Project Gutenberg's Backfischchen's Leiden und Freuden., by Clementine Helm

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Title: Backfischchen's Leiden und Freuden.
       Eine Erzählung für junge Mädchen

Author: Clementine Helm

Release Date: January 24, 2015 [EBook #48064]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Backfischchen's
Leiden und Freuden.

Eine Erzählung für junge Mädchen
von
Clementine Helm.

Zweiundzwanzigste Auflage.

Leipzig,
Georg Wigand's Verlag.
1882.

Inhalt.

Seite
1. Vorwort 1
2. Am Morgen 7
3. Visiten 17
4. Freundschaft 25
5. Mittagessen 34
6. Verschiedenes 40
7. In Gesellschaft 47
8. Folgen 60
9. Noch eine Neuigkeit 78
10. Eugenie 93
11. Noch einmal Eugenie 105
12. Allerlei 119
13. Der Ball 128
14. Begegnung 139
15. Allerlei Neues 149
16. Die Braut 162
17. Der Mensch denkt – Gott lenkt    174
18. Ein froher Tag 184
19. Die Reise 191
20. Ein Abenteuer 205
21. Wieder im Vaterhause 212
22. Nachtrag 220

Backfischchen's Leiden und Freuden.

1.
Die Abreise.

D er Wagen war vorgefahren, Friedrich knallte mit der Peitsche und die Braunen stampften ungeduldig den Fußboden. Noch einmal lag ich Vater und Mutter weinend in den Armen, küßte noch einmal alle meine lieben Geschwister und reichte dem versammelten Gesinde die Hand zum Abschied; dann drückte ich mich schluchzend in die Ecke des Wagens, beugte mich jedoch sogleich wieder zum Fenster desselben hinaus, um mit dem feuchtgeweinten Taschentuche unzählige Abschiedsgrüße zurück zu winken. Nun fuhr der Wagen durch das Dorf, und aus allen Fenstern, von allen Thüren her tönten freundliche Grüße und Wünsche zu mir herüber, denn ich kannte ja alle Bewohner dieser friedlich kleinen Bauerhäuser, war allen mehr oder weniger nahe getreten während der glücklichen Kindheitstage, die ich hier in der Heimath verlebte. Und nun sollte ich fort von allem, was meinem Herzen bis jetzt das Liebste gewesen, fort von meinem Vaterhause und von dem schönsten Orte der Welt, meinem lieben Heimathsdorfe! Neben mir im Wagen saß eine sanfte, feine Frau von mittleren Jahren, deren mildes Gesicht graue Löckchen umgaben, unter denen zwei kluge dunkle Augen hervorblickten. Sie war es, die mich aus der Heimath hinweg führte nach ihrem stillen Hause in Berlin. Dorthin sollte das junge Backfischchen sie begleiten, um unter ihrem Schutze etwas von Welt und Leben kennen zu lernen. Diese milde Frau hieß Tante Ulrike und war die verwittwete Schwester meines Vaters, verehrt und geliebt von allen, die sie kannten.

Sie streichelte sanft meine Hand, die ich in meinem Schmerz in die ihre legte, und sprach so liebe Trostesworte zu mir, daß ich mich bald etwas beruhigte, denn an der Seite einer so lieben Gefährtin war ich gewiß nicht so verlassen, als es mir bisher erscheinen wollte.

Jetzt fuhr der Wagen einem Gehölz zu, das auf der Höhe sich weit hinzog, und noch einen letzten Blick sandte ich zurück nach meinem lieben Dorfe. Der Kirchthurm und die kleinen Bauerhäuser alle blickten mich so freundlich an, die grünen Fensterladen am Giebel unseres Hauses konnte ich noch ganz deutlich erkennen, mir war, als wehte von dort ein weißes Tuch herüber, und wehmüthig erwiderte ich den Gruß. Dann entzogen mir die Bäume neidisch alle weitere Aussicht, und ich hing still meinen Gedanken nach, in denen mich die Tante auch wenig störte.

Nach einigen Stunden waren wir in Magdeburg, von wo die Eisenbahn uns der Residenz zuführen sollte. Hier trennte sich der letzte Bote aus dem Vaterhause von mir, der alte treue Kutscher Friedrich, mit den lieben beiden Braunen, die ich so oft selbst an der Leine gehabt, wenn wir auf das Feld hinaus fuhren, Getreide oder Heu einzuholen. Tausend, tausend Grüße trug ich ihm noch auf für jeden Einzelnen in Schreibersdorf, immer wieder streichelte ich die Pferde und gab ihnen noch ihre Leckerbissen, Weißbrod und Zucker, strich zärtlich über die blauen Sitzkissen der lieben weichen Chaise und verfolgte dann mit Thränen im Auge lange noch die Staubwolke, die hinter dem fortrollenden Wagen dahinzog.

Ein Spaziergang, den ich mit der Tante durch die Stadt und deren Umgebung machte, zog mich endlich von meinen trüben Gedanken etwas ab, und die Fahrt auf der Eisenbahn durch Gegenden, die mir noch fremd waren, zerstreute mich sehr wohlthätig. Die Tante verstand es gar zu gut, die Aufmerksamkeit rege zu erhalten für alles, was an uns vorüberzog, und auch die Reisegesellschaft beschäftigte meine Gedanken vielfältig. Endlich öffnete die Tante sogar eine Schachtel mit allerlei leckern Früchten und Kuchen, die Mama ihr heimlich für mich mitgegeben, und der reiche Inhalt derselben zeigte mir so ganz das liebe, sorgliche Mutterherz, das ihrem Kinde auch in der Ferne noch Freude machen wollte. Ich war wirklich noch Kind genug, um mit diesen köstlichen Leckerbissen meine letzten Thränen hinab zu schlucken, und so hatte meine beste Mama den Zweck erreicht, den sie damit im Sinne gehabt.

Hellen Auges zog ich endlich der großen Stadt entgegen, die sich jetzt vor uns ausbreitete, und mit neugierigen Blicken schaute ich mich in den Straßen um, durch welche wir dann fuhren. Die schönen Häuser und glänzenden Kaufläden erregten meine volle Bewunderung, hohe Statuen sahen hier und da ernst zwischen grünen Bäumen hervor, breite Brücken führten über den Fluß, der die Stadt durchschnitt, und stattliche Kirchen und Paläste blickten stolz und würdig auf mich armes Landmädchen hernieder. Alles verkündete die Hauptstadt, die Residenz eines großen Fürsten.

Endlich hielt der Wagen in einer der breiten Straßen vor einem freundlich aussehenden Hause, das nicht so hoch in den Himmel hinein ragte als seine Nachbarn, die mir ordentlich das Herz bedrückten durch ihre unzähligen Fenster. Hier in der gewaltig großen Stadt, wo so zahllose Menschen Platz finden wollten, mußte man freilich hoch in die Luft hinein bauen; selbst die Keller der Häuser, in welchen bei uns kein Mensch sich aufhalten möchte, sah ich von unzählig viel Familien bewohnt, und kein Plätzchen schien unbenutzt gelassen. Das hübsche Haus der Tante hatte nur wenig Mitbewohner und sprach durch sein zierliches sauberes Ansehn von Wohlstand und Behaglichkeit. Ein kleiner schattiger Garten umschloß seine Rückseite, und da an denselben keine Straßen, sondern wieder andere Gärten anstießen, so konnte man beim Blick über diese grünen Bäume ganz vergessen, daß man sich in der geräuschvollen Residenz befand.

Hier also sollte ich nun die nächste Zeit verleben, hier in dem fremden Hause, der fremden Stadt, den neuen Verhältnissen! O wie bang klopfte mir mein Herz, als ich die Stufen der Treppe hinauf stieg, hinter Tante Ulrike und der saubern Dienerin her, welche sich mit den unzähligen Packeten und Schachteln bepackt hatte, die mich auf der Reise begleiteten. Schüchtern blieb ich an der Thürschwelle des schönen Zimmers stehen, in das wir eintraten, und wagte nicht, meine Sachen abzulegen. Da aber kam Tante Ulrike freundlich auf mich zu, zog mich liebevoll an ihr Herz und sagte: »Nun sei mir willkommen in meinem Hause, mein liebes Kind! Gott gebe, daß du dich wohl und glücklich hier fühlen mögest, und meine Liebe dir die Heimath ersetze!« Mit welcher Innigkeit schmiegte ich mich an die Brust dieser lieben, lieben Tante! O wie allein, wie schrecklich allein und verlassen hätte ich in dieser großen, fremden Stadt dagestanden ohne diese treue, mütterliche Freundin! Aber an ihrer Seite, unter ihrem Schutz konnte ich getrost all dem Neuen und Fremdartigen entgegen gehen, das mich hier erwartete.

Nun führte mich die Tante in ihrer ganzen Wohnung umher, die für eine einzelne Frau sehr groß und geräumig war. Ueberall herrschte die größte Sauberkeit, sowohl in den Zimmern, als in Küche und Wirthschaftsräumen, alles war reich und gut eingerichtet, überall erkannte man behagliche Fülle, aber nirgends blendende üppige Pracht oder modernen Luxus. Einfach und gediegen, das war der Eindruck, den alles umher auf mich machte, und ebenso war ja auch die ganze Erscheinung der Bewohnerin dieser Räume. Es lag etwas in dem Wesen der Tante, das mir immer wieder geheime Bewunderung erweckte, und doch war durchaus nichts Auffallendes in der Art und Weise dieser stillen, feinen Frau, im Gegentheil, alles erschien so einfach, so natürlich, man hätte meinen sollen, gerade so und nicht anders müsse man auch sprechen, gehen und sich bewegen. Aber das war ja eben das Ausgezeichnete an ihr, nirgends ein Mangel, nirgends etwas, das man anders gewünscht hätte. Damals wußte ich mir nicht Rechenschaft zu geben, worin das Harmonische eigentlich bestand, das sie umgab, jetzt aber weiß ich es, – es war eben die gute Erziehung!

Erst jetzt neben dieser ausgezeichneten Frau fühlte ich mehr und mehr, wie sehr mir armen Landmädchen die feinere Erziehung noch fehlen möchte. Zu Haus auf dem Dorfe, in einfachen Verhältnissen, und mitten unter den vielen kleinen wilden Geschwistern war mir nie dieser Gedanke gekommen. Aber meine liebe Mama, welche durch die vielen Kinder und große Kränklichkeit abgehalten wurde, sich mehr mit meiner Erziehung zu beschäftigen, und die ihre eigene Jugend nur auf dem Dorfe verlebt hatte, fern von den feineren Sitten und Gewohnheiten der Städte, sie wünschte sicher lange schon, daß ihr ältestes Töchterchen in anderen Verhältnissen lernen möchte, was das Vaterhaus ihr nicht bieten konnte. In den stillen, häuslichen Tugenden, mit denen meine geliebte Mutter das Glück ihres Hauses begründete, hatte sie mich mit Sorgfalt und Treue unterwiesen, und nie in meinem Leben kann ich ihr dafür genug danken. Ihre Lehren bildeten die Grundlage alles dessen, was das spätere Leben mir zuführte, und wodurch Herz und Verstand seine fernere Entwicklung erhielt. Daß ich diese weitere Ausbildung aber nirgends besser finden konnte, als an der Hand unsrer lieben Tante Ulrike, das wußte meine Mama recht wohl, da sie selbst die treffliche, feingebildete Schwägerin so aufrichtig verehrte. Wie gern überließen meine Eltern mich ihr deshalb für einige Zeit, als sie sich erbot, für meine weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Welchen treuen, liebevollen Händen ich anvertraut worden, das fühlte ich selbst gar bald.

In der ersten Zeit meines Aufenthaltes aber bei der Tante war ich unaussprechlich bedrückt und unglücklich, denn neben dieser fein gebildeten Frau fühlte ich jeden Augenblick, wie hölzern ich mich bewegte, und meine angeborene Schüchternheit vermehrte die Aengstlichkeit meines Benehmens. Wie ein steifer Perückenstock stand ich an Tantes Seite, und so oft sie mit mir sprach, wurde ich bis unter das Haar hinauf feuerroth und wagte nicht zu antworten, denn ich kam mir gar zu albern und kindisch vor. Die sanfte Freundlichkeit der Tante wirkte aber bald ungemein wohlthätig; meine Schüchternheit schmolz davon wie Schnee vor der Sonne, und ich gewann nach und nach meine kindliche Heiterkeit wieder, trotz aller Fehler und Verstöße, die ich immer von Neuem beging. Die Tante sagte mir schon am ersten Tage sehr liebevoll, sie werde mich gleich von vorn herein erbarmungslos auf alles aufmerksam machen, was sie anders wünsche, nur müsse ich dabei nicht ungeduldig werden, böse sei es nie gemeint. Natürlich versprach ich dies aus vollem Herzen, und hielt es tapfer und standhaft, so schwer es mir oft genug wurde.

Was mir nun von diesem meinem Aufenthalte im Hause der Tante noch im Gedächtniß geblieben, das erzähle ich euch, meine lieben Freundinnen, jetzt mit offenem Herzen, es sind gar liebe Erinnerungen für mich. Und da das Geschlecht der Backfischchen noch bis auf den heutigen Tag grünt und blüht, so ist unter ihnen gewiß eins oder das andre, das sich in seiner 15jährigen Haut ebenso unbehaglich fühlt, als es bei mir der Fall war, und ihnen mögen denn diese Zeilen zum Troste und zur Unterhaltung dienen.

2.
Am Morgen.

»Du sollst mit in meinem Zimmer schlafen, Gretchen!« sagte Tante Ulrike, als sie mich in ihrer Wohnung umher führte, und dabei öffnete sie ein nettes, behagliches Stübchen. Mit ängstlicher Scheu blickte ich nach dem zierlichen Himmelbett, unter dessen schneeweißen Gardinen ich von jetzt an träumen sollte. Mein einfaches Bettchen zu Haus entbehrte jeglichen Schmuckes, und doch, wie himmlisch hatte ich darin geschlafen! Das Bett der Tante war auch von langen, weißen Vorhängen umgeben, deren Schnüre von dem Schnabel eines Adlers gehalten wurden. Das Thier sah mich so böse an, als ärgere ihn der neue Ankömmling, mir wurde ganz unheimlich zu Muthe. Zum Glück schien es mir bald, als blicke er von Tag zu Tage freundlicher auf mich armes Kind hernieder, er mochte wohl einsehen, daß ich den besten Willen mitbrachte, es jedem recht zu machen.

Neben meinem Bett stand ein niedliches Waschtischchen, ebenfalls von Gardinen umwallt, und alle möglichen Toilettengegenstände schmückten dasselbe. Ein weicher Teppich bedeckte den Fußboden, grüne Vorhänge harmonirten mit der grünen Tapete der Wände, und machten das Zimmer ungemein behaglich. Das Beste darin aber war der Platz meines Bettes unmittelbar neben dem Fenster, das nach dem Garten hinaus führte. Von hier aus fielen meine Blicke ja gleich beim Erwachen auf Himmel und Bäume, gerade wie es zu Hause gewesen in der großen Unterstube, in welcher wir Kinder schliefen.

Mit welch' unbeschreiblich schwerem Herzen drückte ich am ersten Abend meinen Kopf in die weichen Kissen meines Himmelbettes! Ach es war die erste Nacht, die ich außer dem Vaterhause zubrachte, die erste Trennung von meinen Lieben in der Heimath! Thräne auf Thräne rollte auf die weißen Kissen, und unnennbares Heimweh bedrückte mein Herz. Endlich aber faltete ich still meine Hände und suchte Trost und Ruhe bei Dem, der ja auch hier über mir wachte, und dessen Hand mich auch hier gütig und väterlich leiten würde, wie sie es bisher gethan. Ein süßer Friede kam während des Gebetes in mein Herz, und ruhig schloß ich endlich die Augen, um im Traume wieder dorthin zu fliegen, wo mein Herz und meine Gedanken weilten, nach dem lieben, theuren Vaterhause!

Wie erstaunt war ich, als ich am andern Morgen erwachte, und halb noch im Geiste unter meinen lärmenden Geschwistern, mich nun hier in dem stillen, grünen Zimmerchen fand. Mit einem leisen Seufzer besann ich mich endlich auf alles und blickte nun spähend nach dem anderen Himmelbett hinüber, ob dessen Bewohnerin schon erwacht sei. Sie nickte mir einen freundlichen Morgengruß zu und fragte, wie ich geschlafen.

»Sehr gut, liebe Tante,« sagte ich fröhlich. »Ich habe die ganze Nacht von Schreibersdorf geträumt und von all meinen Geschwistern. Sie sind heut gewiß rechte Langschläfer, da ich sie nicht aus den Federn treibe.«

»Du scheinst mir auch noch nicht ausgeschlafen zu haben, Kleine!« sagte die Tante lächelnd, als ich jetzt den Mund zu einem lauten Gähnen öffnete, und ohne die Hand vorzuhalten, die Tante anblickte. »Hu, verschling mich nicht, Mädchen!« rief diese, sich die Augen zuhaltend, und beschämt steckte ich meinen Kopf wieder unter die Decke. Es war die erste Unmanier, mit der ich den Tag begann, und sie machte so tiefen Eindruck auf mich, daß ich mein Gähnen seitdem außerordentlich cultivirte.

Die Tante mahnte jetzt zum Aufstehen, und so fuhr ich denn schleunigst, wie ich all mein Lebtag gethan, mit beiden Beinen unter dem Deckbett hervor und kauerte mich im allerleichtesten Nachtkostüm auf den Fußboden, um mir dort die Strümpfe anzuziehen.

Ein herzliches Gelächter der Tante brachte wieder dunkle Gluth auf mein Gesicht. »O,« rief sie lustig, »wie alt ist denn das liebe kleine Hemdenmätzchen dort an der Erde, das fünf Fuß preußisch in der Länge mißt?«

Wie der Blitz flog ich bei diesen Worten der Tante hinter die Bettgardine, und jetzt lernte ich erst deren Tugenden schätzen, denn bis ich mein gar zu natürliches Nachtkostüm mit andern Kleidern vertauschte, schützte mich diese gar trefflich. Beschämt kam ich hinter derselben wieder zum Vorschein und eilte an das Bett der Tante, um derselben meinen Morgengruß zu bringen.

Den Gruß erwiderte sie freundlich, als ich ihr jedoch meine Lippen zum Kuß darbot, schob sie mich sanft zurück und sagte:

»Erst waschen und den Mund reinigen, ehe man damit küßt, liebes Gretchen!«

Das war schon Dummheit Nummer drei, die ich beging, und ich war kaum aus den Federn; zu welcher Summe würden Tante's Ermahnungen wohl angewachsen sein, wenn ich am Abend mich wieder hinter den weißen Gardinen meines Himmelbettes niederlegte!

Kleinlaut schlich ich zum Waschtisch, meine Morgentoilette zu machen, die bisher zu Hause sehr wenig Zeit gekostet hatte. Ein wenig Wasser, eben genug, um die Hände naß zu machen, genügte mir vollkommen zum Waschen, und ohne mein weißes Nachtjäckchen abzulegen, fuhr ich mit dem nassen Handtuchzipfel ein paar Mal über das Gesicht und den Nacken, ebenso schnell ging es mit den Händen, und fertig war ich.

Die Tante war indessen aufgestanden und trat nun zu mir an den Waschtisch.

»Ist bei Euch auf dem Lande das Wasser so theuer, daß du so sparsam damit bist?« fragte sie, auf die paar Tröpfchen im Waschbecken deutend.

»Ich brauche nicht mehr, Tantchen!« sagte ich verwundert.

»Ich wünschte, daß du diesem Geschäft etwas mehr Sorge zuwendest, es ist gut sowohl für die Reinlichkeit als für die Gesundheit!« sprach die Tante freundlich, und begann nun selbst ihre Toilette, der ich erstaunt zusah.

Zuerst goß sie eine große Menge Wasser in das Waschbecken, entblößte dann Nacken und Arme von ihrer Umhüllung, und badete nun Kopf und Hals immer und immer wieder mit einem großen weichen Schwamme, den sie im Nacken ausdrückte. Dann rieb sie Arme und Hände mit schäumender Seife ab und rief munter: »Wasser und Seife kannst du mir nie zu viel verschwenden! Nach dem Verbrauche der Seife taxirt man die Cultur der Staaten, je mehr Seife derselbe consumirt, je weiter ist er im Fortschritt.« Dabei überreichte sie mir einen ebenso schönen, weichen Schwamm, als der ihrige war, und forderte mich auf, nun ihrem Beispiele zu folgen. Verlegen machte ich mich an das ungewohnte Werk und benahm mich dann auch dabei so geschickt, daß bald alles um mich herum schwamm. Zum Ueberfluß stieß ich auch noch den Wasserkrug um, und nun triefte alles rings umher, sowohl der zierliche Waschtisch, als auch der Fußboden und meine Bettgardine, ja sogar die Kleider auf meinem Stuhle.

»Himmel, wir ertrinken! Das nenne ich Wasser consumiren!« lachte die Tante, nach mir umschauend, und rettete die noch trockne Umgebung vor den strömenden Wogen. »Du bist ja riesenhaft cultivirt, meiner Theorie zu Folge!«

»Ach der dicke Schwamm ist dran Schuld, Tantchen!« rief ich fast weinend und blickte trostlos auf die Sündfluth um mich her.

»Alles will gelernt sein, Kind!« tröstete die Tante freundlich. »Mache jetzt, daß du wieder trocken wirst, sonst bezahlst du meine Lehren mit einem tüchtigen Schnupfen.«

»Wäre dies Anziehen doch nur erst überstanden!« seufzte ich im Herzen, während ich mir das Wasser zur Reinigung des Mundes zurecht machte. »Was wird dabei nun wieder falsch sein!« Aber das ging besser ab, als ich gefürchtet. Die Bürste war köstlich fein, das Pulver von angenehmen Geruch, und das half mir trefflich.

»Ich hoffe, du wiederholst dies Geschäft auch stets nach dem Mittagessen, Kind?« sagte die Tante, als ich fertig war.

»Nach dem Mittagessen, Tantchen? Nein, bis jetzt that ich das nie!«

»So thue es ja von heut an, es ist vortrefflich für die Conservirung der Zähne!«

»Ja wohl, liebe Tante!«

Ach wie oft habe ich in jener Zeit »Ja wohl, liebe Tante!« gesagt! Hätte ich für jedes Mal einen Thaler bekommen, ich wäre als Millionärin nach Haus zurück gekehrt!

»Ich habe es gern, wenn junge Mädchen sich gleich am Morgen das Haar flechten!« sagte die Tante, als ich mir eben meine braunen Zöpfe unter das Morgenmützchen stecken wollte.

»Ja wohl, liebe Tante!« entgegnete ich demüthig und riß mein Häubchen schnell wieder vom Kopfe und die Flechten herunter, daß die Nadeln umher flogen.

»Ich lese dir indeß aus der Zeitung vor, Gretchen, nimm dir Zeit, daß du ordentlich aussiehst, darauf halte ich etwas!« fuhr die Tante fort, indem sie sich in einen Lehnstuhl setzte und mir aus der Zeitung allerlei vorlas, wobei sie aber fortwährend über dieselbe hinaus und zu mir hin blickte, ob ich auch alles regelrecht mache. Da hieß es denn bald: »Löse die Haare aus dem Kamme, ehe du wieder damit kämmst! Lege das Haar nicht auf den Tisch, sondern auf Papier! Nicht so fest flechten, hübsch gleichmäßig! Reinige Kämme und Bürsten, ehe du sie fortlegst!« und was dergleichen kleine Mahnungen mehr waren.

Endlich war das Werk vollbracht, und ich griff nach dem Morgenrock, um mich, wie ich gewöhnt, bequem hinein zu hüllen.

»Nein Kind, ein junges Mädchen zieht sich gleich fertig an, nur keine Verwöhnung!« sagte die Tante mir zusehend, und erstaunt legte ich das verschmähte Kleidungsstück wieder auf die Seite. »Das ist vortrefflich, wenn du krank bist, aber nicht in gesunden Tagen, mein Töchterchen!« fügte sie freundlich hinzu. »Nur immer schmuck und à quatre épeingles! Ein saloppes Mädchen ist etwas Widerwärtiges, und der Schlafrock verleitet nur gar zu gern hierzu. Komm, ich will dir helfen, mein Kind!«

Dabei griff sie nach meinen Kleidern und befestigte mir freundlich alle Bänder und Haken und Knöpfe, die zu meinem Anzuge gehörten.

»Ei ei! da sehe ich allerlei Dinge, die mir nicht gefallen!« tönte es aber während ihrer Hülfsleistungen hinter mir, und dabei schwebte eines meiner Rockbänder, das ich gestern in der Eile zusammen geknotet, als es tückisch aus einander riß, verhängnißvoll in der Luft.

»Dergleichen darf nun und nimmer bei mir vorkommen, Gretchen!« sagte die Tante streng. »Und hier, die Haken deines Kleides sind sämmtlich so lose, daß sie sich von oben bis unten in ihrer ganzen Fülle an das Licht drängen! Das geht nicht, geschwind hole ein andres Kleid, und das Rockband nähe augenblicklich.«

Wie ein begossener Pudel schlich ich zum Kleiderschranke und that, wie mir geheißen.

»Hat deine gute Mutter denn dergleichen Unordnung gelitten?« sagte die Tante, während ich das Band annähte.

»Ach nein, Tantchen, niemals! Sie hält sehr auf Ordnung!« entgegnete ich leise und fast weinend. »Ich bin auch nicht immer so nachlässig, es ging gestern bei der Abreise nur so schnell, daß ich keine Zeit zum Ausbessern hatte.«

»Ich will dir einen guten Rath geben, damit dergleichen nicht öfter vorkommt, mein Kind!« sagte die Tante liebevoll. »Jeden Abend vor Schlafengehen sieh regelmäßig all deine Sachen nach, die du andern Tages anziehen willst, und bringe das Fehlende daran in Ordnung. So viel Zeit hat man da immer, und entbricht man sich dadurch etwas am Schlafe, so hat das nicht viel zu bedeuten. Wie man Herz und Seele vor dem Einschlafen prüfen, und wie man sich vornehmen soll, alles das besser zu machen, was an diesem Tage nicht recht war, ebenso muß man auch den äußeren Menschen in Ordnung halten, und am Schlusse des Tages nachhelfen, wo etwas fehlt. Solche kleine gute Angewöhnungen tragen gute Früchte, das sollte man immer bedenken. Vernachlässigte kleine Schäden wachsen schnell zu großen an, sowohl im Kleid als im Herzen, und dann macht jede Reparatur zehnfache Arbeit.«

Ich küßte der guten Tante still die Hand, mit der sie mir die Wange streichelte. Da bemerkte ich, wie sie plötzlich ein halb ernstes, halb komisches Gesicht machte und auf meine Hände blickend sagte: »Du hast ja Hoftrauer, Gretchen!«

»Hoftrauer, liebe Tante? Was meinst du damit? Ist jemand von der königlichen Familie gestorben?« fragte ich verwundert.

»Wie? den Ausdruck kennst du nicht?« lachte die Tante und hielt meine beiden Hände mir vor das Gesicht. »Das hier nennt man Hoftrauer, Kind, deine zehn schwarzen Fingernägel, denen keine Nagelbürste zu Hülfe gekommen ist! Geschwind, lege die Trauer ab, ich habe auf deinem Waschtische reichlich für die Mittel dazu gesorgt, geh und bürste deine Nägel!«

»Geh und bürste deine Nägel!« Ich ging und versuchte mein Heil, das erste Mal in meinem Leben, zu Haus hatte nie jemand meine Finger dieser Procedur unterworfen. Tantchen kam bald zu meiner Hülfe herbei, und das war gut, nun erfuhr ich doch, wozu die netten kleinen Bürsten und Haken da waren, die meinen Waschtisch schmückten. Es ist wahr, als zum ersten Male in meinem Leben so schöne weiße Nägel an meinen Fingerspitzen prangten, sahen die Hände noch einmal so hübsch aus.

»Gretchen, die Morgenschuh gehören auch in das Bereich der Dinge, welche junge Mädchen außerhalb des Schlafzimmers nicht an den Füßen dulden sollen!« wandte sich die Tante noch einmal zu mir, indem sie meinen Füßen verdächtige Blicke zuwarf. »Auch blitzt es noch gewaltig, mein Herz.«

»Es blitzt?« rief ich erstaunt und blickte nach dem Fenster. Die Tante lachte abermals herzlich über meine Einfalt und sagte: »Bist du denn eben vom Baume herunter gefallen, Mädchen, daß du die Redensart auch noch nicht kennst? Der Schlitz deines Kleides steht offen, das nennt man blitzen, du kleines Närrchen! Gewiß hast du ihn nicht zugesteckt!«

»Nein, das thue ich nie, Tantchen!« erwiderte ich verwundert.

»Ja das gehört aber auch zur Ordnung, Kind!« entgegnete die Tante, das Versäumte nachholend. »Es ist ein häßlicher Anblick, oft bei ganz eleganten Toiletten diese Nachlässigkeit zu bemerken.«

Während ich nun noch die verpönten Morgenschuh von meinen Füßen streifte, um sie mit straffen Schnürstiefeln zu vertauschen, verließ die Tante unsere Schlafstube, und bald folgte auch ich ihr nach dem Wohnzimmer, wo das Frühstück uns erwartete. Als ich dort eintrat, kam Tante Ulrike freundlich auf mich zu, nahm meinen Kopf zwischen beide Hände und drückte einen herzlichen Kuß auf meine Lippen.

»Siehst du, jetzt bekommst du gern, was ich dir vorhin versagte!« sprach sie heiter. »Es ist eine arge Zumuthung, von unsaubern und unappetitlichen Lippen geküßt zu werden, und das vergessen gar viele Menschen, nicht blos meine kleine, liebe Grete! – Aber nun komm zum Kaffee, mein Töchterchen!« fuhr die Tante fort, und brachte die zierliche gemalte Kaffeekanne herbei. »Heut ist er schon fertig, aber von jetzt an übergebe ich dir das Geschäft des Kaffeekochens, sowie Abends auch die Theebereitung. Ich mache all' das gern in meinem Zimmer, das Summen des Theekessels ist gar zu behaglich.«

Geschäftig eilte ich, der Tante die Tasse mit Kaffee zu füllen und ihr denselben mit Sahne und Zucker zu versetzen.

»Erst Zucker, dann Sahne, das ist eine alte Regel, sonst giebt es eine unglückliche Liebe!« scherzte die Tante, indem sie mir zusah. »Und dann gieß die Tasse nicht so voll und schütte nichts über!«

»Ach verzeih!« rief ich erröthend und goß schnell aus der Untertasse wieder in die obere, was beim Hinreichen übergeflossen war. Aber nun kam ich aus dem Regen in die Traufe, wie man zu sagen pflegt, denn das war ja erst recht unschicklich.

Endlich setzte auch ich mich zum Frühstück nieder und machte mir ganz behaglich, wie zu Hause, eine recht schöne »Brockei«, wie wir Kinder es nannten, das heißt, ich stopfte eine Menge Weißbrod in die Tasse, daß es vom Kaffee dick aufgeschwemmt wurde und hoch oben hinaus stand.

»Du bist doch noch ein recht ordentliches Kind!« rief die Tante und sah mir lächelnd zu. »Nun laß es dir gut schmecken! Wenn wir unter uns sind, will ich dir dein Vergnügen nicht stören, aber in Gesellschaft von Andern mußt du solchen Kaffeepudding schon dran geben.«

»Wie schade! das schmeckt so gut, Tantchen!« sagte ich kindisch, und blickte mein süßes Gericht zärtlich an. Die zweite Tasse jedoch versuchte ich, nach Tante Ulrike's Angabe, ganz manierlich hinunter zu schlürfen; da er aber sehr heiß war, goß ich ihn in die Untertasse, damit er schneller abkühlte, und führte dieselbe dann pustend an die Lippen.

»Das schickt sich ja aber wieder nicht, Kind!« lachte die Tante, und erschrocken setzte ich schnell die Tasse nieder.

»Wir Kinder haben zu Haus immer aus der Untertasse getrunken!« sagte ich erröthend.

»Das glaube ich gern, Kindern ist eben alles erlaubt!« entgegnete die Tante. »Aber du bist ja doch bei mir um das zu lernen, was sich für erwachsene Leute schickt, und die Kinderschuh abzustreifen, und drum quäle ich dich so ohne Erbarmen, du armer kleiner Backfisch! Nun wollen wir es aber für heut gut sein lassen, mache jetzt, was du Lust hast, sonst vergißt du am Ende eins mit dem andern. Heut habe ich dich mit den Pflichten und Regeln des Morgens gepeinigt, das war Lection Nummer I. Ich denke, wenn wir alle Tage solch Kapitelchen durchnehmen, so werden wir ja wohl in Jahr und Tag so ziemlich mit dem fertig sein, was ein Backfischchen zu lernen hat.«

In dieser freundlich heitern Weise verstand es Tante Ulrike, mich ungehobeltes Dorfmädel nach und nach etwas abzuschleifen, was gewiß keine leichte Aufgabe war. Die Milde und Geduld, mit welcher sie mich auf alles aufmerksam machte, ließ in mir jede Aufwallung von Aerger oder Unwillen zur Unmöglichkeit werden. Wenn ich auch noch so viel Falsches und Thörichtes that, noch so viel Verweise erhielt, immer war ich nur von Dank erfüllt gegen die, welche meine Erziehung mit so viel Selbstverleugnung und Liebe übernommen hatte, und das größte Bestreben, diese Bemühungen mit Eifer und Aufmerksamkeit zu vergelten, beseelte mich an jedem Morgen von Neuem.

Aber freilich, was hatte ich alles zu merken, was alles anders zu machen, als ich es bisher gethan hatte! Wie eine Fluth brauste es über mich daher, denn nur allein der Morgen, wie reich war der an vielfachen Rügen und Mahnungen gewesen! Welch' langen Herzenserguß sandte ich da gleich am ersten Tage nach meinem lieben Vaterhause! – Ach dort war stets alles recht und gut, was ich that, dort war ich noch ein Kind, für das sich alles schickte, und wie glücklich und seelensfroh war ich dabei gewesen! Aber jetzt! Jetzt war ich kein Kind mehr, jetzt sollte ich ein erwachsenes Mädchen vorstellen, mit neuen Pflichten und neuen Anforderungen! Da kamen mir immer und immer wieder die Schlußworte jenes schönen Liedes in den Sinn, die auch ich aus tiefstem Herzen seufzte: »O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!«

3.
Visiten.

So deutlich, wie mir dieser erste Morgen im Hause meiner lieben »Tante Anstand«, wie ich sie scherzend nannte, im Sinne geblieben, ist es freilich mit alle den darauf folgenden Tagen und Stunden nicht der Fall. Doch stehen mir besonders aus der ersten Zeit meines Aufenthaltes noch viele einzelne Scenen so deutlich in der Erinnerung, als hätten sie sich eben erst zugetragen, und von diesen will ich denn weiter erzählen.

»Hole dir Hut und Tuch, Gretchen, wir wollen einige Visiten machen!« sagte die Tante eines Tages, und ich eilte, ihrer Weisung zu folgen, um schnell fertig zu werden, denn sie liebte es gar nicht, auf mich zu warten. Nun war ich aber an solch' feierliches Ausgehen gar nicht gewöhnt, denn zu Haus stülpte ich schnell meinen Hut über und sprang sonst, wie ich war, hinaus in Garten und Flur; Shawl, Handschuh, Schirme, Aufschürzer und was dergleichen nöthige Gegenstände mehr waren, die zu einer Stadtpromenade gehörten, kannte ich wenig. So kam es denn regelmäßig, daß ich jetzt irgend etwas von diesen Dingen vergaß, was ich erst bemerkte, sobald wir unterwegs waren, und natürlich wurde die Tante hierüber oft recht verdrießlich.

Heute nun hatte es geregnet, und so schürzte ich mit zwei niedlichen Klammern, welche die Tante mir zu diesem Behufe geschenkt, mein Kleid sehr sorgfältig auf, denn oft hatte die Tante mich aufmerksam gemacht, wie häßlich es aussah, wenn nett gekleidete Damen entweder die guten Kleider im Schmutze nachschleppten, oder sich dieselben so ungeschickt aufnahmen, daß man alle Etagen ihrer Unterkleider verfolgen konnte, wobei sich oft nicht eben das Sauberste den Augen darbot. »Oben hui, unten pfui!« wie Tantchen sagte. Mit Shawl und Regenschirm wohl ausgerüstet folgte ich eilig meiner Führerin, welche wie gewöhnlich früher als ich fertig war. Auf der Treppe aber bemerkte ich erst, daß ich meine Handschuh vergessen, und erschrocken sprang ich zurück, dies mir recht unangenehme Kleidungsstück zu suchen. Glücklich holte ich die Tante auch bald ein, bemerkte aber in der Eile nicht, wie naß die Straße war, und daß ich dünne Zeugstiefeln an den Füßen hatte, bis die Tante plötzlich stehen blieb und auf mein Fußwerk zeigte.

»Ohne Ueberschuh in solchem Wetter, Mädchen?« rief sie unwillig. »Das geht nicht! Erstens bekommst du nasse Füße, und zweitens verdirbst du deine guten Zeugstiefeln. Kehre schnell um, hole dir Gummischuh und komm mir dann nach, du kannst mich bei Geh. Rath Delius treffen, wohin ich zuerst gehen werde.«

Auf Windesflügeln lief ich nach unsrer Wohnung zurück und holte die vergessenen Schuh aus ihrem Kasten. Aber wie ärgerlich! Sie waren von dem Schmutz des letzten Regenwetters noch völlig überdeckt, und ich mußte nun warten, bis Dore sie mir gereinigt hatte.

»Warum dachte ich auch daran nicht und setzte die dummen Dinger schmutzig in den Kasten!« brummte ich ärgerlich und trippelte vor Ungeduld mit den Füßen. »Mach doch nur rasch, Dore,« schalt ich dann heftig, »ich kann ja sonst Tantchen nicht mehr einholen, und muß dann allein bei Geh. Rath Delius in das Zimmer treten!« Mir wurde ganz heiß vor Angst bei diesem Gedanken, und so schnell ich konnte, rannte ich der Tante nach, so daß ich in tausend Pfützen patschte, alle Menschen umriß, die mir begegneten, oder denselben meinen aufgespannten Regenschirm vor den Magen stieß.

»Gott bewahre, die hat's eilig! Das fahrige, junge Ding!« hörte ich hinter mir drein rufen, aber unaufhaltsam stürzte ich vorwärts, um die Tante noch einzuholen, ehe sie an dem betreffenden Hause angelangt war. Doch vergebens, ich hatte mich zu sehr verspätet und mußte nun allein in das Zimmer treten.

Mit hoch klopfendem Herzen folgte ich dem anmeldenden Diener, und trat dann schüchtern der Dame des Hauses entgegen, welche mich freundlich bewillkommnete. Tante Ulrike saß schon neben ihr auf dem Sopha, stand jedoch bei meiner Ankunft ebenfalls auf, um mich der Geheimräthin vorzustellen. Da kam ein schrecklicher Moment: ich mußte meine Verbeugung machen! Ach das war ein großer Stein des Anstoßes, und täppisch genug mochte ich mich bewegt haben, ich fühlte es ordentlich an meinen zitternden Knieen und der brennenden Gluth, die mein Gesicht bedeckte.

»Kommen Sie näher, liebes Gretchen!« sagte die Geheimräthin herzlich und bot mir einen weichen Lehnstuhl zum Niedersitzen an.

»Erlauben Sie, liebe Freundin, daß Gretchen zuvor Ueberschuhe und Regenschirm in den Corridor trägt!« sagte die Tante jetzt, als ich mich eben ängstlich auf den Lehnstuhl setzen wollte.

Erschrocken fuhr ich schnell wieder von meinem Sitz empor und blickte an mir hernieder. Da sah ich denn, in welch' erbaulicher Verfassung ich in meiner Hast und Verlegenheit in dies elegante Zimmer eingetreten war! Nicht bloß, daß ich vergessen, mein aufgeschürztes Kleid herunter zu lassen, damit es die Röcke bedeckte, welche bei dem schnellen Sturmlauf arg besprützt worden, sondern ich hatte auch meine kothigen Ueberschuh an den Füßen behalten, welche herrliche Spuren auf dem glatten Parquetfußboden, sowie auf dem köstlichen Teppich zurück ließen. Ebenso umklammerte meine Hand noch mit krampfhafter Gewalt den Regenschirm, an dessen Spitze die Gewässer des heutigen Regenhimmels in sanften Strömen herab träufelten und sich zu einem kleinen See auf dem Fußboden vereinigten.

Eine scheue Entschuldigung stammelnd stürzte ich zum Zimmer hinaus und entledigte mich in der Vorstube dieser argen Missethäter. Dabei blickte ich in den Spiegel und sah nun, wie wenig meine Erscheinung für eine feine Morgenvisite geeignet war. Das Haar hing vom Winde gezaust nach allen Himmelsrichtungen um meine Stirn, der Hut saß schief und hatte eine arge Quetschung beim Kampf mit andrer Leute Regenschirmen erhalten, die Schleifen meines Knüpftuches hingen im Nacken, und der Kragen war eben im Begriff, auf und davon zu gehen.

»Daß auch Tantchen gerade bei solch' gräßlichem Wetter Visiten macht!« dachte ich ärgerlich und brachte meine Toilette wieder einigermaßen in Ordnung. Während ich aber hastig noch damit beschäftigt war, fiel mein Blick auf meine Handschuh, und neuer Schrecken durchfuhr mein armes Herz! Ach in der Eile und Hitze hatte ich ein Paar alte ergriffen, und erst jetzt mußte ich das bemerken! Was würde die Tante sagen, wenn sie das sah, denn sehen würde sie es, ihrem Auge entging ja nichts! Und was sollte die vornehme Geheimräthin von mir denken, vor der ich mich schon so schrecklich blamirt hatte! Anbehalten mußte ich die abscheulichen Dinger, denn ohne Handschuh, wie ich auf dem Lande ging, das wäre ja ganz unschicklich! So trat ich denn ängstlich und zaghaft wieder in das Visitenzimmer herein, meine Hände sorgfältig unter den Enden meines Shawles versteckend, was mir aber ein noch steiferes, ungelenkeres Benehmen gab.

Die liebe Dame des Hauses war taktvoll genug, meinen Wiedereintritt wenig zu beachten und sprach eifrig mit der Tante, und so setzte ich mich still auf einen einfachen Rohrstuhl, denn ohne Aufforderung wagte ich den schwellenden Polstersessel nicht wieder einzunehmen.

Da saß ich denn schweigend eine lange Zeit und hatte Muße genug mich zu sammeln. Ich zog und zerrte heimlich an den Fingerspitzen meiner unglückseligen Handschuh, von denen an einer Hand zwei, an der andern gar drei Finger aufgeplatzt waren, so daß die Fingerspitzen wie Rosenknospen aus der Blätterhülle hervorleuchteten. Es half aber nichts, davon wurden sie nicht wieder ganz.

Endlich hatte ich Verlangen, mein Taschentuch zu gebrauchen und griff darnach, aber siehe da, mein Tuch fehlte, ich mußte es in der Eile verloren oder im Vorzimmer liegen gelassen haben. Das war doch gar zu unangenehm! Wie sehnlich wünschte ich, Tantchen möchte aufbrechen, aber diese schien nicht daran zu denken und sprach lebhaft immer weiter. Da endlich stand die Geheimräthin auf, um dem Diener zu klingeln, und diesen Moment benutzte ich schnell. Mit einem flehenden Blicke neigte ich mich zu Tante Ulrike hinüber und zog das feine Taschentuch aus ihrer Hand, was sie zwar ruhig duldete, aber ein mißbilligendes Schütteln ihres Kopfes sagte mir gar wohl, was sie von ihrer ausgezeichneten Nichte dachte.

»Friedrich, sagen Sie meiner Tochter, daß Besuch bei mir ist!« rief die Geheimräthin dem eintretenden Diener entgegen! Bald öffnete sich denn auch die Thür des Nebenzimmers, und eine hohe, schlanke Dame in höchst eleganter Toilette schwebte zu uns herein. Mit ein Paar ruhigen, schmachtenden Augen blickte sie um sich, und begrüßte dann die Tante mit einer leichten Verneigung. Mich schien sie gar nicht zu sehen, obwohl ich in meiner ganzen Länge neben ihr stand, bis endlich ihre Mutter mich vorstellte. Das miserable Compliment, das ich der Dame des Hauses bei meinem Eintritt gemacht hatte, wollte ich jetzt durch ein besseres wieder gut machen, und so verneigte ich mich vor Fräulein Amanda denn höchst schulgerecht fast bis zur Erde, und ich war wirklich ganz zufrieden mit mir. Das Fräulein aber nickte kaum bemerkbar mit dem Kopfe und ließ sich dann langsam in den von mir leer gelassenen Lehnstuhl niedergleiten, in welchem sie sich nachlässig zurücklehnte. Das schien ihr aber noch nicht bequem genug zu sein, denn sie zog sich einen kleinen Fußschemel herbei, auf den sie ihre Füße stützte, und während sie den Kopf leicht auf die eine Hand lehnte, und mit der andern einen zierlichen Fächer auf und zu rollte, sah sie mich mit halb geschlossenen Augen lange schweigend an.

Mir trat bei dieser Prüfung der Angstschweiß auf die Stirn, ich rutschte unruhig auf meinem Sitz hin und her und blieb endlich auf der äußersten Stuhlecke hängen, dunkelroth bis zum Wirbel.

»Sie sind wohl vom Lande?« sagte die junge Dame endlich mit gezierter Stimme.

Neue Gluth färbte mein Gesicht bei dieser einfachen Frage. Bis jetzt war ich noch immer stolz auf meine Heimath gewesen, und mein Auge leuchtete, wenn ich jemand davon erzählen konnte, jetzt aber war mir, als müßte ich mich schämen, daß ich »nur vom Lande« war, denn ich fühlte recht wohl die Geringschätzung, welche für mich in dieser Frage Amanda's lag.

Die Tante, welche zwar während dieser Zeit mit der Geheimräthin gesprochen hatte, erlöste mich von meiner peinlichen Situation, indem sie an meiner Stelle antwortete. Nach einiger Zeit, in welcher ich wieder stumm dagesessen hatte, denn wie hätte ich gewagt, dieses Fräulein meinerseits anzureden, wandte sie sich abermals zu mir.

»Wie alt sind Sie denn, Liebe?« fragte sie herablassend, ungefähr so, wie eine Prinzessin ein armes Mädchen fragen würde, das eine Gnade von ihr erflehen möchte. Auch mein Alter hatte ich bis jetzt Jedermann offen und freudig genannt, Amanda Delius gegenüber aber war ich wie ausgetauscht.

»Eben 16 Jahre geworden!« lispelte ich, abermals vor Schaam erglühend, daß es nicht mehr Jahre waren.

»Also noch ein Backfischchen!« schmachtete Amanda gelangweilt, und wehte sich mit ihrem Fächer langsam frische Luft zu.

Es war durchaus nichts Neues, Unbekanntes, was das Fräulein mir da sagte, ich wußte recht gut, ich war noch ein Backfischchen, die Tante und alle Leute sagten es mir Tag für Tag, und nie war mir der Name unangenehm oder beleidigend gewesen. Aber jetzt aus dem Munde Amanda's kam er mir unerträglich vor, und ich hätte weinen können vor Aerger und Verdruß. Zum Glück stand jetzt die Tante auf und verabschiedete sich von Mutter und Tochter, und so wurde ich aus der unangenehmen Lage erlöst, in der ich mich befand, denn mit diesen wenigen Worten schien mich das Fräulein abgefertigt zu haben und sprach nun entweder gar nicht, oder gab einige Bemerkungen zu dem Gespräch zwischen ihrer Mutter und Tante Ulrike.

Nun Gott sei Dank, endlich waren wir wieder auf der Straße! Ich ging ganz stumm und beschämt neben der Tante her, und diese sprach Anfangs auch kein Wörtchen. Endlich aber sagte sie: »Nun Gretchen, heut' hast du dich mit Ruhm bedeckt, das muß ich sagen!«

»Ach Tantchen, ich bin ganz außer mir über meine Dummheiten!« rief ich nun schluchzend, denn jetzt brach meine ganze Haltung zusammen, und trostlos dachte ich an alles, was so eben vorgegangen war.

»Nun nun, Kind, tröste dich nur, was sollen denn die Leute denken, wenn du großes Mädchen auf offner Straße so weinst und schluchzest!« sagte die Tante beruhigend. »Etwas Unrechtes hast du ja nicht gemacht, nur einige Versehen gegen Anstand und feine Bildung, und das wird schon besser werden!«

»O ich bin ein zu großer Tölpel, Tantchen, schilt mich nur tüchtig, ich verdiene es nicht anders!« rief ich noch immer schluchzend.

»Schelten werde ich dich wegen solcher Dinge niemals, Kind, denn du weißt es noch nicht besser!« entgegnete die Tante liebevoll. »Aber die Erlaubniß, noch länger mein armes Battisttaschentuch mit deinen Thränen zu tränken, die entziehe ich dir jetzt!«

Trotz meiner Thränen mußte ich nun lachen, und bald fand sich denn auch mein Gleichmuth wieder.

»Unsern Besuch bei diesen meinen Freunden betreffend,« fuhr die Tante freundlich fort, »will ich dir nur das noch sagen, was du dir nebst den andern Dingen, die zum Anstand gehören, merken magst: Wenn du dich hinsetzest, es sei auf einen Stuhl oder was sonst, so bleibe nicht auf dem äußersten Rande oder der einen Ecke hängen, sondern nimm ruhig und sicher den vollen Sitz ein, du erscheinst sonst linkisch und ängstlich. Ferner warte, ob man dir die Hand reicht, ehe du die deinige hinhältst, du kannst nicht wissen, ob man auch gesonnen ist, sie dir zu drücken. Endlich aber richte dich mit deinen Verbeugungen, in denen ich dich noch ein wenig zurecht stutzen werde, nach dem Alter und Stande der Personen, vor denen du sie machst. Heut' bekam die würdige Frau Geheimräthin kaum einen kleinen unbedeutenden Knix von dir, während du der prätentiösen Fräulein Tochter ein Compliment setztest, das wenigstens für eine Prinzessin feierlich und tief genug war.«

»Sie war aber auch so unnahbar wie eine Prinzessin!« seufzte ich leise für mich hin.

»Da hast du nun zwar so unrecht nicht!« sagte die Tante lachend, »aber um so weniger huldige ihr nur, die Erlaubniß gebe ich dir. Aber jetzt komm nach Haus, die andern Besuche machen wir ein andres Mal, wenn besser Wetter ist und sich ein Taschentuch in deiner Tasche und anständige Handschuh an deinen Fingern befinden!«

Dachte ich's doch, ihren Augen kann nichts entschlüpfen! Hatte sie doch richtig die Rosenknospen unter ihrer Hülle entdeckt, so sehr ich auch bemüht war, diesen Anblick ihren forschenden Augen zu ersparen. O Tante Anstand!

4.
Freundschaft.

Zum Glück waren nicht alle Besuche, welche die Tante mit mir machte, so tragischer Natur als dieser eben beschriebene, dennoch aber bekam ich jedesmal ein kleines Visitenfieber, wenn wir uns zu dergleichen Unternehmungen rüsteten. So klopfte mir denn das Herz auch gewaltig, als ich die Tante einige Zeit nach jenem Besuche bei Geh. Rath Delius zu Professor Dunker begleiten sollte.

»Es ist ein junges Mädchen dort im Hause, mit der du Freundschaft schließen kannst!« sagte die Tante unterwegs, doch seufzte ich im Stillen bei diesem Gedanken, denn so sehr mein Herz nach befreundetem Verkehr verlangte, so schienen mir die jungen Mädchen der Residenz ein so andres Geschlecht zu sein, als ich und meine Freundinnen auf dem Lande, daß ich starke Zweifel hegte, hier jemals ein gleichgeschaffnes Wesen kennen zu lernen. Diese jungen Damen standen für mich armes, ungelenkes Dorfkind alle auf einer so unerreichbaren Höhe, daß ich mich immer am liebsten wie ein Mäuschen verkrochen hätte, wenn ich einem solch feinen Fräulein vorgestellt wurde. – So trat ich denn auch hier, von Tantchens Flügeln wie ein Küchlein gedeckt, mit schüchternen Schritten in das Zimmer von Frau Professor Dunker. Eine sehr lebendige, freundliche Dame kam uns mit herzlichen Worten entgegen, und kaum hatte sie uns begrüßt, so eilte sie nach der Thür, und rief: »Mariechen, geschwind komm herein, hier ist lieber Besuch!«

Ein junges Mädchen mit schönem, blondem Haar und freundlichen blauen Augen erschien auf diesen Ruf in der Thür und trat leicht erröthend und etwas schüchtern, aber doch frei und anmuthig zu uns herein. Tante Ulrike umarmte sie herzlich und führte sie dann zu mir, uns mit einander bekannt machend. Das schöne blaue Auge Marie's blickte freundlich in das meine, und indem sie meine Hand ergriff, sagte sie lebhaft: »O ich habe von Tante Ulrike schon so oft von Ihnen gehört, liebes Gretchen, wie freue ich mich, Sie nun kennen zu lernen!« Dabei zog sie mich auf ein kleines Sopha am Fenster, während die älteren Damen entfernt von uns Platz genommen hatten, und redete so herzlich und vertraulich, so frisch und natürlich zu mir, daß mir das Herz ganz aufging vor Freude und Entzücken. Das war freilich ein andres Wesen als Fräulein Amanda Delius, die mich kaum dreier Worte gewürdigt und wie ein Gänschen behandelt, und auch anders als die andern jungen Damen, deren ich bis jetzt einige bei der Tante kennen gelernt hatte. Neben diesem lieben, offenherzigen Naturkinde schwand meine Blödigkeit, bald schwatzten und lachten wir so vertraulich mit einander, als hätten wir uns seit Jahren schon gekannt. Als die Tante sich endlich verabschiedete, küßte mich Marie zärtlich und versprach, mich recht bald zu besuchen, denn sie habe mich so herzlich lieb gewonnen.

»Nun, sagte ich's nicht, ihr werdet gewiß gute Freundinnen!« sprach die Tante, als wir wieder unterwegs waren. »Mariechen ist ein liebes, herziges Kind, und es wird mich sehr freuen, wenn ihr Gefallen an einander findet.«

»Ach sie ist einzig lieb und nett, Tantchen!« rief ich begeistert, »und ich würde glücklich sein, wenn ich ihre Freundin werden könnte.«

»Das sollte auch mich sehr freuen,« entgegnete die Tante, »denn bei all ihrer kindlichen Natürlichkeit ist Marie ein durchaus gebildetes, kluges Mädchen, deren Erziehung sehr sorgfältig geleitet wurde, so daß du viel von ihr lernen kannst.«

Diese neue Bekanntschaft erfüllte mein Herz mit unbeschreiblicher Freude, denn was ich so sehnlich wünschte, wurde mir nun wirklich in schönerer Weise, als ich je gedacht und gehofft hatte. Je öfter ich mit der liebenswürdigen Marie Dunker zusammen traf, je enger schlossen sich unsre Herzen an einander und knüpften ein Band der Freundschaft, welches bis auf den heutigen Tag uns innig und fest umschlungen hält.

Meine Freundin war etwas älter als ich und durch ihre gute Erziehung schon über die schwierige Backfischzeit hinaus, doch hielt sie sich noch immer lieber zu jüngeren Mädchen, als zu ganz erwachsenen, denn ihrem kindlichen Sinn widerstand alles Gemachte, Gezierte, Anspruchsvolle, worin sich die jungen Mädchen hier oft sehr gefielen. Sie war eine allerliebste kleine Blondine, mit feinen, schlanken Gliedern und zierlichen Bewegungen, so daß ich hoch aufgeschossenes Ding mit meinen langen Armen und Beinen, mit denen ich höchst täppisch in der Welt umher telegraphirte, sehr wunderlich gegen sie abstach. Sie hatte ein unbeschreiblich gutes, weiches Herz, das aus ihren Vergißmeinnichtaugen so innig heraus schaute, daß man sie lieb gewinnen mußte, man mochte wollen oder nicht.

Unsre Freundschaft wurde denn auch bald feierlichst mit allen dazu gehörigen Attributen abgeschlossen. Das Erste war natürlich, daß wir uns du nannten, das verstand sich schon beim zweiten Male, wo wir uns sahen, von selbst. Dann schrieben wir uns gegenseitig den feurigsten Freundschaftsgruß in unser Album, ich wählte das Gedicht von Geibel: »O kennst du Herz die beiden Schwesterengel«, in dem Freundschaft und Liebe so schwärmerisch besungen sind; Marie wählte für mich Göthe's reizendes Gedicht: »An Lottchen«, das uns beiden wie aus der Seele gedichtet war. Natürlich trugen wir dann auch bald jede ein goldnes Herzchen, in dessen innerem Heiligthume die aufgerollte Haarlocke der Freundin ruhte, an einer Gummischnur um den Hals, und die Tante besiegelte den Bund noch durch allerliebste goldne Ringe mit blauen Steinen, welche sie uns schenkte. Daß über meinem Nähtischchen binnen Kurzem das kleine Bild meiner Freundin zwischen zarten Epheuranken schwebte, wie meines über ihrem Tische, versteht sich ebenso von selbst, wie die tausend zierlichen Billetchen, welche zwischen uns hin und her flogen. Was hatten wir uns alles zu sagen, wenn wir uns einige Tage nicht gesehen hatten, es war, als gäbe es dann kein Ende mit Erzählen und Fragen.

Von jetzt an begann mein Leben sich unendlich viel angenehmer zu gestalten, denn wenn ich mich auch immer sehr gern mit der liebenswürdigen Tante Ulrike unterhielt, und ihr Umgang für mich von unendlichem Nutzen war, so zählte sie doch so viel Jahre mehr als ich, daß unsre Empfindungen und Ansichten unmöglich ganz gleichartig sein konnten. Meine liebe Herzensfreundin aber fühlte und dachte fast ganz wie ich selbst, nur daß sie mehr erfahren und durchgebildet war und mir dadurch mit gutem Rathe zur Seite stand. Jetzt war mir nicht mehr fieberhaft ängstlich zu Muthe, wenn ich die Tante zu ihren Freunden und Bekannten begleiten sollte, wußte ich ja doch, daß ich meine liebe Marie fast überall traf und an ihr Halt und Stütze in meinen Verlegenheiten fand. Mein Auge flog suchend durch die Räume, sobald ich in den Kreis Fremder eintrat, und erst wenn ich Marie's hellblaues Kleid erblickte, wurde mir froh und sicher zu Muthe, fehlte sie, so fühlte ich mich unbeschreiblich verlassen und einsam.

Marie trug fast immer himmelblau, und diese Farbe stand dem zarten blonden Wesen auch so reizend, daß ich sie gar nicht anders gekleidet sehen mochte. Noch jetzt, wenn ich an die liebe Jugendzeit zurück denke, sehe ich meine Freundin stets in hellblauen Farben vor meinen Augen, sie war so recht mein blauer Himmel, und ihr freundliches Gesicht die goldne Sonne an demselben.

Außer unsern Plauder- und Kosestündchen verbrachten wir auch ernstere Zeiten mit einander, denn Tante Ulrike wünschte, daß ich noch einigen Unterricht in Sprachen, Musik und Zeichnen nehmen sollte, und zu meiner unaussprechlichen Freude nahm Marie an einigen dieser Stunden Antheil. So wurde ich denn auch innerlich noch gehobelt und polirt, und Geist und Körper um die Wette in die höhere Schule geschickt. Doch wie sehr man auch ein andres Geschöpfchen aus mir zu machen strebte, so sorgte die gute Tante doch dafür, daß meine gesunde Natur nicht verbildet und verschoben wurde, und so ist mir denn glücklicherweise Ziererei und Prätension bis auf den heutigen Tag ebenso unausstehlich geblieben, als sie es mir damals schon waren. So wenig als ich konnte auch Marie an unnatürlichem Wesen Gefallen finden, und daß die rechte Bildung eben nicht in jenen Dingen besteht, das sah ich ja deutlich an ihr wie an Tante Ulrike, und pries mich doppelt glücklich, im Umgang mit so trefflichen Wesen leben zu können.

Während die Tante in ihrer liebenswürdigen Weise fortfuhr, mich auf meine Fehler und Angewohnheiten aufmerksam zu machen, that es Marie ihrerseits ebenfalls. Eines Tages z. B. sah ich meine liebe Freundin mir auf der Straße entgegen kommen, und meinen Gefühlen freien Lauf lassend, wie ich es nie anders kannte, breitete ich weit die Arme aus und flog ihr jubelnd an den Hals, indem ich sie herzte und küßte. Ihr zartes Gesichtchen bedeckte sich unter meinen Liebkosungen mit dunkler Gluth, und statt wie sonst mich ebenfalls zärtlich an sich zu drücken, machte sie sich schnell und nicht eben sanft aus meinen Armen los und blickte ängstlich rings um sich her.

»Was hast du, Mariechen?« rief ich überrascht, und sah fragend in ihr sonst so ruhig mildes Gesicht. »Bist du mir nicht mehr gut?«

»O freilich Gretchen, sag' doch so etwas nicht!« entgegnete sie halblaut und zog mich schnell mit sich fort. »Aber komm, komm, ich will es dir gleich sagen.«

Abermals blickte sie ängstlich zur Seite, und jetzt erst bemerkte ich, wie ein junger, eleganter Herr dicht neben uns stand, und, das Augenglas fest eingekniffen, uns mit spöttischen Blicken betrachtete. Ich fuhr erschrocken in Marie hinein, starrte aber nichts desto weniger dem jungen Herrn dabei in das Gesicht. Dieser lächelte mich vertraulich an und schnarrte süßlich, indem er uns Kußhändchen zuwarf: »Himmlisch! Göttlich! Welch reizende Kinder!« Marie zog mich so rasch aus der Nähe dieses impertinenten Gecken, daß ich weiter nichts sehen und denken konnte, aber nach einer Weile wollte ich in meiner Angst doch wissen, ob wir verfolgt würden, und blickte mich hastig nach dem abscheulichen Menschen um. Marie's Mahnung: »Um Gottes willen, Gretchen, sieh dich nicht um!« kam zu spät, es war schon geschehen, und ich sah denn auch, daß unser Peiniger uns von Weitem noch zärtlich zunickte, ohne uns zum Glück jedoch zu folgen.

»Wie konntest du mich auch auf offener Straße so stürmisch und laut begrüßen, liebe Grete!« sagte Marie mit zärtlichem Vorwurf. »Das thue ja nicht wieder, du siehst, was es für Folgen hat!«

»Aber wir begrüßen uns doch immer so, Mariechen!« rief ich außer mir. »Was fällt denn diesem Menschen ein, uns so zu beleidigen!«

»Er meinte sich das erlauben zu dürfen, weil du dich gar zu auffallend benahmst, Herzchen!« entgegnete Marie. »Auf der Straße bewillkommnet man sich einmal nicht so wie im Hause. Küssen und umarmen ist hier nicht erlaubt, das mußt du lernen, sonst kannst du noch schlimmere Dinge erleben.«

»Das ist doch aber schrecklich, daß man unter Gottes freiem Himmel nicht einmal zeigen soll, wenn man sich lieb hat!« seufzte ich betreten und ließ den Kopf hängen.

»Ja was das Zeigen der Gefühle betrifft, das ist überhaupt ein ganz besonderes Kapitel!« sagte Marie lachend. »Man muß unter Andern nur gar zu oft seinen Gefühlen Zwang anthun und ein ruhig Gesicht machen, es mag inwendig so fröhlich oder so traurig aussehen, wie es will.«

»Das ist schwer, ich glaube, das werde ich nie lernen!« sagte ich niedergeschlagen. »Aber thu' mir die Liebe, beste Marie, und sag' mir noch einiges, was sich auf der Straße nicht schickt. Es ist alles hier so anders, bei uns brauchte ich mich in keiner Weise zu geniren, denn wenn ich im Dorfe oder auf den Wiesen umher lief, da war alles recht und gut, was ich that, und kein Mensch dachte daran, daß sich allerlei nicht schickte.«

»Nun z. B. sprich nicht so laut auf der Straße, liebes Herz, wie du soeben thust, alle Vorübergehenden sehen uns verwundert und lächelnd nach!« sagte Marie halblaut und drückte meine Hand. »Und dann thu' mir die Liebe und renne und stoße nicht an Jedermann an, der uns begegnet, sondern weiche den Leuten etwas aus!«

»Ja ja, deine chère amie ist ein wundervoller Rüpel!« seufzte ich und ging in weitem Bogen um jeden herum, der mir begegnete. Das war aber wieder nicht recht, denn dieser Circumflex, den ich um die Leute herum beschrieb, fiel ebenso sehr auf, und alles was auffällt, ist nun einmal verboten, das sah ich wohl ein. »Du bist gewiß schrecklich böse auf mich, Marie, denn du mußt dich ja meiner schämen!« erwiderte ich, ärgerlich über mich und alle Welt. »Ich blamire dich zu sehr, wenn ich noch länger mit dir gehe, es ist besser, wir trennen uns. Adieu, auf Wiedersehen, liebes Herz!«

»Aber so sei doch kein Närrchen, Grete!« sagte Marie, mich liebevoll zurück haltend. »Das wäre eine schöne Freundin, die nicht gern die Schwächen der andern ertrüge! Du hast meine Fehler ja auch zu tragen!«

»Ach du hast gar keine Fehler!« rief ich verdrießlich.

»Wie? Ich keine Fehler, Gretchen?« lachte Marie. »Da wäre ich ja ein Wunderkind, und dazu habe ich Gott sei Dank nie große Lust verspürt. Siehst du, da will ich dir gleich einen Fehler deiner allervortrefflichsten Freundin sagen,« fuhr sie lustig fort und hielt ihren Fuß in die Höhe. »Der Anstand erfordert, daß man seine Schuhbänder zu Haus hübsch fest zubindet, damit sie auf der Straße nicht aufgehen und nachschleppen, wie Figura zeigt, und man genöthigt ist in einen Hausflur zu treten, um den Schaden zu repariren.«

Während wir nach Verbesserung dieses kleinen Uebels nach Haus eilten, begegneten uns einige sehr junge fein gekleidete Mädchen, die ihren Schulmappen nach zu urtheilen aus der Stunde kamen. Sie hatten sich gegenseitig untergefaßt und nahmen mehr als die ganze Breite des Trottoirs ein. Als sie nahe zu uns heran kamen, zeigten sie wenig Lust die Kette zu lösen, um uns durchzulassen. Marie schritt jedoch so ruhig und ernst vorwärts, daß die eng Verbündeten es für besser fanden, uns Platz zu machen, wobei sie jedoch kicherten und sich gegenseitig stießen und drängten.

»So ungeschliffen hätte sich die arme dumme Grete nicht einmal benommen, wie diese jungen Kälberchen!« rief ich sehr verwundert, daß junge Residenzdämchen sich so aufführen konnten.

»Ja das ist eine der schönen Schulmädchenmanieren,« entgegnete Marie ärgerlich. »Die jungen Dinger wissen recht gut, daß es nicht passend ist, gassenbreit zu gehen, aber deshalb lassen sie es doch nicht. Wie abscheulich solcher Schulton oft unter den jungen Dämchen ist, davon kannst du dir gar keine Vorstellung machen; man muß gewaltig dagegen ankämpfen, wenn man darunter steckt. Ausnahmen giebt es darunter natürlich wie überall; aber das kann ich dir zum Troste sagen, daß solch echtes Residenzdämchen mit ihrer Ueberbildung und Eitelkeit zehnmal schlimmer dran ist als du, mein liebes Naturkind, selbst wenn du mich alle Tage auf offner Straße umarmtest, und eine ganze Legion junger Gecken herbeikäme, sich das Schauspiel mit anzusehen.«

Ich fiel Marie lachend um den Hals, denn jetzt waren wir zu Haus angekommen, und in Marie's traulichem Stübchen hatte ich keine Rücksichten mehr zu nehmen. Lange saßen wir hier noch plaudernd zusammen, bis die sinkende Sonne mich endlich an den Heimweg mahnte. Da mußte ich fort; denn es war ja auch eine der lästigen Eigenschaften der großen Stadt, daß man Abends nicht allein im Freien umher laufen konnte. Zu Haus wurde es erst recht hübsch, wenn der Abend kam. Wie lustig und harmlos trieb man sich da vor dem Hause und im Dorfe umher, da hatte man keine Anfechtungen zu befürchten, wie hier sogar am hellen Tage, nur weil man seine Gefühle der Welt zeigte. Ja zu Hause!

5.
Mittagessen.

Wie schon beim Frühstück so gab es natürlich auch beim Mittagessen gar viele Dinge, welche ich nicht nach den Regeln des Anstandes verrichtete; denn zu Haus nahm die lärmende kleine Kindergesellschaft alle Aufmerksamkeit der Eltern in Anspruch, und Erhaltung der Ruhe war das erste und einzige Erforderniß bei Tisch, alles Uebrige blieb so ziemlich dem eigenen Gutdünken überlassen.

Die Mittagsmahlzeiten im Hause der Tante vergingen in der Regel ziemlich gleichförmig, dabei aber gemüthlich und heiter, denn die Tante würzte das Mahl durch angenehme Unterhaltung, in welcher ihre Ermahnungen zur Wohlanständigkeit wie große Ausrufungszeichen die gleichmäßige Rede unterbrachen.

»Bediene dich doch deiner Serviette, liebes Kind,« lautete z. B. eins der Gebote in meinem Anstandskatechismus. »Mit der Hand wischt man sich das Gesicht wohl nur da ab, wo keine Servietten wachsen.«

Das war auf deutsch bei den Bauern, ich verstand das wohl, und griff hastig nach dem bis jetzt so arg vernachlässigten Wesen.

»Sieh mal, was du für ein kleiner Gourmand bist!« sagte Tante Ulrike dann wieder neckend. »Schlürfst deine Suppe mit einer Kennermiene, gerade wie ein Feinschmecker seinen Wein. Gewiß willst du heraus schmecken, wie viel Pfund Rindfleisch diese Kraftbrühe hervorbrachten. Auch hast du es dir dabei recht bequem gemacht; essen bei euch die Ellbogen auch mit?«

»O der Thorweg ist zu klein für das mächtige Fuder Heu,« lachte sie ein andermal, wenn ich so große Bissen zum Munde führte, daß ich Mühe hatte, derselben Herr zu werden. Als ich nun gar mit diesem Vorrath zwischen den Zähnen sprechen wollte, legte die Tante energischen Widerspruch ein, denn: »mit vollem Munde redet man nicht.« Ebenso durfte ich weder die Finger auf den Teller, noch das Messer in den Mund führen, worin ich ebenso regellos handelte wie mit der Placirung von Kartoffelschalen und Knochen, die es nie merken wollten, daß ihr Platz nicht auf dem Tischtuche war, sondern auf dem Tellerrande.

»Du könntest dem armen Phylax wohl auch ein Fäserchen Fleisch gönnen, liebe Grete, und nicht selbst die Knochen so gründlich abnagen,« hieß es dann wieder, wenn ich mit jugendlichem Appetit Hühnchen oder Tauben verzehrte und dabei unbarmherzig alle Knochen zerbiß und benagte.

»In den Knochen sitzt das beste Mark, sagt Papa immer,« erwiderte ich eifrig. Als ich jedoch eines Tages mit meinen fettglänzenden Fingern in der Welt umher fuhr, indem ich ein zierliches Hühnerkeulchen zum Munde führte, sagte die Tante lächelnd:

»Mein lieber Schatz, morgen sind wir bei Dunkers zu Tisch, wie du weißt. Sei so gut und nimm dann kein junges Huhn zwischen die Finger; hier bei mir will ich es dir nicht wehren, eigentlich aber löst man das Fleisch mit Messer und Gabel vom Knochen, es schickt sich nicht anders.«

»Ja wohl, liebe Tante,« erwiderte ich überrascht, denn Geflügel hatte ich bisher immer nur mit Hülfe der Finger verzehrt.

Es war das erste Mal, daß ich mit der Tante zu einem Diner ausging, und mir klopfte das Herz, denn ich armer Neuling fürchtete überall, mich zu blamiren. Zum Glück setzte sich Marie neben mich, und so war ich denn im Falle der Noth gedeckt. Mein andrer Nachbar war ein dicker freundlicher Herr, der mir aussah, als bestehe sein größtes Vergnügen in Essen und Trinken. Das war denn allerdings auch wohl der Fall; aber das Behagen, mit dem er nun schlürfte und schmatzte, die unaussprechlich unappetitliche Art und Weise, wie er eben so viel neben seine breiten Lippen als zwischen dieselben führte, und endlich das Schnaufen, das diese gewichtige Arbeit dem dicken Herrn entlockte, verdarben mir selbst alle Eßlust. Ich dachte so recht an die Worte, welche Tante Ulrike mir noch gestern sagte, wie unangenehm es sei, einen Tischnachbar mit schlechten Angewohnheiten zu haben. Heut lernte ich dies Ungemach aus dem Grunde kennen. Freilich waren dergleichen Untugenden einem alten Herrn eher zu verzeihen, als einem jungen Mädchen, das litt keinen Zweifel, und ich begriff nun erst völlig, wie sehr ich selbst auf gute Manieren zu achten habe, um nicht auch Aergerniß zu erregen.

Nach der Suppe wurde ein wunderliches Gericht herum gegeben, das ich noch nie gegessen hatte: es war eine schwärzliche Masse, und seiner körnigen Gestalt nach hielt ich es für eingemachte Beeren. Da ich hiervon eine große Freundin war, und der alte Herr neben mir auch wacker zulangte, so nahm ich mir eine gute Portion auf den Teller und fing an zu schmausen.

Aber wie erschrak ich, als ein salzig schleimiger Geschmack statt des erwarteten süßen meine Zunge berührte! Ich war nicht im Stande, einen zweiten Bissen davon zu verzehren, und betrachtete verwundert meinen Nachbar, der die schwarzen Körner auf geröstete Semmelscheiben strich, sie dann mit Citronensaft beträufelte, und das Ganze alsbald mit größtem Behagen verzehrte.

Eben wollte ich Marie fragen, was das eigentlich für ein Produkt der Kochkunst sei, da wandte der alte Herr sich käuend zu mir, und mit den dicken glänzenden Lippen schmunzelnd sagte er, indem er auf meinen Teller zeigte: »Delicater Caviar! Auch Liebhaberin davon, meine Gnädige?«

Also Caviar war das. Ja, dem Namen nach kannte ich diese edle Gottesgabe wohl, in Person aber hatte sich nie ein Körnchen davon bis zu unserm Dorfe verirrt und war mir deshalb völlig unbekannt.

»O nein, ich ... ich war zerstreut, als ich mir davon nahm,« stotterte ich dunkelroth vor Verlegenheit, meine Unwissenheit thörichter Weise hinter einer Lüge verbergend.

»O, nicht möglich! Versuchen Sie nur einmal, ganz delicat, ich kann es versichern, und ich ... ich verstehe mich etwas darauf, was gut schmeckt,« versicherte der Dicke eifrig, und obwohl ich durchaus von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt war, so lehnte ich die Aufforderung dennoch dankend ab und sah mit großem Ergötzen, welche sehnsüchtigen Blicke mein Nachbar der von mir verschmähten Leckerei zuwarf, wovon der Diener mich endlich befreite.

Einige folgende Gerichte gingen ohne weitere Verlegenheiten vorüber, nur als ich Marien um Salz bat, und ich bei Ueberreichung desselben, wie ich gewohnt war, mit den Fingern in das Salzfaß greifen wollte, fuhr Marie erschrocken zurück und sagte leise: »Mit dem Messer, Gretchen!«

Ich folgte beschämt ihrer Weisung, obwohl ich wirklich sehr verwundert war; denn bis jetzt hatte ich mich immer meiner fünfzackigen Fingergabel zu diesem Geschäfte bedient.

Nun kam der Braten auf den Tisch, wirklich junge Hühner, wie Tante Ulrike gedacht, und ich erinnerte mich zum Glück der ertheilten Ermahnung und versuchte, das Fleisch mit Messer und Gabel abzulösen, statt wie sonst die zarten Knochen mit meinen Zähnen zu bearbeiten. Aber das war ein recht undankbares Geschäft, das Beste blieb dabei an den Knochen sitzen, und mit wahrem Bedauern trennte ich mich von diesen Resten. Die eingemachten Früchte, welche als Compot zu dem Braten gegeben wurden, täuschten mich jetzt nicht wieder, sie waren süß und lecker, wie ich es liebte, und nicht unangenehm salzig wie jener Caviar. Mit einem Behagen, das beinah dem meines eßlustigen Nachbars gleich kam, verzehrte ich diese süßen Erdbeeren, Kirschen und Pflaumen, und freute mich kindisch auf den Genuß der dicken Zuckersauce, in welcher die Früchte auf meinem Glasteller umher schwammen. Da ich diesen Zuckersaft jedoch nicht mit der Gabel verzehren konnte, ein Löffel aber nicht in meinem Bereiche lag, so erhob ich eben den kleinen Teller zu meinen Lippen, um, wie ich zu Haus so oft gethan, die Sauce davon zu schlürfen. Schon schwebte der Teller in der Luft meinem Munde entgegen, da fühlte ich mich plötzlich am Arme erfaßt, und mit einem schnellen Ruck stand der Teller wieder an seinem Platze.

»Um Himmels willen, Grete, bist du nicht klug?« raunte Marie mir dabei in das Ohr. »Die Sauce läßt man auf dem Teller.«

»Auf dem Teller?« rief ich ungläubig und sah mich nach Marie um, welche noch immer meinen Arm festhielt, in der Furcht, ich könnte die Comödie noch einmal aufführen wollen. »Die schöne Zuckersauce ist mir ja das Liebste am Eingemachten, die werde ich doch nicht zurück lassen?«

»Zu Haus thu' was du willst, in Gesellschaft geht es aber nicht anders, ich bitte dich, folge mir, Grete!« flüsterte Marie schnell, denn eben wurde sie von ihrem Nachbar in Anspruch genommen und konnte sich um mich nicht mehr bekümmern. Da saß ich denn nun betrübt meiner schönen Fruchtsauce gegenüber, die ich nicht essen durfte, und ärgerte mich recht aus Herzensgrunde über die sonderbaren Gesetze des Anstandes, welche mir erst geboten, das Fleisch an den Knochen sitzen zu lassen und jetzt gar das Beste vom ganzen Diner aufzuopfern.

»Was würde Mama zu dieser Verschwendung sagen,« dachte ich ärgerlich, wurde da aber gewaltsam aus meinem Sinnen gerissen, indem ich erschrocken vom Stuhle auffuhr und um mich blickte, wer denn geschossen habe. Mein alter Nachbar lachte herzlich über meinen Schreck, und bald sah ich, daß nur ein Champagnerpfropfen geknallt hatte, aber auch das hatte ich bis jetzt so selten gehört, daß mir dieser Ton sehr neu war. Und nun gar das Getränk selbst! Ich hatte es kaum einmal zu Haus gekostet, wenn Kindtaufen waren, nun stand ein hohes volles Glas davon vor mir, und lustig tanzten zahllose kleine Perlen aus der Spitze desselben empor.

Der Geschmack dieses Weines behagte mir aber ganz außerordentlich. Dieses Prickeln auf der Zunge, dieses Feuer, diese Süßigkeit, ohne weichlich zu sein, alles trug dazu bei, den Wohlgeschmack zu erhöhen, und jetzt ließ ich sogar mein Glas Ananaskardinal stehen, der mir so gut geschmeckt hatte, und trank lieber diesen köstlichen Champagner. Mein dicker Nachbar verstand es freilich noch besser als ich, aber er ergötzte sich so sehr an dem Wohlgefallen, das ich an dem Weine hatte, daß er mir ein Glas nach dem andern einschenkte. Bald glühten meine Backen, und es flimmerte mir vor den Augen; aber ich achtete nicht sehr darauf, bis ich endlich mit einem Male so verwirrt umher blickte, daß Marie mich ängstlich ansah und sagte:

»Bist du unwohl, Gretchen? Oder was ist dir?«

»Ich bin so confus, es dreht sich ja Alles,« rief ich leise und griff nach Marie's Hand, um mich an ihr festzuhalten.

»Hast du Champagner getrunken? Er ist sehr stark, nimm dich in Acht!« sagte Marie.

»Ja, drei oder vier Gläser. Herr von Martini hat mir immerfort eingegossen,« flüsterte ich und hielt mir die Augen zu, um mich zu fassen, denn mir war wunderlich zu Muthe.

»Aber wie kannst du auch? Cardinal hattest du ja auch schon getrunken,« schalt Marie und goß mir ein großes Glas Wasser ein, das ich hastig hinunter stürzte. Wirklich wurde ich davon auch klarer und freier und hütete mich nun wohl, noch einen Tropfen von jenem bösen, verführerisch leckern Weine zu genießen, so sehr mich auch mein Nachbar nöthigte und neckte. Er selbst konnte, wie mir schien, Ungeheures vertragen, ohne davon Schwindel zu bekommen, wie ich armer Neuling, denn sein Glas war stets auf der Wanderung begriffen vom Tische zu seinen Lippen und wieder zurück. Ich war herzlich froh, als man endlich vom Tische aufstand, um nach dem Garten zu gehen, wo der Kaffee eingenommen wurde. Die frische Luft brachte meine verwirrten Lebensgeister bald wieder in Ruhe und Klarheit, und an einer Erfahrung reicher wandelte ich mit Marie heiter im Garten umher. Unserer lieben Tante Ulrike, welche sich bald zu uns gesellte, beichtete ich dann ehrlich alle meine klugen Streiche, mit denen ich auf diesem meinem ersten Diner debütirte, und die mir unvergeßlich geblieben sind.

6.
Verschiedenes.

An jedem Montage erhielt die Tante Besuch von einigen Freunden, welche Abends den Thee bei ihr tranken und sich mit Gesprächen, Vorlesen oder auch wohl Kartenspiel unterhielten. Mir wurde an diesen Abenden das Amt, den Thee zu bereiten und den kleinen Kreis zu bedienen, da die Tante ungern Dienstleute im Zimmer sah. Das war mir, als ich die ersten Schwierigkeiten überwunden hatte, die mir aus diesem Geschäft entsprangen, recht sehr angenehm; denn häusliche Arbeiten machten mir stets viel Vergnügen, und ich entging dadurch am besten der Verlegenheit, unter diesen älteren Herren und Damen anständig still zu sitzen oder gar an Gesprächen Antheil zu nehmen, für die ich noch zu wenig allgemeine Bildung besaß. Zuhören konnte ich ja dabei ganz nach Behagen und war doch in meinem Wirkungskreise gut untergebracht. Aber Anfangs gab es freilich wieder mancherlei Dinge, welche ich erst lernen mußte.

So füllte ich die Tassen stets bis hoch hinauf an den Rand, was die Tante mir zwar gleich am ersten Morgen verboten, ich mir aber gar nicht merken konnte. Mir schien es immer, als würden die Leute meinen, ich gäbe es ihnen nicht gern, wenn ich so wenig in die Tassen goß. Die Folge davon war denn, daß der Thee über den Rand hinaus gedrängt wurde, sobald man Zucker und Sahne hinzu that, und daß von jeder Tasse ein Regen herab träufelte, sobald man sie an den Mund führte. Ferner lief ich mit der Theekanne rings im Zimmer umher, um gleich an Ort und Stelle die Tassen der Gäste wieder zu füllen, bis Tantchen mich leise zurück zog und mir die Tassen an das Buffet brachte, um dort einzugießen.

Dankte dann eins oder das andere der Gäste und wollte nichts mehr genießen, so hielt ich es für meine Pflicht, sie mit Bitten so lange zu bestürmen, bis ich meinen Thee oder Kuchen wieder angebracht hatte, was mir oft schwer genug wurde, bis die Tante mich endlich von diesem Amte erlöste. »Denn,« sagte sie, »in guter Gesellschaft dankt man, wenn man genug hat, ohne auf Nöthigung zu warten. Dies Bitten und Bestürmen ist gut kleinstädtisch und in manchen Kreisen vielleicht wohl gebräuchlich, zum guten Tone aber gehört es nicht, obwohl es eben auch kein Unrecht ist.«

Die Art und Weise, wie man jemandem etwas darbietet, will auch gelernt werden, und so erfuhr ich, daß man dem Gaste von der linken Seite etwas präsentirt, nicht aber von der rechten, denn sonst hat derselbe die rechte Hand nicht frei zum Zulangen.

Vor Allem hielt die Tante darauf, daß ich alle meine Geschäfte hübsch still und geräuschlos that, damit die Gäste nicht das Knarren der Räder, welche die Hausordnung trieben, unangenehm bemerkten.

»Mir wird immer ganz unbehaglich zu Muth, wenn ich jemanden besuche und sehe, welche Störung meine Gegenwart hervorruft,« sagte die Tante. »Da wird gerannt und gerufen, Thüren und Schränke auf und zu geworfen, heraus und herein geschossen, geklappert und gepoltert, und das Alles, um mir vielleicht ein Stückchen Kuchen auf einem Teller darzubieten, oder den Theetisch zurecht zu machen. Nur ja niemals viel Lärm um nichts, liebe Tochter, weder in leiblicher noch in geistiger Hinsicht.«

Da an diesen Montagen nur ältere Herren und Damen bei der Tante erschienen, so konnte ich ganz meiner Neigung folgen, welche mich antrieb, so zuvorkommend und aufmerksam, so dienstfertig und gefällig zu sein, als möglich. Jüngeren Personen, besonders jungen Herren gegenüber, hielt mich die Tante oft in meiner Dienstbeflissenheit zurück, da dieselbe, wie sie sagte, häufig zu weit ging. Daß man auch übertrieben gefällig sein könnte, kam mir freilich sonderbar vor, aber die Tante verstand das besser. Gegen alte Damen jedoch ließ sie mich ruhig gewähren, und da mein Herz mich ganz besonders zu einigen derselben hinzog, kannte meine Dienstfertigkeit keine Grenzen. Ihnen den Sitz behaglich zu machen, Fußbänkchen unter die Füße und Kissen in den Rücken zu schieben, nach Tuch und Mantel zu springen, ihnen die Maschen ihres Gestrickes zu zählen, oder herunterstürzenden Maschen zu Hülfe zu kommen, Nadeln einzufädeln, Garn oder Seide zu wickeln, Obst zu schälen, nach Riechfläschchen oder frischem Wasser zu springen, – alles das waren Dinge, die ich mit Entzücken besorgte, sobald mein spähendes Auge nur den leisesten Wunsch danach zu entdecken meinte, und freundlicher Dank wurde mir dann immer zu Theil.

Gegen die alten Herren war ich natürlich zaghafter, doch beeilte ich mich ebenfalls, wo es wünschenswerth schien, bequeme Sitze herzurichten, alles was zur Erde fiel aufzuheben, fein gedruckte Schrift heraus zu buchstabiren, Brillengläser abzuwischen, oder auch ruhig und gefällig zuzuhören, wenn irgend eine langweilige Erzählung keine aufmerksamen Zuhörer finden wollte.

Häufig, wenn diese gemüthlichen Abende nicht durch Kartenspiel ausgefüllt wurden, griff man zu der Lectüre irgend eines guten Buches, aus welchem ein oder das andere Glied der Gesellschaft vorlas. Am liebsten hörte ich Tante Ulrike vorlesen, deren weiches, klangvolles Organ wie Musik tönte und mir jetzt erst einen Begriff davon gab, welch' schöne Sache es um gutes Vorlesen sei.

Uebrigens wurde mir die Freude, Tante Ulrike lesen zu hören, öfter zu Theil; denn damit auch ich in dieser Kunst etwas lernte, nahm sie sich die Mühe, häufig auch mit mir etwas zu lesen. Ich armer kleiner Stümper wagte anfangs kaum, neben dieser fertigen Vorleserin die Lippen zu öffnen; aber in ihrer freundlichen Weise ermunterte sie mich dabei, ohne müde zu werden, ließ mich oft Zeile für Zeile nachsprechen, Sätze drei bis vier Mal lesen, bis ich den Ton und Ausdruck gefunden, den sie selbst hinein legte, und so bildete sich nach und nach auch mein Vortrag.

Mit diesen Vorlesungen verband die Tante übrigens noch einen andern Zweck, meine Erziehung betreffend. Um mich zu gewöhnen, auch mit müßigen Händen anständig und still dazusitzen, was mir sehr schwer wurde, wie vielen andern Leuten auch, duldete die Tante nicht, daß ich mich während des Lesens mit einer Handarbeit beschäftigte.

»Junge Mädchen wissen immer nicht, was sie mit ihren Gliedern anfangen sollen, wenn sie nicht mit den Händen arbeiten oder mit den Füßen tanzen können,« sagte die Tante, und wie sehr sie darin Recht hatte, fühlte ich an mir selbst nur zu wohl. Auch meine Haltung ließ viel zu wünschen übrig, und mein Rücken suchte sich immer kräftigen Beistand an der Stuhllehne; ich glaube, mein Kreuz bedurfte der Stütze, da ich eine so lang aufgeschossene Hopfenstange war.

»Sieh, ich bin alt, und halte mich viel besser, als du junges Mädel!« sagte die Tante, und darin hatte sie nur zu wahr gesprochen, denn sie hielt sich in der That so musterhaft gerade und stattlich, ohne dabei steif oder altmodisch auszusehen, daß ich es mit ihren silbergrauen Löckchen gar nicht vereinen konnte, welche doch die Schwäche des herannahenden Alters verkündeten.

»Das ist alles nur Gewohnheit, Kind,« pflegte sie zu sagen, wenn ich diese meine Verwunderung gegen sie aussprach. »Wer krumm sitzt, wächst krumm. Das Bäumchen, das als schwacher Stamm gerade gezogen wird, giebt einen stolzen, stattlichen Baum im Alter. Jung gewohnt, alt gethan! Wer z. B., wie meine liebe Grete so eben thut, schon mit 16 Jahren seine Füße so weit von sich fort streckt und mit den Händen ungeheuerliche Fechtübungen macht, während der Mund redet, der wird auch mit 60 Jahren nicht, wie es der Anstand erfordert, geschlossene Glieder und ruhige Bewegungen erlangt haben.«

Dabei schob die Tante eine Fußbank unter meine baumelnden, zappelnden Füße, leider aber gab es für meine zehn Finger keinen derartigen Ruhepunkt, und dieselben einfach und ruhig im Schooße liegen zu lassen, wie es schicklich, war eine schwere Aufgabe.

»Die du aber lernen mußt,« sagte die Tante, »denn ein junges Mädchen, das während des Gespräches die Finger still hält, und nicht irgend etwas darin dreht oder sonstige Verlegenheitsmaneuvres macht, ist eine seltene Erscheinung. Wenn ihr nur wüßtet, ihr jungen Mädchen, wie unbehaglich ihr durch diese Unruhe des Körpers für Andere werdet, ihr dächtet mehr daran, es zu vermeiden.«

»Ja, Tantchen, da muß man aber immerfort nur an sich denken, und an alles das, was anständig ist,« klagte ich kleinlaut.

»Das lernt sich schon, und dann kann man später gar nicht anders,« entgegnete die Tante. »Auch du wirst es früher lernen, als du jetzt denkst, mein kleiner Backfisch; denn ich sehe, du giebst dir Mühe, und ich bin ganz gut mit dir zufrieden, wenn ich auch immerfort tadle. Nur Geduld, es wird schon werden, mein Töchterchen!«

Das war das erste Lob, welches die Tante mir in Betreff dieses Punktes ertheilte. Wie glücklich machte es mich, und wie hob es meine muthlos sinkenden Flügel! Damit ich mir aber nichts auf meine riesigen Fortschritte einbilden möchte, stand schon wieder ein kleiner Dämpfer in der Nähe.

So eben nämlich lasen wir in Goethe's Tasso die schönen Worte:

»Willst du genau erfahren, was sich ziemt,
»So frage nur bei edlen Frauen an,
»Denn ihnen ist am meisten dran gelegen,
»Daß Alles wohl sich zieme, was geschieht.«

»O, Tantchen, das klingt gerade, als hätte Goethe dich mit diesen edlen Frauen gemeint!« rief ich mit jugendlicher Wärme.

Die Tante blickte lächelnd vom Buche auf, und indem sie mich ansah, spielte plötzlich ein lustiger Gedanke auf ihren Lippen.

»Du bist eine kleine Schmeichelkatze,« sagte sie. »Mir fällt da aber gerade ein anderer Vers ein, der auf dich vortrefflich paßt.«

»Auf mich, Tantchen? Ein Vers? Was denn für einer?« fragte ich verwundert.

»O er ist nur kurz, aber desto treffender,« lachte die Tante, und nun sprach sie in singendem Tone:

»Kätzchen ist gestorben heut,
»Giebt's ein schönes Grabgeläut,
»Unsre liebe Kleine
»Baumelt mit dem Beine,
»Stühlchen setzt sich auch in Trab,
»Wackelt munter auf und ab!«

Also das war's! In Gedanken verloren hatte ich mich in meinen Stuhl zurück gelegt, und mit demselben auf und nieder wippend, schlug ich mit meinen Füßen munter den Takt dazu, indem ich sie hin und her schlenkerte.

Mit fröhlichem Gelächter fiel ich der Tante um den Hals und küßte sie wegen ihrer köstlichen Einfälle so stürmisch ab, daß sie mich nur mit Gewalt von sich abwehren konnte und mich ein tolles, wildes Ding nannte, dem sie zur Strafe nun heute kein klassisches Wort weiter vorlesen werde. »Hier ist andere Speise für das kleine Bauermädel,« sagte sie dabei und griff nach einem Buche, das sie mir für mein einsames Stündchen nach Tische, während sie selbst ihre Mittagsruhe hielt, zum Durchlesen anempfahl.

Es war Uli der Knecht, und dessen zweiter Band, Uli der Pächter, von Jeremias Gotthelf. Ach ja, das gefiel mir allerdings unbeschreiblich; aber an diesem wundervollen Werke mußte ja wohl jeder Gefallen finden, der Sinn und Herz besaß für einfache, tief gefühlvolle, brave Menschen. Welch einen Schatz an Gemüth barg dieses liebe Buch in sich, welche derben, biederen Naturen waren darin gezeichnet, und welche feine Beobachtung des rein Menschlichen!

Ich vertiefte mich bald völlig in diese schöne Welt, in welche der Dichter mich einführte, in das Leben unter schlichten Bauern draußen auf dem Dorfe, eine Welt, die mir selbst ja so lieb und vertraut war, und erwachte erst wieder für meine gegenwärtige Umgebung, als die Tante zum Kaffee rief. O weh, o weh, den hatte ich ganz über meinem Buche vergessen! »Erst die Pflicht, dann das Vergnügen!« lautete der Wahlspruch der Tante, wer den aber nicht beherzigte, war die nachlässige Jungfer Grete, sonst hätte sie erst den Kaffee gekocht und dann gelesen.

7.
In Gesellschaft.

Der lebhafte Verkehr, den Tante Ulrike mit allen ihren Bekannten unterhielt, und die häufigen Gesellschaften, in welche sie nun auch mich mit einführte, verursachten mir anfangs große Angst und gaben Anlaß zu gar mancher Rüge von meiner lieben Tante Anstand.

Unvergeßlich ist mir vor Allem ein Abend geblieben, der so reich an Ereignissen für mich war, daß ich davon erzählen muß, da er in seinen Folgen tief in mein Leben eingriff, ohne daß ich es damals ahnen konnte.

Wir waren in einer glänzenden Abendgesellschaft bei Präsident Römers. Ich stand, wie gewöhnlich, neben meiner Freundin Marie, die mir hier wie überall ein Retter in der Noth war, denn ich kannte in der zahlreichen Gesellschaft fast keine Seele weiter. Ziemlich gelangweilt blickte ich im Saale umher und musterte die elegante Menge. Plötzlich aber blickte ich freudig auf. »Ach Marie, sieh doch, da ist der Dr. Hausmann aus F., der hat Papa kürzlich besucht,« rief ich hoch erfreut und zeigte mit dem Finger nach einem großen blonden Herrn, der mitten unter andern Gästen stand. »Den muß ich begrüßen! Wie wird er sich wundern, mich hier zu sehen!«

Schnell wollte ich von Marie's Seite fort und zu Dr. Hausmann hinüber, als ich meiner Freundin Hand fest auf meinem Arme fühlte.

»Halt, Gretchen!« rief sie leise, mich zurück ziehend. »Erstens zeige um Himmels Willen nicht mit den Fingern nach jemand, das ist schrecklich unanständig, und dann muß ich dir sagen, es geht doch wirklich nicht an, daß du den Dr. Hausmann jetzt anredest, wo er mitten unter den andern Herren steht, du müßtest dich ja mit Gewalt zwischen diesen hindurch drängen, um zu ihm zu gelangen.«

»Ach das ist wahr, daran hatte ich gar nicht gedacht!« sagte ich betreten.

»Ueberhaupt,« fuhr Marie fort, »kennst du denn den Herrn so genau, daß du ihn zuerst begrüßen willst? Er ist wohl ein guter Freund eures Hauses?«

»Nein, ich habe ihn nur ein einziges Mal bei uns gesehen, er kam in Geschäften zu Papa und blieb den Nachmittag bei uns,« erwiderte ich etwas befangen. »Aber da ich die Leute hier so wenig kenne, so freue ich mich darauf, mit ihm von Schreibersdorf zu sprechen; das bringt ihn mir viel näher, als all' die andern Herren, die weder meinen Papa noch irgend jemand von zu Haus kennen.«

»Weißt du was, Gretchen, wenn du ihn nicht näher kennst, so warte, bis er dich begrüßt,« sagte Marie. »Dann schickt es sich wirklich nicht anders. Denn wenn er dir auch dadurch interessant wird, daß er die Deinen kennt, so bist du es ihm doch vielleicht viel weniger, sonst hätte er dich wohl schon angesprochen.«

Wie immer, mußte ich auch hier meiner weisen Marie Recht geben; doch verdroß es mich gewaltig, daß ich für den jungen Herrn, der mich so lebhaft interessirte, gar nicht zu existiren schien. Aber lange sollte mein Zorn nicht anhalten; denn bald bemerkte ich, wie sich der Herrnknäuel entwirrte, und mein blonder Herr Doctor juris rasch auf mich zugeschritten kam.

»Fräulein Geßler, finde ich Sie hier? Welche Ueberraschung!« rief er freudig. »Ich sehe Sie erst in diesem Augenblicke, sonst hätte ich mich beeilt, Sie früher zu begrüßen. Wie geht es Ihnen denn?«

Dacht' ichs doch! Er freute sich auch, mich hier unter all' den fremden Leuten zu sehen, und hatte es mir nur nicht früher sagen können, da er mich jetzt erst bemerkte. Das war mir gar zu angenehm, und fröhlich schwatzte ich nun mit meinem »lieben Freunde«, wie Marie ihn neckend nannte, von allen meinen Lieben zu Hause, und Dr. Hausmann schien sich so für Alles zu interessiren, was ich ihm vorplauderte, daß ich meine Umgebung völlig vergaß und ihm mit unbeschreiblichem Vergnügen und offenem Herzen gleich von allen möglichen Dingen erzählte. Nachdem wir lange Zeit mit einander geschwatzt hatten, sah ich Tante Ulrikens feine Gestalt in meiner Nähe, und mir schien, sie blickte sehr prüfend und überrascht zu ihrem Backfischchen hinüber. Da fiel mir ein, daß es ihr auch Freude machen würde, den Dr. Hausmann kennen zu lernen, und so stand ich rasch auf und sagte, ich wollte meine Tante herbei rufen. Der Doctor folgte mir aber auf dem Fuße und bat, ihn doch lieber zu der Tante hinzuführen, damit er sich ihr vorstelle. Dabei lächelte er so eigen, daß ich fühlte, ich hatte da gewiß wieder etwas Dummes gemacht, und mit Purpur übergossen eilte ich ihm voran, hin zu Tante Ulrike, der ich meinen Bekannten mit einigen Worten präsentirte.

Die Tante begrüßte den Doctor zwar in ihrer freundlichen Weise, wie sie eben gegen alle Menschen so engelsgut war, aber meinen Gefühlen genügte dieser Empfang bei weitem nicht und erschien mir gar zu kühl und zurückhaltend. Hatte ich ja doch schon von so Vielem mit ihm gesprochen, was meinem Herzen nahe stand, von meinen Eltern und Geschwistern, meinem lieben Vaterhause mit all' seinen gemüthlichen Einwohnern und Räumen, und von unserm traulichen, freundlichen Dorfe, das mitten in Wald und Wiese lag, wie eine Perle in der Muschel. Das Alles hatte ihn mir so nahe gebracht, mir die Zunge gelöst und das Herz auf die Lippen geführt, und nun behandelte ihn die Tante zwar freundlich, aber doch gerade ebenso fremd als jeden andern jungen Herrn, der ihr vorgestellt wurde. Das war recht unangenehm!

Aber wie groß war mein Erstaunen, als der Doctor sich entfernt hatte, und die Tante sich nun mit nicht gar zu freundlichem Gesicht zu mir wandte.

»Du warst ja recht vertraut mit dem jungen Herrn,« sagte sie, mich mit sich in eine Fensternische ziehend, wo wir wenig beobachtet werden konnten. »Ist denn der Dr. Hausmann ein so naher Freund eures Hauses? Davon wußte ich gar nichts.«

»Nein, Tantchen, sehr befreundet ist er meinen Eltern nicht,« erwiderte ich, etwas ängstlich geworden. »Ich freute mich aber sehr, ihn hier zu sehen, wo mir so viele Personen unbekannt sind.«

»Und in deiner Freude hast du ganz vergessen, was sich für ein junges Mädchen schickt, mein Töchterchen,« sagte die Tante sanft.

»Ich, Tantchen?« rief ich wahrhaft erschrocken, denn davon hatte ich keine Ahnung.

»Ja du, mein Herz! In deiner Lebendigkeit hast du nicht beachtet, wie viele verwunderte Blicke zu dir hinflogen, während du dich mit dem jungen Mann so laut unterhieltest, daß die ganze Umgebung an eurem Gespräche Antheil haben konnte. Dann lachtest du dazwischen auch so laut, wobei du den Mund recht unschön aufsperrtest und dich auf dem Stuhle weit hintenüber legtest, daß mir angst und bange wurde. Das Schlimmste aber war, daß du mit dem jungen Herrn sogar leise tuscheltest, als wäret ihr die intimsten Freunde. Was in aller Welt fällt dir ein, Kind? Du bist doch sonst so schüchtern und ängstlich, heute aber kenne ich dich gar nicht wieder.«

»Ach, Tantchen, ich erzählte ihm einige meiner dummen Streiche, und das sollte doch niemand weiter hören; aber ich sah wohl, daß einige Gäste unserm Gespräche lauschten,« sagte ich ganz außer mir vor Schrecken.

»Also dergleichen hast du schon mit ihm gesprochen? Das ist ja viel Vertrauen, das du diesem Herrn schenkst. Kennst du ihn denn so genau, daß du weißt, er verspottet nicht etwa im Herzen deine Vertraulichkeit?«

»Nein, Tantchen, das würde ich nie von ihm glauben!« rief ich erglühend. »Er hat sich ja so für Alles interessirt, was ich ihm von meiner Familie und meiner Heimath erzählte, und das würde er gewiß nicht gethan haben, wenn er so schlecht wäre.«

»Nun natürlich erschien dir das so, Kind, denn er konnte doch nicht so unartig sein, fortzulaufen, wenn eine junge Dame ihm so vertrauliche Herzensergüsse macht,« sagte die Tante lächelnd.

»Aber Tantchen!« jammerte ich dem Weinen nahe.

»Ich kann dir nicht helfen, du mußt diese kleine Strafpredigt hinnehmen, damit du vorsichtiger wirst,« fuhr die unerbittliche Tante fort. »Wer weiß, ob dein Freund nicht jetzt gerade dabei ist, einem andern jungen Herrn zu erzählen, welch' thörichtes Backfischchen dieses junge Fräulein Geßler ist, und ob diese Beiden sich dann nicht auf deine Kosten recht herzlich lustig machen.«

»Tantchen, um Alles in der Welt sprich nicht so!« flehte ich trostlos, indem dicke Thränen der Angst und Verzweiflung über mein Gesicht rollten.

»Nun wir wollen das Beste hoffen, Kind, tröste dich nur,« sagte die Tante, mir das Haar aus meinem glühenden Gesicht streichend. »Aber warnen mußte ich dich, damit du vorsichtiger und besonnener wirst, und deinen Gefühlen nicht noch freieren Lauf läßt. Jetzt nimm dich zusammen, mache durch gehaltenes, nettes Betragen wieder gut, was du in den Augen so Mancher versehen, und vor Allem, zeige ein ruhiges, freundliches Gesicht; denn es ist nie rathsam, die Gesichtszüge Verräther der Gefühle und Herzensbewegungen werden zu lassen, in Gesellschaft aber am wenigsten. Sieh, da kommt deine gute Marie, sie wird dich besser trösten können, als ich es im Stande bin.«

Während Marie zu uns trat, ging die Tante einer alten Dame entgegen, und überließ es uns, nach Belieben unsere Herzen gegenseitig zu öffnen. Die stille Fensternische verbarg denn auch noch für eine Weile all' meinen Jammer, den ich in das Herz meiner guten Marie ausschüttete, und von ihr erhielt ich allerdings auch reichlich Trost und Beruhigung für alle Thorheiten, die ich begangen.

»Aufgefallen ist dein Betragen freilich, das kann ich nicht leugnen,« sagte Marie nach meinen Bekenntnissen, »und ich hätte dich gar zu gern aufmerksam gemacht, daß du lange genug mit dem Dr. Hausmann gesprochen habest. Du schienst mich aber über deinem Gespräche ganz zu vergessen, so nah ich dich auch umschwärmte, und unaufgefordert konnte ich mich in eure Unterhaltung nicht mischen, da ich deinen Freund nicht kannte.«

»Ach nenne ihn nur nicht so!« bat ich kleinlaut. »Wer weiß, ob er dieses Namens nicht vielleicht völlig unwürdig ist und meiner spottet.«

»Nein, das glaube ich nicht,« sagte Marie ernst. »In seinem Gesicht spricht sich viel Ernst und Milde aus, und wenn er vielleicht auch ein klein wenig im Herzen über das junge Backfischchen lächelt, das sich noch nicht recht zu benehmen weiß, so wird er dich doch sicher nie verspotten, sondern dein Zutrauen zu ehren wissen.«

»Glaubst du das wirklich, Marie?« rief ich voll Entzücken, »Ach die Tante hatte mir gar zu bange gemacht!«

»Ich müßte mich in seinem Gesicht völlig irren, wenn es anders wäre,« sagte Marie sinnend.

»Aber alle die Menschen hier, wie schrecklich habe ich mich vor denen blamirt! Ich wage gar nicht aus meiner Ecke heraus zu kriechen,« seufzte ich weiter.

»Auch damit ist es nicht so schlimm, als du denkst,« tröstete Marie. »Das Schlimmste, was ich in deiner Umgebung vorhin hörte, war, daß man lachte und dich für sehr jung erklärte, und sehr kindlich und unbefangen, und das ist am Ende Alles zusammen kein großer Fehler. Uebrigens wird man jetzt nach so langer Zeit die Geschichte vergessen haben; komm nur getrost wieder an das Lampenlicht, denn länger dürfen wir hier jetzt nicht mehr stehen. Sieh, da kommt Fräulein Meynfeld, sie ist stets sehr freundlich zu mir, und ich habe sie noch nicht begrüßt. Adieu, auf Wiedersehn! Sei guten Muthes, mein Rosenknöspchen, und mache kein solch armes Sündergesicht mehr!«

Dabei nickte mir Marie's blondes Köpfchen fröhlich zu, und bald sah ich meinen blauen Himmel an der Seite Fräulein Meynfelds, eines ältlichen, angenehmen Fräuleins, dahin schweben.

Zaghaft mischte ich mich wieder unter die übrigen Gäste, und setzte mich still etwas seitwärts in einem Zimmer neben dem Salon nieder, in welchem man eben anfing zu musiciren. Die Diener reichten Eis herum, was ich sehr liebte, und so vertrieb ich mir die Zeit eine Weile recht gut ganz allein, indem ich bald der Musik lauschte, bald mein Eis langsam auf der Zunge schmelzen ließ, so daß es mein heißes Blut angenehm kühlte. Dabei beobachtete ich meine Umgebung, ob ich nicht auch vielleicht etwas bemerkte, was nicht ganz nach den Regeln des Anstandes sein möchte, damit ich doch nicht allein solch armer Sünder war. Aber nein, ringsum war alles gehalten, ernst, anständig; man unterhielt sich wohl, aber wegen der Musik nur leise, machte sich zierliche, wohlanständige Verbeugungen, und saß und stand überall so gerade, so sittig und passend, daß ich mich seufzend abwandte.

Da fiel mein Blick auf einen Herrn, der dicht neben mir stand. Er schien mir nicht mehr ganz jung zu sein und sah auffallend ängstlich und befangen aus; auch war er augenscheinlich ganz unbekannt in dem Kreise und verstand so wenig, seine Schüchternheit zu verbergen, daß ich herzliche Sympathie mit diesem Einsamen fühlte.

Die Musik schwieg endlich, die Gesellschaft schwirrte wieder lebhafter durch einander, nur mein Fremdling verharrte in seiner Verlassenheit. Auch ich blieb ruhig auf meinem Stuhle sitzen, denn ich war verstimmt und konnte meiner Laune nicht Herr werden.

Endlich aber erhob ich mich, um meinen Teller fortzusetzen und sah dabei, das auch mein Einsamer seinen Teller noch in der Hand hielt und sich augenscheinlich dadurch in großer Verlegenheit befand, da er nicht wußte, was damit anfangen.

»Ach,« dachte ich, »du armer Schelm bist doch noch ungelenker, als ich kleiner Backfisch,« und da ich dicht an ihm vorbei gehen mußte, so griff ich, ein freundliches Wort sprechend, auch nach dem Teller des Einsamen und erlöste den Armen von seiner Verlegenheit.

Ueberrascht fuhr derselbe auf und starrte mir stumm in das Gesicht. Endlich besann er sich und machte mir eine Verbeugung, die herzlich steif ausfiel. Dann stand er wieder wie vorher still auf seinem Platze, und auch ich nahm meinen Sitz wieder ein, da die Musik von Neuem ertönte.

Ich glaubte, wie gesagt, anfangs, als ich meinen stummen Nachbar betrachtete, einen nicht mehr jungen Mann vor mir zu haben. Indem ich denselben jedoch jetzt in der Nähe angesehen, merkte ich wohl, daß er noch zu den jüngeren Herren gehörte, und daß nur seine wunderliche Haltung an diesem Irrthum die Schuld trug. Ich blickte deshalb jetzt von meinem Stuhle aus noch einmal zu dem Fremden hin, um den ersten Eindruck mit dem späteren zu vergleichen. Da aber wandte sich der Beobachtete schnell nach mir um, und ehe ich noch meine Blicke von ihm abgewendet, sah er mich mit seinen dunkeln, eigenthümlich schwermüthigen Augen starr und stumm lange Zeit an.

Etwas gepeinigt durch dieses Anstieren machte ich mir schnell an meinen Handschuhen etwas zu schaffen, deren Knöpfe aufgesprungen waren. Nun aber, als ich des Einsamen Gesicht jetzt eben wieder betrachtete, war mir dessen Aehnlichkeit mit irgend jemand aufgefallen, den ich kannte, ich konnte mich aber durchaus nicht besinnen, wer es sei, der ihm gleiche. War es Prediger Moller in Magdeburg, oder Onkel Heinrich in Leipzig? Nein, nein, Dr. Sarre in Halle sah ihm wohl ähnlich, oder mehr noch Amtmann Amelang, unser Nachbar in Schreibersdorf. Ich konnte mit mir nicht darüber einig werden, und doch quälte es mich unablässig, wie es mit solchen Dingen geht, denn eine große Aehnlichkeit war da, aber mit wem nur am meisten? Ich mußte es heraus bekommen, mußte mir noch einmal das eigenthümlich anziehende Gesicht des Einsamen darauf ansehen.

Getrost blickte ich deshalb wieder auf und gerade zu dem Fremden hin, der mich jetzt gewiß längst ignorirte.

Aber wie erschrak ich, als ich nun bemerkte, daß die Blicke desselben immer noch auf mir ruhten wie vorher. Das war doch recht lästig, was hatte denn der wunderliche Mann an mir zu sehen? Er war doch gar zu sonderbar! Ich fühlte, wie mein Gesicht vor Verlegenheit feuerroth wurde, eine Erscheinung, die mich freilich oft genug belästigte, aber ich konnte es nicht ändern. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhle umher und nahm mir fest vor, den Platz zu wechseln, sobald das Gesangstück beendigt war. Das schien aber kein Ende nehmen zu wollen, und während ich nun ordentlich scheu und erschrocken meine Augen vor den Blicken des Sonderlings senkte, geschah wieder etwas, das denselben in neue Verlegenheit brachte.

Er hielt nämlich, wie alle Herren, seinen Hut unter dem Arme, aber so ungeschickt, daß ich schon immer gefürchtet hatte, er werde ihn fallen lassen. Und richtig! Plautz! da lag der unglückliche Hut endlich auch und zwar gerade vor meinen Füßen. Der Fremde war in höchster Bestürzung, und vor Verlegenheit wagte er kaum, nach seinem Eigenthum die Hand auszustrecken. Unwillkürlich bückte ich mich deshalb schnell, griff nach dem Hute und reichte, natürlich abermals tief erröthend, denselben seinem Besitzer hin, der ihn mit einer steifen Verbeugung aus meiner Hand empfing. Hierbei aber verlor er nun wieder seine Handschuh, die er in der Hand hielt, und ehe er noch seinen steifen Rücken gekrümmt hatte, übergab ich ihm auch schon das Verlorene wieder.

Abermaliger Bückling und große Verlegenheit, denn nun stand er vor mir und wußte nicht, sollte er sprechen oder seine stumme Rolle ferner weiter spielen. Um den wunderlichen Gesellschafter, sowie mich selbst aus der peinlichen Situation zu erlösen, griff ich nach einer Bildermappe, welche in der Nähe aufgeschlagen lag, und vertiefte mich scheinbar lebhaft in die Betrachtung der Kupferstiche.

Hatten nun aber diese Bilder wirklich das Interesse des Einsamen erregt, oder meinte er, mir seine Aufmerksamkeit beweisen zu müssen, kurz, er schaute mit vorgestrecktem Halse und weit geöffneten Augen nach den Bildern hin, die ich durchblätterte, blieb dabei aber in so gemessener Entfernung stehen, daß ich das Lachen verbergen mußte, das seine Stellung in mir erregte. Um ihn jedoch los zu werden, reichte ich ihm ein Blatt nach dem andern hin, damit er es sehen konnte, ohne mich zu belästigen.

Diese neue Aufmerksamkeit schien den Damm seiner Schüchternheit zu durchbrechen. War ich ja doch augenscheinlich die Einzige, die sich seiner erbarmte unter all' den Gästen, – unter Larven die einzig fühlende Brust! – dem konnte sein Herz nicht widerstehen, das besiegte selbst seine Blödigkeit!

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte er stotternd und leise, indem er sich an meine Seite setzte, »ich danke Ihnen, o ich danke Ihnen!« Dann fragte er mich, ob ich mich für die Kupferstiche interessire, und als ich dies bejahte, dabei aber meine völlige Unkenntniß eingestand, fing er an, mit leiser Stimme, um die Musik nicht zu stören, von den Meistern zu reden, deren Werke vor uns auf dem Tische lagen: Dürer, Holbein, Carstens, sowie den berühmtesten Italienern Rafael und Michel Angelo. Mir war anfangs etwas ängstlich zu Muthe, denn ich erinnerte mich wohl, daß die Tante mir geboten, nur mit solchen Herren zu sprechen, die mir vorgestellt seien, und den wunderlichen Fremden kannte ich doch gar nicht. Aber bald vergaß ich diese meine Furcht über dem lebhaften Interesse, das seine Reden mir erregten. Er hatte augenscheinlich große Kenntniß in Kunstsachen, denn von jedem der Meister, sowie von ihren Werken wußte er mir in einer sehr anziehenden Weise etwas zu sagen.

Jetzt aber schwieg die Musik wieder, und es wurde um uns her lebhaft. Ich fing wieder an mich zu ängstigen, daß ich mit dem wunderlichen Fremden so allein in einer Ecke saß, er aber schien dies gar nicht zu bemerken, sondern fuhr in seiner Unterhaltung gleichmäßig fort. Da endlich sah ich Marie's blaues Kleid in der Nähe, und mich schnell erhebend, sagte ich hastig: »Entschuldigen Sie, ich glaube, man sucht mich.«

Da kam Marie aber schon auf mich zu. Sie war sehr erstaunt, mich mit dem Fremden in so nahem Verkehr zu finden, und indem sie demselben eine leichte Verbeugung machte, sagte sie: »Ah, Herr Baron, sieht man Sie auch einmal hier? Das ist schön!« Ich flüsterte Marien hastig zu, sie möchte mir den Herrn vorstellen, da sie ihn kenne. Marie sah mich verwundert an, denn sie dachte natürlich, daß mein gesprächiger Cavalier dies schon selbst gethan hätte, nun aber wandte sie sich gefällig wieder zu uns und sagte: »Liebes Gretchen, erlaube, daß ich dir einen Freund meines Bruders vorstelle, den Herrn Baron von Senft. Und dies, Herr Baron, ist meine liebe Freundin Margarethe Geßler.«

Alle Steifheit und alles Ungeschick, das mein armer Einsamer während der lebhaften Unterhaltung glücklich überwunden hatte, kehrte jetzt mit einem Male in vollster Blüthe zurück, sowie Marie zu uns getreten, und gesellschaftliche Formen wieder von ihm verlangt wurden. Er machte eine unendlich linkische Verbeugung und stotterte einige unzusammenhängende Laute, aus denen nur einzelne Worte, wie: entzückt – Fräulein – gütig, vernehmbar hervor tauchten, wie Froschköpfe aus dem Sumpfe.

Wir eilten der Verlegenheit ein Ende zu machen, indem wir uns schnell empfahlen und nach einem andern Zimmer gingen. Aber mit wahrhaftem Mitleiden bemerkte ich die traurigen Blicke, welche der aufs Neue Vereinsamte mir nachsandte, und ich konnte mir nicht helfen, mein gutes Herz trieb mich, ihm noch einen recht freundlichen Gruß zurück zu schicken.

»Was tausend heißt denn das, Grete? Du bist heute ja ganz ausgetauscht!« lachte Marie, als sie meinen Gruß bemerkte. »Erst so vertraulich mit Dr. Hausmann, und nun gar ein Herz und eine Seele mit dem menschenscheuen Baron Senft? Irre ich nicht, so habe ich so eben ein sehr interessantes tête-à-tête gestört, in dem du mit dem Sonderling begriffen warst. Nun sollst du mir noch einmal weiß machen, du seist blöde! Dem Mädchen, das den Baron Senft gewinnen kann, gehört wahrlich eine Verdienstmedaille!«

»So schweig doch nur endlich mit dem Unsinn und höre, wie das alles gekommen ist!« rief ich ärgerlich, denn ich schien heute wirklich dazu verdammt, den Schein eines unbesonnenen, koketten Mädchens auf mich zu ziehen. Hastig erzählte ich nun der Freundin, wie sich unsre Bekanntschaft angeknüpft, und wie ich nichts weniger gewollt, als mich dem Sonderling aufzudrängen; aber wie das Mitleid, das ich mit seiner Unbehülflichkeit gehabt, mir endlich seine Aufmerksamkeit erworben und die Eisrinde seiner Schüchternheit aufgethaut habe.

»Nun ein anderer, als unser scheuer, guter Baron hätte deine Aufmerksamkeiten wohl noch anders verstehen können,« lachte Marie. »Ich bitte dich um Alles, spare deine Dienstfertigkeiten für andere Leute auf, junge Herren werden nun einmal nicht von jungen Damen bedient. An dem armen Baron aber hast du eine Eroberung gemacht, den haben deine schwarzen Augen versengt; denn sieh nur, da steht er schon wieder in der Thür und blickt sehnsuchtsvoll zu uns herüber.«

Wirklich, Marie hatte Recht, dort stand er und sah mich mit seinen großen Augen so eigenthümlich an, daß ich wieder dunkelroth wurde und mich ängstlich an Marie's Arm klammerte und flehentlich bat, sie möge mich nicht mehr verlassen, ich mache sonst noch mehr Thorheiten. Zum Glück nahte sich die Gesellschaft ihrem Ende, und ich ward aus der peinlichen Situation erlöst, in welche meine Unerfahrenheit mich wieder aufs Neue versetzt hatte. Die lose Marie flüsterte mir als Gruß zur guten Nacht noch schelmisch zu: »Gratulire zu deiner Eroberung, träume süß, liebes Gretchen!«

8.
Folgen.

Am andern Morgen kam Marie zeitig zu mir, um zu hören, wie meine gestrigen Aventuren mir bekommen wären. Sie neckte mich in so lustiger Weise, war so ausgelassen und schalkhaft, daß ihre Heiterkeit mich bald auch ansteckte, und wir nun alle Beide um die Wette über meine Eroberung lachten. Wahrscheinlich waren wir schrecklich albern und kindisch, denn die Tante, welche sonst gern mit uns scherzte, wollte heute gar nicht auf unsere Fröhlichkeit eingehen. Gestern Abend hatte ich ihr beim Schlafengehen in unserem traulichen grünen Stübchen noch ehrlich alles gebeichtet, und obwohl sie mich vor ähnlichen Unbesonnenheiten warnte, so mußte sie dennoch herzlich über die Geschichte lachen; zuletzt aber wurde sie ernst und nachdenklich und sprach nicht weiter von der Sache.

»Hört einmal, Kinder,« sagte sie jetzt, als wir beiden Mädchen in toller Lust neben ihr schwatzten und lachten, »nehmt es mir nicht übel, aber euer Betragen gefällt mir nicht! Freilich hat der gute Baron euch allerlei Ursache zu Scherz und Lachen gegeben; aber ein gutes Herz zeigt ihr wahrlich nicht, wenn ihr nur die komische Seite der Sache betrachtet, die traurige Rolle nämlich, welche der arme Mensch darin spielte. Wißt ihr denn so genau, ob sein Interesse für Gretchen nur so flüchtig war, und ob er in seiner einsamen Lage nicht vielleicht wirklich innig gerührt worden ist durch die Freundlichkeiten eines so jungen Wesens? Verlassen dastehen ist hart und verdient Mitleid, nicht aber Spott.«

»Aber liebe, gute Tante, darüber lachen wir ja doch auch wirklich nicht, sondern über Gretchens naives Betragen, und was damit zusammenhing,« sagte Marie ernst werdend. »Und was das Alleinstehen des Barons betrifft, so ist er ja ganz und gar selbst daran schuld, warum isolirt er sich so absichtlich! Er hat Alles, was sein Herz verlangt, und wodurch er auch andere glücklich machen könnte, Reichthum, alten geachteten Namen, unabhängige Lage, gesunden Körper, und dabei lebt er wie ein Einsiedler, sieht und besucht fast keine Seele, ladet selten jemand auf seine Besitzungen ein, und wenn er sich ja entschließt, einmal aus seiner Klause hervorzukommen, so sieht er so scheu und unglücklich aus, daß sich niemand an ihn heran wagt. Nicht einmal seine alten Freunde können etwas mit ihm anfangen, wie Eduard mir sagt. Es ist ihm einmal nicht zu helfen, er ist gar zu wunderlich.«

»Bei alledem ist er aber doch zu bedauern,« sagte die Tante sanft, »denn es fehlt ihm trotz seiner irdischen Güter das rechte Glück. Er versteht nicht, das Leben richtig zu erfassen, um sich und Andern nützlich zu werden, und solche Menschen erregen immer mein Mitleiden.«

»Nun, wir wollen nicht mehr über ihn lachen, Tantchen,« sagte ich, der Tante die Hand küssend. »Es war recht kindisch von mir, und doppelt unrecht, da er mich gestern Abend wirklich gut unterhalten und belehrt hat. Gewiß ist er ein innerlich sehr gebildeter Mann, dem nur die äußeren Formen abgehen. Und ich alberne Bauerndirne sollte über diesen Mangel am wenigsten lachen.«

In diesem Augenblicke wurde der Dr. Hausmann angemeldet. Dunkle Gluth übergoß mein Gesicht bei diesem Namen, denn mein unpassendes Betragen von gestern Abend trat in seiner ganzen Größe vor meine Seele. Um so mehr überraschte mich der Tante froher Ausruf: »O, das freut mich ja herzlich!« denn ich hatte geglaubt, es würde ihr unangenehm sein, den Mann wieder zu sehen, vor welchem ich mich so kindisch betragen hatte. Aber die Tante war oft ganz unberechenbar.

In ihrer freundlichen Weise ging sie dem Doctor zum Willkommen entgegen, und dieser begrüßte sie sowohl, als auch Marie und mich so offen und liebenswürdig, und doch dabei so ernst und würdig, daß sich meine Scheu sehr minderte, denn so hätte er sich sicher nicht benommen, wenn er mich im Herzen verspottet, oder gar von meiner Vertraulichkeit Mißbrauch gemacht hätte. Sehr beruhigt faßte ich denn auch bald den Muth, mich mit in die Unterhaltung zu mischen, um wo möglich wieder auszuwetzen, was ich gestern dumm gemacht hatte, und wirklich, es schien, ich hatte heute meinen guten Tag, denn ich sprach fast so verständig, wie ein erwachsener Mensch. Aber die gute Tante wußte auch so geschickt Dinge zur Sprache zu bringen, über welche ich gut Bescheid wußte, und der Doctor hatte eine so angenehme Art, auf Alles einzugehen, daß der Besuch sehr angenehm verlief, und mir ganz froh und frei zu Muthe ward.

»Nun, Gretchen, ich denke, der Doctor Hausmann ist besser, als ich dir gestern vorgeredet,« sagte die Tante, als der Besuch uns verlassen hatte.

»Gewiß, Tantchen, das sagte ich gleich. Aber warum denkst du jetzt anders über ihn, als gestern?«

»Weil er sich sonst gewiß nicht beeilt haben würde, zu uns zu kommen. Gleichgültigkeit oder böses Gewissen hätten ihn sicher zurück gehalten. Sein heutiger Besuch aber zeigt mir, daß er deine kindliche Vertraulichkeit ganz fein und richtig beurtheilet hat, und das gefällt mir sehr wohl von ihm. Er ist ein gebildeter, feinfühlender junger Mann, den ich stets gern bei mir sehen werde.«

Tante's Urtheil, das mir stets maßgebend war, erfreute mich doppelt, denn nun konnte ich mich doch über mein Benehmen vom vorigen Abend beruhigen. Der Doctor verlachte mich nicht, und das war mir die Hauptsache, die andern Leute hatten sicher mehr zu thun, als an mich armes Backfischchen noch lange zu denken und über meine Dummheiten zu spotten.

Marie ihrerseits triumphirte, daß sie sich in meines Freundes Gesichtszügen nicht geirrt hatte, von denen sie gestern schon eine so gute Meinung gehabt. In heitere, harmonische Stimmung versetzt, schieden wir endlich fröhlich von einander, als Marie sich zum Heimwege rüstete.

An jenem Tage beauftragte mich die Tante mit einigen Einkäufen, und ich machte mich fertig, dieselben nach dem Mittagessen zu besorgen, während Tante Ulrike zu einer alten Freundin ging. Aber ich wurde durch Besuch einiger junger Mädchen zurück gehalten, und so war es schon ziemlich spät geworden, ehe ich meine Aufträge besorgen konnte. Endlich aber hatte ich meine Geschäfte beendet und rüstete mich zum Heimweg. Die Lampen brannten schon auf den Straßen und in den Kaufläden, und voll Bewunderung ging ich an den hellerleuchteten Schaufenstern vorüber, in denen beim Glanze so vieler Lichter Alles doppelt reich und kostbar erschien. Mich einfaches Landkind entzückte ja ohnehin all' das Neue, das ich hier in der großen Stadt sah, und neugierig spähend blieb ich gern vor den Fenstern der Kaufläden stehen, um Alles recht genau zu betrachten.

Besonders waren es die an den Schaufenstern ausgestellten Bilder, für welche ich eine große Vorliebe besaß, und stundenlang hätte ich davor stehen mögen, um diese Kunstwerke anzusehen. An einer solchen Handlung sah ich nun jetzt im Vorübergehen einzelne jener Blätter, welche ich Tags zuvor mit Baron Senft betrachtet hatte, und über deren großen Werth ich durch ihn belehrt worden war. Voll Interesse trat ich deshalb an das hellerleuchtete Fenster und studirte diese Kunstwerke noch einmal, sowie auch die reiche Sammlung anderer Abbildungen, welche daneben lagen. Im Anschauen dieser Sachen vertieft, bemerkte ich nicht, wie ein junger Mann mich schon seit geraumer Zeit beobachtete, bis mir derselbe in sehr auffallender Weise nahe trat und mir höchst zudringlich unter den Hut blickte. – Ich erschrak und wandte mich schnell zur Seite, hoffend, der Lästige werde sich entfernen, wußte aber nicht, daß mein Verweilen am Schaufenster, und zwar bei beginnender Nacht, etwas durchaus Auffallendes war, und jener Herr sich meist nur in Folge hiervon die Zudringlichkeit erlaubte. Endlich redete er mich gar mit einigen faden Redensarten an, und nun gerieth ich in heftige Angst und Aufregung. Schnell lief ich die Straße hinab, um dem jungen Manne zu entfliehen, aber ich merkte wohl, daß derselbe mir dicht auf den Fersen war, und hörte fortwährend, wie er mich mit den unerträglichsten Worten verfolgte. Mein Weg war noch sehr weit, und in meiner Hast und Unkenntniß der Straßen verfehlte ich gar die Richtung und wußte bald gar nicht mehr, wohin ich mich wenden sollte. Daß ein Miethswagen mir aus dieser Verlegenheit geholfen hätte, fiel mir in der Angst gar nicht ein, ich hörte nur immer den lästigen Begleiter neben mir und stürmte vorwärts, denn ich fürchtete jeden Augenblick, er werde mich anfassen, da er sich immer enger an mich heran drängte.

Der Angstschweiß stand mir auf der Stirn und die Thränen im Auge. Eben war ich im Begriff, in einen Kaufladen zu treten, um dort Schutz und Hülfe zu suchen, da sah ich ein bekanntes Gesicht auf mich zukommen – Baron Senft, meinen neuen Freund vom vorigen Abend. Freudig lief ich demselben entgegen, und wie ein Kind seine Hand ergreifend, rief ich flehend: »O, Herr Baron, bitte, beschützen Sie mich doch, und begleiten Sie mich nach Haus, ich habe den Weg verloren!«

Der Baron sah mich verwundert an, denn ich zitterte vor Angst und Aufregung, ergriff aber sogleich meinen Arm und sagte, einen schnellen Blick auf meinen Begleiter werfend, der sich langsam zurückzog: »Mit Vergnügen, gnädiges Fräulein. Sein Sie ohne Furcht, ich werde Sie zu schützen wissen.«

Jetzt erst bedachte ich, wie wunderlich abermals mein Benehmen war dem Baron gegenüber; aber er konnte nichts Uebles von mir denken, sah er doch, in welch' verzweifelter Lage ich mich befand, als ich um seinen Schutz bat, und natürlich erzählte ich ihm nun ausführlich, wie alles gekommen. Mein braver Begleiter sprach seine aufrichtige Freude aus, mir nützlich sein zu können, und war so herzlich und offen zu mir, wiederholte mir immer wieder, wie sehr das Vertrauen ihn beglücke, das ich ihm schenke, daß mir ganz froh und ruhig zu Muthe wurde, und ich dem guten Manne innig dankbar wie ein Kind in das Auge blickte, als ich endlich am Hause angelangt war. Er sah mich zwar dabei so sonderbar ernst mit seinen dunklen, schwermüthigen Augen an, daß ich nicht recht wußte, was ich dabei denken sollte; aber ich hatte ihn ja als einen Sonderling kennen gelernt, und so machte ich mir weiter keine Gedanken darüber. Küßte er mir ja doch sogar zum Abschied die Hand, er, der steife, ungelenke Menschenfeind, und bat um die Erlaubniß, anderen Tages sich nach meinem Befinden erkundigen zu dürfen. Das war doch mehr, als ich je von ihm erwartet hätte, und fröhlich eilte ich zu Tante Ulriken, dieser meine neuen Abenteuer zu erzählen und ihr den Besuch des Barons zu verkünden.

Die Tante war aber sehr ungehalten über meine Unvorsichtigkeit und verbot mir streng, je wieder lange Zeit an den Schaufenstern stehen zu bleiben, was am Tage schon wenig schicklich, Abends jedoch völlig ungehörig sei, und mir stets einen Wagen zu miethen, sobald die Dunkelheit mich überraschte. Ueber das Zusammentreffen mit dem Baron war sie ebenfalls nicht sehr erfreuet, kurz ich fühlte wohl, daß ich recht gründlich unvernünftig gewesen war und setzte mich sehr kleinlaut hinter meine Näharbeit.

Am andern Morgen erschien denn auch wirklich der angekündigte Besuch: Baron Senft ließ sich melden, und Tante Ulrike empfing ihn in ihrer feinen, liebenswürdigen Weise. Ich fand aber, daß sie zurückhaltender war, als gewöhnlich, und da der gute Baron sich auch wieder im äußersten Stadium der Verlegenheit und Steifigkeit befand, so verlief der Besuch sehr wenig erquicklich. Der arme Mann that mir wieder gar zu leid, denn ich konnte ihm seine Pein lebhaft nachempfinden, und so that ich mein Möglichstes, durch herzliches Entgegenkommen und kindliche Unbefangenheit ihm die Situation zu erleichtern.

Endlich empfahl er sich, und ich war ordentlich froh darüber, denn Tante Ulrike war unbegreiflich kühl und zurückhaltend. Ich konnte es mit dem liebevollen Urtheile, das sie des Tages zuvor über den Baron geäußert, gar nicht vereinigen, und sprach dies nun unverhohlen gegen sie aus.

»Es geschah, um der gar zu großen Freundlichkeit meines Gretchens ein Gegengewicht zu geben,« sagte die Tante ernst. »Ich muß dich bitten, mein Kind, bei all' deiner unbefangenen Herzlichkeit, mit welcher du dem Baron über seine Schüchternheit fortzuhelfen strebst, doch viel zurückhaltender zu sein. Du weißt nicht, ob solches Betragen auch so beurtheilt wird, als du in deiner Harmlosigkeit denkst, und eine andere Auslegung würde dir doch sehr schmerzlich sein.«

»Eine andere, Tantchen? Wofür könnte er denn sonst meine Freundlichkeit halten?« fragte ich betreten.

»Für Gefallsucht, Koketterie, mein Kind,« sagte die Tante, immer ernster werdend.

»O das ist doch aber nicht möglich, davon bin ich ja weit entfernt!« rief ich heftig. »Was habe ich denn gethan, daß er so etwas von mir denken sollte? Nein das wäre doch zu schlecht von ihm!«

»Ich hoffe, wir brauchen dies allerdings von dem Baron Senft nicht zu fürchten,« sagte die Tante sanft. »Aber zurückhalten mußt du dich von jetzt an, mein Kind; denn wenn er auch nicht von dir denken wird, du seist gefallsüchtig, so könnte er bei dir doch ein lebhafteres Interesse für ihn vermuthen, das er, wie ich denke, dir immerhin nicht einflößt.«

»Aber liebe Tante, wie kannst du so etwas nur sagen!« rief ich dunkelroth werdend. »Du meinst, er könnte denken, ich sei – ach Tantchen!«

Die Idee war mir so unsäglich komisch, daß ich trotz der Ernsthaftigkeit der Tante in ein herzliches Gelächter ausbrach. Ich in den Baron verliebt! Ich armer, junger, halberwachsener Backfisch! Und er, dieser ernste, vornehme, steife Baron, der mir trotz seiner Jugend wie ein älterer Herr, eine Art Respectsperson gegenüber stand, und dem ich wie ein harmloses Kind mich anvertrauet hatte. Man konnte nichts Wunderlicheres denken, die Tante hatte zu sonderbare Einfälle.

Als unser Gespräch diese heitere Wendung genommen hatte, denn auch Tante Ulrike mußte bei dem Gedanken lächeln, war mir das Herz wieder leichter geworden, und singend und heiter wie gewöhnlich ging ich an meine täglichen Beschäftigungen. Am Nachmittag wurde ich durch Marie's Besuch erfreut, und voll Entzücken lief ich der herzigen Freundin entgegen.

»Liebste Marie, wie herrlich, daß du kommst!« rief ich sie umarmend. »Aber was hast du denn, du siehst ja ganz curios aus,« fuhr ich sogleich fort und sah ihr forschend in die Augen, welche mich halb schelmisch, halb ernsthaft anblickten.

»Ja ich weiß selbst nicht, soll ich lachen oder weinen, Gretchen,« entgegnete Marie ungewöhnlich aufgeregt. »Sage mir nur vor allem, was hast du wieder für Streiche gemacht! Hast du den Baron etwa gestern wieder gesprochen?«

»Den Baron? Ja freilich. Gestern und auch heute!« sagte ich erröthend, denn was sollte Marie's Frage bedeuten? »Ich brenne vor Sehnsucht, dir Alles zu erzählen.«

»Nun dann erklärt es sich leichter,« sagte Marie sinnend. »Aber wie ich dich kenne, ist es dennoch eine gar zu unangenehme Geschichte.«

»Aber was denn nur in aller Welt, Marie, so rede doch deutlich!« rief ich voll Ungeduld. »Was giebt es denn, und was sollen deine salbungsvollen Reden?«

»Komm zur Tante Jagow, sie muß die Sache auch gleich erfahren,« sagte Marie, mich nach Tante's Arbeitszimmer ziehend.

»Was giebt es denn, Kinder?« fragte die Tante, bei unserm Eintritt ihre Arbeit unterbrechend.

»Marie ist eine Sphynx geworden, die in Räthseln spricht, Tantchen,« rief ich lachend. »Vielleicht verstehst du, was sie will, mir armen Kinde ist die Sprache zu hoch.«

»Ach Tante Ulrike, das ist eine schöne Geschichte!« rief Marie nun wieder halb lachend, halb weinerlich. »Was machen wir nun?«

»Was denn, was ist denn eine schöne Geschichte?« entgegnete die Tante. »Du bist ja ganz aufgeregt, ich kenne dich gar nicht wieder. Was hat dich denn so aus deinem Gleichgewicht gebracht?«

»Doch nicht etwa wieder unser guter Baron?« rief ich lustig lachend.

»Ja ja, lache nur, du Böse, eben der ists!« sagte Marie schmollend.

»Der Baron? Was hat er denn wieder verbrochen?« scherzte auch Tante Ulrike.

»Mein Gott, nichts weiter, als daß er – nun damit ichs nur sage, – daß er Gretchen heirathen will!« stieß Marie heraus und sank auf einen Stuhl nieder, als hätte diese Eröffnung ihr alle Kräfte genommen.

»Heirathen –!« riefen Tante Ulrike und ich wie aus einem Munde, und mir kam augenblicklich wieder das kindische Lachen an, das mich heute schon einmal bei diesem Gedanken erfaßte.

»Sprich doch nicht solchen Unsinn, Marie, und sag' vernünftig, was du hast!« rief ich endlich; »denn ernsthaft kann diese wunderbare Eröffnung doch nicht gemeint sein.«

»Ja ja, bitterer Ernst ist es, Grete, du kannst es mir glauben,« sagte Marie eifrig. »Warum wäre ich denn sonst so außer mir, wenn mich diese Geschichte nicht so aufregte?«

»Aber Marie, es kann doch unmöglich jemand daran denken, mich dummes Ding heirathen zu wollen,« fuhr ich lustig fort, »Denke doch nur, ich heirathen, und nun gar den Baron Senft!«

Nun kam auch meiner kleinen Marie die Sache so komisch vor, daß wir alle Beide in kindischer Ausgelassenheit lachten und kicherten und uns über diesen Gedanken gar nicht wieder beruhigen konnten. In meiner Lustigkeit umschlang ich Tante Ulrike's Hals und blickte ihr fröhlich in ihre lieben, sanften Augen, in denen ich ebenfalls Anklänge an unsere Fröhlichkeit zu finden erwartete.

Aber ernst und sinnend war der Blick, der mich aus diesen Augen traf, und mit leisem Kopfschütteln sah die Tante zu uns lachenden Mädchen hinüber.

»Ich begreife euch alle Beide in dieser Sache nicht,« sagte sie jetzt milde, aber vorwurfsvoll. »Gestern schon ließt ihr eurer Heiterkeit in Betreff dieses armen Mannes den Zügel schießen und verriethet wenig Zartgefühl, und jetzt ist mir diese Auffassung der Dinge nun gar unbegreiflich. Gretchen, vergißt du denn ganz, was ich dir heute Morgen gesagt habe? Hatte ich denn wirklich so unrecht, als ich mein Bedenken darüber aussprach, deine freundliche Zuvorkommenheit könne anders gedeutet werden? Der Gedanke erscheint dir sehr lächerlich; aber wird er es demjenigen auch sein, in dem du diesen Wahn erregtest?«

Die Worte der Tante trafen mich wie ein bitterer Vorwurf, und beschämt barg ich mein Gesicht an ihrem Halse. Sie ließ mich still eine Weile auf ihrer Schulter ruhen, um mir Zeit zur Ueberlegung zu lassen, dann hob sie meinen Kopf sanft empor, strich mir das Haar aus der Stirn und blickte mich ernst und liebevoll an.

»Siehst du wohl, mein Kind,« sagte sie dann leise, »daß ich nicht unrecht hatte, wenn ich meinte, der arme Baron habe vielleicht viel tieferes Gefühl, als seine steife, wunderliche Figur und seine schlechten Manieren vermuthen lassen? Es ist sehr schwer, einsam und verlassen durch die Welt zu gehen, und darfst du nun darüber lachen, wenn der einsame Mann glaubt, jemand gefunden zu haben, der ihn lieb hat mitten unter einer Menge Menschen, von denen er sieht, wie gleichgültig, ja unfreundlich sie ihm begegnen? Uns ist es lächerlich, daß der Arme sich hierin geirrt hat, und daß er also auch ferner sein einsames, freudenloses Dasein fortsetzen muß!«

Während Tante Ulrike's Rede war das Lachen gänzlich von meinen Lippen geschwunden und hatte ernsten Vorwürfen Platz gemacht, welche jetzt wie Sturzwellen mich überflutheten und sogar Thränen in meine Augen brachten.

»Ach mein Gott, Tantchen, das hatte ich nicht bedacht, das war sehr, sehr schlecht von mir!« sagte ich niedergeschlagen, und mit jeder Minute stieg meine Unbesonnenheit höher vor mir auf und sah drohender und zürnender auf mich nieder. Die stille, ernste Gestalt und die traurigen Blicke des armen Barons traten jetzt plötzlich in so anderem Lichte vor mich hin; die Bitterkeit, sich betrogen und verschmäht zu sehen, und der Schmerz, einem gehofften Glück entsagen zu müssen, ließen ihn so ganz anders in meinen Augen erscheinen, daß ich nicht begriff, wie ich so eben nur die andere Seite der Sache betrachten konnte. Das innigste Mitleiden mit dem armen Manne ergriff mich, ich hätte ihm so unsäglich gern helfen und beistehen mögen – aber wie konnte, wie sollte ich das; denn ihn wirklich heirathen, daran konnte doch niemand ernstlich denken, und ich am allerwenigsten.

Je mehr ich dachte, je trauriger wurde ich, denn ich wußte keinen Rath. Endlich drang Thräne auf Thräne aus meinen Augen, und beschämt barg ich mein Gesicht in meinen Händen.

»Ach Tantchen, er thut mir so schrecklich leid, und ich kann ihm doch nicht helfen,« klagte ich trostlos. »Daß ich auch so unbesonnen sein mußte! Wer konnte das aber auch denken?«

Die Tante war ganz still und störte meine Gedanken nicht, endlich aber kam Marie, die im Zimmer auf und nieder gegangen und dann sinnend an das Fenster getreten war, zu mir heran, nahm meine Hand von den Augen und sagte:

»Nein, das kann ich so nicht länger mit ansehen. Ich wollte die Geschichte zwar eigentlich nicht ganz so erzählen, wie sie ist, aber jetzt muß ich es, das sehe ich wohl. Tante Ulrike, du hattest ganz recht, unser albernes Lachen zu tadeln, denn kindisch war es, ich sehe es ein; aber so wie du die Sache ansiehst, ist sie doch nicht. Thut mir Beide die Liebe und laßt sie euch erzählen. Ihr seid auch gar nicht ein bischen neugierig, woher ich sie weiß, und wie das alles zusammenhängt.«

»Das ist wahr, erzähle doch, Kind,« sagte die Tante.

Marie setzte sich neben mich, schlang ihren Arm zärtlich um meine Schulter und sprach:

»Als ich vor einigen Stunden von einem Besuch nach Hause kam, sah ich unsern guten Baron Senft vor mir die Treppe hinauf gehen und in dem Zimmer meines Bruders verschwinden. Er hatte mich nicht gesehen, was mir sehr lieb war, ich aber glaubte zu bemerken, daß er aufgeregt und erhitzt aussah, als er in so ungewöhnlicher Hast die Treppe hinauf stürmte. Ich dachte nicht weiter an den seltsamen Gast, sondern besorgte einige häusliche Arbeiten; aber nach einiger Zeit trat mein Bruder mit unbeschreiblich lustigem Gesicht zu mir in das Zimmer.

»Rathe einmal Marie, wer so eben bei mir gewesen ist,« sagte er schelmisch.

»Nun dein Freund, der Baron Senft, das ist nicht so schwer zu errathen,« erwiderte ich.

»Aber was er wollte, das rathe einmal, mein kluges Schwesterlein!« fuhr er lachend fort.

»Was kümmern mich eure Angelegenheiten, laß mich damit in Ruhe!« rief ich und beugte mich wieder auf meine Arbeit.

»Nun ich denke doch, sie gehen dich etwas an, Kleine,« sagte Eduard neckend und zog mir den silbernen Leuchter fort, den ich so eben polirte. »Oder ist es dir so gleichgültig, wenn es sich um deine hübsche, schwarzäugige Freundin handelt?«

»Wie? Gretchen betrifft der Besuch des Sonderlings? Nicht möglich! Was will er, erzähle, lieber, bester Eduard!« rief ich überrascht, und schob mein Silberzeug schnell auf die Seite.

Eduard lachte und rieb sich vergnügt die Hände.

»Allerdings, deine lustige kleine Grete war der Gegenstand unserer Unterhaltung,« sagte er geheimnißvoll.

»Aber was will denn der Baron? So rede doch nur, was soll Gretchen?« drängte ich den Bruder.

»Weiter nichts als ihn heirathen!« sagte Eduard trocken.

Ihr könnt denken, daß mein Erstaunen nicht kleiner war, als vorhin das eure. Als ich mich endlich etwas über diese Neuigkeit beruhigt hatte, ließ sich Eduard herbei, mir das ergötzliche Gespräch mitzutheilen, daß er mit dem Baron gehabt, und ich will versuchen, es euch möglichst getreu wieder zu berichten.

»Eduard!« rief der Baron, als mein Bruder den seltenen Gast freudig begrüßt hatte, »ich bitte dich heute um einen Freundschaftsdienst.«

»Stehe mit Vergnügen zu deinen Befehlen,« entgegnete Eduard. »Was giebt es, du willst dich doch nicht etwa duelliren?«

»Das gerade nicht, aber etwas fast eben so Wichtiges. Ich will heirathen!« sagte der Baron ernst.

»Heirathen? Vortrefflich! Wer ist denn die Erwählte deines Herzens, und welche Rolle soll ich bei dem Stücke übernehmen, das hoffentlich keine Tragödie sein wird?« rief Eduard.

»Es ist Fräulein Margarethe Geßler,« entgegnete der Baron, »und da sie die Freundin deiner Schwester ist, so bitte ich dich, ihr meinen Heirathsantrag zu überbringen.«

»Wie? Die hübsche kleine Grete hat das Herz des Menschenfeindes bezwungen?« rief Eduard in höchstem Erstaunen. »Alle Wetter, das ist charmant! Aber wie kommt das, wie in aller Welt ist das zugegangen? Und das ist alles gleich fix und fertig wie aus der Pistole geschossen?«

»Weil ich gesehen, daß sie Neigung zu mir hat,« sagte der Baron kurz und trocken.

»Sieh da, was man nicht alles erlebt. Du bist ja ein wahrer Hexenmeister!« lachte Eduard. »Also du weißt wirklich ganz sicher, daß sie dich liebt? Hat sie es dir denn gesagt!«

»Nicht in Worten, aber was mehr ist als das, durch ihre Blicke und ihre Thaten,« entgegnete der Baron.

»Die kleine Grete hat mit dir kokettirt? Potz Blitz, das hätte ich dem frischen Waldröschen kaum zugetraut!« rief Eduard unaussprechlich ergötzt; denn er merkte wohl, daß hier nicht alles ganz richtig war, und daß der Baron in seiner Wunderlichkeit wohl mehr gesehen und vermuthet hatte, als an der Sache war.

»Von Koketterie kann hier nicht die Rede sein,« sagte der Baron beleidigt. »Das junge Mädchen hat mir unbewußt gezeigt, daß ich ihr nicht gleichgültig bin, und deshalb verlangt es mich, die Rose zu pflücken, die sich mir in aller Lieblichkeit erschließt.«

»Wetter, du wirst ja ganz poetisch, alter Junge!« rief Eduard, sich auf die Lippen beißend. »Also aus reiner ritterlicher Aufopferung erhebst du das kleine Mädchen zu deiner Gemahlin? Bringst du ihr denn selbst die gleichen Gefühle entgegen, die du bei ihr vermuthest?«

»Eduard,« sagte der Baron jetzt einen Grad wärmer und vertraulicher werdend, »Eduard, du weißt, daß ich von meiner Familie gedrängt und bestürmt werde, mich zu verheirathen. Alle möglichen Vorschläge haben sie mir schon gemacht, mir die reichsten, vornehmsten Mädchen angepriesen; aber ich mag sie alle nicht, ich kann das hochmüthige Weibervolk nicht ausstehen. Lachen und spotten sie nicht alle über mein steifes, ernsthaftes Wesen, haben sie mich nicht alle zum Besten und mögen mich nicht leiden, und würden sie mich nicht alle nur wegen meines Reichthums und meines alten Adels heirathen, um mich dann mit ihren Launen vor Verzweiflung zum Hause hinaus zu jagen? Nein, aus solcher Heirath wird nie etwas! Ich wollte nun gar nicht heirathen, das hielt ich für das Beste. Aber in diesen letzten Tagen bin ich anderen Sinnes geworden. Margarethe Geßler ist das erste weibliche Wesen, das mir Achtung und Vertrauen statt des Spottes entgegen brachte, ich habe es deutlich in ihren Augen gelesen, und darum bin ich fest entschlossen sie zu heirathen.«

»Hm, das ist merkwürdig!« sprach Eduard, nachdenklich geworden. »Aber noch einmal: Was sagt denn dein Herz zu diesem Entschlusse? Ist es nur Mitleid mit dem holden Kinde, das dich dazu drängt, ihr deine Hand anzubieten?«

»Ich bin sehr einsam, Freund, und mein Herz hatte bis jetzt selten Gelegenheit mitzusprechen,« sagte der Baron mit zitternder Stimme. »Die Neigung eines so jungen, liebenswürdigen Wesens kann mich nicht ganz gleichgültig lassen, und was meiner Neigung jetzt noch fehlt, wird kommen, wenn sie meine Gattin ist.«

»Aber Freund, bedenke, ein so junges Kind!« mahnte nun Eduard den Kopf schüttelnd. »Sie ist ja kaum sechzehn Jahre alt.«

»Jugend ist kein Fehler,« entgegnete der Baron gleichmüthig.

»Aber sie ist bürgerlicher Abkunft und deine Familie von altem Adel! Bedenke, was werden die Deinen dazu sagen? Du, der Erb- und Standesherr auf und zu Senftenburg!« fuhr Eduard dringend fort.

»Geht keinen was an, ich bin selbständig und brauche sie alle zusammen nicht!« rief der Baron kurz. »Sage mir nur, ob du in meinem Namen den Antrag machen willst. Es selbst zu thun, habe ich weder Gelegenheit noch Gewandtheit genug.«

»Herzlich gern. Aber vergilt es mir nicht, wenn die Antwort anders ausfällt, als du erwartest,« sagte Eduard, dem Baron die Hand reichend.

»Darüber mache dir keine Sorgen; mein Dank für die endliche Erreichung meiner Wünsche mag der Lohn für deinen Freundschaftsdienst sein,« entgegnete der Baron warm und herzlich.

Darauf verabschiedete er sich bald, und Eduard suchte mich auf, um mir die Neuigkeit augenblicklich zu verkünden und meine Hülfe in Anspruch zu nehmen, da er dir selbst den Antrag nicht überbringen mochte. Nun wißt ihr die ganze schöne Geschichte, und ich denke, unser liebes Tantchen sieht die Angelegenheit nicht mehr mit so tragischer Miene an, als vorher. Denn da das Herz unserer Grete sich hoffentlich nicht in so desolatem Zustande befindet, als der gute Baron glaubt, dies aber, wie er ziemlich deutlich ausgesprochen, die Haupttriebfeder zu seinem Antrage war, so fällt die ganze Sache in sich selbst zusammen, und wir dürfen uns weiter keinen Kummer darüber machen, daß dem Baron das Herz davon brechen wird.«

»So leicht möchte ich denn doch nicht darüber hingehen, liebe Marie,« sagte die Tante noch immer ernst, als Marie ihre Erzählung geschlossen. »Seine eigene Neigung mag allerdings nicht die erste Triebfeder zu dem Antrage gewesen sein, darüber ist wohl kein Zweifel, aber wie weit sein Herz dennoch trotz all dem dabei betheiligt war, werden wir freilich nicht erfahren. Ich muß gestehen, es gefällt mir sehr von ihm, daß er sich ohne alle andern Rücksichten ein einfaches Mädchen erwählt, nur weil sie ihn lieb hat, wie er meint, und er thut mir noch immer aufrichtig leid, daß er sich nun wieder in die vorige Einsamkeit gewiesen sieht.«

»Aber seiner Eitelkeit kann die kleine Lection wahrlich nicht schaden, Tantchen!« sagte Marie eifrig. »Er muß sich doch für sehr anziehend halten, daß er meint, ein so nettes Mädel, wie unsere frische kleine Rose, sei knall und fall bis über die Ohren in ihn verliebt, nur weil sie ihm einige Freundlichkeiten erzeigte.«

»Ich habe dir unser gestriges Zusammentreffen noch nicht erzählen können, das den Baron in dieser Meinung sehr bestärken konnte, Marie,« sagte ich verschämt; Marie aber meinte, es werde auch weiter nichts gewesen sein, und daß der Herr Baron bei dieser Gelegenheit einmal erfahre, es giebt noch junge Mädchen in der Welt, die Reichthum und vornehme Stellung nicht so hoch anschlagen, um damit ihre fehlende Neigung zu verdecken, sei ihm auch ganz zuträglich.

»Es wird den armen Mann aber nur noch steifer und scheuer machen, als er ohnehin schon ist,« fuhr ich traurig fort. »Nein, nein, Marie, du urtheilst zu hart, und trotz allem, was du ihm vorwirfst, thut er mir doch schrecklich leid!«

»Nun so geh und heirathe ihn, Schatz! Vielleicht thust du ein gutes Werk und machst einen brauchbaren Menschen aus ihm!« rief Marie mit komischer Heftigkeit.

»Nein, das bin ich trotz all' meines Mitleids doch nicht im Stande,« lachte ich mit Thränen im Auge. »Er verlangt mich ja auch nur, weil er meint ich liebe ihn, also würde ich ihn ja betrügen, nähme ich seinen Antrag an. Also davon kann gar keine Rede sein. Aber ich wünschte von ganzem Herzen, er fände bald, was er suchte, und was ich ihm nicht bieten kann.«

»Nun wir wollen es hoffen, Kind!« sagte Tante Ulrike freundlich und küßte mich auf die Stirn. »Die Sache wird hoffentlich hiermit abgemacht sein und weiter keine Folgen haben. Du aber, mein Töchterchen, zieh dir die ernste Lehre daraus, daß ein junges Mädchen Herren gegenüber nicht vorsichtig und besonnen genug sein kann. So manches Mädchen ist in den Ruf der Koketterie gekommen, nur weil ihre Unbesonnenheit und Lebendigkeit sie verleitete, Dinge zu sagen und zu thun, welche gegen die hergebrachten Regeln der Gesellschaft verstießen. Daß der Baron dich trotz deiner Weigerung jetzt dennoch nicht für gefallsüchtig halten möge, hoffe und wünsche ich aufrichtig; von einem weniger ernsten, soliden Manne, als er ist, dürftest du kaum eine andere Auffassung deines Betragens erwarten.«

Still neigte ich mich auf die liebe Hand der Tante, welche in der meinen lag, und einen Kuß auf dieselbe drückend, verließ ich ziemlich kleinlaut mit Marie das Zimmer. Aller kindische Uebermuth war von uns Beiden gewichen, und in ernster Stimmung sprachen wir noch lange über die schonendste Art und Weise, in welcher ich dem Baron die abschlägige Antwort zukommen lassen wollte. Eduard übernahm natürlich diesen schwierigen Auftrag; aber trotz des feinen Taktes, mit dem er dem Freunde den Stand der Dinge berichtete, hatte meine Weigerung freilich zur Folge, daß der arme Einsame wieder für lange Zeit hinter den Mauern seiner Einsiedelei verschwand.

Ich aber konnte nicht ohne gerechte Selbstvorwürfe an dies Ereigniß zurück denken, das mich heftig bewegt hatte, und immer wieder sah ich im Geiste jene dunklen, schwermüthigen Augen, welche mich so ernst und forschend anblickten. O was hätte ich darum gegeben, diesem trefflichen Manne ein Glück verschaffen zu können, das diese traurigen Augen in freudig strahlende verwandelte! Ich selbst hätte diesen Wechsel nie hervorbringen können, das wußte ich nur zu gut, und auch der Baron würde dies bald genug selbst erkannt haben.

9.
Noch eine Neuigkeit.

Das Leben im Hause der Tante gestaltete sich immer angenehmer und harmonischer, je länger ich dort verweilte, und schon lange dachte ich nicht mehr mit jener verzehrenden Sehnsucht, welche mich im Anfange so unsäglich peinigte, an mein liebes Vaterhaus zurück. Ich erkannte jetzt mehr und mehr, welchen Werth es für meine ganze geistige Entwickelung hatte, einen Theil meiner Jugend bei Tante Ulrike zu verleben, und die unbeschreibliche Liebe, mit der dieselbe mich erzog, brachte mich leichter über die tausenderlei Mängel und Fehler hinweg, mit denen ich armes Backfischchen täglich immer wieder zu kämpfen hatte.

Bei dem engen Verkehr, welcher zwischen Tante Ulrike und mir stattfand, konnte es mir nicht entgehen, wenn die heitere Stirn derselben sich trübte, und so beunruhigte es mich ernstlich, als ich die Tante eines Morgens aufgeregt und in Thränen in ihrem Lehnsessel fand, sie, die sonst immer klar und ruhig alle Verhältnisse überblickte und sich eine ungewöhnliche Herrschaft über ihre Gefühle errungen hatte. Ein Brief lag vor ihr auf dem Tische, und als ich erschrocken herbei eilte zu fragen, was ihr fehle, winkte sie mir sanft zu, mich zu entfernen, was ich natürlich in großer Sorge that. Lange hatte ich zu warten, ehe die Tante zu mir in das Zimmer kam; ich hörte sie viele Male in ihrem Kabinet auf und nieder gehen, ein Zeichen, daß sie nach Fassung rang; dann endlich knitterte Papier, und ich hörte, wie die Klappe ihres Schreibsecretärs knarrte, also schrieb sie.

Endlich kam sie zu mir, zwar ernst und niedergeschlagen, aber doch ruhig wie immer. Sie setzte sich neben mich, strich mir liebevoll über das Gesicht und sagte:

»Gretchen, ich muß dir einen Theil dessen erzählen, was mich, wie du gesehen, so unbeschreiblich bedrückt. Du bist ein verständiges Mädchen und hast mich lieb, also kann ich dir immerhin etwas anvertrauen, wovon mein Herz belastet wird. Natürlich sprich außer gegen deine gute Marie und deren Mutter, welcher ich es selbst mittheilen werde, gegen niemand davon.«

Ich küßte ihre liebe Hand, was ich so oft und so gern that, wenn ich ihr meine Liebe und Verehrung bezeigen wollte, und mit sanfter Stimme sprach die Tante weiter: »Du weißt, mein liebes Kind, daß ich seit vier Jahren schon Wittwe bin, nachdem ich an der Seite meines trefflichen, geliebten Mannes die schönsten Jahre des Glückes und der Zufriedenheit verlebte. Wir schlossen uns um so inniger an einander, nachdem uns Gott das einzige Kind wieder genommen, das unser Glück vollkommen machte. Eine schwere, traurige Zeit war es, als ich den süßen Knaben verloren, aber meines Gatten zarte Liebe half mir das Schwerste tragen, und so hat mein Herz sich endlich ruhig in Gottes Willen ergeben. Aber noch ein anderes Leid drückte uns bald darnieder, und hier war ich es wieder, die meinem Gatten tröstend zur Seite stand. Sein einziger Bruder nämlich, mit dem mein Mann durch die innigsten Bande der Liebe verknüpft war, hatte einige Jahre nach dem Tode seiner ersten Frau ein junges Mädchen geheirathet, das ihn durch Schönheit und Anmuth zu fesseln verstanden. Zwar hatte man ihn von allen Seiten vor dem Leichtsinn und der launischen Gemüthsart des schönen Mädchens gewarnt, aber Adolph verachtete all' diese Stimmen und ließ sich, verblendet wie er war, von seiner Bewunderung und Leidenschaft hinreißen. Leider war auch die Sorge für seine kleine elfjährige Tochter nicht im Stande, ihn von dem unbesonnenen Schritte zurück zu halten, obwohl das reich begabte Kind gar sehr einer zweiten treuen Mutter bedurft hätte.

Nur zu bald freilich sah mein armer Schwager, wie unbesonnen seine Wahl gewesen. In den sieben Jahren seiner Ehe mit Kathinka ist der kräftige Mann vor Kummer fast zum Greise geworden, denn unmöglich können zwei Naturen weniger zusammen stimmen, als er und sein eitles herzloses Weib. Adolph ist zu schwach und liebt den Frieden im Hause zu sehr, um all' den Launen und Thorheiten seiner vergnügungssüchtigen Frau so entgegen zu treten, als er es wohl sollte, und so mag es dir genügen zu wissen, daß diese Ehe eine unendlich unglückliche ist. Daß die Erziehung der kleinen Eugenie neben solcher Mutter natürlich auch keine gute war, kannst du dir denken; denn der Einfluß des Vaters genügte nicht, um alle nachtheiligen Elemente von seinem Kinde fern zu halten. Eugenie wuchs heran, begabt mit Talenten und körperlichen Vorzügen, eine fertige junge Dame, glänzend und anmuthig, wie die Mama es nur wünschen konnte; aber wenn auch nicht leichtsinnig und herzlos wie diese, wovor sie ihr natürlich gutes Herz bewahrte, so doch ohne rechte innere Gemüthswelt, wie ich sie bis jetzt zu beurtheilen Gelegenheit hatte. Ihre große Selbständigkeit und Originalität sind außerdem noch eine zwar interessante, aber gefährliche Zugabe, und wohl hätte ihre Erziehung bei solchen Anlagen einer ganz besonderen Sorgfalt bedurft. Oft schon bot ich meinem Schwager an, Eugenie eine Zeitlang zu mir zu nehmen; aber der arme Mann konnte sich nicht entschließen, die einzige Freude seines Lebens von sich zu geben, und so blieben die Sachen bis jetzt wie sie waren. Der heutige Brief jedoch giebt mir nun die Nachricht, daß mein Schwager, um sich dem häuslichen Jammer für einige Zeit zu entziehen, als Gesandter seiner Regierung nach dem Auslande gehen wird, scheinbar zwar dorthin geschickt, in der That aber nur auf seinen eigenen dringenden Wunsch. Seine Frau wird ihn also nicht begleiten, und um Eugenie nicht unter der alleinigen Obhut der leichtfertigen Mutter zu lassen, bittet er mich dringend, seine Tochter für die Dauer seiner Abwesenheit in meinem Hause aufzunehmen. Ich habe ihm so eben geantwortet, daß ich hierzu bereit sei, und so sehe ich denn Eugeniens baldiger Ankunft entgegen.

Da dieser Wechsel in unserer Häuslichkeit nun auch dich betrifft, mein Gretchen,« fuhr die Tante nach einer kleinen Pause liebevoll fort, »so mußte ich dir einen Theil jener traurigen Familienverhältnisse enthüllen, von denen ich mit dir sonst niemals gesprochen hätte. In Rücksicht darauf wirst auch du Nachsicht haben gegen die Fehler Eugeniens, welche in solcher Umgebung entstanden. Auch meine Aufgabe, unserer neuen Hausgenossin gegenüber, ist keine leichte, und so wollen wir denn Beide mit gutem Muthe und herzlicher Liebe unsere Eugenie erwarten.«

Ich hatte die Erzählung Tante Ulrike's mit inniger Theilnahme angehört, als sie jedoch von der Ankunft Eugeniens sprach, erzitterte mein Herz unwillkürlich, und angstvoll blickte ich in das sanfte Auge der Tante, um mir dort Ermunterung und Zuversicht für den bevorstehenden Wechsel zu suchen. Eben fing ich an, mich wohl und behaglich hier im Hause zu fühlen, meine schüchterne Zurückhaltung gegen die Tante war erst jetzt einem innigen Vertrauen und herzlichem Anschmiegen gewichen, wie würde es nun werden, wenn eine dritte Person zwischen uns trat, und zwar solch' bedeutendes, glänzendes, selbständiges Mädchen, als Eugenie der Beschreibung nach sein mochte! Welch' traurige Rolle würde ich armes Dorfkind neben solch' einem Wesen spielen, wie verächtlich würde diese Eugenie gewiß auf mich herab sehen, und wie viel neue Plage würde daraus für mich nun wieder entstehen, wo ich kaum anfing, mich etwas in die neuen Verhältnisse zu finden.

Solche Gedanken fuhren mir blitzschnell durch den Sinn und brachten mein Herz in unbeschreiblichen Aufruhr. Da aber erklangen die Worte der Tante, welche mich an die trüben Verhältnisse mahnten, in denen Eugenie bis jetzt gelebt, und daß wir derselben mit gutem Muthe und treuem Herzen entgegen kommen wollten. Tief beschämt, daß ich eigensüchtiger Weise nur an mich und meine Unbequemlichkeiten gedacht, drückte ich die Hand der verehrten Tante, diese aber zog mich liebevoll an ihr Herz, und indem sie mich küßte, blickte sie mir voll Zärtlichkeit in die Augen.

»Habe keine Furcht, mein Kind,« sagte sie dabei sanft, »dir soll kein Nachtheil durch unsere neue Hausgenossin entstehen. Ich bin dir schützend und helfend zur Seite, meine Liebe wird vermitteln, wo es nöthig ist. Vertraue mir nur und sei guten Muthes.«

Es war, als ob die Tante alle Befürchtungen meines armen Herzens gelesen hätte, denn ohne daß ich ein Wort gesprochen, traf sie sogleich den Punkt, wo ich schwach und zaghaft gewesen. Tief erröthend gestand ich ihr nun meine egoistischen Gedanken und schöpfte mir für alles, was da kommen möchte, Muth und Vertrauen an ihrem treuen Herzen, das schon so oft mein Trost und meine Zuflucht gewesen.

Nur wenige Wochen nach diesem Gespräche kam die Erwartete denn auch wirklich eines Nachmittags an. Die Tante war nach dem Bahnhofe gefahren, um Eugenie zu empfangen, und ich harrte indessen zu Haus in banger Erwartung hinter meiner dampfenden Kaffeemaschine, in welcher ich für die Reisende den warmen Bewillkommnungstrank braute. Da fuhr der Wagen vor, und hinter der Gardine spähend sah ich neben Tante Ulrike eine hohe, schlanke Gestalt aussteigen, welche in leichten Schritten nach dem Hausflur eilte, die Sorge für all' ihre unzähligen Reiseeffecten einem hübschen, jungen Mädchen überlassend, das sich bis zum Kinn hinauf damit bepackte. Ich eilte den Ankommenden jetzt schnell entgegen und wurde Eugenien durch die Tante als ihre liebe Nichte Margarethe vorgestellt.

»So so, das ist das Backfischchen vom Lande, von dem du mir vorhin erzähltest,« sagte Eugenie leichthin und ließ ihre Blicke flüchtig auf mir ruhen. Dann reichte sie mir im Vorübergehen ihre zierlichen Fingerspitzen, die von zarten grauen Handschuhen bedeckt waren, und sich zu Tante Ulrike wendend fuhr sie schnippisch fort: »Hast du die Absicht, dir ein Mädcheninstitut anzulegen, daß du dir eine junge Dame nach der andern kommen läßt, Tante Ulrike?«

»Ich hoffe, mein Gretchen wird dir eine liebe Schwester werden,« entgegnete die Tante sanft, indem sie die häßlichen Worte Eugeniens nicht beachtete und mir leise mit der Hand über das Haar strich.

Eugenie wandte sich lachend zu mir und sagte: »Nun, ich bin zwar bis jetzt auch ohne Schwester fertig geworden, aber ich hab' nichts dagegen, daß wir gute Freunde werden, Cousinchen!« Dabei kam sie rasch auf mich zu, und ehe ich es dachte, drückte sie einen herzlichen Kuß auf meine Lippen. Dann wandte sie sich eben so rasch nach jenem belasteten jungen Mädchen, das jetzt in das Zimmer trat und rief: »Lisette, lege die Sachen nur indessen alle auf die Erde und hole mir zuerst ein Glas Wasser, ich komme um vor Hitze und Durst!«

Aber noch ehe Lisette diese Geschäfte beendet, warf sich ihre Herrin auf einen Stuhl, und indem sie einen Fuß empor streckte, rief sie: »Zieh mir diese abominablen Pelzstiefeln von den Beinen, in denen ich aussehe wie ein Lappländer, und gieb mir meine leichten Hausschuhe dafür.«

Lisette that wie ihr befohlen, indem sie vor Eugenien niederkniete, und diese ergötzte sich damit, jeden der geschmäheten Pelzstiefeln mit dem Fuße über Lisettens Kopf hinweg in die entgegengesetzte Ecke zu schleudern, wobei sie kindisch lachte und jubelte.

Ich stand ganz verblüfft neben diesem sonderbaren Wesen, das so ganz anders war, als ich dachte. Hochmüthig und doch dabei herzlich, despotisch und zugleich kindlich, und vor allem so unbegreiflich sicher und ungenirt, als ob sie schon hundert Jahre lang bei Tante Ulrike heimisch sei, es war für mich etwas Unerhörtes. Die Tante schien aber das sonderbare Betragen des neuen Ankömmlings gar nicht zu beachten, denn als sie ihre Sachen abgelegt, setzte sie sich behaglich in die Sophaecke, und sagte heiter: »Nun Gretchen, ich hoffe, du hast uns eine gute Tasse Kaffee bereitet, sie soll uns wohl thun. Eile dich, Eugenie, sonst lasse ich dir gar nichts übrig.«

»Kaffee? Behüte der Himmel, den trinke ich nie!« rief Eugenie, ihren reizenden braunen Lockenkopf schüttelnd, und zog ein Paar hellblaue, weich gefütterte Pantöffelchen an ihre wunderniedlichen kleinen Füße. »Kaffee, ein nichtswürdiges Getränk, puh! Verdirbt den Teint und macht Hitzflecke.«

»Aber was genießt du denn statt des Kaffee's, Kind?« fragte die Tante.

»Des Morgens Chocolade, Nachmittags gar nichts oder Thee!« entgegnete Eugenie leichthin, indem sie sich in Tantchens behaglichen Lehnstuhl streckte und mit den hellblauen Füßchen in der Luft auf und nieder wippte.

Ich wurde ganz roth vor Ueberraschung, als Eugenie sich so mir nichts dir nichts in Tantchens Stuhl setzte, von dem mich stets eine heilige Scheu zurückgehalten hatte; aber dergleichen Gefühle durfte ich freilich bei dieser kleinen Prinzessin nicht voraussetzen, ihr schien das Beste eben gut genug für ihre Bedürfnisse. Die Tante ließ sie auch ruhig gewähren und wandte sich zu mir, indem sie mich bat, etwas Thee für Eugenie zurecht zu machen, da dieser ein warmes Getränk gut thun würde. Eugenie sagte nichts dagegen, und so that ich, wie die Tante mir geheißen.

Das junge Mädchen hatte indessen eine kleine Bürste aus der Tasche gezogen, und putzte damit die fabelhaft langen Fingernägel ihrer zierlichen weißen Hände, ganz als sei sie allein im Zimmer, und achtete gar nicht mehr auf ihre Umgebung. Dann sprang sie vom Stuhle auf, ringelte ihre braunen Locken vor dem Spiegel und ging bald im Zimmer, bald in Tantchens Boudoir umher, indem sie alle Bilder, Kunstwerke, Bücher und dergleichen Sachen flüchtig betrachtete.

»Wie himmlisch altmodisch alles bei dir ist, Tantchen!« rief sie dann lachend. »Den alten Plunder hätte Mama längst zum Trödler geschickt. Wir hatten alle paar Jahr unsere neue Einrichtung.«

Ich erstarrte ordentlich über Eugeniens Reden. Diese schönen, gediegenen, kostbaren Meubles und geschmackvollen Einrichtungen nannte sie alten Plunder! Hier, wo ich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes mich kaum zu bewegen wagte vor Hochachtung gegen die kostbaren Dinge, die mich umgaben, hier hörte ich dieselben Gegenstände als altmodischen Trödel verachten! Das war denn doch zu arg, und angstvoll blickte ich zu der Tante hin, um zu erfahren, was sie dazu sagte.

Sie erröthete leicht und biß sich auf die Lippen. Dann aber sprach sie gelassen: »An diesen alten Meubles hängt der Zauber schöner Erinnerungen, Eugenie. Sie waren Zeugen meiner glücklichsten Tage und sind mit mir alt geworden. Ich möchte kein Stück davon missen oder gegen etwas Neues vertauschen, denn sie sind alle mit mir und meinem Geschick verwachsen. Wer stets neue Umgebung liebt, der denkt entweder nicht gern an die vergangenen Tage, oder hat einen weltlichen, unruhigen Sinn, für den nur das Neue Reiz und Werth besitzt.«

Eugenie sah mit wunderlicher Miene nach der Sprechenden, halb war ihr lächerlich, halb ernsthaft zu Sinne. »Was du für hübsche Gedanken hast, Tantchen,« sagte sie unbefangen. »Sie passen prächtig zu den alten Meubles, sie sind eben so ehrwürdig und altmodisch wie diese. Aber du hast Recht! Was du da sagtest, gefällt mir; es war mir noch nie eingefallen.«

»Du hast wahrscheinlich an gar vieles noch nicht gedacht, Kind, was wahr und gut ist,« sagte die Tante sanft. »Ich hoffe, das wird nun kommen.«

Eugenie setzte sich still und etwas empfindlich wieder in ihren Stuhl, und ich brachte ihr eine Tasse Thee.

»Ich mag keinen Thee, mir ist heiß genug!« sagte sie verdrießlich und schob die Tasse unsanft zurück, so daß der Thee auf mein Kleid floß. Ich wandte mich schnell ab, denn ich ärgerte mich unbeschreiblich über das launische Mädchen, die Tante aber sagte sehr bestimmt, obwohl ruhig:

»Du wirst jetzt diese Tasse Thee trinken, Eugenie; denn erstens thut er dir nach der Reise gut, und zweitens ist er so eben von Gretchen für dich bereitet worden. Du hättest ihr die Mühe sparen können, wenn du vorher wußtest, daß du keinen trinken wolltest.«

Eugenie fuhr verwundert ein wenig vom Sitz auf und wurde dunkelroth. Sie saß ein Weilchen noch wie ein trotzig Kind in ihrem Stuhle und beguckte ihre weißen Fingernägel, dann richtete sie sich plötzlich rasch empor, zog die Theetasse heran, that Sahne und Zucker hinein, trank den Thee in einem Zuge aus und schob mir die leere Tasse hin. »Noch eine, Gretchen!« sagte sie gebieterisch. Ich goß ein, und nun trank sie die zweite Tasse eben so schnell hinunter, indem sie mir abermals die leere Tasse hinschob und »noch eine!« rief.

Ich sah die Tante fragend an, denn offenbar war Eugenie trotzig und wollte die Tante reizen. Diese aber sagte ganz ruhig: »Nein Gretchen, gieße keinen Thee weiter ein, Eugenie würde sich schaden.«

Meine eigensinnige Cousine sagte nichts, saß aber bitterböse im Lehnstuhl und trommelte mit den hellblauen Pantöffelchen auf dem Teppich.

»Gretchen,« rief sie endlich, den Kopf zurück werfend, »bist du hier auch im Correctionshause?«

»Aber Eugenie!« sagte ich bebend; weiter war ich keines Wortes mächtig.

Eugenie erwartete auch gar keine Antwort, sondern schnippte mit den Fingern in der Luft und fing an ein Liedchen zu trällern. Die Tante ging still nach ihrem Boudoir und machte die Thür hinter sich zu, und wir Beiden waren nun allein. Mir waren die Thränen in das Auge getreten, denn offenbar hatte die böse Eugenie Tante Ulriken weh gethan, und vorwurfsvoll sagte ich deshalb:

»Aber liebe Eugenie, wie konntest du die Tante so kränken!«

Eugenie trällerte weiter und gab mir keine Antwort.

»Du glaubst gar nicht, wie gut die Tante ist, liebe Cousine. Du solltest wirklich artiger gegen sie sein, sie verdient so sehr deine Liebe und Achtung!« fuhr ich wärmer werdend fort. »Du kennst sie gewiß noch nicht; aber ich bin schon so lange hier, daß ich ihren großen Werth und ihre hohen Verdienste unendlich lieben und schätzen gelernt habe. Sie meint es so gut mit jedermann!«

Jetzt wurde ich von einem gewaltsamen Gähnen unterbrochen, welches Eugenie hervorstieß, indem sie sich beide Ohren zuhielt.

»Du himmlische Güte, seid ihr hier langweilige Philister!« rief sie sich im Stuhle zurück werfend. »O sancta simplicitas, wie wird's mir armen Heidin unter diesen Heiligen ergehen!«

Sie machte ein so komisches Gesicht, und sah so schelmisch dabei aus, daß ich mir trotz meiner ernsten Stimmung das Lachen verbeißen mußte.

»Sage mal, du kleiner Vernunftkasten, wie alt bist du denn eigentlich, daß du dir heraus nimmst, mir gute Lehren zu geben?« fuhr Eugenie dann fort, indem sie mich mit Semmelkrümchen warf. »Bist du denn schon aus dem dummen Vierteljahr heraus? Du scheinst mir eigentlich noch ein Backfischchen zu sein. Zählst du schon vierzehn Jahre und sieben Wochen?«

»O ja, die liegen glücklich hinter mir, wenn auch noch nicht lange,« sagte ich lächelnd und warf ihr die Semmelkrumen wieder in das Gesicht.

»Wie kannst du dich aber »Gretchen« nennen lassen!« sprach Eugenie weiter. »Das klingt wie lauter Idylle, und die kann ich nicht leiden. Ich werde dich Marguerite nennen, oder auch Gänseblümchen, was ja dasselbe bedeutet.«

»Und was sehr bezeichnend für das simple Backfischchen ist, nicht wahr?« fuhr ich neckend fort, denn ich fühlte recht gut, daß sie mir einen Hieb versetzen wollte.

»Nun dumm bist du nicht, wenn auch simpel!« warf Eugenie leicht hin.

»Nicht so dumm als ich aussehe,« sagte ich lachend.

»Hm! wer sagt dir, daß du so aussiehst?« rief Eugenie rasch. »Ich nicht, denn ich finde dich im Ganzen passabel hübsch.«

»Du meinst la beauté du diable von sechszehn Jahren, wo jedes Mädchen niedlich ist, weil sie frische Farben und jugendliche Formen hat?« warf ich spottend ein.

»Ach mit dir streite wer Lust hat, du bist eine Hexe!« rief Eugenie, mir ein ganzes Milchbrod auf den Rücken werfend, da ich ihr gerade denselben zuwandte.

»Geh nicht so schlecht mit der edlen Gottesgabe um, Eugenie!« sagte ich vorwurfsvoll, die Semmel wieder auf den Tisch legend. »Die Tante leidet es niemals, daß man mit Brod spielt.«

»Um Gottes Willen, da will ich es lassen!« rief Eugenie im komischen Schrecken, »ich muß sonst am Ende auch alles Brod genießen, woraus ich Kugeln und Figuren gedreht habe, wie vorhin deinen gräßlichen Thee, von dem mir noch der Kopf brennt wie Feuer.«

»Weil du unvernünftig dabei warst, wenn ich es dir ehrlich sagen soll,« rief ich, das Theegeschirr zusammen setzend.

»Ich muß doch sehen, ob Tante wieder Lust hat, mich zu verschlingen wie vorhin,« sagte Eugenie jetzt muthwillig und ging nach Tante's Zimmerthür, und noch ehe ich sie voll Schrecken zurückhalten konnte, warf sie mir ein Schnippchen zu und war hinter der Thür verschwunden.

»O mein Gott, ist das ein Mädchen!« rief ich, indem ich ihr angstvoll nachblickte, denn nie hatte ich es gewagt, die Tante zu stören, wenn diese sich zurück gezogen hatte, und sie wagte es, nachdem sie dieselbe durch ihre Unarten so erzürnt hatte! Ich lauschte aufmerksam, ob ich heftigen Wortwechsel hören würde; aber es dauerte nicht lange, so erklang Eugeniens kindlich helles Lachen, die Thür öffnete sich, und von ihrer Nichte zärtlich umschlungen, trat die Tante mit dieser in das Zimmer.

»Du brauchst dir nicht einzubilden, daß du die Versöhnung verursacht hast, heilige Margaretha,« sagte Eugenie, den Kopf aufwerfend, aber ein freundlicher Blick Tante Ulrike's sagte mir, dies sei allerdings der Fall. Nun ich freute mich, die gute Tante wieder heiter zu sehen, die Ursache davon mochte ich oder jemand anders sein.

»Jetzt komm nach deinem Zimmer, mein Kind!« sagte die Tante, Eugenie in ihr freundliches Stübchen führend, welches an unser Schlafzimmer grenzte.

Ich hatte schon gefürchtet, Tante würde mich mit in Eugeniens Zimmer einquartiren, was mir sehr leid gethan hätte, da mir unser trauliches Stübchen herzlich lieb geworden war, nachdem ich so manchen schweren Augenblick darin überstanden hatte. Aber mein Gardinenbettchen stand nach wie vor an seinem alten Flecke, und von einer Aenderung war keine Rede.

Eugeniens Zimmer hatte eine ungemein zierliche, obwohl einfache Einrichtung, und augenscheinlich machte es auf das verwöhnte Kind einen angenehmen Eindruck, denn sie sprang singend und übermüthig von einem Gegenstand zum andern.

»Aber hier die stolze Landschaft muß fort!« rief sie plötzlich, vor dem kleinem Kamin stehen bleibend, über welchem ein schöner Claude Lorrain aufgehängt war. »Hier kommt mein herzig liebes Väterchen hin, obwohl der böse Mensch eigentlich gar nicht verdient, daß ich ihn noch ansehe, seit er mich so treulos verlassen und mich den barbarisch grausamen Händen einer gewissen Frau Ulrike überantwortet hat. Geschwind, Lisette, ausgepackt, daß ich meinen Papa endlich wieder unter den Augen habe; er kennt mich doch am Besten von allen Menschen, und weiß, ob ich so schlecht bin, als gewisse Leute von mir denken.«

Dabei riß sie ungeduldig an den Schnüren und Pappen, welche ein großes Bild umhüllten, das Lisette so eben aus einer der vielen Kisten heraus genommen. Aber trotz ihres Eifers gelang es ihr nicht, das Bild aus seiner Umhüllung zu lösen, so daß ich endlich zugriff und ihr die Sache abnahm.

»Du bist zu heftig, Eugenie, so geht es nicht!« sagte ich, vorsichtig die Schnüre entwirrend, aus denen sie einen wahrhaft gordischen Knoten geschürzt hatte.

»Da nimm es, ich mache alles dumm!« rief sie stürmisch, aber nun stand sie ungeduldig neben mir und ließ mir kaum Zeit und Raum, die Arbeit zu beenden. Endlich fiel das letzte Papier, und mit einem lautem Jubelschrei umfaßte Eugenie das Bild des Vaters mit beiden Armen, drückte es heftig an ihre Brust und bedeckte es dann mit tausend Küssen, wobei ihr die hellen Thränen über die Wangen rollten.

»Väterchen! Mein einzig liebes Väterchen!« rief sie mit zärtlicher Stimme. »Nun hab ich dich ja doch, wenn du auch weit fort von deiner armen lustigen Jenny bist und gar nichts mehr von ihr wissen magst, du böser, böser, lieber Papa!«

Es war wirklich ein unbeschreiblich rührender Anblick, das wunderliebliche Mädchen mit so kindischer Zärtlichkeit das Bild des würdigen Mannes liebkosen zu sehen, und aller Groll, den sie mir bis jetzt durch ihr wunderliches Betragen erregt hatte, schwand beim Anblick dieser Scene. Sie hatte das beste, liebevollste Herz, das zeigte sich nur zu deutlich, aber unter wie viel Schlacken ruhten diese Goldkörner! Schweigend stand ich neben Tante Ulrike, welche ebenfalls tief bewegt nach Eugenien hinblickte, und auch ihr Auge schimmerte in Thränen, sei es vom Anblick des geliebten Schwagers, sei es über die Bewegung ihrer wunderlichen Nichte. Sie trat näher zu Eugenien heran, und indem sie sich tiefer auf das Bild neigte, zog sie das liebe Kind innig an ihr Herz und hielt sie lange schweigend umfangen. Eugenie weinte still am Halse der treuen Tante, und ihr guter Genius schloß einen Bund mit dem besten Herzen, das über ihr wachte.

Aber sich lange der Wehmuth zu überlassen, das war denn doch nicht die Sache unserer Eugenie. Plötzlich raffte sie sich empor, schüttelte die wirren Locken aus der Stirn, trocknete sich die Augen, und rief wieder muthwillig: »Das ist eine schöne Geschichte! Hat der böse Papa mich doch wahrhaftig wieder zum Weinen gebracht, und ich hatte es doch verschworen, seit sein Reisewagen um die Ecke bog. Geschwind an den Nagel mit dem Sünder, der mich zu solch weichgebackenem Seelchen umgewandelt hat.«

Dabei sprang sie auf einen der schwellenden Polsterstühle, und hing mit kräftiger Hand das prachtvolle Oelbild an den Nagel. Dann nickte sie demselben schelmisch zu, küßte es noch einmal herzlich und sprang wieder herab, leicht und lustig wie ein Vogel von dem Zweige.

Der Abend verging ganz gemüthlich mit Auspacken, Einrichten, Erzählen und Plaudern, und Eugenie war bis zum Schlafengehen so liebenswürdig und artig, sprach so viel Gescheidtes und Geistvolles zwischen allerlei Wunderlichem und Barockem, daß man ihr eine geheime Bewunderung nicht versagen konnte. Beim Schlafengehen küßte sie mich herzlich und sagte, ich sei doch eine kleine Hexe, dann hüpfte sie trällernd ihrer voranleuchtenden Jungfer nach, und noch eine ganze Weile hörten wir ihr lustiges Plaudern und Lachen.

Als wir allein waren, strich mir Tante Ulrike freundlich über das Haar, wie sie immer that, wenn sie mit mir zufrieden war; dann zog sie sich noch für ein Stündchen in ihr Zimmer zurück, während ich mein Lager suchte; aber lange noch scheuchten die Gedanken über unsere neue Hausgenossin den Schlaf von meinen Augen, bis endlich der freundliche Traumgott auch meine Sinne mit holden Bildern umgaukelte.

10.
Eugenie.

Als ich am andern Morgen erwachte, traf mein erster Blick Tante Ulriken, welche vor meinem Bette stand und die Langschläferin wohl schon eine geraume Weile angeschaut hatte, denn sie nickte mir freundlich zu und sagte: »Wie schön du geschlafen hast, kleine Grete, ich mochte dich wahrlich nicht stören, obwohl es schon spät ist. Du schienst sehr angenehm zu träumen, denn du lachtest so eben wie ein Kind im Schlafe.«

»Mir träumte von unserer neuen Hausgenossin, Tantchen,« sagte ich, mich im Bett empor setzend. »Sie machte eben einen recht lustigen Streich: denn unserm guten alten Pudel hatte sie ihren feinen Spitzenkragen umgebunden, und die hellblauen Pantöffelchen an die Füße gezogen. Eben wollte sie ihm noch einen Schleier überwerfen, dann sei das Fräulein fertig, wie sie sagte, da erwachte ich. Wie kann man nur so dummes Zeug träumen!«

»Nun unsere übermüthige Eugenie wäre solcher Streiche wohl fähig,« lachte die Tante.

»Jetzt will ich aber aufstehen, denn sonst überrascht sie mich gar noch im Bett, sie ist vielleicht an frühes Aufstehen gewöhnt,« sagte ich eifrig und griff nach meinen Kleidern, um mich geschwind fertig zu machen.

»O,« sagte die Tante, indem sie sich auf mein Bett setzte, »da brauchst du dich nicht sehr zu beeilen, Eugenie liegt wie du noch in den Federn, ich war eben in ihrem Zimmer. Sie schlief zwar nicht mehr, sondern lag mit offenen Augen im Bett und schien gelesen zu haben, zum Aufstehen aber hatte sie noch keine Lust. Sie ist eben ein verwöhntes Kind, das thut was ihm beliebt. Für's erste muß ich sie schon ruhig bei ihren Launen lassen, so schwer es mir wird, ich rechne auf ihren richtigen Verstand und ihr gutes Herz, welche sie mit der Zeit wohl auf bessern Weg bringen werden. Dein Beispiel, mein Gretchen, soll mich in der Erziehung Eugeniens unterstützen; denn im Umgange mit dir, mein gutes Kind, wird sie bald einsehen, wer von euch Beiden auf dem richtigsten Wege ist, ein brauchbarer Mensch zu werden.«

»Mein Beispiel, Tantchen?« rief ich verwundert. »Wie kann ich armes, ungeschicktes Bauermädchen ein Beispiel für die elegante, feingebildete Eugenie sein? Das sagst du wohl nicht im Ernste!«

»Doch, mein liebes Kind,« entgegnete die Tante liebevoll, »du bist ein natürlich einfaches Mädchen, das zwar noch wenig feine gesellschaftliche Bildung besitzt und gar mancherlei Dinge noch lernen muß, ehe ihre Erziehung vollendet ist; aber dein bescheidener Sinn und dein einfach sittiges Wesen können der hochfahrenden Eugenie trotz all' ihrer feinen Bildung und ihrer äußeren Eleganz gar wohl zeigen, was ihr fehlt, und wer von euch Beiden einen größeren inneren Werth besitzt. Eugenien fehlt bei all' ihrer äußeren Vollendung doch die recht eigentliche Bildung, ich meine die Bildung des Herzens, und diese, hoffe ich, wird sie hier bei uns mit der Zeit erhalten. Das arme Kind hatte bis jetzt leider wenig Gelegenheit, sich hierin zu vervollkommnen, möchte es noch nicht zu spät sein, und möchten wir diesem reichbegabten Wesen geben können, was ihm noch so sehr fehlt.«

Die Tante zog mich liebevoll an ihr Herz, während ich stumm und demüthig mein erglühendes Gesicht an ihrer Schulter barg. Ach ich war unsäglich glücklich über die Worte der geliebten Tante! Wohl oft schon hatte sie mir durch einige zufriedene Aeußerungen oder Blicke gezeigt, daß sie nicht unzufrieden mit mir war, und daß ich trotz meiner vielen Thorheiten dennoch ihre Liebe und ihr Vertrauen besaß, aber so viel Lob war mir noch nie von ihr zu Theil geworden. Fast hätte ich stolz und eitel davon werden können, aber die Tante kannte mich genug, um zu wissen, daß ihre Worte bei mir diese Folgen nicht haben würden; denn ich fühlte gar wohl, wie sie mich durch ihr Lob nur etwas sicherer und selbstbewußter Eugenien gegenüber machen wollte, bei welcher meine ängstliche Bescheidenheit durchaus nicht angebracht war. Offenherzig gestand ich der Tante diesen Gedanken, und ihr feines Lächeln bestätigte meine Vermuthung.

»Du bist ein kleiner Schalk, Gretchen,« sagte sie heiter. »So ganz fehlgeschossen hast du freilich nicht; denn ich kann nicht leugnen, daß ich allerdings herzlich wünsche, du möchtest dich recht fest in den Sattel setzen, um im Laufe mit Eugenien von ihr nicht herausgeworfen zu werden, was ihren Uebermuth sehr vermehren würde. Aber ich hoffe, es wird schon gehen, wenigstens that Eugenie gestern schon einige Aeußerungen über dich, welche mir zeigten, du habest ihren Capricen tapfer die Stirn geboten. Damit hast du dir schon ein gutes Theil Terrain bei ihr erobert, und das ist mir lieb zu hören.«

Ich erzählte der Tante lachend mein gestriges Gespräch mit Eugenien, das sie sehr ergötzte.

»Ja ja, auf seiner Hut muß man bei dem Blitzmädchen sein,« sagte sie, »denn vergiebt man sich bei ihr erst einmal etwas, so hat man das Spiel verloren. Nun halte dich tapfer; für dich wird aus dem Umgange mit ihr auch gar vielerlei Gutes erwachsen, wenn du es wohl zu nützen verstehst. Aber jetzt eile dich mit deiner Toilette, sonst überrascht dich Eugenie am Ende wirklich noch im tiefsten Negligée.«

Ich kleidete mich mit Tantchens Hülfe schnell an und hatte die Freude, von ihr abermals ein Lob zu erhalten, wie nett und richtig ich jetzt alles machte, was zur Toilette gehört. »Entsinnst du dich noch des ersten Morgens, Gretchen?« fragte sie neckend. »Weißt du noch, wie ich da nicht aufhören konnte zu verbessern und zu reden? Weißt du, wie du mit den nackten Füßen zum Bett heraus fuhrest, und als Hemdenmätzchen an der Erde hocktest? Wie du dich ohne Wasser wuschest und endlich eine ganze Sündfluth um dich her verbreitest?«

»O still, still, Tantchen! Wie sollte ich das vergessen haben?« rief ich, der Tante den Mund zuhaltend. »Damals dachte ich nicht, daß ich es dir je würde recht machen können, das kann ich dir jetzt ehrlich gestehen. Nachgerade aber ist mir nun doch einige Hoffnung gekommen, daß dein dummes Backfischchen noch ein vernünftiger Mensch werden könnte.«

»Die Zeit wird es ja lehren,« sagte die Tante mir zunickend. »Jetzt geh und sieh, ob Eugenie nicht bald kommt, sonst müssen wir ohne sie frühstücken, mein Magen hat wegen meiner kleinen Faulpelze jetzt lange genug gefastet.«

Ich eilte in Eugeniens Zimmer, um die Cousine zum Frühstück abzuholen. Aber wie erstaunte ich, als ich die junge Dame noch im Bett und eben im Begriff fand, ihre Chocolade zu schlürfen, welche Lisette ihr präsentirte.

»Guten Morgen, Gänseblümchen!« rief sie mir fröhlich entgegen und gebot ihrer Jungfer, das Frühstück neben ihr Bett zu stellen. »Was habt ihr für gräuliches Zeug von Chocolade hier im Hause!« fuhr sie, den Mund verziehend, fort. »Das ist ja süßer Mehlbrei für Wickelkinder, pfui! Mama soll mir augenblicklich von unserer Vanillechocolade schicken, hörst du Lisette! Schreib es gleich auf den Bestellzettel. Aber du mein Himmel! Heilige Margarethe, schon fix und fertig in den Kleidern?« rief sie dann, mich verwundert vom Kopf bis zu den Füßen anblickend. »Was hast du denn vor, willst du verreisen, daß du dich so früh schon anziehst?«

»Nein, das thue ich stets, Eugenie!« sagte ich gleichmüthig. »Die Tante sieht es nicht gern, wenn junge Mädchen im Morgenrock umher gehen, weil sie es für Verwöhnung hält.«

»Nun da wird sie sich bei mir wohl daran gewöhnen müssen,« entgegnete Eugenie schnippisch und strich die feine Stickerei ihres Nachtjäckchens am Handgelenk glatt. »Ich bin kein Bürgermädchen, das gleich aus dem Bette auf die Straße muß, meine Bequemlichkeit lasse ich mir nicht stören.«

»Jeder nach seinem Gefallen, liebe Cousine,« erwiederte ich achselzuckend. »Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, allen Wünschen der Tante nachzukommen, und so thue ich auch dies, obwohl auch ich an Morgenrock und Häubchen gewöhnt war. Jetzt finde ich es selbst sehr angenehm, gleich früh fertig zu sein, man gewinnt sehr viel Zeit dabei.«

»Bah, Zeit! Was habe ich davon!« rief Eugenie spöttisch. »Der Tag ist ohnehin lang genug.«

»Ich möchte ihn stets noch einmal so lang haben, die Zeit vergeht mir immer viel zu schnell,« erwiderte ich.

»Du bist eine Närrin, Gänseblümchen,« rief Eugenie ärgerlich. »Aber was willst du eigentlich bei mir, kommst du etwa nur, um mir wieder eine Predigt zu halten? Den Anlauf dazu nimmst du schon wieder.«

»Ich habe das Gespräch nicht angefangen, Eugenie!« sagte ich kurz. »Ich kam nur, dich zum Frühstück zu rufen; da du dasselbe aber für dich allein einzunehmen für gut findest, so habe ich weiter nichts hier zu suchen.«

Dabei wandte ich mich nach der Thür und wollte gehen. Ein schallendes Gelächter Eugeniens traf mein Ohr, und unwillkürlich blickte ich nach ihr zurück.

»Du bist eine kostbare kleine Kratzbürste!« rief sie lustig. »Nun gehst du schnurstracks zu unserer wohllöblichen Tante und berichtest ihr brühwarm, was sich allhier so eben zugetragen, und wie ich der heiligen Margarethe höchsten Zorn erregte. Und dann setzt ihr beiden Tugendexempel euch einander gegenüber und weint heiße Thränen über das räudige Schaf, das unter eure fromme Heerde gekommen.«

»Rede doch nicht solchen Unsinn, Eugenie!« entgegnete ich, indem ich gegen meinen Willen lachen mußte. Da die Tante mich jedoch erwartete, eilte ich zur Thür hinaus, hinter mir drein aber flog einer der seidenen Pantoffeln, welche das lose Mädchen mir nachsandte.

Die Tante schüttelte den Kopf, als ich ihr von diesem Morgenbesuche erzählte, und wir tranken ziemlich still und ernst unsern Kaffee. Aber noch waren wir nicht damit fertig, so öffnete sich die Thür, und Eugeniens rosiges Gesichtchen schaute zu uns herein.

»Da ist sie doch!« rief ich freudig überrascht und eilte ihr entgegen. Auch die Tante stand auf, der Ankommenden die Hand zu reichen, Eugenie aber schritt feierlich zu uns heran und sagte salbungsvoll:

»Wo zwei oder drei beisammen sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen!«

Ich erschrak über diesen Frevel, als hätte ich selbst die Sünde begangen, die Tante aber blickte rasch auf, dunkle Gluth färbte ihre Stirn, und finster, wie ich sie noch nie gesehen, schaute sie Eugenien an.

»Unbesonnenes Mädchen!« sprach sie streng, »laß mich nie wieder dergleichen frevelhafte Worte hören! Leichtsinn und Unarten will ich dir verzeihen, aber wer Spott mit dem Heiligsten treiben kann, von dem will ich nichts mehr wissen, für den habe ich nur noch die tiefste Verachtung. Ich hoffe, du siehst ein, wie unverantwortlich du gehandelt und bereust es von Herzen!«

Eugenie stand erschrocken vor der zürnenden Tante und hatte ihre kecke Haltung ganz verloren. Sie faßte sich zwar endlich wieder und wandte sich etwas verlegen zur Seite, aber der tiefe Ernst der Tante ließ jegliche Erwiderung auf ihrer Lippe ersterben, und schweigend setzten wir unser Frühstück weiter fort. Eugenie fühlte sich augenscheinlich dabei höchst unbehaglich, denn bald stand sie auf und machte sich im Zimmer zu schaffen. Endlich öffnete sie den Flügel und ließ die Finger über die Tasten gleiten, ohne rechten Zusammenhang zwar, aber so kunstvoll und meisterhaft, daß ich erstaunt aufhorchte.

»Spiele uns doch etwas, liebes Kind,« sagte Tante Ulrike sanft, und herzlich erfreut, daß sie aus dem Dilemma durch Tante's gütige Anrede erlöst worden, ließ Eugenie nun ihre Finger im raschen Spiele über die Tasten rollen. Es war ein wirklicher Genuß, ihr zuzuhören, denn Anschlag, Geläufigkeit und Vortrag, alles war so vortrefflich, wie ich es selten gehört hatte. Dem Spiel folgte bald auch Gesang, und die reine hohe Sopranstimme sowie der ungemein ansprechende Vortrag Eugeniens entzückten mich von Neuem, und auch der Tante ernstes Gesicht hellte sich mehr und mehr auf. Musik ist der beste Vermittler, Tröster und Helfer in so manch trüber Lage des Lebens, und auch hier halfen uns die Töne über den unangenehmen Zustand hinweg, in den Eugeniens Thorheit uns versetzt hatte; denn als sie vom Klavier aufstand, reichte ihr die Tante freundlich die Hand und lobte ihre treffliche musikalische Ausbildung.

»Du mußt meine Lehrer loben, nicht mich, Tantchen!« rief Eugenie, sich nachlässig auf das Sopha werfend. »Sie haben mich genug damit gequält, mehr als all' die Lappalie werth ist.«

»Nun du solltest es ihnen danken, denn du bist durch diese Mühe in den Besitz schöner Talente gelangt,« entgegnete die Tante. Eugenie beantwortete diese Ermahnung aber in ihrer bekannten liebenswürdigen Weise, indem sie den Mund zum Gähnen öffnete, und leise seufzend ging die Tante an ihr vorüber.

Einige Zeit nachher kehrte ich mit dem Ausgabebuche der Köchin aus der Küche in das Wohnzimmer zurück und trug vorsichtig eine Menge kleiner Münzen, welche ich eingewechselt, auf dem Umschlage des Buches. Eugenie ging trällernd an mir vorüber, und ehe ich wußte, wie mir geschah, schlug sie mir Geld und Buch aus den Händen, daß die Münzen rings im Zimmer umher flogen. Wie ein tolles Kind lachte sie dann über ihren muthwilligen Streich, während ich bestürzt niederkniete, die vielen kleinen Geldstücke mühsam aufzulesen.

Aber da trat die Tante, welche alles aus ihrem Cabinet mit angesehen, zu uns heran, gebot mir aufzustehen, Eugenien aber, selbst aufzusuchen, was sie hingeworfen. Eugenie blickte betroffen auf, dann warf sie den Kopf in den Nacken, öffnete die Thür und rief ihre Kammerjungfer herbei.

»Lies die Münzen auf, Lisette!« befahl sie dem eintretenden Mädchen, und schon kniete dieses am Boden, da sagte Tante Ulrike:

»Lisette, geh nur, es ist schon gut.«

Dann aber, als das Mädchen das Zimmer verlassen, gebot sie Eugenien ruhig aber sehr ernst, selbst ihren stolzen Rücken zu beugen und wieder zu verbessern, was sie Thörichtes gethan.

Eugenie wußte nicht, ob sie ihren Ohren trauen sollte; aber der stille Ernst der Tante imponirte ihr doch gewaltig, und ohne eine Erwiderung begann sie das mühsame Werk. Unter Stöhnen und Schelten kroch sie am Boden umher, kaum aber hatte sie eine Hand voll Münzen aufgesammelt, so warf sie mir dieselben voll Ingrimm wieder an den Kopf, und so würde sie nimmermehr zu Ende gekommen sein, hätte ich mich ihrer nicht endlich dennoch erbarmt und ihr beigestanden.

»Ach meine Füße, meine Glieder!« rief sie nun, als wir fertig waren. »Ich bin wie gerädert, es ist mein Tod!« Ich ließ sie ruhig klagen und ging meinen häuslichen Geschäften nach. Als ich wieder zurück kehrte, fand ich sie nicht mehr, und da ich glaubte, sie werde wohl Toilette machen, ging ich nach ihrem Zimmer, ihr zu helfen. Aber wie erschrak ich, sie hier im Bett zu finden. Als sie mich sah, überhäufte sie mich mit Scheltworten und Klagen, sagte, sie werde hier behandelt wie ein Sträfling, und es werde sicher ihr Tod sein, sie fühle sich jetzt schon völlig krank und elend.

Bestürzt eilte ich zu Tante Ulrike, dieser den Zustand Eugeniens mitzutheilen, die Tante aber lächelte über meine Sorgen und sagte ruhig: »Laß nur Kind, Eugenie wird schon wieder gesund werden, aber geh nicht zu ihr, wir müssen sie sich selbst überlassen.« Dann ergriff sie ein Buch und begann unsere tägliche Lektüre, und Lessings geistvolle Worte, die sie mir vorlas, führten meine Gedanken bald in andere schönere Regionen.

Meine Freundin Marie unterbrach nach einiger Zeit unsere Beschäftigung, um sich nach dem neuen Ankömmling zu erkundigen. Da Eugenie aber noch immer nicht sichtbar war, so hatten wir Zeit genug, lange allein mit einander zu schwatzen.

Schon nahte die Mittagstunde, und Marie wollte wieder gehen, da erschien plötzlich Eugenie in der Thür, höchst zierlich angekleidet und stolz und vornehm in Miene und Haltung. Ich stellte ihr meine Freundin vor und fragte nach ihrem Befinden, sie aber lehnte sich matt in den Sessel, nickte Marien kalt einen Gruß zu und schien uns dann nicht weiter zu beachten. Marie entfernte sich bald und war außer sich über Eugeniens Art und Weise, ich suchte sie indeß zu entschuldigen; aber meine Versicherung, daß sie unendlich liebenswürdig sein könne, fand bei meiner feinfühlenden kleinen Freundin durchaus keinen Glauben.

Ich setzte mich still an meine Arbeit, während meine Cousine wieder nachlässig auf dem Sopha ruhte. Ihr helles Lachen überraschte mich aber bald darauf, so daß ich verwundert aufblickte.

»Ist sie immer so blau und so blond?« rief Eugenie lustig.

»Wen meinst du denn?«

»Nun deinen Castor, mein Pollux!«

»Ja, blond ist sie immer, wie ich immer schwarz bin. Und blau trägt sie viel, ich liebe das gerade an ihr. Wie gefällt sie dir denn, Eugenie!«

»Wie einem solch' Butterschäfchen gefallen kann! Es fehlt nur Todtenkopf und Bibel, und die büßende Magdalena ist fertig.«

Ich war empört. Meine Marie, meine vergötterte, herrliche Freundin so zu schmähen, es war abscheulich! Ich wollte eben einige rechte bitterböse Worte erwidern, da fühlte ich mich plötzlich von hinten umschlungen, und Eugeniens schönes Gesicht blickte voll Schelmerei in meine feuchten Augen.

»Richtig, das Wetter wird gleich losbrechen!« rief sie, und küßte mich. »Schleudere deine Blitze nur herab auf mein reuig Haupt, o Kronion, ich verdiene es nicht besser!«

Nun mußte ich wieder lachen, wo ich böse sein wollte, es war nicht auszuhalten mit diesem Mädchen!

»Was machst du denn eigentlich da?« fragte Eugenie und nahm mir meine Arbeit aus der Hand.

»Etwas sehr Häusliches und Prosaisches, wie du siehst, ich stopfe Strümpfe.«

»Du stopfst sie? Um's Himmels willen, warum thust du denn das, das macht doch kein anständiges Menschenkind selbst!«

»Ich wüßte nicht, was bei solcher Arbeit Entehrendes wäre? Die Tante sagt, je weniger Hülfe wir von Anderen brauchten, je besser wären wir daran, denn um so unabhängiger machte man sich von anderen Menschen.«

»Hm, das ist nicht dumm. Machst du dir noch mehr selbst, auch etwa die Kleider und das Weißzeug?«

»Die Wäsche und Kragen natürlich. Und die Tante hat mir versprochen, ich solle auch das Schneidern erlernen, damit ich später auch meiner Mutter und den Schwestern die Kleider machen kann, denn auf dem Lande ist das doppelt angenehm.«

»Aber wo in aller Welt nimmst du denn die Zeit her zu all' den Arbeiten? Das brächte ich ja nun und nimmermehr zu Stande, und wenn der Tag Millionen Stunden hätte!«

»Ja siehst du nun wohl, wozu es gut ist, zeitig aufzustehen und sich gleich anzuziehen? Auf dem Sopha kann ich freilich auch nicht immer liegen, wenn etwas fertig werden soll.«

»Hexe, die du bist!« schmollte Eugenie, und spielte Ball mit meinen aufgerollten Strümpfen.

»Wie geht es dir denn eigentlich, Eugenie,« fragte ich nun theilnehmend, »bist du denn wieder ganz wohl!«

»Das kann dir ganz einerlei sein, da du nicht früher danach gefragt hast,« sagte sie trotzig. »Ich glaube, ich könnte sterben und verderben, ehe sich jemand von euch um mich bekümmerte.«

Ich mußte still vor mich hin lächeln und sah wohl ein, das beste Mittel sie zu kuriren sei, wie Tante meinte, ihre Krankheit gar nicht zu beachten, wer weiß, wie lange sie noch stöhnend im Bette geblieben wäre, hätten wir uns ängstlich und sorgenvoll um sie bemüht.

Am Nachmittag machte die Tante einige Besuche mit uns, um ihren Freunden ihr zweites Pflegekind vorzustellen. Ach welch' ein Unterschied war in Eugeniens Erscheinen bei ihrem ersten Besuche im Vergleiche mit dem meinigen damals! Unwillkürlich sah ich mich armes, hölzernes Mädel, dem Angst und Ungeschick die Röthe der Scham und Verlegenheit auf die Wangen jagte, neben der feinen, eleganten, anmuthigen Eugenie. Wie unendlich liebenswürdig konnte dies Mädchen sein, wenn sie wollte! Und den Fremden gegenüber wollte sie fast immer, deshalb gewann sie bald Aller Herzen, und niemand ahnte, wie schwere Stunden dieses verzogene, launische Kind den Ihren zu Hause bereiten konnte. Auch Marie söhnte sich etwas mit Eugenien aus, da sie am Nachmittage ganz ausgetauscht schien, und freundlich und gesprächig war, wie gewöhnlich.

Sehr ergötzlich fiel der Besuch bei Geh. Rath Delius aus. Amanda schwebte wieder in ihrer bekannten affectirten Weise durch das Zimmer und machte es sich im Lehnstuhle bequem, indem sie bald das Flacon, bald den Fächer oder das Taschentuch handhabte; mich ignorirte sie natürlich gänzlich, aber auch Eugenien behandelte sie so von oben herab, daß mir ganz bange wurde.

Zu meiner Verwunderung schien dies Betragen Eugenien gar nicht zu verletzen. Sie beobachtete Amanda ziemlich still eine Weile, und ich sah es um ihre Lippen zucken wie lauter Lust und Muthwillen. Leise lehnte auch sie sich in ihren Lehnstuhl zurück, noch viel bequemer als Amanda, zog rasch einen Fußschemel herbei, nach dem jene so eben greifen wollte, setzte ebenfalls Riechfläschchen und Taschentuch in Bewegung und sprach noch viel matter und blasirter als ihre Gegnerin. Und das alles war so wenig gemacht, schien so ganz eigene Natur zu sein, daß ich staunend die sonst so frische Eugenie betrachtete.

Amanda wußte augenscheinlich auch nicht, was sie dazu sagen sollte, unwillkürlich erhob sie sich etwas aus ihrer bequemen Lage, suchte ein ordentliches Gespräch anzuknüpfen und zierte sich weniger. Eugenie aber ließ sich nicht stören, gab zwar Antworten, aber ganz in Amanda's bisheriger Art und Weise, und wandte sich viel mehr zu mir armen Dinge, als zu der eleganten Tochter des Hauses. Als jedoch die Geheimräthin selbst mit Eugenien ein Gespräch begann, betrug sie sich wieder so liebenswürdig und fein, wie es stets ihre Art war. Wirklich setzte es Eugenie in dieser Weise mit der Zeit durch, daß Amanda ihr abgeschmacktes Wesen ihr gegenüber aufgab und natürlicher sprach und sich bewegte, und wie sie, so stimmte auch Eugenie ihren natürlicheren Ton wieder an, so daß diese beiden eigenthümlichen Mädchen recht gut mit einander fertig wurden.

11.
Noch einmal Eugenie.

Ich ging am andern Morgen zeitig wieder nach Eugeniens Zimmer, um zu hören, ob sie wieder ganz wohl sei, und heute empfing sie mich zwar eben so muthwillig wie gewöhnlich, aber doch herzlich und freundlich.

»Willst du meinem Lever beiwohnen, Gänseblümchen?« sagte sie, die Glocke ihres Nachttisches bewegend. »Du sollst auch die Ehre haben, mir höchst eigenhändig das reine Hemdchen über meinen jungfräulichen Nacken zu streifen, und niemand soll dir dein Amt streitig machen. Du kennst doch die schöne Geschichte von Ludwig XIV., der eine halbe Stunde ohne jegliche Hülle im Naturkostüme verharren mußte, nur weil jedesmal in dem Augenblicke, als der Vornehmste seiner Umgebung ihm besagtes Kleidungsstück überwerfen wollte, ein noch Vornehmerer in das Zimmer trat, dem dann dies höchste aller Aemter im großen Staate Frankreich übergeben werden mußte?«

Ich kannte die Geschichte wohl, ließ Eugenien jedoch ruhig erzählen und betrachtete mir indeß die schöne Stickerei ihrer Wäsche.

»Wie schön das alles ist!« sagte ich voll Bewunderung.

»Gefällt es dir?« entgegnete Eugenie gleichgültig. »Suche dir aus, was du willst, das Zeug ist mir alles egal.«

»Aber das kostet ja alles so viel Geld, Eugenie, egal kann es dir doch unmöglich sein!« wagte ich einzuwerfen.

»Bah, Geld!« rief sie achselzuckend. »Was kümmert mich das! Mama sagt, das sei Nebensache, Papa habe genug davon.«

»Aber du könntest es doch besser anwenden, als es so wegzuschleudern, liebe Cousine. Wie viel Freude könntest du Andern machen mit einem kleinen Theil dessen, was du so verschwendest.«

»Besser anwenden? Was meinst du damit, Kleine?«

»Nun wie gesagt, du könntest Andere damit glücklich machen, die weniger haben.«

»Wen meinst du denn? Lisetten gebe ich alles, was sie haben will, und wer mich sonst anbettelt, der bekommt auch immer etwas.«

»Laß gut sein, du verstehst nicht, wie ich das meine, liebe Eugenie,« schloß ich endlich. »Komm lieber und stehe auf, ich habe keine Zeit mehr zu warten.«

Eugenie rief Lisetten an das Bett und streckte derselben einen Fuß nach dem andern entgegen, woran die Zofe erst die feinen Strümpfe und dann die blauseidenen Pantoffeln streifte. Dann löste sie alle Knöpfe und Bänder an dem Nachtkleide der jungen Dame, und diese ließ alles geschehen ohne selbst auch nur einen Finger zu rühren. Ich schaute dem Dinge voll Verwunderung zu, sagte aber kein Wort; doch als sie fertig war, und Lisette ihr alle Knöpfe, Bänder und Haken wieder geschlossen und ihr den feinen weichen Morgenrock übergeworfen hatte, der durchweg mit weißer Seide gefüttert war, bat ich sie scherzend, sie möge nun auch einmal meinem Lever beiwohnen, um sich zu revanchiren. Das ergötzte sie sehr und sie versprach es. Natürlich glaubte ich nicht, daß sie es thun würde und war deshalb höchst erstaunt, sie wirklich am andern Morgen schon neben meinem Bette zu sehen, als ich erwachte.

»Nein solch' ein Faulpelz!« rief sie triumphirend, als ich sie voll Staunen anblickte. »Da nimm dir ein Beispiel an Eugenie, dem braven Mädchen, die hat schon seit drei Stunden Strümpfe gestopft!« Wirklich sah ich einen ganzen Berg Wäsche neben ihr aufgehäuft, und einen Strumpf über ihren Arm gezogen, focht sie mit langer Nadel und Faden heftig in demselben auf und nieder. Bald sah ich wohl, daß sie nur Scherz trieb und keine Idee von der Arbeit hatte, die sie vorgab, ich ignorirte es aber und blickte staunend auf sie hin. Ihr fröhliches Lachen fand dann natürlich sogleich Erwiederung, und ich fand nicht Worte genug, ihren Heroismus zu bewundern, bis sie endlich den ganzen Haufen Wäsche auf die Seite warf und sich im Lehnstuhle behaglich streckte.

»Aber nun rasch aus den Federn!« rief ich und griff nach meiner Wäsche und den übrigen Sachen.

»Machst du das denn selbst, Gänseblümchen?« sagte Eugenie erstaunt und sah auf meine Finger, welche schnell Bänder und Haken lösten und schlossen.

»Natürlich, das macht mir niemand anderes schnell und gut genug!« entgegnete ich. »Es wäre mir unerträglich, solch' Kammermädchen an mir herum zupfen und zerren zu lassen, und zu warten, bis es ihr gefällig wäre, mich zu bedienen. Selbst ist der Mann! Du glaubst nicht, wie angenehm es ist, alles selbst zu machen.«

»Ja diese Lisette ist ein gräulicher Tölpel!« sagte Eugenie nachdenklich. »Du glaubst gar nicht, wie sie mich quält und peinigt durch ihr Ungeschick! Und gerade wenn ich sie brauche, kann sie niemals kommen. Du bist zehnmal besser daran als ich, ich beneide dich wirklich!«

»Aber so versuche doch, dich einmal allein zu bedienen, liebes Herz, dann bist du allen Aerger los,« rief ich lachend und fuhr mit dem Kamme durch mein dichtes Haar.

»Ich kann es ja nicht! Mama sagt immer, es sei unschicklich, sich selbst zu bedienen.«

»Nun weißt du was? Ich werde dir helfen, bis du es kannst, willst du das, Eugenie?«

»Hm, ja, nein, wie du willst! Ich weiß selbst nicht!« stotterte Eugenie und drehte mein Haar um ihre Finger. »Du würdest doch davon laufen, denn ich quälte dich natürlich so lange, bis du es thätest,« setzte sie dann in ihrer lustigen Weise hinzu.

»Nun, darauf wollen wir es ankommen lassen! Soll ich morgen früh kommen?«

»Nein, ich mag nicht, es ist doch unbequem, und du bist mir ohnehin weise genug!« rief sie und warf sich wieder nachlässig auf den Lehnstuhl, ich aber ließ sie in Ruhe, denn hier stürmen oder drängen zu wollen, wäre sehr unklug gewesen. Aber siehe da, am folgenden Morgen saß Eugenie schon am Frühstückstisch, als die Tante und ich in das Zimmer traten, und auf unsere verwunderten Ausrufungen sagte sie leichthin:

»Ich ennuyire mich todt bei meiner einsamen Chocolade, ich will mit euch zusammen frühstücken. Und Gänseblümchen soll nur ihre Dienste Anderen anbieten, ich brauche sie nicht. Ich habe mir heute alles selbst gemacht, da seht her, ob's nicht ordentlich ist!«

Natürlich überhäuften wir sie mit Lobeserhebungen, aber die waren bei ihr nie angebracht, und in komischem Verdruß hielt sie sich die Ohren zu.

Dergleichen kleine Scenen wiederholten sich fast täglich, und so böse wir nur gar zu oft über das unverständige Mädchen sein mußten, eben so sehr söhnte uns bald darauf ihr gutes, herzvolles Betragen wieder mit ihr aus. Es lag ein Schatz von großem Werthe in diesem wunderlichen Geschöpfe, und wer nur die Geduld nicht verlor, der konnte in ihr noch viel Gutes erwecken. Tante Ulrike war ganz die Person dazu, das fühlte auch die leichtsinnige Eugenie gar wohl, und hing in ihrer Weise bald eben so innig an diesem trefflichen Wesen, als ich es in der meinen that. Daß auch ich mich bald der Gunst Eugeniens mehr zu erfreuen hatte, als ich je gehofft, erleichterte mir das Herz unbeschreiblich, liebte ich doch das reizende, wunderliche Mädchen trotz allem, was sie mir anthat, bald aus ganzer Seele.

Aber wie manches hatten wir im Anfange noch zu überwinden, ehe Eugenie etwas vernünftiger wurde! Ich besonders war stets die Zielscheibe ihrer losen Streiche, und doch wußte sie es immer wieder gut zu machen, wenn sie mich gekränkt oder geärgert hatte.

Eines Tages trat ich an meinen Arbeitstisch am Fenster und ordnete die rankenden Schlingpflanzen, welche sich an demselben hinzogen. Dabei wollte ich, wie ich täglich that, das Bild meiner lieben Marie begrüßen und hob die Blätter des Epheu empor, um es besser zu sehen.

Aber erschrocken fuhr ich zusammen, und mit bebender Hand griff ich nach dem geliebten Schatze, um mich zu überzeugen, ob ich mich täuschte. Nein es war kein Irrthum! Eine böse, frevelnde Hand hatte mir verdorben, woran mein ganzes Herz hing. Ein dicker, schwarzer Schnurbart deckte die feinen Lippen des netten Bildes und entstellte das zarte Gesicht der rosig frischen Blondine. Es war zu abscheulich, zu boshaft, und doch konnte man sich des Lachens über den sonderbaren Anblick nicht enthalten.

Daß Eugenie mir diesen Streich gespielt lag außer Frage, denn oft schon hatte sie dies kleine Oelbild verhöhnt, das ich allerliebst fand, sie aber meinte, es sähe aus wie ein Ritterfräulein auf dem Pfeifenkopfe eines Handwerksburschen.

Ich nahm das arme Bild still von der Wand und legte es in den Kasten, schelten konnte ich das lose Mädchen nicht, dazu war mir zu weh um das Herz; aber meine roth geweinten Augen und die leere Stelle über meinem Nähtisch, welche ich durch kein anderes Bild verdeckte, sagten Eugenien wohl, wie sehr ich mich grämte. Bald erfuhr ich auch, daß die Tante sehr ernst über diesen herzlosen Streich mit ihr geredet hatte, und dies war mir lieber, als mich selbst mit ihr darüber zu streiten.

Wie sehr staunte ich nun eines Morgens, als ich den leeren Platz durch ein neues Bild ausgefüllt sah, und zwar ein Bild von meiner lieben Marie, ganz zart und duftig in Wasserfarben gemalt und unendlich viel schöner als das verdorbene! Die frischen Farben und die anmuthigen Züge waren so treu wieder gegeben, daß ich voll jubelnden Entzückens das liebe Bild an die Lippen drückte und außer mir war vor Freude. Wer hatte das gethan! Konnte Eugenie? – aber nein, das war ja ein kleines Kunstwerk, und verstand sie das, wann hätte sie es gearbeitet? Und doch, es sähe ihr so ähnlich! Aber sie selbst würde es nie eingestehen, mich höchstens noch verspotten.

Da kam das Urbild meiner Freude selbst, meine liebe gute Marie! Jubelnd flog ich ihr entgegen und fragte, wer das Bild gemalt.

»Nun Eugenie, wie kannst du daran zweifeln?« sagte Marie. »Sie war ja einige Mal heimlich bei mir, um es zu malen. »Das alte ist ein Monstrum,« sagte Eugenie, »und ich habe es absichtlich verdorben, um ihr ein anderes dafür malen zu können, sonst nähme sie es doch nie von der Wand, und ich hätte mich ewig darüber zu ärgern.«

Das sah ihr ähnlich, aber danken durfte ich nicht dafür, sonst war sie im Stande, dem lieben Gesichtchen abermals einen schwarzen Bart anzumalen. Jetzt erst fiel mir ein, daß sie einige Vormittage allein ausgegangen war, um, wie sie sagte, allerlei zu besorgen. Da war dies Bildchen entstanden. Welch' Talent lag in dem Mädchen! Musik, Malerei, alles konnte sie trefflich, nur davon sprechen, sie loben, das durfte niemand, sie rechnete all' ihr Können der Mühe ihrer Lehrer zu und legte scheinbar gar keinen Werth auf ihre Talente.

Eugeniens Lieblingsthema für ihre Neckereien, deren sie ewig im Sinn hatte, war besonders meine einfach ländliche Garderobe, die freilich gegen die üppig elegante Toilette der verwöhnten Cousine gewaltig abstach. »Nett und sauber!« das war meiner guten Mutter Princip bei Anschaffung neuer Kleidungsstücke; aber freilich drang die neueste Mode nur langsam hinaus auf unser fern gelegenes Landgut, und so mochte ich wohl etwas altfränkisch ausgesehen haben, als ich zu der Tante kam, denn diese hatte schon allerlei Aenderungen an meiner Toilette vorgenommen, so daß ich erstaunlich modisch und zierlich gekleidet zu sein meinte, bis die elegante Eugenie mich durch ihre Garderobe völlig in den Schatten stellte. Aber dieser Abstand in der Erscheinung drückte mich nicht, es paßte eben so ganz zu unser Beider Persönlichkeit, und in Eugeniens köstlichen Kleidern wäre ich gewiß noch viel steifer und ängstlicher gewesen aus Furcht, sie zu verderben.

Ein etwas buntes, schwerfällig gemachtes Kleid war es besonders, das vor Eugeniens Augen durchaus keine Gnade fand und fortwährend Grund zu neuen Neckereien abgab. Aber der Stoff des Kleides war gut und fein, das Kleid noch neu und sauber, und so trug ich es trotz alledem ruhig weiter.

»Es riecht nach Butter und Käse!« sagte Eugenie, wenn sie mich darin erblickte. »Um Gottes Willen geh nicht vor die Stadt, die Kühe halten dich für eine bunte Wiese und wollen auf dir grasen.« Oder auch: »Großmutter, in welchem Winkel deines Strickbeutels stak einmal der kostbare Stoff deines Bratenrockes? Heißt dein Schatz Bauer Michel oder Peter, mit dem du in diesem Staate Hochzeit machen willst?« und was der losen Reden mehr waren. Aber ich kehrte mich, wie gesagt, wenig daran und trug mein geschmähtes Kleid weiter.

Eines Tages jedoch konnte ich es durchaus nicht finden, ich durchsuchte alle Schränke, aber vergebens. Da kam Eugenie an mir vorüber und sagte leichthin: »Ach Gänseblümchen, wenn du etwa dein Großmutterkleid suchst, so bemühe dich nicht länger, das hat jetzt die arme Zeitungskäthe an. Das alte Wesen bat mich um einen warmen Rock für die Kälte, aber du weißt, meine Kleider sind alle so dünn und wärmen nicht. Aber das Butter- und Käsekleid von dir ist so warm und weich, ich dachte, das müßte dem armen Weibe gut thun und gab es ihr. Du bist doch nicht böse darüber?«

Und ohne weiter eine Antwort abzuwarten tanzte sie trällernd davon, ich aber schaute verblüfft drein und wußte nicht, war das Scherz oder Ernst. Wäre es nicht Eugenie gewesen, so hätte ich es für einen Spaß gehalten; aber sie war fähig das zu thun, was sie erzählte, und der leere Schrank sprach nur zu deutlich von der Wahrheit ihrer Geschichte. Das war denn doch etwas zu stark, dieses feine, gute Kleid an solch' armes Weib zu geben, der mit etwas Geringerem viel besser gedient war, und nun gar über das Eigenthum Anderer so willkürlich zu verfügen! Ich ging fast weinend vor Verdruß in mein Schlafzimmer, um mich fertig anzukleiden und der Tante dann mein Leid zu klagen. Aber siehe da, als ich an mein Bett trat, sah ich auf diesem ein wunderschönes violettfarbenes Kleid liegen von einem so köstlich feinen Wollenstoff, daß ich voll Bewunderung stehen blieb und es anschaute.

»Nun ich hoffe, es paßt dir, kleine Gänseblume!« rief Eugenie und schaute zur Thür herein. »Die Schneiderin behauptet dein Maß zu haben.«

»Soll das denn für mich sein?« fragte ich verwundert und hob das reiche Gewand in die Höhe, das mit Sammet und Spitzen wunderschön ausgeputzt war.

»Mama hatte den Stoff zu einem Winterkleide für mich bestimmt,« sagte Eugenie achselzuckend, »doch es gefiel mir nicht. Da es aber immerhin hübscher ist als dein Bratenkleid, so habe ich es dir machen lassen und verschenkte deinen Hochzeitrock, nur damit ich mich nicht vollends todt darüber ärgern muß. Zu bedanken brauchst du dich nicht, denn ich konnte die Farbe für mich nicht leiden. Veilchen sind mir nun einmal schrecklich langweilig, darum mag ich auch ihre Farbe nicht tragen.«

So wußte das sonderbare Mädchen stets die Sachen zu wenden und zu drehen, daß man schließlich weder schelten noch danken konnte, aber das wollte sie eben. Sie hatte ihren Willen, das war die Hauptsache, und alles Andere mußte schweigen. Noch nie im Leben hatte ich ein so schönes Kleid besessen, und freudestrahlend eilte ich damit zur Tante. Diese begrüßte mich lächelnd und sagte, es möge jetzt gut sein, ihre Strafpredigt hätte Eugenie erhalten, denn unrecht sei ihre Handlung bei alledem; aber den Tausch könne ich mir wohl gefallen lassen. Das fand ich auch, denn mit Vergnügen sah ich in Tante's großem Spiegel, daß ich ordentlich hübsch in dem stattlichen Kleide aussah.

»Thust du den Armen gern Gutes, Eugenie?« fragte ich in Folge der Kleidergeschichte, denn lange schon hatte es mir am Herzen gelegen, meine reiche Cousine mit meinen Armen bekannt zu machen, die ich regelmäßig jede Woche besuchte.

»Thu' doch nicht solche Alt-Jungferfragen, Gänseblümchen!« erwiderte Eugenie. »Die Armen sind schrecklich unbequemes Volk, ich kann sie nicht leiden, darum schenke ich ihnen immer schnell etwas, wenn sie an mich heran kommen, dann bin ich sie los.«

»Aber das ist nicht recht, Eugenie, deshalb mußt du es doch nicht thun! Denke doch, wie schrecklich schlimm diese armen Geschöpfe daran sind, denen oft das Nöthigste zum Leben fehlt. Wenn wir ... Aber was machst du denn, was soll denn das heißen?« fuhr ich endlich fort und sah Eugenien zu, welche mir eine schwarze Schürze als Mantel umband und eine Art Thron von Stühlen erbaute.

»Wenn's gefällig wäre, Herr Pastor, die Kanzel ist fertig, predigen Sie dort weiter,« sagte sie mit einer feierlichen Verbeugung gegen mich und setzte sich mit andächtiger Miene mir gegenüber. Natürlich war ich nun mit meinen weisen Reden zu Ende, und das hatte sie nur gewollt. »Du bist so weise, wie du reizend bist!« war sonst ihre gewöhnliche Redensart, wenn ich bei ihrem leichten Geschwätz meine solideren Ansichten nicht unterdrücken konnte, und diese Rede Titania's, mit der sie im Sommernachtstraum den zum Esel verwandelten Weber Zettel begrüßt, war auch für mich eine eben so zweideutige Phrase, da ich von meinen eigenen Reizen gar schwache Begriffe hatte.

Wie Eugenie von meiner Predigt über die Armuth nichts hören wollte, so war sie auch taub gegen meine Bitte, mich zu einigen armen Familien zu begleiten, denen ich in jeder Woche etwas zu bringen pflegte, bald Geld, bald Kleider, bald Essen, was ihnen gerade am nöthigsten that.

»Es riecht so gräßlich bei solchen Leuten, man bekommt es nicht wieder aus den Kleidern heraus. Mein Lehrer nannte diesen Geruch Buttersäure,« sagte sie und gab mir Geld, das ich dem »armen Volke« schenken sollte, nur sie selbst solle man in Ruhe lassen. Natürlich drang ich nicht weiter in sie, aber als ich eines Tages von einem dieser Besuche zurückkehrte, konnte ich nicht unterlassen zu erzählen, wie sehr mich die Noth und das Elend in einer jener Familien ergriffen hätte, in welcher die Mutter krank, der Vater auf Arbeit, und die kleinen Kinder sich selbst überlassen waren.

Eugenie schien kaum auf meine Erzählung zu achten, wie überrascht war ich deshalb, als ich einige Tage darauf wieder zu der armen Familie kam, zu hören, daß eine junge Dame dort gewesen und sie mit Geld und Sachen reich beschenkt, ja den kleinsten Knaben lange auf dem Schooße gehabt und ihm endlich eine kleine goldene Kette um den Hals geschlungen hatte, weil er gar so hübsch sei. Die Kette war von Eugenien, ich kannte sie wohl, und die ganze Beschreibung paßte auch auf sie. Aber erwähnen durfte ich gegen sie nicht, daß ich von ihrem Besuche wußte; schon bei meiner leisen Andeutung zuckten ihre Augenbrauen, das Zeichen ihres Verdrusses, und so schwieg ich, Freude und Bewunderung nur gegen die Tante aussprechend, welcher bei meiner Erzählung die Thränen in die Augen traten. »Wunderbares liebes Kind!« sagte Tante Ulrike, und ihr Herz erwärmte sich mehr und mehr für ihr zweites Pflegekind, in welchem täglich neue treffliche Eigenschaften erwachten.

Und dieser Besuch bei der armen Familie blieb nicht der einzige, den Eugenie machte. Nach und nach hatten sich eine ganze Anzahl armer Leute ihrer Gunst und Fürsorge zu erfreuen; aber durch wen sie diese Armen kennen gelernt, danach durften wir nicht fragen, wie es ihr denn überhaupt unerträglich war, sich beobachtet oder controlirt zu sehen. Tante Ulrike und ich fürchteten freilich nicht ohne Grund, daß Eugenie in ihrer Unerfahrenheit und Güte sicher so manchen thörichten Streich bei Beschenkung ihrer Armen begehen würde, und einzelne werthvolle Gegenstände, welche ich bald bei ihr vermißte, bestätigten unsere Vermuthung. Aber es war da nicht viel zu thun, wollte man Eugenien nicht den ganzen neu erwachten Wohlthätigkeitssinn wieder verleiden. Eines Tages aber gab sie selbst Anlaß zu einem Gespräche über derartige Dinge.

»Ich begreife nicht, Gänseblümchen, wo du das Geld hernimmst, um deine Armen zu versorgen,« sagte sie nachdenklich, als sie von einem ihrer Besuche heimkehrte. »Ich bin nun bald selbst so arm wie eine Kirchenmaus; aber hätte ich noch zehnmal mehr, es reichte doch nicht für all' das, was diesen Leuten fehlt.«

»Ich glaube, du beurtheilst die Bedürfnisse dieser Armen falsch, liebes Kind,« sagte die Tante, welche freundlich zu uns trat. »Von allem, was dir und uns zum täglichen Leben unbedingt nöthig scheint, bedürfen diese Leute nur einen geringen Theil. Wir sind verwöhnter, als wir es selbst glauben, und wären wir in solch' armen Familien aufgewachsen, wir brauchten nur den hundertsten Theil von all' dem, was wir jetzt für nöthig halten. Darum können wir auch mit kleinen Gaben in armen Häusern viel Gutes thun, denn die Bedürfnisse dort sind leicht zu befriedigen.«

»Aber Tante, das finde ich gar nicht!« rief Eugenie lebhaft. »Ich gebe und gebe, daß ich selbst nichts mehr habe, das ist aber alles wie ein Tropfen auf einen heißen Stein, immer brauchen die Leute noch etwas. Vor einigen Tagen komme ich z. B. zur Familie des Maurergesellen Franke. Ich fand sie gerade beim Mittagsbrod, sie saßen rings um den hölzernen Tisch herum, und aßen alle aus ein und derselben Schüssel. Das war mir schon ein schrecklicher Gedanke, nun aber sah ich die Löffel, mit denen sie aßen, und ich schrak ordentlich zusammen, denn es waren ganz alte, schwarze, halb zerbrochene Blechlöffel! Ich fragte, warum sie denn kein Tafeltuch auflegten, und jeder seinen Teller für sich habe, aber da sahen sie sich verlegen an, denn denkt nur, die armen Menschen hatten nicht ein einzig Tischtuch, keine Serviette, nur zwei Teller, und die waren aus braunem Thon, und nur diese abscheulich schwarzen Blechlöffel zum Essen. Ich ging denn sogleich mit Lisetten nach der Stadt, und kaufte eine Menge Teller und Schüsseln, drei Tischtücher mit Servietten, und ein halbes Dutzend silberne Eßlöffel, was ich alles den armen Leuten so eben hinschickte. Aber so geht es mir fast überall, die armen Menschen entbehren ja oft das Allernöthigste, doch wie wenig kann ich ihnen darin beistehen! Beim armen Schlosserhans fand ich die Frau neulich im Bette liegen, aber statt der Nachtjacke hatte sie ein altes Tuch umgeschlungen, Nachtzeug besaß die Aermste nicht. Statt der Matratze hatte sie nur einen Strohsack als Lager, und ihre drei Kinder lagen alle in ein und demselben Bette. Ich besorgte nun gleich allerlei Matratzen und Bettzeug und der Frau einen netten Anzug für die Nacht; aber solche Ausgaben haben mich ganz ausgebeutelt, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«

»Mein gutes Kind, erlaube mir, daß ich mich deiner Verlegenheit annehme,« sagte die Tante sanft und streichelte Eugeniens Wange. »Was du mir da erzählt, spricht für dein liebes Herz, aber ich kann dir nicht verhehlen, daß du auf einem falschen Wege bist, den Leuten Gutes zu thun. Was ich vorher schon sagte, finde ich bei dir bestätigt: du hältst Dinge für nöthig, welche dem Geringeren durchaus nicht als Bedürfniß erscheinen. Ich bin fest überzeugt, die Schlosserfrau trägt das feine Nachtzeug in eine Leinenhandlung, und läßt sich Geld oder derbes Leinen dafür geben, das ihr nöthiger ist, und das Tischzeug und Tafelservice bei Frankes liegt entweder unbenutzt im Kasten, oder geht denselben Weg, den die silbernen Löffel ohne Frage gehen, nämlich den, zu Geld eingewechselt zu werden.«

»Aber Tante, warum denn? Denke doch, wie nöthig die Leute diese Sachen brauchten und wie froh sie nun sein werden, endlich von einem Tischtuche und von weißen Tellern zu essen, sowie vor allen statt der abscheulichen schwarzen Löffel nun Silber in den Mund stecken zu können!« sagte Eugenie verwundert.

»Nein Kind, darin besteht eben dein Irrthum,« entgegnete die Tante lächelnd. »Du meinst, die Leute hätten diese Sachen bitter entbehrt, weil du sie entbehren würdest, wärest du an ihrer Stelle. Aber sie kennen es ja gar nicht anders, haben nie in ihrem Leben anders gegessen, und werden gar nicht wissen, was sie mit all' den Tellern und gar mit Servietten und Tischtuch anfangen sollen. Das Silber aber bedürfen sie nöthiger, als es in Löffelgestalt in den Mund zu stecken. Dazu dienen ihre alten Blechlöffel vortrefflich, und du darfst ihnen nicht zürnen, wenn sie jenes Silber in Geld verwandelt haben, damit sie dafür etwas anschaffen, was sie mit den schwarzen Blechlöffeln verzehren können.«

Eugenie war ganz gedankenvoll geworden, denn die Rede der Tante erschloß ihr eine ganz neue Ansicht dieser Dinge. Halb verlegen, aber doch endlich in ihrer gewöhnlichen neckischen Laune fing sie an über sich selbst zu spotten und sich lustig zu machen, und in liebenswürdig kindlicher Weise bat sie Tante Ulrike, ihr bei der Sorge für die Armen mit gutem Rathe beizustehen, damit sie den Frauen nicht zuletzt noch Blondenhauben und Tüllschleier und den Männern goldene Schnupftabaksdosen anschaffte als nothwendige Lebensbedürfnisse. Mit tausend Freuden versprach die gute Tante ihren Rath und Beistand, und so konnten wir in der Sorge für unsere Armen jetzt alle gemeinsam wirken. Eugenie entschloß sich mit der Zeit sogar, Röckchen und Schürzen für die Kinder selbst mit nähen zu helfen, und mit stillem Jubel erblickten wir eines Tages gar einen groben grauwollenen Strumpf in ihren feinen Händen, den sie für einen armen Tagelöhner eifrig zu stricken unternommen, nachdem Lisette ihr ihn eingerichtet.

12.
Allerlei.

Wie in meiner Erzählung, so verdrängte auch im täglichen Leben Eugeniens Eintreten in unseren Familienkreis fast alles andere, und wie ich diesem eigenthümlichen Mädchen zwei volle Kapitel gewidmet, so erfüllte sie unsere Gedanken und Gefühle in der ersten Zeit fast ausschließlich. Nach und nach jedoch kamen die durch sie erregten Wellen des täglichen Lebens wieder in ruhige Bewegung; Eugeniens absonderliches Betragen bereitete allmälig weniger störende und ärgerliche Auftritte, und sie schloß sich den Beschäftigungen etwas mehr an, welche Tante Ulrike's und meine Zeit ausfüllten. An meinen Lehrstunden mochte sie freilich keinen Antheil nehmen, davon sei sie bereits übersatt, wie sie sagte, und es war mir nicht unlieb, dieselben mit meiner lieben Marie ungestört weiter fort nehmen zu können.

Auch das Vorlesen, das die Tante noch regelmäßig mit mir fortsetzte, langweilte sie Anfangs zu Tode, und mir war es recht peinlich, in ihrer Gegenwart vorzulesen, da sie sich nicht genirte, mich wegen meiner schlechten Aussprache oder der falschen Betonung gründlich auszulachen. Aber die Tante verbot ihr bald dies Betragen, und eine Zeitlang mied sie unsere Lesestunden. Eines Tages jedoch erschien sie wieder und fragte, ob sie heute einmal mit lesen dürfe, und natürlich erlaubte die Tante es gern. Wir hatten gerade Götz v. Berlichingen angefangen, dies wunderbar edle kraftvolle Werk Goethe's, und mit wahrem Entzücken hörte ich nun, wie schön und ausdrucksvoll die herrliche Sprache des Dichters von Eugeniens Lippen floß. Sie las anders als die Tante, es war mehr jugendliches Feuer und ein wundervoller Klang in ihrer Stimme, während die Tante ernster und würdiger und ich möchte sagen, edler sprach, und mit aufrichtiger Bewunderung und Freude folgte ich ihren Worten.

Nun schien sie mit einem Male Gefallen am Vorlesen zu finden, denn von jetzt an war sie stete Theilnehmerin dieser genußreichen Stunden. Sie las abwechselnd mit der Tante und mir, und ihre Neckereien bei meinem Lesen hatten sich auf harmlose kleine Scherze beschränkt, welche ich herzlich gern ertrug und selbst mit belachte. So war sie eben. Man mußte ihr Zeit zur Ueberlegung lassen, nachdem man ihr den rechten Weg gezeigt hatte, und dann konnte man sicher sein, ihre gute Natur leitete sie zum Richtigen und Guten. Diese Ueberzeugung war es, welche die Tante tröstete und aufrecht erhielt in aller Sorge, die Eugeniens Betragen ihr bereitete, und ihr Herz war voll Dank gegen Gott, der ihr dies liebe Wesen an die Brust legte, ehe der gute Same von dem üppigen Unkraut erstickt wurde, das schon so hoch ringsum aufgeschossen war.

Eugenie selbst fühlte dies auch von Tag zu Tag mehr, und mit unendlicher Naivetät sprach sie diese Gedanken zuweilen selbst aus, freilich in ihrer wunderlichen Weise, die Dinge zu besprechen.

»Tante, welches von uns beiden Wickelkindern macht dir eigentlich die meiste Noth?« sagte sie wohl. »Gänseblümchen, der ungeleckte junge Bär, oder Eugenie, der Ausbund von Tugend und Ehrbarkeit? Gestehe es nur, das zweite Kind ist doch der größere Rüpel von Beiden! Doch was kann ich armer kleiner Käfer dafür, daß ich so lange in der Pfütze wühlen mußte, ehe ich sah, wo eigentlich guter Grund und Boden zu finden sei? Aber langweilig werde ich jetzt auf diese Weise und ehrpußlich und altbacken, gerade wie unsere alte Katze zu Hause, die auf ihre alten Tage keine Mäuse mehr fangen wollte, wahrscheinlich weil eine Tante Ulrike ihr ins Ohr geflüstert, es sei eine Sünde. Puh! wenn Mama mich jetzt sähe, wie ich mit meinem großen grauen Strickstrumpfe liebäugle, oder die kleinen schmutznasigen Bettelkinder abküsse, sie hätte ihre helle Freude daran und kaufte mich sicher gleich in den alten Weiberspittel ein, für den sie mich reif erklären würde.«

Und dann lachte sie in ihrer lustigen Weise und drehte mich mit sich im Kreise herum, daß man ihr gut sein mußte, man mochte wollen oder nicht.

Aber trotz ihrer eleganten äußeren Bildung kamen doch auch bei Eugenien allerlei Dinge zum Vorschein, welche Tante Ulrike tadelte, und die ich mir hinter das Ohr schrieb zur eigenen Beherzigung. So machte es z. B. Eugenien großen Spaß, zum Fenster hinaus zu sehen und auf der belebten Straße über die Vorübergehenden ihre lustigen Bemerkungen zu machen. Mich ergötzte dies ebenfalls nicht wenig, und so lagen wir Beide mit unsern Schultern weit zum offenen Fenster hinaus, um ja alles dort unten recht ordentlich zu sehen. Aber bald kam die Tante dazu und tadelte unser unpassendes Betragen, denn es gefalle ihr nie, wenn junge Mädchen nichts Besseres zu thun wüßten, als zum Fenster hinaus zu sehen; und nun gar den ganzen Oberleib in die Luft hinaus zu hängen sei ein Zeichen von wenig Anstand.

Ich zog mich wie ein begossener Pudel zurück, Eugenie aber lachte wie immer und sagte, die Tante fürchte nur, man werde ihr Schloß stürmen, um die darin gefangenen Schönheiten zu befreien, deshalb wolle sie uns den Augen der Welt entziehen. Aber sie that dennoch, wie die Tante geboten, und das offene Fenster sah uns von nun an stets nur für wenig Augenblicke.

Eine andere Unart Eugeniens, welche ich jedoch weniger mit ihr theilte, war der Gebrauch von starken Ausdrücken und unpassenden Worten. Es war wirklich komisch, wenn dies feine Dämchen ganz cavaliermäßig wetterte und derbe Betheuerungen und Ausrufe von dem lieblichen Munde flogen.

»Ich bin nun einmal ein halber Junge, was kann ich dafür!« entgegnete sie den hierauf bezüglichen Mahnungen der Tante, aber doch erklangen Kraftausdrücke wie: Donnerwetter, verdammt, höllisch und dergleichen mehr, viel seltener als früher. In dies Kapitel gehörte auch die häufige Anwendung des Namens Gottes und Christus, eine Gewohnheit, die leider sehr in der Welt verbreitet ist, und welche auch Eugenie oft genug gedankenlos im Munde führte. »Ach Gott Jesus! Mein Himmel!« so sagte sie aller Augenblicke, bis die Tante sie sanft und ernst darauf aufmerksam machte, welch' ein Mißbrauch des Heiligsten dies sei. Eugenie gab sich nun Mühe, auch daran beim Sprechen zu denken, obwohl sie Anfangs halb ernst halb lachend sagte, sie werde sich ein Pflaster auf den Mund kleben, denn hier rede sie keinem Menschen recht.

Mein Fehler hingegen war der, nachlässig zu sprechen, die Endbuchstaben wegzulassen, und was der Unarten mehr waren, welche gar viele junge und alte Menschen mit mir theilen. Eugenie sagte dann neckend, sie würde die Tante verklagen, daß sie mir nicht satt zu essen gebe, so daß ich aus Heißhunger Buchstaben verschlingen müsse. So hatte jede von uns ihre Fehler abzulegen, und gut war es, wenn wir über dem Splitter im Auge des Andern den Balken im eigenen nicht vergaßen.

Verwöhnte Menschen sind nachlässig in Bezug auf die Rücksichten, welche sie Anderen schulden, und so war es auch Eugenien ganz gleichgültig, ob Andere Grund hatten, von ihr eine Aufmerksamkeit zu erwarten oder nicht.

»Laßt mich in Ruhe, ich kann das Visitenschneiden nicht ausstehen!« war ihre regelmäßige Antwort auf die Erinnerung der Tante, daß sie dieser oder jener Dame einen Besuch schulde. »Die Leute sind mir ganz gleichgültig, ich mag gar nicht, daß sie sich um mich bekümmern.« Entschloß sie sich aber endlich, diesen Pflichten nachzukommen, so geschah es dann mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt, so daß sie alle Menschen entzückte. Die Tante war in solchen kleinen gesellschaftlichen Rücksichten ungemein streng und gewissenhaft, »denn,« sagte sie, »wer sich im Kleinen daran gewöhnt, Andere zu beachten, der wird auch in größeren Dingen nicht rücksichtslos gegen seine Nebenmenschen handeln.«

Diese Nichtachtung Anderer ward auch Ursache, daß Eugenie Dinge, die Andern gehörten, nicht schonte, und schon mehrfach war ihr daraus Aergerniß entsprungen. Einen schönen Shawl, den eine Dame ihr beim Nachhausegehen geborgt, hatte der Hund beschmutzt, so daß sie den Fleck nur mit großer Mühe wieder vertilgen konnte; einen entlehnten Regenschirm ließ sie irgendwo stehen, wofür sie natürlich einen neuen schicken mußte, und über ein wunderschönes Album Amanda's floß eines Tages das Oel der stürzenden Lampe, und verdarb nicht nur einige schöne Zeichnungen, sondern auch den Divan der Tante. Wohl ersetzte Eugenie sowohl Zeichnungen als Ueberzug durch andere noch schönere, aber sie hatte viel Mühe und Kosten davon, die sie durch Sorgfalt für anderer Eigenthum sich hätte ersparen können. Eben so nachlässig ging sie mit den Büchern um, die man ihr borgte, und die Tante sagte ihr sehr streng, sie solle sich nicht wundern, wenn man ihr keine fremden Bücher mehr anvertraue, da sie dieselben nie ohne verstoßene Ecken und beschmutzte oder eingekniffene Blätter zurück gab. »Es ist dies ein Zeichen von wenig Bildung, liebes Kind,« schloß die Tante ihre Rede, der Eugenie sehr nachlässig zuhörte, aber doch nahm sie von da an mehr und mehr Rücksicht sowohl auf andere Menschen, als auch auf deren Eigenthum.

Freilich ging sie auch mit ihren eigenen Sachen nicht sorgfältig um, und die Tante hatte viel Noth und Mühe, ihr beizubringen, wie unrecht dies sei. Der Gedanke, sparsam zu sein, indem sie ihre Sachen schonte, war ihr ganz fremd, und da sie eben so nachlässig als unerfahren in Verwendung ihres Geldes war, so erfreute es die Tante herzlich, daß Eugenie ihr volle Disposition über dieses Departement einräumte. Unter Tante Ulrike's Leitung lernte sie bald ihre Finanzen besser zu ordnen, aber freilich hatte sie trotz alledem stets große Lust, mehr auszugeben als sie einnahm.

»Ich muß einmal einen reichen Mann haben,« sagte sie oft, und mir schien allerdings, daß sie darin so unrecht nicht habe. Aber wenn sie nun einen armen bekam, wie dann?

»Den nehme ich nicht. Ich mag überhaupt gar keinen!« erwiderte sie auf diese Frage.

Eugeniens Sorglosigkeit in Betreff ihres Eigenthums erstreckte sich auch auf etwas, das ich nicht begreifen konnte, das war ihre Correspondenz. Ich hütete und verwahrte meine Briefe als meinen theuersten Schatz unter Schloß und Riegel, und es war das Zeichen von größtem Vertrauen, wenn ich jemand Einblick in meine Correspondenz gestattete. Eugenie hingegen schien gar keinen Werth auf ihre Briefe zu legen, denn diese trieben sich oft Tage lang offen auf den Tischen herum, und sie gebrauchte dieselben häufig als Umschlag für alle möglichen Dinge, oder drehte sie zu Haarwickeln für ihre schönen, braunen Locken zusammen.

Freilich schien in den Briefen, die sie von ihrer Mutter sowie von einigen Bekannten erhielt, wenig genug zu stehen, das des Aufhebens werth gewesen wäre, und von ihrem Vater kam sehr selten Nachricht. Diese wenigen Briefe allein schloß sie sorgfältig in ihre Mappe, und nach Empfang derselben war sie stets für eine Weile ernster und weicher gestimmt, als gewöhnlich. In dieser Beziehung bleibt mir immer eine Scene unvergeßlich, die von ihrem tiefen Gefühl Zeugniß gab.

Ich hatte mit unbeschreiblicher Sehnsucht auf die Ankunft eines Briefes von den Meinen gewartet, und mit lautem Jubel sprang ich deshalb dem Boten entgegen, der mir den theuern Ankömmling brachte. Es war ein Brief von meiner guten Mutter dabei, und deren treue, liebevolle Worte erschütterten mein Herz so unendlich, daß mir die Thränen über das Gesicht rollten, und ich voll inniger Liebe die glühendsten Küsse auf diese Schriftzüge drückte.

Eugenie hatte mir still zugesehen, auch sie hatte an dem Morgen einen Brief von ihrer Mutter erhalten, aber wie gewöhnlich trieb sich derselbe auf den Tischen im Wohnzimmer umher, ohne daß Eugenie seiner weiter achtete.

»Laß mich den Brief lesen, Gänseblümchen, thu' mir den Gefallen,« sagte sie jetzt in ihrer raschen Weise und griff nach meiner Mutter Brief. Ich überließ ihr denselben gern, und sie schob mir dafür das rosa Zettelchen hin, das sie von ihrer Mutter erhalten.

»Zu Thränen wird dich der freilich nicht rühren!« sagte sie dabei etwas spöttisch.

Ich trat in die Fensternische und studirte das flüchtig geschriebene Briefchen. Es enthielt nichts als einige Klagen über furchtbare Langeweile, über das schlechte Spiel der neu engagirten Opernsängerin und Berichte über die neuesten Moden. »Die Aermel trägt man jetzt wieder offen und die Kleider unten herum mit schmalen Volants besetzt,« so lautete ungefähr dieser wichtigste Gegenstand. »Versäume ja nicht, dir deine Kleider so ändern zu lassen, du wirst dann freilich neue Stickereien gebrauchen, aber dafür trage ich Sorge, damit du nicht wie aus dem vorigen Jahrhundert umher gehst. Du schreibst mir kein Wort über die dortigen Moden, und doch weißt du, wie begierig ich auf diese Mittheilung bin; denn finde ich etwas darin, das mir interessant erscheint, so trage ich es sicher, du weißt, wie oft ich schon in diesen Dingen den Ton angegeben und Furore gemacht habe! Die goldenen Blumen meines rothsammetnen Kopfputzes von vergangener Saison erregen noch immer den Neid der hiesigen Damenwelt. Ich hoffe, du vernachlässigst die Conservirung deiner Schönheit in keiner Weise, dies kann ich dir nicht genug empfehlen. Die Tropfen für den wohlriechenden Athem vergiß nie zu benutzen, wasche dich des Abends stets mit Mandelmilch, zu der ich dir ein neues Recept schicken werde, das die Haut noch frischer machen soll, und genieße ja nie zu heiße oder kalte Sachen, damit der Schmelz deiner Zähne nicht leide.« – So ging es noch eine Weile fort, dann war der Brief zu Ende. Unten am Rande stand noch die Bemerkung: »Papa ist wohl. Seine Briefe sind furchtbar langweilig. Schreibe mir ja, was moderner ist, ob Federn oder Blumen auf den Herbsthüten. Die farbigen Schuhe werden wieder sehr Mode.«

Ich war so überrascht und verletzt von dem Inhalt dieses Briefes, daß ich, ganz damit beschäftigt, nicht bemerkt hatte, wie Eugenie das Zimmer verließ. Den Brief meiner Mutter schien sie mit sich genommen zu haben. Ich wartete eine Weile, endlich aber ging ich nach Eugeniens Zimmer, um zu sehen, wo sie blieb.

»Sie können nicht hinein, Fräulein Gretchen, das gnädige Fräulein hat die Thür verriegelt,« sagte Lisette etwas bestürzt, als ich die Thürklinke ergreifen wollte. Ich ging also zurück und wartete. Nach einiger Zeit trat Tante Ulrike sehr ernst bewegt zu mir in das Zimmer und gab mir den Brief meiner Mutter zurück.

»Warst du bei Eugenie, Tante?« fragte ich schnell.

»Ja, Kind, warum?«

»Weil sie sich vorhin eingeschlossen hatte. Was gab es denn?«

»Das arme Kind ist von dem Briefe, den deine Mutter dir geschrieben, unbeschreiblich aufgeregt!« sagte die Tante, und die Thränen zitterten wieder in ihren Augen. »Sie ließ mich auf meine Bitte in ihr Zimmer eintreten, und ich fand sie in Thränen aufgelöst neben dem Briefe deiner Mutter.

»O Tante, Tante,« rief sie an meinem Halse, »was habe ich für eine Mutter!« Mehr konnte sie nicht sagen. Es war das erste Mal, daß ihr der nichtige Werth ihrer Mutter neben der edlen Tiefe der deinen so recht vor die Seele trat und das arme Kind durch und durch schüttelte. Ich ließ sie ruhig weinen und stellte ihr endlich vor, wie viel sie doch an ihrem guten Vater habe.

»Ja, mein Papa, mein einzig lieber Papa, wenn ich den nicht gehabt hätte, was wäre aus mir geworden!« schluchzte sie. »Aber ich kann so wenig bei ihm sein, er ist stets so mit Geschäften überhäuft und so viel über Mama's Launen verstimmt, und jetzt, ach jetzt ist er nun vollends so weit, so weit, und ich habe keinen Menschen auf der ganzen Welt, der mich so lieb hat wie Gretchens Mutter ihr Kind.« Ich hielt das arme Mädchen still an meiner Brust, und das beruhigte sie nach und nach. »Ja, Tante, du hast mich lieb, und Gretchen hat mich auch lieb!« sagte sie endlich weich und zärtlich, und ihr froher Muth gewann wieder die Oberhand. »Meine Trostesworte fanden Eingang in ihre Seele, und bald wird sie wieder bei uns sein frisch und fröhlich wie immer. Aber du siehst, mein Gretchen, was das arme Kind entbehrt hat, ohne daß sie es bis jetzt wußte; laß sie uns nun doppelt lieb haben.«

»Ja, Tante, das wollen wir!« sagte ich tief ergriffen, dann aber gab ich der Tante den Brief von Eugeniens Mutter, damit sie selbst lese, welch' schneidenden Contrast die Worte unserer Mütter bildeten. Tante Ulrike konnte während des Lesens ihren Unwillen kaum verbergen, und heftig, wie ich sie selten gesehen, warf sie den Brief auf den Tisch. »Armer, armer Bruder!« das war alles, was sie sagte, dann ging sie in ihr Cabinet, ich aber hatte Zeit genug, die Briefe meiner Lieben aus der Heimath wieder und immer wieder zu lesen und dem gütigen Gott zu danken, der mir so viel Glück durch die Liebe der Meinen geschenkt hatte.

13.
Der Ball.

»Nun Kinder, heute bringe ich euch eine Einladung, die euch Freude machen wird,« sagte Tante Ulrike eines Morgens, indem sie ein Briefchen hervorzog, das uns für den nächsten Montag zu einem Ball aufforderte, welcher zur Feier von des Königs Geburtstag in einem öffentlichen Locale gegeben wurde.

»Gott sei Dank, also tanzt man doch auch hier! Ich dachte, ich würde es ganz verlernen,« rief Eugenie vergnügt und schlug eine zierliche Pirouette. »Meine Ballkleider sind gewiß halb vermodert, so lange haben sie kein Lampenlicht gesehen. Gänseblümchen, was machen wir für Toilette? Ich lasse dir die Wahl und spreche wie Abraham zu Loth: »Willst du zur Rechten, so will ich zur Linken!« Willst du weiß oder blau oder rosa, oder was sonst? Egal wie Zwillinge oder Inseparables kleiden wir uns nicht, das ist mir zu zärtlich.«

Ich saß ganz still und fühlte nur, welch' heiße Gluth mehr und mehr durch meine Adern flog. Eugeniens Fragen hörte ich kaum. Ein Ball! Ich sollte auf einen Ball gehen! In größeren Gesellschaften war ich wohl schon einige Mal mit Tante Ulrike gewesen, aber auf einem Balle? Das war doch ganz etwas anderes! Einen Ballsaal hatte ich noch nie in meinem Leben betreten, und mein Herz zitterte und bebte vor Angst, Freude und Erwartung. Die Tante bemerkte endlich meine Aufregung und strich mir lachend über das Haar.

»Ich glaube gar, du hast jetzt schon das Ballfieber, Kleine!« sagte sie. »Nun warte, wenn nur erst dein Ballstaat fertig ist, so werden dir die Flügel schon wachsen. Ans Leben geht es nicht, beruhige dich nur!«

Eugenie war unerschöpflich in Neckereien über meinen Kleinmuth, denn da sie schon als Kind sich in den glänzendsten Gesellschaften bewegte, war ihr der Ballsaal ein so bekannter Ort, daß er ihr niemals Scheu oder Bangigkeit erregt hatte. Ich fand sie jetzt häufig in Berathungen mit Lisette, welche so vergraben unter Flor, Blumen und Bändern war, daß nur ihr Kopf über all' den Herrlichkeiten schwamm wie ein Schiff auf den Wellen. Eugenie litt aber nie, daß ich ihr bei diesen Conferenzen Gesellschaft leistete, denn kaum betrat ich ihr Zimmer, als sie mich mit den kostbarsten Blumen und Schmucksachen bombardirte, oder mich in dichte Wolken von Crêpe und Flor hüllte und mich zur Thür wieder hinaus schob.

Meine eigene Balltoilette gab mir auch allerlei zu thun; wenn mich auch Tante Ulrike höchst freigebig mit schönen luftigen Stoffen beschenkt hatte, so mußte ich doch bei Anfertigung meines Staates fleißig selbst mit Hand anlegen, denn die Tante sagte, was man selbst macht, hat doppelten Werth.

Das Kleid lag endlich zu meinem höchsten Entzücken fertig da, aber noch wußte ich nicht, welche Blumen ich in das Haar nehmen würde. Die Tante hatte mir selbst die Wahl überlassen, aber – Wahl macht Qual, ich konnte mich schwer bestimmen, und Marie, die ich um Rath und Hülfe bat, war nicht wohl und konnte mich beim Einkauf nicht begleiten.

Da brachte mir eines Morgens die Dienerin eine Schachtel mit der Meldung, hier sei der von mir bestellte Kranz. Ich wollte die Sendung nicht annehmen, da ich nichts bestellt hatte, doch mein Name stand auf dem Umschlag und voll Verwunderung öffnete ich den Kasten. Aber was fand ich darin? Einen dicken Kranz von frischen blühenden Gänseblümchen, wie ihn die Kinder auf der Wiese zusammen binden, und daran hing ein Zettel, auf welchem mit verstellter Hand die Worte aus Fanchon geschrieben standen,

»Ich gebe mit Entzücken
Dir selbst dich selbst zurück.«

Das war nun sicher wieder einmal ein loser Streich Eugeniens! Wo sie diese frischen Wiesenblümchen im Spätherbst aufgetrieben hatte, begriff ich nicht; doch das war mir gleich, der Scherz sah ihr ähnlich, verdroß mich aber doch gewaltig. Ich warf den Kranz ärgerlich wieder in den Kasten, da verschob sich aber das Papier, das unter den Blumen gelegen, und einige grüne Blättchen kamen darunter zum Vorschein. Ich nahm das steife Papier fort und vor mir lag nun der reizendste, duftigste Blumenkranz, der je den Laden einer Putzmacherin geschmückt hatte. Zarte Apfelblüthe, deren Blätter röthlich angehaucht waren, und zwischen deren Blüthen sich rothe Knospen und frische grüne Zweige hervor drängten, schlangen sich zum reizendsten Kranze.

Das also war des Pudels Kern! Eugenie wieder wie immer der Kobold, der sticht, um dann desto freundlicher zu schmeicheln! Denn daß Eugenie mir diesen Kranz ausgesucht, war jetzt vollends zweifellos. Voll Jubel wollte ich mit meinen Blumen zur Tante eilen, da trat Eugenie in das Zimmer, und dankend flog ich ihr an den Hals. Sie aber hielt sich schnell das Taschentuch vor das Gesicht und rief: »Puh! ich wittere sentimentalen Wiesenduft, gerade wie lauter Gänseblümchen!« und schnell eilte sie wieder zur Thür hinaus.

Auf diese Weise war ich also zum schönsten Blumenkranz gekommen, ohne daß ich mich weiter mit Zweifeln zu plagen hatte. Die Blumen und mein weißes Tüllkleid lachten mich an so reizend und duftig, als sollte Schneewittchen in dem Staate tanzen, Schärpe und weiße Atlasschuhe fehlten auch nicht, und was der zarten, zierlichen Dinge mehr waren.

Tante Ulrike hatte selbst die Leitung und Beaufsichtigung meines Anzugs versprochen, und so sah ich dem verhängnißvollen Montage etwas ruhiger entgegen, denn die schöne Toilette hatte mir wirklich etwas Muth eingehaucht.

»Alles sauber und rein, liebes Gretchen,« sagte die Tante, als sie kam, die kleine Balldame anzukleiden, und so mußte denn alles was ich anlegte, vom kleinsten Stück Wäsche an, frisch gewaschen und rein sein, und vor allem verbannte meine liebe Kammerfrau jedes farbige, dunkle Unterkleid als eines Ballsaales unwürdig. Als ich endlich vor den Spiegel trat, und mich in dem feinen weißen Kleide und dem duftigen Kranze erblickte, erschrak ich fast vor mir selbst, reicher und schöner konnte doch keine der Damen auf dem ganzen Balle gekleidet sein.

Aber siehe, da öffnete sich die Thür, und herein schwebte eine Fee – so wenigstens dachte ich im ersten Augenblicke, bis ich unsere schöne Eugenie erkannte. Von zartem rosa Flor umwebt, der mit frischen weißen Camellien über einem rosa Seidenkleide festgehalten wurde, einen Kranz weißer Camellien, zwischen denen einzelne Diamanten blitzten, in den braunen Locken, so schwebte die schlanke, zierliche Gestalt zu uns herein, und ich war ganz bezaubert von ihrer Schönheit.

»Ah, da ist ja unser Gänseblümchen, gerade als wäre es frisch von der Wiese gepflückt, weiße Blätter mit röthlichen Spitzen,« rief sie auf mich zueilend. »Wie sie niedlich ist, wahrhaftig, du wirst allen Schmetterlingen die Köpfe verdrehen!«

Lachend gab sie mir mit ihrem kostbaren Fächer einen Schlag auf die Schulter, dann warf sie ein Packet neuer Handschuhe auf den Tisch und fing an, darin zu wühlen und Paar um Paar anzuprobiren. Aber lange dauerte es, ehe sie zufrieden schien, und in ihrer Ungeduld zog sie so heftig an dem feinen weißen Leder herum, daß sie mehr als ein Paar zerrissen zur Seite warf.

Ich sah ihr staunend zu, denn das Paar Handschuhe, das die Tante mir für den Ball gekauft, lag sorgfältig gehütet neben dem feinen Taschentuche und wartete nur darauf, noch viel sorgfältiger über meine Finger gestreift zu werden; sie zu zerreißen war mir ein schrecklicher Gedanke, – ich hatte keinen zweiten Pfeil zu verschießen! Als ich Eugenien meine Gedanken sagte, lachte sie mich aus und schob mir das Packet zur Auswahl hin, denn daß man auch mit solchen Kleinigkeiten ökonomisch sein könne, war ihr eben so neu als unbegreiflich.

Endlich trug denn ein schaukelnder Wagen Tante Ulrike und ihre beiden Pflegekinder nach dem Ziele der Erwartungen. Ich klammerte mich fest an die Hand der Tante, als die Thüren des Ballsaales aufflogen, und wie ein Meer wogten die luftigen hellen Stoffe der Balldamen um mich her. Alles Ballfieber, das ich bis dahin kräftig zurück gedrängt, kam jetzt wieder über mich, und als gar einige strahlende, duftige junge Damen aus unserer Bekanntschaft auf uns zuschritten, wäre ich der Tante am liebsten in die Tasche gekrochen.

Doch o Wonne! jetzt erschloß sich der Himmel, denn in die Farbe des Aethers gehüllt, einen Kranz weißer Rosen in den blonden Locken, flog meine Freundin Marie auf mich zu, und an ihrer Hand athmete ich froh auf, nun war ich geborgen! Die ersten Töne der Tanzmusik brachten zwar wieder einiges Zittern in meine Glieder, aber bald hatte ich auch das überwunden, und die Wonne des Tanzes verdrängte alle anderen Gefühle.

Fröhlich musterte ich meine Tanzkarte, auf welcher ich alle Tänze als vergeben bezeichnen konnte, und so hatte ich doch nicht die traurige Aussicht, als Mauerblümchen an der Wand sitzen zu müssen, während alles um mich her tanzte. Ich begriff bald selbst nicht, welches Entzücken mich beseelte, während mich die Wellen des Tanzes dahin trugen; es war unbeschreiblich angenehm, sich nach dem Rhythmus der Musik zu bewegen, ich tanzte mit wahrer Wonne.

»O du liebe sechzehnjährige Unschuld,« lachte Eugenie mir zu, als ich während einer Pause mit glühenden Wangen zu ihr eilte und ihr mein Entzücken aussprach. »Wahrlich, ich könnte dich beneiden! Das tanzt noch mit voller Seele, während unsereins froh ist, in einer Pause sich verschnaufen zu können.«

Eugenie war die schönste der Damen, das stand außer Frage, sowohl was ihr Aeußeres, als was ihren Anzug betraf. Der Ballsaal war so recht der Ort, ihre Schönheit und Anmuth im vollen Glanze zu zeigen, und ich fand es nur zu begreiflich, daß sie stets von einer Menge junger Herren umlagert war, welche sich darum stritten, ihr die größten Huldigungen zu erweisen. Mir wäre an ihrer Stelle angst und bange geworden, Eugenien schien aber alles das sehr gleichgültig zu sein, denn mit Erstaunen bemerkte ich mehrmals, wie sie all' ihren Verehrern den Rücken kehrte und mit irgend einer der älteren Damen davon ging.

»Ja, sie ist einzig, dieses Mädchen,« sagte Marie. »Mein Bruder macht ihr wie alle Herren den Hof; aber entweder giebt sie ihren Verehrern spitze Antworten und entschlüpft ihnen wie ein Aal der Hand, oder sie spottet und lacht und kehrt ihnen den Rücken. Louise von Mering hat mir eben eine köstliche Geschichte von ihr erzählt, die auch dich ergötzen wird, Gretchen, höre nur! Der Lieutenant Schmettau, den alle Welt wegen seiner Albernheiten verlacht, steht neben Eugenien und sagt derselben so fade Schmeicheleien, daß Eugenie ungeduldig auf ihren Fächer beißt und ihre Blicke zerstreut im Saale umher schweifen läßt. Endlich blickt sie aufmerksam nach jener Nische, in welcher wir Beiden stehen, du und ich, und seelenvergnügt zusammen lachen und schwatzen. Eugenie lächelt auch unwillkürlich, und ihr süßer Galan hält es für seine Pflicht, ebenfalls zu lächeln und nach uns zu schauen. Eugenie wendet ihm ärgerlich den Rücken, und indem sie sich zu Louise Mering neigt, sagt sie auf uns deutend ziemlich leise: »Sehen sie doch, Louise, die Veilchen kichern und kosen!«

– »Und schau'n zu den Sternen empor!« schnarrt es plötzlich neben Eugenie, und mit einer tiefen Verbeugung steht abermals Lieutenant Schmettau lächelnd vor ihr, welcher, seinen rothen Schnurrbart kräuselnd, in dieser Weise das angeführte Lied Heine's ergänzt. – Das überstieg denn doch endlich die Langmuth unserer schönen Eugenie. Unwillig blickt sie sich nach dem unberufenen Schwätzer um, wirft den Kopf in den Nacken und sagt scharf:

»Es hüpfen herbei und lauschen
Die Lieut'nants wie die Gazell'n!«

Dann macht sie eine stolze Verbeugung und hängt sich an den Arm Louises, ein anderes Zimmer aufsuchend.«

Ich war entzückt über die Geschichte, fürchtete aber nicht mit Unrecht, daß die stolze Eugenie sich auf diese Weise allerlei Verdruß zuziehen würde. Was sie an spitzen Gegenreden oder sonstigem Ungemach erfahren mochte, das erzählte sie freilich nie, nur einmal während des Cotillon kam sie zu mir, warf ein wunderschönes Bouquet, das sie während des Tanzes erhalten, verächtlich in den Winkel und gab mir lachend einen kleinen Zettel, der zwischen jenen Blumen gelegen und auf dem die Worte standen:

Dein Zünglein sticht,
Drum Jeder spricht:
Dich mag ich nicht!

Erschrocken blickte ich Eugenien an, denn wie sehr mußte sie dies Spottgedicht ärgern, aber schelmisch lachend sagte sie: »Nicht wahr, den bin ich glücklich los, Gänseblümchen? Aber schaffe du dir angenehmere Verehrer an; es ist nicht gerade schmeichelhaft, sich auf diese Weise besingen zu lassen!«

Dabei schweiften ihre Blicke schalkhaft zu Dr. Hausmann hinüber, welcher sehr viel mit mir tanzte und soeben wieder herbei kam, mir einen der schönen Sträuße zu überreichen, welche im Cotillon unter die Damen vertheilt wurden.

»Er ist ja ein Freund meines guten Papa's,« sagte ich, verlegen Eugeniens Blicken folgend, aber doch fühlte ich, wie ich dunkelroth wurde.

»Ah so, verzeihe, ich meinte der Strauß sei für dich, nicht für deinen Vater. Aber du mußt das freilich besser wissen, Gänseblümchen!« sagte Eugenie lachend und schlug mich mit ihrem Fächer neckend auf die Finger. Dann nickte sie mir freundlich zu und trat mit ihrem herbeieilenden Tänzer wieder in die Reihe des Cotillon.

Solch' Cotillon ist ein wunderbarer Tanz. Endlos wie seine Dauer ist die Aufregung, in welche er die Tanzenden versetzt, denn hier kann aller Galanterie, allen warmen Gefühlen, Zu- wie Abneigungen Sprache und Ausdruck gegeben werden. Hier sind es ja nicht nur die Herren, welche, wie überhaupt im Leben, dergleichen Töne anschlagen dürfen, auch den Damen ist Gelegenheit geboten zu zeigen, wen ihr Herz begünstigt oder wem es nicht hold ist. Für die Damen gab es, wie ich schon gesagt, zierliche Blumensträuße, und den Herren wurden von den Tänzerinnen dafür kleine Orden angesteckt. Ich hatte schon mehrere Bouquets erhalten und war ganz stolz und glücklich. Doch nun sollte ich eine Wahl treffen, und wem hätte ich meinen niedlichen Orden lieber gegeben, als dem Freund meines Vaters, dem lieben Dr. Hausmann? Er hatte sich ja ohnehin ein Verdienst um mich erworben, indem er mich so häufig zum Tanz aufforderte, also war es nur ein Zeichen der Dankbarkeit, daß ich ihm den Orden gab. Aber doch klopfte mir das Herz gewaltig dabei, gerade als ob ich etwas Unrechtes thäte. Aengstlich blickte ich nach Eugenien hinüber und war herzlich froh, daß sie nicht bemerkte, wem ich meinen Orden brachte.

Spät erst kehrten wir heim, die arme Tante herzlich müde (denn Ballmutter sein ist keine Kleinigkeit), Eugenie noch immer unerschöpflich in Scherz und Uebermuth, ich aber wie berauscht von Entzücken, denn so vergnügt war ich noch niemals gewesen. Lange Zeit lag ich noch wachend im Bett und rief mir alles Erlebte noch einmal vor die Seele. Mir schien, das Backfischchen hatte sich heute außerordentlich gut benommen, denn keine Mahnung der Tante hatte, wie sonst wohl, gleich einem kalten Bade meine glühende Seele überfluthet. Ich war recht zufrieden mit allem, was ich gesprochen und gethan, süß drückte der Schlaf mir endlich die Augen zu, und im Traume schwebte ich noch immer fröhlich tanzend auf und nieder.

»Hör mal, Gänseblümchen, ich werde dir Tanzstunde geben,« sagte am andern Morgen Eugenie, als ich zu ihr in das Zimmer trat. Ich fand sie noch im Bette, obwohl auch ich der Ballfreuden wegen spät genug aufgestanden war.

»Tanze ich so schlecht, Eugenie?« rief ich erschrocken, denn ich meinte ganz hübsch getanzt zu haben.

»Ungefähr wie Mama's Schooßhund, wenn ich ihn auf die Hinterbeine stelle!« warf Eugenie leicht hin, indem sie sich gähnend streckte und reckte.

Ich ward dunkelroth und biß beleidigt die Lippen zusammen, Eugenie schloß die Augen und schien mich nicht weiter zu beachten, so daß ich ärgerlich wieder meines Weges gehen wollte. Da sang sie plötzlich halblaut:

»Mein Zünglein sticht,
Drum Gretchen spricht:
Dich mag ich nicht!«

»'s ist doch ein nettes Lied, nicht wahr, Gänseblümchen?« fuhr sie munter fort und setzte sich im Bette in die Höhe. »So tiefsinnig, läßt sich so leicht verändern und auf andere Dinge anwenden. Ja, so ein Lieutenant, es ist eine Pracht! Was für eine Fülle von Geist und Humor hinter solchem zweifarbigen Tuche steckt, man sollte es nimmermehr glauben.«

»Aber Alle sind sie ja doch nicht so, Eugenie,« sagte ich etwas versöhnt, denn sie hatte mich sicher nur wieder necken wollen. »Ich habe doch einige sehr angenehme junge Officiere kennen gelernt, fade Gecken giebt es auch unter anderen jungen Leuten genug.«

»Ich glaubte, du wärest mehr für den Lehr- als für den Wehrstand eingenommen, Kleine,« rief Eugenie blinzelnd. »Dein Ballorden stand dem hübschen Dr. Hausmann allerliebst.«

Mir schoß das Blut in die Wangen, also hatte Eugenie doch gesehen, wem ich meinen Orden gegeben! »Er hatte soviel mit mir getanzt, dafür mußte ich mich doch erkenntlich zeigen,« sagte ich etwas verwirrt.

Eugeniens schallendes Gelächter riß mich aus der verlegenen Situation, denn sie fand es über alle Maßen naiv und spaßhaft, einen Tänzer für die Gnade noch zu belohnen, die man ihm erwiesen, indem man mit ihm tanzte. Sie hatte eben eine so andere Auffassung von allen Dingen, daß ich manchmal ganz verdutzt vor ihr stand. Mit meiner lieben Marie harmonirte ich doch viel besser; sie blickte auch noch, wie ich, demüthig und schüchtern in die Welt hinein; Eugenie war über dergleichen »grüne Albernheiten«, wie sie unsere jugendlichen Ansichten nannte, hinweg, sie forderte viel, und die Natur hatte ihr reiche Mittel gegeben, wodurch sie auch viel erlangte. Aber für mich bescheidenes Backfischchen paßten auch bescheidene Ansprüche an Welt und Menschen, und darum ließ ich mich durch Eugenie nicht irre machen.

Ich hatte mich zwar sehr über Eugeniens Spötterei, meinen Anstand beim Tanzen betreffend, geärgert; aber ich schluckte meine Aufregung hinunter, denn ich wußte, sie meinte es im Grunde sehr gut mit mir, und sagte: »Im Ernste, Eugenie, jetzt gesteh' mir, tanze ich wirklich so schlecht?«

»Nun die Grazie liegt freilich bei dir noch in den Windeln, Kleine,« lachte Eugenie jetzt gutherzig. »Aber beruhige dich nur, selbst Tante Anstand war mit dir und deinem Anstand zufrieden, also raufe dir deine schwarzen Zöpfe noch nicht vor Verzweiflung aus. Aber in die Schule möchte ich dich noch ein Bischen nehmen, das kann dir nicht schaden, dich sowohl wie deine kleine Marie; denn was diese zu viel hinten über tanzt, das neigst du zu viel nach vorn, so daß eure Oberkörper einen richtigen spitzen Winkel bildeten, tanztet ihr neben einander. Und dann macht ihr alle Beide noch so himmlisch schulrechte Pas, gerade als stände Mr. le professeur de danse hinter euch und klopfte euch für jede Nachlässigkeit mit seinem Fidelbogen auf die Fußzehen.«

Mit Freuden unterwarf ich mich den Uebungen, die Eugenie noch an demselben Morgen mit meinen Füßen und Händen vornahm, und voll Jubel wurde auch Marie in Beschlag genommen, als sie kam, von dem gestrigen Balle mit uns zu schwatzen. Freilich war Eugenie eine sonderbare Lehrmeisterin, da sie endlosen Unfug bei unseren Uebungen trieb; aber doch lernten wir, was sie wünschte, nämlich uns etwas sorgloser zu bewegen und uns beim Tanzen hübsch gerade zu halten. Auch ein gutes Compliment zu machen brachte sie mir glücklich bei, und Tante Ulrike fügte dem allen noch die Lehre hinzu, den Gästen möglichst wenig unsere Rücken zukehren zu wollen, besonders solchen, denen wir als den Vornehmsten oder Bedeutendsten die meiste Beachtung und Höflichkeit schulden. Dies zu beachten habe ich aber, ehrlich gestanden, bis auf den heutigen Tag noch immer äußerst schwierig gefunden.

14.
Begegnung.

Diesem ersten Balle folgten im Laufe des Winters noch mehrere andere, so daß ich nach und nach meine Schüchternheit überwand, und die Tante mir das Lob ertheilte, mein Benehmen sei freier und leichter, als sie je erwartet habe. Neben Eugenien freilich kam ich mir noch immer wie eine Holzpuppe vor, doch ihre Anmuth war eben unerreichbar.

Ehe ich jedoch von unserem Zusammenleben weiter erzähle, muß ich eines Ereignisses gedenken, das in seinen Folgen sehr bedeutend wurde, so wenig es anfangs den Anschein hatte.

In das Haus Tante Ulrike's kam häufig ein armes Weib, das Eier, Gemüse oder Obst verkaufte, welche Produkte ihr kleines ländliches Besitzthum lieferte, und die von der Tante gut bezahlt wurden. Das arme Weib war aber krank geworden, und da die Tante sich selbst gern einmal überzeugen wollte, wie es bei ihr aussah, so benutzte sie einen der schönen Tage des Spätherbstes und fuhr mit uns nach dem Dorfe, in welchem die Frau wohnte. Es war alles wie uns beschrieben worden, Noth und Sorge in Menge, und die gute Tante machte sich mit den Kindern gleich allerlei zu schaffen, uns aber trieb sie hinaus, wohl wissend, daß Eugenie nicht lange hier aushalten würde.

So gingen wir Beiden denn auf den Wiesen und Feldern spazieren und freuten uns der einzelnen Blumen, welche der Frost noch nicht gewelkt hatte, sowie der wunderschönen duftig blauen Färbung, die Wald und Ferne bedeckte.

Am Saum des Waldes erblickten wir ein schönes, schloßartiges Gebäude, von stattlichen Wirthschaftsräumen umgeben, und um diesen Herrenhof genauer zu betrachten, schritten wir über eine Wiese, auf der eine Menge Kühe die letzten Reste an Gras und Kräutern abweideten. Ich hatte mich von Kind auf so viel unter den Thieren umher getrieben, daß ich keine Furcht vor ihnen kannte, Eugenie aber blickte sich ängstlich um, so daß heute einmal die Neckerei auf meiner Seite war. Plötzlich aber wurde auch ich aufmerksam, denn ein dumpfes Brummen sagte mir, daß der Stier bei der Heerde sei, und daß mit dem nicht zu spaßen, wußte ich wohl. Ich spähte nach dem Hirten, doch dieser war nirgends zu erblicken, und so ging ich schnell vorwärts, Eugenien nichts von meiner Besorgniß zu verrathen, denn von Weitem sah ich den gefürchteten Gesellen mit gesenktem Haupte sich uns nähern. Aber jetzt bemerkte auch Eugenie den Feind und erschrocken rief sie: »Der Stier! Der Stier!« und stürzte unaufhaltsam davon. Nun erst sah ich, daß ein rothes Tuch Eugeniens das Thier wahrscheinlich gereizt hatte, aber ich konnte sie nicht mehr erreichen und eilte ihr athemlos nach. Jetzt aber setzte sich auch unser Verfolger in Trab, und bald war er Eugenien so nah, daß diese voll Verzweiflung um Hülfe rief, und ich angstvoll zu ihrem Beistande hinzustürzte, obwohl ich wußte, daß meine Kräfte doch zu schwach waren, ihr zu helfen.

Da im letzten schrecklichsten Augenblicke, als das furchtbare Thier schon den Kopf neigt, um Eugenien mit seinen Hörnern zu fassen, trifft ein furchtbarer Schlag seine breite Stirn, so daß es betäubt zur Seite fährt. Taumelnd schlägt es seine Hörner so wüthend in einen dicken Baumstumpf, daß es wie gefesselt zusammenbricht und sich laut brüllend am Boden wälzt.

Eine hohe männliche Gestalt eilte nun von dem machtlosen Thiere fort zu Eugenie, welche kraftlos zur Erde sank, sobald sie sich von ihrem wüthenden Verfolger befreit sah. Auch ich war endlich an ihrer Seite und umschlang sie mit meinen beiden Armen, da Angst und Schrecken ihr alle Kraft geraubt hatten. Dankend blickte ich nun auf zu dem Retter, der im letzten Augenblicke uns so kräftig befreit hatte; aber schnell war derselbe, sobald er Eugenien durch mich versorgt sah, zu dem Stiere zurückgekehrt, dem er mit Hülfe des jetzt herbeikommenden Hirten die Hörner aus dem Blocke frei machte, und ihm den Kopf mit einem der Vorderfüße zusammenband, so daß er keinen Schaden mehr thun konnte.

Jetzt kam unser Befreier wieder auf uns zu, aber wie groß war meine Ueberraschung, als ich in ihm Baron Senft erkannte! Ich wurde blutroth und wußte vor Verlegenheit kaum einige Dankesworte hervorzubringen, und auch er war sichtlich überrascht und betroffen. Eugenie jedoch, welche sich schnell wieder erholt hatte, befreite uns aus der peinlichen Situation; denn mit warmen, feurigen Dankesworten reichte sie dem Baron die Hand und bat dringend, er möge uns zu Tante Ulrike begleiten, damit auch diese den edlen Mann kennen lerne, der ihr das Leben gerettet.

Der Baron wußte nicht recht, was er thun oder sagen sollte. Er blickte mich schnell an, und all' meine Verlegenheit niederkämpfend vereinte auch ich jetzt meine Bitten mit denen Eugeniens, und so begleitete uns der Baron denn zu dem Bauernhause, vor dem die Tante schon wartend stand, und nun eben so sehr durch unsere Erzählung überrascht wurde, als durch das Zusammentreffen mit unserem alten Bekannten. Aber hier in der freien Natur, nur umgeben von wenig heiteren Menschen, war der Baron ein ganz anderer. Seine steifen, verlegenen Manieren, welche im glänzenden Salon und unter so viel fremden, eleganten Menschen als so lächerlich auffielen, bemerkten wir jetzt kaum; die Jägerkleidung, welche er trug, stand ihm sehr vortheilhaft, und die Kühnheit und Stärke, mit der er Eugeniens Verfolger zu Boden geworfen, hatten ihn in all' seiner männlichen Kraft und Bedeutung hervortreten lassen. Er bat sich nun die Ehre aus, uns in sein Schloß führen zu dürfen, und mit Vergnügen folgten wir dieser Einladung. Ein schönes, altes Gebäude, umgeben von prächtigem Park und großartigen Wirthschaftshäusern, lag vor uns; das Innere des Schlosses war einfach, aber schön und gediegen eingerichtet, und Adel und Wohlstand ruhte auf dem ganzen Besitzthum.

Mir war sehr sonderbar zu Muthe, als ich diese Räume durchschritt. Dies alles hätte ich mein nennen, von all' diesem reichen, stattlichen Besitzthum hätte ich Herrin werden können! Dieser Gedanke drängte sich mir immer und immer wieder auf, ich sah ihn auch auf der Stirn Tante Ulrikes geschrieben, und hätte ihn auch wohl in des Barons Augen lesen können, hätte ich den Muth gehabt, ihn anzusehen, oder er mich. Aber sonderbar, statt daß mich dieser Gedanke niedergeschlagen, oder mir Bedauern und Reue über meine Thorheit erweckt hätte, fühlte ich im Gegentheil jetzt erst doppelt, wie ganz unmöglich es mir gewesen wäre, die Wünsche des Barons zu erfüllen, und wäre sein Schloß noch zehnmal schöner und kostbarer gewesen.

Unserem Wirthe machte es viel Freude, uns alles recht genau zu zeigen, und unsere aufrichtige Bewunderung der vielen köstlichen kleinen Alterthümer, woran das alte Schloß so reich war, regte ihn so an, daß er ganz lebendig und heiter wurde. Eugenie war in vollem Enthusiasmus über all' die herrlichen altmodischen Dinge, und ihr feiner Schönheitssinn fand reichlich Stoff zu aufrichtiger Bewunderung. Sie huschte und kletterte überall herum, untersuchte alle geheimen Thüren, Treppen und Winkelchen, wovon das alte Schloß einen ganzen Schatz barg, und war reizend und fröhlich wie ein ausgelassenes Kind. Der Schrecken, welcher sie zuerst bleich und erschöpft gemacht hatte, war jetzt ziemlich überwunden, und das zarte Roth ihres Gesichts machte sie nun schöner als je. Der Baron verfolgte sie unablässig, und sie war mit ihren Blicken so herzlich und unbefangen zu dem steifen Herrn, daß dieser alle Zurückhaltung abstreifte und mit ihr umher lief und kletterte, wohin sie wollte, so daß die Tante nicht so schnell nachkommen konnte, und ich mit ihr langsamer folgte. Eugenie gelangte endlich auch in ein kleines Zimmer oben im Thurm, und voll Staunen erblickte sie hier allerlei musikalische Instrumente und hohe Stöße von Noten. Besonders schön war ein Cello, doch auch ein kostbarer Flügel erregte ihre volle Bewunderung.

»Sie sind musikalisch, Herr Baron?« rief Eugenie lebhaft und deutete auf ein Notenheft, das aufgeschlagen neben dem Cello lag.

»Ein wenig, gnädiges Fräulein. Aber lassen wir das!« entgegnete unser Wirth verlegen und wollte Eugenien wieder herausführen, denn ihr Eindringen war ihm sichtbar unangenehm. Eugenie aber hüpfte vergnügt nach dem Flügel, und indem ihre Finger über die Tasten flogen, nickte sie dem Baron lächelnd zu.

»Hier werden Sie mich nicht wieder los!« rief sie fröhlich. »Kommen Sie nur, liebster Baron, begleiten Sie mich. Sie spielen Cello, das ist herrlich, wie lange Zeit habe ich dies liebe theure Instrument nicht mehr gehört! Wir werden unter Ihren Noten sicher etwas finden, das wir zusammen spielen können.«

Dem Baron half kein Sträuben. Hier in seinem Thurmstübchen, wohin er seine Kunst als in ein verborgenes Heiligthum geflüchtet hatte, von dem niemand etwas wußte, hier war der lustige, neckische Kobold Eugenie eingedrungen, und mit ihr fanden wir unseren guten Baron in der eifrigsten musikalischen Unterhaltung, als wir den Klängen folgend wieder mit ihnen zusammen trafen. Er spielte sein Cello meisterhaft, und es war ein großer Genuß, dem trefflichen Spiel der Beiden zuzuhören. Wir hielten uns in einiger Entfernung, um nicht zu stören, aber der Baron war bald so mit voller Seele bei seinem Spiel, daß die ganze Welt hätte zuhören können, es würde ihn nicht mehr genirt haben.

Nur ungern verließen wir das kleine Gemach, aber die Sonne neigte sich zum Untergange und mahnte an die Heimfahrt. Der Abschied von unserem guten Baron war so herzlich, als wären wir schon längst die besten Freunde gewesen, und wir erhielten von ihm sogar das Versprechen seines Besuches, sobald er nach der Stadt kommen würde. Oft mochte er aber wohl die Stadt nicht besuchen, denn in seiner schönen Besitzung fühlte er sich unendlich viel wohler, als unter den gewandten Stadtleuten, auch hatte ich ihn seit jenen verhängnißvollen Tagen nicht wieder in Gesellschaft getroffen, was mir natürlich nur lieb sein konnte.

Sehr verwundert war ich, mit wie viel Achtung, ja selbst Bewunderung Eugenie von dem Baron sprach. Sie schien ganz ausgetauscht, denn ihr kecker Muthwille, der sonst nichts schonte, hätte immerhin reichen Stoff zu Spöttereien finden können, so vortheilhaft sich der Baron ihr auch gezeigt hatte. Mir kamen deshalb so allerlei wunderliche Gedanken in den Sinn, die ich aber weislich für mich selbst behielt, und über meine einstigen Beziehungen zu unserem Retter schwieg ich nun gar erst sorgfältig. Nur gegen Marie sprach ich mir Herz und Seele frei, sie war ja meine Vertraute in allen Dingen.

Wenige Tage nach diesem unseren Abenteuer erschreckte uns die Nachricht, daß in dem Dorfe, in welchem Baron Senfts Besitzungen lagen, eine Feuersbrunst ausgebrochen und außer vielen Bauerhäusern auch Pfarr- und Schulhaus, sowie ein Theil der Kirche abgebrannt sei. Wir bedauerten das Unglück um so lebhafter, da wir so eben selbst noch in jenem Orte gewesen waren, und der Sammlung zum Besten der Abgebrannten steuerten wir reichlich bei. Glücklicherweise war unsere arme kranke Bäuerin von dem Unglück verschont geblieben, aber Schrecken und Angst hatten ihr Leiden arg verschlimmert. Durch sie erfuhren wir nun, mit welcher Aufopferung Baron Senft sich der armen Abgebrannten angenommen, wie thätig er selbst beim Löschen des Feuers gewesen, und wie er die Zuflucht sei für alle Bedrängten.

Eugenie nahm ungewöhnlich lebhaftes Interesse an diesem Vorfall, und sie sann ernstlich darüber nach, wie den armen Leuten kräftig zu helfen sei. Eine kleine Lotterie, welche Marie zu diesem Zwecke veranstaltete, behagte ihrem Geschmack wenig, obwohl sie wunderhübsche Geschenke dazu lieferte.

»Wir wollen ein Dilettanten-Concert arrangiren!« rief sie endlich entschlossen. »Das muß mehr abwerfen, als eure Nadelkissen-Lotterie mit den Silbergroschen-Loosen. Oder was meint ihr zu einer kleinen dramatischen Vorstellung? Meiner Ansicht nach würde das den Leuten Spaß machen, natürlich müssen die Billets mit Auswahl vergeben werden.«

Unsere Bedenken, daß solche Gedanken nicht ausführbar seien und gar zu viel Mühe machen würden, verwarf sie alle, und da Tante Ulrike nichts Unpassendes darin fand, indem wir ja für einen guten Zweck mit unseren Leistungen hervortreten wollten, so stand Eugeniens Entschluß fest: die Aufführung einiger kleinen Lustspiele zu arrangiren, denen einige musikalischen Leistungen vorangehen sollten.

Die sonst so bequeme, unthätige Eugenie war jetzt Feuer und Flamme. Theatralische Vorstellungen gehörten zu den Dingen, welche ihre Mutter sehr liebte und häufig veranstaltet hatte, und so wußte Eugenie mit dergleichen gut Bescheid, denn sie war sogar selbst einige Male mit aufgetreten. Von Büchern umgeben, wie ehedem vor dem Balle von Flor und Bändern, fand ich sie jetzt täglich in ihrem Zimmer, denn die Wahl der darzustellenden Stücke war sehr schwierig. Bald jedoch war ihr Entschluß gefaßt, und der Erfolg zeigte, daß sie sehr geschickt gewählt hatte.

Nicht ohne allerlei Qual und Mühe brachten wir unter unseren Bekannten das passende Personal für die Aufführung zusammen, und es bedurfte oft aller Liebenswürdigkeit, deren Eugenie fähig war, um die Herzen zu unsern Gunsten zu stimmen.

Endlich aber waren alle Rollen besetzt, ein passender Saal errungen, in dem eine nette Bühne erbaut wurde, und nun schritten wir rüstig zu dem Einstudieren unserer Rollen und der Herstellung der passenden Costüme. Wie in einem Taubenhause ging es jetzt den Tag über bei uns aus und ein, denn jeder wollte etwas anderes wissen. Eugenie hatte für alles Rath, und ich bewunderte dabei fortwährend, wie geschickt sie alle keimenden Streitigkeiten zu umgehen verstand. Bald fehlte hier ein Mieder, bald dort passender Besatz, bald stritt man, wie die Beleuchtung am Besten anzubringen sei, bald welche Decoration man wählen sollte. Dann wieder kamen Zweifel über die Betonung einzelner Worte, oder über die Art des Auftretens, kurz, Jeder hatte ein anderes Anliegen, und alle dem wußte Eugenie gewöhnlich schnell zu entsprechen, und die Tante half ihr, wo sie konnte. Mein Beistand war mehr untergeordneter Art, indem ich meine Finger in Bewegung setzte und fleißig die Garderobe in Stand brachte. Dabei lernte ich, daß mir der Kopf rauchte, denn trotz furchtbaren Sträubens war auch ich von Eugenien dazu verdammt worden, eine der Rollen zu übernehmen.

»Aber ich bin ja so hölzern, ich blamire euch alle!« jammerte ich vergebens.

»Ich werde dich schon zurecht stoßen, Gänseblümchen!« lachte Eugenie. »Du bist hier bei Tante Ulrike auf der Hochschule, und zur rechten Bildung gehört auch, daß man gelegentlich einmal Komödie mitspielen kann, also bin ich nur auf deine Ausbildung bedacht.«

So wenig ich nun auch mit diesem, als zur Erziehung nothwendigen Element einverstanden war, so mußte ich doch endlich nachgeben, wollte ich nicht eigensinnig erscheinen.

Eugeniens Plan, der Aufführung ein kleines Concert vorausgehen zu lassen, machte ihr fast noch mehr Noth, als die Besetzung der Rollen. Sie selbst wollte allerlei spielen und singen, aber einige andere tüchtige Kräfte mußten ihr zur Seite stehen, sonst ging es nicht. Amanda Delius hatte sich endlich bereit erklärt, etwas auf dem Flügel vorzutragen, da sie trefflich spielte, und Dr. Hausmann übte mit Eugenien einige Duette ein, aber noch fehlte eine Art Ouvertüre, welche das Ganze würdig einleitete.

»Ich hab's! Das muß gehen!« rief mir Eugenie eines Morgens entgegen und zeigte mir ein niedliches Briefchen, dessen Aufschrift lautete: »Sr. Hochwohlgeboren dem Herrn Baron von Senft, Erb- und Standesherrn auf und zu Senftenburg.«

»Nun mache nur nicht Augen, als wolltest du mich geradesweges verschlingen!« rief Eugenie und zog die Klingel. »Schnell den Brief in den Briefkasten,« sagte sie dann, Lisetten das Billet übergebend.

»Aber Eugenie, was thust du denn?« rief ich halb versteinert vor Verwunderung.

»Bah, ich bitte nur unseren guten Baron, für seine Abgebrannten einige Striche auf dem Cello als Beitrag zu liefern,« entgegnete Eugenie, sich etwas befangen abwendend.

»Auf dem Cello? Soll er bei unserm Concert mitwirken? Hast du ihn darum gebeten, Eugenie?«

»Nun ja, warum denn nicht? Er spielt ja so gut, warum sollte er nicht ein Trio mit mir und Maries Bruder ausführen? Ich übernehme den Flügel, Eduard die Geige und der Baron das Cello, das leitet die Geschichte prächtig ein.«

Ich schüttelte den Kopf und dachte, sie würde sicher eine ablehnende Antwort vom Baron erhalten. Aber o Wunder! schon am andern Tage erschien, etwas steif und verlegen zwar, aber doch lebendig und angeregt wie ich ihn nie gesehen, unser braver Baron. Welches Opfer es ihm mochte gekostet haben, seine Menschenscheu und Aengstlichkeit zu überwinden, das konnten wir nur ahnen, aber er hatte alles überwunden, und kam nun voll ängstlicher Beflissenheit, Eugeniens weitere Befehle zu vernehmen. Diese strahlte vor Freude und Dankbarkeit, und war ordentlich zärtlich zu ihrem neuen Freunde, der sich nun mit ihr bald so in die Auswahl eines passenden Musikstückes vertiefte, daß Tante und ich uns erstaunlich überflüssig vorkamen, gerade wie damals beim Besuch des Schlosses Senftenburg.

Als der Baron fort war, konnte ich meinen Muthwillen nicht unterdrücken und sagte recht fromm: »Wie gut ist es doch von dem Baron, daß er um des edlen Zweckes willen seine Schüchternheit überwindet und das Opfer bringt, mit dir zu spielen, Eugenie!«

Sie blickte rasch auf, bückte sich aber sogleich wieder und machte sich mit ihren Noten zu schaffen. »Hm, ja, sehr gut!« sagte sie zerstreut. »A propos, Gänseblümchen,« fuhr sie dann in ihrer alten neckischen Weise fort, »ich hätte dich nicht für so hartherzig gehalten, diesen guten Mann so grausam zu behandeln.«

Nun kam die Reihe an mich, roth und verlegen zu werden, denn es war mir gar sehr unangenehm, daß gerade Eugenie um diese Geschichte wußte. Eduard mußte sie ihr verrathen haben, denn Tante und Marie schwiegen darüber, dies Versprechen hatte ich von ihnen. Eugenie setzte ihren Muthwillen aber wunderbarer Weise nicht weiter fort, und ich meinerseits hütete mich nun wohl, sie durch Neckereien wieder zu reizen.

15.
Allerlei Neues.

»Eine Vorstellung zu wohlthätigem Zwecke«,

so waren die Eintrittskarten beschrieben, welche wir für den Abend, an dem unsere Vorstellung stattfinden sollte, austheilten. Alle Plätze im Saale wurden bald vergeben, und eine reiche Einnahme lohnte unsere Mühen. Aber mit welchem Herzklopfen sah ich den verhängnißvollen Abend herankommen, ein Ball war ja dagegen ein Kinderspiel und wahre Bagatelle! Doch was half alles Zagen; der Abend war endlich da, die Glocke ertönte, und langsam hob sich der Vorhang, der Bühne und Saal von einander trennte. Dumpfes Gemurmel drang aus dem Zuschauerraume bis hinter die Coulissen, in denen wir Spielenden lauschten, bald aber ward es still, und man vernahm die helle Stimme meiner lieben Marie, welche einen kurzen Prolog zu sprechen hatte. Sie bat darin, den Zweck unserer Darstellungen als Entschuldigung für unsere schwachen Leistungen gelten zu lassen und der Kritik, welche heute keine Einlaßkarte erhalten, ja nirgends den Zutritt zu gestatten.

Rauschender Beifall lohnte die heitere Rede, und so sehr ich meine Freundin anfangs bedauert hatte, daß ihr die schwere Aufgabe zu Theil geworden, zuerst und so allein aufzutreten, so sehr beneidete ich sie jetzt; denn sie war nun fertig und konnte ihre phantastische Kleidung, die ihr allerliebst gestanden, abstreifen und in Ruhe unserem Treiben zuschauen.

Nachdem Marie ihren Prolog beendet, erklangen die ersten Töne des Beethoven'schen Trio's, und lautlose Stille herrschte unter der Versammlung. Hohe Pflanzen und Blumen, welche Eugenie voll feiner Rücksicht auf die Schüchternheit ihres Cellospielers hatte aufstellen lassen, verdeckten zum Theil die Musiker, und hinter dieser duftenden Blumenwand führte das kunstfertige Kleeblatt nun das Musikstück zu Ende und erregte einen abermaligen Beifallssturm. Jetzt sang Eugenie ein schönes Lied, und des Baron's Augen strahlten, als er bei uns hinter den Coulissen erschien; all seine Sinne schienen sich in dem einen des Gehörs zu concentriren, mit dem er Eugeniens Gesang lauschte. Er kam erst wieder zu sich, als das Lied zu Ende war, und Amanda dem Gesange ein prächtiges Concertstück folgen ließ. Dann schloß ein Duett, von Eugenien und Dr. Hausmann gesungen, den musikalischen Theil der Unterhaltung.

Nun aber kam der schreckliche Moment: unsere Aufführung mußte beginnen! Wir gaben das heitere Lustspiel Kotzebue's: »Der gerade Weg ist der beste.« Ich hatte die Rolle der jungen Predigerwittwe, welche mit der erledigten Pfarre zusammen vergeben werden soll, und ein sehr heiteres, nicht mehr ganz junges Mädchen übernahm die Rolle der Haushälterin, welche zur Prüfung der Bewerber als diejenige Dame vorgeführt wird, die mit der Pfarre in den Kauf genommen werden soll. Ein alter Major, von Dr. Hausmann mit Perücke, langer Pfeife und angemalten Runzeln prächtig dargestellt, ist Patronatsherr und hat die Stelle zu vergeben, und bei ihm melden sich nun zwei Bewerber. Der eine hat viel Fürsprache und steckt sich hinter alle möglichen Personen, die zu seinen Gunsten sprechen sollen; auf die Bedingung, die Alte zu heirathen, geht er augenblicklich ein, besonders da er hört, sie habe Geld. Der andere Bewerber ist ohne Fürsprache und wendet sich direct an den Major, die Bedingung aber, gleich die Pfarrerin mit in den Kauf zu nehmen, bestimmt ihn, ohne noch dieselbe gesehen zu haben, von der Bewerbung zurück zu treten, bis er denn endlich erfährt, daß die ihm Bestimmte seine frühere Liebe ist, um derenwillen er nie heirathen wollte. Daß er Pfarre und Frau nun bekommt, ist keine Frage, und alles endet vortrefflich.

Leichter als meine ehrbare Rolle der jungen Wittwe war die der alten Haushälterin, deren Auftreten großen Jubel erregte; denn eine ungeheure Haube mit faltenreichen Strichen, sowie eine köstlich altmodische, blumige Contusche gaben ihrer gezierten, selbstgefälligen Erscheinung etwas unbeschreiblich Komisches. Ueberdies spielte sie ausgezeichnet gut.

Trotz meiner Angst und Sorge ging unser Spiel trefflich von statten, keins blieb stecken, der Souffleur that löblich das Seine, und alles fügte sich nach Wunsch in einander. Mir wurde zwar anfangs ganz heiß und drehend, als ich meine Blicke von der Bühne fort nach dem zahlreichen Publikum wendete, aber auch das verging, und der Muth wuchs beim Spiel. Daß auch wir reichen Beifall und Hervorruf ernteten, freute uns sehr, und selbst Eugenie gab mir das Lob, ich sei »ganz passabel« gewesen, ganz die »ehrpußliche kleine Gänseblume, die diese Pastorfrau sein müsse.«

Diesem unserem Lustspiel folgte nun noch ein anderes, das dem Ganzen die Krone aufsetzte, obwohl nur zwei Personen darin auftraten. Es war das reizende Genrebild von Schneider: »Der Kurmärker und die Picarde,« und Eugenie als graziöse Französin, sowie Eduard in der Rolle des braven Soldaten übertrafen alle Erwartungen. Der zierlichen Gestalt Eugeniens schmiegte sich das kleidsame, französische Kostüm trefflich an, und die hohe Mütze der Picarde stand dem schönen Mädchen zum Verlieben hübsch. Der Inhalt des Stückes ist unbedeutend: die niedliche Französin weiß durch Anmuth, Tanz und Schmeichelei den gros lourdand prussien sich günstig zu stimmen, und dieser wieder gewinnt durch treuherzige Gutmüthigkeit die Gunst der Feindin, so daß die Beiden als die besten Freunde von einander gehen. Das bekannte ergötzliche Lied: »O Tanneboom, o Tanneboom, wie grün sind deine Blätter!« sang Eduard so voller Humor, und ließ dabei doch den einfachen ergreifenden Ernst so hindurch fühlen, daß er uns alle tief rührte, und uns selbst die Thränen im Auge standen, als der Gesang des braven Soldaten, vom Schmerz des Heimweh's erstickt, mit Schluchzen endete. Eugeniens zierlicher Tanz im Gegensatz zu den plumpen Sprüngen des guten Deutschen war allerliebst, sie erntete grenzenlosen Beifall und »mon brave« mit ihr.

So war denn alles gut und ohne erhebliche Störung abgelaufen; unsere Aufführungen hatten ungetheilten Beifall gefunden, wir selbst trotz vieler Mühe auch viel Vergnügen dabei gehabt, und, was die Hauptsache, unser Zweck, eine Unterstützung für die Abgebrannten zu erlangen, war glänzend erreicht, denn voll Freude konnten wir den Händen des Barons eine hübsche kleine Summe zur Vertheilung übergeben.

Die Unruhe und Aufregung, in welcher dieser Abend uns Alle eine Zeitlang versetzt hatte, wich nun wieder dem ruhig gleichmäßigen Gange des täglichen Lebens. Der Winter mit seinen langen Abenden versammelte uns meist in Tantes behaglichem Wohnzimmer, dessen »himmlisch altmodische Meubles« jetzt auch der leichtfertigen Eugenie lieb wurden, wie überhaupt unser ganzes behaglich ruhiges Leben. Ein solches kannte sie eigentlich gar nicht, denn ihrer Mutter erschienen die Tage, an denen sie kein Vergnügen vorhatte, völlig verloren, eine trauliche Häuslichkeit war ihr zuwider. Zum Glück lag in unserer Eugenie eine völlig andere Natur, und die tiefe Innerlichkeit ihres Gemüthes gewann mehr und mehr die Herrschaft über ihre bisherigen leichtsinnig weltlichen Neigungen. Uebermüthig und wunderlich blieb sie dabei freilich noch immer, und das verwöhnte Kind schaute noch überall hindurch, aber man mußte doch seine Freude an ihr haben, sie war trotz allem ein gar liebes Geschöpf.

Ihre große musikalische Begabung verschaffte uns in den langen Winterabenden gar manchen Genuß, und in Folge ihrer steten Ermuthigung versuchte auch ich nach und nach, meine kleinen Talente im Klavierspiel und Gesang unter ihrer Leitung zu vervollkommnen. Marie leistete uns häufig Gesellschaft, und auch ihr Bruder Eduard, sowie Dr. Hausmann gehörten zu der frohen traulichen Gesellschaft, die Tantes Wohnzimmer gar häufig belebte. Bald gewannen wir noch ein Mitglied zu unserem kleinen Kreise, und das war unser neuer Freund: der Baron Senft. In großer Gesellschaft sahen wir ihn nie, und auch unser kleiner Kreis schien ihn anfangs zu beängstigen, die Musik aber half ihm bald über alle Bangigkeit fort. Eugenie hatte eine so feine, angenehme Weise, sein linkisches Benehmen zu ignoriren und ihn dreister und unbefangener zu machen, und Tante Ulrike war so herzlich und zutraulich gegen ihn, daß die starre Rinde bald schmolz, und man ihm mehr und mehr Behagen und Wohlsein anmerkte. Dr. Hausmann, der große Reisen gemacht hatte, verstand sehr hübsch von denselben zu erzählen, auch Eduard unterhielt gut, und bald zeigte es sich, wie gebildet und unterrichtet auch der Baron war, dessen Kenntnisse bisher unter Schloß und Riegel gelegen hatten; denn Niemand vermuthete sie bei dem scheuen, stillen Landedelmanne, der jetzt oft ganz lebhaft und gesprächig wurde.

Marie theilte mit mir die feste Ueberzeugung, daß der Baron in Eugenien bis über die Ohren verliebt war, denn man hätte blind sein müssen, um das nicht zu sehen. Wie aber Eugenie dachte, konnte man freilich nicht so deutlich wissen; ihr neckisches Wesen machte sie unberechenbar, und sie entschlüpfte flink und gewandt, wollte man sie etwas fester und schärfer fassen.

Aber doch sprach gar Vieles dafür, daß auch sie den Baron gern hatte. Es war unbegreiflich, aber es war so: der wunderliche, steife, scheue Menschenfeind gefiel unserer schönen, eleganten, in jeder Weise verwöhnten Eugenie besser, als irgend ein anderer Mann unserer Bekanntschaft. Sie vertheidigte ihn stets, hob stets alles hervor, was zu seinen Gunsten sprach, und vor allem: sie spottete und lachte nie über ihn, so viel Stoff er ihr auch dazu liefern mochte; und jetzt erst fühlte ich so recht die Wahrheit jener Worte, die Tante Ulrike einst sagte: Spott ist schlimmer als Tadel. Ein Mädchen wird leichter einen Mann heirathen, an dem sie allerlei zu tadeln fand, als einen, über den sie sich lustig gemacht und den sie verspottet hat.

Auch ich lachte jetzt nicht mehr über unseres guten Barons linkisches Wesen, denn mehr und mehr lernte ich ihn wegen seines trefflichen Charakters achten und seinen inneren Werth anerkennen. Aber freilich muß ich gestehen, daß mir anfangs ihm gegenüber nicht sehr behaglich zu Muthe war, und ich gewiß in linkischen Manieren mit ihm wetteiferte; denn es ist ein sehr peinliches Gefühl, dem Manne gegenüber zu stehen, dem man – einen Korb gegeben. Zu meiner Freude schien der Baron viel leichter darüber fort zu kommen, denn er ignorirte mich bald vollständig, wenn sich Eugenie neben mir befand; sie war die Sonne, nach der er schaute, sie liebte und verehrte er mit aller Innigkeit seines Herzens, – mich hatte er ja nur heirathen wollen, weil er glaubte, ich liebte ihn; das war ein Irrthum, und somit war er seiner Verpflichtungen gegen mich entbunden.

Aber der arme schüchterne Baron war sehr schlimm daran! Woche um Woche verging, schon wich der Winter dem warmen Hauche des kommenden Frühlings, aber immer noch standen die Sachen auf demselben Flecke; denn die Furcht, auch von Eugenien abgewiesen zu werden, band des armen Barons Zunge. Er wagte nicht dem schönen, bedeutenden Mädchen zu gestehen, wie sehr er sie liebe. Hätte er sich abermals geirrt, wäre er auch ihr gleichgültig, wie er mir war, so stürzte sein Wünschen und Hoffen in bodenlosen Abgrund und nahm alles mit, was ihm jetzt Freude und neues Leben brachte.

Diese Gedanken standen so deutlich auf seiner Stirn, daß ich mir von Neuem die bittersten Vorwürfe über meine Thorheiten machte, die noch jetzt solche Früchte trugen. Ein Gespräch mit Eduard zeigte mir aber erst ganz, wie begründet solche Gedanken waren.

»Fräulein Gretchen, Sie könnten sich ein rechtes Verdienst erwerben,« sagte Eduard eines Tages zu mir, als ich bei seiner Schwester Maria war.

»Ein Verdienst, um wen denn?« fragte ich verwundert.

»Nun, um wen sonst, als um Ihren einstigen Verehrer, den Baron Senft,« entgegnete Eduard.

»Er ist nie mein Verehrer gewesen und hat jetzt ganz andere Gottheiten, denen er huldigt!« sagte ich lachend.

»Aber Sie haben ihn doch einmal bitter enttäuscht und gekränkt, dafür sollten Sie ihm wirklich Gutes erzeigen.«

»Herzlich gern, aber wie kann ich das?«

»O die Damen verstehen sich ja so trefflich darauf, Verborgenes zu enträthseln. Wollen Sie nicht einmal das Herz Ihrer schönen Cousine sondiren, damit Sie erfahren, wer der Glückliche ist, dem sie ihre Gunst zuwendet?«

»Das ist eine furchtbar schwere Aufgabe, lieber Freund! Eugenie schimmert wie ein Kolibri stets in anderen Farben, und durchschaut meine Absichten zehn Mal, wenn ich den Versuch machen wollte, sie zu durchschauen.«

»Sie thäten aber ein gutes Werk, Gretchen,« sagte Eduard, jetzt ernst werdend. »Unser armer Baron stirbt fast vor Liebe zu Eugenien; aber die bittere Erfahrung mit Ihnen hat ihm allen Muth geraubt, je wieder einem Mädchen seine Hand anzutragen. Ich bot ihm meine Hülfe dazu aus freien Stücken an, aber angstvoll bat er mich, keine Schritte für ihn zu thun, denn Eugeniens Weigerung würde ihn auf ewig unglücklich machen. Aber was soll daraus werden, wenn er sich nie erklärt?«

»Nun ich will das Meine thun, Eugenien zu erforschen, ich verspreche es Ihnen!« sagte ich seufzend. »Ich glaube zwar bestimmt, daß sie des Barons Neigung erwiedert, aber in wie weit, das weiß ich freilich nicht, sie ist ein gar zu wunderliches Mädchen.«

Aber wie schwer war diese Aufgabe, die ich übernommen! Ich suchte oft das Gespräch auf den Baron zu bringen, doch was half mir das, ich kam keinen Schritt weiter.

»Findest du nicht, Eugenie,« sagte ich z. B. einmal, »daß der Baron eigentlich ein recht interessantes Gesicht hat, besonders wenn die Musik ihn belebt?«

»Ich finde ihn sehr häßlich, er mag musiciren oder nicht!« entgegnete Eugenie trocken.

»Ja, seine Manieren sind nicht schön, das muß ich auch gestehen,« warf ich ein.

»Was thut das!« sagte sie rasch. »Meinetwegen mag er so steif sein, als er Lust hat, ich will ja nicht mit ihm tanzen! In der Unterhaltung ist er nicht steif, das ist besser als umgekehrt.«

So machte sie es immer: tadelte ich, so lobte sie ihn, sagte ich aber etwas Günstiges, so war ihr das auch nie recht.

»Der Baron muß doch sehr reich sein!« begann ich dann wieder einmal mein Manöver. »Aber wie schade, daß er so allein in dem schönen alten Schlosse wohnt.«

»Nun warum hast du es denn abgeschlagen, ihm dort Gesellschaft zu leisten, wenn dir seine Einsamkeit so leid thut?« lachte Eugenie. Ich wurde dunkelroth, überwand aber meine Verlegenheit und sagte muthig: »Es giebt genug andere Mädchen, die recht gern seine Frau würden; glaubst du nicht auch?«

»Das kann wohl sein!« entgegnete Eugenie ihre Locken über den Finger drehend. »Nur gerade du solltest ein Gericht nicht anderen preisen, von dem du selbst nicht essen mochtest. O du unmenschlich kluges Gänseblümchen, denkst du, ich werde in deine Falle gehen?«

Mir ein Schnippchen schlagend tanzte sie singend davon, und ich war ärgerlich über meine Dummheit, die so plump mehr verdarb als gut machte.

Endlich eines Tages, als der Baron lange bei uns gewesen, faßte ich mir ein Herz und sagte ernst: »Eugenie, ich glaube, der Baron liebt dich über alle Maßen; aber er ist zu schüchtern, es dir zu sagen; du solltest es ihm deutlicher zeigen, wenn du seine Neigung begünstigst, damit der arme Mann weiß, woran er ist.«

Eugenie sah mich einen Augenblick ganz verwundert an, dann lachte sie laut auf und sagte: »Hat er dich etwa damit beauftragt, du mitfühlende Seele? Ich glaube beinahe. Aber Schätzchen, ich will es dir nur gestehen, die Wahl seiner Gesandtin war nicht viel glücklicher, als die des schlauen Klosterbruders im Nathan; es fehlt nur, daß du dessen Rede: »so sagt der Patriarch« in: »so sagt der Herr Baron!« verwandelst. Uebrigens, mein Gänseblümchen,« fuhr sie schmeichelnd fort, als sie sah, daß ich mich verletzt fortwandte, »übrigens werde ich deine weisen Lehren beherzigen! Schade nur, daß wir nicht im Lande der Amazonen leben, da hätte der schüchterne Herr Baron es bequemer. Wenn wir nur wenigstens Cotillon zusammen tanzten,« sagte sie neckend, »da könnte ich ihm doch noch einen Orden bringen, und ihm zeigen, daß er mir der liebste von allen Herren der Schöpfung wäre! Nicht wahr, Gänseblümchen? Ach wem brachtest du doch neulich auf dem ersten Balle den Cotillonorden, war es nicht Eduard? Ach nein, wer war es doch?« –

»Geh, laß mich in Ruhe, du abscheuliches Mädchen!« rief ich ärgerlich und doch lachend. »Mit dir binde der Kuckuk an, ich habe es satt!«

»Nun das ist prächtig, da habe ich doch endlich Ruhe vor dir und deinen Verschwornen,« lachte Eugenie. »Doch,« fuhr sie munter fort, »damit dein armes Herzchen vor Jammer und Mitleid nicht breche, will ich es dir nur gestehen, daß ich den Baron wirklich sehr gern habe. Nun aber geschwind, mach' daß die Andern es erfahren und durch sie der arme Baron, sonst hat er am Ende vorher noch den Heldenmuth, mich selbst danach zu fragen, und euer Triumph, die Sache vermittelt zu haben, fällt über den Haufen. Das wäre doch jammerschade! Nun, hörst du nicht, Schätzchen? Lauf und mach', daß er es erfährt! Glaubst du es denn noch nicht, wenn ich es dir in trockenen Worten sage: ich liebe ihn? Oder warum machst du wieder deine verwunderten Wickelkindaugen?«

Ja, verwundert stand ich allerdings da; denn was ich auf Umwegen nicht herauslocken konnte, das sagte das wunderliche Mädchen mir in wenig trockenen Worten, als ich es am wenigsten erwartet hatte. Jubelnd fiel ich ihr um den Hals, aber das konnte sie ein für allemal nicht leiden und lief scheltend davon, ich aber stürzte mit meiner Neuigkeit zu Marie, und mit dieser zu Eduard. Sobald er irgend konnte, wollte Eduard selbst zu dem Baron hinaus eilen, ihm die frohe Kunde zu bringen, um dann den Brautwerber für den Freund zu machen. Auch Tante Ulrike wurde nun in das Geheimniß gezogen; sie hatte alles längst geahnt, und freute sich der nun hoffentlich bald stattfindenden Vereinigung, welche sie sehr wünschte.

»Aber liebe Tante,« sagte ich kopfschüttelnd, als ich erfuhr, daß dieser Wunsch lange schon ihr Herz bewege, »glaubst du denn wirklich, daß Eugenie den Sonderling so liebt, um für das Leben glücklich zu werden? Sie sind doch zu verschieden!«

»Das schadet nichts, mein Kind,« entgegnete die Tante lächelnd. »Wie ich Eugenie nach und nach kennen gelernt habe, weiß ich, daß ihr tiefes Gemüth den hohen Werth dieses Mannes all seinen Wunderlichkeiten vorziehen, diese aber in ihrer leichten, graziösen Weise übersehen, ja anderen gegenüber verdecken wird. Bei seiner Verehrung für alle Eigenschaften Eugeniens, sie mögen heißen wie sie wollen, wird sie freilich ihr Lebenlang das verwöhnte Kind bleiben, das sie ist; aber da ihr in der äußeren behaglichen, ja glänzenden Lage, in die sie des Barons Reichthum versetzt, die Mittel nicht fehlen werden, alle Launen zu befriedigen, so mag sie immer bleiben, wie sie ist, wenn sie dabei nur ferner so gut und liebenswürdig sein wird, als sie jetzt geworden.«

Eugeniens Geständniß hatte ich in den Morgenstunden von ihr erhalten, den Tag über sprachen wir Beide kein Wort weiter darüber, Eugenie blieb viel in ihrem Zimmer, und mir war das sehr angenehm. Aber in der Dämmerstunde sah ich sie zu Tante Ulrike gehen, und endlich kam sie zu mir in die Wohnstube und sagte: »Gänseblümchen, da du doch hier auf der Hochschule bist und alles lernen sollst, so kannst du nun auch Studien machen, wie man sich als Braut in der Welt zu benehmen hat.«

Ich wußte nicht, was ihre Rede bedeuten sollte, und da ich wieder eine Neckerei dahinter vermuthete, sagte ich abwehrend: »Laß doch nur solche Späße, Eugenie, sie passen so wenig für mich!«

»Das ist mir ganz einerlei, ob es dir paßt, Kleine, wenn's mir nur paßt!« lachte sie. »Und Spaß mache ich ja gar nicht, es ist mein bitterer Ernst!«

»Meinetwegen, mir aber liegen solche Gedanken fern!« sagte ich ärgerlich.

»Nein, ich behaupte aber, sie liegen sehr nahe!« erwiederte Eugenie lustig. »Du meinst von mir so manches lernen zu können. Nun, jetzt kommt zu meinen übrigen Tugenden noch eine hinzu, und das ist die, mit Anstand Braut zu sein!«

»Eugenie, wie? du bist Braut?« fuhr ich überrascht empor. »So hat der Baron doch von selbst den Muth gehabt, sich dir zu erklären?«

»Der Baron! Nein, wer sagt das?« entgegnete Eugenie lachend.

»Nun eins mußte sich doch zuerst erklären, du hast doch nicht etwa....« stotterte ich blutroth.

»Ich? Ich habe nichts weiter gethan, als die Rathschläge meiner trefflichen Cousine befolgt,« sagte Eugenie knixend. »Sie hat mir gezeigt, wie man Orden vertheilt, um die Sprache seines Herzens zu verkünden. Auch ich habe heut Vormittag einen Orden verschenkt und dafür, wie es sich für einen galanten Kavalier schickt, ein Sträußchen erhalten, denn das ist ja wohl Cotillonsregel, nicht so, Gänseblümchen? Da, sieh einmal, da du die Blumensprache verstehst! Du weißt, ich bin sehr freigebig mit meinen Mittheilungen.« Dabei enthüllte sie ein prachtvolles Bouquet, das sie unter dem Taschentuche verborgen und hielt es mir neckend unter die Nase. Ein kleines Briefchen schaute aus den bunten Blumen heraus, und hastig griff ich danach. Es enthielt nur die kurzen Worte: »Dank, ewigen Dank für diesen Lichtstrahl in dunkler Nacht! Jetzt bist Du mein, mein auf ewig! A. S.«

Ich war wie im Traume. Also alles lag schon fix und fertig da, unsere Vermittelung war ganz unnöthig geworden; Eugenie hatte uns in kühnster Weise ein Schnippchen geschlagen und ihre Angelegenheiten selbst keck in die Hand genommen. Nur ein solcher Muth, ein so sicheres Selbstgefühl, als es Eugenie besaß, konnte dergleichen fertig bringen; sie war in der That ein Stückchen Amazone! Aber konnte man sie deshalb tadeln? War ein solcher Schritt nicht durch des Barons unüberwindliche Schüchternheit entschuldigt, ja sogar gerechtfertigt? Das Lebensglück zweier Menschen beruhte auf einem einzigen Worte, und da er dieses Wort nicht auszusprechen wagte, warum sollte sie es nicht thun, und dadurch die Pforten ihres Glückes öffnen?

Solche Gedanken gewannen auch in mir nach und nach die Oberhand, wie sie Eugenien schon lange mochten beschäftigt haben. Doch im ersten Augenblicke war ich allerdings etwas bestürzt über diese neue Art der Verlobung, denn meine schüchterne Natur hätte diesen Schritt nie gethan, und wenn mein ganzes Lebensglück davon abgehangen hätte. Aber man konnte freilich auch nicht verschiedener sein, als Eugenie und ich, und das gestanden wir uns Beide sehr offenherzig.

Eine halbe Stunde nach Eugeniens Eröffnungen stürmte es die Treppe herauf, und in meinem Leben habe ich nicht solche Verwandlung eines Menschen gesehen, als die unseres lieben Barons. Strahlend vor Glück und Liebe, rasch und lebendig wie ein feuriger Jüngling, schwamm er in einem Meere von Glückseligkeit, und Eugenie war so hold, so sittig, und doch wieder so schelmisch, neckisch und zärtlich, daß man allerdings seine Studien an ihr machen konnte; sie erschien mir als das Ideal einer schönen, glücklichen Braut! –

16.
Die Braut.

»Ehe ein Mädchen verlobt oder gar verheirathet ist, kann man nicht wissen was in ihr steckt!« hatte Tante Ulrike manchmal gesagt, und wie wahr und sinnig ihre Worte immer waren, das erfuhr ich jetzt wieder. Auch Eugenie, dieses bunt schillernde Wesen, entwickelte als Braut ganz neue, nie gekannte Eigenschaften, welche ihr unsere aufrichtige Bewunderung verschafften. Sie war oft wirklich rührend in dem Streben nach größerer Vollendung. Bisher hatte sie nie daran gedacht, auf irgend jemand viel Rücksicht zu nehmen; alles war ihr entgegengekommen, ihr abgenommen oder zugetragen worden, sie fragte bei ihrem Thun und Lassen nicht danach, paßt es auch meiner Umgebung, oder störe und verletze ich jemanden. Jetzt aber war sie fortwährend auf alles bedacht, was den Baron erfreuen und ihm angenehm sein konnte, und mit reizender Zartheit suchte sie alles aus dem Wege zu räumen, was ihn bei seiner Schüchternheit belästigen mußte. Dahin gehörten vor allem die Besuche, welche das junge Brautpaar zu machen hatte, um sich dem Bekanntenkreise vorzustellen. Diese konnte sie dem armen Baron freilich nicht ersparen, und da ich denselben nicht beiwohnte, so kann ich auch nicht wissen, wie steif und befangen er sicher dabei gewesen; aber bei Erwiederung dieser Besuche sah ich, wie Eugenie mit feiner Gewandtheit immer da einzutreten wußte, wo er fehlte, wie sie es verstand ihn stets in das Gespräch zu ziehen, im rechten Augenblicke seinen Arm zu ergreifen, geschickt alle Hindernisse zu beseitigen, die ihn bei seinen eckigen Bewegungen störten, wie Sessel, leichte Tischchen, Blumenvasen und alle dergleichen leicht stürzende Dinge, welche ungraziöse Menschen nur gar zu oft in Verlegenheit setzen. Dabei war sie so unbefangen, so heiter und liebenswürdig, daß ich es gar wohl begriff, warum ihres Bräutigams Augen nur an ihr hafteten, und die ganze übrige Welt eigentlich für ihn nicht existirte. Eugenie war alles, was er dachte und fühlte, ihr Glück und ihre Freude der einzige Zweck seines Lebens. O wie dankte ich Gott aus tiefstem Herzen, daß er meinen sehnlichen Wunsch nun erfüllt, und dem braven Manne das Glück zugeführt hatte, das er so sehr verdiente, und welches ich ihm zu geben doch nie fähig gewesen wäre.

Eugenie war trotz der unglaublichen Verschiedenheit, die zwischen ihr und dem Baron herrschte, doch wie für ihn geschaffen, denn ihre Schwächen entzückten ihn ebenso sehr wie ihre guten Eigenschaften. Er verzog sie so viel er nur konnte, und je muthwilliger sie ihn umgaukelte, je glücklicher strahlten seine Augen. All ihre kleinen lustigen Streiche bewunderte er, als wären es die fabelhaftesten Heldenthaten, und nie wurde er verstimmt oder ärgerlich, selbst wenn er, wie nur gar zu häufig, die Zielscheibe ihrer Neckereien war.

Daß Eugenie bei all ihrer Schelmerei tiefes Gefühl besaß und ihn innig liebte, wie er sich nie geträumt, das wußte er wohl, und es war wunderbar, mit welcher Innigkeit der so scheue, verschlossene Mann nun der Geliebten sein Gemüth eröffnete. Und Eugenie, welche bisher allem, was Gefühlsäußerungen ähnlich sah, den Krieg erklärt hatte, sie lauschte jetzt mit feuchtem Auge den Worten der hingebendsten Liebe.

In ihrer liebenswürdigen Offenheit theilte sie uns vieles von dem mit, was der Baron ihr gestanden; denn sie wußte, daß sie an Tante und mir innig theilnehmende Herzen besaß, voll Discretion und Verständniß, denen sie wohl mittheilen durfte, was ihr das Liebste und Heiligste war. Wie sehr der Baron sie vom ersten Augenblick an geliebt, seit er sie kannte, das zeigten einige seiner früheren Gedichte, und eben so warm sprach er jetzt die Wonne und das Glück seines Herzens aus, seit er die Geliebte gewonnen. So z. B. klagte er in jenen Tagen der Trauer voll Sehnsucht:

O wär' ich doch ein Edelstein
Von wunderbarem Feuer,
Du faßtest wohl in Gold mich ein,
Trügst gern mich an dem Finger dein,
Ich wär' dir lieb und theuer!
Wär ich am weiten Himmelszelt
Der schönste aller Sterne,
Es würde einzig deine Welt
Von meinem lichten Strahl erhellt,
Dir glänzt' ich nah und ferne.
Wär ich ein Ton, so süß und rein,
Ich wollt' dein Herz erquicken;
Und läg' der Schönheit Himmelsschein
Doch still auf Haupt und Seele mein,
Dich innig zu entzücken!
Doch nichts von allem wurde mir,
Dich, Liebste, zu erwerben!
Drum, armes Herz, was bleibet dir,
Als einsam leben für und für,
Und einsam auch zu sterben!

Dann wieder sucht sein banges Herz Trost und Ruhe im Liede, denn still ergeben singt er:

Wenn ich's länger nicht kann tragen,
Und das Herz mir brechen will,
Schließ' ich meine bangen Klagen
In ein Lied, und es wird still!
Es wird still wie Meereswogen,
Die der wilde Sturm gejagt.
Friede Gottes kommt gezogen,
Tröstet, wo ich fast verzagt.
O daß mir doch nimmer fehle
Solch' ein Lied im Herzen mein,
Ihr Gebete meiner Seele
Tragt den Himmel mir herein!

Dann kommt der Frühling und mit ihm die Erfüllung seiner theuersten Wünsche, und voll Entzücken singt er nun, der Geliebten alles zu Füßen legend:

Neues Leben.
Ich hab' es selber ja nicht gewußt,
Wie reich an Klängen die eigne Brust!
Es singet und tönet, es wehet und rauscht,
Daß still und wonnig die Seele lauscht.
Als einsam ich stand im dunklen Thal,
Da brach mir herein der Sonne Strahl,
Nun schau' ich voll Wonne den Wunderglanz,
Und sammle die Blumen zu duftigem Kranz.
Dir werf' ich sie all' in den Schoos hinein,
O möchte ihr Blühen zuweilen dich freu'n!
Du wecktest den Frühling, nun ist er erwacht,
Nun hat er dir all' seine Blüthen gebracht!

Aehnlich lautet das folgende Gedicht, das ich zum Schluß noch mittheilen möchte, da es von dem Glück seines Herzens die beste Kunde giebt:

Frühling.
Du wundervoller Wonnemond,
Du Mai voll Lust und Leben,
Wie hast du meinem Herzen auch
Den Frühling neu gegeben!
Des kalten Winters bange Nacht
Umhüllte meine Seele,
Und duldend beugt' ich still das Haupt,
Wohl ahnend, was mir fehle.
Weit draußen sah ich glänzend hell
Die schönste Blume sprießen,
Und warme Lüfte, weich und mild,
Sie schienen mich zu grüßen.
Ich streckte weit die Arme aus,
Dies Paradies zu fassen, –
Umsonst, in kalter Winterluft
Blieb ich allein, – verlassen!
O Blüthenmonat, Frühlingszeit,
Nun bist du doch gekommen,
Nun hast du in dein Zauberschloß
Auch mich mit aufgenommen.
Wie blüht und sproßt es um mich her
Mit frischem, reichem Leben!
O Wonnemond, wie hast du mir
Den Mai in's Herz gegeben!

Doch nun genug der kleinen Lieder, welche uns in ihrer sinnigen Einfachheit einen tiefen Blick in die Gemüthswelt unseres Freundes gaben, in dessen Innerem so viel Schönes schlummerte, das nun jetzt an das Licht trat. Daß auch Eugenie ihrem Herzen in vielen kleinen Gedichten Luft machte, bemerkte ich wohl, aber auf alles, was sie selbst schuf, legte sie keinen Werth und liebte es nicht, davon zu sprechen. Wir wußten das längst und ließen sie deshalb in Ruhe, da sie uns von selbst nichts davon mittheilte.

Der glückselige Bräutigam hätte seine Eugenie am liebsten noch in demselben Monat, seinem wirklichen Wonnemond, als Gattin in das alte Schloß seiner Ahnen eingeführt; aber dagegen erhob sich Tante Ulrike's Stimme, welche ihr Pflegekind nicht sogleich von sich lassen und erst einigermaßen in die Geheimnisse eines Hauswesens einweihen wollte. Der Baron meinte zwar, das sei ganz unnütz, seine Frau solle gar keine Mühe von der Wirthschaft haben, das ginge alles seinen Gang weiter, wie es bisher gegangen. Dazu machte aber auch Eugenie ein bedenkliches Gesicht und sagte: »Nun ehrlich gestanden, ganz so dumm wie ein Gänschen möchte ich der Wirthschafterin doch nicht gegenüber stehen, ich blamirte mich am Ende wie jener Backfisch (bitte um Verzeihung, Gänseblümchen!), der weiche Eier kochen sollte und nach einer Stunde trostlos der Mama klagte, die Eier wollten absolut nicht weich werden, sie möchten kochen, so lange sie wollten. Nein, nein, Tante Ulrike hat Recht, wie immer! Erst will ich ein Bischen wirthschaften lernen, und dann mag der Baron seinen Willen haben, wenn er es durchaus nicht erwarten kann, das Hauskreuz auf den Rücken zu nehmen.«

Bei diesem Ausspruche blieb es denn auch für's Erste, neugierig aber war ich, wie viel Eugenie vom Wirthschaften lernen würde, denn bis jetzt hatte sie nie etwas davon wissen mögen. »Bah, laß mich mit dem Zeug in Ruhe!« sagte sie immer, wenn ich sie mit mir in die Küche nehmen wollte, in der ich mir sehr gern zu thun machte.

»Aber diese Dinge gehören ja doch zum Leben der Frauen, willst du dich nie darum bekümmern?« fragte ich dann wohl vorwurfsvoll.

»Kommt Zeit, kommt Rath, laß mich zufrieden und sei nicht so unerträglich weise, heilige Margarethe!« entgegnete sie in gewohnter Weise und fuhr in raschen Läufen über das Clavier, oder warf sich nachlässig in den Lehnstuhl und drehte ihre Locken über die Finger.

Das also sollte nun anders werden. Eugeniens Ehrgefühl kam jetzt mit in's Spiel, und alle Energie ihres Charakters trieb sie zur schleunigen Ausfüllung dieser Lücke in ihren Kenntnissen.

Aber es war eine schwere Aufgabe für Tante Ulrike, welche es übernommen hatte, ihre wirthschaftlichen Talente zu wecken, denn Eugenie nahm bei allem Eifer die Sache doch nicht ernst und hatte ewig Schelmereien im Sinne. Sie bewaffnete sich zu ihrem neuen Unternehmen mit einem Dutzend der schönsten weißen Küchenschürzen, und Baron Senft schenkte ihr eine ganze Bibliothek der vortrefflichsten Kochbücher. Aus diesen lernte sie täglich drei Recepte auswendig, und diese sagte sie dann wie ein kleines Schulmädchen ihrem künftigen Hausherrn auf, indem sie sich mit sittig gefalteten Händen vor ihn hinstellte; es war unsäglich lächerlich, und der Baron schwamm in Entzücken. Aber was von diesen Studien in ihrem Kopfe hängen blieb, war wenig brauchbar und gab ihr nur Stoff zu neuen Tollheiten; denn sie bereitete zuweilen heimlich die fabelhaftesten Gerichte und berief sich dabei stets auf ihre Kochbücher. Sobald sie nur wollte und aufmerksam war, begriff sie schnell und leicht und zeigte Geschick zu allem, aber bald fuhr ihr der Schelm wieder durch den Sinn, und dann war's mit der Achtsamkeit vorüber.

»Sei so gut, Eugenie, und putze diese Rübe,« sagte z. B. Tante Ulrike, und eifrig ging Eugenie an's Werk. Bald war sie fertig und überreichte ihre Arbeit. Aber die Rübe hatte sich unter ihren Händen in eine kleine Puppe verwandelt; unter dem grünen Blätterbüschel war ein Gesicht ausgeschnitten, das der Büschel wie eine Mütze deckte, ein Krautblatt bildete das Röckchen, und zwei auf Hölzchen gespießte lange Kartoffeln saßen als Aermchen zu beiden Seiten.

»Was soll das, Eugenie?« lachte Tante Ulrike.

»Nun, ich sollte die Rübe ja putzen, da hast du sie, ist sie noch nicht schön genug?« sagte Eugenie ernsthaft. »Es ist ihr Sonntagsputz, versichere ich dir.«

Dann wieder sollte Obst geschmort werden.

»Aber wasche es erst, liebes Kind!« sagte die Tante.

Eilig sprang Eugenie fort und kam mit Seife und wollenem Lappen zurück.

»Was willst du machen, Eugenie?« fragte die Tante mit großen Augen.

»Die Beeren abwaschen, liebe Tante,« rief diese schelmisch und lachte dann wie ein Kobold.

Ein ander Mal stand Eugenie sinnend am Feuer und blickte auf das lustige Spiel der Flamme unter dem Kessel.

»Gieb doch Acht auf das Wasser und sage mir, wenn es kocht, Eugenie!« rief Tante Ulrike, indem sie die Küche verließ.

Gleich darauf kam unser hoffnungsvoller Zögling der Kochkunst zu mir in das anstoßende Zimmer, wo ich mit Plätten feiner Wäsche beschäftigt war, und indem sie mir eine Schöpfkelle voll dampfenden Wassers unter die Nase hielt, sagte sie ganz ernsthaft:

»Du, Gänseblümchen, sag' mal, kocht das Wasser?«

Und so kamen täglich Schelmereien vor, man war ihrer nie sicher. Manchmal bat sie, Tante sollte sie allein kochen lassen, und dann ließ sie ihrer Laune die Zügel schießen, brachte schließlich aber doch immer etwas Ordentliches auf den Tisch.

»Heute giebt's nur Wassersuppe, ihr müßt genügsam sein,« sagte sie z. B., und in der Suppenschüssel befand sich dann nichts als helles, klares Wasser, das wir verblüfft ansahen. Dann lachte sie, sprang hinaus und brachte irgend eine gute Suppe zum Ersatz, denn sie hatte nur unsre langen Gesichter sehen wollen.

Auch kam fast kein Gericht durch ihre Hände auf den Tisch, mit dem sie sich nicht irgend einen Scherz gemacht hätte. Bald trug die gebratene Gans einen Blumenstrauß auf dem Busen, bald schmückte jedes Kotelett oder Hühnchen eine Guirlande von Petersilie oder eine gekniffte Papierkrause; die Fische trugen stets irgend etwas im Maule, bald ein Klagelied über frühen Tod, bald ein Geldstück oder dergleichen, das sie im Wasser verschluckt, wie die Erläuterung sagte, ja eines Tages hatte sie eine gebratene Gans sogar mit einem Kranze von rothen Radieschen umschlungen, und die so Geschmückte bat in zierlichen Versen, sie doch mit auf den nächsten Ball zu nehmen, sie sehne sich nach Gesellschaft und dort tanzten gewöhnlich gar viele ihrer jungen Schwestern.

Auch der Baron bekam zu seinem höchsten Entzücken in dieser Weise sein Theilchen Neckerei. Natürlich fand er Eugenien reizend in der netten weißen Küchenschürze, und wenn ihre niedlichen kleinen Finger von Mehl umhüllt sich in ihrer ganzen Zierlichkeit muthwillig auf seinem schwarzen Rockärmel abdrückten, so freute er sich wie ein Kind und drückte die Händchen an seine Lippen, es mochte Mehl oder Teig oder sonst etwas daran kleben. Mit Wonne aß er alles, was Eugeniens Kunst bereitet, es mochte schmecken, wie es wollte, ihm ging nichts darüber, und eine Kartoffel oder einen Apfel, den sie ihm geschält, hätte er am liebsten als wundervolle Reliquie aufgehoben, statt ihn in den Mund zu stecken.

»Heute habe ich dir eine Sandtorte gebacken, Arthur, weil du sie so gern ißt!« rief Eugenie eines Tages ihrem Geliebten entgegen.

Dieser war natürlich ganz zerknirscht vor Freude und Dank, und Eugenie sprang fort, das Wunderwerk zu holen. Bald kam sie denn auch mit einer großen Torte zurück, die sauber mit Zucker bestreut und von Blumen umgeben war.

»Du mußt sie selbst anschneiden, da!« sagte sie und überreichte dem Baron ein großes Messer nebst Teller. Dieser schob die Blumen etwas zur Seite und schnitt ein tüchtig Stück aus der Torte heraus, das er dann auf den Teller legte. Es war eine wunderliche Torte, das Stück brach und krümelte merkwürdig, und die Farbe war höchst verdächtig. Aber Eugenie hatte sie gebacken, also mußte sie gut sein. In dieser Ueberzeugung führte der Baron den Bissen zum Munde, und Eugenie konnte eben nur »Halt, halt!« rufen, sonst wäre der Scherz zu weit gegangen; denn nun erst sah der Baron, daß es zwar eine Sandtorte war, die der Schalk ihm vorgesetzt, aber keine gebackene, sondern eine aus wirklichem Sande. Die gebackene und wohl gerathene trat nun schnell an die Stelle der falschen, und der Baron war voller Bewunderung seiner neckisch holden Braut, die immer neu, immer schelmisch und munter, aber immer voll der innigsten Liebe und Aufmerksamkeit für ihn war.

Wie viel Eugenie von der Wirthschaft lernte, dahinter bin ich eigentlich nie gekommen, denn zuweilen war ihr das Einfachste neu und fremd, wenigstens stellte sie sich so, und dann wieder überraschte sie durch allerlei Kenntnisse, die eine praktische Hausfrau kennzeichnen. Tante Ulrike lächelte, als ich ihr diese meine Verwunderung aussprach, und sagte: »Laß sie nur, Gretchen; mir ist nicht bange, Eugenie wird schon ihren Posten ausfüllen, denn sie kann es, wenn's Ernst wird. Das alles hier ist ihr nur Scherz, bei uns wird sie nicht anders. Ein Mädchen, das so viel richtigen Verstand und praktische Anlagen hat als Eugenie, wird eine thätige Hausfrau, sobald sie in ihrem Eigenthum schaltet und waltet. Sie wird zuerst manches Lehrgeld bezahlen, aber das thut nichts, sie wird sich schon hindurcharbeiten, das Zeug dazu hat sie. Gott gebe nur, daß das Leben sie nicht gar zu rauh erfaßt, damit ihr Frohsinn dauernd sei. Kleine Prüfungen werden auch bei ihr nicht ausbleiben, aber ich kenne unseren Liebling jetzt hinreichend und weiß, daß ein guter Kern hinter dieser schillernden Schale steckt, und der wird sich erhalten und bewähren an der Seite ihres braven Gatten. Gott führt uns Menschen weise und wunderbar, das zeigt mir Eugeniens Geschick wieder recht deutlich. In den Verhältnissen des elterlichen Hauses wären die edlen Keime erstickt, welche in dem guten Kinde ruhen; Gott legte mir dasselbe an das Herz, gab ihr in dir, mein Gretchen, eine liebe Schwester, und alles Gute, das in ihr schlummerte, trat deutlich hervor. Er führte ihr den Mann, der für ihren wunderlichen Sinn am besten paßte, in einer Weise zu, daß sie gleich seinen hohen Werth erkannte, und jetzt kann ich ruhig Eugeniens Zukunft entgegen sehen, denn alles wird gut werden.«

Die Briefe, welche Eugenie jetzt von ihrem Vater erhielt, sprachen die innigste Freude aus über das Glück seines Kindes. Zur Hochzeit versprach er zu kommen, obwohl ihn die Geschäfte dann wieder nach Bayern zurück riefen. Eugenie sollte später mit ihrem Gatten eine Reise nach den schönen Gegenden Süddeutschlands machen, in denen der Vater sich aufhielt. Das waren schöne Pläne, und auch für mich leuchtete von fern eine herrliche Aussicht, denn Tante Ulrike hatte ihrem Bruder versprochen, ihn zu begleiten, wenn er nach Bayern zurück kehrte, und ich Glückspilz sollte mit ihnen reisen.

»Du bist bei mir auf der Hochschule, wie Eugenie es nennt,« sagte die Tante, »da ist es denn auch nöthig, daß du lernst, dich auf Reisen zu benehmen. Alles will gelernt sein, also auch das Reisen, und da sich die Gelegenheit dazu gerade bietet, so wollen wir sie benutzen.«

Nun aber waren wir noch nicht so weit. Da die Hochzeit auf neues Drängen des Barons schon im Juli stattfinden sollte, hatten wir alle Hände voll zu thun, dem jungen Paare Haus und Wirthschaft einzurichten. Eugenie hatte zwar den besten Willen, an ihrer Ausstattung tüchtig zu helfen, aber daß es beim Wollen blieb, wußten wir vorher. Zum Glück kann man in einer großen Stadt alles, was man bedarf, gleich fertig geliefert erhalten, und von dieser Bequemlichkeit machten wir guten Gebrauch. Es war ein Vergnügen, all die schönen Dinge auszusuchen, welche Eugeniens reiche Ausstattung bildeten, und hatten wir unsere Angelegenheiten geordnet, so kam der Baron mit bittender Miene, doch auch ihm in seinen neuen Einrichtungen mit Rath und Urtheil beizustehen; denn sein altes Schloß mußte sich allerlei Neuerungen gefallen lassen, damit der schönsten jungen Frau nichts zu wünschen bliebe, wie er sagte.

»Das wäre eigentlich Arbeit für Mama!« meinte Eugenie lächelnd. »Sie schwärmt für neue Einrichtungen und hat sehr guten Geschmack.«

Tante Ulrike sah Eugenie forschend an und fragte, ob es ihr Ernst sei, und sie ihre Mutter auffordern wolle, uns zu besuchen. Eugenie erröthete und sagte niedergeschlagen: »Nein, Tante, besser sie kommt nicht! Du weißt es ja selbst, es ist besser für uns Alle.«

Tante Ulrike seufzte und küßte Eugenien, der die Thränen im Auge standen. Sie that mir innig leid, denn ich wußte wohl, der Brief, den sie von ihrer Mutter als Antwort auf die Anzeige ihrer Verlobung erhalten, war gar zu wenig mütterlich und hatte Eugenien heiße Thränen gekostet. Sie hatte zwar auch ihre Freude über die Verlobung ausgesprochen, aber es war doch nur Freude über die »gute, glänzende Partie,« wie sie es nannte; das innere Glück ihres Kindes, den hohen sittlichen Werth ihres Schwiegersohnes erwähnte sie mit keiner Silbe. Es leuchtete sogar etwas wie Neid und Mißgunst über die glänzende äußere Lage der künftigen Frau Baronin aus ihren Worten hervor, ja am Schluß des Briefes standen einige bittere Zeilen über ihre eigene unglückliche Ehe und über ihren armen, von ihr so vernachlässigten Gatten, von dessen Unglück sie einzig die Schuld trug, ohne es sich eingestehen zu wollen.

»Da Deine Hochzeit Anfang des Sommers ist, so bedaure ich, dazu nicht kommen zu können,« schrieb sie am Schlusse des Briefes. »Du weißt, ich leide seit einiger Zeit an der Leber, und die Aerzte rathen mir, Carlsbad dafür zu gebrauchen, eine Unterbrechung der Kur würde mir sicher schaden. Aber im Herbst, wo es hier so langweilig ist, ehe die Wintersaison beginnt, hoffe ich Dich auf Deinem Schlosse besuchen zu können.«

Daß dieser Brief Eugenien bitter weh that, begriff ich nur zu wohl, uns Allen aber konnte es nur lieb sein, in unserem glücklichen Beisammenleben durch solch herzlos weltliche Dame nicht gestört zu werden. Daß Eugeniens Vater zur Hochzeit kam, freute uns Alle von Herzen, denn an diesem hing Eugenie mehr und mehr, und mit der größten Ungeduld erwartete sie seine Ankunft.

17.
Der Mensch denkt – Gott lenkt.

Aber es kam anders, als wir Alle gedacht und gerechnet.

Der Baron war ein trefflicher Reiter, und es machte ihm Vergnügen, besonders unbändige Pferde seinem Willen dienstbar zu machen. Die muthige Eugenie freute sich ebenfalls an solchen Siegen ihres Geliebten, dessen Aussehen dabei ungemein stolz und männlich wurde, und ihr Lob feuerte den Eifer des kühnen Reiters oft bis zur Tollkühnheit an. Mir zitterte das Herz, und ich begriff Eugenien nicht, deren Augen bei der Gefahr ihres Geliebten doppelt leuchteten, während mir das Herz erbebte.

Eines Tages jedoch kam eine erschreckende Nachricht. Der Baron war von einem jener wilden Pferde gestürzt und eine Strecke weit von demselben geschleift worden. Eine Kopfwunde und ein gefährlicher Beinbruch war die Folge des Unfalls.

Mir traten bei dieser Trauerkunde die heißen Thränen in die Augen, Eugenie aber sprach kein Wort, hatte keine Thräne; doch die Todtenblässe ihres Gesichtes zeigte den tiefen Aufruhr ihrer Seele.

»Schnell einen Wagen!« befahl Tante Ulrike, und bald flogen wir nach Schloß Senftenburg; Eugenie war noch immer stumm und bleich und thränenlos. Auch wir sprachen nichts, doch meine Thränen flossen unaufhaltsam, und auch die Tante trocknete ab und zu die Augen.

Als wir im Schlosse ankamen, hatten die Aerzte soeben die Verbände angelegt und brachten uns tröstliche Nachricht. Der Fußbruch war allerdings schlimm und bedenklich, die Kopfwunde jedoch nicht beunruhigend; Schonung und sorgliche Pflege würden sie bald heilen. Augenblicklich habe die Anstrengung des Verbandes alle Kräfte des Kranken erschöpft, er liege in einem fast bewußtlosen Zustande; doch sobald dieser sich in Schlaf verwandeln werde, sei nichts mehr zu fürchten. Zu ihm durfte augenblicklich niemand, auch Eugenie nicht, die mit weit geöffneten Augen den Bericht anhörte. Aber obwohl sie ihn nicht sehen konnte, so wollte Eugenie doch im Schlosse bleiben; sobald der Baron eingeschlafen, durfte sie zu ihm, so lange wollte sie warten, und wir natürlich mit ihr. Endlich nach langem Harren winkte der Arzt ihr zu und führte sie an das Lager des Schlummernden.

Bis dahin hatte sich das tapfere Mädchen aufrecht erhalten und dem Schmerz kein Uebergewicht gestattet; aber als jetzt der kräftig starke Mann so bleich und hülflos vor ihr lag, fast wie ein Todter, da zitterte ihre schlanke Gestalt leise, und auf die Tante gestützt eilte sie schnell wieder zum Zimmer hinaus. Hier brach sie schluchzend zusammen, und der Krampf ihres Herzens, der ihre Thränen bis jetzt zurück gehalten, löste sich endlich.

Sie weinte lange, und das war eine große Wohlthat für ihr armes Herz. Als sie endlich ruhiger geworden, sagte sie ernst und weich: »Tante, nun weiß ich erst, was er mir ist. Ich gehe nicht wieder von ihm fort, wer weiß, wie lange ich ihn noch habe. Mir gehört er, ich habe die heiligsten Rechte an ihm, ich muß ihn pflegen.«

Die Tante nickte still mit dem Kopfe, sie mußte das wohl erwartet haben, denn ihr Entschluß war schon gefaßt.

»Ich bleibe bei dir, mein Kind, anders geht es nicht!« sagte sie sanft. »Gretchen versieht mein Haus während meiner Abwesenheit und leistet uns dazwischen Gesellschaft, die übrige Zeit mag sie ihrer Marie widmen.«

Nun gab mir die Tante Anweisungen, was ich zu thun habe, welche Sachen ich ihnen durch Lisetten schicken, und welche Anordnungen ich treffen sollte. Mit schwerem Herzen kehrte ich allein nach Haus zurück und besorgte treulich, was die Tante mir aufgetragen. Dann eilte ich zu meiner Freundin Marie, welche schon von dem Unglück gehört und mich in großer Aufregung erwartete. Marie's Mutter ließ mich nicht wieder fort, als sie die Lage der Dinge gehört, und so war ich während dieser Leidenstage der Gast meiner liebsten Freunde. Daß dies für mich unaussprechlich trostreich war, könnt ihr euch wohl denken, meine lieben Leserinnen, denn gegen wen hätte ich mein banges, übervolles Herz freier aussprechen können, als gegen meine theure Marie und deren treffliche Mutter! Ich schlief mit Marie zusammen in deren Zimmer, das war unbeschreiblich gemüthlich, und unsere Gespräche beim Schlafengehen zogen sich oft sehr in die Länge. Immer wieder wünschten wir uns gute Nacht und beschlossen nun endlich zu schlafen, aber immer wieder fiel uns dann noch etwas gar zu Wichtiges ein, das die Andere erfahren mußte, und die Frage: »Marie, schläfst du schon? Gretchen, bist du noch wach?« war der stete Wiederbeginn neuer Erzählungen und Herzensergüsse.

Fast täglich fuhr ich nach Schloß Senftenburg, wohin des Barons Wagen mich führte, und Marie oder deren Mutter begleiteten mich häufig. Der Zustand des Kranken war in den ersten Tagen ein sehr beunruhigender gewesen, denn er fieberte heftig und schien viel Schmerzen zu leiden. Eugeniens Gegenwart hatte ihn zuerst etwas aufgeregt, aber nach einem leisen, kurzen Gespräch, das sie mit ihm führte, schien eine wunderbare Ruhe über ihn zu kommen, und das geliebte Mädchen durfte bei ihm bleiben, wie sie es gewünscht, und welche treue, sorgfältige Wärterin ward nun die verwöhnte Salondame! Die Tante konnte mir nicht genug erzählen, welche Veränderung mit Eugenien vorgegangen war. Aller Leichtsinn, alles oberflächliche, unbesonnene Wesen war stillem Ernst und gewissenhafter Pflichterfüllung gewichen. Nur auf kurze Stunden konnte man sie in den ersten bangen Tagen von dem Lager des Kranken entfernen, damit sie selbst der Ruhe pflege. Sie wachte fast eifersüchtig darüber, daß alles, was der Kranke genoß, nur durch ihre Hände ging, und mit der sorgfältigsten Pünktlichkeit beobachtete sie die Stunden, an denen die verschiedenen Arzneien gegeben und Umschläge gemacht wurden, oder sonstigen Anordnungen der Aerzte nachzukommen war.

Die Kopfwunde heilte schnell, und der Kranke konnte sich bald der Gesellschaft seiner Eugenie besser erfreuen, da der Arzt nun Beiden das Sprechen erlaubte, das in der ersten Zeit fast ganz verboten war. Bald konnte sie ihm auch vorlesen, ihm mit Musik die Zeit kürzen, und die Tante, welche die Sorge für das Hauswesen übernommen hatte, leistete Beiden treulich Gesellschaft. Kam auch ich hinzu, oder gar eins unserer Freunde, so versammelte sich ein heiterer Kreis um den theuren Kranken, dessen Augen mit rührender Dankbarkeit von Einem zum Andern schweiften, zuletzt aber immer mit wahrhafter Verehrung an seiner schönen Braut hafteten. Eugenie wurde dann zuweilen wieder das lustig neckische Kind mit den schelmischen Augen, aber im Ganzen war durch diese Leidenszeit ein stiller, weicher Ernst über sie gekommen, der mir oft die Thränen in das Auge trieb. Sie klagte nie, selbst nicht in den ersten Tagen der Angst, oft aber sah ich, wie ihr Blick inbrünstig gen Himmel gerichtet war, von dort hoffte und erwartete sie alles. Der Beinbruch heilte sehr langsam und schien den Aerzten große Sorge zu machen, da es ein Splitterbruch war, dessen völlige Heilung selten gelang.

»Arme Eugenie, einen Krüppel kannst du doch nicht heirathen!« sagte der Baron eines Tages mit Thränen im Auge. Eugenie überflog leises Zittern.

»Meinst du, dein Fuß müsse doch noch abgenommen werden?« fragte sie angstvoll.

»Das fürchte ich gerade nicht, da es bis jetzt nicht geschehen ist,« erwiderte der Baron. »Aber steif bleibt das Gelenk sicher, darüber will ich mich selbst nicht täuschen.«

»Hoffen wir doch lieber das Beste, Arthur!« entgegnete Eugenie sanft lächelnd. »Du hast so gute Aerzte, die Heilung gelingt gewiß.«

Der Baron schwieg, doch bemerkte Tante Ulrike, daß er seit diesem Gespräche oft unruhig war, und seine Augen mit sorgenvoller Angst auf Eugenien hafteten. Doch sprach er seine Besorgniß nicht wieder gegen sie aus und schien selbst zuversichtlicher seiner Heilung entgegen zu sehen.

Woche um Woche verging, der Verband des Fußes war erneuert worden, wieder vergingen einige Wochen, und jetzt sollte der Hauptverband abgenommen werden. Der Baron konnte seine Aufregung kaum bemeistern, er hatte ein langes Gespräch mit Tante Ulrike, und auch diese schien erregt; nur Eugenie erwartete ruhig die wichtige Stunde und war heiter und zuversichtlich. Den Tag zuvor kam sie mit der Tante nach der Stadt, wie sie in letzter Zeit öfters gethan; aber kaum waren einige Stunden vergangen, als die Tante einen Brief vom Baron erhielt mit einer Einlage an Eugenien. Der Verband war heute schon abgenommen worden.

Eugenie erbrach schnell die Zeilen und wurde bleich, dann setzte sie sich still an das Fenster und blickte gedankenvoll gen Himmel. Tante Ulrike stürzten die Thränen aus den Augen, als sie ihren Brief gelesen. Sie ging schnell zu Eugenien und schloß sie in ihre Arme.

»Gott legt dir Schweres auf, mein Kind!« sagte sie sanft. »Wo dein Glück so nahe vor dir lag, sendet er dir solch harte Prüfung. Der Baron hat dir doch mitgetheilt, wie es mit ihm steht?«

»Tante, ich wußte, daß es so kommen würde!« entgegnete Eugenie fest aber weich. »Ich habe gehört, daß die Aerzte nach dem Abnehmen des ersten Verbandes unter sich die traurige Gewißheit aussprachen, das Knie werde steif bleiben; ich habe also nichts anderes erwartet.«

»Du wußtest das, Kind, und warst doch die Ruhigste und Heiterste während dieser ganzen Zeit?« rief die Tante staunend. »Weißt du denn auch, was das sagen will, ein steifer Fuß?«

»O ja, Tante, ich weiß, daß viel Beschwerde und ein schleppender Gang und Krückstock damit zusammenhängt,« sagte Eugenie mit zitternder Stimme, und indem einige schwere Thränen über ihre Wangen liefen. »Aber ich weiß auch, daß ein solcher Mann doppelt seines Weibes bedarf.«

»Aber er entbindet dich deines Gelübdes, Eugenie,« sagte die Tante leise. »Du hast einem gesunden, kräftigen Manne dein Wort gegeben; dich als das Weib eines Krüppels zu sehen würde ihm ewig schmerzlich sein. Ueberlege es wohl, mein Kind, du bist jung und frisch und voll Ansprüche an das Leben, wird dir der gelähmte Gatte nicht bald unsäglich hinderlich sein? Wirst du nicht mit der Zeit die Fesseln gar zu drückend empfinden, welche dir durch seine Unbehülflichkeit angelegt werden? Du übernimmst doppelte Pflichten, und hast du sie einmal übernommen, so mußt du sie auch treu und willig erfüllen!«

»Ich danke dir für deine lieben Worte, Tante Ulrike,« sagte Eugenie mit ungewohnter Milde. »Es war deine Pflicht, mir das zu sagen, und meines Bräutigams Zartgefühl gebot ihm ebenfalls, mich bei der jetzigen traurigen Lage der Dinge meines Gelübdes zu entbinden. Aber da ihr nun gethan habt, was euer Gewissen euch lehrte, so laßt jetzt auch das meine ein Wörtchen mitsprechen. Sage ehrlich, Tante Ulrike, hältst du mich wirklich für so – nun welches Wort soll ich nur gebrauchen, um das genügend auszudrücken, was ich mir zu Schulden kommen ließe, verweigerte ich jetzt, die Gattin des edlen Mannes zu werden, der durch sein Mißgeschick ohnehin unglücklich genug geworden ist? Ich bin ein unsäglich oberflächliches, leichtsinniges Mädchen gewesen, dem nichts ernst und heilig schien, und das in ihrer Verzogenheit sicher grenzenlos anspruchsvoll und unliebenswürdig gewesen ist. Aber, meine liebe Tante, jetzt steht die alte Eugenie nicht mehr vor dir. Dir und Gretchen danke ich mehr, als ich je im Leben wieder vergelten kann! Ihr habt Beide viel von mir ertragen; aber wenn ich es euch auch nie zeigen mochte, tief im Herzen drin habe ich vom ersten Augenblicke an wohl empfunden, in welch' treue Hände mich der liebe Gott geführt hatte. Und was nun noch Verwerfliches und Thörichtes in meinem Herzen kämpfte, das haben die letzten Leidenstage vollends vertilgt. Arthur wird mit Gottes Hülfe ein braves Weib in seiner Eugenie erhalten. Glaubst du das, Tante?«

Ich konnte Tante Ulrike's Antwort nicht hören, denn den Kopf in mein Taschentuch gedrückt schluchzte ich bitterlich. Aber jetzt umschlossen mich Eugeniens Arme, und mit ihrem alten neckischen Tone zog sie mir das Tuch von den Augen.

»Nun ist doch meine kleine Gouvernante mit ihrem Zöglinge zufrieden, nicht wahr Gänseblümchen?« fragte sie schmeichelnd und blickte mit inniger Liebe in mein Gesicht. »Solche abscheulich lange Reden zu halten habe ich von meinem ehrpußlichen Backfischchen gelernt, habe ich es gut gemacht, Kleine?«

Daß ich statt aller Antwort an ihrem Halse hing und ihr liebe, süße Worte sagte, die ich jetzt freilich nicht recht mehr weiß, versteht sich wohl von selbst. Es war eine innige, unvergeßliche Stunde, welche unsere Herzen für das Leben an einander fesselte.

Ein ankommender Brief an Tante Ulrike lenkte unsere Gedanken bald auf etwas anderes. Die Tante und mein Papa hatten eine einzige bedeutend ältere Schwester, welche heftig erkrankt war und ihre Geschwister noch einmal zu sehen wünschte. Mein Papa schrieb der Tante, er werde in den nächsten Tagen der Bitte Folge leisten und hoffe, auch Tante Ulrike könne es möglich machen, nach F. zu der kranken Schwester zu kommen. Ein Werk der Barmherzigkeit werde es sein, könne Tante Ulrike bis zu dem Tode der alten einsamen Schwester bei derselben bleiben; die zunehmende Schwäche der Kranken scheine leider ihr nahes Ende zu bestätigen.

Die Tante war in großer Erregung; denn obwohl sie mit dieser etwas wunderlichen Schwester nie viel Verkehr gehabt hatte, so hing sie doch mit herzlicher Liebe an ihr und wünschte dringend zu ihr zu reisen. Andererseits aber hielten sie die Pflichten gegen ihre beiden Pflegetöchter zurück, denn wenn auch ich gern noch länger bei Marie's Eltern bleiben konnte, was sollte aus Eugenie werden, die doch weder allein in Senftenburg bleiben, noch gerade jetzt zu ihrer Mutter gehen konnte, ehe der Baron gesund war.

Eugenie stand gedankenvoll am Fenster und trommelte auf den Scheiben.

»Tante,« sagte sie plötzlich, »ist nicht der dir so befreundete Prediger Sommer der Geistliche unseres Kirchspiels?«

»Ja wohl, Kind, was willst du mit ihm?«

»Wo wohnt er, weißt du das?«

»Nun nicht weit von uns, in der Kronenstraße 12.«

»Danke!« Und sogleich verschwand Eugenie.

Wir blickten ihr verwundert nach und warteten begierig ihrer Rückkehr. Nach einiger Zeit trat sie etwas bleich wieder in das Zimmer, legte Hut und Shawl schnell ab und eilte in das Kabinet der Tante, wohin sich dieselbe zurück gezogen. Ich hörte sie lebhaft mit einander sprechen, ohne etwas Zusammenhängendes verstehen zu können, endlich aber kam Eugenie mit glänzenden Augen zu mir und fragte erröthend: »Gretchen, willst du morgen meine Brautjungfer sein, du und Marie?«

Ich fuhr erschrocken auf. »Morgen, Eugenie? Was meinst du denn?«

»Nun ja, morgen ist unsere Hochzeit, es fehlen mir nur die Zeugen dabei, alles andere ist möglich gemacht worden,« sagte Eugenie lächelnd. »Der Prediger Sommer ist ein braver Mann, er wird heute noch alles besorgen, was nöthig ist; meinen Taufschein habe ich zum Glück zufällig hier unter meinen Papieren, das war die Hauptschwierigkeit. Morgen ist Sonntag, da wird er uns früh ein für alle Mal verkündigen, und nach der Kirche traut er uns in Schloß Senftenburg. Bei Arthur bleiben muß ich, das geht nicht anders, und damit die Tante reisen kann, will ich schnell Arthurs Frau werden, dann darf Niemand etwas dagegen haben, daß ich allein bei ihm bleibe. Tante hat soeben ihre Einwilligung gegeben, mir fehlen nur noch meine Brautjungfern und für Arthur die Zeugen. Ich denke, Eduard und Dr. Hausmann werden uns gern diesen Dienst erzeigen, ich werde sehr liebenswürdige Briefchen an sie schreiben.«

»Aber der Baron, ist er denn damit einverstanden?« warf ich voll äußerster Ueberraschung ein.

»Er will mich ja gar nicht mehr zur Frau haben, ich muß mich ihm schon mit Gewalt aufdrängen und ihm die Sache über dem Kopfe fort nehmen!« lachte Eugenie schelmisch und flog hinaus.

Das war doch nun wieder ganz und gar im Style von Eugenien! Gut und brav und engelsgut, mehr als je zuvor, aber entschlossen, keck, amazonenhaft, wie sie all ihr Lebtag gewesen! Ich schüttelte bedenklich mein »ehrpußliches« Haupt, mit Eugenien zu sprechen, und eilte zu Tante Ulrike, mit dieser die Sache zu berathen. Zu meiner großen Verwunderung fand ich die Tante mit Eugeniens Entschluß ganz einverstanden und wurde sogleich mit allen möglichen Aufträgen beehrt, welche ich eilig und schleunig besorgen sollte. Sie selbst schrieb einige Briefe und kehrte dann nach Schloß Senftenburg zurück, dort Vorkehrungen für die morgende Feier zu treffen, begleitet von Pastor Sommer, welcher mit dem Prediger in Senftenburg gleich selbst alles in Ordnung bringen wollte, damit das junge Paar auch hier im Wohnorte des Barons in der Kirche aufgeboten wurde. Der Baron sollte absolut nichts vorher von alle dem wissen, da er sonst sicher aus Rücksicht für Eugenie seine Einwilligung nicht geben würde.

»Aber kehrt Eugenie heute denn nicht mit dir nach Senftenburg zurück? Und was soll der Baron davon denken?« fragte ich unruhig Tante Ulrike.

»Nein, sie will ihn erst im Brautkranze wieder sehen, ich soll ihm sagen, was ich will,« entgegnete die Tante lächelnd. »Mache nur jetzt und eile dich, sonst bist du am Ende eine Brautjungfer ohne Kranz für die Braut.«

Ich stürzte davon, so schnell ich konnte, aber ehe ich noch irgend etwas anderes besorgte, eilte ich zu meiner Marie, sie mußte erst alles erfahren, selbst auf die Gefahr hin, daß ich für Eugenien keinen frischen Myrthenkranz mehr bekäme.

18.
Ein froher Tag.

»Wird Eugenie heute auch nicht nach Senftenburg kommen, Tante Ulrike?« fragte der Baron traurig, als die Morgenstunden des Sonntags vergangen waren, und immer noch kein Wagen vorfahren wollte.

»O doch, lieber Baron!« entgegnete die Tante. »Sie wollte nur so gern mit Gretchen erst in die Kirche gehen, dann kommt sie. Aber wie wäre es, lieber Baron,« fuhr die Tante heiter fort, »wenn Sie heute einmal wieder ordentliche große Toilette machten! Sie dürfen Ihren armen Fuß zwar noch nicht in Bewegung setzen, aber außerdem sind Sie kaum noch ein Patient zu nennen. Zeigen Sie das Ihrer Braut, überraschen Sie das liebe Kind, die Sie nun lange genug in diesem vortrefflichem Krankenkostüme bewundert hat. Ja? soll ich Ihnen den Johann schicken?«

Der Baron warf ängstliche Blicke bald auf die Tante, bald auf seinen noch immer etwas verbundenen Fuß, dann sagte er: »Wenn Sie glauben, Eugenie freut sich darüber, so will ich es sogleich thun. Aber, liebe Tante,« fuhr er zögernd fort, »sagen Sie mir zuvor nochmals ganz offen, glauben Sie wirklich, daß Eugenie jetzt doch noch meine Frau werden will?«

Der Tante Gesicht wurde ernst. »Lieber Baron,« sagte sie fast streng, »ich wiederhole es Ihnen noch einmal, Ihr Zweifel an Eugeniens edlem Sinn wird das gute Kind beleidigen; darum bitte ich dringend, sagen Sie solche Worte nicht mehr. Glauben Sie denn so wenig an Eugeniens Liebe zu Ihnen? Halten Sie dieselbe wirklich für fähig, anderen Sinnes zu werden, es sei, aus welchem Grunde es wolle?«

»Aber beste Tante, bedenken Sie doch, die wunderschöne Eugenie das Weib eines Krüppels!« seufzte der Baron.

»Ach was, Krüppel!« rief die Tante heftig. »Was ist's denn weiter! Ein etwas steifer Fuß macht noch lange keinen Krüppel! Sie wissen noch gar nicht einmal, ob er wirklich so steif ist, als Sie fürchten, und dann wollen wir erst die Wirkung von Teplitz abwarten; wer weiß, ob da nicht alles noch ganz gut wird, und Sie über's Jahr nicht mit Eugenien um die Wette reiten; nur etwas weniger tolle Pferde, wenn ich bitten darf.«

Der Baron küßte Tante Ulrike's weiche Hand voll kindlicher Zärtlichkeit, diese aber nickte ihm freundlich zu und ermahnte ihn, ja recht sorgfältige Toilette zu machen, er wisse ja, die schöne Eugenie halte etwas darauf.

Eben war er fertig und blickte noch einmal prüfend in den vorgehaltenen Spiegel, da fuhr ein Wagen vor. Ein zweiter und dritter folgte, und verwundert über den zahlreichen Besuch schickte der Baron seinen Diener fort, ihm Kunde zu bringen, wer gekommen sei.

»Fräulein von Jagow und einige Freunde und Freundinnen aus der Stadt,« meldete der Diener. »Sie werden gleich um die Ehre bitten, dem Herrn Baron ihre Aufwartung machen zu dürfen; die Damen ordnen nur noch ihre Toilette, da der arge Wind sie sehr staubig gemacht hat.«

Es dauerte sehr lange, ehe besagter Staub von den Toiletten entfernt war, und fast wurde der Baron ungeduldig. Endlich aber öffneten sich die Flügelthüren, und an der Hand der Tante Ulrike trat Eugenie in das Zimmer, im lieblichsten Brautschmuck. Ihnen folgten Marie und ich, ebenfalls festlich geschmückt, dann Maries Eltern, und endlich Eduard und Dr. Hausmann, frische Blumensträuße im Knopfloch.

Tante Ulrike führte die hoch erglühende Braut ihrem Geliebten zu und sagte, Eugenie bringe ihm selbst die Antwort auf seine gestrige Frage, indem sie ihren Verlobten bitte, sie heute schon als Gattin heimführen zu wollen, falls es ihm selbst nicht etwa leid geworden sei.

Der Baron glaubte zu träumen. Er vergaß seinen kranken Fuß und wollte vom Lehnstuhle aufspringen, aber Tante Ulrike drückte ihn sanft wieder auf denselben nieder.

»Eugenie, ist das dein Ernst?« stammelte er nun und streckte die Arme nach der Geliebten aus. Eugenie verhüllte das Gesicht mit ihren Händen, und an seiner Seite niedersinkend lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Er legte beide Arme um die geliebte Braut und hielt sie still und selig umschlungen. Feierliche Stille lag über uns Allen, Marie und ich drückten uns die Hände und weinten leise, und Tante Ulrike hatte das Tuch vor den Augen.

Da öffneten sich wieder die Flügelthüren des Nebenzimmers, und zwischen hohen Gewächsen und frischen Blumen war ein kleiner Altar errichtet, an welchem Prediger Sommer das Brautpaar erwartete. Einige Diener rollten des Barons Lehnstuhl zu ihm hin, Eugenie kniete an der Seite des Geliebten nieder, und die Feier begann. Im Hintergrunde des Zimmers, von den Blumen verdeckt, standen einige Sänger und Sängerinnen aus unserem Bekanntenkreise, und ihnen hatten sich einige Burschen aus dem Dorfe angeschlossen, dessen Schullehrer sie im Gesang trefflich geschult hatte. Sie begrüßten das Brautpaar mit sanften Tönen, dann sprach der Geistliche ernste und milde Worte und vollzog die Trauung. Bei der Beglückwünschung der Neuvermählten ließ Tante Ulrike eine Menge Einwohner des Dorfes in das Zimmer treten, welche dringend baten, dem lieben Herrn ihre Glückwünsche bringen zu dürfen, und vom Hofe herauf erschallte endloser Jubel, denn dort war das ganze Dorf versammelt, Alt und Jung, welche Alle auf die wunderbare Nachricht herbeiströmten.

Ein frohes Festmahl, das Tante Ulrike gestern schnell angeordnet, folgte der Feier, und auch das ganze Dorf erhielt seinen Antheil; denn auf dem Rasen des Hofes erhoben sich bald lange Tafeln, auf denen die Knechte und Mägde des Gutes, sowie sämmtliche Kinder aus dem Dorfe gespeist wurden. Es war eine unvergeßlich frohe Hochzeit, und der Baron bald weich und voll stillen Glückes, bald so lustig und übersprudelnd von Humor und Neckerei, daß man ihn gar nicht wieder erkannte. Am Abend mischten wir jungen Leute uns unter die Tänzer des Dorfes, und die Burschen trugen den Kopf noch einmal so hoch, wenn ihre schöne junge Herrin mit ihnen tanzte. Der Baron freilich konnte die jungen Bauerdirnen nicht auch stolz machen, indem er sich mit ihnen umherdrehte, aber getanzt hatte er ja überhaupt nie, da wußte es niemand anders. »Ueberhaupt,« sagte der Baron lächelnd zu seiner schönen Frau, »jetzt habe ich doch eine Entschuldigung, wenn ich in meiner Steifheit alle Stühle und Tische umwerfe; denn nun heißt's: »der arme Mann hat einen lahmen Fuß, er kann nichts für seine Tölpelei.«

Erst spät wurde es still auf Schloß Senftenburg, denn als die Nacht herein brach, und die Wagen der Gäste zum Schloßthore hinaus rollten, kam noch ein prächtiger Fackelzug die Dorfstraße herauf. Die Bauern brachten ihrer lieben Herrschaft noch ein jubelndes Lebehoch zum Abschied, und unter Jauchzen und Fackelschein fuhren wir fröhlich zum Dorfe hinaus.

Diesem frohen Feste folgte nun eine stille Zeit, denn Tante Ulrike reiste andern Tags zu ihrer kranken Schwester, und bald gab sie uns Nachricht, in welch' traurigem Zustande sie dieselbe gefunden, und daß sie die Leidende nicht mehr verlassen werde, da ihr Ende nahe zu sein scheine. Mein Papa hatte der Tante den Vorschlag gemacht, mich gleich jetzt wieder mit nach der Heimath zu nehmen, von wo ich ja schon länger abwesend war, als bei meiner Abreise bestimmt worden. Die Tante jedoch wünschte meine Begleitung auf der schon früher besprochenen Reise, und da meine Eltern mir dies Vergnügen von Herzen gönnten, so blieb ich noch in Berlin, oder vielmehr bei Eugenien, welche sich wie ein Kind freute, ihr Gänseblümchen als Gast ihres Hauses bei sich behalten zu können.

Es war eine schöne Zeit, reich an frohen und gemüthvollen Stunden, welche ich jetzt in dem lieben Senftenburg verlebte! Eugenie überhäufte mich mit Liebe und Güte, und wenn der Schalk auch noch überall in tausend Neckereien wieder zum Vorschein kam, so schien sie mir doch jetzt ein ganz anderes Wesen geworden zu sein, das ich mehr als je liebte.

Der Aufenthalt auf Schloß Senftenburg war mir doppelt angenehm, sobald ich bemerkte, wie nützlich meine Anwesenheit Eugenien wurde. Diese verließ ihren Gatten nur sehr ungern, um anderen Pflichten nachzukommen, und so übernahm ich die häuslichen Geschäfte nun mit großem Eifer und schaltete und waltete Tag für Tag ziemlich selbständig in den Räumen des alten Schlosses. Eugeniens schöne Ausstattung hier überall einzuräumen war ein wirkliches Vergnügen, und glücklich wie ein Kind hüpfte und tanzte die junge Frau zwischen den Sachen umher, welche ich ordnete, und damit auch der Baron von all der Herrlichkeit etwas zu sehen bekam, rollte sie dessen Lehnstuhl fröhlich aus einem Zimmer in das andere, von einem Schranke zum andern. Bald mußte er die Blumen auf den Damastgedecken bewundern, bald die glatten weißen Bettüberzüge, welche zierlich mit rothseidenen Bändern umwunden waren. Dann wieder ließ sie die Sonne in den weißen, rothen und grünen Gläsern ihres Geschirrschrankes blitzen, oder baute Teller und Schüsseln aus ihrem kostbaren Tafelservice vor ihm auf; die weichen Polster ihrer schönen Sopha's und Lehnstühle mußte er selbst prüfen, die gestickten Gardinen und Tischdecken bewundern, ja sogar ihr Kleiderschrank wurde seines reichen Inhalts beraubt, um letztere den Augen des bewundernden Gatten vorgeführt zu werden. Ich erkannte Eugenien gar nicht wieder, denn wie gleichgültig war ihr bis jetzt alles gewesen, was dergleichen Dinge betraf! »Jetzt gehört es zur jungen Hausfrau, da wird es schon Werth für sie bekommen,« hatte Tante Ulrike oft gesagt, und sie hatte Recht, wie immer.

Der Baron durfte seinen Fuß noch immer nicht gebrauchen, aber jetzt wartete er gern und geduldig besserer Zeiten, da Eugenie ja nun sein eigen war und ihn nicht wieder zu verlassen brauchte, wie er im Anfang immer fürchtete. An Besuchen fehlte es auf dem Schlosse auch nicht, die ehemalige Einsiedelei hatte jetzt in jeder Hinsicht ein anderes Aussehen gewonnen. Und welche liebenswürdige Wirthin war die junge Hausfrau! Man konnte nichts Hübscheres sehen, als Eugenien in ihrer neuen Würde. Mit einer Sicherheit, als wäre sie nie im Leben etwas anderes als Frau Baronin von Senft gewesen, machte sie die Honneurs des Hauses, und obwohl ihr während der Krankheit ihres Gatten allein alle Pflichten gegen ihre Gäste oblagen, entsprach sie denselben doch in jeder Weise.

Die Wirthschaft freilich ließ sie für's Erste noch in ihrer bisherigen Einrichtung, denn die Pflege des Barons war jetzt ihre einzige Sorge. Aber im Herbst, wenn sie von der Reise zurückkehren würden, da wollte sie eine Hausfrau werden, wie's keine Zweite unter der Sonne gäbe, behauptete sie. Wer das nicht glauben wollte, der möge es bleiben lassen, wenn's nur der Baron glaubte, und daß dieser alle Leistungen Eugeniens anstaunte als etwas noch nie Dagewesenes, das wußte der Schelm gut genug.

Wenige Tage nach der Hochzeit kam auch Eugeniens Vater in Senftenburg an, zum großen Jubel seiner Tochter. Er war ein schöner, schlanker Mann mit geistreichen Zügen und edlem Anstande, der feine Diplomat und Edelmann durch und durch, unbeschreiblich liebenswürdig und angenehm. So verschieden er und sein Schwiegersohn auch in der Erscheinung waren, so fanden sie sich doch bald, denn der vielseitig durchgebildete Verstand des Barons entsprach dem seines Schwiegervaters in vielen Beziehungen, und ihre beiderseitige Liebe zu Eugenien schlang ein inniges Band um ihre Herzen. Das Glück seiner Tochter, das aus deren Augen leuchtete, war der Sonnenstrahl für den ernsten, oft sehr gebeugten Vater und erheiterte sein Gemüth mehr und mehr, so daß er sich unbeschreiblich wohl fühlte im Schooße seiner Lieben. Er wollte die Ankunft Tante Ulrike's hier erwarten, um dann mit ihr und mir nach Süddeutschland zurückzukehren. Eugenie sollte alsdann mit ihrem Gatten zur Badekur nach Teplitz gehen, und auf dem Rückwege wollte Tante und ich sie daselbst besuchen, um mit ihnen gemeinsam die Heimreise anzutreten.

Nach einigen Wochen kehrte Tante Ulrike endlich zu uns zurück. Ein sanfter Tod hatte die schwer geprüfte Schwester von allem irdischen Leide befreit, und so betrübt die Tante auch über den Verlust war, der sie betroffen, so dankte sie doch Gott, daß er das Leiden der Armen nicht verlängert hatte.

Im Kreise ihrer Lieben wurde die Tante bald wieder ruhiger, und besonders trug die Anwesenheit ihres geliebten Schwagers viel dazu bei, sie aufzuheitern. Sie mochten viel und Wichtiges mit einander zu besprechen haben, denn ich sah sie stundenlang zusammen in der Akazienlaube des Parkes sitzen, oder in den saubern Kieswegen auf und nieder gehen, und auf der Tante liebem Gesicht, deren verschiedenen Ausdruck ich jetzt sehr genau kannte, ruhten dann noch lange Zeit ernste Gedanken. Eugenie sagte mir, ihr Vater halte es für das Beste, dauernd von seiner Gattin getrennt zu werden; doch die Tante redete noch immer wieder zum Guten, und nur zu gern ließ sich der gemüthvolle Mann von diesem äußersten Schritte abhalten, immer noch hoffend, die leichtsinnige Frau könne sich ändern. Wie innig bedauerte ich diesen liebenswürdigen Mann, der so viel durch die Launen eines Weibes zu leiden hatte, und wie sehr erkannte ich an diesem Beispiele, welch' wichtige Sache eine sorgfältige Erziehung ist, die alle bösen und verderblichen Anlagen im Keime erstickt.

19.
Die Reise.

Der Sommer war während dieser Zeit längst schon in das Land gezogen, der Arzt trieb zur Abreise nach Teplitz, damit der allerdings sehr steife Fuß des Barons durch die Kur vielleicht doch noch beweglicher werde, und so rüsteten wir Alle uns denn zur Abreise. Ich half Eugenien treulich, die gar zu wenig vom Einpacken verstand und es doch gern lernen wollte; aber erst als ich sah, wie Tante Ulrike einpackte, merkte ich wohl, daß ich ebenfalls nichts davon verstand und ging nun selbst erst in die Schule.

Da wir Trauerkleider trugen, bedurften wir keines großen Gepäckes, was Tante überhaupt gern vermied; sie sagte, hohe Reisekoffer und zahllose Schachteln und Kisten gäben ihr eine wenig vortheilhafte Meinung von der dazu gehörenden Reisenden, denn entweder sei dieselbe sehr eitel oder sehr unpraktisch. In der Folge sah ich selbst, wie angenehm es war, wenig Gepäck mit sich zu führen, und war ordentlich stolz auf die kleinen Dimensionen unserer Reiseeffecten im Vergleich mit denen anderer Mitreisenden. Besonders Schachteln, Kästchen, Packete und derartige Gegenstände, die man lose mit sich führt, vermied die Tante möglichst, und mit einiger Scham gedachte ich jetzt der unzähligen kleinen Kistchen und Päckchen, welche ich bei meiner Abreise vom Vaterhause um mich her thürmte; ich hätte sogar meinen Kanarienvogel in seinem Bauer auf meinen Knieen mit mir entführt, hätte Tante Ulrike dies nicht lächelnd abgewehrt.

Jetzt hatten wir nichts bei uns im Wagen, als ein Packet wohlgeschnürter Schirme, ein Bündel Shawls, von Lederriemen umschnallt, und jede von uns eine lederne Handtasche mit kleinen Bedürfnissen während der Reise, z. B. Eau de Cologne, etwas Chocolade, ein kleines Nähzeug, ein Reisehandbuch nebst Karte, Notizbuch, Bürste, Taschentuch und was dergleichen wünschenswerthe Dinge mehr waren. Alles Unnütze mußte zurück bleiben, so sehr ich oft bat und jammerte und nicht begreifen konnte, daß man auf Reisen eben allerlei entbehren muß, sonst soll man zu Hause bleiben bei seinem Comfort und seinen Siebensachen. Die Tante war früher mit ihrem Manne viel gereist, da hatte sie ihre Erfahrungen gesammelt; einfach und praktisch war sie ohnehin, und so konnte ich auch für dies neue Element keine bessere Lehrmeisterin finden. Wie wundervoll verstand sie einen Koffer zu packen! Ich hatte es versucht, aber bald war er voll und ein ganzer Berg Sachen schaute trostlos darein, denn sie fanden keinen Platz mehr in meinem Kofferchen. Da kam die Tante. Ruhig packte sie alles wieder heraus, und nun machte sie sich an's Werk. Unten auf den Boden kamen die schweren Sachen, wie Wäsche, Bücher u. dergl., dann sorgfältig gefaltet Kleider und Röcke, und obenan in einer besonderen Abtheilung Kragen, Tücher und dergleichen leichte Dinge. Bänder und Handschuhe und andere lose Kleinigkeiten flüchteten sich zusammen in ein besonderes Kästchen, das sich bescheiden in eine Ecke drückte, Lücken aber wurden nun durch Schuhe und derartige Rückstände ausgefüllt; es war ein Vergnügen, wie schließlich alles Platz fand; der kleine Koffer schien unter Tante's Händen Gummiwände bekommen zu haben, so viel nahm er in sich auf.

Eugenie reiste einige Tage früher ab als wir, und Herr v. Jagow blieb in der Gesellschaft seiner Kinder, um Eugenien alle Reisesorgen abzunehmen. Später wollte er mit uns wieder zusammentreffen, falls er Eugenien verlassen konnte; ein kleiner Badeort in den Bayrischen Alpen sollte uns wieder vereinigen.

Unsere Fahrt war Anfangs nicht sehr unterhaltend, denn sie führte uns durch langweilige Gegenden der Mark. Um so mehr hatte ich Muße, die Reisegesellschaft zu beobachten, welche sich in dem Eisenbahncoupé mit uns befand. Es waren einige Damen, alte und junge; zwei davon saßen schweigsam in ihrer Ecke, die dritte jedoch begann mit der Tante und mir sehr bald ein Gespräch und schien sich für alles zu interessiren, was man ihr mittheilte. Aber die Tante hatte augenscheinlich keine sehr große Lust, sich mit ihr zu unterhalten, sie zog ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Die gesprächige Dame widmete sich mir nun ganz allein, und obwohl ich keinen großen Gefallen an ihrer Art und Weise fand, so hielt ich mich doch für verpflichtet, ihr über alles höflich Rede zu stehen, wonach sie fragte. So erfuhr sie denn gar bald all' meine Verhältnisse, Namen und Stand der Tante, sowie Zweck und Ziel unserer Reise. Sie war sehr erfreut zu hören, daß wir das Bayrische Gebirge besuchen wollten, denn auch sie reiste dorthin und suchte Gesellschaft, welche sie in uns glaubte gefunden zu haben. Sie versprach, sich ganz nach uns richten zu wollen, gute Gesellschaft sei ihr die Hauptsache; eine einzelne Dame sei auf Reisen gar zu schlimm daran. Ich konnte ihr darin nicht Unrecht geben, und da sie eine gutmüthige, gescheute Dame zu sein schien, so ging ich auf ihre Anerbietungen freundlich ein. Nun fing sie an, die Tante mit Fragen zu bestürmen, wohin sie gehen würde, damit sie sich danach richte; diese aber schien verstimmt und gab ihr ausweichende Antworten.

Bei dem nächsten Anhaltepunkte wechselte die Tante zu meiner Verwunderung den Wagen.

»Gefiel es dir nicht in jenem Coupé, Tantchen?« fragte ich. »Wir hatten ja so gute Gesellschaft.«

»Nein, Kind, die Zudringlichkeit jener Dame war unerträglich!« sagte die Tante. »Sie gehörte sicher nicht zu der besten Art Frauen; ihr Wesen mißfiel mir vom ersten Augenblicke an.«

»Aber sie schien so gutherzig und reist so allein,« entgegnete ich mitleidig. »Ich kann mir wohl denken, wie lieb es ihr sein muß, Gesellschaft zu finden.«

»Das verstehst du nicht, Kind,« lächelte die Tante. »Sie wird nicht lange allein sein, darüber mache dir keine Sorgen. Nur auf unsere Gesellschaft wird sie verzichten müssen, wir passen nicht für sie. Uebrigens sei vorsichtiger, mein Töchterchen, und erzähle nicht Jedem gleich, wer wir sind, und was wir treiben. Auf Reisen trifft man gar zu häufig mit Personen zusammen, vor denen man sich zu hüten hat. Lieber zu schweigsam gegen deine Reisegesellschaft, als zu offenherzig; besonders ein junges Mädchen kann hierin nicht vorsichtig genug sein.«

Ich beachtete den Rath der Tante und bemerkte nun allerdings, wie zurückhaltend die meisten Mitreisenden waren, besonders die Damen. Gemüthlich war das freilich nicht, aber es gab bald so viel zu sehen, daß ich der Unterhaltung gern entbehrte.

Daß die Tante aber Recht hatte mich zur Vorsicht zu ermahnen, zeigte mir kurze Zeit darauf unser Zusammentreffen mit jener gesprächigen Dame, wovon ich hier gleich erzählen will. In dem reizenden Parthenkirchen nämlich, wo wir uns längere Zeit aufhielten, gingen wir eines Tages im Thale spazieren in Begleitung einer sehr angenehmen Familie aus Berlin, welche wir dort getroffen. Nach einiger Zeit hörten wir Lachen und laute Stimmen einer uns entgegenkommenden Gesellschaft, und bald erkannte ich in einer der Damen unsere lebhafte Reisegefährtin. Sie war höchst elegant gekleidet und schien sich durchaus nicht mehr über Einsamkeit beklagen zu können, denn eine Menge junger, eleganter Herren umgab sie, und die Unterhaltung war sehr heiter. Plötzlich erblickte sie uns und eilte auf uns zu.

»Ah, Frau von Jagow, wie freue ich mich, Sie wieder zu sehen, und Sie, Fräulein Gretchen, wie geht es Ihnen? Welch reizendes Zusammentreffen!«

Die Tante erwiederte den Gruß mit auffallender Kälte; ich freute mich auch durchaus nicht, die Dame wieder zu sehen, die mir heute noch viel weniger gefallen wollte; doch gab ich ihr freundliche Antworten auf ihre Fragen, das ging doch nicht anders. Sie schien große Lust zu haben, in unserer Gesellschaft zu bleiben, aber bald besann sie sich eines Bessern und folgte dem Rufe ihrer Begleiter, welche sehr befreundet mit ihr zu sein schienen.

»Wie in aller Welt kommen Sie zu dieser Bekanntschaft!« rief lachend Herr von Barnheim, sobald die Dame uns verlassen.

»Sie ist mit uns gereist, weiter kenne ich sie nicht,« entgegnete die Tante. »Wissen Sie vielleicht etwas Näheres über dieselbe?«

»O, so viel als alle Gäste von Parthenkirchen, mehr auch nicht!« lachte Herr von Barnheim. »Aber mich dünkt, es ist eben genug, Ihnen zu rathen, sich die gute Dame etwas fern zu halten, denn für Fräulein Gretchen scheint sie mir nicht gerade der passendste Umgang. Wie ich höre ist sie Mitglied verschiedener wandernder Schauspielertruppen gewesen und hat überall die verschiedensten Aventuren gehabt.«

Ich wurde blutroth und freute mich, daß unser Spaziergang bald ein Ende hatte, damit wir der Dame nicht etwa noch einmal begegneten. Am andern Tag erfuhren wir, daß dieselbe weiter gereist sei, und das erleichterte mein Herz außerordentlich, denn nun waren wir hoffentlich von ihrer Gesellschaft befreit.

Nach dieser Abschweifung jedoch kehre ich wieder zum Anfang unserer Reise zurück, denn noch waren wir unterwegs, und zum ersten Male fuhr ich durch ein fremdes Land. Ueber die Grenze von Preußen war ich bis jetzt nie gekommen, nun flogen wir durch Sachsen und dann abermals nach einem anderen Lande: das schöne Bayern lag vor uns.

In Sachsen fing die Gegend zuerst an, einigen Reiz zu bieten, besonders das schöne Elsterthal gefiel mir ausnehmend, und mit Staunen betrachtete ich die gewaltigen Eisenbahnbrücken, welche sich über das Thal spannen. Hof in Bayern war unser erstes Nachtquartier; andern Tages fuhren wir an Kulmbach vorüber, dessen Schloß höchst malerisch vom Felsen herab schaut, und während allen Reisenden das treffliche Bier mundete, das erste echt bayrische, ließ die Tante uns Kaffee zur Erquickung bringen. Sie selbst trank wenig und ging im Freien auf und nieder, ich aber setzte mich in dem netten Zimmer der Restauration an einen Tisch und machte es mir bequem, legte Hut und Handschuhe ab, ordnete mein Haar und blies dem heißen Kaffee von Zeit zu Zeit Kühlung zu. Eben wollte ich anfangen ihn behaglich zu schlürfen, da läuteten die Glocken zum Einsteigen, die Tante rief, und traurig mußte ich meinen schönen Kaffee im Stiche lassen. Aber das war eine gute Lehre, von nun an beeilte ich mich besser. Die schöne Gegend tröstete mich bald über den kleinen Verdruß, denn wir näherten uns Bamberg, fuhren an dem schönen Kloster Banz vorüber, und in der Ferne lagen die grünen Berge der fränkischen Schweiz.

In Bamberg blieben wir einige Tage. Was ist das für eine nette Stadt; wie prächtig liegt sie da, umkränzt von sanften Bergen und geschmückt mit dem stattlichen Dom und der Ruine Altenburg auf der Höhe! Bei prächtigem Wetter stiegen wir zu diesem alten Schlosse hinauf. Wie freute ich mich an der schönen Gegend, Berge sah ich zum ersten Male; ich wünschte mir Flügel, um mich dort hinauf zu schwingen; wie weit mußte man da oben sehen können!

Geschichtliche Erinnerungen sprachen auf dem alten Schlosse zu uns, denn im Jahre 1208 soll in dem Thurmzimmer, in welchem wir uns ausruhten, der Kaiser Philipp von Schwaben durch Otto von Wittelsbach umgebracht worden sein. Mir grauste, obwohl mir der nie verlöschende Blutfleck am Boden nicht echt erscheinen wollte; dergleichen Flecke gehören aber nun einmal zu solchen grausenhaften Geschichten.

In Hof, wo wir unser erstes Nachtquartier hielten, war ich am Morgen der Abreise nur mit Mühe und Noth mit meinem Anzug fertig geworden; denn zuerst ließ ich sehr sorglos die Zeit vergehen, und schließlich mußte ich in höchster Eile mein Haar nur halb geflochten unter den Hut stecken, da der Omnibus vor der Thür stand, uns abzuholen.

In Erinnerung an diese Angst und Hast stand ich denn am Morgen unserer Abreise von Bamberg sehr früh auf und war mit Anziehen, Einpacken und Frühstücken so zeitig fertig, daß ich die Tante um Erlaubniß bat, noch ein wenig in den Straßen umher gehen zu dürfen. »Versäume nur die Zeit nicht!« mahnte Tante Ulrike, gewährte mir aber gern meinen Wunsch. So strich ich denn frohen Sinnes in den Straßen auf und nieder und vertrieb mir die Zeit sehr angenehm, denn es war gerade Markttag, und zu allen Thoren kamen die Landleute in fremdartiger Tracht mit ihren Waaren herein, und buntes Leben herrschte bald überall.

Auch in den schönen Dom trat ich noch einmal zum Abschied, betrachtete mir die alten Bilder und Grabsteine, besonders das berühmte Denkmal von Kaiser Heinrich II. und seiner Gemahlin Kunigunde, und so bemerkte ich nicht, daß es schon spät geworden, bis die Uhr am Glockenthurm über mir plötzlich die Stunde schlug. Erschrocken eilte ich fort, denn die Zeit unserer Abreise war nahe, und noch hatte ich den Rückweg vor mir. Hastig schritt ich durch die Straßen; ich meinte, den Weg zu wissen, aber welch' ein Schrecken, ich mußte mich verirrt haben, denn plötzlich war ich wieder auf dem Platze am Dom, von wo ich ausgegangen. Ich fragte mich nun von Straße zu Straße, einer zeigte hier-, der ander dorthin; in Schweiß gebadet lief ich immer vorwärts, der nächste Weg konnte es unmöglich sein, den man mir angab. Gern hätte ich einen Wagen genommen, aber nirgends traf ich einen leeren; dem Weinen nahe bat ich endlich einen Knaben, mich zu begleiten, und athemlos gelangte ich an unserem Hôtel wieder an.

Die Tante war in großer Sorge um mich; den Frühzug hatten wir versäumt und mußten nun mit dem Mittagszuge fahren. Ich war sehr niedergeschlagen über meine Unbesonnenheit, die Tante jedoch tröstete mich; heute habe unsere Versäumniß ja nichts zu bedeuten; für ein anderes Mal möchte ich es mir zur Lehre nehmen, denn in fremder Stadt könne mir in Zukunft dergleichen öfter passiren.

Aber die Irrfahrten am Morgen waren nur das Vorspiel von anderweitigem Ungemach, das mir an dem Tage zustieß; man hat so seine Unglückstage, ich mußte heute wohl mit dem linken Fuße zuerst aus dem Bette gestiegen sein.

Als wir nämlich Mittags endlich glücklich auf der Eisenbahn angekommen waren und unsere Plätze gewählt hatten, stieg die Tante noch einmal aus dem Wagen, da sie soeben eine alte Bekannte in einem andern Coupé gesehen hatte, welche sie begrüßen wollte. Sie übergab mir die Reisebillets und eilte fort. Im selben Augenblicke wurde köstliches Obst vorbei getragen, und ich sowie alle Mitreisenden kauften davon. Man drängte sich um die offene Thür, an der ich saß, ich reichte dienstfertig Obst nach allen Seiten, nahm dafür Geld in Empfang, kurz war sehr eifrig in diese Angelegenheit vertieft und ordnete dann geschäftig unsere Sachen, die noch umher lagen.

Da kam die Tante und mit ihr der Beamte, welcher die Billets einforderte. Ich griff nach den unsrigen, welche die Tante mir gegeben, – sie waren fort! Bestürzt suchte ich am Boden, auf den Kissen, kehrte alle Taschen um, schüttelte Kleid und Tuch aus, alle Mitreisenden halfen suchen, – es war umsonst, die Billets waren nirgends zu finden. Nur der weiße Gepäckschein fand sich vor, die anderen Zettel mußten mir beim Handeln um das Obst verloren gegangen sein; ich konnte mich nicht besinnen, sie wieder gesehen zu haben, seit die Tante sie mir auf den Schooß gelegt.

Der Beamte zuckte die Achseln und bedauerte das Mißgeschick, aber ohne Billet konnte er uns beim besten Willen nicht reisen lassen; wir mußten aussteigen und neue Billets lösen. Es war die höchste Zeit, der Zug sollte sogleich abfahren, und in Hast und Eile stürzte ich zum Wagen hinaus. Da flog etwas neben mir zu Boden, es war eines der Billets. Gott sei Dank, so war doch eins wenigstens da, das zweite freilich erschien nicht, wer weiß, wohin sich das geflüchtet; ich eilte zur Kasse und war endlich froh, überhaupt noch mit fort zu kommen.

Bitterlich weinend drückte ich mich in die Wagenecke; die gute Tante sagte mir kein Wort des Vorwurfs, aber Scham und Aerger über meinen Leichtsinn verbitterten mir den Genuß der ganzen Reise. »Du mußt künftig die Billets sogleich in den Geldbeutel stecken, das ist der beste Platz,« sagte die Tante später. »So wie dir heute ist es schon manch Anderem auch ergangen. Dir wird es nun so leicht nicht wieder geschehen!« »Ja, nachdem du arme Tante meine Thorheiten mit schwerem Gelde bezahlen mußtest!« seufzte ich, ihr die Hand küssend. »Nun beruhige dich, Kind,« entgegnete sie liebevoll. »Wenn man alle Thorheiten so leicht wieder gut machen könnte, so wäre es ein Glück. Genieße jetzt die schöne Gegend und laß das Grübeln und Aergern, ich vergebe dir alles von Herzen!«

Und wahrlich, bald gab es so viel Schönes und Interessantes zu sehen, daß es mit freiem, frohem Herzen genossen sein wollte, und so war ich der Tante innig dankbar für ihre Güte und Nachsicht. Wie entzückte mich das prächtige, alterthümliche Nürnberg, wohin wir nun kamen; wie konnte ich mich nicht satt sehen an dieser merkwürdigen Stadt, voll von Schönheiten aus dem Mittelalter. Jedes Haus hat dort seine besondere Physiognomie, jedes Thürmchen, jeder Giebel, jede Dachrinne sogar den eigenthümlichsten Schmuck; Malereien, Schnitzwerk, Thierköpfe und alle dergleichen Schnörkel sieht man, wohin das Auge sich wendet, und das alles giebt den Straßen ein lustiges, buntes und doch wieder so ehrwürdiges Ansehen. Natürlich betrachteten wir alle Sehenswürdigkeiten der Stadt auf das Beste; da all diese Dinge aber viel genauer und besser in Bädekers rothem Reisehandbuch zu finden sind, so erspare ich euch und mir die Beschreibung.

Vor allem entzückte mich die Sebalduskirche mit dem herrlichen Sebaldusgrabe. Was muß dieser Meister Peter Vischer für ein Mann gewesen sein, so bürgerlich schlicht und doch so groß in seinen Werken. Die prachtvolle Lorenzerkirche hob meine Seele mächtig zu Dem empor, zu Dessen Dienste sie gebaut worden, und die wunderschöne Fensterrose über dem gothischen Eingangsportale begeisterte mich sogar zu einem kleinen poetischen Versuche, den ich ehrlich mittheilen will, da ich hier doch nun einmal all meine Schwächen und Thorheiten zum Besten gebe. Ich hoffe, meine lieben jungen Freundinnen werden ein gnädig Gericht ergehen lassen; welche von ihnen hätte nicht auch einmal ein Verschen versucht. Das meine also heißt:

Die Rose.
Zu Nürnberg, dem alten,
Im lieben Bayerland,
Da blüht eine köstliche Rose,
Gar weit und breit bekannt.
Sie blühet seit grauen Zeiten
Schon manch Jahrhundert dort,
Und immer noch duftet und strahlet
Die Krone der Blumen fort.
Noch hat aus dem blühenden Schooße
Die Zeit kein Blättchen geraubt,
Von Wetter und Sturm unberühret
Erhebt sie zum Himmel das Haupt.
Sie blüht an geheiligter Stätte
In wunderlieblichem Glanz,
Und schlanke Säulen und Bogen
Umziehn sie in herrlichem Kranz.
Aus ihrem schimmernden Kelche
Umwehet uns heiliger Duft,
Wie holde, liebliche Klänge
Durchzittert es leise die Luft.
Und auf ihren glänzenden Schwingen
Trägt sie die Sonne empor;
Sie strahlet im Dienste des Höchsten,
Wie Engel im himmlischen Chor.
Und willst du die Rose kennen?
Zu Sanct Lorenzen dort
Da blüht sie im hohen Portale
Als Fenster-Rose fort!

Soll ich nun auch noch das andere zum Besten geben, wozu das allerliebste Gänsemännchen mich angeregt? Schön ist's nicht, aber es sei darum! Also:

Auf dem Markt zu Nürrenberg
Steht ein Bauersmann,
Lieben Leute, kommt herbei,
Seht den Mann euch an.
Gänse hat er unterm Arm,
Bringt sie wohl zu Kauf?
Nimmt sie ihm denn Niemand ab?
Macht den Beutel auf!
Aber wie? sie scheinen euch
Nicht recht fett zu sein,
Auch der Preis ist viel zu hoch.
Und die Gans zu klein!
Ei das fährt dem Bäuerlein
Garstig in den Sinn,
Auf den Nürrenberger Markt
Tritt er trotzig hin.
Und dem, der zu nah ihm kommt
Diesem kleinen Wicht,
Speien seine Gänse gleich
Wasser ins Gesicht.
Und so steht er heute noch,
Allen wohl bekannt
Auf dem Nürrenberger Markt,
Gänsemann genannt.

Unerwähnt kann ich außerdem aber Eines nicht lassen, das ist der Johanneskirchhof bei Nürnberg, die eigenthümlichste Grabstätte, die man sehen kann. Edle Männer sind hier einst zur Ruhe gegangen, wie Hans Sachs, Albrecht Dürer, Peter Vischer und andere große Bürger des alten Nürnberg. Aber keine Kreuze, Urnen oder glänzende Denkmäler, keine blumenbedeckten Gräber, keine Bäume und Rasenhügel erheben sich an dieser Ruhestätte; sondern Seite an Seite, dicht an einander gereiht, bedecken hier mehr als 3000 große flache Sandsteine die ganze Länge und Breite ihrer Gräber. Sie sind verziert mit den eisernen Wappen und Namenszügen der alten Geschlechter, welche seit Jahrhunderten unter diesen Steinen schlafen gegangen. In die ausgemauerte Gruft unter denselben wird Sarg auf Sarg gestellt, alle Glieder der Familie bei einander, alle bedeckt von demselben Grabsteine, der schon vor Jahrhunderten ihre Vorfahren deckte. Wahrlich, eine Ahnentafel, ernst und gewaltig, von der Hand des Todes selbst auf den Stein eingegraben!

Das schöne Nürnberg verließ ich sehr ungern, aber es lag ja noch Schöneres vor uns, die Herrlichkeit, die keines Menschen Hand geschaffen, die wunderbare Alpenwelt! Den Besuch von München, das auf unserem Wege lag, verschoben wir bis zur Rückreise, denn Herr v. Jagow, welcher jetzt dort lebte, wollte alsdann unser Führer sein.

Nun näherten wir uns mehr und mehr der fernen Alpenkette, und unser Eintritt in diese schöne Welt hätte nicht schöner sein können: die Sonne neigte sich soeben ihrem Untergange zu und tauchte die Berge in dunkelroth schimmernde Gluth, so daß sie dastanden wie Bilder aus dem Feenreiche. Es war so über alle Begriffe erhaben und prachtvoll, daß ich still die Hände faltete, und mir Thräne auf Thräne über die Wangen lief. O Gott, wie groß, wie herrlich ist deine Welt und wie namenlos glücklich Jeder, der wie ich einen so schönen Theil davon kennen lernt! Was sind alle Werke der Menschen gegen deine Schöpfungen, deine Wunder?

Wollte ich ausführlich erzählen, wo wir nun die nächsten Wochen umher schwärmten, so könnte ich allein davon ein ganzes Buch schreiben, ohne ein Ende zu finden, und dennoch würde ich euch keinen Begriff davon geben können, wie schön es überall war, wie unvergeßlich diese so herrlichen, wonnevollen Tage.

Zuerst machten wir einen kurzen Ausflug nach dem Algäu, dem Lande der üppig grünen Wiesen und des prachtvollen Rindviehes, dessen wunderbar schöne Alpenkette mir aber freilich viel lieber war, als all dies. Immenstadt, Sonthofen und Oberstdorf waren dort die bedeutendsten Orte, von wo aus wir einzelne Streifzüge nach den Bergen unternahmen. Von Immenstadt geht die Eisenbahn nach Lindau und dem Bodensee, eine Schweizerreise aber versprach mir die Tante für ein anderes Mal, jetzt zogen wir nach den Bayrischen Alpen und deren erstem Stationspunkte Füßen. Mit besonderer Vorliebe denke ich an dies Fleckchen schöne Gotteswelt zurück; denn dort nahebei liegt die Perle der ganzen Umgegend, das reizende Hohenschwangau, wo wir uns in dem Wirthshäuschen zur Alpenrose gar zu wohl fühlten, treulich gepflegt von der Wirthin, einer munteren Tyrolerin in ihrer malerischen Nationaltracht, die rothe Rose auf dem spitzen Hut und silberne Ketten am Mieder. Dicht vor der Thür, von prachtvollen Linden überschaut, ist das einladenste Plätzchen bereit; vor uns, blitzend im reinsten Blaugrün, der stille Alp-See, auf dem sich weiße Schwäne wiegten, rings umzogen von saftigem Grün und malerischen Felswänden, über welche hinaus in weiterer Ferne einige Häupter der Alpenkette herüber schauen. Zu verdenken war es dem jungen Bayernkönig wahrlich nicht, daß er hier seiner schönen Königin Marie, welche ohnehin die rüstigste Bergsteigerin ist, ein köstliches kleines Schloß erbaut hat, das einen Blick vergönnt weit hinaus über Berge, Seen und Flachland.

Garmisch und Parthenkirchen, am Fuße des prachtvollen Zugspitz gelegen, waren, wie ich schon erwähnte, ferner die Orte, an denen wir längere Zeit verweilten, und obwohl wir dann noch weitere Touren machten, z. B. nach dem schönen Kochel- und Walchensee, so verweile ich doch nur in jenen malerisch gelegenen Flecken noch einige Augenblicke, da mir dort etwas begegnete, was ich nie wieder vergessen werde, so lang ich lebe.

20.
Ein Abenteuer.

Eingeschlossen von den mächtigen Felswänden des Zugspitz liegt dort still und einsam der friedliche Eibsee zwischen grünen Abhängen und schroffen Felsblöcken aus der Tiefe hervor schimmernd. Sein Wasser ist reich an Fischen; aber nur gering sind die Zahl derer, welche hiervon Vortheil ziehen, denn der See gehörte seit Jahrhunderten den Besitzern jener wenigen Hütten, welche sich an dem Ufer angesiedelt haben. Es ist eine wilde, zigeunerhaft aussehende Klasse von Menschen, diese Fischer des Eibsees; schwarze Augen blitzen uns aus den dunklen schmutzigen Gesichtern entgegen, und wer mit ihnen verkehrt, der sei vorsichtig, sonst wird er betrogen und überlistet, sei es auch nur um einige Kreuzer.

Doch die eigenthümliche Schönheit des Sees lockte die Fremden von allen Seiten herbei, wie unbehaglich auch die Menschen sind, die seine Ufer bewachen. Auch wir besuchten den reizenden Winkel und freuten uns an der großartigen Einsamkeit und Schönheit seiner Lage. Ein starkes, schwarzäugiges Weib mit finsterem Gesicht fuhr uns auf dem Wasser umher, und nur die reichliche Spende, womit die Tante unsere Spazierfahrt bezahlte, konnte ihren grimmigen Zügen ein Lächeln abgewinnen. Der Abend war noch ziemlich fern, als wir den Rückweg nach dem Dorfe Greinau antraten, wo unser Wagen stand. Der Weg dorthin zog sich durch grüne Wiesen und Abhänge und machte zahllose malerische Biegungen, welche reichen Stoff für meine Zeichenmappe gaben; deshalb bat ich die Tante, mit den beiden anderen Damen unserer Begleitung immer voraus zu gehen, während ich zurück blieb, um einige flüchtige Skizzen der Gegend zu zeichnen. Die Tante zögerte, mich allein zurück zu lassen; doch die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel, der Weg war viel betreten, und so that sie mir endlich den Willen, hieß jedoch den kleinen Buben bei mir zu bleiben, der uns den Weg zeigte. Ich vertiefte mich bald völlig in meine Arbeit; die Bäume hingen so unbeschreiblich malerisch über kleine Felsvorsprünge, lichte Durchblicke lockten in die Ferne, dazwischen tauchte hin und wieder ein spitzer Kirchthurm empor oder das zierliche Dach einer Bauerhütte, ich konnte kein Ende finden, ein Punkt war immer noch schöner als der andere.

Endlich sah ich, daß der Himmel sich röthete; die hellen Wände des Zugspitz leuchteten auf, als wären sie von rothem Golde, die Sonne sank, und es war die höchste Zeit für mich, den Rückweg anzutreten, da die Tante mich gewiß ungeduldig erwartete. Ich suchte meine Sachen zusammen und bemerkte nun erst, wie zwei braune Männer, vom Eibsee herkommend, sich mir näherten. Sie trugen große Stöcke in den Händen, ihr Anzug war zerlumpt und zigeunerhaft, und an dem lichten Abendhimmel hoben sich ihre riesigen Gestalten drohend empor. Ich erschrak und blickte mich ängstlich nach ihnen um, denn mit bangem Herzen dachte ich gleich an allerlei schreckliche Dinge, Raubanfälle, Mißhandlung und wer weiß, was alles, dessen man die Bewohner des Eibsees für fähig erklärte. Der Abend war nahe, mit jeder Minute wurde es dunkler, und diese Männer kamen gerade auf mich zu.

Voll Unruhe rief ich nach dem Knaben, der bis vor Kurzem in meiner Nähe gespielt hatte; aber er war verschwunden, wer weiß ob er nicht gar mit den Männern im Einverständniß handelte. Eine namenlose Angst ergriff mich, ich lief auf dem Wege fort, der nach Greinau führte; aber das Dorf war noch fern und die Männer kamen immer näher. Schon hörte ich ihre Stimmen, sie schienen mir etwas zuzurufen und lachten dazwischen. Wieder blickte ich mich angstvoll nach ihnen um und, o Entsetzen, ich sah deutlich, wie der Eine den Knüttel hob und mir damit drohte. Nun wer es kein Zweifel mehr und meine Furcht nur zu begründet, sie hatten es auf mich abgesehen. Laut schreiend stürzte ich davon, Hügel auf und ab, nichts mehr denkend, als Rettung durch die Flucht. Ich fiel über Geröll und über Baumstümpfe, verlor meinen Schirm und mein Zeichenbuch; es war mir alles gleich, nur vorwärts, vorwärts, ehe mich die Entsetzlichen erreichten, die ich immer hinter mir wußte. Jetzt hörte ich ihre Stimmen so nahe neben mir, daß mir die Sinne fast vergingen vor Angst, und ich mich eben niederwerfen wollte, ihr Mitleid anzuflehen und ihnen alles zu geben, was ich bei mir trug. Aber wie wenig war das, sie würden mich sicher plündern und mißhandeln; Da, im letzten schrecklichen Augenblicke, sah ich eine Gestalt durch die Bäume schimmern. War es einer ihrer Spießgesellen? Heftig rief ich um Hülfe und stürzte vorwärts. Gott sei Dank, es war ein gut gekleideter Herr, ich war gerettet! Mit Todesangst flog ich zu dem Fremden, seinen Schutz anzuflehen, er mochte sein wer er wollte. Aber wer begreift mein Entzücken, als ich meinen Freund Dr. Hausmann vor mir sah! Mit ausgebreiteten Armen stürzte ich ihm entgegen, und ohne recht zu wissen, was ich that, sank ich an seine Brust.

»Retten Sie mich, um Gottes Willen!« rief ich außer mir, dann vergingen mir die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rasen, Dr. Hausmann kniete neben mir. Ich fühlte mich namenlos matt und konnte mich lange nicht besinnen, was geschehen sei. Endlich aber erinnerte ich mich plötzlich an alles, und angstvoll blickte ich um mich.

»Seien Sie außer Sorge, Fräulein Gretchen, es ist nichts mehr zu fürchten,« sprach Dr. Hausmann beruhigend. »Die Männer haben sich einen bösen Scherz mit Ihnen gemacht und Sie scheinbar verfolgt, da sie Ihre Furcht bemerkten. Jetzt sind Sie ganz sicher, denn ich bleibe bei Ihnen.«

Nun erst fiel mir ein, in welcher Weise ich in meiner Angst bei dem Freunde Schutz gesucht hatte. Dunkle Gluth bedeckte mein Gesicht, ich wagte nicht aufzublicken. Dr. Hausmann bemerkte meine Pein und suchte mich davon zu befreien.

»Und Sie wundern sich gar nicht, mich hier zu sehen?« sagte er heiter und setzte sich neben mich in das Gras. »Wußten Sie denn, daß ich Sie aufsuchte?«

»Ich? Nein, wie sollte ich davon wissen?« entgegnete ich, nach Fassung ringend. »Sind Sie denn allein, und wo erfuhren Sie unseren Aufenthalt? Ich wußte nicht, daß Sie auch diese Reise beabsichtigten.«

»Es ist auch ein ganz plötzlicher Entschluß, den ich aber jetzt doppelt segne, da ich Ihnen nützlich sein konnte, Fräulein Gretchen!« sagte Dr. Hausmann und blickte mir so herzlich in die Augen, daß mir wieder alles Blut in die Wangen schoß.

»Bitte, ich möchte zur Tante, sie wird sich um mich sorgen,« flüsterte ich ängstlich und versuchte aufzustehen. Die Knie zitterten mir noch heftig, und so mußte ich mich auf den Arm meines Freundes stützen, so peinlich es mir auch war. Dieser aber plauderte munter fort und erzählte, daß Eduard ihn begleite, den ich bei der Tante in Greinau finden werde, wohin sie Beide geeilt, als sie bei ihrer Ankunft in Parthenkirchen erfahren, wo wir seien.

Das Gehen that mir gut, bald bedurfte ich des Führers nicht mehr, meine Kräfte fanden sich schnell wieder. Ich erzählte nun das Nähere meines Abenteuers und suchte meine Angst zu rechtfertigen. Mit zarter Schonung ging Dr. Hausmann darauf ein, um mir zu zeigen, wie natürlich er meine Bewegung gefunden. Gegen die Tante und Eduard, welche meine Angst übertrieben fanden und mich als ein Hasenherz etwas verhöhnten, vertheidigte er mich dann so entschieden, daß ich ihm aufrichtig dankte, besonders da er über die Art unseres Begegnens sehr leicht fort ging. Sonderbar, sonst beichtete ich meiner guten Tante Ulrike alles, was ich Thörichtes gethan; aber mein Zusammtreffen mit Dr. Hausmann konnte ich ihr unmöglich genau so beschreiben, wie es sich zugetragen, die Worte wollten absolut nicht über meine Lippen. Aber wozu auch? Dr. Hausmann schien gar nicht mehr daran zu denken, so fein und zurückhaltend benahm er sich gegen mich, und das ganze Ereigniß erschien mir endlich selbst wie ein wunderlicher Traum.

In der Gesellschaft unserer neuen Reisegefährten verbrachten wir einige sehr angenehme Wochen und durchstreiften die schönen Berge nach allen Richtungen. Auch Eugeniens Vater kam, wie er versprochen, bald zu uns, und mit ihm reisten wir endlich nach Bayerns schöner Residenz, dem interessanten München. Wie staunte ich über alle die unzähligen Kunstschätze, welche großentheils durch den kunstsinnigen König Ludwig hier geschaffen und aufgesammelt wurden. Zwei Wochen blieben wir in München, und so hatten wir reichlich Muße, uns alles genau zu betrachten: die beiden Pynakotheken, die Glyptothek, Schlösser, Kirchen und was es sonst an Sehenswürdigkeiten gab. Das Allermerkwürdigste blieb mir aber immer die erzene Riesenjungfrau Bavaria auf der Theresienwiese, in deren Kopfe wir so behaglich umherwanderten, als sei es ein Thurmstübchen, und deren Augen die prächtigsten Fensterchen bildeten, durch die wir auf München und die ganze weite Ebene schauten und weiter hinaus, wo die blauen Alpen uns freundliche Abschiedsblicke zuwarfen.

Unseren Heimweg nahmen wir durch Böhmen, um in Teplitz Eugenien und den Baron zu besuchen, von denen Herr von Jagow uns die besten Nachrichten gebracht hatte. Das Bad war dem Baron anfangs zwar nicht gut bekommen, und Eugenie hatte wahrscheinlich all ihre Heiterkeit in Bewegung setzen müssen, um den Leidenden zu zerstreuen, wenigstens konnte der dankbare Gatte uns später davon nicht genug Gutes und Liebes erzählen. Jetzt nach Beendigung der Kur jedoch ging es dem Baron vortrefflich, und die Steifigkeit seines Fußes verringerte sich von Tag zu Tage, so daß wir mit den freudigsten Hoffnungen für völlige Genesung abreisten, und der Herbst uns endlich Alle wieder in dem traulichen Wohnstübchen Tante Ulrike's versammelt sah. Wie schön auch die Reise gewesen, und wie viel Herrliches ich gesehen, hier bei der besten Tante in meiner zweiten Heimath war es doch am allerschönsten, das fühlte ich mit innigem Behagen, als die lieben Räume mich wieder so still und heimlich umgaben.

Aber mit mächtigen Schritten nahte jetzt die Zeit, in welcher ich diesen Räumen Lebewohl sagen sollte. »Für ein Jahr nehme ich dein Gretchen mit mir,« hatte Tante Ulrike zu Papa gesagt, als sie an jenem unvergeßlichen Tage mit mir von Schreibersdorf abreiste, und das zaghafte Kind sich zum ersten Male vom Elternhause trennte. O damals glaubte ich es nimmer aushalten zu können, eine solche Trennung nimmer zu ertragen. Ein Jahr! Welche Ewigkeit für mich, die bis dahin nicht einen Tag von Eltern und Geschwistern getrennt war! Zwölf lange, lange Monate! Und jetzt war mehr als ein Jahr seit jenem Tage vergangen, nicht nur zwölf Monate, sondern noch fünf außerdem, und ich lebte noch, die Trennung hatte mich nicht krank gemacht, mich nicht verzehrt und abgehärmt, wie ich einst glaubte. Nein, im Gegentheil, ich blühte frisch und kräftig in gesunder Jugendfülle, war stärker und vollständiger in der Erscheinung geworden, wenn mein Spiegel mir die Wahrheit sagte, und in der großen Stadt, in dem neuen Kreise, wohin die Tante mich geführt, und vor dem mein ängstlich Herz erzittert hatte, da fühlte ich mich jetzt mit tausend Fäden festgewachsen. So unsäglich ich mich auf die liebe theure Heimath, auf Eltern und Geschwister freute, so überkam mich doch eine grenzenlose Traurigkeit, dachte ich an die Trennung von all' den Lieben in Berlin. Die Tante mit ihrer unaussprechlichen Güte und Milde, ihrer feinen Bildung und ihrem steten Wohlwollen für mich, der ich so namenlos viel dankte, Eugenie, an die mich die herzlichste Schwesterliebe kettete, Marie, die treueste Freundin für das Leben, der Baron, Dr. Hausmann, Eduard, ach und so viele, viele, die mir lieb und theuer geworden, sie Alle ließ ich hier zurück, ich konnte den Gedanken kaum fassen. Und doch, es war nicht anders! Der Tag der Abreise kam wirklich heran und überschüttet von tausend Liebesbeweisen schied ich von allen meinen Lieben. Eugenie und der Baron gaben das Versprechen, mich im Elternhause bald zu besuchen, auch die Tante tröstete mich mit dieser Aussicht, und besonders entzückte mich der Gedanke, meine liebe Marie, wie ich dringend gebeten, bald nach meiner Heimkehr für längere Zeit im Hause meiner Eltern zu sehen.

So schied ich denn leichteren Herzens von der lieben Stätte, wo mir so viel Gutes geworden. Ein reich beschriebenes schönes Blatt hatte der gütige Gott mir in das Buch meines Lebens gefügt, ich konnte Ihm nie innig genug dafür danken!

21.
Wieder im Vaterhause.

Mit welchen Gefühlen flog ich meinem geliebten Vater nach so langer Trennung an die Brust, als er kam, mich von Berlin abzuholen und mit welchen Gefühlen wandte ich mich nun der Heimath wieder zu, nachdem der Abschied von meiner so unsäglich verehrten Tante hinter mir lag!

Wie jubelte mein Herz, als ich der Gegend immer näher kam, in der das Gut meiner Eltern lag, wo mich alles so vertraulich und bekannt anblickte! O das war doch die schönste Gegend auf der ganzen Welt, schöner als alles, was ich auf der Reise soeben noch voll Wonne und Entzücken bewundert hatte.

Bald lagen die bekannten Orte vor mir, die unser Dorf umgaben; jetzt verließen wir das Wäldchen, das mir bei der Abreise den lieben Anblick meiner Heimath zuerst entzogen. Da schaute der spitze Kirchthurm noch wie ehedem zum Himmel empor, sein grünes Kupferdach blitzte in der Sonne, und auf der goldenen Kugel dort oben drehte sich nach wie vor die glänzende Wetterfahne.

Nun kamen wir in den sandigen Hohlweg, der nach dem Dorfe führte, in welchen sich die Wagenräder so tief einwühlten, daß es immer so langsam vorwärts ging. Zu beiden Seiten des Abhanges wuchsen wie sonst gelbe Immortellen und fette Wolfsmilch; die Schmetterlinge und Bienen umflatterten die kleinen gelben Blüthen, und über uns am blauen Himmel zog eine Schaar blendend weißer Tauben hinweg. Ihr lieben freundlichen Thiere, kommt ihr mir als Boten vom Elternhause entgegen?

Am Ausgange des Hohlweges warteten wie ehedem eine Schaar Bauerkinder auf den herankommenden Wagen; die größeren Jungen knallten mit langen Peitschen, die Mädchen blickten mit ihren hellblauen Augen verlegen nach uns hin, kicherten dann und nahmen die Schürzenzipfel in den Mund, und die kleinen Kinder versteckten ihre blonden Flachsköpfe schüchtern in den Röcken der Mädchen. Auf dem Anger trieb noch immer der alte Hirte seine Schafe; der braune Regenmantel hing trotz des warmen Wetters um seine Schultern, und der blaue Strumpf, an dem er strickte, baumelte wie sonst vor ihm hin und her. Sein Hund spitzte die Ohren und sprang herbei, die Pferde anzubellen, wie es einmal alle Hunde zu thun pflegen, bis Friedrich, unser alter Kutscher, ihn mit der Peitsche fortjagte, und der Schäfer rückte grüßend an dem breitkrämpigen Hute.

Nun endlich kamen wir zu den ersten Häusern unseres Dorfes; es war Bauer Fechners Grundstück, ich kannte es wohl, kannte auch die weißbaumwollene Quaste, die da zum Fenster heraus nickte; sie saß auf einer eben solchen Mütze, und das alte gute Gesicht darunter glänzte vor lauter Vergnügen, als ich ihm meinen fröhlichen Gruß zurief.

Jetzt reihte sich Haus an Haus, überrall war ich bekannt, überall blickten gute Freunde zu den kleinen Fenstern heraus, saßen alte Bekannte auf der Bank vor der Hausthür. Hier die alte Armgard, bei der wir so oft Honig gegessen, dort Bauer Niklas, der zur Obstzeit im Garten half, da der gutherzige kleine Schuster, der uns Kindern die Schuhe flickte; dann wieder junge Mädchen, mit denen ich eingesegnet worden, Kinder, die mit meinen Geschwistern gespielt, o es war gar kein Aufhören mit Grüßen, Anrufen und Händeschütteln; ich wäre am liebsten aus dem Wagen gesprungen, doch das litt Papa nicht. Und nun kamen wir an unser Gehöft, unser liebes prächtiges Wohnhaus mit den grünen Fensterladen und dem hohen Giebel, auf dem das Storchnest saß, in dem wirklich die Störche wieder Junge hatten, gerade wie sonst, als ich zu Hause war. Die alten Linden beschatteten wieder den Platz vor dem Hause, und da, richtig da kamen die kleinen Brüder in ihrer Eselequipage, Lieschen mitten drin sitzend wie eine Dame.

»Halt still, Kutscher, ich muß hinaus, ich kann es nicht länger im Wagen aushalten!«

Fast erdrückt haben mich die Jungen, als sie sahen, ich war es, die ihnen entgegen kam. Und nun ging's im Jubel nach dem Hause! Meine Mama wollte ich gar nicht wieder los lassen; ich lachte und weinte durch einander, und dann fiel ich immer wieder Allen der Reihe nach um den Hals. Und dann kamen die Dienstleute im Hause heran, deren Augen glänzten in alter Anhänglichkeit, und nun ging es von einer Stube zur andern, von einem Winkel in den andern; alles mußte ich wiedersehen, mußte allem zeigen, daß ich noch lebte und nun wieder zu Haus sei! In Hof und Garten, in Ställen und Remisen, überall schleppten mich die Jungen umher; ich mußte alles ansehen, überall hatten sie mir etwas Neues zu zeigen, bald hier junge Tauben und Hühner, bald dort das kleine Kalb der schwarzen Bleß, oder die neue Schaukel im Schuppen und das hübsche Taubenhaus im Hühnerhofe. Und wie waren die Kinder alle gewachsen! Hannchen zählte drei Jahre weniger als ich und war der kleinen Mama fast schon über den Kopf gewachsen! Eduard, der ein Jahr jünger war als ich, verlebte gerade seine Ferien zu Hause. Er sah etwas blaß aus, der gute Junge, es war gewiß vom Wachsen, denn er überragte mich ein gutes Theil, und ich war auch nicht gerade ein Liliput. Und Anton, der stramme Bursche, und die Kleinen, Max und Ulrich und Lieschen, wie frisch und prächtig sahen sie Alle aus; ich mußte sie immer wieder küssen trotz ihrer nicht sehr saubern Gesichtchen, die mit allerlei Dorfstraßenresten verziert waren.

»Was du für ein stattlich Mädchen geworden bist, Gretchen!« sagte die Mutter, mich mit frohen Blicken musternd. »Die Stadtluft scheint dir gut zu bekommen.«

»Sie sieht wie eine Dame aus, höllisch fein!« bemerkte der Gymnasiast und zupfte an den sehr zweifelhaften Bartsprossen auf seiner Oberlippe.

»Hast du mir was mitebracht, Gretsen?« sagte die kleine Liese, und zog an den Schnüren meiner Reisetasche.

»Ja auspacken, Gretchen, auspacken!« riefen auch die anderen Kinder, und nun ging's an ein Wühlen und Kramen in meinen Sachen, daß ich die kleinen Quälgeister ernstlich abwehren mußte. Am besten geschah dies, indem ich ihnen die Geschenke an Näschereien gab, die ich ihnen »mitebracht«, wie Lieschen sagte. Dann machte ich mich selbst über das Auspacken meiner Sachen, und mit innigem Behagen räumte und kramte ich in dem niedlichen Stübchen, das Mama mir jetzt als Eigenthum anwies. Ein eben solch zierliches Himmelbett, wie ich bei Tante Ulrike besessen, schmückte auch hier mein Zimmer; die gute liebe Mama hatte mich damit gar freudig überrascht, und über meiner Kommode hing, von einem grünen Kranze umschlungen, Tante Ulrike's Bild! O das war doch gar zu schön und zart! Mit Thränen des Dankes und der Liebe küßte ich die beste der Mütter, und unter dem Bilde der Tante fanden augenblicklich meine beiden lieben Freundinnen Marie und Eugenie ihren Platz. Nun hatte ich sie alle beisammen, und jeden Abend und jeden Morgen nickte ich ihnen zu und schickte den Lieben in der Ferne die innigsten Grüße.

Neben meiner Stube schlief Hannchen, deren besondere Erziehung und Aufsicht meine gute Mutter mir nun anvertraute. »Ich denke, du wirst eine gelehrige Schülerin in dem Kinde haben,« sagte Mama dabei. »Es ist das beste Mittel für dich, deine eigene Erziehung nicht wieder zu vernachlässigen, wenn du der Schwester als gutes Vorbild dienen willst. Nun kannst du zeigen, ob du bei der Tante etwas lerntest.«

Ich freute mich unbeschreiblich über das Vertrauen, das Mama in mich setzte, indem sie mir Hannchens Erziehung übergab. Schon während meines Aufenthaltes bei Tante Ulrike war dieser Wunsch oft in mir rege geworden; denn meine sanfte Schwester, welche viel zierlicher und anmuthiger war, als ich selbst je im Leben gewesen, wuchs gleich mir in ländlichen Sitten und Manieren empor, wie wir sie zu Haus eben nicht anders kannten. Was Tante Ulrike nun an mir Gutes und Liebes gethan, das sollte jetzt meinem hübschen Schwesterchen zu Gute kommen, das war mein innigster Herzenswunsch, und die Liebe und Fügsamkeit, mit welcher das sanfte Kind mir entgegentrat, erneuerte mein Verlangen. Außerdem hoffte ich jetzt, meiner zarten Mama die Sorgen des Hauswesens durch treue Hülfe zu erleichtern und die kleinen Geschwister, besonders Lieschen, unter meine besondere Aufsicht zu nehmen. Papa hatte seit Kurzem einen Hauslehrer engagirt, welcher die Knaben in Zucht hielt und unterrichtete, und bei ihm nahm auch Hannchen ihre Stunden. Nun sollte auch ich noch seine Schülerin werden, da er sich erbot, mir in Sprachen und Musik einige Nachhülfe zu ertheilen. Natürlich nahm ich dies mit Dank an, und so lag denn ein stilles, schönes, glückliches Leben vor mir, voll Thätigkeit und Freude im Kreise meiner Lieben, und die Erinnerung an die vergangenen Tage in Berlin schmückte dieses Stillleben mit freundlichem Glanze. Ein eifriger Briefwechsel verband mich außerdem mit den fernen Freunden; denn sowohl die Tante als Marie schrieben mir lange, ausführliche Briefe, welche mich von allem unterrichteten, was sich in ihrem Kreise zutrug. Eugenie schrieb seltener, denn Briefschreiben war nicht ihre Sache, das wußte ich wohl; um so dankbarer nahm ich deshalb aber ihre heiteren, neckischen Briefchen auf, welche, wie die anderen Lebenszeichen meiner Lieben, immer großen Jubel erregten. Mit welcher Ungeduld erwartete ich stets den Boten, der drei Mal wöchentlich unsere Postmappe mit Zeitungen und Briefen aus der nächsten Stadt brachte! Stundenweit lief ich ihm oft entgegen, wenn ich auf Nachricht von Tante Ulrike oder Marie hoffte, und die Erfüllung dieser Erwartungen war der größte Festtag für mich.

Eines Tages aber kam eine sehr traurige Nachricht, welche mich tief bewegte. Tante Ulrike hatte mir schon einige Male mitgetheilt, daß Eugeniens Mutter sehr leidend zu sein scheine. Ihren versprochenen Besuch auf Schloß Senftenburg hatte sie aufgeben müssen, und Eugenie war deshalb mit dem Baron zu ihr gereist, um ihr den geliebten Gatten vorzustellen. Sie hatte die lebenslustige Frau sehr verändert gefunden, zwar immer noch voll Interesse für alle Eitelkeiten des Lebens, aber doch viel theilnahmloser und matter als früher, und von einer Weichheit des Gemüthes und einer Sehnsucht nach theilnehmender Umgebung, daß Eugenie in ihrer Herzensgüte sich kaum von ihr trennen konnte. In Folge ihrer Mittheilung kehrte Herr von Jagow augenblicklich zu seiner Gattin zurück, kam aber nur eben zur rechten Zeit, um der schwer Erkrankten ihre letzten Lebenstage zu verschönen. Ein schleichendes Fieber, das jetzt mit aller Macht ausgebrochen, setzte ihrem Leben ein Ziel; aber was die gesunde, lebensfrische Frau nie erkannt hatte, das empfand jetzt die Sterbende voll bitterster Reue. Ihr letztes Wort an ihren Gatten war eine Bitte um Vergebung des Leides, das sie ihm angethan, ihr letzter Blick ein Dank für seine treue, unverdiente Liebe.

So hatte denn der Tod dieses Leben geendet, das so wenig im Stande gewesen, Glück und Segen um sich zu verbreiten! Eugenie betrauerte die Mutter aufrichtig, denn ihr gutes Herz hing an derselben trotz aller Fehler und Schwächen, welche sie besessen. Sie wußte ihren tief gebeugten Vater zu bestimmen, die erste Trauerzeit in ihrem Hause zu verleben, und die Liebe seiner Kinder war der schönste Ersatz für alle Leiden und Entbehrungen, welche diesen edlen Mann so schwer getroffen. Ueber seine fernere Zukunft war er für den Augenblick noch unentschlossen; doch durch einen Brief Eugeniens erfuhr ich, daß ihres Vaters innigster Wunsch dahin gehe, Tante Ulrike zu bestimmen, mit ihm zusammen zu ziehen, wodurch sein einsames Leben wieder Reiz erhalten, und das so lange entbehrte Glück einer stillen Häuslichkeit ihm sein Alter versüßen würde. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Tante Ulrike, welche von jeher mit besonderer Liebe an dem einzigen Bruder ihres Gatten gehangen, den Wunsch desselben erfüllen werde; auch ihr Leben erhielt dadurch neue Bedeutung, ihre Thätigkeit einen so passenden Wirkungskreis. Freilich mußte sie alsdann Berlin verlassen, wo sie so lange Jahre gelebt, denn Herr von Jagow kehrte jetzt wieder in seine Stellung nach Braunschweig zurück; aber diese edle, allgemein verehrte Frau verstand ohne Zweifel, sich überall eine schöne Heimath zu schaffen; an ihr mußten sich die Worte Schillers bewähren, welche er in der Huldigung der Künste seinem Genius auf die Lippen gelegt, als die junge Erbprinzessin von Weimar aus ihrer russischen Heimath in deutsche Erde verpflanzt wurde, gleich jenem fremden, blühenden Baum, den die Landleute pflanzten:

Ein schönes Herz hat bald sich heim gefunden,
Es schafft sich selbst, still wirkend, seine Welt.
Und, wie der Baum sich in die Erde schlingt
Mit seiner Wurzeln Kraft, und fest sich kettet,
So rankt das Edle sich, das Treffliche,
Mit seinen Thaten an das Leben an.
Schnell knüpfen sich der Liebe zarte Bande,
Wo man beglückt, ist man im Vaterlande.

Und sie beglückte immer und überall, die beste der Frauen; ihr ganzes Leben war eine Kette steter Opfer und Liebesbeweise, welche sie ihren Mitmenschen darbrachte, wie sollte sie da nicht auch jetzt Segen in das Haus bringen, das sie zur Heimath erwählte! Eugenie war glücklich in diesen Plänen und Hoffnungen und ich mit ihr, denn wie sehr all' meine Interessen mit denen meiner Lieben in Berlin verknüpft waren, das sah ich erst ganz, nachdem ich von ihnen geschieden.

22.
Nachtrag.

Ein ganzes Jahr war vergangen seit dem Tage meiner Heimkehr in das Vaterhaus, da schaute die Sonne eines Morgens mit ganz besonderem Glanze in das Fenster meines Stübchens im Giebel. Es war noch sehr früh, der kühle Herbstmorgen braute weißlich graue Nebel über den Wiesen; auf dem bunten Laube der Bäume, das die Wege im Garten schon reichlich deckte, blitzte der feuchte Thau, und einzelne Blätter trug der Wind bis zu meinem Fenster empor, aus dem ich still sinnend meine Blicke in die Ferne hinaus schweifen ließ. Auf dem Dorfe lag noch Ruhe und Schlaf, nur über mir im Storchnest wurde es lebendig; die Alten klapperten ihrer kleinen Gesellschaft den Morgengruß zu, und bald begannen sie die Jungen im Fliegen zu unterrichten, denn die Zeit ihrer Abreise war nahe, und wehe dem Storche, der dann den langen Flug über das weite Weltmeer nicht aushalten kann: unbarmherzig wird er von seinen Gefährten getödtet, da er ihnen auf der Reise nur hinderlich ist. Weit über die Häuser des Dorfes schwebten sie hinweg und ihr weißes Gefieder glänzte im Sonnenschein. Jetzt tönte auch das Morgenlied der Lerche an mein Ohr; hoch in den blauen Aether schwirrte sie hinauf, und aus den gelben Stoppelfeldern, aus denen sie aufstieg, flatterte zu gleicher Zeit ein Volk Rebhühner kreischend empor.

Ruhe und Frieden, welche über der ganzen schönen Gotteswelt lagen, erfüllten auch meine Seele, und mit dankbar frohem Herzen blickte ich auf zu dem Vater dort oben und bat um Seinen ferneren Schutz und Segen, dessen ich in der vor mir liegenden Zeit doppelt bedurfte. Da legten sich zwei Arme um meinen Hals und zwei hellblaue sanfte Augen blickten mir liebevoll in das Gesicht.

»Guten Morgen, meine Grete! Gott segne dich!« sagte eine sanfte Stimme, und weiche Lippen drückten sich auf die meinen.

»Wie, du schon wach, Marie?« rief ich erstaunt, und blickte der Freundin in das rosig frische Gesicht; denn sie war es, die mich begrüßte, meine liebe theure Marie.

»Ich hatte auch keine Ruhe mehr in den Federn!« entgegnete sie heiter. »Die Freude raubt den Schlaf gerade wie der Schmerz. Uebrigens ist es auch gut, daß ich zeitig aufstehe, wir haben heute noch gar viel zu besorgen. Ich werde mir Hannchen wecken und mit ihr den Garten plündern. Viel Blumen giebt es freilich nicht mehr, aber etwas wird der Herbst uns schon noch liefern. Im Nothfall nehmen wir buntes Laub statt der Blumen, für Guirlanden ist alles zu gebrauchen.«

Bald sah ich die beiden hübschen Blondinen, Marie und Schwester Hannchen, in ihren hellen Morgenkleidern durch den Garten schlüpfen, und wie Bienen von Blume zu Blume schwebend zwischen den Bäumen verschwinden. Ueberall wurde es nun lebendig. Von allen Seiten ertönte der gleichmäßige Schlag der Drescher rings im Dorfe, Hunde bellten, kleine Kinder trippelten halb angekleidet aus den Thüren, Fenster wurden geöffnet, feiner Rauch wirbelte aus den Schornsteinen empor, Stimmen erklangen nah und fern, und die Frühglocke läutete. Nun duldete es auch mich nicht länger im Zimmer; eben wollte ich den jungen Mädchen in den Garten nacheilen, da öffnete sich unter mir ein Fenster, und eine fröhliche Kinderstimme krähte in die Morgenluft hinein. Wie ein Pfeil schoß ich die Treppe hinab, dem Stimmchen nach. An dem offenen Fenster stand eine schöne stattliche Amme in fremdartiger Tracht, und aus ihrem Arme tanzte ein prachtvoller dicker Knabe von nur wenig Monaten, und streckte mir krähend seine runden Arme aus den fein gestickten weißen Hemdchen entgegen. Ich kletterte außen an dem Fenster hinauf, küßte den Engelsjungen und ließ meine Blicke durch das Fenster schweifen. Im Hintergrunde desselben lag eine bildschöne junge Frau im Bette und nickte mir freundlich zu. »Guten Morgen, Eugenie, du kleiner Faulpelz!« rief ich grüßend. »Dein Sohn artet nicht nach dir, der ist schon frühzeitig munter!«

»Das weiß der liebe Himmel!« sagte die junge Frau, sich dehnend. »Der kleine Quälgeist wacht mit der Sonne auf wie ein echter Bauerjunge.«

»Das macht, weil er bei deinem Gänseblümchen, der Bauerdirne, in Kost und Wohnung ist,« lachte ich neckend. »Schöne Anlagen das zu einem jungen Baron!«

»Ein abscheulicher Bengel, ein wahrer Backfisch in Jungengestalt!« rief Eugenie. »Und auf den ist der Herr Papa so stolz, wie ich mein Lebtag noch keinen Menschen gesehen habe. Mich wundert nur, daß er sich für acht Tage von ihm trennen konnte. Ob ich fortging, das hatte gar keine Bedeutung, da hieß es: »Du bist es Gretchen schuldig, hast es ihr längst schon versprochen; ich werde auch kommen, sobald die nöthigsten Arbeiten besorgt sind, es soll ja nur eine kurze Trennung sein u. s. w.« Aber der Junge, daß er den ein paar Tage entbehren sollte, war das ein Unglück! O es ist zum Davonlaufen mit solchem Bären von einem Manne!«

»Nun du bist ihm ja auch davon gelaufen,« rief ich voll Ergötzen und schwang mich auf das Fensterbret, um mit dem Kleinen zu tändeln. Eugenie war indessen aufgestanden und trat nun zu uns, und die stolze Mutterliebe, mit dem sie ihren Knaben auf den Arm nahm, konnte unmöglich von der Zärtlichkeit des Papa's übertroffen werden, so sehr die junge Frau auch über dessen Vaterstolz schalt. Es war ein reizendes Bild, die schöne Mutter mit dem blühenden Knaben im Arm, Beide in feine weiße Morgenkleider gehüllt; neben ihnen die stattliche Amme in ihrer fremden Tracht, und zur Seite die grünen Zweige eines Akazienbaumes, durch welche einzelne Sonnenstrahlen hindurch fielen.

Aber lange blieben wir nicht allein. Bald ging die Hausthür auf, und meine jüngeren Geschwister, »die Rotte Korah«, wie Eugenie sie nannte, stürmten heraus. Ich sprang von meinem Fenstersitz herab, und das war gut, sonst hätten mich die kleinen Feuergeister herunter gerissen, so fuhren sie alle auf mich los.

»Frischen Kuchen, Gretel! Frischen Kuchen, komm geschwind!« riefen sie durcheinander.

»Sechs große Napfkuchen, zehn Zuckerkuchen mit Rosinen, drei Streußelkuchen, acht Pflaumenkuchen, und noch viel mehr, komm doch nur, im Backhause kannst du alles sehen!«

»Und der Gärtner schneidet die letzten Weintrauben vom Spalier, und wir sollen die Birnbäume schütteln und die Pflaumenbäume, – und Kathrine schlachtet die fettsten Truthähne, – und Herr Candidat Reier macht mit dem Kutscher im Garten das Feuerwerk zurecht, und wir sollen die bunten Ballons an die Bäume hängen!« so rief und jubelte es durch einander, daß man kaum ein Wort deutlich verstehen konnte. Es half nichts, ich mußte mit ihnen kommen und alles mit ansehen, wovon sie erzählten. Bald zogen sie mich unter die Obstbäume im Grasgarten, bald zu den Hühnern und Tauben auf dem Hofe; hier mußte ich die süßen Trauben kosten, die der Gärtner mir reichte, dort wieder den köstlichen Duft des frischen Kuchens einathmen, der in großer Menge aufgehäuft lag. Ueberall war Leben und Geschäftigkeit, und überall schwirrten die lebhaften Kinder umher, die natürlich Jedermann im Wege waren und von Einem zum Andern liefen, um zu fragen, ob sie etwas helfen könnten.

»Kommt, wir wollen mit Marie und Hannchen Kränze winden!« rief ich endlich, um Mama von der lästigen kleinen Bande zu befreien. Im Jubel zogen wir denn Alle nach der Weinlaube im Blumengarten, wo wir die beiden jungen Mädchen mitten unter bunten Guirlanden und Blumen geschäftig fanden. Sobald sie mich erblickten, kamen sie freudig auf mich zu, und Marie setzte mir einen wunderschönen Kranz von kleinen rothen Astern auf den Kopf, so sehr ich mich auch dagegen sträubte. »Rosen giebt's nicht mehr genug, so müssen wir Hülfstruppen suchen, um dich zu krönen,« sagte sie, indem sie mich küßte. »Du bist heute die Königin des Festes und mußt eine Krone tragen, damit alle Welt dich kennt und dir huldigt.«

»Morgen ist ja erst der Hauptfesttag, heute darf ich doch noch keinen Kranz tragen!« rief ich freudig erröthend.

»Nein, nein, morgen thun es keine solch gewöhnlichen Blumen, da muß das uns Jungfrauen geheiligte grüne Reis dieses schwarze Haar zieren,« sagte Marie pathetisch und umarmte mich von Neuem. »O meine Grete,« fuhr sie weich und zärtlich fort, »wie freue ich mich, daß ich diesen Tag mit dir erleben kann!«

Mir schossen die Thränen in die Augen, und ich hielt die Freundin meines Herzens umschlungen.

»Guten Morgen, meine Damen!« ertönte jetzt eine klangvolle Männerstimme neben uns, und aufsehend erblickten wir unseren lieben Freund und Nachbar, den jungen Pfarrer Baumhard, an unserer Seite. Herzlich erfreut reichte ich ihm die Hand zum Gruß, und plaudernd gingen wir drei eine Weile im Garten umher. Doch bald wurde ich abgerufen und ließ Marie bei unserem Gast allein zurück, meine Wiederkehr erwartend. Ich wurde länger aufgehalten, als ich gedacht und meinte den Pfarrer nicht mehr zu treffen; aber als ich einen der dunkeln Lindengänge hinauf schritt, fand ich die Beiden neben einander auf einer Bank sitzend, Mariens liebes Gesicht von dunkler Gluth überzogen, und den Pfarrer mit freudig strahlenden Augen. Ein einziges Wort unseres Freundes sagte mir alles. Lange schon hatte ich die keimende Liebe dieser Beiden bemerkt; heute am Vorabende meines eigenen Hochzeittages hatte Marie sich dem braven Manne verlobt.

»Aber bitte, Fräulein Gretchen, schweigen Sie noch bis morgen,« bat der Prediger. »Ich hätte selbst meine Erklärung gegen meine geliebte Marie verzögern sollen, bis der morgende Tag vorüber war; aber ich konnte es nicht länger ertragen, über mein Geschick in Ungewißheit zu sein, morgen besonders, wo ich den Liebesbund von Marie's treuester Freundin einsegnen soll. Aber da ich nun Gewißheit habe, daß auch ich glücklich werden soll, ist alles klar und gut in mir, und ich habe Ruhe und Sammlung im Gemüth. Morgen, nachdem ich Sie eingesegnet, theure Freundin, mag die Welt auch von unserem Bunde erfahren!«

Der stille, innigste Wunsch meines Herzens war erfüllt, Marie sollte die Gattin des Mannes werden, den wir Alle so unbeschreiblich verehrten, seit er vor zwei Jahren unser Pfarrer geworden. Marie liebte ihn vom ersten Tage an, das wußte ich, und jede Stunde ihres Aufenthaltes bei uns gab ihrer Liebe neue Nahrung, denn Pastor Baumhard war unser täglicher Gast, unser vertrautester Hausfreund. Aber Woche um Woche verging, Marie war schon fast zwei Monate bei uns, und immer noch erfolgte keine Verlobung, obwohl der Pfarrer Marien entschieden auszeichnete. Doch Marie war das blödeste, schüchternste Mädchen ihm gegenüber, ich begriff sie nicht, und so war es auch ihrem Verehrer gegangen, bis dieser endlich gewaltsam die Pforte ihres Herzens erbrach, die ihm Einsicht gab in das Paradies seiner Zukunft. Nun war alles gut, nun konnte auch ich den kommenden Festtag ruhig erwarten.

Ja, meine lieben Freundinnen, es war wirklich mein Hochzeittag, zu dem diese Vorbereitungen alle getroffen wurden. Schon fast ein Jahr lang war das einstige Backfischchen eine glückliche Braut, und stand nun am Ziele aller Wünsche und Hoffnungen. Und wer war der Bräutigam? Solltet ihr das nicht längst errathen haben? Ihr dachtet vielleicht sogar früher als ich selbst daran, während ihr die vorhergehenden Blätter gelesen. Ach mein junges Herz barg freilich wohl lange schon Gefühle in sich, welche diesem Ziele zustrebten, aber ich war über dieselben so völlig im Unklaren, daß ich durchaus gar nicht wußte, was mir nur fehle, seit ich wieder in das Elternhaus zurückgekehrt war. Diese unaussprechliche Sehnsucht nach allem, was mit Berlin in Zusammenhang stand, dieses krankhafte Verlangen nach Nachricht von dorther, dieses ewige Unbehagen bei allem, was ich dachte und arbeitete, quälte mich unbeschreiblich. War ich nicht grenzenlos undankbar für all' das Gute und Schöne, das mich jetzt im Vaterhause wieder umgab, und das mich so wenig befriedigen konnte? Ich machte mir unaufhörlich die bittersten Vorwürfe darüber, vergrub mich mit leidenschaftlicher Heftigkeit in alle möglichen Arbeiten, um meine Gedanken zu zwingen, trieb mit Hannchen Französisch und Englisch, musicirte mit Herrn Reier, half Mama in Küche und Wirthschaft, spielte mit den kleinen Geschwistern selbst wie ein Kind, – es war alles umsonst! Immer wieder ertappte ich mich beim trüben, unklaren Dahinbrüten, und alle Lust und Freudigkeit schien mir entfliehen zu wollen.

So waren die ersten beiden Monate verstrichen, seit ich wieder in die Heimath zurückkehrte. Da kam eines Tages ein Brief an mich – ein Brief von einem Freunde aus Berlin – und wenige Tage darauf der Schreiber selbst. O nun wurde mit einem Male alles anders! Wie Schuppen fiel es von meinen Augen; jetzt wußte ich, was mir gefehlt, was meine leidenschaftliche Sehnsucht bedeutete. Wie helles Morgenroth leuchtete es empor an dem trüben Himmel, der mich umgeben, die Sonne des Glückes und ungeahnter Freude ging meinem jungen Leben auf! Ich war Braut, Braut des Mannes, der mir der Herrlichste schien von allen Männern, die ich je gesehen, der mir nun sagte, daß er mich liebe, seit jenem Augenblicke liebe, wo ich ihm so unbefangen kindlich entgegen getreten, und der seitdem keinen anderen Wunsch mehr gehabt, als mich zu erwerben. O welch' namenloses Glück kann doch ein kleines Menschenherz umfassen! Welch' namenloses Glück barg jetzt mein liebes trautes Vaterhaus!

Und nun war der Tag erschienen, der mich ganz glücklich machen, mich ganz mit dem vereinen sollte, außer welchem es für mich keine Freude mehr auf der Welt gab. Alle meine Freunde hatten mir versprochen, zu dem Feste zu kommen. Marie war schon wochenlang bei uns, ihre Eltern und Eduard wurden erwartet, Eugenie hatte sich mit ihrem Prachtsöhnchen aufgemacht, mir ihren Antheil zu beweisen, ihren Gatten, ihren Vater und vor allem Tante Ulrike erwarteten wir heute, und wer fehlte nun noch?

Die Wagen rollten durch das Dorf, die Hunde bellten, die Dorfjugend jubelte, und die Kutscher verkündeten mit der Peitsche knallend ihre Ankunft. War das ein Leben unter den Linden vor unserem Hause! Papa und Mama flogen Tante Ulrike an das Herz, Marie wanderte aus einem Arm in den andern, Eugenie versank vollständig bald in dem weiten Reisemantel ihres Vaters, bald in des Barons Armen, der Frau, Kind und Amme zu gleicher Zeit umschlang und sich umherspringend geberdete wie ein toller Junge, trotz seines noch immer etwas steifen Fußes. Und ich? Ja ich habe das alles eigentlich nur vom Hörensagen, denn ich sah nichts über mir als zwei blaue Augen, darin der ganze Himmel wohnte, und wurde von zwei Armen so fest umschlungen, daß ich von der ganzen übrigen Welt nichts sehen und hören konnte. – Wie? Waren denn wieder Zigeuner in der Nähe, daß ich mich so stürmisch an diese Brust flüchtete?

»Onkel Hausmann, Lieschen will auch guten Tag sagen,« rief es jetzt neben uns, und mein kleines Schwesterchen drückte ihren braunen Lockenkopf an die Knie dessen, der mich gar nicht wieder los zu lassen Miene machte.

»Guten Morgen, meine liebe kleine Schwägerin!« rief der Angeredete nun fröhlich, indem er mich frei gab und Lieschen zu sich emporhob. Jetzt drängten sich auch die Knaben herbei, den Schwager zu begrüßen, auf den die kleinen Burschen sehr stolz waren; Vater und Mutter hießen den geliebten Schwiegersohn willkommen, aber ich fand kaum Blicke und Worte genug zur Begrüßung der vielen lieben Gäste, welche mir alle so warme Glückwünsche entgegen brachten.

Unser liebes altes Wohnhaus war gewiß sehr verwundert über die vielen Fremden, die es in seinen Mauern aufnehmen mußte; aber es blickte so stolz und stattlich durch die alten Lindenbäume hernieder, als wisse es die Ehre zu würdigen, die ihm wurde, und die Störche auf dem Giebel klapperten lustig ein lautes Willkommen. Von allen Seiten fuhren jetzt noch liebe Freunde, Verwandte und Nachbarn herbei, welche das Fest mit uns begehen wollten, und in den schattigen Gängen des Parkes, wie in Haus und Hof schwirrte es lustig durcheinander. Ein herrlich warmer Herbsttag gestattete uns den Aufenthalt im Freien, und so ließ Papa auf dem Platze unter den Linden die Mittags- und Abendtafeln für alle die aufschlagen, welche drinnen im Hause keinen Raum mehr fanden. Es war ein fröhliches Treiben, und Lust und Freude belebte alle Gemüther; ich aber war die Glücklichste von allen, und wenn auch meine Lippen nicht aussprechen konnten, was mein Herz so unnennbar beseeligte, in meinen Augen stand es sicher deutlich geschrieben, denn diese Augen sahen nur eins, und das war der Geliebte meiner Seele, Theodor Hausmann.

Den Abend dieses freundlichen Festes beschloß ein prächtiges Feuerwerk, das Herr Reier im Garten abbrannte. Den Schluß desselben bildete ein höchst ergötzliches Transparent, das sich auf meinen Aufenthalt in Berlin bezog, und dessen Urheber die gottlose Eugenie gewesen. Rings um das Mittelbild gruppirten sich kleinere Scenen. Da war denn z. B. Backfischchens erste Reise dargestellt, aus nichts bestehend als aus einem Haufen Schachteln, Packeten und Kisten, über denen hoch oben ein Mädchenkopf schwebte. Ferner Backfischchen in großer Bedrängniß, die Scene bei Geh. Rath Delius, wo ich hoch aufgeschürzt mit triefendem Schirm und zerrissenen Handschuhen Amanda gegenüber auf der Stuhlecke schwebe, und dicke Schweißtropfen von Stirn und Regenschirm auf den Fußboden rollen. Dann die Straßenscene, in der ich Marie um den Hals fliege, indeß ein daneben stehender Stutzer seine Arme verlangend nach uns ausstreckt. Dann vor allem Backfischchens erstes Rencontre mit dem Freunde: unser trauliches Gespräch in jener Gesellschaft, belauscht von umstehenden Gästen, in der Ferne Tante Ulrike, die sich verzweiflungsvoll das Haar rauft. Natürlich auch Backfischchen im Ballfieber, wie sie eben im Begriff ist, Tante Ulrike in die Kleidertasche zu kriechen, später dann die Ueberreichung des Cotillonordens an »den Freund«, alles war dargestellt. So ging es fort. Unzählige kleine peinliche Momente, die ich während meines Aufenthaltes in Berlin zu bestehen hatte, gab die lose Eugenie in posirlicher Darstellung zur Schau, und Eduard, als würdiger Bänkelsänger, erklärte in köstlichen Reimen dem Publikum die Bilder zu dieser wunderbaren Geschichte. Die Hauptsache aber war das Mittelbild, betitelt: »Beelzebubs Meisterstück, eine schreckliche Mordgeschichte, zur Warnung für alle Backfischchen.« Ein Trupp wilder Teufelchen, als Zigeuner gekleidet, stürzt, Keulen, Knüttel und andere Waffen schwingend, aus dem Gebüsch hervor, gerade auf ein junges Mädchen los. Dieses aber fliegt mit ausgebreiteten Armen einer Gestalt entgegen, welche soeben auf einer Wolke zu ihr hernieder schwebt, und die zwar mit Flügeln und einem Strahlenkranze versehen ist, wie man die Engel darstellt, deren Pferdefuß aber und kleine Bockshörnchen nichts weniger als einen Engel vermuthen lassen. Er trägt die Züge Th. Hausmanns, und streckt der Flehenden die Arme entgegen, um sie in sein Reich zu entführen, das hinter ihm als höllisches Feuer lodert. Der Schluß dieses Wunderwerks lautete dazu:

Drum, lieben Mädchen, habt wohl Acht,
Nun wißt ihr, wie's Herr Satan macht!
Mit siebzehn Jahren komme ja
Dem Eibsee Keine je zu nah,
Sonst geht's wie jenem Backfisch ihr,
Verloren ist sie für und für.

Daß diese lustige Geschichte unerschöpfliche Heiterkeit erregte, war sehr begreiflich, und auch ich konnte der schelmischen Eugenie keinen Moment zürnen, so sehr sie mich auch mitgenommen hatte. Verwundert war ich nur, woher sie so manche kleinen Züge kannte, die sie selbst doch nicht mit erlebt hatte, besonders diese Schlußscene; aber sie war ja ein pfiffiger kleiner Schalk gewesen, so lange ich sie kannte, und der blieb sie ihr Lebenlang, obwohl sie jetzt eine ganz vortreffliche Gattin und Mutter geworden. Und das beste Herz schaute immer hinter dem Schelmgesicht hervor, das sollte ich auch an diesem unvergeßlichen Tage erfahren. Ihre Schalkhaftigkeit hatte sogar die würdige Tante Ulrike bewogen, mir gemeinsam mit ihr ein ebenso kostbares als neckisches Hochzeitgeschenk zu machen, welches Eugenie mir mit einem höchst launigen Gedichte überreichte. Das Geschenk der Tante bestand in einem »Backfischchen«, wie sie sagte, einem wunderschönen elastischen Armband in Gestalt eines goldenen Fisches, der sich in den Schwanz beißt und dessen Augen von zwei köstlichen Diamanten gebildet wurden. Eugenie brachte mir ebenfalls mein Ebenbild, wie sie behauptete, nämlich ein »Gänseblümchen«. Es war dies eine kostbare Broche, allerdings in Gestalt einer großen Gänseblume, deren Blumenkrone jedoch von lauter kleinen Brillanten gebildet wurde, welche auf goldenen Blättern ruhte.

Diesem ebenso geschmackvollen als kostbaren Geschenk fügte der kleine Schelm noch eine zierliche Handarbeit hinzu und zwar – ein Paar eben solch hellblauseidener Pantöffelchen, als sie selbst einst bei ihrer Ankunft in Tante's Hause an die Füße gezogen, und welche mir so vielerlei Stoff zur Verwunderung und Aerger gegeben hatten. Außer diesen und zahllosen anderen Geschenken, mit denen wir von allen Seiten erfreut wurden, erwähne ich nur noch eines geschmackvollen Kissens, auf welches meine sanfte Marie einen Strauß blauer Vergißmeinnicht gestickt hatte, und das als Unterlage diente zu dem blühenden Myrthenkranze, den sie mir überreichte.

Wie schön die Stunden waren, an denen dieses grüne Reis am folgenden Tage meine Stirn schmückte, das zu beschreiben bin ich nicht im Stande. Mein Herz war so voll Dank und Rührung über all' das namenlose Glück, das Gott mir bereitet, über all die Liebe, die mein Leben verschönte, daß ich für die Außendinge und die äußeren Festlichkeiten dieses Tages wenig Sinn und Gedanken übrig hatte. Es war, das könnt ihr glauben, eine rechte, echte, große Landhochzeit, und was das heißen will, welche Verschwendung an Blumenkränzen und Lichtern in Haus und Kirche, welche zahllosen beputzten Dorfbewohner, welch' Glockengeläut und welcher Jubel, welche Fülle von Kuchen und Getränken und Festessen, und endlich welch' fröhlicher Tanz unter unseren Linden von Alt und Jung aus dem ganzen Dorfe; – daß dies alles zu einer echten Landhochzeit gehört, das weiß nur derjenige ganz zu würdigen, der es einmal selbst mit erlebt hat.

Die frohe Kunde, daß unserem Hochzeitsfeste bald ein zweites folgen werde, und zwar vom Pastor Baumhard und meiner besten Marie, erregte endlosen Jubel; denn Bräutigam sowohl als Braut wurden von Allen, die sie kannten, so allgemein verehrt und geliebt, wie wenig Menschen. Dieser schöne Bund verherrlichte unser Fest noch um vieles, und nur schöne, harmonische Klänge waren es, die in den Herzen aller derer nachtönten, welche demselben beigewohnt.

Unter den Segenswünschen all' meiner Lieben schied ich, das Herz voll von Wehmuth und Freude, noch an demselben Tage an der Seite meines Gatten von dem geliebten Vaterhause, um einer anderen Heimath entgegen zu gehen. In Braunschweig, wo Eugeniens Vater Minister geworden, hatte Theodor die Stelle eines Regierungsrathes erhalten, und hier nun, in der Nähe meiner verehrten Tante Ulrike, welche jetzt im Hause des Schwagers lebte, erblühte mir das schönste Lebensglück, das einer Frau werden kann.

Und so nehme ich denn von euch Abschied, meine lieben Freundinnen, die ihr mir freundlich folgtet durch die ernsten und frohen Tage meiner Jugend. Möchte doch einer jeden von euch ein Glück werden, wie der gütige Gott es mir schenkte; möchtet auch ihr einst froh und dankbar wie ich zurückblicken können auf jene Zeit eurer Jugend, als auch ihr noch zu den Backfischchen zähltet.

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. In dieser Transkription werden gesperrt gesetzte Schrift sowie Textanteile in Antiqua-Schrift hervorgehoben (jedoch nicht "Dr." und römische Zahlen).

Eine ganzseitige Illustration am Buchanfang wurde hinter die Titelseite verschoben.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "erwiderte" – "erwiederte", "Goethe" – "Göthe", "Schnurbart" – "Schnurrbart", "sechszehn" – "sechzehn",

mit folgenden Ausnahmen,

Seite 18:
"." geändert in ","
(»Ohne Ueberschuh in solchem Wetter, Mädchen?«)

Seite 25:
"Wenig" geändert in "wenig"
(ich dich noch ein wenig zurecht stutzen werde)

Seite 57:
"durchzubrechen" geändert in "durchbrechen"
(schien den Damm seiner Schüchternheit zu durchbrechen)

Seite 58:
"ein" geändert in "eine"
(indem sie demselben eine leichte Verbeugung machte)

Seite 67:
"uud" geändert in "und"
(und sah ihr forschend in die Augen)

Seite 86:
"." eingefügt
(es war mir noch nie eingefallen.«)

Seite 88:
"«" eingefügt
(vierzehn Jahre und sieben Wochen?«)

Seite 107:
"verspach" geändert in "versprach"
(Das ergötzte sie sehr und sie versprach es.)

Seite 108:
"," geändert in "."
(kann sie niemals kommen. Du bist zehnmal besser daran)

Seite 134:
"überstig" geändert in "überstieg"
(Das überstieg denn doch endlich die Langmuth)

Seite 140:
"das" geändert in "daß"
(Nun erst sah ich, daß ein rothes Tuch)

Seite 145:
"nnd" geändert in "und"
(Eugenie war jetzt Feuer und Flamme)

Seite 149:
"«" eingefügt
(»Eine Vorstellung zu wohlthätigem Zwecke«,)

Seite 163:
"ägerlich" geändert in "ärgerlich"
(nie wurde er verstimmt oder ärgerlich)

Seite 163:
"Krig" geändert in "Krieg"
(was Gefühlsäußerungen ähnlich sah, den Krieg erklärt hatte)

Seite 196:
"wir" geändert in "mir"
(besonders das schöne Elsterthal gefiel mir ausnehmend)

Seite 203:
"dich" geändert in "dicht"
(Seite an Seite, dicht an einander gereiht)

Seite 205:
"malerischen" geändert in "malerisch"
(so verweile ich doch nur in jenen malerisch gelegenen Flecken)

Seite 206:
"welch" geändert in "welche"
(welche hiervon Vortheil ziehen)

Seite 208:
"war" geändert in "was"
(ihnen alles zu geben, was ich bei mir trug)

Seite 218:
"zu" geändert in "zur"
(kam aber nur eben zur rechten Zeit)







End of the Project Gutenberg EBook of Backfischchen's Leiden und Freuden., by 
Clementine Helm

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BACKFISCHCHEN'S LEIDEN UND FREUDEN ***

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501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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