Wissenschaftliche
Volksbücher für
Schule und Haus
Herausgegeben von Fritz Gansberg
Hamburg und Berlin 1911
Alfred Janssen
Von Carl Chun. Schilderungen von
der deutschen Tiefsee-Expedition
Ausgewählt von Fritz Gansberg
Mit zwanzig Bildern
Hamburg und Berlin 1911
Alfred Janssen
INHALTSVERZEICHNIS
(Vom Bearbeiter eingefügt)
Seite | |
1. Die deutsche Tiefseeexpedition | 5 |
2. Von Kapstadt zur Bouvet-Insel | 11 |
3. Im antarktischen Meere | 20 |
4. Die Eisberge | 25 |
5. Das antarktische Plankton | 38 |
6. Letzter Vorstoß nach Süden | 47 |
7. Die Kerguelen | 66 |
8. Einige Ergebnisse der Valdivia-Expedition | 88 |
Die Tiefen des Weltmeeres haben von jeher die Gedanken der Menschen mächtig erregt. Bald dachte man sie sich unergründlich und völlig ohne Leben, bald hielt man sie für das Abbild des mit steilen Gebirgen durchzogenen Festlandes und belebte sie mit seltsamen Phantasiegestalten. Eine wirkliche Durchforschung der Tiefsee hat erst im 19. Jahrhundert begonnen. Gelegentlich holte man wohl bei den Lotungen aus großen Tiefen lebende Tiere herauf. Besonders wurde man bei der Legung der Kabel auf die Tierwelt der Tiefsee aufmerksam gemacht. Das erste transatlantische Kabel, das 1858 gelegt wurde, riß; dasselbe Schicksal widerfuhr auch dem Mittelmeerkabel. Beide wurden wieder aufgefischt: auf beiden hatten sich Tiere angesiedelt. Mehr und mehr entdeckte man, wie üppig, farbenprächtig und wundervoll diese in den Tiefen verborgen lebende Tierwelt war. Die erste große und planmäßige Erforschung der Tiefsee erfolgte durch die englische Challengerexpedition in den Jahren 1872–1876. Was sie leistete, stellt sich den Ergebnissen der glänzendsten Forschungsreisen würdig zur Seite; in 38 dicken Quartbänden sind ihre Funde in Wort und Bild genau beschrieben worden. Seit dieser Zeit ist die[S. 6] Tiefseeforschung ein großes Studiengebiet geworden, auf dem sich viele Gelehrte aus den verschiedensten Ländern eifrig betätigen. Zwei Drittel der Erdoberfläche, nämlich die vom Wasser bedeckten, sind uns dadurch neu erschlossen, ja geradezu neu entdeckt worden. Wir wissen heute, daß das Leben auch in den tiefsten Tiefen nicht aufhört, daß ein Druck von mehreren Hunderten von Atmosphären, eine Temperatur, die sich um den Nullpunkt bewegt, und ewige Finsternis die Ausbreitung der Tierwelt nicht hindern können; aus einer Tiefe von 7636 Metern hat man einen lebenden Kieselschwamm heraufgeholt. Wahrlich, alle Naturforscher haben ein Interesse daran, zu erfahren, wie sich das Leben diesen eigentümlichen Umständen anpassen kann.
Am 31. Juli 1898 erfolgte die Ausfahrt der zu einer deutschen Tiefseeexpedition ausersehenen „Valdivia“ aus dem Hamburger Hafen. Es war ein festliches Ereignis. Von allen Seiten, besonders aber durch die Regierung, war die Ausrüstung der Expedition mit Rat und Tat und mit den nötigen Geldbewilligungen unterstützt worden. Der große, schöne Dampfer hatte für die Zwecke dieser Fahrt mannigfache besondere Einrichtungen bekommen, einen Mikroskopierraum, ein chemisches, ein bakteriologisches Laboratorium, eine photographische Dunkelkammer, des weiteren einen großen Konservierraum, in dem die Reservekabel, die Netze, zahllose Kisten und Kasten mit Fischereigegenständen und in den Schränken das gesamte kostbare Material an konservierten Tieren[S. 7] aufgestapelt wurde. Die Anlage einer Eismaschine war besonders vorteilhaft. Die Tiefseetiere leben in sehr kaltem Wasser und geraten bei dem Aufkommen der Netze in den Tropen in oft 25 Grad wärmere Schichten. Hier zersetzen sie sich außerordentlich rasch, falls nicht mit Eis abgekühltes Seewasser zu ihrer Aufnahme bereitsteht. So konnten die Tiere, die bisweilen noch lebend heraufgebracht wurden, gelegentlich stundenlang am Leben erhalten und während der Zeit photographiert und in ihrer natürlichen Färbung abgemalt werden. Da die „Valdivia“ außer dem notwendigsten Trinkwasser und einem Wasserballast zum Gebrauch für die Maschine keinen Doppelboden für Süßwasser besaß, so leistete ein großer Destillationsapparat für die wissenschaftlichen Arbeiten vortreffliche Dienste. Ein sehr wichtiger Gegenstand war auch die große Kabeltrommel, die 10000 Meter Stahlkabel für die Dredscharbeiten auf dem Meeresgrunde aufnehmen mußte. Das Kabel war aus zweien zusammengespleißt, die 10 und 12 Millimeter im Durchschnitt hatten und 5000 und 8000 Kilogramm Druckfestigkeit besaßen. Das wichtigste Werkzeug war ohne Frage die große Dredsche oder das Trawl, das große Scharrnetz. Es schleift auf zwei eisernen, schlittenförmig gebogenen Stangen und besitzt eine Länge von 10 Metern. Um es auf den Grund zu bringen, muß es durch zwei eiserne Oliven von je 25 Kilogramm beschwert werden. Die Vertikalnetze besitzen einen weiten Durchmesser und sind bestimmt, in große Tiefen hinabgelassen und dann[S. 8] langsam in senkrechter Richtung wieder gehievt zu werden. Sie fischen neben den größeren Tieren auch eine Fülle jener kleinen und kleinsten Lebewesen, die man Plankton nennt. Es sind freilich recht kostbare Netze aus Seidengaze, die durch einen derben Überzug geschützt wird. Die Schließnetze endlich sind so eingerichtet, daß sie geschlossen in die Tiefe versenkt und durch einen kunstvollen Mechanismus und mit Hilfe eines Propellers während einer bestimmten Aufwärtsbewegung geöffnet und alsdann wieder geschlossen werden können.
Das Tagewerk begann regelmäßig mit einer Tiefseelotung, meist um 5½ Uhr morgens. Die Maschinenwache wurde benachrichtigt, daß gestoppt werden sollte, worauf das Schiff vor Wind und Strom so hingelegt wurde, daß auf jener Seite, wo gearbeitet werden sollte, Luv war. Es kam wohl vor, daß eine obere Strömung mit einer tieferen Strömung in der Richtung auseinanderging. In solchen Fällen stand der Draht zuerst senkrecht, bis er plötzlich in Tiefen von 200–400 Metern unter dem Schiffe verschwand. Da dann Gefahr bestand, daß die am Draht angebundenen kostbaren Instrumente durch die Reibung an den Bordwänden verloren gingen, bedurfte es des ganzen seemännischen Geschicks des Kapitäns, um durch geeignetes Manöverieren des Schiffes den Draht wieder freizubekommen. Der wichtigste Teil der Lotmaschine (Abbildung 1) ist die Trommel, auf welche der Lotdraht in einer Länge von 8000 Metern aufgewickelt worden war. Ein Zählwerk registriert die Umdrehungen[S. 9] des Meßrades. Die Tiefseelote (Abbildung 2) sind so konstruiert, daß um die Lotröhre ein eisernes Sinkgewicht angebracht wird, welches den Draht zum Meeresgrunde hinabziehen soll, um dann unten liegen zu bleiben und die Drahtleitung für das Einwinden zu entlasten. Wenn das Lot den Grund berührt, fallen die zwei kleinen Arme, wie die Pfeile andeuten, infolge ihrer Schwere abwärts, und die Drähte gleiten ab, so daß das Sinkgewicht selbst abfällt. Für größere Tiefen wurden Sinkgewichte von 28 Kilogramm, für geringere solche von 15 Kilogramm benutzt; von den ersteren besaß die Expedition 230, von den letzteren 130. Läßt man das Lot zu rasch auslaufen, so muß man gewärtig sein, daß die Grundberührung nicht erkannt wird, während gleichzeitig der im Überschuß auslaufende Draht sich aufknäult und Knicke bekommt. Das feine Loten großer Tiefen ist eine Kunst, die durch Erfahrung gelernt sein will. Eine Tiefenlotung von etwa 5000 Metern beansprucht ungefähr 11½ Stunden Zeit, ungerechnet 5–7 Minuten, die man vor Beginn des Aufwindens abwartet, damit das Tiefenthermometer am Meeresgrunde sich richtig auf die Bodentemperatur einstellt.
Da in den tropischen und gemäßigten Regionen die Temperatur allmählich gegen den Meeresgrund abnimmt, so kann man hier Maximum- und Minimumthermometer verwenden, die gegen den gewaltigen Druck (auf 10 Meter eine Atmosphäre) durch eine besondere Glashülle geschützt werden. In den Eismeeren[S. 10] dagegen, die an der Oberfläche kälter sind als in tieferen Schichten, müssen Kippthermometer verwendet werden (Abbildung 3 und 4). Dasselbe kippt um, sobald die Spindel (d) des Propellers (e) sich aus der Thermometerhülse herausgedreht hat; dann reißt bei a der Quecksilberfaden ab, der wegen seiner geringen Masse so gut wie unverändert nach oben kommt. Die Drehung des Propellers erfolgt natürlich durch den Aufzug im Wasser.
Wenn ein Dredschzug in 5000 Metern Tiefe vorgenommen wird, so muß der Dampfer still liegen und soviel Drahtseil ausgegeben werden, als die Lotung anzeigt. Ist das Netz über dem Grunde angelangt, so wird langsame Fahrt gemacht und noch ein Drittel Seillänge mehr ausgegeben. Darauf gehen mehrere Stunden hin. Der ganze Zug beansprucht einschließlich der Lotung 13 Stunden. Ein Dredschzug in großen Tiefen stellt an alle Beteiligten, nicht zum mindesten auch an das seemännische Geschick des Kapitäns hohe Anforderungen. Wegen der hohen Spannung, welcher das Kabel ausgesetzt wird, ist große Aufmerksamkeit der Bedienungsmannschaften erforderlich, da sonst Unfälle nicht ausgeschlossen sind.
Da die Expedition in der Handhabung mancher Geräte noch unerfahren war, so wurden nicht sofort die großen Tiefen des Ozeans aufgesucht, sondern eine Probefahrt nach den Faröer unternommen. Erst dann wurde der Kurs nach dem Süden, dem in Aussicht genommenen Forschungsgebiete gerichtet. Nach[S. 11] Landungen auf Teneriffa, in Kamerun und dem Kaplande, die herrliche Unterbrechungen der gleichmäßigen Tage der Seefahrt boten, wendete sich die Expedition einem ihrer wichtigsten Gebiete zu, dem südatlantischen Ozean in seinen Übergängen in das antarktische Meer. Diesen Abschnitt der Reise geben die hier folgenden Kapitel wörtlich wieder. Sie sind mit gütiger Erlaubnis des Verlegers und Verfassers dem großen Werke „Aus den Tiefen des Weltmeers“ (Verlag von Gustav Fischer in Jena) des Leiters der Expedition Carl Chun entnommen.
Es war ein prächtiger Sonntagsmorgen, an dem die „Valdivia“ aus den großartigen Hafenanlagen von Kapstadt ausfuhr. Es fiel uns schwer, der gastlichen Kapstadt Valet zu sagen, nachdem wir die sieben Tage, welche wir dort verbrachten, in angestrengter Tätigkeit ausgenutzt hatten, um unsere Ausrüstung zu vervollständigen und nebenbei auch das überreich mit Naturschönheiten gesegnete Kapland kennen zu lernen.
Als wir das Kap zur linken Seite liegen ließen und mit SSW.-Kurs dem endlosen südlichen Meere zustrebten, mag man wohl auf einem von Osten kommenden Australienfahrer sich seine eigenen Gedanken über den sonderbaren Kurs eines Dampfers gemacht haben, der mit weißem Tropenanstrich eine seit mehr[S. 12] als fünfzig Jahren von keinem Schiff gewählte Route einschlug.
Es galt der Untersuchung des antarktischen Meeres. Südlich vom Kaplande dehnt sich ein weites Meer aus, das in ozeanographischer Hinsicht unerforscht war. Gleich hinter der Agulhas-Bank (südlich vom Kaplande in 70–200 Meter Tiefe) brechen alle Lotungen ab.
Verfolgt man auf den britischen Seekarten die weite unbeschriebene Fläche südlich vom Kaplande, so stößt man nur auf eine Angabe, die freilich auch wieder als unsicher bezeichnet wird. Unter dem 54. Breitengrad finden sich nämlich drei Inseln verzeichnet, welche als die „Bouvet-Gruppe“ zusammengefaßt werden.
Diese wurden 1739 von Bouvet entdeckt, der sie für das Vorgebirge eines Südkontinents hielt; aber weder Cook (1775), noch James Roß (1843), noch Moore (1845) vermochten trotz aller hierauf verwendeten Mühe die „Bouvet-Insel“ wieder aufzufinden. Immerhin hatten im Anfang dieses Jahrhunderts zwei Kapitäne von Walfischfängern, welche im Dienst der Londoner Firma Enderby standen — nämlich Lindsay (1808) und Norris (1825) — bestätigt, daß in der von Bouvet bezeichneten Region eine bzw. zwei Inseln liegen, deren Position sie freilich abweichend bestimmten.
Da die „Valdivia“ sich als ein vorzügliches Expeditionsschiff bewährt hatte, reifte im Vertrauen auf die umsichtige Schiffsführung von Kapitän Krech der[S. 13] Entschluß, die Bouvet-Region aufzusuchen und einen erneuten Versuch zur Wiederauffindung der von drei Expeditionen vergeblich gesuchten Inselgruppe zu wagen.
Die günstige Witterung hielt nach der Abfahrt von Kapstadt auch während der nächsten Tage an, und so vermochten wir alle Arbeiten in wünschenswerter Weise zu fördern. Mit Rücksicht darauf, daß wir von jetzt an in Regionen vordrangen, deren Bodenrelief unbekannt war, wurde täglich vor Beginn der übrigen Arbeiten eine Lotung ausgeführt. Schon die erste, am 14. November vorgenommene, überzeugte uns von der Tatsache, daß die Agulhas-Bank in ein außerordentlich tiefes Meer von über 4000 Metern abfällt.
Nachdem bereits unter dem 37. Breitengrade eine hohe, westliche Dünung uns belehrt hatte, daß wir in die Region der ständig wehenden „braven Westwinde“ eingetreten waren, auf deren Bedeutung für die Segelschiffahrt nach Australien zuerst James Roß hingewiesen hatte, begann am 16. November der Westwind stürmisch einzusetzen. Wir begegneten an diesem Tage einem englischen Schiffe, dem Dampfer „Titania“, der auf der Fahrt nach Süd-Australien begriffen war. Es war für lange Zeit das letzte Schiff, welches wir sichteten; wir verfehlten denn auch nicht, unsere Route mit der Bitte um Meldung zu signalisieren.
Am 16. November mittags 12 Uhr betrug die Oberflächentemperatur noch 17,4 Grad, während sie am[S. 14] 18. November um dieselbe Zeit bereits auf 7,8 Grad gesunken war. Seitdem nahm die Temperatur so rasch und stetig ab, daß nach Überschreiten des 53. Breitengrades am 24. November bereits Oberflächentemperaturen von minus 1 Grad gemessen wurden.
Mit dem Eintritt in die kühlere Region hob sich sichtlich der Gesundheitszustand und das Wohlbefinden der Mitglieder der Expedition, die seit unserm Besuch in Kamerun durch vielfach wiederholte Malariaanfälle heimgesucht wurden. Allerdings machte sich an den nächsten Tagen die rasche Abkühlung der Luft, welche ungefähr gleichen Schritt mit der Temperaturabnahme des Oberflächenwassers hielt, so empfindlich geltend, daß fast niemand von Katarrhen verschont blieb, die indessen schnell vorübergingen. Auch sorgte die am 19. November zum erstenmal angelassene Dampfheizung dafür, daß wir im Salon und in den Kabinen uns behaglich fühlten.
Das gute Wetter sollte freilich nicht lange anhalten. Am 20. November begann das hochstehende Barometer von 760 Millimetern auf 738 zu fallen, und gleichzeitig fachte der von Nordost nach West zu Süd umgehende Wind zum schweren Sturm an. Da die Windstärke nach der Beaufortskala 10 betrug, so donnerten die Wogen gegen die Wandung des Schiffes, überspülten das Verdeck und nötigten uns schließlich, beizudrehen, um gegen den gewaltigen Seegang anzudampfen.
Das rasche Fallen des Barometers setzte uns an späteren Tagen nicht mehr in Überraschung, aber als[S. 15] wir es zum erstenmal erlebten, machte die tief nach abwärts steigende Kurve des Registrierbarometers einen fast unheimlichen Eindruck. Dabei verdunkelte sich zeitweilig der Himmel stark und kontrastierte fast schwarz mit dem weißen Gischt der gewaltigen Wogenkämme, die meist zu drei hintereinander ankamen und über das Verdeck fegten. In diesem Aufruhr bemerkten wir einen antarktischen Pinguin, der mit heiserem Schrei durch kräftige Schläge mit den zu Flossen umgebildeten Flügeln sich wie ein Delphin in kurzen Sprüngen über Wasser erhob und längere Zeit dem Schiffe folgte. So recht in ihrem Elemente fühlten sich die Sturmvögel, unter denen zum erstenmal die aschgrauen Albatrosse mit schwärzlichem Kopfe und weißen Augenlidrändern gespenstig wie Vampyre ihre erstaunlichen Flugkünste in ruhigen eleganten Kurven um das schwer arbeitende Schiff ausführten.
Am Morgen des 21. November bot das Meer bei gelegentlich durchbrechender Sonne einen großartigen Anblick dar: die mächtige nördliche Dünung wurde von einem von Westen kommenden Wogengange durchkreuzt und bedingte eine wild aufgeregte, prachtvoll blau und weißschäumende See.
Da wir in westlicher Richtung gegen den Wind andampften, wurde in regelmäßigen Intervallen das Schiff durch die von Norden kommende Dünung gepackt und zur Seite geworfen. Dies hatte ein fast unerhörtes Schlingern zur Folge, bei dem in den Laboratorien die Gläser aus ihren Gestellen herausfuhren,[S. 16] die Treppen mit Präparierflüssigkeiten übergossen wurden, und gar mancher dem angeschraubten Drehstuhl Valet sagte, um in unfreiwilliger Reise mit dem anderen Ende des Salons Bekanntschaft zu machen. An einen Schlaf war nicht zu denken gewesen, und bei dem Frühstück hatte es auch seine Schwierigkeiten. Obwohl schon längst die verdächtigen quadratischen Fächer auf dem Tische befestigt waren, so flogen doch Teller, Messer, Löffel — nicht minder auch die Stewards — umher, und niemand war zu beneiden, der etwa gleichzeitig ein weiches Ei und eine Tasse voll Tee zu bewachen hatte. Ebenso rasch, wie das Barometer gefallen war, begann es am 21. November wieder zu steigen und die für diese Breiten ungewöhnliche Höhe von 770 Millimetern zu erreichen. Gleichzeitig drehte der allmählich abflauende westliche und südwestliche Wind unter Regenschauern und Hagelböen wieder nach Nord zurück. Es traten einige ruhigere Tage ein, an denen wir freilich durch die von nun an häufiger sich einstellenden Nebel an einem raschen Vorwärtskommen gehindert wurden. Wir waren öfters genötigt, zu stoppen; ging es trotzdem bei Nebel mit halber Kraft vorwärts, so ertönte in regelmäßigen Intervallen die Dampfpfeife, um das Echo von einem etwa vorliegenden Eisberge zu wecken.
So trafen wir denn am 24. November in der Höhe des 54. Breitengrades auf jene Region, in welcher die englischen Admiralitätskarten drei Inseln verzeichnen und sie als Bouvet-Gruppe zusammenfassen.[S. 17] Ein schneidender, bald stürmisch anfachender Nord hatte das Verdeck mit Glatteis überzogen, und mehrmals sich einstellende Nebel erschwerten den Ausblick. Da indessen gelegentlich die Sonne durchbrach, wurde die Hoffnung nicht aufgegeben, über das Schicksal der Inseln Aufschluß zu erhalten. Während in den letzten Tagen sehr ansehnliche Tiefen zwischen 4000 und 5000 Metern (zweimal sogar Tiefen von über 5000 Metern) gelotet worden waren, ergab eine am 23. November vorgenommene Lotung 3585 Meter, und die am 24. ausgeführte nur 2268 Meter. Hierdurch war ein unterseeischer Rücken nachgewiesen, der vielleicht den Inseln als Sockel dienen konnte, und es handelte sich nun darum, systematisch die ganze Region abzusuchen. Der Navigationsoffizier hatte zu diesem Zwecke die von Bouvet, Lindsay und Norris angegebenen Positionen ihrer Landsichtungen in eine Karte eingetragen, und man begann nun, von Ost nach West vorgehend, die Verhältnisse zu prüfen. Am 24. wurde ein Erfolg nicht erzielt, obwohl der Himmel zweimal aufklärte und auf kurze Zeit ganz wolkenlos war. Immerhin blieb die Luft eigentümlich diesig, während das Wasser durch mikroskopische Algen, welche geradezu einen Brei an der Oberfläche bildeten, grünlich verfärbt wurde. Wenn dann gleichzeitig der Himmel mit einem monotonen grauen Wolkenschleier verhängt war, so zeigte die Meeresoberfläche jenen schwärzlichen Ton, dessen so oft in der Reisebeschreibung des „Challenger“ gedacht wird. Gegen Abend brach[S. 18] die Sonne wieder durch und ging hinter einer imposanten Wolkenwand unter, in die man anfänglich hohe Inseln hineindeutete, bis erst allmählich die Täuschung erkannt wurde.
Am Morgen des 25. November loteten wir mitten zwischen den angeblichen Landsichtungen von Bouvet, Lindsay und Norris eine Tiefe von 3458 Metern. Damit schwand nun freilich die Hoffnung, daß wir in diesen Gegenden eine Insel nachzuweisen vermöchten, doch deutete immerhin das reiche Vogelleben — nicht zum mindesten die Erbeutung zweier Kaptauben mit Brutfleck — auf die Nähe von Land hin. Gelegentlich aufkommende Schneeböen wechselten mit einem Aufklaren des Himmels ab, und so wurde die Suche nach den Inseln in westlicher Richtung fortgesetzt. Denn wenn auch anzunehmen war, daß die alten Seefahrer die Breite ziemlich richtig angegeben hatten, so war ein Irrtum in der Längenbestimmung im Hinblick auf die damals noch unvollkommenen Mittel nicht ausgeschlossen.
Gegen Mittag des 25. November kam der erste große Eisberg in Sicht. Er machte, als er in vollem Sonnenschein vor uns glänzte, einen majestätischen Eindruck. Dies nicht zum mindesten durch die stolze Ruhe, mit welcher der Koloß wie verankert dalag, während die Brandung oft bis zum Gipfel emporstieg und ihn mit Gischt überschüttete (Abbildung 6). Hatte man bisher den Schaum der Wogen als den Inbegriff des blendend Weißen betrachtet, so war man überrascht, daß dieser sich von den wie frisch überschneit[S. 19] erscheinenden Flächen eines von der Sonne beschienenen Eisberges graugelblich abhob. Dabei schien ein feiner bläulicher Duft über dem Ganzen zu liegen, der in den Spalten und Grotten in ein tiefes Kobaltblau überging.
Am Nachmittag wurde es wieder etwas bewölkt und unsichtig. Nach den stürmischen Tagen und schlaflosen Nächten gab der Kapitän seinem Unmut über die unsicheren Bestimmungen der alten Seefahrer in kräftig seemännischer Weise Ausdruck. Wir waren beide der Ansicht, daß nur noch bis Sonnenuntergang die Suche nach den wie verzaubert erscheinenden Inseln mit westlichem Kurs fortgesetzt werden sollte, als 30 Minuten nach 3 Uhr unser erster Offizier mit dem Ausruf: „Die Bouvets liegen vor uns“ das ganze Schiff in Aufregung brachte. Alles stürmte nach vorn und auf die Brücke, und da lag denn in verschwommenen, bald deutlicher hervortretenden Umrissen, nur 7 Seemeilen rechts voraus, in seiner ganzen antarktischen Pracht und Wildheit ein steiles Eiland. Schroffe und hohe Abstürze gegen Norden, mächtige, bis zum Meeresspiegel abfallende Gletscher, ein gewaltiges Firnfeld, welches sanft geneigt im Süden mit einer Eismauer im Meer endet, die Kämme der Höhen in Wolken versteckt — das war der Eindruck, den wir von der seit 75 Jahren verschollenen und von drei Expeditionen vergeblich gesuchten Insel empfingen.
An einen Landungsversuch an der steilen, von senkrechten Eismauern umgebenen Küste war indessen[S. 20] wegen der noch immer hochgehenden See nicht zu denken.
Wer die Eigenart des antarktischen Gebietes und die Verschiebungen aller klimatischen Bedingungen würdigen will, tut gut, die Verhältnisse der nördlichen Halbkugel zum Vergleiche heranzuziehen. Auf gleicher Breite wie die Bouvet-Insel liegen nördlich vom Äquator Helgoland und die Insel Rügen. Man stelle sich nun vor, daß Rügen mit ewigem Schnee bedeckt sei, Gletscher bis zum Meere entsende und auch im Hochsommer gelegentlich von schwerem Packeis umgeben werde. Die Oberflächentemperatur der Nord- und Ostsee sei — dies stets im Sommer — unter den Nullpunkt gesunken und Eisberge machen die Schiffahrt in der Nähe der englischen Küste zu einer schwierigen. Ein Fahrzeug, das bis zu den Lofoten durch Packeis vordringt, würde in den Annalen verzeichnet werden, und wer gar Spitzbergen erreichte, das heutzutage von Vergnügungsreisenden auf Salondampfern besucht wird, würde als kühner Entdecker gepriesen werden, der weiter vordrang, als es einem James Clark Roß vergönnt war!
Der zweite Abschnitt der Fahrt im antarktischen Gebiet darf als der weitaus erfolgreichste bezeichnet werden.
Die Expedition konnte bei einem für antarktische[S. 21] Verhältnisse ungewöhnlich günstigen Wetter 3 Wochen hindurch fast ungestört ihren Arbeiten nachgehen, schließlich mit einem keineswegs für die südlichen Eisverhältnisse berechneten Dampfer den 64. Breitegrad überschreiten und in die Nähe des vermuteten antarktischen Kontinents gelangen.
Daß gerade dieser Teil der Fahrt trotz der günstigen Witterung an das Geschick und die Umsicht von Kapitän und Offizieren besondere Anforderungen stellte, liegt auf der Hand. Häufig eintretende Nebel, heftige Schneeböen, zahlreiche Eisberge und weit nach Norden sich ausziehende Treibeisfelder nötigten uns zu vielfachen Kursänderungen und mehrmals zum Durchbrechen der vorliegenden Eismassen. Durch vorsichtiges Abwägen der Verhältnisse und sorgfältige Berücksichtigung älterer Nachrichten über die Packeisverbreitung gelang es indessen, ohne den geringsten Unfall viel weiter südlich vorzudringen, als bei Antritt der Fahrt vorauszusetzen war.
Sehr förderlich war der Umstand, daß die Expedition bereits im November von Kapstadt aufbrach, also weit früher als vorhergehende Expeditionen, und gerade zur Zeit der längsten Tage in südlichen Breiten anlangte. Jenseits des 60. Breitengrades war es trotz des ständig bedeckten Himmels auch um Mitternacht so hell, daß man bequem zu lesen vermochte.
Dabei war der Himmel von einem monotonen grauen Wolkenschleier verhängt, der nur selten sich lüftete und auf einen kurzen Moment die Sonne hervortreten ließ. Das ozeanische Klima bringt es weiterhin[S. 22] mit sich, daß die Temperatur nur in geringen Grenzen schwankt. Der antarktische Hochsommer war im Anzug, und wir genossen ihn unter gelegentlich einsetzenden Schneeböen bei einer Temperatur, die nur selten über 0 Grad betrug und nie unter minus 2,5 Grad sank.
Bereits am 30. November erreichten wir bei ruhiger Fahrt mittags kurz nach 2 Uhr unter 56 Grad 45 Minuten die Treibeisgrenze. Wie immer bei der Annäherung an das Eis, so zeigten sich auch hier zunächst kleinste Schollen oder Brocken, die häufig mit dem Winde zu langen Streifen sich anordneten. Auf sie folgten größere und breitere quer zur Windrichtung gestellte Felder von Treibeis, die allmählich immer dichter wurden und offenbar, wie gelegentlich ein heller Eisblink verriet, in schweres Packeis übergingen. Die Treibeisfelder setzten sich aus zum Teil stark zertrümmerten Schollen zusammen, zwischen denen gelegentlich größere, himmelblau gefärbte Eisstücke trieben. Ihre aus dem Wasser hervorragende Partie war oft wunderlich gestaltet und gewährte der Phantasie den freiesten Spielraum zu Vergleichen mit Statuen, Tieren und Gerät. Es handelte sich meist um schneeweiße Kuppen, die auf dem tiefblauen im Wasser treibenden Sockel ruhten; ihr unterer noch von den Wellen bespülter Teil war stärker aufgelöst als die obere, manchmal auf einer schlanken Eissäule ruhende Partie. Die größeren Schollen maßen hier 2, selten 3 Meter im Durchmesser, und wir mußten sie sorgfältig zu vermeiden trachten, da das außerordentlich spröde Eis leicht[S. 23] einen Schaden an der Schiffsschraube hervorgerufen hätte. Zwischen den bald langgestreckten, bald ringförmig gestalteten Treibeisfeldern war das Meer öfter so ruhig wie ein See. Wir nutzten diesen Umstand mehrfach aus, um mitten in dem Eise unseren Arbeiten nachzugehen. Allerdings hatten sich während der oft einen ganzen Tag dauernden Untersuchungen, bei denen das Schiff still lag, die Eisfelder hinter uns vielfach verschoben, und so waren wir genötigt, sie sowohl gleich am ersten Tage, wo wir auf das Eis trafen, wie auch späterhin zu durchbrechen, um wieder offenes Wasser zu gewinnen. Hierzu zwang uns auch manchmal der Umstand, daß das Eis in Gestalt langer Zungen sich vorschob, die senkrecht zu unserem Kurse gestellt waren. Es war stets ein großartiger, aber auch mit mannigfachen Beklemmungen verbundener Moment, wenn die keineswegs für die antarktischen Eisverhältnisse berechnete und zu diesem Zweck nicht verstärkte „Valdivia“ mit Volldampf gegen die Eisfelder anfuhr, erst direkt vor ihnen stoppte und sich nun durch die krachenden Schollen ihren Weg bahnte. Wir waren allerdings so vorsichtig, uns die schmalsten Stellen der Treibeisfelder zu derartigen Experimenten herauszusuchen, die recht verhängnisvoll hätten ausfallen können, wenn die Kraft des Schiffes durch den Andrang der Schollen gebrochen worden wäre, und wir mitten im Eise die Maschine hätten in Bewegung setzen müssen.
Schon in der ersten Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember waren wir genötigt, unter mannigfachen[S. 24] Kursänderungen mehrmals die Felder zu durchfahren, und schwerlich dürften bei dem unheimlichen Krachen und Knirschen an den Wandungen des Schiffes die Insassen den Schlaf gefunden haben.
In allen wärmeren Ozeanen nimmt die Temperatur des Seewassers von der Oberfläche bis zum Grunde ständig ab. Als einer der überraschendsten ozeanographischen Befunde der Challenger-Expedition darf füglich der Nachweis betrachtet werden, daß im antarktischen Gebiet in der Nähe der Eisgrenze das Oberflächenwasser kälter ist als darunterliegende Wasserschichten. Die Beobachtungen lehren im allgemeinen, daß bis zu einer Tiefe von 150 Metern das Oberflächenwasser Temperaturen unter 0 Grad aufweist, und daß dann erst Schichten folgen, in denen die Temperatur über 0 Grad steigt. Zwischen 800 und 400 Metern trafen wir die wärmsten Wasserschichten von einer Temperatur von plus 1,7 Grad Celsius an. Von hier an nimmt die Temperatur im allgemeinen langsam ab, um erst in relativ beträchtlichen Tiefen von 3000–4000 Metern wiederum unter 0 Grad zu sinken. Im allgemeinen betrug die Bodentemperatur in 5000 Metern im antarktischen Ozean etwa minus 0,5 Grad.
Das Auftreten einer über 2000 Meter mächtigen Schicht verhältnismäßig warmen Wassers im antarktischen Meere ist eine Erscheinung, deren Bedeutung[S. 25] wir sowohl in ozeanographischer, wie auch in biologischer Hinsicht nicht hoch genug würdigen können. Das antarktische Tiefenwasser findet seinen Weg in langsamem Kreislauf bis zum Äquator und im Indischen Ozean sogar weit über denselben hinaus. Wenn nun auch die starke Erwärmung der Oberfläche in gemäßigten und tropischen Meeresgebieten die tieferen Schichten etwas in Mitleidenschaft zieht, so reicht sie doch nicht aus, um erhebliche Unterschiede in der Temperatur zu bedingen. In 2000 Metern Tiefe ist das Wasser des zentralen Indischen Ozeans direkt unter dem Äquator nur um 2 Grad wärmer als in der Nähe des antarktischen Kontinentes. Das sind so geringfügige Unterschiede, daß sie ein bemerkenswertes Ergebnis unserer Züge mit den Vertikal- und Schließnetzen erklärlich erscheinen lassen: dieselben schwimmenden Organismen, welche dem tropischen Tiefenwasser eigen sind, haben wir teilweise auch in demjenigen des antarktischen Meeres wiedergefunden. An der Oberfläche gibt sich eine weitgehende Verschiedenheit in der Zusammensetzung der schwimmenden Lebewelt kund, in der Tiefe eine auffällige Übereinstimmung!
Allgemein bekannt ist die gewaltige Eismauer, welche Roß im südlichsten Teile des Viktorialandes nachwies. Er schätzte ihre Höhe auf 60–70 Meter und[S. 26] vermochte sie auf eine weite Strecke hin östlich vom Mount Terror zu verfolgen. Sie bildet die Stirn jener ungeheuren antarktischen Gletscher, welche sich längs der geneigten Küste weit in das Meer vorschieben. Die Lotungen von Roß lehren, daß die oft mehrere Seemeilen über den Kontinentalrand vorgeschobenen Massen von Inlandeis nicht mehr festem Untergrund aufliegen, sondern infolge ihres geringeren spezifischen Gewichtes auf dem Wasser flottieren. Eine Berechnung ergibt, daß sie etwa zu sechs Siebentel ihrer Höhe in das Wasser eintauchen und nur mit einem Siebentel über dasselbe herausragen. Würden wir also die Gletscherzunge des Viktorialandes uns direkt in der Höhe des Strandes abgebrochen denken, so müßte sie die gewaltige Höhe von 400–500 Metern aufweisen.
Der Unterschied zwischen dem spezifischen Gewichte des Seewassers und des Inlandeises führt dazu, daß die annähernd horizontal dem Meere aufliegende äußerste Zunge des Gletschers — mag sie mehr oder minder breit sein — einen flachen Winkel mit den rückwärtigen, dem ansteigenden Festlande aufliegenden Massen bildet. Es ergeben sich Spannungen, die schließlich dazu führen, daß ein Bruch erfolgt. Die Stirn des Gletschers löst sich ab und schwimmt als tafelförmiger Eisberg davon.
Diese Eisberge verbreiten sich allmählich von ihrem Ursprungsherd aus über ein weites Gebiet des antarktischen und subantarktischen Meeres und vermögen unter Umständen selbst die Schiffahrt nach Australien[S. 27] zu gefährden. So machte sich in den Jahren 1894–1897 eine gewaltige Eistrift geltend, welche am Kap Horn einsetzend bis in die Nähe des Kaps der guten Hoffnung reichte und späterhin in mehr östlicher Richtung die Australienfahrer in Bedrängnis brachte. Wir trafen freilich erst jenseits des 53. Breitegrades die ersten Eisberge und beobachteten sie um so zahlreicher, je mehr wir uns der Eiskante näherten. Unsere wachthabenden Offiziere führten Protokoll über die einzelnen von uns gesehenen Eisberge und verzeichneten deren im ganzen 180; ausgenommen sind freilich die fast unzählbaren Eisberge, welche wir an unserem südlichsten Punkte, am 16. und 17. Dezember beobachteten.
Was die Gestalt der antarktischen Eisberge anbelangt, so ist allen Beobachtern aufgefallen, daß sie in der Nähe ihres Entstehungsherdes tafelförmige Riesen von einförmigem Aussehen darstellen. Wir haben versucht, durch genaue Messungen ihre Höhe über Wasser zu bestimmen, indem wir behufs Ermittelungen der Entfernung des Schiffes von dem Eisberge die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalles in Gestalt des prächtig von demselben widerhallenden Echos benutzten. Es wurden Schüsse abgefeuert, mit der Sekundenuhr genau die Zeit zwischen Knall und Echo kontrolliert und dann mit dem Sextanten die Höhe des Eisberges gemessen. Eine einfache Rechnung ergab den Nachweis, daß mancher der von uns gesehenen Eisberge die beträchtliche Höhe von nahezu 60 Metern erreichte; die Mehrzahl war niedriger und[S. 28] wies eine mittlere Höhe von 30 Metern auf. Die Länge der von uns gemessenen Eisberge schwankte selbstverständlich in noch viel weiteren Grenzen als die Höhe. Einen der längsten, den wir maßen, trafen wir am 14. Dezember an; er war 54 Meter hoch und 575 Meter breit. Gewaltige Berge, wahre Eisinseln, sahen wir in der Nacht vom 17. zum 18. Dezember bei Enderbyland. Als wir uns damals aus dem Packeise herausarbeiteten, befanden wir uns in nicht weiter Entfernung von einem Eisberge, den ich anfänglich für die dem Festlande vorliegende Eismauer hielt, bis es sich herausstellte, daß wir es mit einer Eisinsel zu tun hatten, deren Ausdehnung von den Offizieren auf 4–5 Seemeilen geschätzt wurde. Solche Rieseninseln müssen gewaltigen Gletschern entstammen, welche die Schneemassen eines weitausgedehnten und sanft gegen die Küste abfallenden Hinterlandes dem Meere zuführen.
Kaum entstanden, wird der tafelförmige Eisriese bereits unter den Einwirkungen der Außenwelt umgeformt. Die gewaltigen Klötze, welche aus Millionen von Tonnen Eis bestehen, unterliegen der schmelzenden Wirkung des Wassers und der Luft, nicht minder auch den mechanischen Eingriffen der Brandung. Wie lange ein antarktischer Koloß den äußeren Einflüssen zu widerstehen vermag, läßt sich bei dem Mangel an zuverlässigen Beobachtungen schwer entscheiden. Mag er kürzere oder längere Zeit — vielleicht ein Jahrzehnt — aushalten, so ist doch schon bei der Geburt sein Schicksal besiegelt,[S. 29] das ihn um so rascher erreichen wird, je schneller er durch Strömungen, unter Umständen auch durch ständig wehende Winde in warme Gebiete getrieben wird.
In erster Linie ist die mechanische Wirkung des Wassers hervorzuheben. Das antarktische Meer ist stets bewegt, und selbst bei anscheinend glatter See gelingt es kaum, mit einem Boote sich dem Eisberge direkt zu nähern und etwa festen Fuß auf ihm zu fassen. Langsam, wie mit regelmäßigem Pulsschlag, arbeitet die Dünung in der Höhe der Wasserlinie an den Flanken des Berges; kräuselt ein Wind die Oberfläche, so beginnen die Wogen an ihm zu nagen, und herrscht schwerer Sturm, so bietet sich dem Seefahrer ein geradezu überwältigendes Schauspiel dar. Mächtige Wogenkämme stürmen gegen den in majestätischer Ruhe daliegenden Eiskoloß an, zerstieben bei dem Anprall in feinen Gischt, um in Brandungswogen von fast unerhörter Höhe längs der eisigen Mauern sich aufzubäumen und das Plateau mit weißem Schaum zu überschütten. Ein derartiges Schauspiel bot sich uns dar, als wir nach Verlassen von Enderby-Land bei schwerem Oststurm die letzten Eisberge sichteten. Man glaubte dumpfen Kanonendonner zu vernehmen, wenn die Brandungswogen anprallten und ihr Zerstörungswerk mächtig förderten.
Zunächst äußert sich die mechanische Wirkung des Wassers durch die Bildung einer Hohlkehle in der Höhe des Wasserspiegels. Solange der Eisberg[S. 30] noch in kaltem Wasser, dessen Oberfläche unter 0 Grad erniedrigt ist, schwimmt, kann eine Schmelzung des Inlandeises nicht stattfinden, wohl aber wird durch die ständig von den Wogen erzeugten Stöße die Hohlkehle mehr und mehr vertieft, so daß schließlich ein Abbruch der über ihr gelegenen Eismassen erfolgt. Indem die der Luvseite zugekehrte Fläche des Berges rascher zerstört wird als die Leeseite, tritt dann durch eine leichte Verlegung des Schwerpunktes die Hohlkehle frei zu Tage. Die schräg zu der Fläche verstreichenden und an den Flanken aufsteigenden Wogen polieren dann oft den unteren Teil des Eisberges fast glatt. Die Zersetzung wird nun weiterhin dadurch begünstigt, daß kleine Längsspalten, welche oberhalb der Wasserlinie auftreten, neue Angriffspunkte für den Wogenprall darbieten; sie werden erweitert, bis sie schließlich tief einschneidende Grotten bilden, die gelegentlich wie von gotischen Schwibbogen begrenzt bis gegen das Plateau hinaufragen. Ist ein langgestreckter Eisberg Wochen hindurch mit der einen Breitseite dem Wogenprall preisgegeben, so kann es kommen, daß seine Leeseite eine glatte Eismauer darstellt, während seine Luvseite durch Grotten bereits stark durchlöchert erscheint. Einen derartigen Eisberg beobachteten wir am 4. Dezember; er machte auf der Ostseite den Eindruck, als ob er aus drei gewaltigen Bergen sich zusammensetzte, während die Westseite vollständig glatt erschien. Schneiden die Grotten tief ein, und gehen von ihren Decken Spalten aus, die bis zu dem Plateau[S. 31] vordringen, so klaffen die durch sie getrennten Eisblöcke auseinander, neigen sich etwas zur Seite und suchen Anlehnung an die benachbarten. Bei weitergehender Zerstörung brechen schließlich die Eismassen zusammen und bilden unter Umständen Sturmböcke, deren sich der Wogenprall bedient, um den noch stehengebliebenen Teil der Eiswand in Mitleidenschaft zu ziehen. Auf diese Weise kann es sich geben, daß schließlich die ganze Luvseite des Eisberges vernichtet und zu einem weiten Amphitheater umgestaltet wird, dessen Umwallung die auf der Leeseite noch erhaltene Eismauer abgibt. Ich werde niemals den Eindruck vergessen, den einer der größten Eisberge auf uns machte, welchen wir am 7. Dezember bereits aus einer Entfernung von 20 Seemeilen sichteten und späterhin umfuhren. Wir setzten damals ein Boot aus, um ihn von diesem aus mitsamt dem Dampfer bei relativ ruhiger See zu photographieren. Von der Westseite, die wir zuerst zu Gesicht bekamen, schien er monoton tafelförmig gestaltet; als wir indessen auf die Ostseite gelangten, vermochte niemand einen Ausruf der Bewunderung über den großartigen Anblick zu unterdrücken. Sie bot sich uns als ein gewaltiges Amphitheater dar, das in seiner eigenartigen Mischung von Blau und Weiß wohl die riesenhafteste Arena darstellte, welche uns je zu Gesicht gekommen war.
Es liegt auf der Hand, daß bei solchen einseitig zerstörten Bergen der Schwerpunkt verlegt wird. Sie neigen sich ein wenig in der Richtung der noch stehenden[S. 32] Eiswand, und der zerstörte Teil taucht immer höher über Wasser auf. Derartig gestaltete Eisberge trafen wir recht häufig an.
Da wir unsere Darlegungen auf die Einwirkungen beschränken, welche noch innerhalb der antarktischen Zone — das heißt in jener Region, wo die Oberflächentemperatur des Wassers unter 0 Grad sinkt — den Eisberg betreffen, so mag der kurze Hinweis genügen, daß in niedrigen Breiten zu der mechanischen Wirkung des Oberflächenwassers auch die schmelzende sich hinzugesellt. In höheren Breiten kommt diese zwar nicht in Betracht, wohl aber erweist sich die in den Sommermonaten erhöhte Temperatur der Luft als verhängnisvoll für den Zusammenhalt der Eismasse.
Steigt die Temperatur über 0 Grad und sinkt sie anderseits um nur ein Geringes unter den Nullpunkt, wie dies gerade für den größten Teil der von uns durchfahrenen Region längs der Eiskante zutrifft, so erfolgt ein ständiges Auftauen und Wiedergefrieren der oberflächlichen Schichten. Das Schmelzwasser sickert in die Spalten und übt, da es bei dem Gefrieren sich ausdehnt, eine Sprengwirkung aus, welche eine ausgiebige Zertrümmerung zur Folge hat. Bei dem Umfahren des vorhin erwähnten amphitheatralisch gestalteten großen Eisberges lösten sich von den Seiten des Plateaus große Blöcke ab, die unter einem Donner, wie wenn eine Lawine im Hochgebirge niederginge, in das Meer herabprasselten. So findet man denn auch gewöhnlich den Eisberg[S. 33] auf seiner Leeseite von zahllosen Schollen umgeben, welche sich dem Treibeise beimischen und durch ihre kobaltblaue Färbung von dem mehr blaugrün gefärbten Meereise abheben. Durch ihre Härte sind sie der Schiffahrt besonders gefährlich und seit jeher von den Südpolarfahrern gemieden worden. Daß ein ständiges Auftauen und Wiedergefrieren während der Sommermonate in höheren Breiten erfolgt, lehren auch die gewaltigen Eiszapfen, welche wir oft von den Rändern des Plateaus niederhängen sahen.
Eine ähnliche Wirkung wie die erwärmte Luft übt die Sonnenstrahlung aus. Sie dürfte sich freilich in jenen Regionen, die wir durchfuhren, wegen des fast ständig bedeckten Himmels weniger geltend machen als in südlicheren Breiten, wo der Himmel häufiger aufklart. Roß bemerkte an den Vorsprüngen der großen Eismauer des Viktorialandes lange Eiszapfen, deren Auftreten bei der dort herrschenden niedrigen Sommertemperatur wohl wesentlich auf Rechnung der Sonnenstrahlen zu setzen ist.
Im Hinblick auf die gewaltigen Massen, um die es sich bei einem antarktischen Eisberg handelt, kann es nicht überraschen, wenn die durch Auftauen entstandenen Süßwasser sich in zahlreichen Rinnsalen sammeln und schließlich kleine Bäche bilden, die in Kaskaden von dem Rande des Plateaus in das Meer abfallen. An dem bereits erwähnten Eisberge vom 7. Dezember sahen wir mehrere Wasserläufe über den niedrigen Teil des Plateaus sich in die See ergießen, obwohl zu der Zeit, als wir anfuhren,[S. 34] die Lufttemperatur minus 1 Grad betrug. Da wir immerhin am nächsten Tage um die Mittagszeit eine Temperatur von plus 0,4 Grad beobachteten, so begreift man, wenn bei diesem ständigen Schwanken um den Nullpunkt ein stetig fließender Quell dem Eisberge entströmt.
Es braucht nicht noch besonders darauf hingewiesen zu werden, welche Gefahren für die Schiffahrt die Eisberge darbieten. Sich ihnen direkt zu nähern, ist unter keinen Umständen ratsam, da oft schon ein Schuß genügt, um die in labiler Gleichgewichtslage befindlichen, durch die Sprengwirkung der frierenden Schmelzwasser gelockerten Blöcke zum Herabstürzen zu bringen. Da weiterhin in diesen Gebieten mit einer oft unheimlichen Schnelligkeit ein Nebelschleier sich einstellt, der jeden Ausblick benimmt, so waren wir häufig genötigt, die Maschine zu stoppen, wenn vorher Eisberge gesichtet wurden. Erschien der Horizont frei und kam Nebel auf, so fuhren wir immerhin mit halber Kraft und suchten durch ständiges Ziehen an der Dampfpfeife das Echo von etwa vorliegenden Bergen zu wecken. Durch einen Umstand wird allerdings auch bei dickem Wetter die Annäherung an den Eisberg verraten. In unmittelbarer Nähe desselben erfolgt nämlich, wie wir mehrfach zu erproben Gelegenheit fanden, ein Aufklaren, welches offenbar dadurch bedingt wird, daß die von dem Eise ausstrahlende Kälte ein Gefrieren und Niederfallen der Wasserteilchen in der umgebenden Luft zur Folge hat.
Alle die hier genannten Einwirkungen von Wasser und Luft betreffen nur die oberflächliche Partie des Eisberges. Weit wirkungsvoller dürfte sich indessen auf Grund unserer Untersuchungen die Zerstörung erweisen, welche dadurch bedingt wird, daß der Eisberg mit seinem Fuße in Schichten eintaucht, welche unter Umständen um 3 Grad wärmer sind als das Oberflächenwasser. Es ist schon früher darauf hingewiesen worden, daß in 300–400 Metern Tiefe, also in jener Tiefe, bis zu welcher der größte Teil der Eisberge hineinragt, eine Temperatur von plus 1,7 Grad herrscht. Daß hier ein ständiges, intensives Abschmelzen des Eises erfolgen muß, liegt auf der Hand. Diese spezifisch leichten, aber kalten Schmelzwasser steigen zur Oberfläche und breiten sich über das ganze antarktische Gebiet in allerdings dünner Schicht aus. Hier macht sich eine Einwirkung geltend, die still, aber nachhaltig, sicherlich alles überbietet, was Wogenprall und warme Luft an dem über die Oberfläche herausragenden Teile des Eisberges zuwege bringen. Ein beträchtlicher Wärmevorrat wird dem Tiefenwasser entzogen und durch das Schmelzen des Eises gebunden.
Gerät nun gar der durch das Auftauen von unten ständig leichter werdende Berg in wärmere Regionen, wo der Schmelzprozeß auch im Oberflächenwasser sich geltend macht, so kann es sich wohl geben, daß der Schwerpunkt völlig verlegt wird und ein Umwälzen erfolgt. Ein solches haben wir freilich niemals im kalten Gebiete zu Gesicht bekommen.
Im allgemeinen ist wohl der Schluß gerechtfertigt, daß stark zersetzte Eisberge in weitem Abstand von ihrer Ursprungsstätte angetroffen werden und demgemäß auch auf eine große Entfernung des antarktischen Kontinents hinweisen. Die ersten Eisberge, welche wir jenseits des 53. Grades gewahrten, deuteten denn auch darauf hin, daß sie offenbar eine lange Reise zurückgelegt hatten.
Die bisherige Darstellung vermag nun freilich keinen Begriff von der überwältigenden Pracht zu geben, welche diese antarktischen Kolosse darbieten. Kein Maler ist imstande, diese wundervollen Schattierungen des Blau wiederzugeben, wie sie in der Nähe eines Eisberges zum Ausdruck gelangen. Ein feiner Duft scheint über dem Ganzen zu liegen, hier und da treten blendende, schneeweiße Flächen hervor, während die Spalten, Grotten und Amphitheater in allen Abstufungen bis zum tiefsten Kobaltblau schimmern. Das den Eisberg bespülende Wasser nimmt die Färbung von Kupfervitriol an und hebt sich scharf ab von dem bei bedecktem Himmel grau erscheinenden Meere. Dabei geben die wunderlichen Formen der stark zersetzten Eisberge der Phantasie ständigen Spielraum; man sucht ihre Gestalt aus der Wirkung der zerstörenden Kräfte zu erklären, und wird nicht müde, diese Festungen mit ihren Zinnen, diese Dome und steil anstrebenden Türme, diese Amphitheater und wildzerklüfteten Eisgebirge vor dem staunenden Auge vorüberziehen zu lassen. Sie werden belebt von Pinguinkolonien, die sie als[S. 37] Standquartier bei ihren Reisen durch das antarktische Gebiet ausnutzen, und umflogen von Sturmvögeln und Albatrossen, welche in der Brandung des Eisberges ein günstiges Jagdgebiet finden.
Wer mich fragen würde, welcher Teil des freien Ozeans den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hat, dem würde ich stets ohne Säumen das antarktische Meer nennen.
Es ist freilich ein Gebiet, dem Sonnenglanz und warme Töne versagt sind. Grau ist der Himmel verhängt und grau wird er von der Wasserfläche widergespiegelt. In langgezogener Dünung scheint das Meer wie mit ruhigen Atemzügen einem tiefen Schlafe verfallen. Seine Decke bildet ein Nebelschleier, Totenstille herrscht ringsum und mit halber Kraft verfolgt das Schiff zögernd seinen Kurs durch unbekannte Regionen. Auch auf der Brücke ist es still geworden; mit gespannter Aufmerksamkeit suchen Auge und Ohr einen Moment zu erhaschen, der Aufschluß über die Fährlichkeiten des antarktischen Niflheim gibt. In singendem Rythmus hallt, seltsam durch den Nebel gedämpft, der Ruf der Wache wider, und mit greller Dissonanz heult die Dampfpfeife in die Nacht, ohne ein Echo zu finden. Doch die Ruhe trügt. Eine leichte Brise setzt ein, um in überraschend kurzer Zeit zu schwerem Sturm anzufachen, der zwar den Nebel verscheucht, aber dichtes Schneegestöber mit sich bringt und wagerecht den feinen Firn in die schmerzenden Augen jagt. Der Seegang wird kräftiger, und bald stürmen Wogenkämme[S. 38] von einer Länge und Höhe an, wie sie in keinem andern Meere je beobachtet wurden.
Die Spannkräfte haben sich in lebendige Kraft umgesetzt; ein wildes Treiben, ein froh pulsierendes Leben herrscht ringsum. Schwärme von Sturmvögeln und gewaltige Albatrosse umkreisen das Schiff, bald hoch über den Masten schwebend, bald in die Wellentäler niedersausend. Treibeisfelder unterbrechen die Einförmigkeit der Oberfläche, und endlich übermitteln die Wunder des antarktischen Südens, die krystallenen Paläste aus Eis, unnahbar und in majestätischer Ruhe der tosenden Brandung ihre weiß und blau schillernden Flanken darbietend, die Grüße eines von Gletschern umpanzerten und von dem Schleier des Geheimnisvollen umwobenen Kontinentes.
(Vergleiche hierzu die Abbildungen 5, 8 und 9.)
In dem eiskalten unter 0 Grad abgekühlten Oberflächenwasser der Antarktis pulsiert ein erstaunlich reiches tierisches und pflanzliches Leben. Es wiederholen sich hier ähnliche Verhältnisse, wie wir sie aus den arktischen Meeren kennen, deren Produktivität an oberflächlichen lebendigen Stoffen in bezug auf ihre Masse diejenige der gemäßigten und warmen Meere überbietet. Allerdings wissen wir, daß diese Massenerzeugung organischer Wesen nicht das ganze Jahr hindurch stattfindet. Sobald die Sonne im[S. 39] Frühjahr über den Horizont steigt, beginnt die Oberfläche sich mit mikroskopischen Organismen zu beleben, die sich im Frühsommer etwas verringern, um dann während der Hochsommermonate zum zweitenmal eine Periode üppiger Vermehrung einzuleiten. Dann nimmt ihre Zahl ab, und während der Wintermonate dürfte die Produktivität an der Oberfläche des kalten Wassers außerordentlich zurückstehen gegen jene wärmerer Meeresgebiete. Wir waren offenbar gerade zu jener Zeit nach Süden vorgedrungen, wo die Masse an organischer Substanz ihren Höhepunkt erreicht hatte. Ließ man die feinen Seidennetze in das Wasser hinab, so kamen sie mit einem bräunlichen Brei von Organismen gefüllt wieder auf; glühte man denselben, so erhielt man eine weißliche Masse, die aus nahezu reiner Kieselsäure gebildet wurde. Das Mikroskop lehrte denn auch, daß es sich wesentlich um eine Massenproduktion von Diatomeen (Kieselalgen) handelt, die, ähnlich wie im arktischen Gebiet, auf weite Strecken hin das Meer verfärben.
An dem Fuße der Eisberge, am Rande der Schollen bemerkte man einen gelbbraunen Strich, der bei mikroskopischer Untersuchung sich als eine Anhäufung von Diatomeen erwies. Wenn ein Sturm einsetzte, und die Brandungswogen hoch an den Eisbergen in Schaum zerstoben, fiel es stets auf, daß der Gischt nicht das blendende Weiß der Eisberge zeigte, sondern häufig gelblich oder grau verfärbt erschien. Dies rührt allein von der massenhaften Beimischung kleiner[S. 40] und kleinster Organismen her. Da wir wochenlang uns nahezu ausschließlich mit dem Fangen und dem Studium dieses Plankton beschäftigten, dürfte die Expedition über die Zusammensetzung desselben, namentlich aber auch über seine vertikale Schichtung, eine Reihe neuer Aufschlüsse gewonnen haben.
Die Diatomeen sind als einzellige, niedrigstehende pflanzliche Organismen befähigt, aus anorganischer Masse unter dem Einfluß von Sonnenlicht und bei dem Vorhandensein gelblich oder bräunlich gefärbter Chromatophoren oder Farbstoffpünktchen die Eiweißsubstanzen zu bilden, aus denen ihr kleiner Zellenleib sich aufbaut. Diese Chromatophoren bedingen den gelbbraunen Grundton, welcher dem antarktischen Oberflächenplankton eigen ist. Da die Diatomeen sich auf ungeschlechtlichem Wege durch Teilung vermehren, vermögen sie in kurzer Zeit so massenhaft sich anzustauen, daß die Oberfläche des Meeres verfärbt erscheint. Ihre Zellwandung wird aus Kieselsäure gebildet, die so reizvolle Skulpturen aufweist, daß sie seit jeher Lieblingsobjekte für das Studium der Mikroskopiker abgaben. Da der Kieselpanzer aus zwei Hälften besteht, die wie der Deckel auf eine Schachtel sich ineinander schieben, so kann auch leicht bei der Teilung der Verband beider Schalenhälften gelöst werden. Sie schieben sich auseinander und die fehlende Panzerhälfte wird, eingeschachtelt in die alte, neugebildet.
Auf die von meist mikroskopischen pflanzlichen Organismen [S. 41]an der Oberfläche gebildete „Urnahrung“ ist in letzter Linie der gesamte Tierbestand des Meeres — die Tiefseefauna nicht ausgenommen — angewiesen. So einfach und selbstverständlich dieser Ausspruch auch klingt, so hat es doch recht mühseliger Versuche bedurft, um eine Schlußfolgerung zu ziehen, die gewissermaßen das Leitmotiv für die weiteren Darlegungen abgeben soll.
Die Diatomeen und sonstigen niederen pflanzlichen Organismen bedürfen des Lichtes für ihre assimilatorische (erdeessende) Tätigkeit und vermögen bei stark abgedämpfter Beleuchtung nicht mehr zu bestehen. Soweit wir bis jetzt Kenntnis von dem Vordringen des Lichtes in tiefere Wasserschichten besitzen, dürfen wir wohl annehmen, daß unterhalb 500 Metern vollste Finsternis herrscht. Sind die oberflächlichen Schichten reich mit Plankton durchsetzt, so wird das Licht nicht so weit vordringen, wie in dem krystallklaren, an schwebenden Formen armen Wasser, wie wir es zum Beispiel im nordwestlichen Teil des indischen Ozeans antrafen. Soviel ist sicher, daß das Licht gerade in dem antarktischen Meere mit seiner überraschend reichen Produktivität an der Oberfläche bei seinem Vordringen in tiefere Schichten stark geschwächt wird. Einen annähernd sicheren Maßstab für die Stärke der Belichtung in tieferen Wasserschichten wird stets das Vordringen assimilierender Organismen liefern. Läßt es sich nachweisen, daß sie von bestimmten Tiefen an fehlen oder eine Veränderung ihres Zellinhaltes aufweisen, wie wir sie durch künstliche Verdunkelung herbeiführen können,[S. 42] so dürfen wir auch annehmen, daß nicht mehr genügendes Licht vorhanden ist, um irgendwelche Assimilation zu ermöglichen.
So wurde denn auf der Expedition besonderer Wert darauf gelegt, durch planmäßig an einer und derselben Stelle ausgeführte Stufenfänge mit den Schließnetzen über das Vordringen der marinen Vegetation in größere Tiefen Aufschluß zu erhalten. Die Ausführung der Züge war nicht zum mindesten aus dem Grunde peinlich und mühselig, weil es sich um Organismen handelt, welche zu den kleinsten gehören, die wir kennen. Da muß in erster Linie für einen tadellosen Verschluß der Bügel des Schließnetzes Sorge getragen werden, der durchaus verhütet, daß bei dem Aufwinden des geschlossenen Netzes lebende Formen aus oberflächlichen Schichten erbeutet werden. Reinigt man die Glasgefäße, welche den Inhalt des Schließnetzes aufnehmen sollen, nicht auf das sorgfältigste, so genügt ein Tropfen Seewasser von der Oberfläche, um durch die in ihm enthaltenen Diatomeen das Resultat zu trüben. Noch mehr Aufmerksamkeit erfordert das Ausspülen des Netzbeutels mit destilliertem Wasser, um gleichfalls Fehlschlüsse zu vermeiden. Bei allen derartigen Stufenfängen machten wir es uns zur Pflicht, zunächst die tiefsten Züge und dann schrittweise die oberflächlicheren auszuführen. Würde man umgekehrt verfahren, so könnte es sich leicht geben, daß trotz der peinlichsten Ausspülung des Netzbeutels doch einzelne Oberflächenformen in den Maschen hängen blieben[S. 43] und unter das Tiefenmaterial gerieten. Diesen Bemühungen verdanken wir folgende Ergebnisse über die senkrechte Verbreitung der pflanzlichen, lebenden Organismen.
Die Hauptmasse des pflanzlichen Plankton staut sich zwischen 40 und 80 Metern Tiefe an. Gegen die Oberfläche nimmt die Masse, wie schon erwähnt, ab. Nicht minder auffällig ist aber auch die rasche Abnahme unterhalb 80 Metern. Auf Grund unserer Untersuchungen können wir mit Sicherheit behaupten, daß die untere Grenze für die Verbreitung lebender pflanzlicher Organismen zwischen 300 und 400 Metern liegt. Unterhalb 200 Metern sind lebende Diatomeen bereits so spärlich geworden, daß man oft lange Zeit die Präparate durchmustern muß, bis man auf solche stößt.
Das pflanzliche Plankton ist also nur auf eine außerordentlich dünne oberflächliche Schicht angewiesen und schwindet unterhalb 400 Metern völlig. Im Gegensatz hierzu ergeben nun unsere Schließnetzversuche, daß tierische Organismen, welche doch in letzter Linie in ihrer Ernährung auf die Pflanzen angewiesen sind, unterhalb 400 Metern bis zum Meeresgrund in oft überraschend reicher Zahl ihr Dasein fristen. In einem Schließnetzzuge, den wir am 12. Dezember zwischen 5000 und 4400 Metern ausführten, fanden wir lebende Radiolarien (Strahlentierchen), lebende Copepoden (winzig kleine Ruderfußkrebse) nebst zahlreichen lebhaft sich bewegenden Larven derselben und einen lebenden Muschelkrebs. Obwohl diese Organismen[S. 44] dem gewaltigen Drucke von 500 Atmosphären ausgesetzt sind, so zeigten sie sich doch in ihrer Struktur wohlerhalten. Wir müssen allerdings bedenken, daß ja dieser Druck nicht einseitig wie zwischen zwei Walzen wirkt, sondern daß er sich nach bekannten Gesetzen im Wasser allseitig verteilt. Der einzelne Organismus gleicht gewissermaßen einem winzigen Wassertröpfchen, das, wie wir wissen, bei so hohem Druck eine kaum nachweisbare Zusammenpressung erleidet.
Von diesen gewaltigen Tiefen bis hinauf zu der Oberfläche haben unsere Schließnetzfänge ohne Ausnahme bei jedem Zuge eine Anzahl lebender tierischer Organismen zutage gefördert.
Das Schließnetz erbeutet allerdings als ein verhältnismäßig zierlicher Apparat nur kleinere Organismen. Auf Grund zahlreicher Züge mit den großen Vertikalnetzen haben wir indessen auch allen Anlaß, den tieferen antarktischen Schichten größere schwimmende Formen von Fischen, stieläugigen Tintenfischen, zehnfüßigen Krustern und violetten Medusen zuzuschreiben.
Es ist uns zum Beispiel aufgefallen, daß wir die prächtigsten aller Radiolarien, nämlich die Tuscaroren (Abbildung 8, Figur 1) nur dann erbeuteten, wenn wir die Netze in große Tiefen hinabließen.
Der Leser wird sich wohl schon längst gefragt haben, wie es denkbar sei, daß Tiere in Regionen vorkommen, welche dem pflanzlichen Leben, von dem doch die tierische Existenz abhängt, sich als feindlich erweisen.[S. 45] Auch diese Frage erhält durch die Schließnetzfänge einen befriedigenden Aufschluß. Der massenhaft an der Oberfläche gebildete pflanzliche Schlamm sickert nämlich langsam in tiefere Schichten hinab. Der konservierenden Kraft des kalten Seewassers ist es zuzuschreiben, daß der lebendige Inhalt des Pflanzenkörpers nicht sofort zersetzt wird, sondern mehr oder minder verändert und von der Schale umschlossen auch noch in tiefere Schichten gelangt. Manchmal war der Inhalt der durch kräftige Schalen ausgezeichneten Diatomeen noch so wohlerhalten, daß man die betreffenden Formen aus etwa 1000 Metern Tiefe für lebend hätte halten mögen, wenn nicht die veränderte Gruppierung der Chromatophoren darauf hindeutete, daß es sich um bereits abgestorbene Organismen handelte. Von der reichbesetzten Tafel an der Oberfläche fallen also immerhin nicht wenige Brosamen in die Tiefe, welche den dort befindlichen tierischen Formen das Dasein ermöglichen. Je tiefer man fischt, desto seltener werden freilich Pflanzenreste mit abgestorbenem Plasma. Leere Schalen der Oberflächenformen überwiegen um so mehr, je tiefer das Netz herabgelassen wird.
Mit diesen Beobachtungen steht es im Einklange, daß auch das tierische Leben gegen die Tiefe zu eine auffällige Abnahme erkennen läßt. Von 400–1500 Metern Tiefe trifft man noch eine reiche Zahl lebender Formen; darunter werden sie um so spärlicher, je tiefer man die Netze versenkt. Auch die in mittleren Wasserschichten reichlich vorkommenden tierischen[S. 46] Organismen sterben ab und sinken zu Boden; ihre Leiber sind es, die nun wieder den in den tiefsten Schichten lebenden Arten zur Beute fallen. So gibt es sich doch, daß keine Wasserschicht vollständig des organischen Materials entbehrt, welches den dort lebenden tierischen Organismen die Existenz ermöglicht. Eine unversiegliche Nahrungsquelle fließt endlich den auf dem Grunde des Meeres angesiedelten Tiefseeorganismen zu. Alles, was aus oberflächlichen, mittleren und tiefen Schichten abgestorben und halb oder ganz zersetzt niedersank, was direkt über dem Meeresboden noch lebend flottiert, fällt der Grundfauna zur Beute. Je größer die Masse von organischer Substanz ist, welche an der Oberfläche erzeugt wird und wie ein feiner Regen in tiefere Schichten niederrieselt, desto üppiger entfaltet tritt uns die schwimmende Tiefenfauna entgegen, desto reichhaltiger ist das Tierleben auf dem Grunde ausgebildet. Alle Wahrnehmungen weisen unzweideutig darauf hin, daß die Grundfauna in direktem Abhängigkeitsverhältnis zu der Lebenskraft der oberflächlichen Schichten steht: in dem antarktischen Meere mit seinem außerordentlichen Reichtum an Oberflächenorganismen erweist sie sich selbst in Tiefen zwischen 4000 und 5000 Metern, wie an der Hand unserer Erfahrungen noch dargelegt werden soll, erstaunlich reichhaltig entwickelt.
Der Meeresboden ist eine riesenhafte Grabstätte für alles, was an der Oberfläche seine Lebensarbeit verrichtet. Die organische Masse wird zwar bei dem[S. 47] Niedersinken aufgelöst oder fällt anderen Organismen zur Beute, denen sie die Lebensfähigkeit sichert, aber die unorganischen Schalenreste erweisen sich als widerstandsfähiger und rieseln in die Tiefsee.
Am Dienstag den 13. Dezember befand sich die „Valdivia“ auf dem Schnittpunkte des 60. südlichen Breitegrades mit dem 50. östlichen Längegrad. Wir waren weiter nach Süden gelangt, als wir bei der Abfahrt von Kapstadt mit unseren kühnsten Erwartungen voraussetzen durften. Tags zuvor hatte uns das am Morgen aufklarende Wetter bei mäßigen östlichen und nordöstlichen Winden ermöglicht, den tiefsten Schließnetzzug bis zu 5000 Metern auszuführen. Gegen Abend frischte indessen der östliche Wind stürmisch auf, verbunden mit heftigem Schneetreiben, welches das Schiff mit einer dicken Schneeschicht bedeckte. Man nutzte die günstige Gelegenheit zu einer regelrechten Schneeballschlacht aus, die einen unauslöschlichen Eindruck auf unsern in Kamerun angemusterten Neger machte. Heulend, nicht ohne daß ihm einige Grüße auf den Wollkopf nachgesendet worden wären, flüchtete er in die Koje. Der etwas nach Nordost herumgehende stürmische Wind stand den ganzen 13. Dezember hindurch und erleichterte nicht gerade die Lotung, welche wir indessen bis zu 5566 Metern tadellos durchzuführen vermochten. Wiederum[S. 48] gelangten wir gegen 2 Uhr nachmittags in die Nähe von Treibeis, das uns zu nordöstlichem Ausbiegen nötigte. Wir verloren es indessen bald außer Sicht und konnten daher den früheren Kurs nach Osten beibehalten.
Aus fast allen Karten früherer Expeditionen im antarktischen Gebiete geht deutlich hervor, daß gerade in jener Region, in die wir jetzt eintraten, die Grenze des Treibeises unter scharfem Winkel weit nach Süden ausbiegt. Es kann dies nur darin seinen Grund haben, daß eine etwas wärmere, von den Kerguelen nach Süden reichende Strömung ihren Einfluß ausübt. Als wir daher in der Frühe des 14. Dezember eisfreies Meer südlich von uns hatten, wurde die Frage nahegelegt, ob man es wagen dürfe, einen letzten Vorstoß in rein südlicher Richtung zu unternehmen. Die Fährlichkeiten, welche einem derartigen Vorgehen im Wege standen, und denen auch mehrfach Ausdruck gegeben wurde, waren nicht zu unterschätzen. Denn wenn auch offenes Meer vor uns lag, so war doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß rückwärtig sich Felder verschoben, deren Durchbrechen sich für unser in keiner Weise gegen das antarktische Eis geschützte Schiff kritisch gestaltet hätte: wurde die Schraube verletzt, so mußten wir bei dem Mangel von Takelage zur Segelführung auf das Äußerste gefaßt sein. Trotzdem wurde der Versuch gewagt und nach 6 Uhr morgens der Kurs nahe dem 53. Längegrad rechtweisend Süd gesetzt. Ein Vergleich mag vielleicht besser als langausgesponnene[S. 49] Erwägungen die Stimmung wiedergeben, in der man sich befand. Man denke sich zwei Schachspieler, welche sich zu einer Partie zusammensetzen; der eine ist der Mensch, der andere die Natur mit ihren „ewig ehernen Gesetzen“. Die letztere zieht an und tut immer den denkbar besten Zug. Der Ausgang liegt auf der Hand. Aber wie der erstere sich wehrt, wie er in die Absichten seines Gegners einzudringen versucht, um nicht von vornherein die Partie aufzugeben, sondern erst nach langer Zeit mit Ehren sich schachmatt zu erklären, das ist sein Verdienst.
Im Verlauf des 14. Dezember ließ sich unser Beginnen vielversprechend an. Der Wind flaute in der Nacht vollständig ab; die Luft blieb einigermaßen sichtig, und erst gegen Mitternacht stellte sich Nebel ein, der uns zu um so vorsichtigerem Vorgehen unter zeitweiligem Stoppen nötigte, als wir an diesem Tage nicht weniger als 14 Eisberge passierten. Die zuerst uns begegnenden waren auffällig klein und stark zersetzt; doch passierten wir um 9 Uhr einen Riesen von 54 Meter Höhe und 575 Meter Breite.
Das Barometer begann langsam zu steigen, erreichte am 14. um Mitternacht 748 Millimeter und behielt seine steigende Bewegung auch an den nächsten Tagen bei. Am 15. Dezember überschritten wir bereits den 62. Grad und vermochten, begünstigt durch leichten, östlichen Wind, nicht nur eine Tiefe von über 5000 Metern zu loten, sondern auch eine Reihe von Zügen mit den Vertikal- und Planktonnetzen auszuführen.[S. 50] Wiederum begegneten uns kleinere, stark zersetzte Eisberge und eine Anzahl größerer, bald abgerundeter, bald scharfkantiger Schollen, die oft nur wenig über die Oberfläche hervortraten und bisweilen unter Pumpbewegungen auf und niedertauchten.
Die Temperatur des Oberflächenwassers sank bis zu minus 1,5 Grad; mit ihr hielt denn auch die Lufttemperatur gleichen Schritt. Ein feiner Staubschnee machte sich während des ganzen Nachmittags geltend, und gleichzeitig zeigten sich ebenso, wie an dem vorhergehenden Tage, Masten und Tauwerk stark vereist. Da die Kruste bisweilen 2 Zentimeter dick wurde und um die Mittagszeit in großen Stücken herabfiel, war einige Vorsicht bei dem Aufenthalt auf Deck geboten. Das Vorwärtskommen wurde uns nicht unwesentlich dadurch erleichtert, daß es in der Nacht trotz des ständig bedeckten Himmels fast taghell war. Bei der ungewohnten Lichtfülle und der begreiflichen Erregung über den weiteren Verlauf des Vorstoßes dachte man nur wenig an Schlaf und suchte nur auf kurze Stunden die Koje auf. Als ich mich am Abend des 15. Dezember zur Ruhe begab, fiel es bereits auf, daß die schweren Eisschollen häufiger wurden. Gegen 1 Uhr ließ mich der Kapitän wecken, da wir uns mitten in schwerem Packeis befanden. Der Anblick wird mir unvergeßlich bleiben: überall starrte es am Horizont von Eisbergen, während ringsum das Schiff von 15–20 Meter breiten Packeisschollen so dicht umgeben war, daß ein[S. 51] weiteres Vordringen aussichtslos erschien. Wir befanden uns auf 64 Grad 14,3 Minuten südlicher Breite und 54 Grad 31,4 Minuten östlicher Länge. Es war der südlichste Punkt, den wir auf der Fahrt erreicht haben. Um ihn festzulegen, wurde nachts nach 2 Uhr durch den Navigationsoffizier eine Lotung veranstaltet, die, dank der Anstrengung aller Beteiligten, glatt von statten ging und eine Tiefe von 4747 Metern ergab. Die Grundprobe zeigte, wie schon am vorhergehenden Tage, nicht mehr reinen Diatomeenschlick, sondern erwies sich zu 90 Prozent aus tonischer Substanz und kleinen mineralischen Bruchstücken zusammengesetzt. Die letzteren bestanden, wie die mikroskopische Untersuchung ergab, aus bisweilen 3 Millimeter großen Körnern von Quarz, Feldspat, Glimmer, Hornblende und vulkanischem Glas. Kieselorganismen waren nur 10 Prozent nachweisbar und zwar in Gestalt von Diatomeen, denen Radiolarien und Schwammnadeln beigemischt waren. Ganz glatt ging freilich die Lotung nicht ab, da schwere Packeisschollen antrieben und mit Stangen von der Bemannung abgehalten werden mußten. Es galt, aus dem Eise sich herauszuarbeiten, über dem rauchgraue Albatrosse und schneeweiße Sturmvögel ihre Kreise beschrieben. Die „Valdivia“ wand sich elegant bei nördlichem Kurs an den Packeisschollen vorbei; doch wurde es erst gegen Morgen lichter und uns begreiflicherweise auch freier zumute.
Wir befanden uns nur 102 Seemeilen, nicht viel mehr als eine halbe Tagesfahrt entfernt von jenem[S. 52] Lande, welches der die Brigg „Tula“ befehligende Kapitän Biscoe am 27. Februar 1831 entdeckt und der tatkräftigen Firma zu Ehren, in deren Diensten er stand, Enderby-Land genannt hatte. Er gibt seine Position auf 65 Grad 57 Minuten südlicher Breite und 47 Grad 20 Minuten östlicher Länge an. Biscoe folgte dem Lande bis zum 49. Grad östlicher Länge. Drei Jahre später (1834) sichtete Kemp östlich von Enderby-Land in 66 Grad 25 Minuten südlicher Breite und 59 Grad östlicher Länge gleichfalls Land, das ihm zu Ehren Kemp-Land genannt wird. Ob es sich bei Enderby-Land und Kemp-Land um die Küste des antarktischen Kontinents handelt, oder ob sie mehr oder minder umfängliche Inseln repräsentieren, wird hoffentlich der deutschen Südpolarexpedition zu entscheiden möglich sein. An dieser Stelle kann nur betont werden, daß wir nicht in der Lage waren, bei der allerdings etwas diesigen Luft in der Nacht vom 15. zum 16. Dezember deutliche Anzeichen von Land zu gewahren. Der Kapitän glaubte allerdings, einen im Süden leicht ansteigenden weißen Streifen als Land ansprechen zu können, doch schien es mir wahrscheinlicher, daß es sich um ungewöhnlich ausgedehnte Eisberge handelte, wie wir sie noch am nächsten Tage wahrnahmen. Da der Ostwind nur flau auftrat und das Barometer langsam weiter stieg bis auf 754,8 Millimeter, konnten wir am Nachmittag des 16. Dezember, nachdem wir uns völlig aus dem Packeise herausgearbeitet hatten, eine Reihe von Schließnetzzügen veranstalten und unsere Vorbereitungen[S. 53] für einen der ergebnisreichsten Tage im fernen Süden, nämlich den 17. Dezember treffen.
Als ob ein gütiges Geschick uns für alle Mühen und Sorgen der letzten Zeit hätte entschädigen wollen, so brach ein Tag an, wie er im antarktischen Süden nur selten einer Expedition beschert wird. Der Wind flaute in der Nacht zum 17. Dezember vollständig ab, das Barometer stieg anhaltend und erreichte am Morgen des 17. mit 756 Millimetern einen so hohen Stand, wie wir ihn seit Verlassen der Bouvet-Insel nur einmal, am 1. Dezember beobachtet hatten. Wir fuhren in der taghellen Nacht so ruhig wie auf der Elbe, passierten sieben Eisberge und loteten nach 5 Uhr unbehelligt eine Tiefe von 4636 Metern.
Da galt es, die ungewöhnlich günstigen Verhältnisse auszunutzen und ein in Anbetracht der großen Tiefe und der ganzen äußeren Umstände nicht geringes Wagnis zu unternehmen, nämlich einen Dredschzug mit dem großen Trawl auszuführen. Wenn man bedenkt, daß man im antarktischen Meere niemals vor plötzlich einsetzendem stürmischem Wetter oder dichtem Nebel in der Nähe von Eisbergen sicher ist, so wird man es begreiflich finden, daß wir seit Verlassen der Bouvet-Insel uns nicht zu Dredschzügen entschließen konnten. Allerdings hatten die unerwartet großen Tiefen, welche wir ständig loteten, wesentlich dazu beigetragen, uns von einer Operation abzuhalten, welche leicht die bedienende Mannschaft hätte gefährden und uns zudem das Kabel hätte kosten können. Alle diese Bedenken wurden indessen[S. 54] auf Grund der Erwägung, daß ein Dredschzug nicht nur über die Tiefseefauna, sondern auch über die Zusammensetzung des Grundes wertvolle Aufschlüsse liefern konnte, hintangesetzt. Um 7 Uhr ließen wir das mit zwei eisernen Oliven beschwerte beste Trawl herab. Es erreichte den Grund kurz nach 12 Uhr, nachdem wir 6400 Meter Kabel ausgegeben hatten. Wir zogen es hierauf eine Stunde lang über den Grund, wobei der rasch ansteigende und gelegentlich mehr als fünf Tons betragende Zug darauf hindeutete, daß es eine schwere Last gefaßt haben mußte. Als wir dann endlich mit dem Aufhieven des Schleppnetzes begannen, wich die Beklommenheit im Hinblick auf einen Tag, wie wir ihn auf der ganzen Fahrt in südlichen Regionen kaum jemals ähnlich ruhig erlebt hatten. Im Osten, gegen Kemp-Land zu, zeigte sich schweres Packeis, und ein heller Eisblink überzeugte uns bald, daß wir in dieser Richtung unmöglich mit der „Valdivia“ weiter vorzudringen vermochten. Die Sonne war nur des Morgens gegen 8 Uhr auf einen Moment durchgebrochen, der Himmel war grau verhängt, und vereinzelte Schneetreiben benahmen uns zeitweilig den Ausblick. Klarte es dann auf, so fand man den Horizont von gewaltigen Eisbergen begrenzt und überzeugte sich auch durch einen hellen Eisblink im Süden, daß uns dort der Weg verlegt war.
Reizvoll war das Vogelleben im äußersten Süden. Rauchgraue Albatrosse segelten ruhig über die mit vereinzelten Packeisschollen bedeckte Oberfläche. Sie[S. 55] waren uns von der Bouvetregion an treu geblieben, und ich finde in dem Journal kaum einen Tag verzeichnet, an dem nicht ihr Erscheinen vorgemerkt wäre. Meist zeigten sie sich zu zweien oder dreien, selten stieg ihre Zahl auf neun oder zehn. Mit scharf eingezogenem Kopfe, den Schnabel nach abwärts gesenkt, folgten sie in anscheinend plumper Haltung stunden- und tagelang dem Schiffe, ohne die leiseste Ermüdung zu zeigen. Selten nur wird ein Flügelschlag ausgeführt, während sie den Körper mit seinen mächtig langen und schlanken Schwingen bald horizontal, bald schräg, bei Wendungen gelegentlich auch völlig in Seitenlage der Luft darbieten. Kein antarktischer Vogel fesselt so die Aufmerksamkeit, wie diese in unhörbarem Fluge dem Schiffe folgenden Segler. Wenn sie sich der Brücke so nahe hielten, daß man sie fast mit den Händen hätte greifen mögen, und dabei mit ihren weißumrandeten Augen, die aus dem sammetnen Schwarzgrau des Kopfes hervorblitzten, aufmerksam dem Treiben der Menschen folgten, machten sie einen fast gespenstischen Eindruck. Man glaubt, die ewigen Juden des antarktischen Meeres vor sich zu haben, welche ruhe- und rastlos ihre Kreise ziehen und dann sich am wohlsten fühlen, wenn die Wogenkämme vom Sturme gepeitscht zu unerhörter Höhe anschwellen. Immerhin bemerkte ich einmal — am 15. Dezember — mehr als ein Dutzend grauer Albatrosse, die auf einem kleinen Eisberge behaglich der Ruhe pflegten.
Die Untersuchung des Mageninhaltes ergab, daß die[S. 56] grauen Albatrosse sich vorwiegend von Tintenfischen und pelagischen Krustern nähren, aber auch kleinere Vögel nicht verschmähen. Bei stille liegendem Schiff ließen sie sich auf dem Wasser nieder und haschten gierig nach den Abfällen. Der ewige Hunger kennt kein Bedenken und so machten sie sich bisweilen über ihre eigenen, von uns erlegten Genossen her, hackten ihnen die Augen aus und richteten sie übel zu, bevor das ausgesetzte Boot den auf dem Wasser treibenden Kadaver erreichte.
Die Sturmvögel sind echte Hochseeformen, welche oft zutraulich in der Nähe des stilleliegenden Schiffes sich niederließen und hierbei die ihnen ein leichteres Auffliegen ermöglichende Luvseite bevorzugten. Bei Enderby-Land belebten sie in malerischem und traulichem Durcheinander die Oberfläche gemeinsam mit zahlreichen, auf der ganzen Fahrt uns treu gebliebenen Kaptauben. Wir fütterten sie mit Speck und Abfällen, welche die Kaptauben nur von der Oberfläche, die antarktischen Sturmvögel weit geschickter durch Tauchen zu erhaschen suchten. So eifrig waren sie damit beschäftigt, daß einer unserer Matrosen mit dem an langer Stange befestigten Käscher eine Kaptaube von Bord aus fing.
Die blauen Sturmvögel begegneten uns schon in der Westwindregion und waren von da an die ständigen Begleiter bei der Fahrt längs der Eiskante bis nach Enderby-Land und weiterhin bis zu den Kerguelen. Sie sind scheuer als die übrigen Sturmvögel, hielten sich etwas weiter von dem Schiffe und fischten eifrig[S. 57] in dem Kielwasser. Wenn bei den Vorbereitungen zum Loten und Fischen der Dampfer rückwärts ging und die Schraube weithin das Wasser zu weißem Gischt aufwühlte, waren sie oft in Schwärmen von Hunderten dabei, die aufgewirbelten pelagischen Organismen zu erbeuten. Ihr Flug ist unruhig und erinnert durch die raschen Wendungen an jenen der Fledermäuse; einen prächtigen Anblick gewährt es, wenn bisweilen die Schwärme gleichzeitig eine Drehung ausführen und die weißen Bauchflächen dem Beobachter zukehren.
Alle Eigenschaften, welche die Sturmvögel zu den liebsten Genossen des Seefahrers machen, finden sich vereint in dem wunderbaren schneeweißen Sturmvogel, dem sichersten Zeugen für das nahe Eis. Als ob die Natur sich selbst habe übertreffen wollen, schuf sie einen Vogel, der an Anmut des Fluges und reizvoller Färbung seinesgleichen sucht. Das Gefieder ist schneeweiß und wetteifert bei seinem Seidenglanz mit dem Weiß des blendend von der Sonne beschienenen Eises. Kein Vogel hat es mir so angetan, wie dieses Edelweiß des antarktischen Südens; stundenlang folgte man seinem eleganten Fluge über Wogenkämme und durch Wellentäler, über Treibeisfelder und stille, vom Eise umsäumte Buchten.
Wie ein Gruß aus fernen heimatlichen Gebieten mutete es an, als bei Enderby-Land inmitten der schneeweißen Sturmvögel ein Schwarm niedlicher schwarzer Petersvögel auftauchte und zwischen den Packeisschollen, von dem Schiffe scheu sich fernhaltend,[S. 58] eifrig nach Beute spähte. Die Anpassungsfähigkeit dieser Sturmschwalbe an die verschiedenartigsten klimatischen Bedingungen ist geradezu erstaunlich: von den Küsten Englands bis herab nach Enderby-Land, durch 120 Breitegrade, bemerkten wir sie um das Schiff. Längs der Treibeisgrenze tauchte sie öfter, wenn auch stets nur vereinzelt auf, und nur ungern entschlossen wir uns, bei Enderby-Land ein Exemplar als Belegstück für die ausgedehnte Verbreitung zu schießen.
In dem antarktischen Meere ist diesen Schwärmen von Vögeln stets der Tisch gedeckt. Treibeis und Eisberge geben Ruheplätze ab, und gleichzeitig fördert die Brandung an den eisigen Steilwänden eine Menge pelagischer Organismen zu Tage, unter denen Krebse nebst Tintenfischen als Kost bevorzugt werden. Die in den Krustern enthaltenen gelblichen und rötlichen Öltropfen sammeln sich in dem Kropfe der Sturmvögel zu ansehnlichen Massen an. Das Öl dürfte sowohl eine Nahrungsreserve für ungünstige Zeiten abgeben, als auch zur Verteidigung dienen. Wer so unvorsichtig ist, einen Sturmvogel zu haschen oder einen an der Angel gefangenen in die Hände zu nehmen, wird von dem wenig aromatischen Tran besudelt, den der Vogel oft mehrmals hintereinander im Strahle von sich gibt.
Überraschend war es, daß der Mageninhalt der grauen Albatrosse, der Eissturmvögel, der antarktischen und schneeweißen Sturmvögel oft ausschließlich aus Schnäbeln von Tintenfischen bestand.
Unsere Darstellung von dem Vogelleben auf der Hochsee wollen wir nicht abschließen, ohne einer Gesellschaft flugunfähiger Reisender zu gedenken, die niemals verfehlten, die Aufmerksamkeit in besonderem Maße zu fesseln. Es sind dies die antarktischen Pinguine, welche die niedrigen Plattformen und vorspringenden Zungen der Eisberge als Standquartier bei ihren Wanderungen benutzten und bei unserer Annäherung, oft erschreckt durch Flintenschüsse, unter stürmischer Heiterkeit der Mannschaft die steile Eiszunge aufrechtstehend hinunterrutschten. Andere landeten wieder, indem sie geschickt eine Brandungswelle benutzten, um festen Fuß zu fassen und vornübergebeugt mit zur Balance vorgezogenen Flossen ihre steile Warte zu erklimmen. Mit ihrem schwarzen Kopfe, Rücken und Flossen und dem weißen gemästeten Bauche, der nur unter der Kehle ein schwarzes Band aufweist, gleichen sie von weitem kleinen preußischen Grenzpfählen. Kommt man dann näher, so erheben sie ein lautes Gezeter, setzen sich in Positur und schießen auf einem gewissen Körperteil die Rutschbahn hinab in das Wasser. Hier aber ist der Pinguin in seinem Elemente, und hier fordert er die Bewunderung und Anerkennung dessen heraus, der ihn zuvor nur als drollige und selbstverständliche Staffage für die antarktische Landschaft wollte gelten lassen. Mag der Dampfer noch so rasch seinen Kurs verfolgen, so überholt ihn der Pinguin mit spielender Leichtigkeit. Dabei findet er noch Zeit, mit gespreizten Flossen auf dem Wasser zu liegen, aus den dunklen,[S. 60] fast schalkhaft blickenden Augen das fremde Ungetüm anzustaunen, um dann mit einem heiseren Rrräh unterzutauchen. Unter mächtigen Ruderschlägen geht er so tief, daß er für längere Zeit dem Auge entschwindet. Wenn er dann plötzlich wieder der Oberfläche nahe ist, schnellt er sich mit dem Körper angeschmiegten Rudern im Bogen über Wasser und verschwindet von neuem in der Tiefe. Nichts ist köstlicher, als einen Trupp von Pinguinen zu beobachten, der seinen Eisberg verläßt und wie eine Herde kleiner Delphine in eleganten Sprüngen dem Schiffe zustrebt.
Keinem Sturmvogel wird der Nahrungserwerb so leicht gemacht, wie diesem berufsmäßigen Taucher: wir fanden den Magen des antarktischen Pinguins oft vollgepfropft mit Leuchtkrebsen, welche größer waren, als die von uns erbeuteten.
Es ist schwer, die Erregung zu schildern, die sich aller bemächtigt hatte, als nach 4½stündigem Aufhieven abends gegen sechs Uhr das Trawl der Oberfläche nahe kam. Alle Vorrichtungen waren getroffen, um es rasch und unversehrt an Bord zu bekommen, zumal da es sich ergab, daß die schwere Last, welche der Dynamometer angezeigt hatte, nicht von Schlamm, sondern von Gesteinsmassen herrührte. Da lag zunächst obenauf im unversehrten Netzbeutel ein fünf Zentner schwerer, roter Sandstein mit deutlich eingerissenen Gletscherschliffen. Soweit er in den Tiefseeboden eingesunken war, zeigte er schwarzen Ton, der von dem weißlichen Diatomeenschlick scharf abstach.
Mit Genugtuung wurde dieser schwarzweiß-rote Gruß aus der antarktischen Tiefsee in Empfang genommen. Der Sandsteinblock kann einen Roman berichten: Ursprünglich ein auf dem antarktischen Festlande anstehendes Gestein, wurde er von den Gletschern geschrammt, losgelöst und an der Basis eines Eisriesen in das Meer hinausgetragen. Durch den Einfluß des warmen Tiefenwassers abgetaut, sinkt er in 4636 Meter nieder, liegt dort friedlich gar lange Zeit, bis er von dem Schleppnetz einer Tiefsee-Expedition gefaßt, zur Oberfläche befördert und später der Äquatorsonne des indischen Ozeans ausgesetzt wird. Nun paradiert er vor einer wißbegierigen Studentenschaft auf dem Vorlesungstisch als stummer und doch wieder beredter Zeuge, daß Enderby-Land offenbar nicht vulkanischer Natur ist.
Hatten schon allein die gewonnenen Gesteinsproben die Mühen des Dredschzuges reich entschädigt, so waren wir nicht minder überrascht über die verhältnismäßig große Zahl tierischer Organismen, welche in diesen gewaltigen Tiefen bei einer Temperatur von -0,5 Grad Celsius leben. In den Schwabbern des Trawl hingen zwei eigenartige Ascidien (muschelartige Seescheiden) von fast Faustgröße, die an einem stricknadeldünnen, über 1 Meter langen Stiele auf dem Grunde befestigt waren. Offenbar flottieren sie an ihrem strickartigen Stiel wie eine Boje, da kaum abzusehen ist, daß er den Körper zu stützen imstande ist. Neben ihnen fielen uns zwei gestielte Seelilien auf (Abbildung 17). Besonders zahlreich waren die Schlangensterne[S. 62] (Ophiuren) (Abbildung 18) vertreten. Wenn wir ferner noch hervorheben, daß eine zerbrochene Seeigelschale, mehrere wohl erhaltene Hydroid-Polypen, Glasschwämme und zahlreiche auffällig große Foraminiferen (einzellige Kalkschalentierchen) in dem Netze enthalten waren, so ergibt sich ein in Anbetracht der immerhin beträchtlichen Tiefe bemerkenswerter Reichtum an Organismen.
Kaum hatten wir das Schleppnetz an Bord, als dichter Nebel sich einstellte, und uns nötigte, unter äußerster Vorsicht bei nördlichem Kurse vorzufahren. Als es endlich um 10 Uhr abends aufklarte, war das Schiff wieder von schwerem Packeis umgeben. Während wir uns durch dasselbe hindurchwanden, gewahrten wir im Osten den größten Eisberg, der uns auf der ganzen Fahrt begegnete. Wir glaubten erst die antarktische Eismauer vor uns zu haben, überzeugten uns aber späterhin, daß es sich um eine förmliche Eisinsel handelte, die wir leider bei dem Lavieren durch das Packeis nicht genauer zu messen imstande waren. Die Schätzungen von Kapitän und Offizieren bezüglich ihrer Breite bewegten sich zwischen vier und fünf Seemeilen. Wie an dem vorhergehenden Tage, so trafen wir auch diesmal auf eine durch erdige Beimengungen schokoladenbraun gefärbte Eisscholle.
Nachdem wir uns zum zweitenmal aus dem Packeis herausgearbeitet hatten, begann das Barometer rasch zu fallen. Der aus Ost-Nord-Ost wehende Wind wurde zum vollen Sturme und erreichte am Sonntag den 18. Dezember um Mittag die Stärke 10 nach[S. 63] der Beaufortskala. Welcher Kontrast zwischen gestern und heute! Im Schneesturme donnerten die Wogen gegen das Schiff, mehrfach auftretende Nebel hinderten an einem raschen Vorwärtskommen, und nur mit Mühe war es uns noch in der Frühe gelungen, unsere Temperaturserie durch eine mit der Lotmaschine gewonnene Temperaturprobe aus 3000 Metern Tiefe zu ergänzen. An ein weiteres Vordringen nach Süden respektive Osten war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken, und so wurde denn der Kurs gegen die Kerguelen genommen. Waren wir bisher drei Wochen lang bei unserer Fahrt längs der Treibeisgrenze ungewöhnlich vom Wetter begünstigt gewesen, so erhält der letzte Abschnitt unserer Fahrt im kalten Gebiet sein Merkmal durch eine fortlaufende Reihe schwerer Stürme, welche uns fast an allen Arbeiten behinderten. Fünf Tage hindurch, vom 18.-22. Dezember, hielten die stürmischen, mit dichtem Schneetreiben verbundenen östlichen Winde an und erreichten zeitweilig, so am 20. und 22. Dezember, die Windstärke 10 nach der Beaufortskala. Ein Umschlag erfolgte unter dem 56. Breitegrad am 22. Dezember, indem der Wind nach Norden und an den folgenden Tagen nach Nordwest und West umsprang, ohne indessen an Stärke einzubüßen. Der Eintritt in die Westregion wurde am 22. Dezember durch energische Schwankungen im Luftdruck angedeutet, insofern der Barograph innerhalb 12 Stunden ein Fallen um 21 Millimeter verzeichnete und mit 725 Millimetern den niedrigsten auf der Reise beobachteten[S. 64] Luftdruck markierte. Eine gewaltige Dünung aus Nordwest und West, deren erste Anzeichen wir bereits unter dem 61. Grad bemerkten, gelangte gegen den durch die östlichen und nordöstlichen Winde bedingten Seegang stets zum Durchbruch und gewann schließlich die Oberhand. Mehrmals mußten wir beidrehen und gegen die überholende See andampfen. Von der Brücke bietet sich dann ein gewaltiges Schauspiel dar: der Sturm heult und pfeift durch Masten und Tauwerk, der nasse, rasch tauende Schnee wird horizontal ins Gesicht getrieben, und die Wogen erreichen eine Höhe, wie wir sie auf der ganzen Reise nicht erlebten. Das Schiff erklimmt die Wellenberge und saust dann in die Täler nieder, um, am Bug in Gischt eingehüllt, wieder elegant aufzusteigen. Selbst das Deckhaus wurde überspült, und kaum vermochten wir bei dem schweren Rollen den Verkehr an Bord aufrecht zu erhalten. Trotzdem gelang es uns, begünstigt durch den Umstand, daß der Wind mehrfach nach Mitternacht abflaute und erst im Laufe des Vormittags wieder aufbriste, bis zu den Kerguelen eine Serie von sechs Lotungen durchzuführen. Zweimal mußten die Lotungen wegen des schweren Seeganges abgebrochen werden, doch bewährte sich auch unter diesen Verhältnissen die Lotmaschine trefflich, indem sie eben so exakt, wie unter normalen Verhältnissen den Aufschlag des Lotes auf den Grund anzeigte.
Auffällig war auf dieser Route das frühzeitige Verschwinden der Eisberge; wir trafen am 19. Dezember die letzten, unter ihnen einen tafelförmigen Riesen[S. 65] von 455 Metern Länge, unter 61 Grad 22 Minuten südlicher Breite an. Gleichzeitig begann die Oberflächentemperatur des Wassers sich zu heben; während wir am 16. Dezember noch minus 1,8 Grad (inmitten des Packeises minus 0,8 Grad) gemessen hatten, betrug am 20. Dezember die Oberflächentemperatur 0 Grad, und stieg dann anhaltend bis auf plus 3 Grad am 24. Dezember.
Den Weihnachtsabend verbrachten wir in froher Erwartung des Christgeschenkes, das sich uns am folgenden Tage in Gestalt der Kerguelen darbieten würde. Die siebentägigen Stürme hatten uns an allen Arbeiten behindert. Die Luken waren geschlossen und in den Laboratorien sah es wunderlich genug aus. Mit dreieckigen Klötzchen hatte man Gläser und Flaschen festgeklemmt; Mikroskope, Lupen und all der Kleinkram, dessen der Beobachter bedarf, waren angeschraubt und mit Lappen und Watte umwickelt. Als ob neckische Heinzelmännchen sich jeden Unfug hätten erlauben können, so sprang trotzdem gar manches bei dem Stampfen des Schiffes aus seinem Behälter und bisweilen sah es in den Arbeitsräumen — um mit Fritz Reuter zu reden — aus „as up de leiwe Gottesird vör den irsten Schöpfungsdag.“
Man hatte Zeit genug, sich zum Bescherabend zu rüsten. Das Pianino erhielt neue Saiten aus Lotdraht; der aus grünem Papier und Stäben gefertigte Christbaum wurde an der Decke des Salons festgebunden, während die Mannschaft einen ebensolchen[S. 66] in der Kambüse mit Konfekt und Würsten dekorierte. Man mußte darauf verzichten, die Geschenke, zarte Erinnerungen an die schwachen Seiten unserer Mitglieder, säuberlich auszubreiten, und war froh, wenn man sie unversehrt aus den Rocktaschen hervorholen konnte. Gar bald rollten sie, untermischt mit Pfannkuchen, die der Koch unter schwierigen Verhältnissen bereitet hatte, auf dem Boden zu nicht geringer Befriedigung unseres Dachshundes „Dacki“. Immerhin lernte man bald, auf das Wohl der Angehörigen, die über hundert Breitegrade entfernt unser gedenken mochten, anzustoßen.
Zwischen dem 48. und 50. südlichen Breitegrad und dem 68. und 71. östlichen Längegrad liegt eine Inselgruppe, deren Flächeninhalt etwa 180 Quadratmeilen beträgt. Die Kerguelen, wie die Gruppe zu Ehren ihres Entdeckers genannt wird, setzen sich aus einer Hauptinsel und aus nicht weniger denn 130 größeren und kleineren Inselchen zusammen.
Bei der Nennung ihres Namens tauchen eigenartige und fesselnde Erinnerungsbilder auf. Die Berge sind teilweise mit ewigem Schnee und in Gletscher auslaufenden Firnfeldern bedeckt; Fjorde, oft von Steilabstürzen begrenzt und von Basalttrümmern umzäunt, schneiden tief in das Land ein; tafelförmige Terrassen, aus horizontalen Basaltschichten sich aufbauend, prägen[S. 67] der vulkanischen Landschaft ihren Charakter auf; aus zahllosen Süßwassertümpeln sammeln sich die Schmelzwasser, um in malerischen Kaskaden über die Steilwände der Fjorde herabzurauschen; grüne Matten, gebildet aus einer eigenartigen Flora, bedecken das flache Vorland und ziehen sich oft weit an den Hängen hinauf, und endlich wird dies alles belebt von einer überwältigend reich entfalteten Vogelwelt, die an anmutender Harmlosigkeit mit den den Strand bedeckenden Elefantenrobben wetteifert.
Auf Cook machten die Inseln einen so trostlosen Eindruck, daß er sie Desolation-Islands (Inseln der Verwüstung) nannte. Auch die späteren Besucher stellten sie uns als ein ungastliches Nebelland dar, in dessen Fjorde der Wind, bald Regen, bald Schnee mit sich führend, mit unerhörter Gewalt stößt.
Der Eindruck, den sie auf den Besucher machen, dürfte freilich nicht unwesentlich von den frischen Rückerinnerungen an von der Natur milder und reicher ausgestattete Regionen beeinflußt werden. Wer das üppige, sonnige Kapland mit seiner Blütenpracht verlassen hat, um den Kerguelen zuzustreben, wird dieses sturmgepeitschte Nebelland, das meist neidisch den Ausblick auf sein malerisches Hochgebirge versagt, düster und ungastlich finden. Wer aber, wie wir, seit dem Verlassen Kapstadts 52 Tage lang das antarktische Meer durchfuhr, nur eine in Eis gepanzerte Insel zu Gesicht bekam und wochenlang, oft von schweren Stürmen gerüttelt, nur Treibeisfelder und Eisberge sah, dem erscheinen die Kerguelen fast in[S. 68] paradiesischer Pracht. Es war, als ob sie sich zur Feier unserer Ankunft in ihr Festgewand gekleidet hätten; während der drei Tage, die wir im Gazelle-Hafen verbrachten, herrschte wahres Frühlingswetter bei einer Temperatur von 4 Grad Celsius. Nach allen Seiten zerstreuten sich die Partien, um die Umgebung zu durchstreifen; kein Sturm warf die Wanderer nieder, kein Nebel benahm ihnen die Aussicht, und bei hellem Sonnenschein umfuhren wir die Nordostseite bis zum Weihnachtshafen.
Wie sehr wir während der vier Tage, die wir auf den Kerguelen zubrachten, vom Wetter begünstigt waren, lehren die früheren Schilderungen. Ihr Klima können wir am besten mit den Worten von Schleinitz wiedergeben: „Es weht fast beständig Sturm zwischen Nord und West mit Schnee-, Hagel- und Regenböen, diesigem Horizont, aber oftmals klarem Himmel und kühlem Wetter. Ab und zu wird dieser Sturm durch Flauten oder seltener durch stürmischen Wind aus Nordost unterbrochen, welcher dichten Nebel und Regen bringt.“ Die Stärke der Windstöße schildern sowohl die Teilnehmer an früheren Expeditionen, wie auch die Robbenschläger in den lebhaftesten Farben. Sie brechen so plötzlich in manche Buchten herein, daß die Schiffe mit den stärksten Kabeln und Ankern vertäut werden müssen, daß die Boote umschlagen und der Wanderer auf dem Lande sich platt niederwerfen muß. Gegen die dem unermeßlichen antarktischen Meere zugekehrte Westseite donnern die Wogen ständig mit so gewaltigem Prall[S. 69] an, daß sie heute noch in ihrer Gliederung fast unbekannt ist. Im allgemeinen sind die Weststürme mit einem Steigen des Barometers verbunden, während plötzlicher starker Barometerfall das Herannahen eines Nordsturmes anzeigt. Wie schwer die Kerguelen von diesen Stürmen heimgesucht werden, mag der Hinweis illustrieren, daß der „Challenger“, der sie im Sommer besuchte, an 26 Tagen sechzehnmal Sturm verzeichnet, während Roß, der 68 Tage hindurch im Winter auf den Kerguelen Station machte, nicht weniger als 45 mal Sturm durchlebte, und nur drei Tage anführt, welche frei von Schnee und Regen waren.
Am 12. Februar 1772 entdeckte der französische Kapitän Yves Josef de Kerguelen-Trémarec mit seinen Schiffen „Fortune“ und „Groswater“ die Inselgruppe, welche noch heute seinen Namen trägt. Seine Entdeckung erregte nach der Rückkehr berechtigtes Aufsehen. Man glaubte, der damals herrschenden Vorstellung Raum gebend, daß das große Südland mit seinen erträumten Wundern gefunden sei, zu dessen Entdeckung Kerguelen im Auftrag der französischen Regierung ausgesendet worden war. So wurde er denn schon im folgenden Jahre beauftragt, seine Landsichtung weiter zu verfolgen. Er gelangte am 14. Dezember 1773 zum zweiten Male in die Nähe der Inseln und entdeckte die kleine ihr nordwestlich vorgelagerte Gruppe, welche er zutreffend „Wolkeninseln“ nannte. Indessen gelang es ihm nicht, wegen der schweren Stürme an Land zu kommen, bis endlich[S. 70] am 18. Januar 1774 einer seiner Begleiter im Weihnachtshafen landete und im Namen des Königs von Frankreich von der Terra australis nochmals Besitz ergriff. Die Flasche mit dem hierauf bezüglichen Dokument wurde späterhin von Cook bei seiner dritten Reise wiedergefunden.
Den Nachweis, daß es sich tatsächlich um Inseln handele, die keinen Zusammenhang mit einem antarktischen Kontinent aufweisen, lieferte James Cook, der schon auf seiner zweiten Entdeckungsreise südlich von den Kerguelen — ohne sie allerdings zu Gesicht zu bekommen — vorbeigefahren war und 1776 die von ihm als „Desolation-Island“ bezeichnete Gruppe zum ersten Male genauer untersuchte. Er umfuhr sie bis zur Südküste und gab einzelnen Buchten und Gebirgsstöcken Namen, die bis heute noch ihre Geltung behalten haben. Die zweite genauere Durchforschung der Kerguelen verdanken wir dem großen Entdecker der antarktischen Region, James Roß, der am 12. Mai 1840 im Weihnachtshafen vor Anker ging und nicht weniger als 68 Tage auf die Untersuchung verwendete. Ein junger Arzt, der später so berühmt gewordene Botaniker Hooker, begleitete ihn und gab in seiner klassischen „Flora antarctica“ die erste eingehende Schilderung der eigenartigen Kerguelenvegetation. Späterhin wurden die Kerguelen von nicht weniger denn fünf Expeditionen angelaufen — ganz abgesehen von den zahllosen Walfischfängern, welche die Buchten auf die Kunde von ihrem Robbenreichtum ziemlich regelmäßig besuchten. Außer der Challengerexpedition,[S. 71] die im Januar 1874 26 Tage lang bei den Kerguelen kreuzte, haben zwei deutsche Korvetten, nämlich die „Arcona“ und die „Gazelle“ — letztere vom 26. Oktober bis 23. Dezember 1874 —, die Kerguelen aufgesucht. Wir können mit Befriedigung hervorheben, daß es wesentlich die fleißigen topographischen Aufnahmen der „Gazelle“ gewesen sind, die uns über die Gliederung der Ostseite einen genaueren Aufschluß gaben. Wir haben im vollen Vertrauen auf die Zuverlässigkeit deutscher Forschungen in der Nacht zum 25. Dezember beide Kessel geheizt und fuhren mit voller Kraft von zwölf Knoten an der Hand der Lotungen der „Gazelle“ vorbei an zahllosen Tangfeldern in jenen Hafen ein, der durch seinen Namen an die Tätigkeit des deutschen Expeditionsschiffes erinnert.
Als Christgeschenk boten sich uns in der Frühe des Weihnachtssonntags, des 25. Dezember, die Kerguelen dar. Bei stürmischem West, der schwere Sturzseen brachte, kam früh um 6 Uhr ein feiner, dunkler Streifen Land in Sicht, hinter dem schneebedeckte Gipfel auftauchten. Tausende der blauen Sturmvögel fischten eifrig in den Strömungen, drei Albatroßarten umkreisten das Schiff oder saßen brütend auf dem grünen Vorland zerstreut, während zahme Kormorane in schwerfälligem, ungeschicktem Flügelschlage mit lang vorgestreckten Hälsen neugierig dem Schiffe so nahe kamen, daß man sie bisweilen hätte greifen mögen. Langgezogene braune Streifen deuteten die Stellen an, wo auf flacherem Grunde die gewaltigen[S. 72] Seetange wurzeln. Dem Blasentang ist es wesentlich zu verdanken, daß die Schiffahrt in der Nähe der Buchten sich so sicher gestaltet; vermeidet man die Stellen, wo er sich angesiedelt hat, so kann man mit Sicherheit auf tiefes, gefahrloses Fahrwasser rechnen.
Der Ausgang des Gazelle-Hafens in den Schönwetter-Hafen wird von kleinen Inseln verengt, die mir in besonders angenehmer Erinnerung stehen.
Als ich ihnen gleich nach unserer Ankunft in Begleitung des ersten Maschinisten einen Besuch abstattete, hatten wir reichlich Gelegenheit, den Zauber würdigen zu lernen, welchen die fast paradiesische Harmlosigkeit der Tierwelt der Kerguelen auf den unbefangenen Beobachter ausübt.
Die graziösen Seeschwalben umflogen uns in Schwärmen und ließen sich zutraulich auf dem Zeltdach der Dampfbarkasse nieder. Auf den durch die Wogen abgeschliffenen schwarzen Basaltkuppen der Inseln trippelten weiße Vögel heran, welche kleinen Hühnern an Größe gleichkamen. Neugierig pickten sie an den Schuhen und Gewehrkolben, um uns dann auf der weiteren Wanderung zu begleiten. Wir hatten nur wenige Schritte gemacht, als wir wie festgebannt stehen blieben und instinktiv die Gewehre in Anschlag brachten. Da lag vor uns ein mächtiges Tier, ein weiblicher See-Elefant, der mit seinen wundervoll großen, kastanienbraunen Augen uns anschaute, ohne sich zu rühren. Erst als unser Dachshund ihn ankläffte, sperrte er breit den Rachen auf und stieß mit erhobenem[S. 73] Kopfe in einzelnen Absätzen ein dumpfes, heiseres Gebrüll aus (Abbildung 7); doch beruhigte er sich bald, senkte den Kopf, schloß die Augen und schlief weiter. Wer an eine derartige Harmlosigkeit einer keine Verfolger kennenden Tierwelt nicht gewöhnt ist, nähert sich nur schüchtern dem drei Meter langen Tiere, bis er endlich dreister wird und durch einige klatschende Schläge den brüllenden Elefanten zum Verlassen seines Lagers bewegt. — Ein ganzer Schwarm der prächtig schwarz und weiß gezeichneten und mit scharfer Silhouette von dem Himmel sich abhebenden Dominikanermöwen hatte sich erhoben und begleitete, dicht über den Köpfen fliegend, mit dem wie Lachen klingenden „hähähä“ die Wanderer. Doch man sollte sobald noch nicht von seinem Erstaunen sich erholen. Als wir uns niedersetzten und dem Treiben der Scheidenschnäbel, dem wieder zur Ruhe gekommenen See-Elefanten und den um uns sich sammelnden Dominikanermöwen zuschauten, fanden es zwei Kormorane für angezeigt, uns auf demselben Rasenpolster Gesellschaft zu leisten, indem sie fast schalkhaft den Kopf auf dem Halse reckten. Prächtige Vögel, diese Kormorane der Kerguelen! Die ganze Insel war bedeckt mit Schalen von Miesmuscheln und Napfschnecken, so daß man manchmal hätte glauben mögen, es handle sich um Kjökken-Möddinger, jene prähistorischen Küchenabfallhaufen der dänischen Inseln; das alles hatten die Dominikanermöwen angeschleppt und namentlich vor den Nistplätzen angehäuft. Wir fanden ihre zahlreichen kunstlosen mit Gras gepolsterten[S. 74] Nester, in denen vier bis fünf bräunlich gefärbte Junge in ihrem struppigen braunen Dunenkleide kläglich piepsten. Als ich in eine kleine Höhlung griff, fuhr eine Ente heraus von der Größe unserer Krickente; sie saß brütend auf einem weißen Ei und gesellte sich ihren Genossen bei, deren wir bald eine größere Zahl bemerkten.
Nicht minder wird der Blick durch die eigenartige Landfauna niederer Organismen gefesselt. Bei dem Zurückbiegen der Blätter des Kerguelenkohls fallen in den Blattscheiden große den Blattläusen gleichende Insekten auf, die freilich bei genauerem Zusehen als echte Fliegen sich entpuppen (Abbildung 10). Daß man sie als solche zunächst nicht anspricht, ist begreiflich: fehlt ihnen doch eines der wichtigsten Merkmale der Fliegen, nämlich die Flügel. Eine wundervolle Anpassung an das Leben in einer sturmdurchbrausten Region gibt sich in dieser Flügellosigkeit kund, denn es liegt auf der Hand, daß eine mit Flügeln und Flugvermögen ausgestattete Fliege bald der Vernichtung anheimfallen würde, wenn sie nicht einen zudem noch so geschützten Aufenthalt zwischen den kräftigen Blattscheiden einer wetterfesten Pflanze wählte.
Diese Flügellosigkeit ist auch charakteristisch für die Käfer der Kerguelen, welche man mit Leichtigkeit in großer Zahl unter Steinen zu sammeln vermag. Bei ihnen sind die weichhäutigen hinteren Flügel verkümmert, während die starren vorderen Flügeldecken, wie bei fast allen Käfern, als schützende Hüllen dem Körper aufliegen. Merkwürdigerweise handelt es[S. 75] sich hauptsächlich um Rüsselkäfer. Wir finden sie in andern Ländern meist unter der Rinde von Bäumen, und schon dieser Umstand legt die Vermutung nahe, daß einst die Kerguelen mit Baumwuchs ausgestattet waren. Tatsächlich hat denn auch schon Roß darauf hingewiesen, daß im Weihnachtshafen in gewissen Schichten verkieselte Baumstämme gefunden werden. Auch das Vorkommen von Kohlenlagern deutet darauf hin, daß ursprünglich die Kerguelen mit Wald bedeckt waren.
Nur ein einziger Schmetterling, eine Motte, ist den Kerguelen eigen. Es gelang uns, auch von diesem flugunfähigen Falter Exemplare mit den verkürzten Flügeln (Abbildung 11), und die im Kerguelenkohl sich aufhaltenden Raupen zu erbeuten.
Nicht minder fesselnd als diese Tierwelt bietet sich die Vegetation dar. Da erheben sich zunächst die dunkelgrünen Polster einer Charakterpflanze der Kerguelen, nämlich der Azorella selago. Sie ist überall auf den Inseln zerstreut, bildet auf den Plateaus halbkugelige Erhebungen, in die der Fuß leicht einsinkt, steigt hinauf bis zu 500 Metern Höhe, und an einigen geschützten Stellen selbst noch darüber hinaus. Solch riesige Polster, wie sie gerade auf den geschützten Inseln des Gazelle-Hafens sich vorfinden, haben wir freilich späterhin nicht mehr beobachtet. Es handelt sich um eine kreuzblütige Pflanze, welche über alle antarktischen Inseln und selbst auch über die Südspitze von Feuerland verbreitet ist.
Das größte Interesse erregt indessen der seit den[S. 76] Zeiten von Roß berühmt gewordene Kerguelenkohl (Pringlea antiscorbutica). Seine eiförmigen oder lanzettlichen, filzigen Blätter umschließen fast ein Meter hoch werdende Blütenstände, die teils abgestorben auf dem Boden liegen, teils kraftstrotzend sich in die Höhe erheben (Abbildung 19). Der Kerguelenkohl ist die einzige hier wachsende Pflanze, welche auf Erden keine näheren Verwandten aufweist und außer auf den Kerguelen nur noch auf dem südlicher gelegenen Heard-Eiland und auf der Marion- und Crozet-Gruppe vorkommt. Die Mannschaft von Roß nährte sich von den Blättern, die als wirksames Gegenmittel gegen Skorbut gerühmt werden, und daher auch zur Speziesbezeichnung Veranlassung gaben. Wir haben nicht verfehlt, uns ein Gemüse aus Kerguelenkohl bereiten zu lassen, das tatsächlich einen nicht unangenehmen, etwas bitteren Geschmack besitzt.
Vergleicht man die Blütenpflanzen der Kerguelen mit jenen der arktischen Region, so fällt es auf, daß einerseits die Zahl der Arten eine verhältnismäßig geringe ist, und daß ihnen anderseits die Blütenpracht fehlt, durch welche selbst im Norden Grönlands und in Spitzbergen während der kurzen Sommermonate die arktische Flora den Reisenden fesselt. Darwin hat uns zuerst den Blick dafür geöffnet, daß duftige und farbenprächtige Blüten bestimmt sind, Insekten anzulocken, welche ihren Nektar saugen und dabei zugleich die Bestäubung übernehmen. Tatsächlich sind denn auch die arktischen Regionen durch zahlreiche fliegende Insekten, selbst noch durch[S. 77] mehrere bunte Falter charakterisiert, während in dieser Hinsicht das antarktische Gebiet — und zwar speziell die Kerguelen — zurückstehen. Offenbar fehlen den Kerguelen Insekten, welche die Bestäubung der Blütenpflanzen übernehmen könnten. Wenn man auch wohl gelegentlich vermutet hat, daß die flügellosen Fliegen durch ihr Umherkriechen auf den Blütenständen des Kerguelenkohles das Bestäuben vermitteln möchten, so darf ich wohl hervorheben, daß ich niemals an den ungewöhnlich schönen und sonnigen Tagen, die uns beschert waren, die Fliegen auf den Blütenständen bemerkte, sondern sie stets nur dann zu Gesicht bekam, wenn man die Blattscheiden des Kohles zurückbog. Schon Hooker hat vermutet, daß der Kerguelenkohl eine windblütige Pflanze sei, und dürfte wohl mit dieser Annahme das Richtige getroffen haben. Die Anpassung an die Windblütigkeit hat es wohl in erster Linie bedingt, daß auch im Sommer der höheren Pflanzenwelt durch den Mangel des Blütenflores ein gewisser melancholischer Zug eigen ist.
Der Gazelle-Hafen ist ebenso wie die tief in das Land einschneidenden Fjorde an allen jenen Stellen, wo die Felswände an das Wasser herantreten, mit einem Trümmerfeld von Basaltblöcken bedeckt, welche mit mannigfach gefärbten Flechtenarten überzogen sind. Die Zertrümmerung des Gesteins muß sich in einer Region besonders geltend machen, wo häufig die Temperatur sich um den Nullpunkt bewegt und das zwischen die Spalten sickernde Wasser bei dem Gefrieren[S. 78] seine Sprengwirkung ausübt. Diese Trümmerfelder sind die gewöhnlichen Wohnplätze für eine Pinguinart, die nicht wenig zur Belebung der Landschaft der Inseln beiträgt. Es ist der prächtig gefärbte Schopfpinguin mit schneeweißem Bauche, schiefergrau gefärbten Rücken und Flossen, hochrotem Schnabel, roten Augen und einem niedlichen Schopf goldglänzender Federn jederseits am Kopfe (Abbildung 14). Nähert man sich ihren felsigen Heimstätten, so empfängt den Beobachter ein tausendfältiges, an eine Gänseherde erinnerndes Geschrei. Ewiger Zank und Streit herrscht unter diesen Vögeln, die ihre unwillkürliche Komik nicht zum wenigsten dem Umstande verdanken, daß sie auf ihren weit nach hinten gerückten Füßen wie kleine Gnomen aufrecht stehen und in absonderlicher Unbehilflichkeit mit ihren zu Flossen umgebildeten Flügeln herumwirtschaften. Überall stehen auf den Kuppen der Felsblöcke die Männchen in Gruppen zusammen, eifersüchtig mit Schnabelhieben jeden Genossen bedenkend, der etwa zufällig von oben herabrutschte und unter sie geriet. Nicht anders geht es dem Fremdling, der neugierig und gefesselt von dem eigenartigen Schauspiel zum erstenmal eine Pinguinkolonie besucht. Das Klettern auf den Blöcken ist schon an und für sich mühselig und wird dadurch nicht noch angenehmer gestaltet, daß überall schlüpfriger und übelriechender Unrat einen festen Halt verwehrt. Kommt man dann einem Trupp näher, so erhebt sich allgemeines Gezeter; den Kopf dem Beobachter zugewendet, sucht die Gesellschaft[S. 79] bald halblinks, bald halbrechts zusammenzurücken, bis es dann kräftige Schnabelhiebe und Schläge mit den Flossen absetzt. Nicht nur auf den Blöcken, sondern auch unter denselben gibt sich unwilliges Geschrei kund. Da sitzen in den geschützten Höhlen die Weibchen auf ihrem kunstlosen Neste, falls man überhaupt die meist mit Dung bedeckten Gruben so nennen will, und brüten auf ihrem einzigen weißen, gewöhnlich stark mit Schmutz bedeckten Ei. Sie lassen es sich, von einigen Schnabelhieben abgesehen, meist ruhig gefallen, daß man ihnen dieselben wegnimmt. Da wir viele Eier sammelten, so ergab es sich bald, daß sie fast durchweg Junge enthielten, welche dem Ausschlüpfen nahe waren: nirgends fanden wir in einem Neste bereits ausgeschlüpfte Junge. Der von den Eihüllen befreite junge Pinguin zeigt ganz die Gestalt des Alten, ist auf dem Bauche weißlich und auf dem Rücken schiefergrau gefärbt, entbehrt aber noch der beiden Federschöpfe am Kopfe. Ein starker Hornwulst auf dem Schnabelrücken bildet den sogenannten Eizahn, vermittelst dessen die Schale gesprengt wird. Die Männchen sind unablässig bemüht, die Weibchen mit Nahrung zu versorgen, indem sie mit beiden Beinen gleichzeitig die Felsen hinabhüpfen. Sind sie dann am Wasser angelangt, so geht es mit einem Kopfsprung in dasselbe, und nun zeigt sich erst der Pinguin in seinem wahren Elemente. Die Flossen dienen als Ruder, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit schwimmt und taucht oder springt er wie ein Delphin über die Oberfläche. Stunden kann man in[S. 80] einer Pinguinkolonie verbringen, ohne des originellen Treibens müde zu werden. Da stehen sie um uns herum, putzen und ordnen das Gefieder, mit dem Kopf und den goldigen Federschöpfen ständig in Bewegung, bald zärtlich sich an ihren Genossen anschmiegend, bald zornig Schnabel- und Flossenhiebe austeilend. Ich verstehe zwar nicht die Sprache der Pinguine, durfte aber wohl annehmen, daß das, was sie mit funkelnden roten Augen und hämisch zur Seite gebogenem Kopfe dem Eindringling zu vernehmen gaben, sehr beleidigender Art gewesen sein muß.
Wenn man bedenkt, daß Tausende und aber Tausende von Pinguinen überall da, wo Felsentrümmer am Rande der Buchten sich anhäufen, ihre Wohnstätten aufgeschlagen haben und daß sich zu ihnen ein fast überwältigender Reichtum an antarktischen Schwimmvögeln gesellt, so wird die Frage nahegelegt, auf welche Weise denn eigentlich diese Vogelwelt ihr Nahrungsbedürfnis befriedigt. Lehrten es nicht schon die zahllosen Muschel- und Schneckenschalen, die man überall an den Standorten und Brutplätzen umherliegen sieht, so überzeugt man sich leicht, daß der antarktischen Vogelwelt in dem Meere ständig der Tisch gedeckt ist. Erstaunlich ist die marine Strandfauna der Kerguelen entwickelt. Hebt man einen Stein auf, so kann man sicher sein, daß Dutzende von Asselkrebsen davonjagen, um unter anderen Steinen Schutz zu suchen. Neben ihnen kommen Borstenwürmer und ein Heer niederer Organismen vor, die namentlich die prächtigen, in allen Tinten von Rot[S. 81] schillernden Büsche der Florideen und Algen bewohnen, an denen der felsige Strand so reich ist. Wir kennen von den Kerguelen nicht weniger als 71 Arten niederer Meeresalgen, zwischen denen sich rötlich gefärbte Seesterne, Schlangensterne, Krabben umhertreiben, oder auf denen sich Seescheiden, Moostierchen, Seerosen und Wasserpolypen angesiedelt haben. Neben den Algen beherrscht der Riesentang die Szenerie. Er wurzelt tiefer auf Felsblöcken, welche in dem grünlichschwarzen Schlick des Grundes liegen; hier bildet er ein Wurzelwerk, das wie ein Nest miteinander verwachsener Korallenzweige sich ausnimmt. Von ihm gehen riesenlange Stiele aus, welche lanzettliche Blätter mit flaschenförmigen Luftbehältern tragen. Man hat Äste gemessen, die eine Länge von nicht weniger als 300 Metern aufweisen. Da der Tang auf den Felsblöcken bis zu 20 Metern Tiefe sich ansiedelt und durch seine Schwimmvorrichtungen an der Oberfläche zutage tritt, so verrät er mit Sicherheit dem Seefahrer alle Stellen, die bei der Einfahrt in die Häfen zu vermeiden sind. Zugleich bietet er verschiedenen Organismen Gelegenheit zur Anheftung, welche mit Vorliebe von den Vögeln genossen werden. Vor allen Dingen sind es die Napfschnecken, die mit ihrer wie ein Saugnapf gestalteten Fußscheibe festen Halt an den glatten Blättern gewinnen. Ältere Blätter sind oft ganz überzogen von Moostierchen und Polypenkolonien und besetzt mit einer leicht rosenrot schimmernden Seewalze, die ihre feinverzweigten zehn Kiemenbüschel ausstreckt. Geschützte Stellen der[S. 82] Buchten sind oft auf weite Strecken hin mit Miesmuscheln bedeckt, welche in ihrer äußeren Gestalt denjenigen unserer deutschen Küsten zum Verwechseln ähnlich sehen. So ist den unablässig an der Oberfläche bald auf Tang, bald am Strande fischenden Vögeln der Tisch reich gedeckt.
Wir haben von unserer Dampfbarkasse aus zwei Tage lang im Gazelle- und Schönwetter-Hafen gedredscht und an geschützten Stellen in kurzer Zeit eine außerordentlich reiche Ausbeute gewonnen.
Es war begreiflich, daß die Mitglieder der Expedition sich nach allen Seiten zerstreuten und je nach ihren Neigungen bald der höheren und niederen Tierwelt, bald der Pflanzendecke und geologischen Beschaffenheit der Umgebung des Gazelle-Hafens ihre Aufmerksamkeit zuwendeten. Unsere Offiziere hatten gemeinsam mit dem Kapitän am nächsten Morgen nach der Ankunft einen Ausflug nach der „Sandy-Cove“ benannten Bucht unternommen, welche gleich links neben dem engen Eingang in den Gazelle-Hafen liegt. Dort waren sie auf eine Herde Elefantenrobben aufmerksam geworden, welche in grubenförmigen Vertiefungen nahe dem Strande lagen, um den Haarwechsel durchzumachen. Sie erlegten nicht weniger als achtzehn Stück, welche wir am nächsten Tage durch die Schiffsmannschaft abbalgen und zum Teil skelettieren ließen.
In der Umgebung des Gazelle-Hafens sowohl, wie namentlich auch in jener von Sandy-Cove fielen uns die massenhaft in ihren Erdlöchern verschwindenden[S. 83] Kaninchen auf, welche von der englischen „Volage“-Expedition zur Beobachtung des Venusdurchgangs auf Rat von Kapitän Nares, dem Kommandanten des „Challenger“, ausgesetzt worden waren. Alles wimmelte von grauen, seltener schwarzen Nagern, die im Gegensatz zu der harmlosen, keine Verfolger kennenden Landfauna der Kerguelen ihre Furchtsamkeit und Flüchtigkeit nicht verloren hatten: ein bemerkenswertes Beispiel von Vererbung psychischer Eigenschaften unter Verhältnissen, die doch immerhin zu der Erwartung berechtigten, daß die Anpassung an neue Existenzbedingungen auch eine allmähliche Herabminderung des Instinktes im Gefolge gehabt hätte. Leider hat diese Überschwemmung mit Kaninchen auch eine Änderung in dem Aussehen der Vegetation herbeigeführt. Alle früheren Expeditionen berichten, daß der Kerguelenkohl in Menge über die ganze Insel zerstreut vorkommt. Roß sammelte noch kurz vor seiner Abfahrt von den Kerguelen so viel Kohl, daß für Monate seine Mannschaft mit zuträglicher Kost versehen war. Heutzutage möchte dies schwer fallen, insofern an allen den Kaninchen zugänglichen Stellen die Pringlea vollständig ausgerottet ist; man trifft sie nur noch an senkrechten Felswänden oder auf den in den Fjorden gelegenen Inseln.
Obwohl die See-Elefanten erst am Morgen erlegt worden waren, so hatten sich doch schon Tausende von Vögeln um dieselben angesammelt, eifrig damit beschäftigt, den Leib aufzuhacken und sich Zugang nach dem Innern zu verschaffen. Dies gelang freilich[S. 84] nur den mit mächtigen Schnäbeln ausgestatteten großen Sturmvögeln, welche von weitem in ihrem Benehmen an die Geier der wärmeren Gegenden erinnerten. Mit schlaff herabhängenden Flügeln, Kopf und Hals mit Blut besudelt, umgaben sie zu Hunderten die Kadaver und hatten sich zum Teil so vollgefressen, daß sie nicht imstande waren, aufzufliegen. Raub- und Dominikanermöwen belagerten in dichten Wolken die Stätte, wo unsere Matrosen eifrig damit beschäftigt waren, unter Anleitung des Fleischers die Kadaver abzubalgen.
Da sich in früherer Zeit, angelockt durch die Schilderungen von Roß, zahlreiche Walfisch- und Robbenschläger nach den Kerguelen begaben, wurde unter den Elefantenrobben um so mehr aufgeräumt, als man bei den Metzeleien, die man unter den wehrlosen Tieren anrichtete, auch die Jungen nicht schonte. Es ist vielleicht ein Glück, daß allmählich der Robbenschlag nicht mehr lohnte, und der Besuch der Kerguelen seltener wurde. Der Kommandant der „Eure“ berichtet, daß er nur noch einen Kapitän antraf, welcher zum Robbenschlag die Kerguelen aufsuchte. In neuerer Zeit scheint kein Fangschiff mehr dort gewesen zu sein, und diesem Umstande allein war es zu verdanken, daß wir alle Buchten wieder voll von Robben fanden und in der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes deren mehr zu Gesicht bekamen als frühere Expeditionen während mehrerer Monate. Nicht nur da, wo unsere Offiziere eine Herde von etwa dreißig Stück überrascht hatten, trafen wir auf ihre Lager, sondern auch an[S. 85] allen Stellen, wo Sandy-Cove durch sanftgeneigtes Vorland günstige Landungsstellen darbietet. Man hatte es bald verlernt, den harmlosen Tieren mit dem Gewehr zu Leibe zu gehen, wie denn überhaupt der Jäger auf Inseln, wo er Tiere nicht erst zu beschleichen braucht, die Büchse zur Seite stellt. Gar manchmal saßen wir bei den Robben, die nur dann, wenn sie vorher durch die Matrosen gescheucht waren, ein heiseres Gebrüll ausstießen und unter Bewegungen, welche lebhaft an diejenigen einer kriechenden Made erinnerten, zu flüchten versuchten. Sonst aber verhielten sie sich mit ihren Jungen ruhig bei fleißigem Gähnen und Schlafen.
Waren sie munter, so lagen sie gern auf der Seite, den Kopf leicht erhoben, mit ihren prachtvollen ausdrucksvollen Augen die Umgebung musternd, oder so graziös, wie es halt nur eine Elefantenrobbe vermag, mit der Brustflosse sich auf Rücken und Flanken kratzend.
Gegen Abend des 28. Dezember waren die Reinigungsarbeiten an den Kesseln beendigt, und morgens 5 Uhr am 29. Dezember wurden die Anker gelichtet. Das Barometer war von 760 Millimeter (in der Nacht vom 27. zum 28. Dezember) auf 741 Millimeter gefallen. Damit kündigte sich ein Umschlag in der Witterung an, der sich zunächst an einem leichten Nordostzuge bemerkbar machte. Während das Schiff still und ruhig durch den friedlich daliegenden Gazelle-Hafen glitt, hob sich allmählich der Nebel, welcher in der Nacht sich eingestellt hatte, und zum letzten[S. 86] Male grüßten die schneebedeckten Gipfel der benachbarten Halbinsel herüber. Dafür bot sich zum ersten Male der Ausblick auf den fernen, in blendendem Weiß schimmernden Mount Roß (1860 Meter), den höchsten Gipfel der Kerguelen, dar.
Bei ruhigem Wetter veranstalteten wir in 88 Metern Tiefe außerhalb der Inseln aus dem bis nach Heard-Island sich erstreckenden Plateau noch zwei Dredschzüge, welche uns eine Fülle interessanter Vertreter der merkwürdigen Kerguelenfauna lieferten. Da hingen in den Maschen des Netzes blutrote Riesenformen von Asselspinnen, während der Beutel ganz gefüllt war mit Blumenpolypen, Seesternen, Seeigeln, Schlangensternen, prachtvollen Schuppenwürmern, Asselkrebsen und großen Rochen.
Nachdem wir den Weihnachtshafen am Abend des 29. Dezember verlassen hatten und außer Lee der Kerguelen kamen, empfing uns eine stürmisch aufgeregte See mit einer gewaltig hohen Dünung aus West und Nordnordwest. Das Schiff begann fast unerhört zu rollen, während der Wind allmählich zunahm und um die Mittagszeit des 30. Dezember die Stärke 10 erreichte. Während des Weststurmes stieg das Barometer innerhalb zwölf Stunden um nicht weniger denn 20 Millimeter und erreichte am Abend des 30. Dezember einen Stand von 760 Millimetern, nachdem es noch im Weihnachtshafen bis auf 735 Millimeter gefallen war. Dabei machte sich eine Erwärmung der Luft bereits fühlbar geltend (die Morgentemperatur betrug 7,2 Grad Celsius), obwohl die Sonne[S. 87] nur gelegentlich zum Durchbruch gelangte und ein grünlich gefärbtes Meer mit seinen gewaltigen Wogenkämmen beleuchtete.
Am 31. Dezember bedingte der Weststurm einen so gewaltigen Seegang, daß wir gegen 10 Uhr morgens genötigt waren beizudrehen und gegen den Seegang anzudampfen. An irgendwelche Arbeiten war nicht zu denken, doch wurden wir immerhin durch unsere Temperaturmessungen darauf aufmerksam, daß wir, wie einst bei der Annäherung an die Bouvet-Insel, so hier bei dem Eintritt in wärmere Regionen unter dem 45. Grad südlicher Breite mit jenen auffälligen, schon früher erwähnten Temperatursprüngen zu rechnen hatten. Das schmutziggrünlich gefärbte kalte Wasser von 4 bis 4,5 Grad wurde gelegentlich von rein blauen Streifen Warmwassers, dessen Temperatur zwischen 7,6 Grad und 9,4 Grad schwankte, durchsetzt. Gleichzeitig ergab es sich auch, daß eine Probe des Oberflächenplanktons, welche wir mit vieler Mühe fischten, eine vollständige Änderung in der Zusammensetzung der mikroskopischen Organismen aufwies. Die Diatomeen, welche in dem kalten Wasser herrschend sind, zeigten sich abgestorben oder zersetzt.
So feierten wir denn wiederum im Sturme das anbrechende neue Jahr. Einen eigenartigen Eindruck machte es, als man in der Silvesternacht auf der Brücke des schwer arbeitenden Schiffes stand, und inmitten der unermeßlichen Wasserfläche mit ihrer gigantischen Westdünung die Dampfpfeife ertönte, um das neue Jahr zu verkünden.
Wünsche, die man für unerreichbar hielt, hatte das alte in Erfüllung gebracht: wird das neue den Erwartungen entsprechen und weitere Aufschlüsse über Regionen bieten, die keines Menschen Auge jemals zu schauen vermag?
Als ein wertvolles Ergebnis dieser in einigen Kapiteln vorgeführten Expedition kann der Nachweis bezeichnet werden, daß die pelagische Tiefenfauna in allen Meeresgebieten außerordentlich gleichmäßig ist, so daß man von tiergeographischen Reichen hier nicht reden kann. Anders dagegen die schwebenden Oberflächenformen. Sie richten sich so nach der Temperatur, dem Salzgehalt, dem spezifischen Gewicht und vor allem nach der inneren Reibung des Seewassers, daß man schon mit dem Mikroskop den Eintritt in ein neues Stromgebiet nachweisen kann. Nichts ist überraschender, als diese mit einem Schlage erfolgende vollständige Änderung im Oberflächenplankton bei dem Übertritt aus dem Warmwasser in das Kaltwasser und umgekehrt. Nun läßt sich aber zwischen dem erstaunlich reichen antarktischen und arktischen Plankton eine gewisse Übereinstimmung feststellen, die so weit geht, daß einige Formen in beiden polaren Wassergebieten auftreten, welche in den ungeheuren, dazwischenliegenden Warmwasserzonen durchaus fehlen. Um das zu erklären, muß man sich vor Augen halten,[S. 89] daß es viele tierische Organismen gibt, die zu ganz bestimmten Jahreszeiten an der Oberfläche erscheinen, hier sich derart vermehren, daß sie sich zu dichten Schwärmen anstauen, um dann so rasch, wie sie gekommen sind, in der Tiefe wieder zu verschwinden. Im tiefen und kalten Wasser tropischer Gebiete findet eben, wie auch die Schließnetzbefunde bezeugen, ein Austausch zwischen arktischen und antarktischen Oberflächenformen statt.
Die Anpassung der Tiefseetiere an die vollständig dunklen Regionen, in denen sie leben, äußert sich vor allen Dingen in der Rückbildung der Augen. Ein an der Somaliküste erbeuteter Grundfisch ist völlig blind; an Stelle der Augen sind zwei in goldenem Metallglanz erstrahlende Hohlspiegel getreten (Abbildung 20). Aber es läßt sich nicht leugnen, daß nur bei wenigen Tiefseetieren ein völliger Verlust der Augen eingetreten ist; manche Fische und Kruster dieser ewig dunklen Regionen haben sogar wohlentwickelte, oft ungewöhnlich vergrößerte, ja sogar teleskopisch verlängerte Augen. Was für Lichtstrahlen mögen es sein, für die sie empfänglich sind? Der Gedanke, daß dieses Licht von den Tiefseetieren selbst erzeugt wird, liegt nahe und ist auch durch direkte Beobachtung über allen Zweifel sicher gestellt. Es gewährt einen feenhaften Anblick, wenn in der Dunkelheit das Vertikalnetz oder die Dredsche mit ihrem teilweise noch lebenden Inhalt an die Oberfläche gelangen und die in ihnen enthaltenen Organismen in phosphorischem Schein erglühen. Bald sondern sie einen leuchtenden Schleim ab, bald[S. 90] erstrahlt der ganze Körper, bald nur einzelne Leuchtorgane. An den Zweigen der „Seefedern“, die an der Somaliküste erbeutet wurden, huschten blitzartig von Polyp zu Polyp übergreifend die Strahlen auf und ab. Bei manchen Tiefseefischen umsäumen die Leuchtorgane, als Blendlaternen mit Hohlspiegeln und Linsen ausgestattet, die Seitenteile des Körpers und den Bauch (Abbildung 16 oben mit dem großen Leuchtfleck hinter dem Auge und den vielen Leuchtpünktchen am Bauche entlang), während andere Fische wie Diogenes ihre Glühlämpchen am Kopfe und auf dem Unterkiefer tragen (Abbildung 16 mitten und unten). Selbst die Flossenstrahlen können als Träger von Leuchtorganen dienen. Der in Abbildung 12 und 13 dargestellte Tintenfisch ist mit 24 Leuchtorganen ausgestattet. Unter allem, was uns die Tiefseetiere an wundervoller Färbung darbieten, läßt sich nichts auch nur annähernd vergleichen mit dem Kolorit dieser Organe. Man glaubt, der Körper sei mit einem Diadem bunter Edelsteine besetzt: das mittelste der Augenorgane glänzt ultramarinblau und die seitlichen weisen Perlmutterglanz auf; von den Organen auf der Bauchseite erstrahlen die vorderen in rubinrotem Glanze, während die hinteren schneeweiß oder perlmutterfarben sind mit Ausnahme des mittelsten, das einen himmelblauen Ton aufweist.
Schwerlich dürften die Leuchtorgane als Schreckmittel zur Abwehr von Feinden aufzufassen sein. Die auf die Oberfläche herabgelassenen elektrischen Schwimmlampen werden immer in kurzer Frist von einer erstaunlich[S. 91] großen Zahl pelagischer Organismen umschwärmt, die, weit entfernt, von dem starken und anhaltenden Licht abgeschreckt zu werden, demselben vielmehr zustreben. Man trifft wohl das Richtige, wenn man in den Leuchtorganen Lockmittel erblickt, durch die die Beute angezogen wird. Da aber zum Beispiel bei den Tiefseefischen die Leuchtorgane sich in ganz bestimmter Anordnung vorfinden, wodurch die verschiedenen Arten wie die Arten der Landtiere „gezeichnet“ werden, so muß man in den Leuchtorganen gewiß auch ein Mittel sehen, durch die das Zusammenfinden der Geschlechter und die Vereinigung der einzelnen Arten zu Schwärmen begünstigt wird. Die Leuchtorgane in originellen Zeichnungen über den Körper verteilt, vielleicht in verschiedenfarbigem Licht phosphoreszierend, was für einen magischen Anblick muß das gewähren!
Wer will die Wunderwelt der Tiefsee in allen ihren Beziehungen erfassen? Überall Fremdartiges, Erstaunliches, nie Geschautes. Und doch geht das Neue niemals so weit, daß nicht verwandte Erscheinungen aus dem Leben an der Erdoberfläche aufzufinden wären. Man glaubt eine alte, längst vertraute Melodie zu vernehmen, die stets von neuem packend in unendlichen Abänderungen wiederkehrt.
„In ewig wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um. Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz.“
Wissenschaftliche Volksbücher
Die „W. V.“ wollen in das Wissen der Gegenwart einführen, Verständnis erwecken für die Aufgaben der Forschung und durch stetigen Hinweis auf die Quellenwerke zu deren späterem Studium Anleitung geben. Jedes Bändchen ist mit einer Anzahl Bilder von künstlerischem oder wissenschaftlichem Wert geschmückt.
Bis jetzt sind erschienen
1. Durch Asiens Wüsten. Von Sven Hedin. Mit acht Bildern. 6. bis 10. Tausend.
Mit atemloser Spannung folgt der Leser den Schilderungen der Gefahren, die dem kühnen Forscher entgegentraten, um schließlich, erfüllt mit unbedingter Hochachtung für die Energie und Ausdauer, mit der sie überwunden wurden, den glücklichen Ausgang der Reise zu vernehmen.
2. Die Anfänge der Luftschiffahrt. Aus Berichten der Zeitgenossen ausgewählt von A. Gerlach. Mit acht Abbildungen nach alten Kupfern.
Heute, da die Luftfahrzeuge allmählich beginnen, sich den Zwecken des Verkehrs dienstbar zu machen, gewährt es einen ganz besonderen Reiz, die ersten mühevollen Versuche auf diesem Gebiete zu verfolgen und uns das Staunen und die Begeisterung der Augenzeugen zu vergegenwärtigen.
3. Der große Bauernkrieg. Von Dr. W. Zimmermann. Eine Auswahl aus seinen Erzählungen. Mit sechzehn Bildern alter Meister (Albrecht Dürer, Hans Burgkmair, Jost Amman, Hans Schäufelein u. a.)
Das Buch schildert eine Epoche, die mit primitivsten wirtschaftlichen Nöten, mit Druck und Ausnützung, mit Mord und Brandstiftung, mit Raub und Marter angefüllt ist, und dennoch scheint uns diese rohe, barbarische Zeit beim Lesen des Buches ästhetisch viel höher zu stehen als unsere zivilisierte. (Kunstwart)
4. Meine Wallfahrt nach Mekka. Von Heinrich von Maltzan. Mit acht Bildern hervorragender mohammedanischer Tempelbauten.
Der Verfasser hat verkleidet eine Pilgerfahrt nach Mekka mitgemacht und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt, da das Betreten der heiligen Stadt bei Todesstrafe jedem Christen verboten ist. Diese Reise, die den Leser von vornherein in die höchste Spannung versetzt, ist bis zum Schluß gleich interessant, lebendig und anschaulich beschrieben. (Literarischer Ratgeber)
5. Alte Bilder aus einer alten Stadt. Episoden aus der bremischen Kulturgeschichte von J. G. Kohl. Mit acht Bildern.
Ein Heimatbüchlein, wie wir eins für jede deutsche Stadt wünschen! Es stellt die unmerklichen, leisen Umwandlungen dar, die die alte Stadt im Laufe der Jahrhunderte durchmachte, und wie sie aus einem befestigten Dorfe allmählich eine weitgeöffnete moderne Stadt geworden ist. (Magazin für Pädagogik)
6. Eine Reise um die Welt. Von Charles Darwin. Mit sechs Bildern.
Die Aufzeichnungen entstammen einem Tagebuch, das der erst 25jährige Darwin auf seiner mit Kapitän Fitzroy unternommenen Südamerika-Expedition geführt hatte. Die ungekünstelte Art der Beschreibung, die Forscherfreude an jeder, auch der kleinsten, Naturerscheinung, verleiht den Darwinschen Reisebriefen einen besonderen Reiz. (Breslauer Morgen-Zeitung)
7. Der Ursprung des französischen Krieges. Von Heinrich von Sybel. Aus H. v. Sybels „Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I“. Ohne Bilder.
Die hier gebotene Darstellung vom Ursprung des französischen Krieges gilt bis auf den heutigen Tag als die beste und gründlichste Bearbeitung dieser zwölf entscheidenden Tage. Immer wuchtiger und nachdrücklicher wird die Sprache, immer lebendiger die Erzählung, und sie läßt schließlich den Leser bis zum Ausbruch des Sturmes nicht mehr zu Atem kommen.
8. Auf dem Orinoko. Eine Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents. Von Alexander von Humboldt. Mit neun Bildern und einer Karte.
Die Geschichte der Humboldtschen Reise zeigt, daß eine Welt- und Forschungsreise vor hundert Jahren zu ganz ungewöhnlichen körperlichen und geistigen Leistungen nötigte. Sie zeigt aber auch gleichzeitig Humboldts, des größten naturforschenden Reisenden aller Zeiten, wunderbare Gabe, alle Erscheinungen im Natur- und Menschenleben zu verbinden und eine ganz neue, auf vergleichende Länder- und Völkerkunde berechnete Reisekunst zu kultivieren.
9. Das Leben der Bienen. Von Maurice Maeterlinck. Auswahl. Mit vier Tafeln.
Es ist bei den Bienen wie bei der Mehrzahl aller irdischen Dinge: wir beobachten einige ihrer Gewohnheiten, wir sagen, sie tun dies und jenes, sie arbeiten so und so, ihre Königinnen sorgen für Nachkommenschaft, ihre Arbeiterinnen bleiben Jungfrauen, und dann und wann schwärmen sie. Damit glauben wir sie zu kennen und fragen nicht weiter. Aber sobald das Auge tiefer eindringt und sich Rechenschaft ablegen will, erkennt es die erstaunliche Kompliziertheit der einfachsten Erscheinungen, das Wunder des Verstandes und des Willens, der Bestimmungen und Ziele, der Ursachen und Wirkungen, die unbegreifliche Organisation der geringsten Lebensakte.
10. Die Abenteuer des Simplizissimus. Roman aus der Zeit des 30jährigen Krieges. Mit den achtzehn Bildern der „großen Kriegsübel“ von Jacques Callot und vier Kriegsbildern von Stefano della Bella.
Es gibt kein Buch und keine Chronik, die uns so unmittelbar und ergreifend in die Geschichte dieser Zeit einführten wie dieser Roman. Alles wird mit einem Herzen voll Anteilnahme geschildert von einem Menschen, der sich auch in dieser Zeit des allgemeinen Niederganges die Freude am Leben und einen gesunden Humor bewahrt hat.
11. Das alte Ägypten. Geschichtliche Erzählungen von Gaston Maspero. Mit siebenunddreißig Bildern aus des Verfassers Geschichte der morgenländischen Völker.
Maspero ist einer der gründlichsten Kenner des alten Ägyptens. Seine Erzählungen führen in eine alte, längst vergangene Zeit zurück: dreitausend Jahre müssen wir rückwärts im Fluge durcheilen. Das alte Leben, das so lange im Wüstensande schlummerte, erwacht wieder. Die winzigen Reste ehemaliger Städte wachsen in die Höhe, und der brausende Lärm des Alltags einer grauen Vorzeit tönt von neuem an unser Ohr.
12. In Nacht und Eis. Die norwegische Polarexpedition 1893–1896 von Fridtjof Nansen. Mit acht Bildern.
Das herrliche Buch berichtet von der eigenartigsten und erfolgreichsten aller Polarexpeditionen. Es erzählt die Ereignisse dieser seltsamen Fahrt und besonders die bewundernswerten Leistungen des Führers.
13. Aus den Tiefen des Weltmeeres. Von Carl Chun. Schilderungen von der deutschen Tiefsee-Expedition. Mit zwanzig Bildern.
Die Tiefen des Weltmeeres haben von jeher die Gedanken der Menschen mächtig erregt. Daher werden die Forschungsergebnisse, welche die deutsche Tiefsee-Expedition zeitigte, und besonders jene aus dem wichtigsten Teil ihrer Reise, den Kreuzfahrten in dem südatlantischen Ozean in seinen Uebergängen in das antarktische Meer, die in diesen Blättern niedergelegt sind, das Interesse Aller wecken und wachhalten.
Jeder Band gebunden 1 Mark 50 Pfennig
Für den Schulgebrauch von 20 Exemplaren an 1 Mark 20 Pfennig
Die Sammlung wird fortgesetzt
Kajakmänner
Erzählungen grönländischer Seehundsfänger. Mit Bildern von O. Schwindrazheim. Ausgewählt vom Hamburger Jugendschriften-Ausschuß. 8. bis 10. Tausend. Gebunden 1 Mark
Das ist so recht eine Lektüre für unsere Jugend. Diese Erzählungen von gefahrvollen Reise- und Jagdabenteuern, welche grönländische Seefahrer in ihren Kajaks zu bestehen haben, sind besonders deshalb von so fesselndem Reiz, weil sie von den Eingeborenen niedergeschrieben wurden, wie diese sie erlebten. Eine neue eigenartige Welt tut sich hier auf, eine Welt, in der der Tod dem Leben näher zu stehen scheint als anderswo. (Fränkische Volkszeitung)
Diese Erzählungen sind in ihrer schlichten, allem Pathos fremden und doch durch die Gefahr der Situationen spannenden Art außerordentlich geeignet, der lügenhaften Verstiegenheit der Schundliteratur die einleuchtende packende Wahrheit des wirklichen Geschehens entgegenzuwerfen. (W. Lottig, Hamburg)
Vom Kuhhirt zum Kapitän
Das Leben Heinrich Brocks. Erzählt von Hanns Fuchs. Mit Bildern von Th. Herrmann. Gebunden 1 Mark 50 Pfennig
Die Lebensgeschichte eines aus kleinen Anfängen emporgekommenen Seefahrers, den sein Beruf im Laufe der Jahre bis in ferne Erdteile führte. In knappen und in seiner ruhigen Sachlichkeit doppelt anschaulichen Schilderungen rollt sich dieses äußerlich unscheinbare, innerlich aber um so tüchtigere Menschenleben vor uns auf, das durch seine wortkarge Pflichterfüllung und sein kerngesundes Wesen viel Gewinnendes und Nachstrebenswertes an sich hat. (Die Gegenwart)
So ohne allen Prunk, ohne alle Selbstgefälligkeit, ja selbst ohne die in Seemannskreisen übliche schalkhafte Aufschneiderei vorgetragen, wirkt das Leben Heinrich Brocks wie ein Stück einfacher herber Natur, fern von jeder Romantik und Abenteuerlichkeit. Und es wirkt auf jung und alt. (Das literarische Echo)
Das Schiff in der Flasche
Meine wunderbare Reise mit dem Klabautermann auf der Brigg Albatros am 24. September 1908. Von Heinrich Vogel. Gebunden 2 Mark
Man folgt Heinrich Vogel gern auf der Phantasiereise jenseits der Welt. Der Reisende gelangt auf einem geheimnisvollen Strom zu längst versunkenen Geschlechtern, zu Fahrtgenossen des Pizarro, er findet Peter Schlemihl und lockt mit der Musik seiner Weidenflöte den Schatten des tragischen Wanderers heran, der nun unter dem Strahl der Sonne zusammensinkt und den Weg in die goldene Stadt der Ewigkeit findet. Und er sieht sich schließlich wieder vor seinem Schreibtisch, zurückgekehrt aus dem Phantasieland in der heimatlichen lieben Enge, die nun für immer ein Hauch der geheimnisvollen Traumfahrt durchwehen wird. Das Buch ist das Werk einer reinen und feinen, liebenswürdigen und natürlichen Phantasie. (Königsberger Hartungsche Zeitung)
Hamburger Hafenbilder
Von Wilhelm Dittmer. Billige Ausgabe. Kartoniert 2 Mark. 12 doppelseitige, 24 ganzseitige Bilder, 48 Seiten Text
Was für wunderbare Zeichnungen und welch frischen aus dem Leben geschöpften Text gibt uns dieses billige Volksbuch. Es ist geradezu eine Poesie der Arbeit, kein anderer würde es besser verstanden haben, uns die Arbeit des Hamburger Hafens anschaulicher und reizvoller näher zu bringen als Wilhelm Dittmer. Er führt uns in die Schifferstuben, auf Deck, in die Kajüten, in die Hafenkneipen, und läßt uns so einen ursprünglichen Einblick tun in das Getriebe des Hamburger Hafens. Jeder Deutsche wird das Buch mit Stolz und Befriedigung lesen, ist doch das, was im Hamburger Hafen geleistet wird, etwas Gewaltiges, das dem deutschen Namen auf der ganzen Erde Ehre macht. (Der deutsche Kaufmann im Auslande)
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
Anmerkungen zur Transkription:
Der vorliegende Text wurde anhand des 1911 erschienenen Auswahlbandes der Erstausgabe von 1900 möglichst originalgetreu wiedergegeben. Ungewöhnliche Schreibweisen (z.B. „Kambüse“ für „Kombüse“, „Rythmus“ usw.) wurden beibehalten; Eigennamen wurden unverändert übernommen. Im Druckbild nicht sichtbare Buchstaben wurden sinngemäß ergänzt. Zu Abbildung 15 existiert kein Verweis im Text. Die Angabe „Natürliche Größe“ in einigen Abbildungen bezieht sich auf die Druckausgabe.
Die folgenden Stellen wurden korrigiert:
# S. 7: Valdivia: Name wurde in Anführungszeichen gesetzt
# S. 12: „daß“ → „das“
# S. 20: „englichen“ → „englischen“
# S. 22: „nnd“ → „und“
# S. 24: „Rähe“ → „Nähe“
# S. 86: „Kergulen“ → „Kerguelen“
# S. 87: „genötig“ → „genötigt“
Der Originaltext wurde in Frakturschrift gesetzt; insbesondere zoologische Bezeichnungen wurden durch Antiquaschrift hervorgehoben. Diese Stellen, sowie gesperrter Text, werden in der vorliegenden Version durch kursiven Schriftschnitt gekennzeichnet.