und sie glänzten.
Phyllis sass auf der Schwelle des Hauses und las die Papyrusrollen, die Nektanebes eben gebracht hatte, und auf denen von der Hand des Schreibers aufgezeichnet stand: „Elegie der Phyllis, der unglücklichen Tochter des Palemon“. Sie sass gebeugt da und hörte nicht, wie die Sklaven mit Zubern voll frischgemolkener Milch vorübergingen, wie der Gärtner die Blumen beschnitt, wie das Hündchen, einen hüpfenden Frosch verfolgend, bellte, und wie in der Ferne die Schnitterinnen ein wehmütiges Lied sangen. Die Zeilen zogen an ihrem Auge vorüber und die Erinnerung an ihre vergangenen Qualen legte sich wiederum, wie Nebel, auf ihre sorglosen Augen.
Eltern, liebe Eltern,
Vater und Mutter mein,
viel habt ihr mir hinterlassen:
bunte Gewänder,
weisse Pferde,
gewundene Spangen, —
aber lieber, als alles,
hab ich den grellroten Schleier
mit den singenden Phönixen.
Eltern, liebe Eltern,
Vater und Mutter mein,
viel habt ihr mir hinterlassen:
Land und Vieh:
starkfüssige Ziegen,
starkstirnige Schafe,
steilhörnige Kühe,
Mäuler und Stiere,
aber lieber, als alle,
ist mir mein weisser Tauber
mit dem schwarzbraunen Fleck:
ich nannt’ ihn „Katamitos“.
Eltern, liebe Eltern,
Vater und Mutter mein,
viel habt ihr mir hinterlassen:
treue Diener:
Gemüse- und Blumengärtner,
Weber und Spinner,
Metbrauer und Bäcker,
Narren und Flötenspieler,
aber lieber, als alle,
hab ich die Alte,
meine liebe Amme.
Lieb hab ich die Amme,
lieb ist der Tauber mir,
lieb auch mein Schleier,
aber mehr noch lieb ich den Garten.
Er zieht sich, er zieht sich
zum Fluss hinab, unser Garten,
flussaufwärts, flussaufwärts,
da wohnt hoch am Ufer mein Freund.
Ich kann ihm nicht senden, kann ihm nicht senden
ein Blümlein von mir,
es bringen meinen Gruss ihm, meinen Gruss ihm
die Fergen hinauf.
Und weiter stand geschrieben:
Am Morgen sprach die Amme zu mir:
— was willst du’s der Alten verhehlen —
den ganzen Tag zerpflückst du fragend die Blumen,
Quitten unterscheidest du von Äpfeln nicht mehr,
Du nähst nicht, du stickst nicht,
küssest zärtlich den bunten Tauber
und nachts hör ich dich flüstern: „Pankratius“.
Und weiter stand geschrieben:
Was soll ich erwählen, liebe Gespielinnen:
soll ich dem grausamen Freunde noch einmal mein Lieben gestehen,
oder soll ich in den schnellfliessenden Bach mich stürzen?
Gleich schwer ist jeder der Wege,
aber schwerer ist der erste —
wie werd’ ich erröten müssen und stammeln.
Und weiter stand geschrieben:
Am Morgen steht die Purpursonne auf
und du gehst an dein Tagwerk,
wer dich daherkommen sieht,
der denkt sich: „stolzer Pankratius“ —
und die bleiche Phyllis ist nicht mehr!
In den Baumgängen wirst du lustwandeln,
mit den Freunden wirst du im Philo lesen,
Diskus werfen wirst du und Wettlaufen —
alle sagen: „schöner Pankratius“ —
und die bleiche Phyllis ist nicht mehr!
Du kehrst zurück in dein kühles Haus,
badest dich in duftigen Wassern,
mit dem Knaben spielst du dann Ball,
und schläfst ruhig ein bis zum Morgen
und denkst: „glücklicher Pankratius“ —
und die bleiche Phyllis ist nicht mehr!
Und es stand noch viel geschrieben, so dass das Mädchen, seufzend und über seine eigenen Worte Tränen vergiessend, bis zum späten Abend las.
Jetzt spielte Pankratius nicht mehr mit dem Knaben Ball, er las nicht mehr und hatte keine Lust zu essen, sondern ging im inneren kleinen Garten an den Levkoien auf und ab und sah aus, wie ein von Unruhe gequälter Mensch. Gleich nach der Begrüssung begann er: „Das gestorbene Mädchen raubt mir meine Ruhe: ich sehe sie im Traume und sie mich; sie lockt mich irgendwohin, ein Lächeln im bleichen Antlitz.“
Der Alte, der Phyllis unter den Lebenden wusste, meinte:
„Es gibt trügerische Träume, o Herr, mögen sie dich nicht beunruhigen.“
„Sie können nicht anders, als mich beunruhigen, vielleicht bin ich dennoch die unschuldige Ursache ihres Unterganges.“
„Halte sie für lebend, wenn dir das deine Ruhe wiedergibt.“
„Aber sie ist doch gestorben?“
„Tot ist das, was wir für tot halten, und das, was wir für lebend halten — lebt.“
„Du willst, scheint es, darauf hinaus, wovon ich mit dir reden wollte. Gelobe mir, das Geheimnis zu bewahren.“
„Du hast mein Versprechen.“
„Kennst du nicht einen Magier, der mir den Schatten der Phyllis beschwören könnte?“
„Wie das, den Schatten der Phyllis?“
„Nun ja, den Schatten der verstorbenen Phyllis. Scheint dir das so sonderbar?“
Nektanebes antwortete, nachdem er die Beherrschung wiedergewonnen hatte:
„Nein, das scheint mir nicht sonderbar und ich kenne sogar einen Magier, wie du ihn brauchst, aber glaubst du auch selbst an die Kraft der Magie?“
„Weshalb hätte ich dich wohl sonst gefragt? Und was hat das mit meinem Glauben zu tun?“
„Er wohnt nicht weit von mir und ich kann mit ihm verabreden, wann das Wiedersehen stattfinden soll.“
„Ich bitte dich darum. Du hast mir viel geholfen mit deinen Worten: tot ist das, was wir für tot halten, und umgekehrt.“
„Lass es gut sein, o Herr, das sind leere Worte, die ein ungebildeter alter Fischer, wie ich, ohne zu denken hat fallen lassen.“
„Du selbst begreifst nicht die ganze Bedeutung dieser Worte. Es ist mir, als sei Phyllis am Leben. Richte schneller aus, was du weisst!“
Der Jüngling gab dem Fischer Geld und der Alte war auf dem weiten Wege zum Landgute mit vielen und verschiedenartigen Gedanken beschäftigt, die zu einem klareren, freudigen Gedanken führten, so dass Phyllis, die nicht schlief und ihm selbst die Gartenpforte öffnete, ihn lächeln sah, als bringe er glückliche Nachrichten.
Das Mädchen hörte Nektanebes’ Plan mit erstaunten Ausrufen.
„Du glaubst? Ist das denn möglich? Wird das nicht Gotteslästerung sein? Bedenke doch: die magischen Beschwörungen haben die Kraft, die Seelen Verstorbener heraufzurufen, — wie werde ich, die Lebende, den täuschen, den ich liebe? Und wird die hundsköpfige Göttin mich nicht strafen?“
„Wir entweihen den Ritus nicht, du bist keine Tote und bist niemals eine solche gewesen, wir werden uns nur die äussere Form der Beschwörungen zunutze machen, um den gequälten Geist des Pankratius zu beruhigen.“
„Er liebt mich jetzt und will mich sehen?“
„Ja.“
„Die Tote, die Tote!“
„Aber du wirst lebendig sein.“
„Man wird mir Totengewänder anlegen, den Totenkranz der verstorbenen Frauen! Ich werde durch Schwefeldämpfe reden, die mein Gesicht totenähnlich machen werden!“
„Ich weiss nicht in welcher Gestalt du den Geist darzustellen haben wirst. Wenn du es nicht wünschest, so lässt es sich vermeiden.“
„Wodurch?“
„Durch Verzicht auf die Beschwörung.“
„Ihn nicht sehen? Nein, nein!“
„Man könnte sagen, dass der Magier das Mondviertel für ungünstig halte.“
„Und dann?“
„Dann wird Pankratius sich selbst beruhigen und er wird vergessen.“
„Er wird sich beruhigen, sagst du? Wann kommt Parrhasius, um die Verabredung zu treffen und mich zu lehren was ich zu tun habe?“
„Wann du willst: morgen, übermorgen.“
„Heute noch. Einverstanden?“
Als Phyllis allein geblieben war, sass sie lange regungslos da, dann zerpflückte sie eine Blume und wollte lächeln, als sie auf ihre ständige Frage ein „Ja“ zur Antwort erhielt, aber sie erbleichte gleich wieder und flüsterte: „Nicht als Lebende hast du das Glück der Liebe gewonnen, arme Phyllis!“ Aber die Morgensonne und das Zirpen der Grillen im Tau, und der stille Fluss, und die Erinnerung an die wenigen verlebten Jahre, und die Träume von Pankratius, der sie jetzt liebte, riefen bald wieder das Lächeln auf die roten Lippen der lustigen und treuen Phyllis zurück.
Als die Harfe, die magischen Formeln beantwortend, erklang und ein undeutlicher Schatten auf dem Vorhang erschien, erkannte Pankratius Phyllis nicht; ihre Augen waren geschlossen, die Wangen blass, die Lippen zusammengepresst, die über der Brust gekreuzten mit Bändern umwundenen Arme steigerten die Ähnlichkeit mit einer Toten. Als sie die Augen aufschlagend, die lose zusammengebundenen Arme erhoben, stehenblieb, wandte sich Pankratius, nachdem er den Magier um Erlaubnis gefragt hatte, auf die Knie sinkend, mit folgenden Worten an sie:
„Bist du der Schatten der Phyllis?“
„Ich bin Phyllis selbst,“ war die Antwort.
„Wir werden alle vom Schicksal geleitet; du konntest nicht anders handeln, als du gehandelt hast.“
„Bist du gern auf die Erde zurückgekehrt?“
„Ich konnte nicht anders, als den Beschwörungen gehorchen.“
„Liebst du mich?“
„Ich liebte dich.“
„Du siehst jetzt meine Liebe, ich habe mich zu fürchterlicher, vielleicht verbrecherischer Tat entschlossen, als ich dich heraufbeschwor. Glaubst du mir, dass ich dich liebe?“
„Die Tote?“
„Ja. Kannst du dich mir nähern? Mir deine Hand reichen? Meine Küsse erwidern? Ich will dich erwärmen und dein Herz wieder schlagen machen!“
„Ich kann mich dir nähern, dir die Hand reichen, deine Küsse erwidern. Ich bin dazu zu dir gekommen.“
Sie trat ihm, der auf sie zugestürzt war, einen Schritt entgegen; er merkte nicht, dass ihre Hände wärmer waren, als seine eigenen, wie ihr Herz an seinem fast erstarrten Herzen schlug, wie ihre Augen glänzten, als sein trübe gewordener Blick sie traf. Phyllis wehrte ihm und sagte:
„Ich bin eifersüchtig.“
„Auf wen?“ flüsterte er, vergehend:
„Auf die lebende Phyllis. Sie liebtest, mich duldest du.“
„Ach, ich weiss nicht, frage nicht, nur du, du allein, dich liebe ich!“
Phyllis sagte nichts mehr, sie erwiderte seine Küsse nicht und zog sich zurück; schliesslich, als er in Verzweiflung sich zu Boden warf und wie ein Knabe weinend, rief: „Du liebst mich nicht!“ kam es langsam von ihren Lippen:
„Du weisst selbst noch nicht was ich getan habe,“ und an ihn herantretend, umarmte sie ihn fest und begann jetzt selbst leidenschaftlich und süss seine Lippen zu küssen. Pankratius war immer zärtlicher geworden und hatte nicht bemerkt, wie das Mädchen immer schwächer wurde, und plötzlich liess er sie mit dem Schreckensruf: „Phyllis, was ist dir?“ aus seinen Armen gleiten und lautlos sank sie ihm zu Füssen. Er staunte nicht, dass ihre Hände kalt waren, dass ihr Herz nicht schlug, aber das Schweigen, das plötzlich den Raum beherrschte, erfüllte ihn mit unerklärlichem Grauen. Er schrie auf, und die eintretenden Sklaven und der Magier erblickten beim Schein der Fackeln das Mädchen in den verwirrten Leichengewändern tot daliegen, die Bänder und der Totenkranz aus dünnen Goldblättchen lagen fortgeworfen auf dem Boden. Pankratius schrie noch einmal laut auf, als er die leblos vor sich sah, die eben noch seine Liebkosungen erwidert hatte, und zur Tür zurückweichend, flüsterte er entsetzt:
„Sehet: die Spuren von drei Wochen Verwesung in ihrem Antlitz! Oh! Oh!“
Der hinzugetretene Magier sagte:
„Die der Magie gewährte Frist ist verflossen und der Tod hat wieder von der zeitweilig dem Leben Zurückgegebenen Besitz ergriffen,“ und er gab den Sklaven das Zeichen den Leichnam der bleichen Phyllis, der Tochter des Palemon, hinauszutragen.
Ich habe so lange im Ablegeraum unter altem Gerümpel gestanden, dass ich fast die Erinnerung an meine Jugend verloren habe, als der auf meine Rückenlehne gestickte Türke mit seiner Pfeife und der Hirtenknabe mit seinem Hunde, der mit erhobenem Hinterbeine sich flöht, — noch in grellem Gelb, Rosa und Himmelblau leuchteten und noch nicht verstaubt und verblichen waren; aber eben beschäftigen mich die Ereignisse mehr, deren Zeugin ich gewesen, bevor ich wieder dem jetzt wohl hoffnungslosen Vergessen anheimfalle. Man hat mich mit neuem hanffarbenem Seidenstoff bezogen und ins kleine Empfangszimmer gestellt und über meine Armlehne einen Schal mit grellen Rosen geworfen, als hätte ihn eine Schöne aus meiner Jugendzeit, plötzlich bei einem zärtlichen Stelldichein aufgeschreckt, liegen lassen. Übrigens änderte der Schal seine Lage niemals, denn wenn der General oder seine Schwester, Tante Paula, ihn zufällig verschoben, gab Kostja, der das kleine Gastzimmer nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, diesem zarten bunten Gewebe wieder sein früheres, raffiniert nachlässiges, starres Aussehen. Tante Paula protestierte dagegen, dass ich aus der Rumpelkammer hervorgeholt wurde: auf mir sei die arme Sonja gestorben, ich sei die Ursache gewesen, dass eine Heirat nicht zustande gekommen, ich brächte der Familie Unglück sagte sie, aber für mich trat nicht nur Kostja, seine Kommilitonen und andere junge Leute ein, sondern auch der alte General selbst sagte:
„Das alles sind Vorurteile, Paula Petrowna! Wenn in diesem Ungetüm auch irgendein Zauber gesteckt hat, so hat er sich im Laufe der sechzig Jahre in der Rumpelkammer verflüchtigt; und dann steht es an einer Stelle, wo man immer vorbeigeht, so dass niemand es aufsuchen wird, um auf ihm zu sterben oder einen Antrag zu machen!“
Obgleich mir die Bezeichnung „Ungetüm“ nicht sonderlich schmeichelte und der General sich als kurzsichtig erwiesen hat, blieb ich im kleinen Empfangszimmer mit den grünlichen Tapeten. Ein Porzellanschränkchen stand mir gegenüber, über ihm hing ein alter runder Spiegel, der undeutlich meine seltenen Besucher zurückwarf. Bei General Gambakow lebte, ausser seiner Schwester Paula und seinem Sohne Kostja, noch seine Tochter Nastja, die ihre Schulbildung in einem Fräuleinstift erhielt.
*
Aus dem nach Westen gelegenen Nebenzimmer fielen die langen Strahlen der Abendsonne in meinen Salon und trafen gerade den Schal mit den Rosen, der noch prächtiger leuchtete und seine Farben spielen liess. Jetzt legten sich diese Strahlen auf das Gesicht und das Kleid von Nastja, die auf mir sass und so durchsichtig aussah, dass es sonderbar schien, die Strahlen nicht durch ihren Körper auf den Herrn, der vor ihr stand, fallen zu sehen, als genügte ihre Gestalt, das rötliche Licht aufzuhalten. Sie unterhielt sich mit ihrem Bruder über eine für die Weihnachtsfeiertage geplante Vorstellung, bei der ein Akt aus „Esther“ aufgeführt werden sollte, aber die Gedanken des jungen Mädchens schienen vom Gegenstande der Unterhaltung weit entfernt. Kostja bemerkte:
„Ich meine, Sergej könnte uns auch eine Rolle abnehmen: er deklamiert doch ganz gut.“
„Soll Sergej Pawlowitsch eine meiner Dienerinnen, eine junge Israelitin spielen?“
„Weshalb, ich kann das Travesti nicht ausstehen, obgleich ihn weibliche Gewänder kleiden würden.“
„Wen soll er denn sonst spielen?“
Ich verstand, dass von Sergej Pawlowitsch Pawilikin, dem Kommilitonen des jungen Gambakow, die Rede war. Ich hatte ihn immer für einen unbedeutenden, wenn auch sehr hübschen jungen Mann gehalten. Das kurzgeschorene dunkle Haar liess sein rundes blasses Gesicht voller scheinen; er hatte einen hübschen Mund und grosse hellgraue Augen. Der hohe Wuchs milderte seine Neigung zu Körperfülle, aber er war sehr schwer, rekelte sich immer auf mir herum und verstreute die Asche seiner Zigaretten mit den sehr langen Mundstücken, die er immerfort rauchte, auf mir, und seine Unterhaltung war leeres Geschwätz. Zur Unzufriedenheit von Tante Paula, die ihn nicht mochte, war er täglich bei uns zu Gaste.
Das Fräulein unterbrach etwas unsicher das Schweigen:
„Kennst du eigentlich Pawilikin gut, Kostja?“
„Auch eine Frage! Er ist doch mein bester Freund!“
„So . . .? Ist es denn schon so lange her, dass ihr Freunde seid?“
„Seit diesem Jahre, als ich die Universität bezog. Aber hat das denn etwas zu bedeuten?“
„Nein, ich fragte bloss so, ich wollte nur wissen . . . .“
„Weshalb interessiert dich denn unsere Freundschaft?“
„Ich mochte wissen ob man ihm vertrauen kann . . . ich möchte . . .“
Kostja unterbrach sie lachend:
„Das hängt davon ab! In Geldangelegenheiten würde ich nicht raten! Übrigens ist er ein guter Kamerad und nicht geizig, wenn er Geld in der Tasche hat, aber er ist arm . . .“
Nastja schwieg eine Weile und sagte dann:
„Nein, ich fragte nicht danach, sondern was Gefühle, Anhänglichkeit anbetrifft . . .“
„Was für ein Unsinn! Lernt ihr das in euren Stiften? Was weiss ich! . . . Hast du dich vielleicht in Sergej verliebt?“
Das Fräulein antwortete nicht und fuhr fort:
„Ich habe eine Bitte an dich, wirst du sie erfüllen?“
„Betrifft sie Sergej Pawlowitsch?“
„Vielleicht.“
„Gut, aber vergiss nicht, dass er nicht besonders liebt, sich mit euch Weibern abzugeben.“
„Nein, Kostja, versprich mir!“
„Na, schön, ich hab’s doch schon versprochen! Also!“
„Ich sage dir’s heute abend,“ erwiderte Nastja, ihrem Bruder in die unruhigen Augen blickend, die wie ihre eigenen, braun und gesprenkelt waren.
„Na, schön, also heute abend,“ meinte der Student sorglos, erhob sich und ordnete wieder den Schal, den das ebenfalls aufgestandene junge Mädchen freigelassen hatte.
Aber die Strahlen der Abendsonne trafen die zarten Rosen nicht mehr, denn Nastja, die ins Nebenzimmer gegangen war, trat ans Fenster und sah für das rötliche Licht undurchdringlich, wie vorher, auf die schneebedeckte Strasse hinaus, bis das elektrische Licht aufgedreht wurde.
*
Heute kann man den ganzen Tag keine Ruhe finden, so wird durch mein Zimmer hin- und hergelaufen! Und ich begreife nicht wozu man bloss solche Vorstellungen veranstaltet! Ein ganzer Schwarm von jungen Mädchen und Männern; das war eine Unruhe, ein Schreien, Laufen, man rief nach Arbeitern, die irgendetwas absägen sollten; Möbel, Kissen, Stoffe wurden herangetragen; es ist nur gut, dass sie aus meinem Zimmer nichts genommen und meinen Schal nicht fortgeschleppt haben! Endlich wurde alles still und in der Ferne begann man Klavier zu spielen. Der General und Paula Petrowna kamen leise herein und setzten sich nebeneinander auf mich; die alte Jungfer fuhr fort:
„Es würde ein Familienunglück sein, wenn sie ihn lieben sollte. Denk bloss: ein Knabe ist er noch, und was für einer ausserdem: ohne Namen, ohne Vermögen, ohne Talent . . .“
„Ich glaube, du übertreibst stark, ich habe nichts bemerkt . . .“
„Bemerken denn Männer solche Dinge? Ich aber werde jedenfalls immer dagegen sein!“
„Ich glaube, es wird auch gar nicht so weit kommen, dass man dafür oder dagegen zu sein brauchen wird.“
„Er ist ein ganz sittenloser Mensch: Du weisst was man von ihm spricht? Ich bin überzeugt, dass er es auch ist, der Kostja verdirbt. Nastja ist ein Kind, sie versteht noch nichts . . .“ regte sich die alte Dame auf.
„Nun, meine Beste, über wen wird nicht gesprochen? Höre doch bloss was über Kostja geklatscht wird! Und ich weiss nicht, vielleicht ist auch etwas wahr an diesen Geschichten. Das geht mich nichts an. Vor Klatsch bewahrt einen höchstens das Alter, wie deins und meins! . . .“
Paula Petrowna wurde dunkelrot im Gesicht und bemerkte kurz:
„Mach was du willst. Ich habe dich gewarnt und ich selbst werde schon aufpassen! Nastja ist auch mir keine Fremde!“
Da trat Nastja selbst ins Zimmer; sie war schon in ihrem himmelblauen, gelbgestreiften Kostüm und trug einen gelben Turban auf dem Kopfe.
„Papa,“ wandte sie sich hastig an den General, „warum sehet Ihr Euch nicht die Probe an?“ und fuhr, ohne die Antwort abzuwarten, fort: „Gib doch unserm König deinen Ring, er hat so einen riesigen Smaragd!“
„Diesen?“ fragte der General und wies auf einen alten Fingerring von selten schöner Arbeit und mit einem dunklen Smaragd, der die Grösse einer Stachelbeere hatte.
„Nun ja!“ antwortete sorglos das junge Mädchen.
„Nastja, du weisst nicht worum du bittest!“ mischte sich die Tante hinein, „den Familienring, von dem Maxim sich niemals trennt, für das Drunter und Drüber eurer Spielerei hergeben, damit ihr ihn im Handumdrehen verliert! Du weisst doch, dass dein Vater den Ring niemals vom Finger nimmt!“
„Für ein, zwei Mal; wie sollte er denn aus dem Zimmer verschwinden, selbst wenn er vom Finger fiele?“
„Nein, Maxim, ich erlaube dir auf keinen Fall den Ring vom Finger zu ziehen!“
„Du siehst, Tante Paula erlaubt mir’s nicht!“ sagte der General mit verlegenem Lachen.
Nastja ging unzufrieden ohne den Ring aus dem Zimmer und Paula Petrowna begann ihren Bruder zu trösten, dem seine betrübte Tochter leid tat.
Der Lärm und das Gelaufe gingen wieder an; man legte die Kostüme ab, dann begann das Abschiednehmen.
Herr Pawilikin blieb lange bei uns. Als er mit Kostja in mein Zimmer kam, war es schon gegen vier Uhr morgens. Sie blieben stehen und küssten sich zum Abschiede. Sergej Pawlowitsch sagte verlegen:
„Du kannst dir keine Vorstellung machen, Kostja, wie froh ich bin! Aber es ist mir so unangenehm, das es gerade heute dazu kam, nachdem du mir dieses Geld gegeben hast! Du kannst dir, weiss der Teufel, was für eine Gemeinheit denken . . .“
Der blasse und glückliche Kostja mit verwühltem Haar küsste ihn wieder und sagte:
„Nichts werde ich mir denken, sonderbarer Kauz! Das ist einfach ein Zusammentreffen, ein Zufall, der jedem zustossen kann.“
„Ja, aber es ist so peinlich, so peinlich . . .“
„Lass das, bitte, im Frühling gibst du mir’s wieder . . .“
„Ich brauchte diese sechshundert Rubel auf jeden Fall . . .“
Kostja schwieg, dann sagte er:
„Nun, auf Wiedersehen. Morgen treffen wir uns also zu ‚Manon‘?“
„Ja, ja . . .“
„Und nicht mit Petja Klimow?“
„Oh, tempi passati! Auf Wiedersehen.“
„Mache die Tür leise zu und lärm nicht, wenn du an Tante Paulas Schlafzimmer vorübergehst: sie hat dich nicht zurückkommen sehen und sie liebt dich nicht sonderlich. Auf Wiedersehen!“
Die jungen Leute nahmen noch einmal Abschied; es war, wie ich schon gesagt habe, gegen vier Uhr morgens.
*
Nastja kam von der Spazierfahrt, und ohne ihren Pelzhut mit der Rose vom Kopfe zu nehmen, setzte sie sich auf den Rand eines Stuhles, während ihr Begleiter mit von der Kälte geröteten Wangen fortfuhr im Zimmer auf und ab zu gehen. Das junge Mädchen sprach ungezwungen und heiter, aber hinter diesem Geplapper hörte man eine gewisse Unruhe hervor.
„Wir haben eine schöne Spazierfahrt gemacht! So angenehm: Frost und Sonne! Ich schwärme für den Palaiskai! . . .“
„Ja.“
„Ich liebe schrecklich zu fahren und besonders zu reiten; im Sommer verschwinde ich tagelang auf solchen Ausflügen. Sie sind noch nicht bei uns in ‚Swjataja Krutscha‘ gewesen?“
„Nein. Ich ziehe ein Automobil vor.“
„Sie haben einen schlechten Geschmack Sie wissen doch, ‚Swjataja Krutscha‘, und ‚Alexejewskoje‘, und ‚Ljgowka‘, das ist alles mein persönliches Eigentum; ich bin eine sehr reiche Braut. Dann macht noch Tantchen Paula mich zu ihrer Universalerbin. Sehen Sie — ich rate Ihnen, überlegen Sie sich’s.“
„Für uns Schuster heisst es: bleib bei deinem Leisten! . . .“
„Was für vulgäre Vergleiche Sie lieben!“
Sergej zuckte mit den Achseln und fuhr fort, ohne stehenzubleiben, auf und ab zu gehen. Das junge Mädchen machte noch ein paarmal den Versuch zu plaudern, aber immer kürzer wurden diese Versuche und schliesslich schwieg sie ganz, wie ein verdorbenes Spielzeug, und als ihre Stimme wieder erklang, war sie leise und traurig. Ohne den Hut abzunehmen, setzte sie sich tiefer ins dunkel gewordene Zimmer hinein und sagte, als klage sie sich selbst ihr Leid:
„Wie lange ist es schon seit unserer Aufführung her! Entsinnen Sie sich? Ihr Auftreten . . . Wie vieles hat sich seither geändert! Sie sind nicht mehr derselbe, ich auch nicht, alle nicht . . . Ich kannte Sie damals noch so wenig. Sie können sich nicht vorstellen wie gut ich Sie verstehe, viel besser, als Kostja! Sie glauben nicht? Weshalb stellen Sie sich an, als merkten Sie nichts? Würde es Ihnen Vergnügen machen, wenn ich Ihnen das sagen würde, was zuerst zu sagen für eine Frau als erniedrigend gilt? Sie quälen mich, Sergej Pawlowitsch!“
„Sie übertreiben alles furchtbar, Nastasja Maximowna: mein Nicht-verstehen-wollen, wie meine Eigenliebe und vielleicht auch Ihre Gefühle für mich . . .“
Sie stand auf und sagte klanglos:
„So? Es kann sein . . .“
„Sie gehen?“ wurde er unruhig.
„Ja, ich muss mich zum Mittagessen umkleiden. Sie speisen nicht mit uns?“
„Ja, ich habe eine Einladung zu Bekannten.“
„Mit Kostja zusammen?“
„Nein. Weshalb?“
Sie ging nicht und blieb am Tisch mit den Zeitschriften stehen.
„Sie werden noch zu ihm auf sein Zimmer gehen?“
„Nein, ich fahre gleich.“
„So? Nun, auf Wiedersehen! Und ich liebe Sie — das ist’s!“ setzte sie plötzlich hinzu, und wandte sich ab. Als er in der Dunkelheit, in der man seine Züge nicht unterscheiden konnte, schwieg, sagte sie schnell, wie mit lachender Stimme: „Nun, sind Sie zufrieden?“
„Finden Sie, dass das der passende Ausdruck ist?“ sagte er und beugte sich über ihre Hand.
„Auf Wiedersehen . . . Gehen Sie jetzt,“ murmelte sie, das Zimmer verlassend.
Sergej machte Licht und ging, lustig etwas vor sich hinpfeifend, in Kostjas Zimmer.
*
Der General kam in grosser Aufregung herein, er hielt eine Zeitung in der Hand; Tante Paula folgte ihm auf dem Fusse, mit ihrem schwarzen Seidenkleide rauschend.
„Beruhige dich, Maxim, jetzt kommt das so häufig vor, man gewöhnt sich fast daran. Natürlich ist es fürchterlich, aber was ist dabei zu machen? Niemand vermag seinem Schicksal zu entrinnen.“
„Nein, Paula, ich kann mich nicht beruhigen: nur die Mütze ist übriggeblieben und ein blutiger Brei von Gehirn an der Mauer. Armer Lew Iwanowitsch!“
„Denk nicht daran, Bruder! Morgen lassen wir in der Kirche des Apanagendepartements eine Seelenmesse lesen. Denk nicht daran, schone dich: Du hast selbst einen Sohn und eine Tochter.“
Der General war ganz rot im Gesicht, er liess sich auf mir nieder. Die Zeitung entglitt seinen Händen, die alte Dame hob sie schnell auf, legte sie recht weit von ihrem Bruder fort, und begann hastig von etwas anderem zu sprechen:
„Nun, hast du den Ring gefunden?“
Der General wurde wieder unruhig:
„Nein, nein! Das beunruhigt mich auch noch fürchterlich.“
„Entsinnst du dich, wann du ihn zum letztenmal gesehen hast?“
„Ich zeigte ihn heute morgen, hier, auf dieser selben Chaiselongue, Sergej Pawlowitsch: er interessierte sich so für den Ring . . . Dann schlummerte ich ein; und ich erinnere mich, dass der Ring schon nicht mehr da war, als ich aufwachte . . .“
„Hast du ihn vom Finger gezogen?“
„Ja . . .“
„Das war nicht vernünftig von dir! Ausser seinem realen besitzt der Ring doch einen unschätzbaren Wert als Familienstück.“
„Das ist geradezu das Vorzeichen eines Unglückes.“
„Wollen wir hoffen, dass der Tod von Lew Iwanowitsch eine genügend unglückliche Botschaft ist, um das ganze Unheil zu erschöpfen.“
Der General begann wieder zu seufzen. Paula Petrowna konnte sich nicht enthalten zu sagen:
„Wenn dieser Pawilikin nur nicht den Ring mitgenommen hat? Er ist fähig so etwas zu tun!“
„Wozu? Um ihn sich anzusehen? Ja, aber er hat ihn auch so schon betrachtet und fragte mich wieviel die Antiquitätenhändler dafür geboten haben usw.“
„Er kann ihn ja auch einfach so genommen haben.“
„Das heisst, du meinst er hat ihn gestohlen?“
Paula Petrowna hatte keine Zeit zu antworten, da Nastja, die hastig und erregt ins Zimmer getreten war, ins Gespräch fiel.
„Papa!“ sagte sie laut: „Sergej Pawlowitsch hält um meine Hand an. Ich hoffe, du bist nicht dagegen?“
„Nicht jetzt, nicht jetzt!“ wehrte er ihr mit den Händen ab.
„Weshalb? Was sind das für Ausflüchte? Du kennst ihn gut genug,“ sagte Nastja und wurde rot.
Paula Petrowna warf, aufstehend, dazwischen:
„Ich habe auch eine Stimme und protestiere überhaupt gegen eine solche Verbindung, und fordere in jedem Falle, dass die Frage aufgeschoben wird bis sich Maxims Ring wiedergefunden hat.“
„Was für eine Beziehung hat Papas Ring zu meinem Bräutigam?“ fragte das junge Mädchen hochmütig.
„Wir glauben, dass Sergej Pawlowitsch den Ring hat.“
„Sie glauben, dass er einen Diebstahl verübt hat?“
„Ja, so etwas in der Art.“
Nastja wandte sich an den General, ohne der Tante zu antworten, und fragte:
„Du glaubst also auch an dieses Märchen?“
Der Vater schwieg. Sein Gesicht rötete sich noch mehr.
Das junge Mädchen wandte sich wieder an Paula:
„Weshalb treten Sie zwischen uns? Sie hassen Sergej . . . . Sergej Pawlowitsch und denken sich allerhand Unsinn aus! Sie säen Zwietracht zwischen Kostja und Papa. Was wollen Sie von uns?“
„Nastja, werde nicht frech, unterstehe dich nicht!“ rief der Vater, nach Luft ringend.
Nastja hörte nicht auf ihn.
„Weshalb regst du dich so auf? Weshalb kannst du dich nicht gedulden, bis diese Geschichte sich aufgeklärt hat? Es ist das ganz prinzipiell, begreifst du?“
„Ich begreife, dass mein Bräutigam einer ähnlichen Handlung überhaupt nicht verdächtigt werden darf!“ schrie Nastja, der General sass stumm da, die Röte in seinem Gesichte wurde immer tiefer.
„Du fürchtest dich vor der Wahrheit?“
„Es kann nur eine Wahrheit geben und ich kenne sie. Und ich rate Ihnen sich unserer Ehe nicht zu widersetzen: das wird für Sie selbst nur schlimmer sein!“
„Ich weiss es!“
Paula sah sie durchdringend an.
„Ist denn Eile geboten?“
„Welch eine Gemeinheit! Kostja!“ stürzte das junge Mädchen zum eintretenden Studenten. „Lieber Kostja, sei du Richter! Sergej Pawlowitsch hält um meine Hand an, und Vater, der ganz unter dem Einflusse von Tante Paula steht, gibt nicht seine Einwilligung, bevor sich die Frage aufgeklärt hat, wo sein Ring hingekommen ist.“
„Zum Teufel auch! Ihr beschuldigt doch nicht gar Pawilikin des Diebstahls?“
„Ja,“ versetzte die alte Dame boshaft. „Du trittst natürlich für ihn ein, du wirst den Ring auslösen. Ich weiss auch einiges von dir! Ich kann in meinem Zimmer hören, wie die Tür knarrt, wenn du deinen Freund hinauslässt und was dabei gesprochen wird. Sei dankbar, dass ich schweige!“
In meinem ganzen Leben habe ich keinen solchen Skandal, keine solche Schimpferei gehört. Kostja schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte, Paula verlangte Achtung vor dem Alter; Nastja sprach hysterisch . . . Aber plötzlich verstummten alle, weil Stimmen, Schrei und Lärm von einem unartikulierten Laut übertönt wurden, welchen der General ausgestossen hatte, der, nachdem er die ganze Zeit geschwiegen, eben aufgestanden war. Dann sank er schwer zurück, wurde blaurot im Gesicht und begann zu röcheln. Paula stürzte zu ihm.
„Was ist mit dir, Maxim, Maxim?“
Der General röchelte nur, die weissen Augäpfel verdrehend, und war schon ganz blau.
„Wasser! Wasser! Er stirbt! Ein Schlag!“ flüsterte die Tante, aber Nastja schob sie beiseite und sagte:
„Lassen Sie, ich werde ihm selbst den Kragen aufknöpfen,“ und liess sich vor mir auf die Knie nieder.
*
Sogar in mein Zimmer drang der Geruch von Weihrauch und der Kirchengesang von der Seelenmesse des alten Generals herüber. Mitunter schien es mir, als werde mir selbst das Sterbelied gesungen. O wie nah war ich der Wahrheit!
Als die jungen Leute ins Zimmer traten, sagte Pawilikin, die unterbrochene Unterhaltung fortsetzend:
„Und heute, da erhalte ich von Paula Petrowna folgende Zuschrift,“ und er begann den aus der Tasche gezogenen Brief vorzulesen:
„Sehr geehrter Herr, Sergej Pawlowitsch! Aus Gründen, die — scheint mir — Ihnen zu erklären weiter nicht nötig ist, halte ich Ihre Besuche in diesen, für unsere Familie so schweren Tagen für unangebracht, und ich hoffe, Sie werden nicht verfehlen Ihre Führung mit unserem gemeinschaftlichen Wunsche in Einklang zubringen. Die Zukunft selbst wird zeigen, wie weit die früheren Beziehungen möglich sein werden, aber ich kann Sie versichern, dass meine Nichte, Anastasia Maximowna, im gegebenen Falle mit mir ganz solidarisch ist. Genehmigen Sie usw.“
Er sah Kostja fragend an und der bemerkte:
„Weisst du, von ihrem Standpunkte hat Tante recht, und ich weiss überhaupt nicht, wie meine Schwester dir antworten wird.“
„Aber du gibst doch zu, solche nichtige Gründe! . . .“
„Das heisst, der Tod meines Vaters?“
„Ja, aber ich trage doch keine Schuld daran!“
„Selbstredend . . . Ich las da neulich das Märchen aus ‚Tausendundeiner Nacht‘, wo ein Mensch mit Dattelkernen warf, — eine durchaus harmlose Beschäftigung — er traf aber den Sohn eines Geistes ins Auge und lud eine Reihe von Missgeschicken auf sich. Wer kann die Folgen von Kleinigkeiten vorausbestimmen?“
„Wir aber werden doch miteinander verkehren?“
„Oh, zweifelsohne! Ich werde jetzt nicht mehr mit meiner Familie zusammenleben und du wirst mir immer willkommen sein. Das ist dauerhafter, als die Verliebtheit eines Mädchens aus dem Fräuleinstift.“
„Und wird auch durch Dattelkerne nicht gefährdet?“
„Das ist’s.“
Sergej umarmte den jungen Gambakow und sie verliessen zusammen das Zimmer. Ich habe Pawilikin nicht wiedergesehen, wie ich überhaupt nur wenige Leute sah, die uns in meinen letzten Ehrentagen aufsuchten.
*
Frühmorgens kamen Männer in hohen Stiefeln und hoben mich auf, nachdem sie Paula Petrowna gefragt hatten: „Diese hier?“ Der Älteste von ihnen fragte immer wieder ob es nicht noch etwas zu verkaufen gäbe, als seine Frage verneint wurde, folgte er den anderen Männern.
Wie sie mich auf die Seite kehrten, um mich durch die Tür zu tragen, rollte etwas auf den Fussboden, von dem — der Sommer war schon nahe — die Teppiche bereits entfernt worden waren. Einer von den Männern, die mich trugen, hob den heruntergefallenen Gegenstand auf und reichte ihn der alten Dame mit den Worten:
„Ein Ringchen! Haben es mal aufs Couchettchen fallen lassen und da ist es denn hinter den Bezug geglitten.“
„Es ist gut. Danke!“ sagte Tante Paula, erbleichend, und ging aus dem Zimmer, nachdem sie hastig den Ring mit dem stachelbeergrossen Smaragd in ihr Ricule gesteckt hatte.
Im Waggon, der gegen Morgen etwas leerer geworden war, wurde es immer heller; durch die beschlagenen Fenster sah man auf Wiesen hinaus, deren Gras fast giftgrün war, trotzdem der August sich schon zu Ende neigte, aufgeweichte Wege schlängelten sich ins Land, Milchfrauen mit ihren Wagen warteten vor einem herabgelassenen Schlagbaum, Bahnwärterhäuschen und die bunten Sonnenschirme spazierengehender Sommerfrischlerinnen huschten vorüber. Auf den häufigen und einförmigen Haltestellen begannen neue Vorortspassagiere mit Ledermappen unter dem Arm den Wagen zu füllen, und man sah, dass der Waggon, die Fahrt, für sie keine Epoche, nicht einmal eine Episode des Lebens bedeuteten, sondern der gewohnte Teil eines täglichen Programmes waren, und die Bank, auf der Nikolai Iwanowitsch Smurow mit Wanja sass, schien die wichtigste und bedeutungsvollste des ganzen Wagens. Die festverschnürten Handkoffer, die Porteplaids mit den Kissen, der gegenübersitzende alte Herr mit dem langen Haar und der unmodernen Reisetasche über der Schulter, das alles sprach von einer weiteren Fahrt, von einer weniger gewöhnlichen, mehr epochemachenden Reise.
Wanja sah auf den rötlichen Sonnenstrahl, der sich unruhig durch die Rauchwolken der Lokomotive brach und hin und wieder über das dummerhaft scheinende Gesicht des schlafenden Nikolai Iwanowitsch glitt, ihm fiel dabei die knarrende Stimme dieses selben Vetters ein, der ihm dort, weit, „zu Hause“, gesagt hatte: „Geld hat Mama dir keins hinterlassen; du weisst, wir sind selbst nicht reich, aber, als dein Vetter bin ich bereit, dir zu helfen; du hast noch lange zu lernen, zu mir kann ich dich nicht nehmen, ich werde dich zu Alexej Wassiljewitsch in Pension geben und dich besuchen; dort geht es lustig her und man kann dort viele nützliche Leute treffen. Gib dir Mühe; wir wären mit Natascha gern bereit dich zu uns zu nehmen, aber es geht unmöglich; und du selbst wirst es bei Kasanskis heiterer haben: dort gibt es immer junges Volk. Ich werde für dich zahlen; wenn wir die Erbschaft teilen werden, ziehe ich meine Auslagen ab.“ Wanja sass im Vorzimmer auf dem Fensterbrett und hörte zu, dabei betrachtete er die Sonne, die eine Ecke des Koffers, die grau und lila gestreiften Hosen Nikolai Iwanowitschs und die gestrichene Diele beleuchtete. Er gab sich keine Mühe den Sinn der Worte zu verstehen und dachte wie seine Mutter gestorben war, wie plötzlich das ganze Haus sich mit Weibern gefüllt hatte, die früher ganz fremd gewesen und jetzt ungewöhnlich nahe zu stehen schienen, er erinnerte sich an alle die Besorgungen, die zu machen waren, die Seelenmessen, die Beerdigung, und ihm fiel ein, wie es plötzlich, nachdem alles vorüber gewesen, leer und öde geworden und ohne Nikolai Iwanowitsch anzusehen, wiederholte er nur mechanisch: „Ja, Onkel Kolja,“ obgleich Nikolai Iwanowitsch gar nicht sein Onkel, sondern nur ein Vetter von ihm war.
Und jetzt schien es ihm sonderbar mit diesem trotz alledem ganz fremden Menschen zusammen zu reisen, sich so lange in seiner Nähe aufzuhalten, sich mit ihm über seine Angelegenheiten zu unterhalten, Pläne zu machen. Und er war etwas enttäuscht, obgleich er es schon früher gewusst hatte, dass man bei der Ankunft in Petersburg nicht gleich ins Zentrum der Paläste und grossen Bauten, unter Volksandrang, bei Militärmusik, durch ein hohes Tor einzieht, sondern dass der Weg an langen durch graue Lattenzäune sichtbaren Gemüsegärten, an Kirchhöfen, die aus der Ferne wie romantische Haine aussahen, an sechsstöckigen unter verfallenen Holzhäuschen aufragenden muffeligen Arbeiterkasernen vorbeiführt, dass man durch Russ und Rauch hindurch muss. Also das ist Petersburg! dachte Wanja enttäuscht und interessiert, wie er in die unfreundlichen Gesichter der Gepäckträger blickte.
*
„Hast du sie durchgelesen, Kostja? Kann ich?“ fragte Anna Nikolajewna, vom Tische aufstehend und griff mit ihren langen schon um diese frühe Morgenstunde mit billigen Ringen bedeckten Fingern nach einem Stoss Zeitungen, in denen Konstantin Wassiljewitsch gelesen hatte.
„Ja, es steht nichts Interessantes drin.“
„Was kann es in unseren Zeitungen Interessantes geben? Ich begreife — im Auslande. Da kann man alles schreiben und verantwortet nötigenfalls, was man geschrieben hat, vor Gericht. Aber bei uns ist es abscheulich, man weiss nicht woran man glauben soll. Die Berichte und Mitteilungen der Regierung sind unrichtig oder belanglos, ein Leben im Innern gibt es bis auf Unterschlagungen und Gerüchte von Spezialkorrespondenten überhaupt nicht.“
„Aber im Auslande gibt es ja auch bloss sensationelle Gerüchte, wobei man für Verbreitung erlogener Nachrichten nicht zu gerichtlicher Verantwortung gezogen wird.“
Koka und Boba löffelten träge in ihren Teegläsern und assen Brot mit schlechter Butter.
„Wohin musst du heute, Nata? Hast du viel zu tun?“ fragte Anna Nikolajewna affektiert.
Nata, ein rothaariges Mädchen mit sommersprossenbesätem Gesicht und vulgär gedrungenem Munde, antwortete etwas, mit beiden Backen an einer Semmel kauend. Onkel Kostja, früher Kassierer eines dunklen Spielklubs, hatte lange Finger gemacht und lebte jetzt, nach verbüsster Haft, ohne Stellung und Beschäftigung, bei seinem Bruder. Eben entrüstete er sich über einen Unterschlagungsprozess.
„Jetzt, wo alles erwacht, erstehen neue Kräfte, alles wird lebendig,“ erhitzte sich Alexej Wassiljewitsch.
„Ich bindurchaus nicht für jedes Erwachen; Tante Sonin, z. B., ziehe ich vor, wenn sie schläft.“
Es kamen und gingen allerhand Studenten und einfache junge Leute in Jacketts, tauschten ihre aus den Zeitungen geschöpften Eindrücke über das gestrige Rennen aus; Onkel Kostja verlangte Schnaps; Anna Nikolajewna sprach, den Hut auf dem Kopfe, von einer Ausstellung und sah, sich die Handschuhe anziehend, unzufrieden zu Onkel Kostja hinüber, der mit etwas zittriger Hand die Gläser füllte. Mit seinen gutmütigen geröteten Augen umherblickend, sagte er: „Ein Ausstand, meine Freunde, wisst ihr, das, wisst ihr, ist . . .“
„Larion Dmitrijewitsch!“ meldete die Köchin, die in die Küche zurückeilte und unterwegs das Teebrett mit den Gläsern und das schmutzige, zusammengeballte Tischtuch mitnahm.
Wanja wandte sich vom Fenster ab, an dem er gestanden hatte, und erblickte im Türrahmen die wohlbekannte Gestalt Larion Dmitrijewitsch Stroops in seinem sackartig breiten Anzuge.
*
Wanja hatte angefangen sich sorgfältiger zu kämmen und schenkte auch seinem Anzug seit einiger Zeit mehr Aufmerksamkeit. Sein Ebenbild in einem kleinen Wandspiegel betrachtend, sah er gleichgültig ein etwas unbedeutendes rundes Gesicht mit roten Wangen, grossen grauen Augen, einem hübschen Mund mit kindlich dicken Lippen und blondem Haar vor sich, das nicht ganz kurz geschnitten, sich ein wenig lockte. Weder gefiel ihm, noch missfiel ihm dieser hohe und schlanke Knabe mit den feinen Augenbrauen, der in einer schwarzen Bluse vor dem Spiegel stand. Durch das Fenster sah man einen Hof mit nassen Fliesen, die Fenster des gegenüber liegenden Hausflügels, Streichholzhändler. Es war Feiertag und alle schliefen noch. Wanja war, wie gewöhnlich, früh aufgestanden, hatte sich ans Fenster gesetzt und wartete auf den Tee, während er dem Glockengeläut einer nahen Kirche und dem Geräusch zuhörte, das die im Nebenzimmer aufräumende Bedienung machte. Er erinnerte sich an die Feiertagsmorgen dort, „zu Hause“, in der alten Kreisstadt, an die sauberen Stuben mit den Tüllgardinen und Lämpchen vor den Heiligenbildern, an die Messe in der Kirche, die Piroggen zum Mittag, alles einfach, hell und lieb, und das Regenwetter draussen, die Drehorgeln auf dem Hofe, die Zeitungen beim Morgentee, das sinnlose und ungemütliche Leben, die dunkeln Zimmer, das alles wurde ihm langweilig.
Konstantin Wassiljewitsch, der Wanja mitunter aufsuchte, blickte zur Tür herein.
„Bist du allein, Wanja?“
„Ja, Onkel Kostja. Guten Tag! Was gibt’s?“
„Nichts. Wartest du auf den Tee?“
„Ja. Ist Tante noch nicht aufgestanden?“
„Auf ist sie schon, sie kommt bloss nicht heraus. Sie ärgert sich. Wahrscheinlich ist kein Geld da. Das ist das erste Anzeichen: wenn sie zwei Stunden im Schlafzimmer sitzt, so bedeutet das, dass kein Geld da ist. Und wozu nur? Sie wird doch sowieso herauskriechen müssen.“
„Wissen Sie nicht, verdient Onkel Alexej Wassiljewitsch viel?“
„Wie’s so kommt. Und was heisst viel? Für den Menschen gibt es niemals viel Geld.“
Konstantin Wassiljewitsch seufzte auf und schwieg. Wanja schwieg auch und sah zum Fenster hinaus.
„Was ich dich fragen wollte, lieber Wanja,“ begann Konstantin Wassiljewitsch wieder, „hast du nicht vielleicht bis Mittwoch etwas Geld überflüssig? Ich gebe es dir Mittwoch gleich wieder ab.“
„Woher sollte ich denn Geld haben? Natürlich habe ich keins.“
„Woher du Geld haben sollst? . . . Na, es kann dir doch jemand welches geben . . .“
„Was sagen Sie da, Onkel! Wer sollte mir denn Geld geben?“
„Also du hast keins?“
„Nein.“
„Das ist schlimm.“
„Wieviel möchten Sie denn haben?“
„So fünf Rubel, nicht viel, gar nicht viel.“ Und Konstantin Wassiljewitsch wurde wieder lebhaft. „Vielleicht hast du sie doch, wie? Nur bis Mittwoch?!“
„Ich habe keine fünf Rubel.“
Konstantin Wassiljewitsch sah Wanja enttäuscht und schlau an und schwieg. Wanja wurde es noch trübseliger zumute.
„Was soll man dann machen? Es regnet noch immer . . . . Weisst du was, lieber Wanja, bitte du Larion Dmitrijewitsch um Geld für mich.“
„Stroop?“
„Ja, bitte ihn, mein Lieber!“
„Weshalb bitten Sie ihn denn nicht selbst?“
„Mir wird er keins geben.“
„Weshalb wird er Ihnen keins geben und mir wohl?“
„Er wird schon geben, glaube mir; aber bitte, mein Lieber, sag ihm nur nicht, dass es für mich ist; als brauchtest du für dich selbst zwanzig Rubel.“
„Sie brauchten doch nur fünf?“
„Ist es nicht einerlei wieviel du bittest? Sei so gut, Wanja!“
„Nun schön. Aber wenn er fragt, wozu ich das Geld brauche?“
„Er wird nicht fragen — der ist nicht auf den Kopf gefallen.“
„Aber sehen Sie zu, dass Sie das Geld selbst abgeben.“
„Aber gewiss, gewiss.“
„Weshalb aber glauben Sie, Onkel, dass Stroop mir das Geld geben wird?“
„Na, ich denk’ mir halt so!“ Und lächelnd schlich sich Konstantin Wassiljewitsch, verlegen und zufrieden, auf den Fussspitzen aus dem Zimmer. Wanja stand lange am Fenster, ohne sich umzusehen und ohne den nassen Hof zu beachten. Als er zum Tee gerufen wurde, blickte er, bevor er ins Speisezimmer ging, noch einmal in den Spiegel auf sein rot gewordenes Gesicht mit den grauen Augen und den feinen Brauen.
*
In der griechischen Stunde störten Nikolajew und Spilewski auf der Vorderbank Wanja die ganze Zeit mit ihrer Balgerei und ihrem Kichern. Vor Beginn der Ferien wurde es mit dem Unterricht nicht so genau genommen, der kleine ältliche Lehrer erzählte, auf einem Beine sitzend, aus dem Leben der Griechen, ohne die Aufgaben abzufragen; die Fenster standen offen und man sah grünende Baumwipfel und ein grosses rotes Gebäude. Wanja zog es immer mehr fort aus Petersburg in die Luft, irgendwohin weit in die Ferne. Die blankgeputzten Griffe an Türen und Fenstern, die Speibecken, die Landkarten an den Wänden, die Schultafel, der gelbe Papierkasten, die geschorenen oder lockigen Köpfe der Kameraden schienen ihm unerträglich.
„Die Sykophanten — Denunzianten, Spione, wörtlich Feigenangeber; als der Export dieser Früchte aus Attika noch bei Strafe verboten war, zeigten diese Leute, oder wie wir sagen würden, diese Chantagisten, dem Verdächtigen unter ihrem Mantel eine Feige als Drohung, dass im Falle er sich von ihnen nicht loskaufen sollte . . .“ Und Daniil Iwanowitsch machte, ohne das Katheder zu verlassen, mit Gesten und Mimik die Angeber und Verleumdeten, den Mantel und die Feige nach; dann sprang er von seinem Platze auf und ging im Klassenzimmer hin und her, wobei er mit sorgenvollem Gesicht irgend etwas wiederholte, wie etwa: „Die Sykophanten, . . . . ja, die Sykophanten . . . . ja, meine Lieben, die Sykophanten,“ dabei gab er dem Worte verschiedene, aber in jedem Falle ganz unerwartete Nuancen.
„Heute werde ich versuchen, Stroop um Geld zu fragen,“ dachte Wanja, durchs Fenster blickend.
Spilewski erhob sich, jetzt schon ganz rot geworden, von der Bank.
„Was will dieser Nikolajew eigentlich von mir haben? Er gibt mir keine Ruh mit seinen Zudringlichkeiten.“
„Nikolajew, weshalb werden Sie gegen Spilewski zudringlich?“
„Ich werd’ gar nicht zudringlich.“
„Was machen Sie ihm denn?“
„Ich kitzle ihn.“
„Setzen Sie sich. Ihnen aber, Spilewski empfehle ich grössere Genauigkeit beim Gebrauche eines Ausdruckes. Im Hinblick darauf, dass Sie kein Frauenzimmer sind, kann Nikolajew, ein ziemlich bejahrter Jüngling, und dazu noch einer mit recht beschränkten Begriffen, Ihnen gegenüber nicht zudringlich werden.“
*
„Ich stelle die Frage so: willst du arbeiten — so arbeite, willst du nicht arbeiten, so arbeite nicht!“ sagte Anna Nikolajewna mit einer Miene, als sei das Interesse der ganzen Welt darauf gerichtet, wie sie die Frage stelle. Im Gastzimmer, das ganz mit stilvollen Möbeln in Gestalt von Sitzbädern, Badestühlen und Papierkästen vollgestellt war, lärmten die Stimmen von Anna Nikolajewna, Nata und den beiden Schwestern, den Künstlerinnen Speier.
„Diesen Schrank liebe ich sehr, aber die Bank reizt mich nicht. Ich würde einen Schrank immer vorziehen.“
„Auch dann, wenn Sie ein Sitzmöbel brauchen würden?“
„Die Dienstboten klagen über Arbeitsüberlastung: sie gehen mehr aus, als wir! Ich komme mitunter tagelang nicht aus dem Hause und unsere Annuschka hat täglich so oft Gelegenheit in die Bude zu laufen, bald hat sie Brot zu besorgen, ein anderes Mal Stiefel zu holen. Und dabei hat sie soviel Möglichkeiten mit Menschen zusammenzukommen. Ich finde die Klagen aller dieser Unzufriedenen stark übertrieben.“
„Können Sie sich vorstellen, er posiert mit einer solchen Stimmung, dass die Malschülerinnen sich fürchten, in seiner Nähe zu sitzen. Dabei ist er eine äusserst interessante Persönlichkeit: ein russischer Zigeuner aus München; er hat ein Gymnasium besucht, war im Corps de ballet, ist Modell gewesen; von Stuck erzählt er riesig interessante Einzelheiten.“
„Auf rosa Foulard wird es zu grell sein, ich würde blassgrünen vorziehen.“
„Danach muss man Stroop fragen.“
„Aber er ist ja eben erst verreist, der Stroop, ihr Unglücklichen!“ rief die ältere Speier.
„Wie, Stroop ist fort? Wohin? Wozu?“
„Ja, das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wie immer ein Geheimnis.“
„Von wem haben Sie es gehört?“
„Von ihm selbst hab’ ich’s gehört: er meinte so auf drei Wochen.“
„Nun, das ist nicht so schlimm!“
„Und Wanja Smurow fragte erst heute, wann Stroop bei uns sein werde.“
„Wozu braucht er ihn?“
„Ich weiss nicht. Er hat irgend etwas mit ihm zu tun . . .“
„Wanja mit Stroop? Das ist aber originell!“
„Nun, Nata, wir müssen gehen,“ zwitscherte Anna Nikolajewna und beide Damen verliessen, mit den Röcken rauschend, das Zimmer, überzeugt, dass sie den Mondainen aus den Romanen von Prevost und Ohnet, die sie in Übersetzungen lasen, sehr ähnlich sähen.
*
Im April wurde die Frage von der Sommerfrische angeschnitten. Alexej Wassiljewitsch musste häufig, fast jeden Tag, in der Stadt sein; Koka und Boba auch, so dass der von Anna Nikolajewna und Nata geplante Aufenthalt an der Wolga wenig Aussicht auf Verwirklichung hatte. Man schwankte zwischen den Bädern Terijoki und Sestrorezk in der Nähe von Petersburg, aber unabhängig von der Frage der Sommerfrische dachten alle an Sommertoiletten. Durch die offenen Fenster drangen Staubwolken, der Wagenlärm und das Geklingel der Trams.
Wenn Wanja lesen oder seine Aufgaben machen wollte, ging er hin und wieder in den Sommergarten. Er sass im Gang vor dem Marsfelde, ein Teubnerbändchen lag, mit dem gelbrosa Umschlage nach oben, neben ihm, seither war er noch ein wenig gewachsen; von der Frühlingssonne eingebrannt, schien er bleicher; er sah sich die Spaziergänger im Garten und jenseits des Lebjashi-Kanals an. Vom Krylow-Platz klang das Lachen spielender Kinder herüber, und Wanja hörte nicht, wie der Sand unter Stroops Füssen knirschte, als dieser auf ihn zutrat.
„Sie arbeiten?“ fragte Stroop, sich neben Wanja setzend, der sich auf einen Gruss hatte beschränken wollen.
„Ich arbeite; aber wenn Sie wüssten, wie langweilig mir das alles geworden ist! . . .“
„Was haben Sie da? Homer?“
„Ja, Homer. Besonders dies Griechisch.“
„Sie lieben nicht Griechisch?“
„Wer liebt es denn?“ lächelte Wanja.
„Das ist sehr schade!“
„Was ist schade?“
„Dass Sie nicht Sprachen lieben.“
„Die neuen gehen ja an, ich liebe sie, man kann später ’mal etwas lesen, aber Griechisch, wer wird Griechisch lesen, so einen alten Kram.“
„Was für ein Kind Sie sind, Wanja. Eine ganze Welt, ganze Welten sind Ihnen verschlossen; und das — Welten der Schönheit, die nicht nur zu kennen, sondern zu lieben die Grundlage jeder Bildung ist.“
„Man kann Übersetzungen lesen; und wieviel Zeit verliert man mit der Grammatik?!“
Stroop blickte mit unendlichem Bedauern auf Wanja.
„Statt eines Menschen aus Fleisch und Blut, der lacht und traurig ist, den man lieben, küssen, hassen kann, an dem man sieht, wie das Blut durch die Adern fliesst, dessen natürliche Grazie des nackten Körpers uns bezaubert, eine seelenlose Puppe besitzen, die dazu noch häufig aus der Werkstatt eines Handwerkers hervorgegangen ist, das heisst Übersetzungen lesen. Und für die grammatikalischen Vorbereitungsarbeiten braucht man so wenig Zeit. Man muss nur lesen, lesen und lesen. Lesen und jedes Wort im Wörterbuch nachschlagen, wie durch ein Dickicht im Walde sich Weg bahnen, oh, Sie würden einen ungeahnten Genuss kennen lernen. Und mir scheint, Wanja, dass Sie Anlagen haben, ein wahrer neuer Mensch zu werden.“
Wanja schwieg unzufrieden.
„Sie haben eine schlechte Umgebung, aber das kann zu Ihrem Besten dienen, indem es Sie vor Vorurteilen bewahrt, die jedem traditionellen Leben anhaften. Und Sie könnten, wenn Sie wollten, ein durchaus moderner Mensch werden,“ fügte Stroop nach einigem Schweigen hinzu.
„Ich weiss nicht, ich möchte irgendwohin fortfahren, fort von allem: vom Gymnasium, vom Homer, von Anna Nikolajewna, — das ist es.“
„In die Natur?“
„Ja, in die Natur.“
„Aber, mein lieber Freund, wenn in der Natur leben, mehr essen, Milch trinken, sich baden und nichts tun heisst, ja, dann freilich ist es sehr einfach, aber die Natur geniessen ist vielleicht schwerer als die griechische Grammatik und ermüdet, wie jeder Genuss. Und ich glaube auch einem Menschen nicht, der in der Stadt gleichgültig den besten Teil der Natur — Himmel und Wasser — sieht, und die Natur auf den Montblanc suchen geht, ich glaube einem solchen Menschen nicht, dass er die Natur liebt.“
*
Onkel Kostja machte Wanja den Vorschlag, ihn in seiner Droschke bis zum Gymnasium mitzunehmen.
Der heisse Morgen liess schon die Nähe des Sommers spüren, und ganze Seiten des Fahrdammes wurden umgepflastert und waren gesperrt. Onkel Kostja, der dreiviertel der Droschke einnahm, hatte sich bequem mit ausgespreizten Beinen zurechtgesetzt.
„Onkel Kostja, warten Sie ein wenig, ich frage nur, ob der Priester gekommen ist, und wenn er fehlt, fahre ich lieber mit Ihnen mit und komme zu Fuss zurück, als im Gymnasium zu hocken. Einverstanden?“
„Weshalb sollte der Priester nicht zur Stunde gekommen sein?“
„Er ist schon die ganze Woche krank.“
„Einverstanden. Frage nur.“
Einen Augenblick später kam Wanja wieder heraus, ging um die Droschke herum und stieg von der anderen Seite neben Konstantin Wassiljewitsch ein.
„Und Larion Dmitrijewitsch, mein Lieber, ist, als hätte er geahnt, was wir gegen ihn im Schilde führen, auf und davon und kommt nicht mehr zurück.“
„Vielleicht ist er schon zurück.“
„Dann wäre er bei Anna Nikolajewna gewesen.“
„Was ist er eigentlich, Onkel Kostja?“
„Wer? Nach wem fragst du?“
„Nach Larion Dmitrijewitsch.“
„Stroop — nichts weiter. Ein halber Engländer und reicher Mann, ist nirgendwo angestellt, lebt gut, ja, sogar vorzüglich, ist in höchstem Grade gebildet und belesen, so dass ich gar nicht begreife, weshalb er mit Kasanskis verkehrt.“
„Er ist doch nicht verheiratet, Onkel?“
„Ja, sogar ganz im Gegenteil, und wenn Nata glaubt, dass sie es ihm angetan habe, so täuscht sie sich grausam; überhaupt, ich begreife absolut nicht, was er bei Kasanskis zu suchen hat. Gestern, einfach zum Totlachen, lieferte Anna Nikolajewna Alexej eine Generalschlacht.“
Sie fuhren über die Fontankabrücke. Fischhändler von den schwimmenden Fischhandlungen zogen Fische aus den Bassins, kleine Dampfer schossen rauchend vorbei, an der steinernen Balustrade lehnte eine müssige Menge. Ein Eishändler schob seinen rasselnden blauen Wagen über das Pflaster.
„Du hast vielleicht von jemand gehört, dass Stroop zurückgekommen ist oder hast ihn selbst gesehen?“ fragte Onkel Kostja beim Abschied.
„Nein, wo sollte ich wohl, wenn er, wie Sie sagen, nicht zurück ist,“ meinte Wanja errötend.
„Siehst du, du sagst, es sei nicht heiss und schau nur mal, wie rot du geworden bist,“ und die untersetzte Gestalt Konstantin Wassiljewitschs verschwand in der Haustür.
„Weshalb habe ich meine Begegnung mit Stroop verheimlicht?“ dachte Wanja und freute sich, dass er ein Geheimnis habe.
*
Im Lehrerzimmer war es vollgeraucht und die Gläser mit dem schwachen Tee schimmerten im Halbdunkel des Erdgeschosses bernsteingelb. Die Eintretenden bekamen den Eindruck, als bewegten sich die Gestalten in einem Aquarium. Dieser Eindruck wurde noch durch den Regen erhöht, der hinter den Milchglasscheiben herabfloss. Das Gewirr der Stimmen, das Klappern der Teelöffel mischte sich mit dem dumpfen Lärm der grossen Zwischenstunde, der aus der Aula und bisweilen ganz nahe aus den Korridoren herüberdrang.
„Die Sekundaner machen Orlow schon wieder die Hölle heiss; er versteht sich aber auch wirklich keine Stellung zu schaffen.“
„Nun gut, nehmen wir an, Sie stellen ihm eine ungenügende Jahresnote, er bleibt sitzen, — glauben Sie denn, ihn dadurch zu bessern?“
„Ich verfolge keineswegs korrektionelle Zwecke, ich bemühe mich bloss den Stand der Kenntnisse gerecht abzuschätzen.“
„Unsere Gymnasiasten würden sich entsetzen, wenn sie die Programme der französischen Collèges zu sehen bekämen, von den Seminaren schon gar nicht zu reden.“
„Iwan Petrowitsch dürfte damit kaum zufrieden sein.“
„Unvergleichlich, sage ich Ihnen, unvergleichlich, gestern war er, wie selten, bei Stimme.“
„Sie sind auch gelungen, sagen ein kleines Spiel an und haben den König, den Buben und zwei Trümpfe in der Hand.“
„Spilewski ist ein liederlicher Bengel, und ich begreife nicht, weshalb Sie sich für ihn so ins Zeug legen.“
Alle Stimmen wurden vom scharfen Tenor des Inspektors, eines Tschechen, mit grauem Knebelbart und Kneifer, übertönt:
„Dann möchte ich Sie bitten, meine Herren, auf die Fenster zu achten: niemals über 14 Grad, Zug und Ventilation.“
Allmählich ging man auseinander und im leergewordenen Konferenzzimmer war nur der leise Bass des russischen Lehrers zu hören, der sich mit dem Griechen unterhielt.
„Sonderbare Typen findet man dort mitunter. Für den Sommer hatten sie Klassiker zu lesen aufbekommen, ziemlich viel, und da referiert einer zum Beispiel über den Lermontowschen ‚Dämon‘ ex abrupto: ‚Der Teufel flog über der Erde und erblickte ein Mädchen.‘ — Wie hiess denn dieses Mädchen? — ‚Lisa.‘ — Na, es hiess zwar Tamara. — ‚Zu Befehl, Tamara.‘ Nun, und weiter? — ‚Er wollte das Mädchen heiraten, aber der Bräutigam kam dazwischen; dann schlugen die Tataren den Bräutigam tot.‘ — Nun, heiratete der Dämon darauf Tamara? — ‚Nein, gar nicht; der Engel kam dazwischen und vertrat ihm den Weg: so blieb der Dämon denn ein Junggeselle und begann alles zu hassen‘.“
„Ich finde das grossartig . . .“
„Oder eine Kritik über Turgenjews Rudin: ‚Er war ein schlechter Mensch, er sprach immerfort und tat nichts; später geriet er in Gesellschaft von leeren Menschen, und da wurde er auch getötet.‘ — Weshalb, frage ich, halten Sie Arbeiter und überhaupt alle Teilnehmer einer Volksbewegung, in der Rudin ums Leben kam, für leere Leute? — ‚Zu Befehl, er ist für die gute Sache gefallen‘.“
„Es war ganz unnütz, dass Sie die persönliche Meinung dieses jungen Mannes über seine Lektüre zu erfahren suchten. Das macht ja den Militärdienst, wie das Kloster, wie fast jede ausgearbeitete Glaubenslehre, so anziehend, dass sie ein fertiges und bestimmtes Verhältnis zu allen möglichen Erscheinungen und Begriffen geben. Für schwache Naturen ist das eine feste Stütze und das Leben wird unglaublich leicht, wenn die Notwendigkeit, ethisch schaffen zu müssen, in Fortfall kommt.“
Im Korridor wartete Wanja auf Daniil Iwanowitsch.
„Was wünschen Sie, Smurow?“
„Ich möchte mit Ihnen privatim sprechen, Daniil Iwanowitsch.“
„Worüber?“
„Über das Griechische.“
„Hapert’s denn bei Ihnen?“
„Ich habe eine genügende Note.“
„Was brauchen Sie also?“
„Nein, ich möchte mit Ihnen überhaupt über Griechenland sprechen, bitte, Daniil Iwanowitsch, erlauben Sie mir zu Ihnen zu kommen.“
„Ja, bitte, bitte. Meine Adresse kennen Sie? Obgleich das mehr als sonderbar ist: ein Mensch, der eine genügende Note hat und mich privatim über Griechenland zu sprechen wünscht. Ich bitte, kommen Sie. Ich wohne allein, von sieben bis elf Uhr stehe ich zu Ihrer Verfügung.“
Daniil Iwanowitsch war schon im Begriff, die mit einem Läufer belegte Treppe hinaufzusteigen, blieb aber stehen und rief Wanja zu:
„Sie, Smurow, denken Sie sich nur nicht irgend etwas: nach elf bin ich auch zu Hause, aber ich gehe schlafen und bin dann höchstens der allerprivatesten Erklärungen fähig, deren Sie wahrscheinlich nicht benötigen.“
*
Wanja hatte mehr als einmal Stroop im Sommergarten getroffen. Und ohne es selbst zu merken, erwartete er ihn, setzte sich immer in dieselbe Allee, und wenn er fortging ohne Stroops leichten, wenn auch absichtlich zögernden Gang gehört zu haben, so betrachtete er aufmerksam alle männlichen Gestalten, die an Stroop erinnerten. Einmal, als er ohne Stroop erwartet zu haben, durch einen Teil des Gartens schlenderte, den er sonst nicht aufzusuchen pflegte, traf er Koka, der mit aufgeknöpftem Mantel daherkam.
„Hier trifft man dich also, Iwan! Was, gehst du spazieren?“
„Ja, ich bin ziemlich häufig hier, aber worum handelt es sich?“
„Weshalb sehe ich dich denn nie? Sitzest du vielleicht auf der anderen Seite?“
„Wie sich’s macht.“
„Stroop, den treffe ich täglich hier und habe sogar den Verdacht, dass wir beide zu gleichem Zwecke her kommen.“
„Ist denn Stroop wieder zurück?“
„Schon seit einiger Zeit. Nata und alle wissen es, und was für eine Gans Nata auch sein möge, es bleibt dennoch eine Schweinerei, dass er nicht zu uns kommt, als seien wir eine Saubande.“
„Was hat Nata damit zu schaffen?“
„Sie versucht Stroop einzufangen und das ganz vergeblich: er wird überhaupt nicht heiraten, und gar noch Nata; ich glaube, dass er auch mit dieser Ida Holberg bloss ästhetische Gespräche führt und ich rege mich ganz unnütz auf.“
„Regst du dich denn auf?“
„Selbstverständlich, wenn ich nun schon ’nmal in sie verliebt bin!“ und vergessend, dass er mit Wanja sprach, der von seinen Angelegenheiten keine Ahnung hatte, wurde Koka lebhaft: „Ein wunderbares Mädchen, gebildet, musikalisch, eine Schönheit und reich . . . reich! Sie hinkt nur. Und ich komme jeden Tag hierher, um sie zu sehen. Sie geht hier zwischen drei und vier spazieren und ich fürchte, Stroop kommt aus demselben Grunde hierher, wie ich.“
„Ist denn Stroop auch in sie verliebt?“
„Stroop! Nu nee, mein Lieber, der ist nicht von dieser Sorte. Er hält bloss Vorträge und sie betet ihn förmlich an. Die Verliebtheit Stroops das ist ein anderes, ganz anderes Gebiet.“
„Du bist bloss geärgert, Koka!“ . . .
„Unsinn!“
Sie waren gerade an einem Beete mit roten Geranien vorbeigegangen, als Koka ausrief: „Da sind sie ja!“ Wanja sah ein hochgewachsenes Mädchen mit blassem rundlichem Gesicht, ganz hellem Haar, aphrodisischem Schnitt der grauen Augen, die jetzt in der Erregung blau geworden waren und einem Munde, wie auf Botticellis Bildern. Sie trug ein dunkles Kleid und ging hinkend, auf den Arm einer ältlichen Dame gestützt, während Stroop an ihrer anderen Seite sagte:
„. . . und die Menschen sahen, dass jede Schönheit, jede Liebe von den Göttern kommt, und wurden frei und kühn, und ihnen wuchsen Flügel.“
*
Schliesslich hatten Koka und Boba eine Loge zu „Samson und Dalila“ aufgetrieben. Aber die erste Aufführung wurde durch „Carmen“ ersetzt und Nata, auf deren Betreiben dieser ganze Theaterbesuch veranstaltet worden war, weil sie hoffte, Stroop auf neutralem Boden zu treffen, wurde fuchsteufelswild, wusste sie doch, dass Stroop diese allgemein bekannte Oper nicht ohne besondere Veranlassung besuchen werde. Sie trat ihren Platz in der Loge Wanja ab, jedoch nur unter der Bedingung, dass er nach Hause fahren sollte, wenn sie während der Vorstellung doch noch ins Theater käme. Anna Nikolajewna mit den Schwestern Speier und Alexej Wassiljewitsch fuhren in Droschken in die Oper, die jungen Leute hatten sich schon vorher zu Fuss dahin aufgemacht.
Carmen tanzte schon mit ihren Freundinnen bei Lilas Pastja, als Nata, gleichsam als habe sie die Eingebung gehabt, dass Stroop im Theater sei, in der Loge erschien. Sie war ganz in helles Blau gekleidet, gepudert und erregt.
„Nun, Iwan, du wirst dich drücken müssen.“
„Ich bleibe nur bis Aktschluss.“
„Ist Stroop hier?“ fragte Nata flüsternd Anna Nikolajewna, neben der sie Platz genommen hatte. Diese wies schweigend mit den Augen auf eine Loge, in der Ida Holberg, eine ältliche Dame, ein blutjunger Offizier und Stroop sassen.
„Das ist geradezu eine Vorahnung, geradezu eine Vorahnung!“ sagte Nata, ihren Fächer auf- und zuklappend.
„Armes Kind!“ seufzte Anna Nikolajewna.
In der Pause, als Wanja sich anschickte fortzugehen, forderte Nata ihn auf sie ins Foyer zu begleiten.
„Nata, Nata,“ kam Anna Nikolajewnas Stimme aus der Tiefe der Loge, „schickt sich das auch?“
Nata eilte stürmisch, Wanja mit sich ziehend, nach unten. Vor einem Spiegel blieb sie stehen, um ihr Haar zu ordnen und betrat dann langsam den Saal, der sich noch nicht mit Publikum gefüllt hatte. Sie trafen Stroop, er ging in ein Gespräch mit dem blutjungen Offizier vertieft, der in der Loge gesessen hatte und sah weder Smurow, noch Nata an und trat sogar gleich in eins der nächsten Durchgangszimmer hinaus, wo sich vor einem Tisch mit Photographien eine aufgedonnerte Verkäuferin langweilte.
„Gehen wir, es ist furchtbar heiss!“ sagte Nata, Wanja in der Richtung mit sich ziehend, die Stroop genommen hatte.
„Durch jenen Ausgang haben wir es näher zu unseren Plätzen.“
„Als ob es nicht einerlei wäre!“ fuhr ihn das Mädchen an, das in seiner Eile das Publikum fast gewaltsam auseinanderstiess.
Stroop bemerkte jetzt die beiden und beugte sich über die Photographien. Als sie neben ihm standen, sprach Wanja ihn laut an:
„Larion Dmitrijewitsch!“
„Ah, Wanja,“ machte der, sich umkehrend: „Natalja Alexejewna, pardon, ich habe Sie nicht gleich bemerkt.“
„Ich hätte nicht erwartet, Sie hier zu treffen,“ begann Nata.
„Weshalb? Ich liebe ‚Carmen‘ sehr und werde ihrer niemals überdrüssig, in ihr steckt ein tiefer und echter Pulsschlag des Lebens und über alles ist Sonne ausgegossen; ich verstehe, dass Nietzsche sich für diese Musik begeistern konnte.“
Nata hörte schweigend zu und sah schadenfroh mit ihren geröteten Augen zum Sprecher hinüber, dann sagte sie:
„Ich wundere mich nicht darüber, dass ich Sie zur ‚Carmen‘ treffe, sondern, dass ich Sie in Petersburg und nicht bei uns sehe.“
„Ja, ich bin vor zwei Wochen zurückgekommen.“
„Allerliebst!“
Sie begannen im leeren Korridor, an den schlummernden Lakaien vorüber, auf und ab zu gehen und Wanja betrachtete, an der Treppe stehenbleibend, interessiert das sich immer mehr mit roten Flecken bedeckende Gesicht Natas und das ihres geärgerten Begleiters. Die Pause war zu Ende, und Wanja stieg langsam die Treppe zum Balkon hinauf, um sich anzukleiden und nach Hause zu gehen, da holte Nata, das Taschentuch vor dem Munde, ihn fast laufend ein.
„Es ist schändlich, hörst du, Wanja, schändlich, wie dieser Mensch mit mir spricht,“ flüsterte sie Wanja zu und lief nach oben. Wanja wollte sich von Stroop verabschieden und stieg nach einigem Zaudern wieder die Treppe zum unteren Korridor hinunter; dort stand Stroop und der Offizier am Eingang zur Loge.
„Adieu, Larion Dmitrijewitsch,“ sagte Wanja, der tat, als gehe er in seine Loge nach oben.
„Ich war ja nicht auf meinem Platze: Nata kam und ich wurde überflüssig.“
„Was für ein Unsinn, kommen Sie zu uns in die Loge, wir haben freie Plätze. Der letzte Akt ist einer der besten.“
„Macht das nichts, dass ich in die Loge komme: ich bin doch nicht bekannt?“
„Natürlich macht es nichts: Holbergs lieben keine Umstände, und Sie sind ja noch ein Knabe, Wanja.“
Als sie in die Loge traten, beugte sich Stroop zu Wanja, der ihm zuhörte, ohne den Kopf zu wenden:
„Und dann, Wanja, werde ich vielleicht bei Kasanskis nicht mehr vorkehren; wenn es Ihnen recht ist, werde ich immer froh sein, Sie bei mir zu sehen. Sie können sagen, dass Sie mit mir Englisch treiben; aber es wird Sie ja niemand fragen, wohin und wonach Sie gehen. Bitte, Wanja, kommen Sie.“
„Schön. Aber haben Sie sich denn mit Nata verzankt? Sie werden sie nicht heiraten?“ fragte Wanja, ohne den Kopf zu wenden.
„Nein,“ sagte Stroop ernst.
„Wissen Sie, es ist sehr gut, dass Sie sie nicht heiraten, denn sie ist schrecklich widerlich, der reine Frosch!“ lachte Wanja plötzlich auf, Stroop sein Gesicht ganz zukehrend, und fasste, ohne zu wissen warum, dessen Hand.
*
„Es ist interessant, wie gut wir das sehen, was wir zu sehen wünschen und das verstehen, was wir suchen. So fanden die Römer und romanischen Völker des XVII. Jahrhunderts bei den griechischen Tragikern nichts, als die drei Einheiten, das XVIII. Jahrhundert rollende Tiraden und Befreiungsideen, die Romantiker die Heldentaten eines hohen Heroismus und unsere Zeit die scharfe Nuance des Primitiven und das Klingersche Leuchten der Fernen . . .“
Wanja hörte zu und betrachtete das noch in Abendsonne getauchte Zimmer: an den Wänden bis zur Decke reichende Bücherbretter voll ungebundener Bücher, Bücher auf Tischen und Stühlen, ein Käfig mit einer Drossel, ein gelähmter junger Kater auf dem Lederdiwan und einsam in einer Ecke ein kleiner Antinouskopf, gleichsam der Hausgott dieser Wohnung. Daniil Iwanowitsch, in Filzpantoffeln, sorgte für den Tee, zog aus dem eisernen Ofen Käse und Butter in Papierhüllen hervor und der Kater folgte, ohne den Kopf zu wenden, mit seinen grünen Augen den Bewegungen seines Herrn. „Und weshalb haben wir uns bloss eingebildet, dass er alt sei, wo er doch noch ganz jung ist,“ dachte Wanja, der erstaunt den kahlen Kopf des kleinen Griechen betrachtete.
„Im XV. Jahrhundert hatte sich bei den Italienern bereits die Anschauung gefestigt, dass die Freundschaft des Achilleus und Patroklos, wie die des Orest und Pylades sodomitische Verhältnisse waren, während sich bei Homer keine direkten Hinweise hierauf finden.“
„Haben die Italiener sich denn das selbst ausgedacht?“
„Nein, sie hatten recht, aber es handelt sich darum, dass allein das zynische Verhalten zu jeder Art der Liebe sie zu einem Laster macht. Handle ich sittlich oder unsittlich, wenn ich niese, den Staub vom Tische wische, den Kater streichle? Allein diese selben Handlungen können dennoch verbrecherisch sein, wenn ich, sagen wir zum Beispiel, mit meinem Niesen einem Mörder die zum Morde günstige Zeit angebe usw. Jemand, der kaltblütig, ohne Wut einen Mord begeht, beraubt diese Handlung jeglicher ethischer Färbung, es bleibt nur noch die zwischen Mörder und Opfer, zwischen Liebenden, zwischen Mutter und Kind bestehende mystische Gemeinschaft.“
Es war ganz dunkel geworden und man konnte durch das Fenster die Dächer der Häuser und in der Ferne die Isaakskathedrale auf dem schmutzig-rosa Himmel, der ganz in Rauch gehüllt war, kaum noch unterscheiden.
Wanja schickte sich an, nach Hause zu gehen; der Kater humpelte, von Wanjas Mütze, wo er gelegen hatte, vertrieben, auf seinen verkrüppelten Vorderpfoten weiter.
„Sie sind gewiss ein guter Mensch, Daniil Iwanowitsch, allerhand Krüppel lesen Sie auf.“
„Der Kater gefällt mir und es ist mir angenehm, ihn bei mir zu haben. Wenn das tun, was einem Vergnügen macht, gut sein heisst, dann bin ich gut.“
„Sagen Sie bitte, Smurow,“ sagte Daniil Iwanowitsch, Wanja zum Abschied die Hand drückend, „sind Sie selbst darauf verfallen mit griechischen Unterhaltungen zu mir zu kommen?“
„Ja, das heisst, diesen Gedanken hat mir vielleicht jemand anderes eingegeben.“
„Wer denn, wenn es kein Geheimnis ist?“
„Nein, weshalb wohl? Aber Sie kennen ihn nicht.“
„Vielleicht doch?“
„Ein gewisser Stroop.“
„Larion Dmitrijewitsch?“
„Kennen Sie ihn denn?“
„Sogar sehr nahe,“ antwortete der Grieche, Wanja mit der Lampe die Treppe hinunterleuchtend.
*
Die geschlossene Kajüte des kleinen finnischen Newadampfers war ganz leer, aber Nata, die sich vor Zugwind und Zahngeschwüren fürchtete, führte die ganze Gesellschaft gerade hierher.
„Es gibt ganz und gar keine Landhäuser mehr!“ sagte Anna Nikolajewna, die müde geworden war. „Alle gleich schlecht, mit Ritzen und Zugwind!“
„In einem Sommerhause zieht es immer — was haben Sie denn erwartet? Leben Sie vielleicht das erstemal in der Sommerfrische?“
„Willst du?“ bot Koka sein geöffnetes Zigarettenetui, mit einer nackten Dame auf dem Deckel, Boba an.
„Nicht deshalb ist es in der Sommerfrische so urscheusslich, weil es dort scheusslich ist, sondern weil man sich wie auf Biwak, bloss zu vorübergehendem Aufenthalte dorthin gekommen, fühlt. Und das Leben dort ist auch nicht in feste Rahmen eingeteilt, in der Stadt dagegen weiss man immer, was man zu jeder Zeit des Tages zu tun hat.“
„Wenn du nun aber immer, Sommer und Winter, in einem Villenort leben müsstest?“
„Dann wäre es auch nicht so schlimm: ich würde mir ein Programm machen.“
„Das ist richtig,“ fiel Anna Nikolajewna ein, „für kurze Zeit hat man keine Lust sich einzurichten. Im vorvorigen Sommer zum Beispiel hatten wir frisch tapezieren lassen und mussten die reinen Tapeten dem Hauswirt schenken; man konnte sie doch nicht herunterreissen.“
„Bedauerst du vielleicht, dass wir sie nicht beschmutzt haben!“
Nata blickte mit einer Grimasse zum Ufer hinüber, wo die Fenster der Paläste im Schein der untergehenden Sonne flammten, während die rosig-goldenen Wellen der Newa hinter dem Dampfer breit und glatt auseinanderrauschten.
„Und dann diese Menge Menschen, jeder weiss alles vom anderen, was gekocht wird, wieviel die Dienstboten Lohn bekommen.“
„Überhaupt ein Ekel!“
„Weshalb ziehst du denn hinaus?“
„Was heisst weshalb? Wo soll man denn bleiben? Etwa in der Stadt?“
„Nun, was wäre denn dabei? Man kann wenigstens bei Sonnenglut auf der Schattenseite gehen.“
„Onkel Kostja denkt sich doch immer etwas aus!“
„Mama,“ wandte sich Nata plötzlich um, „reisen wir an die Wolga, Liebe: es gibt dort kleine Städte, Pless, Wassilsursk, wo man sich ganz billig einrichten kann. Warwara Nikolajewna Speier erzählte . . . . Sie lebten in Pless mit einer ganzen Gesellschaft, wisst ihr, dort lebte noch der berühmte Landschaftsmaler Levithan; in Uglitsch haben sie auch gelebt.“
„Nun, in Uglitsch hat man sie, glaub’ ich, herausgeschmissen,“ warf Koka dazwischen.
„Nun, und hat sie herausgeschmissen, und was ist denn dabei? Uns wird man eben nicht herausschmeissen! Die Wirtsleute sagten ihnen: Sie sind da eine ganze Gesellschaft von Damen und Herren, unsere Stadt ist still, niemand reist hierher, nun so haben wir halt Angst: entschuldigen Sie schon, aber räumen Sie die Wohnung.“
Der Dampfer legte beim Alexandergarten an, im unteren Stockwerke der schwimmenden Anlegebrücke sah man die hellerleuchtete Restaurationsküche, einen Küchenjungen, der Fische abschuppte, und im Hintergrunde den glühenden Herd.
„Tante, ich gehe von hier zu Larion Dmitrijewitsch,“ sagte Wanja.
„Nun, meinetwegen geh; hast dir da auch einen Kameraden gefunden!“ knurrte Anna Nikolajewna.
„Ist er denn ein schlechter Mensch?“
„Ich sage nicht, dass er ein schlechter Mensch, sondern dass er kein Kamerad für dich ist.“
„Ich treibe mit ihm Englisch.“
„Alles unnützes Zeug, du solltest lieber deine Aufgaben machen . . .“
„Nein, Tante, wissen Sie, ich gehe doch.“
„So geh doch, wer hält dich denn?“
„Küsse dich nur mit deinem Stroop,“ setzte Nata hinzu.
„Nun, ich werd’ auch, und werd’ auch, und niemand hat sich darum zu kümmern!“
„Nun, es käme darauf an,“ wollte Boba anfangen, aber Wanja unterbrach ihn, über Nata herfallend.
„Du selbst würdest dich mit ihm küssen, aber er will nicht, weil du . . . ein rothaariger Frosch bist, weil du eine Gans bist! Ja!“
„Iwan, hör auf!“ ertönte die Stimme Alexej Wassiljewitschs.
„Was wollen diese Weiber bloss von mir haben? Weshalb lassen sie mich nicht gehen? Bin ich vielleicht ein kleines Kind? Morgen schreibe ich an Onkel Kolja . . .“
„Iwan, hör auf!“ rief Alexej Wassiljewitsch, seine Stimme erhebend.
„So ein Bengel, so ein Ferkel, und hat die Frechheit, sich so zu betragen!“ regte Anna Nikolajewna sich auf.
„Und Stroop wird dich niemals heiraten, wird dich nicht heiraten, wird dich nicht heiraten! . . .“ stiess Wanja, ausser sich, hervor.
Nata wurde sofort still und sagte, fast beruhigt, leise:
„Und Ida Holberg wird er heiraten?“
„Ich weiss nicht,“ antwortete Wanja ebenso leise und einfach, „ich glaube kaum,“ fügte er dann fast freundlich hinzu.
„Was sind das für Gespräche!“ berief sie Anna Nikolajewna. „Du glaubst doch nicht am Ende diesem Bengel?“
„Vielleicht, glaube ich ihm,“ brummte Nata und wandte sich zum Fenster.
„Glaube nur nicht, Iwan, dass sie so naiv sind, wie sie scheinen möchten,“ beruhigte Boba Wanja, „sie sind überglücklich, dass sie durch dich noch zu Stroop in Beziehung stehen und Nachrichten über Ida Holberg erhalten können; aber wenn du wirklich mit Larion Dmitrijewitsch sympathisierst, sei vorsichtig, verrat dich nicht.“
„Womit verrat ich mich denn?“ wunderte sich Wanja.
„Hat mein Rat so bald gefruchtet?“ lachte Boba und trat auf den Anlegeplatz hinaus.
*
Als Wanja die Stroopsche Wohnung betrat, hörte er Gesang mit Klavierbegleitung. Er ging leise in das Arbeitszimmer, links von der Entree, ohne das Empfangszimmer zu betreten, und begann zu lauschen. Eine ihm unbekannte Männerstimme sang:
Am lauen Meer der verdämmernde Abend,
Leuchtturmfeuer am dunkelnden Himmel,
Verbenenduft beim Ausklang des Festes,
Morgenfrische nach schlaflosen Nächten,
Ein Gang durch Alleen des Frühlingsgartens,
Schreie und Lachen badender Weiber,
Am Tempel der Juno die heiligen Pfauen,
Händler mit Veilchen, Granaten, Limonen,
Tauben girren, es leuchtet die Sonne, —
Wann, Heimatstadt, seh’ ich dich wieder!
Und das Klavier hüllte mit tiefen Akkorden die sehnsüchtigen Worte der singenden Stimme in dichte Nebel. Es begann ein Kreuzfeuer von Männerstimmen und Wanja betrat den Saal. Wie liebte er dieses grünliche geräumige Zimmer, in dem die Töne Rameaus und Debussys erklangen, wie liebte er Stroops Freunde, welche den Leuten so unähnlich waren, die er bei Kasanskis traf; diese Diskussionen; diese späten Abendessen der Männer bei Wein und leichtem Geplauder; dieses Arbeitszimmer bis zur Decke voll Bücher, wo Marlowe und Swinburne gelesen wurden, dieses Schlafzimmer mit dem grellgrünen, von einer dunkelroten Girlande tanzender Faune umrandeten Waschbestecke dieses ganz in rotem Kupfer gehaltene Speisezimmer; diese Erzählungen von Italien, Ägypten, Indien; dieses Entzücken, das jede wahre Schönheit aller Länder, aller Zeiten erregte; diese Spaziergänge durch die Parks auf den Newainseln; diese beunruhigenden und doch lockenden Erörterungen; dieses Lächeln im hässlichen Gesichte; dieser moderatmende Duft von Peau d’Espagne; diese mageren, starken, ringgeschmückten Finger, die Schuhe mit den ungewöhnlich dicken Sohlen, — wie er das alles liebte, ohne zu begreifen, aber schon in einem dunkeln Bann befangen.
*
„Wir sind Hellenen: uns ist der unduldsame Monotheismus der Juden fremd, die sich von den darstellenden Künsten abwenden und doch am Fleische, an der Nachkommenschaft, am Samen hängen. In der ganzen Bibel findet sich nicht ein Hinweis auf den Glauben an eine Seligkeit nach dein Tode, und der einzige Lohn, dessen die Gebote Erwähnung tun (nämlich für die Achtung der Erzeuger), ist, ‚auf dass du lange lebest auf Erden‘. Eine fruchtlose Ehe ist ein Schandfleck und ein Fluch, der sogar des Rechtes am Gottesdienste teilzunehmen verlustig macht, als hätte man vergessen, dass nach derselben jüdischen Legende Gebären und Arbeiten eine Strafe für den Sündenfall und nicht der Zweck des Lebens sei. Und je weiter die Menschen sich von der Sünde entfernen werden, um so weiter werden sie auch von Zeugung und körperlicher Arbeit stehen. Die Christen haben das dunkel verstanden, wenn das Weib nach der Geburt und nicht nachdem es die Ehe geschlossen hat, sich durch das Gebet reinigen muss, während vom Manne nichts Ähnliches verlangt wird. Die Liebe hat ausser sich selbst keinen anderen Zweck; ebenso fehlt in der Natur jegliche Idee der Finalität. Die Gesetze der Natur gehören einer ganz anderen Ordnung an, als die sogenannten göttlichen Gesetze und die menschlichen. Das Gesetz der Natur ist nicht das, dass der Baum seine Frucht tragen soll, sondern dass er unter gewissen Bedingungen Frucht tragen, und unter anderen keine Frucht tragen, ja, sogar zugrunde gehen wird, und das ebenso gerecht und einfach, wie er seine Frucht getragen hätte. Dass das Herz aufhören kann zu schlagen, wenn es von einem Messer durchbohrt wird, darin liegt keine Finalität, das ist weder gut noch böse. Und das Gesetz der Natur verletzen kann nur der, der seine Augen küssen kann, ohne sie aus den Höhlen gerissen zu haben, und der ohne Spiegel seinen eigenen Nacken zu sehen vermag. Und wenn man euch sagen wird: ‚naturwidrig‘, so schaut auf den redenden Blinden herab und gehet vorüber an ihm, machet euch nicht den Sperlingen gleich, die vor einer Vogelscheuche auseinanderflattern. Die Menschen gehen, wie Blinde, wie Tote einher, wo sie sich ein flammendes Leben schaffen könnten, in welchem jeder Genuss so verfeinert sein würde, als wäret ihr eben geboren und müsstet gleich wieder sterben. Mit solch einem Heisshunger muss man alles in sich aufnehmen. Wunder gibt es rings um uns auf Schritt und Tritt: es gibt Muskeln und Sehnen am menschlichen Körper, die man nicht ohne Herzklopfen betrachten kann. Und nur gemeine Lüsternheit lässt den Mann den Begriff von Schönheit mit der Schönheit des Weibes verbinden, und das liegt so weit, so weit von der wahren Idee der Schönheit. Wir sind Hellenen, Liebhaber der Schönheit, Bacchanten des nahenden Lebens. Wie die Visionen Tannhäusers in Frau Venus’ Hörselberg, wie Klingers und Thomas’ Blick in weite, helle Fernen gibt es ein Stammland voll Sonne und Freiheit, mit schönen und kühnen Menschen, und dahin, über Meere, durch Nebel und Finsternis führt uns, Argonauten, der Weg! Und in der unerhörtesten Neuerung erkennen wir urälteste Wurzeln, und in niemals geschautem Leuchten spüren wir unsre Heimat!“
*
„Wanja, sehen Sie bitte im Speisezimmer nach, wieviel Uhr es ist,“ sagte Ida Holberg und liess eine farbige Stickerei auf den Schoss fallen.
Das grosse Zimmer im neuerbauten Hause, das einer hellen Schiffskajüte ähnelte, war dürftig mit einfachen Möbeln ausgestattet; ein gelber Vorhang, der die ganze Wand bedeckte, schloss gleichzeitig alle drei Fenster, und auf die ledernen grossen Koffer, die noch nicht gepackten, mit Messingnägeln beschlagenen Handkoffer, den Kasten mit verspäteten Hyazinthen, legte sich gelbes unruhiges Licht. Wanja klappte den Dante zu, aus dem er vorgelesen hatte, und ging ins Nebenzimmer.
„Halb sechs,“ sagte er, als er zurückkam. „Larion Dmitrijewitsch lässt lange auf sich warten,“ murmelte er dann vor sich hin, als beantworte er die Gedanken des jungen Mädchens. „Werden wir nicht weiter lesen?“
„Es lohnt sich nicht einen neuen Gesang anzufangen, Wanja. Also:
„e vidi che con riso
Udito havevan l’ultimo construtto;
Poi a la bella donna tornai il viso“
und er sah, dass sie mit einem Lächeln die letzte Meinung gehört hatten, dann wandte er sich der schönen Dame zu.“
„Die schöne Dame, das ist die Betrachtung des aktiven Lebens?“
„Man kann den Kommentatoren nicht unbedingt Glauben schenken, Wanja, wenn es sich nicht bloss um historische Auskünfte handelt; verstehen Sie ihn einfach und schön, — das ist die Hauptsache, sonst kommt wahrhaftig statt des Dante so was wie Mathematik heraus.“
Sie hatte ihre Arbeit endgültig zusammengelegt und sass, mit dem Papiermesser auf die helle Stuhllehne klopfend, wie in Erwartung da.
„Larion Dmitrijewitsch wird wohl bald kommen,“ meinte Wanja, wieder die Gedanken des Mädchens erratend, fast mit dem Ton des Beschützers.
„Haben Sie ihn gestern gesehen?“
„Weder gestern, noch vorgestern. Gestern fuhr er am Tage nach Zarskoje Selo, am Abend war er im Klub und vorgestern fuhr er auf die Wiborger Seite, ich weiss nicht wozu,“ berichtete Wanja ehrerbietig und stolz.
„Zu wem er wohl gefahren sein mag?“
„Ich weiss nicht, in Geschäften.“
„Sie wissen nicht?“
„Nein.“
„Hören Sie Wanja,“ begann das Mädchen, das Papiermesser betrachtend. „Ich bitte Sie, — nicht meinethalben allein, auch Ihretwegen, Larion Dmitrijewitschs wegen, im Interesse von uns allen drei, erfahren Sie, was dies für eine Adresse ist. Es ist sehr wichtig, sehr wichtig für alle drei,“ und sie reichte Wanja einen Zettel, auf den Stroop mit seiner grosszügigen weiten Handschrift geschrieben hatte: ‚Wiborger Seite. Simbirskaja Str. Nr. 36, Wohnung 103. Fjodor Wassiljewitsch Solowjew.‘
*
Niemand war sonderlich erstaunt darüber, dass Stroop unter anderen Interessen sich mit dem russischen Altertum zu beschäftigen begann, und dass sich bei ihm teils redselige europäisch gekleidete, teils alte ‚gottesfürchtige‘ in langen russischen Röcken steckende, aber ebenso gaunerische Händler mit Manuskripten, Heiligenbildern, alten Stoffen, imitierten Bronzen einzufinden begannen: dass er sich für alten Kirchengesang zu interessieren anfing, die Smolenski, Rasumowski und Metallow las, auf die Nikolajewskaja Strasse ging, um Kirchengesang zu hören und schliesslich unter Anleitung eines pockennarbigen Kirchenchorsängers begann altrussische Noten zu studieren. „Mir war diese Sackgasse des Weltgeistes ganz unbekannt,“ wiederholte Stroop, bemüht Wanja für seine neue Liebhaberei zu interessieren, der sich jedoch, zu seiner Verwunderung, gerade in dieser Richtung nicht so leicht begeistern liess.
Eines Tags erklärte Stroop beim Tee:
„Das müssen Sie aber unbedingt sehen, Wanja, ein authentischer Raskolnik alter Richtung. Stellen Sie sich vor: er ist 18 Jahre alt, trägt die Podjowka, trinkt keinen Tee; seine Schwestern leben in einem altgläubigen Kloster; er hat ein Haus an der Wolga mit hohem Palisadenzaun und Kettenhunden, wo man sich um neun Uhr abends schlafen legt, so etwas wie Petscherski es beschreibt, nur weniger süsslich. Das müssen Sie unbedingt sehen. Gehen wir morgen zu Sassadin, er besitzt eine interessante ‚Himmelfahrt‘; dorthin kommt auch unser Typ, und ich mache Sie mit ihm bekannt. Notieren Sie sich auf alle Fälle die Adresse; ich fahre vielleicht direkt von der Ausstellung hin und Sie werden ihn selbst aufsuchen müssen.“ Und Stroop diktierte, wie etwas Wohlbekanntes, ohne in sein Notizbuch zu blicken: „Simbirskaja Strasse Nr. 36, Wohnung 103, Möblierte Zimmer. — Sie werden sich dort schon zurechtfragen.“
*
Hinter der Wand hörte man das dumpfe Gespräch zweier Stimmen; die Uhr mit den Gewichten tickte leise; auf Stühlen und Fensterbrettern waren verräucherte Heiligenbilder und in lederbezogene Bretter gebundene Bücher aufgestapelt; es war staubig und roch muffelig und aus dem Korridor drang durch das Fenster über der Tür der faulige Geruch von Sauerkohlsuppe. Sassadin, der vor Wanja stehend, sich seinen russischen langen Rock anzog, sagte:
„Larion Dmitrijewitsch wird erst nach vierzig Minuten, vielleicht sogar nach einer Stunde kommen; ich muss hier in der Nähe ein Heiligenbild holen gehen und weiss nun nicht, wie wir das jetzt machen. Warten Sie vielleicht hier oder gehen Sie unterdessen irgendwohin?“
„Ich bleibe hier.“
„Nun gut, und ich komme gleich wieder. Sehen Sie sich nicht, bis ich komme, die Bücher an?“ und Sassadin, der Wanja ein verstaubtes Exemplar des Limonarj hingelegt hatte, verschwand eilig durch die Tür, durch die jetzt stärker der faulige Geruch von Sauerkohlsuppe hereindrang. Wanja trat ans Fenster und schlug die Legende auf, die berichtet, wie ein frommer Greis nach dem zufälligen Besuche eines Weibes, das einsam, in derselben Wüste wie er, lebte, immer wieder mit sündigen Gedanken zu jenem Weibe zurückkehrte und es schliesslich nicht mehr ertragen konnte, in sengender Glut seinen Stab ergriff und, wie ein Blinder vor sündiger Begier taumelnd, sich zu der Stelle aufmachte, wo er das Weib zu finden hoffte; und in der Verzückung sah er die Erde sich auftun und in ihr lagen drei Leichen: ein Weib, ein Mann und ein Kind. Und er hörte eine Stimme: ‚Das ist ein Weib, das ist ein Mann und das ist ein Kind, wer vermag sie jetzt zu unterscheiden? Gehe hin und stille deine Begierde.‘ Alle sind gleich, alle sind gleich vor dem Tode, vor der Liebe und vor der Schönheit, alle schönen Leiber sind gleich, und nur die sündige Begier lässt den Mann dem Weibe nachstellen und das Weib dürsten nach dem Manne.
Hinter der Wand fuhr die junge, etwas heisere Stimme fort:
„Na, Onkel Jermolai, wenn du immer schimpfst, geh’ ich fort.“
„Ja, wie soll man dich faulen Schlingel nicht schelten? Hat der Kerl angefangen Dummheiten zu treiben!“
„Wassjka hat dir wohl alles vorgelogen; was hörst du auf ihn?“
„Was hat Wassjka für einen Grund zu lügen? Nu, sag doch selbst, leugne es doch ab, dass du Dummheiten treibst?“
„Nun, und was ist dabei? Nu ja, ich tu’s! Und Wassjka, macht er’s vielleicht nicht? Bei uns tun’s alle, vielleicht ist nur Dmitri Pawlowitsch eine Ausnahme, der . . . .“ und man hörte den Sprecher auflachen. Nach einigem Schweigen begann er wieder intim und halblaut: „Wassjka hat mir’s angezeigt; kam da ’nmal ’n junger Herr und sagt zu Dmitri Pawlowitsch: ‚Ich will, dass mich der wäscht, der mir die Tür geöffnet hat,‘ die Tür nun hatte ich ihm aufgemacht und früher hatte ihn Wassjka immer gebadet, der sagte ihm denn auch: ‚Das geht nicht an, Euer Gnaden, dass der allein geht, er ist nicht an der Reihe und versteht nichts von so was.‘ — ‚Na, hol’ euch der Teufel, so kommt alle beide!‘ Als Wassjka in die Badekabine trat, sagt’ er: ‚Was werden Sie uns denn geben?‘ — ‚Bier und zehn Rubel.‘ Bei uns aber ist’s ausgemacht, wenn jemand den Vorhang am Türfenster herunterlässt, so heisst das, dass man Dummheiten treiben wird, und dann darf man dem Oberbader nicht weniger als fünf Rubel abgeben. So sagt ihm Wassjka denn auch: ‚Nein, Hochgeboren, dafür können wir’s nicht machen.‘ Er versprach noch fünf Rubel. Wassjka ging das Wasser im Baderaum vorzubereiten und ich fing an mich auszukleiden, da sagt der Herr: ‚Was hast du da auf deiner Wange, Fjodor? Ist das ein Muttermal oder Schmutz?‘ und lacht dabei und streckt seine Hand nach mir aus. Und ich steh’ da, wie ein Narr, und weiss selbst nicht, hab’ ich ein Muttermal auf der Wange oder nicht. Aber da kam Wassjka wütend zurück und sagte zu dem Herrn: ‚Bitte, das Bad ist fertig,“ so gingen wir denn alle zusammen.‘
„Ist Matwej noch bei euch?“
„Nein, er hat eine Dienerstelle angenommen.“
„Bei wem denn? Beim Oberst?“
„Ja, bei ihm. Dreissig Rubel gibt er ihm und alles frei.“
„Hat Matwej nicht geheiratet?“
„Ja, und der Oberst hat ihm das Geld zur Hochzeit gegeben und ihm einen Paletot für achtzig Rubel machen lassen. Na, und seine Frau, die lebt eben im Dorf. Auf so einer Stelle erlaubt man doch natürlich nicht mit einem Weibe zu leben. Ich will auch eine Stelle annehmen,“ setzte der Erzähler nach einer Pause hinzu.
„Wie Matwej?“
„Ja. Es ist ein guter Herr, er lebt allein. Dreissig Rubel, wie Matwej.“
„Du verkommst, Fedja, sieh zu!“
„Vielleicht verkomm’ ich auch nicht.“
„Was ist denn das für ein Herr, ein Bekannter von dir?“
„Auf der Furstadtskaja Strasse wohnt er, wo Dmitri früher als Laufbursche diente, im zweiten Stock. Er kommt auch hierher, zu Stepan Stepanowitsch.“
„Doch nicht ein Altgläubiger?“
„I wo denn! Er ist gar kein Busse, ein Engländer, glaub’ ich.“
„Lobt man ihn?“
„Ja, man sagt ein guter, lieber Herr.“
„Na, mit Gott!“
„Adieu, Onkel Jermolai, dank’ auch für die Bewirtung.“
„Na, komm doch wieder mal ran, Fedja.“
„Ich komm schon,“ und leichten Schrittes ging Fjodor, mit den Stiefelabsätzen klopfend, durch den Korridor und warf die Tür hinter sich zu. Wanja trat schnell hinaus, ohne sich ganz bewusst zu werden, weshalb er das tat. Er erblickte einen Burschen in einer Jacke über dem russischen Hemde, dessen Gürtelschnüre heraushingen. Er trug niedrige Lackstiefel und hatte sich die Mütze aufs Ohr gestülpt. Wanja rief ihm nach:
„Hören Sie, wissen Sie nicht, wird Stepan Stepanowitsch Sassadin bald zurück sein?“
Der Bursche kehrte sich um und im Lichte, das durch die offene Zimmertür drang, sah Wanja in ein Paar unstete, diebische graue Augen und ein bleiches Gesicht, wie Leute es haben, die immer im Zimmer oder in ewigem Dampfe leben. Das Haar war nach russischer Volkssitte in der Mitte gescheitelt und rundherum glatt beschoren. Sein Mund war schön geschnitten. Ungeachtet einer gewissen Grobheit der Züge, lag in diesem Gesichte etwas Verweichlichtes, und obgleich Wanja voller Vorurteil in diese diebischen freundlichen Augen blickte und das freche Lächeln des Mundes sah, fand er doch in diesem Gesicht und in der ganzen hohen Gestalt, deren Ebenmass selbst unter dem Anzug in die Augen fiel, etwas Bestrickendes, Beunruhigendes.
„Belieben Sie ihn zu erwarten?“
„Ja, es ist schon bald sieben Uhr.“
„Halb sieben,“ verbesserte Fjodor, der seine Uhr herausgezogen hatte, „und wir glaubten, dass niemand bei Stepan Stepanowitsch im Zimmer sei. Er wird gewiss bald zurück sein,“ fügte er hinzu, um etwas zu sagen.
„Ja. Danke Ihnen, pardon, dass ich Sie aufgehalten habe,“ sagte Wanja, ohne sich von der Stelle zu rühren.
„Aber, bitte,“ sagte jener mit einer verbindlichen Geste.
Es wurde laut geklingelt, und Stroop, Sassadin und ein junger hochgewachsener Mann traten ein. Stroop warf einen schnellen Blick auf Fjodor und Wanja, die noch immer einander gegenüberstanden.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen,“ wandte er sich an Wanja, während Fjodor auf ihn zustürzte, um ihm den Mantel abzunehmen.
Wanja sah dies alles wie im Traume und er fühlte, dass er in einen Abgrund hinuntersinke, dass alles sich in Nebel hülle.
*
Als Wanja das Speisezimmer betrat, schloss Anna Nikolajewna gerade ihren Satz: „und es tut einem leid, dass ein solcher Mensch sich so kompromittiert.“ Konstantin Wassiljewitsch wies stumm mit den Augen auf Wanja, der ein Buch genommen und sich ans Fenster gesetzt hatte und meinte dann:
„So sagt man da ‚gekünstelt, unnatürlich, überflüssig‘, aber wenn man bei dem Gebrauche unseres Körpers bleiben sollte, der als natürlich gilt, so müsste man mit den Händen rohes Fleisch zerreissen, um es zu verschlingen und Feinde bekämpfen; mit den Beinen Hasen verfolgen oder vor Wölfen flüchten usw. Das erinnert an ein Märchen aus ‚Tausendundeiner Nacht‘, wo ein von der Finalität gequältes Mädchen immerfort fragt, wozu dieses und wozu jenes geschaffen sei. Und als das Mädchen nach einem bekannten Körperteile fragt, da verabfolgt die Mutter ihm eine Tracht Prügel und wiederholt dabei: ‚Jetzt siehst du, wozu dies geschaffen ist.‘ Diese Mama hat zwar die Richtigkeit ihrer Behauptung anschaulich bewiesen, aber damit dürfte die Handlungsfähigkeit besagter Körperstelle schwerlich erschöpft sein. Und sämtliche moralische Erklärungen der Natürlichkeit von Handlungen bestehen darin, dass die Nase geschaffen ist, um grün angestrichen zu werden. Der Mensch muss alle Fähigkeiten des Geistes und Körpers bis zur letzten Möglichkeit entwickeln und nach Verwendung dieser seiner Möglichkeiten forschen, wenn er nicht Caliban bleiben will.“
„Nun, die Gymnastiker können ja schon auf den Köpfen gehen …“
„Das bedeutet in jedem Falle ein Plus und vielleicht ist das sehr angenehm, würde Larion Dmitrijewitsch sagen,“ und Onkel Kostja blickte herausfordernd zu Wanja hinüber, der fortfuhr zu lesen.
„Was hat Larion Dmitrijewitsch damit zu tun?“ bemerkte sogar Anna Nikolajewna.
„Du denkst doch wohl nicht, dass ich meine eigenen Anschauungen entwickele?“
„Ich gehe zu Nata,“ erklärte Anna Nikolajewna und erhob sich.
„Sie ist doch gesund? Ich sehe sie gar nicht mehr,“ erinnerte sich Wanja.
„Das ist ganz natürlich. Du verschwindest ja tagelang.“
„Wohin verschwinde ich denn?“
„Das muss man schon dich fragen,“ sagte die Tante, das Zimmer verlassend.
Onkel Kostja trank seinen kalten Kaffee aus, und im Zimmer roch es stark nach Naphthalin.
„Sprachen Sie über Stroop, Onkel Kostja, als ich kam?“ entschloss sich Wanja zu fragen.
„Über Stroop? Wirklich, ich entsinne mich nicht. Annette erzählte mir etwas.“
„Ich dachte, es sei von ihm die Rede gewesen.“
„Nein, was sollte ich mit ihr über Stroop zu reden haben?“
„Glauben Sie wirklich, dass Stroop die Überzeugung hat, die Sie eben aussprachen?“
„So spricht er jedenfalls; seine Handlungen kenne ich nicht und die Überzeugungen mancher Menschen sind ein dunkles und heikles Gebiet.“
„Glauben Sie denn, dass seine Handlungen sich nicht mit seinen Worten decken?“
„Ich weiss nicht; ich kenne seine Handlungen nicht, und dann kann man nicht immer seinen Wünschen entsprechend handeln. Wir wollten zum Beispiel schon längst aufs Land ziehen und doch . . .“
„Wissen Sie, Onkel, dieser Altgläubige, Sorokin, ladet mich zu sich an die Wolga ein: ‚Kommen Sie,‘ sagt er, ‚Väterchen wird nichts dagegen haben; sehen Sie sich einmal an, wie man bei uns zu Lande lebt, wenn Sie das interessiert.‘ Er hat plötzlich Zuneigung zu mir gefasst, ich weiss gar nicht warum.“
„Tante wird kein Geld geben und überhaupt lohnt es sich nicht.“
„Weshalb lohnt es sich nicht?“
„Ach es ist alles ekelhaft, so ekelhaft!“
„Weshalb ist denn alles plötzlich so ekelhaft geworden?“
„Ich weiss wirklich nicht“, sagte Wanja und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Konstantin Wassiljewitsch blickte auf Wanjas herabgesunkenen Kopf und ging leise aus dem Zimmer.
*
Der Portier war nicht auf seinem Platze, die Treppentür stand offen und hinter der Tür zum Arbeitszimmer konnte man eine zornige Stimme hören. Wenn sie schwieg kam eine andere leise, eine weibliche Stimme, wie es schien, in die Entree herüber. Wanja blieb im Vorzimmer stehen, ohne Mantel und Mütze abzunehmen; der Griff der Tür des Arbeitszimmers wurde hinuntergedrückt und im Türspalt erschien eine Hand, die den Türgriff gefasst hielt und der zu ihr gehörende, im roten Ärmel eines russischen Hemdes steckende Arm. Man vernahm deutlich Stroops Worte: „Ich erlaube nicht, dass jemand sich dahineinmischt! Am allerwenigsten eine Frau. Ich verbiete Ihnen, hören Sie? ich verbiete Ihnen darüber zu sprechen!“ Die Tür wurde wieder geschlossen und die Stimme wieder undeutlicher. Wanja sah sich traurig im so gut bekannten Vorzimmer um; die elektrischen Lampen vor dem Spiegel und über dem Tische, die Kleider an den Ständern; auf dem Tische lagen zwei Damenhandschuhe, aber es war kein Hut und kein Mantel zu sehen. Die Tür wurde wieder krachend geöffnet und Stroop ging mit wütendem, erblasstem Gesicht, ohne Wanja zu bemerken, in den Korridor; einen Augenblick später folgte ihm, fast laufend, Fjodor in einem roten Seidenhemde ohne Gürtel, eine Karaffe in der Hand. „Was wünschen Sie?“ wandte er sich an Wanja, augenscheinlich ohne ihn zu erkennen. Fjodors Gesicht war erregt und gerötet, als hätte er getrunken oder sich geschminkt, das Hemd war nicht gegürtet, die sorgfältig auseinandergekämmten Haare schienen etwas gekräuselt zu sein, er roch stark nach Stroops Parfüm.
„Was wünschen Sie?“ wiederholte er Wanja, der ihn anstarrte.
„Larion Dmitrijewitsch.“
„Ist nicht zu Hause.“
„Wieso? ich habe ihn doch eben gesehen.“
„Entschuldigen Sie, aber er ist sehr beschäftigt, er kann Sie unmöglich empfangen.“
„Gehen Sie nur und melden Sie mich.“
„Nein wirklich, kommen Sie schon lieber ein anderes Mal: eben kann er Sie unmöglich empfangen. Er ist nicht allein,“ fügte Fjodor, seine Stimme dämpfend, hinzu.
„Fjodor!“ rief Stroop aus dem Hintergrunde des Korridors, und Fjodor stürzte geräuschlos fort.
Wanja wartete ein paar Minuten und ging dann auf die Treppe hinaus, die Tür zuziehend, hinter der wieder gedämpfte, aber laute und zornige Stimmen hörbar wurden. Unten, im Vestibül stand eine kleine Dame in graugrünem Kleide und schwarzer Jacke vor dem Spiegel und nestelte an ihrem Schleier. Hinter ihrem Rücken vorbeigehend, erkannte Wanja sie, ohne dass sie ihn bemerkte, es war Nata. Nachdem sie ihren Schleier in Ordnung gebracht hatte, stieg sie langsam die Treppe hinauf und drückte den Knopf der Klingel an Stroops Wohnung, während der zurückgekommene Portier Wanja auf die Strasse hinausliess.
*
„Was ist das?“ unterbrach sich Alexej Wassiljewitsch bei der Lektüre des Morgenblattes: „Rätselhafter Selbstmord. Gestern, den 21. Mai, machte auf der Furstadtskaja Strasse in der Wohnung des englischen Untertans L. D. Stroop, das junge, hoffnungsvolle Fräulein Ida Holberg die Abrechnung mit dem Leben. Die jugendliche Selbstmörderin bittet in einem hinterlassenen Schreiben, ihren Tod niemand zur Last zu legen, allein die Umgebung, in der der traurige Vorfall sich abgespielt hat, ruft die Annahme hervor, dass er einen romantischen Hintergrund habe. Nach Angaben des Wohnungsinhabers, hat die Verschiedene, während einer heftigen Auseinandersetzung, nachdem sie etwas auf ein Stück Papier geschrieben, plötzlich seinen, Stroops, für eine Reise vorbereiteten Revolver ergriffen und, bevor die Anwesenden noch etwas zu tun vermochten, sich eine Kugel in die rechte Schläfe geschossen. Die Lösung des Rätsels wird dadurch erschwert, dass der Diener des Herrn Stroop, Fjodor Wassiljew Solowjew, Bauer aus dem Gouvernement Orel, am selben Tage spurlos verschwunden ist, und dass die Personalien der Dame, die eine halbe Stunde vor dem fatalen Ereignis die Stroopsche Wohnung betreten hat, wie der Grad ihres Einflusses auf die tragische Lösung bisher nicht festgestellt werden konnten. Die Untersuchung ist eingeleitet.“
Am Frühstückstische schwiegen alle und im Zimmer, das von Naphthalingeruch erfüllt war, hörte man nur das Ticken der Uhr.
„Nata, was war denn da? Nata? Du weisst es doch?!“ schrie Wanja ausser sich, aber Nata fuhr fort mit der Gabel auf dem leeren Teller zu zeichnen und sagte kein Wort.
„Denk nur, Wanja, wie sonderbar das ist: ein fremder Mensch, ein ganz fremder Mensch, andere Beine hat er und andere Haut und andere Augen, und doch ist er ganz dein Eigen, ganz, ganz. Überall kannst du ihn betrachten, küssen, berühren; und jedes Fleckchen auf seinem Körper, wo es auch sein möge, und die goldenen Härchen, die auf den Armen wachsen, und jede Furche, jede Vertiefung der Haut, die über alles Mass geliebt hat, es ist alles dein. Und du kennst alles: wie er geht, wie er isst, wie er schläft, wie sich die Fältchen in seinem Gesicht verziehen, wenn er lächelt, wie er denkt, weisst du und wie sein Körper riecht. Und dann kommt es über dich, dass du glaubst, du bist nicht mehr du selbst, sondern es ist, als wärest du und er ein und dasselbe: mit deinem Fleische, mit deiner Haut pressest du dich an ihn, und wenn dann die Liebe in dir ist, Wanja, dann gibt es kein grösseres Glück auf Erden; aber ohne Liebe ist es unerträglich, unerträglich. Und ich sage dir, Wanja, es ist leichter, liebend nicht zu besitzen, als besitzen ohne Liebe! Die Ehe, die Ehe: nicht das ist ein Sakrament, was der Priester einsegnet, und wenn dann Kinder kommen: die Katze da, die wirft viermal im Jahre; aber wenn die Seele in Verlangen entbrennt sich einem andern hinzugeben und ihn ganz zu nehmen, und sei es nur für eine Woche, nur für einen Tag, und wenn bei beiden die Seele in Flammen loht, dann ist’s ein Zeichen, dass Gott sie vereint hat. Sünde ist es mit kaltem Herzen oder aus Berechnung nehmen oder sich hingeben, wen aber der feurige Finger berührt hat, der bleibt rein vor dem Herrn, was er auch tun möge. Was er auch getan haben möge, wen der Geist feuriger Liebe berührt hat, alles wird ihm vergeben werden, denn er ist dann schon nicht mehr Herr seiner selbst, der Geist erfüllt ihn, er handelt in Verzückung . . .“
Und Marja Dmitrijewna war erregt aufgestanden, ging bis zum nächsten Apfelbaum, und kam zurück und liess sich wieder auf der Bank neben Wanja nieder, von wo aus man einen Teil der Wolga, unendliche Wälder auf dem anderen Ufer und weit nach rechts eine weisse Dorfkirche jenseits des Flusses sehen konnte.
„Es ist schrecklich, Wanja, wenn die Liebe uns berührt; freudig und doch schrecklich; als flöge man, ist es, und fiele immer tiefer, oder als stürbe man, wie man das zu träumen pflegt; und dann sieht man immer nur eins, das, was im Gesicht des Geliebten uns traf: ob’s nun die Augen sind oder die Haare oder sein Gang. Und es ist doch sonderbar: man sieht das Gesicht — was ist denn Besonderes darin? Eine Nase in der Mitte, ein Mund, zwei Augen. Was erregt uns denn so, was fesselt uns in diesem Gesicht? Und man sieht doch viele Gesichter, und hübsche darunter, man hat seine Freude daran, wie an einer Blume oder an einem Stück Brokatstoff, und ein anderes Gesicht ist gar nicht hübsch und doch dreht’s uns die Seele im Leibe um, und nicht allen, nein, nur dir allein und nur dieses Gesicht: woher kommt das? Und noch eins,“ setzte die Sprecherin zögernd hinzu, „Männer lieben Weiber und Weiber lieben Männer, man sagt es kommt vor, dass auch Weiber Weiber lieben und Männer Männer, man sagt es soll vorkommen, ich habe selbst in den Legenden der Heiligen davon gelesen: von der heiligen Jewgenia, von den heiligen Nifont, Pawnutj Borowski; dann auch vom Zaren Iwan Wassiljewitsch, dem Grausen. Ja, und es ist auch nicht schwer daran zu glauben, kann denn nicht Gott auch diesen Stachel in das Menschenherz drücken? Und es ist schwer, Wanja, gegen das zu kämpfen, was in uns gelegt ist, und es ist vielleicht auch Sünde.“
Die Sonne war fast schon hinter dem fernen zackigen Forst verschwunden und der an drei Windungen sichtbare Spiegel der Wolga leuchtete in Gelb und rosigem Golde auf. Marja Dmitrijewna blickte stumm zu den dunklen Wäldern am anderen Ufer und zum verblassenden Abendrot am Himmel hinüber; auch Wanja schwieg, den Mund halb geschlossen, als fahre er fort, Marja Dmitrijewna mit seinem ganzen Wesen zu lauschen, dann sagte er plötzlich halb traurig und halb verurteilend:
„Aber es kommt doch vor, dass die Menschen auch so sündigen: aus Neugier oder aus Stolz, aus Eigennutz.“
„Ja, es kommt vor, was kommt nicht alles vor! Das ist dann ihre Sünde,“ gestand Marja Dmitrijewna gedrückt, ohne ihre Stellung zu ändern, und ohne sich Wanja zuzuwenden, „aber die, denen es eingegeben ist, die haben es schwer, ach Wanja, so schwer! Ich murre nicht; anderen mag ja das Leben leichter werden, aber es ist ohne Zweck, wie Suppe ohne Salz: sättigend, aber nicht schmackhaft.“
*
Nachdem man zuerst in den Wohnzimmern, auf der Veranda, im Flur, auf dem Hofe unter den Apfelbäumen das Mittagessen hatte decken lassen, setzte man sich jetzt im Keller zu Tische. Im Keller war es dunkel, es roch nach Malz, Kohl und ein wenig auch nach Mäusen, aber es hiess, dass es hier nicht so heiss sei, und dass es keine Fliegen gäbe; der Tisch wurde gerade vor die Tür gestellt, um mehr Licht zu haben, und wenn Malanja, die fast im Laufschritt mit den Speisen über den Hof daherkam, vor der Kellertür stehenblieb, um im Dunkeln die Stufen hinunterzusteigen, wurde es noch finsterer und die Köchin unterliess es niemals zu knurren: „Das ist aber eine Finsternis, Gott verzeih’s! Sag nun ein Mensch, was sie sich ausdenken, wohin sie sich verkrochen haben!“ Mitunter, wenn es zu lange dauerte, lief der kraushaarige Sergej, der Gehilfe aus dem Laden, welcher zusammen mit Iwan Ossipowitsch zu Hause ass, das Essen holen; und wenn er dann die Speisen über den Hof trug und die Schüssel mit beiden Händen hoch emporhob, trottete auch die Köchin, einen Löffel oder eine Gabel in der Hand, hinter ihm her und schrie: „Ja, was soll denn das, als ob ich das Essen nicht selbst bringen könnte?! Wozu war es nötig, Sergej zu jagen? Ich hätte es ja bald gebracht . . .“
„Sie hätten es bald gebracht und ich bringe es gleich,“ parierte Sergej, der selbstzufrieden mit dem Geschirr klappernd, die Schüssel vor Arina Dmitrijewna hinstellte und sich auf seinen Platz zwischen Iwan Ossipowitsch und Sascha setzte.
„Und wozu hat nur Gott eine solche Hitze erdacht?“ forschte Sergej. „Niemand braucht sie: das Wasser trocknet aus, die Bäume verdorren, — alle haben es schwer . . .“
„Die Felder brauchen die Hitze.“
„Und auch den Feldern bringt Hitze zu unrechter Zeit und ohne Mass keinen rechten Nutzen. Aber ob nun zu rechter Zeit oder nicht, alles ist von Gott gesandt.“
„Wenn’s nicht zur rechten Zeit ist, dann ist es eben eine Prüfung für Sünden.“
„Da aber wurde bei uns“, mischte sich Iwan Ossipowitsch in die Unterhaltung, „ein Greis vom Hitzschlage getroffen, der niemand gekränkt hatte und gerade auf der Pilgerfahrt war, und doch hat ihn der Hitzschlag getötet. Wie soll man denn das deuten?“
Sergej triumphierte schweigend.
„So hat er eben für andre, nicht für seine eigenen Sünden gebüsst,“ entschied Prochor Nikititsch mit nicht ganz überzeugtem Ton.
„Wie ist denn das? Andre werden saufen und sich herumtreiben und der Herr wird, statt ihrer, schuldlose Greise totschlagen?“
„Oder — entschuldigen Sie den Vergleich — Sie zahlten Ihre Schulden nicht und mich würde man ins Loch stecken an Ihrer Statt; wäre das denn gut?“ bemerkte Sergej.
„Iss lieber deine Suppe, statt dummes Zeug zu schwatzen, warum und wozu! Selbst lebst du wozu? Du denkst von der Hitze, dass sie zu nichts da sei, und sie denkt vielleicht von dir, dass du, Sergej, zu nichts da bist.“
Nachdem man sich gesättigt hatte, trank man lange und schwerfällig Tee mit Äpfeln oder Eingemachtem. Sergej fing wieder an zu räsonieren.
„Oft ist es sehr beschwerlich, zu begreifen, wie was verstanden werden muss; nehmen wir ein Beispiel: ein Soldat tötet einen Menschen und ich töte einen Menschen; er bekommt das Georgskreuz dafür und mich schickt man nach Sibirien, — weshalb ist das so?“
„Wo sollst du das verstehen? Ich frage aber: es lebt ein Mann mit seiner Frau und ein Junggeselle hat ein Verhältnis mit einem Weibsbilde; mancher wird sagen, das ist ganz dasselbe, und ist doch ein grosser Unterschied. Worin besteht aber dieser Unterschied?“
„Das weiss ich nicht,“ meinte Sergej aufhorchend.
„Stellen wir uns vor: der erste Fall,“ sagte Prochor Nikititsch, als suche er nicht nur nach Worten, sondern auch nach Gedanken, „— der erste Fall: der Verheiratete hat nur mit seinem Weibe zu schaffen, das ist eins; das andere ist, dass sie still, friedlich miteinander leben, sich aneinander gewöhnt haben, und der Mann liebt seine Frau genau so, wie er seine Grütze isst und seine Leute schilt, jene aber haben nur Dummheiten im Kopfe, nur hi-hi und ha-ha, weder Beständigkeit noch Anstand; deshalb ist das eine Gesetz und das andere Sünde. Nicht in der Handlung liegt die Sünde, sondern in der Anwendung, das heisst, welche Verwendung eine Handlung findet.“
„Erlauben Sie, aber es kommt doch vor, dass auch ein Ehemann seine Gattin mit Beben des Herzens anbetet, und ein anderer hat sich an seine Geliebte so gewöhnt, dass es ihm einerlei ist, ob er sie küsst oder eine Mücke zerdrückt: wo soll man denn da unterscheiden, was Gesetz ist und was Sünde?“
„So etwas ohne Liebe zu tun ist nichts anderes, als unrein,“ warf Marja Dmitrijewna plötzlich dazwischen.
„Du sagst da ‚unrein‘, aber es genügt nicht, ein Wort zu wissen, man muss auch seine Kraft kennen. Es steht geschrieben: ‚unrein‘ ist ein Götzenopfer; Hasen essen zum Beispiel ist ‚unrein‘; jenes aber ist Sünde!“
„Nun hört ihr bald auf mit euren Gesprächen! Das gehört nicht vor Knabenohren,“ rief Arina Dmitrijewna.
„Nun, was ist denn dabei, sie können das schon selbst verstehen. Nicht wahr, Iwan Petrowitsch?“ wandte sich der alte Sorokin an Wanja.
„Was das?“ fuhr der auf.
„Wie denken Sie über das alles?“
„Wissen Sie, es ist sehr schwer, über fremde Angelegenheiten zu urteilen.“
„Da haben Sie die Wahrheit gesagt, lieber Wanja,“ freute sich Arina Dmitrijewna, „und urteilen Sie auch niemals darüber: es steht auch geschrieben: ‚Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet‘.“
„Nun, es gibt Leute, die richten nicht und werden doch gerichtet,“ warf Sorokin hin und erhob sich vom Tische.
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Auf der Anlegestelle und auf dem Dampferstege waren nur die Hökerinnen zurückgeblieben, die Semmeln, Fische, Himbeeren und saure Gurken feil hatten; die Lastträger in bunten Hemden standen ans Geländer gelehnt und spien ins Wasser, und Arina Dmitrijewna, die den alten Sorokin auf den Dampfer begleitet hatte, setzte sich neben Marja Dmitrijewna in der breiten Jagddroschke zurecht.
„Wie haben wir nur die Kuchen vergessen können, Marja? Prochor Nikititsch liebt sie so zum Tee.“
„Ich habe sie ja an die sichtbarste Stelle gelegt und hernach ist’s doch zu nichts nütze gewesen.“
„Du hättest doch daran erinnern können, Parfjon!“
„Wie sollte ich denn? Wenn Sie sie irgendwo draussen vergessen hätten, würde ich schon gerufen haben, aber in die Zimmer bin ich doch nicht hineingegangen,“ rechtfertigte sich der alte Arbeiter.
„Iwan Petrowitsch, Sascha! Wohin geht ihr denn?“ rief Arina Dmitrijewna den jungen Leuten zu, die schon die Höhe hinaufzusteigen begannen.
„Wir gehen zu Fuss, Mamachen, auf dem Fusswege kommen wir noch früher an als ihr.“
„Nun, geht, geht, habt ja junge Füsse. Aber fahren Sie nicht lieber, Iwan Petrowitsch?“ wollte sie Wanja überreden.
„Nein, es macht nichts, wir gehen zu Fuss, danke schön,“ rief der von oben herüber.
„Da ist der Ljubimowsche Dampfer angekommen,“ bemerkte Sascha, seine Mütze abnehmend, und wandte sein etwas beschwitztes, gerötetes Gesicht dem Winde zu.
„Ist Prochor Nikititsch für lange fortgefahren?“
„Nein, er bleibt nicht länger, als bis zum Peterstage an der Unsha, da gibt’s nicht viel zu tun, man muss bloss nach dem Stande der Arbeit sehen.“
„Fahren Sie denn niemals mit Ihrem Vater mit, Sascha?“
„Ich fahre fast jedesmal mit ihm, nur weil Sie bei uns zu Gaste sind, bin ich dieses Mal nicht mitgefahren.“
„Weshalb sind Sie denn nicht gefahren? Weshalb lassen Sie sich durch mich stören?“
Sascha stülpte wieder die Mütze auf sein nach allen Seiten auseinandergewehtes, schwarzes Haar und meinte lächelnd:
„Das ist ja gar keine Störung, lieber Wanja, ich bin sehr froh, mit Ihnen sein zu können. Natürlich, wenn ich nur mit Mama und Tante allein zu Hause geblieben wäre, würde ich mich gelangweilt haben, so aber bin ich sehr froh“; nach einigem Schweigen fuhr er, wie im Nachdenken fort: „ich bin doch häufig an der Unsha, Wetluga, Moskwa und seh’ doch nichts, ausser meinem Geschäft, wie ein Blinder! Überall nur Wald, und von Holz und über Holz: wieviel es kostet und was die Abfuhr zu stehen kommen wird, und wieviel Bretter sich herausschneiden lassen und wieviel Balken — das ist alles! Papachen ist nun einmal schon so veranlagt und erzieht mich ebenso. Und wohin wir auch kommen, gleich geht’s zu den Waldhändlern, in die Teehäuser und überall ein und dasselbe Gespräch. Das ist langweilig, wissen Sie! In der Art, wie zum Beispiel ein Baumeister, der immerfort nur Kirchen baute, und nicht einmal ganze Kirchen, sondern nur die Gesimse an den Kirchen; und er würde die ganze Welt durchwandern und sähe nur Kirchengesimse, ohne die verschiedenartigen Menschen zu bemerken, ohne die Bäume und die Blumen dieser Gegenden zu gewahren — nichts würde er gesehen haben, nur seine Gesimse. Der Mensch muss wie ein Fluss sein, oder wie ein Spiegel — was sich in ihm spiegelt, das muss er auch aufnehmen; dann werden in ihm auch, wie in der Wolga, Sonne und Wolken sein, Wälder und hohe Berge, und Städte mit Kirchen, — für alles muss man das gleiche Interesse haben, dann vereinigt man auch alles in sich. Wenn aber den Menschen nur eins erfasst, den verschlingt es auch, am meisten der Eigennutz oder auch noch das Göttliche.“
„Das heisst, was meinen Sie mit dem Göttlichen?“
„Nun, sagen wir, die kirchlichen Fragen. Wer immer nur an sie denkt und über sie liest, der kann kaum etwas anderes verstehen.“
„Wieso denn? Es gibt doch sogar Bischöfe, die Weltliches nicht scheuen, selbst unter Ihren Glaubensgenossen, zum Beispiel Erzbischof Inokentij.“
„Natürlich gibt es solche, und wissen Sie, meiner Meinung nach, tun sie nicht recht daran: man kann nicht guter Offizier und Kaufmann sein, nicht alles gleich gut verstehen. Deshalb beneide ich Sie auch von ganzer Seele, Wanja, weil niemand aus Ihnen nur eins machen will, sondern, dass Sie alles wissen und alles verstehen, nicht, wie zum Beispiel ich, und doch sind Sie nicht älter, als ich.“
„Nun, wo weiss ich denn alles, im Gymnasium lernen wir ja nichts!“
„Immerhin ist es besser, nichts zu wissen, als nur das eine zu wissen, dass man alles begreifen kann.“
Unten wurde das dumpfe Rollen von Wagenrädern vernehmlich und weit in der Ferne hörte man über dem Wasser laut schimpfen und das Plätschern von Rudern.
„Die Unsrigen kommen lange nicht.“
„Sie sind wohl zu Loginow angefahren,“ bemerkte Sascha und setzte sich neben Smurow ins Gras.
„Sind wir denn im gleichen Alter?“ fragte der, zur Wolga hinüberblickend, wo Wolkenschatten über die Wiesen glitten.
„Gewiss, wir sind fast im selben Monat geboren, ich habe Larion Dmitrijewitsch gefragt.“
„Kennen Sie eigentlich Larion Dmitrijewitsch gut, Sascha?“
„Nicht allzu gut; wir haben uns ja erst vor kurzer Zeit kennen gelernt; und er ist auch nicht ein Mensch, den man auf den ersten Blick kennen lernt.“
„Haben Sie gehört, was für eine Geschichte ihm passiert ist.“
„Ich habe davon gehört, ich war damals noch in Petersburg; aber ich glaube nur, dass das alles nicht wahr ist.“
„Was ist nicht wahr?“
„Dass dieses Fräulein sich nicht selbst das Leben genommen hat. Ich habe das Fräulein einmal gesehen. Larion Dmitrijewitsch zeigte sie mir einmal im Garten: so eine Sonderbare. Ich sagte Larion Dmitrijewitsch schon damals: ‚denken Sie an mein Wort, dieses Fräulein nimmt kein gutes Ende.‘ Sie war, als sei sie nicht von dieser Welt.“
„Larion Dmitrijewitsch braucht sie ja gar nicht erschossen zu haben, kann aber doch der Urheber ihres Selbstmordes sein.“
„Nein, lieber Wanja, wenn sich jemand um etwas kränkt, was ihn nicht angeht und er legt Hand an sich, daran trägt niemand die Schuld daran.“
„Aber legen Sie Stroop das zur Last, weswegen sich Ida Holberg erschossen hat?“
„Weswegen hat sie sich denn erschossen?“
„Ich glaube, Sie wissen das selbst?“
„Wegen Fjodor?“
„Mir scheint es so,“ antwortete Wanja verlegen.
Sorokin schwieg lange, und als Wanja die Augen aufschlug, sah er, dass jener ganz gleichgültig, ja, ärgerlich auf die Strasse hinunterblickte, wo jetzt der Wagen mit Parfjon sichtbar wurde.
„Weshalb antworten Sie nicht, Sascha?“
Der warf einen flüchtigen Blick auf Wanja und sagte geärgert und einfach:
„Fjodor ist ein simpler Bursche, ein Bauernjunge, hat es einen Sinn, sich seinetwegen zu erschiessen? In solchem Falle dürfte Larion Dmitrijewitsch weder einen Kutscher für seine Pferde, noch einen Portier für seine Tür halten und nicht zum Arzte gehen, wenn er Zahnschmerzen hat. Damit es keinen Fjodor gäbe, müsste . . . . .“
„Wartet ihr uns schon?“ rief Arina Dmitrijewna, aus der Droschke steigend, während Parfjon und Marja Dmitrijewna die Säcke und Beutel aus dem Wagen herausholten und der schwarze Hofhund sie bellend umsprang.
*
Am Peterstage wollte man in ein altgläubiges Kloster fahren, das etwa vierzig Werst jenseits der Wolga lag, um an einem so hohen Feiertage den Gottesdienst mit einem Priester zu hören und Anna Nikanorowna, eine entfernte Verwandte von Sorokins, besuchen, die in der Klosterzeidlerei lebte; nach Tscheremschany zu fahren, wo die Töchter Prochor Nikititschs lebten, verschob man auf den Eliastag, um dort bis zum Schlusse der Messe in Nishni zu bleiben, die auch Wanja besuchen wollte. Im September sollten die Frauen aus Tscheremschany, die Männer aus Nishni zurückkehren, und Wanja sollte schon Ende August geraden Wegs, ohne hierher zurückzukommen, nach Petersburg reisen. Ein paar Tage vor dem Aufbruch, als alles schon gepackt war, und alle beim Abendtee sassen und sich zum zehntenmal darüber unterhielten, wohin und für wie lange jeder fahren werde, bekam Wanja, der seit seiner Ankunft noch keinen erhalten hatte, mit der Abendpost gleich zwei Briefe. Einer kam von Anna Nikolajewna, sie bat ihn, sich in Wassilsursk nach einem kleinen Landhause, nicht teurer als sechzig Rubel, umzusehen, weil Nata schliesslich so nervös geworden, dass sie unmöglich in der Nähe von Petersburg auf dem Lande leben könne; Koka sei, um seinen Kummer zu zerstreuen, nach Nodendal bei Hangö gereist, und Alexej Wassiljewitsch, Onkel Kostja und Boba würden ganz einfach in der Stadt bleiben. Der zweite Brief war von Koka, wo er unter Phrasen seines Schmerzes über ‚den Tod dieses idealen Mädchens, das dieser Taugenichts ins Verderben gestürzt‘, berichtete, dass das Kurhaus sich in nächster Nähe befinde und es eine Menge Damen gäbe, dass er den ganzen Tag Veloziped fahre usw. usw.
„Weshalb schreibt er mir das alles?“ dachte Wanja, nachdem er den Brief durchgelesen hatte; „hat er niemand ausser mir, mit dem er davon sprechen kann?“
„Meine Tante und Cousine bitten mich, ein Landhaus für sie zu suchen, sie wollen hierher kommen.“
„Das trifft sich gut, die Hermannsche hat, glaub’ ich, gerade eins leer stehen, es wollten Leute aus Astrachanj kommen, aber bis jetzt sind sie noch nicht da; da hätten auch Sie es nicht weit.“
„Fragen Sie sie doch, Arina Dmitrijewna, ob sie es nicht für sechzig Rubel abgeben will und überhaupt, wie es damit bestellt ist.“
„Sie gibt es auch für fünfzig, seien Sie nur ruhig, ich besorge schon alles.“
Wanja war in sein Zimmer gegangen und sass noch lange, ohne Licht zu machen, am Fenster und dachte an Petersburg, die Kasanskis, Stroop und seine Wohnung, und ohne zu wissen weshalb, besonders an Fjodor, wie er ihn zum letzten Male gesehen hatte, im rotseidenen Hemde ohne Gürtel, mit dem Lächeln im geröteten, aber der Röte ungewohnten Gesicht, in der Hand die Karaffe; er zündete ein Licht an, holte den Band Shakespeare mit ‚Romeo und Julia‘ hervor und versuchte zu lesen; er hatte kein Wörterbuch und verstand ohne Stroop nur den geringsten Teil, aber ein Strom von Schönheit und Leben ergriff ihn, wie nie vorher, als wäre etwas Verwandtes, schon längst nicht Gesehenes, Halbvergessenes wieder lebendig geworden und hielte ihn mit heissen Armen umfasst. Es klopfte leise an die Tür.
„Wer ist da?“
„Ich, kann ich hineinkommen?“
„Bitte.“
„Entschuldigen Sie, ich habe Sie gestört,“ sagte Marja Dmitrijewna eintretend, „ich habe Ihnen einen ledernen Rosenkranz gebracht, wie wir Altgläubigen sie gebrauchen, packen Sie ihn in Ihren Koffer.“
„Ah, schön.“
„Was lasen Sie da?“ fragte Marja Dmitrijewna, die zögerte, hinauszugehen. „Ich dachte mir, ob es nicht das Andachtsbuch ist, aus dem Sie lesen.“
„Nein, es ist ein Stück, ein englisches Stück.“
„So? und ich dachte es sei das Andachtsbuch. Die Worte konnte man nicht verstehen, aber man hörte, dass Sie etwas mit Ausdruck lasen.“
„Habe ich denn laut gelesen?“ wunderte sich Wanja.
„Wie denn sonst? . . . Ich lege den Rosenkranz auf das Regal . . . Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Und Marja Dmitrijewna entfernte sich lautlos, nachdem sie die Lämpchen vor den Heiligenbildern in Ordnung gebracht hatte, und schloss leise, aber fest, die Tür hinter sich. Wanja sah erstaunt, als sei er eben erwacht, auf den Schrank mit den Heiligenbildern, auf das Lämpchen davor, die mit Eisen beschlagene Truhe in der Ecke, das aufgemachte Bett, den festen Tisch am Fenster mit den weissen Gardinen, hinter denen man den Garten und den gestirnten Himmel sehen konnte. Dann klappte er das Buch zu und verlöschte das Licht.
*
„Was für eine Menge Vergissmeinnicht auf dem Sumpfe blühen!“ rief Marja Dmitrijewna ein Mal über das andere, als sie die sumpfige Wiese entlang fuhren, die ganz mit hohem Sumpfgrase und den blauen Blumen bedeckt war, auf denen mit den glänzenden Flügeln und grünlichen Körpern leise zitternde Libellen sassen. Sie war mit Wanja hinter dem ersten Wagen zurückgeblieben, in dem Arina Dmitrijewna mit Sascha fuhr. Bald stieg Marja Dmitrijewna aus dem Wagen und ging den Fussweg dem Sumpf und Wald entlang, bald stieg sie wieder ein, dann wieder ordnete sie die gepflückten Blumen, sang etwas vor sich hin, und unterhielt sich die ganze Zeit mit Wanja, als spräche sie mit sich selbst; sie schien trunken von der Sonne, dem blauen Himmel und den blauen Blumen. Und Wanja blickte mit fast herablassender Teilnahme in das strahlende und wie das eines Backfisches jung gewordene Gesicht dieser dreissigjährigen Frau.
„In Moskau hatten wir einen wunderschönen Garten, wir wohnten in der Samoskworetschje: Apfelbäume, Flieder blühten, in einer Ecke war ein Quell und ein Strauch schwarzer Johannisbeeren; im Sommer fuhren wir nirgendwohin, so sass ich denn den ganzen Tag im Garten; dort kochte ich auch den Beerensaft für den Winter ein . . . . Ich liebe so barfuss über die heisse Erde zu gehen, Wanja, oder im Flusse zu baden, man sieht durch das Wasser seinen Körper, sieht wie die vom Wasser zurückgeworfenen Sonnenflecken über ihn hingleiten und wenn man untertaucht und die Augen öffnet, dann ist alles so grün, und man kann die Fischchen vorbeihuschen sehen, und hernach legt man sich in den heissen Sand zum Trocknen, ein Windhauch weht vorüber. Wunderbar! Und am besten ist es, wenn man allein liegt, keine Freundin dabei ist. Und es ist nicht wahr, was die alten Weiber sagen, dass der Körper Sünde ist, die Blumen, die Schönheit — Sünde, sich baden — Sünde. Hat nicht Gott dies alles geschaffen: das Wasser und die Bäume und den Körper? Sünde ist es, sich dem Willen des Herrn zu widersetzen: wenn jemand für etwas eine Bestimmung hat, zum Beispiel, wenn er nach etwas strebt, ihm dieses verbieten, das ist Sünde! Und wie muss man sich beeilen, Wanja, es lässt sich gar nicht sagen wie! Wie eine gute Hausfrau sich rechtzeitig mit Kohl und Gurken versorgt, weil sie weiss, dass sie später sie nicht bekommen wird, so müssen auch wir uns zu rechter Zeit sattsehen und sattlieben und sattatmen, Wanja! Wie lange währt unser Leben? Und die Jugendzeit ist noch kürzer, und der Augenblick, der vorübergeht, kehrt nie mehr wieder; und daran müsste man sich immer erinnern, dann wäre alles doppelt so süss, wie einem neugebornen Kinde, das eben erst die Augen aufgetan, oder wie einem Sterbenden.“
In der Ferne hörte man die Stimmen Arina Dmitrijewnas und Saschas; hinten holperte Parfjons Wagen über den Faschinenweg, die Fliegen summten, es roch nach Gras, Sumpf und Blumen; es war heiss und Marja Dmitrijewna sass in schwarzem Kleide, das weisse Kopftuch aufgeknüpft, von Müdigkeit und Hitze blass geworden, mit strahlenden dunklen Augen, etwas gebeugt neben Wanja im Wagen und ordnete die gepflückten Blumen.
„Es ist mir ganz dasselbe, ob ich für mich denke oder mit Ihnen denke, lieber Wanja, oder mit Ihnen spreche, weil Sie eine kindliche Seele haben.“
Bei einer Wendung des Weges öffnete sich ein Blick auf eine grosse Lichtung und auf ihr stand ein Haufen Häuser mit den Türen nach innen; viele dieser Häuser hatten überhaupt keine Fenster oder bloss Fenster im oberen Geschoss, das machte sie Scheunen ähnlich, sie standen, von der Zeit grau geworden, in einen Haufen zusammengedrängt da, ohne dass man eine Strasse gewahrte oder Leute sah, nur das Hundegebell im Kloster begrüsste den bestaubten Wagen, in dem Arina Dmitrijewna und Sascha sassen.
*
Nach der Messe machten sich Sorokins und Wanja zum Einsiedler Leontij auf, der eine halbe Werst vom Kloster in der Zeidlerei lebte. Als sie durch den schattigen Waldstreifen auf die Lichtung hinaustraten, wo man unter dem hohen Grase und den Blumen einen unsichtbaren Bach in seiner Holzrinne rauschen hören konnte, berichtete Arina Dmitrijewna Wanja über den Einsiedler Leontij:
„Aus der grossrussischen Kirche ist er zur wahren Kirche übergetreten, schon lange, es ist an die dreissig Jahre her und schon damals war er nicht mehr jung. Ein starker Greis, ein Eiferer ist er, vier Jahre stand er vor Gericht, zwei Jahre hat er in Susdalj verbüsst; er ist gross im Fasten und betet mit einem Eifer, wie ein aufgezogenes Uhrwerk! Und alles sieht er voraus . . . Wanja, sagen Sie ihm lieber nicht, dass Sie zur griechisch-orthodoxen Konfession gehören, vielleicht nimmt er Anstoss daran.“
„Aber vielleicht unterweist er mich dann noch besser?“
„Nein, sagen Sie es ihm schon lieber nicht.“
„Gut, gut,“ sagte Wanja zerstreut und blickte interessiert zur niederen Hütte hinüber, die von rosenroten Malven umgeben war, und vor der ein grauhaariger Greis mit langem schmalem Barte und lebhaften, fröhlich dreinblickenden Augen sass, der ein weisses Gewand trug und ein Käppchen auf dem Kopfe hatte.
„Wie also der Pope zu mir nach oben kommt, geht er gleich an den Tisch und fängt an, im Evangelium herumzublättern: ‚Dein Glück, dass es eine erlaubte Ausgabe ist, sonst würde ich sie konfisziert haben, deine Porträts aber und die Handschriften, die nehme ich dir unbedingt weg.‘ Bei mir hingen nämlich die Bildnisse Semjon Denissows, Peter Filippows und noch einiger anderer an der Wand. Ich war noch nicht alt und stark und sagte: ‚Das sollte mir grad noch fehlen, dass ich dir erlaubte, die Bilder anzurühren.‘ Der Diakon war ganz betrunken und meinte bloss stöhnend: ‚Vater, haltet ein!‘ Da warf der Pope mich aufs Bett und wollte mich aus einer Unterschale mit Tee begiessen, das sollte dann meine Taufe sein; aber ich wehrte mich und er musste mich loslassen. ‚Auf Wiedersehen,‘ sagte er, ‚wir sprechen uns noch.‘ Und wie ich hinausging, Sie zu begleiten, da packte er mich am Arm und stiess mich den Abhang hinunter.“
Und der Alte fuhr fort, als sage er eine Lektion auf, zu erzählen, wie er bei den Nekrassowzy in der Türkei gewesen, wie man ihn hatte ermorden wollen, wie über ihn gerichtet wurde, wie er im Klostergefängnis in Susdalj eingesperrt gewesen und wie ihn überall das Kreuz mit den Reliquien gerettet hatte, und er brachte tief gebeugt ein hohles Kreuz aus der Hütte heraus, auf dessen kupferner Fassung eingegraben stand: „Reliquien des heiligen Wundertäters Peter, des Metropoliten von Moskau, der heiligen rechtgläubigen Fürstin Fewronija von Murom, des heiligen Propheten Jonas, des heiligen rechtgläubigen Zarewitsch Dmitrij, unserer heiligen Mutter Maria von Ägypten.“
In der Hütte sah man Heiligenbilder auf den Wandbrettern stehen, das Licht der Lämpchen und der Kerzen schimmerte rötlich, auf dem Fensterbrett und auf dem Tische lagen Bücher, an einer Wand stand eine kahle Holzbank mit einem Scheit am Kopfende. Und der Einsiedler Leontij sprach mit singender Stimme und sah dabei Wanja mit lustigen Augen an, die nicht mit seinen Worten im Einklang standen:
„Sei standhaft im rechten Glauben, mein Sohn, denn was steht höher, denn der rechte Glaube? Er sühnt alle Sünden und führet in die Hallen des ewigen Lichtes. Das ewige Licht aber unseres Herrn Jesus Christus müssen wir lieben über alles in der Welt. Was ist ewig, was ist unvergänglich, wenn es nicht das lichte Paradies, der Seelen Rettung, ist? Lockt dich ein Blümlein — morgen wird es welken, liebst du einen Menschen — morgen wird er sterben: die hellen Äuglein verlöschen und fallen ein, die roten Wangen werden gelb, Haare und Zähne wirst du verlieren und du bist ganz der Würmer Beute. Wandelnde Leichen, das sind wir Menschen in dieser Welt.“
„Jetzt wird es ja leichter werden, man wird erlauben, altgläubige Kirchen zu bauen, öffentlichen Gottesdienst zu halten,“ versuchte Wanja den Alten abzulenken.
„Jage nicht dem nach, was leicht ist, sondern strebe nach dem, was schwer ist! An dem, was leicht ist, an Freiheit und Reichtum, gehen die Völker zugrunde, aber in schweren Leiden bewahren sie ihren Glauben. Hinterlistig ist des Menschen Feind, geheim sind seine Ränke, und jede Gnade muss man darauf prüfen, woher sie kommen möge.“
„Woher rührt seine Verbitterung?“ fragte Wanja, als sie die Zeidlerei verliessen.
„Und sind denn die Menschen schuld daran, dass sie sterben müssen?“ stimmte Marja Dmitrijewna ihm bei. „Ich würde das nur noch mehr lieben, was bestimmt wäre, morgen unterzugehen.“
„Lieben kann man alles, man muss nur nicht sein Herz an eins allein hängen, damit es uns nicht verschlinge,“ bemerkte Sascha, der die ganze Zeit geschwiegen hatte.
„So ein Philosoph hat uns gerade noch gefehlt,“ sagte geringschätzend die Tante.
„Hab ich vielleicht keinen Kopf?“
„Und wie er bloss nicht erkannt hat, dass Sie nicht rechtgläubig sind? Aber vielleicht hat er vorausgesehen, dass Sie noch zum rechten Glauben kommen werden!“ sagte Arina Dmitrijewna, Wanja zärtlich ansehend.
Im Zimmer, das nur von einem Lämpchen vor dem Heiligenbilde beleuchtet wurde, war es fast ganz dunkel geworden; durchs Fenster konnte man den sattroten, nach oben zu gelblich abgetönten Abendhimmel sehen, von dem sich der schwarze Forst hinter der Lichtung abhob, und Sascha Sorokin, dessen schwarze Silhouette sich vom Fenster abzeichnete, das im Abendrot leuchtete, fuhr fort:
„Das ist schwer zu vereinigen! Wie einer von den Unsrigen einmal sagte: ‚Wie soll man nach dem Theater zu Jesus beten? Es ist leichter, jemand totzuschlagen.‘ Und tatsächlich, morden, stehlen, ehebrechen, das kann man unabhängig vom Glauben, den man hat, aber den ‚Faust‘ verstehen und dann mit Überzeugung den Rosenkranz herunterbeten, das ist undenkbar, das hiesse wahrhaftig den Teufel herausfordern. Und wenn der Mensch nicht sündigt und die Gebote hält, aber von ihrer Notwendigkeit und Heilsamkeit nicht überzeugt ist, so ist das schlimmer, als wenn er sie nicht hielte, aber glaubte. Und wie soll man glauben, wenn man keinen Glauben hat? Wie soll man nicht wissen, was man weiss, vergessen, woran man sich erinnert? Und da darf man nicht urteilen: dies ist weise und ich werde es erfüllen, und jenes sind Nichtigkeiten: wer heisst uns so zu urteilen? Solange die Kirche sie nicht aufgehoben hat, müssen wir alle ihre Vorschriften befolgen, und müssen die weltlichen Künste meiden, dürfen uns nicht von Ärzten behandeln lassen, die einen anderen Glauben haben, müssen alle Fasten halten. Den alten orthodoxen Glauben können nur die Einsiedler im Walde halten; weshalb aber soll ich mich als das bezeichnen, was ich nicht bin, und was zu sein ich nicht für nötig halte? Und wie kann ich glauben, dass nur unser Häuflein gerettet werden wird, und dass die ganze Welt in Sünden versunken ist? Und wenn ich das nicht glaube, wie kann man mich dann einen Altgläubigen nennen? So ist es auch hart, einen Glauben, eine Lebensauffassung, die keine anderen dulden, anzunehmen, und wenn man sie alle zugleich begreift, kann man in keinem rechtgläubig sein.“
Saschas Stimme verstummte, wurde aber wieder laut, als Wanja, der auf dem Bette lag, aus der Dunkelheit keine Antwort gab.
„Ihnen, dem Abseitsstehenden, wird unser Leben, unser Glaube, unser Ritus verständlicher, deutlicher sichtbar sein, als uns selbst, und auch unsere Leute werden Sie verstehen können, aber Sie werden von ihnen nicht verstanden werden, oder Papa und unsere Ältesten werden bloss einen Teil und zwar nicht den wichtigsten begreifen und Sie würden ihnen immer ein Fremder, ein Aussenstehender bleiben. Dabei lässt sich nichts machen! Wie ich selbst Sie auch lieben und achten möge, lieber Wanja, ich fühle dennoch, dass etwas in Ihnen ist, was mich bedrückt, mich befangen macht. Und unsere Väter haben, wie unsere Grossväter auch, ein anderes Leben geführt, anders gedacht und anderes gewusst, und wir selbst können noch nicht einmal ihnen gleich werden, — in irgendeinem Punkte macht sich doch schliesslich der Unterschied bemerkbar, und der Wunsch allein ändert nichts an der Sache.“
Saschas Stimme war wieder verstummt und lange Zeit hörte man nur den Gesang, der weit, weit her durch die offenstehenden Türen des Bethauses herüberdrang.
„Wie macht es denn Marja Dmitrijewna?“
„Wie denkt denn sie darüber, wie wird sie damit fertig?“
„Wer weiss, wie sie’s macht; sie betet viel und grämt sich um ihren Mann.“
„Ist ihr Mann schon lange tot?“
„Schon lange, an die acht Jahre, ich war noch ein ganz kleiner Junge.“
„Sie ist eine prächtige Frau.“
„Na ja, aber allzu viel begreift auch sie nicht,“ meinte Sascha, das Fenster schliessend.
*
Vor der Pforte machte noch ein Wagen mit Gästen halt; Arina Dmitrijewna, die sich fast gar nicht an den Tisch gesetzt hatte, lief hinaus, sie zu empfangen und man hörte im Stiegenhause Rufe und das Geräusch von Küssen. Im Saal, in dem zehn Männer beim Mittag sassen, war es heiss und geräuschvoll; die barfüssige Frosja, die Malanja zur Aushilfe genommen war, lief immer wieder mit einem grossen Glaskrug in den Keller und brachte ihn mit schäumendem Kwass gefüllt zurück. Im Zimmer, wo die Frauen Mittag assen, sass Marja Dmitrijewna auf dem Platze der Hausfrau, die von Tische zu Tische ging, um die Gäste zum Essen zu nötigen, in die Küche lief und die immer wieder vorfahrenden Gäste empfing, neben ihr sassen Anna Nikolajewna und Nata, weiter die fünf anderen Frauen, die sich mit bereits feuchten Taschentüchern den Schweiss vom Gesichte wischten, während immer noch eine Schüssel nach der anderen aufgetragen wurde, man trank Madeira und Naliwka, den zu Hause bereiteten Beerenlikör. Die Fliegen krochen in die geleerten Gläser, sassen in ganzen Haufen an den weissgetünchten Wänden und auf dem mit Brotkrumen besäten Tischtuche. Die Männer hatten die Röcke ausgezogen und sassen stumpf und laut lachend, plaudernd und rülpsend mit unter der Weste hervorgezogenen bunten Hemden um den Tisch.
Die brennenden Lämpchen vor den Heiligenbildern glänzten in der Sonne, die zur offenen Tür durch den gläsernen Prunkschrank in den Saal hineinschien und auch die gestrichenen Käfige im Nebenzimmer beleuchtete, in denen die Kanarienvögel, durch den allgemeinen Lärm erregt, schmetternd sangen. Immerfort mussten die Hunde hinausgetrieben werden, die sich vom Hofe hereinstahlen und die von Frosjas nacktem Fuss für einen Augenblick aufgesperrte, mit Gegengewichten versehene Tür schlug kreischend zu; es roch nach Himbeeren, Pirogen, Wein und Schweiss.
„Nun, sagen Sie selbst, ich schreibe ihm vor, mir telegraphisch nach Samara zu antworten und er lässt keine Silbe von sich hören.“
„Zuerst muss man es mit Spiritus übergossen in den Keller stellen, dann am folgenden Tage mit Eichenrinde abkochen — es ist dann äusserst schmackhaft.“
„Am Himmelfahrtstage hielt der Priester Wassilij in Gromowo eine famose Predigt: ‚Selig sind die Friedfertigen, deshalb lasst euch das Armenhaus in Tschubykino gefallen, erlasst dem Kurator seine Schulden und verlangt keinen Rechenschaftsbericht!‘ einfach zum Lachen . . .!“
„Ich sage 35 Rubel und er bietet mir 15 . . .“
„Himmelblau, ganz himmelblau und rosa gemustert,“ klang es aus dem Zimmer, wo die Frauen sassen, herüber.
„Auf Ihr Wohl! Arina Dmitrijewna, auf Ihr Wohl!“ riefen die Männer der Hausfrau zu, die in die Küche eilte.
Mit einemmal wurden die Stühle gerückt und alle begannen sich schweigend in der Richtung des Heiligenbildes zu bekreuzigen, das in einer Ecke des Zimmers hing; Frosja schleppte schon den Samowar heran, und Arina Dmitrijewna schärfte den Gästen ein, vor dem Tee nicht zu weit in den Garten hinauszugehen.
„Gefällt dir denn dieses Leben wirklich?“ fragte Nata Wanja, der gekommen war, sie über den Hof zu begleiten, wo die Sorokinschen Kettenhunde frei umherliefen.
„Nein, aber es könnte noch schlimmer sein.“
„Selten,“ bemerkte Anna Nikolajewna, die das Gartenpförtchen wieder öffnete, um den eingeklemmten Saum ihres grauseidenen Kleides freizumachen.
*
„Setzen wir uns hierher, Nata, ich möchte mit dir sprechen.“
„Setzen wir uns. Wovon willst du denn sprechen?“ sagte das Mädchen und liess sich neben Wanja auf die Bank im Schatten der hohen Birke nieder. Die etwas abseits stehende Kirche wurde renoviert und durch die offenen Türen schallte der Kirchengesang der Maler herüber, denen der Priester bei der Arbeit im Innern der Kirche verboten hatte weltliche Lieder zu singen. Man konnte die Kirchenpforte hinter den Spiräagebüschen nicht sehen, hörte aber in der Abendluft deutlich jedes Wort: in weiter Ferne brüllte eine Herde auf dem Heimwege.
„Worüber wolltest du denn mit mir sprechen?“
„Ich weiss nicht; vielleicht wird es dir schwer fallen oder unangenehm sein, dich daran zu erinnern.“
„Du willst wohl von dieser unglücklichen Geschichte sprechen?“ fragte Nata nach einer Pause.
„Ja, wenn du sie mir auch nur ein wenig erklären kannst, dann tu es bitte.“
„Du täuschest dich, wenn du glaubst, dass ich mehr weiss, als alle anderen; ich weiss nur, dass Ida Holberg sich selbst erschossen hat, aber nicht einmal die Beweggründe zu ihrer Tat sind mir bekannt.“
„Du warst doch zu jener Zeit dort?“
„Ich war dort, obgleich es nicht eine halbe Stunde vorher war, sondern vielleicht zehn Minuten, von denen ich sieben im leeren Vorzimmer wartete.“
„Hat sie sich in deiner Gegenwart erschossen?“
„Nein, der Schuss war es ja gerade, der mich veranlasste das Arbeitszimmer zu betreten . . .“
„Und sie war schon tot?“
Nata nickte stumm mit dem Kopfe die Bestätigung.
Die Maler in der Kirche stimmten den Gesang: ‚Herr Gott, erhör mein Rufen‘ an.
„Lass mich los, Teufel! Was machst du? Lass mich!“
„Ah!“ schrie eine Entrüstung heuchelnde Weiberstimme in der Kirchenvorhalle, während ihr unsichtbarer Partner es vorzog sein Werk schweigend fortzusetzen.
„Ah!“ kreischte die Stimme noch lauter, wie die eines Ertrinkenden und die Spiräagebüsche begannen an einer Stelle heftig zu schwanken, obgleich es windstill war.
„. . . das Abendopfer!“ schlossen versöhnlich die Sänger in der Kirche.
„Auf dem Tische stand eine Karaffe oder ein Siphon, etwas aus Glas, eine Flasche Kognak, ein Mensch in rotem Hemde sass auf dem Lederdiwan und machte sich am selben Tisch zu schaffen, Stroop selbst stand rechts, Ida sass am Schreibtische, den Kopf auf die Stuhllehne zurückgeworfen . . .“
„Sie lebte schon nicht mehr?“
„Ja, ich glaube, sie war tot. Als ich eintrat, sagte Stroop zu mir: ‚Weshalb sind Sie hier? Um Ihres Glückes, um Ihrer Ruhe willen, gehen Sie fort! Gehen Sie, bitte, augenblicklich fort!‘ Der Mensch auf dem Diwan erhob sich und ich sah, dass er ohne Gürtel und sehr hübsch war; sein Gesicht war rot und glühte und das Haar kräuselte sich; er schien mir betrunken zu sein. Und Stroop sagte zu ihm: ‚Fjodor, lassen Sie die Dame hinaus‘.“
„Dein Wille geschehe,“ sangen die Maler in der Kirche; die Stimmen im Spiräagebüsch klangen, jetzt schon versöhnt, leise murmelnd herüber; die Frau schien zu weinen.
„Dennoch ist es schrecklich!“ sagte Wanja.
„Schrecklich!“ wiederholte Nata, wie ein Echo: „Und für mich um so mehr: ich habe diesen Menschen so geliebt!“ und sie brach in Tränen aus.
Wanja blickte feindselig auf dieses plötzlich gealterte, aufgedunsene Mädchen mit dem gedrungenen Munde, den Sommersprossen, die sich jetzt zu grossen braunen Flecken verschmolzen hatten, und mit den zerzausten roten Haaren, und sagte:
„Hast du denn Larion Dmitrijewitsch geliebt?“
Sie nickte stumm mit dem Kopfe und begann nach einigem Schweigen ungewöhnlich freundlich:
„Du korrespondierst jetzt nicht mit ihm, Wanja?“
„Nein, ich kenne nicht einmal seine Adresse, er hat doch seine Petersburger Wohnung aufgegeben.“
„Seine Adresse kann man doch finden.“
„Und was wäre, wenn ich mit ihm korrespondierte?“
„Nein, nichts, ich fragte nur so.“
Aus den Gebüschen kam ein junger Mann in einer Jacke, die Mütze auf dem Kopfe, hervor, und als er, an Wanja vorübergehend, diesen grüsste, erkannte er, dass es Sergej war.
„Wer ist das?“ fragte Nata.
„Der Kommis von Sorokins.“
„Das ist wohl der Held des Romans, der sich eben abspielte,“ setzte Nata mit frechem Lächeln hinzu.
„Welches Romans?“
„Vor der Kirche, hast du denn nichts gehört?“
„Ich habe Weiber kreischen gehört, aber was geht das mich an?“
*
Wanja wäre fast auf einen Menschen draufgerannt, der am schattigen Flussufer mit den Armen unter dem Kopfe schlafend lag. Er trug einen weissen Anzug und die Sommeruniformsmütze, die er sich aufs Gesicht gelegt hatte, war heruntergerutscht. Wanja war nicht wenig erstaunt, an der Glatze, der aufgestülpten Nase, dem schütteren roten Bärtchen und der ganz kleinen Gestalt seinen griechischen Lehrer zu erkennen.
„Sind Sie denn hier, Daniil Iwanowitsch?“ fragte Wanja, der vor Staunen vergass, ihn zu begrüssen.
„Wie Sie sehen! Aber was wundert Sie denn dabei so, wo Sie doch selbst aus Petersburg hierher gekommen sind?“
„Wie bin ich Ihnen denn nicht früher begegnet?“
„Das ist ganz erklärlich, wo ich doch erst gestern angekommen bin. Leben Sie mit Ihrer Familie hier?“ fragte der Grieche, der sich endgültig aufgerichtet hatte und seine Glatze mit einem rotgeränderten Taschentuche abtrocknete: „Setzen Sie sich her, es ist hier schattig und der Wind weht kühl.“
„Ja, meine Tante und meine Cousine sind auch hier, aber ich lebe nicht bei ihnen, sondern bei Sorokins, Sie haben vielleicht von ihnen gehört?“
„Ich habe einstweilen noch nicht das Glück gehabt. Aber hier ist es nicht übel, durchaus nicht übel: die Wolga, die Gärten und alles Weitere.“
„Und wo ist denn Ihr Katerchen und die Drossel, haben Sie die auch mitgenommen?“
„Nein, ich werde eine weitere Reise machen.“
Und er begann mit Begeisterung zu erzählen, wie er ganz unerwartet eine kleine Erbschaft gemacht und Urlaub genommen habe, um seinen langgehegten Traum zu verwirklichen: nach Athen, Alexandria, Rom zu reisen. In Erwartung des Herbstes, wenn es weniger heiss für eine Reise im Süden sein werde, sei er mit einem kleinen Handkoffer und drei, vier Lieblingsbüchern an die Wolga gegangen, um haltzumachen, wo es ihm gerade gefalle.
„Jetzt werden in Rom, Pompeji, in Asien interessante Ausgrabungen gemacht und man hat dort neue literarische Erzeugnisse der Alten gefunden.“ Und der Grieche sprach lange mit glänzenden Augen, die Mütze wieder ins Gras werfend, von seinen Träumen, Plänen, Genüssen, und Wanja blickte traurig in das strahlende lebenbewegte hässliche Gesicht des kleinen kahlköpfigen Lehrers.
„Ja, das alles ist interessant, sehr interessant,“ murmelte er träumerisch vor sich hin, als jener seinen Bericht schloss und eine Zigarette anrauchte.
„Sie bleiben bis zum Herbste hier?“ fragte plötzlich Daniil Iwanowitsch.
„Wahrscheinlich. Ich will nach Nishni zur Messe,“ gestand Wanja, als schäme er sich der Nichtigkeit seiner Pläne.
„Sind Sie zufrieden? Sind diese Sorokins interessante Leute?“
„Sie sind ganz einfache, aber gute und treuherzige Menschen,“ antwortete Wanja und dachte mit Feindseligkeit an sie, die ihm plötzlich so fremd geworden waren. „Ich habe es langweilig, sehr langweilig! Wissen Sie, es gibt niemand, der einen mit seiner Begeisterung anstecken könnte, oder auch nur fähig wäre einen bloss zu verstehen, die geringste Bewegung der Seele zu teilen,“ entrang es sich plötzlich Wanja, „hier nicht und vielleicht auch in Petersburg nicht.“
Der Grieche schaute ihn scharf an.
„Smurow,“ begann er etwas feierlich. „Sie haben einen Freund, der befähigt ist die höchsten Wallungen des Geistes zu schätzen, und bei dem Sie immer Sympathie und Liebe finden können.“
„Ich danke Ihnen, Daniil Iwanowitsch,“ sagte Wanja, dem Griechen die Hand hinstreckend.
„Keine Ursache,“ antwortete der, „um so weniger als ich eigentlich nicht von mir sprach.“
„Von wem sprachen Sie denn?“
„Von Larion Dmitrijewitsch.“
„Von Stroop?“
„Ja, . . . warten Sie, unterbrechen Sie mich nicht. Ich kenne Larion Dmitrijewitsch ausgezeichnet, ich habe ihn nach jenem unglücklichen Vorfall gesehen und ich bezeuge Ihnen, dass er daran ebensoviel Schuld trägt, wie etwa Sie, wenn ich mich zum Beispiel in den Fluss stürzen wollte, weil Sie blondes Haar haben. Natürlich ist es Larion Dmitrijewitsch höchst gleichgültig, was man über ihn spricht, aber er drückte mir sein Bedauern darüber aus, dass einige ihm teure Menschen ihre Meinung über ihn ändern könnten und unter anderen nannte er auch Sie. Behalten Sie das im Auge, sowie auch, dass er eben in München im Hotel ‚Zu den vier Jahreszeiten‘ lebt.“
„Ich verurteile Stroop nicht, aber seine Adresse brauche ich auch nicht, und wenn Sie hierher gekommen sind, um mir dies mitzuteilen, so haben Sie sich umsonst bemüht.“
„Mein Freund, hüten Sie sich vor Eigendünkel! Es sollte mir, dem alten Manne, einfallen, auf dem Wege von Petersburg nach Rom nach Wassilsursk zu kommen, um Wanja Smurow Stroops Adresse mitzuteilen?! Ich wusste überhaupt nicht, dass Sie hier seien. Sie sind erregt, Wanja, Sie sind krank, und ich zeige Ihnen als guter Arzt und Lehrer, dass Ihnen jenes Leben fehlt, welches sich für Sie in Stroop verkörpert, und nichts weiter.“
*
„Wie Sie schön gewachsen sind, lieber Wanja,“ sagte Sascha beim Auskleiden, die nackte Gestalt Wanjas betrachtend, der auf dem trockenen Sande stand und sich zum Flusse neigte, um Wasser zu schöpfen und sich den Kopf und die Achselhöhlen zu benetzen, bevor er ins Wasser ging. Wanja blickte auf das durch die auseinandergleitenden Kreise im Wasser bewegte Ebenbild seines hohen, geschmeidigen, von Bädern und Sonne gebräunten Körpers mit den schmalen Hüften und schlanken langen Beinen, die langgewordenen Locken über dem dünnen Halse, den grossen Augen im abgemagerten Gesicht und stieg mit stummem Lächeln ins kalte Wasser. Der trotz seines hohen Wuchses kurzbeinige, weisse und volle Sascha liess sich an einer tieferen Stelle ins Wasser fallen, dass es nach allen Seiten aufspritzte.
Dem ganzen Ufer entlang bis zur weidenden Herde badeten Kinder, die kreischend durch das Wasser oder am Ufer hinliefen, hie und da lagen Haufen von roten Hemden und Wäsche, und in der Ferne, höher den Fluss aufwärts, unter den Weiden auf dem saftig grünen gemähten Grase huschten zart rosa Körper von Kindern und Halbwüchslingen vorüber, an ein Bild des Paradieses in der Art Thomas erinnernd. Wanja fühlte mit fast leidenschaftlicher Freude, wie sein Körper das kalte tiefe Wasser zerteilte und in schnellen Wendungen, wie ein Fisch, die wärmere Oberfläche aufschäumen machte. Er war müde geworden und schwamm auf dem Rücken, ohne die Arme zu bewegen, und sah nur den in der Sonne leuchtenden Himmel, ohne zu wissen, wohin er getragen wurde. Er kam wieder zu sich, als die Rufe am Ufer lauter wurden, die sich immer weiter in der Richtung entfernt hatten, wo die Herde weidete und die Baggermaschine arbeitete.
Die Kinder eilten, im Laufen ihre Hemden anziehend, am Ufer entlang, und ihnen schollen Rufe entgegen: „Sie haben ihn, sie haben ihn, man hat ihn aus dem Wasser gezogen.“
„Den Ertrunkenen, der schon im Frühling ins Wasser ging; erst jetzt hat man ihn gefunden, er hat sich an einem Balken verhakt und konnte nicht zur Oberfläche aufsteigen,“ erzählten die laufenden und einander überholenden Kinder.
Vom Berge her kam, laut weinend, eine Frau in rotem Kleide und weissem Kopftuche gelaufen; als sie an die Stelle kam, wo auf einer Bastmatte die Leiche lag, warf sie sich mit dem Gesicht in den Sand und schluchzte, noch lauter wehklagend.
„Arina, die Mutter! . . .“ flüsterte es ringsum.
„Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen seine Lebensgeschichte erzählt,“ wiederholte Sergej, der von irgendwoher aufgetaucht war, Wanja, der mit Entsetzen auf die aufgedunsene schleimige Leiche mit dem bereits formlosen Gesicht starrte, die nackt, bloss mit den Stiefeln an den Füssen im grellen Sonnenschein ekelhaft und fürchterlich inmitten der lärmenden neugierigen Kinder mit ihren zart rosa Körpern, die unter den offenen Hemden sichtbar waren, dalag. — „Es war der einzige Sohn seiner Mutter, wollte immer Mönch werden, dreimal ist er von Hause fortgelaufen, aber sie haben ihn immer wieder zurückgebracht: geprügelt haben sie ihn sogar, aber es half nichts; andere Kinder kaufen sich Pfefferkuchen, er gab alles für Kirchenkerzen fort; lief da so ein Weibsbild, so’n Ekel, ihm über den Weg, er verstand nichts, als ihm aber die Augen aufgingen, da ging er mit den Kindern baden und ertrank; er war nur sechzehn Jahre alt . . .“ klang Sergejs Erzählung, als spräche er unter dem Wasser.
„Wanja! Wanja!“ schrie durchdringend die Frau, die sich bald erhob, bald wieder sich in den Sand fallen liess, beim Anblick der aufgedunsenen schleimigen Leiche.
Wanja stürzte entsetzt den Berg hinan, er stolperte, zerkratzte sich an den Büschen und Nesseln, sah sich aber nicht um, als jage man hinter ihm her, und machte erst im Sorokinschen Garten halt. Hier war es still, die Äpfel schimmerten aus dem Grün der weit auseinander gepflanzten Bäume hervor, hinter der stillen Wolga dehnten sich die dunklen Wälder, im Grase zirpten Grillen, es duftete nach Honig und Frauenminze.
*
„Es gibt am menschlichen Körper Muskeln und Sehnen, die man nicht ohne Herzklopfen betrachten kann,“ fielen Wanja Stroops Worte ein, als er entsetzt beim Schein einer Kerze sein feines, jetzt schrecklich bleiches Gesicht mit den feinen Brauen und den grauen Augen, dem purpurroten Munde und dem lockigen Haar über dem dünnen Halse im Spiegel betrachtete. Er wunderte sich nicht einmal, dass plötzlich Marja Dmitrijewna zu einer so späten Stunde geräuschlos in sein Zimmer trat und leise, aber fest, die Tür hinter sich schloss.
„Was wird denn daraus werden? Was wird daraus werden?“ fragte er sie erregt. „Die Wangen werden einfallen und erblassen, der Körper wird aufdunsen und schwammig werden, die Würmer werden die Augen ausfressen, alle Gelenke des lieben Körpers werden auseinanderfallen! Und es gibt Muskeln, Sehnen am menschlichen Körper, die man nicht ohne Herzklopfen betrachten kann! Alles wird vergehen, verderben! Und ich weiss nichts, ich habe nichts gesehen, und ich will, ich will . . . Ich bin doch nicht gefühllos, bin kein Stein; und ich kenne jetzt meine Schönheit! Es ist schrecklich, schrecklich! Wer wird mich retten?“
Marja Dmitrijewna blickte, ohne zu staunen, freudig auf Wanja.
„Wanja, Teurer, Sie tun mir leid! Ich habe mich vor diesem Augenblick gefürchtet, aber die Stunde ist wohl gekommen, wo der Wille des Herrn geschehe,“ und langsam die Kerze verlöschend, umarmte sie Wanja und bedeckte seinen Mund, seine Augen und Wangen mit Küssen und drückte ihn immer fester an ihre Brust. Wanja war sofort ernüchtert, ihm wurde heiss, schwül und peinlich, und sich aus der Umarmung befreiend, sagte er mit einer Stimme, die schon ganz anders klang: „Marja Dmitrijewna! Marja Dmitrijewna! Was haben Sie? Lassen Sie mich! Nicht doch!“ Aber jene drückte ihn nur um so fester an ihre Brust, küsste ihn schnell und lautlos auf Wangen, Mund und Augen und flüsterte: „Wanja, mein Lieb, du meine Freude!“
„So lass mich doch, widerliches Weib!“ schrie Wanja schliesslich, stiess Marja Dmitrijewna zur Seite und lief hinaus, die Tür hinter sich zuschlagend.
*
„Was soll ich denn jetzt tun?“ fragte Wanja Daniil Iwanowitsch, zu dem er geraden Wegs aus dem Hause durch die Nacht gelaufen war.
„Meiner Ansicht nach,“ sagte der Grieche, im Schlafrock über der Unterwäsche und mit Morgenschuhen an den Füssen, „meiner Ansicht nach, müssen Sie fortfahren.“
„Wohin soll ich denn fahren? Bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als Petersburg? Und man wird mich fragen, weshalb ich zurückgekommen bin und langweilig ist es da auch noch.“
„Ja, das ist unangenehm, aber hier bleiben ist auch unmöglich, Sie sind — ganz krank.“
„Was soll ich denn tun?“ wiederholte Wanja, hilflos auf die Hand des Griechen herabblickend, die auf der Tischplatte trommelte.
„Ich kenne ja Ihre Umstände und Vermögensverhältnisse nicht und weiss nicht, wie weit Sie reisen können; und allein können Sie auch gar nicht reisen.“
„Was soll ich denn tun?“
„Wenn Sie meiner Zuneigung zu Ihnen glauben und nicht weiss Gott was für Geschichten machen wollten, würde ich Ihnen vorschlagen mit mir zu reisen.“
„Wohin?“
„Ins Ausland.“
„Ich habe kein Geld.“
„Es würde für uns beide reichen; später, mit der Zeit, würden wir uns verrechnen; wir würden zusammen nach Rom gehen und da würde man dann eben sehen, mit wem Sie zurückreisen und wohin ich weiterreisen werde. Das wäre das allerbeste.“
„Sprechen Sie wirklich im Ernst, Daniil Iwanowitsch?“
„Man kann nicht ernster.“
„Ist denn das möglich: ich — in Rom?“
„Und sogar sehr!“ lächelte der Grieche.
„Ich kann es nicht glauben!“ . . . rief Wanja erregt aus.
Der Grieche rauchte schweigend seine Zigarette und blickte lächelnd auf Wanja.
„Was für ein Prachtmensch, wie gut Sie sind!“ strömte der über.
„Es ist mir sehr angenehm, nicht allein zu reisen; wir werden natürlich unterwegs ökonomisch sein, nicht in allzu feinen Hotels, sondern in einheimischen Gasthäusern absteigen.“
„Oh, das wird nur noch lustiger sein!“ freute sich Wanja.
Und bis zum frühen Morgen sprachen sie von der Reise, bestimmten, wo sie Station machen wollten, die Städte, Orte, entwarfen Pläne für Ausflüge — und als Wanja im hellen Sonnenschein auf die grasbewachsene Strasse hinaustrat, wunderte er sich, dass er noch in Wassil sei und noch die Wolga und die dunklen Wälder vor sich sähe.
Sie sassen nach dem ‚Tannhäuser‘ zu dreien im Café auf dem Corso und inmitten des geräuschvollen unverständlichen italienischen Stimmengewirrs, beim Klappern der Teller und Gläser mit Gefrorenem, unter den fernen Klängen des Streichorchesters, die durch den Tabaksqualm herüberdrangen, fühlten sie sich vor der bald bevorstehenden Trennung fast intim, besonders freundschaftlich gestimmt. Der Offizier mit einem ganzen Hahnenflügel auf dem Hute und die beiden Damen, die schwarz, aber auffallend gekleidet, am Nebentische sassen, schenkten ihnen keine Aufmerksamkeit und durch die Tüllgardinen des offen stehenden Fensters konnte man die Strassenlaternen, die vorüberfahrenden Equipagen, und die über Trottoir und Fahrdamm vorbeigehenden Fussgänger sehen und man hörte das Rauschen des Springbrunnens auf dem nahen Platze.
Wanja hatte seine Gymnasiastenuniform gegen Zivilkleider vertauscht, die ihm, trotzdem sie ganz gewöhnlich waren, eine gewisse Eleganz verliehen, ohne das Knabenhafte seines Äusseren zu beeinträchtigen. Er sah blass, hoch und schlank aus. Daniil Iwanowitsch, der ‚in der Eigenschaft des Mentors eines reisenden Prinzen‘, wie er scherzend zu sagen pflegte, seinen jungen Freund überallhin begleitete, plauderte jetzt wohlwollend und gönnerhaft mit ihm und Ugo Orsini.
„Immer, wenn ich diese erste Szene in der zweiten, der Fassung jenes Wagner höre, der schon den Tristan geschaffen, fühle ich ein wundersames Entzücken, einen prophetischen Schauer, wie bei den Bildern Klingers und der Poesie d’Annunzios. Diese Tänze der Faune und Nymphen, diese leuchtenden, strahlenden, niedagewesenen, aber bis zum Schmerze tief vertrauten antiken Landschaften, die sich plötzlich auftun, die Erscheinungen der Leda und Europa, diese Amouretten, die wie auf Botticellis ‚Primavera‘, auf die Bäume und die tanzenden und unter ihren Pfeilen in schmachtenden Stellungen ersterbenden Faune schiessen — und das alles vor Venus, die mit überirdischer Liebe und Zärtlichkeit Tannhäusers Schlaf hütet, das ist alles, wie der Hauch eines neuen Frühlings, einer neuen, heiss aus dunklen Tiefen aufsteigenden Leidenschaft für das Leben und die Sonne!“ Und Orsini wischte sich das blasse, glattrasierte, bereits voll werdende Gesicht mit den schwarzen glanzlosen Augen und dem fein gewundenen Munde.
„Es ist dies das einzige Mal, dass Wagner die Antike berührt,“ bemerkte Daniil Iwanowitsch, „ich habe mehr als einmal diese Szene mit Venus, jedoch vor der Bearbeitung, gesehen und mir gedacht, dass sie dem Gedanken nach mit ‚Parsifal‘ verwandt ist und mit diesem die grösste der Wagnerschen Konzeptionen darstellt; aber ich begreife ihren Schluss nicht und mag ihn auch nicht gelten lassen: wozu diese Entsagung? Wozu dieser Asketismus? Weder der Charakter von Wagners Genius, noch sonst etwas lockte zu solchen Ausklängen!“
„Musikalisch harmoniert diese Szene nicht sonderlich mit dem früher Geschriebenen, und Venus ist ein wenig Nachahmung von Isolde.“
„Sie, als Musiker, müssen das besser wissen, aber der Gedanke, die Idee, das ist schon des Dichters, des Philosophen Gebiet.“
„Der Asketismus ist eigentlich die naturwidrigste aller Erscheinungen, und die Keuschheit gewisser Tiere ist nichts anderes als Fabel.“
Ihnen wurde hartes Gefrorenes und Wasser in grossen Gläsern auf hohen Füssen serviert. Das Cafe begann schon leer zu werden und die Musikanten wiederholten bereits ihre Stücke.
„Reisen Sie schon morgen?“ fragte Ugo, an der roten Nelke in seinem Knopfloch nestelnd.
„Nein, ich möchte noch von Rom Abschied nehmen und etwas länger mit Daniil Iwanowitsch zusammenbleiben,“ sagte Wanja.
„Sie gehen nach Neapel und Sizilien? Und Sie?“
„Ich gehe mit dem Kanonikus nach Florenz.“
„Mit Mori?“
„Ja, mit ihm.“
„Woher kennen Sie ihn?“
„Wir haben uns bei Bossi Gaëtano kennen gelernt, Sie wissen, der Archäolog?“
„Der in der Via Nazionale lebt?“
„Ja; er ist doch sehr lieb, der Kanonikus.“
„Ja, ich kann jetzt mit Recht sagen: heute lässest du deinen Diener in Frieden fahren, ich übergebe Sie Monsignore zu eigenen Händen.“
Wanja lächelte freundlich.
„Bin ich Ihnen denn wirklich so langweilig geworden?“
„Furchtbar!“ scherzte Daniil Iwanowitsch.
„In Florenz werden wir uns wohl noch treffen; ich gehe in acht Tagen dahin: man spielt dort mein Quartett.“
„Ich werde mich freuen. Sie wissen, Monsignore finden Sie immer in der Kathedrale, und er wird meine Adresse kennen.“
„Ich steige bei der Marchesa Moratti ab, Borgo Santi Apostoli. Bitte, kommen Sie ohne Umstände, die Marchesa lebt allein und wird sich freuen. Sie ist meine Tante und ich bin ihr Erbe.“
Orsini lächelte süsslich mit den dünnen Lippen im weissen, voll werdenden Gesicht mit den schwarzen glanzlosen Augen und die Ringe an seinen Fingern mit den kurzgeschnittenen Nägeln und der entwickelten Muskulatur des Pianisten funkelten im elektrischen Lichte.
„Dieser Ugo sieht aus, wie ein Giftmischer, finden Sie nicht?“ fragte Wanja seinen Begleiter, als sie den Corso hinauf nach Hause gingen.
„Welch ein Einfall! Er ist ein lieber Mensch, nichts weiter.“
*
Trotzdem ein feiner Regen herabsickerte, der in Bächlein neben dem Fusssteige den Berg hinunterfloss, war die Kühle des Museums erwünscht und angenehm. Nachdem sie im Kolosseum, auf dem Forum und dem Palatin gewesen waren, standen sie, ganz zum Schluss, kurz vor der Abreise, fast allein im kleinen Saale vor dem „Laufenden Jüngling“.
„Nur der Torso des sogenannten ‚Ilioneus‘ kann sich an Schönheit und Leben mit diesem Jünglingskörper messen, an dem man unter der weissen Haut das rote Blut sehen kann, an dem alle Muskeln berauschend schön und bestrickend sind. Das Fehlen der Arme und des Kopfes stört uns heute nicht weiter. Der Körper selbst, die Materie wird untergehen, angenommen sogar, dass die Werke der Kunst, Phidias, Mozart, Shakespeare, zugrunde gehen werden, aber die Idee, der Schönheitstypus, die in ihnen leben, können nicht untergehen, und das ist vielleicht das einzig Wertvolle in der wechselnden und vergänglichen Buntheit des Lebens. Und wie grob auch die Verwirklichung dieser Ideen sein möge, sie sind göttlich und rein; wurden nicht in den religiösen Praktiken die höchsten Ideen des Asketismus in einen wilden, fanatischen, aber vom Symbol, das er in sich trug, erleuchteten Kultus eingekleidet, und blieben sie nicht göttlich?“
Bei den letzten Ermahnungen vor dem Abschiede sagte Daniil Iwanowitsch:
„Folgen Sie mir, Smurow; wenn Sie geistlichen Zuspruch brauchen, wenn Sie sich billig einrichten wollen, dann wenden Sie sich an Monsignore, aber wenn Ihnen Ihr Geld ganz ausgehen sollte, oder wenn Sie einen klugen und vortrefflichen Rat brauchen — wenden Sie sich an Larion Dmitrijewitsch. Ich werde Ihnen seine Adresse geben. Einverstanden? Versprechen Sie mir das?“
„Kann ich mich denn wirklich an niemand anders wenden? Ich täte es so ungern.“
„Ich habe niemand, der zuverlässiger wäre; suchen Sie dann schon selbst.“
„Und Ugo? Wird er mir nicht helfen?“
„Kaum, er sitzt selbst immer ohne Geld. Ich begreife wirklich nicht, was Sie gegen Larion Dmitrijewitsch haben, dass Sie sich nicht einmal brieflich an ihn wenden können! Was ist geschehen, das diese Veränderung triftig erklären könnte?“
Wanja sah lange die Büste des jugendlichen Marc Aurel an, ohne zu antworten, dann begann er schliesslich monoton und langsam:
„Ich lege ihm keine Schuld zur Last, ich habe nicht die Spur von Recht, mich über ihn zu ärgern, aber es tut mir unsäglich leid, dass ich, seitdem mir gewisse Dinge bekannt geworden sind, mich, unabhängig von meinem Willen, zu Stroop nicht mehr stellen kann, wie früher; das hindert mich, in ihm den erwünschten Führer und Freund zu erblicken.“
„Welch eine Romantik, wenn es bloss nicht auswendig gelernt klingen würde! Sie sind wie die ‚ätherischen‘ Fräuleins seligen Angedenkens, die sich einbildeten, ihre Verehrer müssten glauben, dass Jungfrauen weder essen, noch trinken, noch schlafen, noch schnarchen, noch sich die Näschen putzen. Jeder Mensch hat seine natürlichen Verrichtungen, die ihn keineswegs erniedrigen, wie unangenehm sie einem anderen auch sein mögen. Auf Fjodor eifersüchtig sein, heisst sich selbst mit ihm auf eine Stufe stellen, als hätte man dieselbe Bestimmung, denselben Zweck, wie er. Wie wenig geistreich das auch sein möge, es ist immerhin noch besser als romantische Prüderie.“
„Lassen wir das alles; wenn es anders nicht möglich sein wird, werde ich an Stroop schreiben.“
„Und werden gut daran tun, mein kleiner Kato.“
„Sie selbst haben mich ja Kato verachten gelehrt.“
„Augenscheinlich ohne sonderlichen Erfolg.“
*
Sie gingen über den geraden Gartenweg, über einen Rasenplatz und an Beeten mit in der Dämmerung verschwimmenden Blumen vorbei zur Terrasse; der weissliche Nebel zog sich hin, als liefe er ihnen nach, um sie einzuholen: irgendwo schrien junge Eulen; im Osten leuchtete flimmernd ein strahlender Stern durch den sich rosa färbenden Nebel, und die erleuchteten Fenster des alten Hauses vor ihnen flammten ungewöhnlich und sonderbar, bereits den Widerschein des Morgenhimmels in ihren Scheiben spiegelnd. Ugo hatte aufgehört, sein Quartett vor sich hinzupfeifen und rauchte schweigend eine Zigarette. Als sie an der Terrasse vorübergingen, hörte Wanja deutlich Russisch sprechen und blieb stehen.
„Sie werden also noch lange in Italien bleiben?“
„Ich weiss nicht, Sie sehen ja, wie schwach Mama ist; aus Neapel werden wir nach Lugano gehen, aber wie lange wir dort bleiben werden, weiss ich nicht.“
„So lange werde ich Sie nicht sehen, Ihre Stimme nicht hören dürfen . . .“ begann eine männliche Stimme. — „Vielleicht vier Monate,“ unterbrach sie hastig eine weibliche. — „Vier Monate!“ wiederholte, wie ein Echo, die erste. — „Ich glaube nicht, dass Sie sich langweilen werden . . .“
Sie schwiegen als sie die Schritte von Wanja und Orsini sich nähern hörten, und in der Morgendämmerung konnte man nur undeutlich die Gestalt einer sitzenden Frau und die eines neben ihr stehenden, nicht sehr hohen Mannes unterscheiden.
Als sie den Saal betraten, aus dem ihnen die etwas drückende Wärme des mit Menschen gefüllten Raumes entgegenschlug, fragte Wanja Ugo:
„Wer waren diese Russen?“
„Anna Blonskaja und einer von euren Künstlern, ich komme eben nicht auf seinen Namen.“
„Er scheint in sie verliebt zu sein?“
„Oh, das wissen alle, ebenso, wie man sein zügelloses Leben kennt.“
„Ist sie schön?“ fragte Wanja noch etwas naiv.
„Sehen Sie sie an, da kommt sie.“
Wanja kehrte sich um und sah ein schlankes, bleiches Mädchen mit glatt über die Ohren gekämmtem Haar, feinen Gesichtszügen, einem etwas grossen Munde und blauen Augen. Ihr folgte nach einigen Minuten vornübergebeugt ein etwa sechsundzwanzigjähriger Mann mit blondem Spitzbärtchen und sich kräuselndem Haar, stark hervortretenden hellen Augen unter dichten, wie altes Gold gefärbten Brauen und spitzen Faunsohren.
„Er liebt sie und führt ein ausschweifendes Leben, und das eine ist, wie das andere, allgemein bekannt?“ fragte Wanja.
„Ja, er liebt sie zu sehr, um in ihr das Weib zu erblicken. Russische Phantasien!“ fügte der Italiener hinzu.
Man begann aufzubrechen und ein dicker Geistlicher wiederholte, die Augen verdrehend:
„Seine Heiligkeit ermüdet so sehr, ermüdet so sehr . . .“
Ein heller Sonnenstrahl blitzte in die Fenster, und man hörte das dumpfe Geräusch der vorfahrenden Wagen.
„Also auf Wiedersehen in Florenz,“ sagte Orsini, Wanja die Hand drückend.
„Ja, morgen reise ich.“
*
Sie lagen alle auf den bunten gesteppten Polstern, mit denen die Fensterbretter belegt waren: Signora Poldina und Filumena in einem, Scholastica mit der Köchin Santina im anderen Fenster, als Monsignore mit Wanja durch die schmale, dunkle und kühle Gasse vor dem alten Hause mit dem eisernen Klopfring statt einer Klingel, vorfuhr. Als die erste Woge des Lärmes, der Freudenrufe und Schreie bei der Begrüssung verebbt war, liess Signora Poldina allein den Strom ihrer Beredsamkeit sich ergiessen.
„Ullyss sagt, ‚ich bringe einen russischen Signor mit, er wird bei uns leben‘. Ullyss, du scherzest, niemals hat jemand bei uns gelebt; er ist ein Prinz, ein russischer Edelmann, wie werden wir ihn verpflegen? — Ja, was dem Bruder einfällt, das macht er auch. Wir dachten, dass der russische Signor gross und dick sein werde, wie Herr Buturlin, den wir hier gesehen haben, und jetzt kommt dieser Knabe an, so ein schlanker, so ein Täubchen, so ein Cherubino,“ und die greisenhafte Stimme Signora Poldinas klang in süssen Kadenzen aus.
Monsignore führte Wanja in die Bibliothek, um ihm seine Bücher zu zeigen und die Schwestern entfernten sich in die Küche und in ihr Zimmer. Monsignore stieg, die Soutane hochgerafft, auf der Leiter empor, so dass man seine dicken mit zu Hause gestrickten schwarzen Strümpfen bespannten Waden und die übermässig derben Schuhe sehen konnte; er las laut mit der Intonation des Geistlichen die Titel der Bücher, die seiner Meinung nach Wanja interessieren konnten und überging die übrigen schweigend. Er war trotz seiner fünfundsechzig Jahre stämmig und rotbäckig, eigensinnig, beschränkt und lehrhaft. Auf den Bücherbrettern standen und lagen italienische, lateinische, französische, spanische, englische und griechische Bücher. Thomas von Aquino neben Don Quixote, Shakespeare mit Heiligenlegenden, Seneka mit Anakreon zusammen.
„Ein konfisziertes Buch,“ erklärte der Kanonikus, der den erstaunten Blick Wanjas aufgefangen hatte und einen kleinen illustrierten Band Anakreon beiseite schob: „Hier gibt es viele, bei meinen Beichtkindern konfiszierte Bücher. Mir können sie keinen Schaden antun.“
„Das ist Ihr Zimmer!“ sagte Mori, Wanja in einen grossen quadratischen Raum führend, der mit bläulichen Tapeten ausgeklebt war. Vor den Fenstern hingen weisse Vorhänge, in der Mitte des Zimmers stand ein Himmelbett; den Schmuck der ziemlich kahlen Wände bildeten ein paar Stiche von Heiligen und der Madonna ‚vom guten Rat‘, ein einfacher Tisch, das Bücherbrett mit Erbauungsschriften, die bemalte Wachsfigur des heiligen Luigi Gonzaga, in ein aus Stoff genähtes Kleid enfant de choeur gehüllt, unter dem Glassturz auf der Kommode, das Weihwasserbecken an der Tür vervollständigten die Einrichtung des Zimmers und gaben ihm das Aussehen einer Klosterzelle, das nur durch das Pianino an der Balkontür und den Toilettentisch am Fenster beeinträchtigt wurde.
„Die Katze, ach, die Katze, wirst du wohl gehen!“ und Poldina stürzte sich auf den fetten weissen Kater, der zur Vervollständigung der Feier im Saal erschienen war.
„Weshalb verjagen Sie ihn denn? Ich liebe Katzen sehr,“ bemerkte Wanja.
„Der Signor liebt Katzen! Ach, mein Söhnchen! Ach, mein Täubchen! Filumena, bring einmal Miscina mit den Jungen her, ich will sie dem Signor zeigen . . . Ach, mein Täubchen!“
Sie durchstreiften vom Morgen an Florenz und Monsignore erzählte mit singender lauter Stimme Ereignisse, Anekdoten und Tatsachen des XIV., wie des XX. Jahrhunderts, gab mit gleicher Begeisterung die Skandalchronik der Gegenwart, wie die Histörchen aus Vasari wieder; inmitten belebter Quergassen blieb er stehen, um seine schönrednerischen, meist anklagenden Perioden zu entwickeln, sprach Vorübergehende an, unterhielt sich mit Pferden und Hunden, lachte laut, sang vor sich hin, und die ganze Atmosphäre um ihn mit seiner etwas plebejischen Höflichkeit, seiner ein wenig groben Delikatesse, in seiner Belehrung ebensowenig spitzfindig, wie in seiner Heiterkeit, erinnerte an die Atmosphäre Sacchettischer Novellen. Mitunter, wenn der Vorrat an Geschichten seinem Bedürfnis, in Bildern, mit Intonation und Gesten zu reden, aus der Unterhaltung ein primitives Kunstwerk zu machen, nicht mehr entsprach, kehrte er zu den allerältesten Novellisten zurück und gab sie mit naiver Rhetorik und Überzeugung zum besten. Er kannte alle und alles und jede Ecke, jeder Stein seines Toskana und geliebten Florenz hatte seine Legenden, seine historischen Anekdoten. Er führte, den Umstand, dass Wanja sich auf der Durchreise befand, ausnutzend, seinen Schützling überall umher. Da gab es vor dem Bankrott stehende Marchesen, und Grafen, die in vernachlässigten Palästen wohnten, Karten spielten und sich mit ihren Lakaien um das Spiel zankten; da gab es Ingenieure und Ärzte, Kaufleute, die einfach, nach alter Art: haushälterisch und zurückgezogen lebten; anfangende Musiker, die nach Puccinis Ruhm strebten und ihn mit bartlosen, dicken Gesichtern und Krawatten zu kopieren versuchten; ferner war da ein feister, wichtiger und wohlwollender persischer Konsul, der mit sechs Nichten unterhalb von San Miniato lebte; Apotheker; Jünglinge, die als Laufburschen fungierten; zum Katholizismus bekehrte Engländerinnen und schliesslich auch noch M-me Monier, eine Ästhetin und Künstlerin, die mit einer ganzen Gesellschaft von Gästen in Fiesole eine mit zarten Frühlingsallegorien ausgemalte Villa bewohnte, von der man einen Ausblick auf Florenz und das Arnotal genoss. M-me Monier war immer heiter, klein von Wuchs, schwatzhaft, rothaarig und schrecklich hässlich.
Sie waren am Tisch auf der Terrasse sitzengeblieben. Die Teller auf dem rosa Tischtuche sahen in der sich bereits herabsenkenden Dämmerung wie schwarzrote Blutlachen aus, und der Duft von Zigarren, Erdbeeren und dem Wein in den nicht geleerten Gläsern mischte sich mit dem Blumenduft im Garten. Man hörte eine Frauenstimme im Hause alte Lieder singen, hin und wieder wurde sie durch ein kurzes Schweigen oder eine längere Unterhaltung und Lachen unterbrochen; als drinnen Licht gemacht wurde, sah die jetzt schon halbdunkle Terrasse wie eine Dekoration zu Maeterlincks ‚L’Intérieur‘ aus. Und der blasse und bartlose Ugo Orsini mit der roten Nelke im Knopfloch erzählte weiter:
„Sie können sich keine Vorstellung machen, an was für ein Frauenzimmer er sich fortwirft! Wenn der Mensch nicht Asket ist, so gibt es kein grösseres Verbrechen, als keusche Liebe. Er liebt die Blonskaja und sehen Sie bloss, mit wem er sich abgibt: gut an der Cybò sind nur die lasterhaften Nixenaugen in ihrem bleichen Gesicht. Ihr Mund, ach, ihr Mund! — hören Sie nur, wie sie spricht; es gibt keine Gemeinheit, die sie nicht wiederholte, und jedes ihrer Worte ist vulgär! Wie bei jenem Mädchen im Märchen springt mit jedem Wort, das sie sagt, eine Kröte oder eine Maus aus ihrem Munde. Tatsächlich! . . . Und sie wird ihn nicht loslassen: er wird die Blonskaja und sein Talent und alles auf der Welt für dieses Weib vergessen. Der Mensch in ihm geht zugrunde und vor allem der Künstler.“
„Und Sie glauben, wenn die Blonskaja . . . wenn er die anders lieben würde, dass er dann mit der Cybò brechen könnte?“
Nach einigem Schweigen begann Wanja wieder schüchtern:
„Und ihn selbst halten Sie wirklich einer keuschen Liebe nicht für fähig?“
„Sie sehen, was dabei herauskommt! Man braucht ihn nur anzuschauen, um das zu verstehen. Ich behaupte nichts, weil man für nichts einstehen kann, aber ich sehe, dass er zugrunde geht, und sehe auch woran, und das macht mich wütend, weil ich ihn sehr liebhabe und ihn schätze, und deshalb hasse ich gleichermassen die Cybò, wie die Blonskaja.“
Orsini rauchte seine Zigarette zu Ende und ging ins Haus, und Wanja, der allein zurückblieb, dachte an den jungen Künstler mit der gebeugten Haltung, mit den blonden Locken und dem Spitzbärtchen und den hellen, grauen, stark vortretenden Augen unter den wie altes Gold gefärbten Brauen, Augen, die gleichzeitig spöttisch und traurig blickten. Und ihm fiel, er wusste selbst nicht weshalb, Stroop ein.
Aus dem Saal schallte M-me Moniers affektierte Vogelstimme herüber:
„Erinnern Sie sich an Segantinis Genius mit den mächtigen Flügeln über dem Liebespaar, beim Quell auf den Höhen? Die Verliebten selbst müssten Flügel haben, wie alle, die kühn, frei sind, wie alle, die lieben.“
„Ein Brief von Iwan Strannik; welche liebe Frau! Sie sendet uns Grüsse und den Segen Anatol Frances. Ich küsse deinen Namen, grosser Meister.“
„Ihre eigene Komposition? Zu d’Annunzios Worten? Natürlich, selbstverständlich, warum singen Sie denn nicht?“
Und man hörte das Geräusch zurückgeschobener Stühle, den Klang des Klaviers, auf dem laute und stolze Akkorde angeschlagen wurden, und die Stimme Orsinis, der mit etwas grober Leidenschaft eine breite, ein wenig banale Melodie einsetzte.
„Ob, wie mich das freut! Onkel, sagen Sie? grossartig! . . .“ zwitscherte M-me Monier, ganz in Rosa, rothaarig, hässlich und kokett, auf die Terrasse hinaustretend.
„Sie sind hier?“ rief sie, Wanja erblickend. „Eine Neuigkeit! Ein Landsmann von Ihnen ist angekommen. Aber er ist kein Russe, obgleich er in Petersburg lebt. Ein guter Freund von mir; er ist Engländer. Wie? Was?“ warf sie hin und lief, ohne die Antwort abzuwarten den Ankommenden auf der Fahrstrasse zum Garten entgegen, der jetzt schon im Mondschein dalag.
„Um Gottes willen, gehen wir, ich fürchte mich, ich will das nicht, gehen wir, ohne uns zu verabschieden, gleich, augenblicklich!“ drängte Wanja den Kanonikus, der vor seinem Gefrorenen sass und ihn erstaunt ansah.
„Nun ja doch, mein Kind! Aber ich begreife nicht, weshalb Sie sich aufregen; gehen wir, ich suche bloss noch meinen Hut.“
„Schneller, schneller, cher père!“ verging Wanja vor grundloser Angst. „Hierher, hierher, dort kommen sie!“ zog er den Kanonikus von der Strasse, auf der Pferdegetrappel und Wagenrollen hörbar wurden, in einen Seitengang, und an der nächsten Wendung stieg, ganz nahe bei ihnen, um das Haus auf einem Fusspfade zu erreichen, M-me Monier mit einigen ihrer Gäste aus dem Wagen, und ohne dass ein Versehen möglich war, erkannte Wanja im hellen Mondschein Stroop.
„Bleiben wir,“ flüsterte Wanja, den Arm des Kanonikus drückend, der deutlich sah, wie das lächelnde, erregte Gesicht seines Schützlings sich mit tiefem, sogar im Mondlicht bemerkbarem Rot überzog.
*
Sie fuhren in zweirädrigen mit Eseln bespannten Wagen durch die Pforte des Hauses, das schon im XIII. Jahrhundert erbaut war und einen Brunnen im Speisesaal des zweiten Stockes für den Belagerungsfall besass, einen Kamin hatte, in dem sich bequem eine Hütte hätte unterbringen lassen, und eine Bibliothek, Porträts und eine Kapelle beherbergte. Für den Fall, dass es beim Aufstieg kalt sein sollte, brachten Diener Mäntel und Plaids an die Wagen, andere Diener waren mit Mundvorräten vorausgeschickt worden. Aus Florenz waren sie mit der Bahn bis Borgo San Lorenzo und dann mit Pferden an Scarperia mit dem Schlosse und den Stahlwarenfabriken und an Santa Agatha vorbei weitergefahren, und eilten das Frühstück zu beenden, um noch vor Anbruch der Dunkelheit von den Bergen zurückzukehren. Man unterhielt sich nicht, nur das Klappern von Gabeln und Messern und gleichzeitig auch schon das der Kaffeelöffel war zu hören. Sie fuhren durch Weingärten, an Molkereien unter Kastanien vorbei, immer höher und höher auf dem sich schlängelnden Wege empor, es kam dabei vor, dass der erste Wagen sich gerade oberhalb des letzten befand, die südliche Vegetation wurde von Birken, Fichten, Moosen und Veilchen abgelöst und man sah die Wolken schon unter sich. Noch bevor sie den Gipfel des Giuogo erreicht hatten, von wo man, wie es hiess, das Adriatische und das Mittelmeer sehen könne, erblickten sie plötzlich an einer Biegung Fierenzuola unter sich, das wie ein Haufen rotgrauer Steine aussah, und die sich Faënza zu windende Heerstrasse, über die eine altmodische Diligence hinkroch. Der Omnibus machte halt, um eine Frau aussteigen zu lassen und der Kutscher auf dem hohen Bocke rauchte friedlich in Erwartung des Zeichens zum Weiterfahren.
„Wie das an Goldoni, seligen Angedenkens, erinnert! Welch eine bezaubernde Schlichtheit!“ geriet M-me Monier in Entzücken, und liess ihre Peitsche mit dem roten Griffe knallen. Man setzte ihnen in der verräucherten Taverne, die wie eine Räuberhöhle aussah, Rührei, Käse, Chianti und Salami vor, und die Wirtin, ein einäugiges, sonnverbranntes Weib, hörte, die Wange auf die Lehne eines hölzernen Stuhles gedrückt, zu, wie ein Mann mit schwarzen Brauen und grossen Augen, in Hemdsärmeln, einen grün gewordenen Filzhut auf dem Kopfe, den Herrschaften ihre Geschichte erzählte:
„Es war schon längst bekannt, dass Beppo nachts hierher komme . . . Die Carabinieri sagten zu ihr: ‚Tante Pasqua, verschmähe unser Geld nicht, Beppo muss ja doch in unsere Hände fallen.‘ Sie überlegte sich’s und konnte sich lange nicht entschliessen . . . sie ist eine ehrliche Frau, sehen Sie sie nur an . . . Aber Schicksal ist Schicksal; einmal kam er von der Hochzeit eines Landsmannes betrunken zurück und legte sich schlafen . . . Pasqua hatte die Carabinieri früher verständigt und pfiff, das Gewehr und die Messer hatte sie Beppo schon vorher abgenommen. Was konnte er machen? Er war ein Mensch, Signori.“
„Wie er fluchte! Als er schon gefesselt war, schleuderte er diese Bank hier mit den Füssen ins Zimmer, warf sich auf die Erde und fing an sich herumzuwälzen!“ sagte Pasqua mit heiserer Stimme und ihre Zähne und das einzige Auge, das sie besass, blitzten dabei, während ihre Lippen lächelten, als erzähle sie die angenehmsten Geschichten.
„Ja, ja, sie ist ein ganzer Kerl, die Pasqua, wenn sie auch nur ein Auge hat! Noch ein Gläschen?“ forderte der bärtige Mann auf und klopfte der Wirtin auf die Schulter.
„Smurow, Orsini! Gehen Sie bitte rasch nach oben zurück, ich habe meinen Sonnenschirm vergessen. Ihr seid die Letzten, wir warten auf euch! Wie? Was? Den Sonnenschirm, den Sonnenschirm,“ rief M-me Monier aus dem ersten Wagen, ihr lächelndes hässliches rosa Gesicht zurückwendend und hielt ihr Eselgespann auf.
Die Taverne war leer, der noch nicht abgeräumte Tisch, die verschobenen Bänke und Stühle erinnerten an die Gäste, die eben hier gewesen waren, und hinter dem Vorhang, wo das Bett stand, hörte man Seufzen und leises Geflüster.
„Ist niemand da“ rief Orsini auf der Schwelle. „Eine Signora hat ihren Schirm hier stehen lassen, habt ihr ihn nicht gesehen?“
Hinter dem Vorhang wurde wieder geflüstert; dann kam Pasqua mit verwühltem Haar, ohne Tuch und Mieder heraus, im Gehen ihren schmutzigen Rock zurechtrückend, hager und ungeachtet ihrer Jugend, so schrecklich alt, und zeigte schweigend auf den weissen, spitzenbesetzten Sonnenschirm mit einem unbestimmten gelblichen Muster und einem weissen Griff. Hinter dem Vorhang rief eine Männerstimme: „Pasqua, hörst du, Pasqua? Wird’s bald? Sind sie schon fort?“
„Gleich,“ antwortete das Weib mit heiserer Stimme und steckte sich, vor die Spiegelscherbe an der Wand tretend, die rote Nelke, die Orsini vergessen hatte, ins verwühlte Haar.
*
Sie waren fast die einzigen im Theater, die mit ganzer Aufmerksamkeit Isoldens Ergüssen vor Brangäne folgten und fast nicht bemerkten, wie der König mit beiden Königinnen die Loge der Szene gegenüber betrat und sich, nachdem er dem Publikum, das ihn mit Rufen begrüsste, eine ungeschickte Verbeugung gemacht hatte, auf einen Stuhl an der Balustrade niederliess. Das sentimentale und harte Gesicht des kleinen Mannes mit dem grossen Kopfe und dem Schnurrbart hatte den gelangweilten Ausdruck eines von Geschäften in Anspruch genommenen Menschen. Obgleich es keine Pause war, war der Saal voll erleuchtet: die Damen in den Logen, in Décolleté und Halsschmuck, sassen fast mit dem Rücken zur Bühne und plauderten lächelnd; die Herren mit Blumen im Knopfloch, gelangweilt und korrekt, machten von Loge zu Loge Besuche. Es wurde Gefrorenes herumgereicht, und die älteren Herren sassen im Hintergrunde der Logen, in vor sich ausgebreitete Zeitungen vertieft.
Wanja, der zwischen Stroop und Orsini sass, hörte nicht das Flüstern und Geräusch ringsumher und war ganz vom Gedanken an Isolde in Anspruch genommen, der aus dem Rauschen der Blätter Hifthörner zu erklingen schienen.
„Das ist die Apotheose der Liebe! Ohne Nacht und Tod wäre es das höchste Lied der Leidenschaft und die Konturen der Melodie und der Szene selbst, wie rituell sind sie, wie ähneln sie ergreifenden Hymnen!“ sagte Orsini zu Wanja, der bleich geworden war.
Stroop sah, ohne sich umzukehren, durch das Opernglas zur gegenüberliegenden Loge hinüber, wo nahe nebeneinander der blonde Künstler und eine kleine Frau sassen. Sie hatte rabenschwarzes gewelltes Haar. Ein Paar riesige farblose Augen starrten aus ihrem ungeschminkten Gesicht mit dem grossen tiefroten Munde und dem vulgären Kinn, das von grenzenloser Entschlossenheit sprach. Sie trug ein grellgelbes goldbesticktes Kleid und war prätentiös auffallend. Und Wanja hörte mechanisch den Berichten von den Abenteuern dieser Veronica Cybò zu, in denen viele Namen von Männern und Weibern genannt wurden, die sie alle zugrunde gerichtet hatte.
„Eine Nichtswürdige ist sie, diese Canaille,“ hörte er Ugos Stimme, „ein Typus aus dem XVI. Jahrhundert.“
„Bah, das ist viel zu vornehm für sie! Einfach eine schmutzige Dirne,“ und aus dem Munde der korrekten Herren, die gierig zum gelben Kleide und den lasterhaften Nixenaugen hinüberäugten, kamen die gröbsten Bezeichnungen.
Wenn Wanja sich, selbst mit einer ganz harmlosen Frage, an Stroop wandte, wurde er rot und lächelte und es machte den Eindruck, als spräche er mit einem Freunde nach einem stürmischen Zwist oder mit einem Rekonvaleszenten, der eine schwere Krankheit überstanden.
„Ich denke immer an Tristan und Isolde,“ sagte Wanja zu Orsini, im Korridor auf und ab gehend. „Es ist eine ideale Darstellung der Liebe, eine Apotheose der Leidenschaft, aber wenn man die äussere Seite und das Ende der Geschichte in Betracht zieht, ist es dann eigentlich nicht ganz dasselbe, was wir in der Taverne auf dem Giuogo gesehen haben?“
„Ich verstehe nicht ganz, was Sie sagen wollen. Beunruhigt Sie das Vorhandensein der fleischlichen Vereinigung?“
„Nein, aber jede reale Handlung hat etwas Komisches und Beschämendes: Isolde und Tristan mussten doch ihre Kleider aufknöpfen und ausziehen, Mäntel und Beinkleider waren auch damals schon ebensowenig poetisch, wie unsere Röcke.“
„Welche Gedanken! Das ist komisch!“ lachte Orsini auf, und sah Wanja verwundert an. „Das ist doch immer so; ich verstehe nicht was Sie eigentlich wollen.“
„Wenn die nackte Tatsache ein und dieselbe ist, ist es da nicht gleichgültig, wie man zu ihr gelangt, ob nun in weltenerfüllender Liebe oder in tierischer Brunst?“
„Was haben Sie? Ich erkenne den Freund des Kanonikus Mori nicht wieder! Es ist selbstverständlich, dass die nackte Tatsache nicht wichtig ist, sondern, dass es auf die Stellungnahme zu ihr ankommt, und die empörendste Tatsache, die unglaublichste Situation kann durch die Stellungnahme zu ihr gerechtfertigt und geläutert werden,“ sagte Orsini ernst und fast lehrhaft.
„Vielleicht ist das auch, trotz seiner Erbaulichkeit, wahr,“ bemerkte Wanja lächelnd und setzte sich neben Stroop, den er aufmerksam betrachtete.
*
Sie kamen etwas zu früh auf den Bahnhof, um M-me Monier zu begleiten, die vor der Saison in Paris zwei Wochen in der Bretagne zubringen wollte. Auf dem blassgelben Himmel leuchteten die Kugeln der elektrischen Lampen, man hörte rufen: „Pronti, partenza“, die Reisenden eilten zu den früher abgehenden Zügen, und aus dem Büfett klangen ununterbrochen Bestellungen und das Klappern der Löffel herüber. In Erwartung des Zuges tranken sie Kaffee; auf einem ausgebreiteten „Figaro“ lag ein Bukett Gloire-de-Dijon-Rosen neben den Handschuhen von M-me Monier, die in einem maisfarbenen Kleide mit blassgelben Bändern abseits sass, die Herren witzelten über die eben gelesenen politischen Tagesneuigkeiten, da erschien am nächststehenden Tische Veronica Cybò im Reisekleide mit heruntergezogenem grünem Schleier, der Künstler folgte ihr mit einem Porteplaid und dem Träger mit dem Gepäck.
„Sehen Sie doch, sie reisen fort! Er geht endgültig zugrunde!“ sagte Ugo, der sich mit dem Künstler begrüsst hatte, als er zu seiner Gesellschaft zurückkehrte.
„Wohin reisen sie denn? Sieht er denn gar nichts? Ah, diese Canaille, diese Canaille!“
Die Cybò hob den Schleier, sie sah blass und herausfordernd aus, und wies stumm dem Träger den Platz, wohin er die Sachen stellen sollte, dann legte sie ihre Hand auf den Arm ihres Begleiters, als ergriffe sie Besitz von ihm.
„Sehen Sie da — die Blonskaja! Wie sie es bloss erfahren hat. Ich beneide weder sie noch die Cybò,“ flüsterte M-me Monier, während die andere Frau, die ganz in Grau gekleidet war, schnell auf den Künstler und seine Begleiterin zuging. Der Künstler sass mit dem Rücken zu ihr und konnte sie nicht sehen, die Cybò starrte bewegungslos mit ihrem Nixenblick vor sich hin. Als die Blonskaja dicht vor beiden stand, sagte sie leise auf russisch:
„Sergej, wohin und weshalb reisen Sie? Und weshalb ist das ein Geheimnis für mich, für uns alle? Sind Sie denn nicht unser aller Freund? Es ist einerlei, ich weiss . . . ich weiss, dass das Ihr Untergang ist! Vielleicht trage ich selbst Schuld daran und kann etwas wieder gutmachen?“
Die Cybò starrte die Blonskaja bewegungslos an, als sei sie blind und sähe sie nicht.
„Vielleicht hält es Sie zurück, wenn ich Sie heirate? Dass ich Sie liebe, wissen Sie.“
„Nein, nein, ich will nicht!“ stiess er grob hervor, als befürchte er nachgeben zu können.
„Kann denn hier wirklich nichts helfen? Ist das denn wirklich unabwendbar?“
„Vielleicht. Vieles geschieht zu spät.“
„Sergej, kommen Sie zu sich! Kehren Sie zurück, es wird ja nicht nur der Künstler in Ihnen zugrunde gehen, sondern Sie selbst richten sich zugrunde.“
„Was soll das Gerede? Es ist zu spät gut zu machen, und dann will ich es auch so!“ Die Cybò heftete jetzt ihre Augen auf ihn.
„Nein, Sie wollen es nicht so,“ sagte die Blonskaja.
„Weiss ich am Ende selbst nicht, was ich will?“
„Sie wissen es nicht. Und welch ein Knabe Sie sind, Sergej.“
Die Cybò hatte sich erhoben, um dem Träger, der den Handkoffer voraustrug, zu folgen und wandte sich geräuschlos ihrem Begleiter zu; dieser erhob sich, seinen Mantel anziehend, ohne der Blonskaja zu antworten.
„Sergej, Sie reisen also doch, Sergej?“
M-me Monier verabschiedete sich, laut zwitschernd, von ihren Freunden und nickte schon hinter dem Bukett Gloire-de-Dijon-Rosen hervor aus dem Waggon die letzten Grüsse. Als sie zurückgingen, sahen sie die Blonskaja, die ganz in Grau, auf ihren Sonnenschirm gestützt, zu Fuss ging.
„Es ist, als wären wir auf einem Begräbnis gewesen,“ bemerkte Wanja.
„Es gibt Leute, die jeden Augenblick auf ihrem eigenen Begräbnis zu sein scheinen,“ meinte Stroop, ohne Wanja anzusehen.
„Wenn ein Künstler zugrunde geht, so ist das sehr schwer.“
„Es gibt Menschen, die Künstler des Lebens sind; ihr Untergang ist nicht weniger schwer zu ertragen.“
„Und es gibt Dinge,“ fügte Wanja hinzu, „die zu tun es mitunter zu spät ist.“
„Ja, es gibt Dinge, die zu tun es mitunter zu spät ist,“ wiederholte Stroop.
*
Sie traten in eine niedrige Kammer, die nur durch die offenstehende Tür erleuchtet wurde, und in der ein alter Schuster mit einer runden Brille, wie auf einem Bilde von Dou, über einen Stiefel gebückt sass. Nach der Sonne auf der Strasse war es kühl. Es roch nach Leder und Jasmin, von dem einige Blüten in einer Flasche ganz oben unter der Oberlage auf dem letzten Brett eines Regals mit Stiefeln standen; der Geselle betrachtete den Kanonikus, der mit gespreizten Beinen, sich das Gesicht mit einem roten Seidentuche wischend, dasass. Und der alte Giuseppe sagte mit singendem gutmütigem Ton:
„Was bin ich? Ich bin bloss ein armer Handwerker, aber es gibt Künstler, Künstler! Oh, das ist nicht so einfach, einen Stiefel nach den Regeln der Kunst zu nähen; man muss den Fuss studieren, muss ihn kennen, für den man einen Stiefel nähen soll, man muss wissen, wo der Knochen breiter, wo er schmäler ist, wo ein Hühnerauge sitzt, wo das Blatt höher ist, als es sollte. Kein Mensch hat einen Fuss, wie der andere, und man muss ein Pfuscher sein, um zu glauben, dass jeder Stiefel auf jeden Fuss passt. Und ach, was für Füsse gibt es, Signori! Und alle müssen gehen. Gott der Herr hat den Fuss mit fünf Zehen und einer Ferse ausgestattet, und doch hat alles andere, verstehen Sie, ebenso seine Berechtigung. Und wenn einer sechs oder vier Zehen hat, so hat doch auch Gott der Herr selbst ihm solche Füsse gegeben und er muss gehen, wie andere Leute, das muss der Schuhmachermeister dann wissen und es möglich machen.“
Der Kanonikus trank, laut schluckend, Chianti aus einem grossen Glase und fächelte mit seinem breitrandigen Hut die Fliegen weg, die sich ihm auf die mit Schweisstropfen bedeckte Stirn setzten; der Geselle fuhr fort, ihn zu betrachten und Giuseppes Rede klang monoton, singend und einschläfernd.
Als sie über den Platz vor der Kathedrale ins Restaurant Giotto gingen, wo die Geistlichkeit zu verkehren pflegte, begegneten sie dem alten Grafen Ghidetti, der geschminkt, eine Perücke auf dem Kopfe, daherkam und sich fast auf die beiden blutjungen Mädchen stützte, die bescheiden und ehrbar ihm zur Seite gingen. Wanja fielen die Geschichten ein, die über den entnervten Greis, über seine sogenannten ‚Nichten‘, über die Erregungen erzählt wurden, die die abgestumpften Sinne des alten Wüstlings mit dem leichenhaften, geschminkten Gesicht und den von Geist und Witz sprühenden, lebhaften Augen, erheischten; ihm fielen seine Gespräche ein, bei denen aus dem stammelnden Munde Paradoxa, Witze und Geschichten hervorsprudelten, wie sie in unserer Zeit immer seltener werden, und er hörte Giuseppes Stimme sagen: „Wenn einer auch sechs oder nur vier Zehen hat, so hat doch Gott der Herr selbst ihm solche Füsse gegeben, und er muss gehen, wie andere Leute.“
„Die Steine, die Mauern wurden rot, als der Prozess des Grafen verhandelt wurde,“ sagte Mori, in das Zimmer links tretend, das von schwarzen Gestalten Geistlicher und einiger weniger weltlicher Personen gefüllt war, die am Freitage Fastenspeisen zu essen wünschten. Eine ältliche Engländerin unterhielt sich mit einem glattrasierten Jüngling in stark gebrochenem Französisch.
„Wir Konvertiten lieben den Katholizismus um so mehr, sind uns tiefer der ganzen Schönheit und Anmut seines Ritus, seiner Dogmen und Disziplin bewusst.“
„Arme Frau,“ erläuterte der Kanonikus, seinen Hut neben sich auf die Holzbank legend, „sie stammt aus einer reichen, guten Familie, und jetzt läuft sie umher und gibt Stunden, leidet Not, denn sie ist des wahren Glaubens teilhaftig geworden und alle haben sich von ihr losgesagt.“
„Risotto! Dreimal.“
„Wir waren unser dreihundert, als wir aus Pontasieve aufbrachen, Pilger zur Annunziata gibt es immer genug. Der heilige Georg, der Erzengel Michael, die heilige Jungfrau, mit solchen Beschützern braucht man sich im Leben vor nichts zu fürchten!“ verschwamm die Stimme der Engländerin im allgemeinen Lärm.
*
„Er war aus Bithynien gebürtig; Bithynien ist mit seinen grünenden Bergen, Wildbächen, Triften die Schweiz Kleinasiens, und er selbst war Hirt, bevor Hadrian ihn zu sich nahm; er begleitete seinen Imperator auf dessen Reisen, und auf einer solchen hat er auch in Ägypten den Tod gefunden. Es waren damals dunkle Gerüchte im Umlauf, dass er sich selbst den Göttern für das Leben seines Beschützers zum Opfer gebracht und den Tod im Nil gesucht habe, andre behaupteten, er sei ertrunken, wie er beim Baden Hadrian retten wollte. In seiner Todesstunde entdeckten die Astronomen einen neuen Stern am Himmel; sein vom Nimbus des Geheimnisvollen umgebener Tod belebte die Kunst, die bereits zu stagnieren begann, seine ungewöhnliche Schönheit wirkte nicht nur auf die Kreise des Hofes, und der untröstliche Imperator, der seinen Liebling ehren wollte, verleibte ihn der Zahl der Götter ein, stiftete ihm zu Ehren Spiele, gründete Palästren, baute Tempel, rief Orakel ins Leben, in denen er zu Anfang selbst in altem Versmass die Antworten schrieb. Aber es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass der neue Kultus nur mit Gewalt im Kreise der Höflinge verbreitet worden, offiziell gewesen und mit seinem Begründer gefallen sei. Wir finden noch mehrere Jahrhunderte später Vereine zu Ehren der Diana und des Antinous, deren Zweck Beerdigung ihrer Mitglieder auf Vereinskosten, Veranstaltung gemeinsamer Mahlzeiten und schlichter Gottesdienste war. Die Mitglieder dieser Vereine — Prototypen der ersten Christenvereinigungen — waren Leute der ärmsten Volksschichten, und auf uns ist ein ganzes Statut einer ähnlichen Einrichtung gekommen. So gewinnt im Laufe der Zeit die Göttlichkeit des Kaiserlieblings den Charakter einer nächtlichen, dem Leben nach dem Tode angehörigen Gottheit, die bei den Alten sehr populär war, freilich nicht die Verbreitung des Mithrakultus erreichte, aber doch eine der stärksten Strömungen der Vergöttlichung des Menschen darstellte.“
Der Kanonikus klappte das Heft zu, sah Wanja über die Brillengläser an und bemerkte:
„Wir haben mit der Sittlichkeit der heidnischen Imperatoren nichts zu schaffen, mein Kind, aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass das Verhältnis Hadrians zu Antinous selbstredend keineswegs das väterlicher Liebe war.“
„Wie sind Sie darauf verfallen über Antinous zu schreiben?“ fragte Wanja gleichgültig, mit ganz anderen Gedanken beschäftigt, und ohne den Kanonikus anzusehen.
„Ich habe Ihnen vorgelesen, was ich heute morgen geschrieben habe, aber ich schreibe überhaupt über die römischen Cäsaren.“
Wanja kam es komisch vor, dass der Kanonikus über das Leben des Tiberius auf Capri schreibe, und er konnte die Frage nicht unterdrücken:
„Haben Sie auch über Tiberius geschrieben, cher père?“
„Gewiss.“
„Auch über sein Leben auf Capri, erinnern Sie sich, wie es bei Sueton beschrieben wird?“
Mori fühlte sich getroffen und meinte hitzig:
„Sie haben recht, mein Freund! Es ist fürchterlich! Und von diesem Fall, aus dieser Kloake konnte nur das Christentum, die heilige Lehre, das Menschengeschlecht erretten.“
„Gegen Kaiser Hadrian sind Sie nachsichtiger?“
„Das ist ein grosser Unterschied, mein Freund, hier handelt es sich um etwas Höheres, obgleich es natürlich eine schreckliche Gefühlsverirrung bleibt; aber selbst durch die Taufe geläuterte Männer haben nicht immer erfolgreich gegen diese anzukämpfen vermocht.“
„Ist es aber, im Grunde genommen, in jedem einzelnen Falle nicht ganz dasselbe?“
„Sie befinden sich in einem schrecklichen Irrtum, mein Sohn. Bei jeder Handlung ist das Verhältnis zu ihr wichtig, ihr Zweck, wie die Ursachen, die sie veranlasst haben; die Handlungen selbst sind mechanische Bewegungen unseres Körpers, unfähig irgend jemand zu kränken, am allerwenigsten Gott, den Herrn.“ Und er schlug das Heft wieder an der Stelle auf, wo er seinen dicken Daumen hineingeschoben hatte.
*
Sie gingen den äussersten rechten Weg der Cascinen entlang, wo zwischen Bäumen, Wiesen und Molkereien und weiter hinter diesen niedrige Berge sichtbar waren; nachdem sie das Restaurant hinter sich gelassen hatten, das um diese Tageszeit leer war, nahm die Gegend immer mehr ländliches Aussehen an. Wächter mit blanken Knöpfen sassen hin und wieder auf den Bänken und in der Ferne tummelten sich Knaben in Soutanen unter Aufsicht eines dicken Abbate.
„Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie einwilligten, hierher zu kommen,“ sagte Stroop und liess sich auf eine Bank nieder.
„Wenn wir sprechen wollen, so lassen Sie uns das lieber im Gehen tun, ich begreife dann leichter,“ bemerkte Wanja.
„Ausgezeichnet.“
Und sie begannen zu gehen, machten ab und zu halt und setzten dann ihre Wanderung unter den Bäumen wieder fort.
„Aus welchem Grunde haben Sie mir Ihre Freundschaft, Ihre Zuneigung entzogen? Haben Sie den Verdacht gehabt, dass ich an Ida Holbergs Tode Schuld trage?“
„Weswegen dann? Antworten Sie aufrichtig.“
„Ich werde aufrichtig antworten: wegen Ihrer Geschichte mit Fjodor.“
„Glauben Sie?“
„Ich weiss das, was ist, und Sie werden doch nicht leugnen wollen?“
„Natürlich nicht.“
„Jetzt würde ich mich vielleicht ganz anders dazu verhalten, aber damals wusste ich noch vieles nicht und hatte über nichts nachgedacht, und ich hatte es sehr schwer, denn es schien mir, ich gestehe das ein, dass ich Sie unwiederbringlich verliere und mit Ihnen auch jeden Weg zur Schönheit des Lebens.“
Sie waren um eine Wiese herumgegangen und setzten jetzt ihre Wanderung wieder auf demselben Wege fort. In der Ferne spielten Kinder Ball und ihr lautes Lachen kam, durch die Entfernung gedämpft, zu ihnen herüber.
„In diesem Falle muss ich morgen nach Bari fahren, aber ich kann auch bleiben; das hängt jetzt von Ihnen ab; wenn es ‚nein‘ sein wird, schreiben Sie mir — ‚fahren‘, wenn es ‚ja‘ sein wird, schreiben Sie — ‚bleiben‘.“
„Welch ein ‚Nein‘ und welch ein ‚Ja‘?“ fragte Wanja.
„Sie wünschen, dass ich es Ihnen mit Worten sage?“
„Nein, nein, es ist nicht nötig, ich verstehe: doch was soll das?“
„Jetzt muss es so sein. Ich werde bis 1 Uhr warten.“
„Ich werde in jedem Falle antworten.“
„Noch eine Anstrengung und Ihnen wachsen Flügel, ich sehe sie schon.“
„Vielleicht, es ist nur sehr schwer, wenn sie wachsen,“ sagte Wanja lächelnd.
*
Sie waren lange auf dem Balkon sitzengeblieben und Wanja bemerkte erstaunt, dass er Ugo aufmerksam und sorglos zuhöre, als brauche er morgen Stroop keine Antwort zu geben. Es lag etwas Angenehmes in der Unentschiedenheit der Situation, der Gefühle und Verhältnisse, eine gewisse Leichtigkeit und Hoffnungslosigkeit. Ugo fuhr hingerissen fort:
„Sie hat noch keinen Namen. Das erste Bild: graues Meer, Felsen, in die Ferne lockender goldiger Himmel, die Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, alles in seiner Neuheit und Unerhörtheit schreckhaft und man erkennt plötzlich darin die urälteste Liebe und Heimat. Dann: Prometheus gefesselt und bestraft: ‚Niemand kann ungestraft das Geheimnis der Natur ergründen, ohne ihre Gesetze zu verletzen, und nur der Vatermörder und Blutschänder wird das Rätsel der Sphinx lösen.‘ Pasiphaë erscheint, blind aus Liebe zum Stiere, schrecklich und von prophetischem Geiste besessen: ‚Ich sehe weder des unharmonischen Lebens Buntheit, noch die Harmonie der prophetischen Träume.‘ Alle sind entsetzt. Jetzt das dritte Bild: Auf seligen Gefilden Szenen aus den Metamorphosen, in denen die Götter um der Liebe willen allerlei Gestalten annahmen; Ikarus stürzt, es stürzt Phaëton, Ganymed spricht: ‚Arme Brüder, ich allein von allen, die zum Himmel aufgestiegen sind, bin dageblieben, weil euch Stolz und Kinderspielzeug zur Sonne lockte, mich aber hatte die rauschende, Sterblichen unfassbare Liebe ergriffen.‘ Es erblühen prophetisch gewaltige, feurige Blumen: Vögel und Tiere gehen zu Paaren einher und in rosa flimmerndem Nebel erblickt man die achtundvierzig Beispiele der menschlichen Vereinigung aus den indischen Lehrbüchern der Liebe. Und alles beginnt sich in doppeltem Kreislauf zu drehen, jedes in seiner Sphäre und in immer weiterem Kreise, immer schneller und schneller, bis alle Umrisse miteinander verschmelzen und die ganze sich bewegende Masse Form annimmt und über dem leuchtenden Meere und den waldlosen, gelben Felsen unter der unerträglichen Sonne zur gigantischen Gestalt des Zeus-Dionysos-Helios erstarrt.“
*
Wanja erhob sich nach einer schlaflosen Nacht matt von Seelenqualen und mit schmerzendem Kopfe, und nachdem er sich absichtlich langsam gewaschen und angekleidet hatte, schrieb er, ohne die Jalousien zu öffnen, beim Tische, wo ein Glas mit Blumen stand, langsam hin: „Fahren,“ und nachdem er ein wenig nachgedacht hatte, schrieb er, ohne sein nicht ganz ausgeschlafenes Gesicht zu verändern, dazu: „Ich fahre mit Ihnen,“ und öffnete das Fenster zur Strasse, die in grelles Sonnenlicht getaucht vor ihm lag.
Gedruckt für Georg Müller Verlag in München durch die Druckerei Mänicke & Jahn in Rudolstadt. Die Vignetten zeichnete Konstantin Somoff. 25 Exemplare wurden auf Bütten gedruckt, vom Autor signiert und in Ganzleder gebunden.
Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):