Mit 168 Abbildungen und einer Karte.
Leipzig:
F. A. Brockhaus.
1908.
Einleitung. Von Fürst Scipione Borghese | 1-18 |
Erstes Kapitel. Von Paris nach Peking | 19-38 |
Zweites Kapitel. Die Abfahrt | 39-61 |
Drittes Kapitel. Zur Großen Mauer | 62-88 |
Viertes Kapitel. Auf dem Gebirge | 89-122 |
Fünftes Kapitel. An der Schwelle der Mongolei | 123-144 |
Sechstes Kapitel. Durch die mongolische Steppe | 145-174 |
Siebentes Kapitel. In der Wüste Gobi | 175-198 |
Achtes Kapitel. Die Stadt der Wüste | 199-225 |
Neuntes Kapitel. Urga | 226-250 |
Zehntes Kapitel. Auf dem Wege nach Kiachta | 251-276 |
Elftes Kapitel. Transbaikalien | 277-303 |
Zwölftes Kapitel. An den Ufern des Baikalsees | 304-330 |
Dreizehntes Kapitel. Der Einsturz der Brücke | 331-356 |
Vierzehntes Kapitel. Im Gouvernement Irkutsk | 331-356 |
Fünfzehntes Kapitel. Im Jenisseibecken | 381-402 |
Sechzehntes Kapitel. Das gelehrte Tomsk | 403-422 |
Siebzehntes Kapitel. In der Steppe | 423-443 |
Achtzehntes Kapitel. Der Ural | 444-458 |
Neunzehntes Kapitel. Von der Kama zur Wolga | 459-477 |
Zwanzigstes Kapitel. Von der Wolga zur Moskwa | 478-501 |
Einundzwanzigstes Kapitel. Aus Rußland heraus | 502-514 |
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Das Ziel rückt näher | 515-530 |
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Paris | 531-544 |
Anhang I. Die Familie Borghese | 545-546 |
Anhang II. Das Automobil | 547-553 |
Register | 554-558 |
Isola di Garda, im September 1907.
Lieber Barzini!
Es hat sich also doch jemand gefunden, der nach allem — trotz unserer zweimonatigen Anstrengungen, trotz der Felsen, Flüsse, Wüsten und Wälder, Sümpfe und Bankette, die wir hinter uns haben — der nach alledem behauptet, daß unsere Reise nur das eine bewiesen habe, daß man im Automobil nicht von Peking nach Paris fahren könne!
Der Satz hat in seiner Aufrichtigkeit etwas Barbarisches an sich. Aber, gestehen wir es nur zu, er ist buchstäblich richtig, und gerade wir haben bewiesen, daß es heutzutage bei ausschließlicher Benutzung des Motors eines Automobils unmöglich ist, in ununterbrochener Fahrt und in die weichen Kissen des Fahrzeugs gelehnt sich von Peking nach Paris zu begeben. Es würde daher vom finanziellen Standpunkte aus nicht zu empfehlen sein, auf Grund unserer Erfahrung eine regelmäßige Automobillinie einzurichten, um die kleinen, höchst eleganten chinesischen Chansonetten von der Hauptstadt des Himmlischen Reiches nach dem Moulin Rouge in Paris zu befördern, ohne ihre winzigen Füßchen nur im geringsten zu ermüden.
Aber hat die Fahrt Peking–Paris, abgesehen von diesem wesentlichsten Punkte, keine positiven Ergebnisse geliefert?
Ich kehre im Geiste nach Kiachta zurück, in das schmucklose Heim des Millionärs, wo die Herrin des Hauses mit ihrem breiten, gutmütigen Lächeln aus der Küche in den Speisesaal trat und auf die Tafel lange Reihen Flaschen edeln Weines und riesige Platten stellte, auf denen tranchierte Hammel und Kälber lagen und sich wahre Berge von Mehlspeisen und Reis erhoben; wo Falia, die kleine Burjatin, ihr frisches, ein wenig scheues, einer Steppenblume gleichendes junges Gesichtchen zeigte; wo die alten und neuen Freunde ohne Einladung und ohne Höflichkeitsphrasen kamen und gingen und in ungezwungener Weise ihren Anteil an der Gastfreundschaft und den Tafelfreuden entgegennahmen.
Und ich erinnere mich der Gespräche an der reichbesetzten Tafel, die alle darauf hinausliefen, den praktischen Nutzen unserer Durchquerung der Wüste Gobi zu erörtern — wir hatten die siebzehn Tage der schnellsten Karawanen auf vier vermindert —, sowie der eingehenden technischen Fragen über die Möglichkeit, sich dieses raschen Beförderungsmittels zu bedienen, um wenigstens einen Teil der Teetransporte, die jetzt bis Wladiwostok ausschließlich das Meer und von dort die transsibirische Eisenbahn benutzen, bis zu diesem Punkte der Grenze zu leiten.
Erinnern Sie sich noch der Begeisterung unseres Gastfreundes in Irkutsk, der bis Nischne-Udinsk die Freude unserer Fahrt kostete, als unsere Brust mit tiefen Atemzügen den balsamischen Hauch des Fichtenduftes auf den guten, trockenen Straßen Sibiriens einsog? Ja, in ihm ist sicherlich der Keim zur Automobilleidenschaft zurückgeblieben. Und in der guten Jahreszeit sind die Möglichkeiten der Benutzung des Automobils auf jenen sibirischen Straßen tatsächlich unbegrenzt.
In Krasnojarsk hatten wir lange Unterredungen mit zwei praktischen, ernsten Engländern, Konzessionaren und Ingenieuren von Goldminen. Für sie handelte es sich darum, eine raschere Verbindung zwischen Krasnojarsk und Jenisseisk herzustellen, und unsere Maschine, die in dem Hofe des Gasthauses „Metropole“ in tadelloser Beschaffenheit stand, trotzdem sie mehr als 3000 Kilometer auf schrecklichen Straßen zurückgelegt hatte, schien ihnen ein interessanter Gesprächsgegenstand und eröffnete vor ihren Augen einen neuen, weiten Horizont unerwarteter Lösungen.
In Tomsk war es, im Hause des Gouverneurs. Dort unten im Süden, im äußersten Zipfel seiner Provinz, die die Flächenausdehnung des Deutschen Reiches besitzt, erhebt das Altaigebirge seine Alpengipfel und bietet der menschlichen Betriebsamkeit seine an Mineralschätzen reichen Täler und Berghänge dar. Und während mir der Gouverneur von den Schicksalen einer englisch-russischen Gesellschaft erzählte, die die Verbindung von Tomsk mit dem Eismeere zu verbessern beabsichtigte, indem sie in der Sommerszeit den Ob mit großen Lastschiffen befahren wollte, und während er mir den Nutzen, den Mittelsibirien davon haben würde, den ganzen Vorteil, der der Industrie und dem Export des Landes daraus erwachsen würde, auseinandersetzte, während alledem verfolgten seine modern geschulten, in die Ferne gerichteten Augen den Traum, Tomsk mit Barnaul und Biisk und den Hauptpunkten des Bergwerksbetriebes des Altai durch schnelle Automobile zu verbinden! Und der Traum wurde näher ins Auge gefaßt und kritisiert: kurz, seine Durchführbarkeit wurde erörtert.
Weiter nach Westen zu, in Omsk, befanden wir uns mitten in der Steppe. Dort ist die Regenzeit viel kürzer als im sibirischen Urwalde, der Taiga; der Steppenboden erweist sich widerstandsfähiger gegen den Regen, das Gelände ist fast vollständig eben.
Wir fanden hier die Wegeverhältnisse der nördlichen Mongolei wieder, wo wir auf der Antilopenjagd unsere Maschine mit der allergrößten Geschwindigkeit hatten dahinrasen lassen können. Und wir fanden hier ein ungeahntes, wunderbares Gebiet der Tätigkeit und des Fortschritts. Im Jahre 1906 hatte eine Ausfuhr von Butter im Werte von 40 Millionen Rubel und in demselben Zeitraum eine Einfuhr von sechs Millionen Rubel landwirtschaftlicher Maschinen stattgefunden. Die Betriebsamkeit der intelligenten Russen, der fleißigen, klugen Sibirier, der arbeitsam und geschickt gewordenen Kirgisen wurde geleitet und gefördert von der weitsichtigen, unternehmenden finanziellen und kommerziellen Tätigkeit von Dänen, Engländern, Norwegern und Deutschen. Es war eine rührige Welt, die durch Viehzucht, Milchwirtschaft, Butterbereitung Reichtümer erwirbt, indem sie zugleich die Weideplätze verbessert und den Futterbau rationeller gestaltet.
Das Gebiet dieser alljährlich intensiver werdenden Ausnutzung erstreckt sich über die ganze Steppenregion, wo die Kirgisenhorden, von ihrem Rasseninstinkt getrieben, als Nomaden von einem Weideplatz zum andern ziehen. Dieser Aufschwung breitet sich in Tausenden von Adern über alle Dörfer aus, in denen die Einwanderer von heute und die Söhne der alten Verbannten des europäischen Rußland sich zu neuen arbeitsamen und gedeihenden Gemeinwesen zusammenschließen. Von Omsk bis Kurgan, bis zum Balkaschsee und bis Semipalatinsk dehnt sich die unermeßliche Steppe aus und steigert sich heute die Möglichkeit, morgen die Notwendigkeit von Automobilverbindungen und von Transporten mit Hilfe des Automobils.
Und dann nach Tjumen und Jekaterinburg, unter jener bescheidenen, arbeitswilligen Bevölkerung, in jenem unerschöpflichen Bergwerksgebiete des Ural, wo jeder Hektar Land einen Schatz verborgener Reichtümer darstellt und wo der Stein die Straße weniger problematisch macht. Und weiter, weiter, bis an die deutsche Grenze: überall hinterließ die Fahrt unseres Automobils, das den härtesten Prüfungen widerstanden hatte, das unversehrt mechanische Torturen überdauert hatte, bei denen die kräftigen Tarantasse und die leichten Telegas in Trümmer gegangen wären — überall hinterließ unsere Fahrt eine Furche und vielleicht einen Samen sicherer zukünftiger Zivilisation, rascheren Fortschritts, weil unsere Maschine überall das Bild einer möglichen regelmäßigen Verbindung hervorrief, mittels deren das Blut der Völker lebenerweckend die Erdteile durchkreisen kann.
Aber jenseits der russischen Grenze, im westlichen Europa? Hier durcheilte das Automobil die deutschen und jene wunderbaren französischen Straßen, hier ist die Automobilbenutzung nicht mehr ein Traum der Zukunft, sondern ein Problem der Gegenwart. Hier, im westlichen Europa, wuchs der Erfolg unserer Mühen ins Riesenhafte; er trat in den Erörterungen der Techniker, in der Begeisterung der Bevölkerung zutage.
Das ist verständlich. Hier erschien allen Leuten unser Unternehmen von größerer Bedeutung, sein Nutzen unmittelbarer. Es handelte sich nicht darum, irgendwelchen lokalen Nutzen zu stiften, das Interesse einer begrenzten Anzahl von Industriellen und Kaufleuten zu fördern, es handelte sich vielmehr um eine neue, entscheidende Stärkung einer vorwiegend europäischen, jungen, aber lebensfähigen und rührigen Industrie, in der eine enorme Menge von Kapital, Wissenschaft und Intelligenz und von geschickter und geschulter Arbeit angelegt ist. —
Wenn ein Staat seine Artillerie erneuern will, so veranstaltet er, nachdem die technischen Probleme studiert, die eingereichten Projekte geprüft, die ersten Anhaltspunkte gewonnen sind, Kraftproben bis zur äußersten Grenze der Leistungsfähigkeit. Die Metalle werden auf die Maximalgrenze ihrer Widerstandskraft geprüft, sie werden auf Zug, auf Drehung, auf Druck untersucht, sie werden nach jeder Richtung hin weit über das Maß des Notwendigen in Anspruch genommen. Wenn dann der Feuerschlund mit aller ballistischen Genauigkeit gegossen ist, so veranstaltet man Probeschießen, bei denen die Ladungen übermäßig gesteigert, die Explosivstoffe gewechselt werden, und man ist nicht zufrieden, wenn das Geschütz nicht Anstrengungen widersteht, die viel gewaltsamer und dauernder sind als die, die es in der Praxis auszuhalten bestimmt ist.
Der „Raid“ Peking–Paris war eine solche äußerste Kraftprobe der Automobilfabrikation und als solche interessierte er das Publikum. Unsere Personen und der Name der Fabrik standen in zweiter Linie; unser Fahrzeug repräsentierte die Automobilfabrikation im allgemeinen.
Die zivilisierte Welt wohnte dieser Kraftprobe bei, der umfassendsten, vollständigsten und überzeugendsten, der das neue Werkzeug bis dahin unterworfen worden war, einer Kraftprobe, die zu dem Zwecke unternommen wurde, einen weiteren, entscheidenderen Schritt nach vorwärts auf dem Wege der Abschaffung menschlicher oder tierischer Triebkraft zu tun. Diese Abschaffung ist eines der Kennzeichen sozialen Fortschritts.
Als ich die Herausforderung des Pariser „Matin“ annahm, hatte ich folgendes Ziel vor Augen: zu zeigen, daß ein gut gebautes, mit Umsicht und Sorgfalt geleitetes Automobil imstande ist, auf langen Reisen durch Gelände mit oder ohne Straßen die Zugtiere tatsächlich zu ersetzen.
Was tut es, wenn das Automobil wenige Meter weit von Menschenarmen gezogen wird; was verschlägt es, wenn man es von Zeit zu Zeit mit Hilfe von Seilen und Hebeln aus dem Sumpfe oder aus dem Sande herausholen oder es auf eine Fähre oder einen Kahn laden muß, um Wasserläufe zu überschreiten, die man nicht durchwaten kann? Sind diese kurzen Hemmnisse, die wenige Stunden Verspätung bedeuten, vorüber, so ist die Maschine wieder zu ihrer gewohnten Kraftentfaltung befähigt, die kein Zugtier so lange und so ununterbrochen aushalten könnte, die sie aber ohne nennenswerte Beschädigung in zuverlässiger, andauernder Arbeitsleistung übersteht.
Und „Peking–Paris“ hat mir recht gegeben.
Mein Wagen, die „Itala“, hat, ohne daß ich zu außergewöhnlichen Mitteln greifen mußte, die lange Fahrt bestanden auf Straßen, die fast durchgehends schlecht, häufig sehr schlecht waren, und unter klimatischen und Temperaturverhältnissen, unter denen der gesamte Mechanismus der härtesten Probe ausgesetzt war: der Rahmen von den Stößen und Rucken hin und her gerüttelt; der Motor auf steilen Aufstiegen, wo die Räder im Sande oder auf vom Regen schlüpfrig gewordenen lehmigen Stellen schleiften, überhitzt bei vielstündiger, sehr langsamer Fortbewegung unter hoher Außentemperatur und auf schwierigem Gelände; die Vergasung anormal infolge der Thermometerschwankungen von zehn und zwanzig Grad, in einem Klima, das von tagelanger Trockenheit zu täglich wiederkehrendem Regen und Feuchtigkeit übergeht; die Kuppelungen und das Getriebe fortwährenden Stößen ausgesetzt und die Reibung jeden Augenblick aufgehoben und wiederhergestellt!
Kurz, alle Teile — ich spreche nicht von den Rädern und Federn, die der Anstrengung unterlegen sind — wurden einer Kraftprobe ausgesetzt, wie sie nie zuvor stattgefunden hatte. Und bei den etwa 16 000 Kilometern, die wir durchfahren haben und von denen 12 000 ohne chaussierte Straßen waren, beträgt die Länge der Strecken, die das Automobil nicht lediglich durch seinen Motor bewegt zurückgelegt hat, noch nicht 200 Kilometer!
Ich erkläre mich von dem praktisch erzielten Erfolge befriedigt, auch wenn es sich erwiesen hat, daß man heute noch nicht in einem Zuge und ohne von der Maschine zu steigen von Peking nach Paris fahren kann! —
Aber den Erfolg verdanken wir einigen Faktoren, auf die ich jetzt zu sprechen kommen will.
Ich schweige von der Maschine. Der tatsächliche Ausgang hat sie als vorzüglich erwiesen, aber sie war, um es kurz zu bezeichnen, nur das Werkzeug des Erfolges, nur der Meißel, mit dem ein Künstler eine Statue aushaut, die er nach seinem Schönheitsideal schaffen will. Die intelligente Hand, die den Meißel führt, ist für das Kunstwerk wichtiger, und diese war auch bei der umsichtigen Vorbereitung unserer Fahrt tätig.
Die Auswahl der Maschine wurde nach bestimmten Gesichtspunkten getroffen. Man weiß, daß Stärke und Leichtigkeit relative Begriffe sind und daß eine Maschine von 2000 Kilogramm und 40 Pferdekräften leichter und brauchbarer sein kann als eine von etwas geringerem Gewicht und viel geringerer Stärke. Wir waren auch bei der Aufstellung der Berechnungen sehr vorsichtig. Eine große Menge von Ersatzteilen nahmen wir mit, die ordnungsgemäß im hinteren Kasten der Maschine verpackt wurden; es wurde aber glücklicherweise fast nie nötig, aus ihm etwas herauszunehmen. Die Ergänzungsvorräte an Verbrauchsgegenständen wurden in reichlicher Menge und nach einem sorgfältig durchdachten Plan auf die zu durchfahrende Strecke verteilt.
Die kurze Zeit vom 15. Februar 1907, dem Tage der endgültigen Annahme der Aufforderung, bis zum 10. Juni 1907, der für die Abfahrt von Peking festgesetzt worden war, gestattete keine brieflichen Unterhandlungen. Es wurde alles mündlich und telegraphisch bestellt.
Von Schanghai kamen nach Peking das für die Fahrt durch China und die Mongolei erforderliche Benzin und Öl; von Petersburg aus beabsichtigte die Firma Nobel, in Sibirien und Rußland die für die Fahrt durch das unermeßliche Reich nötigen Mengen bereitzustellen.
Langsame Kamelkarawanen — wie viele von ihnen überholten wir, während sie im Lichte des grauenden Morgens oder in der langen Abenddämmerung schläfrig dahinschritten, oder während sie haltmachten und die Männer, in ihren arabeskengeschmückten Zelten ausgestreckt, die Stunden der sengenden Tageshitze über sich hinziehen ließen! — schafften von Peking an den einsamen Brunnen von Udde, in die heilige Stadt Urga das für die technische Eroberung der Wüste Gobi Erforderliche, und die Eroberung wurde dadurch leicht. Andererseits erreichten uns mit der transsibirischen Bahn die zur Durchführung und Sicherung der Fahrt nötigen Vorräte in den großen Städten und kleinen Flecken längs des alten sibirischen „Trakt“, der Straße, die, bevor unsere freie Maschine, von der die Flagge eines freien Volkes im Winde flatterte, sie befuhr, so viele Scharen armer, leidender und doch stolzer Wesen hatte vorüberziehen sehen, die verbannt worden waren, die ihr edles, nach Freiheit und Gerechtigkeit dürstendes Herz weitweg vom Vaterlande in die Ferne tragen mußten!
Aus Italien gelangten die Pneumatiks an die vorher bestimmten Etappenorte, und in Omsk war ein Lager von Ersatzteilen beabsichtigt, namentlich von Rädern und Federn, die in dieser Stadt, die ungefähr in der Mitte der ganzen zu durchfahrenden Strecke liegt, voraussichtlich ausgewechselt werden mußten.
Die erforderlichen Mengen Öl und Benzin waren folgendermaßen berechnet: auf dem Wagen selbst wurden etwa 300 Kilo Benzin und 100 Kilo Öl untergebracht, ein Quantum, das ungefähr für 1000 Kilometer Fahrt ausreicht. In den Depots war immer so viel vorhanden, daß die volle Ladung des Wagens nachgefüllt werden konnte. Diese Depots, die aus Rücksicht auf den Transport in der Mongolei etwa 600 Kilometer voneinander entfernt waren, wurden auf der russischen Strecke, wo die durch Eisenbahn oder Flußschiffahrt erreichbaren Orte dichter gesäet sind, in Entfernungen angelegt, die zwischen 250 und einem Maximum von 500 Kilometern schwankten. Von Irkutsk an erwarteten mich die Pneumatiks von Pirelli in der Entfernung von je 1000 oder 1500 Kilometern.
Wir hatten Glück! Kein einziges Mal hatten wir zuwenig Brennstoff oder Öl; niemals fehlten uns Pneumatiks, von denen wir übrigens nur wenige verbraucht haben.
Ein einziger Umstand entsprach nicht unseren Wünschen, und dies war gut. Wir hatten so den Beweis in Händen, daß unsere Berechnungen richtig waren.
Die Ersatzräder und Ersatzfedern erreichten infolge von Schwierigkeiten, die die österreichische Zollverwaltung machte, Omsk nicht; sie mußten in Moskau liegenbleiben. Wir aber zogen in Kasan auf zerbrochenen Federn und auf einem Rade ein, das die Axt eines geschickten russischen Muschik uns am Ufer der Kama an einem Sonntagnachmittage ausgebessert hatte.
Auch für etwas anderes hätte besser gesorgt werden sollen: für die Bequemlichkeit der Reisenden auf dem Wagen und für die Unterbringung des Gepäcks.
Sie, lieber Barzini, der Sie mehr als alle darunter zu leiden hatten, erinnern sich gewiß noch, daß wir bis zum Vorabend unserer Ankunft in Paris jenem unförmlichen Haufen von Koffern und Säcken, der unser Gepäck darstellte und auf der Werkzeugkiste befestigt war, von wo er nur allzu häufig hinunterrutschte, keine richtige Form zu geben vermochten.
Ettore mochte das Gepäck mit aller Sorgfalt, mit aller erdenklichen Findigkeit festschnüren, ohne Stricke und Bindfaden zu schonen; die Stöße des Wagens lockerten selbst die feinst ausgedachten Verschlingungen, und der große Sack geriet bald darauf ins Schwanken und öffnete sich. Und Ettore begann von neuem.
Wieviel Mühe hat sich der brave Junge in diesen 60 Tagen gegeben! Er ist in Wahrheit jene intelligente Hand gewesen, die den Meißel führte! Ohne sein beständiges Sorgen für den Motor und alle übrigen Teile der Maschine, denen er Schlaf und Speise zum Opfer brachte, wären wir nicht nach Paris gekommen, wären vielleicht heute noch nicht dort!
Niemand, der es nicht selbst versucht hat, kann sich vorstellen, welche Arbeit auf einer langen Reise wie der unseren der Mechaniker zu leisten hat: vollständig auf sich selbst angewiesen, ohne die Hilfe von Werkstätten, ohne die Bequemlichkeit einer Garage, in Ländern, in denen jeder Begriff von Mechanik unbekannt ist, wo die Sprache fremd ist und selbst das Denken von dem unseren so sehr abweicht.
Nach sechzehn, achtzehn Stunden Fahrt, während deren er mit zusammengebissenen Zähnen, unter beständiger Nervenanspannung auf jeden Laut des Motors, jedes Knirschen des Wagens gelauscht hat, bemüht, dessen Existenz gegen die Schwierigkeiten des Geländes zu verteidigen; zwei bis drei weitere Stunden unter dem Rahmen ausgestreckt, in der Hitze der überanstrengten Maschine, bei dem übeln Geruche des Öls und der verbrannten Fette nachzusehen, zu prüfen, zu registrieren, die Verschlußstücke, die nachlassen, die Schrauben, die sich lockern, anzuziehen, nicht zufrieden, die durch die Anstrengungen des Tages verursachten kleinen Schäden und leichten Verschiebungen auszubessern, sondern bestrebt, mit Scharfsinn und Findigkeit die möglichen „Pannen“ des morgenden Tages vorauszusehen und ihnen zuvorzukommen: dies ist die regelmäßig wiederkehrende Arbeit Ettores nach wenigen Stunden der Ruhe, die er dem harten Boden abringt, nach den Mahlzeiten, die er in Eile verzehrt, die Füße auf den Tritt gestemmt, während die Maschine von einer Seite der Straße zur andern schwankt. Und dazu kam für Ettore von Zeit zu Zeit noch die Tätigkeit als Wagenlenker.
Entweder löste er mich am Lenkrad ab, um mir etwas Ruhe zu verschaffen, oder die Schwierigkeiten der Straße machten es notwendig, daß ich ihm bei der Fahrt über Stellen, die zu schwierig waren, um sie von der Höhe des Wagens aus zu übersehen, zu Fuß die Richtung angab. Auch als Wagenlenker war er unübertrefflich.
Erinnern Sie sich, lieber Barzini, wie oft ich beim Passieren von Sumpfstrecken oder bei der Fahrt über die schmalen Streifen trockenen Landes auf überschwemmten Straßen gezwungen war, nach Untersuchung des Geländes Ettore durch Steine oder Zweige genau die Punkte anzugeben, über die er die Räder führen sollte?
Und entsinnen Sie sich der wunderbaren Präzision und Raschheit, mit der die Maschine mit dem Maximum der Geschwindigkeit, um ihr Gewicht nicht zur Geltung zu bringen und nicht Gefahr zu laufen, stecken zu bleiben, sich auf den Rand des Sumpfes schwang oder sich aus der Lache voll schwarzen, zähen Morastes wieder herausarbeitete?
Und trotzdem Ettore sich seines Wertes und seiner Fähigkeiten stark bewußt ist — oder vielleicht eben deswegen —, bewahrte er in schwierigen Lagen, bei Strapazen, in Gefahren und bei schlechtem Wetter (erinnern Sie sich der endlosen Tage voll Regen und Schmutz, die wir durchgemacht haben?), bei den Triumphen und Verherrlichungen, die das Unternehmen, an dem er so stark beteiligt war, veranlaßte, dieselbe Seelenruhe, dieselbe Bescheidenheit, dieselbe unveränderlich gute Laune und ausdauernde Arbeitsamkeit, sowie das unerschütterliche Vertrauen auf den Erfolg. Und ich, der ich ihn schon seit zehn Jahren um mich habe als meinen Gehilfen beim Automobilsport, der nicht immer leicht und einfach ist; der ich in ihm einen bewährten, teuren Freund besitze, ich muß ihn meiner wärmsten und herzlichsten Zuneigung, meiner tiefen, dauernden Dankbarkeit versichern. Er ist ein schönes Beispiel eines gebildeten, gewissenhaften Arbeiters.
Er hat nichts Dienerhaftes an sich; in ihm lebt die Überzeugung von seinem eigenen Werte, das starke Gefühl der Verantwortlichkeit für die Dienste, die er mit Intelligenz, mit Uneigennützigkeit und der Anhänglichkeit eines Freundes dem widmet, der ihm volles Vertrauen einzuflößen vermocht hat, und den er für fähig hält, seine hervorragenden geistigen und seelischen Eigenschaften zu würdigen.
Seit zehn Jahren hat er mit mir eine Maschine nach der andern bestiegen, hat in den Werkstätten gearbeitet, hat sich auf allen Straßen Europas bewährt, wobei er an Klugheit, an kaltem, schweigsamem Mute zunahm und als Ingenieur und Techniker Fortschritte machte. Und jetzt hat er die Bestätigung seines Wertes in den Beifallsstürmen gefunden, mit denen er, der Siegreiche, überall empfangen worden ist. Er stammt aus der Romagna, und die ganze Kraft des Ungestüms und der Zähigkeit seiner Rasse lebt in ihm, wirkend und schaffend.
Ein anderer zum Erfolg beitragender Faktor waren die Verhältnisse, die wir überall antrafen. Wie soll ich die Bedeutung, den Einfluß richtig abschätzen, den auf das Gelingen unseres Unternehmens das Wohlwollen der Regierungen, das freundliche Entgegenkommen der Bevölkerungen, die wenn auch nur moralische Unterstützung und Ermutigung gehabt haben, welche uns von so vielen Unbekannten zuteil wurde, die uns für wenige Augenblicke eng befreundet wurden und die wir dann für immer aus den Augen verloren haben?
Bei der Lebhaftigkeit Ihres Stils werden Sie imstande sein, bei der Schilderung der Wechselfälle unserer Reise die Erinnerung an so viele gute Menschen aufzufrischen, die sich um uns bemüht haben und denen wir nicht im einzelnen danken können. Sie werden erzählen, wie wir von den auswärtigen Vertretern unseres Staates, von der chinesischen und russischen Regierung, von den Behörden aller Länder, durch die wir kamen, unterstützt worden sind und wie sie alle für unser Unternehmen ein außergewöhnliches, unerwartetes Verständnis entwickelten.
Sie werden gewiß die äußere Erscheinung der chinesischen Kulis schildern: den bronzefarbenen Leib nackt bis zum Gürtel; das leidenschaftslose Gesicht, aus dem Augen schauen, die dem Europäer nichts über den Charakter verraten; Menschen, unempfindlich gegen körperliche Anstrengung wie das Metall, aus dem sie geformt zu sein scheinen.
Sie werden auch die rauhen, stolzen mongolischen Reiter darstellen. Lange Gewänder umwallen sie und strömen den scharfen Geruch ihrer Herden und Zelte aus. Sie werden die russischen Muschiks mit ihren langen blonden Haaren schildern; ihre sanften Blicke sind träumerisch auf den unermeßlichen Horizont ihres Landes mit den niedrigen Hügeln und den weiten Ebenen gerichtet und noch weiter in eine Zukunft mit weniger Elend und menschenwürdigerem Leben.
Diese im Äußern so verschiedenen Gruppen werden Sie beschreiben, wie sie sich der Rettung unserer Maschine widmen, während sie über die sonnverbrannten Felsen einherkeucht, während sie in den Wüsten der Mongolei Ströme von Wasser und Dampf ausspeit, während sie in den Sümpfen und Schluchten Sibiriens und Rußlands wie ein gescheitertes Schiff auf der Seite liegt.
Die Begeisterung wird wieder aufleben, wenn Sie erzählen, wie wir unterstützt worden sind durch die brüderliche Gesinnung unserer Landsleute, die wir so fern vom Vaterlande antrafen, durch den Beifall der Menschen, die in Massen die Werkstatt, das Wirtshaus, die Schule verließen, um der Vorüberfahrt des Automobils zuzujubeln, des Erzeugnisses und Symbols der Arbeit, in der sich die lebendige Kraft aufstrebender Völker verkörpert.
All dies und noch mehr werden die gewiß glänzend geschriebenen Blätter Ihres Buches erzählen.
Gerührt und dankbar möchte ich alle jene Frauen umarmen, die durch ihre Teilnahme, ihre freundlichen Worte, ihr flüchtiges Lächeln so oft den ermüdeten Gliedern Kraft, der verzagten Seele Mut, dem verzweifelnden Sinn den Entschluß wiedergegeben haben.
Allen möchte ich danken: denen, die ich kenne, und denen, die mir unbekannt geblieben sind.
Den guten Hausfrauen, die, im Besitze eines gastlichen Daches, für einen Tag in uns die Empfindung des Familienlebens erweckten, indem sie uns den Genuß eines guten Bettes und einer wohlbesetzten Tafel verschafften: das köstliche Gefühl, das ein geordnetes, von weiblichem Geist durchwehtes Hauswesen in dem hervorruft, der aus der Einsamkeit des Nomadenlebens kommt.
Den Frauen der Muschiks will ich danken, die in den Gemeindehäusern der von jedem zivilisierten Leben abgeschlossenen Dörfer, in den mit kräftigen Axtschlägen aus den Stämmen der ungeheueren Wälder gezimmerten „Isbas“, den Bauernhäusern, uns vom Abend bis zum Morgengrauen alles anboten, was sie hatten. Sie verließen ihre armselige Hütte, damit wir Unterkunft fänden; sie brachten uns die Schüssel mit dampfender Suppe, den Krug mit der schmackhaften Milch der sibirischen Steppe, den Laib Brot, schwarz wie die Erde, die es hervorbringt.
Auch jenen andern danke ich, die, scheinbar erfüllt von Freude und Heiterkeit, in den uns zu Ehren veranstalteten Festlichkeiten ferner Städte für eine Nacht ihr Elend vergaßen, um in uns eine freundliche Illusion hervorzurufen.
Ich danke auch jenen Damen, die sich in einer Stunde geistreicher Unterhaltung vielleicht offener als sonst gaben, weil sie die Gewißheit hatten, man würde sich nie mehr im Leben begegnen, und die unsere Gedanken von den alltäglichen Beschäftigungen ablenkten und der Seele etwas von der Spannkraft wiedergaben, die uns die beständige und monotone körperliche Anstrengung zu rauben drohte.
Dank allen jenen, die uns beim Vorüberfahren zulächelten, uns eine Kußhand oder Blumen zuwarfen, uns durch Gesten anfeuerten, ihnen allen, einschließlich unserer Frauen, die wir im Geiste auf der Schwelle unseres Hauses, die Kinder im Arme, stehen sahen, voller Sehnsucht und Liebe uns erwartend, und die auch in unserem vielbewegten Leben die verborgene Kraft waren, die uns aufrecht erhielt und antrieb.
Dies sind die Faktoren, die unser Unternehmen zu einem glücklichen Ende geführt haben!
Sie, der Sie der Dichter unter uns waren und jetzt im Begriff sind, unser Geschichtschreiber zu werden, Sie wissen dies besser als ich. Und Sie wissen auch, wie verschieden das Schicksal unserer Reise von dem so vieler andern gewesen ist.
Ich denke bisweilen jener Männer, die in den Volksüberlieferungen weiterleben müßten und die doch beinahe vergessen sind, der Reisenden, die in unbekannten Ländern geographische Entdeckungen gemacht, die lange Jahre hindurch täglich ihr Leben aufs Spiel gesetzt, die dem Handel ihres Landes fruchtbare Zonen zur Ausnutzung gewonnen, der heimischen Industrie weite Ausfuhrgebiete erschlossen haben. Und ich gedenke ihrer — die Namen brennen mir auf den Lippen — und ihrer Rückkehr in die Heimat.
Wenige Fachmänner empfangen sie, wenige Zeitungen sprechen von ihnen und vielleicht nur, um ein herbes Urteil über sie zu fällen; Schweigen umhüllt sie. Manchen hat diese Nichtbeachtung seitens des Publikums, dieses bittere Schweigen der Menschheit, für die sie arbeiteten und litten, getötet!
Uns, die wir so viel Kleineres vollbracht haben, erwartete allgemeiner Beifall, erwartete die Genugtuung, einen Augenblick lang die Begeisterung der großen Metropolen der Welt, der betriebsamen Städte, der stillen Flecken in ganz Europa erregt zu haben!
Die Gründe dafür sind verwickelter Art. Es kommt dabei in Betracht die Neuheit des benutzten Gefährtes, seine wachsende wirtschaftliche und soziale Bedeutung; es kommt in Betracht die Länge des Weges, der in so kurzer Zeit und inmitten von Schwierigkeiten zurückgelegt worden war, die man zum ersten Male zu überwinden hatte; es kommt in Betracht die glückliche Lösung der technischen Probleme und die faszinierende Anziehungskraft jenes Landes Asien, aus dem wir vielleicht stammen und das uns doch so fremd ist. Es kommen ferner in Betracht die beiden Endpunkte der Reise.
Am Punkte der Abfahrt die geheimnisvolle Hauptstadt des rätselhaften Reiches, aus dem das Geräusch des Lebens wegen der räumlichen Entfernung und des Abstandes im Denken nur gedämpft zu uns herüberklingt; am Endpunkt der lauteste Resonanzboden der Welt, Paris, von wo jeder, auch der leiseste Hauch des Lebens sich verstärkt und in tausendfachem Echo vervielfältigt über die ganze Erde verbreitet.
Das Geheimnis des „Warum“ liegt zum Teil darin, aber vor allem — Sie selbst haben es, glaube ich, ausgesprochen — liegt es in dem Metalldraht, der uns auf dem ganzen Wege begleitete und der Tag für Tag Nachrichten über uns an die Presse übermittelte, die sie weiterverbreitete.
Der Telegraph und die Presse, sie sind die unmittelbare Ursache der Volkstümlichkeit, deren sich unser Unternehmen zu erfreuen hatte.
Diese beiden sind es, die Ihre spannende Darstellung überallhin verbreitet haben, die den eintönigen und für uns nur allzu häufig höchst verdrießlichen Zwischenfällen der Reise Interesse verlieh. Bei peinlichster Wahrheitsliebe gegenüber den Tatsachen haben Sie es doch verstanden, sie durch die lebhafte Schilderung des Milieus in das rechte Licht zu setzen, ihnen den gebührenden Platz im Gemälde des Ganzen anzuweisen. Und das Publikum hat die Poesie gefühlt, die die einzelnen Kapitel dieser unserer modernsten Odyssee erfüllt.
Niemand wird jedoch beim Lesen Ihres Buches ahnen, welchen Aufwand an Willensstärke und moralischer Kraft es Sie gekostet hat. Ich, der ich die Ehre und die Freude hatte, der Gefährte Ihrer zwei Monate andauernden Kraftleistung zu sein, starker geistiger Anspannung inmitten niederdrückender materieller Widerwärtigkeiten, ich allein kann es bezeugen!
Und seit jenen zwei Monaten erfüllt mich ein Gefühl lebhafter Bewunderung und tiefer Freundschaft für Sie, das der Zeit trotzen soll!
In Zuneigung und Hochachtung,
lieber Barzini,
Ihr
Von Paris nach Peking.
Was mir am 18. März begegnete. — In Paris. — „Eintreffen Peking ersten Juni!“ — Die Sorgen und die Tätigkeit des Wai-wu-pu. — Die Automobile. — Ettore.
Am 18. März 1907 mittags, einem für mich denkwürdigen Datum, saß ich in Mailand an meinem Schreibtisch, vertieft in das Studium des nordamerikanischen Eisenbahnwesens. Damals widmete ich mich mit Feuereifer den Eisenbahnproblemen; ich schrieb und sprach darüber und weidete mich an heimischen und ausländischen Reglements und Fahrplänen. Plötzlich riß mich ein langes Klingeln des Telephons, das auf meinem Arbeitstisch steht, mit Gewalt aus den Eisenbahnnetzen der Vereinigten Staaten.
„Hier Barzini! Wer dort?“
„Guten Morgen!“ — ich erkannte die Stimme Luigi Albertinis, des Chefredakteurs des „Corriere della Sera“ — „ich muß Sie unbedingt sprechen; kommen Sie zu mir!“
„Sofort?“
„Augenblicklich.“
„Ich eile.“
„Besten Dank.“
Ich stürze aus dem Hause, springe in die erste freie Droschke, die mir begegnet, und gehe während der Fahrt eilig die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden durch, um den Grund einer so dringenden Aufforderung zu erraten.
Bedurfte die Zeitung ihres „Spezialberichterstatters“? War irgendwo Krieg ausgebrochen? Nein, selbst Venezuela erfreute sich seit acht Tagen vollkommener Ruhe. Eine Revolution? Auch nicht; es war zu kalt dazu — Revolutionen beginnen in der schönen Jahreszeit; sie sprießen mit den Blumen hervor; erst Ende April erhalten die Redaktionen die erste Nachricht von dem regelmäßigen Wiedererwachen des Freiheitssinnes unter den Völkern; sie besteht aus dem bekannten Telegramm: „Eine bulgarische (oder griechische) Bande hat die Einwohner eines griechischen (oder bulgarischen) Dorfes niedergemacht usw.“ War ein unvorhergesehenes Unglück geschehen? Die Unglücksfälle binden sich an keine Jahreszeit...
Ich war im Irrtum, in meinem Berufseifer überall Unheil zu wittern. Es hatte sich auf keiner von beiden Hemisphären etwas Ernstes zugetragen. Als ich, bis oben voll von berechtigter Neugier, das Bureau betrat, das das Gehirn unserer Zeitung darstellt, fand ich den Chefredakteur ganz ruhig und heiter. Er reichte nur eine Nummer des Pariser „Matin“, zeigte mir auf der ersten Seite unter einer Überschrift in Riesenbuchstaben einige Zeilen und fragte:
„Was denken Sie darüber?“
Ich schaute hin und las folgende überraschende Einladung:
„Wer ist bereit, in diesem Sommer von Peking nach Paris im Automobil zu fahren?“
Ich las die Anzeige noch einmal und empfand ein Gefühl der Bewunderung für den unbekannten Urheber eines derartigen Planes. Zum mindesten mußte er ein großer Freund von Romantik sein.
„Was denken Sie darüber?“ wiederholte Albertini.
„Herrlich!“
„Durchführbar?“
„Ah, das ist etwas anderes! Aber selbst wenn der Versuch nicht gelingt, würde er doch äußerst interessant sein.“
„Und würden Sie bereit sein, daran teilzunehmen?“
„Mit dem größten Vergnügen.“
Wir verwandten einige Minuten auf das Durchblättern der folgenden Nummern des „Matin“, um einige weitere Mitteilungen über die abenteuerliche Reise zu suchen. Zustimmungsschreiben füllten Spalten über Spalten; es waren Briefe, die eine allzu rasch entflammte Begeisterung bekundeten, als daß sie von langer Dauer hätte sein können. Einer jedoch unter vielen fesselte unsere Aufmerksamkeit, weil er von einem Italiener herrührte und kurz und kühl war wie eine Empfangsbescheinigung. Er lautete:
„Ich beteilige mich an der Wettfahrt Peking–Paris mit meinem Automobil ‚Itala‘. Wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir möglichst bald alle Einzelheiten mitteilten, um meine Vorbereitungen danach treffen zu können.
Fürst Scipione Borghese.“
Name und Stil machten mich sofort nachdenklich: das war ein Mann, der das, was er sagte, ernst meinte.
Don Scipione Borghese (s. Anhang I) war mir durch seinen Ruf als Automobilist und Reisender bekannt. Im Jahre 1900 hatte er mit einer Karawane Persien, zum Teil auf wenig bekannten Strecken, durchquert; er war in Turkestan eingedrungen und durch die weite Baraba-Steppe bis Barnaul gelangt; von da hatte er die Flußläufe des Ob und Tom zu Schiff befahren und Tomsk erreicht; in Tomsk hatte er die sibirische Eisenbahn benutzt, die ihn bis zum Gestade des Stillen Ozeans brachte. Über seine Reise hatte er ein Buch geschrieben, ein gelehrtes Buch, das die strenge Genauigkeit eines Schiffstagebuchs aufwies, ins Detail gehend, ruhig, sachlich, das den Verfasser als Mann von überlegendem, klarem Sinne kennzeichnete, der sich bei seinen Beobachtungen nicht allzusehr durch Erregungen, weder durch Bewunderung noch durch Gefühlsausbrüche, ablenken ließ. Der Verfasser erwies sich mehr als Mathematiker denn als Dichter; man bemerkte eine Vorherrschaft des Kopfes über das Herz, des Willens über das Gefühl. Fürst Borghese erschien mir als einer jener Männer, welche wollen, wissen und handeln. Er hätte seine Unterschrift zu der Fahrt Peking–Paris nicht gegeben, wenn er nicht entschlossen wäre, zu fahren und, einmal abgefahren, alles Menschenmögliche daran zu setzen, um als Sieger hervorzugehen. Ich hatte sofort Vertrauen zu ihm.
Der Chefredakteur unterbrach die Lektüre des „Matin“ und sagte mir in dem Tone einer plötzlichen Entschließung:
„Fahren Sie sofort nach China!“
„Gut.“
„Die Wettfahrt Peking–Paris beginnt am 10. Juni. Sie machen zuerst eine Reise durch Amerika und den Stillen Ozean und auf der Reise stellen Sie interessante Beobachtungen an. Die Beendigung des Prozesses Thaw in Neuyork ...“
„Gut.“
„Der Wiederaufbau von San Francisco ..., die japanisch-amerikanische Spannung wegen Hawais ..., Japan nach dem Kriege ... Und über Asien beenden Sie Ihre Rundreise um die Welt.“
„Gut. Und die Fahrt Peking–Paris?“
„Sie erhalten unterwegs nähere Weisungen. Wir werden beim Fürsten Borghese anfragen, ob er damit einverstanden ist, daß Sie sich ihm anschließen. Ich hoffe ja. Auf alle Fälle finden Sie in Peking alles bereit. Eventuell stellen wir Ihnen eins von unseren eigenen Automobilen zur Verfügung. Der nächste Dampfer nach Amerika geht ... warten Sie ... hier ist ein Fahrplan. Übermorgen, am 20. März, geht vom Norddeutschen Lloyd ‚Kaiser Wilhelm der Große‘ von Cherbourg nach Neuyork. Sie fahren heute nach Paris. Ist noch Zeit?“
Ich sah nach der Uhr und rief mir meine neue Eisenbahnwissenschaft (Abteilung Fahrpläne) ins Gedächtnis zurück.
„Ich habe vollauf Zeit.“
„Glückliche Reise also!“
„Auf Wiedersehen!“
Wir tauschten einen kurzen Gruß aus und umarmten uns in einer jener Aufwallungen von Anteilnahme und Freundschaft, die in gewissen Augenblicken Menschen, die sich gegenseitig wohlwollen, mit gleichen Empfindungen erfüllen.
Einige Minuten später stürmte ich die Treppe hinunter und stieß mit einem Kollegen zusammen, der sie mit der Langsamkeit eines Menschen emporstieg, der von seiner regelmäßigen, gewohnten Arbeit erwartet wird.
„Wohin so eilig?“ fragte er mich.
„Ich will eine Reise um die Welt machen“, erwiderte ich stolz und blieb einen Augenblick auf dem Treppenabsatz stehen.
„Renommist!“ rief er und brach in lautes Gelächter aus. „Ich kann mir denken, wohin du in Wirklichkeit gehst.“
„Wohin denn?“
„Zum Frühstück — es ist spät, und du hast Hunger. Guten Appetit!“
Die Ungläubigkeit meines Freundes, die doch so viel gesunden Menschenverstand verriet, machte mir plötzlich klar, in welch seltsamer, abenteuerlicher, unwahrscheinlicher Lage ich mich befand. Ich blieb einen Augenblick zweifelnd und verwirrt stehen, ehe ich ein „Danke“ antwortete und meinen Weg fortsetzte. Der alte Abenteurerroman, in dem die auftretenden Personen alle Erdteile durchwandern und alle Meere durchschiffen, ehe der Leser bis zur letzten Seite gelangt, ist außer Mode gekommen, weil selbst die Kinder ihn für zu weit von der Wahrheit entfernt halten, obgleich es doch noch jemand gibt, der ihn erlebt: den Journalisten.
Am selben Tage entführte mich der Expreßzug durch den Simplon nach Paris.
In Paris wurden in den Redaktionsräumen des „Matin“ starkbesuchte Versammlungen abgehalten, um die Meinungen über die Wettfahrt auszutauschen. Neben vielen Teilnehmern an der Wettfahrt hatten sich Reisende, Diplomaten, die in China gewesen waren, und Gelehrte eingefunden, die über alle Erdteile die genaueste Auskunft geben konnten, ohne sie je gesehen zu haben. Die Debatten waren lebhaft gewesen; die Stenographen hatten mit peinlicher Treue seltsame Unterredungen, in denen mehr gefragt als geantwortet wurde, niedergeschrieben. Der zur Verhandlung stehende Stoff erwies sich als mit mehr Unbekannten gespickt als eine Aufgabe aus der höheren Algebra.
Im ganzen hatten diese Versammlungen einen unleugbaren Nutzen gebracht. Es war gelungen, die beste Reiseroute festzustellen. Zahlreiche Telegramme waren nach Peking, nach Petersburg, nach Irkutsk mit der Bitte um Auskunft abgegangen. Der weise und kluge Wai-wu-pu, der Große Rat des Himmlischen Reiches, hatte sich darauf beschränkt, mit — einer Frage zu antworten, die er durch die französische Gesandtschaft übermitteln ließ:
„Wie groß ist die Zahl der Automobile, die von Peking nach Paris fahren wollen?“
Welche Bedeutung diese Zahl in den Augen des Großen Rates des Himmlischen Reiches besaß, ist nicht leicht zu begreifen; vielleicht befürchtete der Wai-wu-pu wieder eine Invasion.
Die Russisch-Chinesische Bank in Peking hatte geantwortet: „Die Pässe von Nankou und von Ku-pei-ku sind für Automobile genügend breit, aber steil und felsig.“
Genügend breit — die Sachlage erschien in Paris äußerst günstig, wenn man sie mit den über die sonstigen Straßen eingegangenen Nachrichten verglich. Der Weg durch Turkestan über Samarkand, der Weg über das Altaigebirge waren für absolut unmöglich erklärt worden. Es blieb also nur der Weg durch die Mongolei über Kalgan und Kiachta mit jenen „genügend breiten“ Pässen.
Die wahre Stimmung der Teilnehmer war nicht allzu ermutigend. In einer letzten Versammlung erließen die Unterzeichner eine ziemlich pessimistische Erklärung, die folgendermaßen lautete:
„Die Schwierigkeiten dieser außergewöhnlichen Wettfahrt erscheinen nach genauer Prüfung und wochenlangem Studium weit bedeutender, als wir im ersten Augenblicke glaubten. Peking–Paris ist vielleicht ein unausführbarer Versuch! Es bietet sich hier eine Gelegenheit für die Pioniere des Automobilwesens, der Fahrtechnik die Aufgabe zu stellen, Wüsten, Gebirge, Steppen, die halbe Welt zu durchqueren.“
Der „Matin“ verglich die Fahrt mit dem Versuche, den Pol zu erreichen. Das große Publikum hatte sich eine noch entschiedenere Meinung gebildet als die in der Erklärung der Teilnehmer ausgesprochene und sagte geradezu: „Peking–Paris ist ein unausführbarer Versuch.“
Ich muß gestehen: als ich am Morgen des 20. März Paris verließ, um mich in Cherbourg einzuschiffen, dachte ich mit großem Skeptizismus über die Wahrscheinlichkeit, nach diesem selben Paris auf einem Automobil zurückzukehren, das von der Hauptstadt Chinas aus seine Fahrt angetreten hätte. Und in der verschwiegenen Tiefe meines Herzens dankte ich dem Himmel — und Nikolaus II. — für das Vorhandensein der die Rolle der Vorsehung spielenden sibirischen Eisenbahn, die mich vorkommendenfalls in einem entsprechend kurzen Zeitraum nach Hause bringen würde.
Unterwegs vergaß ich schließlich die Automobilwettfahrt beinahe ganz. Die Fahrt Peking–Paris erschien mir nicht mehr als der eigentliche Zweck meiner eiligen Reise um die Erde, sondern nur als eine letzte problematische Episode, als das zweifelhafte Ende eines „Looping the Loop“ um unseren Planeten. Übrigens sprachen die Zeitungen bereits nicht mehr davon. Die Angelegenheit schien in den Abgrund der Vergessenheit gefallen zu sein, in dem alle überspannten Projekte, alle Utopien wie durch Schicksalsgewalt verschwinden.
Aber nein! Jemand dachte noch daran, arbeitete, traf Vorbereitungen, organisierte. Ein kurzes Telegramm ließ mich dies erkennen, eine Weisung, die mir eines Abends in meinem Hotel in Neuyork zugleich mit meinem Zimmerschlüssel überreicht wurde. Ich öffnete die Depesche im Fahrstuhl, der mich zu meinem Stockwerke hinaufbrachte; ich las sie, las sie wieder und war von ihrem Inhalte dermaßen in Anspruch genommen, daß ich, ohne es zu bemerken, im vierzehnten Stockwerke anlangte, wo der Liftmann mich fragte, ob ich beabsichtigte, das Dach des Gasthofes zu besteigen.
Jene lakonische und geheimnisvolle telegraphische Mitteilung lautete: „Eintreffen Peking ersten Juni!“ Kein Wort weiter.
Und pünktlich wie eine Sonnenfinsternis stieg ich am 1. Juni abends 6 Uhr in der Station Peking aus, auf jenem elenden Bahnhofe, der sich an den Fuß der prächtigen alten Mauern der Tatarenstadt anlehnt, an die gewaltigen Bastionen des Tsien-men, des Kaisertors, gleichsam um im Schatten so erhabener Größe seine eigene Erbärmlichkeit und die Entweihung des Ortes zu verbergen.
Am selben Abend suchte mich ein italienischer Gendarm im Hotel der Schlafwagengesellschaft auf und überbrachte mir ein Schreiben, das für mich auf der italienischen Gesandtschaft abgegeben worden war, sowie ein Briefchen.
Das Schreiben war von der Redaktion des „Corriere della Sera“ und ergänzte — nach beinahe zwei Monaten — die Depesche, die ich in Neuyork erhalten hatte. Es benachrichtigte mich, daß ich auf der „Itala“ des Fürsten Borghese an der Wettfahrt teilnehmen solle. Ich war sehr erfreut. Eine andere Notiz, die ich mit unverhohlener Genugtuung begrüßte, besagte, daß ich infolge eines zwischen dem „Corriere della Sera“ und dem „Daily Telegraph“ geschlossenen Vertrags ersucht wurde, einen regelmäßigen telegraphischen Nachrichtendienst über die Fahrt Peking–Paris auch für das große Londoner Blatt zu übernehmen.
Ich vergesse nie, daß ich mir meine ersten journalistischen Sporen in London verdient habe. Seit jener Zeit, die ich als Berichterstatter auf englischem Boden zubrachte und während der sich meine Seele an dem großartigen Schauspiel einer einheitlichen, sich über den ganzen Erdball erstreckenden Tätigkeit weidete, hatte ich ein Gefühl der Dankbarkeit und überzeugter Bewunderung für England, sowie der rückhaltlosen Anerkennung des englischen Journalismus in mir bewahrt. Ich betrachtete die Aufforderung, am „Daily Telegraph“ mitzuarbeiten, als einen schmeichelhaften Vertrauensbeweis und nahm sie mit ehrerbietiger Eile an.
Das mir von dem Gendarmen überbrachte Briefchen war vom Fürsten Borghese. Er war schon vor einer Woche eingetroffen. Er hieß mich willkommen und ersuchte mich um eine Begegnung am 6. Juni. Wir hatten uns nie im Leben gesehen, und da es uns beschieden sein sollte, monatelang zusammenzuleben und Brot und Mühseligkeit während einer langen, abenteuerlichen Reise zu teilen, so hatten wir beide ein lebhaftes Verlangen, uns kennen zu lernen. Ich würde sofort zu ihm geeilt sein, um ihn aufzusuchen, wenn er mir in seinem Billett nicht mitgeteilt hätte, daß er sich in diesem Augenblicke einige hundert Kilometer von Peking befinde, in der Absicht, die Straße nach Kalgan zu erkunden und zu erproben, ein genügender Grund, um mich zu geduldigem Warten zu veranlassen.
Ich blieb an jenem Abend bis tief in die Nacht auf der Veranda des Gasthofes sitzen und gab mich den Träumen meiner Phantasie hin. Ich erkannte mein altes Peking nicht wieder, die prachtvolle Hauptstadt der Starrheit, die ich vor sieben Jahren verlassen hatte. Damals war sie da und dort verwüstet infolge der Belagerung der Gesandtschaften und der Wiedervergeltung von seiten der zivilisierten Welt, aber sie war noch unberührt in ihrem Geiste und in ihrem Aussehen, sich selbst treu, seltsam, einzigartig, umgeben von der geheiligten Linie ihrer ungeheueren Mauern. Jetzt erhoben sich im Gesandtschaftsviertel in den vom Sonnenuntergange geröteten Himmel eine Menge Dächer europäischer Paläste und Villen, Kirchturmspitzen, Türme mit und ohne Uhren, das Profil einer modernen Stadt des Westens, das die in der Ferne sich erhebenden zierlichen Pagoden innerhalb der Umwallung der Kaiserstadt zum Teil verdeckte. Elektrische Lampen flammten in der Straße auf und beleuchteten die Uniformen vorübergehender europäischer Soldaten. In der Richtung auf das Hata-men-Tor ertönten die Pfiffe der Lokomotiven. Jeden Augenblick ließ sich im Innern des Hotels die Telephonklingel vernehmen, die die Klänge eines Orchesters übertönte. Und das Orchester, ein europäisches, spielte vor einer Versammlung chinesischer Würdenträger, die ohne Eßstäbchen aßen. Ich dachte daran, daß wir im Begriff standen, so vielen beklagenswerten Neuerungen noch das Automobil hinzuzufügen ...! China macht Fortschritte, sagte ich mit einem gewissen Bedauern zu mir selbst.
Der folgende Tag belehrte mich jedoch, daß China in der Tat keine Fortschritte gemacht hatte. Denn alle die Neuerungen, die so großen Eindruck auf mich gemacht hatten, waren gewissermaßen nur Gefangene, die in einer Art Europäisierungsanstalt eingeschlossen waren; sie gingen nicht über die Mauern des Gesandtschaftsviertels hinaus, das überdies stark befestigt war. Ringsherum lag unberührt, sich immer gleichbleibend, die unermeßliche Stadt, das Peking vergangener Jahrhunderte. Und in diesem Peking, in einem alten Palaste mit vielen Höfen, hielt ein Rat weiser und verehrungswürdiger Männer, der Wai-wu-pu, der Große Rat des Himmlischen Reiches, Wache gegen jede Entweihung durch den Westen.
An der Spitze des Wai-wu-pu stand der berühmte Na Tung, einst Haupt-Boxer, Ex-Zum-Tode-Verurteilter, dessen Kopf die Mächte als Bedingung des Friedens von 1900 gefordert hatten. Statt dessen war er eine Art Minister des Auswärtigen geworden und hatte natürlich seinen Kopf behalten — und in dem Kopfe seine Ideen! In diesem Augenblick war der Große Rat mit Eifer darauf bedacht, das Reich vor einem neuen, schrecklichen Feinde zu beschützen.
Dieser Feind hieß Ki-tscho oder „Kraftwagen“, eine anmutige Neubildung, die bei Gelegenheit zur Bezeichnung des Automobils entstanden war. Man sprach nur vom Ki-tscho, wie man einst vom „Huo-tscho“, dem „Feuerwagen“ (auf europäisch: Eisenbahn), gesprochen hatte. Weshalb kommen die Ki-tscho? Was wollen sie? Angstvolle Fragen, die den Wai-wu-pu in tiefes Nachsinnen über die Geschicke Chinas versenkten. In den Kopf eines chinesischen Mandarinen wollte der Gedanke nicht hinein, daß die Ki-tscho nur von Peking nach Paris fahren wollten, sogar ohne für dieses mühevolle Unternehmen Bezahlung zu verlangen. Um nach Paris zu gelangen, existierten raschere, sichere, bewährte Mittel. Es lagen sicher geheimnisvolle, uneingestehbare Gründe für eine derartige Seltsamkeit vor. Der Wai-wu-pu zweifelte nicht, daß Europa ein Experiment plane. Aber was für eins?
Prinz Tching, ein Mann von weitem Blick, neigte zu dem Glauben, die Europäer wollten die Möglichkeit studieren, mit Hilfe von Automobilzügen rasch mit China in Verbindung zu treten, ohne fernerhin genötigt zu sein, es um Eisenbahnkonzessionen zu ersuchen. Die angeblichen Automobilisten waren selbstverständlich alles Ingenieure unter dem Oberbefehl eines italienischen Fürsten. Das Projekt bedeutete den völligen Ruin der chinesischen Eisenbahngesellschaft, die die Linie nach Kalgan baute, eine Linie, die bereits bis Nankou geführt worden war. Und an dieser Gesellschaft war Prinz Tching mit Kapital beteiligt ...
Na Tung betrachtete die Dinge unter einem noch schrecklicheren Gesichtspunkte. Die Ki-tscho suchten nach seiner Meinung eine Straße zum Einbruche in das Reich. War nicht früher die Mongolei der Weg gewesen, auf dem die Gefahr nahte? Hatte nicht die Große Mauer zur Verteidigung des Reiches nach dieser Seite hin gedient? Welche Mauer hätte den Durchgang für ein Heer von Ki-tscho sperren können, das unter dem ersten besten Vorwand eines Boxeraufstandes von den Bergen herabsteigen und diesmal zur rechten Zeit kommen würde, um — o weh! — die dazu bestimmten Köpfe der diplomatischen Körperschaft abzuschneiden? Die Automobilisten, die sich an der Fahrt Peking–Paris beteiligten, waren selbstverständlich nichts anderes als unter dem Oberbefehl eines italienischen Fürsten stehende Offiziere.
Einen Beweis für den Ernst der Lage fand der Wai-wu-pu darin, daß die Gesandten von Frankreich, den Niederlanden, Italien und Rußland in Peking sich lebhaft für das Gelingen der Automobilfahrt interessierten. Namentlich die ersten drei bombardierten die gestrenge Versammlung mit offiziellen und offiziösen Noten, in denen sie die sofortige Ausstellung von Pässen für die Fahrt durch die Mongolei verlangten, ausgefertigt auf die Namen der Automobilisten, ihrer Landsleute (die entweder Ingenieure oder Offiziere waren). Was sollte man tun? Man mußte für das Wohl des Vaterlandes streiten, und der Wai-wu-pu stritt. Er begann mit der Verweigerung der Pässe.
Es fanden zahlreiche Besuche seitens der europäischen Sekretäre statt; der Wai-wu-pu bot ihnen Tee an, widerstand aber heldenhaft all ihrem Ansinnen. Im Grunde genommen war der Wai-wu-pu eigens zu dem Zwecke geschaffen worden, den Europäern nein zu sagen. Die Europäer verlangten Häfen, Bergwerke, Eisenbahnen, Universitätslehrstühle, Entschädigungen für mißhandelte Missionare, und China sah die Notwendigkeit einer Organisation der Verteidigung ein. Es hatte jenen Tsungli-jamen gesegneten Angedenkens ins Leben gerufen, dessen Hauptaufgabe darin bestand, alle europäischen Forderungen in der Schwebe zu erhalten, indem er die Antworten auf eine ferne Zukunft verschob. Nach dem Boxeraufstande wollten die Mächte von dem Tsungli-jamen nichts mehr wissen, und die chinesische Regierung willfahrte ihnen, indem sie den Wai-wu-pu schuf, der den Vorteil bot, daß er die Forderungen nicht in der Schwebe ließ: er antwortete sofort mit nein.
Nach den Verträgen konnte China aber denjenigen Fremden, die eine Provinz des Reiches bereisen wollten, die Pässe nicht versagen. Es trat noch ein ernster Zwischenfall hinzu, der den Wai-wu-pu von seinem Entschlusse abbrachte, ein Zwischenfall, der in seiner Tragweite von den gescheiten Mandarinenköpfen nicht vorausgesehen und gewürdigt worden war: die Automobile waren bereits in Peking eingetroffen! Schlimmer noch, sie zeigten sich auf den Straßen Pekings, obgleich ihnen dies verboten war, außer wenn sie darauf eingingen, sich von einem oder höchstens zwei Maultieren ziehen zu lassen. Wenn man die Pässe noch länger vorenthalten hätte, so wären diese Teufelsmaschinen offenbar in Peking geblieben. Sie hätten fortgefahren, die heilige Ruhe der Hauptstadt zu stören, hätten die Gemüter des Volkes verwirrt, überall den Samen abendländischer Korruption verbreitet, den Unwillen der Geister, die Rache des Feng-schui heraufbeschworen. Sie in Peking zu lassen, wäre dasselbe gewesen, als hätte man den Feind in die eigene Festung eingelassen. Besser war es, sie möglichst bald wieder loszuwerden. Und der Wai-wu-pu bot die Pässe an. Aber für den Weg durch die Mandschurei.
Das diplomatische Ringen begann von neuem. Neue Noten, neue Besuche, neuer Tee. Die Chinesen verloren an Terrain. Endlich willigten sie ein, die Pässe für die Mongolei auszustellen, ohne jedoch die Namen der Automobile darin zu verzeichnen. Die italienische Gesandtschaft wies sie zurück. Der Wai-wu-pu schickte Pässe, die Strafanträgen glichen. „Der Ki-tscho ist in China etwas Neues,“ besagten jene kostbaren Dokumente, „ein Grund, weswegen die chinesische Regierung keinerlei Verantwortung betreffs der Fahrt übernimmt. Im Gegenteil bleibt der Reisende voll verantwortlich für jedes Unglück und für jeden Schaden, der durch ihn oder sein Fahrzeug entstehen könnte, und er ermächtigt die Behörden, sein Geld und sein Gepäck mit Beschlag zu belegen als Bürgschaft für die Entschädigung, die er zu zahlen hätte.“ Es war geradezu eine Autorisation, uns auszuplündern! Die italienische Gesandtschaft wies auch diese Strafanträge zurück, indem sie dem Wai-wu-pu ankündigte, der Fürst Borghese und seine Reisebegleiter würden an dem festgesetzten Tage auch ohne Pässe abreisen, und die chinesische Regierung würde die Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen müssen. Vergebens wurden neue Ausflüchte gesucht, um nicht nachgeben zu müssen, darunter auch der, es sei aus dunkel angedeuteten politischen Gründen nicht angängig, die mongolischen Fürsten zu beunruhigen. Schließlich entschloß sich der Wai-wu-pu, die gewünschten Pässe für die Mongolei auszustellen, indem er sich, als letzte Genugtuung, um den Schein zu retten, damit begnügte, die Übersetzung ins Mongolische zu verweigern. Diese Übersetzung hätte die Fürsten allerdings allzusehr beunruhigt. Und dann mußte man den Fremden doch etwas verweigern, einem unverletzlichen Prinzip zuliebe, um nicht gefährliche Präzedenzfälle zu schaffen.
Die Behandlung der Paßangelegenheit gewährte bei den Gesellschaften der kleinen Diplomatenstadt in Peking reichlichen Stoff zu heiteren Unterhaltungen. In Wirklichkeit war die Sache jedoch ernst. Sie bewies, daß die chinesische Regierung heute dieselbe ist wie vor der internationalen Strafexpedition vor sieben Jahren; sie ist von derselben Feindseligkeit gegen die Fremden, derselben Unwissenheit betreffs deren Verhältnisse, sowie von einer unveränderten Anmaßung und einer unveränderten Treulosigkeit beseelt. Die Invasionen, die Niederlagen, der Krieg in der Mandschurei haben die Menschen und die Anschauungen in China in keinerlei Hinsicht geändert. Und jedermann, der die kleinen Vorkommnisse in den täglichen diplomatischen Beziehungen zu der chinesischen Regierung aufmerksam verfolgt, erkennt heute die ernsten Symptome des Fremdenhasses wieder, die der letzten Belagerung der Gesandtschaften vorausgingen, und sieht eine neue Ära des Blutvergießens voraus.
Das Warten auf die Pässe verzögerte jedoch nicht die Vorbereitungen zur Abfahrt der Automobile. Von Schanghai war mit der Hankouer Eisenbahn eine Ladung Benzin und Öl angekommen, die zur Ergänzung der Vorräte längs der Straßen durch die Mongolei bestimmt war. Eine Karawane von 14 Maultieren war mit dieser Ladung von Peking abgegangen, und am 4. Juni zeigte ein von der Russisch-Chinesischen Bank in Kalgan aufgegebenes Telegramm an, daß schon 19 Kamele unter der Führung eines Lamas nach der Mongolei unterwegs seien, um das Benzin und das Öl an die Brunnen von Pang-kiang, von Udde und nach der Stadt Urga zu schaffen. Ein erster Ergänzungsvorrat erwartete uns in Kalgan.
Von 25 für die Wettfahrt eingeschriebenen Fahrzeugen stellten sich nur fünf ein. Es waren dies ein Contal-Dreirad von sechs Pferdekräften, zwei de Dion-Bouton von zehn Pferdekräften, ein Spyker von 15 Pferdekräften und unsere Itala von 50 Pferdekräften. Die ersten drei waren französischer Herkunft, das vierte holländischer. Das eine Automobil war von großer Leistungsfähigkeit, aber schwer, die übrigen vier schwächer, aber leicht. Die Itala war in der Tat 600 Kilogramm schwerer als der Spyker, der schwerste der gegnerischen Wagen, der mit der gesamten Reiseausrüstung 1400 Kilogramm wog.
In Frankreich waren vom ersten Auftauchen des Planes an alle Fachmänner darin einig gewesen, daß der Typus eines kleinen Automobils die größten Aussichten auf Erfolg habe. Auf guten Straßen kann die leichte Maschine eine geringere Schnelligkeit entwickeln als eine starke und schwere, aber dafür kann sie mit größerer Leichtigkeit und Schnelligkeit die Hindernisse an schwer gangbaren Wegstellen überwinden; und auf der Strecke Peking–Paris mußte man schwer gangbare Stellen sozusagen auf Schritt und Tritt voraussehen.
Fürst Borghese war dagegen infolge seiner langen Erfahrung, die er auf Automobilfahrten gesammelt hatte, dabei geblieben, daß ein Wagen von großer Stärke infolge seines festen Baues die Strapazen einer abenteuerlichen Fahrt besser aushalten würde und daß die Verminderung der Stärke durch die des Gewichts nicht aufgewogen würde. Wo eine Maschine von 1400 Kilogramm eine Schwierigkeit überwinden kann, kann dies auch eine Maschine von 2000 Kilogramm, zumal diese den Vorteil besitzt, 30–40 Pferdekräfte mehr zu haben.
Dieser Kampf zwischen zwei Anschauungen, diese wertvolle Erprobung zweier Theorien bildete eines der wichtigsten Kennzeichen der Wettfahrt. Schon seit März machte der „Matin“ aus Anlaß des Beitritts des Fürsten Borghese mit der „Itala“ auf die Bedeutung des Kampfes zwischen großen und kleinen Wagen aufmerksam, „von denen die einen rascher fahren und die andern leichter überall durchkommen können“.
Der „Spyker“, die beiden „de Dion-Bouton“ und der „Contal“ gelangten auf dem Wege über Taku nach Peking. Am 4. Juni begaben sich ihre Führer und mein verehrter Kollege Du Taillis vom „Matin“ auf das Zollamt in Tientsin, um sie in Empfang zu nehmen. Sie ließen sie auf zwei Spezialwaggons verladen und geleiteten sie nach Peking. Hier wartete ihrer eine unangenehme Überraschung. Während des Transports war der eine der Spezialwaggons verschwunden!
Wer wäre nicht auf die Vermutung gekommen, daß der Wai-wu-pu dabei seine geheimnisvolle Hand im Spiele gehabt hatte? Aber es erwies sich sofort, zur Ehre des Wai-wu-pu, daß seine Hand unschuldig war. Der Waggon war auf einer Zwischenstation vom Zuge losgekoppelt worden und stand in einem Güterschuppen, ohne daß jemand den Grund dafür anzugeben wußte, infolge eines jener Zwischenfälle, wie sie sich von Zeit zu Zeit auf den Bahnen aller Länder ereignen. Nach ihrer Ankunft in Peking entschädigten sich die Automobile für diese Verspätung dadurch, daß sie die Stadt an diesem und den folgenden Tagen der Länge und Breite nach durcheilten.
Die „Itala“, die eine Woche vorher von Hankou gekommen war, beobachtete eine reserviertere Haltung. Sie hatte vor dem östlichen Tore auf der Straße nach dem Sommerpalast einige Probefahrten unternommen und hatte sich dann, mit sich selbst zufrieden, in den Hof der italienischen Gesandtschaft unter die Obhut Ettores, ihres Mechanikers, zurückgezogen. Er putzte sie, schmierte sie, untersuchte sie, ging im Kreise um sie herum und betrachtete sie von allen Seiten, wie es der Bildhauer mit seinem Werke tut.
Ettore Guizzardi, des Fürsten Borghese und mein sympathischer Reisebegleiter, ist kein gewerbsmäßiger Chauffeur, er ist ein geborener Chauffeur. Er ist der Sohn eines Eisenbahnmechanikers; von Geburt an mit den Maschinen vertraut, versteht er sie sofort, von welcher Art sie auch sein mögen; wie der Züchter das Pferd, beurteilt er sie auf den ersten Blick.
Seine Geschichte ist ganz eigenartig. Eines Tages — es sind jetzt wohl zehn Jahre her — ereignete sich in der Nähe einer Villa des Fürsten Borghese, in Albano bei Rom, ein Eisenbahnunglück. Eine Lokomotive entgleiste und stürzte den Bahnkörper hinab, wobei sie sich überschlug. Der Fürst, der sich in der Villa befand, eilte mit seiner Dienerschaft zu Hilfe. Der Lokomotivführer war tot, der Heizer, ein junger Mensch von 15 Jahren, der im Gesicht verwundet war, wurde ohnmächtig aufgehoben, in die Villa gebracht und hier geheilt. Es war Ettore, der Tote sein Vater.
Als der Junge genesen war, bot ihm der Fürst an, in dem Hause, das ihn aufgenommen hatte, zu bleiben, und machte ihn zum Chauffeur. Zu jener Zeit besaß Don Scipione eines der ersten Benzinautomobile von sechs Pferdestärken, eines jener komischen Fahrzeuge, die man jetzt nicht mehr sieht, mit dem Motor hinten und mit Riemenantrieb, der bei Steigungen mit Pech bestrichen werden mußte, wenn er seine Pflicht tun sollte! Ettore machte sich sofort mit allen Geheimnissen jener Maschine vertraut, zwang sie zum Funktionieren und konnte unter der Leitung des Fürsten mit ihr eine Reise von Rom auf ein Schloß in Südungarn antreten, wo Verwandte der Familie Borghese leben. Nach dieser Probefahrt erhielt Ettore den Auftrag, sich zum Mechaniker auszubilden; er arbeitete zuerst als einfacher Arbeiter in den Werkstätten der F. I. A. T. (Fabbrica italiana automobili-Torino) in Turin, später in Genua auf der Ansaldo-Werft, wo er die Schiffsmechanik studierte, sodann in andern Werkstätten, erwarb sich das Patent eines Mechanikers und kehrte dann zu den Automobilen des Fürsten zurück.
Von da an standen elf Automobile unter seiner Leitung. Und jetzt dirigiert er sämtliche Maschinen des Hauses Borghese: die Maschinen für die Beleuchtung, die Heizungsanlagen, die Motore zum Betriebe der Wäscherei und die Pumpen; er besitzt eine Werkstatt, wo er sich mit Reparaturen und mit Erfindungen beschäftigt. Denn Ettore erfindet, verbessert, bringt neue Apparate an den Automobilen an und er könnte den Fabriken, die sich dem Bau von Motorwagen widmen, ausgezeichnete Ratschläge erteilen. Er weiß sich stets zu helfen, stets ein Mittel gegen jede Beschädigung seiner Maschinen ausfindig zu machen, und ist stets bereit, mit Hammer und Kopf zu arbeiten. Er arbeitet schweigend, rasch, in militärischer Weise. Wenn er seinen Namen nennen hört, antwortet er: „Zu Befehl!“ In seiner äußeren Erscheinung gleicht er einem Bersagliere.
Das erstemal, als ich ihn sah, lag er unter der „Itala“ so lang er war ausgestreckt auf dem Rücken, unbeweglich, mit gekreuzten Armen. Im ersten Augenblick glaubte ich, er arbeite, aber nein, im Gegenteil, er ruhte aus. Später, unterwegs, bemerkte ich, daß dies eine seiner Lieblingsstellungen, ein Zeitvertreib für ihn war. Wenn er nichts zu tun hat, streckt er sich unter dem Automobil aus und betrachtet es, Welle um Welle, Stück für Stück, Schraube um Schraube. Stundenlang unterhält er sich in seltsamen Zwiegesprächen mit seiner Maschine.
Die Abfahrt.
Fürst Borghese. — Die „Itala“. — Die Vorbereitungen. — Der Abend vor der Schlacht. — Die Abfahrt.
Fürst Borghese hatte in sechs Tagen 500 Kilometer zu Pferd zurückgelegt, alle Wege, die nach Kalgan führten, untersucht und ihre Breite mit Hilfe eines Bambusstabes von der Breite des Automobils gemessen. Die Fürstin Anna Maria, seine Gemahlin, hatte ihn in Gesellschaft einer befreundeten Dame auf seinem beschwerlichen Ritte begleitet, und die beiden Damen, die ebenfalls mit Bambusmeßstäben versehen waren, hatten wie gewöhnliche Feldmesser bei der Feststellung der schmalsten Stellen mitgewirkt. An vielen Punkten teilte sich die Straße, verzweigte sie sich, und es ergab sich somit die Notwendigkeit, alle Wege kennen zu lernen, um den besten zu wählen. Der Fürst kehrte nach Peking zurück mit einer vollständigen topographischen Karte im Kopfe.
Er besitzt ein staunenswertes Gedächtnis. In diesem bleibt alles, was die Augen gesehen und die Ohren gehört haben, wie auf einer photographischen Platte haften. Namen, Daten, Redewendungen der orientalischen Sprachen, die schwierigst zu behaltenden Dinge bleiben in diesem eisernen Gedächtnis eingegraben. Don Scipione macht nie Aufzeichnungen; er hat es nicht nötig. Sein Gehirn behält und verzeichnet alles. Von einer Straße, die er vor zehn Jahren zum erstenmal zurückgelegt hat, vermag er zu sagen: „Bei dem und dem Kilometerstein steht der und der Baum.“ Reist er in unbekannten Ländern, zu Pferde oder im Automobil, so zieht er des Morgens vor dem Aufbruch vom Halteplatz die Karten zu Rate, und selten braucht er sie später noch einmal nachzusehen; er erinnert sich der Kreuzwege, der Himmelsrichtungen, der Entfernungen, der Namen der Gegenden und nennt sie seinen Reisegefährten, als wäre er ein Führer.
Wenn es uns möglich wäre, alles zu behalten, was wir in unserem Leben gesehen, gehört und gelesen haben, so würden wir das umfassendste, reichste und tiefste Wissen besitzen. Fürst Borghese verfügt in der Tat über ein seltenes Wissen; außerdem besitzt er einen scharfen und kühlen Verstand, der diesen Stoff geordnet hat. In seinem Geiste herrscht eine Ruhe, die an die eines Bibliothekars erinnert. Seine Ruhe, seine Überlegung, seine Logik verleihen seinen Gedanken eine mathematische Klarheit. Er weist alle Gefühlsregungen von sich, die das Sehen der Dinge stören, die den Wert der Tatsachen beeinträchtigen. Seine Seele könnte die eines Generals oder Richters sein. Sympathie für jemand ist bei ihm ein seltenes Gefühl, aber er ersetzt sie durch Achtung, die vielleicht mehr Wert besitzt, weil sie ein Verdienst voraussetzt. Und er weiß die Verdienste zu erkennen, er weiß die Kraft eines Gehirns oder eines Armes, die Leistungsfähigkeit und Ausdauer einer Maschine ganz genau zu berechnen. Seine Organisation der Fahrt Peking–Paris ist ein vollgültiger Beweis seiner Berechnungsgabe.
Dazu tritt noch eine Willenskraft, die der Fürst mehr über sich selbst als über andere ausübt. Wenn er von jemand, mit dem er bei irgendeinem Unternehmen zusammenarbeitet, ein Opfer verlangt, so ist er selbst der erste, der es bringt. Um ein Ziel zu erreichen, vermag er Hunger, Durst, Strapazen zu ertragen und auszusprechen: Ich habe keinen Hunger, ich habe keinen Durst, ich bin nicht müde. Seine Leiden, ebenso wie die Leiden seiner Gefährten haben für ihn nicht den geringsten Wert gegenüber der Tatsache, daß das Ziel erreicht werden muß. Empfänglichkeit für unangenehme Eindrücke ist in gewissen Fällen nichts weiter als Energieverschwendung. Er weist dem Ziele die allerhöchste Bedeutung zu. Es ist, als habe er sich selbst gegenüber die unbedingte Verpflichtung übernommen, es zu erreichen, und als wolle er nun sein Wort um keinen Preis brechen. Darin liegt das Geheimnis aller großen Erfolge. Wohin er gelangen will, dorthin gelangt er, indem er planmäßig seine ganze Tatkraft und jedes Mittel aufbietet, über das er verfügen kann. Er macht eine Frage der Eigenliebe, das heißt des Ehrgeizes, daraus. Und wenn der Ehrgeiz bei schwachen Menschen ein Fehler ist, so ist er bei starken eine Tugend. Er ist die treibende Kraft der schönsten und kühnsten Unternehmungen.
Zum erstenmal sah ich den Fürsten Borghese am Tage nach seiner Rückkehr von Kalgan. Er trug noch seinen Reiseanzug aus Khakistoff, denselben, den er auch im Automobil tragen wollte und der ihm das Aussehen eines englischen Offiziers verlieh. Sonne und Bergluft hatten sein glattrasiertes Gesicht gebräunt, das kluge, ruhige Gesicht eines geborenen Diplomaten. Der Fürst ist 35 Jahre alt. Sein Gesicht läßt auf 40 schließen, sein gewandter, kräftiger, elastischer Körper auf 25. Dies sind die Vor- und Nachteile eines regen Sportbetriebes, des tätigen Lebens in der freien Luft, wo die Muskeln fest werden, aber die Haut altert. Don Scipione hat sich mit Leidenschaft den anstrengendsten Formen des Sports gewidmet. Als Bergsteiger hat er viele der schwierigsten Gipfel der Alpen erklommen, sogar ohne Führer und mitten im Winter, aus Vorliebe für Schwierigkeiten. Ihm gefallen die Hindernisse, weil es ihm Vergnügen macht, sie zu überwinden. Er betrachtet den Sport nur als eine Übung der Kampffähigkeit. Die Bezwingung eines Berges, eines Pferdes oder eines Automobils macht geschickt zur Herrschaft über die Menschen. In diesen Kämpfen gegen Schwierigkeiten, die sein Wille sich auferlegte, trug er seine Wunden davon. Einmal wollte er ein durchgehendes Pferd aufhalten; er wurde zu Boden gerissen, und der von dem Pferde gezogene Wagen ging ihm über den Kopf; er trägt noch die Narbe davon. Ein anderes Mal bestieg er ein unzugerittenes Pferd und fiel dabei unglücklich aus dem Sattel; er wurde bewußtlos aufgehoben mit fast völlig abgerissener Nase, das Gesicht mit Blut bedeckt; ein geschickter Chirurg brachte die Nase wieder an ihre Stelle und nähte sie an den Wangen fest. Aber ein geschickter Chirurg ist nicht immer ein geschickter Bildhauer, und daher ist die Nase des Fürsten etwas unsymmetrisch geblieben. Im Scherze beklagt er sich darüber, schilt auf seine Nase, beschuldigt sie, bei Temperaturwechsel rot anzulaufen wie ein chemisches Barometer; aber diese seine Vorwürfe sind übertrieben; die leichte Unregelmäßigkeit der Physiognomie ist kaum sichtbar.
Wir begrüßten uns, als hätten wir uns von jeher gekannt. Ein Handschlag, und wir begannen von der Fahrt zu sprechen. Wie war er auf den Gedanken gekommen, daran teilzunehmen? Sehr einfach. Alle drei bis vier Jahre unternimmt er eine große Reise, und dieses Jahr hatte er sich entschlossen, gerade nach Peking zu gehen, das er noch nie besucht hatte und wo ein Bruder von ihm, Don Livio, als Geschäftsträger an der Spitze der italienischen Gesandtschaft steht. Und da las er eines Morgens in Rom, während er beim Frühstück die Zeitungen durchblätterte, im „Matin“ von der seltsamen Herausforderung. Sie schien geradezu auf ihn gemünzt zu sein. Unverzüglich telegraphierte er an die Automobilfabrik „Itala“ und fragte an, ob sie geneigt wäre, ihm eine Maschine für diese Fahrt zu liefern, für die er die ganze Organisation, die Ausführung und die Kosten übernehmen wolle. Die Antwort lautete natürlich bejahend, und nun meldete er dem „Matin“ seine Beteiligung. Sofort begann er die Vorbereitungen.
Er nahm an den Versammlungen der Unterzeichner in Paris nicht teil, sondern beauftragte nur einen seiner Vertreter (es war Fournier, der Sieger der Automobilwettfahrt Paris–Bordeaux), sich über die Bedingungen zur Teilnahme an der Wettfahrt zu unterrichten. Es war nur eine einzige Bedingung zu erfüllen: die Zahlung von 2000 Franken an den Automobilklub von Frankreich (Kommission für Wettfahrten). Die 2000 Franken würden in Peking an die einzelnen Teilnehmer zurückgezahlt werden. Übrigens hatte der „Matin“ bereits eine ausdrückliche Erklärung veröffentlicht: „Es gibt weder Formalitäten, denen man sich zu unterwerfen hätte, noch Bestimmungen, die hinderlich sein könnten. Es handelt sich darum, von Peking im Automobil abzufahren und in Paris anzukommen.“
Die vom Fürsten gewählte Maschine gehörte dem gewöhnlichen italienischen Typus von 35–50 Pferdekräften an. Am Motor und am Chassis waren keine Veränderungen angebracht; nur waren die Ecken des Rahmens und die Federn verstärkt worden, und die Maschine war auf höhere und stärkere Räder montiert worden als gewöhnlich. Um ihnen eine größere Widerstandsfähigkeit gegen das Einsinken zu geben, wurden die Räder mit Pneumatiks von größtem Durchmesser aus der Fabrik von Pirelli in Mailand versehen. Der Fürst hielt darauf, daß alles an dem Automobil italienischer Herkunft sei. Die Karosserie bestand aus zwei Vordersitzen für den Fürsten und den Chauffeur und einem Hintersitze für mich. Zu den Seiten meines Sitzes waren zwei lange zylindrische Behälter für das Benzin angebracht, jeder zu 200 Liter Inhalt, die mit eisernen Ringen befestigt waren. Hinter dem Sitze befand sich ein Kasten, ähnlich dem Protzkasten der Artillerie, zur Aufbewahrung der Werkzeuge und Ersatzstücke. Auf dem Kasten war ein dritter zylindrischer Behälter zur Aufnahme des Wassers angebracht. Das Gepäck mußte mit Stricken auf dem Kasten und dem Wasserbehälter festgeschnürt werden. Der Raummangel und die Notwendigkeit, den hinteren Teil des Automobils, der schon an sich zu schwer war, nicht übermäßig zu belasten, nötigten uns, das Gepäck auf das unentbehrlichste Mindestmaß zu beschränken, auf etwa 15 Kilo pro Person. Unter meinem Sitze war ein 100 Liter fassender Ölbehälter angebracht, von dem ein mit einem Hahn versehenes Ausflußrohr nach außen führte. Unter den Vordersitzen befand sich eine große Kiste zur Aufnahme des Mundvorrates, der zum großen Teil aus Büchsenfleisch aus Chicago bestand. Eine Eigentümlichkeit des Automobils waren die Schutzwände, bestehend aus vier langen, festen, eisenbeschlagenen und an den Tritten mit einem Scharnier befestigten Brettern, die leicht abgenommen werden konnten und gleichzeitig dazu bestimmt waren, beim Passieren von Wasserläufen, sowie in sumpfigem oder sandigem Gelände als Brücken zu dienen. Im ganzen hatte unser Fahrzeug, das keinem der sonst bekannten Automobile glich, ein seltsames und furchtbares Aufsehen. Es machte den Eindruck eines gepanzerten Wagens, eines Kriegswerkzeuges. Infolge der großen Benzinbehälter konnte es allerdings auch einen harmloseren Eindruck machen, indem es ein wenig an einen etwas komplizierten Sprengwagen erinnerte. (Näheres siehe Anhang II.)
Zur Ergänzung der Vorräte während der Fahrt hatte der Fürst der russischen Firma Nobel den Auftrag gegeben, auf der Strecke Kiachta–Moskau in der Entfernung von etwa 250 Kilometer voneinander Depots anzulegen. Das Benzin und das Öl, das wir mit uns führen konnten, reichte für 1000 Kilometer aus, was genügte, uns eine gewisse Freiheit in unserem Reiseplan zu sichern. Das Haus Nobel ist Eigentümer fast aller sibirischen Petroleumquellen; es besitzt in jeder Stadt Sibiriens große Niederlagen und Raffinerieanlagen; es hat stets seine Spezialwaggons auf allen Eisenbahnlinien rollen und ganze Karawanen von Wagen auf allen Straßen. Die Firma interessierte sich lebhaft für den Versuch einer Durchquerung Sibiriens mittels des Automobils, an die sich in Zukunft eine Entwicklung des Automobilwesens in jenen Landstrichen und ein Verbrauch ihres Benzins knüpfen konnte. Niemand hätte also besser als Nobel unseren Versorgungsdienst organisieren können, für den die Arbeit seit März im Gange war.
Die Russisch-Chinesische Bank, die ebenfalls ein unmittelbares Interesse an jeder Verbesserung der Verkehrsmittel und des Warenaustausches im fernen Osten hat, erleichterte dem Fürsten seine Aufgabe dadurch, daß sie ihm wertvolle Auskünfte über die Straßen, die Einwohner und über die Preise der notwendigsten Dinge gab. Sie tat noch mehr: sie übernahm die Beförderung des Benzins und des Öls durch die Mongolei und beauftragte ihre Filialen in Kalgan, Urga, Kiachta, Werchne-Udinsk und Irkutsk, uns in jeder möglichen Weise zu unterstützen. Die Russisch-Chinesische Bank verschaffte uns in der Tat auf der Anfangsstrecke unserer Fahrt die Annehmlichkeiten der herzlichsten Gastfreundschaft.
Die Vorbereitungen wurden durch den Ankauf der besten Karten der zu durchfahrenden Landstriche vervollständigt: deutsche Karten von Ostchina, Karten des russischen Generalstabs im Maßstabe 1:250 000, herausgegeben von dem Kartographischen Institut in Petersburg, und Karten der Verkehrswege des Russischen Reiches, veröffentlicht vom Verkehrsministerium.
In den ersten Tagen des April waren der Fürst, Ettore und die „Itala“ reisefertig und konnten Italien verlassen. Sie begaben sich in Neapel an Bord eines der Dampfer des Norddeutschen Lloyd, der einen vierzehntägigen Dienst nach dem äußersten Osten unterhält. Am Abend vor der Abfahrt befanden sich das Automobil und der Chauffeur bereits in Neapel.
Der Fürst war noch in Rom geblieben, um die letzten Abschiedsbesuche und die letzten Geschäfte zu erledigen, als ihm ein Telegramm aus Paris zuging, das ihn in äußerstes Erstaunen versetzte.
In Paris hatte die Verpflichtung, 2000 Franken einzuzahlen, die Schar der Teilnehmer erheblich gelichtet. Mehrere Unterschriften waren nur dem berechtigten Wunsche zu verdanken gewesen, den Namen des Teilnehmers in den Zeitungen gedruckt zu sehen. Sich bei einer Wettfahrt Peking–Paris Mitbewerber zu nennen und nennen zu lassen, war eine genügende Reklame; mehr zu tun, wäre des Guten zuviel gewesen. Die Übrigbleibenden, die Treuen fühlten sich entmutigt. Bei den langen Diskussionen stellten sich neue Schwierigkeiten heraus, tauchten neue Probleme auf. Man braucht in der Tat ein Projekt nur zu diskutieren, um es schließlich absurd zu finden; das Wesen der Diskussion besteht in den Einwänden. Die Begeisterung stärkt sich am Handeln, verschwindet aber beim Reden. Das Wort ist zu vernünftig, es sieht alle Hindernisse, alle Widerwärtigkeiten voraus, es ist pessimistisch. Würde jeder Held gezwungen, die tapfere Tat, die er sich zu vollführen anschickt, auch nur eine Minute lang zu diskutieren, so gäbe es kein Heldentum mehr ... Bei außergewöhnlichen Unternehmungen muß man die Lösung zahlreicher Probleme dem Augenblick überlassen: es gibt stets Unbekanntes, dem man gegenübertreten muß; man muß sich in das Abenteuer mit einer gewissen Dosis Unvernunft stürzen. Diese Unvernunft nennt sich Kühnheit. Die Kühnheit befindet sich mit dem gesunden Menschenverstande, der Logik, in allzu starkem Widerspruch, als daß sie einer eingehenden kritischen Prüfung standhalten könnte. Und hierin liegt vielleicht der Grund, warum die Teilnehmer an der Fahrt in Paris schließlich zu dem Entschlusse gelangten, nichts mehr von der ganzen Sache wissen zu wollen, das Projekt im Stadium des Projekts zu lassen und auf seine Ausführung zu verzichten. Das dem Fürsten zugegangene Telegramm teilte ihm den gefaßten Entschluß mit. Die Wettfahrt Peking–Paris war tot!
Er antwortete: „Ich schiffe mich morgen in Neapel ein.“ Seine Entschließung gab den andern den Mut zurück. Eine berechtigte Eigenliebe bewog sie, es dem italienischen Fürsten nicht allein zu überlassen, ein Unternehmen zu versuchen, das von französischer Genialität ersonnen und vorgeschlagen worden war. Und so begaben sich am 14. April die übrigen Mitbewerber in Marseille an Bord eines Dampfers der „Messageries Maritimes“, der nach Schanghai bestimmt war.
Es waren tüchtige, in ihrem Berufe als Chauffeur geschickte Männer, die von den konkurrierenden Firmen unter den Hunderten von Mechanikern und Chauffeuren, die sich an der Wettfahrt zu beteiligen wünschten, ausgewählt worden waren. Cormier, der Führer des einen „de Dion-Bouton“, hatte mit einem Wagen von wenig Pferdekräften Spanien und Ungarn durchreist und war von der Überlegenheit der kleinen Automobile auf einer langen Fahrt überzeugt. „Acht Pferdekräfte“, hatte er erklärt, „nur acht Pferdekräfte genügen mir“, und er hatte zehn. Colignon, der Führer des zweiten „de Dion-Bouton“, hatte sich ebenfalls auf schwierigen Dauerfahrten bewährt. Ein interessanter Typus eines kühnen Mannes war Pons, der Führer des Dreirads „Contal“, der sich seiner schwierigen Aufgabe mit voller Hingebung widmete. Er würde nur vor der absoluten Unmöglichkeit zurückweichen. Er war ein entschlossener, tapferer Mann, gewissenhaft, opferbereit. Wenn man ihn sah, wenn man ihn kennen lernte, so begriff man, daß er sein Blut hingegeben haben würde, wenn es zur Überwindung einer Schwierigkeit erforderlich gewesen wäre, Blut anstatt Benzin zu verwenden. Die kleine französische Gruppe wurde durch die unveränderlich gute Laune Bizacs erheitert, des Mechanikers der „de Dion-Bouton“, eines früheren Mechanikers der Kriegsmarine, dem von dem Leben an Bord mitten unter den riesigen Maschinen ein instinktives Gefühl für Disziplin und Pünktlichkeit, eine Unempfindlichkeit für Strapazen und Klimaunterschiede geblieben waren. Er war die lebendige Uhr der Reisegefährten, für die er vom Morgengrauen bis zum späten Abend funktionierte, unerbittlich wie die Zeit, unempfindlich für die Beleidigungen, die unfehlbar dem Munde desjenigen entströmten, den er mit rauher Hand der Wohltat des Schlafes entriß. Bei der Expedition befanden sich auch zwei Journalisten: der Franzose Du Taillis und der Italiener Longoni.
Du Taillis hatte ich auf der Konferenz von Algeciras kennen gelernt, wo er den „Figaro“ vertrat. In der Langenweile jener end- und zwecklosen Zusammenkunft von Diplomaten bedeutete das Zusammentreffen mit Du Taillis für mich jedesmal eine heitere Viertelstunde. Stets hatte er Anekdoten über alle und über alles in Bereitschaft, und er erzählte sie mit unwiderstehlichem Humor. Er war eine ewigsprudelnde Quelle von kleinen Notizen, von politischem Allerlei, von diplomatischen Episoden, die er mit liebenswürdigem Skeptizismus erzählte. Sein Wort und seine Feder waren immer interessant, sogar die Berichte über die Sitzungen in jenem berühmten „roten Saale“, und er griff alles auf, was es an Lustigem, an Komischem und Lächerlichem bei jenen langwierigen und inhaltsleeren internationalen Beratungen gab. Eines Tages verließ ich die Konferenz, um nach Fez zu gehen, und mit der Konferenz verließ ich auch Du Taillis. Und nun sahen wir uns in China wieder.
Hinter der goldenen Brille betrachtete mich aufmerksam sein lächelndes Gesicht, das durch ein kokettes blondes Bärtchen breiter erschien. Wir standen in der Vorhalle eines Gasthofes, mitten in dem Hinundher von chinesischen Boys, von Kuriositätenhändlern, von Fremden, die frühstücken wollten. Mein Kollege war etwas verändert: im oberen Teil seiner Erscheinung durch einen mächtigen Tropenhut, im unteren Teile durch ein Paar prächtiger Ledergamaschen. Aber im übrigen war er der alte und ließ mir keinen Zweifel an seiner Persönlichkeit. Wir eilten aufeinander zu und begrüßten uns herzlich. Wir erzählten uns den Anlaß unserer Anwesenheit auf dem geheiligten Boden des Himmlischen Reiches und unterhielten uns lachend über den Wai-wu-pu.
Longoni, ein sympathischer junger Mann, befand sich bei der Expedition mehr aus Liebe zum Sport als im Dienste der Journalistik. Er sollte die Fahrt auf einem der „de Dion-Bouton“ antreten.
Inzwischen nahte der Tag der Abfahrt.
Die Europäer von Tientsin und Peking sprachen jetzt von nichts anderem. Doch ließ sich nicht leugnen, daß noch viele im Publikum ungläubig blieben. Es gab zwei Klassen von Ungläubigen: die absoluten, die nicht einmal an die Abfahrt glaubten, und die relativen, die an eine sofortige Rückkehr nach Peking nach einem vergeblichen Versuche, das Gebirge von Nankou zu überschreiten, glaubten. Ohne Zweifel bot die Überschreitung des Gebirges solche Schwierigkeiten, daß selbst der Fürst, wie er sagte, nicht sicher war, sie zu überwinden.
Die Möglichkeit, die ganze Straße nach Kalgan mit dem Motor zu befahren, war ausgeschlossen. Vor allem, weil keine Straße existierte. Die Karawanen von Kamelen, Maultieren, die Wagen, die Sänften, die sich seit Jahrtausenden von Peking nach Kalgan und von Kalgan nach Peking begaben, hatten nichts anderes geleistet, als daß sie schmale Fußpfade ausgearbeitet und die am wenigsten ungangbaren Pässe ausfindig gemacht haben. Von Zeit zu Zeit waren sie von ihrer Reiseroute abgewichen, je nachdem ein Bergsturz einen früher gangbaren Weg verschüttet oder eine Überschwemmung im Unterlande die schmalen Wege in der Ebene überflutet hatte. Die Automobile mußten also von Maultieren und Menschen gezogen werden. Sich ausschließlich der Tiere zum Ziehen zu bedienen, war gefährlich, weil sie eine zu schnelle Gangart einschlugen; man kann von einem Maultiere nicht eine überlegte Anstrengung verlangen, nicht fordern, daß es jetzt vorsichtig und dann wieder mit Aufbietung aller Kräfte vorgeht. Hier mußten Menschen regelnd eingreifen. Aber konnten die Automobile, selbst wenn sie geschleppt wurden, überhaupt hinüberkommen? An vielen Punkten hatte der Bambusstab des Fürsten kaum die genügende Breite ergeben, und an andern würde ein kleines Versehen in der Steuerung genügen, einen Rad- oder Achsenbruch herbeizuführen.
Es gibt in Peking eine uralte Verkehrseinrichtung, eine Art Privatpost, deren man sich bedient, um Gegenstände nach einem beliebigen Teile des Reiches zu befördern. Sie erfreut sich kaiserlicher Privilegien, besitzt Wagen, Pferde und hat Kulis und Karawanenführer in ihrem Solde. Der Fürst fragte bei ihr an, ob sie die Aufgabe übernehmen wolle, das Automobil nach Kalgan zu schaffen. Der Direktor des Unternehmens, ein langer Chinese, hager wie ein Pfahl, stellte sich in der italienischen Gesandtschaft ein, um den Ki-tscho in Augenschein zu nehmen. Ihm folgte eine Schar von Kulis, bewaffnet mit Achsen, mit Stangen, mit jenem ganzen kolossalen Apparate, dessen sich die Chinesen zum Transport ihrer schweren Sarkophage bedienen. Auf einen Wink des langen Chinesen stürzten sich diese Leute auf das Automobil, zum großen Verdruß Ettores, setzten ihren Leichenapparat in Tätigkeit und hoben den Wagen auf, um das Gewicht zu prüfen. Allein sie konnten keine zwei Schritte tun ohne zu schwanken, denn das Fahrzeug machte Miene, wieder auf die Erde zu kommen und riß einige der Leute mit zu Boden. Der Hagere erklärte, der Ki-tscho sei schwerer als ein Berg; es würde unmöglich sein, ihn hochzuheben; wenn aber der edle und verehrungswürdige Herr Po (Borghese) ihn um einige tausend Pfund leichter machen könne, so wäre es möglich, ihn mit Hilfe von 35 Mann und vier Maultieren fortzuschaffen.
Der edle und verehrungswürdige Herr Po willfahrte ihm. Das Automobil wurde um etwa 500 Kilo leichter gemacht, indem die Karosserie abgenommen und durch eine bescheidene Sitzgelegenheit ersetzt wurde, die sinnreich aus einer Packkiste hergestellt worden war. Auf den Tritten wurden die Werkzeugkasten untergebracht. An den Schutzwänden wurden die Spitzhacken und Spaten befestigt. Feste Stricke, dicke und dünne, fanden eine passende Unterkunft in der Sitzkiste, auf die eine Seegrasmatratze gelegt wurde, um sie ihrer neuen Bestimmung besser anzupassen. Das Automobil erschien gänzlich verändert. Seltsam, einfach und schlank, machte es in der Tat den Eindruck von Ungestüm und Entschlossenheit. Jede Spur von Luxus, von Bequemlichkeit war verschwunden, es hatte den letzten Anschein eines Dinges verloren, das zum Vergnügen gebaut worden war; es schien zum Angriff geboren, geplant, um gegen irgendeinen Feind mit dem ganzen Ungestüm seiner unsichtbaren Kräfte losgelassen zu werden. Seines Überflusses beraubt, hatte es eine neue Schönheit gewonnen: die Schönheit des Nackten. Auch die Spitzhacken, die Spaten, die Stricke verliehen ihm ein undefinierbares Etwas von Kühnheit. Es war in der Tat ein Pionierfahrzeug. Man begriff, daß es dazu bestimmt war, auf Wegen zu fahren, auf denen noch nie ein anderes gefahren war. Wir bewunderten es noch mehr, ohne zu wissen warum, und wiederholten immer und immer wieder: „Wie schön ist es doch!“
Es wurde vereinbart, daß die Kulis und die Maultiere uns in der Nähe von Nankou erwarten sollten. Für die französischen Automobile und den „Spyker“ wurde eine ähnliche Beförderung vorgesehen. Um die Arbeit der Chinesen zu überwachen, beorderte die französische Gesandtschaft einen Zug Soldaten, die des Landes kundig waren. Unsere Gesandtschaft schickte fünf Matrosen. Der Kommandant der italienischen Besatzung in Peking schenkte der „Itala“ eine kleine Flagge aus Wollenstoff, die sofort auf dem Automobil aufgepflanzt wurde. Es war unsere Kriegsflagge.
Wenn es schon in China noch Ungläubige gab, so mußten deren in Europa noch viel mehr sein! Ich habe einen Beweis davon an den Telegrammen, die ich erhielt und die „von der Wahrscheinlichkeit“ sprachen, „daß die Wettfahrt nicht stattfinde“. Ich antwortete, indem ich kurz die Vorbereitungen schilderte, und der Telegraph brachte mir getreulich das Echo eines unveränderten Skeptizismus zurück. Ich wurde unruhig; ich fürchtete in der Tat, man wisse in Europa mehr davon als ich. Ich eilte zum Fürsten.
„Was gibt es Neues?“ fragte ich ihn.
„Nichts.“
„Keine Verzögerung?“
„Keine.“
„Die Abfahrt findet am 10. statt?“
„Um 8 Uhr früh.“
Endlich sprachen wir nicht mehr vom 10., wir sprachen von „morgen“. Es war der Abend vor der Schlacht.
Die Züge von Tientsin brachten Offiziere, dort ansässige Europäer, Damen, Touristen. Sie brachten auch die Kapelle der französischen Besatzung, die sofort das Gesandtschaftsviertel mit musikalischen Harmonien zu überschütten begann. Ich brachte viele Stunden mit der schwierigen Aufgabe zu, ein Gepäckstück zurechtzumachen, das 15 Kilo wog und von allem etwas enthielt; die Boys des Gasthofs unterstützten mich bei dieser Riesenarbeit. Inzwischen wurden für die Gesandtschaften und die Gasthöfe die letzten Weisungen erteilt: „Versammlung 7 Uhr 30 Minuten vormittags im Hofe der französischen Kaserne Voyron. Abfahrt um 8 Uhr. Ausfahrt aus Peking durch das Doschmen-Tor (eines der Tore im Norden der Stadt).“ Ich eilte zu den wichtigsten Behörden und den hohen Beamten der Kaiserlichen Telegraphenverwaltung, um den telegraphischen Dienst zu organisieren. Dort traf ich einige brave chinesische Jünglinge an, voll ruhiger Bereitwilligkeit, mit denen ich bei einigen Tassen Tee bald einig wurde. Die Telegraphenämter der Mongolei würden bereit sein, meine Depeschen zu befördern. Abends war Abschiedsessen mit großer Kneiperei. Das Haupt der Pekinger Polizei, ein würdevoller Mandarin, stellte sich auf Befehl des Hofes dem Fürsten vor, um ihn zu fragen, welchen Weg wir im Innern der Stadt nehmen würden, damit ein Ordnungsdienst eingerichtet und die Straße gesprengt werden könnte. Bald nach seiner Ankunft ließ uns der Wai-wu-pu auch unsere Pässe zustellen. Welch wunderbarer Umschwung hatte sich im Geiste jener erlauchten Versammlung vollzogen?
In dem feierlichen Schweigen der Pekinger Nacht, das kaum durch das Schlagen des Tamtams unterbrochen wurde, das sich alle Stunden näherte und entfernte und das Vorüberziehen einer Polizeironde anzeigte, in diesem ernsten Schweigen, das von Zeit zu Zeit aus der Ferne einen geheimnisvollen Gongton herüberschallen ließ, lag ich aufgeregt und schlaflos; ich litt in der Tat unter einem Gefühl des Zweifels. Ich empfand wieder die Atmosphäre Pekings, und die Wettfahrt erschien mir wie ein Traum. Alles Vorgefallene nahm mit einem Schlage in meinem Geiste die Gestalt des Unwahrscheinlichen an. Das Vorhandensein eines Automobils in Peking schien mir unsinniger als das einer Sänfte auf der London Bridge. Empfinden, daß man in Peking ist, heißt, sich um Jahrtausende zurückgeschleudert fühlen, in ein weit entferntes, unveränderliches Leben. Jene tausendjährige Zivilisation hat den Gipfel ihrer Vollkommenheit erreicht und will ihn behaupten, indem sie stehenbleibt. Ein einziges Ding nur schreitet fort: die Zeit. Eine Art Erstarrung schwebt in der Luft, die dich bis zu einem gewissen Grade packt und überwältigt. Es gibt keinen Europäer, der bei längerem Aufenthalte hier im Geiste nicht etwas Chinese wird. Dieses Vergessen der Gegenwart wird vielleicht mit dem feinen Staube eingeatmet, der hier von so vielen altertümlichen Dingen herabrieselt. Auf einer Fahrt durch die Straßen von Peking und von China vermochte ich mir unsere „Itala“ nicht vorzustellen. „Um 8 Uhr Abfahrt!“ Leere Worte! Um 8 Uhr wird das Automobil unbeweglich stehengeblieben sein, und die künftigen Jahrhunderte werden es unbeweglich an derselben Stelle finden, verwandelt in ein chinesisches Monument gleich jenen kolossalen Schildkröten aus Stein, die man auf den Tempelhöfen erblickt, als Schmuck und Symbol. —
Grau, bewölkt brach der Tag an, ein grämlicher Tag. Bis zum vorhergehenden Abend hatte sich das Wetter schön gehalten, in der Nacht aber schien es, als hätten die chinesischen Gottheiten den sofortigen Beginn der gefürchteten Regenzeit beschlossen.
„Wird es regnen?“ fragte ich den Boy, der mich wecken gekommen war.
Er betrachtete die Wolken.
„Ja, Herr,“ erwiderte er, ohne zu zögern, „es wird schon morgen früh regnen.“
„Und später?“
„Auch später.“
Ich überbrachte diese Prophezeiung dem Fürsten. Die „Itala“ stand schon reisefertig vor der Villa des Gesandten. Ettore hatte hier noch einen Knoten zu knüpfen, dort einen Strick fester anzuziehen und ging mit großen Schritten um das Fahrzeug herum, mit einem blinkenden Paar Wasserstiefel angetan. Um 7 Uhr waren die Matrosen der Bedeckung auf der Eisenbahn nach Nankou befördert worden, und am Abend vorher hatten zwei Wagen mit unserem Gepäck und der abgehobenen Karosserie Peking unter der Aufsicht des Ma-fu, Pietro, des Reitknechts der Gesandtschaft, verlassen.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Stunde zu erwarten, zu der wir uns auf den Weg machen konnten — eine ermüdende Beschäftigung. Es schien, als brauchten die Zeiger der Uhr Stunden, um fünf Minuten zu durchlaufen. Inzwischen wechselten wir Worte der Begrüßung und drückten uns die Hände. Unsere tapferen, sympathischen Offiziere waren zur Stelle, wünschten uns Glück zur Fahrt und strichen mit ermutigenden Gebärden über das Fahrzeug, als sei es ein Pferd. Ein Kapuzinerpater mit dem offenen, ehrlichen Gesicht eines Soldaten kam in Eile an, über und über glühend vor Begeisterung, und sprach Segensworte zu uns. Es war der Kaplan der italienischen Besatzung und der Gesandtschaft.
7½ Uhr! Ein Karabiniere kommt von der Straße herein und meldet: „Die Franzosen sind bereits in der Kaserne.“
„Auf die Maschine!“ ruft der Fürst, der damit das Kommando über die kleine Expedition übernimmt.
Auf dem Automobil drängen wir uns zu fünf Personen zusammen. Die Fürstin Anna Maria — auch sie eine unerschrockene und kühne Reisende, die ihren Gatten nach Persien begleitet hatte und von der Don Scipione sagt, sie liebe das Reisen so leidenschaftlich, daß sie, um zu reisen, sogar die Eisenbahn benutzen würde —, Don Livio Borghese, der italienische Geschäftsträger, ein ebenso sympathischer und liebenswürdiger Herr als kenntnisreicher und gewandter Diplomat, Fürst Scipione, ich und Ettore. Don Livio und die Fürstin verlassen uns am ersten Haltepunkt, in Nankou.
Ich weiß nicht, durch welches Wunder der Willenskraft und der Äquilibristik wir uns zu vieren auf der zur Würde eines Sitzes erhobenen Gepäckkiste halten können. Wir halten uns an den Stricken, an den Schutzwänden, und wie unsichere Reiter messen wir mit den Augen die Entfernung bis zur Erde. Ettore hat die Kurbel des Motors gedreht und sich auf den Benzinbehälter gekauert, mitten in ein Ersatzpneumatik hinein; er gleicht einem an einem Rettungsring befestigten Schiffbrüchigen. Der Motor summt. Der Fürst, der das Steuerrad hält, fragt:
„Fertig?“
„Ja, fertig.“ Das Automobil gleitet lautlos über den Sand des Gartenweges.
„Viel Glück!“ ruft man uns zu.
„Adieu!“
Am Gitter der Gesandtschaft steht die gesamte Wache und salutiert. Der Posten präsentiert das Gewehr. Wir sind auf der Straße. Welch ungewohnte Lebendigkeit im Diplomatenviertel, das in der Regel bis zehn Uhr schläft! Alle Rikschas von Peking sind im Dienst und führen, von allen Seiten herbeieilend, eine vornehme Schar von Damen und Herren heran. Vor der Kaserne Voyron staut sich eine Menge Chinesen, untermischt mit Soldaten jeder Nationalität. Flaggenschmuck ziert die Mauern, und grüne Laubgewinde ziehen sich um die Flaggen. Ein Vorhang spannt sich quer über die Straße; auf ihm steht geschrieben: „Bon voyage!“ „Bon voyage!“ ist der Gruß, der uns aus jedem Munde entgegentönt. Ein Unbedachtsamer ruft: „Au revoir, auf Wiedersehen!“ — die Menge lacht.
Der Hof der Kaserne ist gedrängt voll. Man hätte an das Abwiegen bei einem Pferderennen an einem Grand Prix-Tage denken können. Alle Fremden hatten sich hier ein Stelldichein gegeben. Die wenigen Europäer und Amerikaner, die über die entferntesten Teile von Tschili zerstreut leben, fanden sich an diesem Punkte zusammen. Es war die Seele unserer Rassen, die innerhalb dieser Mauern ihre Schwingen regte. Jedermann, welcher Nationalität er auch angehören mochte, empfand Stolz über das Ereignis, das ihn zu erscheinen veranlaßt hatte. Es war eine Art Solidarität der Kultur, der Erziehung, des Instinkts. Man muß sich in der Ferne befinden, allein mitten in einer andern Zivilisation, um die Verbrüderung der eigenen Zivilisation zu bekunden. Man feierte ein abendländisches Fest im Herzen von Peking.
Unter das Personal der Banken, der Handelshäuser, unter die Bevollmächtigten der Syndikate mischten sich einträchtig die Angehörigen der Gesandtschaften, Damen, Offiziere, Gesandte. Die Gesandten von Frankreich, Holland, Österreich, Rußland tauschten Grüße in allen Sprachen aus. Ein würdig aussehender alter kleiner Herr mit charakteristischem weißem Bärtchen, das ihm etwas Chinesisches gab, mit lebhaftem, energischem, durchdringendem Blick drängte sich durch die Menge, die ihn achtungsvoll grüßte und halblaut sagte: „Auch Sir Robert ist hier?“ Es war Sir Robert Hart, der große Volkswirt.
Jetzt hält eine Sänfte an der Kasernenpforte, und heraus steigt ein junger Würdenträger, der Mandarin Kwo, einer der Sekretäre des Wai-wu-pu, der sich endlich daran erinnert hat, daß er von Paris aus zum Mitglied eines nur in der Idee bestehenden „chinesischen Komitees für die Wettfahrt Peking–Paris“ ernannt worden war. Er vertrat die Kaiserliche Regierung bei der Feier, indem er sich höflich nach allen Seiten verneigte und den Abreisenden sowie den andern fortwährend wiederholte: „Good bye, good bye!“
Die „Itala“ wartete draußen auf der Straße. Auf dem Hofe, den eine Menge Neugieriger erfüllte, standen die beiden „de Dion-Bouton“, der „Contal“ und der „Spyker“ in voller Reiseausrüstung. Die französischen Fahrzeuge waren grau gestrichen, das holländische weiß, rot und schwarz gestreift — alle bedeckt mit großen Inschriften, die die Reiseroute, die Entfernungen usw. angaben. Eine große alte chinesische Kanone in der Nähe der Automobile, die die Franzosen zur Zeit der Belagerung der Gesandtschaften erobert hatten und die die Kaserne zieren mußte, bot einen seltsamen Gegensatz. Aber bei dieser Gelegenheit hatte sich die alte Kanone ebenfalls mit Flaggen und grünem Laube geschmückt und schien an dem Feste teilzunehmen. Auch sie hatte sich milder stimmen lassen, wie der Wai-wu-pu. Die Kapelle spielte Militärmärsche, während die Teilnehmer an der Fahrt die angenehme Formalität erfüllten, aus den Händen eines Vertreters der Russisch-Chinesischen Bank die hinterlegte Summe von je 2000 Fr., die sie in Paris für die Einschreibung eingezahlt hatten, zurückzuerhalten. Du Taillis bewegte sich allein in der Menge, und sein ausdrucksvolles Gesicht trug die Spuren einer tiefen Bewegung.
Jetzt ist es Zeit!
Die Führer und die Mechaniker begeben sich zu ihren Fahrzeugen. Die Motore surren, und aus den Auspuffern strömen dichte Rauchwolken. Die Menge wird lauter. Viele Offiziere, die zu Pferde gekommen sind, steigen in den Sattel. Hunderte von photographischen Apparaten richten sich auf uns. Wir Italiener beeilen uns, von neuem die „Itala“ zu besteigen, die erzitternd ächzt, als brenne sie vor Ungeduld, die rasende Fahrt zu beginnen. Die übrigen Automobile fahren zum Kasernenhofe hinaus.
Es ist keine bestimmte Reihenfolge für die Abfahrt festgesetzt; der Zufall läßt uns auf der Straße folgende Ordnung einnehmen: „de Dion-Bouton“, geführt von Cormier, „Spyker“, geführt von Godard, „Itala“, „de Dion-Bouton“, geführt von Colignon, „Contal“, geführt von Pons. Die Automobile stehen noch still und erwarten das Zeichen zur Abfahrt. Die Kapelle marschiert aus der Kaserne heraus und stellt sich als Ehrengeleit an die Spitze des Zuges. Die Menge umringt uns und bricht in begeisterte Jubelrufe aus. Eine elegante Dame, Madame Boissonnas, die Gattin des Ersten Sekretärs der französischen Gesandtschaft, übernimmt mit Anmut das Amt des Starters.
Sie hebt die Flagge.
Ein Augenblick der Stille folgt in der Menge, nur das Sausen der Motore läßt sich vernehmen. Der Rauch umgibt uns in langgezogenen Streifen und trennt uns von den Umstehenden.
Die Flagge senkt sich.
Ein Krachen von Petarden und Mörsern bricht los. Wir bewegen uns mitten in diesem Schlachtgetöse. Wir fahren ab.
Die Musik marschiert vor uns her und läßt die feurigen Klänge eines Kriegsliedes ertönen. Wir fahren im Schritt. Die Offiziere zu Pferde eskortieren uns zu beiden Seiten. Die Menge folgt uns lärmend und schwenkt Taschentücher und Hüte. Wir hören unsere Namen, von den Stimmen unserer Freunde gerufen.
Wir fahren durch die Straße, an der die österreichische Gesandtschaft liegt und die zu beiden Seiten von hohen Mauern von klösterlichem Aussehen eingefaßt ist, schnurgerade wie ein Weg auf dem Exerzierplatze. Wir erhalten vereinzelte Grüße von den Wachttruppen, und die Schildwachen lächeln uns zu, da sie uns nicht grüßen dürfen. Wir biegen um die Ecke der italienischen Gesandtschaft und gelangen damit aus dem Diplomatenviertel heraus auf die breite Allee, die dieses von der Eingeborenenstadt trennt.
Als unser Automobil in der Allee erscheint, bricht ein fürchterliches Geschrei aus. Die Außenmauer der italienischen Gesandtschaft ist dicht von unseren Matrosen besetzt, die stehend, als befänden sie sich auf den Rahen ihrer Schiffe, uns ein dreifaches Hurra zum Gruße zujubeln.
Wir fühlen einen seltsamen Drang in uns; wir haben die Empfindung, als könnten wir mit einem Rufe antworten, der weit lauter ertöne als der ihre, als könnten wir die mächtige Stimme unserer Erregung über die ganze unermeßliche Stadt hin erschallen lassen; wir können aber nichts weiter tun, als schweigend den Hut ziehen. Und unser Blick durchläuft mit liebevollem Erfassen jene hochherzige, tapfere Schar, die uns von der Höhe der Mauern herab zujubelt, von denen sie vielleicht eines Tages zum Kampf heruntersteigen muß.
Die Kapelle hört auf zu spielen und tritt beiseite. Die lärmenden Begrüßungen schweigen. Nichts hält uns mehr auf. „Vorwärts? — Vorwärts!“ rufen die Führer, und die Automobile steigern allmählich ihre Geschwindigkeit. Die Motore stimmen einen höheren Ton an. Hinter uns setzen sich die berittenen Offiziere in Galopp, aber die Entfernung vergrößert sich, und wir verlieren sie aus den Augen.
Auf der Straße, die schwarz ist von chinesischen Soldaten, zwischen zwei Reihen einer stumm dastehenden Bevölkerung sind nur noch die fünf Automobile zu sehen, die sich hintereinander durch die Hauptstadt des Himmlischen Reiches mit einer Schnelligkeit bewegen, die dort noch nie gesehen worden ist und vielleicht auch nie mehr gesehen werden wird!
Zur Großen Mauer.
Die Weisheit der Unwissenheit. — Auf den Brücken von Kambaluk. — Unsere Kulis. — In Nankou. — Das heilige Tal. — Die Große Mauer in Sicht.
Eine Polizeiverordnung hatte genügt, um den gewaltigen, vielgestaltigen Verkehr Pekings auf unserem ganzen Wege von acht Kilometer Länge zum Stillstand zu bringen. Die rohen zweirädrigen Wagen, das öffentliche Verkehrsmittel der Stadt, warteten zur Seite und stauten sich an den Kreuzungen und Mündungen der großen Seitenstraßen. Die Menge, an Zucht und Gehorsam gewöhnt, stand längs der endlosen Zeilen niedriger Gebäude und elender Hütten, von denen die Hauptverkehrsadern Pekings eingefaßt werden, in Reihen aufgestellt, mit dem Rücken an die schwarzen, rauchigen Schenken gelehnt, aus denen ein warmer Knoblauchgeruch den Vorübergehenden entgegenschlug; sie drängte sich auf den Schwellen der Kramläden mit ihren Fassaden aus geschnitztem, bemaltem, vergoldetem Holz, von denen herab eigenartige Schilder, Drachen, Fransen von roter Seide, lackierte Tafeln mit Goldbuchstaben in die Straße hineinhängen: kurz jener ganze kennzeichnende Wirrwarr von Farben und Formen, der die chinesischen Geschäfte wie zu einem täglichen Feste schmückt, ein Wirrwarr, der sich unter lautem Geräusch bewegt, schaukelt und hin und her schwankt.
Auf den Straßen befand sich die gewohnte kaufende und handeltreibende Bevölkerung, sorglos und von malerischem Aussehen, wie sie sich alle Tage einfindet, nicht eine Menge, die eigens zu dem Zwecke gekommen war, um uns zu sehen. Das Schauspiel einer Automobilfahrt ließ die guten Pekinger völlig kalt. Es waren Zuschauer ohne Neugier und ohne Feindseligkeit. Viele würdigten uns kaum eines Blickes. Es schien, als hätten sie in ihrem ganzen Leben nichts anderes gesehen. Wir empfanden beinahe ein Gefühl der Demütigung darüber. Wir hatten erwartet, in der Bevölkerung die Äußerungen größten Staunens hervorzurufen, statt dessen bemerkten wir nur Äußerungen einer erhabenen Gleichgültigkeit. Die Wunder unserer Zivilisation genießen nicht einmal die Ehre, die Aufmerksamkeit eines chinesischen Straßenjungen zu erregen. Es gibt nichts Europäisches, das einen Sohn des Himmels überraschen könnte. Es herrscht dort draußen die Ansicht, daß wir Zauberkräfte besitzen, geheimnisvolle Eigenschaften, mittels deren wir Organismen von Stahl, die zu jeder Arbeit fähig sind, beleben können; die Sache geht mit natürlichen Dingen zu, und es ist also nichts zum Verwundern dabei.
Es gibt zwei Klassen in der Welt, die nichts bewundern: die großen Gelehrten, die alles kennen, und die gänzlich Unwissenden, für die alles ein Geheimnis ist. Der völlig Unwissende findet alles unerklärlich; alles übersteigt sein Fassungsvermögen, nichts setzt ihn in Erstaunen, weil alles ihn in Erstaunen setzen müßte. So ist der Chinese. Er besitzt die gemächliche Philosophie der Unkenntnis, erfreut sich des heiteren Friedens der Unwissenheit und hat darin das wahre Geheimnis des Glückes gefunden. —
Wir sind durch ein Labyrinth von Gäßchen rasch auf die Nordseite der Kaiserstadt gelangt. Chinesische Polizisten in ihrer mit weißen Inschriften bedeckten Jacke und den Strohhut elegant auf dem zu einem Chignon gewickelten Zopfe tragend, zeigten uns mit der Spitze ihres langen Stabes den richtigen Weg. Oben bemerkten wir einen Augenblick in der Ferne die gelbe Umfassungsmauer der Kaiserstadt, die zierlichen Pagoden des Mei-schan, des „Kohlenbergs“, eines Berges, den die Laune eines Kaisers in seinem Garten errichtet hatte, um von da aus die ganze Stadt zu beherrschen. Und bald darauf befinden wir uns unter den gewaltigen Außenmauern, unter den riesenhaften, drohenden Bastionen des Doschmen, die von einem jener hohen, die Tore Pekings verteidigenden Kastelle überragt werden. Dieser Bau, halb Festung, halb Tempel, öffnet gegen die Ebene die dreifache Reihe seiner Schießscharten, die ihn wie die Breitseite einer alten Fregatte erscheinen lassen. Im Torwege müssen wir langsam fahren wegen des holprigen Pflasters, das von der Zeit mitgenommen und von den Rädern der Wagen tief ausgefahren ist, eines Pflasters, welches an das in Pompeji erinnert. Um uns her lärmt das Leben der Vorstädte, elend, heiter, sorglos.
Jetzt beginnt die Landstraße, die sich zwischen prächtigen Gärten hinzieht, aus denen Bäume herüberragen, gleich als ob sie den Vorübergehenden Schatten und Früchte bieten wollten. Die Automobile, die uns vorausfahren, ein „de Dion-Bouton“ und der „Spyker“, halten. Wir tun dasselbe. Fürst Borghese wird ersucht, vorzufahren.
Die „Itala“ setzt sich in Bewegung, und bald entschwindet infolge der Unebenheit des Geländes und der dichtstehenden Bäume Peking unseren Blicken.
Jetzt erst kommt es uns in den Sinn, nach der Uhr zu sehen. Unsere Abfahrt hatte sich verzögert: es ist 9 Uhr 25 Minuten. —
Der Weg schlängelte sich nach Norden, sandig, unregelmäßig, von Zeit zu Zeit von Bächen unterbrochen. Bald waren diese breit wie ein Flußbett, bald von dem Grün der Felder überwuchert, bald verloren sie sich in dichten Hainen, deren alte Bäume Gräber und heilige Inschriften überschatten, die auf große, aus dem hohen Grase emporragende Steine eingemeißelt sind. Wir fuhren nicht rasch. Das Automobil stieß, schwankte; es mußte abwärts, aufwärts und in schiefer Haltung fahren infolge der leichten Unebenheiten und der wellenförmigen Beschaffenheit des Geländes; es durchschnitt den Sand mit den Bewegungen einer Katze.
„Diese bestienartigen Bewegungen gefallen mir“, rief Don Livio.
Aber die Bestie schien uns mehr als einmal von unseren Sitzen herabwerfen zu wollen, so daß wir uns mit aller Kraft festhalten mußten. Zwischen unseren Füßen sahen wir die durch nichts verdeckte Kardanwelle sich mit wirbelnder Geschwindigkeit um sich selbst drehen; wir befanden uns in unmittelbarer Berührung mit der Maschine, und unter uns flog die Straße in verwirrendem Anblick hinweg, dem schwindelerregenden Abwickeln eines Bandes vergleichbar. Das Geschwindigkeitsgetriebe fegte mit seiner rasenden Schnelligkeit, die einen musikalischen Ton erzeugt, über den Boden und wirbelte den Staub auf, der in Wolken zwischen den Achsen, den Transmissionen aufstieg und uns von unten her umringte und einhüllte.
Man konnte nicht rasch fahren, und der Motor erhitzte sich. Das Automobil ist wie eines jener feurigen, lebhaften Rosse, die, wenn sie durch den Zügel zurückgehalten werden, schwitzen, schnauben und sich unbehaglich fühlen, und die, wenn man sie Galopp gehen läßt, sich zu erholen scheinen. Außerdem hatte der Motor mit dem Widerstande des Sandes zu kämpfen. Wie ein Hauch entströmte der Dampf zischend dem Verschluß des Auspuffs. Wir mußten halten und frisches Wasser auffüllen. Wir baten die Landleute darum, und sie holten es uns aus den zahlreichen Brunnen in der Nähe ihrer Lehmhäuschen, der armseligen Wohnungen des chinesischen platten Landes, die sich in den Schatten hoher Bäume schmiegen, wie um Schutz zu suchen, und die, umgeben von der Arbeit und dem Segen der Felder, einen so beneidenswerten Eindruck von Zufriedenheit und Ruhe machen. Mit Eimern, die sie an Stangen im Gleichgewicht trugen, kamen die Landleute herbei, ohne dem Automobil mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als wenn es von einem Maultiere gezogen worden wäre.
Wir durchfuhren schmutzige, lärmende Dörfer, die von einer halbnackten Bevölkerung wimmelten; die Sommerkleidung des armen Chinesen besteht oft nur aus einem Paar Beinkleidern und einem Fächer. Wir fragten im Vorbeifahren nach dem Namen des Landstriches, um sicher zu sein, daß wir keinen falschen Weg einschlugen.
„Ist dies Örr-li-tien?“
Die Leute verneigten sich zum Zeichen der Bejahung und bestätigten mit naiver Freude, daß sie unsere Frage verstanden hatten, indem sie mit dem geschlossenen Fächer auf die flache Hand schlugen. Wir fragten weiter:
„Wie weit ist Tsing-ho-pu entfernt?“
Dies ist keine Erkundigung, auf die man in China nur eine einzige Antwort erhalten kann.
„Fünf Li“ (1 Li = 442 Meter), rief uns ein alter Mann zu, indem er uns die fünf Finger seiner ausgestreckten Hand zeigte.
Einer der Nebenstehenden hob jedoch mit derselben Mimik nur drei Finger in die Höhe. Und ein anderer rief in überzeugtem Tone:
„Acht Li!“
„Drei, fünf oder acht?“ fragten wir, mit einer gewissen Ungeduld das Automobil anhaltend.
Unsere Gewährsmänner traten aus Vorsicht einen Schritt zurück und wünschten uns mit einem höflichen Lächeln glückliche Reise.
Am Flusse Tsing-ho begegneten wir der ersten Schwierigkeit. Die alte Brücke, die über ihn führt, war für das Automobil fast ungangbar. Wir suchten eine Furt, wir durchstreiften das Ufer nach allen Richtungen in der Hoffnung, die Spuren einer Übergangsstelle zu entdecken. Nichts, es gibt nur einen Weg, und der führt über die Brücke.
Es ist eine monumentale Brücke, eine von jenen, die die europäische Überlieferung auf die Tätigkeit Marco Polos im 13. Jahrhundert zurückführt, die aber vielleicht nicht älter ist als die von 1368 bis 1644 herrschende Mingdynastie, ein herrliches Kunstwerk, ganz aus Marmor. Die mit Reliefs geschmückten Brüstungen, von einer Zierlichkeit, die etwas Europäisches an sich hat und die die Überlieferung rechtfertigen könnte, verbinden in anmutigem Schwunge die beiden Ufer. Sie bilden einen Bogen von einzigartiger Formenfülle, ein weißschimmerndes Gerüst, einen stolzen Übergang, der sich einsam mitten in der unberührten Rauheit eines Landes erhebt, das seine alte Leidenschaft für das Schöne und Große vergessen hat. Riesige Marmortafeln bilden das Pflaster der Brücke; aber der Verkehr hat sie abgenutzt und zerbrochen, die Zeit hat ihren Zusammenhang gelockert. Es hat den Anschein, als habe eine langsame Erdbewegung im Laufe der Jahrhunderte diese Steinplatten aus ihrer Lage gebracht, indem sie sie wie Grabplatten emporzuheben suchte. Man möchte sagen, die Brücke sei nie mehr von den Händen eines Künstlers oder Handwerkers berührt worden, seit Peking Chan-baligh, „Stadt des Chan“, hieß, und Marco Polo sie Kambaluk nannte. Mit welcher Liebe für die Geschichte und die Kunst hätten wir diese Reliquie betrachtet, wenn wir sie nicht mit einem Automobil von 50 Pferdekräften und 1500 Kilogramm Gewicht hätten überschreiten müssen!
Nun aber sind die Anfahrtsböschungen zu der Brücke verschwunden, weggeschwemmt von den Hochwassern, zerfressen von den Regengüssen, Stück für Stück entfernt durch den Übergang von Millionen von Menschen, von dem Strome der Menschheit, der sich vielleicht 600 Jahre lang über jene Marmorplatten ergossen hat. Und jetzt gelangt man zur Brücke auf steilen Pfaden, auf denen wankende Steine hohe Stufen bilden. Beinahe das ganze Niveau der Ebene ringsum hat infolge von Überschwemmungen sich gesenkt, und nur die Brücke ist stehengeblieben zum Zeugnis der Höhe, bis zu welcher sich das chinesische Land erhob, als noch der ruhmreiche Kublai Chan herrschte.
Sollen wir unsere Kulis suchen lassen, sollen wir unseren Wagen von ihnen mit Seilen über die Grabplatten der Brücke ziehen lassen? Der Fürst will nicht so bald vor dem Hindernis zurückweichen, er geht rundherum, beobachtet, studiert und macht Punkte ausfindig, auf denen es den Rädern möglich ist durchzukommen. Die Schutzwände, auf die wir uns so viel zugute taten, werden abgenommen und auf die Stufen gelegt, um als Fahrgeleise zu dienen. Ettore, der Befehle gewärtig, ergreift das Lenkrad, läßt die Maschine 50 Meter zurückgehen und wartet. Es beginnt zu regnen, und die nassen Steine glänzen.
„Vorwärts!“ kommandiert der Fürst und befiehlt: „Hierher mit dem rechten Rad! Achtung!“
Die „Itala“ nimmt einen Anlauf, erklimmt mühsam die steile Böschung und gelangt mit den Vorderrädern auf die Schutzwände. Aber der Regen hat die Bretter und die Steine schlüpfrig gemacht; das Automobil gleitet zurück; die schweren Schutzwände werden unter dem Drucke der Pneumatiks mit Gewalt beiseite geschleudert; es geht ihnen so wie dem Kirschkern, der durch den Druck der Finger fortgeschnellt wird. Und die Maschine bleibt wieder unbeweglich stehen. Man muß es von neuem versuchen. Die „Itala“ fährt zurück. Wir beeilen uns, die Schutzwände wieder an ihre Stelle zu bringen, aber Ettore ruft:
„Versuchen wir es ohne Unterlage!“
Er nimmt zum zweitenmal einen Anlauf. Der Wagen gelangt stolpernd bis an die Steine. Nach einem Augenblick des Zögerns heben sich die Vorderräder auf die Brückenfläche. Aber das Automobil hat sich festgerannt; die Hinterräder drehen sich mit rasender Geschwindigkeit an den ungefügen Stufen, ohne daß es ihnen gelingt, hinauszukommen. Sie wirbeln mit furchtbarer Schnelligkeit um sich selbst und schlagen mit den die Reifen festhaltenden Nägeln dermaßen gegen die Steine, daß die Funkengarben umhersprühen. Ettore steigert mit Unterbrechungen die Geschwindigkeit des Motors, der in ein beängstigendes Heulen ausbricht und unter heftigem Stöhnen ganze Wolken von dichten, weißen, scharfriechenden Dämpfen ausspeit. Wir eilen mitten in diese Dämpfe hinein, um die Maschine mit allen Kräften vorwärts zu stoßen; der glühende Hauch des Auspuffs wälzt sich uns um die Beine. Unsere Mühe ist vergeblich, wir ziehen uns entmutigt zurück.
Das Automobil, das sicherlich seinen Teil Eigenliebe besitzt, wollte allein über die Schwierigkeiten Herr werden. Mit einem Male beginnen die Räder zu greifen, sie halten einen Augenblick inne, wie um ihre Kraft zu sammeln, und steigen langsam, langsam nach oben. Sie überwinden die erste, die höchste Stufe, sodann die übrigen. Schließlich erklimmt die Maschine die Marmorplatten und bleibt hier stehen, um sich einige Minuten auszuruhen. Dann unternimmt sie mit dem Schritte einer Ameise den schwierigen Übergang zwischen all jenen aus den Fugen geratenen Steinen, wobei sie ab und zu stehenbleibt, um die nur eine Hand breiten Fahrbahnen zu erspähen, nach einer Art des Weiterkommens suchend, bei der nicht mehr als ein Rad in die Furchen einsinkt oder zwischen den Fugen eingeklemmt wird. Das Automobil taumelt ungeschickt, langsam von einer Seite zur andern, schwankt auf und nieder, geht mitunter einen Schritt zurück, um die Richtung zu ändern; es hat ganz das Aufsehen einer riesigen Schildkröte, mit dem weiten Panzer, der fast den Boden berührt, und den vier einzelnen starken und vorsichtigen Tatzen.
Der Abstieg auf der andern Seite ist leicht, aber voller Interesse. Es ist das erstemal, daß ich ein Automobil bei einer solchen Arbeit erblicke. Der gewaltige Apparat, der für rasende Fahrten, für unerhörte Geschwindigkeiten berechnet ist, steigt hier die Stufen einer Treppe mit der zaghaften Aufmerksamkeit eines kleinen Kindes hinab. Das Ungeheuer bietet all seine Kraft auf, um sich im Gleichgewicht zu erhalten. Es scheint, als bemerke es die Gefahr, als schätze es die Höhenverhältnisse ab; es bewegt seine Räder mit unendlicher Vorsicht, setzt sie leise auf die unteren Stufen, ohne einen Ruck, ohne einen Stoß; es steigt herab wie ein riesengroßes denkendes Wesen, das es versteht, sein Können in den Dienst der Klugheit zu stellen. Es braucht Minuten, um einen Meter zurückzulegen, bevor es freien Weg vor sich erblickt. Dann mit einem Male schießt es wie in einem Übermaß von Freude davon, und es hat den Anschein, als könne es nicht mehr stehenbleiben, während wir hinter ihm herlaufen und ihm zurufen:
„He, halt! Heda, halt!“
Wir nahmen die Fahrt auf dem Landwege wieder auf, während ein feiner, durchdringender Regen niederströmte, der allmählich Schmutz erzeugte und Pfützen und bescheidene Seen schuf. Wir fuhren über ländliche Brücken, ähnlich denen, die die reichen Chinesen in ihren Gärten zur Zierde anzubringen lieben, eilten über Fußwege, die sich zwischen hohen grasbewachsenen Dämmen hindurchschlängelten, die mit Weiden bestanden waren; ihre herabhängenden Zweige berührten unsere Köpfe. Die Mannigfaltigkeit der Landschaft kündigte uns die Nähe von Hügeln an, die Grenze der großen Pekinger Ebene, jenes grünen Meeres, in welchem die Haine, hinter denen sich die Dörfer verstecken, wie Inseln erscheinen. In der Ferne erblickten wir schon eine oder die andere blaßblaue Anhöhe, überragt von dem charakteristischen Profil einer Pagode.
Unvermutet sahen wir vor uns die Marmorbalustrade einer zweiten antiken Brücke schimmern, die über den Schi-kiau-ho führte und noch größer war als die erste. Wir stiegen vom Wagen und machten unserem Groll gegen die Pracht von Kambaluk Luft. Das Manöver des Aufstiegs auf die Brücke und ihrer Überwindung begann von neuem. Zum Glück hatte sich das Automobil schon eine gewisse Übung im Klettern erworben, und in 20 Minuten konnte es seinen archäologischen Übergang auf das linke Ufer des Flusses bewerkstelligen.
Hier sahen wir uns von einer Menge Chinesen umringt, die seltsame Mützen trugen und uns freundlich begrüßten. Wir baten um frisches Wasser; es wurde uns in Eimern, in Töpfen, in Teekesseln gebracht. Ein schöner alter Mann von tatarischem Gesichtsschnitt lud uns freundlich ein, den Tee in seinem Hause einzunehmen. Er war ganz betrübt, als wir ablehnten. Er versicherte uns, er sei unser Freund. Alle jene Leute waren unsere Freunde. Weshalb? Die Erklärung für dies Gefühl der Sympathie erhielten wir, als sie uns unter den Bäumen mit einem gewissen Stolze ihre Moschee zeigten. Es waren mohammedanische Chinesen; der alte Mann war ihr Oberhaupt und Priester. Die mohammedanischen Chinesen fühlen sich durch ihre Religion uns näher verwandt als ihren Landsleuten. Sie wissen, daß die Grundlage unseres Glaubens das Alte Testament ist, und sie glauben an dasselbe Alte Testament, das zu ihnen auf dem Wege über Turkestan gekommen ist, unterwegs ein wenig verändert, bei der Ankunft ein wenig chinesisch geworden, aber dem wesentlichen Inhalte nach unangetastet.
Wir entboten dem ehrwürdigen Priester einen Gruß auf arabisch — in seiner heiligen Sprache — und entflohen eiligst, an unseren Wagen geklammert, während er und sein Volk uns regungslos nachblickten, verzückt, wie vor einer biblischen Erscheinung.
Es dauerte nicht allzulange, bis wir am Horizont in unbestimmten Umrissen und bleichen Farben die seltsam geformten Gipfel der Berge von Kalgan erblickten. Rings um uns herum erhoben sich kahle Hügel und schlossen uns ein. Zu unserer Rechten öffnete sich jenes wundervolle Amphitheater von Bergen in regelmäßigen und feierlichen Formen, in dem die Kaiser der Mingdynastie ihre letzte Ruhestätte haben. Es gibt in der ganzen Welt keinen großartigeren fürstlichen Friedhof. Es sind nicht die Tempel, die Bogen, die riesenhaften Denkmäler, die so überwältigend wirken, es ist die Örtlichkeit selbst. Ein unfruchtbares und unzugängliches Tal von der ganzen unsagbaren Majestät einer Grabstätte erfüllt, einer Grabstätte von Halbgöttern, der ein Kreis von Bergen als Umfassungsmauer dient. Irgendein übermenschlicher Wille scheint sie hierher versetzt zu haben, um Schatten und Schweigen über den heiligen, ewigen Schlummer einer Dynastie zu breiten.
Wir bemerkten, daß wir uns in der Nähe einer göttlich verehrten Stätte befanden. Wie im Umkreise eines Tempels ragten überall Denksteine empor, bedeckt mit altertümlichen Schriftzeichen, errichtet auf dem Rücken riesiger Schildkröten oder Drachen aus Marmor oder auf einer mit Lotosblumen geschmückten Basis, die an das Piedestal der Buddhastatuen erinnerte. Der Weg wurde immer schwieriger, steiniger und nahm beinahe schon ein gebirgiges Aussehen an, als wir auf unsere Kulis stießen. Wir waren in ein kleines Dorf gelangt. Als sie uns erblickten, stürzten sie bunt durcheinander auf die Straße.
Ein alter Aufseher befehligte sie, der als Abzeichen seines Ranges eine weiße Fahne mit der Inschrift: „Höret auf die Worte eures Vaters“ trug, wohl um anzuzeigen, daß man ihm Gehorsam schulde. Um seine väterliche Stimme zu verstärken, hatte sich der Alte mit einem an einem Bindfaden um den Hals gehängten Metallpfeifchen versehen. Wir riefen den Kulis zu, sie möchten uns nachkommen, und ließen sie hinter uns zurück. Wir wollten den Motor möglichst lange ausnutzen.
Jetzt unterschieden wir deutlich die Schlucht von Nankou. Sie erschien eng wie ein Spalt zwischen zwei steil ansteigenden, mit Felstrümmern bedeckten Bergen, auf deren unregelmäßigen Gipfeln sich alte Befestigungstürme erhoben. Rings zeigten sich die bizarren Umrißlinien anderer Berge. In dem melancholischen Dämmerlichte des regnerischen Tages hatte das Panorama etwas unsagbar Wildes. Bei Sonnenschein würde es nur einen romantischen Eindruck gemacht haben. Die Abhänge der Höhen stiegen steil empor wie Bastionen und schienen jeden Versuch, sich ihnen zu nahen, zurückweisen zu wollen.
Nankou bedeutet „Mund des Südens“.
Es gibt Landschaften, von denen man sagen könnte, sie seien für den Kampf der Menschen untereinander geschaffen; Schlachtgefilde, Örtlichkeiten, in denen die Natur Angriff und Verteidigung unterstützt, düstere, zerrissene Gegenden, die den Geist der Feindseligkeit atmen, Defilees für Überfälle und Pässe für Hinterhalte. Nankou bietet solch einen drohenden Anblick. Die Zeiten der feindlichen Einfälle liegen in ferner Vergangenheit, die Befestigungen auf den Gipfeln verfallen Stein um Stein, und ringsherum lebt das friedlichste Volk der Welt. Und dennoch ruft dieser tiefe Talgrund schon durch seine Gestaltung den Gedanken an Angriffe und Metzeleien hervor, als seien die ihn umschließenden Berge nichts anderes als ungeheuere Mauern einer Riesenfestung.
Sechs Kilometer von der Mündung des Tales entfernt mußten wir halten. Von diesem Punkte an ist die Straße nichts anderes als das Bett des Bergstromes, der aus der Schlucht von Nankou herunterstürzt: Sand, Felsblöcke, Wasserpfützen. Wir warteten auf unsere Leute. Im Laufschritt eilten sie herbei, froh, sich des Ki-tscho bemächtigen zu können. Vielleicht fürchteten sie, er eile davon und entziehe ihnen die Aussicht auf den Verdienst. Unter wildem Geschrei kamen sie wie eine Räuberbande heran. Welch seltsame Zusammenstellung von Trachten und Kopfbedeckungen! Säcke von grober Wolle nach Art der indianischen Ponchos, das wasserdichte Kleidungsstück der chinesischen Karawanenführer bildend, blaue, weiße, graue Hemden, alle gleich zerrissen, Lumpen als Turban um den Kopf geschlungen, Strohhüte zum Schutze gegen die Sonne, Fetzen jeder Form und jeder Art, Kleidungsstücke, die Generationen gedient haben mußten, kurz ein malerisches Durcheinander. Es waren Greise, Jünglinge, Knaben darunter, Chinesen und Tataren, Figuren von Bettlern und von Mandarinen, ein Gemisch von altem Elend und jungem Elend, eine Schar Bedürftiger jeder Klasse, angeworben, wer weiß wie, der Bodensatz des menschlichen Ameisenhaufens von Peking. Lustig und zufrieden waren sie gekommen, ein Automobil zu ziehen und damit in vier Tagen den Lebensunterhalt für einen Monat zu verdienen.
Der alte Anführer schwenkte die Fahne und blies mit vollen Backen in die Pfeife. Der Pfiff bedeutete: Fertig! Ettore band die dicken Seile um den vorderen Teil des Rahmens und die beiden vorstehenden Arme, die an jedem Automobil angebracht sind, um die Federn an der Achse festzuhalten, und eine Minute später zogen zwei lange Reihen gekrümmter Menschen, an die Seile gespannt, langsamen Schrittes die schwere Maschine, während andere hinten schoben. Es regnete immerwährend. Ab und zu blieb das Automobil vor großen Steinen mit einem Rucke stehen; es stemmte sich wie ein störrisches Tier. Dann verdoppelten die Kulis, die einen Augenblick mit einem Fuß in der Luft festgehalten wurden, ihre Anstrengungen und sangen im Takt, um einheitlich ziehen zu können. Der Alte stimmte im Tone eines betenden Bonzen ein Lied an, und die andern heulten den Refrain im Chore mit: „Lai, lai-la!“ „Vorwärts, vorwärts!“ und zogen an. Der Aufseher improvisierte sein Lied; er sang, was ihm gerade einfiel; auf den Ton und die Melodie kommt es an, nicht auf die Worte. Närrisches Zeug kam aus seinem Munde, das die Leute in Heiterkeit versetzte, und aus dem „Lai, lai-la“ hörte man bisweilen ein seltsames Gemisch von Anstrengung und Heiterkeit heraus.
Wenn der Wagen ein kleines Hindernis überwunden hatte, rollte er infolge des erhaltenen Anstoßes plötzlich vorwärts. Er schien alle jene seltsamen Leute verfolgen zu sollen; die Seile wurden schlaff, und die Chinesen trabten und sprangen unter lautem Geschrei und Gelächter vergnügt einher. Sie belustigten sich daran wie an einem Spiel und legten so eine Strecke in großem Tumult zurück, bis sie sich wieder an den aufs neue straffgespannten und unbeweglichen Seilen ziehend zusammenfanden. Diese Schar Menschen erweckte unser Interesse. Es waren keine Lastträger; es waren nur Arme; sie vertraten nicht eine bestimmte Klasse, sie vertraten das Volk im ganzen. Es war das große chinesische Volk mit seinem Elend und seinen Tugenden, das wir an der Arbeit sahen. Die Armut, die Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit, die Einfalt, die Geduld und die Arbeitsamkeit, alle Vorzüge und alle Fehler der Rasse, verborgen unter einem schmutzigen, unvorteilhaften Äußern, waren an unsere Maschine gespannt. Feierlich schritt der Alte mit seiner Fahne dem Zuge voran.
Es blieben noch die zerrissenen Berge von Nankou am Eingange der Schlucht zu überwinden. Das Dorf lehnt sich an den Nan-schan, den „Berg des Südens“, der auf die Häuser steil herabfällt und, von unten gesehen, sich vornüberzubeugen scheint, um zu beobachten, wer im Tale daherkommt. Bis zum Gipfel ziehen sich zinnengekrönte hohe Mauern, alte Verteidigungswerke, die sich von der Großen Mauer abzweigen und fast unversehrt geblieben sind, weil sie dem Menschen fast unzugänglich waren. Ihre Zerstörung ist einzig und allein der Zeit überlassen, und die Zeit ist gegen großartige Werke unendlich gütiger als der Mensch.
Das Dorf Nankou ist eine Anhäufung von Steinen. Die niedrigen und kunstlosen Häuser sind aus Bruchsteinen erbaut, und an ihren Vorderseiten ziehen sich hohe, aus Steinplatten hergestellte Fußpfade entlang; die Mitte des Weges ist für die Überschwemmungen freigelassen. Eine alte Festungsmauer schließt den Ort ein. Wir betreten durch das niedrige, tiefe, finstere Tor die einzige Straße des Ortes. Es hat aufgehört zu regnen; für einige Minuten drängt sich die Sonne durch die Wolken und streut über die nassen Steine helle Lichter. Die Bewohner treten an die Türen und beobachten uns.
Es scheinen Angehörige einer andern Rasse zu sein. Es sind die Bergbewohner Chinas. Sie sind groß und stark; ihr Gesicht trägt die stolzen Züge des tatarischen Stammes. Diese kleine, einsam und verlassen inmitten unwirtlicher Felsen wohnende Bevölkerung läßt an eine Besatzung denken, die in früheren Zeiten zum Schutze des Passes hierhergelegt und vergessen worden ist. Vielleicht stammt sie in der Tat von den tatarischen Kriegern ab, die nach der Eroberung Chinas durch die Mandschu im 17. Jahrhundert hierhergeschickt wurden, Krieger, die im Laufe der Zeit die unnötig gewordenen Waffen abgelegt und verloren haben, ohne ihren Posten zu verlassen, unbewußt treue Hüter einer Stellung, die ihren Ahnen vor Jahrhunderten anvertraut worden war.
Unser erster Reisetag ist zu Ende. Es ist 2¾ Uhr, als wir die kleine chinesische Herberge betreten, die der Ma-fu Pietro uns als Quartier ausgesucht hat. Wir haben nur 60 Kilometer zurückgelegt. Unsere Matrosen umringen uns freudig; sie teilen uns mit, daß das Gepäck wohlbehalten angelangt sei, daß ein gutes Feuer im besten Zimmer brenne, an dem wir uns trocknen können, und daß Hühner gekocht werden: alles erfreuliche Nachrichten. Die „Itala“ findet ihren Platz zwischen den Wagen, den Maultieren, den Pferden und den Karawanenführern, die sich im ersten Hofe drängen und hier das kennzeichnende, unentwirrbare Durcheinander jeder chinesischen Herberge verursachen.
Nachmittags gehen wir mehrmals ins Freie, auf die zurückgelegte Straße in der Hoffnung, den übrigen Automobilen zu begegnen; wir steigen auf die mit Zinnen besetzten Mauern, von denen der Blick weit in die Ebene hinabschweift. Doch soweit wir zu sehen vermögen, herrscht tiefe Einsamkeit. Um 4 Uhr bemerken wir eine Gruppe von Menschen, die zu dem Dorfe heraufsteigt; sie kommt von der zwei Kilometer entfernten Eisenbahnstation Nankou und zieht etwas. Es ist das Dreirad „Contal“. Pons und sein Mechaniker helfen, niedergeschlagen, schwitzend bei der Beförderung der Maschine. Auf Pons’ Gesicht bemerke ich eine schmerzliche Enttäuschung. Kaum aus den Toren Pekings heraus, mußte er auf die Weiterfahrt verzichten. Das Dreirad, das auf guten Straßen Vorzügliches zu leisten imstande ist, hat sich auf schlechten als unbrauchbar erwiesen. Es hat zwei Lenkräder und ein Bewegungsrad; auf den ersten ruht das Gewicht des Wagens; es ist daher ein enormer Widerstand zu überwinden, und nur eine kleine Kraftquelle zum Antrieb vorhanden; es genügt eine leichte Unebenheit des Geländes, daß das Bewegungsrad sich leer dreht und über den Boden hinstreift. Pons ist gezwungen, umzukehren und seine Maschine mit der Bahn zu befördern; er ist aber entschlossen, um jeden Preis die Mongolei zu erreichen, wo er günstiges Gelände zu finden hofft.
Bald nach Sonnenuntergang schlief Nankou bereits. Auf dem Kang, dem chinesischen Ofenbette, ausgestreckt, in eine Matrosendecke gehüllt, setzte ich in einer schlaflosen Nacht die große Reise fort; ich sandte die Phantasie voraus auf Entdeckung. In der Ferne donnerte der Bergstrom, dessen Lauf wir zwischen den steilen Felsen hatten aufwärts verfolgen müssen. Später ward seine Stimme von dem Plätschern des Regens übertönt, der wieder heftig zu fallen begann. Vom Winde getrieben, schlugen große Tropfen gegen die papierenen Fensterscheiben, als wenn jemand mit den Fingern auf ihnen trommelte.
Es regnete noch, als Pietro mit einer kleinen Papierlaterne in der Hand hereinkam, um uns zu wecken; es regnete, als der Tag anbrach, und es regnete, als wir uns zur Abfahrt entschlossen, nachdem wir vergebens auf den Eintritt schönen Wetters gewartet hatten. Die Kulis standen seit 3 Uhr morgens marschbereit. Um 7 Uhr 25 Minuten verließen wir Nankou. Die Fürstin war in der Herberge geblieben, um mit der Eisenbahn nach Peking zurückzukehren. Don Livio begleitete uns bis zur Großen Mauer.
An das Automobil war die Chinesenhorde angespannt und außerdem drei willfährige Tiere. Die Pekinger Transportagentur hatte versprochen, uns vier Maultiere zu liefern; in Nankou waren jedoch nur ein einziges Maultier, sowie ein altes Pferd und ein kleiner weißer Esel aufzutreiben gewesen. Ein Vertreter der Agentur hatte auf die Vorhaltungen des Fürsten hoch und heilig, unter Anrufung der Götter als Zeugen, versichert, daß die drei Tiere genügen würden, den Ki-tscho bis ans Ende der Welt zu ziehen, und wir, die wir ihn nur bis Kalgan gezogen wissen wollten, gaben uns damit zufrieden.
Im Augenblicke der Abreise brannten die guten Einwohner von Nankou zum Abschiedsgruß einige Petarden ab. So will es der Brauch; der Chinese feiert die Feste mit lärmenden Feuerwerken, und wenn er jemand seine Huldigung darbringen will, so stellt er ein Paar Böller vor die Tür, und im gegebenen Augenblicke geht es bum! bum! Das ist der Gipfel der Ehrerbietung.
Wenige Minuten später verschwand das Dorf hinter einer Biegung des Tales. Der Weg beginnt plötzlich zu steigen und sieht wie eine Rampe mit niedrigen, breiten Stufen aus, von denen jede einzelne die Kulis zu einer Wiederholung des „Lai lai-la!“ nötigt und den Tieren ein drohendes Klatschen mit der Peitsche einträgt.
Der Alte mit der Fahne befand sich natürlich an der Spitze. Die Matrosen gingen zu beiden Seiten des Automobils und stemmten sich von Zeit zu Zeit kräftig mit der Schulter gegen die Räder, als gelte es, eine Kanone auf den Gipfel eines Berges in Stellung zu bringen. Ettore, der allein auf der Maschine saß, eingehüllt in die Falten eines ungeheueren Regenmantels, der ihm das Aussehen eines bretonischen Fischers gab, hielt das Steuerrad mit der Aufmerksamkeit eines diensthabenden Steuermannes und kommandierte seine Scharen durch Ertönenlassen der Hupe. Einmal bedeutete: „Vorwärts!“, zweimal: „Halt!“ Aber die Signale mußten oft wiederholt werden, und bald begann die Hupe der „Itala“ infolge der Anstrengung an Heiserkeit zu leiden, die sie schließlich stumm machen mußte. Pietro schloß den Zug zu Pferde, den Kopf mit einem riesigen Strohhut bedeckt, der infolge einer genialen Anordnung der Bänder die Form eines Damenhutes, Stil Directoire, angenommen hatte. Der wackere Ma-fu trug diese Kopfbedeckung mit großer Würde. Offen gestanden, niemals ist ein sonderbarerer Zug durch die Pässe der Großen Mauer marschiert! Wenn ich noch hinzufüge, daß Don Livio, Don Scipione und ich von Zeit zu Zeit ausruhten, indem wir auf zwei winzigen Saumtieren ritten, die so niedrig waren, daß unsere Füße auf dem Boden schleiften, und so kurz, daß unsere Regenmäntel sie mit dem großartigen Faltenwurf einer Toga völlig umgaben, so habe ich einen weiteren Umstand von höchster Bedeutung für die historische Genauigkeit erwähnt.
Die Landschaft änderte sich jeden Augenblick. Oben tauchten immer neue Gipfel auf, schroff, kahl, von immer seltsamerer Gestalt. Niedrige, schwarze Wolken hingen bis auf sie herab, und der graue Nebel ließ sie entfernter und höher erscheinen; ihre düstere Großartigkeit nahm dadurch noch zu. Unten floß der Bergstrom bald still wie ein Bach und schlängelte sich friedlich zur Seite des Weges unter grünen Sträuchern und Weidengruppen dahin, bald brauste er stürmisch, in wilden Wirbeln, schäumend in engen Schluchten, in denen wir uns vorsichtig vom Rande der Straße entfernt hielten. Alte Befestigungslinien ziehen sich fortwährend von den Gipfeln der Berge bis in den Talgrund hinab, steigen wieder empor und verschwinden in der Richtung auf andere ferne Berge zu. Es sind mit Zinnen versehene Mauern, die Schleichpfade decken, Befestigungen zweiten Ranges im Rücken der Großen Mauer, riesige Wegsperren. Zwischen zwei dieser ungeheueren Verteidigungswerke liegt ein großes Dorf: Kü-yung-kuan.
Wir haben die hohen schwarzen Mauern hinter uns gelassen und befinden uns vor einem wunderbaren Marmorbogen, der auf das geschmackvollste mit Friesen und Figuren geschmückt ist, ein Bogen, den man, aus der Ferne gesehen, als römisch bezeichnen könnte. Riesenhaft hebt er sich von den elenden Dorfhütten ab, ein letzter Rest wer weiß welcher Herrlichkeit und welches Reichtums. Kü-yung-kuan war in den goldenen Zeiten des Reiches der Sitz eines Kommandos, und damals vertrieben sich die militärischen Mandarine, wie einst die römischen Konsuln, die Zeit damit, daß sie sich mit prächtigen Kunstwerken umgaben.
Während wir unseren Aufstieg fortsetzten, überholte uns eine Anzahl eilfertig dahinschreitender Männer mit einer Sänfte auf den Schultern. In der Sänfte saß mit geöffnetem Schirm ein Europäer, den die Einwohner mit Ehrerbietung behandelten. Als er an uns vorüberkam, begrüßte er uns auf englisch. Wir sahen sofort, daß es sich um einen in der Gegend angesehenen Mann handelte; alle kannten ihn und begegneten ihm achtungsvoll. Sie nannten ihn den „alten Herrn, der das Gebirge durchbohrt“. Pietro, der sich nach ihm erkundigt hatte, erklärte uns die Sache. Man muß nämlich wissen, daß die chinesischen Kaufleute bemerkt haben, daß eine Eisenbahn, wenn sie auch die Geister der Ahnen beunruhigt, jedenfalls ein ausgezeichnetes Geschäft ist. Von dieser Wahrheit überzeugt, hatten viele chinesische Kaufleute und Bankiers in Peking den Entschluß gefaßt, eine für den Handel so unentbehrliche Eisenbahn zu bauen, und zwar ohne einen Fremden sich in irgendwelcher Weise einmischen zu lassen: chinesisches Kapital, chinesische Arbeit, chinesische Verwaltung. So bildete sich die chinesische Gesellschaft für die Eisenbahn Peking-Kalgan, die den Verkehr bis Nankou bereits aufgenommen hat. Auch die Ingenieure waren natürlich Söhne des Himmels, die in Amerika studiert hatten.
Alles ging gut, solange die Arbeiten sich in der Ebene abspielten; als sie aber in das Gebirge gelangten, stießen die als Ingenieure tätigen Söhne des Himmels auf ernste Schwierigkeiten. Die Tunnels stürzten ein; nach jedem Einsturz wurden sie nach allen Regeln der Kunst von neuem gebaut und stürzten dann wiederum ein; die Ausdauer der guten Chinesen kämpfte vergeblich gegen die Halsstarrigkeit ihrer Berge. Es fehlte nicht an Leuten, die darin alle Anzeichen eines Protestes des Drachen erblickten, dessen ungeheuerer Körper durch das Bohren verwundet worden war; der Beweis ergab sich aus dem Umstande, daß der Berg Menschen verschüttete. Die Rache war augenscheinlich. Aber der Drache verliert heute außerhalb der amtlichen Kreise an Kredit. So kamen die Kaufleute auf den Gedanken, ob es vielleicht den Teufelskünsten eines abendländischen Ingenieurs gelingen könne, den Sieg über die Hartnäckigkeit des Gebirges von Nankou davonzutragen; die Kunde vom Simplondurchstich war zu dieser Zeit auch nach China gedrungen. Und die Gesellschaft entschloß sich zu dem Frevel und engagierte für die Linie Peking–Nankou einen tüchtigen Ingenieur, dem sie die Leitung der Arbeiten übertrug. Daher erschien nun der „alte Herr, der das Gebirge durchbohrt“, in seiner Sänfte in den Schluchten der Großen Mauer.
Der Aufstieg war beschwerlich, und wir gewährten den Leuten öfters eine wohlverdiente Ruhepause. Auf das Signal, aus Reih und Glied zu treten, ließen sie die Seile los und zerstreuten sich fröhlich in der Nähe, um auf den ersten Pfiff des Alten sofort wieder zu erscheinen. Der Esel, das Maultier und das Pferd weideten miteinander in völliger Eintracht das Gras ab, wobei sie die langen, mit Straßenschmutz bedeckten Zugleinen hinter sich herschleiften. Das Automobil blieb verlassen auf dem Wege stehen, nachdem Steine unter seine Räder gelegt worden waren. Über und über naß, stand es trübsinnig, gedemütigt, mit schlaff niederhängender Flagge da.
Die Matrosen waren guter Dinge, wie ein Matrose immer ist, selbst wenn es regnet, sobald er einen Abstecher an Land macht. Es waren fünf durch Kraft und Geschicklichkeit ausgezeichnete Leute. Der eine war Mechaniker und Photograph; er unterstützte Ettore während des Marsches bei der Überwachung des Ganges der Maschine, und an den Haltestellen erschien er vor uns, bewaffnet mit einem Stativ, einem schwarzen Tuch und einem riesigen photographischen Apparat, den er wer weiß woher hervorgeholt hatte. Von diesem Augenblicke an befanden wir uns unter der unablässigen Beobachtung seines Objektivs, das wie ein Zyklopenauge uns streng überallhin verfolgte. Ein anderer war Krankenpfleger und Koch, der den Kranken wertvolle Dienste, wertvollere aber den Gesunden leistete und stets bereit war, uns nach allen Regeln der Kunst eine Roulade zu wickeln oder einen dampfenden, ebenfalls kunstgerecht gebackenen Eierkuchen zu servieren. Der dritte war Elektrotechniker, der vierte Zimmermann; der letzte sprach chinesisch mit echt sizilianischer Aussprache; er war in Kalgan mit der internationalen Kolonne gewesen, die 1900 dort einmarschierte, und kannte die Straße so genau wie ein Lotse. Alle besaßen die beneidenswerte Gabe guter Laune; alles erschien ihnen eigens dazu geschaffen, sie zu beglücken. Der unablässige Regen, der sogar durch unsere wasserdichten Mäntel drang, erzeugte in uns ein eisiges Gefühl der Niedergeschlagenheit, die Matrosen freuten sich selbst über den Regen. Das Wasser war ihr Element. In ihren durchweichten, an der Brust offenen Leinwanduniformen wateten sie in den Pfützen umher und machten sich über das Wetter lustig. Liebe Gefährten und eine stolze Eskorte für unsere kleine Flagge; bereit zu lachen und bereit, sich, wenn es die Not erheischte, für uns zu schlagen.
Ein rauher Ton der Hupe, ein Pfiff, ein Zusammenströmen der Leute, ein Massengesang, ein Peitschenknallen, und der Zug setzte sich von neuem in Bewegung. Es ging hinauf durch das endlos scheinende Tal von Kü-yung-kuan, das immer unwegsamer wurde.
Plötzlich verengt sich das Tal, es scheint sich zu schließen. Man hat den Eindruck, als gebe es keinen Ausweg, als wären die Berge zusammengerückt, um den Durchgang zu versperren. Auf den ersten Blick bemerkt man die enge Schlucht nicht, die sich zur Rechten öffnet, eine Art Spalt zwischen den senkrecht aufstrebenden Klippen, etwa 40 Meter breit, ein Korridor zwischen Felswänden. Durch einen düsteren Landstrich waren wir gezogen, hier betraten wir einen grauenerregenden.
Seit undenkbaren Zeiten müssen die Menschen Furcht vor dieser Gegend gehabt haben, denn sie gilt ihnen als heilig. Vielleicht weil die Reisenden nur mit einem Gebet auf den Lippen sie durchzogen; die Örtlichkeit fordert geradezu zum Anrufen der Götter heraus. Für einfache Gemüter ist das Gebirge an und für sich ein Mysterium, ein Sichaufschwingen der Erde zum Himmel; die hohen Gipfel stehen in Berührung mit der Gottheit. Inmitten der Berge öffnet sich hier plötzlich ein Tor. Alle Stämme, die es durchzogen, müssen darin das Zeichen eines allmächtigen Willens, ein göttliches Werk erblickt haben, das aus unerforschlichen und deshalb schreckenerregenden Gründen geschaffen worden ist. Jene ungefügen Basaltsäulen hatten für die Phantasie die Bedeutung einer Grenzscheide. Jenseits befand sich etwas, vor dem man sich anbetend zu Boden werfen mußte. Geheimnisvolles Dunkel herrschte. Die Reisenden betraten es mit frommer Scheu wie ein Heiligtum. Und das Tal wurde zu einem von der Majestät der Einsamkeit in all ihrer erhabenen Öde umgebenen Tempel.
Es war und ist heute noch ein Zufluchtsort für Einsiedler. Jede Felsenhöhlung ist ein Heiligtum, und man sieht heilige Sprüche in altertümlichen chinesischen Schriftzeichen und andere noch ältere in tibetischer, mongolischer und mandschurischer Sprache in die Felsen gehauen, Spuren der Frömmigkeit längst dahingegangener Geschlechter. Oben, auf einem der Felsen, erhebt sich ein seltsamer Bau: ein kleiner Tempel, der in einem Adlerneste errichtet ist; man steigt lange, in den Fels gehauene Reihen von Stufen hinauf, die hier und da mit Gebüsch bewachsen sind. Weiter drinnen in der Schlucht befindet sich ein zweiter Tempel, ein anderer Zufluchtsort des Glaubens, der Jahrhunderte alt ist und nun langsam verfällt. Auf dem Gebirge zeigen sich an unzugänglichen Punkten noch Reste ähnlicher, jetzt verschwundener Bauten, die zusammengesunken sind unter dem Anprall der Schneestürme, die, von Norden einherbrausend, sich in das Tal stürzen und wütend einen Ausweg suchen. In Felsblöcke, die von den Berggipfeln gestürzt sind, hat der fromme Meißel ungeschulter Künstler das Bild Buddhas eingegraben, er hat in den Umrissen des Felsens die Umrisse der Statue gesucht, hat den Steinen die strengen, ernsten Gesichtszüge der milden Gottheit gegeben. Manch riesenhaftes Buddhabildnis ist in wunderbarer Weise in die Felswände des Gebirges eingehauen. Man erblickt einige Reste alter Tempel, Trümmer von Säulen und Pfeilern. Es zeigt sich keine einzige Spur menschlicher Tätigkeit, die nicht eine Bekundung des Glaubens wäre. Beim Durchschreiten dieser Gegend sprach jede Seele: „Ich glaube.“
Dieser Weg hat auch eine religionsgeschichtliche Bedeutung: auf ihm ist der Lamaismus, der tibetische Buddhismus, nach China eingedrungen. Aus dem Herzen Asiens, dieser Quelle von Religionen, sind Wogen der Frömmigkeit durch diese Täler herübergeflutet, um die Seelen der Chinesen zu neuen Kulten zu bekehren. Es ist nichts Seltenes, hier fremde Pilgerzüge anzutreffen. Als Fürst Borghese die Straße nach Kalgan erkundete, hatte er einige Tage zuvor hier einen Büßer mit geschorenem Kopfe und in langem grauem Gewande getroffen, der betend und alle drei Schritte niederkniend, um den Boden zu küssen, den Weg zurücklegte. Borghese erkundigte sich nach ihm. Der Pilger war auf dem Wege nach der heiligen Stadt Urga und hatte auf diese Weise die Mongolei und die Wüste Gobi durchquert. Die Bevölkerung ist gastfreundlich und mildtätig gegen diese wandernden Pilger, die am Abend ihre Mühsal unterbrechen, einen großen Stein auf die Stelle legen, bis zu der sie gekommen sind, um sie am Morgen wiederzufinden, und bis zum nächsten Dorfe gehen, um sich von ihrem frommen Beginnen auszuruhen.
Es kommt uns der Gedanke, daß auch wir, alles in allem genommen, auf einer seltsamen Pilgerfahrt begriffen sind. Auch wir haben ein eigenartiges Gelübde getan und erfüllen es mit Glaubenseifer. Wenn der Mann, der jene drei Schritte tat, seinerseits den Fürsten nach dem Beweggrunde seiner Reise gefragt hätte, würde er gewiß höchst erstaunt gewesen sein.
Nachdem wir durch das Dorf Pa-ta-ling gekommen waren, sahen wir ein ausgezahntes Profil wie eine Zickzacklinie einige entfernte Kämme vor uns umsäumen und andere Berge zu beiden Seiten krönen; wir sahen es hier auftauchen, dort verschwinden, bis es allmählich die Form zahlloser, zu einer Kette verbundener Türme annahm, gleich Scharen wachehaltender Riesen.
Es war die Große Mauer.
Auf dem Gebirge.
Das Passieren der Großen Mauer. — Die Matrosen verlassen uns. — Auf der Fahrt durch das chinesische Flachland. — Im Schatten des Lien-ya-miao. — Angstvolle Augenblicke. — Die Mongolei kommt in Sicht.
Von fern gesehen macht die Große Mauer, die mit dem Gebirge zusammengewachsen und verschmolzen ist als riesenhaftes Pendant zu dessen Gipfeln und Felsenwänden, nicht den Eindruck eines Werkes von Menschenhand: sie ist allzu gewaltig dazu, und das, was man von ihr sieht, beträgt nicht den tausendsten Teil. Man könnte eher von einer phantastischen bizarren Laune der Erde sprechen, entsprungen aus dem Wirken unermeßlicher, unbekannter Naturkräfte, von dem Erzeugnisse einer schöpferischen Erdumwälzung.
Je näher wir kamen, desto mehr verschwand die Große Mauer in einem Gewimmel von Berggipfeln, und wir erblickten sie erst wieder bei den letzten Windungen des Weges, als wir im Begriff standen, die massiven, doppelten Tore zu durchfahren, die von noch heute festen Bastionen verteidigt werden. Die Straße auf die Höhe hinauf ist nichts als eine Furche im festen Gestein, sie wird stets steiler und ungangbarer. Wir fuhren seit 8 Uhr unter unaufhörlichem Regen; nur langsam und mühselig kamen wir vorwärts, jeden Augenblick zum Halten gezwungen, um Steine aus dem Wege zu wälzen, Fahrbahnen für die Räder herzustellen, das bedrohte Geschwindigkeitsgetriebe vor den Unebenheiten des Bodens zu schützen. Alles ringsum eine wilde, öde Wüste.
Wir marschierten am Rande eines tiefen Abgrundes. Von hier aus erblickten wir zu unserer Freude an einer Stelle zwei Telegraphendrähte. Um ihre Isolatoren geschlungen, kamen sie von unten herauf, kreuzten den Weg und überschritten die Mauer. Sie erschienen uns als Freunde; sie sollten es sein, die unseren Landsleuten Kunde von uns brachten. Arme alte Mauer, du Werk und Sorge von Dynastien und Millionen von Menschen; nicht nur das Geschütz macht dich heutzutage nutzlos: ein einfacher Draht genügt. Die fernsten Völker verkehren ruhig über deine Schultern hinweg.
In der Nähe ist die Mauer weniger großartig. Sie gleicht den Verteidigungswerken einer Stadt, und für den, der sich der Mauern von Peking erinnert, verliert sie an Imposantheit. Als wir aber nach dem Durchfahren der Tore den Abhang auf der andern Seite in der Richtung des Dorfes Tscha-tau-tschung hinabstiegen und zurückblickten, stießen wir einen Ausruf des Erstaunens aus. Wir übersahen die weiße Linie der Mauer, bis sie sich im Duft der Ferne verlor; sie stieg auf und ab, folgte im Zickzack den Launen des Geländes, zog sich in Schlangenwindungen dahin, stürzte sich in Täler, erhob sich wieder mit einem Sprunge, zeigte sich bald von der Seite, bald von vorn. Sie ordnete ihre Türme auf hunderterlei verschiedene Arten, entfaltete stellenweise ihre Zinnen und ließ sie deutlich erkennen, um sie im nächsten Augenblick in plötzlicher Verkürzung zusammenzuziehen. Sie schien zu verweilen und eiligst davonzufliehen, und zwar bis zu beiden Grenzen des Horizontes, bis zu den entferntesten Bergen, wo sie sich dem Auge nur noch als kaum wahrnehmbarer Faden darbot. Und so geht es weiter, 800 Kilometer weit, rings um die ganze Provinz Tschili, eine wunderbare Grenze. Und dies ist nur die „kleine“ Große Mauer. Es gibt noch eine andere, die große, die „Wan-li-tschang-tscheng“, die „Mauer der zehntausend Li“, die wir im Norden von Kalgan antreffen werden; diese erstreckt sich 2400 Kilometer weit längs der Grenzen des eigentlichen China. Aber es gibt nicht nur diese zwei Mauern. Als wir das auf einer kleinen Hochebene liegende Tscha-tau-tschung hinter uns hatten, bemerkten wir neue Türme, neue Bastionen, wie wir solche im Tale von Nankou gesehen hatten. Das chinesische Volk hat mehr als 2000 Jahre darauf verwandt, Mauern gegen den Westen aufzutürmen. Es ist aber nicht länger als drei Jahrhunderte her, daß es den eigenen Thron gerade von jenen Tataren eingenommen sah, die es mit Hilfe von Backsteinen und Kalk fernhalten wollte.
Unserem modernen Geiste erscheint die Große Mauer als ein staunenerregendes Denkmal chinesischer Furcht, unermeßlich und unlogisch, großartig und lächerlich; der Fremde bewundert und verlacht sie. Aber wir vergessen, daß auch die Römer die Grenzen Britanniens durch eine doppelte Große Mauer verteidigten, um dieses Reichsland vor den noch ungebändigten Kaledoniern zu schützen. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Lebensbedingungen das Vorhandensein unübersteiglicher Mauern zwischen Land und Land, zwischen Rasse und Rasse, zwischen Kultur und Barbarei als logisch, natürlich, als notwendig erscheinen ließen. Genau wie wir heute eine nichtendenwollende Arbeit logisch und natürlich finden, die unseren Enkeln vielleicht eines Tages großartiger, lächerlicher und chinesischer vorkommen wird als uns die Große Mauer, nämlich um die Welt Hunderttausende von Kilometern Stahl in Gestalt von Schienen zu legen, die Wälder der Erde niederzuschlagen, um den Schienen Unterlagen zu schaffen, und die Gebirge zu durchbohren, um Geleise mitten hindurchzuführen!
Das Dorf Tscha-tau-tschung betraten wir nicht; es ist von einer quadratischen Mauer mit starken Türmen in den Ecken umgeben. Alle chinesischen Dörfer und Städte sind in ein regelmäßiges Quadrat eingeschlossen, das vielleicht die Form eines früher bestehenden verschanzten Lagers beibehält. Wir zogen im freien Felde rings um den Ort herum auf einer Straße, die zum Teil überschwemmt, aber sicherlich besser war als die durch das Dorf führende, und fanden Unterkunft in einem kleinen chinesischen Gasthause vor dem nördlichen Tore, in einer erbärmlichen Karawanserei. Seit dem Morgen hatten wir 25 Kilometer zurückgelegt.
Auf dem elenden Hofe, der von baufälligen Schuppen umgeben war, wollten wir sofort den Motor prüfen. Wir fürchteten, daß die Stöße, die Erschütterungen und das unvermittelte Aufundnieder während des Aufstieges die Maschine beschädigt haben könnten. Aber sie setzte sich ganz ruhig in Bewegung, und in Bewegung setzten sich auch die Neugierigen, die sich versammelt hatten und nun die Flucht ergriffen. Nach kurzer Zeit erschienen drei chinesische Soldaten, die der Mandarin des Ortes gesandt hatte, um — das war nicht recht klar — die Chinesen oder — uns zu überwachen. Wir konnten sie nach Belieben für eine Ehren- oder Aufsichtswache nehmen.
Don Livio verließ uns hier kurz nach unserer Ankunft, um noch rechtzeitig zu dem Abendzuge nach Nankou zurückzukehren. Wir nahmen herzlichen Abschied von ihm und begleiteten ihn mit unseren Lebewohlrufen, bis er zwischen den Mauern des Dorfes verschwunden war.
Der feuchte Wind drang durch die zerrissenen Papierfenster und erfüllte unsere niedrigen Kämmerchen.
„Pietro, Feuer! Pietro, heißen Tee! Pietro, etwas zu essen!“
Und Pietro kam und ging diensteifrig und lächelnd, brachte das Kohlenbecken, die Teekanne, Eier und beantwortete alle Fragen in einem Italienisch, das seine ureigene Erfindung war. Pietro ist ein unschätzbarer Diener; er ist der Sohn eines alten Ma-fu der Gesandtschaft. Aus einer Dynastie von Ma-fus stammend, die über die Marställe der italienischen Gesandten herrschte, genoß er oft die Ehre, Aufträge zu erhalten, die Intelligenz und Treue erforderten. So begleitete er uns bis Kalgan als Majordomus und Dolmetscher, als eine Art Adjutant.
„Pietro,“ fragte ihn der Fürst, „bist du Christ?“
„Nein, Buddhist ich!“ erwiderte er.
„Warum nennst du dich dann Pietro?“
„Ich nicht nennen Pietlo mich,“ antwortete er, das r mit l verwechselnd wie jeder gute Chinese, „ich mich nennen Wu-tin.“
„Aber wenn ich dich Pietro rufe, so antwortest du doch.“
„Ja, alle mich lufen Pietlo, ich ihnen antwolte.“
Ein letzter Befehl noch: „Pietro, morgen früh um 3 Uhr wecken, und daß die Kulis zu dieser Stunde bereitstehen!“ Und in die überreichlich mit Insektenpulver bestreuten Decken gewickelt, überließen wir uns dem Schlafe. Durch die dünnen Wände hindurch hörten wir im Zimmer nebenan die Matrosen sich von ihrer Heimat und ihren weiten Seereisen unterhalten.
Am 12. Juni 4½ Uhr morgens verließen wir Tscha-tau-tschung bei bedecktem Himmel und kalter Luft, die die Nacht länger erscheinen ließ. Wir schauderten in unseren noch nassen wasserdichten Anzügen.
Die Matrosen mußten jetzt umkehren; sie hatten Befehl, uns am zweiten Marschtage zu verlassen, wenn ihre Anwesenheit nicht unbedingt nötig wäre. Sie begleiteten uns noch einige hundert Meter bis zu dem Fuße eines alten Befestigungsturmes und nahmen dann Abschied. Die Ebene von Tscha-tau-tschung hallte von Evvivarufen wider. Noch lange Zeit konnten wir die weißen Marineuniformen in dem Grau der Dämmerung unterscheiden und hörten erneute Evvivarufe, die immer ferner und immer schwächer ertönten, bis sich die Leute und die Stimmen ganz in der Ferne verloren.
Die Kulis hatten aus dem Schlafe neue Heiterkeit geschöpft; lachend und singend marschierten sie weiter auf der Straße, die ab und zu sumpfige Stellen zeigte. Ein Automobil zu ziehen, machte ihnen Spaß. Glückliche Armut!
Bei Tagesanbruch zeigte der Himmel da und dort blaue Stellen. Ein Nordwind zerstreute die Wolken und trieb sie in völliger Auflösung dem Meere zu, und mit einem Schlage beleuchtete ein Sonnenstrahl hohe Berge vor uns. Noch wenige Minuten, und die gesamte Kette des Jen-jen-schan, die wir überschreiten mußten, zeigte sich in einem strahlenden Lichtschimmer, durchfurcht von Abgründen und Berghängen, gekrönt von blauen Gipfeln. Es war uns, als hätte sich in einer Minute eine unermeßliche, gewaltige Schranke uns genähert. Hinter ihr erhoben sich andere Gipfel, andere noch höhere Berge, die sich in der Ferne abstuften, bis sie sich in dem heiteren Himmel verloren: der Wu-tsi-hai, die Ausläufer jenes gewaltigen Alpensystems, das der Chingan-schan bildet.
Der Himmel klarte völlig auf. Als wir uns umwandten, sahen wir die Schatten der letzten Wolken einen nach dem andern sich von den Höhen der Großen Mauer losreißen, und in weitem Halbkreise reihten sich hinter uns die Berge aneinander, die wir den Tag vorher überschritten hatten, ausgezackt und kahl, durchschnitten von der unermüdet sich auf- und niederziehenden Schlangenlinie der Mauer, ein so wundervoller Anblick, daß wir uns nicht satt daran sehen konnten. Bis zu den fernen, verschleierten, kaum sichtbaren Bergen der Provinz Schansi im Süden bemerkten wir die regelmäßige Kette der Türme und zeigten sie einander mit immer neuem Staunen, wie eine unglaubliche Erscheinung.
Das Gelände stieg leicht an. Die Ebene war öde. Nach stundenlangem, einsamem Marsche überholten wir eine Karawane von Kamelen, die von Mongolen in langhaarigen Ziegenpelzen und mit achteckigen, dem Dach einer Pagode gleichenden Hüten auf dem Kopfe geleitet wurden, eine Karawane, die in diesem Jahre die letzte Reise machte. Die mongolischen Kamele arbeiten im Sommer nicht; sie erfreuen sich der Wohltat der Ferien und der Landluft; in den heißen Monaten werden sie auf die Weideplätze der heimatlichen Wiesen getrieben, wo sie sich für sämtliche übrigen Monate des Jahres, in denen sie arbeiten und fasten, ausruhen und sattfressen. Die Ruhe ist ihnen notwendig, auch um die Hufe wieder wachsen zu lassen, die sich auf den Bergen oft bis aufs Fleisch abwetzen, so daß die armen Tiere daran zugrunde gehen. Ein Wüstentier läßt sich nicht ungestraft in ein Alpentier verwandeln. Dagegen wurden wir einmal zu unserer Beschämung von Maultiersänften einer rasch dahinziehenden Reisegesellschaft überholt. Es waren Sänften, die Kaufleute nach Kalgan oder kaiserliche Beamte nach ihren entfernten Amtssitzen brachten; sie befanden sich zwischen einer Vorhut von berittenen Dienern oder Soldaten und einer Nachhut von Maultiertreibern, die die Ersatztiere führten. Die Beamten hatten an die Außenwand ihrer Sänften als Zeichen ihrer Würde das rote Futteral gehängt, in dem sich der kegelförmige Amtshut befindet. Als sie an uns vorbeikamen, teilte sich der Vorhang des seltsamen Gefährtes, und ein würdiges, infolge der Bewegung der Maultiere hin und her schaukelndes Chinesenhaupt wurde sichtbar, das uns mit fragender Miene betrachtete.
Wir waren in eine sandige Gegend gekommen. Wir trafen elende Dörfer, umgeben von hohen, zerfallenden Wällen, Dörfer, die einst reiche Städtchen waren: Pao-schan, eine Anzahl von Lehmhütten rings um einen winzigen Tempel, den wir durch die breiten, vom Wetter gefressenen Lücken in dem viel zu weiten Mauerquadrat sehen konnten, dann Schi-yu-le im Schatten von Weidenbäumen, Hu-li-pa, umgeben von Bastionen aus Lehm, Scha-tschou, das an die Dörfer der Mandschurei erinnert, und Pien-kia-pu, das an nichts erinnert. Die hochstehende Sonne verbrannte uns den Rücken und lähmte unser Denken. In träger Eintönigkeit, gleichförmig, ermattend schlichen die Stunden hin. Bei den physischen Beschwerden des Marsches (die Reitesel waren nach Nankou zurückgekehrt) dachten wir mit geheimer Sehnsucht daran, wie schön es wäre, wenn wir uns einem bewohnten Orte näherten. Wir setzten ein unbestimmtes Vertrauen auf das Dorf, das kommen mußte, suchten es mit den Blicken und beeilten uns, es zu erreichen, als müßten dort die Beschwerde, die Hitze, die Niedergeschlagenheit und jene blendende Lichtfülle ringsum, in der wir uns gleichsam zu verlieren und aufzulösen schienen, ein Ende nehmen; wir zogen aus einem Bezirk in den andern, immer Umschau nach einer ungeahnten Überraschung haltend.
Die Heiterkeit der Kulis war verschwunden. Man hörte nur noch das Geräusch der Schritte, das Stöhnen der Atemzüge, das laute Knirschen des Sandes unter den Pneumatiks des Automobils, das Getrappel der drei Zugtiere. Von Zeit zu Zeit ein Zuruf Ettores, ein unvermutetes Ertönen der Hupe: halt — wir sind an einer schwierigen Stelle.
Wir sehnten uns beinahe nach diesen schwierigen Stellen, nur um uns aufzurütteln. Es waren dies Augenblicke lärmender Geschäftigkeit. „Hier, den Spaten! die Spitzhacke! Vor dem rechten Rade muß gegraben werden! Vorwärts! Dieser Stein muß aus dem Wege! Die Hebel her! Achtung! Eins, zwei, drei ...!“ — Und in der unermeßlichen Glut, die über der öden Landschaft lagert, entwickelt unsere kleine Schar eine fieberhafte Tätigkeit. Dann ergriffen die Kulis von neuem die Seile, und vorwärts ging es: lai lai-la.
„Deutscher Feldtelegraph“, so lasen wir über der Tür einer einsamen Hütte. Es war ein Überbleibsel jener vielberufenen internationalen militärischen Expedition, das von der Bevölkerung geschont wird, vielleicht weil man die Worte für eine heilige Inschrift des Abendlandes hält. Es ist alles, was von jenem so viel Aufregung verursachenden Einmarsch der Mächte übriggeblieben ist. Wir sind unter die Mauern einer Stadt, Huai-lai, gelangt, der nach Süden ein hoher alleinstehender Hügel mit einem Tempel auf dem Gipfel vorgelagert ist. Dieser Tempel war einige Wochen lang eine europäische Kaserne. Wir machten halt, um den Leuten eine Stunde Ruhe zu gönnen; sie gingen, um die Zeit auszunützen, in die Stadt hinein und überbrachten der Bevölkerung die Kunde von unserer Ankunft.
Sofort will ganz Huai-lai uns sehen. Man hört das Lärmen einer Menschenmenge, die sich dem Tore nähert. Zuerst kommen die Kinder, die Vorhut der Schar. Nach wenigen Minuten sind wir von Hunderten von Menschen umringt, die sich mit achtungsvollem Lächeln um das Automobil drängen. Sie betrachten es, berühren es scheu, werden kühn, fragen uns, begrüßen uns, staunen uns an. Viele halten auf der flachen Hand Käfige mit Singvögeln; an schönen Tagen trägt jeder gute Chinese von einer gewissen sozialen Stellung zur Unterhaltung einen Vogelkäfig; es ist dies seine Hauptbeschäftigung, ein hübscher, traditioneller Zeitvertreib.
Inzwischen frühstücken wir ein wenig Käse und Cornedbeef. Die Einwohnerschaft von Huai-lai sieht uns dabei zu, es macht ihr offenbar Vergnügen. Rings um uns streitet man sich über die Art und Beschaffenheit unserer Speisen. Ein alter Mann gibt uns durch Zeichen zu verstehen, daß er kosten wolle; den Käse spuckt er aus, während er das Fleisch hinunterschluckt; dann tut er der Bürgerschaft sein Urteil kund und zu wissen. Die Bürgerschaft tritt in nähere Erörterungen darüber ein. Der alte Mann will seine Kontrolle auch auf unser Getränk ausdehnen, und wir reichen ihm die Weinflasche, die er zögernd an die Lippen führt, nachdem er den Becher unwillig zurückgewiesen hat. Er trinkt, kostet, beginnt wieder zu trinken, und widmet sich dieser Tätigkeit mit solchem Eifer, daß die ganze Flasche sich gurgelnd in seine ehrwürdige Kehle entleert. Darauf ist er europäisiert; er lächelt uns mit kleinen, lustig zwinkernden Augen zu und spricht lebhaft auf uns ein; er steigt auf das Automobil, setzt sich hier unter den Beifallsbezeigungen seiner Mitbürger nieder und versucht der Hupe einen Ton zu entlocken; dies gelingt ihm, und er ist glücklich. Es kostet uns nicht wenig Schwierigkeit, ihn wieder herunterzubefördern, als die Kulis zurückkommen und wir unseren Marsch fortsetzen.
Wir kommen an armen, aus Lehm gebauten Dörfern, kleinen, Einsturz drohenden Tempeln, baufälligen Häusern, elenden Hütten vorüber, die von einer wandernden Stadt längs des Weges verloren zu sein schienen. Ein roter, von einem Stock herabwehender Lappen kennzeichnet sie als Absteigequartiere für müde Reisende, als Herbergen für Maultiertreiber im kleinen. Unsere Leute machen dort halt, um in Eile eine Schale Tee zu schlürfen oder sich für eine Sapeke (3/10 Pfennig) den Fliegen streitig gemachte Süßigkeiten zu kaufen. Alle diese Landstriche hätte man für unbewohnt halten können; nirgends zeigte sich ein Mensch, nirgends ließ sich ein Ton hören; es schien, als wolle man sich vor uns verbergen oder uns zu verstehen geben: „Bleibt uns drei Schritte vom Leibe!“ Ta-tu-mu, eine Stadt mit hohen, oben abbröckelnden Mauern, machte den Eindruck einer seit Jahrhunderten verlassenen Ruine.
Die Straße verengte sich; wir gerieten häufig in tiefe Rinnen, die vom Wasser im Sande oder zwischen den Kieseln ausgehöhlt worden waren. Wir marschierten im Bett eines Bergstroms.
Rings um uns her erhoben sich riesenhoch die rauhen Berge, die wir am Morgen gesehen hatten, ohne eine Spur von Vegetation, von brennend gelber Farbe. Wir erstiegen die zweite Bergstufe, die Peking von der mongolischen Hochebene trennt, zu der man über drei Absätze gelangt. Man steigt zu der Mitte Asiens empor wie zu einem Tempel: drei Stufen, drei Absätze. Unten, zu unserer Linken, öffnen sich die unermeßlichen Talgründe von Schansi, eingetaucht in ein strahlendes Blau.
An manchen Stellen war kaum Platz für das Automobil, und wir trafen die sorgfältigsten Vorsichtsmaßregeln. Wir mußten ab und zu einen Schlag mit der Spitzhacke tun, Maße abschätzen und kühn die Weiterfahrt versuchen, wobei wir die Radränder scharf im Auge hatten und der Führer sich bereithielt, die Maschine unter dem mächtigen Druck der Bremsen unbeweglich festzuhalten. Bei einem Dorfe, Tu-mu-go, 45 Kilometer von Tscha-tau-tschung, fanden wir uns beinahe unvermutet außerhalb des Berglandes; eine grüne Ebene lud uns zu einer Fahrt ein, und wir nahmen die Einladung an.
„Halt!“
Wie durch Zauberschlag ist die Ermüdung von uns gewichen. In einer Minute sind die Kulis beiseite geschoben und dem Kommando Pietros anvertraut, die drei Tiere abgeschirrt. Mit fieberhafter Eile schlingen wir die Seile um die Laternenhalter und entfalten die Flagge. Ein Andrehen der Kurbel, und der Motor arbeitet. Wir steigen auf die Maschine und vorwärts!
Vorwärts, den gewundenen, unebenen Weg entlang, unbekümmert um die Sprünge, die Stöße, die Rucke, einzig und allein darauf bedacht, das Automobil laufen zu lassen. Es hat nur zweite Geschwindigkeit, scheint uns aber zu fliegen. Es zeigen sich große Regenlachen. Vorwärts! Wir stürmen hinein und durchfurchen sie unter einem wahren Schauer von Wasser und Schmutz; die zurückschlagende Welle dringt in den offenen Raum des Automobils ein und durchnäßt uns. Wir lachen. Wir sprechen laut, ergriffen von einer seltsamen Aufregung; es ist ein Rückschlag gegen das lange Schweigen und gegen die entmutigende Langsamkeit der bisherigen Reise. Auch lebt in uns eine neue Freude auf, die aus der tiefen, unsagbaren Genugtuung stammt, etwas zu unternehmen, was noch nie unternommen worden ist. Es ist die Wollust einer Eroberung, der Rausch eines Triumphes und zu gleicher Zeit eine Überraschung, eine Art Verzückung infolge der phantastischen Seltsamkeit der Fahrt in diesem Lande. Wir erblicken Pagodendächer zwischen den Bäumen. Es ist uns, als unterbrächen wir eine tausendjährige Ruhe, als seien wir die ersten, die durch unser Dahineilen einen Weckruf in seinen tiefen Schlaf hinein erschallen ließen. Wir fühlen den Stolz auf Zivilisation und Rasse; wir fühlen, daß wir etwas vertreten, das höher steht als wir selbst: es ist Europa, das mit uns dahinzieht. In dieser Geschwindigkeit faßt sich die gesamte Bedeutung unserer Zivilisation zusammen. Das brennende Sehnen der abendländischen Seele, ihre Stärke, das wahre Geheimnis jedes ihrer Fortschritte ist in einem Worte ausgedrückt: „Rascher!“ Unser Leben wird angestachelt von diesem heißen Verlangen, von dieser schmerzhaften Ungenügsamkeit, von diesem erhabenen Besessensein: „Rascher!“ In die chinesische Starrheit tragen wir in der Tat unser fieberhaft erregtes Wesen hinein. Wir fahren durch Flecken und Dörfer. Halbnackte Kinder fliehen bei unserem Nahen. Die Männer und Frauen blicken uns mit stiller Überraschung, mit ruhiger, wohlwollender Neugier nach. Wir sehen seltsame Trachten, malerischer als die von Peking, vielleicht älter. Es sind grüne, rote, gelbe, blaue Kleider, alle von grellen Farben. Die Bewohner des flachen Landes lieben in der ganzen Welt lebhafte Farben, vielleicht weil sie täglich Blumen vor Augen haben. Auf den Schwellen der Häuser, wo sich die Menge zusammendrängt, herrscht ein buntes, in der Sonne funkelndes Gewimmel, darüber ragen die charakteristischen Dächer mit der leichten kahnartigen Biegung. Wir können uns keinen lebhafteren Eindruck vom fernen Osten wünschen.
Auf den von üppigem Grün strotzenden Feldern richten sich bei dem Geräusch unserer Maschine die Landleute von ihrer Arbeit auf und betrachten uns, die Augen mit der Hand beschattend. Einer ruft: „Huo-tscho lai!“ — „Die Eisenbahn!“ Der Ausruf wiederholt sich. Einen Augenblick später wenden sich alle wieder ihrer Arbeit zu und beachten uns nicht mehr, überzeugt, daß die Eisenbahn, von der sie so viel haben sprechen hören, angekommen ist. Die Sache hat keine Bedeutung für sie. In einem Graben wäscht eine Frau Kleidungsstücke; wir kommen dicht an ihr vorbei, sie würdigt uns kaum eines Blickes und fährt fort, ihre Kleider zu waschen, gleich als ob täglich Hunderte von Automobilen an ihrem Graben vorüberkämen. Anderswo dagegen rufen sich die Leute gegenseitig zu, strömen herbei, laufen uns durch die Staubwolken nach und zeigen den Ausdruck naiven Staunens auf ihren gelben Gesichtern. Die Seele dieses Volkes ist ein undurchdringliches Geheimnis. Wer weiß, ob nicht der durch die Erscheinung des Automobils hervorgerufene verschiedene Eindruck auf den ursprünglichen Rassenunterschied der Einwohner zurückzuführen ist, wer weiß, ob die Neugier nicht eine tatarische und die Gleichgültigkeit eine chinesische Eigenschaft ist?
Wir kommen an einen Ort, Tum-ba-li, dessen in der Mauer befindliches Tor so eng ist, daß wir nicht hindurchkönnen. Wir fahren langsam auf grünen Wiesen im Halbkreise vorbei. Bei einem Dorfe machen wir halt. Der Motor hat Durst und wir auch. Eine gutmütige Menge umringt uns, bietet uns frisches, klares Wasser an und unterzieht den unteren Teil des Automobils einer genauen Prüfung. Man streitet, man kommt näher; kühne junge Leute bücken sich bis zur Erde, um die Schutzwand des Geschwindigkeitsgetriebes besser betrachten zu können. Dann bücken sich alle. Das Geschwindigkeitsgetriebe interessiert sie augenscheinlich. Auch wir sehen nach und suchen vergebens zu ergründen, was ihre Aufmerksamkeit in so hohem Grade fesseln könne. Die Szene ist komisch. Einer faßt Mut und bittet uns mehr mit Gesten als mit Worten um eine Erklärung. Ah, endlich verstehen wir. Sie fragen, wo das Tier ist! Das Pferd ist nicht vorn, es muß also da drinnen stecken. Um so mehr — bemerkt einer, mit ausdrucksvoller Mimik auf den Eimer deutend —, als man ihm durch ein Loch zu saufen gibt. Es ist schwer zu fassen, wo der unglückselige Vierfüßer eingesperrt ist. Ettore will ihnen praktische Erläuterungen geben und öffnet das Motorgehäuse, um ihnen die Zylinder zu zeigen. Aber die Leute blicken mit dem Ausdrucke der tiefsten Überzeugung nach wie vor nach unten. Wir lassen sie bei ihrem Staunen.
Später holten wir die Sänften ein, die uns am Morgen überholt hatten. Die Maultiertreiber sprangen aus dem Sattel, um die aufgeregten Tiere zu beruhigen, die in jähem Schreck wild durcheinander rannten; die Sänften, die zuerst hin und her schwankten wie Nachen auf bewegter See, machten gegen den Willen der Insassen halt infolge der entgegengesetzten Meinungen, die die an das Gefährt gespannten Maultiere über die einzuschlagende Richtung sehr energisch betätigten. Wir konnten noch sehen, wie hinter den emporgehobenen und zur Seite geschobenen Vorhängen die würdigen Reisenden uns mit der Miene des tiefsten Erstaunens betrachteten, das nicht frei von Unwillen war; rasch fuhren wir an ihnen vorbei, indem wir ihnen ein freundliches Lebewohl zuriefen. Dies war unsere Rache.
Am Abend machten wir in einem reizenden Dorfe halt, in Schem-pao-wan, das von wahrhaft patriarchalischem Alter ist. Innerhalb der Mauern herrscht eine bezaubernde Ruhe, man hört nur das Gezwitscher der Vögel. An jeder Tür hängen an dem oberen Balken zwei bis drei Käfige mit singenden Wüstenlerchen; ihre Triller erfüllen die Luft. Es ist eine seltsame, durchdringende, volle, laute Musik, der die auf den Schwellen hockenden Bewohner schweigend lauschen. Die Mongolen bringen von ihren Ebenen Tausende dieser zierlichen gefangenen Sänger, für die die Chinesen eine große Vorliebe zeigen, auf den Markt. Die Chinesen geben ihren Stimmen den Vorrang vor jedem andern Ton, als ob sie in ihnen etwas Göttliches erkennten. Die überschwemmte Dorfstraße hat sich in einen Sumpf verwandelt, in dem sich die Häuser und das Blau des Himmels widerspiegeln. Seit uralter Zeit muß sich diese kleine Wasseransammlung zwischen den Häusern festgesetzt haben, weil man nichts zu ihrer Entfernung tut und Weiden Zeit gehabt haben, an ihren Rändern zu wachsen und ihren Durst in dem stillen Wasser zu löschen. Die Einwohner gehen auf erhöhten Fußsteigen um sie herum. Wagen kommen nicht in das Dorf.
Jetzt nähert sich ein kleiner Trupp, ein Bild aus alten Zeiten. Auf einem weißen, mit roter Seide aufgezäumten Maultiere reitet eine vornehme Dame vorüber, reichgekleidet in gestickte Gewänder, das Gesicht weiß und rot geschminkt, die kleinen Lippen blutrot gefärbt, den Hut mit Blumen geschmückt. Eine Figur, wie von einer chinesischen Vase. Die Pekinger Mode ist nicht bis hierher gedrungen; hier leben noch die Trachten vergangener Jahrhunderte. Vor und hinter der Dame schreiten Diener; sie begibt sich vielleicht zu einem Feste. Wir bleiben stehen, um sie zu beobachten, während sie eine kleine gewölbte Brücke überschreitet und bei unserem Anblick anmutig ihr Gesicht mit dem Ärmel bedeckt.
Wir durchstreiften das Dorf, nachdem wir das Automobil in einer vor den Toren gelegenen Karawanserei eingestellt hatten. Als wir zurückkehrten, fanden wir den Hof mit Menschen, Kamelen, Wagen und Pferden angefüllt. Es waren Karawanen angekommen. Das Personal der Herberge eilte geschäftig hin und her. Hier wurden riesige Haufen Getreide für die Tiere abgemessen, dort trug man den Männern Schüsseln mit dampfendem Reis und hohe Berge von Weißbrot auf. In einem Winkel des Hofes nahm ein Zauberer mit Hilfe einer angezündeten Kerze und einiger magischer Worte Beschwörungen vor zum Zwecke der Heilung eines alten kranken Maultieres, das den Zauber inmitten einer schweigenden Zuhörerschaft resigniert über sich ergehen ließ. In den weiten raucherfüllten Küchen brannten alle Feuer, und bei dem rötlichen Lichte von Talgfackeln bewegten sich die Köche mit nackten, schweißigen Rücken wie die Schmiede in einer antiken Schmiedewerkstatt. Um das Automobil herum war wieder eine Menschenmenge versammelt, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, das Tier zu suchen. Wir stellten fest, daß der chinesische Bauer sich die rätselhafte Erscheinung am logischsten durch die Vorstellung eines Zugtiers erklärte. Nur hielten die Intelligentesten daran fest, daß es sich nicht um ein Pferd handle, sondern um irgendein unbekanntes, fabelhaftes Tier, das von uns gefangen gehalten werde, und wenn sie den rauhen Ton der Hupe hörten, so sagten sie: „Das ist seine Stimme.“
In diesem Jahrmarktstrubel tauchten zwei russische Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett auf. Es war Militär der Gesandtschaft, das die russische Post nach Kalgan und Kiachta brachte. Sie kamen von Peking und überbrachten uns Nachrichten von den drei übrigen Automobilen, die, wie sie wußten, am Abend vorher in Pa-ta-ling angelangt waren. Sie hatten sie diesseits der Großen Mauer angetroffen; die Automobile hätten in Huai-lai übernachtet. Wir hatten seit frühmorgens 65 Kilometer zurückgelegt, 20 davon mit dem Motor. Wir waren den andern also um 35 Kilometer voran; in Kalgan würden sie uns einholen.
„Das Abendblot ist angelichtet!“ hörten wir rufen. Pietro stand neben uns, mit Schüsseln in den Händen, und lächelte uns hinter dem Dampf der ausschließlich von ihm bereiteten Speisen an. Pietro ist auch Koch.
Als wir später zwischen Abendessen und Zubettgehen vor unserem Zimmer saßen und einige Zigaretten rauchten, sahen wir den schwarzen Schatten hoher Berge sich von dem gestirnten Himmel abheben.
„Es sind die Berge von Ki-mi-ni“, bemerkte der Fürst.
„Also noch Aufstiege!“
„Und schwierige. Kalgan liegt jenseits.“
„Werden wir hinüberkommen?“
„Wer weiß! Morgen wird es einen heißen Tag geben.“
Und so war es.
Wir brachen auf, als es noch Nacht war.
Kaum ließ ein leichter Lichtschimmer — dem vom Monde ausgehenden gleichend — die Sterne im Osten erblassen. Es war schwer, den Weg zu unterscheiden. Der alte Aufseher der Kulis, der die Gegend kannte, ging voran, um das Gelände zu erkunden. Wir konnten es nicht wagen, mit dem Motor zu fahren, und im übrigen hatten wir nur noch wenige Kilometer in der Ebene zurückzulegen, ehe wir an die Gebirgspässe von Ki-mi-ni gelangten. Unsere Chinesen marschierten ohne Anstrengung weiter, mit dem raschen Gange des Maultieres, des Pferdes und des Esels gleichen Schritt haltend. Bei Sonnenaufgang befanden wir uns am Fuße eines gewaltigen, einzelnstehenden Berges, des Lien-ya-miao.
Der Lien-ya-miao steht abgesondert von den übrigen Bergen und ist höher als sie, so daß es den Anschein hat, als führe er den Oberbefehl über sie. Im Süden wird er vom Hun bespült und beherrscht eine Strecke lang den Lauf des Flusses von der Höhe ungeheuerer, senkrecht ansteigender Felsen herab. Die Straße nach Kalgan zieht sich in der Nähe des Hun-ho hin, bald an dem Ufer des Flusses, bald an dem Absturz des Berges, hier durch Sand, dort über steile Felsen; sie klimmt empor und steigt nieder, bis sie dort, wo sich die Berge im Kreise umherstellen, den Fluß verläßt und sich über sanft ansteigende Hügel der Hochebene von Hsin-wa-fu nähert, auf deren Grenze Kalgan am Fuße anderer Berge liegt.
Am Fuße des Lien-ya-miao liegt die Stadt Ki-mi-ni; an den Ecken ihrer Mauern stehen zierliche Pagoden, und über die Zinnen erhebt sich ein Tempeldach mit aufgebogenen Ecken, überragt von Majolikadrachen und mit Glöckchen behängt. Von Ki-mi-ni sieht man nichts anderes. Der Ort ist ganz von hohen, ein Quadrat bildenden Mauern umschlossen wie so viele chinesische Städte. Es sind seltsame Städte, in deren unmittelbarer Nähe wir vorüberziehen, ohne etwas von ihrem Umriß zu entdecken, geheimnisvolle Städte, die sich vor der Neugier wie vor einem Feinde schützen. Während wir außen um ihre Bastionen in schweigender Einsamkeit unseren Weg fortsetzen, erscheint es uns fast unmöglich, daß auf der andern Seite dieser großen düsteren, gleichmäßigen Mauern eine Bevölkerung lebt, daß es dort Straßen, Häuser, Märkte, Freude und Leid gibt. In China ist alles von Mauern umgeben: das Reich, die Städte, die Tempel, die Häuser. Das Ideal des chinesischen Lebens ist die Stille des Gefängnisses.
Als wir um Ki-mi-ni herumgezogen waren, befanden wir uns unvermutet am Ufer des Hun-ho, im Schatten des Lien-ya-miao, dessen Felswände über uns emporragten. Auf dem Gipfel des Berges bemerkten wir einen Tempel. Wie hat man es angefangen, ihn dort oben zu erbauen? fragten wir uns verwundert. Pietro beeilte sich, uns eine Aufklärung zu geben. Dieser Tempel wurde nicht von Menschenhänden errichtet. Kein Mensch wäre dazu imstande gewesen. Er ist von Buddha selbst erbaut worden. Dieser stieg vor vielen Jahrtausenden in Gestalt einer alten Frau vom Himmel herab und errichtete das Heiligtum in einer einzigen Nacht. Und in derselben Nacht erbaute er, nachdem er sich in die Gestalt eines alten Mannes verwandelt hatte, eine Brücke über den Hun, von der noch Trümmer vorhanden sind. Und Pietro zeigte uns in der Tat die Überreste eines steinernen, von Gestrüpp umwachsenen Brückenkopfes. Es ist seltsam, wie weitverbreitet unter den Völkern Ostasiens die Legende von einem Gotte ist, der auf Erden unter der Gestalt eines alten Mannes und einer alten Frau erscheint, um dringende Arbeiten auszuführen. Der Tempel und die Brücke erinnern mich daran, daß in Japan die Göttin Kwannon ebenfalls in einer einzigen Nacht und unter der doppelten Gestalt eines alten Mannes und einer alten Frau ihr eigenes Bild in doppelter Ausführung in zwei riesige Baumstümpfe geschnitten hat; eins von diesen Selbstporträts wird noch heute in Kamakura verehrt, wo auch ich es gesehen habe. Gottheit und Alter verschmelzen oft in den asiatischen Legenden miteinander, vielleicht weil die Gottheit und das Alter Gegenstand gleicher Verehrung sind.
Der Fluß war infolge der Regengüsse angeschwollen; breit und trüb strömte er in unregelmäßigem Laufe in seinem mächtigen sandigen Bette hin. An einer Stelle senkte der Berg seine Felsenwand jäh bis zum Wasserspiegel hinab. In den Zeiten der Trockenheit durchwaten die Karawanen den Hun und setzen ihren Weg auf dem andern Ufer fort. Bei dem hohen Wasserstande wagten wir dies nicht und entschlossen uns, den Weg über den Berg zu wählen, der sich steil vor uns in plötzlichem Aufstiege erhob und zwischen den Felsen verlor.
Wir begannen hinaufzuklimmen.
Der Pfad war in den Fels gehauen und folgte allen Abschüssigkeiten des Berges. Er machte so scharfe Schlangenwindungen, daß wir zuweilen auf zehn Schritte Entfernung noch keine Fortsetzung erblickten und den Eindruck hatten, als münde er in den Abgrund. Nie ließ er uns seine Krümmungen erraten; wir erfuhren beständig Überraschungen. Zu unserer Rechten erhob sich die Felswand, zur Linken hatten wir den Abgrund. In dessen Tiefe schäumte der Fluß. Jenseits des Flusses entdeckten wir beim Weitersteigen einen Horizont, der sich in unermeßliche Fernen ausdehnte, das Tal des Sang-kan-ho, die blaßblauen Berge des Huang-hua-schan, in unbestimmten Umrissen, unkörperlich, leicht wie Gespenster von Bergen; sie eröffneten den Blick ins Herz der Provinz Schansi. Stellenweise verengerte sich der Pfad, zuweilen war er kaum breit genug für die Räder; es waren angstvolle Augenblicke. Auf dem Straßenrande waren stellenweise Mauervorsprünge zum Ausweichen angebracht, die entweder einzustürzen drohten oder schon eingefallen waren, und wenn wir in die Tiefe sahen, hatten wir den Eindruck, als schwebten wir in der Luft. Längs des Hun sahen wir Karawanen von Kamelen ziehen, die von hier aus Insektenschwärmen glichen. Bisweilen ragten Felsblöcke über unseren Köpfen in den Weg hinein, so daß wir fast instinktiv unseren Schritt beschleunigten und dadurch auch die andern zur Eile veranlaßten.
Die Beförderung des Automobils war mühselig und schwierig. Wir arbeiteten gemeinsam mit den Chinesen, bald an den Rädern, indem wir die Speichen mit den Schultern schoben, bald, indem wir an den Seilen ziehen halfen und die Arbeitskräfte leiteten. Die Kulis waren bewundernswert. Etwas von unserer Beklemmung und von unserer Begeisterung war auf sie übergegangen. Achtsam und willig boten sie ihre gesamte Kraft und ihre gesamte Intelligenz auf. Sie setzten ihren Ehrgeiz in die harte Arbeit. Sie hatten Mittel gefunden, gewisse Hindernisse zu überwältigen, und wandten sie an, ohne den Befehl dazu abzuwarten. Sie studierten unsere Gebärden, sie suchten unsere Absichten zu erraten. Sie hatten den Mechanismus des Wagens auf das beste begriffen, und wenn sie sahen, daß die Vorderräder so in Spalten oder zwischen Steinen eingeklemmt waren, daß es unmöglich war, sie zu bewegen, so liefen sie herbei, um sie freizumachen, schoben sie so, daß sie sich nach der günstigsten Seite drehen mußten, und unterstützten die Absicht Ettores, der das Steuerrad lenkte. Die Bedeutung einiger Worte unserer Sprache war kein Geheimnis mehr für sie: „Kräftig los, vorwärts, halt, langsam, aufgepaßt!“ waren ihren Ohren Laute geworden, die eine beredte Sprache führten. Zu alledem kam eine unverwüstlich gute Laune, ein Streben, um jeden Preis zufrieden zu sein. Bei jeder überwundenen schwierigen Stelle gab es einen Heiterkeitsausbruch. Nach der heftigen Aufregung einer starken Kraftanspannung hatten sie noch Lust, mit matter Stimme zu singen. Sie feierten ihre kleinen Siege. Sie fanden tausenderlei Stoff zu Gesprächen und zu Gelächter, bis der Ruf: „Achtung!“ sie verstummen ließ und sie von neuem unter das gespannte Seil beugte. Der Umstand, daß auch wir bereit waren, uns an die Seile zu spannen, in Hemdärmeln, mit nackten Armen, und daß wir im Notfalle unsere Anstrengungen mit den ihrigen vereinten, spornte sie an. Vielleicht machte sie dies auch stolz.
Wir wußten nicht, wie spät es war, weil wir es nicht wissen wollten. Auf manchen Reisen müßte man die Uhr stets zu Hause lassen; sie ist eine schlechte Begleiterin, die entmutigt, indem sie zeigt, wie langsam die Zeit verrinnt. Wir lebten außerhalb der Zeit. Wir hatten den Eindruck, als seien wir seit unvordenklicher Zeit auf dem Marsche durch die Berge; dies lehrt Resignation. Der Tag wollte kein Ende nehmen. Vom wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne herab und erhitzte die Felsen; sie verwandelte sie in eine glühende Masse. Wenn wir die Steine berührten, zogen wir die Hände mit einer Empfindung zurück, als hätten wir uns verbrannt. Die Luft war unbeweglich und infolge der zurückprallenden Sonnenstrahlen unerträglich heiß; es schien, als hauche das Gebirge wie ein schlafender Riese einen seiner Atemzüge über uns aus. Einige Kulis hatten ihren bronzefarbenen Oberkörper entblößt, und das über ihre Schulter gelegte Seil drückte in die Haut und schnitt in die Muskeln ein. Aber die Nackten waren sämtlich Lastträger, und die Haut auf ihren Schultern war schon durch die Achsen der Sänften und die Tragbalken für die Wassereimer schwielig geworden. Sie schienen gegen die rauhe Berührung unempfindlich zu sein; nur selten legten sie das Seil mit einer raschen, bezeichnenden Bewegung auf die andere Schulter.
Der Aufstieg war zu Ende. Der Abstieg stellte sich als noch abschüssiger heraus; stets führte der Weg steil am Berge hin. Wir schirrten die Tiere aus und lösten die Seile, um sie an den hinten befindlichen Haken zu befestigen. Alle Kraft mußte darauf verwandt werden, das Automobil auf dem abschüssigen Wege aufzuhalten. Alle Mann stellten sich wie beim Seilziehen in zwei Reihen auf. Ettore stellte den Hebel auf die erste Geschwindigkeit ein. Auf diese Weise wäre das Automobil, selbst wenn die Seile rissen und die Bremsen nicht faßten, nicht mit der fürchterlichen Schnelligkeit eines Falles hinuntergesaust, sondern wenigstens einigermaßen von dem Motor aufgehalten worden, und es wäre somit noch möglich gewesen, es zu lenken, wenn auch nicht zu retten. Als alles bereit war, ertönte das Kommando: Vorwärts! Das graue Ungeheuer begann, sich in den Abgrund hinabzusenken.
Es schien, als wolle es sich dafür rächen, daß es gezogen worden war. Jetzt war es das Automobil, das laufen wollte. Es paßte auf alle Unvorsichtigkeiten der Menschen auf, zur Flucht bereit, der geringsten Lockerung der Spannung nachgebend; man hätte glauben können, es erwarte den günstigen Augenblick zur Empörung und wolle sich die Bändigung seiner Kraft nicht länger gefallen lassen. Ein Augenblick hätte genügt, es hätte genügt, daß eine momentane Störung in dem Zusammenwirken der Kräfte eintrat, daß die Anstrengung der Muskeln in kaum merklicher Weise nachließ, und die große Maschine wäre hinuntergestürzt, uns alle mit sich reißend. Eine Zeitlang schien sie gegen die Hemmung durch die Bremsen unempfindlich zu sein. Nach hinten geworfen, das Kinn auf der Brust, die Füße gegen den Erdboden gestemmt, Beine und Arme gestrafft, die Zähne zusammengebissen, den Atem angehalten, so kämpften wir alle, Chinesen und Europäer, mit vereinten Kräften. Zum Glück war es nur für einen kurzen Augenblick. Die neuen, gut geölten Bremsen griffen nur langsam ein, aber endlich taten sie es doch. Ettore kannte seine Bestie und war voll Vertrauen; er wußte sie zur rechten Zeit zu zähmen. Als wir haltmachen wollten, legten wir große Steine unter die Räder mit der Eile eines, der eine Barrikade errichten will, um den Feind aufzuhalten. Dann ruhten wir aus und ließen das Automobil allein in einer recht vertrackten Lage vornübergeneigt zurück, während die langen Seile sich hinter ihm wie zwei mächtige Schweife am Boden entlang ringelten. Bald erreichten wir wieder die Ebene und nahmen froh unseren Marsch zwischen dem Gebirge und dem Hun wieder auf.
Der Pfad führte uns zu einem Dorfe, Schau-huai-huan, das halb versteckt zwischen dichten Weidenbäumen lag und von Reisfeldern umgeben war. Die Straße war sumpfig geworden. Der Boden, klebrig und naß, vom Regen durchweicht, gab nach. Die Räder versanken bis zur Hälfte der Speichen darin, und der zähe Schlamm setzte sich an den Radkränzen und den Gummireifen fest, häufte sich hier an und gab den Rädern die abenteuerlichsten Formen und Umrisse; es schien, als bewege sich das Automobil auf Rollen aus Erde. Auch unsere Stiefel erfuhren eine unbequeme Vergrößerung; der Schmutz bedeckte sie mit dicken Krusten, die wir von Zeit zu Zeit durch Schütteln und durch Wegschleudern entfernten. Wir glitten aus, das Ausschreiten wurde uns schwer. Die Kulis mußten jede Minute halten und ausruhen. Wir begegneten einer Karawane von Maultieren, die mit mongolischen Fellen beladen waren; zwei Tiere wichen, erschreckt durch das Automobil, vom festen Pfade ab und versanken bis an den Leib.
In der Nähe des Dorfes stand die Straße unter Wasser. Zur Rechten und Linken dehnten sich von hohen Dämmen umgebene und trotzdem ebenfalls überschwemmte Reisfelder aus. Es gab keine Wahl; wir mußten durch. Unsere Leute entblößten ihre Beine und wateten in den Pfuhl hinein. Der Übergang schien trotz seiner Länge gut vonstatten zu gehen. Hoffnungsvoll maßen wir mit den Augen die Entfernung bis zum trockenen Lande. Noch zwei Minuten, und wir waren in Sicherheit. Das Wasser gurgelte unter unseren Schritten.
Mit einem Male blieb das Automobil stehen.
„Vorwärts, vorwärts!“ rief Ettore.
„Dummköpfe!“ riefen wir, „gerade in diesem Augenblick ausruhen zu wollen!“
„Weiter, weiter! Eine Rast ist jetzt verhängnisvoll. Wir versinken!“
Aber die armen Chinesen hatten nicht freiwillig haltgemacht. Sie begriffen die Gefahr sehr wohl. Sie zogen aus Leibeskräften und schrien vor Aufregung. Die drei Tiere stemmten die Hufe unter einem Hagel von Peitschenhieben ein und streckten ihre mageren Hälse vor. Die Seile waren gespannt, das Chassis ächzte. Vergebens. Die Maschine schien festgenagelt zu sein. Mehrmals wurde der Versuch, sie zu bewegen, wiederholt, bald langsam, bald heftig, in jeder Weise. Man mußte andere Mittel ausfindig machen. Wir schickten uns an, Ketten um die Bäume zu schlingen und Taue zu benutzen. Die Chinesen aber, die mit ihren nackten Füßen auf dem Grunde des Wassers hin und her tasteten, fühlten, daß die Räder an etwas gestoßen hatten. Pietro berichtete es uns.
„Großer Stein!“
Ein großer Stein? Die Hebel her! An die Arbeit! Wir waren entschlossen, selbst einen Berg zu zertrümmern, als die Kulis, die mit den Händen nach einem Ansatzpunkte für die Hebel suchten, erkannten, daß es sich nicht um einen Stein handle. Und Pietro erklärte:
„Große Wurzeln!“
In der Tat waren es die Wurzeln einer riesigen Weide, die ein wenig abseits stand, üppig grünend und so gleichgültig, als träfe sie nicht die geringste Verantwortung. Es war nichts anderes zu machen, als die Wurzeln mit der Axt abzuhauen. Eine seltsame und ganz neue Arbeit beim Automobilsport! Wer uns gesehen hätte, hätte geglaubt, wir wären mit dem märchenhaften Unternehmen beschäftigt, das Wasser zu spalten. Die Hiebe fielen regelrecht; ein in den Grund gesteckter Pfahl gab die Richtung an, in der sie geführt werden mußten.
Die abgehauenen Wurzeln wurden mit den Armen gefaßt, gezogen, herausgerissen, gezerrt und gedreht, bis die Räder völlig frei waren. Dann verließen wir rasch den Pfuhl und legten einige Kilometer ohne anzuhalten zurück, froh, wieder einen Weg zu finden, der, wenn er auch schlecht war, uns doch nicht heimtückisch mit unsichtbaren Gefahren bedrohte. Der Weg führte uns auf das sandige Flußufer zurück und wand sich dann von neuem zwischen Feldern, Hainen und Dörfern hindurch. An jeder Pfütze machten wir halt, um mit einem wohligen Gefühl Hände und Gesicht in das frische Wasser zu tauchen.
„Where do you go?“ — „Wohin wollen Sie?“
Diese Frage, die in englischer Sprache an uns gerichtet wurde, während wir an einem einsam und verlassen dastehenden Tempel vorbeikamen, bewirkte, daß wir uns mit der größten Verwunderung umwandten. Wir sahen nur einen Chinesen, der im Schatten eines Baumes saß und uns unverwandt betrachtete. War er es, der uns angeredet hatte?
„Wo wollen Sie hin?“ wiederholte er.
„Nach Kalgan. Und Sie, wer sind Sie?“
„Ich bin ein Ingenieur der Kalganer Eisenbahn.“
„Und was treiben Sie hier?“
„Ich studiere.“
„Was studieren Sie?“
„Die Kalganer Eisenbahn.“
„Viel Vergnügen.“
„Warten Sie doch!“
„Warum?“
„Ich will mich von Ihnen verabschieden.“
Und der wackere Ingenieur unterbrach das Studium der Kalganer Eisenbahn, das große Ähnlichkeit mit einem sanften Schlummer hatte, und kam würdevoll auf uns zu, um zu zeigen, daß er mit den fremden Sitten vertraut war. Er streckte uns allen die Hand hin, wiederholte: „Adieu, adieu!“ und kehrte in den Schatten seines Baumes zurück.
Wir machten halt, um in dem Wirtshaus des Dorfes Schan-schui-pu einige miserable Brotfladen zu essen. Mit einem Male hallte der Hof von dem Hufschlage zweier im Galopp ankommender Pferde wider. Wir sahen zwei chinesische Soldaten absteigen, zerlumpt, schmutzig, die Patronentasche am Gürtel, die Flinte am Riemen über die Schulter gehängt, den Säbel an der Seite — das Ganze überragt von zwei Brigantengesichtern. Pietro lief herbei:
„Soldaten vom Mandarin von Hsin-wa-fu“, sagte er.
„Was wollen sie?“
„Sie kommen auf Befehl des Mandarinen, um uns anzusehen.“
Nachdem die Briganten uns betrachtet hatten, stiegen sie wieder zu Pferde und verschwanden.
Wir machten uns wieder auf den Weg. Nach kurzer Zeit nahm uns das Gebirge von neuem auf.
Zwei Felsbastionen mit einer Unzahl rötlicher Klippen kamen uns immer näher. Noch zwei Pässe! Und von neuem steile, sich zwischen den Steinblöcken hindurchschlängelnde Pfade.
Der Weg war der schlechteste von allen, die wir bisher zurückgelegt hatten. Wir hatten nicht sowohl mit der Schwierigkeit steiler und tiefer Abhänge zu kämpfen wie auf dem Lien-ya-miao, als vielmehr mit den uns von den rauhen, nackten Felsen entgegengestellten Hindernissen. Wir zogen über durchlöcherte Blöcke, Erhöhungen, Spalten, Zacken hinweg. Die Strömung des Wassers, der Huf der Maultiere und der breite Fuß der Kamele hatten in vielen Jahrhunderten kaum die gröbsten Unebenheiten auf dem engen Gebirgspfade geglättet. So langsam und vorsichtig das Automobil auch gezogen wurde, es schwankte fortwährend bei den Unebenheiten des Bodens, blieb bald mit dem einen, bald mit dem andern Rade stecken, rollte infolge der Höckerigkeit der Steine sprungweise zurück, versank mit den Radfelgen in tiefe Spalten. Und voller Besorgnis vernahmen wir das metallische Klirren des von dem Ziehen mitgenommenen Chassis, das leise Knarren des Holzes an den Rädern, eine Menge von dumpfen Tönen, die ich weiß nicht von welchem Teile der Maschine herrührten, das leise, kaum vernehmbare Klagen des Stahls, das von der Tätigkeit zerstörender Insekten hervorgebracht zu sein schien. Alle Verbindungen des Automobils erlitten eine Spannung, für die sie nicht bestimmt waren, und jene Geräusche kündigten unendlich kleine Verschiebungen, minimale Abweichungen an, die aber doch der Beginn einer verhängnisvollen Veränderung sein konnten! Es war das Skelett der Maschine, welches litt, welches ermüdete, und die Müdigkeit der Maschine wird durch kein Ausruhen geheilt.
An manchen Stellen war jeder Schritt ein Problem. Ettore ging zu Fuß voran, um die nächste Straßenstrecke besser beurteilen zu können; die Haut an seinen Händen war von dem Steuerrade abgescheuert, das über und über zitterte und der Kraft der Arme nicht gehorchte.
Mit einem Male lassen zwei Kulis schreiend das Seil los und fangen an sich zu raufen.
Alle übrigen verlassen gleichfalls die Arbeit und stürzen unter einem Höllengeheul auf die Kämpfenden zu. Der alte Aufseher bläst bis zur Atemlosigkeit in seine Pfeife, das Attribut seiner gehorsamheischenden Würde. Pietro schreit von der Höhe des Sattels herab ebenfalls. Wir wissen nicht, was wir denken sollen. Eine Meuterei, eine Revolte?
Wir stürzen auf die Unruhestifter los wie Wächter der öffentlichen Sicherheit auf die Teilnehmer an einer staatsgefährlichen Kundgebung und drängen uns mit Gewalt durch, bis es uns endlich gelingt, die ersten beiden Chinesen, die sich inzwischen bei ihren Zöpfen gefaßt haben und einander voller Wut das Gesicht zerkratzen, am Kragen zu packen. Es sieht aus, als wenn Weiber sich stritten.
„Was gibt es?“ donnern wir. „An die Arbeit! Vorwärts!“
„Pietro, was ist geschehen?“
Der unbezahlbare Pietro erklärt es uns und bringt uns zum Lachen. Die beiden Chinesen hatten sich wegen einer Verletzung des Ehrgefühls geschlagen. Der eine hatte zum andern gesagt: „Du strengst dich nicht an, du arbeitest nicht; warum bist du überhaupt mitgekommen?“ Die Beleidigung war schwer. Der andere, ein Knabe von mädchenhaftem Aussehen, dem wir deswegen den Spitznamen „das Fräulein“ gegeben hatten, stürzte sich auf den Beleidiger, um ihn am Zopfe zu ziehen, was in den Augen eines Chinesen einen entsetzlichen Racheakt bedeutet. Die Gefährten waren eingeschritten, um den Streit zu schlichten.
„Pietro, wie wird die Sache enden?“
„Sie ist doch schon zu Ende,“ erwiderte er uns erstaunt; „wenn man einen am Zopfe gezogen hat, so ist alles zu Ende.“
Und in der Tat sehen wir unsere Helden, angeschirrt an ein und dasselbe Seil, ohne die geringste Spur von Groll wieder nebeneinander ziehen; von dem Streite haben sie kein anderes Andenken davongetragen, als einige blutige Risse, die sie sich von Zeit zu Zeit mit dem Ärmel abwischen.
Die Schwierigkeiten des Weges nahmen plötzlich unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Der Pfad schlängelte sich zwischen Felswänden hin, die so nahe aneinanderstanden, daß wir sie auf beiden Seiten berührten, wenn wir die Arme ausbreiteten. Mit welcher Angst im Herzen zogen wir durch jene gewundenen Felsgänge! Es war uns, als müßte das Automobil hier eingeklemmt steckenbleiben. Umzukehren wäre unmöglich gewesen. Unten näherten sich die Felswände so sehr, daß eins der Räder immer ein wenig auf dem Felsenvorsprung fahren mußte. Die Maschine stand während des ganzen Marsches schief. Es bedurfte einer wunderbaren Sicherheit des Auges und der Hand, um sie zu lenken. Es handelte sich dabei um Zentimeter, ja um einen einzigen Zentimeter. Mitunter drehte sich Ettore, nachdem er die Bremsen heftig angezogen und die Maschine hierdurch zum Stillstand gebracht hatte, um und rief entmutigenden Tones: „Es geht nicht!“ Dann mußte man zur Spitzhacke greifen, einige Vorsprünge weghauen, messen, es noch einmal versuchen, indem man bei dem Rufe: „Man-man-ti!“ „Langsam!“ nur die Menschen allmählich anziehen ließ.
Die größere Gefahr bestand für die Hinterräder. Sie wurden derart unten eingeklemmt und zwischen die Füße der beiden Wände gepreßt, daß sie sich auseinanderzubiegen drohten wie die beiden Striche eines V. Wir fürchteten, daß die Speichen oder die Achse des Differenzialwerks brechen könnten. Als sie aber aus dem Engpaß herauskamen, nahmen sie zu unserer Freude wieder ihre parallele Stellung ein. Zuweilen konnte man jedoch nicht umhin, zu glauben, daß die Anhänger der kleinen Automobile recht hätten. Fünf Zentimeter weniger Breite, und wir wären mit geschlossenen Augen überall durchgekommen.
Bei einer Wendung hörten wir einen Stoß, begleitet von einem unheilverkündenden Knirschen. „Es ist vorbei!“ riefen wir angstvoll. Das Automobil war mit der einen Seite heftig angestoßen. Zum Glück hatte sich der Schaden auf die Schutzwand beschränkt, die zersplittert war, sowie auf den Tritt, der sich nach hinten gebogen hatte. Ettore wütete; er hätte die Hälfte seines Lebens darum gegeben, wenn er mit einem Schlage aus diesen Schluchten, die sich endlos hinzuziehen schienen, herausgewesen wäre.
Die Felsschluchten begannen mit sandigen Strecken abzuwechseln. Die Felsen wurden kleiner, der Sand nahm zu. Am Nordfuße der Berge haben die stürmischen Winde, die aus der Mongolei kommen, Dünen aufgetürmt und so die Klippen unter ihren eigenen zerriebenen Trümmern begraben. In den Tälern bildet der Sand weite, die Abhänge einebnende Flächen, die großen gelben Flüssen gleichen. Allmählich langten wir auf den abgerundeten Gipfeln jener Dünen an, und zwar auf Wegen, die durch den jahrhundertelangen Karawanenverkehr in den Sand getreten worden waren. Von da erblickten wir zum ersten Male die einem Ozean gleichende, in der Klarheit des Horizontes blau verschwimmende mongolische Hochebene.
Hier erwarteten uns endlose Steppen und die Wüste. Hier winkte uns die Eilfahrt, die Befreiung, das Leben des Okzidents.
Wir warfen die Hüte in die Luft und ließen in den klaren Himmel hinein einen Ruf der Begeisterung ertönen: Evviva!
An der Schwelle der Mongolei.
Die Neugier eines Mandarinensohnes. — Telegraph und Opium. — Im Kampf mit dem Schmutze. — Kalgan. — Zwischen Ta Tsum-ba und Tu-tung. — Fertig.
Die mongolische Ebene mit ihrer ozeanartigen Beschaffenheit hat die Eigentümlichkeit, daß sie sich höher erhebt als die höchsten Berge. Sie scheint von einer ungeheueren Flut emporgehoben worden zu sein, 1500 Meter hoch. Man hat gesagt, China sei das Land des Widersinns; hier hat man ein phantastisches Beispiel davon: die Berge unten und die Ebene oben. Unterhalb der unermeßlichen Steppen zeichnen sich die Berge von Kalgan ab mit den längs ihrer Kämme verstreuten Türmen der letzten Mauer.
Der Anblick dieses Horizontes, der in der Richtung unseres Zieles frei und offen vor uns liegt, flößt uns neuen Mut ein. Seit zwölf Stunden waren wir unterwegs, aber unsere Müdigkeit ist verschwunden. Vorwärts, vorwärts! Und eilenden Schrittes stiegen wir die steilen Abhänge der Dünen hinab in der Richtung auf die sandige Ebene von Hsin-wa-fu. Hinter uns verdämmerte in der Ferne der Lien-ya-miao, den wir am Morgen überschritten hatten.
Die Ebene ist bedeckt von alten Gräbern, einstürzenden Bogen, Steinen, baufälligen kleinen Pagoden. Wir näherten uns einer großen Stadt, und die Umgebungen der großen Städte sind dem Gedächtnis der Verstorbenen geweiht; der Tod heiligt alle, die hier bestattet liegen und deren Geister viel Bedeutung und viel Einfluß auf das Leben der Bewohner besitzen. Hsin-wa-fu ist die Hauptstadt des Bezirks und Sitz eines Gouverneurs; es hat eine Garnison und sogar ein kleines Fort, das nach dem Einfalle der Fremden errichtet und vorsichtigerweise in einem kleinen Erlengebüsch vor den Toren versteckt wurde.
Wir sahen die Mauern ihre Zinnen über die brennende Ebene erheben, zitternd im Widerprall der Sonnenstrahlen, als unsere Aufmerksamkeit von einer großen Staubwolke in Anspruch genommen wurde, die sich in der Richtung auf Hsin-wa-fu erhob. Nach kurzer Zeit bemerkten wir, daß sie von einer Anzahl Reiter herrührte, die im Galopp auf uns zusprengten und sich rasch näherten. Nach der Kleidung zu urteilen, waren es Chinesen jedes Standes. An der Spitze der Gruppe ritten die beiden verdächtig aussehenden Soldaten, die nach uns gesehen hatten, als wir in Schan-schui-pu die Brotfladen aßen. Diese Leute kamen also unsertwegen. Als sie in unsere Nähe gelangt waren, hielten sie, ohne sich im mindesten die Mühe zu nehmen, uns zu begrüßen, beobachteten uns einige Minuten mit offenbarer Unzufriedenheit, wandten dann ihre Pferde und sprengten mit verhängtem Zügel davon.
Einen Augenblick hatten wir uns mit der Hoffnung geschmeichelt, sie seien gekommen, um uns Gastfreundschaft anzubieten, und hatten uns für diesen Fall unseren ganzen Vorrat von chinesischen Begrüßungs- und Höflichkeitsformeln zurechtgelegt. Wir konnten uns nun dieses Reitermanöver nicht erklären. Pietro aber hatte Zeit gefunden, mit einem der beiden Soldaten zu sprechen, und belehrte uns:
„Haben gesehen jungen Mann gekleidet blaue Seide, zu Pferd vor allen andern?“ fragte er.
„Ja; nun, und?“
„Junger Mann sein Sohn des Mandarinen. Haben gesehen dicken Mann mit Brille und Strohhut wie mein Hut? Dicker Mann sein großer Gelehrter, Lehrer von Sohn von Mandarin. Andere sein Freunde, Beamte, Diener ...“
„Was wollten sie denn?“
„Wollen sehen laufen Automobil. Automobil nicht laufen, alle weggehen nicht zufrieden.“
Sie hatten nicht unrecht, diese alle, müssen wir gestehen. Es wird dem Sohne des Mandarinen von Hsin-wa-fu nicht alle Augenblicke die Gelegenheit geboten, die berühmte abendländische Maschine zu sehen, die rasch wie der Wind fährt. Und nun wurde die Ankunft des Ki-tscho amtlich aus Peking mittels einer telegraphischen Depesche des Wai-wu-pu gemeldet. Man weiß, daß einer von ihnen mit schwindelerregender Schnelligkeit durch die Dörfer und Flecken gerast ist und in Schem-pao-wan übernachtet hat. Soldaten werden zur Erkundung ausgeschickt und kommen, die Sporen in die Weichen der Pferde gedrückt, mit der Nachricht zurück: „Er ist da!“ Um ihn zu sehen, muß man einen weiten Weg machen, und es bildet sich eine regelrechte Expedition, die im Galopp davonsprengt. Das fremde Wundertier erscheint am Horizont, es nähert sich. Es scheint langsam anzukommen, vielleicht ist dies aber nur die Folge der Ungeduld. Noch kurze Zeit, und der Sohn des Mandarinen nebst Lehrer und Begleitern stoßen schließlich auf einen langsam sich bewegenden massiven Wagen, gezogen von einem Esel, einem Maultier, einem Pferde, die wiederum von einer willigen Schar von Söhnen des Himmels unterstützt werden! Nein, im Grunde hatten sie gar nicht so unrecht, wenn sie sich von uns sehr enttäuscht zeigten.
Beim Betreten der Vorstadt, die sich wie ein ungeordnet hinausgeworfener Teil der zu eng gebauten Stadt ausnimmt, erwartete uns eine große Menschenmenge, die durch das Kommen und Gehen der Reiterschar des Mandarinen neugierig geworden war. Sie umringte uns, wobei sie einen Höllenstaub aufwirbelte, und geleitete uns zu einer Karawanserei.
Unser Einzug glich mitnichten einem Triumphzug. Es wurde uns jener volkstümliche Empfang zuteil, wie er gewöhnlich wandernden Seiltänzergesellschaften bereitet wird; dasselbe Publikum, gutgelaunt, neugierig, zerlumpt, begierig auf den Beginn der Vorstellung und bereit, sich im Augenblick des Einsammelns zu zerstreuen. Wir betraten den Hof der Herberge, und die Leute drängten nach. Das Automobil hielt in der Mitte, und das Publikum bildete einen Kreis um dasselbe. Es gab keine Möglichkeit, die Leute zu entfernen. Was will man? Da draußen sieht man Europäer so selten, kommt so wenig mit ihnen in Berührung, daß man keine Möglichkeit hat, sie näher kennen zu lernen; deshalb haßt man sie auch nicht. Wir hatten ein wohlwollendes, geduldiges Publikum. Es interessierte sich für unsere Kleider, bewunderte uns vom Hute bis zu den Schuhen, lächelte beim Klang unserer Worte und wartete. Es wartete auf irgendein wunderbares Vorkommnis, würdig der Wesen, die für Wundertiere gelten; zum Überfluß erzählten unsere Kulis der Menge von den phänomenalen Leistungen des Ki-tscho.
Ettores Eigenliebe stand unter dem Druck mehrerer Atmosphären; er litt Qualen des unbefriedigten Ehrgeizes. Seitdem wir dem Sohne des Mandarinen begegnet waren, hätte er am liebsten die das Automobil ziehenden Menschen und Tiere losgeschirrt und wäre mit voller Geschwindigkeit in Hsin-wa-fu eingefahren. Schließlich fühlte er plötzlich das Bedürfnis einer Entladung; er drehte die Kurbel des Motors, faßte das Steuerrad und senkte den Auslösungshebel. Das Automobil schoß vorwärts und begann einen rasenden Lauf rund um den Hof, inmitten einer unbeschreiblichen Verwirrung, einer kopf- und besinnungslosen Flucht. Die Zuschauer wußten nicht, wohin sie sich retten sollten, sie liefen hin und her, als wären sie mit einem wildgewordenen Stier in einen Raum eingeschlossen. Aber bald sahen sie ein, daß der Stier abgerichtet war, daß er sich regelmäßig innerhalb des Kreises bewegte, daß er genau auf dieselben Punkte zurückkehrte und nicht die mindeste Absicht hatte, ein Blutbad anzurichten. Jetzt blieben sie stehen. Doch in diesem Augenblick drohte ihnen eine andere, bedeutend ernstere Gefahr. Sie war durch das Tor in Gestalt einer Schar mit Stöcken bewaffneter chinesischer Soldaten eingetreten, die unter dem Befehl eines Offiziers standen, der seinem Äußern nach mehr einem Kuli glich, aber mit goldenen Tressen geschmückt war. Die Stöcke erhoben sich über die Köpfe der Menge und sausten auch auf deren Schultern nieder. Doch nicht lange, denn nach wenigen Sekunden befand sich keine Schulter mehr im Bereich der Stöcke; der Hof war leer.
Nach diesem vollen Erfolge nahmen die Soldaten strategische Stellungen ein: zwei Mann am Tore, zwei zu beiden Seiten des Automobils, zwei als Wache auf der Straße, der Offizier in der Küche der Herberge. Der Mandarin von Hsin-wa-fu hatte mit Schutz und Verteidigung nicht gegeizt. Später schickte er einen Beamten mit der Frage, wann wir abzureisen gedächten. Konnte er diensteifriger sein, als er war?
In Hsin-wa-fu gibt es etwas, was ich nie vergessen werde: das Telegraphenamt.
Vor allem, weil ich vier Kilometer zu gehen hatte, um es zu finden, und natürlich vier Kilometer zurück, und an diesem Tage hatten wir bereits ihrer fünfzig zurückgelegt. In einer einsamen Straße innerhalb der Mauern senken sich die Telegraphendrähte von ihren Stangen herab auf ein Haus, das schweigend wie ein Tempel daliegt. In dem Tempel traf ich zwei Telegraphisten an, vertieft in eine wichtige, delikate Beschäftigung, die das chinesische Gesetz neuerdings verboten hat: sie rauchten Opium; sie waren auf dem Kang hingestreckt, hielten ihre klarinettenähnlichen Pfeifen in der Hand und waren eingehüllt in den duftenden schweren dichten Rauch des Betäubungsmittels.
„Kann ich ein Telegramm aufgeben?“ fragte ich höflich, nachdem wir die üblichen Grüße ausgetauscht hatten.
Tiefes Schweigen. Ich setzte mich. Nach einigen Minuten begann ich von neuem:
„Ich möchte ein Telegramm aufgeben ...“
Einer der Raucher näherte sich mir, machte sich im Zimmer etwas, ich weiß nicht was zu schaffen, ging zur Tür und rief, man solle den Tee bringen.
„Wollen Sie ein Telegramm von mir befördern?“ rief ich nochmals.
Jetzt begann ein Gedanke im Kopfe des kaiserlichen Beamten zu dämmern. Er betrachtete mich und sagte in einem halbwegs verständlichen Englisch:
„Wir stehen in direkter Verbindung mit Kalgan und Peking. Drei Stunden am Tage mit Kalgan und drei Stunden mit Peking. Von 7 bis 11 mit Kalgan und ...“
„Sehr schön. Mein Telegramm geht nach Europa. Nehmen Sie Telegramme nach Europa an?“
Tiefes Schweigen. Der Tee kam an. Ich trank eine Tasse davon, während ich mich daran machte, das Telegramm zu schreiben.
„Nehmen Sie also Telegramme nach Europa an? Ja oder nein?“
Der Beamte betrachtete mich gelassen, als habe er mich jetzt erst erblickt, und antwortete mit Seelenruhe:
„Europa? Wir stehen in direkter Verbindung mit Kalgan und mit ...“
„Und mit Peking, ich weiß, aber ...“
„Drei Stunden am Tage mit Kalgan und drei ...“
„Und drei Stunden mit Peking, ich weiß!“
„Von 7 bis 11 mit ...“
„Mit Kalgan, ich weiß, das genügt mir! Danke. Auf Wiedersehen!“
Ich stürmte wütend hinaus, Worte murmelnd, die wenn sie auch reich an energischer Ausdruckskraft sind, es doch nicht verdienen, mit Hilfe der Druckpresse verbreitet zu werden.
Wir wollten die ganze Strecke von Hsin-wa-fu bis Kalgan, etwa 40 Kilometer, mit dem Motor zurücklegen, mit Ausnahme des Passes von Yu-pao-tung, einem sehr steilen, aber kurzen hügeligen Übergang, der ungefähr in der Mitte des Weges lag. Ein Teil unserer Leute war schon nach Yu-pao-tung vorausgeschickt worden und hatte um Mitternacht die Herberge verlassen. Wir fanden jedoch die Straße so schlecht, sumpfig, steinig und sandig, daß wir für die ersten 15 Kilometer noch auf die Beförderung durch Ziehen angewiesen waren.
Am 14. Juni 5 Uhr früh nahmen wir langsam unseren Marsch wieder auf unter dem eintönigen Geräusch der Schritte der an die Seile gespannten Chinesen. An Dünen vorbei bewegten wir uns durch weite sandige Ebenen.
Die Menge des Sandes, die die Winde der Mongolei aus der Wüste in die der Grenze benachbarten chinesischen Landschaften tragen, ist unglaublich. Der Sand häuft sich vom Norden her an jeder Felsspitze, an jedem Hindernis auf, gleich dem von Stürmen gepeitschten Schnee. An den Mauern von Hsin-wa-fu hat er sich so hoch emporgetürmt, daß er sie schließlich beinahe begraben hat. Nur die Zinnen ragen noch hervor.
In einer halben Stunde hatten wir den Paß von Yu-pao-tung passiert, eine steile Einsattelung von wildem Aussehen, die sich aber in der Tat ziemlich freundlich erwies, da sie uns keine andern Schwierigkeiten in den Weg legte als eine Böschung von 40% Steigung und die Anwesenheit einiger Steine, die sich willig beiseite schieben ließen, um den Weg freizugeben. In dieser kleinen Schlucht zieht sich abgesondert, erhöht und deswegen gut erhalten, ein Stück Straße hin, das mit breiten Steinen gepflastert ist, die nicht aus der Gegend stammen und von dem Berge Schi-schan jenseits von Kalgan hierhergeschafft worden sein müssen. Es ist dies ein überraschender Rest alter chinesischer Zivilisation. Es hat also einmal wirkliche schöne, bequeme Straßen gegeben! Was war China in jenen fernen Zeiten? Welcher Verkehr, welcher Strom von Reichtum ergoß sich über Täler und Ebenen, auf wunderbaren Straßen und über prächtige Brücken nach Peking? Wie viele Jahrhunderte sind seitdem verstrichen?
Vor einem kleinen, zierlichen, von Bäumen umgebenen Tempel machen wir halt, um den Motor in Ordnung zu bringen und alles Nötige vorzubereiten, damit wir ohne fremde Hilfe bis Kalgan gelangen können. Maultiertreiber, Landleute, Kinder waren herbeigekommen, und, von den Kulis ausgesprengt, hatte sich die Kunde von dem Ereignis weithin verbreitet und war auch in den Tempel gedrungen. Ein junger Mönch erschien oben auf der Treppe, die zu dem Heiligtume führte, sah herunter und verschwand, um kurz darauf wiederzukommen, am Arme einen alten Mönch mit gebeugtem zitterndem Haupte stützend und führend. Wir bemerkten, daß der Greis blind war. Der Jüngling berichtete ihm alles, was sich zutrug. So nahm der Blinde, ohne zu sehen, teil an der wunderbaren Fahrt des Zauberwagens durch jene Gegenden, die er so gut kannte durch das Licht und die Erinnerungen seiner Jugend.
Diese Blindheit erschien uns als ein Symbol, als das Symbol der chinesischen Psyche. War nicht um uns ein Volk versammelt, das ausschließlich von der Vergangenheit zehrte, und erlebte es nicht, ohne ihn recht zu sehen, den mächtigen Einbruch einer ihm unbekannten Gegenwart? Was anderes ließen wir unter diesen Völkerschaften zurück als die Erinnerung an eine geheimnisvolle Gewalttat?
Wir fuhren in Schlangenlinien durch Flußbetten, auf vom Wasser ausgehöhlten Straßen. Als wir auf dem Grunde eines breiten Grabens entlang fuhren, blieben wir plötzlich im Moraste stecken. Die Räder drehten sich, ohne festen Halt zu finden, wühlten den Pfuhl auf, bohrten sich in ihn ein und versanken.
„Mit aller Kraft rückwärts!“ rief der Fürst.
Die Räder drehten sich in entgegengesetzter Richtung, aber das Automobil bewegte sich nicht einen Millimeter.
Der Motor wurde warm, und man mußte befürchten, daß er sich erhitzte. Chinesen, die vom Markte in Kalgan zurückkehrten, kamen auf dem Rande des Grabens vorbei. Wir baten sie, uns zu helfen, aber sie nahmen ihre Beine in die Hand und flohen davon, unter dem Gewicht ihrer Traghölzer schwankend. Das große Ding, das heulte, schnaufte und Rauch ausstieß, hatte sie erschreckt. Wir hatten uns schon resigniert dazu entschlossen, die Ankunft der Kulis abzuwarten; nach einer halben Stunde jedoch bemerkten wir, daß die herniederbrennende Sonne zum Teil den von den Rädern weggeschleuderten Morast getrocknet und hartgemacht hatte, und erneuerten unsere Anstrengungen. Nach einigen Minuten stellten wir fest, daß die Maschine sich, wenn auch fast unmerklich, zu bewegen begann. Die Räder drehten sich mit einer Geschwindigkeit von 90 Kilometern die Stunde, und das Automobil lief 90 Zentimeter. Es gelang uns, es einen Meter, dann zwei, dann fünf zurückzubringen. Und nun von neuem mit aller Kraft vorwärts! Es fuhr dieselbe Strecke vorwärts, stöhnend und den Rauch explosionsartig ausstoßend. Langsam machte es Fortschritte, wobei es in allen Teilen erzitterte, und gelangte endlich auf trockenes Gelände. Hier schoß es mit einem Male mit einem Katzensprung vorwärts — das Automobil war frei!
Kalgan liegt hinter Bäumen versteckt an der Mündung eines Tales. Wir erblickten es unvermutet bei einer Biegung der Straße. Es erschien mit einem Schlage mit seinem eigenartigen chinesischen Panorama, ähnlich jenen Städten, die man auf den gewirkten Tapeten von Fukien sieht. In malerischer Mannigfaltigkeit zieht die Stadt sich am Ufer eines breiten steinigen Flusses — des Ta-ho („Großer Fluß“) — hin und hebt sich mit ihren alten Pagoden, Peilos (Votivbogen) und seltsam geformten Tempeldächern von dem Alpenhintergrunde ab, den die braunen, steilen Abhänge des Schi-schan bilden. Sie ist unregelmäßig gebaut und besteht aus bunt durcheinander gemischten Gruppen von Hütten, Palästen, Bäumen, aus einem wirren Haufen von Gebäuden und Pflanzen, der sich an der großen steinernen Brücke über den Ta-ho zusammenzudrängen scheint, um sich am andern Ufer fortzusetzen.
Wir haben die Brücke nicht benutzt. Die antiken monumentalen chinesischen Brücken flößten uns allzu großen Respekt ein, und wir zogen die Furten vor. Wir stiegen in das Flußbett hinab, wo ein ganzes Volk von Gerbern damit beschäftigt war, in der Strömung hohe Stapel mongolischer Ziegenfelle mit flockiger Wolle zu waschen. In der Luft machte sich der Geruch von Leder und Gerberlohe bemerkbar; er kam aus der Stadt, durch deren enge Gassen wir fuhren. Wir zogen an von Zäunen umgebenen Lehmhütten, an Vorstadtwohnungen vorüber, die einen primitiven Anblick boten und schon von der Nachbarschaft unzivilisierter Volksstämme Zeugnis ablegten. Endlich gelangten wir auf einen Markt, der von Mongolen in Pelzmützen wimmelte; er war mit Buden besetzt, stand voller Wagen und Pferde und hallte von Geschrei und Lärmen wider. Die Leute sahen uns erstaunt nach, und wir fühlten, wie uns das Schweigen folgte wie das Kielwasser einem Schiffe. Soldaten in roten Jacken liefen vor einer Sänfte einher, die von berittenen Offizieren umgeben war, von denen einer feierlich einen roten Sonnenschirm, das Abzeichen des Kommandos, trug. In der Sänfte saß ein Großmandarin, der Gerichtspräsident von Kalgan, ein schöner Chinese, fett und rund, ähnlich jenen Porzellanpagoden mit wackelndem Kopfe, die stets ja zu sagen scheinen. Wir betraten die „Oberstadt“, die sich an den Wall anlehnt. Mitten auf dem Wege erwartete uns ein Europäer.
Es war Herr Dorliac, der Direktor der Filiale der Russisch-Chinesischen Bank, der uns seine Gastfreundschaft anbot.
Dankbar nahmen wir die freundliche Einladung dieses Eremiten der Zivilisation an, der fern von seinesgleichen in einer Art von chinesisch-europäischem oder sagen wir russisch-chinesischem Hause wohnt und die Eingeborenen in die Geheimnisse des Wechselgeschäfts einweiht. Der Hof der Bank wurde zur Werkstatt Ettores, die Geschäftsräume zum Quartier umgewandelt. In wenigen Stunden nahm die „Itala“ wieder ihr normales Aussehen an, nachdem Ettore der Packkiste den Abschied gegeben und die Karosserie mit ihren Behältern wieder an Ort und Stelle gebracht hatte. Hier fanden wir unseren ersten Reservevorrat an Benzin und Öl vor. Um eine etwaige Erwärmung des Motors zu vermindern, wurden in Voraussicht hoher Temperaturen an den Zylindern Auspuffrohre angebracht, wie die Rennmaschinen sie besitzen; sie sind an das Motorgehäuse angeschraubt und ähneln zwei kleinen Phonographenschalltrichtern; durch sie können die glühendheißen Benzindämpfe unmittelbar nach ihrer Entstehung ins Freie entweichen.
Die Arbeiten Ettores wurden von einer riesigen Zuschauermenge überwacht. Die Polizeibehörden hatten sechs Soldaten zur Bewachung des Einganges der Bank geschickt mit dem Befehl, niemand eintreten zu lassen. Ein großer Irrtum! Jeder chinesische Soldat hat natürlich eine gewisse Anzahl Freunde, Verwandte, Gläubiger, gegen die er sich gefällig und liebenswürdig zeigen muß, indem er sie durchläßt, wenn er Wache steht. Die Anzahl aber der Gläubiger, der Verwandten und Freunde von sechs Chinesen beträgt die Hälfte der Einwohnerschaft einer Stadt. Dies war der Grund, warum durch eine mit Riegeln verschlossene, durch Balken verrammelte und von sechs Schildwachen behütete Tür eine Menschenflut in ununterbrochenem Andrang hereinströmte. Wären die Wachtsoldaten zwölf an der Zahl gewesen, die Bank wäre demoliert worden. Viele Zuschauer waren auf die nächsten Dächer gestiegen, und Scharen von Neugierigen pilgerten nach dem Berge Schi-schan, wo sie ungeachtet der Gefahr der Bergstürze, die auf dem Schi-schan unausgesetzt Opfer fordern, auf die Felsenvorsprünge kletterten und von weitem nach den Geheimnissen Europas spähten.
Es kamen Missionare zu Besuch, die auf chinesische Art gekleidet waren, aber europäische Hüte trugen; sie erzählten mit großer Anschaulichkeit von den Greueln des Boxeraufstandes in Kalgan, bei welchem sicherlich aus jedem Missionar ein Schlachtopfer und ein Märtyrer geworden wäre, wenn nicht alle Missionare vorher nach der Mongolei entflohen wären. Einer von ihnen gab uns wertvolle Aufschlüsse über die Mongolei, die er genau kannte. Vor soundso viel Jahren war er dorthin gegangen, um Bibeln zu verteilen und Pferde zu kaufen, wobei er nach beiden Seiten ausgezeichnete Geschäfte gemacht hatte. Auch die russische, aus drei Mitgliedern bestehende Kolonie fand sich vollzählig ein, und beim Samowar hörten wir ihre tiefen Stimmen liebevoll und mit einer Art Heimweh von Sibirien sprechen. Da wir uns in diesem Augenblick unter Europäern befanden, russischen Tee und die ausgezeichneten Erzeugnisse der russischen Küche zu uns nahmen, so unterlagen wir beinahe der Illusion, schon mehrere tausend Kilometer zurückgelegt zu haben. Wir hatten jedoch, ach! nicht mehr als ungefähr 240 hinter uns, davon nur 95 mit dem Motor.
Es war in der Tat ein Tag, der den gesellschaftlichen Anforderungen gewidmet war. Die chinesischen Behörden hatten, abgesehen von der Stellung einer Wache, in der Stadt eine uns betreffende Bekanntmachung anschlagen lassen. Die Bewohner von Kalgan wurden darin von unserer Ankunft benachrichtigt; sie sollten uns als Freunde betrachten, da wir keine feindliche Absicht hätten, und uns demgemäß mit Achtung begegnen; die Bewohner sollten sich unserer Maschine nicht in den Weg stellen, sie sollten sich ihr gar nicht nähern und noch weniger sie berühren, da daraus das größte Unglück entstehen könne; Zuwiderhandelnde würden ins Gefängnis gesperrt und zu noch festzusetzenden Strafen verurteilt werden. Zahlreiche amtliche Anschläge auf rotem Papier von quadratischem Format verkündeten diese Bekanntmachung, um die sich die Bevölkerung an den Straßenecken in Scharen drängte, um sie zu lesen. Wir waren den Behörden einen Dankbesuch schuldig und statteten diesen ab, indem wir uns zum Ta Tsum-ba, zum Stellvertreter des Wai-wu-pu, begaben, der höchststehenden Persönlichkeit in der Stadt, dessen Amtsgewalt sich auf die Mongolei erstreckt, einer Art Minister des Grenzbezirks, dessen persönlicher Name Te Tsui lautet. Auf seinem Hause wehte die gelbe Flagge mit dem Drachen.
Der Ta Tsum-ba erwartete uns. Er und sein Gefolge hatten sich zu unserem Empfange in große Gala geworfen: gestickte Kleider, Hüte, wie sie bei festlichen Gelegenheiten getragen werden, überragt von Knöpfen in allen Farben, Pfauenfedern, die von diesen Knöpfen auf den Nacken herabwallten, bunte Gürtel, Schuhe ohne Absätze. Sobald er uns sah, drückte er sich nach der chinesischen Etikette selbst herzlich die Hand; alle Anwesenden taten dasselbe, und dann folgten Verbeugungen, höfliche Worte, Wünsche, daß man lange leben möge, alles gewürzt durch zahlreiche Tassen Tee, der mit Rosen und Jasmin parfümiert war, und überreichliche Süßigkeiten von geheimnisvoller Zusammensetzung, die der Ta Tsum-ba uns mit seinen eigenen langnägeligen, mit Jaderingen geschmückten Fingern reichte — eine ganz außerordentliche Ehre.
Die Besorgnisse Te Tsuis waren dieselben wie die des Wai-wu-pu. Er fragte, ob wir unterwegs Messungen vorgenommen oder Aufzeichnungen über die Straße gemacht hätten ...
„Messungen? Aufzeichnungen? Niemals!“ erwiderte der Fürst.
„Und in Irkutsk,“ fragte der Ta Tsum-ba weiter, „in Irkutsk benutzen Sie doch sicherlich den Zug?“
„Nein.“
„Und doch benutzen alle, die durch die Mongolei nach Europa reisen, in Irkutsk den Zug!“ bemerkte der Würdenträger verwundert. „Er ist sehr bequem. In zehn Jahren wird der Zug auch hier halten.“
Nach dem Besuche beim Ta Tsum-ba kam der beim Tu-tung an die Reihe, bei dem tatarischen General, den der tatarische Hof von Peking jedem chinesischen Gouverneur zur Kontrolle an die Seite setzt; er befehligt die Regierungsmilizen und ist daher allmächtig, er ist der eigentliche Schutzherr des gesamten Mandarinentums der Provinz. Der Tu-tung von Kalgan heißt Tschen Sung. Er bewohnt einen tempelähnlichen, von einer roten Mauer umgebenen Palast, und von den hohen Fahnenstangen, die mit seltsamen Anhängseln geschmückt sind, die den Fu, die Amtswohnung, anzeigen, weht neben der Drachenflagge auch die militärische Standarte.
Wiederum gestickte Kleider, Festhüte mit langen roten Fransen, Knöpfe, Jaderinge, Pfauenfedern, bunte Gürtel, Schuhe ohne Absätze, Selbsthändedrücke, Verbeugungen, höfliche Worte, parfümierter Tee, Champagner und Süßigkeiten.
Auch der Tu-tung ist ein Freund der Eisenbahn, selbstverständlich, wenn die Eisenbahn von Chinesen gebaut ist. Aber er ist ein Feind der Tunnels. Er ist einmal mit der Eisenbahn gereist, auf der Linie von Hankou; er ist daher kein lediglich platonischer Kenner; er spricht aus Erfahrung. Solange man im Freien fährt, ist alles gut; wenn man aber in einen Tunnel kommt, so ist der Eindruck ein sehr unangenehmer.
„Aber es ist doch keinerlei Gefahr dabei“, bemerkte Fürst Borghese.
Das wußte der tatarische General sehr wohl, daß keine Gefahr dabei war, Teufel noch mal! Der unangenehme Eindruck rührte von der Dunkelheit her.
„Man nimmt an, es sei Nacht!“ warf der Fürst lachend ein.
Ah, das ist nicht dasselbe. Der Tu-tung gibt durch den Dolmetscher eine Erklärung und enthüllt dadurch etwas von den unbekannten Horizonten der chinesischen Seele, etwas von der fein entwickelten orientalischen Empfänglichkeit für Sinneseindrücke.
„Die Dunkelheit der Nacht und die der Tunnels sind durchaus verschiedene Dinge. Sie gleichen sich nicht im geringsten. Die der Nacht ist süß, die der Tunnels herb ... Es besteht zwischen beiden ein so großer Unterschied wie zwischen Freude und Schmerz ... Die Dunkelheit der Nacht löst, die Dunkelheit der Tunnels bedrückt ...“
Nach dieser Vorlesung über die verschiedenen Dunkelheiten kehrten wir zur Bank zurück, gerade noch zur rechten Zeit, um den Gegenbesuch des Ta Tsum-ba entgegenzunehmen. Es kamen kleine Wagen mit den Beamten des Gefolges an. Die ganze Umgebung war gedrängt voll Menschen, deren Rufe uns die Annäherung des Mandarinen verkündeten. Eskortiert von Soldaten, erschien eine von einer Menschenschar getragene Sänfte im Hofe, und heraus stieg Te Tsui in prächtiger, goldgestickter Kleidung, mit einer Amethystkette um den Hals, einen Fächer in der Hand. In der Russisch-Chinesischen Bank hörte man nichts als das Rauschen von Seidenstoffen.
Beim Weggehen wollte der Ta Tsum-ba den Ki-tscho sehen. Er fand die Vorrichtung, die Hupe ertönen zu lassen, ohne mit dem Munde hineinzublasen, sehr sinnreich. Aufmerksam beobachtete er, wie die Maschine vorwärts und rückwärts fuhr, und stieg dann wieder in seine Sänfte, nachdem er uns nach europäischer Sitte die Hand gedrückt hatte — ein Zugeständnis an unsere Gebräuche, das er der Persönlichkeit der Fremden und der Natur des Ortes gemacht hatte.
„Tsou-ba! Platz!“ riefen die Soldaten der Menge zu, die Stöcke in der Luft schwingend, und das Gefolge entfernte sich.
Dann kam der Tu-tung mit einem noch größeren Gefolge. Wir waren ganz geschwollen von Stolz und Tee, namentlich aber von Tee. Nicht auszurechnen ist die Zahl der Tassen, die die Etikette uns zu trinken genötigt hatte. Es war Nacht, und immer noch erhielten wir Höflichkeitsbesuche. Der Samowar des Herrn Dorliac war beständig in Tätigkeit und dampfte wie eine Lokomotive. Zur Stunde des Abendessens kam noch E-Le-He-Tai. Er ist Mandarin und Dolmetscher des Wai-wu-pu, spricht und schreibt englisch und hatte keine Gelegenheit gefunden, uns während der Anwesenheit des Ta Tsum-ba seiner Freundschaft zu versichern. Um sie uns auszudrücken, kam er, in rote Seide gehüllt; er sah darin aus wie ein chinesischer Kardinal. Er hatte wertvolle Geschenke bei sich, die er uns zum Andenken verehren wollte: für den Fürsten eine große gestickte Börse, für mich ein Parfümsäckchen, gefüllt mit Kampferharz, das die Chinesen kauen, um dem Atem einen Geruch nach Kleidern zu geben, für Ettore einen Tabaksbeutel. E-Le-He-Tai war Automobilenthusiast; er bat um die Erlaubnis, eine Rundfahrt zu machen, was ihm gestattet wurde. Es schien mir, als repräsentiere unser lieber Freund in der chinesischen Orthodoxie die sympathischste moderne Richtung; aber dort draußen ist es gefährlich, modernen Anschauungen zu huldigen. Die große Exkommunikation trifft so schwer!
Selbst einige Bonzen eines benachbarten Tempels, der sich malerisch an den Abhang des Schi-schan lehnt, kommen, um sich das Automobil anzusehen. Der Tempel hat ein Gong, das während der ganzen Nacht jede Minute einen Schlag tut. Endlich blieben wir allein mit diesem tiefen, angenehmen, unsagbar feierlichen, einlullenden Ton, der unermüdlich wie eine stete Mahnung erklang. Unsere Phantasie trug uns in weite Fernen, und dieser immerfort sich wiederholende Schlag war für uns eine ernste Erinnerung, eine Stimme, die sich unsertwegen erhob, eine Stimme, die den Raum erfüllte, die sich mit der Regelmäßigkeit eines gewaltigen Atems ausbreitete, mächtiger, tiefer, geheimnisvoller wurde, herüberzitterte wie ein ferner Chor, eine Vereinigung von tausenderlei Lauten und tausenderlei Klagen. Es war, als vernähmen wir die märchenhafte Stimme der chinesischen Nacht.
Der folgende Tag — es war der 15. Juni — wurde auf eine Erkundung zu Pferde in der Richtung auf die Mongolei zu verwandt. Die Straße erwies sich als teilweise für den Motor fahrbar. Die letzten Anhöhen würden mit Hilfe der Kulis und der Maultiere überstiegen werden. Dann begann die Steppe. Nach der in den vorhergehenden Tagen ausgeführten Fahrt erschien uns alles andere leicht. Aber eine andere Gefahr drohte uns, der Regen. Das Tal des Schi-schan-ho ist in Regenzeiten plötzlichen reißenden Überschwemmungen ausgesetzt, und da die Straße ganz mit dem Bette des Flusses zusammenfällt, haben die von der Wut des Wassers überfallenen Karawanen keinen Ausweg. Häufig kommen Unglücksfälle dabei vor, und jedes Hochwasser schwemmt bei Kalgan neben entwurzelten Bäumen, Kadavern von Maultieren, Kamelen, Schafen auch menschliche Leichen an. Es regnete mehrere Stunden, und das Wetter drohte noch schlechter zu werden. Wir warteten daher mit Ungeduld auf die Ankunft der andern Automobile, von denen wir nur wußten, daß sie in Hsin-wa-fu eingetroffen seien.
Es gibt zwei Straßen, auf denen man von Kalgan nach Urga gelangen kann. Die Hauptstraße, zugleich die bekannteste, ist die sogenannte Mandarinenstraße, die auf etwa 800 Kilometer etwas nach Nordwesten bis zum Dorfe Sair-ussu ausbiegt; hier teilt sie sich in zwei Arme, von denen der eine sich nach Norden wendet und nach Urga führt, der andere nach Westen abbiegt, die Berggegend des Altai durchschneidet und über Kobdo, quer durch das Gebiet der Kalmücken, Semipalatinsk erreicht. Die andere Straße wendet sich etwa 40 Kilometer von Kalgan nach Norden und führt geradeswegs nach Urga. Die erstere ist die belebtere; sie hat Poststationen und Märkte, wird von chinesischen Wagen befahren und wird allgemein bevorzugt, trotzdem sie einige hundert Kilometer länger ist. Die zweite ist nur ein Saumpfad für Kamele und führt durch Landstriche, die von Anfang bis Ende völlig öde und wüst sind. Die Chinesen unterscheiden beide Straßen durch die Bezeichnungen „Wagenstraße“ und „Kamelstraße“. Wir wählten die Kamelstraße.
Unsere Wahl ist logisch begründet, so seltsam sie erscheinen mag. Der Verkehr im allgemeinen und der Wagenverkehr im besonderen richtet das Gelände zugrunde und macht es für das Automobil schwer passierbar. In der Mongolei und in der Wüste Gobi konnten wir auf jungfräulichem Terrain rasch fahren. Auf gewissen Ebenen ist die beste Straße für Automobile dort, wo es überhaupt keine Straße gibt. Wenige Jahre zuvor hätten wir uns nicht ohne Führer auf die endlosen mongolischen Steppen und in die Wüste wagen können; jetzt gibt es auf der Kamelstraße einen unfehlbaren Führer: den Telegraphen. Man folgt blindlings auf etwa 1200 Kilometer der Linie der Stangen und gelangt nach Urga. In so fernen Landstrichen, in den unermeßlichen Einöden Zentralasiens bedeutete die Nähe des Telegraphen für uns die Nähe unserer Welt. Dies war ein weiterer Grund für unsere Wahl.
Am Morgen des 16. Juni, um 8 Uhr, hörten wir den Lärm einer großen Volksmenge. Wir eilten auf die Straße. Eine Nachricht hatte die Stadt von der Brücke über den Ta-ho bis zur Russisch-Chinesischen Bank mit Blitzesschnelle durcheilt: „Sie kommen!“ Es waren unsere französischen Freunde, die in diesem Augenblick ihren Einzug in die untere Stadt hielten. Wir gingen ihnen entgegen, um sie freudig willkommen zu heißen. Händedrücken, Begrüßungen, Erzählungen. Sie hatten die Nacht im Lager dreißig Li vor Kalgan zugebracht. Ihr Weg war ebenfalls mühsam gewesen, aber abends angenehm unterbrochen worden durch das Lagerleben mit seinen mannigfaltigen Beschäftigungen, der improvisierten Küche unter freiem Himmel, den Kämpfen gegen den Regen, dem Erwachen beim Morgengrauen. Unterhalb des Lien-ya-miao hatten sie eine Furt durch den Hun entdeckt und einen zwar malerischen, aber gräßlichen Aufstieg umgehen können; sie hatten aber keine Möglichkeit gefunden, den andern, rauheren und schwierigeren Passagen auszuweichen.
In einem Augenblicke erschien der Hof der Bank in eine Werkstatt verwandelt. Überall Öl- und Benzinbehälter, Schraubenschlüssel, Hämmer, Gummi, Ersatzstücke in buntem Durcheinander umhergestreut. Die Automobile zeigten durch die Gehäuseöffnungen unverhüllt ihr Inneres und bequemten sich der Toilette an. Die Mechaniker krochen auf allen vieren zwischen die Räder, streckten sich hier aus, drehten mit eingefetteten Händen an Gewinden, schraubten Verschlußstücke los, hämmerten und putzten. Alle überflüssigen Teile wurden entfernt und weggeworfen, um die Maschinen leichter zu machen; Pons sägte seine Schutzbretter ab, Bizac nahm die „Schalldämpfer“ heraus, jene schweren Zylinder, die das Gas zusammenpressen, um es ohne Geräusch entweichen zu lassen. Dann wurden die Motore geprobt, behorcht, nochmals geprobt, und der Hof füllte sich mit Lärm, Rauch und Gestank. Am Abend waren alle Automobile reisefertig. Unser Gepäck hatte sich um einige Ziegenfelle vermehrt, die Pietro auf dem Markte für uns eingekauft hatte.
An jenem Abend wurde am Tische des Herrn Dorliac ein melancholisches Mahl gehalten. Wir waren etwas müde und hatten uns nichts mehr zu sagen, da die Geister von demselben Gedanken erfüllt waren und die Gemüter von derselben Ungeduld brannten. Wir standen im Begriff, mit Kalgan jede Berührung mit der Zivilisation zu verlassen. Bis dahin hatten wir uns in der Lage befunden, von Peking rasch Hilfe zu erhalten, wir waren durch bevölkerte, reiche Landstriche gezogen und waren stets von einer Menge Menschen umgeben gewesen. Die Rückkehr wäre leicht gewesen; das Meer war nahe, und das Meer ist die Straße nach Hause. Von morgen an aber würden wir ins Unbekannte hinausgeschleudert werden, ganz allein. Der Augenblick war entscheidend, wie das „Los!“ des Luftschiffers. Auch wir würden in einem gegebenen Augenblicke zu unseren Leuten sagen: „Los!“ und in einer Unendlichkeit verschwinden. Die Abfahrt von Peking war uns nicht so feierlich erschienen wie diese Abfahrt, die wir mit fieberhafter Sehnsucht und mit Beklemmung im Herzen erwarteten. Denn in Peking hatten wir Kalgan vor uns, in Kalgan aber das Innere Asiens, ein unbekanntes Land, das mit Zaubergewalt lockte. Urga, die nächste Stadt, war sieben Längengrade, d. h. fast 800 Kilometer entfernt! Am Ende des Mahles stießen wir mit den vollen Bechern brüderlich an — Franzosen, Italiener und unser russischer Gastfreund —, und nachdem wir noch aufrichtige Glückwünsche ausgetauscht hatten, trennten wir uns, indem wir einander an die Stunde der Abfahrt erinnerten.
„Also um 4 Uhr?“
„Um 4; angenehme Ruhe!“
„Au revoir!“
Durch die mongolische Steppe.
In einem Flußbett. — Zwischen den Türmen der „Wan-li-tschang-tscheng“. — Hinaus in das grüne Meer! — Im Lager. — Mongolische Gastfreundschaft. — Der Wüste entgegen. — Pang-kiang.
„Verlassen heute Kalgan. Überschreiten soeben mongolische Grenze. 8 Uhr morgens. Prächtiges Gelände. Haben mit dem Motor das Bett des Flusses Schi-schan 25 Kilometer weit durchfahren. Überschreiten unschwer 1828 Meter Höhe. Entzückende Landschaft.“
Diese Depesche, die ich stehend in Eile auf ein Blatt meines Notizbuches geschrieben hatte, übergab ich am Morgen des 17. Juni einem jungen, liebenswürdigen Attaché der französischen Gesandtschaft, der uns zu Pferd bis zum Saume der Steppe begleitet hatte. Ich beschwor ihn, sie noch vor Abend im Telegraphenamte zu Kalgan aufzugeben. Hätte ich ihm ein Dokument überreicht, von dem die Rettung eines Heeres abgehangen hätte, so würde ich nicht weniger feierlich bei meiner Bitte und nicht weniger glühend bei meinem Danke gewesen sein.
Ein Journalist ist stets geneigt, das Abhandenkommen eines Telegramms als einen schweren Verlust zu betrachten. Er hat etwas von der Leidenschaft des Historikers an sich, und eine verlorene Depesche bedeutet für ihn eine unausfüllbare Lücke in der selbstdurchlebten Geschichte, die er schreibt. Und dann hat er eine Art Mutterliebe für seine eiligen Aufzeichnungen und begleitet sie in Gedanken auf ihrem weiten Wege; er berechnet die Stunden, die sie brauchen werden, um an den Ort ihrer Bestimmung zu gelangen, er berechnet die Zeitunterschiede zwischen den einzelnen Ländern, sieht die Depesche in der Redaktion ankommen, zur Nachtzeit, im Augenblicke der Arbeit; er verfolgt sie bis zu den auf einem großen Tische unter dem Lichte der elektrischen Lampen liegenden Papieren. Ihr Verschwinden ist ihm gleichbedeutend mit einem Verrat. Reisen, Kosten, Mühen können vergeblich werden infolge eines nichtigen Zufalls, der eine Depesche auf dem Grunde einer Tasche oder auf dem Grase eines Seitenpfades liegenbleiben läßt. Zu der Pünktlichkeit des journalistischen Dienstes tragen die mannigfachsten Umstände bei: die Geschwindigkeit eines Pferdes, die Ehrlichkeit eines Chinesen, das schöne Wetter. Die Ungewißheit über das Schicksal seiner Arbeiten ist eine der peinlichsten Qualen für einen Berichterstatter in fernen Ländern, der genötigt ist, zu jedem sich ihm bietenden Mittel zu greifen, um seine Depeschen zur nächsten Telegraphenstation zu befördern, der in die Unmöglichkeit versetzt ist, direkte Mitteilungen zu erhalten, der, abgeschnitten von jedem Verkehr, über alles im Dunkeln bleibt und dem Zweifel zum Opfer fällt.
Ich legte unermeßlichen Wert auf die Absendung jenes kurzen Telegramms; es war mir in diesem Augenblicke, als enthielte es die wichtigste Nachricht von der Welt: „Überschreiten soeben mongolische Grenze.“
Ich wiederholte allen diese Worte mit einer Art begeisterten Staunens. Wir befanden uns in einem grasreichen Tale, zwischen schwellenden, weichen Hügeln, die die Vorstellung erweckten, als pflanze sich jene Bergkette, die wir überstiegen hatten und im Osten noch hoch emporragen sahen, in unendliche Fernen auf jener Ebene fort. An der Ausmündung des Tales bemerkten wir, wie die Steppe als gleichförmige Ebene mit dem Horizont verschwamm. Wir hatten haltgemacht, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.
Die Morgenfahrt war herrlich gewesen. Wir hatten mit dem Aufbruch warten müssen, bis die Tore Kalgans geöffnet wurden. Einer Gewohnheit zufolge, die unzweifelhaft auf die Zeiten der Kriege und Überfälle zurückgeht, schließen die Städte Chinas allabendlich ihre Tore, an die Soldaten als Wache gestellt werden. Auf den öden Straßen waren wir bis zu einem verschlossenen Tor und einer schlafenden Wache gelangt. Die Wache wurde munter, das Tor wurde geöffnet, und beim ersten Morgengrauen fuhren wir in dem engen Tale des Schi-schan-ho im Zickzack auf dem Flußsande hin, um den Felsblöcken und den Steinen auszuweichen.
Das von steil ansteigenden Hügeln eingeschlossene Tal lag noch in tiefem Schatten, selbst als die Spitzen der Berge im rosigen Lichte der aufgehenden Sonne zu schimmern begannen. Oben herrschte bereits der Tag, die Nacht zog sich in die Tiefe zurück; sie schien sich verbergen zu wollen, um nicht besiegt zu werden, sie zögerte zu verschwinden und hüllte die Windungen der Schlucht, durch die wir mit der Geschwindigkeit von 20 Kilometern die Stunde aufwärts fuhren, in violette Halbschatten ein.
Die an den Zylindern des Motors angebrachten Auspuffrohre stießen die Verbrennungsgase unter starken Explosionen aus, die wie Karabinerschüsse klangen und so rasch und zahlreich aufeinanderfolgten, daß man hätte glauben können, neben uns sei ein Maschinengewehr in voller Tätigkeit. Das Echo dieses Getöses erfüllte das ganze Tal. Wir mußten schreien, um uns verständlich zu machen. Pietro schien vor Schreck halbtot. Wir hatten nämlich auch ihn mitgenommen; er war auf das Gepäck geklettert und hatte sich an die Seile festgebunden, um bei den Schwankungen und Stößen des Automobils nicht herunterzufallen. Hier blieb er still und ohne sich zu rühren sitzen und wünschte vielleicht in seinem Herzen, sich lieber auf dem Rücken des wildesten Pferdes von China zu befinden als da oben!
„Geht es gut, Pietro?“ fragte ihn der Fürst in aller Harmlosigkeit, während er die Maschine lenkte.
Und Pietro entgegnete mit beredtem Zögern:
„J.. J.. Ja!“
Auf einer Anhöhe erhebt sich ein großer Felsen von seltsamem Aussehen, ähnlich den Trümmern eines mittelalterlichen Kastells mit spitzen Zacken, die an die Ruinen von Türmen erinnern. Das Kastell ist durchlöchert; vom Tale aus sieht man den Himmel durch eine Öffnung des Felsens, die so regelmäßig ist, daß sie dem Bogen einer massiven Brücke gleicht. In der Morgendämmerung zeigte sich jene eigenartige Naturbildung, die sich schwarz und scharf von dem klaren Himmel abhob, in düsterer Großartigkeit. Die das Tal passierenden Mongolen betrachten sie mit fast religiöser Scheu.
Es knüpft sich eine Sage an diesen Felsen. Als Dschingis Chan, der Eroberer, der im Gedächtnis der Mongolen als Gott weiterlebt, an der Spitze eines Heeres dieselbe Straße zog, die wir im Automobil durchfuhren, machte er unter dem vom Zufall geschaffenen seltsamen Kastelle halt, und da er ihm eine kriegerische und feindliche Bedeutung beimaß, nahm er einen Pfeil aus seinem Köcher, legte ihn auf die Sehne seines Bogens und schoß ihn ab. Der Pfeil durchbohrte den Felsen in voller Länge. Die Folge dieses kaiserlichen Schusses war jenes Loch; die Brückenöffnung ist nichts anderes als die dem Felsen durch Dschingis Chan zugefügte Wunde. Allerdings ist die Wunde so groß, daß ein Mann zu Pferd und vielleicht auch im Automobil bequem hindurchkommen könnte. Wer vermag aber zu sagen, wie dick die Pfeile Dschingis Chans und wie stark sein Arm gewesen sind?
Gegen das Ende verengert sich das Tal, und das Flußbett wird zu einer tiefen Schlucht. Es begann der letzte Aufstieg. Am Fuße der Bodenerhebung erwarteten wir die Kulis, die in der Nacht von Kalgan aufgebrochen und noch nicht angelangt waren. Die übrigen Automobile waren zurückgeblieben und folgten uns langsam. Wir betrachteten soeben einen alten Tempel, der sich in der Mitte des Abhanges erhob, als wir auf dem steinigen Fußpfade ein seltsames Wesen auftauchen sahen.
Es war ein riesengroßer, klapperdürrer Chinese, der einer großen ausgetrockneten Mumie glich. Sorgsam trug er eine Schale mit Eiern, eine Teekanne und Tassen und näherte sich uns, als er uns erblickt hatte, unter tiefen Bücklingen. Sein gelbes, knochiges Gesicht zeigte das breite Grinsen eines Totenkopfes. Er setzte die Schale auf die Erde, goß den Tee in die Tassen und reichte sie uns, dann bot er die Eier an und begrüßte uns. Wir verdankten dem Ta Tsum-ba die Ehre seiner Bekanntschaft. Unser guter Freund hatte den Behörden der Bezirke, durch die unser Weg führen mußte, den Befehl erteilt, uns ihre Huldigung darzubringen. Aber in jenen wüsten Gegenden gab es nur eine amtliche Persönlichkeit, und dies war eben jene wackere, grinsende Mumie, der Vorsteher einer kleinen, armen Gemeinde, die sich auf dem Gebirge eingenistet hatte. Er war bei Tagesanbruch bis zu dem kleinen Tempel herabgestiegen, wo er sich niedergelassen hatte, um das Teewasser zum Sieden zu bringen, die Eier zu kochen und uns zu erwarten. Als er uns von weitem gesehen hatte, war er mit seinen langen Beinen aufgesprungen und uns entgegengeeilt. Wir verabschiedeten uns freundlich von diesem Vertreter der hohen Obrigkeit, und der Vertreter der hohen Obrigkeit beeilte sich, uns ein Notizbuch zu reichen und uns durch Gesten anzudeuten, wir möchten uns einschreiben.
„Wie!“ riefen wir aus. „Ein Autographensammler?“
„Will Schrift,“ belehrte uns Pietro, „um Ta Tsum-ba zu zeigen, daß hat gehorcht seinem Befehle.“
„Aha, ein Zeugnis des Wohlverhaltens also!“
Und der Fürst und ich schrieben alles mögliche und erdenkliche Gute über den dürren Mann nieder, der inzwischen ruhig seine Eier aß und seinen Tee trank.
Bald darauf, nachdem die Kulis mit fünf Maultieren angekommen waren, sahen wir das Tal des Schi-schan-ho zu unseren Füßen in die Tiefe sinken und sich entfernen. Wir erklommen die Höhen der letzten Großen Mauer.
Nur die Türme der ungeheueren Wan-li-tschang-tscheng sind übriggeblieben. Zwischen je zwei Türmen dehnt sich ein langgestreckter Steinhaufen aus. Dies ist alles, was von den eingestürzten Mauern erhalten ist. Sie bestanden aus Lehm, die Türme aus Stein. Deshalb stehen diese auch nach einer Lebensdauer von 21 Jahrhunderten noch fest auf ihrem Wachtposten. Sie wurden 200 Jahre vor Christi Geburt errichtet. Seitdem sind so viele Städte vom Erdboden verschwunden, Völker sind zerstreut, Kulturen vernichtet, Reiche zerstört worden, nur diese Türme blieben; vor allem, weil sie zwecklos geworden sind. Auf der Welt hält wunderbarerweise alles das aus, was zwecklos und überflüssig ist, weil niemand Hand daran legt.
Diese vereinzelt stehenden Türme erscheinen, aus der Ferne gesehen, auf dem kahlen Gebirge riesenhaft groß. Sie erheben sich in solchen Zwischenräumen, daß die menschliche Stimme noch vom einen zum andern dringen kann; sie wurden so angelegt, damit der Ruf der Wachen ihre Kette entlang lief. Nachts rief ein Turm den andern an.
Das Automobil wurde von den Kulis auf einem gewundenen Pfade weitergezogen; der Fürst aber und ich stiegen die Felsen in gerader Linie zu den ersten Türmen hinauf. Oben machten wir halt, voller Bewunderung über das erhabene Schauspiel, das sich unseren Augen in der Klarheit des Morgens darbot. Wir sahen die grenzenlose mongolische Hochebene, die genügend weit entfernt war, um noch den Eindruck eines Ozeans zu machen. Im Westen stürzt sie plötzlich senkrecht auf die unter ihr liegenden Ebenen des Hoang-ho, einem ungeheueren tiefblauen Wasserfalle gleichend. Unten, uns näher, breitet sich eine seltsame Landschaft aus, wie man sie sonst nur im Traume erblickt, eine unermeßliche Anhäufung rötlicher Hügel, nach jeder Richtung hin zerschnitten, zerhackt, durchfurcht von Tausenden unfruchtbarer Schluchten, die untereinander verschieden und doch ähnlich waren wie Meereswogen; in der Ferne wurden sie blasser, bis sie die phantastische Farbe lebender Nacktheit annahmen; es war ein rosafarbenes Chaos, ein sturmgepeitschter, zu Stein gewordener Ozean. Im Osten erhob sich riesengroß das Gebirge des großen Chingan, eine gewaltige Bergreihe, die in dem grellen Lichte verschwamm und sich auflöste, und jenseits deren wir die weiten Ebenen der Mandschurei ahnten.
Nach kurzer Zeit begannen wir den Abstieg. Wir betraten den Boden der Mongolei. Es war 8 Uhr. Von der Höhe aus bemerkten wir in den benachbarten Tälern die Dächer elender Dörfer, die sich zwischen die Geländefalten schmiegten, um vor den Wüstenwinden Schutz zu suchen.
Nach Norden geht es sanft abwärts; die Steppe beginnt fast plötzlich. Die Felsenregion endet bei den Türmen. Man befindet sich jetzt in einem andern Lande. Wenn China auch auf diesen Gebirgskämmen keine Grenze mehr besitzt, so wahrt die Natur doch eifersüchtig die ihre. Wir kommen an einer Karawanenstation vorüber; etwa 50 mit Ochsen bespannte Wagen, die von Sair-ussu kommen, hielten bei einer armseligen Hütte. Die Ochsen, denen das Joch abgenommen war, weideten ringsum: kleine, schwarze Tiere mit langen Hörnern, von einer besonderen Rasse, die den Strapazen und Entbehrungen der weiten Fahrten widersteht. Aus der Hütte trat ein Chinese, wieder ein Beamter, aber ohne Eier und ohne Tee, der gemäß den Befehlen des Ta Tsum-ba gekommen war, uns seine Dienste anzubieten. Don Scipione bat ihn nur um die Gefälligkeit, uns die Kamelstraße zu zeigen.
Wir befanden uns noch auf der Straße nach Sair-ussu. Bis zur ersten Poststation mußten wir ihr folgen. Diese war daran kenntlich, daß sich eine Fahne und Soldaten dort befinden, hauptsächlich aber daran, daß im Umkreise von vielen Kilometern kein anderes Gebäude zu sehen ist. Wir liefen also keine Gefahr, den Weg zu verfehlen. Von der Station aus hatten wir einfach der Telegraphenlinie zu folgen. Der Telegraph, unser amtlicher Führer, trat in Tätigkeit.
Eine Stunde später machten wir auf einer Wiese halt. Wir befanden uns etwa 50 Kilometer von Kalgan entfernt. Gegen 11 Uhr kamen die übrigen Automobile nach. In fieberhafter Eile begannen die letzten Vorbereitungen. Die endgültige Auswahl des mitzunehmenden Gepäcks erforderte viel Zeit und Mühe; die Ballen wurden zugeschnürt und wieder aufgeschnürt; stets war etwas zuviel oder zuwenig darin. Auf dem Grase lagen Pelze, Biskuitschachteln, Säcke, Stricke bunt durcheinander. Das Überflüssige wurde den Kulis überlassen: Feldbetten, Matratzen, leere Ölkannen. Die Motoren wurden noch einmal geprüft, kontrolliert, erprobt, jeder Teil der Maschine einer genauen Revision unterzogen. Die „Itala“ wurde mit einem großen, baldachinartigen Zelte überspannt, das an den Ecken durch vier eiserne Klammern festgehalten wurde; es sollte uns nachts, in anderer Weise befestigt, als Obdach dienen.
Eine neue Zuschauermenge hatte sich jetzt um uns versammelt: mit Gewehren bewaffnete chinesische Soldaten, die von einer aus Lehm erbauten, von Mauern mit Zinnen und Schießscharten umgebenen Festung kamen; Karawanenführer, die ihre Lasttiere verlassen hatten, um zu sehen, was sich Außergewöhnliches in der Steppe zutrug; Mongolen, die in benachbarten Jurten wohnten und samt ihren Frauen mit den runden Gesichtern und den mit Ketten geschmückten Haaren herbeigekommen waren. Diese ganze Menschenmenge füllte jedes Plätzchen: sie betrachtete die Automobile mit vorsichtiger Neugier und folgte unseren Bewegungen mit gespannter, scheuer Aufmerksamkeit, als messe sie jedem Handgriff der Fremden eine geheimnisvolle Bedeutung bei. Genau so würden sie bei der Beschwörung eines Zauberers zugesehen haben. Um die Menge fernzuhalten, beschrieb Ettore einen weiten Kreis um die „Itala“, indem er die Erde mit einem eisernen Geräte furchte. Niemand wagte es, diese furchtbare Linie zu überschreiten.
Vergebens suchten wir das Gepäck auf dem dafür bestimmten Platze unterzubringen. Außer dem Gewichte der Behälter hatten wir noch Vorräte an Öl und Benzin, Gummistreifen und Lebensmittel für zehn Tage bei uns und hielten es für unklug, auf irgend etwas zu verzichten. Das Gepäck nahm auch den Platz des Hintersitzes ein. Wir beschlossen, alle drei im vorderen Teil des Automobils zu fahren, zwei auf den Sitzen und der dritte links zu Füßen der andern auf dem Boden der Karosserie, die Beine auf den Tritt stützend. Die Stellung des Dritten war nicht besonders bequem, aber wir wollten abwechseln. Das erste Opfer war Ettore.
Es war 2 Uhr nachmittags, als wir uns auf den Weg machten, nachdem wir in aller Eile ein Frühstück aus Cornedbeef zu uns genommen hatten. Der Fürst fuhr voran; die andern Automobile folgten. Pietro war schon aufgebrochen, um vor Torschluß noch in Kalgan zu sein. Er hatte sich von uns verabschiedet und uns in seiner blumenreichen Sprache so überströmenden Herzens gedankt, als hätten wir ihm die größte Wohltat erwiesen, indem wir ihn von Peking 300 Kilometer weit mitgenommen hatten. Dann war er mit den Kulis in der Richtung auf die Große Mauer unseren Blicken entschwunden.
Wir durchfuhren das Tal bis zu seiner Mündung und gelangten auf die Ebene. Die Hügel schlossen sich mit der wachsenden Entfernung hinter uns zusammen und bildeten gleichsam ein Ufer. Wir hatten tatsächlich die lebhafte Empfindung, als stießen wir von einer Küste ab. Wir fuhren los.
Sofort machten wir eine schmerzliche Entdeckung: die allzu schwere Ladung drückte dermaßen auf die hinteren Federn, daß bei dem geringsten Stoß des Automobils das Chassis schwer auf die Achse des Differenzialwerks aufschlug. Wir mußten langsam fahren, aber das Gelände war uneben, und heftige Stöße folgten aufeinander.
„Wir zerbrechen die Federn oder das Differenzialwerk!“ rief Ettore aus, dem die Stöße ins Herz zu dringen schienen.
„Es hat keine unmittelbare Gefahr,“ erwiderte der Fürst, der sein kühles Urteil bewahrte, „aber das Automobil wird es nicht lange aushalten. Wir müssen es etwas leichter machen.“
„Sofort?“
„Nein, beim ersten Haltepunkte. Wir fahren nicht weit.“
„Was lassen wir von dem Gepäck zurück?“
„Alles, was nicht unumgänglich notwendig ist. Wir werden ja sehen.“
Inzwischen wurde die Straße besser. Auf einer Strecke von einigen hundert Metern konnten wir auch rascher fahren. Alle Augenblicke bekamen wir winzige chinesische Dörfer zu Gesicht, die, von Gersten- und Kao-liang(Hirse)feldern umgeben, gleich Oasen in der öden Ebene lagen. Sie stellen die chinesische Kolonisation dar.
China breitet sich langsam, aber sicher in allen sogenannten eroberten Gebieten aus, in Turkestan wie in der Mongolei. Mit kleinen Garnisonen und nur wenig Beamten beherrscht es unermeßliche Landstriche, die von einer kriegerischen, aber zerstreut wohnenden Bevölkerung bewohnt werden. In diese Gegenden strömt die chinesische Auswanderung, die die Bebauung der Felder an den Boden fesselt. Es ist der Ackerbau, der nach und nach die Gebiete der nomadischen Völkerschaften in Besitz nimmt: eine mächtigere Kraft als die der Heere, weil der Nomade das Land nicht liebt und nicht verteidigt; er zieht sich nach den freien Räumen zurück; er weicht, ohne sich dessen bewußt zu werden.
Die chinesische Bevölkerung dehnt sich gegenwärtig nach Westen hin in einer Weise aus, wie es seit Jahrhunderten nicht geschehen ist. Es ist dies eine ganz neue Bewegung, die sich in aller Stille und völlig unbemerkt im Herzen Asiens vollzieht. Die Ausbreitung Chinas, in der Richtung auf das Gelbe Meer durch die Interessen der gesamten zivilisierten Welt gehemmt, findet landwärts ein geeignetes Feld und schreitet in manchen Gegenden in je zehn Jahren um 70 bis 90 Kilometer vor. Und China hat eine furchtbare Aufsaugungskraft; es wandelt die Völker um, macht sie zu Chinesen. So gibt es in der Mongolei alte Handelszentren, in denen man nicht mehr mongolisch, sondern chinesisch spricht.
In der Nähe eines dieser Dörfer schlugen wir unser Lager auf. Bei unserem Anblick flohen die Frauen, auf ihren kleinen verkrüppelten Füßen forthüpfend, um sich zwischen den Anpflanzungen der entgegengesetzten Seite des Dorfes zu verstecken. Vielleicht trauten sie uns übermäßig galante Absichten zu. Die Männer dagegen kamen herbei und beobachteten uns, während wir das Dach des Automobils in ein großes Lagerzelt verwandelten, das, in der Mitte des Automobils befestigt, bestimmt war, uns und der Maschine Schutz zu gewähren. In kurzer Entfernung lagerten die beiden „de Dion-Bouton“, der „Spyker“ und der „Contal“ in klug ersonnener Weise: die Automobile im Kreise herum und in der Mitte die Zelte, wie es bei militärischen Expeditionen üblich ist.
Der Fürst hatte sich entschlossen, die „Itala“ um die Schutzwände, die eisernen Klammern, die den Baldachin festhielten, die Auspuffrohre, einige eiserne Stäbe, die wir mit uns führten, um sie als Hebel zu benutzen, eine Spitzhacke und die Hälfte der Lebensmittel zu erleichtern. Wir schenkten diese Gegenstände den Chinesen, die uns bei unseren Arbeiten halfen. Wer uns einen Eimer Wasser brachte, erhielt eine Schutzwand, eine Spitzhacke derjenige, der uns Eier gab. Diese braven Leute hielten uns für Narren; sie kehrten froh nach Hause zurück, Eisenstäbe schleppend oder Konservenbüchsen in einem Zipfel ihres Gewandes tragend. Dann wurden die Biwakfeuer angezündet.
Allerdings klingt der Ausdruck malerischer, als es in Wirklichkeit war. In der Mongolei fehlt es an jedem vegetabilischen Brennstoff, und die Bewohner brennen Kameldünger, der an der Sonne getrocknet wird. Wir waren also weit von lustig flackernden Lagerfeuern entfernt. Als Ersatz dafür besaßen unsere Genossen herrliche Benzinöfen. Wir hatten uns in dieser Hinsicht nicht vorgesehen, hatten keinen derartigen Apparat besorgt und nahmen in genialer Weise unsere Zuflucht zu der Lötlampe, wie sie jedes Automobil mit sich führt. So waren unsere Biwakfeuer beschaffen, um die wir uns in Hemdärmeln geschäftig hin und her bewegten. Du Taillis überwachte das Kochen einer wundervollen Suppe, die aus schokoladenähnlichen Tafeln hergestellt wurde und alle erforderlichen Nährstoffe enthielt. Ich suchte mit Hilfe der Lötlampe Wasser zum Sieden zu bringen. Die Küche war also, wie man sieht, gänzlich dem Journalismus anvertraut; aber — es tut mir der Ehre des Journalismus wegen leid, es zu gestehen — die Ergebnisse im italienischen Lager waren jammervoll. Unser Essen roch entsetzlich nach Benzin, Petroleum und ranzigem Fett.
Mit einem Male kamen drei Mongolen zu Pferde an. Wir waren ihnen einige Stunden zuvor begegnet und hatten sie überholt. Einer von ihnen, ein junger Mann von athletischen Formen, trug ein Gewand aus pfauenblauer Seide und einen spitzen Hut aus gelber gestickter Seide und machte den Eindruck eines Häuptlings. Sie sprangen aus dem Sattel, gaben ihren Pferden Futter, breiteten ihre Decken neben uns aus, zündeten ein Feuer an, und zwar mit dem erwähnten Brennmaterial, von dem die Mongolen stets einen Sack voll mit auf die Reise nehmen, und lagerten sich. Der junge in Seide gekleidete Mann näherte sich uns, begrüßte uns lächelnd durch tiefe Verbeugungen und zeigte für alles, was er sah, eine kindliche Neugierde. Er begann mit uns eine lebhafte aber geheimnisvolle Unterhaltung, während deren wir uns heldenhaft anstrengten, uns gegenseitig verständlich zu machen. Zum Glück besaß der Fürst ein wertvolles Manuskript, das einige hundert mongolische Wörter mit ihrer Übersetzung enthielt, und es gelang uns folgendes zu verstehen: daß der Sprecher wirklich ein Häuptling war, daß wir dicht an seinem Dorfe vorübergekommen waren, und daß er uns einlud, in seinem Hause zu rasten. Alles das war gut und gern einige Büchsen Cornedbeef wert, und wir überreichten sie feierlichst der erlauchten Persönlichkeit, deren Freude und Dankbarkeit unerschöpflich schienen.
In diesem Augenblicke hörten wir den Galopp eines Pferdes. Es war dunkel geworden, und wir erkannten erst dann einen chinesischen Soldaten in dem Reiter, als er einige Schritte vor uns stehenblieb und fragte:
„Po-lu-ghe-se?“
Der Fürst (was tut nicht die Gewohnheit!) erkannte in jenen Lauten die chinesische Form seines Namens und ging dem Soldaten entgegen. Dieser stieg vom Pferde und reichte ihm ein Paket Briefe. Es war die Post, die letzte Post aus Peking, die vormittags 9 Uhr in Kalgan eingetroffen war. Jener Mann hatte in elf Stunden mehr als 95 Kilometer zurückgelegt! Er hatte vom Tu-tung den Befehl erhalten, uns einzuholen, und er hatte uns eingeholt. Als er seinen Auftrag ausgeführt hatte, sprang er wieder in den Sattel, bevor wir noch daran denken konnten, ihn zurückzuhalten, und ritt davon. Was für prächtige Soldaten würden die Chinesen abgeben, wenn sie nur Mut besäßen!
Diese unvermutete Ankunft von Nachrichten mitten in der Steppe, in der Feierlichkeit des Abends, in der Stunde, die die Einsamkeit tiefer und drückender macht, erschien uns seltsam. Es waren Briefe mit Abschiedsgrüßen, mit Wünschen für das gute Gelingen unserer Fahrt, Freundesworte, die uns hier am Saume der Wüste erreichten und uns an diesem Orte noch gehaltvoller und bedeutsamer erschienen. Als wir sie im Lichte der Dämmerung gelesen hatten, plauderten wir noch längere Zeit, auf unserem Gepäck sitzend und rauchend, während die Dinge um uns her verschwammen, in Dunkelheit versanken und unsere Gesichter sich nach und nach in Schatten hüllten und jeden Umriß verloren. Es scheint, als vergrößere die Finsternis die Entfernungen und isoliere uns; sie läßt uns schließlich verstummen, weil sie in uns die Empfindung weckt, als seien wir allein. Auch wir schwiegen, als wir in der Dunkelheit nur noch das Glimmen unserer Zigaretten und einen Schimmer weißen Papiers auf der Erde erkennen konnten. Der klare Himmel hatte sich mit Myriaden von Sternen bedeckt.
Unsere mongolischen Nachbarn waren um das erloschene Feuer eingeschlafen; es hatte sich ein Vierter zu ihnen gesellt, der auf einem Kamel angekommen war. Das bucklige Tier, zusammengekauert und unbeweglich, hob sich von dem letzten Schimmer im Westen ab und nahm eine monumentale Großartigkeit an, ähnlich jenen Riesenkamelen aus Stein, die die Gräber der Mingdynastie schmücken. In der Ferne hörte man den Hufschlag von Pferden. Die Chinesen aus dem nahen Dorfe waren verschwunden.
„Begeben wir uns zur Ruhe!“ rief Don Scipione. „Morgen müssen wir um 3 aufstehen.“
Wir machten unsere Lagerstätten unter dem Zelte zurecht und suchten dann die auf dem Rasen ringsum verstreuten Gegenstände zusammen. Plötzlich bemerkte ich das Fehlen einiger Kleinigkeiten, eines Taschenmessers, eines silbernen Bechers und eines Jagdbestecks. Und sie waren doch vorher da, ich hatte sie benutzt. Es gab hier also Räuber? Die Entdeckung dieser Diebstähle war nicht allzu ermutigend. In diesem Augenblicke fragte mich der Fürst:
„Haben Sie die Patronen an sich genommen?“
„Welche Patronen?“
„Den Vorrat an Revolverpatronen, der eben noch hier war.“
„Nein.“
„Dann sind sie gestohlen! Sie sind sämtlich verschwunden. Es bleibt uns keine andere verwendbare Waffe als eine Mauserpistole, vorausgesetzt wenigstens, daß nicht auch ...“
„Die Mauserpatronen gestohlen sind?“ fragte ich beunruhigt.
„Ja ... Nein, sie sind hier. Sie waren unter das Gepäck geraten. Wir wollen die Pistole für alle Fälle laden.“
„Und wollen gute Wache halten! Ein Patronendiebstahl ist nicht leicht zu nehmen.“
„Ettore, lege dich so, daß du die Pistole bei der Hand hast.“
Ich begab mich zu unseren französischen Nachbarn, um ihnen das Vorkommnis mitzuteilen. Auch sie machten ihre Waffen schußbereit.
Aber nie in unserem Leben verbrachten wir eine ruhigere Nacht. Die Diebe, die wahrscheinlich zu den Bewohnern des benachbarten Dorfes gehörten, begnügten sich mit dem Besitz der Patronen, des Messers und der übrigen Kleinigkeiten und hielten sich in der Ferne. Wir nahmen uns vor, Bewunderern gegenüber vorsichtiger zu sein.
Spät in der Nacht drang die schneidende Kälte durch die Pelze hindurch bis auf die Haut und weckte uns lange vor Tagesanbruch, während wir durch die Zeltöffnungen noch die Sterne am Firmament funkeln sahen.
Als wir uns erhoben, bemerkten wir, daß die Mongolen bereits aufgebrochen waren.
Zuerst verließ der dreirädrige „Contal“ das Lager. Er war am Abend zuvor mit großer Verspätung ins Lager gekommen, da er mehrmals durch die Unebenheiten der Straße aufgehalten worden war. Stellenweise war er von seinen beiden willigen, zu allem entschlossenen Führern geschoben worden, und der Motor hatte sich einigemal beim Überwinden der Geländeschwierigkeiten erhitzt. Er war daher zuerst aufgebrochen, um einen Vorsprung auf die etwa 200 Kilometer zu haben, die wir an dem Tage zurücklegen mußten. Dieses Handikap war am Abend beschlossen worden.
Ungefähr eine Stunde später fuhren die beiden „de Dion-Bouton“ und der „Spyker“ in kurzen Zwischenräumen davon. Es war 4 Uhr. Wir wurden durch das Gepäck aufgehalten, für das es uns nicht gelang, einen geeigneten Aufbewahrungsort ausfindig zu machen. Die Gepäckfrage hat uns bis zum Ende der Reise Schwierigkeiten bereitet. Sie war unsere Qual, unser Alb. Bei dem Bau und der Einrichtung der „Itala“ war alles vorgesehen, erwogen und geistreich ausgeführt worden, aber an das Gepäck hatte niemand gedacht. Es fehlte an Mitteln, es unterzubringen und zu befestigen. Wir mußten es mit Stricken festbinden, die durch die Federböcke gingen, aber die Stricke, die sich infolge der Feuchtigkeit der Nacht zusammengezogen hatten, dehnten sich in der Sonne aus, lockerten sich, das Gepäck rutschte, geriet ins Schwanken und fiel herunter. Es bedurfte vielstündiger Arbeit, um es wieder an Ort und Stelle zu bringen.
Die Sonne ging eben auf, als wir uns gegen 5 Uhr auf den Weg machten. Wir folgten den Spuren der andern Automobile in dem betauten Grase. Nachdem wir an kleinen chinesischen Niederlassungen vorübergekommen waren, fanden wir einen Pfad. Seit einer Stunde waren wir unterwegs, als wir den „Contal“ stillstehend antrafen. Pons und sein Gefährte waren abgestiegen und schienen damit beschäftigt, etwas am Motor nachzusehen. Der Fürst, welcher steuerte, hielt die Maschine an, um Hilfe zu leisten. Nachdem wir uns begrüßt hatten, erklärte Pons, wir möchten unsere Fahrt nur fortsetzen; er brauche nichts. Wir nahmen an, er warte die Abkühlung des heißgelaufenen Motors ab, und fuhren weiter. Eine halbe Stunde später holten wir die andern Automobile ein, die hintereinander fuhren. Wir grüßten und setzten unsere Fahrt fort. Der verabredete Treffpunkt war die Telegraphenstation Pang-kiang.
Die Erleichterung des Wagens zeigte ihre guten Wirkungen. Die Federn hatten sich wieder aufgerichtet, und das Chassis blieb in der richtigen Entfernung vom Differenzialwerk. Die „Itala“ lief mit einer Schnelligkeit von 30 Kilometern die Stunde.
Mit einem Male bemerkten wir, daß die Telegraphenstangen im Begriff standen, zu unserer Linken am Horizonte zu verschwinden. Wir hatten vielleicht den Weg nach dem Flusse Kerulen im Osten von Urga eingeschlagen. Quer über die Steppe weg suchten wir wieder unseren alten Pfad.
Jetzt waren keine chinesischen Lager mehr zu sehen, ebensowenig Lehmhütten. Nur die öde Ebene dehnte sich vor uns aus, grün und gleichförmig. Von Zeit zu Zeit unterbrach eine niedere Gruppe zerklüfteter Felsen die Eintönigkeit des leicht gewellten Horizonts. Ringsum herrschte eine solche Einsamkeit, daß der Anblick eines Menschen ein Ereignis war, auf das wir uns gegenseitig aufmerksam machten.
„Ein Mann zu Pferde ... dort!“
„Er hat uns gesehen. Er sprengt auf uns zu.“
Ich erinnerte mich eines ähnlichen Falls an Bord während einer langen Seereise, als die Passagiere sich auf dem Verdecke zuriefen, um einander etwas Seltenes zu zeigen:
„Sehen Sie, ein Schiff ... dort!“
Wir stießen auf große Herden jener kleinen dicken, zähen mongolischen Pferde, deren wunderbare Marschleistung der tatarischen Eroberung Chinas die bewegende Kraft geliefert hatte. Eine unerklärliche Neugierde trieb diese Pferde auf uns zu. Kaum gelangte das noch nie von ihnen gehörte Geräusch des Motors, das in der großen Stille der Ebene weithin widerhallte, zu ihren Ohren, so hoben alle die Köpfe, wandten sich um, und der Anblick eines dahinrasenden Ungeheuers flößte den furchtsamen Tieren keinen Schrecken ein. Sie erkannten vielleicht in diesem schnellen Dinge etwas Verwandtes: die Geschwindigkeit. Sie langten alle zusammen in einem scharfen Galopp bei uns an. Es schien, als wollten sie uns mit ihrer furchtbaren Masse erdrücken. Sie stürmten in einem wütenden Laufe an, der wie ein Orkan vorüberjagend alles niederwirft. Aber auf zehn Meter Abstand von uns machten sie plötzlich mit steifen Beinen halt mit der Genauigkeit und Geschicklichkeit arabischer Pferde bei einer Fantasia. Dann begaben sie sich auf unsere rechte Seite und begleiteten uns im Galopp, solange sie sich nicht überholt sahen. Dann änderten sie plötzlich ihre Richtung und stürmten wieder davon, ihren Weideplätzen zu. Das Schauspiel war prächtig, namentlich als uns jene seltsame Eskorte begleitete, die an unserer Seite dahinjagte, und wir die ganze Schönheit, Gewandtheit und Kraft einer wildbewegten Pferdemasse vor Augen hatten.
Das Manöver wiederholte sich, fast jedesmal unverändert. Es war also den Tieren von einem und demselben Gedanken eingegeben worden. Welcher war es? Was ging in ihren kleinen Gehirnen vor? Sie schienen in ihren Bewegungen von der Hand unsichtbarer Reiter gelenkt zu werden, so geschult waren sie. Man hätte sagen können, daß sich durch einen weit hinaufreichenden Atavismus der kriegerische Sinn auf diese Tiere vererbt habe.
Nur wenige Hirten hielten sich in der Nähe dieser Herden auf, die im Winter, wenn die Tiere mit sehr langem ziegenähnlichem Haar bedeckt sind, auf die großen Märkte in Peking getrieben werden. Einer jener Männer hatte versucht, sich uns zu nähern, indem er sein Pferd zur Karriere anspornte; zu seiner großen Überraschung hatte er uns aber nicht einzuholen vermocht, und er hielt schließlich an, um uns regungslos nachzusehen, bis wir aus seinem Gesichtskreise verschwanden. Zuweilen konnten wir 40–50 Kilometer in der Stunde fahren. Noch nie war die Mongolei mit solcher Schnelligkeit durchquert worden. Wir hätten sogar die berühmten Kuriere Dschingis Chans hinter uns gelassen, die, die Sporen in die Flanken ihrer Pferde gedrückt, die Befehle des Herrschers und die Kunde von seinen Siegen von einem Ende seines unermeßlichen Reiches bis zum andern überbrachten.
Diese Fahrt berauschte und betäubte uns, nicht infolge der physischen Empfindung der Geschwindigkeit, nicht infolge der Freude am Dahinfliegen, die das Automobil erzeugt und die die Seele der Automobilleidenschaft ist, sondern infolge einer unsagbar tiefen, vollen geistigen Genugtuung, infolge der unaussprechlichen Wonne über den Gedanken, uns hier zu befinden. Zuweilen waren wir von einem Gefühl des Staunens wie gefesselt; die Klarheit des Denkens verdunkelte sich wie im Traum, unsinnige Zweifel zogen gleich Wolken über die deutliche Wahrnehmung der Örtlichkeiten, wir verloren die Erinnerung, um sie im selben Augenblicke wiederzugewinnen, und unterbrachen lange Pausen in der Unterhaltung, indem wir zueinander sagten:
„Wir sind in der Mongolei!“
„Ja, in der Tat!“
Einmal wandte sich der Fürst zu mir, um mir unvermutet zu sagen:
„Ich denke daran, daß wir die Wüste Gobi so durchqueren werden. Weiß Gott, ich kann es kaum glauben!“
In diesem Augenblicke hatte ich denselben Gedanken. Es erfüllte uns ein rätselhaftes Gemisch von Vertrauen, Entschlossenheit, festem Willen und zaghafter Ungläubigkeit. Es war in gewissem Grade die Empfindung dessen, der entschlossen ist zu siegen und bewaffnet fortstürmt, um dem Feinde irgendwo im Nebel zu begegnen. Wenn wir an die Beschaffenheit des Geländes, die Beständigkeit der Jahreszeit, die Vorzüge der Maschine dachten, so fühlten wir uns sicher; betrachteten wir aber mit den Augen der Phantasie den Punkt der Erdoberfläche, an dem wir uns in diesem Moment befanden, und benannten jene Länder mit ihren Namen, so geriet unsere Zuversicht ins Wanken. Es schien uns, als gehe das Problem über das rein Technische hinaus, als seien hier unberechenbare Faktoren mit im Spiele. Wir standen unter dem geheimnisvollen, furchteinflößenden Zauber Asiens. Die Wüste nahm in unserer Vorstellung menschliche Gestalt an; dieser furchtbare Feind des Menschen, dieser Mörder von Karawanen, diese gefürchtete Gottheit des Todes würde sich verteidigen. Wir dachten an sie wie an eine unbezwingliche Macht. Das Wort „Wüste“ an sich erfüllt mit Respekt.
Von Zeit zu Zeit sahen wir niedrige, runde Jurten, die Backöfen ähnelten. Diese kleinen grauen, mit Filz bedeckten Kuppeln, die Wohnstätten der Nomaden Asiens von den Kirgisen bis zu den Turkmenen, sind an den Ufern des Aralsees von gleicher Gestalt wie an denen des Irtysch und des Tola. Sie allein genügen, um die Verwandtschaft aller Völker Zentralasiens, ihre Herkunft von dem großen mongolischen Stamme zu beweisen. Auch im russischen Kriegslager bei Mukden hatte ich Jurten gesehen.
Als das Brausen des Automobils zu den Jurten drang, stürzten die Männer in Hast heraus und betrachteten uns unter Anzeichen höchsten Staunens. Mitunter sprangen sie truppweise auf die in der Nähe weidenden Pferde und verfolgten uns hartnäckig, wobei sie ihre langen Hirtenstäbe gleich Lanzen schwangen und laute Rufe ausstießen.
Es war 8 Uhr früh geworden, als wir in die Nähe einer Anzahl Jurten, eines kleinen Lagers, gelangten. Auf einer Art Gerüst standen einige Leute als Wache und schlugen Alarm. Grenzenlose Verwirrung entstand unter den Bewohnern, die auf die Straße liefen und uns Zeichen machten. Als wir näherkamen, erkannten wir unter ihnen unseren wackeren Mongolen vom Abend zuvor, gehüllt in sein prächtiges pfauenblaues Gewand; er bemühte sich, uns durch seine ausdrucksvolle Gesten halt zuzuwinken. Wir waren in seinem Dorfe, und er hatte die Absicht, uns mit seiner Gastfreundschaft zu beehren. So verbindlich und aufrichtig hatte er sich gezeigt, daß wir ihm nicht die Kränkung zufügen wollten, weiterzufahren, wozu wir große Lust hatten. Die „Itala“ fuhr daher mit einer schönen Schwenkung in die Umwallung des Nomadenlagers ein und hielt. Einen Augenblick später saßen wir im Innern der schönsten Jurte, der des Häuptlings, im Kreise herum.
In der Mitte brannte das Feuer, und der scharfe, einen leichten Moschusgeruch verbreitende Rauch entwich durch die in der Mitte der Kuppel befindliche Öffnung. Ein schöner alter Mann, der Vater unseres Freundes, unterhielt uns in zeremonieller Weise mit einer an einen Oberpriester erinnernden Feierlichkeit der Gebärden, und eine alte Frau, die Mutter, setzte respektvoll Teller mit Käse vor uns nieder, Schalen mit scharfschmeckender Milch und Sahne, Tassen dampfenden Tees und Becher, die mit einer klaren, süßen, aus gegorener Milch hergestellten Flüssigkeit gefüllt waren. Die Becher, die europäischer Herkunft waren, wurden von dem alten Manne mit peinlicher Sorgfalt aus einem kleinen chinesischen Schranke, zu dem er den Schlüssel besaß, hervorgeholt. Der Schrank war der Aufbewahrungsort für die Schätze der Familie, der Geldschrank; in ihm waren auch, wie wir sahen, die von uns geschenkten Cornedbeefbüchsen untergebracht. Während wir uns gewissenhaft mit Milch anfüllten, hörten wir Worte, die uns vor Überraschung in die Höhe fahren ließen.
„Sprechen Sie deutsch?“
Ein junger Mongole, der soeben eintrat, hatte diese so einfache und doch so verblüffende Frage an uns gerichtet. Er hatte mit vortrefflicher deutscher Betonung gesprochen.
„Ja,“ erwiderte der Fürst, der aufs höchste erstaunt war, „ich spreche deutsch.“
Und der junge Mongole begann sich mit uns in der Sprache Goethes zu unterhalten. Er fragte, welches die Maximalgeschwindigkeit unseres Automobils sei, und fand sie zufriedenstellend.
„Wo haben Sie denn Deutsch gelernt?“ fragte Don Scipione.
„In Berlin. Berlin liegt weit von hier!“
„In Berlin?“
„Ja, es sind jetzt zwei Jahre her.“
„Und was taten Sie dort?“
„Ich trat als Mongole auf!“ entgegnete er würdevoll.
Wir glaubten, er scherze oder habe unsere Frage nicht verstanden.
„Was taten Sie in Berlin?“
„Ich trat als Mongole auf“, wiederholte er mit Bestimmtheit; dann fügte er hinzu: „Ich war auf einer Ausstellung, verstehen Sie? Es waren dort Leute aus allen Völkern, und es war auch ein mongolisches Jurtenlager da, mit Pferden, Hunden und Frauen; täglich besuchte uns eine große Menge Menschen und sprach mit uns, und so habe ich Deutsch gelernt.“
„Gefällt Ihnen Europa?“
„Ja. Und wie gefällt Ihnen die Mongolei?“
„Ausgezeichnet.“
Er zeigte sich außerordentlich zufrieden mit dieser Antwort, die ihm zugleich einen guten Begriff von unserem erleuchteten Urteil beibrachte.
Als wir wieder ins Freie traten, bemerkten wir eine Anzahl Reiter, die sich um das Automobil drängten, auf dem Ettore voll heiterer Seelenruhe seine Portion Milch trank. Alle männlichen Bewohner des Lagers schickten sich an, uns zu begleiten, und stiegen in den Sattel.
Wir fuhren rasch von dannen, umgeben von dem eigenartigen malerischen Reitertrupp, unter dem schnellen Hufschlag der Pferde auf dem harten Boden und einem langgedehnten, wilden Geschrei. Um uns herum bewegten sich Zipfel buntfarbiger Röcke; die langen Bänder, die die Mongolen um ihre spitzen Hüte winden, flatterten in der Luft; Roßmähnen und Roßschweife wogten auf und nieder. Aber unsere Gastfreunde hatten sich über die Möglichkeit, uns weit zu begleiten, geirrt. Vergebens trieben sie die Pferde durch Zuruf und Reitgerte an, vergebens jagten die Armen ventre à terre dahin. Schon nach einer Minute entfloh das Automobil seiner Eskorte, deren Geräusch sich in der Ferne verlor, und befand sich allein in der grasbedeckten Wüste.
Viele jener Männer waren Lamas, wie man an ihrem geschorenen Kopfe sehen konnte; andere Abzeichen ihrer priesterlichen Würde trugen sie nicht. Es gibt so viele Lamas in der Mongolei, daß sie die Mehrzahl der männlichen Bevölkerung ausmachen. Wenn ein Vater fünf Söhne hat, so bestimmt er drei zu künftigen Lamas. Es gibt Lamas, die Hirten, Karawanenführer, Pferdehändler sind; es ist eben notwendig, daß die Mönche in den Erwerbszweigen des Volkes tätig sind, wenn sie ein Volk werden. Die Mongolei ist ein unermeßliches Kloster. Im Lamaismus ist die alte Energie der Rasse erloschen; ein Volk von Kriegern ist zu einem Volke von Philosophen geworden.
Mehrere Stunden vergingen. Das Land veränderte sich allmählich. Die Steppe hörte auf und räumte den Platz weiten, fast unfruchtbaren Strecken, die mit einzelnstehenden fetten Gräsern bewachsen waren. Auch die Bodenbeschaffenheit wechselte; wir gelangten von kiesigem Grund auf sandigen, von sandigem Grund auf die Unebenheiten kurzer steiniger Strecken; dann wieder Steppe. Aber wir erblickten keine Herden, bemerkten keine rauchenden Jurten mehr. Der Boden glühte. Wir begegneten einer Karawane von Kamelen, die an seltsame zweirädrige Wagen gespannt waren. Eine andere Karawane trafen wir bei einem Brunnen an. Selten zeigte sich ein Reiter am Horizont.
Weiterhin trafen wir nur noch in der Nähe von Brunnen Spuren von Leben. Auf unermeßliche Entfernungen hin erkannte man das Vorhandensein eines Brunnens an einer ordnungslos durcheinander gemischten Gruppe von Kamelen und blauen, weiß verzierten Zelten.
Wenn man eine gute Karte der Mongolei betrachtet, so sieht man längs des Zuges der Karawanenstraße Namen und Punkte verstreut, und man gewinnt den Eindruck, als handle es sich um Dörfer und Ortschaften. Es handelt sich jedoch nur um Brunnen. Jeder Brunnen hat seinen Namen. Er ist nichts als ein kleines Erdloch, auf dessen Grund Wasser emporquillt, und doch hat er die Bedeutung einer Stadt: er ist das Leben, das Leben der Vorüberziehenden, das heißt das Leben des Handels, das Leben von Ländern, die Tausende von Kilometern von ihm entfernt liegen und aus diesem Handelsverkehr Nutzen ziehen; er ist das Leben ferner Völkerschaften, die sich von diesem Handel ernähren. Die Reichtümer Kalgans, die Reichtümer Kiachtas haben ihre Nahrung aus jenen Brunnen gesogen, die in den Einöden der mongolischen Ebene verlorenliegen.
Die Brunnen, die Halteplätze der Karawanen, sind 30–70 Kilometer voneinander entfernt. Im Winter lagert man des Nachts an ihnen, im Sommer des Tages. Die Kamele liegen mit ihren Lasten in Reihen. Vor der ersten und vor der letzten Last sind zwei Lanzen in den Boden eingerammt, mehr als traditionelles Zeichen denn zur Drohung. Die Männer schlagen ein Lager auf und die Tiere werden frei auf die Weide gelassen, wenn ein Weideplatz vorhanden ist.
Auch wir machten bei dem Brunnen halt, um Wasser für die Maschine zu schöpfen, unseren Durst zu löschen und uns Hände und Gesicht zu kühlen. Einige Minuten verweilten wir auch in der Mitte der Karawanentreiber, die uns mit einem an Bestürzung grenzenden Respekt betrachteten. Kein Zeichen von Feindseligkeit von seiten dieser wackeren Leute. Sie riefen ihre furchtbaren, starken, zottigen Wachhunde zurück und waren uns mitunter mit ihren aus einem Schlauche und einer Stange bestehenden Geräten beim Wasserschöpfen behilflich.
Mittags hätten wir glauben können, wir wären tatsächlich schon in der Wüste. Wir fuhren durch fast unfruchtbare Landstriche. Die Erde hatte eine rötliche Farbe und zeigte wellenförmige, mitunter jähe Erhebungen, die den Fürsten zu angestrengter Aufmerksamkeit zwangen, um auf den Bodenunebenheiten nicht zu stürzen, was die Maschine zertrümmert hätte. Jede Verminderung der Geschwindigkeit machte uns aber die Hitze stärker fühlbar. Wir waren müde, betäubt von der Sonnenglut und der blendenden Lichtfülle und begannen uns nach dem Schatten unseres abgenommenen Baldachins zurückzusehnen.
Beim Bewältigen einer niedrigen, aber steilen Anhöhe blieb das Automobil plötzlich stehen. Das Benzin im Behälter des Motors war aufgebraucht; er enthielt die für das Durchfahren von 200 Kilometern nötige Benzinmenge. Seit dem Morgen hatten wir also 200 Kilometer zurückgelegt, und waren noch nicht bis zur Telegraphenstation Pang-kiang gelangt, die nach unserer Berechnung etwas über 180 Kilometer von unserem letzten Lagerplatze entfernt war. Waren wir vielleicht an ihr vorübergefahren? Zuweilen hatten wir uns von der Telegraphenlinie entfernt, hatten nicht immer achtgegeben, und Pang-kiang konnte auch abseits von unserer Straße an irgendeiner Abzweigung der Drähte liegen.
Diese Probleme, die uns keineswegs heiter stimmten, beschäftigten uns, während Ettore durch sinnreiche Zusammenstellung von Hebern das Benzin aus den großen Reservebehältern umfüllte. Die Hitze war derart, daß wir die Benzindämpfe in weiten durchsichtigen Spirallinien entweichen sahen, durch die hindurch die Gegenstände in zitternden Umrissen erschienen. Als wir um das stillstehende Automobil herumgingen, bemerkten wir ein neues Unglück; es fehlte ein Teil des Gepäcks, der infolge einer Lockerung der festhaltenden Stricke ins Rutschen gekommen und heruntergefallen war.
Es fehlte gerade das persönliche Gepäck des Fürsten, das irgendwo verlorengegangen war.
Was war zu tun? Sollten wir zurückgehen, um das Gepäck und Pang-kiang zu suchen? Wir entschlossen uns im Gegenteil, unseren Weg fortzusetzen.
Wir trösteten uns damit, daß das Gepäck zweier Personen für drei ausreiche und daß, wenn wir an Pang-kiang vorübergefahren seien, wir diese Etappe auslassen und uns sofort in die Wüste wagen könnten, da wir noch den unberührten Wasservorrat, Lebensmittel für fünf Tage und Benzin für 600 Kilometer hatten. Wir bestiegen also die Maschine wieder und fuhren weiter.
Das Gelände besserte sich; auf einer Strecke von vielen Kilometern bot es vortrefflichen Fahrgrund, der die größten Geschwindigkeiten gestattete. Es erschien wieder etwas graues, vereinzeltstehendes Gras, auf dem wir die von den Kamelen ausgetretenen Pfade wiederfanden. Die Karawanen ziehen nicht eine einzige Straße entlang; sie schlagen nur annähernd die gleiche Richtung ein und treten Hunderte parallellaufender Wege aus, die nach den auf der Steppe hinterlassenen Spuren zu urteilen, auf die Tätigkeit eines uralten riesigen Pfluges schließen lassen.
Mit einem Male konnten wir in weiter, weiter Ferne einen dunkeln Punkt unterscheiden, der eine Hütte sein konnte. Der Punkt nahm die Gestalt eines Rechtecks an und wurde länger. Es war eine erdfarbene Mauer. Wir fuhren mit der Geschwindigkeit von 30 Kilometern und sahen bald ein Lehmdach hinter der Mauer hervorragen. Telegraphenstangen näherten sich diesem armseligen Gebäude, das viel niedriger war als sie.
„Pang-kiang! Pang-kiang!“ riefen wir mit einem Tone aus, den der Matrose des Kolumbus ausgestoßen haben muß, als er das berühmte „Land! Land!“ rief.
Augenscheinlich hatten wir uns bei der Berechnung der Entfernung mindestens um 50 Kilometer geirrt. Pang-kiang befand sich nicht auf unserer Karte, und wir hatten einen Induktionsschluß gezogen.
„Pang-kiang? Das da?“ fragte Ettore überrascht. „Ich glaubte, Pang-kiang sei eine Ortschaft.“
„Ach was! Es ist ein Brunnen. Ein Brunnen und ein Telegraph. Nichts weiter!“
Aber wir wollten auch nichts weiter.
Hätten wir vor unseren Augen den wundervollsten Palast der Welt auftauchen sehen, wir würden keine größere Genugtuung empfunden haben.
In der Wüste Gobi.
Der Telegraph in der Wüste. — Der „Contal“ trifft nicht ein. — Über einen Meeresgrund. — Die Wirkungen der Sonne. — Udde.
Am Brunnen von Pang-kiang wurden wir erwartet. Der kleine chinesische Telegraphenbeamte, dem diese Station anvertraut ist, kam uns aus seinem Gehöfte entgegen und empfing uns unter lebhaften Versicherungen seiner Freude.
Ich bedauere, mich nicht mehr des Namens dieses Helden zu entsinnen, der in der Wüste lebt, um dem Okzident und dem Orient die Möglichkeit zu verschaffen, sich miteinander zu verständigen. Kalgan, die nächste Stadt, ist beinahe 300 Kilometer, Urga 800 Kilometer entfernt. Was auch diesem Mann zustoßen mag, er kann nirgends Hilfe suchen. Die Unermeßlichkeit des Raumes ist gleichbedeutend mit einem Gefängnis. Um mit der Menschheit in Verbindung zu treten, muß dieser Mann eine Reise von acht Tagen von einem Brunnen zum andern antreten. Niemand vermag ihm beizustehen. Die Einsamkeit des in einer Festungszelle Eingekerkerten ist nicht so schrecklich: der Eingekerkerte hat das Bewußtsein, daß die Welt ringsum lebt; Echos dringen zu ihm, mit denen sich seine Gedanken beschäftigen können. Das Entsetzlichste in der Wüste aber ist die Stille.
Allerdings hat der kleine Chinese von Pang-kiang den Trost, sich an zweierlei ergötzen zu können: einem Kindchen und einem Telegraphenapparat. Die Liebe zu beiden ist es, die sein Leben ausfüllt. Das Kindchen ist seine Tochter, und der Apparat ist sein Freund. Stundenlang vertieft er sich in das Ticktack der Tasten und des Empfängers und vernimmt in ihm Stimmen aus fernen Welten: es spricht Petersburg, es spricht London, es spricht Tokio. Er übt das Amt des Vermittlers aus: durch seine Hand gehen Nachrichten, Befehle, geheimnisvolle diplomatische Mitteilungen, leidenschafterfüllte Worte. Ist die großartige Unterhaltung der Erdteile untereinander verstummt, so benutzt der Telegraphist die freie Linie und beginnt eine bescheidenere Unterhaltung. Die Telegraphenämter der Wüste tauschen Grüße untereinander aus, sprechen miteinander über die kleinen Tagesereignisse, über ihren Kummer, ihre Hoffnungen.
Solche Unterhaltungen vertreten für diese Einsiedler die Stelle der Zeitung.
Die Telegraphenstation von Pang-kiang ähnelt dem Hause eines chinesischen Landmanns: drei kleine, niedrige, aus gestampftem Lehm errichtete Gebäude, im Innern erhellt durch breite, eine ganze Wand einnehmende, mit Papier ausgefüllte Gitterfenster. Die Gebäude nehmen drei Seiten eines Quadrats ein und sind von einer hohen Mauer umgeben, die nur einen Ausgang nach Süden hat und von einer Bekrönung aus Telegraphenisolatoren überragt wird, einem seltsamen Ornamente, das an eine lange Reihe weißer Zähne in dem Kiefer eines Toten erinnert. An der nördlichen Seite der Mauer hat der Wind Sandmassen angehäuft. An stürmischen Tagen überflutet der Sand alles; er dringt durch die Fensterflügel, treibt in jedes Zimmer, der Himmel verfinstert sich, die Luft wird trübe, draußen kann man auf zwei Schritte Entfernung nichts erkennen, die Telegraphendrähte pfeifen und heulen, und die Dunkelheit ist derart, daß man Licht anzünden muß. Der letzte Sturm hatte vier Tage vor unserer Ankunft gewütet.
Außer dem Telegraphisten leben noch drei Männer in diesem Gehöfte: zwei Chinesen und ein Mongole, die mit den Arbeiten an der Linie betraut sind; sie haben die von den Stürmen zerrissenen Drähte auszubessern und die umgeworfenen Stangen wieder aufzurichten. Es stehen ihnen drei Kamele zur Verfügung, die in der Nähe weiden. Wir hatten diese drei Tiere bei unserer Ankunft gesehen; sie streckten uns ihre komischen, friedfertigen Schnauzen entgegen, die an ein faltenreiches, selbstzufriedenes, vorweltliches Tier gemahnten.
Das beste Zimmer war für uns hergerichtet. Auf den Kangs lagen Decken und Kissen von flammendem Rot, und auf einem Tische stand duftend und frisch — ein köstlicher Anblick — eine prächtige Ananas aus Singapore, die eben erst aus ihrer Büchse genommen worden war. Wir fielen zuerst über die Ananas her, dann warfen wir uns auf die Decken. Und auf diesem Triklinium ausgestreckt, schrieb ich in Reinschrift die Eindrücke des Tages auf Formulare der kaiserlich chinesischen Telegraphenverwaltung nieder.
Als unser Gastfreund in den Besitz meiner Depesche gelangt war, um sie zu befördern, setzte ich mich neben ihn. Er war ein wenig verlegen, zog chinesische Verordnungen zu Rate, sah Tabellen nach, zählte wiederholt die Worte des Telegramms und schrieb dann sorgfältig auf die obere Seite des Formulars „Nr. 1“.
„Ist dies das erste Telegramm am heutigen Tage?“ fragte ich ihn.
„Nein, Herr,“ antwortete er mir, „es ist das erste des Telegraphenamtes.“
„Was verstehen Sie darunter?“
„Ich meine, daß Ihr Telegramm das erste ist, das auf dem Telegraphenamte von Pang-kiang aufgegeben wird.“
„In diesem Jahre?“
„Nein, Herr, seit Bestehen des Amtes. Es sind jetzt sechs Jahre.“
„In sechs Jahren kein einziges Telegramm?“
„Kein einziges.“
„Und warum befindet sich denn da hier überhaupt ein Amt?“ fragte ich nach einer Pause erstaunt.
„Weil die Entfernungen zu groß und Zwischenstationen nötig sind.“
Die Unterhaltung wurde durch den Apparat unterbrochen; Kalgan antwortete auf den Anruf. Mein Telegramm begann abzugehen.
Kalgan empfing es, um es nach Peking weiterzugeben, Peking würde es nach Schanghai befördern, Schanghai nach Hongkong, Hongkong nach Singapore, Singapore nach Aden, Aden nach Malta, Malta nach Gibraltar, Gibraltar nach London!
Es würde acht bis zehn Stunden brauchen, um an dem Orte seiner Bestimmung einzutreffen. Aber die Zeit von Pang-kiang ist der von Mitteleuropa um fast acht Stunden voraus, so daß das Telegramm tatsächlich nur zwei Stunden nach seiner Aufgabe eintreffen wird. Es war 4 Uhr 15 Minuten nachmittags, zwischen 6 und 7 abends würde mein Bericht auf den Redaktionen des „Daily Telegraph“ und des „Corriere della Sera“ einlaufen! Und am nächsten Morgen werden die englischen und italienischen Leser erfahren, was am Abend vorher Automobilen in der mongolischen Wüste begegnet ist. So groß erscheint der Sieg, den der menschliche Geist mit Hilfe von Drähten und Funken über Raum und Zeit davongetragen hat, daß in gewissen Augenblicken selbst die Seele eines Journalisten, die doch am meisten an die Wunder der Schnelligkeit gewöhnt ist, von einem Gefühl der Bewunderung und des Stolzes erfüllt wird.
Gegen 6 Uhr trafen die andern Wagen ein. Wir sahen sie von weitem kommen, als sie noch winzige Punkte in der grenzenlosen Einförmigkeit des Geländes waren, so fern, daß sie unbeweglich erschienen wie Schiffe am Horizont. Der „Spyker“ fuhr zuerst in das Gehöft ein, wo Ettore damit beschäftigt war, unser Automobil in Ordnung zu bringen, während ich mich hartnäckig bemühte, ein Stück Ziegenfleisch weich zu kochen, das härter war als ein Pneumatikreifen. Du Taillis sprang von seinem Sitze herab, hob einen grauen Sack empor und rief:
„Wem gehört dies?“
Es war das Gepäck Borgheses. Erst Pang-kiang und nun auch den Gepäcksack gefunden zu haben, war der Gipfel des Glückes. Und dabei gibt es Menschen, die in der Wüste umkommen!
„Ist es lange her, daß Sie es gefunden haben?“ fragte ich.
„O ja. Mehrere Stunden. Wir waren noch in der Steppenregion.“
„Lag es auf der Straße?“
„Keineswegs. Die Mongolen machten uns lebhafte Zeichen, als wir vorüberfuhren. Wir hielten. Und dann händigten sie es uns ein und gaben uns zu verstehen, Sie müßten es verloren haben.“
„Mongolen? Ehrliche Barbaren? Armselige Wilde, die sich den Luxus gestatten, wiederzugeben, was sie finden?“
„Und noch dazu, ohne irgendwelchen Finderlohn zu verlangen.“
„Aber wo, lieber Freund, sind denn in aller Welt die Steppenräuber geblieben, die die unumgängliche Pflicht hatten, uns anzufallen?“
„In Europa vermutlich.“
„So hatten wir denn ein Reiseabenteuer weniger! Es verlohnte sich wahrlich der Mühe, in diese abgelegene Wüste zu kommen, um zu erleben, daß man uns Milch anbietet und Gepäckstücke zurückgibt!“
„Oui, c’est triste!“
Vergebens warteten wir auf die Ankunft des Dreirades. Unsere Gefährten waren fest überzeugt, Pons sei umgekehrt. Ich telegraphierte unverzüglich in diesem Sinne. Wir hegten nicht die geringste Besorgnis um Pons und seinen Begleiter. Sie befanden sich noch in bewohnten Gegenden und würden leicht Gastfreundschaft und Hilfe finden.
Mehrere Stunden später erwies sich das Stück Ziegenfleisch als ebenso widerspenstig gegen das Zerkauen, wie es sich gegen das Kochen gesträubt hatte. Der Telegraphist, der es uns geliefert hatte, war ganz trostlos. Wir trösteten ihn aber, indem wir ihm zeigten, daß ein Europäer, der Hunger hat, nicht einmal vor einem Stück Pergament zurückschreckt. Und dann streckten wir uns auf dem Kang aus.
In der Nacht drang das bleiche Licht des Mondes ins Zimmer; ich erwachte davon und stützte mich auf den Ellbogen. Hier erfuhr ich zum ersten Male in meinem Leben, was absolute Stille ist. Das, was wir Stille nennen, ist nur die Abwesenheit bestimmter Laute, bestimmter Töne, es ist nur das Schweigen menschlicher Geräusche. Während wir aber jenem Schweigen lauschen, hören wir, wenn wir auf dem Lande sind, die Bäume rauschen, die Halme flüstern, den Bach murmeln, die Grillen zirpen, in der Ferne einen Hund bellen; sind wir an der See, so hören wir das einem leichten Händeklatschen gleichende Anschlagen der ruhigen Welle an das Gestade, oder das Anbranden wilder Wogen an die Klippen. Hier aber vernahm ich gar nichts; nichts rührte sich, nichts lebte. Ich hatte den Eindruck einer unnennbaren mythenhaften überirdischen Leere, ich hatte die angstvolle Empfindung des Schwebens über den Abgründen des Raumes, ich stand unter dem Albdruck unendlicher Vereinsamung.
Als ich meinen Kopf auf das Kissen zurücklegte, hörte ich das Geräusch eines regelmäßigen, raschen, kräftigen, metallisch klingenden Schrittes.
Jäh erhob ich mich, um zu lauschen. Das Geräusch hatte sofort aufgehört.
„Pah!“ sagte ich zu mir, „es ist eine Wirkung des Ziegenfleisches. Das Stück liegt unverdaut im Magen.“
Ich streckte mich wieder aus. Und sofort begann der Schritt in der schwer lastenden, grauenerregenden Stille wieder vernehmbar zu werden. Vollkommen wach geworden durch den Wunsch, meine Gedanken zu konzentrieren, vermochte ich mich eines Lächelns nicht zu erwehren, als ich die Ursache dieses Geräusches entdeckte: um früh munter zu werden, hatte ich die Uhr unter das Kopfkissen gelegt.
Der Sonnenaufgang am Morgen des 19. Juni fand uns schon unterwegs. Wir überholten den „Spyker“, der kurz vor uns weggefahren war, und schlugen die Richtung nach Norden ein. Der neue Treffpunkt für den Abend war Udde, die nächste Telegraphenstation, in der Nähe eines andern Brunnens, nach unserer Berechnung ungefähr 250 Kilometer von Pang-kiang entfernt.
Die Luft war frisch, und die ersten Sonnenstrahlen schienen keine Wärme mit sich zu bringen. Wir sausten dahin, und das Automobil warf einen ungeheuer langen seltsamen Schatten, der auf den Grasbüscheln schwankte und auf dem Sande erzitterte und sich wie der Schatten eines großen fliegenden Vogels rasch vorwärtsbewegte.
Der Weg war gut, und der Motor, bisweilen zur vierten Geschwindigkeit angetrieben, erfüllte die Stille der Ebene mit seinem stürmischen Pochen. Wenige Kilometer von Pang-kiang entfernt stießen wir wieder auf grüne Flächen. Wir gelangten abermals in eine Wiesenregion, die sich in sanften Erhebungen über leicht welliges Gelände hinzog.
„Was ist das, was da flieht?“ rief mit einem Male Ettore und zeigte mit der ausgestreckten Hand nach unserer Rechten. Es war eine Antilope. Etwa 100 Meter von uns entfernt, brachte sie sich in dem raschen und eleganten charakteristischen Trabe der Antilopen, der weit schneller ist als der Galopp eines Pferdes, in Sicherheit.
„Folgen wir ihr?“ rief ich aus.
Der Vorschlag, die Antilope mit einem auf die Geschwindigkeit von 90 Kilometern in der Stunde gebrachten Automobil zu jagen, erschien uns über die Maßen verlockend. Aber der Fürst machte geltend, eine Jagd könnte uns weitab führen und wir hätten noch einen weiten Weg vor uns. Es gab außerdem einen Grund, der noch viel stärker zugunsten der Freiheit jeder Art Wildes sprach, und dieser bestand darin, daß wir keine Flinte besaßen!
Einen Augenblick später gelangten wir in die Nähe eines kleinen Trupps Gazellen mit grauen Rücken und weißen Füßen, gewandt wie Füllen und zierlich in ihren Bewegungen. Sie flohen erschreckt von dannen, eine hinter der andern; in der Ferne blieben sie stehen und bogen ihren geschmeidigen Hals zurück, um jenes nie erschaute Wesen zu betrachten, das in den Frieden ihrer Weideplätze einbrach. Ihre Wahrnehmungen schienen sie nicht allzusehr zu beruhigen, da sie sich von neuem zur Flucht wandten und in langer Reihe verschwanden.
Weit seltener begegneten wir Menschen. Fünf bis sechs Mongolen zu Pferde versuchten uns zu folgen; sie befanden sich einen halben Kilometer entfernt uns zur Seite und galoppierten lange Zeit, lebhaft gestikulierend, hinter uns drein.
Plötzlich sahen wir auf der öden Steppe etwas Weißliches schimmern, das uns ein Palast zu sein schien, ein Palast mit andern kleinen, weißen Baulichkeiten ringsum. Wir lenkten unsere Fahrt auf jene seltsame Gebäudegruppe zu, und als wir näherkamen, bot sich uns ein Anblick aus uralter Zeit.
Wer kennt nicht aus den gelehrten Rekonstruktionen unserer Archäologen die Stile der alten asiatischen Kulturen? Wer hat bei dem Gedanken an den Anblick, den Babylon und Ninive gewähren mußten, sich nicht gewaltige massige Gebäude vorgestellt, mit leicht nach innen geneigten Wänden gleich Pyramidenstumpfen, die den Schein großartig wirkender Verkürzungen erwecken, mit Fenstern und Türen, die unten breiter sind, einfach und majestätisch wie Grabmäler? Einige Ruinen des alten Ägyptens bieten ein Beispiel von jener Pyramidenlinie, die den Mauern eine Festigkeit von Jahrtausenden und den Schein des Riesenhaften verleiht, die eine wunderbare perspektivische Wirkung hervorbringt, als sei die Breitenabnahme nach oben eine Folge kolossaler Höhe.
Als die photographische Kunst uns Lhasa enthüllte, haben wir jene Wirkung wiedergefunden und waren von der außergewöhnlichen biblischen Strenge der verbotenen Stadt überrascht, die uns architektonische Formen vergangener Kulturperioden noch lebend zeigte, Formen, die nicht mit der Religion aus Indien gekommen waren, auch nicht mit der politischen Oberhoheit aus China, sondern die aus Westasien in einer um zwei- bis dreitausend Jahre zurückliegenden Zeit nach Tibet gebracht sein müssen. Die Absperrung, die Unbeweglichkeit, die Ruhe und der Buddhismus, die aus Tibet ein Heiligtum gemacht haben, haben die Überlieferung, wenn auch nicht den inneren Sinn einer Kunst aufrechterhalten.
Wir befanden uns vor Gebäuden dieses selben Stiles. Aber sie wirkten allerdings bei weitem nicht so überwältigend wie die Akropolis von Lhasa. Die Wüste bietet keine Baumaterialien und wer weiß, von wo man die Steine auf dem Rücken von Kamelen hierhergebracht hat. Es war die Form und nicht die Größe, die ihnen majestätische Strenge verlieh. Und vielleicht war auch die Bedeutung, die wir dieser Form beimaßen, waren die Analogien, an die sie uns erinnerte, weiter nichts als Ausgeburten unserer eigenen Phantasie.
Das Hauptgebäude war ein ganz aus weißem Kalkstein errichteter lamaistischer Tempel, der am oberen Rande mit einem roten Terrakottafries in griechischem Geschmack von schlichter Anmut geschmückt war. Eine ähnliche Umrahmung umgab die Türen und die trapezförmigen Fenster, von denen jedes durch ein kleines Dach geschützt war. Lange Bronzerohre, die den Rudern einer Galeere glichen, ragten oben hervor, um das Regenwasser von der Terrasse abzuleiten. Die Gebäude ringsum, die viel kleiner waren, glichen dem Tempel. Wir nahmen an, daß es die Wohnungen der Mönche seien. Wir verließen das Automobil und schritten zu Fuß durch die heiligen Räume. Es war niemand darin. Sie schienen verlassen. Wir hörten keinen Laut, kein Geräusch.
Wir standen im Begriff, „an Bord“ zurückzukehren, als aus einer Pforte ein alter Mann mit kleinen Schritten herausgetrippelt kam. Bei unserem Anblick blieb er stehen. Er war hochgewachsen, in ein seltsames Gewand gekleidet, das die Arme nackt ließ, hager und hatte ein an eine alte Frau erinnerndes runzliges Gesicht. Wir näherten uns ihm, begrüßten ihn, photographierten ihn und sprachen auf ihn ein, ohne daß er sich bewegt oder geantwortet hätte. Er zeigte weder Verwunderung noch Furcht. Er schien in tiefe Meditation über das Geheimnis unseres Wesens und unserer Anwesenheit an diesem Orte versunken zu sein. Verständnislos betrachtete er uns. In seinen Augen sah man die Anstrengung, seine Gedanken zu konzentrieren. Es war unmöglich, sein Alter zu schätzen; er schien stark und zugleich hinfällig; auf seinem Gesicht hatten sich die Furchen eines unberechenbaren Greisentums eingegraben.
Wir bestiegen wieder die Maschine und fuhren rasch davon; unbeweglich sahen wir noch den Lama dort stehen, den einsamen Alten, der uns fortwährend betrachtete, ohne verstehen zu können, was wir seien.
Der Weg stieg merklich bergan. Gegen 8 Uhr gelangten wir auf die Höhe eines Rückens. Die Steppe war abermals verschwunden. Es kehrte das fette, graue, einzelnstehende Gras wieder, das sich furchtsam in breite Flecke zusammengezogen hatte, die weite unfruchtbare und kahle Strecken zwischen sich ließen. Wir befanden uns an der Schwelle der eigentlichen Wüste.
Gobi bedeutet im Mongolischen Höhlung. Die Wüste bildet eine Einsenkung von unermeßlicher Ausdehnung in der Mitte der Mongolei; es ist die Höhlung, die „Gobi“, die einst ein Meer enthielt. Wir befanden uns am Gestade dieses verschwundenen Meeres. Es war ein richtiges Gestade, steil, ein jäher Absturz, entstanden durch den Anprall der Wogen. Wir standen im Begriff, in eine noch tiefere Ebene, auf den Grund dieses ehemaligen Meeres, hinabzusteigen. Diese Küste hatte ihre Einbuchtungen, ihre Vorgebirge, ihre Halbinseln. Vor uns erstreckte sich die unfruchtbare, gewellte Fläche ins Grenzenlose; sie schien sich am Horizont zu erheben infolge jener optischen Täuschung, die uns den Horizont des Meeres höher erscheinen läßt als sein Ufer.
Ein steiler, 20–30 Meter tiefer Abstieg führte uns auf harte, ebene Sandflächen, die von Stürmen heimgesucht worden waren. Und nun begann eine phantastische Fahrt durch die seltsamste und ödeste Landschaft, eine Fahrt, die Angriff und Flucht zu gleicher Zeit war.
Je weiter wir vordrangen, desto kahler, düsterer und trauriger wurde das Land. Bald war es glatt und eben, bald von jähen Erhebungen durchschnitten; bald bestand es aus kristallinischem Sand, der in der Sonne funkelte, bald war der Boden ein schiefriger Grund von der Farbe zusammengepreßten Lehms. Nirgends ein lebendes Wesen mit Ausnahme kleiner kurzer Eidechsen von einer Farbe, die der des Bodens so glich, daß sie unsichtbar waren, wenn sie sich nicht bewegten. Man hätte sie für winzige Bruchstückchen des Bodens halten können, die sich plötzlich belebten, um vor den Rädern des Automobils da- und dorthin zu flüchten.
Die Stunden vergingen in tödlicher Eintönigkeit. Die Hitze wurde mit der Zunahme des Tages glühend. Die Luft war unbeweglich, und mit Wohlbehagen atmeten wir den erfrischenden Hauch ein, den die rasche Fahrt uns ins Gesicht trieb. Ohne Übergänge gerieten wir aus der Kühle des Morgens in eine wahrhaft tropische Hitze. Eine sonderbare Erscheinung konnten wir beobachten; während die Sonne glühte, war der Schatten kalt. Wir hatten die Empfindung jemandes, der sich im Winter an der Flamme eines Kamins erwärmt; an der dem Feuer zugekehrten Seite verbrennt er sich, während er auf der andern vor Kälte erstarrt. Der Himmel war von unerbittlicher Klarheit, so durchsichtig, daß wir uns über die Entfernungen täuschten; wir sahen alles viel näher, als es in Wirklichkeit war. Der Horizont schien immer in der Entfernung von einigen Kilometern zu liegen, und doch fuhren wir stundenlang, ehe wir Bodenerhebungen erreichten, die wir auf große Entfernungen am äußersten Rande der Hügelkette gesehen hatten.
Diese unheimliche Durchsichtigkeit rührte von dem absoluten Mangel an Wasserdampf in der Luft her. Die Trockenheit der Luft bereitete uns Beschwerden, die sich von Minute zu Minute steigerten. Unsere Haut war wie durch Fieber ausgedörrt, es fehlte uns der Schutz einer Transpiration, die durch Verdunstung die Hitze mildert. Daher fühlten wir die Sonne auf Gesicht und Händen in so fürchterlicher Weise brennen, daß wir den Eindruck hatten, als befänden wir uns im Brennpunkte einer ungeheueren Linse. Den Tag zuvor hatten wir übrigens dieselbe Beobachtung gemacht, und bereits auf dem Wege nach Pang-kiang drängte sich uns die Vorstellung einer Linse als das passendste Bild auf; aber wir glaubten damals nicht, daß in der eigentlichen Wüste die Linse solche Dimensionen annehmen würde! Wir begriffen jetzt, weswegen die Karawanen nicht tagsüber auf dem Marsche sind. Aber wir konnten und wollten nicht haltmachen. Unsere einzige Erleichterung beruhte in der Schnelligkeit.
Wir fanden nur einen Brunnen. Gegen 10 Uhr stiegen wir eine weitere Terrainstufe, ein neues Ufer hinab, das wahrscheinlich eine Etappe des Meeres auf seinem langen Rückzuge bezeichnete, der vielleicht Myriaden von Jahrhunderten gedauert hat, bis das Wasser gänzlich verschwand. Der Boden war mit einer weißlichen Salzkruste bedeckt. An manchen Stellen erinnerte er mich an das Tote Meer, aber ohne das Grün des Jordans. Wir fuhren über ein totes Land, ein Land, das zu rasch gelebt hat. Wer weiß, vielleicht hatten wir das Abbild der zukünftigen Welt vor Augen, unserer Welt nach Millionen von Jahren, ausgetrocknet, erstorben, ausgestreckt unter einem unveränderlich klaren Himmel, was ihr in den unendlichen Weiten des Firmaments das Aussehen des Mondes verleihen wird.
Die grausigste Strecke der Wüste ist etwa 60 Kilometer lang. Die Karawanen suchen sie in einem einzigen Marsche zurückzulegen. Bei den letzten Brunnen füllen sie Schläuche und Fässer mit Wasser und brechen bei Sternenlicht auf. Ihr Weg wird durch bleichende Knochenhaufen bezeichnet. Gerippe von Kamelen, von Maultieren, von Ochsen, von Pferden liegen über die ganze Karawanenstraße hin verstreut, aber in der Wüste reiht sich diese Spur des Todes fast ununterbrochen aneinander. Oft überrascht der Sturm hier die dahinziehenden Tiere, trennt sie in der durch den aufgewirbelten Sand erzeugten Dunkelheit voneinander, zwingt sie zum Halten und tötet sie dann. Alle kranken, müden und ermatteten Tiere sind dem Tode verfallen. Es ist das Gebiet des Todes.
Ein unsagbares Todesbangen liegt über diesen Gefilden. Man weiß nicht, woher es stammt, vielleicht von dem trostlosen Anblick, den die Landschaft gewährt, von der niederdrückenden Seltsamkeit ihrer kahlen Umrisse, der unendlichen Eintönigkeit der Farbe oder mehr noch von dem lastenden angsterregenden Schweigen; es entströmt all und jedem und erweckt die Vorstellung einer unbekannten, nahe bevorstehenden Gefahr, einer ständigen Bedrohung, in die man sich resigniert ergibt. Man hat nur einen Gedanken oder vielmehr ein formloses, unbestimmtes, undeutliches, aber hartnäckiges Verlangen: zu fliehen, diese zur Leiche gewordene Welt nicht mehr zu betreten, frei von ihr zu sein. Man schaut nach dem Horizont wie nach einem Orte der Rettung und der Ruhe; man sieht jedem Engpasse mit Hoffnung entgegen; hinter jeder Höhe glaubt man unverhofft auf etwas Gutes zu stoßen. Aber die Engpässe ziehen vorüber, es ziehen die Höhen vorüber, der vor uns liegende Horizont wird zu dem hinter uns zurückbleibenden Horizonte; die Trostlosigkeit erscheint endlos. Das Denken ermattet, die Seele ertrinkt in einer unbezwingbaren Schwermut. Der letzte Halteplatz verliert sich in den Nebeln der Vergangenheit; der halb betäubte Geist verdunkelt sich; alles scheint in unermeßlicher Entfernung zu liegen, von den Schleiern der Vergessenheit umwallt — fern die Abfahrt, fern die Ankunft. Man weiß nur das eine: man wird ankommen und man muß ankommen. Und diese Vorstellung erzeugt eine große Kraft, die sich Geduld nennt. Ja, Geduld und vorwärts! Alle Widerstandskräfte des Geistes und Körpers werden im Dienste der Geduld gestählt. Wir schweigen schließlich, um nichts mehr von unserer Energie zu verschwenden. Und dann kostet ein Wort, mitunter auch nur ein Gedanke zu viel Anstrengung.
Gegen 10 Uhr befanden wir uns im Mittelpunkte der schlimmsten Strecke der Wüste Gobi. Die beiden äußersten Karawanenhalteplätze sind durch eine große Anzahl von Obos bezeichnet. Der Obo ist der Altar des mongolischen Nomaden; er ist vielleicht der erste Altar, den die Menschheit errichtet hat. Er besteht aus einem Steinhaufen.
Um vor dem Antritt der Wüstenwanderung den Schutz des Himmels anzurufen und nach der Durchquerung der Wüste den Göttern für die gewährte Rettung zu danken, nimmt der fromme Nomade einen Stein, legt ihn auf den Obo, beugt sein Knie und betet. Seit unserem ersten Betreten mongolischen Bodens, als wir uns noch in Sicht der Großen Mauer befanden, trafen wir Obos auf dem Kamme der Hügelkette an. Sie gleichen aber nicht denen der Wüste. Vielleicht waren sie verlassen, von den Stürmen umgeworfen und in formlose kleine Berge verwandelt worden. Die Obos, die wir an den Grenzen der ödesten Strecke antrafen, zeigten oft eine erschreckende Menschenähnlichkeit.
Auch sie erhoben sich auf kleinen Anhöhen und bestanden aus einer sorgsamen Steinanhäufung, deren Bekrönung von einem Ochsen- oder Pferdeschädel gebildet wurde. Sie schienen dem Todesgotte errichtet zu sein. Mehr als einmal erschienen uns diese Steinhaufen, die sich scharf von dem strahlenden Himmel abhoben, von fern als Menschen, und in den weißen Schädeln glaubten wir deren Gesichter zu erkennen. Es waren ihrer so viele, daß sie dicht gedrängt standen. Das Vorhandensein einer Menge, gleichviel welcher Zusammensetzung, war für uns ein Grund zur Befriedigung. Es war eine Unterbrechung der grenzenlosen Einsamkeit. In der Wüste werden sich alle Menschen lieb und wert, nicht sowohl infolge eines Gefühls der Verbrüderung der Menschheit oder eines Verlangens nach Zusammenschluß gegen die Gefahren, als vielmehr nur durch den erhebenden Anblick von etwas Lebendigem. Wir betrachteten forschend alle jene aufrechtstehenden Menschen; dann stutzten wir ob ihrer Unbeweglichkeit; wir glaubten, daß sie uns vielleicht gesehen hätten und vor Erstaunen stillständen. Mit einem Schlage umfing uns die Einsamkeit von neuem und schmerzvoller als zuvor, als wir jene Menge zu Stein werden, die Gesichter sich in Schädel verwandeln sahen wie infolge einer verhängnisvollen Beschwörung.
Am Fuße jedes Obo lagen Papierstreifen mit darauf geschriebenen Gebeten in tibetischen Schriftzeichen oder von der Zeit entfärbte Fähnchen, auch sie mit Spuren frommer Inschriften bedeckt. Der Mongole gibt sich dem poesievollen Glauben hin, daß der Wind, wenn er diese Papierstreifen und Fähnchen bewegt, die darauf geschriebenen Gebete emporträgt und Buddha überreicht; wenn die Luft darüber hinstreicht, so füllt sie sich mit den Gebeten, wie sie sich mit Wohlgerüchen erfüllt, wenn sie über Blumen dahinstreicht und sie hin und her bewegt. Bietet die Verwendung des Weihrauchs bei unseren religiösen Zeremonien nicht eine gewisse Analogie hierzu? Wir verdankten den Obos eine Wohltat; ihre Errichtung bedeutete das Freisein des Weges von allen Steinen. Und wer weiß, ob der Ursprung dieses eigenartigen religiösen Brauchs im Grunde nicht auf die Notwendigkeit zurückzuführen ist, die steinigen Straßen zu verbessern, und ob die Gewohnheit, Steine vom Wege aufzuheben, nicht bei einem Volke, das jeder Handlung und jedem Ereignis eine mystische Bedeutung beimißt, zum Ritus geworden ist?
Wir mußten uns davon überzeugen, daß der Kühlapparat, diese Lunge des Automobils, schlecht atmete. Infolge der großen Hitze war es dem von der Fahrgeschwindigkeit erzeugten Luftzug nicht mehr möglich, das die Zylinder umspülende Wasser abzukühlen, das vielmehr mit ununterbrochenem heftigem Zischen in Dampfform dem Ventil des Kühlapparates entströmte. Seit langer Zeit (uns kam die Zeit wenigstens lang vor) suchten wir nach Brunnen, um das Wasser im Motor zu erneuern. Wir wollten den in unserem Behälter aufbewahrten Vorrat nur im äußersten Notfalle angreifen. Er enthielt kaum 50 Liter, und es war ein Gebot der Vorsicht, diese aufzusparen; ein Bruch der Maschine konnte uns Schiffbruch erleiden lassen, und dieser Vorrat würde unsere Rettung sein.
„Ein Brunnen!“ rief von Zeit zu Zeit einer von uns, den Horizont betrachtend — „dort, ein Brunnen, ich bemerke Feuchtigkeit, die Erde hat einen dunkeln Fleck!“
„Ja, ja“, antworteten die andern.
Die Selbsttäuschungen sind ansteckend.
Der dunkle Fleck war nicht vorhanden; es war ein Schatten. Wir waren gezwungen, unsere Zuflucht zu dem mitgebrachten Wasser zu nehmen, und hielten an, um es umzugießen. Der Boden schien unter unseren Füßen zu brennen; eine erstickende Schwüle und eine Augenschmerzen verursachende Lichtfülle strömten von ihm aus. Wir wurden von einem fast unerträglichen Durst gequält. Als wir das klare Wasser aus dem Behälter herausfließen sahen, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen und tranken gierig davon, mit geschlossenen Augen, um größeren Genuß zu haben, den Mund an das Rohr gepreßt, dasselbe Rohr, das zum Umfüllen des Benzins diente. Das Wasser war warm und roch unangenehm nach Benzin und Firnis; in jedem andern Augenblicke würde es uns ekelerregend erschienen sein. Alles ist eben relativ auf dieser Welt. Der Fürst war der Genügsamste; er benetzte kaum die Lippen und ermahnte uns, mit diesem kostbaren Naß sparsam umzugehen. Die eintönige Fahrt ging weiter.
Gegen Mittag begannen sich wieder Spuren von Vegetation auf dem Grunde einiger Einsenkungen zu zeigen, in denen augenscheinlich etwas Feuchtigkeit zurückgeblieben war. Bald wurden wir von dem Fluge weißer Vögel überrascht, und unmittelbar darauf entdeckten wir einen kleinen Pfuhl in einer breiten Bodensenkung. Am Ufer schritten Stelzvögel würdevoll auf und ab. Wir hielten, um Wasser einzunehmen, das Ettore mit dem Topfe zu schöpfen ging. Das Wasser war völlig ungenießbar, von übelm Geruche, gelblich und schmeckte leicht salzig; wir verwandten es für den Motor, der ja keinen Gaumen besitzt. Aber dieses Wasser zeigte uns durch sein Vorhandensein an, daß wir bereits aus dem unheilvollen Reiche der völligen Trockenheit heraus waren. In der Tat stießen wir auch nach einigen zwanzig Kilometern auf Brunnen, um die herum Karawanenlager aufgeschlagen waren.
In der Nähe eines dieser Brunnen lagen nur zwei schlafende Chinesen — vielleicht zwei Unglückliche, die zu Fuß in kleinen Tagemärschen in ihr Vaterland zurückkehrten. Sie besaßen nicht einmal ein Zelt, um sich vor der Sonnenglut zu schützen. Als einziges Gepäck hatten sie einige Lumpen in einem Sacke. Auf dem Sande ausgestreckt, der zu glühen schien, lagen sie halbnackt mit bloßem Kopfe und schliefen. Neben ihnen rauchten die Reste eines Feuers, und über dem Feuer dampfte die Teemaschine, die in dem Gepäck auch des ärmsten Chinesen nicht fehlen darf, ebensowenig wie der Samowar beim ärmsten Russen. Es war uns unfaßbar, wie Menschen die fürchterliche Qual dieser Hitze aushalten konnten. Als sie Geräusch vernahmen, erwachten sie und richteten sich auf, um uns mit ihren schläfrigen Augen zu betrachten, dann streckten sie sich wieder aus. Sie mußten abgemattet und betäubt sein. Was war unsere Reise im Vergleich zu der ihrigen? Wir erinnerten uns des Pilgers, den der Fürst bei Nankou angetroffen hatte, jenes Mannes, der, alle drei Schritte die Erde küssend, die Wüste durchquert hatte, und dachten daran, daß, wenn die beiden Chinesen ihm begegnet wären, sie vielleicht mit ihm dasselbe Mitleid gehabt hätten, das wir mit ihnen hatten.
Das Wasser der Brunnen war klar und kalt. Nachdem wir unseren Durst gelöscht hatten, füllten wir den Eimer damit und reichten uns während der Fortsetzung der Fahrt unausgesetzt volle Becher davon. Unter den Wirkungen der Hitze konnten wir wenigstens eine gute feststellen: den geringen Benzinverbrauch. In der explosiven Mischung, die sich bei der Berührung mit dem elektrischen Funken entzündet und so die treibende Kraft des Motors hervorbringt, war nur ein ganz geringer Teil Benzindampf enthalten.
Wir bemerkten dies an dem Funktionieren des Ventils, das automatisch Luft in das Gemisch einläßt; es blieb ganz offen stehen, und es war augenscheinlich, daß die Luft in ungemein großem Maße in den Vergaser einströmte. Der Fürst bemerkte, daß wir uns mehr mit Hilfe der Luft als mit Hilfe des Benzins weiterbewegten.
Mit dem Vorschreiten des Tages nahm die Hitze zu. Die Sonne, die uns zuerst zur Rechten, dann im Rücken gestanden hatte, begann uns nunmehr von der linken Seite aus zu peinigen. Bei der Abfahrt von Peking hatte ich den Korkhelm verschmäht, mit dem der Fürst und Ettore sich ausgerüstet hatten, und forderte die Gluthitze der Wüste Gobi nur unter dem bescheidenen Schutze eines Panamahutes heraus, dessen Krempe infolge der Geschwindigkeit der Fahrt sich über meiner Stirn zurückschlug und so mein Gesicht vollständig bloßlegte. In wenigen Stunden verwandelte die Sonne uns zu grotesken Masken, und ich war leider die groteskeste. Die Gesichter nahmen eine dunkelrote Farbe an, schwollen auf und schmerzten, so daß wir nicht einmal die leise Berührung des Taschentuches ertragen konnten. Das frische Wasser, das uns an den vorhergehenden Tagen köstliche Abwaschungen ermöglicht hatte, verursachte jetzt ein unangenehmes Brennen. Hier und da schälte sich an dunkler gefärbten Stellen die Haut ab. Wir hatten den Eindruck, als würden wir langsam gekocht. Die entzündeten Augen brannten uns im Kopfe, die Lippen waren geschwollen, vertrocknet, aufgesprungen. Ettore schmerzte namentlich der Mund, dessen Winkel bluteten. Entsetzlich litt er an den Händen, die von der harten Arbeit schon rissig geworden waren und auf denen die Sonnenglut tiefe offene Furchen in das Fleisch einbrannte; die geschwollenen Finger zitterten vor Schmerz. Nicht hoch genug bewerten läßt sich das ungeheuere Maß von Selbstverleugnung, von Ehrgeiz und Energie, das Ettore aufbot. Da, wo es sein mußte, unterdrückte er jeden Schmerz und zwang seine wunden Hände zu den härtesten Anstrengungen, die mitunter Blutspuren an den Werkzeugen und den Maschinenteilen zurückließen. Wenn er dann seine Arbeit mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit vollendet hatte, betrachtete er die Wunden und murmelte mit seinem an ein großes Kind erinnernden Lächeln:
„Ich fürchte, daß wir nicht weiterkommen.“
Hätten wir zu unseren Häuptern noch den herrlichen Schutz des Zeltdaches gehabt, so hätten wir der Sonne spotten können. Jetzt konnten wir uns zum Troste nur sagen: „Auch das wird vorübergehen!“
Wir folgten der unendlichen Linie der Telegraphenstangen in einer Art Traumzustand. Jene Linie hatte etwas Verführerisches an sich. In dieser schrecklichen Eintönigkeit gewährte sie dem Auge eine Abwechslung, die uns Anregung bot. Bald lief sie geradeaus wie ein phantastischer, dünner, schwarzer, von einem Horizonte zum andern gezogener Strich, bald zeigte sie die Stangen in einer regelrecht ausgeführten Schwenkung wie Soldaten bei einer Übung. Der Vergleich mit Soldaten drängte sich uns namentlich dann auf, wenn wir die Stangen in Reih und Glied den Abhang einer Anhöhe emporklimmen sahen. An den Übergängen nahmen die sich eng aneinanderschließenden Linien oft überraschende nebelhafte Gestalten an, bald ähnlich der Spitze eines gotischen Turmes, bald einem in unendlicher Ferne liegenden zerklüfteten Berge gleichend. Wir beobachteten all diese Einzelheiten mit kindischer Aufmerksamkeit. Es kamen uns Gedanken von erschreckender Albernheit. Ich überraschte mich einige Male dabei, wie ich mechanisch die Stangen zählte, indem ich bei irgendeiner anfing, um mich schließlich doch zu verzählen. Für den aber, der nicht steuert, ist das Niederdrückendste auf einer derartigen Reise die Untätigkeit. Zuerst beobachtet man, sinnt nach, dann phantasiert man, und schließlich geht das müde Denken in Stumpfsinn über; kein Gesichtseindruck erweckt es wieder, und so bleibt man in einem Zustande schweigender, ruhiger Empfindungslosigkeit. Der Geist entschlummert und lullt sich in die süße Geistesabwesenheit des Traumes ein.
„Eine Jurte!“ rief der Fürst aus.
Es war 2 Uhr nachmittags. Diese Worte rüttelten uns plötzlich auf, als hätten sie ein Wunder angekündigt.
„Wo, wo?“
„Dort, linkerhand, unter jenen Felsen!“
„Wir kehren in die Welt zurück!“
„Es werden wandernde Nomaden sein. Es gibt hier keine Weideplätze. Wer kann hier leben?“
Wir betrachteten die Jurte, vor der ein Pferd angebunden war. Nach kurzer Zeit entdeckten wir ein beladenes Kamel, das von einem Mongolen geführt wurde, der stehenblieb und uns lebhaft zuwinkte. Wir warteten auf ihn, und der Mongole eilte unter tiefen Verbeugungen auf uns zu, zog aus seinem Rocke ein großes in ein Tuch geschlagenes Paket hervor und begann es langsam zu öffnen. In dem Paket befand sich ein zweites, in dem zweiten ein drittes... Aus dem letzten Paket endlich kam ein Telegramm zum Vorschein, das der Mann uns feierlichst überreichte.
Das Telegramm war an Du Taillis gerichtet; wir gaben es dem Karawanenführer zurück und bedeuteten ihm, er möge seinen Weg nach Süden weiter fortsetzen. Er schnürte sein Paket sorgfältig wieder zusammen, das sicherste Mittel, um ein wertvolles Papier nicht zu verlieren, das aber Geschäftsleuten nicht zu empfehlen sein würde! Wir bemerkten dabei, daß das Kamel mit zwei Benzinbehältern beladen war. Nun verstanden wir: der „Spyker“, der wahrscheinlich Mangel an Brennmaterial litt, hatte von Pang-kiang nach Udde telegraphiert, um sich zwei Kannen aus dem Depot schicken zu lassen, und diese beiden Kannen waren unterwegs. In Pang-kiang hatten wir ihm einige Liter von unserem Benzin abgetreten, und ich glaube, die beiden „de Dion-Bouton“ hatten dasselbe getan.
Um 4 Uhr befanden wir uns zwischen niedrigen Felsen, die hier und da aus der Ebene emporragten wie Klippen über das Meer. Am Abend vorher war es uns nicht gelungen, die Station Pang-kiang zu erblicken, und wir hatten schon geglaubt, sie verfehlt zu haben; jetzt sahen wir Udde in jedem fernen Felsen. Bei jedem Schritt wurden wir enttäuscht. Um die Telegraphendrähte nicht aus den Augen zu verlieren, suchten wir ihnen überallhin zu folgen, auf die Rücken von Hügeln, zwischen Steine und Felsblöcke; die Weiterfahrt gestaltete sich auf diese Weise sehr mühsam. Gegen 5 Uhr kam eine aus einer Anhäufung runder Felsen gebildete Anhöhe in Sicht, an deren Fuße, mit den Steinen in eins verschmolzen, ein einziges chinesisches Häuschen stand; es war Udde. Wenige Minuten später zogen wir in diesen Ort der Freude ein, der auf ein Haar jenem glich, den wir am Morgen verlassen hatten.
Wir wurden nicht von einem, sondern von zwei diensteifrigen Telegraphenbeamten empfangen, und waren im Augenblicke eines Umzugs angelangt. Der alte Telegraphist von Udde stand im Begriff, seinen Posten zu verlassen, und traf die Vorbereitungen zu einer siebzehntägigen Karawanenreise, um nach Kalgan zu gelangen. Zwischendurch weihte er den einige Tage zuvor angekommenen neuen Kollegen in die Pflichten seines Amtes ein.
Der Mann, der die Wüste verließ, war glücklich. Die ihn erfüllende Befriedigung machte ihn redselig. Er folgte uns lächelnd überallhin. Sobald wir uns umwandten, waren wir sicher, den kleinen, mageren Chinesen zu sehen, bewaffnet mit einem großen Pince-nez an einer langen Schnur, bereit, uns die ganze Fülle seiner Freude anzuvertrauen. Während ich meinen telegraphischen Bericht niederschrieb, sagte er zu mir:
„Ich gehe nach Schanghai.“
„So?“
„Ja, weil ich aus Schanghai bin. Ich bin Witwer (geziertes Lächeln) und ich bin Christ.“
„Das freut mich.“
„Mein Vater will, daß ich wieder heirate. Und so heirate ich denn, sobald ich nach Schanghai komme.“ (Gelächter.)
„Lieben Sie denn Ihre zukünftige Frau?“
„Nein. Ich kenne meine Braut nicht. Mein Vater hat sie mir ausgesucht.“
„Und wenn sie Ihnen nicht gefällt?“
Er sah mich erstaunt an und lächelte herablassend, als er antwortete:
„Mein Vater hat sie mir ja ausgesucht. Das ist so Brauch bei uns. Ich reise übermorgen. Ha, ha!“
An diesem Abend warteten wir vergeblich auf die Ankunft der übrigen Automobile.
Schweigend verzehrten wir etwas Reis und das ewige Cornedbeef; dann streckten wir uns, in die Pelze gehüllt, auf der Erde aus. Seit zwei Tagen hatten wir vergessen, etwas zu uns zu nehmen. Der Durst hatte den Hunger nicht aufkommen lassen.
Die Stadt der Wüste.
Das ferne Gebirge. — Ein Bild der Verödung ringsum. — Die Stadt der Wüste. — Ein geheimnisvolles Automobil. — Auf der Antilopenjagd. — Urga.
Udde war unsere zweite Vorratstation, und wir fanden hier Benzin, Öl, Fett, das alles von Peking mit einer Karawane gekommen und in einem wirren Haufen von Paketen und Fässern in einem Winkel des Hofes beieinanderlag. Unterwegs war etwas Benzin durch die Ritzen der beschädigten Fässer gelaufen; trotzdem hatten wir zur Genüge davon, um die Behälter der Maschine zu füllen; wir ließen auch noch einige volle Behälter zurück und baten die Telegraphisten, sie unseren Kollegen für den Fall auszuhändigen, daß sie ihrer bedürften.
Am 20. Juni kurz vor Tagesanbruch kam ein Mongole von dem mehr als einen Li von der Telegraphenstation entfernten Brunnen von Udde und überbrachte uns Nachrichten. Am Brunnen hatte er Karawanenführer angetroffen, die nach einem langen Nachtmarsche von Süden her dort angelangt waren; sie hatten ihm berichtet, daß „die fremden Wagen“ am vorhergehenden Abend 180 Li (etwa 80 Kilometer) von Udde entfernt gelagert hätten. Die Entfernung erschien uns etwas übertrieben; die Karawane konnte in der Nacht nicht mehr als 100-110 Li zurückgelegt haben, und die Automobile mußten sich etwa 60 Kilometer von uns entfernt befinden. Der Fürst beschloß, zwei Tage in Urga, der Hauptstadt der Mongolei, wo wir am Abend des folgenden Tages einzutreffen gedachten, auf sie zu warten, wie wir dies auch in Kalgan getan hatten.
Im Westen funkelten noch einige Sterne, als wir nach Tauerin, der nächsten, über 300 Kilometer entfernten Telegraphenstation, aufbrachen, nachdem wir eine Tasse guten heißen Tees geschlürft und uns unter Danksagungen von unseren beiden Telegraphisten verabschiedet hatten.
Der Morgen war frisch, und wir hatten uns in unsere Pelze gehüllt, die kaum genügten, um uns zu erwärmen. Aber drei Stunden später hatten wir sie schon über die Rücklehnen unserer Sitze gelegt. Um 9 Uhr begannen wir von neuem unter den Qualen der Hitze zu leiden.
Wir hätten schwören können, daß die Hitze von Tag zu Tag zunehme; in Wahrheit aber wurde sie uns nur fühlbarer infolge der überaus großen Empfindlichkeit unserer kranken Haut. Als der Tag vorschritt, brachte uns nicht einmal der Luftzug der raschen Fahrt mehr Erleichterung. Wir hatten manchmal die Empfindung, als seien wir von dem glühenden Atem eines Ofens umgeben, als näherten wir uns allzusehr einer unsichtbaren Feuersbrunst. Der unaufhörliche, quälende Durst peinigte uns wieder; die übermäßige Trockenheit der Luft dörrte uns die Kehle aus, und es war uns, als ob wir ganz austrockneten. Das Antreffen eines Brunnens war ein Fest.
Ich erinnere mich als eines der köstlichsten Genüsse der Minuten, in denen ich meine Lippen an den Rand des mit frischem Wasser gefüllten Eimers setzen konnte. Es war ein Trinken in vollen, langen, gierigen Zügen, mit den Füßen im Schmutz, der sich um den Brunnen angehäuft hatte, das Gesicht nach unten gewandt, fast eingetaucht in das Wasser, das überfloß, in den Hals rann und sich über die Kleider ergoß; so groß war unsere Gier, rasch zu trinken, viel zu trinken, uns an der erquickenden Frische zu laben, die in Strömen in uns hineinrann.
Als die Hitze wieder begann, standen wir unter dem Banne eines unstillbaren Verlangens, das uns nicht verlassen wollte; wir stürzten im Geiste eingebildete Getränke hinunter. Ettore dachte gewöhnlich an ein großes Glas eiskalten Bieres, das durch den Schaum getrübt war, aber nach und nach vom Grunde aus immer klarer wurde und in der Kehle prickelte, während an der beschlagenen Außenseite Tropfen zwischen den Fingern herabrannen. Alle Augenblicke bot er mir sein Glas Bier an; ich revanchierte mich dafür großmütig mit Eiskaffee. Ich weiß nicht, warum der Eiskaffee zu meiner geistigen Lieblingserfrischung in der Wüste wurde. Seltsam, wir nahmen uns ernstlich vor, bei unserer Rückkehr wahre Orgien im Trinken zu feiern, uns in Wahrheit daran zu erquicken, als müsse uns dieser Durst bis in unsere Häuslichkeit verfolgen. Und wir empfanden großes Bedauern um alle Biere und alle Eiskaffees, die wir früher getrunken hatten, ohne uns ihren unermeßlichen Wert zu vergegenwärtigen, ohne die Glückseligkeit zu fühlen, die daraus entspringen kann.
Mit Udde waren auch die Felsen verschwunden. Stundenlang zog sich der Weg durch eine endlose Reihe von Tälern hin, die von niedrigen sandigen Hügeln von rötlicher Farbe eingeschlossen waren. Auf den Hügeln fanden wir mitunter eine kurze steinige Strecke, mitunter auch schweren Sand, der den Motor ermüdete, aber im allgemeinen konnte sich das Gelände für den Automobilsport nicht besser eignen. Die Maschine wurde des öftern auf jungfräulichen Ebenen zur Maximalgeschwindigkeit angetrieben; wir wichen von jeder Spur eines Pfades ab, verließen die Fußtapfen der Kamele und drückten die Spur unserer Räder einem Boden auf, der überhaupt noch nicht betreten worden war.
Zum erstenmal jagte ein Automobil mit all seiner Kraft außerhalb der tyrannischen Schranken der Straße hin, Herr seiner selbst, seinem Ungestüm nach Laune und Belieben folgend wie ein freies Roß. Wir freuten uns über diese weiten schnellen Fahrten, die unsere Flucht unterstützten. Wir empfanden die Angst vor der Einsamkeit und Stille immer beklemmender. Auf Hunderte von Kilometern waren wir die einzigen lebenden Wesen; wir litten unter einem unbestimmten geheimen tiefen Gefühl des Grauens über diese Vereinsamung, über das wir uns keine Rechenschaft ablegen konnten. Es war die Vorstellung einer uns weithin rings umgebenden Feindseligkeit, einer erbitterten Gegnerschaft der Erde selbst. Wir betrachten die Erde stets als eine großartige Persönlichkeit, nennen sie Mutter Erde, finden sie bald lächelnd, bald ernst, wir legen ihr Sprache und Leidenschaften bei; sie hat Gesichtszüge, die Empfindungen erwecken; es liegt etwas in ihr, was einer Seele gleicht, einer großen Seele. Wir fühlen dies instinktmäßig; wenn wir allein in einer Gegend sind, so haben wir Empfindungen von Freude oder von Trauer, die von dem herrühren, was sich unseren Augen darbietet, Empfindungen, die die unerforschliche Emanation eines geheimnisvollen Lebens sind, das uns umgibt. Dort draußen entsprang aus diesem Geheimnis Abneigung. Man möchte sagen, die Wüste liebe ihre Stille und verteidige sie. Sie ist ein unermeßlicher Friedhof, der nicht entweiht werden will.
Wir sehnten uns danach, wenigstens einen Baum zu sehen. Ein Baum ist ein Gefährte, ein riesenhafter Freund, der im Schatten seiner geöffneten Arme Gastlichkeit und Ruhe bietet. Seit Kalgan hatten wir jedoch keine Bäume gesehen. Allerdings hatten wir gestern nicht weit von Udde solche anzutreffen geglaubt; am Ufer eines ausgetrockneten steinigen Gießbaches bemerkten wir sieben in einer Reihe stehende Bäume — sieben Wunder. Wir näherten uns ihnen und bemerkten, daß es tamarindenartige Sträucher waren von weit unter Mannshöhe; die Kahlheit des Bodens hatte uns über die Größenverhältnisse getäuscht. Jedenfalls betrachteten wir sie als große Seltenheit und erfreuten uns an ihrem Dasein und an ihrer Form.
Es war 10 Uhr geworden, als die Steppe wieder auftauchte.
Das Gras begann zaghaft die Talgründe mit Grün zu bekleiden, dann dehnte es sich über die Hügel aus und wurde einheitlicher und dichter. Im Grünen ließ sich ein Gezwitscher von Vögeln vernehmen, anfangs unbestimmt, unterbrochen, fern, dann lauter, zusammenhängend, wohlklingend. Es waren Tausende von Wüstenlerchen, von eigenartigen Rebhühnern mit weißer Brust und von Schopfreihern. Um das Automobil herum erhoben sich ganze Wolken dieser fröhlichen Bewohner der Luft; zuzeiten waren wir von ihnen vollständig eingehüllt. In der Nähe mußte sich also Wasser befinden. In der Tat fuhren wir kurz darauf an kleinen schlammigen, mit gelbem Rohr bedeckten Sümpfen vorbei, deren Ufer von Wasservögeln wimmelten, von weißen Flamingos, die unbeweglich auf den langen roten Beinen standen, von Enten mit schwarzem Kopf und von Wildgänsen. Mitunter hob eine von unserer Ankunft überraschte Antilope den feinen Kopf aus dem Grase und schoß dann pfeilschnell von dannen.
Die Geschwindigkeit des Automobils zeigte uns wechselnde Landschaftsbilder, die den Karawanen unbekannt sind. Im Laufe einer Stunde waren wir aus der Sandwüste in die Steppe gelangt; der träge Gang des Kamels würde einen Tag dazu gebraucht haben, das heißt eine Zeit, in der der Wechsel gar nicht zum Bewußtsein kommt. Im Fluge durcheilten wir eine vollständig ebene Fläche, eine Fahrt von 60 Kilometern ohne Unterbrechung, die, wie wir hofften, nicht eher enden würde als auf unserem neuen Halteplatz. Aber die Fahrt ging zu Ende, die Ebene ging zu Ende, die Steppe ging zu Ende, es verstummte der Gesang der Lerchen, und wir steuerten vorsichtig in eine steinige, traurige, nackte, öde Gegend! Von neuem waren wir von der Wüste eingefangen. Wir machten an einem Brunnen mitten im Lager einer chinesischen Karawane halt. Die Karawanenführer traten halbnackt aus ihren blauen Zelten und näherten sich uns.
„Wie weit ist es bis Tauerin?“ fragten wir.
Sie wiesen nach Norden mit einer ausdrucksvollen Handbewegung, die sagen sollte: Sehr, sehr weit.
„Wieviel Li?“
Sie wußten es nicht. Einer von ihnen sagte:
„Zwei Tagereisen.“
Ein anderer erzählte ein langes und breites von Tauerin, von einem Berge, bezeichnete uns einen Punkt, an dem die Straße eine kleine Anhöhe emporstieg, und es gelang uns zu verstehen, daß Tauerin am Fuße eines Berges liegen müsse und daß der Berg von jenem Punkte der Straße aus sichtbar sei.
Wir hatten uns nicht getäuscht. In der Tat bemerkten wir, als wir die Maschine über die Anhöhe trieben, am Horizonte die Umrisse eines riesigen Felsens, eines Gibraltars der Wüste. Er konnte nicht weniger als 70 Kilometer entfernt sein, und wir sahen ihn nur infolge der außerordentlichen Durchsichtigkeit der Atmosphäre. Er war blaßblau, und wie aus dem Meere, wenn Land in Sicht kommt, so verloren wir ihn aus den Augen; er entschwand zeitweilig unseren Blicken, sein Umriß zerfloß, und die Vision löste sich in strahlende Lichtfülle auf. Wir mußten geduldig mit dem Auge die Linie des Horizontes absuchen, um die zitternde, flüchtige Erscheinung wieder aufzufinden.
Der Weg stieg an, und der Berg von Tauerin ging unter wie ein Gestirn. Es begann eine neue endlose Reihe von ausgedörrten Tälern und Anhöhen. Auf jedem Hügel erwarteten wir unser Gibraltar in größerer Nähe zu sehen. Aber wir sahen überhaupt nichts mehr. Die Stunden gingen vorüber und schienen uns eine Ewigkeit. Wir fühlten uns müde, abgespannt, als sei unsere Kraft in den mächtig arbeitenden Motor übergegangen. In Wahrheit beflügelten wir ihn dermaßen durch unser beständiges Verlangen, begleiteten ihn mit solcher Willensanspannung, daß wir tatsächlich eine physische Schwäche spürten. Der Weg war nicht immer leicht fahrbar, und wir folgten jeder Bewegung der Maschine mit einer Aufmerksamkeit, die unser ganzes Nervensystem anspannte.
Der große Felsen kam nicht wieder zum Vorschein. Stets wiederholten wir mit erneuter Zuversicht: „Dort werden wir ihn sehen in wenigen Minuten ...“ Nichts. Jede Enttäuschung brachte uns um Hunderte von Kilometern zurück. Nach vier Stunden war unser Glaube zu Ende.
„Jener Berg war eine durch die Telegraphendrähte hervorgerufene optische Täuschung!“ rief ich aus und zeigte auf die seltsamen, verschwommenen Formen, die die Verkürzung der langen Reihe der Stangen am Horizonte zeichnete.
„Wenn es ein Berg gewesen wäre, so wäre er nicht verschwunden“; bemerkte Ettore weise.
„Und doch konnte es nichts anderes als ein Berg sein“, schloß Don Scipione, den ich im stillen für eigensinnig hielt.
Wir mußten uns überzeugen, daß wir noch weit vom Ziele entfernt waren, und verfielen in melancholisches Brüten.
An diesem Tage war mir der Platz auf dem Tritte zugefallen, der ungewohnte und nicht immer angenehme Empfindungen in mir erregte. Er nötigte mich, in gekrümmter Haltung zur Seite geneigt zu sitzen, die Füße nach links auf dem Trittbrett, außerhalb des Automobils, den Kopf nach rechts gewandt, eine Stellung, wie sie einer badenden Nymphe angemessen, aber für eine lange Fahrt reichlich unbequem ist. Das Gesicht, das sich in der Höhe des Motorkastens befand, erhielt alle heißen Ausströmungen der Maschine. Dazu kam ein stetes Schwanken des Gleichgewichts bei den Wendungen und während der harten Stöße des Automobils; man mußte sich an irgendeinen vorspringenden Teil festklammern, um nicht infolge unvorhergesehener Wirkungen der Zentrifugalkraft herausgeschleudert zu werden. Alles das will bei einer Spazierfahrt nichts besagen und ist vielleicht sogar amüsant. Es ist aber von ernster Bedeutung bei einer vielstündigen Fahrt, wenn Müdigkeit und Langeweile allmählich Muskeln und Gehirn erschlaffen lassen, wenn die erzwungene Unbeweglichkeit, das Schweigen, die Eintönigkeit des Weges, die Hitze, das lange Wachsein allmählich ein Abspannen der Nerven, eine Betäubung hervorbringen, die nicht Schlaf ist, wohl aber ein Vergessen seiner selbst, des Ortes und der Zeit, eine unbezwingliche Mattigkeit und Bewußtlosigkeit. Man verfällt in ein Delirium der Ruhe und Untätigkeit. Das Auge blickt verständnislos. Alles verliert seine Bedeutung und seinen Reiz. Ich erinnere mich, eine unbestimmbare Zeit hindurch die Umdrehung eines Rades beobachtet zu haben, dessen breiter Pneumatikreifen mir ein grauer, gleichmäßig herabstürzender Wasserfall von ewiger Dauer zu sein schien und der mich wie ein Strudel anzog. Der Boden zu meinen Füßen schoß vorbei wie jene seltsamen, grauenerweckenden Ströme, die wir in unseren Fieberträumen überschreiten. Einmal erschien mir alles dunkel, verworren dahinzujagen. Nur eines begriff ich: ich war in Gefahr, zu stürzen. Nur ein kleiner Teil meines Wesens war noch wach, in dem verdunkelten Bewußtsein wachte der Instinkt wie ein Soldat auf Posten und schlug Alarm. Aber ich vermochte nicht mehr auf ihn zu hören. Ich fühlte, daß ich fiel, und leistete keinen Widerstand, es überkam mich eine wohlige Gleichgültigkeit ... Mehr als einmal packte mich eine Hand kräftig an der Schulter, und ich hörte die Stimme des Fürsten mir zurufen:
„Achtung! Sie fallen!“
Und ich erwiderte sofort mit dem Schamgefühl dessen, der in trunkenem Zustande überrascht worden ist:
„Nein, nein, es hat keine Gefahr.“
Unvermutet kam der Berg wieder zum Vorschein. Er war ungefähr 15 Kilometer entfernt und schien aus einem riesenhaften Felsblock mit senkrechten Wänden zu bestehen; er erhob sich über einem Hügel, der vielleicht von den Trümmern des Felsens herrührte. Augenscheinlich bildete die lange Reihe von Ebenen und Anhöhen, durch die wir soeben gekommen waren, in ihrer Gesamtheit eine weite Einsenkung, eine riesige Höhlung, eine „Gobi“, und dieser Umstand hatte uns daran gehindert, den Berg von Tauerin nach seinem ersten fernen Erscheinen wieder zu erblicken. Je näher er kam, desto seltsamer erschien er.
Es war nicht ein einzelner Felsblock; es war eine Gruppe von Klippen, eine Anhäufung von Felsen, eine Kolonie von Schären, etwas wie ein ungeheuerer Obo, errichtet von dem Glaubenseifer eines Volkes von Titanen. Dreiviertel Stunde später fuhren wir zwischen Steinen und Blöcken in eine phantastische Gegend ein.
Wir stiegen den Abhang des erwähnten Hügels hinan, der von dem Felsen mit seinen bizarren, furchterregenden Umrissen überragt wurde. Wir hatten den Eindruck, als befänden wir uns in einer ungeheueren Ruine, als wären wir an einem Orte, an dem eine Welt zusammengebrochen war. Diese riesigen, seltsamen Steine schienen aus der Höhe herabgefallen zu sein, umgestürzt, fortgeschleudert, zertrümmert von der Wut einer unermeßlichen Katastrophe. Zu der Verödung gesellte sich die Wüste. Die Wüste schlummerte nicht mehr auf stillen, weiten Ebenen; hier bäumte sie sich ungestüm auf und nahm gewalttätige Formen an; sie schien sich nicht mehr zur Abwehr, sondern zur Zermalmung zu rüsten.
Die Maschine fuhr auf der Karawanenstraße mühsam bergan, und ihr Schnaufen wurde vom Echo zurückgeworfen. Wir suchten zwischen den Felsen nach der Telegraphenstation; ohne es zu bemerken, hatten wir unseren Führer, die Telegraphendrähte, verloren und befanden uns wie verlassen in jener unheimlichen Einsamkeit. Es gelang uns nicht, unseren schmerzlich ersehnten Zufluchtsort zu entdecken.
Aus einem Loche schlüpfte ein Fuchs heraus, der, anstatt erschreckt zu fliehen, uns eine lange Strecke begleitete; gelehrig wie ein Hund, kehrte er uns die spitze, gestreifte Schnauze zu und schleppte die prächtige, langbehaarte Rute hinter sich her. Dann verschwand er.
Wir gelangten auf den westlichen Gipfel der Anhöhe. Die Felsen rundeten sich nach dieser Seite ab und nahmen die Gestalt von riesigen Tiergruppen an. Wir fuhren bergab, der Ebene zu.
Mit einem Male sahen wir über diesem ungeheueren Steinhaufen vier goldene Kugeln in der Sonne glänzen. Sie waren von gleicher Größe, hielten sich in derselben Höhe und waren symmetrisch verteilt. Wir betrachteten sie mit angespannter, stummer Aufmerksamkeit. Sie schwebten über dem Felsengewirr, das zur Linken der Straße herabfiel, einige hundert Meter vor uns. Als wir unseren Weg fortsetzten, entdeckten wir zwischen den Blöcken einen breiten Zwischenraum, und unsere Neugierde ging in Verwunderung über, die Verwunderung in sprachloses Staunen, je mehr die verworrenen Bilder in diesem von der Sonne grell beleuchteten Zufluchtsorte feste Gestalt annahmen. Einige Minuten später brachten wir das Automobil zum Stehen, um mit gierigen Augen das unglaubliche Schauspiel einer Stadt zu betrachten, einer Stadt seltsamen Aussehens, einer Märchenstadt!
Wir konnten sie von der Höhe überblicken. Felsen umgaben sie von allen Seiten und vertraten die Stelle von Mauern. Die goldenen Kugeln bildeten die Bekrönung von vier großartigen Tempeln, die sich nach Süden zu aneinanderreihten. Diese heiligen Gebäude hatten nichts gemein mit dem Tempel, den wir in der Nähe von Pang-kiang gesehen hatten, dem Tempel des alten unbeweglichen Priesters. Sie waren auf großen Plattformen von Holz errichtet, wie die buddhistischen Bauten Japans; sie schienen ganz aus geschnitztem, bemaltem, vergoldetem Holze zu bestehen; sie hatten Dächer, die an den Ecken aufgebogen waren wie die chinesischen, aber ohne in jene charakteristische Linie auszulaufen, die dem Dache eines Zeltes gleicht und die vielleicht im Zelte ihren Ursprung hat, ihre Firste endeten im Gegenteil in Giebeln. Auf der äußersten Spitze befand sich immer eine goldene Kugel. Diese Gebäude glichen einander und standen jedes abgesondert von den übrigen. Ihre Großartigkeit rührte von ihrer isolierten Lage her. Rings umher keine Pflanze, kein Anzeichen von Grün, nur Sand und Felsen. Die Stadt lag ein wenig entfernt und ließ ehrfurchtsvoll einen freien Raum zwischen sich und ihren Tempeln.
Man kann sich keine seltsamere Stadt vorstellen. Sie bestand aus einer Menge kleiner weißer Häuser aus Kalk und Holz, mit quadratischen, regelmäßigen Dächern, aus geraden und breiten Straßen. Die Stadt und die Tempel schienen neu, aber ausgestorben. Die Straßen waren verlassen. In dem hellen Lichte, das in sie einströmte, bemerkten wir kein menschliches Wesen. Der Ort, der unversehens wie durch Zauberei vor uns auftauchte, schien unbewohnt zu sein. Oder besser, nicht von Menschen bewohnt, weil wir von Zeit zu Zeit Hunde bemerkten, die durch die Straßen liefen, an den Häusern entlang schlichen und sich an den schattigen Stellen auf allen vieren ausstreckten. Die Stadt schwieg wie die sie umgebende Wüste.
Wer mochte in diesen Gegenden leben? Mönche, sicherlich. Wir glaubten uns plötzlich vor einem Bergneste des Lamaismus zu befinden. Wir ließen das Automobil stehen und näherten uns der Lamastadt, indem wir auf einen mächtigen Felsblock kletterten. Nur Menschen, die im Gebet und in religiöser Vertiefung ihren Lebenszweck erblicken, konnten eine solche Regungslosigkeit und solches Schweigen beobachten. Da drang von irgendeinem Punkte eine laute, helltönende, frohe Kinderstimme zu uns empor. Ihr Klang genügte, um uns zu sagen, daß dort nicht nur Mönche wohnten. Wir stiegen nicht zu den Häusern hinunter, aus Furcht, einen gefährlichen Fanatismus zu erwecken. Auch hatten wir große Eile, unseren Lagerplatz aufzusuchen. Wir kehrten daher zum Automobil zurück und setzten unsere Nachforschungen nach der Telegraphenstation fort. Die geheimnisvolle Stadt entschwand unseren Blicken.
Wir bemerkten einen Hirten, der eine kleine, im Schatten der Felsblöcke grasende Herde bewachte, aber zu weit entfernt war, als daß wir mit ihm hätten sprechen können. So begannen wir auf der nördlichen Seite des Berges hinunterzufahren. Die Telegraphenstation war noch immer nicht sichtbar. Wir kehrten daher zurück und beschlossen, die Lamas der heiligen Stadt zu befragen.
Von neuem in die Nähe der Stadt gelangt, begaben wir uns zu Fuß nach dem bewohnten Teile. Irgend jemand hatte uns gesehen. Männer eilten aus den Straßen heraus und stiegen, von Hunden begleitet, zu uns empor, allen voran ein Greis. Der Fürst wandte sich mit einem Zeichen des Grußes an ihn. Der Alte wich zurück und floh. Der Gruß wurde bei einem jungen Manne wiederholt, der ihn glücklicherweise festen Fußes und mit einem der Sachlage entsprechenden Mute entgegennahm.
Wie aber sollte man einen mongolischen Lama nach dem Wege zu einer Telegraphenstation fragen? Nachdem wir alle chinesischen Worte, die zum Ziele führen konnten, gebraucht, alle Gesten, die nach unserer Meinung Drähte, Stangen, Häuschen, Telegraphieren bezeichneten (an dieser Stelle der Mimik ahmten wir mit der Stimme das Geräusch des Stiftes in einer Weise nach, die uns vollkommen erschien: tick-tick tick, tick-tick tick), wiederholt hatten, erzielten wir nur das eine praktische Resultat, daß das ganze Lamaistenkloster von Tauerin lachte. Das war wenigstens etwas! Das Mißtrauen verschwand, der Humor besiegte den Widerstand, die Mönche drängten sich vertraulich um uns und freundeten sich mit uns an. Aber den Weg zur Station fanden wir nicht.
Der Fürst hatte jetzt eine glückliche Idee; er holte sein Notizbuch hervor und zeichnete Striche, die die Telegraphenstangen darstellen sollten, versah sie mit Isolatoren und spannte Drähte dazwischen. Die Lamas verfolgten seine Arbeit mit gespanntem Interesse, stießen einander an und reckten die Hälse. Es waren Männer jeden Lebensalters, mit glattrasiertem Kopf und Gesicht, in Kutten und Mäntel von gelber und roter Farbe gehüllt. Viele trugen den Mantel auf dem bloßen Körper, wie eine Toga über die linke Schulter geschlagen, und bedeckten mit einem Zipfel des Mantels den Kopf. Kutten, Mäntel und Menschen waren gleichmäßig schmutzig; Wasser ist in der Wüste selten. Wer ahnt, was für ein aufregendes Erlebnis unsere Ankunft für jene Eremiten war, die sich von der Welt abgeschlossen haben, um die heiligen Schriften des Buddhismus zu studieren und über sie nachzudenken! Die Mongolen tragen ihre aus dem fernen Tibet stammenden heiligen Bücher mit sich in die ödesten Gegenden; sie verbergen sie wie einen Schatz. Sie sind der Ansicht, daß die milde Lehre Buddhas nur in der Einsamkeit und Stille vollständig begriffen werden könne.
Nachdem der Fürst die Drähte gezeichnet hatte, ging er an die Darstellung der Telegraphenstation, in der sich die Drähte vereinigten, und tippte dann mit dem Finger darauf, um anzudeuten, daß dies der Gegenstand unserer Fragen, der eigentliche Zweck seiner langen Arbeit sei. Da begriffen die Lamas den Sinn der Hieroglyphen! Gestikulierend und laut durcheinanderrufend setzten sie sich in Bewegung, um uns die Richtung zu zeigen. Auf die Straße gelangt, blieben sie beim Anblick des Automobils erstaunt stehen. Sie umringten es und betrachteten es mißtrauischen Blickes. Eine Menge Hunde war den Mönchen gefolgt und schnüffelte indiskret überall herum. Ettore glaubte den Augenblick gekommen, die Maschine in Bewegung zu setzen. Er drehte die Kurbel zweimal mit Macht herum, der Motor trat lärmend und brausend in Tätigkeit, und die Hunde und die Lamas flohen Hals über Kopf der heiligen Stadt zu!
Zum Glück hatten wir begriffen, daß die Telegraphenlinie sich in östlicher Richtung auf engen, sich zwischen den Felsen hindurchwindenden Pfaden hinziehe. Ich weiß nicht, wie es dem Automobil glückte, die steilen Abhänge bis zur Höhe des Hügels hinaufzuklimmen, eine Art Gang zwischen den Felsblöcken zu passieren und auf der andern Seite wieder hinunterzugelangen. Tatsache ist, daß wir auf eine Wiese kamen, auf der schon der Abendschatten lag — und mitten auf der Wiese lag die dritte Telegraphenstation der Mongolei, klein wie ihre Mitschwestern, wie diese ein Lehmbau und doch in unseren Augen so verlockend!
„Wissen Sie schon?“ fragte uns der chinesische Telegraphist in großer Eile — „es ist ein anderes Automobil vorübergekommen. Es fuhr nach Urga.“
„Ist es möglich?“
„Ja, es hat hier nicht gehalten. Es fuhr rasch wie der Wind.“
„Teufel noch mal!“
„Ich habe es ganz deutlich gesehen, es kam aus der Richtung von Udde her.“
„Wann denn?“
„Vor einigen Stunden.“
Wer konnte uns überholt haben? Wir hatten nichts gesehen. Vielleicht, während wir den Weg suchten ... Oder war einer der „de Dion-Bouton“ die ganze Nacht durch gefahren und uns zuvorgekommen?
„Sind Sie ganz sicher?“ fragten wir. „War es ein Automobil?“
„Ganz sicher. Es kam von Udde, fuhr nach Urga, und ich habe sofort telegraphiert.“
„War es so wie das unsrige?“
„Viel kleiner; o, viel kleiner.“
„Bitte in Udde wegen aller Automobile einmal anzufragen.“
„Sofort.“
Und der dienstfertige Chinese setzte sich an den Apparat. Einen Augenblick später erhob er sich und erklärte würdevoll:
„Udde speist. Es bittet um fünf Minuten Frist, um zu Ende zu essen.“
Als Udde gespeist hatte, sandte es die erbetenen Nachrichten, die der Telegraphist uns nach und nach übersetzte, wie er sie von dem Papierstreifen ablas.
„Die ‚Itala‘ hat Udde heute morgen um 4 Uhr verlassen ...“
„Sehr gut. Und dann?“
„... Der ‚Spyker‘ hat gestern 100 Li nördlich von Pang-kiang halten müssen aus Mangel an Benzin, das ihm mit einem Kamele zugesandt wurde ... Die ‚de Dion-Bouton‘ sind heute 1 Uhr nachmittags zusammen in Udde eingetroffen und um 2 Uhr weitergefahren.“
„Sonst nichts?“
„... Der dreirädrige ‚Contal‘ ist bis jetzt weder in Pang-kiang noch in Kalgan gemeldet worden ... Der Tu-tung von Kalgan hat berittene Soldaten ausgeschickt, um ihn zu suchen. — Das ist alles.“
Es war klar, daß der „Spyker“ sich mindestens 400 Kilometer hinter uns befand und die beiden „de Dion-Bouton“ 250. Das Geheimnis des Automobils, das einige Stunden vorher durchgekommen war ohne anzuhalten, war aufgeklärt. Wie hatten wir es nicht sofort verstehen können!
„Das waren wir“, erklärten wir dem erstaunten Chinesen. „Wir waren es, die dort vorbeifuhren. Wir haben nicht gehalten, weil wir das Telegraphenamt nicht sahen, das wir auf allen Seiten des Hügels suchten, nur nicht auf der richtigen.“
„Das Automobil, das vorüberfuhr, erschien mir kleiner“, bemerkte er zweifelnd.
„Infolge der Entfernung.“
„Das ist wahr. Die Entfernung verkleinert alles.“
Nachdem er diese tiefe Wahrheit ausgesprochen hatte, zeigte sich der Telegraphist vollkommen überzeugt.
Bei der Berechnung der zurückgelegten Strecke stellte es sich heraus, daß wir das erste Tausend Kilometer von Peking aus hinter uns hatten. Um dies Ereignis festlich zu begehen, beschlossen wir, ein opulentes Mahl zu halten. Ein Hirt und Lama, der in diese Gegend gekommen war, verkaufte uns ein Lamm, das wir ihm mit Stücken eines Silberbarrens bezahlten (gemünztes Geld hat bei den Mongolen keinen Kurs), die wir ihm gewissenhaft auf einer kleinen in Kalgan gekauften Wage zuwogen. Das Lamm, das den geschickten Händen des Telegraphisten anvertraut wurde, erschien einige Stunden später wieder vor uns in der Gestalt eines riesigen Stückes dampfenden gekochten Fleisches, das uns als das köstlichste Gericht der Welt vorkam.
Vor den zusammengelegten Knochen zündeten wir uns dann unsere Zigaretten an und unterhielten uns beim Scheine einer in den Hals einer Flasche gesteckten Kerze eingehend über die nahe Wüstenstadt, deren Weichbild von keinem weiblichen Fuße betreten werden darf, von unserer Reise, von dem nächsten Haltepunkte. Wir hatten Müdigkeit, Durst, alle Leiden der langen Tagereise vergessen, dreizehn endlos lange Stunden der Fahrt in glühender Sonnenhitze, in aufreibender Anspannung der Nerven, unter tausend Zweifeln und Ängsten.
Wie klein und verächtlich erschienen uns nun die überwundenen Schwierigkeiten! Die Zukunft spornte uns dermaßen an, daß wir keine Zeit verloren, zurückzublicken. Diese Neigung, Schlimmes zu vergessen, macht das größte Glück des Menschen aus. Jeden Morgen fühlten wir uns beim Aufbruch stark und bereit zu neuen Anstrengungen, weil wir die Erinnerung an den vorigen Tag verloren hatten. Ein wohltätiger Schleier breitete sich über die überstandenen Leiden. Und beim Aufbruch glaubten wir immer, alle Schwierigkeiten seien zu Ende. Im Vergessen und im Hoffen liegen die Quellen unserer Kraft! Unsere Fahrt glich in vielen Stücken dem Leben.
Tauerin liegt am Rande der Wüste. Im Süden von Tauerin trostlose Unfruchtbarkeit, im Norden die grüne Pracht der Steppe. Jener hohe Felsen scheint als Wahrzeichen, als Leuchtturm an seinen Platz gestellt zu sein, um den unterwegs befindlichen Wanderern die Grenze zwischen der toten und der lebenden Erde anzuzeigen, um den einen zu sagen: „Bereitet euch vor zum Ende“, den andern: „Mut!“
Die Strecke zwischen Tauerin und Urga erschien uns bezaubernd, vielleicht weil wir aus der Wüste Gobi kamen. Wir fanden alles entzückend: das Gras, den Weg, den Himmel. Denn auch der Himmel hatte sich verändert; er war bewölkt, und wir bewunderten die Wolken, die sich darin gefielen, ihre langen, flüchtigen Schatten wie riesige, zarte Liebkosungen über uns hingleiten zu lassen. Wir fuhren 50 Kilometer die Stunde, zuweilen 60. Das Gelände war leicht gewellt, und wir ließen uns die sanften Abhänge hinabgleiten mit dem ganzen Ungestüm der Geschwindigkeit und des Schwergewichts. Wir waren fröhlich, fanden tausenderlei zu sprechen, machten uns auf alles aufmerksam, was wir sahen, und dachten laut.
Ettore fragte, um wieviel Uhr wir in Kalgan eintreffen würden — ja, in Kalgan, da Ettore in seiner Vorliebe für Vereinfachung die Namen aller durchfahrenen und der noch zu durchfahrenden Orte unterdrückte, zur bequemeren Bezeichnung aber ein paar übriggelassen hatte. Und diese paar wandte er ohne Unterschied auf alle an. Es war eine Art Kauderwelsch; Kalgan bedeutete: „jene Stadt, welche ...“ Ettore hatte ein schlechtes Gedächtnis für Geographie; die Namen gingen an ihm vorüber, ohne haften zu bleiben, wie Vögel im Fluge; war es ihm aber gelungen, sich eines Namens zu bemächtigen, so ließ er ihn nicht mehr los und er mußte ihm die Stelle aller andern vertreten, die ihm entwischt waren. Seine aufrichtige Gleichgültigkeit gegen die Reiseroute hatte ihre beneidenswerten Seiten; wir lachten wohl über seine geographischen Schnitzer, aber nicht, weil es Schnitzer waren, sondern wegen seiner frischen Naivität, wegen des Zutagetretens seiner ungekünstelten Schlichtheit; wir empfanden neben ihm den reinen Genuß, den die Berührung mit der Seele eines großen intelligenten Kindes verleiht. Für Ettore bestand die Reise aus zwei einleuchtenden Wahrheiten: nämlich erstens, daß wir zwei bis drei Monate alle Tage oder wenigstens fast alle Tage vom frühen Morgen bis zum Abend fahren müssen, und zweitens, daß, um anzukommen, das Automobil beständig gut gelenkt, überwacht, behorcht, nachgesehen, geprüft, besorgt, geputzt, geölt, eingefettet werden muß, wobei er niemals ermüden darf, sondern im Gegenteil dem Wagen seine ganze Aufmerksamkeit, Erfahrung, Intelligenz und Energie widmen muß. Dies war gerade Ettores Lieblingsarbeit. Wenn er abends an den Haltepunkten eintraf, so aß und schlief er nicht eher, als bis er die Maschine in Ordnung gebracht hatte; stundenlang lag er in den unglaublichsten Stellungen unter dem heißen Bauche des Automobils, von dem siedendes Öl heruntertropfte; zuweilen erhob er sich, von einem Zweifel ergriffen, zu den unmöglichsten Stunden vom Lager, und dann hörten wir ihn mitten in der Nacht Verschlüsse abschrauben, Stücke wegnehmen, um die feinsten Konstruktionsteile zu besichtigen und hierauf alles wieder an Ort und Stelle zu bringen. Bei Tagesanbruch war er stets in tadelloser Bereitschaft, nach — Kalgan zu fahren!
An diesem Morgen stießen wir wieder auf große Pferdeherden, die ihre prächtigen Manöver um uns herum ausführten. Wir erblickten Jurten; schwarze, zottige Hirtenhunde verfolgten uns; Schafherden stillten an Brunnen ihren Durst, Karawanen begegneten uns am hellen Tage. Alles stimmte uns heiter. Wenn wir nicht sprachen, sangen wir. Der Fürst pfiff beim Steuern seine Lieblingsarie, die „Petite Tonkinoise“, die ich passend begleitete.
In der Ferne weideten einige Antilopenherden; vom Automobil aufgeschreckt, ergriffen sie die Flucht quer über die Straße vor uns. Wir hatten diese seltsame, den Antilopen eigene Art des Fliehens, die die armen geängstigten, über unsere Schnelligkeit entsetzten Tiere uns auf 20–30 Meter nahebrachte, noch nicht beobachtet. Die Jäger kennen diese sonderbare Taktik gut und sprengen daher nicht direkt auf das Wild zu, dessen Lauf viel rascher ist als der eines mongolischen Pferdes, sondern biegen etwas von der geraden Richtung ab, um es von der einen Seite zu fassen, da sie wissen, daß die Antilopen auf Flintenschußweite an ihnen vorüberstürmen werden. Dieses Vorüberjagen im rechten Winkel zur Richtung des Feindes ist ein primitives Schutzmittel gegen die Verfolgung. Die Tiere nehmen an, ihr Ungestüm werde den Gegner aus der Richtung bringen und ihn zu einem Zeitverlust zwingen, indem er eine andere Richtung einschlagen muß und dann erst wieder die Verfolgung aufnehmen kann.
Mit einem Male bemerkte ich in der Steppe, einige Kilometer von uns entfernt, einen außergewöhnlich langen Streifen von rötlicher Farbe, der sich mit großer Geschwindigkeit fortbewegte. Er wandte sich nach rechts, in sich selbst erzitternd und von einer leichten Staubwolke verhüllt.
„Seht dort!“ rief ich und deutete mit der Hand darauf.
Im ersten Augenblick wußten wir nicht, um was es sich handelte.
„Es läuft wie ein Zug.“
„Es sind Tiere.“
„Es sind Antilopen.“
„Ja, ja. Man sieht es jetzt ganz deutlich.“
„Da ist eine allein, den andern voraus.“
„Betrachten Sie die Beine, welches Gewimmel!“
„Ein wunderbarer Anblick!“
„Prächtig!“
„Wieviel mögen es sein?“
„Wer weiß? Vielleicht ein halbes Tausend.“
„Ein ganzer Stamm Antilopen.“
Wir waren den Tieren bis auf 500 Meter nahegekommen und erkannten ganz deutlich das gewaltige Rudel, das sich auf der Flucht eng zusammendrängte. Es war im Begriff, nach gewohnter Taktik quer über die Straße hinwegzusetzen.
„Wir wollen ihnen nach!“ rief ich.
Der Fürst schaltete den Ganghebel auf die vierte Geschwindigkeit ein. Das Automobil sauste stärker und lauter, schoß nach vorn und flog über den harten Sand des Pfades. In wenigen Sekunden bemerkten wir, daß das ganze Rudel nicht mehr Zeit haben würde, vor uns die Straße zu überschreiten, was uns mit einer Art grausamer Genugtuung erfüllte.
„Welche Geschwindigkeit haben wir?“ fragte ich.
„Neunzig bis hundert“, erwiderte Ettore.
Wir fühlten um unsere Gesichter einen Sturm, einen Orkan wehen. Mir kam der Gedanke, die Mauserpistole zu nehmen, um eines von den Tieren zu schießen, es dann hinten auf das Gepäck zu schnallen und im Triumph nach Urga zu schaffen. Aber ich konnte meine Absicht nicht in die Tat umsetzen. Mit überraschender Schnelligkeit hatten die Antilopen die Richtung geändert und flohen, in zwei Gruppen geteilt, von denen die eine rechts, die andere links an uns vorüberjagte. Einige Augenblicke befanden wir uns inmitten dieser seltsamen Herde, eingehüllt von dem Staube, den das Stampfen der feinen, nervigen und schnellen Hufe aufwirbelte. Von Zeit zu Zeit stürzte eines der zaghaften, vor Schreck wahnsinnigen Tiere, überschlug sich, wurde von den andern getreten oder übersprungen, richtete sich mit einem Satze auf und stürmte weiter. Wir schrien in der Aufregung der Jagd; wir schrien, weil wir in gewissen Augenblicken, die alle Roheit und Leidenschaftlichkeit in uns wiedererwecken, in die ursprüngliche Wildheit zurückfallen und weil wir keine andere Waffe besaßen als die Stimme. Da wir nicht töten konnten, vergnügten wir uns daran, zu erschrecken, und unser Geschrei steigerte den Schrecken der Opfer bis zur höchsten Todesangst. Rasch jagte dieses stürmische Durcheinander von gelben schlanken Rücken seitwärts in rasender Flucht von dannen und verschwand in der Ferne in der Steppe.
Um 10 Uhr morgens gelangten wir in eine bergige, aber leicht zu passierende Gegend. Wir verließen die mongolischen Ebenen für immer. Die Gebirge Ostsibiriens und Transbaikaliens entsandten zu uns ihre äußersten Ausläufer, ihre letzten Erhebungen. Bald kamen wir in ein Tal, das uns endgültig die grenzenlose Ausdehnung der Ebenen verbarg, die wir betäubt und unklaren Geistes verließen wie jemand, der nach einer langen Seereise das Land wieder betritt.
Jurten und Herden wurden häufiger. Wir begegneten einem Mongolen, der in rote kostbare Seide gekleidet war, begleitet von einem andern, der zerlumpt genug aussah, um für den Sklaven des ersteren zu gelten. Die beiden hatten sich ins Gras gesetzt und ruhten, wobei sie die Zügel ihrer Pferde um den Arm geschlungen hatten. Als sie uns erblickten, erhoben sie sich jäh vor Schreck und schickten sich an zu fliehen; aber es war zu spät, und einen Augenblick später fuhren wir rasch an ihnen vorbei. Als sie bemerkten, daß wir keine feindliche Absicht hatten, wagten sie uns nachzusehen und brachen in ein nichtendenwollendes Gelächter aus. Dieser Wagen, der von selbst lief, mußte auf sie wie eine überaus komische Erscheinung, wie ein heiterer Unsinn wirken, als hätten wir vergessen, die Pferde vorzuspannen, und als hätte der Wagen, noch zerstreuter als wir, sie nicht vermißt und wäre in gleichem Tempo weitergefahren! Sie lachten und krümmten sich vor Lachen, die Hände auf die Knie gestützt.
Eine ungeheuere Menge dicker Murmeltiere sprang im Grase herum; es waren ihrer Tausende, und zwar von der Art, die die Engländer „Präriehunde“ nennen. Sie liefen nach ihren Höhlen in der Erde; bevor sie sich aber versteckten, verfehlten sie nicht, uns neugierig zu betrachten, wobei sie auf den Hinterbeinen saßen, in einer komischen Stellung, die etwas Menschenähnliches an sich hat. Wenn die Höhle zu weit entfernt war, als daß die klugen Tierchen sie hätten erreichen können, fielen sie plötzlich, wie vom Blitze getroffen, um und stellten sich tot, um rasch wieder aufzuleben, sobald wir vorüber waren. Wir begrüßten die Anwesenheit der Murmeltiere mit großer Genugtuung, weil wir wußten, daß sie die Umgegend von Urga in großen Mengen bevölkern. Sie kündigten uns die Nähe der Hauptstadt der Mongolei an. Es war 11 Uhr, als wir uns am Fuße des Bogda-ola, des „Heiligen Gebirges“, befanden. Wir hatten den Tolafluß erreicht, an dessen Ufern die Stadt liegt.
Die Gipfel des Bogda-ola waren mit einem dichten, dunkeln Walde kleiner Kiefern bedeckt, der bis in die Täler und Schluchten herabreichte. Es waren die ersten Bäume, die wir nach einer Reise von etwa 1200 Kilometern zu Gesicht bekamen! Wir betrachteten sie mit hoher Freude. Wir hatten Weiden, Pappeln, Erlen dort hinten an der Grenze des alten China zurückgelassen und fanden jetzt Kiefern vor; von der vielgestaltigen Flora der gemäßigten Zone gelangten wir zu der der kalten. Der Anblick dieser Landschaft ließ uns erkennen, welche Strecke wir zurückgelegt hatten. Wir befanden uns schon inmitten einer nordischen Strenge, wir merkten, daß Sibirien nahe war.
In das weite Tal des Tola einbiegend, gewahrten wir in westlicher Richtung Urga, undeutlich wie in einem Spiegel, durchsetzt mit weißen Gebäuden, die Tempel sein mußten. Wir hatten noch einen langen Weg zurückzulegen, ehe wir die Stadt erreichten. Der Tola und ein Netz seiner Nebenflüsse kreuzen oft die Straße. Von Russen erbaute Brücken führen darüber; aber die Mongolen ziehen es vor, durchzuwaten. Schließlich folgten wir ihrem Beispiel und fuhren entschlossen in den Fluß hinein, wobei wir uns an die Spuren der Räder und Schuhe hielten und mit voller Geschwindigkeit vorwärtseilten, um nicht einzusinken. Diese Durchfahrt der großen grauen Maschine, um die herum das Wasser wie um ein Torpedoboot hoch aufspritzte, war ein eigenartiger Anblick.
Urga ist nicht eine einzelne Stadt; es gibt drei Urga: ein chinesisches, ein mongolisches und ein russisches, die mehrere Kilometer voneinander entfernt liegen. Drei große Rassen, die slawische, die mongolische und die chinesische, wohnen dicht beieinander, ohne sich jedoch zu vermischen. Es herrscht zwischen ihnen noch ein Rest jahrhundertealter Gegnerschaft. Die drei Städte scheinen von feindlichen Völkerschaften bewohnt zu sein; sie haben das Aussehen verschanzter Lager. Sie sind von sehr hohen Palissaden umgeben, wie sie in der Kriegführung der Alten üblich waren, um den Ansturm der angreifenden Reiterei zu brechen. Hohe Palissaden umgeben auch die einzelnen Häuser und Tempel. Nach außen sieht man nichts von dem Familienleben der Bewohner; die Straßen sind nichts als eintönige, düstere und gleichförmige Gänge zwischen Holzmauern.
Gefahr muß also auch heute noch bestehen; diese Verteidigungswerke können nicht lediglich traditionelle Bedeutung haben. In der Tat hat das russische Konsulat — eine Villa im sibirischen Stile, die isoliert zwischen der Chinesen- und der Mongolenstadt liegt — rings ein Glacis und Laufgräben; es ist von breiten Gräben und von Netzen aus Eisendraht, von Wolfsgruben, den modernsten und wirksamsten Annäherungshindernissen, umgeben; es hat Kanonen und eine Besatzung von transbaikalischen Kosaken. Weiterhin, gegen Westen zu, in der Nähe der Mongolenstadt, hat sich auch der tatarische General, der Tu-tung von Urga, der Kommandant der chinesischen Besatzung, in eine Festung von quadratischem Umriß eingeschlossen. Sie wird durch Erdwerke, die durch Balken verstärkt und mit Zinnen und Schießscharten versehen sind, verteidigt und an den Ecken von Militärposten bewacht. Chinesen und Russen haben sich wie in einem eroberten Lande eingenistet. Wer ist der wirkliche Herr?
Sicher nicht jener göttlich verehrte Herrscher des mongolischen Volkes, der Chutuktu, der lebende Buddha, der fast ganz abgeschlossen in einem etwas abseits gelegenen Lamakloster wohnt, zu welchem die meisten Gebäude gehören, die man aus der Ferne sieht. Buddha gefällt sich darin, ein menschliches Leben zu führen, indem er in den Körper dreier Männer eingeht — nur dreier in der ganzen Welt. Einer von diesen ist der Dalai Lama von Lhasa, der zweite der von Urga, der dritte der von Peking, das Oberhaupt von zwölfhundert Lamas des großen Tempels von Jung-ho-kung. Obgleich alle drei die Seele Buddhas besitzen, herrscht zwischen ihnen doch ein merkbarer Rangunterschied. Der von Tibet ist der am höchsten, der von Peking der am wenigsten angesehene; der Unterschied besteht in der Größe der Segenskraft. Sie werden nicht nach ihrem inneren Werte verehrt, sondern nach dem Nutzen, den sie stiften. Als vor zwei Jahren der Dalai Lama von Tibet aus Lhasa entfloh, das durch den Vormarsch der Engländer bedroht war, und sich nach Urga flüchtete, verließen die wackeren Mongolen ihren einheimischen Gott zugunsten des weit mächtigeren tibetischen. So konnte man damals das seltsame Schauspiel erbitterter Feindschaft zwischen zwei Buddhas beobachten.
Um diese in Ungnade gefallene Gottheit von Urga schlingen sich die Fäden der politischen Intrige. Ein kluger, energischer und ehrgeiziger Mann an der Spitze des mongolischen Volkes könnte der chinesischen Oberhoheit gefährlich werden. Wahrscheinlich rührt daher die seltsame Erscheinung, daß der lebende Gott niemals ein Mann, sondern stets ein Kind ist. Sich anbeten zu lassen, ist eine Aufgabe, die auch ein Kind erfüllen kann. Dieser Jüngling gelangt nie zu voller Reife. Wenn er die Schwelle des Mannesalters erreicht, stirbt er. Er stirbt unvermutet, auf geheimnisvolle Weise. Aber er hat bereits seinen Nachfolger ernannt, und ein anderes Kind besteigt den tragischen Altar. Dieser plötzliche Tod ist eines der regelmäßigsten Wunderzeichen der Gottheit: die Seele des Gottes kann nur in einem Kinde wohnen. Es geht jedoch das Gerücht, daß das heilige Kind — erdrosselt wird!
Der letzte Großlama hat das kritische Alter glücklich überstanden. Das gewohnte Wunder erleidet daher eine Verzögerung, die man durch den wirksamen Schutz erklären will, den der russische Konsul — ein geschickter Diplomat burjatischen Stammes, der dem mongolischen nahe verwandt ist — ausübt. Der Konsul ist ein vertrauter Freund des lebenden Buddha und hat freien Zutritt in die heiligen Bezirke. Der chinesische Gouverneur dagegen ist weit davon entfernt, über den Großlama die alte Macht und Autorität auszuüben; man sagt sogar, er sei diesem von Herzen zuwider. Wenn aber die lebende Gottheit noch am Leben ist, so scheint sie in einen Zustand gebracht worden zu sein, der infolge frühzeitiger Laster und des Mißbrauchs alkoholischer Getränke nahe an Idiotismus grenzt. Man kann sagen, daß wenigstens der Verstand des Großlama erdrosselt worden ist.
Sicher ist, daß man angesichts jener verschanzten Lager, der Befestigungen, der Intrigen, der grausigen Mordgeschichten, und beim Anblick seltsam gekleideter Reiter, die im Galopp durch die Straßen längs den Befestigungswerken aus Holz sprengen, den Eindruck hatte, als lebe man hier in einer mittelalterlichen asiatischen Stadt. Das plötzliche Erscheinen eines Automobils in dieser Welt bildete einen Kontrast, der etwas Widersinniges an sich hatte.
Der Großlama besitzt selbst ein Automobil, ein kleines Fahrzeug, das ihm der russische Konsul geschenkt hat, vielleicht um ihn für die Rivalität des tibetischen Buddha zu entschädigen. Das Fahrzeug hat aus eigener Kraft noch keinen einzigen Schritt gemacht. Kaum war es in Urga angekommen, so ließ der verkörperte Buddha es im Hofe von zwei Männern im Kreise herumschieben, in der Hoffnung, es werde von selbst seinen Lauf beginnen und seine Umfahrt beenden. Dann entschloß er sich dazu, einen Ochsen vorspannen zu lassen, und schickte es nach seiner Sommerresidenz, wo es verrostet, in der Erwartung, daß eine andere europäische Macht einen Chauffeur dazu schenkt.
Urga.
In der Russisch-Chinesischen Bank. — Eine seltsame Pilgerfahrt. — Der chinesische Gouverneur im Automobil. — Die Abfahrt von Urga. — Im Sumpfe steckengeblieben. — Eine unheilvolle Fahrt bergab.
Von den drei Städten Urga war die chinesische die erste, die wir bei unserer Ankunft berührten. Wir fuhren in sie ein, weil der Telegraph hineinführte. Wir hatten so sehr die Gewohnheit angenommen, den beiden Drähten überallhin mit dem größten Vertrauen zu folgen, daß wir uns von ihnen ohne Widerrede Gott weiß wohin hätten führen lassen. Die Drähte waren Chinesen, die in der chinesischen Stadt haltmachten, bevor sie ihren Weg direkt nach Norden über steile Gebirge hinweg wieder aufnahmen. Ihre Aufgabe als Führer war aber zu Ende. Sie geleiteten uns durch die engen, schmutzigen Straßen der Chinesenstadt, sprangen mit einem Satze über eine Palissadenwand und ließen uns verdutzt stehen.
Unsere Ankunft verursachte, daß die Einwohnerschaft an den Eingängen der Gehöfte zusammenlief, von denen aus wir einen raschen Blick in die Höfe, die gedrängt voller Kisten, Kamele und Kinder waren, auf chinesische Häuser mit Gittern in verwickelten geometrischen Figuren und auf kleine buntbemalte, in die Augen fallende Tempel werfen konnten. Hinter den barbarischen Verteidigungswerken aus Balken bemerkten wir Anzeichen von Wohlstand und Fleiß. Die Bewohner beschäftigen sich sämtlich mit Großhandel; sie sind durch den Handel mit Tee, Wolle, Fellen, Pferden reich geworden und veranstalten regelmäßige Karawanenreisen; sie sind Eigentümer von Hunderten von Kamelen und Ochsen. Sicherlich waren sie von unserer Ankunft unterrichtet; sie betrachteten uns neugierig, aber nicht verwundert; der Telegraph hatte die Kunde von dem Ki-tscho bereits verbreitet, und die Berührung mit den Russen, die beständigen Beziehungen zur Welt des Westens haben den bezopften Einwanderern einen praktischen Sinn eingeflößt, der sie das Automobil von einem durchaus vernünftigen Gesichtspunkte aus betrachten ließ. Einige fragten, ob wir geradenwegs von Tauerin kämen, und wandten sich bei unserer bejahenden Antwort zu den übrigen, um dies Ereignis mit ihnen angelegentlichst zu erörtern.
Auf den Straßen der Chinesenstadt erblickten wir auch die ersten nordmongolischen Frauen, deren Kopfputz so auffallend und so neu für uns war, daß wir uns nicht enthalten konnten, sie mit indiskreter Beharrlichkeit zu betrachten. Zweifellos ist es den verheirateten Frauen der nördlichen Mongolei gelungen, aus ihrem Kopfhaar das originellste Meisterwerk herzustellen, das sich von der vereinten Phantasie von hundert Frauengenerationen ersinnen läßt.
Die Haare fallen zu beiden Seiten des Gesichts in zwei flachen, auf das reichlichste mit Gummi zusammengeklebten Streifen herunter, die in nichts mehr nach Haaren aussehen; sie gleichen zwei riesigen schwarzen, zurückgebogenen, das Gesicht umrahmenden Netzen, die einen solchen Umfang besitzen, daß sie beinahe Schulterbreite erreichen, und die auf der Brust spitz auslaufen. Die Netze werden durch eine Menge Stäbe auseinandergehalten, die wie die eines Fächers angeordnet sind und ein seltsames Gitterwerk um das Gesicht herum bilden; sie sind mit hin und her schwingenden größeren und kleineren Silbermünzen bedeckt, unter denen wir eine Anzahl russischer Zehn- und Zwanzigkopekenstücke erkennen, ein neues Zeichen der Nähe des Moskowiterreiches. Selbstverständlich wird ein Kopfputz von solcher Kompliziertheit nur einmal im Leben angefertigt; vor der Hochzeit überläßt die Braut ihren Kopf den geschickten Händen eines Künstlers und beschränkt sich dann auf die Tätigkeit des Erhaltens; sie stäubt ihre Netze von Zeit zu Zeit aus und bestreicht sie, wenn es nötig ist, von neuem mit Gummi. Die Gefahr, daß der Gebrauch eines Bades den Bestand dieser Haarphantasie schädigen könne, besteht nicht.
Gerade in dem Augenblicke, als wir nicht wußten, wohin wir uns wenden sollten, und die Leute nach der Russisch-Chinesischen Bank fragten, wo wir erwartet wurden, kam ein chinesischer Soldat im Galopp angesprengt, um uns den Weg zu zeigen. Wir kamen an einer Reihe kleiner weißer Pagoden im tibetischen Stile vorüber, die entfernte Ähnlichkeit mit den Kegeln eines riesenhaften Billardspieles hatten. Als wir ins Freie traten, erblickten wir auf dem Gipfel eines Hügels einen prachtvollen europäischen Palast! Meine Feder vermag es nicht zu schildern, welche Überraschung und Freude uns durchzuckte, als wir dieses mitten in die Mongolei gefallene winzige Stück Europa erblickten. Es war, als habe sich unser eigenes Heim unseren Blicken dargeboten. Wir wußten noch nicht, was für ein Gebäude es war, das drei bis vier Kilometer von uns entfernt lag, umgeben von niedrigeren Baulichkeiten, dem Anschein nach Schuppen und Ställe. Aber für uns war es ein freundlicher Anblick. Bald lasen wir in großen Buchstaben in vier Sprachen die Inschrift: „Russisch-Chinesische Bank.“ Wir fuhren vor und ließen triumphierend und mit begeisterter Beharrlichkeit die Hupe ertönen.
Am Eingangsgitter stand ein Tarantaß; zwei Kosaken kamen die Straße entlang und blieben stehen, um uns zu betrachten. Wir begrüßten sie mit überströmender Freundlichkeit. Aus einem Pförtchen streckte ein bärtiger Muschik seinen Kopf heraus, um ihn aber sofort wieder zurückzuziehen, wohl in der Absicht, unsere Ankunft zu melden.
„Wir sind ja bereits in Sibirien!“ riefen wir und beglückwünschten einander, als ob die Reise zu Ende sei.
Geräuschvoll tat sich das Tor der Bank auf, und heraus stürzte ein sympathisch aussehender Herr, Herr Stepanoff, der Direktor dieser Filiale, um uns freudig zu begrüßen. Er konnte aber eine gewisse Überraschung nicht verbergen, daß er uns als die Ersten ankommen sah.
„Das ist ja die italienische Flagge!“ rief er, während er sie betrachtete, die am Hinterteil des Automobils lustig im Winde flatterte — „wahrhaftig. Herzlich willkommen, Durchlaucht! Seien Sie alle herzlich willkommen! Aufrichtig gesagt, ich habe Sie nicht erwartet. Ich kenne die Wüste, und Ihre Maschine hielt ich für zu schwer. Ich hätte gedacht, Sie wären zurückgeblieben. Ich war überzeugt, daß die leichteren Maschinen größere Chancen hätten.... Noch einmal, willkommen! Hier herein, hier herein, alles steht zu Ihrem Empfange bereit!“
Es stand in der Tat alles auf das wundervollste eingerichtet bereit. Eine ganze Zimmerflucht wurde uns zur Verfügung gestellt. Russische, französische und italienische Flaggen schmückten die Treppen. In einem großen Salon funkelte eine lange gedeckte Tafel mit 20 bis 30 Kuverts, mit Aufsätzen voll Konfekt, mit schimmernden, kunstvoll gefalteten Servietten: ein prächtiges Panorama von Kristall und Porzellan, das uns Ausrufe des Erstaunens und Wohlbehagens entlockte.
„Ich werde sofort das Komitee benachrichtigen“, erklärte unser Wirt, indem er uns nach unseren Zimmern geleitete.
„Das Komitee?“
„Ja, das russische Komitee zum Empfange der Teilnehmer an der Fahrt Peking–Paris. Es sollte sich zu Ihrem Empfange hier einfinden, aber wir glaubten nicht, daß Sie vor Abend eintreffen könnten. Man hat uns von Tauerin telegraphiert, daß ein Automobil heute früh um ½7 abgefahren sei. Es sind über 250 Kilometer! Entschuldigen Sie uns, wenn der Empfang vereitelt worden ist.“
Es bestand ein Komitee! Wir befanden uns mitten in der Zivilisation des Westens! Wir gedachten in Dankbarkeit der wackeren Männer, die sich zusammengetan hatten, um uns zu feiern, um uns Erholung von unseren Mühen zu verschaffen, die unsertwegen Zusammenkünfte mit Diskussionen und Tagesordnungen abgehalten hatten! Herr Stepanoff war der Vorsitzende und die Seele des Komitees.
In Urga begann die unvergeßliche Reihe herzlicher, aufrichtig gemeinter großer und kleiner Empfänge, die uns auf der ganzen riesenhaften Reise beständig die Wohltat freundschaftlicher Sympathien boten, die uns die Tore der Paläste und die Türen der Hütten erschlossen, die uns überall die erquickende Atmosphäre wahrer Gastfreundschaft atmen ließen, jener Gastfreundschaft, welche sagt: „Komm herein, mein Haus ist dein!“
Aus den Fenstern unserer Zimmer hatten wir die Aussicht auf das ganze Tal des Tola und die in ihm verstreut liegenden Städte. Der Bogda-ola lag uns gegenüber, hoch und breit, mit seinem imponierenden schwarzen Haupte voller Kiefern. Die Legende behauptet, auf diesem Gipfel befinde sich das Grab Dschingis Chans. Ein prächtiges Grab für einen Zwingherrn!
Vielleicht ist es diese Legende, die den Berg zu einem heiligen macht. Bäume auf ihm zu fällen und dort zu jagen, gilt als Heiligtumsschändung. Niemand besteigt ihn, um den Schlummer des großen Kaisers nicht zu stören. Wenn man die Mongolen nach dem Grunde fragt, weswegen sie den Bogda-ola nicht betreten, so antworten sie, der Berg sei von Gott zu seinem eigenen Vergnügen geschaffen worden; er allein besuche ihn, um sich hier dem Genusse des Lustwandelns und der Jagd hinzugeben. Nach ihrer Auffassung ist der Berg ein Privatgarten der Gottheit. Wie alle auf einer tiefen Stufe der Kultur stehenden Bewohner weiter Ebenen hegen sie für Berge eine Art religiöser Verehrung. Auf den Gipfeln der Anhöhen errichten sie ihre Obos; sie steigen hinauf, um zu beten; jede Bodenerhebung ist zu dem Zweck geschaffen, die Erde dem Himmel näherzubringen. Der Bogda-ola ist der höchste Berg, folglich ist er der heiligste. Und auf ihm steht ein Wald: ein eindrucksvolles Mysterium für den Sohn der Steppe. In der Mongolei besteht eine Art Kultus für die Bäume, weil sie selten sind. Wer weiß, welche unbestimmte Ehrfurcht die fremdartige, aus dem Boden emporsprießende Gestalt des Baumes in dem einfachen Gemüte des Nomaden erweckt. Oft wird er als Fetisch angebetet, und wir haben häufig, und zwar bis ins südliche Sibirien hinein, solche vergötterte Bäume gesehen, an deren Zweigen ungezählte Papierstreifen mit Gebeten flatterten.
Die „Itala“ war das Ziel einer unablässigen, ganz unglaublichen Pilgerfahrt. Die Nachricht von ihrer Ankunft hatte das ganze Tal des Tola in Aufregung versetzt. Es kamen Leute aus den drei Städten, und es kamen solche aus weit entfernten Jurtenlagern. Die Chinesen hatten als praktische Leute einen regelrechten Wagenverkehr mit Maultieren eingerichtet, um die Neugierigen, die den Ki-tscho sehen wollten, nach Urga und zurück zu ihren Palissadengehöften zu befördern. Man sah diese sonderbaren Gefährte, die schon etwas der russischen Telega glichen, zu fünf, mitunter zu sechs ankommen, besetzt mit Leuten, die sich festlich gekleidet hatten wie zu einer feierlichen Gelegenheit. Es fehlten auch die wirklichen Telegas nicht, die aus der russischen Stadt heraufkamen und bei den lebhaften Farben der slawischen Kostüme einen Anstrich von Fröhlichkeit hatten. Eine große Menge Mongolen strömte zu Fuß und zu Pferd von allen Seiten herbei: Lamas in violetter und gelber Seide und mit pagodenähnlichen Hüten, Karawanenführer, Hirten. In Scharen kamen lachende, geschwätzige Frauen, große Stiefel an den Füßen und die Last ihres Kopfputzes mit sich tragend, der den Eindruck eines um den Kopf gelegten Halskragens à la Medici machte. Von Zeit zu Zeit bahnte sich ein Kosak seinen Weg durch die Menge und unternahm eine Rekognoszierungstour um das Automobil.
Diese ganze Menge stand respektvoll und bewundernd um das Fahrzeug wie vor einem heiligen Mysterium. Die mongolische Bevölkerung von Urga war seit mehreren Tagen durch die eingeborenen Agenten der Bank von der bevorstehenden Ankunft von Wagen, die von selbst liefen, unterrichtet worden. Man hatte sie auf diese Weise vorbereiten wollen, um jedem möglichen Ausbruch des Fanatismus und des Aberglaubens vorzubeugen, der durch die unerwartete Ankunft so seltsamer Maschinen in der heiligen Stadt des Lamaismus hätte hervorgerufen werden können. Täglich erhielt die Bank Besuche von Mongolen, welche kamen, um Nachrichten über die von selbst laufenden Wagen einzuholen. Ihre Fragen waren von erheiternder Naivität. Sie glaubten, diese wunderbaren Wagen führen nicht auf der Erde, sondern durch die Luft. Sie wollten wissen, in welcher Entfernung man sie ohne Gefahr betrachten dürfe; sie fragten, ob es nicht unvorsichtig sei, sich vor sie hinzustellen, wenn sie stillständen. Die verbreitetste Meinung war, daß diese Wagen von einem unsichtbaren geflügelten Roß gezogen würden.
„Wie machen es aber die Fremden, um das geflügelte Roß zu lenken?“ fragten sie Herrn Stepanoff, nachdem sie unverdrossen den sinnreichsten Erklärungen gelauscht hatten, die sie überzeugen sollten, daß kein Pferd vorhanden sei.
Die primitiven Völker leben in einer Märchenwelt; sie erklären alles mit Hilfe des Unsichtbaren; ihre Unwissenheit sieht in jedem Dinge ein Geheimnis und in jedem Geheimnis eine verborgene Kraft; das Geheimnisvolle erklären sie sich als eine natürliche Kraft, und diese setzt sie nicht in Erstaunen. Sie glauben an das geflügelte Roß, aber sie sind nicht imstande, an eine komplizierte Schöpfung des menschlichen Geistes zu glauben. In ihrem Geiste ist das Unglaubliche Wahrheit, die Wahrheit aber unglaublich.
Wir wissen nicht, inwieweit der Anblick unserer Maschine die vorgefaßten Meinungen der Bürger von Urga über das Automobilwesen berichtigt hat. Sicher ist, daß die Menge die „Itala“ von allen Seiten bewundernd umdrängte, vor ihr aber freie Bahn ließ; auch die Chinesen beobachteten diese weise Vorsichtsmaßregel. Die Mongolen gaben dem Automobil den Namen „die fliegende Maschine“. Es ist auch möglich, daß die Kunde von ihr sich an den Schritt des Kamels heftet und zu den fernsten Stämmen in Form einer neuen Legende gelangt. Auch der Großlama hatte sich lebhaft für unsere bevorstehende Ankunft interessiert. Es wurde sofort ein berittener Kurier zu ihm geschickt.
Am Nachmittag stattete uns der chinesische Gouverneur seinen Besuch ab. Eine Stafette kam im Galopp angesprengt, um ihn anzumelden. Kurze Zeit darauf erschien auf der sonnigen Straße, in eine Staubwolke gehüllt, das Gefolge des hohen Würdenträgers. Die Sänfte wurde von vier berittenen Mongolen mit erstaunlicher Geschicklichkeit getragen; die Stangen der Sänfte waren über die Sättel gelegt, und die vier Träger galoppierten unter genauer Einhaltung der richtigen Entfernung. Wäre einer von ihnen auch nur um Handbreite aus der Reihe gewichen, so hätte der arme Gouverneur samt seiner Sänfte ein wenig würdevolles Ende gefunden. Eine Schar von mongolischen und chinesischen Soldaten, von Offizieren und von Würdenträgern ritt dem erlauchten Mandarin voraus und folgte ihm. Es lag ein primitiver Adel und Stolz über dieser buntgekleideten Gruppe, die wie eine Windsbraut dahergejagt kam. Nichts gleicht an kriegerischem Ausdruck dem Gesicht des mongolischen Soldaten mit seinem lang herabhängenden Knebelbarte.
Der Gouverneur war trotz des furchtbaren Gefolges, mit dem er sich umgab, der feinste und wohlwollendste Chinese. Als vollendeter Diplomat sprach er, ohne etwas zu sagen, lächelte allen zu, lachte über alles, nahm Tee und entfernte sich wieder mit seiner Sänfte und seiner dahinsprengenden Eskorte.
Auch einen Besuch des tatarischen Generals empfingen wir. Besonders tiefen Eindruck machte auf diesen die Mitteilung, daß unser Automobil die Kraft von 50 Pferden habe. Zum Teufel, wir hatten ja beinahe mehr Kavallerie als er! Eine schwierige militärische Frage türmte sich vor dem Geiste des tatarischen Generals auf, ein Zweifel quälte ihn: existierte in Europa eine auf Automobilen reitende Kavallerie? Wenn sie existierte, so waren alle tatarischen Generale, die mit der Bewachung der Grenzen des Himmlischen Reiches betraut waren, völlig unnütz. Zehn Automobile hätten die Mongolei in vier Tagen eingenommen. Wir beruhigten ihn dahin, daß eine auf Dampfpferden reitende Kavallerie nicht existiere. Er war davon sehr befriedigt.
Am Abend hielt ein mongolischer Beamter, der einen Handwagen zog — die mongolischen Beamten sind bescheidene Leute —, am Tore der Bank und überreichte ein rotes Papier, auf dem chinesische Schriftzeichen standen. Es war die Visitenkarte des Gouverneurs; sie begleitete Geschenke. Diese Geschenke standen auf dem Wagen und weigerten sich hartnäckig abzusteigen: es waren zwei prächtige Hammel, die der Mann schließlich zum Gehorsam zwang; außer den Hammeln sandte der Gouverneur noch einige Flaschen russischen Wein und Büchsen mit Konserven. Nachdem der mongolische Beamte, der einen Hut mit dem Knopfe eines Mandarinen sechster Klasse trug, alles auf die Erde gestellt hatte, ersuchte er uns, festzustellen, daß der Wagen leer sei und daß er nichts veruntreut habe. Dies bescheinigten wir ihm.
In Urga fanden wir unser drittes Depot an Benzin und Öl vor, das letzte in der Mongolei, das durch eine Karawane von Peking hierhergebracht worden war.
In Kiachta sollten wir das vierte Depot finden, das durch Sibirien dorthingeschafft worden sein sollte. War es eingetroffen? Würde keine Verzögerung, kein Irrtum Veranlassung geben, daß wir unterwegs aus Mangel an Brenn- und Schmiermaterial stilliegen müßten? Diese Fragen erwogen wir mit einer gewissen Beklemmung. Uns fehlten Nachrichten. Der Fürst hatte in Peking ein Telegramm aus Petersburg erhalten, in dem ihm angezeigt wurde, daß er in Kiachta ein Verzeichnis der Depotstationen und der Menge Benzin und Öl finden würde, die an jedem Haltepunkte zu seiner Verfügung ständen. Wir hatten Bedenken, und die Tatsachen sollten uns recht geben.
In Urga wurden sämtliche Behälter nachgefüllt, ohne daß uns das große Gewicht Sorge machte, da wir auf diese Weise die Kraft für weitere tausend Kilometer aufspeicherten. Nachmittags kam Ettore und meldete, die Maschine sei bereit, die Fahrt wieder aufzunehmen. Er hatte ein einziges Wort, mit dem er dies alles ausdrückte:
„Fertig!“
„Alles in Ordnung?“ fragte ihn der Fürst.
„In bester Ordnung. Ich habe alles nachgesehen. Die Maschine ist noch so gut wie neu.“
Wir mußten nun noch auf die andern warten. Urga machte uns übrigens das Warten angenehm. Das Komitee leistete uns in liebenswürdigster Weise Gesellschaft. Es gehörten dazu Kosakenoffiziere, ein vom Kriegsschauplatz in der Mandschurei zurückgekehrter Stabsarzt, Kaufleute, Damen, die sich nach dem Petersburger und Moskauer Leben zurücksehnten. Auch ein Engländer von vornehmem Aussehen befand sich darunter; ich hätte ihn für einen Diplomaten gehalten, wenn man mir nicht versichert hätte, daß er ein geschickter Pionier des Woll- und Rauchwarenhandels sei.
Oft ließ ich mir ein Pferd satteln (die Ställe standen zu unserer Verfügung) und ritt, auf dem hohen Kosakensattel thronend, nach dem Telegraphenamt in der Chinesenstadt, um meine Depeschen aufzugeben und Nachrichten von unseren Kollegen einzuziehen. Am Abend erfuhr ich, daß die beiden „de Dion-Bouton“ nachmittags 5 Uhr in Tauerin eingetroffen seien; sie würden morgen in Urga sein. Keine Nachricht vom „Spyker“! Weder Pang-kiang noch Udde wußten etwas. Seit drei Tagen und zwei Nächten war der „Spyker“ also in der Wüste verschollen; der Mongole mit dem in Lumpen verpackten Telegramm und seinem mit Benzin beladenen Kamele hatte ihn noch nicht getroffen. Auf dem „Spyker“ befanden sich mein lieber Kollege Du Taillis und als Führer Godard. Wir hatten mit der Wüste erst vor kurzem Erfahrungen gemacht, die uns jeden Augenblick mit einem Gefühl der tiefsten Besorgnis an die beiden denken ließ. Zu der Vorstellung von ihrem Leiden gesellte sich ein anderer quälender Gedanke. Wir wußten, daß sie befreit werden würden, daß man ihnen am Morgen des 19. Juni aus Udde Soldaten zu Hilfe geschickt hatte, die sich ihnen von Stunde zu Stunde näherten. Aber, fragten wir uns, wußten auch sie es? Hatten sie die Gewißheit, daß die Befreiung nahe war? Welche Angst und welche Pein konnte nicht dieser Zweifel ihren physischen Leiden hinzufügen? Man ist tapfer, wenn man keine Sorgen hat. Wer konnte sie aber von ihren Sorgen befreien? Was würde ich darum geben, wenn ich ihnen auch nur ein Wort durch jene Drähte zukommen lassen könnte, die wenige Meter über ihren Köpfen hinliefen und die Tausende meiner Worte einer Zeitung überbrachten. Wir waren daher sehr erfreut, als wir am folgenden Tage von Udde die Mitteilung erhielten: „Spyker wohlbehalten angelangt.“
Der 22. Juni wurde von uns der Erwiderung der Besuche gewidmet. Wir begaben uns in die Festung, in der der tatarische General seine Autorität verschanzt hatte, und tranken einige Tassen Tee in Gegenwart des erlauchten Kriegers, der Gala angelegt hatte und von seinem Generalstabe von federbuschgeschmückten Mongolen umgeben war. Der Gouverneur empfing uns in seinem Amtsgebäude und bat den Fürsten um eine große Gunst. Wir erwarteten von einem echten Mandarinen, vom Generalgouverneur der Mongolei, nicht eine Bitte, wie er sie äußerte. Sie stellte alle Anschauungen, die wir uns von China gebildet hatten, alle weitverbreiteten Ansichten über das Mandarinentum auf den Kopf; sie war die Rehabilitation des Wai-wu-pu; sie eröffnete der Zukunft des Himmlischen Reiches neue Horizonte. Seine Exzellenz baten — das Automobil einmal benutzen zu dürfen!
„Von Herzen gern!“ rief Fürst Borghese mit Begeisterung. „Und wohin?“
Es war gleichgültig wohin. Der Gouverneur wollte nur im Automobil fahren, eine Rundfahrt durch die Straßen von Urga machen. Ich kann mich täuschen, aber ich glaube, es kam ihm vor allem darauf an, sich auf dem Zauberwagen sehen zu lassen. Dies konnte seinem Ansehen zugute kommen.
Das Automobil stand vor dem Tore. Der Mandarin in seiner Prachtkleidung, mit den übermäßig langen Ärmeln aus Seide, die seine Hände bedeckten, auf dem mit zwei Pfauenfedern geschmückten Hute den Korallenknopf, das Abzeichen des höchsten Grades, unternahm erst einen Inspektionsgang rund um die Maschine, dann stieg er auf, während der Fürst das Steuerrad ergriff und Ettore sich auf den Tritt setzte. Die Nachricht von der Fahrt hatte sich verbreitet. Leute liefen herbei. Alle mongolischen Offiziere und die Soldaten mit den Knebelbärten betrachteten voller Entsetzen ihren Vorgesetzten, uns aber mit einem gewissen Mißtrauen.
Die „Itala“ fuhr ab. Sie beschrieb einen weiten Bogen vor dem Fu, dem Amtsgebäude, um über eine kleine Brücke zu kommen, und eilte dann auf und davon. Der Gouverneur der Mongolei hatte sich fest an die Seitenlehnen des Sitzes angeklammert, schien aber entzückt zu sein. Sein Zopf pendelte in dem scharfen Luftzuge lustig hin und her. Die Leute des Gefolges hatten vielleicht den Eindruck, man wolle ihren Herrn entführen, denn sie stürzten auf ihre an die Palissadenwand gebundenen Pferde, sprangen in den Sattel und jagten mit lautem Geschrei hinter der Maschine her. Ihnen schloß sich an, wer ein Pferd zur Hand hatte, und Pferde gibt es hier überall. Von allen Seiten her erschienen Reiter: Lamas, Soldaten, Steppenbewohner. Sie kamen zu spät, das Automobil war verschwunden; aber sie kehrten ebensowenig um wie die andern Berittenen, sondern spornten die Tiere durch lautes Schreien an. Nur wenigen, besser berittenen Offizieren gelang es jedoch, in der Nähe des Wagens zu bleiben. Wie bei einer großen Jagd folgte die unbeschreibliche Reiterschar, das „wilde Heer“, in gestrecktem Galopp. Sie verschwand in dem Staube und ergoß sich unter Lärmen und Tosen in die Straßen. Viele Pferde trugen zwei Reiter. Fröhliches Geschrei erscholl ringsum; der Ritt war nur ein Spiel, aber der Auftritt hatte ganz den Anschein eines Ausbruchs der Volkswut. Es war, als sei Urga von einem siegreichen Barbarenheere überschwemmt, eine Vision aus vergangenen Zeiten, der die Palissadenwerke einen kriegerischen Hintergrund verliehen. Man hätte sagen können, die Vergangenheit verfolge wütend jenes kleine Ding, das ohne Pferde davonraste.
Der Gouverneur wollte bis zur Russisch-Chinesischen Bank fahren, von wo ihn seine Sänfte wieder nach Hause zurückbringen sollte. Die Spazierfahrt hatte übrigens eine unerwartete politische Folge. Am Abend schickte der lebende Buddha zu uns, um uns sagen zu lassen, daß er uns erst in einigen Tagen zu wissen tun werde, ob er uns die Freude, ihn zu sehen, gewähren würde oder nicht.
„Aber wie ist das möglich!“ riefen wir, „er hatte doch so dringendes Verlangen nach uns.“
„Ah, ich verstehe,“ flüsterte uns jemand zu, „er ist verschnupft.“
„Wer? der lebende Buddha? Und warum?“
„Wegen der Fahrt des Gouverneurs.“
„Ist es möglich?“
„Ganz bestimmt. Er beansprucht den Vorrang und ist dem Gouverneur feindlich gesinnt.“
„Wir haben also seine Sympathie verscherzt?“
„Unwiederbringlich.“
„Schade! Wir wollten auch ihn im Automobil fahren.“
Aber wir fanden uns mit seiner Ungnade leicht ab.
Am Nachmittage dieses Tages trafen die beiden „de Dion-Bouton“ in Urga ein. Cormier, Colignon, Longoni und Bizac hatten in der Wüste dieselbe vollständige Veränderung ihres Gesichts wie wir durchzumachen gehabt, obgleich sie durch ein bequemes Zeltdach geschützt waren. Ihre Maschinen befanden sich vollkommen in Ordnung. Der „Spyker“, der an diesem Nachmittag Udde erreicht hatte, hätte noch zwei Tage gebraucht, ehe er eingetroffen wäre.
Wir hatten einen Grund, der uns zur Abreise trieb: der Übergang über den Irofluß, etwa 60 Kilometer südlich von Kiachta. Der Iro ist nur in Zeiten der Trockenheit zu durchwaten; es genügt ein Regen, um ihn in ein unüberwindliches Hindernis zu verwandeln. Auf dem Iro liegt ein Fährboot, aber nicht an der Straße, die wir benutzen mußten. Ein russischer Kaufmann, der von Kiachta kam, teilte uns mit, daß die Tiefe des Wassers jetzt ungefähr 120 Zentimeter betrage; es war dies sehr viel für ein Automobil, und es war nicht wünschenswert, daß die Tiefe noch zunähme. Unter diesen Umständen erschien uns der Übergang als eine schwere Aufgabe. Das Wetter drohte jetzt schlecht zu werden. Die Wolken, die uns den Tag zuvor solche Freude bereitet hatten, nahmen übermäßig zu. Der Fürst entschied sich zur Abfahrt am folgenden Morgen, 23. Juni. Die „de Dion-Bouton“ blieben noch einen Tag in Urga, die „Itala“ wollte einen ganzen Tag in Kiachta warten.
Am Abend waren sämtliche Privaträume der Russisch-Chinesischen Bank festlich erleuchtet. Die große, im Speisesaal angerichtete Tafel, überflutet von dem Lichte der Armleuchter, trat feierlich in Tätigkeit. Das Komitee hatte in einer vollzählig besuchten Versammlung beschlossen, uns ein Galadiner zu geben. Wir hätten darauf geschworen, weit von der Hauptstadt der Mongolei zu sein und die Grenzen Europas schon wieder überschritten zu haben, hätte nicht die Anwesenheit der chinesischen Boys, die bei Tische bedienten, uns jeden Augenblick an den Ort, wo wir uns befanden, erinnert. Die Unterhaltung, die französisch, russisch und deutsch geführt wurde, schwirrte durcheinander und erzeugte ein angenehmes babylonisches Sprachengewirr, wie es bei Banketten üblich ist, bei denen die Menschen, die da sprechen, stets in erdrückender Mehrheit denen gegenüber sind, die zuhören. Ich gehörte zur Minderheit. Ich hörte meiner Nachbarin, der Gattin des Stabsarztes, zu, die mir ihre Reise von Kiachta nach Urga beschrieb und mit den Worten schloß:
„Ich weiß nicht, wie Sie es mit Ihrem Automobil anstellen werden, um durchzukommen.“
„Wir haben aber doch die Wüste Gobi durchquert!“
„Ich kenne die Gobi nicht, Gott sei Dank, aber ich wiederhole Ihnen, daß der Weg nach Kiachta der schaudervollste ist, den ich in meinem Leben angetroffen habe, und ich bin in der Mandschurei gewesen! Denken Sie, vier volle Stunden, vier Stunden im Sumpfe steckengeblieben, ohne den eingesunkenen Tarantaß freibekommen zu können, dabei die Aussicht, den Weg zu Fuß fortsetzen zu müssen. Ich habe Ihnen diese Episode bereits geschildert. Wir waren noch 10 Kilometer von Urga entfernt, und es war das viertemal, daß wir versanken ...“
„War das Wetter schlecht?“
„Es war ausgezeichnet, wie jetzt. Sie werden sich mit Ihren eigenen Augen davon überzeugen, wie fürchterlich diese Straße ist.“
„Hoffen wir das Gegenteil, gnädige Frau!“
Ich lächelte überlegen. Die Erzählung dieser schrecklichen Reiseabenteuer ließ mich völlig kühl. Die weibliche Empfindsamkeit führt mitunter zu unbewußter Übertreibung. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, wie sehr meine Tischnachbarin recht hatte! Ich hätte in jenem Augenblick nie geglaubt, daß die Straße zwischen Urga und Kiachta in uns Sehnsucht nach der Wüste erwecken würde und daß wir wenige Stunden nach dieser Unterredung für die Sicherheit unserer Maschine zittern mußten!
Wir verließen die Bank bei Tagesanbruch mit aller Vorsicht, um niemand in dieser zum Schlummern so süßen Stunde zu stören. In der Tat machten wir den Eindruck, als hätten wir den Geldschrank geraubt und schlichen uns auf Strümpfen davon. Wie alle russischen Banken, so schien auch die von Urga einen Handstreich der revolutionären „Expropriateure“ zu befürchten; denn zur Nachtzeit wurde sie von außen durch die Kosaken des Konsulats bewacht. Diese wackeren Burschen betrachteten uns bei der Abfahrt mit augenscheinlicher Unsicherheit; es schien, als wüßten sie nicht, sollten sie uns grüßen oder Alarm schlagen. Sie entschieden sich für den Gruß. Wir fuhren der Mongolenstadt zu, von der aus der Weg nach Kiachta abbiegt.
Es war nicht leicht, den Weg zu finden. Es fehlte uns jetzt die Telegraphenlinie, jener bequeme Ariadnefaden, der uns 1200 Kilometer weit geleitet hatte, und die mongolischen Frühaufsteher, denen wir begegneten, nahmen Reißaus, sobald wir das Automobil zum Stehen brachten, um sie zu fragen. Zum Glück hatten wir uns auf der Bank mit einem Beutel kleiner russischer Münzen versehen, und dadurch, daß wir ein silbernes Zwanzigkopekenstück zeigten, gelang es uns wie durch Zaubermacht, die Flucht der Ausreißer zu hemmen. Der Fürst konnte sich mit seinem Russisch, ich mit meinem Chinesisch etwas verständlich machen, und so fragte er nach dem Wege nach Kiachta, ich nach dem nach Maimatschen. Wir wandten uns nach Norden, ließen Urga hinter uns und gelangten in ein weites, grünes Tal auf undeutlich erkennbaren Pfaden, die launenhaft zwischen Grasbüscheln durcheinanderliefen und zuweilen ganz verschwanden.
Noch waren wir nicht eine Viertelstunde unterwegs, als das Automobil plötzlich stillstand und sich ganz nach links neigte.
Der Motor fuhr fort zu arbeiten und hämmerte stürmisch, indem er zugleich unter heftigem Getöse Wolken weißen, beizenden Rauches ausstieß; es war, als ahne er eine Gefahr und biete mit entschlossener Anstrengung all seine gewaltige Kraft auf, um sich loszumachen. Aber wir saßen fest. Als wir uns vorneigten, bemerkten wir, daß die linken Räder in den Boden eingesunken waren. Das Hinterrad fuhr fort, sich wirbelnd zu drehen, als versuche es, aus der Vertiefung mit verzweifelter Geschwindigkeit herauszukommen. Es lag etwas wie Erbitterung in jener wütenden Kraftanstrengung der großen Maschine.
„Halt, halt!“ rief Ettore, als er bemerkte, daß der Umschwung des Rades den Morast aushöhlte. „Wir sinken tiefer!“
Der Motor schwieg, und einige Minuten lang betrachteten wir schweigend die Lage des Automobils und überlegten, auf welche Weise wir es freibekommen könnten. Es war nach links dermaßen eingesunken, daß die Achsen der Räder und der Benzinbehälter den Boden berührten. Was war zu tun? Wie sollten wir drei ein Gewicht von 2000 Kilo heben und an eine andere Stelle schaffen? Wir versuchten, den Motor wiederum in Bewegung zu setzen und ihn dadurch zu unterstützen, daß wir mit aller unserer Kraft das Automobil schoben. Vergebliches Beginnen! Es würden dazu vielleicht nicht einmal alle Kulis, die wir in Kalgan zurückgelassen hatten, ausgereicht haben.
Vor allem war es dringend notwendig, den eingesunkenen Teil zu heben, weil das Automobil dadurch, daß es sich ganz auf die Seite legte, die rechte Feder und das rechte Hinterrad übermäßig belastete, so daß die Gefahr drohte, die eine oder das andere könnte brechen. Ettore machte sich mit den Winden an die Arbeit, aber diese versanken in dem weichen Erdreich. Um sie zu stützen, gehörten Bretter dazu. Wir entnahmen diese dem Boden der Karosserie; die Bretter krachten, zerbrachen und versanken.
Da kam uns eine Idee: die ganze Strecke um die Räder und unter dem Automobil auszugraben, um auf diese Weise eine schiefe Ebene herzustellen, auf der sich die Maschine mit ihrer eigenen Kraft leicht herausarbeiten könnte. Unverdrossen machten wir uns mit gewaltigen Spatenstichen an die Arbeit, wobei wir uns ablösten, sobald einer müde war.
Nach einigen Minuten fieberhafter, schweigender Tätigkeit bemerkten wir mit Entsetzen, daß wir unserer Maschine das Grab schaufelten. Je mehr wir den Raum um die Räder breiter machten, desto mehr sanken sie ein. Es war der seitliche Druck des Erdbodens, der sie stützte und den wir wegnahmen, kein fester Grund. Es gab überhaupt keinen Grund. Der Morast wurde in der Tiefe weicher und flüssiger. Das Ganze war ein Teich voll Morast mit einer einigermaßen festen Decke, und diese Decke hatten die beiden Räder eingedrückt: dies war die Lage der Dinge!
Inzwischen hatte sich das Rad der höherliegenden Seite dermaßen gesenkt, daß es an die Karosserie anstieß und alle Augenblicke ein drohendes Knirschen hören ließ. Ich bat die Gattin des Stabsarztes, deren Erzählung ich mit solchem Skeptizismus aufgenommen hatte, im stillen um Verzeihung. Wir mußten uns dicht an der Stelle befinden, an der ihr Tarantaß steckengeblieben war, und ein Tarantaß wiegt nicht den zehnten Teil eines Automobils.
Wir sagten uns, daß Urga in der Nähe sei, wenig mehr als eine Stunde Weges entfernt, daß wir in drei Stunden mit einer Schar von Menschen, mit einer Ladung von Brettern und Balken, mit Pferden zurück sein könnten... Aber wir konnten uns nicht dazu entschließen, Hilfe zu holen. Es handelte sich um eine Frage des Ehrgeizes, eine ehrenhafte Schwäche. Wir stellten uns vor, wie einer von uns, zu Fuß, ermattet, beschmutzt nach der Bank zurückkehrte, wir stellten uns das Erstaunen unserer Gastfreunde vor, die Erzählung des Unglücksfalls und das Eingeständnis unserer Ohnmacht, die großmütigen Anerbietungen von Hilfe, die Menschen, welche kamen, um das besiegte Automobil zu sehen — dasselbe Automobil, das mit solch rasender Geschwindigkeit durch die Straßen von Urga gefahren war! — Wir stellten uns all dies vor und wir glaubten uns damit einer unbeschreiblichen Demütigung auszusetzen. Nein, nein, wir mußten aus unserer fatalen Lage mit Mitteln herauskommen, die wir an Ort und Stelle fanden. Ein Kapitän, dessen Schiff auf eine Klippe aufgelaufen ist, tut alles mögliche, um es freizubekommen, ehe er das Notsignal hißt. Wir empfanden diese Art Stolz.
„Wenn wir nur Balken hätten!“ riefen wir aus, indem wir uns umsahen, als könnten die Balken aus dem Erdboden herauswachsen.
„O, unsere Schutzbretter!“
In diesem Augenblicke zog eine von Mongolen geführte Karawane von Ochsenwagen, die nach Urga wollte, in der Entfernung von wenigen hundert Metern an uns vorüber. Sie hatte sich langsam genähert, ohne daß wir, von unserer fruchtlosen Arbeit ganz in Anspruch genommen, darauf geachtet hätten. Kaum aber bemerkten wir sie, so verstanden wir uns, ohne ein Wort zu äußern, und stürzten im Sturmschritt auf jene lange Wagenreihe. Die Wagen waren mit Balken beladen! Es waren dünne Kiefernstämme, ohne Zweifel bestimmt zum Bau der traditionellen Palissadenwände der heiligen Stadt.
Einige Münzen überzeugten die Mongolen von unserer ehrlichen Absicht. Das übrige hatten sie zweifellos verstanden, weil sie derlei Unfälle aus Erfahrung kannten. Wir luden uns jeder einen Balken auf die Schulter, die Mongolen taten dasselbe, und im Trabe ging es zum Automobil zurück. Indem wir probierten und wieder probierten, die Stämme in allen möglichen und erdenkbaren Arten verwandten, gelang es uns, ein System von Hebeln ausfindig zu machen, das imstande war, uns bei dieser und bei allen andern zukünftigen Gelegenheiten Rettung zu verschaffen.
Das System war höchst einfach. Man stelle sich einen zweiarmigen Hebel vor, dessen am äußersten Ende gelegener Stützpunkt einem andern ebenfalls zweiarmigen Hebel als Unterlage dient, welcher seinerseits auf den Rand des eingesunkenen Rades wirkt. Sind die Balken von gehöriger Länge, so genügt die Kraft zweier Männer, um ein Automobil zu heben, und verfügt man über die Hilfe von vier bis fünf Personen, so reicht ein einziger Hebel aus, um zum Ziele zu gelangen. In demselben Maße, wie wir die Maschine unter der freiwilligen Mitarbeit jener wackeren Karawanenführer wieder aufrichteten, füllten wir den von den Rädern gewühlten Hohlraum mit Steinen aus, die wir aus einem nahen Graben holten. Das Automobil drückte vermöge seines Gewichts bei jedem Nachlassen der Arbeit die Steine in den Morast hinein, aber es waren deren so viele, daß schließlich eine feste Grundlage, ein förmliches Mauerwerk entstand.
Nach zweieinhalb Stunden angestrengter Tätigkeit hatten wir alle vier Räder auf das Niveau des Bodens gehoben. Es blieb uns nur noch übrig, die Maschine rückwärts von dem unsicheren Gelände wegzuziehen. Wir holten die Seile hervor, die wir fest an das Chassis banden, und begannen im Verein mit den Mongolen mit aller Kraft zu ziehen; aber es gelang uns nicht, den schweren Wagen auch nur um eines Zolles Breite von der Stelle zu rücken, da er zwischen den Steinen und dem Erdreich eingekeilt war. Den Motor in Bewegung zu setzen, wagten wir nicht, da wir befürchteten, er könne durch seinen plötzlichen Antrieb ein neues Einsinken herbeiführen.
„Aber wir haben ja die Ochsen, die Ochsen der Wagen!“ rief der Fürst.
Die großen Gedanken sind die einfachsten. Fünf Minuten später waren drei Ochsen an das Automobil gespannt. Inzwischen hatten sich auch andere Leute eingefunden; einige Hirten kamen herbei, um zu sehen, was sich da Außergewöhnliches in ihrer Steppe zutrug, etliche Lamas aus einem Kloster, das wir von einer benachbarten Anhöhe herüberschimmern sahen, Frauen, die aus einem entfernten Jurtenlager kamen. Die Ochsen, mit Peitschenhieben angetrieben, zogen willig, aber ohne sichtbaren Erfolg; dann spannten wir uns neben den Ochsen an und mit uns die Karawanenführer und alle übrigen Anwesenden, die Hirten, die Lamas und die Frauen. Wo ein Stückchen Seil freiblieb, griff eine Hand zu; endlich entschloß sich der Wagen, uns auf den Weg der Rettung zu folgen! Alle die hilfreichen Hände wurden uns nun wieder offen entgegengestreckt und erhielten den verdienten Lohn für ihre Mühen. Einer der Männer sprach etwas russisch.
„Welches ist die Straße nach Kiachta?“ fragte ihn der Fürst.
„Es gibt zwei Straßen nach Kiachta,“ erwiderte er; „die eine führt über das Gebirge, die andere über die Ebene. Die über die Ebene ist die bessere.“
„Wo liegt die bessere?“
„Es ist die, auf der wir uns befinden.“
„Dann zeigen Sie uns, bitte, die schlechtere.“
Er wies sie uns. Nach Beendigung unserer Vorbereitungen und nachdem Seile, Bretter und Werkzeuge wieder an Ort und Stelle gebracht worden waren, wandten wir uns nach jener Richtung. Unsere Abfahrt erregte berechtigtes Erstaunen bei allen Leuten, die uns loszukommen geholfen hatten. Sie hatten uns nicht kommen sehen und glaubten vielleicht, es handle sich um einen sonderbaren Lastwagen, dessen Pferde fortgeführt worden seien. Das Geräusch des in Tätigkeit gesetzten Motors ließ sie mit einer Gebärde der Furcht zurückfahren; die Bewegung des Automobils reizte sie zum Lachen. Wir haben diese erheiternde Wirkung des Automobils bei allen naiven und schlichten Bevölkerungen beobachten können; die Bewunderung ist die ausschließliche Empfindung des Wissenden.
Der Weg schlängelte sich durch Täler und überschritt Hügel; er war etwas steinig, mitunter etwas steil, und würde für Wagen mit Pferden sehr schlecht, wenn nicht unpassierbar gewesen sein. Er zwang uns, sehr langsam und unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln zu fahren; aber wir waren mit ihm zufrieden. „Wenigstens versinkt man hier nicht!“ riefen wir jeden Augenblick. Das Wetter war schön geworden, der Morgen war bezaubernd. Wir fuhren am Rande blumengeschmückter Wiesen dahin, kamen an Birkenwäldchen vorüber, atmeten die duftige Frische des Frühlings in vollen Zügen ein und konnten uns nicht satt sehen an all diesen uns so neuen Dingen. Die Stunden verflossen ohne Langeweile. Nach dem Zwischenfall mit dem Sumpfe fanden wir alles leicht, alles einfach; wir hatten Geduld gelernt. Wenn wir von der Straße abirrten und uns nach den hervorstechendsten Landmarken sowie nach den unvollständigen Angaben der Karte orientieren mußten, so fanden wir uns mit guter Laune in unser Schicksal. „Besser als einsinken!“ wiederholten wir uns zum Troste. Die im Sumpfe überstandene Gefahr hatte uns neue Tugenden eingetragen.
Die Maschine erklomm die steilsten Abhänge mit Leichtigkeit. Um 10 Uhr befanden wir uns auf dem Gipfel eines hohen Hügels, wo wir anhielten, um eine herrliche Landschaft zu bewundern. Hinter uns zog sich ein Gelände mit einer abwechslungsreichen Abstufung höherer und niederer grüner Hügel hin, bis es, im Duft der Ferne verschwimmend, in das große, von leuchtendem Blau erfüllte Tal des Tola überging. Urga war nicht mehr sichtbar; es verbarg sich hinter dem Absturz der letzten fernen Höhen. Aber wie um seine Lage zu bezeichnen, um dem frommen lamaistischen Wanderer anzugeben, wohin er den sehnsüchtigen Blick richten solle, um den heiligen Sitz des lebenden Buddhas zu entdecken, erhob sich auf dem einen Berggipfel eine weiße Pagode; sie schien in der Sonne zu funkeln. Mongolische Reiter, dem Äußern nach Soldaten, waren von ihren Pferden gestiegen und spähten nach Urga hin. Wir rissen sie durch unseren Motor, der ihre Pferde unruhig machte, aus ihren Betrachtungen. Dann setzten wir unsere Fahrt rasch fort.
Aber jede Medaille hat ihre Kehrseite. Jener Hügel, der uns ein so malerisches Schauspiel geboten hatte, hatte eine unheilvolle Kehrseite. Der Pfad senkte sich jäh in gerader Linie vom Gipfel bis zum Fuße; er war voller Steine, Kiesel und Felsblöcke und wandte sich ganz nach links, wo er am Rande eines Abgrundes entlang lief.
Ettore, welcher steuerte, zog sofort die beiden stärksten Bremsen an und schaltete die Transmission aus. Der Wagen glitt einige Meter abwärts auf fast unbeweglichen Laufrädern und sprang über Kiesel, bis er an große Steine stieß und stehenblieb. Die Bremsen wurden allmählich gelockert, aber die Maschine bewegte sich nicht.
„Die Steine vor den Rädern müssen fortgenommen werden“, bemerkte Ettore.
Der Fürst und ich stiegen ab, um diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Aber die Steine saßen fest in der Erde, und es gelang uns nicht, sie fortzuwälzen.
„Es tut nichts,“ versetzte Ettore, „mit einem kleinen Ruck des Motors komme ich über die Steine und fahre voraus.“
Gesagt, getan; er schaltete die Transmission wieder ein. Wenig fehlte, so hätte dieses Manöver zu einer Katastrophe geführt! Die Neigung der Straße war so stark, daß das Automobil nach Überwindung des Hindernisses trotz Anwendung der Fußbremse den Abhang unaufhaltbar hinuntersauste, und in der kurzen Zeit, die Ettore brauchte, um auch die stärkere Handbremse anzuziehen, war die Geschwindigkeit zu groß geworden, um sie noch beherrschen zu können. Die Maschine hatte die Oberhand gewonnen. Sie schoß mit solchem Ungestüm über die Steine hinweg, daß sie bei jedem Stoß in die Höhe sprang. Mitunter richtete sie sich wie beflügelt auf den Hinterrädern empor und fiel krachend zurück. Sie erlitt heftige Schwankungen, die sie von einer Seite auf die andere schleuderten; das Gepäck löste sich; man hörte ein unheilverkündendes Klirren von Eisenteilen. Fürst Borghese hatte sich an das wütende Ungetüm angeklammert und wurde von ihm heftig mitgerissen und hin und her geschüttelt.
Er hatte sich neben der Maschine befunden, als Ettore den Motor in Bewegung setzte, und als er sie davonsausen sah, hatte er einen raschen Versuch gemacht, sie aufzuhalten. Einen Augenblick setzte er, getrieben von einem unüberlegten, verzweifelten Verlangen, sie zu retten, ihrem Hinuntergleiten einen erbitterten, aber nutzlosen Widerstand entgegen. Er hatte die Gefahr bemerkt und kämpfte instinktmäßig gegen das Unvermeidliche an, indem er alle seine Kräfte und all seinen Willen daransetzte.
„Bremsen! bremsen! bremsen!“ rief er dabei.
Da er die Maschine nicht aufhalten konnte, wollte er sie begleiten. Er konnte sich nicht entschließen, loszulassen. Sich fest an die Karosserie anklammernd, machte er alle Sprünge und Schwankungen mit. Ettore schwieg. Über das Steuerrad gebeugt, sammelte er alle seine Energie, aufmerksam nach dem Augenblick spähend, in dem er die Herrschaft über seine Maschine wiedergewinnen könne. Seine Geistesgegenwart errang schließlich den Sieg. Ich habe schon erwähnt, daß der Weg sich nach links wandte; an einem Punkte, wo diese Neigung besonders bemerkbar war, lenkte Ettore plötzlich nach rechts hinüber und ließ das Automobil auf große Steine auflaufen. Es machte einen großen Satz, mäßigte aber seine Geschwindigkeit. Wenige Minuten später war es gebändigt und setzte den Abstieg fort, gelehrig dem Willen seines Führers gehorchend.
Die rasende Fahrt hatte nicht länger als 20 Sekunden gedauert, aber sie erschien uns endlos! Ich war zu Fuß hinterdrein gelaufen und hatte „halt, halt!“ gerufen, ohne zu wissen weshalb. Ich erreichte das Automobil, als es unten auf der Straße stand. Die stillstehende Maschine verbreitete einen unangenehmen Geruch nach verbranntem Öl und ließ ein leises, reibendes Geräusch hören.
„Diesmal haben wir sie noch glücklich gerettet!“ rief Ettore, während er von seinem Sitze stieg und sich den Schweiß abtrocknete. „Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ein Wunder!“ und zu mir gewandt, fragte er lachend: „Haben Sie gesehen, was sie für Sätze machte?“
„Und ob! Als ob alles aus Rand und Band gehen sollte!“
„Auch ich glaubte es. Es gab einen Augenblick, in dem ich alles für verloren hielt. Ich dachte: Hier werden wir zerschmettert!“
„Welcher Augenblick war dies?“
„Haben Sie bemerkt, daß ich auf halbem Wege etwas nach rechts abgebogen bin?“
„Jawohl.“
„Damals. Ich sagte zu ihr: Entweder du parierst oder du gehst in Trümmer!“
„Sie hat pariert. Aber die Bremsen wirkten ja nicht?“
„Sie wirkten schon, aber um sie fest anzuziehen, braucht man viel Öl, und sie fassen nicht sofort, sie schleifen. Auf der Straße geht es wundervoll; aber sind das Straßen? Wir haben alle Alpenstraßen ‚gemacht‘, nicht wahr, Durchlaucht, und niemals ist uns ähnliches passiert.“
Der Fürst lächelte, während er den auf so ungewöhnliche Weise zurückgelegten Weg betrachtete, und schien ganz darein vertieft, die Erinnerung daran festzuhalten. Nach überstandener Gefahr empfindet man stets Freude. Dann gab er sich einen Ruck und rief:
„Vorwärts! Es ist spät. Heute abend möchte ich mein Lager am Ufer des Iro aufschlagen.“
Die Maschine wurde auf das sorgfältigste geprüft. Sie wies keinerlei Beschädigung auf. Wir hoben das Gepäck auf, banden es fest und fuhren rasch davon, nachdem wir unsere Plätze wieder eingenommen hatten.
„Man sagt,“ bemerkte Fürst Borghese scherzend zu mir, „daß, wenn sich zwei Unglücksfälle an einem Tage ereignet haben, noch ein dritter eintritt.“
„Sollen wir uns auf den dritten vorbereiten?“ fragte ich lachend.
Wir schienen diesen dritten herauszufordern. Er möge nur kommen! Wir fühlten uns um eine neue Erfahrung bereichert; wir kannten jetzt die Gefahren der Ebene und die des Gebirges. Was hatten wir noch zu befürchten? Wir hatten unrecht. Wir sollten uns nur zu bald davon überzeugen!
Der dritte kam!
Auf dem Wege nach Kiachta.
Der dritte Unglücksfall. — Unter Mongolen und Burjaten. — Eine nächtliche Fahrt. — Der Übergang über den Iro. — Der erste Wald. — Kiachta.
Die von den Karawanen benutzte Straße zwischen Urga und Kiachta überschreitet eine Berggruppe, die von den Flüssen Chara-gol und Iro begrenzt wird, welche beide von Osten nach Westen fließen und sich in den Orchon ergießen, den größten Nebenfluß der Selenga. Diese Berge, die ihren Namen nach dem Chara-gol tragen, nach Angabe der Landkarten aber auch Argalberge heißen, sind abschüssig und steinig. Die Straße wurde uns als sehr schwer passierbar geschildert. Deshalb faßten wir den Entschluß, sie zu umgehen.
Wir wollten im Bogen um die verrufenen Berge herumfahren, indem wir uns dem Tale des Orchon näherten. Stunde um Stunde fuhren wir, uns nur auf unseren gesunden Menschenverstand verlassend, über Hügel auf Wegen und Pfaden, die wir je nach der Himmelsrichtung einschlugen, durchquerten Ebenen und durchzogen Täler. Nicht selten war es der Fall, daß eine anscheinende Straße uns in unwegsames Gelände führte und uns auf Pfade brachte, die nur Ziegen erklettern konnten, so daß wir geduldig wieder zur ersten Weggabelung zurückkehren mußten. Wo wir konnten, zogen wir bei Hirten und bei Karawanenführern Erkundigungen ein, aber die Antworten waren stets unbestimmt. Die meisten zeigten nach Norden; Kiachta lag im Norden, und sie kannten keine bessere Art und Weise, dorthinzukommen, als indem sie sich nach dieser Richtung wandten.
Wir trauten den einsamen Pfaden nicht; oft stiegen wir vom Wagen, um zu untersuchen, ob die Wegspuren frisch oder alt seien, und zogen unbetretenes Gelände einem verlassenen Pfade vor, weil dieser stets aus irgendwelchen schwerwiegenden Gründen aufgegeben worden war. Das Aufgeben deutete aber eine Gefahr an. Wenn wir dann zu Fuß genauer nachforschten, fanden wir, daß weiterhin das Gelände überschwemmt oder sumpfig war, oder auch daß das Wasser eine breite Vertiefung ausgehöhlt hatte. Mitunter kam es vor, daß wir frische Wegspuren plötzlich unterbrochen fanden. Wenn wir nachforschten, so bemerkten wir am Grase, daß sie von der gewünschten Richtung abwichen, und wir taten dasselbe. So zogen wir aus den Erfahrungen der Nomaden und der Karawanenführer mannigfaltigen Nutzen. Leute, die vor mehreren Tagen hier vorbeigekommen waren und sich jetzt wer weiß wie weit von uns befanden, dienten uns als Führer, als ob sie noch zugegen wären und uns vorausschritten.
Um 2 Uhr nachmittags gelangten wir auf eine grüne Ebene, die mit Sträuchern und hohem Grase bewachsen war; im ersten Augenblick bemerkten wir nicht, daß sie eine Sumpfvegetation trug. Wir nahmen an, daß der Fluß Chara-gol nicht mehr allzu weit entfernt sein könne. Vor uns erhoben sich die ersten Gipfel der Argalberge. Mit einem Male sahen wir, daß die Straße verlassen war. Wir hatten kaum Zeit, rasch ein Wort zu wechseln, als das Automobil schon versank und plötzlich stillstand. Es war mit großer Geschwindigkeit in einen Sumpf gefahren, dessen von der Sonne ausgetrocknete Decke ganz den Anschein festen Erdreiches bot. Diesmal hatte sich die Maschine nach rechts geneigt.
Wir sprangen zur Erde und stellten eine seltsame Erscheinung fest, die uns sofort allen Mut benahm: der Boden schwankte unter unseren Füßen! Es war, als schritten wir über Korkstücke, die auf dem Wasser schwammen. Die Decke gab nach, ohne zu zerreißen; sie senkte sich unter dem Drucke des Fußes und erhob sich wieder, sobald der Fuß weggenommen war. Das Gelände machte den Eindruck einer weiten Kautschukfläche. Es war klar, daß sich unter einer dünnen Oberfläche tiefes Wasser befand; wir glaubten über einem abgrundtiefen Sumpfe zu wandeln. Wir wollten den Boden untersuchen und stießen den Spatenstiel hinein; wie in Wasser glitt der lange Stab hinab. Schrecken erfaßte uns, denn wir sahen ein, daß diese morastige Masse das Automobil verschlingen müsse, wenn es uns nicht gelänge, es sofort in Sicherheit zu bringen!
Wir blickten uns um. Wir waren allein. Die Ebene, schweigsam und heiß, lag öde vor uns. Wir begannen zu arbeiten, aber mit der Angst im Herzen, daß es vergebliche Mühe sein werde.
Wir erfüllten nur eine Pflicht; wir wollten nicht ohne Kampf unterliegen. So schickten wir uns an, unsere Maschine mit allen Kräften dem morastigen Abgrunde streitig zu machen, aber ohne Aussicht auf Erfolg, wie jemand, der dem Tode das Leben eines teuern, aber rettungslos verlorenen Wesens abzuringen sucht. Wir arbeiteten, um uns selbst zu betrügen, um uns der Illusion hinzugeben, als könnten wir etwas nützen, und wußten sehr wohl, daß wir drei allein nichts ausrichten konnten. Ortschaften gab es nicht in der Nähe, wo wir hätten um Hilfe bitten, von wo wir Arbeiter, Maschinen, Werkzeuge hätten holen können.
„Wenn wir doch ein Pferd fänden!“ sagte Don Scipione.
„Wenn wir ein Pferd fänden, so würde ich nach Urga reiten, würde in der Nacht dort eintreffen und morgen abend wäre ich mit Leuten wieder zurück!“
Es war zu spät! Morgen abend würde die Maschine schon versunken sein!
„Diesmal ist es vorbei!“ rief der Fürst wiederholt, er, der sonst bei keiner Gelegenheit den Mut verlor. „Jetzt ist es vorbei! Als wir heute morgen das erstemal einsanken, war ich überzeugt, daß wir sie herausgraben würden, aber jetzt ...!“
Wir sahen uns in Gedanken schon auf dem langen Fußmarsche nach Kiachta über das Chara-gol-Gebirge hinweg, mit einem Sacke auf dem Rücken, schweigend wie Kriegsgefangene, die erfüllt sind von dem Gedanken an eine verlorene Schlacht.
Die Benutzung der Winden würde kein anderes Ergebnis zur Folge gehabt haben, als diese selbst in den Boden versinken zu lassen und die dünne feste Erdschicht, die das Automobil noch hielt, zu zerstören. Das Versinken setzte sich langsam, aber unabwendbar fort.
Der Rand des rechten Hinterrades verschwand zuerst. Die Achsen, der Benzinbehälter, das Differenzialwerk versanken immer tiefer in den Morast. Die Tritte, die sich zuerst 20 Zentimeter über dem Fußboden befanden, waren nach wenigen Minuten in gleicher Höhe mit ihm. Die Maschine sank unmerklich. Wir empfanden die Angst des Schiffbrüchigen beim Todeskampfe seines Schiffes. Mit Fiebereile machten wir uns daran, den Wagen zu entlasten. Wir nahmen das Gepäck ab, den Werkzeugkasten, die Ersatzpneumatiks, und warfen alles bunt durcheinander auf den Rasen. Dann gab es nichts mehr zu tun, und wir blieben unbeweglich stehen, verzweifelnd nach einem Rettungsmittel suchend.
„Wir wollen uns Tee kochen“, sagte der Fürst nach langem Schweigen.
Diese wenigen Worte bedeuteten nichts anderes, als daß wir die Rettung aufgaben. Tee bereiten hieß, das Automobil sich selbst überlassen, unsere Bemühungen für zwecklos erklären.
Ein in der Nähe vorüberfließender Bach lieferte uns das Wasser, das wir über der Flamme der Lötlampe zum Sieden brachten. Wir bereiteten einen Topf Tee und füllten uns die Gläser. Auf der Erde ausgestreckt, in Hemdärmeln, schweißtriefend, von Schmutz starrend, tranken wir in kleinen Schlucken und aßen dazu gedankenlos einige Stücke Biskuit. Wir hatten uns das Essen während des Tages abgewöhnt; unterwegs konnten wir uns nicht entschließen, zum Zwecke des Essens haltzumachen; wir hatten nur das eine Verlangen, an unseren Lagerplatz zu gelangen, und der ungestillte Appetit war ein weiterer Ansporn, keine Zeit zu verlieren. Jetzt jedoch durften wir unseren Hunger stillen.
Schließlich beschlossen wir zu handeln. Einer von uns sollte bei dem Automobil ein Lager aufschlagen und zurückbleiben, die beiden andern sollten sich auf die Straße nach Urga machen, Leute, Hölzer, Pferde holen und möglichst bald wieder zurückkehren. Auf die Ankunft einer Karawane hofften wir nicht; die Straße war verlassen.
Aber siehe da! In diesem Augenblick zeigte sich zwischen den hohen Sträuchern in weiter Ferne doch eine Karawane! Eine Reihe mit Pferden bespannter Wagen, und über den Pferden erkannten wir die „Duga“, den charakteristischen Holzbogen des russischen Pferdegeschirrs. Es war eine Reihe Telegas.
„Russen, es sind Russen!“ rief ich und stürzte mit Windeseile auf sie zu, indem ich über die Sträucher sprang, in den Morast versank, den Leuten zurief und lebhaft mit den Armen gestikulierte, um mich bemerkbar zu machen.
Russen erschienen uns in diesem Augenblicke beinahe als Landsleute. Mitten in der Mongolei fühlten wir uns mit ihnen stammverwandt und eng verbunden. Ihr Erscheinen bedeutete unsere Rettung. Als ich in ihrer Nähe angelangt war, bemerkte ich, daß auf den Telegas Leute saßen, die zwar ähnlich wie Russen gekleidet waren, aber mongolische Gesichtszüge hatten: es waren Burjaten. Ich befand mich einem burjatischen Stamme gegenüber, der mit Frauen und Kindern auf der Wanderung begriffen war. Der Anführer ritt voran; er war mit einem roten Hemd bekleidet und trug auf dem Kopfe eine Mütze von tatarischem Schnitt. Er hatte kein allzu vertrauenerweckendes Gesicht. Ich bat ihn, mir zu folgen, und er tat dies, nachdem er seinem Stamme befohlen hatte, haltzumachen.
Er sprach etwas russisch. Er bemerkte das Automobil und fragte:
„Wieviel wiegt das Dings da?“
„120 Pud (2000 Kilogramm). Du erhältst eine gute Belohnung, wenn es dir gelingt, den Wagen herauszuziehen. Bist du einverstanden?“
Der Burjatenführer sann einige Augenblicke nach und antwortete:
„Ja, ich bin einverstanden.“
„Gut. Dann führe deine Leute und deine Pferde her.“
Er kehrte zu den Telegas zurück und ließ sie sich uns auf einige hundert Meter nähern. Die Frauen stiegen ab, suchten Brennmaterial und zündeten Feuer an. Aber die Pferde wurden nicht abgespannt, und die Männer kamen nicht. Wir brannten vor Ungeduld. Nach einer halben Stunde kehrte der Führer zurück, und zwar allein.
„Nun?“ fragte ihn der Fürst. „Wie stehts? Wann machst du dich an die Arbeit?“
Der Burjate zeigte keine sonderliche Eile, sondern fragte:
„Bist du bereit, mir 50 Rubel zu geben?“
„Erst ziehst du den Wagen dort heraus, dann gebe ich dir 50 Rubel.“
Der Mann begab sich zu seinem Stamme zurück. Die Pferde blieben nach wie vor angespannt, und die Männer blieben neben den Wagen stehen. Ihr Verhalten begann uns aufzufallen.
Währenddessen kam eine Anzahl Mongolen auf ihren kleinen Pferden im Galopp angesprengt. Sie kamen wer weiß woher! Ihr Geierauge hatte von fern einen ungewohnten Gegenstand in der Steppe erspäht, und sie waren herbeigeeilt, um sich ihn in der Nähe zu betrachten. Bald fanden wir uns von einer aufgeregten Menge umringt, die uns unter lebhaftem Gespräch beobachtete. Der Burjate, davon vielleicht beunruhigt, näherte sich uns zum dritten Male, noch immer allein.
„Nun, wann gehst du denn an die Arbeit? Du hast 50 Rubel verlangt, und ich gebe dir 50 Rubel. Aber beeile dich! Hole deine Leute her!“
Der Führer schüttelte den Kopf.
„Du willst nicht?“ fragte ihn der Fürst.
„Nein.“
„Und warum nicht?“
„Es geht nicht. Es ist unmöglich.“
Und er entfernte sich.
Warum machte er keinen Versuch? Wenn er doch einsah, daß das Unternehmen unmöglich war, warum entfernte er sich nicht mit seinen Wagen, statt in unserer Nähe lagern zu bleiben? Warum ließ er, als er das Lager aufzuschlagen befahl, die Pferde angespannt, als wollte er das Weite suchen? Der Verdacht drängte sich mir auf, daß jene Burjaten etwas im Schilde führten, was uns nicht sonderlich angenehm sein würde. Wir saßen fest, das wußten sie; wir konnten nicht die Flucht ergreifen. War die Forderung von 50 Rubel gestellt worden, um sich zu überzeugen, ob wir Geld, viel Geld hätten, und um unseren Reichtum nach unserer Freigebigkeit zu schätzen? Sie waren in so großer Anzahl, und wir waren nur unser drei. Die mongolischen Steppen bieten Straffreiheit und Asyl. Auf ihnen herrschen keine Gesetze als die der Überlieferung und der Gewalt.
Die Mongolen, die um uns herumstanden, hatten eins begriffen: daß wir Geld anboten, wenn man uns Hilfe leistete. Das Wort „Rubel“ hat einen Kurs, der viel weiter reicht als der der Münze. Nun machten sie sich sofort an die Arbeit, indem sie versuchten, das Automobil mit der Kraft ihrer Arme herauszuziehen. Wir fühlten uns durch diese guten Absichten wie neubelebt. Es waren Balken nötig. Ich weiß nicht, welche unüberwindliche Beredsamkeit wir in unsere Gebärden legten; Tatsache ist, daß wir imstande waren, durch eine wunderbare Mimik Balken zu beschreiben. Und wir fanden volles Verständnis dafür. Drei von unseren neuen Freunden sprangen in den Sattel und sprengten in Karriere davon, um nach einer halben Stunde wieder zu erscheinen und einige an ihren Sätteln befestigte lange, dünne Balken hinter sich her zu schleppen. Wir hätten sie umarmen mögen!
Jetzt ging es mit Begeisterung an die Arbeit. Um die Maschine noch mehr zu entlasten, nahmen wir die Karosserie ab, die wir mit Hilfe der Mongolen auf den Rasen niederlegten. Aus den Balken stellten wir unsere einfache Hebevorrichtung her. Wir mußten vorsichtig zu Werke gehen, weil das Gelände unter dem Gewicht der Hebel nachzugeben drohte und die Balken, die schon etwas gar zu alt waren, krachten, so daß wir fürchteten, sie würden brechen. Aber das Automobil hob sich doch allmählich wieder; unter die Räder legten wir große Holzscheite, die mit Hilfe einer Axt von einem Balken abgehauen worden waren. Es war eine langsame, geduldheischende Arbeit. Drei Stunden vergingen, ehe wir die Maschine so weit hatten, daß sie aus der tiefen Höhlung herausgezogen werden konnte. Wir befestigten die Seile an dem hinteren Teil des Gestelles und versuchten mit vereinten Kräften zu ziehen. Aber alle Mühe war vergebens.
Ochsen, waren Ochsen da? Nachdem wir durch die Gebärdensprache Balken beschrieben hatten, war es uns ein leichtes, Ochsen zu verlangen. Es wurde eine Herde herbeigeholt, die einige Kilometer von uns weidete. Die Länge der Seile gestattete aber nicht, die vier Ochsen zugleich anzuspannen. Die armen Tiere zogen und zogen, aber es gelang ihnen ebensowenig als uns, das Automobil zu bewegen. Wir sahen jedoch ein, daß, wenn die vier Ochsen gleichzeitig eine Kraftanstrengung machen könnten, sie Erfolg haben würden. Angetrieben zogen sie nur einer nach dem andern. Wie sollten wir die Ochsen von dem Vorteile gemeinsamen Zusammenwirkens überzeugen? Da kam uns eine geniale Idee: setzen wir den Motor in Bewegung!
Der Erfolg war vollständig. Bei dem unvermuteten Getöse stemmten die vier erschreckten Ochsen ihre Füße genau gleichzeitig ein und senkten brüllend die dicken gehörnten Köpfe in so entschlossener Fluchtbewegung, daß das Automobil schwankte! Ettore, der auf die Maschine gestiegen war, drückte das Pedal des Akzelerators herunter, der Lärm wurde betäubend und ging in ein fürchterliches Heulen über. Die vier Tiere zitterten vor Schreck und zogen mit verzweifelter Kraftanstrengung an — mit einem Male bewegte sich die Maschine mit einem Ruck aus dem Loche! Es war ein Augenblick größter Freude!
Die Karosserie wurde in wenigen Minuten wieder an Ort und Stelle gebracht, das Gepäck, die Ersatzreifen, die Vorräte und die Werkzeuge mit fröhlicher Geschäftigkeit wieder aufgeladen. Eine halbe Stunde später waren wir zur Abfahrt bereit. Die Mongolen erhielten in freigebiger Weise eine große Menge Rubel und begrüßten diese Gabe mit Ausrufen der Begeisterung und mit Gebärden überströmender Freundschaft.
Jetzt näherte sich auch der Burjatenführer und streckte ebenfalls seine Hand aus. Der Fürst sagte lächelnd zu ihm:
„Keine Arbeit, kein Geld!“
Der Burjate zog die Hand zurück und sagte mit tückischem Augenaufschlag:
„Ich brauche dein Geld nicht!“
Und er fügte Worte hinzu, die wir glücklicherweise nicht verstanden. Dann sahen wir ihn sein Pferd besteigen und seinem Stamme mit der Hand das Zeichen zum Aufbruch geben. Die lange Reihe der Telegas entfernte sich.
Wir baten die Mongolen um einen Führer. Einer von ihnen erbot sich dazu. Er stieg zu Pferd, und wir folgten ihm. Alle andern gaben uns das Geleite. Sie waren voll naiver Dankbarkeit und ritten in vollem Galopp um uns herum, lachend und schreiend. Einige Pferde trugen zwei Reiter, wie in Urga bei der Verfolgung des Gouverneurs.
Der Führer entledigte sich seiner Aufgabe mit vieler Würde. Wir durchfuhren ein wahres Labyrinth; jeden Augenblick kamen wir an Sümpfen vorbei und wandten uns in der weiten, trostlosen Ebene durch hohe Binsen und Seelilienbüschel. Die Sonne ging unter, und über die Erde breitete sich ein Schleier, der der Landschaft ein unnennbar düsteres Aussehen verlieh.
Als wir am Ende der Ebene angekommen waren, verließ uns die seltsame Reiterschar und zerstreute sich. Der Führer zeigte uns noch bereitwillig einen Weg, der das Gebirge umging. Als er uns verließ, war es beinahe Nacht. Sein Pferd zitterte vor Müdigkeit. Nachdem er sich von uns verabschiedet und uns nochmals für die erhaltene Belohnung gedankt hatte, streckte sich der Mann auf dem Rasen aus.
Wir setzten unseren Weg fort. Für die Maschine und für uns brauchten wir Wasser; wir konnten nicht halten, bevor wir es nicht gefunden hatten. Von einem Augenblick zum andern hofften wir, den Fluß Chara-gol anzutreffen. Wir beobachteten sehnsüchtig den Weg vor uns, und bei jedem Tale, bei jedem Üppigerwerden der Vegetation sagten wir uns: „Dies muß der Fluß sein“ — aber der Fluß ließ sich nicht sehen, und wir fuhren mit neuem Vertrauen weiter, um ihn zu suchen.
Es war Mondschein. Wir hatten keine Laternen, das heißt, wir hatten sie schon, aber sie waren nicht zum Anzünden bereit. Wir befanden uns mitten zwischen Anhöhen, und der Pfad wandte sich durch enge Täler, ging bergauf, bergab, kaum erkennbar am Grase der Wegränder. Angespannt beobachteten wir die Wegspur, voll Furcht, sie zu verlieren.
Für unser müdes Auge nahm unter dem gespenstischen Lichte des Mondes alles ein furchterweckendes, unbestimmtes phantastisches Aussehen an. Die Umrisse der Hügel, die düsteren Gründe der Täler, die Gesträuche ließen uns bisweilen erschauern; sie hatten eine geheimnisvolle, unbestimmbare Form. Es schien eine leise Bewegung in den Dingen zu herrschen, schweigende, unbekannte Gestalten schienen an uns vorüberzustreichen. Wer je in der Nacht durch unbekannte, öde Gegenden gereist ist, hat diese bizarren Verwandlungen erblickt, und wenn er am Tage nach denselben Örtlichkeiten zurückgekehrt wäre, so würde er erstaunt sein, sie so ganz anders zu finden. Man möchte sagen, die Erde benutze die Dunkelheit der Nacht, um ein ihr eigenes geheimnisvolles Leben zu führen. In der Nacht tritt alles, was es Märchenhaftes, Ausschweifendes, Widersinniges in unserer Phantasie gibt, hervor und nimmt im Dunkel Platz. Es gibt nicht zwei Menschen, die eine nächtliche Landschaft auf dieselbe Weise erblicken: jeder sieht seine Landschaft.
In der Tat bemerkte jeder von uns in dieser unvergeßlichen Nacht etwas, was die andern nicht zu sehen vermochten. Es waren Flüsse, es waren Häuser, es waren unbeweglich dastehende Menschen, alles Erscheinungen, die verschwanden, wenn wir näherkamen. Das Gelände schien zur raschen Fahrt geeignet, aber von Zeit zu Zeit hörten wir den Sand unter den einsinkenden Pneumatiks knirschen, und der Motor mußte sich anstrengen. Dann wurde die Maschine mit aller Kraft vorwärtsgetrieben, damit sie nicht steckenbliebe. Einmal sahen wir wirkliche Wesen, die sich bewegten, es waren Kamele. Wir kamen dicht an einer lagernden Karawane vorüber. Zwei Männer standen am Wege. Sie wandten sich mit einer raschen Bewegung um und rührten sich nicht mehr. Wir hätten ihren Gesichtsausdruck sehen mögen beim plötzlichen Erscheinen dieser schwarzen Masse, die unter Getöse durch die Wüste dahinraste.
„Wie spät ist es?“ fragte der Fürst, dessen Uhr zerbrochen war.
Ich zündete vorsichtig ein Streichholz an und sah auf meine Uhr.
„4 Uhr.“
Wir waren seit früh 4 Uhr unterwegs. Siebzehn Stunden beständiger Arbeit und aufreibender Nervenanspannung! Wir waren müde. Der Chara-gol zeigte sich immer noch nicht. Wir konnten ihn nicht verfehlen, denn sein Lauf mußte unsere Straße kreuzen.
Der Mond neigte sich zum Untergange. Die Nacht bevölkerte sich mit Sternen. Ich konnte in der Tat den Pfad nicht mehr erkennen und bewunderte Ettore, der ruhig steuerte, als fahre er auf der besten Kunststraße.
„Ein Licht, ein Licht!“ riefen wir plötzlich wie aus einem Munde.
„Es muß das Feuer eines Lagers am Ufer des Flusses sein“, bemerkte der Fürst.
Wir faßten wieder Mut. Aber nach wenigen Augenblicken war das Licht verschwunden. Wir hatten uns aber den Punkt, an dem es zum Vorschein gekommen war, genau eingeprägt und durchspähten gierigen Auges jene Stelle der Finsternis. Als wir nach einigen Minuten dort anlangten, bemerkten wir einige Jurten und hielten. Eine Hundemeute umringte uns bellend. Es erschien ein Mann im Rahmen einer Tür, aus der Licht drang. Wir baten ihn um Wasser, und er bot uns alles, was er hatte, in einem Kochgefäß an. Das Wasser war warm, fettig und erdig. Wir fragten ihn, wo die Quelle sei, und er zeigte uns den Weg mit einer Gebärde der Hand, als wollte er sagen: „Ganz in der Nähe.“ Wir baten ihn, uns hinzuführen, er lehnte aber ab. Er fürchtete sich vor uns.
So fuhren wir bis zu einer Wiese, wo wir zu lagern beschlossen. Während Ettore das Zelt aufschlug, machten der Fürst und ich uns auf die Suche nach der ersehnten Quelle. Er trug den Eimer und ich den Spaten; den Eimer für das Wasser, den Spaten für die Hunde. Ich stellte die bewaffnete Macht dar; ein Schutz war nötig, weil die mongolischen Hunde von besonderer Wildheit sind. Der Mond war untergegangen, und die Erde schlummerte, während der bleiche Sternenschimmer alle Unebenheiten verwischte.
Nach vielem Umhersuchen gelang es uns, einen kleinen schlammigen, stark fauligen Wasserlauf zu entdecken. Trotz des Durstes, von dem wir gequält wurden, war es uns nicht möglich, einen einzigen Schluck davon zu trinken. Wir kehrten zum Zelte zurück und bereiteten Tee, den niederträchtigsten Tee, der sich denken läßt! Schweigend verzehrten wir einige Konserven, schlürften das nichtswürdige Getränk mit viel Zucker und krochen auf allen vieren unter das Zelt. Die Nacht war von göttlicher Stille.
Wir hatten die Vorsicht gehabt, nichts außerhalb des Zeltes liegenzulassen, und Ettore legte, treu der erhaltenen Anweisung, die Pistole in den Bereich seiner Hand. Auf dem Gras ausgestreckt, eingehüllt in die mollige Wärme unserer Pelze, fielen wir sofort in tiefen Schlaf.
Mitten in der Nacht wurden wir jäh aufgeschreckt durch die Stimme Ettores, welcher rief: „Wer da?“
Er hatte sich erhoben, und ich bemerkte, wie er nach der Mauserpistole tastete. Ich lauschte. Nach wenigen Augenblicken hörte ich draußen vor dem Zelte ein leises, kurzes, aber deutlich vernehmbares Geräusch im düsteren Schweigen der Nacht.
„Wer da?“ rief Ettore nochmals, jetzt in entschiedenerem Tone.
Niemand antwortete. Es strich ein Luftzug vorüber, und das Geräusch erneuerte sich. Es war ein rasches, leichtes, unbegreifliches Schlagen ganz in der Nähe.
Leise hoben wir einen Zipfel der Zeltleinwand empor und spähten hinaus.
„Zuerst wußte ich nicht, was es war!“ rief Ettore lachend. „Wer hätte auch geglaubt, daß sie solchen Lärm machen könnte! Ich bin davon munter geworden!“
Es war die Flagge — unsere auf dem Automobil gehißte Flagge, die bei jedem Windhauch flatterte und leise rauschte! Es schien, als lebe sie und halte Wache.
Nur wenige Kilometer vom Flusse entfernt hatten wir gelagert. Am Morgen des 24. Juni, in aller Frühe, überschritten wir ihn rasch in einer Furt. Das Gebirge hatten wir zu unserer Rechten gelassen und uns nach Westen dem Laufe des Orchon genähert, quer über eine Reihe sumpfiger Flächen hinweg. Wir waren jedoch gegen die Tücken des Geländes wohl auf der Hut und trieben das Automobil erst dann vorwärts, wenn der Boden vorher genau untersucht worden war.
Von allen Seiten umringten uns Gefahren; oft spürten wir unversehens unter unseren Füßen die wellenförmige Bewegung des verborgenen Sumpfes und fuhren mit einem Gefühl des Schauders rückwärts, als seien wir auf ein Reptil getreten.
„Zurück! Sofort zurück!“ riefen wir Ettore zu, der vorsichtig die Maschine dicht hinter uns lenkte.
Neue Übergänge wurden gesucht. Mitunter fanden wir keinen Ausweg und mußten weit zurückgehen, um an einer andern Stelle den Versuch zu erneuern. Nach und nach gelang es uns aber mit großer Geduld, aus dem sumpfigen Gelände herauszukommen und die kahlen, sandigen Hügel zu erreichen, die sich zwischen dem Orchon und dem Iro erstrecken.
Seit dem vorigen Abend hatten wir Zeichen bemerkt, die unser Interesse erregten. Es waren die Fußspuren zweier Europäer und eine Wagenspur. Wenn man auf einer Strecke von Tausenden von Kilometern nur die Spuren chinesischer Schuhe und mongolischer Stiefel gesehen hat, so macht der Abdruck einer europäischen Sohle den Eindruck, als habe man das Porträt eines Bekannten vor sich.
Die Spuren liefen in derselben Richtung, die wir einschlugen, und sie waren frisch. Sie verschwanden bisweilen; in der Ebene hatten wir sie verloren, dann entdeckten wir sie wieder und fanden ein eigenartiges Vergnügen daran. Wir sprachen von ihnen. Wann waren sie dem Boden eingedrückt worden? Vor einer Stunde, vielleicht auch vor kürzerer Zeit? Sie deuteten auf den sicheren und weit ausgreifenden Schritt zweier junger Männer. Es waren keine Wagenführer, weil ein sibirischer Wagenführer viele Telegas in einer Reihe leitet, während hier zwei Männer einen einzigen Wagen begleiteten. Der Wagen schien nicht schwer beladen gewesen zu sein, denn die Furchen waren leicht; er mußte irgendeine wertvolle Ware mit sich führen, die wenig wog und doch einen sicheren Schutz erforderte. Man glaubt nicht, wie sehr diese Kleinigkeiten in der endlosen Eintönigkeit einer Reise wie der unseren imstande sind, die Neugier zu erregen und unerschöpflichen Unterhaltungsstoff zu liefern. Ein Zeichen, eine Spur, ein Geräusch tragen die Phantasie in die schöne, unerforschte Welt der Vermutungen hinüber. Es ist die einzige Unterhaltung.
An einem Abhange holten wir unsere Europäer endlich ein. Es waren zwei junge blonde und kräftige Russen, dem Anscheine nach Arbeiter. In dem von einer Plane überdeckten Wagen wurde eine ebenfalls junge Frau mit einem Kinde an der Brust sichtbar. Wir wechselten einen Gruß: „Do svidania!“, unseren ersten russischen Gruß.
Jetzt kam der Orchon in Sicht, eingesäumt von einer durstigen Menge üppigwachsender Pflanzen. In Schlangenwindungen floß er durch sein unermeßliches grünes Tal, in dem Rinder weideten. Wir sahen den Fluß von der hohen Uferböschung aus. Einen Augenblick hielten wir ihn für den Iro. Dann wandte sich der Pfad nach Norden, stieg bergab und führte uns durch andere Ebenen, wo wir genötigt waren, unsere Untersuchungen von neuem zu beginnen. Wir überschritten kleine Wasserläufe, Nebenflüsse des Iro, in die wir erst hineinwateten, um den Grund zu untersuchen und die für den Übergang des Automobils geeignetsten Stellen ausfindig zu machen. Mächtige und schwer zu passierende Sanddünen kündigten die Nähe eines großen Flusses an. Endlich erblickten wir den Iro; klar und breit strömte er rasch dahin.
So hatten wir ihn denn erreicht! Wie aber hinüberkommen? War es möglich, ihn mit Hilfe des Motors zu durchfahren? Ettore watete in das Wasser hinein; er hatte aber noch nicht hundert Schritte gemacht, als wir es ihm schon bis an die Hüften reichen sahen. Er berichtete:
„Wir müssen eine andere Art ausfindig machen. Der Grund ist gut, aber das Wasser würde den Magneten bedecken. Die Zündung würde nicht mehr funktionieren, und wir würden plötzlich, mitten im Strom, stillstehen. Die Strömung ist sehr stark; zuweilen drohte sie mich mit fortzureißen.“
Wir dachten an den Bau einer Fähre. Um das Gewicht des Automobils zu tragen, wäre eine sehr große Fähre erforderlich gewesen und mindestens zwei Lagen Balken; wo sollten wir aber so viel Holz hernehmen? Als wir uns umsahen, entdeckten wir neben einem kleinen Gebüsch eine alte Hütte, die einer sibirischen Isba ähnelte, umgeben von einer niedrigen Palissadenwand.
„Kaufen wir die Hütte,“ schlug ich vor, „reißen wir sie ein, und wir haben genug Holz zum Bau einer Fähre.“
„Das würde vielzuviel Zeit kosten“, bemerkte der Fürst. „Sehen wir erst zu, ob sich nichts findet, was rascher fördert.“
Da traten einige Mongolen aus der Hütte und näherten sich uns. Es waren auch Frauen darunter, das Gesicht umgeben von der komischen, an ein Elefantenohr erinnernden Haartracht. Andere kamen am sonnigen Ufer entlang geritten.
Vielleicht konnten wir die Barke erreichen, welche die Wagen übersetzt, die auf der Straße über das Gebirge kommen? Es mußte einen Weg geben, der uns zu ihr führte. Wir fragten die Mongolen, von denen einige etwas russisch verstanden.
Nein, es gab keinen solchen Weg; weiter hinauf wurde das Ufer felsig. Wir mußten bis zu der von uns am Abend vorher befahrenen Straße zurückkehren und das Gebirge überschreiten, vorausgesetzt, daß dies möglich war.
Es gab noch ein anderes Mittel: den Magneten aus dem Automobil herauszunehmen und dieses dann an das andere Ufer zu ziehen. Der mit einer dicken Fettschicht überzogene Motor würde keinen Schaden leiden, wenn das Wasser nur nicht in die Zylinder eindränge.
Wir beschlossen, unverzüglich den Versuch zu wagen. Zunächst machten wir den Mongolen unser Vorhaben klar. Wir brauchten Ochsen; wir würden gut zahlen, müßten sie aber sofort haben. Sie gingen darauf ein. Nach kurzer Zeit sahen wir von irgendwoher eine Anzahl Ochsen ankommen unter Obhut zweier Hirten, die ihren langen Stachelstock schwangen. Bei diesem Anblicke gestanden wir feierlichst, daß die Mongolen das dienstfertigste und zuvorkommendste Volk der Welt seien.
Ettore, der auf dem Rücken ausgestreckt unter dem Automobil auf dem heißen Sande lag, arbeitete lange Zeit. Er nahm das Blech ab (wir nannten es den „Bauch“ nach einer gewissen Ähnlichkeit mit einem Pferdeleib), das von unten den Motor und das Geschwindigkeitsgetriebe schützt, schraubte sorgfältig den Magneten los und bedeckte die feinsten Teile der Maschine mit ölgetränkten Lappen; dann hüllte er den Magneten sorgfältig in seine Joppe und erklärte schließlich, alles sei bereit. Die Stricke wurden an dem Automobil befestigt und die Ochsen angespannt. Nun begann eine seltsame Bugsierschiffahrt über eine etwa 300 Meter breite Wasserfläche.
Zugleich mit den Ochsen und dem Automobil betraten sämtliche Mongolen das Bett des Iro; einige zu Fuß, andere zu Pferde, zu zweit und dritt auf einem Tiere reitend. Auch die Frauen bestiegen ihre Sättel, um den Schiffszug zu begleiten. Der Fürst erhielt ein Pferd zur Verfügung gestellt. Ich stand im Begriff, ebenfalls zu Pferd in aller Ruhe den Übergang zu bewerkstelligen, und war vor allem darauf bedacht, den photographischen Apparat durch Hochhalten aus dem wahrscheinlichen Bereich der Spritzer zu bringen, als jemand hinter mir auf meinen Sattel sprang. Es war ein Mongole, der dies ganz natürlich fand. Mit heiterer Vertraulichkeit hielt er sich an meinen Schultern fest, und so kamen wir selbander in brüderlicher Gemeinschaft ans andere Ufer.
Mitten im Flusse verschwanden die Räder des Automobils, und das Wasser schoß gurgelnd über den Boden der Karosserie. Die Ochsen zauderten einen Augenblick, als sie die Stärke der strudelnden Strömung spürten, die sie von ihrem Wege abdrängte; aber die Zurufe und der Stachelstock spornten sie zu neuer Kraftentfaltung an, und eine Minute später wohnten wir dem ungewöhnlichen Schauspiele bei, daß ein Automobil über und über triefend und unter Hinterlassung einer breiten nassen Spur aus dem Bade kommt. Von dem Augenblicke an, als wir an das linke Ufer gelangt waren, bis zu dem, als wir das rechte erreichten, waren zweieinhalb Stunden verflossen. Es ist dies viel Zeit zum Zurücklegen einer Wegstrecke von 300 Metern!
Eine halbe Stunde später waren wir marschfertig, um den letzten Zipfel der Mongolei zu durchqueren. Wir benachrichtigten die wackeren Mongolen von der Ankunft noch mehrerer solcher Wagen wie des unsrigen und fuhren ab. In diesem Augenblicke entbrannte unter den braven Leuten ein anscheinend wütender Streit über die Verteilung des Geldes. Man hätte sagen können, sie seien im Begriff, zu den Messern zu greifen, wenn man nicht wüßte, daß die Mongolen mit Entsetzen vor Blutvergießen zurückschrecken; ihre Religion verbietet es ihnen, und sie gehorchen ihr buchstäblich. Wenn sie sich an einem Feinde rächen wollen, so — erdrosseln sie ihn.
Wir fuhren rasch; wir hatten Eile, die russische Grenze zu überschreiten. Ich weiß nicht warum, aber wir hatten den Eindruck, als seien jenseits der russischen Grenze die Wegschwierigkeiten zu Ende. Wir gaben uns der tröstlichen Illusion hin, daß von nun an alles sich zu einer langen Reihe von Spazierfahrten gestalten werde. Auf den Karten waren von Kiachta an die Straßen mit zwei Linien statt mit einer bezeichnet. War das nicht der Beweis einer großen Veränderung? Diese beiden Linien erschienen uns köstlich. Wir schlugen alle Augenblicke die Karte nur zu dem Zwecke auf, um diese Linien mit dem Auge zu verfolgen und schon im voraus die Freude einer ununterbrochenen „60 in der Stunde“ zu kosten.
Etwa 40 Kilometer vom Iro entfernt traten wir in den Schatten majestätischer Kiefernwälder. Infolge des trockenen, glatten Geländes gab es eine rasche Fahrt im Walde. In wenigen Minuten fühlten wir uns schon unendlich weit vom chinesischen Reiche entfernt, obwohl die Räder unseres Automobils noch auf dessen Boden dahinrollten. Wir wechselten Worte der Bewunderung und Begeisterung, als seien wir unser Lebenlang nie in einem Walde gewesen. Zu Füßen der mächtigen geraden Stämme breitete sich ein weicher Rasenteppich aus. Wir atmeten Harzduft ein. Wir kamen an grünen Waldwiesen vorüber, die in uns die Lust erweckten, zu halten, uns auf einem alten gestürzten Stamme niederzulassen und uns des Schattens zu erfreuen.
„Wie schön!“ wiederholten wir. „Es ist wie in einem Parke.“
Wenn wir jetzt daran zurückdenken, so war die Schönheit gar nicht so außerordentlich, aber die Neuheit war groß. Der Bogda-ola hatte uns auch Wälder sehen lassen, aber nur von ferne, und hier nahm uns der Wald selbst auf. Der Unterschied ist ganz gewaltig, wenn man aus der Wüste kommt.
Der Weg war etwas sandig und infolge hier und da hervorstehender Wurzeln etwas holprig, aber verhältnismäßig gut. Nach einigen Stunden trat jedoch eine Veränderung ein, die uns den Wald unerträglich machte: der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt. Wenn der Sonnenschein fehlt, macht die Gesellschaft der Bäume traurig; sie fügt Schatten zu Schatten; die Dunkelheit wirkt beklemmend, weil sie gleichmäßig verbreitet ist, und erfüllt uns mit der ganzen Melancholie der Abenddämmerung.
Als wir aus den Kiefernwäldern herauskamen und der Horizont sich entfaltete, bemerkten wir im Norden eine schwarze Wetterwand. Unterhalb der düsteren, niedrig schwebenden, bleigrauen Wolken zog sie sich in der Form eines Nebelstreifens über die Erde. Sie verbreitete sich wie der Rauch einer sich rasch ausdehnenden Feuersbrunst. Die Luft war still.
Wir fuhren in ein sandiges Tal hinab. Eine kleine Wagenkarawane hatte sich hier gelagert. Das Benzin im Motor war zu Ende, und wir mußten aus den Behältern neues aufgießen; wir hielten daher. Mit einem Male wurde die Stille der Luft gestört, ein plötzlicher Windstoß fuhr heulend vorbei. Er war der Vorbote eines Orkans, der sich nach wenigen Minuten wütend auf die Ebene stürzte und Wolken von Staub aufwirbelte, die uns zwangen, die Augen zu schließen.
Es war der Abschiedsgruß der Mongolei! Wir erlebten ein in jenen Gegenden häufiges Schauspiel: einen Sandsturm. Wir befanden uns in einem Luftwirbel. Das Automobil wurde hin und her gerüttelt; wir hielten uns dicht an die Maschine, die uns als Windschutz diente. Die Richtung des Windes wechselte wirbelartig. Der Sand lief wie eine Flüssigkeit über den Boden hin; er bildete gelbe Ströme, häufte sich zusammen und erhob sich in Wirbeln. Der heftigste Anprall dauerte aber nur wenige Minuten, und nach einer halben Stunde ließ der Sturm mit derselben Schnelligkeit, mit der er gekommen war, nach. Wir sahen den Orkan sich entfernen, wie man auf der Erde den Schatten der Wolken dahinhuschen sieht.
Kiachta konnte nicht mehr weit sein. Es war 4½ Uhr nachmittags. Wir wollten rechtzeitig eintreffen, um vor Einbruch der Nacht noch die Geschäfte auf dem Zollamt zu erledigen und auf russischem Boden zu schlafen. Wir suchten daher die Fahrt zu beschleunigen, aber der Weg führte uns über Dünen, in denen die Räder einsanken. Der Sand lag lose und hoch und leistete uns einen immer größeren Widerstand. Die Laufräder begannen sich zu drehen, ohne sich fortzubewegen; sie schleiften auf dem Boden. Der Motor strengte sich an und erhitzte sich, und der Dampf strömte zischend aus dem Kühler. Es fehlte uns an Wasser, und aus Furcht, einen Teil der Maschine zum Schmelzen zu bringen, gewährten wir dem Motor lange Ruhepausen. Er verbreitete eine Hitze, die sich schon von fern bemerkbar machte, jedesmal aber warteten wir die Abkühlung ab. Während dieser Ruhepausen arbeiteten wir, ebneten den Weg vor den Rädern mittels des Spatens und schaufelten so viel Sand weg, bis wir auf eine feuchte, härtere Schicht stießen. Dann ging es wieder vorwärts; wir unterstützten die Anstrengungen der Maschine durch Schieben. Zentimeter auf Zentimeter rückten wir vor. Wir brauchten eine Stunde, um einen halben Kilometer zurückzulegen, und gelangten dann in steilem Aufstieg zum Gipfel.
Auf halber Höhe zeigte sich uns Kiachta. In der Entfernung von zwei Kilometern lag es in ein Tal eingebettet, um vor den Stürmen geschützt zu sein. Daher hatten wir es auch vorher nicht gesehen. Sie verbarg sich vor uns, die stolze Stadt!
Wir empfingen in der Tat von Kiachta den Eindruck stolzer Großartigkeit. Das Bild wuchs in unserer Phantasie ins Riesengroße, zu einem wahren Schönheitstraum. Wir sahen spitze Glockentürme, weiße Häuser mit Fenstern, Giebeldächer, Fabriken mit hohen Schornsteinen — alles wunderbare, unglaubliche Dinge! Diese Formen setzten uns in Erstaunen, weil sie uns vertraut waren. Es schien, als sei uns Europa bis zur Mongolei entgegengekommen.
So waren wir also angelangt! Wir fühlten Freude und Stolz darüber. Wir betrachteten diese Stadt, die zwischen dem Grün der Bäume weiß hervorschimmerte, als hätten wir sie erobert. Ihr Erscheinen war eine Überraschung, ihr Anblick eine Offenbarung.
Von diesem Augenblicke an prägte sich der Name Kiachta dem Geiste Ettores unauslöschlich ein und teilte sich hinfort mit Kalgan in die Ehre, alle Städte des russischen Ostens zu bezeichnen.
Vor Kiachta dehnt sich eine niedrige, regellose Menge kleiner Häuser aus: es ist Maimatschen, die letzte chinesische Stadt. Urga ist eine dreifache, Kiachta eine doppelte Stadt. Die Häuschen von Maimatschen drängen sich auf der Grenze der beiden Reiche an die slawischen Gebäude heran, als wollten sie sich deren Einmarsch entgegenstellen. Die russische und die chinesische Stadt liegen nicht wie in Urga weit voneinander entfernt, sondern berühren einander. Es sieht aus, als stießen sie sich, als suchten sie einander vom Platze zu drängen, als machten sie sich das Gelände Zoll um Zoll streitig. Die neutrale Zone ist nur wenige Meter breit — ein kleiner Rasenstreifen, auf dem sich einer Schildwache gleich der hohe Pfeiler erhebt, der die Grenze bezeichnet. Die Nachbarschaft hat kein vertrautes Verhältnis im Gefolge gehabt. Auf der einen Seite Stockchinesentum, auf der andern Stockrussentum. Eine Ansiedlung, die an der Wolga liegen könnte, ist mit einer solchen vereinigt, die sich am Jang-tse-kiang befinden könnte!
Was uns in Maimatschen in Erstaunen setzte, war der Umstand, daß sich hier die am schärfsten ausgeprägten Charakterzüge Chinas finden. Es gleicht weniger einem Orte der Provinz Tschili als einem von Hu-pe; es gehört mehr dem Süden als dem Norden des Reiches an. In der Tat stammen seine Bewohner aus der Umgebung von Hankou, aus dem eigentlichen Herzen Chinas. Sie kommen aus dem Lande des Tees und sind des Tees wegen nach Maimatschen gewandert. Kiachta und Maimatschen verdanken ihr Dasein einzig und allein dem Tee, der auf langen Reihen von Kamelen durch die Wüste kommt (oder besser kam). Kiachta nimmt ihn in Empfang, Maimatschen übergibt ihn. Dieser Ort ist Jahrhunderte hindurch der Mittelpunkt eines der größten Weltmärkte gewesen. Der Handel mit Tee hat fabelhafte Reichtümer von Hankou nach Moskau gebracht; sein Transport hat die Saat des Wohlstandes auf zwei Kontinenten zurückgelassen. Der Tee ist eine der reichsten Quellen des Gewinnes zweier Völker geworden, die in jenen Einöden ein dauerndes Kompaniegeschäft gegründet haben. Es sind China und Rußland, die miteinander im Vertragsverhältnisse stehen.
Die Bewohner von Maimatschen haben alle ihre Gewohnheiten, ihre Gebräuche, ihre Geschmacksrichtungen mitgebracht. Die Außenwände der Häuser sind roh, einförmig kahl und grau, weil der Chinese seinen Luxus nicht für die Vorübergehenden zur Schau stellt. Aber durch jede offene Tür sehen wir in das Innere großer, buntbemalter Höfe hinein und auf den Türpfosten, auf den spanischen Wänden, die die Blicke der Fremden abhalten sollen, auf den Pfeilern drehen und winden sich Drachen und andere lebhaft gefärbte Fabeltiere, gestikulieren bizarre Gestalten, fliegen Phönixe inmitten eines Gewirrs traditioneller Ornamente, erglänzen große vergoldete chinesische Schriftzeichen, die „langes Leben“ und „viel Glück“ bedeuten — die ganze ins Auge fallende Zusammenstellung von Dingen, die in China die Aufgabe haben, das Böse zu vertreiben und das Gute anzulocken. Eine derartige überströmende ornamentale und symbolische Fülle ist den echt chinesischen Ortschaften Chinas jenseit des Gelben Flusses eigen, wohin der tatarische Einfluß nicht gedrungen ist.
Die Bevölkerung von Maimatschen wurde durch unsere Ankunft in Aufregung versetzt. Man hatte uns von den sandigen Hügeln herunterkommen sehen, und alle Chinesen in ihren blauen Kleidern liefen, die Fächer bewegend, auf die Straße, kamen uns entgegen und drängten sich um uns, während wir durch die Stadt fuhren. Keine Frau befand sich unter ihnen. Es ist eine Eigentümlichkeit Maimatschens, die auffallendste, die sich in einer Stadt, die Tausende von Einwohnern zählt, denken läßt: es gibt hier keine Frauen. Ich weiß nicht, ob dies auf einer Bestimmung der Verträge mit Rußland beruht, das an seiner ganzen östlichen Grenze die Eroberungszüge der Fruchtbarkeit der gelben Rasse fürchtet, oder auf einem freiwilligen Entschluß der Chinesen, die davor zurückscheuen, sich fern von ihrer Heimat anzusiedeln, um nicht nach dem Tode gemäß ihren Anschauungen das schmerzlichste Exil, das der Seele, zu erdulden. Tatsache ist, daß Maimatschen eine Männerstadt ist.
Diese Seltsamkeit hat ein Gegenstück, das vielleicht nicht ganz außer Zusammenhang mit ihr steht: drei Li von Maimatschen entfernt liegt in der Ebene ein Jurtendorf, das einzig und allein von mongolischen Frauen bewohnt ist.
Ein junger Chinese winkte uns zu, wir möchten halten, und redete uns englisch an. Er wollte die Ehre haben, uns zu beherbergen, wenn auch nur auf wenige Minuten, wie alle seine Kollegen von Kalgan bis Urga diese Ehre gehabt hatten: es war der Vorsteher des Telegraphenamtes.
„Ich habe den Polizeikommissar von Kiachta von Ihrer Ankunft benachrichtigen lassen,“ sagte er, als er uns in seiner Privatwohnung empfing; „inzwischen können Sie sich erfrischen, sich waschen und etwas trinken.“
Wir befanden uns allerdings in einem unbeschreiblichen Zustande. Unsere Gesichter waren buchstäblich schwarz von Staub, und auf unseren Kleidern lag eine dicke Kruste der verschiedenen Schmutzarten, mit denen wir auf unserer Fahrt in vertraute Berührung gekommen waren: schwarzer Schmutz aus den Sümpfen, gelber aus dem Chara-gol, weißer aus dem Iro. Man brachte uns warmes Wasser, kaltes Wasser, Seife, Kämme, Handtücher, Kleiderbürsten und dann Zigaretten, Wein, Milch, Biskuits, eingemachte Früchte. Wir versuchten und kosteten alles; wir verwandelten uns äußerlich und innerlich. Endlich machten wir uns auf die Ankündigung hin, daß der Kommissar uns erwarte, dankbar und neu gestärkt wieder auf den Weg.
Eine Minute später verließen wir das Himmlische Reich. —
Neben dem Grenzpfeiler stand als Posten der erste Gorodowoi (Schutzmann), den wir zu Gesicht bekamen, in weißer Uniform, mit flacher Mütze, den Säbel am Wehrgehenk, die Brust mit roten Verschnürungen geschmückt. Er erhob die Hand und befahl:
„Stoi!“ — „Halt!“
Er grüßte steif, indem er zwei Finger an den Schirm seiner Mütze legte und die Hacken zusammenschlug, und sprang auf das Automobil. Auf dem Trittbrett stehend, gab er die einzuschlagende Richtung an und kommandierte:
„Vorwärts, rechts!“
Das Automobil bewegte sich gehorsam wie ein Rekrut.
Wir betraten den Boden des Russischen Reiches.
Transbaikalien.
Der amtliche Schutz. — Sibirische Gastfreundschaft. — Das Automobil und der Tee. — In der Richtung auf Nowi-Selenginsk. — Der Übergang über die Selenga. — Ein aufblühendes Land. — Die Eisenbahn.
Der Polizeikommissar von Kiachta empfing uns in seinem Amtszimmer und erklärte uns mit finsterem Gesicht, er befinde sich in der Notwendigkeit, mit uns von ernsten Dingen sprechen und uns einige wichtige Dokumente überreichen zu müssen.
Der Fürst und ich sahen uns fragend an. Der Ton unseres Gastfreundes hätte den Glauben erwecken können, als handle es sich um einen Verhaftungs- oder Ausweisungsbefehl. Aber bald sollten wir bemerken, daß er stets eine würdige, feierliche Haltung annahm, wenn er von amtlichen Geschäften sprach, welcher Art sie auch sein mochten, während er sich heiter und gewandt über alles sonstige unterhielt. Er ließ zwei getrennte Persönlichkeiten erkennen, die des Bureaukraten und des gebildeten Mannes, von denen jede ihre besondere Umgangsform und Sprechweise hatte. Im übrigen war er ein sympathischer Beamtentypus und wurde einer unserer besten Freunde in Kiachta. Er war ein kleiner, dicker, alter, gesprächiger, gebildeter und sprachenkundiger Herr. Jetzt hatte er sich in seinen amtlichen Ernst wie in eine Uniform gehüllt.
Er forderte unsere Pässe, um sie zu prüfen. Dann teilte er uns mit, daß die Zollverwaltung den Befehl erhalten habe, uns zollfrei passieren zu lassen, und überreichte uns, nachdem wir eine regelrechte Empfangsbescheinigung ausgestellt hatten, einige Schriftstücke, die von Petersburg gekommen waren und die ebenso viele Beweise des wohlwollendsten amtlichen Schutzes darstellten. Die russische Regierung hatte, als die Fahrt Peking–Paris projektiert worden war, durch das Ministerium des Auswärtigen es abgelehnt, die Verantwortung für die persönliche Sicherheit der Reisenden zu übernehmen, namentlich während ihrer Fahrt durch Sibirien. Wir waren daher angenehm überrascht, als wir in Kiachta ein amtliches Schreiben des Ministers des Innern erhielten, eine Podoroschnaja, einen Reisepaß, der alle Behörden ersuchte, uns im Notfalle Hilfe zu leisten, nebst einem Schreiben des Generaldirektors der Reichspolizei, das uns des väterlichen Schutzes aller Polizeiämter versicherte, und drei besonderen Erlaubnisscheinen, kraft deren es einem jeden von uns gestattet war, zwei Revolver bei sich zu führen.
Nachdem die Überreichung vor sich gegangen war, lachte der Kommissar, rieb sich die Hände und nahm die freundliche Miene eines liebenswürdigen Privatmannes an.
Er erzählte uns die letzten Neuigkeiten aus der Welt, um uns auf dem Laufenden zu erhalten: die Duma war aufgelöst worden; in Petersburg herrschte Ordnung; in Südfrankreich war Revolution; in der Nähe von Neapel hatte sich ein Automobilunglück zugetragen. Dann ließ er Champagner bringen und stieß mit uns auf den Erfolg unserer Fahrt an. Auch begleitete er uns persönlich nach dem Zollamte und stellte uns vielen Beamten, Herrn Sinitzin, dem Agenten der Russisch-Chinesischen Bank, und den angesehensten Persönlichkeiten der Stadt vor. Kurz, er war ein gefälliger und liebenswürdiger Führer.
Auf dem Zollamte mußten wir eine Erklärung unterzeichnen, in der wir, Fürst Borghese und ich, uns solidarisch verpflichteten, das Automobil über die Grenzen des Reiches zu bringen. Es war dies unser sehnlichster Wunsch, der hier protokolliert und zum Gegenstande einer feierlichen Amtshandlung gemacht wurde.
An der Maschine wurde eine Tafel mit einer Zahl — Nummer 1 — angebracht, und dieselbe Zahl wurde auf die Scheiben der Laternen gemalt. Dann wurden wir für frei erklärt. Herr Sinitzin lud uns in sein Haus ein, ein großes Holzhaus, in dem sich auch die Geschäftsräume der Russisch-Chinesischen Bank befinden. Nie werden wir den patriarchalischen, liebevollen Empfang vergessen, der uns hier zuteil wurde.
Das alte Haus war in voller Aufregung; es zitterte und knirschte vom Boden bis zum Keller unter den eiligen Schritten der barfüßigen Mägde, die in die charakteristischen traditionellen Trachten Sibiriens gekleidet waren; die Herdfeuer brannten beständig, weil die Tafel immer gedeckt blieb. Es kamen Schüsseln auf den Tisch, die homerischer Gastmähler würdig gewesen wären; riesige Rinderbraten, große gesottene Fische, Lammviertel, dampfende Borschtsuppe in Terrinen, die so groß waren wie Fischteiche, Berge von Kaviar, von Stör, von Lachs, von Eiern, von Pirowski, und Flaschen, gefüllt mit jederlei Art Wein und jederlei Art Likör, köstliche Früchte, die eigens aus Italien bezogen waren. In der Mitte des Ganzen summte ein riesiger Samowar wie eine zufriedene Katze. Was uns aber noch mehr zusagte, das war die ungeheuchelte, aufrichtige Herzensgüte, die Zuvorkommenheit, die Liebenswürdigkeit, von der wir umgeben waren. Wir empfanden in allem die Sympathie, die man uns entgegenbrachte, die Freundlichkeit, die Vertraulichkeit, das beständige Bestreben, uns vergessen zu lassen, daß wir Fremde und fern von der Heimat seien. Unsere Neigungen, unser Geschmack wurden studiert, und oft kam man ihnen zuvor. Ein beständiges Lächeln belebte aller Blicke. Die gute Frau Sinitzin, die in ihrer Unermüdlichkeit mitunter ihre Staatstoilette ablegte, um sich den üblichen Pflichten der Hausfrau zu widmen, war unaufhörlich um uns besorgt. Sie verschwendete an Fremde die Schätze ihres mütterlichen Empfindens, weil sie an die Schwelle des Greisenalters gelangt war, ohne Mutter gewesen zu sein. Sie hatte Falia, ein Burjatenmädchen, als Tochter angenommen, und dieses, einem wilden Stamme entsprossene Kind erheiterte ihr die Einsamkeit des Lebens. Falia brachte uns Blumen, und wenn sie uns nachdenklich und ernst sah, kam sie zu uns und lächelte uns an.
Fortwährend kamen neue Gäste zu Tische. Die Freunde betraten das Zimmer, nahmen nach kurzer Begrüßung Platz und verkehrten in der Familie mit einer Vertraulichkeit, die auf langjährigen Umgang schließen ließ. Man begreift, daß bei diesen Leuten alle Türen und Tore offenstehen; sie sprachen in einem Tone ernster, ruhiger Freundschaft, aus dem man ersehen konnte, daß auch die Tore des Herzens geöffnet waren. Viele der Erschienenen waren Teehändler; auch unser Gastfreund Sinitzin gehörte dazu. Alle diese einfachen und bescheidenen Männer von ungeschlachtem Körperbau, mit bärtigen Gesichtern und dem sanften Blick des russischen Muschik, die in Blusen aus sibirischer Seide gekleidet waren und riesige Stiefel an den Füßen hatten, waren Millionäre. Der Teehandel hatte sie reich gemacht.
Kiachta ist ein Städtchen von Millionären. In den kleinen, mit lebhaften Farben bemalten Holzhäusern, die sich längs der aus Brettern hergestellten Fußsteige hinziehen und durch ländliche Höfe voller Telegas und Schlitten voneinander getrennt sind, führen Familien, die einen Palast in Moskau oder Petersburg besitzen könnten, ein Leben wie Verbannte. Der Tee geht fast gar nicht mehr durch Kiachta; die Quelle ihres Reichtums ist seit etlichen Jahren versiegt, aber sie bleiben. Sie harren aus in dem Lande, das ihnen Wohlstand gebracht hat, sie bleiben in der Nähe ihrer alten prächtigen Kathedrale, die mehr Schätze birgt als alle Kirchen Sibiriens zusammengenommen. Die Liebe zu dem Orte hält sie hier zurück, die Unbekanntschaft mit dem Luxus, die Gewohnheit und auch die unbestimmte Hoffnung, daß die uralte Wüstenstraße sich wiederum mit Karawanen bevölkern, daß die kleine, jetzt so stille Stadt wieder zu geschäftigem Lärm erwachen werde.
„Sie haben keinen Begriff,“ sagte ein Zollbeamter zu mir, „was Kiachta vor sieben bis acht Jahren war! Sehen Sie diese breiten, öden Straßen? Sie reichten an manchen Tagen nicht aus, um das riesige Gewirr des Kommens und Gehens zu fassen. Es wurden täglich bis zu 50 000 Kisten Tee verladen. Jährlich kamen 25 000 000 Kilogramm Tee durch. Der große Umsatz begann im Oktober, und im November und Dezember war ganz Kiachta ein einziger großer Jahrmarkt und ein einziger Festplatz. Nicht einmal des Nachts begab man sich zur Ruhe. Oft schneite es, und die Leute freuten sich darüber, weil der Schnee die Straßen zu Schlittenbahnen umwandelte. Sinitzin und viele andere mieteten jeder im Sommer bis zu 500 Kamele, um die ersten zu sein, den neuen Tee auf die Messe nach Nischnij-Nowgorod zu schicken. Sehen Sie jene großen Gebäude aus Ziegeln, hinter der Kirche? Das waren die Lagerspeicher, der Gostinij Dwor. Hunderte von Arbeitern waren dort Tag und Nacht beschäftigt, die Ladungen aus der Mongolei zu öffnen, den beschädigten Tee auszusondern und die Kisten für die Reise durch Sibirien wieder zurechtzumachen, indem sie sie mit Kamelfellen bedeckten. Dort fanden die Versteigerungen statt, und Hunderttausende von Rubeln liefen um, als wären es Kopeken. Riesige Schlittenkarawanen gingen nach dem Baikalsee ab. Alle Höfe standen voll von Pferden. Am Abend fanden dann große Bälle und unaufhörliche Gastereien statt; in Troizkossawsk, der nächsten Stadt, befand sich ein Theater. Man trank, man lachte, man gab Geld aus, ohne zu rechnen. Jetzt, nachdem dieses Leben zweieinhalb Jahrhunderte gedauert hat, ist Kiachta eine tote Stadt.“
„Ist dieses Jahr wenig Tee durchgekommen?“
„Nichts.“
„Alles geht nach Wladiwostok?“
„Alles geht mit der Eisenbahn. Vor zwei Jahren trat während des Krieges ein Aufschwung ein, weil alle Eisenbahnlinien für die Truppen in Beschlag genommen waren. Aber jetzt ist es vorbei. Wie soll man mit der Eisenbahn den Kampf aufnehmen? Die Straßen sind ganz verödet, es benutzt sie niemand mehr. Sie werden es mit eigenen Augen sehen.“
„Aber die Verbindungen mit der transsibirischen Eisenbahn? Kiachta wird kein weltabgeschiedener Flecken bleiben!“
„Nein, aber jetzt benutzt man den Flußweg. Es gibt Dampfboote, die den Verkehr zwischen Werchne-Udinsk und Ust-Kiachta auf der Selenga vermitteln, und von hier bis Ust-Kiachta ist die Straße für Telegas noch gangbar.“
Die Auskünfte über die Straßen, die wir von allen Seiten erhielten, konnten nicht entmutigender lauten.
„Über die Maßen schlecht, schauderhaft, unwegsam!“ hatte uns der Polizeikommissar mit seiner dröhnenden Stimme gesagt. „Haben Sie Sümpfe in der Mongolei angetroffen? Sie werden noch schlimmere finden. Wissen Sie, welche Art von Sümpfen die Engländer mit ‚Bog‘ bezeichnen? Nun, Sie werden auf ‚Bogs‘ stoßen, wie Sie in Ihrem Leben noch nicht gesehen haben! Und Abhänge, daß Sie sich den Hals brechen können! Anhöhen, auf die Sie das Automobil nur mit Seilen hinaufziehen können! Und Sand, einen Meter hoch! Wollen Sie noch mehr wissen? Noch heute will ich durch meine Agenten die einzigen Leute befragen lassen, die jene Straße benutzen, die Telegraphenarbeiter, die die Linie auszubessern haben. Sie sollen alle Einzelheiten erfahren. Ich für meine Person bin unerschütterlich fest davon überzeugt, daß Ihr Automobil nicht durchkommt.“
„Ist es möglich?“ riefen wir mit schmerzlichstem Erstaunen aus und dachten dabei an jene hübschen Doppellinien der Landkarte. „Wir haben doch alle Schwierigkeiten der Straße zwischen Urga und Kiachta überwunden.“
Unsere Unfälle in der Mongolei interessierten alle Teemillionäre. Die Nachricht von der Fahrt Peking–Paris hatte in Kiachta ein Publikum gefunden, das darüber in Aufregung geriet. Neue Hoffnungen erwachten. Man erwartete mit Spannung die Erprobung des Automobils auf mongolischem Boden. Sollte es nicht möglich sein, das Kamel durch das Automobil zu ersetzen und die Konkurrenz der Eisenbahn bei der Teebeförderung zu besiegen? Unsere Ankunft versetzte die alten Teekaufleute in hochgradige Erregung. Wir hatten die Strecke von Kalgan bis Kiachta in 7 Tagen zurückgelegt, während die Karawanen 20 brauchten. Sie fragten uns nach tausenderlei Dingen, über die Kosten des Benzins, über die Möglichkeit, schwere Lasten zu befördern, über den Preis der Maschine. Sie diskutierten eifrig untereinander. Aus ihren Reden ersahen wir, welches der Hauptgrund gewesen war, der sie in Kiachta zurückgehalten hatte: sie erwarteten, daß die russische oder die chinesische Regierung die mongolische Bahn bauen würde, eine Bahn, die von der Logik der Dinge gefordert und daher unausbleiblich war.
Es kann noch viel Zeit vergehen, aber kommen wird die Bahn. Dann würde Kiachta, durch den Schienenstrang mit Hankou verbunden, allen chinesischen Tee direkt aus den Produktionsorten an sich ziehen. In die ruhige und geduldige Erwartung der mongolischen Linie warf das Automobil ein Fieber neuer Ideen und neuer Pläne hinein. Augenblicklich jedoch ist das Automobil, wenn es sich auch selbst in der Wüste als schnelles Verkehrsmittel bewährt hat, noch kein praktisches Beförderungsmittel. Die „Itala“ hätte nach Kiachta nicht mehr als 200 Kilogramm Tee bringen können, und zwar mit einem Kostenaufwand von ℳ 1,20 bis 1,60 für das Kilogramm.
Wie das dem Fürsten in Peking zugegangene Telegramm in Aussicht gestellt hatte, erhielten wir in Kiachta eine ausführliche Liste unserer Ersatzvorräte mit Angabe der Menge der einzelnen Gegenstände und der Entfernungen von einem Depot zum andern in Werst. An der Spitze der Liste stand Kiachta. Aber in Kiachta war auch nicht ein Tropfen unseres Benzins angekommen! Das Brennmaterial, das wir noch in den Behältern hatten, hätte vielleicht hingereicht, uns bis zum Baikalsee zu bringen, aber wir waren nicht sicher. Die sehr schwierige Straße von Urga hierher hatte den Motor oft zu angestrengter Tätigkeit gezwungen und den Benzinverbrauch erhöht. Wenn der künftige Weg ebenso schlecht war, so würde unser gesamter Reservevorrat aufgebraucht werden, bevor wir das nächste Depot erreichten! Hätten wir es dann in Wirklichkeit und nicht nur auf der Karte auffinden können? Würden wir nicht gezwungen sein, vielleicht auf Wochen hinaus festzuliegen?
Das Glück war uns günstig. Einer der reichsten Kaufleute von Kiachta hatte vor Jahren den Einfall gehabt, sich ein Automobilwägelchen und mit ihm eine große Menge Benzin kommen zu lassen. Das kleine Automobil hatte den guten Gedanken gehabt, infolge eines Schadens, dem der Schmied des Ortes bisher nicht hatte beikommen können, die Arbeit einzustellen; das Benzin war im Keller eines Magazins liegengeblieben und wartete sozusagen auf die unwahrscheinliche Gelegenheit, daß ein Automobil durchkäme. Herr Sinitzin, der als Agent der Russisch-Chinesischen Bank unser Depot hätte in Empfang nehmen sollen, erinnerte sich des Wägelchens seines Freundes und verschaffte uns das wertvolle Brennmaterial, nachdem wir das halbe Russische Reich vergebens mit dringenden Telegrammen bestürmt und uns schon entschlossen hatten, unser Glück zu versuchen. So vervollständigten wir unsere Vorräte.
Am Abend des 24. Juni erfuhr ich auf dem Telegraphenamt in Maimatschen, daß der „Spyker“ an jenem Tage bis Urga gekommen sei. Am 25. teilte mir dasselbe Amt mit, daß die beiden „de Dion-Bouton “ und der „Spyker“ bei Tagesanbruch Urga verlassen hätten. Am Nachmittag begann es zu regnen.
„Aha, die Bogs des Kommissars!“ sagten wir lachend zueinander.
Und wir dachten an die berüchtigten Sümpfe, an Moräste, die uns drohen sollten; bald würde der Regen jeden Durchgang unmöglich gemacht haben. Regen ist vorteilhaft, weil der Sand durch ihn fest wird; zuviel aber verwandelt den Sand in Schlamm. Und das schlechte Wetter schien anzudauern. Es war so beharrlich, daß es uns 500 Kilometer weit begleitete! An diesem Tage fiel einer jener dichten, gleichmäßigen, verdrießlichen Regen, die den Gedanken an den Herbst wachrufen, wenn es auch noch so warm ist. Am Abend teilte man uns mit, daß einige Mongolen von der Höhe der Dünen auf der Straße von Urga Lichter erblickt hatten, und man nahm an, daß dies die übrigen Automobile sein müßten. Uns erschien die Vermutung widersinnig. Sie hatten Urga am Morgen verlassen und konnten abends noch nicht in Kiachta eintreffen. In der Tat haben sie, vom schlechten Wetter überrascht, drei Tage gebraucht, um jene Strecke zurückzulegen. Wir entschlossen uns indes, am nächsten Tage aufzubrechen. Frau Sinitzin war über die Kühnheit unseres Plans erschrocken.
„Sie Ärmste!“ wiederholte sie des öfteren, indem sie uns mit tiefem Mitleid betrachtete und dabei seufzte. „Bei diesem Regen und im offenen Wagen! Ich will Ihnen wenigstens etwas zur Stärkung mitgeben.“
Als wir uns am frühen Morgen erhoben, fanden wir die herzensgute Frau emsig beschäftigt, umgeben und unterstützt von den Dienstboten. Die Küche war in voller Tätigkeit.
„Die Flaschen Wein hierher!“ rief Frau Sinitzin über den Rand eines mächtigen Weidenkorbes gebeugt. Eine Magd kam, die Arme voller Flaschen, die in dem Korbe verschwanden. „Rasch die gebratenen Hühner!“ — sechs Hühner folgten den Flaschen. „Ist das Lamm gekocht? Bringt es her!“ — ein dampfendes Lammviertel nahm in dem Korbe Platz. Und dann kamen noch Orangen, frisches Brot, alles schön in Papier eingeschlagen und verpackt.
„Mein Gott!“ rief sie aus, als ihr der Inhalt vollständig schien — „ich habe ja das Bier und den Kognak vergessen!“ Und sofort wurden noch weitere Flaschen in die leergebliebenen Stellen versenkt.
„Für wen sind denn diese Dinge?“ fragte der Fürst besorgt.
„Für Sie, Knjäs Borghese!“
„Ah, aber dies ist unmöglich! Du lieber Himmel, das sind ja Lebensmittel und Wein für ein ganzes Regiment! Nein, nein! Die Maschine ist schon zu sehr belastet. Und bei dem Morast, den wir antreffen werden! Es ist unmöglich, gnädige Frau!“
Ein aufrichtiger und dabei komischer Schmerz malte sich bei dieser Ablehnung auf dem Gesicht der gütigen Dame. Sie faltete die Hände und betrachtete uns schweigend. Dann bemerkte sie schüchtern, besorgt, uns allzusehr zu widersprechen:
„Sie wollen nichts mitnehmen? Auf eine so lange Reise? Wenigstens ein bisschen!“
Um sie nicht zu kränken, nahmen wir zwei Hühner und zwei Flaschen Wein, die Frau Sinitzin kopfschüttelnd in ein Säckchen steckte, als wollte sie sagen: „Sie kommen um vor Hunger und Durst, die Ärmsten!“
Es regnete fort und fort. Im Hofe stand das Automobil. Wir nahmen herzlichen Abschied von unseren Gastfreunden, die mit bloßem Kopfe vor der Haustür standen und uns glückliche Reise wünschten, und fuhren ab. Noch auf der Straße vernahmen wir ihre Stimmen, und sahen, als wir uns umwandten, wie sie uns ein letztes Lebewohl zuwinkten. Mit traurigem Gefühl dachten wir daran, daß wir höchstwahrscheinlich jene selbstlosen, herzensguten Freunde nie wiedersehen würden.
Kiachta schlief noch in der bleichen, kühlen Morgenfrühe. Wenige Minuten später kamen wir durch das benachbarte Troizkossawsk mit seinem kleinen grasbewachsenen Friedhof, der übersät war mit Kreuzen und Grabsteinen, die vom Regen abgewaschen waren. Ein Birkenhain lag im Mittelpunkte der Stadt, große Kasernen am äußersten Ende des bewohnten Teils, und großartige Schulen — Privatschulen, die von dem Reichtum des Ortes Zeugnis ablegten — erhoben sich neben den kleinen, weiß und blau gestrichenen Holzhäusern längs der ungepflasterten, schmutzigen Hauptstraße. Mancher Fensterladen öffnete sich, und heraus schauten verschlafene Frauengesichter mit ungeordneten Haaren und starrten uns verständnislos nach. Ein frühaufstehender Krämer war eben dabei, seinen Laden zu öffnen; er unterbrach seine Beschäftigung, als er uns kommen sah, und fuhr erschreckt in die offenstehende Tür zurück, wie um sich zu verstecken. Die an den Wegkreuzungen wachestehenden Gendarmen grüßten militärisch. An den kleinen Fluß mit steilen, grasbewachsenen Ufern, der die Stadt durchschneidet und auf dem sich im Winter die Knaben von Troizkossawsk und Kiachta mit Schlittschuhlaufen vergnügen, führten einige Kosaken ihre Pferde, die sich bei unserer Vorbeifahrt erschreckt bäumten, zur Tränke. Eine vom Exerzieren zurückkehrende Truppe in ihren schweren, grauen Mänteln marschierte wieder in die Kaserne, bis zu den Knien mit Schmutz bespritzt. Die Soldaten machten halt und traten aus Reih und Glied, um uns besser sehen zu können, wobei die Bajonette über ihren Köpfen hin und her schwankten.
Kaum waren wir außerhalb der Stadt, als uns die Straße, die mit einem Male zu einem schmalen Fußpfade geworden war, durch schweigende, dunkle Tannen- und Birkenwälder führte, in denen wir nichts hörten als das unaufhörliche laute Herniederrauschen des Regens. Wir zitterten vor Kälte in unseren triefenden Regenmänteln, in deren Falten das Wasser herunterrann.
War es möglich, daß wir der Mongolei noch so nahe waren, daß Maimatschen mit seiner Menge blaugekleideter Chinesen vom Jang-tse-kiang nur wenige Kilometer zurücklag? Die brennenden Wüsten, die weiten Steppen, auf denen Kamele und Antilopen in Freiheit leben, erschienen uns wie ein Traum. Der Wechsel war so plötzlich, daß er auf uns wie eine Gewalttat wirkte. Alles war verändert, die Landschaft, die Bevölkerung, das Klima. Wir fühlten uns wie durch einen Zauberschlag aus Asien heraus versetzt. Es war Rußland, das dasselbe ist an der Selenga wie am Dnjepr, an der Wolga wie an der Newa, Rußland, das sich innerhalb seiner Grenzen gleichbleibt, das weder asiatisch noch europäisch ist, das sich ebenso stark von China wie von Frankreich unterscheidet! Zar Alexander II. sagte, wenn ich mich recht entsinne, Rußland umfasse ein Sechstel der Erdoberfläche, und das ist wahr. Die wunderbare Gleichförmigkeit des Reiches macht es zu einem in der Welt allein dastehenden Staatsgebilde.
Der Wechsel entzückte uns. Wir fanden uns unvermutet in einer Umgebung, die der Heimat ähnlicher war.
Als wir aus den Wäldern herauskamen, erblickten wir Felder, umzäunt von rohen, aus jungen Kiefernstämmen hergestellten Gehegen, die erste Eigentumsteilung, das erste Anzeichen der Besitzergreifung des Landes, das wir nach Tausenden von Kilometern antrafen. Zwischen den Feldern standen schwarze, uralte Bauernhäuser. Der Regen verwischte die Farben in der Ferne, indem er einen dünnen Nebel über die Felder breitete, und ließ die Farben in der Nähe schärfer hervortreten; die vom Regen gebadeten Pflanzen erhielten eine unbeschreibliche Lebensfrische. Auch diese Wirkungen des Regens gefielen uns, die intensive Färbung, die Dunstschleier, an die unser Auge nicht mehr gewöhnt war; wir fanden bekannte Landschaftsbilder wieder. Wir begegneten Telegas; sie wurden von Muschiks in roter Bluse und Pelzmütze gelenkt, einige hatten an den Beinkleidern lange gelbe Streifen und trugen Militärmützen, es waren ausgediente Kosaken. Jeden Augenblick kamen Tarantasse vorüber, Lederkähnen auf vier Rädern ähnlich, die dauerhaftesten, aber auch unbequemsten Fuhrwerke der Welt, in denen man auf Stroh ausgestreckt liegt; gezogen wurden sie von alten Schindmähren, die von burjatischen Kutschern mit weitausholenden Peitschenhieben angetrieben wurden. Aller Augenblicke erschien eine Gruppe rohgebauter kleiner Häuschen neben der Straße; an dem größten war ein Wappen mit dem Doppeladler angebracht: es war ein Postamt. Da sauste der Postwagen, niedrig wie ein Schlitten, nach Art der Troika bespannt, im Galopp eine Anhöhe hinauf. Er kam von Ust-Kiachta. Die in ihre Mäntel gehüllten Reisenden, mit Pelzmützen bis über die Ohren, streckten neugierig die Köpfe heraus, um uns zu betrachten.
Die Straße war augenscheinlich von unseren Freunden in Kiachta fürchterlich verleumdet worden. Sie hatten uns so viel Schlechtes von ihr gesagt, daß wir sie schließlich beinahe vorzüglich fanden. Sie hatten einstimmig erklärt, sie sei schlimmer als die Straße nach Urga. Im Grunde war dies ganz natürlich; sie kannten ja die Straße nach Urga nicht, wohl aber die nach Werchne-Udinsk, und man ist leicht geneigt, von dem, was man kennt, Übles zu reden; was man nicht kennt, ist besser.
Wir fuhren über morastige Ebenen, gelangten glücklich über nicht immer leichte Aufstiege und nicht immer bequeme Abhänge, aber nirgends war etwas von Bogs oder von jenen so lebhaft geschilderten Abgründen zu entdecken. Ruhig und ohne Unterbrechungen fuhren wir unsere 20 Kilometer in der Stunde. Um 7 Uhr befanden wir uns in Ust-Kiachta an der Selenga. Wenige vom Wetter gebräunte Bauernhütten, eine kleine Kirche, eine lange schmutzige Straße. Und auf der Straße ein eleganter Polizeibeamter, die Brust mit Ehrenzeichen geschmückt, in einer Uniform von blendendem Weiß; er erwartete uns. Zwischen den Häusern erblickten wir das Wasser des Flusses.
„Wie kann ich Ihnen nützlich sein?“ fragte er höflich und grüßte, während das Automobil neben ihm hielt.
„Ist es möglich, die Straße nach Werchne-Udinsk zu verfehlen?“ fragte der Fürst.
„Nein,“ erwiderte der Beamte; „Sie brauchen nur der Telegraphenlinie zu folgen. Aber in Nowi-Selenginsk, etwa 65 Kilometer von hier, müssen Sie den Telegraphen verlassen und den Weg nach links einschlagen, um über die Selenga zu kommen; der Telegraph läuft am Ufer weiter.“
„Danke. Und ist eine gute Barke zum Übersetzen vorhanden?“
„Ja, aber ich fürchte, sie ist für das Automobil zu klein.“
„Wir werden ja sehen.“
„Wann beabsichtigen Sie in Werchne-Udinsk zu sein?“
„Heute abend.“
„Heute abend?“ fragte er verblüfft. „Aber es sind ja 250 bis 260 Kilometer von Kiachta! Wunderbar!“
„Wenn die Straße gut wäre, würden wir zu Mittag dort sein. Adieu und vielen Dank!“
„Wollen Sie nicht ein Glas Tee trinken?“
„Nein, danke!“
„Glückliche Reise!“
Im nächsten Augenblicke rief er:
„Wünschen Sie einen Führer? Einen Mann zu Pferd?“
„Nein, nein; es ist nicht nötig!“
„Folgen Sie nur dem Telegraphen!“
Wir folgten ihm auf grasbewachsenen Wegen, über weite Ebenen und bergauf über Hügel. Oft kamen wir an Stoppelfeldern vorüber, an Dörfern, die sich an den Fuß bewaldeter Anhöhen schmiegten — Anhäufungen von kleinen, schwarzen, gleichförmigen Holzhäusern, überragt von einer weißen Kirche mit spitz zulaufendem Turm und grünem Dache. In der Nähe der Häuser drehten Windmühlen langsam das graue Kreuz ihrer Flügel. Der Regen hatte aufgehört.
Die ersten sibirischen Dörfer, durch die wir kamen, erschienen uns entzückend. Der verführerische Reiz der Ruhe, der Zauber des Landlebens liegt über ihnen. Mit ihren kleinen, aus Baumstämmen gezimmerten, von Zäunen umgebenen Häusern, die untereinander durch Bretter verbunden sind, um trockenen Fußes unter freiem Himmel gehen zu können, wenn es regnet und die Straße schmutzig ist, machen sie einen äußerst malerischen Eindruck. Wir Bürger des Westens lieben das rohe Holz, die rohen, mit der Axt behauenen und zu Hauswänden gewordenen Balken, weil sie uns vom Walde, von seinem Schatten, von seinem Leben erzählen. Holz findet man überall in Sibirien, es ersetzt das Eisen, es ersetzt das Mauerwerk, liefert die Hausgeräte und oft die Arbeitswerkzeuge. Man könnte sagen, daß, wie es eine Stein- und Bronzezeit gegeben hat, es auch eine slawische Holzkultur gibt. All dies spricht uns an, weil es schlicht und einfach ist, dunkle, ferne Erinnerungen an ein primitives, aber freies Leben und die Sehnsucht danach in uns wachruft. Die Häuser mit dem überhängenden Dache, mit der von einem schmalen, über die Straße vorspringenden Vordache geschützten Tür, die zum Eintritt einlädt, mit den kleinen Fenstern, deren weißgestrichene Pfosten und Rahmen sich heiter von der dunklen Wand abheben, machen den Eindruck des Friedlichen und Heimeligen. Sie zeigen Blumen auf den Fensterbrettern und Vorhänge an den Fenstern und erwecken die Vorstellung eines gut behüteten Wohlstandes, der sich zu verteidigen weiß. Bald aber macht man die niederdrückende Erfahrung, daß das erste Dorf dem zweiten gleicht, das zweite dem dritten, das hundertste dem neunzigsten und so ins Unendliche fort. Die Häuser sind alle auf dieselbe Art gebaut, die Kirchen sehen sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Alles ist nach einer und derselben Schablone angelegt: eine breite Straße, um die Gefahren der Feuersbrünste zu verringern, und zu beiden Seiten von ihr die Wohngebäude; hinter den Wohnhäusern die Stallungen; in der Mitte des Dorfes, auf einer Wiese, die Kirche. Nichts, was einen Unterschied bieten könnte zwischen dem einen Dorfe und dem andern, den Namen ausgenommen!
Bei jedem Turme, der sich in der Ferne zeigt, hegt man die trügerische Erwartung einer Abwechslung. Die Kirche erscheint größer als die bisherigen, das Dorf schöner, und man wünscht, rasch hinzukommen, voll neubelebten Interesses und getrieben von dem Wunsche, etwas anderes als das ewige Einerlei zu sehen. Aber das Dorf gleicht doch den Nachbardörfern und auch denen, die in weiter Ferne liegen, wie ein Soldat dem andern. Rasch ruft die Gleichförmigkeit Eintönigkeit hervor und die Eintönigkeit Melancholie. Man denkt an die meisten Dörfer Italiens, von denen jedes seine besondere Physiognomie, seinen besonderen Gesichtsausdruck, seine besondere Persönlichkeit hat, die schon von weitem ruft: „Das bin ich!“
Einige Stunden führte uns die Straße von der Selenga ab in das kahle Tal ihres Nebenflusses Tschiko, den eine üppige Vegetation kenntlich macht. Nicht weit von der Mündung des Tschiko stoßen wir wieder auf die Selenga, deren weiße, milchige Fluten von üppigen, sich über das Wasser neigenden Gebüschen umrahmt sind. An dem Ufer stehen einige Bauernhütten, die aussehen, als ob sie den Fluß überschreiten wollten, um Nowi-Selenginsk zu erreichen, dessen weißen Kirchturm wir in wenigen Werst Entfernung über die Bäume hervorragen sahen.
Hier war der Ort unserer Einschiffung. Auf dem Flusse kam ein kleines, aus klaffenden Brettern verfertigtes Fahrzeug in Sicht. Wir stiegen ab. Die Barke befand sich auf dem andern Ufer des Flusses, wohin sie eine Telega befördert hatte, die in diesem Augenblicke zwischen den Gebüschen verschwand. Zwei alte Männer mit dichten, wirren Bärten näherten sich, begleitet von einigen barfüßigen Mädchen, die uns furchtsam betrachteten und bei unserem Nahen die Flucht ergriffen. Einer der Alten fragte, ob wir übersetzen wollten.
„Ja. Wird die Barke uns tragen?“
„Wieviel wiegt der Wagen?“
„120 Pud.“
„Das ist viel. Aber sie trägt sie, wenn nur der Wagen auf der Barke Platz hat.“
Er rief mit lauter Stimme den Bootsleuten zu. Die Barke setzte sich in Bewegung, getrieben von zwei langen Rudern, deren jedes von zwei Ruderern gehandhabt wurde, durchquerte den Fluß in schräger Richtung und legte an der Landungsbrücke an. Es war eine Fähre ohne Seitenwände, eine Art schwimmender Plattform. Wir maßen die Breite mit Schritten. Das Automobil hatte nur schräg darauf Platz. Wie sollten wir es auf die Fähre bringen? Mit der Kraft der Arme oder mit dem Motor? Würde die Landungsbrücke das Gewicht aushalten? Damals erschienen uns diese Fragen sehr schwer lösbar: wir machten unser erstes Schiffsmanöver durch.
Da wir über ein sicheres Auge und eine genaue Kenntnis der Maschine verfügten, konnten wir uns mit Hilfe des Motors einschiffen. Ettore ergriff das Steuerrad, ließ das Automobil rückwärtsgehen und schickte sich an, die Räder an den Punkten, die ihm der Fürst auf den Brettern bezeichnet hatte, den Punkten der größten Widerstandskraft, hinüberzuleiten.
„Fertig? Vorwärts!“ sagte Don Scipione.
Das Automobil fuhr an und sprang auf die Landungsbrücke, die von oben bis unten erzitterte. Die Bretter gaben nach und bogen sich wie Sprungfedern, als die Räder darüberfuhren. Die Vorderräder kamen auf die Fähre zu stehen. Aber in diesem Augenblicke bewirkte das große Gewicht der Maschine, das nur von einer Seite der Landungsbrücke getragen wurde, daß die Fähre sich unvermutet bis zum Wasserspiegel hinabneigte. Das Automobil befand sich mit den Vorderrädern um einen halben Meter tiefer als mit den Hinterrädern, die noch auf der Brücke standen. Ettore bremste. Die Seile, die die Barke festhielten — dünne Stricke — knarrten; wären sie gerissen, so hätte sich die Fähre vom Ufer entfernt, und das Automobil wäre ins Wasser gefallen. Die Seile wurden rasch verdoppelt, und die Bootsleute hielten sie gespannt. Die Maschine befand sich in einer Lage, die ein Zurück unmöglich machte. Sie ging entschlossen vorwärts und wandte sich nach rechts, um schräg auf die Plattform zu kommen. Auch die Hinterräder gelangten hinauf, und der Wagen nahm wieder seine wagerechte Stellung ein, ein wenig näher dem Wasser, aber vollkommen im Gleichgewicht. In dem Augenblicke, in dem das Automobil ganz an Bord kam, stießen die Russen einen Schreckensruf aus. Als sie den Wagen im Schwunge vorschießen sahen, hatten sie geglaubt, er würde seinen Lauf nicht mäßigen können und auf der andern Seite ins Wasser stürzen. Aber die kluge Maschine war mit einem Ruck in der richtigen Stellung stehengeblieben, als sei sie von dem langsam und sicher arbeitenden Arme eines Krans dorthingestellt worden.
Später machten Zufälle dieser Art auf uns keinen Eindruck mehr; wir gewöhnten uns an wackelige Landungsbrücken, an alte, aus den Fugen gehende Barken, an die mit Exaktheit gepaarte Kühnheit des Automobils.
Die Fährleute tauchten die Ruder ins Wasser und begannen kräftig zu rudern; hinter ihnen lehnte sich der Alte, eine kurze Pfeife zwischen den Zähnen, gegen das Steuer. Bei einer Wendung des Flusses sahen wir mit einem Male ein Dampfboot auftauchen.
Ein Ausruf des Staunens und der Befriedigung entfloh unseren Lippen. Mit liebevoller Bewunderung betrachteten wir das kleine alte Schifflein, das in der Richtung auf Ust-Kiachta stromaufwärts fuhr, mühsam durch den hohen Schornstein atmend, getrieben von einem großen Schaufelrade am Heck, das ihm das Aussehen einer fahrenden Wassermühle verlieh. Es war das erste Dampfboot, das wir nach so langer Zeit wiedersahen. Wir begrüßten in ihm einen bescheidenen Pionier der Zivilisation, einen vorgeschobenen Posten der gewaltigen Kraft, die die Weltteile erobert, einen Freund, den wir um Hilfe hätten bitten können. Es stellte für uns eine Verbindung mit dem Westen dar, dem wir entgegenfuhren. Seine Sirene heulte, um uns aufzufordern, ihm den Weg freizugeben, und diese Stimme hallte seltsam wider in dem von der Kultur abgeschnittenen Tale. Der Dampfer entfernte sich langsam, und wir betraten, geschaukelt von den Wogen, die er hinter sich erregt hatte, das andere Ufer des Flusses.
Einer der Fährleute zeigte uns den Weg; in der Nähe des Flusses lagen Sümpfe. Wir kamen mit leichter Mühe an ihnen vorbei und fuhren dann durch Nowi-Selenginsk, ein Dorf, das etwas größer war als die übrigen, eine Schule, eine Apotheke und mehrere kleine Läden mit verstaubten Fenstern besitzt. Beinahe unbemerkt passierten wir es auf seiner breiten, öden, grasbewachsenen Straße, und erst später, als wir wieder in die Ebene einmündeten, verbreitete sich die Nachricht unserer Durchfahrt von Haus zu Haus. Wir hörten hinter uns erregte Stimmen einander zurufen und Antwort geben, Fensterflügel heftig aufreißen, und sahen, wie Leute eiligst aus den Häusern stürzten, auf der Straße stehenblieben und uns nachblickten, während wir verschwanden. Wir überstiegen eine Reihe kahler Hügel, die noch frei von der Herrschaft der Menschen sind, und ließen die Selenga ostwärts liegen. Eine weite ruhige Wasserfläche bot sich in einem Tale unseren Blicken dar: es war der Hussin-See. Nicht ein einziges Dorf lag an seinen Ufern. Kein Nachen hat ihn je durchfurcht; es sind aber die letzten Jahre seines einsamen Schlummers. Die slawische Einwanderung nähert sich ihm langsam.
Nur selten trafen wir Postämter an, die sich stets zwischen zwei Hügel geflüchtet hatten, als fürchteten sie allein zu sein. Aber bald stiegen wir in ein Tal hinab, das von einem neuen Volke in Besitz genommen worden ist. Auf einer Strecke von 95 Kilometern, bis nach Werchne-Udinsk, durchquerten wir einen aufblühenden Landstrich. Die ganze Gegend an der unteren Selenga ist grün von neuen Ansiedelungen und Weiden, voll von Schaf- und Rinderherden, übersät mit Dörfern, erobert von der Arbeit des Menschen. Vor sieben Jahren war sie nur von einigen Burjatenfamilien bewohnt. Die Eisenbahn ist es, die dieses Wunder bewirkt hat. Die Ausbeutung Sibiriens hat begonnen.
Wenige Gegenden selbst des europäischen Rußlands zeigen sich so bevölkert und reich wie jenes abgelegene Tal Transbaikaliens, das vor nicht langer Zeit von Moskau eine Jahresreise entfernt war. Jetzt dauert die Reise 15 Tage. In diesem Unterschiede liegt das Geheimnis dieser wunderbaren Umwandlung. Die Entfernungen schwinden. Die unermeßlichen jungfräulichen Länder des slawischen Asiens haben sich dem Volke genähert, sich seinen arbeitsgewohnten Armen dargeboten. Die Eisenbahn sät Spannkräfte; auf fruchtbare Triften pflanzt sie die Arbeit. Massen von Landleuten ziehen dort hinaus, um sich eine neue Heimat zu gründen. Ganz Sibirien erwacht zum Leben. Fast unbekannte Landstriche, die nichts weiter waren als geographische Namen, werden allmählich zu Reichen, die sich dem Russischen Reiche angliedern werden.
Wir fuhren durch ganz neue Dörfer in der frischen Farbe des Holzes, die noch den Duft des Harzes der erst vor kurzem im Walde gefällten Stämme ausströmten. Die zuletzt angekommenen Landleute waren noch mit dem Bau ihrer Häuser beschäftigt und arbeiteten eifrig, um sie beim Eintritt der ersten Kälte fertig zu haben. Auch fern von der Straße, im Tale und auf den Abhängen der Hügel verstreut, bemerkten wir mitten im Grünen andere kleine Orte, aus denen sich die schlanken Kirchtürme erhoben.
Man arbeitete auf den Feldern. Es begegneten uns mit Heu beladene Telegas. Herden von Pferden und Rindern weideten selbst im Innern der Dörfer. Wir aber brachten unter diesen Herden eine Verwirrung ohnegleichen hervor: Pferde und Rinder scheuten und flüchteten vor dem Automobil; die Kinder, deren Spiele die Straße heiter belebten, liefen erschreckt in die Häuser zurück; die Frauen, barfuß, ein rotes Tuch um den Kopf geschlungen, beeilten sich, Hühner, Gänse und Schweine, ihre sämtlichen lebenden Schätze, in Sicherheit zu bringen; sie nahmen sich nicht die Zeit, nachzusehen, welche Gefahr ihnen eigentlich drohte. Es war ein Durcheinander von Geschrei und Flügelschlagen, von Gewieher und Hundegebell — kurz der Lärm eines aus seiner Ruhe aufgestörten Dorfes. Nur die Männer blieben unbeweglich und schweigsam. Verblüfft von der seltsamen, flüchtigen Erscheinung, unterbrachen sie ihre Arbeit und grüßten uns ehrfurchtsvoll, indem sie ihr blondes langhaariges Haupt entblößten und sich verbeugten. Sie verstanden nichts von jener unbekannten Macht, aber sie demütigten sich vor ihr. Wer mächtig ist, kann schaden; ihn zu grüßen, ist ein Zeichen, daß man sich mit ihm verbündet erklärt.
An manchen Punkten gewann die Landschaft ein malerisches Aussehen. Bald unterbrachen kleine von Fischerbooten durchfurchte Teiche mit ihren buchtenreichen Ufern die Ebenen der Felder und bildeten in der weiten Ebene glänzende himmelblaue Flächen; bald schlängelten sich klare Wasserläufe, beschattet von grauen Weidenbäumen, in ruhigen mäandrischen Windungen dahin und drehten die Räder einsamer Mühlen. Auf dieser Straße stießen wir noch auf Spuren Asiens, die letzten Anzeichen seines Rückzuges vor der weißen Einwanderung, auf Obos wie in der Wüste.
Es waren keine mongolischen, sondern burjatische Obos. Der Unterschied ist verschwindend. Der Burjate ist nur ein zur Hälfte russifizierter Mongole. Er spricht russisch, kleidet sich wie ein Muschik, trägt eine mongolische Mütze und mongolische Stiefel, bewohnt eine Isba, glaubt an Buddha, ist dem Zar ergeben, raucht aus einer chinesischen Pfeife und trinkt Wodka: das ist der Burjate. Der Hauptunterschied zwischen ihm und seinem Bruder in der Wüste besteht darin, daß er ab und zu den Boden bearbeitet, der Mongole aber nie. Der Burjate hat in der Tat den ersten Schritt zur Zivilisation getan: er ist ansässig geworden. Der Nomade wird immer Barbar bleiben. Die Zivilisation beginnt erst dann, wenn sich das Zelt in ein Haus verwandelt. Und wir sahen zwischen den vielen slawischen Dörfern auch burjatische. Auf ihren Holzhäuschen wehten kleine weiße Fahnen, vielleicht jene Gebetsfahnen, die bei ihrem Hin- und Herflattern die auf ihnen enthaltenen Gebete der Luft anvertrauen. Auch auf den Obos waren die heiligen Flaggen gehißt, und oft erhob sich mitten auf ihnen ein Baum, dessen Zweige mit Papierbändern geschmückt waren, die sich im Winde bewegten. Etwa 50 Kilometer von Werchne-Udinsk bemerkten wir zu unserer Rechten in weiter Ferne ein Lamakloster: eine Gruppe von Gebäuden mit chinesischen Dächern, die grün angestrichen waren wie die der orthodoxen Kirchen. Werchne-Udinsk ist der Mittelpunkt, die Hauptstadt des zerstreut wohnenden Burjatenvolkes, wie Kasan der Mittelpunkt der Tataren ist. Die Nähe der Stadt wurde uns vor allem dadurch angekündigt, daß wir zahlreichen Burjaten begegneten, die zu Pferd vom Markte heimkehrten; sie waren in Gruppen vereinigt, um sich im Notfalle besser verteidigen zu können. Sie grüßten uns nicht.
Um 6 Uhr abends gelangten wir auf den Gipfel eines Hügels. Der Umkreis des bergigen Horizontes tat sich vor unseren Blicken auf, und unser Auge schweifte über das weite Tal der Uda. In der blauen, verschleierten Tiefe der Ferne ahnten wir den Lauf der Uda, die nach Osten strömt, um sich mit der Selenga zu vereinigen und sich mit ihr in den nahen Baikalsee zu ergießen. Am Fuße der entfernteren, mit dichten Wäldern bestandenen und daher dunkleren Höhen bemerkten wir einen undeutlichen weißen Schimmer von Gebäuden, aus denen sich die dünnen Linien der Türme und spitzen Giebel erhoben: es war Werchne-Udinsk, welche Stadt an dem Zusammenfluß beider Ströme gegründet worden ist. Wir betrachteten sie lange, bevor wir in die Ebene hinunterstiegen und sie aus dem Gesicht verloren, und dachten dabei an die Wichtigkeit, die sie für uns hatte.
Werchne-Udinsk war nicht nur eine Etappe; es war das Ende eines langen Reiseabschnitts. Es war ein Wendepunkt. Von Peking an hatten wir eine nordwestliche Richtung eingeschlagen, und Europa lag westlich von uns. Die ganze zurückgelegte Strecke hatte uns unserem Ziele nur sehr wenig nähergebracht. In Werchne-Udinsk würden wir endlich auf einmal unser Gesicht dem Westen zukehren. Von hier aus begann die geradlinige Fahrt auf den Sonnenuntergang zu, der uns den Weg der Rückkehr in einer wahren Glorie von Licht erscheinen ließ.
Die Straße wurde schlecht. Wir sanken in tiefe Löcher ein und mußten durch Moräste hindurch. Wir durchquerten Wassertümpel, die wir erst mit den Füßen sondieren mußten, um uns von der Festigkeit des Grundes zu überzeugen. Wir wußten, daß wir auch über die Selenga auf einer Fähre übersetzen mußten, und suchten den richtigen Weg nach dem Übergangsort mitten in einem Gewirr von Pfaden, die von tiefen Radspuren herrührten. Die Ebene war sumpfig, unbebaut, bewachsen mit Zwergweiden, Binsen, der ganzen Vegetation der Sümpfe. Kleine Flüsse durchzogen sie in Schlangenwindungen; wir überschritten diese auf Holzbrücken, die aussahen, als seien sie vor vielen Jahren provisorisch angelegt und dann vergessen worden. Wir waren mit der Überwindung all dieser kleinen Schwierigkeiten beschäftigt, als ein langes, schrilles, lautes Pfeifen an unser Ohr klang, das wir sofort erkannten, und das uns freudestrahlend das Gesicht sofort nach der Richtung wenden ließ, aus der es ertönt war.
„Der Zug!“ riefen wir aus. „Der Zug!“
Wir erkannten deutlich die Linie der transsibirischen Eisenbahn jenseits der Selenga mit den roten Häuschen der Bahnwärter und den Telegraphenstangen, die am Fuße kiefernbedeckter Hügel entlang lief.
Zwischen den Bäumen schwebte ein weißes Rauchwölkchen hin und verlor sich in dem Kiefernwalde, begleitet von lautem, unaufhörlich wachsendem Dröhnen. Rasch brauste der Zug heran. Der Sieger, der Triumphator, der Eroberer Asiens fuhr vorüber! Er eilte auf Irkutsk, in der Richtung auf Europa zu. Er verband uns mit Europa. Ich weiß nicht, wie stark auf uns die Reise, das langandauernde Gefühl der Einsamkeit und der Abgeschlossenheit wirkten, Tatsache ist, daß der einfache und so gewöhnliche Anblick eines Eisenbahnzuges uns als etwas Neues und voll tiefer, unsagbarer Bedeutung erschien. Und in einem Ausbruche der Begeisterung begrüßten wir ihn mit einem stürmischen „Evviva!“
Die Fähre, die uns bald darauf von dem linken Ufer der Selenga auf das rechte übersetzte, war ganz verschieden von der, die wir am Morgen benutzt hatten. Sie bestand aus einer Plattform, die groß wie ein Tanzsaal war; sie beförderte ein Dutzend Telegas samt ihren Pferden auf einmal hinüber und würde mit Leichtigkeit auch eine Lokomotive getragen haben. Sie wurde durch die Kraft der Strömung selbst in Bewegung gesetzt. Wir fanden sie damit beschäftigt, die Wagen überzusetzen, die vom Markte in Werchne-Udinsk zurückkehrten, und die sich auf dem rechten Ufer angesammelt hatten, geduldig wartend, bis die Reihe an sie kam. Es war spielend leicht für unsere Maschine, sich einzuschiffen, die Fähre zu verlassen, in rascher Fahrt die steile Uferböschung hinaufzufahren und bald darauf in der Stadt einzutreffen, die sich zwischen der Uda und Selenga ausdehnt. Über und über weißglänzend bietet sie ein lebhaftes, malerisches Bild von jenem orientalischen Anstrich, den fast alle russischen Städte infolge der großen Zahl von Kuppeln auf den Kirchen und der spitzen, den Minaretts gleichenden Glockentürme haben.
Wir fuhren durch den Triumphbogen, und als wir auf die Hauptstraße gelangt waren, machten wir uns sofort auf die Suche nach unserem Benzinvorrat.
Der Triumphbogen fehlt in keiner dieser sibirischen Städte, die an der uralten Straße nach dem Stillen Ozean liegen. Natürlich ist er wie die Häuser, die Kasernen und die Kirchen stets von Holz, wenn er auch mitunter dem Marmor oder sonstigem Gestein täuschend ähnlich sieht. All diese Bogen wurden bei Gelegenheit des Aufenthaltes des jetzigen Zaren (damals war er Thronfolger) auf seiner Rückreise von Wladiwostok, wo er die transsibirische Bahn eröffnet hatte, errichtet. Nikolaus II. ist vielleicht der einzige russische Kaiser, der sein ganzes Reich bereist hat. Dies Ereignis verdiente wohl, daß man durch Triumphbogen daran erinnerte, selbst wenn sie nur aus Holz waren.
Wir fanden nirgends eine Spur unseres Depots. Aber der größte Drogenhändler willigte darein, uns all sein Benzin zu verkaufen — etwa 50 Liter, die beinahe den gesamten Vorrat des Ortes und der umliegenden Landstriche darstellten. Dort draußen wird das Benzin viel verwendet, aber nur tropfenweise, weil es noch nicht über die erste Periode seiner sozialen Tätigkeit, die der Fleckenentfernung, hinausgekommen ist!
Werchne-Udinsk ist eine Soldatenstadt, das große militärische Zentrum Transbaikaliens. Hier sahen wir die neuen Felduniformen des russischen Heeres, deren Einführung nach Beendigung des japanischen Krieges beschlossen wurde, nachdem die Sichtbarkeit der bisherigen Uniformen die furchtbaren Menschenverluste verschuldet und in nicht geringem Maße zu den Niederlagen in der Mandschurei beigetragen hatte. Jetzt steht an allen Grenzen der Kosak in der Khakiuniform Wache: eine große Tradition geht unter. Am Abend ertönten Trompetensignale aus den weißen Kasernen der oberen Stadt; Patrouillen durchstreiften die Straßen mit geschultertem Gewehr; Säbel- und Sporenrasseln hallte von den hölzernen Fußsteigen wider; zahlreiche Schildwachen zogen vor den Toren der öffentlichen Gebäude und der Banken auf. Als ich zum Telegraphenamte kam, fand ich es militärisch besetzt; Soldaten an der Pforte, Soldaten mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett in dem kleinen, für das Publikum bestimmten Raum, in den Diensträumen, vor dem Geldschrank. Ich glaubte meine Depeschen im Vorzimmer eines Gefängnisses niederzuschreiben.
Wir wohnten in dem besten Gasthaus, einer alten, aus Holz erbauten Herberge mit gewaltigen Öfen und Betten ohne Leintücher, die einen muffigen Geruch ausströmten, als seien die Ausdünstungen aller derer, die hier gewohnt hatten, darin zurückgeblieben. Seit Hsin-wa-fu hatten wir nicht mehr in einem Gasthause geschlafen. Schlafen ist in der Tat ein übertriebener Ausdruck. Denn es hatte den Anschein, als sei ein Heer gewisser kleiner Tierchen völlig an das Insektenpulver gewöhnt; sie hatten die Giftfestigkeit des Mithridates erlangt. Das Automobil ruhte in dem kleinen Hofe aus, in einem dem Einsturz nahen Schuppen, umgeben von leeren Fässern, Wagen, Kisten und Hühnern.
Um 3 Uhr früh waren wir schon wieder auf den Beinen und tranken schweigend ein Glas Tee. Es war bereits hell. Wir befanden uns auf dem Höhepunkte der hellen Nächte.
Es regnete.
An den Ufern des Baikalsees.
Längs der Selenga. — Ein widerspenstiger Aufstieg. — Im Sumpf. — Der verödete Weg. — Die Bolschaja Rjeka. — Myssowaja. — Nutzloser Versuch. — In Erwartung einer Antwort. — Eine außergewöhnliche Vollmacht.
Am 27. Juni um 4 Uhr früh befanden wir uns von neuem auf der großen Fähre der Selenga, um auf das linke Ufer des Flusses zurückzukehren, längs dessen sich die zum Baikalsee führende Straße in Schlangenwindungen hinzieht. Diesmal fanden wir die Fähre im Begriffe, eine Menge Wagen, die vom Felde kamen, nach Werchne-Udinsk überzusetzen. Es war die Szene vom Abend zuvor, nur umgekehrt. Schon auf der Hälfte des Weges zum Flusse riefen wir den Muschiks und den Burjaten zu, sie möchten ihre Pferde gut festhalten. Wir hatten schon die unversöhnliche Abneigung der sibirischen Pferde gegen das Automobil kennen gelernt. Die Begegnung mit einem Löwen hätte bei den frommen Pferden der Landleute kein größeres Entsetzen hervorbringen können. Die armen angespannten Tiere machten verzweifelte Anstrengungen, von der Telega loszukommen; sie gingen mit heftigen Kopfbewegungen rückwärts, erhoben sich vor Furcht wiehernd auf die Hinterbeine, warfen sich heftig auf die Seite, drehten sich um und befanden sich schließlich, fast immer schnaubend und zitternd, die Schnauze gegen die Telega gepreßt, in einer für die Flucht wenig günstigen Stellung — ohne daß dabei die verwunderten Landleute auch nur einen Finger gerührt hätten, um es zu hindern. Sie hatten nur Augen für uns; sie starrten uns offenen Mundes an, grüßten häufig und ließen ihre Pferde Pferde sein. Daher warnten wir sie schon von weitem: „Haltet die Pferde! Gebt acht auf die Pferde!“
Es herrschte eine Kälte fast wie im Winter. Die Muschiks und die Burjaten hatten ihre Pelzarmiaks und die Fausthandschuhe angezogen. In der feuchten Luft dampfte der Atem der Pferde. Wir überschritten wieder die Brücken vom vorigen Abend und wandten uns dann nach Westen zu. Wir begegneten niemand mehr. Der Schmutz war klebrig, und obgleich wir langsam fuhren, glitt das Automobil doch jeden Augenblick mit den Hinterrädern seitwärts, stellte sich quer, unempfindlich gegen das Steuer, und nahm einen Gang an wie ein Pferd bei der Volte. So oft wir konnten, schoben wir die Maschine auf den Rasen, wo die Räder etwas mehr griffen, und bahnten uns einen Weg durch das Heideland. Nach einer Stunde hatten wir große Lust, umzukehren. Wir befanden uns vor einer niedrigen Anhöhe, die wir sonst, ohne es zu merken, hinaufgefahren wären, die sich jetzt aber als unersteiglich erwies.
Dieser Art von Hindernissen gegenüber erfaßte uns die Wut. Wir hätten einen Fluß, einen Berg, einen Abgrund, irgendein anderes nennenswertes Hindernis vorgezogen. Aber nein; es waren 100 Schritte Wegs, die ganz harmlos aussahen. Die Strecke war von einem glitschigen Schmutze bedeckt, auf dem selbst der Schritt des Fußgängers unsicher ist und der Fuß dahinschleicht mit unwiderstehlicher Neigung, rückwärts statt vorwärts zu gehen. Die Räder machten es wie der Fuß. Sie drehten sich im Leeren. „Fahren wir etwas zurück!“ sagten wir uns.
Wir kehrten um. Mit einem Schwunge stürzte sich die Maschine zum Angriff, blieb aber am Fuße der Anhöhe stehen, wich schleifend, trotz angezogener Bremsen, zurück, drehte sich im Kreise herum, wandte sich zur Seite und machte zuweilen kehrt wie ein furchtsames Pferd. Wir versuchten es mit langsamer Fahrt, indem der Fürst und ich schoben und Ettore steuerte. Wir hatten Stücke Holz gefunden, die wir als Keile unter die Räder legten, und versuchten, Zentimeter um Zentimeter weiterzukommen. Aber an einem bestimmten Punkte glitt das Automobil wieder zurück und riß uns und die Keile mit. Hundertmal hatten wir begonnen, bald im Zickzack, bald in gerader Richtung. Der Motor arbeitete, ließ wahre Schätze von Benzin in Rauch aufgehen, erhitzte sich und schien ebenfalls gereizter Stimmung zu sein. Es gab am Fuße der Anhöhe tatsächlich keinen Fußbreit Weges mehr, der nicht von den Rädern zerwühlt worden wäre; er sah aus wie gepflügt.
„Und wenn man bedenkt,“ riefen wir aus, den Himmel betrachtend, in der Hoffnung, ein Anzeichen des Aufklarens zu entdecken, „wenn man bedenkt, daß eine halbe Stunde Sonnenschein diesen Weg ausgezeichnet machen würde!“
Die Sonne schien all das Schlechte, das wir ihr in der Wüste nachgesagt hatten, übelgenommen zu haben. Es regnete unaufhörlich. Da kam uns ein Gedanke: die Straße mit Baumzweigen zu bedecken. Wir machten uns daran, junge Kiefern abzuschneiden, die nassen Äste herbeizuschleppen und auf den Boden zu legen. Das Automobil nahm einen Anlauf, gelangte mit zwei stürmischen Radumdrehungen auf die Zweige und warf sie zurück wie ein Hund, der die Erde mit den Hinterfüßen wegscharrt; nachdem es das Werk unserer Hände zerstört hatte, blieb es befriedigt stehen und kehrte murrend ruckweise zurück. Wir hatten all unsere Hilfsmittel erschöpft. Was nun? Nach Werchne-Udinsk zurückkehren und auf besseres Wetter warten? An Ort und Stelle kampieren? Auf die Suche nach Muschiks gehen und sie um Hilfe bitten? Wir erörterten all diese Pläne, als der Fürst einen andern in Vorschlag brachte: zuzusehen, ob es nicht möglich sei, den Übergang an einer andern Stelle auszuführen.
Links von dem Pfade befand sich dichtes Gebüsch, undurchdringliches Pflanzengewirr, zur Rechten lag etwas höher als die Straße eine kleine Wiese, und jenseit der Wiese eine Schlucht, in deren Grunde die Selenga dahinfloß. Vom Fuße der Anhöhe konnte man auf die Wiese gelangen und sie auf dem Gipfel wieder verlassen. Die Wiese senkte sich nach der Seite der Schlucht zu. Ettore führte die Maschine rasch dorthin. In der Nähe des Gipfels sahen wir sie jedoch ihren Lauf verlangsamen und sich unversehens nach rechts, nach der Schlucht zu wenden.
„Links, links!“ schrie der Fürst in schrecklicher Aufregung.
Doch das Automobil hatte sich schon mit einer raschen Bewegung nach links geworfen und rollte auf der Straße herab. Es hatte das gefährliche Manöver nach rechts unternommen, um Kraft zu gewinnen und das Gefälle der Wiese gegen den Straßenrand hin zu benutzen. Wir stießen einen Seufzer der Erleichterung aus, maßen die überwundene Anhöhe von oben bis unten, drohten ihr in gerechter Entrüstung mit geballten Fäusten und setzten dann unsere Fahrt längs des Ufers der Selenga fort. Bald befanden wir uns über dem Flusse, der gegen das Ende seines Laufes immer schneller dahinströmt, als beeile er sich, in der ewigen Unbeweglichkeit des Sees Ruhe zu finden, bald zogen wir dicht neben seinen weißen, schäumenden Fluten einher. Das Tal verengert sich immer mehr; die Selenga zwängt sich zwischen Hügeln hindurch, die mit dichtem Kiefern- und Birkenwald bestanden sind. Die Eisenbahn, die sich am rechten Ufer entlang zog, kam auf einer prächtigen eisernen Brücke zu uns herüber. Von diesem Augenblicke an haben wir uns stets in ihrer Nähe gehalten.
Wir fuhren in Schlangenwindungen neben der Bahnlinie, passierten zu ihren Füßen manchen überschwemmten Brückensteg, überschritten ihren Damm und verließen sie, um sie bald darauf wiederzufinden. Wir glaubten wer weiß wie weit von ihr entfernt zu sein, während ihre Signalscheiben und die roten Dächer der Bahnwärterhäuschen immer wieder vor uns auftauchten. Sie hielt treue Kameradschaft. Wir sahen in der Ferne die kleinen einsamen Stationen, überragt von dem hohen, mit Holz bekleideten Wasserbehälter, durch den der Schornstein eines Wärmeofens hindurchgeht, um im Winter das Wasser vor dem Gefrieren zu schützen. Alle Augenblicke fanden wir die Straße durch eine Schranke versperrt; wir gelangten in den Bereich irgendeines Dorfes, auf das Kollektiveigentum einer Gemeinde oder einer Kosakenstanitza. Bei jeder Schranke befand sich ein Wärter, ein alter Mann, der in einer nahegelegenen Holzhütte hauste, die oft mit Erde zugedeckt war, um sie wärmer zu machen; aber der Wärter war an die Geschwindigkeit des Automobils nicht gewöhnt und kam oft erst aus seiner Hütte, wenn wir selbst schon die rote Holzschranke geöffnet und wieder geschlossen hatten und uns rasch entfernten. Verblüfft, regungslos blieb er stehen und blickte uns nach. Mancher machte das Zeichen des Kreuzes auf Stirn und Brust. Einmal kam ein Wärter beim Klang der Hupe und auf unser Rufen angerannt und blieb wie angenagelt stehen.
„Öffne doch gefälligst!“ sagten wir, das Automobil anhaltend.
Er rieb sich lebhaft die Augen, sah uns verdutzt an und begann sich von neuem die Augen zu reiben. Er glaubte zu träumen. In der Tat sahen wir in unseren großen, mit den Haaren nach außen gekehrten Pelzen und bei dem uns bedeckenden Straßenschmutz Menschen nicht allzu ähnlich, und jener riesige Wagen, der unter solchem Getöse von selbst lief, schien auch nicht besonders geeignet, einen Muschik von unserer menschlichen Natur zu überzeugen.
„Öffne, wir bitten dich!“
Der Alte rief, wie mit sich selbst redend, aus:
„Was ist denn das? Was ist denn das?“
Die Antwort, die er sich auf diese Frage erteilte, war wohl nicht sonderlich schmeichelhaft für uns, denn mit einem Male machte er kehrt, flüchtete rasch wie ein verfolgter Hase in seine Hütte und kam nicht mehr zum Vorschein. Solche Erlebnisse bereiteten uns großen Spaß.
Noch einen andern Wärter möchte ich erwähnen, dessen Haltung uns einen Augenblick zum Lachen reizte, aber nur einen Augenblick. Es war ein junger Mann mit einem kleinen blonden Bärtchen. Er lief herzu, um mit dienstfertiger, aber unsicherer, zaudernder Bewegung zu öffnen. Als er das Getöse des nahenden Motors hörte, öffnete er rasch die Schranke, gleichsam in Furcht, er könne nicht rechtzeitig damit zustandekommen. Dann sprang er mit einem verzweifelten Satze zur Seite und drückte sich gegen den Pfosten der offenen Schranke, den er mit beiden Armen umklammert hielt, um dem unbekannten, drohenden Ungetüm den ganzen Platz freizulassen. Als wir dem Manne ins Gesicht sahen, bemerkten wir, daß er blind war. Seine weißen, glanzlosen Augen waren in instinktivem angstvollem Suchen weitgeöffnet auf uns gerichtet; auf seinem abgemagerten Gesichte malte sich das Entsetzen. Er hatte gefühlt, daß etwas Schnelles, Übermächtiges, Geheimnisvolles in seiner Nähe vorüberkam, ihn aus seiner langen, grausigen, endlosen Nacht aufstörte. Wir aber empfanden Gewissensbisse über diese tragische Furcht.
Die Dörfer sahen wohlhabend aus. Die Isbas waren fast alle neu und groß. Es fehlte uns auch nicht an der gewohnten Avantgarde davongaloppierender Rinderherden, die uns in ihrem stürmischen Laufe mit Kot bespritzten. Aber wir hatten uns mit dem Straßenschmutze schon befreundet. Die Räder wühlten ihn auf und schleuderten ihn in Klumpen auf uns. Die Luft erfüllte ein Morastregen. Wir und das Automobil waren von oben bis unten damit bedeckt; wir hatten jeden Versuch aufgegeben, uns das Gesicht abzuwischen, und fügten uns darein, eine Erdkruste als Maske zu tragen. Wir glichen Statuen aus Ton, die man zu entwerfen begonnen hatte! Unter dieser Hülle hatte unsere ernste, gelangweilte Miene etwas Komisches an sich. Wir waren aber in jenem Augenblicke wenig geneigt, dies zu würdigen und Geschmack daran zu finden. Wir sagten, wenn wir uns betrachteten: „Wir sind Clowns!“ in demselben ernsten Tone, in dem wir sagten: „Es ist kalt!“
Es war in der Tat kalt. Es wehte ein Wind, der uns eisig durchschauerte. Ich saß auf dem Trittbrette, und auf meinen Beinen sammelte sich so viel Schmutz, daß diese in riesige, unförmliche Dinger verwandelt wurden, die sich als sehr schwer fühlbar machten, wenn ich absteigen mußte, um die Schranken zu öffnen. Unter dieser Kruste nasser Erde fühlte ich mich doppelt kalt. Aber zu meinem Troste wiederholte ich mir, daß wir uns im Sommer befänden! Glücklicherweise hörte in den ersten Stunden des Nachmittags der Regen auf. Ein Ostwind zerteilte die Wolken; ab und zu kam ein Stück blauer Himmel und ein Stück Sonne zum Vorschein, die uns sofort erwärmte; der Schmutz trocknete, und wir fühlten Wohlbehagen, als ob wir mit der lauen Luft eine Herzstärkung eingesogen hätten. Wir waren fern von jeder menschlichen Wohnung, mitten in endlosen Wäldern, auf einer malerischen, grasbewachsenen Straße.
Nach dem Bau der Eisenbahn verödeten jene Strecken der alten sibirischen Straße, die durch unbewohnte Gegenden führten, und die nicht dem Kleinverkehr zwischen den einzelnen Dörfern dienten. Die Natur eroberte sich die Straße schrittweise zurück und nimmt den Raum, der ihr von den Menschen geraubt worden ist, wieder in Besitz; von den Rändern aus rücken neue Pflanzen vor, breiten das junge Grün ihrer Sprossen aus, neigen ihre Zweige, die vom Gewicht des Schnees gebeugt oder abgebrochen sind, über die alte Straße, werfen ihre abgestorbenen Stämme auf sie, zertrümmern die verfaulten Pfähle, werfen die alten Einfriedigungen um und dringen von allen Seiten vor. Wir müssen jeden Augenblick den Kopf beugen, um nicht von den Zweigen getroffen zu werden. Zuerst hatte das Gras von dem Gelände Besitz ergriffen. Die Straße fing an zuzuwachsen wie eine ungeheuere, der Erde zugefügte Wunde, die unter einer Blütendecke heilt. Wir fuhren durch lauter Blumen; Büsche von Anemonen, Goldköpfchen, Ranunkeln, Primeln, Erdbeerblüten — Farben und Düfte tauchten in wunderbarer Pracht aus dem Schatten jener Bäume auf. Der sibirische Frühling nahte mit stürmischer Eile, wie um sich für die lange Verzögerung zu entschädigen, die ihm die Eismassen auferlegt haben.
Wir genossen den stillen Triumph der Pflanzen, schwelgten in dem wilden Zauber jener Gegenden, in denen sich keine Spur menschlicher Arbeit zeigte, die nicht uralt gewesen wäre. An manchen Stellen hatten Wasserläufe sich beim Tauen des Schnees gebildet, die Straße überschwemmt, sie zerstört, aufgewühlt, Steine und heruntergefallene Äste darauf gewälzt. Sie hatten das alte, ihnen von den Menschen gegrabene Bett verlassen und sich der Tyrannei der Gräben und Brücken entzogen. Die aus den Fugen gegangenen morschen Brücken erbebten und ächzten unter der Last des Automobils. Noch hatten wir nicht gelernt, sie zu fürchten.
Mitten im Walde stießen wir wieder auf die Eisenbahn, die wir vor einigen Stunden verlassen hatten. Zwischen den Bäumen erblickten wir ein Tal, hörten das Rauschen eines Wassers, und auf dem Gipfel einer niedrigen Anhöhe bot sich eine Brücke unseren Augen dar. In diesem Augenblicke hörten wir eine Stimme rufen:
„Halt, ihr Männer, halt!“
Ein Bahnwärter machte uns Zeichen. Als er uns halten sah, rief er:
„Die Brücke ist nicht mehr da! Sie ist eingestürzt.“
Wir stiegen ab. Es war in der Tat so. Von unten konnten wir nicht bemerken, daß nur der Brückenkopf stehengeblieben war. Ein breiter stürmisch brausender Fluß strömte auf dem Grunde der Schlucht dahin.
„Wie kommen wir hinüber?“ fragten wir den Wärter.
„Es gibt im Tale eine Furt. Halten Sie sich rechts und folgen Sie dem Waldwege: Sie werden schon eine finden. Es liegt eine Stanitza in der Nähe.“
„Wie tief ist das Wasser?“
„Ich weiß es nicht. Heute morgen sind Wagen durchgefahren.“
„Wie heißt dieser Fluß?“
„Bolschaja Rjeka“ (der große Fluß).
Wir folgten dem Wege, setzten mit Leichtigkeit über einen Bach mit klarem Wasser, drängten uns durch dichte malerische Gehölze, die voller umgestürzter Baumstämme lagen, und gelangten endlich an das steinige Bett der Bolschaja: der Fluß war sehr reißend und tief. Zur Zeit der Schneeschmelze muß die Bolschaja Rjeka furchtbar sein. Sehr breit und strudelreich, reißt sie Bäume und Felsblöcke vom Gebirge los, trägt sie davon, wirbelt sie im Kreise umher und zertrümmert sie. Ihr ganzes Bett war angefüllt mit riesigen Stämmen, Baumstümpfen, Ästen, die von der Wut des Wassers hierher gespült worden waren — mit einem toten, gefällten Walde, der hier in großartiger Unordnung und Verwüstung hingestreckt lag. Auf der anderen Seite des Flusses sahen wir einige Isbas. Ein junger Muschik, der eine Telega lenkte, kam auf unserer Seite aus dem Gebüsch heraus. Er hielt, betrachtete uns und grüßte.
„Wo ist die Furt?“ fragten wir ihn.
„Ich fahre soeben hinüber. Kommen Sie nur mit mir.“
Er ließ uns einen halben Kilometer zurückfahren und drang mit einem Male wieder in das Gebüsch ein. Dann kehrte er zum Flusse zurück und sagte:
„Hier ist die Furt. Passen Sie gut auf, wo ich hinüberfahre. Man muß den Fluß in schräger Richtung durchschreiten, auf jenen Punkt zu. Sie dürfen keinen Zoll breit von dieser Richtung abweichen!“
Er erteilte uns diese Belehrungen in freundlichem Tone, in jener liebenswürdigen Art, die die russischen Bauern an sich haben, und blickte uns dabei mit seinen blauen, klaren Augen an.
„Wie ist der Grund?“ fragte ihn Fürst Borghese.
„Steinig wie hier.“
„Bis wohin reicht das Wasser?“
„Es ist so hoch wie die Räder der Telega.“
Wir aber dachten an den Iro.
„Gibt es hier Ochsen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, es gibt hier keine.“
„Oder Pferde?“
„Jawohl; jeder hat Pferde.“
„Kannst du uns Pferde besorgen? Wir zahlen einen Rubel für jedes Pferd, und einen Rubel außerdem für dich.“
„Gut. Warten Sie hier.“
Er fuhr durch den Fluß und verschwand. Es verging eine Stunde und wir wurden schon ungeduldig, da sahen wir eine Anzahl berittener Männer auf dem andern Ufer daherkommen. Es waren unsere Leute. Sie ritten durch den Fluß, und als sie in unsere Nähe gekommen waren, grüßten sie würdevoll durch Abnehmen der Mützen. Es waren schöne kräftige Gestalten, Köpfe von blonden Heiligen auf Körpern von Riesen. Wie bei allen Muschiks fielen die Haare bis zum Halse herab; das russische Volk behielt die Haartracht der alten Krieger bei mit den dicht unterhalb des Nackens abgeschnittenen Haaren, als ob diese, wenn sie länger wären, noch heute das Tragen der Sturmhaube und des Panzers hindern könnten.
Die Männer schafften zuerst das Gepäck auf dem bloßen Rücken der Pferde hinüber; es machte den Eindruck, als ob eine Plünderung stattfände. Inzwischen hatte Ettore den Magneten, um ihn nicht herausnehmen zu müssen, mit einer undurchdringlichen wasserdichten Schicht mit Fett bestrichener Lappen umwickelt. Dann wurden die sechs Pferde vor das Automobil gespannt, und zwar mit den langen Seilen, die uns schon bei so vielen Gelegenheiten gute Dienste geleistet hatten; die Männer sprangen auf die Pferde, einer von ihnen setzte sich rittlings auf das Motorgehäuse. Ettore ergriff das Steuer, und die Maschine tauchte rüttelnd und hin und her schwankend in die Bolschaja Rjeka unter lauten Rufen, Peitschenhieben, Pferdegewieher inmitten einer Flut von Spritzern und Sprühern; wütend wurde die Maschine seitwärts vom Wasser angefallen, das mit gurgelndem Wogenschwall angeschossen kam.
Am andern Ufer setzten wir das Automobil rasch wieder in Marschbereitschaft. Die eingestürzte Brücke hatte uns einen Zeitverlust von drei Stunden gekostet. Wir wollten noch vor Abend Myssowaja am Ostufer des Baikalsees, 160 Kilometer von Werchne-Udinsk, erreichen. Die Muschiks zeigten uns den Weg. Wir verschwanden im Walde.
Es gibt eine einzige Gegend in Europa, die an diese Landschaft erinnert: Schottland. Dieselben bewaldeten Hügel, dieselben Pflanzen, derselbe wildmalerische Charakter und in der Ferne jener nordische Nebel, der die Farben sanft in melancholischem Schleier auflöst. Gegen 5 Uhr, nach dreizehnstündiger Fahrt, sahen wir endlich zwischen spitzen schwarzen Hausgiebeln die blaue Fläche des Baikalsees hervorschimmern. Sie erschien leuchtender, da der Himmel wieder klar geworden war.
In jenem heiteren Glanze konnten wir nur mit Mühe die 50 Kilometer entfernten Gebirge des jenseitigen Ufers entdecken. Nach Norden und Süden war der Wasserhorizont unbegrenzt. Den Baikalsee nennen die Russen ein Meer. In Wahrheit ist er der Breite nach ein See, der Länge nach ein Meer. Das Asowsche Meer ist um ein Drittel kleiner. Der Name Meer kommt dem Baikalsee von alters her zu. 200 Jahre lang wurde er für ein seltsames Meer süßen Wassers gehalten, und die russische Eroberung machte an seinem Gestade halt. Dann wurde sie von der Sehnsucht nach dem andern, dem salzigen Meere, weitergetrieben und drang bis zum Stillen Ozean vor.
Die Straße führte in Wellenlinien am See entlang; sie brachte uns dem Ufer manchmal so nahe, daß wir das rhythmische Anschlagen der Wellen auf den Sand vernahmen. Mit einem Schlage hörte der Wald auf. Er war nicht gefällt worden, er war abgebrannt. Auf den kahlen Hügeln waren verkohlte Stämme stehengeblieben: aufrechtstehende Baumleichen inmitten des Wustes der Zerstörung. Das Feuer ist der Hauptfeind der sibirischen Wälder; es entsteht, man weiß nicht wie, der Wind trägt es weiter und drängt es zurück. Wir dachten an das wunderbare und dabei furchtbare Schauspiel eines Brandes am Ufer des Sees, an die feurigglänzende Verwüstung, die sechs Werst Gebüsch auffraß und die, in der Nacht vom Wasser widergespiegelt und vom Himmel zurückgestrahlt, einem Nordlichte gleich bis zu den Ufern der Angara sichtbar gewesen sein mußte. Eine Stunde darauf betraten wir Myssowaja.
Myssowaja ist wenig mehr als ein Dorf: eine Reihe weißer Holzhäuser an sehr breiten, steinigen und schmutzigen Straßen, die wie das Bett eines Bergstroms aussehen, Fußsteige aus Brettern, ein grasbewachsener Platz, eine weiße Kirche mit grünem Dache, eine Kaserne — das ist alles. Aber dieses schlummernde und beinahe verödete Dorf hat eine Zeit der Tätigkeit und der Bedeutung gesehen. Als die Eisenbahn noch nicht um das Südufer des Sees herumgeführt worden war, war Myssowaja der östliche Hafen der großen, den Baikal befahrenden Dampfer. Ich entsinne mich der Zeit vor sieben Jahren, als es von Soldaten und Beamten wimmelte, als seine Zollämter bei jeder Ankunft eines Schiffes oder eines Zuges in lebhafter Tätigkeit waren, der Bahnhof mit Waren, mit Wagen, mit Reisenden angefüllt war, der Hafen durchfurcht wurde von Barken, von Schleppdampfern und von den riesigen Trajektbooten, von welchen jedes vier Züge in seinen weiten Bauch aufnahm. Und in der Nacht leuchteten die roten und weißen Lichter der Leuchttürme und des Semaphors auf, und der kleine, in der Nähe des Bahnhofs gelegene Gasthof füllte sich mit Leuten, die essend und trinkend den Abgang der Nachtzüge abwarteten.
Jetzt ist der Ort nicht wiederzuerkennen. Der Hafendamm, der einer der größten Holzdeiche ist, die ich gesehen habe, fällt in Trümmer, die Leuchtfeuer sind gelöscht, die Schiffe legen nicht mehr an, der See ist verödet, die Hafenkais bedecken sich mit Gras, niemand verläßt hier mehr die durchgehenden Züge, alles verfällt, verrostet, stürzt zusammen, und nur wenige Einwohner sind zurückgeblieben, man weiß nicht weshalb.
In Kiachta hatte uns unser Freund Sinitzin eine Empfehlung an den Starosten, den Bürgermeister, von Myssowaja mitgegeben. Er war sein Geschäftsfreund, sein Agent, der den Teetransport über den Baikal leitete, ein Weg, der nur im Winter mit Hilfe von Schlitten über den gefrorenen See hinweg offensteht. Wir suchten daher den Starosten auf, der uns gastfreundlich in seinem Balkenhause empfing, einer Isba, die etwas größer war als die übrigen. Er erwartete uns, er hatte etwas für uns, etwas für uns außerordentlich Wertvolles, das von Irkutsk an die Adresse „Borghese“ gekommen war: Benzin, Öl und Fett! Es waren die Lebensmittel des Automobils, das beinahe zum Hungertode verurteilt gewesen war.
Der Pristaf, der Chef der Polizei, ein Mann mit einem übermäßig dicken Bauche und einem übermäßig dichten Barte, erschien feierlich in Uniform, um uns zu besuchen. Er sah unsere Pässe nach und unterzog uns einem kleinen Verhör, um die geheimnisvollen Gründe zu erfahren, warum wir nicht wie alle reichen Leute im Zuge fuhren. Dabei goß er sich ein Glas von unserem Tee ein und blieb sitzen, uns schweigend beobachtend. Dann erschien ein Gendarmerieleutnant; dieser fragte uns höflich aus, schenkte sich ein Glas Tee ein und leistete uns Gesellschaft. Nach ihm kamen der Telegraphendirektor und andere Leute mit und ohne Uniform; das Zimmer füllte sich; wir waren der Mittelpunkt einer Gesellschaft, die sich in Permanenz erklären zu wollen schien.
Die Wahrheit war, daß in Myssowaja unsere Art zu reisen den Behörden revolutionär erschienen war. Als wir vor dem Hause des Starosten eintrafen, hatten sich einige Leute versammelt, Gendarmen kamen angelaufen, und wir hörten sie zwei, drei Personen, die sie bei Namen nannten, auffordern: „Ihr macht sofort, daß ihr nach Hause kommt!“, worauf die so angeredeten Personen gesenkten Hauptes wegschlichen. Es handelte sich anscheinend um politische Verbannte, von denen die Gendarmen fürchteten, daß sie mit uns in Beziehungen treten könnten. Aber wir besaßen ein zauberkräftiges Dokument: das Schreiben des Generalpolizeidirektors des Kaiserreiches! Es brachte eine ungeheuere Wirkung hervor. Aller Verdacht verschwand wie durch Zauberschlag, und wir gewannen sofort die größte und unverdienteste Hochachtung der Behörden. Wir nutzten diesen Umstand aus, um Auskunft über die Straße zu erbitten, die um den Baikal herum geradeswegs nach Irkutsk führt. Man lächelte über den Plan, Irkutsk auf diesem Wege zu erreichen.
Auf dem Programm der Fahrt Peking–Paris war der Übergang über den Baikalsee zu Schiff vorausgesehen. Es war richtig, so wurden die Flüsse überschritten, und der Baikalsee macht eher den Eindruck einer riesigen, den Weg versperrenden Wasserader als den eines Sees. Da aber ein Weg um den See herum existierte, so wollten wir ihn einschlagen. Die Auskünfte lauteten jedoch sehr schlecht. Bereits in Werchne-Udinsk hatte man uns gesagt, daß die Brücken über die hauptsächlichsten Flüsse eingestürzt und die übrigen im Begriff seien, einzustürzen. In Myssowaja wiederholte man dasselbe. Alle aber kannten die Dinge nur vom Hörensagen; niemand hatte diese Straße seit zehn Jahren mit eigenen Augen gesehen. Wir wollten das Unternehmen jedoch nicht aufgeben, ohne es versucht zu haben.
Ich muß gestehen, daß der Übergang über den Iro und über die Bolschaja Rjeka uns betreffs der Flüsse ein übergroßes Selbstvertrauen eingeflößt hatte. Wir glaubten nicht, daß die kleinen Flüsse im Süden des Baikalsees so bedeutend seien, daß sie nicht an einem erreichbaren Punkte ihres Laufes durchschritten werden könnten. Wir beschlossen also, am nächsten Tage auf diese hydrographische Entdeckungsreise auszuziehen. Die Maschine war in ausgezeichneter Verfassung — seit unserer Abfahrt aus Peking hatten wir nur einen einzigen Pneumatik am linken Hinterrade zu erneuern gehabt —, wir besaßen Brenn- und Schmiermaterial für 1000 Kilometer, Lebensmittel auf drei Tage; wir konnten uns daher in völlig unbewohnte Gegenden wagen.
Wir schliefen auf der Erde; denn wenn der Starost auch ein Zimmer hatte, so hatte er doch keine Betten — Betten sind in Sibirien ein Luxusartikel, da man hier im Winter auf dem warmen Ofen und im Sommer auf dem Fußboden schläft —, und am nächsten Morgen, 28. Juni, brachen wir nach einem herzlichen Abschiede von unserem Gastfreunde auf.
Wir sollten nur allzubald wieder zurückkommen!
Der Morgen war klar und kalt, wie er einem schönen Februarmorgen bei uns entspricht. Der See, der ruhig, ohne einen Wogenschlag, ohne ein Wellenkräuseln dalag, hatte die Durchsichtigkeit der Luft; er schien zu atmen. Nur der Baikalsee besitzt an sonnigen Tagen den Anschein ätherischer Leichtigkeit, eine vom Himmel zurückgestrahlte zarte Heiterkeit, die zu der grenzenlosen Ausdehnung den Eindruck unendlicher, leuchtender Tiefe hinzufügt. Das mit Wald bestandene Ufer streckte kleine Halbinseln mit üppigem Pflanzenwuchs in den See hinein; das Wasser warf ihr Spiegelbild zurück und ließ sie doppelt und schwebend erscheinen. Scharen von großen weißen Möwen schwammen auf dem See umher und machten seine Oberfläche dadurch kenntlich, daß sie sich von ihr abhoben. Unser Bewundern war von kurzer Dauer. Der Weg nahm unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und wir vergaßen bald den Zauber der Landschaft.
Die Straße war nicht nur verödet, sie war auch zerstört. Wir überstiegen steile Anhöhen, die die Wut des Wassers während der Schneeschmelze zerrissen, ausgewaschen und ausgehöhlt hatte. Es ging bergauf und bergab über richtige Stufen. Wir kamen über manche abschüssige Stellen nur hinweg, indem wir die Maschine einen raschen Anlauf nehmen ließen. Die Maschine schnaubte und stöhnte, sprang bei den Unebenheiten des Bodens in die Höhe und erhob sich beim ersten Ruck, den die Räder erhielten, als wollte sie sich in die Lüfte schwingen. Mitunter blieb sie kraftlos stehen, wenn sie schon beinahe bis zum Gipfel gelangt war, und mußte zurückgehen, um einen neuen, längeren und anhaltenderen Anlauf zu nehmen.
An andern Stellen war der Weg mit Gras bedeckt, mit wildem Gebüsch bewachsen, voll umgestürzter Baumstämme und vertrockneter Äste, die durch irgendwelche Überschwemmung hier abgelagert worden waren. An manchen Stellen in der Nähe des Ufers haben die auf dem Baikal wütenden Stürme die Palissaden abgeschlagen, das Land weggeschwemmt, und so einen Teil der Straße zum Einstürzen gebracht. Wir fuhren vorsichtig auf dem schmalen Straßenrande weiter, wobei wir den ruhig und durchsichtig daliegenden See unter uns betrachteten.
Die früheren Poststationen waren unbewohnt, halb zerstört, mit eingestürzten oder dem Einsturz nahen Dächern, herausgerissenen Türpfosten, grasbewachsenen Zimmern. Es sah aus, als ob die Stationen nach einem Kriege, nach einer Plünderung vergessen worden seien. Eine unbeschreibliche Verwüstung herrscht auf der alten sibirischen Hauptstraße, die zu verschwinden droht, nachdem sie die russische Herrschaft bis zum Stillen Ozean getragen hat. Sie ist schon tot und verwest jetzt. Wir sahen nicht mehr als eine letzte Spur dieser alten Erobererstraße. Wir fuhren in dem ausgetrockneten Bette eines Stromes der Menschheit und des Reichtums dahin. Jene Straße hat das Heer Murawjew-Amurskijs vorüberziehen sehen, der Rußland im fernen Osten die schönste Revanche für den Krimkrieg verschaffte, sie hat die Züge der Auswanderer und Deportierten, allen Schmerz und alle Kühnheit gesehen, die in 50 Jahren ein Volk zwischen dem See und dem Meere geschaffen haben, sie hat Millionen Gold aus den Minen von Blagowjeschtschensk und Millionen Silber aus den Minen von Nertschinsk auf von berittenen Kosaken begleiteten Wagen vorüberziehen sehen! Auf dieser Arterie, die einer Welt das Leben gegeben hat, mußten wir uns jeden Augenblick den Weg mit Axt und Spaten bahnen.
Die Geländer der Brücken waren umgefallen; niemand hatte sie herausgerissen, sie lagen da, umgestürzt von dem Gewicht des Schnees und der Gewalt der Stürme. Von den Brücken selbst hätte man sagen können, daß sie nur aus alter Gewohnheit noch hielten. Wir setzten zuviel Vertrauen auf diese Gewohnheit. Bei dem Überschreiten der ersten waren wir vorsichtig; später dachten wir nicht mehr daran. Wir waren überzeugt, daß sie viel stärker waren, als es den Anschein hatte. Manche Brücke erzitterte und knarrte, ohne daß dies jedoch Folgen gehabt hätte. Wir suchten den gebrochenen Brettern auszuweichen; die andern senkten sich und schwankten auf und nieder, trugen uns aber. Ein einziges Mal bemerkten wir auf einer kleinen Brücke einen Sprung; das Automobil zauderte einen Augenblick und hielt plötzlich, dann aber machte es einen Satz vorwärts auf festen Boden, während einige Bretter hinunterstürzten; auf der Brückenbahn öffnete sich, kaum daß wir darüber weg waren, ein klaffender Spalt.
Nach drei Stunden gelangten wir an die erste der drei berüchtigten eingestürzten Brücken, die über den Mischikafluß führten. Der Fluß war breit und reißend. Die Gipfel der Anhöhen ringsherum zeigten noch weiße Schneestreifen. Wir fanden längs des Ufers einen Pfad, der sich in der Richtung auf die Mündung des Flusses zu senkte. Wir folgten ihm und gelangten zu einer kleinen Gruppe von Häusern. Dort trafen wir einen Holzfäller, der im Grase saß und damit beschäftigt war, ein gewaltiges Paar Stiefel anzuziehen.
„Guten Tag!“ sagte er, ohne daß es schien, als ob die Ankunft eines Automobils auf ihn Eindruck machte.
„Guten Tag. Wo ist die Furt?“
„Es gibt keine Furt, Väterchen. Die Mischika ist tiefer, als ich groß bin.“
„Wie machst du es denn, wenn du hinüber willst?“
„Ich benutze diese Barke hier.“
Wir blickten nach der Richtung, in der der Mann zeigte, und gewahrten eine Art Kahn, der an einen am Ufer wachsenden Strauch gebunden und dessen Boden mit Wasser bedeckt war.
„Gibt es keine andern Barken?“
„Ja, es gibt noch eine andere wie die da.“
„Und wie kommt das Vieh hinüber?“
„Schwimmend. Sehen Sie dort, jetzt!“
In der Richtung auf den See, wo die Strömung ruhiger war, schwamm eine Anzahl Pferde langsam an das linke Ufer, wobei sie ein wenig abtrieb.
„Wie könnte man es anstellen, um diesen Wagen auf die andere Seite des Flusses zu schaffen?“ fragten wir den Holzfäller.
Er überlegte einige Zeit, während der er seine Stiefel vollständig anzog; dann erhob er sich und antwortete:
„Man könnte die Brücke wieder herstellen. Die Stützbalken sind stehengeblieben, und sie sind noch gut.“
„Gibt es Arbeiter hier?“
„Wir alle sind imstande, eine Brücke zu bauen. Es gibt Menschen und Holz im Überfluß.“
„Wieviel Zeit würde die Arbeit in Anspruch nehmen?“
„Mindestens acht Tage und sechs Mann.“
Wir begannen den Plan zu erörtern. Eine Brücke wieder herzustellen, war verlockend. Acht Tage zu warten, ließ sich ertragen. Aber wir würden eine eingestürzte Brücke über die Pereemma, eine über die Aososa, eine dritte über die Vidrina antreffen, ohne die kleineren zu zählen. Wir konnten uns doch nicht daran machen, alle eingestürzten Brücken des Russischen Reiches wieder herzustellen? Dies würde über das Programm einer Automobilfahrt hinausgehen.
Mußten wir also den Plan ausgeben, die Reise um den Baikalsee herum fortzusetzen? O nein, noch nicht! Ein neuer Plan tauchte in uns auf. Über jene Flüsse führten doch noch andere Brücken, und zwar ansehnliche: die Eisenbahnbrücken. Wäre es nicht möglich, auf den Bahnkörper zu gelangen, die Schienen entlang zu fahren, die Brücken zu überschreiten und dann jenseits der unpassierbaren Flüsse wieder auf die alte Heerstraße hinunterzusteigen? Wir hatten eben eine Station in der Nähe gesehen. Warum sollten wir nicht den Versuch machen?
Wir brachen also auf, erfüllt von neuer Hoffnung, und langten auf der Station an, die wir durch die Bäume hindurch erblickt hatten. Sie schien verlassen zu sein. Wir traten in den kleinen Wartesaal, an dessen Wänden große Tafeln mit Abbildungen hingen; sie zeigten, in welcher Weise man Verwundeten die erste Hilfe leisten müsse, und waren hier von der Kriegszeit her zurückgeblieben, als alle Stationen voller Truppen lagen. Im Saale befand sich niemand; die Türen waren verschlossen. Nachdem wir uns genügend über die erste dringende Pflege der Verwundeten unterrichtet hatten, begannen wir zu rufen, in der Erwartung, daß jemand erscheinen werde. Und siehe da, es erschien ein Gendarm!
Der Gendarm fragte nach unseren Pässen, Dokumente, die gänzlich unnötig waren, wenn man ein Schreiben des Generalpolizeidirektors des Kaiserreichs in Händen hat. Dieses Schreiben händigten wir dem Beamten der öffentlichen Sicherheit ein. Es war ein ausgezeichneter Bursche, dieser Gorodowoi. Er brauchte zwar etwas viel Zeit, um das Schreiben Silbe für Silbe zu lesen, aber schließlich begriff er. Er begriff und wurde unser Freund. Wir ahnten damals nicht, daß er einige Tage später für uns von geradezu unbezahlbarem Werte sein sollte.
Als wir dem Gendarmen unseren Wunsch, die Brücken benutzen zu dürfen, mitgeteilt hatten, erwiderte der Wackere:
„Das läßt sich sehr gut ausführen. Das ist meine Sache. Ich telegraphiere jetzt sofort an meine Vorgesetzten, teile ihnen mit, wer Sie sind, und die Sache ist abgemacht.“
„Aber,“ wandte der Fürst ein, „die Eisenbahnbehörden ...“
„Was haben die Eisenbahnbehörden mit der Erlaubnis, die Eisenbahnbrücken benutzen zu dürfen, zu tun? Die Polizei hat die Oberaufsicht über die Bahnlinie; auf den Brücken stehen Schildwachen, damit Verbrecher sie nicht in die Luft sprengen, und niemand darf ohne unsere Erlaubnis die Strecke betreten.“
Der Stationsvorsteher, der inzwischen dazukam und sich erkundigte, über was wir sprächen, fand die Sache viel schwieriger.
„Für meine Person,“ erklärte er, „würde ich Ihnen alles gestatten; ich würde Ihnen sagen: Fahren Sie sofort! Aber ich vermag nichts; die Polizei ist nicht zuständig, und die Eisenbahnbehörden können nichts erlauben, was gegen die Verordnungen verstößt. Die Regierung allein hat die Entscheidung. Sie müssen den Generalgouverneur von Sibirien in Irkutsk um die Erlaubnis bitten.“
Der Mut entfiel uns. Aber wir beschlossen, es zu versuchen. Wir wollten also an den Generalgouverneur telegraphieren. Wenn binnen zwei Tagen keine zusagende Antwort eingetroffen wäre, so würden wir uns darein ergeben, zu Schiff über den See zu fahren. Nachdem wir diesen Entschluß gefaßt hatten, machten wir uns auf den Rückweg nach Myssowaja. Es war eine demütigende Rückkehr, niemand wird es bezweifeln.
Es gibt etwas auf der Welt, was noch schwerer zu ertragen ist als eine große Anstrengung: deren Wiederholung! Schwierigkeiten zu überwinden und dann zurückgehen müssen, ist schlimm. Dazu kommt, daß eine als schlecht bekannte Straße doppelt mühsam ist; es geht ihr der Reiz der Neuheit ab, wenigstens wenn man es nicht als etwas Neues empfinden will, daß man das auf dem Abstiege findet, was vorher auf dem Aufstiege lag, und auf dem Aufstiege, was sich vorher auf dem Abstiege befunden hatte.
Der Himmel war gleichförmig weiß geworden; er hatte sich unmerklich mit Wolken überzogen, und man hätte sagen können, daß ein tüchtiger Schneefall im Anzuge sei. Es wehte ein kalter Wind, und der See bewegte wieder seine Fluten, die so weiß waren wie der Himmel.
Die eingestürzte Brücke würde uns viel Mühe bereiten, wenn wir sie so gut wie möglich wieder instand setzen wollten, und machte uns sehr besorgt, wie wir sie passieren könnten. Aber im Grunde genommen ließ sich auch diese Schwierigkeit ziemlich leicht überwinden. In den ersten Nachmittagsstunden waren wir wieder in Myssowaja, abermals die Gäste des wackeren Starosten, der uns herzlich wie das erste Mal empfing. Wir sandten sofort das Telegramm an den Generalgouverneur von Sibirien ab, in dem wir um die Erlaubnis baten, auf der Bahnstrecke fahren zu dürfen. Es blieb uns nichts übrig, als die Antwort abzuwarten.
In Myssowaja warten müssen, heißt die Bitterkeit der Deportation kosten! Wir hatten, offengestanden, wenig Vertrauen, daß jene Antwort rasch eintreffen werde. Der Gouverneur würde erst Beamte um Rat fragen betreffs Ort und Zeit, eine Untersuchung einleiten, die Sache vielleicht nach Petersburg berichten; dort würde der Minister des Innern die Angelegenheit an das Verkehrsministerium weitergeben, in dem ein höherer Rat einen Kommissar beauftragen würde, den Fall zu studieren und Bericht darüber zu erstatten ... Wir glaubten, einer der größten Schwierigkeiten, einem ungeheueren Hindernis gegenüberzustehen, gegen das sämtliche 50 Pferdekräfte des Automobils und alle Energie, über die wir verfügen konnten, nichts auszurichten vermöchten — einer Art von endlosem, grauem, weichem Gebirge, vor dem man nichts tun kann als abzuwarten und die Zeit und die Geduld zu Hilfe zu rufen! So schätzten wir die Bureaukratie ein. Wir hatten unrecht. Die russische Bureaukratie hat auf unserer ganzen Reise von einem Zollamte des Reiches bis zum andern für uns Wunder der Schnelligkeit selbständiger Entschließung vollbracht.
Während unserer Wartezeit durchstreiften wir Myssowaja. Wir gingen am Gestade des Sees spazieren und suchten zwischen den buntfarbigen Kieseln nach kleinen Onyxen und Achaten, klassifizierten die von den Wellen ans Ufer geworfenen toten Fische, kletterten auf den verlassenen Hafendamm und blieben vor den staubigen Schaufenstern eines kleinen Ladens stehen, um die ausliegenden verschiedenartigen Gegenstände zu mustern. Diese Unterhaltung verschaffte uns die Bekanntschaft des Apothekers von Myssowaja, eines aus den baltischen Provinzen stammenden Provisors, der uns zwischen seine Büchsen zog und uns den liebenswürdigsten Empfang bereitete. Die Apotheke wurde unser Lieblingsaufenthalt; wir brachten hier lange Stunden zu, schlürften unbekannte Liköre heimischer Erfindung und Herstellung und lauschten dabei den Jagdgeschichten des Apothekers, der Gewehre, Patronengürtel und Bärenfelle dicht neben den Flaschen mit Rizinusöl aufbewahrte. Er zeigte uns das dichte, noch frische Fell eines kleinen Bären, das zum Trocknen über einen Tisch gebreitet war. Man hatte es ihm soeben gebracht. Ein Jäger hatte das Tier mit einem Messerstich erlegt. Es gab Bären drei Kilometer von der Stadt auf der Hügelkette. Warum nicht eine Jagd veranstalten? Und hier, mitten unter den Drogen, entwarfen wir den Plan zu einer Jagd.
Von der Apotheke begaben wir uns nach dem Telegraphenamte, um Nachrichten von unseren Gefährten einzuholen. Sie waren gerade in Kiachta eingetroffen, und zwar in gutem Zustand. Sie hatten einen Teil des Weges auf unseren Spuren zurückgelegt. Am Iro waren jene wackeren Mongolen, als sie sie kommen sahen, treu der erhaltenen Weisung von selbst herbeigeeilt, um ihnen Ochsen anzubieten, indem sie durch Gestikulationen die Art und Weise klarmachten, in der wir das andere Ufer gewonnen hatten. Am Nachmittag desselben Tages, des 28. Juni, waren die beiden „de Dion-Bouton“ und der „Spyker“ nach Werchne-Udinsk aufgebrochen. Am nächsten Tage erfuhren wir, daß sie vormittags 9 Uhr an der Selenga bei Nowi-Selenginsk eingetroffen waren — dort, wo wir das erste Dampfboot gesehen hatten — und nach Überschreitung des Flusses um 11 Uhr weitergefahren waren. Wir rechneten aus, daß sie am nächsten Tage, 29. Juni, früh in Werchne-Udinsk und am 1. oder 2. Juli in Myssowaja sein könnten.
Zu Hause verbrachten wir die Zeit beim Samowar und machten eine Radikalkur in Tee durch, die nur unterbrochen wurde durch das Kosten der Sakuska, der russischen Vorspeise, die aus allen möglichen pikanten Bestandteilen zusammengesetzt ist. Der Pristaf kehrte zurück, es kehrten die Honoratioren des Ortes zurück, um uns schweigend Gesellschaft zu leisten, während die Menge in respektvoller Neugier vor der Tür haltmachte. Auch das Automobil, das im Hofe ausruhte, als guter Nachbar der alten Schlitten, die das Eis des Baikalsees kannten, erhielt seine Besuche; es war unaufhörlich umgeben von langhaarigen Muschiks in Filzstiefeln, von Kosaken und Kindern. Jeder, der durch die Straße kam, trat ein und sah es sich an. Außerhalb des Hofes standen stets wartende Pferde und Wagen. Wir mußten die Ungeduld des langen Wartens zügeln, als wir durch das mit blühenden Blumen geschmückte kleine Fenster den wieder klargewordenen Himmel beobachteten. Zwischen den Ranken hindurch sandten wir sehnsüchtige Blicke zu den Isbas längs des steinigen, verödeten Weges, der jetzt an der Sonne trocknete, und betrachteten den hinter ihnen unermeßlich sich ausdehnenden funkelnden Horizont des Baikalsees. Dann setzten wir uns wieder nieder und brummten:
„Wir verlieren wundervolle Tage, und wenn wir uns wieder auf den Weg machen, regnet es sicherlich!“
Am Abend des 28. Juni ließ sich ein Kaufmann bei uns melden, der den langen schwarzen Kaftan der russischen Juden trug. Er grüßte mit Unterwürfigkeit und fragte uns:
„Sie wollen nach Irkutsk reisen?“
„Ja, am 2. Juli.“
„Ich hätte Ihnen ein ausgezeichnetes Geschäft vorzuschlagen. Ich habe einen Dampfer im Hafen liegen. Wenn Sie wollen, so setze ich Sie in sieben Stunden nach Nikolsk oder Listwinitschnoje über, für den halben Preis der Eisenbahnfahrt.“
„Wann geht Ihr Dampfer?“
„Heute abend, wenn Sie wünschen. Er hat keine Ladung einzunehmen und kann sofort wieder abfahren. Ich würde auf Sie auch warten, sogar bis morgen abend.“
„Wir können keine Entscheidung treffen. Wir warten auf eine Antwort, die sich verspäten kann.“
„Gut. Überlegen Sie es sich —“, und als er schon auf der Schwelle stand, um fortzugehen, drehte er sich noch einmal um und wiederholte: „Also bis morgen Abend. Adieu!“
Der Tag verging, ohne daß eine Nachricht aus Irkutsk eingelaufen wäre. In der Nacht wurden wir durch starke Schläge, die gegen die Außenwand der Isba geführt wurden, geweckt. In diesen Häusern braucht man nicht an die Tür zu klopfen, um sich öffnen zu lassen; man nimmt einen Stein und schlägt irgendwo an die Holzwände, bis jemand hört. Es war ein Höllenlärm. Der Starost ging schlaftrunken an die Tür und kehrte mit einem Telegraphenboten zurück, der eine Laterne trug und mit einer Flinte mit aufgepflanztem Bajonett und einem Revolver bewaffnet war. Er brachte eine Depesche.
„Weshalb all diese Waffen?“ fragte ihn Fürst Borghese, während er beim Licht der Laterne die Empfangsbescheinigung ausstellte.
„Man kann nachts nicht ohne Waffen ausgehen“, erwiderte der Bote. „Die ganze Gegend wird durch Verbrecher unsicher gemacht, die einen überfallen, morden und ausrauben. Es sind die von Sachalin.“
„Die von Sachalin?“
„Ja, die Deportierten von Sachalin, die die Insel gegen die Japaner verteidigt haben. Sie wurden nach dem Kriege nach dem Festlande zurückgebracht und in der allgemeinen Verwirrung entflohen sie. Viele waren zur Belohnung für ihre Teilnahme am Kampfe freigelassen worden. Sie haben sich im Amurlande und in Transbaikalien zerstreut, haben die Gefängnisse erbrochen und die Verbrecher befreit. Sie brechen in Banken ein, begehen Straßenraub und verschwinden dann. Man lebt hier nicht mehr ruhig.“
Jetzt begriffen wir, weshalb uns die Polizei die Erlaubnis gegeben hatte, nicht einen, sondern zwei Revolver zu tragen. Ebenso wurde uns die sonderbare Frage: „Sind Sie nicht überfallen worden?“, die wir überall hören mußten, wo wir eintrafen, verständlich. In Werchne-Udinsk hatten Polizeibeamte, die in den Gasthof kamen, uns gesagt: „Bei der ersten verdächtigen Bewegung in Ihrer Nähe, namentlich des Abends, schießen Sie, schießen Sie sofort, aber achten Sie vor allem auf eins ...“
„Auf was?“ fragten wir.
„Daß Sie gut zielen, daß der Schuß nicht fehlgeht.“ Es war dies keineswegs in scherzhaftem Tone gesprochen.
Das Telegramm kam von Irkutsk und lautete: „Der Generalgouverneur befindet sich in Krasnojarsk, wohin ihm Ihre Bitte, über die Eisenbahnbrücken fahren zu dürfen, übermittelt worden ist.“ Wir legten uns wieder auf den Fußboden und murmelten einige wenig parlamentarische Worte über die Langsamkeit der amtlichen Bestellungen in Sibirien.
Am nächsten Tage, 29. Juni, saßen wir beim Provisor im Zimmer hinter dem Laden beim Frühstück und sprachen von der berühmten Bärenjagd, als die Glocke der Haustür erklang. Unser Gastfreund kam in kurzem mit geheimnisvoller Miene zurück, schaute ringsum, als fürchtete er, beobachtet zu werden, und sagte dann mit leiser Stimme:
„Es sind Gendarmen da! Zwei Gendarmen, die nach Ihnen fragen.“
„Nach uns?“
„Ja, nach Ihnen. Sie wissen, daß Sie hier sind, und sagen, sie müßten Sie auf jeden Fall sprechen. Es gefällt mir nicht.“
Wir gingen, um zu erfahren, was die Gendarmen von uns wünschten. In der Apotheke erwarteten uns zwei Gorodowoi. Draußen versuchten zaghaft einige Neugierige, unauffällig durch das Schaufenster zu sehen. Das Erscheinen von Gendarmen ist in Sibirien nicht immer ein gutes Zeichen. Vielleicht erwartete Myssowaja bereits die Verhaftung der geheimnisvollen Reisenden, die die Welt auf einer losgekoppelten Lokomotive durchjagten. Fürst Borghese stand im Begriff, nach seinen Papieren zu greifen und das berühmte Schreiben vorzuzeigen; aber diesmal waren es die Gendarmen, die ein Papier überbrachten, wobei sie respektvoll grüßten.
Es war der Erlaubnisschein, der sehnsüchtig erwartete Erlaubnisschein des Generalgouverneurs!
Wer wagt noch, von der Bureaukratie schlecht zu sprechen! Wir waren in heller Begeisterung und spendeten ihr Worte des denkbar höchsten Lobes. In der Tat haben sich die russischen Behörden uns gegenüber von unvergeßlicher Höflichkeit, Zuvorkommenheit und Gastlichkeit gezeigt. Die Erlaubnis, die wir erhielten, war ganz außergewöhnlich und einzig in ihrer Art.
Wir wurden ermächtigt, mit dem Automobil auf der Bahnstrecke zu fahren, alle Brücken zu überschreiten und, wenn nötig, auf diese Weise bis nach Irkutsk zu gelangen.
„Was müssen wir tun? Wann können wir abfahren?“ fragten wir die Gendarmen.
„Sie können reisen, wann Sie wollen. Das Streckenpersonal ist benachrichtigt. Auf den Stationen wird man Ihnen sagen, wann die Linie frei ist.“
Wir ließen natürlich die Bären im Frieden ihrer Wälder und verbrachten den Rest des Tages mit den Vorbereitungen zu jener seltsamen Fahrt zwischen den Schienen, Weichen, Signalen von einer Station zur andern!
Wir gingen dem spannendsten Ereignis unserer ganzen Reise entgegen.
Der Einsturz der Brücke.
Das Automobil auf der Bahnstrecke. — Die „Sechzehnte Rangierstation“. — Die alte Brücke. — Das Automobil stürzt. — Die Rettung. — Tanchoi.
Am 30. Juni früh 4½ Uhr verließen wir bei strahlend heiterem, aber kaltem Wetter Myssowaja zum zweiten Male und schlugen wiederum den am 28. zurückgelegten Weg ein. Wir nahmen zwei lange, uns vom Starosten überlassene Bretter mit, die wir auf dem Gepäck festbanden. Wir sahen voraus, daß wir sie brauchen würden, um auf unserer Fahrt zwischen den Schienen über die Weichen in der Nähe der Stationen hinwegzukommen.
Der Gedanke, mit dem Automobil auf einer Eisenbahnstrecke zu fahren, erschien uns so abenteuerlich, daß wir die Ausführbarkeit bezweifelten. Der Gedanke hatte sich unserem Geiste zuerst als die natürlichste Sache von der Welt dargestellt; als wir aber näher darüber nachdachten, fanden wir ihn schließlich widersinnig. Am Tage zuvor war die einzige Schwierigkeit das Ausbleiben der Erlaubnis gewesen; jetzt, da wir den seltsamen Plan ausführen wollten, sahen wir eine Menge Schwierigkeiten. Würden die Räder zwischen den Schwellen nicht steckenbleiben? Wie sollten wir über die in Ausbesserung begriffenen Strecken hinwegkommen? Würden wir rasch genug von der Strecke herunterkommen, um einem etwaigen Extrazuge auszuweichen? Würden die Schienenbolzen nicht die Pneumatiks zerreißen? Und wenn alles gut ging, konnten die Stöße einer langen Fahrt über die Schwellen hinweg nicht die ernstesten Folgen für die Festigkeit und Ausdauer der Maschine haben? Auf all diese Fragen antworteten wir: „Vedremo!“ und gingen vorwärts.
Wir wollten die Strecke auf der kleinen Station in der Nähe des Mischikaflusses betreten, an der wir zum ersten Male vor zwei Tagen gehalten hatten. Die abenteuerliche Fahrt sollte genau an dem Orte beginnen, wo der erste Gedanke daran entstanden war. Der nächste Zug nach Irkutsk würde von Myssowaja nicht vor 8 Uhr abgehen, und der nächste Zug nach Werchne-Udinsk würde mittags vorüberkommen. Wir würden also Zeit haben, zwischen dem einen und dem andern den Bahnhof von Tanchoi zu erreichen, das etwa 60 Kilometer von Myssowaja entfernt ist. Tanchoi ist die Erbin der Schiffahrt von Myssowaja. Der neue Hafen der Trajektboote wird vorgezogen, weil er dem Westufer des Sees näherliegt; die Überfahrt der Dampfer zwischen Tanchoi und der Station Baikal auf dem linken Ufer der Angara ist nur 40 Kilometer lang. Es gibt Flüsse, die breiter sind als diese Strecke, wie z. B. der Pará und der La-Plata bei Buenos Aires.
Wir legten geduldig zum zweiten Male den alten verödeten Weg zurück, der so malerisch und so schwierig ist, mit seinen zahllosen, dem Einsturz nahen kleinen Brücken, seinen steilen Abhängen und seinen Anhöhen, die man im Sturm nehmen mußte, den Weg, der sich bald an dem klaren See hinzieht, bald im Schatten der Wälder verbirgt. Wir hatten diesmal den Vorteil, ihn zu kennen. Der Fürst erinnerte sich bei seinem erstaunlichen Gedächtnis an alles. Er sagte zu Ettore, welcher steuerte: „Jetzt kommt ein Abhang; bremse! Jetzt kommen wir an die Brücke, die sich nach rechts hinüberneigt; halte dich links!“ Aber all dieses Wissen bewirkte nicht, daß wir mit größerer mittlerer Geschwindigkeit als 9 Kilometer die Stunde fuhren, so daß wir erst gegen 8 Uhr bei der kleinen Station an der Mischika anlangten.
Wir trafen wiederum den Stationsvorsteher und den Gendarmen, der an seine Vorgesetzten telegraphieren wollte. Der Stationsvorsteher hatte keine Nachricht von der Genehmigung unseres Gesuches erhalten, wohl aber der Gendarm. Dieser teilte uns mit, daß sämtliche Gendarmen und Wachtposten längs der Strecke von Irkutsk den Befehl erhalten hätten, uns passieren zu lassen. Der Stationsvorsteher seinerseits erklärte:
„Ich widersetze mich nicht. Ich weiß von nichts. Ich übernehme aber auch keine Verantwortung.“
Der Gendarm erklärte: „Ich werde Sie begleiten, und Sie werden überall durchkommen.“
So erhielten wir den schlagendsten Beweis von der Allmacht des Gendarmen in Sibirien.
Um dem wackeren Krieger einen Platz im Automobil zu überlassen, kletterte ich auf das Gepäck im hinteren Teile der Karosserie, auf das ich mich rittlings setzte, allerdings ein wenig durch die Anwesenheit der langen Bretter behindert, aber befriedigt durch die erhöhte Stellung, die mich die Dinge um mich herum von einem ganz neuen Gesichtspunkt aus betrachten ließ. Der Gendarm saß auf dem Tritte.
Um die Weichen und Signalvorrichtungen, die in großer Anzahl in der Nähe der Station vorhanden sind, zu umgehen, suchten wir weiterhin in der Entfernung von einem Kilometer einen Übergang von der alten Straße nach der Eisenbahn. Der Eisenbahndamm war ein paar Meter hoch, der Übergang aber bestand in einer kleinen Treppe zum Gebrauch des nächsten Bahnwärters, die sich wenig zum Aufstieg eines Automobils eignete. Dies war aber keine Schwierigkeit, die irgendwelchen Eindruck auf uns gemacht hätte. Mit Hilfe alter Schwellen, die wir in geschickter Weise aneinanderlegten, und der beiden Bretter konstruierten wir eine Fahrbahn, die die Maschine im Fluge benutzen konnte.
Endlich befanden wir uns auf der Strecke. Mit den rechten Rädern ragte die Maschine über das Geleis hinaus; wir luden in Eile die Bretter wieder auf, befestigten sie gut und nahmen unsere Plätze ein. Ich saß von neuem oben auf dem Gepäck wie ein Araber auf dem Höcker eines Dromedars. Wir fuhren los.
Der erste Eindruck war entzückend. Diese herrliche gleichmäßige, ebene, glänzende Straße war nach all den Abhängen, dem Gestrüpp, den Gebüschen, den Gräben der vormaligen Heerstraße von verführerischem Reiz. Geradlinig und über die umliegende Landschaft erhöht, machte sie den Eindruck einer Schwebebahn, einer riesigen Hängebrücke. All das war neu und gefiel uns vielleicht nur darum so gut. Wir fuhren langsam; wenn die Schwellen auch sehr nahe aneinanderlagen und mit einer Sandschicht bedeckt waren, teilten sie doch dem Automobil eine Schaukelbewegung, eine Art leichten Galopps mit. Als aber die Geschwindigkeit zunahm, wurde der Galopp heftig und ging schließlich in ein fürchterliches wildes Schütteln über, das die Maschine in Stücke zu reißen drohte. Wir begnügten uns daher mit einem ganz leichten Galopp, mit der Geschwindigkeit von 15 Kilometern in der Stunde. So gelangten wir zu dem ersten Bahnwärterhäuschen.
Der Wärter war natürlich ebensowenig wie der Stationsvorsteher über unsere Fahrt unterrichtet worden, die unter dem hohen und ausschließlichen Schutze der Polizei vor sich ging. Der Ärmste begriff nichts von dieser seltsamen Lokomotive, die ruhig neben den Schienen fuhr, er betrachtete sie voller Entsetzen und hielt sie schließlich gewiß für ein neuerfundenes Gefährt, das seine Probefahrt machte. Er stürzte in sein Häuschen, kam sofort wieder mit dem Stabe heraus, der „freie Fahrt“ bedeutet, und nahm die vorschriftsmäßige Stellung ein. Der Gendarm befahl zu halten, stieg ab, näherte sich dem Manne und ließ sich die rote Fahne reichen, die dieser zusammengerollt an seinem Gürtel trug. Dann schwenkte er dieses revolutionäre Abzeichen, kehrte äußerst befriedigt auf das Automobil zurück und rief:
„Um den Zügen das Haltesignal zu geben!“
Wir fuhren über zahlreiche kleine Brücken, die so breit waren wie die Schwellen und über tiefe Gebirgsströme führten, deren Gewässer wir durch die breiten Zwischenräume zwischen den einzelnen Schwellen schäumen sahen. Diese durchlöcherten Brücken, die aus voneinander abstehenden Bohlen bestehen, die nur von den Schienen zusammengehalten zu werden scheinen, sehen zum Entsetzen leicht und gebrechlich aus. Man weiß, daß sie fest sind, aber man sieht es nicht. Das Automobil fuhr mit den linken Rädern zwischen den Schienen und mit den rechten Rädern auf den schmalen, nach außen vorspringenden Teilen der Schwellen. Auf den Brücken rollten daher die rechten Räder im wahren Sinne des Wortes am Rande des Abgrundes hin; es handelte sich nur um wenige Zentimeter. Für einen stets aufmerksamen Führer mit sicherer Hand bot diese Fahrt in technischer Hinsicht keine Schwierigkeiten. Aber es war in jenen Augenblicken unmöglich, sich einer leichten, instinktiven, geheimen Erregung zu entziehen, die uns die Fäuste ballen ließ und nicht gestattete, das Auge von dem Laufrad und seiner Bewegung auf dem schmalen Rande, auf den in den leeren Raum hinausragenden Balkenenden abzuwenden. Man konnte sich nicht vollständig von dem Gedanken freimachen, daß, alles in allem genommen, unsere Sicherheit von den Fähigkeiten eines einzelnen Mannes abhing, und daß auch der Geschickteste einen Augenblick der Schwäche, des Unglücks haben kann; er kann einer Sinnestäuschung unterliegen, der Ermüdung infolge der fortwährenden Anspannung und Aufmerksamkeit anheimfallen.
Bald sollten wir die große eiserne Brücke über die Mischika passieren, die von fern aussah wie ein riesiger roter, 20 Meter über dem Flusse aufgehängter Käfig. Zur Sicherung der Brücke waren an beiden Enden mit Gewehren bewaffnete Soldaten aufgestellt. Alle Brücken von einer gewissen Bedeutung werden auf diese Weise militärisch bewacht. Man glaubt, eine Eisenbahn in Kriegszeiten zu befahren, die in einem dem Feinde zugänglichen Landstrich einem Handstreiche ausgesetzt ist. Der Eindruck, den man erhält, ist traurig, traurig vor allem, weil in der Tat ein Feind erwartet wird, und dieser Feind Rußlands ist russischer Herkunft!
Der Fluß, der uns zwei Tage zuvor aufgehalten hatte, toste jetzt im Schatten des Urwaldes um die hohen Pfeiler. Wir empfanden Genugtuung darüber, ihn zu überschreiten; es war uns, als ob wir Revanche nähmen. Als wir die Brücke hinter uns hatten, fuhren wir einige Zeit am Ufer des Sees entlang, den die Eisenbahn begleitet und von oben beherrscht. Dann entfernte sich der See, und die Wälder begannen von neuem. Die Gleichmäßigkeit der Straße, die uns anfangs so gut gefallen hatte, wurde uns langweilig. Eine regelmäßige, ebene Straße darf nur dann auf Verzeihung für ihre Einförmigkeit hoffen, wenn sie ein schnelles Dahineilen gestattet. An einer Stelle fanden wir die Strecke in der Ausbesserung begriffen. Eine Schar Arbeiter verlegte das Niveau einer Kurve. Die Schwellen lagen offen da, und der Galopp des Automobils nahm eine unheimliche Natur an. Es war nicht möglich, die Schnelligkeit zu mäßigen, weil die Gefahr bestand, daß wir steckenblieben; die Maschine sprang daher rasch über die Schwellen, lief von einer zur andern und stieß mit den Pneumatiks, deren Bruch wir jeden Augenblick befürchteten, gegen sie an. Zum Glück kehrten wir nach einigen hundert Metern dieses teuflischen Tanzes auf normales Gelände zurück. Wir gelangten an eine Station.
Es war 9¼ Uhr.
Die Station hat keinen Namen, sie hat nur eine Nummer. Sie erhebt sich in völlig unbewohnter Gegend und ist nicht zur Bequemlichkeit der Reisenden errichtet. Sie ist eine sogenannte „Dienststation“, angelegt zur Zeit des Japanischen Krieges wie so viele andere, um die Leistungsfähigkeit der Strecke durch Vermehrung der Zahl der Kreuzungspunkte zu erhöhen. Sie heißt „Sechzehnte Rangierstation“.
Wir werden die „Sechzehnte Rangierstation“ nicht sobald aus dem Gedächtnis verlieren!
Der Stationsvorstand, ein junger, blonder, höflicher Mann, teilte uns mit, daß der Zug aus Myssowaja gleich vorbeikommen werde und daß wir daher unsere Fahrt auf der Strecke nicht fortsetzen könnten. In Wahrheit fehlte bis zur Ankunft des Zuges noch über eine halbe Stunde, aber die Benachrichtigung war verständig, und es war weise, zur Seite zu fahren, um zu warten. Der Stationsvorsteher riet uns, die Fahrt auf der alten, noch gangbaren Heerstraße fortzusetzen und ihr bis zu einem in gleicher Höhe mit dem Eisenbahndamme liegenden Übergang zu folgen, wo wir auf die Strecke zurückkehren könnten. In der Tatsache wollte er aber in Ermangelung von Anordnungen nicht gestatten, an der Station auf die Strecke zurückzukehren, und schickte uns daher in höflicher Weise weit aus seinem Dienstbereiche weg. Wir befolgten seinen Rat. Es handelte sich im Grunde genommen um wenige Kilometer, und wir hatten deren Hunderte auf dem verödeten Wege zurückgelegt. Wir folgten getreulich einem Pfade, den er uns gezeigt hatte, und eine Stunde später rollten wir auf dem Grase der vermaledeiten Straße dahin.
Auch hier war genau wie auf jenen Strecken, die wir schon kannten, kein Zeichen eines vor kurzer Zeit erfolgten Verkehrs, nicht eine Wagenspur zu entdecken. Dichte Gebüsche rahmten sie zu beiden Seiten ein. Wir verloren die Station sofort aus den Augen und befanden uns von neuem in der grünenden und blühenden Einsamkeit. Wir hatten kaum einen halben Kilometer zurückgelegt, als sich uns eine alte Holzbrücke zeigte.
Sie war gegen 20 Meter lang und über 3 Meter breit. Sie reichte nicht an die Breite der übrigen Brücken heran und unterschied sich anscheinend von ihnen durch die Zusammensetzung der Bretter, durch eine gewisse Rohheit der Ausführung. Die Straßenbrücken bewahrten in der Regel, auch wenn sie vermorscht, gesprungen und halb verfallen waren, die Spuren einer großen Gewissenhaftigkeit der Arbeit, sie hatten etwas von einem alten Schiffe an sich. Man sah sofort, daß jene Brücke aus dem Holze einer andern eingestürzten erbaut war. Es fehlte jede Spur eines Geländers; sie war etwas krummgezogen und wies die Unregelmäßigkeiten und Unachtsamkeiten eines Provisoriums auf. Aber wir waren schon über viele provisorische Brücken gefahren, die nicht besser ausgesehen hatten. Sie überbrückte einen kleinen, drei bis vier Meter tiefen Fluß, dessen Ufer so dicht mit Gebüsch und Strauchwerk bewachsen waren, daß es schien, als wollten die Pflanzen ihre Zweige vereinigen.
Ettore mäßigte die Geschwindigkeit und hielt einige Augenblicke still, um zu prüfen. Vor jedem Hindernisse machten wir zum Zwecke der Beobachtung kurzen Halt, nahmen es in Augenschein, ohne das Automobil zu verlassen, sahen rasch den Übergang an und entschlossen uns sofort. Wir hatten Auge und Geist an tausend Problemen der Straße geübt, die untereinander so ähnlich und doch so verschieden waren. Sie wurden sofort nach der Analogie mit andern beurteilt. Mit sicherem Gefühle wandten wir die aus der Praxis gewonnenen Methoden an, wußten, wo rasches Handeln und wo Vorsicht nottat, erkannten instinktiv die Stellen, auf denen die Räder hinüberkommen konnten, errieten den widerstandsfähigsten Teil eines Brettes wie die Tiefe eines Gewässers oder die Tragfähigkeit eines sumpfigen Bodens. Hier gab es einen Augenblick des Zögerns, eine flüchtige Vorahnung der Gefahr. Aber es war nur ein Augenblick. Nicht jedes Bedenken war vollständig zerstreut, aber wir hatten, wenn wir auf Schwierigkeiten stießen, eine einfache Art, uns damit abzufinden; wir sagten nur: „Versuchen wir es!“
Der Gendarm war abgesprungen. Er hatte nicht unsere Erfahrung in bezug auf alte Brücken und urteilte nur nach seinem unbefangenen gesunden Menschenverstande. Er hielt es für notwendig, sich die Sache aus der Nähe zu besehen, in den Fluß hineinzuwaten und die Balken zu untersuchen.
„Warten Sie! Warten Sie!“
Er schickte sich zur Besichtigung an.
Der Fürst befahl Ettore:
„Fahre zu, aber langsam!“
Das Automobil fuhr auf den Bretterboden, der erzitterte, ein wenig knirschte und schwankte, wie es so viele andere unter dem Gewicht der Maschine getan hatten.
Wir wurden dadurch nicht besonders beunruhigt. Aber während dieser Überfahrten empfindet man stets ein undefinierbares Gefühl banger Erwartung und faßt die Geisteskräfte zusammen; man verfolgt aufmerksam den Gang der Maschine; man bietet die ganze Kraft seines Denkens auf, als wolle man die Energie des Geistes zu der Arbeit der Materie hinzufügen, um mit der mächtigen Willensspannung zu helfen, zu stützen, zu schieben, zu leiten. Ich erinnere mich nicht, daß wir in solchen Augenblicken je ein Wort gewechselt hätten.
Der vordere Teil des Automobils war schon über die Hälfte der Brücke gekommen und näherte sich dem grasbewachsenen Rande der Straße. Die Gefahr schien vorüber. Mit einem Male hörten wir ein fürchterliches Krachen! Die Fahrbahn hatte unter dem Gewicht des hinteren Teiles der Maschine nachgegeben, sie brach und splitterte auseinander; die ganze Brücke öffnete sich und stürzte zusammen. Dieser sich plötzlich auftuende Schlund erschien uns, die wir uns in der Mitte befanden, in diesem Moment so breit und tief wie ein Abgrund.
Der Motor schwieg. Das Fahrzeug wich in demselben Augenblick, in dem es zum Stehen kam, mit einer plötzlichen, schweren Bewegung zurück und schlug mit seinem unteren Teile auf die Reste der Fahrbahn auf. Dann erhob es in unaufhörlicher Bewegung, die uns nicht zum Nachdenken und zur Besinnung kommen ließ, die Vorderräder in die Luft, während es mit dem hinteren Teile versank und in einer fürchterlichen Pendelschwenkung eine senkrechte Stellung annahm. So stürzte das Automobil in den Fluß hinab bis auf den Grund und riß uns alle mit sich unter dem fürchterlichen Getöse von zersplitterten, geborstenen, losgerissenen Brettern und Balken. Als der Wagen in das Wasser des Flusses eintauchte, blieb er nicht stehen. Er setzte seine Kreisbewegung fort und stürzte nach hinten, um auf den Rücken zu fallen, bis ihn ein Balken aufhielt. Er blieb rücklings liegen, mit den Rädern nach oben, den Rücken gegen den Grund gekehrt; kaum daß die Laternen und der Kühler aus den Trümmern der Brücke über die Reste der zerbrochenen Balken und Bretter hervorragten. All dies war das Werk weniger Sekunden. Das Automobil hatte mit der Langsamkeit eines Dickhäuters eine Art Saltomortale nach rückwärts ausgeführt.
Erst später bekamen wir eine klare Vorstellung von dem Vorgefallenen. Im Augenblicke des Sturzes selbst konnten wir nur undeutlich sehen; alle unsere Geisteskräfte waren auf uns selbst gerichtet; das Beobachtungsfeld beschränkte sich auf unsere unmittelbare Nähe; jeder von uns hatte sein eigenes Abenteuer, seinen eigenen Kampf, sein eigenes Ringen mit der Gefahr zu bestehen. Später erstatteten wir uns gegenseitig Bericht. Ich bewahre lebhafter die Erinnerung an das Gefühlte als an das Gesehene. Mit größerer Anschaulichkeit rufe ich mir das, was in mir vorging, in das Gedächtnis zurück als das, was sich um mich herum abspielte. Ich hatte rittlings auf dem Gepäck gesessen; mein Sturz war also der tiefste. Als ich das erste Krachen hörte, glaubte ich nur an ein teilweises Einbrechen des Automobils, an ein Einklemmen der Räder in die Risse eines zersprungenen Brettes, und an eine lästige und ermüdende Panne denkend, rief ich:
„Na, da haben wir’s!“
Einen Augenblick später befand ich mich unter der Brücke, in einem plötzlichen, unheilverkündenden Halbdunkel, angeklammert an die Seile, mit denen das Gepäck verschnürt war. Das Automobil sank immer tiefer und zerbrach das Holz. Ich hatte den Eindruck, als würde ich niemals den Boden erreichen. Ich ließ mich mitziehen, zusammengekrümmt unter einem Hagel von Brettern, die mich von hinten trafen, mir auf die Schultern fielen, die mit einem immer mehr wachsenden, unaufhörlich krachenden Getöse zusammenstürzten. Ich erinnere mich, nicht ohne Befriedigung festgestellt zu haben, daß ich keinen heftigen Schmerz empfand, und mehrmals hatte ich gedacht: „Bis jetzt geht alles gut!“ Ich hielt uns schon für gerettet, als ich sah, daß die mächtige Rückseite des Automobils, die noch aus dem Wasser emporragte, sich langsam nach hinten bewegte. Das Gehäuse des Ölbehälters, der sich unter den Füßen des Führers befindet, hing jetzt senkrecht über meinem Kopfe und übergoß mich mit Fluten heißen Öles. Ich wurde ganz naß und fühlte das Öl über mein Gesicht rinnen. In diesem Augenblick bemerkte ich, daß die beiden Sitze, die der Fürst und Ettore einen Augenblick zuvor noch eingenommen hatten, leer waren.
Unter der Gefahr, zerquetscht zu werden, suchte ich mich freizumachen. Allein es war mir unmöglich; ich fand mich zwischen dem Gepäck und den heruntergestürzten Brettern eingeklemmt. Vergebens spannte ich alle meine Kräfte an, mich der Gefahr zu entziehen. Zum Glück hatte ein rettender Balken das Automobil in seiner langsamen Kreisbewegung aufgehalten. Ich hörte oben die Stimme des Fürsten schmerzerfüllt aufschreien. Ich erblickte seine gestiefelten Beine, die sich verzweifelt über mir hin und her bewegten und ebenfalls von Öl trieften. Mit einem Male schwieg er. Zur selben Zeit erschien Ettore an meiner Seite und rief mir zu:
„Kommen Sie hier heraus!“
„Ich kann nicht!“ erwiderte ich.
„Aber so kommen Sie doch!“ wiederholte er angstvoll. — „Rasch! Wenn der Balken bricht, sind Sie tot!“
„Ich kann nicht!“ entgegnete ich. „Hilf mir, ziehe mich heraus!“
Er faßte mich energisch unter den Schultern und zog mich aus jener Enge hervor. Wir waren nun alle drei auf den Füßen, fragten einander und tauschten Ausdrücke höchster Befriedigung. Als wir die Lage des Automobils prüften, riefen wir:
„Es ist unglaublich! Wir sind wie durch ein Wunder gerettet!“
Fürst Borghese hatte sich, als das Automobil in die Tiefe stürzte, mit einem instinktiven Schwunge nach rückwärts gewandt und an einen Balken angeklammert; in dieser Stellung war er verblieben, bis die Maschine beim Umstürzen sich gerade gegen seinen Rücken lehnte. Er war zwischen dem Balken und dem Motorgehäuse eingeklemmt, zusammengepreßt, beinahe erstickt. In diesem Augenblicke hatte er den Schrei ausgestoßen, der mich veranlaßte, nach oben zu schauen. Mit jener Riesenkraft, die der Mensch in der Gefahr findet, hatte er einen Augenblick das Automobil heben und sich freimachen können. Er vermochte sich nicht mehr zu erinnern, wie er imstande war, sich von seinem Sitze zu erheben und sich an das Brett anzuklammern. Die Ereignisse dieses entscheidenden Augenblicks waren aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Das enge Zusammenpressen hatte ihm zwei starke Quetschungen an Rücken und Brust verursacht; wenn er tief Atem holte, empfand er lebhaften Schmerz. In aller Ruhe sprach er seine Meinung dahin aus, daß einige der letzten Rippen an der linken Seite gebrochen seien. Ettore hatte nur eine Hautabschürfung davongetragen. Er war auf seinem Führerplatze geblieben und hatte sich an das Steuerrad festgeklammert, bis schließlich sein Kopf unten war und die Beine in die Luft ragten. Dann hatte er sich durch die Öffnung der Brücke nach unten fallen lassen. Als er sich umsah, hatte er mich in meiner gefährlichen Lage entdeckt und war zu meiner Rettung herbeigeeilt. Ich hatte mir beim Sturz Schäden zugezogen, deren Umfang ich nicht kannte; bei jeder Bewegung spürte ich einen Schmerz im Rücken, und es war mir nicht möglich, die Beine vollständig zu heben; sie versagten den Dienst; ich schleppte sie in kleinen Schritten vorwärts. Ich mußte mich später stützen lassen. Vierzehn Tage lang habe ich mich nur mit Anstrengung und mit schleichenden Schritten fortbewegen und jede Stufe nur mit Mühe und Seufzen ersteigen können. Während dieser Zeit glaubte ich meinen Reisegefährten zur Last zu fallen. Im Gesicht hatte ich mehrere Hautabschürfungen, von denen ich aber nicht weiß, wodurch sie hervorgerufen worden sind; ich erinnere mich nur, daß das Öl der Maschine sie mir vortrefflich geheilt hat. All diese Quetschungen konnten uns aber nichts von unserem Glücke rauben, dem Glücke, uns alle am Leben zu wissen.
Die Reaktion der Freude brach jetzt durch. Die Gefahr war vorüber und hinterließ in uns nur noch die Empfindung eines Albdrucks. Wenn man träumt, man stürze von einer Höhe herab, so ist man beim Erwachen froh, nur geträumt zu haben. Wir verlebten einen Augenblick dieser unsagbaren Befriedigung. Wir lachten, wenn wir das umgestürzte Automobil ansahen, als hätte es sich mit uns einen Scherz gemacht. Wir photographierten es von allen Seiten, wobei wir uns die wenig angenehmen Stellungen zeigten, die wir kurz zuvor eingenommen hatten.
„Ich lag hier, so!“
„Ich unter jenen Brettern!“
„Ich bin dort hineingefallen!“
„Wenn der Balken nicht gehalten hätte!“ — „Wir wären plattgedrückt worden! Haha!“
Der Gendarm hatte das Ende nicht abgewartet. Er war laut um Hilfe rufend nach der Station gerannt. Wir hörten ihn in der Ferne unaufhörlich angstvolle Rufe ausstoßen.
Der erste Gedanke Don Scipiones galt dem Automobil. Er betrachtete es aufmerksam und rief:
„Ich finde keinen ernstlichen Schaden! Sieh einmal her, Ettore!“
Ettore untersuchte die Maschine.
„Mir erscheint sie heil und ganz.“ Und er lachte vergnügt.
Sofort machte er sich an die Arbeit. Er löste die Seile des Gepäcks und brachte die Rucksäcke, die Ballen, die Kissen, das Zeltdach in Sicherheit. Das Benzin sickerte aus den oberen Verschlüssen der Behälter, die nach unten zu liegen gekommen waren. Er zog die Schrauben an und rettete, was noch übrig war. Der Spaten hatte sich umgebogen wie ein Blatt Papier; die Spitzhacke war zerbrochen, die eiserne Fahnenstange hatte sich verbogen; der Kasten mit den Ersatzstücken hatte Beulen bekommen: der hintere Benzinbehälter war ebenfalls verbeult; die Ledergurte, die die Ersatzgummireifen hielten, waren zerrissen; die aus Myssowaja mitgebrachten Bretter fanden wir in Splitter verwandelt wieder. Die Maschine aber war unversehrt; die eine der langen Eisenstangen, die das Differenzialwerk tragen, war etwas verbogen (sie hatte sich in dem Augenblick verbogen, als das Automobil mit dem Bauche auf die Brückenbahn geschlagen war), und das Messingrohr, in der das Wasser aus den Zylindern nach dem Kühler fließt, war leicht eingedrückt, und zwar war dies vermutlich auf des Fürsten Rücken geschehen. Nichts weiter. Verschiedenen glücklichen Umständen war es zu danken, daß die Maschine unversehrt geblieben war.
Der Sturz war rasch gewesen, aber nicht plötzlich. Wir fuhren langsam; die Brücke war infolge des Gewichts, nicht infolge der Schnelligkeit zusammengebrochen. Der Einsturz der Fahrbahn war, so rasch er auch eingetreten war, doch nur nach und nach vor sich gegangen. Das Automobil hatte in seinem Sturz Bretter und Balken zertrümmern müssen, und all dieses Holz, das es auf seinem Wege antraf, konnte den Sturz zwar nicht aufhalten, aber es milderte seine Wucht. Was das Automobil aber außerdem geschützt hat, war die hinten befestigte Ladung Ersatzgummireifen. Als es sich vorn soweit erhoben hatte, daß es eine senkrechte Stellung einnahm, war es gerade auf die Gummireifen gefallen: es hatte sich auf Kautschuk gesetzt. Dies hob die Wirkung des Stoßes auf. Es muß ein furchtbarer Stoß gewesen sein, weil die schützenden Gummireifen ganz in das Bett des Flusses gedrückt waren, so daß wir sie aus der Höhlung ausgraben mußten. Ein Balken und einige unbenutzte Pneumatiks hatten uns und das Automobil gerettet. Hätte sich der Balken etwas abseits befunden, oder wären die Pneumatiks an einer andern Stelle gewesen, die Fahrt hätte ihr Ende gefunden! Es braucht nicht gesagt zu werden, daß wir dem rettenden Balken ein viel größeres, wohlbegründetes Verdienst beimaßen.
Wenige Minuten erst waren verstrichen, als wir von der Station her Leute im Laufschritt herbeieilen sahen, allen voran den Gendarmen, erhitzt, keuchend, atemlos. Sein Gesicht verklärte sich zu einem Lächeln der Befriedigung, als er uns alle wohlbehalten erblickte. Hinter ihm rannte der Stationsvorstand. Der arme Mann hatte Gewissensbisse. Er begrüßte uns in freudiger Erregung, aus Dankbarkeit, daß wir uns lebend hatten wiederfinden lassen, und von diesem Augenblicke an widmete er sich uns ganz. Er verwandte seine ganze Tätigkeit, seine Klugheit, seine Autorität zu unseren Gunsten; er wollte uns nicht mehr von sich lassen und half uns, begleitete uns, führte uns bis zum Abend. Er hatte eine Schar Arbeiter, die auf der Strecke arbeiteten, mitgebracht; es waren diejenigen, die wir kurz vor der Station angetroffen hatten, gegen zwanzig Sibirier, groß und stark, rauh, geschickt, charakteristische Kerle mit ihren langen roten Blusen, ihren weiten Beinkleidern, ihren hohen Stiefeln, ihrem unordentlich herunterhängenden Haar. Sie hatten Seile und Äxte bei sich. Der sibirische Holzfäller, der Sieger über die Riesen des Waldes, ist ein Meister im Gebrauche der Axt. Sie gingen sofort ans Werk. Die Rettung der Maschine wurde in Angriff genommen.
Der Stationsvorsteher leitete die Arbeiten. Das Automobil wurde mit Seilen umwunden, die um das Motorgehäuse geschlungen wurden, und die gespannten Seile an Baumstämme befestigt, um zu verhüten, daß die Maschine ihre Lage verändere. Dann rissen die Arbeiter die Brücke vollends ein. Sie schlugen alles nieder, was von ihr übriggeblieben war, indem sie ihre Arbeit mit dem Gesange schwermütiger Lieder begleiteten. Die Balken fielen rasch einer nach dem andern unter kräftigen, wohlgezielten Axtschlägen und wurden beiseite geschafft und übereinandergeschichtet. Das Automobil war von allen Seiten freigelegt. Nun teilten sich die Leute in zwei Gruppen und befestigten zwei Seile am Automobil, das eine vorn, das andere hinten, das erstere zum Ziehen, das zweite zum Lenken; nach Kommando stellten alle mit vereinten Kräften die Maschine allmählich auf ihre vier Räder. Sie befand sich wieder in ihrer gewöhnlichen Stellung im Bett des Flusses. Nun mußte sie noch auf die Straße gezogen werden.
Es war der zweite Abschnitt der Rettung, der jetzt begann.
Es wurde ein ausgezeichnetes Mittel dazu gefunden. Hinter dem Automobil wurde der Teil der Brücke, den wir bereits hinter uns gehabt hatten und der unversehrt geblieben war, mit leichter Mühe durch das Wegschlagen der Stützbalken in eine schiefe Ebene verwandelt. Darauf wurden zwei Seile an dem hinteren Teile des Chassis befestigt, die wackeren Sibirier spannten sich an die Seile, und mit der Kraft ihrer Arme zogen sie singend die Maschine auf der schiefen Ebene langsam auf die Straße.
Die Arbeit hatte drei Stunden gedauert.
Die braven Leute schienen mit unserer Rettung zufrieden zu sein, ein wenig aus Eigenliebe und ein wenig, weil man Dinge, die uns Mühe kosten, stets liebgewinnt. Sie interessierten sich lebhaft für die Einzelheiten des Automobils. Sie wollten wissen, ob es laufen könne, ob es „lebendig“ sei, wie sie sich bildlich ausdrückten. Wir aber waren ängstlich geworden; wir sehnten uns nach Gewißheit. Hatte uns der Schein nicht betrogen? War die Maschine wirklich unverletzt? Ettore stellte auf dem Steuerrade die Vergasungs- und die Zündungstasten in „Marschstellung“ und drehte die Kurbel an.
Kein Laut war vernehmbar. Es war, als erwarteten wir einen Urteilsspruch. Die Kurbel drehte sich ein-, zwei-, dreimal. Die Maschine blieb stumm. Ettore versuchte es noch mehrmals vergebens. Er strengte seine ganze Kraft an und wurde schließlich zornig. Der Motor blieb untätig.
„Vielleicht ist Öl in die Zylinder gedrungen,“ rief er, „und die Zündung funktioniert nicht. Wollen einmal nachsehen!“
Er öffnete das Motorgehäuse, schraubte die Verschlüsse der Zylinder ab und trocknete diese mit einem Tuche, dann trocknete er die „Hämmerchen“, damit das Öl durch seine isolierende Wirkung nicht den elektrischen Strom unterbreche, brachte alles wieder an Ort und Stelle, zog die Schrauben an und drehte an der Kurbel. Bei der zweiten Drehung begann der Motor zu arbeiten. Sein gewohntes Getöse erscholl plötzlich, laut, triumphierend und ließ das ganze Automobil wie vor übermächtiger Ungeduld schnaufen. Es war die Antwort auf die stumme Frage, die jeden Gedanken von uns beherrscht hatte. Das Automobil hatte gesprochen. „Hurra!“ riefen die Sibirier und schwenkten ihre Mützen.
Die Vorbereitungen zur Abfahrt nahmen noch viel Zeit in Anspruch. Ettore brauchte zwei volle Stunden, um die Maschine wieder in Ordnung zu bringen. Er wollte alles auf das genaueste nachsehen. Währenddessen bot der Stationsvorsteher dem Fürsten und mir Gastfreundschaft in seinem Hause an, wohin er mich Schritt für Schritt geleitete, indem er mich dabei brüderlich stützte, weil die vertrackten Beine mir den Dienst versagten. Er setzte uns Tee, Milch, dampfenden Schtschi, die inhaltsreiche Nationalsuppe, vor und bot uns Betten an. Um 2 Uhr war das Automobil reisefertig.
Wir warteten noch die Vorüberfahrt einer Lokomotive ab, die telegraphisch von Myssowaja gemeldet worden war. Die Lokomotive flog wie der Blitz vorüber. Wir kehrten auf die Strecke zurück. Der Stationsvorsteher wollte uns begleiten, und wir ließen den Gendarmen zurück, der nicht abgeneigt schien, dem Automobilsport zu entsagen, nachdem er dessen Gefahren aus der Nähe kennen gelernt hatte. Der Stationsvorsteher setzte sich auf den Tritt, der Fürst nahm auf der Rücklehne der Sitze Platz, Ettore steuerte, ich wurde auf den Sitz neben ihm verladen und zwei der stärksten Arbeiter standen hinten auf den Vorsprüngen der Federn und hielten sich mit den Händen an den Seilen des Gepäcks fest wie zwei Lakaien an den Riemen einer Staatskutsche. Es befanden sich also sechs Personen und ein Gepäckballen auf dem Rücken der Maschine, die dies aber nicht allzusehr zu empfinden schien. Wie am Vormittage fuhren wir die Geleise entlang. Der Stationsvorsteher sah jeden Augenblick nach der Uhr; er erwartete zwei Züge, einen von Tanchoi, den andern von Myssowaja. Bei einem Straßenübergang verließen wir auf sein Geheiß die Strecke und fuhren auf der Heerstraße weiter. Vielleicht wollte er uns beweisen, daß er bei dem Rate, den er uns am Vormittage gegeben hatte, in gutem Glauben gehandelt habe. An den Brücken stiegen die Arbeiter ab und liefen voran, um sie zu besichtigen. Wenn ihr Urteil zweifelhaft war, rief der Stationsvorsteher:
„Vorwärts! Mit der allergrößten Geschwindigkeit!“
Mit voller Kraft schossen wir dahin. Für die ebenen Brücken, die in der Mitte nicht anstiegen, war der Rat vortrefflich. In zwei, drei Sekunden befanden wir uns auf der andern Seite, und die Widerstandskraft eines Brettes oder eines Balkens steht im umgekehrten Verhältnis zur Zeit der Belastung. Jeder Teil der Brücke hatte nur einen beinahe unmeßbaren Augenblick zu halten und hatte keine Zeit zu brechen. Bei jeder genommenen Brücke äußerte unser Lotse geräuschvoll seine Genugtuung, klatschte in die Hände und rief begeisterte Kommandoworte wie ein Offizier auf dem Schlachtfelde:
„Vorwärts! Mut! Frisch drauf los!“
Über einen Bach mußten wir uns einen Übergang zimmern. Es war ein Werk von fünf Minuten.
Wir hörten den Zug von Myssowaja vorüberbrausen. Kurz darauf gelangten wir wieder an einen Straßenübergang in gleicher Höhe mit dem Bahndamm. Der Stationsvorsteher wollte seine Schlacht weiter kommandieren, aber die beiden auf der alten Heerstraße zur Erkundung vorgeschickten Arbeiter sagten, daß auf jener Strecke alle größeren Brücken eingestürzt seien. Wir begannen wieder über die Schwellen der Eisenbahn zu galoppieren. Tanchoi kam näher. Bei einem neuen Straßenübergang lief uns ein Bahnwärter entgegen und machte uns Zeichen. Als er ganz außer Atem uns erreicht hatte, rief er:
„Verlaßt die Strecke! Der Zug kommt! Er ist von Tanchoi abgegangen.“
Das Automobil sollte in der Nähe des Bahnwärterhäuschens von der Strecke herunterfahren; aber an jener Stelle lagen die Schwellen bloß. Die Räder blieben stecken, und alle Kraftanstrengungen des Motors vermochten nicht den schweren Wagen von der Stelle zu bringen. Die Leute schoben vergebens. Man hätte die Maschine herausheben müssen. Wir hörten schon den Pfiff des Zuges, der sich näherte, durch eine Kurve unseren Blicken verborgen. Es war keine Zeit zu verlieren. Mit alten Schwellen, die an der Seite der Strecke aufgespeichert lagen, suchten wir in fieberhafter Eile den Rädern kleine schiefe Ebenen zu verschaffen, die ihnen das Loskommen erleichtern sollten. Der Motor arbeitete heftig. Inzwischen hörten wir das Brausen des Zuges und sahen seinen Rauch in der Ferne zwischen den Bäumen. Don Scipione rief mir zu:
„Steigen Sie jetzt schon ab, da Sie nicht springen können; steigen Sie ab!“
Aber die Beine versagten auf einen Augenblick ihren bescheidenen, so notwendigen Dienst. Glücklicherweise hob ein letzter gemeinsamer mächtiger Ruck das Automobil aus den Vertiefungen und brachte es außer Gefahr.
Wir ließen den Zug vorüber — es war ein ganz gewöhnlicher Güterzug, gar nicht wert der Ehre, daß wir uns seinetwegen so abgerackert hatten — und setzten unsere Fahrt auf der Strecke fort. Eine Stunde später gelangten wir nach Tanchoi, einer ganz neu angelegten Stadt, die uns einen Rundblick auf funkelnagelneue Dächer darbot. Es war spät; der Himmel war grau, wolkig und dunkel geworden. Es war kalt.
Die Bevölkerung kannte bereits unser Brückenabenteuer und war herbeigeströmt, um uns ankommen zu sehen. Alle begrüßten uns feierlich. Einige junge Leute verstiegen sich sogar zu Beifallsklatschen. Die Straße wurde von mit Gewehren bewaffneten Soldaten frei gehalten. Ein Polizeioffizier näherte sich, grüßte und überreichte dem Fürsten ein Papier: es war die formelle Erlaubnis des Generalgouverneurs von Sibirien, die ganze Eisenbahnstrecke bis nach Irkutsk befahren zu dürfen, eine Erlaubnis, die telegraphisch nach Myssowaja geschickt worden war, um uns nicht auf die Ankunft der Post warten zu lassen.
Wir schlugen unser Hauptquartier im Bahnhofsrestaurant auf und besprachen bei einer guten, wohlverdienten Flasche Champagner unsere weiteren Pläne. Sollten wir die Eisenbahnlinie weiter benutzen? Wir hatten 60 Kilometer auf ihr zurückgelegt. Die Fahrt bot keinerlei Schwierigkeiten; sie war von banaler Einfachheit. Von Tanchoi an hätten wir nicht einmal mehr die Aufregung gehabt, Zügen zu begegnen, weil das Automobil jetzt die amtliche Eigenschaft eines Extrazuges angenommen hatte. Wir erkundigten uns, ob es möglich sei, von Tanchoi aus wieder die alte Heerstraße zu benutzen. Aber die Nachrichten, die wir erhielten, benahmen uns alle Hoffnung: die Straße existierte nicht mehr. Alle Brücken waren zerstört.
Die Eisenbahnstrecke war das eine Auskunftsmittel, das Trajektboot das andere. Da wir die Heerstraße nicht verfolgen konnten, mußten wir zu einem von beiden greifen. Warum sollten wir die Eisenbahnstrecke dem Dampfschiffe vorziehen? Wir waren bis zum äußersten Zipfel des Sees gelangt und hatten nur noch eine Strecke von 40 Kilometern Seelänge vor uns. Zweifellos konnten wir uns ohne Gewissensbisse über diese schmale Stelle setzen lassen, wie wir uns über einen Fluß übersetzen ließen.
Wir beschlossen uns einzuschiffen. Aber der Benutzung des Dampfschiffes auf jenem schmalen Arme des Sees stellte sich eine ernste Schwierigkeit entgegen: der Hafen von Tanchoi ist ausschließlich Kriegshafen.
Seit die Eisenbahn um das südliche Ufer des Sees herumgeführt worden ist, dürfen sich die Reisenden nicht mehr auf den großen staatlichen Trajektbooten einschiffen. Sie müssen den Zug oder Privatschiffe außerhalb der Häfen von Baikal und Tanchoi benutzen. Jene Schiffahrtslinie mit ihren riesigen Dampfeisbrechern bleibt der ausschließlichen Benutzung durch das Heer vorbehalten. Das Gesetz gestattet keine Ausnahmen. Schiffe und Landungsplätze wurden sofort zu einem „militärischen Geheimnis“. Selbst den Beamten und ihren Familien ist es verboten, sich ihnen zu nähern. Konnten wir Fremden hoffen, die Erlaubnis dazu zu erhalten? Wir versuchten es und telegraphierten noch einmal nach Irkutsk. Wir hatten die unbestimmte Furcht, den Behörden schließlich lästig zu fallen, aber die Brücken waren daran schuld!
In unserem Hauptquartier erhielten wir viele Besuche von kleinen Beamten, höflichen, dienstfertigen Leuten, die bereit waren, für uns auf das Telegraphenamt zu laufen und Erkundigungen einzuziehen. Auch sie fragten, ob wir denn nicht überfallen worden seien, und drückten auf unsere verneinende Antwort hin ihre Befriedigung aus, die aber nicht frei von Verwunderung war. Diese Frage wurde in ganz Sibirien immer wieder an uns gerichtet, selbst von Polizeibeamten, ja sogar von Gouverneuren, und alle wunderten sich, daß wir nicht wenigstens von Muschiks ausgeplündert worden seien.
Ich glaube, daß die herrschenden russischen Klassen den Muschik nicht kennen. Sie haben sich so abgeschlossen, daß sie nicht wissen, wie er lebt und wie er denkt, so daß sie sich von ihm einen ganz falschen Begriff gebildet haben. Sie sprechen von ihm wie von einem zu fürchtenden stumpfsinnigen Wesen, einem Tiere, das man nur durch Schrecken regieren könne, um nicht selbst unter seine Schreckensherrschaft zu geraten. Wir sind mehr mit dem Muschik in Berührung gekommen als mit den Beamten, die ihn beherrschen, und daher empfinden wir für ihn Teilnahme und Achtung. Ich glaube auch, daß Sibirien von der amtlichen Welt verkannt wird, daß man wohl seine unbenutzt liegenden Reichtümer kennt, aber nicht seine schlummernden Kräfte, daß man den Sibirier von gestern mit dem von heute verwechselt, und daß man keine Ahnung von dem Sibirier von morgen hat. Sibirien bereitet große Überraschungen vor. Die Behauptung der gebildeten Sibirier, Sibirien sei der am weitesten vorgeschrittene Teil des Russischen Reiches, könnte zur Wahrheit werden! Es ist ein Land, das durch Verbannte, das heißt durch Leute von Intelligenz, durch Auswanderer, das heißt durch Leute von Unternehmungsgeist, und durch Kosaken, das heißt durch Leute von Kühnheit, bevölkert worden ist. Es sind dies die Grundbestandteile eines auserlesenen Volkes, das moderne Maschinen und moderne Ideen aufnimmt. Die transsibirische Eisenbahn, einzig zu Eroberungszwecken erbaut, als Militärstraße geplant, ruft durch ihren Verkehr eine langsame und unerwartete Umwälzung hervor.
Aber ich schweife von meinem Gegenstande ab. Kehren wir in das Bahnhofsrestaurant von Tanchoi zurück.
In dieses Restaurant trat nach einiger Zeit eine Schar von etwa 15 Männern, denen man es trotz der großen landesüblichen Kapuzen, der Kosakenstiefel und der Pelzmützen auf eine Meile Entfernung hätte ansehen können, daß sie keine Russen waren. Wie hätten wir nicht sofort ihre Nationalität erkennen sollen, als wir ihre schwarzen, lebhaften Augen, ihre ausdrucksvollen Gesichtszüge, ihre ungestümen Gestikulationen sahen? In freudiger Überraschung wandten wir uns an sie.
„Wie kommt ihr in aller Welt hierher?“ fragten wir, sie begrüßend.
„So viele Italiener in diesem Winkel Transbaikaliens?“
„Wir arbeiten in einem Kohlenbergwerk in der Nähe; wir haben von Ihrer Ankunft gehört und sind gekommen, um Sie zu begrüßen. Viva l’Italia!“
Fragen und Antworten kreuzten sich:
„Eine schwierige Reise, wie?“ — „Sie kommen also aus Peking? Ich bin dort gewesen, als ich an der Eisenbahn von Pao-ting-fu arbeitete.“ — „Wir kennen die chinesischen Straßen! Wir sind ein Jahr dort gewesen, um Brücken auf der mandschurischen Strecke zu bauen.“
„Brücken zu bauen?“
„Jawohl. Eisenbahnbrücken.“
„Aber arbeiten Sie nicht in einem Bergwerk?“
„Wir arbeiten einstweilen dort bis zum Bau der Amureisenbahn, der nahe bevorsteht.“ — „Der Bergbau bringt nichts ein.“ — „Wir haben auch auf den Linien hier gearbeitet. Maurerarbeiten.“
„Wie sind Sie aber schließlich hierhergekommen, in diesen äußersten Winkel Sibiriens?“
„Wir haben an den rumänischen Eisenbahnen gebaut, dann an den kaukasischen, dann an den turkestanischen, dann in Sibirien, in der Mandschurei, in Zentralasien. Übrigens, wissen Sie nichts über die Amurbahn?“
„Und Sie kehren nicht nach Italien zurück?“
„Alle Wetter, gewiß!“ — „Wir arbeiten mit dieser Absicht.“ — „Es würde uns gerade fehlen, in Sibirien zu bleiben!“ — „Um uns die Nase zu erfrieren.“
Wir verweilten in dieser Gesellschaft von modernen Freimaurern, die die Welt durchstreifen, um Eisenbahnen zu bauen, wie ihre Vorgänger vor 600 Jahren Europa durchstreiften, um Kirchen zu bauen. Dann gingen wir ins Theater, um — zu schlafen.
Im Theater zu schlafen ist eine ziemlich verbreitete Sitte, aber während der Vorstellung! Für uns war es anders. Das kleine hölzerne Theater von Tanchoi befand sich in einer Ruheperiode, und die Polizei hatte in Ermangelung eines Gasthofes drei Betten auf die Bühne stellen lassen, in denen wir schlafen sollten. Das Theater war elektrisch beleuchtet und für eine demnächst stattfindende Dilettantenvorstellung von Eisenbahnbeamten geschmückt. Der Vorhang war aufgezogen, die elektrischen Batterien überströmten uns mit einer Flut von Licht — eine Stunde lang mühten wir uns ab, den Ausschalter zu suchen. Mitten in all diesem Glanze sah es aus, als ob wir drei, die wir uns auszogen und uns seufzend und stöhnend über unsere Quetschungen, die bei jeder Bewegung schmerzten, zu Bett legten, ein Stück aus dem Stegreif spielten!
Draußen schritten bewaffnete Schildwachen auf und ab. Tanchoi wachte, als ob man für jene Nacht einen Angriff der „Leute von Sachalin“ befürchtete.
Im Gouvernement Irkutsk.
Überfahrt über den Baikalsee. — Am Ufer der Angara. — Irkutsk. — Blühende Felder. — Auf den Flüssen. — Die Sträflinge. — Sima. — Automobile und Telegas. — Die alten Etappenstationen. — Nischne-Udinsk. — Telegrammschwierigkeiten.
Die Genehmigung zur Überfahrt über den Baikalsee auf einem der staatlichen Trajektboote wurde uns telegraphisch erteilt. Am 1. Juli, 3 Uhr nachmittags, schifften wir uns auf dem großen Eisbrecherdampfer „Baikal“ ein. Es regnete fortwährend. Tanchoi verschwand beinahe in dem grauen Dunste. Von dem Verdeck des Schiffes aus sahen wir die hohe, aus Balken errichtete Werft, die weißen Leuchttürme, die gewaltigen Maschinen, die den Zweck haben, die Verbindung der Schiffe mit dem Ufer herzustellen und die Schienen des weiten Laderaums an die der Eisenbahn anzuschließen, die neuen Dächer der Kasernen und der Amtsgebäude, von den hohen Antennen einer Funkentelegraphenstation wie von den Masten eines Schiffes überragt; all dies entfernte sich und verblaßte. Den gesetzlichen Vorschriften gemäß hatten wir die photographischen Apparate in dem Gepäckballen untergebracht. Wir waren darauf aufmerksam gemacht worden, daß es verboten sei, Bilder von militärischen Gebäuden, von Hafenanlagen, von Schiffen, von Eisenbahnbrücken und Eisenbahnarbeiten und andern Dingen, die doch jedermann sehen kann, aufzunehmen.
Ein seltsames Land, in dem die Photographie verboten und das Tragen von Feuerwaffen gestattet ist! Vom Kriege her ist eine Art Spionenfurcht zurückgeblieben. Man erzählte sich haarsträubende Geschichten von japanischen Spionen, die eine wahrhaft phantastische Verkleidungsgabe besäßen. Sogar uns ist es begegnet, uns mit unserer Gestalt und unseren Gesichtszügen, daß wir von Muschiks, die es uns ganz offen sagten, für japanische Spione gehalten wurden!
Die Kälte und der Regen vertrieben uns vom Verdeck. Der Kapitän, ein riesiger Russe aus den baltischen Provinzen, lud uns ein, den Tee in seinem Salon einzunehmen. Wir waren die einzigen Reisenden an Bord. Die Überfahrt dauerte nur zwei Stunden. Um 5 Uhr befanden wir uns auf dem linken Ufer der Angara, nachdem wir wieder an einer Werft in der Nähe einer Eisenbahnstation gelandet waren: wir waren in Baikal.
Die Straße nach Irkutsk zieht sich auf dem rechten Ufer des Flusses hin; den Verkehr von einem Ufer zum andern vermitteln große, von Dampfern geschleppte Lastschiffe.
Nachdem unser Automobil aus dem Trajektboot ausgeschifft war, überschritt es mit eigener Kraft die Schienen der Station, fuhr zwischen Holz- und Kohlenlagern hindurch und ging endlich mit einem geschickten Manöver an Bord einer gerade abgehenden Fähre, wo es haltmachte, während eine neugierige Menge von Soldaten, Lastträgern, Muschiks und Vagabunden ihm folgte.
Es befanden sich zwei seltsame Männer unter diesen Leuten, von denen wir nicht erraten konnten, was sie waren: Bettler mit dem Aussehen gebildeter Männer. Einer von ihnen gab uns in höflichem Tone Auskunft über die Straße:
„Bis nach Krasnojarsk nicht übel, stellenweise ausgezeichnet, ebenso von dort nach Nischne-Udinsk. In der Nähe vom Tomsk schlecht. Weiterhin gut. Von Omsk bis zum Ural beinahe durchgängig vortreffliche Steppe.“
„Wie kommt es, daß Sie den Weg so genau kennen?“ fragten wir ihn.
„Ich kenne ihn Schritt für Schritt, den Moskowskij Trakt“, rief er lachend. „Schritt für Schritt. Ich habe ihn in seiner ganzen Ausdehnung zu Fuß zurückgelegt!“
Die Menge brach in ein lustiges Gelächter aus. Jemand rief: „Auch ich!“
„Um hierher zu gelangen?“ fragten wir.
„Nun ja. Freiwillig hätte ich es schwerlich getan.“
Das Gelächter erneuerte sich.
„Was ist Ihr Beruf?“
„Mein Beruf? Jetzt? Was sich eben bietet. Lastträger, Holzfäller, Eisenbahnarbeiter. Man hat wenigstens sein tägliches Brot.“
„Und früher?“
„Früher? Ich erinnere mich nicht mehr.“
Und er zuckte mit den Schultern mit jener bei den Russen so gewöhnlichen und charakteristischen Gebärde, welche bedeutet: „Nitschewo!“ „Was liegt daran?“
Es war 6½ Uhr, als wir in Listwinitschnoje, am andern Ufer der Angara, landeten, des großen Ausflusses des Baikalsees, der seine Gewässer nach einem Laufe von beinahe 2000 Kilometern dem Jenissei zuführt. Listwinitschnoje mit seinen kleinen Holzhäusern erschien in der nebligen Luft einem japanischen Dorfe auffallend ähnlich. Wir wurden ausgeschifft und standen im Begriff, sofort nach dem etwa 64 Kilometer entfernten Irkutsk abzufahren, als eine junge Dame sich durch die uns umgebende Menge Bahn brach und uns zurief:
„Ah, Messieurs, Messieurs! Vous n’allez pas repartir tout de suite!“
„Mais oui, Madame!“
„Das ist unmöglich. Sie müssen mindestens eine Stunde bleiben. Eine Stunde nur, voyons!“
Bei dem Anblick unserer Fahne wurde sie unsicher.
„Sie sind keine Franzosen?“ fragte sie uns.
„Non, Madame, wir sind Italiener.“
„Italiener? ... Nun gut, warten Sie ... eine Minute!“
Sie schien sehr niedergeschlagen zu sein, als sie erfuhr, welcher Nationalität wir angehörten. Es war eine junge Französin, Erzieherin in einer reichen sibirischen Familie. Sie erwartete voller Sehnsucht die Ankunft der französischen Automobile, mit der fieberhaften Spannung, die jeder kennt, der fern von seinem Vaterlande lebt. Wir suchten sie wegen der Enttäuschung, die wir ihr unfreiwillig bereitet hatten und die sie wie ein nationales Unglück zu betrüben schien, zu trösten, indem wir ihr erklärten, daß, wenn wir auch als die ersten in Listwinitschnoje gelandet seien, damit noch nichts über den endgültigen Sieg entschieden sei. Wir teilten ihr mit, was wir von unseren Kollegen wußten: und das war, daß sie diese Nacht bis nach Kabansk, einem Dorfe zwischen Werchne-Udinsk und Myssowaja, gekommen seien, daß sie sich vielleicht zu dieser Stunde schon am Ufer des Sees befänden, und daß sie sie wahrscheinlich übermorgen landen und nach Irkutsk weiterfahren sehen würde, wo sie uns ohne Zweifel einholen würden. Wir hatten in der Tat bei unseren Versuchen, um den See herumzufahren, vier Tage verloren, und in Tanchoi hatten wir es für richtig gehalten, unsere Kollegen telegraphisch vor der Nutzlosigkeit und vor allen Dingen vor den Gefahren unseres Unternehmens zu warnen.
Die Dame wurde wieder heiterer und sagte lächelnd:
„Dank, tausend Dank! Warten Sie einen Augenblick!“
Sie entfernte sich eilig und kam mit einem großen Blumenstrauß wieder, den sie uns mit den Worten überreichte:
„Ich habe sie im Walde gepflückt. Nehmen Sie sie freundlichst an. Und nun glückliche Reise! Adieu!“
Eine Minute später rollten wir eiligst auf der Straße nach Irkutsk dahin, das Automobil mit Blumen geschmückt. Aber in kurzer Entfernung von dem Dorfe fanden wir die Straße durch einen Schlagbaum gesperrt, den ein Zollbeamter bewachte. An jenem Schlagbaum endete das Gebiet der Vorzugszolltarife, deren sich das östliche Sibirien erfreut. Wir wurden angehalten und von Beamten gefragt. Sie hatten den Befehl, uns frei passieren zu lassen, nicht erhalten; Kiachta hatte ihnen nichts mitgeteilt; wir besaßen kein Papier, das unser Recht auf Zollfreiheit hätte beweisen können. Höflich wurden wir ersucht, unsere Weiterreise auf übermorgen zu verschieben, bis das Zollamt in Irkutsk Aufklärungen gegeben habe! Alle unsere Vorstellungen waren fruchtlos. Das Vorzeigen der Pässe ließ das Zollamt von Listwinitschnoje ganz kalt und gleichgültig. Da versuchten wir es mit einem letzten Mittel — und, o Wunder! Der Schlagbaum erhob sich; der Wächter stand stramm, die Beamten lächelten verbindlich, legten zum Gruß die Hand an die Mütze und sagten:
„Fahren Sie zu! Glückliche Reise!“
Was war geschehen? Schweigend hatte der Fürst zwei zauberkräftige Papiere vorgezeigt: das Schreiben des Ministers des Innern und das des Polizeidirektors. Wir ließen uns die Erlaubnis nicht wiederholen, aus Furcht vor einem Widerrufe, und jagten mit Windeseile davon.
Die Straße war gut. Das hatte uns schon der Kommandant des Schleppdampfers gesagt:
„Auf jenem Wege verkehren täglich Beamte, die von Irkutsk nach Listwinitschnoje in Hafen- und Zollangelegenheiten kommen. Wo Beamte verkehren, sind die Wege stets in gutem Zustande.“
Wir fuhren am grünen Ufer der Angara entlang, deren ungestüme Gewässer in der Nähe des Baikalsees zwei bei sibirischen Flüssen ungewohnte Tugenden besitzen: sie frieren nie zu und behalten Sommer wie Winter eine sich gleichbleibende Temperatur von vier Grad. Wir kamen rasch vorwärts, wurden aber dann durch einen wenig angenehmen Vorfall zum Halten veranlaßt. Während wir abwärts fuhren, erklärte Ettore:
„Ich merke, daß die Maschine müde wird.“
„Wohl möglich!“ erwiderte der Fürst. „Die Straße senkt sich, und wir sollten ohne Motor fahren.“
„Ich glaube, die Bremse ist zu fest angezogen.“
„Halte! Wir wollen nachsehen.“
Es war schlimmer als eine zu fest angezogene Bremse! Wir fanden uns von einer Rauchwolke und einem Dunst verbrannten Öls umgeben. Das Fett der Bremse brannte, und die Flammen leckten an dem Wechselgetriebe. Wir verdankten diesen Übelstand vielleicht einem durch den Fall verursachten Schaden. Die Fußbremse, die durch eine der Westinghousebremse ähnliche Konstruktion kräftig auf die Kardanwelle wirkt, funktionierte nicht mehr gut; sie blieb fest angezogen, und durch die Reibung entwickelte sich eine solche Hitze, daß das Schmiermaterial in Brand geriet. Zum Glück befand sich Wasser in den Gräben und auch in den Straßenpfützen, und wir konnten sofort das Feuer löschen.
Nach Lockerung der Bremse fuhren wir weiter. Es regnete fortwährend, und wie auf dem Wege nach Myssowaja wurden wir über und über mit Schmutz bespritzt. Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu. Um 9 Uhr wurde am Himmel jener seltsame Schimmer der nordischen Abende sichtbar, die endlos erscheinen, lange, trübe Dämmerungen, ein wahrhafter Todeskampf des Tages. Eine Stunde später vermochten wir noch die Straße zu erkennen, die sich zwischen den tiefen Schatten der Bäume hinzog. Auf einer steilen Anhöhe machte das Automobil halt. Wir waren 6 Kilometer von Irkutsk entfernt, dessen Lichter wir von fern als undeutliche Punkte in der Dunkelheit schimmern sahen.
Eine Strecke mit tiefem Morast hielt uns auf. Wir kehrten um, probierten auf verschiedene Weise über diese Stelle hinwegzukommen, strengten den Motor an, versuchten im Zickzack zu fahren, aber vergebens. Der Wagen glitt aus, genau wie an jener Anhöhe, die wir bei Werchne-Udinsk angetroffen hatten. Eine halbe Stunde mühten wir uns ab, als wir eine Anzahl Wagen bemerkten, die auf dem hohen, neben der Straße hinlaufenden Damme fuhren. Wir sahen die Köpfe der Pferde und die Dugas sich am Himmel abzeichnen. Es waren viele Wagen, die anhielten. Mitten durch den Lärm des Motors hörten wir Stimmen rufen:
„Knjäs Borghese! Knjäs Borghese!“
„Wer da?“ fragte der Fürst.
„Sie kommen auf der Straße nicht weiter! Fahren Sie zurück nach unten und leiten Sie die Maschine dann auf den Damm. Auf der Straße versinkt man!“
„Danke. Wer sind Sie?“
„Wir sind aus Irkutsk. Wir sind Ihnen entgegengefahren.“
Nach kurzer Zeit schüttelten wir im Halbdunkel eine Menge Hände und vernahmen die herzlichsten Willkommensworte. Ein Herr bot sich als Führer an und setzte sich zu uns. Er hieß Radionoff; er war einer der reichsten Kaufleute von Irkutsk, Besitzer von Dampfschiffen auf dem Baikalsee und der Angara, sowie eines der begeistertsten Mitglieder des russischen Komitees für die Fahrt Peking–Paris. Er geleitete uns nach Irkutsk und dann durch die verlassenen Straßen der Stadt, auf deren Schmutz der Widerschein der wenigen Laternen zitterte, bis zu einem weißen Gehöft mit einem grünen Gittertor, wo er nach jemand rief. Es erschien ein Riese, der das Gittertor öffnete. Wir fuhren in eine Art Garten hinein, gewahrten Bäume und hielten vor einem hübschen weißen Hause mit erleuchteten Fenstern, die ihren Schimmer auf das Laub der Bäume warfen. Und wie im Märchen stieg Herr Radionoff ab und rief:
„Wir sind da.“
„Wo sind wir?“
„In meinem Hause, das heißt in Ihrem Hause. Das Bad steht bereit. Ihre Zimmer sind in Ordnung. Das Essen ist auf dem Feuer.“
Wir fanden in jenem weißen Hause eine prunkvolle und herzliche Aufnahme, die volle und freie Gastfreundschaft dessen, der alles bietet, was er vermag, und es gern bietet. Um Mitternacht kamen Freunde zu dem Mahle, das auf dem Feuer stand. Die Stunde konnte dem, der den russischen Sommer nicht kennt, wenig geeignet erscheinen, jene unerträgliche Jahreszeit des Lichtes, da es um 11 Uhr abends noch Tag und um 2 Uhr morgens schon wieder Tag ist. Es kamen Offiziere, Kaufleute, Beamte. Wir bewegten uns unter ihnen, als hätten wir uns schon lange gekannt. Der slawische Charakter weist viel Ähnlichkeit mit dem romanischen auf: er bringt dem Fremden überströmende Freundlichkeit und hochherziges Vertrauen entgegen.
In Irkutsk verbrachten wir eine bezaubernde Zeit der Ruhe. Allerdings ist das Wort „Ruhe“ übertrieben; aber oft bedeutet „ausruhen“ nur „die Arbeit wechseln“. Wir durchstreiften Irkutsk der Länge und Breite nach auf den breiten Straßen mit dem holprigen Pflaster, die von beiden Seiten von düsteren, prächtigen Palästen begrenzt werden, wir spazierten über riesige, von Morast überschwemmte Plätze, durch die Kaufmannsviertel, die alle aus Holz gebaut sind, wie die Budenstadt einer riesigen immerwährenden Messe; wir gingen von einer Bank in einen Laden, von einem Laden auf das Telegraphenamt, von da nach einem Regierungsbureau. Wir hatten Erkundigungen einzuziehen, Rechnungen zu begleichen, allerlei Dinge zu kaufen, um unsere Garderobe zu erneuern, die durch das Öl der Maschine ganz und gar verdorben war. Wir betrachteten neugierig das Leben und Treiben in dieser Stadt, die sich das Ansehen einer Hauptstadt gibt und es in einiger Beziehung auch ist. Sie regiert ein Land, zwanzigmal so groß wie Frankreich, sie herrscht über eine Bevölkerung, die aus Angehörigen aller Rassen besteht; auf ihren Straßen begegnen sich unter der slawischen Masse Burjaten aus Transbaikalien, Kirgisen, die aus den Steppen kommen, Tungusen, die aus den Tundren herabgestiegen sind, Zirkassier, Tataren, Armenier und Juden. Es ist eine Stadt des Westens und des Ostens zu gleicher Zeit, in der die Geschäfte rasch Erledigung und die Moden spät Eingang finden; in ihr finden sich noch die Trachten des alten Rußlands, bewahrt von Männern von modernem Unternehmungsgeiste.
Der Radfahrklub wollte uns in seinem Velodrom jenseits der Angara empfangen, wo wir eintrafen, nachdem wir eine der größten Schiffsbrücken der Welt überschritten hatten. Der Regen und die Kälte störten das Fest, dämpften aber nicht die Begeisterung unserer Gastfreunde. Die uns zu Ehren in verschwenderischer Fülle angebrachten Flaggen und Fahnen hingen in dem eisigkalten Regen melancholisch herunter, aber im Gegensatz zu dem Wasser draußen rannen drinnen edle Weine die Kehlen hinab, die Gemüter erhellten und erwärmten sich an der herrlichsten geistigen Sonne. Wackere Männer fanden den Mut, ihre Zweiräder zu besteigen und eine Wettfahrt zu veranstalten, die wir mit gespanntem Interesse verfolgten, während eine Militärkapelle zündende kriegerische Weisen bis zu den fernen Ufern des Flusses erschallen ließ. In der Nacht waren wir aufs neue in Bewegung. Zuerst wurden wir in das Theater geführt, sodann in das Variété (die Vorstellungen in den Variétés beginnen in Rußland erst nach Mitternacht) und von da ins Restaurant, weil es der Brauch so will. „Andere Länder, andere Sitten!“ Nachdem wir Krebse aus Moskau und Kaviar aus Kasan gekostet hatten, wurden wir wieder in ein Variété geführt, um russische Gesänge, die berühmten Lieder der Ukraine, anzuhören, die auf Kommando gesungen wurden. Als die Gesänge zu Ende waren, weshalb sollten da nicht auch kleinrussische Tänze befohlen werden? Wir wohnten also auch den Tänzen bei. Der Tag dämmerte bereits, als uns der „Steigbügeltrunk“ zum Abschied angeboten wurde. Wir kehrten erst beim Morgengrauen des 3. Juli in einer Kutsche nach Hause zurück, als die Stadt bereits zu erwachen begann. Unsere „Ruhezeit“ in Irkutsk neigte sich ihrem Ende zu.
Wenige Stunden später, um 11 Uhr, verließen wir Irkutsk, umgeben von einem Ehrengeleite von Radfahrern. Das Automobil hatte sich durch eine sorgfältige Toilette gänzlich verändert. Ettore hatte es mit Hilfe des kräftigen Strahles einer Feuerspritze gesäubert, und aller Schmutz aus China, der Mongolei und Sibirien war unter jenen ungestümen Wasserstrahlen abgefallen. Wenn das Automobil somit auch gereinigt war, so hatte es doch seine ursprüngliche Farbe nicht wiedergewonnen; die Unbilden der Witterung hatten ihm eine unbestimmte Färbung verliehen. Wie wir hatte auch das Automobil eine neue Haut bekommen; es sah dunkler, ungepflegter aus und zeigte offen seine Beulen und Sprünge; es war häßlicher geworden, erschien aber stärker. Um es zu verschönern, ließ Fürst Borghese einen Schildermaler kommen und gab ihm den Auftrag, an den Seiten des Automobils zwei große weiße Inschriften anzubringen: Peking–Paris. Zum Unglück sah die Inschrift wie ein Ladenschild aus; es wäre wohl besser gewesen, das Automobil schmutzig zu lassen. In Irkutsk entäußerten wir uns eines Teiles des Gepäcks, der dritte Platz, der für mich bestimmt gewesene hintere Sitzplatz, wurde ausgeräumt und benutzbar gemacht. Er wurde von Herrn Radionoff eingenommen, der uns ein Stück Weges zu begleiten wünschte. Das Einsteigen war nicht leicht, weil man über Behälter hinwegsteigen mußte. Ein großes in Papier eingeschlagenes Paket legte er neben sich; wie wir später entdeckten, enthielt es Lebensmittel. Unser Freund hatte die Mittagszeit herannahen sehen und war nicht wie wir gewöhnt, das Frühstück zu vergessen.
Vor der Abfahrt überbrachte uns ein Telegramm aus Myssowaja die letzten Nachrichten von den übrigen Automobilen. Sie waren den Tag zuvor in Myssowaja eingetroffen und von jener Station mit der Eisenbahn nach Irkutsk gefahren.
Wir überschritten die große Pontonbrücke, gelangten glücklich über eine einige Kilometer lange Strecke unsicheren Geländes, auf dem das Automobil mehrmals einzusinken drohte — in der Nähe der sibirischen Städte sind die Wege stets fürchterlich —, und erreichten gegen Mittag den Anfang der guten Straße. Dahin hatten sich alle Radfahrer schon vor uns begeben. Wir begrüßten uns, brachten ein mehrfaches Hurra aus, die Mützen wurden geschwenkt, und dann schoß unsere Maschine rasch davon.
Wäre die selbst für Sibirien im Sommer außergewöhnliche Kälte nicht allzu schneidend gewesen, so hätten wir diesen neuen Abschnitt unserer Reise entzückend gefunden. Der Weg erlaubte die mittlere Geschwindigkeit von 30 Kilometern die Stunde. Wir fuhren am linken Ufer der Angara entlang, die majestätisch ihre kristallklaren Fluten vorüberwälzte. Irkutsk verschwand allmählich in dem weiten welligen Tale, und schließlich sahen wir nur noch die großen, zahlreichen Kirchen: eine Menge von Kuppeln, Türmen und Giebeln, die aus der grünen Ferne noch weiß herüberschimmerten, als die Häuser der Stadt dem Auge schon entschwunden waren.
Die Landschaft nahm einen anmutigeren Charakter an. Das Gelände senkte sich allmählich, entsprechend dem weiteren Laufe der Selenga. Die schroffen Anhöhen, die den Baikalsee umsäumen, wurden zu immer leichteren wellenförmigen Erhebungen. Wir begannen uns in den unermeßlichen Ebenen Sibiriens zu verlieren. Wir ließen die steilen Gebirge hinter uns, die sich am Horizonte gleich riesigen unbeweglichen Wogen auftürmten, und hatten — wie damals, als wir uns der Mongolei näherten — den Eindruck, als ob sich ein Unwetter entferne. Die Straße wies lange ebene und gerade Strecken auf, auf denen wir mit der Geschwindigkeit von 40 und sogar 50 Kilometern dahinjagen konnten, zwischen grünen, üppigen Wiesen, die von leuchtendgelben und weißen Blumen gesprenkelt und gestreift waren. Es waren die Pflanzenarten, die auch in den Alpen vorkommen. Die Wiesen waren von Rinder- und Pferdeherden bevölkert. Die Viehzucht ist dort draußen noch die ausschließliche Beschäftigung der halbwilden Bevölkerung, einer Mischlingsrasse, die etwas vom Slawen und etwas vom Mongolen an sich hat.
Herr Radionoff, der sich zum ersten Male an der schwindelerregenden Wonne der Schnelligkeit berauschte, stieß Rufe der Begeisterung und des Entzückens aus. Jedesmal, wenn wir unsere Fahrt beflügelten, äußerte er das glühende Verlangen nach dem Besitz eines Automobils. Er wollte es sofort haben, er wollte es bestellen, sobald er nach Hause käme; er würde telegraphieren, er wollte genau ein solches haben wie das unsrige. Nach und nach legte sich seine Begeisterung; unser guter Reisegefährte war schweigsam geworden; er hatte sein Frühstückspaket geöffnet. Ohne ein Wort zu sprechen, reichte er uns von den mitgebrachten Speisen; wir sahen seine Hand vor unserem Gesicht erscheinen mit einem riesigen belegten Butterbrote, das wir unter dankender Kopfbewegung ergriffen und verzehrten; kaum war es verschwunden, so erschien die Hand schon wieder mit einer neuen Portion. Es schien die Hand der Vorsehung zu sein. Seine Vorräte mußten unerschöpflich sein, da unser Appetit eher zu Ende ging als sie.
Wir kamen durch zahlreiche Dörfer, die von Zäunen umgeben waren, deren Gatter die Straße versperrten. Über die Holzdächer erhoben sich dünne, gleichmäßig hohe, nach vorn geneigte Brunnenstangen, die wie lange Lanzen aussahen. Einige dieser Dörfer waren von Kosaken bewohnt. Auf den Häusern wehten rote oder weiße Fähnchen, die mit Nummern versehen waren. Vor jedem Fenster standen Blumen; die schwarzen Isbas hatten sich mit ihnen geschmückt, um den kurzen Frühling zu feiern. Der Sibirier liebt Blumen abgöttisch, und mag sein Haus auch noch so armselig sein, es hat stets seine Geranien-, Nelken- oder Oleanderstöcke, die an der Wärme des Ofens gedeihen und die Kahlheit der Isba erheitern. Sie werden geliebt, weil sie selten sind und auch, weil jene Pflanzen, die der Pflege bedürfen, den Bewohnern in den langen, stillen, weißen Wintermonaten Gesellschaft leisten, wenn die Kälte und der Schnee jede Arbeit unmöglich machen und die Leute in ihren Häusern einschließen. Der Muschik verwendet beständige Sorgfalt auf die Verschönerung seines Heims; er breitet rohgearbeitete Decken über den Fußboden, behängt die Wände mit Bildern in schreienden Farben, mit Heiligenbildern, Bildnissen des Kaisers, und verteilt alles mit einem gewissen Ordnungssinn; der blinkende Samowar steht auf einem Tische in der Nähe des Fensters, damit man ihn von der Straße aus sieht; um den Samowar herum stehen die Gläser und Teller; auf einem Schranke stehen alle wertvollen Schätze der Familie: Porzellantassen, bemalte Teller, die bei der Hochzeit gebraucht wurden, eine ewige Lampe; an den Fenstern hängen Kattungardinen. Es herrscht in jenen Häusern ein Sinn für in sich gekehrte, zufriedene Traulichkeit, die nicht in den Ländern anzutreffen ist, in denen man nicht viel im Hause lebt, weil dort die Sonne auch im Winter warm scheint, die Luft mild ist und man sich im Freien wohlfühlt.
Wir gelangten auf das rechte Ufer eines Flusses, der Suchuja. Es ist ein Doppelfluß, der durch eine Bodenerhebung in der Mitte in zwei Flüsse geteilt ist; die eine Hälfte überschreitet man in einer Furt, die andere mittels des Bootes. Viele sibirische Flüsse haben so einen tiefen und einen seichten Teil; auf der einen Seite sind sie gefährlich, auf der andern harmlos. Einige von ihnen haben eine Brücke zum Überschreiten des besseren Arms und einen Kahn zum Übersetzen über den andern, in dem sich alle Wut und alle Gefahren der Strömung vereinigen. Eine Brücke über den ganzen Fluß würde bei Hochwasser den Fluten nicht widerstehen.
Ein großes Boot setzte uns über. Es war nicht leicht, das Automobil hinüberzubringen; wir mußten die Brücke verstärken, über die Ettore die Maschine rasch mit jener Sicherheit und Zuverlässigkeit trieb, die er schon an der Selenga bewiesen hatte. Schließlich gewannen wir Übung in diesen Einschiffungen. Wir setzten in Booten, von denen manches alt und leck war, über eine Menge anderer großer und kleiner Flüsse, über den Ospin, die Bjelaja, den Salarin, die Oka, die ihre Gewässer der Angara auf ihrem weiteren Laufe zum Jenissei zuführen.
Auf den Fährbooten setzten mit dem Automobil Telegas über, die von den benachbarten Märkten kamen. Wir befanden uns mitten in einer dichten charakteristischen Menge sibirischer Landleute, die uns ehrfurchtsvoll grüßten und seltsame Bemerkungen unter sich austauschten. Auf einem dieser Boote war es, wo wir gefragt wurden, ob wir Japaner seien! Der Mann, der diesen Zweifel an unserer Nationalität geäußert hatte, erklärte dies folgendermaßen:
„Ich glaubte, Sie seien Japaner, weil es derlei Maschinen in Rußland nicht gibt und Sie von jener Seite kommen“; er deutete dabei nach Osten. Dann fügte er hinzu: „Man sagt, die Japaner hätten alle Maschinen, die überhaupt erfunden worden sind.“
Auf der Oka murmelte ein alter Muschik dem Fährmann zu:
„Wir werden bald wieder Krieg haben!“
„Warum denn, Väterchen?“
„Sie besichtigen schon das Land!“ Dabei deutete er auf uns und schüttelte nachdenklich den Kopf.
Was mag er sich wohl über unsere Personen und den Zweck unserer Reise gedacht haben! Und wer weiß, welche Meinung all die friedfertigen Dorfbewohner von dem Automobil hegten! Einige drückten lebhaftes Erstaunen aus, blieben wie betäubt stehen und ließen ihre Arbeitsgeräte aus der Hand fallen. Andere liefen fröhlich herbei wie beim Nahen einer harmlosen Erscheinung oder einer wandernden Gauklertruppe auf ihrem Reisewagen. Manche suchten das Weite. Die Frauen lachten häufig, daß sie sich die Seiten halten mußten, wie es die Mongolen in der Nähe von Urga getan hatten — was beweisen könnte, daß die Frau weniger bildungsfähig ist als der Mann, daß ihre Seele noch etwas von der Natur des Wilden an sich hat. Wenn wir aber hielten, so näherten sich alle beruhigt, und eine Minute später waren sie gegen uns und das Automobil von der herzgewinnendsten Freundlichkeit. Die jungen Leute bewunderten es und taten verständige Fragen über die Geschwindigkeit und Kraft der Maschine.
Mehrmals fanden wir die Straße durch Eisenbahnarbeiten unterbrochen. Man legte ein zweites Geleise auf der transsibirischen Eisenbahn oder vielmehr, man baute eine zweite transsibirische Linie, von der die den Zug benutzenden Reisenden wahrscheinlich nichts bemerkten. Denn es ist eine Linie, die ihren besonderen Bahndamm hat und unabhängig von der andern entsteht; sie funktioniert für sich und verdoppelt so die Vorteile der transsibirischen Bahn, indem sie zugleich die Nachteile eines doppelten Geleises vermeidet. Wenn die eine Brücke einstürzt, wird die andere Brücke unversehrt bleiben; nichts kann den Verkehr völlig unterbrechen. Die neue Eisenbahnlinie wird ihre Stationen, ihre Telegraphenleitung und ihre Bahnwärter für sich haben.
An einer Stelle waren wir Zeugen eines erschütternden Anblicks.
Auf einer Dammstrecke der neuen Eisenbahn arbeiteten Hunderte von Männern in gleichmäßiger grauer Kleidung, die wir für Soldaten hielten. Wir glaubten an ihnen die neue Felduniform zu erkennen. Als wir aber näherkamen, bemerkten wir, daß jedem einzelnen eine Kette um den Fuß geschlungen war. Posten, bewaffnet mit Gewehren mit aufgepflanztem Bajonett, die Kapuze auf den Rücken geschlagen, die Zigarette im Munde, hielten ringsherum Wache. Als wir an ihnen vorüberkamen, hielten die graugekleideten Männer in ihrer Arbeit inne und richteten sich alle auf, um uns schweigend zu betrachten; dann grüßten sie durch Abnehmen der Mützen. Ihr Kopf war halb geschoren, daß er aussah wie eine schreckenerregende, groteske Clownperücke. Bei dieser traurigen Entdeckung durchschauerte es uns eisig, und wir murmelten:
„Die Sträflinge!“
Sie betrachteten uns fortwährend. Wir waren schon weit weg, und sie schauten uns noch immer nach. Wir fühlten uns von ihrer glühenden, schweigenden Aufmerksamkeit verfolgt. In ihrer Phantasie bedeuteten wir die Flucht. Wer weiß, welch bedeutsames Ereignis unsere Vorüberfahrt in dem entsetzlich gleichförmigen Leben einer Herde Menschen bildete, die aus der Gesellschaft ausgestoßen waren und die nur noch mit Nummern gerufen wurden.
Abends 7 Uhr gelangten wir bei regnerischem Wetter nach Sima. Wir hatten 225 Kilometer zurückgelegt. Im Restaurant der nächsten Eisenbahnstation gelang es uns, mit sauerer Sahne zubereiteten Borscht und Koteletts zu erhalten, welch letztere sich aber als ungenießbar herausstellten; auch fanden wir unseren Benzin- und Ölvorrat im Hause eines jüdischen Kaufmanns vor, des Agenten der Firma Nobel, bei dem wir übernachteten.
Sima bedeutet im Russischen „Winter“. Wir fanden diesen Namen beklagenswerterweise äußerst angemessen. In Sima war die Kälte fast unerträglich, und wir sagten scherzend zueinander:
„Der Juli steht vor der Tür!“
Das Sonderbare war dabei, daß unser Wirt uns versicherte, daß es bis vor zwei Tagen unerträglich heiß gewesen sei. Es schien gerade, als ob uns die Kälte durch Sibirien geflissentlich begleiten wollte, um die Honneurs des Hauses zu machen.
Früh 4 Uhr waren wir schon wieder unterwegs. Natürlich war der Himmel bedeckt, die Luft naßkalt. Die Pelze genügten nicht mehr, uns vor der Kälte zu schützen, und wir hatten noch Kapuzen und unsere wasserdichte Kleidung angelegt; wir sahen unförmlich aus, wie Eskimos.
Seit einigen Tagen wiederholte sich dieselbe ärgerliche meteorologische Erscheinung: in der Nacht klarte der Himmel vollständig auf; wir fuhren am schönsten Morgen ab; bei Sonnenaufgang zeigte sich im Westen etwas Nebel; dieser stieg weiter empor, wurde zur Wolke, umzog und bedeckte den ganzen Himmel — und es begann zu regnen. Dieser Wechsel vollzog sich in einer halben Stunde. Es war, als ob sich der Westen zu unserem Empfange rüstete. Ettore, der beim Morgengrauen stets auf das festeste davon überzeugt war, daß wir „einen herrlichen Tag“ haben würden, konnte sich gar nicht zufrieden geben: er rief jeden Augenblick, nach Westen deutend: „Wo ist denn diese unerschöpfliche Wolkenquelle? Wird sie denn nie ein Ende nehmen?“, und schloss betrübt mit den Worten: „Was für ein Land!“
Die Straßen waren ziemlich belebt von Telegas, so daß wir auf die Launen der Pferde gut achtgeben mußten, um kein Unglück zu verursachen. Die Verwunderung wirkte lähmend auf die Kutscher.
Es ereigneten sich Auftritte von überwältigender Komik. Ein an eine Telega gespanntes Pferd, erschreckt durch das Nahen des Automobils, das jedoch im Schritt fuhr wie stets, wenn wir Pferden begegneten, bäumte sich in die Höhe, warf die Telega um, schleuderte die Ladung und den Muschik, der das Gefährt lenkte, heraus und ging durch. Der wackere Mann, der sich so unfreiwillig auf die Erde gesetzt fand, fuhr fort, uns mit demselben Lächeln zu betrachten, mit dem er uns vor seinem Sturz angesehen hatte, ohne an seinen Wagen und sein Pferd zu denken, als ob er in Gedanken versunken wäre und wie verhext überhaupt nichts von der plötzlichen Veränderung seines Sitzes wahrgenommen hätte! Als wir näherkamen, grüßte er uns:
„Guten Tag! Woher kommen Sie?“
„Von Peking.“
Er faltete die Hände und betrachtete uns offenen Mundes. Ein Bauer zu Pferde brach bei unserem Anblick in Gelächter aus; unversehens machte sein Reittier erschreckt einen Seitensprung und schleuderte ihn aus dem Sattel; er erhob sich, immerfort lachend, und sagte in ganz zufriedenem Tone:
„Haha! Besser ein Wagen ohne Pferd als ein Pferd ohne Wagen! Hahaha!“
Wir müssen zugeben, daß trotz all unserer Vorsicht die Zahl der umgestürzten Telegas außerordentlich groß war. Die Pferde scheuten, auch wenn das Automobil stillstand; sie erblickten in ihm wer weiß was für ein reißendes Tier. Und die Telegas, Wagen, schmal, um überall durchzukommen, hoch, um Furten passieren zu können, und leicht, um im Moraste nicht steckenzubleiben, haben alle erforderlichen Eigenschaften, um mit der größten Leichtigkeit umzustürzen. Die meisten Bauernpferde in Sibirien tragen kein Gebiß, sondern nur einen dünnen Zaum. Zu alledem kam die Verblüffung der Leute. Sie beschäftigten sich nur mit dem Gedanken, was zum Teufel denn dieses große graue Ungeheuer sei, das da auf der Straße hin und her schwankte und stolperte. Sie hörten auf nichts, weder auf Warnungen noch auf Ratschläge, und sehr oft mußten wir halten, absteigen, die Pferde am Zaume fassen und zur Seite führen.
Einmal begegneten wir einer Postkutsche, einem großen Tarantaß, in dem alle, Reisende und Kutscher, den Schlaf des Gerechten schliefen. Die drei Pferde faßten in ihrem Schreck einmütig den Entschluß, kurzerhand umzukehren. Niemand wachte auf. Wir überholten den Tarantaß ohne Zwischenfall; nach einigen Kilometern sahen wir ihn von der Höhe eines Hügels aus wieder, wie er fortfuhr, den bereits zurückgelegten Weg noch einmal zu machen. Wir konnten uns des Lachens nicht erwehren, als wir an die Überraschung der Reisenden und des Kutschers dachten, wenn sie sich beim Erwachen nach einer so langen Fahrt auf derselben Poststation wiederfinden würden, von der sie abgereist waren.
Oft versperrten große Herden von Rindern oder Pferden die Straße, und wir mußten warten, bis alle Tiere vorbei waren. Sie waren mißtrauisch, ängstlich und zögerten, angetrieben von dem Stachelstocke der Hirten, die hin und her galoppierten, um ein Tier, das fliehen wollte, zurückzuscheuchen. Es fehlte uns also auf dieser Fahrt nicht an Abwechslung. Viele Kilometer weit befanden wir uns zwischen einsamen, nach Harz duftenden Gehölzen. Wir glaubten in den Alleen eines unermeßlichen Parkes dahinzufahren; alles stand in Blüte, und die Wiesen und Waldblößen luden in ihren schweigenden Schatten ein. Wenn wir aber von fern ein Tal bemerkten, so waren wir sicher, ein Dorf in ihm anzutreffen.
Die Dörfer flüchten sich in die Täler, um Schutz vor den stürmischen Winden zu suchen, die von den eisigen Tundren im Norden kommen, und um Wasser zu haben. Die Isbas drängen sich an klaren Bächen zusammen, an deren Ufern riesige Herden von Gänsen schnattern, die dazu bestimmt sind, in gefrorenem Zustande auf die großen Wintermärkte in Rußland verschickt zu werden. Am Ein- und Ausgange des Ortes erhebt sich ein schwarz und weiß gestreifter Pfahl mit einer Tafel, auf der der Name des Ortes, die Entfernung bis zum nächsten Dorf, die Zahl der Feuerstellen und der Einwohner angegeben sind — kurz, ein förmlicher statistischer Auszug zur Bequemlichkeit der Beamten, die herkommen, Steuern einzukassieren oder Soldaten auszuheben. Eine Tafel zeigt die Wohnung des Starosten an, eine andere das „Semstwoskaja Dom“, das heißt das Gebäude, in dem die Beamten das Recht zu wohnen haben. Es liegt in all diesem ein militärischer Zug; es hat den Anschein, als gehörten all diese Häuser zu einem Regimente, als seien sie gezählt, in Reih und Glied gestellt, und müßten wie die Zelte eines Lagers stets gewärtig sein, auf den ersten Befehl von oben abgebrochen und anderwärts wieder aufgebaut zu werden. Man möchte sagen, nicht die Notwendigkeit, sondern ein Befehl habe sie erstehen lassen. Die Dörfer befinden sich in nahezu gleichen Abständen von 20 zu 20 Kilometern und machen den Eindruck großer Vorpostenstellungen, die über den Moskowskij Trakt verteilt sind. In der Tat sind sie an erster Stelle Etappen, und dann erst Dörfer.
Bis vor wenigen Jahren, bevor die Eisenbahn Sibirien durchquerte, bezeichneten sie die Tagemärsche der Deportierten, die jetzt der Zug in Gefängniswagen mit vergitterten Fenstern befördert. Am Ende jedes Dorfes befindet sich noch die Etappenstation der aus dem Vaterlande Ausgewiesenen. Es ist ein großes, niedriges, quadratisches Holzhaus mit unzugänglichen, mit festen Eisenstäben verwahrten Fenstern, das in einem von einer Einfriedigung umschlossenen Hofe liegt. In dem Hofe erheben sich einige wenige Gebäude, eine Schmiede vielleicht, ein Bureau, ein Schlafsaal für die Soldaten; ringsumher Schilderhäuser für die Wachtposten. Jetzt sind die Türen mit Brettern vernagelt, niemand darf hinein, alles zerfällt. Diese leeren, aus den Fugen gehenden Häuser machen einen unheimlichen, geisterhaften Eindruck. Sie scheinen nicht nur verlassen, sondern sogar gemieden. Es ist unmöglich, sie ohne Bewegung zu betrachten. Sie sind entstanden, um den Schmerz zu beherbergen, und man fragt sich, ob von all den körperlichen und seelischen Qualen, die so lange Jahre hindurch in diesen Räumen geweilt haben, nichts übriggeblieben sei, ob nicht das Gefühl der Trauer und des Widerwillens, das man empfindet, wenn man in ihrer Nähe vorbeikommt, von einem noch lebendigen Kummer, der in der Luft liegt, herrühre, von einer geheimnisvollen Ausströmung der Klagen, von einem verhallenden Echo von Worten der Verzweiflung, das die Dinge um uns wiedergeben und das die Seele empfindet.
Jedes an einem Bache gelegene Dorf bot uns eine Brücke zum Hinüberfahren, natürlich eine Holzbrücke. Nach unserem Sturze hatten wir vor den Brücken insgesamt einen heiligen Respekt. Wir suchten mit der größtmöglichen Geschwindigkeit über sie hinwegzukommen, nicht sowohl aus Furcht, sie unter uns zusammenbrechen zu sehen, als um das Krachen der Bretter nicht hören zu müssen. Es war in uns eine unbesiegliche Abneigung gegen das Geräusch zerbrechenden Holzes zurückgeblieben, eine rein physische Empfindung, eine instinktive Erinnerung. Das Krachen eines Holzstückes unter den Rädern hatte auf uns die Wirkung eines Alarmsignals; die Gedanken mochten anderwärts weilen und auch fortfahren, dort zu bleiben, aber der Körper fuhr auf und machte sich zur Abwehr bereit! Und auf den Brücken, namentlich den großen und hohen, die über tiefe Schluchten, reißende Ströme und Abgründe hinwegführten, empfanden wir eine seltsame Genugtuung, ein negatives Vergnügen sozusagen, das wir jedesmal durch eine beinahe unwillkürliche Bemerkung ausdrückten: das Vergnügen, nicht hinabzustürzen. Wir sagten:
„Wenn diese Brücke aus den Fugen gegangen wäre, wir würden nichts mehr davon erzählen können! Wir würden zerschmettert sein!“
Alle waren wir froh, nicht unten auf dem Grunde zu liegen, wenn wir uns vorbeugten, um, von einer unwiderstehlichen Gewalt getrieben, über das Geländer zu sehen. Wir freuten uns, nicht zerschmettert untenzuliegen.
Am 4. Juli trafen wir gegen 2½ Uhr nachmittags in Nischne-Udinsk ein, das etwa 500 Kilometer von Irkutsk entfernt liegt. Wir wurden von der Polizei empfangen, die uns sogar eine Wohnung in ihrem Amtsgebäude eingeräumt hatte. Es ist nun einmal so, gewisse Ehren kommen nur großen Männern und Verbrechern zu! Ein Gendarm bereitete uns Tee, ein Gendarm machte uns die Betten, ein Gendarm kochte unser Essen. Es war die gebändigte Gewalt. Man stelle sich vor, einem strammstehenden Gorodowoi die Gerichte zu nennen, die er auf den Tisch bringen soll! Das Außerordentliche dabei war, daß die Speisen vorzüglich waren.
Während der Fürst den Polizeikommandanten und die Beamten empfing, während Ettore, der den Vorrat an Brenn- und Schmiermaterial glücklich gefunden hatte, die Maschine putzte und mit Nahrung versorgte, hatte ich einen heldenmütigen Kampf mit dem Telegraphenamte von Nischne-Udinsk zu bestehen, der damit endete, daß es mir gelang, meinen Bericht abzusenden. Nach den opiumrauchenden Telegraphisten in Hsin-wa-fu hatte ich kein seltsameres Amt mehr angetroffen. Bei Überreichung der Depesche fragte der Beamte:
„Was für eine Sprache ist dies?“
„Italienisch“, erwiderte ich.
„Wir befördern nichts Italienisches.“
„Sie müssen italienische Depeschen befördern gemäß den internationalen Bestimmungen.“
„Wer gibt uns aber die Versicherung, daß es wirklich Italienisch ist?“
„Ich.“
„Das genügt nicht.“
Die Geduld drohte mir zu reißen, aber es gelang mir, sie noch einmal zusammenzuflicken, und ich antwortete ruhig:
„Lassen Sie die Depesche jemand lesen, der Italienisch versteht.“
„Niemand versteht hier Italienisch.“
„Kurz und gut!“ rief ich, „wollen Sie die Depesche befördern oder nicht?“
„Wir wollen die Depesche als chiffrierte befördern.“
„Meinetwegen.“
„Die Worte, die mehr als zehn Buchstaben haben, werden doppelt gerechnet.“
„Meinetwegen.“
„Haben Sie die Freundlichkeit, uns den Chiffreschlüssel und die russische Übersetzung mitzuteilen. So bestimmt es das Gesetz für chiffrierte Telegramme.“
Das war zuviel! Ich lief, um mir Hilfe zu holen, und traf Herrn Radionoff, unseren guten Reisegefährten, der uns anfänglich nur ein Stück über Irkutsk hinaus hatte begleiten wollen und jetzt die augenscheinliche Absicht verriet, uns nicht mehr verlassen zu wollen.
Ich zog ihn nach dem Telegraphenamte und teilte ihm meine Erbitterung mit; wir sprachen beide auf den Beamten ein. Vergeblich! Dann hatte ich einen guten Gedanken; ich nahm ein Formular, füllte es mit einem empörten Proteste aus und ließ diesen als dringendes Telegramm an den Generaldirektor der Telegraphenverwaltung von Sibirien in Irkutsk telegraphieren. Eine Stunde später war die italienische Sprache in Nischne-Udinsk amtlich anerkannt! Als Journalist aber sehnte ich mich von Herzen nach den kleinen chinesischen Telegraphisten zurück, die in den fernen, aus Lehm gebauten Telegraphenämtern der Wüste Gobi von jedem Verkehr abgeschnitten sind, nach jenen wackeren bezopften Telegraphisten, die an den Kopf meiner Depesche „Nummer 1“ setzen mußten und sie ohne Irrtum und ohne Verspätung über alle Kabel des Orients hinweg beförderten!
Abends spät entschloß sich Freund Radionoff, uns zu verlassen. Der Wind und die Kotspritzer hatten ihm unversehens eine Augenentzündung verursacht, die es ihm nicht mehr gestattete, die Genüsse einer längeren Automobilfahrt zu würdigen. Als er sich von mir verabschiedete, erklärte er mir mit einem Anflug vertraulicher Genugtuung:
„Wissen Sie, ich bin auch ein bißchen Journalist!“
„Wirklich?“
„Jawohl. Heute habe ich eine Depesche an die Irkutsker Zeitungen aufgegeben. Hier ist sie: ‚Auf Automobil Borghese erreichten wir Nischne-Udinsk 2 Uhr 35. Herrliche Fahrt.‘“
„Ist das alles?“
„O nein! Es war noch die Unterschrift dabei.“
Im Jenisseibecken.
In der Taiga. — Kansk. — Das zusammengekettete Rad. — Krasnojarsk. — Die Macht der beiden Dokumente. — Der Übergang über den Kemtschug. — Atschinsk. — Wir bleiben stecken.
Nischne-Udinsk ist nur ein großes Dorf am Ufer der Tschuna, eines der zahlreichen Nebenflüsse der Angara. Wir fuhren des Morgens um 4 Uhr durch seine schmutzigen Straßen und jagten einige friedliche Familien von Schweinen, die ausgestreckt in den Pfützen der Straße längs der Häuser schliefen, in die Flucht. Der eine oder andere Frühaufsteher unter den Bewohnern sah uns mit verschlafenem, mißtrauischem Gesicht nach. Dem Automobil voraus fuhr ein Polizeitarantaß, bemannt mit einem Offizier und gelenkt von einem Gendarmen, um uns den Weg nach dem 275 Kilometer entfernten Kansk zu zeigen. Bei einem Straßenübergang über den Eisenbahndamm hielt der Tarantaß.
„Sie können jetzt nicht mehr irren,“ rief der Offizier; „folgen Sie nur jenem Wege dort. Do svidania!“
„Do svidania! Spasibo!“ — „Adieu! Vielen Dank!“ riefen wir.
Das Automobil beschleunigte seinen Lauf dem neuen Ziele entgegen. Wir fuhren in einem dichten, eisigen Nebel, der uns das Gesicht naß machte und unsere Pelze mit Tauperlen benetzte. Eine Zeitlang hofften wir, es würde der Sonne gelingen, ihn zu zerstreuen. Die Sonne kam auch auf Augenblicke zum Vorschein, aber nur bleich. Wir riefen ihr Worte der Ermutigung zu.
„Immer tüchtig drauf los, Beste. Also los!“
Wir erblickten in jener atmosphärischen Erscheinung eine Art Kampf zwischen der Sonne und dem Nebel. Bald hatte der eine die Oberhand, bald die andere. Wir ergriffen natürlich für die Sonne Partei. Ettore bemitleidete sie:
„Die Ärmste, sie tut, was sie kann!“
Aber die Sonne wurde schmählich geschlagen. Sie suchte ihr Heil in der Flucht, und wir bekamen sie nicht mehr zu sehen. Der Nebel stieg, um in Form von Regen wieder herabzufallen, und den ganzen Tag über wurden wir von Wasser, Wind, Kälte und Schmutz gepeinigt. Die Straßen waren nicht so gut wie die in der Nähe von Irkutsk. Wir waren einige Male gezwungen, auf das Grün der Wiesen auszubiegen, um Löchern, tiefen Wasserlachen oder verdächtig aussehenden sumpfigen Stellen aus dem Wege zu gehen. Wir begegneten niemand mehr. Die Gegend wurde immer öder. Die Felder und Wiesen räumten ihren Platz den Bäumen. Wir betraten das Gebiet der „Taiga“, des endlosen sibirischen Waldes. Um 9 Uhr früh rollten wir bereits in seinem unheimlichen Halbdunkel dahin.
Die Straße ist eine durch den Wald gehauene Schneise. Die Menschen haben sich einen Weg gebahnt, aber auf lange Strecken ist der Wald zur Rechten wie zur Linken undurchdringlich. Die Region der Taiga erstreckt sich bis an die Steppen der Tundren; sie ist ausgedehnt wie ein Kaiserreich; in dem größten Teile dieser Welt der grünen Baumriesen hat sich die Menschheit mit Mühe nur das Durchgangsrecht erobern können. Wir fuhren viele Dutzende von Kilometern inmitten der überwältigenden düsteren Menge von Tannen, hundertjährigen Kiefern und weißstämmigen Birken. Während wir die Anhöhen hinauffuhren, hatten wir zuweilen einen Ausblick auf die endlose Waldfläche. In uns stieg das peinigende Gefühl der Einsamkeit auf, das uns beklemmte, weil sie, eingeengt durch jene unermeßliche schattige Schranke, die sich zu beiden Seiten von uns erhob, infolge des Dämmerlichtes, das sich von dem mit schweren Wolken bedeckten Himmel herabsenkte, noch düsterer und grauenerregender wirkte.
Jenes zahllose Volk von Bäumen schien zu leben und sich schweigend zu verteidigen, es schien den Willen zu haben, uns einzuschließen und zurückzuhalten. An den Windungen der Straße schlossen sich die Bäume vor uns und hinter uns zusammen, als rückten sie unmerklich vor, als versperrten sie uns den Weg und verlegten uns jeden Rückzug. Man hätte sagen können, sie bewegten sich, sobald wir sie nicht beobachteten. Immer wieder verlor sich der Weg im Dickicht; es war, als sei er von diesem verschlungen. Die rötlichen, gerade aufsteigenden, riesenhohen Stämme der Kiefern waren erhaben wie Säulen. Dichte, urwaldähnlich verschlungene Gebüsche drangen bis an den Saum der Straße vor und bildeten lange, undurchdringliche Gehege, die die jungfräuliche Majestät des Waldes beschützten. An einer Stelle sprang ein großer Wolf, durch das rasche Nahen des Automobils überrascht, in eilendem Laufe quer über den Weg; wir störten das Urwaldsleben der Taiga.
Mitunter wurde der Wald lichter, wir stießen auf Blößen, dann auf Wiesen und in den Tälern auf einsame Dörfer, deren Bewohner im und vom Walde leben, umgeben von unermeßlichen Holzstößen, die vielleicht für den Eisenbahnbau bestimmt sind. Es waren Dörfer von häßlichem Aussehen; sie schienen zufrieden, daß sie nichts von der Welt wissen und ihre eigene Welt sind, und waren bewohnt von blonden Holzhauern von athletischem Körperbau. Diese Menschen sind Freunde und Feinde der Taiga; sie lieben und bekämpfen sie, strecken ihre riesenhaften Stämme zu Boden und glauben an die poetischsten Waldmärchen; die Bäume sind ihre Gefährten und ihre Opfer. In der Nähe der Isbas reihen sich, die Deichseln wie zwei Arme emporgereckt, riesige Wagen aneinander, die zum Fortschaffen der Stämme dienen, und ringsherum weiden Pferde, die vor dem Automobil scheuen und in langen Galoppsprüngen davonstürmen.
Eine Überraschung wartete unser. Mit einem Male erblickten wir zwischen den Zweigen die Telegraphenpfähle, und bald darauf befanden wir uns wieder dicht an der Eisenbahn. Ein langgedehntes Pfeifen erscholl, und ein Zug holte uns mit lautem Keuchen ein. Einige Minuten lang fuhren wir Seite an Seite mit dem Zuge. Aus den Fenstern grüßten uns die Reisenden und riefen uns Abschiedsworte zu. Aber bald entfernte uns unser Pfad wieder von der Eisenbahn, und wir befanden uns von neuem in tiefer, unberührter Stille. Es war für uns eine flüchtige Berührung mit der Welt gewesen inmitten jener Waldeinsamkeit; die Menschheit hatte uns in dem Schweigen des Waldes einen kurzen Ermutigungsruf zukommen lassen.
Am Nachmittag brach ein heftiges Gewitter los. Die Blitze zuckten, und der Donner hallte beständig von Tal zu Tal wider. Die Straße füllte sich mit Wasser, und der strömende Regen hüllte alles in einen dichten Schleier. Bei dem Dorfe Taitisk setzten wir in einem Boote über den Fluß Birüssa, einen Nebenfluß der Tschuna, die wir am Morgen bei Nischne-Udinsk überschritten hatten. Reißend, angeschwollen und trüb wie ein großer Gebirgsstrom, rollte er seine Fluten dahin. Das Gewitter hatte sich verzogen, aber einige Stunden später, als wir in das Tal des Kan hinabfuhren, überraschte uns ein neues Unwetter. Auf einem großen Trajektboote, das dem auf der Selenga bei Werchne-Udinsk ähnlich war, setzten wir über den Kan, während dieses neue wütende Gewitter im bleichen Scheine der Blitze tobte.
Im Kan trafen wir den ersten Fluß, der sich in den Jenissei ergießt. Wir hatten endgültig das Becken der Angara verlassen und betraten Mittelsibirien. Kansk am Ufer des Kan erwies sich als eine Stadt. Es lag ein Anstrich von Großartigkeit über ihr, der von zwei Dingen herrührte: von dem Nebel, der die Umrisse der Stadt undeutlich machte und vergrößerte, und von der Anwesenheit einer gewerblichen Anlage am Ufer des Flusses. Ein junger Mann, dem Aussehen nach ein Student, der sich ebenfalls auf dem Fährboot übersetzen ließ und der uns gegrüßt hatte, verstand das Wort „Fabrik“, das wir von jenem Gebäude mit den hohen Schornsteinen gebrauchten, und wandte sich an uns mit den Worten:
„Nein, es ist keine Fabrik.“
„Was ist es denn sonst?“
„Es würde besser für Kansk sein, wenn sie nicht bestünde. Sie verarmt das Land, statt es zu bereichern. Sie ist sein Verderb. Sie ist der Verderb Rußlands.“
„Nun also, was ist es denn?“
„Eine staatliche Schnapsbrennerei.“
Wir waren durchnäßt, als hätten wir den Fluß durchschwommen. Die Straßen des Ortes fanden wir überschwemmt und verlassen; nur ab und zu kam eine Droschke vorübergerumpelt. Wir kehrten in einem alten, aus Holz erbauten Gasthofe ein, dem besten der Stadt, wohin man das für uns angekommene Benzin und Öl brachte. Der Gasthof hatte keine andern Nachtgäste mehr; aber der Billardsaal im Erdgeschoß war gedrängt voll von Beamten, voller Lärm und Rauch. In der Nacht mischten sich in das weithin vernehmbare Rauschen des Regens das Stimmengewirr der Spieler und das Klappern der Billardkugeln.
Um 3 Uhr morgens waren wir schon wieder unterwegs. Wir wollten frühzeitig Krasnojarsk, das etwa 230 Kilometer entfernt lag, erreichen. Kurz vor der Abfahrt kam ein Polizeioffizier, um uns die Begleitung zweier bewaffneter Soldaten anzubieten.
„Unmöglich!“ bemerkte Borghese. „Sie würden uns nicht folgen können.“
„Nehmen Sie sie doch auf dem Automobil mit,“ riet der Offizier.
„Wir haben nur Platz für uns drei.“
„Wir haben erfahren, daß Räuber im Walde sind. Vor einiger Zeit überfielen die Revolutionäre eine Kaserne in Krasnojarsk, bemächtigten sich der Waffen und der Munition und öffneten die Tore des Gefängnisses. Im Gefängnisse saßen 70 Verbrecher, die alle ausbrachen. Bis jetzt sind von ihnen erst 30 wieder aufgegriffen worden.“
„Und die übrigen 40?“
„Die übrigen haben sich in kleine Banden geteilt und treiben sich in der Gegend des Jenissei umher. Sie tauchen bald hier, bald dort auf, aber wir haben keine Truppen verfügbar, um Jagd auf sie zu machen. Sie plündern öfters die Wagen auf dem ‚Trakt‘, im Walde. Zum Glück geht jetzt hier die Eisenbahn durch, und den wenigen Reisenden, die durch den Wald müssen, geben wir, wenn es achtbare Leute sind, Bedeckung mit.“
Ein Automobil anzuhalten ist eine etwas schwierige Sache, namentlich für den, der noch keins gesehen hat! Nur ein Unfall hätte uns den Räubern in die Hände liefern können. Übrigens war keine Möglichkeit vorhanden, die Soldaten mitzunehmen, und wir beabsichtigten nicht, aus Furcht vor einem möglichen Überfall mit der zu Fuß marschierenden Bedeckung Schritt zu halten und sieben Tage auf die Fahrt nach Krasnojarsk zu verwenden.
Von Myssowaja bis hierher hatten wir von nichts anderm als von den Räubern sprechen hören, und wir waren daher über diese Art Gefahren auf der Heerstraße etwas skeptisch. Die Bedeckung wurde dankend abgelehnt. Der Offizier machte eine Bewegung, als wollte er sagen: „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.“
Als Ersatz dafür baten wir wie in Nischne-Udinsk, auf den rechten Weg geleitet zu werden. In eine Stadt zu kommen, ist nicht so schwierig, wie aus ihr herauszufinden. Der Offizier stieg in eine Droschke und gab dem Kutscher, der im Galopp davonfuhr, einen Befehl. Wir folgten.
Außerhalb der Stadt verließ uns der Offizier und ermahnte uns:
„Seien Sie auf Ihrer Hut!“
Dieser 6. Juli war einer der schlimmsten Tage unserer Reise.
Wir wurden beständig von einem wolkenbruchartigen Regen verfolgt, von einer wahren Sintflut, die die Wege der Ebene überschwemmte und die der Hügellandschaft aushöhlte und aufwühlte. Es war unmöglich, mit einer gewissen Schnelligkeit vorwärtszukommen, und sei sie für eine Maschine von 50 Pferdekräften noch so bescheiden. Das Automobil glitt aus, es konnte sich auf dem klebrigen Moraste nicht halten; die Laufräder hörten streckenweise auf zu greifen und drehten sich in tollem Wirbel heulend herum, Straßenschmutz und Wasser in die Luft schleudernd. Es ist unmöglich, einen Begriff von dem Zustande der sibirischen Straßen bei einem solchen Regen zu geben.
In den Dörfern, wo die Herden mit ihren Tritten den Boden uneben machten, ist der Morast tief und weich. Die Räder versinken darin bis an die Naben, und der Schmutz spritzt um die Speichen herum. Auf weite Strecken hin trafen wir die sogenannte „schwarze Erde“ an, die sicher die fruchtbarste der Welt ist, aber auch die dem Automobilsport feindlichste. Die schwarze Erde wird von der tausendjährigen Verwitterung von Pflanzen gebildet; sie ist eine Art Moor, ein früherer Sumpf, der bei Regenwetter wieder zum Sumpfe wird. Sie ist mit organischen Bestandteilen gesättigt, seifenartig und leicht; wenn sie durchnäßt ist, gibt es nichts Schwierigeres, als im Gleichgewicht über sie hinwegzukommen. Das Automobil blieb stecken und zeigte einen bedauernswerten Ungehorsam gegen das Steuerrad: es drehte sich im Kreise herum, warf sich zur Seite, und oft hatten wir Mühe, es dicht am Rande tiefer Gräben zum Stehen zu bringen.
Wir waren noch nicht allzu weit von Kansk entfernt, als wir an eine kleine, mit schwarzer Erde bedeckte Anhöhe gerieten. Länger als eine Stunde mühten wir uns ab, darüber hinwegzukommen, indem wir alle Mittel versuchten, die die Praxis uns gelehrt hatte. Es war unmöglich. Müde und erbittert beschlossen wir umzukehren. Einige Werst entfernt befand sich ein Straßenübergang in gleicher Höhe mit dem Eisenbahndamm und dabei ein Bahnwärterhäuschen. Wir suchten Unterkunft bei dem Bahnwärter und ließen die Maschine auf der Straße stehen; es blieb uns nichts anderes übrig. Wir mußten warten, bis der Regen nachließ und die Straße trocken wurde.
Die Frau des Bahnwärters zündete den Samowar an, wir breiteten die Pelze und die wasserdichten Kleider rings um den warmen Ofen und setzten uns in das kleine Zimmer, finster und schweigsam wie Verurteilte. Seit unserer Ankunft in Sibirien hatten wir nur einen Tag gutes Wetter gehabt, und gerade an jenem Tage war eine Brücke mit uns eingestürzt. Hatte es nicht den Anschein, als verfolge uns ein tückischer Feind? Jeden Augenblick sahen wir zum Fenster hinaus. Es regnete immerzu. Der Himmel war dunkel und hing schwer herab. Es handelte sich nicht um Stunden, es handelte sich um Tage, vielleicht um Wochen.
Die Mittagszeit nahte heran. Der Bahnwärter zog seinen Mantel an, setzte die Mütze auf, nahm den Signalstab von der Wand und ging hinaus. Seine Frau eilte, die Schranken des Straßenüberganges zu schließen, und bald darauf donnerte ein langer Zug vorüber, der die Fensterscheiben erklirren und das Häuschen erzittern ließ. Er kam von Kansk. Der Wärter kehrte zurück, legte Mantel und Mütze ab, stopfte sich eine Pfeife und sagte zu uns:
„Das Wetter ändert sich nicht.“
„Ist denn der Sommer immer so in Sibirien?“
„Die ältesten Leute können sich eines derartigen Sommers nicht entsinnen. Seit zwei Monaten regnet es beinahe unaufhörlich. Noch nie haben wir im Juli solche Kälte und so viel Regen gehabt. Die Feldarbeiten sind unmöglich. Im Gouvernement Jenisseisk ist die Ernte vielfach vernichtet. Wir werden in diesem Winter Hungersnot haben.“
Wir konnten nicht unentschlossen sitzenbleiben, dem Vorbeifahren der Züge zusehen und in der Nähe eines Ofens Zigaretten rauchen. Wir mußten irgendein Mittel finden, über diese vermaledeite schwarze Erde hinwegzukommen, und mußten ein sinnreiches Mittel ausdenken, die Räder am Gleiten zu verhindern. Hierin lag das Problem. Auf diesen Straßen wären Zahnräder am Platze gewesen! Ettore ging hinaus und begann an der Maschine zu arbeiten. Er mußte einen Plan haben. Er war der Mann der Aushilfsmittel. Wir sahen ihn in der Tat die Ketten von den Winden abnehmen und sie um den Gummireifen des linken Laufrades schlingen. Die Idee war äußerst geistreich, und wir spendeten ihm rückhaltlosen Beifall.
„Jetzt wollen wir es einmal versuchen!“ rief der wackere Mechaniker, als er das mit der Kette umwickelte Rad, das er mittels der Winde vom Boden hochgehoben hatte, wieder auf die Erde stellte.
„Ja, wir wollen es versuchen!“
Wir sprangen auf unsere Sitze, und fort ging es.
Wenige Minuten später bekamen wir den Feind in Sicht. Das Automobil erklomm rasch die Anhöhe, die uns so oft zum Rückzuge gezwungen hatte. Ungefähr in der Mitte blieb die Maschine einen Augenblick unentschlossen stehen — aber nur einen Moment; die Kette riß wie eine Kralle den Boden auf, gelangte auf festen Boden und griff Zoll für Zoll weiter ein. Wir überwanden die Höhe und brauchten von nun an nicht mehr zu halten. Trotzdem mußten wir eine große Unannehmlichkeit mit Geduld und Ergebenheit ertragen. Die Kette wühlte eine außerordentliche Menge Schmutz auf und schleuderte ihn auf das Automobil und auf uns, so daß alles davon bedeckt wurde. Wir konnten nur mit Mühe die Augen offenhalten. In den Dörfern lagen in den Straßenschmutz eingebettet Stücke Holz, Zweige, Steine, die die Ketten herausbaggerten und uns auf den Rücken warfen. Aber wir kamen vorwärts! Wir hatten keine Furcht mehr, im Moraste steckenzubleiben. Der Regen, den ein eisiger, heftiger, schneidender Wind uns gerade entgegentrieb, peitschte uns das Gesicht.
Dutzende von Kilometern führte uns der Weg wieder in die Taiga zurück. Vom dunkeln Himmel herab sammelten sich oft die niedrighängenden Wolken um uns und umgaben uns mit einem dichten Nebel, in dem die Bäume des Waldes bizarre, gespenstische Gestalten annahmen. Die Massen der Tannen zeichneten sich in dunkeln, phantastischen Umrissen, mit ragenden Spitzen ab, die den Türmen und Giebeln, den Konturen schattenhafter gotischer Städte glichen. Niemals erblickten wir den Horizont klar. Alles rings um uns war undeutlich und blaß. Es blieben uns von den Gegenden, durch die wir kamen, nur verworrene, unbestimmte Erinnerungen wie von Dingen, die wir geträumt hatten. Genau erinnern wir uns nur an das wilde Rauschen der Bergströme, an das Niederklatschen des Regens auf die Bäume und an das Rieseln in den Gräben zu beiden Seiten der Straße — kurz, es ist uns ausschließlich das Bild fallender und fließender Wassermassen im Gedächtnis geblieben. Die Gießbäche waren angeschwollen und trüb, die Flüsse voll bis zum Rande.
Aber wir fanden überall Brücken. Eine von ihnen führte über die Kisbna, eine lange Brücke, die unter dem Anprall der reißenden Strömung, die gegen die Pfeiler drängte, in allen Fugen erzitterte.
Nach langen Stunden der Einsamkeit sahen wir mit einem Male drei wie Muschiks gekleidete, aber mit Gewehren bewaffnete Männer auf der Straße stehen.
„Sind das die vielbesprochenen Räuber?“ fragten wir uns, als wir sie erblickten.
„Oder vielleicht harmlose Zollwächter, die Jagd auf Schmuggler machen?“
Zollwächter oder Schmuggler: wir machten die Mauserpistole schußbereit und behielten jede Bewegung der drei im Auge. Die Männer ihrerseits beobachteten uns regungslos. Man sah, sie waren über ein so unerwartetes Zusammentreffen im Innern der Taiga aufs höchste erstaunt. Als wir 50 Schritt von ihnen entfernt waren, warteten sie nicht mehr. Sie flüchteten in das Gebüsch, wo sie stehenblieben und uns mit entsetzter Miene betrachteten. Sie waren so außer Fassung, daß wir ihnen mit vollem Erfolge die Börse oder das Leben hätten abverlangen können!
Es war 6 Uhr, als wir aus den Wäldern herauskamen und in dämmernder Ferne einen großen Fluß schimmern sahen, den Jenissei. Eine Stunde später langten wir an seinem rechten Ufer an, gegenüber den Glockentürmen und blauen Kuppeln von Krasnojarsk. Es ist ein prächtiger Fluß, der zwischen hohen, grünen Ufern breit und rasch dahinströmt, als hätte er Eile, sich von der langen Winterruhe zu erholen; er wird durchfurcht von Dampfern, durchschnitten von den leichten, eigenartigen heimischen Booten, die aus einem einzigen ausgehöhlten Baumstamme angefertigt sind. Vor der Stadt teilt sich der Jenissei in zwei Arme, über die wir auf großen, festen Trajektbooten übersetzten. Polizeibeamte erwarteten uns und geleiteten uns durch fast menschenleere Straßen nach einem Gasthofe. Krasnojarsk schlummerte in dem immerwährenden Lichtscheine der sibirischen Nacht.
Wir hielten uns einen ganzen Tag dort auf, einen langweiligen Sonntag, den wir im Gasthofe zubrachten, weil es draußen regnete, die Geschäfte geschlossen, die Straßen still waren und die Stadt ein verödetes Aussehen hatte, als sei die Bevölkerung vor irgendeiner drohenden unbekannten Gefahr geflohen. Wir stiegen immer wieder in den Hof hinunter, um einen Blick auf das Automobil zu werfen, das einem „großen Reinemachen“ unterzogen wurde. Es hatte es auch nötig; der Schmutz war in solcher Menge in die Öffnungen der Kühlvorrichtung gedrungen, daß er die freie Atmung dieser Lunge des Motors behinderte. Dem Schmutze schrieben wir auch jenen Zwischenfall mit der erhitzten Bremse zu, der uns bei unserer letzten Etappe zum Halten veranlaßt hatte. Dank der Polizei fanden wir in Krasnojarsk wie in den andern Städten unseren Ergänzungsvorrat an Brenn- und Schmiermaterial vor. Stets war es die Polizei, die es sich angelegen sein ließ, das Depot ausfindig zu machen und uns zu übermitteln, gleichgültig, ob am Tage oder in der Nacht.
Das Automobil war stets von Publikum umgeben, einem gewählten Publikum von Beamten und Offizieren, weil die Menge keinen Zutritt zu dem Hofe hatte. Nicht ohne Verwunderung trafen wir darunter auch Engländer an, zu denen wir im Gefühle einer Verwandtschaft aller Westeuropäer freundschaftliche Beziehungen anknüpften. Es waren Ingenieure, die von der bezauberndsten aller Tätigkeiten, der Goldgewinnung, nach Sibirien gelockt worden waren. In Krasnojarsk hört man von Gold in derselben Weise sprechen wie in Kalifornien.
Es scheint, als berge Sibirien unter den reichen Schichten fruchtbarer Erde noch ganz andere Reichtümer. Im Becken der Lena, des Jenissei, des Amur und vieler kleinerer Flüsse findet sich Gold im Überfluß. In der Goldgewinnung kommt Sibirien sofort hinter den Vereinigten Staaten, Australien und Transvaal. Dabei ist man noch gar nicht dazu gekommen, die Adern auszubeuten. Mit den einfachsten Mitteln sammelt und wäscht man den goldhaltigen Sand der Flußanschwemmungen. Seit einigen Jahren jedoch führt man die Arbeit nach rationelleren Methoden aus. Die Eisenbahn hat die Beförderung der komplizierten Maschinen des modernen Bergbaus möglich gemacht. Wegen der Maschinen, der Ingenieure und der Leitung der Arbeit hat man sich nach England gewandt, dem Lande der Meister in der Goldgewinnung. Aber auch abgesehen vom Golde hat Krasnojarsk früher unmittelbare Beziehungen zu England unterhalten, eigenartige Beziehungen, die in der Stadt beinahe die trügerische Hoffnung erweckten, ein Seehafen zu werden.
Ein englischer Reeder namens Wiggins hatte den kühnen Plan gefaßt, in den wenigen Wochen — sechs oder sieben —, in denen das Nördliche Eismeer eisfrei ist, durch das Karische Meer zu fahren und in die Jenisseimündung einzudringen, um einen neuen Handelsweg nach Sibirien zu suchen. Im Jahre 1874 unternahm er diesen Versuch mit einem Schiffe namens „Diana“, und er gelang ihm; 1878 wurde die gewonnene Erfahrung in den Dienst der Praxis gestellt, und es wurden Waren an den Mündungen des Jenissei und des Ob ausgeschifft. Sieben Jahre später bildete sich eine englische Gesellschaft zum Zweck der regelmäßigen Organisation dieser Sommerschiffahrt. Die Geschäfte gingen aber schlecht, und die Gesellschaft löste sich auf, ebenso eine zweite Gesellschaft. Sibirien war noch nicht reif. 1895 aber, als die Eisenbahn in diesem unermeßlichen Gebiet die erste Entwicklung der Industrie hervorrief, bildete sich eine dritte englische Gesellschaft. Diesmal gingen die Geschäfte glänzend. 1898 kam eine neue Handelsflotte an. Die russische Regierung jedoch, die diese Unternehmungen anfangs durch Ermäßigung oder Erlaß der Zölle begünstigt hatte, zog später jede Begünstigung zurück, und seitdem ist es mit der Schiffahrt zu Ende. Krasnojarsk wird fortan kein Seehafen mehr sein!
Am Abend herrschte im Gasthofe gewaltiges Leben. Es fand eines jener großen sibirischen Bankette statt, welche an die Üppigkeit antiker Gastmähler erinnern.
Zwei unserer englischen Freunde stiegen am Morgen des 8. Juli früh 4 Uhr in eine Droschke und zeigten uns den Weg aus Krasnojarsk heraus. Braucht es noch einer besonderen Versicherung, daß es regnete? Einen Kilometer von dem Ort verabschiedeten wir uns von unseren Führern mit einem herzlichen „Good bye!“ und fuhren auf schauderhaften Wegen über leichte, grasbewachsene Anhöhen weiter. Es ging bergab und bergauf, wie wenn ein Kahn über die Täler und Kämme der Wellen tanzte. Es begann eine Fahrt, die der des gestrigen und vorgestrigen Tages glich, durch Wiesen und Wälder und kleine Strecken bebauten Landes in der Nähe der Dörfer; alles war naß, düster, traurig. Langsam verflossen die Stunden, langsam wurden die Kilometer zurückgelegt, und die kleinen Zwischenfälle der Reise, das komische Erstaunen der Muschiks, das Scheuen der Pferde, unsere Ankunft auf ländlichen Märkten, auf denen wir die lächerlichsten Verwirrungen anrichteten, vermochten nicht, uns aufzuheitern und uns zum Sprechen zu bewegen. Finster und verärgert saßen wir auf unseren Plätzen.
Mitunter empfanden wir einen wahren Haß gegen unser Geschick wie gegen einen Feind. Wir waren der Ansicht, daß ein feindlicher Wille uns absichtlich Schwierigkeiten in den Weg legte. Denn es waren nicht unvermeidliche Hindernisse wie die Gebirge von Kalgan oder der Lauf des Iro; nein, es waren Schwierigkeiten, die eine Stunde vor unserer Ankunft nicht vorhanden gewesen sein konnten und die eine Stunde später nicht mehr vorhanden sein würden. Sie schienen geschaffen, uns zu ermüden, uns zu erbittern. Wir befanden uns in der für gewöhnlich trockenen Jahreszeit, und doch hörte es nicht auf zu regnen. Diese Straßen hätten ausgezeichnet sein müssen und waren unpassierbar; ein sonniger Tag hätte sie in guten Zustand versetzt, und die Sonne kam nicht zum Vorschein. Unsere Berechnungen, unsere Voraussicht — alles war umgestürzt. Wir hatten geglaubt, in einem Tage von Krasnojarsk nach Tomsk zu gelangen, und wir würden drei, vielleicht gar vier dazu brauchen! Sibirien zeigte sich hartnäckig, als wollte es uns nicht durchlassen, und wir fühlten, wie sich unser gereizter Wille in Eigensinn verwandelte.
Gegen 9 Uhr gelangten wir an das Ufer eines Flusses, des Kemtschug, eines Nebenflusses des Tschulym, der seinerseits wieder ein Nebenfluß des Ob ist; es war bei Bolschaja, einem kleinen Dorfe, das den Namen des „großen“ führt.
Wir fragten nach dem Trajektboot, dem gewohnten Paravieda, das die Telegas übersetzt.
„Es war eins vorhanden,“ antworteten uns die Einwohner, die sich sofort um uns versammelten, „aber das Hochwasser hat es mitgerissen und zum Sinken gebracht. Es liegt eine halbe Werst von hier im Wasser.“
Wir fragten, ob eine Brücke in der Nähe sei. Die Landleute überschritten den Fluß auf einem gebrechlichen, zwei Hände breiten Stege, auf dem es schon gefährlich war, sich zu Fuß darüber zu wagen.
„Es war eine Brücke da,“ erklärten sie uns, „aber das Hochwasser hat sie zerstört.“
„Dann wird es wohl eine Furt geben.“
„Nein. Der Fluß ist in der Mitte über Mannshöhe tief, und man kann nicht hinüberwaten.“
So wollten wir die Eisenbahnbrücke benutzen, wie wir es in Transbaikalien getan hatten.
„Wo ist die Eisenbahn?“ fragten wir.
„Dort unten, zehn Werst von hier.“
„Gibt es eine Straße, auf der man hingelangen kann?“
„Nein.“
„Einen Fußweg?“
„Nein. Es ist lauter Wald, und man kommt nur zu Fuß oder zu Pferde fort.“
Wir waren ratlos. Ein kleiner Fluß wie der Kemtschug schlug uns ein Schnippchen! Wir rechneten aus, wieviel Zeit der Bau eines breiten, festen Flosses in Anspruch nehmen würde: es waren mindestens zwei Arbeitstage. Da griffen wir zu einem Gewaltmittel. Wir ließen den Starosten rufen.
Es war ein alter Muschik mit weißem Barte, bekleidet mit einem samtenen, mit Stickereien besetzten Armiak, der ihm das Aussehen eines heruntergekommenen Bojaren gab. Fürst Borghese überreichte ihm die amtlichen, vom Ministerium des Innern und dem Polizeidirektor des Kaiserreiches ausgestellten Schriftstücke, die allen Behörden befahlen, uns jede Hilfe und jeden Schutz angedeihen zu lassen, und sagte zu ihm in feierlichem Tone:
„Lesen Sie!“
Unglücklicherweise konnte der Starost nicht lesen und betrachtete würdevoll die Dokumente, die er verkehrt in der Hand hielt. Aber ein junger Mensch, der eine Militärmütze trug, nahm sie ihm aus der Hand und las sie den versammelten Einwohnern laut vor.
Der Starost verneigte sich tief. Was auf jene wackeren Leute den meisten Eindruck machte, war der Titel des Fürsten und seine Eigenschaft als Parlamentsmitglied.
„Er ist Mitglied der italienischen Duma!“ hörten wir sie in bewunderndem Tone wiederholen.
„Er ist ein Knjäs.“
„Er hat eine Podoroschnaja von der Regierung.“
„Es ist so gut, als wäre er ein Kurier des Kaisers!“
Der Starost fragte, was er tun solle. Der Fürst erwiderte ihm, er müsse unbedingt vor Abend noch in Atschinsk sein. Er müsse daher sobald wie möglich über den Fluß. Es wurde eine kurze Beratung unter den Muschiks gehalten, an deren Schlusse der Alte mit einer Verbeugung erklärte, er hoffe uns in einigen Stunden über den Kemtschug setzen zu können. Inzwischen lud er uns ein, in seiner Isba zu warten, wo uns seine Frau in den Ehrentassen Tee anbot.
Im nächsten Augenblick befand sich ganz Bolschaja unter den Waffen; die Bauern versammelten sich am Flußufer, mit Äxten, Stricken, Eimern, Spaten ausgerüstet. Hinter den doppelten Scheiben des Fensters beobachteten wir mit Neugier dieses Leben und Treiben; die Anwesenheit der Eimer befremdete uns. Der Starost befehligte die Arbeit, und bald begriffen wir seinen Plan und damit auch den Zweck der Eimer. Man wollte das gesunkene Boot heben, von dem eine Spitze aus dem Wasser hervorragte. Einige Männer stiegen in den Fluß und befestigten die Stricke an dem Fahrzeug; auf diese Weise konnte es mit leichter Mühe in die Nähe des Ufers gezogen werden. Dann entleerte man es mittels der Eimer und machte es wieder flott. Die Arbeit dauerte einige Stunden. Rasch wurden dann Bretter und Balken nach dem Ufer gebracht und mit der außerordentlichen Geschicklichkeit, welche die Muschiks für Holzarbeiten besitzen, bauten sie in kurzer Zeit eine feste Landungsbrücke.
Als alles fertig war, kamen wir eiligst heran. Das Automobil wurde angeseilt und auf das Fährboot gezogen, und dieses begann seine Fahrt, von den im Wasser stehenden Männern geschleppt, gestoßen und begleitet. Das an ihm befestigte Seil war auf das andere Ufer geworfen worden, wo eine große Schar von Männern daran zog. Auch die Ausschiffung ging leicht vonstatten. Das Automobil wurde wie ein Triumphwagen von der von Wasser und Schweiß triefenden, aber mit ihrem Erfolge zufriedenen Menge an das Ufer gezogen.
Nachdem wir unter die wackeren Bewohner von Bolschaja eine entsprechende Belohnung verteilt hatten, setzten wir um die Mittagszeit unsere Reise unter herzlichen Abschiedsrufen fort. Die Straße wurde etwas besser. Streckenweise begannen wir auf Steppengebiet zu stoßen. Um 3 Uhr kam Atschinsk in Sicht, das 200 Kilometer von Krasnojarsk entfernt ist.
Atschinsk taucht vor dem, der von Osten kommt, mit einem Male auf und bietet einen ungemein malerischen Anblick dar. Man fährt durch Birkenwäldchen, dann senkt sich die Straße, und in der Vertiefung entdeckt man zwischen Bäumen die Kuppeln und Glockentürme der Stadt, bald darauf auch die kleinen weißen Häuser, deren Dächer gegen einen großen Fluß, den Tschulym, geneigt sind, jenseits dessen sich eine unermeßliche Ebene im Dunste der Ferne verliert.
Vor den Toren von Atschinsk hatte sich eine Anzahl Bürger versammelt, die uns ankommen sehen wollten. Sie hatten ihre Tarantasse unter die Bäume gestellt und erwarteten uns am Rande des Weges. Ein Polizeioffizier machte uns Zeichen durch Wehen mit dem Taschentuche. Als er uns halten sah und fürchtete, daß er sich uns mit Worten nicht verständlich machen könne, begann er eifrig mit ausdrucksvollen Gesten das Essen, Trinken und Schlafen anzudeuten, mit einer Mimik, die die Umstehenden sehr zu belustigen schien. Wir baten den Offizier, auf dem Automobil Platz zu nehmen und uns an den Ort zu geleiten, wo man essen, trinken und schlafen könne. Er schien sehr erstaunt zu sein, als er sich russisch anreden hörte.
Das Gerücht von unserer Ankunft hatte sich in ganz Atschinsk verbreitet. Die Leute standen am Fenster und liefen aus den Läden. Wir kamen an niedrigen Gebäuden vorüber, die mit festen Gittern versehen und von Schildwachen umgeben waren; es waren die bekannten Gefängnisse. Auch hierher war die große Nachricht gedrungen. Die Sträflinge erwarteten uns. Hinter den Fenstern drängten sich die geschorenen Köpfe einer über dem andern, so daß sie wie übereinandergeschichtet erschienen; Dutzende von Händen umklammerten krampfhaft die Eisenstäbe, und auch im Halbdunkel des Innern war ein Aufleuchten gieriger Blicke zu bemerken.
Wir wohnten in einer elenden Herberge aus Holz, die sich den stolzen Titel „Hotel“ gab. Es war der beste Gasthof der Stadt. In der Nacht kamen Männer und klopften an die Tür. Niemand öffnete, weil sich in der Herberge niemand befand als wir. Ein junger Mann war spät abends von draußen gekommen, um uns das Essen zu bringen, und war dann wieder gegangen. Die Männer schrien, sie wollten ins Haus, und sie kamen auch hinein; beim Scheine einer Kerze drangen sie in unsere Zimmer und verlangten gebieterisch eine Schlafstätte. Es waren Kaufleute, in Pelze gehüllt und mit Straßenschmutz bespritzt, die von irgendwoher gekommen waren.
Es gelang uns aber, sie zu bewegen, ihr Heil anderwärts zu versuchen, und lärmend entfernten sie sich wieder. Um 3 Uhr früh erschien der junge Mensch mit einem angezündeten Samowar für unseren Tee. Dieser Gasthof — wenn ich mich recht entsinne, nannte er sich „Hôtel d’Europe“ — hatte sicherlich die sonderbarste Art der Bedienung, eine Bedienung, die außerhalb des Hauses wohnte. Wenn uns die Polizei nicht hergeführt hätte, so hätten wir glauben können, wir seien in einen Hinterhalt geraten.
Um 3½ Uhr brachen wir schon wieder auf. Unsere Morgentoilette war bald gemacht, da wir in den kleinen Städten angekleidet zu Bett gehen mußten; in unsere Pelze gehüllt, lagen wir in den leeren Bettstellen, mit einem Sacke als Kopfkissen. Wir beeilten uns, die Waschungen auf dem Hofe unter großem Wasserverbrauch vorzunehmen, zur Überraschung der Sibirier, die sich unter einer Art Tropfenzähler zu waschen pflegen, der in einer halben Stunde ein Glas Wasser von sich gibt. Die Muschiks nehmen, wenn sie einmal Lust haben sich zu waschen, den Mund voll Wasser, um es zu erwärmen, spucken dann ein wenig davon auf die hohle Hand und reinigen sich damit das Gesicht.
Der Polizeikommandant, bei dem wir am Abend den Tee eingenommen hatten, hatte uns mitgeteilt, daß außer den Räubern, an die wir uns schon gewöhnt hatten, noch eine andere Gefahr zu fürchten sei: die Sümpfe. Wir müßten sorgfältig achtgeben, um die richtige Straße nach Mariinsk einzuschlagen, wo wir am nächsten Tage, 9. Juli, übernachten wollten, und uns nicht in den mäandrischen Sümpfen der Ebene des Tschulym zu verirren. Um dieses Unglück zu verhüten, bot er einen Führer in der Person seines Leutnants an, der uns auf die richtige Straße geleiten sollte. In der Tat fuhr der Leutnant am Morgen in einem von zwei prächtigen Pferden gezogenen Tarantaß uns voraus.
Der Himmel war regnerisch; es war kalt. Unterhalb der Stadt setzten wir über den Tschulym auf einem der üblichen sibirischen Fährboote, das aus einer von zwei Booten getragenen Plattform bestand und einem breiten Flosse glich, und fuhren dann, belästigt von wahren Wolken von Insekten, über die niedrige, grasbewachsene Ebene, die hier und da mit Binsen bedeckt ist, den Anzeichen sumpfigen Bodens. Der Weg war morastig, aber nicht schwierig. Es behagte uns nicht, langsam hinter dem Tarantaß herzufahren, und wir standen schon im Begriff, ihn zu überholen und uns von dem bärtigen Offizier, unserem Führer, zu verabschieden, fest davon überzeugt, den Sümpfen des Tschulym sehr wohl die Stirn bieten zu können, nachdem wir über die des Chara-gol triumphiert hatten, als das Automobil plötzlich anhielt und sich nach einer Seite neigte.
Wir waren steckengeblieben. Die Sümpfe des Tschulym forderten gebieterisch unsere Aufmerksamkeit.
Das gelehrte Tomsk.
Auf dem Wege nach Mariinsk. — Im Morast. — Unsere Freunde die Muschiks. — In Rucken und Stößen. — Entmutigung. — Das „große Tier“. — Im Gebüsch steckengeblieben. — Tomsk. — Nach Kolywan. — Der Ob und seine Sümpfe. — Kolywan.
Das Automobil war mit den Hinterrädern eingesunken. Ettore, der am Steuer saß, bemerkte bedauernd:
„Wenn ich rascher gefahren wäre, wäre ich vielleicht darüber hinweggekommen.“
Überzeugt, daß die Schuld auf seiner Seite läge, wollte er sich ohne Hilfe befreien, indem er den Motor in heftigen Rucken antrieb, bald vorwärts, bald rückwärts. Aber die Räder glitten aus, drehten sich in den Löchern und wühlten sich tiefer ein, so daß uns, die wir zu schieben versuchten, Spritzer schwarzen Schlammes auf den Rücken und ins Gesicht flogen.
„Es ist nutzlos! Wir brauchen Hilfe!“ rief Don Scipione.
Der Offizier ließ den Tarantaß wenden und jagte der Stadt zu, um Leute und Balken zu suchen. Eine Stunde später langten Gendarmen an, Soldaten, alle bewaffnet, die von einer Wachabteilung hergeschickt worden waren; sie wurden von einem hünenhaften, bärtigen Sergeanten befehligt, der aussah wie ein napoleonischer Sappeur. Es kamen auch Schiffer vom Tschulym mit Brettern. Es bedurfte zweier voller Stunden, bis die schwere Arbeit glückte, die Maschine zu heben und aus dem Sumpfe zu ziehen.
Wieviel verschiedene Menschen hatten wir schon an dem Automobil arbeiten, es schieben, ziehen, heben gesehen! Wieviel Sprachen hatten dieselben Gedanken im Keuchen der Anstrengung ausgedrückt, wieviel Wille hatte sich mit dem unseren vereinigt! Die Schar jener russischen Soldaten mit den charakteristischen großen Kapuzenmänteln, die wie Mönchskutten aussahen, mit den gewohnten flachen Mützen, mit den hohen, plumpen Stiefeln, den Patronentaschen am Gürtel, den langen Säbel an der Seite, alle rings um die große, graue Maschine beschäftigt, gehorsam dem Befehle des riesenhaften Sergeanten, gegen die Speichen der Räder gestemmt: diese Schar machte einen kriegerischen Eindruck. Man konnte an eine Schlachtepisode, an die Rettung einer seltsamen Kanone denken!
Wir durchquerten hierauf die weite Ebene ohne weitere Zwischenfälle und gelangten in endloses, wellenförmiges Gelände mit bald kahlen, bald waldigen Hügeln. Je weiter wir kamen, desto weniger fahrbar war die Straße: überall gab es Löcher, Furchen, Gräben. Wir wählten daher bald den einen, bald den andern Feldweg, infolge der beständigen Selbsttäuschung des Menschen, daß die Stelle, an der er sich nicht befindet, die bessere sei. Wahrscheinlich entspringt der Neid aus dieser Täuschung. Mitunter verloren wir den Weg und mußten bis zum letzten Dorfe zurückkehren, um ihn wiederzufinden. Immer hielt uns die Hoffnung aufrecht, im nächsten Augenblick auf jene vortreffliche Heerstraße zu gelangen, die sämtliche Landkarten uns verhießen und die zu suchen wir herb enttäuscht 2000 Kilometer durchfuhren. Je länger wir sie vergebens suchten, für desto näher hielten wir sie; in der großen Entfernung, die wir zurückgelegt hatten, ohne auf sie zu stoßen, erblickten wir einen unwiderleglichen Beweis für ihre unmittelbare Nähe.
Die Landschaft nahm den Charakter ermüdender Eintönigkeit an, überall Steppe mit Gruppen von Blumen und Birken und kleinen Sümpfen. An einer blumenreichen Stelle mußten wir anhalten, um eine Pneumatik zu wechseln, wobei sich einige Muschiks um uns versammelten, die mit ihren Telegas vorüberkamen. Sie wohnten der Verrichtung mit großem Interesse bei, befühlten den Gummi, sprachen untereinander, befühlten ihn wieder; das Aufblasen mittels der Luftpumpe wurde von ihnen mit überzeugten Ausdrücken gebilligt. Aus ihren Gesprächen entnahmen wir, daß sie sich eine sehr sonderbare Ansicht über das Automobil gebildet hatten, die gleich nach der der Chinesen von dem eingeschlossenen Pferde kam, eine Ansicht, die, wie wir später unter andern Umständen fanden, eine der natürlichsten für die Denkungsweise des Muschiks war. Das, was ihm am Automobil am meisten auffiel, war die Dicke der Gummireifen, und in diesen Reifen erblickte er das ganze Geheimnis der Bewegung. In den Gummireifen liegt die Kraft, die Geschwindigkeit; sie enthalten die wunderbare Maschine, die die Räder dreht; deswegen sind diese auch so groß. Der Chinese ist grüblerisch, der Slawe schlicht; der eine hat zuviel Einbildungskraft, der andere zuwenig. Der Muschik ist dem Wahrscheinlichen stets näher; man könnte sagen, er sieht die Dynamomaschine im Geiste vor sich.
Um 5 Uhr abends setzten wir auf einer Fähre vor der Stadt Mariinsk über den Kija. Trotzdem er den Anschein eines großen Flusses hat, ist der Kija doch nur ein Nebenfluß des Tschet, eines Nebenflusses des Tschulym. Es handelte sich im Grunde um einen seichten Fluß; er führte aber Hochwasser und erschien uns ziemlich ansehnlich. Das andere Ufer stand voller Menschen. An ihrer Spitze befand sich der Pristaf, ein schöner, alter, mit dem Andreaskreuze geschmückter Mann, der uns feierlich begrüßte. Nachdem er uns willkommen geheißen hatte, bat er uns, langsam, sehr langsam in den Ort einzufahren. Fürst Borghese beruhigte ihn, es würden keine Unglücksfälle vorkommen.
„Nein, nein, ich weiß es“, erwiderte der Pristaf mit höflichem Lächeln. „Ich ersuche Sie nur, langsam zu fahren, damit die meiner Leitung unterstehenden Bürger Sie mit voller Bequemlichkeit bewundern können.“
Diese Bitte des väterlichen Gebieters der Stadt war völlig zwecklos, da die Straßen von Mariinsk sich in einem solchen Zustande befanden, daß sie uns von selbst zu prozessionsmäßig feierlichem Fahren nötigten. Die Menge umringte uns, die Knaben natürlich in erster Reihe, und zwischen den Fußgängern bewegten sich Reiter und Droschken mit dem aristokratischeren Teile der Bevölkerung. Wir wurden in ein „Semstwoskaja Dom“ geleitet, nachdem wir von früh 3½ Uhr bis abends ½6 Uhr, das heißt in vierzehn Stunden ununterbrochener Fahrt, 160 Kilometer zurückgelegt hatten, also nicht ganz 11½ Kilometer in der Stunde. Am nächsten Tage sollten wir allerdings noch weniger leisten.
Wir erhoben uns um 2 Uhr und brachen um 3 Uhr auf. Wir hatten die Stunde der Abfahrt immer früher angesetzt, um von der Klarheit der Nacht — denn das schöne Wetter zur Nachtzeit hielt an — und von der beständigen Helligkeit Nutzen zu ziehen. An diesem Tage, 10. Juli, wollten wir gegen 1 oder 2 Uhr das 237 Kilometer entfernte Tomsk erreichen und uns auf diese Weise fast einen halben Tag Ruhe gönnen. Aber das Schicksal hatte es anders bestimmt, und seine Beschlüsse sind bekanntlich unwiderruflich.
Die Straße war anfangs gut, zuletzt aber schauderhaft. Ich habe schon gesagt, daß man sich keine Vorstellung machen kann, wie schlecht die sibirische Straße bei Regenwetter ist, und doch gibt es vom Standpunkt des Automobilsports aus noch etwas Schlimmeres: das ist die sibirische Straße nach dem Regen. Wenn es regnet, ist der Morast tief, aber weich und flüssig, das Fahren gleicht dem Passieren einer Furt; die Räder gleiten, rutschen, schleifen über den Boden hin, sie tun alles eher als sich drehen, aber sie bleiben nicht stecken. Hat es jedoch aufgehört zu regnen und die Straße beginnt zu trocknen, so wird der Morast klebrig, das Automobil versinkt und kann nicht weiter. Einsinken ist viel schlimmer als Gleiten. Wir teilten die unangenehmen Zwischenfälle unserer Reise nach ihrer Schwere in vier Grade: Umstürzen, Einsinken, im Sande stecken bleiben, Gleiten. Das Einsinken war ein Unfall zweiten Grades. Auf der Straße nach Tomsk hatten wir nicht weniger als achtmal diesen Unfall zweiten Grades zu bestehen.
Die Sonne war daran schuld. Buchstäblich. Am Morgen begrüßten wir mit Freuden einen Umschwung der Witterung. Der Wind drehte sich, die am Horizont aufsteigenden Wolken zerrissen und trieben in weißen Fetzen über den klaren Himmel fort, und die Sonne ging auf, strahlend, rein, warm. Schon gegen 5 Uhr begann der Morast bedrohlich zu werden. Wir merkten, wie die Maschine sich anstrengen mußte, um nicht steckenzubleiben, und wußten kein anderes Mittel dagegen als die Schnelligkeit. Wir fuhren in Sprüngen. Aber innerhalb der Dörfer war es wegen der Hindernisse, der quer über den Weg gelegten Bretter und der frei umherlaufenden Tiere, unmöglich, rasch zu fahren. Wo der Morast am tiefsten war, sanken wir mit erbitternder Regelmäßigkeit ein und blieben zwischen den Häusern lange Zeit im Schmutze stecken.
In Tomsk erzählte ein glaubwürdiger Beamter Pierre Leroy-Beaulieu, dem bekannten Erforscher des zeitgenössischen Rußlands, von einem Ochsen, der zur Zeit der Schneeschmelze vor der Tür seines Stalles im Morast ertrunken sei. Ich führe einen so hervorragenden Gewährsmann an, weil die Tatsache unglaublich erscheinen könnte, während sie im Grunde keine Übertreibung enthält. Es genügt, durch Sibirien zu reisen, um sich davon zu überzeugen. Im Schmutze der Dörfer ertrank auch unsere Geduld. Die Bewohner legen, um sich einen Weg zu schaffen, Bretterstege längs der Häuser an, und um den Wagen das Durchkommen zu erleichtern, werfen sie Reisigbündel, Baumzweige und Stroh auf den Morast. Aber diese Füllmittel gaben unter der Last des Automobils nach. Auf manchen Straßen, zweifellos den besten, sind Baumstämme querüber gelegt, so daß eine Art einfacher Pflasterung entsteht, die wir mitunter auch fern von den Dörfern antrafen; unsere arme Maschine schnellte dann in einem fort in die Höhe und drohte jeden Augenblick in Stücke zu brechen. Aber in den Dörfern fanden wir zum Glück dicht neben dem Übel auch das Heilmittel: die Bewohner erwiesen sich stets freundlich und hilfsbereit.
Wären die Muschiks wirklich jene Räuber, als die sie geschildert werden, so hätten sie uns hundertmal in voller Seelenruhe ausplündern können. Wir haben in ihnen Freunde gefunden voller Gutmütigkeit, Selbstverleugnung, Schlichtheit, Klugheit und Unermüdlichkeit. Die Frauen glaubten freilich, unser Wagen werde vom Teufel in Bewegung gesetzt, und machten wiederholt mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes; aber die Männer zeigten keine Furcht vor ihm, namentlich wenn der Teufel ihnen Gelegenheit bot, einige Rubel zu verdienen.
Mit Hilfe der Bauern stellten wir gewaltige Hebel her, die die Maschine in die Höhe hoben und gestatteten, Steine oder Holzklötze unter die Räder zu legen. Diese Rettungsarbeiten dauerten immer einige Stunden.
Fern von den Dörfern, ohne Hoffnung auf rasche Hilfe, war unsere Lage beängstigend. Das Automobil war dermaßen mit Schmutz bedeckt, daß der Zutritt der Luft zum Kühlapparat unmöglich geworden war. Der zu angestrengter Tätigkeit genötigte Motor erwärmte sich und strömte eine glühende Hitze aus; er drohte zu schmelzen. Mitten zwischen soviel Schlamm fanden wir kein Wasser, um den Kühlapparat neu zu füllen, der aus dem Verschlußventil unter Pfeifen Dampfwolken ausstieß. Wenn dieses Ventil geöffnet war, in der Hoffnung, das die Zylinder umspülende Wasser abzukühlen, so stieg eine hohe Säule kochenden, dampfenden Wassers daraus empor, ein wahrer Geiser, der uns zurückfahren ließ und uns zwang, das Gesicht mit dem Arme zu bedecken. Wir mußten mit dem Spaten im Morast herumgraben, Löcher aushöhlen und warten, bis sich etwas erdiges Wasser angesammelt hatte, um ein Glas auf einmal schöpfen zu können. Und mit diesem zähen Schlamme füllten wir den Kühlapparat von neuem. Der Benzinverbrauch war riesig; der Akzelerator mußte unausgesetzt in Tätigkeit sein; wir waren stets von Wolken weißen, scharfriechenden Dampfes umgeben.
Über die Gräben ging es im Fluge hinüber, da wir den mit Morast bedeckten Grund fürchteten. Dann richtete sich das Automobil mit den Vorderrädern in die Höhe und schlug heftig auf den Boden auf. Bei einem dieser Sätze hörten wir einen metallischen Klang, als ob etwas zerspränge. Der hintere Teil des Automobils war mit solcher Kraft auf den Boden aufgestoßen, daß der Benzinbehälter auf der Erde schleifte und die eiserne Hülle abgestreift wurde wie eine Orangenschale. Stundenlang schwiegen wir. Ein erster trüber Schatten des Zweifels legte sich über unsere Siegeshoffnungen.
Bisher hatten wir uns der Täuschung hingegeben, jede sich darbietende Schwierigkeit, jede Gefahr sei die letzte. Wir glaubten, die Reise bei dem schlechten Ende begonnen zu haben, und daß, je weiter wir vorwärtskämen, alles desto leichter gehen müsse. Jetzt bemerkten wir aber, daß sich die Hindernisse steigerten. Noch nie hatten wir eine so schlechte Straße angetroffen, und wir befanden uns noch kaum in der Mitte Sibiriens! Jeden Tag arbeiteten wir, ohne uns Ruhe zu gönnen, sechzehn, achtzehn Stunden unermüdlich, um über diese niederträchtigen Strecken hinwegzukommen. Würde aber das Automobil solchen Anstrengungen gewachsen sein, für die es nicht geschaffen war? Die Maschine selbst war ja noch unversehrt, aber die Karosserie war bei den Stößen und Rucken aus den Fugen gegangen, der Zusammenhang ihrer Teile war gelockert, sie schwankte hin und her, und wir fühlten unter unseren Füßen das Auseinanderweichen der Bretter. Die Behälter drohten von ihren Plätzen herabzufallen. Ich fragte den Fürsten schließlich:
„Kann das noch lange so fortgehen?“
„Nein“, entgegnete er.
„Wie lange kann das Auto noch Widerstand leisten?“
„Höchstens 500 Kilometer.“
In diesen Augenblicken der Entmutigung waren wir überzeugt, daß uns noch Tausende von Kilometern ebenso schlechter Wege erwarteten. Es war also zu Ende!
Wir überwachten den Gang des Automobils mit einer Furcht, die nicht frei von Zuneigung war. Wir hatten schließlich diese Maschine, die uns trug, liebgewonnen. Wir betrachteten sie beinahe wie ein lebendes Wesen, nannten sie „unser großes Tier“, riefen ihr „Bravo!“ zu, wenn sie die Schwierigkeiten überwand, bedauerten sie, wenn sie im Straßenschmutze steckenblieb, spornten sie bei steilen Aufstiegen mit ermunternden Worten an, als sei sie ein Pferd. Seit einem Monat hatten wir sie keinen Augenblick verlassen, wir lebten mit ihr, und unsere Ermüdung schien auch die ihre zu sein. Ein solch inniges Verhältnis hatte uns mit ihrer Natur bekannt gemacht, daß alle Geräusche und Töne ihrer Bewegungen uns vertraut waren und wir die geringste Unregelmäßigkeit sofort wahrnahmen. Wir horchten stets mit größter Angst auf das Schnaufen des Motors und spähten nach dem gefürchteten ersten Anzeichen einer Erkrankung.
Um 7 Uhr abends trafen wir auf eine kurze Strecke guten Weges und gaben die Hoffnung nicht auf, Tomsk zu erreichen. Die Stadt war noch 54 Kilometer entfernt. Um 9, um 10 Uhr konnten wir uns in einem ihrer großen Hotels befinden. Da kam ein kleiner Sumpf auf dem Grunde eines breiten Grabens in Sicht. Keine Möglichkeit, ihn zu umgehen. Rechts und links dichter Wald von Birken und Tannen — ein versprengtes Stück Taiga. Der Fürst stieg ab, um das Gelände zu prüfen, watete in den Sumpf hinein und fühlte, wie seine Füße im Moraste versanken. Es gab kein anderes Mittel als Eile.
Das Automobil fuhr zurück, nahm einen Anlauf, schoß in den Graben hinein, den Morast mit seinen Vorderrädern zerteilend, und stürmte mit einem furchtbaren Katzensprunge weiter. Schon glaubten wir die Gefahr vorüber, als wir uns festgehalten fühlten, während der Motor fortarbeitete. Die Maschine war nicht ganz hinübergekommen, die Hinterräder waren bis an die Ränder eingesunken. Sie saßen fest und unbeweglich wie in einem Schraubstock, und weder der Anstrengung des Motors noch der Kraft unserer Arme gelang es, sie von der Stelle zu rücken.
In der Entfernung von drei Kilometern mußte ein Dorf liegen: Turuntajewa. Don Scipione ließ uns zur Bewachung des Automobils zurück und machte sich auf den Weg, um Hilfe zu holen. Nach einer Stunde sahen wir ihn zurückkommen in Begleitung von zehn Muschiks, die vier Pferde führten. Die Bauern hatten ihm auf seine ersten Bitten nicht folgen wollen, bis er dem Starosten seine wundertätigen Schriftstücke gezeigt hatte.
Die Pferde wurden angespannt und zogen, und die Männer zogen mit, aber alle ihre Anstrengungen waren vergebens. Die Muschiks zerstreuten sich daher im Walde, um Bäume zu fällen und sie zu Hebeln zurechtzuhauen.
Gegen 9½ Uhr machten wir uns von neuem an die Arbeit. Mit Hilfe der Hebel war die Befreiung leicht. In wenig mehr als einer halben Stunde konnten wir unsere Fahrt fortsetzen, um in dem Dorfe Turuntajewa im Hause einer alten Bäuerin zu übernachten.
Heute hatten wir den ersten Monat unserer Reise vollendet!
Früh 3 Uhr verließen wir Turuntajewa. Nach Zurücklegung von etwa 20 Kilometern gelangten wir in ein großes Dorf: Chaldejewa. Bevor wir es durchfuhren, wollten wir seinen Straßenschmutz kennen lernen und fanden ihn unpassierbar. Wir klopften an die Isba des Starosten und baten ihn, uns fünf starke Zugpferde zu beschaffen.
In diesem Augenblick kam ein von zwei Pferden gezogener Tarantaß an, und heraus stieg ein Polizeioffizier, der uns diensteifrig fragte, was vorgefallen sei.
„Nach Tomsk,“ erklärte er uns, „ist das Gerücht gedrungen, Sie seien angefallen worden. Der Gouverneur, Oberst Baron Nolcken, hat mir heute nacht den Befehl erteilt, unverzüglich aufzubrechen, um Sie zu suchen. Und so bin ich denn bis hierher gelangt, nachdem ich von Dorf zu Dorf gefahren bin. Ich freue mich, daß Sie gesund und wohlbehalten sind.“
Zwei Stunden später erblickten wir die goldfunkelnden Kuppeln von Tomsk, die sich von dem dunkeln Hintergrund der Wälder abhoben.
Der Chef der Polizei, umgeben von seinen Offizieren, erwartete uns am Eingange von Tomsk und begrüßte uns herzlich.
„Der Gouverneur erwartet Sie“, sagte er dann. „Er wünscht Sie sofort zu sprechen.“
„In diesem Aufzuge?“ fragten wir und deuteten auf unsere beschmutzten Kleider und unser staubiges Gesicht.
„So, gerade so! Er will Sie bewillkommnen. Ich geleite Sie zu ihm. Folgen Sie mir nur.“
Er stieg in eine glänzende Equipage, die von einem hünenhaften Kutscher in blauem Armiak gelenkt wurde. Die Fahrt war entsetzlich. Die Straßen der geistigen Hauptstadt Sibiriens gaben denen von Chaldejewa nichts nach, und wir waren mehrmals in Gefahr, schmählich Schiffbruch zu leiden. Aber trotz der Niederträchtigkeit seiner Straßen erschien uns Tomsk bewundernswert, elegant, großartig, vielleicht infolge des Kontrastes zur Taiga. Wir fuhren über Märkte, die gedrängt voll Menschen standen, genau wie in Irkutsk. Je weiter wir aber in das Innere der Stadt kamen, desto mehr verlor sie die charakteristischen Eigentümlichkeiten sibirischer Städte, sie verfeinerte sich; wir erblickten moderne Paläste, große Magazine, Speicher und dann ein prunkvolles Hotel, wo wir später Wohnung nahmen.
Tomsk unterschied sich unserer Meinung nach nicht von den vielen großen Städten des europäischen Rußlands, sein Leben und Treiben konnte den Anschein erwecken, als befänden wir uns in einer der Vorstädte von Petersburg. Da fuhren die raschen Droschken mit dem schmalen Sitze ohne Lehne, auf dem man sich, wenn man zu zweien fährt, gegenseitig mit den Armen umfassen muß, Lastwagen, Zweiräder. Auf den Trottoirs spazierten — ein unerwarteter Anblick — elegante sibirische Damen in Sommertoiletten. Tomsk schien uns in der Tat den Ruf der aristokratischen Stadt, den es genießt, zu verdienen.
Die sibirische Eisenbahn hat die Stadt weit abseits liegen lassen und sie vielleicht in ihrem Handel geschädigt. Aber Tomsk führt ein gewählteres Leben: es ist der große geistige Mittelpunkt Sibiriens. Die ganze wißbegierige Jugend strömt in seine schöne Universität, die nach Art der amerikanischen Universitäten isoliert in einem malerischen Birkenhain liegt, zwischen dessen Zweigen man die kleinen zierlichen Häuschen der Studenten erblickt. Aus ganz Sibirien strömt die Jugend auch in die moderne Technische Schule wie nach der großartigen Bibliothek. Man nennt die Stadt „das gelehrte Tomsk“.
Der Gouverneur, Oberst Baron Nolcken, empfing uns mit freundschaftlicher Gesprächigkeit und lud uns zum Frühstück und zum Diner ein. Wir brachten viele Stunden in seinem Palaste zu, in dessen Salons die großen Kamine wie mitten im Winter geheizt waren, und wo wir das wohlige Gefühl hatten, von der rauhen Einsamkeit auszuruhen. Der Oberst zeigte uns seine Bären im Garten; sein Sohn führte uns herrliche Pferde vor, prächtige Exemplare des heimischen, in Rußland berühmten Schlages, und die Baronin ließ uns ihre Damhirsche bewundern, die ihr das Futter aus der Hand nahmen. Am Torgitter des Palastes standen die Bittsteller: bei einem Streite verwundete Zigeuner, Muschiks, die Beschwerden vorzubringen hatten, eine zerlumpte, schweigende, geduldige, hartnäckige Schar, die nichts von einer Unterredung mit den Beamten und Offizieren wissen, die den Gouverneur selbst sprechen wollte und auf die Audienzstunde wartete. Der Gouverneur näherte sich dem Tore, hörte die Klagen an und schickte die Leute mit den Worten nach Hause: „Wir wollen sehen!“ Und die Menge zerstreute sich, zufrieden, mit „ihm“ gesprochen zu haben.
Baron von Nolcken, ein sympathischer Vertreter des Adels, wenn ich nicht irre, von deutscher Herkunft, hat das Gesicht voller Narben. Sie sind ein Andenken an die Revolutionäre. Vor zwei Jahren, als er Vizegouverneur von Warschau war, erhielt er Drohbriefe und fand auf seinem Schreibtische sein von den Revolutionären beschlossenes Todesurteil. Eines Abends wurde er überfallen, verwundet und als tot auf der Straße liegengelassen; er hatte 42 Wunden erhalten. Er wurde aber geheilt und dann zum Gouverneur der Provinz Tomsk ernannt, die so groß ist wie das Deutsche Reich. Die Gouverneurstellungen in Sibirien, die einstmals als Strafposten betrachtet wurden, sind jetzt am meisten umworben und werden als Belohnung verliehen. Gefahrvoll sind auch sie — der Gouverneur von Omsk wurde im vorigen Jahre mitten auf der Straße samt zwei ihn begleitenden Gendarmen ermordet —, aber immerhin weniger gefährlich als die im europäischen Rußland, wo ein wahres Blutbad unter den Gouverneuren angerichtet wird. Auch der Polizeikommandant von Tomsk hat den Nihilismus kennen gelernt; auch er kam aus Warschau.
„Es würde sich in Warschau ganz nett leben lassen,“ sagte er, als er uns seine Erlebnisse erzählte, „aber in diesem schönen Orte wird zuviel geschossen!“
In geringer Entfernung vom Sitze des Gouverneurs liegen die Ruinen eines großen Palastes. Es war ein prächtiges Theater, das ein reicher Kaufmann geschenkt hatte und das vor zwei Jahren von meuternden Soldaten in Brand gesteckt worden war. Da sie den Gouverneurspalast nicht zerstören konnten, zündeten sie wenigstens einen der Nachbarpaläste an. Es gab nach dem Kriege eine Zeit, in der das ganze Reich in Stücke zu gehen drohte. Die Welt vernahm nur ein undeutliches und unvollständiges Echo dieses Beginns der Katastrophe. In Irkutsk, in Krasnojarsk, in Tomsk, in Omsk stellten Telegraph und Post die Tätigkeit ein, die Züge mußten von treugebliebenen Soldaten geführt werden, aus der Mandschurei zurückkehrende Truppen trugen die Schrecken des Krieges auf den Boden des eigenen Vaterlandes, der Handel stockte, alle Geschäfte und Häuser waren verbarrikadiert, die großen Städte schienen ausgestorben zu sein. Und all dies geschah dort draußen nicht, um einem Ideal zum Siege zu verhelfen, um einen politischen Kampf auszufechten. Das war keine Revolution; es war eine weit weniger verwickelte Erscheinung: Hunderttausende von Menschen hatten im Kriege das Morden und Verwüsten gelernt und befolgten auch nach den Schlachten die erhaltenen Lehren!
Als wir spät abends ins Hotel zurückkehrten, begegneten wir auf der öden, vom rosigen Schimmer der sibirischen Nacht beleuchteten Straße Regimentern, die aus dem Lager kamen. Die Soldaten sangen auf dem Marsche ihre Lieder und in den Gewehrläufen trugen sie Sträußchen von Feldblumen.
Am folgenden Tage, 12. Juli, früh 4 Uhr verließen wir Tomsk bei einem Wetter, das immer noch drohend aussah. Vor uns her galoppierten zwei Kosaken, die den Befehl erhalten hatten, uns den Weg aus der Stadt zu zeigen. Eine Anzahl von Velozipedisten und Motorradfahrern gab uns das Geleit.
Wir hofften nicht mehr auf das Wiedererscheinen der Sonne. Nach dem 960 Kilometer entfernten Omsk zu gelangen, gleichviel wann, erschien uns als ein unerreichbarer Wunsch. Oberst von Nolcken hatte uns ein Verzeichnis der bedeutendsten Dörfer auf unserer Route, in denen wir haltmachen könnten, zusammenstellen lassen. Wir rechneten auf eine Tagesleistung von nicht mehr als 150 Kilometern. Wer hätte glauben können, daß die Sonne uns begleiten würde, anfangs schüchtern, bleich, zögernd und, kaum zum Vorschein gekommen, sich sofort wieder versteckend. Und daß diese Sonne immer kühner, wärmer werden würde, bis sie endlich mit sengender Glut auf uns niederbrannte, den Schmutz trocknete, die Straße hart machte und uns sichere Bahn für unsere Fahrt verschaffte? Nein, wir rechneten auf Regen!
Unser seltsamer Aufzug verließ die Stadt und hielt wenige Minuten später auf dem rechten Ufer des Tom, der, breit wie ein Meeresarm, im Nebel dahinströmte.
„Regardez ici, Messieurs!“ befahl uns eine gebieterische Stimme.
Es war ein Photograph von dem Aussehen eines Kavallerieoffiziers a. D., der, unterstützt von seiner Frau, einen riesigen photographischen Apparat aufgestellt hatte und uns nun seit wer weiß wieviel Uhr hier auflauerte. Wir sahen hin. Er wechselte seine Platte und befahl uns:
„Ne bougez pas!“
„Wir haben aber Eile!“
„Moi aussi!“
Wir setzten über den Tom auf dem sonderbarsten Fährboot der Welt. Es wurde von vier Pferden in Bewegung gesetzt, die auf dem Vorderteile des Bootes in einem Göpelwerk im Kreise herumtrabten und dadurch einfach gebaute, klappernde und träge Schaufelräder in Bewegung setzten.
Um 5 Uhr verließen wir das seltsame Pferdeschiff und fuhren längs des linken Ufers des Tom südwärts. Nach einer Fahrt von etwa 20 Kilometern in einer hügeligen Landschaft gelangten wir in einen prächtigen Wald von riesigen Tannen, dem letzten Ausläufer der dunkeln, überwältigenden, düsteren Taiga. Es drängte uns, sie zu verlassen.
Nach vier Stunden wurden die Baumgruppen immer seltener. Über die grüne Monotonie der Steppe verstreut, erinnerten sie an die letzten Wölkchen eines vorübergezogenen Gewitters. Das Gelände glättete sich und wurde beinahe zur Einöde. Wir stießen auf wenige Dörfer und gelangten dann auf das rechte Ufer des Ob, der noch breiter, langsamer, träger und melancholischer ist als der Tom. Das andere Ufer ist so weit entfernt, daß es nur als ein grüner Streifen am Horizont erscheint. Das Trajektboot, das ebenfalls von Pferden getrieben wird, brauchte lange Zeit zur Überfahrt. Die Fährleute teilten uns mit, daß wir 30 Kilometer weit Sumpfboden antreffen würden.
Wir haben diese gefährliche Sumpfgegend in eigenartiger, außergewöhnlicher Weise passiert.
Am Ufer erwartete uns der Pristaf von Kolywan, der auf Befehl des Gouverneurs uns den Weg zeigen sollte. Ein mit drei Pferden bespannter Tarantaß, der von einem kirgisischen Kutscher gelenkt wurde, wartete auf ihn. Er sprang hinein und ersuchte uns, ihm mit der größten Aufmerksamkeit zu folgen.
„Wenn Sie auch nur einen Schritt vom richtigen Wege abweichen,“ erklärte er, „sinken Sie ein. Ich versichere Sie, Sie werden rasch geführt werden.“
In der Tat peitschte der Kirgise unbarmherzig auf die Pferde; die Troika rasselte in wilder Karriere davon und wir hinterher. Es war ein verzweifeltes Jagen durch hohe Gräser und Stauden, zwischen denen breite Flächen stehenden Wassers erglänzten. Nach fünf Minuten erblickten wir einen Seitenpfad, der uns viel besser vorkam als der, auf dem wir fuhren; wir bogen in ihn ein — und versanken!
Zum Glück waren wir noch in der Nähe des Ob. Als jeder Versuch, die Maschine mit Hilfe der drei Pferde freizubekommen, gescheitert war, wandte sich der Kirgise kurz entschlossen dem Flusse zu und rief Leute herbei. Es kamen Muschiks und Bootsleute, und in weniger als einer halben Stunde waren wir aus dem Sumpfe wieder heraus.
„Ich habe es Ihnen ja gesagt, Knjäs Borghese,“ rief der Pristaf; „Sie sollten mir folgen!“
Von diesem Augenblicke an folgten wir ihm mit der Treue eines Hundes. Die Troika beschrieb phantastische Bogen; zeitweise verschwand sie hinter Strauchwerk, Büscheln von Sumpfpflanzen, Zwergweiden und Binsen; dann leitete uns der Klang der Glocke an der bogenen Duga, unter der das Mittelpferd seinen Hals im Laufe vorstreckte; auch leiteten uns die Peitsche und die Pelzmütze des Kirgisen, die wir über den Pflanzen dahinschwebend erblickten. Oft spritzte das Wasser unter den Rädern empor, und wir fühlten, wie das Automobil leicht einsank; aber die Geschwindigkeit rettete uns. Dies rasende Dahinstürmen hatte etwas Romantisches an sich. Wir empfanden das Vergnügen einer Jagd.
Alle zehn Kilometer fand die Troika frische Pferde und einen neuen Kutscher vor. Der Wechsel vollzog sich mit Blitzesschnelle; wir brauchten fast nicht zu warten. Wir setzten auf einer alten, aus den Fugen gegangenen Barke über einen kleinen Fluß und mußten im Verein mit dem Pristaf und den Muschiks hart arbeiten, um den Landungssteg, der unter der Last des Automobils zusammenzubrechen drohte, zu verstärken. Jenseits begann das Gelände wellig zu werden. Das Sumpfgebiet war zu Ende. Gegen 7 Uhr sahen wir spitze Glockentürme über die flache Linie des Horizonts emporragen. Eine halbe Stunde später trafen wir in Kolywan ein.
Die Bevölkerung erwartete uns wie in Mariinsk. Sie hatte den Ort zu Fuß, zu Pferde und in Telegas verlassen. Auch der Polizeimeister war erschienen und stand allein in der Mitte eines Kreises, den man aus Respekt freigelassen hatte. Er hatte uns kaum gesehen, als er auch schon auf uns zuschritt, um uns offiziell anzureden. Aber unvermutet wurde unser feierlicher Einzug durch einen einzigartigen Zwischenfall gestört.
Hunderte von Rindern kehrten vom Felde nach ihren Ställen zurück mit der Geschwindigkeit von Tieren, die nach Hause wollen, als ...
Aber es ist besser, ich erwähne erst die Gewohnheit der sibirischen Rinder, die die beste soziale Erziehung verrät. Die Weiden in Sibirien gehören fast alle der Gemeinde, sie sind Kollektiveigentum. Am Morgen öffnen die Bewohner die Ställe, und die Rinder wandern vor das Dorf, um gemeinsam das Gemeindegras abzuweiden; abends kehrt die Herde in geschlossenem Zuge nach dem Orte zurück, wie es Kinder tun, wenn sie aus der Schule kommen. Sobald die Herde in der Stadt ist, trennt sich jedes Rind von seinen Gefährten und geht von selbst nach Hause; es findet seinen Stall offen und geht hinein; die Herde wird immer kleiner, bis nur noch ein einziges Rind übrigbleibt, das letzte, das im letzten Hause verschwindet.
Wir langten in Kolywan gerade während der abendlichen Heimkehr der Rinder des Ortes an. Sie scheuten vor dem Automobil, stürmten in den Ort hinein und kamen zu gleicher Zeit mit uns in die Hauptstraße. Die Bewohner flüchteten und der Polizeimeister verschwand, wobei ihm die Hälfte seiner Begrüßungsrede im Halse steckenblieb. Wir fanden uns in eine große Staubwolke eingehüllt, umringt von einem Walde von Hörnern, inmitten von Getrappel, Gebrüll und Geschrei. Wir hätten glauben können, im Zentrum eines gar seltsamen Stiergefechtes zu sein. Endlich gelangten wir mit diesem Gefolge nach dem Gemeindehaus.
Nach kurzer Zeit erschien der Polizeimeister wieder und konnte den Rest der so unglücklich unterbrochenen Begrüßungsansprache an den Mann bringen. Sodann schilderte er uns die Notlage Kolywans.
„Eine Stadt, mit der es zu Ende geht!“ sagte er. „Sie war reich, und jetzt ist sie arm; sie war bevölkert, und jetzt steht sie öde.“
„Und was ist schuld daran?“
„Die Eisenbahn. Kolywan ist nördlich von der Eisenbahn liegengeblieben und daher verlassen worden. Alles wandert nach Nowi-Nikolajewsk aus, das die Handelstätigkeit von Kolywan und von Tomsk an sich zieht — eine große Stadt, die in einigen Jahren sogar schöner als Tomsk sein wird. Sie hat bereits 20 000 Einwohner!“
Die Städte schießen nicht nur in Amerika wie Pilze empor; auch Sibirien hat viele Beispiele dieser Art aufzuweisen!
Eine Frau von energischem Wesen und umfangreichen Körperformen sorgte für unser leibliches Wohl.
„Ich habe mir gedacht, Sie werden Hunger haben. Ich habe daher das Essen bereiten lassen. Es wird gleich fertig sein. Es gibt Schtschi, Koteletts, gebratene Hühner, Weißbrot, Bier, Tee ...“
O Kolywan, du Stadt der köstlichen Genüsse ...!
In der Steppe.
Die Steppe. — Das Telegraphenamt in Kainsk. — Die Bremse brennt. — Omsk. — Das Erwachen Sibiriens. — Müdigkeit. — Nochmals die Steppe. — Ein Steppenbrand. — Ischim.
Das Automobil hatte in Kolywan seinen täglichen Bedarf an Benzin und Fett vorgefunden, wie dies an allen Haltepunkten bis zur Beendigung unserer Reise der Fall war. Wir füllten daher die Behälter niemals vollständig, um das Gewicht der Maschine nicht über Gebühr zu erhöhen, sondern führten bei der Abfahrt nur so viel bei uns, daß es für 700-800 Kilometer reichte.
Am 13. Juli früh 4 Uhr rollten wir in der Richtung auf Kainsk dahin, das 340 Kilometer von Kolywan entfernt ist. Der Himmel war bedeckt und drohte wieder mit Regen. Eine Stunde nach der Abfahrt begann es auch wolkenbruchartig zu regnen; es war aber nur ein kurzes Bad. Um 7 Uhr hatte ein frischer Ostwind bereits die Wolken zerstreut, und die Sonne strahlte vom heitersten Himmel, den es in der Welt geben kann.
Die Straße würde in Europa nicht einmal den Namen eines Feldweges verdient haben; sie war aber fest, eben und gleichmäßig, und wir fanden sie wunderbar, trotz der Sümpfe, die sich zu beiden Seiten hinzogen und die von sehr hohem, dichtem Pflanzenwuchs bedeckt waren. Scharen von Vögeln erhoben sich aus ihnen; weiße Reiher, Bekassinen, Wasserhühner mit plumpem Fluge und wahre Wolken von Krähen mit weißer Brust, die bisweilen, überholt von der Schnelligkeit des Automobils, es wie toll umflatterten, schließlich dagegen anstießen und in todähnlicher Erstarrung niederfielen. Eine Menge Schmetterlinge blieb am Kühler hängen, der davon bedeckt war wie der Kasten eines Sammlers.
Wir waren glücklich, nach so langer Zeit wieder den Genuß voller Fahrt kosten zu können. Mit der Uhr in der Hand zählten wir die Werstpfähle, die rasch an uns vorüberglitten; an manchen Strecken kamen wir bis auf 60 Kilometer in der Stunde! Aber wir wurden durch eine Unzahl von winzigen Brücken aufgehalten, die schon von fern sichtbar waren, weil die Holzbrüstungen mit weißen, schwarzen und roten Streifen bemalt waren und mitunter den Eindruck machten, als ständen unbewegliche Gruppen von Menschen mitten in den Feldern. Sie waren so kurz, daß, wenn die Vorderräder die Ausgangsrampe hinabfuhren, die Hinterräder sich noch auf der Eingangsrampe befanden, und oft kam es vor, daß das Automobil in dieser Stellung mit dem Motorgehäuse auf die Dielung aufstieß, „auf den Bauch schlug“, wie wir sagten. Um dies zu verhindern, mußten wir die Brücken mit großer Vorsicht passieren.
Durch die wenigen Dörfer, die wir antrafen, fuhren wir mit großer Geschwindigkeit. Es war ein Feiertag. Wir begegneten Prozessionen von Muschiks. Ihnen voran schritten die Popen, mit dem Chormantel bekleidet, auf dem Kopfe die Mitra, die in ihrer Form an die russische Kaiserkrone erinnert; hinterher die Frauen, den Kopf verhüllt mit roten Tüchern, in kurzen Männerjacken und hohen Männerstiefeln. Die Prozessionen nahmen die ganze Breite der Straße ein und schritten langsam in Unordnung dahin, Kreuze und Heiligenbilder tragend, singend und betend.
Um die heilige Handlung nicht zu stören, hielten wir; aber unsere Vorsicht war unnütz. Die Gebete und Gesänge verstummten, die Frommen mit Einschluß der Popen vergaßen für einen Augenblick den lieben Gott, um uns verzückt in voller Muße zu betrachten; alle Heiligenbilder wandten sich nach unserer Seite und zeigten uns die schwarzen goldumrahmten Gesichter byzantinischer Heiliger. Erst nach einem Weilchen setzte sich die Prozession wieder in Bewegung; die Gesänge ertönten lauter und feuriger, um Vergebung für die Unterbrechung zu erlangen. Zweifellos hatte das Automobil ihrer Andacht großen Schaden zugefügt. Die Küster in den Kirchen, die festlich läuteten, wie es der Brauch will, wenn die Prozession ihren Umzug hält, hörten auf zu läuten und verfolgten, aus der erhöhten Lage der Glockentürme Vorteil ziehend, mit den Blicken das Automobil, das in der Ferne in seiner Staubwolke, die sich auf die Felder niedersenkte, dahinjagte.
Am Nachmittag gelangten wir in die eigentliche Steppenregion, die Steppe von Barabinsk, die an die mongolischen Steppen erinnert. Nur waren die mongolischen weit saftiger grün, wasserreich, von Zwergbaumgruppen und winzigen Gebüschen belebt. Wir sahen hier Pflanzen wieder, die, wie namentlich Birken, in der Taiga Riesengröße erreichen, aber in der Steppe ganz niedrig bleiben, erbärmliche Karikaturen ihrer selbst, die den Wunsch hegten, sich klein zu machen und im Gras zu verstecken. Große Sümpfe und Seen erglänzten jeden Augenblick am undeutlich erkennbaren Horizont; wenn wir sie von fern sahen, glaubten wir, auf irgendein unbekanntes Meer zuzusteuern.
Auf dieser ganzen unermeßlichen Ebene öffnen sich überall Wasserspiegel; Blau wechselt mit Grün, das Kräuseln der Wellen mit der Unbeweglichkeit des Landes. Auf einer langen Strecke fuhren wir an den Ufern des malerischen Sees von Ubinsk dahin, einer weithin erglänzenden Wasserfläche. Über die zahlreichen Flüsse setzten wir auf bequemen Barken.
In der Steppe sahen wir auch Jurten wieder; es waren kirgisische, die sich in nichts von den mongolischen unterscheiden; diese kleinen Kuppeln stellen vielleicht die einzige Gebäudeform dar, die den Orkanen der Ebene widersteht. Es sind die Wohnungen aller Völker, die den weiten Raum und die Einsamkeit lieben.
Gegen 7 Uhr gelangten wir nach Kainsk, das von Dutzenden von Windmühlen umgeben ist, deren große unbewegliche Flügel am freien Horizont aussehen wie große Kreuze auf einem Kirchhofe von Riesen. Unsere Ankunft blieb beinahe unbemerkt, weil gerade Jahrmarkt war und in der Mitte des Marktplatzes ein Zirkus und ein Karussell aufgeschlagen waren. Drehorgeln und Trompeten erklangen; die Ausrufer schrien, und die ganze Bevölkerung, die sich um jene wunderbaren Dinge zusammendrängte, wandte der Straße, auf der wir ankamen, den Rücken zu. Aber Soldaten sahen uns, drehten sich um, riefen ihre Kameraden, und im Nu stand die Menge wie auf Kommando mit dem Rücken gegen die Buden und mit den verwunderten Gesichtern uns zugekehrt. Die Drehorgeln und Trompeten unterbrachen ihre Melodien, und die Ausrufer blickten von der Höhe ihrer Estraden auf uns mit feindseliger Neugier herab wie auf glückliche Konkurrenten. Wir fuhren durch die verödeten Straßen, um einen Gasthof zu suchen, und fanden den erbärmlichsten und schmutzigsten von ganz Sibirien.
Es gelang mir nicht, in das Telegraphenamt von Kainsk zu kommen. Ich wurde zurückgewiesen, als wäre ich gekommen, um eine Dynamitbombe dort niederzulegen. Ein junger Mensch begleitete mich. Die Türe des Telegraphenamtes war geschlossen. Wir klopften, und eine gereizte Stimme schrie mir hinter der Tür zu:
„Wer sind Sie?“
Ich nannte Namen und Stand.
„Kommen Sie morgen wieder!“
„Ich kann nicht. Ich reise bei Tagesanbruch ab und habe ein Telegramm zu befördern.“
„Machen Sie, daß Sie fortkommen!“
„Öffnen Sie; ich werde Ihnen meine Ausweispapiere zeigen. Befördern Sie keine Telegramme?“
„O ja. Aber ich kenne Sie nicht.“
Es war also ein Telegraphenamt ausschließlich für Bekannte.
„Ich muß an den Gouverneur von Tomsk telegraphieren.“
„Machen Sie, daß Sie fortkommen!“
Die Stimme hatte einen drohenden Klang angenommen. Ich beharrte aber auf meiner Forderung. Der Mann hinter der Tür schrie mir etwas zu, was ich nicht verstand, was aber der junge Mensch sehr gut zu verstehen schien. Er ergriff eiligst die Flucht und machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen.
„Was ist denn los?“ fragte ich ihn.
Immer noch laufend, antwortete er mit der Geste jemandes, der ein Gewehr abfeuert, und stieß dabei die einsilbigen aber beredten Worte „Bum! bum!“ hervor.
Meine Zeitung mußte also an diesem Abend ohne Bericht über unsere Fahrt bleiben. „Besser ist immer,“ dachte ich bei mir, „ohne Bericht als ohne Berichterstatter“, und kehrte nach der Herberge zurück.
Bei Kainsk überschritten wir den Om in kurzer Entfernung von dem Orte auf einer sonderbaren Holzbrücke, die sich gesenkt hatte, so daß sie sich fast vollständig unter Wasser befand. Wir nannten sie die Brückenfurt. Es war am 14. Juli 4 Uhr morgens. Wir setzten unsere rasche Fahrt über eine unermeßliche Ebene fort, aus der wir bis zur europäischen Grenze nicht mehr herauskommen sollten. Wir hatten keine andern Höhen mehr zu erwarten als den Ural.
Nach zwei Stunden regnete es in Strömen, und die Straße wurde sofort unpassierbar, so daß wir an einem Eisenbahnübergang Zuflucht im Bahnwärterhäuschen suchten. Wir wollten nicht wieder zur Umwicklung des Rades mit der Kette greifen, um durch diesen Schmutz zu kommen. Ich habe zu erwähnen vergessen, daß das Manöver mit der Kette seine Unzuträglichkeiten, sogar sehr schwerer Art, im Gefolge hatte, die es uns unrätlich erscheinen ließen; die Kette zerschnitt den Pneumatikreifen und, was schlimmer war, sie schädigte die Speichen des Rades, indem sie ihre Befestigung am Radkranze lockerte. Das linke Laufrad begann uns Sorge einzuflößen: es hatte Risse in den Speichenhöhlungen und knirschte mitunter. Ein Radbruch bedeutete, unrettbar auf der Straße liegenzubleiben. Wir mußten vorsichtig sein.
Übrigens hatte uns Sibirien gelehrt, die Ungeduld zu bemeistern. Es brachte uns etwas von dem Fatalismus bei, der den Grundzug des slawischen Nationalcharakters bildet und der wahrscheinlich gerade von der Gewohnheit herrührt, sich unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüberzusehen, die der Rauheit des Klimas entspringen. Man kann dort draußen das dringendste Geschäft zu erledigen haben, man kann unter dem Drucke der größten Notlage stehen, aber wenn das Wetter halt gebietet, muß man sich darein fügen und gehorchen. Die Notwendigkeit, sich vor dieser Gewalt zu beugen, unabsehbar lange Zeit zu warten, breitet schließlich Heiterkeit über diesen erzwungenen Verzicht auf die eigene Unabhängigkeit; man unterwirft sich instinktiv den höheren Mächten; man beugt gelehrig und ohne Widerstreben das Haupt vor dem Wetter wie vor den kaiserlichen Ukasen, vor der Überschwemmung wie vor den Anordnungen der Polizei. Bei dem einen wie bei dem andern sagt man: „Nitschewo!“ Der oberste Autokrat Rußlands ist nicht der Zar, es ist das Klima.
Wie lange Zeit werden wir hier liegenbleiben müssen? Der Himmel war dunkel und mit Regen beladen, als hätte es überhaupt noch nie geregnet! Der Bahnwärter erklärte, wir hätten noch etwa 60 Kilometer des schlechtesten Geländes vor uns, dann aber würde die Straße auch bei Regenwetter gut, weil sie sandig sei. Nach einer Stunde bemerkten wir, daß die Wolken nicht mehr von Westen nach Osten zogen, sondern in Unordnung und in phantastischer Flucht geradeswegs nach Süden getrieben wurden. Der Wind war also umgeschlagen. Wir waren dahin gelangt, daß wir uns besser auf die sibirischen Winde verstanden als die Kalendermacher. Westwind: „Regen“; Südwind: „Veränderlich und Nebel“; Nord- oder Ostwind: „Heiter“! Es regnete noch immer, aber wir waren so fröhlich geworden, als sei die Sonne bereits zum Vorschein gekommen. Wir selbst heiterten uns früher auf als der Himmel. So bestiegen wir die Maschine, ohne länger zu warten, und fort ging es.
Noch keine Stunde war vergangen, so wurde das Wetter ausgezeichnet, die Straße gut, auf vielen Strecken sogar sehr gut. Wir rechneten manchmal eine Geschwindigkeit von 50 Kilometern in der Stunde aus und hielten bequem eine mittlere Geschwindigkeit von 35 Kilometern. Das unendliche Panorama der Steppe entrollte sich mit gleicher Eintönigkeit. Dörfer waren vereinzelt und bestanden aus sehr kleinen Isbas; es fehlt in diesen Gegenden an Holz, und die armseligsten Häuser Ostsibiriens und Transbaikaliens würden hier Palästen gleichen. Wir erblickten winzige Wohnungen, in denen die hochgewachsenen Muschiks gewiß immer sitzen mußten wie die Heiligen auf den Fresken Giottos. Die Sonne begann glühendheiß zu brennen.
Ohne Unfall hofften wir bis Omsk zu gelangen. Aber gegen Mittag befanden wir uns in einer unvorhergesehenen Gefahr, die die schlimmsten Folgen hätte nach sich ziehen können. Ganz plötzlich verspürten wir einen Brandgeruch, und als wir uns sofort umwandten, bemerkten wir, daß die Maschine eine dichte Rauchwolke hinter sich ließ. Der Rauch strömte unter dem Wagen hervor.
„Die Bremse!“ riefen wir; „die Bremse brennt!“
Wir hatten schon einen solchen Unfall erlebt und waren daher auch über seine Entstehungsursache keinen Augenblick im Zweifel. Wir brachten das Automobil zum Stehen und sprangen ab. Flammen loderten empor. Die Lage war diesmal sehr ernst. Die große Geschwindigkeit hatte uns infolge des Luftzuges daran verhindert, den Brand sofort zu bemerken. Das Feuer mußte viel eher ausgebrochen sein, ehe sich der Geruch bemerkbar machte. Die Flammen, die während der Fahrt infolge des Luftzuges und des gewaltigen Windstromes, den die rasende Umdrehung des Geschwindigkeitsgetriebes erzeugte, niedergehalten worden waren, schlugen jetzt flackernd in die Höhe. Die Ursache des Feuers lag wie das vorige Mal in der übermäßigen Reibung der Bremse, die sich von selbst anlegte infolge einer Beschädigung, die wir nicht erkennen konnten, ohne die Maschine auseinanderzunehmen. Diesmal hatte sich nicht nur das Schmierfett der Bremse entzündet, sondern es begann auch schon der hölzerne Fußboden der Karosserie zu brennen. Wir befürchteten die sofortige Explosion des Benzins, von dem wir in den Behältern gegen 200 Kilo mit uns führten!
Die geringste Beschädigung des Rohres, das das Benzin in den Motor leitet und das wenige Zentimeter von der Flamme entfernt war, hätte genügt, eine Katastrophe herbeizuführen.
„Wasser! Wasser! Rasch!“ riefen wir.
Früher hatten wir mit Leichtigkeit Wasser in der Nähe gefunden. Ich ergriff einen Topf und stürzte zu den Gräben, die sich zu beiden Seiten der Straße hinzogen. Sie waren trocken. Vergebens suchte ich wenigstens nach feuchtem Straßenschmutz im Grase. Der sandige Boden war wie ausgedörrt. Fünfzig Schritte vor uns befand sich eine kleine Brücke. Unter ihr würde ich doch sicherlich Wasser finden, wenigstens eine Lache. Atemlos lief ich hin. Nichts!
„Mut!“ riefen wir uns zu.
„Werfen wir Sand darauf!“
„Lappen! Wo sind die Lappen?“
„Die Kleider!“
Ettore warf seinen wasserdichten Mantel über die Flamme, der Fürst seinen Pelz. Das entzündete Fett verlöschte, aber die Karosserie brannte noch immer. Wir rissen die Dielen heraus, löschten sie mit Erde, schabten die brennenden Stellen mit dem Messer heraus und ließen die ganze versengte Oberfläche zu Asche werden. Endlich waren die Flammen gebändigt; mit Lappen, die wir mit dem wenigen, von dem Kühlapparat herabtröpfelnden Wasser befeuchteten, erstickten wir den Rest des Brandes. Wir spähten nach jeder Spur von Rauch und beobachteten das Automobil so lange mit gespanntester Aufmerksamkeit, bis wir die Überzeugung gewannen, daß die Gefahr vorüber war. Dann stießen wir einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und betrachteten uns lächelnd und ein wenig geistesabwesend.
„Auch diesmal ist es also gut abgelaufen!“ riefen wir aus.
„Die Maschine so weit zu bringen, um zu sehen, wie sie hier mitten in der Steppe in einem Feuerwerk zugrunde geht!“
„Ein Glück ist es, daß wir den Brand noch rechtzeitig bemerkten!“
„Wenn das Benzin explodiert wäre, wären wir alle drei in die Luft geflogen!“
„Auf die Maschine! Auf die Maschine! Es ist schon spät!“ mahnte der Fürst.
„Nach Omsk, nach Omsk!“
Ettore hatte die beschädigte Bremse ganz herausgenommen und verzichtete darauf, sich ihrer in Zukunft zu bedienen. Es blieb nur noch die Handbremse, die nicht so rasch wirkte wie die Fußbremse, aber gewiß ebensoviel leistete. Dann setzten wir die Fahrt fort.
Bei dem Dorfe Jurjewo hatten wir über einen kleinen Fluß zu setzen. Die Bauern fürchteten vielleicht, das Automobil könne das Fährboot beschädigen, denn sie wollten uns um keinen Preis übersetzen.
„Das Boot,“ sagten sie, „ist für Menschen, für Pferde und für Telegas bestimmt. Das da ist weder ein Mensch, noch ein Pferd, noch eine Telega; also kann es nicht übergesetzt werden.“
Alle Beredsamkeit des Fürsten vermochte nicht sie umzustimmen. Da kam aber das Schreiben des Ministers zum Vorschein! Eine Viertelstunde später waren wir am andern Ufer des Flusses.
Kurz vor Omsk setzten wir zum zweiten Male über den Om. Eine Menge Muschiks in ihren Sonntagskleidern wohnte am jenseitigen Ufer der kurzen Überfahrt bei. Die Art unserer Fortbewegung erschien der Standesperson eines benachbarten Dorfes im höchsten Grade verdächtig. Der Mann, der halb wie ein Bauer gekleidet war, aber eine Beamtenmütze trug, benutzte den Umstand, daß wir, um Wasser in den Kühler zu füllen, halten mußten, dazu, ein Aktenstück zu holen und im Laufschritt zurückzukehren. Wir wollten gerade unsere Fahrt wieder aufnehmen, als uns der Mann in gebieterischem Tone „Halt!“ zurief.
Wir betrachteten ihn mit einer Gleichgültigkeit, die seine Amtswürde schwer verletzen mußte, denn er rief empört:
„Halt! sage ich, halt!“
Nein! Wir hatten schon viele dieser kleinen Dorfdespoten kennen gelernt, die sich die Miene gaben, sogar den Lauf der Flüsse lenken zu können, die ihre Macht mißbrauchten, um dem Nächsten alle möglichen Schikanen zu bereiten, die, unwissend und habgierig, uns nach Namen, Vornamen, Stand, Nationalität gefragt, Erklärungen aller Art abgefordert und die gegebenen Antworten feierlich in ein Notizbuch eingetragen hatten, wobei sie uns mit der strengen Miene eines Richters ansahen. Einen Fremden behandelten sie nur darum als Verbrecher, weil er ihr Machtgebiet passierte! Nein, der gute Mann mochte rufen, so viel er wollte: wir hatten keine Lust, die Zahl der unvorhergesehenen Aufenthalte zu vermehren, ein albernes Verhör zu bestehen, die Papiere vorzuzeigen, um jenem Miniaturtyrannen eine Genugtuung zu bereiten. Er rannte aus Leibeskräften hinter uns her und schrie fortwährend:
„Halt, im Namen des Gesetzes!“
Da erhob ich mich, drehte mich um, und indem ich mich am Gepäck anhielt, schnitt ich unserem Verfolger mit würdevollem Ernst die abscheulichste Grimasse, die ich vor langen, langen Jahren in der Schule gelernt hatte! Starr über solche Frechheit, blieb er stehen, und wir fuhren lachend weiter.
Um 4 Uhr bekamen wir Omsk in Sicht, das in einer sandigen Ebene liegt. Wir wurden wieder von einem Polizeioffizier erwartet. In wenig mehr als zwölf Stunden hatten wir von Kainsk aus 390 Kilometer zurückgelegt!
Wir langten in Omsk zur Stunde des sonntäglichen Spazierganges an. Auf den hölzernen Fußsteigen bewegte sich langsam die friedliche Masse der Bürger, die mit der Miene dessen, der seinen besten Anzug trägt, Luft schöpften. Es schritten Offiziere und Beamte in großer Uniform mit ihren Familien vorüber, die Kinder an der Hand führend. Es war die Atmosphäre einer Provinzstadt, die ausruht. Dann überschritten wir auf einer schönen Brücke den Om, in der Nähe seines Zusammenflusses mit dem Irtysch.
An den Ufern ziehen sich die Docks hin; an den Landungskais liegen einige jener großen, eleganten Passagierdampfer, die im Sommer den Irtysch bis nach Tobolsk hinab und aufwärts bis Semipalatinsk befahren, 1500 Kilometer seines Laufes. Wir sahen ein Bild von Tätigkeit und neuzeitlichem Wesen, das wie eine Offenbarung auf uns wirkte; wir glaubten uns schon mitten in Europa. In Irkutsk hatten wir die politische, in Tomsk die geistige Hauptstadt des asiatischen Rußlands angetroffen; hier in Omsk fanden wir die kommerzielle Hauptstadt.
Omsk ist der Mittelpunkt riesiger gewerblicher Tätigkeit. Es beherrscht durch seine Lage ganz Westsibirien. Es sammelt auf dem Flußwege alle Schätze des fruchtbaren Landes auf einem Punkte an und wirft sie mittels der Eisenbahn auf die europäischen Märkte. Man spricht davon, es durch eine besondere Linie mit der turkestanischen Eisenbahn zu verbinden; dann wird es das Herz Zentralasiens werden. Diese alte Stadt, der der Fortschritt verjüngtes Leben eingehaucht hat, hat das Aussehen einer Pionierstadt, einer Stadt, die sich vom Schlummer erhebt, einer neuen Stadt auf neuem Boden, ohne zu überwindende Überlieferungen, ohne zu schützende Gewohnheiten. Das deutlichste Zeichen dieser Lebenskraft, die jetzt zum Durchbruch kommt, unabhängig von jeder Fessel der Vergangenheit, äußert sich in der weiten Verbreitung der Maschinen. Auf den Kais des Flusses sahen wir nichts als Maschinen, zu Tausenden waren sie bereit, nach den jungfräulichen Steppen von Kulundinsk und Naiman versandt zu werden. Es waren die neuesten Maschinen der landwirtschaftlichen Industrie, selbst Maschinen, die die Abneigung gegen Neuerungen von so vielen zivilisierten Ländern Europas ferngehalten hat. Ändern ist schwieriger als Neuschaffen; Omsk schafft neu. Unermeßliche Strecken „schwarzer Erde“, die bisher von menschlicher Arbeit völlig unberührt geblieben sind, werden von den amerikanischen Doppelpflügen aufgerissen, mit den vollkommensten Sämaschinen befruchtet und mit Hilfe der sinnreichsten Maschinen, die die Zivilisation zu diesem Zwecke erfindet, bebaut.
Omsk empfängt und verkauft für mehr als 20 Millionen Mark landwirtschaftliche Maschinen für die neuzubestellenden Ackerflächen. Selbst die Kirgisen, die nie ein Ackergerät in der Hand gehabt haben, fahren den Irtysch bis nach Omsk hinauf, um Maschinen zu kaufen. Sie beginnen mit dem Besten, was es gibt. Viele Industrien, die noch gestern dort draußen fast unbekannt waren, erwachen und gewinnen auf dem Weltmarkte Bedeutung. Ein mit Kühlwagen ausgestatteter Sonderzug überschreitet täglich die Grenzen Sibiriens und befördert frische Butter, die zu zwei Dritteln auf den englischen Markt gelangt. Im vergangenen Jahre hat die Gegend zwischen Omsk und Kurgan für nahezu 100 Millionen Mark Butter ausgeführt. Das Sibirien der Überlieferung, das trostlose Land der Verbannung, die eisige Heimat hungriger Wölfe, existiert nicht mehr, wenn es überhaupt je existiert hat. Es erweist sich als ein Land, das weit unternehmungslustiger und reicher ist als Rußland. Niemand vermag jetzt, bei dem Schauspiele seines ersten Erwachens, zu sagen, was die Zukunft ihm vorbehalten hat.
Im Hotel wurden wir herzlich von einem „Lokalkomitee für die Fahrt Peking–Paris“ begrüßt, das zum Teil aus Engländern, Deutschen und Norwegern bestand, den Vertretern der großen Handelshäuser, denen ein so großer Anteil an dem Aufschwung des neuen Lebens gebührt, das diese Gegenden durchströmt. Vom Balkon herab rief jemand:
„Viva l’Italia!“
Wir bemerkten einen Herrn, der seinen Hut schwenkte und nach seinem Gruße von oben herab herunterkam, um uns in förmlicher Weise zu begrüßen. Es war ein englischer Berichterstatter, der von der „Daily Mail“ uns bis hierher entgegengeschickt worden war, ein sympathischer Kollege, der uns dann von Omsk während des Restes unserer Reise auf der Eisenbahn folgte.
Wir beschlossen, in Omsk zwei Tage zu bleiben, denn wir bedurften der Ruhe. Während der Fahrt waren wir von der nervösen Erregung des ununterbrochenen Wachens aufrechterhalten worden. Fahren war, auch wenn keine Zwischenfälle eintraten, gleichbedeutend mit fieberhafter Tätigkeit. Sobald wir aber haltmachten, fühlten wir mit einem Male eine unsagbare Mattigkeit auf uns lasten. Das lange beständige Wachbleiben und die überstandenen Strapazen machten sich jetzt mit einem Schlage geltend; es schien, als kehrten sie zurück und verlangten ihren Lohn an Ruhe. Die mittlere Dauer unseres Schlafes hatte vier Stunden täglich betragen. Wenn wir an unserem Haltepunkte anlangten, hatten wir jeden Abend nach einer oberflächlichen Toilette noch eine lange Arbeit vor uns. Der Fürst begab sich mit der Polizei auf die Suche nach dem Benzinvorrat; Ettore reinigte die Maschine und setzte sie zu der Fahrt des nächsten Tages instand; ich hatte meinen Bericht zu schreiben, und zwar so deutlich wie möglich, um eine fehlerfreie Übertragung zu ermöglichen, und mußte dann, was viel langwieriger und schwieriger war, die Telegraphenbeamten bewegen, ihn zu befördern! Die Länge der Depeschen entsetzte alle Beamte; eine Depesche von 1000 bis 2000 Worten zu befördern, hielten sie für einen Wahnsinn, zu dessen Mitschuldigen sie sich um keinen Preis machen wollten! So suchten sie tausend Vorwände, um mich zum Verzicht auf die Beförderung zu veranlassen. Es war fast nie vor 10 Uhr abends, ehe wir einen Bissen zu essen bekamen, und oft schliefen wir auf der bloßen Erde. Um 2, 3 des Morgens waren wir schon wieder auf den Beinen. Mit unserer Arbeit war noch etwas anderes verbunden, das uns mehr als die körperliche Anstrengung mitnahm: es war die Angst, mitunter Aufregung, oft Ungewißheit, es waren die beständigen starken Eindrücke, die Entmutigungen, die Wagnisse, die plötzlichen Entschließungen — all das Drum und Dran eines unablässigen Kampfes. Frischer und unbefangener wollten wir unsere Reise fortsetzen.
Zu den Eigenschaften, die ich am Fürsten bewunderte, gehörte die körperliche und die noch größere geistige Widerstandsfähigkeit. Er war ermüdet, wußte es aber zu verbergen. Auch widerstrebte es ihm, vor Fremden müde zu scheinen. An dieser Herrschaft über sich selbst hielt er unverrückbar fest. Wenn wir eingeladen waren oder Gäste bei uns sahen, so schien er das Bett ganz zu vergessen; er hüllte sich in die lächelnde Unempfindlichkeit des Diplomaten und hielt unbegrenzte Zeit aus. Kaum aber waren die Fremden gegangen, so war auch der Diplomat verschwunden und Don Scipione schlief tief und fest. Ich gestehe, daß ich mich in Omsk von der Müdigkeit wie von einer Krankheit gepackt fühlte; wie die Verhungerten, die vor großem Hunger nicht mehr zu essen vermögen, war es mit mir so weit gekommen, daß ich nicht mehr schlafen konnte. Aber die Reaktion trat ein, und zwar auf die seltsamste Weise.
Am Abend des 16. Juli kehrte ich nach dem Hotel zurück, als ich mit einem Male die Beine unter mir wanken fühlte und wie ein Betrunkener weiterging. Zu gleicher Zeit umnebelte sich mein Blick; ich sah den Himmel grün, und es schien mir, als hätten die Vorübergehenden sämtlich erst ein bläuliches und dann ein schwarzes Gesicht; es umgab mich undurchdringliche Dunkelheit. Ich fühlte, daß die Menge mich neugierig ansah, lehnte mich an die Mauer und legte die Hand an die Stirn. In diesem Augenblicke näherte sich eine leere Droschke. All meine Kraft zusammenraffend, rief ich:
„Kutscher! Kutscher!“
Ich sah, wie der Wagen auf meinen Ruf hin wendete. Dann erinnere ich mich an nichts mehr.
Was sich zugetragen hat, ist leicht zu erraten, wenn ich sage, daß, als ich wieder zu mir kam, ich mich an derselben Stelle am Boden liegen fand. Ich war vor Schlaf, vor Müdigkeit umgesunken. Mit der Empfindung, im Bett zu liegen, erwachte ich. Als ich die Augen aufschlug, war ich ganz erstaunt, so viele Füße mit Stiefeln sich in unmittelbarer Nähe meines Kopfkissens bewegen zu sehen! Dann kehrte plötzlich die Erinnerung zurück, und ich erhob mich etwas verwirrt. Die Droschke stand noch da und wartete auf mich. Wie lange hatte ich regungslos und ohne Bewußtsein gelegen? Wer weiß es?
Hatte mir niemand Hilfe geleistet, hatte ich mich selbst wieder von der schmutzigen Straße erhoben? Ach ja, dies gehört auch zu den Sitten des Landes. Wenn alle diejenigen, die auf den Straßen einer sibirischen Stadt umfallen, aufgehoben werden sollten, da hätte man viel zu tun! Ich war einfach für einen Betrunkenen der besseren Stände gehalten worden. Ein Rausch ist in Sibirien so allgemein, daß er für ehrenhaft gilt, und daher wird er auch respektiert. Hätte mich die Menge auf den Füßen stehend angetroffen, so hätte sie mich mißtrauisch oder verächtlich ansehen können; da sie mich aber ausgestreckt am Boden liegen fand, so konnte sie nicht umhin, mich zu achten. Ich erwarb mir dadurch eine Art sibirisches Bürgerrecht. Ich stieg in den Wagen; der Kutscher drehte sich um und sagte mir in freundlichem Tone:
„Ich fahre langsam, Väterchen; aber Sie würden gut tun, wenn Sie sich hier festhielten!“
Und er wies auf den Eisenstab hinter seinem Sitze. —
Das Automobil bedurfte keiner Arbeit, abgesehen von der Beschädigung der Bremse, die sofort behoben wurde. Im übrigen wären bedeutendere Reparaturen auch unmöglich gewesen. Als der Fürst die Vorbereitungen zu der Fahrt traf, hatte er nach Omsk einige Ersatzstücke befördern lassen; aber die russische Zollbehörde — oder war es die österreichische? man weiß es nicht genau — hatte sie irgendwo zurückgehalten. Die Pneumatiks der Vorderräder, die die ganze Fahrt von Peking aus mitgemacht hatten, wurden ausgewechselt, die Maschine von oben bis unten geputzt und in ihren empfindlichsten Teilen auf das sorgfältigste nachgesehen. Ettore war von diesem Automobil begeistert, das sich trotz aller Anstrengungen und so vieler Katastrophen so wacker hielt. Hätte aber das Automobil denken und empfinden können, so wäre es gewiß in Ettore verliebt gewesen, der ihm alle seine Zuneigung weihte. Er trieb die Geduld und die Gewissenhaftigkeit so weit, daß er an jedem Haltepunkt eingehende und schwierige Untersuchungen anstellte, wie die Chauffeure sie sonst nur von Zeit zu Zeit vornehmen. Alle Abende schraubte er die Deckel los, die die Kugelgelenke der Gangwechsel und des Differenzialwerks hermetisch verschließen, um sich zu vergewissern, ob sie regelmäßig funktionierten, und um das Öl und Fett zu erneuern, in denen jene laufen. Die Karosserie, die der Weg von Tomsk aus den Fugen gebracht hatte, wurde mit Stahlblechen und Stahlschrauben ausgebessert.
In Omsk stellten wir die Reiseroute nach Kasan fest. Es führen zwei Wege dorthin: ein kurzer und ein langer. Natürlich war der kurze vom Pariser Komitee gewählt worden. Er führt von Omsk über Kurgan, Tscheljabinsk und Ufa und hält sich dicht an der Eisenbahn. Aber das russische Komitee in Petersburg hatte geraten, den längeren Weg einzuschlagen, weil er der bessere sei; es war der über Tjumen, Jekaterinburg und Perm nach Kasan; er biegt nach Norden um und steigt bis zum 58. Breitengrade empor. Dieser große Bogen von drei Grad lockte uns allerdings weniger als der gerade Weg, der bekanntlich der beste sein soll. Aber wir verließen uns auf die Weisheit des Petersburger Komitees, das uns prächtige, eigens für uns gezeichnete Straßenkarten hatte zukommen lassen. Auf ihnen war die Route mit allen Höhenprofilen und den in Werst angegebenen Entfernungen zwischen den einzelnen Dörfern dargestellt. Die Arbeit hatte ungeheuere Geduld erfordert und war uns von außerordentlichem Nutzen. Wir fühlten uns dem Komitee zu Petersburg, ebenso aber auch den kleineren Komitees in den andern Städten für ihre unendliche Liebenswürdigkeit zu herzlichem Dank verpflichtet.
Am 16. Juli waren die beiden „de Dion-Bouton“ in Mariinsk eingetroffen.
Am 17. früh 3 Uhr wurden wir von einem altmodischen winzigen Automobil, das einem Kinderwagen glich, einem seltenen Prachtstück des sibirischen Automobilsports, aus den Toren von Omsk geleitet. Es wurde von drei unserer neuesten Freunde, Mitgliedern des Omsker Komitees, bestiegen.
Die Stadt schlief noch. Der Om lag im blassen Schimmer der Morgenröte unbeweglich da; die dunkeln Schatten der Schiffe mit den hohen Schornsteinen drängten sich an den tagsüber so geschäftigen Ufern. Als wir auf die Straße nach Tjumen gekommen waren, wo keinerlei Irrtum mehr möglich war, bog das kleine Automobil zur Seite, und wir wechselten Abschiedsgrüße mit unseren Führern.
Der Himmel war heiter, man konnte von einem italienischen Himmel sprechen. Die Sonne erhob sich über dem flachen Horizont, und wir trieben die Maschine zur dritten und vierten Geschwindigkeit an. Vornübergebeugt durchschnitten wir die Luft, die die Kleider blähte und die Flagge am hinteren Teile des Automobils flattern ließ. Wir fühlten uns berauscht von der wiedergewonnenen Freiheit, und schließlich schlugen wir das rasende Tempo ein, das wir in den mongolischen Ebenen angenommen hatten.
Fortwährend begegneten wir Karawanen von Telegas, deren Kutscher noch schliefen. Taub gegen unsere Signale, erwachten sie erst, wenn wir ihnen ganz nahegekommen waren; sie rieben sich die Augen, in der Meinung zu träumen, und waren wie alle sibirischen Kutscher so betäubt, daß sie nicht einmal daran dachten, ihre in wilder Flucht durchgehenden Pferde zu beruhigen.
Dörfer trafen wir nur vereinzelt an; es fehlt an Bauholz dazu.
Nach drei Stunden gelangten wir an das Ufer des Irtysch, auf dem rote Bojen schaukelten. Die Dampfer gehen bis nach Tobolsk. Am Ufer des Flusses begegneten wir einer Karawane von Bauern, die von Omsk zurückkehrten, wo sie amerikanische Mähmaschinen und Eggen gekauft hatten und nun warteten, um auf das andere Ufer übergesetzt zu werden. Es waren deutsche Einwanderer. Sie sollen mit ihrem neuen Vaterlande zufrieden sein. Ein großer Anteil an der Umwandlung Sibiriens entfällt auf Angehörige der deutschen Rasse.
Über den Irtysch setzten wir auf einer Fähre, die wieder von vier Pferden getrieben wurde. Die Werstpfähle glitten nur so an uns vorüber. Um 10 Uhr bemerkten wir am Horizont eine große Rauchsäule. Es war eine ungeheuere Wolke, an den Säumen, wo die Sonne sie beschien, weiß und im Innern schwarz wie eine Gewitterwolke. Sie wälzte sich dampfend nach Westen. Als wir näherkamen, sahen wir sie immer höher, dichter, ausgedehnter werden. Wir dachten, daß eine ungeheuere Feuersbrunst ein Dorf verheere, beobachteten die Richtung der Wolke und zogen die Karte zu Rate. Die Feuersbrunst befand sich auf unserem Wege. Vielleicht brannte Abatsk. Es lag gerade dort.
Mit ängstlicher Spannung beobachteten wir, ohne ein Wort zu sprechen, diese Wolke, die ins Riesenhafte wuchs, nach und nach den halben Himmel einnahm und von Zeit zu Zeit langsame Veränderungen zeigte, indem sie sich auf der einen Seite auflöste und auf der andern verdichtete. Dann gewahrten wir, daß es ein Steppenbrand war. Das ausgedörrte Gras und die Gebüsche lieferten dem Feuer unerschöpfliche Nahrung.
Abatsk fanden wir unversehrt. Vor jedem Hause standen aber mit Wasser gefüllte Gefäße und Gruppen von Menschen an den Brunnen. Das Dorf setzte sich in Verteidigungszustand. In geringer Entfernung waren Männer mit dem Auswerfen eines Grabens beschäftigt. Zahlreiche Telegas aus den benachbarten Ortschaften brachten Bauern, die mit Spaten, Hacken und andern Geräten bewaffnet waren.
Der Weg wurde wieder eintönig. Wir stießen auf Sandhügel, die uns an unsere Ankunft in Kiachta erinnerten, und nachmittags auf Birkengehölze. In der Nähe jener Gehölze lag Ischim, unser Haltepunkt, ein weißes, stilles Städtchen. Um 3 Uhr kamen wir an. Wir hatten 355 Kilometer zurückgelegt.
Ischim ist klein und liegt einsam in der Ebene, dem Anschein nach unbewohnt. Einmal im Jahre wird es zu einer großen Stadt. Viele seiner Häuser öffnen sich nur zu dieser Zeit. Es ist berühmt als Mittelpunkt einer großen, jährlich stattfindenden Messe, die, wie die Bewohner von Ischim behaupten, der von Nischnij-Nowgorod gleichkommt. Wir sahen die Stadt jedoch während ihrer langen Ruheperiode.
Ein reicher Kaufmann beherbergte uns in seinem Hause. Wir fanden die patriarchalische Gastlichkeit von Kiachta und Irkutsk wieder, eine gedeckte Tafel und ein offenes Haus für Freunde und die Behörden. Während wir den Speisen und Getränken alle Ehre widerfahren ließen, wurde uns mitgeteilt, daß die Bewohner von Ischim uns zu sehen wünschten. Das Volk hat es nicht gern, wenn man es warten läßt, nicht einmal das von Ischim. Wir gingen also hinaus.
Eine große Menge war in den Hof gedrungen und umlagerte das Automobil. Bei unserem Erscheinen brach ein Beifallssturm los. Als wir diesen mit der Würde, die die Gelegenheit erforderte, über uns hatten ergehen lassen, kehrten wir in das Haus zurück. Aber nein, das Volk war noch nicht zufriedengestellt, zum Donnerwetter nein! Es wollte uns im Automobil fahren sehen. Wir waren so unvermutet in die Stadt gelangt, daß uns niemand gesehen hatte. Es war also unsere Pflicht, diese unverzeihliche Vernachlässigung wieder gutzumachen. Wir bestiegen das Automobil, und in fünf Minuten waren wir durch sämtliche Straßen gefahren. Die Rückkehr in den Hof war großartig. Die Volksbegeisterung kannte keine Grenzen. Ich wurde von meinem Sitze gezogen, auf die Schultern der Menge gehoben und im Triumph umhergetragen. Das Volk von Ischim hatte mich für den Fürsten gehalten!
Ich rief, ich sei nicht der Fürst, und wurde endlich freigegeben. Der Fürst aber hatte sich schon in Sicherheit gebracht.
Der Ural.
Vom Automobil auf die Troika. — Tjumen. — Lebe wohl, Sibirien! — Die Begrüßung in Kamylschow. — Jekaterinburg. — Von Asien nach Europa. — Die Wälder des Ural. — Das erste Minarett. — Perm. — Ein krankes Rad und seine Heilung.
Die Steppe, immer wieder die Steppe!
Am 18. Juli früh 5 Uhr entschwanden die Türme von Ischim unseren Blicken; wir ließen die Birkengehölze hinter uns und kehrten in die grüne, gleichförmige Ebene zurück.
Allmählich kamen wir aus der vollkommenen Ebene heraus, aus diesem Landozean, in welchem wir fast 1000 Kilometer zurückgelegt hatten. Gegen Mittag gelangten wir nach Überwindung von Dünen, die für den Motor ziemlich anstrengend waren, in ein großes Dorf: Zowodonowskaja.
Am Eingange standen prächtige Troikas, deren herrliche Rappen ungeduldig die feingezeichneten Köpfe schüttelten und die silbernen Schellen erklingen ließen; über den Dugas schwankten Glocken hin und her; die Kutscher, mit großen Hüten und wallenden Bärten, trugen Armiaks nach zirkassischem Schnitt mit prächtigen Gürteln; ihre Kleidung war nach altrussischer Mode wattiert, so daß der Kutscher alten Stils außergewöhnlich stark, breiter als hoch erscheint. Der Diener einer vornehmen Familie muß wohlbeleibt sein, um den Reichtum der Herrschaft zu veranschaulichen. Diese Troikas warteten auf uns. Ein reicher sibirischer Minenbesitzer aus der Umgegend bot uns auf einem seiner in der Nähe liegenden Güter ein Frühstück an. Wir akzeptierten. Das Automobil wurde im Dorfe zurückgelassen, und wir nahmen nebst unserem Wirte und einigen seiner Freunde in den Troikas Platz. In Staubwolken gehüllt ging es in sausendem Galopp; wir hielten uns gegenseitig mit den Armen fest, um nicht von den schmalen Sitzen ohne Lehne herabgeschleudert zu werden.
Die echt russischen Wagen sind nicht übermäßig bequem; es gehört eine gewisse Geschicklichkeit dazu, sich auf ihnen zu halten; man meint, die Russen liebten es, den Sitzen die Reize des Sattels zu verleihen; wenigstens muß man mit den Kunstgriffen des Reitens vertraut sein, um sich ungestraft dieser Wagen bedienen zu können. Aber sie sind zum schnellen Fahren eingerichtet und machen infolge ihrer Einfachheit und Leichtigkeit das Fahren zu einem Genuß. Die Troika hat etwas Klassisches. So könnte die Bespannung eines römischen Triumphwagens gewesen sein! Die Pferde sind mit skulpturmäßiger Symmetrie verteilt: in der Mitte der große Traber, zu den Seiten die beiden galoppierenden Pferde. Und sie galoppieren mit vorgestreckten Köpfen, mit nach auswärts gerichteten und in dieser Stellung durch starke Zugleinen festgehaltenen Nüstern.
Wir fuhren in rasender Eile über Sandwege dahin, gelangten dann zwischen Gebüsche, und eine halbe Stunde später war die Steppe wunderbar verwandelt. Es erhoben sich dichte Kiefernwälder, auf die Obstgärten und dann ein schattiger Park an den Ufern eines stillen, klaren Baches folgten; zwischen den Bäumen sah man Schuppen, Lusthäuser, Marställe und eine Fabrikanlage, die ihre Kraft aus dem Flusse bezog.
Das Frühstück wurde im Freien serviert in der Kühle des Gartens mit der freigebigen und schlichten Gastlichkeit vergangener Zeiten. Wir glaubten uns in eine andere Zeit versetzt, in eine Ansiedlung, die von der Welt vergessen worden ist oder die diese vergessen hat. Die Toiletten der Damen waren vierzig Jahre alt; meine Nachbarin, eine ehrwürdige Dame mit grauen Locken, unterhielt sich fließend mit mir in einem Französisch, wie man es heute nicht mehr spricht; der Bruder unseres Wirtes, ein Hüne, trug das altsibirische Kostüm mit der gestickten Seidenbluse und dem silberbeschlagenen Gürtel. Die Dame des Hauses war der Typus einer Romanheldin, die es liebt, sich auf Kosakenart zu kleiden, sich mit Flinte und Jatagan zu waffnen, wie ein Mann zu Pferde zu sitzen und auf der Jagd durch den Wald zu sprengen. Ihre Söhne trugen sämtlich die Nationaltracht. Die Dienerschaft war äußerst zahlreich, Männer und Frauen, die uns neugierig mit respektvoller Vertraulichkeit betrachteten. Eine alte Frau begrüßte den Hausherrn, indem sie das Knie beugte und mit der Stirn die Erde berührte. Junge Mädchen trugen ohne Unterlaß Speisen und Getränke auf.
Das Gastmahl würde wohl lange ausgedehnt worden sein, wenn wir uns nicht nach drei Stunden daran erinnert hätten, daß wir noch am selben Abend in Tjumen, 340 Kilometer von Ischim, sein müßten, um zu übernachten. So mußten wir allen Bitten widerstehen. Mit der Annäherung an Europa gelangten wir in Gegenden, wo uns jene angenehmen Hindernisse winkten, die man Einladungen nennt. Der Fürst mußte mehr Willenskraft aufbieten, um inmitten all dieser Gastlichkeit vorwärts zu kommen, als er zwischen den Sümpfen und Felsen nötig gehabt hatte.
Bei Jalutorowsk setzten wir über den Tobol und einige Stunden später bei Bogandinsk über den Pyschma. Nicht nur in den Städten kannte man uns, auch im freien Felde wurden wir bisweilen erkannt. An einer Kreuzung fragten wir einen jungen Mann nach dem Wege. Als er ihn gezeigt hatte, rief er uns nach:
„Von Peking?“
„Jawohl!“
„Fürst Borghese?“
„Jawohl!“
„Hurra!“ Und dabei schwenkte er seine Mütze.
Um 8 Uhr trafen wir in Tjumen ein. Wir wurden empfangen, photographiert, interviewt. Einer meiner dortigen Kollegen nahm mich ganz besonders aufs Korn. Mit einem großen Notizbuch und mit einem Bleistift bewaffnet folgte er mir wie ein Schatten. Er war bei mir, während ich meine Depeschen schrieb, er war bei mir auf dem Telegraphenamte, während des Essens und als ich mich zu Bett legte. Während ich noch schlief, kam er wieder und klopfte an mein Fenster, das sich in geringer Höhe über der Erde befand. Er war ein kleiner, magerer, hartnäckiger und dickfelliger Mensch.
„Sagen Sie mir etwas!“ rief er.
„Ich habe nichts zu sagen; ich habe keine Lust dazu. Die Reise ist bisher gut verlaufen. Das ist alles!“
„Noch etwas!“
„Ich weiß nichts mehr.“
„Denken Sie doch nach!“
Ich schwieg, arbeitete, beschäftigte mich sonstwie und vergaß darüber seine Gegenwart. Plötzlich hörte ich ihn fragen:
„Haben Sie nachgedacht?“
Er war unerbittlich. Ich schickte ihn zu Ettore, aber vergebens. Er war fest überzeugt, daß ich die außerordentlichsten Dinge über die Fahrt Peking–Paris zu sagen wüßte.
Tjumen mit seinen breiten, gepflasterten Straßen, den Palästen, die nicht mehr aus Holz, sondern aus Mauerwerk bestehen, den erhöhten Trottoirs, den zahlreichen Firmenschildern, die auf einen gewissen Prozentsatz von Leuten, die lesen können, schließen lassen, sieht aus wie eine Stadt des europäischen Rußlands. In Sibirien gibt es über den Läden mehr bildliche Darstellungen als Inschriften, auch in den großen Städten; man sieht Hüte, Schuhe, Samowars, Kleidungsstücke, Wagenräder abgebildet; man ist noch mitten in der Zeit der Bilderschrift. Mit Tjumen beginnt augenscheinlich ein Landstrich, der mit dem Alphabet vertrauter ist.
In der Tat, wir befanden uns beinahe an der politischen Grenze Europas.
Am 19. Juli früh 4 Uhr brachen wir wieder auf. Unser Ziel war das 328 Kilometer entfernte Jekaterinburg.
In Tjumen endete die Steppe. Der Wald kehrte zurück und nahm langsam Besitz vom Gelände.
Wir befanden uns, beinahe ohne es zu bemerken, im Schatten riesenhafter Birken, die zu beiden Seiten der Straße standen. Zuerst bildeten sie zwei lange, prächtige Reihen; dann standen sie dichter und wurden zu einem herrlichen Walde, durch den die Straße einen Durchgang geöffnet hatte. Unter die Birken mischten sich Tannen; dann kam das zahllose Heer der Kiefern mit ihren schlanken, rötlichen Säulen ähnlichen Stämmen. Die Spuren des Verkehrs waren auf dem mit Gras bedeckten Wege verlöscht. Wir glaubten in die Taiga zurückzukehren. Auch hier hatte die Eisenbahn die alte Heerstraße zur Verödung verurteilt. Der grüne, frische Schatten duftete nach Harz, nach Thymian, nach Minze, nach Blumen. Der Rasen war mit roten, köstlichen Erdbeeren übersät.
50 Kilometer von Tjumen entfernt erblickten wir in der Tiefe des Waldes zwei hohe nebeneinanderstehende Pfähle, die zwei Tafeln trugen. Auf der einen stand: „Gouvernement Tobolsk“, auf der andern: „Gouvernement Perm“. Wir stießen einen lauten Ruf aus, der in der Stille des Waldes widerhallte:
„Adieu, Sibirien!“
Hier betraten wir das europäische Rußland.
Noch nicht Europa. Europa beginnt erst am Ural. Wir überschritten nur eine verwaltungsrechtliche Grenze; aber Sibirien, das eigentliche Sibirien, lag schon weit zurück; es hatte mit der Steppe geendet.
Eine Zeitlang kehrte die Erinnerung auf die zurückgelegte Wegstrecke zurück. Wir schwiegen und blickten zerstreut vor uns hin. Wir sahen im Geiste Transbaikalien wieder, wir sahen die grünen Steppen mit ihren Rinderherden und Burjaten wieder, die düstere Taiga, die breiten sibirischen Ströme, die in ihrem Schlamm den Goldstaub mit sich führen, die unendliche Reihe aus rohen Stämmen gezimmerter Dörfer, die malerischen Städte, die zahllosen weißen Kirchen mit den blauen und grünen Kuppeln und die Steppe, die ohne Ende schien! Wir liebten Sibirien seiner einstürzenden Brücken, seines klebrigen Morastes, seiner Sümpfe, seiner Sandflächen wegen. Und wir erinnerten uns freudig aller derer, denen wir da draußen begegnet waren, und fühlten, daß Sibirien uns mit Tausenden von Herzen auf unserer Fahrt begleitete. Lebe wohl, Sibirien!
Noch 30 Kilometer rollten wir im Walde dahin. Dann wurde das Dickicht lichter, es begannen Waldblößen, dann folgten Wiesen und Felder.
Die Dörfer wurden häufiger; sie waren groß, bevölkert und hatten schmuckere Häuser; die Muschiks trugen fast alle die rote Bluse, die Tolstoi so liebt. Aber wir fanden an den Muschiks nicht mehr die sibirische Gutherzigkeit. Man empfing uns mit feindseliger Verwunderung, als ob wir irgendein unbekannter Feind seien. Etliche Männer ergriffen die Flucht, andere beobachteten uns von der Seite, bereit zur Abwehr. Frauen gebrauchten ein seltsames Zeichen der Beschwörung, indem sie vor uns ausspuckten! Dies allein würde genügt haben, uns zu zeigen, daß wir zu Menschen anderer Rasse, mindestens anderer Gesinnung gekommen waren.
Das Gelände wurde immer mannigfaltiger. Wir konnten die rasche Fahrt nicht fortsetzen; die Straße war außerhalb des Waldes nach wie vor schlecht, von kleinen Gräben durchschnitten, voller Löcher, überbrückt von unsicheren Holzstegen. Als wir uns einer Stadt näherten, gewahrten wir im Schatten eines Kiefernwaldes Leute, die uns grüßten und uns, während wir vorbeifuhren, Glückwünsche zuriefen. Ein junger Mann auf einem Zweirad fuhr vor uns her und machte uns ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir erreichten und durchfuhren Kamyschlow; jenseits verabschiedete er sich von uns, nachdem er uns den richtigen Weg nach Jekaterinburg gezeigt hatte. Ohne ihn hätten wir vermutlich die Straße nach Irbit eingeschlagen.
Das Wetter war schlecht geworden. Fortwährend wechselte ein Regenschauer mit einer Stunde Sonnenschein. Das Automobil wirbelte in der ruhigen Luft dichte Staubwolken auf und ließ sie hinter sich, so daß sie kilometerweit auf der Straße liegenblieben. Wir sahen die Staubwolken vom Gipfel der Hügelkette aus unbeweglich über der Landschaft lagern wie den Rauch einer Feuersbrunst.
Gegen 3 Uhr kamen wir von neuem in wildromantische Gegenden. Es vergingen viele Stunden, ohne daß wir ein Dorf zu Gesicht bekamen. Dann schlossen sich über uns die jahrhundertealten, prächtigen, für den Ural charakteristischen Kiefernbestände. Die Straße schien in ein Tal voller majestätischer Stämme eingeschnitten. Aber der Wald hatte Blößen, auf denen sich herrschaftliche Villen erhoben. Von den Veranden herab grüßten uns elegante Damen. Das primitive Aussehen des Landstrichs täuschte; wir waren in der Nähe einer großen, reichen Stadt. Jekaterinburg kündigte sich an, die Hauptbergwerksstadt des Uralgebietes, der große Gold- und Kohlenmarkt.
Es war 7 Uhr, als wir auf dem Gipfel eines Hügels eine Menschenmenge sahen, die uns zuwinkte. Um uns erscholl ein langgedehntes Hurra. Auch Jekaterinburg hatte uns seinen Gruß gesandt. Begleitet von Zweirädern und Wagen, zogen wir in die elegante Stadt ein, während sich ein wahrer Wolkenbruch entlud. Aufs herzlichste empfangen, verbrachten wir hier die letzten Stunden in Asien, die in dem 6000 Kilometer entfernten Peking begonnen hatten!
Die geographische Grenze Europas überschritten wir am Morgen des 20. Juli, 5 Uhr 17 Minuten.
Nahe der Straße erhebt sich auf einer kleinen Waldblöße auf dem Sattel einer der höchsten Höhen des Ural ein Marmorobelisk. Auf seiner Ostseite ist das Wort „Asia“, auf der Westseite das Wort „Europa“ eingehauen!
Mit Ungeduld erwarteten wir diesen Paß. Oft hatten wir von dem Augenblick gesprochen, in welchem wir von einem Erdteil in den andern übergehen würden, von jenem flüchtigen, aber doch unvergeßlichen ernsten Augenblick, in welchem wir unsere Fahrt auf asiatischem Boden beendigt haben würden. Nun hatten wir die Durchquerung Asiens von seinen äußersten Grenzen am Stillen Ozean an vollendet. In vierzig Tagen hatten wir den ganzen unermeßlichen, uralten Kontinent durchfahren. Schritt für Schritt hatten wir eine der größten Verkehrsadern der Menschheit kennen gelernt, diejenige vielleicht, die seit undenklichen Zeiten das stärkste Hinundherfluten von Rassen und Zivilisationen gesehen hat. Sie hat die tatarische Flut gen Westen und die slawische Flut in den Osten getragen, eine Heerstraße der Eroberungen und der Ideen, der Religionen und Schätze, der Sagen und Handelswerte, der Heere und des Goldes. Wir haben um uns den geheimnisvollen Zauber Asiens weben gefühlt, vor allem dort in der Mongolei, in den weiten Ebenen des Schweigens, inmitten eines träumerischen, in den Gedanken unendlicher Wiedergeburten versenkten Volkes, welches das gegenwärtige Leben als eine wertlose Episode ansieht, gleich der Bewegung einer Welle im Ozean, die da lebt, um zu sterben. Wir dachten, ob nicht in der Luft, im Wasser jenes Zentrums von Asien ein geheimnisvolles Element herrsche, das Millionen von Menschen von der Welt losreißt.
Die größten Religionen sind in Asien geboren. Wie Funken sind sie jenem von Idealen glühenden Lande entsprungen, ihr Feuer weithin zu tragen.
Der Begriff der Seele, wohl der edelste, den der Mensch je besessen hat und der das Bewußtsein, die Tugend und die Herzensgüte geschaffen hat, ist in Asien entstanden. Unsere skeptische materialistische Lebensanschauung stößt bei ihrem Zurückfluten nach Asien zusammen mit der großen Nichtachtung aller irdischen Dinge. Nicht Feindseligkeit tritt ihr gegenüber, sie begegnet mehr: der Gleichgültigkeit. Auch die Gleichgültigkeit des Muschiks, dessen heitere Zufriedenheit, das einzige Hindernis für einen raschen Aufschwung der slawischen Rasse, sie ist nur ein asiatisches Erbteil. Beim Erwachen Sibiriens sind die Fremden die Träger des größeren Unternehmungsgeistes und der größeren Energie, sie sind es, die auf die beschauliche träumerische Seele des blonden Volkes einen fieberhaften Tätigkeitsdrang übertragen. Überall haben wir Asien verspürt: in der Verödung der Straßen, in der Gleichgültigkeit und Resignation des Volkes in allen Lebenslagen, selbst in der Gastfreundschaft, mit der wir dort aufgenommen wurden und die uns nicht wieder freigeben wollte, weil man weder den Wert der Zeit begriff, noch unsere Eile, ja nicht einmal den Zweck unserer so langen und so nutzlosen Fahrt!
Für uns hatte die Durchquerung Asiens nicht nur die Bedeutung einer Folge von Landschaftsbildern. Wir standen in inniger und dauernder Berührung mit jenem gewaltigen Erdteil und seinen Völkern. Indem wir von den Chinesen zu den Mongolen, von den Burjaten zu den Slawen, zu den Kirgisen kamen, indem wir vom Konfuzianismus und chinesischen Buddhismus übergingen zum Lamaismus, zum fetischistischen Christentum Transbaikaliens, zur Orthodoxie Westsibiriens und zum Islam, haben wir gleichzeitig Mischungen der Rasse und des Bewußtseins kennen gelernt, Verwandtschaften des Blutes und der Charaktere, Ähnlichkeiten der Sprachen und der Anschauungen. Und ohne die Vorgänge zu verstehen, haben wir langsame Bewegungen der Stämme beobachtet, ein unberechenbares Kommen und Gehen von Auswanderern, inmitten der anscheinenden Bewegungslosigkeit ein Abfluten von Völkern aus ihrer Heimat im Herzen von Asien und ihre Rückkehr dorthin in veränderter Gestalt. Wir haben einen Begriff von einer Bewegung bekommen, die jenseits der Grenzen der geschichtlichen Erinnerung liegt. Asien, das schweigende, das schlafende Asien, das alte Asien, das ein toter Begriff schien, hatte sich statt dessen erfüllt gezeigt von einem Betätigungstrieb, der zu mächtig war, um ganz verstanden zu werden. Diese große Völkermutter, der auch unsere eigene Rasse entstammt, hatte sich uns als noch jugendlich enthüllt, ihre neue Fruchtbarkeit im Schweigen verbergend. Deshalb gedachten wir mit einer Art Ehrfurcht des Augenblicks, in welchem wir die Grenze Asiens überschreiten würden!
Da dieser Übergang für uns eine Heimkehr war, so hatten wir beschlossen, zu halten und auf der poetischen Schwelle unseres Erdteils miteinander anzustoßen. Im Werkzeugkasten lag in lobenswerter Voraussicht, deren ich mich rühme, zu diesem Zwecke eine Flasche guten Champagners. Als wir aber ankamen, schwiegen wir, und in schweigendem Übereinkommen setzten wir unsere Fahrt fort, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, nicht frei von einer gewissen Rührung. Die geplante Feier erschien uns jetzt kleinlich; zu halten und an diesem Orte Champagner zu trinken war eine Entweihung. Nichts durfte die Feierlichkeit unserer Stimmung stören.
Das Automobil rollte rasch über die sanften Abhänge jener niedrigen, weichen Hügel hin, die sich den Namen eines Gebirges anmaßen. Der Ural erscheint nur den Steppenbewohnern hoch und großartig; er ist ein Gebirge, weil er sich zwischen dem sibirischen und dem russischen Tieflande erhebt. Wir, die wir an die großartigen Linien der Apenninen und Alpen gewöhnt waren, hatten den Ural erreicht, ohne ihn zu bemerken. Als wir am Tage zuvor in Jekaterinburg anlangten, glaubten wir, seine Gipfel seien von dem drohenden Unwetter verhüllt. Und als wir dann am frühen Morgen zwischen waldigen Bodenanschwellungen entlang fuhren, glaubten wir auf die ersten Ausläufer des Urals zu stoßen. Statt dessen passierten wir die höchsten Gipfel dieses Gebirgssystems.
Die sehr breite und ziemlich gute Straße lief auf lange Strecken in schnurgerader Richtung weiter, eine breite weiße, sich ins Unendliche fortsetzende Furche in den dichten Wäldern, in die kein Strahl der Sonne dringt. Die ungeheueren Kiefern schienen Träger der Nacht zu sein. An einer Stelle sprang ein Damhirsch hervor; er blieb einige Sekunden lang auf dem Wege stehen, erstaunt über das blitzschnelle Automobil; den schlanken braunen Körper zum Sprunge bereit, wandte er sich uns mit der feinen Nase und dem geschmeidigen Halse in furchtsamer Haltung zu, sprang zurück und verschwand zwischen den Gebüschen, die sich an dem Fuße der großen Stämme unentwirrbar hinziehen. Oft sahen wir Bäume vom Blitze getroffen oder vom Orkan niedergeworfen an der Erde liegen; mancher von diesen zu Boden geschmetterten Riesen versperrte die Seiten der Straße.
Durch diese an die Urzeit erinnernde Landschaft fuhren wir zwei Stunden lang. Wir hätten nie geglaubt, uns in einer der gewerbfleißigsten Gegenden des Russischen Reiches zu befinden, wenn wir nicht im Grunde jedes Tales über die dunkle Masse der Bäume hinweg rauchende Schornsteine von Fabriken, von Bergwerken, von Gießereien bemerkt hätten. Der Reichtum dieser Gegenden liegt nicht auf der Erde, er ist unter ihr verborgen. Wenn ein Bergwerk eröffnet wird, so wird eine Straße zur Weiterbeförderung der Erzeugnisse gebaut, das ist alles; das Land kann wüst liegenbleiben. Wir mußten unsere Fahrt oft verlangsamen, um lange Karawanen von Hunderten mit Eisen, Kohle oder Holz beladener Telegas vorüberzulassen, die nach Jekaterinburg fuhren, von wo eine kurze Eisenbahnlinie diese Erzeugnisse des Urals weiter nach Tscheljabinsk auf die große Verkehrsstrecke bringt. Jetzt ist eine direkte Linie von Jekaterinburg nach Kasan im Bau begriffen, und wir stießen an diesem Morgen mehrmals auf Eisenbahnarbeiten, die unsere Straße durchschnitten und uns nötigten, auf Erddämmen weiterzufahren und wacklige Stege und provisorische Brücken zu überschreiten. Die Wagenführer im Ural riefen uns Schimpfworte zu. Wir fühlten uns dadurch aber nicht beleidigt: wir erblickten darin nur einen Beweis, daß wir nach Europa gekommen waren! Die Landschaft konnte beinahe noch für asiatisch gelten; etwas aber hatte sich verändert: die Geduld und die heitere Freundlichkeit der Bewohner waren auf der andern Seite des Urals zurückgeblieben.
Gegen 10 Uhr befanden wir uns von neuem auf der Ebene. Es regnete. Wir hatten Jekaterinburg mit der Aussicht auf gutes Wetter verlassen; jetzt drohte eine Sintflut. Die Straße wurde wieder schlecht, morastig, unwegsam. Schmutz bespritzte uns unablässig, so daß wir darauf verzichten mußten, ein Stück Schokolade zu unserer Stärkung zu essen; wir hätten dieses bescheidene Frühstück nicht hervorziehen können, ohne daß es mit Straßenkot bedeckt worden wäre. Wir mußten heute Perm, den Sitz des Gouverneurs, erreichen, das 394 Kilometer von Jekaterinburg entfernt liegt. Um 4 Uhr nachmittags hatten wir aber erst 293 Kilometer zurückgelegt!
Später hörte es auf zu regnen. Unüberwindliche Schläfrigkeit lastete bleischwer auf unseren Augenlidern, als ein ganz eigenartiger Anblick uns wieder munter machte. Große und kleine vergoldete, versilberte, emaillierte Kuppeln, Türme von jeder Form erhoben sich über der kleinen Stadt Kungur. Sie bietet bei all dem Funkeln edler Metalle das Aussehen einer Märchenstadt. Es muß ein großes heiliges Glaubenszentrum sein, weil es mehr Kirchen als Häuser zu besitzen scheint. Auf den Straßen sind Heiligenbilder, Tabernakel, Votivkapellen in überreicher Fülle vertreten. Die Muschiks entblößen beim Vorübergehen das Haupt und beugen das Knie.
Nach einigen Stunden erlebten wir eine andere Überraschung, das erste tatarische Minarett in dem 30 Kilometer von Perm entfernten Kojonowa. Aber es war eine Übergangsform, beinahe in der Gestalt eines Turmes mit einem Halbmond anstatt des Kreuzes, kurz, eine Art russifizierter Moschee. Tatarische Männer liefen fröhlich herbei, und hinter den Scheiben der kleinen Fenster erblickten wir die braunen Gesichter ihrer Frauen, die wie Zigeunerinnen mit Münzen geschmückt waren.
Nicht weit von Perm zieht sich die Straße zwischen Tannenwäldern dahin. Als wir den Motor anstrengten, um über die Sandmassen, in denen die Räder versanken, hinwegzukommen, machten wir eine furchtbare Entdeckung. Das linke Laufrad drohte zu brechen.
Ich habe schon erwähnt, daß die Kette, die wir um die Pneumatik jenes Rades gelegt hatten, um das Gleiten in dem Morast der Straße zwischen Kansk und Krasnojarsk zu verhüten, die Stellen beschädigt hatte, an denen die Speichen in dem Radkranze befestigt sind. Es war augenscheinlich, daß beim Ersteigen der Anhöhen der von der Kette umwundene Radkranz einen zu starken Druck ausgeübt und die Verbindungen um Haaresbreite gelockert hatte. Die Löcher, in die die Enden der Speichen eingelassen sind, hatten sich um Bruchteile eines Millimeters verbreitert. Wir konnten kaum einen leichten Riß um jede Speiche entdecken, der aber verschwand, wenn das Holz infolge des Regens aufquoll. Bei Sonnenschein aber begann das Rad zu knarren, weshalb Ettore, sobald er Wasser in den Kühlapparat goß, einen Eimer voll auch über das beschädigte Rad schüttete. Das Mittel war wirksam.
Hier, in der Nähe von Perm, begann das Rad aber zu knarren, wie es noch nie geknarrt hatte! Wir stiegen ab, um nachzusehen. Die Risse hatten sich erweitert; die Speichen wackelten in den immer breiter werdenden Löchern. Ettore wußte sich wieder zu helfen: er nahm Bindfaden, wickelte ihn um die Speichen, zwängte diese wieder in ihre Öffnungen und sicherte so dem Rade eine gewisse Festigkeit. Das Knarren wurde leiser.
Gegen 8 Uhr abends gelangten wir nach Perm. Es war noch ganz hell, die Straßen waren belebt, die Trambahn überfüllt. Jede Stadt bot uns neue Überraschungen, ein Anzeichen, daß wir uns dem Ziele näherten. In Perm war es die Straßenbahn, die wir mit derselben Aufmerksamkeit betrachteten wie die Menge uns.
Im Gasthofe war unsere erste Sorge das Rad. Es wurde abgenommen und genau untersucht. Wir ratschlagten. Der Fall war sehr ernst. Es war zweifellos, daß die meisten Speichen sich vom Radkranze zu lösen drohten. Der Fürst schlug vor, die Speichen wieder mit trockenem Bindfaden zu umwickeln und in die sich erweiternden Löcher hineinzupressen, außerdem das Rad die ganze Nacht hindurch ins Wasser zu stellen. Ettore billigte den Plan und machte sich an die Arbeit. Zwei Stunden später waren die Speichen umwickelt und eingepreßt. Jetzt fehlte nichts, als das Rad ins Wasser zu stellen. Dies schien das geringste, es war aber das schwierigste. In ganz Perm fand sich kein Behälter vor, groß genug, um das Rad aufzunehmen! Die Nachforschungen dauerten lange; sie begannen in dem Gasthof und wurden auf das ganze Stadtviertel ausgedehnt. Die Leute, die sich um das Automobil versammelt und der Arbeit zugesehen hatten, nahmen tätigen Anteil an unseren Nachforschungen und suchten sich an die größten Behälter zu erinnern, die sie gesehen hatten.
Ein dicker Beamter in Uniform hatte schließlich eine praktische, originelle Idee. Er näherte sich dem Fürsten und fragte ihn:
„Verzeihen Sie, Sie wollen das Rad ins Wasser stellen?“
„Ja.“
„Warum schicken Sie es denn nicht in eine Badeanstalt?“
Es hätte wie ein Scherz geklungen, wenn der dicke Beamte nicht vollständig ernst geblieben wäre, als der Fürst, der nicht wußte, in welchem Sinne er den Vorschlag auffassen sollte, ihn forschend anblickte.
„Sie meinen ...?“
„Ich meine, daß man das Rad in eine Badeanstalt schicken, eine Zelle mieten, das Rad in das Bassin stellen und morgen wieder herausholen sollte. Es wird dann so fest sein, daß nichts ihm mehr etwas anhaben kann. Lassen Sie das Rad auf eine Droschke laden, und ich gebe dem Kutscher die Adresse.“
So vollzog sich die gewiß nicht allzu gewöhnliche Tatsache, daß ein krankes Rad in eine Badeanstalt gebracht wurde, um sich dort einer hydrotherapeutischen Kur zu unterziehen.
Am nächsten Morgen um 4 Uhr hatte das Rad seinen anstrengenden Posten wieder eingenommen.
„Wie steht es?“ fragte ich Ettore, indem ich mit dem Finger auf das Rad wies.
„Ausgezeichnet“, erwiderte er zufrieden. „Es ist wieder fester geworden.“
Trügerischer Schein! Schwere Krankheiten täuschen bisweilen eine plötzliche Besserung vor. Unser armes Rad lag im Sterben. Wenige Stunden später waren wir die trauernden Hinterbliebenen!
Von der Kama zur Wolga.
Automobil, Milch und Eier. — Ein Unwetter. — Das Rad bricht. — Es wird wiederhergestellt. — Ein Dorf in Schrecken. — Schaden an den Bremsen. — Kasan.
Die Bürger von Perm werden am Morgen des 21. Juli zu ihrer Überraschung ein bedeutendes Ansteigen der Milch- und Eierpreise konstatiert haben. Wir haben das niederdrückende Bewußtsein, die unschuldige Ursache dieser tiefeingreifenden wirtschaftlichen Störung gewesen zu sein. Das Automobil bringt eben in Ländern, die sich an diesen Sport noch nicht gewöhnt haben, unerwartete Wirkungen hervor; es hat geradezu unberechenbare Folgen. Die Sache trug sich folgendermaßen zu.
Wir hatten kaum die Stadt verlassen, und zwar bei drohendem, regnerischem Wetter, als wir auf eine lange Reihe von Telegas stießen. Sie brachten landwirtschaftliche Erzeugnisse nach Perm auf den Markt. Die Bauern, Männer und Frauen, lenkten ihre Pferde mit gewohnter Sorglosigkeit; sie saßen auf dem Rande der Telegas und ließen die Beine in der Luft baumeln. Der Muschik hat zwei Arten, den Wagen zu lenken: die eine, wenn er zu Markte fährt, die andere, wenn er vom Markt zurückkommt. Bei der Rückkehr ist es der Kopf, der hin und her baumelt, und die Beine befinden sich im Innern der Telega; denn der Muschik unterläßt es nie, einen guten Teil des eingenommenen Geldes gewissenhaft in Wodka anzulegen und mit derselben Gewissenhaftigkeit den Wodka bis zum letzten Tropfen auszutrinken. An jenem Morgen handelte es sich jedoch, wie erwähnt, um Bauern, die zu Markte fuhren, und die Telegas wurden daher auf die erwähnte Art Numero eins gelenkt.
Als wir uns näherten, gab das Pferd des ersten Wagens Zeichen des Schreckens und dann der Wut von sich. Die Pferde des Gouvernements Perm sind aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde die grimmigsten Feinde des Automobils. Wir konnten zwischen den Pferden des einen Gouvernements und denen des andern einen großen Unterschied im Verhalten uns gegenüber bemerken: die von Transbaikalien waren feindselig, die von Irkutsk mißtrauisch, die von Tomsk gleichgültig, die von Omsk veränderlich, die von Perm unversöhnlich! Für den, der die unerforschlichen Beziehungen zwischen dem Charakter der Pferde und den Religionen der Menschen ergründen will, füge ich noch hinzu, daß die Pferde der Buddhisten und Mohammedaner gegen uns beinahe freundschaftliche Empfindungen an den Tag legten; selbst in der Umgegend von Perm beobachteten uns die Pferde der Tataren mit großer Nachsicht, gleich toleranten Wesen, die nicht die ausschließliche Herrschaft über die Straße in Anspruch nehmen und deren Wahlspruch ist: „Fahren und fahren lassen!“ Das Pferd des ersten Wagens wurde also wild.
Das Automobil fuhr langsam: nutzlose Vorsichtsmaßregel. Das Pferd machte einen Seitensprung, der Wagen stürzte um. Er war mit Milch und Eiern beladen. Auf der Erde bildeten sich gelbe und weiße Bächlein. Wir wollten den unabsichtlich angerichteten Schaden ersetzen, als sich mit der Geschwindigkeit eines Blitzes die Panik von Pferd zu Pferd fortpflanzte. Die zweite Telega stürzte, dann die dritte. Nichts ist so ansteckend wie böses Beispiel. Im Nu lagen alle Telegas am Boden und streckten die Räder in die Luft. Die Milch floß von allen Seiten in Strömen, und die Bauern, angestachelt von ihren Frauen, stürzten auf uns los. Was war zu tun? Was tut man, wenn man auf einem Automobil von 50 Pferdekräften sitzt, bedroht von einer Menge mit Stöcken bewaffneter Muschiks? Etwas sehr Einfaches. Mit Bedauern, aber mit Entschlossenheit wurde der Geschwindigkeitshebel heruntergedrückt, die Maschine sauste los und war bald aus dem Bereiche der Stöcke. Wir hatten jedoch noch nicht einen Kilometer zurückgelegt, als wir vor uns einen zweiten Zug Telegas erblickten.
Diesmal beschlossen wir, zu halten und die Wagen vorbeizulassen. Aber das stillstehende Automobil erscheint den Pferden nicht minder furchtbar als das sich bewegende. Als sie näherkamen, spitzten sie die Ohren, schüttelten den Kopf und wieherten, und ehe man es sich versah, richtete sich das erste Pferd auf die Hinterhand empor und machte eine jähe Wendung, wobei es leider vergaß, daß es angespannt war; die Telega geriet ins Wanken und stürzte um; die zweite tat dasselbe, gleich darauf die dritte; die übrigen folgten! Milch und Eier am Boden, die Stöcke hochgeschwungen in der Luft — und das Automobil sauste abermals in eiliger Fahrt davon.
Von nun an änderten wir unsere Taktik mit Erfolg. Wenn wir den Telegas begegneten, fuhren wir mit voller Geschwindigkeit, und es kam keine Vergeudung von Milch mehr vor. Die Pferde hatten kaum Zeit, die Vorüberfahrt des Ungeheuers zu bemerken, als es auch schon verschwunden war, und setzten ihren Weg beruhigt fort. Alles beschränkte sich auf eine leichte Bewegung des Kopfes; es war nur ein Augenblick. Wir wandten im Grunde genommen dieselbe Taktik an wie bei den Brücken von zweifelhafter Widerstandsfähigkeit; die Pferde hatten keine Zeit durchzugehen, und die Brücken hatten keine Zeit einzustürzen. Der kritische Moment war auf einen Augenblick beschränkt. Und die Bauern begrüßten uns mit Begeisterung, lachend und überrascht beim Anblick dieser schwindelerregenden Fahrt.
Einige Stunden später gelangten wir in große Tannenwälder, während ein überaus heftiges Unwetter losbrach. Ein Sturmwind fuhr durch die Bäume und beugte sie alle unter Heulen und Zischen. Mattes Dämmerlicht herrschte, als sei die Nacht zurückgekehrt, nur unterbrochen von dem blauen Schein blendender Blitze. Der Donner rollte beständig. Ein wolkenbruchartiger Regen rauschte von allen Seiten herab wie ein großer Wasserfall und überschwemmte die Straße, füllte die Sitzplätze des Wagens, drang uns durch die wasserdichten Mäntel und peitschte unsere Gesichter mit einer Heftigkeit, die einen wirklichen Schmerz hervorrief, als ob das Wasser ein fester Körper wäre; so groß waren die Tropfen und so heftig der Sturm. Wir mußten langsam fahren, wir sahen das Gelände nicht mehr, das von den Regenschauern verhüllt war. Das Automobil überließ sich natürlich allerhand ungezogenen Protesten gegen den Morast: es rutschte aus, neigte sich zur Seite, fuhr quer über die Straße, hatte eine unüberwindliche Neigung, sich mit dem Vorderteil nach hinten umzuwenden und zeigte überhaupt Ungehorsam und Launenhaftigkeit. Das Unwetter dauerte vier volle Stunden! Um ½10 Uhr hatten wir in beinahe sechsstündiger Fahrt kaum 50 Kilometer zurückgelegt.
Tief herabhängende Wolken trieben vorbei und verfingen sich in den Bäumen, als wir das Ufer der Kama erreichten und auf einem von einem kleinen Dampfer geschleppten Fährboote über den breiten Strom übersetzten, der nächst der Wolga die wichtigste Verkehrsader des östlichen Rußlands bildet.
Morast begleitete uns auch am andern Ufer. Zuweilen mußten wir absteigen, um die Maschine zu schieben, wenn die Laufräder es sich in den Kopf gesetzt hatten, sich im Kreise herumzudrehen, ohne vorwärtszukommen. Wir hofften noch Malmysch an der Wjatka, einem Nebenflusse der Kama, zu erreichen und dort zu übernachten, von wo wir noch etwa 160 Kilometer bis Kasan hatten. Wir hatten uns vorgenommen, an diesem Tage 360 Kilometer zurückzulegen, um am nächsten Tage vormittags in Kasan zu sein ... Es sollte ganz anders kommen! Auf Reisen soll man nichts im voraus bestimmen wollen. Vorausbestimmungen sehen aus, als wolle man dem Schicksal Vorschriften machen. Das Schicksal wollte sich aber an uns rächen und uns demütigen.
Gegen 11 Uhr hatten wir uns etwa 30 Kilometer von der Kama entfernt. Die Straße wurde besser und das Wetter hatte sich aufgeklart, als das beschädigte Rad zu knirschen begann. Nach zehn Minuten knarrte es. Wir fuhren weiter — was sollten wir auch sonst tun? —, das Knarren ging in Zischen über. Noch wenige Meter und dann — ein Krach! Wir hielten. Der Fürst sprang ab, um das Rad zu besichtigen, und stieß einen Ausruf schmerzlicher Überraschung aus.
„Was gibt es?“ fragte ich.
„Es ist aus!“ erwiderte er, „wir können keinen Schritt weiterfahren.“
In der Tat hatten sich die Speichen des Rades völlig von dem Kranze gelöst; wenn sich das Rad drehte, so traten sie abwechselnd in die Löcher und wieder aus ihnen heraus; von dem Gewicht des Wagens hineingedrückt, traten sie an dem unteren Teile des Rades hinein und traten heraus, wenn sie beim Umschwung des Rades nach oben zu stehen kamen.
Wir konnten von keinem schwereren Unfall betroffen werden! Wir mußten auf unabsehbare Zeit festliegen, in einer unbewohnten Gegend, Hunderte von Kilometern von der Eisenbahn entfernt. Es war ein Augenblick der Bestürzung. Wir schwiegen und betrachteten das unbrauchbare Rad mit zornigen Blicken nutzlosen Grolles.
„Was nun?“ fragten wir uns nach einigen Minuten.
„So viel Mühe, so viele Schwierigkeiten überwunden!“ seufzte Ettore. „Um hier zu enden!“
„Ohne das Rad können wir das Automobil nicht einmal von Pferden weiterziehen lassen“, bemerkte ich.
Der Fürst dachte nach. Dann fragte er als praktischer Mann:
„Gehen wir logisch vor. Was ist das Dringendste? An den nächsten bewohnten Ort zu kommen. Wir können nicht mitten auf der Straße stehenbleiben. Wenn dieser erste Schritt getan ist, wollen wir an den zweiten denken. Sehen wir uns einmal die Karte an!“
Wir betrachteten sie. Das nächste Dorf war etwa acht Kilometer entfernt.
„Gut!“ nahm der Fürst wieder das Wort. „Nun müssen wir ein Mittel ausfindig machen, noch acht Kilometer zurückzulegen. Für diese Strecke läßt sich das Rad ausbessern.“
Er zeigte immer Ruhe und Energie, eine reiche Quelle von Auskunftsmitteln. Es wurde eine sinnreiche provisorische Reparatur vorgenommen, die imstande war, eine kurze Fahrt auszuhalten, vorausgesetzt, daß diese mit der nötigen Vorsicht ausgeführt wurde. Es handelte sich darum, Stücke Holz zwischen der Nabe des Rades und dem Kranze als eine Art Hilfsspeichen einzufügen, die neben den Speichen angebracht und mit Stricken festgebunden wurden. Ettore machte sich sofort an die Arbeit. Mit der Axt schlug er starke Äste von einem Baum ab, hieb passende Stücke davon ab und trieb sie mit Hammerschlägen zwischen die Speichen des Rades ein, nachdem er dieses mittels einer Winde emporgehoben hatte. Dann band er sie an die eigentlichen Speichen fest. Das Rad bot den Anblick eines seltsamen, von einer Pneumatik umgebenen Holzbündels. Während Ettore noch daran arbeitete, kam ein alter Muschik des Weges, der ein Kalb vor sich her trieb.
Er blieb stehen, um sich das Ding anzusehen, ebenso das Kalb. Nachdem er das Rad aufmerksam betrachtet hatte, rief er aus:
„Guten Tag!“
„Guten Tag!“
„Sie wollen das Rad reparieren?“
„Jawohl.“
„Es gibt einen Mann, der es Ihnen machen kann, ganz in der Nähe.“
„Ein solches Rad?“ fragte ihn Don Scipione ungläubigen Tones.
„Ein solches, Väterchen!“ erwiderte der Alte. „Er ist der geschickteste Fabrikant von Schlitten und Telegas in der ganzen Gegend. Sie finden nicht einmal in Perm einen so tüchtigen.“
„Dies ist eine sehr komplizierte Telega. Eine Telega, die von selbst fährt.“
„Ich sehe es, daß sie nicht so ist wie die unsrigen, aber Nikolai Petrowitsch ist imstande, ein Rad auszubessern, es mag so oder so sein.“
„Wo wohnt dieser Mann?“
„Sechs Werst von hier. Gehen Sie nur diese Straße entlang, dann werden Sie auf eine kleine weiße Kirche stoßen; links von der Kirche ist ein Abhang, dann kommt eine kleine Brücke; gehen Sie über die Brücke, und Sie sind an Ort und Stelle. Sie können gar nicht fehlgehen; seine Isba steht allein im Felde.“
„Und er arbeitet heute? Es ist Sonntag.“
„Er arbeitet vormittags. Wenn Sie aber Eile haben ...“
Wir dankten dem guten Alten, der seinen Weg wieder aufnahm, hinter dem vorantrabenden Kalbe her, und wir setzten uns langsam und vorsichtig in Bewegung, um nach dem Hause Nikolai Petrowitschs zu gelangen. Nach wenigen Schritten begann das Rad von neuem zu knirschen, zu knarren, zu ächzen; wir erwarteten das Geräusch eines vollständigen Bruches zu vernehmen und zu sehen, daß sich das Automobil auf die Seite neigte. Aber laut stöhnend widerstand das Rad. Mehr als eine Stunde brauchten wir, um zu der Isba des Stellmachers zu gelangen.
Es war ein gut aussehendes Haus, aus schönen, rechtwinklig zugehauenen Balken gezimmert, und stieß an eine Umzäunung an, über welche Schuppen und Dächer hervorragten. Auf freiem Felde waren zahlreiche Schlittenkufen aufgeschichtet, die an dem einen Ende von Stricken aus Weidengeflecht in gekrümmter Lage festgehalten wurden.
Wir riefen.
Sofort öffnete sich die Tür des Zaunes und heraus trat ein Mann.
„Nikolai Petrowitsch?“ fragten wir.
„Das bin ich. Guten Tag!“
Es war ein schöner Mann, über 50 Jahre alt, mit langem grauem Barte. Sein Gesicht hatte den mystischen Ausdruck des russischen Bauern; die langen, auf der Stirn gescheitelten Haare fielen ihm bis auf die Schultern herab. Er war von hünenhaftem Wuchs und trug die rote an der Brust offene Bluse der Muschiks, der Kopf war unbedeckt. Seine Gehilfen folgten, auch sie von patriarchenhaftem Aussehen; aus den aufgestreiften Ärmeln ragten athletische Arme hervor, die imstande schienen, Bäume auszureißen.
„Sehen Sie sich dieses Rad an!“ sagte der Fürst zu dem Telegabauer.
Er betrachtete es einige Augenblicke.
„Die Speichen können neu gemacht werden, der Radkranz ist sehr gut. Nur die Löcher müssen tiefer gebohrt werden ...“
„Sie können die Speichen neu machen?“
„Ja.“
„Und so, daß sie halten?“
„Ich mache Ihnen das Rad stärker, als es neu war.“
„Ich brauche es aber sofort.“
„In einem halben Tage ist es fertig.“
„Gut.“
Das Automobil wurde in einen ländlich aussehenden Hof geleitet, der voller Hobelspäne und Holzsplitter lag und auf dem sich Balken, Schlitten, Wagen und eiserne Reifen befanden. In einem Winkel stand ein frisch angestrichener Tarantaß auf zwei Böcken. Das Rad wurde auseinandergenommen; die von der Nabe und dem Kranze getrennten Speichen dienten den neuen als Modell. Wenige Minuten später hallte der Hof von Axthieben wider. Kein anderes Werkzeug wurde verwandt außer der Axt, die mit wunderbarer Geschicklichkeit gehandhabt wurde. In der Hand des russischen Bauern ist sie ein Präzisionsinstrument. Um den Punkt zu bestimmen, auf den gehauen werden soll, machen diese Leute keine Zeichen, noch ziehen sie Linien, sie legen ihre linke Hand aufs Holz, und der Hieb fällt, den Daumen beinahe streifend. Die Lage des Fingers hat dem Auge und der Hand das richtige Maß angegeben. Die neuen Speichen entwickelten sich allmählich aus dicken Klötzen alten Kiefernholzes; durch schwere Hiebe, die die Späne ringsumher fliegen ließen, wurden sie schwächer gemacht. Die Künstler maßen, indem sie die alten Stücke auf die neuen legten, und brauchten kein anderes Hilfsmittel dazu; millimeterbreite Fugen schlugen sie sauber und genau mit sicherem Auge, und zwar mit Axtschlägen, die mit geschwungenem Arme niedersausten, als hätte es sich anstatt um eine so feine Arbeit um den Bau eines Gerüstes oder einer Fähre gehandelt.
Während wir diese malerische Gruppe rauher, bärtiger Männer, die sich einer so mühsamen Arbeit unterzogen, beobachteten, wandte sich einer von ihnen zu uns und redete uns feierlich auf lateinisch an.
Unsere Überraschung war so groß, daß wir ihn einige Augenblicke fassungslos betrachteten, ohne zu antworten.
„Wo hast du das gelernt?“ fragte ihn Fürst Borghese.
„Ich habe es für mich studiert, zu Hause während des Winters“, erwiderte der Mann ernst.
Dies erinnerte mich an einen andern Lateinkundigen, den ich unterwegs antraf, einen chinesischen Wagenführer in der Nähe von Hsin-wa-fu. Es war ein christlicher Chinese im Dienste der Katholischen Mission der Provinz Schansi, der von Peking zurückkehrte und seinen Brüdern Lebensmittel mitbrachte. Aber diese Tatsache ist nichts Außergewöhnliches in China, wo Latein die Umgangssprache der Missionen ist und viele Bekehrte es so weit bringen, daß sie sich seiner mit bewundernswerter Gewandtheit bedienen. Wie es ein Pidgin-Englisch gibt, so gibt es in China auch ein Pidgin-Latein zum Ruhme des christlichen Glaubens.
Das Latein unseres Muschiks war etwas russifiziert, aber er bediente sich seiner hinreichend gut, um uns mitzuteilen, daß, wenn wir ermüdet seien, wir in das anstoßende Haus gehen möchten, wo wir ausruhen und Milch trinken könnten. Wir fanden hier nicht nur Milch, sondern auch herrliche Walderdbeeren, die die Frau des Meisters uns diensteifrig vorsetzte.
Um 4 Uhr waren die Speichen fertig. Nun begann der schwierigste Teil der Aufgabe: die Zusammensetzung. Sie kostete drei weitere Stunden angestrengter Arbeit. Mit langen glühenden Stäben wurden die Speichen durchbohrt; Rauchwolken stiegen zischend von den verbrannten Holzstellen auf. Schließlich wurden die Schrauben angebracht und die Platten befestigt: das Rad war fertig.
Die neuen Speichen entsprachen sicherlich nicht allen Regeln der Kunst; sie waren massig, dick und plump, verliehen aber dem Rade eine Festigkeit, daß es allen Stößen, allen Kraftanstrengungen zu widerstehen versprach.
Wir fuhren vom Hofe auf die Straße. Die Arbeiter folgten uns, während sie sich von uns verabschiedeten. Sie lachten vergnügt und trockneten sich die schweißtriefenden Stirnen. In dem Augenblicke, als wir davonjagen wollten, streckten sich uns schwielige Hände entgegen, die wir in freudiger Erregung voller Dankbarkeit drückten.
„Do svidania!“ riefen sie uns zu, während wir davonfuhren.
„Salve!“ rief der Lateiner.
Ihre Zurufe begleiteten uns lange Zeit. Noch aus weiter Ferne konnten wir unsere Retter sehen, wie sie die Mützen schwenkten, bis die Bäume uns ihren Blicken entzogen.
Wir wollten unseren Weg fortsetzen, solange es das Tageslicht gestattete. Die Straßen waren trocken geworden; wir fuhren 30 Kilometer in der Stunde. Eine Stunde nach unserer Abfahrt ging die Sonne unter. Wir sagten uns: „Im nächsten Dorfe machen wir halt.“ Aber der Wunsch, die verlorene Zeit einzuholen, war zu lebendig in uns, und im „nächsten Dorfe“ fuhren wir ohne Aufenthalt weiter zum „nächsten Dorfe“. In manchen Ortschaften bereiteten uns die sonntäglich gekleideten Bewohner einen fröhlichen Empfang, in andern betrachteten sie uns mit mißtrauischer und feindseliger Verwunderung. Der Grund für dieses verschiedene Verhalten lag am Telegraphen. Die Orte, die ein Telegraphenamt hatten, waren uns freundschaftlich gesinnt; sie wußten von uns, in manchen Ortschaften erwartete man uns sogar. Von Amt zu Amt teilten sich die Telegraphisten die Nachricht unserer Durchfahrt mit, die sich durch den ganzen Ort verbreitete, indem sie von Mund zu Mund lief. Überall konnten wir die Telegraphenbeamten am Fenster stehen sehen; sie waren die ersten, uns zu begrüßen.
Um 9 Uhr begann die Dämmerung der Nacht zu weichen. Wir beschlossen, im nächsten Dorfe über Nacht zu bleiben. Zwei junge Leute, die nebeneinander auf dem Fußsteige gingen, holten wir ein und hielten das Automobil an, um zu fragen, wo das „Semstwoskaja Dom“ sei. Aber wir hatten noch nicht den Mund geöffnet, als jene, nachdem sie uns einen Moment mit entsetzten Augen angestarrt hatten, das Zeichen des Kreuzes machten, die Beine in die Hand nahmen und die Flucht ergriffen, ohne ein Wort, ohne einen Schrei, auf den Zehenspitzen; sie liefen, als fürchteten sie, uns durch das Geräusch ihrer Schritte hinter sich herzuziehen. Augenscheinlich handelte es sich um ein Dorf ohne Telegraphenamt! Die Lage wurde ungemütlich; wir mußten unbedingt rasten, schon weil unsere Vorräte zu Ende gegangen waren und wir seit Perm außer den Erdbeeren der Frau des wackeren Wagenbauers nichts gegessen hatten.
Endlich bemerkten wir auf der Schwelle eines Hauses mehrere Frauen. Wir hielten. Der Fürst wollte absteigen und mit ihnen unterhandeln.
„Um Gotteswillen!“ flüsterte ich ihm zu. „Mit Ihrem Pelze jagen Sie sie sofort in die Flucht!“
Wir hatten bereits bemerkt, daß unsere Pelze und wasserdichten Mäntel auf die Bauern eine abstoßende Wirkung ausübten. Wir sprachen also vom Automobil aus, indem wir unserer Stimme einen sanfteren Klang gaben, um weniger teuflisch zu erscheinen.
Der Fürst hatte die zärtlichsten Töne gefunden, als er sagte:
„Guten Abend! Hätten Sie wohl die Freundlichkeit, uns zu sagen, wo das Sem—“
Es war zwecklos, den Satz zu beenden. Die Frauen waren mit einem Schreckensschrei im Nu ins Haus geflüchtet und verschlossen sofort die Tür.
„O weh!“ murmelten wir. „Das Beste, was uns diese Nacht begegnen kann, ist, mit leerem Magen im Freien zu kampieren!“
Wir fuhren weiter bis zu einem Hause, das blau angestrichen war und weißumrahmte Fenster hatte.
„Hier müssen wohlhabende Leute wohnen,“ sagten wir uns; „hoffentlich bereiten sie uns einen besseren Empfang.“
Wir klopften an die Tür. Alles still. Wir klopften noch einmal. Niemand antwortete.
„Das Haus steht leer!“ riefen wir.
Nein, es stand nicht leer. Wir hörten Geflüster von Stimmen im Innern, ein Geräusch von eiligen Schritten über die hölzernen Dielen, das Zuschlagen der Ausgangstür, die fest verschlossen wurde, das Klirren eines Riegels.
Wie sollten wir die Furcht besiegen, die wir überall einflößten? Wir bemerkten, daß die Bewohner wach waren und, auf die Straße hinausgetreten, den geheimnisvollen Wagen ängstlich beobachteten. Es war nicht angenehm, in dieser Lage zu bleiben, weil die Möglichkeit nicht unbedingt ausgeschlossen war, daß jemand es für ein verdienstliches Werk hielt, einen Flintenschuß auf den bösen Feind abzufeuern. Der Fürst bemerkte:
„Es wäre gut, wenn einer allein näher an die Leute heranginge; ich würde ihnen die amtlichen Briefe zeigen, und wir würden ehrenvoll aufgenommen werden.“
Dann, von einer Idee erfaßt, begann er jene allzu furchtsamen Leute anzureden, die sich, zu sofortigem Rückzuge bereit, 50 Schritt von uns entfernt hielten.
„Das hier,“ sagte er, „ist eine Maschine wie die Schiffe auf der Kama und die Eisenbahn. Kommt nur her und seht sie euch an! Kommt nur! Es ist keine Gefahr! Sie wird mit Benzin betrieben.“
Die Kühnsten kamen näher. Die übrigen folgten, und es bildete sich schnell ein Kreis von Zuschauern, die zu begreifen begannen, daß wir Wesen von Fleisch und Blut seien. Man trat näher, das Automobil wurde befühlt, anfangs furchtsam, als könne man sich an ihm verbrennen, dann mit vertrauensvoller Sicherheit. Zwei Bauern nahmen heldenmütig die Einladung an, auf das Automobil zu steigen und sich ein Stück fahren zu lassen. Sie gerieten in solche Begeisterung, daß sie nicht mehr absteigen wollten. Alle wollten es probieren. Das Gedränge um uns herum wurde immer dichter. Auch der Pope kam und drückte den Wunsch aus, morgen früh nach dem nächsten Dorfe gefahren zu werden.
Das Eis war gebrochen. Alle wurden unsere guten Freunde. Das blaue Haus schob die Riegel zurück, öffnete weit die Tür und nahm uns gastlich auf. Der Samowar kam auf den Tisch; nach dem Samowar erschienen Eier, Milch, Butter und Brot, so daß wir unseren Hunger stillen konnten. Die im Hofe untergebrachte Maschine war von der Bevölkerung umlagert, die sie mit bewundernder Neugier betrachtete.
Bis Mitternacht erhielten wir Besuche; die Leute kamen und gingen frei aus und ein, nach russischem Brauche, ohne um Erlaubnis zu bitten. Sie wollten uns in der Nähe sehen; sie traten ins Zimmer, nahmen die Kopfbedeckung ab, betrachteten uns schweigend und gingen wieder hinaus, zufrieden wie Kinder am Weihnachtsabend. Um Mitternacht löschten wir das Licht aus, hüllten uns in unsere getreuen Pelze und streckten uns auf dem Fußboden aus; die letzten Besucher entfernten sich auf den Zehenspitzen, um von der Haustür aus zu verkünden: „Die Fremden schlafen!“
Am folgenden Morgen, 22. Juli, setzten wir um 4 Uhr unsere Fahrt durch eine sich stets gleichbleibende Landschaft fort: große Wälder, vereinzelte Wiesen, einige bebaute Felder, von Gebüschen eingeschlossen, die jungfräuliche Erde bedeckten.
Auf Barken setzten wir über den kleinen Fluß Uchim, dann über einen breiteren, den Wala. Leider bewirken die zahlreichen, leicht zu befahrenden Wasserstraßen, daß die Landwege vernachlässigt werden, die wir in sehr schlechtem Zustande fanden, so daß wir nur langsam vorwärtskamen und das Automobil allen jenen schrecklichen Proben unterziehen mußten, die uns zwischen Mariinsk und Tomsk zur Verzweiflung gebracht hatten. Wir fürchteten, die Federn würden nicht länger halten. Wir merkten, daß sie gegen die Stöße weit empfindlicher wurden, und wir hatten keinen Ersatz für sie. In der sicheren Überzeugung, ihrer nicht zu bedürfen, hatten wir die Ersatzfedern in Kalgan zurückgelassen, weil sie zu schwer waren, und vielleicht liegen sie jetzt noch in den Bureaus der Russisch-Chinesischen Bank, zum Andenken an unsere Fahrt.
Um einen Begriff von den Straßen zu erhalten, stelle man sich vor, man fahre im Automobil über einen frischgepflügten Acker mit der Aussicht, Hunderte von Kilometern unter denselben Bedingungen zurücklegen zu müssen.
Natürlich regnete es von Zeit zu Zeit. Wir fuhren durch wenig bevölkerte, stille Städtchen, die mit ihren weiß angestrichenen Holzhäusern — zum Unterschiede von den die Naturfarbe des Holzes zeigenden Bauernhäusern — einen unendlich traurigen Eindruck machten. Wir wurden in melancholische Stimmung versetzt, wenn wir an ihr einförmiges, graues, stilles Leben dachten; sie glichen Städten in der Verbannung. Sie tauchten in einem Tale auf, hinter einem Gehölz, am Ufer eines Baches, abgeschlossen in der Eintönigkeit einer unbebauten Gegend mit dunkeln Tannen- und Kiefernwäldern von düsterem Grün. Einige von ihnen haben Namen, die nicht russisch sind, tatarische und bulgarische Namen.
Manche Namen bewahren die Erinnerung an jenes seltsame bulgarische Volk, das einst hier ein Reich besaß, von dessen Hauptstadt noch jetzt prächtige Trümmer an den Ufern der Wolga zu sehen sind. Sie war so in Vergessenheit geraten, daß sie vollständig verschwand. Wälder hatten sie überwuchert; sie lebte nur noch in der Überlieferung, als unter Peter dem Großen ihre majestätischen Trümmer mitten in einem dichten Walde wieder entdeckt wurden.
Die Bulgaren liebten die großen Ströme; sie teilten die Wolga und die Donau unter sich: „weiße Bulgaren“ die der Wolga, „schwarze Bulgaren“ die der Donau; aber sie wurden aufgesaugt, die einen von den Tataren, die andern von den Slawen. So sind nur noch Namen übriggeblieben: Bolgary an der Wolga, Bulgarien an der Donau; das Volk aber existiert nicht mehr.
Am Nachmittag häuften sich die Schwierigkeiten. Die durch endlose Wälder führende Straße war so schlecht geworden, daß wir mit der Geschwindigkeit von nur 15 und häufig gar nur von 10 Kilometern fahren mußten. Die Karosserie knarrte, sie flog bei jedem Stoße in die Höhe, als wollte sie in Stücke gehen. Die Fußbremse, jene vermaledeite Bremse, die in Sibirien dreimal Feuer gefangen hatte, brannte zwar nicht mehr, aber sie funktionierte auch nicht mehr. Sie war vollständig verdorben, und wir waren einzig auf die Handbremse angewiesen, die auf die Laufräder wirkt. Während wir einen steilen Abhang hinunterfuhren, wobei diese einzige Bremse angezogen war, fühlten wir einen heftigen Ruck im Automobil und hörten im vorderen Teile ein metallisches Klirren. Die Maschine stand quer über dem Wege still.
Wir sprangen ab.
„Was soll jetzt werden?“ riefen wir angstvoll aus, als wir hörten, welcher Schaden angerichtet war.
Der allzu starke Druck der Bremse hatte den Bruch des Bügels zur Folge gehabt, der die Federn mit der Radspindel verbindet, und die Achse der Laufräder hatte sich vollständig von den Federn, also vom Chassis, losgerissen. Wir hatten Ersatzbügel da, aber sie waren zu kurz. Zum Glück fand Ettore, als er unter seinem Handwerkszeug herumwühlte, Spindeln und Schrauben, mit deren Hilfe es ihm nach langem, geduldigem Arbeiten gelang, Federn und Achse wieder zusammenzubringen und festzuschrauben. Aber es stellte sich ein noch schwererer Schaden heraus. Die hinteren Federn waren gebrochen! Von den neun Blättern, aus denen jede bestand, waren links drei geborsten, rechts fünf. Unsere Hoffnung beruhte jetzt nur noch auf der Widerstandskraft des längsten und größten Blattes, das an den äußersten Enden die Zapfen trägt, mittels deren es befestigt ist, und das aus dem feinsten Stahle, den es gibt, angefertigt ist. Unsere Hoffnung stand aber auf sehr schwachen Füßen. Wir sahen, daß eine einzige starke Erschütterung alles vernichten würde.
Es dunkelte, und die Arbeit im Walde dauerte immer noch fort. Ein trauriger Abend für uns. Wenn der Motor, die Transmissionen, das Kugelgelenk, die Kardanwelle, die Verbindungen des Chassis, der ganze maschinelle Teil gesund, gut imstande, neu, stark und zuverlässig ist, wer denkt da an das übrige? Wenn das Herz, der Magen und alle vitalen Organe eines Menschen kräftig sind und gut funktionieren, wer denkt da an die Füße? Und doch waren es gerade die Füße unseres Automobils, die kränkelten: ein verhängnisvolles Leiden, wenn man noch einen weiten Weg vor sich hat.
Nachdem die Reparatur beendet war, machten wir uns wieder auf den Weg, ganz langsam und mit der peinlichsten Vorsicht, und gelangten eine Stunde später an die Poststation Melekeski. Wir kochten uns Eier, tranken Milch und streckten uns zum Schlafen auf der Erde aus.
Die Station war wenig mehr als eine Isba.
Am Morgen nahmen wir ein Glas Tee zu uns und fuhren ab. Es war 4 Uhr, und es regnete.
Allmählich gelangten wir in eine anmutigere und schönere Gegend. Die Landschaft hatte sich geändert, leider aber nicht die Straße. Wir fuhren durch Malmysch, das wir an dem Tage, an dem wir Perm verließen, zu erreichen gehofft hatten, ein Städtchen an dem Flusse Wjatka, das auf uns den Eindruck machte, als sei es nur von einem Dutzend Beamten, einem Apotheker und zwei Gendarmen bewohnt. Das Leben in Malmysch muß nicht besonders anregend sein.
Die Straße wurde schlechter oder schien uns schlechter zu werden, weil wir gegen die Unebenheiten des Geländes empfindlicher geworden waren. Dafür wurden wir durch den Anblick der prächtigen Landschaft entschädigt. Überall erhoben sich im Grünen Dörfer, tatarische und christliche, schlanke Minaretts und Kirchtürme, Halbmonde und Kreuze, bunt durcheinandergemischt im tiefen Frieden der Felder. Nichts erinnerte an alte Kämpfe. Die Bewohner schienen wie zu einem großartigen Feste gekleidet. Es war Heuernte.
Überraschend war die Verschiedenheit der Trachten, die mit jedem Schritte wechselten. Man fühlt es, daß unter den beiden Namen „Russen“ und „Tataren“ sich noch andere Volksstämme verbergen, die sich vereinigt, aber nicht vermischt haben. Religionen sind es zwei, der Rassen sehr viele. Diese wollen sich jetzt noch voneinander unterscheiden, wollen sich in ihrem Volkstume behaupten, sie wollen am Leben bleiben. Unbequeme und auffallende Trachten können nicht Jahrhunderte hindurch getragen werden, ohne daß die Träger den Zweck damit verfolgen, ihre Eigenart zur Geltung zu bringen und zu bewahren. Jedes Dorf ist ein kleiner Staat für sich, der ein friedliches Sonderdasein führt und so verschieden von den anderen ist, als sei er durch weite Entfernungen von ihnen getrennt.
Gegen 3 Uhr, als wir in das Tal des Flusses Kasanka hinabfuhren, sahen wir im Westen einen Wasserstreifen schimmern: die Wolga. In leuchtendem Nebel hoben sich die Umrisse einer großen Stadt ab. Endlich hatten wir Kasan erreicht mit den Türmen und Kuppeln seiner Kirchen und den Minaretts seiner dreizehn Moscheen!
Auf breiten Straßen voller Leben und Getöse gelangten wir in die Stadt, neugierig betrachtet, von vielen erkannt, mitunter begrüßt.
Eine Dame ließ ihre prächtige Equipage wenden, um uns zu folgen und uns besser in Augenschein zu nehmen; sie holte uns ein. Sie fragte, ob wir von Peking kämen und wohin wir wollten.
„Ins Hôtel de l’Europe, gnädige Frau.“
Ihr Wagen fuhr voran, wir folgten. Wir kamen an Kirchen, an Gärten vorüber und gelangten auf die Hauptstraße. Hier liefen uns Herren erregt und lachend mit ausgestreckten Händen entgegen. Es waren Italiener.
„Willkommen!“ riefen sie. „Hoch! Liebe Freunde!“
Im Hintergrund erblickten wir den Kreml und den großartigen Spaskajaturm, der wie eine alte Zwingburg auf die moderne Stadt herabsieht.
Von der Wolga zur Moskwa.
Sibirien kehrt zurück. — Ein feindseliges Dorf. — Die Gastfreundschaft eines Müllers. — Nischnij-Nowgorod. — Die Geschichte eines Telegramms. — Die Chaussee. — Wladimir. — Freiwillige Panne. — Moskau empfängt uns. — Am Ufer der Moskwa.
In Kasan wurden die Federn in der Nacht rasch ausgebessert. Am 24. Juli 9 Uhr vormittags konnten wir Kasan mit der vollständig reparierten Maschine verlassen. Wir fuhren unter den drohenden Mauern des Kremls hin, jener alten tatarischen Zitadelle, die eine der grausigsten Geschichten von Feuer und Schwert gesehen hat: die von Machmet Amin befohlene Niedermetzelung der Christen, die von Iwan IV. befohlene Niedermetzelung der Tataren, die von dem meuterischen Kosaken Pugatschew befohlene Niedermetzelung der Adligen, und viermal die Plünderung und Zerstörung der Stadt. Wir gelangten in die entlegenere arbeitsame Admiralitätsvorstadt und von dort an den Wolgahafen.
Der große Strom, der größte Europas, lag breit, majestätisch, langsam und stolz vor uns. Er wimmelte von großen Dampfern, die bis zum Kaspischen Meere fahren, von Fähren, von Schleppdampfern, von Personendampfern. Die bevorstehende Messe von Nischnij-Nowgorod war die Ursache dieses Gedränges. Die Wolga ist einer der gewaltigsten Verkehrswege der Welt; sie verbindet Persien, den Kaukasus und Turkestan mit dem Herzen Rußlands. Die mannigfaltigsten Volksstämme bewegten sich an den Ufern zwischen den Ladeplätzen: wir sahen Tataren, Armenier, Zirkassier und Kirgisen unter russischen Bauern.
Auf einem der Trajektboote setzten wir über, auf einem wirklichen und wahrhaftigen Dampfschiff, das uns gewaltig erschien wie ein transatlantischer Dampfer.
Rasch fuhren wir davon über Hügel, von denen aus wir den unvergeßlichen Anblick Kasans genossen, der blendendweißen Stadt, über die sich die funkelnden Kuppeln der Kathedrale der Verkündigung Mariä erheben. Neben diesen Kuppeln erblickten wir — ein seltsamer Gegensatz in Gestalt und Erinnerungen — den alten tatarischen Sumbekaturm, der seinen Namen von einer tatarischen Prinzessin hat, die nach einer poetischen Sage sich, als die belagerte Stadt den Angriffen der siegreichen Slawen unterlag, von der höchsten Spitze hinunterstürzte, um mit dem Vaterlande zu sterben.
In der Unterstadt, die mit ihren kleinen, von Gärten umgebenen Häusern noch jetzt ganz tatarisch ist, erheben sich Minaretts. Am Flusse eröffnete sich ein seltsames Panorama runder Gebäude, der Riesenbehälter für das Petroleum, das die Schiffe aus Baku die Wolga herauf bringen. Kasan ist einer der größten Petroleumstapelplätze der Welt. Dann entfernte sich alles, zerstreute sich, verschwand hinter dem Gipfel eines Hügels. Wir befanden uns wieder in der Einsamkeit der Felder.
Wir fuhren auf verlassenen, kaum erkennbaren, von Gras überwachsenen Pfaden und waren genötigt, uns mit der allerbescheidensten Geschwindigkeit zu begnügen.
Sibirien schien zurückgekehrt zu sein! Stellenweise hatten Wasserfluten die Straße in einen tiefen Abgrund verwandelt. Es kam vor, daß wir wie in der Mongolei die Richtung verloren. Wir kamen an eine Stelle, wo jede Spur einer Straße oder eines Pfades verschwunden war und wir nicht mehr nach dem richtigen Wege, sondern nach einem Manne suchen mußten, der uns als Führer dienen könnte. Karten und Kompaß waren zu Rate gezogen worden, das Ende vom Liede aber war, daß wir uns vor unübersteiglichen Hindernissen befanden. Ein Bauer erklärte sich bereit, auf das Automobil zu steigen und uns zu führen. Nachdem wir etwa 10 Kilometer zurückgelegt hatten, kamen wir auf einen morastigen Weg, an dem sich die Telegraphenleitung hinzog.
„Folgen Sie nur der Telegraphenleitung!“ sagte er und verabschiedete sich.
Es war lange her, daß wir uns von der unabsehbaren Reihe von Telegraphenstangen hatten leiten lassen. Und jetzt näherten wir uns Moskau? Der ganze Landverkehr wickelt sich dort draußen nur im Winter ab: wenn der Schnee das Gelände so wunderbar ebnet, daß die Schlitten pfeilschnell darüber hinweggleiten. Es hat also keinen Zweck, kostspielige Straßen zu unterhalten. Im Sommer sind die Flüsse für den Verkehr da. In den Zeiten vor der Dampfschiffahrt existierte hier eine prächtige Straße, von der sich jetzt kaum noch Spuren vorfinden.
Gegen 1 Uhr passierten wir langsam ein kleines Dorf, als das Automobil auf einem mit Gras überwachsenen Platze, der stets die weißen Kirchen der russischen Dörfer umgibt, ein an eine leere Telega gespanntes Pferd zum Scheuen brachte. Das Pferd ging durch; ein Knabe von ungefähr zehn Jahren, der von der Telega abgestiegen war, wollte das Pferd aufhalten, ergriff die lange Zugleine, die hinter dem Wagen herschleifte, und versuchte an ihr zu ziehen. Unglücklicherweise schlang sie sich um eins seiner Beine, und er fiel zu Boden. Wir stießen einen Schreckensruf aus. Schon sahen wir im Geiste den Knaben an einem Beine geschleift und auf grausige Weise ums Leben gekommen. Allein wir hatten nicht an die Weite der russischen Stiefel gedacht; kaum war der Knabe hingefallen, so bewirkte die um sein Bein geschlungene Leine nur, daß der Stiefel ausgezogen wurde; der Knabe selbst blieb heil und unverletzt.
Der Unfall erregte aber den Zorn der Bevölkerung gegen uns. Sofort bildete sich eine dichte Gruppe von Bauern, die, unsere langsame Fahrt ausnutzend, uns verfolgten. Zu ihnen gesellten sich andere. Sie bewaffneten sich mit Steinen und gingen schreiend und johlend zum Angriff über, indem sie uns in drohendem Tone „Halt!“ zuriefen.
Das Durchgehen der Telega allein konnte eine solche Empörung nicht erklären. Selbst ein russischer Bauer war imstande zu begreifen, daß wir keine Schuld hatten. Erst einige Tage später, in Moskau, erhielten wir Aufklärung über jene Wut und über die verbissene Feindseligkeit, die uns in so vielen Ortschaften des russischen flachen Landes entgegengetreten war. Das Automobil war verschiedentlich von Revolutionären benutzt worden, um Proklamationen umstürzlerischen Inhalts zu verbreiten. Sicher ist, daß sich in vielen russischen Ortschaften die Ansicht gebildet hatte, die Automobile seien Fahrzeuge der Feinde der Religion und des Zaren! Das Durchgehen eines Pferdes wurde für uns die Veranlassung zum Ausbruch eines lange vorher bestehenden Volkshasses.
Die Verfolger schienen nicht geneigt, uns entkommen zu lassen. Die Straße unterstützte sie bis zu einem gewissen Grade. Wir kamen an einen jähen Abhang voller Furchen und Löcher. Wir mußten bremsen und langsamer fahren, um die Maschine nicht zu beschädigen. Die Bauern wurden von einem blonden jungen Manne in roter Bluse angeführt, der den andern vorauslief und ihnen etwas zubrüllte, um ihnen Mut zu machen. Die Entfernung verkürzte sich zusehends. Schon kamen Steine geflogen. Noch wenige Sekunden, und wir wären eingeholt worden. Da entschloß ich mich zu einer Handbewegung, die der Verfolgung sofort ein Ende machte. Es war eine sehr einfache Bewegung mit der ausgestreckten rechten Hand, eine langsame Bewegung, während ich mich auf die Füße erhob und mich der Menge zuwandte. Diese blieb mit einem Male stehen, verstummte, wich zurück und ließ uns unbelästigt weiterfahren! Ich muß allerdings hinzufügen, daß ich bei dieser Handbewegung den Kolben der geladenen Mauserpistole, die ich schußbereit gesenkt hatte, umklammert hielt.
Bald darauf versanken wir im Morast in der Nähe des kleinen Simylskajaflusses. Mit Hilfe dreier Muschiks, die gerade vorbeikamen, machten wir uns in einstündiger Arbeit wieder frei. Dann überschritten wir den Fluß auf einer alten Brücke, ließen das malerische Städtchen Woronowka zur Linken liegen, und weiter ging es auf unsicheren und gefahrvollen Straßen. Von Westen her zog ein schwarzes Unwetter herauf, das uns erreichte, als wir uns in einem großen Walde von Eichen und Buchen befanden, und das uns die Freude verdarb, vertraute Bäume wiederzusehen. Wir hatten die Tannen und Birken satt. Die Tannen sind gewiß sehr schöne Bäume; mit ihren schwarzen, an den Turm einer Kathedrale erinnernden Spitzen weisen sie eine gewisse architektonische Strenge auf. Aber auf die Dauer werden sie langweilig wie ein Wald von geschlossenen Schirmen. Die Eichen aber fanden wir geradezu wundervoll; sie sind eine ungezwungenere, mannigfaltigere, vertraulichere Erscheinung; es war, als winkten sie uns mit ihren vom Winde bewegten knorrigen, unregelmäßigen Ästen; es waren die Bäume unserer Heimat.
Es regnete in Strömen mit der gewohnten Begleitung von Blitz und Donner. Es war nun einmal Schicksalsbeschluß, daß es alle Tage regnen sollte, und wir hatten uns auch darein gefunden. Wir hatten nicht einmal die Mühe, erst die wasserdichten Mäntel anzuziehen, weil wir sie stets, es mochte das schönste Wetter und der blendendste Sonnenschein sein, auf dem Leibe trugen.
Der Abend überraschte uns mitten in einer Einöde. Wir hatten gehofft, das 160 Kilometer entfernte Tscheboksary zu erreichen; bis abends 8 Uhr hatten wir aber nicht mehr als 80 Kilometer zurückgelegt, als das Automobil sich mit einem Male auf die linke Seite neigte und stehenblieb. Wir waren eingesunken. Ettore hatte bei der Dunkelheit eine tiefe morastige Einsenkung nicht bemerkt, und zwei Räder waren bis an die Naben hineingeraten!
Wir befanden uns in einem einsamen Tale. Im Grunde rauschte ein vom Regen geschwellter reißender Fluß. Der Fürst und ich — Ettore blieb zur Bewachung der Maschine zurück — erstiegen einen nahen Hügel, um vielleicht bewohnte Orte zu entdecken. Nichts war zu sehen als die dunkle, düstere Landschaft, eine wellige Steppe, hier und dort unterbrochen von schwarzen Gehölzen. Wir hatten uns schon darein ergeben, die Nacht auf dem Automobil zu verbringen, als ich ein Dach in einem Weidengebüsch, links von einer Brücke, bemerkte.
Wir gingen in der angegebenen Richtung und fanden wirklich eine kleine einsame Mühle. An der Tür der Isba stand eine alte Frau, die bei unserem Anblick erschreckt zurücktrat. Dann erschienen zwei Männer in wenig freundlicher Haltung und fragten, wer wir seien.
Der Fürst sprach vom Automobil, versprach ihnen eine Belohnung, wenn sie uns Hilfe leisteten, und schloß damit, daß er die beiden Männer, die sich wieder besänftigt hatten, ersuchte, sich die im Morast steckende Wundermaschine anzusehen.
„Sie müssen nach dem Dorfe gehen und dort Hilfe holen“, sagten sie, nachdem sie nachgedacht hatten. „Wir sind in der Mühle nur vier Personen. Wieviel wollen Sie übrigens für die Hebung des Wagens zahlen?“
„Fünf Rubel!“ erwiderte der Fürst. Es war die Anfangssumme wie bei öffentlichen Versteigerungen.
Fünf Rubel! Die Müller waren geblendet von solchem Reichtum. Fünf Rubel! Sie sahen einander an und wechselten einige Worte. Es waren ihnen inzwischen Riesenkräfte und ein Löwenmut gewachsen. Sie wollten die fünf Rubel allein verdienen, sie würden zehn Automobile heben!
Sie gingen weg und kehrten mit den beiden Gefährten, die in der Mühle geblieben waren, eilends zurück; dann machten sie sich an die Arbeit. Nach einer halben Stunde schaufelten wir die Erde vor den Rädern weg, Ettore setzte den Motor in Tätigkeit, und das Automobil bewegte sich und hielt schließlich im Hofe der Mühle. Der Müller selbst hatte uns Gastfreundschaft in seinem armseligen Hause angeboten.
Er stellte das Mühlwerk ab. An diesem Abend wurde in der Mühle ein Fest gefeiert. Einer der Gehilfen langte nach einer Stunde mit einer riesigen Flasche Wodka an, die er im Dorfe gekauft hatte: die fünf Rubel begannen sich in Trunkenheit zu verwandeln.
Die blonden Männer tranken auf unser Wohl. Sie stürzten das schreckliche Getränk gläserweise hinunter, nachdem sie, das Glas in der Hand, dreimal das Zeichen des Kreuzes gemacht und ein kurzes Gebet gesprochen hatten: ein heiliges Trankopfer. Die Frauen saßen abseits und sahen schwermütig und schweigend zu. Schmutzige Kinder spielten in einer Ecke. Eine ewige Lampe brannte vor dem Bilde des Erlösers, das an der Wand der Isba hing.
Es dauerte nicht lange, so begann der Wodka seine Wirkung zu äußern. Der Müller wurde sich bewußt, daß er uns liebe! Er betrachtete uns zärtlich, seine blauen Augen füllten sich mit Tränen der Rührung. Wie er uns liebte! Er fühlte das Bedürfnis, beständig zu wiederholen: „Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!“ Dabei umarmte er uns einen nach dem andern und küßte uns zärtlich auf die Stirn. Seine Leute äußerten ihre Zustimmung. Es sei recht und billig, uns zu lieben, man müsse uns lieben! Ihre tiefgefühlte Sympathie erstreckte sich auch auf unser Vaterland.
Warum seien sie in ihrem Leben nie Italienern begegnet? Ein Volk zum Anbeten! Alle Segnungen des Himmels wurden auf uns herabgerufen. Die junge Frau mit den ernsten, beinahe schmerzlichen Zügen benutzte die zärtliche Rührung ihres Mannes, um die Wodkaflasche fortzunehmen, ohne daß er es bemerkte, und sie in einer Ecke unter alten Lumpen zu verstecken.
Als wir erklärten, daß wir uns niederlegen wollten, verließen alle das Zimmer. Die Männer blieben aber noch lange vor der Tür der Isba, und wir hörten sie stundenlang die schwermütigen slawischen Lieder singen, die wie Gebete klingen. Als ihr Rausch unter dem Einfluß der Nachtkälte verflogen war, kehrten sie in die Mühle zurück, die ihr Geklapper wieder begann.
Wir hatten uns auf dem Fußboden ausgestreckt. Ich konnte nicht schlafen; große Ratten liefen im Zimmer umher. Mit einem Male fühlte ich einen frischen Luftzug. Ich bemerkte, daß sich die Tür ganz leise öffnete.
Ich erhob mich auf den Ellbogen und strengte die Augen im Dunkel an. Durch die Türöffnung drang ein Lichtschein, in dem ich die Person erkennen oder vielmehr erraten konnte, die sich so heimlich in unser Zimmer schlich: es war die junge Müllerin. Ich sah den Schimmer ihres langen weißen Hemdes. Horchend blieb sie auf der Schwelle stehen. Was wollte sie? Mit gespannter Neugier beobachtete ich sie.
Als sie sich überzeugt hatte, daß alles still blieb, trat sie ein, barfuß und ohne das mindeste Geräusch; sie glich einem Schatten. Sicheren Schrittes ging sie auf einen Winkel zu und beugte sich suchend vor. Es war die Stelle, an der sie den Wodka versteckt hatte. In der Tat hörte ich an einem leisen Klirren des Glases, daß sie die Flasche ergriff; ich sah, wie sie sie in die Höhe hob. Einen Augenblick später vernahm ich ein leises, langes, von Seufzern unterbrochenes Gurgeln. Die brave Frau trank. —
Früh machten wir uns wieder auf den Weg. Die Straßen waren trocken und infolgedessen besser. Zu Mittag waren wir in Wassilsursk, einem reizenden Städtchen am rechten Ufer der Sura, eines Nebenflusses der Wolga, kokett im Grün kleiner Gärten über den Abhang eines Hügels verstreut.
Und weiter, immer weiter ging es den ganzen Tag über, zeitweilig an der Wolga entlang, deren breite, träge, von Schiffen belebte Fluten sich durch das weite Tal wälzten.
Am Nachmittag stießen wir auf zwischen Gebüschen versteckte herrschaftliche Villen: die große Stadt Nischnij-Nowgorod war in der Nähe. Gegen Sonnenuntergang bemerkten wir Fabrikschornsteine, die Vorposten der modernen Großstädte. Oben auf einem Hügel standen Droschken. Als wir an sie herankamen, wurden wir mit einem „Hoch!“ empfangen.
In den Droschken saßen der kommerzielle Vertreter Italiens, der Sekretär des italienischen Konsuls in Moskau und einige Landsleute. Wir betraten den offiziellen Bannkreis Europas. Wir erhielten unsere Post, Briefe, Zeitungen, Telegramme. Die Beziehungen zur Kulturwelt waren wiederhergestellt. Die Einsamkeit war zu Ende!
Champagnerflaschen und Gläser kamen zum Vorschein, wir mußten anstoßen. In tiefer Bewegung drückten wir zehnmal dieselben Hände und fragten nach Nachrichten aus unserer Welt. Dann wurden wir von plötzlicher Ungeduld gepackt, von dem gebieterischen Verlangen, zu Ende zu kommen, zu fahren, zu fahren ohne Rast und Ruh wie jener Mann des Märchens, der sich künstliche Beine anfertigte, die von selbst liefen, und der noch immer läuft, weil er vergessen hat, eine Vorrichtung anzubringen, die die Beine wieder zum Stehen bringt.
„Auf die Maschine! Auf die Maschine!“ riefen wir.
Wir empfanden weder Müdigkeit noch Verdrießlichkeit mehr. Alles war vergessen: „Auf die Maschine!“ Bald darauf entfaltete sich das prächtige Panorama von Nischnij-Nowgorod zu unseren Füßen. Von Kasan aus hatten wir 447 Kilometer zurückgelegt. Es war spät, als wir in die breiten Straßen der alten russischen Hauptstadt einbogen, die die eigentliche Wiege des ungeheueren Reiches ist. Die elf Türme des Kremls, die hoch über die Stadt emporragen, waren noch von der untergehenden Sonne beleuchtet; sie blitzten stolz über die goldenen Kuppeln und weißen Türme hinweg. Mit einem Gefühl des Stolzes betrachteten wir jene elf Beherrscher der Stadt, bei der Erinnerung daran, daß sie etwas von italienischem Wesen an sich tragen; sie wurden von einem italienischen Architekten, Pietro Frasiano, umgebaut, als der Kreml seinen kriegerischen Charakter ablegte und sich zu verschönern begann. Um jene Festung herum hatten sich die Heere gebildet, die Kasan den Tataren entrissen; später bildete sich hier das Heer, das die Polen aus Moskau verjagte. Nischnij-Nowgorod muß dem Slawentum heilig erscheinen.
Wir waren kaum angelangt, als uns auch schon eine Einladung übermittelt wurde. Einige angesehene Bürger, unter ihnen der Gouverneur, gaben uns zu Ehren ein Bankett in einem großen Garten. Die Luft war mild, der Himmel heiter. Wir sahen die Wolga an der Mündung der Oka im fahlen Lichte des Abends zu unseren Füßen breit dahinströmen, übersät von Myriaden von Lichtern an Bord der ankernden Schiffe, gleich einer sich auf der Erde hinziehenden Milchstraße. Während des Banketts wurde ich abgerufen.
„Sie haben ein Telegramm abgesandt?“ fragte der behandschuhte Kellner.
„Jawohl, vor zwei Stunden.“
„Das Telegraphenamt läßt sagen, daß es das Telegramm nicht befördern könne ... Wenn Sie telephonieren wollen?“
Ich eilte ans Telephon. Meine Depesche konnte nicht befördert werden, weil sie nicht russisch geschrieben war! Seit Nischne-Udinsk hatte ich diese reizende Ungeheuerlichkeit nicht mehr gehört! Zum Glück waren die einflußreichsten Männer der Stadt zur Stelle; sie telephonierten, eilten auf das Telegraphenamt und kehrten triumphierend zurück. Das Telegramm war abgegangen.
„Jeder macht es sich so bequem wie möglich!“ sagte man mir zur Erklärung. „Das Amt fand, die Depesche sei zu lang ...!“
Mitternacht war vorüber, als an die Türe meines Hotelzimmers geklopft wurde.
„Wer ist da?“
„Sie haben ein Telegramm aufgegeben?“
Wütend sprang ich aus dem Bett und eilte an die Tür, um zu öffnen.
„Ja,“ schrie ich den Oberkellner an, dem ich mich gegenüber fand, „es ist vier Stunden her, daß ich es aufgegeben habe. Vier Stunden!“
„Beruhigen Sie sich,“ erwiderte er sanften Tones, „Ihr Telegramm ist abgegangen und wird vielleicht schon angekommen sein. Nur wünscht das Telegraphenamt eine kleine Aufklärung ...“
„Welche denn?“
„Es fragt an, ob die Worte von oben nach unten, eins unter dem andern, gelesen werden oder wagerecht von links nach rechts.“
Ich war wie vom Donner gerührt: ich sank auf einen Stuhl und sagte mit kraftloser Stimme.
„Ich habe nicht chinesisch telegraphiert. Ebensowenig japanisch. Ich schwöre es Ihnen. Ich habe in einer europäischen Sprache geschrieben. Nur das Chinesische und Japanische schreibt man von oben nach unten. Und man liest es von oben nach unten. Und man telegraphiert es von oben nach unten!“
„Sehr schön, sehr schön. Ich telephoniere sofort. Also von links nach rechts?“
„Wenn sie es aber doch schon abgeschickt haben? Wie haben sie es denn abgeschickt? Wie?“
„Von oben nach unten, Herr!“ —
Um 10 Uhr vormittags setzten wir unsere Fahrt fort. Unser graues schmutziges Automobil hatte man hier liebenswürdigerweise mit Blumen geschmückt. Wir überschritten die Oka auf der „Meßbrücke“, der herrlichen Holzbrücke, die Nischnij-Nowgorod mit dem Meßplatze verbindet, auf dem die „Jarmarka“, die berühmte Messe, abgehalten wird, die am 27. Juli beginnt. Die Eröffnung sollte am übernächsten Tage stattfinden. Der Platz war zum Empfang von 400 000 Fremden, die alljährlich hierherkommen, hergerichtet.
Berge von Waren türmten sich am Ufer auf, von einem bunten Gewirr von Flaggen überragt. Riesige, an den Ufern verankerte Barken trugen provisorische Gebäude, Cafés und buntfarbige, mit Laubgehängen geschmückte schwimmende Gastwirtschaften, ein Theater, Räumlichkeiten, wohin sich die Meßbesucher begeben, um zu rauchen, da das Rauchen in den Straßen der Jarmarka verboten ist. Auf dem linken Ufer der Oka fuhren wir über den ganzen weiten Meßplatz mit seinen 6000 Magazinen, seinen Geschäften, seinen Märkten, eine ganze zweite Stadt, die zehn Monate lang ausgestorben ist und von deren geräuschvollem Erwachen wir jetzt Augenzeugen waren. Ihre seltsamen Bewohner ließen die Arbeit liegen, um sich zu versammeln, wo wir fuhren. Alles gibt es auf der Messe von Nischnij-Nowgorod, aber ein Automobil war noch nicht dort erschienen.
Zwischen der ernsten, nachdenklichen Menge der Slawen erblickten wir merkwürdige Volksstämme um uns herum. Viele Tataren im Kaftan nach türkischer Art oder im blauen Kulmak, Kirgisen, die aus ihren Steppen gekommen waren und Tausende von Kilometern weit Pferdeherden hergetrieben hatten. Zirkassier mit prächtigen Waffen waren da, Perser mit den hohen Pelzmützen, ernstblickende Armenier, Sibirier aus Tobolsk mit Ladungen kostbaren Pelzwerks. Unter der Menge hatte sich das Gerücht verbreitet, daß wir aus Peking kämen; man betrachtete uns überrascht und stellte tausenderlei Fragen an uns, die wir nicht immer verstanden.
Wir bogen in die Straße nach Moskau ein, die breit, fest, eben und gerade war. Wir ließen die Maschine schnell fahren. Die Stadt und ihre Jarmarka entfernten sich mehr und mehr. Die Straße wurde menschenleer und ging nicht in einen der gewohnten elenden Feldwege über. Die Chaussee, die echte Chaussee war erreicht!
Endlich! Nach einer Fahrt von 7500 Kilometern, nach sechsundvierzig langen Tagen voller Mühen, Beschwerden, Leiden, Enttäuschungen. Sie hatten wir gesucht, nach ihr hatten wir geseufzt, seit wir die mongolische Wüste verlassen hatten: wir glaubten sie schon in Kiachta, in Irkutsk zu erreichen. Bei meiner Beschreibung der Reise habe ich von Straßen gesprochen, um den undefinierbaren Strecken, über die wir fuhren, einen Namen zu geben. In Wirklichkeit sind wir fast stets über mehr oder weniger guten gewachsenen Boden, über Sand, Morast, Steine, Gestrüpp gefahren. Die Straße begann erst hier, nachdem wir ihren kleinen weit vorgeschobenen Vorposten bei Kasan angetroffen hatten. Sie begann in Nischnij-Nowgorod, der unvergeßlichen Stadt, die für uns den Anfang des letzten Teils unserer Reise bedeutete. Uns erschien sie als der Beginn der Zivilisation.
Europa hat seine Grenze nicht, wie die Geographen behaupten und wie auch wir es geglaubt hatten, in den Wäldern des Urals, nein: es beginnt in Nischnij-Nowgorod mit jenem weißen Streifen, auf dem wir dahinrollten, der in einladender Breite ein endloses Band darstellt, das hier beginnt und alle europäischen Nationen umschließt. Jetzt erst glaubten wir über alle Schwierigkeiten triumphiert zu haben; wir brauchten keine Felsen mehr zu erklimmen, in keine Abgründe hinunterzurutschen, nicht mehr über Baumstämme zu stolpern; wir brauchten nicht mehr in heimtückischen Sümpfen zu versinken, nicht mehr den Weg zwischen der Pflanzendecke der Moräste und den Bäumen des Waldes zu suchen. Die Straße war unsere Freundin, unsere Führerin; sie erfüllte uns mit neuem Mute, sie geleitete uns ans Ziel.
Wir stießen einen Freudenschrei aus, als wir von der Spitze eines Hügels aus sahen, wie sich die Chaussee bis zum Horizont erstreckte. Und doch lebte in uns immer noch ein Gefühl des Zweifels, eine unbestimmte Angst. Wir waren zu oft getäuscht worden und hatten immer noch ein wenig Furcht, die Straße möchte verschwinden und uns verlassen. Etwas ließ uns anfangs allerdings die Veränderung weniger durchgreifend erscheinen und setzte unserer Freude einen Dämpfer auf: es waren die alten, wackligen Brücken. Wir hörten jenes gräßliche Krachen des Holzes unter den Rädern. Während unseres raschen Dahinrollens gab eine dieser Brücken unter dem Gewicht des Automobils nach; ein Brett brach.
„Rasch, mit voller Kraft!“ rief der Fürst.
Der Motor knattert laut und die Maschine, die im Begriff ist, zu fallen, schießt vorwärts über die Bretter hin, die sich unter ihrer Last biegen. Sie ist in Sicherheit! Hinter uns hören wir Holz herabpoltern.
Das Automobil saust mit voller Geschwindigkeit dahin. Vornübergebeugt, um den Luftwiderstand besser zu überwinden, durcheilen wir lange Strecken im Fluge und kosten nach so langer Zeit von neuem das Hochgefühl des ununterbrochenen Vorwärtsstürmens. Mit vollen Lungen atmen wir den Duft des Heues, des Harzes, der Blumen ein, die ihren Odem in die warme Luft ausströmen. Die Straße bildet wundervolle gerade Linien, die bis zu 60 Kilometer lang sind. Wenn uns nicht an manchen Brücken die Umbauarbeiten aufgehalten hätten, so hätten wir Wladimir, unseren nächsten Haltepunkt, der von Nischnij-Nowgorod 250 Kilometer entfernt ist, in fünf Stunden erreichen können; so brauchten wir acht.
Wir kamen zur Stunde der Promenade in jenes reizende Städtchen, das bereits die Nähe der heiligen Hauptstadt des Reiches verrät. In einem kleinen Gasthofe kehrten wir ein, vermochten aber trotz unserer Müdigkeit zum erstenmal nicht zu schlafen. Moskau war nur noch wenige Stunden entfernt!
Um 7 Uhr früh fahren wir durch das weiße Tor von Wladimir und jagen auf Moskau zu. Die vom Sonnenschein übergossene Straße war herrlich und schnurgerade, als sei sie durch einen Kanonenschuß angelegt worden.
Wir fliegen dahin. Es ist, als ob die Maschine uns begriffe: in gleichmäßigem Gange gehorcht sie jedem Winke des Fürsten, der am Steuerrade sitzt; auf den Pneumatiks wiegt sie sich leicht in sanften Schaukelbewegungen, die uns einlullen.
Um 8 Uhr kommen wir durch ein Städtchen. Die Leute stürzen aus den Läden, eilen aus den Seitenstraßen herbei und begrüßen uns freudig; sogar ein dicker Gendarm legt lächelnd die Hand an den Helm. Als wir an ihm vorbeikommen, fragen wir ihn:
„Wie heißt diese Stadt?“
„Pokrow.“
Wir sind erstaunt. Pokrow liegt etwa 85 Kilometer von Wladimir entfernt. Wenn wir in solchem Tempo weiterfahren, treffen wir vor 10 Uhr in Moskau ein, und das dürfen wir nicht; wir dürfen erst nachmittags 2 Uhr dort ankommen. Warum? Aus Höflichkeitspflicht. Am Tage zuvor hatte man aus Moskau telegraphisch angefragt, wann wir ankämen, und der Fürst, an die früheren Überraschungen gewöhnt, hatte auf Grund einer Berechnung, die uns ziemlich weiten Spielraum ließ, geantwortet: um 2 Uhr. So waren wir zu einer freiwilligen „Panne“ genötigt. Wir beschlossen, sie aus einem Frühstück bestehen zu lassen.
Eine halbe Stunde später hielten wir vor dem ersten Gasthofe in Bogorodsk. Mit der Feierlichkeit, die unserem ersten zivilisierten Frühstück gebührte, setzten wir uns zu Tische und leisteten uns die zweite Flasche Champagner während unserer Fahrt. Die erste war in Tanchoi getrunken worden.
Seit Peking hatten wir auf unseren Tagestouren niemals an einem Tische gefrühstückt; wir hatten auf dem Automobil gegessen und oft auch dies unterlassen, weil wir nicht daran dachten. Wir fühlten uns von einer beinahe kindlichen Heiterkeit beseelt.
Das Wetter wurde schlecht, es begann zu regnen. Aber wir lachten ob des Wetters und spotteten des Regens; sie würden uns nicht mehr aufhalten. Diese Feindseligkeiten kamen zu spät und waren zwecklos. Unser alter, erbitterter Feind, das Wetter, war besiegt.
Sofort verbreitete sich die Nachricht von unserer Ankunft in der ganzen Stadt. Das Publikum drängte sich im Hofe, und wir erhielten den Besuch von Offizieren, Beamten und reichen Gutsbesitzern. Wir wurden überall eingeladen. Der Fürst mußte sich mit Händen und Füßen wehren, um nicht in Moskau erst am nächsten Tage um 2 Uhr einzutreffen!
Mittags nehmen wir die Sitze auf der Maschine wieder ein und beschleunigen ihren Gang, um Zeit zu gewinnen. Wir fürchten, die Panne von Bogorodsk zu lange ausgedehnt zu haben. 30 Kilometer vor Moskau treffen wir zwei stattliche Soldaten, die wir für Kubankosaken halten. In ihrer malerischen Uniform nach zirkassischer Art mit den reichen Patronenbehältern zu beiden Seiten der Brust, dem langen Dolche im Gürtel, dem hohen Pelzkalpak auf dem Kopfe stehen sie auf beiden Seiten der Straße einander gegenüber. Kaum sind wir vorüber, so folgen sie uns in gestrecktem Galopp. Von 100 zu 100 Metern bewachen Kosaken die Straße und schließen sich der Reiterschar an, die sich rasch hinter uns bildet. Wir bemerken bald, daß dieser Ehrendienst uns gilt, um unseren Weg von Wagen freizuhalten, die von der Mitte der Straße auf die Seite gewiesen werden. Die Soldaten gehören einem neuen Gendarmeriekorps an, das nach den revolutionären Bewegungen in Moskau gebildet worden ist.
Seltsam, die Wagenführer sind nicht wütend, überhäufen uns nicht mit Schimpfworten; sie begrüßen uns sogar mit Begeisterung. Aber die Überraschungen sind noch nicht zu Ende. Als wir um 1 Uhr 15 Minuten an die Grenze des Weichbildes von Moskau kommen, bemerken wir in dem Orte Kordenky eine Menge Menschen, die um blitzende Wagen herumsteht, in denen wir beim Näherkommen ebenso viele in einer Reihe aufgefahrene Automobile erkennen. Andere kommen rasch herbei und lassen ihre Hupen ertönen. Es sind die ersten großen Automobile, die wir wieder sehen; sie sind uns entgegengefahren. Von ihnen herab und um sie herum bricht ein Begrüßungssturm los: Hurra! Wir werden umringt und drücken hundert Hände, die sich uns entgegenstrecken. Es ist ein unbeschreiblicher Augenblick!
Über das Diplomatengesicht des Fürsten sehe ich einen flüchtigen Schatten huschen. Es bleiben uns noch 4000 Kilometer zurückzulegen, ehe wir nach Paris kommen, aber uns ist, als seien wir schon eingetroffen. Wir kehren in unsere Welt, in unser Leben zurück. Jetzt schließen wir die Epoche der Einsamkeit und Verlassenheit ab, die eine harte Prüfung in unserem Leben bedeutete.
Mit stolzem Gefühl, mit Augen, die nicht nur vom Winde und vom Regen feucht sind, steigen wir vom Automobil. Der Präsident des Automobilklubs von Moskau, dessen Anregung wir die freundliche Begrüßung verdanken, teilt uns mit, daß wir zu Ehrenmitgliedern des Klubs ernannt worden seien, und überreicht uns das wertvolle Abzeichen aus Gold und Email, das wir sofort an unseren vom Schmutz bespritzten Mützen befestigen. Es folgen die Vorstellungen. Ich befinde mich inmitten zahlreicher Kollegen: da ist der Korrespondent des „Matin“, der dem Fürsten die Glückwünsche seiner Zeitung übermittelt, der man die geniale Idee der Fahrt Peking–Paris verdankt; ich treffe den Berufsgenossen von der „Daily Mail“ wieder, der uns auf der Eisenbahn von Etappe zu Etappe gefolgt ist, und viele andere ausländische Journalisten. Auch Damen sind da. Eine von ihnen legt — ein prächtiger Gedanke! — auf unserer Maschine einen Rosenstrauß nieder, um auch sie ein wenig zu feiern, die so viel Anteil daran hat, daß wir überhaupt angekommen sind. Gegen 2 Uhr nehmen wir die Fahrt wieder auf, begleitet von allen Automobilen.
Dieses phantastische Schauspiel ruft mir jenen rasenden Ritt stolzer Mongolen ins Gedächtnis zurück, der auf uns den Eindruck machte, als werde das Automobil in feindlicher Absicht von der gesamten asiatischen Barbarenschaft verfolgt. Jetzt aber erscheinen wir als die Barbaren, die mit Schmutz bedeckt auf einem rohen, erdfarbigen, mit alten Stricken, Ketten und verrosteten Spaten beladenen Wagen sitzen, während hinter uns die polierten Metalle, die leuchtenden Lackanstriche aristokratischer Automobile erglänzen, auf denen elegante Sommertoiletten mit ihrer Fülle von Federn, Blumen, Schleiern und Bändern im Winde rauschen.
Plötzlich eröffnet sich am Horizont der Blick auf Moskau! Es war ein Funkeln von goldenen Kuppeln über einem weißen, schimmernden Häusermeere, eine überwältigende Erscheinung, ein Traum!
Wir gelangen in die fabrikreichen, von hohen, rauchenden Schornsteinen starrenden, vom Lärm der Arbeit widerhallenden Vorstädte, die die feierliche, altehrwürdige Ruhe der Heiligtümer umgürten.
Was geht da vor? Eine Menschenmenge erfüllt die Straße. Es sind Arbeiter, Männer und Frauen, die aus den Fabriken zu Hunderten, zu Tausenden herbeieilen. Die Fenster sind dicht besetzt. Von der Eisenbahn, über die wir fahren, kommen ebenfalls Scharen von Arbeitern im Laufschritt an. Was geht vor?
Ein fürchterliches Geschrei empfängt uns. Es ist der Gruß des Volkes, ausgestoßen von der schreckenerregenden Stimme der Menge. Der Gruß erneuert sich und pflanzt sich fort, er folgt uns und erklingt uns zu seiten. Wir haben nicht das Bewußtsein, ihn verdient zu haben, aber stürmisch dringt diese Welle der Sympathie an unser Herz. Wir hören den Ruf: „Viva l’Italia!“ Man klatscht Beifall. Auf den Verdecken der Straßenbahnwagen erheben sich die Fahrgäste und schwenken die Mützen. Der Fürst grüßt mit einer Handbewegung, während er erstaunt murmelt:
„Aber was haben wir denn eigentlich geleistet?“
So durchqueren wir die Vorstadt und kommen schnell ins Innere der Stadt, wo Ruhe herrscht. Über großartige Boulevards hinweg gelangen wir schließlich in die Nähe der stolzen alten Mauern des Kreml, wo die Leute uns nicht mehr kennen und nur stehenbleiben, um unseren Zug mit fragender Miene zu betrachten, offenbar verwundert, daß so vielen schönen Automobilen ein so häßliches und schmutziges vorausfährt und daß auf ihm Leute sitzen, die noch schmutziger sind.
Wir steigen vor dem Hotel ab und fallen sofort in eine angenehme Gefangenschaft: das Komitee legt Beschlag auf uns. Es will uns feiern, und es gehören zum mindesten zwei Tage dazu, dies gewissenhaft zu erledigen. Unsere Müdigkeit macht uns nicht ungehorsam gegen die Ukase des Komitees.
„Nun gut,“ sagen wir, als wir über das zukünftige Programm mit uns zu Rate gehen, „bleiben wir! Aber allen ferneren Verlockungen setzen wir heroischen Widerstand entgegen und wir fahren von Moskau nach Paris in einer Tour!“
Und Petersburg? Auch Petersburg erwartete uns. Zwar schloß die ursprüngliche Route die russische Hauptstadt, weil zu weit abgelegen, aus dem Programm aus. Durch die Wahl der Straße über Perm und den Abstecher nach Petersburg verlängerten wir die Fahrt um mindestens 700 Kilometer. Aber das Petersburger Komitee, das die Verteilung der Benzinvorräte überwacht, Straßenkarten für uns hatte anfertigen lassen, das in allen großen Städten Unterkomitees zu unserem Empfang gebildet hatte, war uns wichtiger als die übrigen Komitees, und seine Einladung konnten wir nicht unberücksichtigt lassen. Wir wollten also nach Petersburg gehen, aber uns nur wenige Stunden dort aufhalten. Denn dann kam noch Berlin, dessen telegraphische Einladung wir schon in Tomsk erhalten hatten.
Moskau bot uns auf ein Mal alle jene Diners, Soupers und Dejeuners, die uns während der Fahrt entgangen waren! Unsere Nerven, die den Strapazen und Entbehrungen widerstanden hatten, wurden mürbe unter diesem Ansturm, dem wir uns doch nicht entziehen konnten, so groß war die Herzlichkeit, die uns von allen Seiten umgab. Wir waren Gäste der italienischen Kolonie, die uns wertvolle Andenken überreichte, die sicher nicht notwendig waren, um die Erinnerung an jene Tage unverlöschlich in unserem Gedächtnis festzuhalten; wir waren Gäste des Automobilklubs, des italienischen Konsuls, alter und neuer Freunde; wir nahmen an Trinkgelagen teil, hörten Orchestermusik, Konzerte und Lieder an und wanderten durch die luxuriösesten und namhaftesten Moskauer Restaurants, vom „Metropol“ nach der „Eremitage“, von „Mauritania“ nach dem eleganten „Yard“, wo die Konzerte um Mitternacht beginnen, um bei Sonnenaufgang zu enden.
Die Moskauer Automobile wurden uns zu einer Fahrt durch die Stadt und ihre malerische Umgebung zur Verfügung gestellt. So wurden wir nach dem historischen „Sperlingsberge“ geleitet, um den Sonnenuntergang von dem Punkte aus zu genießen, auf dem der große Napoleon haltmachte, um am Abend des 14. September 1812 das entzückende Panorama von Moskau zu bewundern. Die sterbende Sonne tauchte die unermeßliche, stolze Stadt in Blut; die goldenen Kuppeln sandten Flammenblitze aus, alles verschwamm in einem Glanze, der überirdisch erschien: es war ein erhabenes Schauspiel!
Man hat uns in wenigen Stunden das bunte, eigenartige Leben dieser einzig in der Welt dastehenden Stadt kosten lassen, der wahren russischen Hauptstadt. Sie ist modern und altertümlich, arbeitsam und heilig, und amüsiert sich auch unter dem „kleinen Belagerungszustand“. Dieser ist der Grund, warum man Posten mit aufgepflanzten Bajonetten die Spazierfahrten reicher Equipagen überwachen sieht, während Kosakenpatrouillen, den Karabiner auf der Hüfte, zwischen den Wagen einhertraben. Auf den Hauptstraßen kommt es nicht selten vor, daß plötzlich ein lauter Befehlsruf erschallt, daß alle Wagen zur Seite fahren und daß man im Mittelgalopp drei oder vier Kutschen vorbeieilen sieht, vorn, auf beiden Seiten und hinten von Kosakenpelotons mit dem schußfertigen Revolver in der Faust umgeben: es ist nur ein Transport von Staatsgeldern. Die Gefahr hat dem Rubel zu kaiserlichen Ehren verholfen!
Inzwischen hatte das Automobil seine Reisetoilette erneuert; es war sorgfältig gereinigt und geputzt worden, mehr war nicht nötig gewesen. Zu unserer eigenen Überraschung fanden sich sogar verschiedene Teile, die sonst häufig ausgewechselt werden müssen, unversehrt vor. Nur das von den Muschiks zwischen Perm und Kasan angefertigte Rad wurde ersetzt, weil es sich herausstellte, daß es schlecht zentriert war und die Pneumatiks zu sehr anstrengte. Und doch schuldeten wir diesem rohgearbeiteten Rade viel Dank.
Aus Rußland heraus.
Auf dem Wege nach Petersburg. — Nowgorod. — Petersburg. — Der Grenze zu. — Unerwartete Gastfreundschaft. — Die erste Begrüßung auf deutschem Boden. — Königsberg. — Berlin nähert sich.
Am Morgen des 31. Juli punkt 4 Uhr verließ unser Automobil die Garage des Hotels Metropole, wesentlich erleichtert durch eine bedeutende Verminderung des Gepäcks. Es ließ in Moskau die Entdeckungsreise-Ausrüstung zurück, die ihm ein so eigenartiges Aussehen verliehen hatte. Die Stricke, Ketten, Flaschenzüge, Spaten und Spitzhacken wurden abgelegt. Auf seiner Fahrt hatte das Automobil nach und nach alle nutzlos und hinderlich werdenden Gegenstände abgeworfen, in Kalgan zwei Schutzwände, zwei weitere in den mongolischen Steppen, dann einen Teil der Cornedbeefvorräte und der Eisengeräte. Es hatte wie ein Luftballon den Ballast ausgeworfen, um die Belastung der Federn zu vermindern. In Moskau trug es außer unserem geringen persönlichen Gepäck nur noch einige Ersatzpneumatiks. Wie ein Athlet hatte es sich entkleidet, um besser laufen zu können.
Begleitet von den Automobilen, die uns das Ehrengeleit gaben, durchquerten wir rasch die Stadt, die noch nicht schweigsam geworden war. Die Morgendämmerung ist eine Stunde, in der in Moskau noch Leben herrscht; die Leute kehren aus den Restaurants und den Konzerten zurück. So erhielten wir jetzt die Abschiedsgrüße des sich vergnügenden Volkes, während wir bei der Ankunft die Grüße des arbeitenden Volkes entgegengenommen hatten. Zu unserer Rechten zog sich der Petrowskijpark hin, in dessen riesigen Alleen noch Wagen rollten, die aus den Kabaretten zurückkehrten. Wir sahen auffallende, ein wenig zerdrückte Toiletten, quer auf schwankenden Köpfen sitzende Zylinderhüte; wir vernahmen heisere, aber herzliche Grüße. An der eigenartigen Form unserer Maschine und an der italienischen Flagge wurden wir sofort erkannt.
Über dem schweigenden, rauhen Gefilde lag dichter Nebel. Bald sahen wir nichts mehr als die Straßenränder; wir fuhren dahin, von dem grauen, unermeßlichen Raume umgeben, und konnten nicht einmal die nächsten Automobile erkennen, von denen wir nur die Signale hörten.
Um 6 Uhr durchdrang die Sonne hier und da die Nebelschleier.
Der Horizont erscheint flach und grenzenlos. Schimmernde Kirchtürme ragen in noch unbestimmten Umrissen über dem Grün der Felder empor; dann wird, fast mit einem Schlage, alles klar. Wir finden die Landschaft, die uns seit Wochen begleitet hat, unverändert wieder. Wir gelangen in das Städtchen Klin, wo wir eilige Abschiedsgrüße mit den Automobilen, die uns nachgekommen sind, austauschen, und setzen unsere Fahrt allein fort, in Gedanken versunken. Wir lauschen dem gleichmäßigen leichten Gange des Motors und laben uns mit Wonne an der Morgenfrische.
In Nowgorod, das 485 Kilometer von Moskau entfernt ist, wollen wir übernachten.
Um 10 Uhr kommen wir nach Torschok, wo Benzin für uns lagert. Die rechnerische Vorbereitung der Reise schloß mit Moskau, weil der Fürst, damals über die einzuschlagende Route noch im ungewissen, davon überzeugt war, auf dem Wege von Moskau nach Paris überall mit Leichtigkeit Benzin zu erhalten. Die Firma Nobel hatte auf eine telegraphische Anfrage hin die Verpflichtung übernommen, uns neue Benzinvorräte von Moskau aus bis zur russischen Grenze zur Verfügung zu stellen.
Am Eingange der Stadt stehen Männer, die uns erwarten. Sie haben Fässer mit Benzin und Öl neben sich. In wenigen Minuten füllen wir unsere Behälter, und weiter geht es!
So schnell haben wir noch nie eine so lange Strecke zurückgelegt; wir fahren mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern in der Stunde. Wir sind von immer stärkerem Verlangen beseelt, zu eilen. Die Werstzeichen fliegen pfeilschnell an uns vorüber. Wir ziehen die Karte zu Rate, stellen Berechnungen an und schenken der Landschaft nur geringe Beachtung.
Aber ach! als wir die Grenze des Gouvernements Twer überschritten haben, wird die Straße schlechter. Wir müssen langsamer fahren, bis wir endlich infolge eines plötzlichen Gewitters bei einer Geschwindigkeit von 25 Kilometern in der Stunde angelangt sind. Es ist das gewohnte tägliche Gewitter! Und während unseres Aufenthalts in Moskau war kein einziger Tropfen Regen gefallen!
Lebt wohl, ihr Straßen und Landschaften, ihr mittelalterlichen Häuser! Alles ist Wasser um uns herum, wie am Morgen alles Nebel war, Wasser, das uns nicht verläßt, bis wir nach Nowgorod am Ufer des Wolchow kommen, in der Nähe des stillen weiten Ilmensees. Keine Stadt hat auf uns einen so düsteren Eindruck gemacht als Nowgorod. Man könnte meinen, es trauere um verlorene Macht und Ruhm. Es lebt noch jetzt ein Sprichwort in Rußland, das da lautet: „Wer kann mit Gott streiten und wer mit Nowgorod?“
Es regnet noch, als wir Nowgorod am nächsten Morgen verlassen und den Kreml durchqueren, um den sich das entvölkerte, stille Städtchen drängt, als suche es noch jetzt den Schutz der starken zinnenbewehrten Mauern.
Unter der Geißel des Regens verbringen wir viele Stunden in verdrießlichem Schweigen, nur getröstet durch den Gedanken an die Nähe von Petersburg. Bald stoßen wir auf Villen, Gärten, Parke. Dann dichter, niedrigschwebender, schwarzer Rauch am Horizonte. In vier Stunden haben wir 128 Kilometer zurückgelegt.
Unvermutet stoßen wir auf ein Automobil. Es erwartet uns und hat die Aufgabe übernommen, uns den Weg zu zeigen. In großen Buchstaben steht auf ihm geschrieben: „Paris–Petersburg.“ Es ist ein kleines Automobil von 12 Pferdekräften, mit einer Rennkarosserie und genügend schnell. Es wird von seinem Besitzer gelenkt, Herrn Efron, einem der tätigsten Mitglieder des Petersburger Automobilklubs, der aus Paris gekommen ist.
Ein rascher Austausch von Grüßen, Händedrücke, und hinter dem Lotsen geht es weiter durch die breiten Alleen, die zu der berühmten kaiserlichen Residenz führen. Der Regen hat aufgehört.
Der Sand macht unsere Fahrt geräuschlos; die Automobile gleiten, fliegen hintereinander dahin. Nachdem wir aus den Parkanlagen heraus sind, wollen wir auf Petersburg zu. Mit einem Male ertönt an einer Straßenbiegung ein begeistertes Hurra, das uns zum Halten veranlaßt; eine lange Reihe von Automobilen erwartet uns! Wir steigen ab und sind von einer freudig erregten Menge umdrängt. Wir begrüßen den italienischen Militärattaché, der dem Fürsten die Glückwünsche des Botschafters überbringt, den italienischen Konsul, eine große Anzahl Mitglieder des russischen Automobilklubs, den Sekretär, der uns im Namen sämtlicher Automobilfahrer begrüßt, den Präsidenten des Petersburger Komitees für die Fahrt Peking–Paris und viele Damen, die unseren Wagen mit Blumen überschütten.
Automobile langen fortwährend an und bringen uns neue freudige Begrüßungen: wir sind eine Stunde zu früh gekommen. Man hatte vereinbart, sich an diesem Punkte zu treffen und uns dann entgegenzufahren, und wir waren schon zu der Versammlung erschienen. Wie in Moskau hatte der Fürst auf eine telegraphische Anfrage die Berechnung allzu sibirisch aufgestellt. So früh waren wir gekommen, daß man, um das Programm wieder in Ordnung zu bringen, uns bat, etwas zurückzufahren.
So kehren wir, anstatt nach Petersburg weiterzueilen, in die dunkeln Alleen des kaiserlichen Parkes zurück; alle Automobile folgen uns. Die Aufgabe, uns zu führen, fällt nunmehr dem mit einer Signalflagge versehenen Wagen des Präsidenten des Automobilklubs zu. Seltsam, die Flagge ist weiß mit einer roten Scheibe in der Mitte: die japanische Nationalflagge! Der geräuschvolle Zug fährt bis zum Bahnhofe von Zarskoje Selo, wo der Beschluß gefaßt wird, die Zeit auf bestmögliche Art, mit Essen und Trinken, totzuschlagen.
Das Restaurant wird gestürmt; es fließt Champagner, es wird angestoßen. Der Sekretär des Automobilklubs überreicht dem Fürsten im Namen des Klubs eine wertvolle Erinnerungsmedaille, die die Klubinsignien und das Petersburger Wappen in Gold, Silber und Emaille trägt. Inzwischen wird unserer Maschine ein anderes wertvolles Geschenk verehrt in Gestalt einer eleganten silbernen Platte mit den Chiffren des Klubs in Gold und mit der gravierten Inschrift: „Pechino–Parigi. Pietroburgo, 19 luglio 1907.“
2 Uhr ist die richtige Stunde, die Fahrt nach Petersburg wieder aufzunehmen, und wir brechen auf.
Wir betreten die Hauptstadt durch das Narwator, das der Schauplatz der bekannten Metzeleien gewesen ist, und gelangen ins Innere, auf die Große Morskaja, die Straße der feinen Welt, und auf den Marienplatz, wo sich das Denkmal Nikolaus’ I. erhebt, bewacht von weißbärtigen Invaliden in der alten Uniform der Gardegrenadiere.
Auf dem Petersplatze umringt uns die Menge und nötigt unsere Maschine für einige Augenblicke zum Halten. Wir befinden uns im Herzen Petersburgs und des Reiches, zwischen den Palästen des Heiligen Synod, des Senats, des Kriegsministeriums und der Admiralität, den Sitzen der russischen Macht. Es ist einer der großartigsten Plätze der Welt; noch nie hatte ich seine strenge Majestät so gefühlt wie jetzt, da ich plötzlich aus endlosen, menschenleeren, grauen Ebenen hierherkam.
Kaum setzt der Fürst in der Garage des Automobilklubs den Fuß zur Erde, so überreicht ihm ein Klubmitglied der alten russischen Sitte gemäß Brot und Salz als Zeichen der Gastfreundschaft. Damit ist die Feierlichkeit beendet, und wir können uns als einfache Privatleute im Hotel d’Europe der Volksbegeisterung entziehen. —
Am 20. Juli früh 4½ Uhr verließen wir die russische Hauptstadt, etwas müde von dem frühen Aufstehen nach nur drei Stunden Schlafs.
Das russische Komitee für die Fahrt, der Automobilklub und die italienische Kolonie hatten uns bei einem Bankett festgehalten, bei dem wir in unseren schmutzigen Reisekostümen erschienen waren. Das Ende des glänzenden Festes vermischte sich in unserer Erinnerung mit der Abfahrt. Als wir das Automobil wieder bestiegen, umdrängten uns viele der Gäste und wiederholten dieselben herzlichen Abschiedsworte und Wünsche, die sie uns wenige Stunden zuvor im Lichte der Kronleuchter bei erhobenem Glase ausgesprochen hatten.
Wir fuhren wieder durch die Straßen, die wir gekommen waren. Sie waren menschenleer und erschienen uns um so breiter und länger.
Als wir uns eine halbe Stunde später umwandten, sahen wir nur noch die in den Strahlen der aufgehenden Sonne glühenden Kirchturmspitzen über dem rosenfarbigen Nebel schweben.
Dank dem heiteren Wetter und der guten Straße kamen wir anfänglich rasch vorwärts. Dann aber strömte der Regen wolkenbruchartig nieder und begleitete uns mit größerer oder geringerer Ausdauer den ganzen Tag über.
Plötzlich wurden wir durch einen Unfall zum Halten genötigt: die rechte Hinterfeder war gebrochen. Die Schuld lag zum Teil an dem Kasaner Stahle, zum Teil an uns, weil wir alle Ersatzpneumatiks hinten auf das Automobil gelegt und so die Belastung der Feder gesteigert haben. In Moskau hatten wir uns mit einer Ersatzfeder versehen. In dem Augenblick, als wir sie an die Stelle der zerbrochenen bringen wollten, bemerkten wir leider, daß sie um einige Zentimeter zu kurz war! Ich weiß nicht, wie Ettore das Wunder vollbracht hat, Tatsache ist, daß es ihm gelang, die neue Feder einzusetzen. Sie war etwas zu sehr gespannt, funktionierte nicht in der richtigen Stellung und senkte sich tiefer herab als die andere, aber sie gestattete uns schließlich doch, die Fahrt fortzusetzen. Um ihre Belastung zu vermindern, wiesen wir den Ersatzpneumatiks und dem Gepäck eine andere Stelle an, auf dem Hintersitz, meinem Platze. So fuhren wir alle drei wie einst in der Mongolei und Transbaikalien im vorderen Teile des Wagens vereint; der Platz auf dem Trittbrett kam wieder zu Ehren.
Wir kommen durch Luga, am Nachmittag durch Pskow.
Wenn es, was selten eintrat, nicht regnete, steigerten wir die Schnelligkeit, da wir beabsichtigten, die Nacht in Dwinsk, 530 Kilometer von Petersburg, zuzubringen.
Während eines kurzen Aufenthalts, den wir machen müssen, um eine Pneumatik auszuwechseln, bieten wir den um uns versammelten Bauern Zigaretten an. Es ist das größte Geschenk, das man dem Muschik, einem eingefleischten Raucher, machen kann. Er kann sich nicht immer den Luxus leisten, Zigaretten zu kaufen, und raucht daher den schlechtesten Tabak, den er in Papierfetzen einwickelt, von denen er immer die Taschen voll hat; eine alte Zeitung wird zu diesem Zweck sehr geschätzt. Aber zu unserer Überraschung weisen die Bauern das Geschenk zurück. Sie gehören zu der früher hart verfolgten Sekte der „Altgläubigen“, einer Art von bilderstürmenden Puritanern, die sich in Masse in diese Gegend geflüchtet haben. Mitbrüder von ihnen haben wir als Verbannte in Sibirien angetroffen. Wir befinden uns also außerhalb des orthodoxen Gebietes, unter Leuten, die man sozusagen vor die Tür des Kaiserreiches gejagt hat. Dicht an der Grenze wohnen die verfemten Teile der Bevölkerung, als wollten sie jeden Augenblick zur Flucht bereit sein.
Der Abend naht; wir sind noch 75 Kilometer von Dwinsk entfernt. Die Müdigkeit übermannt uns, wir würden gern haltmachen, aber das Gefilde ist öde. Da stoßen wir vor einem einsamen Walde auf ein stillstehendes herrschaftliches Automobil. Ein Bedienter in Livree steigt, als er uns kommen sieht, vom Wagen, macht ein Zeichen, daß wir halten möchten, und überreicht dem Fürsten die Einladung eines reichen Herrn, der uns Gastfreundschaft in seinem Hause anbietet. Das wartende Automobil soll uns den Weg zeigen. Nichts konnte uns willkommener sein, und fort geht es durch die Alleen eines großartigen Parkes.
Unser Gastfreund ist der Ingenieur Kerbedy, ein Pole, der Erbauer der transmandschurischen Eisenbahn und Direktor großer Eisenbahngesellschaften. Wie im Traume sehen wir uns aus dem Regen und dem Schmutze der Landstraße in warme Zimmer versetzt, von Lakaien bedient, aufgeheitert durch die überaus liebenswürdige Herzlichkeit der gastlichen Familie, die sich zu unserer freudigen Überraschung mit uns in fließendem Italienisch unterhält.
Bei einem Wetter, das eines scheußlichen Dezembertages würdig gewesen wäre, nahmen wir am 3. August früh 4 Uhr, vor Kälte zitternd, unsere Fahrt wieder auf.
Dwinsk schlief noch, als wir es durchfuhren. Welche Traurigkeit lag über jenen stillen Städten, die wir während ihres Schlummers besuchten! Sie erschienen wie tot.
Die breite Düna überschreiten wir auf der Eisenbahnbrücke, die für Eisenbahnzüge, Fußgänger und Wagen bestimmt ist, und kommen auf die prächtige Militärstraße des Grenzgebietes. Hier zeigt sich wenigstens ein praktischer Nutzen des Krieges! Um zum Kampfe gerüstet zu sein, legen die Nationen an ihren Grenzen herrliche Straßen an. Wir finden den Weg so gut, daß wir trotz des Regens 40 Kilometer in der Stunde fahren.
Die Eindrücke dieses Tages lassen sich in zwei Worte zusammenfassen: Gewitter und Kruzifixe. Alle halben Stunden ein heftiges, betäubendes Unwetter und überall nichts als riesige Kruzifixe, am Ufer der Teiche, auf den Feldern, am Saume der Wälder, am Eingange der Ortschaften. Zuweilen sind es figurenreiche Gruppen, mit Schnitzereien und naiven vielfarbigen Bildwerken verziert; durch sie bekundet die polnische und lettische Bevölkerung, die früher religiösen Verfolgungen ausgesetzt war, feierlich ihren katholischen Glauben. Der Kampf stärkt den Glauben. Dieses Volk pflanzte seine Kruzifixe auf, wie man in der Schlacht das Banner entfaltet.
Kowno wird mit seinen roten Dächern ganz unvermutet vom Gipfel eines Hügels aus an den grünen Ufern des windungsreichen Riemen sichtbar. Die Stadt ist voller Gasthöfe mit italienischen Namen: Hotel Venezia, Napoli, Italia. Woher die seltsame Vorliebe der Gasthofsbesitzer von Kowno für unser Vaterland stammt, weiß ich nicht. Auf der Straße begegnen wir einem Automobil, von dem eine große weiße Fahne mit einer polnischen Inschrift weht. Es sind polnische Journalisten, die aus Warschau gekommen sind, um uns an die Grenze zu geleiten. Sie brechen in Hochrufe auf Italien aus, veranlaßt durch den angenehmen revolutionären Beigeschmack, den dieser Ruf ihrer Auffassung nach hat. Italien wird in Polen verehrt als die Sklavin, die sich erhob, kämpfte und frei wurde.
Die Kollegen erzählen uns dann ihr Abenteuer mit der Fahne. Das Tragen von Fahnen ohne Erlaubnis der Polizei ist verboten. Die Gendarmen hatten daher das Automobil angehalten und die behördliche Ermächtigung zum Führen der Fahne zu sehen verlangt.
„Aber das ist ja gar keine Fahne!“ hatten die polnischen Journalisten erwidert.
„Ja, es ist das denn sonst?“
„Es ist ein Firmenschild. Sind die Firmenschilder verboten?“
„Es scheint aber eine Fahne zu sein.“
„Scheint; es ist aber ein Firmenschild aus Stoff anstatt aus Holz oder Blech.“
„Was bedeuten jene Worte?“
„Lesen Sie sie doch!“
„Es ist Polnisch, das verstehen wir nicht.“
„Tut uns leid. In Polen spricht man polnisch. Das mußten Sie wissen, als Sie hierherkamen.“
„Schön! Ihre Namen! Sie werden der Polizei für Ihre Beleidigungen Rechenschaft geben.“
Die Fahne trug die Inschrift: „Warschauer Automobilfahrerbund.“
Während sie uns nach dem Gasthof geleiteten, holte uns ein Offizier ein; er war ganz außer Atem:
„Knjäs Borghese!“ rief er, „kommen Sie, bitte; die Frau Gouverneur erwartet Sie zum Wohltätigkeitsbasar des Roten Kreuzes.“
In einem Garten wurde ein Wohltätigkeitsbasar unter dem Protektorat der Gouverneurin veranstaltet, und diese liebenswürdige Dame hatte geglaubt, das Fest ertragreicher zu gestalten, indem sie uns und das Automobil zu dem bescheidenen Eintrittspreise von zehn Kopeken ausstellte. Die Idee war genial; wir lehnten aber höflich ab und zogen uns in den Gasthof zurück.
Wir hatten seit Petersburg 820 Kilometer zurückgelegt und waren nur noch wenige Stunden von der deutschen Grenze entfernt. In kurzer Zeit hatte sich alles um uns herum mit reißender Geschwindigkeit verwandelt: Rassen, Trachten und Sprachen. Seit mehr als einem Monat an die endlose Eintönigkeit des Russischen Reiches gewöhnt, hatten wir die Empfindung, als hätten wir unermeßliche Entfernungen durcheilt.
Wir hatten Kowno beim ersten Morgengrauen verlassen. An dem wieder heiter gewordenen Himmel blinkten noch einige Sterne, und die schmale Mondsichel verbreitete einen leichten Schimmer über die Kuppeln der Kathedrale. Aber unsere Eile, vor Tagesanbruch fortzukommen, wurde übel belohnt.
In der Dunkelheit verloren wir und unsere polnischen Freunde auf ihrem Automobil den Weg und verirrten uns in dem Labyrinthe der Befestigungen; von einer Schildwache wurden wir zur andern gewiesen. Gegen 4 Uhr fanden wir endlich die richtige zur Grenze führende Militärstraße wieder; es war eine seltsame Straße infolge der großen geweißten und symmetrisch längs der begrasten Ränder verteilten Steine, so daß sie einer Friedhofsstraße glich. Um 6 Uhr hatten wir die 100 Kilometer hinter uns, die uns noch vom Deutschen Reiche trennten. Dort liegt Wirballen, die letzte russische Stadt. —
41 Tage hatten wir gebraucht zur Durchquerung des Zarenreiches, in dem wir die größten Schwierigkeiten unserer Reise antrafen. Wir verließen es ohne Bedauern, aber nicht ohne Sympathie. Oftmals hätten wir das Automobil im Stiche lassen und auf die Durchführung unseres Unternehmens verzichten müssen, wenn wir bei den Bewohnern nicht stets Gutherzigkeit, Geduld und Gastfreundschaft gefunden hätten. Wir konnten an die kritischsten Augenblicke unserer Fahrt nicht zurückdenken, ohne daß uns die heitere, mystische, evangelisch-milde Gestalt des Muschik vor die Seele trat mit seinem blonden Barte, den langen Haaren, bemüht, uns aus dem Moraste herauszuhelfen, durch die Strömung der Flüsse hindurchzuführen und uns auch vor dem Hunger zu schützen.
Die Grenze ist durch eine kleine Brücke bezeichnet. An beiden Enden stehen an Pfählen, die mit Streifen in den Nationalfarben bemalt sind, zwei Wappen; sie sind einander zugekehrt: der russische Doppeladler beobachtet den deutschen einfachen Adler. Eine Kette sperrt den Zugang zur Brücke. Wir halten.
Unsere Pässe sind in einem Augenblicke visiert. Telegraphische Befehle haben alles im voraus geordnet, um uns jedes Hindernis aus dem Wege zu räumen. Die russische Zollverwaltung erteilt sofort die Erlaubnis zum Passieren. Wir können weiterfahren.
Die Kette wird vor dem Automobil herabgelassen, das sich langsam von dem einen Kaiserreiche zum andern hinüberbewegt. Die wachehabenden Gorodowoi grüßen uns militärisch steif. Rasselnd hebt sich die Kette hinter uns. — —
Wir sind in Deutschland!
Zwei deutsche Gendarmen mit der Pickelhaube legen die Hand an den Helm. In diesem Augenblick nähert sich uns ein Brausen von Motoren, untermischt mit fröhlichem Hörnerklange: drei Automobile erscheinen pfeilschnell auf der deutschen Straße.
Im Nu sind sie in unserer Nähe und halten, und es ertönt der erste deutsche Gruß, ein dreifaches „Hoch!“, zu gleicher Zeit von zehn Stimmen ausgebracht, während sich zehn Mützen in der Luft bewegen. Es sind Mitglieder der Sektion Königsberg des Kaiserlichen Automobilklubs. Wir antworten bewegten Herzens. Von diesem Augenblicke an traten wir gleichsam unter den hohen Schutz des Kaiserlichen Klubs, ein Schutz, der uns von Stadt zu Stadt geleitete und uns das wohltuende Gefühl verschaffte, überall eines freundschaftlichen Empfanges sicher zu sein.
Auch in der deutschen Grenzstation Eydtkuhnen werden die Zollgeschäfte rasch erledigt; eine Nummer wird an das Automobil befestigt, und wir erhalten die Erlaubnis, uns auf deutschem Boden frei bewegen zu dürfen; sie ist begleitet von einem Chauffeurpatent, das dem Fürsten ohne Examen eingehändigt wird. Um 7 Uhr brechen wir alle nach dem 150 Kilometer entfernten Königsberg auf.
Die Straße ist wundervoll; sie ist von Bäumen eingefaßt, unter deren Schatten wir dahinfliegen. Wir fahren durch Stallupönen mit seinen weiten roten Kasernen, die von Pickelhauben wimmeln, dann folgen Gumbinnen, Insterburg, Wehlau, alles Städtchen, von denen wir beim Dahinjagen kaum ein Bild erhaschen, schmuck, in Ordnung gehalten, von frischem, sauberem Aussehen, als seien sie eben erst erbaut.
In Königsberg langen wir um 10 Uhr an. Es ist eine elegante, malerische Stadt mit ihren alten Giebelhäusern, ihren schrägen Dächern, auf deren oberstem Rande Freund Adebar unbeweglich und sinnend dasteht, mit den spitzen Türmen und den altertümlichen Befestigungen, die mit Zugbrücken, die sich nicht mehr heben, ausgestattet sind. Alles fliegt in schwindelnder Eile, in bezaubernder Verwirrung an uns vorüber.
Von den Kollegen vom Automobilklub werden wir zu einem Frühstück in einem Gasthofe genötigt. Die Menge drängt sich an unserer Tür, eine disziplinierte, geschulte Menge, die uns mit taktmäßig im Chor aufgebrachten „Hochs“ begrüßt. Schüchtern überreicht uns ein kleines Mädchen Blumen und ergreift dann die Flucht.
Um 2 Uhr befinden wir uns wieder im Schatten der Bäume der großen Landstraße, und das schwindelerregende Vorbeihuschen einer Landschaft, die keine Zeit hat, sich unserem Gedächtnisse einzuprägen, nimmt von neuem seinen Anfang.
Es sind zierliche Dörfer, die aussehen, als habe sie ein Künstler verteilt, um Gemälde in der Natur herzustellen, Seen, Teiche, in denen sich das dichte Laub der Gebüsche widerspiegelt, Kanäle voller Kähne. Mit einem Male stoßen wir einen Ruf der Bewunderung aus: wir erblicken am Horizont das blaue Meer. Es ist das Frische Haff, das in Regenbogenfarben flimmert wie eine ungeheuere Muschel. Jenseits desselben verschwimmt in der Ferne die Danziger Bucht. In diesem blauen Duft bewegen sich Segelboote, weiße, schwebende Pünktchen. Freudig begrüßen wir dieses vom Atlantischen Ozean gespeiste Meer. „Gott zum Gruß, altes heimisches Meer! wir bringen dir Grüße vom Stillen Ozean!“
Um 3 Uhr kommen wir durch Braunsberg, eine halbe Stunde später nach Elbing. Um 4 Uhr kommt uns ein Bild aus dem Mittelalter zu Gesicht: die Marienburg, das phantastische Schloß, das Wilhelm II. so liebt, eine eindrucksvolle Heraufbeschwörung der Zeit vor sieben Jahrhunderten, imponierend großartig, einzigartig, halb Burg, halb Kirche, umgeben von alten, windschiefen Häusern, die aussehen, als neigten sie sich über das Gewässer der Nogat, um sich in deren ruhigen Fluten zu spiegeln.
Wenige Minuten später ist Marienburg in der Ferne verschwunden. Dirschau kommt mit seiner monumentalen Weichselbrücke, schließlich Preußisch-Stargard, ein bescheidenes Städtchen, das uns zur Ruhe einlädt. Es ist spät, und wir beschließen hier zu übernachten, so sehr verlockt uns die Ruhe des Ortes.
Bis Paris haben wir nur noch wenig mehr als 1500 Kilometer!
Das Ziel rückt näher.
Wechselnde Bilder. — Landsberg a. d. W. — Popularität ist lästig. — Berlin. — Von der Spree zum Rhein. — Auf belgischem Boden.
Von der Höhe des alten Kirchturmes von Preußisch-Stargard schlug es 6 Uhr, als wir am 5. August auf dem menschenleeren Marktplatz die Maschine bestiegen.
Seit Moskau hatten wir nicht mehr bis zu so später Stunde geruht; aber die Güte der Straße gestattete uns, etwas länger im Bett zu bleiben, da wir sicher waren, rasch den festgesetzten Haltepunkt zu erreichen. Heute abend sollten wir in Landsberg a. d. W. sein, das nur 130 Kilometer von Berlin entfernt liegt. Das Programm zu unserem Empfange beruhte auf dieser Voraussetzung. Am nächsten Tage sollten wir um 9 Uhr in Küstrin eintreffen, wo uns viele Automobile des Kaiserlichen Klubs erwarten wollten, um uns nach Berlin zu geleiten; unseren Einzug in diese Stadt sollten wir punkt 12 Uhr halten; auf 1 Uhr war ein Frühstück im Kasino des Automobilklubs angesetzt.
Statt dessen waren wir schon am selben Tage in Berlin; wir waren zu schnell gefahren! Seine Gastfreunde warten zu lassen, ist schlimm, aber früher anzukommen, ist noch schlimmer! Wir mußten unseren groben Verstoß, der das ganze Empfangsprogramm über den Haufen warf, nach Möglichkeit wieder gutmachen, und dies geschah dadurch, daß wir uns in der Hauptstadt der Pünktlichkeit als nicht angekommen betrachteten! Offiziell waren wir noch unterwegs nach Berlin, und das Bankettprogramm blieb für den nächsten Tag bestehen. Nur der feierliche Empfang war unrettbar ins Wasser gefallen!
Der Weg von Preußisch-Stargard an war entzückend; der Himmel war strahlend heiter, wie wir ihn seit langer Zeit nicht gesehen hatten. Fast sechs Wochen lang waren wir vom Regen verfolgt worden. Es war auch der erste Tag, seit wir die Mongolei verlassen hatten, an dem wir in den ersten Morgenstunden nicht unter der Kälte litten. Je weiter wir auf unserer raschen Fahrt nach Süden kamen, desto mehr fühlten wir die Sommerwärme unsere Glieder umspielen. Welch angenehme Empfindung war diese Rückkehr in eine Atmosphäre wie unsere heimische, die wonnige Heimkehr ins Vaterland! Mit welcher Freude legten wir die Pelze zum Gepäck!
Von 6 bis 11 Uhr fuhren wir sogar 60 Kilometer in der Stunde und erfreuten uns an der unendlichen Poesie der mit reifendem Getreide und Blumen bedeckten Felder; hier und da tauchten Gehölze auf, zwischen denen die spitzen roten Dächer friedlicher Dörfer hervorlugten. Durch wie viele kleine Städte wir gekommen sind, weiß ich nicht mehr; phantastisch verwirrten sich kaum gesehene und wieder verschwundene Dinge, Bilder, die wie ein Blitz vor unseren Augen vorüberzuckten, während uns bei unserer schwindelerregenden Schnelligkeit der Wind um die Ohren sauste!
Mitunter führte die Straße so tief in das Dunkel der Wälder hinein, daß wir an die sibirische Taiga erinnert wurden. Die Kiefernwälder hauchten in der Sonnenwärme ihren Duft aus. Für kurze Zeit kehrten wir in die von der Hand des Menschen unberührt gebliebene Natur zurück. Schlankes Wild springt über die Straße, wie in den Wäldern des Urals. Nach wenigen Minuten aber schwindet der Schatten und der Wald liegt in weiter Ferne hinter uns. Unser Blick schweift über sonnenbeschienene Felder, auf denen Landleute das Getreide mähen. Es kommen riesige, mit Garben und Heu beladene Wagen, auf denen Scharen lustiger, die blitzenden Sensen in die Höhe haltender Leute sitzen.
Wir kommen durch Czersk, Flatow, Dörfer, die kleinen Städten gleichen, im Unterschied zu Rußland, wo viele Städte großen Dörfern gleichen. Wir kommen durch Deutsch-Krone und treffen um 11 Uhr in Landsberg a. d. W. ein; beide Städte haben schon einen gewissen Anstrich von Klein-Berlin. Während wir langsam die Hauptstraße entlang fahren, ruft eine ängstliche Stimme: „Fürst Borghese!“
Jemand läuft hinter unserem Automobil her. Der Fürst erkennt in dem uns Verfolgenden einen der Direktoren der „Itala“-Werke. Außer Atem, ohne Hut, mit geröteten Augen begrüßt er uns freudig. Ihm folgt ein blonder Kollege von mir, vom „Berliner Lokalanzeiger“, auch er mit bloßem Kopfe. Sie waren die ganze Nacht im Automobil umhergefahren und hatten uns von Stadt zu Stadt gesucht; sie waren bis Dirschau gekommen und hatten vergebens nach uns gefragt. Zweimal waren sie unter den Fenstern des kleinen Gasthofes in Pr.-Stargard vorübergefahren, in dem wir sanft inkognito schliefen. Sie glaubten schon an irgendeine furchtbare Katastrophe und vermuteten, wir seien samt dem Automobil zugrunde gegangen, als sie von dem Fenster einer Bierstube aus uns unvermutet vorüberkommen sahen!
Sofort verbreitete sich die Nachricht von unserer Ankunft unter der Menge, die sich um uns ansammelte.
„Die Chinesen!“ ruft man, „die Chinesen!“
Wie auf Zauberschlag erscheinen Zeitungskorrespondenten und Photographen. Die Straßenbahnwagen halten, und die Fahrgäste betrachten uns verwundert durch die Wagenfenster. Die Schaffner vergessen ihren Dienst und stellen sich auf die Plattform; Polizisten eilen herbei, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Staubbedeckt, mit unseren scheußlichen, in Petersburg eingeweihten Automobilbrillen, die uns das Aussehen von Fröschen verleihen, halten wir uns dieser Bewunderung so wenig würdig, daß wir uns in eine Bierstube flüchten, um Bier und Ruhe zu finden. Dann entschließen wir uns zur Weiterfahrt nach Berlin, und um 1 Uhr rollen wir von neuem in der offenen Landschaft dahin. Einige Stunden später begegnen wir drei beflaggten Automobilen; es sind „Itala“-Maschinen aus Berlin. Sie sind besetzt mit Kollegen vom Automobilsport und Journalismus, unter denen sich Korrespondenten der hauptsächlichsten Blätter Italiens befinden. Der Telegraph hatte, während wir in Landsberg ahnungslos das frische Bier tranken, den Berliner Zeitungen die Nachricht unserer Ankunft gemeldet, und die Herren waren uns entgegengefahren. Es ertönen Evvivas und Hochs, Grüße und Händedrücke werden ausgetauscht, bis sich unsere Karawane in Bewegung setzt.
Wir halten in dem Städtchen Müncheberg, wo wir uns erinnern, daß wir noch nicht gefrühstückt haben; in einem kleinen Restaurant essen wir in einer Laube Frankfurter Würstchen, trinken eiskaltes Bier und halten den Interviewern stand, während ein Kranz von photographischen Apparaten sich darin gefällt, unsere Gesichtszüge im Bilde zu verewigen. Ein Zeichner porträtiert uns von allen Seiten. Nicht bewegen können wir uns, ohne irgendeinen Photographen zu erzürnen; dieser bittet uns, ihm das Profil zuzuwenden, jener, geradeaus in das Objektiv zu schauen. Wir wollen fort. Nein, wir können nicht. Gebieterische Stimmen erschallen: „Einen Augenblick noch halten Sie still! So!“ Die Popularität ist lästig. Die Wüste Gobi hatte doch ihre guten Seiten!
Nachdem endlich Platten und Films erschöpft sind, wird uns die Freiheit wiedergegeben. Wir nehmen auf den Automobilen Platz, die sich in Bewegung setzen, und rollen auf Berlin zu inmitten einer dichten Staubwolke, ohne etwas vor oder hinter uns zu sehen. Wir jagen dahin, wie in Sibirien an den nebelerfüllten Morgen, wenn sich der Weg auf wenige Schritt Entfernung in geheimnisvollem Grau verlor.
Wir haben am Automobil die Flagge entfaltet, die wir in den letzten Tagen um den Schaft gewickelt hatten, um sie zu schonen. Es ist noch die wollene Marineflagge, die uns von der italienischen Marinebesatzung in Peking überreicht worden war. Wie war die Flagge dort draußen so frisch! Ihre Farben glühten in der Sonne. Jetzt ist sie zerrissen, verblichen, schmutzig und nicht zu erkennen: von allen Winden ist sie zerfetzt, von allen Regengüssen ausgewaschen worden. Und doch ist sie uns so lieb und teuer; wenn wir sie hinter uns wehen, in der Luft flattern hören, ist es uns, als vernähmen wir die Stimme eines Freundes!
Um 4 Uhr durchschneiden wir den großen Kranz von Fabriken mit rauchenden Schornsteinen, die Berlin umgeben und von fern einer riesigen, die Anker lichtenden Flotte ähnlich sehen. Schließlich kommt eine große Straße, die anfangs von schüchternen Häusern eingefaßt wird. Wir gelangen auf einen breiten Boulevard, die Frankfurter Allee: die Häuser nehmen großstädtischen Charakter an, die Straße füllt sich mit immer reger werdendem Verkehr, der mit der Zeit fieberhaft wird. Wir befinden uns in der Königstraße, im Zentrum von Berlin.
Viele Leute erraten aus dem seltsamen Aussehen unseres Automobils, daß wir aus Peking kommen. Hier und dort begrüßt uns jemand. Wir fahren unter der Stadtbahn durch, auf der die Züge donnern. Wir kommen durch das monumentale Berlin: hier ist das Rathaus, dort das königliche Schloß. Wir gelangen auf die berühmte, stolze, belebte, aristokratische Straße „Unter den Linden“. Eine dichte Menschenmenge wartet vor dem Hotel Bristol, über ihr erglänzen die Helme der Schutzleute, die einen Kordon bilden.
Kaum steigt Fürst Borghese ab, so wird er begrüßt, umringt, umdrängt; die Menge folgt ihm und dringt mit uns ins Hotel ein, sie überflutet den Flur, die Salons, die Bureaus, bis es uns endlich gelingt, einen Fahrstuhl zu erreichen, der uns in die ersehnte Einsamkeit unserer Zimmer bringt.
Die Bankette finden programmgemäß statt.
Am 6. August mittags gibt der Kaiserliche Automobilklub uns zu Ehren in seinem prachtvollen Heim ein luxuriöses Dejeuner, bei dem der ganze Prunk einer offiziellen Feier entwickelt wird. Abends feiert uns eine zwanglosere Vereinigung von Landsleuten in der herzlichsten und wärmsten Weise durch ein Diner. Zwischen diesen beiden Festen wird uns eine Erfrischung (warum spricht man nur immer von „Erfrischungen?“ Unsere Sprache hat bisweilen Ausdrücke voll ungesuchter Ironie) von den französischen Journalisten geboten, die aus Paris gekommen sind, um mit uns zusammenzutreffen. Die Pariser Gastlichkeit und Berichterstattung sind bis hierher vorgedrungen, und zwar im Automobil. Der angesehenste der Pariser Kollegen ist unstreitig der Vertreter des „Matin“, des Houx, der seinen glänzenden schriftstellerischen Eigenschaften neuerdings noch eine religiöse Tätigkeit zugesellt hat, die darauf hinausgeht, eine französische Kirche zu gründen, deren Oberpriester er einige Tage lang gewesen ist. Er ist natürlich der Leiter, ich möchte beinahe sagen, der geistliche Leiter der journalistischen Brüderschaft.
Unser Automobil kostet inzwischen einen Vorgeschmack der Ruhe. Bekränzt mit Blumen und Lorbeer zeigt es sich Unter den Linden im großen Schaufenster der „Itala“-Gesellschaft. Die Menge drängt sich, es zu sehen; die Tür des Geschäfts ist geschlossen, um ein Eindringen zu verhüten; die Schutzleute müssen immer wieder die Straße säubern und den Verkehr herstellen. Wir sind gekränkt, unser „Tier“ dort zu sehen; sein unerwarteter Stolz beleidigt uns. Er macht Reklame!
Am Morgen des 7. August waren wir, bevor noch der Diener an unsere Türen klopfte, um uns zu melden, daß die Stunde des Aufbruchs gekommen sei, durch das Trommeln des Regens an die Fensterscheiben geweckt worden. Wir sahen eine neue lange, traurige Tagereise im Regen vor uns; in ungewohnter Liebenswürdigkeit hatte das Wetter aber nur die Straße sprengen wollen, um den Staub niederzuschlagen.
Im Augenblick, als wir das Automobil bestiegen, kam hier und da schon der blaue Himmel zum Vorschein. Der nasse Asphalt der breiten Allee „Unter den Linden“ spiegelte diese glückverkündende Heiterkeit des Himmels wider. Neben unserem Automobil warteten Automobile des Kaiserlichen Klubs, um uns bis Potsdam das Geleit zu geben, andere, Privatleuten gehörige Automobile und von Neugierigen gemietete waren erschienen, unserer Abfahrt beizuwohnen. Kurz, es schien hier das gesamte Automobilwesen vertreten zu sein, die Automobile des Luxus und die der Arbeit, die Aristokratie und die Demokratie des Motors.
Um 5 Uhr trafen die Vertreter der französischen Zeitungen ein. Sie fuhren auf drei „Itala“-Maschinen, die an beiden Seiten in großen Buchstaben die Inschrift: „Pékin–Matin“ trugen, in welchen Wortlaut der gewandte „Matin“ im letzten Augenblick die Inschrift „Peking–Paris“ umgeändert hatte.
Alles ist bereit, die Maschinen setzen sich in Bewegung. Ein begeistertes „Evviva!“ ertönt aus der Menschenmenge um uns, die großenteils aus Italienern besteht. Einige hatten den Mut gehabt, sich bei Tagesgrauen zu erheben; zahlreiche Herren dagegen waren noch nicht zu Bett gegangen und kamen im Gesellschaftsanzug. „Hoch! Glückliche Reise!“ Die Rufe wiederholen sich. Der Automobilzug entfernt sich durch die menschenleere Straße.
Immer wieder fahren Wagen aus der Reihe heraus und bleiben Seite an Seite mit uns, um ihre Abschiedsgrüße und guten Wünsche zu wiederholen und uns Blumen zuzuwerfen. Wir erheben keinen Einspruch mehr und nehmen alle Huldigungen hin. Wir sind nicht einmal mehr überrascht wie in Moskau, wo wir den ersten Beifall vernahmen. Wir lassen uns die Popularität gefallen als eine unvorhergesehene, unerwartete und das Maß überschreitende Belohnung für die frühere Einsamkeit. Die uns umgebende Atmosphäre der Anteilnahme bewegt uns tief; das Wohlwollen der Menge, wenn es auch unverdient ist, dringt uns doch ans Herz: dankbar lauschen wir dieser unablässigen, ernsten Stimme, die uns zuruft: „Glückliche Heimkehr!“
Die in Unordnung geratene Gruppe der Automobile, über denen deutsche und italienische Flaggen wehen, fährt durch das Brandenburger Tor und durchquert die berühmte Siegesallee, wo aus dem üppigen Grün des Tiergartens die Bildsäulen der großen deutschen Männer herausschimmern, wie zu phantastischer Heerschau aufgereiht. Nach wenigen Minuten befinden wir uns auf den noch schweigsamen Straßen der vorstädtischen Quartiere. Die Automobile wecken sie durch den mißtönenden Klang sämtlicher Hupen und Hörner, eine barbarische Fanfare, ein tolles modernes Hallali!
Bald entschwinden die Kuppeln und Zinnen unserem Blick; wir kommen in eine Villen- und Gartenstadt. Berlin mit seiner ernsten Pracht liegt schon fern, auch diese Stadt nur noch eine flüchtige, freundliche Erinnerung wie Petersburg, wie Moskau! Wir haben jetzt keine andere Hauptstadt mehr vor uns als Paris.
Nach Paris also!
Der Fürst steigert die Geschwindigkeit. Nicht alle können uns folgen. Die letzten Abschiedsrufe verklingen in der Ferne. Wer nicht die Kraft hat, uns zu folgen, schickt uns seinen Gruß nach. Wir bleiben allein mit den Wagen des Automobilklubs, die uns vorausfahren, und denen der französischen Kollegen, die uns folgen: sieben große Automobile, die mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern in der Stunde dahinjagen.
Um ½6 Uhr kommen wir durch Potsdam mit seinen niedrigen, weißen Häusern, die in grüne Gebüsche eingebettet sind — wie um besser die Stille zu bewahren, die sich für einen kaiserlichen Hofhalt geziemt. Die Stadt ist von melancholischen, träumerischen Seen und Kanälen umgeben, auf deren klaren Fluten kleine, weiße Jachten schaukeln. Wir befinden uns in einer aristokratischen Umgebung, die den Ackerbau verschmäht.
Aber bald ändert sich das Bild. Von neuem sind wir inmitten des Reichtums der Felder. Wir nehmen von den gastlichen Freunden des Automobilklubs Abschied. Um ½7 Uhr passieren wir Brandenburg und begegnen Scharen von Arbeitern, die auf dem Zweirad aus ihren Wohnungen auf dem Dorfe kommen und rasch dahinfahren, ein Bündel auf dem Rücken und eine große Pfeife mit Porzellankopf im Munde. Oft müssen wir langsamer fahren, um Milchwagen vorbeizulassen, die von einem Menschen und einem Hunde gemeinschaftlich gezogen werden.
Eine Batterie, die sich zur Felddienstübung begibt, versperrt die Straße; einige Minuten halten wir mit den Pferden gleichen Schritt und fahren zwischen den Soldaten mit blitzenden Helmen und inmitten des Dröhnens der Protzkasten und Lafetten. Einige Soldaten erkennen uns und lächeln uns zu, da sie uns nicht grüßen dürfen, ohne gegen die Disziplin zu verstoßen; sie flüstern ihren Kameraden etwas zu, die sich umwenden und sofort Platz machen, um uns vorbeizulassen.
Später begegnen wir einer Husarenpatrouille auf Vorposten, die unbeweglich im Sattel sitzt, die lange Lanze mit dem schwarzweißen Fähnchen umgekehrt in der Hand haltend, um sich durch das Flattern nicht dem markierten Feinde zu verraten. Augenscheinlich geraten wir auf den Kriegsschauplatz. In der Tat erhebt sich dort in der Ferne die Staubwolke einer Kavallerieestadron, die gestreckten Galopps vorübersprengt.
Als wir um 8 Uhr in Magdeburg eintreffen, werden wir durch ein neues militärisches Schauspiel zum Halten veranlaßt, ein Infanterieregiment marschiert vorbei. Die Soldaten singen im Chore ein Lied, und wir empfinden den starken Eindruck, den dieser Gesang kräftiger, tiefer Soldatenstimmen auf jeden macht.
Ein Augenblick, und die Szene wechselt.
Wir fahren über den Marktplatz von Magdeburg mit seinen heiteren Farben, seinem regen Leben, den überall sichtbaren weißen Hauben der Bäuerinnen; eine alte Kirche wirft den langen, schmalen Schatten ihrer gotischen Türme über all das geräuschvolle Treiben. Aber so interessant die Städte auch sein mögen, sie machen uns doch ungeduldig, weil sie uns aufhalten.
Wir sind nur zufrieden, wenn auf dem Automobil der Übersetzungshebel bis zur vierten Geschwindigkeit herabgedrückt ist und das Fahrzeug davonschießt, wie ein Meteor die Luft zerteilend. Der Fürst will möglichst rasch vorwärts; um sicher am 10. August, dem in Moskau festgesetzten Datum, in Paris einzutreffen, zieht er es vor, sich lieber nahe am Ziel einige Tage Ruhe zu gönnen, als die Tagesleistungen zu verkürzen. Es überkommt ihn die seltsame Furcht, daß er jetzt, gerade jetzt, am Eintreffen verhindert werden könnte, und er will sichergehen. Es ist das Ankunftsfieber, an dem wir leiden.
Der Himmel hat sich umzogen. Um 9 Uhr kommen wir durch Helmstedt mit seinen alten malerischen Toren, sodann durch Königslutter, aus dem ich mich nur blumengeschmückter Fenster und mit Grün bedeckter Mauern entsinne, hierauf durch das große, geräuschvolle Braunschweig, wo bei unserer Ankunft ein heftiges Gewitter ausbricht.
Der Regen peitscht uns ins Gesicht. Als wir uns aber Hannover nähern, strahlt die Sonne wieder. An einer Straßenbiegung stoßen wir auf Automobile: wir werden festlich empfangen. Mitglieder des Automobilklubs sind nebst vielen Landsleuten erschienen, um uns zu begrüßen. Gegen Mittag treffen wir in Hannover ein. Nachdem wir zu einem auserlesenen Frühstück eingeladen worden waren, wir wissen nicht genau, wo und von wem, das uns aber auf jeden Fall sehr gut geschmeckt hat, brechen wir um 2 Uhr wieder auf, während sich die Begrüßungen erneuern.
Dann begegnen wir einer Schar Knaben auf dem Wege zur Schule; die Bücher unter dem Arme, gehen sie gut gezogen in Gliedern nebeneinander her, unter ihren grünen Mützen schauen sie ernst drein. Sie erkennen uns; augenscheinlich haben sie die Berliner Zeitungen gelesen. An jedem Orte sind die Knaben unsere eifrigsten Bewunderer. Sie bringen uns Huldigungen aus dem Stegreife dar, und der Ernst schwindet für einen Augenblick aus ihren Zügen. Unsere Reise muß in ihren jugendlichen Köpfen als eine unendlich größere Leistung erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.
Wir wenden uns nach Minden, um das wir herumfahren; von der Stadt sehen wir nur die Gärten und die spitzen Dächer hinter Bäumen. Wir kommen durch Städte, Flecken, Dörfer, von denen wir nicht einmal die Namen auf der Karte aufsuchen — so rasch ist unsere Fahrt. Und dann verleiht das Unbekannte den Dingen, die wir sehen, einen geheimnisvollen Zauber.
In manchen kleinen Städten fahren wir durch Straßen, an denen hohe, alte Häuser sich mit ihren dreieckigen Giebeln nach vorn neigen und Balustraden und Fenster wie auf der Suche nach Licht vorspringen lassen; mittelalterliche Häuser, die, in das Holz ihrer Fassaden geschnitzt, drei bis vier Jahrhunderte alte Daten, alte Sprichwörter, Rittergestalten tragen, die den Eindruck hervorrufen, als betrachteten sie voll maßlosen Staunens das Automobil, das bei seinem Vorbeifahren ihre lange Ruhe stört.
Um 5 Uhr befinden wir uns in Bad Oeynhausen, einem an Mineralquellen reichen Orte. Ein Reporter springt auf das Automobil und interviewt den Fürsten im Fluge. Überall sieht man auf Fahrstühlen ausgestreckte Kranke; einer von diesen erhebt sich mit Mühe und ruft „Hoch!“ Alle die Unglücklichen, die sich in unserer Nähe befinden, begrüßen uns, von Begeisterung ergriffen, und bewegen sich auf ihrem Schmerzenslager. Wir lächeln, aber dieser Gruß von seiten des Leidens und der Schwäche an die triumphierende Gesundheit und Kraft ließ uns längere Zeit verstummen.
Um 7 Uhr gelangen wir nach Bielefeld, wo wir halten, um zu übernachten.
Unser erster Gedanke ist der, ein einfaches arithmetisches Exempel auszurechnen. Wir messen auf der Karte die Entfernungen zwischen den einzelnen Städten und gelangen zu einer Reihe Posten, deren Resultat uns einen Freudenschrei entlockt. Die Summe beträgt 680.
Paris ist nur noch 680 Kilometer entfernt!
Am folgenden Tage, 8. August, überschreiten wir um 6 Uhr abends bei Eupen die belgische Grenze und gelangen nachts nach Lüttich. An diesem Tage sind wir also von Westfalen an den Rhein, vom Rhein nach Belgien mit solcher Geschwindigkeit gefahren, daß alles um uns herum von Stunde zu Stunde wechselte, der Tag uns aber lang wie ein Leben erschien. Die Eindrücke überstürzen sich in unserem Geiste, sie verjagen und verdrängen einander aus dem Gedächtnis. Die Ereignisse des Morgens lassen am Abend nur noch eine dumpfe Erinnerung zurück.
Vielleicht ist dies eine Folge der Aufregung, die uns beherrscht, der unbestimmten, uneingestandenen Angst, die uns befällt infolge der Nähe des Zieles, infolge der Erwartung, daß der Traum langer Monate endlich in Erfüllung gehen soll. Alle unsere Geisteskräfte streben in einer Art Beklemmung vorwärts. Jede Geschwindigkeit erscheint unserer Sehnsucht zu klein, wir leben nicht so sehr in der Gegenwart wie in der Zukunft; daher verschwindet die Vergangenheit ganz. Es geht unseren Gedanken geradeso wie den Bildern, die wir im Vorbeijagen sehen: kaum zeigen sie sich, so werden sie schon von der Staubwolke verdeckt, die hinter uns herwirbelt.
In Bielefeld wurde — es ist überflüssig, es noch besonders zu erwähnen — Fürst Borghese zu einem Bankett eingeladen. Ich glaube, selbst wenn wir in einem Walde haltgemacht hätten, würden wir einen gedeckten Tisch und ein „Lokalkomitee“ haben auftauchen sehen, um uns mit erlesener, herzlicher Gastlichkeit zu begrüßen! In Deutschland wollten alle Sektionen des Automobilklubs uns feiern, und da es in Bielefeld keine Sektion gibt, so kamen Mitglieder des Kölner Klubs auf einem Rennwagen herüber. Sie waren abgefahren mit dem festen Vorsatz, uns zu finden, wo wir auch seien!
Das schnelle Automobil aus Köln diente uns von Bielefeld an als Führer. Aber der Führer sauste mit der schwindelerregenden Schnelligkeit von etwa 90 Kilometern in der Stunde voran und verführte uns und die andern Fahrzeuge, die die Pariser Journalisten trugen, zu einer rasenden, verzweifelten Jagd. In der aufgewirbelten Staubwolke schossen wir blitzschnell durch die Landschaft wie die apokalyptischen Reiter.
Um dieses Übermaß von Schnelligkeit wieder wettzumachen, wollte es die Nemesis, daß der Führer verschiedene Male den Weg verlor. Einmal, bei Wiedenbrück, wurden wir genötigt, die richtige Straße quer über die Felder zu suchen; so konnten sich unsere Gefährten einen kleinen Begriff von den zu den besseren gehörenden Wegen in Sibirien machen!
Um 10½ Uhr sind wir schon zwischen den Hügeln der Rheingegend; bergauf und bergab geht es auf gewundenen Wegen, die sich durch eine ununterbrochene Reihe von Dörfern und Flecken hinziehen; alle starren von Fabrikschornsteinen und sind vom Getöse der Arbeit erfüllt.
Wir kommen in einen Ort, über dem dichter Rauch einen düsteren Schatten breitet: nach Barmen mit seinen zahllosen industriellen Betrieben. Wie fern von uns liegen die idyllischen Landschaften Preußens und Pommerns und die malerischen, altertümlichen Städte Brandenburgs, auf deren mittelalterlichen Plätzen sich die riesigen, rohausgeführten Rolandsäulen erheben, die über Gemüsemärkten Wache halten!
Um 11 Uhr öffnet sich unvermutet das leuchtende Rheintal vor uns. Funkelnd flutet der mächtige, zauberhafte Strom in Schlangenwindungen dahin; an seinen Ufern erhebt sich ein Wald von Spitzen: es ist Köln, überragt von den riesigen spitzen Doppeltürmen seines Doms.
In Köln ziehen wir mit einem langen Ehrengeleite von Automobilen ein. Wir überschreiten den rasch dahinströmenden, klaren Rhein auf der Schiffsbrücke und werden nach dem Kasino des Kaiserlichen Automobilklubs geleitet, wo wir ein durch zahlreiche Trinksprüche gewürztes luxuriöses Frühstück vorfinden. Der Fürst antwortet mit einer Rede, die, glaube ich, seine fünfzigste ist, seitdem wir europäischen Boden betreten haben! Man sieht hieraus, daß man, um eine Automobilfahrt von Peking nach Paris zu unternehmen, auch Redner sein muß!
Um 3 Uhr brechen wir wieder auf. Der flinke Lotse vom Vormittag fährt wieder voran, um uns den Weg zu zeigen. Aber in dem benachbarten Dorfe Müngersdorf rennt er infolge seiner übermäßigen Schnelligkeit gegen ein Haus, zertrümmert die Wand und fährt durch sie hindurch, glücklicherweise ohne die Bewohner zu verletzen. Ich weiß nicht genau, wie sich der Unfall ereignet hat; als wir ins Dorf kamen, fanden wir das Lotsenautomobil umgestürzt am Boden liegen neben dem aufgerissenen Hause, durch dessen ungeheuere Bresche man das bescheidene Mobiliar erblickte, während der Automobilfahrer unerschrocken vor den herbeigeeilten, empörten Bauern stand und, auf die Trümmerstätte deutend, zu uns sagte:
„Messieurs! Regardez ce que j’ai fait!“
Hierauf setzen wir unsere Fahrt allein fort, nachdem wir mit den Mitgliedern des Automobilklubs, die uns bis Müngersdorf gefolgt sind, herzliche Abschiedsgrüße getauscht haben.
Die Nachricht von unserer Durchfahrt ist überallhin telegraphiert worden: viele Leute rufen uns „Adieu“ zu. In einigen Städten haben die Lehrer ihre Schüler vor den Schulen aufgestellt, damit diese das Automobil, das von Peking kommt, sehen können — ein vortrefflicher Ansporn für das Studium der Geographie. Die Kinder begrüßen uns mit hellen, fröhlichen Stimmen. Reihen von blonden Schülerinnen klatschen voll Begeisterung in die Hände.
Um 5 Uhr fahren wir in die Vorstädte Aachens ein. Leute strömen in Menge herbei, begrüßen uns mit Hochrufen und guten Wünschen, als wir vor einem Café halten, um einige Gläser frischen Bieres zu leeren. Wir finden einen neuen dienstwilligen Lotsen, der aber die Straße verfehlt und die Richtung nach Brüssel einschlägt. Wir bemerken es noch rechtzeitig und wenden uns Lüttich zu. Rasch nähern wir uns der Grenze.
Nach so vielen festlichen Empfängen wird uns schließlich auch ein weniger wohlwollender Gruß zuteil: eine alte Bäuerin, die am Fenster steht, während wir im Schritt durch ihr Dorf fahren, ballt wütend die Fäuste gegen uns und ruft uns giftig zu:
„Ich erkenne euch wieder, ihr Kanaillen! Ihr seid es, die mir am Donnerstag meine Henne überfahren haben! Zahlt jetzt gefälligst!“
Die Beschuldigung ist zwar ungerecht, aber sie kränkt uns nicht. Wir setzen unseren Weg in fieberhafter Eile fort.
Jetzt sind wir an der Grenze, einer harmlosen Grenze ohne Ketten, an der wir kaum den bescheidenen Pfahl bemerken, der das Ende des deutschen Gebietes bezeichnet. Das Zollamt liegt entfernt von der Straße, und wir verlieren eine halbe Stunde, bis wir es finden.
Unsere Ankunft in Belgien erzielt bei der Bevölkerung einen Heiterkeitserfolg. Der Telegraph hat uns diesmal nicht angemeldet; unsere Reiseroute ist nicht bekannt. Für die Leute, die uns sehen, sind wir komische Wesen auf einem komischen Automobil.
In Verviers schreit eine alte Krämerin:
„Oh, les laids!“ (Sind die aber häßlich!)
Kurz darauf ruft ein Kutscher in überzeugtem Tone:
„Oh, les laids!“
Der Ruf scheint ein neuer Gruß zu sein. Er pflanzt sich fort. Von allen Seiten hören wir: „Oh, les laids!“ Wir selbst zweifeln keinen Augenblick daran, daß der Ruf ganz aufrichtig gemeint ist. Alle bleiben stehen, betrachten uns und lachen, als sähen sie die komischste Maskerade. Wir müssen in der Tat aussehen wie drei Landstreicher auf einem Automobil!
Plötzlich hält uns ein Polizist an, dem unsere Erscheinung ebenfalls verdächtig vorkommt.
„Wer sind Sie?“ fragt er den Fürsten, der am Steuerrade sitzt.
„Fürst Scipione Borghese“, erwidert dieser ehrerbietig.
Der Polizist glaubt, man wolle ihn zum besten haben, steckt eine barsche Miene auf und donnert:
„Sie, Sie ein Fürst? Sie?“
Don Scipione macht eine Bewegung, als wollte er sagen: „Ja freilich!“
„Das ist nicht wahr!“ nimmt der Polizist wieder energisch das Wort. „Sie sind ein belgischer Chauffeur. Ich erkenne Sie wieder.“
Auch er erkannte uns wieder! Genau wie die Alte mit der Henne!
„Ich erkenne Sie wieder; verstanden? Und ich nehme Sie in Strafe, weil Sie zu rasch gefahren sind. Sie kennen das Reglement sehr gut. Zehn in der Stunde“ — er zieht sein Notizbuch hervor, befeuchtet die Spitze des Bleistifts und fügt hinzu: „Ihr Name und Ihre Adresse?“
„Fürst Scipione Borghese, Adresse: Palazzo Borghese in Rom.“
„Wie? Noch einmal? Nun hört mir aber der Spaß auf! Zeigen Sie Ihre Papiere!“
Die Papiere werden vorgezeigt. Der Polizist prüft sie und ruft:
„Das sind nicht Ihre Papiere. Sie sind ein Chauffeur! Weshalb geben Sie sich für einen Fürsten aus? ... In einem solchen Aufzuge! Schämen Sie sich etwa, nur ein Chauffeur zu sein? Jeder verdient sein Brot, wie er kann! Woher kommen Sie?“
„Aus Peking.“
„Aus ... Peking? Borghese ... Ah!!“
Das Gesicht des Polizisten erhellt sich. Er besinnt sich — jetzt versteht er — bedauert tief — geht von der Strenge zur Ehrerbietigkeit über — grüßt — und ruft dienstbeflissen:
„Passez, Monseigneur! Bon voyage!“
Eine halbe Stunde später treffen wir in Lüttich ein, gerade als die Straßenlaternen angezündet werden.
Paris.
An der Maas entlang. — Die französische Grenze. — Reims. — Die Reliquiensammler. — Meaux. — Eine schlaflose Nacht. — Die letzten Stunden. — An den Toren von Paris. — Auf den Boulevards. — Die Fahrt ist zu Ende!
In Lüttich bemerkten wir, daß sich unser Automobil wie ein Album nach und nach mit Namenszügen bedeckte. Sie waren mit Bleistift auf die Benzinbehälter und auf den Kasten für die Reservestücke geschrieben: fast alles unbekannte Namen, begleitet von den Daten von Moskau, Petersburg, Königsberg, Berlin! Ettore schonte beim Putzen der Maschine diese Schriftzüge, die ebenso viele anteilvolle Wünsche und bescheidene Freundschaftsbekundungen von Leuten darstellten, die wir vielleicht gar nicht gesehen hatten und die wir nie wiedersehen würden.
Ettore hörte keinen Augenblick auf, das Automobil liebevoll zu pflegen und zu warten. Wenn es bis hierher gekommen war, so verdankten wir dies großenteils seinem Eifer. Auch jetzt schlief er neben ihm ausgestreckt. Seine Liebe war zur Eifersucht geworden. Er gestand, mit Schmerz an den Augenblick zu denken, an dem er sich von ihm trennen müsse.
Am 9. August früh 5½ Uhr ergriff der Fürst das Steuerrad, und wir fuhren in der Richtung auf Namur weiter. Wir durcheilten auf den noch menschenleeren Straßen rasch Lüttich bis zur Maas, längs deren Ufern wir einen entzückenden Weg einschlugen.
Der heitere Tag machte auch die Maas heiter, deren ruhig dahinfließendes Wasser in blitzendem Flimmern das grüne Gebüsch der Hügel, die Bogen der Brücken, die Takelage der Boote und Jachten widerspiegelte. Die Maas hat Stellen, an denen sie einem See von großer Länge gleicht, der hier und da von dem dichten Schatten der Rauchwolken verfinstert wird, die die zahlreichen Kohlenbergwerke wie Vulkane unaufhörlich ausstoßen.
Paris ist nur noch 388 Kilometer entfernt!
Wir kommen durch Huy und nach Namur, das von den weißen Mauern der alten Zitadelle überragt wird. Breite Barken fahren den Fluß hinauf, gezogen von starken Pferden, die unsere Straße benutzen und sie oft versperren; dann fahren wir langsam und sehen die Reihe der vier „Itala“-Maschinen sich zusammenschließen. Die Vertreter der Pariser Presse, sympathische Reisegefährten, folgen uns auf dem Fuße. Wenn das Tal sich enger zusammenzieht, erfüllen wir es ganz mit Staub, der wie ein Nebel an den Hügeln emporsteigt. Um 8 Uhr sind wir in Dinant.
Nach einer Viertelstunde zeigen wir einander etwas, das uns von unseren Sitzen emporspringen läßt: die erste französische Flagge, die am Hinterteile eines die Maas hinabfahrenden Dampfers weht.
Dann kommen wir bei Agimont an die französische Grenze. Wir würden es gar nicht bemerkt haben, wenn nicht ein belgischer Zollbeamter uns angehalten hätte, um uns in der Ferne das auf einem Seitenwege erreichbare Zollamt zu zeigen, auf dem wir die Zollgeschäfte rasch erledigen.
„République Française“ lesen wir auf einer halb zwischen Bäumen versteckten Tafel. Halt! Wir bringen das Automobil zum Stehen. Die gastlichen Pariser Kollegen wollen den Augenblick, in dem wir den Boden Frankreichs betreten, festlich begehen. Es kommen Champagnerflaschen und Gläser zum Vorschein, die aus einem ländlichen Gasthofe der Umgebung stammen; im Nu sind die Gläser gefüllt und die Flaschen geleert. Das stille Tal hallt mit einem Male wider von Evvivas auf Frankreich und Italien!
Rasch besteigen wir wieder die Maschinen. Die französischen Zollbeamten halten uns nicht lange auf, und bald sausen die vier mächtigen Automobile auf den breiten, wundervollen französischen Straßen dahin.
Paris ist noch 300 Kilometer entfernt!
Jetzt sind wir in dem befestigten Givet. Auf dem grasbewachsenen Glacis blühen Mohnblumen. Aus den großen Kasernen begrüßen uns am Fenster stehende Soldaten.
Die ungeheuere Fabrik, die Belgien in Wahrheit ist, haben wir verlassen. Nun scheint die Sonne uns strahlender, der Himmel blauer; eine ungekannte Freudigkeit liegt über Frankreich ausgegossen. Aber vielleicht hat diese Freudigkeit in uns ihren Sitz.
Um 10 Uhr kommen wir durch Fumay, bekannt durch seine Schieferindustrie. Zollbeamte halten uns wieder an, um unsere Papiere zu prüfen. Wir fahren an den sanften Abhängen der Ardennen empor, die von Wäldern beschattet werden, die schon an unsere Flora erinnern. Wie es uns erquickt, das schöne, verführerische bunte Bild einer Vegetation zu erblicken, die wir so sehr lieben! Lebt wohl, ihr frischen regelmäßigen strengen Nadelwälder! Die Straßen gleichen Gartenalleen, so gleichmäßig und eben sind sie. Wir berühren sie kaum, als schwebten wir über sie hinweg.
Rocroy mit seinen historischen Befestigungen kommt in Sicht. Auf dem Marktplatze halten wir, um Benzin einzunehmen. Die scharfriechende Flüssigkeit rinnt gurgelnd in die Behälter, und die leeren Behälter, die wir die „Leichen“ nennen, werden auf den Boden gestellt. Die Maschinen frühstücken.
Paris ist noch 263 Kilometer entfernt!
Während wir durch den Wald fahren, springt hinter den Bäumen ein Zollwächter hervor, der uns zu halten befiehlt, während ein Kamerad sich in größerer Entfernung zeigt. Er schwingt ein Gewehr und hält sich bereit, uns im Notfalle mit überzeugenden Beweisgründen zum Halten zu veranlassen. Es findet abermals eine Prüfung unserer Papiere und eine Besichtigung der Maschine statt. Nachdem sich die diensteifrigen Zollwächter überzeugt haben, daß wir keine Kontrebande in das Gebiet der Republik einschmuggeln, lassen sie uns weiterfahren.
Um 12½ Uhr betreten wir Reims. Reims! Auf wie vielen Flaschen haben wir nicht diesen Namen gelesen! Wir denken an all die Toaste, die in den letzten Tagen ausgebracht worden sind, in den Händen Gläser mit einem Wein gefüllt, der stets den Anspruch erhob, aus Reims zu stammen. Bratengeruch macht sich bemerkbar, und in den niedrigen Fenstern hört man das Klirren in Tätigkeit gesetzter Bestecke und das Klappern von Tellern; es ist die Stunde des Mittagessens in dieser stillen Provinzstadt. Auch wir beschließen, zu diesem Zwecke zu halten.
Auf der Hauptstraße laufen die Leute zusammen und begrüßen uns. Ein Straßenbahnschaffner lehnt sich, während wir vorüberfahren, aus seinem Wagen heraus und ruft dem Fürsten vertraulich zu:
„Ça c’est bien, mon petit!“ (Gut so, mein Junge!)
Die Fahrgäste klatschen Beifall.
Wir gelangen an die wundervolle Kathedrale. Kaum haben wir Zeit, einen entzückten Blick auf den prächtigen Bau zu werfen, als die glänzende Erscheinung auch schon verschwindet und wir uns in dem Hofe eines Hotels mit Garage befinden. Der Hof füllt sich mit Neugierigen; die Gäste stürzen heraus; ein Amerikaner bietet uns Champagner an, während wir im Begriff sind, uns zu waschen. Voll Seifenschaum und von Wasser triefend, müssen wir mit ihm anstoßen. Er drückt uns seine guten Wünsche aus, erklärt aber offen, nicht zu verstehen, was es für ein Vergnügen sei, eine solche Reise zu machen ohne den geringsten materiellen Gewinn!
Als wir nach dem Frühstück weiterfahren wollen, stürzen sich allzu begeisterte Bewunderer, die eine Reliquie von uns haben wollen, auf die kleine dreieckige Flagge, die wir vorn am Wagen gehißt haben, reißen sie in Stücke und verteilen diese untereinander. Nur mit Mühe verteidigen wir die große, hinten wehende Fahne. Nun sollen Splitter aus der Karosserie herausgeschnitten werden, und die Klingen der Taschenmesser sind schon in Bewegung! Kurze Zeit noch, und das Automobil wäre vor allzu großer Liebe geplündert, demoliert, zerstört worden. Aber bei dem ersten Druck auf den Hebel schießt die wackere Maschine, die die Gefahr begriffen hat, davon und bringt sich in Sicherheit. Es ist 3 Uhr. Die durchbrochenen Türme der Kathedrale verschwinden.
Paris ist noch 169 Kilometer entfernt!
Um 5 Uhr 10 Minuten kommen wir durch La Ferté. Der Name Paris beginnt auf den Wegweisern zu erscheinen nebst dem Pfeil, der die Richtung angibt.
Paris ist noch 78 Kilometer entfernt!
Je näher wir kommen, desto zahlreicher werden die Grüße, auch auf dem Lande, desto lebhafter, desto herzlicher werden sie. Es liegt in ihnen eine liebevolle Anteilnahme des Volkes.
Wir dürfen nur bis Meaux fahren und müssen dort die Nacht über bleiben. Der Einzug in Paris ist auf 4½ Uhr des 10. August anberaumt. Das Komitee für die Fahrt hat es so angeordnet. Der Endpunkt soll das Gebäude des „Matin“ sein.
Jetzt zeigt sich Meaux. Als wir bei den ersten Häusern sind, macht uns ein Zolleinnehmer von der Mitte der Straße her energische Zeichen mit der Hand. Der Fürst bremst und fragt ihn:
„Müssen wir wegen des Zolles halten?“
„Non, Monsieur,“ erwidert er, „c’est pour la cinématographie!“
Und lachend deutet er auf einen Photographen, der einen kinematographischen Apparat spielen läßt und uns im Gegensatz zu seinen Berliner Kollegen zuruft:
„Haben Sie die Güte, sich zu bewegen, ich bitte Sie! Noch mehr! Bewegen Sie sich stark! Noch mehr! Ich brauche Bewegung! Danke!“
Wir wollen ihm den Spaß nicht verderben; wir drehen uns nach rechts und nach links, strecken den Hals vor, wir bewegen uns wie Bären im Käfig, bis der Photograph alle Bewegung, die er braucht, gefunden hat und uns weiterfahren läßt.
Wir halten vor dem ersten Hotel der Stadt, das den Namen „Zur schönen Sirene“ führt.
Paris ist nur noch 45 Kilometer entfernt!
Es war gerade kein sehr ruhiger Schlaf, dessen wir uns vergangene Nacht zu erfreuen hatten! Früh begaben wir uns zur Garage, als wären wir im Begriff, eine endlose Reise nach einem unerreichbaren, fabelhaften Ziele anzutreten.
Wir haben uns an das beständige Reisen gewöhnt; zur Stunde des Aufbruchs springen wir instinktiv aus dem Bette. Fahren ist unser Lebenszweck geworden, immer und immer dahinstürmen; moderne ewige Juden, die verdammt sind zu unaufhörlicher Reise.
Viel besser, viel tiefer und viel ruhiger als in dieser letzten Nacht unserer Pilgerfahrt durch zwei Kontinente hatten wir auf den chinesischen Kangs geschlafen trotz ihrer übeln Gerüche, im grünen Grase der Steppen oder auf den Bänken der kleinen sibirischen Isbas, eingehüllt in Ziegenfelle, den photographischen Apparat als Kopfkissen. Viel besser als in den Daunenbetten des Gasthauses zu Meaux, 45 Kilometer vor Paris!
Es ist die Nähe von Paris, die uns im Schlafe stört. Wir fühlen, wir hören das mächtig pulsierende Leben der Stadt. Oft stand ich auf, ging ans Fenster und schaute hinaus. Dort liegt Paris, sagte ich mir, als ob ich einen unvernünftigen Zweifel bannen wollte.
Tag für Tag war uns unsere Reise selbstverständlich, manchmal sogar leicht erschienen. Kiachta zu erreichen, indem man von Urga kam, Werchne-Udinsk, indem man von Kiachta kam, dünkte ganz einfach. In unmerkbaren Übergängen gelangten wir von Land zu Land, von Volk zu Volk.
Jetzt, da unser Geist nicht mehr bedrückt ist durch die Sorge um den Weg, denken wir der zurückgelegten Strecke, die uns die Erinnerung mit Blitzesschnelle in gewaltsamer Verkürzung zeigt.
Wir befanden uns an den mit Pagoden gekrönten Toren von Peking. Die Arme von Chinesen schleppten diese Maschine hier unter den Felsen von Ki-mi-ni durch, wo wir von Maultieren getragene, mit blauer Seide verhüllte Sänften fanden. Mandarine, den goldgestickten Drachen auf der Brust, kamen in Kalgan herbei, um diesen Wagen anzusehen, während ein Gong feierlich erklang. Dieser Wagen ist von ungestümen mongolischen Reiterscharen verfolgt worden, und er jagte seinerseits an den Grenzen der Wüste Rudel braungelber Gazellen, die vor Angst wie verrückt waren. Dieser Wagen hat den breiten Iro, den letzten großen Strom des Chinesischen Reiches, durchfurtet; er fiel von einer Brücke in Transbaikalien und fuhr zwischen den Geleisen der transsibirischen Eisenbahn; im Schmutze von Tomsk ist er versunken, die Taiga, den größten Wald der Welt, hat er durchquert, und nun steht er wohlbehalten hier, eine halbe Stunde vor der Porte de Vincennes!
Wir hatten gewagt, auf Erfolg zu hoffen. Wir hatten aber nicht gewagt, an die Aufregung dieses Augenblicks zu denken, als wir das Doschmen-Tor in Peking verließen.
Fürst Borghese befolgte stets den Grundsatz, sich nur ganz kleine, leicht zu erreichende und nahe Ziele zu stecken. Er sagte mir an den beschwerdereichen, zur Verzweiflung bringenden Tagen, an denen wir nur langsam und mit schwerer Mühe vorwärtskamen: „Alles, was ich wünsche, ist, das nächste Dorf zu erreichen“, und unterdrückte in seinem Geiste das übrige. Wir strengten alle unsere Kräfte, unseren gesamten Willen an, um diese kurze Strecke zurückzulegen, als sei das nächste Dorf unser letztes Ziel.
Den Tag darauf begannen wir von neuem.
Die ungeheuere Reise ist im Grunde nichts weiter als eine endlose Reihe von kurzen zurückgelegten Strecken, von denen jede einzelne im Verhältnis zu unserer Kraft und der Maschine stand. Unsere Reise ist vor allem eine riesenhafte Kette von Geduldproben. Wir berechneten nie die Länge der Strecke vor uns, sondern nur die der hinter uns liegenden. Wir suchten die Zahlen, die uns anspornen konnten, und in unseren Berechnungen waren wir vorsichtig, so daß wir stets beobachteten, daß wir in Wirklichkeit einen viel weiteren Weg zurückgelegt hatten, als wir glaubten.
Es ist fast sicher, daß wir uns in der Berechnung der Entfernungen in der Mongolei und der Wüste Gobi getäuscht haben, wo wir 12 bis 14 Stunden täglich in gutem Tempo fuhren. Wir glaubten 200 bis 300 Kilometer zurückzulegen, und in Westeuropa stellten wir fest, daß, wenn wir mit derselben Geschwindigkeit fuhren, wir in der gleichen Zeit 500 Kilometer zurücklegten. Die genaue Gesamtziffer der von uns durchfahrenen Kilometer bleibt also noch unbekannt. Wir schätzen sie auf über 13 000. Aber wir wollen sie gern unbekannt sein lassen. Wir werden sicher nicht zurückkehren, um nachzumessen ...
Die Nachbarschaft von Paris überrascht uns, betäubt uns, findet uns ergriffen von der phantastischen Geschwindigkeit, mit der wir sie erreicht haben. Die letzten russischen Provinzen, Deutschland, Belgien, Frankreich zogen an uns wie Traumbilder vorbei. Zwölf Tage brauchte es, um das erste Tausend Kilometer zurückzulegen, das letzte Tausend haben wir in 2½ Tagen durchflogen.
Doch die letzten Stunden schienen uns eine Ewigkeit: Stunden der Freude, aber auch Stunden einer schwachen, unbestimmten, undefinierbaren Beklemmung, die uns schweigsam machte und uns den Anschein der Niedergeschlagenheit verlieh.
Am Vormittag des 10. August wurde Meaux von einem Heere von Automobilen überschwemmt. Jede Minute kamen sie an: große, kleine, etliche mit Fahnen geschmückt, andere mit den Namen von Zeitungen in großen Buchstaben; eins brachte die Korrespondenten der italienischen Presse; verschiedene vertraten den französischen Automobilklub. Hupen, Sirenen ertönten, Motore knatterten, und die Menge drängte sich auf der Straße, im Hofe des Gasthauses, in der Garage. Unsere Maschine war unsichtbar, in eine Remise eingeschlossen, an deren Tür sich die Neugier der Menge brach.
Um 2¼ Uhr wird der Befehl zum Aufsitzen erteilt. Einige Fahrzeuge setzen sich in Bewegung. Es ist ein Augenblick allgemeiner Aufregung.
Ettore befestigt das Gepäck auf dem Automobilkasten mit derselben Sorgfalt, die er stets darauf verwandte, seitdem das Gepäck des Fürsten in der Wüste Gobi verlorengegangen war. Er läßt den Druck im Benzinbehälter steigen, schaltet den Ganghebel ein, und der Motor gewinnt unter Getöse Leben. Wir nehmen unsere Plätze ein, Don Scipione setzt das Fahrzeug in Bewegung, wir fahren langsam auf die Straße hinaus. Ganz Meaux ist versammelt!
Das Automobil bahnt sich mühsam seinen Weg durch die Zuschauer, die lauten Beifall äußern. Die Fenster sind mit Damen besetzt, die unsere Maschine mit Blumensträußen bewerfen. Ununterbrochene Hurrarufe begleiten uns bis zum Ausgange des Ortes, wo wir uns an die Spitze des Zuges setzen. Als nächste folgen die Automobile der Pariser Journalisten, die uns von Berlin aus begleitet haben und uns auch bis zur Ankunft vor den Redaktionsräumen des „Matin“ nahebleiben sollen. Wir steigern die Geschwindigkeit. Um 3 Uhr sind wir in Chelles. Der Fürst verlangsamt die Fahrt nicht mehr, selbst nicht dort, wo die Straße weniger gut wird. Wozu die Maschine schonen? Wir sind ja beinahe am Ziel!
Paris ist nur noch 30 Kilometer entfernt, zwanzig, zehn!
Überall Begrüßungen, Beifallsrufe, Wehen mit Taschentüchern. Der Fürst lächelt; es ist nicht mehr sein gewohntes, rätselhaftes, zeremonielles Lächeln, sondern ein frei aus dem Herzen kommendes Lächeln! Seine kühle, bewundernswerte Selbstbeherrschung ist nicht mehr imstande, die Befriedigung zu unterdrücken, die ihn beseelt.
Die Dörfer folgen ohne Unterbrechung aufeinander. Allmählich werden sie Vorstädte von Paris. Viele Menschen, die uns erwarten, betrachten uns mit zweifelnder Miene, als wollten sie fragen: „Seid ihr es?“ Da sie nicht wissen, welches unter so vielen das Automobil des Fürsten ist, gelangt die Mehrzahl zu dem Schlusse, daß es nicht gerade jenes häßliche ist, das allen voranfährt. Unsere Reisegefährten, die Kollegen auf dem zweiten Wagen, werden oft zum Gegenstand der lärmenden Kundgebungen der Menge. In Bry wartet eine dicke Frau mit einem mächtigen Blumenstrauße und schleudert ihn dem vortrefflichen Kollegen Henri des Houx gerade vor die Brust, indem sie ihm zuruft:
„A vous, Monseigneur!“
Als wir uns Joinville nähern, steht längs der Baumreihen eine dichtgedrängte Menschenmenge, die uns mit immer größerer und lärmenderer Begeisterung begrüßt. Die Wagenführer rufen: „Bravo, mon gars!“ Jetzt kommen wir durch das Bois de Vincennes; viele Radler schließen sich dem Zuge an und fahren vor unserer Maschine her, auf das Risiko hin, überfahren zu werden. Wir rufen ihnen zu, achtzugeben, wenn sie den Rädern allzu nahe kommen; statt aller Antwort schwenken sie die Mützen und rufen: „Vive le prince!“
Von allen Seiten hören wir Hochrufe. Die Omnibusse, die Straßenbahnwagen halten; die Fahrgäste stehen auf und klatschen in die Hände. Ein Gewitter zieht herauf. Der Himmel bedeckt sich mit schwarzen Wolken, die reißend schnell emporsteigen; die Menge wankt und weicht nicht. In Saint Mandé beginnt es zu regnen, und das Wasser verläßt uns nicht mehr. Wir brachen aus Peking bei Regenwetter auf; wir sollten bei Regenwetter auch in Paris ankommen!
Auf dem Cours de Vincennes müssen wir wieder halten; wir sind zu früh gekommen; die für den Einzug festgesetzte Stunde hat noch nicht geschlagen. Die Anzahl der Radfahrer, die das improvisierte Ehrengeleit bilden, ist inzwischen auf Hunderte angewachsen, die phantastische Rundtouren mit uns ausführen; wir sind von einem Gewirr sich bewegender Räder umgeben.
Um 4 Uhr erscheint von Paris her eine seltsame Maschine und setzt sich an die Spitze des Zuges. Es ist eins jener riesigen Automobile zu 20–30 Sitzen, die Touristenkarawanen, die Paris in wenigen Stunden besichtigen wollen, herumfahren. Man hat eine Kapelle mit langen Trompeten und Hörnern darauf gesetzt, die von Gruppen französischer und italienischer Fahnen überragt und umgeben ist: ein Wagen, der ein wenig an den Karneval erinnert, den man aber zur Erhöhung der Feierlichkeit der Ankunft für unerläßlich gehalten zu haben scheint. Die Kapelle stimmt den Triumphmarsch aus „Aïda“ an; es ist der Einzug des Radames in Paris! Wir setzen uns wieder in Bewegung: es ist 4¼ Uhr geworden.
Nun gelangen wir in die Avenue du Trône zwischen den beiden riesigen Säulen Philipp Augusts hindurch, deren Sockel von der Menge verdeckt sind. Im Hintergrunde erscheint, vom Regenschleier verhüllt, der Eiffelturm. Er erinnert an einen ungeheueren Leuchtturm: er war der große Leuchtturm unserer Reise!
Die Hochrufe werden betäubend, sie dauern unablässig an. In einigen stillen Augenblicken hören wir die hellen Stimmen der Camelots, die Erinnerungspostkarten zum Verkaufe anbieten mit dem Rufe: „Le prince Borghèse, quatre sous, quatre sous, le prince Borghèse!“
Die Polizei, die längs des Boulevard Voltaire aufgestellt ist, ist nicht imstande, die Menge zurückzuhalten, die uns umringt, uns zur Seite geht, uns folgt. Der Fürst winkt höflich mit der Hand, man solle beiseite treten, um nicht unter die Räder zu geraten; seine Hand wird von einem Arbeiter ergriffen, der sie in überwallender Begeisterung drückt, dann wird sie von andern festgehalten und gezerrt; alle drücken sie sie kräftig und herzlich. Nicht ohne Kampf vermag Fürst Borghese die Hand aus diesem schrecklichen Sympathiegewirr freizumachen und sie unversehrt auf das Steuerrad zu legen.
Auf der Place de la République haben sich zwei Abteilungen der berittenen Garde républicaine aufgestellt, von denen sich die eine an die Spitze des Zuges stellt, die andere ihn schließt.
Am Eingang zum Boulevard du Saint Martin werden die Begrüßungen noch lauter. Es ist ein wahrer Stimmendonner! Der Ruf: „Vive Borghèse!“ wiederholt sich, er erschallt unaufhörlich. Fürst Borghese ist einen Tag lang das Idol von Paris, der edelmütigen Stadt, die nicht ohne Leidenschaft lieben kann! Der Anblick, den die breite Straße darbietet, ist großartig; die beiden hohen, mit Balustraden eingefaßten Trottoirs sind schwarz von Menschen, und über den Köpfen bewegt sich ein Gewirr von Händen, Hüten, Taschentüchern und Regenschirmen. Auch von Regenschirmen, denn es regnet, was es vom Himmel kann. Ettore ist gerührt, berauscht und breitet die Arme aus, um die Grüße mit ausdrucksvollen Gesten zu erwidern. Frauen aus dem Volke stoßen zärtliche Rufe aus.
Wir fahren im langsamsten Schritt, aus Furcht, es könne sich ein Unglück ereignen. Die Räder des Automobils streifen die Beine der Leute. Auf dem Boulevard Bonne Nouvelle dauert die Kundgebung in ungeschwächter Stärke fort: Händeklatschen erbraust von allen Seiten, und das Wort Borghese in Verbindung mit „vive“ und „bravo“ bildet den gesamten Wortschatz der Bevölkerung!
Auf dem Boulevard Poissonnière erblicken wir Scharen von Schutzleuten und Abteilungen der Garde républicaine, die die Straße bis zu einem auffallenden, rot angestrichenen und mit Fahnen geschmückten Palast absperren. Es ist das Bureau des „Matin“ — unser Ziel!
Die Wettfahrt naht dem Ende. —
Die Mannschaften der Garde républicaine sprengen auf ihren Pferden daher und führen rasche Evolutionen aus, um den Platz von der Menge zu säubern, der sofort von einer Menge Photographen wieder besetzt wird. Auch diese machen ihre Evolutionen, um die besten Standorte zu wählen, wobei sie gleichzeitig den Hufen der Pferde ausweichen müssen. Einige nehmen die Ankunftsszene kinematographisch auf, mit ernster Miene drehen sie die Kurbeln ihrer Apparate und rufen uns zu, daß ihnen die Kehle bersten möchte: „Sehen Sie aufs Objektiv!“
Das Automobil wendet langsam nach den Angaben eines Mitglieds des Komitees der Fahrt und springt gewandt auf das Trottoir vor dem Eingange des Palastes des „Matin“.
Der Fürst bremst. Das Automobil hält. Die Fahrt ist zu Ende!
Dieser Augenblick ist für uns von unaussprechlicher Feierlichkeit.
Die Ovation der Menge ist laut. Wir bleiben auf unseren Plätzen sitzen, verwirrt, betäubt.
Ich, der ich auf dem Trittbrett sitze und zuerst den Fuß zur Erde setzen müßte, kann mich nicht entschließen, abzusteigen. Ich habe auf einige Augenblicke die Empfindung einer Halluzination. Mir erscheint alles unmöglich, widersinnig. Ich kann mich nicht überzeugen, daß wir wirklich am Ziele sind! Ich fühle mich keiner Bewegung fähig, und mechanisch rauche ich an einer Zigarette, die schon lange ausgegangen ist. Ich wende mich um, um den Fürsten zu betrachten; er steht noch da, die Hände auf das Steuerrad gestützt, in derselben nervösen Haltung wie in den kurzen Haltepausen, bevor die Fahrt fortgesetzt wurde.
„Kommen Sie! Kommen Sie!“ ruft man uns von der Tür des „Matin“ aus zu.
Wie aus einem Traume erwachend, springe ich zur Erde. Ein Ruf der Begeisterung braust wie ein Orkan vorüber. Ich fühle mich umarmt und geküßt und erkenne in der freudig erregten Persönlichkeit, die mich auf diese Weise empfängt, den würdevollen Portier des „Matin“, der seine Bewegung nicht beherrschen konnte und nun davonstürzt.
Unter betäubendem Lärm werden wir in das Innere des Palastes gezogen. Eine Kapelle spielt die italienische Nationalhymne. Ich sehe Kollegen und Freunde wieder und drücke ihnen die Hände, ohne eines Wortes mächtig zu sein. Ich weiß nicht, wie es kommt: ich habe beide Arme voll Rosensträuße. Die Menge draußen tost, und ihr gewittergleiches Toben übertönt zuweilen die Klänge der Musik. Das Volk verlangt „le prince“ zu sehen. Der Fürst wird auf einen Balkon geschoben, verbeugt sich und dankt, einen großen Blumenstrauß graziös in der Hand haltend. Es werden Champagnerflaschen entkorkt, Reden gehalten, Trinksprüche ausgebracht. Wir werden bei Magnesiumlicht mit und ohne Blumen photographiert ...
Und was dann geschehen ist, ich weiß es nicht. Ich habe mich still entfernt und habe das Glück genossen, mich unbekannt unter der Menge zu verlieren, den Fürsten allein den Leiden der Popularität überlassend! —
Einige Stunden später verkauften die Camelots auf den Boulevards, die ihr gewohntes Aussehen wiedergewonnen hatten, noch die Erinnerungskarte, aber sie riefen: „Le prince Borghèse, un sou!“
Nicht mehr vier Sous, sondern nur noch einen! Welch ernste Mahnung liegt in dieser Preisherabsetzung! Die Stimme des Schicksals kann auch aus dem Munde eines Camelots erklingen. Unsere Popularität war in zwei Stunden um volle 75 Prozent gesunken.
Sic transit ...
Die Familie Borghese.
Fürst Scipione Borghese gehört einer berühmten, aus Siena stammenden Patrizierfamilie an, die zuerst 1238 erscheint und seit 1450 urkundlich nachweisbar ist. Im 17. Jahrhundert ließ sie sich in Rom nieder, als Fürst Camillo Borghese zum Papst gewählt wurde. Paul V., wie jener sich nannte, saß von 1605 bis 1621 auf dem päpstlichen Stuhle und begründete den Ruhm seiner Familie. Er überwies Marcantonio, dem Sohne seines Bruders Giovanni Battista, der von Philipp III., König von Spanien und beider Sizilien, zum Fürsten von Sulmona ernannt worden war, ein jährliches Einkommen von 200 000 Scudi. Giovanni Battista Borghese erbte später von seiner Mutter Olimpia Aldobrandini das Fürstentum Rossano.
Nach Beilegung eines Streites über die Erbschaft der Aldobrandini nahm Fürst Paolo Maria Borghese im Jahre 1769 das Wappen und die Titel dieses Geschlechtes an. Seit jener Zeit gebührt der Titel eines Fürsten Aldobrandini der Sekundogenitur der Familie Borghese. Unter den Besitzungen des Hauses ist die Villa Borghese in Rom besonders berühmt.
Napoleon I. übertrug seiner Schwester Marie Pauline, der Gemahlin des Fürsten Camillo Borghese, durch ein kaiserliches Dekret vom 30. März 1806 das Herzogtum Guastalla, entzog es ihr aber wieder zwei Monate später.
Fürst Scipione (Luigi Marcantonio Francesco Rodolfo) Borghese ist am 11. Februar 1871 auf Schloß Migliarino bei Pisa geboren. Er ist der zweite Sohn des Fürsten Paolo und der ungarischen Gräfin Helene Apponyi von Nagy-Apponyi, der Tochter des verstorbenen Grafen Rudolf Apponyi, des ehemaligen österreichisch-ungarischen Botschafters in Paris. Großmutter des Fürsten Scipione von väterlicher Seite war die Fürstin Therese de La Rochefoucauld.
Fürst Scipione verheiratete sich 1895 in Genua mit der Herzogin Anna Maria de Ferrari, Tochter des verstorbenen Herzogs Gaetano. Er hat zwei Töchter von 10 und 6 Jahren, die beide in Paris geboren sind.
Für die letzte Legislaturperiode wurde er im Wahlkreise Albano Laziale in das italienische Parlament gewählt; er erklärte jedoch vor Antritt der Fahrt Peking–Paris, auf sein Abgeordnetenmandat zu verzichten. Er gehört der radikalen Partei an und ist Mitdirektor des „Spettatore“, des offiziellen Organs dieser Partei.
Das Automobil.
Zum Schlusse geben wir den Technikern einige Einzelheiten über das Automobil, mit welchem die Fahrt Peking–Paris gewonnen wurde.
Der Itala-Wagen, den die Itala-Werke für den Fürsten Scipione Borghese gebaut hatten, war von normalem Typ, Modell 1907, und 29/50 Pferdekräfte stark. Die Veränderungen, die für den speziellen Zweck an diesem Modell vorgenommen wurden, waren ganz unbedeutend. Im folgenden geben wir eine Beschreibung des Automobils, indem wir zugleich das Verhalten der einzelnen Maschinenteile während dieser Probefahrt, die notwendig gewordenen Reparaturen und den Zustand des Automobils nach Beendigung der Fahrt schildern.
Der aus vier Zylindern paarweise gegossene Itala-Motor von 130 Millimeter Zylinderbohrung und 140 Kolbenhub ist vom gewöhnlichen Typus mit auswechselbaren symmetrischen Ventilen und Magnetzündung (Niederspannung), sowie mit einer den Itala-Motoren eigentümlichen Abreißvorrichtung (Patent Itala). Der Vergaser arbeitet durchaus automatisch und ist gegen Temperatur- und Druckveränderungen fast unempfindlich. Er ist durch eine sehr kurze Rohrleitung mit dem Motor verbunden, um jede Kondensation des Gases zu verhindern.
Diese Anordnung des Rohres in Verbindung mit dem Itala-Vergaser gestattete die Benutzung selbst eines sehr schweren Benzins.
In der Tat kaufte Fürst Borghese, als in einem Depot das von ihm gewöhnlich benutzte Benzin nicht zur Verfügung stand, ohne weiteres an Ort und Stelle ein Gemenge von Kohlenwasserstoffen, das viel mehr Ähnlichkeit mit Petroleum als mit Benzin für Automobile hatte. Zu seiner Überraschung konnte er feststellen, daß das Funktionieren des Motors darunter nicht litt, nur war natürlich die Leistungsfähigkeit ganz gering herabgesetzt, jedoch ohne Nachteil für den regelmäßigen Gang des Motors selbst. Der Benzinverbrauch betrug im Durchschnitt ⅓ Liter auf den Kilometer.
Die Zapfenlager der Motorwelle und der Kurbelstangen waren aus weißem Antifriktionsmetall.
Die ganze Motorwelle hing am oberen Teile des Gestelles, so daß man bei dieser Anordnung den unteren Mantel des Motors entfernen und den Zustand der Lager und des Kurbelwerkes bequem untersuchen, sowie bei Bedarf ihre Einstellung leicht regulieren konnte. Da diese Lagerungen und die Kurbelstangenköpfe Präzisionsarbeiten und reichlich geölt waren, so brauchte die untere Kappe des Wagens des Fürsten Borghese nur in Moskau herabgenommen zu werden; dort wurden auch alle Teile des Wagens untersucht. Es stellte sich dabei heraus, daß die Lagerungen der gekröpften Welle ganz unversehrt waren, und daß nur diejenigen der Kurbelstangen ein ganz geringes Spiel aufwiesen, was leicht und ohne die Bronzelager zu wechseln behoben werden konnte.
Die Kuppelung war eine Lamellenkuppelung von besonderer Anordnung, infolge deren eine außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit vorhanden war. Während der ganzen Fahrt verursachte sie tatsächlich nicht das geringste Hindernis; man nahm sie in Moskau heraus und montierte sie aufs neue, ohne daß eine einzige Scheibe gewechselt zu werden brauchte.
Der Geschwindigkeitswechsel hatte vier Vorwärtsübersetzungen und eine Rückwärtsübersetzung; der vierte Gang hatte direkte Einschaltung. Er war aus widerstandsfähigstem Nickelmaterial gebaut, welches man bei den Itala-Wagen für alle jene Teile benutzt, die die meiste Arbeit zu verrichten haben. Der Geschwindigkeitswechsel in dem Wagen des Fürsten Borghese blieb während der ganzen Fahrt unberührt, trotzdem war bei der Ankunft alles noch wie neu. Dasselbe war auch bei den Kardanwellen der Fall, sie waren fast gar nicht angegriffen.
Das Differenzialgetriebe bildete eine der wesentlichsten Eigentümlichkeiten der Itala-Wagen und war eine der bestgelungenen an ihnen. Weder Fürst Borghese noch sein Mechaniker hatten sich mit diesem bei andern Wagen so delikaten Maschinenteil zu beschäftigen oder seinetwegen Befürchtungen zu hegen. Es ist dieses um so bemerkenswerter, als der Wagen fortwährend außergewöhnlichen Stößen und Anstrengungen ausgesetzt war, wie schon daraus hervorgeht, daß das eine Hinterrad trotz seiner sehr soliden Bauart ausgewechselt werden mußte.
Der Rahmen war aus außerordentlich starken Stahlplatten gebaut; in unserem Wagen wurde er noch ein wenig stärker gemacht wie gewöhnlich.
Es war dies die einzige einigermaßen bedeutende Änderung, die die Kürze der Zeit zwischen Bestellung und Ablieferung des Wagens anzubringen gestattete. Auch sie bewährte sich sehr gut. Man konnte nur eine naturgemäße Abnutzung an allen Federanhängungen konstatieren, ferner brachen an den Federn während der Fahrt mehrere Blätter, und in Moskau mußte bei einer hinteren Feder das Hauptblatt ausgewechselt werden.
Der Kühler war vom gewöhnlichen Bienenkorbtyp; die verfügbare Zeit war zu kurz, um einen stärkeren zu bauen. Die Wagenbauer hatten deswegen große Sorge, aber nie wurde man durch ihn gehindert. Man fürchtete, daß die Kühlung des im Schwungrade befestigten Ventilators im heißen Klima allein nicht genügen würde, und fügte daher zur Aushilfe noch einen andern Ventilator bei; dieser wurde aber gleich zu Beginn der Fahrt, noch bevor man die Wüste Gobi erreicht hatte, zurückgelassen, da er sich als unnötig herausgestellt hatte.
Es seien hier noch einige Einzelheiten betreffs der Karosserie und des Zubehörs angeführt.
Die Karosserie bestand aus zwei vorderen Sitzen und einem hinteren Sitz zwischen zwei je 150 Liter enthaltenden Benzinbehältern.
Die Ausrüstung wurde durch einen großen Kasten für die Werkzeuge und die Ersatzstücke vervollständigt, der hinter den beiden Benzinbehältern angebracht war.
Wie Fürst Borghese erklärte, waren die Ersatzstücke zwecklos; der Wagen bedurfte ihrer nicht, und wenn dies auch der Fall gewesen wäre, so hätte man sie doch nicht verwenden können, weil sie schon zu Beginn der Fahrt behufs Entlastung des Wagens zurückgelassen worden waren.
Außer den beiden großen Benzinbehältern wurden hinter dem Hintersitze noch ein Ölbehälter von 50 Liter und ein ebenso großer Wasserbehälter angebracht.
Das Benzin wurde aus den beiden an den Seiten befindlichen Behältern durch ein besonderes Rohr einem andern von 83 Liter Inhalt zugeführt, der sich auf dem hinteren Teil des Chassis befand. Dieser Behälter war vollständig mit Stahl gepanzert, und das Benzin floß von ihm zum Vergaser mittels Druckleitung der Auspuffgase.
Der Wagen erwies sich in keinem seiner wesentlichen Organe als schwach; nur einige äußere Teile, wie Räder, Federn und Kuppelungen, haben sich für eine so kolossale und andauernde Anstrengung als nicht stark genug herausgestellt.
Ein Automobil, das wieder eine Fahrt von Peking nach Paris unternehmen sollte, müßte höher über der Erde stehen und mit viel kräftigeren Rädern ausgestattet sein; alle Organe, insbesondere der hintere Benzinbehälter, müßten besser geschützt und von gut geölten, verstärkten Federn getragen sein. Obschon der Kühler zu keinen Unzuträglichkeiten Veranlassung gab, sollte er doch fester gebaut und besser geschützt sein.
Zuletzt noch einige Einzelheiten über die Pneumatiks. Sie stammten ebenfalls aus einer italienischen Fabrik, Pirelli & Co. in Mailand. Alle vier waren 935 × 135 groß und von flachem Profil. Ich glaube nicht, daß sie von dem gewöhnlichen Typ, den die Fabrik herstellt, abwichen, da der Fürst sich für Pirelli-Pneumatiks erst wenige Tage vor seiner Reise entschlossen hatte.
Es war ein praktischer Gedanke, den Pneumatiks für alle vier Räder dieselben Größenausmessungen zu geben, denn dies erleichterte die Unterbringung der Ersatzreifen auf dem Wagen.
Die Abnutzung derselben war ganz gering. Im Mittel machten alle Pneumatiks über 4000 Kilometer. Während der Fahrt wurden 12 Decken gewechselt, die mit den vier, welche bei der Abfahrt angebracht wurden, zusammen 16 ausmachen. Von diesen 16 waren aber vier, mit denen wir in Paris ankamen, noch fähig, weite Touren zurückzulegen, und tatsächlich fuhren wir mit ihnen bis nach Mailand.
Das rechte Vorderrad brauchte für die ganze Reise von Peking nach Paris nur zwei Pneumatiks, da ein einziger Wechsel in Omsk stattfand.
Die ganz geringe Abnutzung ist sicher der Stärke der verwandten Gummireifen zu verdanken; denn während die Wagen vom Typ unserer „Itala“ nur mit zwei Luftschläuchen von 120 Millimeter hinten und von 90 Millimeter vorn ausgerüstet sind, hatten unsere Gummireifen sämtlich einen Querschnitt von 135 Millimeter.
Im ganzen hat die Fahrt Peking–Paris den Technikern bewiesen, daß das Automobil eine Maschine von viel größerer Ausdauer und Solidität ist, als man bisher glaubte, und daß die gewöhnlichen Unannehmlichkeiten des Automobilismus, die zahlreichen „Pannen“ der Touristen, die rasch eintretenden Radbrüche und die so häufigen Störungen mehr auf Nachlässigkeit und Unerfahrenheit der Chauffeure als auf Schwächen der Maschinen zurückzuführen sind. Beim gegenwärtigen Stande des Automobilismus kann man demnach sagen, daß die Industrie nahezu auf ihrem Höhepunkte angelangt ist und daß unendlich viele neue praktische Verwendungsarten des Automobils möglich sind für den regelmäßigen Verkehr, für die Herstellung von Verbindungen mit fernen Ländern und für die Güterbeförderung auf der Landstraße.
Aber bessere Chauffeure tun not. Während der Lokomotivführer ernstliche Studien nachzuweisen und schwierige Prüfungen zu bestehen hat, ehe man ihm ein so großes Kapital anvertraut und eine so schwere Verantwortlichkeit auflädt, wird man in einem Augenblick Chauffeur, nachdem man wenige Tage in einer Garage zugebracht hat. Es sind richtige Schulen für Automobilmechanik zur Ausbildung von Männern nötig, von denen die Zukunft dieses genialen Beförderungsmittels in hohem Maße abhängen wird, indem sie es zu einem tatsächlich sicheren Verkehrsmittel gestalten.
Es sollte eben jedes Automobil seinen „Ettore“ haben!
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.