Project Gutenberg's Eine Stunde hinter Mitternacht, by Hermann Hesse This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Eine Stunde hinter Mitternacht Author: Hermann Hesse Release Date: March 12, 2013 [EBook #42311] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EINE STUNDE HINTER MITTERNACHT *** Produced by Jens Sadowski
Streute ewiger Lenz dort nicht auf stiller Flur
Buntes Leben umher? Spann nicht der Frieden dort
Feste Weben? Und blühte
Dort nicht ewig, was Einmal wuchs?
Novalis.
Verlegt bei Eugen Diederichs
Leipzig 1899
Der Inseltraum | 1 |
Albumblatt für Elise | 29 |
Die Fiebermuse | 31 |
Incipit vita nova | 36 |
Das Fest des Königs | 39 |
Gespräche mit dem Stummen | 63 |
An Frau Gertrud | 70 |
Notturno | 76 |
Der Traum vom Ährenfeld | 82 |
Eine langhin gewölbte, sanfte Welle hob meinen Kahn mit dem gerundeten Bug auf das Gestein. Ein schiffbrüchiger Träumer verliess die Ruderbank und dehnte die Arme dem stummen Lande entgegen. Mein purpurner Mantel war mürbe geworden und warf von den Hüften abwärts weiche demütige Falten. Meine Arme und mein Hals waren von Rudern und Fasten mager geworden, mein Haar war lang gewachsen und bog sich in dichter Fülle in den Nacken. In dem dunkelgrünen, stillen Gewässer der Bucht lag mein Spiegelbild gebreitet, und ich sah, dass auf der langen Fahrt alles an mir anders geworden war, brauner, schlanker und biegsamer. Auf meinen Wangen hatten grausame Stunden Denkmale ihrer Gefahren und Niederlagen und Überwindungen geschaffen. Alle Morgen ohne Sonne, an denen ich mit wunden Gliedern an mein Fahrzeug geklammert hing, alle Stürme, die mir die Abgründe des Meeres zeigten, hatten sich mir in Ecken und Furchen mit tiefer Schrift auf Wangen und Hals geschrieben.
Aber meine Augen standen klar in weiten Höhlen, mit wachsamen Kinderblicken. Sie hatten viele Nächte durchwacht und nach den ewigen Sternen gesucht und die farbigen Nächte des Meeres aufmerksam durchdrungen nach aufsteigenden Segeln oder Gestaden. Sie hatten viele Tage lang keinen Staub gesehen und selten nur mit lächelnder Sehnsucht von ferne das Grün vorübergleitender Wälder und den Rauch aus fernen, verborgenen Städten gestreift. Nun lachten sie hell und gross mich aus dem glatten Spiegel an. Und nun tranken sie den lange entbehrten Anblick der weissen Steine, der bräunlichen Erde, der Gräser und Gebüsche. Ich sah die Luft um die Gebüsche wie einen feinen, weisslichen Rand, denn ich war lange der Luft entwöhnt, welche über Erde und Grünem ist. Meine Nüstern sogen mit scheuer Lust den vollen, zärtlichen Duft der Wiese und des nackten Bodens, und mein Fuss trat stark und schonend zugleich auf das köstliche Gut des festen Erdreiches.
Ein Wind kam lässig vom Lande zu mir geflogen. Er trug einen Geruch von Waldkraut und einen leisen Duft aus entfernten Gärten. Da reckte ich in süsser Wonne ihm beide Arme weit entgegen und fühlte mit Lust seinen weichen Hauch meinen Fingern und Händen entlang und an meinen Schläfen hin gleiten, die der schneidenden Seewinde gewohnt waren.
Ich zog mein graues Boot auf den Sand und strich mit der Rechten über die harte Wölbung des Bordes, die von meinen klammernden Händen geglättet war. Darauf wandelte ich landeinwärts bis zu dem hohen Gebüsche, das dicht und ringförmig wie eine Mauer stand und sich weiter erstreckte, als meine Blicke reichten. Ich ging der grünen Hecke entlang und freute mich des warmen, bläulichen Schattens, der von grüngoldenen Lichtern durchwirkt war. Mein Gang führte über eine Wiese mit weichen Gräsern, welche allmählich höher wurden und mit seidenen Blüten meine Kniee berührten. Die grasige Fläche lag im hellen Sonnenlicht, nur der Rand, den ich entlang schritt, war von den hohen Büschen mit einem gleichmässigen Schattenbande gesäumt.
Indem ich weiter schritt und eine linde Müdigkeit meine Kniee leicht befing, that sich zu meiner Linken ein schmaler Eingang, einem Thore ähnlich, in die Gebüsche auf. Ich erblickte ein grünes Dunkel, von einem Muschelpfad durchschnitten, und im Hintergrunde ragende Baumkronen. Der Eingang aber war durch eine künstlich gewundene Blumenkette verboten. Ich stand eine Weile, und meine Augen badeten sich in dem zarten Dämmer und erfreuten sich an der Stufenfolge sanfter Farben. Denn von der lichtgrünen Hecke bis zu den halbsichtbaren Geheimnissen des innersten Haines zerfloss das Grün in tausend Schatten; das Auge folgte begierig dem mählich vertieften Dunkel bis zu den entferntesten, braunen Waldfarben und kehrte mit neuer Lust zu dem gelblichen Licht der besonnten Wiese zurück.
Ich löste die Blumenkette in fröhlichem Übermut von den rundköpfigen Pfeilern, dass der Eingang offen lag, und schlang das rot und weisse Gewinde um Hals und Hüften, so dass ich wie zu einem Sommerfeste geziert war. Darauf ging ich behutsamen Schrittes dem halben Dunkel entgegen. Ich fand ein genaues Kreisrund aus dem Dickicht geschnitten, mit dichten Wänden von jungen Stämmen und Büschen, und auch der schmale Pfad war künstlich durch das wilde Gehölz gehauen. Durch die Wipfel überhängender Bäume sank ein braun und grünes Licht. In dem runden Aushau war die Erde mit hellem Sande bestreut, und zwei schmale, halbrunde Sitzbänke aus Marmor standen einander gegenüber. Eine tiefe Waldstille lag darauf. Ich wandte mich und folgte dem Pfad, der in die Tiefe des Haines führte. Mein Haupt ward von dem ungewöhnten Dufte schwer und ich hörte das Klingen meines raschen Blutes.
Als ich einige Zeit gegangen war, wuchs die Schwere meiner Kniee, und ich ersehnte einen Ort zu ruhen. Indem bog sich mein Weg und wurde breiter, und die auf beiden Seiten schnell zurücktretenden Waldwände gönnten den Anblick eines lichten Raumes, welcher sich weit ausdehnte und wie ein Garten anzusehen war. Viele breite und schmale Wege, oft von Gebüsch gesäumt, schlangen sich um Rasenflächen und um Beete, in welchen Rosen und andere vielfarbige Blumen in Pracht und Fülle wohlgepflegt und ohne braune Blätter standen. In der Mitte des ebenen Gartens erblickte ich edle Gruppen alter Bäume, hinter denen ein Bau, Palast oder Tempel, aus Marmor in dämmerndem Weiss sich zeigte.
Eine niedrige Bank, von grossen Cypressen ganz beschattet, zog mich an. Ich setzte mich in den weichen Rasen und lehnte das Haupt mit darunter gekreuzten Armen gegen den steinernen Sitz, wie ich zuweilen in stillen Nächten an meiner Ruderbank gelegen hatte. Ich schaute hoch über mir den weiten Himmel in wunderbarer Bläue und wenig kleine, blanke Flaumwölklein ruhig stehend, dann schloss ich die Augen und ergötzte mich an dem roten Schimmer, der mir durch die Lider drang. Darauf neigte der Gott des Schlafes sich über mich und löste mir wohlthätig die müden Glieder.
Meine Seele hob die Schwingen im Traum; die Bilder von gestern und ehegestern erwachten zu neuer Schrecknis oder Trauer. Das Meer umdrängte mein Fahrzeug mit peitschenden Wassern und der Himmel zürnte in Unwettern. Und gewaltiger als der Himmel lag die lautlose, lang ersehnte, schwer zu tragende Einsamkeit über mir. Und dahinter das Land, aus dem ich mich gerissen, mit geräuschvollen Städten. Ein müdes Echo, ein halbverlorener Duft, ein halbvergessenes Jugendlied — so war in Schmutz und Geräusch ein Schimmer von Schönheit und Kunst gegossen. Wie oftmals sah ich dort ihr scheues Licht in ängstlichen Reflexen, und zitterte mit ihr, und litt mit ihr! Ferner noch mit altmodisch lichten Himmeln lagen die Frühlinge meiner Kindheit und rührten mit zärtlichem Dufte an mein Herz.
Auf leisen Fittichen flog mein Traum über die verschlungenen Pfade meines Lebens zurück bis zu den ersten Sonnenaufgängen, und schwebte lang in verflogener Schwermut über den ersten Bergen, die ich erstieg, und über dem Haus meines Vaters.
Die Sonne war über die Ränder der Cypressenwand gestiegen und traf meine schlummernden Augen mit heissem Lichte. Ich hob das Haupt und erwachte zum neuen Anblick des tiefen Himmels und des grünen Gartenlandes.
Helle Stimmen klangen in mein Ohr und ich hörte, dass es Menschenstimmen waren, welche in übermütigen Rufen ihre Lust kundgaben. Es war aber in diesen Stimmen ein reiner, meertiefer, metallener Grund, den ich nie bei Menschen vernommen hatte und welcher an den unberührten ersten Fall einer frischen Quelle erinnerte, so ohne Wissen von Unrat und so voll von Lust am Leben und an der eigenen Schönheit. Es war darin der starke und süsse Ton, den wir mit unbeschreiblicher Beklemmung zu hören vermeinen, so oft unsre Seele mit den Menschengeschlechtern der alten, goldenen Zeitalter traurige Unterredungen pflegt.
Indem ich vorsichtig die breiten Fächer der Zweige teilte, erblickte ich eine Schaar junger Frauen mit schlanken Leibern um einen vergoldeten Ball bemüht. Sie waren in zwei Lager geteilt und führten einen anmutigen Krieg um den Besitz des blanken Zierats, den ein lachendes Mädchen immer von neuem über ihre Häupter hin empor warf. Sie trugen helle, weite Gewänder und die Haare zumeist in einfache Knoten gebündelt. Ich sah die reinen Linien der Hälse und Nacken, wenn sie sich bückten oder mit ganz zurückgelegten Häuptern nach dem Fall des Spielzeuges spähten. Ich sah die zarten Grübchenformen der Knöchel, über denen sich goldene oder weisse Sandalenbänder kreuzten. Ich sah die bewegten schlanken Leiber, beim Laufen vorgebeugt, und die schönen, leicht geröteten Arme, die sich häufig aus den weichen Falten der Oberkleider reckten.
Plötzlich vernahm ich ein Wipfelzittern über mir, und der goldene Ball fiel neben mich weich in den Rasen. Ich nahm ihn auf, und mein Herz begann mit hastigen Schlägen zu pochen wie Einem, der einer grossen Gefahr oder einem grossen Glücke unvermutet ins Auge sieht. Die Spielerinnen eilten schon meinem Versteck entgegen.
Ich brach durch den Busch und stand wie ein Gespenst vor der hellen Schaar, den Ball in der Rechten hoch empor haltend. Ich warf ihn in die Lüfte, aber sie wichen seinem Falle aus und standen mit erstaunten Augen vor dem Fremden. Da ich näher schritt, teilte sich ihre Menge und liess eine breite Gasse meinem Wandel frei. Aufschauend gewahrte ich eine hohe Frau mir nahe gegenüber stehen, welche die Schönste und die Königin der andern war.
Ich schlug den Blick zum Boden nieder und neigte mich vor ihr. Ein weisses Kleid floss in priesterlichen Falten lang von ihren Knieen, und sie war von einer solchen Reinheit und Würde umgeben, dass plötzlich mein Sinn klein und voll Scham wurde. Alle Irrwege, die ich gegangen war, alle Lästerungen, die ich gethan hatte, und alles Hässliche und Kranke meines unstäten Lebens ward mir schwer bewusst, und aller Glanz und Stolz fiel von mir ab. Ich lag auf den Knieen und beugte mein Haupt in Scham und Demut, da sie ihre reine Stimme erhob. Ihre Stimme war voller und prächtiger als die Stimmen der übrigen Frauen, und hatte einen fürstlich hohen Ton, vor dem meine Scheu erschrak. „Was suchst du hier, mein Freund, und wie hast du den Weg zu uns gefunden?“
Ich schaute auf und sah grosse Augen ernst auf mich gesenkt. „Den Weg zu dir fand ich durch hundert einsame Tage und Nächte auf dem feindlichen Meer, durch hundert Ängste und bange Nachtwachen. Mein Arm ist hager geworden von der Mühsal der Fahrt, und meine Hände sind wund geworden. Ich trage einen Purpur, der aus deinem Lande ist und von dir mir in die Wiege ist gelegt worden. Aber meine Hände sind befleckt und meine Augen voll Ekels geworden, ich bin müde und unwert, den Purpur länger zu tragen, der für frohe Hände und selige Augen bestimmt ist. Und bin gekommen, ihn zurückzugeben.“
„So wenig gilt dir der königliche Schmuck?“ fragte die Königin und heftete wieder unbeweglich den ernsten Blick auf mich. „Ich kenne dich wohl, du Müder. Ich bin über deinem Leben gewesen, ich habe deiner Kindersehnsucht von blauen Bergen und deiner Knabenfrömmigkeit von Göttern erzählt. Ich zeigte manches Mal deiner Ahnung die Bilder und Gleichnisse der Schönheit. Warst du es nicht, der die Tempel, in welchen ich dich beten lehrte, zerstört und der die Gärten der Liebe, deren Pforte ich dir zeigte, geschändet hat? Warst du es nicht, der die Lieder, die ich dich singen lehrte, in Gassenlieder verkehrte und der die Becher der Freude, die ich dir reichte, zur Trunkenheit missbrauchte?“
„Ich war es. Ich ging in der Irre, so oft du mir ferne warst. Ich habe oft die Arme verlangend nach dir gebreitet und habe nach dir gerufen und alles Ehrwürdige meiner frühesten Jugend beschworen, aber du erhörtest mich nicht, und das Leben rollte tot an mir vorüber. Da verzweifelte mein Herz und fluchte seinen Göttern und sank von allen Höhen. Ich bin nun müde des Fallens und Wiederaufstehens — nimm dein Geschenk wieder, leg’ es auf härtere Schultern, und lass mich werden, wie andre sind!“
Die Königin schaute zur Seite. Ich wagte einen schnellen Blick auf ihr Gesicht, das mir eigen vertraut erschien, und sah den Schatten eines Lächelns darauf. „Mich wundert“, sagte sie, „dass solcher Kleinmut den beschwerlichen Weg zu unsrer Insel gefunden hat.“
„Nicht Kleinmut, meine Königin! Mich trieb der Ekel vom Leben, mich stiess der Dunst der Städte und die geräuschvolle Lust ihrer Tempel von sich, auf der Fahrt wuchs noch täglich mein Verlangen nach deinem Anblick. Arbeit und Gefahr hat mich herb gemacht, die Einsamkeit befreite mein Auge von den Dünsten des verlassenen Lebens. Und da ich dein Land mit sanften Höhen aus blaueren Meeren langsam erstehen sah, da lernte mein verjüngtes Herz einen neuen, fröhlichen Stolz. Als ich deinen Boden betrat, reckte ich Beterarme nach seinen Wundern aus, ich ging durch deinen Wald als ein Wiedergeborener. Wahrlich, fester zog ich den Purpur um meine Schultern und mein Gang war nicht der Gang eines Büssers. Hinter jenem Dickicht lag ich im Grase gestreckt und belauschte das Spiel deiner Frauen, und mein Herz schlug tiefe Schläge. Aber mein Auge ertrug deinen Anblick nicht; alles was unwert und krank an mir ist, übermannte mich vor deiner Reinheit.“
„Steh auf!“ sagte sie nun mit einem gütig tiefen Ton, „und dränge mich nicht um eine Antwort. Sei mein Gast und versuche noch einmal, unter meiner Herrschaft zu leben!“ Ich erhob mich mit unsicherem Blick. Die Schönste aber nahm meine linke Hand und führte mich zu den wartenden Frauen. „Begrüsse meine Freundinnen“, sagte sie, „und sieh, ob nicht eine dir bekannt ist.“ Da geschah meinem Auge etwas Seltsames, indem ich mit einem freien Grusse unter die schönen Gestalten trat. Überall sahen bekannte Augen mich an, ich fand Bewegungen und Blicke, die ich zu andern Zeiten schon gesehen hatte, und wunderte mich, dass ich die Schönen nicht mit Namen zu nennen vermochte. Allmählich erkannte ich einige, und bald merkte ich wohl, dass alle schönen Frauen, die ich gekannt und bewundert hatte, hier versammelt waren. Eine jede aber war nur kenntlich durch eben die besonderen Seltenheiten, durch welche sie für mein Auge irgend einmal reizend, verschieden von den andern und schöner als die andern, hervorgetreten war. Alle Augenblicke meines Lebens, welche durch den Anblick der Frauenschönheit wertvoll und liebenswert geworden waren, lebten hier unvergänglich in herrlichen und vollkommenen Bildern. Von diesen Frauen konnte keine den übrigen vorgezogen oder nachgesetzt werden, nur die einzige Königin vereinigte auf eine wunderbare Art die vielfachen besonderen Schönheiten in ihrem vollkommenen Wuchse und in der Bildung ihres Angesichts, dessen Würde und Lieblichkeit ich über alle Bilder und Lobpreisungen erhaben fand. Ihre Augen aber, wenn sie die meinigen ruhig und freundlich trafen, riefen in mir den Frühling meiner ersten Liebe mit aller verlorenen und beweinten scheuen Wonne wach.
Die Nacht zog ihren schwarzen Kreis enger um die Gärten; sie kam rasch und herrisch wie die Nächte des Südens. Nach einander versanken Hügel, Wald und Gebüsche, bis auch die nahestehenden schnell und lautlos sich verhüllten und plötzlich in das Reich der Geheimnisse verschwanden.
Ich sass zu Füssen der Königin in dem weiten Halbrund einer offenen Halle. Die schweren Säulen hoben sich rein und ruhig, Wächtern gleich, von der matthellen Himmelsferne ab. Zwei rote Feuer brannten am Eingang in steinernen Becken, über uns hing eine silberne, vierflammige Ampel. Von drei Seiten kam die schwere Nachtluft herein und führte den Duft des wohlriechenden Öles in langsamen Wogen davon. Das Meer, dessen Geräusch am Tage nicht bis in den Palast und die Gärten reichte, sang gedämpft in grossen Rhythmen. Der Gesang der Frauen war kaum verstummt und in der Luft lag noch ein feiner Nachhall festlicher Melodien. Mir wurde eine kleine fünfsaitige Laute gebracht, die Augen der Wartenden hingen an meinem Munde. Ich schloss die Augen und sog den Duft der Nacht und fühlte ihr lindes Wehen in meinem Haar. Mein Herz war voll wehen Glückes und meine Stimme zitterte, als ich zu singen begann. Mein Finger rührte an die feinen Saiten — ich hatte lange Zeit nimmer gesungen, der Takt und Tonfall der Verse stieg mir neu und berückend zu Haupt.
Ich sang von einem vergangenen Sommer, da zum ersten Mal mein Knabenauge an der Gestalt und dem Gange eines jungen Weibes hing. Und sang von den späten Abenden, da der Lindenduft schwoll und da ich mein wehes Verlangen mit wilden Schlägen über den schwarzen Weiher ruderte, da ich die Bänke und Wege und Treppen besuchte und alle Stätten, an denen ich die schlanke Wohlgestalt des Tages aus banger Ferne erblickt hatte. Von den Tagen, da meine Liebe mich auf heissem Pferde in langen Ritten umhertrieb. Ich gedachte der in Fülle erblühten Rosenhecken und pries die schattigen Gänge, welche der Duft des Jasmin erfüllte.
Von den Frauen lächelten manche, und manche sahen mich aus grossen Augen ernsthaft an. Als ich den Blick nach der Allerschönsten wandte, sah ich breite, bläuliche Lider über ihren Augen geschlossen und sah einen holden Mund und feine Wangen in sanften Frühlingsfarben, und eine blanke Stirn von krausem Blondhaar fröhlich verschattet. Ich erblickte das Bild meiner ersten Liebe, schön und verzaubert von Erinnerung und Heimweh, wie es manchmal in Lieblingsträumen mir erschien. Mein Herz war erregt und schwer von Liedern und Sehnsüchten einer andern Zeit. Ich berührte die Hand der Königin. „Erinnerst du dich, Lieblichste?“
Sie lächelte und schlug die Augen auf. „Sag’, bist du nicht glücklicher als Andere gewesen?“ Ich nickte leise mit dem Haupt und konnte mein Auge nicht von den Lippen wenden, die Elisens Lippen waren.
„Bist du auch dankbar gewesen?“ Da ward ich traurig und musste das Haupt wieder senken. Sie winkte einer der Frauen, welche aus dem mit reicher Kunst aus Silber getriebenen Mischkrug eine leichte Schale mit süssem Weine füllte. Sie nahm das zierliche Gefäss und bot es mir freundlich hin. „Du bedarfst nun der Ruhe. Trinke und lege dich schlafen. Meine Gastfreundschaft wird deinen Schlummer beschützen.“
Ich trank und reichte der Gütigen dankbar meine Hand. Die schöne Dienerin öffnete mir im Innern des geräumigen Palastes ein Gemach, entzündete eine hängende Ampel und verliess mich. Das Gemach war von mässiger Grösse, mit hohen Fensteröffnungen. In der Mitte war ein niedriges und einfaches Lager bereitet. Ich legte mich nieder und sah die Wände entlang in der Höhe des Estrichs einen schmalen Fries gezogen, darauf in halberhabener Arbeit die Tugenden Weisheit, Mässigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit der Schönheit dienten und Opfer brachten. Die sanften und edlen Formen dieser Bilder breiteten ihre Ruhe und Einfalt auf meinen erregten Sinn und begleiteten ihn als schwebende Traumbilder in den Schlaf.
Als ich am frühen Morgen stark und fröhlich erwachte, sah ich über mich ein helles Angesicht geneigt, das ganz von langen, mattfarbenen Haaren umkränzt war. Mein Herz erkannte das schöne Bild und begrüsste die Wartende mit dem Namen, den sie trug, als noch ihr leiser Schritt stundenlang neben mir durch Hain und Wiesen ging. „Frau Gertrud!“
„Komm mit,“ rief sie bittend, „wir wollen die Wege aufsuchen, die wir sonst gegangen sind.“ Hinter dem Palast und diesen weit überragend war ein Hain alter Platanen, welche in Paare und Gruppen verteilt wie Freunde standen. Frau Gertrud ging neben mir auf dem gewundenen Fusswege. Der Weg aber und der Hain waren vollkommen dem Weg und Hain ähnlich, in denen wir vor Zeiten zu lustwandeln geliebt hatten. Mein Herz war weich und hörte Winde und Vogelrufe mit leiser Wehmut klingen. Durch denselben Rasen war mein Fuss einst geschritten, dieselben Winde und Vogelrufe waren einst in mein Ohr gekommen, und ich wusste kaum: war das gestern, oder war’s vor vielen vergessenen Jahren.
„Kennst du ihn?“ fragte Frau Gertrud und legte ihre Hand an den gefleckten Stamm einer Platane, die wir damals, weil sie die älteste und höchste war, den „Vater“ genannt hatten. Ich nickte still. „Und kennst du noch dieses Grün und Gelb, und diese Wege und Gebüsche?“ Mir war wohl und müde zu Sinn. Ich nickte still.
„Dein Spätsommertraum!“ sagte sie. „Dein Liebling! Die Lieder, die du von ihm gedichtet hast, die Tage, an denen du Heimweh nach ihm hattest, die Nächte, da er Dich auf breiten Flügeln besuchte, deine eigene Erinnerung und Sehnsucht ist es, welche dich umgiebt.“
Ich legte Frau Gertruds schmale Hand in meine Hand und fand wie vormals ein Wohlgefallen an ihrer adligen Form und Weisse, an den blass gezogenen Adern und an dem Hellrot der zarten Finger. „Weisst du noch“, fragte Frau Gertrud, „jenen ersten Mittag unter den überhängenden Zweigen der Syringen?“
„Ich weiss noch. Ich weiss auch alles noch, was damals war. Wie du mein Trost und Ratgeber warst und an die ferne Mutter mich erinnertest. Ich war krank und verirrt gewesen, da wecktest du, was noch fromm und ehrfürchtig in mir war. Du lehrtest mich wieder die verlorene Schönheit suchen und jung werden, wenn ich sie in herrlichen Augenblicken erschaute.“
„Einmal, mein Freund, wolltest du von mir und deinem Glücke ein Lied erschaffen. Weisst du noch? Deine Tage und Nächte waren des werdenden Liedes voll, und mit fleissiger Liebe suchtest du nach allem, was selten und kostbar ist, nach Lichtern und Tönen, die noch kein Künstler fand, nach Liebesworten und Worten der Ehrfurcht, die noch kein Dichter sagte. Siehe um dich! Hier liegt in ungehoffter Vollendung dein ganzes Lied. Bäume und Büsche in edlen Gruppen, goldene und braune Lichter, Gesänge auserwählter Waldvögel. Und auch mich siehe an! Was noch klein und zufällig und künstlich an mir war, das ist von mir genommen. Was du hier siehst, das alles ist schöner als alle Wirklichkeit, und wirklicher als alle Wirklichkeit. Erlausche jeden leisen Tonfall des Windes, trinke mit ungetrübten Augen die vielerlei Farben des Laubes, sorge, dass dies alles dein eigen werde! In der Ferne wirst du des Nachts erwachen und wirst mit Qualen jeden Laut und jeden Schatten vermissen, dessen dein inneres Auge nicht mehr mächtig ist. Dann aber wird auf hundert Wegen dein Lied dir entgegenkommen, die Wonnen deiner ersten Gesänge werden dich heimsuchen, Fremdes wird mit Fremdem sich verbinden, dein Werk wird wachsen und an Leben zunehmen, bis es in einer stillen Stunde die Werkstätte verlässt und vollendet, rein und wohllaut vor Dir steht.“
Frau Gertrud schwieg und legte wieder ihre Hand in meine Hand. Das Rauschen entfernter Wasserkünste klang kühl und freundlich zu uns her. Über das Himmelsrund, welches von den Platanenwipfeln eingeschlossen war, glitt ohne Flügelregen langsam hoch oben ein grosser Vogel.
Andern Tages wachte ich frühe auf, noch ehe die ersten Vögel sangen. In der Nacht war ein schwacher Regen gefallen. Die Erde war noch feucht und duftete herb. An den Blättern hingen klare Wassertropfen. Mit jedem Schritt und Atemzug fühlte ich in mir Jugend und Gesundheit. Die Fernen und der kräftig blaue Himmel hatten ein heiteres und jungfräuliches Ansehen. Nur vor langer Zeit, als ich ein Knabe war und ehe die Ahnung der Liebe und heissblütiger Leidenschaften mich umtrieb, hatte die Erde mir dies genügsam fröhliche Gesicht gezeigt.
Ich schlug einen wenig gepflegten Waldweg ein, der bald gegen die Mitte eines alten Forstes hin mehr und mehr verwilderte. Ein schwerer Wind fuhr über die Kronen alter Eichen, die mit vielfach gekrümmten Ästen über ersticktes Untergehölz hinweg einander umschlangen und gemeinsam als ein einträchtiges Riesengeschlecht nach Raum und Helle sich streckten. Oft fand ich auf den schwarzen Waldboden scharfe Spuren kleiner Hufe gedrückt, den Pfad der Quere schneidend, und einmal meinte ich im Halbdunkel eines nahen Dickichtes den feinen Kopf eines Hirsches sich schlank und königlich erheben und wenden zu sehen. Ich spähte und lauschte und stand manchmal mit verhaltenem Atem lange still, bis meinen oft erregten und getäuschten Sinnen der Wald voll von Erscheinungen und schweigsamen Wundern war. Ein breiter Bach ging brausend über Stein und Moos bergab in ein plötzlich hereintretendes Thal. In den Tiefen seines Bettes, die von Wasserstürzen überwölbt waren, schwammen lautlos und dunkel scheue Forellen und verschwanden wie dunkle Blitze, sobald nur mein Schatten über ihren Schlupfwinkeln hinwegstrich.
Dem fröhlichen Stürmer folgend gelangte ich unversehens in ein wohlbekanntes Thal. An dessen Mündung bog ich um die vortretende Höhe und verliess den Bach, der zur andern Seite strebte und bald nur noch leise zu hören war. Ein junger Buchenstand, langsam sich lichtend, trat endlich ganz zurück und gab ein heimlich anmutendes Bild meinen Blicken frei. Mehrere Hügel streckten in ein breites Wiesenthal bewaldete Ausläufer vor. Vor mir lag in hohen Binsen ein dunkler Weiher, an dem ich als Knabe viele Mittagstunden verweilt hatte. Einzelne Laubbäume mit astlos hagern Stämmen und hohen, spärlichen Kronen spiegelten sich voll in der bräunlichen Fläche. Die ersten Lebensträume waren an diesem Schilfufer über die Tiefe meiner Knabenseele gegangen, sich in der unbewegten Fläche spiegelnd. Die ersten, wunderlich krausen Dichtergedanken hatte diese freundlich ernste Einsamkeit in mir erregt.
Ich beschattete meine Augen mit der Rechten und sog die milden Farben in mich ein, und die Stille, und den Frieden, von dem mir schien, als hätte ich ihn dort an den Lieblingsplätzen einer anderen Zeit zurückgelassen. Die trockenen Spitzen der Halme und Schilfblätter bewegten sich unregelmässig mit einem leblosen Geräusch, welches die Stille noch fühlbarer machte. Am jenseitigen Ufer stieg aus dem warmen, feuchten Boden ein dünner Dampf, der die weiter liegenden Hügel mit dem hellen Himmel zu einer sanften Ferne verband. Und über den nächsten Hügelrücken ragte kurz und spitz der schmale Turm der Klosterkirche. Dort begann auch bald ein reines Geläute. Die langen Töne gingen in milden Wellen über mich hin.
Hinter dem Hügel wusste ich das Kloster stehen, wo ich zuerst über Heute und Morgen denken lernte, wo ich zum erstenmal die herbe Süssigkeit des Wissens kostete und die süsseren Ahnungen verhüllter Schönheit. Dort vernahm mein empfänglicher Sinn alle grossen Namen, die hoch und feierlich über meinen Gedanken standen, die grossen Namen des Perikles, des Sokrates und Phidias, und den grösseren des Homer.
Mein Geist sah die Wölbungen der Säle und die gotischen Fenster der Kreuzgänge deutlich vor sich stehen, und es zog mich stark hinüber, die wehe Lust des Wiedersehens zu kosten. Aber ich blieb; ich fürchtete, mir das innere Bild zu zerstören; ich fürchtete Andere dort gehen zu sehen, wo ich in Träumen heimisch war.
Die Sonne glänzte auf der Spitze des Turmes. Der Hügelrücken stand scharf und ernst zwischen hier und dort, zwischen mir und jenen untergegangenen Dämmerungen. Ich streckte grüssend die Hand aus und war im Innern bewegt. Ein Stück von mir lag dort begraben, und welch eine Fülle unentfalteter Regungen und unerlöster Jugendträume!
Ein schmaler Brettersteg ragte in den Weiher. Ich beschritt das zitternde Gerüste und beugte mich, wie ich oft gethan, über die Brüstung vor. Mein Spiegelbild lag ruhig im Wasser. Ich suchte Züge an ihm, die mich an das Gesicht erinnerten, welches damals aus derselben Tiefe mich ansah. Dann verliess ich den stillen Ort und wanderte langsam durch die Waldung zurück.
Im Garten fand ich die Königin mit ihren Frauen im Kreise sitzend. Eine Schale voll goldgelber, duftender Früchte ging von Hand zu Hand, und jede der Spielerinnen musste ein Wort über die Früchte sagen, ehe sie eine der lockenden verspeisen durfte. Die Schale schwankte eben in dem Händlein einer kleinen Schwarzen, hinter deren Sitz ich gerade ankam, noch von einer Oleanderreihe verborgen. Die Kleine beugte sich über das schöne Gefäss, einen hellen Nacken mit schwarzen Ringelhaaren zeigend, und suchte mit bedächtigen Augen die reifste Frucht. Diese zog sie am Stiel mit zwei Fingern heraus, hob sie bewundernd über sich und näherte sie langsam ihrem lüsternen Munde. „Da derjenige nicht hier ist“, sagte sie lachend, „welchem allein ich die Süsse gönnte, erlaubt mein Neid mir nicht, diese Schönste einer andern zu überlassen.“ Sprach’s und that einen guten Biss in das süsse Fleisch, indem ich eben aus dem Gezweige hervortrat.
Die Frauen, welche mir gegenüber sassen und mich zuerst erblickten, brachen in ein lustiges Gelächter aus, das sich zu beiden Seiten des Kreises, da immer eine Nachbarin der nächsten nach mir deutete, bis zu der vor mir Sitzenden fortsetzte. Diese blickte mit Verwunderung im Kreise umher, noch die Schale in der Linken, lachte mit, ohne zu wissen warum, stand schliesslich auf und drehte sich um, wobei sie erschrocken und schnell errötend mich mit der angebissenen Frucht berührte. Dann aber fasste sie sich eilig, sagte herzhaft „Da!“ und hielt mir den Bissen vor den Mund.
„Erst deinen Spruch!“ ermahnte heiter die Königin. „Diese köstlichste eurer Früchte“, sagte ich schnell, „ist mir eine sichtbare Gunst des Glückes, welche abzuweisen mir verderblich sein würde. Also gönnt sie mir und erlaubt, dass ich meine tapfere Vorkosterin Fortuna nenne. Tibi, Fortuna!“ Der süsse Bissen erfrischte mich bis ins Mark.
Indessen war es Mittag geworden und wir wichen vor der heisseren Sonne in die Halle zurück. Nebst den Früchten wurde Brot und Honig gebracht, Milch in Kannen und Wein in einem steinernen Krug. Wir bedienten einer des andern Hände mit Wasserbecken und sassen fröhlich zu Mahl. Neben mir an sass Fortuna, viel geneckt und mit lächerlichen Kosenamen gerufen, tapfer und plaudernd. Sie schwieg aber und horchte, und ich auch, als eine der Frauen mit halbem Ernst Erzählungen aus meinem Leben vorzutragen begann, von den Meisten oft durch Gelächter und neue Geschichten unterbrochen. Auch die Königin nahm teil.
„Erinnerst du dich noch“, sagte diese zu mir, „an die Geschichte vom Blondel, aus deiner Kinderzeit? Es ist den Dichtern gegeben, dass sie sich mehr als andre Menschen ihres frühesten Lebens erinnern. Wenn du noch weisst, so erzähle uns doch davon.“
Die Begebenheit aus meiner ersten Knabenzeit, an die ich Jahre lang nicht gedacht hatte, stand plötzlich wieder deutlich vor mir, wie eine schüchterne Kindergestalt. Und ich berichtete: „Als ich noch klein und keine sechs Jahre alt war, geschah es irgendwo und wann, dass ich die Geschichte des Liedsängers Blondel zu hören bekam. Ich verstand sie wohl schlecht und vergass sie bald, aber der zarte, freundliche Name Blondel blieb in meinem Gedächtnis und schien mir wunderbar fein und wohltönend, so dass ich ihn mir oft leise vorsagte. Mit diesem Namen genannt zu werden, dünkte mich über alles köstlich und herzerfreuend. Also überredete ich im Spielen bald einen nachbarlichen Kameraden, mich so zu nennen, was mir überaus angenehm und schmeichelnd war. Nun gewöhnte sich das Büblein an meinen Spielnamen, und eines Vormittags kam er vor unser Haus, um mich abzuholen, stellte sich an den Zaun und rief aus vollem Halse gegen die Fenster: „Blondel! Komm herunter, Blondel!“ Mein Vater und die Mutter und Besuche waren im Zimmer, und mein laut ausgerufenes Lieblingsgeheimnis beschämte und empörte mich so sehr, dass ich mich nicht ans Fenster zu gehen getraute und nachher meinem erstaunten Kameraden zornig die Freundschaft aufkündigte, welche freilich bald wieder zusammenwuchs.“
„So war es“, sagte die Königin. „Nun aber, wenn du willst, erzähle uns, wo du dich heute am Morgen aufhieltest. Ich hatte gedacht dir das morgendliche Meer zu zeigen; du aber warst fort, ehe die Sonne schien.“
Ich verspürte früh’ eine Lust zu laufen und geriet in einen tiefen Wald, der mich mit allerlei Schatten und Geheimnissen weiter lockte, bis ein liebliches Wunder vor mich trat. Ich stand vor einem Weiher, dessen Spiegelgewässer meine zartesten Jugendgedanken noch mit allem kostbaren Duft bewahrt hatten. Über einen jenseitigen Hügel blickte der Turm des Klosters, das vor Zeiten mich und meine liebsten Jünglingsträume beherbergt hat.
„Ich weiss,“ sagte die Schönste, „das war deine edelste und ehrfürchtigste Zeit. Damals sah ich dich schwermütige Waldwege thun und knabentraurig in gefallenen Blättern rauschen, und nie bin ich dir näher gewesen, als an jenen Abenden, da du deine Geige an dich nahmst oder das Buch eines verehrten Dichters. Damals sah ich die Schatten der späteren Jahre sich dir nähern und fürchtete für dich, und ahnte wohl, dass du einmal mit einer neuen Jugend und einer neuen Trauer zu mir kommen würdest. Um jener sehnsüchtigen Zeit willen liebte ich dich noch in deinen verlorensten Jahren.“
Während sie dieses sagte, gliederte sich vor meiner Betrachtung wie ein Bild meine ganze Jugend und sah mich traurig mit Augen eines misshandelten Kindes an. Die Königin aber liess eine Geige herbeibringen, beendete das Mahl und bat mich zu spielen. Auch die Frauen bedrängten mich bittend und neckend, und Fortuna reichte mir mit einer gnädigen Bewegung den Bogen. So setzte ich leise an und zog den Bogen mild und probend, bis meine Finger sich wieder in die harten Geigergriffe gewöhnt hatten. Dann legte ich mich mit Lust in das Spiel und strich die leidenschaftlichen Takte einer dunklen Jugendphantasie. Und hernach, da ein langer Blick der schönen Frau Gertrud mich bat, spielte ich ein Notturno von Chopin, jenes schönste, windverwehte, dessen Takte sich wie die Lichter eines mondbeglänzten Meeres bewegen.
Ich war mit der Königin auf Waldwegen in ein Gartenschloss in der Nähe des Meerufers gegangen. Dort führte sie mich vor eine hohe, bemalte Wand. „Mein Lieblingsbild“, sagte sie. Mit grosser Kunst war hier ein südländischer Garten gemalt, voll dunkler, tiefschattiger Gebüsche, mit griechischen Bildsäulen und einer springenden Wasserkunst, an deren unterstes Becken eine Leier gelehnt war. „Kennst du den Garten?“
„Nein. Aber die Leier ist Ariosts.“ Sie lächelte. „Ariosto! Hier wandelt er noch zuweilen und sagt mir ein helles Spiel wiegender Oktaven vor, und lässt sich unter Scherzen von mir bekränzen.“
Auf einen leisen Wink der Herrin ward plötzlich die ganze bemalte Wand hinweggerückt. Ein unermesslicher Horizont rundete sich vor uns aus, und zu unsern Füssen lag dunkelgrün der ganze Garten des Bildes. Ein schlanker, dunkler Mann trat langsam aus einem Rondell, bückte sich nach der Leier und ahmte darauf spielend den Silberlaut der Fontäne nach. Darauf schritt er abwärts gegen das dunkelnde Meer und verschwand an der Gartenmauer. Mir ging die ganze Erscheinung vorüber wie ein Verspaar des Orlando, schlank, edelförmig, und schalkhaft wie ein Mädchengelächter. Dann ging ich selber, an der Hand der Königin, an das Meerufer hinab. Die leicht bewegte Fläche der See lag blau und rot und silberschillernd weit hinaus. Auf diesem Farbenspiel ruhten unsre Blicke lang mit fröhlichem Ergötzen. Dann bog die Schönste einiges Zweigwerk auseinander und zeigte eine weisse, schmale Treppe, welche ins Wasser führte. An diese fand ich mein Boot gebunden. Die Königin brach einen Zweig Orangeblüte, warf ihn in das Boot, drängte mich sanft hinab und gab mir die Hand.
„Nun reise gut! Abschiednehmen ist eine Kunst, die niemand zu Ende lernt. Ich weiss, du wirst einmal wieder kommen, bei mir Licht zu schöpfen, und einmal, wenn du keines Ruders mehr bedarfst.“
Mit einem schweren Gurgellaut zerbrach eine Welle an den Stufen und nahm rückflutend mein Boot auf ihren Rücken. Ich breitete beide Arme nach der hellen Gestalt, bis sie mit einem leichten Grüssen seitab in die Wandelgänge Ariostos verschwand. Die Nacht kam schnell und schlug den schweren Mantel der Finsternis um meine Trauer, und blickte herrlich aus tausend tröstenden Augen auf meine langsame Heimfahrt.
Mein Erstling du, meine Blonde, Frühlingbekränzte! Aus dem Frühlingsbilde des Sandro Botticelli blickst du mich zuweilen an, mit den vergessenen Zügen.
In einem unvergesslichen Frühsommer, zur Zeit meiner ersten Lieder, war parküberschattet wenig Tage lang eine selige Nähe um mich, ein auferstandener Traum, mit unfassbarem Traumgesicht, flüchtig und schwer mit Namen zu nennen. Und das warst du. Ohne Vorher und Hernach, wie ein einziger, niemals wiederkehrender Strahl glückfarben gebrochenen Lichtes — ich weiss nur noch, du hattest hellrote Mädchenlippen, du trugst einen schweren Bund blonden Haares und hattest eine zärtlich milde Liederstimme. Und hiessest Elise.
Du Fee! Du Blüte, du Leichte, Körperlose! Du gleitest über den ausgespannten Teppich meiner jugendlichsten Glücksträume wie eine lind bewegte Musik, oder wie eine duftende Erinnerung, oder wie der Geist einer verklärten, tiefgründigen Jugendzeit. Nimm meinen heimlichen Gruss! Nimm den Feiertagszauber jener Sommerfeste im Park, und den Schatz meines Andenkens an alle Märchen jener Zeit! Nimm, was meine verschwenderische Jugend hat, die verwunschenen Kleinode von Träumen, über denen jene versunkenen Junihimmel in fabelhafter Bläue lohten!
Nimm auch noch, Prinzessin, ein Lied von mir! Ich fand es dort, wo unser Tannenschlag endet und der Buchenhochwald der Berthaburg beginnt, auf der Bachbank, über unsrem durch den Waldrand leuchtenden Kornblumenfelde. Es ist das früheste meiner Lieder, dessen ich mich zu erinnern vermag.
Der Zeller Hirt treibt heim. Der laute Bach
Stürzt dunkle Wasser den besonnten nach.
Die Ferne raucht; die ganze Welt liegt weit.
So möcht’ ich stehen ein’ und alle Zeit.
So steh’n und hold mit Träumerblicken schaun
Lustwandeln dich, du schönste aller Fraun.
Da nahst du dich. Ich berge mein Gesicht
Von Thränen heiss. Du aber weisst es nicht.
Meine Fiebermuse ist heute bei mir. Sitzt ruhig und hält sich stille, da doch sonst Gassenlaufen und Vagieren ihre Art ist. Sie hat eine Anwandlung, zu sitzen und mir zu schmeicheln wie vor Zeiten, da wir beide noch liebe Brautleute und Blondköpfe gewesen sind. Sie lehnt im tiefen Polsterstuhl, hat den Kopf zurückgelegt und hängt mit ihrem Blick an mir, mit dem blassen, allwissenden, fiebernden, der ihr seit vielen Jahren eigen ist. Dieser Blick ist über vielen meiner Nächte gewesen seit jenem ersten Jugendraub unserer Liebe, da wir beim Flackerlicht verbrennender Knabenlieder meinen Göttern Hohn sprachen und unsern Weg durch ewige Wildnisse zu nehmen uns gelobten.
Dieser Blick weiss von allem, was verborgen, tief und keimend ist, er erbricht alles Knospende und schändet jede Heimlichkeit. Jenseits entgötterter Tempel und verwelkter Liebesgärten erst beginnt dieser Blick das Spiel der Frage und Antwort und Gegenfrage, er fiebert nach Geheimnissen, welche nie ein anderes Auge erforscht hat.
Wir haben meine Seele ergründet und sind bis dahin gestiegen, wo Horchen Mord ist. Wir waren mit scharf geschliffenen Augen überall, wo brechende Farben und zerrinnende Laute sind, und waren begierig, die Gesetze des Zufalls zu finden. Die entgleisenden Wellen sterbender Töne und die blassen Irislichter sterbender Farben haben wir geliebt, und alle Grenzpunkte, wo Zittern war, und Zweifel, und Agonie.
Aus brechenden Zittertönen und flüchtigen, irisschimmernden Fieberfarben erbauten wir unsre Welt, unsre wunderbare, unbegriffene, unmögliche Welt. Meine Muse aber wurde blass und hager, und schöner von Traum zu Traum. Wenn sie in meinen Gedanken sich spiegelt, berückt ihr blasses Bild mit der Schlankheit der zarten Glieder, mit den schweren Hängelocken, mit den adligen Händen und Gelenken, und mit dem tiefblutroten Munde. Zu allen Zeiten haben wahnsinnige Maler in Augenblicken überirdischer Empfängnis solche Bilder geträumt und mit verzaubertem Pinsel die flüchtigste Oberfläche glänzender Farben in scheuen, ahnenden Linien ängstlich erprobt. Ein solches Bild, in scheuer Entrückung erschaut, verfolgte die silbernen Träume jenes Sandro Botticelli, und lockte aus ihm eine feine, wunderbare Kunst, und trieb seine verfeinerte Hand von Bild zu Bild, bis ihm Pinsel und Finger zerbrach.
Meine Muse lächelt, wenn sie sich seiner erinnert. Sie ist hinter ihm gestanden und lockte durch ihren Blick aus seinen Bildern die flüchtige Glut sehnsüchtiger Lippen und Augen. Sie lockte seine Kunst von Bild zu Bild, bis ihm Pinsel und Finger zerbrach. Mir aber erzählte sie von ihm und erklärte mir die unerhörten Wünsche seiner brennenden Seele, und führte mich durch die sich schneidenden Kreise seiner hageren Dantebilder.
In anderen Stunden lehnte sie neben der schmächtigen Gestalt eines kranken Klavierspielers und reizte seine geschmeidigen Finger nach dem Zartesten zu tasten, und lehrte ihn feine, brechende Klänge, die das klopfende Herz und den raschen Atem des Hörenden in ihre schwermütig wilden Takte zwingen. Diesen schmächtigen, kranken Chopin lockte sie von Reiz zu Reiz, sie lehrte ihn sein Herz belauschen und deuten und lehrte sein Herz in zitternd bewegten Takten schlagen, bis es in Müdigkeit und Sehnsucht vor dem treibenden Stachel erlag. Mir aber erzählte sie von ihm, liess mein Herz in seinen müden, stachelnden Rhythmen schlagen und lehrte mich mein Herz belauschen und deuten.
Nun sitzt sie hinter mir, spricht leise zu mir, und schmeichelt, und hüllt mich in ihren blassen, allwissenden Blick. Sie lockt meine Heimlichkeiten aus ihren Verstecken und entzündet meine Wünsche zu farbigen Spielen. Diese Muse tastet an das Zittern meines Blutes, und stachelt mein durstiges Auge von Sehnsucht zu Sehnsucht und lächelt dazu, bis mir Blick und Herzschlag zerbricht.
Als sie zum ersten Male zu mir kam, trug sie schwarze Kleider und liebte Rieselbäche in spätsommerfarbnen Gehölzen und Schaukelkähne an laubüberwölbten Seerändern. Da hing zitternd mein Herz am zerrissenen Faden einer knabenhaften Liebe, da rief meine Sehnsucht einen lieblichen Namen in widertönende Wälder, und meine Liebe wiederholte zärtlich in Flüsterlauten ein trauriges Liebesgespräch.
Damals kam meine Fiebermuse zu mir, an einem silbernen Bach, spielte Freundschaft mit mir und gab mir die schwarze Laute zu schlagen. Dann half sie mir ein verbotenes Schloss erbauen, das rote Liebesschloss, vor dessen Fenstern wir im Dunkeln froren, während Hochzeiten und klingende Feste hinter seidenen Gardinen lärmten und geläutete Krystallbecher und fiebernde Geigenreigen. Sie zog Schleier und keusche Decken von der Schatzkammer meiner Seele, sie reizte mein Auge und erweckte in mir eine plagende Begierde, Schlösser und fabelhafte Herrlichkeiten zu bauen und mich im Golde zu spiegeln. Wir schufen rote, flackernde Märchen, Lustgärten und Wildnisse, und bevölkerten südliche Landschaften mit schlanken, fürstlichen Wandelpaaren.
Ich lernte meine Traurigkeit in lassen Verstakten wiegen und in dunklen Reimen spiegeln. Ich lernte spitz zulaufende Jambengänge fügen und schwere Versbrücken, deren Pfeiler dunkle Molosser waren. Darauf begannen wir Fabeln zu ersinnen, in welchen alles Leben umgewendet war wie in einem Höllenspiegel, geborene Greise, welche sich jung lebten und am Ende als Kinder ängstlich dem Ende ins Auge sahen, unselige Liebesschicksale und Geschichten, die voll von Grausamkeiten waren.
Später, nachdem ich in einer Angstnacht meiner Muse in Untreue entlaufen war und mich auf die grünen Plane der Sonnenseite geschlagen hatte, kam sie noch manchmal, wie heute, und führte mich durch geisterbleiche Nächte, und heftete das schöne, allmächtige Auge voll List und Liebe auf mich, begierig, die grausame Wollust unserer früheren Träume zu erneuern.
Oft auch sehen wir uns verständig und traurig an wie geschiedene Liebende und wissen nicht, wer von uns der Dieb oder der Bestohlene ist. Dann öffnet sie leis die blutroten Lippen, regt die Hand und beschwört in mir das Bild des fensterroten Liebesschlosses und das verzweifelte Jauchzen lustgestachelter Geigenreigen. Sie sieht auch jetzt, was ich geschrieben habe, und seufzt, und hat den bleichen Tod im Blick.
In meinem Leben ist wie im Leben der meisten Menschen ein Punkt der Wandlung in’s Besondere, ein Ort der Schrecken, der Finsternisse, des Verirrt- und Alleinseins, ein Tag unerhörter Betäubung und Leere, aus dessen Abend neue Sterne am Himmel und neue Augen in uns hervorgehen.
Da ging ich frierend unter den Trümmern meiner Jugendwelt, über zerbrochene Gedanken und gliederzuckende, verzerrte Träume, und was ich anschaute, fiel in Staub und hörte auf zu leben. Freunde gingen an mir vorbei, welche zu kennen ich mich schämte, Gedanken sahen mich an, die ich vorgestern gedacht hatte, und waren so entfernt und fremd geworden, als wären sie hundertjährig und nie mein Eigentum gewesen. Alles wich von mir weg, ich war bald von einer ungeheuren Leere und Windstille umgeben. Ich hatte nichts Nahes mehr, keine Lieblinge, keine Nachbarschaft, und mein Leben stieg in mir als ein schüttelnder Ekel empor. Als wäre jedes Mass überfüllt, jeder Altar entheiligt, jede Süssigkeit verekelt, jede Höhe überklommen. Als wäre jeder Schimmer einer Reinheit verfinstert und schon jede Ahnung einer Schönheit verzerrt und mit Füssen getreten. Ich hatte nichts mehr, mich danach zu sehnen, nichts mehr anzubeten und zu hassen. Alles was Heiliges, Ungeschändetes und Versöhnendes noch in mir war, hatte Blick und Stimme verloren. Alle Wächter meines Lebens waren eingeschlummert. Alle Brücken waren abgebrochen und alle Fernen ihrer Bläue beraubt.
Als alles Lockende und Liebenswerte mir so verschwunden war und ich wie ein Schiffbrüchiger des Geistes erschöpft und unaussprechlich beraubt und arm zum Bewusstsein meines Elendes erwachte, da senkte ich das Auge, erhob mich mit schweren Gliedern und wanderte aus allen Gewöhnungen meiner Vergangenheit wie ein Gerichteter, der bei Nacht seine Wohnung verlässt, ohne Abschied zu nehmen und ohne die Thüren hinter sich zu verschliessen.
Wer hat je der Einsamkeit auf den Boden geschaut? Wer kann sagen, dass er das Land der Entsagung kenne? Meinen Blicken schwindelte, als ich mich über den Abgrund bückte, sie fielen ohne ein Ende zu finden. Ich wanderte durch das Land der Entsagung, bis meine Kniee vor Müdigkeit brachen, und noch lag die Strasse in unverminderter Ewigkeit vor meinem Schritt. Eine stille, traurige Nacht wölbte sich tröstend und schläfernd über mir. Schlummer und Traum kamen zu mir wie Freunde zu einem Heimkehrenden, und lösten eine tödliche Last wie ein Reisebündel von meinen Schultern.
Bist du schon schiffbrüchig gewesen und sahest Land und einen Schwimmer sich dir nähern? Bist du schon todkrank gewesen und thatest genesend den ersten Trunk frischer Gartenluft und spürtest das süsse Wallen des sich erneuernden Blutes? Wie diesen Erretteten und diesen Genesenen, so überflutete mich ein Wirbel von Dankbarkeit, Ruhe, Licht und Wohlsein, als ich in jener Nacht erkannte, dass unerforschliche Wesen sich freundlich zu mir neigten.
Der Himmel hatte ein anderes Ansehen als jemals zuvor. Die Stellung und Wiederkehr der Gestirne trat mit meinem innersten Leben in einen vorbestimmten Freundesbund und das Ewige verknüpfte etwas in mir deutlich und wohlthätig mit seinen Gesetzen. Ich fühlte in meinem aus der Wüste aufgerichteten Leben einen goldenen Grund gelegt, eine Kraft und ein Gesetz, nach welchem, wie ich mit herrlichem Erstaunen empfand, künftig alles Alte und Neue in mir sich in edlen Krystallformen ordnen und mit allen Dingen und Wundern der Welt wohlthätige Bündnisse schliessen müsste.
Incipit vita nova. Ich bin ein Neuer geworden, mir selber noch ein Wunder, ruhend zugleich und thätig, empfangend und schenkend, ein Besitzer von Gütern, deren werteste ich vielleicht noch nicht kenne.
Im Schloss des Königs wurde ein Fest bereitet. Der Palast und alle vornehmen Häuser der Stadt waren mit Gästen überfüllt, denn zu den Festen des Königs pflegte der Adel des ganzen Landes sich einzufinden.
Die breite Allee, welche vom Schlosse in die Stadt führte und die an gewöhnlichen Tagen durch Ketten und Wächter versperrt wurde, war voll von Reitern, Wagen, Sänften, Lastträgern und Müssiggängern zu Fusse. Der König besass einen Marstall von hundert Schimmeln, und ausser den Prinzen und den Grafen des Landes durfte niemand ein weisses Ross reiten, bei Todesstrafe. Wenn nun auf dem überfüllten Fahrwege ein Schimmelreiter erschien, dem wurde eine breite Gasse gebahnt, und auf beiden Seiten drängte sich das wartende Volk, sich bückend und die Häupter zum Gruss entblössend. Da waren Handwerker mit Leitern, Seilen, Brettern, Teppichen und gemalten Schildern, buntgekleidete Musikanten, Trompeten, Geigen und grosse Trommeln tragend, Blumenverkäufer mit Karren, auf welchen bunte und rare Blumen in Haufen getürmt lagen, Herolde und Soldaten, Wagen, die mit vielerlei Geräte, Tapeten und Tüchern beladen waren. Unzählige Neugierige in Sonntagskleidern spazierten in dem geöffneten äussersten Ring des königlichen Parkes, durch den die Platanenallee gezogen war. Handwerker waren beschäftigt, zwischen den Bäumen lange Leinen mit aufgereihten, runden, rot und gelben Papierlaternen zu spannen, welche am Abend zur Belustigung des Volkes und als fröhlicher Anblick für die Herrschaften sollten angezündet werden. Die Arbeiter lachten oder fluchten durcheinander, je nachdem sie von der Menge ermuntert oder belästigt wurden. Trödler gingen umher, von vielen Kindern umringt, mit Schmuck und allerlei Spielzeug und Flittern handelnd, Weiber, welche Brot und Würste und Gebäck verkauften, und Blumenmädchen, die den jungen Städtern Veilchensträusse anboten. Diese alle erfreuten sich reichlichen Zulaufs, und zumal die Veilchenmädchen waren überall von eleganten, im Scherze feilschenden jungen Männern unter vielerlei Schmeicheleien und spasshaften Angeboten umringt.
Am dichtesten drückte sich das Volk vor dem geschlossenen eisernen Hauptportal des Schlosshofes. Landleute und Städter drängten sich dort zu dem selten gewährten Anblick des Schlosses und brannten vor Begierde, hinter den Bogenfenstern Einen vom Königshause zu erspähen, und wandten kein Auge vom Schlosshof, sobald ein Lakei in roter Livree sichtbar wurde, oder ein Offizier, oder nur ein gemeiner Diener, welcher Gerät trug oder Pferd oder Hund nach den seitwärts zurückliegenden Prachtställen führte.
Das Schloss bestaunte ein jeder, der es zum ersten Male sah, und am meisten die Landleute. Denn es war nach hierlands fremden Regeln unter dem Vater des jetzigen Königs von einem südländischen Werkmeister erbaut worden, von geringer Höhe, aber weitläufig und prächtig, und ganz aus Marmor. Dieses Schloss und der dahinter liegende alte Park, der dem Volke unsichtbar und niemals zugänglich war, galten als die Wunder des Landes. Die sichtbare vordere Seite des Schlosses, mit zweimal vierzig Bogenfenstern, war von einem breiten Giebel gekrönt, in dessen Dreieck ungeheure Menschen und Pferde auch aus Marmor gemeisselt standen, die seitwärtigen in allerlei Lagen knieend, fallend und liegend und so der Dreieckform lebendig angeschmiegt. Kleinere Figuren von feiner Arbeit standen über dem Hauptthore, den Empfang heimkehrender Sieger darstellend. Im Innern aber sollten Säle von unerhörter Höhe und Pracht und Zimmer mit seidenen und goldenen Wänden sein, angefüllt mit Schätzen aus vielen Zeitaltern und Kunstwerken berühmter Meister. Noch erstaunlichere Gerüchte wussten viele von dem geheimnisvollen Park zu erzählen, der sich drei Stunden weit erstreckte und von ausländischen Gärtnern und Förstern erhalten wurde, welchen verboten war, sich jemals ausserhalb der ungeheuren Ringmauer zu begeben, die den ganzen Park in stattlicher Dicke und Höhe umgab. Hirsche und unbekannte Tiere und farbige, fremde Vögel, als Fasanen und Pfauen, wusste man dort verborgen, und jahrhundertalte Wildnisse, ferner künstliche Gewässer, Seen und springende Brunnen, Brücken und Beete voll seltener Blumen, sowie ein fabelhaftes Jagdschloss, den Lustort des verwichenen Fürsten, wo dessen lang verblichene Geliebten häufig umgingen, die Buhlereien und Eifersüchte ihres vormaligen Sündenlebens erneuernd. Was immer an dunklen Mordgeschichten und unerhörten verliebten Lustbarkeiten von heissen Köpfen ersonnen und von eiligen Weiberzungen verschwatzt war, wurde auf das unbekannte Jagdschloss gehäuft, welches den einen als ein schimmernder Himmel auf Erden, den andern als Sammelort aller Schrecken und bösen Geister erschien.
Die müssige Menge sog begierig die Geschwätze und geflüsterten Sagen und den Duft des Wunderbaren ein, der sie nebst dem Rausch des Feiertages und der Erwartung erhitzte und betäubte. Man sprach von den Pferden und Wagen der Gäste, von den bevorstehenden Vergnügungen des Hofes und denen des Volkes, welchem auf den Abend ein Feuerwerk versprochen war. Neben den anpreisenden Rufen der Verkäufer waren die von lautem Gelächter begleiteten Spässe der Hanswurste zu hören, die Bettelreden sitzender Krüppel und umhergestossener Einarmiger oder geführter Blinder, die ermahnenden, aber wohlwollenden Stimmen anwesender Ratsherren, und das gelle Spassen und jache Lachen der Freudenmädchen. Die Trinkbuden bevölkerten sich, und mancher Unkluge nahm den erwarteten Genuss des Festtages im vorzeitigen Rausch vorweg. Andere umstanden ein Kasperltheater oder ein Loosrad oder die Wettspiele der Kinder, welche nach ausgehängten Preisen kletterten und sprangen. Balladensänger und Sackpfeifer wurden angehört, im Gedränge verloren sich Familien und Freunde auseinander und fanden sich Liebespaare, denen die Wirre des Festplatzes ersehnte Gelegenheit zu verbotenen Zusammenkünften gab.
In den gewundenen Spazierwegen des äusseren Parkes sassen und lustwandelten die Alten, die Angesehenen der Stadt, reiche Bürger, Räte und Richter, und langsame Pfarrer, im Genuss der gepflegten Zierbeete und Rasen und der schattigen Ruhebänke. Ein feister Ratsherr erklärte mehreren Fremden die Anlage der Alleen und Wege und die Lage des Schlosses, und rühmte den Wohlstand seiner Stadt und den freigebigen Reichtum seines Königs.
Der Lärm, das Bürgergespräch, die modisch gekleideten Städter und das glotzende, schwergestiefelte Landvolk schändeten die Alleen und die Gärten, und stachen hart von dem Ernst der alten Platanen und von der eleganten Schönheit der fürstlichen Anlagen ab, deren verschlungene Wege, von allerlei seltenem Laub überschattet, dazu bestimmt waren, von Prinzessinnen in adliger Gesellschaft oder von den Phantasiebildern eines fürstlichen Dichters beschritten zu werden.
Um die Mittagstunde sammelten sich grosse Volkshaufen vor den Portalen des Schlosshofes, neugierig auf die Tafelmusik und auf den erhofften Anblick der Herrschaften. Ein dröhnender Jubel brauste empor, da der Kronprinz an einem Fenster sich zeigte. Er war dunkel, mager, ein wenig gebückt, und hatte ein scharfes, kluges, wachsblasses Gesicht mit dunklen, forschenden Augen. Er bewegte grüssend das Haupt, und in eben diesem Augenblick trat der König neben ihn, lächelnd und mit lebhafter Bewegung der grüssenden Hand. Er war gross, dick und aufrecht; die Farbe seines breiten Bartes schwankte noch zwischen blond und grau, sein Gesicht aber war frischrot und glänzend und die Stirne schier ohne Falten. Er trug ein rotes Gewand mit breiten, weissen Säumen. Er liebte alle Festlichkeiten und verbarg seine Fröhlichkeit der Menge nicht. Kopfnickend verliess er mit dem Kronprinzen das Fenster.
Während draussen die Rufe der beglückten Menge langsam zerrannen, setzte sich der König im roten Saale zu Tisch. Zwei schimmernde Reihen geschmückter Herren und Edeldamen sassen an einer ungeheuren Tafel verteilt, immer eine Dame zwischen zwei männlichen Gesellschaftern. Zur Rechten des Königs sass die weiss gekleidete Königin, seine dritte Frau, von Allen ihrer schlanken, stummen Schönheit wegen bewundert. Zur Linken des königlichen Sitzes sass ein schwarzhaariger Buckliger, schweigsam und häufig aus tiefliegenden, glänzenden Augen umherschauend. Dieser war des Königs Bruder. Ihm war der scharfe, zähe Verstand zu eigen, welchen man oft bei Krüppeln findet, und, unbekannt der Welt, leitete sein wacher Fleiss und sein ernstes, scharfes Auge die Geschäfte der Regierung. Ihm verdankte unwissend das Land seinen Wohlstand und der leichtherzige König die Erhaltung seiner ererbten, unermesslichen Reichtümer.
An die Enden der Tafel waren die Prinzen gesetzt, der Kronprinz und sein jüngerer Halbbruder, aus der zweiten Ehe des Königs, seiner Herzensehe entsprossen, ein heller, fröhlicher Ritter. Die Grafen und Gräfinnen und Barone und ihre Frauen und Töchter waren nach Neigung und Freundschaften gemischt, die drei vornehmsten und ältesten Vasallen dem Könige gegenüber. Silberne Teller und krystallene Weinkelche wurden von zahlreichen edelgeborenen Pagen bedient. In der Nähe des Prinzen glänzte das helle Jünglingshaupt seines Lieblings, des Sängers, welchen der König, da jener ein Meister seiner Kunst und von feinen Sitten war, nach italienischem Vorbilde an sein Haus gefesselt hatte. Er war dem König in kurzer Zeit lieb und befreundet geworden, denn er verstand meisterlich alle angenehmen Künste, zumal Poesie und Gesang, und war ein Erfinder vieler Feste, Tänze, Mummenschänze und sonst ergötzlicher Belustigungen.
Der König redete viel mit den Frauen seiner Vasallen. Die Männer überliess er seinem Bruder, der durch kurze, schwere Fragen und Blicke die Herren durchforschte. Die Königin allein sass schweigsam und ohne viel zu lächeln. Ihr feines, blasses Haupt wendete sich langsam zuweilen um, ihr dunkles Auge ging durch die Reihen der Tafelnden, ruhte auf den Stirnen schöner Ritter, und ging weiter, den Schönsten zu suchen. Ihr geschlossener Mund war von hellem Rot, wie die Frucht der wilden Rose, fein und hochmütig, und karg mit Lächeln. Sie lehnte oft im Sessel zurück und hörte aufmerksam den Geigern zu, welche auf einer niederen Galerie gedämpfte, süsse Melodien spielten. „Eure königliche Majestät lieben die Kunst der Musik?“ fragte sie ehrerbietig ihr Nachbar, ein alter Graf. Sie wandte langsam das Haupt gegen ihn und die verschleierten Augen.
„Ihr rietet richtig, Herr Graf“ sagte sie dann würdig, wandte wieder den Blick und hörte wieder auf die feinen Töne. Einmal wandte der Sänger sich um und hüllte das Haupt der Königin in einen langen, glänzenden Blick, und wog im Herzen sein Schicksal gegen eine junge, süsse Sehnsucht.
Nach aufgehobener Tafel legten sich viele in die Polster, zu ruhen, und andere wandelten anschauend durch die Säle, deren Estriche mosaikgeschmückt und deren Wände mit Bildern und köstlichen gewirkten Stoffen behangen waren. Der Prinz nahm den Arm des Sängers und zog ihn über die breiten Treppen ins Freie. An einer kühl verschatteten Ruhebank machten sie Halt. Der Sänger setzte sich auf die Bank und lehnte sich an den gerundeten Stein. Der Prinz aber warf seinen Mantel ins Gras und legte sich darauf. Er lehnte den blonden Kopf an das Knie des Freundes und richtete die Blicke vergnügt auf den vom Gerank der Zweige vergitterten lichten Himmel. Nach kurzer Weile begann er zu plaudern. „Sag’ mir doch, du Kenner, was ist das Schönste und Begehrenswerteste in der Welt? Ist es der Schmuck des Reichtums, oder des Ruhmes, ist es der himmlische Zauber der Kunst, oder der brünstige Schrei eines entzündeten Weibes, oder das Leben der Hirten?“ Der Sänger lachte. „Du Ungeduld! Du suchst den Schatz des Glückes in der Schale einer Nuss. Aber die Schönheit und das Glück sind reicher als wir, und haben tausend Wege, und tragen Früchte auf allen Bäumen. Was ist Reichtum ohne Liebe, oder Wollust ohne Schönheit? Am begehrenswertesten aber scheint mir vielleicht dieses: Ein Weib von höchster Geburt und adligem Herzen, das in Liebe sich seiner Rechte entkleidet. Welches bittet, indem es schenkt.“
Der Prinz legte sich weiter zurück, und lächelte, und spielte mit seinen schlanken, weissen Fingern. Der Freund fuhr fort: „Auch wird das, was uns gestern liebenswert und unübertroffen schien, im Schatten der Ereignisse mit den Tagen blasser und verliert seinen frischen Reiz. Ich erfand vor einigen Jahren, in Italien, als zum ersten Mal eine verliebte Weiberhand mich streichelte und mein Herz voll neuer Wonne war, — da erfand ich aus meiner Lust ein Lied für die Geige, und that darein, was ich Süsses und Heimliches wusste und glaubte lang, in dieser Weise sei aller Zauber und alles Holde versammelt, so als wiege sich das Glück selber im Netz der Töne. Als ich dasselbe Lied hernach der zweiten und der dritten Frau zu hören gab, und als neue Lieder mich umtrieben und gesungen sein wollten, da sah ich den Boden der Tiefe und musste lachen. Und jetzt scheint es mir ein liebliches Kinderlied zu sein.“
Vom breiten Weg her kam Geräusch. Der Kronprinz und des Königs Bruder traten in den Schattenkreis des Gebüsches. Da der Kronprinz den Bruder zu den Füssen des Sängers liegen sah, ging über seine harten Lippen ein scharfes Lächeln. Er grüsste nicht und kehrte nach dem Schlosse zurück, der Oheim aber senkte mit Wohlgefallen das ernste Auge auf die Befreundeten. „Siehe da, meine Blondköpfe! Nennt mir, worüber Ihr redetet, damit ich teilnehme!“ Der Sänger verneigte sich und nötigte den königlichen Kanzler zu sitzen. Der Prinz, seines Kopfkissens beraubt, setzte sich mit gekreuzten Beinen gegen die Bank gewendet. „Euer Neffe wünscht zu erfahren, was wohl in der ganzen Welt das Schönste und Begehrenswerteste ist.“
„Eine leichtsinnige Frage“, sagte der Alte, — „und eine schwere Frage! Hattet Ihr ihm eine Antwort?“
„Er meinte, das Höchste wäre: Eine —“ die starke Hand des Sängers presste sich auf den lachenden Mund des Prinzen und erstickte den Rest seiner Antwort. „Narreteien!“ Der Bucklige heftete seinen klaren Blick auf den Ungestümen und drohte scherzhaft mit dem Finger. „Eine Frau“, — vollendete er den Satz. „Aber welche nun? Herr Künstler, Eure blonde Jugend weiss in der Liebe besser Bescheid als meine unreizende Person.“
„Eure Gnaden überfordern mich. Mir war bisher die Liebe nur ein Schmuck und Spiel, oder ein Gegenstand für meine Singweisen. Ein Künstler, wer er sei, bedarf der Frauen, denn ihre Nähe macht glücklich und warm, was beides der Künstler zu seiner Arbeit sein muss.“
Der Prinz schnitt ein drolliges Gesicht. „Freilich! aber nicht die Künstler allein. Notwendig sind die Frauen auch für die Prinzen, die in Friedenszeiten an langer Weile leiden.“ „Halt an!“ rief der Oheim. „Deine Abenteuer sind uns sattsam bekannt. Mich wundert, wie lange du noch an langer Weile leiden willst. Wenn die Geschäfte dir widerwärtig sind, warum treibst du keine Studien und keine ernstliche Kunst? Dein Bruder studiert in der kargen Zeit, welche er nicht den Staatsgeschäften widmet, die Geschichte der Malerkunst und die Sammlungen meines Vaters.“ Der Prinz unterbrach ihn heftig. „Mein Bruder! Er arbeitet, weil er geizig ist, und weil ihn zu regieren lüstet. Mag er studieren, so viel er will, er lernt doch nur Jahreszahlen und Namen, und sein Kunstverstand ist auf die Kenntnis der Bilderpreise beschränkt. Wie viel Goldstücke für eine Leinwand bezahlt werden, ist ihm wichtiger zu wissen als alle Geschichte. Sein Gehirn ist eine Rechentafel.“
Der Oheim gab keine Antwort und betrachtete mit Sorge die blanke Stirne des Prinzen, und seine frohen, genusssüchtigen Kusslippen, und die ganze ziere Gestalt. Er war das Abbild des Königs, in feineren, eleganteren Linien, mit denselben sorglosen Manieren, aber noch deutlicher mit dem Stempel des Leichtsinns gezeichnet. Da beide Jünglinge schwiegen, zog der Alte ein kleines, fein in Leder gebundenes Büchlein hervor und bat den Sänger vorzulesen, wobei er eine Stelle mit dem Zeigefinger bezeichnete. Die klingenden Verse eines italienischen Dichters flossen rein vom Munde des Lesers, dem beruhigenden Gesang eines fallenden Wassers zu vergleichen.
Während der Lesung entwich der Prinz leise seitab, liess einen Schimmel satteln und that einen übermütigen Ritt nach der Stadt, durch die hastig ausweichende Menge in schonungslosem Trab sich drängend. Er hatte für den Abend ein Maskenkleid zu arbeiten gegeben, nun wandelte in der letzten Stunde die Lust zu einer Änderung ihn an. Nach kurzer Frist ritt er den Weg zurück, vom scheuen Volk gegrüsst, über welches er hin und wieder einen Wurf von kleinen Münzen streute.
Der Sänger, nachdem ihn des Königs Bruder dankend und freundlich entlassen, ging nachdenklich in den Palast zurück. Er wandelte durch Gänge und Säle bis zu der schmalen Wand eines Kabinettes, wo das gemalte Bild der Königin in goldenem Rahmen hing. Vor diesem stand er lang. Und da er sich mit heissen Augen von dem Bildnis wandte, trat eben mit ihren Frauen die Königin selber durch die Thüre. Er bückte sich tief. Sie fragte nach dem Prinzen. „Er verliess mich bald nach der Mahlzeit. Befehlet Ihr ihn zu suchen?“
„Der Wildfang! — Bemühet Euch nicht. Habt Ihr Lust mir zu dienen, so bringet Eure Violine her. Ihr Klang ist mir lieb, denn er erinnert mich meiner fernen Heimat.“ Er eilte nach seiner Geige. Sie begehrte das schöne Spielwerk zu sehen und nahm es in ihre feinen Hände. Ihre Linke umschloss den schlanken Geigenhals. „Ein gepriesener Meister hat sie gebaut“, erklärte der Sänger, „und sie vermag mehr als irgend sonst ein ähnliches Stück. Man sagt, dass der langher verstorbene italienische Meister den Laut menschlicher Stimme aus ihr zu locken verstand.“ Aus ihren Händen nahm er die Geige zurück und sah mit glänzendem Auge die Spur ihrer Finger, von einem schmalen Hauchstreif gesäumt leicht und schmal auf die blanke Fläche gedrückt. Darauf presste er das feste Kinn auf die Wölbung und geigte einen langen, wachsenden Ton. Der süsse Laut erfüllte das ganze Gemach, und zitterte, und wurde zur Sprache einer brennenden Sehnsucht. Die Königin schloss die Augen und wiegte leise das zarte Haupt, auf dem das Auge des Spielers glühend und beschwörend ruhte.
In dieser Stunde erkannte der Sänger, dass seine neue Liebe kein Spiel und Schmuck war, sondern ein Ernst und eine Wunde. Er spielte seiner hohen Dame zu Dank. Sie gab ihm, was sie zuvor noch nie gethan hatte, beim Weggehen die Hand, die schmale, königliche, und sagte: „Ihr verstehet Eure Kunst! Ich habe lange nicht so süsse Töne vernommen. Habt Dank!“
Am Abend begann in dem grössten Saal des Schlosses das Maskenfest. Die Gäste trugen Florlarven und allerlei Gewänder persischer, griechischer, spanischer und sonst fremdländischer Art, oder Tierfelle, oder die Kostüme heidnischer Götter. Der Saal war reich geschmückt und von goldenen Kronleuchtern erhellt.
Der König trug keine Larve und nur ein altertümliches, reichzackiges Diadem als besonderen Schmuck. Der Kronprinz war in einer dunklen Mönchskutte leicht zu erkennen. Sein Bruder aber wurde von niemandem erkannt. Er war mit Wams und Hut eines Lanzknechts bekleidet und nicht der Einzige, der diese einfache Tracht gewählt hatte. Der Sänger trug einen künstlichen, schwarzen Bart und die volkstümliche Kleidung der Neapolitaner. Er suchte die Nähe der Königin, welche die bunte Volkstracht ihrer südlichen Heimat trug. Ein Gewimmel von Wilden und Bären, von Göttern und Göttinnen, von Schäfern, Gnomen und Bergknappen erfüllte den grossen Saal.
Der Prinz verliess bald unbemerkt das Fest. Er warf einen schweren Mantel über und befahl einem vertrauten Diener, ihm zu folgen und ihm nahe zu bleiben, wohin er ginge. Ihn verdross das steife Volk der Edelleute und ihr höfisches Geschwätze. Er steckte ein Jagdmesser in den Gürtel, als handlichste Waffe für jede Not, und verliess den Palast. Der Schlosshof und die Allee und alle Anlagen bis zur Stadt waren von farbigen Laternen erleuchtet, und das trunkene Volk lärmte feiertäglich durch die Wege. Trinkbuden und Tanzplätze waren übervoll, und erhitzte Tänzer und Trinker lachten, jodelten und stritten miteinander. Der Prinz begab sich mitten in das Gedränge und hatte bald an jedem Arm ein lachendes Mädchen hängen. Er tanzte und trank und stand den Scherzworten der Zuschauenden und den Flüchen der Eifersüchtigen lachend Rede. Die Weiber wurden von den kecken Manieren und feinen Reden des Unbekannten gelockt, und seine Lippen brannten bald von vielen Küssen. Da waren Helle, Dunkle, Schlanke, Breite, Verschämte und Schamlose. Das Auge des Prinzen fand Gefallen am Gewühl der Tausende, sein verwöhntes Herz ward von dem raschen Takt der rohen Musik und vom Anblick des masslosen Pöbels erregt und schlug in volleren Wellen.
Indessen lauschte die Gesellschaft des Königs auf die leichten, zarten Weisen einer auserlesenen Musik und genoss die Lust des galanten maskierten Spiels. Es wurde wenig getanzt. Die meisten sassen auf niedern Polstersitzen oder standen und spazierten in kleineren Gesellschaften umher. Die Königin bewegte sich lebhaft und gesprächig zwischen den Gruppen. Man erkannte die Blasse, Schweigsame nicht mehr. Sie erinnerte sich der Feste ihrer Heimat, ihrer Pracht und Freiheit, und nippte häufig ohne Scheu am Weinkelch. Das leichte Fieber der Festfreude entflammte ihren sehnsüchtigen Sinn und stachelte ihr unbefriedigtes Herz, und gab ihrer fremden Schönheit einen neuen, süssen Reiz. Sie versammelte einen Hofstaat junger Edelleute um sich her, welchen der verkleidete Sänger sich zugesellte. „Siehe da, ein Landsmann!“ rief sie ihm zu. „Mir ist, ich wär’ Euch schon am Posilippo begegnet.“ Der Sänger grüsste mit einem blitzenden Blicke. „Ich kannte Euch wohl!“ antwortete er. „Solche Blumen wachsen hierlands nicht. Ich grüsse Euch vom Golf, Herrin, als der Abgesandte Eurer Heimat.“
„Meinen Dank, Landsmann! Wem aber habt Ihr Euern Schatz zu hüten gegeben, da Ihr so weite Reisen wagtet?“
„Ich habe keinen. Mein Auge ging müssig, seit mein Stern mich verliess, und ich reiste, ihn zu suchen. Mich freut, ihn so glänzend zu finden.“
„Ich sehe wohl, Guter, man versteht in Neapel noch wie vordem zu schmeicheln.“
„Schmeicheln, Herrin? Wir sind nur gewohnt, der Wahrheit weniger rauhe Gewänder anzulegen, als in Nordland Sitte ist.“
Die Königin reichte dem Höflichen einen vollen Becher. „Dies nehmt als Willkomm! Er wuchs am Vesuv.“ Damen mischten sich unter den Kreis der Königin, so dass dieser sich bald in plaudernde Paare und Doppelpaare teilte. Der Sänger aber blieb der Königin nahe und umgab ihre Sinne mit dem Netz seines flüssigen, süssen Geplauders. Er sah ihren roten Mund in häufigem Lachen glänzend, und sah ihre schneeweissen Zähne, und das sacht gerundete, reine Kinn, und glänzende Augen hinter der seidenen Larve. Zuweilen sah er hinter ihr den allein umherwandelnden Kronprinzen einen Augenblick stille stehen mit widerlichem, horchendem Kopfdrehen. Dieser erkannte den Sänger nicht und wunderte sich über die verwandelte Laune der Stiefmutter. Einmal, da sein Schatten ihr wieder über die Schulter hereinfiel, wandte sie sich rasch und unmutig zu dem Sänger. „Sagt mir doch, Landsmann, was sucht der Mönch unter den Fröhlichen?“
Der Neapolitaner schaute in das harte Gesicht des Lauschers und antwortete spöttisch: „Ihr seht ja, er ist am unrechten Ort und kann die Thüre nicht finden. Also ein Hansnarr wider Willen.“ Der Mönch ging bitter lächelnd weg, gegen den Tisch des Königs, welcher mit mehreren Alten sich abseits reichlichen Weines erfreute und des Gesprächs über die beendigten Jagden.
In einem Augenblicke, da die Spielleute ruhten, wurden auf einen Ruf des Königs die Vorhänge von allen Fenstern gezogen. Jedermann erhob sich und blickte ins Freie. Da standen die unendlichen Reihen der Baumwipfel im Schimmer der bunten Lampen, das verworrene Jauchzen des Volkes schwoll her, vom Winde in schwankende Wellen gebrochen, und verschlungene Flammen eines grossen Feuerwerks fieberten lohhell am matten, dunklen Himmel auf. Ein dünner Schleier von Dunst und Rauch hing ruhig über den hohen Bäumen, vom Feuerwerk mit breiten Flüssen roten und gelben Lichtes getränkt.
Zur selben Zeit kehrte leise der Prinz in den Saal zurück, mit verträumten Augen und schweren, lächelnden Lippen. Der Kronprinz erkannte ihn bald. Er ahnte seine verborgenen Lustbarkeiten und mass ihn mit hässlichem Hohn. Denn er hasste den weichlichen und verschwenderischen Bruder im Grunde seines herben Herzens. Eine Weile später, als der ernüchterte Prinz die Königin unter den Masken suchte, fand er sie nicht. Er fragte den zechenden Vater. Der hob kaum das verschleierte Auge vom Becher. „Such’, junger Herr“, sagte er mit rauhem Lachen. „Ihr Jungen seid da, nach den Weibern zu sehen.“
Die Königin lauschte indess in einem entfernten Zimmer auf die unermüdeten Scherzreden des Sängers, und auf seine italienischen Lieder. Ihr brannte die Stirn vom starken Wein der Fröhlichkeit, und ihr Herz schlug berauscht in heftigen Schlägen. Sie sass tief in einem Ruhesessel und blickte mit entrückten Augen auf die zusammengepressten Spitzen ihrer zarten Finger. Der Sänger sass auf einem höheren Stuhl ihr nahe, bewegte die Finger über den Saiten einer Guitarre und sang welsche Romanzen und plauderte, und mischte den Ernst der brennenden Leidenschaft in sein buntes Geschwätz. Das Spiel der Worte rann ohne Hindernis über die Lippen des Liederfertigen, und ihn machte das schwindelnde Wandeln auf der Grenze des Scherzes trunken. Er verfolgte die Spur seiner Reden auf ihrem erregten Gesicht und im Zucken ihrer spielenden Finger. Seine Worte legten unvermerkt die Flitterkleider des Maskenscherzes ab, sie gewannen doppelte Bedeutung, sie begannen ihre verborgene Kraft und Wärme hervorzukehren, und nur die gefährlichsten Verräter kleidete noch der hüllende Flor der galanten Komödie.
Die Königin hörte auf mit den Fingern zu spielen; sie schloss fein geäderte Lider über den heissen Augen und wiegte sich in ihrer Wärme und im halben Wissen von der Gefahr. Ihr Traum vieler sehnsüchtig durchwachter Nächte zog lebendig in lodernden Farben durch ihr Gemüt und alles, was ihr einsames Herz jemals Prächtiges und Wunderbares über die Liebe ersonnen hatte. Der Liedermeister senkte seine Stimme zu einem warmen Flüstern, er bog sich näher zu der Schauernden, er spann ihren Sinn dicht in den Schleier geflüsterter Schmeichelreden und verschwiegener Wünsche. Beiden blieb ein blasses, grausam verzogenes Antlitz verborgen, das einen Augenblick durch die sacht geöffnete Thüre spähte, und blass und grausam wieder verschwand.
Der Kronprinz stiess, in den Festsaal zurückkehrend, auf den Prinzen, welcher seine Mutter suchte. — „Die Königin erwartet dich. Dort, im blauen Zimmer. Aber schone sie; sie ist müde.“ Der Kronprinz trat wieder in den Saal. Aus der vor ihm geöffneten Flügelthüre brauste ein Strom von Musik und Gelächter dem Prinzen nach, welcher auf die Schwelle des Zimmers trat, in dem er die Mutter erwartete.
Dem Eintretenden klang der Laut erstickter Seufzer und Liebesreden entgegen, und erwiederter Küsse. Drei zu Tod erschrockene Menschen schrieen in diesem Augenblicke weh und gellend auf. Die kalte Hand des Grausens trennte mit einer Berührung drei nahe Befreundete. Der blasse Prinz riss zitternd den falschen Bart aus dem Gesicht des erstarrten Liebenden und schrak vor dem erkannten Freund in zuckendem Schmerz zurück. Noch einen Augenblick standen sich die Männer mit stieren Augen schweigend gegenüber, und leerten den Kelch der bittersten Bitternis bis auf die Neige.
Dann gewann der Prinz die Herrschaft über seine Sinne wieder. „Hol’ eine Waffe, Bettelbube!“ rief er dem Freunde zu. Seine Stimme war schrill, brechend und ohne Nachhall, wie der Ton eines springenden Trinkglases. Das Herz wendete sich in seinem Leibe um und wurde voll Galle. Die beiden Menschen, auf welche er Jahre lang alles Gute und Zärtliche seines Herzens gehäuft hatte, standen vor ihm wie Tempelräuber. Der Sänger rannte nach einem Schwerte. Der Prinz riss eines von der Wand des Ganges. Die Kämpfer klirrten wild und rasend aufeinander. Kaum dass der unsinnige Kampf begonnen hatte, fiel der Prinz mit blutendem Halse nieder. Dem Sänger rann ein roter Streif von der zerhauenen Wange. Er sah den Freund am Boden sich verblutend winden und sah über ihn die todblasse Königin gebückt. Sein Blick verwirrte sich und seine Gedanken wurden uneins, flackernd und blutig. Er ging mit dem roten Schwert in der Hand nach dem Saal, von scheuen Lakaien geflohen und angekündigt. Er trat in die Flügelthür und stiess die Schwertspitze vor sich in den Boden, mit einem lauten, wahnsinnigen Gelächter.
Im Saal entstand eine enge Stille. Dem König rann der vergossene Wein über’s ganze Gewand. Dann ward ein Lärm und eine Verwirrung ohne gleichen. Keiner rührte an den bluttriefenden Schwertträger. Verstörte Pagen, weinende und ohnmächtige Weiber, ratlose Männer, entsetzte Greise drängten sich zwischen umgestürzten Sesseln und Geräten. Krüge und Flaschen wurden umgestossen, über zerrissene Tafeltücher floss in geruhigen Bächen der edle Wein. Die Musik spielte noch eine kleine Weile fort und brach dann jäh erschrocken mitten im Liede ab. Der Kronprinz trat dem Sänger zuerst entgegen. „Was ist’s, Liedler?“
„Deinen Blonden hab’ ich erschlagen. Er liegt und mein Schatz kann ihn nimmer wecken.“ Die Diener hatten indess Waffen herbeigetragen und zahlreiche Edle stürzten gegen die Thüre. Der Kronprinz aber drängte sie zurück. „Haltet Ruhe, ihr Herren! Eilet lieber, nach dem Prinzen zu sehen.“
Der Erschlagene und die über ihn gebückte Königin wurden von einem grossen Gedränge umringt. Im Saal blieb allein der König zurück, dessen Verstand vom genossenen Wein verdunkelt war. Zu ihm trat der entstellte Sänger, sein Liebling, und trank aus seinem Becher. Der Kronprinz stand in der Thüre und betrachtete mit grausamer Neugier den Trunkenen und den Wahnsinnigen, welche in dem verlassenen Prunksaal, aus Einem Becher trinkend, sonderbar und traurig anzusehen waren, wie ein fabelhaftes Fratzenbild eines seelenkranken Malers.
In diesem Augenblick loderte das letzte Feuerwerk prachtvoll hinter allen dunklen Fenstern auf. Das Volk wälzte sich in grossen Haufen vor das still gewordene Schloss und schmückte mit seinem dankbaren Jubelgeschrei das Fest des Königs.
Du lächelst? Du wiederholst deine ungesagte Frage? Was soll ich dir sagen! Dieses dunkle Zimmer, diese ungeschmückten Wände mit den Viereckspuren von Bildern, die keine Nachfolger fanden, dieses Knisterfeuer im Öflein, dieses Mondlicht auf unsern Händen und auf dem geöffneten Klavier, diese Stille und späte Stunde redet verständlicher als mein Mund von dem, was in mir zu Worte kommen möchte.
Einem Jugendkameraden müsst’ ich mich vertrauen, flüsternd und mehr mit Blicken und Geberden redend, Einem, dem schon der Name eines Hauses oder Feldes genügte, um eine ganze Geschichte zu verstehen; Einem, der mich oft mit „Weisst du noch?“ und gesummten Liedversen unterbräche.
Was weisst du, wenn ich sage: Meine Mutter? Du siehst dabei nicht ihre schwarzen Haare und ihr braunes Auge. Was denkst du, wenn ich dir sage: Die Glockenwiese? Du hörst dabei nicht das Windrauschen in den Kastanienkronen, und spürst nicht den Duft der Syringenhecke, und siehst nicht die blaue Fläche der Wiese, welche ganz mit den schwanken Glockenhäuptern der blauen Kampanula bedeckt ist. Und wenn ich dir den Namen meiner Vaterstadt sage, dessen Laut mir schon das Blut bewegt, so siehst du nicht die Türme und den herrlich überbrückten Strom, und siehst nicht den Hintergrund der Schneeberge und hörst nicht die Volkslieder unsrer Mundart, und hast nicht selber Lust und Heimweh dabei!
Lieber lass mich dir ein Märchen erzählen. Zwei Geiger hatten eine gute Freundschaft untereinander, und waren beide bettelarm. Nun geschah’s an einem schwarzen Tag, dass ihnen einfiel in die Wette zu spielen, wer von beiden der grössere Geiger wäre. Von da an wuchs ihr Ruhm; aber einer traute dem andern nimmer, denn beide hatten ihre Seelen in Neid und Ehrgeiz bis in den Grund durchlauscht und alle Tiefen ans Licht ihrer Kunst gezogen. Da spielte der Eine in einer mondhellen Nacht ein trauriges Lied. Das war so aus Nacht und Leid gezogen und so voll schwermütigen Andenkens an die eigene verstörte Freundschaft, dass es tiefer und herzbannender als irgend sonst ein Lied zu hören war. Dieses Lied vernahm der andere Geiger voll Neides, drang in die Stube des Freundes und mordete Geiger und Lied. Von dieser Nacht an ward er der erste Meister seiner Kunst. Er spielte an Fürstenhöfen und machte die Herzen der Könige zittern, denn seine Weisen drangen in den Grund der Seele, wo die Engel und Teufel der ungeborenen Gedanken und Thaten wohnen. Sein Gesicht aber wurde mager, blass und scharf, sein Herz wurde zu einem Sitz aller Ängste, alles Misstrauens und aller Bosheit, und sein Spiel bestahl und schändete täglich die unantastbarsten Innerlichkeiten seiner Seele. Eines Tages nun vermass er sich vor vielen Hörern jenes letzte Lied seines Freundes zu spielen. Da stand plötzlich der Ermordete vor ihm, das Messer in der Brust, und spielte auf seiner Geige mit, noch weher, noch mächtiger, so dass der Meister schreckblass und stieräugig vor der Menge stand. Diese sah den Ermordeten nicht und hörte nur mit einem Grausen, dass Zweie geigten. Eine Angst ging durch den grossen Saal, und als der Spieler zu Ende war, war eine Totenstille.
Du lächelst? Du wiederholst deine ungefragte Frage? Weiss ich, ob du ein Messer bei dir trägst? Habe ich nicht, während ich neben dir sitze und deine Hand halte, einen Schatz bei mir, dessen Wesen und Glanz dir noch unbekannt ist? Ein Lied, dessen Zauber zum Neid reizt? Einen Schmerz, der dich beschämen könnte? Und wie dann, wenn ich eines Tages dir ins Auge blickte und mein Lied mit dir spielte?
Du lächelst? Verzeih mir, Schweigsamer! Du bist das Marmorbild, dem ich spielend gern meine goldenen Ringe an die Finger lege. Wie aber, wenn du plötzlich aufhörtest zu lächeln und die steinernen Finger zusammenkrümmtest? Aber ich weiss noch ein anderes Märchen.
Einen Ritter, welcher einen einzigen Freund besass, lüstete eines Tages in die Zukunft zu sehen. Er fragte einen Zauberkundigen, den er reich beschenkte. Der Zauberkundige sah dem Ritter eine Weile ins Auge und sagte dann: „Diese Nacht, im Traum, wird dir Antwort werden.“
In der Nacht, in einem schwülen Fieberschlaf, sah der Ritter zwei Lebenslinien, Strömen zu vergleichen, neben einander laufen. Er erkannte sein Leben und das seines Freundes. Die beiden Linien verschlangen und wirrten sich, und nach einer kurzen Verknüpfung floss eine, die andere besiegend und fressend, breit und glänzend lange fort. Auf diesen Traum hatte der Ritter einen bösen Tag. Darauf beschlich er nächtens die Burg seines Freundes, ihn zu ermorden. Er kletterte auf den Wall, fiel in den Graben und brach den Hals. Der Freund betrauerte ihn lang, ward mächtig und reich und erreichte ein hohes Alter.
Mich wundert oft, welcher von uns das zähere Leben habe. Wenn mich nach einem grausigen Traum gelüstet, dann denke ich mir, du begännest einmal zu reden und sagtest mir plötzlich ein Wort von den vielen Worten, die du von mir gehört hast. Würde nicht die unerhoffte Rückkehr dieses Wortes mich zu Tode erschrecken? Oder du gingest von mir und trügest die Last meiner Geständnisse mit dir hinweg. Wäre mir da nicht wie einem Reichen, dessen Kleinode ein Kind durch die Raubgier einer bevölkerten Strasse trägt? So gebe ich dir täglich einen neuen Schatz zu hüten und mache dich täglich nach neuen Bürden lüstern. Weisst du aber, ob ich nicht grausam bin? Oder weisst du das besser als ich?
Oft meine ich, dass du mich besser kennen müssest, als ich selbst vermag. Oder weshalb schüttelst du das Haupt, wenn ich dir eine alte Sache wieder erzähle und ändere darin eine Farbe, einen Namen oder nur eine Geberde? Wenn du mich lügen hörtest? Wenn ein Streit zwischen uns entstände? Müsste es nicht ein Streit auf Leben und Tod sein? So weiss ich nicht, ob du meiner Langmut anheimgegeben bist, oder ich der deinigen.
Zuweilen, wenn dein Lächeln eine meiner Erzählungen begleitet, scheint es mir Augenblicke lang das Lächeln des Wiedererkennens zu sein. Bist du dabei gewesen, als ich dieses that und jenes zu thun unterliess? Hast du zugesehen, als ich diesen Frevel beging und jene Wohlthat übte? Ist das, was dich an mich fesselt, vielleicht die Folge einer früheren mir unbekannten Gegenwart, ein böses Gewissen, eine Mitwisserschaft, ein böses Mitgewissen? So wäre der Grund unsrer Gemeinschaft ein Spiegel- und Trostbedürfnis, die Notwendigkeit eines Mitleidenden, und vielleicht der allezeit wache Argwohn Zweier, die ein gemeinsames Verbrechen begangen haben. Also dass wir aneinander leben und aneinander zu Grunde gehen müssten?
Oder wie kommt es, dass du gerade dann immer zu mir trittst, wenn eine Lust zu Rede und Vertraulichkeit sich in mir regt, als fürchtetest du, diese möchte sich einem Dritten offenbaren? Was beschwert denn meine Erinnerung, das für Einen zu schwer zu tragen wäre!
In Stunden, welche schweren Träumen vorausgehen, in diesen unruhig trägen, bleigrauen, fiebernden Stunden hat mich oft eine stachelnde Begierde erfüllt, dich zu quälen, dir schmerzliche Geheimnisse zu rauben und dich stöhnen zu hören, dir den Fuss auf die Brust zu setzen oder dich eng zu würgen. Dann, wenn meine Einbildung schon dein Ächzen vernahm und Blut an deinem Halse sah, tratest du manchmal zu mir. Ich aber wurde von Angst und Mitleid ergriffen, streichelte deine Hände, nannte dich mit Schmeichelnamen und vermied es, in deine Augen zu blicken. Weshalb hatte ich Angst vor dir?
Oder weshalb liebe ich dich? Denn ich liebe dich mit der Liebe, welche jeder Verwandlung fähig ist und keine höchste Stufe kennt. Ich liebe dich wie ein gutes Haustier, ich liebe dich wie eine Schöpfung meiner Kunst, ich liebe dich wie man die Rätsel und das Schauerliche liebt. Ich liebe dich auch wie ein Glied meines Leibes, und liebe dich wie einen morgenden Tag, und wie ein Abbild meiner selbst, und wie meinen Dämon und meine Vorsehung. Wie aber liebst du mich?
Im einsamsten Gemach meines Schlosses, unter der Wölbung des schmalen Fensters, sitzest du oft, Freundlichste unter meinen Toten. Über alles Zusammensein und Händehalten hinaus dauert noch deine unbegreifliche, gütige Gegenwart, wie eines Sternes, der verschollen ist und dessen Strahlen doch lange Zeiten noch zu uns reichen.
Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich unter dem Himmel der Vita Nuova gewandelt bin. Ich kann nicht zählen, wie oft ich verzweifelte, ein anderes Bild deiner Erscheinung zu finden.
Keine Schönheit, wenn nicht die jenes süssesten Gedichtes, ist dir zu vergleichen. Mir ist oft, als wärest du die gewesen, die einst an dem entrückten Dante vorüber ging, und wärest nur einmal noch über die Erde gewandelt, im Schatten meiner sehnsüchtigen Jugend. Dass ich dich mit leiblichen Augen gesehen habe, dass deine Hand in der meinen lag, dass dein leichter Schritt neben dem meinen über den Boden ging, ist das nicht eine Gnade der Überirdischen, ist das nicht eine segnende Hand auf meiner Stirn, ein Blick aus verklärten Augen, eine Pforte, die mir in das Reich der ewigen Schönheit geöffnet ward?
In Schlafträumen sehe ich oft deine leibliche Gestalt und sehe die feingliedrigen, weissen Finger deiner adligen Hände auf die Tasten des Flügels gelegt. Oder ich sehe dich gegen Abend stehen, die Farbenwende des erblassenden Himmels betrachtend, mit den Augen, welche von der wunderbaren Kenntnis des Schönen voll tiefen Glanzes waren. Diese Augen haben mir unzählige Künstlerträume geweckt und gerichtet. Sie sind vielleicht das Unschätzbarste, was meinem Leben gegeben wurde, denn sie sind Sterne der Schönheit und Wahrhaftigkeit, voll Güte und Strenge, unbetrüglich, richtend, bessernd und belohnend, Feinde und Rächer alles Unwerten, Unwesenhaften und Zufälligen. Sie geben Gesetze, sie prüfen, sie verurteilen, sie beglücken mit überschwenglichem Glück. Was ist Vorteil, was ist Gunst, was ist Ruhm und menschliches Lob ohne die Gewährung und das gnädige Leuchten dieser unbestechlichen Lichter!
Der Tag ist laut und grausam, für Kinder und Krieger gerecht, und alles Tagleben ist vom Ungenügen durchtränkt. Ist nicht jeder eindämmernde Abend eine Heimkehr, eine geöffnete Thür, ein Hörbarwerden alles Ewigen? Du Wunderbare hast mich gelehrt, heimzukehren und mein Ohr den Stimmen der Ewigkeit zu öffnen. Du sagtest, als schon das letzte Thor bereit war vor dir die Flügel aufzuthun, zu mir die Worte: „Lass dir die Abende heilig sein und dränge ihr Schweigen nicht aus deiner Wohnung. Auch vergiss der Sterne nicht, denn sie sind die obersten Sinnbilder der Ewigkeit.“
Und ein andermal hast du gesagt: „Denke daran, auch wenn ich dir genommen bin, Frieden mit den Frauen zu halten, denn alle Geheimnisse stehen ihnen am nächsten.“ Seither habe ich mit niemandem solche Gespräche ohne Worte gehabt, wie mit Sternen und Frauen.
In der Stunde, da wir unsre Freundschaft beschlossen, trat noch Einer zu uns, unsichtbar und unbegreiflich, ein Geist und Schutzgott. Mir ist, er habe unsichtbare Geberden eines Segnenden über mir gemacht, und jene Worte geredet; apparuit jam beatitudo vestra. Dieser ist seitdem bei mir geblieben und hat sich vielfältig oft an mir erwiesen, als ein Arm des Trostes, als ein Rätseldeuter, als Dritter eines Glückes. Oft war meine Hand zu Übereilungen hingeboten und er drängte sie zurück; oft war ich einer Schönheit vorübergegangen und er nötigte mich still zu stehen und zurückzublicken; oft wollte ich ein grünes Glück vom Ast brechen, und er riet mir: „Warte noch!“
Was versöhnlich und liebenswürdig ist, was holde Stimmen hat und tröstliche Bedeutungen, was selten, edel und von abgesonderter Schönheit ist, hat seitdem eine sichtbare Seite für mich und irgend einen Weg zu meinen Sinnen. Die Ströme in der Nacht reden mir deutlicher, die Sterne können nicht mehr ohne mein Mitwissen auf- und niedersteigen.
Dieser mein Tröster und unsichtbarer Dritter kam auch an einem Tage zu mir, da mein Herz den Takt verloren hatte und mein Auge zu erblinden schien. Er glättete meine Stirn, er lehnte zuweilen an mich und sagte mir etwas ins Ohr, er ging vorüber und drückte mir die Hand. Du aber lagest in lauter Theerosen gebettet, voller Friede, voller Verklärung, freundlich, aber ohne Lächeln. Du lagst und rührtest keine Hand, lagst und warst kalt und weiss.
Diese Stunde erschien mir als eine unergründlich schwarze Nacht. Ich stand in dichter Finsternis und wusste nicht wo ich war, ohne Nähe und Ferne, wie von erloschenen Lichtern umgeben. Ich stand unbewegt und fühlte auf allen Seiten Abgründe neben mir offen, spürte nur meine ineinander gelegten Hände hart und kalt, und glaubte an kein Morgen mehr. Da stand der Tröster neben mir, umschlang mich mit festen Armen und bog mein Haupt zurück. Da sah ich im Zenith eines unsichtbaren Himmels inmitten der vollkommenen Finsternis einzig einen hellen, milden, strahlenlosen Stern von seliger Schönheit stehen. Als ich diesen sah, musste ich eines Abendes gedenken, an dem ich mit dir im Walde ging. Ich hatte meinen Arm um dich gelegt und plötzlich zog ich dich ganz an mich her und bedeckte dein ganzes Gesicht mit schnellen, durstigen Küssen. Da erschrakest du, drängtest mich ab und sahest wie verwandelt aus. Und sagtest: „Lass, Lieber! Ich bin dir nicht zu Umarmungen gegeben. Der Tag ist nicht fern, an dem du mich mit Händen und Lippen nicht mehr erreichen wirst. Aber dann kommt die Zeit, dass ich dir näher sein werde als heute und jemals.“ Diese Nähe überfiel mich plötzlich mit unendlicher Süssigkeit, wie ein völliges Aug in Auge, wie ein Kuss ohne Ende. Was ist alle Liebkosung gegen dieses namenlose Vereinigtsein!
Auf Wanderungen durch die Orte, an denen wir beisammen waren, kam diese Wonne später noch manchmal über mich, schon lange Zeit nach deinem Tode. Einmal, als ich im Schwarzwalde bergan durch einen dunklen Forst wanderte, sah ich deine helle Gestalt von der Höhe her mir entgegen gehen. Du kamst mit deinem alten Händewinken den Berg herab, begegnetest mir und warst verschwunden, während zugleich deine Gegenwart mein Inneres süss und tief erfüllte.
Am häufigsten aber trittst du an den Himmel meiner Träume wie damals am Tag meiner grössten Finsternis, als der milde Stern der Gnade, voll seliger Schönheit.
Am einen Abende, als Musik und lautes Gespräch dich bis in die letzten Gartenwege verfolgte, fand ich dich dort auf und nieder gehend, gab dir meinen Arm und begleitete dich. Da sagtest Du: „Wenn ich nicht mehr hier sein werde und wenn du selber einmal leiser geworden bist, wird vielleicht dieser vergehende Abend und mancher, der schon vergangen ist, dir gegenwärtiger und wirklicher sein als deine eigene Hand. Dann wirst du Mitternachts irgendwo in deinem Zimmer wach sein, vielleicht weit von hier. Vor deinen Fenstern aber wird die nahe Welt zurückweichen und du wirst glauben, diesen Weg und uns beide darauf wandeln zu sehen.“
Heute nun liegt dieser Abend vor mir, in die entfernte Musik mischen sich wieder unsere leisen Stimmen, dass ich nicht weiss, ob jener Abend oder der heutige wirklich und vom irdischen Monde erleuchtet ist.
Mein Ross hält an, reckt den schönen Hals und wiehert in den Abend. Ich grüsse dich! Ich grüsse dich, meine Cederndunkle Zuflucht! Du Friedebringende, du Weltferne, Unberührte, mit dem schwarzen, kostbaren Gürtel!
In einem tiefen, tagebreiten Cederwald liegt ein See und eine granitene Burg verschlossen. Ein Schloss für die Ewigkeit gebaut, kolossal und quaderfest, mit ungeheuren normännischen Ecktürmen, und mit einer einzigen Thüre. Diese öffnet sich auf eine Treppe aus breiten Quaderstufen, und die Treppe führt in den schwarzen, bodenlosen See. Der eisgraue Wächter hört und erkennt mein Ross. Er tritt bedächtig durch die eherne Thüre und über die grünlichen Stufen. Er löst das Königsboot von der schweren Kette und rudert lautlos mit einem Ruder über das spiegelschwarze Wasser. Er nimmt mich auf und steuert zurück. Wir legen das Boot wieder an die Kette mit den eisernen Viereckgliedern.
Wir setzen uns auf die Schwelle der ehernen Thür. Das Wipfelflüstern wächst im Abendwind, die Dämmerung schleicht zwischen den Stämmen am Ufer hin. Der Wächter hat das Greisenhaupt auf beide harte Hände gestützt und dringt mit langen, ruhigen Blicken in den Abend. Vor uns liegen die vermoosenden Stufen und der unbewegte See, auf beiden Seiten steht die tausendjährige, hohe Wand des heiligen Waldes und schliesst gegenüber am fernen Seerande den dunklen Ring. Stunden fliegen auf unhörbaren Fittigen über uns hinweg.
Jenseits des Wassers zittert über den Wipfeln ein kleines Licht herauf, hebt sich und wächst und beginnt hell zu leuchten, und löst sich schwebend als voller Mond vom Walde los. Von unserem Sitze anhebend verbreitet sein Licht sich langsam über den See, bis die runde Wasserfläche ohne Schatten in reinem, tiefem Lichte schwimmt, unbewegt, wie ein unendlicher Spiegel. Mit unvermindertem Glanze blickt der silberne Mond aus der unergründlichen Tiefe.
Der Wächter ruht mit unverwandtem Blick auf dem langsamen Wandel des Spiegelmonds. Sein Gesicht ist traurig, und ich fühle wohl, dass er mit mir reden möchte. Ich frage ihn, und ich dämpfe schnell meine Stimme zum Flüsterton, erschrocken über ihr Hallen in dem einsamen Waldrunde. Ich frage ihn: „Du bist traurig. Woran denkst du?“
Er wendet nicht den Blick, aber er senkt ein wenig das weisse Haupt und seufzt. Und sagt: „Vor tausend Jahren sass ich hier auf dieser Thürschwelle, und blickte über den nächtigen See. Dort aber, in der Mitte des Wassers, wo jetzt der Mond sich abmalt, schwamm ein Totenkahn und brannte steilauf in lohroten Flammen. Der ganze See war rot vom Widerschein des brennenden Nachens. Und der darin lag, war mein letzter König.“
Der Greis bedeckt sein Haupt mit dem Gewand. Nach einer Weile enthüllt er sich und hat noch Tropfen im Bart. Er erzählt: „Wenige Zeit danach stiess ich den letzten Leichenkahn von dieser Treppe brennend hinaus. Lag eine übermenschlich schöne, schneeblasse Dame in purpurnen Prachtkleidern darin. Meine letzte Königin.“ Der Cederwald rauscht tieftönig auf. Aus dem bodenlosen Wasser blickt traurig der runde Mond. „Diese hab’ ich geliebt“. — —
„Seit allen vielen Jahren bewahrte ich das Schloss, und sass stille Abende lang auf meiner Treppe. Aber du weisst dies ja wohl, denn du hast mich ja mit Namen gerufen und bist der Einzige, der diese Zuflucht seit tausend Jahren betreten hat. Du hast ja auch die Schlüssel Ihrer Gemächer! Willst du eintreten?“
Wir schliessen hinter uns das Thor. Der Wächter nimmt die Fackel vom Ring und leuchtet mir die Treppen hinan. Ihr heimatliche, tausendjährige Treppen! Ihr bronzene Zierleuchter! Ihr Fliesengänge, in denen das Echo königlicher Schritte erwacht, wenn ich darüber trete! An der letzten Thüre bleibt der Wächter stehen, und bückt sich tief, und lässt mich allein. Ich trete in das alte Zimmer, ich spüre den Gruss der vergangenen Zeiten, denselben, den ich schon als ein scheuer Knabe vor vielen Jahren hier verspürte. Gemach unserer letzten Königin! Scharlachene Teppiche, löwenköpfige hohe Sessel, goldnes und edelsteinenes Frauenspielwerk. Ein heidnischer Gott, eine Kriegsbeute, steht mitten im Gemach, hat ein goldenes Stirnband umgelegt und die kleine Harfe der Königin im Arme hängen. Das ist die Harfe, welche Nächte lang mit langen Klagtönen den See und die stillen Schwäne bezauberte! Das ist die Harfe, die den Gesang des blonden Mitternachtsbuhlen begleitete!
Der rauschte in verwölkten Sturmnächten nass und blank aus dem zitternden See und trat durch die schlafenden Knechte, und kosete im dunklen scharlachenen Zimmer mit der Liebeskönigin. Der stiess das lange Schlangenschwert durch die fröhliche Brust des letzten Königs. Der küsste in einer brausenden Gewitternacht den Tod auf den roten, liebekundigen Mund der Königin.
Die ebenholzene Harfe hängt im Arm des stillen Gottes. Ich betrachte lang ihre schlanke, fremde Form mit dem perlgezähnten, smaragdäugigen Drachenkopf, und die feinen Saiten, und atme die unermesslichen Schicksale und Leidenschaften einer vergangen unvergänglichen, übermächtigen Zeit.
Das Fenster ist unverhängt; ich lege mich in das Gesimse. Treppe und See liegt unter mir. Der Wächter sitzt traurig auf seiner Stufe und sättigt sein Auge an der Seetiefe und bewahrt in seiner Eisenbrust das brandende Meer seiner unsterblichen Liebe. Wächter, See und Wald seit tausend Jahren ohne Tod und Zeit, zauberversunken, im Ring wachhaltender Jahrhunderte und darüber, ohne Tod und Zeit, der volle ruhige Mond. Jeder Atemzug ein Trunk aus dem unerschöpflichen Becher der Ewigkeit, jeder Herzschlag eine stille ungezählte Welle im Meer des Schweigens!
Nahe erscheint auf dem Wasser, wie ein leuchtender Streif, eine weisse Helle. Bleibt stehen, schlägt mit Flügeln und ist ein grosser Schwan. Der Schwan rudert langsam fort. Fort und weit in den See hinein. Dort hält er an, ist kaum noch sichtbar, hebt sich wund und stolz, und sinkt in Grund. Ein süsser, wunder Ton kreist über Schloss und See, und ich weiss nicht, ist es ein Schwanenlied oder ein erwachter Ton der schwarzen Liebesharfe. Der Wächter aber ist aufgestanden und blickt mit erhobenem Haupt entrückt und selig dem weissen Wunder nach, breitet beide Arme aus und steht noch lang, den süssen Ton im Ohr. Auch ich; und mich kühlt eine selig wohllaute Stille bis ins Herz.
Der Wächter fragt mit einem Blick herauf. Ich nicke zu, verschliesse das Gemach der Königin und steige die breite Treppe nieder. Das Boot ist schon gelöst. Ich steige ein, und der Greis taucht das lautlose Ruder tief in die schwarze Flut.
Einmal hab’ ich Dich schon geträumt, mein Traum vom Ährenfeld! Überflute mich wieder mit deinem rot und goldenen Leuchten! Tritt wieder über die Schwelle meiner Nacht und sei wieder der Vorbote eines neuen Glückes!
Siehe, er tritt hervor, aus dem verschlossenen Garten meiner Frühe, dessen Luft voll Silbers und dessen Schatten voll Zukunft ist. Ich meine das Rauschen seiner Bäume zu vernehmen und den Geruch seiner Wiesen zu spüren; mein Heimweh sättigt sich an seiner Fülle, mein Auge verwandelt sich und ruht ungebrochenen Blicks auf den Frühlingen meiner frühesten Jugend. Der Traum wird mächtig und breitet ein gelbes Ährenfeld vor mir in sonnenheller Weite aus.
Ein Ährenfeld in heller Sonne! Eine Flut gelbroter Farben, eine Fülle stetigen Lichtes, in der Tiefe rötlich verklärt, an den Rändern von Glanzwellen und rastlosen Wechselfarben lebendig! Ein endloser Anblick voll Ruhe und Genügen, ein Born des Glückes und der Schönheit, ein angehäufter Schatz alles Dessen, was urprächtig, unberührt, in sich beschlossen, und unwiederbringlich ist. Dieses alles senkt sich in mein Herz, findet alle leeren Kammern, füllt und füllt und fliesst über wie ein Strom aus einem tiefen See.
Wie vermöchte ich zu sagen, was mein kindgewordenes Herz nun erfüllt, was mein Blut so milde erwärmt und mein Auge so offen, still und glänzend macht! Erfüllt und eins mit dem Licht der Sonne und des stillen Feldes kehrt mir Auge und Herz unter die Brüder meiner Kindheit zurück, zu dem wogenden Feld, zu dem reinen Himmel, zu den geschwisterlichen Bäumen, Bächen und Winden.
Ich grüsse euch, Brüder und Schwestern! Verzeihet, was in der Fremde geschehen ist! Ich war lange Zeit krank, mein Ohr und Auge reichte nimmer zu euch, mein innerster Grund war mir fremd geworden. Das in mir, was von Ewigkeit und Muttergeschenk ist, war in Ketten gelegt, sein schweres Atmen reichte nur in den stillsten Mitternächten noch zu mir herauf. Nun atmet es befreit, und atmet mit meiner Brust, und erschliesst alles in mir der entschleierten Gegenwart.
Du leuchtendes Ährenfeld! Tränkst du mein Auge mit deiner ruhigen Klarheit, oder ist es das Licht meines Glückes, das aus meinem Auge überquellend dich glänzen macht und die Sonne entzündet? Reich und nehmend, bedürftig und austeilend, zweieins, süsser Kern eines ewigen Rätsels, so ist meine Liebe und deine. Wie bin ich befreit von allen Massen und Mittelpunkten! Wo ist noch Anfang oder Ende, wo ist noch Wille und Ziel, oder Ursprung und Brücke?
Du leuchtendes Ährenfeld, bist du nicht ein Bild meiner befreiten Seele? Du und ich, beide in flutender Helle, beide reich an Unaussprechlichem, beide einander beschenkend, und beide sich neigend unter einer süssen Last?
Hergestellt von W. Drugulin in Leipzig im Juni des Jahres 1899.
Anmerkungen zur Transkription
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