*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 49603 *** [Illustration: Portaits] MODERNE GEISTER. LITERARISCHE BILDNISSE AUS DEM NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT VON GEORG BRANDES. VIERTE, VON NEUEM DURCHGESEHENE UND VERMEHRTE AUFLAGE. MIT EINEM GRUPPENBILD. FRANKFURT A/M. LITERARISCHE ANSTALT RÜTTEN & LOENING 1901. _Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung vorbehalten._ VORWORT. Es ist bekannt, wie zu Anfang dieses Jahrhunderts mehrere hervorragende Dänen das Bürgerrecht in der deutschen Litteratur zu erwerben gesucht haben. Seitdem ist der Versuch von keinem dänischen Schriftsteller mehr wiederholt worden. Ganz zu geschweigen von der politischen Spannung zwischen Deutschland und Dänemark, sind jene Beispiele theils nicht verlockend, theils nicht massgebend gewesen. Der grosse Neugestalter der dänischen Sprache, Oehlenschläger, legte dem deutschen Publikum seine Arbeiten in einem Deutsch vor, das so völlig allen Reizes entbehrte, dass er es hier zu Lande nur zu dem Ansehen eines Dichters dritten Ranges brachte. Die Erfolge aber, welche geringere Geister, die Baggesen und Steffens errangen, waren bei dem Einen durch eine wahre Chamäleonsnatur und ein in seiner Art einziges Sprachtalent, bei dem Zweiten durch die vollständige Lostrennung von der Muttersprache bedingt. Der Verfasser dieses Buches, der durchaus kein Chamäleon ist und seine Muttersprache keineswegs aufgegeben hat, vielmehr mitten in der litterarischen Bewegung steht, welche die nordischen Länder seit einiger Zeit erfasst hat, weiss recht wohl, dass der Mensch nur da wo er geboren, wo er durch und für die Verhältnisse gebildet ist, erheblichen Einfluss ausüben kann. Er hat auch nicht den Ehrgeiz, ein deutscher Schriftsteller im eigentlichen Sinne sein zu wollen. In dem vorliegenden Buch, wie in anderen Schriften, ist seine Absicht einfach die gewesen, in deutscher Sprache für Europa zu schreiben, d. h. seine Stoffe anders zu behandeln als er es für ein bloss skandinavisches Publikum thun würde. Er verdankt der Poesie, der Philosophie und der systematischen Aesthetik Deutschlands unendlich viel, da er sich aber speciell als Kritiker nicht als Schüler der deutschen Litteraturhistorie fühlt, so gibt er sich der Hoffnung hin, einen wenn auch kleinen Theil seiner Schuld an Deutschland abtragen zu können. Die Aufsätze, aus welchen dieser Band besteht und von denen auch die bereits früher in Zeitschriften veröffentlichten eine Umarbeitung erfahren haben, sind nicht als »Spähne aus der Werkstatt« eines Kritikers zu betrachten, es sind sorgfältig behandelte litterarische Portraits, welche durch ein geistiges Band verbunden sind. Allerdings lässt sich eine lebendige Gegenwart noch nicht übersehen wie eine fertige, vergangene Epoche, aber vielleicht liefert man auch von der Gegenwart ein Bild im Ganzen und trifft ihre Gesammtphysiognomie, wenn man einige ihrer typischen Gestalten so treu und lebhaft wie möglich charakterisirt. Die Behandlungsweise ist in diesen Essays sehr verschiedenartig. In einigen wird die Individualität des Schriftstellers möglichst erschöpfend dargestellt, in anderen wird nur versucht, den Menschen, wie er leibt und lebt, dem Leser vor Augen zu führen; einige sind rein psychologisch, andere bieten ein Stück Aesthetik, wieder andere sind vorzugsweise biographisch und geschichtlich. In allen enthält die Charakteristik der einzelnen Gestalt allgemeine Ideen. Auch die geschilderten Persönlichkeiten sind sehr verschiedener Art. Sie gehören nicht weniger als sechs Nationalitäten an. Allen gemeinsam ist jedoch ein Etwas, das sich leichter empfinden als definiren lässt: es sind moderne Geister. Ich will damit nicht sagen, dass sie alle ohne Ausnahme mit vollem Bewusstsein und von ganzem Herzen dem »Modernen« in Kunst und Ideen gehuldigt haben, sondern nur, dass sie, wenn auch in sehr ungleichem Grade -- was für den Beobachter den Reiz erhöht -- die moderne Geistesart vertreten. _BERLIN, im October 1881._ * * * * * Die in der Vorrede zur ersten Auflage dieses Buches ausgesprochene Hoffnung, man möge dem Verfasser, obwohl einem Fremden, in der deutschen Litteratur einen kleinen Platz einräumen, hat sich seitdem insofern erfüllt als er in den deutsch lesenden Ländern ein Publikum gefunden hat. Nur mischt sich für ihn viel Bitterkeit in diese Freude. Der Umstand, dass die dänische Regierung sich fortwährend weigerte, der Berner Convention beizutreten, hatte für ihn die Folge, dass die meisten Bücher, die mit seinem Namen versehen in der deutschen Sprache existiren, nur in grober Verunstaltung durch gewissenlos besorgte Privatausgaben vorliegen, die seine eigenen Ausgaben aus dem Markte vertrieben haben. Es ist für den Schriftsteller gewiss nicht angenehm, des äusseren Lohns für seine Arbeit beraubt zu werden; viel schlimmer ist es jedoch, diese Arbeit selbst von Pfuscherarbeiten, die seinen Namen tragen, verdrängt zu sehen. Schon seit einigen Jahren ist die zweite Auflage dieses Buches ausverkauft gewesen. In den fünfzehn Jahren, die vergangen sind, seit es zum ersten Mal erschien, hat sich Manches verändert, und die Geister, die damals noch als _modern_ betrachtet werden mussten, können kaum mehr so genannt werden. Ihr Werth hängt jedoch nicht davon ab, ob neuere Geister und Richtungen seither entstanden sind, und der Autor hat gethan was er vermochte, um Mangelhaftes zu berichtigen, Undeutliches zu verschärfen und Fehlendes zu ergänzen. So ist das Buch genau durchgesehen, bedeutend vergrössert und erheblich verbessert worden. _KOPENHAGEN, im November 1896._ * * * * * Die vierte Auflage ist noch einmal besonders mit Bezug auf die Sprachform durchgesehen und die beiden letzten Aufsätze nicht wenig vermehrt worden. _KOPENHAGEN, im November 1900._ _GEORG BRANDES._ INHALT. Seite Paul Heyse 1 Max Klinger 57 Ernest Renan 73 Gustave Flaubert 133 Edmond und Jules de Goncourt 181 Iwan Turgenjew 218 John Stuart Mill 248 Hans Christian Andersen 274 Esaias Tegnér 333 Björnstjerne Björnson 417 Henrik Ibsen 475 Druck von Reinhold Mahlau, Fa. Mahlau & Waldschmidt, Frankfurt a. M. PAUL HEYSE. (1875.) Woher kommt es, fragte ich neulich einen ausgezeichneten Portraitmaler, »dass Sie, der Sie früher mit Erfolg sich in mehreren andern Kunstfächern versucht haben, zuletzt sich ganz auf das Portrait beschränkten?« »Ich glaube daher,« antwortete er, »weil es mich am meisten ergötzt, so ein Ding, das nie dagewesen ist und nie wieder kommen wird, zu studiren und festzuhalten«. Er schien mir mit diesen Worten schlagend das Interesse zu bezeichnen, das Einen zu der einzelnen Persönlichkeit, der innern wie der äussern, hinzieht. Auch für den Kritiker ist das Individuum ein besonders verlockender Gegenstand; auch für ihn ist die Ausführung eines Portraits eine seltsam fesselnde Beschäftigung. Leider stehen seine Mittel nur allzusehr hinter denen des Malers zurück. Was kann schwieriger und vergeblicher sein, als das rein Individuelle in Worten ausdrücken zu wollen -- das, was seiner Natur nach jeder Wiedergabe durch Worte spottet! Ist die Persönlichkeit in ihrem ununterbrochenen Flusse nicht das wahre _perpetuum mobile_, das sich nicht construiren lässt? Und doch reizen und locken diese unlöslichen Aufgaben Einen immer auf's neue. Wenn man allmählich mit einem Schriftsteller vertraut geworden ist, sich in seinen Schriften frei bewegt, dunkel fühlt, dass gewisse Charakterzüge bei ihm die andern beherrschen, und dann von Natur einen kritischen Hang hat, so lässt es Einem keine Ruhe, bevor man sich selbst über seinen Eindruck Rechenschaft gegeben und sich das undeutliche Bild eines fremden Ich, das sich in unserm Innern gebildet, klar gemacht hat. Man hört oder liest Urtheile über einen Schriftsteller und findet sie albern. Warum sind sie albern? Andere Aeusserungen über ihn dünken uns halbwahr. Was fehlt ihnen, um völlig wahr zu sein? Ein neues grosses Werk von ihm erscheint. Wie ist es von den früheren schon vorbereitet? Man wird fast neugierig, zu erfahren, wie man selbst sein Talent charakterisiren würde -- und man befriedigt seine Neugier. I. Wer einen Blick auf die lange Reihe enggedruckter Bände wirft, die _Paul Heyse's_ gesammelte Werke bilden, und sich erinnert, dass der Geburtstag des Verfassers in das Jahr 1830 fällt, wird vermuthlich zuerst ausrufen: Welcher Fleiss! Unwillkürlich wird er diese staunenswerthe Productivität auf eine Willenskraft von seltener Ausdauer zurückführen. Nichts desto weniger entstammt sie einer selten glücklichen Natur. Diese Natur war an und für sich von so üppiger Fruchtbarkeit, dass sie, ohne Willensanspannung oder Kraftanstrengung ihre Ernte geliefert hat; sie hat sie so mannigfach geliefert, dass man glauben möchte, sie sei nach einem bestimmten Plane und mit sorgsamem Willen gepflegt worden; es war ihr jedoch augenscheinlich vergönnt, völlig frei zu walten. Die Natur walten, »sich gehen zu lassen«,[1] das war, wie man fühlt, von Anfang an Heyse's Wahlspruch, und so kommt es, dass er mit Eigenschaften, die zu einer zerstreuten, spärlichen und fragmentarischen Production zu führen pflegen, jedes Unternehmen vollendet und abgerundet, dass er lyrische und epische Gedichte, ein grösseres Epos (Thekla), ein Dutzend Dramen, mehr als fünfzig Novellen, und zwei grosse Romane geschrieben hat. Er begann frühzeitig, schon als Schüler trat er seine literarische Laufbahn an. Und sorglos wie ein Fusswanderer, sein Lied vor sich hinpfeifend, nie sich übereilend, aus jeder Quelle trinkend, stillstehend vor den Sträuchern am Wege, und Blumen wie Beeren pflückend, im Schatten ausruhend und im Schatten wandernd, hat er nach und nach eine Bahn durchschritten, die nur möglich scheint, wenn man das Auge bei athemlosem Marschiren fest auf das Ziel heftet. Die Stimme, der Heyse als Schriftsteller folgt, ist unzweifelhaft die Stimme des Instincts. Nichts liegt ihm, obwohl er Norddeutscher ist, ferner als Instinctlosigkeit und Absichtlichkeit. Obgleich in Berlin geboren, fasst er in München Wurzel und findet in der vollblütigen süddeutschen Race und dem säftereichen süddeutschen Leben die Umgebungen, die mit seiner Anlage übereinstimmen; obgleich in Süddeutschland zu Hause, fühlt er sich immer nach Italien hingezogen, wie nach dem Lande, wo die Menschenpflanze ein von der Reflexion noch weniger gestörtes, schöneres und üppigeres Wachsthum erreicht hat, und wo die Stimme des Blutes am klarsten und stärksten spricht. Diese Stimme ist die Sirenenstimme, die ihn lockt. Natur! Natur! klingt es in seinem Ohre. Deutschland hat Schriftsteller, die fast instinctlos scheinen, und die nur ein kräftiger norddeutscher Wille zu dem, was sie geworden, gemacht hat (wie Karl Gutzkow z. B.), andere (wie Fanny Lewald), deren Werke vor Allem das Gepräge eines kräftigen norddeutschen Verstandes tragen. Nicht wollend oder überlegend, sondern seinem inneren Drange folgend, schafft und formt Heyse seine Werke. Es ist für manchen Dichter eine Versuchung, dem Leser ein etwas anderes Bild von sich, als das wirkliche, mitzutheilen. Er stellt sich gerne als das, was er zu sein _wünschte_ dar, in früheren Tagen entweder als empfindsamer oder melancholischer, in neuerer Zeit bisweilen als erfahrener oder kälter oder rauher, als er ist. Mehr als ein ausgezeichneter Dichter scheut sich, wie Mérimée oder Leconte de Lisle, so sehr seine Gefühle zur Schau zu stellen, dass er umgekehrt dahin gelangt, eine Gefühllosigkeit an den Tag zu legen, die ihm nicht ganz natürlich ist. Man setzt eine Ehre darin, erst jenseits der Schneelinie, wo das Menschliche endet, recht frei und leicht zu athmen, und aus Verachtung derer, die dort unten das Mitleid der Menge in Anspruch nehmen, erliegt man der Versuchung, sich selbst zu einer Höhe emporzuschrauben, wohin nicht der Instinct, sondern der Stolz zu steigen gebietet. Für Heyse existirt diese Versuchung nicht. Er hat nie einen Augenblick sich in eine grössere Wärme oder Kälte als die, welche er empfand, hinein schreiben können oder wollen. Er hat sich nie geberdet, als ob er mit seinem Herzblut schreibe, wenn er ruhig als Künstler formte, und er hat sich geduldig darin gefunden, dass die Kritik ihm Mangel an Wärme vorwarf. Er hat auf der andern Seite nie, wie so viele von Frankreichs vorzüglichsten Schriftstellern, eine furchtbare oder empörende Handlung mit derselben stoischen Ruhe und in demselben Tone berichten können, mit welchem man erzählt, wo ein Mann von Welt seine Cigarren kauft oder wo man den besten Champagner erhält. Er strebt weder nach dem Flammenstil der feurigen Temperamente, noch nach der Selbstbeherrschung des Weltmanns. Im Vergleich mit Swinburne scheint er kühl, und im Vergleich mit Flaubert naiv. Aber der schmale Pfad, auf welchem er wandelt, ist genau derjenige, welcher ihm vom Instincte seines Innern, von dem rein individuellen und doch so complicirten Wesen angewiesen wird, das seine _Natur_ ausmacht. II. Die Macht, der man selbst als Künstler gehorcht, wird nothwendig die Macht, welche man in seinen Werken auf den Ehrenplatz erhebt. Daher verherrlicht Heyse als Schriftsteller die Natur. Nicht, was der Mensch denkt oder will, sondern was er von Natur ist, interessirt Heyse an ihm. Die höchste Pflicht ist für ihn, die Natur zu ehren und ihrer Stimme zu folgen, die wahre Sünde ist Sünde gegen die Natur. Man lasse sie gewähren und walten! Es gibt darum nicht viele Schriftsteller, die so ausgeprägte Deterministen wie Heyse sind. An den freien Willen im überlieferten Sinne des Wortes glaubt er nicht, und steht augenscheinlich ganz ebenso skeptisch, wie sein Edwin oder Felix, Kant's kategorischem Imperativ gegenüber.[2] Aber glaubt er auch nicht an angeborene Ideen, so glaubt er doch an den angeborenen Instinct, und dieser Instinct ist ihm heilig. Er hat in seinen Novellen geschildert, wie unglücklich sich die Seele fühlt, wenn dieser Instinct entweder gestört oder unsicher ward. In der Novelle »Kenne Dich selbst« ist die Intelligenz, in der »Reise nach dem Glück« die Moral der Friedensstörer. In der ersteren Novelle hat Heyse die Qual dargestellt, welche aus einem zu frühen oder absichtlichen Eingreifen in das instinctive Leben der Seele hervorgeht. »Jene schöne Dumpfheit der Jugend, jene träumerische unbewusste Fülle, die reine Genusskraft der noch unerschöpften Sinne gingen dem jungen Franz über seinem vorzeitigen Ringen nach Selbstgewissheit verloren«.[3] Er schildert hier die Schlaflosigkeit des Geistes, die ebenso gefährlich für die Gesundheit der Seele ist, wie wirkliche Schlaflosigkeit für das Wohl des Körpers, und zeigt, wie der Reflexionskranke »jenen heimlichen dunklen Kern verliert, welcher der Kernpunkt unserer Persönlichkeit ist«. In der Novelle »Die Reise nach dem Glück« ist es die herkömmliche Moral, welche durch Verdrängung des Instincts die Seele zersplittert hat. Ein junges Mädchen hat mit Ueberwindung ihres eigenen Herzenstriebes aus eingeprägten Sittlichkeitsrücksichten in später Nacht den Geliebten fortgewiesen und ist dadurch die unschuldige Ursache seines Todes geworden. Nun verfolgt die Erinnerung an dieses Unglück sie beständig. »Wenn Einem nicht das eigene Herz den Weg weist, läuft man immer in die Irre. Ich bin schon einmal elend geworden, weil ich nicht hören wollte, ob auch mein Herz noch so laut schrie. Jetzt will ich aufmerken, wenn es nur halblaut flüstert, und für alles Andere kein Ohr haben«. (G. W. V., 199.) In dem Instinct ist die ganze Natur gegenwärtig. Ist nun die innere Zersplitterung, die dort eintritt, wo der Instinct seine leitende Kraft verloren hat, für Heyse das tiefste Unglück, so besteht umgekehrt für die Charaktere, welche er mit Vorliebe schildert, das Lebensgefühl, d. h. das tiefste Glücksgefühl, in dem Genusse der Ganzheit und Harmonie ihrer Naturen. Heyse ist natürlicherweise nicht geneigt, die Selbstreflexion ohne Weiteres als ein für das gesunde Lebensgefühl feindliches Princip anzusehen. Es scheint ungefähr seine eigene Ansicht zu sein, welche der Kranke in »Kenne Dich selbst« mit den Worten ausspricht: ebenso angenehm, wie es ihm sei, in der Nacht aufzuwachen, sich zu besinnen und zu wissen, dass er noch weiter schlafen könne, ebenso herrlich scheine es ihm, sich aus traumhaften Glückszuständen aufzuwecken, sich zu sammeln, zu reflectiren und dann sich gleichsam auf die andere Seite zu legen und weiter zu geniessen. Wenigstens hat er in seinem Roman »Kinder der Welt« Balder, den am idealsten angelegten Charakter des Buches, diesen letzten Gedanken noch gewichtvoller ausführen lassen. Schwermüthige Betrachtungen sind eben ausgesprochen worden, Betrachtungen über die Sonne, die gleichgültig über Ungerechte scheine und Gerechte und mehr Elend als Glück sehe, über die endlose, sich stets erneuernde Noth des Lebens u. s. w. Franzel, der junge socialistische Buchdrucker, hat eben entwickelt, wie der, welcher das allgemeine Loos der Menschen bedenke, am wenigsten im Stande sei zur Ruhe zu kommen, und hat in seinem Schmerz das Leben ein Unglück und eine Lüge genannt, als Balder ihm zu zeigen sucht, wie ein Leben, worin man zur Ruhe käme, überhaupt nicht mehr diesen Namen verdienen würde. Er erklärt ihm dann, worin der Lebensgenuss für ihn bestehe, nämlich darin, »Vergangenheit und Zukunft in Eins zu empfinden«. Höchst eigenthümlich hebt er hervor, dass er nicht geniessen könne, wenn er sich nicht ganz empfinde, und dass er in den stillen Augenblicken der Betrachtung alle die zerstreuten Elemente seines Wesens in einen Accord vereine. »So oft ich wollte, das heisst, so oft ich mir ein rechtes Lebensfest machen und mein bischen Dasein aus dem Grunde geniessen wollte, habe ich so zu sagen alle Lebensalter zugleich in mir erweckt, meine lachende, spielende Kindheit, wo ich noch ganz gesund war, dann das erste Aufglänzen des Denkens und der Gefühle, die ersten Jünglingsschmerzen, die Ahnung, was es um ein volles, gesundes Mannesleben sein müsste, und zugleich auch die Entsagung, die sonst nur ganz alten Menschen leicht zu werden pflegt«. Für eine solche Lebensauffassung ist das Menschenleben nicht in Augenblicke zerklüftet, die verschwinden und deren Verschwinden beklagt wird, auch nicht im Dienste sich gegenseitig widerstrebender Triebe und Gedanken zersplittert; für eine solche Fähigkeit, in jedem Augenblick Anker zu werfen, die Ganzheit und Wirklichkeit seines Wesens zu fühlen, kann das Leben nicht wie ein böser Traum zerrinnen. »Glaubst Du nicht«, sagt Balder, »dass der, welcher in jedem Moment, wenn er nur will, eine solche Fülle des Daseinsgefühls in sich erzeugen kann, es für ein leeres Wort halten muss: nicht geboren zu sein, wäre besser?«[4] Man beachte, dass es ein todtkranker Krüppel ist, welcher diese Worte spricht und noch dazu ein Krüppel, den der Dichter augenscheinlich in dem Bilde des so verschieden denkenden Leopardi's geformt hat. Die eigenthümliche Art von Genussphilosophie, die in denselben ausgesprochen wird, und die durch eine synthetische Reflexion die ganze Zeit im ewigen Jetzt sammelt, weist auf die eigene Lebensanschauung des Dichters zurück. Es ist das Lauschen der harmonisch angelegten Natur auf ihre eigenen Harmonien. Alles geben die unendlichen Götter ja ihren Lieblingen ganz, alle die unendlichen Freuden und alle die unendlichen Schmerzen ganz. Diese Lebensphilosophie nimmt selbst den Missklang des unendlichen Schmerzes in ihre innere Harmonie auf und vermag ihn für sich aufzulösen. Hier ist der Punkt, wo Heyse sich am schärfsten von Turgenjew und den andern grossen modernen Pessimisten der Poesie scheidet. Er wagt es, seinen Lieblingspersonen selbst sehr unschöne und abschreckende Vergehen beizumessen, um ihnen nach allerlei Prüfungen und Qualen den innern Frieden wiederzugeben. Der junge Baron in dem Roman »Im Paradiese« ist ein Beispiel. Eine Sünde gegen sein besseres Ich lastet auf seinem Gewissen. Die innere Harmonie mit dem eigenen Gefühl, »auf die Alles ankommt«, ist ihm verloren gegangen. Es zeigt sich im Laufe der Erzählung, dass er sich durch jenes Vergehen noch dazu gegen seinen besten Freund vergangen. Aber durch alle Irrungen und alles Unglück, das hieraus erwächst, findet er sich wieder. Die Harmonie der Natur war nur zeitweise aufgehoben, nicht, wie er es fürchtete, heillos zerstört. Unmittelbar ist der Instinct die Stimme des Blutes. Daher kommt es, dass die Individuen bei Heyse tief in Stamm und Race wurzeln. Sie scheinen wie das Gesetz Mosis zu lehren, dass die Seele im Blute ist. Sie folgen der Stimme des Blutes und appelliren an sie. Die unentwickelten sind der kräftige Ausdruck eines Racentypus; die entwickelten unter ihnen kennen ihre Natur und respectiren sie; sie nehmen sie als gegeben mit dem Gefühle, dass sie sich nicht ändern lässt; sie werden ebenso durchgängig von ihrem Naturinstinct geleitet, wie die Charaktere Balzac's vom Eigennutze. Um zu verdeutlichen, was ich meine, führe ich ein paar Stellen aus den »Kindern der Welt« an: Als Edwin in Toinette heftig verliebt ist, geht sein Bruder Balder ohne sein Wissen zu ihr, um sie zu bitten, nicht aus einer Grille oder im Leichtsinn den Bruder zurückzuweisen und sich an einen Fremden wegzuwerfen. Hierauf bekommt er die Antwort, dass sie erst jetzt erfahren und begriffen habe, woran es liege, dass sie kein Glück im Leben gewinnen könne. Sie hat das Geheimniss ihrer Herkunft entdeckt, dass nämlich ihre unglückliche Mutter nur gezwungen in die Gewalt ihres Vaters kam, und daraus erklärt sie sich's nun, dass sie, wie sie glaubt, nicht lieben kann: »Mein Freund«, sagt sie, »ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Sie und Ihr Bruder. Aber es wäre ein Verbrechen, wenn ich mir einredete, Sie könnten mir helfen, jetzt, da ich so klar Alles einsehe, von meinem Schicksal weiss, dass es mir nun einmal im _Blute liegt_«. (Die Worte sind im Texte gesperrt.) Dies ist für sie der letzte unwiderlegliche Beweisgrund. Und bei allen Personen des Buches tritt dieser an Aberglauben grenzende Respect vor der Natur hervor. Wie er sich bei Toinette findet, so bei ihrem Gegenpol Lea. Sie contrastiren in allen Punkten; nur in dieser einen Hinsicht stimmen sie überein. Als Lea, die Edwin's Frau geworden ist, erfahren hat, wie viel Macht die Erinnerung an Toinette noch über sein Herz besitzt, und als sie während ihrer Trauer einen Augenblick, in einem Buche Edwin's lesend, sich damit tröstet, wie gut sie Vieles von dem, was er geschrieben und was manchem anderen Weibe zu hoch sein würde, versteht, wirft sie plötzlich das Buch wieder fort, denn es fährt ihr durch den Sinn, »wie ohnmächtig alles Einverständniss der _Geister_ sei gegen den blinden, unvernünftigen, elementaren Zug der _Naturen_, der alle Freiheit knechtet und die Weisesten bethört«. Sie ist ein scheinbar rein intellectuell angelegtes Weib. Ein lebhafter Drang nach Wissen und geistiger Klarheit hat sie zu Edwin geleitet, er hat sie in -- der Philosophie unterrichtet. Man könnte also glauben, dass sie jetzt ihrerseits einen Kampf gegen jene magische Macht des Blutes durch einen Appell an die Geistesmächte, die sie so lange mit Edwin verbunden haben, versuchen würde. Im Gegentheil! Weit entfernt, nur als strebender Geist charakterisirt zu sein, ist sie vor Allem eine Natur. Sie hat ihn immer glühend geliebt, aber sie hat gefürchtet, dass seine Liebe, weniger heiss als die ihrige, durch Ausbrüche ihrer Leidenschaft verscheucht werde, und doch hat sie -- die Philosophin -- in ihrer Einsamkeit zu sich selbst gesagt: »Liebe ist Thorheit -- seliger Unsinn -- Lachen und Weinen ohne Sinn und Verstand. So habe ich ihn immer geliebt, bis zum Vergehen und Vergessen aller Vernunft«. Jetzt, da das Glück ihrer Ehe auf dem Spiel steht, bricht sie in die Worte aus: »Wenn er merkt, dass ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, heisses, alttestamentarisches Blut, -- vielleicht kommt er dahinter, dass er sich sehr verrechnet hat, als er mit einem solchen Wesen eine 'Vernunftehe' schliessen zu können glaubte. Vielleicht kommt der Tag, wo ich ihm Alles sagen darf, weil er selbst nicht mehr genug hat an einem bescheidenen Lebensglück, wo er etwas Stolzeres, Uebermüthigeres, Ueberschwänglicheres verlangt -- und dann kann ich ihm sagen: Du hast nicht weit zu suchen, die stillen Wasser sind tief«.[5] Alles ist hier charakteristisch, sowohl die Zurückführung auf Abstammung und Race, wie der Protest der heissen, leidenschaftlichen Natur gegen die Verkleidung der unmittelbaren Leidenschaft als vernünftige Hingebung. Nur wer mit diesem Grundzuge Heyse's vertraut ist, wird das rechte Verständniss und Interesse für eins seiner Dramen haben, das sonst sein schwächstes sein dürfte, und das aus mehreren Ursachen mir seiner nicht ganz würdig erscheint; ich meine »Die Göttin der Vernunft«. Oder ist es nicht höchst eigenthümlich, dass Heyse Angesichts der ganzen riesenhaften französischen Revolution sich aus ihr gerade diesen Stoff zurecht legt, und ihn gerade so behandelt? Mancher Dichter würde mit der Wahl eines solchen Gegenstandes sich ein Organ für das Pathos, der Revolution suchen oder er würde die reine Begeisterung der Vernunftgöttin im historischen Augenblick eine gedankenlose und unwürdige Vergangenheit adeln lassen, die sich dennoch tragisch rächt. Ein Dichter wie Hamerling könnte vielleicht etwas Ansprechendes aus diesem Gegenstande machen. Heyse erstaunte, seiner Naturanlage gemäss, bei dieser Erscheinung: ein Weib, ein Stück Natur mit weiblichem Instinct und weiblicher Leidenschaft, wird für die Vernunft, die Vernunftgöttin, d. h. die trockene, steife, rationalistische Vernunft des 18. Jahrhunderts ausgegeben! Und er dichtet dann ein Weib, das kraft der Tiefe ihrer Natur (im Grunde ihrer Zeit vorausgeeilt) von dem Gefühl ergriffen ist, dass das ungeheure All-Leben sich auf keine Schulformel zurückführen lässt, ein Weib, das liebt und fürchtet, leidet und hofft, das für das Leben ihres Vaters und ihres Geliebten zittert, das vor Qual, von dem Geliebten verkannt zu werden, verzweifelt, und lässt dann dies Weib, das als ein echtes Kind ihres Dichters gesagt hat: »Mir ist das Höchste: Nichts zu thun, was mich mit mir selbst entzweit«, mit allen Fibern vor Leidenschaft bebend, in persönlicher Verzweiflung, ohne einen Gedanken an das Allgemeine und Abstracte, an Republik oder Geistesfreiheit, und während ihr Vater vor der Kirchenthür getödtet wird, -- nothgedrungen vom Altare herab das neue Vernunft-Evangelium verkünden, das sie selbst einmal spöttisch als das Weltgesetz, dass zwei mal zwei vier sind, bezeichnet hat. Viel werthvoller, als in poetischer Hinsicht, scheint mir dies Stück als Beitrag zur Psychologie seines Dichters. Man würde Heyse indess sehr Unrecht thun, wenn man aus dem bis jetzt Hervorgehobenen schliessen würde, dass er nichts Höheres als die elementare Natur und ihre Triebe anerkenne. Mit dem Worte Instinct ist hier etwas von dem _einzelnen_ Triebe völlig Verschiedenes gemeint. Der Instinct ist der Drang, sich ganz zu bewahren. Darum kann Heyse auch sehr wohl eine freie Sympathie über die Bande des Blutes und selbst über das nächste Verwandtschafts-Verhältniss triumphiren lassen. In der Novelle »Der verlorene Sohn« versteckt und pflegt eine Mutter, ohne es zu wissen, den unschuldigen Mörder ihres Sohnes, und als dieser durch seine Liebenswürdigkeit sowohl das Herz der Mutter wie der Tochter gewinnt, lässt der Dichter ihn die Tochter als Braut heimführen. »Der verlorene Sohn« wurde in ehrlicher Nothwehr getödtet und sein Gegner hat nicht einmal seinen Namen gekannt. Selbst als die Mutter das Nähere über den Tod des Sohnes erfährt, legt sie darum der Heirath kein Hinderniss in den Weg, sondern trägt allein und ohne Jemand ihr Geheimniss zu vertrauen, das Unglück, das sie getroffen hat. Hier ist also mit voller Zustimmung des Charakters ein rein geistiges Band an die Stelle der Blutsbande getreten; die Mutter nimmt den als ihren Sohn an, durch dessen Hand ihr eigener Sohn gefallen ist; aber indem sie das thut, handelt sie in Uebereinstimmung mit ihrer tiefsten Natur und bewahrt ihre Seele ungetheilt. Das Gleiche gilt in allen Fällen, wo bei Heyse die Persönlichkeit aus Pflichtrücksichten eine wirkliche Leidenschaft, eine tiefe Liebe zurückdrängt. Wo es geschieht (wie im Drama »Marie Moroni«, in der Novelle »Die Pfadfinderin«, oder in dem Romane »Die Kinder der Welt«), da geschieht es eben, um die Treue gegen sich selbst zu bewahren, um nicht die Ganzheit und Gesundheit seines eigenen Wesens einzubüssen, und man sieht die Pflicht dem eigenen Born der Natur entströmen, indem als höchstes Pflichtgesetz das Gebot gilt, nicht in Zwiespalt mit dem eigenen Ich zu gerathen. So weit ist Heyse davon entfernt, die Natur als feindlich gegen Geist und Pflicht aufzufassen. Für ihn ist sie alles: Alles was in unserer Macht steht, was wir ausführen oder vollbringen, trägt, insofern es etwas werth ist, untrüglich ihren Stempel, und über alles, was nicht in unserer Macht steht, über unser ganzes angeborenes Schicksal gebietet sie direct, unmittelbar, allmächtig und unumschränkt. Selbst die unglücklichste Persönlichkeit, die er geschildert hat, findet, wie übel sie auch vom Schicksal behandelt worden ist, einen Trost darin, dass sie ein Kind der Natur, d. h. dass sie nicht _beeinträchtigt_ worden ist. »Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschliessen, durch eine grosse blinde Fügung des Weltlaufes sich gefunden und vereinigt haben und ich an dieser Constellation zu Grunde gehen muss -- so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein Gottvater aber, der mich unseliges Geschöpf _de coeur léger_ oder auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde herumlaufen liesse, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine Gratification in der Ewigkeit zukommen zu lassen -- nein, lieber Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir das nicht plausibel machen«.[6] So nimmt bei Heyse selbst der, dessen Leben am qualvollsten verfehlt ist, seine Zuflucht zum Naturbegriff wie zum letzten beruhigenden Gedanken, und so hat er selbst in den schmerzlichsten Stunden seines Lebens dazu seine Zuflucht genommen, und die wunderbaren Gedichte »Marianne« und »Ernst«, das Tiefste und Ergreifendste, was er geschrieben hat, sind als Zeugnisse davon zurückgeblieben. Die Natur ist sein Ausgangspunkt und sein Endziel, die Quelle seiner Poesie und ihr letztes Wort, sein Eins und Alles, sein Trost, sein Credo. III. Was er verehrt, anbetet und darstellt ist also, ganz allgemein ausgedrückt, die Natur. Aber wie er seiner eigenen Natur folgt, so stellt er auch seine eigene Natur dar, und ihr Grundzug ist der, ursprünglich harmonisch zu sein. Eine solche Bezeichnung ist sehr weit und vag. Sie lässt, unbestimmt wie sie ist, Heyse wohl nächstens als einen Nachfolger Goethe's erscheinen und passt eben so gut auf den grossen Meister. Jene Harmonie ist indessen, näher bestimmt, nicht eine weltumspannende, sondern eine verhältnissmässig enge, sie ist eine aristokratische Harmonie. Es gibt Vieles, das sie ausschliesst, Vieles, das sie nicht versöhnt, ja nicht einmal berührt. Nicht als Naturforscher, sondern als Schönheitsanbeter betrachtet Heyse das bunte Treiben des Lebens. Es ist ersichtlich genug, dass er nicht begreift, wie man Lust dazu verspüren kann, als Künstler mit Vorliebe solche Gestalten zu schildern, denen man im Leben seine Thür verschliessen würde; ja er hat selbst mit grosser Offenheit ausgesprochen, dass er nie eine Figur habe zeichnen können, die nicht irgend etwas Liebenswürdiges gehabt hätte, nie einen weiblichen Charakter, in den er nicht bis zu einem gewissen Grade verliebt gewesen wäre.[7] Darum besteht auch seine ganze Gestaltengallerie mit wenigen Ausnahmen (wie Lorinser oder Jansen's Frau) aus gleichartigen Wesen. Sie haben nicht blos Race, sondern edle Race, d. h. angeborenen Adel. Ihre gemeinsame Eigenschaft ist, was Heyse selbst als _Vornehmheit_ bezeichnet. Er nimmt das Wort in dem Sinne, dass die Vornehmheit bei allen seinen Charakteren die angeborene Unfähigkeit ist, etwas Niedriges oder Schmutziges zu begehen, bei dem Naturkinde durch die einfache Güte und Gesundheit der Seele bedingt, bei dem Culturmenschen mit dem bewussten Gefühl seines Menschenwerthes, mit der Ueberzeugung von dem Rechte eines vollen und kräftigen Menschenlebens versetzt, das seine Norm und seinen Richterstuhl in sich selber hat und mehr vor Halbheit als vor Irrthum schaudert. Heyse hat selbst einmal seinen Lieblingsterminus definirt. Im »Salamander« heisst es[8]: Ich habe meiner Tugenden und Fehler Mich nie geschämt, mit jenen nie geprunkt, Und meiner Sünden macht' ich nie den Hehler. Denn dies vor Allem, dünkt mich, ist der Punkt, Wo Freigeborne sich vom Pöbel scheiden, Der feig und heuchlerisch herumhallunkt. Den nenn' ich vornehm, der sich streng bescheiden Die eigne Ehre gibt und wenig fragt, Ob ihn die Nachbarn lästern oder neiden. Und mit fast ähnlichen Worten spricht die früher von aristokratischem Schein geblendete Toinette diesen Grundgedanken aus: »Es gibt nur Eine wahre Vornehmheit: sich selber treu zu bleiben. Gemeine Menschen kehren sich an das, was die Leute sagen, und bitten Andere um Auskunft darüber, wie sie selbst eigentlich sein sollen. Wer Adel in sich hat, lebt und stirbt von seinen eigenen Gnaden und ist also souverän«.[9] Diese Art von Adel ist denn der Stempel, den die ganze, diesem Dichtergehirn entsprungene Menschenrace trägt. Sie besitzen ihn alle, vom Bauer bis zum Philosophen, und vom Fischermädchen bis zur Gräfin. Die einfache Kellnerin in der »Reise nach dem Glück« spricht eine Lebensansicht aus, die genau mit der eben angeführten zusammenfällt[10], und wer sich nur die Mühe geben mag, die Schriften Heyse's zu durchblättern, wird entdecken, dass das kleine Wort »vornehm« oder ein Aequivalent dafür immer eins von den ersten ist, die er anbringt, sobald es gilt zu charakterisiren oder zu preisen. Man sehe z. B. in einem einzigen Band der Novellen die Anwendung des Wortes »vornehm«, um die äussere Erscheinung, Blick und Haltung zu bezeichnen (in »Mutter und Kind«, in »Am todten See«, in »Ein Abenteuer« VIII. 44, 246, 331). Oder man durchblättere, um sich von der durchgreifenden Bedeutung dieses Charakterzuges zu überzeugen, Heyses zwei erste Romane. In »Kinder der Welt« bezeichnen alle die dem Leser sympathischen Personen sich gegenseitig als adlige Geister: Franzelius nennt Edwin und Balder die wahren Aristokraten der Menschheit, Edwin findet in der höchsten Schwärmerei der Leidenschaft kein höheres Lob für Toinette und Lea als das, dass sie das Adelsgepräge tragen, und da Toinette nach der Begegnung mit Lea diese als die würdige Gattin Edwin's anerkennt, ist es wieder derselbe Ausdruck, der sich ihr zu allererst darbietet; sie bezeichnet in ihrem Briefe Lea als Edwin's »so _vornehme_, kluge und holdselige Lebensgefährtin«.[11] Und in dem Roman »Im Paradiese«, dessen ersten Entwurf wir vermuthlich in dem versificirten Fragmente »Schlechte Gesellschaft« haben, steht durchgängig die sogenannte »schlechte« Künstlergesellschaft als die wahrhaft gute und vornehme der sogenannten vornehmen Gesellschaft gegenüber.[12] Von den Künstlern ist keiner im gewöhnlichen Sinne des Wortes Aristokrat. Ihre Herkunft ist, wie die der Helden in »Kinder der Welt«, durchgehends äusserst unansehnlich. Aber die Vornehmheit liegt ihnen im Blute, sie gehören zu den Auserkorenen, die gut und richtig handeln, nicht aus Pflichtgefühl oder durch mühsame Ueberwindung schlechter Triebe, sondern aus Natur. Was Toinette irgendwo »den redlichen Willen, der Menschheit keine Schande zu machen« nennt, hat auch der Roman »Im Paradiese« als den natürlichen Adel im Gegensatze zu der auf künstlichen Principien beruhenden Noblesse aufgestellt. Wenige Dichter haben deshalb eine solche Reihe von Charakteren ohne Falsch und ohne Gemeinheit geschildert, wie Heyse. Niemand hat einen besseren Glauben an die Menschen gehabt. Den triftigsten Beweis dafür, wie lebendig sein Bedürfniss ist, überall das edle Erz in der Menschennatur hervorzuheben, liefert der Umstand, dass, wo bei ihm ein Umschlag im Charakter des Handelnden dem Leser oder dem Zuschauer eine Ueberraschung bereitet, die Enttäuschung immer darauf beruht, dass die Erwartung übertroffen wird und die Persönlichkeit sich weit besser und tüchtiger, weit edelgesinnter erweist, als Jemand geahnt hatte. Bei fast allen andern Dichtern ist die Enttäuschung die entgegengesetzte. In den Novellen, wie z. B. in »Barbarossa« oder »Die Pfadfinderin«, wird die Versöhnung dadurch bewirkt, dass die schlechte Person der Erzählung zuletzt in sich geht, und da der Kern ursprünglich gut ist und der Betreffende wohl manchen hitzigen und schlechten, aber keinen eigentlich bösen Blutstropfen in sich hat, kommt eine Art Friedensschluss zwischen ihm und dem Leser, zur Verwunderung des letzteren, zu Stande. Weit bedeutsamer jedoch als in den Novellen tritt dieser charakteristische Optimismus in Heyse's Dramen hervor. Sie verdanken ihm ohne Frage ihre besten und wirkungsvollsten, vielleicht ihre entschieden dramatischsten Scenen. Ich will ein paar Beispiele anführen. In »Elisabeth Charlotte« hat der Chevalier von Lorraine unedle Mittel aller Art benutzt, um die Heldin zu stürzen und die männliche Hauptperson des Stückes, den deutschen Gesandten Grafen Wied, aus Frankreich zu entfernen. Von dem Grafen gefordert, ist er schwer verwundet worden, und als jener von politischen Intriguen umstrickt, in die Bastille geschickt worden ist, tritt er im fünften Act im Audienzzimmer des Königs auf. Was kann er wollen? Den Grafen noch ärger anklagen? Sein unehrenhaftes Betragen fortsetzen, das seinem Gegner schon so viel Unglück und ihm selbst eine Wunde eingetragen hat? Wird er sich rächen, die Lage ausnutzen? Nein, er kommt, um die feierliche Erklärung abzugeben, dass der Graf wie ein echter Edelmann gehandelt hat, und dass er selbst an dem Duelle Schuld ist. Er wünscht sogar, selbst in die Bastille gesandt zu werden, damit sein Gegner nicht glaube, er hätte ehrlos einen unrichtigen Grund des Duells angegeben; mit anderen Worten: sogar in diesem verderbten Hofmanne lebt das Ehrgefühl als Rest des altfranzösischen Rittergeistes, ersetzt bis zu einem gewissen Grad das Gewissen, und zwingt ihn im entscheidenden Augenblick sich von seinem Schmerzenslager zu erheben, um zu Gunsten des Feindes einzuschreiten, den er rachsüchtig und rücksichtslos verfolgt hat. -- In dem schönen und volksthümlichen Schauspiel »Hans Lange« findet sich eine Scene, die bei der Aufführung die Zuschauer in athemloser Spannung hält, und deren Ausgang immer vielen Augen Thränen entlockt: es ist die Scene, wo das Leben des Junkers auf dem Spiele steht. Er ist verloren, wenn die Reiter ahnen, dass er es ist, der als Sohn des Juden verkleidet auf der Bank liegt. Da tritt der Grossknecht Henning auf, von Reitern geführt, die ihn im Stalle haben brummen hören, er wisse wohl, wo der Hase im Pfeffer liege. Henning ist vom Junker verdrängt worden; bevor dieser nach Lanzke kam, war er wie ein Kind im Hause, jetzt ist er weniger als Stiefkind geworden und er hat immer einen Groll auf den Vorgezogenen gehabt. Mit grösster Kunst wird die Scene nun so geführt, dass Henning trotz der Bitten und Verwünschungen der Eingeweihten immer deutlicher zu verstehen gibt, dass er sich an dem Junker rächen wolle, dass er wisse, wo derselbe sei, und dass keine Macht in der Welt ihn davon abhalten werde, seinen Feind zu verrathen -- bis er, feurige Kohlen auf des Anderen Haupt sammelnd und sich mit dem eingejagten Schrecken begnügend, endlich das Blatt vom Munde nimmt, um die ihm jetzt natürlich blindlings vertrauenden Verfolger vollständig auf die falsche Spur zu bringen. -- Und genau von derselben Natur ist endlich die entscheidende und schönste Scene in dem patriotischen Drama »Colberg«. Es wird Kriegsrath gehalten, aber auch die Bürger sind berufen, denn die Wichtigkeit des Augenblicks macht es wünschenswerth, dass alle Stimmen gehört werden. Alle Hoffnung für die belagerte Stadt scheint aus zu sein. Der französische General hat ein Schreiben gesandt, um Gneisenau zu einer ehrenhaften Capitulation aufzufordern. Das ganze Officiercorps erklärt sofort, dass von Uebergabe der Festung keine Rede sein kann, und Gneisenau legt dann der Bürgerschaft die Frage vor, ob man sich vom Feinde eine Frist erbitten solle um den Bürgern, Frauen und Kindern den Auszug aus der allen Schrecken preisgegebenen Stadt zu sichern. Da erhebt sich der alte pedantische Schulmeister Zipfel, ein echter altmodischer deutscher Philologe, um im Namen der Bürgerschaft die Antwort zu ertheilen. Mit vielen Umschweifen, mit lateinischen Redensarten spinnt er unter allgemeiner Ungeduld seine Rede aus. Man unterbricht ihn, man gibt ihm zu verstehen, dass man wohl wisse, er denke nur daran, dem Commandanten und den Truppen die gefährliche Vertheidigung der Stadt zu überlassen -- endlich gelingt es ihm, die Ansicht zu erklären, die er mit der langen Erzählung vom grossen Perserkriege und Leonidas mit seinen Spartanern im Sinne gehabt; die Ansicht nämlich, dass es Allen, ohne Unterschied gebühre, dazubleiben und zu sterben. Diese Scene hat Heyse _con amore_ geschrieben. Sie enthält, so zu sagen, sein ganzes System. Denn nirgends triumphirt sein guter Glaube an die Menschheit so, wie dort, wo er im Spiessbürger den Helden enthüllen, im armen Pedanten den unbeugsamen Mann aufweisen kann, den kein Anderer in ihm gefunden hätte als der Dichter allein, der es weiss, dass jede seiner Gestalten im tiefsten Grunde der Seele ein unauslöschliches Adelsgepräge trägt. IV. Den Schriftstellern, die, wie Spielhagen z. B., am häufigsten bei den Kämpfen des Bewusstseins und des Willens verweilen, und die am liebsten die grossen socialen und politischen Conflicte schildern, werden selbstverständlich die Männerfiguren besser gelingen als die der Frauen. Ein Mannescharakter wie Leo in dem Romane »In Reih' und Glied« sucht seines Gleichen, aber eine ebenso vorzügliche Frauengestalt hat Spielhagen nicht gezeichnet. Der dagegen, dessen Geist den Adel und die Anmuth des unmittelbar Natürlichen, die sichtbare und seelische Schönheit sucht, wird selbstverständlich lieber und besser Frauen schildern, als Männer. Hierin ist Heyse seinem Meister Goethe ähnlich. In fast allen seinen Productionen steht der Frauencharakter im Vordergrunde, und die männlichen Gestalten dienen hauptsächlich dazu, ihn hervorzuheben oder zu entwickeln. Da die Frauennatur in der Liebe ihr verborgenes Wesen entfaltet und die schönste Blüthe treibt, da in der Liebe die Natur als Natur durch tausend Illusionen zum Geist geadelt wird, so verherrlicht Heyse vorzugsweise die Liebe des Weibes. Er feiert die Liebe und er feiert das Weib, aber es ist seine höchste Freude, diese beiden Grossmächte im Kampfe mit einander darzustellen. Denn wenn die Liebe siegt, wenn sie als die Macht erscheint, deren Gebot das Frauenherz nicht Trotz zu bieten vermag, strahlt sie, den Widerstand überwältigend, wie eine Allmacht, und indem sie die Wirkung hat, dass das Weib unter ihrem Einflusse, im Trotz gegen sie, im Kampf wider sie, von ihr beseelt, sich im ganzen Stolz ihres Geschlechtes zusammenrafft, verleiht die Liebe ihr jene aristokratische Schönheit, welche Heyse am besten darstellt. Der angeborene Mädchenstolz ist für Heyse das Schönste in der Natur. Eine ganze Gruppe seiner Novellen könnte die Ueberschrift »Mädchenstolz« führen. Kierkegaard nennt irgendwo das Wesen des Weibes _eine Hingebung, deren Form Widerstand ist_. Dies ist wie aus Heyse's Herzen gesprochen, und dieser Widerstand ist es, der als Merkmal der adeligen Natur ihn interessirt und bezaubert. Es ist das ewig Festungsartige im weiblichen Gemüth, das ihn fesselt, das Sphinxartige, dessen Räthsel er immer wieder errathen muss. Der süsse Kern ist doppelt süss in seiner harten Schale, der feurige Champagner doppelt heiss in seiner Umwallung von Eis. Es liegt um die weibliche Natur, wie Heyse sie schildert (von L'Arrabbiata bis Julie und Irene im »Paradies«) ein Eispanzer, der verbirgt, abweist, irre führt, zerbricht und schmilzt. Die Frau behauptet ihren Adel, indem sie so lange wie möglich sich weigert, ihr Ich aus den Händen zu geben, indem sie den Schatz ihrer Liebe aufspart und aufbewahrt. Sie erhält sich ihren Adel, indem sie ihr Ich ausschliesslich in die Hände eines Einzigen legt und der übrigen Welt gegenüber abweisend dasteht. Sie ist keiner blinden Macht unterworfen. Ist der Mädchenstolz gebrochen und besiegt, so findet sie sich selbst auf der anderen Seite des Schlundes, und gibt sich frei, naturfrei möchte ich sagen. Nie kommt bei Heyse eine Verführung vor; wird eine solche ein einziges Mal als vergangenes Ereigniss erwähnt (»Mutter und Kind«), so dient sie nur dazu, die stolze Selbstbehauptung und die ebenso stolze, bewusste Selbsthingebung in das schärfste Licht zu stellen. Diese Selbstbehauptung, diese Widerstandskraft (Rabbia) wird in der Schilderung auf's mannigfaltigste variirt: Atalante in dem Drama »Meleager« hat die ganze frische Wildheit des Amazonentypus; sie zieht das Leben und das Spielen in der freien Natur, Wettlauf, Speerkampf und das Geschäft des Waidwerks weichlicher Zärtlichkeit und schmeichelnder Liebkosung, den Siegeskranz dem Brautkranze vor. In Syritha wird die erste Schamhaftigkeit geschildert, die aufgescheucht von der Hochzeit entflieht; in L'Arrabbiata der Mädchenstolz, der es weiss, wie nahe bei der schüchternen Bitte in der Seele des Mannes das rohe Verlangen liegt; im Mädchen von Treppi die instinctive Weigerung der Jungfräulichkeit; in Marianne (»Mutter und Kind«) der Frauenstolz, der bei dem sogenannten gefallenen Weibe sich unter dem Gefühl der unverschuldeten Schmach verdoppelt; in Madeleine (»Die Reise nach dem Glück«) das Pflichtgefühl gegen den von Kindheit an eingeprägten Sittlichkeitsbegriff; in Lore (»Lorenz und Lore«) das Schamgefühl des jungen Mädchens, dem Angesichts des Todes das Liebesgeständniss entschlüpft ist; in Lottka die melancholische Verschlossenheit im Gefühl angeerbter Erniedrigung; im schönen Käthchen der verzweifelte Unwille darüber, Allen zu gefallen, welcher alle Bewunderer und die eigene Schönheit zum Kukuk wünscht; in Lea die Scheu des entwickelten und reservirten Weibes, ihre Schwäche ahnen zu lassen; in Toinette der Abscheu des eingefrorenen Herzens, eine Leidenschaft zu heucheln, die es noch nicht fühlt; in Irene die Sittenstrenge einer kleinen Prinzessin; in Julie die Kälte einer Cordelia-Natur -- bis der Augenblick kommt, da alle diese Bande gesprengt werden, da alle diese Herzen flammen, da der Männerhass der Amazone und die Schüchternheit des Mädchens und die Schamhaftigkeit der Jungfrau und der Stolz der Frau und die Pflicht der Strengerzogenen und die Schwermuth der Erniedrigten und die Hülle der Schneekönigin, Alles, Alles als Holz eines einzigen ungeheuren Scheiterhaufens in süssem Rauch auf dem Altare des Liebesgottes aufgeht. Denn nicht im Widerstande, der nur Form und Schleier ist, sondern in der Hingebung sieht Heyse das Wesen des Weibes und ihre wahre Natur; und Naturanbeter, wie er ist, preist er Eros als den Unwiderstehlichen, der alle Schranken durchbricht. Das Weib bereut es nie, sich seiner Macht unterworfen zu haben, aber es kann seinen Trotz bereuen. Bettina sagt irgendwo in ihren Briefen ungefähr so: »Die Erdbeeren, die ich pflückte, hab' ich vergessen, aber die, welche ich stehen liess, brennen mir noch auf der Seele«. Heyse hat mehr als eine Variation dieses Themas gegeben: nachdem das Mädchen von Treppi sieben Jahre hindurch ihre jugendliche Sprödigkeit bereut hat, überwindet sie, als der Geliebte durch einen Zufall wieder in ihr Dorf kommt, kraft einer begeisterten und abergläubischen Ueberzeugung von der Macht und dem Recht ihrer Liebe, alle äusseren und inneren Hindernisse, die sich ihrem Glücke in den Weg stellen, sogar die Gleichgültigkeit und die Kälte des Zurückgekehrten. Madeleine in der »Reise nach dem Glück« hat, wie oben erwähnt, in einer Nacht ihren Geliebten von ihrer Thür fortgewiesen, und da er in der Finsterniss wegreisen muss, ist er mit dem Pferde gestürzt und auf der Stelle gestorben. Die Reue über ihren Trotz gegen die Liebe lässt ihr keine Ruhe: »Was half mir meine Tugend?« sagt sie; »sie war heil und ganz, und durchaus nicht fadenscheinig, und doch fror mich darin bis in's innerste Herz«.[13] Doch nicht genug damit, dass sie es bereut, der herkömmlichen Moral gefolgt zu sein: das Bild des Todten verfolgt sie Jahr aus Jahr ein; eifersüchtig scheint er über sie zu wachen. Jedes Mal in ihrem Leben, wenn sie glaubt, das Geschehene vergessen und das Glück auf's neue finden zu können, hört sie den Finger des Todten an die Thür klopfen, wie er klopfte in der Nacht, als er abgewiesen wurde. Streng straft Eros den, der nicht auf seinem Altare opfert. Und Heyse führt in anderen Dichtungen diesen Gedanken noch weiter aus. Hier hat der abgewiesene Liebhaber den Tod doch nur als zufällige Folge der Strenge gefunden, welche die Heissbegehrte gegen ihn erwiesen hat. Lasst uns den Fall setzen, dass er sich nicht als Bittender, sondern als Gewaltthäter nähert, und dass der Widerstand des stolzen Weibes statt auf einem Pflichtgefühl zu beruhen, das die Versuchung besiegt, nur Nothwehr gegen eine gefürchtete Ueberrumpelung ist, was dann? Auch dann straft Eros wie ein eifriger Gott. Das Drama »Die Sabinerinnen« hat Heyse augenscheinlich um einer einzigen Gestalt willen geschrieben. Wie konnte er sonst darauf verfallen, diesen für die Tragödie so wenig geeigneten, rein burlesken Stoff sich zu tragischer Behandlung zu wählen! Jene Gestalt ist Tullia, die sabinische Königstochter. Von einem römischen Krieger geraubt, in seinem Hause eingeschlossen, tödtet sie ihn, da er in der Brautnacht es wagt, sich ihr zu nähern. Wenn ein tragisches Leid jetzt als Rache der Römer die Tollkühne träfe, würde sich Niemand darob wundern; aber die psychologische Pointe ist in Uebereinstimmung mit der ganzen Erotik Heyse's die, dass sie durch Ermordung ihres Gatten die erwachenden Triebe ihres eigenen Herzens zu tödten versucht und sich dadurch irreligiös gegen Eros empört hat. Er neigte Sein Angesicht herab zu meiner Stirn, Dass mich des Athems Hauch umrieselte, Und seine leise Stimme mir wie Gift Schleichend durch alle Adern rann. Jetzt schaudert sie mit zersplitterter Seele über ihre so echt weibliche, so tief berechtigte That. Die Erscheinung des Todten verfolgt sie überall, aber noch mehr als der Anblick seiner Leiche die Erinnerung an seine Liebkosungen. Nur Tag und Nacht, sagt sie, ist's her, dass jene That vollbracht wurde, und doch liegt's hinter mir, wie tausend Jahre und tausend Tode. Eins nur ist gegenwärtig und ich werd' es immer empfinden: sein Kuss auf meiner Wimper, seine Hand in meiner. Gegen den Schluss spricht sie dann zu ihrer Schwester die Grundidee des Stückes in diesen Worten aus: Flieh' vor der Liebe nicht, Sie holt dich dennoch ein. Geh' ihr entgegen Und beuge dich vor ihr. Denn tödtlich zürnt sie Dem der ihr trotzt, und saugt das Blut ihm aus. Hat nicht der grimme Gott die Jungfrau'n alle Sich unterworfen? Ich allein, o Schwester, Entgelt' es, dass ich frei mich aufgelehnt.[14] Selbst den Gewaltthäter kann die Jungfrau nicht hassen. Er brach den Frieden; aber was thut Liebe anders? Er überlistete; aber die Liebe ist listig. Er höhnte: aber spottet nicht die Liebe selbst des Gewaltigsten und Freiesten? Mit andern Worten: ist nicht Eros selbst ein Gewaltthäter ohne Scheu und Scham, ein Verbrecher, der alle herkömmlichen Gesetze sprengt? Alle? Das ist zu viel gesagt. Heyse hat wohl bisweilen, wie in den angeführten Fällen, eine an Kleist erinnernde Neigung zu rein pathologischen erotischen Problemen, aber er ist allzu harmonisch angelegt, allzu reif und allzu deutsch-national, um ohne weiteres die Leidenschaft als Ordnung und Gesetz der Gesellschaft durchbrechend zu schildern. Er ist entwickelt genug um einzusehen, dass die Gesetze der Leidenschaft und die Gesetze der Gesellschaft zwei höchst ungleichartige Dinge sind, die sehr wenig mit einander gemein haben; aber er bezeigt letzteren die Verehrung, die sie verdienen, d. h. eine bedingte. Seit seiner frühesten Jugend hat es ihn gereizt und gelockt, die nur relative Wahrheit und den nur bedingten Werth dieser Gesetze darzustellen, Fälle zu erdichten, wo sie auf solche Weise übertreten werden, dass die Ausnahme gegen die Regel Recht zu haben scheint, und sogar der verhärtetste Spiessbürger sich bedenken wird, hier zu verurtheilen. In seiner Besorgniss, der Ausnahme volles, unumstössliches Recht zu geben, hat Heyse bisweilen -- wie in seinem ersten, in die gesammelten Werke nicht aufgenommenen Drama »Francesca von Rimini« -- völlig barocke Ausnahmen aufgesucht; aber durchgehends ist es sein Bestreben, den Fall so mit Pallisaden zu umzäunen, dass kein Sturmlauf der gewöhnlichen Moral diese Schutzwehr umstürzen könne. Wenn Goethe Egmont und Clärchen zusammenführt, stellt er das Verhältniss nicht dar, als ob es einer Entschuldigung bedürfe; das Verhältniss wird durch seine Schönheit vertheidigt. Heyse, der minder grossartige, ebenso vorsichtige als kühne Dichter, hat immer ein Auge auf die conventionelle Moral geheftet und bestrebt sich stets, sie zu versöhnen, entweder dadurch, dass er ihr so zu sagen Recht gibt in allen andern Fällen als eben diesem einen, wo ihre Uebertretung unvermeidlich war, oder dadurch, dass er das Vergehen wider die Sittenlehre sühnt, indem die Persönlichkeit mit Wissen und Willen das verbotene Glück um einen so hohen Preis erkauft, dass es, so theuer bezahlt, keinen Philister locken würde. In »Francesca von Rimini« liegt der Fall so: Lanciotto ist hässlich, roh und verderbt, sein Bruder Paolo edel und schön. Lanciotto entbrennt leidenschaftlich für Francesca. Durch Bruderliebe zu dem durchaus unwürdigen Lanciotto verleitet, hat sich Paolo dazu missbrauchen lassen, nicht nur als Liebeswerber, sondern sogar auf dem Hochzeitstage als Bräutigam verkleidet, den Bruder zu vertreten, welcher befürchtet, dass seine Hässlichkeit nie das Jawort des Mädchens erringen könne. Erst im Dunkel des Brautgemachs wagt Lanciotto sich seiner Braut zu nähern. Aber auch Paolo liebt Francesca, wie sie ihn wieder liebt. Es ist also kein Wunder, dass die junge Frau, als sie den plumpen Betrug entdeckt, dessen Beute sie geworden, sich durch die Liebkosungen ihres Gatten entehrt fühlt, und weit entfernt davon, ihre Liebe zu Paolo als Sünde zu betrachten, sie als berechtigt und heilig ansieht: Der Kuss von Deinem Munde war die Hostie Die den entehrten Mund mir neu gereinigt. Um seine Verschanzung recht tüchtig zu bauen, hat also der Dichter in dieser naiven Jugendarbeit sich den unmöglichsten, an den Haaren herbeigezogenen Fall construirt; denn was kann ungereimter sein, als dass Paolo aus purer einfältiger Gutmüthigkeit gegen einen verächtlichen Bruder, seine Geliebte dem gemeinsten Betruge preisgibt, der noch dazu sein eigenes Lebensglück vernichtet. Aber man findet in diesem grellen Beispiel den Typus, nach welchem in Heyse's so zahlreichen späteren tactvollen und feinen Arbeiten die moralische Collision construirt wird. Ich greife auf's Gerathewohl einige Beispiele heraus: in »Beatrice« ist die gesetzliche Ehe, welche die Liebesgeschichte durchbricht, eine Zwangsehe, ebenso unheilig, wie die Ehe Francesca's, obschon besser motivirt. In »Cleopatra« wehrt der junge Deutsche sich so hartnäckig gegen die Liebe der schönen Aegypterin, wie Graf Wetter von Strahl bei Kleist sich gegen die Leidenschaft des Käthchens von Heilbronn. Erst als die Sehnsucht nach ihm, Cleopatra dem Tode nahe bringt, entsteht zwischen ihnen das Liebesverhältniss. Die stolze Gabriele, in der Novelle »Im Grafenschlosse« lässt sich erst dann zu ihrer »Gewissensehe« mit dem Grafen überreden, als er sein Leben ihretwillen aufs Spiel gesetzt hat. Die junge Frau in »Rafael« erkauft sich einige Stunden des Zusammenseins mit dem Geliebten für lebenslängliche Einsperrung im Kloster: die Hingebung Garcinde's und Lottka's wird geadelt, indem das nach aussen gebundene, aber innerlich freie Ich sich eine Hingebung, welche die Verhältnisse verbieten, unter keiner anderen Bedingung denken kann, als unter der, dass sie den Tod zur Folge hat. Das Anrecht zum Glücke eines flüchtigen Augenblicks wird durch Selbstmord erworben. Den Glücksbecher, den diese Persönlichkeiten leeren, hat ihr Schicksal mit Gift gewürzt. Heyse behauptet mithin für diese _heroischen_ Seelen das Recht, einen Streit der Pflichten anders zu lösen, als »der ängstliche, von kleinen Gewohnheiten und Rücksichten eingeengte Mittelschlag der Philister« es zu thun pflegt, und in der Einleitung zu seiner »Beatrice«[15] hat er selbst seine ethische Ketzerei mit diesen Worten theoretisch formulirt: »Geniale Naturen, die auf sich selbst beruhen, erweitern durch ihre Handlungen, indem sie das Maass ihrer innern Kraft und Grösse als ein Beispiel vorleuchten lassen, eben so sehr die Grenzen des sittlichen Gebiets, wie geniale Künstler die hergebrachten Schranken ihrer Kunst durchbrechen und weiter hinausrücken. Und was an Uebermass und Uebermuth des Selbstgefühls in jenen heroischen Seelen sich rühren mag, wird es nicht eben durch den tragischen Untergang geläutert und gebüsst?« Nicht weniger als durch diese immer nahe liegende Association mit Untergang und Tod adelt Heyse die Liebe, legitim oder illegitim, wie oben berührt, durch die Art der Hingebung. Sie ist immer bewusst. Diese Weiber lassen sich nie hinreissen, sie verschenken sich als eine freie Gabe -- wenn sie sich überhaupt verschenken. So schon in Arbeiten aus Heyse's früher Jugend, wie »Der Kreisrichter«,[16] so in »Rafael«, in »Lottka« und so vielen andern Novellen in Prosa und Versen. Ueberall ist die Selbstherrlichkeit und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gewahrt. Frei gibt das Weib sich dem Geliebten hin, frei geht es der Vernichtung entgegen oder gibt sich mit eigener Hand den Tod, und wo das Liebesglück nicht geadelt wird, durch den Preis, den es kostet, da wird es wenigstens durch den Stolz, womit es verschenkt und genossen wird, erhöht. Kraft dieses Stolzes fühlt sich die Persönlichkeit, selbst von der stärksten Naturmacht beherrscht, unabhängig und souverän in dem Behaupten ihrer Herrscherwürde. In dem Roman »Im Paradiese« hat Heyse aber zum ersten Male principiell die Freiheit der Liebe im Gegensatz zu den Gesetzen der Gesellschaft als Problem behandelt und als Recht vertheidigt. Die Grundidee des Romans ist keine andere als die, dass die Sittlichkeit und Würde der Liebe zwischen Mann und Frau von der äusseren Bestätigung des Ehebundes unabhängig sei. Nach seiner Gewohnheit hat Heyse den hier gegebenen Fall mit den kräftigsten Beweggründen versehen: Jansen kann nicht, ohne seinen Freund zu beschämen, von seiner verächtlichen Frau sich befreien, und ohne Julie wird er als Künstler und Mensch verkümmern. Doch als Julie in der Gegenwart aller Freunde, mit dem Myrthenkranze geschmückt, sich frei mit Jansen vermählt, wird ganz entschieden ein Angriff auf die gewöhnliche Moral der Gesellschaft gerichtet, obwohl der Vorgang nicht als Beispiel zur Nachfolge hervortritt. Der Dichter, der in »Kinder der Welt« seinen Zeitgenossen es eindringlich an's Herz legte, dass die Moralität des Einzelnen nicht von seinen metaphysischen Ueberzeugungen abhänge, hat im »Paradiese« lehren wollen, dass die Reinheit und Würde eines Liebesverhältnisses sich nicht nach dem äusseren Sittengesetze beurtheilen lasse, sondern dass die Liebe ausserhalb und innerhalb der Ehe wahr und unwahr, sittlich und unsittlich sein könne. Auf den Adel des Herzens kommt bei ihm Alles an. V. Ich habe schon gesagt, dass Heyse als Dichter unmittelbar von Eichendorff ausgeht. Wie der Held in seiner Novelle »Ein Abenteuer«, scheint er in seinen ersten Wanderjahren sich den romantischen »Taugenichts« zum Begleiter erwählt zu haben. Wo er in einer seiner Novellen (Lottka) sich selbst als Jüngling einführt, singt er in der Eichendorff'schen Tonart, und man erkennt, dass er sehr früh die romantischen Melodien mit seltener Geläufigkeit nachgepfiffen. In der Sammlung romantischer Kindermärchen, die er als Schüler unter dem Titel »Der Jungbrunnen« herausgab, ist Musje Morgenroth ein leiblicher Bruder des berühmten Eichendorff'schen Helden. Das Buch ist die Arbeit eines Kindes, hat aber doch ein gewisses Interesse, da es den ersten Standpunkt des Dichters bezeichnet. Man sieht daraus, mit welchen Gaben er von Anfang an ausgerüstet war: die knabenhafte aber nie geschmacklose Prosa fliesst leicht, und die Verse, die bedeutend höher stehen, sind mit all' ihren Nachklängen unaffectirt, sicher geformt und frisch. Er singt nach, aber er singt rein; es ist die gewöhnliche romantische Tonart, aber mit jugendlicher Frische und Anmuth angeschlagen. In den Flegeljahren _naiv_ zu produciren, heisst schon ein Phänomen sein, und die ungewöhnliche angeborne Herrschaft über die Sprache hütet den dichtenden Schüler vor Forcirtheit und Manier. Der, wie es scheint, vom Vater, dem bekannten Philologen, ererbte Sprachsinn entwickelt sich bei dem Sohne zu einer Sprachfertigkeit, einer Leichtigkeit, mit Worten und Rhythmen umzuspringen, die schon im ersten Jünglingsalter nicht weit von Virtuosität entfernt war. Diese A. W. Schlegel und Rückert übertreffende Sprachfertigkeit bedingte als ein Grundelement in Heyse's Begabung die übrigen Eigenthümlichkeiten, die er nach und nach entwickelt hat. Er sang von Anfang an, nicht weil er mehr auf dem Herzen hatte als alle Uebrigen, sondern weil es ihm weit natürlicher und leichter als Anderen fiel das auszusagen, dessen sein Herz voll war. Da nicht starke innere Umwälzungen oder eingreifende äussere Begebenheiten erforderlich waren, um seine Lippen zu öffnen, wie sonst wohl, um die Erzeugungslust derer zu wecken, denen das Formgeben schwierig ist und denen es nur in den Augenblicken der Leidenschaft gelingt, die Schätze des Innern an's Tageslicht zu heben, so blickte er nicht nach Innen, sondern nach Aussen, grübelte nur wenig über sein Ich, seinen Beruf und seine Fähigkeiten, sondern sich wohl bewusst, dass er in seiner Seele einen klaren Spiegel trug, der aus der Umgegend Alles auffing, was ihn ansprach, liess er mit der Empfänglichkeit und dem Schaffensdrange eines bildenden Künstlers den Blick nach allen Seiten umherschweifen. Eines bildenden Künstlers, sag' ich; denn nicht lange fuhr er fort, die romantische Musik anzustimmen. Er hat selbst gesagt: Schön ist romantische Poesie, Doch was man nennt beauté de nuit. Die rechten Männer, meint Heyse, verstehen ihre Gedanken _à jour_ zu fassen, und er ist in allzu hohem Grade ein Sonnenkind, als dass er im romantischen Zwielicht hätte stehen bleiben können. Lyriker war er überhaupt nicht, und die Romantik hat naturgemäss und nothwendig ihre Stärke in der Lyrik. Die Naturumgebungen flössten ihm auch kein selbständiges poetisches Interesse ein: eine solche Frische des Meeres und der Landschaft, wie sie z. B. die dänischen Novellen Blicher's überhaucht, wird man in den seinen nicht finden; er ist kein Landschafter und hat stets die Landschaft nur als Hintergrund benutzt. Was am ersten und frühesten seinem Blicke begegnete, sobald er genug entwickelt war um mit eigenen Augen zu sehen, war der Mensch; und wohlgemerkt, nicht der Mensch als eine von Organen bediente Intelligenz, oder als ein auf zwei Beinen gehender Wille, oder als psychologische Merkwürdigkeit, sondern als plastische Gestalt. Zu allererst hat er, nach meiner Auffassung, ganz wie der Bildhauer oder Gestaltenmaler, sobald er seine Augen schloss, seinen Gesichtskreis mit Konturen und Profilen bevölkert gesehen. Schöne äussere Formen und Bewegungen, die Haltung eines anmuthigen Kopfes, eine reizende Eigenthümlichkeit in Stellung oder Gang haben ihn ganz auf dieselbe Weise beschäftigt, wie sie den bildenden Künstler erfüllen, und sind von ihm mit derselben Vorliebe, ja bisweilen fast mit technischen Ausdrücken wiedergegeben worden. Und nicht nur der Erzähler, auch die auftretenden Personen fassen oft genug auf dieselbe Weise auf. So sagt z. B. die Hauptperson in der Novelle »Der Kreisrichter«: »Die Jugend hier ist gesund, und das ist in jungen Jahren die halbe Schönheit. Auch haben sie noch Race. _Achten Sie auf die feine Form der Köpfe und die zarte Bildung der Schläfen, und im Gang und Tanz und Sitzen die natürliche Anmuth_«.[17] Ein schlagendes Beispiel dieser Anschauungsweise des Dichters findet man in der Novelle »Die Einsamen«, wo sein Missmuth darüber, mit den Mitteln seiner Kunst nur so unvollkommen malen zu können, folgendermassen zu Worte kommt: »Nur den Umriss! wüthete er vor sich hin, ein paar Dutzend Linien nur! Wie sie auf dem Eselchen einhertrabt, das eine Bein über den Rücken des Thieres, flach und sicher ruhend, das andere mit der Spitze des Fusses fast den Boden streifend; und den rechten Ellenbogen auf das ruhende Knie niedergestützt, die Hand leicht unter dem Kinn, mit der Halskette spielend, das Gesicht hinausgewendet nach dem Meer; welche Last schwarzer Flechten im Nacken! Es leuchtet roth darin; ein Korallenschmuck -- nein, frische Granatblüthen. Der Wind spielt mit dem lose angeknüpften Tuch; wie dunkel brennt die Wange, und wie viel dunkler das Auge!«[18] Es sind solche Bilder, plastische Figuren, einfache malerische Situationen, mit denen die Phantasie Heyse's von Anfang an operirt hat, und die ihren einen Ausgangspunkt bilden. Und ob man noch so sehr fühlt, wie viel vernünftiger es ist, einen Dichter zu schildern als ihn zu loben, so kann man doch nicht einen Ausbruch der Bewunderung darüber zurückhalten, wie vorzüglich es überall Heyse gelungen ist, seine Gestalten, freilich besonders die Frauengestalten, dem Auge darzustellen. Er gehört nicht zu der beschreibenden Schule, er charakterisirt nicht weitläufig wie Balzac noch sorgfältig wie Turgenjew, sondern schildert mit wenigen Zügen; aber seine Gestalten bleiben uns doch in der Erinnerung, aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie alle Stil haben. Ein Bauernmädchen aus Neapel oder Tyrol, ein Dienstmädchen oder ein junges Fräulein aus Deutschland erhalten, von ihm gemalt, ein höheres, unwirkliches und doch unvergessliches Leben, weil sie alle durch die streng idealistische Methode und Kunst der Darstellung geadelt sind. Sie sind formvollendet wie Statuen, sie haben eine Haltung wie Königinnen. Niemand, ausser dem Maler Leopold Robert, an den einige von Heyse's italienischen Arbeiten erinnern, hat meines Wissens einen so bewussten Stil in der Zeichnung von Bauern und Fischern an den Tag gelegt. Und wie die Formen der äusseren Gestalt, so sind diejenigen des Gemüthslebens stilvoll. Wenn der Ausdruck nicht allzu gewagt wäre, möchte ich sagen, dass Heyse die Liebe plastisch schildert. Die Romantiker fassten sie immer lyrisch auf. Vergleicht man aber die Liebesnovellen Heyse's mit romantischen Liebesnovellen, so wird man finden, dass, während die Romantiker ihre Stärke darin haben, die romantische Entzücktheit als solche zu analysiren und den seltsamsten, sonst namenlosen Stimmungen Namen zu geben, sich bei Heyse gleich jedes psychologische Moment in einer Miene oder Geberde spiegelt; Alles wird bei ihm gleich Anschauung und sichtbares Leben. VI. Ich bemerkte, dass die Fähigkeit, Gestalten festzuhalten und zu idealisiren, den _einen_ Ausgangspunkt der Phantasie dieses Dichters bilde. Sie hat noch einen andern. Gewiss fast eben so ursprünglich wie seine Fähigkeit, Charaktere darzustellen, ist seine Lust »Abenteuer« zu erleben und zu erdichten. Unter Abenteuern verstehe ich Begebenheiten eigenthümlicher, ungewöhnlicher Art, die -- was bei wirklichen Abenteuern fast nie der Fall ist -- eine sichere Kontur, einen so bestimmten Anfang, Mitte und Schluss haben, dass sie der Phantasie wie ein von einem Rahmen umschlossenes Kunstwerk erscheinen. Aus irgend einer äusseren oder inneren Beobachtung -- dem Bruchstück eines Traumes, einer Begegnung auf der Strasse, dem Anblick der mittelalterlichen Thürme einer alten Stadt im Abendsonnenschein -- entspringt ihm durch die rapideste Ideenassociation eine Geschichte, eine Verkettung von Begebenheiten, und da er so streng künstlerisch angelegt ist, nimmt diese Begebenheitsreihe stets eine rhythmische Form an. Sie hat deutliche, feste Umrisse und inneres Gleichgewicht wie die Gestalten. Sie hat ihr Knochengerüst, ihre Fleischesfülle, vor Allem ihre wohlmarkirte und schlanke Taille. Die Fähigkeit, eine Geschichte in knapper und geschlossener Form mitzutheilen, sie so zu sagen harmonisch zu rhythmisiren, entspringt unmittelbar aus Heyse's durch und durch harmonischer Natur. Die Novellenform, wie er sie zugeschnitten und ciselirt hat, ist eine völlig originale und selbständige Schöpfung, sein wahres Eigenthum. Darum ist er auch besonders durch die Prosanovelle populär geworden. Seine Novelle hat immer äusserst wenige und einfache Factoren, die Anzahl der Personen ist gering, die Handlung gedrängt und mit einem einzigen Blick überschaubar. Aber die Fabel ist nicht allein um der Personen willen da, wie in den modernen französischen Novellen, die nur ein psychologisches oder physiologisches Interesse befriedigen wollen; sie hat ihren eigenthümlichen Entwicklungsgang und ihr selbständiges Interesse. Eine Novelle wie die durch die altväterliche Anmuth des Stils so reizende »Abendscene« Christian Winther's[19] hat den Mangel, dass nichts in ihr geschieht. Die Novelle ist bei Heyse nicht ein kleines Zeitbild oder Genrebild; es _geschieht_ Etwas, und es geschieht immer etwas Unerwartetes. Die Handlung ist in der Regel so angelegt, dass an einem gewissen Punkt ein unvorhergesehener Umschlag eintritt, eine Ueberraschung, die, wenn der Leser zurückdenkt, sich immer als in dem Vorhergehenden gründlich und sorgfältig motivirt erweist. An diesem Punkt spitzt sich die Handlung zu; hier laufen ihre Fäden in einen Knoten zusammen, aus welchem sie in entgegengesetzter Richtung sich weiter spinnen. Der Genuss des Lesers beruht auf der Kunst, womit der Zweck, den die Handlung erstrebt, gradweise immer mehr und mehr verschleiert und verdeckt wird, bis die Hülle plötzlich fällt. Seine Ueberraschung beruht auf der Gewandtheit, mit welcher er anscheinend mehr und mehr von dem gerade über dem Ausgangspunkt liegenden Endpunkte entfernt wird, bis er schliesslich entdeckt, dass er in einer Spirallinie geführt worden ist und sich direkt über dem Punkte befindet, wo die Erzählung anfing. Heyse hat selbst in der Einleitung zu seinem »Deutschen Novellenschatz« sich über das Princip ausgesprochen, dem er in der Novellencomposition huldigt. Hier wie in der Einleitung zur »Stickerin von Treviso«, macht er denen gegenüber, die das ganze Gewicht auf Stil und Vortrag legen wollen, darauf aufmerksam, dass die Erzählung als Erzählung, was Kinder die Geschichte nennen, doch die nothwendige Grundlage der Novelle ist und bleibt und ihre eigenartige Schönheit hat. Er betont, dass er nach seiner Aesthetik _der_ Novelle den Vorzug gebe, deren Grundmotiv sich am deutlichsten abrundet und -- mehr oder weniger gehaltvoll -- etwas Eigenartiges, Specifisches schon in der ersten Anlage verräth. »_Eine starke Silhouette_«, fährt er fort, »dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinn Novelle nennen, nicht fehlen«.[20] Mit dem Ausdruck Silhouette meint Heyse den Grundriss der Geschichte, wie eine gedrängte Inhaltsangabe ihn nachweist, und er veranschaulicht durch ein treffendes Beispiel und eine treffende Bezeichnung seinen Gedanken. Er führt die Inhaltsangabe einer Novelle Boccaccio's an: »Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all' seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er gethan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht«. Heyse hebt hervor, dass in diesen wenigen Zeilen alle Elemente einer rührenden und erfreulichen Novelle liegen, in der das Schicksal zweier Menschen durch eine äussere Zufallswendung, die aber die Charaktere tiefer entwickelt, auf's liebenswürdigste sich vollendet, und er fordert darum auch den modernen Erzähler auf, selbst bei dem innerlichsten oder reichhaltigsten Stoffe sich zuerst zu fragen, wo »der Falke« sei, das Specifische, das diese Geschichte von tausend andern unterscheidet. Er hat in der Forderung, die er an die Novelle richtet, insbesondere die Aufgabe charakterisirt, die er sich selbst gestellt und die er erfüllt hat. Er zieht den bizarren Fall dem typisch alltäglichen vor. Man kann in der Regel so sicher sein in seinen Prosaerzählungen einen »Falken« zu finden, wie jener Untersuchungsrichter es war, hinter jedem Verbrechen eine Frau zu entdecken. In »L'Arrabbiata« ist der Biss in die Hand der »Falke«, im »Bild der Mutter« die Entführung, in »Vetter Gabriel« der aus dem »Briefsteller für Liebende« abgeschriebene Brief. Der Leser kann, wenn er selbst bei Heyse nach besagtem wilden Vogel suchen will, sich einen Einblick in die Compositionsweise des Dichters verschaffen. Nicht immer ist er so leicht zu fangen, wie in den angeführten Fällen. Mit einer Erfindsamkeit, einer behenden Grazie, die bei einem Nicht-Romanen äusserst selten ist, hat Heyse es verstanden, den Knoten der Ereignisse zu schürzen und zu entwirren, das psychologische Problem zu stellen und zu lösen, das er in der Novelle _isolirt_. Er vermag den einzelnen eigenthümlichen Fall rein und scharf novellistisch von dem allgemeinen Cultur- und Gesellschaftszustande, in welchem er ein Glied ist, abzuheben, ohne wie die romantischen Novellendichter, den Vorgang ins Unwirkliche und Märchenhafte hinüberspielen und ohne ihn jemals in eine blos epigrammatische Pointe auslaufen zu lassen. Seine Novellen sind weder kurze Romane, noch lange Anekdoten. Sie haben zugleich Fülle und streng geschlossene Form. Und so knapp diese Form auch ist, hat sie sich geschmeidig genug erwiesen, um den verschiedenartigsten Stoff in sich aufnehmen zu können. Die Novelle Heyse's schlägt viele Saiten an, wohl am häufigsten die zarten und seelenvollen, aber auch die komischen (wie in dem amüsanten Schwank »Die Wittwe von Pisa«), die phantastischen (wie in der Hoffmanniade »Cleopatra«), ja ein vereinzeltes Mal die schaurigen (in dem peinlichen Nachtstück »Der Kinder Sünde der Väter Fluch«). Die Novelle, wie er sie behandelt, grenzt an die Gebiete Alfred de Musset's, Mérimée's, Hoffmann's und Tieck's, hat aber doch ihre ganz besondere Domäne, wie ihr ganz eigenthümliches Profil. VII. Indessen, so willfährig ich bin, die Bedeutung jenes scharfen Profils als individuelles Merkmal der Heyse'schen Novelle und die Bedeutung desselben für die Novelle als Kunstart anzuerkennen, so schwer fällt es mir, dasselbe als entscheidende Norm für die Schätzung der einzelnen Erzählung gelten zu lassen. Die Novelle ist ja, wie jedes Kunstwerk, ein Organismus, in welchem schöne, von einander relativ unabhängige Verhältnisse höchst verschiedener Art zum Totaleindrucke beitragen. Wir verweilten bei den Charakteren und der Handlung; der Stil ist das dritte Element. Nach meiner Ueberzeugung sind diese drei Elemente einander nicht untergeordnet, sondern nebengeordnet, und jedes von ihnen bereitet, wenn es zur Meisterschaft entwickelt ist, dem Leser einen gleich vollkommenen Genuss. Zwar kann, wie Heyse hervorhebt, die einseitige Entwicklung des Vortrags zu geistreichen Capriccio's ohne Thema führen; wer aber allzugrosses Gewicht auf »die Geschichte« legt, kann ja auf der anderen Seite der blossen Unterhaltungslitteratur verfallen. »Frühlingsfluthen« von Turgenjew ist eine Novelle, deren Handlung unbefriedigend verläuft -- den Stil im engeren Sinne kann ich nicht beurtheilen, da ich die Erzählung nicht in der Originalsprache kenne -- aber bedeutet dieser Mangel viel bei einem solchen Meisterwerk individueller Charakterzeichnung? Wiegt die Schilderung der italienischen Familie nicht an und für sich jede Unvollkommenheit in der Motivirung der Begebenheiten auf? Was thut es, dass der Leser vielleicht sich den Schluss lieber anders vorstellt und nicht zum zweiten Mal lesen mag, wenn er drei viertel der Novelle mit dem gleichen Genuss immer wieder liest? Blicher's »Tagebuch eines Dorfküsters« ist eine Novelle, in welcher die Handlung wenig zu bedeuten hat und die meisten Charaktere durch ihre Rohheit abstossend wirken; aber sie ist deshalb doch ein Werk von höchstem Kunstwerthe; ihre Hauptstärke liegt im Stile, in der meisterhaft durchgeführten, fast zweihundert Jahre alten Sprachweise des braven Küsters. Diese Sprachweise ist uns eine Bürgschaft für die schneidende Wahrheit der Erzählung, eine Wahrheit, zu der man nicht auf dem Wege des Idealismus gelangt, und die darum von Heyse weder gesucht, noch erreicht wird, ich meine jene Wahrheit, die von den Franzosen als _la vérité vraie_ bezeichnet wird. Und könnte man nicht Heyse mit seinen eigenen Waffen schlagen? Ich glaube es. Er will mit seiner Betonung dessen, was die Novelle in der Novelle ist, zugleich gegen die Ueberschätzung des Stils und des ideellen Gehalts Front machen. Aber von allen seinen versificirten Novellen scheint mir »Der Salamander« am höchsten zu stehen, von seinen Prosanovellen ist »Der letzte Centaur« mir eine der liebsten, und jene scheint mir wegen des Vortrags, diese wegen der Idee den Preis davonzutragen. Man gebe sich keine Mühe damit, im »Salamander« nach einem »Falken« zu suchen: Handlung gibt es da nicht, die Charaktere entwickeln sich so gut wie gar nicht, und doch wird jeder empfängliche Leser unter dem Einflüsse des Zaubers dieser Terzinen einen so lebhaften Genuss empfinden, dass es ihm vorkommt, als hätte das Gedicht ausser seinen eigenen Vorzügen noch alle die, die ihm abgehen. Von der epischen Ruhe, von dem objectiven Stil, der Heyse's eigentliches Ideal im Novellenfach ist, wird man hier nicht viel finden. Diese epische Ruhe passt vielleicht überhaupt weniger für den unruhigen Geist unserer Zeit. Vollständig ist die Verwirklichung dieses Ideals Heyse wohl eigentlich auch nur gelungen in den wenigen Prosanovellen, die das moderne Culturleben gar nicht berühren, wie in den genialen Pastichen aus der Vorzeit: »Die Stickerin von Treviso« und »Geoffroy und Garcinde«, wo der edel einfältige Stil der altitalienischen oder provencalischen Erzählungen idealisirt ist, oder bei denjenigen Stoffen, die dem Leben des Volkes in Italien oder Tyrol entnommen sind; denn das Volk scheint ihm in jenen Ländern selbst ein naives und aus _einem_ Guss geformtes Stück Mittelalter. Eine Erzählung wie das kleine Juwel »L'Arrabbiata«, das Heyse's Ruhm begründete, kommt erst durch ihre schlichte, strenge Einfassung zu ihrem Rechte; mit stilistischen Verzierungen oder mit psychologisch zugeschliffenen Facetten ausgestutzt, würde sie ihre ganze Schönheit verlieren, wenn nicht unmöglich sein. Ebenso ist »Die Stickerin von Treviso«, die wohl nach der eben genannten Novelle den grössten Beifall geerntet hat, in ihrer rührenden Einfachheit und Grösse auf solche Weise eins mit ihrer Chronikform, dass sie ohne diese gar nicht denkbar ist. Aber wo ganz moderne Eigenschaften und Scenen dargestellt werden, da kann der Stil kaum zu individuell und nervös sein. Heyse selbst kann es nicht unterlassen, sich in dieser Hinsicht nach seinem Stoffe zu richten; wie fieberhaft ist die Darstellung in der hübschen Krankengeschichte in Briefen »Unheilbar«! Indess lässt er sich augenscheinlich nur widerstrebend oder unfreiwillig zu einem so leidenschaftlich wogenden und zitternden Stil wie im »Salamander« hinreissen. Diese Novelle ist lauter Vortrag, ihre Schönheit beruht ganz und gar auf der bestrickenden Anmuth der metrischen Diction und doch findet sich hier kein Wort, das nicht zur Sache gehört. Alles ist hier lebendiges Leben, jede stilistische Wendung tiefgefühlt und durchsichtig; die kämpfende Seele des Schreibenden liegt offen vor dem Leser. Die Situationen sind unbedeutend und alltäglich; keine bengalische Beleuchtung, nicht einmal in einem Schlusstableau. Aber diese merkwürdigen, unglaublich schönen, naturwidrig leichten, nervös leidenschaftlichen Terzinen verleihen mit ihrem Fragen und Antworten, Scherzen, Singen und Klagen der theatralisch natürlichen, beherrscht verliebten, blasirt koketten Heldin und der Leidenschaft, die sie einflösst, einen solchen Reiz, dass keine spannende Geschichte mit Angel- und Wendepunkt fesselnder sein könnte. Zum Abschluss tönen diese seltenen Terzinen, welche durch die Behandlung ein ganz neues Versmass geworden sind, ebenso überraschend wie genial und kühn, in die Accorde dreier naturfrischer Ritornelle aus. Allen Theorien zum Trotz behauptet eine Dichtung wie diese ihren Platz. Es will mich überhaupt bedünken, als mache Heyse sich einen unrichtigen Begriff von der Bedeutung des poetischen Stils. Theoretisch fürchtet er dessen selbständige Entwickelung und mag keine Werke, die »lauter Vortrag und Stil« sind. Nichtsdestoweniger hat er in Gedichten wie »Das Feenkind« und noch mehr in einem Gedichte wie »Frauenemancipation« selbst solche Productionen geliefert. Das erste von diesen Gedichten ist fein und graziös, aber der Scherz dauert reichlich lange -- von Schlagsahne isst man nicht gern allzu viel; das andere, dessen Tendenz übrigens die beste ist, leidet an einer Plauderhaftigkeit ohne Salz. Aber ein ausgeprägter Stil ist ja auch nicht dasselbe wie die formelle Virtuosität des Vortrags. Dass ein Sprachkünstler wie Heyse, der Uebersetzer Guisti's, der Troubadours, der italienischen und spanischen Volkslieder, diese im vollsten Masse besitzt, versteht sich von selbst. Allein der in Wahrheit künstlerische Stil ist nicht die formelle Anmuth, die sich gleichmässig über alles verbreitet: Stil im höchsten Sinne des Wortes ist Durchführung, in allen Punkten durchgeführte Form. Wo Sprachfarbe, Ausdruck, Diction, persönlicher Accent noch eine gewisse abstracte Gleichartigkeit haben, wo es nicht gelungen ist, in jedem Moment die Seele sich in allen diesen äusseren Formen prägen zu lassen, da hängt die sprachliche Draperie, aus wie leichtem Gewebe sie auch bestehen mag, steif und todt um die Persönlichkeit des Sprechenden. Der vollkommene moderne Stil dagegen umschliesst diese, wie das Gewand den griechischen Redner, die Haltung des Körpers und jede Bewegung hervorhebend. Der virtuosenhafte Vortrag kann, selbst wenn er »glänzend« ist, herkömmlich und alltäglich sein; der echte Stil ist das nie. An der Erzählungsweise in Heyse's Novellen habe ich nicht viel auszusetzen; seine dramatische Diction spricht mich nicht so an. Mancher wird vielleicht meinen, wenn einige der historischen Dramen Heyse's nicht die Anerkennung, wie seine Novellen, gewonnen haben, so liege es daran, dass sie zu wenig Handlung und zu viel Stil besitzen. Wenn das Wort Stil aber verstanden wird, wie ich es hier bestimme, so muss man gewiss eher sagen, dass ihre Jambenform abgetragen war und dass sie nicht Stil genug haben. Die Diction in »Elisabeth Charlotte« z. B. trägt weder hinlänglich die Farbe des Zeitalters, noch der Person, welche spricht. Man vergleiche nur die hinterlassenen derben Memoiren der Prinzessin. Der Dichter hat bei seiner fabelhaften Fertigkeit, sich in jedes poetische Genre hinein zu finden, ein Drama ebenso leicht zu Stande zu bringen, wie er eine Geschichte erzählt, sich die Arbeit etwas zu bequem gemacht. Die kleine Tragödie »Maria Moroni«, die unter den Schauspielen den Novellen am nächsten steht, könnte sowohl durch Plan wie durch Charakterzeichnung den italienischen Dramen Alfred de Musset's, an die es erinnert, würdig zur Seite stehen, wenn sie in der Sprachfarbe nicht so viel trockener wäre. Der Dialog Musset's funkelt nicht nur von Witz, sondern lodert zugleich von Innigkeit und Leben. Heyse ist in seinen Dramen nicht so persönlich mit seiner ganzen Seele an jedem Punkte zugegen gewesen. Aber dies: »an jedem Punkte« ist der Stil. Wie ich also wegen der Vorzüglichkeit des Vortrags den »Salamander« unter den versificirten Novellen am höchsten schätze, so würde ich um der Idee willen unter den Prosaerzählungen dem »Letzten Centaur« einen hohen Platz geben, obwohl diese Novelle ebenfalls zu denen gehört, die der Definition am fernsten stehen. Es handelt sich in ihr nämlich nicht um eine Begebenheit oder einen Conflict in einem bestimmten Lebenskreise, nicht um einen besonderen psychologischen Fall, überhaupt nicht um ein Stück Leben, sondern um das Leben selbst; sie lässt gleichsam das ganze moderne Leben innerhalb eines engen Rahmens sich abspiegeln. Ein Schuss in das Centrum ist so erquickend. Warum es leugnen? Der peripherische Charakter einzelner anderen Arbeiten Heyse's ist Schuld daran, dass sie weniger interessiren. Wenn man eine lange Reihe Novellen durchgelesen hat, kann man nicht wohl umhin, sich nach Kunstformen zu sehnen, die bedeutungsvollere, allgemeingültigere Ideen und Probleme in poetische Form fassen. VIII. Heyse's Dramen sind höchst verschiedenartig: bürgerliche Tragödien, mythologische, historisch-patriotische Schauspiele von sehr verschiedener Kunstrichtung; sein Talent ist so biegsam, dass er sich an jede Aufgabe wagen darf. Einen starken Drang zum Historischen hat Heyse nicht gehabt; die geschichtlichen Dramen sind alle einem patriotischen Gefühl entsprungen und wirken am meisten durch dies Gefühl. Die für den Dichter bezeichnendste von diesen Dramengruppen ist die, welche antike Stoffe behandelt. Zu der Zeit, da man überall in dem höheren Schauspiel politische moderne Action verlangte, hat man in Deutschland über diese Beschäftigung mit altgriechischen und römischen Stoffen unverständig lamentirt oder gespottet. Man fragte, was in aller Welt den Dichter und uns an einem Gegenstande wie Raub der Sabinerinnen oder Meleager oder Hadrian zu interessiren vermöchte. Für den, welcher kritisch liest, ist es klar genug, was Heyse zu diesen Sujets hat hinziehen können. Sie verkörpern ihm seine Lieblingsideen über Frauenliebe und Frauenloos, sein eigenes Wesen spiegelt sich in ihnen. Wer das heissblütige Drama »Meleager« mit Swinburne's »Atalanta in Kalydon«, das denselben Stoff behandelt, vergleichen will, wird zu manchen interessanten Beobachtungen über die Eigenthümlichkeit der beiden Dichter Anlass finden. »Hadrian« hat wol am meisten die Kritik verwirrt. Was den Dichter zu einem uns so fremdartigen, noch dazu an die Schattenseiten des antiken Lebens erinnernden Verhältniss, wie dem zwischen Hadrian und Antinous locken könnte, schien fast unbegreiflich. Ich betrachte unter Heyse's Dramen »Hadrian« als eins der besten, und zwar weil dies Stück das persönlichste und am tiefsten empfundene ist. Es ist mir unmöglich gewesen, diese Tragödie von dem jungen, schönen Aegypter, der, vom Weltbeherrscher so leidenschaftlich geliebt, von aller Herrlichkeit und Pracht des Hofes umgeben, frei in jeder Hinsicht, nur an seinen kaiserlichen Bewunderer gebunden, nach vollständiger Freiheit schmachtet, zu lesen ohne an einen gewissen jungen Dichter zu denken, der, schon in frühester Jugend an einen süddeutschen Hof berufen, bald der Liebling eines liebenswürdigen und verständigen Königs, als Günstling des Glückes beneidet ward, und doch heimlich in manchem Augenblick sich weit weg vom Hofe wünschen und in mancher gebundenen Stunde es fühlen musste, wie wenig selbst die Gunst des besten Herrn die Freiheit des ganz Unbeschützten aber ganz Unabhängigen aufwiegt. In diesem Drama ist ausnahmsweise alles Scenische von der höchsten Wirkung. Die eigentliche Ursache, warum Heyse bei seiner grossen Befähigung für die Bühne doch sonst nicht entschieden durchdrungen hat, ist vielleicht die, dass er das eigentliche deutsche Pathos, das Schiller'sche, nicht besitzt. Erst wenn ein Pathos gebrochen, wenn das Pathetische halb pathologisch ist, vermag er es mit voller Ursprünglichkeit zu behandeln. Das dramatische Pathos aus voller Brust wird bei ihm leicht unkünstlerisch-national, patriotisch und ein bisschen alltäglich. Hierzu kommt, dass die Darstellung der eigentlich männlichen Action nicht seine Sache ist. In wie hohem Grade er auch in seiner Poesie über die passiven Eigenschaften des Männlichen, wie Würde, Ernst, Ruhe, Unverzagtheit, gebietet, es fehlt doch ihm, wie Goethe, ganz das active Moment. Ein kräftig eingreifendes Handeln, das ein Ziel verfolgt, ist so wenig der Kern seiner Dramen wie seiner Novellen und Romane. Kommt ab und zu eine energische Handlung vor, so geschieht sie aus Verzweiflung oder Wuth: das Individuum ist in eine Enge getrieben, wo es keinen andern Ausweg erblickt als den, das Aeusserste zu wagen. (Man vergleiche die Handlung des jungen Försters in »Mutter und Kind«, als er den Sohn seiner Geliebten raubt, oder die Entführung in »Das Bild der Mutter«.) Im »Paradiese« ist die Scene, wo Jansen in seiner Erbitterung über all' die Halbheiten, in denen er sein Leben verbracht hat, die Modelle seiner Heiligen zu Scherben schlägt, ein gutes Beispiel. Es war unmännlich von Jansen, eine Heiligenfabrik zu unterhalten -- die ganze Idee ist als flüchtiger Scherz amüsant, lässt sich aber nicht festhalten, ohne den Charakter zu entstellen -- es ist indess noch unmännlicher, ja weibisch gehandelt, seinen Zorn über die todten Gypsgestalten ausgehen zu lassen. Obwohl nun aus dem angeführten Grund der eigentliche dramatische Nerv wohl immer Heyse's Arbeiten fehlen wird, sind die Hindernisse, die sich dem entscheidenden Erfolg des Dichters auf der Bühne in den Weg stellen, nicht so bedeutend, dass er sie nicht mit der Zeit überwinden und einen scenischen Triumph feiern könnte. Vorläufig ist er vor einigen Jahren zur allgemeinen Verwunderung in einer Dichtungsart aufgetreten, die ihm ganz fern zu liegen schien, in der er aber in kurzer Zeit einen grossen Erfolg errang. Es ist noch in frischer Erinnerung, welches Aufsehen die »Kinder der Welt« in Berlin erweckten, als der Roman zuerst in der »Spener'schen Zeitung« erschien. Man sprach einen Monat lang überall von diesem Feuilleton. Plötzlich hatte der unschuldige, dem Weltleben entfremdete Novellist sich als ein rein moderner Geist enthüllt, der einen philosophischen Roman mit Hölderlin's Worten schloss: Verlass mit Deinem Götterschilde, Verlass o Du, der _Kühnen_ Genius, Die Unschuld nie! Man hatte offenbar bisher übersehen, dass durch Heyse's einschmeichelnde Poesie ein heftiger Freiheitsdrang ging, eine völlige Unabhängigkeit von Dogmen und conventionellen Banden. Darum wurde man jetzt viel mehr als es sich gebührte, überrascht. Der Dichter ist von gemischter Herkunft: von seinem germanischen Vater hat er das Positive in seinem Wesen, die Fülle und Schönheit des Gemüthes geerbt, von der Mutter, die Jüdin war, eine kritische Ader. Zum ersten Male wurden beide Seiten seines Wesens dem grossen Publikum offenbart. Es musste eine bedeutende Wirkung auf die Gemüther machen, dass dieser Fabius Cunctator, der sich so lange von den Problemen der Zeit fern gehalten hatte, jetzt den Augenblick gekommen fühlte, um seine Position unter denen einzunehmen, die den Kampf der Zeit kämpften. Der Roman ist ein würdiger und vornehmer Protest gegen die, welche noch in unseren Tagen die Denk- und Lehrfreiheit fesseln wollen. Er hat alle Polemik gegen die Dogmen hinter sich. Er lässt alle Hauptpersonen mit klarem Bewusstsein in der Atmosphäre freier Ideen leben, welche die Lebensluft der neuen Zeit ist. Es ist eins von den Werken, welche die Innigkeit eines lange zurückgehaltenen, spät gereiften persönlichen Bekenntnisses haben, und darum eine Lebensfähigkeit besitzen, der keine formelle Ungeschicklichkeit, kein formeller Mangel Abbruch thun kann. Es fehlt dem Buch als erstem Versuche Manches dazu, ein echter Roman zu sein: es gebricht, wie zu erwarten war, dem Helden an Entschlossenheit, an activer Manneskraft; das Buch sammelt sich nicht um ein einzelnes, unbedingt herrschendes geistiges Interesse; die Alles verschlingende Erotik lässt die Idee nicht klar und central, wie sie vom Dichter gedacht ist, hervortreten. Die entscheidende Wendung des Buches scheint hervorzustehen, wo Franzelius nach Balder's Beerdigung auf die Denunciation Lorinser's in's Gefängniss geworfen worden ist. Hier sagt Edwin ausdrücklich:[21] »Sie wollen den offenen Krieg, sie fordern ihn selbst heraus, und es wird nicht eher Frieden geben, bis man ihn ehrlich durchgefochten hat«. Aber der _offene Krieg_ bleibt aus, Edwin und die ganze kleine Schaar der Hauptpersonen begnügen sich mit der Defensive, und als Edwin endlich mit seinem epochemachenden Werke fertig wird, ist der Roman zu Ende. -- In nahem Zusammenhang mit diesem Mangel steht die zu grosse Weichheit der Gefühle in den Partien, die von Balder handeln. Das strenge Beobachten von Mass und Grenze, das Heyse's Novellen auszeichnet, wird hier vermisst. Aber wie wäre es möglich, dass grosse Vorzüge bei einer so umfangreichen Arbeit nicht durch einige Mängel erkauft würden! Nicht allein haben die feinen Frauengestalten hier dieselben Vorzüge, wie in den Novellen: der Dichter hat hier noch dazu sein Gebiet in hohem Grade erweitert; eben die am wenigsten idealen Figuren: Christiane, Mohr, Marquard, sind am besten gelungen. Und welche Strömung echter allseitiger Bildung enthält er! Es ist nicht nur ein muthvolles, es ist ein erbauliches Buch. Bei den einzelnen schmutzigen Angriffen, die es seinem Verfasser zugezogen hat, will ich nicht verweilen. Die Denunciationen in ein paar deutschen Winkelblättern interessiren mich nur, weil der norwegische Uebersetzer von Goethe's »Faust« einen dieser Schmähartikel, der den Inhalt des Buches so wiedergab, als handle es sich darin um lauter roheste Sinnlichkeit, mit einer Einleitung abdrucken liess, die alle norwegischen Familienväter warnte, das Buch über ihre Schwelle kommen zu lassen[22]. Auf einen kleinen Hieb von Frankreich aus musste Heyse füglich gefasst sein. Er käme nicht unverdient: denn die in seinem Roman vorkommenden Aeusserungen über französische Literatur und Geistesrichtung sind ganz im Stil der üblichen deutschen Anschauung gehalten; aber der Hieb hätte ritterlicher und geschickter ausfallen sollen als der, vom Nationalhasse und Selbsterhaltungstriebe dictirte, sehr unedle und beschränkte Artikel von Albert Réville in der »Revue des deux mondes«. Die Freiheit des Gedankens war die Grundidee der »Kinder der Welt«. Die Sittenfreiheit ist der Grundgedanke des Romans »Im Paradiese«, doch nicht so, dass er unbedingt als Vertheidigungs-Eingabe zu betrachten sei; denn wenn die Gedankenfreiheit als unbedingt behauptet werden muss, so ist die Freiheit der Sitten doch nur relativ, und der Dichter hat ihnen nicht mehr als eine relative Freiheit behaupten wollen. »Im Paradiese« ist aber auch ein Werk von ganz anderer Art als der erstere Roman. Schon der Umstand, dass jener im verstandesscharfen Berlin, dieser im heiteren und sinnlichen München vorgeht, deutet den Unterschied an. Während »Kinder der Welt« ein philosophischer Roman genannt werden konnte, ist »Im Paradiese« eine Art _roman comique_, leicht, graziös und voll mit Ernst gemischten Scherzes. Er hat vielleicht seinen grössten Werth als Psychologie einer ganzen bedeutenden Stadt und als Porträt ihrer gesellschaftlichen und künstlerischen Zustände. Ganz München ist in diesem Buche enthalten, und den Hauptplatz nimmt selbstverständlich das Künstlerleben der Kunststadt ein. Die Gespräche und Reflexionen über Kunst haben hier nicht das müssige und abstracte Gepräge wie in den gewöhnlichen Künstlerromanen; man fühlt, dass es kein Theoretiker sondern ein Kenner ist, der spricht, und ein wahrer Ateliergeruch ist über alle diese Partien des Buches verbreitet. Die ganze Aesthetik des Verfassers lässt sich in Ingres' alter Definition zusammenfassen: _l'art c'est le nu_. Was die Schlingung und Composition der Handlung betrifft, bezeichnet »Im Paradiese« einen unzweifelhaften Fortschritt. Das Interesse wird hier überall erhalten, und, was mehr ist, es ist immer im Steigen; ein Lob, das man »Kinder der Welt« nicht spenden konnte. Ab und zu sind zwar noch die Mittel, die die Handlung vorwärts bringen, ein wenig ungeschickt benutzt. So ist besonders die ganze Rolle, die der Hund Homo als _deus ex machina_ spielt, etwas stark übertrieben. Er erinnert mit seinem übermenschlichen Scharfblick an jene Löwen, welche die Sculptur der Zopfkunst mit menschlichen und majestätischen Gesichtern darstellte, von Mähnen umrahmt, die in Wirklichkeit Allongenperrücken allzu ähnlich sahen. Doch in deutschen Romanen ist nicht die Handlung, sondern die Charakteristik die Hauptsache, und in fast allen Nebenfiguren offenbart dieses Buch eine ganz neue Seite von Heyse's Talent. Gestalten wie Angelica, Rosenbusch, Kohle, Schnetz, haben ein spielendes, mannigfaltiges Leben, das von Heyse's Stilart sonst fast ausgeschlossen war. Heyse's Geist hat mit einem Wort Humor gewonnen, den Humor des reifen Mannesalters, der vierziger Jahre kann man vielleicht sagen; aber einen feinen, stillen Humor, der die Begabung des Dichters vervollständigt und seinen Farben den ächten Schmelz verleiht. IX. Wir haben den Kreis von Ideen und Formen durchlaufen, in welchen dieser Dichtergeist seinen Ausdruck gefunden hat. Wir sahen, wie Heyse zuletzt im Roman den bewegenden Gedanken der modernen Zeit gerecht ward, denen die Novellenform nicht Raum zu geben vermochte. Ich hob indess eine Novelle hervor, die sich durch ihren Grundgedanken nicht weniger auszeichnet, als »Der Salamander« durch den Stil. Jedes Mal, wenn Heyse es versucht hat, den alten Mythen ein modernes Interesse abzugewinnen, hat er Glück gehabt. Das kleine, reizende Jugendgedicht »Die Furie« gehört zum Besten, was er geschrieben. In einem kleinen Drama »Perseus« (in die gesammelten Werke nicht aufgenommen) hat er eine neue Auslegung des Medusamythus gegeben: er hat mit der armen, schönen Medusa Mitleid gefühlt, der das grausame Schicksal, auf Jedermann versteinernd zu wirken, beschieden ward, und er belehrt uns, dass nur die Eifersucht neidischer Göttinnen auf ihre Liebe zu Perseus Schuld daran ist. Ihr Kopf fällt vor der Hand ihres eigenen Geliebten, während sie, um ihm nicht durch den unheilvollen Blick zu schaden, ihr Gesicht in den Sand begräbt. Heyse hat aus dem Mythus ein originelles und trauriges Märchen gemacht. Die Geschichte vom »Centaur« ist heiter und tiefsinnig. Man wundert sich nicht, wenn »Im Paradiese« uns mittheilt, dass diese Novelle den Maler Kohle zu seinen lieblichen Fresken begeistert hat. Der Pilgergang »unserer lieben Frau von Milo«, den man als Bild vor seinen Augen zu sehen glaubt, so lebhaft ist die Freske beschrieben, ist als Gedicht mit »dem letzten Centaur« gar innig verwandt. Der letzte Centaur! Das klingt fast wie der letzte Mohikaner! Was weiss Heyse vom letzten Centauren? Wie hat er ihn in eine reguläre Novelle einführen können? O, das geschieht mit vieler Kunst und doch auf die natürlichste Weise. Er zieht erst, so zu sagen, zwei Kreise in einander, dann einen dritten Kreis, und in diesem beschwört er den Centauren herauf. Der erste Kreis ist die Welt der Lebendigen, der zweite die Welt der Todten, der dritte schliesst leicht und natürlich das Reich des Uebernatürlichen ein. Die Erzählung hebt, wider Heyse's Gewohnheit, rein selbstbiographisch, also mit einem möglichst starken Wirklichkeitselemente, an: der Verfasser kommt eines späten Abends an einer Weinstube vorbei, wo er in seiner Jugend einmal wöchentlich seine liebsten Freunde und Kameraden zu treffen pflegte, und jetzt lässt er diese, welche alle gestorben sind, in der Erinnerung Revue passiren. Dann tritt er in die Weinstube ein, fühlt sich müde, und -- plötzlich ist es ihm, als werde er aufgefordert, in dem alten Kreise sich einzufinden, und als die Thür geöffnet wird, siehe! da sitzen sie alle beisammen. Aber keiner von ihnen bietet dem Eintretenden die Hand, es ist in ihren Mienen ein Zug von Fremdheit, Ernst und Kummer. Dann und wann trinken sie einen langen Zug aus dem Weinglase, dann glühen für einen Augenblick die bleichen Wangen und matten Augen, aber gleich darauf sitzen sie wieder starr und stumm und stieren in's Glas. Nur Einer von ihnen ist ungebeugt von dem Schicksal, das sie getroffen hat, und von welchem nach stillschweigender Abrede in der Gesellschaft nicht gesprochen wird. Es ist Genelli, der ausgezeichnete Maler, dessen Centauren in der Schackschen Sammlung zu München alle Reisenden bewundern. Einer von der Gesellschaft bemerkt, solch' ein Genellisches Fabelwesen sehe so lebendig aus, dass man fast glauben möchte, der Künstler wäre selbst dabei gewesen. Und als der Meister ruhig die Antwort gibt: »Er ist auch dabei gewesen«, gleiten wir unmerklich aus dem Reiche der Todten in die Fabelwelt hinüber. Er hat den Centauren gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wie dieser eines schönen Sommernachmittags, ohne an etwas Böses zu denken, in ein kleines Tyrolerdorf hineintrabte, wo Genelli bei seinem Weinglase sass. In alten Zeiten war der Centaur Landarzt von Profession gewesen, hatte, während eines Ritts in seiner Praxis über die Berge ermüdet, sich in einer Gletscherhöhle schlafen gelegt, war dann eingefroren -- und jetzt erst, nach Verlauf von Jahrtausenden, ist das Eis um ihn geschmolzen, und er kann mit verwunderten Augen sich in der verwandelten Welt umsehen. Es ist Sonntag und eben Kirchweih, da er mit seinem mächtigen Körper -- oben ein farnesischer Herkules, unten ein prachtvoller heroischer Streithengst -- mit wehender Mähne und lang nachschleppendem Rossschweif, einen kleinen Rosenzweig im dichten Haar hinter dem Ohre, durch die leeren Strassen trabt, nur ab und zu ein altes Weib, das mit Geschrei vor der Erscheinung flüchtet, erschreckend. Er sieht die Kirchenthür offen, das Gebäude voll Menschen und eine wunderschöne Frau mit einem Kind auf dem Arme über dem Altare gemalt. Neugierig, nichts Arges denkend, trabt er durch das Portal und schnurstraks über die Steinfliessen, die von seinem mächtigen Hufschlag dröhnen, auf den Altar zu. Man begreift, welcher Lärm über dies geradewegs der Hölle entstiegene Ungeheuer entsteht. Der Pfarrer schreit laut, schwingt, was er Geweihtes in der Hand hat, gegen ihn und ruft: »Apage! Apage!« (was der Centaur versteht, weil es Griechisch ist). Die Gemeinde schlägt ein Kreuz über das andere; verwundert trabt das Fabelthier dann zur Kirche hinaus, und von allen alten Weibern und allen Kindern des Dorfes begleitet, die natürlich sehr erschrocken sind, »den hohen Reisenden so leicht gekleidet zu sehen«, bewegt es sich nach dem Dorfkruge hin, wo Genelli auf dem Altane sitzt. Der Meister belehrt dann den Centauren, dass dieser ein Paar hundert Jahre zu spät oder zu früh wieder zum Leben erwacht ist. Zur Zeit der Renaissance würde man ihn vermuthlich wohl empfangen haben. »Aber heutzutage und unter dieser engbrüstigen, breitstirnigen, verschneiderten und verschnittenen Lumpenbagage, die sich die moderne Welt nennt!« Genelli wagt es nicht, ihm ein heiteres Horoskop zu stellen. »Wo Ihr Euch sehen lasst, in Städten oder in Dörfern, werden Euch die Gassenbuben nachlaufen und mit faulen Aepfeln bewerfen, die alten Weiber werden Zeter schreien und die Pfaffen Euch für den Gottseibeiuns ausgeben u. s. w.« Und es geht, wie er geweissagt hat. Während der biedere Centaur gutmüthig, wie der Starke ist, vom Publikum sich anglotzen, sein sammetweiches Fell befühlen lässt, während er gemüthlich eine Flasche Wein nach der andern leert und über die Brüstung der Laube sie dem hübschen Schenkmädchen, dem er sofort seine Rose geschenkt hat, zurückreicht, lauern Hass und Neid auf sein Verderben. Eine ganze Verschwörung hat sich gegen ihn gebildet. »An der Spitze stand natürlich die hochwürdige Geistlichkeit, die es für das Seelenheil ihrer Pfarrkinder sehr nachtheilig fand, sich mit einem gewiss ungetauften, völlig nackten und wahrscheinlich sehr unsittlichen Thiermenschen näher einzulassen«. Ebenso aufgebracht zeigte sich ein Italiener, der auf dem Markte ein ausgestopftes Kalb mit zwei Köpfen und fünf Beinen vorwies. Den Rossmenschen sah man gratis, er war lebendig und trank und schwatzte, und wer wusste, ob er sich nicht noch bewegen liess, einige Kunstreiterstückchen zum Besten zu geben. Das Kalb dagegen war ein ruhiges Genie und machte zu solchen Extravaganzen durchaus keine Miene. In die Concurrenz kann sich der Italiener nicht finden. »Es sei ein Unterschied«, setzt er dem Pfarrer auseinander, »zwischen einem zünftigen, von der Polizei approbirten Naturspiel und einer ganz unwahrscheinlichen nie dagewesenen Missgeburt, die ohne Pass und Gewerbeschein das Land unsicher machte und ehrlichen fünfbeinigen Kälbern das Brot vor dem Maule wegstehle«. Aber der leidenschaftlichste Gegner des Centauren ist doch der kleine, schiefbeinige Dorfschneider, der Bräutigam des hübschen Schenkmädchens. Auch der Schneider klagt dem Pfarrer seine Noth, die neue Mode die der Unbekannte eingeführt, müsse das ganze Schneiderhandwerk ruiniren und überdies alle Begriffe von Anstand und guter Sitte über den Haufen werfen. Während nun der Centaur in seiner heiteren Stimmung eben in dem Hofe des Wirthshauses die schöne Nanni auf seinem Rücken tragend die Umstehenden mit einem höchst graziösen und eigenthümlichen Tanz unterhält, kommen alle die Verschworenen mit berittenen Gensdarmen, um ihn zu fangen. Ohne sie der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen, führt er seinen Tanz fort, und die Hände des Mädchens sanft an seine Brust drückend, setzt er mit einem prachtvollen Sprung über die Köpfe der Bauern weg. Pistolenkugeln knallen um ihn, ohne ihn zu treffen, und bald steht er frei auf dem nächsten Bergabhang. Da lässt er, von dem kläglichen Flehen des Mädchens gerührt, sie sacht zur Erde niedergleiten. »So sehr ihr die ritterliche Huldigung des Fremden geschmeichelt hatte und eine so traurige Figur ihr Schatz neben ihm spielte -- eine solide Versorgung konnte sie von diesem reitenden Ausländer nicht erwarten«. Ihre praktische Natur trägt den Sieg davon, und wie eine gejagte Gemse springt sie von Stein zu Stein, ihrem Schneider in die Arme. Ein Ausdruck göttlichen Hohnes gleitet über die Mienen des Centauren hin, man sieht ihn sich entfernen, und bald nachher verschwindet er den nachstarrenden Blicken. Hier schweigt Genelli, der kleine Kreis bricht auf, und der Dichter erwacht in der Vorstube des Weinhändlers. Alle Eigenschaften, die das Lesen eines Dichterwerkes zu einem Genusse machen, scheinen mir in diesem Märchen vereint: ein hoher Humor, der einen milden Schimmer über alle Einzelheiten wirft, die zartesten Halbtöne und das feinste Helldunkel das die Handlung vom Lichte des Tages in einen Traum von lauter Verstorbenen hinübergleiten lässt, um dann wieder das Zwielicht der Schattenwelt von einem Sonnenstrahl des alten Hellas erhellen zu lassen. Hierzu kommt eine tiefe, für ihren Dichter ganz eigenthümliche Idee. Denn dieser Scherz ist ja in vollem Ernste ein Hymnus auf die Freiheit in der Kunst wie im Leben, und auf die Freiheit, wie Heyse sie immer aufgefasst hat. Für ihn besteht die Freiheit nicht (wie z. B. für Henrik Ibsen) im Kampfe für die Freiheit, sondern sie ist auf dem religiösen Gebiete der Protest der Natur gegen das Dogma, auf dem gesellschaftlichen und sittlichen Gebiete der Protest der Natur gegen die Convenienz. Durch Natur zur Freiheit! das ist sein Weg und seine Losung. So wird der Centaur als halb Naturwesen, halb Gottheit seiner Phantasie ein theures Sinnbild. Wie schön ist der Centaur in seiner stolzen Kraft durch den Rest altgriechischen Blutes, das er in seinen Adern bewahrt hat! Was muss er nicht Alles ertragen, der Arme, für den Rest Heidenthum, das in ihm wiedererstanden ist, das einige tausend Jahre eingefroren war, aber in unseren Tagen, da die Gletscher zu schmelzen beginnen, aufs Neue erwacht ist und sich an's Tageslicht hinaus wagt! Viel lehrreicher, viel gesetzter und moralischer findet die ganze civilisirte Umgebung seine interessanten Rivalen, die ausgestopften Kälber mit zwei Zungen und fünf durchaus nicht zum Fortschreiten bestimmten, höchst conservativen und ihren Platz conservirenden Beinen. _Diese_ »Merkwürdigkeiten« übertreten nie eine bürgerliche Sitte, lassen sich nur mit Erlaubniss der Obrigkeit und Geistlichkeit sehen, und sind darum nicht minder ungewöhnlich. Sie werden ewig die Rivalen des Centauren bleiben, von Einigen als ihm ebenbürtig, von Vielen als ihn weit überstrahlend betrachtet. Und ist der Dichter auf seinem Flügelrosse in dieser kleinlichen modernen Gesellschaft nicht leibhaftig »der letzte Centaur«? X. Ich habe einige Aeusserungen über Heyse aufgezeichnet, günstige und ungünstige durcheinander, ächte Stimmen aus dem Publikum. »Heyse«, sagte Einer, »Das ist der Frauenarzt, der deutsche Frauenarzt, der das Goethe'sche Wort: Es ist ihr ewig Weh und Ach So tausendfach u. s. w. gründlich verstanden hat. Dass er kein Dichter für Männer ist, das hat Fürst Bismarck richtig gefühlt«. »Im Gegentheil«, sagte ein Anderer, »Paul Heyse ist sehr männlich. Man findet ihn weich, weil er anmuthig ist, weil eine vollendete Grazie seinen Schöpfungen ihr Gepräge verliehen hat. Man ahnt nicht, wie viel Kraft erforderlich ist, um diese Anmuth zu haben!« »Was ist Heyse?«, sagte ein Dritter, »ein Kleinstädter, der so lange mit Berlin, dem Weltleben und der Politik Verstecken gespielt hat, dass er sich unserer Gegenwart entfremdet hat und sich nur unter Troubadouren in der Provence zu Hause fühlt. Ich wittere immer aus seinen Schriften den Provençalen und Provinzialisten heraus«. »Dieser Heyse«, bemerkte ein Vierter, »hat trotz seiner fünfzig Jahre und seiner dichterischen Reife die Schwäche, uns durchaus überreden zu wollen, dass er ein unmoralischer, lüsterner Poet sei. Aber kein Mensch glaubt es ihm. Das ist seine Strafe«. »Ich bin in meinem Leben nie so beneidet worden«, sagte in meiner Gegenwart eine alte Jugendfreundin Heyse's, »wie heute, als in einer höheren Töchterschule, die ich besuchte, sich das Gerücht verbreitet hatte, ich würde heute Abend mit ihm in einer Gesellschaft zusammen treffen. Die Backfische haben mir einstimmig aufgetragen, ihm ihre begeisterten Grüsse zu bringen. Wie gerne wären sie ihm sämmtlich um den Hals gefallen! Er ist und bleibt der vergötterte Lieblingsdichter der jungen Mädchen«. »Man kann«, sagte ein Kritiker, »Paul Heyse als den Mendelssohn-Bartholdy der deutschen Poesie definiren. Er erscheint wie Mendelssohn nach den grossen Meistern. Sein Wesen ist wie dasjenige Mendelssohns ein deutsches lyrisches und sinniges Naturell mit der feinsten, südländischen Bildung durchdrungen. Beiden fehlt der grosse Pathos, die durchgreifende Gewalt, der Sturm des dramatischen Elements; aber beide haben natürliche Würde im Ernst, reizende Liebenswürdigkeit und Anmuth im Scherz, beide sind sie durchgebildet in der Form, Virtuosen in der Ausführung«. MAX KLINGER. (1882.) I. In der Berliner permanenten Kunstausstellung erregten im Frühling 1878 eine Reihe Federzeichnungen Aufmerksamkeit. Sie waren betitelt: »Phantasien über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet«. Ihre Originalität war so tief und so barock, sie waren so unähnlich Allem, was man früher in dieser Art gesehen, dass kein Besucher gleichgiltig daran vorbeiging. Der gewöhnliche Berliner war allerdings nicht ganz klar darüber, ob dies Genialität oder Wahnwitz sei; ein und der andere Siebengescheidte murmelte »Fliegende Blätter-Illustrationen« zwischen den Zähnen; aber mehrere von den Künstlern und Kritikern, deren Kunstsinn nicht durch das Althergebrachte bestimmt wird, stutzten, vertieften sich in die Bilder und bewunderten das Talent, das in diesem ersten Aufleuchten sich fast blendend offenbarte. Der Name des Künstlers war Max Klinger, und er war erst 21 Jahre alt. Diese Blätter sind voriges Jahr erschienen in einem Cyclus meisterhaft ausgeführter Radierungen »Ein Handschuh. Rad. Op. VI« ausnahmsweise im Selbstverlag des Künstlers, da er kein grosses allgemeines Interesse an einer Arbeit von so persönlichem Charakter erwarten konnte. Hier eine kurze Beschreibung davon. 1. und 2. Berlins Skating-Rink, die Gesellschaft, die damals diesen Sport betrieb, genau porträtirt -- darunter der Künstler selbst, hoch, von militärischer Haltung, mit seinen dichten, gekrausten Haaren, die den Kopf wie eine Pelzmütze bedecken -- und eine junge ausgezeichnet schöne Dame, eine Brasilianerin, die in jener Zeit durch ihre Schönheit und ihr graziöses Laufen das Interesse der Zuschauer auf sich lenkte. Die junge Dame verliert beim Dahinsausen einen langen weissen Handschuh mit sechs Knöpfen; der junge Künstler bückt sich im Laufen und hebt ihn auf, vermuthlich, um ihn in der Tasche zu bergen, die dem Herzen am nächsten ist. 3. Ein niedlicher kleiner Cupido sitzt halb abgewandt neben einem Rosenbusch, von welchem schwere, grosse Rosen herabhängen. In ihrem Schatten ruht der feine, schmale Damenhandschuh. Cupido bewacht den weichen, duftigen Fund, Rosenblätter fallen darauf herab. 4. Max Klinger in seinem Bett; er wirft sich im Schlaf unruhig auf seinem schmalem Lager herum. Auf dem Nachttisch liegt der Handschuh, aber über dem Haupte des Schlafenden schwebt er wieder, vom Traum zu einer ungeheuren Hand ausgedehnt, die nach dem Monde greift und droht, ihn vom Himmel herunterzureissen. Und sieh! links vor dem Bette beginnt das offene Meer; und draussen auf seiner Flut erheben sich mit wildem Geschrei und Geberden schwimmende, ertrinkende Gestalten, darunter Meerungeheuer, und noch weiter draussen nähern sich grosse, gekrümmte, angsteinflössende Handschuhhände. Kein Wunder, dass der Schlafende vor Schreck in dem Bette die Beine unter sich hinaufzieht. 5. Das Erwachen. Der Handschuh liegt ruhig auf dem Bett, aber der Künstler ist zusammengekauert, das Gesicht in die Hände gesenkt, und träumt wachend weiter: Eine weitgestreckte Landschaft mit Bergen im Hintergrund offenbart sich; im Vordergrund erheben sich über dem Handschuh phantastische, ganz mit Blumen bedeckte Traumbäume auf hohen, dünnen Stengeln. Unterhalb derselben, doch fern, fern auf einem Weg und nicht grösser als dass eine Fliege die Gestalt decken könnte, indessen an der charakteristischen Haltung leicht wieder erkennbar -- die schöne Dame vom Skating-Rink. 6. Sturm auf dem Meere. Mitten auf der Flut ein Segelboot, vom Winde stark auf die Seite geworfen; aus dem Boote beugt sich die Gestalt des jungen Künstlers, mit einem ungeheuer langen Enterhaken versehen. Der Handschuh ist über Bord gefallen, es gilt, ihn aufzufischen. Wir sehen ihn sinken, fühlen die verzweifelte Anstrengung, ihn mit dem spitzen Eisen wieder zu erhaschen. 7. Wieder Wasser, doch wie verschieden! in grossen, sichern Rundungen und Voluten stilisirt, wie ein griechisches Basrelief. Ein Gespann Meerpferde im strengsten hellenischen Stil zieht langsam und majestätisch einen niedrigen Triumphwagen über die Wogen; den Sitzkasten bildet eine Muschel, die sich öffnet wie ein schwarzer, leuchtender Blumenkelch, und in ihr ruht blendend weiss -- der Handschuh, der die Zügel hält und das Gespann lenkt. 8. Was ist dies? Zwei verzweiflungsvolle nackte Mannesarme, die sich durch eine Fensterscheibe Bahn gebrochen haben, dass sie in Scherben zu Boden fällt; die Hände greifen nach einem fortflatternden Gegenstand, der sich im nächtlichen Dunkel verliert. Ach, es ist wieder der Handschuh! Durchs Fenster ist er geflogen; eine hässliche unnatürlich grosse Fledermaus hat ihn in der Schnauze und schwebt mit ihm davon. Und vergeblich streckt der Phantasirende seine blutenden zerschnittenen Hände danach zum Fenster hinaus. 9. Da ist er wieder. Und diesmal besser verwahrt. Jetzt wird er nicht so leicht mehr entwischen. Ein geräumiger Saal. An allen Wänden hängende Tapeten; doch genauer betrachtet, sind diese Tapeten lauter vielfach vergrösserte, paarweis verbundene 6knöpfige Damenhandschuhe, die von der Decke bis zum Boden reichen. Mitten in diesem Saal ein kokettes Tischchen, das als Altar dient. Und auf dem Altar liegt der Schatz selber in natürlicher Grösse, fein, schmal, von allen Seiten sichtbar. Doch in einer Ecke des Gemaches ist die Tapete etwas unregelmässig; denn ein wildes Thierhaupt mit flammenden Augen hebt einige von den grossen Handschuhfingern in die Höhe und glotzt herein; es ist der Drache mit seinen hässlichen Klauen und dem geschlängelten Schweif, der das Heiligthum bewacht und den Schatz hütet. 10. Wieder eine flache, sandige Küste. Am Strande brennen zwei feine, antike Lampen auf hohen Stativen. Zwischen ihnen liegt auf einem Kissen der gefundene Handschuh und das Meer leckt zu ihm empor, ohne sich ihm jedoch mit der Dreistigkeit zu nähern, mit der es einst Knud des Grossen Fuss berührte. Im Gegentheil! der Ocean huldigt diesem Kleinod des Liebenden: all' die steigenden Wogenkämme spülen Rosen an den Strand, schleudern Rosen nach dem Handschuh; in allen Wellenfurchen fliessen sie; all' der gischende Wogenschaum löst sich in Rosen auf. II. Im Winter vor jener Frühlingsausstellung lernte ich in Berlin einen kleinen Kreis junger Künstler kennen. Sie wohnten, oder versammelten sich in einem Atelier, das sich im 5. Stock eines Hauses der aristokratischen Hohenzollernstrasse befand. Es war ein Eckhaus mit schöner freier Aussicht über das Schöneberger Ufer, aber diese Aussicht war auch das prächtigste an der ganzen Wohnung. Ein und derselbe grosse Raum diente als Atelier und Schlafzimmer. Die Möbel waren ein zerrissenes Sopha und ein mächtiger, mit losen Skizzenblättern, Mappen und Kaffeebereitungs-Requisiten bedeckter Tisch, dessen Grösse und Solidität ich eben im Begriffe stand zu beneiden, als ich entdeckte, dass es gar kein Tisch war und dass man nur über ein paar Holzblöcke Bretter gelegt hatte. An allen Wänden Studienköpfe, unter Gussow's Leitung ausgeführt, auch viele originelle Versuche. Der Portier, der auf den wohlklingenden Namen Piefke hörte, sorgte für die Insassen des Ateliers wie eine Mutter. Selbst wider ihren Willen nahm er sich ihres Wohles an. Einer von ihnen hatte eine Reise vor und vermisste längere Zeit vorher seine schönsten Hemden. Herr Piefke war's, der sie bei Seite geräumt hatte, damit sie zu der Reise frisch gewaschen seien und sein Schützling sich unter den Fremden sehen lassen könne. Eigenthümlich genug wurde er zuletzt von der künstlerischen Atmosphäre im 5. Stock so angesteckt, dass er drunten in seinem Kellergelass selbst zu malen anfing, und das Gelungenste war, dass er wirklich etwas Talent besass, »mehr als manche Berühmtheit«, sagten die Maler. Ja, einer von ihnen hielt ein Gemälde von Herrn Piefke für das eines Kameraden, als er es eines Tages im Atelier aufgestellt fand. Ich selbst sah zwei Marinebilder von Herrn Piefke, Schiffe im Sturm darstellend, deren Interesse dadurch erhöht wurde, dass der Künstler niemals das Meer gesehen hatte, so dass die Phantasie um so grösseren Spielraum fand. Einer von den jungen Malern ersuchte mich, ihm zu sitzen; dadurch lernte ich die Gesellschaft kennen. Es waren -- selbstverständlich -- lauter eifrige Nihilisten, Socialisten, Atheisten, Naturalisten, Materialisten und Egoisten. Sie docirten einstimmig Ansichten, die für die Gesellschaftsordnung und den Frieden des Nächsten höchst gefährlich waren. Sie huldigten der Politik der Pariser Commune; Jeden, der behauptete, dass er selbst, oder überhaupt Jemand, sich von einem andern Motiv als dem rücksichtslosesten Egoismus leiten lasse, verachteten sie als einen Heuchler, der sie zum Besten haben wollte. Sie waren, nachdem sie mich kennen gelernt, sehr überrascht über meine Zahmheit. Sie hatten sich etwas ganz andres erwartet. Sie fühlten Ekel (Verachtung ist ein zu schwaches Wort dafür) vor der ganzen anerkannten deutschen Kunst, vor der Akademie, ihren Mitschülern, den berühmten Namen (mit Ausnahme von Böcklin, Menzel und Gussow). Sie hatten das Leben durchschaut. Sie liessen Alles gehen, wie es wollte. Es gab nichts zu wirken und nichts zu hoffen. Es galt, so schmerzlos als möglich die Zeit todtzuschlagen; sie waren zu alt, um Leidenschaften zu hegen -- darüber waren sie hinaus -- zu blasirt, um Illusionen nachzujagen, zu kunstverständig, um sich selbst Genie zuzutrauen, zu stolz, um sich um Lob oder Ruhm zu kümmern; es galt, den einen Tag hinzubringen wie den andern: ein wenig zu malen, eine Partie Tarok zu spielen, recht lange zu schlafen. Kurzum sie waren jung, jung! im Beginn der Zwanzig, genusssüchtig, ehrgeizig, fanatisch für die Kunst begeistert, weissglühend vor Verachtung der Heuchelei, so leidenschaftslos, dass der eifrigste Anbeter der Indolenz unter ihnen erst vor Kurzem von den Folgen eines Selbstmordversuches, den er aus unglücklicher Liebe machte, geheilt worden war und so eifrig, das Evangelium des Egoismus zu predigen, dass sie in vollständigem Communismus lebten, einander halfen, für einander hungerten und einander liebten. Sie waren Alle begabt; doch sobald man mit Einem von ihnen allein war, erzählte er sofort mit einem Gemisch von Zärtlichkeit und Ehrfurcht, dass Einer unter ihnen ein Genie sei. Er war ihr Stolz, ihre Bewunderung. Sie setzten ihre egoistische Freude darein, sein Lob nach allen Seiten auszuposaunen, überall und mit Jedem von seinen Arbeiten zu sprechen, ohne eine Silbe von ihren eignen zu sagen; fragte man nach diesen, so antworteten sie, das sei nur Broderwerb. Sie trugen ihren Benjamin auf den Händen und schworen, dass er den Ruhm aller jetzt lebenden deutschen Künstler in Schatten stellen werde. Mittlerweile ging er gross und schlank mit seinen dicht wachsenden, gekrausten, rothen Haaren still und verschlossen unter ihnen, stimmte mit einem Nicken, doch ohne sich weiter auszulassen, in ihre Theorien ein, im Voraus überzeugt, dass nur die extremste Anschauung die wahre sein könne und im Uebrigen so verloren in sein inneres Walten, so in Anspruch genommen von seinen fruchtbaren Träumen, so unablässig, fabelhaft productiv, dass er nur wenig Zeit zum Philosophiren fand. III. Max Klinger ist in Leipzig am 18. Februar 1857 geboren. Er ist der Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Er studirte die Malerei in Carlsruhe und Berlin unter dem durch seinen energischen Realismus bekannten Maler Carl Gussow, aber ohne das lernen zu können, worin dieser Lehrer seine besondere Stärke hat: die genaue Wiedergabe des Modells. Er lernte niemals die äussere Wirklichkeit copiren: dafür war seine innere Welt zu eigenthümlich und zu reich. Sein Gedächtniss war so treu, dass es von Formen und Eindrücken überfüllt war, seine gnostisch sinnliche, ideen- und bildersprudelnde Einbildungskraft war felsenfest von ihrer innern Logik überzeugt. Wie bizarr sie sich auch im Schaffen äusserte und wie tollkühn sie auch mit einer Aufgabe tummelte, machte sie dennoch etwas in künstlerischem Sinne Vernünftiges daraus, und sein Stimmungsleben war so vollständig, so vielstimmig bewegt, dass jede seiner Schöpfungen auf die Nerven wirkte wie Musik, Stimmung in sich hatte und Stimmung mit sich brachte. Der Stamm, aus dem diese fruchtbare Phantasie ihre Blüthen trieb, war ein fester, entschlossener und hartnäckiger Charakter, beharrlich in seinem Streben und in seinen Entschlüssen und bereit, Zeit, Kräfte, unbedingt Alles dafür zu opfern; er war ferner ein äusserst nervöses, bis zum Uebermass sensibles Temperament, eines jener Temperamente, welche die Leidenschaften bis auf den Grund erschüttern, doch nicht wie verheerende Stürme, sondern wie tropische Gewitter, nach denen das Erdreich doppelt üppig wuchert. Im Frühling 1878 stellte Klinger eine Reihe von 8 Zeichnungen aus, welche die Geschichte Christi illustrirten. Obgleich diese Zeichnungen nicht zu Klinger's besten Arbeiten gehören, wohl zunächst deshalb, weil das Historische nicht sein Fach ist und weil die Aufgabe überhaupt zu gross für seine Jugend war, so wurden sie doch beachtet. Der damalige Kritiker der »Gegenwart«, einer von den Wenigen, die wirklich Kunstverständniss hatten, schrieb: Von der Ausstellung 1878 wird man in Zukunft sagen: »Hier stellte Max Klinger zum ersten Male aus«; und nicht lange danach wurden die Zeichnungen von der Nationalgalerie angekauft. Ihr Verdienst lag hauptsächlich in dem vollständigen, entschiedenen Bruch des Künstlers mit allen abgedroschenen Ueberlieferungen in der Behandlung der ursprünglich christlichen Typen. Mit jugendlichem Ernst suchte er seinen eigenen Weg. Der Christustypus ist bei ihm unklar, verschieden in den verschiedenen Zeichnungen, weil er selbst über seine Grundauffassung noch unklar ist. Doch die Begebenheiten sind dem Beschauer nahe gerückt. Z. B. Die Jünger klimmen mühsam den Hügel empor, wo die Bergpredigt gehalten werden soll; ihnen folgen neugierige, schreiende Knaben, hinkende alte Weiber, Gichtbrüchige, Pharisäer und Soldaten. Alle wenden uns den Rücken; einer von den Aposteln dreht sich um und will einen Knaben ohrfeigen, wird aber von einem andern daran gehindert. Der Eindruck ist humoristisch. An einer andern Zeichnung, wo sie den Berg hinabschreiten, ist Alles feierlich. Die Sonne brennt auf den heissen Sand. Einer hinter dem andern gesenkten Hauptes folgen die Apostel ihrem Meister. Dieser nähert sich den Zuschauern. Das edle, feine Gesicht mit dem weichen schwarzen Haar und Bart blickt starr zu Boden. Er sieht trotz seiner Jugend so ehrfurchtgebietend aus, dass der römische Centurio, der hergesandt ist, um ihn zu beobachten, unwillkürlich Front macht; steif und unbeweglich, entblössten Hauptes steht er da, als Christus an ihm vorbeischreitet. In diesen Zeichnungen ist ein tapferer, wahrheitsliebender Kampf gegen das Hergebrachte. Auf dem Blatte wo Christus mit der Dornenkrone dem Volke gezeigt wird, ist z. B. der Ausrufer nicht das gewöhnliche brutale Ungeheuer, das in Vergnügen über seine eigene Gemeinheit schwelgt; wir sehen ein schläfriges arabisches Profil, dessen Besitzer mit eintöniger Stimme ganz mechanisch eine Reihe Worte ausschreit, die er auswendig gelernt hat, weil herzuplappern sein Beruf ist. Auf derselben Ausstellung befand sich auch ein kleines Gemälde von Klinger, »Spaziergänger« betitelt, interessant durch sein spannendes Thema. Die Scene ist ein ödes Feld nächst der Hasenhaide bei Berlin, bekannt als unsichere Gegend. Eine lange, unendlich lange und melancholische Friedhofmauer zieht sich in das Bild hinein. Daran lehnt ein junger Mann. Er hat einen Revolver aus der Tasche gezogen und hält ihn mit ruhigem beobachtenden Blick vor sich hin; denn von drei Seiten nähern sich unheimliche, zerlumpte Gestalten mit dicken Knüppeln in den Händen. Sie sind stehen geblieben, augenscheinlich ungewiss, was sie zunächst beginnen sollen, da sie merken, der Andere sei vorbereitet. Einer dieser Vorstadt-Proletarier bückt sich, ungeduldig über das Warten, und hebt einen grossen Stein auf. Ueber dem Bilde blauer Himmel, Sonnenschein und Sommerluft. -- Der Kritiker Ludwig Pietsch besprach dieses Bild, ebenso wie die Handschuh-Radirungen, voll Bewunderung. So grosses Aufsehen machten diese ersten Versuche, dass der Neid rege wurde. Der Kritiker der »Gegenwart« wurde in seinem eigenen Blatte angegriffen und der Artikel von der Redaction desavouirt. »Es sei Sünde«, hiess es allgemein, »einem jungen Künstler durch Lob den Kopf zu verdrehen«, besonders fügte man gerne hinzu, »da wahrscheinlich nichts aus ihm werde«; und als kurz danach Klinger's Kunst zu stocken schien, da er für zwei ganze Jahre aus Berlin verschwand und sehr zurückgezogen zuerst in Brüssel, dann in München lebte, eine langwierige erschöpfende Krankheit durchmachte, hatte es wirklich eine Zeit lang den Anschein, als ob die ungünstigen Prophezeiungen Recht behalten sollten. Doch zu Anfang 1880 kamen in Brüssel »13 _Eaux-fortes_«, Randglossen zu Ovid, heraus, die einen grossen Fortschritt in der Entwicklung des Künstlers verriethen. Es waren Illustrationen, oder richtiger begleitende Phantasien zu den Erzählungen der Metamorphosen von Apollo und Daphne, Pyramus und Thisbe, vermischt mit Intermezzo's pathetischer oder humoristischer Natur. Das einleitende Blatt ist in grossem, prachtvollen Stil ausgeführt. Eine schöne gebirgige Küstenlandschaft. Zur Linken, mit einer mächtigen Bergwand im Hintergrund, erblickt man eine griechische Colossalbüste, wie in einem Nest von Rosen angebracht. Den untersten Theil des Blattes nimmt die Platte an dem Arbeitstisch des Künstlers nebst Leuchtern und Zeichnengeräthschaften ein; rechts unten strecken zwei gefaltete Hände sich betend empor. Sie rufen den Geist der Antike an. Man muss die reine Hoheit in dem Ausdrucke des Colossalhauptes und die zitternde, nervöse Inbrunst in den gefalteten Händen, endlich die Landschaft mit dem kleinen, rauchenden Altar und einem Opfernden davor gesehen haben, um die ergreifende Wirkung zu verstehen. Die Landschaften insbesondere sind in diesem Cyclus bezaubernd; überhaupt besitzt Klinger eine gleichmässigere Stärke in der Landschaft als in den Figuren, deren Zeichnung nicht selten verfehlt ist, und bei denen sich das Barocke und Hässliche zuweilen störend neben vielem Reizenden und Genialen offenbart. Die Landschaften hier, mythologische Landschaften, die etwas Paradiesisches und doch gar nichts Akademisches an sich haben, erinnern in ihrem Stil an Böcklin, der überhaupt der Maler sein dürfte, der den tiefsten Eindruck auf Klinger gemacht hat. Diejenigen unter meinen Lesern, die solche Bilder von Böcklin gesehen, verstanden und gefühlt haben, wie die beiden in der Schack'schen Gallerie zu München, welche den Namen »Die Villa« führen und dieselbe altgriechische Landschaft, bei Tag und Nacht gesehen, vorstellen, können sich einen Begriff von der tiefen, ergreifenden Poesie in Klinger's bald überüppigen, bald durch ihre wilde Unfruchtbarkeit melancholischen Landschaften machen. Es sind keine Landschaften, die sich für die civilisirte Menschheit der Gegenwart eignen. Sie passen zum Aufenthaltsort für langhaarige Faune, für flötenspielende, ziegenfüssige Satyre, für das erste liebende Menschenpaar der Urzeit. Und doch ist der Künstler der Modernste unter den Modernen, der Freieste unter den Freien -- antik nur desshalb, weil er ursprünglich ist, mythologisch nur, weil etwas von dem Urmenschlichen, das in den Mythen seinen Ausdruck fand, in ihm ist. Er spielt mit Ovid so frei, wie Ovid mit dem Glauben einer älteren Zeit spielte, aber mit tieferem Sinne für das Seelische darin, mit kühnerer Phantasie und mit dem Hang des innerlich Einsamen, Gedanken und Räthsel in sein Werk niederzulegen. Welch' ein Blatt das, welches uns Apollo und den Künstler zeigt, die sich in der fremden Welt entgegengehen, jener mit der vielfach vergrösserten Feder, dieser mit der vergrösserten Radiernadel in der Hand. Welche stolz-bescheidene Haltung der ernsten Gestalt im antiken Gewande! Wie in sein Zimmer eingemauert, ohne mit einem einzigen Menschen zu verkehren, ohne im Verlauf von fünf Monaten nur ein einziges Mal seinen Fuss in die Pinakothek zu setzen, die er nie gesehen hatte, lebte Klinger in München, ausschliesslich der Ausarbeitung seines grossen Werkes »Amor und Psyche«. Es ist Apuleius' alte Legende, verschwenderisch mit Holzschnitten und Radirungen illustrirt. Mit wahrer dichterischer Erfindungsgabe hat Klinger in den Vignetten die Grundzüge der Mythe motivirt; und jeder empfängliche Beschauer wird sich der Feinheit und des Humors in der Vignettenreihe, wo Amor die 12 Herkules-Arbeiten ausführt, freuen und die vollendete Schönheit und Pracht bewundern, wie am Schlusse Venus vor den Göttern auf dem Olymp tanzt. Die grossen Bilder und Figuren stehen durchgehends dahinter zurück. Klinger ist noch kein Meister in der eigentlichen Zeichnung, und es ist zweifelhaft, ob er es jemals wird. Denn obschon in manchem Punkt das, was er hervorbringt, nicht besser gemacht werden kann, so muss man in andern Punkten fürchten, dass er unverbesserlich ist. Er gehört nicht zu denen, die schrittweise lernen; er geht im Sprung voran oder er behält seine Fehler. Jedoch die kleinen Bilder sind unvergleichlich anmuthig. Eines ist darunter, das Psyche einsam in Amor's Palast darstellt, wie sie von der Musik der Geister getröstet wird; es ist hingehaucht und ideal schön wie ein Gedicht von Shelley. IV. Ja, Klinger ist Dichter, ein naturanbetender, unberechenbar phantastischer Poet, der mit der Radirnadel und dem Pinsel dichtet. Er malt z. B. eine südliche Landschaft mit heiterer Luft, im Hintergrunde das Meer; ein Strauch voll rother Rosen zur Linken; eine junge, nackte weibliche Gestalt mit einem Rosenkranz um die Stirn liegt ausgestreckt auf dem feinen, weissen Sand und stützt sich auf den Ellbogen. Von rechts nähern sich mit steifer Gravität zuerst ein feuerrother Flamingo, dann in einiger Entfernung zwei grosse, barocke, breitschnäblige Vögel, die der Schönheit ihre Huldigung darzubringen scheinen. Das ebenso vorzüglich erfundene wie schlecht gemalte Bild trägt die Aufschrift: »Deputation«. Oder er zeichnet einen Mephistopheles, der, in Faust's Mantel gehüllt, auf den Besuch des Studenten wartet. Nicht eine Spur von dem traditionellen Mephisto-Typus ist zurückgeblieben. Aber wie ist dies schöne, kluge Gesicht unter dem Barett überlegen, raffinirt, in jeder Fiber von Hohn durchzuckt; eine vampyrische Wollust ist in diesen Zügen. Der grosse Spötter schlägt den warmen Pelzmantel um sich, als ob er friere. Es ist der blutlose Vampyr, der erfahrene Weltmann, der auf die vollblütige Unbedeutendheit, die unheilige Einfalt von der Schule wie auf seine sichere Beute wartet. Die letzte Reihe von Radirungen, die Klinger herausgegeben, scheinen mir den Höhepunkt dessen zu bezeichnen, was er erreicht hat; sie haben nur ein einziges misslungenes Blatt aufzuweisen und übertreffen an Reife alles frühere. Der Titel ist »Eva und die Zukunft«. Es sind 6 Blätter. Eva erwacht neugeschaffen in einem Paradiesgarten, der durch die Ueppigkeit seiner Vegetation an den Garten in Zola's »La faute de l'abbé Mouret« erinnert. Das nächste Blatt »Die Zukunft« zeigt einen schmalen Bergpfad zwischen zwei nackten, senkrechten Klippenwänden, der emporführt; und zu oberst, wo wir Evasöhne und Evatöchter alle vorbei müssen, wenn wir überhaupt vorbei kommen, -- hockt, auf die Vordertatzen gestützt, mit granitener Ruhe ein Riesentieger und wartet, wartet wie das unvermeidliche Entsetzen, das Jedem vorbehalten ist. Das nächste Blatt »Die Schlange« stellt Eva nackt dar, wie sie sich brüstet und auf den Zehen erhebt, um ihr Gesicht besser im Spiegel sehen zu können, den die Schlange vom Baume der Erkenntniss ihr entgegenhält. Dies Blatt gefällt mir am wenigsten; aber »Die Zukunft«, die das Seitenstück zu »Die Schlange« bildet, ist um so viel interessanter. Es wirkt durch etwas unaussprechlich Stimmungsvolles: ein Dämon, der Dämon aller Versuchungen, fliesst mit einer Harpune in der Hand, seltsam lächelnd, auf dem Rücken eines Delphins an dem Beschauer vorüber. Die beiden letzten Blätter sind in hohem Grade fesselnd. Das eine stellt die Vertreibung Adam's und Eva's aus dem Paradiese vor und ist betitelt »Adam«; im Hintergrund des Gartens reiche Laubbäume und der durch ein primitives Portal von hohen, unbehauenen Steinen, doch ohne Thorbogen, bezeichnete Ausgang. Im Vordergrund Adam, der Eva auf seinen Armen hinausträgt in die Welt der steinernen Wirklichkeit. Man braucht nur angesichts dieser Radirung einen Namen zu nennen wie Gustave Doré, um die ursprüngliche Frische Klinger's recht augenfällig zu machen; er ist ebenso echt und ursprünglich, wie der Franzose allmälig conventionell und theatralisch geworden ist. »Die Zukunft«, die das Gegenstück zu diesem Blatte bildet, wird Niemand, der sie sah, so leicht vergessen! Jean Paul gebraucht irgendwo von dem Tod den Ausdruck »der Pflasterer«. Dieser Ausdruck gab Klinger, die Idee zu einem Bilde in mittelalterlichem Geist, auf dem man den Knochenmann erblickt, ein Gewimmel von schreckgelähmten Häuptern, die aus der Erde ragen, unter sich; und während sich die sonderbaren Klauen seiner Füsse in die Haare einiger Köpfe verwickeln und er ein Geheul des Entzückens anstimmt, schwingt er seine kräftige Pflasterersjungfrau hoch in seinen Armen und lässt sie mit Wonne auf die Hirnschalen hinabfallen. V. Es ist wahrscheinlich, dass ein Künstler, der bis zu seinem 24. Jahre schon so viel hervorbrachte, im Laufe der Zeit einen weitverbreiteten Ruf erlangen wird. Ich glaube nicht, dass es ihm gelingt, sich eine ebenso grosse Herrschaft über die Mittel der Malerkunst zu erwerben, wie über die der Radirkunst. Seine verschiedenartigen Versuche bisher waren versprechend, doch nicht entscheidend. Als das, was er vorläufig ist, d. h. als Maler-Radirer, ist er ein grosser Componist und ein wahrer Dichter in seiner Kunst. Er scheint mir besonders darum interessant, weil er, zu dessen Glaubensbekenntniss es gehört, kein Nationalgefühl zu haben, er, der von dem Spanier Goya und dem Deutschen Böcklin fast gleich tief beeinflusst ist, der mit Ausnahme von Gussow und Menzel nur französische Malerkunst schätzt und selten ein modernes deutsches Buch zur Hand nimmt, sondern entweder den Simplicissimus oder moderne französische Schriftsteller wie Zola oder noch lieber die Brüder Goncourt liest, -- dass er trotz alledem so tief national ist. Es steckt etwas Urdeutsches in ihm, etwas von der metaphysischen Phantastik Jean Paul's und E. Th. A. Hoffmann's (von welch' Ersterem er ein grosser Bewunderer ist), etwas von der Innigkeit und dem tiefen Schönheitssinn Franz Schubert's, den er spielt und liebt; und dabei hat er doch sein eignes, weit mehr modernes Element, neue Formen für eine neue Innigkeit, neue Ausdrücke für Sehnsucht, Wollust, Humor, Selbstironie und das grosse melancholische Pathos. Wenn jeder Stoff, den er berührt, sich verjüngt, wenn er Amor, den man doch Grund hatte, lediglich als Zopf zu betrachten, von neuem lebendig und möglich machte, so beruht dies auf der persönlichen, nervösen Art, mit der er den Stoff anpackt; und diese Form von Nervosität kommt erst in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Klinger ist ein ausgezeichneter Beobachter, der treu nach der Wirklichkeit studirt, der Mann vollendeter Beobachtung. Man sehe z. B., wie er in seinen schlafenden Gestalten den Schlaf studirt hat; man sehe die Haltung und Bewegung seiner Vögel; man sehe die Geberde, mit der Amor's und Psyche's kleiner Sohn dem Jupiter in die Stirnhaare greift. Klinger ist sogar unbarmherzig in seiner Treue gegen die Wirklichkeit; er erspart den Nerven des Betrachters nicht die volle Pein des Eindrucks: oft scheint es, dass er sich gleichsam über die hergebrachte Geziertheit und Zurückhaltung in der Darstellung des Natürlichen lustig mache; so stark fühlt er es, dass der Künstler, wenn er sich den Normen der guten Gesellschaft anbequemt, sowohl komischer als ernst wirkender Effecte verlustig geht, dass ganze Stösse von seinen Zeichnungen -- darunter verschiedene, welche die Nationalgallerie in Berlin gekauft hat -- der Oeffentlichkeit nicht vorgelegt werden können. Man muss zu Huysmanns und Guy de Maupassant gehen, um literarische Seitenstücke zu finden. Insofern ist er Naturalist bis in die Fingerspitzen. Aber im Herzen ist er Pantheist. Seine Phantasie bohrt sich gleichsam in den Mittelpunkt, von dem die schwellende Fülle des Lebens ausgeht, schafft mit, schafft um, bildet neue Organismen, neue Fabelthiere, neue Ausdrücke für Gefühle, neue oder erneute Sinnbilder für Glückseligkeit, Entbehren, Schrecken und Vernichtung. Er wäre der Mann, der durch geistvolle Illustrationen Gustave Flaubert's »Versuchung des heiligen Antonius« zu einem anziehenden Werk machen könnte. Er hat an der Quelle gestanden, welcher die ältesten Phantasien über die Natur entströmten, und er hat von dieser Quelle getrunken. ERNEST RENAN. (1880.) Ich hatte nicht die Absicht, Renan aufzusuchen, als ich die Monate April bis September 1870 in Paris verbrachte; ich habe immer einen wahren Schrecken davor gehabt, unter dem Vorwand der Bewunderung berühmten Männern ihre Zeit zu rauben. Als aber Taine, der nächste Freund Renan's, mich wiederholt aufforderte, »seinen Freund, den Philologen« zu besuchen, fasste ich mir ein Herz und fand mich, mit einem Empfehlungsschreiben von Taine versehen, eines Tages in dem Hause Rue de Vannes ein, wo Renan drei Treppen hoch wohnte. Seine Wohnung war einfach. Seit ihm der hebräische Lehrstuhl im Collége de France genommen wurde, war er ohne jegliche feste Einnahme, und nur seine erste populäre Schrift war sehr einträglich gewesen. Nach den Werken und den Portraits Renan's hatte ich ihn mir ungefähr als einen feineren Jules Simon vorgestellt, philanthropisch, milde, den Kopf ein bischen schräg; ich fand ihn bestimmt, kurz und kühn in seinen Aeusserungen, entschieden in seinen Meinungen; er hatte Etwas von der Verschämtheit des Gelehrten, aber noch mehr von der Sicherheit und Ueberlegenheit des Weltmannes. Renan war damals 47 Jahre alt. Ich sah an dem Arbeitstisch einen kleinen, breitschulterigen, etwas gebeugten Mann mit einem schweren grossen Kopf. Das glattrasirte Gesicht mahnte daran, dass Renan ursprünglich zum Geistlichen bestimmt gewesen; grobe Züge, die Haut unrein, tiefblickende, blaue Augen, die sich nur ab und zu auf einen richteten, und ein kluger, auch im Schweigen beredter Mund. Das unschöne aber anziehende Gesicht mit dem Ausdruck des hohen Verstandes und des angestrengten Fleisses war von langen braunen, an den Schläfen in's Weisse übergehenden Haaren eingefasst. Seine Person erinnerte mich an einen Satz von ihm selbst: _La science est roturière_. I. In ganz jungen Jahren hatte ich mich von Renan's Werken zurückgestossen gefühlt; er ist überhaupt kein Schriftsteller für die Jugend. Sein »Leben Jesu«, das mir zuerst in die Hände fiel, ist ausserdem wohl sein schwächstes Werk; seine Sentimentalität, eine hier bisweilen störend hervortretende Salbung, dieser letzte Rest einer priesterlichen Erziehung, alles das, was einem Jüngling entweder weichlich oder unecht erscheinen musste, liess mich nicht zur gerechten Würdigung seiner grossen schriftstellerischen Eigenschaften kommen. Jener erste Eindruck hatte sich später verloren; die schöne Sammlung »Études d'histoire religieuse« hatte meine Augen für das fast weibliche Feingefühl geöffnet, das nur einem jugendlichen, noch spröden Geist wie dem meinen, oder einer revolutionären, ungeduldigen Jugend wie der des heutigen Italien, als etwas Unmännliches erscheinen kann, und ich fand es ganz natürlich, dass er, den man mit Recht »den Furchtsamsten unter den Kühnen« genannt hat, sich nicht ohne Wehmuth über seine Ausnahmestellung aussprach: »Die schlimmste Qual, durch welche der Mann, der sich zu einem Leben im Gedanken durchgekämpft hat, für seine Ausnahme-Stellung büsst, ist die, aus der grossen religiösen Familie, der die besten Seelen der Erde gehören, sich ausgeschlossen zu sehen, und von den Wesen, mit denen er am liebsten in geistiger Vereinigung leben möchte, als ein verderbter Mensch betrachtet zu werden. Man muss seiner selbst sehr sicher sein, um nicht erschüttert zu werden, wenn die Frauen und die Kinder die Hände falten und einem sagen: O glaube wie wir!« Ich hatte mich jedoch in der Annahme geirrt, dass etwas von diesem elegischen Ton in Renan's alltäglicher Redeweise durchklänge. Der Grundzug seiner Unterhaltung war eine vollständige geistige Freiheit, die grossartige Flottheit des genialen Weltkindes. Der Nerv seiner Worte war eine so unbegrenzte Verachtung der Menge und des Haufens, wie ich sie nie früher bei Jemanden getroffen hatte, der weder Menschenhass noch Bitterkeit spüren liess. Schon das erste Mal, da ich ihn sah, führte er das Gespräch auf die menschliche Dummheit; er sagte, augenscheinlich um dem jüngeren Commilitonen Gemüthsruhe in den kommenden Stürmen des Lebens einzuflössen: »Die meisten Menschen sind gar nicht Menschen, sondern Affen«, aber er sagte es ohne Zorn. Géruzez's Wort fiel mir ein: _L'âge mûr méprise avec tolérance_. Man spürt diese ruhige Verachtung in seinen Vorreden; sie erhielt viele Jahre später einen dichterischen Ausdruck in seiner Fortsetzung von Shakespeare's »Der Sturm«; aber in seinem Aufsatze über Lamennais hat er sie fast definirt. Er schreibt hier: »Es findet sich bei Lamennais allzu viel Zorn und nicht genug Verachtung. Die literarischen Folgen dieses Fehlers sind sehr ernst. Der Zorn hat Declamation, Plumpheit, oft grobe Injurien zur Folge, die Verachtung dagegen bringt fast immer einen feinen und würdigen Stil hervor. Der Zorn hat das Bedürfniss, sich getheilt zu fühlen. Die Verachtung ist eine feine und durchdringende Wollust, die der Theilnahme Anderer nicht bedarf; sie ist diskret, sich selbst genug«. Die Gesprächsweise Renan's hatte einen gewissen Schwung, etwas Lebhaftes und Ueberströmendes, ohne welches Niemand bei den Franzosen zu dem Lobe kommt, das in Paris immer Renan ertheilt wird, in Verkehr und Gespräch »charmant« zu sein. Von dem Feierlichen, das sein Stil oft hat, war in seiner mündlichen Form nichts übrig. Er hatte gar nichts Priesterartiges und gar nichts von dem Pathos eines Märtyrers des freien Gedankens. Er leitete gern eine Einwendung mit seinem Lieblingsausruf _Diable!_ ein, und war so weit entfernt, bittere und elegische Töne anzuschlagen, dass sein Gleichgewicht eher etwas olympisch Heiteres hatte. Wer die kindisch gehässigen Angriffe kannte, denen er täglich von orthodoxer Seite ausgesetzt war, und wer wie ich in dem Journalistenkreise Veuillot's Zeuge gewesen war, wie man dazwischen schwankte, ob das Aufgeknüpft- oder das Erschossenwerden die gerechte Strafe für seine Ketzerei sei, dem lag es nahe, zu fragen, ob Renan nicht recht viel für seine Ueberzeugung ausgestanden habe. »Ich«, lautete die Antwort, »nicht das Geringste. Ich verkehre nicht mit Katholiken, ich kenne nur einen; wir haben nämlich einen in der _Académie des inscriptions_, und wir sind sehr gute Freunde. Die Predigten, die gegen mich gehalten werden, höre ich nicht; die Broschüren, die gegen mich geschrieben werden, lese ich nicht. Welchen Schaden sollten sie mir denn zufügen?« Nach Renan's Ansicht würden die gläubigen Katholiken Frankreichs ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen und diese seien weit fanatischer als die katholischen Orthodoxen anderswo, weil der Katholizismus in Spanien und Italien fast als Gewohnheitssache zu betrachten sei, während er in Frankreich durch die intelligente Opposition gereizt werde. Ich fand Renan im Juni 1870 durch die Begebenheiten in Rom sehr erheitert. »Man sollte Pius IX. eine Statue errichten«, sagte er, »er ist ein ausserordentlicher Mann. Seit Luther hat Niemand der religiösen Freiheit so grosse Dienste geleistet wie er. Er hat die Sachen um dreihundert Jahre gefördert. Ohne ihn hätte der Katholizismus wie in einem geschlossenen Raum mit seinem Spinngewebe und seinem dicken Staub sich sehr gut noch dreihundert Jahre unverändert erhalten können. Jetzt lüften wir aus, und Jedermann sieht, dass der Raum leer ist, und nichts darin steckt«. Er hatte die Furcht gehegt, dass man während der Verhandlungen über die Unfehlbarkeit des Papstes noch im letzten Augenblick irgend ein Kompromiss abschliessen würde, durch welches Alles faktisch so bliebe, wie es sei; diese Möglichkeit war aber eben in jenen Tagen verschwunden, und es liess sich voraussehen, dass man keine Konsequenz scheuen werde, nicht einmal die von Renan angenommene, dass man eine ähnliche Zersplitterung innerhalb des Katholizismus hervorbringe wie die, in welcher der Protestantismus sich befindet. Es hat sich gezeigt, dass die Politik der katholischen Kirche richtiger war, als ihre Gegner im ersten Augenblick meinten. Die eingetretene Spaltung ist weder tief noch bedeutend gewesen und zu einer Zersplitterung, die sich nur annähernd mit dem Sektenwesen des Protestantismus vergleichen liesse, ist nicht die geringste Aussicht vorhanden. Renan, der am meisten an Frankreich dachte, hoffte aber besonders, dass der französische Bürgerstand, der seit der Februarrevolution sich ganz in die Arme der Kirche geworfen hatte, und mit unruhigen Blicken dem kulturfeindlichen Auftreten der päpstlichen Macht zuschaute, endlich die Augen aufmachen werde. In dem schönen, gediegenen Roman »Ladislaus Bolski« hat Victor Cherbuliez einen milden Spott mit gewissen Lieblingstheorien Renan's getrieben, indem er dem gutmüthigen aber zum Handeln ganz unfähigen Mentor des Helden die Renan'schen Lehren von der zarten Natur der Wahrheit und von der daraus fliessenden Nothwendigkeit, nur mit der äussersten Vorsicht und Umsicht sich ihr zu nähern, in den Mund gelegt hat. George Richardet glaubt wie Renan, dass es überall auf die Nuance ankommt, dass die Wahrheit nicht einfach weiss oder schwarz, sondern eine Schattirung ist, und scheitert daran, dass man nicht in Schattirungen handeln kann. George Richardet will im Leben die Idee verwirklichen, die Renan an einer Stelle unter vielen so ausgedrückt hat: »Man könnte ebenso gut ein geflügeltes Insekt mit einer Keule zu treffen versuchen, als mit den groben Klauen des Syllogismus die Wahrheit in einer Geisteswissenschaft fassen wollen. Die Logik ergreift die Nuancen nicht, aber die moralischen Wahrheiten beruhen ganz und völlig auf Nuancen. Es nützt deswegen nichts mit der plumpen Gewaltsamkeit eines wilden Schweines sich auf die Wahrheit loszustürzen; die flüchtige und leichte Wahrheit entschlüpft und man verliert nur seine Mühe«. Wer mit Renan's schriftstellerischer Wirksamkeit vertraut ist, weiss, wie vollständig dieser Gedanke ihm gegenwärtig ist, wenn er schreibt. Wenn er aber spricht, wo sind dann seine lieben Nuancen! Während Taine, der in seinen Schriften so derb ist, im Gespräch unaufhörlich moderirt und dämpft, sich nur von den strengsten Gerechtigkeits- und Billigkeitsrücksichten leiten lässt, geht Renan, wenn er spricht, zum äussersten und ist durchaus nicht der Ritter der Nuance. Nur in einem Punkte waren sie beide gleich entschieden in ihren Ausdrücken. Das war, wenn das Gespräch auf jene spiritualistische Philosophie Frankreichs kam, die ihre Stärke in ihrer Allianz mit der Kirche und ihrer Erhebung zur officiellen Staatsphilosophie gesucht hat, die ursprünglich das Herz der Familienväter dadurch gewann, dass sie Dogmen und Tugend in ihrem Schilde führte und die statt der Entdeckung neuer Wahrheiten die Versehung des ganzen Landes mit guten Sitten als Frucht ihrer wissenschaftlichen Fortschritte versprach. Sie hatte ja damals noch alle Lehrstühle Frankreichs inne. In der Sorbonne war sie von Janet und Caro vertreten, von welchen Janet als der feinere und geschmackvollere Geist die Gegner zu verstehen und ihnen gerecht zu sein bestrebt war, während Caro (Bellac in Pailleron's »_Le monde, où l'on s'ennuie_«) als ächte Mittelmässigkeit mit priesterlichen Armbewegungen und kräftigen Schlägen gegen seinen breiten Brustkasten, durch Appelliren an die Freiheit des Willens und den Glauben an Gott, den Beifall der Zuhörer errang. Für Renan, der doch in einem so eleganten Essay Cousin als Redner und Schriftsteller gelobt hat, war die ganze eklektische Philosophie mündlich nur »offizielle Suppe«, »Kinderbrei«, »Produkt der Mittelmässigkeiten, für die Mittelmässigkeit berechnet«. Ja, so hartnäckig war er in diesem Punkte, dass er, der Fürsprecher der Nuancen, sich niemals ausreden lassen wollte, dass der Spiritualismus unbedingt falsch sei. Für Taine dagegen hegte er eine Bewunderung, die fast leidenschaftlich war. _Taine, c'est l'homme du vrai, l'amour de la vérité même._ Trotz der so in's Auge springenden Verschiedenheit ihrer Naturen -- Taine's Stil hat die Kraft eines Springbrunnens, Renan's Stil fliesst aus der Quelle wie der Vers Lamartine's -- erklärte Renan sich mit dem Freund in allen Hauptfragen einig. Und als ich eines Tages einen in Paris oft erörterten Gegenstand zur Sprache brachte, die Frage, wie weit die allgemeine Stimmung Recht habe, die immer über Frankreichs geistigen Niedergang klagte, kam Renan wieder auf Taine zurück: »Niedergang! was heisst das? Alles ist relativ. Ist Taine z. B. nicht bedeutender als Cousin und Villemain zusammen? Es ist noch viel Geist in Frankreich«, und er wiederholte mehrmals diese Worte: _Il y a beaucoup d'esprit en France._ Wie die meisten gebildeten Franzosen war Renan ein fast ehrfurchtsvoller Bewunderer George Sand's. Diese ausgezeichnete Frau hatte vermocht, ihre Herrschaft über die jüngeren Generationen Frankreichs auszudehnen, ohne deswegen ihren Jugendidealen untreu zu werden. Einen Idealisten wie Renan gewann sie durch ihren Idealismus, einen Naturalisten wie Taine durch die geheimnissvolle Naturmacht ihres Wesens, der jüngere Dumas, von dem man glauben sollte, dass die Helden und Heldinnen George Sand's, über die seine Dramen manchmal eine bittere Kritik üben, ihm ganz besonders zuwider seien, war vielleicht derjenige unter den nachromantischen Schriftstellern, der ihr persönlich am nächsten stand. Dumas' Begeisterung für George Sand war nur eine Folge seiner literarischen Empfänglichkeit überhaupt, der Enthusiasmus Renan's war von tieferer Art. Ebenso stark wie er Béranger hassen muss, in dem er eine Personifikation all' des Leichtfertigen und Prosaischen in dem französischen Volkscharakter sieht, und dessen philisterhafter _Dieu des bonnes gens_ dem Herder'schen, pantheistischen Denker und Träumer ein Dorn im Auge ist, ebenso lebhafte Sympathien musste er naturgemäss für die Verfasserin von »Lélia«, »Spiridion« und so vieler anderen schwärmerischen Schriften haben. Trotz seines weiten Blicks ist Renan jedoch in seinen literarischen Sympathien nicht ohne nationale Beschränkung. Er hatte in einem Gespräche über England durchaus nichts Gutes über Dickens zu sagen; nicht einmal für Billigkeit war er gestimmt. »Der anspruchsvolle Stil von Dickens« sagte er, »macht auf mich denselben Eindruck, wie der Stil einer Provinzial-Zeitung«. Sein bekannter ungerechter Artikel über Feuerbach setzt Einen weniger in Erstaunen, wenn man hört, in welchem Grade er über die Mängel bei Dickens dessen Vorzüge übersieht. Er ist derselbe bis zum Krankhaften entwickelte Sinn für eine klassische und temperirte Ausdrucksweise, der Renan die humoristischen, an die Shakespearischen Clowns gemahnenden Sonderbarkeiten in Dickens' Stil und die leidenschaftliche Form bei Feuerbach antipathisch macht; die geniale Manierirtheit des Engländers kommt ihm provinziell vor, die Gewaltsamkeit des Deutschen scheint ihm einen so zu sagen tabaksartigen Beigeschmack von der Pedanterie des studentischen Atheismus zu haben. Er ist in seinem literarischen Geschmack Romane und Pariser, classisch und gedämpft. II. Renan stand im Vorsommer 1870 in Begriff, eine Reise nach Spitzbergen in Begleitung des Prinzen Napoleon anzutreten. Kurz vor dieser Reise sprach er eines Tages von Politik. »Sie können«, sagte er, »den Kaiser vollständig durch seine Schriften kennen lernen.[23] Er ist ein Journalist auf dem Thron, ein Publicist, der immer die öffentliche Meinung ausfragt. Da seine ganze Macht auf ihr beruht, braucht er trotz seines geringeren Gehalts mehr Kunst als Bismarck, der sich über alles hinwegsetzen kann. Bis jetzt ist er nur körperlich, nicht geistig geschwächt, aber er ist äusserst vorsichtig geworden (_extrêmement cauteleux_) und hat ein Misstrauen in sich selbst, das er früher nicht kannte«. Renan urtheilte über Napoleon ungefähr wie Sainte-Beuve in dem bekannten nach seinem Tode herausgegebenen Fragment über »Das Leben Cäsars«, in welchem er die Cäsaren »zweiter Classe« schildert, jene die »im Purpur oder neben dem Purpur geboren« sind und »etwas Gequältes, Ausgearbeitetes, Fabricirtes« an sich haben. Ollivier, den Renan schon sehr lange kannte und der eben in jenen Tagen seine kurze Rolle als anscheinend constitutioneller Premierminister spielte, beurtheilte er mit Strenge. Er sagte: »Er und der Kaiser passen vorzüglich zusammen. Sie sind geistig verstanden Verwandte, sie haben dieselbe Art von ehrgeiziger Mystik, sind so zu sagen durch die Chimäre verschwägert«. Schon im Jahre 1851 hatte Ollivier oft zu Renan gesagt: »Sobald ich ans Ruder komme, sobald ich Premier-Minister werde ....« Wenn ich nun in diesen Gesprächen mit meinem damaligen einfachen politischen Grundgedanken, der Nothwendigkeit des Schulzwangs, des unentgeltlichen oder doch äusserst billigen Unterrichts auch für Frankreich, hervorrückte, einem Gedanken, den ich überall zu vertheidigen Anlass hatte und der überall wie eine Ungereimtheit oder eine alte längst aufgegebene Schrulle behandelt wurde, war Renan nach meinen Vorstellungen so paradox, dass ich kaum an seinen Ernst glauben konnte. Seine Argumente haben besonders deswegen Interesse, weil man sie (nur in anderer Form) allenthalben in Frankreich von den Männern des zweiten Kaiserreichs vorbringen hörte. Renan behauptete erstens, gezwungener Unterricht sei eine Tyrannei. »Ich habe selbst«, sagte er »ein kleines Kind, das gebrechlich ist. Wie despotisch, es von mir zu nehmen, um es zu unterrichten!« Ich entgegnete, dass es durch das Gesetz Ausnahme gäbe. »Dann würde Niemand die Kinder in die Schule schicken«, antwortete er. »Sie kennen nicht unsere französischen Bauern. Sie würden sich nie was daraus machen. Lassen Sie sie die Erde bauen und ihre Steuern zahlen oder geben Sie ihnen ein Gewehr in die Hand und einen Sack auf den Rücken, und sie sind die besten Soldaten der Welt. Aber was für die eine Race passt, passt für die andere nicht. Frankreich ist kein Land wie Schottland oder Skandinavien; die puritanischen und germanischen Gewohnheiten finden hier keinen Boden. Frankreich ist z. B. kein religiöses Land und jeder Versuch, es dazu machen zu wollen, wird scheitern. Es ist ein Land, das zwei Sachen hervorbringt; was gross und was fein ist (_du grand et du fin_). Die respektable Mittelmässigkeit wird nie hier gedeihen. In diesen zwei Worten ist das ideale Bedürfniss der Bevölkerung ausgedrückt; im Uebrigen will sie nur eins, sich amüsiren, durch Vergnügungen empfinden, dass sie lebt. Und endlich, glauben Sie mir, es ist meine feste Ueberzeugung, dass der elementare Unterricht geradezu ein Uebel ist. Was ist ein Mensch, der lesen und schreiben kann, ich meine: ein Mensch, der nicht mehr als lesen und schreiben kann? Ein Thier, ein dummes und _eingebildetes_ Thier. Geben Sie den Menschen einen Unterricht von 15 bis 20 Jahren, wenn Sie es können, sonst Nichts! Was dazwischen liegt, ist so fern davon, sie klüger zu machen, dass es nur ihre liebenswürdige Natürlichkeit, ihren Instinkt, ihre gesunde Vernunft verdirbt, und sie unerträglich macht. Gibt es etwas Schlimmeres, als von Seminaristen regiert zu werden? Die einzige Ursache, warum wir uns jetzt mit dieser Frage beschäftigen müssen, ist, weil dieser Haufen Gassenbuben (_ce tas de gamins_) uns zu seiner Zeit das allgemeine Stimmrecht aufzwang. Nein, seien wir darüber einig, dass nur bei den Hochgebildeten die Bildung ein Gutes ist und dass die Halbgebildeten nur wie unnütze und hochmüthige Affen zu betrachten sind«. Ich sprach von Dezentralisation, davon, die Provinzialstädte, Lyon z. B. zu heben. »Lyon«, brach er in vollem Ernste aus, »es würde doch wohl Niemanden einfallen, die Provinzial-Hauptstädte zu geistigen Brennpunkten zu machen, sie kämen sogleich unter die Bischöfe«. »Nein«, fügte er mit drolliger Ueberzeugung hinzu, »in solchen Städten wird man nie etwas anderes als Dummheiten machen«. Man wird nach diesen Aeusserungen des Mannes in Frankreich, der mehr als irgend ein anderer für eine Reform des höheren Unterrichtswesens gekämpft hat, vielleicht besser verstehen, warum da zu Lande die Gleichgültigkeit der Liberalen Hand in Hand mit dem Eifer der katholischen Geistlichkeit ging, wenn die Rede davon war, jener Unwissenheit der niedrigeren Klassen abzuhelfen, die sich später so gefährlich für die äussere und innere Sicherheit des Landes zeigte. Der alte Philarète Chasles, der doch wahrlich kein Chauvinist war, machte sich eines Abends im Mai 1870 bis zu dem Grad über mein Vertrauen in die wirksame Kraft des gezwungenen Unterrichts lustig, dass er ihn mein _Revalenta arabica_ nannte und behauptete, ich hoffe, durch ihn das Menschengeschlecht für alle Zeiten glücklich zu machen. Auch er fragte mich, ob ich nicht meinte, dass die Bauern ohne Schulmeister hinlänglich gute Familienväter und gute Soldaten seien. Der Krieg lehrte bald diese Männer, dass es eine bis dahin nicht genug beachtete Stärke des Soldaten ist, dass er lesen und schreiben kann. Merkwürdig war es aber, zu sehen, wie Ideen, von denen man versucht war, sie ausschliesslich der katholischen Geistlichkeit zuzuschreiben, wie z. B. diese Idee von der unbedingten Schädlichkeit unvollständiger Kenntnisse, nach und nach eine solche Autorität in einem von dem Katholizismus durchdrungenen Lande gewonnen hatten, dass sie mit einer geringen Formveränderung selbst die ausgesprochensten, entschiedensten Gegner des katholischen Glaubens beherrschten. Eine andere, ebenso interessante Anwendung der Renan'schen Lehre: dass, was in Deutschland oder im Norden gut sei, nicht desshalb für Frankreich tauge, hörte ich eines Tages -- Renan selbst war nicht zugegen -- in seinem Landhaus in Sèvres. Das Gespräch fiel auf die französische Convenienzehe. Seine Gattin, eine geborene Deutsche, die Tochter des Malers Henri Scheffer, die jedoch ganz von seinen Ideen durchdrungen war, vertheidigte die französische Weise, auf eine Verabredung zwischen dem Freiwerber und den Eltern hin, nach ganz wenigen pflichtschuldigen Besuchen die Hochzeit zu halten. »Diese Weise die Ehen zu schliessen«, sagte sie, »würde nicht existiren, wenn sie nicht ihren guten Grund hätte. Obwohl in Frankreich erzogen, habe ich, die ich deutsch geboren bin, mich nicht so verheirathet. So oft man mir vorschlug, einen Freier in Augenschein zu nehmen, erklärte ich ihn nicht sehen zu wollen; schon dass er als Freier kam, war genug, um ihn in meinen Augen abscheulich zu machen. Ich habe meinen Mann viele Jahre vor unserer Verheirathung gekannt. Wer kann aber etwas einwenden, wenn man sieht, wie ich es bei so vielen unserer Freunde gesehen habe -- sie nannte diesen und jenen -- dass man eine Woche vor der Hochzeit einander vorgestellt worden, und dass eine solche Ehe sich glücklich und befriedigend für beide Parteien gestaltet hat!« Während ich in diesen Worten halbwegs eine Ausflucht sah, um nicht die Verhältnisse naher Freunde beurtheilen zu müssen, halbwegs ein Anzeichen der französischen Eigenschaft, jede Nationaleigenthümlichkeit, wie unglücklich sie auch sei, als unabänderliches Racenmerkmal darstellen zu wollen, legte ein Anwesender, einer der vorurtheilsfreiesten französischen Schriftsteller seine Hand auf den Kopf seiner kleinen Tochter, eines Kindes von zwei Jahren und sagte: »Sie meinen also, ich sollte mein kleines Mädchen dem ersten besten Manne geben, der, ohne sich an uns, ihre Eltern zu wenden, sich ihr Herz erschleichen könnte. Erinnern Sie sich doch, wie gross die Unerfahrenheit eines jungen Mädchens ist, vergessen Sie doch nicht die Beschaffenheit der wirklichen Welt, nicht, welche Schufte es gibt, nicht, welche Vorzeit, welche Krankheiten, welche bestialischen Neigungen ein junger Mann haben kann, Eigenschaften, die das Auge eines Vaters ahnt, deren Anwesenheit aber das unschuldige Gemüth eines jungen Mädchens nicht für denkbar halten kann oder darf. Die Welt ist ein Feind. Sollte ich denn nicht nach Kräften meine kleine Tochter gegen den Feind vertheidigen? Wenn einmal in fünfzehn Jahren sich Freiwerber für sie anmelden, so wollen wir, wenn wir bis dahin am Leben sind, uns solcherweise betragen: wir werden die aussondern, die nicht in Betracht kommen können entweder wegen ihrer bürgerlichen Stellung oder wegen moralischer oder körperlicher Schwächen, wir werden eine Auslese (triage) unternehmen, und erlauben dann im Uebrigen, wie alle Eltern, dem jungen Mädchen, zu wählen, wie es will«. Als Voraussetzung dieser Betrachtungsweise muss man sich der abgesperrten Erziehung der Töchter in dem Kloster oder in der Pension erinnern. Mit dieser -- selbst wenn jede Rücksicht auf die grössere Feurigkeit und Sinnlichkeit der romanischen Nationen genommen wird -- ungereimten Voraussetzung vor Augen, wird die gezogene Folgerung vielleicht vernünftig. III. Ich hielt mich zur Zeit der deutsch-französischen Kriegserklärung in London auf und da ich das Glück hatte, dort mit einigen unparteiischen Männern von grosser politischer Einsicht zu verkehren, ahnte ich früher als meine französischen Bekannten all' das Missgeschick, das der Krieg über Frankreich bringen würde. Bei meiner Rückkehr nach Paris war man dort voller Hoffnung und Zuversicht, ja man legte bekanntlich sogar einen Uebermuth an den Tag, der jeden Fremden unheimlich berühren musste. Dieser Uebermuth wurde jedoch nicht von den Männern der Wissenschaft getheilt. Noch war es zu keiner Schlacht gekommen; aber schon die Nachricht von dem Selbstmord Prévost-Paradol's in Nordamerika hatte einen Jeden, der ihn kannte und es wusste, wie genau die Vorbereitungen und Hilfsquellen Frankreichs dem Verfasser von »La France nouvelle« bekannt seien, mit den peinlichsten Vorgefühlen erfüllt. Denn Niemand bezweifelte, dass er, wenn auch nach einem Fieberanfall, so doch mit vollem Bewusstsein und vollem Vorsatz Hand an sich gelegt habe. Dass er nicht einfach sein Abschiedsgesuch als Gesandter eingab, hatte -- so schien es -- darin seinen Grund, dass er allzu stolz war, um überhaupt jemals einen Irrthum einzuräumen; er that es nicht einmal in einem Wortwechsel; und jetzt hatte er den dreifachen Irrthum begangen: an die Aufrichtigkeit der konstitutionellen Bestrebungen des Kaisers zu glauben, den Posten als Gesandter in Washington zu suchen und endlich diesen Posten nicht sogleich aufzugeben, als die hässliche Komödie der allgemeinen Abstimmung im Mai bewies, was die konstitutionellen Velleitäten des Kaisers zu bedeuten hatten. Jetzt kam die Kriegserklärung, die ihm mit dem Untergang Frankreichs gleichbedeutend vorkam, und er zog den Tod einer Stellung vor, in der er nicht verbleiben konnte, und aus welcher er sich nicht ohne eine Demüthigung, die ihm schlimmer als der Tod war, zu ziehen vermochte. Aber dieser einsame Pistolenschuss, der über den Ocean als ein Signalschuss der vielen Hunderttausende schrecklicher Salven ertönte, erschütterte alle die Jugendfreunde und Genossen Prévost-Paradol's. Taine, der eine kurze Reise nach Deutschland gemacht hatte um Materialien für einen Aufsatz über Schiller zu sammeln, der durch den Krieg vereitelt wurde, war durch den Gedanken an das Bevorstehende schmerzlich bewegt. »Ich komme eben aus Deutschland«, sagte er, »und habe mit so vielen arbeitsamen, zum Theil ausgezeichneten Männern gesprochen. Wenn ich bedenke, wie viel Mühe es kostet, ein Menschenkind zu gebären, es zu pflegen, zu erziehen, zu unterrichten und auszustatten, wenn ich ferner bedenke, wie viele Kämpfe und Beschwerden es selbst aushalten muss, um sich für das Leben vorzubereiten, und dann erwäge, wie alles dieses jetzt als ein Haufe blutigen Fleisches in eine Gruft geworfen werden soll, wie kann ich dann anders als trauern! Mit zwei Regenten von der Art Louis Philippe's hätten wir dem Krieg entgehen können; mit zwei _Capitaines_, wie Bismarck und Louis Napoleon, war er nothwendig«. Er war damals der erste Franzose, den ich die Möglichkeit der deutschen Ueberlegenheit in Betracht ziehen hörte. Dann kamen Schlag auf Schlag die ersten Nachrichten von grossen Niederlagen, nur gleich nach der Botschaft von der Schlacht bei Weissenburg durch falsche Siegesgerüchte unterbrochen. Düster und traurig war die Stimmung der Stadt an den Tagen, als die Proklamationen an den Strassenecken von geschlagenen Heeren und verlorenen Schlachten erzählten, aber fürchterlicher noch war die Stimmung in Paris an jenem 6. August, da die erste Hälfte des Tages in tollem Siegesrausche, die andere Hälfte in verschämter Abspannung verging -- wie gross würde erst die Beschämung gewesen sein, wenn man von der in derselben Stunde gelieferten Schlacht bei Wörth etwas geahnt hätte! Als sich am frühen Morgen die Nachricht von einem grossen gewonnenen Siege verbreitete, bedeckte ganz Paris sich mit Fahnen; alle Leute gingen mit kleinen Flaggen an dem Hut; alle Pferde hatten kleine Flaggen an der Stirn. Ich sass vor einem Café dem Hôtel de Ville gegenüber und betrachtete die mit Hunderten von Fahnen geschmückten Häuser des Platzes, als plötzlich durch das Fenster eines mir nahen Hauses eine Hand sich zeigte, die eine herausgestellte Fahne zurückzog. Ich werde nie diese Hand und diese Bewegung vergessen. So gering der Vorgang war, er machte mich stutzig, denn diese Hand hatte etwas so trauriges, so enttäuschtes in ihrer Bewegung, dass mir augenblicklich der Gedanke kam: Die Siegesnachricht muss falsch sein! ... Bald zeigten sich ringsum in den Fenstern Hände, die Fahnen hereinzogen, und in einer Viertelstunde war der ganze Flaggenschmuck wie weggeweht: Wie nackt die Häuser aussahen! Eine Proklamation der Regierung hatte eben erklärt, »dass heute durchaus nichts vom Kriegsschauplatz verlaute und dass die Polizei auf den Spuren der Verbreiter falscher Nachrichten sei, um sie strengstens zu bestrafen«. Die Verbreiter falscher Nachrichten! Als ob nicht die hungernde Phantasie und die schmachtende Sehnsucht der grossen Stadt die einzigen Schuldigen wären! Ungefähr eine Woche später, am 12. August, traf ich Renan, der vor der festgesetzten Zeit vom hohen Norden zurückgekommen war. Er fasste meine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Ich habe ihn nie so bewegt gesehen. Drauf nahm er meinen Arm und ging eine volle Stunde mit mir Strasse auf Strasse ab. Er war verzweifelt, dies triviale Wort ist das einzig passende. Er war ausser sich vor Erbitterung. »Nie«, sagte er, »wurde ein unglückliches Volk so wie das unsrige von Dummköpfen regiert. Man sollte glauben, dass der Kaiser einen Anfall von Wahnsinn gehabt hätte. Aber er ist von den verächtlichsten Schmeichlern umringt; ich kenne hohe Offiziere, die es sehr wohl wussten, dass die preussischen Kanonen unsere gepriesenen Mitrailleusen übertreffen, die es aber dem Kaiser zu sagen nicht wagten, weil er sich mit diesen Sachen selbst beschäftigt, ein bischen an den Entwürfen gezeichnet hat, was in der offiziellen Sprache so ausgedrückt wird, dass er der Erfinder des Geschützes ist. Nie war so wenig Kopf (_si peu de tête_) in einem Ministerium des Kaisers; er hat es selbst eingesehen; ich kenne Jemand, dem er es gesagt hat, und dann führt er Krieg mit solch einem Ministerium. Hat man jemals solche Tollheit gesehen, ist es nicht herzzerreissend? Wir sind ein Volk, das für lange Zeiten aus dem Sattel geworfen ist. Und nun zu denken, dass alles, was wir Männer der Wissenschaft in fünfzig Jahren aufzubauen bestrebt waren, mit einem Schlage zusammengestürzt ist, die Sympathien zwischen Volk und Volk, das gegenseitige Verständniss, das fruchtbare Zusammenarbeiten. Wie tödtet ein solcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verläumdung des einen Volkes wird nun nicht auf's neue in den nächsten fünfzig Jahren mit Begierde von dem andern geglaubt werden und sie für unüberschauliche Zeiten von einander trennen! Welche Verzögerung des europäischen Fortschritts! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufführen können, was diese Menschen an einem Tage heruntergerissen haben«. Mehr als irgend einen andern musste die Spaltung der beiden grossen Nachbarn Renan schmerzen, der in Frankreich so lange als Vertreter der deutschen Bildung gestanden hatte. Niemand konnte sich auch mit grösserer Dankbarkeit über die deutsche Kultur aussprechen als Renan. Einer seiner Lieblingswendungen war: »Es gibt nichts, das so viel bergen kann, wie ein deutscher Kopf«. Er stellte in Abrede, dass die Deutschen als Volk von irgend einer Rechtsidee beseelt seien, er schien sie persönlich wenig zu mögen, aber von ihrer hohen Intelligenz sprach er immer mit Achtung. Nur schrieb er den Süddeutschen in jeder anderen Richtung als der administrativen, eine weit höhere Begabung als den Norddeutschen zu, eine Auffassung, die von der Mehrheit der gebildeten Franzosen getheilt wird. Das Verhältniss erscheint ihnen analog dem, welches zwischen den Piemontesen und den übrigen Italienern besteht. Bekanntlich hat man des öfteren behauptet, Renan hätte alles den Deutschen, vornehmlich Strauss zu verdanken. Wer mit dem letzteren nur einigermassen vertraut ist, wird die Unrichtigkeit dieser Behauptung erkennen. Ist doch er es vielmehr, der in seiner späteren Zeit sich in Bezug auf Form und Charakter der Darstellung stark von Renan beeinflussen liess. Die zweite Auflage von Strauss »Leben Jesu« hat offenbar an dem entsprechenden Werke Renans ihr Vorbild. Renan erzählte von seiner Reise. »Wir waren in Bergen, als die erste zweideutige Nachricht über den drohenden Krieg uns von Frankreich zukam. Keiner von uns wollte die Sache für möglich halten. Der Prinz und ich sahen einander an. Er, der einen so seltenen und scharfen Verstand hat, sagte nur: »Das können sie nicht!« und gab Befehl, dass wir weiter reisen sollten. Wir segelten nach Tromsöe. Als wir dahin kamen, lagen da zwei Depeschen an den Prinzen, eine von seinem Sekretär in Paris und eine andere von Emile Ollivier mit diesen Worten: _Guerre inévitable!_ Wir hielten einen kurzen Rath, aber so unsinnig kam uns die Sache vor, nachdem Leopold von Hohenzollern seine Kandidatur zurückgezogen hatte, so unmöglich schien uns dieser Vorwand, der ganz Europa und besonders ganz Deutschland gegen uns aufhetzen musste, und endlich -- so grosse Lust hatten wir, nach Spitzbergen zu segeln und 'das grosse Eis' zu sehen, dass wir uns entschlossen, am nächsten Morgen aufzubrechen. Wir gingen zu Bett. Mein Zimmer lag neben dem des Adjutanten des Prinzen. Am frühen Morgen höre ich den Kammerdiener mit einer Depesche den Adjutanten wecken. Ich stand auf, wir gingen an Bord, das Schiff setzte sich in Bewegung, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich sah, dass es gegen Süden ging. Der Prinz sass verzweifelt und stierte vor sich hin. Die ersten Worte, die er sagte, waren: '_Voilá leur dernière folie, ils n'en feront pas d'autres_'. Er ist Prophet gewesen, es wird ihre letzte Tollheit sein. »Ich selbst«, fügte Renan hinzu, »war derselben Ansicht. Ich wusste, wie schlecht wir vorbereitet waren, aber dass es so schnell gehen würde, wer hätte das geahnt! Sagen Sie nicht, dass wir noch siegen können. Wir werden nie mehr siegen, wir haben nie unter diesem Kaiser auf entschiedene Weise Völkerschaften besiegt, deren Ueberwindung als eine glückliche Vorbedeutung gelten kann, wenn von Preussen die Rede ist. Die Araber sind die schlechtesten Taktiker der Erde«. Mehr als ein Mal brach er aus: »Hat man jemals so etwas gehört! Armer Prinz! Armes Frankreich!« Er war so heftig, dass er sich in Flüchen über alle die leitenden Männer erschöpfte, die nach seiner diesmal sehr wenig _nuancirten_ Auffassung alle zusammen Schwachköpfe oder Schufte seien: »Was ist dieser Palikao? ein Dieb, ein erklärter Dieb, dem alle guten Häuser verschlossen sind, und weiss nicht alle Welt von Jérôme David, dass er ein Verbrecher, ein Mörder ist, der nur durch Flucht in's Ausland sich einer Strafe wegen Todschlags entzogen hat! Und in den Händen solcher Menschen liegt unser Schicksal!« Ich sah Thränen in seinen Augen und sagte ihm Lebewohl. Ich habe ihn seit dem Tage nicht wiedergesehen. Er gewann schnell seine Ruhe und seine Herrschaft über den Schmerz zurück. Aber in jenen Augenblicken war Renan ein anderer, als da er schrieb: »Der Gelehrte ist Zuschauer im Weltall. Er weiss, dass die Welt ihm nur als Studiengegenstand gehört, und selbst wenn er sie bessern könnte, würde er sie vielleicht so anziehend finden, wie sie ist, dass er die Lust dazu verlöre«. Vollständig ernst hat Renan wohl nie diese kühlen und theilnahmlosen Worte gemeint; wenn aber doch, so durchlebte er im Jahre 1870 Gemüthsbewegungen, während derer sie für ihn keinen Sinn mehr hatten. In einem alten Buche »Die französische Aesthetik unserer Tage« habe ich zu schildern versucht, welchen demoralisirenden Einfluss während des zweiten Kaiserthums das Leben unter der Herrschaft und dem Druck des _fait accompli_ auf die französischen Gelehrten ausübte. Eine Neigung zum Quietismus und Fatalismus, zum Gutheissen alles einmal Vollbrachten kennzeichnet unter Napoleon III. die französische Geisteswissenschaft überhaupt. Spuren dieses Einflusses merkte man überall im geselligen Leben, in den Gesprächen. Die völlige Freiheit von Enthusiasmus war mit Bildung und Reife fast synonym geworden. Ein junger Fremder hatte täglich Gelegenheit, über die Zurückhaltung und die Passivität selbst der Besten sich zu wundern, sobald die Rede auf irgend ein praktisches Ziel kam, und ich erinnere mich, dass ich eines Abends im Mai 1870, missmuthig nach Hause gekommen, in mein Notizbuch schrieb: »Es gab einmal ein anderes Frankreich«. Es hatte doch einmal ein waches, begeistertes, poetisches, für die ganze Menschheit fühlendes Frankreich gegeben. Es scheint, dass ein solches Frankreich nach und nach wieder aus der Erniedrigung hervorgehen wird, die, wenn sie auch nichts anderes gutes mit sich führte, wenigstens allen edel strebenden Geistern aufs neue die Richtung nach der Wirklichkeit hin gegeben hat. IV. Doch um die Wirklichkeit zu erreichen, ist es vor Allem nothwendig, dass man in Frankreich die Augen dafür offen hat, was jene Erniedrigung bedeutete und was Deutschland in unseren Tagen ist, und dass man sich nicht begnügt, seinen beschwerlichen Nachbarn in dem Zerrspiegel des Hasses zu sehen. In dieser Hinsicht haben die ersten und kenntnissreichsten Männer des Landes eine grosse Verantwortlichkeit, Niemand eine grössere als Renan, der ohne Zweifel in den letzten fünfzehn Jahren als der feinste Geist Frankreichs betrachtet worden ist. Andere, wie Victor Hugo, haben einen grösseren Leserkreis, wieder Andere, wie die Theaterdichter, eine mehr lärmende Popularität, aber in der Elite des Volks ist schon lange Niemand so hoch angeschrieben, so unangefochten, als Schriftsteller so bewundert wie Renan. Seine Form galt und gilt für die vornehmste in Frankreich. Keine Prosa wird je von den wählerischen Kennern, den Meistern des Gedankens, den Männern der Wissenschaft und denen unter den Damen, auf deren Urtheil man etwas giebt, in gleiche Linie mit der seinigen gestellt. Alle Schriftsteller werden, mit ihm verglichen, für grob oder alltäglich oder gezwungen, für farblos oder buntscheckig gehalten. Nennt man Goncourt, heisst es: »Wie können Sie ihn neben Renan nennen; er ist gesucht, Renan natürlich«. Spricht man von Taine, so wird man gebeten, einen Geist, der unter Maschinendruck arbeitet, nicht mit einem zu vergleichen, dessen Einfälle ihm ohne Anstrengung zuströmen; About ist ein Spassmacher, Flaubert ein Leberkranker; alle sind sie entweder manierirt oder dickhäutig, unfein, plump, neben Renan gehalten. Eselreiter sind sie; er allein sitzt droben in der Höhe auf seinen den Kopf so hoch tragenden morgenländischen Dromedaren mit den zierlichen Beinen. Dies war der Eindruck, den ich noch 1879 von Gesprächen in verschiedenen Kreisen empfing. Schon 1870 war der Ruhm Renan's ja so hoch gestiegen, dass sich keine Stimme gegen ihn erhob, ja nicht einmal Verwunderung geäussert wurde, als er in seinem ersten bekannten Brief an Strauss ohne weiteres als der Vertreter Frankreichs Deutschland gegenüber auftrat. Man gab ihm stillschweigend den selbstgenommenen Auftrag. Bis 1870 war er, wie schon berührt, in seinem Vaterland der Fürsprecher deutscher Ideen, deutschen Geistes gewesen. Es konnte nicht wundern, dass er von jenem Zeitpunkte ab damit aufhörte. Aber er that mehr, er schlug um. In einer patriotischen Stimmung der Reue begann er, um gleichsam sich und Andern den Ablass zu erkaufen, all seinen Schriften einen Stachel gegen Deutschland zu geben. In den Briefen an Strauss gab er diesem eine Lehre, die zum Theil wohl verdient war, aber in seinem Werk »Der Antichrist« (d. h. Nero) mischte er in störender Weise die Erinnerung an die Belagerung von Paris in die Schilderung der Eroberung von Jerusalem unter Titus hinein; in seiner Antrittsrede in der französischen Akademie machte er den bekannten Ausfall gegen das deutsche Reich mit dessen »geistlosem Adel und grossen Feldherrn ohne wohlklingende Worte« (_des grands capitaines sans des mots sonores_) so ungeschickt, dass derselbe wie eine Selbstironie aussah. Denn Ducrot, der das wohlklingende Wort aussprach, er werde nur als Sieger oder als Leiche zurückkehren und der dann als _le général ni l'un ni l'autre_ zurückkam, schien förmlich hier als der rechte Mann gegen den phrasenlosen Moltke aufgestellt, der zwar gern schwieg, jedoch in aller Stille jede Schlacht, die er jemals kommandirt, gewonnen hatte. Vergeblich suchte Renan diese Unbesonnenheiten in seinem grossen »Brief an einen deutschen Freund« wegzuerklären, der ja übrigens wie Alles, was er geschrieben hat, vor Geist leuchtet und mit all den Facetten der vornehmen Ueberlegenheit glänzt. Sein Drama »Caliban« machte Aufsehen. Der Eindruck war: ein Mann, der seiner eigenen Ansicht nach sich ganz gut damit begnügen könne seine Weltverachtung für sich zu behalten, der doch aber nichts dagegen habe -- ganz fein, indirect, durch das Summen einer Melodie, die andere, plumpere Sänger halbwegs zu Ende gesungen hätten, -- den Zeitgenossen wissen zu lassen, wie grenzenlos er sie geringschätze. Man konnte in das Schauspiel »Der Jungbrunnen«, die als Fortsetzung des »Caliban« erschien, ziemlich weit hinein lesen, und die vielen olympischen Gedanken geniessen, für welche nur Renan Ausdruck hat, ohne viel mehr daraus zu verstehen, als dass der Verfasser jetzt ernstlich die Demokratie mit sich und sich mit der Demokratie versöhnen wolle; aber das Vergnügen hörte plötzlich auf, wo im vierten Act der deutsche Gesandte hereintritt. Denn hier hat sich Renan herabgelassen, die alte, abgedroschene Karikatur des deutschen Wesens vorzuführen, welche die Franzosen hundertmal gezeichnet haben. Jedermann, der in französischer Literatur ein wenig belesen ist, weiss, wie unmittelbar auf eine Epoche, in welcher kindliche Güte, Wahrhaftigkeit, Unweltlichkeit, blauäugige Unschuld und Herzlichkeit in französischen Büchern regelmässig durch einen Deutschen vertreten wurden, eine andere gefolgt ist, in welcher die besten Schriftsteller, wie Cherbuliez, wie Dumas und viele andere ein Vergnügen daran gefunden haben, die kalte, kluge Grausamkeit, die Falschheit, die herzlose Brutalität, französisch mit deutscher Betonung sprechen zu lassen. Nachdem man fünfzig Jahre hindurch nach dem Beispiel Frau von Staëls in Deutschland nichts anderes als das gutmüthige Idyllenland gesehen hatte, in welchem weissgekleidete, blonde Pfarrerstöchter Klopstock und Schiller mit bleichen und linkischen Kandidaten lasen, fing man auf einmal an, in den jungen Mädchen Deutschlands schlaue und doch grobe Speculantinnen in reichen Ehen zu sehen und die Männer als Spione aus Lust zum Handwerk und als Raubmörder aus Ueberzeugung aufzufassen. Was den Aberglauben an die Spionage betrifft, die ja die Niederlagen erklären und entschuldigen sollte, scheint das französische Volk, ja sogar die gute Gesellschaft in Frankreich sich noch nicht nach den Zeiten des Krieges erholt zu haben. Man bildet sich in vollem Ernste ein, dass Bismarck äusserst neugierig gewesen zu erfahren, was sich Herr Durand und Frau Duval in einer Abendgesellschaft sagten; man glaubt, dass er preussische Generalstabsofficiere, die sich willig dazu hergaben, für Lakaien ausgab und in guten Häusern Dienst verschaffte; man meint, wie ich 1879 in Paris es von vorzüglichen Gelehrten hörte, dass der hochbegabte deutsche Schriftsteller Karl Hillebrand, der ohne Vergleich kenntnissreichste Beobachter Frankreichs ausserhalb Frankreichs, Späherdienste in den Salons von Paris geleistet habe. Schauspiele, wie _Dora_ von Sardou oder wie _La femme de Claude_ von Dumas oder Romane wie _La grande Iza_, in dem man Briefe mit dem Poststempel _Varzin_ in den Schubladen eines leichtfertigen Frauenzimmers findet, endlich der Prozess gegen Frau Kaulla und die übrigen verwandten Prozesse zeigen, dass der Schaden, den Frankreich durch die Demüthigungen an seinem Gehirn litt, noch nicht geheilt worden ist. In dem Drama Renan's ist die deutsche Brutalität der Gegenstand, auf den besonders gezielt wird. Das Stück, das in Avignon um das Jahr 1310 unter dem babylonischen Exil der Päpste vor sich geht, dreht sich um einen Lebenselixir, den Prospero, der vertriebene Herzog von Mailand, ein ausgezeichneter Philosoph und Alchymist, erfunden hat. Kaum ist die Erfindung bekannt geworden, als der Kaiser von Deutschland einen Legaten schickt, um Prospero zu einem Besuch bei ihm zu überreden, damit er durch List oder Gewalt sich in den Besitz des wunderthätigen Getränkes setzen könne. Dieser Gesandte sagt bei seinem ersten Auftreten auf die Bühne unter anderem: »Fürchte unsererseits keine Lächerlichkeiten, keine Spur von Sentimentalität. (Er bricht in Lachen aus.) Ich bin in alten Tagen Idealist und Träumer gewesen; jetzt aber sehe ich ein, wie lächerlich die Grossmuth ist; sei ruhig, ich bin ein positiver Mann, ein ernster Mann. Meine Collegen, die Diplomaten, sind alle zusammt Dummerjahns. Jeder von ihnen ist der Dümmste in Europa. (Er lacht). Ich bin witzig, nicht wahr? ...... Seine Majestät, der Kaiser, mein Herr, handelt nie anders als nach den strengsten Principien der Gesetzlichkeit. Aber die politische Nothwendigkeit hat ihre Forderungen. Das Schloss Kniphausen ist ihm für seine Souveränität nothwendig. Du begreifst, dass wir uns nicht von den Kleinlichkeiten aufhalten lassen, die sentimentale Menschen zurückhalten würden«. Die Franzosen, die jetzt so lebhaft gegen deutsche Heuchelei losziehen, müssen sich bald vorsehen, dass man nicht gezwungen wird, den Spiess gegen sie zu drehen und sie selbst Heuchler zu nennen wegen dieses ewigen Appells an das Gefühl auf einem Gebiete, wo sie selbst noch niemals von anderen Rücksichten als rein politischen sich haben leiten lassen. Das Volk, das Ludwig dem Vierzehnten und Napoleon dem Ersten folgte, das die Pfalz brandschatzte und die drei Viertel Europas eroberte, sollte sich über dies Fürsprechen der Gefühlspolitik schämen. Die sentimentalen Rücksichten, die Napoleon von irgend einem Unternehmen zurückhielten, das seinem wirklichen oder vermeintlichen Interesse entsprach, sucht der Historiker noch immer vergebens. Als Gegenstück zu dem deutschen Gesandten wird Léolin, das ideale Selbstbild Renan's eingeführt, ein wandernder Ritter und Troubadour, von der Geburtsgegend des Verfassers, Bretagne. Der, welcher von dem Zauberwasser trinkt, sieht im Traum den Gegenstand seiner Sehnsucht und erreicht das Ziel seiner Begierde; als Léolin einige Tropfen trinkt, sucht und umarmt er deshalb mit Entzücken die verklärte Gestalt seiner verstorbenen Schwester. (Bekanntlich verlor Renan während eines Aufenthalts in Palästina seine einzige hochgeliebte Schwester, deren Andenken er »Das Leben Jesu« gewidmet hat.) Nun ist die Reihe an dem Deutschen zu trinken. Mit thierischer Gier reisst er den Becher an sich und schlürft den starken Trank bis zur Neige, dass er sogleich wie vom Blitz getroffen zum Boden stürzt, dann schnarcht, und endlich zu träumen anfängt. Was glaubt man, dass er jetzt sagt? »Sieg! Sieg! hängt, brennt, erschiesst! Wir sind die Herren, Alles ist uns erlaubt um sie zum Unterschreiben von Allem, was wir wollen, zu bewegen. Grossmuth! Sentimentalität! lauter Dummheiten! Wie ärgerlich! Die Truppen sind allzu milde; unsere Leute verstehen wohl todtzuschlagen, aber nicht hinzurichten. Man sollte alle Dörfer verbrennen, alle Mannspersonen aufhängen. So geben sie es wohl auf, sich zu vertheidigen. (Er lacht.) Gefangene! .... Unbegreiflich, dass man Leute, die sich vertheidigen, gefangen nimmt. Man sollte sie erschiessen ... Man sollte höflich gegen sie sein bis zur obersten Stufe des Schaffots (er lacht vor Vergnügen); aber man sollte sie aufhängen .... Man muss den Krieg so grausam wie möglich führen. Sentimentalität! welch lächerliches Ding! Man soll erschiessen, man soll hängen, man soll verbrennen ... ah! welch ein angenehmer Geruch! es riecht wie gebratene Zwiebel; es sind Bauern, die man in ihren Häusern verbrennt. Von 160 sind 120 mit Säbeln niedergehauen worden. Ihr Schufte! Warum habt Ihr die übrigen geschont? Wisset Ihr nicht, dass Sentimentalität lächerlich ist? ... Wesshalb beginnt man nicht das Bombardement? Man kann leicht das psychologische Moment versäumen«. Und so noch weiter, Seite auf, Seite ab. Ist dies nicht sonderbar direct und nuancenlos? Welch ein Keulenschlag nach dem Schmetterling der Wahrheit! Welch ein Uebermass polemischer Leidenschaft! Ich will bei der künstlerischen Versündigung gar nicht verweilen, diese vermeintliche Bismarckiade in das Jahr 1310 zu verlegen und mit Ausdrücken wie das »psychologische Moment« aus dem Ton zu fallen. Wie ist aber all' dies krankhaft bitter! Glaubt Renan wirklich, dass es die Denkart war, die sich hier geltend macht, die in dem grossen Schreckensjahr Frankreich besiegte? Ahnt er wirklich noch nicht, dass die Genialität und das Wissen der Führer, Mannszucht, Pflichtgefühl und Heldenmuth der Geführten das war, was den Ausschlag gab? Das Unglück ist: Renan kennt Deutschland nicht mehr, kennt es noch weniger als Cherbuliez. Die beiden Männer zehren jetzt an den Eindrücken von Büchern und Zeitungen, lesen mit feindlichen Blicken und machen sich dann Luft in Karikaturen wie Renan oder in witzigen Anzüglichkeiten wie Cherbuliez, und da sie in gar keiner directen persönlichen Beziehung zu Deutschland stehen, nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Ohren hören, so verlieren sie nach und nach die Auffassungsgabe und beurtheilen Deutschland, wie der ungebildete Deutsche Frankreich beurtheilt, wenn er über die französische Unsittlichkeit und desgleichen lamentirt. Aber Renan, der schon 1870 die gegenseitige Verleumdung der Völker als die verhängnissvollste Folge des Krieges voraussah, hätte mehr als irgend ein Anderer auf seiner Hut dagegen sein sollen, besonders seitdem der grosse Krieg bewiesen hat, wie theuer jedes Volk für solche Irrthümer büsst. V. Mit wechselnden Gefühlen hat Renan der Entwickelung des republikanischen Frankreichs zugeschaut. Obwohl die Republikaner ihm fast sogleich seinen Lehrstuhl zurückgaben, zeigten sie sich doch Renan, wie den übrigen Freunden des Prinzen Napoleon gegenüber, ziemlich kühl und reservirt. Durch und durch aristokratischer Gesinnung wie er ist, gab er in »Caliban« der Demokratie die glatte Lage, sagte jedoch nichts desto weniger kurz nachher in dem seine Antrittsrede in die französische Akademie erklärenden Brief an einen deutschen Freund: »Wenn nun, während Eure Staatsmänner in dieses undankbare Geschäft (der Ahndung) vertieft sind, der französische Bauer mit seinem groben Verstande, seiner unübertünchten Politik, seiner Arbeit und seinen Ersparnissen glücklich eine ordnungsliebende und dauerhafte Republik gründete! Das wäre spasshaft! Nicht wahr?« Renan ist Skeptiker genug um immer den Zweifel bereit zu haben und sich häufig zu widersprechen, Patriot und Philosoph genug, um sich zuletzt mit jeglicher Staatsform zu befreunden, welche die Mehrzahl seiner Landsleute befriedigt und ihrem geistigen Standpunkt entspricht. Renan ist, wie schon erwähnt, Bretagner und hat die Eigenschaften seiner Race. Die Bretagner in der neueren französischen Literatur haben einen gemeinschaftlichen Zug. Wie Chateaubriand und Lamennais, hasst Renan das Alltägliche, das Gutmüthig-Frivole, und hat, während er eine Beute des Zweifels ist, das heisseste Bedürfniss nach einem Glauben und einem Ideal. Desshalb hat er, der grosse Wundervertreiber, irgendwo einen Sehnsuchtsseufzer nach jener Zeit ausstossen können, da die Könige von Frankreich Wunder thaten, durch Handauflegung Kehlkopfs-Entzündungen heilten. Desshalb schwärmt er für den heiligen Franciscus von Assisi, während er den nüchternen Amerikaner Channing geringschätzt. Er hegt für sein engeres Vaterland eine tiefe Anhänglichkeit. Hat er doch sogar in einem hoffnungslosen Augenblick seinen Stamm mit den Worten apostrophirt: »O du einfacher Clan von Ackerbauern und Seeleuten, dem ich es verdanke, in einem erloschenen Land die Kraft meiner Seele bewahrt zu haben!« Man darf gewiss diesen Stimmungsausbruch nicht buchstäblich nehmen. Niemand empfindet ja tiefer als Renan, wie weit jenes Frankreich, von dem er an Strauss schrieb, es sei »als bleibender Protest gegen Pedanterie und Dogmatismus« für Europa nothwendig, davon entfernt ist, erloschen zu sein. Aber das Wort ist für den zugleich hartnäckigen und unruhigen, schwärmerischen und skeptischen Bretagner bezeichnend. Gibt er seinen Glauben (wie hier den Glauben an Frankreich) an einem Punkte auf, so ist es nur, um anderswo mit um so wärmerer Begeisterung sich an ein Ideal anzuschliessen. Auch in der Religion hat er ein Bretagne, an welches er glaubt. * * * * * Ernest Renan als Dramatiker. (1893.) I. Das vornehmste Kennzeichen Renan's ist die mit den Jahren wachsende Originalität. Es gibt Geister, die bei ihrem ersten Auftreten sich selbständig zeigen, kräftig und vieleckig wie Sonderlinge dastehen, deren Ecken der Lauf der Welt, der Einfluss der Umgebung jedoch allmälig abschleift. Interessanter sind immerhin diejenigen, welchen nur die Anlage zur Ursprünglichkeit angeboren ist, die aber das Verhältniss zur umgebenden Welt, die äusseren Einflüsse so bereichern, so selbständig machen, dass ihre Eigenart am klarsten in ihrer Todesstunde zu Tage tritt. Ernest Renan war solch ein Geist, dessen Eigenthümlichkeit sich erst so recht im letzten Zeitabschnitte seines Lebens enthüllte. In seiner abschliessenden Periode offenbart er sich als eine Persönlichkeit, die allmälig durchaus originell geworden war. Er ward es in folgender Weise: Aus der Bretagne stammend, der Abkömmling einer langen Reihe schlichter Ackerbauer und Seeleute, wurde er frühzeitig zum Priester erzogen. Als Erbe hatte er einen gesunden, aber schweren, plumpen Körper mitbekommen, einen Geist, der ernst, subtil, schwärmerisch, je mehr er sich verweltlichte, um so mehr Witz zu entfalten vermochte. Er empfand stark und tief und lebte in sich zurückgezogen, verschlossen, nach Aussen hin verschämt, scheinbar furchtsam, sein inneres Leben mit der Energie der Innigkeit. Bei aller Lernbegier einer reich ausgestatteten Intelligenz wartete er in den Tiefen des Gemüthes mancher schönen Traumblüthe, erhob sich auch nicht selten zum Fluge auf den Fittigen einer keltischen sagenfrohen Einbildungskraft. Er schien dazu geboren, ein gläubiger, einflussreicher Geistlicher zu werden. Katholische Hymnen lagen ihm auf der Zunge, ein Duft von Weihrauch breitete sich über sein Gefühlsleben, und Salbung war in seinem Pathos. Indessen brachten das Studium der semitischen Sprachen, das philologische Verhältniss zur Bibel seinen Jugendglauben ins Schwanken. Er lernte deutsche Literatur und Philosophie kennen, ward von Herder ergriffen, von Hegel mit fortgerissen. Bald war sein religiöser Glaube aus allen Verschanzungen geworfen. Ein Rausch von intellectueller Begeisterung überwältigte ihn. Sein Bretagner Christenthum schien im ersten Augenblicke von der deutschen Vernunft gänzlich ausgerodet. Jene ältere französische Verstandescultur, welche die Voraussetzung der deutschen Wissenschaft war, hatte ihm keinen Abbruch gethan; denn die französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts erregte in ihrer Dürftigkeit und Trockenheit nur seine heftige Missachtung. Das Deutschland der Jahrhundertwende schien ihm das ideale Land. Ein Land, in dem der Denker ohne Pietätlosigkeit kritisirte, ohne Frivolität leugnete, ein Land, in dem man ohne Aberglauben religiös war, und freidenkerisch ohne Spott. Hier war der Zweifel nicht Zweifel, sondern Wissenschaft, die, niemals schwankend, Vorurtheile niederriss, und niemals schwindelnd, Gedankensysteme, hoch wie Kathedralen, aufbaute. Er fühlte sich von der deutschen Pedanterie nicht abgestossen, weil sie in seinen Augen der französischen Leichtfertigkeit unendlich vorzuziehen war. Ein Glaube an die Wissenschaft, so feurig, wie es nur sein Glaube an die Religion gewesen, bemächtigte sich seiner. Seine Jugendschrift, das schwere Buch »L'avenir de la science«, ist ein flammendes Glaubensbekenntniss, naiv, kühn, herausfordernd, Programm und Fanfare eines Neubekehrten. Eine Wahrheit nur gibt es: die Wissenschaft, Ein Vorurtheil: den Glauben an das Uebernatürliche. Wie in ein Leichentuch hüllt er diesen Glauben in die Kutte, die er abgeworfen, und begräbt ihn für alle Zeiten. Sein Lebensziel ist, ein Pfleger der Wissenschaft zu sein. Vorläufig ist er der Verkünder ihrer Zukunft; ihr gehört das Reich, die Macht und die Herrlichkeit. Es war im Jahre 1848. Renan ward Optimist und Socialist. In kürzester Frist erwartete er die Verjüngung der Menschheit, die Erneuerung aller Zustände. Diese Gaukelbilder zerstieben nur zu rasch. Der junge Mann erhielt einen Eindruck der Wirklichkeit. In Frankreich wurden Freiheit und Republik durch einen Staatsstreich abgeschafft, und das Volk hiess ihn gut. Zu jener Zeit fiel das erste Samenkorn des Pessimismus in Renan's hoffnungsfreudige Seele. Allein nicht lange, und die alten Jugendgefühle mögen in seinem neuen Gedankenleben wieder aufgetaucht sein. Seine Empfindungs- und Denkweise durchdrangen und neutralisirten nicht einander, wie es im Protestantismus geschehen, wo das Gefühl bis zu einem gewissen Grade rationalisirt, der Gedanke hingegen theologisch angesteckt ist. Nein, ein durchaus katholisches Gefühl, weich, sentimental, ja zuweilen verzärtelt, erhielt sich in seiner ganzen Frische, unbeeinflusst von einem Gedankenleben, das bei aller Sanftheit kühn war bis zu einer durch nichts zu schreckenden Verwegenheit. Renan gehört zu jener grossen Gruppe von Romantikern, die ihr Leben damit verbringen, die Romantik zu bekämpfen. Im Uebrigen blieb er als Mensch im Privatleben unweltlich, von sanfter Stätigkeit, Idealist ohne Unklugheit. Er kam in den letzten zwanzig Jahren mit jeder französischen Regierung gut aus. Renan führt selbst mit voller Billigung die Aeusserung eines Freundes an: er denke wie ein Mann, fühle wie ein Weib und handle wie ein Kind. Er fühlte zwar stark, doch wie jene Frauen, mit denen das Herz nie durchgeht, er handelte unweltmännisch, doch wie jene Kinder, deren Unbekanntschaft mit dem Leben eine gewisse instinktive Klugheit nicht ausschliesst. Seine Empfindungsweise machte sein Denken geschmeidig, geschmeidiger, als man es vielleicht je gesehen, wenn nicht bei so grossen Geistern wie Goethe oder so feinen wie Sainte-Beuve. Seine Stärke bestand darin, das Zusammengesetzte, Reichabgestufte zu erfassen. Während sein Freund und Zeitgenosse Taine, der ebenso entschieden wie er dazu veranlagt war, zu verstehen, überall nach den Grundlinien suchte, nach dem Festen und Bleibenden in der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der Erscheinungen, dem Knochenbau, dem Granit, den Höhenzügen, den Wasserscheiden, von denen aus man die Lebensfluthen sich theilen und nach verschiedenen Seiten strömen sieht, verfolgte Renan den Lauf dieser Flüsse in allen seinen Krümmungen und Windungen. Er scheute das Grelle, Ausgesprochene. Andere sahen und sehen die Wahrheit in klaren kräftigen Farben, sehen sie roth oder blau oder glänzend weiss. Dass sie sich in so umfangreiche Worte einfangen liesse, schien ihm nimmermehr glaublich. Er erblickte sie in den Nuancen, in den unmerklichen Uebergängen von der einen Farbe zu der andern. Und wenn er im Handeln ein Kind war, so lag der Grund darin, dass man, wie schon oben gesagt, in Nuancen nicht zu handeln vermag. Doch aufzufassen vermag man sie, und der feinste Geist ist jener, der sie am sichersten auffasst. Renan war dazu veranlagt, lauter Schattirungen zu sehen, mit Takt die richtige herauszufinden und sie bei ihrem schwer bestimmbaren Namen zu nennen. Der Einfalt seiner Kindheit war bei ihm die unendlich vielfältige Empfänglichkeit des modernen Kritikers gefolgt. So entwickelt und ausgestattet, fand er den Stoff, der sein ganzes Leben hindurch den Gegenstand seiner Forschung und einen der Hauptgegenstände seiner Darstellungskunst bilden sollte. Die in solcher Weise ausgerüstete jugendliche Persönlichkeit stand von Angesicht zu Angesicht dem Geiste Israels gegenüber. Er, der junge, freigelassene Katholik aus der Bretagne, vertiefte sich in die Betrachtung und das Studium des Genius, der ihm aus dem alten Palästina entgegentrat. Der hellenische Geist war ihm damals noch ziemlich fremd, und noch gar manches Jahr verging, ehe er das Gebet niederschrieb, welches er mit einer Mischung von Dichtung und Wahrheit auf der Akropolis zu Athene gebetet zu haben behauptet. Dieser israelitische Genius aber mit seiner eigenartigen Männlichkeit und dem Feuer seiner religiösen Begeisterung rief ein gewaltiges, fruchtbares Staunen in ihm hervor. Alle Fangarme seines Wesens reckte er aus, um ihn zu greifen, zu begreifen. Das Griechenvolk hat unsere Cultur, unsere Kunst und Wissenschaft geschaffen, hat Europa politische Ideen gegeben, ihn aber fesselte es weniger als das israelitische. Es war nicht so in unserem Leben gegenwärtig. Noch heutigentags sind Europas Feste jüdische, nicht griechische, Europas Gott jüdisch, nicht griechisch. Das Buch, das die civilisirte Welt als heilig betrachtet, ist eine Sammlung jüdischer Literatur; die Begriffe der Massen von Pflicht und Glauben, vom Leben dies- und jenseits stammen aus Syrien. Das Ideal Europas wurde in Nazareth geboren. Alles, was weiblich war in Renan, fühlte sich von dem Geiste Israels angezogen, von Ehrfurcht davor erfüllt. Worüber er stutzte, war dies: ein kleiner Volksstamm, anfangs aus Nomaden, sodann aus Ackerbauern bestehend, äusserst kriegerisch durch den Zwang der Verhältnisse -- ohne Schifffahrt, da er vom Meere abgesperrt war, ohne Handel, der in den Händen anderer Stämme lag, ohne Bau- oder Bildnerkunst, gänzlich ohne Wissenschaft -- hatte nur Eine geistige That vollbracht, nur Eine Schöpfung hinterlassen: Religion oder richtiger zwei Religionen, die ihrem Wesen nach eine einzige war; wiederholte das ursprüngliche Christenthum doch nur auf gemeinfassliche Weise, was jüdische Propheten 750 Jahre früher gesagt hatten. Die Griechen hatten uns Staatsformen, wissenschaftliche Grundanschauungen, Denkmale und Kunstwerke hinterlassen, die nie der Vergessenheit anheimfallen konnten. Die Israeliten hatten nur Eines hervorgebracht. Sie hatten einen so energischen, so leidenschaftlichen Schrei nach Gerechtigkeit ausgestossen, dass er noch nach Verlauf von beinahe 3000 Jahren uns in den Ohren tönte. Dies sprach seinen Idealismus an, und dass Alles in der Zeit so weit zurücklag, bildete nur einen Reiz mehr für ihn. Es gibt Historiker, die sich nur wohl fühlen, wenn sie sicheren Grund und Boden unter den Füssen haben. Sie lieben das Anschauliche, Handgreifliche. Renan hingegen sah gut, sah gerne im Dunkeln, spähte am liebsten in ferne Zeiten und fühlte mit Befriedigung ihre Zustände und Empfindungen sich zu Leben vor seinem inneren Sinn gestalten. Ob es gerade das Leben war, wie es in jenen alten Zeiten gelebt worden -- wer vermag es zu entscheiden? Doch leitete ihn eine glückliche Gabe, aus dem Wenigen, das wir wissen, Weiteres zu ahnen und zu errathen. Alle seine Kräfte wendete er auf, um die Gefühls- und Denkweise eines Jahrtausends aus jener längst entschwundenen Vorzeit wieder aufleben zu lassen. Dazu gibt es nur Ein Mittel, die Geistesentwicklung, Kritik genannt, die kein früheres Jahrhundert gekannt hat. Die Astronomie hat das Sehrohr. Die historische Kritik ist das Sehrohr, das uns ferne Zeiten nahe rückt. Die Physiologie hat das Mikroskop. Die literarische Kritik ist das Mikroskop, das den verborgenen seelischen Zug gross und deutlich macht. Der Physiker hat seine feinen Instrumente, Luftdruck und Wärme damit zu messen. Der Kritiker hat in seiner angeborenen Empfänglichkeit, in der mannigfachen Sensibilität, die er allmälig in sich ausbildet, den Barometer, womit er die Atmosphäre ferner Zeit, den Thermometer, mit dem er die Hitze der Leidenschaften misst. Der Chemiker hat das kostbare Geräth, die Wage. Der Kritiker besitzt in seiner Gabe, das Gelesene zu prüfen, eine feinere Wage, als es in der äusseren Welt eine gibt. Die Vorarbeit, die Renan von deutschen und holländischen Männern der Wissenschaft gethan fand, war, was Gelehrsamkeit und Scharfsinn anbelangt, bewunderungswürdig. Man hatte (um ein Gleichniss zu gebrauchen, dessen sich Renan einmal bedient) die Bibel ungefähr in dem Zustande vorgefunden, in welchem sich die in Herculanum ausgegrabenen Buchrollen befanden. Tausende von Schriftzeichen in wirrem Durcheinander, die Blätter zu einer Masse zusammengeklebt, des einen Blattes Text in den des andern hineingerathen. Eine Arbeit von der Art, hier Blatt von Blatt zu scheiden, war genial eingeleitet und im vollen Zuge, als Renan seine Alterthumsstudien begann. Er war als Kritiker weniger ein sondernder, zergliedernder, als ein zusammenfügender Geist. Er zog Linien zwischen den festen Punkten, welche die Arbeiten der germanischen Gelehrten ihm an die Hand gaben. Er kannte die Menschenseele so gut, dass er in der Regel das jedesmal Mögliche erschaute, zwischen zwei Möglichkeiten die wahrscheinliche herausfand und unter den wahrscheinlichen Erklärungen die festhielt, die innere Wahrheit hatte. So hat er in zwölf grossen Bänden Israels Geschichte und den Ursprung des Christenthums erzählt. Er ging zuvörderst gerade auf das los, das ihn am meisten fesselte, die Persönlichkeit Jesu. Um sich ihr jedoch zu nähern, unternahm er einen Schritt, wie ihn vor ihm noch Niemand, der das Leben Jesu schildern wollte, unternommen. Er reiste nach Palästina und erfüllte Auge und Sinn mit den Eindrücken der Stätten und Gegenden, woselbst Jesus gelebt und gewallt. Die Formen der Berge und Thäler, der Lauf der Flüsse, das Bett der Seen, sie bleiben durch Jahrtausende dieselben. Im Morgenlande haben überdies die Formen der Zelte und Häuser, der Schnitt der Trachten, die Art der Beschäftigungen, die durch das Klima bestimmte Lebensweise sich Jahrtausende lang unverändert erhalten, so dass Renan wie zur Weihe eine lebendige Vorstellung davon einsog, wie die Naturverhältnisse und die Umgebungen beschaffen gewesen, unter welchen die religiösen Grundbegriffe der civilisirten Welt entstanden. Sein Jesus ist geistreich aufgefasst, zart ausgeführt, eine Statuette aus Elfenbein. Dem Stile fehlte es an Sicherheit und Grösse, nicht an Feinheit. Renan's Unentschiedenheit, seine Lust, zugleich Ja und Nein zu sagen, war ihm hier ab und zu ein Hinderniss. Voltaire hatte Nein, die Theologen hatten Ja gesagt. Uneinig mit beiden, wie er war, bestätigte und verwarf er zuweilen in einem Athemzuge. Sein ursprünglich allzu grosser Respect für die Ueberlieferung gereichte besonders den ältesten Ausgaben zum Nachtheile. Man kann ihn hier wie sonst nicht davon freisprechen, eine allzu nachlässige Quellen-Kritik betrieben zu haben. Indem er das vierte Evangelium als Quelle aus dem ersten christlichen Jahrhundert annimmt, gelangt er dahin, den Charakter Jesu auf unhistorische Weise anzuschwärzen. Sein Blick ist durch die Nebel der Zeiten hindurchgedrungen, und hat manchen Zug erschaut, welcher der grossen Gestalt wesentlich zuzugehören scheint. Zuweilen jedoch lebt er sich zu persönlich in sie ein, modernisirt sie unwillkürlich und legt ihr seine Lieblingseigenschaften bei, so zum Beispiel, wenn er Jesus den Gründer »der grossen Lehre von der transscendenten Geringschätzung« nennt. Man kann sich manchmal des peinlichen Eindruckes nicht erwehren, er sei selbst Modell gestanden. Renan liebt Jesus, wie er die grossen Sanften und Weisen liebt. Genau so liebt er Marcus Aurelius. Dagegen hat er eine lebhafte Antipathie gegen die Gewaltthätigen, die Fanatiker, die Männer der That in der Welt der Religion. Paulus ist ihm zuwider, gleichwie Luther. Renan wuchs während der Behandlung seines grossen Gegenstandes. Je weiter die Arbeit gedieh, in desto höherem Grade wurde er ihr gewachsen. Je mehr er den Stoff unter seinen Händen sich formen sah, um so voller bemächtigte sich auch seiner das beruhigende Gefühl geistiger Ueberlegenheit. Der steigenden Ueberlegenheit aber gesellte sich steigende Gleichgiltigkeit gegen das Urtheil der Welt über ihn. Es entwickelte sich bei ihm eine Menschenverachtung, so gross, dass sie gutmüthig erschien, es in der That auch war. Sein immer weiterer, freierer Blick offenbarte sich in der zunehmenden Herrschaft über seinen Stoff. Deutschland besitzt verschiedene Fachmänner von dem Range Renan's, ja nicht wenige, die ihn an Gelehrsamkeit, sowie an streng wissenschaftlichem Geist überragen. Allein sie vertiefen sich so sehr in ihren Stoff, dass ihre Persönlichkeit sich ganz darin verliert. Sie schweben nicht über demselben. Sie sind Bücher- nicht Weltmenschen; Kritiker, nicht Baumeister; Forscher und Denker, nicht zugleich freie Geister und Künstler. Ein freigewordener Geist aber, der, über seinem Stoffe schwebend, diesen kraft seiner Lebenserfahrung behandelt -- eben dies war Renan. Diese spielende Herrschaft über die von ihm behandelten Gegenstände verdankte er jedoch dem seine Originalität zuletzt bestimmenden grossen Factor -- Paris. Paris gab ihm den tiefen Ekel vor der Pedanterie ein, lieh ihm überhaupt erst die letzte, volle Ueberlegenheit. Sie gestaltete sich zum Schlusse auch zur Ueberlegenheit über Paris; aber das Entscheidende war, dass allmälig der Bretagner zum Pariser, der Jünger Herder's zum Franzosen der Hauptstadt geworden war. Bis 1870 noch ein halber Deutscher, wurde er nach dem Kriege und dem Friedensschlusse ein ganzer Pariser und erhielt im Alter erst seine rechte Jugend. Das aber, was in den geistig massgebenden Pariser Kreisen dem guten Ton sein Gepräge gibt, ist _formvolle Rücksichtslosigkeit_. Er hat viel von einzelnen Persönlichkeiten, viel von Berthelot als Denker, viel von George Sand als Schriftsteller gelernt (seine Landschaften erinnern an die ihren). Am meisten aber lernte er von Paris, und zuletzt war er ganz Pariser, wenn anders Jemand, der sechs- oder siebenerlei Culturen beherrscht, ja für sich allein eine kleine Culturwelt genannt werden kann, also zu heissen ist. Anfangs hegte er gegen Béranger, um dessen gutmüthiger Flachheit willen, wie wegen des Gallisch-Populären in ihm, eine lebhafte Abneigung. Er endete damit, in einer Béranger verwandten Weise, wenn auch in weit höherer Potenz, als es dieser gewesen, gallisch populär, väterlich scherzhaft zu werden. Er war zuletzt wie eine Quintessenz des französischen Geistes, ein Kraftauszug des feinsten, das dieser enthält. Mit dem eintretenden Greisenalter verklärte sich die Ueberlegenheit zu einer Art Serenitas, zu wolkenloser Heiterkeit und Klarheit. Davon gibt die kleine Reihe philosophischer Schauspiele, die Renan in den Jahren 1878 bis 1886 herausgab, beredtes Zeugniss. II. Obgleich heutigen Tages die Theater fast gänzlich Unterhaltungsanstalten für die Armen im Geiste, für jenen beträchtlichen Theil des Bürgerstandes, der nicht lesen kann oder mag, geworden sind, bewahrt die dramatische Form nichtsdestoweniger für Viele ihren Reiz. Es ist die bündigste, geschlossenste Form, in welcher man ein Lebensbild, eine Handlung kennen zu lernen vermag. Wer über zwei Stunden und nicht mehr verfügt, wird nicht nach einem Romane, sondern nach einem Schauspiel greifen. Er weiss, alles nicht streng zur Sache Gehörige ist hier ausgeschieden. Auch andere Männer als eigentliche Dichter haben sich von der Gesprächsform angezogen gefühlt. Es sind das solche, deren Gedanken sich in Sphären bewegen, in welchen es keine unanfechtbare Wahrheit, keine volle Sicherheit gibt, wo vielmehr verschiedene Meinungen, Auffassungen, Ueberzeugungen zu Worte kommen können. Ausserhalb der Mathematik und der exacten Wissenschaften gibt es wenig unbedingt Sicheres, Vieles, worüber sich Verschiedenes für und wider sagen lässt. Innerhalb der Geisteswissenschaften ist beinahe Alles Gegenstand immer erneuerter Erörterung. Von diesem Gefühle beherrscht, schrieb Plato seine Werke in Dialogform. Das gleiche Gefühl führte in unseren Tagen Renan zu deren Anwendung. Kurz nach der Beendigung des französisch-deutschen Krieges schrieb er erst eine Reihe philosophischer Gespräche und brachte hierauf einige seiner Lieblingsideen in bestimmterer dramatischer Form zum Ausdrucke. In den Pausen zwischen seinen streng wissenschaftlichen Arbeiten hat er vier philosophische Schauspiele und ein Paar dialogisirte Prologe geschrieben. Sein Ausgangspunkt als Dramatiker war Shakespeare's »Sturm«, welcher -- an und für sich höchst merkwürdig als der wahrscheinliche Schlussstein an Shakespeare's dramatischem Bau, wie als diejenige Arbeit des Dichters, die mehr als irgend eine andere tief und deutlich symbolisch ist -- Renan durch das Sinnbildliche der drei Hauptpersonen: Prospero, Caliban und Ariel, ergriff. Caliban ist das formlose Naturwesen, der Urbewohner, halb Thier, halb Kannibale, roh und furchtbar, niedrig und dumm, eine Station erst auf dem Wege zum Menschthum. Prospero ist der Zukunftstypus einer höchsten Veredlung der Menschennatur, ein Wesen, das in gleich königlicher, genialer Weise sich die äussere Natur unterworfen und seine innere ins Gleichgewicht gebracht hat, alle Bitterkeit über erlittenes Unrecht in der Harmonie ertränkend, die seinem reichen Seelenleben entströmt. Prospero beherrscht die Naturkräfte. Statt ihm aber den Zauberstab der Ueberlieferung zu leihen, hat Shakespeare die Naturkraft selber zu seinem dienstbaren Geist gemacht. Ariel, das ist der Geist. Shakespeare, so scheint es, hat sich selbst als jenen Magus auf der verzauberten Insel des Theaters darstellen wollen, dem der Lichtgeist Diener, der Geist der Rohheit Sklave ist. Diese Gestalt musste auf Renan nothwendig einen starken Eindruck machen, passte sie doch ganz merkwürdig in den Ideengang hinein, zu dem seine Lebensansicht ihn geführt hatte. Früh hatte sich ihm die Erkenntniss aufgedrängt, dass das Werthvollste am Menschen ihn in allen weltlichen Beziehungen des Kampfes um das Dasein in einen Zustand der geringeren Widerstandskraft versetze. Echtes Talent, tiefinnige Güte, vollkommener Hochsinn sind häufig Bedingungen des Unterliegens. Wer im Spiele betrügt, wirft die meisten Augen, wer mit Schneiderhieben zur Hand ist, verwundet seinen Gegner. Es wollte ihm scheinen, dass die Welt fast ausschliesslich von der Rohheit, der Unwahrheit, der Marktschreierei regiert werde. Kein Wunder also, dass Prospero aus seinem Reiche vertrieben wird. Renan neigte zu der Ansicht, dass Alle, die da arbeiten und wirken, von der Weltenmacht zu einem höheren Zwecke kraft dessen ausgebeutet werden, was Hegel, der einen ungemeinen Einfluss auf Renan geübt, die List der Idee, er selbst jedoch den Macchiavellismus der Natur nannte. Diese Ansicht hat eine stete Ironie in Renan's Haltung zur Folge gehabt. Er will sich zwar um Genüsse betrügen lassen, ohne Lohn arbeiten und entsagen, da doch alle Arbeit viel Entsagung fordert, allein er will dem All gegenüber, das er als alter Theologe gerne personificirt, eine Haltung bewahren, die bezeugt, er wisse sich getäuscht. Daher liegt ihm aller Pharisäismus so ferne. Er ist nicht stolz auf seine Tugenden. Er weiss, als tugendhaft wird er geprellt. Doch er willigt ein, sich prellen zu lassen. Wenn Renan gleich Hegel und Schopenhauer an einen Macchiavellismus der Natur glaubt, so kommt es daher, dass ihm die Vorstellung eines Naturzweckes vorschwebt. Nun hat die moderne Wissenschaft diesen Begriff bekanntlich geschleift und erst wirkliche Fortschritte gemacht, nachdem er geschleift worden. Ueberall späht jetzt die Wissenschaft nach wirkenden Ursachen, wo man früher ohne Nutzen nach Zweckursachen gesucht hat. Jener grosse Theil der modernen Forschung, der in den Darwinismus mündete, hat seine Stärke darin, die Vorstellung von einem Zwecke in der Natur überflüssig gemacht zu haben. Was sich den Verhältnissen und Umgebungen anpasst, überlebt das Andere. Es nimmt sich nur aus, als entspräche es einem Zwecke, weil die Lebensmöglichkeit von der eingetretenen Aenderung abhing. Der Darwinismus berührt indessen durchaus nicht die höchsten Fragen, beschäftigt sich nicht mit dem uranfänglichen Lebenstriebe, dem Streben (_nisus_), welches das Princip der Bewegung ist. Die Mathematik ist bekanntlich eine grosse Tautologie. Wie verwickelt die Berechnungen und Messungen auch sein mögen, stets bleibt gleich viel auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens, und Alles lässt sich auf den Identitätssatz a = a zurückführen. Aber auch das Weltall ist eine grosse Tautologie. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft zeigt es uns als solche: kein Staubkorn und keine Bewegung kann verschwinden; Alles ist blosser Umsatz; bei der grossen Verbrennung wird nichts vernichtet; die Summe ist unabänderlich dieselbe. Nichtsdestoweniger ist die Welt in keinem Zustande der Ruhe. Desshalb hält Renan sich für berechtigt, ein Ziel in der Natur vorauszusetzen und von einer Gottheit zu sprechen. Diese Gottheit ist der Lebenstrieb, und das Ziel ist, wie Hegel sagte, Bewusstsein. Die Natur strebt nach einem immer vollkommeneren Bewusstsein. Renan drückt dies so aus, dass die kleine Ernte an Vernunft, Hochsinn, Schönheitswerken und Weisheit, die jeder Planet im Laufe seiner Lebenszeit einzuheimsen vermag, der Endzweck dieses Planets sei, wie Gummi der des Gummibaumes. Wir glauben, es lasse sich in jedem Zeitalter ein kleiner Zuschuss an Vernunft und Güte beobachten, und leiten davon den Glauben an einen Fortschritt ab. Wie aber diesen Fortschritt sichern, diesen endlichen kleinen Ernte-Ertrag? Sein Schicksal kann zuweilen von einem Manne oder doch von einigen wenigen Männern abhängen. Nur zu leicht kann die Weltentwicklung unterbrochen werden. Der christliche Dogmatismus unterbrach sie ein Jahrtausend lang. Sie lässt sich von Barbarei, oder Inquisition, oder niederer Selbstsucht unterbrochen denken. Der einer allgemeinen Entwicklung förderlichen Menschen sind nur äusserst wenige, und leicht sind sie auszurotten oder lahmzulegen. Man bedenke nur, wie viele die Religionen und die Despotien zu Grunde gerichtet haben, oder nur Mächte, wie die Inquisition in Spanien, die Regierung in Russland. Der Gedanke, die zwei Milliarden Menschen der Erde, einen um den andern zur Vernunft zu bekehren, ist ein leerer Traum. Die Bekehrung ist unmöglich, aber auch unnöthig. Es handelt sich nicht darum, dass alle Menschen das Wahre erkennen, sondern darum, dass es von einigen Wenigen erkannt, und die Ueberlieferung bewahrt werde. Abel's Theorien sind um nichts weniger unanfechtbar, weil es auf Erden nur etwa hundert Menschen gibt, die sie verstehen. Für die Wahrheit ist nicht nöthig, dass alle Welt sich zu ihr bekenne; die sie nicht verstehen, sollen sich ihr nur beugen. Die höchste Cultur aber kann von der Menge weder verstanden noch gewürdigt werden. Da gilt es denn, sie gegen die Menge sicherzustellen. In alten Tagen kam die Gefahr besonders von der Kirche. In den unseren wird die Entwicklung vornehmlich von der herrschenden Anschauung, der Staat brauche nur das materielle Wohl der Individuen im Auge zu haben, bedroht. Ein Genie ist ja etwas sehr Seltenes und Kostbares. Es scheint, dass etliche Millionen Menschen auf Eine für den Fortschritt massgebende Persönlichkeit kommen, ja dass, um Geister ersten Ranges hervorzubringen, Gesellschaftskörper von dreissig, vierzig Millionen Menschen vonnöthen seien. Diese Geister aber werden von der Mittelmässigkeit instinktiv gehasst. Sie weiss Leinwand, allenfalls Tuch zu würdigen, nicht aber Spitzen. Der grosse Mensch ist Renan gleichwohl kein Luxus. In Wirklichkeit bedeutet er das vorläufige Ziel, und worauf es mit Rücksicht auf die Ziele der Natur ankommt, ist denn, dass der grosse Mensch zur Macht gelange. Nur so ist die Vernunftentwicklung sicherzustellen. In der Urzeit galt der bedeutende Mann für einen Zauberer. Man zitterte vor ihm. Die Brahmanen haben jahrhundertelang vermöge des Aberglaubens regiert, dass ihr Blick dem Angehörigen einer niederen Kaste, auf den er falle, tödtlich sei. Die Kirche, die einst die Culturmacht war, hatte die Höllenstrafen als Waffe -- eine gar wirksame, so lange an sie geglaubt wurde. Als die Königsmacht die Culturträgerin wurde, schuf auch sie sich ihre Waffen: Heere und Kanonen, Richter und Gefängnisse. Ein Jeder ist nur stark im Verhältnisse zu der Furcht, die er einzuflössen vermag. Das von Renan erträumte Ziel ist demnach, die Träger der Entwicklung, die Culturträger mit den entscheidenden Machtmitteln auszustatten, sie aufs neue zu einer Art von Zauberern zu machen. In ihren Händen allein würde die Macht nicht odios, sondern wohlthätig sein. Sie würden als die menschgewordene Vernunft erscheinen, als eine wahrhaft unfehlbare päpstliche Macht. Mit den Schreckmitteln, welche die moderne Wissenschaft in ihre Hand legte, würden sie einen Terrorismus der Vernunft einführen. Wir erleben in unseren Tagen, wo wir das Dynamit in den Händen der zerstörenden und die Millionenheere mit den verfeinerten Mordwerkzeugen in der Gewalt der reactionären Elemente sehen, eine Schreckensherrschaft der Brutalität. Renan stellt sich nun vor, dass der Bund aller der höchsten und reinsten Begabungen unwiderstehlich sein würde, weil er über die Existenz des Planeten selbst geböte. Er übersieht merkwürdigerweise, dass selbst wenn dies nicht eine blosse Phantasie wäre, sich die Drohung mit der Vernichtung des Planeten aus dem Grunde als unbrauchbar erwiese, weil sie den Widersetzigen gegenüber sich nicht stückweise ausführen liesse. Zur selben Zeit, als Eduard v. Hartmann den Traum einer freiwilligen Selbstvernichtung der Menschheit auf ähnliche Art durch einen Beschluss der höchststehenden Menschen träumte, hat Renan von dieser Drohung als Mittel in der Hand der höchststehenden Wesen geträumt. Wesen müssen sie genannt werden, nicht Menschen; denn sie sind es, die später bei Nietzsche mit dem Namen Uebermenschen belegt werden. Ist nur einmal der Begriff der Entwicklung gesichert, wird, nach Renan's Meinung, wie die Menschheit aus der Thierheit hervorging, das Göttliche aus dem Menschlichen hervorgehen können. Wesen werden entstehen können, welche die Menschen so gebrauchen, wie jetzt wir die Thiere. Er hat zunächst im Scherze Phantasien über eine Art Stuterei solcher genialer Herrschergeister, eine Art Asgaard, entwickelt. Allen Ernstes glaubt er an die Möglichkeit des Entstehens einer höheren Menschenart, und an diesem Punkte eben ist es, wo Renan die Anknüpfung an die Shakespeare'sche Dichtung sucht. Prospero ist der Zukunftsmensch, der Uebermensch. Renan erblickt daher in ihm das erste Exemplar der höheren Menschheit, den wirklichen Zauberer. Die Handlung des Schauspiels »Caliban« bildet Caliban's Empörung gegen Prospero und der siegreiche Ausgang dieser Empörung. Folgendes bildet die Voraussetzung des Stückes: Jedes Wesen ist undankbar, alle Erziehung kehrt sich wider den Erzieher; das Erste ist stets, die Waffen, die er die subalterne Persönlichkeit gebrauchen lehrte, gegen ihn zu kehren. So im Verhältnisse der Klassen zu einander, so im Verhältniss der einzelnen Persönlichkeiten im öffentlichen Leben. Caliban verabscheut seinen Erzieher, Wohlthäter und Zuchtmeister Prospero. Ariel hingegen verehrt ihn, denn er erfasst Prospero's Gedanken. Prospero glaubt, dass Gott die Vernunft ist, und arbeitet darauf hin, dass Gott, das heisst die Vernunft, sich die Welt mehr und mehr unterthan mache. Prospero glaubt an den Gott, der das Genie im genialen Manne, die Güte in der zärtlichen Seele, überhaupt das allgemeine Streben nach der Existenz dessen ist, was allein in Wahrheit existirt. Man verachtet den Herzog an seinem Hofe, wie man einen Regenten, der gelehrt ist, verachtet. Man hat nur vor demjenigen Respect, der todtschlägt, und Prospero wird von einer »Revolution der Verachtung« bedroht. Wir sehen hierauf Caliban den gemeinen Mann aufwiegeln. Er spiegelt diesem vor, Prospero beute das Volk aus. Es gelte, sich seiner Bücher und Destillirkolben zu bemächtigen. Man bittet Caliban, die allgemeine Glückseligkeit zu decretiren. Er verspricht, es zu thun, wenn die Zeit dazu komme: Später, später! -- Es lebe Caliban, der grosse Bürger! -- Er empfängt Processionen, Deputationen und Gesuche, wird Volksredner, verspricht, Alle zufrieden zu stellen: Wir sind aus euch hervorgegangen, wir wollen für euch wirken, wir existiren durch euch. Abends legt er sich in Prospero's Bett zur Ruhe. Er grübelt: Ich war ungerecht gegen Prospero. Welche Begehrlichkeit nach Genuss! Welches Umsturzverlangen! Eine Regierung muss Widerstand leisten. Ich will Widerstand leisten. Schon ist er hoch conservativ, sieht ein, dass Schlösser, Hoffeste, fürstliche Pracht die Zierde des Lebens seien. Da Künstler und Schriftsteller die Ehre eines Reiches sind, will er Kunst und Literatur heben und fördern. Doch der Mittelpunkt aller seiner Gedanken bildet Imperia, die reizende Courtisane -- wohl bekannt aus Balzac's »_Contes drôlatiques_« -- die kürzlich bei einem Feste in Prospero's Palaste, bei welchem verschiedene Lebensanschauungen zur Erörterung gekommen, die Sache der Liebe verfocht. Er will ihre nähere Bekanntschaft machen. Es bleibt Prospero nicht lange unbekannt, dass Caliban, sein Thier, sein Ablöser geworden. Ariel's Phantasmagorien haben sich den Schaaren Caliban's gegenüber als unwirksam erwiesen; Niemand unter diesen Schaaren glaubt mehr an Zauber, und die Aufrührer haben Prospero's Pulver und Kriegsmaschinen in Gebrauch genommen. Bei der nun folgenden Berathung über die zu ergreifenden Massregeln äussert sich Renan über den geringen Nutzen, welchen er sich von dem Elementar-Unterrichte verspricht, indem er »Simplicon« die Replik in den Mund legt, »allgemeiner obligatorischer Schulunterricht würde allen Uebeln abhelfen«. Der gemässigte Bonaccorso aber spricht das erlösende Wort, die neue Regierung scheine wohlgesinnt; Caliban sei bereits der Mittelpunkt der gemässigten Partei. Die Inquisition tritt auf. Caliban beschützt Prospero. Er ist nicht nur massvoll, er ist anti-clerical, hat also eine gute Eigenschaft mehr. Allmälig beschützt er Alles und Alle: den Papst, die Künstler, die Wissenschaften und Prospero gegen den päpstlichen Legaten: »Ich will ihn nicht ausliefern, sondern ausnützen«. Prospero resignirt, und die Moral des Stückes wird vom Prior des Karthäuser-Klosters ausgesprochen: »Ist er nur ordentlich gekämmt und gewaschen, so wird Caliban sehr präsentabel«. Es liegt eine Verachtung, deren Tiefe sich schwer ermessen lässt, in dieser Huldigung der einst revolutionären, jetzt moderaten oder conservativen Demokratie. Und ebenso birgt sich eine tiefe Ueberzeugung von der Nichtigkeit des Weltlebens hinter dem leichten Spiel der Handlung. Das Gespräch der Hofleute im zweiten Acte erörtert die Frage nach einem festen Halt im Leben. Die Familie, schlägt der Eine vor. -- Da müsste man überzeugt sein, die eigene Familie sei die beste, und sich sogar davon nicht beirren lassen, dass alle Anderen der gleichen Ueberzeugung sind. Das ist denn also Vorurtheil, Eitelkeit. Und was von der Familie gilt, gilt auch vom Vaterlande. Man geht nur darin auf, so lange man an dessen besondere Vortrefflichkeit glaubt. -- Nein, sagt ein Zweiter, auserlesene Genüsse, das ist das einzig Solide. -- Gut, wenn nun aber Alle geniessen wollen? -- So halten wir sie mit gewappneter Hand nieder. -- Wie aber, wenn die Waffe sich gegen den kehrt, der sie gebrauchen will? Nein, besser doch, sich auf die Nation zu stützen. -- Was wir unter Nation verstehen, entspricht nur den Interessen einer Minderzahl. Wie soll man in der Zukunft die Vielen dazu bringen, ihr Leben für die Interessen der Wenigen aufs Spiel zu setzen? -- Dadurch, dass man sie aufklärt? -- Keineswegs, gerade im Gegentheile. Sich für eine Sache todtschlagen zu lassen, ist eine grosse Naivetät, die grösste Naivetät, da sie nicht wieder gut zu machen ist. Bedenken Sie, dass Millionen sich todtschlagen liessen für collective Wesen, wie der Staat, die Kirche! -- Gleichviel. Nun wären sie dennoch todt. -- Wenn Türken und Christen sich schlagen, so glauben sie ins Paradies zu kommen, wofern sie in dem heiligen Kriege fallen. Gibt es aber das Paradies der Einen, so gibt es das der Anderen nicht. Noch denken sie nicht, dass es also wahrscheinlich keines der beiden Paradiese gebe. Eitelkeit! -- Sehen Sie die Türken! Man treibt sie mit Hilfe falscher Wechsel auf das ewige Leben in die Schlacht. -- Solche falsche Wechsel sollten verboten werden. Sie führen eine Inferiorität der civilisirten Völkerschaften, die nicht daran glauben, herbei. Der Roheste bleibt Sieger und wird als Sieger noch roher. -- Mit anderen Worten: Die Aufklärung vernichtet die Widerstandskraft der Völker. Alles ist eitel. Die Philosophie, welche die Vorurtheile zerstört, zerstört damit das Fundament des Lebens selbst. Nur die Schönheit tritt während dieser Niedermetzlung anerkannter Mächte, in der Gestalt Imperia's verkörpert, als eine bewunderte Wirklichkeit hervor. Wie zum Trotze, doch nicht aus Trotz hat Renan in seinem Schauspiele die grosse Courtisane zur Vertreterin der Schönheit und Liebe gemacht. Sie personificirt die Welt der Schönheit, wie Prospero die des Gedankens. Balzac hatte sie mit künstlerischer Begeisterung gemalt; Renan erkennt sie als vollberechtigte Lebensmacht an und verhandelt mit ihr wie von Macht zu Macht. Er lässt sie die Unvergänglichkeit der Schönheit und der Liebe verkünden. Alles ist flüchtig, doch das Flüchtige ist zuweilen göttlich. Seht den Schmetterling. Nur innerhalb eines ganz kurzen Abschnittes im Leben des Wurmes existirt er, wie im Dasein der Pflanze nur wenige Augenblicke die Blume ist. Die Liebe aber thut das Wunder, dass das plumpe kriechende Insect beflügelt und ideal wird. Das Leben des Falters ist während einiger Stunden das Höchste: blühen, lieben, sterben. Imperia kommt aufs neue als Brunissende, die Liebhaberin des Papstes, im Schauspiele »Der Jungbrunnen« vor, hier leichtfertiger, doch in den Augen Renan's deshalb nicht minder sympathisch. Sie ist hier tiefer weiblich, ist eitel Stärke und Schmachten. Sie hat jede Schwäche und nimmt dennoch die Welt in Besitz. Sie vertheilt alle Einnahmen des päpstlichen Stuhles nach Lust und Laune. Um so besser! heisst es. Des Weibes Schönheit ist ein Gut von höchstem Range, von gleich hohem Range wie Vernunft und edle Gesinnung: »Alle geistlichen Einnahmen sollten zu Toiletten-Ausgaben für schöne Frauen und zu Jahrgeldern für geistvolle Männer verwendet werden«. »Der Born der Jugend« ist trotz seiner Mängel ein von Geist sprudelndes Stück. Es spielt am päpstlichen Hofe in Avignon und hat eine ganz schwache Localfärbung, auch keine stark historische, die sie sogar ausdrücklich vermeiden will. Renan hat hier seinen Prospero wieder aufgenommen und ihn als die überlegene Intelligenz erscheinen lassen, die zur Zeit ihrer Autorität über die Menschheit verlustig geworden ist. Seine magischen Mittel haben ihre Kraft verloren. Doch ob schwach und entwaffnet, er verfolgt gleichwohl sein Problem: die Erlangung der Macht mittelst der Wissenschaft. Er hat verschiedene wunderbare Essenzen erfunden, darunter ein Lebenselixir, das verjüngende Kraft besitzt. Der Papst, der nach einer etwas übermässig angestrengten Jugend sehr mitgenommen ist, behält ihn in seiner Nähe, um von den Resultaten seiner wissenschaftlichen Versuche Nutzen zu ziehen. Doch hat er grosse Mühe, ihn vor den Nachstellungen der Inquisition zu schützen. Man glaubt, dass Prospero Gold machen könne. Er hegt gar nicht diesen Wunsch. Wozu auch? Könnte man doch, wenn es möglich wäre, ebensogut Blei machen wollen. Er zieht es vor, Licht aus Koth, Geist aus Stoff zu erschaffen. Und er zweifelt nicht, dass es einst gelingen werde, denn langsam sickert Vernunft in die Welt; vielleicht, dass zuletzt sogar ein wenig Gerechtigkeit in sie dringt. (Renan's ganze Skepsis äussert sich in diesem Satze.) Prospero ist der Ueberzeugung, dass die Welt beinahe gänzlich von Brutalität regiert werde. Die unabhängigen Bauern der Schweiz, sagt er mit feiner Ironie, sind nicht viel aufgeklärter als die Herren. (Man erwartete die umgekehrte Wendung.) Ungerechtigkeit ist demzufolge das eigentliche Princip im Laufe der Welt. Allen Wohlthätern der Menschheit ergeht es übel. Man verbrennt sie auf dem Scheiterhaufen ihrer Entdeckung, und Andere nützen aus, was sie gefunden haben. Ein Grundgedanke wird im Zusammenhange damit ausgesprochen, der sicherlich schon Manchem gekommen ist, ehe er ihn bei Renan fand. Prospero, der sich collegial mit Papst Clemens unterredet, sagt diesem offen, dass ihn der Papst enttäuscht habe. Er spricht (schon um das Jahr 1310) das gewichtige Wort: »Ich hatte von einer Papstmacht geträumt, die an der Spitze der Renaissance schritt«. -- Der Papst: »Also das Christenthum durch das Papstthum zerstört?« -- Prospero: »Ja!«. Renan berührt hier eine für den denkenden Betrachter der Geschichte fesselnde Frage, die Nietzsche so stark beschäftigende, ob die lutherische Reformation die Renaissance nicht abgebrochen und vereitelt habe, ob nicht die Deutschen aus Mangel an Verständniss für das, was damals in Europa vorging, sie vergeudet. Was sah Luther in Rom? Sehr wenig. Nicht einmal Michelangelo. Er beobachtete mit Entsetzen die schlechten Sitten der Geistlichen, sah, dass ihnen weder Dogmen noch evangelische Vorschriften am Herzen lagen. Das war so ungefähr Alles. Die Renaissance hatte alle Bedingungen wie auch den Willen, von oben her, mittelst der päpstlichen Macht die Menschheit zu befreien. Einzelne Päpste hatten -- gleichwie die grössten Kaiser des frühen Mittelalters (Friedrich II., der Hohenstaufe zum Beispiel) -- sich an die Spitze einer Bewegung für Wiedereinführung der tausend Jahre brach gelegenen Cultur gestellt. Da kam Luther, zwang den Katholicismus in die Gegen-Reformation hinein und machte das Papstthum reactionär. Prospero hat das richtige Gefühl, dass das allmächtige Papstthum, geschirmt von der Ehrfurcht, die es einflösste, fast all den Aberglauben und die Irrthümer, deren Haupt es war, zu unterdrücken vermöchte. Doch stattet Renan seinen Helden mit der prophetischen Furcht aus, das Papstthum werde, erschreckt von seiner eigenen Kühnheit, die Segel reffen und die Bewegung, die es selbst begünstigt habe, ins Stocken zu bringen suchen. Mit anderen Worten, er lässt Prospero vorhersagen, was wirklich eintraf. Er lässt auch Brunissende mit Prospero sympathisiren: »Wir Frauen sind von den gleichen Gedanken erfüllt wie du. Der Aberglaube hat das Leben verringert. Wir wollen es aus dem Vollen leben«. Und sie fragt Prospero: »Willst du nicht uns Frauen ein Buch schreiben?« Renan erwidert durch seinen Wortführer: »Andere werden dies thun, schöne Brunissende. Ich bin zu alt, mein Ende ist nahe«. Wohl nie zuvor hat Renan sich auf so directe Selbstschilderung eingelassen. Der Papst fragt ihn: »Wie kommt es, dass die anderen Doctoren mir alle mit einander nicht so viel zu schaffen machen, wie du allein?« -- »Weil sie mit Abstractionen arbeiten, während ich mit Wirklichkeiten hantiere«. -- »Doch nicht einmal die Doctoren mögen deine Ideen theilen, und der Haufe wird sie nicht verstehen. Du erlangst weder über die Kirche noch über die Schule Macht«. Man hört Renan's eigenen Schmerz aus dieser Aeusserung heraus. Persönlich ist auch die folgende Wendung, gelegentlich einer von der Inquisition vorgenommenen Durchsuchung seiner Schriften, bei der man ihm räth, dies und das zu widerrufen. -- »Es nützt nichts. Alles an mir ist dennoch Ketzerei«. -- »Eben, das schadet weit weniger«. -- Mit anderen Worten, es ist allein die geistlos isolirte Einzelheit, welche die Ketzerverfolger verstehen. Ungeachtet aller Widerwärtigkeiten, Verfolgungen, Enttäuschungen verliert Prospero seine Zukunftshoffnung nicht. Dies sein Gedanke: Der Fall des Würfels, der tief unten an den Lebensquellen geworfen wird und entscheidet, ob ein Hirn begabt oder unbegabt, ein Weib schön oder unschön sei, findet so häufig statt, dass die Zukunft des Wahren, des Guten, des Schönen gesichert ist. Die Natur hat unendliche Zeit vor sich. Was liegt daran, ob hunderttausendmal der Schuss fehlgehe, wenn unzählige Male geschossen wird und nur Eine Kugel ins Centrum trifft. -- Prospero selbst ist mit seinem Lose zufrieden: »Ich war eine seltene Quarterne in der grossen Lotterie. Der Kelch des Lebens ist herrlich. Es ist thöricht, zu klagen, weil man ihm auf den Grund schaut«. -- Er hat nur einen Wunsch: »Lasst mich kein betrübtes Antlitz sehen, keinen Seufzer hören, wenn ich nun sterbe!« Und er verscheidet, von Brunissende zum Abschiede geküsst. Die Cardinäle bemächtigen sich seines Leichnams, lassen ihn in ein Boot legen, auf die Rhône hinausrudern und ins Wasser werfen. »Findet man seine Leiche auf, so sagen wir der Bevölkerung, er hätte sich ertränkt; findet sie sich nicht, so sagen wir, der Teufel habe ihn geholt«. Es liegt echt Renan'sche Ironie in der Perspective, die sich hiemit für Prospero's Andenken eröffnet. Im selben Geiste bespricht er in der Vorrede zu seinem letzten Buche die gegen ihn gerichtete Beschuldigung, er hätte von Rothschild eine Million dafür bekommen, »Die Geschichte Israel's« zu schreiben. Seine Feinde behaupten, seine Freunde bestreiten es. Die unparteiische Geschichtsschreibung der Zukunft wird, meint er, einen Mittelweg einschlagen und feststellen, dass er 500,000 Francs empfangen habe. III. Von Renan's drei ersten Dramen dürfte das gedankenreichste und tiefsinnigste denn doch »Der Priester in Nemi« sein. Die Fabel knüpft an eine Erzählung vom Tempel der Diana am Ufer des Nemi-Sees an, dessen Priester, um gesetzlich angestellt zu werden, (nach Strabo) seinen Vorgänger erschlagen haben soll. Renan denkt sich einen Priester im grauen Alterthum in Nemi, einen aufgeklärten Mann, der seinen Vorgänger nicht hat tödten wollen, sondern eine veraltete, vernunftwidrige Religion zu reformiren gedenkt, und zeigt nun, was die Folgen davon seien, ein Fünkchen Vernunft ins Menschenleben einführen zu wollen. Es hat das eine doppelte Folge. Erstens fordert der Haufe, der sich nie eher zufrieden gibt, als bis glücklich eine Unthat verübt worden, einen regelrechten Verbrecher und Mörder zum Priester. Zweitens kommt der freisinnige Priester sehr bald zu der Einsicht, dass er mit seinen guten Absichten mehr Uebles als Gutes gestiftet habe, indem er Vorurtheile antastete, auf welchen das Selbstbewusstsein seiner Landsleute beruhte. Man greift ihn als Feind der Religion an, er selbst aber ist religiöser als sie, die im Namen der Religion ihn bekämpfen. In der »Marseillaise« stehen die bekannten Zeilen: Liberté, liberté chérie, Combat avec tes défenseurs! Er kehrt in seiner Anrufung den Ausdruck um: Heilige Ueberlieferung der Vorzeit! Streite an der Seite derer, die dir widersprechen! In Wirklichkeit ist der Priester zu Nemi nur der leicht umgewandelte Prospero. Allein er steht in einem neuen Verhältnisse zum Weibe. Sie ist nicht mehr die strahlende Courtisane, sie ist hier die von Gott (das heisst vom Priester) begeisterte Sibylle, die den Tempeldienst versieht. Carmenta ist der ewigen Jungfräulichkeit geopfert worden und leidet darunter, sie, die geschaffen, die Füsse ihres Messias zu salben und zu küssen. »Vater«, spricht sie zu ihm, »wenn ich bei dir bin und deine Worte höre, so fühle ich, dass das Leben darin ist, obgleich ich dich nicht immer verstehe. Da bin ich denn zu jedem Opfer bereit und nehme mein Schicksal hin, so hart es ist. Doch, hält dein Blick mich nicht länger aufrecht, so falle ich zusammen«. Antistius antwortet ihr als wahrer Priester, dass das Weib den Mann, der Mann Gott lieben solle, und dass die Sendboten Gottes mehr geliebt werden sollen und müssen, als sie lieben. Carmenta ist das den Genius des Mannes bewundernde Weib, während Imperia und Brunissende die blos fungirende Weiblichkeit repräsentirten, die vom Manne bewundert wird. Nemi gehört zu Albalonga, das eine alte Kultur besitzt. Gegenüber liegen die sieben kahlen Hügel, auf welchen sich in Kurzem das junge, rohe kräftige Rom erheben wird. (Es wird hier auf das Verhältniss zwischen Frankreich und Deutschland angespielt.) Carmenta prophezeit, dass eine Zeit kommen werde, da alle Welt Latein spricht. Sie prophezeit Rom eine ungeheure Zukunft, eine weit längere, als sie Albalonga beschieden sei. Sie prophezeit, dass eine neue Religion von Osten kommen und sich Europa unterwerfen werde. Man betrachtet sie als halb verrückt und ihren Meister, der ihr solches in den Mund lege, als einen Landesverräther. Nein, da ist Tertius ein weit besserer Patriot. Er leugnet unbedingt, dass Rom eine Zukunft habe, nimmt Alles, was nur ehrenvoll für Albalonga, als gegeben an und will von nichts wissen, was nicht ursprünglich und authentisch Albalongisch. Die echten Patrioten seines Schlages reizen zu einem unnöthigen und wahnwitzigen Kriege gegen Rom auf, den zu hintertreiben Antistius vergebens Alles aufbietet. Um den Sieg zu erlangen, bringen die Vaterlandsfreunde ihm eine Schaar junger Männer, die er auf ihren Wunsch den Göttern opfern soll. Allein der Priester weiss, dass der Glaube an Götter eine Lästerung Gottes, der Glaube an Gott eine Lästerung des Göttlichen sei. Er will die Gefangenen nicht opfern. Er spricht, ungefähr wie Jesaia lange vor ihm: »Seid gerecht, lasst Güte und Vernunft eure höchsten Götter sein!« Die Patrioten erwidern, nicht dazu brauchten sie einen Priester, nicht dazu einen Tempel, um solche Wahrheiten verkündet zu hören. Sie hassen und verachten ihn als Gottesleugner und Schwächling. Und des Antistius Widerstand ist fruchtlos. Andere rechtgläubige, conservative und verschmitzte Tempeldiener werden hinter seinem Rücken die Gefangenen dennoch ermorden, und nicht einmal diese selbst, vorbereitet wie sie auf den Tod waren, sind ihm für ihre vorläufige Befreiung im geringsten dankbar. Auch sie finden ihn halbverrückt und verleugnen ihn. Selbst die, welche er befreit, wissen ihm keinen Dank. Wohl mag er sich fragen, ob es der Mühe werth sei, sich für eine Brut zu opfern, die so tief steht und so unabwendbar der Unwahrheit geweiht ist. Er fühlt, dass geistige Einsamkeit das Los derer ist, die durch Geist oder Gemüth die Menge überragen. Schlimmer für ihn ist jedoch die Einsicht, zu der er gelangt, dass die Anderen zum Theile Recht haben. Er begreift, dass er die Widerstandskraft seines Vaterlandes schwächt, wenn er über Rom die Wahrheit sagt, den Glauben an den Nationalgott zerstört und mit den barbarischen Bräuchen bricht, an denen sein Volk noch hängt. Ja, nicht einmal seiner eigenen geistigen Befreiung kann er so recht froh werden. Anfangs empfand er sie als eine grosse Erleichterung, dann aber erkannte er, dass die Menschheit enger Gedanken bedürfe. Jeder Einzelne will seinen Gott haben, einen Gott, mit dem er schwatzen kann. Zuletzt hält Antistius sich kaum für berechtigt, etwas zu sagen oder zu thun, was sein Volk daran hindern könnte, zu siegen. Und doch summt es ihm im Ohr: Wehe der siegreichen Nation: Niemand ist dem Fortschritte feindlicher als sie. Dem Siege folgt stets die Reaction. Der Sieger ist der schlimmste Herr von allen. Die Mächtigen im Staate beschliessen den Untergang des Priesters; nur über Art und Weise desselben herrscht Uneinigkeit. Man schlägt vor, einen Mörder für Geld zu dingen. -- »Ganz unnöthig«, erklärt der typische Edelmann des Stückes. »Er wird auch so ermordet. Wenn es irgend ein Verbrechen oder eine Gemeinheit zu begehen gilt, findet sich immer Jemand, der sich gratis dazu hergibt«. Und er fügt hinzu: »Man ist im Allgemeinen der Ansicht, jede Niederträchtigkeit sei irgendwie bezahlt oder belohnt worden: _Is fecit cui prodest._ O Himmel, welch ein Irrthum!« Mit anderen Worten: Niemand hat einen Nutzen davon. Alle leiden darunter. Und dennoch geschieht es. Da kommt der Herold und verkündet: »Rom ist gegründet!« Romulus hat seinen Bruder ermordet. Jede Stadt wird durch Brudermord errichtet. Der Fortschritt hier auf Erden beruht auf dem Hasse feindlicher Brüder. Alles, was Antistius vorhergesehen, wird nun in Erfüllung gehen, die Barbarei in Rom ihre Fortsetzung finden. Das Drama aber schliesst mit dem Ausspruche eines israelitischen Propheten (Jeremias 51, 58): »Die Völker mühen sich für nichts; die Mühe von Nationen geht im Feuer auf«. 1886 endlich schrieb Renan seine letzte, durchaus anders geartete dramatische Arbeit, die einzige, die kein reines Ideendrama ist, sondern sich der Art der gewöhnlichen Schauspiele nähert: »Die Aebtissin von Jouarre«, die ungeheures Aufsehen machte und gleich das erste Jahr einige zwanzig Auflagen erlebte -- nicht um ihrer Vorzüge willen, sondern in Folge des Hallohs, mit dem ein Theil der Presse sie begrüsste und als unsittliches Werk, als eine Schande für den Autor stempelte. Dieses Drama allein spielt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkte, während der Revolution, und hat eine einfache, nicht hochfliegende Idee, das Recht der Liebe, sich in ausserordentlichen Fällen über die von der Gesellschaft gezogenen, unter gewöhnlichen Verhältnissen nützlichen Schranken hinwegzusetzen. Zwei zum Tode Verurtheilte begegnen sich im Gefängnisse des Collége Plessis, ein Edelmann und eine sehr vornehme Dame, die Aebtissin von Jouarre. Er liebte sie schon lange, sie aber war, wiewohl sie die Ideen des Zeitalters völlig theilt, durch ihr geistliches Gelübde gebunden. Nun überredet er sie, ihm anzugehören. Sie verbringen miteinander die letzte Nacht, die sie noch zu leben haben. Der Aussicht auf den nahen Tod gegenüber gelten die Bande, durch die sie gebunden wären, nicht mehr. Er allein aber wird hingerichtet. Ein junger Offizier, der sie in ihrer stolzen Schönheit vor dem Revolutions-Tribunal gesehen, setzt es durch, dass ihr Name aus der Liste der zum Tode Verurtheilten gestrichen wird, und am nächsten Morgen holt der Karren nur ihren Freund ab. In ihrer Verzweiflung fleht sie um den Tod, ja macht sogar einen fruchtlosen Selbstmordversuch. Diese drei ersten Acte, die von der grossen italienischen Schauspielerin Eleonora Duse aufgeführt worden sind, bilden den eigentlichen Inhalt des Stückes. Daran schliessen sich noch zwei weitere, in welchen Julie, ihre sogenannte Schande mit Stolz tragend, einsam mit dem kleinen Mädchen lebt, das sie zur Welt gebracht hat, sich übrigens allseits mit Wohlwollen begegnet, von ihrem Bruder hochgehalten und bewundert sieht. Nach Jahren heirathet sie den Offizier, der ihr seinerzeit das Leben rettete und nun einer der Generale Bonaparte's ist. Das Stück schliesst mit der Einführung des Concordats, das sie ihres geistlichen Gelübdes entbindet. An der Handlung selbst ist, wie man sieht, wenig oder nichts, das Anstoss geben könnte. Die Personen sind ohne Ausnahme höhere Menschen, hocherhaben über alle gewöhnlichen Standpunkte oder Triebe. In der Vorrede aber stand ein kühner Satz: »Ich denke mir oft, wenn die Menschheit die sichere Gewahr dafür erhielte, dass die Welt in zwei, drei Tagen zu Grunde gehen werde, so würde die Liebe von allen Seiten mit einer Art von Raserei losbrechen. Alles wäre dann gestattet. Nichts hätte Folgen. Da wollte die Welt einen Liebestrank trinken, dass sie stürbe in einem Wonnerausch«. Daraus war allerdings deutlich zu ersehen, dass Renan auf die Entsagung um ihrer selbst willen keinerlei Gewicht legte. Journalisten, die vorher seine Anschauungen über das Verhältniss der beiden Geschlechter nicht beachtet hatten, wurde nun sein Grundgedanke klar, dass eines Jeden Pflichten und Tugenden durch die Forderungen bestimmt werden, die in seiner Natur liegen. Sie fanden den Gedanken haarsträubend oder stellten sich so. Und doch ist dieser Gedanke so einfach, so ganz danach angethan, Billigung zu finden. Es war für den heiligen Franciscus keine Pflicht, ein Denker zu sein. Es wäre kein Gewinn gewesen, wenn Raffael ein ehrbares Leben geführt hätte. Es war für Goethe eine Pflicht, der Rücksicht auf seine Kunst jede andere zu opfern. Mit anderen Worten: Die das Gesetz übertretende Unregelmässigkeit des Künstlers kann höhere Moral sein. Die selbstsüchtige Bedachtnahme des Genies, Alles, was nur in seiner Macht liegt, auszurichten, kann höchste Pflicht sein. Die sittliche Ueberlegenheit des Heiligen ist in ihrer Art Genie. Ausschlaggebend ist nur, dass ein Franciscus, ein Raffael, ein Goethe hervorgebracht werden. Der grosse Mensch ist vorläufig das Ziel der Natur und des Menschenlebens, weil durch die grossen Menschen Existenz und Herrschaft des höchsten Wesens, das, was man in alten Tagen »das Reich Gottes« nannte, vorbereitet wird. Wenn dereinst die wissenschaftliche Allmacht in den Händen guter und gerechter Wesen vereinigt sein wird, dann endlich wird Gott allmächtig und allgütig geworden sein. Bis dahin müssen die Menschen sich gleichsam in einer Hierarchie fühlen. Der geringere Geist muss das Leben des höheren mitleben. Wie die Gefährten Alexanders des Grossen von Alexander lebten, so muss die grosse Menge stets durch Stellvertreter denken und zum Theil auch geniessen. Sie ist darum nicht unglücklich. Eine Stufenleiter ist es. Der höhere Geist lebt das Leben der höchsten Geister. IV. Renan ist kein wirklicher Dramatiker und hat sich auch nie dafür ausgegeben. Seinen Schauspielen fehlt knappe, geschlossene Form, seinem Dialoge Kraft, seinen Personen in der Regel Leben. Seine Frauengestalten: Imperia, Brunissende, Carmenta, die Aebtissin, sind indess interessante Grundrisse (die Courtisane -- die Sibylle -- die stolze, edle Weltdame). Nur eine Gestalt hat er jedoch, als der Lyriker, der er ist, mit Sorgfalt und Liebe ausgeführt, seine eigene, die Prospero-Figur, die in drei verschiedenen Schauspielen wiederkehrt, den Seher, den höheren Menschen, in dem die Zukunft keimt und reift. Renan's »Caliban« erinnert ein wenig an »Die gottlose Comödie« des polnischen Dichters Krasinski, in welcher die plumpe Demokratie in ähnlicher Weise personificirt ist. Der Geist aber, der in jener Dichtung herrscht, ist veraltet, ist der eines halb gläubigen, halb zweifelnden Katholicismus. Vergleicht man Renan's Schauspiel mit dem Shakespeare's, das er nach einem Zeitraume von dreihundert Jahren fortzusetzen versuchte, so sieht man bei dem Vergleiche recht deutlich, wie gross die Ueberlegenheit der Renaissance in künstlerischer, die unseres Zeitalters in wissenschaftlicher Beziehung ist. Renan's Gestalten sind Schatten gegen die Shakespeare's; Shakespeare's Ideen aber sind naiv gegen die Renan's. Stellt man endlich im Geiste einen Augenblick wirklich moderne Schauspiele wie die von Ibsen denen von Renan gegenüber, so ist der Gegensatz nicht allein wiederum der zwischen eigentlichen Dichterwerken und einfach Ideen entwickelnden Dialogen, sondern jener zwischen einer bis zur Spitzfindigkeit scharfsinnigen Seelenkunde und der Fähigkeit zu grossen Ausblicken über die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit. Der psychologischen Einsicht Ibsen's entspricht bei Renan die weltüberschauende Uebersicht. Beide sehen sie schwarz, ohne deshalb Pessimisten genannt werden zu wollen oder mit Recht genannt werden zu können. Bei Ibsen ist die Technik die eines Meisters; bei Renan kann kaum von etwas wie Technik die Rede sein, so nachlässig ist das rein Dramatische behandelt. Dafür aber auch wieder kein Einprägen eines Charakterzuges, nie das Gehämmer auf eine und dieselbe Wendung (»die compacte Majorität«, das »Spannende«), zu welchem sich derjenige genöthigt sieht, der für ein Theater-Publikum schreibt. Bedarf dieses doch immer einer groben Deutlichkeit um zu verstehen. Es ist in diesen Schauspielen wie überhaupt bei Renan der Stil ein vollendeter, zugleich melodisch und von Rhetorik chemisch rein. Hier sind alle Gedanken leicht hingeworfen, wie man Seifenblasen aus einer thönernen Pfeife bläst und sich damit vergnügt, die Sonne auf ihrer leichten Kugel- und Erdballform spielen zu sehen. Nichts ist hier massiv, Alles wie im Gespräche von einem geistvollen Manne dargelegt, der mancherlei ernst, mehrerlei noch im Scherz zu sagen versteht, es ebenso versteht, sich selbst so entgegenzutreten, dass der Zuhörer sich dieser Mühe ganz und gar überhoben sieht. Hier ist nichts dogmatisch, nichts vierschrötig. Nirgends ein Keulenschlag nach dem Falter Wahrheit. Alles löst sich in feine Uebergänge und Abschattungen auf. Kurz, eine flüchtige und vornehme Kunst dies, Phantasmagorien einer überaus feinen Laterna magica -- die lang die Menschheit erfreute, nun aber für immer erloschen ist. GUSTAVE FLAUBERT. (1881.) Gustave Flaubert wurde 1821 in Rouen geboren. Als er 1880 durch einen plötzlichen Tod daselbst verschied, hinterliess er die europäische Dichtkunst nicht in dem Zustand, in welchem er sie vorgefunden hatte -- kein Künstler kann als solcher sich einen bessern Nachruhm wünschen. Die Arbeit seines Lebens bezeichnet einen Schritt in der Geschichte des Romans. Er war ein Prosaschriftsteller ersten Ranges, einige Jahre hindurch wohl der erste Frankreichs. Seine Stärke als Prosaist beruhte auf einer künstlerischen und litterarischen Gewissenhaftigkeit, die sich bis zur Genialität erhob. Er wurde ein grosser Künstler, weil er keine Mühe scheute, weder wenn er sich zum Schreiben vorbereitete, noch wenn er schrieb, sondern Beobachtungen und Aufklärungen mit der Sorgfalt eines blossen Gelehrten sammelte und seinen Stoff mit der Leidenschaft eines blossen Formanbeters plastisch und harmonisch zu gestalten strebte. Er wurde ein Meister des modernen Romans, weil er die Selbstüberwindung hatte, nur wahre seelische Vorgänge darstellen zu wollen und allen Effecten der dichterischen Beredsamkeit, allen pathetischen oder dramatischen Momenten, welche auf Kosten der Wahrheit schön oder interessant erscheinen, aus dem Wege ging. Sein Name ist mit künstlerischem Ernst und litterarischer Strenge gleichbedeutend. Er war nicht ein Gelehrter, der zugleich Dichter war oder in dem Verlauf seines Lebens Dichter wurde; seine dichterische Arbeit als solche ist auf eindringlichen, langsam gewonnenen Vorstudien begründet. Seine Bücher haben nichts Jugendliches oder Flatterhaftes, nichts Lächelndes oder Gewandtes. Diese Bücher sind Resultate der langsamen und späten Reife. Er debutirte erst, als er 35 Jahre alt war, und hinterliess, obwohl er der Litteratur alle seine Zeit gewidmet hatte, in seinem 59. Jahre nur sieben Werke[24]. Er war eine tief ursprüngliche, aber keine elementarische Natur. Seine Originalität beruhte darauf, dass in seinem Gemüthe zwei geistige Strömungen zusammenliefen und einen neuen Born bildeten. Er erhielt in seiner Jugend gleichzeitig oder fast gleichzeitig zwei Impulse, welche die Laufbahn seines Geistes bestimmten. Die erste Strömung, die ihn erreichte, war die romantisch-beschreibende Richtung in der Litteratur, die Chateaubriand entstammt, der lyrisch bewegte und farbenprächtige Stil, der in »Atala« und »Les Martyrs« die Franzosen zum ersten Male bezauberte und später in Victor Hugo's »Les Orientales« und »Notre Dame de Paris«, einen noch viel festeren und mächtigeren Rhythmus und eine weit überlegene malerische Kraft gewann. Flaubert war, wie alle Dichter und die meisten Menschen, als Jüngling lyrisch gestimmt gewesen. Seine, nie gedruckten, lyrischen Versuche wurden durch die geschichtliche Entwickelung der französischen Poesie farbenschillernde melancholisch-religiöse Huldigungen der Schönheit. Der zweite Strom, der in sein Inneres hineingeleitet wurde, war die Richtung der Romane Balzac's auf das Moderne, ihr Sinn für das Hässliche und Brutale als charakteristisch, ihr leidenschaftlicher Hang zur Wirklichkeit und ihre Treue der Beobachtung. Indem diese zwei Flüsse bei ihm zusammenströmten und nach Verlauf einiger Zeit sich mit einander mischten, erhielten sie eine neue Farbe und einen neuen Namen. Er hatte als Jüngling für die Schubladen seines Schreibtisches viel descriptive und pathetische Lyrik in Hugo's, Gautier's und Byron's Stil geschrieben; aber in der richtigen Empfindung, dass seine Ursprünglichkeit sich nicht in dieser Richtung geltend machen könne, und dass man auf diesem Gebiet überhaupt nicht mehr ursprünglich zu sein vermöge, hielt er seine Productionen zurück und fand sich darein, für unbegabt, jedenfalls für unfruchtbar angesehen zu werden. Er schrieb ungefähr zur selben Zeit Versuche entgegengesetzter Art; er pflegte eine komische Tragödie über die Kuhpocken zu nennen; aber auch diese Versuche gab er nicht heraus. Erst da Chateaubriand und Balzac in seinem Gemüth eine neue poetische Form erzeugt hatten, fühlte er sich seiner Originalität gewiss und trat öffentlich auf. I. Selbst denen, die wenig oder nichts von Flaubert gelesen haben, ist es bekannt, dass er im Jahre 1856 mit einem Roman »Madame Bovary« ein ausserordentliches Aufsehen in Paris und bald darauf in Europa machte. Ein thörichter Process -- der Staatsanwalt klagte den Verfasser unsittlicher Tendenzen an -- und eine entschiedene Freisprechung durch die Jury vermochte nur wenig die Aufmerksamkeit zu vermehren, die das eigenthümliche neue Talent schon an und für sich erregte. Das Buch erschien, wie alle neuen Anfänge in der Litteratur, sonderbar und anstössig. Es war ein Zeichen des Widerspruchs. Man verglich es mit den Dichtungen einer älteren Zeit und sagte sich: Ist dies Poesie? Es erinnerte manch' Einen mehr an Chirurgie, Anatomie. Noch weit später hiess es in litterarischen Kreisen in Paris, wo man einem früheren Begriff von Poesie treu blieb: »Wir bedanken uns für die Skelette des Herrn Flaubert«. Der Verfasser wurde Ultrarealist genannt, man fand in seinem Roman nur die unbarmherzige, unerbittliche Physiologie des Alltäglichen in dessen trauriger Hässlichkeit. Man übersah im ersten Augenblick, dass ab und zu diesem Physiologen ein zwar durchaus unpersönlicher, aber bildlicher, farbenreicher Ausdruck entschlüpfte, der von einer ganz andern Welt als derjenigen des Romans Botschaft zu bringen schien. Das halbgebildete Publikum merkte nicht, dass diese Schilderung platter Provinzverhältnisse und Provinzunglücksfälle, erbärmlicher Irrthümer und eines elenden Todes in einem Stil vorlag, der zugleich klar wie eine Spiegelfläche und dem Ohre musikalisch wohlthuend war. Es lag ein Lyriker unter dem Buche begraben, und bisweilen schlug ein Flammenwort aus dem Grabe empor. Es war eben der Zeitpunkt, wo die Generation, die zwischen 1820 und 1830 geboren war, sich der Herrschaft in der Litteratur bemächtigte und ihr physiognomisches Gepräge in einer mit kalter Energie durchgeführten Analyse des Wirklichen offenbarte. Die neue Generation wandte sich von dem philosophischen Idealismus und der Romantik ab und schwang mit wahrem Enthusiasmus das Seccirmesser. In demselben Jahre, wo »Madame Bovary« erschien, anatomirte Taine in seinem Werk »Les philosophes français du 19me siècle« die herrschende spiritualistische Lehre, vernichtete Cousin als Denker und erklärte, ohne die Romantiker zu bekämpfen, mit kühler Gleichgültigkeit, dass Hugo und Lamartine schon Classiker seien, die von der Jugend eher aus Neugier, als aus Sympathie gelesen würden, und die ihr so ferne standen, wie Shakespeare und Racine. Sie seien »bewunderungswürdige und ehrwürdige Ueberreste eines Zeitalters, das gross war und nicht mehr existire«. Sein Zeitgenosse Sarcey schrieb nicht viel später im »Figaro« jenen von Banville, dem Zögling der grossen Romantiker, vielbesungenen und vielverspotteten Artikel, der in den Worten gipfelte: »Vorwärts, meine Freunde! Nieder mit der Romantik! Hoch Voltaire und die Normalschule!«[25] In der dramatischen Poesie schien die Opposition gegen die Romantik mit der kleinen unfruchtbaren École de bon sens gescheitert; Ponsard und seine Geistesverwandten hatten lange nicht das halten können, was man sich von ihnen versprach. Aber neuere realistische Dramatiker schlossen sich eben zu jenem Zeitpunkt ihnen an. Augier, der seine ersten Poesien Ponsard gewidmet hatte und der anfangs der sentimental-bürgerlichen Richtung desselben gefolgt war, betrat 1855 eine neue Bahn drastischer Schilderung der unmittelbaren Gegenwart. Der kühnere, derbere Dumas hatte ihm eben den Weg gezeigt, und bei diesem fängt trotz aller Pietät für die Generation, der sein Vater angehörte, die directe und treffende Verspottung der romantischen Ideale an; man sehe die Rollen de Nanjac's in »Le Demi-monde«, de Montègre's in »L'ami des femmes«. Das Wort, das Montègre durch die Ueberlegenheit de Ryon's in Verwirrung gebracht, demselben erwidert: »_Vous êtes un physiologiste, Monsieur_«, war in Wirklichkeit die einzige Antwort, welche die ältere Generation der Kritik der jüngeren entgegenzustellen hatte. Augier ist 1820, Dumas 1824, Sarcey und Taine sind 1828 geboren. Der Dichter Madame Bovary's, der 1821 das Licht der Welt erblickte, hatte augenscheinlich unter seinen nächsten Zeitgenossen Verwandte. Er war von ihnen durch seine geheime unerschütterliche Treue gegen die Ideale des vorigen Geschlechts verschieden. Aber er machte den Angriff auf die Karikaturen jener Ideale so rücksichtslos mit, dass man ihn ohne Weiteres zu der Gruppe der Antiromantiker rechnete. Und doch erinnert er durch seine Härte und Kälte fast noch mehr an den in der vorigen Generation alleinstehenden Mérimée, ja er schien Vielen nur ein schwererer, breiterer Mérimée. Denn was an ihm zuerst auffiel, das war der kaltblütige Dichter, und diese zwei Bestimmungen: kaltblütig und Dichter, die sich bisher ausgeschlossen hatten, waren nur bei Mérimée vereint erschienen. Ein näheres Studium würde doch erwiesen haben, dass die Kaltblütigkeit Mérimée's ganz andersartig war als diejenige Flaubert's. Mérimée behandelte romantische Stoffe in einem unromantischen, trockenen und knappen Stil. Sein Ton und sein Stil stimmten überein, denn der Ton war ironisch und der Stil bildlos und kalt. Mit Stil und Ton stand aber die Wildheit, die barbarische Leidenschaftlichkeit der Gegenstände in Widerspruch. Bei Flaubert dagegen stimmte der Stoff und der Ton überein; denn er stellte mit unendlich überlegener Ironie das Leere und Thörichte dar. Aber mit dem Stoff und dem Ton stand der Stil in Widerspruch. Derselbe war nicht wie bei Mérimée rationell und mager; er war farbenstrahlend und harmonisch. Der Dichter breitete den goldgewirkten Schleier dieses Stils über all' das Platte und Traurige aus, das er erzählte. Wenn man das Buch laut vorlas, erstaunte man über die Musik dieser Prosa. Der Stil enthielt tausend melodische Geheimnisse; er ironisirte über die menschliche Schwäche, das ohnmächtige Sehnen und Trachten, den Selbstbetrug und die Selbstzufriedenheit mit einem Accompagnement von Orgelmusik. Während der Chirurg im Texte, ohne Theilnahme an den Tag zu legen, zerfleischte und zerriss, schluchzte ein schönheitsliebender Lyriker in der Begleitung. Schlug man eine solche Seite auf, in der ein Dorfapotheker sein halbwissenschaftliches Geplauder vortrug, in der eine Diligencetour geschildert oder eine alte Mütze beschrieben wurde, so war sie, stilistisch betrachtet, durch die Frische der Ausdrücke und durch den soliden Satzbau farbig und dauerhaft wie ein Mosaik-Gemälde. So fest war jeder Absatz zusammengeschrieben, dass Flaubert selbst die Empfindung hatte, man könne nirgends zwei Worte wegnehmen, ohne dass, rhythmisch gesprochen, die ganze Seite zusammenfalle. Die sichere Feinheit der Bilder, der Erzklang der Wortverbindungen, die rollende Breite der Prosarhythmen gaben der Erzählungsweise eine erstaunliche, bald malerische, bald komische Kraft. Es lag augenscheinlich in seinem Naturell etwas eigenthümlich Doppeltes. Sein Wesen bestand aus zwei Elementen, die sich vervollständigten: ein brennender Hass gegen Dummheit und eine unbegrenzte Liebe zur Kunst. Jener Hass fühlte sich, wie oft der Hass, unwiderstehlich von seinem Gegenstand angezogen. Die Dummheit in all' ihren Formen als Thorheit, Albernheit, Aberglaube, Dünkel, Spiessbürgerlichkeit zog ihn magnetisch an, reizte und inspirirte ihn. Er musste sie Zug für Zug malen, fand sie an und für sich unterhaltend, selbst wo Andere sie nicht interessant oder komisch finden konnten. Er legte förmliche Sammlungen von Dummheiten an, bewahrte sinnlose Processeinlagen, abgeschmackte Illustrationen haufenweise auf, besass eine Sammlung schlechter Verse, die nur von Aerzten geschrieben waren; jedes Zeugniss der menschlichen Dummheit als solches war ihm von Werth. Er hat in seinen Werken auch nichts anderes gethan, als mit Meisterhand der menschlichen Beschränktheit und Verblendung, unserm Unglück, insofern es auf unserer Dummheit beruht, Denkmäler zu setzen. Ich fürchte fast, dass die Weltgeschichte ihm die Geschichte der menschlichen Dummheit war. Sein Glaube an den Fortschritt des Geschlechts war äusserst schwankend. Der Haufe, sogar das lesende Publikum war ihm »der ewige Dummkopf, der _man_ genannt wird.« Wollte man eine Bezeichnung dieser Seite seines Wesens haben und ihn absolut mit einem jener so beliebten, ihm so verhassten Worte auf »ist« stempeln, so wäre er nicht mit vollem Recht Pessimist, nicht einmal Nihilist zu nennen; Imbecillist würde das Wort sein. Dieser unablässigen Verfolgung der Dummheit, deren erbitterter Charakter sich hinter seiner unpersönlichen Form verbarg, entsprach nun, wie gesagt, eine leidenschaftliche Liebe zur Litteratur, die ihm die Schönheit und die Harmonie bedeutete, die ihm die höchste Kunst vertrat und die er mit einem Streben nach Vollkommenheit pflegte, das ihn erst lange stumm, dann spät zum Meister und dann wieder früh unfruchtbar machte. Er litt, wenn er das Alltägliche vorführte, selbst am meisten darunter, suchte deswegen durch die Kunst der Behandlung den Stoff zu heben, und da ihm die wichtigste Eigenschaft des Schriftstellers die Plastik war, strebte er vor allem nach Anschaulichkeit. Er hat es gelegentlich selbst gesagt, und man empfindet es, wenn man ihn durch seinen Stil studirt. Schon in seinem ersten Werk traten alle Vorzüge dieses Stils hervor. Man lese die Stelle nach, wo in »Madame Bovary« Emma, noch unverheirathet, Bovary nach seinem ärztlichen Besuch bei ihrem Vater zur Thür hinaus folgt: »Sie begleitete ihn immer bis zur ersten Stufe der Freitreppe. Wenn sein Pferd noch nicht vorgeführt war, blieb sie da. Man hatte sich Adieu gesagt, man sprach nicht mehr; die frische Luft umgab sie, hob die flaumweichen Haare ihres Nackens oder schlug die Bänder ihrer Schürze, die sich wie Fähnlein wickelten und wanden, um ihre Hüften. Ein Mal, als es Thauwetter war, sickerte das Wasser von der Rinde der Bäume im Hof und der Schnee schmolz auf den Dächern der Gebäude. Sie stand auf der Schwelle; sie ging zurück, ihren Sonnenschirm zu holen, spannte ihn auf. Der Schirm, der von grünblauer Seide war und durch den die Sonne schien, erhellte mit beweglichen Reflexen die weisse Haut ihres Gesichts. Sie lächelte unter ihm, von den lauen Lüften umspielt; und man hörte die Regentropfen, einen nach dem andern, auf das gespannte Zeug fallen«. Eine so geringfügige Sache wie dies gewöhnliche Abschiednehmen wird durch die liebevolle Sorgfalt der Schilderung interessant, und der reguläre Abschied erhält individuelles Leben durch die Hervorhebung eines einzelnen Tages, an dem übrigens nichts passirt. Die Genauigkeit, mit welcher die alltägliche Situation dargestellt ist, verwandelt sie zu einem Gemälde hohen Ranges, das zugleich das Sichtbare und das Hörbare, zugleich das Tableau und die Bewegung wiedergibt. Oder man erinnere sich der Stelle, wo Emma nach ihrer Verheirathung zum ersten Mal verliebt wird: »Emma wurde mager, ihre Wangen bleich; ihr Gesicht verlängerte sich. Mit ihrem schwarzen, in breiten, glatten Streifen gescheitelten Haar, ihren grossen Augen, ihrer geraden Nase, ihrem Vogelgang und immer schweigsam, wie sie war, schien sie das Dasein zu durchschreiten fast ohne es zu berühren und an der Stirn das undeutliche Gepräge irgend einer erhabenen Vorherbestimmung zu tragen. Sie war so traurig und so ruhig, zugleich so milde und so zurückhaltend, dass man sich in ihrer Nähe von einem eisigen Zauber ergriffen fühlte, wie man in Kirchen zittert, wo der Duft der Blumen sich mit der Kälte des Marmors vermischt«. Das Gleichniss ist neu, ist treffend und kurz. Man spürt hier den Dichter in dem Erzähler. Man spürt ihn noch deutlicher, wenn fortgefahren wird: »Die Damen der Stadt bewunderten ihren wirthschaftlichen Sinn, die Patienten ihre Höflichkeit, die Armen ihre Wohlthätigkeit. Aber sie war voll Begierden, voll Wuth und Hass. Dies Kleid mit den geraden Falten verbarg ein verwirrtes Herz und diese so keuschen Lippen erzählten nicht seine Qual. Sie war in Léon verliebt ... Sie erkundigte sich nach jedem seiner Schritte; sie spähte sein Gesicht aus; sie erfand eine ganze Geschichte, um zu einem Besuch seines Zimmers einen Vorwand zu haben. Sie schätzte die Frau des Apothekers glücklich, weil sie unter Einem Dach mit ihm schlief; und ihre Gedanken schlugen immerfort auf das Haus nieder wie die Tauben des »Goldenen Löwen«, die stetig dahin flogen, um in dem Wasser der Dachrinnen ihre rosigen Füsse und weissen Flügel zu netzen«. Dies ist nicht ein schlagendes Gleichniss im allgemeinen, sondern ein Gleichniss, das einem Umstand in dem Dorf, das Emma bewohnt, entlehnt ist. So lebhaft steht dieses Dorf dem Erzähler vor Augen. Bisweilen sammelt er eine ganze Beschreibung in einem dichterischen Machtwort. So an der Stelle, wo die alte Dienstmagd auftritt, die in der Versammlung des landwirthschaftlichen Vereins aufgerufen wird, um für den treuen Dienst von 54 Jahren in Einem Hof eine silberne Medaille im Werth von 25 Francs zu empfangen. Katharina Niçaise Elisabeth Leroux, ein kleines altes Weib, das in ihren armen Kleidern zusammenzuschrumpfen scheint, erzeigt sich auf der Erhöhung. Man sieht ihr hageres, in Runzeln zusammengefaltetes Gesicht in der Haube und ihre langen Hände mit knotigen Gelenken, welche der Staub der Scheunen, das Wollenfett und die Potasche der Wäschereien mit einer solchen Kruste überzogen haben, dass sie, obwohl mit klarem Wasser abgespült, schmutzig scheinen und nicht mehr ganz geschlossen werden können, sondern gleichsam um Zeugniss so vieler erlittener Strapazen zu tragen, offen verbleiben. Wir sehen die nonnenartige Steifheit ihres Ausdrucks, die thierische Stummheit ihres blassen Blicks, ihre Unbeweglichkeit aus Verwirrung über das ungewohnte Schauspiel der Fahnen, der Trommeln und der decorirten Herren im schwarzen Frack. Dann fasst Flaubert das Bild in diese Worte zusammen: »So stand vor diesen behäbigen Spiessbürgern dies halbe Jahrhundert der Sclaverei«. So kleinlich genau die Beschreibung ist, so gross und stilvoll ist der sammelnde Ausdruck. Man fühlt es recht wohl, dass für diesen Schriftsteller die Kunst zu schreiben die höchste von allen war. Nicht allein, dass ihm selbst das Schreiben sein unbedingter und einziger Beruf war; man begeht auch keine grosse Uebertreibung, wenn man sagt, dass seine Weltanschauung auf den Gedanken hinauslief: Die Welt ist da, um beschrieben zu werden. Er hat einmal dieser seiner Ansicht in einer absolut bezeichnenden Wendung Ausdruck gegeben. Er richtet, an die Freundschaft anspielend, die ihn mit Louis Bouilhet verband, in der Vorrede zu den hinterlassenen Gedichten desselben, an die Jugend folgende Worte: »Und da man bei jeder Gelegenheit eine Moral verlangt, so ist hier die meine: Gibt es noch irgendwo zwei junge Leute, die ihre Sonntage damit verbringen, in Gemeinschaft die Dichter zu lesen; die sich gegenseitig ihre Versuche, ihre Pläne, Gleichnisse, die ihnen eingefallen sind, einen Satz, ein gelungenes Wort mittheilen und die, obwohl sonst gegen das Urtheil der Anderen gleichgültig, diese Leidenschaft mit jungfräulicher Schamhaftigkeit verbergen, so gebe ich ihnen den folgenden Rath: Geht Schulter an Schulter in den Wäldern, sagt einander Verse vor, nehmt in Eure Seele den Saft der Bäume und die Ewigkeit der Meisterwerke auf, verliert Euch in weltgeschichtliche Träume, gebt Euch dem Eindruck des Erhabenen hin ..., wenn Ihr dann so weit gekommen seid, dass Ihr in den Begebenheiten der Welt, so bald Ihr sie wahrnehmt, _nur eine Illusion seht, die zu beschreiben ist_, und das so unbedingt, dass Alles, Eure eigene Existenz mit einbegriffen, Euch keinen andern Nutzen zu haben scheint, und Ihr um dieses Berufes willen zu jeglichem Opfer entschlossen seid, so tretet auf, gebt Bücher heraus!« Selten hat ein Schriftsteller, ohne es direct zu wollen, seine Eigenthümlichkeit schärfer gezeichnet. Er hat sein Leben der Bestimmung gewidmet, Illusionen zu beschreiben. Ich weiss sehr wohl, dass seine Meinung nur die ist, für den wahren Schriftsteller sei alles, was geschehe, _Bild_, bloss durch die Kunst festzuhaltendes Trugbild. Man kann aber zwanglos seinen Worten den weiteren Sinn geben, dass das Leben überhaupt am wahrsten unter dem Gesichtspunkte einander ablösender Trugbilder aufzufassen sei, und dann passt der Satz genau auf ihn selbst. Man gehe in Gedanken seine Stoffe durch, von den ersten unweltlichen und weltlichen Träumen, durch welche Emma Bovary aus der Leere der Provinz und der Plattheit ihrer Ehe sich zu erheben strebt, bis zu den einander jagenden Wüstenhallucinationen des heiligen Antonius -- was sind sie ihm anders gewesen, als _Illusionen zum Beschreiben_! Die Illusion hat das doppelte Wesen in sich, das dem Naturell Flaubert's entspricht. Das Trugbild ist, von seiner Eigenschaft als Blendwerk abgesehen, schön, es hat Farbe und Duft, es erfüllt das Gemüth und theilt ihm ein potenzirtes Leben mit. So beschaffen reizte es den Schönheitsanbeter in Flaubert. Aber die Illusion ist ferner hohl und leer, oft thöricht, nicht selten geradezu lächerlich; so aufgefasst fesselte sie den Realisten in Flaubert, den Mann, dessen Blick das Seelenleben durchschaute, der die Wirklichkeit in ihre einfachsten Elementen aufzulösen eine Befriedigung fand und dessen mächtige Hand die Luftschlösser zu Dunst zusammenpresste. II. Wie war er so geworden, wie wir ihn in seinem ersten Roman kennen lernen? Sein Vater war ein bekannter Chirurg in Rouen, ein streng rechtschaffener, gutherziger Mann, der den Sohn gut und frei erzog. Dass sein erstes Heim das Haus eines Arztes war, das empfindet man in seinen Büchern. Er studirte selbst eine Zeit lang Medicin, später die Rechtswissenschaft, warf sich aber schon in der Schule mit Leidenschaft auf die Litteratur und begegnete sich in dieser Schwärmerei mit seinem Halbbruder, dem Dichter Louis Bouilhet. Es finden sich ohne Zweifel selbstbiographische Elemente in der Schilderung der Freundschaft zwischen Frédéric und Deslauriers in seinem Roman »L'éducation sentimentale«. Flaubert kam wie Frédéric, neunzehn Jahre alt, nach Paris, um zu studiren. Sein Vater kaufte das Landhaus Croisset bei Rouen, das er später erbte; er verbrachte sein Leben abwechselnd in Rouen und Paris, ein Leben, in welchem nur zwei äussere Begebenheiten vorkommen, eine Reise nach dem Orient, die er dreissig Jahre alt unternahm und eine spätere nach Nordafrika, die der Ausführung »Salammbô's« voranging. In Rouen schloss er sich gern Monate lang ein, um zu studiren und zu schreiben; in Paris suchte er vorzugsweise Zerstreuung. Er war in seiner Jugend ausdauernd in seiner Arbeit und gewaltsam in seinen Vergnügungen. Er hatte das Temperament, das seinem Aeussern entsprach. Ich habe ihn nur flüchtig gesehen. Aber man vergisst nicht diesen grossäugigen, blauäugigen Herkules mit der röthlichen Gesichtsfarbe, der hohen, kahlen Stirn und dem langen Schnurrbart, der den grossen Mund, die mächtigen Kiefer bedeckte. Er trug den Kopf hoch, ein wenig zurückgeworfen, der Bauch trat etwas hervor; er ging zwar ungern, aber liebte sonst heftige Bewegungen und schlug mit den Armen aus, wenn er ungeheure Paradoxen mit donnernder Stimme herausschleuderte. Er war wie alle polternden Riesen gutmüthig. Sein Zorn -- sagt einer seiner Freunde -- kochte über und fiel wie Milch. Er war ja zu der Zeit aufgewachsen, da die französische Romantik in ihrem Flor stand, er hatte sein erstes Gepräge in der romantischen Schule empfangen und er behielt Spuren davon, nicht nur in seinem Stil und in seiner an Théophile Gautier's »truculente« Redeweise erinnernden Art gegen die _Bourgeois_ zu schimpfen; sondern sogar in seiner Manier sich anzuziehen. Er trug gern grosse breitschattige Hüte, grosscarrirte Beinkleider und Röcke, die eng an die Taille schlossen, ging im Sommer in seiner Wohnung in weiten, weiss- und rothgestreiften Hosen und in einer Art Jacke, die ihm Aehnlichkeit mit einem Türken gab. Es ging unter seinen Freunden das Gerücht, dass Bürgersleute in Rouen, die Sonntags Landpartien machten, ihren Kindern das Versprechen gaben: »Wenn Ihr artig seid, sollt Ihr Herrn Flaubert in seinem Garten zu sehen bekommen«. Ich sagte, dass einige Reisen die Hauptbegebenheiten seines Lebens waren. Die Frauen haben weniger Platz darin eingenommen, als in dem Leben der meisten Andern. Er hatte, als er zwanzig Jahre alt war, sie als Troubadour geliebt. Damals ging er wiederholt zwei Meilen, um einen Neufundländer, den eine Dame zu liebkosen pflegte, an der Schnauze zu küssen. Später gewöhnte er sich an eine derbere Anschauungsweise und Praxis in Sachen der Erotik. Er war ein Freund von Anekdoten und Geschichten in Rabelais' Manier und erfasste in seinen Büchern mit vollständig so harten Händen die erotische Illusion wie alle die andern. Nichts desto weniger gab es in diesem Punkt, wie in so vielen andern in dem Wesen Flaubert's, eine bleibende Zweiheit. Er, der alte Junggeselle, der leidenschaftliche Tabakraucher, der nur mit Männern vertraut verkehrte und in keiner andern Frauengesellschaft, als derjenigen hübscher und nicht strenger Damen sich wohl befand, hatte, augenscheinlich sowohl in Folge persönlicher Erfahrung wie kraft einer allgemeinen Ueberzeugung, dass alles Wesentliche dem Menschen misslingt, den Glauben, dass es das Natürliche, so zu sagen, Regelmässige für den Mann sei, eine einzige grosse Liebesleidenschaft, die nie befriedigt werde, sein Leben hindurch zu hegen. In guter Uebereinstimmung hiermit heisst es in einem Brief aus Flaubert's letzten Lebensjahren, scherzhaft aber zugleich wehmüthig wahr: »Wir armen Arbeiter der Litteratur! warum verweigert man uns, was man so bereitwillig allen Spiessbürgern einräumt? Sie haben Herz! aber wir, nie und nimmer! So wiederhole ich Ihnen denn nochmals, dass ich eine unverstandene Seele bin, die letzte Grisette, der einzig Ueberlebende aus der alten Race der Troubadoure«. Trotz alledem pflegte diese »unverstandene Seele« sich nicht an die Frauen zu wenden, um Verständniss zu suchen. Er fürchtete die Liebe wie eine Gefahr und Last. Nur die Freundschaft war ihm eine Religion und unter seinen Freunden stand ihm Niemand so nahe, wie jener erste und bleibende Freund Bouilhet. Ich weiss nicht recht, ob es Zeiten gegeben hat, die unabhängigen Geistern günstig gesinnt waren. Aber so viel ist gewiss, dass diese zwei jungen Männer, die in das Leben hinaustraten, als die Bourgeoisie unter Ludwig Philipp die Herrschaft errungen und ihren poetischen Ausdruck theils in der schwächlichen und rechtschaffenen _École du bon sens_, theils in den Lustspielen Scribe's erhalten hatte, die Zeit, die zu erleben sie das Schicksal hatten, die schlimmste von allen fanden. Die Romantik hatte sich überlebt und ihr eigenes Zerrbild geliefert. Ueberall war es guter Ton, den gesunden Verstand zu preisen und die Poesie zu verspotten. Begeisterung und Leidenschaft waren alte Moden und als solche lächerlich. Alles, was nicht mittelmässig war, wurde langweilig befunden. Die zwei Jünglinge fassten ihr Zeitalter als das der _Mediokratie_, der Mittelmässigkeitsherrschaft auf; sie sahen die siegreiche Mittelmässigkeit wie eine ungeheure, schwarze Wasserhose alles an sich saugen und mit sich fortwirbeln. Das gab ihnen beiden einen Fond von Trübsinn und tiefem Ernst, eine Unterströmung von Menschenverachtung, eine Empfindung geistiger Isolirtheit und dadurch einen Hang zur Production unpersönlicher, untheilnehmender Art. III. Aus dieser Stimmung heraus war es, dass Flaubert im reifern Mannesalter sich endlich entschloss, als Schriftsteller aufzutreten und »Madame Bovary« schrieb. Es schlug eine eisige Kälte aus diesem Buche heraus; es war, als hätte der Verfasser endlich einmal die Wahrheit aus dem tiefen, kalten Brunnen, in welchem sie gelegen hatte, heraufgewunden und als stände sie jetzt auf ihrem Fussgestell frierend da und brächte das ganze kalte Schaudern des Abgrundes mit sich herauf. Ein sonderbares Buch, ohne irgend eine Art von Zärtlichkeit für seinen Gegenstand geschrieben. Andere hatten das Stillleben des Landes und der Provinz mit Wehmuth, mit Humor oder doch mit dem Idealisiren geschildert, das eine Betrachtung aus der Entfernung mit sich zu führen pflegt. Er sah es ohne Mitgefühl, stellte es so geistlos dar, wie es war. Seine Landschaften waren ohne sogenannte Poesie, nur kurz und vollständig geschildert. Er begnügte sich in seiner strengen Meisterschaft damit, die Hauptlinien und Hauptfarben zu geben, aber diese zeichneten und malten die Landschaft ganz. Und er hatte eben so wenig ein zärtliches Gefühl für seine Hauptperson -- eine seltene Erscheinung bei einem Dichter, wenn diese Hauptperson wie hier eine junge und schöne sinnlich-reizende Frau ist, die in Sehnen, Schmachten und sinnlich-geistigen Begierden lebt, fehlt, und enttäuscht wird, verdirbt und zu Grunde geht, ohne eigentlich jemals unter das Niveau ihrer Umgebungen zu sinken. Aber jeder Traum, jede Hoffnung, jedes Blendwerk, jede naive und ungesunde Begierde, die durch ihr Gehirn ging, war untersucht und an das Licht gezogen, ohne Gemüthserregung, ja mit überschwebender Ironie. Es gab kaum eine Phase ihres Daseins, wo sie nicht lächerlich oder moralisch widerwärtig erschien, und erst, wo sie einen grässlichen Tod stirbt, trat die gedämpfte Ironie ganz zurück, und sie verschied zwar nicht als ein Gegenstand des Mitleids, aber doch auch nicht als ein Gegenstand der Verachtung. Anscheinend war der Dichter sogar bei der Schilderung des Schreckens ihrer Todesstunde völlig kalt gewesen. Dass dieser Schein täuschte, beweist ein Brief von ihm, der sich in dem Werke »De l'intelligence« von Taine (I, 94) findet: »Als ich die Vergiftung Emma Bovary's schrieb, hatte ich so ganz den Arsenikgeschmack im Munde, war so vollständig selbst vergiftet, dass ich zwei Tage nach einander nichts verdauen konnte, ja nach dem Mittagessen mich übergab«. Das seelische und körperliche Ergriffensein des Verfassers wurde im Roman durch die vollendete Selbstbeherrschung während der Ausführung verdeckt. Es kam in dem ganzen Buch keine Persönlichkeit vor, mit welcher der Dichter etwas gemein hatte, keine, die er gedacht werden konnte in noch so geringem Grad zu sein oder sein zu wollen; die Personen waren alle ohne Ausnahme gewöhnlich, unschön, lasterhaft oder bedauernswürdig. Und er hielt sie auf diesem Punkte fest. Die junge Frau hat z. B. trotz ihrer gefährlichen Instincte in ihrer Sehnsucht nach dem Schönen, ihrem Bedürfniss des Idealen und ihrem lange anhaltenden Glauben an die Romantik der Liebe Eigenschaften, die -- ein wenig anders oder doch schonender dargestellt -- sie selbst in ihren Verirrungen hätten adeln können; was hätte George Sand nicht aus ihr gemacht! Aber Flaubert will eben nicht in die alten Spuren zurückfallen, und er beraubt geflissentlich die sogenannten schönen oder süssen Sünden jeglicher Poesie. Der betrogene Ehemann hat ebenfalls, trotz seiner Unfähigkeit als Arzt und seiner Plumpheit als Mensch, durch seine Güte, seine Geduld, seine Ehrenhaftigkeit und seine treue Bewunderung für Emma Elemente in sich, die unter anderen Umständen rührend gewirkt hätten; und er entfaltet bei ihrem Tode Eigenschaften, eine innige Anhänglichkeit, ein Selbstvergessen, die durch einen kleinen Druck von dem Finger des Dichters sich bedeutend oder doch Achtung gebietend hätten ausnehmen können. Aber der Dichter will dem Thon diesen kleinen Druck nicht geben, er hält aus Wahrheitsliebe die Gestalt beständig innerhalb der Grenze, die ihm die richtige scheint, lässt Bovary von Anfang bis zum Schluss ein gutmüthiger und würdeloser, unfähiger und unappetitlicher armer Teufel sein. Es findet sich im Roman eine einzige, einigermassen sympathische Person, der kleine Apothekerjunge Justin, der aus der Entfernung Emma anbetet; und es gibt einen Augenblick nach ihrem Tode, wo der Dichter ihn fast idealisiren zu wollen scheint. Als alle fort sind, kommt er zu ihrem Grabe und es heisst: »Auf dem Grabe zwischen den Tannen kniete ein weinendes Kind und seine Brust, die vor Schluchzen zu brechen drohte, stöhnte in dem Schatten unter dem Druck eines unermesslichen Schmerzes, der milder als der Mond und unergründlicher als die Nacht war«. Man wundert sich, dass diese Zeilen Flaubert zum Verfasser haben. Aber dann wird fortgefahren: »Plötzlich knackte das Gitterthor. Es war der Todtengräber Lestiboudois; er kam um sein Grabscheit zu suchen, das er vorhin vergessen hatte. Er erkannte Justin, als dieser über die Mauer zurückkletterte und wusste jetzt, wer der Uebelthäter war, der ihm seine Kartoffeln stahl«. Dieser Satz war der einzige, der aus der ersten Lectüre »Madame Bovary's« nach zehn Jahren in meinem Gedächtniss geblieben war, und es ist ein bewunderungswürdiger Satz; er ist nicht willkürlich ironisch in Heine's Art; die Ironie ist hier Tiefsinn, das Werk eines allseitigen Geistes. Es ist natürlich, dass Justin beim Tode der angebeteten Dame innig und poetisch fühlt und es ist nicht minder natürlich, dass er früher Kartoffeln gestohlen hat und dass der Todtengräber durch geniale Intuition in dem Umstand, dass er über die Kirchhofsmauer steigt, ein Indicium seines Kartoffeldiebstahls sieht. Aber dass Flaubert zugleich diese beide Sachen, diese beiden Seiten des Lebens vor Augen hat, das ist ein Zeugniss seiner geistigen Stärke und einer Ueberlegenheit über den Stoff, die mir bewusst nie früher in dieser Form hervorgetreten ist. Die künstlerische Ironie ist hier auch ganz anders unpersönlich, unzufällig und wahr, als bei Mérimée. Sie ist nur eine stereoskopische Anschauungsweise, die der Wirklichkeit Relief gibt, sie rund und frei hinstellt. Es ist kein Wunder, dass man in dem Werke zuerst nichts anderes als diese Betrachtungsart und die Wirklichkeitstreue, die ihr Erzeugniss war, entdeckte. Wenn man von der kurzen Zeit absieht, wo die ganz einfältige Auffassung von Flaubert als einem unsittlichen Schriftsteller sich breit machte, so war die Vorstellung von ihm, die durchdrang, die: er sei, was man einen Realisten nannte. Er copire das Unbedeutende und das Wichtige mit derselben Gewissenhaftigkeit, nur mit einer Vorliebe für das Gewöhnliche und sittlich Abstossende; Alles stehe bei ihm in _einem_ Plan, kräftig aber hart. Die Bewunderer des Buches fanden den Vortrag desselben merkwürdig; die Unwilligen meinten, die Art Flaubert's sei photographisch, nicht künstlerisch. Man erwartete oder fürchtete von seiner Hand neue _Madame Bovary's_. Aber man wartete vergeblich; denn er liess nichts von sich hören. Die Jahre gingen hin und er war stumm. Endlich nach Verlauf von sieben Jahren trat er aufs neue mit einem Roman auf und die Lesewelt gab laut ihr Erstaunen kund. Man fand sich hier weit entfernt von den Dörfern der Normandie und dem neunzehnten Jahrhundert. Man fand den verschwundenen Verfasser »Madame Bovary's« auf den Ruinen des alten Karthago wieder. Er stellte in »Salammbô« nicht anderes und geringeres als Karthago zur Zeit Hamilcar's dar; eine Stadt und eine Civilisation, von der man fast nichts Zuverlässiges wusste, einen Krieg zwischen Karthago und den Miethstruppen der Stadt, der nicht einmal ein weltgeschichtliches oder sogenannt ideelles Interesse darbot. Einen Pariser Ehebruchsroman hatte man erwartet und erhielt jetzt statt seiner altpunische Cultur, Tanitscultus und Molochsanbetung, Belagerungen und Kämpfe, Schrecken ohne Zahl und Mass, den Hungertod eines ganzen Heeres und das langsame Martyrium eines gefangenen Libyschen Häuptlings. Und das Sonderbarste war, dass all' dieses, über welches Niemand etwas wusste und das Niemand controlliren konnte, diese ganze ausgestorbene, wild barbarische Welt mit einer Anschaulichkeit und kleinlicher Genauigkeit hervortrat, die in nichts hinter derjenigen »Madame Bovary's« zurückstand. Man entdeckte, dass die Methode, von der Beschaffenheit des Stoffes unabhängig, diesem colossalen und fremden, wie dem früheren alltäglichen Gegenstand gegenüber dieselbe war. Er hatte dem Publikum einen Possen gespielt, ihm auf durchschlagende Weise gezeigt, wie wenig es ihn verstanden hatte. Wenn Jemand ihn für einen an die Scholle gebundenen Realisten gehalten hatte, so konnte er jetzt lernen, wie Flaubert sich in den Sonnenländern zu Hause fühlte. Wenn Jemand gemeint hatte, dass ein kleinbürgerliches Leben in seiner Hässlichkeit und seiner Komik ihn zu fesseln vermöge, dass sein Talent holländischer Natur sei, so musste er jetzt entdecken, dass Flaubert die Schwärmereien seiner Jugend mit den Männern von 1830 getheilt hatte und dass er, ganz wie sie, sich von primitiven Leidenschaften und barbarischen Sitten angezogen fühlte. Doch bis zu welchem Grade Flaubert in Wirklichkeit die Sympathien und Naivetäten der Erzromantiker theilte, ahnten selbst nach »Salammbô« die wenigsten. Die Sonne Afrika's und das Leben des Morgenlandes waren ihm durch Byron und Victor Hugo geheiligt und seine persönlichen Eindrücke hatten die poetischen nur befestigt. Der Kaffeegeruch gab ihm Hallucinationen von wandernden Karawanen und er verzehrte die abscheulichsten Gerichte mit einer religiösen Empfindung, wenn sie einen exotischen Namen hatten. Flaubert hatte sein Aeusserstes gethan, um etwas hervorzubringen, das dem alten Karthago ähnlich sei. Er war aber Künstler genug um zu wissen, dass es nicht auf die äussere Wahrheit, sondern auf die innere, die man Wahrscheinlichkeit nennt, ankäme. Seine Schilderung kam Vielen unbedingt überzeugend vor; ein Zweifel an ihrer Uebereinstimmung mit der längst entschwundenen Wirklichkeit wurde von dem ersten Kritiker Frankreichs einmal in meiner Gegenwart mit einem einfachen »Ich glaube, dass sie wahr ist« beantwortet. Aber den Zweiflern trat Flaubert offen und kühn in seiner Zurückweisung eines Angriffs von Sainte-Beuve mit den Worten entgegen: »Es handelt sich hier nicht um die Wahrheit. Ich kehre mich den Teufel um die Archäologie. Wenn die Farbe nicht Eine ist, wenn die Einzelheiten nicht übereinstimmen, wenn die Sitten nicht aus der Religion und die Begebenheiten sich nicht aus den Leidenschaften herleiten lassen, wenn die Charaktere nicht gehalten sind, wenn die Costüme nicht den Gewohnheiten und die Gebäude nicht dem Klima entsprechen, so ist mein Buch allerdings unwahr. Wenn nicht, nicht«. Diese Aeusserung trifft den Nagel auf den Kopf; man fühlt das gute Gewissen des Meisters und die Autorität, die es ihm verleiht, in diesen Worten. Sein Werk war nicht, wie so viele späteren archäologischen Romane, eine Maskerade, bei der moderne Empfindungen und Lebensansichten in antiken Anzügen auftreten; nein, alles war hier aus einem Stück, hatte dasselbe wilde und fürchterliche Gepräge. Liebe, Schlauheit, Rachsucht, Religiosität, Charakterstärke, alles war unmodern. Die Wahrheitsliebe des Dichters war hier augenscheinlich eben so innig und heftig wie in dem ersten Roman. Nur wurde es lächerlich, diesem Sieg über Tod und Vergangenheit gegenüber wider das Photographiren Flaubert's zu reden. Es liess sich also von diesem Buche aus ein richtigerer Gesichtspunkt für den _Realismus_ des vorigen gewinnen. Dass Flaubert nicht zu den Copisten des zufällig Wirklichen gehörte, wurde klar. Man sah, dass seine Genauigkeit der Beschreibungen und Angaben in einer eigenthümlichen Präcision der Einbildungskraft wurzelte. Er hatte augenscheinlich in gleich hohem Grade die beiden Elemente, die das Wesen des Künstlers ausmachen, die Beobachtungsgabe und die Gestaltungskraft. Er hatte den Hang und die Fähigkeit zum Naturstudium und zum historischen Studium, das forschende Auge, dem kein Verhältniss zwischen den Einzelnheiten entschlüpft. Hier vom Photographiren zu sprechen, war unmöglich. Denn Studium ist etwas Actives, Feuriges, ist Blick für das Wesentliche; Photographiren dagegen ist etwas Passives, Maschinenartiges, und gleichgültig gegen den Unterschied zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Und Flaubert hatte ferner das Temperament des Künstlers, jene Gemüthsstimmung, die all das durch Beobachtung und Studium Gewonnene durchglüht und ausmünzt, und sich in diesem Prägen als Stil offenbart. Denn was ist Stil anders als der sinnliche Ausschlag des Temperaments, als das Mittel, durch welches der Schriftsteller das Auge des Lesers zwingt, so zu sehen, wie er gesehen hat! Der Stil macht den Unterschied aus zwischen der künstlerisch wahrheitsgetreuen Zeichnung und der gelungenen Photographie, und der Stil war allgegenwärtig bei Flaubert. Kaum hatte er für irgend ein Werk seine Beobachtungen, seine Vorstudien gesammelt, als sie auch schon aufhörten, ihn als solche zu interessiren. Jetzt galt es, dies Buch in einer vollendeten Sprache zu schreiben. Und die Sprache wurde Alles und die Aufzeichnungen zum Buch schwanden zum Gleichgültigen, unbedingt Untergeordneten hin. Dass er genau und zuverlässig sei, pflegte er zu sagen, das sei kein Verdienst, nur einfache Rechtschaffenheit, die der Autor dem Publikum schulde, aber an und für sich habe die Wahrhaftigkeit nichts mit der Kunst zu thun; nein, donnerte er und schlug mit dem Arm aus, die einzige wichtige und ewige Sache unter der Sonne sei ein wohlgeformter Satz, ein Satz, der Hand und Fuss habe, der mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden zusammenhänge und der das Ohr erfreue, wenn man sich selbst ihn vorlese. So schrieb er ein kleines Stück jeden Tag, oft nur ein Paar Zeilen, wog jedes Wort, um Wiederholungen, Reimen, Härten zu entgehen, verfolgte ein wiederholtes Wort in einer Entfernung von dreissig, vierzig Zeilen, ja vertrug nicht einmal die Wiederholung derselben Silbe in _einem_ Satz. Oft ärgerte ihn ein Buchstabe; er suchte Worte, wo dieser sich nicht fand, bisweilen ging er auf Jagd nach »r's«, wenn er einen rollenden Laut brauchte. Dann las er sich das Geschriebene laut vor, sang es mit seiner Stentorstimme hinaus, dass die Leute auf dem Wege vor seinem Hause stille standen. Viele nannten ihn den Advokaten, und glaubten, dass er sich auf Gerichtsreden einübe. Er erlitt Qualen während dieses seines Strebens nach Vollkommenheit. Es waren die Geburtsqualen, die jeder Schriftsteller kennt, aber die seinigen waren so schmerzlich, dass er aufspringen und schreien, sich Dummkopf! Idiot! schelten konnte; denn kaum war ein Zweifel überwunden, als auch schon ein anderer erstand. An seinem Schreibtisch sass er wie magnetisirt, in stille Erwägung vertieft und versunken. Turgenjew, sein treuer und naher Freund, der ihn oft sah, erklärte, dass es rührend sei, ihn, den ungeduldigsten, so geduldig in dem Kampf mit der Sprache zu sehen. Er hatte einen Tag ununterbrochen an einer einzigen Seite seines letzten Romans gearbeitet, ging aus um zu essen, wollte, Abends zurückgekehrt, sich in seinem Bett an der Lektüre seiner Seite erbauen, fand sie aber schlecht, sprang -- ein hoher Fünfziger wie er war -- aus dem Bette heraus, fing in blossem Hemd an, die Seite umzuschreiben und schrieb sie die ganze Nacht hindurch um und wieder um, theils an seinem Tisch, theils, wenn die Kälte ihn davon vertrieb, im Bett. Wie hat er seine Sprache geliebt und verflucht! Ist es nicht bezeichnend, dass er in »Madame Bovary« nur an einer einzigen Stelle sich vergisst und in seinem eigenen Namen spricht, und das zwar, wo er in Folge der blasirten Gleichgültigkeit Raoul's gegen die Liebeserklärungen Emma's, die gewöhnlich lauteten und doch einer echten Leidenschaft entsprangen, fast entrüstet ausruft: »Als ob nicht das Vollgefühl der Seele bisweilen sich in den leersten Gleichnissen ergiesse, als ob Jemand das genaue Mass seiner Bedürfnisse, seiner Vorstellungen oder seiner Leiden anzugeben vermöge, da doch die menschliche Sprache nur ein geborstener Kessel ist, an dem wir Melodien hämmern, die so lauten, als spielten wir auf zu einem Bärentanz, wenn es unser Wunsch ist, durch sie die Sterne zu rühren«. Eine solche Klage in einem solchen Mund ist dennoch, was sie dem menschlichen Worte zu sein abspricht, ein Mass für das schmerzliche Streben des grossen Stilisten nach künstlerischer Vollendung. Wenn ein solches Streben sich einmal in einer Kunst gezeigt hat, kann es nicht aussterben. Kein in der Kunst Eingeweihter, der nach Flaubert geschrieben hat und der sein schriftstellerisches Ideal verstand, hat mit gutem Gewissen bedeutend oder wesentlich geringere Ansprüche an sich selbst stellen können als die seinigen waren. Deshalb sind die Freunde, die Geistesverwandten, die Schüler Flaubert's die strengsten und originellsten Stilisten unseres Jahrhunderts. Nicht dass Flaubert selbst der Originalität des Stils theoretisch günstig war. Er glaubte naiv an einen einzigen idealen, unbedingt richtigen Stil. Er nannte diesen Stil, den er zu verwirklichen suchte, den ganz unpersönlichen, weil derselbe nichts war als ein Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit, die ihm in dem Geschriebenen nicht auffiel. Guy de Maupassant hat witzig gesagt, dass das abgedroschene Wort: »Der Stil ist der Mann«, von ihm sich umkehren liesse: »Er war jener Mann, welcher der Stil war«. Er war so zu sagen der personificirte Stil. Es ist keine unwesentliche oder gleichgültige Sache, dass der Schriftsteller, der vor allen andern die moderne Richtung und die moderne Formel der französischen Litteratur vertritt, weit davon entfernt, ein Nachahmer des zufälligen Wirklichen oder (wie der Vorwurf gewöhnlich lautet) ein Photograph zu sein, umgekehrt der Künstler ohne Tadel war. IV. Flaubert hat persönlich der Oeffentlichkeit nie das Geringste über sich selbst erzählt. Er hat über seine künstlerischen Principien dasselbe Schweigen wie über seine Privaterlebnisse bewahrt. Unter diesen Umständen muss man alle Wege, die offen stehen und die in sein Innerstes hineinführen können, prüfen, und als einer der nächsten und besten bietet sich das genaue Studium der Werke seines brüderlichen Freundes und Kampfgenossen Louis Bouilhet's dar. Die beiden Männer scheinen, oberflächlich betrachtet, sehr ungleich angelegt, wie ungleich begabt. Flaubert machte in der französischen Litteratur Epoche, Bouilhet war und blieb ein Dichter zweiten oder dritten Ranges; Flaubert war ein Romanschriftsteller, Bouilhet ein Lyriker und Dramatiker; aber diese Ungleichheit geht das Wesen der Halbbrüder wenig an. Sie hatten sich lieb, weil sie geistig nah verwandt waren; nicht ohne gültigen Grund hatte Flaubert Bouilhet sein erstes Buch und dieser jenem alle seine vorzüglichsten Productionen gewidmet. Ein aufmerksamer Vergleich zeigt so starke Analogien zwischen den Poesien Bouilhet's und den Prosawerken Flaubert's, dass er das Auge schärft für die mehr zurückgedrängten Eigenthümlichkeiten des grösseren der Brüder. Eines der merkwürdigsten Gedichte Bouilhet's ist »Les fossiles«, das mit einem grossartigen Gemälde der vorsündfluthlichen Landschaften und des Thierlebens der Vorwelt beginnt, danach zugleich in poetischer Form und in wissenschaftlichem Geist die Entwicklungsgeschichte der Erde bis zum Auftreten des ersten Menschenpaares verfolgt und mit einer begeisterten Vision der Menschheit der Zukunft endet. Man findet diese Vorliebe für das Colossale und wunderlich Ungeheure bei dem Dichter »Salammbô's« wieder; man spürt in Flaubert's Ausgraben verschwundener Völkerschaften und Religionen denselben Hang zum Fossilen wie bei Bouilhet, und endlich zeigt sich deutlich bei Flaubert die hier und sonst überall bei dem Bruder sich offenbarende Neigung, Wissenschaft und Poesie zu einem Ganzen zu verschmelzen. Wie Flaubert in classische und semitische Litteraturen sich vertiefte, studirte Bouilhet chinesisch und behandelte chinesische Motive und Stoffe in einer langen Reihe von Gedichten. Beide wollten durch diese Forschungen und die poetischen Versuche, die aus ihnen hervorgingen, einem Zeitalter, das ihnen zuwider war, entschlüpfen, und beide folgten unbewusst dem Beispiel Goethes. Aber beide befriedigten ausserdem hierdurch denselben Antrieb: ihrem Leser die Relativität aller Lebensformen zu zeigen, ihm den Hochmuth darüber, »wie herrlich weit wir es gebracht«, auszutreiben und ihm eine Ahnung beizubringen, dass unsere Cultur, nach Jahrtausenden ausgegraben und geschildert, sich wenig vernünftiger als die alte oder ferne ausnehmen würde. Beide wollten die Vorwelt in ihrer historischen oder vorhistorischen Reinheit ohne störende moderne Zusätze hervortreten lassen, und scheuten vor keiner Schwierigkeit zurück. Als sei es an und für sich nicht schwer genug, die antediluvianische Welt mit ihrer sonderbaren Vegetation und formlos grossartigen Thiergestalten zu malen, hat Bouilhet sich jedes Ausdrucks beraubt, der an die modernen Ideen erinnern müsste. Er beschreibt die Pterodactylen, die Ichthyosauren und Plesiosauren, die Mammuths und Mastodonten ohne sie zu nennen; man kennt sie nur an ihrer Form, ihrer Gangart, ihrem Benehmen wieder. Ganz ähnlich hat Flaubert sich in »Salammbô« jeder noch so fernen Anspielung auf die moderne Welt enthalten; der Dichter scheint dieselbe nicht zu kennen oder vergessen zu haben, dass sie existirt. Die künstlerische Objectivität fällt hier mit der wissenschaftlichen zusammen. Und dieses ist bei beiden Dichtern die Hauptsache. Sie gehorchten, bewusst oder unbewusst, einer neuen Idee von dem Verhältniss der Poesie zur Wissenschaft. Sie haben das Ihrige beitragen wollen, eine Poesie zu schaffen, die ganz und gar auf wissenschaftlicher Grundlage aufgeführt sei. Der höchste Ehrgeiz Bouilhet's war eingestandenermassen der, ein Gedicht zu schreiben, das die Resultate der modernen Wissenschaft zusammenfasse und für unsere Zeit sein könne, was das bewunderungswürdige Poem des Lucretius »De rerum natura« für das Alterthum war. Flaubert hatte augenscheinlich einen ganz ähnlichen Traum. Aber der Wunsch wurde bei ihm durch seinen Hass gegen die menschliche Dummheit bestimmter ausgeprägt. Er verwirklichte ihn auf negative Weise und in zwei verschiedenen Formen, in seinem Werke: »Die Versuchung des heiligen Antonius«, in welchem er alle die religiösen und moralischen Systeme der Menschheit als wahnwitzige Hallucinationen des Einsiedlers Revue passiren liess, und in seiner letzten Erzählung »Bouvard und Pécuchet«, in welcher die zahllosen Irrthümer und Fehlgriffe zweier armer Dummköpfe dem Dichter Vorwand geben, eine Art Encyclopädie von all' den Gebieten des menschlichen Wissens zu liefern, an denen sie sich vergreifen. In der »Versuchung des heiligen Antonius« gab er die Tragödie des Menschengeistes; der menschliche Geist offenbart sich hier in grossartig wüthender und klagender Tollheit, ein König Lear auf der Erdenhaide. In »Bouvard und Pécuchet« zeichnete er die Caricatur, die naive Unwissenheit, die dilettantische Pfuscherei auf allen wissenschaftlichen und technischen Gebieten, in zwei alten lächerlichen Gesellen personificirt, denen er mit wilder Selbstironie manch einen Zug beilegte, der sein eigenes Zusammenleben mit Bouilhet characterisirte. Das Werk ist posthum und nur der erste Theil liegt vor (nur in annähernd vollendeter Gestalt); für Flaubert im höchsten Grade bezeichnend ist aber seine Absicht -- um das Bild der universellen Dummheit vollständig zu machen -- diesen Theil durch einen zweiten zu vervollständigen, in welchem die zwei armen Käuze, die als Schreiber ihre Carrière beginnen und beenden, den Einfall ausführen, die Eseleien all' der bekanntesten Schriftsteller (des Herrn Flaubert inclusive) abzuschreiben und in einem Band zu sammeln. Sowohl Flaubert wie Bouilhet wurden also in ihrem Arbeiten von dem mächtigen Trieb angespornt, in der einen oder der anderen, positiven oder negativen Form Resultate moderner Wissenschaft in ihre Werke niederzulegen; von ihnen beiden gilt, was Flaubert über Bouilhet gesagt hat, dass der Grundgedanke, das geniale Element seines Geistes eine Art Naturalismus war, der an die Renaissance erinnert. Aber während Bouilhet in mittelmässigen und traditionell romantischen Dramen seine beste Kraft verpuffte, hat Flaubert in keiner einzigen Arbeit der Ueberlieferung gehuldigt, vielmehr immer ein wissenschaftliches Studium als Vorbereitung zu seiner Dichtung gemacht und nur bei ihm ist deswegen das Verhältniss zwischen Wissenschaft und Poesie der Nerv und das Hauptinteresse der Werke. V. Es scheint fast, als ob in unsern Tagen die Zeit zu Ende geht, da der Romandichter sich eines schönen Tages vor einen Bogen weissen Papiers hinsetzte und die Ausführung seiner Dichtung begann. Flaubert wenigstens hat eine Methode der poetischen Production eingeleitet, welche diese stark der wissenschaftlichen nähert. Er verbrachte, um eine einzelne Aufklärung mit Rücksicht auf seinen Stoff zu gewinnen, ganze Wochen in den Bibliotheken, er ging Kupferstiche haufenweise durch, um mit Costüm und Haltung einer früheren Generation in's Reine zu kommen. Er las als Vorstudium zu »Salammbô« gegen hundert Bände alter und neuer Litteratur und unternahm darauf eine Reise nach Tunis, um die Landschaften und die Denkmäler des alten Karthago zu studiren. Ja, sogar um phantastische Landschaften, wie die in der »Legende von St. Julian«, zu malen, besuchte er Gegenden, die ihm ungefähr den Eindruck geben konnten, von dem er geträumt hatte. Sobald er den Plan zu einem Buch auf's Papier gebracht hatte, fing für jedes Capitel besonders das Suchen nach Urkunden an; jedes hatte seine Mappe, die sich nach und nach füllte. Er ging die ganze Sammlung des »Charivari« aus der Zeit Ludwig Philipp's durch, um den litterarischen Zigeuner Hussonet in »L'éducation sentimentale« mit Witzen im Stil der damaligen Zeit zu versehen. Er studirte nicht weniger als 107 Werke, um die dreissig Seiten über den Ackerbau in »Bouvard und Pécuchet« zu schreiben. Die Excerpte, die er für diesen letzten Roman gemacht hatte, würden gedruckt nicht weniger als fünf Octavbände bilden. Augenscheinlich hat er während all' dieser Vorstudien bisweilen seinen Roman aus den Augen verloren und ist einfach darauf ausgegangen, seine Einsicht zu vermehren. Seine Lust Kenntnisse zu sammeln, war fast so lebhaft als die, seinen seelischen Gehalt auszuformen -- oder richtiger, sie wurde es nach und nach. Wenn man seine Werke in chronologischer Ordnung überschaut, findet man ein immer deutlicheres Verlegen des Schwerpunktes aus dem dichterischen in das wissenschaftliche Element; oder mit anderen Worten, aus dem menschlichen, psychischen Elemente in geschichtliche, technische, wissenschaftliche Aeusserlichkeiten, die einen unverdienten Platz einnehmen. Flaubert war immer Gefahr gelaufen, ein langweiliger Autor zu werden, und er wurde es immer mehr. Er war von einer nach meiner Ansicht richtigen Empfindung ausgegangen, nämlich der, dass der Dichter in unseren Tagen kein blosser Unterhaltungsschriftsteller oder _maître de plaisir_ sein könne. Er verstand dies aber so, dass das poetische Schiff ohne wissenschaftlichen Ballast leicht umzuschlagen in Gefahr komme. Und nach und nach, wie seine Entwickelung vorwärts schritt, ergriff ihn die Leidenschaft dafür, Schwierigkeiten zu überwinden: er wollte das Schwerste schleppen, die grössten Steine tragen, und er belastete allmälig das Schiff mit so vielen und grossen Steinen, dass es zu schwer wurde, zu tief ging und auf den Grund lief. Sein letzter Roman ist nur eine mühselig zusammengereihte Folge von Auszügen aus ein Paar Dutzend verschiedenen Wissenschaften, fast unleserlich als poetisches Werk, nur psychologisch bemerkenswerth als folgerichtiger und endgültiger Ausdruck einer grossen Persönlichkeit und einer irrthümlichen ästhetischen Ansicht. Die allgemeine Richtung auf das Studium der Aeusserlichkeiten ist nicht Flaubert allein eigenthümlich; sie bezeichnet die ganze Gruppe von Geistern, der er angehört. Sie ging aus dem berechtigten Widerwillen gegen die rationalistische Auffassung des Menschen als abstractes Vernunftwesen und aus dem deterministischen Hang unseres Zeitalters hervor, das Seelenleben des Individuums aus klimatischen, völkerpsychologischen, physiologischen Bestimmungen erklären zu wollen. Man findet dies Streben verschieden nuancirt bei den bedeutendsten Zeitgenossen und Landsleuten Flaubert's, bei seinem Lehrer und Freund Théophile Gautier, bei Renan, bei Taine, bei den Brüdern Goncourt. Wie verschieden diese Geister auch sind, sie haben dies gemeinsame und sehr moderne Gepräge, und ausserdem fast alle noch die andere, nicht weniger moderne Eigenschaft, dass man in ihren künstlerisch ausgeführten Werken zu sehr die dahinter liegende Arbeit, die Mühe, mit der sie hervorgebracht wurden, verspürt, und bisweilen einen geradezu peinlichen Eindruck der Ueberladung hat. Renan, der eine Ausnahme zu bilden scheint, schildert nicht selten Sachen, die völlig ausserhalb des Rahmens liegen; Gautier ist wohl der einzige dieser grossen Künstler, aus dessen Geist Worte und Bilder zwanglos zu sprudeln scheinen, und selbst er liess selten das Wörterbuch und die Encyclopädie aus seiner Hand. Bei Flaubert verdrängte nach und nach die Encyclopädie die Gemüthsbewegung. Gautier war mit den Jahren immer weniger Dichter und immer mehr malerischer Beschreiber geworden; Flaubert wurde mit den Jahren immer mehr ein Gelehrter und ein Sammler. Werfen wir einen Blick über seine ganze Production von den ersten Anfängen bis zum Abschluss derselben, so sehen wir, wie das humane Element, das ursprünglich alles überrieselte und fruchtbar machte, nach und nach ebbt, sich zurückzieht und nur den trockenen, steinigen Boden historischer oder naturwissenschaftlicher Thatsachen hinterlässt. In »Madame Bovary« ist noch alles Leben. Die Beschreibungen sind selten und kurz. Sogar die Beschreibung Rouens, der Geburtsstadt des Verfassers, welche da vorkommt, wo Emma mit der Diligence von Yonville fährt um Léon zu treffen, ist in ganz wenigen Zeilen gegeben, und ausserdem durch die hinzugefügte Schilderung des Schwindels beseelt, der von diesen Tausenden zusammengehäufter Existenzen gegen Emma aufsteigt, als hätten alle diese Menschen ihr den Dampf der Leidenschaften, die sie bei ihnen vermuthete, entgegen gesandt. Die direkte Beschreibung der Stadt, das malerische Moment, ist hier ganz in Psychologie, in den Eindruck, den die grosse Stadt auf die Hauptperson macht, umgesetzt -- was bei Flaubert immer seltener wird. In »Salammbô« musste sich das Studium und das bloss Descriptive nothwendigerweise stärker geltend machen. Es gibt grosse Partien in diesem Werk, in welchem man eher ein Stück alter Kriegsgeschichte, oder eine archäologische Abhandlung als einen Roman zu lesen glaubt und die deswegen ermüdend wirken. Aber »Salammbô« war noch reich an allgemein menschlichen Motiven und Darstellungen. Man lese beispielsweise das Capitel durch, wo die Priester beschlossen haben, Moloch durch das Opfer des Erstgebornen jedes Hauses zu versöhnen, wo einige von ihnen an der Thür Hamilcar's anklopfen und dieser seinen Sohn, den kleinen Hannibal, aus ihrer Gewalt zu retten strebt. Die Stimmung, die Flaubert hier erzeugt hat, ist so wie sie in einer punischen Stadt gewesen sein muss, sobald ein solches Massenopfer angeordnet war, und der einzelne Vorgang hebt sich von dem Hintergrund dieser Stimmung unvergesslich hervor. Hamilcar stürzt in das Zimmer seiner Tochter hinein, erfasst mit der einen Hand Hannibal, mit der andern eine Schnur, die am Fussboden liegt, schnürt Hände und Füsse des Knaben zusammen, steckt ihm den Rest der Schnur als Knebel in den Mund und versteckt ihn unter einem Bett. Dann klatscht er in die Hände und verlangt ein Sklavenkind von 8 bis 9 Jahren mit schwarzen Haaren und hervortretender Stirn. Man bringt ihm ein armes, zugleich mageres und aufgedunsenes Kind, dessen Haut so grau wie der Lumpen um seine Lenden ist. Er verzweifelt; wie ist es möglich, dies Kind mit Hannibal zu verwechseln! Aber die Minuten sind theuer, und trotz seines Widerwillens fängt der stolze Suffet an, den elenden Sklavenjungen zu waschen, zu reiben und zu salben; er zieht ihm einen Purpur-Anzug an, befestigt denselben an seine Schulter mit Diamant-Agraffen, und das Kind lächelt, glücklich über all diese Pracht, und hüpft auf vor Freude. Er führt den Knaben mit sich fort. Da er aber unten im Hof mit verstelltem Schmerz ihn den Molochpriestern übergibt, zeigt sich hoch oben im dritten Stockwerk des Hauses zwischen den elfenbeinernen Pfeilern ein bleicher, ärmlich gekleideter, fürchterlich aussehender Mann mit ausgebreiteten Armen. »Mein Kind!« ruft er. »Es ist der Pflegevater des Kindes« beeilt sich Hamilcar zu sagen und stösst, wie um den Abschied zu kürzen, die Priester zum Thore hinaus. Als sie fort sind, sendet er dem Sklaven die besten Sachen aus der Küche, Fleisch, Bohnen und Eingemachtes; der Alte, der lange nichts gegessen hat, wirft sich darüber her und verschlingt es unter Thränen, und als Hamilcar Abends nach Hause kommt, sieht er im grossen Saal, wo das Mondlicht durch die Spalten der Kuppel hinabscheint, den Sklaven übersatt, halb berauscht, auf dem Marmor-Fussboden ausgestreckt, im tiefen Schlafe liegen. Er schaut ihn an und eine Art Mitleid ergreift ihn. Mit der Spitze seines Fusses schiebt er einen Teppich unter seinen Kopf. Hier ist die allgemein menschliche Essenz aus einer specifisch karthaginiensischen Situation gezogen. »Salammbô« machte, wie schon angedeutet, ein nicht geringes Aufsehen, bereitete aber nichtsdestoweniger der Lesewelt und der Kritik eine Enttäuschung. Man theilte nicht die Vorliebe des Verfassers für das Ungeheure und Flammende, man arbeitete sich mit Mühe durch die Schilderung antiker Belagerungsmaschinen und Sturmböcke; man bat ihn, einen neuen _roman de passion_, eine Liebeserzählung zu schreiben. Flaubert leistete endlich am Schluss des Jahres 1869 der Aufforderung Folge, indem er seinen Roman »L'education sentimentale« herausgab, sein eigenthümlichstes und tiefstes Werk, das ganz durchfiel. Von jetzt an erlebte er nur litterarische Niederlagen. Die Gunst des Publikums, die durch »Salammbô« erkaltet war, wich von diesem Zeitpunkt ab vollständig von ihm. Das neue Buch war eine neue Art von Buch. Der fast unübersetzbare Titel (etwa »Die Erziehung des Herzens«) ist nicht correct; denn Niemand und Nichts wird hier erzogen; dennoch handelt der Roman von einem Gefühlsleben. Aber er behandelt eher die gradweise fortschreitende Abstumpfung und schliessliche Exstirpation der Liebesempfindung als irgend eine Entwickelung derselben. Das Buch könnte richtiger heissen: Die Liebesillusion und ihre Ausrottung. Es ist einer der Hauptversuche Flaubert's, das reine Nichts in Gestalt der puren Illusion aus all' dem Sehnen und Trachten des gewöhnlichen Menschenlebens heraus zu destilliren. In »Salammbô« drehte sich Alles um einen heiligen Schleier der Göttin Tanit, Zaimpf genannt; dieser Schleier ist strahlend und leicht; die Stadt, von der er geraubt wird, verdirbt; der Mensch, der ihn trägt, ist so lange unverwundbar, aber wer sich darin gehüllt hat, muss zu Grunde gehen. Die Illusion ist wie dieser Schleier. Sie ist strahlend wie die Sonne und leicht wie die Luft, sie gibt die Sicherheit des Nachtwandlers, und sie verzehrt wie ein Nessushemd. Ich sagte, dass Flaubert an eine das Leben hindurch dauernde, nie befriedigte Liebesleidenschaft glaubte. Eine solche ist es, die er in der Liebe Frédéric's zu Madame Arnoux dargestellt hat. Sie ist verschämt, unterdrückt, gebändigt; sie macht sich Luft in einigen unverständigen Aufopferungen für ihren Gemahl und in einigen halb ausgesprochenen platonischen Versicherungen gemeinsamer Sympathien; sie führen zu nichts, zu einem Versprechen, das zurückgenommen wird, zu einigen Versuchen, die fehl schlagen, und endlich, nach dem Verlauf von zwanzig Jahren, zu einem unfruchtbaren Geständniss und einer einzigen Umarmung, aus welcher der Liebhaber zurückschreckt, da die Geliebte unterdessen alt geworden ist und ihm mit ihren weissen Haaren Schrecken einflösst. Das Eigenthümliche an diesem Roman ist, in noch weit mehr hervortretender Weise als bei »Madame Bovary«, dass er keinen Helden und übrigens ebenso wenig eine Heldin hat. In dem veralteten Ausdruck »Held« liegt das ganze angeerbte Herkommen der altmodigen Poesie. Seit Jahrhunderten hatten die Schriftsteller mit einem Helden paradirt; er war stark und schön, gross in seinen Tugenden oder Lastern, ein Beispiel zur Nachahmung oder zur Abschreckung -- hier ergriff der Dichter einen jungen Mann der Art, wie die meisten jungen Männer sind und zeigte, ohne Missbilligung oder Bedauern zu äussern, mit welchem Nichts sein Leben hinging und wie die Enttäuschungen auf ihn herab hagelten, nicht grosse, seltene Enttäuschungen -- er erlebt überhaupt nichts Grosses und Seltenes -- nein, die kleinen Enttäuschungen, die das Leben ausmachen. Eine lange Kette kleiner Enttäuschungen mit einzelnen grossen Enttäuschungen dazwischen, das ist für Flaubert die Definition des regulären Menschenlebens. Doch der Reiz des Buches beruht nicht hauptsächlich auf der durchgeführten melancholischen Grundstimmung. Der Hauptreiz ist für mich die Anmuth und die Keuschheit, mit der die Feder geführt ist, wo Frédéric's grosse Liebe geschildert wird. Das tiefe Verständniss für die Schwärmerei des jungen Mannes weist auf Selbsterlebtes zurück. Nirgends hat Flaubert mehr direct aus seiner eigenen Seele geschrieben und weniger aus den fünf oder sechs künstlichen Seelen geschöpft, die er wie jede kritisch angelegte und kritisch schaffende Natur sich zu geben vermochte. Frédéric liebt ohne Hintergedanken, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, unbedingt, mit einem Gefühl, das der Dankbarkeit ähnlich ist; mit einem Bedürfniss sich hinzugeben und sich der Geliebten zu opfern, das um so viel stärker ist, weil es keine Besänftigung findet. Aber die Jahre gehen, und ein Gefühl ähnlicher Art entwickelt sich bei der geliebten Frau. Es ist unter ihnen eine ausgemachte Sache, dass sie sich nie angehören werden; aber ihr Geschmack, ihre Urtheile stimmen überein: »Oft brach der von ihnen, der dem Andern zuhörte, aus: _Ich auch!_ und kurz danach kam der Andere an die Reihe zu sagen: _Ich auch!_« Und sie träumen, dass wenn die Vorsehung gewollt hätte, wäre ihr Leben ein von Liebe allein erfülltes, »etwas Süsses, Glänzendes und Erhabenes wie das zitternde Blinken der Sterne« geworden. »Fast immer hielten sie sich in freier Luft in der Veranda auf, und die gelblichen Baumkronen des Herbstes breiteten sich vor ihnen ungleichförmig bis zum Rande des bleichen Himmels aus; oder sie sassen in einem Pavillon am Ende der Allee, dessen einziges Möbel ein mit grauer Leinwand überzogenes Canapé war. Schwarze Punkte befleckten den Spiegel; die Wände athmeten einen moderigen Geruch aus -- und sie blieben da, von sich selbst, von Andern, gleichviel wovon, plaudernd in einem gegenseitigen Entzücken. Bisweilen sahen die Sonnenstrahlen, die sich durch die Persiennen von der Decke bis zum Fussboden den Weg bahnten, aus, wie die Saiten einer grossen Leier«. Diese Leier -- das war, glaub' ich, die alte, die echte; die Leier aus der Zeit der Troubadoure und aus der Jugend Flaubert's, und es scheint Einem, als habe er eben hier ihre Saiten geschlagen. »L'éducation sentimentale« erschien, als das Kaiserthum in die Epoche der letzten Krisen trat. Der Absatz war mässig. Alle Zeitungen erklärten das Buch für langweilig, ausserdem natürlich für unmoralisch. Am schmerzlichsten für Flaubert war das Schweigen, das folgte. Die Arbeit von sieben Jahren schien verloren. Die Ursache war, dass er zu viel gearbeitet hatte. Er hatte um das Paris der Vierziger Jahre zu schildern, alte Bilder und alte Pläne studirt, verschwundene Strassen reconstruirt, mehrere Tausende von Zeitungen mit ihren Referaten über Clubreden und ihren Beschreibungen des Strassenlebens und der Strassenkämpfe durchforscht. Er wollte absolut ein genaues Zeitbild geben und machte zu Viel daraus. Der historische Apparat wirkt ermüdend. Sein Hass gegen die Dummheit führte ihn hier wie so oft zu weit. Es hatte schon in seiner Jugend zu den Belustigungen gehört, die er und Bouilhet gemeinsam trieben, so treue Copien wie möglich von offiziellen Reden im allgemeinen, von Gelegenheitsgedichten bei der Einweihung einer Glocke oder der Beerdigung eines Monarchen, von Festreden, Volksreden jeglicher Art zu schreiben. Man fand ganze Packete solcher Sachen nach Bouilhet's Tode. In »Madame Bovary« hatte Flaubert sich damit belustigt, die ganze Rede des Bureauchefs bei der Ackerbau-Ausstellung mit ihrer bestellten Begeisterung und ihren stilistischen Naivetäten wiederzugeben; hier lieferte er in extenso und noch dazu spanisch eine von einem »Patrioten aus Barcelona« im Jahre 1848 in einer Volksversammlung zu Paris gehaltene liberale Rede. Die Rede ist als Beispiel der reinen Freiheits- und Fortschrittsphrase unübertrefflich, aber sie und die ganze Versammlung, in der sie vorgetragen wird, haben zu wenig mit den Hauptpersonen zu thun. Das Zeitbild breitet sich zu sehr aus; hier wie in »Salammbô« ist das Fussgestell zu gross für die Figuren geworden. Flaubert wird es ohne Zweifel selbst empfunden haben; denn schon während er an »Salammbô« arbeitete, schrieb er missmuthig an einen Freund: »Das Studium des Costüms verleitet uns die Seele zu vergessen. Ich würde das halbe Ries Papier, das ich nun in fünf Monaten mit Aufzeichnungen gefüllt habe, dafür geben, um nur in drei Secunden von den Leidenschaften meiner Personen mich wirklich bewegt zu fühlen«. Aber er vermochte nicht die Schilderung der Umgebungen, der allgemeinen Stimmungen und Zustände gehörig zurück zu drängen. Man fühlt bei ihm, dass das Studium immer dichter in der Spur der Einbildungskraft, wie in der nordischen Mythologie das Ungeheuer Mondgarm in der des Mondes folgt, und wie der arme Mond immer näher daran ist, verschlungen zu werden. Die drei Erzählungen: »Ein einfaches Herz«, »Die Legende von St. Julian, dem Gastfreien« und »Herodias«, waren eine kleine Trilogie von Meisterwerken: eine Novelle der Gegenwart, eine Legende des Mittelalters und ein Gemälde aus dem Alterthum. »Herodias« gab in dem Stil »Salammbô's« ein düsteres, kräftiges Bild von Palästina zur Zeit Johannes des Täufers, aus welchem das neugierige und schlaffe Prassergesicht des Vitellius, in die gebrochenen Augen des abgehauenen Johanneskopfes hineinstierend, dem Leser entgegen leuchtet. »Die Legende von St. Julian« ist das Muster einer Wiedergeburt des mittelalterlichen Geistes. Kein Mönch hat eine echtere christliche Legende geschrieben als dieser Atheist. Nichts kann strenger im Legendenstil sein als der Schluss von dem aussätzigen Bettler, der das letzte Stück Speck und den letzten Bissen Brod Julian's verzehrt, dessen Messer, Teller und Becher befleckt und der mit seinen unheimlichen Geschwüren zuletzt nicht nur auf Julian's Lager sich ausstreckt, sondern die Forderung an ihn stellt, er solle ihn mit seinem nackten Körper erwärmen. Da der ehemalige Prinz in der Demuth seines Herzens sich erniedrigt, dies zu thun, umarmt ihn der Aussätzige mit Kraft, und in demselben Augenblick verwandelt sich die Gestalt des Bettlers; die Augen werden sternenklar, sein Haar wird lang und leuchtend wie Sonnenstrahlen, sein Athem duftend wie Rosen; das Dach der Hütte fliegt ab, und Julian schwebt in den blauen Raum hinauf, Gesicht an Gesicht mit Unserm Herrn Jesus Christus, der ihn in den Himmel hinaufführt. In »Ein einfaches Herz« hat Flaubert so zu sagen die Geschichte des alten prämiirten Dienstmädchens aus »Madame Bovary« erzählt. Es ist eine rührende Erzählung von einer alten, von Allen ausgenutzten und verlassenen Magd, die zuletzt die ganze Liebe ihres Herzens auf einen Papagei wirft; sie bewundert diesen Papagei über alles: er scheint ihr in ihrer Einfalt dem heiligen Geist als Taube auf dem Altargemälde der Dorfkirche ähnlich, und nach und nach füllt er in ihrem Bewusstsein den Platz des heiligen Geistes aus. Der Vogel stirbt und sie lässt ihn ausstopfen. Aber in ihrer Todesstunde sieht sie ihn riesengross mit ausgebreiteten Flügeln sie empfangen und in das Paradies hinauftragen. Dies ist die tief-wehmüthige Parodie des Schlusses der Legende. Hier wie dort Vision und Illusion; bei der Schwäche unseres Wesens, der Fähigkeit des Getäuschtwerdens und dem Bedürfniss des Trostes, ist -- scheint Flaubert sagen zu wollen -- uns im Versinken der eine Strohhalm so gut wie der andere. Die drei Erzählungen hatten keinen Erfolg. In ihnen hatte das Studium noch einen Schritt vorwärts auf Kosten des Lebens gemacht. Hier waren erstens fast keine Gespräche, keine Repliken mehr, die Erzählungen waren eher Inhaltsangaben als Novellen; man fühlte, dass der Dichter begonnen hatte, die eigentlich poetische Gestaltung zu verschmähen. Ferner breitete sich die Gelehrsamkeit zu sehr aus. Ein erstaunliches Studium war z. B. in die Legende niedergelegt. Man ahnt, wie viele Legenden Flaubert gelesen hat, um den Charakter so genau wiedererzeugen zu können. Aber kein Versuch ist gemacht, die Resultate dieser Gelehrsamkeit in Perspective vor die Augen des modernen Lesers zu stellen. Es sind weder Wege noch Stege in den Urwald der Legendenwelt gehauen; er steht da festgewachsen und sperrt dem Blick die freie Bahn. Die Erzählung scheint nicht auf gewöhnliche moderne Leser, sondern auf solche des dreizehnten Jahrhunderts oder auf verfeinerte Kenner des unsrigen berechnet. VI. Das Jahr 1874 brachte endlich das Werk, das Flaubert selbst als sein Hauptwerk betrachtete, an welchem er zwanzig Jahre gearbeitet hatte und das die schärfste Definition seines Geistes lieferte -- ein verblüffendes Werk. Als es zuerst ruchbar wurde, dass ein französischer Romanschriftsteller »Die Versuchung des heiligen Antonius« geschrieben hatte, hegten gewiss neun Zehntel des Publikums keinen Zweifel, dass der Titel scherzhaft oder symbolisch aufzufassen sei. Wer konnte ahnen, dass das Werk in vollem Ernst die Versuchungsgeschichte des alten ägyptischen Einsiedlers behandelte. Etwas Aehnliches hatte kein Romanschriftsteller und kein Dichter überhaupt je versucht. Zwar hatte Goethe »Die classische Walpurgisnacht« geschrieben, Byron im zweiten Act von »Cain« ein Vorbild für Einzelnheiten geliefert, Turgeniew in »Visionen« in ganz kleinem Rahmen einen entfernt verwandten Stoff mit Meisterschaft behandelt; aber ein Drama in sieben Abtheilungen, das aus Einem meilenlangen Monolog bestand, oder das richtiger nur die punktuelle Darstellung dessen war, was in einer Schreckensnacht in dem Gehirn eines einzelnen hallucinirten Menschen vor sich ging -- so ein Buch war nie früher in der Welt geschrieben worden. Und doch hatte dieses Werk, verfehlt wie es ist, in seiner schwermüthigen Monotonie eine stille Grösse und ein völlig modernes Gepräge, wie nur wenige Dichterwerke der französischen Litteratur. Der heilige Antonius steht an der Schwelle seiner Hütte auf einem Berg in Aegypten. Ein langes Kreuz ist in die Erde gepflanzt; eine alte gewundene Palme neigt sich über den Abgrund hinaus, der Nil bildet einen See am Fusse des Berges. Die Sonne sinkt. Der Einsiedler ist von einem in Fasten, Arbeit und Selbstquälereien verbrachten Tag ermattet; so fühlt er beim Anbruch des Dunkels seine Seelenstärke abnehmen. Eine träumerische Sehnsucht nach der Aussenwelt füllt sein Herz. Bald wollüstige, bald stolze, bald idyllisch lächelnde Erinnerungen locken und quälen ihn. Zuerst sehnt sich Antonius nach seiner Kindheit zurück, nach Ammonaria, einem jungen Mädchen, das er einmal geliebt hat; er gedenkt seines liebenswürdigen Schülers Hilarion, der ihn verlassen hat; er verflucht sein einsames Leben. Die Zugvögel, die über seinem Kopf hinwegziehen, erwecken seinen Wunsch, wie sie davon fliegen zu können. Er bedauert sein Loos, fängt an zu klagen und zu ächzen. Warum ist er nicht ein ruhiger Mönch in der Zelle geworden, warum hat er nicht das friedliche und nützliche Leben eines Priesters gewählt. Er wünscht, dass er Grammatiker oder Philosoph, Zöllner an einer Brücke, ein reicher, verheiratheter Kaufmann, oder ein tapferer, lebenslustiger Soldat sei; seine Körperkraft hätte dann Anwendung gefunden. Er verzweifelt über seine Lage, bricht in Thränen aus, sucht Trost und Erbauung in der heiligen Schrift. Aber in dem Leben der Apostel schlägt er die Stelle auf, wo es Petrus erlaubt wird, alle Thiere, reine und unreine, zu essen, während er selbst sich in strenger Askese abquält; in dem alten Testament liest er eben, wie den Juden das Recht gegeben wird, all' ihre Feinde zu tödten, ein grosses Blutbad an ihnen zu veranstalten, während er seinen Feinden vergeben soll; er liest von Nebucadnezar und beneidet seine Feste -- von Ezechias und schaudert vor Begierde zusammen, wenn er an all' seine kostbaren Salben und seine goldnen Schätze denkt, -- von der schönen Königin von Saba und fragt sich, wie sie wohl hoffen könnte, den weisen Salomo in Versuchung zu führen -- und es scheint ihm, dass die Schatten, welche die zwei Arme des Kreuzes auf die Erde werfen, sich einander nähern wie zwei Hörner. Er ruft Gott an, und die beiden Schatten nehmen wieder ihren alten Platz ein. Vergeblich sucht er sich zu demüthigen; er gedenkt mit Stolz seines langen Märtyrerthums, sein Herz schwillt wenn er sich der Ehre erinnert, die ihm von allen Seiten erwiesen worden ist, selbst der Kaiser hat ihm drei Mal geschrieben; dann sieht er, dass sein Wasserkrug leer, sein Brod von Chakalen verzehrt worden ist; Hunger und Durst nagen an seinem Eingeweide. Er erinnert sich des Neides und des Hasses, mit dem ihm die Kirchenväter auf dem Concil zu Nicäa entgegen traten, und seine Seele schreit nach Rache. Er träumt von den vornehmen Frauen, die ihn früher so oft hier in der Wüste aufsuchten, um ihm zu beichten und ihn anzuflehen, bei ihm, dem Heiligen, bleiben zu dürfen. Er starrt so lange diesen Träumen nach, dass sie ihm verwirklicht erscheinen. Er sieht die feinen Damen aus der Stadt, die in ihren Sänften getragen sich nähern, er löscht seine Fackel aus um die Gesichter zu vertreiben, und schaut jetzt erst recht an dem dunkeln Nachthimmel die Visionen wie Scharlachbilder auf Ebenholz an ihm in wirbelnder Hast vorbeifahren. Stimmen, die aus dem Dunkel heraustönen, bieten ihm Frauen, Haufen Goldes, herrliche Gerichte an. Dies ist der Anfang der Versuchung, der Durst der thierischen Triebe. Dann träumt er, dass er der Vertraute des Kaisers, der erste Minister ist, der alle Macht hat. Der Kaiser krönt ihn mit seinem Diadem. Er rächt sich grausam an seinen Feinden unter den Kirchenvätern, watet in ihrem Blut und plötzlich befindet er sich mitten in einem Fest bei Nebucadnezar, wo die Speisen und Getränke Berge und Ströme bilden. Gesalbt und mit Edelsteinen geschmückt sitzt der Kaiser auf seinem Thron, und in der Entfernung liest Antonius an seiner Stirn seine hochmüthigen, hochfliegenden Gedanken. Er durchschaut ihn so vollständig, dass er plötzlich selbst Nebucadnezar wird, und in all' dem Schwelgen fühlt er das Bedürfniss wie ein Thier zu sein; er wirft sich auf alle Viere hinunter und brüllt wie ein Stier; dann kratzt er seine Hand an einem Stein und erwacht. Er peitscht sich, um sich für diese Vision zu bestrafen so lange bis der Schmerz eine Wollust wird, und sofort erscheint vor ihm die Königin von Saba, mit Gold und Diamanten bedeckt, das Haar blau gepudert, und bietet sich ihm an mit wilder Koketterie; sie ist alle Frauen in einer; er weiss, dass wenn er ihre Schulter mit einem Finger berührte, würde ein Feuerstrom durch seine Ader schiessen; sie steht da, duftend von allem Wohlgeruch des Orients, ihre Worte klingen wie sonderbar bestrickende Musik, und er streckt in brennender Begierde seine Arme aus -- aber er beherrscht sich und weist sie hinweg. Sie und ihr ganzes Gefolge verschwinden. Dann nimmt der Teufel die Gestalt seines alten Schülers Hilarion an, um ihn in seinem Glauben zu erschüttern. Der kleine, welke Hilarion macht ihn zu seiner Angst darauf aufmerksam, dass er in der Phantasie sich der Genüsse bemächtigt, auf die er in der Wirklichkeit versagt, erklärt ihm, dass Gott kein Moloch sei, der den Lebensgenuss verpöne, dass die Bestrebungen, Gott zu verstehen, mehr werth seien als alle Selbstquälereien. Er zeigt ihm zuerst die Widersprüche zwischen dem alten und neuen Testament, darauf die Widersprüche des neuen. Und Hilarion wächst. So taucht denn in Antonius' Gehirn die Erinnerung auf an all' die Ketzereien, die er in Alexandria und anderswo gehört und gelesen und für eine Zeit siegreich überwunden hat. Die hundert und aber hundert Ketzereien der ersten christlichen Secten, Ansichten von denen die eine ungeheuerlicher als die andere ist, werden von den Ketzern selbst in sein Ohr gebrüllt. Sie bellen ihn an wie Hyänen. Jeder von ihnen speit seine Tollheit über ihn aus. Hysterische Frauen und Geliebte der Märtyrer werfen sich heulend über die Asche der Todten. Antonius sieht Ketzer, die sich entmannen, Ketzer, die sich selbst verbrennen. Apollonius von Tyrus offenbart sich ihm als Mirakelthäter, der in nichts hinter Christus zurücksteht. Und Hilarion wächst immer mehr. Nach den Ketzern folgen die Götter der verschiedenen Religionen in einem ungeheuren Aufzug, von den abscheulichen und grotesken Steingöttern und Holzfetischen der ältesten Zeiten bis zu den Blutgöttern des Morgenlandes und den Schönheitsgöttern Griechenlands, alle fahren sie vorbei, um jeder für sich mit einem Klagegeschrei den Purzelbaum hinunter in das grosse Nichts zu machen. Er sieht Götter, die in Ohnmacht fallen, andere, die fortgewirbelt werden, wieder andere, welche zerquetscht, zerrissen, in ein schwarzes Loch hinuntergestürzt werden, Götter, die ertrinken, die sich in Luft auflösen oder die sich tödten. Unter ihnen ragt Buddha empor, der in allem, was er über sich erzählt, die unheimlichste Aehnlichkeit mit dem Erlöser hat. Zuletzt machen Crepitus, jener römische Gott der Verdauung, und Jehovah, der Gott der Heerscharen, den Sprung in den Abgrund. Dann tritt eine fürchterliche Stille, eine tiefe Nacht ein. »Sie sind alle fort« sagt Antonius. »Ich bin übrig« antwortet eine Stimme. Und Hilarion steht vor ihm, noch weit grösser, verklärt, schön wie ein Erzengel, leuchtend wie eine Sonne und so gross, dass Antonius den Kopf zurückbeugen muss, um ihn zu sehen. »Wer bist Du?« Hilarion antwortet: »Mein Reich ist so gross wie die Welt und meine Begier hat keine Grenzen. Ich gehe immer vorwärts, Geister befreiend und Welten wägend, ohne Furcht, ohne Mitleid, ohne Liebe und ohne Gott. Man nennt mich die Wissenschaft«. Antonius schreckt zurück: »Du bist eher der Teufel!« »Willst Du ihn sehen?« Ein Pferdefuss zeigt sich, der Teufel nimmt den Heiligen auf seine Hörner und trägt ihn durch den Raum, durch den Himmel der modernen Wissenschaft, wo die Weltkörper zahlreich wie Staubkörner sind. Und das Firmament erweitert sich mit den Gedanken des Antonius. Höher, höher! ruft er. Die Unendlichkeit offenbart sich seinem Blick. Aengstlich fragt er den Teufel nach Gott. Dieser antwortet mit neuen Fragen, mit Zweifeln: »Was Du Form nennst, ist vielleicht nur ein Irrthum Deiner Sinne; was Du Substanz nennst, nur eine Einbildung Deines Gedankens. Wer weiss, ob nicht die Welt ein ewiger Strom der Dinge und Begebenheiten, der Schein das einzige Wahre, die Illusion die einzige Wirklichkeit ist!« -- »Bete mich an«, ruft der Teufel plötzlich, »und verfluche das Blendwerk, das Du Gott genannt hast!« Er verschwindet und Antonius erwacht auf dem Rücken liegend am Rande seines Felsens. Aber seine Zähne klappern, er ist krank, er hat weder Brod noch Wasser mehr in seiner Hütte, und die Hallucinationen fangen von neuem an. Er verliert sich in dem Gewimmel der Fabelthiere, der phantastischen Ungeheuer der Erde. Er befindet sich an einer Küste unter den Bewohnern und Pflanzen des Meeres und des Landes; er kann Pflanzen und Thiere nicht mehr unterscheiden; die Schlingpflanzen winden sich wie Schlangen; er verwechselt die Welt der Pflanzen und der Steine mit der Menschenwelt; die Kürbisse sehen wie Busen aus; der babylonische Baum Dedaim trägt menschliche Köpfe als Früchte; Kieselsteine sehen Gehirnschalen ähnlich, Diamanten glänzen wie Augen. Er fühlt die pantheistische Sehnsucht nach Verschmelzung mit der Allnatur, und dieses ist sein letztes Geschrei: »Ich möchte fliegen, schwimmen, bellen, brüllen, heulen. Ich möchte Flügel, einen Schuppenpanzer, eine Schale, einen Schnabel haben, meinen Körper winden, mich theilen, in Allem sein, wie ein Geruch herausströmen, wie eine Pflanze mich entfalten, wie ein Ton klingen, wie ein Licht glänzen, mich unter allen Formen verbergen und jedes Atom durchdringen!« Die Nacht ist zu Ende. Es war nur ein neues Alpdrücken. Die Sonne steigt und in ihrer Scheibe strahlt ihm Christi Gesicht. -- Dann die letzte discrete Ironie des Dichters: Antonius macht das Zeichen des Kreuzes und fängt sein durch die Visionen unterbrochenes Gebet wieder an. In diesem Gedicht hat man Flaubert ganz mit seinem schweren Blut, seiner düsteren Phantasie, seiner schroff sich aufdrängenden Gelehrsamkeit, und seinem Bedürfniss, alte und neue Illusionen, alten und neuen Glauben und Aberglauben zu nivelliren. Die fast brutale Gewaltsamkeit seines Naturells offenbart sich, wo er den Gott Crepitus vor den Gott Jehovah einschiebt. Dass er die Legende von dem heiligen Antonius wählte, um sein Herz zu erleichtern und der Menschheit bittere Wahrheiten zu sagen, beruht darauf, dass er in diesem Stoff das Alterthum und das Morgenland, das er liebte, vorfand. Er konnte hier die grossen Städte und die Landschaften Aegyptens als Hintergrund benutzen, leuchtende Farben und riesige Formen verschwenden. Und hier malte er nicht mehr die Ohnmacht und die Dummheit einer Gesellschaft, sondern einer Welt; hier zeigte er -- ganz unpersönlich -- der Menschheit, wie sie zu jeder Stunde ihres Lebens bis über die Knöchel in Schmutz und Blut gewatet sei, und wies auf die Wissenschaft -- die wie der Teufel gefürchtet wird -- als auf die einzige Rettung hin. Die Idee war eben so gross wie neu; aber leider steht die Ausführung keineswegs auf der Höhe des Plans. Das Buch wird von dem dazu verwendeten Material zu Boden gedrückt. Es ist kein poetisches Werk, halbwegs eine Theogonie, halbwegs ein Stück Kirchengeschichte, und all' dies ist in der Form einer Psychologie des Wahnwitzes gegeben. Es findet sich darin ein Aufzählen von Einzelheiten, das wie das Besteigen einer fast senkrechten Bergwand ermüdet; gewisse Partien sind nur dem Gelehrten vollkommen verständlich und für das einfachere Publikum fast unleserlich. Der grosse Schriftsteller war allmälig in der abstracten Gelehrsamkeit und in dem abstracten Stil aufgegangen. »Es war ein trauriger Anblick«, hat Emile Zola treffend gesagt, »dies so mächtige Talent wie die Gestalten der antiken Mythologie sich versteinern zu sehen. Langsam, von den Füssen bis zum Gürtel, von dem Gürtel bis zum Kopf wurde Flaubert ein Marmor-Standbild«. VII. Ich habe es aufgeschoben, von einer der letzten Visionen des heiligen Antonius zu sprechen, weil sie mir die merkwürdigste von allen scheint und ganz sicher die selbsteigene Vision des Dichters war. Nachdem alle Götter verschwunden sind und die Reise durch den Himmelsraum ihr Ende erreicht hat, sieht Antonius auf dem andern Nilufer die Sphinx, die ihre Klauen ausstreckt und sich auf den Bauch legt. Aber springend, fliegend, bellend, durch die Nase Feuer blasend und die Flügel mit dem Drachenschwanz schlagend, umkreist sie die Chimäre. Was ist die Sphinx? Was anders als das dunkle Räthsel, das an die Erde genagelt ist, die ewige Frage, die grübelnde Wissenschaft! Was ist die Chimäre? Was anders als die geflügelte Einbildungskraft, die den Raum durcheilt und die Sterne mit ihren Flügelspitzen berührt! Die Sphinx (französisch männlichen Geschlechts) sagt: »Stehe still, Chimäre! Laufe nicht so schnell, fliege nicht so hoch, belle nicht so stark. Höre auf, mir Deine Flamme in's Gesicht zu blasen, Du schmelzest doch nicht meinen Granit«. Die Chimäre antwortet: »Ich stehe nie still, Du kannst mich nicht ergreifen, Du fürchterliche Sphinx«. -- Die Chimäre galoppirt durch die Corridore des Labyrinthes, fliegt über das Meer, beisst sich fest in die segelnden Wolken. Die Sphinx liegt unbeweglich und zeichnet mit ihrer Klaue Alphabete in den Sand, denkt und rechnet nach, stiert, während das Meer fluthet, das Getreide wogt, Karawanen vorbeiziehen und Städte zusammenstürzen, mit ihrem festen Blick in den Horizont hinaus. Dann ruft sie: »O Phantasie! Erhebe mich auf Deinen Flügeln aus meiner tödtlichen Langeweile heraus!« Und die Chimäre antwortet: »Du Unbekannter! ich bin in Deine Augen verliebt; wie eine brünstige Hyäne kreise ich um Dich, o umarme mich, befruchte mich!« Die Sphinx erhebt sich. Aber die Chimäre entflieht, aus Schrecken, unter dem Steingewicht zerschmettert zu werden. -- »Unmöglich!« seufzt die Sphinx und versinkt in den tiefen Sand. Ich sehe in dieser Scene das letzte Bekenntniss Flaubert's, seine erstickte Klage über das Gebrechen seines ganzen Lebenswerkes und dieses Hauptwerkes im besonderen. Die Sphinx und die Chimäre, die Wissenschaft und die Poesie, begehrten sich bei ihm, suchten sich immer wieder, umkreisten mit flammender Sehnsucht und Brunst einander; aber die rechte Befruchtung der Poesie durch die Wissenschaft gelang ihm nie. Nicht dass sein Grundgedanke ungesund oder unrichtig war. Im Gegentheil. Die Zukunft der Poesie ist da, das glaub' ich gewiss; denn da ist ihre Vorzeit. Die grössten Dichter, ein Aeschylos, ein Dante, ein Shakespeare, ein Goethe haben alles Wesentliche gewusst, was man zu ihrer Zeit wusste und haben ihr Wissen in ihre Poesie niedergelegt. Zwar haben Gelehrsamkeit und wissenschaftliche Bildung an und für sich keinen poetischen Werth. Sie können nie und nimmer dichterisches Gefühl und künstlerische Gestaltungskraft _ersetzen_. Wo die poetische Begabung aber vorhanden ist, da wird der Blick durch Einsicht in die Gesetze der Natur und der menschlichen Seele geschärft und durch das Studium der Geschichte erweitert. Nur ist es ohne Zweifel in unserem Jahrhundert, wo die moderne Wissenschaft in allen Richtungen neu geschaffen worden, schwieriger als je, ohne überwältigt zu werden, den Wissensstoff zu umspannen, und Flaubert besass nicht die ursprüngliche Harmonie des Geistes, die das schwere leicht macht und die tiefen Gegensätze der Ideenwelt versöhnt. »La tentation de Saint-Antoine« wurde in Paris mit einem Boulevardwitz abgefertigt. Nur wenige hatten Geduld um sich in das Buch zu vertiefen, und das grosse Publikum war bald mit seinem Urtheil fertig: das Buch war tödtlich langweilig. Wie konnte der Verfasser meinen, dass solches die Pariser amüsire! Nein, Madame Bovary, das war etwas anderes! Warum wiederholte er sich nicht (wie alle schlechten Schriftsteller), warum schrieb er nicht zehn neue »Madame Bovary«? Er zog sich nach Croisset zurück, sperrte sich, tief verletzt, wie er war, Monate lang ein und fing allmälig wieder an zu arbeiten. Er wurde alt. Er verlor durch den Tod seine älteren Freunde, George Sand, Théophile Gautier, seinen Bruder, seine Jugendfreunde und Gesinnungsgenossen, Louis Bouilhet, Feydeau, Jules de Goncourt u. s. w. Er wurde einsam. Er wurde kränklich, konnte zuletzt nicht das Gehen vertragen, ja nicht einmal vertragen, Andere gehen zu sehen. Er wurde arm. Er verlor sein Vermögen, das er aus Güte seiner einzigen Nichte anvertraut hatte und das ihr Mann auf's Spiel setzte, und er wurde in den späteren Jahren seines Lebens von Nahrungssorgen gequält. Er kam zuletzt selten mehr nach Paris; ja er ging nicht mehr in seinen Garten hinaus, ging nur hin und her zwischen seinem Schlafzimmer und seinem Arbeitszimmer und hinunter um seine einsamen Mahlzeiten einzunehmen. Er starb im Jahre 1880 und wurde in Rouen begraben. Das Gefolge war klein, nur wenige Freunde aus Paris gaben das Geleite. Aus Rouen folgte fast Niemand, denn er war der Mehrzahl der Einwohner völlig unbekannt, und als unmoralischer und irreligiöser Schriftsteller der Minderzahl, die ihn kannte, verhasst. EDMOND UND JULES DE GONCOURT. (1882.) I. Eines Tages im Juni 1870 bewegte sich in Paris ein nicht sehr grosses Trauergefolge zu Fuss von einem Hause in Auteuil zum Kirchhof Montmartre. Man las echte Trauer in den Gesichtern der Männer, die den kleinen Zug bildeten, der aus Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und einigen Verwandten bestand. Doch unter den Leidtragenden war Einer, der unmittelbar hinter dem Sarge ging, und für den der Gang vom Trauerhause bis zum Grabe wie der Gang des Verurtheilten vom Gefängniss zum Schaffot zu sein schien, Einer, dessen edles Gesicht in seinem Schmerz wie versteinert war, dessen Augen, von Thränen geblendet, nichts sahen, dessen hohe Gestalt, obwohl von dem Arm eines Freundes unterstützt, jeden Augenblick schwankte, »als hätte er sich mit den Füssen in dem Zipfel des Leichentuchs verwickelt«. In dem Sarge lag der 39jährige Jules de Goncourt, Radierer, Aquarellmaler, Geschichtsschreiber und Romandichter. Edmont de Goncourt war durch den Tod seines einzigen Bruders, der ihm viel mehr gewesen war, als der eine Bruder sonst dem andern zu sein pflegt, um zehn Jahr älter geworden. Er hatte am Tage zuvor an dem Todtenbett gestanden. Die Stirn des Verstorbenen hatte sich gefaltet; seine Augen hatten sich wieder geöffnet, sein gläserner Blick schien eine erschreckende Sehnsucht, ein unsägliches Erstaunen, eine qualvolle Entrüstung auszudrücken über das Schicksal, das mit all' seinen Hoffnungen auf endliche Anerkennung und späten Ruhm auch die Bande einer brüderlichen Freundschaft zerschnitt, die ihresgleichen selten gehabt hat. Während der Tod sonst gewöhnlich die Gesichter, die er berührt, mit einer Maske versöhnter Ruhe deckt, hatte er von den so feinen und regelmässigen Zügen Jules de Goncourt's nicht einen bitteren Ausdruck auslöschen können. Der Todte auf seinem Lager schien über den Lebendigen zu trauern, der verlassen zurückblieb. Und das ganze Leben der beiden Brüder glitt an dem inneren Auge Edmonds vorüber, während er über die Leiche gebeugt dastand: die Gestalt des tapferen Vaters, eines der jüngsten höheren Officiere der grossen Armee; an dem Kopfe hatte er die Narben von sieben Säbelhieben, die er in Italien erhalten hatte, seine rechte Schulter war am Tage nach der Schlacht bei der Moskowa von einer Kugel zerquetscht worden; sie hatten ihn schon als Kinder verloren -- vorüber zog die Gestalt der Mutter, deren Züge Jules geerbt hatte, die nach dem Tode des Vaters sich völlig von der Welt zurückgezogen hatte um nur ihren Kindern zu leben, die jeden Abend Jules in all' seinen Lectionen überhörte, ihn mit Leidenschaft erzog und verzog -- und Edmond sah Jules als kleinen Jungen von zehn Jahren, für einen Maskenball geputzt, in dem Frack eines französischen Leibgardisten, den Dreimaster auf dem Ohr, die Hand am Degenknopf, das Auge durch den Puder noch lebhafter als sonst, lieblich und rund wie ein Amor von Fragonard. Da lag er jetzt ausgestreckt als Leiche. So hatte im Jahre 1848 die Mutter gelegen. Und seit der Zeit hatte er und Jules eine Brüderschaft geschlossen dergestalt, dass sie in der Regel alle Stunden ihrer Tage gemeinsam verbracht, alle ihre Gedanken sich mitgetheilt, alle Arbeiten gemeinsam ausgeführt, alle Mahlzeiten zusammen gegessen, alle Reisen gemeinsam gemacht, und sich in 22 Jahren nur ein Mal auf 48 Stunden getrennt hatten, als der eine von ihnen eine Reise nach Rouen unternehmen musste, um einige Briefschaften abzuschreiben. Sie hatten in der Zeit kein Buch, keinen Freundes- oder Geschäftsbrief geschrieben, der nicht von ihnen beiden unterzeichnet war. Edmond hatte den um 8 Jahre jüngeren Bruder in die litterarische Arbeit eingeweiht. Er war zuerst sein Lehrer gewesen, aber bald wich das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler dem ebenbürtigsten Zusammenarbeiten. Sie hatten von Anfang an ein kleines Vermögen gehabt, zwölf bis fünfzehn Tausend Francs jährlich für Beide, was ihnen die Unabhängigkeit sicherte und das Recht, keine Arbeit, die ihnen nicht zusagte, zu übernehmen. Und Edmond sah sie, wie sie ein Jahr nach dem Tode der Mutter, den Ränzel auf dem Rücken, Frankreich zu Fuss durchzogen, die Gegenwart studirten, sich der Vorzeit erinnerten, mit der Feder alte Schlösser und Kirchenthüren zeichneten, Einfälle und Empfindungen notirten; Jules, damals noch so schlank, so fein, so bartlos, dass die Dienstmädchen in den Wirthshäusern ihn für eine hübsche junge Frau hielten, die sich entführen liess; bis zu seinem Tode hatte er ja auch seinen »Frauenmund« behalten. Edmond erinnerte sich, wie sie sich von Marseille nach Algier einschifften, dort im arabischen Viertel der Stadt herrliche Wochen verlebten, von der Schönheit jenes Himmels berauscht die hellen Nächte in einer Barke verbrachten und sich in dem Grade in das Sonnenland verliebten, dass sie bei der Abreise sich einredeten, sie zögen heim, nur um ihre Sachen zu ordnen, und dann für beständig nach Afrika zurückzukehren. Er dachte an den grossen Tisch in der dunklen Mezzanin-Etage in der Rue Saint-Georges, an dessen zwei Enden Jules und er sassen und Aquarelle malten, als sie plötzlich eines Herbstabends 1850 darauf verfielen, mit den Tuschpinseln ein Vaudeville zu schreiben, ihren ersten litterarischen Versuch, der wie fast all' ihre folgenden Lustspiele und Schauspiele von zahlreichen Theaterdirectionen verworfen wurde. Er sah sich um in dem Schlafzimmer des Todten. Dort der Schaukelstuhl, in dem er sich rauchend auszuruhen liebte, wenn er einen Abschnitt geschrieben hatte, dort der weisse Tisch, an dem er zum letzten Mal dem Bruder eine Seite aus seinem Lieblingsbuch Chateaubriand's »Memoires d'Outre-Tombe« vorlas, als er mit Eins stammelte, das Wort wiederholen wollte, ohne es sagen zu können, nochmals mit Zorn es versuchte, erbleichend aufstand und schwankte. Edmond dachte zurück an die schönen Jugendtage, wo sie auf der Jagd nach Zeichnungen und Autographen aus dem achtzehnten Jahrhundert Paris kreuz und quer durchstreiften, Jules, der jugendlichere und eifrigere, immer einen Schritt voraus, obwohl nur Edmond mit Leidenschaft Sammler war; er sah, wie sie, nach Hause gekommen, wie botanisirende Naturforscher ihre Schätze auskramten, ihre Concurrenten an den Auctionstischen verwünschten, sich des Erworbenen freuten, einander die Beobachtungen, Einfälle, Vergleiche mittheilten, welche die beste Beute des Tages ausmachten. Welch' gute Tage in jener niedrigen Wohnung! Während er selbst über die Arbeit gebeugt sass, lag Jules auf der von Floretstössen durchbohrten Bettdecke, rauchend, träumend, Brochüren durchblätternd, von Ideen sprudelnd. Wenn die Ratten unten in dem halbdunklen Brunnen, den man den Hof nannte, allzu laut wurden, ergriff man aus der Trophäe an der Wand eine Salonpistole und feuerte hinunter in den Schwarm. Und die Mittage bei dem Restaurant Magny, die berühmten Mittage, wo Sainte-Beuve präsidirte, Théophile Gautier mit heiserer Stimme seine farbenreichen Tiraden gegen die »Bôrgeois« schleuderte, wo Renan den Stil des siebzehnten Jahrhunderts gegen die sprachlichen Neuerer vertheidigte, Taine Alfred de Musset gegen die Jünger Victor Hugo's in Schutz nahm, jene glücklichen Stunden, wo in der feinen Erregung der leichten Speisen, der duftenden Früchte, des echten alten Weins Jules all' seinen so ganz parisischen Geist an den Tag legte, und Edmond an dem Bruder seine Freude hatte, wie ein Vater an seinem Kind -- diese Mittage, von denen Jules nie zurückkehrte, ohne die Nachwallungen seines Blutes, das in den Schläfen pochte, mit dem Schreiben einiger Seiten zu beruhigen. II. Wenn Edmond de Goncourt auf das gemeinsame Leben der beiden Brüder zurückschaute, konnte wohl ein Gefühl des berechtigten Stolzes sein Herz schwellen machen. Sie hatten ihre ineinander verflochtene Namensziffer in den Spiegel der Zeit wie mit Diamant eingeritzt. Die Erzeugnisse ihrer hartnäckigen und genialen Arbeit haben schon jetzt tief auf die Gemüther Mitstrebender gewirkt, und werden noch lange von den Historikern zu Rathe gezogen und von dem unterhaltungsuchenden Publikum gelesen werden.[26] Die Brüder Goncourt sind zwei Schriftsteller ersten Ranges, oder richtiger ein einziger Doppelschriftsteller, der zugleich Geschichtschreiber und Romandichter ist. Nicht dass sie die Geschichte romanhaft behandelt haben -- es gibt kaum Forscher, deren Genauigkeit erstaunlicher und minutiöser ist; auch nicht, dass sie sogenannte historische Romane geschrieben haben -- nicht eine einzige ihrer erdichteten Erzählungen geht in dem von ihnen studirten achtzehnten Jahrhundert vor, sie sind alle rein modern und ohne jegliches romanhafte Gepräge, vielleicht die am wenigsten romanartigen Romane, die überhaupt geschrieben sind. Im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind ihre Dichtungen überhaupt nicht Romane. Die Verfasser haben den Namen nur behalten, weil uns ein moderner Name für die Sache fehlt. In Wirklichkeit haben Romane wie die ihrigen mit jenen alten französischen Romanen, in welchen die Erfindung, die freie Phantasie des Dichters die Hauptsache war -- »Monte Christo« oder »Die drei Musketiere« sind die schlagendsten Beispiele -- nichts als den Namen gemein. Sie sind in ihrer Art auch von den Romanen Balzac's verschieden, insofern dieser sonst so moderne Erzähler das romanhafte Element nur sehr selten zu entbehren vermochte. Die Brüder Goncourt wollten von Anfang an nur Studien nach der Natur geben, mit so grosser und ernster Vertiefung und so wenig Erfindung oder freier Phantasie wie möglich das moderne Leben darstellen, wie sie es um sich sahen. In Deutschland würde man Bücher wie die ihrigen kaum Romane nennen. Der moderne deutsche Roman in der Gestalt, die er bei den gelesensten Dichtern angenommen hat, setzt in seinem Idealismus seine Ehre darin, ein geläutertes Bild der Natur und der Gesellschaft, ausserdem ein grosses Zeitbild, womöglich Weltbild zu geben; die Wahl seiner Stoffe ist auf das Grosse, Bedeutende, Pathetische, Schöne gerichtet, er liefert eine Psychologie der Einzelnen und der Gesellschaft mit nur leise angedeuteter physiologischer Grundlage; es ist ihm hauptsächlich um die Gesammtwirkung zu thun, und er breitet sich desshalb leicht zu sehr aus um den Einzelheiten die Sorgfalt widmen zu können, auf welche man jenseits des Rheins so viel Werth legt. Die Romane der Brüder Goncourt haben keinen weiten Horizont, umspannen kein weites Feld und stellen dem Leser gewöhnlich nur wenig Personen vor. Ihre Stoffe sind ohne Ausnahme dem Privatleben entnommen; keine grossen Charaktere, kein historisches Pathos, kein spannendes oder dramatisches Element. Ihre Psychologie ist Psychophysik. Sie haben sich nicht gescheut, bisweilen dem Hässlichen, dem niedrigen Laster einen Platz einzuräumen, den ein Deutscher ihm in einem Kunstwerk kaum gestatten würde; sie haben aber immer die schneidende Disharmonie in tragische Wehmuth aufzulösen gestrebt. Ihre Werke sind moderne Tragödien in erzählender Form und sie haben mit Erfolg versucht die Grenzen des darstellbar Tragischen zu erweitern, freilich wenn man den Begriff weniger eng und doctrinär auffasst, als es in den Handbüchern der Aesthetik geschieht. Die Brüder Goncourt fingen als Geschichtsforscher an, studirten und schrieben die Geschichte nach einer neuen, ihrer eigenen Methode. Sie bemächtigten sich nach und nach vollständig eines ganzen Jahrhunderts, des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich. Sie drangen in dieses Zeitalter durch die Kunst ein, die lange so gering geschätzte und geschmähte Kunst der Watteau, Boucher, Chardin, Greuze u. s. w. Sie studirten diese Maler und Zeichner so genau, dass ihre Kennerschaft als die entscheidende angerufen wurde, wenn man über die Echtheit eines Aquarells, oder gewisser Theile eines Aquarells nicht einig werden konnte. Sie kauften die Bilder dieser Künstler zu einer Zeit, wo noch Niemand sie suchte und ihren Werth verstand, und legten die vollständigste Sammlung französischer Zeichnungen aus dem achtzehnten Jahrhundert an, die überhaupt existirt. Sie priesen diese Künstler, während die Vorurtheile gegen sie in Frankreich selbst noch so mächtig waren, dass die Bibliographen der grossen Kunstrevuen sich weigerten, nur die Namen ihrer Bücher über dieselben anzuführen. Ich sehe in ihrer Begeisterung für jene anmuthige und gefallsüchtige, von David und seinen Schülern verdrängte Kunst eine Aeusserung der grossen historischen Reaction zu Gunsten des achtzehnten Jahrhunderts, die um die Mitte des jetzigen in fast allen Ländern beginnt. Was bei den etwas älteren französischen Dichtern und Schriftstellern das vorige Jahrhundert besonders in Misscredit gebracht hatte, war die rationalistische Farblosigkeit seiner Poesie und das Verneinende seiner Ideen. Die Brüder Goncourt fassten das vergangene Zeitalter nicht von der ideellen, sondern von der bildlichen Seite auf, und sie fanden die Poesie desselben in seiner Kunst. Kühn und richtig schrieben sie: Der grosse Dichter des achtzehnten Jahrhunderts heisst Watteau. Doch das Studium der Kunst war ihnen nur ein Anfang ihres Forschens. Ihre Geduld und ihre Arbeitskraft reichten hin, um sie alle sinnlichen Zeichen, Spuren, Reste des Zeitalters ausfragen zu lassen. Sie lasen alle Zeugnisse der Zeitgenossen, Historien, Memoiren, Dramen, Romane, komische Poesien. Sie durchblätterten Brochüren, fliegende Blätter, Schmähgedichte, Pamphlete, Zeitungen. Sie gingen vom Gedruckten zum Ungedruckten, sie wurden Autographensammler, um in dem nicht für die Nachwelt, überhaupt nur für den Adressaten bestimmten Brief, in der für kein fremdes Auge überhaupt bestimmten Tagebuchaufzeichnung die freimüthige Offenheit und das geheime, innerste Leben zu finden, das sich gewöhnlich dem Blick des Geschichtsschreibers entzieht. Sie folgten hierin unbewusst dem philologischen, antiphilosophischen Hang der zeitgenössischen, historischen Forschung. Doch Bilder, Bücher und Briefe genügten ihnen nicht. Sie studirten auch noch die Bronzen, die Statuen, die Möbel, die wechselnden Moden, ja selbst die wollenen und seidenen Stoffe, die Stickereien und den Putz der Zeit, um anstatt der Legende oder des Heldengedichts die Sittengeschichte des Zeitalters liefern zu können. Aus dieser Masse von Zeugnissen, aus dreissigtausend Brochüren, zweitausend Zeitungen, hunderten von auserwählten Zeichnungen aller Meister und Schulen, in der Regel den besten, ihnen selbst angehörenden jedes Meisters haben sie ihre geschichtlichen Werke destillirt. Sie haben, weil sie nur Neues, bisher Unbekanntes, nicht Herausgegebenes bringen wollten, sich von allem schon Gesagten fern gehalten, sind aber nicht im gleichen Grade der Gefahr entgangen, ein allzugrosses, unübersehbares Detail mitzunehmen. Ihr Werk über die Frau im achtzehnten Jahrhundert, ihre Sittengeschichten der Revolution und des Directoriums sind Fundgruben, Schatzkammern. Es schillert und glitzert in diesen Büchern von Millionen pikanter und häufig lehrreicher Einzelheiten; diese Einzelheiten stehen aber einander zu nahe, alle, wichtige und unwichtige in Einem Plan; und das Buch wirkt wie ein Bild, wo keine Luft die Gegenstände von einander trennt. Es fehlt an Ueber- und Unterordnung, an Ruhe, Grösse und weitem Horizont. Es fehlt vor allem an Philosophie; die einzelnen Thatsachen stehen nicht selten roh, unbearbeitet, ideenlos da. Sie haben jedoch die Geschichte als Poeten studirt und in einem feinfühligen, erregten, anschaulichen, wie Atlas changirenden Stil geschrieben. Und da von dem modernen Poet das Wort Paul Heyse's gilt: Ein Träumer bleibt er stets und hängt am Weibe, so waren sie mehr als Andere geneigt, sich die Sittengeschichte als die Geschichte des weiblichen Einflusses vorzustellen, haben sich von der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts angezogen gefühlt, weil der Einfluss der Frauen damals am grössten war, und haben dieselbe hauptsächlich als Geschichte der herrschenden Frauen aufgefasst. Sie haben das Jahrhundert erzählt, indem sie in einer langen Reihe von Bänden die Lebensgeschichte der Herzogin von Chateauroux und ihrer Schwestern -- jener fünf Schwestern, die nach einander die Geliebten Ludwig's XV. wurden -- ferner das Leben der Marquise von Pompadour, der Herzogin du Barry und endlich die Geschichte Marie Antoinette's geschrieben. Jede dieser unendlich verschiedenen Frauengestalten, dem Adel, dem Bürgerstand, dem Volk und dem Fürstenstande angehörend, tritt mit ihrer ganzen weiblichen Eigenart, ihrem Temperament, ihren Bewegungen, dem Klang ihrer Stimme und der Farbe ihrer Worte in diesen Werken hervor; man empfindet scharf, welche geistige Atmosphäre sie um sich verbreitet hat, welchen Einfluss und welche Art von Zauber sie ausüben musste. Das unbedingt interessanteste Buch unter diesen Biographien ist das über die Herzogin von Chateauroux und ihre Schwestern, theils vielleicht, weil es durch eine gründliche Umarbeitung an Plastik gewonnen hat, theils weil der Stoff an sich, der Kampf, den die eine Schwester mit der andern um den Platz an der Seite des Königs führt, der Tod von Madame de Vintimille, nachdem sie Madame de Mailly besiegt hat, der neue Sieg, den die Marquise de la Tournelle über die frühere Favoritin gewinnt, der Versuch der Herzogin von Chateauroux, aus dem König einen Helden zu machen, ihr Triumph, ihre schmähliche Vertreibung vom Hofe während der Krankheit Ludwig's, ihre Wiedereinsetzung in die königliche Gunst und ihr gleich darauffolgender schneller aber qualvoller Tod, Umstände sind, die dem Werk ein ungesuchtes dramatisches Leben geben, welches das Interesse erhöht, mit dem man der psychologischen Entwickelung folgt. III. Die Brüder brachten zu ihren Romanen dieselbe Sorge für gewissenhafte Wiedergabe des Wirklichen mit, dasselbe Bestreben, das unendlich Kleine, das den Sinnesempfindungen zu Grunde liegt und auf welchem das Leben der Darstellung beruht, nicht zu übersehen, endlich dieselbe Vorliebe für die Seelengeschichte des weiblichen Geschlechts. Ihre Romane und Theaterstücke tragen mit nur Einer Ausnahme Frauennamen. Ich habe schon gesagt, dass diese Bücher alle modern sind. Sie sind es in eminentem Sinne durch das Bedürfniss unbarmherziger Analyse, das sie trägt, durch die bis zum Aeussersten getriebene Empfindlichkeit für die Eindrücke der Aussenwelt, welche die Verfasser charakterisirt und durch die Ueberverfeinerung ihrer Darstellungsgabe, welche derjenigen ihrer Beobachtungsgabe entspricht. Diese Romane sind Erzeugnisse der raffinirtesten Ueberkultur unserer Zeit; wo die Verfasser aber am höchsten stehen und ihr Bestes geleistet haben, da haben sie jene zweite und höchste Einfachheit erreicht, welche das Produkt der verwickeltsten und verfeinertsten Bildung ist. Niemand hat in der modernen Poesie so wie sie nach und nach seine Stoffe vereinfacht. Sie haben wenig Romane geschrieben, im Ganzen sechs; sie waren zu ernste und gewissenhafte Künstler, um, wie so manche ihrer Collegen, jedes Jahr der Lesewelt einen fertigen Roman präsentiren zu können, aber jedes Buch bezeichnet eine Entwickelungsstufe oder doch ein neues poetisches Experiment. Der letzte und gewissermassen der tiefsinnigste Roman, den sie gemeinsam schrieben, ist der einfachste von allen. Es ist ein Roman, in welchem eigentlich nur Eine Person vorkommt, ein Roman ohne Begebenheiten, ohne Verwickelung, ohne Spannung, ohne Liebesgeschichte. Es ist Nichts als die peinlich genaue Darstellung, wie eine französische Dame von der höchsten Bildung, in dem Kreise der Doctrinärs unter Louis Philippe entwickelt, von einem ausgezeichneten Vater erzogen, seit ihrer frühesten Jugend eine überzeugte und selbständige Freidenkerin, während eines Aufenthalts in Rom durch nervöse Einflüsse Schritt für Schritt dazu gebracht wird, ihre Ueberzeugungen, ihre Denkart, ihr ganzes Wesen zu ändern, um als fanatische Katholikin zu sterben. Wenn man Anfang und Endpunkt des Buches betrachtet, scheint es Einem fast unmöglich, dass die Autoren diese rücklaufende Entwickelungsgeschichte einer bedeutenden Frauenseele glaubwürdig machen können. Aber die tausend Schritte des Weges sind alle angedeutet, jede Uebergangsstufe, jede Nuance wird uns klar, das Frauenherz liegt mit allen seinen Fasern offen vor uns. Beschreibungen Roms, des heidnischen alten, wie des katholischen und des modernen, klären die Seelengeschichte, die sie unterbrechen, auf. Ebenso einfach wie hier der Gegenstand, ebenso complicirt ist, ohne dass der gewöhnliche Leser es merkt, das Wissen und Können, die Methode der Dichter. Es gibt wenig Psychologien, in denen so viel Psychologie steckt wie in diesem wahren und feinen Buch. So einfach der Gegenstand auch ist, so complicirt ist die Methode der Dichter. Es ist lehrreich, eine Bekehrungsgeschichte wie die hier dargestellte mit wirklichen Bekehrungsgeschichten zu vergleichen, wie sie in Deutschland während der romantischen Periode stattfanden. Man vergleiche z. B. mit »Madame Gervaisais« die Sammlung der Briefe Dorothea Veit's, die bekanntlich in ihrer Jugend Rationalistin, in reiferen Jahren zum Katholicismus übertrat. Man beobachtet in ihren Briefen beide Entwicklungsstufen, aber man vermisst die Zwischenglieder, das eigentlich Interessante. Die Brüder Goncourt haben sich die Arbeit doppelt schwer gemacht, weil die Bekehrung bei ihnen nicht kraft einer geschichtlichen, die Persönlichkeit ergreifenden und ansteckenden Bewegung geschieht, und somit das Moment gänzlich fehlt, das Dorothea Veit's Bekehrung erklärt. Andererseits waren sie vermuthlich ausser Stande, eine solche seelische Seuche zu schildern. Ihre psychologisch dichterische Einsicht gilt ausschliesslich der einzelnen Seele. Sollte ich mit Einem Worte die eigentlichste Originalität ihrer Romane bezeichnen, so würde ich sagen: diese Bücher schildern, wie nie zuvor die Poesie, _das Nervenleben_ des modernen Menschen, besonders der modernen _Frau_ und des modernen _Künstlers_, d. h. das Nervenleben der zwei am zartesten besaiteten Wesen, die es gibt. Und wenn man hier Nervenleben sagt, so sagt man ungefähr Nervenkrankheit oder doch Kränkeln der Nerven. Es ist nicht die Sache der Goncourt, die ungebrochene Kraft, die vierschrötige Gesundheit darzustellen. Es würde aber ebenso pedantisch sein sie desshalb zu tadeln, wie ungereimt ihnen desshalb ein Lob zu spenden. Es gilt nur ihre Specialität zu bestimmen. Und ihr Bereich ist nicht gering, ist es besonders heutzutage nicht, wo auch ausserhalb der höheren Klassen das animalische Leben so stark von dem nervösen zurückgedrängt ist. Sie haben das abnorme Nervenleben ihrer Zeitgenossen verstanden und es ihnen mit einer brennenden Wahrheitsliebe dichterisch vorgeführt. Um das zu thun, war ein Empfindungsvermögen, eine Sensitivität erforderlich, die in der Entwickelung der Litteratur vielleicht nie in diesem Grade gespürt worden ist. Die Schilderung der Nervenzustände haben die Brüder ja aus sich selbst hervorgezogen, sie haben sich selbst studiren und untersuchen, haben in ihrem eigenen Nervenleben wühlen müssen, um dieses Gehör und dieses Feingefühl für die Zustände Anderer zu erlangen. Dass sie diese Höhe erreichten, das beruht aber, glaub' ich, am tiefsten darauf, dass sie zwei waren, ich meine auf der nie dagewesenen Art ihres Zusammenarbeitens. Sie waren geistig Zwillinge, die mit zwei Gehirnen dachten, mit zwei Herzen fühlten. Man hat ja früher oft genug die sogenannte Mitarbeiterschaft in der schönen Litteratur gesehen. Gute Freunde, schlaue Köpfe haben sich besonders in Frankreich häufig zusammen gethan, um irgend ein Kunstwerk oder Kunststück, einen Dumas'schen Roman oder ein Scribe'sches Lustspiel zu Stande zu bringen. Sie haben das Zusammenarbeiten durch ein heiteres Frühstück eingeweiht, die Idee zwischen Käse und Birne besprochen, dann jeder sein Capitel oder seinen Act geschrieben, haben sich verständigt und haben sich wieder getrennt, um später jeder für sich dem Publikum zu verstehen zu geben, dass nicht der Andere, der Alexander sondern er, der Émile, als der eigentliche Urheber des Erfolgs zu betrachten sei. Nicht nur, dass keiner der Brüder jemals den schwächsten Versuch gemacht hat, den Hauptantheil an der gemeinsamen Produktion an sich zu reissen oder die Firma irgendwie aufzulösen, sondern die Form ihrer gegenseitigen Mitarbeiterschaft lässt sich mit keiner anderen vergleichen. Sie schlossen sich, wenn sie schreiben wollten, auf drei bis vier Tage ein, ohne auszugehen, ohne eine lebendige Seele zu sehen. Nur in einer klösterlichen Stille und Einsamkeit konnten sie Gestalten formen, dem Erdichteten das Wirklichkeitsgepräge aufdrücken. Wie sie es eigentlich machten, um gemeinsam zu componiren und zu schreiben, ist mir jedoch lange ein Räthsel gewesen. Edmond de Goncourt hat mir's in einem Briefe gelöst: »Sobald wir,« schreibt er, »über den Plan einverstanden waren, plauderten wir rauchend eine Stunde oder zwei über den Abschnitt oder richtiger den Absatz, der jetzt zu schreiben sei, und wir schrieben ihn jeder für sich in zwei getrennten Zimmern; dann lasen wir uns das Stück vor, das jeder von uns gemacht hatte, und entweder wählten wir ohne irgend eine Erörterung das beste oder wir bildeten eine Zusammensetzung von dem, was in den zwei geschriebenen Compositionen am wenigsten unvollkommen war. Aber selbst wenn der eine der beiden Versuche völlig geopfert wurde, war doch immer in der definitiven Vollendung und Politur des Absatzes ein wenig von der Arbeit _beider_ Brüder, ob auch nur durch die Hinzufügung eines Adjectivs, die Wiederholung einer Wendung oder dergleichen«. Dies Verfahren scheint mir die Eigenthümlichkeiten, die grossen, glänzenden Vorzüge und die auffälligen Mängel ihrer Darstellungsweise bis zu einem gewissen Punkt zu erklären. Es ist einleuchtend, dass, wer mit solcher Offenheit einem andern Ich sein intimstes Phantasieleben, seine Visionen und halbausgetragenen Ideen unterbreitet, wer mit solcher Gewissenhaftigkeit das Geschriebene prüft, in seinem Stil keine todten Stellen haben kann; es ist klar, wesshalb alle Gemeinplätze, jeder herkömmliche oder gewohnheitsmässige Ausdruck aus diesem Stil verbannt wurde. Was dem Auge des Einzelnen entging, was vor der Kritik des Einen noch bestand, das wurde von der prüfenden Hand des Andern, der eben im Nachbarzimmer dieselbe Aufgabe in seiner Weise gelöst hatte, sogleich entfernt. So kommt das Ausgesuchte, Exquisite zu Stande; so aber auch das Ueberlastete, der gespickte Stil. Bisweilen meint man die Doppelarbeit in flagranti ergreifen zu können, wie in jenen bisweilen über zwei Seiten sich erstreckenden Appositionen, durch welche irgend ein Begriff erklärt oder eine Persönlichkeit geschildert wird. Die Periodenform, der Satzbau ist aufgelöst; übrig bleibt eine Kette von geistvollen, witzigen, originellen oder doch überraschenden Definitionen, in welche so viele Glieder wie man wünschte, eingeschoben werden konnten.[27] Und doch würde ich eine ganz unrichtige Vorstellung von ihrer Schreibweise geben, wenn ich den Eindruck erweckte, dass sie in der Regel zu viel des Guten liefern. Im Gegentheil, da sie das Seltene, das Neue lieben, haben sie eine Angst davor, Alles zu sagen, worin ja nach Voltaire's bekannter Definition die ganze Kunst zu langweilen besteht; sie geben desshalb in ihren Romanen dem Verstand des Lesers viele Aufgaben zu lösen und seiner Einbildungskraft viel freien Spielraum, skizziren nur flüchtig die eigentliche Handlung oder Verwickelung in ihren Romanen, lassen zwischen den Capiteln grosse Lücken, wahre Abgründe bestehen, über welche der gewöhnliche Leser oft nicht den Muth hat hinüberzusetzen oder in welchen er sich den Hals bricht, und verschmähen sogar im Anfang oder in der Mitte des Buches irgend eine vorbereitende Andeutung des Umstandes zu liefern, der die Katastrophe herbeiführen soll. In »Charles Demailly« beruht die Entscheidung darauf, dass einige Briefe, die Demailly als Bräutigam an seine Frau geschrieben und in welchen er seine besten Freunde in thörichter Laune verspottet hat, der Oeffentlichkeit übergeben werden. Nichtsdestoweniger hat der Leser, der Charles schon als Bräutigam gekannt hat, nicht das Geringste von der Existenz dieser Briefe im Voraus erfahren. Er hört erst, dass sie geschrieben sind, in dem Augenblick, wo sie benutzt werden sollen. In »La Faustin« ist das entscheidende Moment, dass die Heldin, eine tragische Schauspielerin ersten Ranges, unwillkürlich den Lachkrampf ihres mit dem Tode ringenden Geliebten vor dem Spiegel nachzuahmen versucht. Der Dichter hat augenscheinlich stillschweigend an die bekannte Thatsache appellirt, dass bedeutende Schauspielerinnen (wie Sarah Bernhardt und Croizette) für gewisse Rollen in den Spitälern den Todeskampf studirten; aber mit keiner Silbe ist uns erzählt worden, dass die Faustin jemals die Gewohnheit hatte dies zu thun. Es ist unmöglich, diese elementaren Regeln der Composition vornehmer, gleichgültiger zu vernachlässigen. Die Goncourt schreiben nur für den Leser, der es versteht, dass für sie dergleichen kein Gewicht hat, nicht für Denjenigen, der einer Vorbereitung bedarf und der sich für die Handlung als Begebenheit interessirt. In ihrer Leidenschaft, sich genau so auszudrücken, wie sie fühlten, kümmerten sie sich nicht um eine schöne Rhetorik, scheuten nicht davor zurück, dasselbe Wort fünf, sechs Mal auf einer Seite zu wiederholen oder Worte von einander zu trennen, die man nie geschieden gesehen hatte. Sie schreiben zum Beispiel: »mit, in den Augen, einem wilden Ausdruck«, -- vermuthlich um sich dem mündlichen, persönlichen Stil so viel wie möglich zu nähern[28]. In einem ihrer Bücher haben sie sehr bezeichnend die Verzweiflung eines talentvollen Schriftstellers geschildert, dessen Frau -- eine Schauspielerin -- mit Selbstzufriedenheit lauter feststehende Redensarten ableiert. Von einem schlechten Vaudeville sagt sie: »Sinnig und empfunden«, von einem Gemälde: »Sehr stilvoll«; sie redet in den Phrasen, die in den Feuilletons, den Büchern, den Theaterstücken gebräuchlich sind, und die Liebe des unglücklichen Ehemannes verwandelt sich in Widerwillen. Sie, welche das Eigenartige so brennend liebten, sie, welche nie bezweifelt haben, dass die volle und ganze Schönheit eines Kunstwerks nur den Künstlern zugänglich sei und die einmal die Frage: »Was ist das Schöne?« mit dem kühnen Paradoxon beantwortet haben: »Es ist das, was dein Dienstmädchen und deine Geliebte instinctiv abscheulich finden«, mussten mehr als andere unter jener ewigen Quintenmusik der trivialen Menschen leiden. Sie hatten sich nicht selbst der Gefahr ausgesetzt, die jener Schriftsteller lief. Keiner von ihnen hatte sich verheirathet und es scheint gewissen Bekenntnissen zum Trotz (Théâtre, Préface S. XI, ein Tagebuchblatt, das in Charles Demailly S. 77 verwendet worden), als hätte keiner von ihnen jemals ernstlich an das Heirathen gedacht. Sie betrachteten augenscheinlich die Ehe als dem Schriftsteller verboten, meinten, dass er keinen Ehemann abgeben könne, da ein Mann, der sein Leben damit verbringe, »Schmetterlinge in einem Dintenfass zu fangen«, ausserhalb der gesellschaftlichen Regeln stehe. Sie sahen das Coelibat als dem Gedanken nothwendig an. Und was für die Andern die Kinder sind, ein Stück von ihnen selbst, das ihren Namen bewahrt, ein kleines Stück Unsterblichkeit, das man liebt und verzieht, das seien, meinten sie, für den Schriftsteller seine Bücher. Sie haben nicht mit kaltem Blut die Originalität gesucht und gefunden. Man findet sie überhaupt nicht so, und findet sie nicht, wenn man sie nicht hat. Ihnen war die Arbeit ein Mysterium, so tief wie das Mysterium des Schlafes, ein activer Zustand, in welchem sie nicht Hunger, nicht Kälte, nicht ihren eigenen Körper fühlten, in welchem während der Ekstase des Gehirns die Zeitempfindung verschwand. Wie aus einem Nebel, wie hinter einem zerreissenden Schleier traten vor dem inneren Blick Formen und Gruppen hervor; sie sahen die Linien, die Ideen wurden Fleisch, das Bild erhob sich. Sie ergriffen diese Visionen, prüften sie, wandten und drehten sie und warfen sie bisweilen missmuthig in das leere Nichts zurück, wo sie wie Seifenblasen platzten. Neue Bilder tauchten empor, entflohen, sträubten sich dagegen, sich festhalten zu lassen, »wie junge Mädchen, die sich weigern zu tanzen«, bis sie, mit Gewalt erfasst, in das Werk hineintraten und ein Theil von dessen Leben wurden[29]. Das Zurückdrängen der Persönlichkeit und des bewussten Willens, der Traum mit offenen Augen, der Zustand der Entzückung und der Weltentrücktheit, der alle künstlerische Produktion bezeichnet, macht es dem wahren Künstler unmöglich, in seinem Schaffen ein bestimmtes Ziel zu verfolgen oder einer bestimmten, wenn auch von ihm selbst ausgesprochenen Losung zu gehorchen. Ich gebrauchte den Ausdruck, dass die Brüder das abnorme Nervenleben ihrer Zeitgenossen »mit einer brennenden Wahrheitsliebe« studirt und dargestellt haben. Ich bin auf die Frage vorbereitet, ob sie denn nur das _Wahre_ gesucht haben, und ob das Resultat ihres dichterischen Schaffens auch nur etwas Wahres, nichts Schönes geworden ist. Ich glaube, dass man, wenn von Kunst die Rede ist, eine Neigung hat, diese zwei Worte in einen etwas falschen Gegensatz zu stellen. Der Stoff als solcher, er sei gesund oder krankhaft, macht das Kunstwerk weder schön noch unschön. Die Absicht eines Dichters, in erster Linie das Schöne zu suchen, ruft bei dem Kundigen durchaus nicht das günstige Vorurtheil hervor, dass er es auch finden werde, und selbst die ausgesprochene Tendenz des Dichters, nur das Wahre darstellen zu wollen, macht es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Schönheit das Resultat seines Strebens wird. In einem Briefe an den Minister Duruy schrieb 1865 Sainte-Beuve: »_Das Schöne, Gute und Wahre_ ist ein schöner Wahlspruch und besonders einer, der sich gut ausnimmt. Es ist derjenige des Unterrichtswesens, es ist derjenige Cousin's in seinem bekannten Buche [dem mittelmässigen Werk »Le Vrai, le Beau et le Bien«]; es ist -- soll ich wagen, es zu gestehen? -- der meinige nicht. Wenn ich einen Wahlspruch hätte, so sollte er sein _das Wahre, das Wahre_ ganz allein -- mögen das Schöne und Gute sich dann daraus ziehen, wie sie können!« Die Frage über die Stellung der Kunst zu den drei Ideen ist zu verwickelt und vielseitig, um im Vorübergehen in einer Definition beantwortet werden zu können. Von der Seite der principiellen Idealisten wird in der Regel gegen die Lehre, dass das Wahre an und für sich schön sei, die Einwendung so formulirt, dass der Satz _Zwei mal zwei sind vier_ dann eine bezaubernde Poesie enthalten müsse. Epigramme von Paul Heyse und Arthur Fitger gehen darauf aus. Die naheliegende Antwort ist, dass in der Poesie nur die wahre Wiedergabe des _Lebens_ und nur die _individuelle_ Wahrheit schön sein können, was die Schönheit eines algebraischen Identitätssatzes völlig ausschliesst. Das Ideal ist nichts als die Umbildung, der die Wirklichkeit dadurch unterworfen wird, dass sie durch die feinen Sinne eines Künstlers geht. Es versteht sich jedoch, dass eine ernste und gründliche Behandlung des Problems sehr weit führen würde. In diesem Zusammenhang genügt es darauf aufmerksam zu machen, in wie hohem Grad der Künstlergeist immer »das Wahre« modificirt und individualisirt, und in wie hohem Grad die Frage über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Unschönen eine Frage nach der _Perspective_ und der Behandlungsart ist[30]. Ich bin überzeugt, dass, wenn man die Brüder Goncourt gefragt hätte, sie sich mit Sainte-Beuve vollständig einig erklärt haben würden -- ohne desshalb der Schönheit feindlicher gesinnt zu sein als er. Die Goncourt haben sich nie über die Theorie, die ihnen vorschwebte, geäussert; dass sie vorurtheilsfrei sind, haben sie bewiesen, indem sie die Kunst des achtzehnten Jahrhunderts, die nur das Anmuthige suchte und sich aus der Wahrheit so viel wie nichts machte, mit warmer Begeisterung priesen, während sie selbst mit seltenem Muth die Wirklichkeit in's Auge fassten und der Wahrheit zu Lieb' es wagten, mit Stoffen anzubinden, die man bisher als der Poesie unzugänglich betrachtet hatte. Erst spät, erst nach dem Tode des jüngeren Bruders und nur widerstrebend, liess sich der ältere den Ehrenplatz an der Spitze der naturalistischen Schule anweisen. Er behauptet in der Vorrede zu »Les frères Zemganno«, hässliche und niedrige Naturen nur desswegen geschildert zu haben, weil ihr innerer Mechanismus einfacher und leichter zu durchdringen sei; sein Ehrgeiz gehe darauf hin, ein realistischer Schilderer dessen zu sein, »was hochherzig ist, was schön aussieht, was gut riecht«, weil es viel schwerer sei, ein eindringliches, weder herkömmliches noch phantastisches Studium der Schönheit an den Tag zu legen, als das Hässliche zu verstehen und zu malen. Die Behauptung mag richtig oder nur halbwegs richtig sein, jedenfalls verräth sie eine grosse Liebe zum Schönen bei dem wahrheitssuchenden Dichter. Und diese Liebe verleugnet sich nicht in den Werken, wo der Stoff eine directe Darstellung des Schönen verbietet. Auf den Geist, auf die Behandlungsweise, nicht auf den Stoff kommt es an, und wenn ein hässlicher, an und für sich widerwärtiger Gegenstand in einem schönen und guten Geist mit reiner Humanität, mit dichterischer Keuschheit behandelt worden, so ist das Kunstwerk schön, auch »wenn dein Dienstmädchen und deine Geliebte es abscheulich finden«. IV. Man lese den (1863 erschienenen) Roman von den Brüdern Goncourt, der den Titel »Renée Mauperin« führt. Die Dichter schildern sonst gerne Ausnahmen. Dies ist aber eine typische, wirklichkeitsgetreue und doch fast ideale Darstellung des französischen jungen Mädchens aus dem höheren Bürgerstand, wie es durch eine Knabenerziehung und eine Entwickelung aller künstlerischen Anlagen der jungen weiblichen Seele geworden ist. Die Brüder Goncourt schildern edle Frauen nie als »schöne Seelen«. Sie sind dem Spiritualismus so abhold, dass man unter ihren Aphorismen (»Idées et sensations«) sogar die Bemerkung findet: »Es ist selten, dass Jemand sich gratis dazu hergiebt, seine Mitmenschen zu vergeistigen. Wenn man die Theorien von dem Schönen, dem Guten, dem Ideal bis auf den Grund verfolgt, findet man fast immer die Sehnsucht nach einer Stelle, einem Katheder, einer hübschen Wohnung«. Sie sind keine Idealisten, auch jungen Mädchen gegenüber keine. Sie werden sich früh das Wort gesagt haben, das Taine's Graindorge so formulirt hat: »Wenn du ein junges Mädchen mit hellen Augen und rothen Wangen siehst, so glaube nicht, dass sie ein Engel sei, sondern dass man ihr viele Cotelets zu essen gegeben und sie um neun Uhr zu Bette geschickt hat«; um so interessanter ist es, wenn wir in ihren Büchern dem fast Idealen in der Darstellung junger Mädchen begegnen. Renée Mauperin ist nach dem schlagenden Worte einer der Personen im Buch _une mélancolique tintamarresque -- tintamarresque_ d. h. lärmend, ausgelassen, insofern sie in Slang-Redensarten spricht, schwimmt, malt, Privatcomödie spielt, ebenso neugierig wie rein dem Leben gegenübersteht, ihre Unabhängigkeit sogar mit ziemlich gewagten Mitteln vertheidigt, ihre Freier haufenweise abziehen lässt, die Spiessbürgerlichkeit ihrer Umgebung empört und erschreckt -- _melancholisch_, weil sie eine adlige Seele hat und ein Künstlertemperament und ein Nervensystem, das schmerzlich gegen alles Niedrige reagirt, weil sie desshalb nicht ihres Gleichen findet, oder doch nur in einem etwas älteren Freund, einem geistvollen und armen Weltmann, der nicht daran denkt, sie zu heirathen und in dem sie auch bloss einen Rathgeber und Kameraden sieht. Dabei ist sie von einer Rechtschaffenheit, einem unerbittlichen Ehrgefühl, wie es wenig Männer besitzen. Der Bruder Renée's, der typische, junge, kaltehrgeizige Bourgeois mit correcter Aussenseite, fest entschlossen, durch eine überreiche Heirath vorwärts zu kommen, steht im Begriff eine Handlung zu begehen, die in Renée's Augen schmählich ist. Das Mittel, das sie anwendet, um dieselbe zu verhindern, führt unglücklicherweise zu einem Duell, in welchem der Bruder fällt. Die qualvolle Reue über diese an sich unschuldige Handlung untergräbt die Gesundheit Renée's. Sie stirbt langsam an einer zehrenden Krankheit, deren Verlauf mit herzschneidender Wahrheit und recht peinlicher Ausführlichkeit erzählt ist, und lässt ihre Eltern kinderlos zurück. »Renée Mauperin« ist eins der Bücher, die man nie vergisst. Die rührende Hauptgestalt ist öfters nachgeahmt worden, Sardou hat sein Fräulein Benoiton, Meilhac und Halévy haben ihre Frou-Frou nach ihr gebildet. Aber all' die übrigen Persönlichkeiten sind ebenso richtig und fein gezeichnet und ihr Wesen entfaltet sich in Gesprächen, deren Natürlichkeit und treffender Wahrheit noch keine Spur von Manier anklebt. Einen besonderen Reiz erhält der Roman, wie alle übrigen Werke der Goncourt, durch die Weise, wie das Aeussere, die Umgebung, das Landschaftliche behandelt ist. Die Brüder haben es verstanden, ohne in die Aufzählungen Balzac's zu verfallen, »die Seele« der Dinge, den Charakter und Geruch der Lokalitäten, die sie uns vorführen, unvergesslich wiederzugeben. An ihren Beschreibungen fühlt man es, dass sie ursprünglich Maler und Radirer gewesen sind. Sie sehen nicht mit dem unschuldigen, das Aeusserliche meist nur symbolisch auffassenden Auge des Poeten, sondern mit dem malerischen Scharfblick des Kunstkenners oder Radirers. Sie skizziren nicht flüchtig die Gegenstände, sondern beschreiben sie so genau, dass ein Maler nicht im Zweifel sein würde, wie er sie malen müsse, oder richtiger: ihre Landschaften machen ganz den Eindruck von Gemälden. Sie wollen das und nennen bisweilen selbst den Maler, an dessen Stil sie gedacht haben. So beendigen sie eine merkwürdige, halb poetische, halb photographische Beschreibung der Seine-Ufer an einem Sommerabend mit diesen Worten: »Es war zugleich Asnières, Zaardam und Puteaux, eine jener Pariser Seine-Landschaften, wie _Hervier_ sie malt, schmutzig und strahlend, elend und heiter, bevölkert und lebendig, wo die Natur hie und da zwischen den Gebäuden, der Arbeit und den Gewerben hervortritt wie ein Grashalm zwischen den Fingern eines Menschen«. Wenn aber ihre Landschaften so vollständig den Eindruck von Gemälden oder Radirungen machen, so liegt es besonders daran, dass sie den Ausschnitt genau so zeigen, wie er sich dem Auge dargeboten hat. Man braucht nur Eine Naturschilderung von ihnen aufmerksam zu lesen, um den Unterschied zwischen der gewöhnlichen und dieser modernen Naturschilderung zu haben. Sie sagen z. B.: »Ein Mann tauchte einen Büschel Stroh, offenbar um damit seinen Hafer zu binden, in das Wasser, das, leicht gewellt, den Schilf, die Bäume, die Wolken mit klaren Umrissen widerspiegelte; unter dem letzten Bogen der alten Brücke trat aber, ganz nahe vor uns, aus dem Schatten die _Hälfte_ einer rothen Kuh hervor, die langsam trank, und die als sie getrunken hatte, ihr weisses Maul, von welchem das Wasser in Fäden heruntertroff, erhob und sich in Betrachtung verlor«. Ein Schriftsteller der älteren Schule wie Sainte-Beuve, der die Aussenwelt eher fühlt, als sieht und für den die Landschaft nur Stimmungsmittel ist, hätte uns nicht die andere Hälfte der Kuh vorenthalten. Diese Beobachter halten sich streng an das, was sie sehen, und geben es, so wie sie es sehen. Wie »Renée Mauperin« ist »Soeur Philomène« die Geschichte eines jungen, edel angelegten Mädchens. Das Leben einer barmherzigen Schwester wird in diesem Roman erzählt. Es gibt wenig so zartsinnige Bücher, wenig auch von so unendlicher Einfachheit. Es hat eben jene Einfachheit der höchsten Kultur, die ohne Naivetät wie ohne jegliche Unnatur ist. Es ist die Geschichte eines armen Mädchens aus dem Volke, die in einem vornehmen Kloster erzogen worden, so dass nur ihr Geist unentwickelt und ihrem Stande entsprechend geblieben ist, während ihr Gemüthsleben wie ihre Sinnesempfindungen aufs Feinste ausgebildet sind. Noch als Kind zu ihrer Tante zurückgekehrt, welche die alte Haushälterin eines jungen, wohlhabenden Mannes ist, hegt sie eine kindliche, rührend sorgfältige Liebe zu diesem, dem sie die Wünsche aus den Augen liest, ohne dass er nur ein einziges Mal sie ansieht oder ihre Existenz bemerkt. Da er endlich eines Abends, halbbetrunken nach Hause gekommen, sich bei der Tante über die Gegenwart Philomène's im Hause beklagt, weil er aus Rücksicht auf das junge Mädchen seinen Junggesellengewohnheiten Zwang auferlegen muss, fällt Philomène, die hinter der Thür seine Worte gehört hat, in Ohnmacht. Sie beschliesst den Schleier zu nehmen. Das Spital, in dem sie angestellt ist, wird geschildert und zwar mit einer Meisterschaft ohne Gleichen. Die frischen Gespräche der jungen Mediciner bilden einen glücklichen Gegensatz zu der traurigen Grundstimmung des Ortes und zu dem inneren Leben der barmherzigen Schwester. In dem Spital entwickelt sich nun zwischen der Nonne und einem der dort wohnenden jungen Aerzte ein Verhältniss der gegenseitigen Achtung und Neigung, des einfachen Vergnügens, mit einander einige Worte über die Kranken und ihre Behandlung zu wechseln, das von den Dichtern mit den zartesten Farben gemalt ist. Die Nonne freut sich, von dem jungen Mann gelobt zu werden; sie wird in der Krankenpflege noch aufopfernder, noch hingebender, um sein Lob zu verdienen, während er ausser in den Viertelstunden ihres Zusammenseins nie an sie denkt. Dann wird eine frühere Geliebte von ihm, ein Mädchen, das ihn verlassen und seitdem ein leichtsinniges Leben geführt hat, in das Spital gebracht, um wegen eines Krebsschadens an der Brust operirt zu werden, und die Eifersucht auf diese Unglückliche stürzt die Nonne in ein Meer von Qualen. Der junge Arzt muss selbst die vergebliche Operation ausführen, und als Philomène in der Todesstunde Romaine's das Gebet für ihre Seele lesen muss, kämpft in ihrem Herzen der Hass ihrer weiblichen Natur mit dem Mitleid der Christin einen harten Kampf. Der, übrigens unwesentliche, Gang der Geschichte ist der, dass ein Missverständniss sie für immer von Barnier trennt, dass er -- ziemlich unnatürlich -- an der Sehnsucht nach der verstorbenen Romaine zu Grunde geht und dass die Sorge um die Seele des Freidenkers in seiner Todesstunde die ganze ideale Leidenschaft Philomène's wieder wachruft und sie zu ungewöhnlichen Schritten bewegt. Neben diesen sanften und stillen Büchern haben die zwei Brüder auch andere, bewegtere, figurenreiche Romane geschrieben, voll bunten Lebens und reich an Witz und Geist, »Charles Demailly«, der das litterarische Leben, »Manette Salomon«, der das Künstlerleben in Paris zum Gegenstand hat. Der erstere, ihr frühester Versuch im Romanfach, ist ein wenig überlastet, ist zu geistreich und hat zu viele, nicht scharf und deutlich genug gezeichnete Personen. Die meisten scheinen Portraits zu sein -- ich habe Théophile Gautier, Gustave Flaubert, Paul de Saint-Victor und Théodore de Banville erkannt -- aber eben dieser Umstand hat verursacht, dass sie dem fremden Leser nicht anschaulich werden. Sie sind nicht fertig gezeichnet. Der Held in »Charles Demailly« ist ein Schriftsteller und der Held in »Manette Salomon« ein Maler, die beide durch das eheliche Zusammenleben mit einer sie nicht verstehenden Frau zu Grunde gehen; es sind Leidensgeschichten. Was hier tragisch behandelt ist, wird der Leser in Jean Pauls genialem »Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvocaten Siebenkäs« humoristisch behandelt finden. »Manette Salomon« ist eine weit reifere und saftreichere Frucht ihres Talents, und ist das Lieblingsbuch der Maler in Frankreich und im skandinavischen Norden geworden. Max Klinger schätzt es so sehr weil er Zola's L'Oeuvre unterschätzt. Nachdem ich es vor Jahren in den Künstlerkreisen Christiania's, wo es damals noch unbekannt war, stark gepriesen hatte, fand ich wenige Jahre später die Maler dort ganz voll von dem Roman. Die Bücher der Brüder Goncourt sind überhaupt das Entzücken aller Maler; dieses, welches das Künstlerleben darstellt, ist den Künstlern besonders werth. Der geniale Künstlervagabund Anatole hat übrigens nicht wenige Züge, die an den Helden in Gottfried Keller's »Der grüne Heinrich« erinnern. Das Problem, das die Goncourt in »Charles Demailly« und »Manette Salomon« zu lösen gestrebt haben, ist dasselbe, welches Edmond allein in seinem Roman »La Faustin« wieder vorgenommen hat, nämlich dieses: Wie kommt ein Kunstwerk, ein Buch, ein Gemälde, eine Rolle zu Stande? Wie eignet das Nervensystem eines Künstlers sich die Welt an, wie saugt es die Eindrücke ein, um sie zu assimiliren, und wie bringt es aus seinen Beziehungen zur Aussenwelt das Kunstwerk hervor? Die genannten Romane geben für den Schriftsteller, den Maler und die tragische Schauspielerin die Antwort auf diese Frage. Sie stellen noch eine andere: Welchen Störungen ist das überreizte Nervensystem des Künstlers in seinen Verhältnissen zu der umgebenden Welt besonders ausgesetzt? Und da das Genie bei ihnen wie nach der bekannten Definition Doctor Moreau's »eine Nevrose«, das heisst eine Nervenkrankheit ist, so sind die Störungen mannigfach und tief eingreifend. Geneigt, wie sie sind, Feinheit und Schwäche überall zu sehen und zu schildern, zeigen sie uns nur unglückliche oder doch angegriffene Künstlernaturen, und die Schlussstimmung ist immer tief melancholisch. Doch es gibt Stunden in dem Leben fast eines jeden Schriftstellers, wo eine wehmüthige Grundstimmung ihm nicht genügt, wo er das Bedürfniss hat, all' das Trostlose, das er gesehen, hinauszurufen, all' die Leiden seiner Nerven, all' die Bitterkeit, die er durch die Berührung mit den Menschen und den Dingen empfunden hat, den Leser fühlen zu lassen in einem nackten, blutigen Werk. Auch solche Bücher haben die beiden Brüder geschrieben, vor Allem jene tiefergreifende, furchtbar-wahre Geschichte eines armen, hysterischen, aber guten und ehrenhaften, nach und nach dem Trunk und den Ausschweifungen ergebenen Dienstmädchens, »Germine Lacerteux«, ein hochbedeutendes Werk, das in der französischen Litteratur tief gewirkt hat und unter Anderem das kaum übertroffene Vorbild für Zola's genialen aber viel gröberen Roman »L'Assommoir« gewesen ist[31]. V. Welchen Erfolg hatten nun diese sechs Romane, die in dem Decennium 1859--69 erschienen? Die Frage ist fast überflüssig. Bücher von solcher Feinheit, Bücher, die sich an einen ausgesuchten Kreis von Lesern wenden, haben nie Erfolg, wenigstens nie augenblicklichen. Um solche Bücher zu verstehen und zu geniessen, ist etwas von der geistigen Entwickelung nothwendig, die erforderlich war, um sie zu schreiben, und eine derartige Vorurtheilsfreiheit ist selten. Ueberdies kommen solche Bücher und Schriftsteller das erste Jahrzehnt hindurch gar nicht in Berührung mit dem Publikum. Es weiss einfach nichts von ihrer Existenz. Was brauche ich zu verweilen bei dem harten und qualvollen Kampfe gegen die Unbekanntheit, den sie mit fast allen grossen Schriftstellern gemein haben, bei den verschiedenen Stationen ihres Leidenswegs -- erst die Station der Gleichgültigkeit des Publikums und der Presse, dann das Stadium der Verspottung und Verhöhnung durch alle Tonarten, weil das, was sie wollten und brachten, das was sie liebten und sagten, das Neue, Unerhörte war. Als die Goncourt 1851 in ihrer ersten Schrift die japanische Kunstindustrie priesen und sie hoch über diejenige von Paris stellten, wurde von einem Journalisten, der diese Geschmacklosigkeit geradezu wahnsinnig fand, gefordert, dass man sie in ein Tollhaus sperre; heutzutage sind nicht nur die meisten fremden Kunstverständigen, sondern sogar die Pariser mit dem Enthusiasmus für japanisches Kunstgewerbe vollständig einverstanden. Und jenes erste Urtheil war lange typisch für die Haltung der Presse ihnen gegenüber. Sie standen anfangs ohne Freunde, ohne litterarische Verbindungen da. Alles war ihnen verschlossen. Ueberall trafen sie das gegen Eindringlinge in die Litteratur, besonders gegen die Revolutionäre einer Kunstart so gut organisirte Schweigen. Vielgenannt, vielgehört wurde ihr Name erst, als 1865 das Schauspiel »Henriette Maréchal« am Théâtre français aufgeführt, von einer Bande Studenten ausgezischt und von der Bühne verdrängt wurde, nicht aus künstlerischen oder kritischen Gründen, sondern weil man zu wissen glaubte, dass die Brüder als Schützlinge der Prinzessin Mathilde Anhänger des zweiten Kaiserreichs seien, mit dem sie nie in der entferntesten Berührung gestanden hatten, wenn man nicht das eine Berührung nennt, dass sie am Tage des Staatsstreiches durch ein possierliches Missverständniss als verdächtig arretirt worden waren. Seitdem verzichteten sie auf jeden Versuch, an einem Theater aufgeführt zu werden. »Renée Mauperin« war von andern -- von Sardou, von Meilhac und Halévy -- nachgeahmt worden, »Germinie Lacerteux« hatte einen schnell vorübergehenden Skandalerfolg gehabt -- die Goncourt beschlossen nun, all' ihre Kräfte an einen feinen, die höchsten Ansprüche befriedigenden Roman zu setzen. Fast drei volle Jahre arbeiteten sie an »Madame Gervaisais«, jener Erzählung von dem Uebergang einer frei denkenden Dame zum Katholicismus, dem feinsten und unfruchtbarsten, leider auch dem grossen Publikum unzugänglichsten ihrer Romane. December 1869 war er vollendet. Kein Pariser Blatt brachte einen Artikel über das Buch; es wurden im Ganzen 300 Exemplare verkauft. Das brach dem jüngeren, feiner, weiblicher organisirten Bruder das Herz. Er hatte all' seine Hoffnungen an dieses Buch geknüpft. Er, der von den Meistern anerkannt war, er, der sein Leben lang sich über das Urtheil und den Geschmack der Dummköpfe lustig gemacht hatte, verfiel in eine qualvolle und hoffnungslose Nervenkrankheit vor Trauer, dass die Dummköpfe ihn nicht verstanden und seine Bücher nicht kauften. Das ist der Widerspruch, den man in fast allen Künstlernaturen findet. In der ersten Zeit war Edmond geistig wie gelähmt. Er war entschlossen, nie mehr eine Feder anzusetzen. Er richtete das kleine Haus, das die Brüder sich eben in Auteuil gekauft hatten, zu einem wahren Museum ein, hing seine Zeichnungen auf, placirte seine Bronzen, ordnete seine ungeheure Bibliothek von seltenen Drucksachen und Handschriften. Zuletzt konnte er aber doch von der Litteratur nicht lassen. Er gab zuerst ein Buch heraus, das er mit seinem Bruder noch besprochen hatte, »La fille Élisa«, und im Handumdrehen erreichte es 16 Auflagen. Der Stoff war peinlich, die Behandlungsweise trocken und didaktisch; aber der Ruhm war über Nacht im Gefolge des Todes über die Brüder hereingebrochen, eine junge Schule verkündete mit Posaunen ihr Lob, sie waren allbekannt, fast berühmt geworden, jetzt, wo der Eine todt, der Andere ein gebrochener Mann war. Dann machte Edmond sich allein, zum ersten Male ganz allein daran, einen Roman zu schreiben. Und noch in die Erinnerung an den Bruder völlig verloren, schilderte er in »Les frères Zemganno« ihr Zusammenleben und Zusammenwirken unter dem Bilde zweier Clowns in einem Cirkus, zweier jener Clowns, die wir alle kennen, die nur mit einander, in einander verflochten ihre Künste machen, immer zusammen geigen: bald auf Stuhlrücken sitzend, bald auf den Köpfen stehend, ihre Geigen in ununterbrochenem Takt des Zusammenspiels behandeln. Man fühlt, wenn man die Lebensgeschichte der Brüder kennt, ihre Persönlichkeiten durch, aber an und für sich ist Alles durchaus realistisch dargestellt. Edmond de Goncourt hatte die berühmtesten Kunstreiter und Akrobaten von Paris studirt und ausgefragt, bevor er daran ging, sein Buch zu schreiben. Der jüngere Bruder stürzt während eines gefährlichen Sprunges, den der ältere für ihn erfunden hat, bricht sein Bein und ist, zu seiner Verzweiflung, daran verhindert, jemals wieder aufzutreten. Er nimmt dem älteren Bruder das Versprechen ab, dass auch dieser nie mehr auftreten, _nie mit einem Andern_ seine Kunst ausüben werde. Hier findet sich eine wunderbare Scene, wo der ältere Bruder, der das Turnen nicht mehr lassen kann, Nachts das Bett des Kranken verlässt, um in ihrem Turnsaal sich von einem Trapez zum andern zu schwingen; plötzlich begegnet er in der Thür dem Blick des Krüppels, der auf allen vieren dahin gekrochen ist, um zuzuschauen. Vorzüglich hat Edmond hier sein eigenes Talent symbolisch charakterisirt, indem er sagt: Gianni's Hände waren, selbst wenn er ausruhte, unaufhörlich beschäftigt ... sie ergriffen jeden Gegenstand, der ihnen nahe war, stellten die Sachen auf den Kopf, schräg geneigt, auf irgend einen Punkt ihrer Oberfläche, wo sie sich vernünftiger Weise nicht halten konnten, indem er sich vergeblich bestrebte, sie mehr als einen Augenblick im Gleichgewicht zu bewahren. »Immer arbeiteten diese Hände unwillkürlich dem Gesetz der Schwere entgegen ... Oft konnte er stundenlang ein Möbel, einen Tisch, einen Stuhl in alle Richtungen drehen und wenden mit einem stummen Fragen, so neugierig, so beharrlich, dass sein kleiner Bruder ihm zuletzt sagte: »»Was willst du doch damit, Gianni?«« »»Ich suche««, antwortete er«. Er suchte jenes Neue, das Edmond in seiner Kunst immer angestrebt hat. Augenscheinlich ist trotz des engen Zusammenarbeitens der ältere Bruder der eigentliche künstlerische Experimentator gewesen; der jüngere Bruder hat seine Stärke in der glanzvollen Ausführung gehabt. VI. Wenn der Leser mit mir im Geiste das kleine Haus No. 53 Boulevard Montmorency betreten will, so wandern wir zuerst durch ein mit rothem und weissem Marmor belegtes Véstibule, wo japanische Stickereien, die sogenannten Fukusas, von den Wänden in prachtvollen Farben strahlen; wir betrachten in den Zimmern die Meisterwerke des französischen achtzehnten Jahrhunderts und die Schätze aus Japan, jenem äussersten Orient, dessen Kunstgewerbe der Besitzer nicht mit Unrecht so hoch hält und das er, eigenthümlich genug, aber nach der Ansicht anderer Kenner irrthümlich, gleichfalls dem achtzehnten Jahrhundert zuschreibt. Wir suchen ihn vielleicht vergeblich in der Wohnstube und den Bibliothekszimmern, aber in dem kleinen Garten des Hauses steht ein stattlicher, eben sechzigjähriger, weisshaariger Mann über seine Blumen gebeugt. Er liebt seinen Garten, und wie ein echter Franzose, ein echter Landsmann Candide's hat er damit geendigt, seinen Garten zu bauen. Der Garten war, als er ihn kaufte, voll gewöhnlicher, bürgerlicher Pflanzen. Er liebt aber das Gewöhnliche und Bürgerliche nicht. Er hat nur die grossen, mächtigen Bäume stehen lassen und jene alltäglichen Pflanzen durch seltene Gewächse ersetzt, denn, wie er naiv und bezeichnend sich ausdrückt: »Das Seltene ist fast immer das Schöne«. Er hat sich einen malerischen Garten gebildet, er hat sogar ein prachtvolles Gefäss von Meissener Porzellan geopfert, um in dem Grün, das eine Fontaine frisch erhält, sich einen schönen weissen Flecken zu sichern. Da lebt er das Jahr hindurch mit seinen Blumen und jeder Monat bringt dem Garten neue Schönheit. Doch der Sammler und Gärtner ist der Welt nicht fremd geworden. Er folgt mit lebhaftem Interesse der litterarischen Entwickelung seines Landes. Und hört er, wie sein Name jetzt überall bekannt ist, erfährt er, wie man nicht nur in Frankreich ihm eine späte Genugthuung gibt, sondern wie Männer der jüngeren Generation auch ausserhalb Frankreichs, sogar in fernen Ländern, ihn als einen bahnbrechenden Geist, als einen Meister verehren, so mischt sich in die Freude an seinem Ruhm der Schmerz, dass der jüngere Bruder, der die Arbeit mit ihm theilte, den Lohn zu theilen nicht erlebte. NACHSCHRIFT. (Juli 1896.) Ist es möglich, dass er gestorben ist, gestorben ohne vorhergehende Krankheit, er, der noch vor wenigen Tagen ein Bild der Gesundheit und der geraden, unerschütterten Kraft war? Und gestorben bei Daudet, für den, leidend wie er ist, der Tod des Freundes ein Schlag ist, dessen Wirkung er spät verschmerzen wird. Er war stattlicher als je; er schien keine von den körperlichen Schwächen des Alters zu haben; er war vielleicht ein wenig stiller als in früheren Jahren, doch nur wenn Viele zugegen waren. An einem frühen Morgen bei Alphonse Daudet Mitte Juni wurde sein Name genannt. Das Gespräch wurde von dem Secretären Daudet's mit der Frage, ob der Meister etwas zu schreiben hätte, unterbrochen, als der Diener gleichzeitig einen Brief von Madame Adam überbrachte. In höflichen Wendungen sagte die Dame für den folgenden Mittag ab, weil es ihr zuwider und unmöglich sei, ihre Worte zu wägen, und weil sie, wenn Goncourt anwesend sei, riskire, Alles was sie sagen werde, in den _Tagebüchern_ abgedruckt zu finden. Daudet bat den Secretären sie zu beruhigen, ihr mitzutheilen, die Tagebücher seien jetzt unwiderruflich abgeschlossen; zur Lebenszeit Goncourts werde nichts mehr von ihnen erscheinen; sie dürfe nicht ausbleiben. Sie erschien denn auch am folgenden Tage, und Alles ging gut. Die Gesellschaft bestand aus der Familie, aus ihr, Goncourt, dem südfranzösischen Lyriker Mariéton und Franz Jourdain. Goncourt nach dem Verlauf mehrerer Jahre wiederzusehen war eine erfreuliche Ueberraschung. Er war mit den Jahren fast noch schöner geworden; sein Bart und seine üppigen Haare, die über dem Kopf wie ein Kranz lagen, waren jetzt silbern, und die schwarzen Augen hatten ihre stille Gluth bewahrt. Ins heitere Tischgespräch mischte er sich nicht viel; er sprach nur von der Unruhe, die man während der langen Typhuskrankheit Léon Daudet's ausgestanden hatte, und fügte eine und die andere Bemerkung zu den Aeusserungen Daudet's über die Treulosigkeit und blasirte Verlogenheit des verstorbenen Chefredacteurs des Figaro; später wurde er lebhafter und sprach einige kurze und scharfe Urtheile aus. Als die Rede auf eine für ihren Geist berühmte Schriftstellerin fiel, sagte er: Achten Sie doch nicht auf ihre Aeusserungen; sie ist vollständig imbécile. Sobald wir in einer Ecke allein standen, sagte er: Haben Sie Dank für Ihr Telegramm. -- Welches Telegramm? -- Das zum Bankette für mich im März des vorigen Jahres. -- Jetzt, wo Sie es sagen, glaube ich, ein Telegramm damals abgesandt zu haben; ich entsinne mich aber dessen nicht mehr. -- Sie werden es in dem letzten Band meines Journals abgedruckt finden, und Sie werden ein kleines Zeugniss meiner Würdigung darin erblicken, dass Ihre Depesche die einzige der eingelaufenen ist, die ich abgedruckt habe. Kommen Sie Sonnabend zu mir zum Frühstück, dann werde ich Ihnen das Buch und einige anderen geben. -- Eine volle Stunde nahm es, den langen Weg zu seinem Hause in Auteuil zu fahren, und leider kam ich ein wenig zu spät. Ein kleines Dienstmädchen lag mit dem Kopf aus dem Fenster und spähte nach dem Erwarteten, damit er sich nicht an dem Hause irren solle, das, seit ich das letzte Mal da war, eine neue Nummer bekommen hatte, eine 67 anstatt der klassischen 53, die in _La maison d'un artiste_ angeführt ist. In seinen zwei Bänden enthält dies Buch ja die umständliche Beschreibung von Allem, was bis 1881 an Kunstschätzen im kleinen Hause aufgehäuft war, dessen Werth seitdem recht stark vermehrt worden ist. -- Ich fürchtete, Sie hätten den Tag vergessen; wir können sogleich zu Tisch gehen, und wir werden viel Champagner trinken. -- So früh am Tage? -- Das ist eben gut. -- Ich fragte nach Pélagie, dem alten Dienstmädchen, das mich früher so liebenswürdig protegirt hatte. -- Es ist ihre Tochter, die uns aufwartet. Sie ist hier im Hause, lässt aber die Tochter ihre Stelle vertreten. -- Die Tochter wusste, dass ihre Mutter sogar in fremden Ländern berühmt sei. Wir waren allein in dem kleinen Esszimmer, dessen Wände mit schönen Tapeten in der Manier Watteau's bedeckt sind; die Rede fiel, wie es natürlich war, zuerst auf Alphonse Daudet, einer der Persönlichkeiten, über welche die vollste Uebereinstimmung zwischen dem Wirthe und seinem Gaste herrschte. Niemand, der Daudet kennt, kann anders, als seine Persönlichkeit noch höher als sein Talent schätzen. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist er jetzt krank gewesen -- seine Beine sind fast gelähmt -- aber weit davon, ihn selbstsüchtig zu machen, hat das Leiden nur seine reiche und starke Menschlichkeit vertieft. Ich sagte: In jenem Hause, in jener Familie, haben Sie Herzen, worauf Sie sich verlassen können. Er antwortete: Es ist meine Familie, mein Heim. -- Es überraschte mich, wie sehr er und Daudet in allen Urtheilen über Personen übereinstimmten. Man merkte, dass sie so oft und lange mit einander über alle möglichen Gegenstände gesprochen hatten, dass jeder Unterschied in der Auffassung sich ausgeebnet hatte. Während Zola die Bücher Daudet's mit den Augen des Rivalen ansieht und sie mündlich mit einer Strenge und Schärfe beurtheilt, die in seiner geschriebenen Kritik sich nirgends findet, hatte Goncourt das schärfste Auge für jeden Vorzug Daudet's, und die Bücher von ihm, die er am höchsten würdigte, waren auch wirklich die besten. _Sappho_ war ihm vor all den anderen lieb. Daudet konnte nicht umhin, die Selbsterfülltheit zu bemerken, die mit den Jahren sich bei Goncourt geltend machte, er fand sie aber so unschuldig und so verzeihlich, dass es ihm unmöglich war, daran zu ermüden, viel weniger, dass er sie hätte übel aufnehmen können. Nur die allzu offenherzige Weise, auf welche Goncourt in den Tagebüchern bisweilen sich über ihn und die Seinigen ausgesprochen hat, war ihm, so liebevoll die Besprechung und so gut die Absicht war, durchaus nicht angenehm. Es ist ja auch unzweifelhaft, dass diese so eigenartigen Journale ab und zu Indiscretionen, auch nicht selten Unbedeutendes bringen, und dass sie bisweilen ausgezeichnete Männer (wie Renan oder Taine), deren Philosophie dem Autor ein verschlossenes Buch war, in ein schiefes Licht stellen. Nichtsdestoweniger enthalten sie eine Fülle von Leben, bringen einen Reichthum an Porträts der Zeitgenossen, an Bildern jeglicher Art, an verdichteten Gesprächen u. s. w., im Fluge aufgegriffen und mit einer Fähigkeit, das Momentane wiederzugeben, dargestellt, die, so viel ich weiss, nirgends vorher so schlagend erschienen ist. Diese neun Bände, von denen die drei ersten beiden Brüdern entstammen, während Edmond de Goncourt allein die sechs übrigen verfasst hat, stehen im Ganzen würdig den zwei Romanen zur Seite, die Edmond in den achtziger Jahren schrieb: _La Faustin_ und _Chérie_; der erstere jene feine und tiefe Analyse des Temperaments und des seelischen Lebens einer grossen französischen Schauspielerin, der letztere eine etwas peinlich sorgfältige, fast wissenschaftliche Studie eines frühreifen jungen Mädchens unter dem zweiten Kaiserthum, eine Studie, zu welcher der Verfasser recht viele Mittheilungen und Bekenntnisse von weiblichen Zeitgenossen und, wie er mir einmal gestand, nicht zum wenigsten die Journale Marie Baschkirtzew's verwendet hat. -- Goncourt führte mich umher in seinem kleinen Museum, zeigte mir französische Zeichnungen aus dem 18. Jahrhundert und Bronzen aus Japan, die ihm besonders lieb waren; dann entfaltete er mir den Bücherschatz, den er sich, seit ich das letzte Mal hier war, erworben hatte, die seltene Sammlung französischer Meisterwerke, mit einem Blatt aus dem Manuscript des Verfassers versehen und mit einem Portrait desselben in der kunstreichen Einbanddecke eingerahmt. Nur ein Stück der Sammlung fehlte, das Bildniss Daudet's von Carrière ausgeführt, der ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit einem leidenden Christus verliehen hat; es war und ist zur Zeit in der Ausstellung _L'art nouveau_ zu sehen. Der Kaffee wurde in den Garten hinuntergebracht, in welchem sich an jeglichen Baum Erinnerungen anknüpfen, und wo ich den kleinen Delfin aus sächsischem Porzellan in dem feuchten Grün bei der Quelle wiedersah. Doch es gab auf's Neue etwas im Hause, das Goncourt zeigen wollte. Er stieg die Treppe zum Arbeitszimmer hinauf, und wir sahen die vielen Portraits ersten Ranges durch, welche dieses enthält. Dann nahm ich Abschied, wie das vorige Mal mit Geschenken belastet. Aber indem ich mich der Ausgangsthür näherte, ergriff mich das Gefühl, dass ich jetzt zum letzten Mal diese Thür öffnen und nie den grossen alten Mann wiedersehen werde. Es war mir als ob meine Augen feucht wurden, ich kehrte mich unwillkürlich um, ergriff seine Hand und sagte noch einmal Lebewohl. Er brach in die Worte aus: Sehen wir uns denn nicht in Champrosay, Sie reisen ja doch da hin? -- Das thu' ich, aber wir werden uns kaum dort treffen. -- Ich komme am 4. Juli da hinaus, sagte er. -- Zu der Zeit werde ich in London sein. Leben Sie wohl denn! -- Auf Wiedersehen, sagte er, und ich fühlte zum letzten Mal den Druck seiner Hand. Er kam nach Champrosay um den Tod dort zu finden unter den Wesen, die ihm die liebsten waren. IWAN TURGENJEW. (1883.) I. Den 28. October 1818 wurde im Gouvernement Arjol (Orel), in einer altadligen (ursprünglich tatarischen) Familie der Mann geboren, dem, bis in die allerjüngste Zeit, die gebildeten Klassen in den germanischen und romanischen Ländern fast alles verdankten, was sie über das innere Leben der slavischen Menschenrace in unseren Tagen wussten. Kein früherer russischer Dichter ist in Europa gelesen worden wie Iwan Turgenjew, er war eher als ein internationaler denn als ein russischer Schriftsteller zu betrachten. Er eröffnete uns eine neue Stoffwelt, aber er bedurfte nicht des Nebeninteresses, das seine Werke dadurch gewannen; denn es ist der Künstler, nicht der Sittenschilderer, den Europa in ihm bewundert hat. Obgleich er kaum ausserhalb seines Vaterlandes in seiner eigenen Sprache gelesen wurde, stellte ihn die kundige Kritik überall, selbst in den künstlerisch am meisten fortgeschrittenen Ländern in gleiche Reihe mit den besten Schriftstellern des Landes. Man las ihn in Uebersetzungen, die selbstverständlich den Eindruck seiner Vorzüge trübten und verringerten. Aber die Vollkommenheit des Originals machte sich durch die mehr oder weniger gelungenen Abgüsse so stark geltend, dass man davon absah, was diesen an Feinheit und Schärfe gebrach. Grosse Dichter wirken in der Regel am tiefsten durch ihren Stil, weil sie durch denselben dem Leser persönlich entgegentreten; Turgenjew wirkte so tief wie nur irgend Jemand, obgleich der nichtrussische Leser nur das Gröbste seines Stils kannte, kaum ahnte, mit welcher Eleganz er sich auszudrücken pflegte und ebenso weit davon entfernt war, seine Anspielungen zu verstehen, wie von der Möglichkeit, seine Auffassung und Schilderung von Persönlichkeiten und Denkarten in Russland mit der geschilderten Wirklichkeit vergleichen zu können. Er hat auf der künstlerischen Laufbahn gesiegt, obgleich er eine Kugel am Fusse hatte, hat in der grossen Arena triumphirt, obgleich er mit einem Schwert ohne Spitze focht. Er hat das grosse östliche Reich für uns bevölkert. Ihm verdanken wir es, dass wir die seelischen Grundzüge der Frauen und Männer desselben kennen. Obgleich er im kräftigsten Mannesalter Russland verliess, um nie wieder als ansässiger Bürger in seinem Vaterlande zu leben, hat er niemals Anderes geschildert, als die Bewohner dieses Landes, und Deutsche oder Franzosen nur als halbwegs russificirt oder doch nur in Berührung mit Russen. Er wollte nur Wesen darstellen, mit deren Eigenthümlichkeit er von Jugend auf vertraut war. Dass es nach und nach während seines langen Exils und unter der Spannung zwischen slavophilen und europäisch gesinnten Russen in gewissen Kreisen Sitte wurde, seine Kenntnisse vom Vaterlande herabzusetzen und ihn als eine Art Westeuropäer zu behandeln, ist nur natürlich. Wäre er einen Grad weniger Kosmopolit gewesen, so würde er kaum in der ganzen civilisirten Welt so durchgedrungen sein, wie er es jetzt ist. Er hat uns Bilder gegeben von Wald und Steppe, von Frühling und Herbst, von allen Ständen und Gesellschaftsklassen und Bildungsstufen in Russland. Er hat sie alle gezeichnet, den Leibeigenen und die Fürstin, den Bauer, den Gutsbesitzer und den Studenten, junge Mädchen, die lauter Seele sind, mit der feinsten slavischen Anmuth ausgestattet, und die kalten, schönen, egoistischen Koketten, die bei ihm unzurechnungsfähiger in ihrer Herzlosigkeit zu sein scheinen, als anderwärts. Er hat uns die reiche Psychologie einer ganzen Menschenrace gegeben, und zwar mit tief bewegtem Sinn, ohne dass die Gemüthserregung jemals die durchsichtige Klarheit der Darstellung getrübt hätte. Turgenjew ist unter allen Prosaisten Russlands der grösste Künstler. Das mag daher kommen, dass er von ihnen allen am meisten im Auslande gelebt. Denn wurde auch durch seinen langen Aufenthalt in Frankreich der Fond von Poesie, den er aus der Heimath mitgebracht, nicht erhöht, so hat er augenscheinlich doch durch jenen die Kunst gelernt, seine Bilder unter Glas und Rahmen zu setzen. Es strömt eine breite, tiefe Welle von Melancholie durch Turgenjew's Gemüth, und darum strömt sie auch durch seine Werke. Wie nüchtern und unpersönlich auch seine Darstellungsweise ist und obgleich er fast niemals in seine Novellen und Romane Gedichte einlegt, machen doch seine sämmtlichen Erzählungen einen lyrischen Eindruck. Es ist so viel Stimmung in sie verdichtet, und diese Stimmung ist immer Wehmuth, eine eigene, sonderbare Wehmuth, ohne einen Tropfen von Empfindsamkeit. Niemals gibt sich Turgenjew dem Gefühle ganz hin, er wirkt durch das gebundene Gefühl; aber kein westeuropäischer Erzähler ist wehmüthig wie er. Die grossen Melancholiker der lateinischen Race, wie Leopardi oder Flaubert, haben harte, feste Konturen in ihrem Stil, die deutsche Wehmuth ist grell humoristisch oder pathetisch oder sentimental. Turgenjew's Melancholie ist in ihrem allgemeinen Wesen die des slavischen Stammes in seiner Schwäche und Trauer, sie stammt in gerader Linie von der Melancholie der slavischen Volksgesänge ab. Die neueren russischen Poeten von Rang sind alle Melancholiker. Bei Turgenjew jedoch ist diese Wehmuth vor Allem die des Denkers, der verstanden hat, dass alle Ideale der Menschheit, Gerechtigkeit, Vernunft, Allgüte, allgemeines Glück, der Natur gleichgiltig sind und sich nie durch eigene göttliche Macht geltend machen. In »Senilia« hat er die Natur als Weib dargestellt, das mitten in einem Saale in der Tiefe der Erde tiefgrübelnd sitzt, von einem weiten grünen Gewande umwallt. »O unsere gemeinsame Mutter«, frägt er, »woran denkst du? An das künftige Schicksal der Menschheit? An die Bedingungen, die nothwendig sind, damit sie die höchstmögliche Vollkommenheit, das grösstmögliche Glück erreichen kann?« Das Weib wendete langsam seine dunklen, durchdringenden, schrecklichen Augen gegen mich; ihre Lippen öffneten sich halb, und ich hörte eine Stimme, die klang, wie wenn Eisen an Eisen stösst: »Ich denke daran, wie ich den Beinmuskeln der Flöhe grössere Kraft geben kann, damit sie leichter den Nachstrebungen ihrer Feinde entgehen. Es ist kein Gleichgewicht mehr zwischen Angriff und Verteidigung; das muss hergestellt werden«. »Was?«, stammelte ich, »dies ist es, woran du denkst? Aber wir Menschen, sind wir nicht deine Lieblingskinder?« Sie zog die Brauen zusammen. »Alle Thiere sind meine Kinder«, sagte sie, »ich sorge gleich viel für sie alle, und ich rotte sie alle auf dieselbe Weise aus«. Hierin hat man den Charakter seiner Melancholie. Wenn Gogol melancholisch ist, so ist er dies aus Entrüstung, wenn Dostojewski es wird, so rührt es daher, dass sein Herz vor Mitleid schmilzt mit den Unwissenden und Uebersehenen, mit den wie Heilige Edlen und Herzensreinen und fast noch mehr mit Sündern und mit Sünderinnen. Tolstojs Melancholie hat ihren Grund in seinem religiösen Fatalismus. Turgenjew allein ist Philosoph. Man wird ferner finden, dass das Leben der andern grossen russischen Dichter einen Wendepunkt hat, an welchem sie von einer religiösen Bewegung ergriffen werden, die ihrem Leben ein neues Gepräge, ihrer eigenen Auffassung nach eine neue Weihe, einen neuen Ernst gibt, zugleich aber auch auf ihre dichterische Schaffenskraft in hohem Masse hemmend, schwächend wirkt, ja in der Regel etwas früher oder später ihrer Dichterlaufbahn völlig Einhalt thut. Dieser Wendepunkt kommt bald als einer, an dem eine Bekehrung sich vollzieht und bald als einer, an welchem sie erfüllt werden von einem nationalen oder national-religiösen Mysticismus. Der Hang zu solchem Mysticismus tritt in diesem Jahrhundert als ein der ganzen slavischen Welt gemeinsamer Zug auf. Er ergreift in der polnischen Litteratur in den vierziger Jahren Miekiewicz, Slowacki, Krasinski, Zaleski u. a. m., da Towianski und andere Schwärmer ihren Einfluss geltend machen. Er bemächtigt sich in der russischen Litteratur (unter verschiedenen Formen) so grosser Talente wie Gogol und Dostojewski, zuletzt endlich Tolstojs, wie es scheint unter dem Einflusse Sjutajews. Nur für Turgenjew mit seiner ruhigen Contemplation ist -- obgleich auch er in »Clara Militsch« und im »Lobgesang der triumphirenden Liebe« der Mystik seinen Tribut zollt -- der religiöse Enthusiasmus selbst ein Stoff wie ein anderer. Er behandelt ihn ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen. Man denke z. B. an seine Sophie Wladimirowna in »Eine sonderbare Geschichte«, das junge Mädchen aus guter Familie, das einem umherziehenden Heiligen in die weite Welt folgt. Seine Melancholie ist denn weniger eine religiöse, als eine philosophische, zugleich aber ist sie die des Patrioten, der Pessimist geworden. Er war trotz all seines scheinbaren Cosmopolitismus ein Patriot, doch ein solcher, der über sein Vaterland trauerte und an demselben zweifelte. Er wurde desshalb vielfach angegriffen. Dostojewski suchte ihn in der Gestalt Karmásinows in seinem Roman »Die Besessenen« lächerlich zu machen. So ganz ohne Zutrauen zu der Zukunft seines Vaterlandes war er gleichwohl nicht. Er bewunderte dessen Sprache, wie gewisse Partien seiner Litteratur so lebhaft, dass er günstige Schlüsse darüber zog, was das Volk, das sie hervorgebracht, zu leisten vermöchte. Aber er theilte nicht die Begeisterung seiner naiveren und unwissenderen Landsleute für das russische Volk als solches. Er fand dessen Vergangenheit nicht gross. Turgenjew schildert irgendwo seine Niedergeschlagenheit, als auf einer der grossen Weltausstellungen ihn die bestimmte Empfindung überkam, wie nichtssagend der Beitrag Russlands zu den industriellen Erfindungen der Menschheit sei, und er fügt bitter hinzu: »Wir haben nichts als die Knute erfunden«. Seine Werke zeigen, dass die Entwicklungsgeschichte des Landes in der neueren und neuesten Zeit weit davon entfernt war, ihm Zuversicht einzuflössen. Iwan Turgenjew verlor frühe (1834) seinen Vater, Oberst Sergej Nikolajewitsch (aus jener Familie Turgenjew, die Russland schon zwei ausgezeichnete Männer geschenkt hatte) und musste unter dem Regiment seiner herrschsüchtigen, kaltherzigen Mutter vielerlei leiden. Er wurde indess in ländlicher Stille auf dem Stammgute der Familie, Spaskoje, erzogen und empfand frühe die lebhafteste Liebe zur Natur, sowie den leidenschaftlichsten Unwillen gegen die Leibeigenschaft, deren traurige Folgen er stets vor Augen sah. Er studirte zuerst an der Moskauer, dann an der Petersburger Universität und reiste 1838 nach Deutschland, wo er gleichwie Katkóf und Bakunin Philosophie und Geschichte an der Berliner Universität (bei Michelet, Werder, Ranke u. s. w.) hörte. Nach mehrjährigem Aufenthalt im Auslande kehrte er als Anhänger des westeuropäischen Freisinns nach seiner Heimath zurück, erhielt eine Anstellung in der Kanzlei des Ministeriums des Innern, trat jedoch schon nach Verlauf eines Jahres aus demselben wieder aus, um das freie Leben eines Gutsbesitzers und Jägers zu führen. Seine erste Jägergeschichte gab er 1847 heraus, auf welche von 1847--51 die übrigen folgten. 1852 erschienen sie gesammelt als »Eines Jägers Tagebuch« und erregten ein epochemachendes Aufsehen. Ursprünglich war er mit versificirten Sachen als Byronianer und Romantiker aufgetreten, ohne Erfolg und ohne Originalität. In jener ersten Periode fand Alexander Herzen -- wie ein Ohrenzeuge mir erzählte -- ihn so affectirt, dass er von ihm zu sagen pflegte, dass er nicht einmal essen könne ohne Affectation. Bjelinski riss ihn von Byron, Heine und der Romantik los und führte ihn auf den rechten Weg. Er gab, was er von Grund aus kannte, russische Natur und russisches Volksleben wieder und lieh seiner Entrüstung über die Leibeigenschaft in den Formen Ausdruck, welche von der Censur gestattet wurden. Dieselbe hat sicher einen günstigen Einfluss auf sein Talent gehabt, mit Nothwendigkeit all' das Vornehme, Aristokratische und Discrete darin entwickelt. Hat er jemals in seiner frühesten Jugend Hang zum directen Pathos, zur Declamation, zu grellen Wirkungen gehabt -- stark kann dieser Hang keinesfalls je gewesen sein -- so muss das Verhältniss zur Censur denselben getödtet haben. Um Mitleid für die Leibeigenen zu erwecken, um die Rechtlosigkeit zu zeigen, in welcher sie ihr Leben verbrachten, und ein Bild von der Rohheit zu geben, welche, auch ohne Peitsche oder Knute anzuwenden, sie zu Tode misshandelte -- erzählte er Bruchstücke aus seinem Tagebuch als Jäger, Besuche bei den Gutsbesitzern oder bei dem Arzte und dazwischen ab und zu eine kleine Geschichte: die Geschichte jener Müllersfrau, welche sich als Mädchen der schwarzen Undankbarkeit schuldig machte, sich verheirathen zu wollen, obgleich ihre Herrschaft, eine engelsgute Dame, verheirathete Dienstboten nicht ausstehen konnte, und welche, da sie das Verhältniss zu ihrem Schatz nicht aufgeben wollte, durch Zwangsheirath mit einem Andern gestraft ward, nachdem man ihren Petruschka unter die Soldaten gesteckt. Oder die Geschichte von dem taubstummen, riesenstarken Bauernknecht Garassim, dessen Geliebte von der gnädigen Frau zum Spass mit einem Trunkenbolde verheirathet wurde, und der seinen Hund, ein kleines mageres Hündchen, Mumu, seinen letzten Trost und seinen einzigen Gefährten in dieser Welt, ertränken musste, weil Mumu zeitweise mit seinem Gekläff die Gnädige aufstörte, wenn sie nach allzu starker Mahlzeit schlaflos dalag. Beide Geschichten sind ohne Reflexionen, ohne irgend ein Urtheil erzählt; der Gram über die gezeigte Brutalität äussert sich nur als Ironie, und diese Ironie verschwindet wieder in der Wehmuth der Totalstimmung. Das, was Turgenjew's Grundstimmung so reich und eigenthümlich macht, ist, dass er zugleich Pessimist und Menschenfreund ist, dass er die Menschenrace geliebt hat, von der er so gering dachte und welcher er so wenig zutraute. Seine Ueberzeugung ist die, dass in Russland Alles fehlschlage (eine Liebesgeschichte scheint ihm nicht echt russisch, wenn sie nicht durch die Unbeständigkeit des Mannes oder die Kälte der Frau einen unglücklichen Ausgang nimmt; eine Bestrebung scheint ihm nicht echt russisch, wofern sie nicht die Kräfte dessen übersteigt, der sie unternimmt, und an der Unempfänglichkeit derjenigen scheitert, um derentwillen sie geschieht); aber doch kann er nicht umhin, immer wieder haltungslose Liebe und fruchtloses Streben in Russland darzustellen. Für ihn ist Russland das Land, wo Alles scheitert, das Land des gemeinsamen Schiffbruches. Und sein Grundgefühl ist das schmerzbewegte, stark gemischte eines Zuschauers bei einem Schiffbruche, an welchem er den Gescheiterten selbst die Hauptschuld geben muss. Es ist ein starkes und stilles Gefühl, immer in seinem Ausbruch gedämpft. Niemals ist ein grosser und fruchtbarer Schriftsteller weniger lärmend gewesen als er. Es liegt in dieser edlen, einfachen Haltung etwas Aristokratisches. Nicht als ob er, wie Lord Byron oder Fürst Pückler, seinen Werken dieses Gepräge wie einen äussern Stempel aufgedrückt hätte; man findet in seinen Büchern nicht das Geringste, was direct an den vornehmen Mann erinnert; aber man bekommt den Eindruck, dass dem Autor die geistige Feinheit angeboren war und dass er immer in der besten Gesellschaft gelebt hat. Er war Weltmann, und man fühlt in seinen Werken jene Lebenserfahrung des Weltmannes durch, welche den Dichtern Deutschlands in der Regel fehlt; aber diese Erfahrung hat ihn nicht wie so manchen Schriftsteller in Frankreich cynisch, noch wie so manchen englischen moralisirend werden lassen. Obgleich er in seiner Erzählerkunst nie den guten Ton verletzt, ist sein Ton doch nicht der Weltton. Selbst seine Verachtung ist keine kalte Verachtung. Da ist immer Seele in seiner Stimme. Es ist schwer, bündig und bestimmt zu sagen, was Turgenjew zum Künstler ersten Ranges macht. Kurz zusammengefasst liegt es wohl daran, dass seine Darstellung so _echt_ ist. Aber auch dieses Wort bedarf einer Erklärung. Dass er im höchsten Grade die Eigenschaft des wahren Dichters hat, Menschen hervorzubringen, welche leben, begreift nicht Alles. Was seine künstlerische Ueberlegenheit so fühlbar macht, ist die Uebereinstimmung, welche der Leser empfindet zwischen dem Interesse des Dichters für die geschilderte Persönlichkeit oder dem Urtheile desselben über sie und dem Eindrucke, welchen der Leser selbst von der dargestellten Persönlichkeit empfängt. Denn dieser Punkt: das Verhältniss des Dichters zu seinen eigenen Gestalten, ist derjenige, wo jede Schwäche, welche er als Mensch oder als Künstler hat, an den Tag kommen muss. Der Dichter kann mancherlei seltene Gaben besitzen; wenn er aber unsere Bewunderung verlangt für das, was nicht der Bewunderung werth ist, wenn er uns Anerkennung für einen Mann oder Mitleid mit einem Weibe, oder Begeisterung für eine That abtrotzen will, ohne dass wir uns veranlasst fühlen, darauf einzugehen, so hat er sich selbst geschwächt und geschadet. Wenn der Romanschriftsteller, dem wir eine zeitlang willig folgten, sich plötzlich weniger kritisch oder mehr empfindsam oder sittlich schlaffer zeigt als wir, da ist es uns, als ob die Darstellung versage. Wenn er eine Person als unwiderstehlich herzgewinnend auftreten lässt, ohne dass wir sie verführerisch finden, oder sie als begabter und witziger schildert, als sie uns zu sein vorkommt, oder wenn er die Person eine kühnere That ausführen lässt, als wir von ihr erwarten konnten, oder die Handlungsweise derselben durch eine Hochherzigkeit erklärt, die uns nie begegnet ist und an die wir in diesem Falle nicht glauben, wenn er uns durch willkürliche, unreife Werthschätzung herausfordert, oder uns durch Kälte empört, oder uns durch Moralisiren reizt, dann fühlt der Leser sich dem Unechten, Versagenden gegenüber und wird zurückgeschreckt; es wird uns, als hörten wir einen falschen Ton, und selbst wenn darüber weg gesungen wird, bleibt das Unbehagen als dumpfe Erinnerung zurück. Welcher Leser von Balzac, oder Dickens, oder Auerbach -- um nur von den grossen Todten zu reden -- kennt nicht dies Unbehagen! Wenn Balzac in plumper Begeisterung schwimmt oder Dickens kindisch rührend oder Auerbach affectirt naiv wird, dann fühlt der Leser sich von dem Unechten, Versagenden zurückgeschreckt. Niemals begegnet Jemand dem künstlerisch Versagenden bei Turgenjew. Die Aufgaben, welche er sich gestellt hat, sind die allerschwersten. Er verschmäht es, durch romantische Charaktere und abenteuerliche Ereignisse zu fesseln. Nicht weniger verschmäht er den Reiz des Unreinen. Selten oder nie geschieht in seinen Novellen oder Romanen etwas Ungewöhnliches -- eine Katastrophe wie der Zusammensturz des Hauses am Schlusse vom »König Lear auf dem Dorfe« ist eine völlige Ausnahme -- und obgleich er niedrigen und schmutzigen Charakteren nicht ausweicht und novellistische Begebenheiten erzählt, welche kein englischer Novellist erzählen möchte, gibt er sich doch nie damit ab, in dem Obscönen umzurühren, wie sonst Schriftsteller, die sich ein für allemal über das Herkömmliche hinausgesetzt haben, sich so oft versucht fühlen. Er war als Künstler ein entschiedener, aber schamhafter Realist. Sein Hauptgebiet als Schriftsteller nehmen die Geringen, die Schwachen, die Unsteten, die Unzuverlässigen, die Ueberflüssigen und die Verlassenen ein. Er schildert nicht wie Dostojewski das äussere, handgreifliche Unglück, nicht die Armuth, die Rohheit, die Verderbtheit, das Verbrechen, überhaupt nicht das Unglück, das sich von weitem erkennen lässt. Er schildert das Unglück, das sich dem Auge entzieht; er ist insbesondere der Dichter derer, die sich in ihr Schicksal ergeben haben. Er hat das innere Leben des verschwiegenen Kummers, sozusagen das Stillleben des Unglücks gemalt. Man lese z. B. »Ein Briefwechsel«. Wir lernen hier allmälig ein junges Mädchen kennen, welches allein, unverstanden und von seiner dummen Umgebung verhöhnt, auf einem kleinen Dorfe lebt und eben auf dem Punkte steht, ein altes Mädchen zu werden. Sie hat schon verzichtet. Ihr Verlobter hat sie vor wenig Monaten verlassen. Sie hat ihre Forderungen an das Leben aufgegeben, hat nur den Einen Wunsch nach Ruhe und ist auf dem Wege, Ruhe zu finden. Da beginnt aus Drang, sich mitzutheilen, aus Müssiggang, aus Einsamkeitsgefühl, aus Theilnahme ein Jugendfreund von ihr an sie zu schreiben. Sie antwortet anfangs abweisend. Nach dem Empfange neuer Episteln lässt sie sich die Erlaubniss abnöthigen, dass er fortfahren darf. Er schreibt, und sie weist ihn nun nicht mehr kurz, sondern in einem langen beredten Briefe ab. So keimt das Freundschaftsgefühl in ihrem Innern, und nicht lange ist sie davon erfüllt, als es in Liebe umschlägt. Einen Augenblick lieben sie Beide. Er sehnt sich und schwärmt ihr entgegen, der Tag seiner Abreise und Ankunft ist schon bestimmt -- da hört der Briefwechsel auf, er lässt sich von einer Tänzerin entführen, über deren vulgäre Reize er Alles vergisst, und sie sinkt von neuem, aber diesmal so viel tiefer getroffen, in ihre fürchterliche Isolirtheit zurück. Die sehr ausgeführte Novelle »Eine Unglückliche« behandelt das Leben eines andern jungen Mädchens, dessen Unglück ebenso schweigsam und ereignisslos ist. Ihre älteste Erinnerung ist die, dass sie mit ihrer Mutter, einer Jüdin, Tochter eines fremden Malers, täglich am Tische des Gutsbesitzers Herrn Koltowskoj speist. Herr Koltowskoj ist ein hochgewachsener alter Popanz, der abscheulich nach Ambra riecht, immer aus einer goldenen Dose schnupft und dem Kinde kein anderes Gefühl als das der Angst einflösst, selbst wenn er ihm seine harte dürre Hand mit gestickter Manschette zum Kusse reicht. Die Mutter wird zu einer Heirath mit dem widerlichen Verwalter Herrn Ratsch überredet, und gleichzeitig erfährt das Kind, dass der Gutsbesitzer ihr Vater ist. Niemals hat dieser Vater ihr Liebe erwiesen, ihr sogar niemals ein freundliches Wort gesagt. Er bezeichnet sie mit steifer Grandezza als seine kleine Vorleserin. Die Mutter stirbt. Der alte herzlose Gutsbesitzer stirbt wenige Jahre später. Von dessen Bruder erhält Susanna eine kleine Summe, deren sich der Stiefvater bemächtigt. Sie ist erwachsen, ihr Herz spricht zum ersten Male, sie verliebt sich sterblich in ihren Vetter Michael, einen jungen vortrefflichen Offizier, der sie liebt, wie sie's verdient geliebt zu werden. Kaum ist das vertraute Verhältniss des Jünglings zum jungen Mädchen entdeckt, so werden sie auseinandergerissen. Michael wird fortgeschickt und stirbt bald darauf. Sein Vater, der die Verbindung auflöste, hat sich schon seiner jungen Nichte mit entehrenden Anträgen genähert. Endlich stirbt auch er und hinterlässt ihr eine Pension -- welche von dem Stiefvater einkassirt wird. Es vergehen drei -- sechs -- sieben Jahre, die Zeit schwindet, und das Leben mit ihr. Alles ist ihr gleichgiltig geworden. Da fällt ein neuer Lichtstrahl in ihr Leben. Ein junger Mann, der ihr Herz gewonnen hat, erwidert ihre Neigung; dann werden ihm von ihrer Umgebung, besonders von ihrem bodenlos verdorbenen Stiefbruder, so grobe Verleumdungen über ihre Vorzeit hinterbracht, dass er sich zurückzieht und zur Abreise rüstet. Sie tödtet sich durch Gift. Oder lesen wir »Das Tagebuch eines überflüssigen Menschen«. Der Titel sagt schon den Inhalt. Ein Todtkranker beschäftigt sich in seinen letzten Tagen damit, die Reihenfolge gewöhnlicher Ereignisse aufzuzeichnen, die sein überflüssiges Leben ausmachten. Einmal hat er geliebt, aber nur um alle Qualen der Eifersucht und jegliche Demüthigung des Verschmähtseins durchzukosten! Elisabeth liebt nicht ihn, sondern einen jungen glänzenden Fürsten aus Petersburg, der sich vorübergehend in ihrem Wohnorte aufhält. Er fordert den Fürsten, wird von diesem im Duell geschont und erreicht dadurch nichts weiter, als dass er für einen schlechten Menschen gilt und von der Geliebten als Mörder betrachtet wird. Nachdem Elisabeth vom Fürsten verführt und verlassen worden, erneuert er trotzdem seinen Antrag und wird mit Abscheu zurückgewiesen. Sie reicht ihre Hand einem andern ebenso edelmüthigen Freunde, der ihm zuvorgekommen ist. Sogar bei dieser Gelegenheit ist er überflüssig, das fünfte Rad am Wagen gewesen. Und doch liest man zwischen den Zeilen, wie seelenvoll, wie edel angelegt, wie brav er ist. Die Schlussblätter enthalten die Abschiedsworte, mit welchen der vom Arzte aufgegebene Brustkranke von dem Leben scheidet. »Jacob Passienkow« ist noch eine Erzählung derselben Art. Passienkow ist ein Typus der russischen Persönlichkeiten, die Turgenjew mit Vorliebe schildert. Aeusserlich nicht besonders ausgestattet, gross, mager, flachbrüstig, ja sogar etwas rothnasig. Aber die Stirn ist vorzüglich geformt, die Stimme mild und gedämpft, und es heisst bezeichnend von ihm: »In seinem Munde klangen die Worte: Güte, Wahrheit, Leben, Wissen, Liebe niemals phrasenhaft, wie begeistert er sie auch aussprach«. In seiner Geschichte kommt das Grundthema Turgenjew's doppelt vor. Er liebt ein junges Mädchen, das ihn keines Gedankens würdigt; als er einsam und vergessen in einem Winkel Sibiriens stirbt, hat er noch ein paar Andenken an ihr auf seiner Brust. Ihm fehlten, um ihr zu gefallen, einige Laster, etwas Selbstsucht, etwas Leichtsinn. Während er aber in so hoffnungsloser Leidenschaft schmachtet, wird er, ohne es zu ahnen, von ihrer Schwester, einem jungen, unschönen, etwas linkischen Mädchen so heiss geliebt, dass sie niemals der Erinnerung an ihn untreu geworden und um seinetwillen sich nie mit einem Andern hat verheirathen wollen. Doch das hervorragendste Beispiel all' dieser feinen und ebenso vollendeten wie einfachen Monographien des Unglücks ist sicher die viel spätere Erzählung: »Die lebendige Reliquie«. Das Ganze ist fast nur ein Monolog, die Mittheilung, welche ein junges, vor Zeiten schönes, jetzt zum Skelett abgemagertes russisches Bauernmädchen dem Verfasser über ihr Leben gibt. Er findet sie auf dem Fussboden in einem einsamen Hause liegen. So hat sie auf dem Rücken ausgestreckt gelegen, seit sie vor sieben Jahren einen verhängnissvollen Fall that. Ihr Kopf ist ausgezehrt, einfärbig wie Bronze, die Nase ist scharf und spitz wie eine Messerschneide, die Lippen sind eingeschrumpft, nur die Zähne und das Weisse der Augen glänzen; einige Strähne dünnen, hellgelben Haares fallen auf ihre Stirn nieder. Auf der Bettdecke ruhen ein paar magere Hände, deren dunkelbraune, kleine Finger sich langsam hin und her bewegen. Einstmals war sie das üppigste, schlankeste, lustigste und schönste Mädchen der Gegend, immer zum Lachen, Singen, Tanzen aufgelegt. Sie erzählt, wie es ihr nach jenem Falle ergangen. Sie schrumpfte ein, wurde schwarz, verlor die Kraft zu gehen und zu stehen, den Appetit zum Essen und zum Trinken. Vergeblich hat man ihren Rücken mit glühendem Eisen gebrannt, vergeblich sie in gestossenes Eis gesetzt. Und von alledem erzählt sie in einem fast heitern Tone ohne irgend ein Bestreben, das Mitleid des Anhörenden zu erregen. Ihr Geliebter hat sie verlassen und sich mit einer Andern verheirathet. Er ist, wie sie sagt, Gott sei Dank sehr glücklich in seiner Ehe. Sie findet sein Benehmen gegen sie natürlich und richtig. Sie ist den Leuten dankbar, die sich ihrer annehmen, besonders einem kleinen Mädchen, das ihr Blumen bringt; sie langweilt sich nicht, beklagt sich nicht. Da sind andere, die weit unglücklicher sind, als sie, die Blinden und Tauben; sie sieht vorzüglich und hört Alles, hört den Maulwurf unter der Erde graben und riecht jeden Geruch, selbst den schwachen Duft des Buchweizens, wenn er weit entfernt auf dem Felde blüht, sogar den Duft der blühenden Linden weit unten im Garten. Zu den grossen Begebenheiten ihres Lebens gehört es, wenn ein Huhn oder ein Spatz oder ein Schmetterling durch die Thür oder das Fenster zu ihr hereinkommt. Mit grossem Vergnügen erinnert sie sich des Besuches, den ihr einmal ein Hase abstattete. Und Lukeria erinnert Turgenjew an die Zeit, da sie Lieder sang; ab und zu singe sie noch. Der Gedanke, dass dieses kaum noch lebende Wesen sich zum Singen vorbereitet, erweckt eine Art von Schrecken bei ihm: und zitternd wie eine feine Rauchsäule erklingt nun ihre kleine feine Stimme in fast unhörbaren, aber klaren und reinen Tönen. Sie erzählt ihre merkwürdigen Träume, die sie während ihres leider so seltenen Schlafes gehabt habe, einen von Jesus, der ihr entgegenging und ihr die Hand reichte, einen von einer Frau, die sie kommen sah und die ihr Tod war. Diese ging an ihr vorüber und beklagte sehr, sie nicht mitnehmen zu können. Lukeria widerspricht dem Erzähler, als er ihre Geduld bewundert. Was sei da zu bewundern! Was habe sie ausgerichtet! Nein, die Jungfrau, die im fernen Lande mit einem grossen Schwerte die Feinde in's Meer hinaustrieb und dann sagte: »Verbrennt mich nur, denn das war mein Gelöbniss, dass ich für mein Volk auf dem Scheiterhaufen sterben wollte!«, _die_ Jungfrau vollführte eine bewunderungswürdige That. -- Zum Abschiede bittet Lukeria ihn, bei seiner Mutter für die Bauern in der Gegend ein Wort einzulegen; die Abgaben, die von ihnen gefordert werden, seien zu hoch; sie selbst bedürfe nichts und habe für ihre eigene Person keine Wünsche. III. Doch diese kleineren Arbeiten sind es nicht, die Turgenjew's Name weltberühmt machten; die grösseren Novellen und seine Romane sind es, Meisterwerke wie: »Am Vorabende«, (»Helene«), »Rúdin«, »Frühlingsfluthen«, »Rauch«, »Väter und Söhne«, »Neuland«. Es gibt in der europäischen Litteratur keine feinere Psychologie, keine vollendetere Charakterzeichnung als diese, und was in der Geschichte der modernen Dichtkunst fast unerhört ist, die Frauen- und Männerfiguren sind in gleichem Grade vollkommen. Um diese vorzüglichsten Werke Turgenjew's recht zu begreifen, ist ein Einblick in seine Lebensgeschichte und seinen Charakter nothwendig: Es gibt in seinem Dasein zwei Begebenheiten von folgenschwerer Bedeutung. Die erstere ist seine Einkerkerung mit darauf folgender Verweisung auf sein Landgut im Jahre 1842; die zweite seine Bekanntschaft mit Frau Pauline Viardot geb. Garcia. Turgenjew war in Regierungskreisen, wegen seiner indirecten Angriffe auf die Leibeigenschaft, mit scheelen Augen angesehen. Als dann Gogol starb und Turgenjew in einem Zeitungsartikel (an dem die Censur nichts auszusetzen fand) den Verstorbenen in warmen Worten verherrlichte, ergriff man bei den Haaren die Gelegenheit, ihn zu treffen. Man erblickte -- weiss der Himmel wieso -- Ungehorsam gegen den Kaiser in dem genannten Artikel, und der Verfasser wurde »auf allerhöchsten Befehl« in Petersburg in's Gefängniss geworfen. Unter seinen Briefen befindet sich ein Schreiben, das er aus demselben an den Thronfolger (Alexander) richtete; um seine Unschuld darzuthun. Nachdem er einen Monat im Kerker gesessen, was ihm sein schlechter Gesundheitszustand doppelt quälend machte, wurde er auf sein Gut Spaskoje verwiesen, woselbst er mehrere Jahre verweilen musste. Offenbar gab dieser Vorfall den Anstoss dazu, dass er nach der Begnadigung ständigen Aufenthalt ausserhalb seines Vaterlandes nahm. Die Bekanntschaft mit Frau Viardot hielt ihn für den Rest seiner Lebenszeit -- weit über deren Hälfte -- in ihrer Nähe gebannt. Sie war 1821 in Paris geboren und hatte mit ihren Eltern ausgedehnte Kunstreisen in Amerika und Europa, erst als Pianistin, dann als Sängerin gemacht. Ihr erstes Auftreten in Paris, welches mit dem der Rachel zusammenfiel, ist von Alfred de Musset besungen worden. Seit 1840 war sie mit dem Schriftsteller Louis Viardot vermählt. Schon 1847 begleitete Turgenjew das Ehepaar nach Berlin und von dort nach Paris. Von 1856 ab war er als ein Mitglied der Familie Viardot zu betrachten und der Einfluss, welchen die Frau des Hauses auf den Dichter übte, ist gross und, soviel sich beurtheilen lässt, günstig gewesen. Als 1847 seine despotische Mutter sich weigerte, ihm Geld zu seinem Unterhalt zu senden, unterstützte ihn Frau Viardot aus ihrer Casse, und so war es nur billig, dass Turgenjew -- was zu vielen feindseligen Commentaren von russischer Seite Anlass gegeben hat -- sie in seinem Testamente zur Universalerbin einsetzte. Das Verhältniss Turgenjews zu Frau Viardot war das der leidenschaftlichsten Zuneigung und Bewunderung. Er konnte nicht ohne sie sein und berieth jede Angelegenheit mit ihr. Ein ächter Slave, empfänglich für Eindrücke, geistig productiv und beinahe völlig willenlos, war er glücklich, eine Herrscherin über sein Leben zu haben. Wenn irgend ein Freund sich zu ihm über unordentliche oder unglückliche Lebensführung beschwerte, war seine Lieblingsantwort »Thu wie ich, Lieber. Ich lasse mich regieren«. Er that, was Frau Viardot ihm zu thun empfahl, und befand sich wohl dabei. Sie scheint das einzige Weib von Bedeutung in seinem Leben gewesen zu sein. Er hatte natürlich in der Jugend mit Frauen Bekanntschaft gehabt. Neunzehn Jahre alt, war er in Berlin der Freund eines kleinen Nähmädchens gewesen. Zu seinem Verdruss konnte Bakunin, mit dem er gemeinschaftlich wohnte, es ihm jedesmal, wenn er sie besuchte, anmerken, woher er kam.[32] In Russland lebte er zuerst Anfangs der 40ger Jahre, dann von 1851--53 mit einer leibeigenen Russin, Avdotja Ermolajewna Iwánowa zusammen, die sehr schön gewesen sein soll, doch die in die Geheimnisse der Lesekunst einzuweihen, sich als schlechterdings unmöglich erwies. Sie gebar ihm 1842 eine Tochter, die er 1864 an einen Franzosen verheirathete. Man ersieht aus seinen Briefen, dass er damals nicht einmal den Wohnort der Mutter kannte, die einen russischen Beamten geheirathet hatte. (Brief an Maslov 26. Dec. 1864.) Allein er war ein guter Vater, wie er auch ein treuer Freund und edelmüthiger Beschützer gewesen war. Sein Charakter war vornehm, fein und rein bis zur Zartheit, doch weich und unschlüssig. Er brauchte vermuthlich nicht allzu weit zu gehen, um als junger Mann das Modell zu einzelnen Charakterzügen seines Rúdin zu finden. Niemals hat er sich einer niedrigen Handlung schuldig gemacht, doch ebenso wenig dürfte er je, mit kühner, gesammelter Energie gehandelt haben. Wenn man seine Briefe liest, so stutzt man darüber, mit welchen Schlingeln er in freundschaftlichem Verkehr gestanden hat -- offenbar um sich an ihnen keine Feinde zu machen -- wie über die geringe Achtung, mit der er sich in vertraulichen Briefen über Leute auslässt, denen er in andern Briefen mit vieler Rücksicht begegnet. Wenn Turgenjew bei einem Charakter, dessen Willenselement so schwach entwickelt war, während seines ganzen Lebens der altliberalen Gesinnung seiner Jugend treu blieb, so geht man schwerlich fehl, wenn man das Verdienst hieran zum nicht geringen Theil Madame Viardot zuschreibt. Hätte sie im entgegengesetzten Sinne auf ihn eingewirkt, so wäre er wahrscheinlich conservativ geworden, und wäre ihr Haus, ihr Kreis, nicht so entschieden freisinnig gewesen, wer weiss, ob es nicht anderweitigen Einflüssen geglückt wäre, ihn umzustimmen. Durchaus selbständig scheint er hingegen in seiner hartnäckigen Haltung als der Fürsprecher und Jünger West-Europas gewesen zu sein. Mit dem schwachen Hervortreten des Willens in Turgenjews' Charakter stimmt es recht wohl überein, dass er als Dichter mit der Sicherheit eines Nachtwandlers seine Werke schuf. Zu Michailow, Prof. der Physiologie in Petersburg (durch den ich es erfuhr) äusserte er einmal: »Ich sehe einen Mann, der mir durch irgend einen Zug, einen vielleicht nicht einmal bedeutenden, auffällt. Ich vergesse ihn. Plötzlich, lange nachher, steht dieser Mensch aus dem Grabe der Vergessenheit wieder auf. Um den Zug, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte, gruppiren sich andere Züge, und wenig nützt es, ob ich ihn nun vergessen möchte. Ich kann es nicht. Ich bin von ihm wie besessen. Ich denke, ich lebe mit ihm und kann mich nur dadurch beruhigen, dass ich eine Existenz für ihn finde«. Turgenjew ist als Schriftsteller mehr elegant als mächtig. Daher liegen seiner Begabung die Frauencharaktere so gut. Mit stiller Zärtlichkeit zeichnet Turgenjew die jungen Mädchen, die seine volle Sympathie haben, Helene und Gemma. Die Künstlerhand ist hier von einer Liebe geführt, die Lob und Bewunderung der Gestalten von Seiten des Dichters völlig ausschliesst. Jedes Wort, das von ihnen gesagt wird, ist bestimmend, begrenzend. Die eine ist in Mienenspiel, Bewegungen, Lachen, Gedankengang und Liebe ganz Italienerin, die andere bleibt in der Erinnerung des Lesers als der schönste Typus russischer Weiblichkeit stehen. Nur die ersten Dichter der Erde haben etwas so Lebensvolles und so Durchgeführtes hervorgebracht. Und der Schönheitskultus, der sich darin äussert, hat dem Naturstudium nicht den geringsten Abbruch gethan. Das sind keine Frauen, die der Dichter willkürlich geschaffen hat und die in das phantastische Reich der Poesie gehören wie die Frauengestalten bei so manchen anderen Dichtern. Das sind keine Produkte der persönlichen Schwärmerei Turgenjews für das Weibliche, nicht Gestaltungen seines Ideals allein, sondern Studien, die auf Grund eines feinen Wirklichkeitssinnes und vermöge tiefer Wirklichkeitserkenntniss ausgeführt sind. Bei den wichtigsten Mannescharakteren war Turgenjew genöthigt, sich wegen der Natur des Stoffes die Arbeit besonders schwer zu machen. In der Regel ist es ja Hauptaufgabe des Dichters, den Charakter zu halten und den Selbstwiderspruch in demselben zu vermeiden. Die hervorragendsten Charaktere bei Turgenjew bestehen indessen aus lauter Widersprüchen. Er hat verstanden, die Inconsequenz als Grundcharakterzug zu behandeln, ohne die Charaktere dadurch aufzulösen. Bei dem Normalrussen, wie er ihn schildert, ist mit Sicherheit auf nichts Anderes als Unbeständigkeit zu rechnen. Wie Alexis in dem »Briefwechsel« Marie im Stiche lässt, so verlässt Rúdin Natalia, Ssanin in »Frühlingsfluthen« Gemma, Litwinow in »Rauch« Tatjana u. s. w. Sie verlassen Jugend, Frische, Herzensgüte, Schönheit, Glück, um dem Sinnesrausch und der Erniedrigung nachzulaufen, oder sie geben aus reiner Haltlosigkeit, aus Unsicherheit an sich selbst das begonnene Spiel auf. Doch diesen Männern ohne Verlass, deren Leidenschaften so plötzlich erregt werden und wieder verfliegen, entsprechen zu ihrer eigenen Ueberraschung Frauen, die noch schwerer zu berechnen sind, Frauen, die nahe daran sind, zu lieben, und es doch nicht vermögen, wie Frau Odinzow in »Väter und Söhne«, Frauen, die unfreiwillig die Männer bethören, sich hingeben und wieder zurücknehmen, wie Irina in »Rauch«, endlich kalte Bacchantinnen, wie jene Maria Nikolajewna, die den Ssanin der Gemma entführt. Bisweilen kann die Inconsequenz oder der Verrath etwas ungenügend motivirt vorkommen, wie in »Frühlingsfluthen«, vielleicht desshalb, weil Turgenjew diesen Zug seiner Jünglings-Charaktere sozusagen als bekannt voraussetzt. In seiner frühesten grösseren Erzählung, »Rúdin« (1855) ist das Studium der Haltlosigkeit so tief und erschöpfend, dass man durch die Schwäche dieses Einen Charakters hindurch die schwache Seite des russischen Charakters überhaupt versteht. Das an der Kunst des Dichters Bewunderungswürdigste ist hier, dass er es vermocht hat, eine nicht geringe Sympathie für Rúdin zu erwecken, dass er uns in dem armen Wicht und Phrasenhelden den aufrichtig Begeisterten gezeigt hat. Rúdin, der mit soviel Wärme spricht und so glänzend erzählt, dem die ganze »Musik der Beredsamkeit« zur Verfügung steht, ist träge, herrschsüchtig, spielt immer irgend eine Rolle, lebt immer auf Kosten Anderer, ist kalt, wenn er am wärmsten scheint, und zu jeder That am meisten unfähig, wenn man eben glaubt, nun wolle er zur Handlung schreiten. Und doch zeigt uns Turgenjew, dass er viel mehr Mitleid als Unwillen verdient und dass er nicht mit Unrecht grossen Einfluss auf junge Seelen ausübt. Männer mit festem Herzen und kräftigem Willen kommen als Hauptfiguren in den früheren Werken Turgenjew's nicht vor. Sie sind Hamlette, die von Puschkins Onjaegin und Herzens Beltow abstammen. Schildert er einen Mann, der ganz Mann ist und zu dem eine Frau aufblicken kann, da wählt er wie in »Helene«, um seine Landsleute zu beschämen, einen Fremden, den Bulgaren Insarow, welcher gerade die Eigenschaften hat, die den Russen von dem Besten bis zu dem Geringsten fehlen. Das Modell zu dieser Gestalt war ein wirklicher Bulgare, Namens Katianow, der in seinem Vaterlande eine Rolle gespielt hatte und den Turgenjew (1855) durch die Papiere eines Nachbars, des Gutsbesitzers Karatejew, kennen lernte. Sonst werden Männer, die Turgenjew selbst bewundert, nur flüchtig genannt; er stellt sie als Hintergrundgestalten hin oder benützt sie als Contraste, um die Unwahrheit und Schwäche der Hauptfigur stärker hervorzuheben. Eine solche Gestalt ist zum Beispiel jener Pokorski in »Rúdin«, über den Leschnew in so warm begeisterten Worten spricht und in welchem man vielleicht ein Porträt des berühmten russischen Kritikers Belinski, des Jugendfreundes und Lehrers Turgenjew's, hat, dessen Andenken er »Väter und Söhne« widmete und an dessen Seite begraben zu werden er in seiner Todesstunde wünschte. Es heisst über ihn: »Pokorski machte einen sehr ruhigen und weichen, fast schwachen Eindruck; er liebte die Frauen leidenschaftlich, nahm gern an einem kleinen Gelage Theil und duldete von Niemandem eine Beleidigung. Rúdin schien lauter Feuer und Flamme, Leben und Kühnheit zu sein; aber im Grunde seiner Seele war er kalt, fast ein Feigling, das heisst, so lange man seine Eitelkeit nicht reizte, denn geschah das, so gerieth er fast ausser sich vor Wuth. Er versuchte fast immer Andere zu beherrschen, und Viele trugen geduldig sein Joch, aber Pokorski unterwarfen sich Alle freiwillig ... Ach, das war eine prachtvolle Zeit, und ich weiss bestimmt, sie war nicht vergeudet. Wie oft bin ich Leuten aus jener Zeit begegnet, meinen Jugend-Kameraden, Männern, die aussahen, als wären sie in einen rein thierischen Zustand hinabgesunken -- da brauchte man nur Pokorski's Namen zu nennen, sofort kam all das Gute, was in ihnen zurückgeblieben, wieder zum Vorscheine, gleich als wenn man in einem schmutzigen, dunklen Zimmer eine Flasche Parfüm öffnet, die darin vergessen worden«. Es war doch zuerst in »Väter und Söhne« (1861), dass Turgenjew eine typische Darstellung von russischer Charakterstärke und geistiger Ueberlegenheit in der damals modernen Gestalt gab. Bazarows Gestalt führte den Nihilismus in die schöne Litteratur ein. War es auch allem Anscheine nach Turgenjew hauptsächlich darum zu thun, die ideenarme Nützlichkeitsvergötterung der jungen Generation zu geisseln, so ist es ihm doch hier gelungen, einen Mann zu zeichnen, der durch seine Festigkeit, seinen Muth wie seine Einseitigkeit, eine der hervorragendsten Gestalten der gesammten europäischen, an echten Männertypen nicht eben reichen Litteratur ist. Niemandem, der in modernen Büchern einigermassen orientirt ist, kann es entgangen sein, dass es ist, als sei der Begriff Mann aus ihnen entschwunden. Ein Mann, der einen Willen und einen Gedanken hat, der seinen Willen im Dienste seines Gedankens verwendet, seinem Entschlusse treu, seinen Freunden eine Stütze, seinen Feinden ein ewiger Dorn im Auge ist, und dem die Vertheidigungslosen, die Anfänger im Leben und die Frauen von selbst zufallen, ein solcher Mann kommt heutzutage nur als naive Caricatur in knabenhaften Erzählungen oder Damenromanen vor. Im Jahre 1860 traf Turgenjew auf der Reise in Deutschland in einem Eisenbahncoupé mit einem jungen russischen Arzt zusammen, welcher in dem kurzen Gespräche, das sie miteinander führten, ihn durch seine originellen und schroffen Anschauungen in Erstaunen setzte. Er gab dem Dichter die Idee zu Bazarow ein. Um sich in den Charakter recht hineinzuleben, begann Turgenjew »Bazarows Tagebuch« zu führen, d. h. so oft er ein neues Buch las, eine Persönlichkeit traf, die ihn interessirte, irgend etwas in politischer oder socialer Beziehung Charakteristisches erlebte, beurtheilte er es in diesem Tagebuch von Bazarows Gesichtspunkt aus. Bekanntlich wurden »Väter und Söhne« nicht so sehr durch die Genialität, mit welcher die grosse Hauptgestalt dargestellt ist, als durch die Wirkung, die das Buch hervorbrachte, durch den Unwillen, die Missverständnisse, die leidenschaftlichen Angriffe, zu welchen es Anlass gab, eine Begebenheit in der Geschichte der russischen Litteratur wie in dem eigenen Leben des Verfassers. Es ist ein tadelloses Meisterwerk, ausserdem das ursprüngliche Vorbild für alle die modernen Romane der verschiedenen Länder, welche ein älteres und ein jüngeres Geschlecht in ihrem gegenseitigen Verhältnisse und Kampf behandeln. Anfangs jedoch erblickte man darin nichts anderes, als eine Herabsetzung der jungen Generation zu Gunsten der Cultur der älteren. Dieser Albernheit gegenüber, haben die eigenen Aeusserungen Turgenjew's über die Gestalt ein erhöhtes Interesse. Ein gewisser Slutschewski hatte ihm vorgeworfen, dass Bazarow einen so überaus ungünstigen Eindruck mache. Darauf antwortet er (1862): Bazarow stellt ja doch alle die andern Personen des Romans in den Schatten ..... Er ist ehrlich, rechtschaffen und ein Demokrat von reinstem Wasser. Und Sie finden keine gute Eigenschaft an ihm! »Kraft und Stoff« empfiehlt er besonders als ein populäres, d. h. werthloses Buch. Das Duell mit Pawel Petrówitsch ist eingeflochten, um das geistig Hohle des eleganten, adeligen Ritterwesens zu beleuchten; es ist obendrein fast übertrieben lächerlich dargestellt ...... Meiner Anschauung nach ist Bazarow dem P. P. beständig durchaus überlegen, nicht umgekehrt. Wenn er sich »Nihilist« nennt, muss man Revolutionär lesen ..... Auf der einen Seite ein bestechlicher Beamter, auf der andern ein idealer Jüngling: solche Bilder zu zeichnen überlasse ich Andern. Ich strebe etwas Grösseres an. ..... Ich schliesse mit der Bemerkung: Wenn der Leser Bazarow nicht trotz aller seiner Grobheit, Herzlosigkeit, unbarmherziger Trockenheit und Schärfe liebgewinnt -- so liegt die Schuld an mir, so habe ich mein Ziel verfehlt. Aber mit Syrup versüssen -- um mit Bazarow zu reden -- das wollte ich nicht, obgleich ich dadurch sofort die Jugend auf meine Seite gezogen hätte. Und zwölf Jahre später kommt er, auf's Neue angegriffen, nochmals auf sein zärtliches Gefühl für Bazarow zurück: Was, schreibt er, auch Sie behaupten, dass ich in Bazarow eine Caricatur der russischen Jugend geben wollte? Auch Sie wiederholen diesen -- verzeihen sie den freimüthigen Ausdruck -- unsinnigen Vorwurf? Bazarow, mein Lieblingskind, um dessentwillen ich mit Katkóf brach und an den ich alle Farben, über die ich nur gebot, verschwendete! Bazarow, dieser Verständige, dieser Held, eine Caricatur! ..... Der Roman »Rauch« (1867) entzweite Turgenjew noch mit einer anderen Gruppe in Russland, einer nicht minder einflussreichen, als es jene war, die ihm »Väter und Söhne« so übel genommen. Er ist zuvörderst ein gegen die Slavophilen gerichteter Schlag. Wenigstens brachte er sie heftig gegen ihn auf. Katkóf und Dostojewski wurden von nun an seine erbitterten Feinde und Verfolger. In diesem Werke werden gewisse geschwätzige, eingebildete russische Quasi-Reformatoren mit beissendem Hohne beseitigt. Die Behandlungsweise erinnert an die Manier Henrik Ibsens, wenn er in seinen Schauspielen die Streber unter seinen Landsleuten züchtigt. Aber in »Neuland« (1877) dem letzten grösseren Werke Turgenjew's und dem vielseitigsten von ihm verfassten, hat der Dichter seine Kritik der Gesellschaft mit tiefer unparteiischer Gerechtigkeit zu Ende geführt. Hier vertheilt er streng gerecht Sonne und Wind zwischen den Ständen, Geschlechtern, Tendenzen und Gesellschaftsschichten seines grossen Heimathlandes. »Neuland« steht hinter den älteren, grössern Romanen insofern zurück, als man es hier zum ersten Male lebhaft inne wird, dass der Dichter, lange von Russland losgerissen, den Augenschein durch Lectüre von Blättern und Prozessreferaten ersetzt hat. Dessenungeachtet ist dieses Werk der reichste, vollste Ausdruck der Humanität und Lebensweisheit, der Freiheits- und Wahrheitsliebe Turgenjew's. Hier offenbart er vielleicht in der positivsten Weise seine kindlichen Gefühle für Russland und seine Achtung vor der russischen Jugend, hier zeigt sich klar sein unbefangener Blick für den hohen Idealismus derselben. Gewiss strandet auch hier Alles. Bei Turgenjew scheitern eben alle Bestrebungen, misslingt Alles ohne Ausnahme. Im Augenblicke herrscht allein die Hoffnungslosigkeit. Das ältere Geschlecht mit seinem Sipjäginschen Liberalismus ist ein für alle Mal abgethan; bei dem jungen Geschlechte ist Alles sehr wohl gemeint, sehr uneigennützig in's Werk gesetzt, doch nichts führt zum Ziele. Neshdanow will unter das Volk gehen, Bücher und Broschüren austheilen. Es wirkt wie ein Symbol, dass die Bauern das verkehrt auffassen, nur mit ihm trinken wollen und der verunglückte Volksapostel sinnlos betrunken nach Hause gefahren wird. Nicht mit Unrecht hatte Neshdanow kurz zuvor sein Gedicht »Der Schlaf« mit dem folgenden unvergesslichen Bilde geschlossen: Und in der Hand Das Branntweinglas, das Haupt dort an den Pol geschlossen, Die Füsse an den Kaukasus, o Vaterland! So schläfst du, heiliges Russland, fest und unverdrossen! Und doch erblickt man in diesem letzten grossen Werke in unbestimmten, fernen Umrissen eine Zukunft. Sie wird vorbereitet von jungen Mädchen wie Marianne und Maschurin, von jungen Männern wie Markelow, Ssolomin und Neshdanow selbst. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte Turgenjew abwechselnd in den beiden Ländern, die an seiner Bildung den grössten Antheil haben, in Deutschland und Frankreich. Er wohnte in Baden-Baden und Paris. Sein Verhältniss zu Deutschland und Frankreich war jedoch sehr verschiedener Art. Vermuthlich schon kraft alter russischer Tradition, überdies auch durch die Nationalität Frau Viardots stand er Frankreich weit näher als Deutschland. Er hatte in Berlin studirt und sein Geist war durch die Kritik des Junghegelianismus verfeinert und geschärft worden. Er verehrte Goethe über Alles, ging eine Zeitlang in seinen Jugendtagen ganz in Heine auf, unterhielt immer ein freundschaftliches Verhältniss zu deutschen Dichtern und Schriftstellern (wie Paul Heyse, Ernst Dohm und Ludwig Pietsch), sprach Deutsch wie ein Deutscher, war ein aufrichtiger Bewunderer der wissenschaftlichen Grösse Deutschlands; doch so innige Bande ihn auch mit Deutschland verknüpften, in seinen Erzählungen stehen nichtsdestoweniger wie in fast allen russischen Romanen und Novellen die Deutschen in einem höchst satirischen, hie und da sogar in einem gehässigen Lichte. Es scheint mir eine Schwäche der deutschen Kritik, dass sie diese in die Augen fallende Thatsache nicht einfach gesteht. Gewiss schildert in der Regel jede Nation die andere ohne Enthusiasmus. Eine Russin bei Victor Cherbuliez oder Paul Heyse (»Ladislaus Bolski«, »Im Paradiese«, »Das Glück zu Rothenburg«) spielt nicht leicht eine schöne Rolle. In Turgenjews Seele aber scheint ein Rest von unbewusstem Nationalhass übrig geblieben zu sein. Obgleich ihm nun auf der andern Seite gewiss nicht der Blick für die Fehler des französischen Naturells und die Mängel der französischen Kultur fehlte, kam er doch leichter mit denselben zurecht. Er fühlte sich in dem sonst gegen Fremde so vorurtheilsvollen Paris als Künstler voll verstanden und gewürdigt: er hatte ebenso warme Bewunderer unter den älteren Schriftstellern (Mérimée), wie in dem etwas jüngeren Geschlechte (Augier, Taine, Flaubert, Goncourt) und in der später auftretenden Generation (Zola, Daudet, Maupassant). Mit dem Schriftstellerkreise, der sich um Flaubert vereinte, verkehrte er auf einem vertrauten und kameradschaftlichen Fusse, wie mit keinen Schriftstellern anderer Länder. Wechselnder Art war das Verhältniss zu seinem eigenen Vaterlande. In seiner Jugend war er populär, späterhin förmlich dem Hasse preisgegeben. Erst bei seinem letzten Besuch in Russland offenbarte es sich, dass allmälig das Missverständniss, er wäre seinen Jugendidealen untreu geworden, einer bessern Erkenntniss gewichen war, und seine Reise gestaltete sich durch die ihm von der Jugend dargebrachten Ovationen, zu einem wahren Triumphzuge. Allerdings flössten diese letztern der Regierung eine Unruhe ein, die ihm den Aufenthalt in Petersburg bald verleidete. In Moskau, wo Katkóf in heftigen Ausfällen ihn vaterlandsfeindlicher, aufrührerischer Gesinnung geziehen hatte, wurde ihm zu Ehren ein Festmahl veranstaltet, zu dem man auch Dostojewski einlud, dem man um seiner Jugendüberzeugung und seines Martyriums willen, sein späteres gehässiges Auftreten gegen Turgenjew verzieh. Je mehr indess das junge Geschlecht sich mit dem Verfasser von »Väter und Söhne« aussöhnte, je begeistertere Huldigungen ihm dargebracht wurden, um so höher wuchs die Missstimmung der Regierung gegen ihn, die sich dann auch bei seinem Tode mit Wucht geltend machte. Ein feierliches Begräbniss, mit schwarz drapirten Häusern, mit grossem Gefolge, mit Reden am Grabe, wurde verboten. In aller Stille, beinahe wie ein Verbrecher, wurde der Mann zur Erde bestattet, der in der neueren Zeit den Namen Russlands in die weitesten Kreise getragen. Denn in seinen späteren Lebensjahren erfreute er sich in allen civilisirten Ländern einer gleich ehrfurchtsvollen Bewunderung. Erfreute er sich ihrer wirklich? Ich glaube es kaum. Die Bewunderung hat ihn angenehm berührt, aber er hat sie nicht genossen; sie war nicht im Stande, seine Melancholie zu zerstreuen. Edmond de Goncourt erzählt, dass Turgenjew, den er im März 1872 in einer Mittagsgesellschaft bei Flaubert traf, in der missmuthigen Stimmung, die sich leicht in einem Kreise von Freunden verbreitet, die sich alle dem vorgeschrittenen Alter nähern, in die Worte ausbrach: »Ihr wisst, dass man manchmal in einem Zimmer einen Moschusgeruch findet, den man nicht wieder vertreiben kann. So kommt es mir vor, als sei meine Persönlichkeit immer von einem Duft der Auflösung, der Vernichtung, des Todes umgeben«. Seine letzten Werke, die anmuthige und originelle Novelle »Clara Militsch«, die Turgenjew's Lieblingsthema, verfehlte Liebe behandelt, und die bewunderungswürdige Sammlung Prosagedichte »Senilia«, enthalten eine fast noch tiefere Melancholie als seine Jugendarbeiten, nur ist sie höchst poetisch von einem lyrisch-phantastischen Elemente durchblitzt. Er blickt hier zum letzten Male von Angesicht zu Angesicht dem Geheimnisse des Lebens in die Augen und versucht mit tiefer Wehmuth es in Symbolen mit Schwärmerei zu deuten. Die Natur ist hart und kalt, möchten die Menschen umsomehr nicht versäumen, einander zu lieben! Da ist eine Scene, wo Turgenjew auf einer einsamen Dampfschifffahrt von Hamburg nach London stundenlang die Hand eines armen kleinen traurigen und gefesselten Affenweibchens in der seinen hält -- das Genie, dessen Geist das Universum geahnt hatte, Hand in Hand mit dem kleinen menschenähnlichen Thiere, wie zwei gute Verwandte, zwei Kinder derselben Mutter -- darin liegt mehr wahre Erbauung als in irgend einem Erbauungsbuche. Die menschliche Undankbarkeit scheint bis zu allerletzt einen tiefen Eindruck auf Turgenjew gemacht zu haben. Niemand, der »Senilia« gelesen, wird jemals »Das Fest bei dem lieben Herrgott« vergessen. Alle Tugenden waren eingeladen, nur Tugenden; keine Herren waren eingeladen, nur Damen. Da kamen viele Tugenden, grosse und kleine; die kleinen Tugenden waren angenehmer und bescheidener als die grossen; alle schienen sich gut zu gefallen und sprachen freundlich mit einander, wie es sich für Verwandte geziemt. Da bemerkte der liebe Herrgott zwei hübsche Damen, die einander nicht zu kennen schienen. Der Herr des Hauses bot der einen den Arm, führte sie zu der andern hin und stellte sie einander vor: die Wohlthätigkeit -- die Dankbarkeit. Es war das erstemal seit der Erschaffung der Welt, dass die Beiden sieh begegneten. Welche Wehmuth in dem Witze und der Bitterkeit! Es fällt mir auf, dass auch meine Dankbarkeit diesem grossen Wohlthäter gegenüber erst jetzt zu Worte kommt, wo er keinen Dank mehr vernehmen kann. JOHN STUART MILL. (1879.) I. Eines Tages, im Juli 1870, als ich in Paris in meinem Zimmer lesend auf und ab ging, hörte ich ein bescheidenes Klopfen an der Thüre. Der Uhrmacher! dachte ich. Denn es war eben die bestimmte Stunde, wo ein Mal in der Woche auf den Glockenschlag ein Gehilfe des Uhrmachers sich einzufinden pflegte, um alle Tafeluhren in dem kleinen Hôtel garni aufzuziehen. Ich öffnete die Thür, und draussen stand ein ältlicher, hoher, magerer Mann in einem ziemlich langen schwarzen Rocke, der um die Taille zugeknöpft war. »Treten Sie näher« sagte ich, ohne ihn genauer anzusehen, und griff wieder nach meinem Buche. Aber der Mann blieb stehen, hob den Hut und nannte fragend meinen Namen. »Ich bin es« antwortete ich, und bevor ich wieder fragen konnte, hörte ich die mit gedämpfter Stimme gesagten Worte: »Ich bin Herr Mill«. Hätte sich der Herr als König von Portugal vorgestellt, wäre ich kaum mehr erstaunt gewesen, und ich weiss nicht, was er hätte sagen können, das mir im Augenblicke mehr Freude gemacht hätte. Mein Gefühl war das, welches unter dem ersten Kaiserreiche ein Corporal von der jungen Garde empfand, wenn Napoleon während einer seiner Runden im Lager ihm mit einem Zupfen am Ohrläppchen die Gnade erwies, seine Existenz zu bemerken. Meine Bestrebungen, Stuart Mill in meinem Vaterlande bekannt zu machen, hatten sein Interesse geweckt; er hatte mir wiederholt geschrieben, und noch häufiger Broschüren und Zeitungen, die mir von Nutzen sein könnten, sowohl nach Kopenhagen wie nach Paris zugeschickt. Er wusste also meine Adresse, und da er sich gerade auf der Durchreise in Paris befand und, sonderbar genug, keinen einzigen Bekannten in dieser Stadt besass, so hatte er nicht Anstand genommen, den langen Weg vom Windsor Hôtel nach Rue Mazarin zurückzulegen, um seinen jungen Correspondenten mit einem Besuche zu beehren. Als er mir seinen Namen genannt hatte, erinnerte ich mich sogleich seines Portraits. Das gab aber so wenig eine Vorstellung von Gesichtsausdruck und Hautfarbe wie von der Weise, wie er ging und stand. Obwohl 64 Jahre alt, hatte er die frische und reine Haut eines Kindes. Er hatte diesen Kinderteint und diese rothen Wangen, die man fast nie bei älteren Männern des Festlandes, nicht selten aber bei den weisshaarigen Gentlemen beobachtet, die Mittags im Hydepark spazieren reiten. Seine Augen waren klar und tief dunkelblau, die Nase schmal und krumm, die Stirne hoch und gewölbt mit einem stark hervorspringenden Knoten über dem linken Auge; es sah aus, als hätte das Arbeiten der Gedanken ihre Organe gezwungen, sich zu erweitern und mehr Platz zu schaffen. Das Gesicht mit den stilvollen und grossen Zügen war einfach, aber nicht ruhig; nervöse Zuckungen liefen ab und zu darüber hin und schienen das unruhig zitternde Leben der Seele zu verrathen; er suchte nach den Worten und stotterte bisweilen am Anfange eines Satzes. Sitzend sah er mit dieser frischen, prächtigen Physiognomie und dieser gewaltigen Stirn wie ein noch junger und kräftiger Mann aus. Als ich ihn später auf der Strasse begleitete, bemerkte ich jedoch, dass sein Gang trotz seiner Schnelligkeit etwas hinkend war und dass das Alter trotz des schlanken Wuchses Spuren in seiner Haltung hinterlassen hatte. Sein Anzug machte ihn älter als er war. Der altmodische Rock, den er trug, bewies, wie gleichgültig ihm seine äussere Erscheinung geworden. Er war schwarz gekleidet und hatte an seinem Hute einen Flor, der viele unregelmässige Falten schlug. Nach so vielen Jahren ging er noch in Trauer um seine verstorbene Frau. Im Uebrigen zeigte seine Person weiter keine Nachlässigkeit; ein stiller Adel und eine vollendete Selbstbeherrschung sprachen aus ihr. Auch ohne seine Werke gelesen zu haben, konnte man sehen, dass es einer der Könige des Gedankens war, der dort im rothen Sammtfauteuil Platz genommen hatte, neben dem Kamin mit jener Tafeluhr, die aufziehen zu wollen ich ihn in so unbegründetem Verdachte gehabt hatte. II. Er sprach zuerst von seiner Frau, deren Grab in Avignon er eben verlassen hatte. Er hatte sich ein Haus in jener Stadt, wo sie gestorben war, gekauft und brachte dort immer die Hälfte des Jahres zu. Schon in der Einleitung zu ihrem Aufsatze »Enfranchisement of women«, welche die Grundlage seines eigenen Buches über »Die Hörigkeit der Frauen« bildet, hatte er seiner Begeisterung für die Hingeschiedene einen öffentlichen Ausdruck gegeben. Er hatte dort gesagt, dass der Verlust der Verfasserin sogar in rein intellectueller Hinsicht weder ersetzt, noch gemildert werden könne: er hatte erklärt, dass er lieber den Aufsatz ungelesen, als mit der Vorstellung gelesen sähe, dass in demselben auch nur das schwächste Bild ihrer Seele sich finde; denn diese Seele sei durch ihre Vereinigung der seltensten und anscheinend unvereinbarsten Vorzüge ohnegleichen gewesen, ja er hatte »die höchste Poesie, Philosophie, Rhetorik und Kunst« neben ihr »trivial« genannt und mit der Prophezeiung geschlossen, dass, wenn das Menschengeschlecht sich fortdauernd zum Besseren entwickle, würde die Geschichte nichts als »eine fortschreitende Verwirklichung ihrer Gedanken« sein. In diesem Tone sprach er auch in meinem Zimmer über sie. Man kann meinen, dass der Mann, der so sprach, kein grosser Portraitmaler war, und man kann die objective Richtigkeit seines Urtheiles bezweifeln; man kann aber nicht, wie es wegen seines ultrarationalistischen Standpunktes in der Frauenfrage mehrfach geschehen ist, ihn beschuldigen, die Ehe als blossen Vertrag betrachtet zu haben. Grosse Dichter, wie Dante und Petrarca, haben den von ihnen phantastisch geliebten Frauen in ihrer Dichtung ein phantastisches Denkmal gesetzt; aber ich weiss nicht, dass jemals ein Dichter der liebevollen Verehrung eines weiblichen Wesens einen so wahren und so warmen Ausdruck gegeben, wie Mill in den Worten, in welchen er den Werth seiner Frau und ihre bleibende Bedeutung für ihn gefasst hat. Die Inschrift, die er auf ihren Grabstein in Avignon hauen liess, ist kein Zeugniss künstlerischer Begabung für den Lapidar-Stil; sie hat zu viele und zu lobpreisende Worte. Energisch und schön ist aber der Satz, womit sie endigt: _Were there even a few hearts and intellects like hers, this earth would already become the hoped-for heaven._ Ich fragte Mill, ob seine Frau anderes als das von ihm Herausgegebene geschrieben hätte. »Nein«, antwortete er, »aber ringsum in meinen Schriften finden Sie ihre Ideen; die besten Partien in all' meinen Büchern sind von ihr«. »Auch in der Logik?« fragte ich wieder. »Nein«, gab er halb entschuldigend zur Antwort, »die Logik schrieb ich, bevor ich mich verheirathete«. Ich konnte nicht unterlassen, bei mir selbst zu denken, dass die Beiträge der Frau Stuart Mill zur inductiven Logik auch in dem entgegengesetzten Falle kaum beträchtlich gewesen wären; ein wenig muss doch Mill selbst erdacht haben. Die ehrerbietige Unterwürfigkeit, die in diesem Gespräche hervortrat, war aber für das Naturell des grossen Denkers eigenthümlich. Sein Gemüth hatte die entschiedene Neigung, nicht einer Sache allein, sondern einer persönlichen Incarnation derselben zu dienen, und so wurde er dazu gebracht, nach einander zwei Persönlichkeiten zu verehren, die, wie selten und bedeutend sie auch sein mochten, ihm durchaus nicht überlegen waren, seinen Vater und seine Frau. Zu dem Vater (und Bentham) sah er in seiner ersten Jugend auf, zu seiner Frau in seinem ganzen übrigen Leben. Wer Mills Selbstbiographie gelesen hat, wird die düstere Schilderung nicht vergessen haben, die er von dem verzweifelten Schlaffheitszustande gibt, der bei ihm das Mannesalter einleitete. Es war eine lange und schmerzhafte Krisis, während welcher seine Natur gegen die durch abnorme Erziehung hervorgerufene Ueberentwicklung seiner Fähigkeiten reagirte. Anstatt die vollkommene geistige Organisation zu bewundern, die Mill aus einer so überlastenden und gefährlichen Schule, wie die seines Vaters, unverletzt hervorgehen liess, liebte es die englische Durchschnittsbildung, ihn wegen eben dieser Treibhauserziehung als eine Abnormität zu bezeichnen, die zum Lehrer und Vorbild nicht geschaffen sei. In dem unglaublich grossen Vorrathe von Kenntnissen jeder Art, die ihm schon als Knaben beigebracht wurden, fand man den Beweis der Unnatürlichkeit seiner Lehren und der »Unmenschlichkeit« Stuart Mill's. Was könnte man von einer Lesemaschine erwarten, die, drei Jahre alt, griechisch las und im dreizehnten Jahre einen Cursus der Staatsökonomie durchging? Die Krisis, welche der Ueberbürdung folgte, ist nicht weniger missdeutet worden als die encyklopädische Erziehung des Knaben. Die Symptome derselben waren völlige Gleichgültigkeit gegen alle Zwecke, die der junge Mann früher begehrenswerth gefunden hatte, und eine ununterbrochene Freudlosigkeit, während welcher er sich selbst fragte, ob die vollständige Verwirklichung seiner Ideen und die Ausführung der Reformen, für die er geschwärmt, ihm eine wirkliche Befriedigung verschaffen würde, und diese Frage verneinend zu beantworten sich gezwungen sah. Philosophen haben hierin einen Widerspruch der Natur gegen die Millsche Nützlichkeitslehre gefunden, indem selbst die Verwirklichung des grösstmöglichen Glückes für die grösstmögliche Zahl nach seinem eigenen Geständnisse ihn nicht glücklich gemacht hätte; Theologen haben in jener Krisis ein Einbrechen jener geheimen Melancholie, jener tiefliegenden Verzweiflung gesehen, in welcher, auch ohne es zu wissen, der immer lebe, welcher nicht glaube. Es ist jedoch kaum ein Zeugniss gegen die Glücksmoral, dass Moral allein nicht glücklich macht, und es dürfte ein schlechtes Zeugniss für die Unentbehrlichkeit des Dogmenglaubens abgeben, dass ein hochbegabter und eminent kritisch angelegter Jüngling von 20 Jahren (der sowohl früher wie später mit heiterem Gemüthe sich ohne dogmatischen Glauben durch die Welt half) einen Winter hindurch unter der tiefen Unlust zum Handeln und unter jener Qual der Existenz zusammenbrach, mit welcher jeder grübelnde Geist zu kämpfen hat, und die fast Jedermann wenigstens ein Mal in seinem Leben überwinden muss. Es gibt unter reicher entwickelten Männern nur wenige, die jenes Selbstaufgeben nicht gekannt hätten; bei einzelnen ist es von kurzer Dauer, bei anderen chronisch; nur der äussere Anlass, der es hervorruft, wie die Waffen dagegen sind verschieden. Jeder hat seinen Panzer gegen den Missmuth, einer den Arbeitstrieb, ein anderer den Ehrgeiz, einer das Familienleben, ein anderer den Leichtsinn; aber durch die Fugen dieser Panzer bohrt sich der Lebensüberdruss seinen Weg. Bei Stuart Mill war nun augenscheinlich dieser Panzer die Gewissheit, in dem Geiste eines anderen Menschen zu handeln, den er weit höher schätzte als sich selbst. Man darf seine eigene Aeusserung nicht übersehen, dass, wenn er zu jener Zeit »Jemand tief genug geliebt hätte, um diesem Anderen seine Qual anzuvertrauen, er sich nicht in dem Zustande befunden haben würde, in welchem er sich befand«. Hätte Mill damals seine zukünftige Frau gekannt, so würde die Krisis gewiss nicht jenen acuten Charakter angenommen haben; _sie_ hätte ihm sicherer als Dogmen und Moralsysteme über die tiefe Niedergeschlagenheit fortgeholfen. Das sieht man schon aus den treffenden Worten, mit welchen er seinen Zustand geschildert hat: »Ich war am Anfang meiner Reise gescheitert, denn mein Schiff, dem weder gute Ausstattung, noch ein Steuer fehlte, hatte keine Segel«. Das Segel dieses Schiffes, das so reiche und kostbare Ladung führte, war und blieb eben jene schwärmerische Neigung zu vergöttern und sich zu unterwerfen. Zu jener Zeit war der Einfluss des Vaters in starkem Abnehmen, der der Gattin hatte noch nicht angefangen; folglich stand er still. So viel ging schon aus dem allerersten Gespräche mit Mill hervor, dass das Gewinnen jener Freundin das grosse Loos seines Lebens war. Nur an einer einzigen Stelle, wo er von ihr spricht, ist es ihm gelungen, eine Vorstellung von der Eigenthümlichkeit ihres Wesens zu geben, das ist, wo er sie mit Shelley vergleicht. Ein weiblicher Shelley -- so stand sie vor ihm in seiner Jugend; später schien ihm sogar Shelley, der so früh fortgerissen wurde, in Denkvermögen und intellectueller Reife nur ein Kind im Vergleiche mit ihr. Er gibt mehrmals in bestimmteren Ausdrücken an, was er ihr verdankt: den Blick für die fernsten Zwecke, d. h. für die letzten Consequenzen der Theorie, und für die nächsten Mittel, d. h. für das unmittelbar zu Erreichende in der Praxis. Die ursprüngliche Begabung, die er sich selbst zugesteht, war nur auf das Verbindende dieser Extreme, auf die mittleren moralischen und politischen Wahrheiten gerichtet. Es kommt mir jedoch nicht sehr wahrscheinlich vor, dass Frau Stuart Mill ihrem Mann direct neue Gedanken eingeflösst habe. Ihre wesentliche Bedeutung für ihn muss, glaube ich, in zwei anderen Punkten gesucht werden. Erstens hat sie seinen Denkmuth gestärkt, und mehr als die Neuheit der Gedanken ist es auch der Denkmuth, welcher den classischen unter seinen Schriften, z. B. dem Buche »Ueber die Freiheit«, ihren Charakter gibt. Mehrmals kam er, schon in unserem ersten Gespräche, mit Bedauern auf den Mangel an Muth zurück, welcher überall die Schriftsteller von der Vertheidigung neuer Ideen zurückhält. Er sagte: »Es gibt Talente ersten Ranges wie George Sand, deren wesentliche Originalität in dem Muthe besteht. Ich sehe -- fügte er hinzu -- von ihrem unbeschreiblich schönen Stile ab, dessen Musik, wie ich mich in einer Schrift einmal ausdrückte, nur mit dem Wohllaute einer Symphonie verglichen werden kann«. Schon durch die Sicherheit, welche durch das Gefühl der Uebereinstimmung mit einem fremden Gedanken erzeugt wird, hat die Gattin Stuart Mill's jenen bei George Sand gepriesenen Muth in ihm gehoben. Zweitens hat Frau Mill durch ihre weibliche Universalität ihren Gatten davor geschützt, sich in irgendwelches Vorurtheil zu verrennen. Sie hat in seinem Gemüthe eine gewisse Skepsis bewahrt, im Eise der Doctrinen eine nie zufrierende Stelle offen gehalten und, indem sie ihn skeptisch stimmte, hat sie bewirkt, dass er immer fortschritt. Während die Mehrheit sogenannt freisinniger Männer fast immer relativen Freisinn auf Einem Punkte mit doppelter Verstocktheit in anderen Rücksichten erkauft, war Mill immerfort gegen herkömmliche Vorurtheile auf seiner Hut, ja ging sogar bis zu seinem Tode angriffsweise gegen dieselben vor, suchte sie unerschrocken, um sie zu erklären und zu vernichten, in ihren Verschanzungen auf. Darüber kann schliesslich kaum ein Zweifel sein, dass Frau Mill einen grossen Antheil an dem Auftreten ihres Mannes zu Gunsten der gesellschaftlichen Lage der Frauen gehabt hat. Es interessirte mich, zu erfahren, ob er seinen Angreifern in der Frauenfrage geantwortet hätte. Er hatte ihnen keine Antwort gegeben und wollte es nicht thun. »Warum«, sagte er, »immer dasselbe wiederholen; keiner von ihnen hat etwas von Werth hervorgebracht«. Ich berührte den Widerstand vieler Aerzte, die Einwendungen, die sich auf die Naturnothwendigkeiten, welchen das Weib unterworfen ist, berufen. Er sprach sich sehr hart und unbedingt gegen ärztliche Vorurtheile im Allgemeinen aus: »Es gibt«, sagte er, »keine vorurtheilsvolleren Menschen als die Aerzte«. Lange und mit Vorliebe verweilte er dagegen bei der Lust und dem nicht seltenen Berufe der Frauen, ärztliche Beschäftigung zu treiben. Er nannte Miss Garrett, die sich neulich in Paris einem ärztlichen Examen unterworfen hatte, und lobte sie als die erste Frau, die diesen Muth gezeigt. In einem Briefe an mich hatte er einmal die Frauenfrage als »die in seinen Augen wichtigste aller politischen Fragen der Gegenwart« bezeichnet; sie war jedenfalls in seinen letzten Lebensjahren eine von denen, die ihn persönlich am meisten erfüllten. Er scheute weder schriftlich noch mündlich die stärksten Ausdrücke, um seine Auffassung des Unnatürlichen in der Abhängigkeit der Frauen in das rechte Licht zu stellen. Hatte er ja nicht gefürchtet, das Lachen durch die starke Behauptung herauszufordern, dass wir überhaupt bis jetzt noch _gar nichts_ über das Wesen des Weibes wüssten, da wir es noch nie sich in Freiheit entfalten gesehen, als ob die ganze Geschichte und die ganze Erfahrung, Raphael's sixtinische Madonna, Shakespeare's junge Mädchen, die sämmtlichen von Frauen verfassten Schriften uns über die weibliche Natur gar nicht belehrten. In diesem einen Punkte war er fast fanatisch. Er bildet mit seinem von der ganzen physischen Sphäre hinwegsehenden Glauben an die Fähigkeiten der Frauen unter den Philosophen dieses Jahrhunderts den polaren Gegensatz zu Schopenhauer mit seiner Geringschätzung des Weibes. Er, der in allen Verhältnissen zwischen Mann und Mann die Feinheit und die Zartheit selbst war, liess sich zu fast beleidigenden Aeusserungen hinreissen, wenn Andersdenkende in seiner lieben Grundfrage eine abweichende Meinung äusserten. Ich befand mich eines Tages bei Hippolyte Taine, als eben der Postbote einen Brief von Stuart Mill brachte. Es war die Beantwortung eines Schreibens, in welchem Taine mit Rücksicht auf die in »The subjection of women« ausgesprochenen Gedanken die Ansicht geäussert hatte, dass die hier angestrebte Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung des Weibes vielleicht in England, wo sie mit dem Racencharakter übereinstimme, vorzüglich ausfallen könne, in Frankreich aber, wo die Anlagen und Neigungen der Frauen so ganz abweichend seien, gewiss keinen Erfolg haben werde. Mill's bündige Antwort lautete so: »Ich sehe in Ihren Aeusserungen ein Symptom jener Verachtung vor dem Weibe, die in Frankreich so durchgehend ist. Alles, was ich darüber sagen kann, ist, dass die französischen Frauen den französischen Männern diese Verachtung mit Zinsen zurückgeben«. Das Eigenthümliche des Mill'schen Standpunktes in dieser Emancipationsfrage war, dass er sich ganz und gar auf eine sokratische Unwissenheit stützte. Er sprach den aufgehäuften Erfahrungen von Jahrtausenden jede Beweiskraft in Betreff der Grenzen des so lange geknechteten weiblichen Geistes ab und behauptete, dass wir _a priori_ über das Weib nichts wüssten. Er ging von keinem doctrinären Begriffe besonderer weiblicher Fähigkeiten aus, stützte sich auf den einfachen Satz, dass die Männer kein Recht hätten, den Frauen irgend eine Beschäftigung, die sie reize, zu verbieten, und erklärte jede Bevormundung nicht nur für ungerecht, sondern für unnütz, da die freie Concurrenz von selbst die Frauen von jeglicher Arbeit ausschliessen würde, wozu sie untauglich seien oder in welchen sie der Mann entschieden übertreffe. Er hat Viele dadurch abgeschreckt, dass er gleich das erste Mal, wo er die Frage zur Sprache brachte, die letzten logischen Folgerungen seiner Lehre zog und z. B. die directe Theilnahme der Frauen an der gesetzgebenden Wirksamkeit befürwortete; doch hatte er als Engländer Wirklichkeitssinn genug, um die praktische Agitation auf einen einzigen Punkt zu beschränken. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, warum man in England und Amerika mit Uebergehen der, wie mir vorkam, zuerst erforderlichen wirtschaftlichen Emancipation der Frauen, alle Bestrebungen auf das doch viel schwieriger erreichbare politische Stimmrecht concentrirt habe. Er antwortete: »Weil, wenn das erlangt ist, alles Uebrige daraus folgt«. III. Er stand auf, um zu gehen, und da er wusste, dass ich nach London zu reisen beabsichtigte, fragte er mich, ob ich die Reise mit ihm machen wolle. Um mich nicht zudringlich zu zeigen, gab ich eine verneinende Antwort, und erhielt eine Einladung, ihn in England zu besuchen, wozu noch die Aufforderung gefügt wurde, mich ja stets im Vorhinein anzukündigen, damit ich ihn sicher zu Hause träfe. Ich hatte eben damals Mill's meisterhaftes Werk über die Philosophie William Hamilton's gelesen, war davon sehr erfüllt und hatte tausend philosophische Fragen auf dem Herzen; es freute mich desswegen sehr, dass eine so seltene Gelegenheit sich darbot, meine Zweifel mit dem Verfasser selbst zu erörtern, und eine Woche nachher schellte ich an dem Gartenpförtchen vor Mill's Landhaus in Blackheath-Park bei London, diesem Pförtchen, vor welchem ich nie ohne frohe Erwartungen gestanden und das ich niemals ohne das Gefühl, geistig bereichert zu sein, hinter mir schloss. Andere Menschen fühlen sich ergriffen, wenn ein König ihnen eine herablassende Aufmerksamkeit erweist. Was ist ein König? Von der hohen jährlichen Apanage abgesehen, ist er ein Machthaber. Es will mir demnach scheinen, dass Männer wie Stuart Mill die wahren Könige sind, denn wer in Wirklichkeit die Länder regiert, das sind Männer wie er, ja sie regieren sie noch nach ihrem Tode. Meine Universitätserziehung in Kopenhagen war abstract-metaphysisch gewesen. Die Professoren der Philosophie waren Männer, die trotz der tiefen Verschiedenheit ihres Wesens, trotz der abweichenden Standpunkte, die sie auf religiösem Gebiete vertraten, in allem Wesentlichen dasselbe Schulgepräge trugen. Sie hatten beide ihre Laufbahn als Theologen begonnen und waren danach Hegelianer geworden, der eine von der Hegel'schen Linken, der andere von der Hegel'schen Rechten beeinflusst. Sie hatten demnächst, wie alle Welt in der damaligen Zeit, sich »von Hegel emancipirt«, was doch so zu verstehen war, dass Hegel immer in ihrem Gedankenkreise das Erste und das Letzte blieb; seine Methode wurde bald mit abstractem Scharfsinn, bald mit sophistischer Geschmeidigkeit angewendet, auf den Kathedern gepredigt, die dem Cultus des Absoluten, des Subject-Objects geweiht waren, seine Werke wurden citirt, seine paar Witzwörter wiederholt und eine ermüdende, endlose Polemik gegen seine vermeintlichen Irrthümer geführt, von denen wir erfuhren, dass sie fast alle in seiner Unterschätzung des Realen, besonders in seiner mangelhaften Einsicht in die Naturwissenschaften begründet gewesen. Aber selbst seine Irrthümer mussten dem Schüler köstlicher als die Wahrheiten anderer Denker erscheinen, denn um zur Wahrheit zu gelangen, war es, wie schon das Beispiel des Herrn Professors zeigte, immer nothwendig, zuerst durch einen Irrthum Hegel's zu kriechen. Der Kopenhagener Universität galt, den sonstigen nicht allzu freundlichen Gesinnungen gegen Deutschland zum Trotz, der Satz als unbestritten, dass die moderne Philosophie eine _deutsche_, wie die antike eine _griechische_ Wissenschaft sei. Die Existenz des englischen Empirismus und des französischen Positivismus war an der Universität nicht anerkannt; von englischer Philosophie insbesondere hörten wir nur als von einer durch Kant längst überwundenen und todtgemachten Richtung. Es war mir durch eine gewisse Kraftanstrengung möglich geworden, mich, so gut es eben ging, aus den Banden der in Dänemark herrschenden Schule loszuwinden, und ich stand damals zwischen speculativen und positivistischen Tendenzen schwankend. Ich machte Stuart Mill gegenüber kein Hehl aus meiner Unsicherheit. »Sie kennen also Hegel so genau«, sagte er, »Sie verstehen Deutsch?« »Ich verstehe deutsch«, erwiderte er. »Aber ich spreche so wenig deutsch, dass ich in Deutschland sogar auf Eisenbahnstationen Mühe gehabt habe, mich zurechtzufinden«. »Sie kennen die deutschen Philosophen aus Uebersetzungen?« »Kant habe ich in einer Uebersetzung gelesen, von Hegel weder im Original, noch in Uebersetzung das Geringste. Ich kenne ihn nur aus Referaten und Gegenschriften, am besten durch die kurzgefasste Darstellung, die der einzige Hegelianer Englands, Sterling, gegeben hat. »Und welchen Eindruck haben Sie so von Hegel erhalten?« »Den, dass die Schriften, in welchen Hegel seine Principien anzuwenden versucht hat, vielleicht etwas Gutes enthalten können, dass aber alles rein Metaphysische, was Hegel geschrieben hat, _Nonsens_ ist«. Ich wurde bei dem Worte stutzig und meinte, dass diese Aeusserung doch wohl _cum grano salis_ zu verstehen sei. »Nein, ganz nach dem Wortlaute«, antwortete er. Er verweilte bei dem Grundrisse des Systems, bei den ersten Anfängen, der Lehre vom Sein, das mit dem Nichts identificirt wird, und rief aus: »Was wollen Sie, dass aus dem Ganzen herauskommen soll, wenn man mit einem solchen Sophismus anfängt? Haben Sie wirklich Hegel gelesen?« »Gewiss, die meisten seiner Werke«. Mill (mit einer höchst ungläubigen Miene): »Und Sie haben ihn verstanden?« »Ich denke, wenigstens in allen Hauptzügen«. Er (mit fast naiver Verwunderung): »Aber gibt es denn wirklich da etwas zu verstehen?« Ich versuchte diese sonderbare und weitläufige Frage, so gut es ging, zu beantworten, und Mill sagte, nicht eben überzeugt aber entgegenkommend: »Ich begreife sehr wohl die Pietät oder Dankbarkeit, die Sie gegen Hegel fühlen. Man ist immer denen dankbar, die uns das Denken lehrten«. Niemals habe ich so, wie während dieses Gespräches gefühlt, wie völlig Mill ein Mann aus Einem Gusse war, ein echter Engländer, eigensinnig und hartnäckig, mit einer sonderbaren knochigen Willenskraft ausgerüstet und der Gabe eines geschmeidigen kritischen Aneignens völlig beraubt. Was mich aber bei dieser Gelegenheit am meisten ergriff, das war der tiefe Eindruck der Unwissenheit, in welcher noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bedeutendsten Männer der verschiedenen Länder, selbst der Paar Hauptländer über ihre gegenseitigen Verdienste schweben. Ich fühlte, dass man bis zu einem gewissen Grade schon dadurch nützlich sein könnte, dass man diese grossen Geister, die einander nicht verstehen, studire, confrontire und verstehe. Ich versuchte die Anschauungsweise, die ich meiner Universitätserziehung verdankte, gegen die Principien der empirischen Philosophie in's Feuer zu führen. Zu meinem Erstaunen waren alle Argumente, die ich vorbrachte und von deren Wirkung auf Mill ich mir viel versprochen hatte, ihm längst bekannt. »Das sind«, sagte er, »die alten deutschen Argumente«; er führte sie alle auf Kant zurück und hatte seine Beantwortung derselben bereit. Es würde hier nicht am Platze sein, die Realität der grossen, zwischen den beiden modernen Schulen schwebenden Streitfrage zu behandeln, eine Frage, die in Deutschland von fast allen Denkern im deutschen, in England von fast allen Denkern im englischen Sinne gelöst wird; natürlicherweise wollte Stuart Mill durchaus nicht einräumen, dass David Hume von Kant widerlegt sei, eine Anschauung, die ich jetzt vollständig theile und die, wie ich glaube, allgemein durchdringen wird, wenn die jetzige Kant-Vergötterung ein bisschen nachgelassen hat. Ein Zeichen der Zeit ist es in dieser Hinsicht, dass die jüngeren Professoren und Docenten an der Berliner Universität alle der englischen Richtung der Philosophie angehören und von dieser selben Universität ein Buch wie Friedrich Paulsens »Kant's Erkenntnisstheorie« ausgegangen ist. Damals ahnte ich zwar schon, dass die rationalistische und die empiristische Erkenntnisslehre sich irgendwie vermitteln liessen, aber ich kannte noch nicht Herbert Spencer's einfache Lösung des Räthsels. Mill sprach sich kurz, aber entschieden gegen alle Vermittlungsversuche aus und schloss mit den eigenthümlich bescheidenen, aber festen Worten, die mir im Gedächtnisse geblieben sind: »Ich glaube, dass man zwischen den Theorien wählen muss«. In diesem Geiste äusserte er sich auch über die verschiedenen modernen Philosophen, die ihm nahestanden. Er empfahl mir, Herbert Spencer kennen zu lernen. Die späteren Werke Spencers zu studiren, glaubte er jedoch nicht mir rathen zu sollen. Er meinte, dass er sich in diesen von »der guten Methode« entfernt habe; er empfahl mir dagegen eindringlich Spencer's »Principles of Psychology« und namentlich die beiden Hauptwerke »The senses and the intellect« und »The emotions and the will« von Bain. Er schenkte mir ein Exemplar des im Verein mit Bain von ihm herausgegebenen und mit Anmerkungen versehenen Werkes seines Vaters »Analysis of the human mind« das er mir als ein Hauptwerk der englischen Schule dieses Jahrhunderts rühmte, und da ich ihm von meiner Bewunderung seiner Kritik der Hamilton'schen Philosophie gesprochen hatte, schickte er mir Tags darauf noch dieses Buch. Fast von selbst musste das Gespräch auf Taine's eben erschienenes Werk »De l'intelligence« fallen, in welchem Mill so eifrig studirt, benützt und widerlegt wird und in welchem die englische Richtung in der französischen Philosophie sich vielleicht ihr dauerndes Denkmal gesetzt hat. Mill lobte Taine; nannte sein Buch eines der gründlichsten und bedeutendsten des neuen Frankreich und sagte mir darüber ungefähr, was ich später in seiner Besprechung dieses Werkes (»Fortnigthly Review«, Juli 1870) wiederholt fand; das Buch als Ganzes war ihm lieb; gegen die letzten Capitel desselben hatte er dieselbe Art von Einwendungen zu machen wie gegen die späteren Werke Herbert Spencers. Man musste ja nach seiner Ueberzeugung zwischen dem bedingten Wissen der Empirie und der unbedingten Gewissheit der Intuition ein für alle Mal entschieden »wählen«, und Taine hatte in dem letzten Buche seines Werkes über die Intelligenz eben versucht, Axiome aufzustellen, die sich nicht aus der Erfahrung herleiten liessen und desswegen für das ganze Universum, unabhängig von den Grenzen unserer Erfahrung, Gültigkeit hätten. Mill selbst meinte bekanntlich, sogar den Lehrsätzen der Algebra und der Geometrie, deren empirischen Ursprung er darzustellen suchte, nur einen beschränkten Herrschaftskreis sichern zu können. Er lobte mir das kleine Buch »Essays by a Barrister«, von dem er selbst einige Sätze citirt hat. Der anonyme Verfasser findet es vollständig denkbar, dass sowohl unser Einmaleins wie unser Euklides in anderen Sonnensystemen keine Gültigkeit haben. Die Frage ist, sagt dieser, ob unsere Gewissheit, dass das Einmaleins wahr ist, von der Erfahrung oder von einer transcendenten Ueberzeugung von dieser Wahrheit herrührt, die wohl durch Erfahrung erweckt wird, aber der Erfahrung vorausgeht und sie formt; er stellt, um der ersteren Anschauung das Wort zu führen, einige zum Denken anregende Beispiele auf: »Es gibt eine Welt, in welcher, wenn zwei Paar Dinge entweder einander nahe gebracht oder zusammen beobachtet werden, ein fünftes Ding unmittelbar geschaffen und in den Gesichtskreis dessen gebracht wird, der beschäftigt ist, zwei und zwei zusammenzulegen. Dies ist gewiss nicht unfassbar, denn wir können leicht, wenn wir an gewöhnliche Taschenspielerkunststücke (oder an Schalttage, möchte ich hinzufügen) denken, dieses Resultat fassen. Eben so wenig kann man sagen, dass die Sache über die Kräfte der Allmacht gehe. In einer solchen Welt würde nun gewiss zwei und zwei fünf ausmachen. Dies zeigt, dass diese Addition durchaus nicht unfassbar ist, und doch ist es auf der anderen Seite völlig leicht, zu sehen, warum wir gänzlich überzeugt sind, dass zwei und zwei vier ausmachen. Es gibt vermuthlich kaum einen Augenblick unseres Lebens, in welchem wir nicht diese Thatsache erfahren. Wir sehen sie, so oft wir vier Bücher, vier Tische oder Stühle, vier Männer auf der Strasse oder die vier Ecken eines Pflastersteines zählen, und wir fühlen uns von dieser Thatsache versicherter als davon, dass die Sonne sich morgen erheben werde, weil unsere Erfahrung über jene Thatsachen so viel häufiger ist und auf eine solche Unzahl von Fällen ihre Anwendung findet. Es ist auch nicht wahr, dass alle Personen, die jene Addition gemacht haben, von ihrer Richtigkeit gleich fest überzeugt sind. Ein Knabe, der eben das Einmaleins gelernt hat, ist völlig sicher, dass zwei und zwei vier sind, ist aber oft äusserst unsicher, ob sieben mal neun 63 sind oder nicht. Wenn sein Lehrer ihm sagte, dass zwei mal zwei fünf sind, würde seine Gewissheit sehr beeinträchtigt werden.« »Man könnte sich auch eine Welt denken, in welcher es allgemein angenommen sei, dass zwei gerade Linien einen Raum einschliessen. Man stelle sich einen Mann vor, der nie durch irgend einen seiner Sinne eine Erfahrung über gerade Linien gemacht hätte, und man denke sich ihn plötzlich auf eine Eisenbahn gestellt, die sich in völlig geraden Linien in's Unendliche fort in beiden Richtungen erstreckte. Er würde die Schienen -- die ersten geraden Linien, die er jemals sähe -- an beiden Horizonten sich begegnen oder sich dem Zusammentreffen nähern sehen; und er würde in Ermangelung jeder anderen Erfahrung schliessen, dass sie wirklich, wenn weit genug fortgesetzt, einen Raum einschliessen würden. Erfahrung allein könne ihn enttäuschen. Eine Welt, in welcher jeder Gegenstand rund wäre, eine gerade, aber unzugängliche Eisenbahn allein ausgenommen, würde eine Welt sein, in welcher Jedermann von zwei geraden Linien glaubte, dass sie im Stande seien, einen Raum zu umspannen«. Mill spendete diesen humoristischen, von Spencer und Jevons kritisirten Sophismen, an die er mich erinnerte, mündlichen Beifall, oder genauer: er huldigte der Grundanschauung, der sie entsprangen. »Wenn wir den Gesichtssinn ohne den Fühlsinn hätten, würden wir« sagte er »keinen Zweifel darüber hegen, dass zwei oder mehrere Körper sich an demselben Orte befinden können, so völlig hängen jene sogenannt apriorischen Axiome von der Beschaffenheit unserer Organe und Erfahrungen ab«. IV. Das Gespräch kam eines Tages auf die damaligen Verhältnisse in Rom. Ich verglich den religiösen Zustand in Italien mit dem in Frankreich, erinnerte Stuart Mill an das von uns beiden in Paris beobachtete Zusammenströmen der Beaumonde zu einer Kirche und sagte: »Sie haben in Ihren »Dissertations and Discussions« einige Worte geschrieben, die Sie jetzt kaum gelten lassen würden; Sie sagen: »Man kann, was die höheren Stände betrifft, Frankreich eben so gut ein buddhistisches wie ein katholisches Land nennen; das letztere ist nicht wahrer als das erstere! Wollten Sie heute noch diesen Satz vertheidigen?« Er antwortete: »Es war damals wahrer als jetzt; es ist in unseren Tagen eine neue Reaction gekommen, deren Möglichkeit ich mir nicht denken konnte. Ich glaubte in meiner Jugend nicht daran, dass die Menschheit zurückgehen könne, jetzt aber weiss ich's«. Einen Theil der Schuld an dieser geistigen Reaction schrieb er der französischen Universitätsphilosophie zu. Er sprach mit einer Geringschätzung, die in seinem Munde nicht verwundern konnte, von Cousin und seiner Schule. »Trotz alledem« schloss er, »verbleibe ich bei meiner alten Ueberzeugung: Die Geschichte Frankreichs in der neueren Zeit ist die Geschichte des ganzen Europa«. Diese Ansicht, die in Stuart Mill's Schriften überall durchscheint, ist unzweifelhaft eine Einseitigkeit, die sich durch seine geringe Kenntniss der deutschen Litteratur und durch seine Unterschätzung der englischen Verhältnisse, in welchen er selbstverständlich am leichtesten die Schäden entdeckte, recht wohl erklären lässt. Man kann darüber streiten, ob er sich über die Bedeutung und die neuere Geschichte Englands nicht allzu geringschätzend ausgesprochen. Was aber die höchste Anerkennung verdient, das ist der Muth, den er dem reizbaren Nationalgefühl seiner Landsleute gegenüber allezeit an den Tag gelegt. So ganz Engländer er in seiner Entwicklung und Bildung auch ist, er nennt in seinen Schriften England und englische Verhältnisse doch fast nie, ohne sie zu tadeln, und wo er eine Gelegenheit findet fremde, zumal französische Zustände auf Kosten der englischen zu erheben, lässt er sich sie gewiss nicht entgehen. Seit den Zeiten Byrons und Shelleys ist von der gepriesenen Constitution Englands, von englischem Gesellschaftsleben, von englischen Fehlern und Lastern nicht so wegwerfend gesprochen worden, wie in den gemeinfasslichen Schriften Mills. Geht er in diesem Punkte auch offenbar zu weit, so macht ihm doch sein Widerwille dagegen, durch Schmeichelei der Nationaleitelkeit Popularität zu gewinnen, die grösste Ehre. Er setzte den nationalen Vorurtheilen womöglich noch kühnern Trotz auf dem religiösen als auf dem politischen Gebiete entgegen. In allen seinen Schriften findet sich auch nicht eine Zeile, welche als Zugeständniss an die englische Kirche und ihre Lehren ausgelegt werden könnte, nicht die kleinste Zweideutigkeit, kraft deren die englische Religiosität ihn für sich hätte in Beschlag nehmen können. Und noch deutlicher als zu seinen Lebzeiten sprach er von seinem Grabe aus. »Was die Religion betrifft«, sagt er in seiner Selbstbiographie »so halte ich die Zeit für gekommen, wo jeder verständige Mann, der nach ernstlicher Ueberlegung die Ueberzeugung gewonnen hat, dass die geltenden Meinungen nicht nur falsch, sondern auch schädlich sind, die Verpflichtung trägt, sich zu seiner abweichenden Meinung zu bekennen. Wenigstens muss der es thun, dessen Name oder Stellung es wahrscheinlich machen, dass man auf seine Meinung Gewicht legt. Ein solches Eingeständniss würde ein für alle Mal dem allgemeinen Vorurtheil ein Ende machen, dass, was man sehr uneigentlich Unglaube nennt, mit unklarem Denken oder schlechtem Herzen verbunden sei. Die Welt würde staunen, wenn sie erführe, wie viele ihrer leuchtendsten Zierden, wie viele von Jenen, die ihrer Weisheit und Güte halber höchst allgemein Anerkennung und Verehrung gemessen, in religiösen Fragen vollständig skeptisch sind. Viele unterlassen indess, ihren Skepticismus zu gestehen, weniger aus persönlichen Rücksichten als aus einer gewissenhaften, obgleich wie mich dünkt, durchaus unberechtigten Furcht, mehr Schaden als Nutzen durch Aeusserungen anzustiften, welche den herrschenden Glauben, und damit, wie sie meinen, zugleich die herrschende Sittlichkeit schwächen könnten«. Man geht vielleicht nicht fehl, wenn man in der freieren Haltung der französischen Litteratur in religiösen Fragen, zum Theil die Erklärung des Reizes sucht, den sie auf Mill beständig übte, trotz allem, was ihm darin fremdartig und fernliegend sein musste. Er war sehr jung nach Frankreich gekommen; er erzählte mir, dass er sein fünfzehntes Jahr dort verbracht, und damals schon so viel Französisch gelernt habe, wie er jetzt könne. Da die französische Sprache die einzige fremde war, welche er fliessend und häufig (wenn auch nicht ohne starke englische Betonung) sprach, da er sein ganzes Leben hindurch bemüht gewesen, französische Ideen in England einzuführen und seinen Landsleuten Liebe zum französischen Nationalgeiste beizubringen, musste Frankreich nothwendiger Weise für ihn fast wie für einen eingeborenen Franzosen Europa vertreten. Unter allen Franzosen, die Mill kannte, war, glaube ich, Armand Carrel ihm der liebste gewesen; der Aufsatz, den er ihm gewidmet, ist vielleicht auch der schönste und gefühlvollste, den er je geschrieben hat. Aus der grossen Verehrung, mit der er Armand Carrel's gedachte, erkläre ich mir zum Theile seinen heftigen Widerwillen gegen Sainte-Beuve. Nie konnte er Sainte-Beuve vergeben, dass er, der einmal Mitarbeiter des »National« und Freund Carrel's gewesen war, sich mit dem Kaiserreiche befreundete und zum Senator wählen liess. Und doch würde diese vereinzelte Thatsache nicht genügen, um so harte Worte über Sainte-Beuve zu begründen, wie er sie in meiner Gegenwart fallen liess. Sainte-Beuve war ihm zuwider aus derselben Ursache, aus welcher Carrel ihm so sehr gefiel. Er hatte ihn eben nicht gründlich studirt, sein »Port-Royal« z. B. niemals gelesen, Aber ein Geist von so principienfester Schärfe wie der seinige fühlte sich von dem schmiegsamen und wogenden Naturell Sainte-Beuve's ganz abgestossen; denn Stuart Mill war ein Charakter von, man möchte sagen, mineralischer Beschaffenheit, starr, kantig und fest; der Geist Sainte-Beuve's dagegen war wie ein See: weit, weich, elastisch und von grossem Umfange, bewegte sich aber auch in lauter kleinen und unbestimmt abgegrenzten Wellen. Desswegen war Stuart Mill wie geschaffen zur Autorität; sein Ton war der eines Befehlshabers, und selbst wenn er sich am kühnsten benahm, schien er durch die Bündigkeit und Sicherheit, mit welcher er seine Resultate feststellte, jeden Widerspruch abzuweisen. Sainte-Beuve dagegen hat sich nie ganz und ohne Vorbehalt einer Sache angeschlossen, nur scheinbar in seiner Jugend der Sache der Romantik, etwas ernster der der Geistesfreiheit in seinen letzten Lebensjahren. Er ist nie ganz katholisch oder ganz saint-simonistisch, ganz Republikaner oder ganz kaiserlich, ganz klassisch gesinnt oder ganz Naturalist gewesen. Nur eines war er ganz: Sainte-Beuve, d. h. der Kritiker mit der femininen Sympathie und der immer lauernden Skepsis. Er war vom Tigergeschlechte, doch er war kein Tiger. Er schloss sich an niemand und an nichts vollständig an, aber er rieb sich an allem und dieses Sich-Reiben lockte Funken hervor. Der Unwille Mill's ihm gegenüber war die Antipathie des Hundes gegen die Katze. Es war Sainte-Beuve unmöglich, einfach zu schreiben; er konnte kein Urtheil abgeben, ohne es durch ein ganzes System von Nebensätzen zu bedingen; er konnte kein noch so kurzes Lob aussprechen, ohne es mit allerlei Malice zu würzen. Der nach seinem Tode grösste Kritiker Frankreichs sagte mir einmal: »Ein lobender Satz von Sainte-Beuve ist ein wahres Nest von Blutegeln«. Man vergleiche nun die Denkweise und den ganzen Stil Stuart Mill's: seine Gedanken immer gross angelegt, das Allgemeine umspannend, das Individuelle durchschlüpfen lassend, sein Vortrag schmucklos, kunstlos, nackt wie eine Landschaft, deren einzige Schönheit in den einfachen und gewaltigen Terrainformen besteht. An einem der letzten Tage meines Aufenthaltes in London drehte sich das Gespräch mit Stuart Mill um das Verhältniss zwischen Litteratur und Theater in England und Frankreich. Er sprach die in unserer Zeit so häufige Behauptung aus, dass die Franzosen, die im 17. Jahrhundert die spanischen, im 18. Jahrhundert die englischen und im 19. Jahrhundert die deutschen Ideen sich angeeignet haben, im Grunde keine andere litterarische Originalität besitzen als die, welche in der Form liege. Stuart Mill, dem für das eigentlich Aesthetische der Sinn so ziemlich fehlte und der mehr die Ideen in der Kunst als die Kunst um der Kunst willen liebte (seine Abhandlung über Alfred de Vigny gibt davon Zeugniss), schien durchaus nicht zu fühlen, dass die poetische und künstlerische Originalität der Franzosen selbst durch diese (allzu starke) Begrenzung ihrer Erfindungsgabe keiner Einschränkung unterliegen würde; denn wo Form und Inhalt unzertrennlich sind, ist die Ursprünglichkeit in der Formgebung mit der Ursprünglichkeit überhaupt identisch. Ohne mich im Gespräche auf diesen Gesichtspunkt einzulassen, antwortete ich nur, dass eine Eigenschaft, die man den Franzosen vorzuwerfen pflegt, ihre sogenannte Oberflächlichkeit ihnen in hohem Grade zugute kommt, wenn sie nachahmen. Denn die Nachahmung ist nur scheinbar. Mit einem starken Drange, sich von allem Fremden beeinflussen zu lassen, verbinden die Franzosen in der Regel einen fast vollständigen Mangel an Fähigkeit, das Fremde sachlich aufzufassen, und desshalb bleibt das nationale Gepräge überall unter einem leichten Anstriche des fremden Firnisses erkennbar. Ich nannte beispielsweise Victor Hugo als Nachahmer Shakespeare's, Alfred de Musset als Nachahmer von Byron. »Uebrigens«, fügte ich hinzu, »will ich herzlich gern die Vorzüge, welche die englische Poesie vor der französischen voraus hat, eingestehen, wenn Sie mir zum Ersatze die Ueberlegenheit der französischen Schauspielkunst über die englische einräumen wollen«. Ich hatte eben am Abend vorher der Aufführung von Molière's »Le malade imaginaire« unter dem Titel »The robust invalid« im Adelphi-Theater beigewohnt und, da ich das Stück sehr oft in Paris gesehen, reichliche Gelegenheit gehabt, die englische Spielweise mit der französischen zu vergleichen. In London wurde das Stück grob, karikirt, ohne den geringsten Versuch einer Charakterauffassung gespielt. Der Kranke und das Dienstmädchen erlaubten sich allerlei plumpe Uebertreibungen, brüllten, um den Sinn recht deutlich zu machen, auf die roheste Weise, ja hatten sogar die Frechheit, zwei der Acte mit einem Cancan abzuschliessen, und das, während gleichzeitig aus englischer Prüderie die Scenen mit der Klystierspritze und alle Ausdrücke, welche die Decenz verletzen könnten, ausgelassen waren. »Ja«, sagte Mill, »das Theater ist bei uns in Verfall gerathen. Was die Komödie betrifft, liegt es vielleicht daran, dass das englische Wesen so formlos und untheatralisch, unsere Gesten so steif und so selten sind, während die Franzosen auch in ihrem täglichen Leben sich immer als Schauspieler benehmen; aber in tragischer Richtung haben wir doch grosse Namen aufzuweisen. Wer weiss, ob nicht in unseren Tagen das Lesen überhaupt den Theaterbesuch verdrängen und ersetzen wird«. Er führte das Gespräch vom Theater auf die englischen Schriftsteller und besprach mit Wärme zwei von ihm so verschiedene Männer wie Dickens und Carlyle. Wie sehr er auch selbst Verstandesmensch war, er wusste so gut wie nur jemand den Dichter mit dem grossen, warmen Herzen und den Historiker mit der springenden, visionären Einbildungskraft zu schätzen. Dickens war damals gerade gestorben; ich hatte in jenen Tagen eben in der Westminster-Abtei an dem Orte gestanden, wo seine Leiche hinuntergesenkt ward. Dieses eine Grab war mit lebenden Rosen bedeckt, während ringsum schwere, kalte Steindenkmäler die anderen Gräber deckten; es wirkte wie ein Symbol. Ich theilte Mill meinen Eindruck mit, und er sprach mit Bedauern davon, dass er Dickens nicht persönlich gekannt und nur durch Andere von seiner Liebenswürdigkeit im privaten Verkehre etwas erfahren hatte. Die letzten Worte, die wir wechselten, galten dem unmittelbar bevorstehenden deutsch-französischen Kriege, dem Mill mit bösen Vorahnungen entgegensah. Er betrachtete ihn als ein Unglück für die ganze Menschheit, für die ganze europäische Cultur. Ich sah ihm lange in seine tiefen, blauen Augen hinein, bevor ich mich überwinden konnte, ihm zum letzten Male Lebewohl zu sagen. Ich wollte versuchen, mir diesen so ernsten und strengen, aber zugleich so kühnen Blick einzuprägen, der noch so frisch wie der eines Jünglings war. Ich wollte mir es gern unmöglich machen, die besondere Grösse, die über der Gestalt des Mannes lag und seine Worte prägte, zu vergessen. Es hat Bedeutung für die Auffassung eines Schriftstellers, in welchem Verhältnisse der Eindruck seines menschlichen Wesens zu dem seines Schriftstellerwesens steht. Ich habe keinen grossen Mann gekannt, bei welchem diese beiden Eindrücke sich so vollständig deckten, wie bei Mill. Ich habe keine Eigenschaft bei ihm als Schriftsteller gefunden, die man nicht im persönlichen Verkehr mit ihm wiederfände, und ich habe seine verschiedenen Eigenschaften in beiden Sphären nach derselben Ordnung und auf dieselbe Weise einander über- und untergeordnet gefunden. Es gibt Schriftsteller, bei welchen eine bestimmte Eigenschaft, z. B. die Philanthropie oder der Witz oder die Würde, eine grössere Rolle spielt, wenn sie schreiben, als sonst in ihrem Leben, andere, bei welchen Eigenschaften, wie Humor oder freie Menschlichkeit, die sie im Privatleben liebenswürdig machen, in den Schriften nicht zu spüren sind. Die meisten stehen weit hinter ihren Büchern zurück. Bei Stuart Mill fand sich keine Ungleichheit solcher Art, denn er war die fleischgewordene Wahrhaftigkeit selbst. Es kommt in Mill's »Autobiography« eine Situation vor, die den Höhegrad dieser Wahrhaftigkeit messen lässt. Ich denke hier an seine Lage, als er, der allem demagogischen Wesen so fernstehende Socialreformator, in einer aus lauter Arbeitern bestehenden Wählerversammlung als Parlamentscandidat gefragt wurde, ob er die Worte geschrieben und veröffentlicht habe, dass die arbeitenden Klassen in England »in der Regel noch lügenhaft seien«. Er antwortete sogleich und kurz »_I did_«. »Kaum«, fügt er hinzu, »hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ein gewaltiger Beifall durch die Versammlung rauschte. Die Arbeiter waren offenbar so gewohnt, von denen, die sich um ihre Stimmen bewarben, zweideutige und ausweichende Antworten zu hören, dass, wenn sie statt dessen ein directes Geständniss von etwas ihnen Unangenehmem erhielten, sie, weit entfernt, beleidigt zu werden, den Schluss zogen, dass sie diesem Manne vertrauen könnten«. Mill gibt die bescheidenste Deutung des Vorganges. Aber der Leser ahnt, welche Glorie der Wahrhaftigkeit in jenem Augenblicke den umstrahlen musste, dem Männer, die von den Schmeicheleien ihrer Führer verwöhnt waren, eine Beschuldigung durchgehender Lügenhaftigkeit mit solchem Beifallssturme lohnten. Auch im täglichen Leben trug Mill jenen unsichtbaren Nimbus der hohen Wahrheitsliebe. Von seinem ganzen Wesen strahlte die Reinheit des Characters aus. Man muss auf die erhabensten philosophischen Charaktere des Alterthums, auf Marcus Aurelius und seinesgleichen, wenn es sonst seinesgleichen gibt, zurückdenken, um eine Parallele zu Mill zu finden. Er war gleich wahr und gleich gross, ob er in einem weltberühmten Werke an einen über den Erdball verbreiteten Leserkreis reiflich überlegte Gedanken richtete, oder ob er in seinem Heim, ohne jemals seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen, an einen fremden Besucher eine zufällige Aeusserung hinwarf. HANS CHRISTIAN ANDERSEN. (1869.) Es gehört Muth dazu, Talent zu besitzen. Man muss wagen, sich seiner Eingebung anzuvertrauen, man muss überzeugt sein, dass der Einfall, welcher Einem durch das Hirn schiesst, gesund ist, dass die Form, welche Einem als natürlich ansteht, selbst wenn sie neu ist, ein Recht hat, sich geltend zu machen, man muss die Kühnheit gewonnen haben, sich der Beschuldigung auszusetzen, dass man affektirt oder auf Irrwegen sei, ehe man sich seinem Instinkt überlassen und ihm folgen kann, wohin er uns gebieterisch lenkt. Als Armand Carrel seiner Zeit als junger Journalist von seinem Redakteur getadelt ward, der, auf eine Stelle seines Artikels deutend, bemerkte: »So schreibt man nicht«, erwiderte er: »Ich schreibe nicht wie _man_ schreibt, sondern wie _ich_ schreibe«, und dies ist die allgemeine Formel der Begabung. Sie vertheidigt weder Gesudel noch Erfinderei, aber sie spricht mit Selbstbewusstsein das Recht des Talentes aus, wenn keine herkömmliche Form und kein vorhandener Stoff den eigenthümlichen Bedürfnissen seiner Natur genügen, sich neue Stoffe zu wählen, neue Formen zu bilden, bis es eine Baustätte von solcher Beschaffenheit findet, dass es, ohne Ueberanstrengung einer einzigen seiner Kräfte, sie alle verwenden und sie leicht und frei entfalten kann. Eine solche Baustätte hat der Dichter _Hans Christian Andersen_ im Märchen gefunden. I. Man trifft in seinen Märchen Anfänge wie diesen: »Man hätte glauben sollen, dass in dem Ententeiche etwas Wichtiges vorgehe, aber es ging Nichts vor! Alle Enten, die ruhig auf dem Wasser lagen -- einige standen auf dem Kopfe, denn das konnten sie -- schossen plötzlich ans Land; man konnte in dem nassen Lehm die Spuren ihrer Füsse sehen, und man konnte eine ganze Strecke weit ihr Geschnatter hören« oder wie folgenden: »Seht! nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt, denn es war ein böser Kobold! Es war einer der allerschlimmsten, es war der Teufel!« Die Konstruktion, die Wortstellung in den einzelnen Sätzen, die ganze Anordnung streitet wider die einfachsten Regeln der Syntax. »So schreibt man nicht«. Das ist wahr; aber so spricht man. Zu erwachsenen Menschen? Nein, aber zu Kindern; und wesshalb sollte man nicht befugt sein, die Worte in derselben Ordnung niederzuschreiben, in welcher man sie zu Kindern spricht? Man vertauscht hier die gewöhnliche Norm mit einer andern; nicht die Regel der abstracten Schriftsprache, sondern das Fassungsvermögen des Kindes ist hier das Bestimmende; es ist Methode in dieser Unordnung, wie Methode in den Sprachschnitzern des Kindes ist, wenn es sagt: »Du lügtest«, anstatt »Du logst«. Die angenommene Schriftsprache durch die freie Umgangssprache zu ersetzen, die steifere Ausdrucksweise des Erwachsenen mit derjenigen zu vertauschen, welche das Kind gebraucht und versteht, wird das Ziel des Dichters sobald er den Entschluss fasst, »Märchen für Kinder« zu erzählen. Er hat die kühne Absicht, sich in einem Druckwerke der mündlichen Rede zu bedienen, er will nicht schreiben, sondern sprechen, und er will gern wie ein Schulkind schreiben, wenn er dadurch nur vermeidet, wie ein Buch zu reden. Das geschriebene Wort ist arm und verlassen, das mündliche hat ein Heer von Verbündeten in dem Zuge des Mundes, welcher den Gegenstand, von dem die Rede ist, nachahmt, in der Handbewegung, welche ihn malt, in der Länge oder Kürze des Tones, seinem scharfen oder milden, ernsten oder drolligen Charakter, im ganzen Mienenspiel und in der ganzen Haltung. Je ursprünglicher das Wesen ist, zu welchem man spricht, desto mehr versteht es durch diese Hilfsmittel. Wer einem Kinde eine Geschichte erzählt, der erzählt unwillkürlich mit vielen Fratzen und Geberden; denn das Kind sieht die Geschichte eben so viel, wie es sie hört; es achtet fast wie der Hund, mehr auf die zärtliche oder erbitterte Betonung, als darauf, ob die Worte Freundlichkeit oder Zorn ausdrücken. Wer sich schriftlich an das Kind wendet, muss also den wechselnden Tonfall, die plötzlichen Pausen, die beschreibenden Handbewegungen, die Furcht einjagende Miene, das die glückliche Wendung verrathende Lächeln, den Scherz, die Liebkosungen und den Appell, welcher die einschlummernde Aufmerksamkeit weckt, -- alles dies muss er in seinem Vortrag zu verweben suchen, und da er nicht die Begebenheit geradezu dem Kinde vorsingen, malen oder tanzen kann, so muss er den Gesang, das Bild und die mimische Bewegung in seine Prosa bannen, dass sie wie gebundene Kräfte darin liegen, und sich erheben, sobald das Buch aufgeschlagen wird. Erstens: keine Umschreibungen; Alles wird frisch von der Leber weg gesagt, ja, mehr als gesagt, gebrummt, gesummt und geblasen: »Es kam ein Soldat auf der Landstrasse heran marschirt, _eins zwei, eins zwei_«. »Und die ausgeschnitzten Trompeter bliesen: Tratteratra! der kleine Junge ist da, tratteratra!« »Hör', sagte der Schneckenvater wie es auf den Klettenblättern trommelt: rundumdum, rundumdum!« Hier wird, wie in dem »Gänseblümchen«, mit einem »Nun hör' einmal!« begonnen, das sofort die Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Hier wird in der Weise des Kindes gescherzt: »Dann hieb der Soldat der Hexe den Kopf ab. _Da lag sie!_« Man hört das Lachen des Kindes, das auf diese kurze, nicht sehr gefühlvolle, aber anschauliche Darstellung des Abmuckens folgt. Hier werden so weiche Töne angeschlagen, wie z. B.: »Die Sonne schien auf den Flachs und die Regenwolken begossen ihn; und das war eben so gut für ihn, wie es für kleine Kinder ist, gewaschen zu werden und darauf einen Kuss von ihrer Mutter zu bekommen; sie werden ja viel schöner davon«. Dass an dieser Stelle eine Pause in der Erzählung gemacht wird, um dem Kinde den im Text gemeldeten Kuss zu geben, ist Etwas, das jede Mutter einräumen wird, und das sich von selbst versteht; der Kuss liegt ja im Buche. Die Rücksicht auf den jungen Leser kann nur dann noch weiter getrieben werden, wenn der Dichter kraft seiner geschmeidigen Sympathie sich ganz mit dem Kinde identificirt und sich so vollständig in dessen Vorstellungskreis, in dessen Anschauungsweise, ja in dessen rein körperlichen Gesichtspunkt hinein lebt, dass ihm ein Satz wie dieser unter die Feder kommt: »Das grösste grüne Blatt hier zu Lande ist doch jedenfalls das Klettenblatt; hält man eins vor seinen kleinen Leib, so ist es wie ein Schürzchen, und legt man es auf seinen Kopf, so ist es bei Regenwetter fast so gut wie ein Schirm, denn es ist so ausserordentlich gross«. Das sind Worte, die ein Kind, und jedes Kind, verstehen kann. Wie glücklich ist doch ein Dichter wie Andersen! Welcher Schriftsteller hat ein Publikum wie er! Welch kümmerliches Schicksal hat im Vergleich ein Mann der Wissenschaft, der zumal in einem kleinen Lande für ein Publikum schreibt, das ihn weder liest noch schätzt, und der von vier oder fünf -- Rivalen und Gegnern gelesen wird! Ein Dichter ist im Allgemeinen günstiger gestellt, aber wiewohl es für den Poeten ein Glück ist, von Männern gelesen zu werden, und zu wissen, dass seine Schriften von zarten Fingern durchblättert werden, die seidene Fäden als Lesezeichen verwenden, so hat doch keiner sich nur annähernd eines so frischen und aufgeweckten Leserkreises zu rühmen, wie _Andersen_ dessen gewiss ist. Seine Märchen gehören zu den Büchern, die wir silbenweise entziffert haben, und die wir heute noch lesen. Es sind einzelne darunter, in welchen die Buchstaben uns immer noch grösser, die Worte gewichtvoller erscheinen, als in den anderen, weil wir sie zum ersten Mal Buchstaben für Buchstaben und Wort für Wort kennen lernten. Und welche Freude muss es für Andersen gewesen sein, in seinen Träumen dies Gewimmel von Kindergesichtern zu Tausenden um seine Lampe zu sehen, diese Menge blühender, rosenwangiger kleiner Krausköpfe, wie im Gewölk eines katholischen Altarbildes, flachshaarige dänische Knaben, zarte englische Babies, schwarzäugige Hindumädchen, -- sie vor sich zu sehen, reich und arm, buchstabirend, lesend, aufhorchend, in allen Ländern, in allen Zungen, bald gesund und froh, müde vom Spiele, bald schwächlich, blass, mit durchsichtiger Haut nach einer der unzähligen Krankheiten, von denen die Kinder der Erde heimgesucht werden, und sie begierig diesen Wirrwarr weisser und dunkelbrauner Händchen nach jedem neuen, fertiggewordenen Blatte ausstrecken zu sehen! Ein so gläubiges, so tief aufmerksames, so unermüdliches Publikum hat kein Anderer. Kein Anderer hat auch ein so ehrwürdiges; denn selbst das Alter ist nicht so ehrwürdig und heilig wie die Kindheit. Hier bietet sich uns eine ganze Reihe friedlicher und idyllischer Scenen: da wird laut vorgelesen, und die Kinder lauschen mit Andacht, oder der Kleine sitzt vertieft in seine Lektüre, beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und die Mutter liest im Vorübergehen mit über die Schulter des Kindes. Lohnt sich's nicht der Mühe, für einen Hörerkreis wie diesen zu schreiben, und gibt es wohl einen, der eine unbeflecktere und willfährigere Phantasie hätte? Es gibt keinen, und man braucht nur die Einbildungskraft der Hörer zu studiren, um die des Schriftstellers kennen zu lernen. Der _Ausgangspunkt_ für seine Kunst ist das Spiel des Kindes, das Alles zu Allem macht; desshalb macht die spielende Laune des Künstlers Spielsachen zu natürlichen Geschöpfen, zu übernatürlichen Wesen (Kobolden), zu Helden, und benutzt umgekehrt die ganze Natur und alles Uebernatürliche, Helden, Kobolde und Feen, als Spielzeug, d. h. als künstlerische Mittel, welche bei jedem neuen künstlerischen Zusammenhange umgeprägt und neu gestempelt werden. Der _Nerv_ dieser Kunst ist die Einbildungskraft des Kindes, welche alles beseelt und zu einem persönlichen Wesen macht; dadurch belebt sie ein Stück Hausrath so gut wie eine Pflanze, eine Blume so gut wie einen Vogel oder eine Katze, und das Thier in derselben Weise wie die Puppe, wie das Portrait, wie die Wolken, die Sonnenstrahlen, die Winde und die Jahreszeiten. Selbst der Hüpfauf aus dem Brustknochen einer Gans wird solchergestalt für das Kind ein lebendes Ganzes, ein denkendes, willensbegabtes Wesen. Das _Vorbild_ einer solchen Poesie ist der Traum des Kindes, in welchem die kindlichen Vorstellungen noch rascher und mit noch kühneren Verwandlungen wechseln, als beim Spiele; desshalb nimmt der Dichter (wie in den »Blumen der kleinen Ida«, im »Sandmann«, im »Kleinen Tuck«, im »Fliedermütterchen«) gern seine Zuflucht zum Traume als zu seinem Arsenale; desshalb kommen ihm oft, wenn er den Kindestraum sich in den Vorstellungen ergehen lässt, welche das Kindesgemüth erfüllen und ängstigen, seine herrlichsten Inspirationen, z. B. wenn der kleine Hjalmar im Traume hört, wie die schiefen Buchstaben, die auf der Nase liegen, in seinem Schreibbuche jammern. »Seht, so sollet ihr euch halten!« sagte die Vorschrift, »seht, so schräg geneigt, mit einem kräftigen Schwunge!« »Ach, wir möchten gern«, sagten Hjalmar's Buchstaben, »aber wir können's nicht, wir sind so schwach!« »Dann müsst ihr Kinderpulver einnehmen!« sagte Ole Luköje. »O nein!« riefen sie und da standen sie so schlank, dass es eine Lust war.« So träumt ein Kind, und so malt ein Dichter uns den Traum eines Kindes. Aber die _Seele_ dieser Poesie ist doch weder der Traum noch das Spiel, es ist ein eigenes, wieder kindliches, aber zugleich mehr als kindliches Vermögen, nicht blos das Eine für das Andere zu setzen, also Alles zu vertauschen, oder das Eine im Andern leben zu lassen, also Alles zu beleben, sondern, durch das Eine schnell und flüchtig an das Andere erinnert, das Eine im Andern wiederfindend, es zu verallgemeinern, das Bild zum Sinnbilde zu gestalten, den Traum zur Mythe zu erheben, und durch eine künstlerische Verschiebung den einzelnen märchenhaften Zug in einen Brennpunkt für das ganze Leben zu verwandeln. Eine solche Phantasie dringt nicht tief in den Kern der Dinge ein, sie beschäftigt sich mit Kleinigkeiten; sie sieht die groben Fehler, nicht die grossen, sie trifft, aber nicht tief, sie verletzt, aber nicht gefährlich, sie flattert wie ein beschwingter Falter von einem Orte zum andern, an den ungleichartigsten Punkten verweilend, und sie spinnt wie ein kluges Insekt ihr feines Gewebe von vielen verschiedenen Ausgangspunkten her zu einem Ganzen zusammen. Was sie erzeugt, ist kein Seelengemälde, keine unmittelbare Menschendarstellung, sondern ein Werk, das mit all seiner künstlerischen Vollkommenheit schon in den unschönen und verwirrenden Arabesken der »Fussreise nach Amack« angedeutet war. Während die Märchendichtung nämlich durch ihren Inhalt an alte Mythenbildungen erinnert (»Fliedermütterchen«, »Die Schneekönigin«), an die Volkssagen, auf deren Grunde sie sich zuweilen erbaut, an Sprichwörter und Fabeln des Alterthums, ja, an die Parabeln des Neuen Testaments (der Buchweizen wird gestraft wie der Feigenbaum), während sie solchermaassen stets durch eine Idee zusammengehalten wird, lässt sie sich betreffs ihrer Form mit den phantastischen pompeianischen Dekorationsmalereien vergleichen, in welchen eigenthümlich stilisirte Pflanzen, lebensvolle Blumen, Tauben, Pfauen und Menschengestalten sich mit einander verschlingen und in einander übergehen. Eine Form, die für jeden andern ein Umweg zum Ziele, ein Hinderniss und eine Verkleidung sein würde, wird für Andersen eine Maske, unter welcher er sich erst recht frei, recht fröhlich und sicher fühlt, sein kindlicher Genius spielt, wie die bekannten antiken Kindergestalten, mit der Maske, erweckt Lachen, ergötzt und erschreckt hinter ihr. So wird die in all' ihrer Offenherzigkeit maskirte Ausdrucksweise des Märchens der natürliche, ja klassische Tonfall seiner Stimme, welcher äusserst selten sich überschlägt oder falsch klingt. Das einzige, was hin und wieder vorkommt, ist, dass man statt der reinen Milch des Märchens einen Schluck Milchwasser erhält, dass der Ton etwas zu empfindsam und süsslich wird (»Der arme Johannes!« »Der arme Vogel!« »Das arme Däumelinchen!«), was übrigens selten bei den dem Volksmärchen entnommenen Stoffen, wie »Das Feuerzeug«, »Der grosse Klaus und der kleine Klaus« etc., der Fall ist, wo das naiv Lustige, Frische und Harte in der Erzählung, welche ohne die geringste mitleidige oder weinerliche Phrase von Verbrechen und Mordthaten berichtet, Andersen zu Statten kommt und seinen Figuren grössere Derbheit verleiht. Weniger klassisch ist der Ton dagegen in den, den Märchen eingefügten, lyrischen Ergüssen, in welchen der Dichter in einer bewegten und pathetischen Prosa einen flüchtig umfassenden Blick über einen grossen Zeitraum der Geschichte wirft (»Der Ehre Dornenpfad«, »Das Schwanennest«). Hier scheint mir ein gewisser Schwung, eine gewisse forcirte Begeisterung in der Stimmung im Missverhältnisse zu dem nicht sehr bedeutenden Gedankeninhalt zu stehen. Bis auf die hier angedeuteten wenigen Ausnahmen ist die Erzählungsweise der Märchen in ihrer Art musterhaft. Lasst uns, um sie gründlich kennen zu lernen, den Dichter bei seiner Arbeit belauschen. Lasst uns durch das Studium seines Verfahrens ein tieferes Verständniss des Resultats gewinnen. Es gibt einen Fall, wo seine Arbeitsmethode sich deutlich beobachten lässt, nämlich wenn er einen Stoff umarbeitet. Wir brauchen dann nicht in unklarer Allgemeinheit zu empfinden und zu loben, wir können Punkt für Punkt, im Vergleich mit einer abweichenden Erzählungsart, scharf und bestimmt angeben, was er auslässt, was er hervorhebt, und so seine eigene unter unseren Augen heranwachsen sehen. Andersen blättert eines Tages in Don Manuel's »Graf Lucanor«, ergötzt sich an der schlichten Weisheit der alten spanischen Geschichten, an ihrer feinen, mittelalterlichen Darstellung, und verweilt bei =Kapitel VII.= Handelt davon, was einem König mit drei Betrügern begegnete. »Graf Lucanor sprach eines Tages mit Patronio, seinem Rathgeber, und sagte zu ihm: Es ist ein Mann zu mir gekommen und hat mir von einer sehr wichtigen Sache geredet. Er lässt durchblicken, dass sie im höchsten Grade zu meinem Besten gereichen würde. Aber er sagt, kein Mensch in der Welt dürfe darum wissen, wie hoch ich ihn auch schätzen möge, und er schärft mir so dringend ein, das Geheimniss zu bewahren, dass er sogar sagt, falls ich Jemand dasselbe offenbaren würde, so werde mein ganzes Besitzthum und mein Leben aufs höchste gefährdet sein. Und da ich weiss, dass man Euch Nichts sagen kann, ohne dass Ihr wisst, ob es zum Heile oder in trugvoller Absicht gesagt wird, so bitte ich Euch mir zu sagen, was Ihr von dieser Sache haltet. Herr Graf, antwortete Patronio, damit Ihr verstehen könnt, was hier nach meinem Dafürhalten zu thun ist, möchte ich Euch bitten, anzuhören, was einem Könige mit drei Betrügern begegnete, die zu ihm kamen. Der Graf frug, wie es sich damit verhielte«. Diese Einleitung gleicht einem Programm; man erfährt zuerst die nackte Frage, auf welche die nachfolgende Geschichte antworten soll, und man fühlt, dass die Geschichte nur der Frage halber da ist. Es soll uns nicht erlaubt sein, selbst aus der Erzählung die Lehre, welche wir darin finden, zu entnehmen, sie soll mit aller Gewalt auf die Frage nach dem Vertrauen, welches geheimnissvolle Menschen verdienen, hingelenkt werden. Diese Erzählungsweise ist die praktische, nicht die poetische; sie beschränkt allzu stark das Vergnügen, welches der Leser daran findet, selbst die versteckte Moral zu ermitteln. Die Phantasie sieht es freilich gern, dass man ihr die Arbeit leicht macht, sie will sich nicht wirklich anstrengen; aber sie mag nicht, dass man ihrer leichten Thätigkeit vorgreift, sie will, wie alte Leute, die man zum Schein arbeiten lässt, nicht daran erinnert werden, dass ihre Arbeit nur Spiel ist. Die Natur gefällt, wenn sie einem Kunstwerk gleicht, sagt Kant, die Kunst, wenn sie wie Natur erscheint. Wesshalb? Weil die verschleierte Absicht gefällt. Aber gleichviel, lasst uns in dem Buche weiter lesen: »Herr Graf, sagte Patronio, es kamen drei Betrüger zu einem Könige und sagten, sie seien ganz vorzügliche Meister in der Anfertigung von Kleiderstoffen, und sie verstünden namentlich eine Art Zeug zu verfertigen, das Jeder, welcher wirklich der Sohn _des_ Vaters sei, den alle Welt dafür hielte, sehen könne, das aber der, welcher nicht der Sohn seines vermeintlichen Vaters sei, nicht zu sehen vermöge. Dem König gefiel dies sehr, da er dachte, dass er mit Hilfe dieses Zeuges erfahren könne, welche Männer in seinem Reiche die Söhne derer seien, die von rechtswegen ihre Väter sein sollten, und welche nicht, und dass er solchermassen Vieles in seinem Lande berichtigen könne; denn die Mauren beerben nicht ihren Vater, wenn sie nicht wirklich seine Kinder sind. Desshalb befahl er, ihnen einen Palast einzuräumen, in welchem sie arbeiten könnten«. Der Anfang ist nicht dumm, es ist Humor in der Geschichte; aber, denkt Andersen, wenn man sie für Dänemark benutzen wollte, so müsste man freilich einen anderen Vorwand wählen, der passender für Kinder und für die bekannte nordische Unschuld wäre. Und dann dieser König, er steht in der Erzählung wie eine Schachfigur da; wesshalb kommen die Betrüger gerade zu ihm, was für einen Charakter besitzt er? ist er prunkliebend, ist er eitel? Man sieht ihn nicht vor Augen. Am besten wär's, wenn er ein Narr von König wäre. Man müsste ihn charakterisiren, ihn durch ein Wort, eine Redensart stempeln. »Und sie sagten zu ihm, er möge sie, um sicher zu sein, dass sie ihn nicht betrügen, in jenen Palast einschliessen lassen, bis das Zeug fertig sei, und das gefiel dem König sehr«. Sie erhalten jetzt Gold, Silber und Seide, verbreiten die Nachricht, dass das Gewebe begonnen sei, veranlassen durch ihr keckes Hinweisen auf Muster und Farben die Sendboten des Königs, das Zeug für vortrefflich zu erklären, und erreichen solchermaassen zuletzt den Besuch des Königs, welcher, da er Nichts sieht, »einen Todesschreck bekommt; denn er glaubt, er sei nicht der Sohn des Königs, den er für seinen Vater gehalten«. Er lobt desshalb das Zeug über die Maassen, und Alle machen es wie er, bis er eines Tages bei Gelegenheit eines Festes die unsichtbaren Kleider anlegt; er reitet durch die Stadt, »und es war gut für ihn, dass es Sommer war«. Niemand sah das Zeug, allein Jeder fürchtete durch das Eingeständniss seines Unvermögens sich ruinirt und entehrt zu sehen. »Dadurch wurde dies _Geheimniss_ bewahrt, und Niemand erkühnte sich, es zu offenbaren, bis ein Neger, welcher das Pferd des Königs wartete und Nichts zu verlieren hatte, zum König ging«, und die Wahrheit an den Tag brachte. »Wer Dir den Rath gibt: schweige gegen Deinen Freund, Will ohne Zeugen sicherlich betrügen Dich«. Eine sonderbare und zugleich eine sehr schlecht bewiesene Moral dieser artigen Geschichte. Andersen vergisst die Moral, beseitigt mit schonender Hand die schwerfällige Lehre, welche die Erzählung nach einer Seite hinbiegt, wo ihr wahrer Mittelpunkt nicht liegt, und erzählt nun mit dramatischer Lebendigkeit, in dialogischer Form, sein treffliches Märchen von dem eitlen Kaiser, von dem man in der Stadt sagte: »Der Kaiser ist in der Garderobe«. Er rückt uns die Erzählung ganz nahe. Es gibt Nichts, dessen Existenz man nicht zu leugnen wagte aus Furcht, für einen Bastard zu gelten; aber es gibt Vieles, über das man sich nicht die Wahrheit zu sagen getraut aus Feigheit, aus Furcht, anders zu handeln, als »alle Welt«, aus Besorgniss, dumm zu erscheinen. Und diese Geschichte ist ewig neu, ohne Ende. Sie hat ihre ernste, allein sie hat auch gerade wegen ihrer Unendlichkeit ihre humoristische Seite: »Aber er hat ja Nichts an! rief zuletzt das ganze Volk. Und das wurmte den Kaiser, denn es schien ihm, als hätten sie Recht, aber er dachte bei sich: Nun muss ich die Procession aushalten. _Und so hielt er sich noch straffer_, und die Kammerherren gingen hinterher und trugen die Schleppe, die gar nicht da war«. Andersen erst hat die Erzählung komisch gemacht. Doch wir können der Erzählungsweise Andersen's noch näher treten; wir sahen ihn ein fremdes Märchen neu darstellen, wir können ihn auch seine eigenen Versuche umarbeiten sehen. Im Jahre 1830 veröffentlichte Andersen in einem Gedichtbande »Der Todte, ein Volksmärchen aus Fünen«, -- dasselbe, welches er später unter dem Titel »Der Reisekamerad« umformte. Die Erzählung ist in ihrer ersten Gestalt vornehm und würdevoll, sie beginnt folgendermaassen: »Ungefähr eine Meile von Bogensee findet man auf dem Felde in der Nahe von Elvedgaard einen durch seine Grösse merkwürdigen Weissdorn, den man selbst von der jütischen Küste aus sehen kann«. Hier sind hübsche landschaftliche Naturschilderungen, hier ist eine fertige Schriftstellermanier. »Die erste Nacht _quartirte_ er sich in einem Heuschober auf dem Felde ein und schlief dort wie ein _persischer_ Fürst in seinem glänzenden Schlafzimmer«. Ein persischer Fürst! Das ist eine kleinen Kindern fremde Vorstellung. Setzen wir lieber statt dessen: »Die erste Nacht musste er sich in einem Heuschober auf dem Felde schlafen legen, ein anderes Bett hatte er nicht. Aber, das sei recht hübsch, meinte er, der König selbst könne es nicht besser haben«. Das ist verständlich. »Der Mond hing wie eine _argantische_ Lampe unter der gewölbten Decke und brannte mit einer steten Flamme«. Klingt der Ton nicht vertraulicher, wenn man sagt: »Der Mond war eine grosse Nachtlampe, hoch oben unter der blauen Decke, und der steckte gewiss nicht die Gardinen in Brand«? Die Geschichte von der Puppenkomödie wird umgeschrieben; es genügt, wenn wir wissen, dass das Stück von einem König und einer Königin handelt; Ahasverus, Esther und Mardochai, die zuerst genannt wurden, sind zu gelehrte Namen für Kinder. Stossen wir auf einen lebensvollen Zug, so behalten wir ihn: Die Königin kniete ebenfalls nieder und streckte ihre goldene Krone aus, als wollte sie sagen: »_Nimm sie! aber schmiere meinen Gemahl und meine Hofleute!_« Solch eine Stelle ist eine von denen, wo der Märchenton durch die verfeinerte Form hindurchdringt, wo der Stil, welcher »Du« zum Leser sagt, den, welcher »Sie« sagt, bei Seite schiebt. Hier wimmelt es noch von Schriftsteller-Vergleichen: »Vom Wirth erfuhren unsere Wanderer, dass sie sich im Reiche des Herzkönigs befänden, eines trefflichen Regenten und nahe verwandt mit dem Rautenkönige Silvio, der hinlänglich aus Carlo Gozzi's dramatischem Märchen 'Die drei Pommeranzen' bekannt ist«. Die Prinzessin wird mit Turandot verglichen, von Johannes heisst es: »Es war, als hätte er kürzlich den Werther und Siegwart gelesen, er konnte nur lieben und sterben«. Kreischende Misstöne im Märchenstile! Die Worte sind noch nicht dem Sprachschatze des Kindes entnommen, der Ton ist elegant, und die Bezeichnungen sind abstrakt: »Johannes sprach, aber er wusste selbst nicht, was er sagte, denn die Prinzessin lächelte ihn so selig an und reichte ihm ihre weisse Hand zu einem Kusse; seine Lippen brannten, er fühlte sein ganzes Inneres _elektrisirt_; nichts konnte er von den _Erfrischungen_ geniessen, welche die Pagen ihm anboten, er sah nur sein schönes Traumbild«. Hören wir dies einmal in dem Stile, der uns Allen bekannt ist: »Sie war wunderschön anzuschauen und reichte Johannes die Hand, und er hielt noch viel mehr von ihr, als zuvor. Sie konnte sicher keine böse Hexe sein, wie alle Leute es ihr nachsagten. -- Dann begaben sie sich in den Saal, und die kleinen Pagen präsentirten ihnen Eingemachtes und Pfeffernüsse, aber der alte König war so betrübt, er konnte gar nichts essen, und die Pfeffernüsse waren ihm auch zu hart«. In seiner Jugend war Andersen, welcher sich damals Musäus zum Vorbilde nahm, noch nicht so weit gelangt, dass er verstanden hätte, Scherz und Ernst in seinem Vortrage zu verschmelzen, sie fielen auseinander; kaum war das Gefühl ausgesprochen, als sofort die störende Parodie sich einstellte. Johannes sagt einige Worte, in denen er seine Liebe ausspricht, und der Verfasser fügt hinzu: »O, es war so rührend zu hören! Der arme junge Mensch, der sonst so natürlich, so liebenswürdig war, sprach jetzt ganz wie ein Claurensches Buch; aber was thut nicht die Liebe!« Auf diesem Punkte, bei dieser pedantischen Frivolität verharrte Andersen noch 1830; allein fünf Jahre später ist sein Verwandlungsprocess beendet, sein Talent hat sich gehäutet, sein Muth ist gewachsen, er wagt seine eigene Sprache zu reden. Das Bestimmende in dieser Sprechweise war von Anfang an das Kindliche. Um von so jugendlichen Lesern verstanden zu werden, wie die, an welche er sich wandte, musste er die allereinfachsten Worte gebrauchen, auf die allereinfachsten Vorstellungen zurück gehen, alles Abstrakte vermeiden, die indirekte Rede durch die direkte ersetzen, aber indem er solchermaasen das Einfältige sucht, findet er das dichterisch Schöne, und indem er zu dem Kindlichen gelangt, zeigt sich, dass dies Kindliche eben das Poetische ist; denn der allgemein verständliche, naive Ausdruck ist poetischer, als der, welcher an die Industrie, an die Geschichte, an die Litteratur erinnert, die konkrete Thatsache ist zugleich lebendiger und durchsichtiger, als die, welche als Beweis für einen Satz hingestellt wird, und die Sprache, welche unmittelbar von den Lippen gebildet wird, ist charakteristischer, als die blasse Umschreibung mit einem »dass«[33]. Bei dieser Sprache zu verweilen, sich in ihren Wortschatz, ihre Syntax, ihre Betonung zu vertiefen, ist kein Zeugniss von einem kleinlichen Geiste und geschieht nicht aus Liebe zu den Vokabeln oder zum Idiom. Die Sprache ist allerdings nur die Oberfläche des Dichterwerks; aber indem man seinen Finger auf die Haut legt, fühlt man den klopfenden Puls, welcher den Herzschlag im Innern angibt. Das Genie gleicht einer Uhr: der sichtbare Zeiger wird von der unsichtbaren Feder gelenkt. Das Genie gleicht einem aufgerollten Knäul: so unauflöslich und verwickelt es erscheint, ist es doch in seinem innern Zusammenhange unzertrennlich Eins. Hat man nur das äusserste Ende des Fadens erfasst, so darf man versuchen, langsam und vorsichtig selbst den verworrensten Faden aus seinem Wickel zu entrollen. Er nimmt keinen Schaden dabei. II. Halten wir also den Faden fest, so verstehen wir, wie das Kindliche im Vortrage und Vorstellungskreise der Märchen, die treuherzige Weise mit der sie das Unwahrscheinlichste berichten, ihnen gerade dichterischen Werth verleiht. Denn was ein Schriftwerk bedeutungsvoll macht, was ihm Ausbreitung im Raume und dauernde Bedeutung in der Zeit verleiht, das ist die Macht, mit welcher es das im Raume Verbreitete und in der Zeit Dauernde darzustellen vermag. Es erhält sich durch die Kraft, mit welcher es auf eine deutliche und formvollendete Art das Konstante veranschaulicht. Die Schriften, welche die in der Zeit oder im Raume eng begrenzten Stimmungen oder Gefühle festhalten, diejenigen, welche sich um rein lokale Verhältnisse bewegen, oder von einem Modegeschmack getragen werden, der sein Erzeugniss und sein Bild in ihnen findet, verschwinden mit der Mode, welche sie hervorrief. Ein Gassenhauer, ein Zeitungsartikel, eine Festrede halten eine Stimmung fest, welche die Stadt oberflächlich acht Tage lang erfüllte, und leben daher selbst ungefähr eben so lange. Oder, um höher hinauf zu steigen: in einem Lande entsteht plötzlich ein gewisser untergeordneter Hang, z. B. die Lust Privatkomödie zu spielen, wie sie zur Zeit »Wilhelm Meister's« in Deutschland oder zwischen 1820 und 1830 in Dänemark epidemisch war. Eine solche Stimmung ist zwar an und für sich nicht bedeutungslos, aber psychologisch betrachtet ist sie durchaus oberflächlich und berührt nicht das tiefere Leben der Seele. Macht man sie nun also zum Gegenstand der Satire, wie es in Dänemark in Rosenkilde's »Der dramatische Schneider« oder in Henrik Hertz's »Herr Burchardt und seine Familie« geschah, so werden diese Werke, welche, ohne die Epidemie unter einen höheren Gesichtspunkt zu stellen, sie nur schildern und lächerlich machen, eben so kurzlebig wie jene sein. Steigen wir jetzt eine Stufe höher, so erreichen wir die Werke, welche den psychologischen Zustand eines ganzen Geschlechts, eines ganzen Menschenalters wiederspiegeln. Solche Erzeugnisse sind die gutmüthige Trinkliederpoesie des vorigen Jahrhunderts, die politische Gelegenheitsdichtung des jetzigen. Sie sind historische Urkunden, aber ihr Leben und ihr poetischer Werth stehen, in direktem Verhältnisse zu der Tiefe, mit welcher sie sich dem allgemein Menschlichen, dem in der geschichtlichen Strömung Konstanten nähern. Mit grosser und entschiedener Bedeutung treten sodann in dieser Stufenfolge die Werke hervor, in denen ein Volk ein halbes oder ganzes Jahrhundert lang oder während einer ganzen geschichtlichen Periode sich porträtirt gesehen und die Aehnlichkeit anerkannt hat. Solche Werke müssen nothwendigerweise einen Seelenzustand von beträchtlicher Dauer schildern, welcher, eben weil er so dauernd ist, seinen geologischen Platz in den tieferen Schichten der Seele haben muss, da sonst der Wellenschlag der Zeit ihn weit eher fortspülen würde. Diese Werke verkörpern nämlich die ideale Persönlichkeit einer Zeit, d. h. die Persönlichkeit, welche den Menschen jener Zeit als ihr Spiegel- und Musterbild vorschwebt. Es ist diese Persönlichkeit, welche Künstler und Dichter in Stein hauen, malen und schildern, und für welche Musiker und Dichter schaffen. Im griechischen Alterthume waren es der geschmeidige Athlet und der wissbegierige, fraglustige Jüngling, im Mittelalter der Ritter und Mönch, unter Ludwig XIV. der Hofmann, im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts war es Faust. Die Werke, welche solche Gestalten darstellen, drücken also den geistigen Zustand eines ganzen Zeitalters aus, allein die bedeutendsten derselben stellen noch mehr dar, sie spiegeln und verkörpern zugleich den Charakter eines ganzen Volkes, eines ganzen Stammes, einer ganzen Kultur, indem sie die allertiefste elementarste Schicht der einzelnen Menschenseele und der Gesellschaft erreichen, welche jene in seiner kleinen Welt concentrirt und vertritt. Man könnte solchergestalt die Geschichte einer ganzen Litteratur mittelst weniger Namen schreiben, indem man die Geschichte ihrer idealen Persönlichkeiten schriebe. Die dänische Litteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts liegt z. B. zwischen den beiden Typen: Oehlenschläger's Aladdin und Frater Taciturnus in Kierkegaard's »Stadien auf dem Lebenswege«. Der Erstere ist ihr Ausgangspunkt, der Letztere ihre Vollendung und ihr Abschluss. Da nun der poetische Werth dieser Persönlichkeiten, wie gesagt, auf der Tiefe beruht, mit welcher sie im Volkscharakter oder in der Menschennatur begründet sind, so wird man leicht erkennen, dass z. B. eine Persönlichkeit wie Aladdin, um in ihrer eigenthümlichen Schönheit verstanden zu werden, mit der idealen Persönlichkeit verglichen werden muss, welche uns vom Anbeginn der Zeiten her in der Phantasie des dänischen Volkes entgegen leuchtet. Man findet diese Persönlichkeit, indem man eine grosse Anzahl der ältesten mythischen und heroischen Gestalten des Volkes neben einander hält. Sollte ich einen einzelnen Namen angeben, so würde ich Uffe den Schüchternen nennen[34]. An Tugenden wie an Fehlern ist er ein Koloss von einem dänischen Heros. Man sieht leicht, in welchem Grade alle die besten Gestalten Oehlenschläger's, sein ruhiger Thor, sein sorgloser Helge und sein unthätiger Aladdin dem Helden nacharten, und man sieht bei dieser Betrachtung, wie tief Aladdin im Volkscharakter wurzelt, während er gleichzeitig ein Zeitideal von ungefähr fünfzigjähriger Dauer ausdrückt. Wie Frater Taciturnus eine Variante des Fausttypus ist, würde ebenfalls leicht zu veranschaulichen sein. Bisweilen ist es also möglich, nachzuweisen, wie die ideale Persönlichkeit ein Zeitalter hindurch sich über die verschiedensten Länder und Völker, über einen ganzen Welttheil erstreckt, und ihren Stempel in einer ganzen Gruppe von Litteraturwerken hinterlässt, welche einander wie Abdrücke einer und derselben Geistesform, Abdrücke eines und desselben riesigen Petschafts in den verschiedenartigst gefärbten Oblaten gleichen. So leitet die Persönlichkeit, welche in der dänischen Litteratur als »der Verführer Johannes« (in Kierkegaard's »Entweder -- Oder«) hervortritt, sich von Byron's Helden, von Jean Paul's Roquairol, von Chateaubriand's René, von Goethe's Werther ab, und wird ganz gleichzeitig in Lermontow's Petschorin (»Ein Held unserer Zeit«) dargestellt. Um eine solche Persönlichkeit zu stürzen, genügen nicht die gewöhnlichen Wellenschläge und Stürme der Zeit, erst die Revolution von 1848 hat sie beseitigt. Gegensätze berühren sich. Auf dieselbe Weise, wie eine tief eingreifende, allgemein menschliche Seelenkrankheit sich gleichzeitig über ganz Europa erstreckt und durch ihre Tiefe bewirkt, dass die Werke, welche zuerst als ihre Portraits erschaffen wurden, als ihre Denkmäler stehen bleiben, eben so werden aus demselben Grunde auch diejenigen Werke allgemein europäisch und langlebig, welche das _Elementarste_ in der gesunden Menschennatur, die kindliche Phantasie und das kindliche Gefühl abspiegeln, und sich folglich auf Thatsachen berufen, die Alle erlebt haben (alle Kinder schliessen Königreiche mit einem Schlüssel zu); sie stellen das Leben dar, welches in der ersten Periode der Menschenseele stattfand, und erreichen also eine Geistesschicht, die bei allen Völkern und in allen Ländern am tiefsten liegt. Das ist die einfache Erklärung der Thatsache, dass Andersen allein unter allen dänischen Dichtern eine europäische, ja mehr als europäische Verbreitung gefunden hat. Mir ist keine andere Erklärung zu Ohren gekommen, es wäre denn die, welche seine Berühmtheit daraus ableiten will, dass er selbst umher gereist sei und für seinen Ruhm gesorgt habe. Ach, wenn Reisen es thäten, so müssten die Reisestipendien für Künstler jeglicher Art, die alljährlich vertheilt werden _müssen_, Dänemark allmählig einen ganzen Flor europäischer Berühmtheiten schaffen, wie sie ihm bereits Dichter auf Dichter schaffen. Die Dichter sind freilich danach. Aber selbst die übrigen, minder boshaften Erklärungsgründe, welche man anführen könnte, z. B. dass fast er allein unter den grösseren dänischen Dichtern in Prosa geschrieben hat und sich desshalb allein ohne Zwang übersetzen lässt, dass sein Genre so populär oder dass er ein grosses Genie ist, besagen entweder zu wenig oder zu viel. Es giebt in der dänischen Litteratur mehr als _einen_ Genius, der grösser als Andersen ist, Viele, die betreffs ihrer Begabung durchaus nicht hinter ihm zurückstehen. Aber es gibt keinen, dessen Schöpfungen so elementar sind. Besass Heiberg, so gut wie er, den Muth, sich eine Kunstart (das Vaudeville) nach seiner Eigenthümlichkeit umzuformen, so hat er doch nicht, wie Jener, das _Glück_ gehabt, eine einzelne Kunstart zu finden, in welcher er sein ganzes Talent offenbaren, all' seine Gaben kombiniren konnte, wie es Andersen im Märchen vermochte, noch Stoffe zu finden, bei welchen die Zeit- und Lokalverhältnisse von so verschwindender Bedeutung sind. Sein bestes Vaudeville, »Die Unzertrennlichen«, würde nur in den wenigen Ländern verstanden werden, wo man, wie in den skandinavischen Ländern, den »Mässigkeitsverein der Seligkeit« (Ibsens Ausdruck für die lange Verlobung) kennt, mit welchem das Vaudeville seinen Spott treibt. Aber wie Muth dazu gehört, Talent zu haben, so gehört Glück dazu, Genie zu besitzen, und Andersen hat es weder an dem Glücke noch an dem Muthe gefehlt. Das Elementare in Andersen's Poesie sicherte ihm einen Leserkreis unter den Gebildeten aller Länder. Es sicherte ihm einen noch erheblicheren unter den Ungebildeten. Das Kindliche ist in seinem Wesen selbst volksthümlich, und der Verbreitung nach aussen entspricht eine Verbreitung nach unten. Wegen der tiefen und betrübenden, aber natürlichen Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Bildungsschichten wirkt die gute Litteratur fast nur auf eine einzige Klasse. Wenn in Dänemark eine Reihe Litteraturerzeugnisse, wie Ingemann's Romane, eine Ausnahme machen, so geschieht es zumeist durch Eigenschaften, welche sie von den Gebildeten entfernen: durch Unwahrheit der Charakterschilderung und der historischen Farbe. Es verhält sich mit Ingemann's Romanen wie mit Grundtvig's Theorien; will man sie vertheidigen, so kann das nicht geschehen, indem man ihre Wahrheit beweist, sondern indem man rein praktisch, den äusseren Nutzen, den sie gestiftet, den Vortheil betont, den sie der dänischen Sache, der Volksaufklärung, der Frömmigkeit etc. gebracht haben. Ingemann's Romane stehen übrigens in einem bemerkenswerthen Verhältnisse zu Andersen's Märchen. Letztere werden von den jüngeren Kindern, erstere von den älteren gelesen. Die Märchen entsprechen der üppigen Einbildungskraft und dem warmen Mitgefühle des Kindes und des etwas älteren Mädchens, die Romane dem phantastischen Thatendrange des Kindes und besonders des etwas älteren Knaben, dem erwachenden Ritterlichkeitsgefühle, der Eitelkeit, Gefallsucht und Keckheit. Letztere sind für erwachsene Menschen geschrieben; allein der gesunde Sinn der Nation hat sie langsam fallen lassen, bis sie ihr natürliches Publikum bei dem Alter zwischen zehn und zwölf Jahren fanden. Wahrheit ist etwas Relatives. Für den Zwölfjährigen sind diese Bücher eben so voll von Wahrheit, wie für den Zwanzigjährigen von unschuldiger Lüge. Und man muss sie bis zu zwölf Jahren lesen; denn bei zwölf und ein halb ist es schon zu spät, wenn man ein bisschen fortgeschritten in der geistigen Entwicklung ist. Mit den Märchen verhält es sich umgekehrt. Von Anfang an für Kinder geschrieben und beständig von diesen gelesen, sind sie rasch zu den Erwachsenen empor gestiegen und von ihnen für echte Kinder des Genius erklärt worden. Es war also ein glücklicher Griff, der Dichter der Kinder zu werden. Nach langem Umhertasten, nach misslungenen Versuchen, die nothwendigerweise ein falsches und ironisches Licht auf das Selbstgefühl eines Dichters werfen mussten, dessen Stolz seine Berechtigung hauptsächlich in der Anwartschaft auf eine Zukunft trug, die er in sich schlummern fühlte, nach vieljährigem Umherschweifen verirrte sich Andersen, ein echter Spross Oehlenschläger's, auf Oehlenschläger's Spuren und fand sich eines Abends vor einer kleinen unansehnlichen, aber geheimnissvollen Thür stehen, vor der Thür des Märchens. Er berührte sie, sie gab nach, und er sah in der Dunkelheit drinnen das kleine »Feuerzeug« brennen, das seine Aladdinslampe ward. Er schlug Feuer damit, und die Geister der Lampe, -- die Hunde mit Augen, so gross wie Theetassen, wie Mühlräder, wie der Runde-Thurm in Kopenhagen -- standen vor ihm und brachten ihm die drei riesigen Kisten mit allen Kupfer-, Silber- und Goldschätzen des Märchens. Das erste Märchen war da, und das »Feuerzeug« zog alle anderen nach sich. Wohl dem, der sein »Feuerzeug« findet! In welchem Sinne ist nun das Kind Andersen's ideale Gestalt? Es kommt in allen Ländern ein gewisser Zeitpunkt, wo die Litteratur plötzlich das gleichsam entdeckt, was lange unbemerkt in der Gesellschaft gelegen hat. So wird in einer Litteratur nach und nach der Bürger (in Dänemark von Holberg), der Student, der Bauer u. s. w. entdeckt. Zu Platon's Zeit war das Weib noch nicht offenbart. Das Kind wird zu verschiedener Zeit in den verschiedenen Litteraturen entdeckt, in England z. B. weit eher, als in Frankreich. Andersen entdeckt das Kind in Dänemark. Doch hier, wie überall, geschieht die Entdeckung nicht ohne Voraussetzungen und Bedingungen, und hier, wie überall, ist in der dänischen Litteratur Oehlenschläger derjenige, dem man den ersten Antrieb, die Grundentdeckung verdankt, welche die fast aller späteren Dichter bedingt. Die Einsetzung des Kindes in seine natürlichen poetischen Rechte ist nur eins der vielen Erscheinungen der Thronbesteigung der _Naivetät_, deren Urheber in der dänischen Litteratur Oehlenschläger ist. Das achtzehnte Jahrhundert, das seine Stärke im raisonirenden Verstande et, seinen Feind in der Einbildungskraft, in welcher es nur den Bundesgenossen und Leibeigenen der veralteten Ueberlieferungen sieht, seine Königin in der Logik, seinen König in Voltaire, den Gegenstand seiner Poesie und seiner Wissenschaft in dem abstrakten, dem aufgeklärten und gesellschaftlichen Menschen findet, schickt das Kind, das weder gesellschaftlich, noch aufgeklärt, noch abstrakt ist, aus der Wohnstube hinaus und weit, weit in die Ammenstube hinüber, wo es Märchen, Sagen und Räubergeschichten hören mag, so viel ihm beliebt, wohlgemerkt, wenn es als erwachsener Mensch Sorge dafür trägt, all' dies Unwürdige wieder vergessen zu haben. In der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts (ich ziehe die Scheidelinie nicht scharf auf der Grenze) tritt der Rückschlag ein. An die Stelle des gesellschaftlichen Menschen tritt der einzelne, der persönliche Mensch. Man schätzte nur das Bewusstsein, jetzt betet man das Unbewusste an, Schelling's Naturphilosophie löst Fichte's Ich-System ab; man führt Krieg gegen die unfruchtbare Verstandesreflexion, setzt Sage und Märchen wieder in ihre Rechte ein, bringt die Kinderstube und ihre Bewohner wieder zu Ehren, bisweilen sogar allzu sehr. In allen Ländern werden die Volksmärchen gesammelt, und in den meisten Ländern fangen die Dichter an, sie zu bearbeiten. Die sentimentalen deutschen Schriftsteller der Uebergangszeit (Kotzebue und Iffland) bringen die Kinder auf die Bühne, in der Absicht, zu rühren; selbst Oehlenschläger führt Kinder in seine Stücke ein und muss sich dafür von Heiberg durchhecheln lassen. Was die Erziehung betrifft, so hat Rousseau hier das Interesse erregt durch seine pädagogischen Deklamationen und Theorien, es wird dem Kinde und insbesondere der kindlichen _Natur_ eine Aufmerksamkeit geschenkt, wie niemals zuvor, und die Schwärmerei für das pädagogische Züchten (Campe) wird allmählich von der Schwärmerei für den »Naturzustand« des Kindes verdrängt (man sehe die Rousseau'sche Tendenz schon in dem Gespräche Götz von Berlichingen's mit seinem kleinen Sohne). Vom Kind ist nur ein Schritt zum Thiere. Das Thier ist ein Kind, das nie etwas Anderes als Kind wird. Derselbe Drang, das Leben im Gesellschaftsleben aufgehen zu lassen, welcher das Kind bei Seite geschoben, hatte auch das Thier verbannt. Derselbe Durst nach Naivetät, nach Natur, nach dem Unschuldigen und _Unbewussten_, welcher die Poesie zum Kinde hinführte, führt sie zum Thiere, und vom Thiere zur ganzen Natur. Rousseau, der die Sache des Kindes verficht, verficht zugleich die Sache des Thieres, und zuerst und zuvörderst als sein A und O, als sein _praeterea censeo_ die Sache der Natur. Er studirt Botanik, schreibt an Linné, spricht ihm seine Bewunderung und Liebe aus. Die wissenschaftliche Naturbetrachtung bestimmt die sociale, welche wiederum die poetische bestimmt. Bernardin de Saint-Pierre führt durch seine merkwürdige Erzählung »Paul und Virginie« die exotische Naturschilderung in die französische Prosa ein, und, was wohl zu beachten ist, zur selben Zeit, wo er die Landschaft malt, wendet er zwei Kinder als Helden und Heldin an. Alexander von Humboldt nimmt auf seinen Reisen in den Tropengegenden »Paul und Virginie« mit, liest dies Buch mit Bewunderung seinen Reisegefährten in der Natur vor, welche es beschreibt, und spricht mit Dank von dem, was er Saint-Pierre schuldig sei. Humboldt wirkt auf Oersted, der seinerseits tief auf Andersen wirkt. Die sympathische Naturbetrachtung beeinflusst die wissenschaftliche, welche wiederum die poetische beeinflusst. Chateaubriand schildert in seiner farbigen glänzenden Weise eine Natur, die mit derjenigen verwandt ist, welche Saint-Pierre in sein friedliches, naturanbetendes Gemüth aufgenommen hatte. Steffens trägt in seinen berühmten Vorlesungen 1802 zum ersten Male das natürliche Natursystem (siehe den gedruckten Einleitungskursus) in Dänemark vor. Um das Jahr 1831, also zur selben Zeit, wo Andersen's Märchen entstehen, wird in England (demselben Lande, welches mit der Einführung des Kindes in die Litteratur den Anfang gemacht hatte) der erste Verein gegen Thierquälerei gegründet, Filialen werden in Frankreich und Deutschland errichtet, wo solche Vereine in München, Dresden, Berlin und Leipzig entstehen. Kierkegaard spottet in »Entweder -- Oder« über die Gründung eines dieser Vereine; er sieht in denselben nur eine Erscheinung des in seinen Augen von der Jämmerlichkeit der Persönlichkeiten zeugenden Associationstriebes. Kehren wir nach Dänemark zurück, so bemerken wir, dass die nationale, naturgetreue Landschaftsmalerei ihren entscheidenden Aufschwung gerade zu derselben Zeit nimmt, wo die Märchen gedichtet werden. Skovgaard malt den See, in welchem »das hässliche Entlein« plätschert, und zur selben Zeit wird -- wie durch ein Wunder -- die grosse Stadt dem Kopenhagener zu enge. Ihn langweilen den langen Sommer hindurch ihre Pflastersteine, die vielen Häuser und Dächer, er will ein grösseres Stück Himmel sehen, er zieht aufs Land, legt Gärten an, lernt Gerste von Roggen unterscheiden, wird Landmann für die Sommermonate. Eine und dieselbe Idee, die wiedergefundene Naturidee, verbreitet ihr Wirken über alle Lebenssphären, wie das Wasser einer hoch liegenden Quelle im Herabfliessen sich in eine ganze Reihe getrennter Becken vertheilt. Seltsame und zum Nachdenken anregende Wirkung einer Idee! Im vorigen Jahrhundert gab es nichts Aehnliches. Man kann, wie witzig gesagt worden ist, Voltaire's »Henriade« durchstöbern, ohne einen einzigen Grashalm zu finden; es ist kein Futter für die Pferde darin. Man kann fast sämmtliche Gedichte Baggesen's durchblättern, ohne auf eine Naturschilderung, selbst nur als Staffage zu stossen. Welch ein Sprung von dieser Poesie zu einer Poesie wie Christian Winther's, in welcher die Menschenfiguren meist nur Staffage sind und die Landschaft fast immer die Hauptsache ist, und wie weit war man damals davon entfernt, von einer Poesie, wie derjenigen Andersen's zu träumen, in welcher Thiere und Pflanzen den Menschen ersetzen, ja ihn fast überflüssig machen![35]. Was ist nun in der Pflanze, im Thiere, im Kinde für Andersen so anziehend? Er liebt das Kind, weil sein weiches Herz ihn zu den Kleinen, den Schwachen und Hilflosen hinzieht, von denen man mitleidsvoll mit zarter Sympathie reden darf, und weil er, wenn er dies Gefühl einem Helden widmet -- wie in »Nur ein Geiger«, -- dafür verspottet wird (man vergl. Kierkegaard's Kritik[36]), aber wenn er es einem Kinde weiht, den natürlichen Anhaltspunkt für seine Stimmung findet. Aus demselben Gefühl der Theilnahme für die Geringen und Verlassenen führt Andersen -- selbst ein Kind des Volkes -- in seinen Märchen, wie Dickens in seinen Romanen, beständig Gestalten aus den ärmeren Klassen, »einfache Leute«, aber von echtem Herzensadel, vor: die alten Waschfrauen in »Der kleine Tuck« und »Sie taugte Nichts«, das alte Mädchen in »Am Spittelfenster«, den Wächter und seine Frau in »Die alte Strassenlaterne«, den armen Handwerksburschen in »Unter dem Weidenbaum«, den armen Hauslehrer in »Alles am rechten Platze«. Der Arme ist wehrlos wie das Kind. Er liebt ferner das Kind, weil er es zu schildern vermag, nicht so sehr psychologisch in Romanform -- er ist überhaupt kein reflektirender Psycholog -- wie unmittelbar, indem er sich mit Einem Sprunge in die Welt des Kindes versetzt und _thut als gäbe es gar keine andere_. Sehr ungerecht war daher das Urtheil Kierkegaard's, da er Andersen vorwarf, dass er keine Kinder zu schildern vermöge. Aber wenn Kierkegaard, der übrigens als Litteraturkritiker mit ausserordentlichen Vorzügen grosse Mängel verbindet (namentlich an historischem Ueberblick) bei dieser Gelegenheit bemerkt, dass Andersen in seinen _Romanen_ das Kind beständig »durch ein Anderes« schildere, so ist dies wahr; es hört auf, wahr zu sein, sobald er im _Märchen_ sich auf den Standpunkt des Kindes versetzt und kein »Anderes« mehr kennt. Als handelnd und redend führt Andersen seltener das Kind in seine Märchen ein. Am öftesten hat er es in der reizenden kleinen Sammlung »Ein Bilderbuch ohne Bilder« gethan, wo er mehr als irgendwo anders das Kind sich mit der ganzen Naivetät seiner Natur aussprechen lässt. In solchen kurzen naiven Aussprüchen eines Kindes, wie den dort angeführten, liegt etwas ausserordentlich Erheiterndes und Ergötzliches. Jeder hat derartige Anekdoten zu erzählen. Ich erinnere mich, wie ich einmal ein kleines Mädchen nach einem Vergnügungslokale mitnahm, um Tyroler Alpensänger zu hören. Es hörte ihre Lieder sehr aufmerksam an. Als wir nachher im Garten vor dem Pavillon spazieren gingen, begegneten uns einige der Sänger in ihrem Kostüme. Das kleine Mädchen klammerte sich ängstlich an mich an und frug verwundert: »Dürfen sie _frei_ umhergehen?« Solche kleine Aeusserungen vermag Niemand wie Andersen zu erzählen. In den Märchen kommen einzelne dergleichen vor, wie die liebenswürdigen Worte des Kindes in »Das alte Haus«, als dasselbe dem Manne den Zinnsoldaten schenkt »damit er nicht so schrecklich allein sei«, und ein paar hübsche Antworten in »Die Blumen der kleinen Ida«. Sonst kommen selten Kinder vor. Die bedeutendsten Kindergestalten sind der kleine Hjalmar, der kleine Tuck, Kay und Gerda, die unglückliche eitle Karen (in »Die rothen Schuhe«, -- ein unheimliches, aber gut geschriebenes Märchen), das kleine Mädchen mit den Streichhölzchen und das kleine Mädchen in »Herzeleid«, endlich Ib und Christine, die Kinder in »Unter dem Weidenbaum«. Neben diesen wirklichen Kindern stehen einige ideale, das kleine elfenhafte Däumelinchen und das kleine wilde Räubermädchen, gewiss Andersen's frischeste Kindergestalt, die mit ihrer meisterhaft geschilderten Wildheit einen glücklichen Gegensatz zu den vielen artigen, blonden und zahmen Kindern bildet. Man sieht sie vor sich, wie sie leibt und lebt, phantastisch und wahr, sie und ihr Rennthier, das sie »jeden Abend, den Gott werden lässt, mit ihrem scharfen Messer am Halse kitzelt«. Wir sahen, wie die Sympathie für die Kindernatur zur Sympathie mit dem Thiere, das doppelt so kindlich ist, und zur Sympathie mit den Pflanzen, den Wolken, dem Winde führte, die in doppelt so hohem Grade Natur sind. Was Andersen zu den unpersönlichen Wesen hinzieht, ist das _Unpersönliche_ in ihm selbst; was ihn zu den ganz bewusstlosen Wesen hinleitet, ist nur die direkte Folge dieser Sympathie. Das Kind so jung es ist, wird alt geboren; jedes Kind ist eine ganze Generation älter als sein Vater, eine Kultur von Jahrtausenden hat ihren ererbten Stempel dem kleinen vierjährigen Residenzkinde aufgeprägt. Wie viele Kämpfe, wie viel Streben, wie viele Leiden haben das Antlitz eines solchen Kindes verfeinert, die Züge nervös und die Feinheit altklug gemacht! Anders bei den Thieren. Seht den Schwan, das Huhn, die Katze an, sie fressen, schlafen, leben, träumen ungestört, wie vor Jahrtausenden. Das Kind verräth schon böse Instinkte. Wir, die wir das Unbewusste, das Naive suchen, wir steigen gern die Leiter hinab, welche zu der Gegend führt, wo die Verantwortlichkeit aufhört sammt der Reue, dem Streben und der Leidenschaft, wo nichts von alledem sich findet ausser durch eine Unterschiebung, deren wir uns halb bewusst sind, und die der Theilnahme desshalb zur Hälfte ihren Stachel raubt. Ein Dichter, der, wie Andersen, so ungern das Grausame und Rohe in dessen Nacktheit vor Augen sieht und auf den es so starken Eindruck macht, dass er es nicht zu erzählen wagt, sondern hundertmal in seinen Werken vor einer Frevelthat oder Unthat mit dem mädchenhaften Ausrufe zurückschaudert: »Wir ertragen es nicht, daran zu denken!«, solch ein Dichter fühlt sich beruhigt und heimisch in einer Welt, wo alles, was wie Selbstsucht, Gewaltthat, Rohheit, Nichtswürdigkeit und Verfolgung aussieht, nur in uneigentlichem Sinne so genannt werden kann. Höchst charakteristisch ist es nun, dass fast alle in Andersen's Märchen vorkommende Thiere zahme Thiere, _Hausthiere_ sind. Dies ist erstlich ein Symptom derselben sanften und idyllischen Tendenz, welche bewirkt, dass fast all' seine Kinder so artig sind. Es ist ferner ein Zeugniss für seine Naturtreue, welche zur Folge hat, dass er ungern schildert, was er nicht gründlich kennt. Es erleichtert endlich die Verwendung, welche die Thiere hier finden; denn die Hausthiere sind nicht mehr reine Naturerzeugnisse, sie erinnern theils durch Ideenassociation an vieles Menschliche, und theils haben sie durch den langen menschlichen Umgang und durch die lange Kultur selbst etwas Menschliches erhalten, das in hohem Grade die Personificirung unterstützt und befördert. Diese Katzen und Hühner, diese Enten und Puter, diese Störche und Schwäne, diese Mäuse und jenes unnennbare Insekt, »mit Fräuleinblut im Leibe« bieten dem Märchen viele Anknüpfungspunkte dar. Sie gehen bereits mit dem Menschen um, ihnen fehlt nur eine artikulirte Sprache, und es gibt Menschen mit artikulirter Sprache, die ihrer nicht werth sind und nicht die Sprache verdienen. Lasst uns darum den Thieren die Sprache geben und sie unter uns aufnehmen. Auf der fast ausschliesslichen Beschränkung auf die Hausthiere beruht ein doppelter Charakterzug dieser Märchen. Zum ersten die bezeichnende Consequenz, dass Andersen's Thiere, was sie im übrigen auch sein mögen, niemals _viehisch_, niemals _brutal_ sind. Von Fehlern haben sie nur den, _dumm_ und _spiessbürgerlich_ zu sein, Andersen stellt nicht das _Thier_ im Menschen, sondern den _Menschen_ im Thiere dar. Ferner gibt es gewisse frische Stimmungen, gewisse volle Gefühle, gewisse starke und kühne, begeisterte und gewaltsame Ausbrüche, die man niemals im Hinterhofe der Hausthiere hört. Hier wird viel Schönes, viel Launiges und Ergötzliches gesprochen, aber ein Seitenstück zu der Fabel vom Wolfe und Hunde, vom Wolfe, der am Halse des Hundes die Spur der Kette bemerkte und seine Freiheit dem Schutze des Hundehauses vorzog, findet man hier nicht. Die wilde Nachtigall, in welcher die Poesie personificirt wird, ist ein zahmer und loyaler Vogel: »Ich habe Thränen in den Augen des Kaisers gesehen, das ist mir der reichste Schatz! _Die Thränen eines Kaisers haben eine besondere Kraft!_« Und nun gar der Schwan, das edle, königliche Thier in dem meisterhaften, schon um der Katze und des Huhns willen nie genug zu bewundernden »Hässlichen jungen Entlein«, -- wie endet er? Ach, als ein Hausthier. Dies ist einer der Punkte, wo es Einem schwer fällt, dem grossen Schriftsteller zu verzeihen. O, Dichter! fühlt man sich versucht auszurufen, wenn Du schon einen solchen Gedanken gehabt, ein solches Gedicht ersonnen und ausgeführt hast, wie konnte dann Deine Begeisterung, Dein Stolz es über's Herz bringen, den Schwan so enden zu lassen? Lass ihn sterben, wenn es sein muss! Das ist tragisch und gross. Lass ihn seine Schwingen erheben, im Jubel über seine Schönheit und Kraft brausend durch die Luft dahin fliegen, lass ihn sich auf einen einsamen und lieblichen Waldsee hinab senken! Das ist frei und schön. Aber nicht dieser Schluss: »In den Garten kamen einige kleine Kinder, die warfen _Brod_ und _Kuchen_ in das Wasser .... Die Kinder liefen zu dem Vater und der Mutter, _und es wurde Brod und Kuchen in das Wasser geworfen_, sie sagten Alle: der neue ist der schönste! so jung und prächtig! und die alten Schwäne neigten sich vor ihm«. Mögen sie sich neigen, aber möge man nicht vergessen, dass es Etwas gibt, was mehr werth ist, als die Anerkennung aller alten Schwäne und Gänse und Enten, mehr werth, als dass man als Gartenvogel Brodkrumen und Kuchen erhält: das stille Dahingleiten und der freie Flug! -- Andersen zieht den Vogel dem vierfüssigen Thiere vor. Es kommen mehr Vögel als Säugethiere bei ihm vor, denn der Vogel ist sanfter, der Pflanze näher als dem Thiere. Die Nachtigall ist sein Sinnbild, der Schwan ist sein Ideal, der Storch ist sein erklärter Liebling. Es ist natürlich, dass der Storch, der merkwürdige Vogel, welcher die Kinder bringt, der Storch, der possirliche Langbein, der reisende, beliebte, stets mit Sehnsucht erwartete und mit Freude begrüsste Vogel, sein liebstes Symbol und Titelbild wird. Doch den Vögeln zieht er wieder die Pflanzen vor. Von allen organischen Wesen sind die Pflanzen diejenigen, welche am häufigsten in den _Märchen_ vorkommen. Denn erst in der Pflanzenwelt herrscht Frieden und Harmonie. Auch die Pflanze gleicht einem Kinde, aber einem Kinde, das beständig schläft. Hier ist keine Unruhe, kein Handeln, kein Leiden und keine Sorge. Hier ist das Leben ein stilles, regelmässiges Wachsthum und der Tod nur ein schmerzloses Verwelken. Hier leidet Andersen's leicht erregte, lebhafte Sympathie noch minder. Hier ist nichts, was seine feinen Nerven erschüttert und angreift. Hier ist er zu Hause, hier malt er Tausend und eine Nacht hinter einem Klettenblatte. Alle Gefühle können wir hier empfinden, Wehmuth beim Schauen des gefällten Stammes, Kraftfülle beim Anblick der schwellenden Knospen, Beängstigung beim Dufte des starken Jasmins; viele Gedanken können uns zufliessen, wenn wir der Entwicklungsgeschichte des Flachses oder der kurzen Ehre des Tannenbaumes am Weihnachtsabend folgen, aber unsere Stimmung ist frei (wie dem Komischen gegenüber), das Bild ist so flüchtig, dass es entschwindet, sobald wir es festzuhalten versuchen. Die sympathische Erregung berührt leise unser Gemüth, aber sie erschüttert, sie erhitzt es nicht, und sie schlägt es nicht nieder. Ein Gedicht von der Pflanze befreit zwiefach die Sympathie, welche es in Anspruch nimmt; einmal weil wir wissen, dass das Gedicht nur Dichtung ist, und ferner, weil wir wissen, dass die Pflanze nur ein Bild ist. Nirgends hat der Dichter mit feinerem Takt den Pflanzen Sprache verliehen, als im »Tannenbaum«, in den »Blumen der kleinen Ida« und in der »Schneekönigin«. Jede Blume erzählt in dem letztgenannten Märchen ihre Geschichte; hören wir, was die Feuerlilie sagt: »Hörst du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne, immer: bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang! höre den Ruf der Priester! -- In ihrem langen rothen Mantel steht das Hindu-Weib auf dem Scheiterhaufen; die Flammen lodern um sie und ihren todten Mann empor; aber das Hindu-Weib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heisser als die Flammen brennen, an ihn, dessen glühender Blick ihr Herz mehr versengt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Können die Flammen des Herzens in den Flammen des Scheiterhaufens ersterben?« -- »Das verstehe ich ganz und gar nicht«, sagte die kleine Gerda. -- »Das ist mein Märchen!« sagte die Feuerlilie«. Noch einen Schritt weiter und die Phantasie des Dichters eignet sich das Leblose an, kolonisirt und annektirt Alles, Grosses und Kleines, ein altes Haus und einen alten Schrank (»Die Hirtin und der Schornsteinfeger«), den Kreisel und das Bällchen, die Stopfnadel und den Halskragen, und die grossen Lebkuchenmänner mit bitteren Mandeln als Herzen. Nachdem sie die Physiognomie des Leblosen erfasst hat, identificirt seine Phantasie sich mit dem formlosen All, segelt mit dem Mond über den Himmel, heult und erzählt mit dem Winde, sieht den Schnee, den Schlaf, die Nacht, den Tod und den Traum als Personen. Das Bestimmende in dieser Phantasie war also die Sympathie mit dem Kindlichen, und durch die Darstellung so tiefliegender elementarer und konstanter Seelenzustände wie diejenigen des Kindes werden die Hervorbringungen dieser Phantasie über die Fluthen der Zeit erhoben, über die Grenzen des Landes hinaus verbreitet, und gemeinschaftliches Eigenthum der verschiedenen Klassen der Gesellschaft. Die Zeit ist längst vorüber, wo man das Genie für ein vom Himmel gefallenes Meteor ansah; jetzt weiss man, dass das Genie, wie alles Natürliche, seine Voraussetzungen und seine Bedingungen hat, dass es in einem durchgängigen Abhängigkeitsverhältnisse zu seinem Zeitalter steht als eins der Organe seiner Ideen. Die Sympathie für das Kind ist nur eine Aeusserungsform der Sympathie des neunzehnten Jahrhunderts für das Naive. Die Liebe zum Unbewussten ist eine Aeusserungsform der Liebe zur Natur. In der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Poesie, in der Kunst waren die Natur und das Kind zum Gegenstande der Verehrung gemacht worden; zwischen Poesie, Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft findet eine Wechselwirkung statt. Ersteht also ein Dichter, dessen Liebe ihn zum Kinde hinzieht, dessen Phantasie vom Thiere, von der Pflanze, von der Natur angelockt wird, so wagt er seinem Triebe zu folgen, so empfängt er Muth, sein Talent zu äussern, indem hunderttausend dumpfe Stimmen rings um ihn her seine Berufung verstärken. Der Strom, wider den er zu schwimmen glaubt, schaukelt und trägt ihn zu seinem Ziele hin. Man studirt also seine Kunst, indem man die Ideen studirt, welche ihn inspiriren. Sie in ihrem Entstehen und ihrer Verzweigung, in ihrem abstrakten Wesen und ihrer konkreten Macht zu beobachten, ist daher keine überflüssige Handlung, wenn man sich die Aufgabe stellt, sich in die einzelne Dichterphantasie zu vertiefen. Denn die nackte Idee kann zwar nicht dichten; allein ohne die Idee und ohne die Umgebungen, welche sie in Bewegung setzt, kann der Dichter eben so wenig dichten. Um den glücklichen Dichter steht eine Schaar, die mit weniger Glück in derselben Richtung wie er, arbeitet, und um diese Schaar tummeln sich die Völker als stumme, aber theilnehmende Mitarbeiter. Denn das Genie ist wie ein Brennspiegel; es sammelt und vereint die weit zerstreuten Strahlen. Es steht niemals allein. Es ist nur der herrlichste Baum im Walde, nur die höchste Aehre in der Garbe, und man erkennt es erst in seiner wirklichen Bedeutung und in seiner wahren Stellung, wenn man es an seinem Platze gesehen hat. III. Es genügt nicht, den Welttheil anzugeben, wo das Genie zu Hause gehört; man kann nicht Dänemark nach einer Karte von Europa bereisen. Man muss zum ersten die Stätte deutlicher bezeichnet sehen; sodann kennt man noch nicht das Genie, weil man, ob auch noch so genau, seine Verbindungen und Umgebungen kennt, so wenig wie man eine Stadt kennt, weil man um ihre Wälle herum schritt. Denn das Genie wird zwar theilweise, aber nicht erschöpfend, durch die Zeit erklärt. Was es vorfindet, vereinigt es unter einem neuen Gesetz; selbst ein Produkt, bringt es Produkte hervor, die es allein in der Welt hervor zu bringen vermag. Man braucht nur seine Aufmerksamkeit ein wenig anzustrengen, man braucht nur das Urtheil eines Fremden zu hören, um zu fühlen, wie viel in Andersen's Märchen national, lokal und individuell ist. Ich sprach einmal mit einem jungen Franzosen über Dänemark. »Ich kenne Ihr Land sehr gut«, sagte er. »Ich weiss, dass Ihr König Christian heisst, dass Ihr erster Schriftsteller ein verkanntes Genie ist und auf den Namen Schmidt hört, dass Herr Ploug der tapferste Kriegsheld Ihres Vaterlandes ist, den kein Schlachtfeld jemals weichen sah, und dass Herr Bille der Gambetta Dänemarks genannt wird. Ich weiss, dass Sie Studenten haben, die sich durch ihre wissenschaftliche Selbständigkeit und ihre freie Forschung auszeichnen, und ich kenne Herrn Holst, welchen man bei Ihnen ja den Tyrtäus des Danebrog nennt ...« Da ich sah, dass er orientirt war, unterbrach ich ihn mit der Frage: »Haben Sie Andersen's Märchen gelesen?« -- »Ob ich das habe!« antwortete er, »es ist das einzige dänische Buch, welches ich las«. -- »Was halten Sie davon?« frug ich. -- »_Un peu trop enfantin_«, lautete die Antwort. Ich bin überzeugt, wenn man Andersen's Märchen einem fünfjährigen französischen Kinde vorlegte, würde es sie auch etwas kindisch finden. -- Ich habe gesagt, dass die Andersen'sche Kindlichkeit allgemein verständlich sei. Das ist wahr, allein es ist nicht die ganze Wahrheit. Diese Kindlichkeit hat ein entschieden germanisches Gepräge, sie wird am besten in England und Deutschland verstanden, minder gut von den romanischen Nationen, am schwersten von der französischen. In Wirklichkeit ist Andersen daher in Frankreich äusserst wenig bekannt und gelesen. England ist das einzige Land, in welchem man ganze und halbe Romane auf die Darstellung des Seelenlebens kleiner Kinder verwendet (Dickens' »Paul Dombey« und »David Copperfield«, Miss Wetherell's »Die weite, weite Welt«, George Eliot's »Die Mühle am Floss«), und die englische Kindlichkeit ist einzig in ihrer Art; man braucht nur das erste beste, französische illustrirte Kinderbuch aufzuschlagen, um den Unterschied zu merken. Das englische und das französische Kind sind eben so ungleichartig wie eine Eichel und eine Buchecker. In Frankreich wird Andersen schon aus dem Grunde niemals festen Fuss fassen können, weil der Platz besetzt, weil er seit lange von La Fontaine eingenommen ist. Es gibt zwei Arten von Naivetät. Die eine ist die des Herzens, die andere die des Verstandes, jene offen, frei, einfältig und rührend, diese anscheinend verstellt, neckisch, schlagfertig und fein. Die eine erweckt Thränen, die andere ein Lächeln, die erste hat ihre Schönheit, die andere hat ihren Reiz, die erste kennzeichnet das gute Kind, die andere das _enfant terrible_, und Andersen ist der Dichter jener, La Fontaine der Dichter dieser Naivetät. Diese letztere Form der Naivetät ist der Ausdruck der Frühreife, welche das treffende Wort spricht, ohne noch recht zu wissen, was sie sagt, und welche daher wie der Deckmantel eines Schalknarren aussieht; die andere Naivetät ist die der Unschuld, welche voraussetzt, dass ihr Garten Eden die ganze Welt sei, und welche daher die ganze Welt durch ihre Unschuld beschämt, ohne zu wissen dass sie es thut, aber mit so treffenden Worten, dass die Naivetät sich wie eine Maske ausnimmt. Vergleicht man daher Andersen's Märchen mit La Fontaine's Fabeln, so findet man eine Grundverschiedenheit in der Lebensanschauung und lernt dadurch die nordische Lebensanschauung in ihrer Begrenzung kennen; denn jede Bestimmung ist eine Begrenzung. Einer der tiefsten Züge in La Fontaine's und der gallischen Lebensanschauung ist der Krieg gegen die Illussion. Das launige Spiel in La Fontaine's Naivetät besteht darin, dass sie, so harmlos sie ist, so gutmüthig und mild sie sich immer beweist, ab und zu ahnen lässt, dass sie sich nicht foppen lässt, sondern recht wohl all' die Dummheit und Heuchelei, all' das Predigen und all' die Phrasen zu schätzen und zu würdigen weiss, von denen die Menschen sich, wie durch Verabredung an der Nase oder am Herzen herumführen lassen. Mit einem Lächeln geht sie an dem Ernste vorüber, dessen Kern Fäulniss, an all' der Grösse, die im Grunde nur Frechheit, an all' der Ehrwürdigkeit, deren Wesen Lüge ist. So bringt sie »_Alles an seinen rechten Platz_«, wie der Titel einer der populärsten Geschichten Andersen's lautet. Der Grundton ihres Ernstes ist eine poetische Begeisterung, und ihr witziger Scherz hat einen Stachel, den sie sorgsam verhehlt. Die französische Satire ist ein Stossdegen mit einem vorläufigen Knopfe. Sie hat in »Tartuffe«, »Candide« und »Figaro« Revolution vor der Revolution gemacht. Das Gelächter ist Frankreichs älteste Marseillaise. Der tiefste Zug in Andersen's Lebensanschauung ist der, das Herz am höchsten zu setzen, und dieser Zug ist dänisch. Selbst gefühlvoll, hebt diese Anschauung bei jeder Gelegenheit die Schönheit und Bedeutung des Gefühls hervor, überspringt den Willen (alle Schicksale des Flachses, in dem Märchen seines Lebens, kommen _von aussen_), bekämpft die Verstandeskritik als das Böse, als ein Werk des Teufels, als einen Hexenspiegel, versetzt der pedantischen Wissenschaft treffliche und witzige Seitenhiebe (»Die Glocke«, »Ein Blatt vom Himmel«), schildert die Sinne als Versucher oder übergeht sie wie unnennbar, verfolgt und denuncirt die Hartherzigkeit, stürzt die Rohheit und Bornirtheit von ihrem Throne, hebt die Unschuld und die Wohlanständigkeit hinauf, und bringt so _Alles an seinen rechten Platz_. Das Grundwesen ihres Ernstes ist das moralisch-religiöse Gefühl, mit dem Hasse der Genialität gegen die Bornirtheit gepaart, und ihre humoristische Satire ist launig, ruhig, in Uebereinstimmung mit dem idyllischen Geiste der Dichtart. Diese Satire sticht nur wie eine Mücke, allein an den empfindlichen Stellen. Welche dieser Anschauungen ist die beste? Eine solche Frage verlohnt keiner Antwort. Nur weil sie mir einfallen, nicht um mich für das Eine oder Andere zu entscheiden, führe ich die Zeilen Georg Herwegh's an: Auch mir hat sich das Aug' schon oft genetzt, Sah ich das Herz misshandelt und zerschlagen Und von den Rüden des Verstands gehetzt. Es darf das Herz wohl auch ein Wörtchen sagen, Doch ward es weislich in die Brust gesetzt, Dass man's so hoch nicht wie den Kopf soll tragen. Wie die Lebensanschauungen hier verschieden sind, so auch die poetischen Begabungen. La Fontaine schreibt klare, formvollendete, höchst melodische Verse, deren Poesie eine leichte Schalkhaftigkeit und eine sanfte Wehmuth ist. Andersen schreibt eine barocke, unregelmässige, leichtmanierirte Prosa, deren Poesie eine üppig sprudelnde, ganz entzückende Phantastik ist. Diese Phantastik macht Andersen den Franzosen zu fremdartig, deren ziemlich graue Poesie ganz und gar der farbigen Blumenpracht entbehrt, die ihre höchste Schönheit in Shakespeare's »Sommernachtstraum« erreicht, die man aber überall in der Poesie der nordischen Völker verspürt, und die Andersen's Märchen ihren feinsten Duft mittheilt. Und wie die phantastische Laune derselben allgemein nordisch ist, so ist ihr idyllischer Grundton insbesondere dänisch. Kein Wunder, dass die ersten und eigenthümlichsten dieser Märchen unter dem Regimente Friedrich's VI. gedichtet wurden; seine Zeit hat ihnen den Stempel aufgedrückt, man findet ihn wieder in all' jenen väterlich-patriarchalischen alten Königen; man findet den Geist der Zeit in dem vollständigen Mangel an gesellschaftlicher, geschweige politischer Satire, welchen man in den Märchen verspürt. Kein Wunder auch, dass Thorwaldsen nicht müde werden konnte, diese Märchen vorlesen zu hören, während er seine Ambe und Terne im Lottospiel besetzte, denn sein dänisches Wesen war naiv und seine Kunst, trotz ihrer Grösse, idyllisch wie die Kunst, welche diese Dichtungen erzeugt hat. Ein Genie, das zu einer Zeit geboren wird, wo Alles seiner Entwicklung entgegen steht, wird entweder zermalmt oder geht zu Grunde wie ein untergeordnetes Talent: ein Andersen 1705 statt 1805 in Dänemark geboren, wäre ein Unglücklicher, ein ganz Unbedeutender, vielleicht ein Wahnsinniger geworden. Ein Talent, das in einem Zeitalter geboren wird, wo ihm alles zu Statten kommt, erzeugt klassische, geniale Produkte. Allein dieser ersten Uebereinstimmung zwischen dem Genie und der Zeit (zum Theil auch dem Lande), entspricht eine zweite zwischen den eigenen Kräften des Genies, und eine dritte zwischen dem Genie und seiner Kunstart. Die geniale Natur ist ein organisch zusammenhängendes Ganzes, ihre Schwäche an dem einen Punkte bedingt ihre Stärke an dem andern, die Entwicklung jener Fähigkeit verursacht die Hemmung dieser Fähigkeit, und es ist unmöglich, etwas Einzelnes zu verändern, ohne die ganze Maschinerie zu verändern und zu stören. Man wünscht wohl das Eine oder Andere anders, aber man begreift ohne Mühe, dass es so sein _muss_. Man möchte dem Dichter mehr Persönlichkeit, ein männlicheres Wesen und eine ruhigere Geisteskraft wünschen; aber man versteht leicht, dass das Unpersönliche, Abschlusslose der Individualität, welche man aus dem »Märchen meines Lebens« kennen lernt, im innigsten Zusammenhange mit seiner Art der Begabung steht. Ein zugeknöpfterer Geist könnte die poetischen Eindrücke nicht so empfänglich aufnehmen und empfinden, ein härterer nicht diese Schmiegsamkeit mit seiner strammeren Haltung vereinen, ein für Kritik und Philosophie empfänglicherer nicht so naiv sein. Wie nun die moralischen Eigenschaften die intellektuellen bedingen, so bedingen diese gegenseitig einander. Ein so überströmendes lyrisches Gefühl, eine so exaltirte Sensibilität kann nicht mit der Erfahrung und Methode des Weltmanns bestehen; denn Erfahrung kühlt ab und verhärtet. Eine so leicht voltigirende und vogelmässig hüpfende und fliegende Phantasie lässt sich nicht mit dem logisch abgemessenen Crescendo und Decrescendo der poetischen Handlung vereinen. Eine so wenig kaltblütige Beobachtung kann nicht psychologisch bis ins Mark dringen, eine so kindliche, so leicht erbebende Hand kann nicht einen Schurken anatomiren. Stellen wir daher eine Begabung, wie diese, verschiedenen bestimmten und bekannten Kunstarten gegenüber, so können wir im Voraus entscheiden, wie es sich zu jeder derselben verhalten muss. Der _Roman_ ist eine Dichtungsart, welche nicht allein Einbildungskraft und Gefühl, sondern den scharfen Verstand und das kalte, ruhige Beobachtungsvermögen des Weltmanns bei demjenigen erfordert, welcher Ausgezeichnetes darin leisten soll; daraus ergiebt sich, dass derselbe nicht ganz für Andersen passt, wiewohl er seinem Talente auch nicht durchaus fern liegt. Die ganze Scenerie, der Naturhintergrund, das Malerische des Kostüms wird ihm gelingen; aber im Psychologischen wird man die Schwäche verspüren. Er wird für und wider seine Personen Partei nehmen; seine Männer werden nicht männlich genug, seine Frauen nicht recht weiblich sein. Ich kenne keinen Dichter, dessen Geist geschlechtsloser ist, dessen Talent weniger ein bestimmtes Geschlecht verräth, als Andersen. Desshalb hat er seine Stärke darin, Kinder darzustellen, bei denen das bewusste Geschlechtsgefühl noch nicht hervorgetreten ist. Alles beruht darauf, dass er das, was er ist, so ausschliesslich ist, kein Gelehrter, kein Denker, kein Bannerträger, kein Kämpfer, wie mehrere der grössten Dichter, sondern ausschliesslich Poet. Ein Poet ist ein Mann, der zugleich Weib ist. Andersen sieht im Manne und im Weibe am kräftigsten das Elementare, das gemeinsam Menschliche, viel weniger das Besondere, das Interessante. Ich übersehe nicht, wie er das tiefe Gefühl einer Mutter in »Die Geschichte einer Mutter« geschildert oder eine Darstellung weiblichen Seelenlebens in »Die kleine Seejungfer« gegeben hat; aber was er hier darstellt, sind nicht die zusammengesetzten Seelenzustände des Lebens und des Romans, sondern das _Lebenselement_; er lässt den ganz einzelnen und reinen Ton erklingen, der in den verschlungenen Harmonien und Disharmonien des Lebens weder so rein noch so einzeln vorkommt. Indem sie in das Märchen eintreten, erleiden alle Gefühle eine Vereinfachung, eine Läuterung und Verwandlung. Der Charakter des Mannes liegt dem Kinderdichter am fernsten, und ich entsinne mich nur einer einzigen Stelle in den Märchen, wo man auf eine feine psychologische Charakteristik einer weiblichen Seele stösst; sie steht so unschuldig da, dass man sich fast fragen möchte, ob sie sich nicht selbst geschrieben habe. Man findet sie in einer Geschichte von zwei Porzellanfiguren, »Die Hirtin und der Schornsteinfeger«: »Hast Du wirklich Muth, mit mir in die weite Welt hinaus zu gehen?« frug der Schornsteinfeger. »Hast du bedacht, wie gross die ist, und dass wir nie mehr hierher zurückkehren können?« -- »Das hab' ich« sagte sie. Und der Schornsteinfeger sah sie fest an, und dann sagte er: »Mein Weg geht durch den Schornstein! Hast Du wirklich Muth, mit mir durch den Ofen, durch die Trommel sowohl wie durch das Rohr zu kriechen? ...« Und er führte sie zu der Ofenthür hin. »Da sieht es ganz schwarz aus!« sagte sie, aber sie ging doch mit ihm durch die Trommel sowohl wie durch's Rohr, wo die pechfinstere Nacht herrschte. Nach einer langen und beschwerlichen Wanderung erreichten sie den Schornsteinrand. Der Himmel mit all' seinen Sternen war hoch über und alle Dächer der Stadt tief unter ihnen. Sie sahen weit umher, weit, weit hinaus in die Welt. Die arme Hirtin hatte sich's nie so gedacht; sie lehnte sich mit ihrem kleinen Kopfe an ihren Schornsteinfeger und dann weinte sie, dass das Gold von ihrem Leibgürtel absprang. »_Das ist allzu viel!_« sagte sie. »_Das kann ich nicht ertragen! Die Welt ist gar zu gross! Wäre ich doch wieder auf dem Tischchen unter dem Spiegel!_ Ich werde niemals froh, ehe ich wieder dort bin! Nun bin ich Dir ja gefolgt! _Nun bin ich Dir in die weite Welt hinaus gefolgt, nun kannst Du mich auch wieder zurückbegleiten, wenn Du mich wirklich lieb hast!_« Eine tiefere, eine unbarmherziger wahre, eine handgreiflichere Analyse einer gewissen Art von weiblicher Begeisterung und ihrer Thatkraft, wenn es rücksichtslos, kühn und ohne einen Blick nach rückwärts zu handeln gilt, findet man, glaube ich, bei keinem anderen dänischen Dichter. Welche Feinheit in der Darstellung: der augenblicklich entschlossene Enthusiasmus, das heroische Ueberwinden des ersten Schauders, Ausdauer, Tapferkeit, Festigkeit bis zu dem Augenblicke -- wo es darauf ankommt, wo die Festigkeit zerbricht und die Sehnsucht nach dem Tischchen unter dem Spiegel erwacht! Mancher dicke Roman wird durch solch' eine Seite in die Höhe geschnellt, und man tröstet sich darüber, dass Andersen kein Meister im Romanfache ist. Das _Drama_ ist eine Dichtungsart, welche die Fähigkeit erfordert, eine Idee zu differentiiren, sie auf viele Träger zu vertheilen; es erfordert Sinn für die bewusste Handlung, eine logische Kraft, sie zu lenken, einen Blick für die Situation, eine Leidenschaft dafür, sich in das unerschöpfliche Studium der einzelnen, vielseitigen Seele zu vertiefen und zu versenken; daraus ergibt sich, dass das Drama Andersen ferner liegt, als der Roman, und dass seine Unfähigkeit für das Dramatische mit mathematischer Bestimmtheit in dem Verhältnisse steigt, in welchem die einzelne dramatische Abart dem Märchen und damit seiner Begabung ferner liegt. Die Märchenkomödie gelingt ihm natürlich am besten; aber sie hat auch nicht viel anders von der Komödie, als den Namen. Sie ist eine Mischart, und wenn sie auf die Probe des spanischen Märchens gestellt werden könnte, würde man sie als Bastarden erkennen. Im Situationslustspiele ist er glücklich betreffs der poetischen Ausführung der einzelnen Scenen selbst (»Der König träumt«), aber höchst unglücklich in der Durchführung der Idee im Ganzen (»Die Perle des Glücks«). Das eigentliche Lustspiel passt nicht übel für seine Gaben. Einzelne seiner Märchen sind ja bereits fast Holberg'sche Lustspiele: »Die glückliche Familie« ist eine Holberg'sche Charakterkomödie, und »Es ist ganz gewiss« ein Holberg'sches Intriguenstück. Hier fällt ihm die Charakterzeichnung denn auch leichter als im ernsten Drama, denn hier wandelt er direkt in Holberg's Spuren; so auffällig stimmt sein Vermögen in einer einzelnen Richtung mit dem jenes grossen Mannes überein. Andersen ist, wie ich schon bemerkt habe, kein eigentlicher Psycholog; er ist mehr Biolog als besonderer Menschenkenner. Seine Vorliebe ist, den Menschen durch das Thier oder durch die Pflanze zu schildern, ihn sich von seinem Naturgrunde aus entwickeln zu sehen. Alle Kunst enthält eine Antwort auf die Frage: was ist der Mensch? Fragt Andersen, wie er den Menschen definire, und er wird antworten: der Mensch ist ein Schwan, ausgebrütet auf dem Entenhofe der Natur. Dem psychologisch Interessirten, der, ausser Stande, einen ganzen zusammengesetzten Charakter zu umfassen, einen fein entwickelten Blick für die einzelne Eigenschaft oder Eigenthümlichkeit besitzt, bieten die Thiere, insbesondere die uns wohlbekannten, eine grosse Erleichterung. Man ist nämlich gewohnt, sie auf eine einzige Eigenschaft, oder doch nur auf ganz wenige, zurückzuführen: die Schnecke ist langsam, die Nachtigall ist die unscheinbare Sängerin mit den herrlichen Tönen, der Schmetterling der schöne Flatterhafte. Nichts also hindert, dass ein Dichter mit der Gabe, diese treffenden kleinen Züge darzustellen, in die Spuren Holberg's tritt, des Mannes, welcher die »Wankelmüthige« u. s. w. geschrieben hat, wie Andersen es in »Der neuen Wochenstube« that. Er zeigt hier übrigens eine seiner vielen Aehnlichkeiten mit Dickens, dessen Komik sich häufig auf einige wenige, in's Unendliche wiederholte Züge beschränkt. In der _Epopöe_, die in unsern Tagen zu den unmöglichen Dichtungsformen gehört, und die Alles erfordert, was Andersen gebricht, kann er nur einzelne hübsche Einfälle haben, wie z. B. wenn er in »Ahasverus« den Geist China's in einer drolligen lyrischen Episode charakterisirt, oder wenn er die zwitschernden Schwalben (ganz wie im Märchen) uns Attila's Festsaal schildern lässt. In der _Reisebeschreibung_ kommt naturgemäss eine grosse Anzahl seiner besten Eigenschaften zum Vorschein. Wie sein Liebling, der Zugvogel, ist er in seinem Elemente, wenn er reist. Er beobachtet wie ein Maler, und er schildert wie ein Schwärmer. Zwei Fehler treten jedoch hier hervor: der eine, dass sein lyrischer Hang zuweilen mit ihm durchgeht, so dass er lobsingt statt zu schildern, oder übertreibt statt zu malen (siehe z. B. die allzu überschwängliche Beschreibung von Ragatz und Pfäffers); der andere, dass das untergeordnet Persönliche, das _Ichsüchtige_, welches erkennen lässt, dass der tieferen Persönlichkeit die Geschlossenheit fehlt, bisweilen in störender Weise sich aufdrängt. Letzteres charakterisirt besonders stark die Art seiner Selbstbiographie. Was man mit Recht dem »Märchen meines Lebens« vorwerfen kann, ist nicht so sehr, dass der Verfasser so durchaus mit seiner Privatperson beschäftigt ist (denn das ist hier ganz natürlich), sondern dass diese Persönlichkeit fast nie mit etwas Grösserem als mit sich selbst beschäftigt ist, niemals in einer Idee aufgeht, sich niemals ganz von dem Ich befreit. Die Revolution von 1848 erscheint in diesem Buche wie ein Niesen; man ist ganz erstaunt, daran erinnert zu werden, dass es noch eine Welt ausserhalb des Verfassers gibt. In der _lyrischen_ Poesie hat er äusseren Erfolg gehabt; Chamisso hat sogar einzelne Lieder von ihm übersetzt; ich sehe ihn aber ungern seine farbige, naturgetreue und _realistische_ Prosatracht ablegen, um sich in den einförmigen Mantel des Verses zu hüllen. Seine Prosa hat Phantasie, ungebundenes Gefühl, Rhythmik und Melodie -- warum also nach Wasser über den Bach gehen? Seine Gedichte zeichnen sich übrigens häufig durch einen friedevollen und kindlichen Geist, ein warmes und mildes Gefühl aus. -- Man sieht, dass das Resultat seiner Versuche in den verschiedenen Dichtungsarten ganz direkt, wie das unbekannte X in der Mathematik, aus der Natur seiner Anlagen einerseits und der Natur der Dichtungsart andererseits hervorgeht. So bleibt denn nur seine eigene Dichtungsart zurück, diejenige, auf welche er kein Patent zu nehmen braucht; denn Niemand wird sie ihm rauben. Zu Andersen's Zeiten machte man nach dem Vorbilde Hegel's überall den Versuch, alle Dichtungsarten mit ihren Varietäten in ästhetische Systeme zu ordnen, und der dänische Hegelianer Heiberg entwarf denn auch ein reich gegliedertes System, in welchem die Rangordnung der Komödie, der Tragödie, des Romans, des Märchens u. s. w. festgestellt und den Kunstarten, die Heiberg selbst pflegte, ein besonders hoher Rang gesichert wurde. Es ist aber gewissermassen schon doctrinär, von allgemeinen Kunstarten zu reden. Jeder Dichter individualisirt seine Dichtungsart vollständig. Die Form, welche er gebraucht hat, vermag kein Anderer zu benutzen. So ist es mit dem Märchen, dessen Theorie Andersen nicht zu schreiben versucht, dessen Platz im Systeme er nicht feststellen gewollt, und den bestimmen zu wollen ich mich wohl hüten werde. Es ist überhaupt sonderbar mit der ästhetisch-systematischen Rangordnung, es ergeht Einem mit ihr wie mit der Rangordnung im Staate: je mehr man darüber nachdenkt, desto ketzerischer wird man. Vielleicht kommt es daher, weil Denken überhaupt gleichbedeutend ist mit Ketzer sein. Doch wie jeder Naturtypus, hat das Andersen'sche Märchen seinen Charakter, und seine Theorie besteht in den Gesetzen, denen es folgt, und die es nicht zu überschreiten vermag, ohne dass eine Missgeburt zum Vorschein kommt. Alles in der Welt hat sein Gesetz, selbst die Dichtungsart, welche die Naturgesetze aufhebt. Andersen gebraucht irgendwo den Ausdruck, er habe sich nun ungefähr in allen Radien des Märchenkreises versucht. Dieser Ausdruck ist treffend und gut. Die Märchen bilden ein Ganzes, ein in vielfachen Radien ausstrahlendes Gewebe, das dem Beschauer, wie das Spinngewebe in »Aladdin« zu sagen scheint: »Sieh, wie im schwachen Netz die Fäden sich verschlingen!« Wenn es nicht allzu viel Schulstaub in's Wohnzimmer mitbringen heisst, so will ich den Leser darauf aufmerksam machen, dass er in einem berühmten wissenschaftlichen Werke, in Adolf Zeising's »Aesthetischen Forschungen«, die ganze Reihe ästhetischer Gegensatz-Begriffe mit all' ihren Nuancen (das Schöne, Komische, Tragische, Humoristische, Rührende u. s. w.) in einem grossen Sterne geordnet sehen kann, ganz wie Andersen es sich betreffs seiner Märchen gedacht hat. Die Phantasieform und Erzählungsweise der Märchen gestattet nämlich die Behandlung der verschiedenartigsten Stoffe in der verschiedenartigsten Tonart. Hier findet man erhabene Erzählungen wie »Die Glocke«, tiefsinnige und weise Märchen wie »Der Schatten«, phantastisch-bizarre wie »Erlenhügel«, lustige, fast muthwillige wie »Der Schweinehirt« oder »Die Springer«, humoristische wie »Die Prinzessin auf der Erbse«, »Eine gute Laune«, »Die Halskragen«, »Das Liebespaar«, und mit einer Schattirung von Wehmuth »Der standhafte Zinnsoldat«; herzergreifende Dichtungen wie »Die Geschichte einer Mutter«, unheimlich beklemmende wie »Die rothen Schuhe«, rührende Phantasien wie »Die kleine Seejungfer«, und gemischte, zugleich grossartige und heitere wie »Die Schneekönigin«. Hier begegnet uns eine Anekdote wie »Herzeleid«, die einem Lächeln durch Thränen gleicht, und eine Inspiration wie »Die Muse des neuen Jahrhunderts«, in welcher man den Flügelschlag der Geschichte, das Herzklopfen und den Pulsschlag des lebendigen Lebens der Gegenwart vernimmt, heftig wie im Fieber, und doch gesund wie in einem glücklichen, begeisterten Momente. Kurz gesagt, hier ist alles, was zwischen dem Epigramm und der Hymne liegt.[37] Gibt es denn wirklich eine Grenze, welche das Märchen beschränkt, ein Gesetz, das es bindet, und wo liegt es? Das Gesetz des Märchens liegt in der Natur des Märchens, und dessen Natur beruht auf derjenigen der Poesie. Scheint es im ersten Augenblicke, dass nichts der Dichtart verwehrt sei, welche eine Prinzessin eine Erbse durch zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderdaunenbetten hindurch verspüren lassen kann, so ist das nur ein Schein. Das Märchen, welches die ungebundene Freiheit der Erfindung mit dem Zwange vereint, den sein Grundgedanke ihm auferlegt, muss zwischen zwei Klippen hindurch steuern: zwischen der ideenlosen Ueppigkeit und der trockenen Allegorie; es muss die Mittelstrasse halten zwischen der allzu starken Fülle und der allzu grossen Magerkeit. Das thut Andersen fast immer, aber zuweilen doch nicht. Die aus Volksmärchen entnommenen Stoffe, wie »Der fliegende Koffer«, oder die eigentlichen Feenmärchen, wie »Däumelinchen«, haben für die erwachsenen Leser nicht so viel Anziehendes wie für Kinder, weil das Märchen hier keinen Gedanken verbirgt. Im »Garten des Paradieses« ist alles das meisterhaft, was dem Eintritt in den Garten vorausgeht, allein der Fee des Paradieses selbst scheint es mir schwer etwas Schönes oder Ergötzliches abzugewinnen. Das entgegengesetzte Extrem ist nun, dass man die dürre _Absicht_, die _trockene Lehre_ durch das Gewebe der Dichtung sieht; dieser Fehler ist, wie es in unserer reflektirenden und bewussten Zeit sich erwarten liess, weit häufiger. Man empfindet ihn stark, weil das Märchen das Reich des Unbewussten ist. Nicht nur, dass die unbewussten Wesen und Dinge hier das Wort führen, sondern was im Märchen siegt und verherrlicht wird, ist eben das Unbewusste. Und das Märchen hat Recht; denn das Unbewusste ist unser Fond und der Quell unserer Stärke. Desshalb kann der Reisekamerad Unterstützung von dem Todten empfangen, weil er ganz vergessen hat, dass er ihm früher geholfen, und desshalb bekommt selbst Tölpel-Hans, weil er bei all' seiner Einfältigkeit naiv ist, die Prinzessin und das halbe Reich. Denn auch die Dummheit hat ihre Genialität und ihr Glück; nur mit den armen Zwischengeschöpfen, ohne Scharfsinn und ohne Dummheit weiss das Märchen nichts anzufangen. Wir wollen einige Beispiele der Sünden gegen das Unbewusste betrachten. So blickt in dem schönen Märchen »Die Schneekönigin« auf das störendste die unglückliche Absicht hindurch, wo die Schneekönigin fordert, dass Kay mit dem _Eisspiele des Verstandes_ Figuren legen soll, und er nicht im Stande ist, mit diesem Spiel das Wort »_Ewigkeit_« zu legen. So herrscht eine grobe und unpoetische Deutlichkeit in »Die Nachbarfamilien«, so oft die Rosen von der Sperlingsfamilie mit dem abstrakten, für eine Sperlingszunge unaussprechlichen Worte »_Das Schöne_« benannt werden; man hätte schon ohne diesen Fingerzeig verstanden, dass die Rosen in der Erzählung die Vertreter des Schönen sind, und indem man im Märchen auf dies abstrakte Wort stösst, fährt man zurück, als hätte man einen schleimigen Frosch berührt. -- Dies _Allegorisiren_ tritt, wie es in Erzählungen für Kinder zu erwarten stand, am häufigsten in der Form des _Docirens_ und _Moralisirens_ auf; in einzelnen Märchen wie »Der Buchweizen« spielt das pädagogische Element eine übergrosse Rolle. In anderen wie »Der Flachs«, fühlt man am Schlusse allzu stark -- wie bei Jean Paul -- den Hang, zur Zeit und zur Unzeit die Unsterblichkeitslehre anzubringen. Hier werden besonders in dieser Absicht zuletzt ein paar kleine, ziemlich abgeschmackte »unsichtbare Wesen« erschaffen, welche versichern, dass das Lied niemals aus sei. In einigen Fällen ist die Tendenz mehr persönlich. Eine ganze Reihe von Märchen (Das Entlein, Die Nachtigall, Die Nachbarfamilien, Das Gänseblümchen, Die Schnecke und der Rosenstock, Feder und Dintenfass, Die alte Strassenlaterne) spielen auf Dichterleben und Dichterloos an, und in einzelnen Fällen spürt man -- was bei Andersen eine seltene Ausnahme ist, -- dass die Erfindung an den Haaren herbeigezogen ward, um die Tendenz hervorzukehren. Welcher Sinn und welche Natur liegt z. B. darin, dass die Strassenlaterne, nur, wenn sie mit einem Wachslicht, nicht wenn sie mit einem gewöhnlicheren Lichte, versehen ist, die schönen und bilderreichen Gesichte sehen lassen kann, welche ihr erscheinen? Das ist ganz unverständlich, bis man es als Allegorie auf das vermeintliche Bedürfniss des Dichters nach Wohlstand auffasst, um etwas Rechtes zu werden. (»Also das Genie soll dem Schürzenstipendium nachlaufen!« schrieb bereits Kierkegaard bei Gelegenheit von »Nur ein Geiger«.) Unglücklicher noch ist es, dass die Strassenlaterne in umgeschmolzenem Zustande, in ihrem anderen Leben, zu einem Dichter kommt und so ihre Bestimmung erreicht. So stark hat die Tendenz sich selten verrathen. Die erste Pflicht des Märchens ist, poetisch zu sein; seine zweite ist, märchenhaft zu erscheinen. Darin liegt zum ersten, dass die Ordnung der Märchenwelt ihm heilig sein muss. Was in der Märchensprache als feste Regel gilt, das muss das Märchen respectiren, so gleichgültig es sich übrigens den Gesetzen und Regeln der wirklichen Welt gegenüber verhalten mag. So geht es nicht an, dass ein Märchen wie »Die Dryade« seine Heldin von ihrem Baume trennt, sie symbolische Reisen nach Paris machen, auf den »bal Mabille« gehen lässt u. s. w.; denn es ist nicht unmöglicher für alle Könige der Erde, das kleinste Blatt an eine Nessel zu setzen, als es für das Märchen ist, eine Dryade von ihrem Baume los zu reissen. Aber in der Märchenform liegt zum zweiten, dass der Rahmen nichts in sich aufnehmen kann, was, um poetisch zu seinem Rechte zu gelangen, eine tiefe psychologische Schilderung, eine ernste dramatische oder romanmässige Entwickelung erfordern würde. Eine Frau wie jene Maria Grubbe, von deren interessantem Leben Andersen uns in der Geschichte vom »Hühner-Gretchen« eine Skizze gibt, ist zu sehr ein Charakter, als dass es einem Märchendichter möglich sein sollte, ihr Wesen zu schildern oder zu erklären; versucht er es, so empfindet man ein Missverhältniss zwischen dem Gegenstande und der Form[38]. Man darf sich indess weniger über diese einzelnen Flecken wundern, als vielmehr darüber, dass sie so äusserst selten vorkommen. Ich habe sie auch nur hervorgehoben, weil es interessant ist, durch die Ueberschreitung der Grenze letztere selbst kennen zu lernen, und weil es mir wichtig schien, zu ermitteln, wie das Flügelross des Märchens, bei all seiner Freiheit, den ganzen Kreis zu durchlaufen und zu durchfliegen, doch seinen festen Spannpflock im Centrum hat. Seine Schönheit, seine Stärke, seine Flugkraft und Anmuth sieht man nicht, indem man auf seine Schranke achtet, sondern indem man seinen mannigfachen und kühnen Bewegungen innerhalb seines Kreises folgt. Hierauf wollen wir zum Schlusse einen Blick werfen. Die Märchen liegen vor uns wie eine grosse, reiche, blumenbesäte Flur. Lasst uns frei auf derselben umher schweifen, sie nach kreuz und quer durchwandern, bald hier, bald da ein Blümchen pflückend, uns erfreuend an seiner Farbe, seiner Schönheit, an dem Ganzen. Diese kleinen kurzen Dichtungen stehen ja wirklich in demselben Verhältnisse zu den umfangreicheren Poesien, wie die kleinen Blumen zu den Bäumen des Waldes. Wer an einem schönen Tage zur Frühlingszeit nach einem seeländischen Walde hinaus spaziert, um die Buche in ihrer jungen Pracht mit den braunen Sammtknöpfen in der hellgrünen Seide zu sehen, der wendet, wenn er eine Zeit lang in die Höhe geblickt hat, seine Augen zur Erde hinab, und da zeigt sich, dass der Waldgrund eben so schön wie das Wipfeldach des Waldes ist. Hier wachsen in geringem Abstande buntfarbige Anemonen, weisse und dunkelrothe Maiblumen, gelbe Sternblümchen, rothe und blaue Nelkenwurz, Butterblumen und Steinbrech, Sternkraut, Dotterblumen und Löwenzahn. Nahe bei einander stehen die Knospe, die entfaltete Blume und die, welche schon Samen trägt, die jungfräuliche und die befruchtete Pflanze, die duftlosen und die wohlriechenden Blumen, die giftigen und die nützlichen, die heilsamen Kräuter. Häufig ist die Pflanze, welche im Systeme den niedrigsten Platz einnimmt, wie das blüthenlose Farnkraut, für das Auge die schönste. Blumen, welche zusammengesetzt erscheinen, bestehen bei näherer Betrachtung aus ganz wenigen Blättern, und Pflanzen, deren Blüthe eine einzelne scheint, tragen auf ihrer Spitze einen ganzen Flor nur durch den Stengel vereinigter Blumen. So ist's auch mit den Märchen. Die, welche betreffs ihrer Würde am niedrigsten stehen, wie »Die Springer«, enthalten oft eine ganze Lebensphilosophie in kurzem Auszuge, und die, welche als einzeln erscheinen, wie die »Galoschen des Glücks«, bestehen aus einer lose verbundenen Blüthendolde. Einige stehen in der Knospe, wie »Der Wassertropfen«, andere schiessen in Samen, wie »Das Judenmädchen« oder der »Stein der Weisen«. Einige bestehen nur aus einem einzigen Punkte, wie »Die Prinzessin auf der Erbse«, andere haben grosse, edle Formen, wie die in Indien besonders beliebte »Geschichte einer Mutter«, welche einer fremden, südländischen Blume, der Kala, gleicht, die in ihrer erhabenen Einfalt nur aus einem einzigen Blatte besteht. Ich schlage das Buch aufs geradewohl auf, und mein Auge fällt auf »Erlenhügel«. Welches Leben und welche Laune: »In der Küche waren vollauf Frösche am Spiesse, Natterhäute mit Kinderfingerchen darin, und Salate von Pilzsamen, feuchten Mäuseschnauzen und Schierling, ... verrostete Nägel und Kirchenfensterglas gehörten zum Naschwerk«. Glaubt man, die Kinder seien hier vergessen? Keineswegs. »Der alte Erlenkönig liess seine Goldkrone mit gestossenem Schiefer poliren; es war Bank-Erster-Schiefer, und _es ist für den Erlenkönig sehr schwer, Bank-Erster-Schiefer zu erhalten!_« Glaubt man, hier sei nichts für die Erwachsenen? Noch mehr gefehlt! »O, wie sehne ich mich nach dem alten, norwegischen Kobold! Die Knaben, sagt man, sollen etwas unartige, naseweise Jungen sein ... _Sie gehen mit blassem Halse und ohne Tragbänder, denn sie sind Kraftmänner_«. Welch ein Festgelag! Das Todtenpferd ist unter den Eingeladenen. Glaubt man, Andersen vergässe beim Gelage den Charakter des Gastes? »Nun mussten die Erlenmädchen tanzen, und zwar sowohl einfach wie mit Stampfen, und das stand ihnen gut ... Der Tausend! wie sie die Beine ausstrecken konnten, man wusste nicht, was Ende und was Anfang, man wusste nicht, was Arme und was Beine waren; das ging alles durch einander wie Sägespäne; und dann schnurrten sie herum, _dass dem Todtenpferde unwohl wurde und es vom Tische gehen musste_«. Andersen kennt das Nervensystem des Todtenpferdes und gedenkt dessen schwachen Magens. Er hat die echte Gabe, _übernatürliche Wesen_ zu erschaffen, welche in der modernen Zeit so selten ist. Wie tief symbolisch und wie natürlich ist es z. B., dass die kleine Seejungfer, als ihr Schwanz zu »zwei niedlichen Beinen« eingeschrumpft ist, bei jedem Schritte, den sie macht, das Gefühl hat, _als ob sie auf scharfe Messer und spitze Nadeln träte_. Wie viele arme Frauen treten nicht bei jedem Schritt, den sie thun, auf scharfe Messer um demjenigen nahe zu sein, den sie lieben, und wie weit sind doch diese davon, die unglücklichsten zu sein! -- Eine herrlich gezeichnete Bande ist ferner jene Koboldschaar in der »Schneekönigin«, ein treffliches Sinnbild ist der Hexenspiegel, und eine tief empfundene Gestalt diese Königin selbst, die, mitten auf dem öden Schneefelde sitzend, alle kalte Schönheit desselben in sich eingesogen hat. Dies Weib ist gewissermassen verwandt mit der _Nacht_, einer der eigenthümlichsten Gestalten Andersen's. Es ist nicht Thorwaldsen's milde, schlafbringende Nacht, nicht Carstens' ehrwürdige mütterliche Nacht, sondern die schwarze, unheimliche, schlaflose und grausenvolle: »Draussen mitten im Schnee sass eine Frau in langen, schwarzen Gewändern, und sie sprach: 'Der Tod ist bei Dir in Deiner Stube gewesen, ich sah ihn mit Deinem kleinen Kinde davon eilen, er schreitet schneller als der Wind und bringt niemals zurück, was er genommen hat'. 'Sag mir blos, welchen Weg er gegangen ist!' sagte die Mutter; 'sag mir den Weg, und ich werde ihn finden'. 'Ich kenne ihn', sagte die Frau in den schwarzen Gewändern; 'aber bevor ich ihn Dir sage, musst Du mir erst alle die Lieder vorsingen, die Du Deinem Kinde vorgesungen hast. Ich liebe diese Lieder, ich habe sie früher gehört; ich bin die Nacht und sah Deine Thränen, als Du sie sangst'. 'Ich will sie alle, alle singen!' sagte die Mutter; 'aber halte mich nicht auf, damit ich ihn einholen, damit ich mein Kind wiederfinden kann!' _Aber die Nacht sass stumm und still._ Da rang die Mutter ihre Hände, sang und weinte, und es gab viele Lieder, aber noch mehr Thränen«. Die Mutter geht weiter, weint sich die Augen aus, um für diesen Preis über den See zu gelangen, und gibt, um in das Treibhaus des Todes zu kommen, dem »alten Grabweib« ihr langes schwarzes Haar _und erhält deren weisses dafür_. Wir treffen eine unzählbare Menge von Phantasiegeschöpfen, kleine elfenhafte Gottheiten wie Ole Luköje (der Sandmann) oder die Kobolde mit den rothen Mützen, und die nordische Dryade, Fliedermütterchen. Man fühlt hier recht Andersen's Stärke, wenn man sie mit der Ohnmacht der zeitgenössischen dänischen Dichter in dieser Hinsicht vergleicht. Was für blasse Gestalten sind nicht Heiberg's Pomona, Asträa oder Fata Morgana! Andersen gibt selbst dem Schatten einen Körper. Was sagt der Schatten? Was sagt er zu seinem Herrn? »_Ich bin von Kindesbeinen an in Ihre Fusstapfen getreten_«. Das ist wahr. »_Wir sind ja von Kind an mit einander aufgewachsen_«. Das ist nicht minder wahr. Und als er sich nach einem Besuche empfiehlt: »_Adieu! Hier ist meine Karte, ich wohne auf der Sonnenseite und bin bei Regenwetter stets zu Hause_«.[39] Andersen kennt die Sehnsuchts-Qualen des Schattens, seine Gewohnheiten und seine Wollust: »Ich lief im Mondscheine auf der Strasse umher, _ich reckte mich lang an der Mauer hinauf, das kitzelt so angenehm auf dem Rücken_«. Dies Märchen vom Schatten, das keineswegs an Chamisso erinnert, ist eine kleine Welt für sich. Ich nehme keinen Anstand, es eins der grössten Meisterwerke in der dänischen Litteratur zu nennen. Es ist die Epopöe aller Schatten, aller Menschen aus zweiter Hand, aller unoriginellen, unursprünglichen Geister, aller derjenigen, welche wähnen, dass sie durch die blosse Losreissung von ihrem Originale Persönlichkeit, Selbständigkeit und wirkliches, echtes Menschendasein erlangen. Es ist auch eins der wenigen, wo der Dichter trotz seines weichherzigen Optimismus gewagt hat, die hässliche Wahrheit in ihrer ganzen Nacktheit hervor treten zu lassen. Der Schatten beschliesst, um sich vor allen Enthüllungen betreffs seiner Vergangenheit zu sichern, dem Menschen das Leben zu nehmen: »'Der arme Schatten!' (d. h. der Mensch) sagte die Prinzessin; 'er ist sehr unglücklich, es wäre eine wahre Wohlthat, ihn von dem bisschen Leben zu befreien, und wenn ich recht darüber nachdenke, so scheint es mir nöthig zu sein, dass man ihn in aller Stille bei Seite schaffe'. 'Das ist allerdings hart, denn er war ein treuer Diener', sagte der Schatten, und er that, als wenn er seufzte. '_Du bist ein edler Charakter!_' sagte die Königstochter«. -- Dies Märchen ist endlich eins von denen, in welchen man am leichtesten den Uebergang vom Natürlichen zum Uebernatürlichen beobachten kann: der Schatten reckt und streckt sich solange, »um zu Kräften zu kommen«, bis es ganz natürlich ist, dass er sich zuletzt losreisst. Wir schlagen das Buch zu und öffnen es an einer anderen Stelle. Da stossen wir auf »Die Springer«. Eine kurze und bündige Belehrung über das Leben. Die Hauptpersonen sind der Floh, der Heuschreck und der Hüpfauf aus dem Gänsebrustknochen; die Königstochter ist der Preis für den besten Sprung. »Merkt's euch Alle«, sagt die Muse des Märchens, »Springt mit Verstand! Es frommt nicht, so hoch zu springen, dass Niemand euch sehen kann; dann behauptet der Pöbel, es sei so gut, als wäret ihr gar nicht gesprungen. Seht nur auf all' die grössten Geister, Denker, Dichter und Männer der Wissenschaft. Für die Menge ist es, als hätten sie gar keinen Sprung gethan, sie ernteten keinen Lohn, _Körper gehört dazu!_ Es frommt auch nicht, hoch und gut zu springen, wenn man den Machthabern in's Gesicht springt. Auf die Art macht man fürwahr keine Karriere. Nein, nehmt den Hüpfauf zum Vorbild! Der ist fast apoplektisch, zuerst hat es den Anschein, als könne er gar nicht springen, und viele Bewegungen kann er gewiss auch nicht machen; aber dennoch macht er -- mit dem Instinkte der Dummheit, mit der Geschicklichkeit der Trägheit -- einen kleinen _schiefen_ Sprung gerade in den Schoss der Prinzessin. Nehmt euch ein Exempel dran, er hat gezeigt, dass er Kopf hat!« Welch' eine Perle von Märchen! und welche Gabe, die Thiere menschlich zu benutzen! Es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass man zuweilen fast in Zweifel ist, was der ganze Einfall, die Thiere reden zu lassen, im Grunde zu bedeuten hat. Eins ist es ja, ob wir Leser uns getroffen fühlen, ein Anderes, ob auch der Charakter des Thieres wirklich getroffen ist, des Thieres, das nicht eine einzige menschliche Eigenschaft hat. Man wird indess leicht einsehen, dass es unmöglich ist von dem Thiere, selbst rein wissenschaftlich zu reden, ohne ihm Eigenschaften beizulegen, die wir von uns selber her kennen. Wie soll man es z. B. vermeiden, den Wolf _grausam_ zu nennen? Andersen's Geschicklichkeit besteht nun darin, eine poetische, eine schlagende Scheinübereinstimmung zwischen dem Thiere und seiner menschlichen Eigenschaft hervor zu bringen. Ist es nicht richtig, dass die Katze zu Rudy sagt: »Komm' nur mit hinaus auf's Dach, kleiner Rudy! _Was die Leute vom Herunterfallen reden, ist eitel Einbildung: man fällt nicht, wenn man sich nicht davor fürchtet._ Komm' nur, setze Deine eine Pfote so, die andere so! fühle vor mit den Vorderpfoten! Musst Augen im Kopfe und geschmeidige Glieder haben! Kommt irgend 'ne Kluft, so springe nur und halte Dich fest, so mach ich's!« Ist es nicht natürlich, dass die alte Schnecke sagt: »Das hat doch auch gar keine Eile. Aber Du eilst immer so sehr, und der Kleine fängt das nun auch schon an. _Kriecht er nicht bereits seit drei Tagen an dem Stengel hinauf! Ich bekomme wirklich Kopfweh, wenn ich zu ihm emporblicke_«. Was schildert treffender eine Wochenstube, als die Ausbrütung der jungen Entlein! Was ist wahrscheinlicher, als dass die Sperlinge sagen, wenn sie ihre Nachbarn ausschimpfen wollen: »Die _dickköpfigen_ Rosen!«[40] Ein Märchen habe ich mir bis zuletzt aufgespart; jetzt suche ich es hervor, denn es ist gleichsam die Krone des Werkes. Es ist das Märchen von der »Glocke«, in welchem der Dichter der Naivetät und der Natur den Höhepunkt seiner Poesie erreicht hat. Wir sahen sein Talent, das Uebermenschliche und das Untermenschliche natürlich zu schildern. In diesem Märchen steht er der Natur selber von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es handelt von der unsichtbaren Glocke, welche zu suchen die jungen Confirmanden ausgingen -- die Jünglinge, bei welchen die Sehnsucht nach dem unsichtbar Lockenden und Reizenden noch frisch war. Der Kaiser hatte versprochen, »dass der, welcher wirklich ausfindig machen könne, woher der Schall komme, den Titel eines 'Weltglöckners' haben solle, und das selbst dann, wenn es keine Glocke sei. Nun gingen Viele der guten Versorgung halber nach dem Walde; aber der Einzige, der mit einer Art Erklärung zurückkam, war, so wenig, wie die Andern, tief genug eingedrungen; er sagte jedoch, dass der Glockenton von einer sehr grossen Eule in einem hohlen Baume herkomme; es sei eine Art Weisheits-Eule, die ihren Kopf fortwährend gegen den Baum stosse. Und so wurde er als Weltglöckner angestellt und _schrieb jedes Jahr eine kleine Abhandlung über die Eule; man ward dadurch eben so klug, wie man vorher gewesen war_«. Die Konfirmanden gehen also auch dieses Jahr hinaus, »und sie hielten einander bei den Händen, _denn sie hatten ja noch keine Aemter erhalten_«. Allein bald ermüden sie, Einer nach dem Andern, und kehren um, dieser aus einem Grunde, jener aus einem Vorwande. Eine ganze Klasse bleibt bei einer _kleinen Glocke_ auf einem idyllischen Häuschen stehen, ohne, wie die wenigen Ausharrenden, zu bedenken, dass eine so kleine Glocke nicht das anziehende Glockenspiel verursachen könne, sondern »dass es ganz andere Töne sein müssten, die ein Menschenherz so rührten«, und sie begeben sich mit ihrer _kleinen_ Hoffnung, ihrer _kleinen_ Sehnsucht zur Ruhe bei dem _kleinen_ Funde, dem _kleinen_ Glücke, der kleinen idyllischen Freude. Ich denke mir, der Leser ist einigen dieser Konfirmanden als Erwachsenen schon begegnet. Zuletzt sind nur noch Zwei übrig, ein Königssohn und ein armer kleiner Knabe in Holzschuhen »und mit einer so kurzen Jacke, dass man recht sehen konnte, wie lange Handgelenke er habe«. Unterwegs trennen sie sich; denn der eine wollte die Glocke zur Rechten, der andere zur Linken suchen. Der Königssohn suchte die Glocke auf dem Wege, der »auf der Seite des Herzens« lag, der arme Knabe suchte sie in der entgegengesetzten Richtung. Wir folgen dem Königssohne, und wir lesen mit Bewunderung, welche mystische Pracht der Dichter der Gegend zu geben weiss, indem er die natürlichen Farben der Blumen verändert und vertauscht. »Aber er ging unverdrossen tiefer und tiefer in den Wald, wo die wunderbarsten Blumen wuchsen; da standen _weisse_ Sternlilien mit _blutrothen_ Staubfäden, _himmelblaue_ Tulpen, die im Winde _funkelten_, und Apfelbäume, deren Aepfel wie grosse, glänzende Seifenblasen aussahen; denkt nur, wie die Bäume im Sonnenschein strahlen mussten!« Die Sonne geht unter, der Königssohn fürchtet schon, von der Nacht überrascht zu werden; er steigt auf die Felsen hinauf, um die Sonne noch einmal zu sehen, ehe sie ganz am Horizonte versinkt. Man höre den Hymnus des Dichters: »Und er ergriff Ranken und Wurzeln und kletterte an den nassen Steinen empor, wo die Wasserschlangen sich wanden, wo die Kröte ihn gleichsam anbellte; -- aber hinauf kam er, bevor die Sonne, von dieser Höhe gesehen, ganz untergegangen war. O, welche Pracht! Das Meer, das grosse, herrliche Meer, das seine langen Wogen gegen die Küste wälzte, streckte sich vor ihm aus, und die Sonne stand wie ein grosser, glänzender Altar da draussen, wo Meer und Himmel sich begegneten; Alles verschmolz in glühenden Farben; der Wald sang und das Meer sang und sein Herz sang mit. Die ganze Natur war eine grosse, heilige Kirche, worin Bäume und schwebende Wolken die Pfeiler, Blumen und Gras die gewebte Sammetdecke, und der Himmel selbst die grosse Kuppel bildeten; dort oben erloschen die rothen Farben, indem die Sonne verschwand; aber Millionen Sterne wurden angezündet, Millionen Diamantlampen erglänzten, und der Königssohn breitete seine Arme aus gegen den Himmel, gegen das Meer und den Wald -- und im selben Augenblicke kam, von dem rechten Seitenwege, der arme Konfirmand mit der kurzärmeligen Jacke und den Holzschuhen; er war hier eben so zeitig angelangt, er war auf seinem Wege dahin gekommen. Und sie liefen einander entgegen und fassten einander an der Hand in der grossen Kirche der Natur und der Poesie. Und über ihnen ertönte die unsichtbare, heilige Glocke; selige Geister umschwebten sie im Tanze zu einem heiligen Hallelujah!« Das Genie gleicht dem reichen Königssohne, sein aufmerksamer Zuhörer dem armen Knaben; aber Kunst und Wissenschaft begegnen sich, obschon sie sich unterwegs trennen, in der Begeisterung und der Andacht gegenüber dem göttlichen All der _Natur_. ESAIAS TEGNÉR. (1878.) Der litterarische Ruhm ist in den scandinavischen Ländern meistens ein rein lokaler. Werke, die in Sprachen geschrieben sind, welche nur von wenigen Millionen gesprochen und nirgends in der Welt als Cultursprache gelernt oder gelesen werden, haben selbstverständlich alle Chancen europäischer und amerikanischer Berühmtheit gegen sich. Die wenigsten poetischen Erzeugnisse werden überhaupt übersetzt, und für ein Werk, das sich an den Schönheitssinn wendet, für ein metrisches vor allem, ist die äussere Sprachform, was der Email dem Zahn ist; sie giebt ihm gleichzeitig Dauer und Glanz. Trotzdem gelang es bekanntlich einzelnen nordischen Schriftstellern, mehr Anerkennung im Auslande als daheim zu finden; sie vertreten so zu sagen der ganzen Lesewelt gegenüber das geistige Leben ihres Vaterlandes, und ihr Name schmilzt im allgemeinen Bewusstsein mit demjenigen ihres Landes zusammen. Einen solchen Ruhm hat unter den Dichtern Schwedens nur ein einziger, _Esaias Tegnér_ erlangt. Er ist nicht der grösste, der in schwedischer Sprache gedichtet hat; vor ihm und nach ihm hat ein anderer, grösserer Dichter in dieser Sprache Gestalten geformt, welche die seinigen durch Anschaulichkeit und wirkliches Leben übertreffen. Aber mit _Bellman_ und _Runeberg_ muss er zusammengestellt und genannt werden; und während er ihnen in dichterischer Phantasie nachsteht, übertrifft er als geistvolle Persönlichkeit beide. Drei Mal im Laufe der Geschichte ist es dem schwedischen Volke gelungen, das Classische und das Volksthümliche in seiner Poesie zu verschmelzen. Das erste Mal geschah es, als Bellman unter Gustav III. seine Typen aus dem Volks- und Wirthshausleben Stockholms griff und »Die Lieder Fredman's« mit mimischer Meisterschaft zur Zither sang. Zum zweiten Male, als Tegnér, fünfzig Jahre später, zum Heldenleben des alten Nordens zurückkehrte, den Stoff zu einem Romanzencyclus in einer alten Sage fand, und Schweden ein Bild von Vikingsleben und Vikingsliebe im Norden gab, wie sich die Zeitgenossen dies vorstellten. Zuletzt geschah es endlich vor einem Menschenalter, als -- vierzig Jahre, nachdem Finnland von seinem alten Mutterlande losgerissen wurde -- der grösste von Finnlands Söhnen, von seinen Kindheitserinnerungen inspirirt, den ehrenvollen Kampf seines Vaterlandes gegen russische Uebermacht, und dadurch den Nationalcharakter des finnischen Volkes, realistischer malte als man es zu jener Zeit noch gewagt hatte. Runeberg drängte in einer seelenvollen Bivouacpoesie Kriegsidyllen und Schlachtfeldtragödien auf den knappsten Raum zusammen. Weder in einem Drama, noch in einem Epos hat also irgend einer der drei schwedischen Dichter die Möglichkeit gefunden, sein Bestes zu geben. Alle drei, so verschieden sie auch sind, haben in derselben Kunstgattung triumphirt, einem der Form nach lyrischen, dem Inhalte nach epischen Cyclus kurzer Gedichte. Der erste hat burleske Dithyramben, der zweite altnordische Heldenlieder, der dritte moderne Kriegsanekdoten geschrieben; aber alle haben sie diese ihre vorzüglichsten Poesien in eine zusammenhängende Reihenfolge gebracht, und nichts als diese drei Liedergruppen gibt der Dichtung Schwedens weltbürgerlichen Rang. Unter diesen ist die »Frithiofs-Saga« der berühmteste Cyclus, und wenn Tegnér ausserhalb Schwedens genannt wird, so ist es ausschliesslich als Autor dieser Sage; das Werk ist die Nationaldichtung des schwedischen Volkes geworden, und Uebersetzungen in allen europäischen Sprachen, darunter achtzehn verschiedene deutsche und achtzehn verschiedene englische, haben es über die Erde verbreitet. Schweden hat sich nicht undankbar gegen den Mann gezeigt, dem es so Vieles schuldet. In Schweden ist zur Ehre Tegnér's so hübsch und warm geredet, geschrieben und gesungen worden, dass es unmöglich ist, hierin die Kinder des Landes zu übertreffen. Schweden hat die verklärte Gestalt des Dichters in übernatürlicher Grösse auf ein mächtiges Fussgestell gehoben, das, näher betrachtet, ein ganz kleiner Berg von massiven Lobreden, Lebensbeschreibungen und Festliedern ist, und man hat Weihrauch über Weihrauch am Fusse der Statue verbrannt. Was ist da noch für einen Kritiker zu thun? Vielleicht nichts anderes als, mit schonender Hand das schöne Gesicht ein wenig von dem Russe des Räucherpulvers zu säubern, damit die Züge menschlicher und lebhafter hervortreten. Vielleicht auch noch, die Statue sorgfältig mit dem Originale zu vergleichen und auf eigene Hand eine Federzeichnung desselben zu entwerfen, wo die Bildsäule sich ungenau oder abstract zeigt. Jedenfalls bringe ich die angeborne Sympathie des Scandinaven, die Unparteilichkeit des Nichtschweden, und den ehrlichen Vorsatz des Kritikers mit, die Gestalt im scharfen Sonnenlichte der Wahrheit darstellen zu wollen. I. Esaias Tegnér stammt, wenige Generationen zurück, sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits von schwedischen Bauern ab. Wie so viele andere hervorragende Talente des Nordens, leitet er seinen Ursprung vom Bauern durch den Pfarrer her. Dies geschieht gewöhnlich in folgender Weise: der Grossvater pflügt mit eigener Hand seinen Acker, der Sohn zeigt Leselust und wird durch Entbehrungen der Eltern und Unterstützung guter Leute so weit gebracht, dass er Theologie studiren kann; denn der Pfarrer war Jahrhunderte lang dem Bauern unbedingt der Vertreter des gelehrten Standes. In diesem Sohne wird die kräftige, uncultivirte Bauernnatur der ersten groben Behauung unterworfen; der Prediger pflügt nicht mehr selbst seinen Acker, obwohl er den Anbau noch beaufsichtigt; der Prediger denkt schon, obwohl er seine letzten Resultate nicht durch den Gedanken erhält. Im Enkel oder Urenkel ist endlich der ursprüngliche Naturgrund so verfeinert, dass daraus das wissenschaftliche, technische oder poetische Talent hervorgeht. Ebenso hier. Der Vater Tegnér's war Pfarrer und seine Mutter Pfarrerstochter, und die beiden Geistlichen, von denen er stammt, waren Bauernkinder. Der vornehm klingende Name wurde gebildet, als der Vater Esaias Lucasson vom kleinen Dorfe Tegnaby in's lateinische Protokoll des Gymnasiums als Esaias Tegnerus eingeschrieben wurde. Dem Predigerhause erwuchsen bald Söhne und Töchter, und den 13. November 1782 wurde in Kyrkerud als fünfter Sohn des Hauses der später so berühmte Esaias geboren. Er war nur neun Jahre alt, als das Haus durch den Tod des Vaters aufgelöst wurde. Dieser hinterliess nichts, und die Wittwe, der die Zukunft ihrer sechs vaterlosen Kinder Sorgen genug verursachte, ergriff mit Freuden die sich ihr bietende Gelegenheit, ihren Jüngsten als Schreiber zu einem in der Nähe wohnenden angesehenen Beamten zu geben. Der Knabe lernte in dem Bureau des Hardevoigts Branting ausdauernden Fleiss im Schreiben und Rechnen, und was noch mehr werth war, der kleine Schreiber, der immer auf den langen Reisen mitgenommen wurde, die sein wackerer Principal als Steuereinnehmer in die Kreuz und Quer durch Wermland unternahm, lernte vom Wagen aus die malerische Naturschönheit der heimathlichen Gegend schon in dem frühen Alter kennen, wo alle Eindrücke am tiefsten sind. Obschon lebhaft und fleissig bei seiner Arbeit, war er häufig vergesslich und zerstreut in sein Buch oder in wache Träumereien verloren, oder er murmelte Monologe auf einsamen Wegen. Er las Poesien, Geschichtsbücher, vor allem Sagen, fand eine Sammlung solcher, die »Kämpadater« Björner's, und in dieser die Sage von Frithiof, dem Kühnen, welche gegen fünfundzwanzig Jahre in seiner Phantasie ruhte, ehe sie zu keimen begann. Diese zwei Eindrücke, von Schwedens Natur und von den alten nordischen Mythen und Sagen, waren nicht getrennt; sie schmolzen zusammen, glitten in seiner jungen Seele in einander über. Oft war's ihm, wenn er auf dem Rücksitze von Branting's Wagen zwischen waldbedeckten Bergen, durch tiefe Thalstrecken, längs der grossen Gewässer fuhr, die das Land durchströmen, als ob die Natur mit ihm um die Wette phantasirte. Romantische Landschaften gab's in den langen Sommertagen, wo Abend- und Morgenröthe in Eins zusammenflossen und der rosige Schimmer niemals vom Horizonte verschwand; altnordische Landschaften zur Winterzeit, wenn der Schnee hoch lag, wenn die Bächlein in langen Zapfen von den Felsen herunterhingen, und es dem Knaben vorkam, als sähe er im Mondlichte, das auf dem Schnee spielte, den Winter selbst in Person als eine ungeheuere Göttergestalt mit Schneegestöber im Bart und einem Kranz von Tannen auf dem Haupte. »Die schwedische Poesie«, sagt Tegnér irgendwo, »ist und bleibt eine Naturpoesie im eigentlichen Sinne des Wortes; denn sie liegt in unserer herrlichen Natur, in unseren Seen, Felsen und Wasserfällen«; und als er, kurz nach der Vollendung des Frithiof's den Ursprung des Gedichts erklären will, führt er selbst, ausser seiner frühen vertrauten Bekanntschaft mit den altnordischen Sagen, den Umstand an, dass er in einem entlegenen Bergbezirk geboren und erzogen war, »wo die Natur selbst in grossen, aber wilden Formen dichtet, und wo die alten Götter noch leibhaftig in den Winternächten umherwandeln«. -- »In solcher Umgebung«, fährt er fort, »völlig mir selbst überlassen, war es nicht sonderbar, dass ich eine gewisse Vorliebe für das Ungebändigte und Colossale fasste, welche mich nie vollständig verlassen hat«. Und nicht nur den Inhalt, sondern zugleich die Grundform seiner wie aller schwedischen Poesie hat Tegnér in reiferen Jahren auf Eindrücke der eigenartigen schwedischen Natur zurückzuführen gesucht. Er erstaunt über die ausschliessliche Vorliebe für das Lyrische bei seinem Volke, über dessen Neigung, die ganze poetische Welt in wenige Strophen zusammenzudrängen, und er fragt nach dem Grunde dieses Charakterzuges. »Liegt er nicht zum grossen Theile in der Natur selbst, die uns umgibt? Sind nicht die Gebirge mit ihren Thälern und Strömen die Lyrik der Natur, wie die mildere Ebene mit ihren ruhigen Flüssen ihr Epos ist? Viele unserer Berggegenden sind wirkliche Natur-Dithyramben, und der Mensch dichtet gern in derselben Tonart wie die Natur um ihn her«. Und, indem er mit Kühnheit die letzten Folgen seines Gedankens zu ziehen versucht, bricht er in die Fragen aus: »Geht nicht durch die ganze schwedische Geschichte ein lyrischer Zug? Sind nicht die hervorragendsten Vertreter unserer Nationaleigenthümlichkeit sowohl in älterer wie in neuerer Zeit eher lyrische als epische Charaktere? Er hat augenscheinlich an solche Geister wie Schwedens grösste Könige und grösste Feldherren und wohl nicht am wenigsten an sich selbst gedacht. Unzweifelhaft ist es, dass die Natur, die er um sich sah, ihn als Dichter weit mehr durch ihr phantastisches als durch ihr utilitarisches Element reizte. Ich sage mit Fleiss »als Dichter«; denn als Mensch hatte er ein gesundes, praktisches Interesse für die Nahrungsquellen und den Erwerb seines Volkes. Er hat aber nie das Volk in seinem Arbeiten mit der Natur als Stoff gemalt. Es kommt in seinen Werken kein Auftritt vor, der eine Vorstellung von der grossen Grubenarbeit gäbe, wodurch das schwedische Eisen an den Tag gebracht wird; er hat nie von dem abgehärteten Bergmann oder dem starken Schmied, nie von dem rauchenden, funkensprühenden Ofen in dem Schnee ein Bild gegeben; diese realistischen Eindrücke prallten von seiner romantischen (d. h. abstrahirenden und symbolisirenden) Phantasie zurück. Er sah nicht Schweden vor sich als die grosse Werkstatt der Nation; er sah Svea als Schildjungfrau, und das Eisen war ihm weniger die natürliche Reichthumsquelle des Landes als der breite Gürtel um ihr Mieder und das einst so starke Schwert in ihrer Hand. II. Sehr bald entdeckte man, dass der begabte Knabe Anlagen besass, die es als wünschenswerth erscheinen liessen, ihm eine höhere Bildung zu verschaffen als die, wozu das Bureau des Voigtes Gelegenheit bot. Ein Gespräch während einer der Wagenfahrten bei Abend, worüber der alte Mann in Erstaunen gerieth, gab, eigenthümlich genug, den ersten Stoss dazu, dass Schritte gethan wurden, Esaias in die gelehrte Laufbahn zu bringen. Der junge Esse, wie er genannt wurde, hatte die religiösen Betrachtungen seines frommen Chefs über die Spuren von Gottes Allmacht im klaren Sternenhimmel mit einer Erklärung der Bewegungsgesetze beantwortet, die er aus einer populärphilosophischen Schrift geschöpft hatte. Ein Instinct, der sich nie bei dem späteren Bischof verleugnete, liess ihn die rationelle Erklärung mit beiden Händen ergreifen und die theologische in all' den Fällen verwerfen, wo sie ihm überflüssig vorkam. Unter der Anleitung seines älteren Bruders wurde er jetzt in Latein, Griechisch und Französisch eingeweiht, und brachte sich selbst so viel Englisch bei, dass er den gerade damals auf der Höhe seines Ruhmes stehenden Ossian lesen konnte. Wie das Füllen dem Pferde folgt, so begleitete er den Bruder nach dessen verschiedenen Hauslehrerstellen, und in der letzten Familie, in welche dieser als Lehrer einzog, fand Esaias, vierzehn Jahre alt, in der jüngsten Tochter des Hauses seine zukünftige Gattin. Gleich so manchem andern aufgeweckten Knaben vermied er die lärmenden Spiele seiner Kameraden, sass am liebsten in seiner Kammer im Homer vertieft und musste mit Gewalt zu Schlittenpartien und zum Schlittschuhlaufen geholt werden, obwohl er durchaus kein ungeschickter Läufer war. Im Jahre 1799 bezog er die Universität in Lund, beschäftigte sich mit alten Sprachen, Philosophie und Aesthetik und wurde 1802 nach der pathetischen Sitte des Landes als Magister der Philosophie mit Lorbeeren bekränzt. Von 1802--1810 lebte er in Lund als wohlrenommirter junger Docent, 1810--25 hielt er stark besuchte Vorlesungen über die griechische Litteratur. Im Jahre 1812 wurde er nach schlechter schwedischer Sitte gleichzeitig Professor und Pfarrer einiger Kirchspiele in der Nähe Lunds; 1826 endlich verliess er die kleine Universitätsstadt, um als Bischof in die ländliche Einsamkeit hinaus nach Vexiö zu ziehen. Richten wir einen Blick auf den jungen Magister zu Lund. Er sieht gut aus, blauäugig, rothwangig, mit hellen, krausen Haaren, kräftig gebaut, mit Anlage zum Starkwerden. Als Junggeselle ist er noch ein zurückgezogener, einsam lebender Grübler und Träumer; doch sobald er den Fuss unter eigenen Tisch gesetzt hat, erschliesst sich sein Geist und er zeigt sich als eine lebensfrohe, sprudelnde, im höchsten Grade gesellige Natur. Ein Kind der Welt, das einen guten Tisch und einen edlen Wein zu würdigen versteht, ein leicht zündender und keineswegs seraphischer Apollino, Verehrer aller weiblichen Schönheit; ein nicht brennender, sondern funkelnder Geist mit überlegenem und übermüthigem Witze, um seine conventionelle Würde ziemlich unbesorgt, aber darum nicht weniger verstehend, das Souveräne in seiner Persönlichkeit stolz zu behaupten: dies ist die Seite, die er der Aussenwelt zukehrt. Hinter dieser Aeusserlichkeit verbergen sich seine tieferen Anlagen. Diese sind theils dichterischer, theils oratorischer Natur: eine eigenthümliche lyrische Begeisterung und eine eigenthümliche stilistische Begabung. III. Die lyrische Begeisterung Tegnér's offenbart sich früh als ein angeborener Hang zum Enthusiasmus für alles, was sich stark vom grauen und prosaischen Hintergrund des Alltagslebens abhebt; alle persönlichen Grossthaten, alle leuchtende Ehre, möge sie wie auch immer gewonnen sein: er wird von ihrem Strahlenglanz angezogen und schwärmt selbst für ihren Flitter. Eine starke Verehrung vor den grossen Namen der Geschichte, eine entschiedene Unlust, herabsetzende Verstandeskritik an einmal erworbenen Ruhm anzulegen, bildet einen der tiefsten und unveränderlichsten Züge seines Charakters. Es ist die ungewöhnliche Steigerung dieser Grundneigung, die ihn zum Dichten bringt; ja, sie ist es, die ihn zum Dichter macht. Um aber diese Neigung besser zu verstehen, müssen wir zu den Quellen seiner Begeisterung zurückgehen, prüfen, welche Ideale er sucht, vorfindet oder formt, sehen, in welcher Art von inneren Spiegelbildern er die Natureigenthümlichkeiten oder geistigen Eigenschaften darstellt, die dem Besten in ihm selbst entsprechen. Er träumt nicht wie Oehlenschläger von einer Aladdinsgestalt; dazu ist er weder naiv noch verwegen genug. Eben so wenig spiegelt er sich in einem Hamlet oder Faust; die Helden des Zweifels und des Gedankens sind viel zu abstract für seine kräftige Knabenphantasie; sie träumt von handfesteren Idealen. Noch weniger sammeln sich seine Vorstellungen um einen Manfredtypus; die Schuld lockt ihn nicht, und das Geheimnissvolle hat für seine offene Natur keinen Reiz. In idyllischen Verhältnissen und unter allgemeinem Wohlwollen in der kleinen Stadt, die er selbst »ein akademisches Dorf« genannt hat, erzogen und entwickelt, konnte er schliesslich in dem weltbürgerlichen Posa-Pathos des lange unterdrückten Schiller's unmöglich sich ergehen. Das Ideal, das sich langsam in seinem Gemüthe bildet, ist ein nationales und nordisch-romantisches Ideal. Es ist ein lichtes Bild offener, vorwärts stürmender und umformender Kraft, halb kriegerischer, halb civilisatorischer Art. Es nimmt alle die Gestalten an, die Tegnér im Laufe der Jahre mit Vorliebe gezeichnet hat. Er hat z. B. in einer Universitätsrede Luther zu charakterisiren. Um dies zu thun, stellt er ihn unter den Gesichtspunkt, von welchem aus er die Männer der That zu betrachten pflegt. Zuerst hebt er hervor, dass Luther Allem, was er sprach und ausführte, den Stempel »übersprudelnder Kraft« aufdrückte: »Es lag etwas _Ritterliches_, ja ich kann fast sagen _Abenteuerliches_ in seinem Wesen, in seinem ganzen Unternehmen .... Seine That war wie eine ganze, sein Wort wie eine angefangene _Feldschlacht_. Er war eine der gewaltigen Seelen, die wie gewisse Bäume nur im Sturme blühen. Sein grosses, _wunderreiches_ Leben kam mir immer vor wie ein _Heldengedicht_ mit seinen Kämpfen und seinem endlichen Sieg«. Man fühlt um so stärker die Natur des Redners aus dieser so einseitigen Charakteristik des vielseitigen Gegenstandes heraus, wenn man bemerkt, dass Tegnér hier Grundbestimmungen gegeben hat, die er einige Jahre später mit leicht veränderten Eigenschaften fast Wort für Wort auf eine von Luther so verschiedene Persönlichkeit wie König Gustav III. von Schweden anwenden kann. Es bedarf kaum eines Beweises, dass es zwischen dem derben sächsischen Reformator und dem theatralischen, gallisirten und ungläubigen Monarchen kein anderes Band gab, als das, welches Tegnér's Bewunderung für beide schuf. Tegnér sagt von Gustav: »Er hatte in seinem Wesen nicht nur etwas Grosses, sondern zugleich etwas _Ritterliches_; die hohe _Heldenkraft_ zeigte sich bei ihm nicht mit Schild und Schwert, sondern im leichtesten Gewande der Anmuth. Er war ein grosses _romantisches Heldengedicht_ mit dessen _Abenteuern_ und Verzauberungen, aber zugleich mit den zärtlichsten Ergüssen des Herzens und den üppigsten Spielen der Freude«. Grösse, Kraft und abenteuerliche Romantik sind also die gemeinsamen Grundbestimmungen für Luther und Gustav; beide sind sie Ritter, und beider Leben kommt Tegnér wie ein romantisches Heldengedicht vor. Was konnte er anderes und mehr über _Frithiof_ sagen; was hat er anderes in Wirklichkeit darüber gesagt, als er in seiner Selbstcharakteristik auf das Lebensfrische, Trotzige, Uebermüthige dieses Helden und dieses Heldengedichtes hinwies! Hier haben wir also die tiefste, festeste Grundlage, auf welcher seine Vorstellungen vom heroischen Ideale sich allmälig ablagern. Es finden sich einige jugendlich unschuldige Oden aus dem sechzehnten Jahre Tegnér's, bei Gelegenheit des Gerüchtes von Bonaparte's Tod in Aegypten verfasst. Er verherrlicht in ihnen Bonaparte als den Helden der Freiheit, dessen Ehre nicht durch Blut und Thränen erkauft ist, der aber Aufklärung und Glückseligkeit der ganzen Welt bringen wird. Es ist ein Echo der Refrains der Humanitätsperiode, das von diesen Kinderlippen klingt. Sie rufen Napoleon ein kategorisches: »Lebe für die Menschheit oder falle!« zu. Der erwachsene Mann denkt darüber anders. In der grossen religiös-politisch-litterarischen Reaction gegen das Aufklärungszeitalter war die anti-gallische Hauptströmung, die Walter Scott und Oehlenschläger gewann, Tegnér völlig zuwider. Die Reaction schlug aber eine ästhetische Saite an, die mit seinem Naturell übereinstimmte. Das war ihre Geringschätzung des Nutzens als Massstab für den Werth der That. Die auf die Spitze getriebene Nützlichkeitslehre und die damit verbundene Menschenliebe hatte sich ja gegen den Begriff des Ritterlichen und Abenteuerlichen gewandt. »Der alte, ritterliche Traum«, sagt Tegnér, »von der Ehre der Völker wurde entweder geradeaus für ein Hirngespinnst erklärt, oder Ehre und ökonomischer Wohlstand als identisch betrachtet. In der Geschichte wurde alles wie in einem Geschäftsbureau nach dem, was es eintrug, berechnet, und ein Spinnhaus oder eine Dreschmaschine höher geschätzt, als Alexander's abenteuerlicher Zug nach Indien oder die unnützen Siege Karl's XII.«. Er übertreibt nicht; der arme Alexander der Grosse war in Schweden von einem begeisterten Aufklärer weit unter jenen Wohlthäter der Menschheit gestellt worden, der die billige und nahrhafte Braunschweiger Mumme erfand. Die jugendliche Vorstellung Tegnér's vom tugendhaften, nützlichen Helden wurde jetzt polemisch geändert und in Uebereinstimmung gebracht mit der Einsprache der ganzen romantischen Geistesrichtung gegen die philiströse Sorge für menschliches Wohl als eine Hauptsache. Die moralische Betrachtung musste der romantisch-metaphysischen Vergötterung des Schicksalshelden weichen. Der Weltgeist allein war verantwortlich. Was doch schmäht ihr mich ohn' Ende, Ihr, des Augenblickes Scharen, Willenlos, der Kraft beraubt? Fangt den Schmetterling behende, Aber lasst den Adler fahren Frei um seiner Berge Haupt! Fragt der Donner, hergeschicket, Fragt der Sturmwind, dessen Sausen Rings die Erde hat gehört, Ob auch Lilien sind zerknicket, Ob im grünen Hain das Brausen Auch ein liebend Paar gestört? So heisst es im Gedicht »Der Held« (Mohnike's Uebersetzung) 1813. Diese Ansicht ist zwar weit entfernt, die endgültige Tegnér's zu sein. Gewohnt, wie er war, zum Persönlichen wie zur höchsten Form des Daseins emporzusehen, konnte er nur gelegentlich und halbwegs aus Trotz sich pantheistisch ausdrücken wie hier. Und als ein bewusst reflectirender Geist war er eher geneigt, an das Unbewusste nicht zu glauben als es zu überschätzen; so hat er z. B. eine Menge polemischer Ausfälle gegen die Lehre von einer blinden poetischen Inspiration gerichtet; so tiefe Wurzel hatte aber die Vorliebe für ein kriegerisches, sturm- und donnerartiges Vorwärtsstürmen in seinem Gemüth geschlagen, dass er nicht davor zurückscheute, ihr jenen verwegenen Ausdruck zu geben. Noch stärker als in den verschiedenen Gedichten zur Ehre Napoleons spricht sich die Verachtung der materiellen Ausbeute als Resultat der Heldenthaten im Gedichte »Alexander am Hydaspes« aus. Tegnér hat den Augenblick gewählt, als die erschöpften und ängstlichen Truppen den grossen Alexander anrufen, sie nicht tiefer in Asien hineinzuführen, sondern den Heereszug zurück nach der Heimath zu leiten. Der König antwortet höhnend: »Glaubt Ihr, dass ich als Jüngling von Macedoniens Gebirgen herunterstieg, um Euch Gold und Purpurgewänder zu verschaffen? Ehre such' ich, nur Ehre und weiter nichts!« -- eine Antwort, die an Schärfe und Präcision nichts zu wünschen übrig lässt. Die Geringschätzung von Menschenleben und Menschenglück wird bei dem hochbegabten und unverzagten Gewaltherrscher als unbedingt berechtigt dargestellt. Daher begreift man leicht, dass Karl XII., die zugleich verrückteste und imposanteste Gestalt unter den Königen Schwedens, ein Held ohne Fehl für Tegnér werden konnte. Er legt ihm kaum zur Last, dass er mit all' seinen glänzenden Eigenschaften Schweden so tief von dessen europäischer Grossmachtshöhe hinabstürzte, dass es sich nie wieder zu erheben vermocht hat. Es war kein Zufall, dass Tegnér unter allen schwedischen Dichtern derjenige wurde, welcher das schöne Gedicht über den König schrieb, das, obwohl nur als Gelegenheitsgedicht verfasst, der Nationalgesang Schwedens geblieben ist. Das unnütze Sich-in-Gefahren-stürzen lockte immer seine Phantasie; die Halsstarrigkeit, die, mit dem Blicke auf ein selbstgeschriebenes Gesetzbuch der Ehre geheftet, klug zu handeln verachtet, war in seinen Augen kaum ein Fehler, und die Gleichgültigkeit dafür, ob die That zum Siege oder zum Verderben führe, wenn sie nur leuchtet und lärmt, nach seiner Vorstellung eher eine Tugend: Nordens Kraft ist Trotz, und Fallen Gilt als Siegesruhm uns allen lässt er in seinem Epos »Gerda« den Bischof Absalon sagen. Die Umsicht des Staatsmannes und des Gesetzgebers begeisterte ihn nicht: aber er liebte den königlichen Jüngling »vor dessen Wort des Staatsmanns Netze zerrissen« (Tegnér's »Karl XII.«); die lange voraus erwogenen Pläne des Feldherrn schienen ihm nicht das rechte Zeugniss des kriegerischen Genies; aber er bewunderte über alle Massen die augenblickliche Eingebung auf dem Schlachtfelde und den ungestümen Muth, der ihr folgt. Man sieht es, wo Tegnér eine von Karl XII. so verschiedene und ihm so überlegene Grösse wie den Retter des Protestantismus, Gustav Adolf, schildert. Was er an ihm preist, sind nicht so sehr seine Verdienste als Politiker und Heerführer, als vielmehr die Eigenschaften, die ihn so viel wie möglich in Eine Reihe mit einem Soldatengeneral wie Karl XII. stellen. Er verweilt mit Begeisterung bei »den plötzlichen und blitzartigen Einfällen auf dem Schlachtfelde«, die ihn »wie jedes andere kriegerische Genie« auszeichneten. Er lobt Gustav, dass er die Gefahr um ihrer selbst wegen liebte, und sich freute, mit dem Tode zu spielen. Kurz, er hält den engen altnordischen Massstab der Männlichkeit fest und strebt ihn sogar in den Fällen anzulegen, wo er von der wirklichen Grösse weit überragt wird. Er betrachtet es z. B. halbwegs als schmählich für Wallenstein, dass er (aus guten Gründen) der Schlacht auswich, die Gustav, »sein ritterlicher Gegner« ihm bei Nürnberg anbot. Was nun diesem Tegnér'schen Ideale die letzte Retouche gibt, das ist die Offenheit, die er von seinem Helden verlangt. Seine eigene, ehrliche und derbe Natur spiegelt sich darin ab. Von Wallenstein sagt er, dass man ihn einen grossen Mann genannt haben würde, »wenn er edel und _offen_ gewesen wäre«. Edelmuth ist nicht genug, Offenheit wird nicht weniger gefordert. Die alten nordischen Berserker warfen in ihrer kriegerischen Hitze die Schilder auf den Rücken; Tegnér findet an dieser Kampfesweise so viel Gefallen, dass er sie auch auf das geistige Feld gern überführt sieht. Ja, die Offenheit scheint ihm sogar eine Art Bürgschaft für die edle Denkweise und liegt ihm mehr am Herzen als jene; denn in der herabsetzenden Charakteristik, die er von Wallenstein gibt, betont er am stärksten sein düsteres, zugeknöpftes Wesen, ohne ihm eigentlich unedle Züge vorzuwerfen. Ihm gegenüber stellt er dann Gustav Adolf auf als die lichte und freimüthige Natur, mit einer Offenheit ausgestattet, die unzweifelhafter bei Tegnér als bei dem in der Regel verschlossenen und wenig zugänglichen König war. So empfängt jede Gestalt, die Tegnér besingt oder schildert, einen kleinen Druck, der sie in die Form des ihm vorschwebenden Heldenideals hineinpresst. IV. Innig mit der lyrischen Begeisterung bei Tegnér vereinigt ist nun die ergänzende Fähigkeit, die ihn witzig im geselligen Verkehr, glücklich im Epigramm und Impromptu, hervorragend als Professor, ausgezeichnet als Briefschreiber, Redner und Prediger macht, und gross vor allem in der versificirten, dichterisch bewegten und geformten Rede; eine Fähigkeit, die nicht ohne Weiteres eine Anlage zur Rhetorik genannt werden kann, aber die ich vorläufig, wenn auch nur undeutlich, als das Geistreiche bei ihm bezeichnen möchte. Sein Geist war nicht der französische Esprit. Dieser ist in seiner eigenthümlichsten Form bei Voltaire reiner, bildloser Verstand. Der Geist Tegnér's erging sich dagegen fortwährend in Bilder. Er dachte in Bildern, desshalb sprach er in Bildern. Die Gabe des abstracten Denkens fehlte ihm, ja ging ihm so vollständig ab, dass er nicht einmal bei andern an ihre Resultate glaubte: die Metaphysik war ihm ein Greuel als Hirngespinnst, dessen Fäden er nicht zu unterscheiden vermochte, die Dogmatik war sein Schrecken als ein Bündel Absurditäten, aus denen er nichts Verständliches herausfinden könne. Und er hatte einen guten, gesunden, selbstvertrauensvollen Verstand, der instinctiv alle Dunkelheit des Denkens und der Rede verabscheute. Er hatte einen so lebhaften Trieb, sich alles, was er dachte und fühlte, anschaulich zu machen, dass unaufhörlich Bild auf Bild sich bei ihm drängte. Dies war es, was seiner Rede das elektrisch Funkelnde und Blitzende gab, von welchem die Zeitgenossen so stark ergriffen wurden; was seinen Briefstil so unterhaltend machte und unwillige Kritiker veranlasste, seine Dichtungen mit prachtvoll bunten, inhaltslosen Seifenblasen zu vergleichen; dies endlich machte ihn witzig, denn es giebt eine Art von Witz, die auf dem neuen, überraschenden Aufeinanderplatzen der Bilder beruht. Dies Geistreiche möchte ich die Fruchtbarkeit der Form bei ihm nennen. Er hat wenig geschrieben, nie einen poetischen Inhalt erfunden. Aber die Stimmung, in welche die geistige Productivität ihn versetzte, sprosste und blühte jeden Augenblick; sie konnte nur ausnahmsweise grosse, durchgeführte Gestalten oder einfache, von wenigen Hauptlinien geformte Bilder entwerfen, aber sie brachte unaufhörlich Miniaturbilder hervor, die antithetisch oder contrastirend gegen einander standen, in einander überglitten, vereinigt wurden und sich verpflanzten. Revolverartig war sein Gemüth mit Einfällen geladen, und sie folgten sich Schuss auf Schuss gegen denselben Punkt gerichtet, treffend, aber einander verdrängend. Der Gedanke und das Bild waren in seinem Gemüthe nicht getrennt; sie wurden auch nicht zusammengesucht, wie seine Gegner es geglaubt und behauptet haben. Und doch waren sie nicht wie bei den grössten Dichtern ohne weiteres Eins. In seiner Einbildungskraft verhielt sich der Gedanke zum Bilde ungefähr, wie sich die Anfangsbuchstaben in alten Mönchsmanuscripten zu den Miniaturmalereien verhalten, welche mit ihnen verflochten und um sie herum ausgeführt sind. Man denke sich eine Handschrift, in welcher nicht nur einzelne, sondern die überwiegende Mehrzahl von Hauptschriftzeichen auf solche Weise malerisch verziert sind, und man wird eine Art Vorstellung von den Reihen übereinstimmender Ideen- und Bilderassociationen erhalten, welche Tegnér's Gehirn unaufhörlich erzeugte. Oder man erinnere sich einer jener Statuetten aus der beginnenden italienischen Renaissance, wo der Künstler zu seinem Vergnügen am grösseren Standbild kleine Bilder ausgeführt hat, wo er z. B. auf dem von Goliath's Haupt gefallenen Helm, welcher vor den Füssen David's liegt, ein kleines Basrelief von einer Quadriga im Galopp ciselirt hat, das zwar einen Theil des Ganzen bildet, aber durch den losen Zusammenhang damit und durch den selbständigen Anspruch auf Beachtung das Interesse zersplittert. Man denke sich ein dichterisches Gemüth, in welchem die Vorstellungen solche kleine Basreliefs bilden, und einen Vortrag, der diese noch obendrein colorirt, so macht man sich eine annähernd richtige Idee von der Weise Tegnér's, seine dichterischen Motive auszuführen. Sein Stil ist eine Art chromatischer Architektur und Sculptur und hat die anziehenden und abstossenden Eigenschaften derselben. Die farbige Bildhauerkunst kommt in unseren Tagen manchem barbarisch vor, und doch haben die Griechen sie angewandt und nie ganz aufgegeben. Sie kann nicht ungriechisch genannt werden und erscheint doch vielen jetzt Lebenden geschmacklos und veraltet. Die Gedichte und Reden, in welchen Tegnér's eigenthümliche Manier am stärksten und deutlichsten hervortritt, könnte man mit jenen griechischen oder römischen Statuen vergleichen, die eben so wohl durch äussere Pracht wie durch ideelle Schönheit wirkten. Die Göttin hatte goldene Ketten um den Hals, schöne lange Schleier und Ohrringe; sie besass einen völligen Kleidervorrath und einen vollständigen Juwelenschrein. Ebenso haben bei Tegnér der Goldschmied und der Künstler zusammen gearbeitet. Oft mit Erfolg, und das Resultat ist ein anziehendes Ganzes geworden, das nur ein Pedant oder Doctrinär verwerfen könnte. Nicht selten jedoch so, dass das Resultat eine recht starke Uebertreibung geworden ist. Ein Schriftsteller der damaligen Zeit (der witzige Palmär) tadelte dies einmal mit Worten, die in das Gleichniss, das ich eben gebrauchte, hineinpassen: »Grüsse deine Muse«, sagt er, »und bitte sie, sich nicht mit Metaphern zu überlasten, wie sie es pflegt. Diese Juwelen müssen, selbst wenn sie echt sind, mit Mass getragen werden. Lass sie sich die Schmucksachen um den Hals anlegen, in die Ohren und an die Finger, wenn du willst, aber -- an die Zehe -- pfui Teufel!« Ich kann mich genauer durch Beispiele erklären. Maria in »Axel« beschliesst, dem russischen Heere verkleidet als Soldat zu folgen: Ein Kriegerhut Verbirgt der schwarzen Locken Fluth. Den Busen eng ein Koller hüllet, Pulver und Blei den Ränzel füllet, Und um die Schulter hängt sie her _Des Todes Sehrohr_, ein Gewehr. Der Ausdruck »des Todes Sehrohr« für den Büchsenlauf ist malerisch und insofern nicht übel; aber das Bild gehört nichts desto weniger eigentlich nicht hier her; es hat nicht nur nichts mit Maria's Gestalt zu thun, sondern es entspricht ausserdem nur einem Gewehr im allgemeinen, nicht dem Gewehr, das um ihre Schulter hängt; denn dieses würde kaum einen Schweden tödten. Auf mich wirkt dieses Bild, als sähe ich am Rande des Textes eine sorgfältig ausgeführte Miniatur von dem unheimlichen Gerippe, das mit der Hand, welche die Sense frei gelassen hat, zielend die Büchse an's Auge legt. In den »Abendmahlskindern« bittet der alte Pfarrer seine Confirmanden, Gebet und Unschuld zu Führern ihres Lebens zu wählen. Beide werden sofort mit ein paar Strichen personificirt, und dann wird das Bild zu einem kleinen biblischen Relief ausciselirt, der Art wie man sie in Italien an den Broncethüren von Kirchen und Baptisterien sieht: Unschuld, Kinder, sie ist ein Gast aus seligern Welten, Schön mit der Lilj' in der Hand -- auf den brausenden Wellen des Lebens Schwankt sie getrost, sie bemerket sie nicht, sie schlummert im Schiffe. Oder man nehme ein Beispiel aus Tegnér's Briefstil. Er eifert (1817) gegen die europäische Reaction: »Blick' auf die Zeichen der Zeit gen Nord und Süd! Weisst du eine Niedrigkeit, eine Barbarei, ein wahnsinniges Vorurtheil, dessen Wiedergeburt sie nicht verheissen? Die Schlange der Zeit häutet sich oft; aber widerwärtiger als jetzt, gerade jetzt, war sie nie, so weit die Geschichte zurückgeht, zischte sie auch lauter Psalme, und wäre ihr Rücken auch mit Bibelsprüchen so übermalt wie ein Grabstein«. Liegt nicht in diesem energischen, aber vollkommen unaffectirten Streben nach Anschaulichkeit etwas, was an chromatische Sculptur erinnert? Erblickt man nicht förmlich die Schlange der Zeit vor sich mit rothen Conturen, und nimmt sich nicht ihr mit wunderlichen Ziffern bedeckter Rücken aus wie das Bild eines mit Hieroglyphen oder Keilinschriften bedeckten Gottes in Thiergestalt an einer ägyptischen oder assyrischen Wand? Und wenn man endlich die Gleichnisse liest, mit welchen Tegnér in »Frithiof« Frauenschönheit zu malen versucht, versteht man dann nicht, warum ich an den harten Metallglanz der Farben an einem antiken Idol erinnerte? O wie doch Gerda's Wange lacht, _Gleich frischen Schnee in Nordscheinpracht_. Ich kenne Wangen, wenn sie blühen, _Zugleich zwei Morgenröthen glühen_. Es wäre ungerecht, diese letzte Strophe als angemessenes Beispiel von Tegnér's malerischem Verfahren anzuführen; aber es liegt auch darin etwas Typisches. Die meisten der Gleichnisse, welche die Phantasie Tegnér's hervorbringt, kommen mir durch ihren, die Natur weit überschreitenden Glanz ungefähr so vor, wie das Bild, das er seine Ingeborg von Frithiof's Falken weben lässt: Ihm auf der Hand Wirk' ich dich hier in des Teppiches Rand, _Silbern_ die Schwingen zu schauen, _Golden_ die Klauen. Etwas Conventionelles und Steifes lässt sich bei einer Vorliebe dieser Art schwerlich vermeiden. Die Neigung, jeden Begriff in ein Bild zu verwandeln, verleitet in nichtinspirirten Augenblicken Tegnér zum gewohnheitsmässigen Benutzen einmal angewandter Gleichnisse, die dann fast stereotyp zurückkehren. So hat er (um nur bei den Vögeln zu bleiben) ein paar Vogelgestalten, welche er unermüdlich anbringt: den Adler, die Nachtigall, die Taube. Sie stehen als Aequivalente für Kraft, Poesie und Frömmigkeit. Der Adler hat, so verwendet, bei Tegnér nicht mehr von der Natur des wirklichen Adlers behalten, als die Adler, welche fürstliche Wappen schmücken; Tegnér's Adler ist ein rein heraldischer. Man kann in seinen Gedichten Zeilen finden wie diese: »Die arme Psyche, wie sie auch fliegt, ist auf der Erde ein Adler mit Schmetterlingsflügeln«, oder Gleichnisse wie folgende von einer schön singenden Dame: »Sie hatte eine Nachtigall im Halse, und eine schneeweisse Taube sass Nacht und Tag in ihrem Herzen«. Ein Adler mit Schmetterlingsflügeln ist ein zu naturwidriges Geschöpf, und wenn die Nachtigall in einem weiblichen Halse fest angebracht wird, trägt sie nicht eben dazu bei, die Anschaulichkeit zu vermehren. Er hat selbst in seiner Antrittsrede als Mitglied der schwedischen Akademie die Bildersprache vertheidigt. Er betont den Zweck der Poesie, der Einbildungskraft Erscheinungen, nicht Begriffe, zu bieten, und das Wesen der Sprache, eine Gallerie verblichener Bilder zu sein, welche der Dichter nothwendig auffrischen muss. Er hat hierin durchaus nicht Unrecht, hätte sich aber zu Herzen nehmen sollen, was die griechische Dichterin Corinna einst zu Pindar sagte, das grundhellenische Wort, »dass man mit der Hand und nicht mit dem Sacke säen solle«. Zum Glück für ihn war der Grundmangel seiner schöpferischen Begabung, die eigenthümliche Mischung von Armuth und Verschwendung so populärer Natur, dass sie in seinem Lande und zu seiner Zeit ihm den Weg zum Ruhm eher ebnete als versperrte. V. Tegnér wurde um die Mitte von Gustav's III. Regierungszeit geboren. Der Königsmord wurde begangen, als er zehn Jahre alt war; er, der in späteren Jahren sich so gern einen Gustavianer nannte, hatte folglich nur Kindheitserinnerungen von jenem Zeitalter und keine anderen persönlichen Eindrücke von Gustav's Wesen, als die aus zweiter Hand durch eine verschönernde oder idealisirende Legende. Und selbst einer solchen bedurfte es kaum, um jene Periode als eine Glanzzeit erscheinen zu lassen im Vergleich mit der bleiernen Zeit, die ihr folgte. Gustav III. war eine energische Persönlichkeit, mit ausgezeichneten Anlagen, ungewöhnlichen Tugenden und glänzenden Lastern; ein eitler Despot, aber ein aufgeklärter Geist, einer der vielen gekrönten Voltairianer des 18. Jahrhunderts, abergläubisch und freidenkerisch, frivol und geistreich, in kleinen Sachen kleinlich, aber mit Zügen wahrer Grösse, tapfer, grossmüthig, ein Theaterheld mit wirklichem Muth in der Brust. Er zog sein Leben lang durch die Magie seines Geistes alle litterarisch begabten Männer seines Landes an, besonders die Dichter, welche in ihm einen Collegen sahen; keiner von ihnen konnte sich einer so ausgeprägt dramatischen Begabung rühmen, als er sie besass. So kam es, dass er auf lange Zeit den Sitten, den Gesprächsformen, der Litteratur das Gepräge der feingebildeten, leichtfrivolen Bildung aufdrückte, und es ist der Conversationston aus seinen Tagen, der noch unter Karl Johann den Briefen Tegnér's ihre Anmuth und ihren Schwung verleiht. Seine Gestalt war in der Geschichte stehen geblieben, wie eine tüchtige Statue von Bernini; manierirt, coquett, affectirt, wenn man so will, mit windig brausendem Faltenwurf, aber die Haltung war kühn und der Eindruck bedeutend; das konnte man nicht leugnen, wie wenig die Figur auch einem zusagen möchte. Und was war nach ihm gekommen? Zuerst die Vormundsregierung unter dem Bruder Gustav's, dem Herzog von Södermanland, die den Zeitraum von Tegnér's zehntem bis zu seinem vierzehnten Jahre umfasst. Der Regent, ein im Dienste der Venus früh ergrauter Schwachkopf, zur Beute jeder Phryne und jedes Cagliostro geschaffen, wurde von seinem Günstlinge Reuterholm, dem Typus brutaler und unfähiger Herrschsucht, vollständig beherrscht. Nicht aus Freiheitsliebe, sondern um indirekt einen Tadel gegen den ermordeten König auszusprechen, führten diese gedankenlosen Männer Pressfreiheit in Schweden ein, und ohne Vorbereitung oder Uebergang strömten nun alle die Brandschriften der Revolutionszeit in das Land hinein. Auf die lange Unwissenheit über das, was in Frankreich und Europa vor sich ging, folgte jetzt ein empörter und unreifer Freiheitsenthusiasmus. Unter Gustav war das Wort Republikaner noch mit dem Worte Philosoph gleichbedeutend gewesen, und ein Hofmann, wie Rosenstein, konnte noch im Jahre 1789 dem König seinen Neffen mit den Worten empfehlen, dass der junge Mann zwar von der republikanischen Denkart angesteckt sei, dass aber diese, innerhalb der gebührenden Grenzen gehalten, »die Liebe zum _König_, zum Vaterland und zur Ehre nur steigere«. Jetzt erhielt das Wort, der Erbärmlichkeit auf dem Throne gegenüber, einen genaueren Sinn. Mit Spannung folgte man dem Vertheidigungskriege der französischen Republik; ihr Sieg war für die öffentliche Stimmung entscheidend; die friedlichen Kleinstädter Schwedens sprachen im selben Tone wie die äusserste Linke des französischen Convents. Kaum war das Unglück geschehen, als das ein halbes Jahr früher mit so viel falschem Pathos erlassene Pressfreiheitsgesetz aufgehoben, und durch ganz Schweden Jagd auf den Jacobinismus gemacht wurde; selbst die loyale schwedische Akademie wurde, weil sie den völlig ungebildeten Günstling des Regenten bei der Wahl überging, als Jacobinerclub behandelt und geschlossen. Eine Niedrigkeit der schlimmsten Art liess die Verachtung ihren höchsten Grad erreichen. Die Verschwörung Armfelt's, des schwedischen Alkibiades, war entdeckt worden, und der Herzog-Regent versuchte bei dieser Gelegenheit das junge schöne Fräulein Rudenskjöld, eine der Zierden des Hofes, für die Hartnäckigkeit grausam büssen zu lassen, mit welcher sie die galanten Anträge des bejahrten, verheiratheten Lüstlings abgewiesen hatte. Aufgefangene Briefe lieferten den Beweis, dass sie Armfelt's Geliebte gewesen, sie wurde verhaftet und der Mitschuld angeklagt; als aber der Herzog durch seinen Kanzler gerichtlich beanspruchte, dass sie wegen Unsittlichkeit auf öffentlichem Markte gepeitscht werden sollte, drückte ihm die Erbitterung des Volkes ein so tiefes Brandmal auf, dass weder die Zeit es tilgen, noch die weissen Haare des Alters es decken, ja nicht einmal die, aus Klugheit sohnliche, Haltung Bernadotte's dem späteren Carl XIII. gegenüber, es in Vergessenheit bringen konnte. Während all' dieses sich ereignete, war Tegnér noch zu jung, um es miterleben oder verstehen zu können. Aber die Nachwirkungen in seinem Gemüthe waren tief und stark. Kein entlegener Winkel auf dem Lande lag so fern, dass nicht Funken vom Revolutionskrater dahin stoben; kein aufgeweckter Junge ging in dem Masse in seine Lectionen auf, dass er nicht Ausbrüche von Verachtung über Hof und Regierung hörte und sich das Seine dabei dachte. Die verfolgte »Aufklärung« wurde ein magisches, ein theures Wort für den Jüngling. Die schwedische Akademie, die unter anderen Umständen leicht ein Gegenstand seines Unwillens hätte werden können, schon als Akademie, als officielle und altmodische Vergoldungsanstalt der Mittelmässigkeit, erschien ihm früh ehrwürdig schön, als eine Ritterwacht des Lichts, die einmal ihre Probe bestanden hatte. Der herrschende Revolutionsgeist, der Tegnér's harmonische Seele nicht hinzureissen vermochte, leitete ihn zum bedingten Royalismus, der sich überall in seinen Schriften kundgibt. Er war königlich gesinnt, wenn der König des Thrones würdig war, sonst nicht. Im Jahre 1796 war die vormundschaftliche Regierung zu Ende, und von da bis 1809 (d. h. von Tegnér's vierzehntem bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre) folgte als König Gustav IV. Adolf. Pedantisch-ehrbar, steif-ernst, streng-sparsam, wie er war, musste er bei seinem ersten Auftreten einen wohlthuenden Gegensatz zu seinem Oheim bilden. Aber bald zeigte es sich, dass diese junge Erscheinung völlig unnational war. Es war eher eine spanische, als eine schwedische Physiognomie. Gustav IV. hat einen hohen Grad von Aehnlichkeit mit dem Typus spanischer Decadence-Regenten, deren Wesen sich nach dem grossen, traurigen Schatten Philipp's II. formte, der so lange nach seinem Tode noch immer Madrid beherrschte. Dasselbe kleinliche Hangen an der Etiquette, derselbe düstere Hochmuth, dieselbe linkische Steifheit, die gleiche melancholische Religiosität unter fanatischem Glauben an das Königthum von Gottes Gnaden. Der Hof, der zehn Jahre früher sich wie ein festliches Gemälde von Watteau ausgenommen hatte, war nun so still und ceremoniell, wie der spanische unter Carl II., und der grosse Philipp selbst konnte ein Vergehen gegen die Majestät nicht strenger bestrafen, als Gustav die Schuld, auf der Strasse den Hut nicht vor ihm abgezogen zu haben. Er hatte an Rosenstein einen freisinnigen und vortrefflichen Erzieher gehabt. Gustav III. liess den ehrenhaften Lehrer walten. »Rosenstein«, sagte er, »mag immerhin meinen Sohn zum Philosophen erziehen; er wird schon Royalist, sobald er König wird«. Der Vater that selbstverständlich nichts dafür, ihm den hartnäckigen Offenbarungsglauben beizubringen, der ihn Prophezeiungen über sein Schicksal in der Apokalypse lesen liess. Aber die Reaction, die bei dem Wechsel des Jahrhunderts überall in der Luft lag, kam wie auf Schleichwegen und umspannte das Gemüth des Kronprinzen. Die Frivolität des Vaters hat wohl abschreckend gewirkt und den ersten Stoss nach rückwärts gegeben; die Ermordung des Vaters gab den zweiten. Bald ging er in majestätischem Selbstgefühl weiter, als irgend ein Bourbon. Er verbot den Zeitungen das Pronomen »Wir« in solchen Wendungen zu gebrauchen wie: »Wir erwarten mit Ungeduld Nachrichten, wir haben hier strengen Winter«, weil dieses ihm wie ein Eingriff vorkam in jenes königliche Prärogativ, welches »Pluralis majestatis« genannt wird. Er liess alle erscheinenden Schriften auf's genaueste untersuchen und hegte persönlich einen so grossen Abscheu vor Büchern, dass er seine Freude äusserte, wenn er hörte, dass eine Buchdruckerei eingegangen war. Selbst las er niemals anderes, als die Bibel und das Exercirreglement. So war der König beschaffen, der in seinem thörichten Krieg gegen Napoleon nicht rastete, bis er Stralsund und Rügen verloren hatte, und dessen wahnsinniger Krieg gegen Russland dazu führte, dass ein russisches Heer (1808) definitiv ganz Finnland eroberte. Runeberg hat in seinem Gedichte »Der König« in »Fänrik Stal« ihm das Denkmal gesetzt, das er verdiente. 1809 zwangen ihn ein paar beherzte Officiere, dem Thron zu entsagen. Der Herzog von Södermanland folgte ihm als Carl XIII., und als dessen Adoptivsohn bald hernach starb, geschah es, dass die unrichtige Vorstellung, Napoleon zum Gefallen zu handeln, und die illusorische Hoffnung, dadurch Finnland zurückzugewinnen, die französische Partei in Schweden Bernadotte zum Kronprinzen wählen liess. Seine Gestalt trat aus dem dunklen Hintergrund der Schatten seiner Vorgänger mit Glanz hervor. Während eines Zeitraums von dreiunddreissig Jahren leitete der kluge Gascogner Schwedens Politik, und dieser König, dessen Regierungszeit mit den kräftigsten Jahren Tegnér's zusammenfällt, theilt mit ihm die Ehre, der Generation, die er beherrschte, den Namen gegeben zu haben. Der Zeitraum von 1810 bis 1840 gehört Carl Johann und Tegnér. Dies sind die Bilder der Regenten, welche damals nach einander Schweden ihre Physiognomien aufdrückten und deren Profile auf die Münzen geprägt wurden, welche durch die Finger Tegnér's glitten, während er Kind, Schreiber, Student und Magister war. VI. Tegnér ist Docent an der Universität zu Lund, 22 Jahre alt, und er verbringt seine Sommerferien auf dem Gute Rämen bei der Familie Myhrmann, mit deren jüngster Tochter Anna er verlobt ist. Hierhin kommt eines Tages im September zum Besuch der gleichaltrige, später so berühmte Geschichtsschreiber und Dichter Erik Gustav Geijer; beladen mit der neuesten Weisheit des Tages und überströmend von jugendlichem Drang, sich mitzutheilen und Ideen zu erörtern, macht er einen Versuch nach dem anderen sich Tegnér zu nähern. Aber er kann nicht recht den gemeinsamen Boden finden. Der schlanke und blonde Schwiegersohn des Hauses ist unstät und voller Launen, ein verliebter Träumer, ein lachlustiger Spötter. Es glimmt in seinen Augen und es blitzt aus seinen Worten. Man kennt so wenig den Gang seiner Gedanken, wie den Weg des Sonnenstrahls durch das Laub. Die zwei jungen Leute gehen zusammen spazieren und discutiren unterwegs. Wir können sie sprechen hören. Der, welcher das Wort führt, ist Geijer: »Was Tegnér wohl über die Volksbildung in dieser Gegend meine? ob er nicht auch glaube, dass alle sogenannte Volksaufklärung vom Uebel sei? Er, Geijer, sehe die 'gesunde Vernunft' der Massen für das unglücklichste Blendwerk an, das zu verehren Jemanden einfallen könnte. Nur die Auserwählten der Menschheit hätten den höheren Sinn, der die Wissenschaft in ihrer Wahrheit aufzufassen vermöge. Ob das nicht auch die Meinung des Herrn Docenten sei?« »Nein, das meine er nicht, das nenne er Mystik«. »Mystik! was verstehe er unter Mystik«. »Nun, sich auf den Rücken zu legen, ein Schläfchen zu machen und sich von der Kraft des Höchsten beschatten zu lassen«. »Ernst gesprochen -- nehme er keine intellectuelle Anschauung an?« »Nein, er sei nicht für Deutschthümelei -- desto mehr aber für Blaubeeren«; und gerade hier wuchsen einige ausgezeichnete, in deren Genuss er sich gründlich vertiefte. Er zweifle übrigens nicht, dass Geijer all' das besser verstehe, habe ihn auch immer ein Genie nennen hören, und dergleichen Leute könnten sich schon mit der Philosophie einlassen. Er dagegen, welcher von sich selbst wisse, dass nicht mehr Vernunft als er unumgänglich bedürfe, um durch die Welt zu kommen, in sein Loos gefallen sei, spiele nicht gern anders Blindekuh als mit jungen hübschen Mädchen, höchst ungern mit so gelehrten Herren wie Kant oder Schelling. »Aber ohne Mysterium und ohne Mystik keine Religion«. »Ob Geijer die Facultät in Lund anerkenne oder nicht? Diese ehrwürdige Pedantengesellschaft habe ihm, Tegnér, das wohlverdiente Zeugniss ausgestellt, dass er ein stilles und 'gottesfürchtiges' Leben geführt, etwas, das in diesen letzten Zeiten selten genug sei. Was dagegen das zur Seligkeit so höchst nothwendige Dogma von der Dreieinigkeit angehe, so liege das völlig über seinem intellectuellen Horizont«. »Trotzdem lasse es sich doch sehr gut erklären. Es liege kein Widerspruch im Begriffe der Dreieinigkeit; denn der Gegensatz setze schon die Einheit voraus. Gott als das absolute Wesen werde nicht, sondern sei von Ewigkeit her, und sei doch im Werden begriffen, denn er schaffe Alles und sei in Allem. Dieser Widerspruch werde einfach dadurch aufgelöst, dass die, welche sich gegenseitig voraussetzen, in Wirklichkeit Eins seien; der Versöhner und der Vater seien, speculativ aufgefasst, Eins obwohl nicht Einer .... sei das nicht jedem edelgeborenen Gemüthe klar?« Tegnér, der ganz verloren im Anblick einer hüpfenden Bachstelze dastand, antwortete zerstreut, dass er angeborene Adelsprivilegien nicht anerkenne. »In welchem Sinne nicht? Im Staate sei Geijer im höchsten Grade für erblichen Adel«. »Und ich«, antwortete sein Gegner, den Mund voll Blaubeeren, »ich war von Kind auf ein Stück von einem Jacobiner«. Das Wort hatte, wie schon angedeutet, eine weniger Schrecken einjagende Bedeutung in Schweden als in Frankreich, abgesehen davon, dass es in Tegnér's Mund halb Scherz war. Aber im Scherz lag der Ernst, dass er zu den aufrichtigen Freunden der Freiheit im Staatsleben und im Denken gehört, welche die Blutthaten der Revolution nicht eingeschüchtert hatten. Mit wirklichem Abscheu verspürte er am Anfang des Jahrhunderts den Einmarsch der politisch-religiösen Reaction in Schweden vom Süden her, und es war ein noch nicht einberufener Soldat vom Heere der Aufklärungscivilisation, der hier auf einen der ersten und am weitesten vorgeschobenen Vorposten des romantischen Feudalismus stiess. Tegnér kam früh genug zur Welt, um (gleich all' den hervorragenden Männern Europa's, deren Jugend in das Ende des achtzehnten Jahrhunderts fällt) in's Leben hinauszusteuern, die Segel geschwellt von dem grossen kosmopolitischen Freiheitswind, der damals über die Erde ging. Seine früheste Lectüre waren natürlicherweise die Gustavianischen Classiker Schwedens, welche in philosophischer Hinsicht auf Locke, in allgemein litterarischer auf Voltaire fussten. Sowohl Kellgren wie Leopold waren Voltairianer, und beide waren politisch freisinnige Männer, die auch nicht bei Hofe ihre Ueberzeugung verleugneten. Sie hüteten sich, die religiösen Gefühle der Menge durch Spöttereien zu verletzen; aber sie bewahrten und verfochten mit Glanz die Traditionen des Jahrhunderts. Das satirische Gedicht »Die Feinde des Lichts« von Kellgren war eine Fahne. In derselben Richtung wie die Poesien dieser Männer, nur mehr dichterisch befruchtend, hat Schiller auf den jungen Tegnér gewirkt. An der Grenze der Jünglingsjahre besingt er, wie Schiller, die Aufklärung in einem Gedichte über Rousseau, und schreibt reflectirende Verse über Gegenstände wie die Religion, die Cultur, die Toleranz, im Geiste der Zeit. Weder Familienüberlieferung noch Erziehung leitete den Pfarrerssohn zur Opposition gegen den christlichen Dogmatismus. Er empfing wie all' seine aufgeweckten Altersgenossen schon fast als Knabe die kalte Douche Voltaire's. Sechzehn Jahre alt schreibt er: »Ich lese jetzt Voltaire; aber sehe nicht, wie ich auch nur das Wichtigste und Nothwendigste zu Ende lesen kann. Alles ist vortrefflich, und es ist schwierig, unter so vielem Schönen zu wählen«. Die meisten seiner Zeitgenossen liessen sich aber mit ähnlichen Voraussetzungen schnell vom veränderten Zeitgeiste zum äussersten religiösen Conservatismus führen. Dazu war Tegnér zu ehrlich und zu gross. Was ihn in religiöser Hinsicht dagegen sicherte, seine Selbständigkeit zu verlieren, war das kräftige, von ihm selbst so genannte _heidnische_ Element seiner Natur, das durch den soliden Bau und die gediegene Festigkeit seines Wesens bedingt war. Von doppelter Art waren die Männer rings um ihn her, welche die Reaction gegen das achtzehnte Jahrhundert so stark mit sich fortriss, dass sie dadurch zur Orthodoxie und zum Feudalismus geführt wurden. Theils waren es Schriftsteller, deren Naturen darauf angelegt waren, in Stimmungen die mittelalterliche Gefühlsscala zu durchlaufen, das heisst: -- mehr in der Phantasie als in Wirklichkeit -- in Zerknirschung und Selbstverachtung zusammenzubrechen, um sich durch den übernatürlichen Beistand der Gnade zur Seligkeit zu erheben; diese zeichneten sich in der Poesie durch nervöse Ueberreizung in allen Formen aus: durch mystisch-platonische Andacht, schluchzende Melancholie, intensiv-sinnlichen Erotismus, abschreckenden Dünkel; sie bildeten die eigentlich romantische (in Schweden sogenannte »phosphoristische«) Phalanx; die angegebenen Merkmale sind in ungleichem Grade bei Atterbom, Stagnelius, Hammerskjöld u. s. w. hervortretend, finden sich aber bei Allen. Die zweite Classe von Männern hatte breitere Schultern und gesundere Seelen; es waren historische Schwärmer, welche das Nationalgefühl, die Liebe zum Glauben und zu den Institutionen der Vorzeit blind gemacht hatten für all das Berechtigte und Grosse in der Kritik des vorhergehenden Jahrhunderts -- Geijer und der um ihn sich bildende gothische Bund in Upsala, an dessen nationale Bestrebungen Tegnér sich anschloss, ohne weder auf die religiösen noch auf die politischen Sympathien und Lehren des Bundes einzugehen. Das Heidnische, das Tegnér in seiner Natur vorfand, sog aus seinen frühesten Studien doppelte Nahrung, erst aus dem Verhältniss zum nordischen Alterthum, dann aus der Beschäftigung mit der antiken Poesie. In einem Briefe von 1825 schreibt er: »Eine gewisse Seelenverwandtschaft mit unseren barbarischen Voreltern, welche keine Cultur ausmerzen kann, trieb mich immer zu ihren grotesken aber grossartigen Formen zurück«. Das, woran er mit dieser Seelenverwandtschaft dachte, war jener Eigenwille des alten Skandinaven, der sich bei ihm in herausforderndem Wesen verrieth, und jener bei den Alten hervortretende Hang zur Schwermuth, die sich bei ihm nicht in romantischem Lamentiren, sondern in der ernsten und bisweilen düsteren Grundstimmung offenbarte, die nach seinem vierzigsten Jahre so reichliche Nahrung fand, dass sie, zum Lebensüberdruss und zur Menschenverachtung ausgeartet, sich immer gewaltsamer äusserte. Er hat sich dichterische Symbole für dies Titantische in seinem Wesen, für riesenstarke Naturmacht, für innere Unruhe unter dem Drucke riesiger Schwere bald bei den Skandinaven, bald bei den Griechen gesucht, und die altnordische und altgriechische Mythologie sind dabei in seiner Phantasie in einander übergegangen. Der altnordische Riese spricht bei ihm ganz wie Goethe's Prometheus: Ich hasse weisse Asen Und Askur's Söhne, Sich beugend vor den Göttern, Die ich verachte. und seine Klage »Die Asenzeit« ist mit Schiller's »Die Götter Griechenlands« so verwandt, dass der Dichter unzweifelhaft das Motiv aus diesem Gedichte entnommen haben muss: Du hohe Zeit, noch stehst im Gedächtniss du Als leerer Harnisch; wer füllt ihn noch heut zu Tage? Die schlaffe Zeit tritt scheu und mit Angst hinzu, Das Heldenleben im Norden ist nur noch Sage. Schlaf ruhig, Vorzeit! Umsonst Iduna bringt Dich noch an's Licht, wie aus Gräbern die rostige Wehre; Ein ander Geschlecht zu anderen Göttern singt, Des Sanges Sehne zerbrach mit der Thaten Speere. Auch hier ist nordisches und griechisches Heidenthum in seiner Erinnerung zusammengeschmolzen. In Wirklichkeit bekam das Heidnische in Tegnér's Wesen erst eine höhere Weihe, als er die althellenische Litteratur kennen lernte. Hier traf er eine vorchristliche Cultur, die nicht in trotzigem, persönlichem Kampfe, sondern in versöhnter Schönheit gipfelte. Er sah hier das Humane auf einmal dichterisch und religiös sich in sich selbst abrunden. Vom Gesichtspunkt dieser Schönheitswelt gesehen, gab jenes Uebernatürliche, gegen welches das vorige Jahrhundert so leidenschaftlich Krieg geführt hatte, nicht mehr dem Gemüthe Aergerniss, sondern fiel als überflüssig fort. Tegnér's Deismus sonderte sein polemisches Element aus und nahm eine hellenische Vernunfts- und Schönheitsanbetung in sich auf. Das rein Humane, das in der griechischen Poesie die Quelle der Schönheit gewesen, wurde ihm bald das wesentlich poetische Element überhaupt, und hierin liegt es, dass er sein Leben hindurch sich weigerte, die Erbauungspoesie als wahre Dichtung anzuerkennen. Dies zeigte sich bei zahlreichen Gelegenheiten, z. B. den Dichtungen des alten Franzén gegenüber. Ueber Franzén schreibt er 1823 an Brinkman: »Das Schöne ruht doch zuletzt auf dem Vernünftigen, wie das Gewölbe, wie hoch es sich auch erhebt, seine unsichtbaren Stützpunkte in den Tempelwänden hat. Aber die Tempelwände unseres lieben Franzén sind etwas zu sehr mit Crucifixen geschmückt, welche -- den Eindruck verfinstern«. Ueber den »Columbus« desselben Dichters schreibt er neun Jahre später, also als Bischof: »Wie nahe lag nicht eine frischere und kräftigere Romantik ohne Legenden und Bekehrungsversuche und Missionäre. Ich hasse, Gott verzeihe mir, den gottesfürchtigen Ton sowohl im Leben wie in der Poesie«, und mit einer verwandten Wendung, drückt er in seinen letzten Jahren (1840) denselben Gedanken bei Anlass eines Bändchens Gedichte aus: »die viele Gottesfurcht kommt mir armen Heiden immer ein bisschen krankhaft und trübe vor«. Desshalb protestirte er auch, ganz gegen die Gewohnheit geistlicher Männer, Adlersparre gegenüber leidenschaftlich dagegen, die unchristlichen Züge in den grossen modernen Geisteshelden, wie Goethe oder Byron, verwischen zu lassen. Die offene, grundehrliche Natur war gleich auf seiner Hut gegen den frommen Betrug. Die Poesie an und für sich kam ihm als eine Macht religiöser Natur vor, oder genauer: er nennt die Poesie den höchsten, reinsten, menschlichsten Ausdruck der Menschheit und bezeichnet alles, was wir sonst als hoch und edel verehren, nur als Modifikationen der Poesie. Die Religion selbst ist ihm »eine praktische Poesie, ein auf den Baum des Lebens geimpfter Zweig des grossen Dichtungsstammes«. Mit anderen Worten lässt sich dies so ausdrücken, dass die Religion eine Poesie ist, woran _geglaubt_ wird, dass also ihr dogmatischer Theil ein grosses metaphysisches Gedicht bildet, dessen Werth auf dem Werth der praktischen Lehren beruht, die man aus demselben herleiten kann -- eine Folgerung, die Tegnér zwar nie ganz ohne Vorbehalt zieht, die man aber immer zwischen den Zeilen bei ihm herausliest. Mit um so grösserer Rückhaltslosigkeit hat er seinen vorurtheilsfreien Humanismus in Aeusserungen der Sympathie für die rein menschliche Grösse und für jene heidnischen Tugenden, die von den Kirchenvätern als Laster verurtheilt wurden, zu Worte kommen lassen. An Geijer, der zwar nicht strikte orthodox, aber doch unbedingt offenbarungsgläubig war, schreibt er im Jahre 1821: »Was deine Ansicht betrifft, dass eine besondere Offenbarung, z. B. das Christenthum, für das menschliche Gemüth theoretisch nothwendig sein solle, so lässt sich darüber wohl ein Zweifel hegen ... Es wird schwer zu erklären sein, wesshalb die höchste menschliche Entwickelung, die eigentlichen Jubeljahre des Geschlechts sowohl im Süden wie im Norden eintreffen, bevor der Name des Christenthums genannt ist. Lasst uns Gott für unsern reineren Glauben danken, aber vergessen wir nicht, dass das Adelsverzeichniss der Menschheit voll heidnischer Namen ist«. Wenn Tegnér einen Charakter recht verherrlichen wollte, so rastete er nicht, bis er ihm eine Seite abgewonnen hatte, von welcher derselbe griechisch oder römisch schien. Um dies unbewusste, rein instinktive Streben in's schärfste Licht zu stellen, wähle ich zwei Beispiele, wo er christliche Glaubenshelden als antike Grössen geschildert hat -- um später zu dem Resultate zu kommen, dass er wegen vorausgefasster Symphatien sich in seinem Humanisiren geirrt habe. Er hatte, in seiner Reformationsrede, in Luther's Person alles verkörpert, was die damaligen Ritter der classischen Bildung, ein Ulrich von Hutten, ein Franz von Sickingen gewirkt und erkämpft hatten. Sieben Jahre später, als er durch seine amtliche Stellung zu nachdrücklicheren historisch-theologischen Studien gezwungen war, schreibt er tief niedergeschlagen: »Die hohen Vorstellungen, die ich mir vormals von Luther und den Reformatoren gemacht hatte, sind mir herabgestimmt worden. Wie manchen Luther brauchten wir noch!« In seiner Festrede von 1832 hatte er von Gustav Adolf gesagt, er sei »eine Heldennatur von dem grossen und rein menschlichen Schlage, von welchem Griechenland und Rom so viele Vorbilder gezeigt haben«, und diese Worte waren, wie eine ganze Reihe Briefstellen beweist, in polemischer Absicht gewählt, weil er wusste, dass die anderen Redner den König wesentlich als geharnischten Theologen und »Märtyrer des Concordienbuches« darstellen wollten. Fünf Jahre später schreibt er aber selbst über Gustav Adolf: »Zu den jetzt geltenden kosmopolitischen Ideen hat er sich wohl schwerlich emporgehoben; als Vorläufer eines neuen Zeitalters betrachtete er sich kaum. Die Denkfreiheit, für die er kämpfte, war nichts anderes als Gewissensfreiheit, und es ist sehr zweifelhaft, ob sich ihm jemals der Protestantismus von anderer Seite als der rein theologischen gezeigt hat«. Tiefere Forschung hat hier wieder den ehrlichen Dichter dazu gebracht, die eingenommene Position aufzugeben. Aber dieses wiederholte Zurückweichen von einem gewagten und doch mit Leidenschaft behaupteten Versuche, das Reinmenschliche, Heidnischgrosse, aus einem Gusse Geformte in allen Helden zu finden, selbst bei denen, um deren Stirn die Orthodoxie ihren Ring so fest geschlagen hatte, dass kein Platz für Tegnér's freien griechischen Lorbeerkranz übrig blieb, verräth hinlänglich, wie kräftig ein freier classischer Humanismus durch alle Poren in die Seele des Dichters gedrungen war. Er hatte damit angefangen für das Ritterlich-Abenteuerliche, das Trotzige zu schwärmen, für die Ehre nur als solche, selbst mit ihrem Flitter. In dieser Schwärmerei, welche sich nie bei ihm verlor, fühlte er als Naturkind und als Kind seines Volkes. »Denn«, heisst es im Gedichte Tegnér's an Karl Johann, »allem voran steht im schwedischen Gemüthe die Ehre, _wahr oder falsch, gleichviel_, sie lebt doch in der Erinnerung«. Er war aber nicht nur Kind der Natur, sondern auch der Geschichte, und die Geschichte stellte ihn zwischen die Aufklärung des achtzehnten und die religiöse Reaction des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts. Er folgt keiner von beiden. Mit kräftiger Eigenthümlichkeit wählt er unter den Bildungselementen, die sich ihm darbieten, bis eine selbständige Anschauung des Menschenlebens, besonders des Verhältnisses zwischen Religion und Poesie, sich in seinem Gemüthe formt; und wir sehen ihn mit seinem warmen Dichtergefühl unwillkürliche und bisweilen vergebliche Anstrengungen machen, um die Wirklichkeit mit dem grossen humanistischen Ideale, das aus jener Anschauung entsteht, in Uebereinstimmung zu bringen. Wie viel Unrecht that Runeberg Tegnér, als er im Jahre 1832 über ihn schrieb: »Bei ihm sieht man kaum den Schimmer von einem Ideale, ja nicht einmal einen inneren Kampf, der seine Ahnung spüren liesse, dass es ein solches gebe«. Der grosse finnische Rival Tegnér's hat, vierundvierzig Jahre später, in einer Note angedeutet, dass diese Behauptung ihm jetzt zu gewagt vorkomme; aber er hätte mehr thun sollen; es wäre eine That der Gerechtigkeit gewesen, wenn er sie selbst widerlegt hätte. VII. Aus Tegnér's humanistischer Weltanschauung folgte mit innerer Consequenz der politische Standpunkt, den er in den ersten fünfzig Jahren seines Lebens einnahm, und aus seiner religiösen und politischen Ansicht im Verein folgte mit Nothwendigkeit sein litterarischer Parteistandpunkt. Er war nicht, wie die Mehrzahl der damaligen poetischen Geister in Deutschland und Dänemark (ein Tieck, ein A. W. Schlegel, ein Oehlenschläger, ein Heiberg), politisch indifferent. Während z. B. eine Erscheinung, wie die heilige Allianz den genannten Dichtern kaum eine Stunde ihres Lebens verbittert hat, strömen die Briefe Tegnér's von einer Entrüstung und einem Hohn gegen diesen Fürstenbund über, welche sich nur dadurch von den gleichen Empfindungen Byron's unterscheiden, dass der stolze und selbständige Engländer seinen Zorn öffentlich in grossen Dichterwerken ausdrückte, deren offene Sprache die Gewaltherrscher Europa's mit Skorpionen peitschte, während der Beamte und Professor in Lund sich meistens darauf beschränken musste, seiner Entrüstung privatim zwischen Mann und Mann freien Lauf zu lassen. Doch nicht immer. Sein politisches Gefühl kommt seine ganze Jugend hindurch in zerstreuten Gedichten zu Wort, und selbst wenn es sich in seinen Poesien nicht breit macht, kann man die Bedeutung desselben kaum zu hoch anschlagen, denn dies Gefühl war das gährende Element seiner Seele, das sie erweiterte und ihn daran hinderte, durch die kleinlichen Verhältnisse, in welche hinein ihn das Schicksal gestellt hatte, kleinlich zu werden. Hätten nicht Schwedens und Europa's Politik sein Gemüth in stete Schwingungen zwischen Entrüstung und Begeisterung versetzt, so hätten seine Gedichte niemals die Grösse des Stils erreicht, welche ihre Verbreitung über die Grenzen des Landes hinaus bedingte. Seine ersten politischen Gedichte sind durch Schwedens Erniedrigung unter Gustav IV. veranlasst worden; so jenes »Svea«, in welchem es heisst: O Finland, Heim der Treu! O Burg, die Ehrnswärd schmückt, Jüngst wie ein blut'ger Schild vom Herzen uns entrückt! Ein Thron steht da im Sumpf, dess' Namen kaum wir kannten, Und Kön'ge knieen dort, wohin wir Heerden sandten. Doch früh hat sich des Dichters Blick von den besonderen Angelegenheiten des Vaterlandes zu der grossen Weltpolitik gewandt. Der fanatische Hass Gustav's IV. gegen Napoleon hatte in des Jünglings Seele nur Bewunderung für den Gehassten hervorgerufen; die Alliance Bernadotte's mit den gegen Napoleon verbündeten Heeren vermochte nicht die Sympathie des Dichters zu brechen, und während die Romantiker sich schon seit 1813 zu so servilen Freudenausbrüchen über die Thaten des Kronprinzen hinreissen liessen, wie: »In Karl Johann's Spuren geht Schwedens Engel« oder diese thörichte Panegyrik über den französisch sprechenden Gascogner: »An der Spitze des Heeres blitzt Thor mit dem grossen und leuchtenden Hammer, und Karl Johann wird der Donnergott genannt«, vertheidigte Tegnér in einer Reihe von Gedichten das revolutionäre Element in der Mission Napoleon's und schrieb bei seinem endlichen Fall das von Verzweiflung über den Triumph der Reaction inspirirte, bittere und scharfe Gedicht »Das Neujahr 1816«. Man höre das energische Finale desselben: Juchhe! Religion heisst Jesuit, Jacobiner das Menschenrecht. Frei ist die Welt, und der Rabe ist weiss, Es lebe der Papst und der -- -- sein Knecht! Zu dir, Germanien, zieh' ich, o lehre Sonette mich dichten, der Zeit zur Ehre. Willkommen, o Jahr mit Mystik und Mord, Mit Lügen und Dummheit und Tand! Du arkebusirst wohl die Welt noch -- nur fort! Einer Kugel ist werth sie erkannt. Unruhig ist sie, voll Gluth im Gehirne; Doch alles wird still mit dem Schuss vor die Stirne. Diesen öffentlichen Aeusserungen entsprechen auf's Genaueste die Briefe Tegnér's aus demselben Zeitraum. 1813 schreibt er: »Wer sich einbildet, dass Europa von Russen und Consorten befreit werden könne oder dass der Erfolg der Kosaken ein Vortheil für Schweden sei, hat vielleicht Recht, er und ich denken aber höchst ungleich. In Hass gegen die Barbaren bin ich geboren und aufgewachsen und hoffe auch, unbeirrt von modernen Sophismen, darin zu sterben«. 1814 ist er noch missmuthiger: »Wer kann an der Wiederaufrichtung des europäischen Gleichgewichts glauben oder sich über den Sieg der absoluten Erbärmlichkeit über die Kraft und das Genie erfreuen!« 1817 gibt er endlich mit bewunderungswürdiger Richtigkeit die Charakteristik der geistigen Reaction in folgenden Worten: »Die Hauptsache ist das Politische; die innere Umwälzung der Denkweise ist im Ganzen politisch; die religiöse und die wissenschaftliche Wandlung, die wir erleben, sind alle beide mehr oder weniger zufällige Folgen und Reactionsprocesse, deshalb ohne Bedeutung und Dauer. Wenn das Haus aufgemauert ist, fällt das Gerüst. Es ist wahr, dass diese Folgen beim ersten Blick ernst genug scheinen; aber verräth nicht eben das Uebertriebene und Karikaturartige der geistigen Bewegungen, das Haarfeine in der Wissenschaft und das Mönchische in der Religion hinlänglich ihre Natur als blosse Reaction gegen den früheren praktischen und freidenkerischen Geist? Scheint es nicht, als sei man jetzt sowohl gründlich wie gottesfürchtig _par dépit_, und weil beides vor zwanzig Jahren für bäuerisch galt ... Am wichtigsten würde ohne Zweifel eine Veränderung im Religiösen sein, da die Religiosität immer, wenn ächt, auch praktisch ist, aber woher schliesst man, dass eine solche Veränderung sich bei der Mehrzahl anders findet denn als Mode und Grimasse, und bei Vielen vielleicht aus noch schlimmeren Beweggründen?« Indessen war diese Reaction mit Nachdruck auf Schwedens eigenem Grunde aufgetreten. Gegen die alte französisch-schwedische Richtung in der Litteratur, die durch die schwedische Akademie repräsentirt wurde, proclamirten die »Phosphoristen« in allem Wesentlichen die Principien der deutschen romantischen Schule; man lieferte metaphysische Beweise für die Mysterien des Christenthums, verhöhnte die Aufklärung, behandelte die Akademie wie eine Sammlung alter gepuderter Perrückenstöcke und verfolgte die Alexandriner mit Sonetten. Im Uebrigen Madonna- und Calderon-Cultus, Weihrauch vor den Schlegeln und Tieck, Schwärmerei für das Königthum von Gottes Gnaden. Als Karl Johann die Regierung antrat, konnte er, »der Republikaner auf dem Throne«, wie er sich anfangs nannte, der Marschall Napoleon's mit all' den Ueberlieferungen der Revolution im Rücken, sich unmöglich veranlasst fühlen, in nähere Berührung mit den Männern der neuen Schule zu treten. Sie zeigten _trop de zèle_; sie erkannten die Volkssouveränität nicht an, auf welche er selbst sich und seine Dynastie stützen musste; sie hatten ihre auswärtigen Freunde in dem Lager, in welchem man für die Wiedereinsetzung der alten legitimen Königsfamilien auf die europäischen Throne arbeitete. Aber die jungen Romantiker wünschten natürlich nichts sehnlicher, als den König zu überzeugen, dass seine Zweifel über ihre Loyalität völlig grundlos waren. Graf Fleming übersetzte dem König, um die Gefahrlosigkeit der jungen Schule zu beweisen, einen Aufsatz von Geijer in's Französische. Der König erklärte, dass er sie nicht verstehe. »Was heisst eigentlich die neue Schule«? Ein Hofmann antwortete: »Nichts anderes, Majestät, als dies: wenn man Einen aus der alten Schule fragt, was ist zwei und zwei, dann antwortet er: vier; fragt man aber Einen aus der neuen Schule, so lautet die Antwort: das ist die Quadratwurzel von sechzehn oder ein Zehntel von vierzig oder anderes, worüber man nachdenken muss«. -- »Das ist's eben, was ich mir dachte«, sagte Karl Johann. Atterbom wurde zum Lehrer des Prinzen Oskar in deutscher Litteratur ernannt, Geijer wurde für Karl Johann genau dasselbe, was Chateaubriand eine Zeitlang für Napoleon I. gewesen war. Bald zeigte sich der unglückliche Einfluss der doctrinär conservativen Jugend; ihre Doctrinen wurden von den reaktionären Elementen der Gesellschaft ausgenutzt und bald erhob in Schweden eine zuversichtliche und mächtige Reaction den Kopf, die am Hofe wohl gesehen Karl Johann von Reformen abschreckte und ihn in eine Spur hinübertrieb, die mit seiner früheren Laufbahn schlecht stimmte. Er war z. B. anfangs gegen erblichen Adel höchst ungünstig gesinnt, um so mehr weil die früheste parlamentarische Opposition gegen seine Regierung vom Adel ausgegangen war; nach dem Bund mit Geijer und seinen Genossen wollte er sogar Norwegen, in welchem der Adel abgeschafft war, einen erblichen Adel aufdrängen. Unter diesen Verhältnissen fühlte sich Tegnér wie ein Mitglied der grossen europäischen Opposition. Er meint, dass die heilige »muhamedanische« Allianz ein todtgeborener Embryo sei, »dessen Begräbniss auf dem Galgenhügel er alle Hoffnung habe noch zu erleben«; er nennt die Politik des Zeitalters »infernalisch«; er schreibt an Franzén: »Ueber die gegenwärtige Politik Europa's kann kein braver Mann, nicht einmal ein Deutscher, sich anders als mit Scham und Abscheu aussprechen. In der Poesie kann sie höchstens der Gegenstand einer Juvenalischen Satire sein. Es ist eine bittere Ironie, die obscurantistische, wahrhaft teuflische Tendenz der Zeit, so oft die Rede von etwas Edlem oder Grossem ist, sei es in Versen oder in Prosa zu nennen«. In der inneren Politik fordert er Ministerverantwortlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Steuerbewilligungsrecht, parlamentarische Repräsentation, kurz das gewöhnliche Oppositionsprogramm im liberalen Europa. Diese Grundansicht war es, die der Oeffentlichkeit dargeboten wurde in seiner grossen Rede bei der Vermählung des Prinzen Oscar 1823 -- ein edler Wein in einem geschliffenen Krystall. In der neuen Zeit standen nach seiner Auffassung zwei Mächte einander gegenüber, das persönliche Verdienst, welches sich nur auf sich selbst stütze, und der von den Vätern angeerbte Rang, ein plebejisches und ein patrizisches Princip; in seiner schärfsten Form erschien dieser Contrast damals als Kampf zwischen der aus der Revolution und der aus der Legitimität entsprungenen Fürstengewalt. Tegnér hebt hervor, wie die junge Fürstenbraut, welche kürzlich in Schweden gelandet ist, durch ihre Geburt die zwei streitenden Elemente vereine und gleichsam die alte und die neue Zeit verbinde. Denn ihr Vater (der Sohn Josephine's, Eugène Beauharnais) sei »gleich so manchem anderen ausgezeichneten Mann ein Sohn seiner eigenen Thaten, dessen Stammbaum aus seinem Schwerte hervorwachse«, und mütterlicherseits stamme sie aus einem der ältesten Fürstenhäuser Europa's ab. (Die Mutter der Braut war Amalie von Bayern, aus dem Hause Wittelsbach.) Es fällt mir nicht ein, anderes oder mehr in diesem Symbolisiren der Herkunft der hohen Dame zu sehen als eine geschickt ersonnene und gut gesagte Artigkeit. Aber in Tegnér's Mund ist sie interessant; denn für ihn hat die Ehe zwischen dem Sohne des Revolutionsgenerals und der Tochter des alten Königshauses augenscheinlich eine wirkliche Bedeutung gehabt. Zu der Zeit, wo er diese Rede hielt, schrieb er gerade an einem Gedicht, welches darauf angelegt war, mit einer ähnlich versöhnenden Vereinigung zu enden, der lange verhinderten zwischen dem Bauernsohne Frithiof, welcher durch Muth und Thaten sich gleichen Rang mit den berühmtesten Helden erkämpft hat, und der Königstochter Ingeborg, deren Geschlecht seine Herkunft von den Göttern Walhall's ableitet, und deren Brüder in ihrem Fürstenhochmuth Frithiof ihre Hand verweigerten. In der _Frithiofssage_ bildeten dieselben zwei Principien, das persönliche Verdienst und der Adel des Bluts, die zwei Pole, durch welche die Achse des Gedichtes geht. Schon im zweiten Gesang, wo die Freundschaft zwischen dem König Bele und Thorsten Vikingssohn geschildert wird, sagt der alte Bauer: Gehorch dem König. _Einem_ gebührt die Macht, und der alte König spricht entgegnend von Heldenkraft, die mehr ist als Königsblut. Im letzten Gesange sagt der alte Balderpriester zu Frithiof: Du hassest Beles Söhne. Warum hassest du? Weil sie dem Sohn des Adelsbauern weigerten Die Schwester, die entsprungen ist aus Seming's Blut, Des grossen Odinsohnes; ihrer Ahnen Zahl Steigt bis zu Walhall's Thronen auf; dess sind sie stolz. »_Geburt ist Glück und kein Verdienst_«, erwiederst du. »Auf sein Verdienst, o Jüngling, wird der Mensch nicht stolz, »Glück nur macht stolz die Menschen; denn das Beste ist »Doch guter Götter Gabe. _Bist du selbst nicht stolz »Auf deine Heldenthaten, deine höh're Kraft? »Gabst du dir selbst die Kräfte?_« Die Rede am Oscartage und der Schlussaccord in der Frithiofssage bezeichnen im Leben des Dichters einen Zeitpunkt, da seine politische Weltanschauung in einer mühsam erkämpften, unstäten Harmonie zu Ruhe gekommen war; wenige Jahre früher -- und die revolutionäre Gährung siedet mit leidenschaftlicher Ungeduld in seiner Brust; wenige Jahre später -- und der Unwille über die eben begonnenen Flegeljahre des schwedischen Liberalismus treibt ihn in's entgegengesetzte Extrem; aber mitten zwischen diesen Strömungen war ihm auf der Wasserscheide, wo sie sich trennten, ein, heller und inspirirter Augenblick vergönnt mit freiem poetischen Horizont nach beiden Seiten hin. VIII. »Der Mensch ist die Blüthe des Metallstammes der Erde, und seine Sprache ist das magnetische Fluidum, welches von diesem Stamme aus seinen Willen über die Welt ergiesst. Wenn jegliche Sprache also im Grunde Musik ist (das Ohr der Natur ist aus Metall und was der Weltgeist hineinflüstert, ist Musik), brauchen wir da lange nach der Art der Verwandtschaft zu suchen, welche sie zur materiellen Substanz für die Phantasien des Dichters macht?« Dieses harte Stück Beredsamkeit stehe hier als Probe des Stils, dessen sich Atterbom, der Häuptling der romantischen Schule, in seiner Jugend bediente. Dieser Stil forderte so sehr die Parodie heraus, dass es nicht Wunder nimmt, wenn Tegnér der Versuchung unterlag, spöttische Pfeile gegen ihn zu richten. Die religiösen und politischen Ansichten Tegnér's bestimmten im Verein seinen litterarischen Standpunkt, einen hohen Punkt über den zwei streitenden Parteien der alten und der neuen Schule, woher er aber fast ausschliesslich sein Geschütz gegen die letztere richtete. Er, der jung in das neue Jahrhundert hinein getreten war, und der nur zwanzig Jahre alt in Lund den dichterischen Aufschwung jenseits des Sundes erlebt hatte, konnte unmöglich sein poetisches Bedürfniss durch die nüchternen Lehr- und Scherzgedichte der alten Gustavianer befriedigt fühlen. Aber es gab nichts, das zum Kampfe gegen sie aufforderte; sie starben nur allzu schnell, einer nach dem andern, aus, und bald war Leopold allein übrig als letzter Vertreter der alten Zeit. Als Tegnér in seiner Vollkraft stand, wurde Leopold blind, und, hätte es ihm sonst nicht fern gelegen, den Alten anzugreifen, jetzt war es ihm unmöglich. Dagegen hatte das erste Auftreten der Phosphoristen seinen Unwillen in hohem Grad gereizt. Sie redeten ein philosophisches Idiom, aus dem weder er noch irgend ein anderer Uneingeweihter klug wurde. Sie bekämpften die Akademie als fremdartig, d. h. französisch, und waren selbst bis zum äussersten verdeutscht. Dazu kam, dass Tegnér überhaupt der französischen Tradition viel näher stand als der deutschen. Nicht einmal seine Vorliebe für die Griechen hatte ihm die classisch-französischen Geschmacksregeln besonders entfremdet. Ihm war die Gräcität früh mit der Selbstbeherrschung in der Kunst gleichbedeutend geworden, und die französische Poesie war in hohem Grade beherrscht. Nicht zufällig kommt deshalb die Aeusserung bei ihm vor, dass der französische Nationalgeist »in vielen Fällen mit demjenigen der Griechen verwandter ist als die Deutschen und ihre Affen seit Lessing's Zeit haben erkennen wollen«. Seine bewundernde Haltung den alten Akademikern gegenüber während der scharfen Polemik gegen die »Phosphoristen« erinnert lebhaft, ja schlagend an Byron's gleichzeitiges Schwärmen für Pope und leidenschaftliche Geringschätzung der Seeschule. Sie hatte zum Theil verwandte Ursachen: Treue gegen Kindheitseindrücke, Lust an Widersprüchen, Vorliebe für das Verständig-klare und die romanische Rhetorik; aber sie war doch noch tiefer in dem Verhältniss zur Gräcität und zu den französischen Studien nach der Antike begründet, einem Verhältniss, das sich nicht bei Byron findet, sondern Tegnér bezeichnet. Die Kunst Byron's ging darauf aus, der Leidenschaft ein Organ zu geben; Tegnér wollte, wie die Alten, dass die Leidenschaft in ein strenges Decorum gekleidet werden solle, um nicht pathologisch zu wirken. Er hatte nie die Wirklichkeit gemocht, eben so wenig wie er die Metaphysik litt; er liebte die ideale Form. Die inneren Spaltungen, die er als Aufgaben für die Kunst erfasste, waren nicht tief; im Grunde wünschte er keinen heftigeren Kampf zwischen Leib und Seele, Zustand und Verlangen, Pflicht und Glück u. s. w. in der Poesie dargestellt zu sehen, als sich mit der Harmonie der Gesundheit vereinen liess. Es war mehr die reine, glatte Form, als die naturfrische Naivetät der Griechen, die bezaubernd auf ihn wirkte, also eben die Eigenschaft, welche der französische Classicismus mit den Griechen gemein hatte. Alle diese Instinkte näherten ihn der alten Schule und entfernten ihn von der neuen. Die Hauptschlacht gegen diese lieferte er in der grossen versificirten Rede, die er 1820 den jungen Magistern in Lund hielt, dem berühmten »Epilog«, in welchem er so zu sagen den jungen Akademikern den Fahneneid zur Fahne des Lichts abforderte. Die Popularität dieses Gedichts wurde so gross, dass in dem Sommer darauf junge Studenten kaum zehn Minuten mit einander sprachen, ohne fünf davon zum Citiren und Auslegen des Epilogs anzuwenden. Gewisse Verse dieser Rede haben eine fast sprichwörtliche Kraft und Wahrheit: Glaubt nicht, was euch in's Ohr die Trägheit flüstert, Es sei der Streit zu hoch für eure Kräfte Und werde ausgekämpft wohl ohne Euch. Allein gewinnt der Feldherr nicht die Schlacht, Für ihn gewinnen sie die tiefen Glieder. Er endet damit, den Tempel der Wahrheit, wie ihn die Alten sich vorstellten, dem Babelthurm gegenüber zu stellen, welchen die Romantiker aufführten, dem schweren, barbarischen Gebäude, »wo das Dunkel durch enge Fenster hineinguckt«. Aber gibt man recht auf die Architektur des Pantheon Acht, welches er als dasjenige der Alten beschreibt, so wird man sehen, dass der Stil dieses Gebäude weit davon entfernt ist, antik zu sein, und mit seinem sonderbaren Gemisch von Römischem und Gothischem das persönliche Kunstideal Tegnér's das eine Furcht so vieler classischen und romantischen Kreuzungen war, unfreiwillig wiedergibt: Der Wahrheit Bauten die Alten einen hellen Tempel: Leicht wie das Firmament war die _Rotunde_, Es drang das Licht hinein _von allen Seiten_ In's offne Rund, und Himmelswinde spielten Melodisch zwischen seinen _Säulenwäldern_. Jetzt baut man einen Babelthurm dafür. Doch eine Rotunde, die nicht von oben, sondern von allen Seiten das Licht bekommt, und welche nicht auf einer einfachen Mauer ruht, sondern mit Säulenwäldern combinirt ist, erinnert eher an die Peterskirche mit ihrer Stilmischung, als an irgend etwas, das die Alten gebaut haben. Es war in Wirklichkeit auch eher ein solcher Tempel der ganzen Menschheit wie diese Kirche, als das einfache römische Gotteshaus, der Tegnér als Symbol der Wahrheit vorschwebte. Was er preisen wollte, war nur die Durchsichtigkeit und Klarheit im Reiche der Dichtung, wie in dem des Gedankens. Die Anbetung der im Dunkel verborgenen Wurzel des Lebens, der Nacht als Mutter der Dinge, und des Schattens als Ursprung der Farbe, die in Deutschland von Novalis, in Dänemark von Hauch, in Schweden von Atterbom gepredigt wurde, kam ihm verdächtig, ja hässlich vor: er betrachtete sie mit denselben Augen, mit welchen ein alter Apollo-Anbeter etwa einem Molochscultus beigewohnt hätte, und protestirte im Namen des Lichtes. Im Namen des Lichtes -- und vor Allem im Namen der Dichtkunst, von deren psychologischem Ursprung er sich früh einen originellen Begriff gebildet hatte. Von den Romantikern aller Länder war die Poesie als das theuer erkaufte Erzeugniss von Leiden und Sorgen erfasst, als die Perle, welche die Krankheit der Muschel absetzt. Für Goethe war sie die ideale Beichte der Seele, das edelste Mittel zur Selbsterlösung von Eindrücken und Erinnerungen, welche die Gesundheit des Gemüthes angreifen. Kierkegaard verglich den Dichter mit dem Unglücklichen, der im ehernen Stier des Phalaris durch ein gelindes Feuer gepeinigt wurde und dessen Geschrei dem Ohre des Tyrannen als Musik erklang. Heiberg liess den Dichter singen, dass er, wenn er gut gewesen wäre, schlecht gedichtet hätte; da er aber schlecht sei, habe er gute Gedichte geschrieben, denn _das_ rühre ihn am meisten, was ihm selbst verweigert sei. Alle diese Auffassungen stimmen darin überein, die Dichtung von einer Sehnsucht, einem Vermissen, einem Schmerze, kurz gesagt, von etwas Negativem herzuleiten. Tegnér leitet sie aus der Gesundheit selbst her. Immer und immer wieder verfolgt er in seinen Briefen, was er den hysterischen Krampf der Romantiker nennt. »Nichts ist mir so widerlich, wie diese ewige Litanei über die Qual des Lebens, welche der Wirklichkeit und nicht der Poesie gehört. Ist die Poesie nicht _die Gesundheit des Lebens_, ist nicht der Gesang der Jubel der Menschheit, muthig aus frischen Lungen hervorströmend?« Und diese Wendung ist bei Tegnér nicht Ausdruck einer augenblicklichen Stimmung; sie kehrt stereotyp als Definition zurück. Er begreift nicht, dass die Poesie, »_die nichts anderes als die Gesundheit des Lebens_, nichts als ein Freudensprung aus den Grenzen des Alltagslebens hinaus ist«, sich mit hektischer Röthe die frischen runden Wangen schminken will. Die Definition nahm dichterische Gestalt und melodische Form an in dem schönen übermüthigen Gedicht »Der Gesang«, das durch eine gleichnamige romantische Elegie hervorgerufen wurde. Es enthält das Programm der Tegnér'schen Poesie: Zur Klage hat der Dichter keinen Grund, aus Edens Garten ist er nie vertrieben worden. Mit himmlischer Freude umarmt er das Leben wie eine Braut: Denn nicht ein ewiges Verlangen, Ein ew'ger Sieg nur ist das Lied. Unauflöslichen Misslaut kennt er nicht: Das gold'ne Saitenspiel erklinge Von keiner selbstgeschaff'nen Pein, Des Sängers Sorgen sind geringe, Des Liedes Himmel ewig rein. »Geringe«, sagt die Ueberzeugung, »keine« heisst es im Original. Es war eine harte und bittere Nemesis, dass der, welcher im Jahre 1819 Lebenskraft und Uebermuth genug besass, um diese Zeilen zu schreiben, nur 6--7 Jahre später, nachdem er eins der verzweifelsten Gedichte aller Litteraturen geschrieben hatte, als Dichter so gut wie verstummte; aber sowohl bevor wie nachdem »Die Melancholie« geschrieben wurde, ist jene Lehre von dem inneren Gleichgewicht des Dichters und der Siegesgewissheit der Dichtung in Tegnér's Poesie verwirklicht worden. Als seine Seele in ihre entscheidende Krise eintrat, als Enttäuschungen und Sorgen sein heiteres und sanguinisches Temperament untergruben, schwieg er lieber, als dass er die Verstimmtheit seiner Seele verstimmend auf seine Kunst wirken liess; und wenn er bisweilen noch ein Lied anstimmte, war es, um sich in der Dichtung als jene leichtbewegliche Jünglingsnatur zu offenbaren, die er nicht mehr in Wirklichkeit war. Die Poesie Tegnér's hatte nie die wehmüthige Grundstimmung, welche die Volkspoesie in allen nordischen Ländern hat. Sie hatte überhaupt nie ein Verhältniss zum Volkslied, nichts von der Naivetät, nichts von den einfachen Moll-Accorden des Wunderhorns. Tegnér bewunderte die Volkspoesie: er stand nicht wie die Kunstdichter des vorigen Jahrhunderts ihr fremd und überlegen gegenüber; aber er betrachtete sie, und mit Recht, als ein für sich unerreichbares Muster. Der künstlerische Typus seiner Lyrik ist also nicht das Volkslied, weder das finnische wie bei Franzén, noch das serbische wie bei Runeberg, noch das schwedische wie bei Atterbom, sondern die Cantate, bisweilen das Heldenlied und bisweilen die Bravourarie, das Wort nicht eben im geringschätzigen Sinne gemeint, als eine Gesangsnummer, die durch Fiorituren allein glänzen will, sondern als der stark verzierte und volle Ausbruch eines überströmenden Lebensmuthes. Alle die Kunstformen, die er anwendet, die Hymne, die Romanze, das Liebeslied, erhalten unter seiner Behandlung einen Charakter, den ich nicht schärfer zu bezeichnen weiss, als mit dem Worte: Bravour. IX. Wir finden den Dichter im niedrigen weissen Hause an der Ecke der Franciskaner- und Klosterstrasse in Lund, in seinem geräumigen zweifensterigen Arbeitszimmer auf- und abwandernd, seine Verse vor sich hin brummend und summend und ab und zu an einer aufgeschlagenen Schatulle, welche als Pult dient, stille stehend, um die fertigen Strophen niederzuschreiben. In der Stube zwitschern zwei Kanarienvögel; begleitet von ihrem Gesange dichtet er seinen »Frithiof«. Er ist zu dieser Zeit ungefähr vierzig Jahre alt; weder Leidenschaften noch Krankheit haben seinem Gesichte Spuren aufgedrückt. Die Furien lauern vor seiner Schwelle; aber es scheint fast, als wollten sie die Vollendung seines Hauptwerkes abwarten, bevor sie die Schwelle überschreiten und ihn als Beute ergreifen. Seine Stirn ist klar und gewölbt, sein Blick hell und frei Und ernst so wie vom Grund aus ehrlich Ist jeder Zug im Angesicht wie es von seinem Axel heisst. Er hat sich sein Thema gewählt oder richtiger: es ist so anziehend aus den Erinnerungen seiner Kindheit vor ihm aufgetaucht, dass er den Rahmen für die Behandlung entworfen und die Ausführung in der Mitte angefangen hat. Er will ein Bild des Lebens im alten Norden liefern. Mit voller Ueberzeugung hatte er in früherer Zeit sich dem »gothischen« Bund angeschlossen; denn er sah in der nationalgeschichtlichen und dichterischen Richtung des Bundes den richtigen Mittelweg zwischen der weltbürgerlichen Verstandeskultur der Akademie und der deutschthümelnden Schwärmerei der Phosphoristen. Er hatte aber bald die Trauer gehabt zu sehen, wie sein wackerer und enthusiastischer Verbindungsbruder Pehr Henrik Ling, der in dem geistigen Leben Schwedens eine ähnliche Stellung einnimmt, wie Arndt und Jahn in Deutschland, durch seine Kraftsprache und seine kolossale Formlosigkeit das schwedische Publikum von der Poesie des nordischen Alterthums zurückscheuchte. Sein linkischer Harfenschlag auf die nordischen Bärensehnen hatte den prächtigen Stoff verdorben, der in Dänemark in der Behandlung Oehlenschlägers alle Herzen gewonnen hatte. Tegnér beschloss, um eine einzelne Sage als Mittelpunkt all' die eigenthümlichsten Bilder des alten Nordens zu sammeln: Das Vikingerleben und die Waffenbrüderschaft, die Weisheit des Hawamàls und die Gelübde auf Frei's Eber zum Julfest, das Heldenlied und die Königswahl im Thing, die Selbstverwundung mit der Schwertesspitze und den Runenstein, die Poesie des Lebens und des Todes in alten Zeiten. Es sollte gute, reine Luft in dem Gedichte sein; ein scharfer, frischer Wind sollte hindurch sausen; der Skandinave sollte sich darin heimisch fühlen; aber vor Allem keine Eistemperatur wie in den altnordischen Dichtungen des ehrlichen Ling! Diese Sage war ja eine Liebesgeschichte und mit Liebessehnen und Liebesleiden sollte das harte Gewebe des Stoffes ganz durchdrungen werden. Der Stoff war norwegisch, aber schwedisch sollte die Behandlung sein; Norwegen und Schweden, die noch unlängst getrennt waren, wollte er im Gesange verschmelzen. Es sauste vor seinem inneren Ohre wie Schildgeklirr und Pfeilregen, Köcherklang und Becherklang, Rossestampfen und Falkenflug, Schläge auf's Schwert und Hiebe mit dem Schwert, und zwischen all' diesem lange, schmachtende, girrende, schwärmerische Nachtigallentöne, und noch mehr ergreifender Wachtelschlag in der Stille der Sommernacht. In die Scenerie brauchte er wahrlich nicht sich hinein zu versetzen; er kannte sie ja so genau von seiner Kindheit und Jugend auf dem Lande. Er kannte sie, diese Bäume mit den weissen Stämmen und hängenden Kronen; einer von ihnen hatte zwei Schriftzeichen in seinem Birkenstamme; waren es die Buchstaben »E« und »A« oder stand da ein »F« und »I« in Runen? Er kannte zwischen den tannenbewachsenen Küsten diese blanke Eisfläche, über welche der Schlittschuhläufer fuhr und hinter ihm der vorbeisausende Schlitten, in welchem die schöne Jungfrau sass, die bald über ihren Namen im Eise hinfahren sollte: Er ritzt in das Eis viel Runen werth, Schön Ingeborg den eignen Namen befährt. Und wenn nun der Frühling kam, wenn die Wellen hinauslockten und das Meer laut von Thaten sprach, während das Boot am Strande einzuladen schien, an Bord zu gehen, die Welt kennen zu lernen! Er wusste wohl, was ein Viking dann gefühlt hatte: Ellide nicht Ruh auf der Woge hat, Am Anker rücket sie früh und spat. Aber es war nicht möglich, zu reisen. Beim Pflegevater, bei Hilding ... auf dem Gute Rämen bei Myhrmanns, da wohnte die Schönste, die Geliebte, die zu verlassen unmöglich war. Und alle Jugenderinnerungen, süsse und kindliche, strömen bei diesem Gedanken ihm zu. Er erinnert sich, wie er Anna die erste erblühte Anemone, die erste Erdbeere zu bringen pflegte: Die erste Blume, die er zieht, Die erste Erdbeer, die er sieht, und er träumt von so manchem guten Male, wenn er und sie (oder war es Frithiof und Ingeborg?) auf ihren Wanderungen am brausenden Waldbach stille standen, und für Ingeborg kein anderer Ausweg blieb, als sich hinüber tragen zu lassen, und lächelnd schrieb er: Wie schön, wann Strudel lärmend klingen, Zwei kleine Arme uns umschlingen! Und unbewusst mischte sich andere erotische Schwärmerei jüngerer Herkunft hinein, eine andere Gestalt, die der voll entwickelten Ingeborg -- nicht Anna Myhrmanns, deren Schritte jetzt vom Zimmer nebenan gehört wurden; die Schritte der schon in mittleren Jahren stehenden tüchtigen Hausfrau gehörten nicht hierher; nein, ein jüngeres, lockendes Gesicht war es, ein schlankerer Wuchs, eine andere schmelzende Stimme; er darf diese Frau nicht lieben, das ist göttlichen und menschlichen Gesetzen zuwider; sie ist ja verheirathet -- mit König Ring, mit Frithiof's Freunde, dessen Zutrauen zu ihm unbegrenzt ist; nein, Frithiof muss fort, hinaus auf's Meer, seine Sehnsucht durch Thaten und Siege betäuben. Aber einmal -- spät einmal wird der Tag der Versöhnung kommen, und das stürmende Herz Frithiof's Ruhe finden. Die altnordische Frithiofssage ist eine Erzählung, um's Jahr 1300 auf Island niedergeschrieben; man nimmt an, dass das Geschichtliche in der Begebenheit schon um das Jahr 800 geschehen ist. Der Bauernsohn Frithiof, der mit der Königstochter Ingibjörg erzogen worden hält um ihre Hand an und wird abgewiesen. Um sich an ihren Brüdern zu rächen, verweigert er ihnen im Kriege gegen König Ring seine mächtige Hilfe und benutzt ihre Abwesenheit dazu, ein Liebesverhältniss mit Ingibjörg anzuknüpfen, die von den Brüdern im Baldershage, einer Balder geheiligten Stätte, in der Hoffnung, Frithiof von jedem Stelldichein abzuschrecken, eingesperrt worden ist. Denn dort darf kein Mann eine Frau umarmen. Aber Frithiof trotzt den Göttern, besucht Ingibjörg und schändet den Tempel. Mit Ring wird unter der Bedingung Friede geschlossen, dass die Brüder dem alten König ihre Schwester zum Weibe geben. Von Frithiof fordern sie, dass er in ihrem Auftrag fortreise und von Angantyr auf den Orkney-Inseln Tribut eintreibe. Während er fort ist, stecken sie seinen väterlichen Hof in Brand. Frithiof kommt zurück, trifft die Könige beim Opfer in Baldershage und wirft den mitgebrachten Geldbeutel so gewaltsam Helge in's Gesicht, dass er hinstürzt. Durch einen Zufall fällt Balder's Bildniss in's Feuer und das Haus geräth in Brand. Frithiof flieht, kehrt zurück, besucht König Ring, rettet das Leben des alten Königs und heirathet nach dessen Tode Ingibjörg. In diesem Stoffe entdeckte das Dichterauge Tegnér's die Grundlinien zu einem Gegenstande von allgemein menschlichem Interesse und für verallgemeinernde Symbolik empfänglich. Frithiof kämpft für seine Liebe mit rücksichtslosem Trotz; er will, unbekümmert um alle bestehenden Mächte, sich sein Glück im Sturm erobern: Er setzt die Spitze seines guten Schwerts Der Norne auf die Brust und spricht: Entweiche! Er lehnt es ab, einem Königsbefehl zu folgen; er wird auf der Höhe seiner Manneskraft zuerst Tempelschänder, dann Tempelverbrenner, dann der vogelfreie geächtete »Wolf im Heiligthume« (_varg i veum_). Er flieht und büsst, entsagt und wird geläutert, und empfängt zuletzt die Hand der Geliebten als Lohn, nicht des Kampfes, sondern der ausdauernden Treue. Nicht die Jungfrau, sondern die Wittwe, nicht das Glück selbst, sondern den bleicheren Widerschein des Glückes umarmt er als Braut. War dies nicht schon ein Symbol des menschlichen Lebens? Noch ein Schritt und das Symbol stand vollendet in seiner ganzen Klarheit da. Es gab einen Mittelpunkt in der Sage, der unter dem Blicke des Dichters nothwendig zum fruchtbaren Keimpunkt werden musste. Es war das Heiligthum Balder's. Um einen Baldertempel drehte sich Alles; hier wurde Ingeborg eingesperrt; hier begegneten sich Ingeborg und Frithiof; hier opferten die Könige. Der Tempel wurde geehrt; er wurde geschändet; er wurde verbrannt. Balder war ein sonderbarer Gott; in ihm begegneten sich das Heidenthum, wie man es sich am liebsten vorstellte, mit dem Christenthum, wie man es gern demselben anpasste -- er war Heidenthum ohne Wildheit, Christenthum ohne Dogma. Der Jesus, an den Tegnér glaubte, hatte, gleich dem, zu welchem Oehlenschläger sich bekannte, mehr von einem Balder als von einem Christus. Und es war der Tempel Balder's, den Frithiof in seinem jugendlichen Uebermuth verbrannt hatte. Dieser Tempelbrand musste nothwendig zur Hauptkatastrophe der Sage gemacht werden; er bestimmte dann auch mit zwingender Nothwendigkeit einen geistvollen Schluss. Frithiof musste damit enden, den Tempel, den er verbrannt hatte, wieder aufzubauen. Denn ist die Jugendkraft in ihrer Unbändigkeit nicht immer ein Tempelschänder, und enden wir nicht Alle in den Jahren der Reife mit dem ehrlichen Versuch, die in jugendlicher Leidenschaft begangene Entweihung zu sühnen? Bauen wir nicht Alle nach Vermögen den Tempel wieder auf, grösser, schöner und fester, als wir ihn vorgefunden? Wie jener Kaiser, der eine Hauptstadt von Holz vorfand und eine marmorne hinterliess, so werden zu jeder Zeit thatkräftige und ernste Naturen ihre Umgebungen von einem geheiligten Tempel aus schlechtem Holz beherrscht finden; sie werden ihn verbrennen und einen andern Baldertempel, der nicht verbrannt werden kann, hinterlassen, und der stärkste einen wie denjenigen Frithiof's: Von lauter Riesensteinen war die Wand erbaut, Die kühne Kunst zusammenband, ein Riesenwerk Für Ewigkeit .... So gefasst, sammelte sich das Gedicht um einen grossen einfachen Grundgedanken; und mit diesem vor Augen, machte sich Tegnér daran, die letzten Romanzen zuerst zu entwerfen. Jeder Zug in der alten Erzählung liess sich natürlich nicht gebrauchen; psychologisches Interesse haben aber nur die für Tegnér eigenthümlichen Veränderungen, die, in welchem sein poetischer Charakter sich zu erkennen gibt. Erstens entfernt er alles, was ein Leser oder noch mehr eine Leserin der damaligen Zeit in erotischer Hinsicht anstössig finden konnte. Hierdurch öffneten sich alle Familien-Bücherschränke seinem Gedicht. Nach Tegnér's eigenem Zugeständniss ist sein »Frithiof« eine Nachahmung von Oehlenschläger's »Helge«, und man hat in Dänemark nie recht begreifen können, wie es zuging, dass die Nachdichtung so viel grösseren Ruhm erlangte, als das kräftige Original; aber wie war es möglich, dass ein Gedicht, welches, wie das Oehlenschläger's, von Anfang bis zum Ende um eine nordische Vendetta, um Brudermord, Mordbrand, Trunkenheit, Nothzucht, Entehrung und Blutschande handelte, jemals in der allgemeinen Gunst mit einem Dichterwerk wie Frithiof wetteifern könnte, das zu Geburtstags- und Weihnachtsgaben wie geschaffen war und das factisch in Deutschland mehr als zwanzig Jahre hindurch das stehende Confirmationsgeschenk für junge Mädchen gewesen ist? Tegnér spielt zwar unaufhörlich (und zwar mit einer Vorliebe, die mir persönlich entschieden missfällt) mit solchen Worten und Redensarten, mit welchen nach litterarischer Convention die Vorstellung von etwas Sinnlichem sich verknüpft; er vergleicht den Busen Ingeborg's mit »Lilienhügeln« und anderen Erhöhungen, die übrigens einer weiblichen Brust so unähnlich wie möglich sein dürften; aber in diesem Liebeln des _Dichters_ erschöpft sich alles Sensuelle im Gedicht. Seine alten Skandinaven lieben wie zwei wohlerzogene Verlobte im modernen Schweden. Doch während sie sich keinen Augenblick vergessen, ist der Dichter weniger streng und man fühlt mitunter, wie sein Auge sich auf Ingeborg's weissen Hals richtet. Es wäre gewiss besser gewesen, wenn das Auge des Dichters keuscher und Frithiof menschlicher wäre. In der Weise, wie das Geschlechtliche in dieser Liebesgeschichte behandelt ist, fühlt man stark, dass der Dichter nicht nur ein akademisches, sondern auch ein geistliches Amt bekleidet, und im Begriff steht, ein noch höheres zu ersteigen. Deutlich genug hat Tegnér ausdrücklich das Gedicht modernen Vorstellungen über Heldentugend und Weiberkeuschheit zurecht legen wollen. Darum lässt er zwar Frithiof die Nächte bei Ingeborg in Baldershage verbringen, jedoch in aller Zucht und Ehre, und lässt ihn, als er desswegen im Thinge angeklagt wird, feierlich erklären, Balder's Frieden nicht geschändet zu haben. Tegnér nimmt also nicht einmal Anstand, seinem Gedicht den eigentlichen idealen Schwerpunkt, die bewusst und trotzig ausgeführte Entweihung, zu rauben, wenn er dadurch erreicht, das Decorum der Erzählung zu retten. Frithiof erklärt, dass seine Liebe dem Himmel mehr als der Erde angehöre; er wünscht beim Stelldichein mit Ingeborg, dass er todt wäre und mit der bleichen Jungfrau in seinen Armen nach Walhall führe, -- gewiss ein höchst unnatürlicher Gedanke eines leidenschaftlich Liebenden im Augenblicke des Glücks: Nicht irdisch ist, vom Himmelsbogen Stammt meine Liebe; flieh' sie nicht! Im Himmel ward sie gross gezogen, Heim sehnt sie sich zum Himmelslicht. Sonderbare Worte von einem Dichter, der sonst nie müde wurde, die platonische Liebe mit Spöttereien zu verfolgen, und zwar mit recht derben Spöttereien! Er hatte persönlich ein heissblütiges, sinnliches Naturell. Er war seiner Ehe, seinen Jahren und seinem Amte zum Trotz ein feuriger, und, wie das Gerücht sagte, oft glücklicher Verehrer der Frauen. Sein Conversationston Damen gegenüber war häufig so lasciv, dass er Aergerniss erweckte, und er hat in Briefen, Aphorismen, Gedichten, die nach seinem Tode gedruckt worden sind, kein Hehl aus seiner naturalistischen Auffassung der Liebe gemacht. Er huldigte nicht einmal in der Poesie der spiritualistischen Darstellung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Er schreibt z. B.: »_Aeneadum genitrix, hominum divumque voluptas_ ist von den Alten nicht nur poetisirt, sondern vergöttert worden. Unsere sentimental nervenschwache Anschauung der Liebe ist keineswegs die einzige, noch weniger die kräftigste. Wie bleich und matt ist, selbst rein poetisch gesehen, die meiste moderne Erotik mit ihren Wasserfarben gegen die ewigen Frescogemälden der Alten!« Und doch sträub' ich mich zu glauben, dass Tegnér sich in diesem Punkte ausschliesslich von conventionellen Rücksichten leiten liess. Er war in allzu idealistischen Lehren erzogen, um jemals mit vollem Bewusstsein nach einem Modelle zu zeichnen; ein eigentliches Modell hat er auch für Ingeborg gar nicht gehabt, was genugsam im Gedichte gespürt wird, das dadurch an individuellem, realistischem Leben verlor, was es an typischer Grösse gewann. Doch ganz ohne Modell kann kein Künstler malen, und ganz ohne Verarbeiten von Wirklichkeitsstimmungen und Wirklichkeitseindrücken kein Dichter dichten, am wenigsten ein so subjectiver wie Tegnér. Er hat im Anfang des Gedichts sich von den Erinnerungen an das Zusammenleben mit seiner Braut auf ihrem elterlichen Hofe inspiriren lassen; das Idyllische in Frithiof's Liebe stammt sicher daher, aber ihr schwärmerisches Pathos nicht. Zahlreiche Indicien deuten darauf hin, dass Tegnér, der wie die meisten Poeten immer in einer halben Verliebtheit umherging, gerade in den Jahren, da Frithiof geschrieben wurde, vollständig verliebt war. Vielleicht war seine Neigung zu der Zeit, wo die Romanzen, in welchen Frithiof's Liebe ihren höchsten lyrischen Ausdruck erreicht (kurz vor Januar 1824) verfasst wurden, noch eine begeisterte, halb unbewusste Schwärmerei, bald von keimendem Verlangen, bald von jenem Schmachten nach dem Tode durchkreuzt, das bisweilen auch die beglückende Liebe begleitet, wenn ein Uebermass von leidenschaftlichem Sehnen, welches die Seele erfüllt und peinigt, den Wunsch hervorruft, das Herz möchte zerspringen: O wer doch schon dort oben weilte, Wer jetzt, mit dir dem Tod geweiht, Als Sieger zu den Göttern eilte, Umarmt von seiner blassen Maid! Vielleicht war er einfach nicht im Stande, seine eigene Poetik der Liebe in die dichterische Praxis hinüber zu führen. Wie es unzweifelhaft Dichter giebt, die mit Fug und Recht den Vers _Vita verecunda est, Musa jocosa mihi_ zu ihrem Wahlspruch machen können, so gab es besonders zur Zeit, wo der romantische Idealismus die Poesie beherrschte, Dichter, die durch einen inneren Zwang die entgegengesetzte Formel zu verwirklichen sich gedrängt fühlten. Die zweite Modification des Stoffes, in welcher die Schriftstellerindividualität Tegnér's sich kräftig verräth, ist das Entfernen des für uns Burlesken in der alten Erzählung. Die burlesken Züge kamen dem idealistischen Dichter einfach störend und hässlich vor. Ich wähle ein Hauptbeispiel: Das neunte Capitel der Sage, in welchem Frithiof dem opfernden König den Tribut überbringt, stellt die Balderanbetung auf folgende anschauliche Weise dar: »Frithiof ging in den Tempel hinein und sah, dass nur wenig Leute im Disasaal waren; die Könige waren beim Disaopfer und sassen beim Trunke. Auf dem Boden war Feuer, und die Weiber sassen bei dem Feuer und wärmten die Götter; aber einige salbten sie, und trockneten sie mit Tüchern. Frithiof trat vor König Helge und sprach: 'Nun willst du wohl das Sühnengeld haben'. Und alsdann schwang er den Beutel, in welchem das Silber war, in die Höhe, und schlug damit den König so hart an die Nase, dass ihm zwei Zähne aus dem Munde sprangen; der König selbst aber fiel vom Hochsitz und in Ohnmacht. Da griff Halfdan nach ihm, dass er nicht in's Feuer fiele .... Wie Frithiof nun wieder den Fussboden betrat, bemerkte er sogleich den guten Ring [den er Ingeborg gegeben hatte] an der Hand von Helge's Frau wie sie Balder am Feuer wärmte. Frithiof griff nach seinem Ring aber der sass fest an der Hand, und er zog sie nun den Fussboden entlang nach der Thür; Balder aber fiel in's Feuer; Halfdan's Frau griff geschwinde nach ihm; da fiel auch der Gott, den sie gewärmt hatte, in's Feuer. Das Feuer fasste nun die beiden Götter, denn sie waren vorher gesalbt, und fuhr hinauf in's Dach, so dass das Haus in helle Flammen kam. Frithiof nahm den Ring, ehe er hinaus ging«. Die Einwendungen, die gegen die geschichtliche Zuverlässigkeit dieser Darstellung erhoben werden können, sind mir nicht unbekannt. Aber welch' ein köstliches Stück Prosa in ethnographischer und malerischer Hinsicht! Wie sieht man durch die Erzählung die ganze naiv-burleske Scene vor sich! Wer im Berliner Museum das kleine altnordische Thongebilde von einer Göttin betrachtet hat, kann sich eine lebendige Vorstellung von diesen kleinen hässlichen Abgöttern bilden, welche die frommen Weiber auf dem Schosse haben, mit Fett überschmieren und am Feuer wärmen. Alles ist hier vortrefflich: die altnordische Gottesfurcht, die einen Balder in der Puppe sieht mit demselben brennenden Glauben, mit welchem heutzutage im Süden Männer und Frauen des Volks die Himmelskönigin in einer anderen Puppe sehen, und die Scenerie rings umher, der rauchende Scheiterhaufen in der Mitte und die trinkenden Kämpen in der Halle nebenan. Ein moderner Dichter mit lebhaftem Sinne für Zeit- und Localfarbe würde es nicht über sein Herz bringen, das Geringste hieran zu verändern; er würde eine solche Scene wie eine Fundgrube betrachten. Ich spreche nicht von den Realisten; Realisten schreiben keine Romanzen-Cyclen; aber ich denke an die grossen Stilisten unter den Dichtern der Neuzeit. Es ist eine Scene die in Hugo's »La légende des siècles« aufgenommen werden könnte; aber noch mehr wäre sie für einen so strengen Künstler wie Leconte de Lisle geeignet: er könnte sie in seine »Poèmes barbares« einflechten. Tegnér aber erschien diese Scenerie nur roh und hässlich, unbrauchbar für die Dichtkunst. Der scharfe Contrast zwischen barbarischer und hellenischer Poesie existirte nicht für ihn; er versuchte seine barbarischen Stoffe so gut es ging, zu hellenisiren. Er mischte aus Princip nicht das wild Burleske in ein pathetisches oder schönes Ganzes hinein. Er malt dann statt dessen, und mit viel Kunst, eine Nacht, wo die Mitternachtssonne hoch am Himmel steht, wo das Balderfeuer, das Bild der Sonne, auf dem geweihten Steine brennt, während bleiche Priester mit silberweissem Bart und mit steinernen Messern in den Händen längs den Tempelwänden stehen. Die Statue Balder's ragt auf einem Fussgestell mit Frithiof's Ring am Arm empor, und der König mit seiner Krone auf dem Haupte ist am Altar beschäftigt. Diese Scenerie ist weit schöner als jene der Sage; aber sie ist weniger eigenthümlich als theatralisch. Ausser dem Anstössigen und dem Burlesken im Stoffe gibt es noch ein Drittes, was Tegnér umgeht und vermeidet. Das ist die Schuld. Es gehört zu dem poetischen System Tegnér's der scharf ausgesprochenen Schuld, nicht weniger als dem ausgeprägt Hässlichen oder Barocken aus dem Wege zu gehen. Sein Held ist zu grundgut, um sich zum Aeussersten von Leidenschaft, Zorn, Rachsucht oder Wildheit hinreissen zu lassen. Er macht einen Anlauf und beherrscht sich gleich wieder. Er rächt sich nicht, wie in der Sage, für die Kränkung, welche ihm die Könige zugefügt haben; er bohrt nicht bei seiner Heimkehr ihre Schiffe an, um sie für das ihm angethane Unrecht zu strafen; sein Waffenbruder versenkt viel später die Schiffe, um Frithiof's Flucht zu erleichtern. Wir sahen ferner, dass Frithiof in seinem Verhältniss zu Ingeborg bei Tegnér keine wirkliche Entweihung begeht. Aber am schlagendsten offenbart sich doch die Sorgfalt des Dichters, nicht bis zur tiefen Schuld zu gehen, wo das Verhältniss Frithiof's zum Tempelbrand geschildert wird. In der Sage zeigt Frithiof immer gegen Balder Uebermuth. Er erklärt, weniger nach Balder's, als nach Ingeborg's Gunst zu fragen. Als die Rückkehr der Könige ihn zwingt, mit den nächtlichen Gastereien im Baldershage aufzuhören, sagt er mit einer gewissen Ironie über Balder zu Ingeborg: »Wohl und lieblich habt ihr uns aufgenommen und bewirthet, und der Bauer Balder hat sich gegen uns nicht ereifert«. Und endlich wirft er, als durch seine Unachtsamkeit Feuer im Baldertempel entstanden ist, in seiner Vernichtungswuth Feuerbrände in die Dachlatten. Bei Tegnér ist dieses ganz anders: Frithiof's Gesinnung Balder gegenüber ist fromm; er kniet an Ingeborg's Seite vor ihm nieder und befiehlt ihre gegenseitige Liebe seinem Schutz; er macht energische Versuche den Tempelbrand zu löschen, und als es dennoch misslingt, geht er traurig und _weinend_ fort. So verwandelt ist der ganze Charakter menschlicher und edler, aber unleugbar weniger primitiv, und es konnte nicht anders sein, als dass durch diesen idealisirenden und modernisirenden Process ein gewisser Streit entstand zwischen dem Charakter, wie er vom Dichter dargestellt wurde und mehreren der thatkräftigen Züge, die ihm von der Sage beigelegt waren und die unverändert in's Gedicht übergingen. Während der Vollendung des Werkes konnte der Dichter dann manchmal nicht unterlassen, sich selbst zu fragen, ob es denn überhaupt sich lohne, einen alterthümlichen Stoff zu behandeln, wenn das Antiquarische und das Poetische sich nicht ohne unaufhörliche und unnütze Compromisse vereinigen liessen? Seine Briefe sind voll von Zeugnissen dieser Zweifel; als das Werk nach einem Kampf mit dem Stoffe, der volle fünf Jahre dauert, endlich fertig vorliegt, beurtheilt er »Frithiof« auf's strengste; er erinnert die Bewunderer des Gedichts daran, dass die Poesie »wachsendes Obst nicht Eingemachtes« sein solle; seine Briefe variiren das Thema, dass »Frithiof« zu viel Sage sei, um ein modernes Gedicht zu sein und in zu hohem Grade moderne Poesie für eine altnordische Sage; sie sprechen es aus, dass alle Poesie modern sein müsse »im selben Sinn, wie die Blumen es im Frühling sind«, und verurtheilen all' das Archäologische im Gedichte als _neuerbaute Ruinen_. Trotzdem hat die allgemeine kritische Stimmung sich gewiss nicht geirrt, wenn sie eher an den allzu modernen als an den allzu alterthümlichen Elementen des Gedichts Anstoss nahm. Ein strenger Stilist hätte nicht Frithiof in seinem »Vikingerbalk« die Anwesenheit der Weiber an Bord verbieten lassen mit einem sentimentalen Wortspiel wie diesem: Denn das _Grübchen_ der Wang' ist die falscheste _Grub_', und ein Netz ist die fliegende Lock'. Tegnér selbst parallelisirt seine Arbeit mit Werken wie Goethe's »Iphigenia« und Walter Scott's »The lady of the lake«. Die letztere Parallele hat mehr Wahrheit als die erstere, obwohl Tegnér selbst sagt, dass »der schottische Particularismus bei Scott, wie der jüdische im alten Testament, alles beschränkt und niederdrückt, was sonst bei ihm sich freier und höher erheben könnte«. Tegnér befindet sich auf einer litterarhistorischen Station, die halbwegs zwischen den zwei Punkten, Walter Scott und Byron, liegt. Ein halbes Jahrhundert seines Lebens fällt mit den Lebzeiten Goethe's zusammen und er erlebte Byron ganz. Von dem ersteren, den zu verstehen ihm schwer wurde, lernte er wenig; am empfänglichsten zeigte er sich dem Goetheschen Einfluss, wenn derselbe ihm durch Oehlenschläger zukam; für Byron'sche Eindrücke hatte er ein offeneres Gemüth, hielt sich jedoch tapfer von jeglicher Ansteckung frei, was ihm in hohem Grad durch die romantisch-idealistische Vaccine, die ihm früh eingeimpft worden, erleichtert ward. Er war als Dichter zu erfüllt von seinem Ich, um das Unpersönliche in der schöpferischen Begabung Goethe's zu verstehen, andererseits war sein Ich nicht tief genug, um Byron auf seinen Entdeckungsreisen innerhalb des Ichs zu folgen. Er ist wie Scott und Oehlenschläger national, genau an sein Land, sein Volk und dessen heroische Vorzeit gebunden; aber es liegt in seinem Wesen eine Tendenz zum ausgeprägt Persönlichen; er nähert sich dem Byronschen Typus in einer gewissen Entfernung. Sobald im Jahre 1820 der 16. bis 19. Gesang von »Frithiof« erschienen waren, ging _eine_ Stimme der Bewunderung durch Schweden. Selbst die Romantiker streckten gerührt die Hand zur Versöhnung aus. Noch bevor das ganze Werk (1825) fertig vorlag, hatte sich Tegnér's Ruhm in die Nachbarländer verbreitet, namentlich nach Deutschland, wo Tegnér's erste Uebersetzerin, die als Goethe's Freundin bekannte Frau Amalia v. Helvig, den alten Dichter mit Fragmenten von Frithiof bekannt gemacht und ihn dafür gewonnen hatte. Er leitete die Aufmerksamkeit der Deutschen darauf hin, und obwohl das, was er in seinem zopfigen Altersstil über Tegnér geschrieben hat, kaum ein Dutzend Zeilen ausmacht, begreift man, zu welcher Begebenheit eine Anerkennung von Goethe's Seite in einem kleinen Lande wie Schweden heranwuchs. Goethe's Worte lauten: »Wie vorzüglich diese Gedichte seien, dürfen wir unsern, mit dem Norden befreundeten, Lesern nicht erst umständlich vorrechnen. Möge der Verfasser aufs eiligste das ganze Werk vollenden und die werthe Uebersetzerin auch in ihrer Arbeit sich gefallen, damit wir dieses See-Epos in gleichem Sinn und Ton vollständig erhalten. Nur das Wenige fügen wir hinzu, dass die alte, kräftige gigantisch-barbarische Dichtart, ohne dass wir recht wissen wie es zugeht, uns auf eine neue sinnigzarte Weise und doch unentstellt, höchst angenehm entgegen kommt«. Noch heute werden die Schweden nicht müde, davon zu sprechen. Die Bewunderung für Tegnér stieg in seinem Vaterland mit der steigenden Popularität des Gedichts, ja stieg nach seinem Tode so stark, dass sie ungefähr alle Kritik ertränkte und zuletzt in solchen Uebertreibungen gipfelte, wie derjenigen Mellin's, Tegnér als »grössten Dichter der germanischen Menschenrace« zu proclamiren. _Die_ Huldigung des Mannes aber ist und bleibt die beste, die zugleich eine Huldigung der Wahrheit ist. X. Ich stand auf meines Lebens kühnsten Höhen, Wo sich die Wasserzüge theilen, wo Nach beiden Seiten ihre Ströme gehen. Dort war es schön, die Welt so reich und froh, * * * * * Da stieg ein finstrer Dämon auf, und schnöde Biss mir am Herzen sich der Schwarze ein. Und siehe, wüst war Alles nun und öde; Der Mond erlosch, es schwand der Sterne Schein. Von meinem Eden wich die Morgenröthe, Die Blume starb, es welkte jeder Hain, Des Lebens Mark verdorrte mir im Herzen, Und Muth und Freude kehrten sich in Schmerzen. Noch während Tegnér beschäftigt war, die letzte Hand an seinen »Frithiof« zu legen, brachen die Furien, die an seiner Schwelle gekauert hatten, hinein, schüttelten vor seinen Augen ihre Schlangenlocken und griffen nach ihm mit ihren mageren. Armen Es waren die Furien der Krankheit, der Leidenschaft, des Lebensüberdrusses und des beginnenden Wahnsinnes, und sie gaben einander die Hand und tanzten um ihn einen Reigen. Das Jahr 1825, dasselbe, in welchem »Frithiof« erschien und durch alle Winde seinen Ruhm verkündete, ward das grosse Jahr der Krisis in seinem Leben. Sowohl körperlich wie geistig war die Krise; sie hat gewiss eine rein physische Seite; aber selbst davon abgesehen, dass diese auch einem Arzte dunkel sein würde, ist es doch nur die seelische, die der Kritiker studiren kann, und diese scheint ausserdem unzweifelhaft die erste Ursache gewesen zu sein. Diese seelische Katastrophe ist indessen fast ebenso dunkel, wie die körperliche. Sie ist besonders deshalb bisher unbeachtet gewesen, weil die Ausgaben der Tegnér'schen Poesien von seinen überlebenden Verwandten _in usum delphini_ gemacht sind. Die Periodeneintheilung ist völlig verwirrend, die Gedichte sind sparsam datirt, ja, wie ich entdeckt habe, sind mehrere Liebesgedichte gegen fünfundzwanzig Jahre vordatirt worden, um bei dem Leser den Glauben hervorzubringen, sie wären an Tegnér's Frau als seine Braut gerichtet. »Die Melancholie«, das Gedicht, von welchem eben anderthalb Strophen angeführt wurden, ist noch in der letzten Ausgabe undatirt zwischen einem Gedicht von 1812 und einem anderen von 1813 eingeschoben worden. Es lässt sich durch Tegnér's Briefe beweisen, dass es aus 1825 stammt. Dieses Jahr beginnt für Tegnér mit heftiger Krankheit; am Neujahrstag selbst wird er so krank, dass er glaubt, sterben zu müssen. Im März schreibt er, dass sein Gemüth mit jedem Tage düsterer wird. »Gott bewahre mich vor Melancholie und Menschenhass«, heisst es. Im Juli: »Blindheit kommt mir als das schrecklichste irdische Unglück vor -- nächst einem, das ich selbst erfahren habe«. Alles, was ihn früher erfreute, ist ihm jetzt verhasst. Die Krankheit dauert als innere Unruhe, doch ohne eigentliche, körperliche Schmerzen, fort. »Meine Phantasie, die schon im voraus leicht beweglich war, ist jetzt wie ein Strudel, der alles, was er ergreift, umdreht und zermalmt«. Die Aerzte glauben, dass seine Leber angegriffen sei. »Die Thoren! die Seele ist angegriffen und für sie gibt es kein anderes Heilmittel, als das, welches von der grossen Universalapotheke jenseits des Grabes geholt wird«. Er erklärt, seinen Freunden nicht die Ursache seiner Leiden mittheilen zu können. Im November fängt die Heftigkeit an, einer gewissen Ruhe zu weichen. Er macht, heisst es, täglich gute Fortschritte in der Gleichgiltigkeit, in welcher das Glück und die Weisheit des Lebens bestehe. Die Bestimmung des Weisen sei, immer mehr Schildkröte zu werden. So lange er einen einzigen entblössten Gefühlsnerv habe, sei sein Wesen das Eigenthum der Qualen. Er fühlt »wie ein Bodensatz von Verachtung des zweibeinigen Geschlechts sich am Boden seines Herzens absetze«. »Ach«, ruft er aus, »das rechte innere Leid, das starke Seelen angreift, ernährt sich selbst, wie der Krieg, wenn er richtig organisirt ist, oder wie ein wildes Thier, wenn es ausgewachsen ist, es thut«. An seinem Geburtstage, dem 13. November, versinkt er in die tiefste Melancholie: man solle wie die Aegypter den Todestag feiern. Was ihn besonders verstimmt, ist, dass dieser Geburtstag der letzte sei, den er in Lund verbringe, wo er 26 Jahre verbracht habe; er solle jetzt zum Bischof ernannt, mit Fremden, die ihn nicht verstehen werden, verkehren; er werde als Bischof ein desorganisirtes Stift bekommen und werde als Despot verschrieen werden. In früherer Zeit sei ihm dies gleichgiltig gewesen; damals kümmerte er sich nicht um den Mob; jetzt sei er aber nervenschwach, hypochonder und verstimmt und beginne die Menschenfurcht zu verstehen. »Und doch ist dies nicht meine einzige, nicht einmal meine grösste Sorge. Doch die Nacht schweigt und das Grab ist stumm; ihrer Schwester, der Trauer, gebührt's ebenso zu schweigen«. Als er endlich, am letzten Tage des Jahres die Bilanz zieht von dem, was er darin gelernt und gewonnen hat, schreibt er: »Ach! das alte Jahr, was ich in ihm gelitten habe, weiss Niemand, wenn nicht vielleicht der Protokollist dort oben über den Wolken. Aber ich bin dem Jahre verpflichtet. Es ist finsterer, aber auch ernster gewesen als all' die andern zusammen. Ich habe auf eigene Kosten gelernt, was ein Menschenherz aushalten kann ohne zu brechen, und welche Kraft Gott unter die linke Brustwarze eines Mannes niedergelegt hat. Wie schon gesagt, ich bin dem Jahre verpflichtet; denn es hat mich reich gemacht an dem, was die Grundsumme menschlicher Weisheit und Selbständigkeit ist, einer kräftigen, tief wurzelnden Menschenverachtung«. Die Reizbarkeit des Nervensystems lässt ihm keine Ruhe weder am Tage noch in der Nacht: »Mein Gemüth ist unchristlich, denn es hat keinen Sabbath ... Mineralwasser kann ich in dem kommenden Sommer nicht trinken. Aber gibt es nicht ein Mineralwasser, das 'Lethe' heisst?« Was ist geschehen? Dass körperliches Leiden und Kränklichkeit selbst in sehr hohem Grade sich hier finden, ist unzweifelhaft. Esaias Tegnér hatte einen älteren Bruder, Johannes, gehabt, der geisteskrank war und neununddreissig Jahre alt im Wahnsinn starb; der jüngere Bruder brütete immer über dem Gedanken, dass der Wahnsinn ein Familienerbe sei. Thomander, der spätere Bischof, der im März 1825 Tegnér besuchte, schreibt über ihn: »Er hat jetzt mehr dunkle Stunden als vorher; manch' Einer, aber Niemand so sehr wie er selbst, fürchtet für seinen Verstand; es ist seine fixe Idee, dass er geisteskrank werden wird, weil sein Bruder und andere Verwandten es geworden sind«. Niemand kann aber in Zweifel sein, dass die Melancholie, die sich so plötzlich über Tegnér's heiteres und frisches Gemüth warf, andere Ursachen als Krankheit hatte; allzuviele Aeusserungen deuten auf ein bestimmtes, concretes Factum hin, zwar ein Factum, das er nicht mittheilen will, aber dessen Beschaffenheit er doch bezeichnet. Es ist »das Herz«, das getroffen worden. Es ist Menschenverachtung, die ihn überwältigt hat. Es ist Verachtung vor »dem Charakter« eines anderen Menschen, welche die erste Ursache seines Lebensüberdrusses ist, und dieser Mensch ist ihm lieb oder »lieb gewesen«. Man braucht nicht Tegnér tief studirt zu haben, um zu schliessen, dass hinter diesem eine Frau steht, und dass alle jene Ausbrüche sich auf eine unglückliche oder unbefriedigte erotische Leidenschaft oder auf eine erotische Enttäuschung zurückführen lassen. Unter den Briefen des Bischofs Thomander finde ich einen von 1827, worin erzählt wird, dass Tegnér, als er noch in Lund war, für die schöne Frau eines seiner Freunde warme Gefühle hegte. Von deren Clavier ging er nie fort, wenn sie sang. »Holde Rose!« von Atterbom war sein Lieblingsstück. Thomander schreibt, er habe in einem Hause, in welchem er mit Tegnér zusammentraf, die ältere Tochter gewarnt, »Holde Rose!« zu singen, weil er wusste, »dass dann der böse Geist über Saul käme«; durch ein Missverständniss sei aber das Verbotene geschehen, und von dem Augenblick ab sei die gute Stimmung Tegnér's auf ganze Tage verschwunden[41]. In einem Briefe Tegnér's vom Mai 1826 heisst er in Uebereinstimmung hiermit: »Gesang zu hören, daran hatte ich mich besonders in den letzten Jahren in Lund gewöhnt, wo ich täglich Gelegenheit hatte, eine Frauenstimme zu hören, die noch immer in meinem Herzen widerhallt«. An die Dame, von welcher hier die Rede ist, hatte Tegnér schon 1816 für seinen Freund eine Art versificirten Freierbrief geschrieben, in welchem ihre Schönheit, ihre Herzensgüte und ihr Gesang verherrlicht wird. Er spricht hier von der Gefahr, in ihre Augen zu sehen. Es scheint, dass, was damals im Scherz eine Gefahr genannt wurde, mehrere Jahre später eine wirkliche Gefahr für Tegnér geworden ist. Es scheint, dass seine Bewunderung für das Wesen und die Talente der schönen Dame langsam zur Leidenschaft gestiegen, und dass diese Leidenschaft erwiedert worden ist. Die locale Tradition weiss über dieses Verhältniss, welches überdies sein häusliches Glück nicht unberührt gelassen haben kann, nicht wenig zu erzählen. Es hat ihm jedenfalls die Trennung von Lund sehr erschwert. Noch lebende Zeitgenossen Tegnér's haben mir ausserdem eine Begebenheit mitgetheilt, die zu seiner Menschenverachtung, besonders seiner Verachtung des Weibes einen wesentlichen Beweggrund abgab. Er hatte lange einer vornehmen und begabten schwedischen Dame gehuldigt, deren Name oft in seinen Schriften vorkommt. 1824 hörten der Verkehr und der Briefwechsel plötzlich auf. Das einzige Lebenszeichen, das Tegnér ihr gegenüber gab, war, dass er ihr »Frithiof« schickte, jedoch mit einer so vorwurfsvollen Zueignung, dass sie das Blatt aus dem Buche ausschnitt. Es scheint, als habe Tegnér erfahren, dass diese Dame, die er so hoch schätzte und der er so nahe stand, sich einem völlig rohen und ungeschlachten Menschen hingegeben hatte. War er so empört, thierische Leidenschaft dort zu treffen, wo er die Krone der weiblichen Bildung und Schönheit verehrt hatte, dass in seinem krankhaften Zustand diese Entrüstung über ein einzelnes Wesen zum allgemeinen Ekel an den Frauen und am Leben heranwuchs? Ich kann die Frage nicht entscheiden. Ich sehe nur, dass die bittere Schwermuth in das vormals so gute Schiff seines Schicksals das Loch bohrte, durch welches die schwarzen Gewässer der Misanthropie und des Wahnsinnes hineinströmten und Alles überspülten. Während des Schiffbruches schrieb er dann die melancholischen Verse: Dich, mein Geschlecht, fürwahr, dich muss ich preisen. Dich, Gottes Abbild, strebend himmelan. Zwei Lügen hast du dennoch aufzuweisen: Weib heisst die eine, und die andre Mann. Von Treu' und Ehre singen alte Weisen, Am besten singt sie, wer betrügen kann. Du Himmelskind, das Wahre, was dir eigen, Das ist auf deiner Stirn das Kainszeichen. Ein deutlich Merkmal, dir von Gott gegeben! Wie hatt' ich früher auf das Schild nicht Acht! Ein Moderduft durchzieht das Erdenleben, Den Lenz vergiftend und des Sommers Pracht. Nur aus der Gruft kann dieser Hauch sich heben, Zwar an den Gräbern hält der Marmor Wacht -- Doch ach! Verwesung heisst des Lebens Seele, Durch keine Macht gebannt in ihre Höhle. Die Missstimmung, in welche Tegnér's Seele in der letzten Zeit, während »Frithiof« in Arbeit war, verfiel, hat selbst in diesem heiteren und harmonischen Gedichte Spuren hinterlassen. Einer der zuletzt verfassten Abschnitte ist der, welcher den Titel »Frithiof's Rückkehr« führt. Sein Inhalt ist ausnahmsweise der altnordischen Sage nicht nachgebildet: Frithiof kehrt heim, erfährt, dass Ingeborg sich zur Hochzeit mit König Ring habe überreden lassen und erschöpft sich in seiner ersten Erbitterung in einem Strom von Zorn über die Treulosigkeit der Geliebten. Kein kritischer Leser kann übersehen, wie nahe dieser Ausbruch mit den obenangeführten Strophen der »Melancholie« verwandt ist: »O Weiber, Weiber«, nun Frithiof sagte, »Das Erste, welches bei Loke tagte, War eine Lüg', und in Weibsgestalt Trat hin die Falsche zum Mann alsbald. Mit blauen Augen, die stets berücken, Mit falschen Thränen, die stets entzücken, Die Wangen rosig, der Busen weiss, Mit Treue schwindend wie Frühlingseis. Es flüstern Falschheit und Trug im Herzen, Meineide stets auf den Lippen scherzen, Und theuer war mir die Falsche doch! Wie theuer war sie! wie ist sie's noch! * * * * * In Menschenbrust ist die Falschheit nur -- Seit Ingborg's Stimme den Meineid schwur, * * * * * Ich treff' auch wohl in der Streiter Schwarm Ein Bürschchen an mit verliebtem Harm; Auf Treu' und Ehr' will der Narr noch bauen? Aus Mitleid will ich ihn niederhauen; Ich will ihm sparen, dereinst zu stehn Beschimpft, verrathen, wie mir geschehn.« Wir gewahren hier in Frithiof's Innerem denselben geistigen Process, welchen wir eben im Gemüthe Tegnér's beobachteten. Er verurtheilt nicht das einzelne Weib allein für ihre Untreue gegen ihn, sondern dehnt sein Verdammungsurtheil auf das ganze Geschlecht aus. »Das Weib ist eine Lüge,« sagt er wie der Dichter in der »Melancholie«. Ein Narr ist der, welcher auf »Treu' und Ehre« baut, das sind seine Worte hier wie dort. Die einzelne bittere Erfahrung dehnt sich bei Frithiof wie bei seinem Dichter aus zur Menschenverachtung und zum Lebensüberdruss. Kein Wunder, da sie noch näher als Vater und Sohn mit einander verwandt waren. Von jetzt ab ist das Capitel von der Treulosigkeit des Weibes als Weib das stehende Capitel bei Tegnér. Seine Briefe variiren dieses Thema. Es ist ihm z. B. unmöglich eine gute oder schlechte Uebersetzung zu nennen ohne entweder zu bemerken, dass schöne Uebersetzungen wie schöne Frauen nicht immer die treuesten, oder dass Treue und Schönheit selten gute Freunde seien. Er kann nicht von dem Geschenk einer Frau sprechen ohne ihr Herz die schlimmste, die gefährlichste Gabe zu nennen, die sie geben könne. Die Frauen im allgemeinen betrachtet er jetzt wie eine Art »Geselligkeitsmaschinen oder Spieldosen, die recht artig klingen, wenn sie gehörig aufgezogen werden«. Was die Liebe betrifft, so sei sie eine solche Selbstmörderin, dass sie, sobald sie nicht vergeblich seufze, durch sich selber sterbe. Ueber Ingeborg schreibt er: »Ihre Treulosigkeit gegen ihren Liebhaber ist zwar schon durch die Natur des weiblichen Herzens motivirt, musste aber doch von einem Poeten, der sich gegen das schöne Geschlecht gern artig benimmt, auf irgend eine Weise vergoldet werden«. Ja so hartnäckig wurde nach und nach bei Tegnér diese Gewohnheit, das Weib als unzuverlässig und unstet zu schildern, dass er noch viele Jahre später, wenn er als Bischof seine Schulreden hielt, ausser Stande war, die Schuljungen mit seiner Theorie zu verschonen. In einer Rede von 1839 preist er die Knaben glücklich wegen des Reichthums an Hoffnungen, der ihrer Jugend gehört. Dann heisst es: »Die Hoffnung ist in allen mir bekannten Sprachen weiblichen Geschlechts und verleugnet auch nicht ihr Geschlecht. Es ist wahr, dass sie betrügt .... aber glaubt gern, glaubt lange an die schöne Betrügerin und drückt sie an Euer Herz«. Tegnér muss unleugbar von seiner Bitterkeit gegen die Frauen sehr erfüllt gewesen sein, um ihr bei einer so wenig schicklichen Gelegenheit, einem so wenig passenden Publikum gegenüber, Luft zu machen. Aber nicht diese einzelne leidenschaftliche Verstimmung allein kann von der Krise im Leben des Dichters datirt werden; von diesem Zeitpunkt ab beginnt überhaupt ein heftigerer, leidenschaftlicherer Ton in seinen Briefen und Poesien hervorzutreten. Es findet sich eine Shakespeareartig tragische Leidenschaft darin. Die Welt ist aus den Fugen, und wie soll sie durch Hamlet's Arm wieder in's Geleise gebracht werden können! Auf Ophelia verlässt er sich nicht mehr, sie gehe in ein Nonnenkloster, wenn sie sich rein bewahren will. Denn Schwachheit, dein Name ist Weib! Was ist das Leben? »Galgenfrist«. Und was ist die Weltgeschichte? »Hundetanz«. Ein widerliches Komödienspiel ist alles, was Hamlet rings um sich sieht und die Welt »eine gemalte Theaterdecoration mit papiernen Rosen und Opersonnenschein«. Er könnte wahnsinnig darüber werden, und er wird möglicherweise zuletzt darüber wahnsinnig; aber erst soll die Lüge und Jämmerlichkeit des Lebens ohne Gnade und ohne Schonung entlarvt werden. Es liegt eine wilde Rücksichtslosigkeit über Tegnér's Briefen von 1825, die nie früher bei ihm gespürt wurde. Man frage ihn z. B. nach seinen Berufsgenossen, den Theologen? Sie sind »Hesekiel's Cherube mit Ochsenköpfen, doch ohne Flügel«. Und die Bischöfe? »Geborene oder gewordene Hinfällige«. Und der Apostel Paulus selbst? »Griechische Sophistik auf jüdische Rohheit geimpft«. Was sagt er über das Königthum? »Die Macht ist ebenso lächerlich wie abscheulich, wenn sie in die Hände der Trivialität, der Hilfslosigkeit, der Dummheit fällt -- siehe den Staatskalender über Europa«. Und über die Vorsehung? »Die Vorsehung ist ein Begriff ohne jeglichen Halt. Ich weiss recht wohl, was Lessing und die anderen Deutschen behauptet haben, dass die Weltgeschichte das Staatsrathsprotokoll der Vorsehung sei; das ist ein hübsches Gedicht und ich könnte es wohl auch in Versen ausführen; aber nicht glaub' ich in Ernst daran«. Mir ist es, als ob ich unter allen diesen verzweifelten Reden über Menschenwerth und Weibertreue, über Könige und Bischöfe, Christenthum und Geschichte einen Unterstrom rieseln hörte von dem ergreifenden Klagegesang der »Melancholie«: Du, Wächter, sprich: Wie spät ist denn die Stunde? Wird diese Nacht denn nie zu Ende gehn? Es weicht und kehrt der Mond mit blut'ger Wunde, Thränenden Aug's die Sterne niedersehn. Wie mit der alten Jugendkraft im Bunde Schlägt stark mein Puls und spottet meinem Flehn. Wie unermesslich jedes Pulsschlags Schmerzen! Weh meinem blutigen, zerrissnen Herzen! XI. Kein Zug illustrirt besser die Civilisationsstufe Schwedens zu Tegnér's Lebzeiten als die Weise, in welcher Wissenschaft und Religion verknüpft waren. Das Verhältniss zwischen Staat und Kirche war so intim, ich hätte beinahe gesagt, so naiv, dass ein Professor schon als solcher zugleich Pfarrer war und dass die natürliche, die erwartete Beförderung für einen tüchtigen Professor in Griechisch, Botanik oder Geschichte die war, dass er -- Bischof wurde. Es war ein Staatshaushalt, der lebhaft an die private Haushaltung bei Moliére's Harpagon erinnert. Der Universitätslehrer, dessen Katheder in Lund am Sonntage mit der Kanzel auf dem Lande vertauscht wurde, war eine Art Maître Jacques mit dem Ornat über dem Professorrock, und musste, wie der berühmte Diener des Geizigen im Lustspiele, in jedem eintretenden Falle den Staat fragen: »Bitte, ist es Ihr Kutscher oder ist es Ihr Koch, mit dem Sie jetzt sprechen wollen? denn ich bin beides«. Die ursprüngliche Ursache, wesshalb Tegnér die Beförderung wünschte, war rein ökonomischer Natur; er hatte Schulden und die vermehrte Einnahme kam ihm sehr zu statten. Er war wie die Gebildeten seiner Zeit gewohnt, einen bestimmten Unterschied zwischen der esoterischen und der exoterischen Seite der Religion zu machen, und wenn er auch seinem Charakter nach sich als Heide fühlte, so waren seine Stimmungen doch oft fromm; er war zu viel Dichter, um sich nicht oft und leicht contrastirenden Eindrücken hinzugeben; so kam es, dass er in seinen Ueberzeugungen ursprünglich kein Hinderniss fand, das Bischofsamt anzunehmen. Doch kaum zum Bischof ernannt, fühlte er den tiefsten inneren Widerwillen gegen all' die Zweideutigkeit und Halbheit, in die er sich verwickelt sah und in der die Pflichten gegen seine Familie ihn festhielten. So stieg die Misanthropie und die Unlust zu leben, die im Jahre der Krise entstanden war, immer mehr. Energisch und pflichtgetreu, wie er war, warf er sich auf die äusseren Seiten seines Amtes; er wurde der Civilisator und Organisator seines Stiftes, ein feuriger, unternehmender Schuldirector, ein überlegener rücksichtslos eingreifender Erzieher seiner Pfarrer. Der rein bürgerliche Standpunkt, den er in seiner Auffassung der Kirche einnahm, ist ungefähr derselbe, den gleichzeitig in England der übrigens weit weniger freisinnige Coleridge einnimmt. »Die frühere religiöse Bedeutung der Kirche«, sagt Tegnér, »kann natürlich nicht wieder aufgerichtet werden, denn das System, auf welchem sie beruht, hat drei Jahrhunderte der Geschichte verschlafen, und es ist zu keinem Nutzen, dass Einer und der Andere thut, als ob er an die Nachtwandlerin glaube. Aber die Kirche hat auch eine bürgerliche Bedeutung, und sie kann und muss als integrirender Theil der menschlichen Gesellschaftsordnung aufrecht erhalten werden. Will man auch diese ihre Bedeutung der Schlaffheit und der Schlafsucht preisgeben, so sehe ich nicht ein, wesshalb nicht die Geistlichkeit mitsammt dem ganzen religiösen Apparat zum Besten der Staatskasse eingezogen werden sollte«. Um zu begreifen, wie stark er sich in Anspruch genommen fühlte, muss man wissen, dass der Predigerstand in Schweden sich damals in Bildung und Sitten auf gleich niedriger Stufe befand. Es galt, den Pfarrern die Elemente humaner Bildung beizubringen und die ärgsten Trunkenbolde unter ihnen zu entfernen. Man hatte ihm einen Augiasstall zu reinigen gegeben. Die geistlosen Beschäftigungen zehrten an seiner schon im voraus erschütterten Gesundheit und guten Laune. »Die Examina stehen jetzt bevor und ich muss acht Tage nach einander im Gymnasium sitzen. Dann Predigerexamen und Ordination. Dann nicht weniger als acht neue Kirchen einzuweihen in diesem Sommer. Und bei alledem soll geredet werden, um Nichts und für Nichts. Words, words, words, sagt Hamlet. Beklage mich, ich bin todtmüde von Reden, von Missmuth und muss doch immer wieder daran. Kein Mensch achtet darauf, was ich sage, und ich selbst auch nicht. Das nenne ich in die Luft reden und sein Leben in Ceremonien vergeuden«. Es kamen Augenblicke, wo alles Geistliche ihm ein Greuel war. In einem solchen schrieb er scherzend an einen Freund, den er bat, ihm ein paar Pferde zu kaufen: »Keine schwarzen; denn ich vertrage nicht die Pfaffenfarbe«. Es war ein trauriger Missgriff, der einen so modernen Geist in ein so mittelalterliches Costüm hüllte; das Ornat vermochte nicht ihn umzuwandeln, wie es so manchen Anderen umgewandelt hat; aber es peinigte ihn und verzehrte ihn nach und nach wie ein vergiftetes Nessushemd. Und doch war seine Glanzzeit noch nicht vorbei. Bevor seine Sonne unterging, war ihm noch ein prachtvolles Abendroth vorbehalten. Die vielen zerstreuten Wolken, die sich über seinem Haupte und in seinem Horizont gelagert hatten, machten, wie es zu gehen pflegt, nur den Sonnenuntergang glühender und reicher. Die Zeit des lyrischen Enthusiasmus war für Tegnér für immer vorbei; der Glaube an Zukunft und Fortschritt, der die Quelle des Lebensmuthes ist, war ja längst versiegt. Aber noch eine Fähigkeit hatte er in Reserve, ein Talent, das bisher der schaffenden Phantasie und der lyrischen Begeisterung untergeordnet gewesen war, die poetisch-rhetorische Gabe. Diese erreichte in seiner Bischofszeit ihre höchste Blüthe. Wie das Talent Tegnér's zur Hervorbringung der von ihm selbst sogenannten »lyrischen« Charaktere in Verbindung mit dem lyrischen Hang des ganzen schwedischen Volkes steht, so stimmt auch diese seine zweite Fähigkeit merkwürdig mit Grundeigenschaften seines Volkes überein. Die schwedische Nation hat eine besondere Gabe, zu repräsentiren. Der Schwede liebt, was sich gut ausnimmt, und versteht besser als Dänen und Norweger vortheilhaft zu arrangiren; er hatte in Sitte, Umgangsleben, Rede mehr Form und zugleich mehr förmliches Wesen, als die übrigen Skandinaven. Schon die Sprache ist ceremoniell, indem ihr das Anredewort »Sie« ganz fehlt, so dass Name oder Titel unaufhörlich wiederholt werden müssen. Kein nordisches Volk versteht wie das schwedische eine Procession, ein Fest, eine öffentliche Ceremonie, einen Einzug oder eine Krönung mit dem Zusammenspiel anzuordnen, das erforderlich ist, um die Wirkung zu sichern. Dieser nationalen Repräsentationslust, deren Pflanzschulen die Kirche und die Universitäten aus leichtverständlichen Gründen immer waren, entspricht eine eigene Art von nationaler, festlicher Beredsamkeit. Die schwedische Beredsamkeit ist pathetischer und prachtliebender als die der übrigen skandinavischen Völker. Sie hat etwas von dem geistlichen Schwung, den die Kirche mitbrachte, etwas von dem professorenartigen Gepräge, das die Universitäten bewahrten, und nahm endlich nach der Stiftung der schwedischen Akademie ein eigenes akademisches Element in sich auf, das man als einen Hang zum Euphemismus, eine Neigung, die Gedanken zu umschreiben und den Dingen schöne Namen zu geben, bezeichnen kann. Von den Mängeln dieser Redegabe hatte Tegnér nur wenige, aber er besass alles, was in dieser Schule entwickelt war von Kraft und Klang der Sprache, von Klarheit und Bilderpracht des Vortrags, von Fähigkeit, Stimmungen auszudrücken und eine ganze Versammlung in Stimmung zu bringen. All' dieses kam in Tegnér's Festreden und Festgedichten zur feinsten Blüthe. Sein berühmtestes Festgedicht ist das vom Jahre 1829 geworden. Studenten aus Lund hatten Oehlenschläger eingeladen, ihrer Promotion beizuwohnen und als Tegnér dies erfuhr, beschloss er, die Gelegenheit zu benutzen, mit einem der für die Magister des Tages bestimmten Lorbeerkränze Adam Oehlenschläger zu krönen. Eine schwedische Idee und eine poetische; ausserdem die Idee eines edlen, nicht eitlen Dichters! So entfernt war Tegnér von jedem übertriebenen Streben nach Anerkennung, dass es ihm ganz natürlich war, einen anderen Dichter als seinen Meister zu bekränzen. Er hatte eben seine Rede geendet und den Rector aufgefordert, die Magisterpromotion zu beginnen, als er gegen Oehlenschläger gewendet, der am Hochaltare in der Domkirche stand, noch ein Mal das Wort ergriff und den Rector anredete: Aber bevor du den Lorbeer vertheilst, so schenke mir einen. Nicht für mich; in dem Einen jedoch will Alle ich adeln. Nordens Sängermonarch ist hier, der Adam der Skalden, Erbe des Throns im Reich des Gesangs, denn der Thron ist Goethe's. Wüsste doch Oscar darum, im Namen des Theuren geschäh' es. Nun nicht ist's in dem seinen, noch minder in meinem, es ist im Namen des ew'gen Gesangs, lauttönend in Hakon und Helge, Dass ich dir biete den Kranz; er wuchs wo Saxo gelebt hat. Hin sind die Zeiten der Trennung -- im Reiche des Geistes, dem freien Sollten ja nimmer sie sein -- und verschwisterte Lieder ertönen Ueber den Sund und entzücken uns jetzt, und vor allen die Deinen. Drum beut Svea den Kranz dir -- ich sprech' im Namen von Svea: Nimm von dem Bruder ihn an, und trag' ihn zur Ehre des Tages. Und unter dem Getöse von Pauken, Trompeten und Kanonen setzte er den Kranz auf Oehlenschläger's Haupt. Mag die Inscenirung nur dem Augenblicke gehören, Pauken, Trompeten, Kanonen, die ganze Janitscharenmusik im Momente verschwinden! Es war doch ein grosser und schöner Augenblick, und die Erinnerung daran hat, wie wenige andere, die nordischen Völker mit einander verbrüdert. XII. Das Jahr 1830, das Frankreich die Julirevolution brachte, veränderte dadurch in Schweden die politischen Stimmungen und bald die politische Situation; das Jahr gab dem Liberalismus einen neuen Aufschwung, modificirte bedeutend seine Zwecke und veränderte die Sprache seiner Presse. Vor 1830 war das Ideal der schwedischen Liberalen Freiheit gewesen; jetzt wurde es Demokratie. Selbstverständlich trieb das Hervorrücken des Liberalismus die conservativen Gruppen zur entgegengesetzten Aeusserlichkeit. Upsala war das Hauptlager der reactionären Partei; hier herrschte Geijer, und die loyalen Studenten folgten ihm so treu, dass sie in einem Ständchen an Karl Johann es als ihre Pflicht bezeichneten _obéir, mourir et se taire_. Zum Vergelt nannte die Stockholm'sche liberale Presse Upsala ein faules Torynest und die Universitätsprofessoren vertrocknete Maulwürfe. Eine neue Journalistik entwickelte sich, die unter dem herrschenden Absolutismus nur durch einen persönlichen, ausgelassenen Ton sich Gehör verschaffen zu können meinte. Der Stil dieser Presse war verwegen und scharf; sie verletzte mit Nadelstichen und Persiflage. Man schonte weder den Hof noch die Person Karl Johann's. Gefiel dieser Ton auch in einigen hauptstädtischen Kreisen, so erregte er in den altväterischen Provinzen einen lebendigen Unwillen, bei Keinem einen stärkeren, als bei Tegnér, dessen zerrissenes Gemüth allzu verstimmt war, um das Gute sehen zu können, das möglicherweise einmal mit der Zeit von all' diesen Sünden gegen den guten Ton hervorgehen könnte. Er überhörte das Berechtigte in dem Anspruch auf neue Staatsformen, während er allein für den Mangel an Ehrerbietung vor dem Ruhm des alten Königs ein scharfes Gehör hatte. Er legte einen leidenschaftlichen Protest dagegen ein, und die liberalen Blätter fielen wie Wespen über ihn her. Die Folge war, dass er sich bald nicht nur gegen die liberale Presse, sondern auch gegen die von ihr verkündeten Lehren wandte. Geistesaristokrat, wie er war, widerte das demagogische Wesen ihn an; zum idealen Begriffe vom Volke hatte er sich kaum sogar in seiner besten Zeit erhoben, und jetzt, nachdem aller Glaube an menschliche Reinheit und Seelenschönheit in ihm zerstört worden, konnte er sich weniger als je dazu erheben. Und unter diesen Umständen musste er als Fach-Politiker auftreten, indem er als Bischof an den Reichstagsverhandlungen zu Stockholm Theil nahm. Es kann nicht Wunder nehmen, dass es jetzt in entschieden conservativer Richtung geschah; ja Tegnér trat sogar als ein wahres _enfant terrible_ des Conservatismus auf, denn wenn der alte streitbare Geist über ihn kam, schonte er weder Freund noch Feind. Durch alles, was er jetzt schreibt oder im Reichstage spricht, ziehen sich die bitteren Ausfälle gegen die neue Form von Journalistik, die ihm als das sichere Kennzeichen von Schwedens Verfall erschien. Man höre seine Sprache: Die schwed'schen Farben waren blau und gelb, Es kleidete in sie sich Kraft und Ehre. Schmutz ist jetzt Nationalfarb', und die Lüge Eu'r Heldenlied, das Schmäh'n ist losgelassen Sechs Tage, ja wohl sieben in der Woche. Sein Auge späht in's Leben jedes Hauses, Es liegt sein Ohr vor jedem Schlüsselloch -- Ihr Männer Schwedens, ist _das_ eure Freiheit? Seine Krankheit hatte seit dem ersten Ausbruch ihm nicht Ruhe gelassen. Eine Badereise nach Karlsbad im Jahre 1833 brachte keine Linderung, geschweige denn Genesung. Der wesentliche Nutzen, den die Reise zur Folge hatte, war der rein geistige, dass Tegnér Deutschland etwas besser kennen lernte. Er hatte nur wenig Sympathie für dieses Land, dessen zu jener Zeit so dunkle Philosophie ihn zurückscheuchte, und das ihm litterarisch in das Aneignen fremder Schöpfungen, ohne denselben ein eigenes Gepräge geben zu können, aufzugehen schien. Er vergleicht die Deutschen mit dem kaspischen Meer, das eine Menge Flüsse aufnimmt, aber keinen Ablauf hat und alles in Nebelform verdunsten lässt. Auf der Reise, während welcher ihm als dem in ganz Deutschland berühmten Dichter grosse Aufmerksamkeit sowohl von Privaten wie von dem König Friedrich Wilhelm IV. erzeigt wurde, erhielt er wenigstens einen flüchtigen Eindruck der positiven Eigenschaften des Volks. Er schreibt u. A.: »Deutschland ist seiner tollen Nebelhaftigkeit zum Trotz unleugbar lange der Lehrstuhl Europa's gewesen, und Preussen ist unzweifelhaft jetzt die Intelligenz der civilisirten Welt«. Aber er war zu alt, um auf's neue in die Schule zu gehen, und doppelt lebensmüde, nachdem die Hoffnung auf Besserung vereitelt worden, kehrte er zu seinem geistestödenden Beruf und seinem vergeblichen Kampf gegen die politische Entwicklung in Schweden zurück. Sein Abscheu gegen die Presse, die er vergeblich zu bekämpfen suchte, ging so weit, dass sich zuletzt sein Herz sogar von Schwedens Land und Volk entfremdete. Er schreibt: »O mein armes Vaterland! Ueber die Publicisten selbst wundere ich mich nicht; sie leben vom Schmähen wie der Scharfrichter vom Köpfen und der Schinder vom Geisseln; aber was soll man von einem Volke sagen, von dem ganzen hochlöblichen schwedischen Volke, das solche Erbärmlichkeit nicht nur duldet, sondern ermuntert, kauft, liest, bewundert? Es kann nur so erklärt werden, dass die Nation ganz und gar Pöbel geworden ist, mit sehr wenigen Ausnahmen. Ich sehe nicht ein, dass anderes übrig bleibt, als Abschied zu nehmen, wenn nicht von Schwedens Land, so doch von der schwedischen Sprache, und Finnisch oder Lappisch zu schreiben«. Anderswo heisst es: »Mein Traum von der Ehre und gesunden Vernunft des schwedischen Volkes ist längst ausgeträumt und für immer zersplittert«. Und mit einer Wendung, die interessant ist, weil sie beweist, wie nah verwandt nach der eigenen Empfindung Tegnér's seine Streitbarkeit den Liberalen gegenüber mit seiner Bekämpfung der Romantiker war, schreibt er: »Du kannst dir leicht vorstellen, was ich von dem königlich schwedischen Publikum denke. Den Gedanken -- ein Traum war es -- dass sich mit einem solchen Mob etwas ausrichten liesse, hab' ich längst aufgegeben. Sie sind und bleiben verworfen. In welcher Form auch die Thorheit auftritt, politisch oder litterär, als Phosphorismus oder als Rabulismus, so ist die Masse bereit, ihr zuzufallen. Ein so erbärmliches Geschlecht ist des Pulvers nicht werth«. Diese Aeusserungen sind alle von 1839 und dem ersten Monat des Jahres 1840. Eine solche Wucht von Hoffnungslosigkeit und Menschenverachtung konnte den stärksten Geist zum Unterliegen bringen, wie viel mehr einen, den sechzehnjährige Krankheit untergraben hatte. Als Tegnér sich während des Reichstags 1840 in Stockholm aufhielt, trat die Katastrophe ein. Der Wahnsinn brach aus. Er äusserte sich theils in wilden Ausbrüchen von Sinnlichkeit unter voller Geistesstörung, theils und am häufigsten im Entwerfen von kolossalen Plänen, riesigen Finanzoperationen, Plänen zu Völkerwanderungen und Welteroberungen. Der Stern war erloschen. Er entzündete sich wieder, um einige Jahre hindurch mit einem milderen, schwächeren Schein zu leuchten; aber sein rother Marsglanz kehrte nicht wieder zurück. Was muss der unglückliche grosse Mann nicht gelitten haben, bis der Wahnsinn zum entscheidenden Ausbruch kam! Schon 1835 sagte er zu Adlersparre, dass seine Seele brenne und sein Herz blute, dass aber seine Krankheit, der man den Kosenamen Hypochondrie gebe, mit seinem wirklichen Namen Tollheit heisse. »Es ist eine Erbschaft«, fügte er hinzu, »die los zu werden nicht in meiner Macht stand«. Bei seinem letzten Besuch in Wermeland sagte er: »Ich bin die personificirte Antisana, ich stehe mit den Füssen im Schnee, aber der Kopf brennt und speit Feuer«. Er weissagte, nicht lange Zeit vor sich zu haben, sprach aber mit Trauer über die Weise, in welcher er zu sterben verurtheilt sei: »Bissen für Bissen von dem tausendmäuligen Ungeheuer der Hypochondrie verschlungen«. Was hat er nicht gelitten! Ich gebrauchte den Ausdruck, dass die Furien über seine Schwelle stiegen. Er hat selbst seinen Jammer in einer ähnlichen Gestalt gesehen: »Du kennst nicht den Einfluss der Furie, an die ich getraut worden bin, ohne Pfarrer noch Brautjungfer, ja ohne gefreit zu haben. Sie ist von einem Alp und einem Vampir im Verein erzeugt, und selbst wenn sie nicht auf meiner Brust reitet oder mein Herzblut saugt, lässt sie mich verstehen, dass sie in der Nähe ist und in kurzer Zeit mich mit einem Besuch zu beehren gedenkt«. Wirkliche Geistesstörung muss nach einem solchen einleitenden Zustand fast als eine Erlösung gekommen sein. Die Aerzte befahlen die Reise nach einer damals sehr angesehenen Heilanstalt in Schleswig. Der Aufenthalt in dem Irrenhaus währte nicht lange; es ist aber interessant, selbst dorthin ihm zu folgen, so schön und eigenthümlich waren die Schwärmereien, die ihn peinigten. Eine Person, die ihn dorthin begleitete, hat uns folgenden wörtlichen Ausspruch von ihm während der Krankheit aufbewahrt: »Die ganze Verwirrung kommt von dem verdammten Eifer her mit dem Diadem, das sie mir auf den Kopf setzen wollten. Du kannst sonst glauben, dass es ein Prachtstück war: Bilder in Miniatur, nicht gemalt, sondern leibhaftige und wirklich existirende Miniaturen von vierzehn der edelsten Dichter bildeten einen Kranz. Da waren Homer und Pindar, Tasso und Virgil, Schiller, Petrarca, Ariost, Goethe u. s. w. Zwischen jedem Paar brannte ein strahlender Stern, nicht von Flittergold, auch nicht von Diamanten, sondern von wirklich kosmischem Stoff. Mitten vor der Stirn war ein Diadem in Form einer Lyra angebracht, die etwas vom eigenen Lichte der Sonne geliehen hatte. So lange diese Lyra still stand, war Alles gut -- aber auf einmal begann sie sich in einem Kreislauf zu bewegen. Schneller und schneller wurde die Bewegung, dass jeder Nerv in mir davor erzitterte. Zuletzt fing sie an sich im Kreise mit solcher Eile zu schwingen, dass sie zu einer Sonne verwandelt wurde. Da wurde mein ganzes Wesen bewegt und gebrochen; denn Du musst wissen, nicht um den Kopf, sondern um das Gehirn selbst war das Diadem geschlungen. Doch jetzt schwang es sich rings herum mit einer völlig unberechenbaren Gewaltsamkeit, bis es auf einmal zersprang. Dunkel, Dunkel, Dunkel und Nacht breitete sich über die ganze Welt aus, wohin ich mich auch wandte. Ich wurde verwirrt und schwach; ich, der ich immer Weichlichkeit bei Männern gehasst habe, ich weinte und vergoss brennend heisse Thränen. Alles war vorbei --«. Ist dies nicht eher die Poesie des Wahnsinnes, als der Wahnsinn selbst? Und wie tritt das wahre Wesen des Dichters, selbst in diesem sonderbaren Traum hervor -- dem Jugendtraum von Kränzen und Kronen, jetzt in der Schmiede des Wahnsinns rothgeglüht! Für den kühlen Lorbeerkranz, den er um Oehlenschläger's Haupt gewunden, hatten jetzt seine Nornen ihm diesen glühenden Ring um die Stirn gelegt. -- Glücklicherweise kühlte dieser Ring schnell wieder ab, und im Frühling 1841 war Tegnér wieder in seiner Heimath. In seiner letzten grösseren Dichtung (»Die Kronenbraut«), in welcher er sich selbst geschildert hat, sehen wir den alten Bischof als Dorfpatriarch von einer verehrenden Gemeinde umringt. Die Jahre glitten hin in der milderen Stimmung, die das Alter mit sich führte; ein Schlaganfall im Jahre 1843 meldete, dass der Tod nicht fern sei, und den 2. November 1846 hauchte der müde Dichter seinen letzten Athemzug aus. Werfen wir einen Rückblick auf die Entwickelung dieses Geistes, in dessen reichem Boden die Keime des Genies und des Wahnsinnes dicht neben einander wie in einer Doppelnuss lagen, so sehen wir dieses kräftige und heitere Gemüth wie einen Funken aus dem kieselharten Naturgrund des schwedischen Bauernstandes hervorspringen. Er saugt Nahrung aus der landschaftlichen Schönheit Schwedens und den alten Sagen Scandinaviens. Er schwärmt für That und Kampf und drückt seine Schwärmereien in einer Sprache von flammenvergoldeten Bildern aus. Er lernt den antiken Geist kennen, und sein angeborener Naturtrotz wird in einer griechisch-religiösen Harmonie gemildert. Sein religiöser Freisinn führt ihn zum politischen Freisinn und die religiöse Versöhnung seines Gemüths führt einen Versuch politischer Versöhnung der streitenden Tendenzen des Jahrhunderts mit sich. Dieser geistige Standpunkt bestimmt seinen litterarischen: die Verkündigung des Evangeliums der Klarheit, des Lichts und des Gesanges als Ausdruck der geistigen Gesundheit. Auf dieser Höhe führt er das epochemachende Werk seines Lebens aus, das ideale Bild vom nordischen Alterthum, wie die Zeitgenossen es sich träumten. Man muss, um gegen dies Werk gerecht zu sein, den Zeitpunkt festhalten, in welchem er entstand. Vergleicht man damit ein nordisches Meisterwerk unserer Tage (Björnson's »Bergliot« z. B.), so findet man es natürlich weder norwegisch noch nordisch; es ist nur relativ nordisch, aber die schönsten Lieder desselben sind unbedingt schön. Kaum war dies Werk vollendet, das bestimmt war, das entscheidende Zeugniss im Kampfe von der Bedeutung der poetischen Gesundheit zu liefern, so zeigte es sich, dass der Krankheitskeim in der Seele des Dichters so kräftig gewachsen war, dass es nur einer einzelnen seelischen Krise bedurfte, um den Lebensmuth, um den sich die hässliche Schmarotzerpflanze rankte, zum Verwelken zu bringen. Die Sommerzeit seines Lebens war dahin. Der Spätherbst brachte noch einige schöne Früchte, und der Stamm war todt. Der Eindruck, den ich am liebsten hervorbringen möchte, ist der, dass der Mann, welcher dem Namen Esaias Tegnér Weltruhm gab, vor allem ein ganzer Mensch war, in Fehlern wie in Tugenden eine grundehrliche, rechtschaffene Seele, leichtbeweglich, aber mit einer leuchtenden Liebe zum Schönen und Wahren. BJÖRNSTJERNE BJÖRNSON. (1882.) In seiner Rede bei der Enthüllung des Wergeland-Denkmals am 17. Mai 1881 sagte Björnson: »Ihr habt wohl alle davon gehört, dass Henrik Wergeland eine Zeit lang in seinem Leben mit den Taschen voll Baumsamen ging, ab und zu auf seinen Spaziergängen eine Handvoll auswarf und seine Kameraden überreden wollte, dasselbe zu thun, da Niemand wissen könne, was daraus aufgehen werde. Dies ist ein so treuherziger und rührend poetischer Zug von Vaterlandsliebe, dass es auf der Höhe des besten steht, was er geschrieben hat«. Was hier von Wergeland in buchstäblichem Sinne erzählt wird, das kann in höherem Sinne von Björnson gesagt werden. Er ist der grosse Säemann Norwegens. Das Land ist ein Felsenland; steinig, wild und kahl. Die Saat fällt auf felsigen Boden und manch' ein Samenkorn wird von dem Winde verweht; wo aber Erdreich ist, da ist es empfänglich; die Aussaat ist reich, und Björnson fährt unermüdlich in seinem Wirken fort. Sehr vieles von seiner Saat ist schon aufgegangen, und er denkt bei seiner Arbeit nicht an das jetzt lebende Geschlecht allein. Das Capitel, womit Björnson »Arne« und damit die Gesammtausgabe seiner Novellen eröffnet, enthält bekanntlich das Märchen von den Bäumen und dem Haidekraut, die den vor ihnen liegenden nackten Felsen zu bekleiden beschliessen. Nicht umsonst hat Björnson der chronologischen Ordnung seiner Erzählungen Abbruch gethan, um dies Capitel an die Spitze stellen zu können. Es drückt den Grundgedanken seines Lebens aus, den, sein Land zu bebauen, zu civilisiren. Darauf beruht es, dass er, der eine so feine und zarte Poesie zu dichten vermag, sich nicht für die gröbste Arbeit, diejenige des Journalisten und Volksredners zu gut hält, wenn es gilt, durch Bekämpfung eines Vorurtheils oder Irrthums, durch Verbreitung einer einfachen, aber noch unerkannten Wahrheit -- oder dessen, was ihm als solche erscheint -- die sittliche und politische Erziehung des norwegischen Volkes zu fördern. Er hat sich nie als blosen Dichter betrachtet. Er hat seine Sendung frühe im weitesten Sinne aufgefasst. I. Man braucht nur einen Blick auf Björnson zu richten, um sich zu überzeugen, wie vorzüglich er von der Natur für den heissen Kampf gerüstet wurde, den das litterarische Leben in der Regel mit sich führt. Man sieht nicht oft eine so kraftvolle Gestalt, wie geschaffen in Granit gehauen zu werden. Es gibt vielleicht keine Arbeit, die so wie die schriftstellerische Thätigkeit alle Lebensgeister erregt, die Sinne angreift, das Nervensystem verfeinert und schwächt. Es war aber keine Gefahr vorhanden, dass die Anstrengungen der dichterischen Erzeugung sich bei ihm wie bei Schiller auf die Lungen, oder wie bei Heine auf den Rücken schlagen könnten; es war nicht zu fürchten, dass feindselige Artikel jemals ihm, wie der Hauptperson Halfdan in seinem Drama »Der Redacteur« den Tod gäben. Dem Mark dieses Rückens gebrach nichts; in diesen Lungen fand sich kein Staub und sie kannten keinen Husten; diese Schultern waren geschaffen, die Stösse, welche die Welt gibt, unerschüttert zu ertragen und sie zurückzugeben. Und die Nerven! Wenn Björnson durch eigene Erfahrung begriffen hat, was man unter Nerven versteht -- und es ist wahrscheinlich, denn man ist nicht ungestraft Kind seines Jahrhunderts -- so ist er wenigstens als Dichter nie nervös, nicht wenn er fein, nicht einmal wenn er empfindsam ist. Er hat nichts von jener Ueberverfeinerung, die ein leichter Grad von Krankhaftigkeit und Müdigkeit mittheilt. Stark wie das Raubthier, dessen Name zweimal in seinem Namen vorkommt[42], steigt er vor der Erinnerung auf mit dem mächtigen Kopf, dem festgeschlossenen Mund und dem scharfen Blick hinter der Brille. Sein Aeusseres verräth den Pfarrerssohn, Stimme, Mienenspiel und Handbewegungen deuten auf eine schauspielerische Begabung, wie sie oft bei Dichtern vorkommt, wenn auch selten in so ausgesprochener Weise. Litterarische Feindschaften würden unmöglich diesen Mann zu Boden werfen können und für ihn existirte nie die grösste Gefahr für den Schriftsteller (eine Gefahr, die mehrere Jahre lang sogar seinem grossen Nebenbuhler Henrik Ibsen drohte), dass sein Name todt geschwiegen werde. Er trat schon als ganz junger Schriftsteller (als Theaterrecensent und Politiker) so kampfeslustig in die Litteratur hinein, dass dröhnender Lärm um ihn entstand, wo er sich zeigte. Er hatte wie sein Thorbjörn in »Synnöve Solbakken« die Rauflust des Starken, aber er stritt wie sein Sigurd in »Sigurd's Flucht« nicht allein um seine Kräfte zu üben, sondern aus naiver, lebendiger, freilich oft irrender Gerechtigkeitsliebe. Er verstand es jedenfalls von Grund aus die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Damit soll nur gesagt sein, dass er bei seinem sanguinischen, sonnigheiteren Wesen, sich im vollen Tageslicht des Lebens wohl fühlte. Von der Lichtscheu, die ein so häufiger Temperaments- oder Charakterzug bei zurückhaltenderen Naturen, welche stets etwas zu überwinden haben, wenn sie körperlich oder geistig ihre Persönlichkeiten zur Schau stellen müssen, hatte er nichts. Ibsen hat in seinem Gedichte »Lichtscheu« dieses Gefühl geschildert: Nun schlagen des Tages Fratzen, Des Lebens lärmende Lust, Die mitleidslosen Tatzen In meine verwundete Brust. Doch birgt mich mit nächt'ger Hülle Der Finsterniss Schreckensflor. So rüstet sich all' mein Wille So adlerkühn wie zuvor. Fehlt aber des Dunkels Schwinge, So weiss ich mir Armen nicht Rath. Ja wenn ich einst Grosses vollbringe, So wird's eine dunkle That. Kein Naturell ist Björnson ferner, als das, welches diese schönen, muthigen Worte schildern, die auf »Ein Puppenheim« und »Gespenster« im Voraus hinzudeuten scheinen. Seinem Wesen nach ist er halbwegs Clanhäuptling, halbwegs Dichter. Er vereinigt in seiner Person die beiden im alten Norwegen hervortretenden Gestalten: den Häuptling und den Skalden. Er ist in seinem Gedankengang halb Volkstribun, halb Laienprediger, d. h. er verschmilzt in seinem öffentlichen Auftreten das politische und religiöse Pathos seiner norwegischen Zeitgenossen, und zwar fast noch mehr, nachdem er sich von der Orthodoxie losgerissen hat, als zuvor. Da Björnson ein Pfarrerssohn ist, scheint der Hang zum Predigen bei ihm ererbt zu sein. Er ist der geborene Missionär. Der Inhalt der von ihm verkündeten Religiosität war ursprünglich der der Rechtgläubigkeit. Als er dann während seines Entwicklungsganges sich genöthigt sah die Orthodoxie fahren zu lassen, blieb der Verkündigungstrieb unverkümmert derselbe. Auch veränderte sich die Verkündigung formell ganz und gar nicht. Nur trat an die Stelle der Dogmenlehre der Rechtgläubigkeit, nunmehr die Moral der Rechtgläubigkeit. Ein Beispiel: Eine Begebenheit, eine so merkwürdige Erscheinung, wie die überraschenden Siege Deutschlands über Frankreich 1870 musste auf jeden Zeitgenossen nothwendig Eindruck machen. Der philosophisch veranlagte Beobachter würde sich bemühen, den verwickelten Knäuel der Ursachen zu entwirren, würde untersuchen, welche dem Kriegswesen, der Verwaltung, der Staatskunst, der Verstandesbildung entsprangen, und welche rein geistige Gründe zum Sieg und zur Niederlage vorlagen. Für den priesterlich veranlagten Beobachter giebt es in solchen Fällen nur eine einzige Ursache: die religiös-moralische. Der Sieg ist stets der Lohn der Frömmigkeit oder Keuschheit. So für Björnson. In Jahresfrist nach dem Kriege, als er noch rechtgläubig war, schrieb er den Sieg der deutschen Heere dem Umstande zu, dass die deutschen Offiziere noch von Luthers Zeiten her, einige »kräftige Psalmen« hatten, die sie vor der Front sangen. Fünfzehn Jahre später bezeichnete er in einem in dem skandinavischen Verein in Paris gehaltenen Vortrage als Ursache die vermeintliche geschlechtliche Unsittlichkeit der französischen Heerführer, die er mit äusserst drastischen, ob auch nicht ganz so zuverlässigen Zügen ausmalte. Wer den deutschen Offiziersstand nur im entferntesten kennt, wird die Naivetät belächeln müssen, mit der Björnson die Sage von dessen Sittenreinheit für baare Münze nahm. Diese Naivetät konnte jedoch nicht in Verwunderung setzen. Er hatte keine Wahl. Gab _das Lutherthum_ nicht mehr den Ausschlag -- und Björnson hatte seine Orthodoxie in der Zwischenzeit aufgegeben -- so musste es _die Ehrbarkeit_ sein. Er nahm naturgemäss seine Zuflucht zu dem Factor, welcher der Religion am nächsten lag. Die Ursache wechselt mit seiner fortschreitenden Entwicklung, wird jedoch so wenig als möglich verschoben. Und für die Menge ist es ganz ebenso einleuchtend und beifallswürdig, dass die Franzosen Prügel bekamen, weil sie frivol als weil sie irreligiös waren. Es ist das Kennzeichen aller theologisch veranlagter und erzogener Menschen, dass die Geschlechtsmoral, und zwar in ihrer elementaren Gestalt, ihnen fast schon die ganze Moral ist und selbst nicht eben schwierige Siege auf deren Gebiete von ihnen als ungeheuere Triumphe der Sache des Guten verherrlicht werden. Ein Beispiel dieses Gedankengangs hat man im Vorspiel zu Björnson's Drama »Der König«. Hier nähert sich auf einem Maskenball der übelberüchtigte Herrscher des Landes einer jungen, stolzen, wohlerzogenen Dame und appellirt ohne sie je zuvor gekannt, ohne den geringsten Versuch gemacht zu haben, ihr Herz zu gewinnen, mit einer rohen Beschreibung von »kühlen Bogengängen mit Thüren zu dunkeln Gemächern«, dahin er sie führen werde, an ihre Sinne. Von einer wirklichen Versuchung kann hier kaum wohl die Rede sein. Jede junge Dame, die gewohnt ist, etwas auf sich zu halten, würde diesen plumpen, schmutzigen Antrag zurückweisen. Clara thut dies mit Verachtung. Niemand wird leugnen wollen, dass dies, wie man zu sagen pflegt, _sehr anständig_ von ihr ist; viel mehr daraus zu machen, dünkt Einem Uebertreibung. Nichts desto weniger ist es in den Augen des Dichters etwas so ausserordentlich Verdienstvolles, dass es selbst die Geisterwelt in die heftigste Aufregung versetzt: Dieses edlen Zornes Worte In den Räumen kaum verhallen, Als Millionen zu dem Orte Ihr verwandt an Hochsinn wallen. Jubel, Jubel, Siegfanfaren, Geisterschaaren Theilen Wolken strahlend weiss, Küsten gleich, die mittagsheiss. Doch die Hölle hört mit Wehe, Das Hosiannah in der Höhe. Einem rechtschaffenen Weibe würde die Zurückweisung eines solchen Antrags sich ebenso von selbst verstehen, wie einem rechtschaffenen Manne, einen Bestechungsantrag zurückzuweisen. Nur die ungeheuere Wichtigkeit, die jedem einzelnen Falle von geschlechtlicher Zurückhaltung beigelegt wird, erklärt das wilde Entzücken der Geisterwelt hierüber, einen Jubel, der, um eines Mannes Willen angestimmt, welcher eine Kaufsumme ausschlüge, kaum minder übertrieben wäre, selbst wenn dies irgend einem Monarchen zum ersten Mal den Glauben an Uneigennützigkeit und Charakterfestigkeit beibrächte. Ein Schriftsteller kann grosse und seltene Gaben besitzen und doch, sei es durch die scheinbare Disharmonie zwischen seiner Begabung und dem Nationalcharakter, sei es durch die wirkliche zwischen seiner Entwicklungsstufe und der des Volkes, lange Zeit hindurch an einem durchschlagenden Erfolge verhindert sein. Viele der Grössten haben darunter gelitten. Viele wie Byron, Shelley, Heine, Henrik Ibsen haben ihr Land verlassen, noch weit mehrere, die im Lande blieben, haben sich von ihrem Volke verlassen gefühlt. Mit Björnson verhält es sich ganz anders. Er ist zwar nie von seinem ganzen Volke friedlich anerkannt worden, anfangs nicht, weil seine Form zu neu und ungewohnt, später nicht, weil seine Ideen die herrschenden, conservativen und hochconservativen Kreise herausforderten, aber nichtsdestoweniger hat er sein Volk hinter sich, wie unter den zeitgenössischen Dichtern vielleicht nur Victor Hugo. Und Hugo ist nicht so sehr Franzose wie Björnson Norweger. Wenn man seinen Namen nennt, ist es, als ob man die Fahne Norwegens aufstecke. Er ist in seinen Vorzügen und Fehlern, in seinem Genie und seinen Schwächen so ausgeprägt national, wie Voltaire oder Schiller. Es könnte scheinen, als ob Ibsen mit seinem absonderlichen und scheuen, ernsten und verschlossenen Wesen nationaler sei als der freudige Zukunftsverkünder Björnson. Allein, dass auch das Offene, Redselige und Laute, auch das Heitere und Frohe norwegisch ist, das haben die norwegische Dichterschule des 18. Jahrhunderts und Wergeland vollauf bewiesen. Das Wortkarge, Gebundene, Scheue und Schwere aber hat Björnson in seiner Kunst, seinen erdichteten Gestalten. Seine Offenherzigkeit als Mensch und seine Wortkargheit als Künstler, sein gesteigertes und empfindliches norwegisches Nationalgefühl und sein lebhaftes Bewusstsein der Einseitigkeit und der geistigen Bedürfnisse dieses Volks, das ihn zum Skandinavismus, Pangermanismus, Weltbürgerthum getrieben hat, all' dies ist in seiner eigenthümlichen Mischung bei ihm so ausgeprägt national, dass er in seiner Persönlichkeit das ganze Volk zusammenfasst. Er bezeichnet dessen Selbstkritik, keine mit Scorpionen geisselnde, wie sie in Norwegen Ibsen, in Russland Turgenjew vertritt, sondern das von Liebe getragene, scharfe und muthige Urtheil, gefällt ohne Melancholie. Denn er weist nie einen Schaden auf, an dessen Besserung und Heilung er nicht glaubt, nie ein Laster, an dessen Ausrottung er verzweifelt. Er hat einen wahren Köhlerglauben an das Gute in der Menschenwelt und besitzt den ganzen unbesiegbaren Optimismus eines genialen Sanguinikers. Wie er in keinem anderen Lande hätte erstehen können, so würde er noch weniger als andere Schriftsteller ausserhalb des Vaterlandes gedeihen. Als im Jahre 1880 durch die deutschen Zeitungen das Gerücht ging, dass er, von den ewigen, heimatlichen Streitigkeiten ermüdet, sich in München niederlassen werde, schrieb er in einem Privatbriefe: »Ich will in Norwegen wohnen, in Norwegen prügeln und geprügelt werden, in Norwegen singen und sterben -- verlassen Sie sich darauf!« Sich in so innigem Zusammenhange mit dem Vaterlande zu fühlen, ist ein Glück, wenn man von dem Vaterland sympathisch verstanden wird. Und dies ist Björnson's Fall. Es beruht auf Verhältnisse, die tief in seiner Natur liegen. Er, der so stark für den verschlossenen, einsamen Michelangelo geschwärmt hat, ist ein Geist ganz entgegengesetzter Art, nicht einsam, selbst wenn er am meisten allein ist (wie seit 1873 auf seinem Hof in dem entlegenen Gausdal), sondern ein durch und durch gesellschaftlicher und volksthümlicher Geist. Er bewundert Michelangelo, weil er das Grosse, das Tiefernste, das mächtig Schroffe im Menschenherzen und in dem Stil verehrt und versteht; aber mit der melancholischen Empfindung der Vereinsamung bei dem grossen Florentiner hat er nichts gemein. Er ist der geborene Parteistifter und fühlte sich deshalb früh zu strömenden, volksthümlich parteistiftenden Geistern, wie dem Dänen Grundtvig und dem Norweger Wergeland hingezogen, so unähnlich er ihnen auch durch seine plastische Gestaltungskraft war. Er hat das Bedürfniss, sich als einen Mittelpunkt oder Brennpunkt der Sympathien zu fühlen, und er bildet unwillkürlich einen Bund um sich, weil er in seinem eigenen Wesen eine Gesellschaft zusammenfasst. Dass er national ist, kommt denn, näher bestimmt, daher, dass er ein volksthümlicher Geist ist. Auch dies ist eine Temperamentseigenthümlichkeit. Er ist volksthümlich, weil er sich nicht abschliesst und nicht verfeinert ist, weil er von vornherein etwas Grobzubehauenes hatte, etwas den Vielen Verwandtes. Es gibt Geister, die gleich zu Beginn ihrer Laufbahn im Namen der Vielen sprechen und wiederum Geister, die bis in den Tod es nur im eigenen Namen thun. Es gibt Geister, die von allem Anfange an »wir«, andere, die von Anfang bis Ende »ich« sagen, noch andere, die damit beginnen »ich« und damit enden »wir« zu sagen, oder auch umgekehrt. Björnson hat bei aller seiner Selbständigkeit sich stets als Organ gefühlt. Ihm war, als ob ein ganzes Volk durch seinen Mund spräche. Er fühlte sich getragen von seinem Volke, von dessen Geschichte, von dessen Vorzeit, dessen ihn ringsumgebenden Bestrebungen, und kraft dieses Gefühles sprach er. Geister dieser Art haben ein gemeinsames Gepräge. Sie scheuen die gangbaren, anerkannten Wahrheiten nicht. Wie neu auch ihre Form, wie ursprünglich ihre Darstellung, der von ihnen dargestellte Inhalt ist von Anfang an der allgemein angenommene, anerkannte. Und selbst das scheinbar neueste, das sie sagen, ist nicht zu neu, um nicht den nächsten Morgen schon, nachdem es ausgesprochen worden, Anhänger zu Tausenden zu haben. Sie können ihrem ganzen Wesen nach vor den religiösen, moralischen, politischen Allerweltswahrheiten keine Abscheu haben und auf diesen heimlichen Bund mit dem Allgemeinmenschlichen ist ihre ursprüngliche Wirkung, ihr stetiger Erfolg zurückzuführen. Geister wie Kierkegaard auf dem religiösen, Ibsen auf dem moralischen, Andræ auf dem politischen Gebiet ziehen die Verlässlichkeit der landläufigen Wahrheiten schon darum in Zweifel, weil sie eben landläufig sind. Mit Björnson verhält es sich gerade entgegengesetzt. Selbst in seinem heissesten Kampfe gegen das Hergebrachte streitet er im Namen des Gang und gäben. Hierauf beruht die geistige Gesundheit, die seine Stärke bildet. Ein allzu aristokratisches Gefühlsleben, eine allzu verfeinerte Intelligenz, ein allzu lebhafter Widerwille gegen das Herkömmliche ist für den Schriftsteller eine Gefahr. Feine Nerven tragen keine Popularität ein. Das Unzugängliche, Discrete, Auserlesene wird von den Massen verschmäht oder übersehen. Sie fordern vom Volksredner ein mächtiges Organ, einen derben Humor, klare, einfache Gedanken, anschaulich ausgedrückt, vom Volksdichter eine verschönende, verherrlichende Wiedergabe ihrer Eigenschaften, eine Reproduction der eigenen naiven Kunstformen des Volkes. Und was nur immer ein Volk derartiges verlangen kann, hat Björnson ihm in reichem Masse geboten. II. Björnstjerne Björnson ist am 8. December 1832 in einem Thale des Dovrefjäld zu Kvikne, wo sein Vater Pfarrer war, geboren. Die Natur dieser Gegend ist unfreundlich, arm und öde, die Felsen meist kahl, hier und da Tannen und Birken, aber der Boden so schlecht und das Wetter so rauh, dass der Bauer in fünf Jahren nur auf ein Getreidejahr rechnen kann. Kein Kornfeld gedieh um den Pfarrhof. Im sparsam bevölkerten Thal lagen die Häuser weit aus einander. Im Winter bedeckte hoher Schnee Berg und Thal, umgab jedes Haus mit einer Umwallung und lud zu Schlittenfahrten und Schneeschuhlaufen ein. Als der kleine Björnstjerne sechs Jahre alt war, wurde der Vater nach Nässet in Romsdalen, der wegen ihrer Schönheit berühmtesten Gegend Norwegens, versetzt. Hoch und mächtig steigen hier zu beiden Seiten des Thals die Felsen mit kühn geformten Zinnen empor, die nach und nach, während die Ebene sich senkt und man sich dem Fjord nähert, in immer merkwürdigeren Bildungen dem Auge erscheinen: So weit den Blick ich lasse wandern Der eine Berg-Riese ober dem andern, Von diesem die Schulter an Jenes Lende, Bis an den Himmelsrand ohn' Ende. Man steht und harrt eines Weltenkrachs wild. Die ewige Stille vergrössert das Bild. Welche sind weiss, blau Andere scheinen, Hitzig im Wettstreit die Zacken sie heben, Welche sich einen, Zu Ketten binden und vorwärts streben. Nur wenige norwegische Thäler können sich an reicher Abwechslung mit Romsdalen messen. Die Gegend ist überdies fruchtbar, verhältnissmässig stark bevölkert, die Höfe hübsch, meistens zweistöckig, der Menschenschlag bei aller Wortkargheit freundlich, lebhaft und launenhaft, heftig und veränderlich, wie geprägt von den »Windstoss-Fjorden« an denen sie wohnen. Der Unterschied von dem früheren Aufenthaltsort war auffallend und ergreifend; er lehrte das Kind nachzudenken und zu vergleichen, sich selbst mit neuen Augen zu betrachten und seines Wesens bewusst zu werden. Die grossartige Natur und das bewegte Volksleben füllten mit ihren Bildern die empfängliche Seele des frischen und reichbegabten Jungen. Nach der kleinen Stadt Molde in die gelehrte Schule geschickt, organisirte er Vereine unter den Knaben und wurde bald eine Art Führer der Schuljugend. Er las alles Geschichtliche und Dichterische, dessen er habhaft werden konnte, die Volksmärchen, die Asbjörnsen, die Volkslieder, die Landstad kurz zuvor gesammelt hatten, Bücher also, in welchen Vorstellungen von dem Volke zum Ausdruck kamen, wie die Romantiker der Zeit sich sie von diesem gebildet -- las aber auch die altnorwegischen Königssagen und Wergeland's Dichtungen, die er mit Leidenschaft verschlang. Siebzehn Jahre alt kam er nach Christiania, um sich zum Studentenexamen vorzubereiten, las hier besonders dänische Litteratur, trat in engeres Freundschaftsverhältniss zu dem genialen Sonderling Aasmund Vinje, der sich schon als Dialektdichter einen Namen erworben hatte, sowie zu dem gleichaltrigen, erst später bekannten Historiker Ernst Sars, und führte ein geistig vielfach bewegtes, stürmisches, übermüthiges Jugendleben. Das damalige, mit grosser Sorgfalt geleitete dänische Theater in Christiania interessirte und beeinflusste ihn lebhaft. Als er 1852 als Student in das Elternhaus zurückkehrte und dort ein Jahr verbrachte, that sich das Volksleben in neuer Beleuchtung seinen Augen auf. Er lebte mit dem Volk und dichtete Lieder im Volkston, die oft von den Bauern auswendig gelernt und gesungen wurden. Nach Christiania zurückgekehrt trat er als Kritiker, besonders als Theaterrecensent auf, schrieb mit dem ganzen Ungestüm genialer Jugend, mit der ganzen Ungerechtigkeit eines angehenden Dichters, und erwarb sich viel Feinde. Er las jetzt vorzugsweise die dänischen Denker der eben zu Ende gehenden Litteraturperiode, Heiberg, Sibbern, Kierkegaard, und fing etwas später an, sich in die Gefühlswelt Grundtvig's zu vertiefen. Die Lehre Grundtvig's vom »frohen Christenthum« ergriff ihn als Gegensatz zum düstern Pietismus seines Heimathlandes, der starke Glaube an die hohe Begabung und die Mission des skandinavischen Nordens, die er bei Grundtvig fand, musste den so typisch nordischen und mit Europa so unbekannten Jüngling nothwendigerweise fesseln. Bis tief in die siebziger Jahre hinein lässt sich der Einfluss Grundtvig's bei ihm spüren. Er, der Pfarrerssohn aus dem einsamen Dorfe, der Schüler aus der unbedeutenden Kleinstadt, der Student an einer Universität, wo moderne philosophische und sociale Anschauungen nicht vertreten waren, wo vieles Tüchtige in den Specialfächern geleistet wurde, es aber kein europäisches Bewusstsein gab, fand damals im Grundtvigianismus all' das, was er beständig gesucht, späterhin aber ausserhalb desselben gefunden hat: das Menschliche in seiner höchsten Freiheit und Schönheit. Ein Paar Ausflüge in die Nachbarländer, zuerst die Theilnahme an dem skandinavischen Studentenzug nach Upsala 1856, unmittelbar danach ein längerer Aufenthalt in Kopenhagen, brachten seine dichterischen Anlagen zur Reife. Er hatte schon das kleine Schauspiel »Die Neuvermählten« begonnen, es aber im Gefühl der Unzulänglichkeit seiner Kräfte hingelegt. Jetzt schrieb er sein dramatisches Erstlingswerk »Zwischen den Schlachten«, ein kleines, etwas süssliches Schauspiel, in welchem indessen der knappe, schroffe Prosastil zu dem wortreichen Pathos der Oehlenschlägerschen Schule im schärfsten Gegensatz stand. Das Stück wurde vom königlichen Theater in Kopenhagen zurückgewiesen, in Christiania aufgeführt, erst später gedruckt. Welche lange Strecke Björnson und die ganze spätere poetische Litteratur seit damals auf dem hier eingeschlagenen Wege zurückgelegt hat, merkt man am besten, wenn man dies kleine Drama, das bei seinem Erscheinen durch die vermeintliche Wildheit des Stoffs und die Härte der Behandlung abstiess, auf der Bühne wiedersieht; es kommt jetzt schon ganz idyllisch und viel zu empfindsam vor. Indessen empfand Björnson einen immer stärkeren Drang Bauernnovellen zu schreiben. Sein Jugendleben, seine Jugendlectüre hatten veranlasst, dass er »das Bauernleben im Lichte der Saga's und die Saga's im Lichte des Bauernlebens« sah. »Synnöve«, »Der Vater«, »Das Adlernest« brachten eine Verjüngung des alten Sagenstils. Und dieser Stil, der ruhig, episch, immer anschaulich im Alterthum zur erzählenden Form für Zwietracht, Todtschlag, Blutrache, Mordbrand, abenteuerliche Fahrten und Grossthaten erschaffen wurde, war hier bewahrt, erneuert und hob durch seine Grösse den idyllischen Stoff, das Liebesleben junger norwegischer Bauern und Bauernmädchen. Björnson gehört zu den Glücklichen, die ihre Form nicht suchen, sondern vom Anfang an besitzen. »Synnöve Solbakken«, seine älteste Novelle, war makellos in ihrem Guss. Er hatte nicht erst nach harten Kämpfen mit dem widerspenstigen Stoff seinen Werken das innere Gleichgewicht zu geben vermocht. Sie rannen aus dem Tiegel in die Form und standen mit plastischer Sicherheit fest wie Denkmäler da. Hiermit soll nicht etwa gesagt sein, dass Björnsons Dichterleben vor dem Tappen noch vor Umschlägen verschont geblieben sei. Allein seine Laufbahn ist nicht wie die so vieler Andern eine Felsenbesteigung im Nebel gewesen, nur von einigen sonnigen Stunden auf der Höhe gekrönt, sondern ein Steigen, während dessen sich auf jeder Stufe schöne Aussichten eröffneten. Und zwar ist seine Entwickelung so vor sich gegangen, dass er bei ursprünglicher, verhältnissmässiger Enge oder Armuth der Ideen künstlerisch mit der höchsten Vollendung begann, um ein immer reicheres Ideenleben und eine sich immer steigernde Kenntniss des menschlichen Herzens in seine Werke niederzulegen. Er hat dabei zwar nichts an poetischem Werth, aber doch immerhin etwas an plastisch-klassischem Gleichgewicht eingebüsst. Die ersten Arbeiten Björnsons wurden nicht eben mit einstimmigem Beifall begrüsst. Seine frühesten Novellen und Dramen widersprachen allzusehr dem, was das Publikum zu bewundern gewohnt war, um ohne Widerspruch, geschätzt zu werden und viele der litterarisch Gebildeten, die mit der bisherigen Poesie innig zusammen gelebt hatten, mussten ihr ästhetisches Glaubensbekenntniss verletzt fühlen. Das volltönende Pathos Oehlenschläger's klang mit seinem Wohllaut noch Allen in den Ohren, seine Darstellung des nordischen Alterthums und frühen Mittelalters schien den Männern von der alten Schule, wenn auch äusserlich unwahrer, doch innerlich wahrer als Björnson's, die unübertroffene Eleganz und Anmuth bei Henrik Hertz hatte den Geschmack für das Urwüchsige bei ihnen geschwächt, und endlich vermisste man in der neuen norwegischen Poesie die hohe philosophische Bildung, die Heiberg das Publikum gewöhnt hatte bei dem Dichter zu fordern und zu finden. Ich erinnere mich noch deutlich, wie fremdartig und neu »Synnöve Solbakken« und »Arne« mir selbst als Jüngling bei ihrem Erscheinen vorkamen. Gleichwohl war Björnsons Ruf rasch begründet, und nichts dürfte so sehr dazu beigetragen haben, als der Umstand, dass die herrschende nationalliberale und skandinavische Partei die neue Dichtung in ihren Schutz nahm. Zu jener Zeit waren die Nationalliberalen in Dänemark und die Skandinaven in Norwegen noch Bauernfreunde in der Litteratur. Man liebte den abstracten Bauer; den wirklichen kannte man noch nicht. Man hatte ihm das Wahlrecht gegeben, war überzeugt, dass er in alle Ewigkeit fortfahren werde, sich von denen leiten zu lassen, die ihm »die Freiheit geschenkt hatten«, und lebte der Hoffnung, dass er nie diese »Freiheit« zu anderem verwenden werde, als dazu, diese seine städtischen Wohlthäter zu wählen und zu feiern. Desswegen hiess der Bauer damals noch in den grossstädtischen Organen der gesunde Kern des Volks; man sah in ihm den Sprössling der Recken des Alterthums, besang ihn und schmeichelte ihm. Dichterwerke, die zugleich mit Feinheit und in einem neuen und grossen Stil sein Leben verherrlichten, waren in Dänemark im Voraus einer begeisterten Aufnahme sicher, besonders wenn sie aus einem der Brüderländer stammten, die dem Herzen des echten Skandinaven fast noch näher waren als das eigene Vaterland. Der blasirte Kopenhagener hatte ausserdem dieselbe Vorliebe für die Bauernnovellen Björnson's, die man an den Höfen des vorigen Jahrhunderts für Schäferromane und Schäferspiele gehabt hatte. Man war jetzt zu kritisch, um Schäferinnen mit rothen Hacken und Lämmer mit rothseidenen Bändern um den Hals zu verlangen, aber man fand einen Ersatz in norwegischen Burschen und Dirnen, deren Gefühlsleben reichlich so fein und tief wie das irgend eines Studenten oder Fräuleins war. Die Bauernnovelle war keine an und für sich neue litterarische Abart. Die prächtigen jütländischen Dorf- und Haidebilder _Sten Stensen Blicher's_ eröffneten Anfangs der dreissiger Jahre die Reihe. 1839 begründete Immermann sie halb unbewusst als Kunstart durch die in seinen »Münchhausen« eingeflochtene meisterhafte Novelle »Der Oberhof«. 1843 gab Auerbach die »Schwarzwälder Dorfgeschichten« heraus und entwickelte die deutsche Erzählung aus dem Bauernleben zu einer selbständigen Varietät der Novelle; zum ersten Mal vertiefte ein deutscher Dichter sich ganz in die Vorgänge und Charaktere der stillen Dörfer. George Sand, die auf dem Lande erzogen war und sich, nachdem sie die poetisch-stürmische Jugendperiode ihres Lebens hinter sich hatte, abermals auf dem Lande aufhielt, gab als poetische Landschaftsmalerin ersten Ranges, als das Naturkind, das sie trotz aller ihrer Erfahrungen geblieben, in »Jeanne« (1844) »La mare au diable« (1846) »François le champi« u. s. w. Frankreich eine kleine Reihe feiner, idealistisch ausgeführter, ländlicher Bilder. Weder die Schwarzwälder Dorfgeschichten, noch die französischen Dichterwerke verwandter Art, waren, wie es heisst, Björnson bekannt, als er auftrat. Er hatte jedenfalls wenig mit Auerbach gemein. Besonders durch zwei Eigenthümlichkeiten scheiden sich die norwegischen Bauernnovellen von den deutschen. Auerbach ist Epiker; er schildert das ländliche Leben in dessen ganzer Breite; wir sehen den Bauer in seiner täglichen Beschäftigung im Felde und in dem Stall; wir folgen der halb trägen, halb würdevollen Langsamkeit, dem Gebundensein an Sitte und Gebrauch, den Gewohnheiten seines Lebens. Bei Björnson hingegen ist alles dies gedrängt, knapp, und nur um der Herzensgeschichte willen da. Ein fernerer Unterschied ist der folgende: Die ländlichen Erzählungen Auerbach's sind aus einer Weltanschauung geschrieben, die der Dichter nicht mit dem Bauer theilt, mit seinem Helden und seiner Heldin nicht gemeinsam hat. Auerbach schrieb nicht von dem Standpunkte des kindlichen Gemüths und Glaubens aus: Er war ein Gelehrter und ein Denker; er besass die reiche und vielseitige Bildung des deutschen Geistes zu seiner Jugendzeit. Er war ein Schüler Schelling's gewesen, er hatte mit einem Roman über Spinoza debutirt, dessen Werke er übersetzt und dessen Lebensansicht er sich zugeeignet hatte, um sie sein Leben hindurch zu verkündigen. Er hatte zwar den Spinozismus nach seinen eigenen Bedürfnissen und Sympathien umgestaltet -- denn es ist wohl mehr als zweifelhaft, ob Spinoza sich für die Darstellung jener endlichen Wesen, jener beschränkten Intelligenzen, die man Dorfbewohner nennt, besonders erwärmt hätte -- aber er fasste die Lebensansicht Spinoza's als das Evangelium der Natur, den Philosophen selbst als den Apostel der Naturfrömmigkeit und Naturanbetung auf. Auerbach stellte mit Vorliebe den Bauer dar, weil dieser ihm ein Stück Natur war, und er suchte mit Vorliebe in den naiven Seelen die Keime der Lebensansicht auf, die er für die wahre und bald endgültig siegreiche hielt. Seine classische Novelle »Barfüssele« stellt der orthodoxen Moral die des jungen, barfüssigen Bauernmädchens mit dem lebhaften Erwerbstriebe gegenüber, das, weit davon entfernt, nach dem Gebot der Schrift: die linke Backe hinzuhalten, wenn sie auf die rechte einen Streich erhält, mit geballten Fäusten durch das Leben geht, ohne sich in Unrecht zu finden und ohne desshalb eine Demüthigung zu erleiden. Die Stimmung, von welcher diese Bücher getragen werden, ist die politische Leidenschaft des vormärzlichen Deutschlands dafür, den gemeinen Mann zum Verständniss der politischen und religiösen Ideale der Gebildeten emporzuheben. -- Ganz andere verhielt sich in Björnson's Bauernnovellen der Erzähler zu seinem Stoff. Der Dichter fusste in allem Wesentlichen in derselben Lebensansicht wie seine Helden, er schrieb aus keiner Philosophie heraus. Ein dichterisches und künstlerisches Genie, kein überlegener Geist trat dem Leser aus diesen Blättern entgegen. Daher aber auch die merkwürdige Einheit von Stil und Ton. Die Vorzüge waren specifisch dichterisch: das weichste Gefühl war in die härteste Form gegossen. Die Seele dieser Dichtung war eine lyrische Innigkeit, die das Ganze durchdrang und sich in den zahlreichen eingestreuten Kinder-, Volks- und Liebesliedern freiere Bahn brach. Eine romantische Grundstimmung schwebte über der Erzählung. Die Novelle liess sich wie in »Arne« ohne Disharmonie durch ein Märchen einleiten und war dem herben Realismus einzelner Charaktere zum Trotz so idyllisch, dass kleine eingelegte Geschichten, wo Waldfeen eine Rolle spielten, ohne Bruch mit dem Geiste der Handelnden sich mit der Totalstimmung vermählten. Der Dichter war ein guter Beobachter. Er hatte, wie sein Arne die Gabe, die Vorstellungen und Eindrücke, die Andere entfliehen lassen, festzuhalten, und die Beobachtung versah ihn mit einem ganzen Magazin von kleinen Zügen aus der Wirklichkeit. Uebrigens waren Sage, Volkslied, Volksmärchen die Quellen, durch deren Zusammenströmen seine Kunstform sich krystallisirte. Er schuf sie nicht in einsamer Grösse, er blieb gerade durch sie auf mancherlei Art in Berührung mit dem Volksgeist. »Synnöve Solbakken« war die plastische Harmonie innerhalb der Beschränkung des norwegischen Bauernlebens, und die Hauptperson Thorbjörn der Typus des kräftigen, harten Jünglings, der um zu reifen der Milderung und der Besänftigung bedarf. »Arne« war umgekehrt das Verlangen in die Ferne zu ziehen, weit fort über die hohen Felsen, der lyrische, schwärmerische Hang des Volks, der zur Sehnsucht nach dem Reisen verwandelte Trieb des Vikingerblutes, und der Held der Typus des weichen, schwärmerischen Jünglings, welcher der Stählung bedarf um ein Mann zu werden. »Ein fröhlicher Bursch« endlich war gleichsam ein befreiendes, all die brütende Schwermuth, welche das norwegische Gemüth bedrückt, hinwegfegendes Lüftchen, die frohe Botschaft der unbefangenen Lebenskraft und Lebenslust, ein frischer, luftreinigender Lachgesang. III. Dann folgten Dramen und Gedichte. Die grosse Persönlichkeit entwickelte sich nach und nach als Hauptfigur aus der Hülle des Volksgeistes. In »Zwischen den Schlachten«, »Sigurd der Böse«, »Arnljot Gelline« immer derselbe grosse Typus, der geborene Häuptling, zum Wohlthäter des Volks geschaffen, gleich gewaltsam und edel, dem man sein Recht vorenthält, und der durch das Unrecht, das er erleidet, gezwungen wird, obschon das Beste wollend, ein gut Theil Böses auf dem Wege zum Ziel zu thun. Die Städte stehen in Brand hinter Sverre, wo er dahinfährt. Er erzählt es mit bitterem Schmerz in »Zwischen den Schlachten«. Sigurd hat nur das Glück Norwegens gewollt. Doch er wird gehasst und verfolgt, weil er von dem Throne, der ihm gebührt, ausgeschlossen, »ein König geworden in der Rüstung der Rache, mit dem Auge der Verzweiflung und einem flammenden Schwert«. Arnljot, der im Grunde seiner Seele so gut und so demüthig ist, wird Mordbrenner und Räuber bis zu dem Tage, wo er als Streiter Olafs bei Stiklestad den Tod findet. Diese Gestalten wurzeln tief in Björnsons Gemüth. Er selbst war früh »ein Zeichen des Widerspruchs« geworden. Mit seinem unbändigen Ehrgeiz, mit dem Gewaltsamen, das seiner Natur, und dem Liebevollen, das seinem Gemüthe angeboren war, fühlte er sich mit jenen Sagengestalten verwandt, und so oft er sich von seinem Volke missverstanden und mit Unrecht verschmäht fühlte, legte er das Gefühl seines Bedürfnisses, dieses Volk zu heben und mit ihm zu verschmelzen, und die Empfindung, dass er sich dennoch von Zeit zu Zeit seinem Volke entfremdete, in diese alten Häuptlinge nieder, in diesen Sigurd z. B., der gereizt »hart wie Stahl« wird, in seinem Innern aber nichts desto weniger ein Füllhorn voll grosser Wohlfahrtspläne birgt. Viel muss Björnson schon in jungen Jahren erfahren haben, um den Monolog Sigurds in der vorletzten Scene des Werks zu dichten, der mit den Worten beginnt: »Die Dänen verlassen mich, die Schlacht ist verloren? Bis hierher -- und nicht weiter?«, wo Pläne, ein Heer zu sammeln, hinaus zu segeln, Kaufmann, Kreuzritter zu werden, mit reissender Schnelle entstehen und verworfen werden, bis die Empfindung der nahen Vernichtung sich wieder aufdringt und das Wort »Bis hierher -- und nicht weiter!« nicht mehr als Frage, sondern als Antwort refrainartig wiederkehrt. Doch noch aus der Verzweiflung redet bei Sigurd die Liebe zum Vaterlande, nach dem er sich in der Ferne sehnte, wie Kinder, die sich nach Weihnachten sehnen und dem er dennoch Wunde auf Wunde schlug. Die grosse Persönlichkeit ist bei Björnson nicht in einsamem Michelangelo-artigen Stolz verschlossen; sie entwickelt sich aus dem Volksgeiste nur um sich zu demselben zurückzusehnen, sie will sich mit ihm vereinigen, und erleidet ihre Tragödie, wenn diese Vereinigung verhindert wird. Ibsen ist seinem Wesen nach einsam, bleibt »allein, in weiter Ferne«. Er geht in die Tiefe wie sein Bergmann: Brich den Weg mir, schwerer Hammer Zu der Tiefe Herzenskammer! Björnson's Wesen strebt nicht in die Tiefe, sondern in's Weite. Sein Genius hat offene Arme. Ein anderer Gegensatz zwischen den zwei Dichtern lässt sich schon aus den nordischen Dramen, die sie beide in ihrer ersten Periode verfassten, heraus empfinden. Als geborener Dramatiker hat Ibsen keinen Hang und keine Neigung zur Naturbeschreibung; sein einsames Gemüth schliesst sich wie von den Menschen, so auch von der Natur ab. Seine Hauptgestalten waren in seiner Jugend häufig Personificationen eines Gedankens und als solche fast naturlos. Selbst wo Ibsen die Natur einführt und wo sie mächtig ergreift, wie die Eiskirche in »Brand«, ist sie mehr Symbol als Wirklichkeit. Der schrankenloser sich ausdehnende Geist Björnson's verweilt bei den norwegischen Naturumgebungen und theilt den Eindruck von ihnen auch im Drama mit. Die Scene zwischen Sigurd und dem Finnenmädchen, eine der schönsten, die Björnson geschrieben hat, ist ein Beispiel. Wenn das Mädchen mit ihren Hunden auf die Bühne stürmt, zieht es die ganze Natur der Nordlande nach sich wie eine Schleppe. Die Tochter des Finnenhäuptlings offenbart sich in einem Glanz von Nordlicht, ihre Worte haben den hellen Zauber der Mitternachtssonne, ihre glückliche Liebe zum Leben, zur Sonne, zum Sommer, ihre unerwiderte Liebe zu Sigurd, der feine und flüchtige Charakter ihrer Trauer -- das Alles ist ein Stück lebendiger Naturpoesie, das Sigurd empfindet. Diesen Natursinn haben alle Norweger Björnson's aus der Vorzeit. Man lese z. B. den Gesang »Arnljot's Sehnsucht nach dem Meere«, in dessen Rhythmus man das Meer gleichförmig steigen und sinken fühlt: Der Mond zieht's an, der Orkan erhebt es Doch ist kein Halten, es rinnt hernieder. Andere haben das Meer in seiner Unbändigkeit und Unerbittlichkeit dargestellt. Björnson malt seine kalte Stirne, welche die Sonne glättet, sein eisiges Phlegma, seine tiefe Melancholie. Aus seinem Brausen und Plätschern lässt er uns des Todes Wiegenlied vernehmen. Und Arnljots Worte, wie die Woge, wenn er nicht mehr ist, »in erhabenen mondhellen Nächten seinen Namen an den Strand hinrollt«, sind so wundersam gefügt, dass sie dem Dichter selbst den Nachruf bilden können. Nach hundert Jahren noch wird ein liebend Paar, wenn es am Strande steht, und das fluthende Meer unter der Mondscheinbrücke seine Wasser ihm entgegenrollt, bei diesem Anblick des Namens Björnson eingedenk sein. IV. Björnson ist zwei Mal Theaterdirektor gewesen, 1857 bis 1859 in Bergen, 1865 bis 1867 in Christiania. Im Herbst 1857 übernahm er, einer Aufforderung Ole Bull's zufolge, die Bühnenleitung in der lebhaften, politisch und geistig bewegten Provinzialstadt und brachte das ganz heruntergekommene Theater in die Höhe, während er mit Ole Bull, dem er später »Arne« zueignete, glückliche Jugendtage verlebte. Als Direktor der Bühne in Christiania wirkte er erfolgreich, nur allzu kurz. Er hat selbst so viele von den Eigenschaften eines grossen Schauspielers, dass er einen vortrefflichen Regisseur abgibt. Hatte er das Seine dazu beigetragen, die dänische Schauspielkunst aus Norwegen zu verdrängen, so that er dafür auch wieder das Seine, um eine norwegische National-Bühne zu gründen. Sehr schade ist es, dass ihm nicht vergönnt war, auf dieser Grundlage weiter zu bauen. Ungemein schade, um des norwegischen Theaters wie um seiner selbst willen. Seine Erfahrungen als Bühnenleiter sind ihm natürlicherweise als Schauspieldichter zu statten gekommen; doch hat er in dieser Eigenschaft nie das technisch Vollendete erreicht; vermuthlich weil zwischen ihm und dem Theater keine stete Wechselwirkung stattgefunden. Seine grosse, schöne Trilogie »Sigurd der Böse« ist nicht für die Bühne bestimmt, wurde viele Jahre nur von den Meiningern gespielt und erst spät in Norwegen aufgeführt. Sie bietet manche Scene von mächtigem theatralischem Effect, wie z. B. die dem Königsmorde folgende, ist aber als Ganzes genommen, doch ein Lesedrama. Sein kräftiges und wildleidenschaftliches Jugendwerk »Hulda« gewinnt durch die Aufführung wenig oder nichts. Doch haben zwei Schauspiele seiner ersten Periode einen durchschlagenden Bühnenerfolg gehabt: »Maria Stuart« (1864) und »Die Neuvermählten« (1865). »Maria Stuart« ist eine reiche, kraftvolle Arbeit, voll dramatischen Lebens, allein lärmend theatralisch wie ein Melodrama. Die Actschlüsse sind wahre Katastrophen. Die den zweiten und dritten Act schliessenden Scenen haben eine Gewalt und hinterlassen eine Spannung, die von ächt dramatischer Art ist; dagegen ist der Schluss des Stückes schwach, oder richtiger, es schliesst nicht. Alle Einzelheiten der Handlung, Rizzio's Ermordung, Darnley's Tod, Maria's Entführung durch Bothwell, verketten sich vorzüglich und treten als logische Consequenzen hervor. Ein jugendlich stürmischer Hauch durchweht das Ganze. Ich glaube, dass das Werk dem Dichter besonders desshalb so gut gelang, weil er sich auf dem schottischen Boden noch in norwegischer Atmosphäre befand. Bothwell sagt: »Seit der Stunde, wo mein Wille in die Begebenheiten Wurzel schlug, ist er als ein Baum mit blutrothem Stamm und starken Zweigen gewachsen. Das norwegische Vikinggeschlecht, von dem wir stammen, war auch ein solcher Willensbaum, der sich in den Felsen hinein mit seinen Wurzeln festbiss; unter dem Obdach dieses Baumes baut jetzt das Volk«. In dieser norwegisch-schottischen Welt fühlt sich der Dichter vollständig zu Hause und die Charaktere, die er schafft, haben ohne Bruch mit der Localfarbe Züge, welche sie den Gestalten aus dem norwegischen Mittelalter, die er zu schildern gewohnt war, nah' verwandt machen. Auch die Schilderung des Puritanimus glückte ihm. Zu dessen Zeiten zwar war eine entsprechende Erscheinung in Norwegen nicht zu finden, allein Björnson hatte Gelegenheit, Puritaner aus nächster Nähe zu studiren. Denn wurde das Christenthum auch offiziell vor neunhundert Jahren von Olaf Trygveson in Norwegen eingeführt, so geschah dies thatsächlich doch erst durch Hans Nilsen Hauge Anfangs des neunzehnten Jahrhunderts. Durch den Haugianismus und den Pietismus verstand Björnson John Knox. Ausser Knox gelangen ihm auch Bothwell und Darnley vorzüglich. Der erstere ist eine ächte Renaissance-Persönlichkeit, der andere in seiner knabenhaften Rachsucht und unwürdigen Demuth beinahe modern. Maria selbst ist nicht so vollständig gelungen. Man wird aus ihrem Wesen nicht recht klug. Sie ist als ein Geschöpf gedichtet, dessen geheimnissvoller Naturgrund sich in zwei entgegengesetzte Pole, als die ganze Schwäche und die ganze Stärke des Weiblichen offenbart. Ihr Schicksal hängt insofern von ihrem Wesen ab, als jene Schwäche ihre Macht über die Männer bedingt und jene Stärke unter den gegebenen Verhältnissen in einer so gewaltthätigen Zeit ganz ohnmächtig ist. Es ist jedoch allzuviel nordischer Idealismus in der Charakterzeichnung. Ich möchte nicht geradezu behaupten, dass Maria Stuart zu unsinnlich ist, wiewohl ich es glaube. Solch eine Sphinx an Sinnlichkeit, Grausamkeit und Kälte wie die Maria in Swinburne's »Chastelard« war die historische Maria Stuart vielleicht nicht, gleichwohl ist Swinburne der Geschichte nicht wenig näher gekommen als Björnson. In Björnsons Maria ist nichts Dämonisches und wenig, das an die Zeit der Renaissance erinnert. Sie ist weniger durch das geschildert, was sie sagt oder thut, als durch begeisterte oder herabsetzende Erwähnung und durch die Wirkungen, die sie unmittelbar durch ihre Persönlichkeit ausübt, obwohl der Zuschauer nie recht begreift, durch welche Zaubermittel. Sie steht wie in einer Wolke adjectivischer Bestimmungen, welche die übrigen Persönlichkeiten des Stücks massenhaft gegen sie heranschleudern. »Maria Stuart« entstammt einem Zeitraum in dem Entwicklungsgang Björnson's, wo er (vielleicht durch Kierkegaard beeinflusst) eine Neigung hatte, seine Charaktere psychologisch zu beschreiben, anstatt sie ihr Wesen ohne Commentar entfalten zu lassen. Alle Personen in diesem Drama sind Psychologen, studiren einander, erörtern ihr Naturell und experimentiren mit einander. Sogar der Page William Taylor kennt und beschreibt den seelischen Zustand Darnley's, wie ein Arzt eine Krankheit kennt und beschreibt, Murray und Darnley schildern sich selbst, Lethington schildert Bothwell und Murray, Maria fragt nach dem Schlüssel zu Rizzio's, Knox nach dem zu Darnley's Charakter, ja die Ermordung Rizzio's ist im Grunde ein psychologischer Versuch, den Darnley mit Maria macht, um sie durch Schrecken zurückzuerobern, da es ihm nicht gelingen will, sie durch Liebe zu gewinnen. Während aber alle Personen wie Psychologen denken, sprechen sie alle wie Dichter, und diese dichterische Shakespeare-artige Pracht der Diction, die insofern wahr ist, als die Menschen der Renaissancenzeit durchgängig dichterisch empfanden und sich einer blühend bilderreichen Sprache bedienten, erhöht den Reiz, den die Originalität der Hauptcharaktere dem Drama verleiht. Das kleine Schauspiel »Die Neuvermählten« behandelt ein überaus einfaches, aber ursprüngliches und allgemein gültiges, menschliches Grundverhältniss, die Loslösung der jungen Frau vom Elternhaus, den Zusammenstoss in der Seele des jungen Weibes zwischen der angeborenen und gewohnheitsmässigen Liebe zu den Eltern und der noch neuen und schwachen Liebe zum Gatten -- eine Revolution oder Evolution, die mit der Naturnothwendigkeit und den Qualen einer geistigen Geburt vor sich geht. Unter gewöhnlichen, normalen Verhältnissen wird die Bedeutung dieses Bruchs nicht scharf hervortreten, weil er als etwas aufgefasst wird, das so sein muss, und häufig eher das Gepräge der Befreiung als der Losreissung hat. Werden aber die Verhältnisse nur ein bischen weniger normal gedichtet, ist die Liebe der Eltern ungemein egoistisch oder zärtlich, und ist die Gattenliebe des guten und gehorsamen Kindes weit weniger entwickelt als das anerzogene Pietätsgefühl gegen Vater und Mutter, so liegt hier eine Aufgabe, ein dramatischer Zusammenstoss, und ein Kampf mit ungewissem Ausgang vor. Die Idee ist, wie man sieht vortrefflich, allgemein menschlich wie sie ist. Gegen die Ausführung lassen sich verschiedene Einwendungen erheben, unter denen die folgende die wichtigste ist: Wie kann Axel, wenn er schon durch eine Kraftanstrengung Laura von dem Elternhaus losreisst, schwach und dumm genug sein, um das Elternhaus in der Gestalt Mathildens Laura auf der Reise begleiten zu lassen. Ohne sie würde ja alles viel leichter und glatter gegangen sein. Es heisst zwar am Schluss des Stücks, ohne sie hätten die zwei sich nie gefunden; das ist aber wenig einleuchtend und jedenfalls unglücklich. Die eigentliche, dichterische Aufgabe würde eben gewesen sein, zu zeigen, wie die Beiden ohne fremde Hülfe wahre Eheleute wurden; es ist ein schlechter Ausweg, eine _dea ex machina_ einen anonymen Roman schreiben zu lassen, der durch die Behandlung ihrer Lage sie erschrickt und sie einander in die Arme treibt. Ich sehe hierin ein Merkmal der Epoche, in der diese kleine Dichtung entstand. Die Kierkegaard'schen Ideen lagen in der Luft. Die Methode der Naturwissenschaften (Beobachtung und Versuch) auf den Verkehr zwischen Mensch und Mensch angelegt, das psychologische Experiment, das bei Kierkegaard eine so grosse Rolle spielt und das schon in »Maria Stuart« sich so breit machte, ist in den »Neuvermählten« von der Hausfreundin Mathilde vertreten. Doch die ganze Weise, wie Liebe und Leidenschaft hier behandelt werden, ist für jene Periode in dem geistigen Leben Björnson's und der norwegisch-dänischen Litteratur überhaupt eigenthümlich. Man interessirte sich damals im Norden sehr wenig für Neigung oder Leidenschaft an und für sich, man studirte und schilderte die Gefühle in ihrem Verhältniss zur Moral und Religion. Man betrachtete die Darstellung der Liebe vor und ausserhalb der Ehe als trivial oder frivol, und forderte von dem Dichter die Poesie der ehelichen Liebe, die Kierkegaard in »Entweder -- Oder« als die weit höhere gepriesen hatte. Bei dem Streben des Dichters, dem allgemein um sich greifenden moralischen Bedürfniss entgegenzukommen, geschah es zuweilen, dass die Leidenschaft, die aus der Taufe gehoben werden sollte, sich ihm unter den Händen verflüchtigte, wie der Zucker in den Pfoten des Waschbären verschwindet. Die Liebe, die in »Die Neuvermählten« grossgezogen wird, ist ein so schwaches, saftloses Reis, dass sie der verschwenderischen Sorgfalt, mit der sie gehegt und gepflegt wird, kaum werth erscheint. Sie ist beständig als die Schuldigkeit der Frau gegen ihren Mann geschildert und wird ihr von allen Seiten als Aufgabe und Forderung vor Augen geführt. Sie ist keine frei und wild wachsende Pflanze; sie entfaltet sich im Treibhaus der Pflicht, von der Zärtlichkeit Axel's umhegt, von der Eifersucht, der Unruhe, der Furcht vor dem Verlieren, mit welcher Mathilde das Treibhaus heizt, künstlich in die Höhe getrieben. Es heisst in einem kleinen französischen Volkslied: Ah! si l'amour prenait racine, J'en planterais dans mon jardin, J'en planterais, j'en semerais Aux quatre coins, J'en donnerais aux amoureux Qui n'en ont point. Diese Verse sind mir eingefallen, so oft ich »Die Neuvermählten« sah oder las. Doch der Fehler liegt vielleicht an meiner Einseitigkeit; ich liebe den schönen, grossen Eros, ich mag nicht sehen, wie man kleine bleiche Eroten mit der Flasche mühsam ernährt. Das Publikum hat meine Ansicht nicht getheilt, denn wenige Schauspiele haben einen solchen Bühnenerfolg gehabt und in Buchform so viele Auflagen erlebt. V. Ein speculativer dänischer Buchhändler gab in den Sechziger Jahren einen Kalender heraus, für welchen er sich von den anerkannten Dichtern kleine Vignet-Gedichte ausbat, Jeder sollte sich einen Monat auswählen. Als der Mann an Björnson kam, schrieb dieser: Ich wähl' mir den April, Wo Altes bricht zusammen, Und Neues Wurzeln, feste, Bekommt, bei Krach und Flammen, Nicht Frieden ist das Beste, Nein -- dass man etwas will! Eine Selbstcharakteristik seines Auftretens in jener ersten Periode war hier gegeben. Ein heftiger Drang nach allen Richtungen hin als Erneuerer aufzutreten, beseelte ihn. Er ward dies auf manchem Felde, obwohl er sich nicht gerade immer so ganz klar bewusst war, was er eigentlich wollte. Auf wenigen Gebieten hat er so Eigenthümliches, Unvergessliches, Unvergängliches geleistet, als auf dem der Lyrik und dies, obwohl er durchaus kein correcter Versificator ist. Seine volksthümlichen Lieder sind von gediegener Echtheit. Seine vaterländischen Gedichte sind Nationalgesänge geworden, und seine wenigen altnordischen Schilderungen oder Monologe haben jenen Stil des alten Nordens getroffen, den Oehlenschläger und Tegnér nie erreichten. Man lese unter den Volksliedern die Ballade von Niels Finn. Es ist die einfache Erzählung von einem kleinen Jungen, der seine Schneeschuhe verliert und von den Mächten der Tiefe hinuntergezogen, in den Schnee versinkt. Lobedanz hat mit feinem Gefühl diese Ballade neben Goethes »Erlkönig« gestellt. Sie ist kaum minder werthvoll, wenn auch ganz anderer Art, nicht pathetisch, sondern burlesk bei ihrer grauenvollen Stimmung. Sie hat eine Art Humor, wie er dem Pförtner in Shakespeares »Macbeth« eigen, und eine machtvolle Phantasie waltet in dieser Bagatelle. Der scherzhafte Schluss, der an die Art und Weise erinnert, mit der Volks- und Kindermärchen traurige Katastrophen mittheilen, mildert den unheimlichen Eindruck der Begebenheit: Zwei Schneeschuh schauten im Schneemeer umher, Viel konnt' man nicht seh'n und es gab auch nichts mehr. »Wo ist Niels?« sprach es drunten. Man braucht nur ein Paar Zeilen von Björnsons vaterländischen Gedichten genau zu studiren, um zu begreifen, wesshalb sie Nationalgesänge geworden sind. Ich wähle die Anfangszeilen des beim Volke beliebtesten. Sie lauten in der metrischen Uebersetzung von Lobedanz: Ja, wir lieben diese Fluren, Wie sie aus dem Meer Steigen auf mit Wetterspuren! Hütten rings umher! Wort für Wort heisst es: »Ja wir lieben dies Land, wie es gefurcht, verwettert, mit den tausend Feuerherden aus dem Meer steigt«. Es ist unmöglich, genauer, genialer den Eindruck wiederzugeben, den die Küste Norwegens auf den Sohn des Landes macht, wenn er sich ihr von dem Meer aus nähert. Ein völlig makelloses, vollendetes Gedicht, von einer Gattung, die Björnson sonst wenig cultivirte, durchgehends streng componirt, mit festem, zusammengesetztem Strophenbau, ist das »Gruss der norwegischen Studenten an Welhaven« betitelte. Es zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die schwierige, sich dreimal wiederholende Strophe, bei jeder neuen Wiederkehr gleich frisch und melodiös ist. Man weiss, wie selten, besonders bei Naturdichtern, dies vorkommt. Bei Wergeland wird man vergebens dergleichen suchen. Unter den grösseren, lyrischen Compositionen Björnson's ist unstreitig »Bergliot« die merkwürdigste. Es ist dies die Klage einer Häuptlingsfrau um ihren meuchlings ermordeten Gemahl Einar Tambarskelve und ihren einzigen Sohn, der neben ihm erschlagen liegt. Wie schlicht ist hier die folgende Klage, wie fern liegt ihr der Tragödienstil: Die grossen Stuben will ich sperren Weg will ich das Gesinde geben, Vieh und Pferde will ich verkaufen, Ziehe fort und leb' für mich. Weder Oehlenschläger noch Hertz hätten gewagt, ein heroisches Weib in den Ausbruch ihres Jammers den Verkauf von Kühen und Pferden einflechten zu lassen. Ich kenne auch nichts, das in moderner Reproduction altnordischer Poesie den Eindruck auf mich gemacht hat, wie das refrainartige Wiederkehren der Worte, mit welchen Bergliot den Kutscher ihres Wagens anspricht, auf welchen sie die Leichen hat heben lassen: Fahre langsam; denn so fuhr Einar immer -- und wir kommen früh genug nach Hause. Die erste Zeile stellt mit merkwürdiger Einfachheit die ruhige und stolze Würde des erschlagenen Häuptlings dar; die zweite enthält in den wenigsten Worten die tiefe Bitterkeit des vereinsamten Lebens, das bevorsteht. VI. Diese Höhe erreichte Björnson früh. Nur dreissig und einige Jahre alt hatte er all' die besten Werke seiner ersten Periode verfasst, und man fing schon an, sie als ein geschlossenes Ganzes zu betrachten. Niemand konnte die mächtige Begabung übersehen; es berührte aber schmerzlich, dass man keine rechte Entwickelung derselben entdecken konnte. Die schöpferische Kraft hielt sich eine Zeit lang auf demselben Punkt aber die Lebensansicht erweiterte sich nicht, verblieb kindlich und eng. Er konnte bisweilen trivial werden. Er schrieb ab und zu Gedichte, welche einen fast seminaristischen Anstrich hatten. Er konnte zuweilen einem in seinem Ausdruck geradezu kindischen Optimismus huldigen, wie in dem Gedichte »Einst und jetzt«, das glücklicherweise in die zweite Auflage seiner Gedichte nicht mit überging. Keine Hochzeit, kein Begräbniss, wobei nicht Gott citirt wurde. Er liess ihn in dem Gedichte an Munch mit doppelt gesperrten Lettern sprechen, führte ihn ein und nannte seinen Namen in jeder Strophe eitel, der er einen feierlichen Charakter geben wollte. In seinem Gedichte »An meinen Vater«, das mit dem etwas übertriebenen Satz beginnt, »Unser Geschlecht, das erste einst des Landes«, hob er hervor, man müsste seine Eltern kennen, um »die ruhige Grösse des Glaubens« in seinen Dichtungen zu verstehen. Er berief sich darauf, dass das Weib bei ihm »im Sonnenglanz des Glaubens einherschreite«, er freute sich, dass für die alten Leute »das Leben in der Fülle des Glaubens« seinen Brennpunkt fände. Er besang »das Kind in unserer Seele«, verherrlichte als Grösstes und Höchstes Kinder und kindliche Seelen, erklärte (in dem Gedichte an Sverdrup) »auf dem Boden des Kinderglaubens« zu stehen und von diesem aus, Gleichheit und Volksfreiheit zu verlangen. Von ihm aus war es denn auch wohl, dass er in dem Gedichte über Frederik den Siebenten, diesen König als das wärmste, grösste Herz Dänemarks, als dessen beste Schutzwehr u. s. w. bezeichnete. Er hielt sich, wie beinahe die ganze damalige nordische Litteratur, ängstlich in gehöriger Distanz von dem Leben und den Ideen der aufgeklärten Zeitgenossen. Oder richtiger, wenn er zeitgenössische Ideen und Menschen zur Darstellung brachte, so war es unfreiwillig; sie traten in altnordischen oder mittelalterlich schottischen Theatercostümen auf. In »Sigurd der Böse« erörtern im Jahre 1127 Helga und Frakark das Verhältniss zwischen der Unsterblichkeit des Einzelnen und des Geschlechts in Ausdrücken, die allzu stark an das Jahr 1862 erinnern; und dieselben Häuptlinge, die sich hier in fast modernen politischen Erwägungen bewegen, Ausdrücke gebrauchen wie Beruf, Grundgesetz, die Ordnung auf ungesetzlichen Grund bauen u. s. w., lassen aus Rachsucht den gefangenen Sigurd Glied für Glied rädern, d. h. sie begehen eine Handlung, die ein weit barbarischeres inneres Leben voraussetzt. Wenn man sich so gebildet ausdrückt, rädert man seinen Feind nicht; man verläumdet ihn. Zu diesem Mangel an Einheitlichkeit der Leidenschaften und Gedanken kam das unselige Bedürfniss des Dichters, seine grossen dramatischen Gestalten so zu gruppiren und zusammen zu fassen, dass der Mantel des orthodoxen Kirchenglaubens in dem Augenblick, wo das Drama schloss, um sie geschlagen werden konnte. In »Maria Stuart« steht z. B. die Gestalt des John Knox nicht unter der dramatischen Ironie, welche die andern Personen beherrscht; Björnson behält sich die poetische Ueberlegenheit über ihn nicht vor: denn Knox ist dazu bestimmt, mit dem Pathos des Dichters auf seinen Lippen zum Schluss aus dem Rahmen heraus zu treten und die politische Erbschaft Maria's zu übernehmen. Sowohl die gewaltigen Kämpfe in »Sigurd«, wie die leidenschaftlichen Empfindungen in »Maria Stuart« münden in eine Psalmenstrophe aus. Die Handlung ist in beiden Dramen so zugespitzt, dass sie dort in das Kreuzfahrerlied des frommen dänischen Dichters Ingemann, hier in den nebelhaft-mystischen Psalm der Puritaner ausläuft. Allmählig schien es, als sei die einst so reiche Ader Björnsons nahe daran zu vertrocknen. Die späteren Novellen (»Die Eisenbahn und der Kirchhof«, »Das Brautlied«) bezeichneten keinen Fortschritt gegen die früher gedichteten. Eine der letzten »Ein Lebensräthsel« war die reine Manier. Trotz schönen Einzelheiten hielt das Drama »Sigurd der Grabespilger« keinen Vergleich mit den älteren norwegischen Dramen des Dichters aus; endlich standen die letzten nach den übrigen geschriebenen Gesänge von »Arnljot Gelline« mehrere Jahre hinter den in dem ersten Feuer der Inspiration verfassten zurück. Es keimten scheinbar in Björnson's Gemüth keine neuen Ideen. Man frug sich, ob es mit diesem Dichter wie mit so vielen dänischen Dichtern gehen würde, die im kräftigsten Mannesalter verstummten, weil ihrer Begabung die Fähigkeit fehlte, sich zu häuten. Sein ursprüngliches geistiges Capital hatte Björnson augenscheinlich ausgemünzt. Man frug sich, ob er, wie jene Dichter keine neuen Reichthümer erwerben könne? Er hatte seiner Zeit, gleich dem jungen Viking, von dem er eins seiner schönsten Gedichte geschrieben, nach dem Siege über die alte Zeit und ihrem Häuptling, am Steuer stehend, den Männern, die erschreckt dastanden über die Weise, wie er es lenkte, zugerufen: »Werde ich _nun_ dürfen?« Nun durfte er und wusste selbst nicht, wohin er steuern sollte. Ich erinnere mich sehr genau jener Jahre. Die Jugend fühlte etwas wie Qual, wenn sie den litterarischen Zustand in Europa mit demjenigen im Norden verglich. Man hatte die Empfindung, von dem Kulturleben Europa's ausgesperrt zu sein. Man sass wie hinter geschlossener Thüre und vergebens zerbrachen sich Einige den Kopf über das Problem, wie sie die Thüre aufkriegen sollten. Es schien aussichtslos. Das Jahr 1864 hatte mit seinem ehernen Knöchel daran gehämmert, und sie ging nicht auf. 1866 hatte vergebens daran gepocht, ja selbst 1870, mit seiner Hand von Erz, hatte sie nur fester zugeschlagen. -- Sie öffnete sich nach aussen hin. Es musste von innen aufgemacht werden. In Dänemark hatte man sich die Jahre her der Kunst befleissigt, die europäische Litteratur derart zu lesen, dass alles in den europäischen Büchern, was mit den nationalen Anschauungen über das darin enthaltene im Widerstreite stand, einfach übersehen wurde. Ganze Gruppen der ausländischen Litteratur waren dem Bewusstsein der Gebildeten völlig fremd geblieben, und da man schliesslich in seinem politischen Unwillen gegen alles Deutsche die geistige Verbindung mit Deutschland abgebrochen hatte, war der Canal, durch welchen auch Norwegen lange Zeit hindurch viel von seiner Zufuhr an europäischer Kultur erhalten hatte, verstopft. Gleichzeitig fürchtete man die französische Bildung als frivol, und von englischer Sprache, englischem Geiste verstand man nur blutwenig. In Dänemark blickte man nach Norwegen hin, als zu dem Lande der litterarischen Erneuerung; in Norwegen richtete man seine Augen auf Dänemark, als auf das ältere Kulturland, mit seiner altbewährten, prüfenden Kritik. Man sprach in den herrschenden bürgerlichen Kreisen von David Strauss und Feuerbach, wie nur die spiessbürgerlichsten Kreise Deutschlands in den vierziger Jahren von ihnen gesprochen hatten; man kannte kaum dem Namen nach Stuart Mill, Darwin, Herbert Spencer. Positivismus und Entwicklungslehre waren Mächte, die Skandinavien nicht anerkannte. Man hatte keine Ahnung von der Entwicklung der englischen Poesie von Shelley bis Swinburne. In der französischen Litteratur war man über die Verurtheilung Victor Hugo's und der romantischen Schule, die Heiberg, der Dictator des Geschmacks, als eine einzige grosse Räuberbande bezeichnet hatte, noch immer nicht hinausgekommen. Des Verständnisses völlig bar war man besonders für die Bedeutung der Thatsache, dass Schauspiel und Roman in Frankreich längst die geschichtlichen und sagenartigen Stoffe verlassen und Stoffe aus der Gegenwart ergriffen hatten, aus dem Leben, das den Dichter umgibt, dem einzigen, das er mit seinen zwei Augen beobachten, das er in der Regel auch leichter und besser als das entschwundener Zeiten in seinem eigenen Inneren studiren kann. Selbst wagte man nur selten einen Zipfel des Vorhangs zu heben, der die zeitgenössische Welt den Blicken verbarg; lange Zeit hatte es den Anschein, als ob keine der grossen wissenschaftlichen Eroberungen des Jahrhunderts der Poesie des Nordens zu Gute kommen sollte. Und während das geistige Leben dahinsiechte, wie eine Pflanze in einem dunkeln Raume kränkelt, war man selbstgefällig, -- nicht etwa voll froher, lärmender Selbstgefälligkeit, hatte doch die Gemüther, nach dem nationalen grossen Unglück tiefe Wehmuth, tiefe Niedergeschlagenheit ergriffen, wenngleich man dieses Unglück als ein durchaus unverschuldetes erachtete, als die blosse Folge eines blutigen himmelschreienden Unrechts. Wohl aber hatte man sich in eine stille, dumpfe Selbstgefälligkeit hinein verrannt. Man wiegte sich in der Hoffnung einer baldigen äussern Genugthuung, man freute sich der Sympathien, welche der tapfere Widerstand dem Volke in Europa errungen hatte; man ruhte auf seinen Lorbeeren und versank in einen tiefen Schlaf. Und in dem Schlaf kamen Träume. Die gebildete und besonders die halbgebildete Welt Dänemarks und Norwegens träumte, sie wäre das Salz Europa's. Man träumte die fremden Völker durch seinen Idealismus, seine Grundtvig'schen, Kierkegaard'schen Ideale, durch seinen wachen Geist zu verjüngen. Man träumte, dass man die Kraft sei, welche die Welt beherrschen _konnte_, es aber aus räthselhaften unbegreiflichen Gründen die Jahre hervorgezogen habe, sich mit den Brocken von fremdem Tische zu begnügen. Man träumte, das freie mächtige Norden zu sein, das die Sache der Völker zum Siege führte -- und erwachte unfrei, ohnmächtig, unwissend. Diese Träume enthält, Wort für Wort so ausgedrückt, das skandinavische, immer gesungene Volkslied von C. Ploug. VII. Hierauf fing zu Beginn der 70er Jahre in Dänemark eine moderne geistige und litterarische Bewegung an, aus der in dem vergangenen Decennium eine neue poetische und kritische Schule erstanden ist. Das in Dänemark erregte geistige Leben verpflanzte sich schnell nach Norwegen, wo geniale Männer der Wissenschaft den aus England und Frankreich erhaltenen Impulsen folgend, in den Gemüthern der Jugend eine verwandte Bewegung hervorriefen, und bald offenbarte die Dichtung Björnson's, dass, wie er es selbst ausgedrückt hat, sich nach seinem vierzigsten Jahr neue und reiche Quellen in seinem Innern aufgethan hatten. Plötzlich zeigte es sich, dass seine Productivität neuen Flug und Schwung erhalten hatte. Die moderne Welt lag offen vor seinen Augen. Er hatte, wie er in einem Privatbrief einmal schrieb, »die Augen, welche sahen, die Ohren, welche hörten«, bekommen. Die Ideen des Jahrhunderts hatten, ihm selbst lange halb unbewusst, seinen empfänglichen Geist befruchtet. Denn er las in jenen Jahren sehr viel, Bücher in allen Sprachen und jeglicher Art. Die historische Kritik Norwegens mochte wohl zuerst Einfluss auf ihn gewonnen haben. Einen tiefen Eindruck erhielt er von der ruhigen Grösse und dem erhabenen Freisinn Stuart Mill's; Darwin's mächtige Hypothese erweiterte seinen Gesichtskreis, die philologische Kritik eines Steinthal's oder Max Müller's lehrte ihn die Religionen, die litterarische Kritik bei Männern wie Taine die Litteraturen mit neuen Augen zu sehen. Die Bedeutung des achtzehnten, die Aufgaben des neunzehnten Jahrhunderts gingen ihm auf. Er hat sich einmal in einem reizenden Privatbrief über die Verhältnisse, die seine Jugend bestimmten, und besonders über seine Umwandlung geäussert: »Mit jenen Voraussetzungen musste ich die Beute Grundtvig's werden. Aber nichts in der Welt besticht mich, obwohl ich nur zu leicht verführt werden kann. Desshalb war ich aus diesen Kreisen heraus an dem Tage, wo ich _sah_. Mein ärgster Feind kann die Wahrheit in Händen haben; ich bin dumm und stark: aber sehe ich, wenn auch durch einen Zufall, die Wahrheit, so zieht sie mich unwiderstehlich an. Sagen Sie nun: ist eine solche Natur nicht leicht zu verstehen? Sollte man nicht glauben, dass es besonders den Norwegern nahe liege, sie zu begreifen? Ich bin Norweger. Ich bin Mensch. Ich möchte in der letzten Zeit mich fast unterzeichnen: Der Mensch. Denn es kommt mir vor, dass dieses Wort hier bei uns in diesem Augenblick gleichsam neue Vorstellungen erweckt«. VIII. Die erste grössere Arbeit, mit welcher Björnson nach mehrjährigem Schweigen vor das Publikum trat, war das Schauspiel »Ein Fallissement«. Es war ein Sprung in's moderne Leben hinein. Die Dichterhand, welche die Schlachtschwerter der Sigurd's geschwungen hatte, hielt sich nicht für zu gut, die Gelder Tjälde's zu zählen und seine Schulden zu summiren. Björnson war der erste skandinavische Dichter, der sich im vollen Ernst mit der Tragikomödie des Geldes einliess, und dieser erste Versuch war von entschiedenem Erfolg gekrönt. Gleichzeitig mit dem »Fallissement« gab er das Schauspiel »Der Redacteur«, eine blutige Satyre der norwegischen Pressverhältnisse heraus. Und nun erschienen in rascher Folge »Der König«, »Magnhild«, »Kapitän Mansana«, »Das neue System«, »Leonarda«, neue Gedichte, republikanische Vorträge, endlich die tiefsinnige, feine Novelle »Staub«. Man hat in conservativen norwegischen Kreisen die Poesie Björnsons in dieser Phase, so gut wie die Ibsens, dadurch herabzusetzen gesucht, dass man sie als Tendenzdichtung bezeichnete. Wo diese Beschuldigung berechtigt ist, fällt sie allerdings einigermassen in die Wagschale. Die Tendenz bezieht sich immer auf Interessen und Bestrebungen des Augenblicks, veraltet verhältnissmässig schnell und kann daher für das Fortbestehen des Werkes von Nachtheil sein. Allein theils ist in einem Werke noch manches Andere dem ausgesetzt, in der Zukunft veraltet zu erscheinen -- Form, Ideen, Ausdrucksweise können veralten -- theils thut mitunter auch die Tendenz, wie in »Don Quijote«, der Lebensfähigkeit eines Werkes nicht den geringsten Abbruch. Endlich -- und dies ist die Hauptsache -- darf man nicht vergessen, dass das Wort Tendenz das Schreckbild ist, durch welches es nur allzu lange glückte, die Dichter von den winkenden Früchten des modernen Baumes der Erkenntniss zu verscheuchen. Die Warnungen vor der Tendenzdichtung, die Geringschätzung derselben entstammt der Kantischen Lehre von der Kunst, die sich Selbstzweck sei, was in Frankreich als die Losung _l'art pour l'art!_ formulirt wurde. Diese Lehre, welche man -- merkwürdigerweise -- stets auf dem einzigen Gebiet bekämpft hat, wo sie Sinn und Gültigkeit hat, nämlich als Protest gegen die Einschnürung der Kunst in der Zwangsjacke einer conventionellen Moral, hat man im Norden lange dazu gebraucht, alle Ideen der Zeit unter dem Vorwande fernzuhalten, dass sie Tendenzen, d. h. Bestrebungen nach einem Ziele hin seien -- und die Poesie hatte kein anderes Ziel als sich selbst. Einerseits also sagte man: »Die Poesie ist sich _nicht_ Selbstzweck, sie soll und muss die Moral respectiren«, und die Moral war bekanntlich der gute Ton. Andererseits sagte man, sobald ein Werk zum Vorschein kam, das nach den Gedanken der neuen Zeit schmeckte: »Tendenzpoesie, Tendenzschauspiele! meine Herren und Damen! Die wahre Poesie hat keinen anderen Zweck als sich selbst«. Dabei schwebte man, naiv genug, in dem Irrthume, dass die älteren Werke, die man pries, tendenzlos seien, weil sie die entgegengesetzte Tendenz der neuern vertraten. Oder lag etwa in den älteren keine Tendenz? Man betrachte nur »Arnljot Gelline«, mit seiner in der ganzen neunordischen Litteratur pflichtschuldigen Vikinger-Bekehrung. Kaum hatte Oehlenschläger, Grundtvig und Hauch diese alten Vikinger entdeckt und sich ihrer unverbrauchten Kraft zu freuen begonnen, als sie auch schon mit grösster Beschleunigung daran gingen, sie zu bekehren und zu taufen. Es war, als wüssten sie gar nichts anderes mit ihnen anzufangen, so einförmig traten die Bekehrungen ein, und Björnson (wie Richardt) folgte ihren Spuren. In den Bauernnovellen hatte sich gleichfalls eine ausgesprochene kirchliche Tendenz geltend gemacht. Das zweite Capitel von »Synnöve Solbakken«, das von einer Hymne an die Kirche eingeleitet den kirchlichen Ton anschlug, bürgte bereits dafür, dass dieser Ton in allen folgenden Schilderungen des Bauernlebens vorwalten würde. Was man später bekämpfte, war also nicht die Tendenz an sich, von der man früher nie der Ansicht gewesen, dass sie der Poesie irgendwelchen Abbruch thäte. An die älteren Tendenzen hatte man sich ja so vollständig gewöhnt, wie man sich an die Luft in einem Zimmer gewöhnt, das man nie verlässt. Was man unter dem Namen der Tendenz zu bannen strebte, das war der Geist, waren die Ideen des neunzehnten Jahrhunderts. Diese Ideen sind aber für die epische und dramatische Poesie dasselbe, was der Blutumlauf durch die Adern für den menschlichen Körper ist. Was man im eigenen Interesse der Poesie fordern muss, ist nur, dass diese Adern, die man gern unter der Haut bläulich schimmern sieht, nicht gespannt und schwarz wie an einem Verbitterten oder Kranken hervortreten. Höchst selten, ganz ausnahmsweise nur, trat die Tendenz bei Björnson in solcher Gestalt hervor. Und selbstverständlich ist eine im Kunstwerke nicht verkörperte Tendenz, die unpoetisch aus dem Rahmen tritt, bei ihm um nichts unschuldiger oder besser als bei Andern. Mir sind z. B. die Angriffe auf die Staatskirche, die stehenden Heere, die ganze staatliche Ordnung des Königthums, die Björnson in seinem Drama »Der König« der Hauptperson unmittelbar vor ihrem Selbstmord in den Mund legt, wenig sympathisch. Man fühlt, das ist etwas, wovon der Dichter will, dass es gesagt werde. Die Absicht tritt grell und nackt hervor. So ist auch das anmuthige Gedicht »Staub« zu sehr ein Lehrgedicht. Ergriffen, wie sich Björnson von der Wahrheit fühlt, lässt er sich ab und zu hinreissen, ihr einen grellen, allzu direkten Ausdruck zu geben und übersieht, dass er die poetische Wirkung, die er zu erhöhen geglaubt, gerade hierdurch vermindert. Sieht man jedoch von solchen Einzelnheiten ab, kann niemand, der dichterischen Sinn hat, unempfindlich gegen den Born einer neuen und eigenthümlichen Poesie sein, der die Werke aus Björnsons zweiter Periode, zweiter Jugend möchte man sagen, durchströmt. Eine brennende Wahrheitsliebe hat diesen Büchern ihren Stempel aufgedrückt. Welch' eine energische Aufforderung darin zur Wahrhaftigkeit gegen sich und Andere! Welcher Reichthum an neuen Gedanken auf allen Gebieten, über Staat und Gesellschaft, Ehe und Haus! Endlich welche Milde, welche Sympathie mit den Menschen, die als Vertreter der vom Dichter verurtheilten Mächte dastehen, wie mit dem Könige oder mit dem Bischofe in »Leonarda«, während alle Angriffe auf die Institutionen als solche gerichtet sind. Nirgends macht sich dies so stark fühlbar, wie in dem Drama »Der König«, welches den einfachen, an und für sich wenig neuen Grundgedanken vertritt, dass das constitutionelle Königthum die Uebergangsform zur Republik bilde, dessen Originalität jedoch darin besteht, das Problem von der inneren Linie her zu fassen, die Institution von der Person des Königs aus, kraft des Schadens anzugreifen, den er durch die Natur dieser Institution nothwendig an seiner Seele leiden muss. Der König selbst ist im übrigen mit einer Liebe, einer Innigkeit dargestellt, die ihn im eigentlichsten Sinne des Wortes zum Helden des Stückes macht. In »Ein Fallissement« erscheint die Forderung der Wahrhaftigkeit in der niedersten Sphäre. Björnson stellt hier, innerhalb des schlichten bürgerlichen Alltagslebens, als Wahrheitsideal die einfache Redlichkeit auf. Allein sein Dichterauge sieht, dass Redlichkeit nicht etwas so ganz Einfaches ist, wie es den Anschein hat. So ist beim Kaufmann das Tadelnswerthe das, Anderer Geld zu wagen. Dies ist jedoch bis zu einem gewissen Grade bei ihm unvermeidlich. Das Moralproblem dreht sich hier um feine Grenzbestimmungen, um den Punkt, wo das Wagen nicht mehr zulässig ist. »Der Redacteur« spielt die Forderung der Wahrhaftigkeit auf ein höheres Gebiet hinüber, wo es gebieterische Pflicht, sich sie vor Augen zu halten, und noch schwieriger ist, sie zu erfüllen. Wie in der Kaufmannswelt die Gefahr darin liegt, durch Selbstbetrug Andere zu betrügen und zu Grunde zu richten, so besteht in der Journalistik die Versuchung darin, die Wahrheit zu verschweigen oder zu verleugnen. Auch dies ist bis zu einem gewissen Grade unausweichlich. Ein Politiker kann nicht alles sagen oder zugestehen. Es dürfte ein Fehler sein, dass in Björnson's »Der Redacteur«, der Vertreter der Journalistik allzuwenig die Dialektik seines Faches, den steten, unvermeidlichen Pflichtenstreit vergegenwärtigt, in den er sich versetzt sieht. Dazu ist er ein zu grosser Schlingel. Andererseits ist sein Gegner und Opfer Halvdan zu passiv und leidend, um so recht zu interessiren. Björnson greift in seinem Stück ausdrücklich das Ideal von Unangefochtenheit an, das wir uns heutigen Tags aus harter Nothwendigkeit gebildet und aufgestellt haben. Er protestirt -- um des Kindes willen in unserem Innern -- gegen die Lehre, dass wir uns »abhärten« müssen und hat zwar in diesem Proteste nicht ganz Unrecht, allein es ist nun einmal so, dass wir heutigen Tags nur eine bedingte Sympathie für solche, der Oeffentlichkeit angehörige Personen hegen, die sich von Presseverfolgungen über den Haufen werfen lassen. Das christliche Ideal des duldenden Märtyrers hat in diesem Falle, der Lesewelt und dem Theaterpublikum gegenüber, faktisch seine Kraft verloren. Man verlangt Männer zu sehen, an denen das gesprochene und geschriebene Wort der Widersacher machtlos abprallt, die kein Wortschwall, nicht einmal ein stürmischer Seegang von Wortschwall, zum Wanken zu bringen vermag. Ich will nicht behaupten, dass diese Auffassung der Sache natürlich ist, aber sie hat viel für sich. »Der König« behandelt politische Fragen, wie »Ein Fallissement« und »Der Redacteur« sociale. Das Problem ist seelisch. Der Dichter kämpft mit dem Könige den inneren Kampf durch und lässt dessen Versuch scheitern, die Forderungen seines Wesens und die seiner Stellung miteinander zu versöhnen. Ist die Aufgabe in befriedigender Weise gelöst? Ist das schlechte Resultat nicht in allzu hohem Grad von der traurigen Jugend und dem schwachen Charakter des Königs bedingt? Nicht hierauf beruht der Werth des Stückes. Er liegt in den Tiefen, in die es eingedrungen, in der frischen Anmuth, die das Liebesverhältniss umweht -- man denke an die Stelle, wo Alles vor dem Blick des Königs zittert -- und in dem reichen, sprudelnden Witz, der den Dialog erfüllt. In »Magnhild« wie in »Leonarda« ist ein neues modernes Problem dem Bewusstsein des Dichters aufgegangen: Das Verhältniss zwischen der Moral als Sittlichkeit und der Moral als Institution, als Gebot des Herzens und als Gebot der Gesellschaft. Die Lehre, die in »Magnhild« verkündet wird, ist in der bescheidenen Form einer Frage mitgetheilt: »Giebt es nicht unsittliche Ehen, deren Bande zu zerreissen, höchste Pflicht ist?« Das von »Leonarda« ausgehende Gebot ist das mildeste und das für den Augenblick im Norden nothwendigste, das der socialen und religiösen Toleranz, deren Idee der Dichter selbst sich erst in reiferen Jahren anzueignen vermochte. Binnen eines kurzen Zeitraums hat Björnson seiner Poesie einen ganz neuen Boden erobert. »Magnhild« ist eine Arbeit, die durch ihr Streben nach Wirklichkeitstreue einen Wendepunkt in Björnsons Novellendichtung bezeichnet. In der Zeichnung der Charaktere sind hier Partien von einer Feinheit und Kraft, wie er sie früher nicht erreicht hat. Gestalten, wie den jungen Musiker Tande, wie die schöne Frau Bang und ihren Mann, hätte man Björnson kaum zugetraut. Und Magnhild's Verhältniss zu diesen Hauptfiguren ist ebenso trefflich gegeben, als richtig empfunden und gedacht. Gleichwohl fühlt man, dass sich der Verfasser hier auf einem ihm noch einigermassen fremden Boden, auf dem des höheren Gesellschaftslebens, bewegt. Es ist eigenthümlich, dass Tande's feiges Verleugnen seiner Geliebten, als diese von einem Pöbelhaufen verhöhnt wird, vonwegen »der Moral« die Sympathie des Dichters findet. Die Novelle leidet an einem doppelten Grundmangel. Der eine ist eine Undeutlichkeit in der Charakterschilderung einer der Hauptpersonen, Skarlie. Er soll auf den Leser den Eindruck machen, eine Art Ungeheuer zu sein, und man ist jeden Augenblick versucht, ihm seinem langen, idealen Weibe gegenüber Recht zu geben. Auf die furchtsamste Weise von der Welt wird angedeutet, dass Skarlie ein in geschlechtlicher Beziehung höchst verworfener Mensch sei, und nichtsdestoweniger verwirklicht dieses Ungeheuer an gemeiner Sittlichkeit im Verhältniss zu seinem eigenen Weibe, in deren Besitz er durch eine nicht eben sonderlich hinterlistige Intrigue gelangt ist, das altromantische Mondschein-Ideal von Platonismus zwischen Ehegatten, in seiner Bescheidenheit und Genügsamkeit schon froh, wenn er die Gemahlin nähren und kleiden darf. Der zweite Mangel steckt tief in der Philosophie der Novelle. Es ist ein gut Theil veralteter Mystik in der Erörterung jener Lehre von der »Bestimmung« von Mann und Frau, um welche die Erzählung sich dreht, und, (wie stets bei Björnson und Ibsen) ist die Mystik seltsam mit Rationalismus verquickt. Björnson scheint, als Facit seiner Erzählung den Grundsatz aufstellen zu wollen, dass es für das Weib noch andere Wege zu Glück und wohlthätigem Wirken gibt, als das Verhältniss zu einem Mann, den es liebt. Das ist eine Ansicht, die sich hören lässt. Doch es lassen sich aus Magnhild noch mancherlei andere und widersprechende Resultate ziehen. Die Idee ist nicht klar. Im Gegensatze zu dem in den »Neuvermählten« herrschenden Verhältnisse, steht die Ausführung der wichtigsten Partien an Klarheit und Leben hoch über dem Grundgedanken. »Leonarda«, das als dramatische Arbeit nicht hervorragend ist, gehört zu den poesiereichsten Werken des Dichters. Es hätte wahrlich in Dänemark eine bessere Aufnahme verdient, als die burleske, von der nationalen Bühne zurückgewiesen und unter einfältigen Missfallens-Aeusserungen auf einem Theater zweiten Ranges aufgeführt zu werden. Die Zukunft wird Mühe haben eine Beschränktheit zu begreifen, wie sie ein Theil der dänisch-norwegischen Presse durch die Besudelung dieses unschuldigen, reinen Kunstwerks an den Tag gelegt. In »Leonarda« hat Björnson mit bewundernswerther Geistesüberlegenheit eine ganze Reihenfolge von Generationen der norwegischen Gesellschaft vorgeführt, ihre Repräsentanten mit Meisterschaft geschildert, und die Urgrossmutter, welche (nach Art der alten Grossmutter in George Sand's interessantem Drama »L'autre«) die während der langen Zeit der nordischen Reaction so geringgeschätzte Kultur des achtzehnten Jahrhunderts vertritt, das feierliche Amen des Stückes aussprechen lassen. Es konnte einen Augenblick aussehen, als sei mit »Leonarda« nicht nur die Zeit der tiefen Gefühle, auch die der kühnen Gedanken wiedergekehrt. Die Gegner der neueren Richtung Björnson's haben behauptet, dass so lange er sich ausserhalb des Kreises der brennenden Fragen und lebendigen Ideen hielt, sei er als Dichter gross und gut gewesen; seit er sich aber mit modernen Aufgaben und Gedanken eingelassen habe, sei er zurückgegangen, leiste jedenfalls nicht länger künstlerisch Vollendetes. Aehnliche Urtheile sind überall in Europa laut geworden, sobald ein Dichter, der in seiner Jugend durch neutrale, harmlose Arbeiten die Gunst eines Publikums gewann, seinen Zeitgenossen zeigte, dass er sie studire und kenne. Es gibt überall in Europa Leser, welche Byron's »Childe Harold« über den »Don Juan« stellen. Es gibt in Russland und anderwärts ein verfeinertes Publikum, das die ersten kleinen Erzählungen Turgenjew's, das »Tagebuch eines Jägers« den grossen Romanen »Väter und Söhne« oder »Neuland« vorziehen; es fanden sich in Deutschland Viele, die in Wehmuth hin sanken, weil Paul Heyse eine Zeit lang die Liebesnovelle verliess um »Kinder der Welt« zu schreiben. Es ist zwar richtig, dass Björnson in seiner zweiten Periode nicht durchgehends die Durchsichtigkeit und Harmonie der Form erreicht hat, die seine ersten Arbeiten auszeichnen; es ist aber weder gerecht noch verständig, desshalb von einem Rückschritt zu sprechen. Ein neuer, reicher und brausender Ideengehalt findet langsam seine Form, gährt bisweilen über den Rahmen hinaus; starke Gefühle und Gedanken haben ein gewisses Feuer und einen gewissen Schwung, der sie weniger geeignet macht, in gefälliger Gestalt zu erscheinen, als die Gedankenarmuth der Idylle. Und trotz alledem, wie viele auch technisch vorzügliche Leistungen hat Björnson in den letzten Jahren hervorgebracht! Die Exposition im »Fallissement« ist vorzüglich, und die Diction im »Redacteur«, besonders die der ersten Akte, die beste, die Björnson überhaupt erreicht hat. Diese beiden Dramen, mit denen Björnson zuerst die Bahn betrat, die Henrik Ibsen mit seinem Schauspiel »Der Bund der Jugend« gebrochen hatte, schliessen sich gewissermassen an dieses kräftig gebaute und beissend witzige Stück an. Im Grunde enthielt »Der Bund der Jugend« sowohl ein Fallissement wie einen Redacteur. Das Fallissement war das des leichtsinnigen Erik Brattsberg's, der Redacteur liegt in schwachen Umrissen in Steinhoff's Verhältniss zur Zeitung Aslaksens und in dem Artikel gegen den Kammerherrn, der zuerst gedruckt werden soll und sodann nicht gedruckt werden darf, ganz wie in Björnsons Schauspiel. Ja sein Redacteur ist gewissermassen der gealterte Steinhoff, bei dem die weicheren und geschmeidigeren Elemente unter Anfällen wilder Verachtung seiner selbst und Anderer verknöchert sind, während als Hauptstamm des Charakters die brutale Rücksichtslosigkeit allein übrig geblieben ist, die in der Drohung gegen Aslaksen zum Ausbruch kommt, wenn er sich nicht füge, noch ehe das Jahr um sei, so solle er der Armenkasse zur Last fallen. Und doch ist der »Redacteur« seinem ganzen Geiste und Ton nach weit milder und weicher als »Der Bund der Jugend«. Es ist sogar hie und da ein Anflug von Sentimentalität darin. Vielleicht fasst man indessen das Stück am richtigsten und tiefsten als eine grosse Allegorie auf. Der ältere Bruder Halvdan, der in dem politischen und litterarischen Streit unterliegt, ist Wergeland, der nach einem in begeisterten Freiheitskämpfen verbrachten Leben so lange auf dem Krankenlager hingestreckt lag -- eine noch grössere und noch poetischere Gestalt kurz vor dem Tode, als während der langen Fehde des Lebens. Der jüngste Bruder Harald, der die Erbschaft Halvdans übernimmt, ist Björnson selbst (»Es liegt Kraft in Harald«); der dritte Bruder endlich, der Bauer geworden, und die Frau desselben, die ohne aufzutreten, eine so grosse Rolle spielt, vertreten das norwegische Volk. Hier wie in »Leonarda« hat das Drama eine Perspective durch die Zeiten hin und ein weiter Horizont öffnet sich somit dem Blicke. Henrik Ibsen ist ein Richter, streng wie einer der alten Richter Israels, Björnson ist ein Prophet, der verheissende Verkünder einer besseren Zeit. Ibsen ist in der Tiefe seines Gemüths ein gewaltiger Revolutionär. In der »Komoedie der Liebe«, in »Ein Puppenheim«, in »Gespenster« geisselt er die Ehen, in »Brand« die Staatskirche, in den »Stützen der Gesellschaft« die ganze bürgerliche Gesellschaft seines Landes. Was er angreift, wird von seiner tiefsinnigen und überlegenen Kritik zersplittert, und die gesprengten Ruinen bleiben übrig, ohne dass man hinter ihnen neue Gesellschaftsformen erstehen sähe. Björnson ist ein versöhnender Geist, er führt ohne Erbitterung Krieg. Es spielt wie Aprilsonne über seine Dichtungen hin, während die Werke Ibsen's mit ihrem tiefen Ernst wie im Schatten liegen. Ibsen liebt die Idee, die logische und psychologische Consequenz, die Brand aus der Kirche, Nora aus der Ehe heraustreibt. Der Ideenliebe Ibsen's entspricht die Menschenliebe Björnson's. IX. Schon jung fing er an politisch zu wirken, und er hat sein Leben hindurch in _einer_ Richtung gewirkt. Unermüdet hat er gekämpft, um die Unabhängigkeit Norwegens in der (fast nur dynastischen) Union mit dem grösseren Lande Schweden zu sichern. In ganz Europa wird, ausserhalb der skandinavischen Lande, Norwegen als ein von »dem schwedischen Könige« regirtes Land betrachtet. Selbst wo man von der Schulzeit her, eine Art Begriff von Norwegen als Königreich hat, wird das Land unwillkürlich als eine Provinz von Schweden betrachtet, und so oft aus irgend einem Grunde zwischen Regierung und König einerseits und dem norwegischen Storthing andererseits eine Verstimmung herrscht, findet man in den europäischen Blättern Norwegen als eine Art »aufrührerisches Irland« besprochen. Diese Thatsache hat ihren natürlichen Grund in dem Umstande, dass der König in Stockholm residirt und die auswärtige Politik des Reiches von einem schwedischen Minister geleitet wird. Allein sie zeigt, wie sehr Norwegen gegen jeden weitergehenden Versuch, das Land in ein untergeordnetes Verhältniss zu Schweden und dem Unionskönige zu bringen, auf seiner Hut sein muss. Bekanntlich hat das Haus Bernadotte, gleich vom Jahre 1814 an, ruckweise einer natürlichen Neigung gefolgt, das Land mit dem Nachbarreiche zu amalgamiren und dessen verfassungsmässige Rechte zu beschränken, während andererseits die Norweger geneigt waren, in jedem Versuch die beiden Länder politisch enger miteinander zu verknüpfen, eine Gefahr zu erblicken. Schon als Redacteur 1858 bekämpfte Björnson die amalgamistischen Pläne und hatte nicht geringen Antheil daran, dass die Vertreter Bergen's, die für eine nähere Zollverbindung zwischen Schweden und Norwegen gestimmt hatten, nicht wieder in's Storthing gewählt wurden. 1859 stritt er als Redacteur von »Aftenbladet« in Christiania erfolgreich für das Recht Norwegens, keinen schwedischen Statthalter des Königs zu dulden. 1866--67 war er als Redacteur des »Norsk Folkeblad« einer der eifrigsten Gegner des sogenannten »Unionsvorschlags«, d. h. einer Vorlage der Regierung, die darauf hinausging, eine engere Union zwischen den beiden dynastisch vereinten Reichen zu bewerkstelligen. Als der Streit über das (bisher nur für suspensiv erkannte) Veto des Königs zwischen König Oscar und dem Storthing ausbrach, wurde schliesslich Björnson einer der wichtigsten politischen Agitatoren. Besonders nach seinem Besuch Nordamerikas im Jahre 1880 hat er sich als grosser Volksredner entpuppt. Es verdient ausdrücklich hervorgehoben zu werden, dass er in seinem Kampfe für Norwegens Unabhängigkeit, sich niemals zu einer unbesonnenen oder verletzenden Aeusserung über Schweden hinreissen liess, sondern stets seine warme Sympathie für das Nachbarland betont hat. Eine Charakteristik, die Björnstjerne Björnson nicht auch als Redner und Journalisten behandelt, wird immer unvollständig sein. Um sie liefern zu können, müsste man jedoch eine Gesammtausgabe seiner Journalartikel und grösseren Reden zur Verfügung haben. Besser noch als an seinen Dichterwerken würde man an seinen Artikeln alle die Entwicklungsstadien, die er durchlaufen hat, studiren können, und es wäre daher wünschenswerth, wenn man eine Sammlung derselben nicht erst bis nach seinem Tode verschöbe. Viel Unreifes und Unvernünftiges käme dabei zu Tage, aber auch viel Ausgezeichnetes und Lehrreiches, das ganze Bände füllen würde. Wenige Männer führen eine polemische Feder wie Björnson, und wenige haben wie er die Gabe, volksthümlich ohne Weitschweifigkeit zu schreiben. Am rückhaltlosesten und vollständigsten legt Björnson als Redner sein Wesen an den Tag. Er ist als solcher ein grosser, genialer Agitator. Wenn ich mir ihn in die Situation hineinzudenken versuche, zu welcher er, seinem innersten Wesen nach, sich am besten eignet, so sehe ich ihn bei einer Volksversammlung vor mir, wie er sicher, vierschrötig, über Tausende von norwegischen Bauern emporragend, auf der Rednerbühne steht, und rings tiefe Stille um sich her, mit dem mächtigen Klang seiner Stimme die Zuhörer bannt, bis ihn endlich in dem Augenblicke, da er vollendet, der Jubel umbraust. Die beiden Länder Norwegen und Dänemark, die so viele Jahrhunderte politisch vereinigt gewesen, die auf der alten gemeinsamen Litteratur weiterbauen, denen noch heutigen Tags eine gemeinsame Schriftsprache, ein gemeinsamer Leserkreis zu eigen, haben in allen den grossen Kulturfragen gemeinsame Bestrebungen und Ziele. Die norwegische und die dänische moderne Litteratur, die, unwesentliche Dialectverschiedenheiten abgerechnet, in einer und derselben Sprache geschrieben sind, bilden in Wirklichkeit unter zwei Namen nur eine Litteratur. Derselbe Kampf für Freiheit und neuzeitliche Aufklärung, den Björnson in Norwegen kämpft, wird in Dänemark von der jüngeren Schriftstellerschule ausgefochten. Norwegen und Dänemark arbeiten, je von ihrer Seite, das gemeinsame Sprach- und Litteraturgebiet zu bebauen. Wer weiss! Vielleicht ergeht es noch damit, wie in Arne mit der Bekleidung des Felsens. Als nach vielen fruchtlosen Bemühungen endlich der Tag gekommen war, wo das Haidekraut über die Felsenkante hinweggucken konnte und die Birke den ganzen Kopf hinüberbog, da entdeckten sie unter vielen Oh jeh! Oh jeh! freudiger Bestürzung, dass jenseits ein ganzer grosser Wald aus Föhren und Haidekraut und Wachholder und Birken auf dem Abhange stand und wartete. Sie begegneten der Arbeit, die von der andern Seite gemacht worden, um den Felsen zu bekleiden. »_Ja, so ist es, wenn man vorwärtsstrebt_«, sagt der Wachholder. NACHSCHRIFT. (1899.) Von 1882 bis jetzt, hat Björnstjerne Björnson gar viel gearbeitet, geeifert, politisirt und gedichtet. Er hat so viel Kraft für Verhältnisse und Dinge, welche der Dichtkunst fern liegen, eingesetzt, dass in den verflossenen siebzehn Jahren nicht mehr als acht Bände Dichtungen von ihm erschienen. Doch hat er sich in einigen dieser Werke so hoch emporgeschwungen, dass von einer Abnahme seiner Kräfte nicht nur nicht die Rede sein kann, sein dichterisches Genie vielmehr heute gefesteter, vollkräftiger als ehedem erscheint. Hat sich Björnson's poetische Begabung eher gesteigert, so ist er im übrigen als Persönlichkeit mehr in die Breite gegangen. Wohl hat er von jeher die Ellbogen zu regen geliebt, viel Platz erheischt und seinem Hange gefolgt, zu bekennen, zu verkündigen, mitzusprechen und die Wege zu weisen, selbst wo er nicht über hinreichende Kenntnisse gebot, ja nicht einmal so recht die Vorbedingungen besass, sich diese zu verschaffen. Je mehr jedoch mit den Jahren sein Ansehen wuchs, desto ungescheuter gab er sich dem ehrgeizigen Verlangen hin, auf den verschiedensten Gebieten mahnend und führend aufzutreten. Riesig ist die Zahl der seit 1882 von ihm unternommenen moralischen und politischen Feldzüge. Die Zahl der Kannegiessereien, auf die er im selben Zeitraume sich verlegt hat, ist verblüffend. Einem scherzhaften On dit zufolge soll Björnson u. a. ein Schreiben an den Papst gerichtet haben, in welchem er ihn auf's eindringlichste ermahnte, sich zur protestantischen Religion zu bekehren, müsse er doch selbst einsehen, dass der Katholicismus nicht mehr zeitgemäss sei; es wäre das ein Schritt von unermesslicher Tragweite. Er ist fast immer von einer Idee erfüllt, für die er in dem Augenblicke mit dem Aufgebot seiner ganzen Beredsamkeit kämpft. Hat er eine Zeit lang für sie gestritten, dann lässt er sie fallen und wird von der nächsten mit fortgerissen. Zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass diese Ideen nur ausnahmsweise im Widerstreit miteinander stehen. Mitunter reist er sogar von Ort zu Ort und hält immer und immer wieder den nämlichen Vortrag, worin er dem Form gegeben hat, was ihm für seine neue Idee von wesentlicher Bedeutung erscheint. Einen Vortrag, in dem er von den Männern Jungfräulichkeit und Einehe forderte, hielt er so in allen grösseren und kleineren Städten Dänemarks, Norwegens, Schwedens und Finnlands, ihn wohl an die achtzigmal wiederholend. Es geht die Sage, dass hernach eine auffallende Besserung des Sittlichkeitszustandes in den nordischen Landen eingetreten sei; nichts ist ja so wirksam wie eine kräftige Predigt. Nach und nach hat Björnson auf diese Art die Republik eingeführt, die geschlechtliche Sittlichkeit, die reine norwegische Flagge, den Weltfrieden, norwegische Rüstungen gegen Schweden, Angriffe auf Schweden in russischen Blättern, norwegische Consuln und norwegische Minister des Aeussern, er hat die Freilassung des Dreyfus und die Abhaltung des Haager Congresses durchgesetzt, hat seiner Dankbarkeit gegenüber dem Kaiser von Russland und seinen Sympathien für den englischen Björnson, Mr. Stead, Ausdruck gegeben, endlich das norwegische Landsmaal (die Volkssprache) aus den norwegischen Schulen verdrängt. Der Kopf schwindelt einem, nur daran zu denken. Allerdings dürfte es zumeist noch nicht so recht Wurzel geschlagen haben; noch lässt sich der Weltfriede nicht als unbedingt gesichert betrachten, wie auch Norwegen nicht vollauf gerüstet ist, es mit Schweden aufzunehmen; hie und da wird sich wohl auch noch ein dänischer Mann oder eine norwegische Flagge finden, die nicht »rein« sind; allein ein gut Stück Arbeit ist jedenfalls gethan, und die überwiegende Mehrzahl des norwegischen Volkes hat dem heimischen Dichter auf allen Irrfahrten begeisterte Heerfolge geleistet. Wer Björnstjerne Björnson im Concertpalais zu Kopenhagen vor fünfhundert nicht mehr in der ersten Blüthe stehenden, direct vom Strickstrumpfe gekommenen Damen über den Weltfrieden sprechen, ihn mit beweglichen Worten die Versammlung beschwören hörte, von den wilden kriegerischen Instincten abzulassen, zu bedenken, dass es wehe thäte, sehr wehe sogar, im Krieg verwundet zu werden, dass Wunden auch äusserst übel röchen, ihn (zum zwanzigstenmale) zufällig einen Brief, der etwas von dem Gesagten bestätigte, in seiner Tasche finden sah -- »ich glaube, ich habe ihn bei mir« -- und nun den Eindruck der Rede gewahrte, sah, wie das offenbar vordem rein kriegswüthige Publikum friedliebend wie eine Lämmerherde den Saal verliess: wer all dies erlebt hat, der kann sich eine Vorstellung machen von dem Effect dieser Vorträge überhaupt. Was in ihnen von Björnsons Wesen zu Worte kommt, ist nicht sein bestes Theil: es lässt ihn sich am wohlsten fühlen, wo _tausend_ Freunde und _hundert_ Gegner sich um ihn scharen, er also nichts wesentlich Neues verkündet. Dazu macht sich mit den Jahren in diesem seinem Auftreten als Polemiker und Erzieher immer unangenehmer eine eigenthümliche Mischung von Brutalität und Sentimentalität fühlbar. Das Beste seines Wesens hat er in seinen Werken niedergelegt. Die beiden grossen Romane »Beflaggt sind Stadt und Hafen« (1884) und »Auf Gottes Wegen« verunstaltet einigermassen das unmittelbare Moralisiren, doch ist auch in ihnen, wie überall bei Björnson, selbst wo er sich nicht zu seiner vollen Höhe erhebt, eine grosse dichterische Kraft entfaltet; die ungewöhnliche Gabe, zu schildern, zu charakterisiren, mit freier Hand hinzuwerfen, gibt sich allenthalben kund, sei sie auch in den Dienst untergeordneter und uninteressanter Ideen gestellt. Björnson ist ja der geborene Erzähler, der echte Epiker. In seinen Adern rollt Erzählerblut, und nichts hat einen Klang wie die Stimme des Blutes. Ganz besonders kommt aber seine Fähigkeit zu gründlicher Vertiefung in das Seelenleben der Personen in der Form der Erzählung zu ihrem Rechte. Er braucht Platz zur Entfaltung und Erklärung von oft ganz merkwürdigen Wunderlichkeiten und Ausnahmsfällen und findet im Roman und in der Novelle mehr Spielraum hiezu, als im Schauspiele, das die haushälterischste Knappheit erfordert. In seinen »Neuen Erzählungen« (1894) ist die letzte, »Absalons Locken«, die hervorragendste des Buches und verräth aufs neue eindringliche Menschenkenntniss. Ihr Schwerpunkt liegt in der Zeichnung einer blutreichen, willensstarken, niedrigen und simplen Frauennatur, und in der Vorgeschichte finden sich hier, ganz wie in der des Romanes »Beflaggt«, kräftig wiedergegebene Züge von Roheit der Sitten, ja von äusserster Brutalität, die als charakteristisch für das Land, in dem die Erzählung spielt, auffallen. Man vergisst weder die Scene, wo der Bauer seine scheussliche, blutige Rache an Kurt nimmt, noch jene, wo Harald Kaas im Beisein des ganzen Hofgesindes seine Frau bis aufs Blut mit Ruthen streicht. Im Gegensatze hiezu macht sich im weiteren Laufe der Erzählungen die weichlichste Empfindsamkeit breit. Im Jahre 1883 gab Björnson zwei Schauspiele heraus, wovon das eine ausserordentliches Aufsehen erregte, das andere zu dem Ausgezeichnetsten gehört, das er im Leben geschaffen hat und das überhaupt bewunderungswürdig genial in seiner Anlage ist. »Ein Handschuh«, das erstere dieser beiden Stücke, vom Dichter wiederholt umgearbeitet, ohne in irgend einer der Gestalten künstlerische Vollendung zu gewinnen, spannt die sittliche Forderung an den Mann auf dem Gebiete der Geschlechtsverbindungen so hoch, wie man es bis dahin nur der Frau gegenüber gewohnt war, und die Neuheit dieser Tendenz eines Schauspieles machte sofort grosses Aufsehen. Allein die weibliche Hauptgestalt, das verlobte junge Mädchen, Svava, wird einem nicht so werth wie der Dichter, der in ihr eine Personification der strengen Reinheit, die Vorbotin einer lichteren, edleren Zukunft erblickt, es wollte. Man fühlt ein gewisses Mitleid mit ihr, als einem Opfer allzugrosser Vertrauensseligkeit, aber sie wirkt nirgends schön, und ihre Haltung ihrem Bräutigam wie ihrem Vater gegenüber berührt peinlich. Hätte sie Alf geliebt, wie sie ihn zu lieben glaubt, sie würde sich wohl in der Stille mit ihm auseinandergesetzt haben, ohne ihm den Handschuh ins Gesicht zu werfen, und wäre sie nicht von vornherein in Gedanken unschön mit dem Geschlechtlichen beschäftigt gewesen, sie hätte nicht gleich zu Beginn des Stückes zu ihrem Vater die geschmacklosen Lobesworte sprechen können: »du bist doch die _keuscheste_ und feinste Mannsperson, die ich kenne«, was beinahe noch übler klingt, als ihre späteren Verdammungsurtheile über die Schwächen des Vaters. Björnson, der in diesem Schauspiele als echter Pastorssohn sich unbedingt auf den Standpunkt des sechsten Gebotes stellt, hat die verwickelten Geschlechtsverhältnisse durchaus nur von Einer Seite ins Auge fassen wollen und theils mit Ungestüm angegriffen, was niemandem zu vertheidigen oder gut zu heissen einfiel -- also wieder einmal offene Thüren eingerannt -- theils aus dem garstigen Vorgehen seiner Nebenpersonen so allumfassende Schlüsse gezogen, dass dies, wäre eine Erörterung auf diesem Gebiete in den nordischen Landen frei, zweifelsohne eine scharfe Kritik erfahren hätte. Wie die Dinge lagen, kam dem Drama gegenüber kaum ein anderes Gefühl als das der Befriedigung zu Worte, die Leichtfertigkeit entlarvt und gebrandmarkt, die Reinheit verfochten und gepriesen, die strengsten und höchsten Anforderungen gestellt zu sehen. In nordischen Gemüthern wird es stets eine Stelle geben, wo das Ideale der puritanischen Grundsätze einen Widerhall findet. Weit überraschender, weit tiefsinniger und poetischer war jedoch Björnson's zweites Schauspiel aus dem Jahre 1883, der erste Theil von »Ueber die Kraft«. Er selbst hat nichts Besseres geschaffen, und auch Ibsen nicht. Es ist durch und durch neu, genial, sowohl in der Anlage wie in der Durchführung, das ausgezeichnetste Drama der neueren Zeit über die Religiosität, über das heutige gläubige und praktische Christenthum. Alles, was in seiner priesterlichen Abstammung und Anlage der reinen Wirkung seiner Poesie sonst abträglich war, kam ihm hier zugute. Das starke Gefühl für das Wesen des christlichen Glaubenslebens, für dessen grosse Schönheit und tiefe Gefährlichkeit, konnte nur der haben, der selbst einmal als Gläubiger empfunden, sich dann aber losgemacht hatte, ohne Groll, ja mit Wehmuth, doch mit der Einsicht in das Verwirrende, das die Menschennatur Sprengende des steten Verhältnisses zum Uebernatürlichen. Das Stück ist von der Ueberzeugung getragen, dass unseren Kräften, unserem ganzen Wesen feste Grenzen gezogen sind, sowie von einem Gefühl der Beruhigung, dass es solche Grenzen gibt -- etwas, worüber die Dichter nur allzusehr zu ächzen pflegten. Hiezu kommt die mit reicher poetischer Kunst dem Stücke mitgetheilte Sommerstimmung des Nordlandes, der feine Blumenduft dieser Gegend, der es durchhaucht; mit Meisterschaft endlich ist unmittelbar vor dem tragischen Schluss eine leicht humoristische Partie, die Ankunft der hungrigen Pfarrer, eingeflochten. Man hätte sich verschwören mögen, läge der Gegenbeweis nicht vor, es sei ein Ding der Unmöglichkeit, durch ein Drama ohne Erotik, das einzig und allein die Möglichkeit eines Heilungsmirakels behandelt, Leser und Zuschauer also zu fesseln. Die Fortsetzung des Stückes, sein zweiter Theil (vom Jahre 1895), ergänzt es würdig und in vollstem Masse, indem es mit der gleichen Genialität den Hang zum Grenzenlosen auf dem socialen Gebiete aufzeigt, wie der erste auf dem religiösen. Mit ausserordentlicher Feinheit wird hier das Erbe vom gläubigen Vater bei dem ungläubigen Sohne nachgewiesen, der einer ebenso grenzenlosen Begeisterung folgt, auch sie lebensgefährlich. Es ist kaum anzunehmen, dass das Stück in seiner gegenwärtigen Fassung schon 1883 entworfen wurde, wenn sich auch Björnson darüber klar sein mochte, wie er das Wesen der aus dem ersten in den zweiten Theil hinübergenommenen Personen weiter entwickeln wolle. Kamen anarchistische Sprengversuche damals ja nur ganz ausnahmsweise vor. Auch finden sich hie und da (so zum Beispiel in Holgers Wesen und Ausdrucksweise) Spuren späterer Erfahrungen und Eindrücke (Nietzsche). Doch das ist Nebensache, die ganze Anlage des Stückes ist von Anfang bis zu Ende das Werk eines Meisters: ergreifend wird der Gegensatz zwischen den Elenden und den Begüterten durch den zwischen der tiefen, sonnenlosen Kluft, in der die ersteren leben, und dem Leben oben in der Burg auf der weiten Hochebene veranschaulicht, und ebenso anschaulich stellt sich der Gegensatz zwischen dem Fanatismus, der seine Minengänge füllt, und der Barmherzigkeit dar, die ihr Hospital baut. Der dritte Act, in dem am Schlusse die Burg in die Luft fliegt, ist an und für sich ein kleines Meisterwerk von dramatischer Kunst, und der vierte Act schliesst das Ganze schön, wenngleich etwas prosaisch mit dem Ausblicke in eine bessere Zukunft ab. Selbst Gestalten, die halb oder ganz Allegorien sind, selbst die mit kühnen Strichen hingeworfenen, schwach durchgeführten Gestalten Credo und Spera, diese Verkörperungen des Zukunftsglaubens und der Zukunftshoffnung, sind mit Genialität concipirt. So hoch steht das 1898 folgende Schauspiel »Paul Lange und Tora Parsberg« nicht, wenn es sich auch durch feine, vollendete Charakteristik zweier höchst eigenthümlicher, jeder in seiner Art bedeutender Menschen auszeichnet. Die Wirkung des Stückes wird dadurch ein wenig beeinträchtigt, dass die Erinnerung an die wirkliche Begebenheit, auf welcher es sich aufbaut, sich bei allen denen, die sie kannten, einmischt. Es ist schwer, eine freie dichterische Schöpfung über ein Motiv hervorzubringen, das wenige Jahre zuvor in Leitartikeln behandelt wurde. Einigermassen wirkt dem vom Dichter angestrebten Eindrucke, ähnlich wie in seinem Drama »Der Redacteur«, die ziemlich starke Dosis Weichlichkeit der Grundanschauung entgegen. Der Umstand, dass Paul Lange -- dessen Gewissen ihn freispricht und der an dem Weibe, das er liebt und das ihn wieder liebt, die festeste Stütze findet -- von Seite der ehemaligen politischen Genossen Missbilligung und Verkennung bis zur Roheit erfährt, ist kein hinreichend einleuchtender Beweggrund, freiwillig in den Tod zu gehen. Ein Dialog, wie der folgende zwischen seiner Braut und seinem Diener, lässt Paul Lange in einem etwas kläglichen Lichte erscheinen: =Tora Parsberg.= Las er die Morgenblätter? =Kristian Oestlie.= Allesammt. =Tora Parsberg.= Liess sich das nicht hindern? =Kristian Oestlie.= Es war nicht möglich. Ein Staatsmann, ein Minister, ein alter Politiker, der sein Lebelang den Aufregungen und Stürmen des öffentlichen Lebens ausgesetzt war, muss es ertragen können, die Morgenblätter zu lesen, darf zum mindesten nicht daran sterben, dass er sie las. Dieses Schauspiel hat nicht jenen allgemein menschlichen Gesichtskreis wie das Doppeldrama »Ueber unsere Kraft«; es hat vorzugsweise auf die Verhältnisse in Norwegen Bezug und zwar auf ganz eigenthümliche, fast individuelle dortige Verhältnisse. Als Menschenstudium aber und Menschendarstellung genommen, zeugt es von ungeschwächter Frische und Kraft. Alle Gestalten sind leibhaft, in voller Rundung hingestellt, sie drücken sich je nach ihrem besonderen Wesen aus. Selbst Nebenfiguren (wie der Kammerherr und Storm) sind vortrefflich. Wohlgelungen ist auch das Selbstporträt in Arne Kraft, obgleich nur einige Umrisslinien gegeben sind. Die Handlung hingegen ist minder überzeugend durchgeführt. Hätte Paul Lange seinem zudringlichen und unausstehlichen Freunde, Herrn Arne Kraft, ein Billet gesendet, dass er nach reiflicher Erwägung sich ausserstande sehe, das Versprechen, das Kraft ihm abgepresst, ja abgequält habe, zu halten (das Versprechen, einen alten, unzuverlässigen Minister nicht durch eine Rede zu stützen), es hätte zu keinem Missverständniss kommen und nicht so leicht eine Tragödie daraus entstehen können. Doch dem sei, wie ihm wolle, überblickt man Björnsons dramatische Schöpfungen der späteren Jahre, so ist der Haupteindruck der einer tiefeindringenden Menschenkenntniss, reicher Phantasie, warmer Menschenliebe und des grossen Stiles einer Kunst, die umso höher stieg, je schwierigere Aufgaben sie sich stellte. HENRIK IBSEN. (1883.) I. Als Henrik Ibsen in die Verbannung ging, aus welcher er bis heute nicht zurückgekehrt ist, zählte er 36 Jahre. Er verliess Norwegen mit düsterem, verbitterten Sinn nach einer an der Schattenseite des Lebens verbrachten Jugend. Er wurde am 20. März 1828 in der kleinen norwegischen Stadt Skien geboren, wo seine Eltern sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits den angesehensten Familien der Stadt angehörten. Der Vater befand sich als Kaufmann in einer verschiedenartigen und ausgebreiteten Wirksamkeit und liebte es, unbeschränkte Gastfreiheit in seinem Hause zu zeigen, aber 1836 musste er seine Zahlungen einstellen und es blieb der Familie nichts übrig, als ein Landhaus in der Nähe der Stadt. Dort hinaus zogen sie und wurden dadurch des Verkehrs verlustig mit den Kreisen, denen sie früher angehört hatten. In »Peer Gynt« hat Ibsen seine eigenen Kindheitsverhältnisse und Erinnerungen als eine Art Modell für die Schilderung des Lebens in dem Hause des reichen Jon Gynt gebraucht. Henrik Ibsen kam als Jüngling zu einem Apotheker in die Lehre, arbeitete sich unter manchen Schwierigkeiten durch, um, 22 Jahre alt geworden, die Universität zu beziehen. Er hatte als Student weder die Neigung noch die Mittel zu einem Brodstudium, musste er sich doch längere Zeit sogar das regelmässige Mittagessen versagen. So gestaltete sich seine Jugendzeit hart und streng, zu einem Kampf mit dem täglichen Leben; sein Vaterhaus bot ihm, wie es schien, keinen Hort dar. Nun bedeuten zwar solche Verhältnisse in einer so armen und demokratischen Gesellschaft, wie die norwegische ist, weniger als anderswo, und Ibsen entbehrte weder die Fähigkeit des Jünglings, sich durch Begeisterung für Ideen, noch die des Dichters, sich durch ein Leben in der Einbildungskraft über die Misshelligkeiten der Wirklichkeit hinwegzuschwingen. Immerhin aber prägt frühzeitig empfundene Armuth dem Gemüth einen Stempel auf. Sie kann Demuth erzeugen, und sie kann zur Opposition aufreizen, sie kann den Geist unsicher oder selbständig oder hart für's ganze Leben machen. Auf Ibsens in sich gekehrtes streitbares und satyrisches Naturell, das mehr dazu angelegt war, die Umgebung zu beschäftigen, als sie zu gewinnen, muss die Armuth wie eine Herausforderung gewirkt haben. Daher vielleicht eine gewisse gesellschaftliche Unsicherheit, ein gewisses Verlangen nach jenen äusseren Auszeichnungen, die ihm ein Recht der Gleichheit gaben mit den Gesellschaftsklassen, von welchen er als Jüngling ausgeschlossen war, daher aber auch ein mächtiges Gefühl, nur auf sich selbst und seine inneren Hilfsmittel gestellt zu sein. Nachdem er einige Monate hindurch als Herausgeber eines Wochenblattes ohne Abonnenten thätig gewesen, wirkte er (1851--57) als Dramaturg an dem kleinen Theater zu Bergen und stand danach als Director dem Theater zu Christiania vor, das 1862 Bankerott machte. Ibsen, der mit den Jahren so gesetzt wurde und dessen Tage nun so regelmässig ablaufen wie ein Uhrwerk, soll als junger Mann ein ziemlich ungebundenes Leben geführt haben und blieb deshalb von der üblen Nachrede nicht verschont, die in kleinstädtischen Klatschnestern, wo Jedermanns Thun und Treiben vor Aller Augen offen liegt, sogar eine geringe Unordnung, geschweige denn die Zügellosigkeit der Genialität zu verfolgen pflegt. Ich denke mir Ibsen zu Beginn der Mannesjahre von Gläubigern geplagt und von der Kaffeeschwestern-Moral täglich _in effigie_ hingerichtet. Er hatte eine nicht geringe Anzahl schöner Gedichte geschrieben und eine Reihe seiner nun so berühmten Dramen veröffentlicht, darunter einige der am meisten bewunderten; aber sie wurden nicht, wie jetzt seine Werke und diejenigen der übrigen norwegischen Dichter, in Kopenhagen veröffentlicht; sie erschienen in Norwegen in hässlichen, auf schlechtem Papier gedruckten Ausgaben, und sie brachten dem Dichter, selbst seitens der Freunde, nur eine ziemlich kühle Anerkennung seines Talentes ein, zugleich aber das vernichtende Urtheil, dass ihm »idealer Glaube und ideale Ueberzeugung fehle«. Norwegen wurde ihm verleidet. 1862 hatte er, polemisch und sarkastisch angelegt, wie er war, die »Comödie der Liebe« herausgegeben, die mit schneidendem Hohn gegen die Erotik der Philistrosität ein tiefgehendes Misstrauen zu der Tragkraft der Liebe durch die Wechselfälle eines Lebens verband. Unumwunden hatte er seine Zweifel an die Fähigkeit der Liebe ausgesprochen, ihr ideales und schwärmerisches Wesen unbeschadet und unverändert in der Ehe zu bewahren! Es konnte ihm nicht unbekannt sein, dass die Gesellschaft mit der ganzen Zähigkeit des Selbsterhaltungstriebes das Vertrauen in die Unveränderlichkeit der normalen und gesunden Liebe als eine Pflicht festhalte; aber er war jung und trotzig genug, um durch die Verbindung Schwanhilds mit dem alten reichen Spiessbürger Guldstadt lieber der trivialsten Auffassung der Ehe ein relatives Recht zu geben, als dass er sein Misstrauen auf die Dogmatik der Liebe verborgen hätte. Das Schauspiel rief ein Geschrei der Erbitterung hervor. Man gerieth ausser sich über diesen Angriff auf die ganz erotische Gesellschaftsordnung, die Verlobungen, die Ehen u. s. w. Anstatt dass man sich getroffen fühlte, geschah, was in solchen Fällen zu geschehen pflegt; man begann das Privatleben des Dichters auszuforschen, die Beschaffenheit seiner eigenen Ehe zu untersuchen, und hätte er, wie Ibsen mir einmal andeutete, die gedruckten Recensionen des Stückes sich allenfalls gefallen lassen, so war das mündliche und private Kritisiren geradezu unerträglich. Selbst ein so vortreffliches Werk wie »Die Kronprätendenten«, welches 1864 folgte, vermochte nicht, den Namen des Dichters zu reinigen und zu heben. Das Stück wurde, soviel ich weiss, von der Kritik nicht gerade abfällig behandelt, aber auch nicht nach Verdienst gewürdigt, und erregte keinerlei Aufsehen. Ich glaube nicht, dass 20 Exemplare davon nach Dänemark kamen. Jedenfalls machte erst »Brand« den Namen des Dichters ausserhalb Norwegens bekannt. Zu diesen persönlichen Gründen, welche Ibsen's Missmuth erregten, kam ein Gefühl tiefer Unzufriedenheit wegen der Haltung Norwegens während des dänisch-deutschen Krieges. Als im Jahre 1864 Schweden und Norwegen trotz der bei den skandinavischen Studentenversammlungen und in der skandinavisch gesinnten Presse abgegebenen Versicherungen, welche Ibsen für bindend oder doch für verpflichtend angesehen hatte, es unterliessen, Dänemark gegen Preussen und Oesterreich beizustehen, da ward ihm die Heimath, welche ihm als Inbegriff der Unbedeutendheit, Schlaffheit und Muthlosigkeit erschien, dermassen verhasst, dass er sie verliess. Seitdem lebte er abwechselnd in Rom, in Dresden, in München und dann wieder in Rom, in jeder der genannten deutschen Städte 5--6 Jahre. Doch eine bleibende Stätte hat er nirgends gehabt. Er führte ein stilles regelmässiges Familienleben, oder vielmehr: er hat innerhalb des Rahmens eines Familienlebens sein eigentliches Leben in seiner Arbeit gehabt. Er verkehrte an öffentlichen Orten zwar mit den hervorragenden Männern der fremden Städte, empfing eine Anzahl durchreisender Skandinaven in seinem Haus; aber er lebte wie in einem Zelt zwischen gemietheten Möbeln, die am Tage der Abreise wieder zurückgeschickt werden konnten; seit neunzehn Jahren hat er nie seinen Fuss unter den eigenen Tisch gestellt, noch in eigenem Bette geschlafen. Zur Ruhe gesetzt in strengerem Sinne hat er sich niemals; er hat sich daran gewöhnt, sich in der Heimathlosigkeit heimisch zu fühlen. Als ich ihn zuletzt besuchte und die Frage an ihn stellte, ob in der Wohnung, die er inne hatte, denn Nichts ihm gehöre, deutete er auf eine Reihe von Gemälden an der Wand; dies war Alles, was darin sein Eigen war. Selbst jetzt als wohlhabender Mann fühlt er nicht den Drang, Haus und Heim zu besitzen, noch weniger, gleich Björnson, Grund und Boden. Er ist ausgeschieden aus seinem Volk, ohne irgend eine Thätigkeit, die ihn mit einer Institution, einer Partei, ja selbst nur mit einer Zeitschrift oder einem Blatt daheim oder draussen verbände -- ein einsamer Mann. Und in seiner Isolirtheit schreibt er: »Dir, meinem Volke, das in tiefer Schale Den heilsam bittern Stärkungstrank mir gab, Der Kraft zum Kampf im Abendsonnenstrahle Dem Dichter eingeflösst, schon nah dem Grab; Dir, meinem Volk, das mit der Angst Sandale, Der Sorge Bündel, der Verbannung Stab Mich ausgerüstet, mit dem Ernst zum Streite -- Dir send' ich meinen Gruss nun aus der Weite!« Er sandte viele und gewichtige Grüsse. Doch alle seine Productionen, sowohl vor dem Exil als während desselben, zeigen eine und dieselbe Stimmung, diejenige seines Naturells: die Stimmung des Unheimlichen und der Ungebundenheit. Dieser Grundzug, so natürlich bei dem Heimathlosen, schlägt überall durch, wo Ibsen am stärksten wirkt. Man entsinne sich nur einiger seiner eigenartigsten und dabei von einander durchaus verschiedenen Productionen, wie des Gedichtes »Auf Bergeshöhen«, in welchem der Erzählende vom Hochgebirg aus die Hütte seiner Mutter in Flammen aufgehen und sammt der Bewohnerin niederbrennen sieht, während er selbst, willenlos und verzweifelt, die effectvolle Nachtbeleuchtung beobachtet, oder »Aus meinem häuslichen Leben«, wo die Phantasiegebilde des Dichters, seine beflügelten Kinder, die Flucht ergreifen, sobald er sich selbst mit den bleigrauen Augen, der zugeknöpften Weste und den Filzschuhen im Spiegel erblickt; man denke an die Poesie der ergreifenden Unheimlichkeit, wo Brand seiner Frau die Kleider des verstorbenen Kindes entreisst; man erinnere sich der Stelle, wo Brand seine Mutter zur Hölle fahren lässt und der in ihrer tiefen Originalität bewunderungswürdigen Scene, wo Peer Gynt die seinige in den Himmel hineinlügt; man vergegenwärtige sich den peinlich überwältigenden Eindruck von »Nora« -- diesem Schmetterling, der drei Acte hindurch mit einer Nadel gestupft und zuletzt durchbohrt wird -- und man wird daraus deutlich fühlen, dass die Hauptstimmung, welche dem landschaftlichen Hintergrund bei Gemälden entspricht, in allen pathetischen Partieen die der wilden Unheimlichkeit ist. Sie kann sich zum Entsetzlichen, zur Tragik steigern, aber sie beruht nicht darin, dass der Dichter schlichtweg ein Tragiker ist. Schiller's Tragödien oder diejenigen Oehlenschläger's sind nur momentan unheimlich; und selbst der Dichter von »König Lear« und »Macbeth« hat so harmonisch schmelzende Dinge geschrieben wie »Ein Sommernachtstraum« und »Der Sturm«. Bei Ibsen aber ist jene Stimmung die ursprüngliche überall. Sie musste natürlich entstehen bei dem geborenen Idealisten, der von Haus aus nach der Schönheit in ihren höchsten Formen als ideeller seelischer Schönheit dürstete; sie war unvermeidlich bei dem geborenen Rigoristen, der, grundgermanisch, bestimmter norwegisch von Natur und Temperament, von seiner orthodoxen Umgebung dahin beeinflusst war, das Sinnenleben hässlich und sündhaft zu finden, und in Wirklichkeit keine andere Schönheit anzuerkennen, als die moralische. Im Grunde seines Wesens war Ibsen scheu; einige wenige Täuschungen schon genügten, ihn in sich selbst zurückzuscheuchen mit dem Argwohn gegen die Aussenwelt im Herzen. Wie frühzeitig muss er verwundet, zurückgestossen, gleichsam gedemüthigt worden sein in seinem ursprünglichen Hang zu glauben und zu bewundern! Ich denke mir, der erste tiefe Eindruck, den seine geistige Individualität empfing, war der von der Seltenheit des moralischen Werthes -- oder von dessen »Nieheit«, wie er in bitteren Augenblicken hinzufügte --; und getäuscht in seinem Suchen nach seelischem Adel mag er eine Art von Linderung darin gefunden haben, überall die traurige Wahrheit ihres Scheines zu entkleiden. Die Luft um ihn war angefüllt mit schönen Worten, man sprach von ewiger Liebe, von tiefem Ernst, von Glaubensmuth, Charakterfestigkeit, norwegischer Gesinnung (»das kleine, doch felsenfeste Klippenvolk«); er sah sich um, er spähte, suchte -- und fand Nichts in der wirklichen Welt, das solchen Worten entsprochen hätte. So entwickelte sich denn eben aus der Vorliebe für das Ideale eine eigenthümliche Fähigkeit in ihm, überall die Unzuverlässigkeit zu entdecken. Es wurde sein Trieb, das scheinbar Echte zu prüfen, um sich ohne viel Verwunderung von der Unechtheit zu überzeugen. Es wurde seine Leidenschaft, mit dem Finger an Alles zu pochen, was wie Erz aussah, und seine schmerzliche Befriedigung, den Klang des Hohlen zu hören, der zugleich sein Ohr verletzte und seine Vermuthung bestätigte. Ueberall, wo das sogenannte Grosse ihm entgegentrat, hatte er die Gewohnheit, ja den Drang zu fragen, wie in seiner poetischen »Epistel an eine schwedische Dame«: »Ist es wirklich gross, das Grosse«? Er hatte einen geschärften Blick für die Selbstsucht und die Unwahrheit, welche dem Phantasieleben häufig innewohnen (»Peer Gynt«), für die Stümperei, die sich mit der politischen Freiheits- und Fortschrittsphrase decken will (»Der Bund der Jugend«) und allmälig ward ein grossartiges, ideales oder moralisches _Misstrauen_ seine Muse. Es inspirirte ihm immer kühnere Untersuchungen. Nichts imponirte ihm oder schreckte ihn, weder was im Familienleben den Anschein idyllischen Glückes hatte, noch was im Gesellschaftsleben dogmatischer Sicherheit glich. Und in dem Masse wie seine Forschungen eindringlicher wurden, nahm die Unerschrockenheit zu, womit er das Resultat derselben mittheilte, verkündete, laut ausrief. Es wurde seine Hauptfreude als Geist, alle Diejenigen zu beunruhigen, die ein Interesse daran hatten, die Schäden mit beschönigenden Umschreibungen zu verkleistern. So wie er stets gefunden, dass man viel zu viel rede von Idealen, denen man niemals im Leben begegne, so fühlte er mit immer grösserer Sicherheit und Entrüstung, dass die Menschen wie auf Verabredung Schweigen beobachteten über die tiefsten, unheilbarsten Brüche mit dem Ideale, über die eigentlichen, wirklichen Schrecknisse. In der guten Gesellschaft wurden dieselben als unwahrscheinlich oder als unerwähnbar stillschweigend übergangen; in der Poesie überging man sie als unheimlich; denn das allzu Schneidende, Peinliche oder Unversöhnte war ja von der Aesthetik nun einmal aus der schönen Litteratur verbannt. So ungefähr ist es gekommen, dass Ibsen der Dichter des Unheimlichen wurde, und daher sein ursprünglicher Trieb, in schneidenden, bitteren Aeusserungen seine Stellung der Menge gegenüber zu behaupten. Henrik Ibsen's Aeusseres deutet auf die Eigenschaften, welche er in seiner Poesie an den Tag gelegt. Die Gestalt ist untersetzt und schwer. Strenger, sarkastischer Ernst ist der Hauptausdruck des Gesichts. Der Kopf ist gross, umwallt von einer Mähne ergrauenden Haares, das er ziemlich lang trägt. Die Stirne, welche das Gesicht beherrscht, ist ungewöhnlich, trägt, steil wie sie ist, hoch, weit, aber durchgeformt, den Stempel von Grösse und Gedankenreichthum. Der Mund ist, wenn er schweigt, zusammengekniffen und fast ohne Lippen; man merkt ihm an, dass Ibsen wenig spricht. In der That sitzt er, wenn er sich in Gesellschaft von Mehreren befindet, wortkarg als stummer, zuweilen barscher Thorwächter vor dem Heiligthum seines Geistes. Unter vier Augen oder in ganz kleinem Kreise kann er sprechen, aber selbst da ist er nichts weniger als mittheilsam. Ein Franzose, den ich einmal in Rom vor Ibsens Büste von Runeberg führte, bemerkte: »Der Ausdruck ist mehr spirituell als poetisch«. Man sieht Ibsen an, dass er ein satyrischer Dichter, ein Grübler, aber kein Schwärmer ist. Doch seine schönsten Gedichte wie »Fort« und einige andere beweisen, dass einmal im Kampf des Lebens ein lyrisches Flügelross unter ihm getödtet wurde. Ich kenne zweierlei Ausdrücke in seinem Gesicht. Der erste ist jener, wo das Lächeln, sein gutes feines Lächeln die Gesichtsmaske durchbricht und beweglich macht, wo all' das Herzliche, Innige, das zutiefst in Ibsen's Seele liegt, Einem entgegentritt. Ibsen ist bis zu einem gewissen Grade verlegen, wie es bei schwerfälligen ernsten Naturen häufig der Fall. Aber er hat ein so hübsches Lächeln, und durch Blick und Händedruck sagt er Vieles, was er nicht in Worte kleiden möchte oder kann. Und dann hat er eine Art, während des Gesprächs schmunzelnd, mit einer gewissen gutmüthigen Schelmerei, eine abweichende, nichts weniger als gutmüthige Bemerkung hinzuwerfen -- eine Art, in welcher die liebenswürdigste Seite seiner Natur zum Vorschein kommt; das Lächeln mildert die Schärfe des Worts. Doch kenne ich auch einen anderen Ausdruck in seinem Gesicht, den, welchen Ungeduld, Zorn, gerechter Unwille, beissender Hohn darin hervorbringen, ein Ausdruck von fast grausamer Strenge, welcher an die Worte in seinem alten, schönen Gedicht »Terje Vigen« erinnert: Unheimlich nur hat's um sein Aug' oft gezückt, Zumal, wenn ein Wetter nah -- Dann hat fast Jeder sich scheu gedrückt, Wenn er Terje Vigen sah. Dies ist der Ausdruck, den seine Dichterseele der Welt gegenüber am häufigsten annahm. Ibsen ist der geborene Polemiker, und seine erste dichterische Kundgebung (»Catilina«) war seine erste Kriegserklärung. Er hat, seit er in die Jahre der Reife kam -- was übrigens nicht frühzeitig war -- eigentlich niemals daran gezweifelt; er, der Einzelne, auf der einen Wagschale, und das, was man die Gesellschaft nennt -- für Ibsen ungefähr der Inbegriff all' Derer, welche die Wahrheit scheuen und die Schäden mit Redensarten überpflastern -- auf der anderen Wagschale, das ergebe mindestens ein Gleichgewicht. Er pflegt unter manchen komischen Paradoxen zu behaupten, dass es zu jeder Zeit nur eine bestimmte Summe von Intelligenz gebe, die zur Vertheilung gelange: würden einige Wenige, wie z. B. in Deutschland Goethe und Schiller ihrerzeit, besonders reich ausgestattet, so blieben ihre Zeitgenossen desto dümmer. Ibsen sollt' ich meinen, ist der Ansicht zugänglich, dass er seine Fähigkeiten zu einem Zeitpunkte empfing, wo sehr Wenige da waren, die Summe zu theilen. Darum fühlt er sich nicht als Kind eines Volkes, als Theil eines Ganzen, als Führer einer Gruppe, als Glied einer Gesellschaft; er fühlt sich ausschliesslich als geniales Individuum, und das Einzige, woran er eigentlich glaubt und was er verehrt, ist die Persönlichkeit. In diesem Abgelöstsein von jedem Zusammenhang, in diesem Behaupten des eigenen Ichs als Geist ist Etwas, das lebhaft an jenes Zeitalter der nordischen Geschichte erinnert, in welchem er seine Bildung empfing. Besonders ist der überwiegende Einfluss Kierkegaard's auffallend[43]. Bei Ibsen hat jedoch die Isolirtheit ein verschiedenartiges Gepräge, zu dessen Vertiefung wahrscheinlich Björnson's ganz entgegengesetztes Wesen nicht wenig beigetragen hat. Es ist immer von Bedeutung für eine Persönlichkeit, historisch so gestellt zu sein, dass ihr vom Schicksal selbst der Contrast an die Seite gegeben wurde. Nicht selten ist es ein Unglück für einen hervorragenden Mann, wenn er seinen Namen beständig mit einem andern zusammengekoppelt sehen muss, sei es nun zur Verherrlichung oder zum Tadel, so doch stets zum Vergleich; das unfreiwillige Zwillingsverhältniss, das sich nicht abschütteln lässt, kann aufreizen und schaden. Ibsen hat es vielleicht dazu verholfen, die Eigenthümlichkeit seines Wesens bis in's äusserste Extrem zu treiben, das heisst in diesem Falle: dessen Innigkeit und Verborgenheit zu potenziren. Keiner, der wie Ibsen an das Recht und die Fähigkeit des befreiten Individuums glaubt, Keiner, der so früh wie er sich auf dem Kriegsfuss mit der Umgebung fühlte, hat eine vortheilhafte Meinung von der Menge. Augenscheinlich bildete in Ibsen's beginnendem Mannesalter sich Menschenverachtung in ihm aus. Nicht, als ob er von Anfang an eine übertrieben hohe Meinung von seinen eigenen Anlagen oder seinem eigenen Werthe gehabt hätte. Er ist eine suchende, zweifelnde, fragende Natur: »Ich frage meist, Antworten ist mein Amt nicht« und solche Geister neigen nicht zur Einbildung. -- Man sieht auch wie lange er braucht, eine ihm angemessene Sprache und Form zu finden, wie unfertig er mit »Catilina« beginnt; wie er in dem kleinen ungedruckten Drama »Der Hünenhügel« sich stark von Oehlenschläger beeinflusst zeigt (besonders von »Das gefundene und wieder verschwundene Land«), wie er in »Nordische Heerfahrt« wirkungsvolle Züge aus Sage und Geschichte in grossem Massstabe benützt, bevor er es wagt, sich völlig auf seinen eigenen Fond und seine persönlich ausgeprägte Form zu verlassen. Ibsen gehörte im Anbeginn weit eher zu den Naturen, die mit viel Ehrfurcht in's Leben hinaustreten, bereit, die Ueberlegenheit Anderer anzuerkennen, bis ihnen Missgeschick das Bewusstsein ihrer eigenen Kraft gibt. Aber von diesem Augenblick an sind solche Naturen in der Regel weit grössere Starrköpfe als die ursprünglich selbstzufriedenen. Sie nehmen die Gewohnheit an, die Andern, die früher ohne weiteres Anerkannten, mit dem Blicke, gleichsam auf einer unsichtbaren Wagschale zu wägen, befinden sie zu leicht und werfen sie beiseite. Ibsen findet die Durchschnittsmenschen klein, egoistisch, erbärmlich. Seine Anschauungsweise ist nicht die rein naturwissenschaftliche des Beobachters, sondern diejenige des Moralisten; und in seiner Eigenschaft als Moralist verweilt er weit mehr bei der Schlechtigkeit der Menschen als bei ihrer Blindheit und ihrem Unverstand. Für Flaubert ist die Menschheit schlecht, weil sie dumm, für Ibsen umgekehrt ist sie dumm, weil sie schlecht ist. Man denke z. B. an Helmer. Während des ganzen Stückes blickt er dumm, strohdumm auf seine Frau. Als Nora Dr. Rank das letzte Lebewohl sagt, d. h. als der Selbstmordgedanke dem Todesgedanken in's Auge starrt und dieser mit mitleidiger Zärtlichkeit antwortet, steht Helmer wie die berauschte Brunst und breitet die Arme aus. Aber nur sein selbstgerechter Egoismus macht ihn so dumm. Und eben schlecht findet Ibsen die Menschheit, nicht böse. Es findet sich unter den Aphorismen in Kierkegaard's »Entweder -- Oder« einer, der zu einem Wahlspruch für Ibsen sehr geeignet scheint: »Mögen Andere darüber klagen, dass die Zeit böse sei; ich klage darüber, dass sie erbärmlich ist, denn sie ist ohne Leidenschaft. Die Gedanken der Menschen sind dünn und unhaltbar wie Spitzen, sie selbst elend wie Spitzenklöpplerinnen. Ihre Herzensgedanken sind zu erbärmlich, um sündig zu sein«. Was sagt Brand Anderes, wenn er über den Gott des Geschlechts klagt und seinen eigenen Gott, sein eigenes Ideal demselben gegenüberstellt: »Wie das Geschlecht ergraut sein Gott: Als Greis mit dünnem Silberhaar, So stellt Ihr den Gottvater dar. Doch dieser Gott ist nicht der meine -- Meiner ist Sturm, wo Wind der Deine. Ein Heldenjüngling kühn und stark, Kein schwacher Alter ohne Mark«. Was Anderes sagt der Knopfgiesser? Er antwortet Peer Gynt ungefähr, wie Mephistopheles in Heiberg's »Eine Seele nach dem Tode« der »Seele« antwortet. Peer Gynt soll keineswegs in den Schwefelpfuhl, er soll bloss wieder in den Giesslöffel und umgeschmolzen werden; er war kein Sünder, denn, wie es heisst, »es gehört Kraft und Ernst zu einer Sünde«; er war ein Mittelschlechter: »Drum wirst du als Ausschuss nun umgegossen, Bis mit der Masse in eins du geflossen«. Peer Gynt ist in Ibsen's Gedanken der typische Ausdruck für die Nationallaster des norwegischen Volkes. Wie man sieht, flössen sie ihm weniger Schrecken als Geringschätzung ein. Diese Weise, die Zeitgenossen aufzufassen, erklärt auch solche Jugendwerke Ibsen's, in welchen seine dichterische Ursprünglichkeit noch unentwickelt ist. Margit in »Das Fest zu Solhaug« ist eine Frauengestalt, die zum Vergleiche mit Ragnhild in Henrik Hertz's älterem Drama »Svend Dyrings Haus« einladet; dennoch ist die Gestalt aus einem ganz anderen Metall wie bei Hertz, härter, wilder, entschlossener. Ein Mädchen der Gegenwart, das in Verzweiflung liebte, würde sich eher mit Ragnhild verwandt fühlen als mit Margit; denn Margit steht als Wahrzeichen da, dass die Leserin das Kind einer abgeschwächten Zeit ist, ohne den Muth und die Consequenz der Leidenschaft, in Halbheit verloren. Und weshalb greift Ibsen in »Nordische Heerfahrt« zurück zu der wilden Tragik der Wölsungen-Sage? Um dies Bild der Gegenwart vorzuhalten, um ihr zu imponiren, um das heutige Geschlecht zu beschämen, indem er ihm die Grösse der Vorfahren weist -- die Leidenschaft, welche, einmal entfesselt, ohne Rücksicht nach rechts oder links dem Ziele entgegenstürmt, die Stärke und den Stolz, der karg an Worten ist, der schweigt und handelt, schweigt und duldet, schweigt und stirbt, diese Willen von Eisen, diese Herzen von Gold, Thaten, welche Jahrtausende nicht in Vergessen zu bringen vermochten -- da, seht Euch im Spiegel! Nimmt man dies streitbare Pathos in seinem ersten Ausbruch, so ist es Catilina, aufgefasst mit der ganzen Sympathie eines Primaners. Catilina verachtet und hasst die römische Gesellschaft, wo Gewalt und Eigennutz herrschen, wo man durch Ränke und List zur Macht gelangt; er, der Einzelne, lehnt sich dagegen auf. Beobachtet man dies streitbare Pathos in einem von Ibsen's späteren Werken, seinem vielleicht bewunderungswürdigsten Drama »Nora«, so klingt es gedämpft, aber nicht weniger schneidend von Frauenlippen. Wenn Nora, die Lerche, das Eichhörnchen, das Kind, am Schlusse sich sammelt und spricht: »Ich muss sehen dahinterzukommen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich«; wo dies zarte Geschöpf es wagt, _sich_ auf die eine Seite zu stellen, die ganze Gesellschaft auf die andere -- da fühlt man, dass sie Ibsen's Tochter ist. Und man vernehme endlich dies kampflustige Pathos in seinem noch jüngeren Ausbruch: »Gespenster«, in Frau Alwing's Aeusserung über die Lehren der modernen Gesellschaft: »Ich wollte bloss einen einzigen Knoten entwirren, und als ich ihn gelöst ging Alles mit einander auf. Da merkte ich, dass es Maschinennaht war« -- hier klingt, trotz der Entfernung, die den Dichter von dem gedichteten Charakter trennt, durch die Worte ein erleichternder Seufzer durch, einmal, wenn auch nur indirect, das Aeusserste gesagt zu haben. Bei Catilina und bei Frau Alwing, Ibsen's erstem Helden und seiner letzten grossen Frauengestalt, dasselbe Gefühl der Einsamkeit wie bei den dazwischen liegenden Persönlichkeiten: Falk, Brand und Nora, und dasselbe verzweifelte Rennen mit der Stirn gegen die Wand. In seinem darauf folgenden Schauspiel »Ein Volksfeind« dreht sich sogar Alles um diesen einen Angelpunkt, die Kraft, die in der Isolirtheit liegt, und das Stück endigt mit dem didaktisch ausgesprochenen Paradoxon: »Der Stärkste ist der, welcher allein steht!« Man bezeichnet bekanntlich diese Art, Welt und Menschen zu betrachten, im modernen Europa mit dem Ausdruck »Pessimismus«. Aber der Pessimismus hat viele Arten und Schattirungen. Er kann, wie bei Schopenhauer und E. von Hartmann, die Ueberzeugung bedeuten, dass das Leben selbst ein Uebel ist, dass die Summe von Freuden im Vergleich mit der Summe von Schmerzen und Qualen eine verschwindende ist; er kann darauf ausgehen, die Nichtigkeit der höchsten Güter zu beweisen, zu zeigen wie schwermüthig die Jugend, wie freudlos die Arbeit, wie leer das Vergnügen an sich ist und wie sehr wir durch Wiederholung dafür abgestumpft werden -- Alles, um vermöge dieser Einsicht entweder, wie Schopenhauer, die Askese, oder, wie von Hartmann, die Arbeit für den Kulturfortschritt anzupreisen, jedoch mit der Ueberzeugung, dass jeder Fortschritt in der Kultur ein steigendes Gefühl des Unglücklichseins für das Menschengeschlecht mit sich bringt. Dieser Pessimismus ist nicht derjenige Ibsen's. Auch Ibsen findet die Welt schlecht; aber die Frage, ob das Leben ein Gut sei, beschäftigt ihn nicht. Seine ganze Anschauungsweise ist moralisch. Der pessimistische Philosoph verweilt bei der illusorischen Beschaffenheit der Liebe, weist nach, wie gering das Glück ist, das sie birgt; wie dieses Glück überhaupt nur auf einer Täuschung beruht, da ja nicht die Glückseligkeit des Individuums, sondern die grösstmögliche Vollkommenheit der künftigen Generation ihr Ziel sei. Für Ibsen besteht die Comödie der Liebe nicht in der unvermeidlichen erotischen Illusion -- diese allein ist in seinen Augen über die Kritik erhaben und besitzt seine volle Sympathie -- sondern in der Erschlaffung der Charaktere und in der aller Poesie baren Philistrosität, welche die ursprünglich aus erotischen Gründen gestifteten bürgerlichen Verbindungen zur Folge haben. Dass der Theologe, der sich zum Missionär ausbildete, durch die Verlobung zum Lehrer an einer Mädchenschule umgewandelt wird, das ist ein Gegenstand für _Ibsen's_ Satyre, darin besteht die Comödie der Liebe für ihn. Nur ein einziges Mal, gleichsam blitzweise, hat er sich hoch über seine gewöhnliche moralische Auffassung der erotischen Sphäre erhoben, ohne desshalb den satyrischen Standpunkt aufzugeben, und zwar in dem von Heine's »Die Launen der Verliebten« etwas beeinflussten Gedicht »Verwickelungen« -- nicht nur dem witzigsten, sondern auch dem tiefsinnigsten von allen seinen Gedichten. Der pessimistische Philosoph verweilt gerne bei dem Gedanken, dass das Glück unerreichbar sei, sowohl für den Einzelnen als für die grosse Menge. Er hebt hervor, dass der Genuss uns unter den Händen entschlüpft, dass wir Alles, was wir wünschen, zu spät erreichen, und dass das Erreichte bei weitem nicht jene Wirkung auf das Gemüth ausübt, welche die Sehnsucht uns vorgespiegelt. In einer Aeusserung wie der bekannten Goethe's: dass er während 75 Jahren nicht vier Wochen eigentlichen Behagens gehabt, sondern stets einen Stein gerollt habe, der immer von neuem aufgehoben werden musste -- in einer solchen Aeusserung erkennt der pessimistische Philosoph den entscheidenden Beweis für die Unmöglichkeit des Glückes. Denn was ein Goethe, der Liebling von Göttern und Menschen, nicht erreichte, wie sollte das der erste beste Sterbliche erringen können? -- Anders Ibsen. So skeptisch er im Uebrigen ist, so zweifelt er doch nicht eigentlich an der Möglichkeit des Glückes. Selbst die von den Verhältnissen so hart beeinträchtigte Frau Alwing meint, dass sie unter anderen Lebensverhältnissen hätte glücklich werden können, ja, sie hält nicht für unmöglich, dass sogar ihr erbärmlicher Mann es hätte sein können. Und augenscheinlich theilt Ibsen diese ihre Meinung. Es ist ihm aus dem Herzen gesprochen, was sie sagt von der halbgrossen Stadt (Christiania), welche keine Freude zu bieten habe, nur Vergnügungen; kein Lebensziel, nur ein Amt; keine wirkliche Arbeit, nur Geschäfte. Das Leben selbst ist also kein Uebel, das Dasein selbst nicht freudlos; nein, wenn ein Leben der Lebensfreude verlustig geht, so gibt es einen Schuldigen, welcher dies zu verantworten hat; und als dieser Schuldige wird die traurige, in ihren Vergnügungen rohe, in ihrer Pflichtforderung bigotte norwegische Gesellschaft bezeichnet. Für den pessimistischen Philosophen ist der Optimismus eine Art von Materialismus. In dem Umstand, dass der Optimismus auf allen Strassen gepredigt wird, erblickt der Pessimist die Ursache, dass die sociale Frage ein Weltbrand zu werden droht. Nach seiner Auffassung gilt es vor Allem, die grosse Masse zu lehren, dass sie von der Zukunft nichts zu hoffen habe, da nur die pessimistische Erkenntniss des All-Leidens die Menge über die Zwecklosigkeit ihres Strebens aufklären könne. Diese Anschauungsweise findet sich nirgends bei Ibsen. Wo er die sociale Frage berührt, wie in »Stützen der Gesellschaft« und anderweitig, sind die Schäden stets moralischer Natur, sie beruhen in der Schuld. Ganze Gesellschaftsschichten sind verfault, ganze Reihen von Gesellschaftspfeilern sind morsch und hohl. Die Stickluft in der kleinen Gesellschaft ist ungesund; in den grossen Ländern ist Platz für »grosse Thaten«. Ein Windstoss von aussen, das heisst ein Hauch von dem Geiste der Wahrheit und der Freiheit kann die Luft reinigen. Wenn Ibsen also die Welt schlecht findet, so fühlt er kein Mitleid mit den Menschen, sondern Entrüstung über sie. Sein Pessimismus ist nicht metaphysischer, sondern moralischer Natur, begründet in der Ueberzeugung, dass sehr wohl die Möglichkeit vorhanden ist, die Ideale in die Wirklichkeit zu überführen; er huldigt mit einem Wort dem Entrüstungspessimismus. Und sein Mangel an Mitgefühl mit manchen Leiden ist durch seine Ueberzeugung von der erziehenden Macht des Leidens bedingt. Diese kleinen, elenden Menschen vermögen nur durch Leiden gross zu werden. Diese kleine, elende, nordische Gesellschaft kann nur durch Kämpfe, Züchtigung, Niederlagen, gesund werden. Er, der selbst gefühlt, wie Missgeschick stählt, der selbst den stärkenden Heiltrank der Bitterkeit leerte, glaubt an den Nutzen des Schmerzes, des Missgeschickes, der Unterdrückung. Man sieht dies vielleicht am deutlichsten in seinem »Kaiser und Galiläer«. Ibsen hat sich augenscheinlich nicht wenig mit Schriften über und von Julian beschäftigt. Aber dennoch ist in seiner Gestalt wenig historisches. Er hat Julian dessen wirkliche Grösse geraubt. Er hat ihn gesehen, zwar nicht wie die officielle Kirche ihn betrachtet, aber doch mit christlichen Augen. Er legt den Nachdruck auf eine Christenverfolgung, von der Julian nichts wissen wollte. Und seine Auffassung von Julianus Apostata ist, dass dieser durch die Verfolgung seiner christlichen Unterthanen der eigentliche Schöpfer des Christenthums in seiner Zeit, das heisst, der Wiedererwecker desselben vom Tode wird. Julians weltgeschichtliche Bedeutung ist für Ibsen folgende: Er gab dem Christenthum, indem er es aus einer Hof- und Staatsreligion zu einer verfolgten, unterdrückten Lehre verwandelte, das ursprüngliche Geistesgepräge und die primitive Märtyrerleidenschaft zurück. Herausgefordert von den Christen, straft Julian mit Strenge, aber seine Strenge hat eine von ihm selbst nicht geahnte Wirkung. Seine alten Studiengenossen, jener Gregor, der nicht den Muth zu einer rasch entscheidenden Handlung besass, sondern »seinen kleinen Kreis, seine Verwandten zu vertheidigen hatte«, und jener Basilios, »der weltliche Weisheit auf seinem Landgute erforschte«, die erheben sich nun, stark durch die Verfolgung, wie Löwen gegen ihn. II. Ein Schriftsteller gibt sich nicht ganz in seinen Werken, das ist klar. Zuweilen macht sogar die Persönlichkeit einen Eindruck, der seinen Schriften einigermassen widerspricht. Das ist bei Ibsen nicht der Fall. Und dass er die oben besprochenen Ansichten nicht nur zur Schau trägt oder seinen Büchern zu lieb annimmt, kann ich nach vieljähriger Bekanntschaft mit ihm durch manchen kleinen Zug erhärten. Ich will versuchen, durch einzelne seiner mündlich hingeworfenen Aeusserungen, die in der Form eines Scherzes, eines Paradoxon oder eines bildlichen Vergleichs das Gedankenleben des Dichters illustriren, und durch ein paar schriftliche Aeusserungen, in deren Mittheilung Ibsen eingewilligt hat, einige Hauptumrisse seines Geistes lebendiger und getreuer zu zeichnen, als die Bücher allein es möglich machen. Als im Jahr 1870 Frankreich blutend, verstümmelt vor Deutschlands Füssen lag, war Ibsen, der mit seinen Sympathien zu jener Zeit eher auf Frankreichs Seite stand, weit entfernt, die in den nordischen Ländern herrschende Niedergeschlagenheit über diesen Sachverhalt zu theilen. Während alle anderen Freunde Frankreichs sich in Klagen des Mitleids ergingen, schrieb Ibsen (20. December 1870): ».... Die Weltbegebenheiten nehmen übrigens einen grossen Theil meiner Gedanken in Anspruch. Das alte illusorische Frankreich ist in Stücke zerschlagen; wenn nun auch das neue factische Preussen zerschlagen würde, so wären wir mit einem Sprunge drinnen in einem neu beginnenden Zeitalter. Hei, wie die Gedanken rings um uns rumoren würden! Und es wäre wahrhaftig auch an der Zeit. All' das, wovon wir bis dato leben, sind ja doch nur die Brosamen von dem grossen Revolutionstisch des vorigen Jahrhunderts, und diese Kost ist nun lange genug widergekäut worden. Die Begriffe verlangen nach einem neuen Inhalt und nach einer neuen Erklärung. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind nicht mehr dieselben Dinge, wie zur Zeit der seligen Guillotine. Dies ist's was die Politiker nicht verstehen wollen, und darum hasse ich sie. Diese Menschen wollen nur Specialrevolutionen, Revolutionen im Aeusserlichen, in dem Politischen. Aber das sind lauter Lappalien. Um was es sich handelt, das ist das Revoltiren des Menschengeistes ....« Keiner kann in diesem Briefe den historischen Optimismus übersehen, den ich bei Ibsen angedeutet habe. So düster er auch die Zukunft zu sehen scheint, so hat er doch die beste Hoffnung, das grösste Vertrauen auf das neue Leben, welches durch Unglück hervorgerufen wird. Ja mehr als das: nur so lange das Unglück, welches das Eintreten der Ideen in die Welt begleitet, die Sinne wach hält, sind die Ideen ihm eine wirkliche Macht. Selbst das Rasseln der Guillotine schreckt ihn so wenig, dass es im Gegentheil mit seiner optimistischen und revolutionären Weltbetrachtung harmonisch zusammenklingt. Nicht die Freiheit als todter Zustand, sondern die Freiheit als Kampf, als Streben scheint ihm von Werth. Lessing sagte, dass wenn Gott ihm die Wahrheit in seiner rechten, das Streben nach Wahrheit in seiner linken Hand böte, so würde er nach Gottes Linken greifen. Ibsen unterschriebe diesen Satz, wofern man statt »Wahrheit« das Wort »Freiheit« setzte. Wenn er die Politiker verabscheut, so beruht dies darauf, dass sie nach seiner Ansicht die Freiheit als etwas Aeusserliches, Seelenloses auffassen und behandeln. Aus Ibsen's optimistischer, sozusagen pädagogischer Auffassung des Leidens, erklärt sich vornehmlich der Eifer, womit er die Idee verfolgte, Norwegen sollte Dänemark im Kampf um Schleswig beistehen. Natürlich ging er wie die übrigen Skandinaven von der Stammverwandtschaft, von den gegebenen Versprechen, von Dänemarks Recht als Ausgangspunkt aus; aber sein Optimismus liess ihn den Nutzen eines solchen Beistandes als untergeordnet betrachten. Auf die Bemerkung: »Ihr hättet gehörige Prügel bekommen!« antwortete er einmal: »Gewiss. Aber was hätte es geschadet? Wir wären mit in die Bewegung gekommen, hätten zu Europa gehört. Nur nicht bei Seite bleiben!« Ein andermal -- 1874 glaub ich -- pries Ibsen in hohen Tönen Russland: »Ein prächtiges Land«, sagte er lächelnd, »all' die brillante Unterdrückung dort drüben!« »Wieso?« »Denken Sie nur an all' die herrliche Freiheitsliebe, die dadurch erzeugt wird. Russland ist eines von den wenigen Ländern auf Erden, wo Männer die Freiheit noch lieben und ihr Opfer bringen. Darum steht auch das Land so hoch in Poesie und Kunst. Denken Sie nur, dass es einen Dichter besitzt wie Turgenjew, und es hat auch Turgenjew's unter den Malern; wir kennen sie nur nicht, aber ich sah ihre Bilder in Wien«. »Wenn all' diese guten Dinge eine Folge der Unterdrückung sind,« sagte ich, »so müssen wir dieselbe freilich preisen. Aber die Knute -- schwärmen Sie auch für sie? Gesetzt, Sie wären ein Russe: Ihr kleiner Junge da,« (ich deutete auf seinen damals halbwüchsigen Sohn) »sollte der Knutenhiebe bekommen?« -- Ibsen schwieg einen Augenblick mit einer undurchdringlichen Miene. Dann erwiderte er lachend: »Bekommen sollte er sie nicht, geben sollte er sie«. Der ganze Ibsen ist in dieser humoristischen Ausflucht. Er selbst gibt in seinen Dramen dem Geschlecht beständig Knutenhiebe. Hoffentlich sollten die eventuellen Schläge in Russland zur Abwechslung einmal die Unterdrücker treffen. Man wird sich nicht darüber wundern, dass Henrik Ibsen bei solchen Anschauungen keineswegs begeistert war, als Rom von den italienischen Truppen eingenommen wurde. Er schrieb in launigem Missmuth: ».... So hat man denn nun Rom uns Menschen genommen und den Politikern gegeben! Wo sollen wir jetzt hin? Rom war der einzige geweihte Ort in Europa, der einzige, welcher wahre Freiheit, die Freiheit von der politischen Freiheitstyrannei, genoss .... Und der schöne Freiheitsdrang -- der ist nun auch vorbei; ja ich muss jedenfalls sagen, das Einzige, was ich an der Freiheit liebe, ist der Kampf für sie, um den Besitz kümmere ich mich nicht ....« Mir scheint, dieser Standpunkt gegenüber der Politik hat zwei Seiten: einestheils alte romantische Reminiscenz -- der Abscheu vor dem Utilitarismus, welcher den romantischen Schulen aller Länder gemeinsam ist -- anderntheils etwas Persönliches und Eigenthümliches: der Glaube an die Kraft des Einzelnen und die Neigung für radicale Dilemmen. Der Mann, welcher in Brand die Losung formulirte: »Alles oder Nichts!« kann der Parole des politischen Praktikers »Jeden Tag einen kleinen Schritt« kein williges Ohr leihen. Ich möchte wissen, ob Ibsen's obenerwähnte, voreingenommene Stimmung für Russland nicht zum Theil ihre Ursache darin hatte, dass dort kein Reichstag ist. Seinem ganzen Naturell zufolge muss Ibsen einen Unwillen gegen Parlamente haben. Er glaubt ans Individuum, an die einzelne grosse Persönlichkeit: ein Einzelner kann Alles ausrichten, und zwar nur ein Einzelner. Solch' eine Corporation wie ein Parlament ist für ihn eine Versammlung von Rednern und Dilettanten, was natürlich nicht ausschliesst, dass er für den einzelnen Parlamentarier als solchen grosse Achtung hegen kann. Ibsen hat darum sein ewiges Ergötzen, so oft er in einer Zeitung liest: »Und dann ernannte man eine Commission«, oder: »Dann gründete man einen Verein«. Er sieht ein Symptom der modernen Entmannung darin, dass, sobald Einer eine Sache oder einen Plan durchsetzen möchte, sein erster Gedanke dahin zielt, einen Verein zu stiften oder eine Commission aufzurufen. Man denke nur an das Hohngelächter, welches durch den »Bund der Jugend« schallt. Ich glaube, dass Ibsen in seinem stillen Sinn den Individualismus bis zu einem Extrem treibt, von dem man aus seinen Werken allein keinen Eindruck empfangen kann. Er geht in diesem Punkte sogar weiter als Sören Kierkegaard, an welchem er sonst in diesem Punkte stark erinnert. Ibsen ist z. B. ein weitgehender Gegner der modernen strammen Staatsidee. Nicht in dem Sinne, dass er Kleinstaaten wünschte. Niemand kann einen grösseren Schrecken haben vor der Tyrannei, welche sie ausüben, und vor der Kleinlichkeit, die sie mit sich führen. Wenige haben desshalb so warm wie er das Wort dafür ergriffen, dass die drei nordischen Reiche dem Beispiele Italiens und Deutschlands folgen und sich zu einem politischen Ganzen verbinden sollten. Sein werthvollstes historisches Drama »Die Kronprätendenten« behandelt ja ausschliesslich eine ähnliche historische Zusammenschmelzungs-Idee. Ibsen geht in diesem Punkte so weit, dass er, nach meiner Ansicht, die Gefahren übersieht, welche das politische Einheitsstreben für die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit des Geisteslebens in sich birgt. Italien erreichte in künstlerischer Hinsicht seine höchste Blüthe zu der Zeit, da Siena und Florenz zwei verschiedene Welten bezeichneten, und Deutschland stand in geistiger Hinsicht niemals höher als zu dem Zeitpunkt, wo Königsberg und Weimar Centren waren. Aber trotz seines Schwärmens für Einheit träumt Ibsen's Dichterhirn von einer Zeit, da ein weit grösseres Maass als nun von individueller und communaler Freiheit gewährt wird, wo also Staaten, wie wir sie jetzt haben, nicht mehr existiren. Obschon Ibsen wenig liest und sich durch Bücher nicht sonderlich über die Gegenwart orientirt, schien es mir doch oft, als ob er in einer Art heimlicher Uebereinstimmung mit den gährenden und keimenden Zeitideen stände. In einem einzelnen Fall hatte ich sogar den bestimmten Eindruck, dass Gedanken, die historisch im Ausbruch waren, ihn beschäftigten und gleichsam peinigten. Unmittelbar nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges, zu einer Zeit, da alle Gemüther ganz von diesem Ereigniss erfüllt waren, und der Gedanke an etwas wie die Commune in Paris kaum in einem einzigen nordischen Hirn auftauchte, stellte mir Ibsen als politische Ideale, Zustände und Ideen dar, deren Wesen mir zwar nicht klar durchdacht vorkamen, die aber unzweifelhaft nahe verwandt mit jenen waren, welche kaum einen Monat darnach, von der Pariser Commune proclamirt, in stark verzerrter Form durchbrachen. Durch das Auseinandergehen unserer Ansichten über Freiheit und Politik veranlasst, schrieb Ibsen (17. Februar 1871): »Der Kampf für Freiheit ist ja nichts Anderes als die beständige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer die Freiheit anders besitzt als wie etwas, wonach er strebt, der besitzt sie todt und seelenlos; denn der Begriff der Freiheit hat ja gerade das an sich, dass er, während wir suchen sie uns anzueignen, sich mehr und mehr erweitert. Wenn daher Jemand während des Kampfes stehen bleibt und ruft: »Jetzt hab' ich sie!« -- so beweist er eben dadurch, dass er sie verloren hat. Aber gerade dies todte Stehenbleiben auf einem gewissen gegebenen Freiheitsstandpunkt ist etwas für unsere Staaten Charakteristisches; und das war's, wovon ich sagte, es sei nicht von dem Guten. Ja, gewiss kann es ein Gut sein, Wahlrecht, Steuerbewilligungsrecht u. s. w. zu besitzen, aber wer hat den Gewinn? Der Bürger, nicht das Individuum. Es ist aber durchaus keine Vernunftnothwendigkeit für das Individuum, Bürger zu sein. Im Gegentheil. Der Staat ist der Fluch des Individuums. Womit ist Preussens Staatsstärke erkauft? Mit dem Aufgehen des Individuums in den politischen und geographischen Begriff. Der Kellner ist der beste Soldat. Und auf der anderen Seite das Judenvolk, der Adel des Menschengeschlechtes. Wie bewahrte es seine Eigenart, seine Poesie, trotz aller Rohheit von Aussen? Dadurch, dass es keinen Staat durchzuschleppen hatte. Wär' es in Palästina geblieben, so würde es längst in seiner Construction untergegangen sein, ebenso wie alle anderen Völker. Der Staat muss fort. _Die_ Revolution will ich mitmachen. Man untergrabe den Staatsbegriff, man stelle Freiwilligkeit und geistige Verwandtschaft als das einzig Entscheidende für eine Vereinigung auf -- das ist der Beginn zu einer Freiheit, die etwas taugt. Eine Umänderung der Regierungsform ist nichts anderes als ein Kramen im Detail. Etwas mehr, oder etwas weniger. -- Erbärmlichkeit alles miteinander! .... Der Staat wurzelt in der Zeit, er wird in der Zeit gipfeln. Grössere Sachen als er werden fallen. Jegliche Religionsform wird fallen. Weder die Moralbegriffe, noch die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor sich. An wie Vielem sind wir im Grunde festzuhalten verpflichtet? Wer bürgt mir dafür, dass 2 und 2 nicht droben auf dem Jupiter 5 machen?« Henrik Ibsen hat sicher den ebenso sinnreichen wie paradoxen Versuch des anonymen Schriftstellers _a barrister_ nicht gekannt, der gerade beweisen will, wie denkbar es sei, dass 2 und 2 auf dem Jupiter 5 ergeben; wahrscheinlich hat er auch nicht gewusst, wie stark Stuart Mill und alle anderen Anhänger des radicalen Empirismus jene Schlusszeile applaudiren würden; seine Geistesrichtung hat ihn aber durch ihren eigenen Hang zu der universellen Skepsis geführt, die bei ihm so merkwürdig mit thatkräftigem Vertrauen vereint ist. Liess er doch schon seinen Brand sagen: »Der Kirche Satzungen und Lehren Vermag ich füglich nicht zu ehren; Sie sind entstanden in der Zeit, Und also kann es wohl gescheh'n, Dass sie auch in der Zeit vergeh'n. Erschaff'nes ist dem Tod geweiht: Was Motten nicht und Würmer fressen, Weicht einstens, laut Gesetz und Norm, Einer noch ungebor'nen Form«. Die angeführte Briefstelle liefert einen energischen Commentar zu diesen Worten und man kann dieselbe als Beweis von Ibsen's genialen Ahnungen über das, was in seiner Zeit verborgen vorgeht, wohl mittheilen, ohne fürchten zu müssen, ihn in den Augen eines geehrten Publikums herabzusetzen, nachdem ja selbst Fürst Bismarck das »Körnchen gesunden Vernunft« öffentlich anerkannt hat, welches den Kern bildete von dem verirrten Streben der Pariser Commune. Am 18. Mai 1871 schrieb Ibsen: ».... Ist es nicht niederträchtig von der 'Commune' in Paris, herzugehen und mir meine vortreffliche Staatstheorie oder vielmehr Nicht-Staatstheorie zu verderben? Nun ist die Idee für lange Zeit zu Grunde gerichtet, und ich kann sie anständiger Weise nicht einmal mehr in Versen darstellen. Aber sie hat einen gesunden Kern in sich, das seh' ich klar, und einmal wird sie schon noch ohne jede Caricatur practicirt werden ...« In seinem Behaupten der Selbstherrlichkeit des Individuums gelangt Ibsen dazu, sich der Staatsidee wie der Idee der Gesellschaft polemisch gegenüberzustellen. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn in diesem Punkte völlig verstehe; ich begreife, dass man, wie z. B. Lorenz von Stein oder nach ihm Gneist, in der Geschichte der neueren Zeit einen beständigen Kampf zwischen Staat und Gesellschaft sehen und, von einer neuen energischen Auffassung des Staatsgedankens ausgehend, sich polemisch gegen die Gesellschaft wenden kann; aber die doppelte Frontstellung, die ich bei Ibsen finde, versteh' ich nicht recht, und ich weiss nicht einmal, ob er fühlt, dass hier eine doppelte Front ist. Doch Ibsen erstreckt seine sorgenvolle Furcht, dass der Stachel der Persönlichkeit abgestumpft werde und dass sie ihr bestes Eigenthum zusetze, noch weiter. Er meint, das Individuum müsse, um Alles zu entwickeln, was in seinem Wesen als fruchtbare Möglichkeit liegt, vor allen Dingen frei stehen und allein; desshalb hat er einen wachsames Auge für die Gefahren, welche jede Association, die Freundschaft, ja selbst die Ehe, in dieser Hinsicht mit sich führt. Ich entsinne mich seiner Antwort auf einen meiner Briefe, worin ich einmal in einer jener missmuthigen Stimmungen, denen man in der Jugend so bereitwillig Ausdruck gibt, geäussert hatte, dass ich wenige oder gar keine Freunde hätte. Ibsen schrieb (6. März 1870): ».... Sie sagen, dass Sie keine Freunde daheim haben. Das dachte ich mir längst. Wenn man, wie Sie, in einem innigen Persönlichkeitsverhältniss zu seiner Lebensaufgabe steht, so kann man eigentlich nicht verlangen, seine Freunde zu behalten .... Freunde sind ein kostbarer Luxus; und wenn man sein Capital für einen Beruf und eine Mission hier im Leben einsetzt, so hat man nicht die Mittel, Freunde zu halten. Das Kostspielige, Freunde zu halten, liegt ja nicht in dem, was man für sie thut, sondern in dem, was man aus Rücksicht für sie zu thun unterlässt. Desshalb verkümmern viele geistige Keime in Einem. Ich habe dies durchgemacht, und desshalb liegt ein Theil meiner Jahre hinter mir, wo ich nicht dazu gelangte, ich selbst zu werden ....« Fühlt man nicht Ibsen's ganzen Unabhängigkeitsdrang und sein Bedürfniss nach Einsamkeit in diesem ironischen »das Kostspielige, Freunde zu halten«; und liegt nicht in den angeführten Worten eine Aufklärung über die Ursache des verhaltnissmässig späten Durchbruchs von Ibsen's Genialität? Er hat, wie ich oben behauptete, seine Bahn augenscheinlich ohne überschwängliches Selbstvertrauen begonnen. Und wie die Freundschaft unter gewissen Umständen ein Hinderniss für die Selbständigkeit des Individuums werden kann, so auch die Ehe. Darum weigert Nora sich, die Pflichten gegen ihren Mann und ihre Kinder als ihre heiligsten Pflichten anzusehen; sie hat eine noch heiligere Pflicht gegen sich selbst. Darum antwortet sie auf Helmers: »Du bist vor Allem Gattin und Mutter!«: »Ich glaube, dass ich zuerst ein Mensch bin -- oder jedenfalls, dass ich versuchen muss, es zu werden«. Ibsen theilt mit Kierkegaard die Ueberzeugung, dass in jedem Menschen eine Riesenseele schlummert, eine unüberwindliche Macht; aber er hat diese Ueberzeugung in anderer Form als Kierkegaard, für welchen der Werth der Persönlichkeit ein übernatürlicher ist, während Ibsen auf dem Grund und Boden des menschlichen steht. Der Mensch soll bei ihm auf sich allein gestellt sein, nicht um höherer Mächte, sondern um seiner selbst willen. Und da er vor allen Dingen frei und ganz dastehen soll, erblickt Ibsen in den Einräumungen, die der Welt gemacht werden, den Feind, das böse Princip. Hier stehen wir bei dem Grundgedanken von »Brand«. Man entsinne sich, wie Brand spricht: »Und doch, aus diesen Seelenstümpfen, Aus diesen Geistestorsorümpfen, Aus diesen Köpfen, diesen Händen, Soll einst ein Ganzes sich vollenden, Das Gotteswerk, ein _Mann_ voll Mark, Der neue Adam, jung und stark«. Darum muss »Alles oder Nichts« Brand's scheinbar so unmenschliches Loosungswort werden. Darum ist ihm »der Geist des Vergleichs« im Augenblick des Todes nichts anderes als eine Versucherin, die seinen kleinen Finger fordert, um sich der ganzen Hand zu bemächtigen; und darum kehrt der Geist des Vergleichs in »Peer Gynt« wieder als »der Biegsame«, das heisst, all' das Feige, Geschmeidige im Menschen, das ab- und umbiegt: Schlag' dich! So dumm ist der Biegsame nicht! Er schlägt sich niemals. Kämpfe, du Wicht!« »Der Biegsame sucht nicht ein Schwert voll Scharten. * * * * * Der grosse Biegsame siegt durch Warten. Das Geschlecht loszureissen aus der erdrosselnden Umarmung des »Biegsamen«, den Geist des Vergleiches zu fangen, in einen Schrein zu zwängen, diesen zu versiegeln und in's Meer zu versenken, wo es am tiefsten -- dies ist das Ziel, welches Ibsen als Dichter vor Augen hat. Und dies Losreissen des Einzelnen von dem Vergleich und dem »Biegsamen«, das ist _seine_ Revolution. Ich fragte Ibsen einmal: »Ist unter allen dänischen Dichtern ein einziger, um welchen Sie sich auf Ihrer jetzigen Entwicklungsstufe etwas kümmern?« Er antwortete, nachdem er mich eine Zeit lang vergeblich hatte rathen lassen: »Auf Seeland war ja einmal ein alter Mann, der im Bauernkittel hinter seinem Pfluge herging, und auf Welt und Menschen recht böse geworden war, den mag ich ganz gut leiden«. -- Es ist bezeichnend, dass Bredahl derjenige dänische Dichter ist, welcher Ibsens Herzen am nächsten steht. Auch Bredahl war ja ein Entrüstungspessimist -- gewiss kein sehr tiefblickender Psychologe, aber doch ein Geist, in dessen Pathos man gleichsam den Donner hat, welcher Ibsen's Blitz vorausgeht. Bredahl gewahrt annoch nur die äussere, grobe Tyrannei und Heuchelei, während Ibsen sie in den verborgenen Falten des Herzens aufsucht; Bredahl ist nur wie Ibsen's Revolutionsredner: Er sorgt für den Wasserschwall rings m der Welt. Sein grosser Nachfolger geht gründlicher zu Werke: Er legt Torpedo's, dass die Arche zerschellt.[44] Wenn ich also Ibsen eine revolutionäre Natur genannt habe, so brauche ich mich nun kaum gegen das Missverständniss zu vertheidigen, dass ich eine Natur damit meinte, welche für äussere, gewaltsame Umwälzungen schwärmt. Weit entfernt -- ja, im Gegentheil! Denn einsam wie er ist und sich fühlt, unwillig gestimmt gegen alle Parteien, vornehm, geschliffen, zurückhaltend, »das Nahen der Zeit abwartend in einem fleckenlosen Hochzeitskleide«[45], ist er in dem bloss äusseren Sinn am nächsten conservativ, zwar ein etwas sonderbarer Conservativer, der aus Radicalismus, weil er von Specialreformen sich nichts erwartet, sich keiner Fortschrittspartei anschliessen will. In seinem Gedankenleben ist er entschiedener Revolutionär; aber die Revolution, für welche er schwärmt und wirkt, ist die rein innere, die ich geschildert habe. Man wird die Schlussworte der citirten Briefstelle vom December 1870 nicht übersehen haben: Um was es sich handelt das ist _Revoltiren des Menschengeistes_. Diese Worte sind in meinem Gedächtniss haften geblieben: denn sie enthalten gewissermassen Ibsen's ganzes dichterisches Programm -- ein vortreffliches Programm für einen Dichter. Ich würde indessen mein eigenes Wesen verleugnen, wenn ich sagte, dass Ibsen's Lebensanschauung mir mehr zu enthalten scheint als ein kräftiges Wahrheitselement. Es ist eine Lebensanschauung, auf Grund deren man denken und dichten, aber nicht handeln, ja, streng genommen, in der Welt, wie sie ist, sich nicht einmal direct aussprechen kann, denn man fordert bis zu einem gewissen Grade Andere schon dadurch zur Handlung und das heisst in diesem Falle zu sehr gewagten Unternehmen auf. Wer aus Sehnsucht nach grossen, entscheidenden, durchgreifenden Umwälzungen gleichgültig oder verächtlich auf die langsamen, kleinen Veränderungen des Entwickelungsganges herabsieht, auf die saumseligen, schrittweise vorsichgehenden Verbesserungen der Politik, auf die Compromisse, welche der Praktiker schliessen muss, weil er nur so die theilweise Verwirklichung seiner Ideen erreichen kann, auf die Associationen endlich, ohne welche es für Jeden, der nicht brutal zu befehlen vermag, unmöglich ist, einen einzigen Gedanken in die Wirklichkeit zu übertragen -- der muss im practischen Leben darauf verzichten, einen Finger zu rühren; der kann, wie Sören Kierkegaard, wie Brand, niemals etwas Anderes thun, als auf die gähnende Kluft deuten, welche die Wirklichkeit, in der wir leben, vom Ideale trennt. Eine dem ersehnten Ziel entsprechende Handlung mit der Hilfe Anderer zu versuchen, hiesse sein Gefolge über den Rand jenes schwindelnd tiefen Abgrundes, welcher das Existirende von dem Erwünschten scheidet, kopfüber springen zu lassen, und sich selbst augenblicklicher Arrestation auszusetzen. Ja, sogar der Dichter kann eine so abstract ideale Lebensanschauung nur indirect, andeutungsweise, vieldeutig aussprechen, in dramatischer Form durch voll verantwortliche Personen, also mit jedem Vorbehalt, was den Autor selbst anbelangt. Selbstverständlich waren es nur plumpe Gegner, welche den grausamen Scherz mit dem Torpedo unter die Arche Legen für buchstäblichen, blutdürstigen Ernst halten konnten. Diese Lebensbetrachtung bedingt also und führt mit sich einen Dualismus zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Individuum und dem Bürger, zwischen der geistigen Freiheit und jenen praktischen Freiheiten, welche die Form einer Verpflichtung haben -- einen Dualismus, der sich in der Wirklichkeit nur durchführen lässt von einem in der Verbannung lebenden Dichter, welcher nach Staat, Gesellschaft, Politik, Parteien und Reformen gar nichts zu fragen braucht. Auch das Ideal von geistiger Vornehmheit, welches dieser Lebensanschauung entspricht, scheint mir nicht das höchste zu sein. Gewiss sorgt ein ausgezeichneter Schriftsteller am besten für seine äussere Würde, wenn er sich nicht in's Handgemenge begibt; gewiss ist es vornehm, sich zurückzuhalten, sich nie in Tagesstreitigkeiten zu mischen, niemals einen Zeitungsartikel zu schreiben. Aber vornehmer, dünkt mich, handelt man, wenn man es macht wie jene legitimistischen Generäle, die sich als gemeine Soldaten zum Dienst in Condé's Armee meldeten, und die es trotz ihrer Generalsepauletten nicht verschmähten, sich zuweilen zu Fusse und in erster Reihe zu schlagen. Von ihrer innern wirklichen Würde büssten sie dadurch nicht das Geringste ein. III. Die psychologische Analyse ist nun so weit geführt, dass wir den Standpunkt dieses Geistes so sehen können, wie ihn das litterarische Bewusstsein und Streben seiner Zeitgenossen beleuchtet. Ich sage ausdrücklich seine Zeitgenossen, nicht sein Volk, denn Ibsen ist ein ebenso ausgeprägt europäischer Geist, wie Björnson trotz seiner kosmopolitischen Bildung national ist. Die Stellung eines Dichters zu den Zeitgenossen -- das heisst genauer das Verhältniss, in welchem er zu den Ideen und Formen seiner Zeit steht. Jede Zeit hat ja ihre Ideen, welche innerhalb der Kunst als Gestalten und Ideale auftreten. Die Ideen stammen nicht von den Dichtern her. Sie tauchen auf bei der Arbeit der Denker und Forscher; sie treten hervor als grosse, geniale Ahnungen von den Verhältnissen und Gesetzen der Wirklichkeit; sie entwickeln und gestalten sich unter naturwissenschaftlichen Versuchen, unter historischer und philosophischer Forschung; sie wachsen, läutern sich und erstarken im Kampfe für und gegen ihre Wahrheit, bis sie, wie die Engel der Bibel, ihre Schwingen entfalten, zu Mächten, Thronen, Fürstenthümern werden und die Zeitgenossen beherrschen. Ideen hervorzubringen, das ist nicht die Sache noch der Beruf der Dichter. Die echten Dichter aber werden, während die Ideen im Wachsen begriffen sind und sich durchkämpfen müssen, von ihnen erfasst und stellen sich mitkämpfend auf ihre Seite. Sie werden hingerissen und können nicht anders; sie verstehen, ohne immer gelernt zu haben. -- Die schlechten Poeten, jene, welche nichts anderes vom Dichter an sich haben als die ererbte oder erworbene Routine, haben kein Ohr für das dumpfe Tosen der Ideen, die unter der Erde ihre Minen graben, kein Ohr für ihren Flügelschlag in der Luft. Heine sagt in der Vorrede zu »Neue Gedichte«: »Während dem Schreiben war mir, als hörte ich über meinem Haupte ein Rauschen wie den Flügelschlag eines Vogels. Als ich meinen Freunden, den jungen Berliner Dichtern, davon erzählte, sahen sie sich einander an mit einer sonderbaren Miene und versicherten mir einstimmig, dass ihnen nie Dergleichen beim Dichten passirt sei«. Dieses Rauschen, welches die Berliner Dichter nie gehört hatten, war eben jener Flügelschlag der Ideen. Ohne Ideen kann indessen kein Dichter etwas hervorbringen. Die schlechten Poeten haben desshalb auch welche, diejenigen der Vergangenheit nämlich; und diese, denen die Meister der älteren Periode einen ausgezeichneten dichterischen Ausdruck verliehen, geben sie nun in mattem, schlaffem Ausdruck wieder. Die Ideen der Gegenwart kommen ihnen in der Regel ganz und gar »unpoetisch« vor: sie halten es für unmöglich, diesen Gedanken Poesie abzugewinnen. Aber der Dichter, welcher schon in seiner Jugend (in den »Kronprätendenten«) den denkwürdigen Satz schrieb: »Für Euch ist's unausführbar, denn Ihr könnt einzig die alte Sage wiederholen, aber für mich ist's leicht, wie es leicht für den Aar ist, die Wolken zu zertheilen«, hat sich niemals dauernd von den Gedanken seines Zeitalters schrecken lassen. Mancher neuen Idee hat er Fleisch und Blut gegeben, und indem er sie verkörperte, half er zu ihrer Verbreitung; manchen zeitgenössischen Gedanken hat er erweitert und vertieft, indem er denselben mit seinem Gefühlsquell durchströmte. Wie stark Ibsen die Nothwendigkeit eines lebendigen Verhältnisses zu den keimenden Ideen gefühlt, das ahnt man, wenn man die schönen Strophen liest, in welchen Garnknäuel, trockene Blätter und geknickte Halme Peer Gynt anklagen: Wir sind die Gedanken, Die du hättest denken sollen. * * * * * Wir strebten nach vollen, Rauschenden Chören, Und müssen hier rollen -- Wer mag uns hören? * * * * * Wir sind das Feldgeschrei Das du hättest verkünden sollen; Im matten Einerlei Hast du es nicht finden wollen. * * * * * Die Werke sind wir, Die zu üben du säumtest; Doch geknickt sind vom Wind wir, Während zweifelnd du träumtest. Anklagende Worte, womit der Dichter in schlaffen Zeiten sich selbst angespornt haben mag, die man sich aber unmöglich in Form einer Selbstanklage Peer Gynts vorstellen kann. Wie hätte der jämmerliche Peer jemals eine Loosung aufstellen können, wie kann er sich vorwerfen, es unterlassen zu haben! Sehen wir nun, welche Ideen und Stoffe das Bewusstsein des Zeitalters vorzugsweise erfüllen. Sie fallen, wie ich glaube, in folgende Gruppen: Erstens solche Ideale und Stoffe, welche Bezug haben auf die Religion, das heisst, das Ehrfurchtsverhältniss der Menschen zu Ideen, die als Mächte betrachtet werden -- von Einigen als äussere, von Anderen als innere Mächte -- besonders solche Stoffe, die auf die Kämpfe zwischen denen Bezug haben, welche jene Ideen als äussere, und denen, die sie als innere Mächte auffassen. Demnächst solche Stoffe und Ideale, die sich auf den Unterschied beziehen zwischen zwei Zeitaltern: Vergangenheit und Zukunft, Alt und Jung oder Altes und Neues, besonders auf den Kampf zwischen zwei aufeinander folgenden Generationen. Ferner solche, welche auf die Gesellschaftsklassen und ihren Lebenskampf Bezug haben, auf Standesvorurtheile, besonders auf den Unterschied zwischen Reich und Arm, socialem Einfluss und socialer Abhängigkeit. Endlich eine ganze Gruppe von Ideen und Stoffen, die sich auf den Gegenstand der Geschlechter beziehen, auf das gegenseitige erotische oder sociale Verhältniss von Mann und Weib, ganz besonders auf die ökonomische, sittliche und geistige Emancipation der Frau. Die religiösen Stoffe und Probleme sehen wir in unseren Tagen höchst verschiedenartig, wenn auch überall in modernem Geiste behandelt. Man durchlaufe in der Erinnerung einige Hauptnuancen. Bei dem grössten Dichter der älteren Generation in Frankreich, Victor Hugo, macht sich, trotz seiner leidenschaftlichen Freidenkerei, ein unbestimmter, pantheistisch gefärbter Deismus geltend; man spürt bei ihm noch den Einfluss des vorigen Jahrhunderts; die Religion wird verherrlicht auf Kosten der Religionen, die Liebe als vereinigende Macht gepriesen im Gegensatz zum Glauben, der trennt und zersplittert. Bei den hervorragendsten Dichtern des nächsten Geschlechts, wie Flaubert, wird die Religion mit wissenschaftlicher Kälte, doch stets von der Schattenseite dargestellt; für ihn und seine Geistesverwandten ist sie eine Hallucination, an die man glaubt. Der grösste englische Dichter unserer Tage, Swinburne, ist ein leidenschaftlicher, poesiereicher Heide; das Christenthum als Naturverleugnung aufgefasst, ist für ihn der Feind, welchen er bekämpfen will. Der grösste unter den modernen italienischen Dichtern, Leopardi, versenkte sich in einen erhabenen metaphysischen Pessimismus, welcher in stoische Resignation ausmündet; Carducci, der erste von Italiens jetzt lebenden Dichtergeistern, ist ebenso modern und noch mehr polemisch. In der Schweiz und in Deutschland haben die ersten Dichter, wie Gottfried Keller, Paul Heyse, Fr. Spielhagen, in ihren Werken einen seelenvollen atheistischen Humanismus verfochten. Im Norden war die Constellation besonderer Art. Die dänischen Dichter der hervorgehenden Periode hatten durchgehends der Orthodoxie gehuldigt; der einzige philosophisch angelegte unter ihnen, J. L. Heiberg, welcher anfänglich protestirt hatte, endigte damit, der Kirchenlehre, wenigstens anscheinend, Einräumungen zu machen (im Gedicht »Gottesdienst«); und die Versuche, welche in Dänemark gemacht wurden, um die Autorität der Kirche zu untergraben, Kierkegaards gewaltsame Angriffe auf die Staatskirche, waren nicht gegen die Lehre, sondern gegen deren Bekenner gerichtet, namentlich insofern das Leben der Pfarrer nicht mit der Lehre übereinstimmte. Diese Haltung Kierkegaards ist für die dänisch-norwegische schöne Litteratur bis auf die jüngste Zeit bestimmend gewesen. Die moderne Poesie in Dänemark und Norwegen hat selten oder nie die objective Seite der Sache, das Wesen der Religion, sondern fast ausschliesslich die subjective Seite berührt; darauf beruht der ausserordentliche Reichthum an Priestergestalten in dieser Litteratur, sowohl bevor als nachdem die Schriftsteller sich von der Rechtgläubigkeit emancipirten. Die Priester in Björnson's und Magdalena Thoresen's Bauernerzählungen bezeichnen den Standpunkt vor der Emancipation, diejenigen in Schandorph's, Kielland's, Ibsen's neueren Werken den Standpunkt darnach. Ibsen folgt der von Kierkegaard angegebenen Spur. Wie alle nordischen Männer seiner Generation im Zeitalter der Romantik aufgewachsen, beginnt er in seinem Verhältniss zur Religion mit Unklarheit. Ausserdem war in seiner Natur ein doppelter Hang, der ihn innerem Ringen aussetzen musste; eine Neigung zur Mystik und eine ebenso ursprüngliche Anlage zu schneidendem, trockenem Verstand. Bei wenigen Andern findet man einen solchen fast krampfhaften Aufschwung vereinigt mit einem solch ruhigen Weilen bei der Prosa des Lebens. »Brand« und »Stützen der Gesellschaft« sind in einem Hauptpunkte so verschieden, dass sie von zwei verschiedenen Verfassern herrühren könnten. Das erstere Werk ist in seinem Wesen die lautere Mystik, das andere dreht sich um die reine Prosa. Dort eine bis zum Aeussersten exaltirte, hier eine gut bürgerliche Moral. Für Niemand, der nordische Gemüthszustände kennt, kann ein Zweifel darüber obwalten, dass »Brand«, welches Werk Ibsen's Dichterruhm begründete, nur darum so grosse Aufmerksamkeit erregte, weil es als eine Art poetischer Predigt, als eine Strafrede, ein Erbauungsbuch betrachtet wurde. Nicht die wirklichen Vorzüge der Dichtung waren es, welche der Menge imponirten und die vielen Auflagen veranlassten, -- nein man strömte in die Buchläden, um »Brand« zu kaufen, wie man in die Kirche strömt, die einen neuen, scharf eifernden Prediger bekommen hat. In Privatäuserungen hob Ibsen indessen ausdrücklich hervor, dass Brand's Wirksamkeit als Priester nur die rein äusserliche, zufällige Seite der Sache sei. In einem Briefe vom 26. Juni 1869 schreibt er: »..... Brand ist missdeutet worden, jedenfalls was meine Intention betrifft ..... Die Missdeutung hat offenbar ihre Ursache darin, dass Brand ein Priester und das Problem in's Religiöse gelegt ist. Ich würde im Stande sein, den ganzen Syllogismus ebenso gut über einen Bildhauer oder einen Politiker zu machen, wie über einen Priester. Ich könnte mich von der Stimmung, die mich zur Produktion trieb, ebenso gut dadurch befreit haben, wenn ich anstatt Brand z. B. Galilei behandelt hätte (mit der Aenderung natürlich, dass er sich stramm gehalten und das Stillestehen der Erde nicht eingeräumt hätte), ja wer weiss -- wär' ich hundert Jahre später geboren, so hätte ich vielleicht ebenso gut Sie selbst und Ihren Kampf gegen Rasmus Nielsen's Vergleichsphilosophie behandelt. Im Ganzen genommen ist mehr Objectivität in »Brand«, als man bis jetzt darin gesucht; und darauf thu' ich mir, qua Poet, etwas zu Gute ...« Obschon ich sonst alles Persönliche aus diesen Citaten sorgfältig zurückhielt, führe ich hier die scherzhafte Hindeutung auf litterarische Streitigkeiten jener Tage an, weil sie beweist, wie wenig das Priesterliche Ibsen hier die Hauptsache war. Einen weiteren Beweis davon gibt die Aeusserung in einem Briefe, den ich von Ibsen erhielt, als ich über der Einleitung zu meinem Buche »Hauptströmungen« brütete. Die Stelle lautet: »..... Es kommt mir vor, als befänden Sie sich nun in derselben Krise, wie ich in jenen Tagen, als ich daran ging, »Brand« zu schreiben; und ich bin gewiss, dass auch Sie das Heilmittel finden werden, welches die Krankheit aus dem Körper treibt. Ein energisches Produciren ist eine vortreffliche Cur ....« Wie man sieht, liegt nach des Dichters eigener Auffassung in »Brand« das Hauptgewicht in der Opferwilligkeit und Charakterstärke, nicht in der Lehre. Obwohl Ibsen selbstverständlich der beste, der einzig competente Richter ist über das, was er mit seinem Werk beabsichtigte, so unterschätzt er doch nach meiner Meinung die Stärke des Unbewussten, wovon er gedrängt wurde, gerade diesen Stoff zu wählen und keinen anderen; und dieses Unbewusste war, wie ich glaube, sein norwegisch romantischer Hang zur Mystik. Doch selbst wenn man Brand genau nach Ibsen's Deutung auffasst, so ist gleichwohl die Parallele mit religiösen Gestalten im nordischen Geistesleben eine sehr naheliegende. Den Dänen musste es vorkommen, als hätte Ibsen ausschliesslich Kierkegaard _in mente_ gehabt; denn auch Dieser legte ja das ganze Gewicht auf die persönliche Innigkeit. Ein norwegischer Freier Priester, Namens Lammers, der übrigens von Kierkegaard beeinflusst war, hat indessen, wie der Dichter mir einmal andeutete, an der Figur des Brand grösseren Antheil gehabt, als irgend eine litterarische Einwirkung von dänischer Seite. In »Kaiser und Galiläer« ist der Einfluss des Kierkegaard'schen Standpunktes, obgleich immer noch stark, schon im Abnehmen. Zwar ist auch hier die Märtyrer-Begeisterung als Kraftmesser für die Wahrheit aufgestellt; Zwar ist die psychologische Grundansicht des Stückes die, dass nur die Lehre innere Wahrheit besitzt, welche im Stande ist, Märtyrer hervorzubringen; aber hiermit vereinigt sich ein in halb mystischem, halb modernem Geist durchgeführter Determinismus, ferner ein Schopenhauer'scher Glaube an den unbewussten und unwiderstehlichen Weltwillen, endlich eine moderne Prophezeihung von der Ablösung sowohl des Heidenthums wie des Christenthums durch ein drittes Reich, das beide verschmelzen wird. Bezeichnend für Ibsen's geistigen Habitus ist, dass die beiden Male, wo er religiöse Stoffe behandelt, all' das, welches Kampf und Streben vergegenwärtigt, unendlich mehr hervortritt und viel besser gelungen ist, als die Darstellung der Versöhnung und Harmonie. »Das dritte Reich« steht in »Kaiser und Galiläer« ebenso undeutlich im Hintergrund, wie jener _Deus caritatis_, mit welchem »Brand« schliesst. Stoffe, die sich um das Verhältniss zwischen zwei auf einander folgende Zeitaltern oder Generationen, oder schlichtweg um das Verhältniss zwischen zwei Lebensaltern drehen, welche in modernen Werken in Russland, Deutschland, Dänemark und Norwegen von so vielen Seiten und auf so verschiedene Weise behandelt worden sind, haben auch Ibsen beschäftigt: in seiner ersten Periode in den »Kronprätendenten«, beim Uebergang zu seiner zweiten Periode im »Bund der Jugend«. Beide Dramen sind ausgezeichnete Werke, aber keines von ihnen hat seine Stärke in historischem Blick oder historischer Unparteilichkeit. »Die Kronprätendenten« ist kein wirklich historisches Drama. Es war nicht der Plan des Dichters, durch eine Reihe von Bildern aus der Vergangenheit uns eine Vorstellung von der Menschennatur zu geben, wie sie unter bestimmten Verhältnissen in einer bestimmten Zeit auftrat; er ging nicht von einem historischen Standpunkt aus, sondern gebrauchte das Historische nur als Vorwand. Der Hintergrund des Stückes ist mittelalterlich, der Vordergrund modern; denn Jarl Skule ist eine moderne Figur. Die historische Auffassung würde dazu geführt haben, Skule als Vollblut-Aristokraten und Bischof Nikolas als fanatischen, aber ehrlichen Klerikalen darzustellen. Denn Skule's Kampf gegen Hakon bezeichnet historisch den letzten misslungenen Versuch der Aristokratie, die königliche Gewalt einzuschränken, und der Kampf des Bischofs den vom Standpunkte der Geistlichkeit berechtigten Hass gegen den Kirchenfeind und Usurpator Sverre und sein Geschlecht. Statt dessen hat Ibsen Bischof Nikolas zu einem Unmenschen gemacht, welcher als Finsterling den Neid, die Zwietracht in Norwegen durch die Zeiten hindurch symbolisirt, und Skule zu einem Ehrgeizigen, der, nach dem höchsten Ziele strebend, von einem unglücklichen Zweifel an seinem Recht und Beruf gepeinigt wird, jenes Ziel zu erreichen. Hakon und Skule stehen sich zwar gegenüber als Vertreter zweier Zeitalter; da aber des Dichters Interesse für das Psychologische so viel grösser ist als sein Sinn für das Historische, wird jener Gegensatz ganz zurückgedrängt von dem Unterschied zwischen den individuellen Charakteren und ihrem Verhältniss zu Einer Idee. Hakon vertritt den »Königsgedanken«, den er zuerst gedacht hat, und geht darin auf; Skule vertritt keine ältere historische Idee, sondern nur den Mangel an Selbstvertrauen. Er stiehlt Hakon's Königsgedanken, um dadurch sich die Berechtigung zum Thron zu verschaffen. Dies gelingt ihm nicht; der Skalde erklärt ihm, dass ein Mann nicht für das Lebenswerk eines Andern leben könne, und Skule selbst erkennt die Wahrheit hiervon an. Ganz klar ist der Gedanke des Skalden nicht ausgedrückt. Denn warum sollte man nicht für fremde Ideen leben können, die man sich anzueignen und in sein eigenes Fleisch und Blut zu verwandeln suchte, natürlich ohne sie zu stehlen und sich für den Erfinder auszugeben? Der Diebstahl, nicht das Leben für fremde Ideen wär's, was Einen unglücklich machen würde. Das ist's auch, was Skule's Unglück verursacht. Aber die Sache ist, dass Ibsen zufolge seines ganzen Naturells sich mehr für die Kämpfe interessirt, welche in der einzelnen Persönlichkeit vorgehen, als für die Kämpfe zwischen historischen Mächten. Das, was ihn an Skule fesselte und diesen zur Hauptperson des Stückes machte, war das »Interessante« an dieser Gestalt, ihre zusammengesetzte Natur, ihr kämpfender Geist, der selbst im Unrecht Hakon's fertiges, siegesgewisses Wesen überstrahlt, es war die verzweifelte Kraft in diesem grossen Grübler, der wie der Grübler Nureddin in Oehlenschläger's berühmtem Gedicht trotz der Sehnsucht nach der Zauberlampe, trotzdem er Aladdin's Lampe entwendet, zu Grunde gehen muss: er ist ein Geist, der höher hinauf will, als er vermag; und diese selbe Vorstellung ist's, welche in Bischof Nikolas variirt wird, dessen grosse Gaben in lauter theils körperlich, theils geistig ohnmächtigen Begierden und Wünschen zu Grunde gegangen sind. Der Kampf zwischen Fähigkeit und Sehnen, zwischen Wille und Möglichkeit in der Seele des Einzelnen, dies Verhältniss, welches schon in »Catilina« und in »Gunnar« (in »Nordische Heerfahrt«) angedeutet wurde, tritt hier in Skule's Verhältniss zu dem Gedanken Hakon's von neuem hervor. Skule steht dem Königsgedanken gegenüber wie Julian dem Christenthum, betroffen durch die Ahnung von der Grösse der Macht, welche er bekämpft, in einer unheilbar schiefen Stellung zu der grossen siegreichen Idee. Das psychologische Interesse schlägt das historische aus dem Felde. Das Verhältniss zwischen zwei auf einander folgenden Generationen ist ferner dargestellt im »Bund der Jugend«, ein Lustspiel, das in äusserst witziger Weise eine Parodie auf das Streben eines jüngeren Geschlechtes liefert, ohne zugleich dessen Berechtigung zuzugeben. Man kann diese Arbeit nicht mit Werken vergleichen, wie Turgenjew's »Väter und Söhne« oder »Neuland«, welche mit grosser Strenge gegen das jüngere Geschlecht Schonungslosigkeit gegen das ältere verbinden und nichtsdestoweniger beide mit Sympathie umfassen. Ibsen's Pessimismus hat die Sympathie zurückgedrängt. Der einzige ehrenvolle Vertreter des jüngeren Geschlechts in diesem Stücke ist Dr. Feldmann, eine ganz passive Natur. Dass er Arzt ist, dürfte kaum ein Zufall sein; der tüchtige Arzt spielt überhaupt eine schöne Rolle in der modernen Poesie, er ist augenscheinlich der Held der Zeit. Die Ursache ist wohl, dass er als Incarnation von den streng modernen Ideen der Zeit gelten kann, welche sind: theoretisch die Wissenschaft, welche sich zu den Gegensätzen Wahr und Falsch verhält, praktisch die Humanität, welche sich auf die Gegensätze Glücklich und Leidend bezieht, jene Gegensätze, die psychologisch und social das Zeitalter in Anspruch nehmen. In Schiller's Dramen ebenso wie in denen des Jungen Deutschlands spielt der Kampf für politische und geistige Freiheit eine Hauptrolle. Auch die Standesunterschiede sind in verschiedenen deutschen Schauspielen aus einem jüngeren Zeitraum ein beliebtes Thema, selten dagegen hat in früheren Zeiten die Poesie herangezogen, was man heutzutage »das sociale Problem« nennt. In der schönen Litteratur unserer Tage hat allmälig die sociale Frage die politische vom hervorragendsten Platze verdrängt. Die moderne Poesie lässt sich in manchen Ländern durch das Mitleid mit den kleinen Leuten inspiriren; sie erinnert die Bessergestellten an ihre Pflichten. Diese Frage ist keine von denen, welche Ibsen als Dichter stark beschäftigten, aber dennoch hat er sie nicht selten berührt. Als er »Catilina« schrieb, war er noch zu unentwickelt, um sociale Probleme zu verstehen; doch viele Jahre später führte er in »Stützen der Gesellschaft« einen Schlag gegen die leitenden Klassen in seinem Vaterland. Eine socialpolitische Tendenz hatte das Stück bekanntlich durchaus nicht, aber so tief ist der darin enthaltene Pessimismus, dass, wenn man mit nordischen Verhältnissen und namentlich mit der Stellung des Dichters zu seinem Publikum nicht bekannt war, man eine solche Tendenz herauslesen konnte. Als das Stück in Berlin aufgeführt wurde, gaben manche Zuschauer (und, wie ich versichern kann, nicht die unverständigsten) sich dem Irrthum hin, es sei von einem Socialisten geschrieben. Ich musste Einigen erklären, dass es vielmehr den (damaligen) Lieblingsdichter der conservativen Partei in Norwegen zum Verfasser habe. In dem Schauspiel »Stützen der Gesellschaft«, das sich wie ein Supplement zum »Bund der Jugend« ausnimmt, kommen indess so wenig wie im letztgenannten Lustspiel die beiden Seiten der Sache zum Vorschein. Ibsen wirkt hier, wie überall, durch Einseitigkeit. Das Verhältniss zwischen Mann und Frau ist eines von denen, welche ihn am stärksten beschäftigt haben, und wo er am meisten originell und modern empfunden hat. In seinen ersten Jugendarbeiten ist dies Verhältniss noch etwas traditionell behandelt. In »Das Fest zu Solhaug« ergreift er dasselbe Motiv, welches Björnson später in »Hulda« behandelt hat: die Stellung des jungen Mannes zwischen der etwas älteren Frau, die er als Jüngling geliebt, und dem jungen Mädchen, um das er nun gern werben möchte -- ein allgemein menschliches, wenn auch schon häufig variirtes Motiv. Demnächst stellt Ibsen in »Catilina« und in »Die Herrin von Oestrot« ein und dasselbe etwas gesuchte, aber ergreifende Motiv dar: wie ein Mann nach übel verbrachter Jugend durch seine Liebe zu einem Mädchen gestraft wird, das ihn trotz ihrer Gegenliebe verabscheut und verflucht, weil er dessen Schwester verführt und frühzeitig in's Grab gebracht hat. Dann nimmt der Dichter in der »Komödie der Liebe« zum ersten Male die erotischen Zustände in seinem Vaterlande als Thema auf. Eine nicht geringe Anregung hatte er augenscheinlich durch die damalige nordische Litteratur erhalten. Während Björnson in seiner ersten Periode sich von Volkssagen und Volksdichtungen beeinflussen liess, war Ibsen schon in seiner frühesten Zeit durch die fortgeschrittensten zeitgenössischen Geister in Bewegung gesetzt. Es ist etwas in der Inspiration der »Komödie der Liebe«, das sich auf Camilla Collett's »Die Amtmannstöchter« zurückführen lässt. Dies kühne Buch erfüllte zu jener Zeit alle nordischen Gemüther; es richtete bereits sehr witzig, nur etwas formloser, den ganzen Angriff gegen Verlobungen und Ehen, der in Ibsens Drama mit männlicher und festerer Hand geführt ist. In Gleichnissen und Bildern verspürt man an einzelnen Punkten Frau Collett's Einfluss. Das in Ibsen's Wiedergabe so berühmte Thee-Gleichniss stammt von ihr. In den »Amtmannstöchtern« heisst es von der Liebe: »Beschütze denn, o Menschheit, diese erste Blüthe unseres Lebens ... Achte auf ihr Wachsthum und ihre Frucht .... Zerstöre nicht leichtsinnig die zarten Herzblättchen in dem Glauben, dass die gröbern Blätter nachher noch gut genug sind .... Nein, sie sind nicht gut genug! Es ist ein ebenso grosser Unterschied zwischen diesen beiden Arten, wie zwischen der Sorte Thee, mit welcher wir gewöhnlichen Erdbewohner fürlieb nehmen, und jener, wovon der Kaiser des himmlischen Reiches trinkt, welche erst der wirkliche Thee ist; der wird zuerst geerntet und ist so fein und zart, dass er mit Handschuhen gepflückt wird, nachdem die Einsammler sich, glaub' ich, vierzigmal gewaschen«. Bei Henrik Ibsen heisst es: »Ach, meine Damen, jedes Mädchen hält Ihr eigen »himmlisch Reich« in sich verschlossen; Da sieht man tausend zarter Keime sprossen, Wenn der Verschämtheit Chinamauer fällt«. Und die Stelle schliesst: »Doch folgt noch eine zweite Ernte (beide Verhalten sich wie Hanf zu feiner Seide), Die man mit Schutt und Stiel zusammenharkt. Das ist der schwarze Thee. Der füllt den Markt«. Ibsen hat dies Gleichniss nur weiter entwickelt und ihm das feste Gefüge des Verses gegeben. Wie bekannt ist in der »Komödie der Liebe« nichts unzweifelhaft als der Spott. Das Stück enthält eine Satyre auf die Ehe, welche gleich wenig Sympathie für die Vertheidiger wie für die Angreifer des Bestehenden einflösst und aus der man unmöglich entnehmen kann, ob des Dichters Meinung in letzter Instanz dahin geht, an dem Ueberlieferten festzuhalten oder es über den Haufen zu werfen. Das einzige Gewisse ist nur sein misanthropischer Blick auf die Verlobungen und Ehen, welche rings um ihn her geschlossen werden. Ich entsinne mich eines Gesprächs mit Ibsen bezüglich dieser Komödie, das sich um die Liebe zwischen Brautpaaren im Allgemeinen drehte. Ich sagte: »Es gibt kranke Kartoffeln und es gibt gesunde«. Ibsen antwortete: »Ich fürchte, ich habe niemals welche von _diesen_ Kartoffeln zu sehen bekommen, die gesund waren«. Indess zieht sich durch Ibsens Werke ein stets steigender Glaube an die Frau und eine stets entschiedenere Verherrlichung der Frau. Bisweilen tritt diese Verherrlichung sogar abstossend doktrinär hervor, z. B. wenn Solveig in »Peer Gynt«, in dem seit Goethe's »Faust« und Paludan-Müller's »Adam Homo« überlieferten Stil, durch ihre Liebe die -- in diesem Falle wahrlich allzu unwürdige -- Seele des Geliebten rettet; aber dieser Glaube an das Weib, durch welchen Ibsen gleichsam seine Geringschätzung des Mannes aufwägen zu wollen scheint, ist immer vorhanden, und derselbe hat eine Reihe schöner und wahrer Frauengestalten hervorgebracht, wie jene Margaretha in »Die Kronprätendenten«, die in wenigen Strichen in unvergänglicher Schönheit gezeichnet ist, oder jene Selma in »Der Bund der Jugend«, welche den ersten Entwurf zur Gestalt der Nora bildet. Als diese Figur noch neu war, bemerkte ich in einer Kritik, dass dieselbe nicht genug Spielraum im Stücke habe, Ibsen solle ein ganz neues Schauspiel über sie schreiben. Er that es in »Nora«. Nach meiner Meinung war die sogenannte Emancipation der Frau im modernen Sinne Henrik Ibsen zu Beginn seiner Laufbahn durchaus nicht lieb und vertraut. Im Gegentheil. Ibsen hat ursprünglich keine sonderlich grosse Sympathie für die Frau. Es gibt Schriftsteller, die in sich eine Affinität mit dem weiblichen Wesen haben, ja bis zu einem gewissen Grade feminin angelegt sind. Zu diesen gehört Ibsen nicht. Ich glaube, er findet mehr Vergnügen daran, mit Männern zu sprechen als mit Frauen: und gewiss hat er weit weniger Zeit in der Gesellschaft von Frauen zugebracht, als sonst Dichter zu thun pflegen. Man glaube auch nicht, dass moderne Schriften über die Berechtigung einer Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung der Frau einen begeisterten Leser in ihm fanden. Wenn ich nicht irre, so missfiel ihm Stuart Mill's Buch über die Frauenfrage recht sehr, und Mill's Schriftstellerpersönlichkeit flösste ihm keine Sympathie ein. Es war besonders die Behauptung oder das Zugeständniss Mill's, dass er seiner Frau Vieles und das Beste in seinen Schriften verdanke, welches Ibsen bei seinem ausgeprägten Individualismus lächerlich vorkam. »Denken Sie«, sagte er lächelnd, »wenn man Hegel oder Krause lesen müsste mit dem Gedanken, nicht bestimmt zu wissen, ob man eigentlich Herrn oder Frau Hegel, Herrn oder Frau Krause vor sich habe!« Ich glaube nicht, dass bei Ibsen jener Unwille gegen die Persönlichkeit Stuart Mill's eine Sache für sich war, ohne Zusammenhang mit seinem Gefühl für die Frauenfrage. Ich vermuthe vielmehr, es fand sich bei ihm ein Anfangswiderstand, entweder durch die Erziehung oder durch einen natürlichen Aerger über die Caricaturformen der Frauenemanzipation hervorgerufen; jedoch ein Widerstand, dessen Bestimmung es war, durch einen desto leidenschaftlicheren Anschluss abgelöst zu werden. Hier war es Ibsen's Verstand, der die Umwandlung in seinem Gefühlsleben bewirkte. Er ist ächt dichterisch im Stande, mit voller Brust sich für eine Idee, die ihn zuerst kalt liess, zum Organ zu machen, wenn er fühlt, dass diese Idee einer der zukunftsreichen Kampfgedanken des Zeitalters ist. Und liest man nun die letzte Scene in »Nora«, diese Repliken, welche wie Schwertschläge fallen; diejenige Helmer's: Niemand opfert seine Ehre, für die, welche er liebt -- und Nora's Antwort: Das haben hunderttausend Frauen gethan -- Repliken, in welchen zwischen den beiden Eheleuten, die an dem Tisch sich gegenüber sitzen, der Abgrund sich entsetzlicher öffnet als jemals die Unterwelt in alten romantischen Dramen -- so fühlt man, dass Ibsen nicht nur seine Seele mit den Gedanken der Zeit erfüllt, sondern dieselben grösser gedacht und schärfer zugeschliffen hat, so dass er sie durch seine Kunst selbst in verhärtete Herzen eintreibt. Das Stück machte einen mächtigen, wenn auch erschreckenden Eindruck. Seit Jahrhunderten hatte die Gesellschaft durch ihre Priester und Dichter die in Liebe gestiftete und von keinem Dritten gestörte Ehe als einen sicheren Hafen aufgefasst und besungen. Nun sah man, dass dieser Hafen voll Klippen und Untiefen war. Und es war, als ob Ibsen jedes Leuchtfeuer ausgelöscht habe. Die »Gespenster« folgten. Wieder wie in »Nora« ist hier eine Ehe analysirt, das Gegenstück von jener. Das Grosse und Feine in »Nora« war vornehmlich, dass Ibsen dem Ehemann so viel eingeräumt hatte. Was hatte er ihm nicht alles zugegeben! Helmer ist ein grundehrenwerther, pünktlich rechtschaffener Mann, ein vorzüglicher Haushalter, eifersüchtig auf seine Selbständigkeit Fremden und Untergebenen gegenüber, ein strenger und liebevoller Vater, ein gutherziger, ästhetisch gebildeter Mann u. s. w. -- _und doch!_ Doch war die Gattin dieses Mannes ein Opfer und die Ehe der Beiden ein übertünchtes Grab. Der Mann in der Ehe, in welche, die »Gespenster« uns einen tiefen Einblick geben, ist von einer gerade entgegengesetzten Beschaffenheit gewesen: roh, versoffen, rücksichtslos ausschweifend; doch besass er so viel von jener, zügellosen Menschen oft eigenen Fähigkeit, durch anscheinende Gutmüthigkeit Herzen zu gewinnen, dass es seiner Frau gerade noch möglich war, seine Lebensweise zu verhüllen und den Schein zu wahren. Indem sie bei ihm aushielt, sich ihm hingab, brachte sie nicht nur ihre persönliche Wohlfahrt und ihr Glück zum Opfer, sondern wurde Mutter eines von Geburt an zu Grunde gerichteten Wesens, eines Sohnes, den Todesmattigkeit, Verzweiflung, Wahnsinn, Idiotismus beim Eintreten des Mannesalters ergreifen -- _und doch!_ Doch nennt derjenige Theil der Gesellschaft, den Herr Pastor Manders vertritt, dieses Opfer ihrer selbst und ihres Sohnes Pflicht, und findet, dass ein Aufstandsversuch gegen dieses Grässliche ein Verbrechen gewesen wäre. Dieses ist das Pathos des Stückes, und dieses Pathos erschreckte das grosse Philisterium noch mehr als »Nora«. Diesmal war es, als ob Ibsen sogar die Sterne ausgelöscht habe. »Nicht ein Lichtpunkt!« Das Verhältniss zwischen Mann und Frau ist in »Gespenster« von einem neuen Gesichtspunkt dargestellt: die Verantwortung dem Kinde gegenüber bildet gleichsam den Maasstab dafür. Das Drama behandelt in dichterischer Form den Gedanken der Vererbung; es stellt auf Grund jenes Determinismus, der nun einmal das letzte Wort der modernen Wissenschaft in der Sache ist, die durchgehende Bestimmtheit des Kindes durch die Eltern dar, und gibt dieser Thatsache einen stimmungsvollen, gedankenerregenden Hintergrund, indem es auf die allgemeine Thatsache hinweist, die schon der Titel andeutet (_Gengangere_, Gespenster im Sinne des französischen _revenants_), nämlich: auf die durch Vererbung bedingte Bewahrung von Gefühlen -- und dadurch von Dogmen -- deren ursprüngliche Lebensbedingungen ausgestorben und andern gewichen sind, mit denen diese Gefühle im Streite liegen. Es knüpft sich in Bezug auf Ibsens Entwickelung ein Hauptinteresse an diesen Griff, diese Wahl des Stoffes, weil wir den Dichter hier zum ersten Male den Ring durchbrechen sehen, welchen sein Individualismus sonst um den Einzelnen als solchen zu ziehen pflegt. In einem Briefe von 1871 schrieb Ibsen folgende Worte, welche für Vieles bei ihm bezeichnend sind: »..... Für das Solidarische hab' ich eigentlich niemals ein starkes Gefühl gehabt; ich nahm es nur so mit als überlieferte Glaubenssatzung -- und hätte man Muth, es ganz und gar ausser Betrachtung zu lassen, so würde man vielleicht des Ballastes los, welcher am schwersten auf die Persönlichkeit drückt ...« Jetzt, zehn Jahre darnach sind ihm für die Bedeutung des Solidarischen die Augen aufgegangen; jetzt hat er gründlich eingesehen, dass »Muth« nichts nützt, um sich darüber hinwegzusetzen, und dass wir Alle schon von Geburt an solidarisch mit Personen und mit Verhältnissen verbunden sind, über die wir nicht Herr werden. Ibsen ist augenscheinlich im Verlauf der Jahre in immer innigere Beziehung zu den Grundideen der Zeit getreten. So sehen wir ihn, der, wie fast alle jetztlebenden älteren Schriftsteller, von Anfang an bis zum Gürtel in dem romantischen Zeitalter stand, sich aus demselben heraus- und emporarbeiten und allmälig immer moderner, zuletzt der Modernste unter den Modernen werden. Dies ist nach meiner Ueberzeugung Ibsens unvergänglicher Ruhm und wird seinen Werken einen bleibenden Werth verleihen. Denn das Moderne ist nicht das Ephemere, sondern die Flamme des Lebens selbst, der Lebensfunke, die Ideenseele eines Zeitalters. Es ist zu hoffen, dass die Missstimmung, welche Ibsens letztgenanntes Werk in manchen Kreisen erweckte, und die plumpe Kritik, der es zum Gegenstand diente, nicht hemmend auf seine Schaffenslust einwirken wird. Im ersten Augenblick freilich mochte diese Aufnahme niederschlagend auf ihn wirken. Er schrieb darüber: ».... Wenn ich denke, wie träg und schwer und stumpf das Verständniss daheim in Norwegen ist; wenn ich Acht darauf gebe, als wie seicht die ganze Betrachtungsweise sich erweist, so überkommt mich ein tiefer Missmuth, und manches Mal will mir scheinen, ich könnte meine litterarische Wirksamkeit auf der Stelle beschliessen. Bei uns daheim braucht man eigentlich gar keine Dichterwerke; man behilft sich mit der Storthings-Zeitung und der »Lutherischen Wochenschrift«. Und ausserdem hat man ja die Parteiblätter. Ich habe kein Talent zum Staatsbürger und auch keines zum Orthodoxen; und wenn ich für etwas kein Talent besitze, so befass' ich mich nicht damit. Für mich ist Freiheit die erste und höchste Lebensbedingung. In der Heimath bekümmern sie sich nicht sonderlich um die Freiheit, sondern bloss um Freiheiten, einige mehr oder einige weniger, je nach dem Parteistandpunkt. Höchst peinlich fühle ich mich auch berührt von all' diesem Unfertigen, diesem für's gemeine Volk Berechneten, in unserer öffentlichen Diskussion. Unter den sehr rühmlichen Bestrebungen, unser Volk zu einer demokratischen Gesellschaft umzubilden, gelangte man ein gut Stück Weges dahin, uns zu einer Plebejer-Gesellschaft zu machen. Die Vornehmheit der Gesinnung scheint daheim im Abnehmen ...« Der Sturm über die »Gespenster«, das Werk, in welchem Ibsen seinen düstersten Gedanken, seinen hoffnungslosesten Stimmungen Ausdruck gegeben hat, legte sich bald und hat dem Dichter keinen Schaden gebracht, ja der schlechte Empfang, der jenem Trauerspiel zu Theil wurde, ist ihm sogar insofern förderlich gewesen, als er das Motiv zu seiner letzten Arbeit »Ein Volksfeind« abgab, einem Schauspiel, das allegorisch jene Vorgänge auf die Bühne bringt. Eben ist auch jene verrufene Tragödie -- die vor kaum zwei Jahren von den königlichen Bühnen in Kopenhagen und Stockholm zurückgewiesen, ja selbst von der Theater-Direction in Christiania verworfen wurde -- von schwedischen Schauspielern in Kopenhagen mit stürmischem Erfolg aufgeführt worden, und hierauf hat das Stück auch in Stockholm das Publikum erobert. Nur das Vaterland des Dichters weigert sich noch, sein merkwürdigstes und kühnstes Drama spielen zu lassen. Ein gutes Omen für Ibsens künftige Werke ist der Umstand, dass in dem Maasse wie er mehr modern geworden, er ein immer grösserer Künstler geworden ist. Die Ideen der neuen Zeit haben bei ihm nicht die Gestalt von Symbolen angenommen, sich nicht in Typen verkörpert. In jüngern Jahren hatte er einen Hang zu grossen Gedankenbildern: Brand, Peer Gynt u. s. w.; doch merkwürdigerweise wurden seine Gedanken, je mehr er deren hatte, desto klarer und seine Gestalten immer individueller. Ibsens technische Meisterschaft ist in den letzten Werken von Jahr zu Jahr gestiegen. In »Nora« übertraf er die Technik der berühmtesten französischen Dramatiker, und in »Gespenster« legte er (trotz des Unbefriedigenden im Motiv des Asylbrandes) im Dramatischen eine Sicherheit, Einfachheit und Feinheit an den Tag, welche an die antike Tragödie unter Sophokles (_Oedipus rex_) erinnert. Dieser stetige Fortschritt beruht auf Ibsens künstlerischem Ernst, seinem gewissenhaften Fleiss. Er arbeitet äusserst langsam, schreibt sein Werk wieder und wieder um, bis es in Reinschrift ohne jedwede Correctur vorliegt, jede Seite glatt und fest wie eine Marmorplatte, an welcher der Zahn der Zeit nicht nagen kann. Dies stetige Steigen in Vollkommenheit beruht aber genau besehen wieder darauf, dass Ibsen einzig Dichter ist, nie etwas anderes sein wollte. Wohl mag es den Eindruck von Kälte und Verschlossenheit machen, wenn ein Schriftsteller sich durch keinen äusseren Anlass jemals hinreissen lässt, sein Wort mit in die Erörterung zu geben; wenn nichts, was geschieht, ihn zu einer Meinungsäusserung aufreizen oder begeistern kann. Die einzigen Zeitungsartikel, welche Ibsen in den letzten Jahren geschrieben, waren solche, die sich auf seine Rechte gegenüber den Verlegern oder auf seine Rechtlosigkeit im Verhältniss zu seinen Uebersetzern bezogen; aber man darf nicht vergessen, dass diese kalte Zurückhaltung ihm gestattet hat, die Meisterschaft in seiner Kunst unverwandt vor Augen zu haben gleichwie seine fixe Idee, sein nie aus den Augen verlorenes Ideal -- und er hat dies Ideal erreicht. Man kann sich schwerlich einen grösseren Unterschied denken, als zwischen diesem Dichter, der einsam, nach allen Seiten gegen die Aussenwelt abgeschlossen, drunten im Süden wohnt und, ohne sich durch irgend etwas von seinem Beruf abziehen zu lassen, künstlerische Meisterwerke formt und zufeilt -- und seinem grossen Geistesbruder im Norden, der aus vollen, allzuvollen Händen grosse und kleine Artikel über politische, soziale und religiöse Fragen in die Presse hinausstreut, der mit seinem Namen überall voran ist, niemals Rücksicht nimmt auf die Klugheitsregel, die vorschreibt, sich selten zu machen, sich vermissen zu lassen; welcher Lieder schreibt, Reden hält, agitirt, von Volksversammlung zu Volksversammlung reist und sich am wohlsten befindet, wenn er auf dem Rednerstuhle unter tausend Freunden und hundert Gegnern steht und die ganze Schaar durch seine Kühnheit und durch seine Kunst in Athem hält. Henrik Ibsen hat keine Aehnlichkeit mit irgend einem andern jetzt lebenden Dichter und ist von keinem beeinflusst worden. Unter den Deutschen müsste man ihn am nächsten mit ernsten und tiefkritischen Darstellern, wie Otto Ludwig oder Friedrich Hebbel zusammenstellen, wenn man ihn absolut einer europäischen Gruppe einreihen wollte. Er ist jedoch weit moderner und ein weit grösserer Dichter als sie beide. Mit Björnson, dessen Name Einem beständig in die Feder kommt, so oft man sich mit Ibsen beschäftigt, hat er die Gemeinschaft, welche gleiches Vaterland, gleiche Lebenszeit, Wettstreit in der Stoffbehandlung und Gleichartigkeit der Entwickelung mit sich führen. »Der Bund der Jugend«, den Ibsen verfasst hatte, gab Björnson den Impuls, bürgerliche Schauspiele zu dichten. Als Björnson »Ein Fallissement« geschrieben, bekam Ibsen Lust, den Stoff in »Stützen der Gesellschaft« zu variiren. Björnson hat mir erzählt, dass er in seiner Handschrift zu »Staub« einen Satz ausstreichen musste, weil derselbe sich fast wortwörtlich in Ibsen's »Gespenster« fand, welches Drama während des Druckes der Novelle erschien. Die Ursache ist, dass beide Dichter einen ganz parallelen Entwicklungsgang zurückgelegt haben. Henrik Ibsen hat etwas früher als Björnson sich aus den althistorischen, sagenhaften und phantastischen Stoffen herauszuarbeiten vermocht; denn freier gestellt, wie er war, losgerissen von der Heimath und mitten in der Brandung der Ideen der Gegenwart stehend, hatte er weniger Hemmungen, die ihn davon zurückhielten, dem Ruf seines Zeitalters zu folgen, weniger Naivetät und weniger Pietät. Aber der Unterschied bezüglich der Zeit, in welcher beide Dichter von einer überwiegend romantischen zu einer überwiegend realistischen Betrachtungsweise ihrer Stoffe gelangten, beschränkt sich auf ein paar Jahre und ist ein verschwindender gegen die merkwürdige Uebereinstimmung in der Periodeneintheilung ihrer Dichterlaufbahn. Man kann, scheint mir, Björnson und Ibsen in dieser Hinsicht mit den beiden altnordischen Königen Sigurd und Eystein vergleichen, die in dem berühmten Gespräche, welches die Sage überliefert, und das u. A. Björnson in seinem »Sigurd der Kreuzfahrer« benützt hat, ihre Verdienste gegen einander aufstellen: Der Eine ist daheim geblieben und hat von hier aus sein Vaterland civilisirt; der Andere hat sich von der Heimath losgerissen, ist weit umher gezogen und hat auf seinen kühnen mühsamen Fahrten dem Vaterlande Ehre gemacht. Jeder hat seine Bewunderer, Jeder sein streitbares Heergefolge, welches den Einen auf Kosten des Andern erhebt. Aber sie sind Brüder, wenn sie auch eine Zeit lang feindliche Brüder gewesen, und das einzig Richtige ist, wie es auch am Schlusse des Stückes geschieht: dass das Reich friedlich unter ihnen getheilt wird. NACHTRAG. I. (1896.) Vor 13 Jahren war es noch natürlich, eine Charakteristik Henrik Ibsen's mit einem Nebeneinanderstellen von Björnson und ihm abzuschliessen. Heutzutage ist die Parallele nicht mehr möglich; Ibsen hat in der zwischenliegenden Zeit sich so kühn und stetig entwickelt und einen so hohen Flug genommen, dass er alle nordischen und fremden Nebenbuhler weit überflügelt hat. Sein Ruhm ist im buchstäblichen Sinne Weltruhm geworden; aus seinem Namen sind in der französischen und englischen Sprache, vielleicht in noch mehreren, Worte gebildet. Kein anderer nordischer Dichter beschäftigt wie er die Zeitgenossen; an der Schwelle des Greisenalters ist er noch derartig der geistigen Vorhut angehörig, dass seine Werke wie sonst nur die Werke eines ganz jungen Mannes angefeindet, bekämpft, verspottet, geliebt und vergöttert werden. Wesentlich hat seine geistige Physiognomie sich in dieser Zeitdauer nicht ändern können; dazu waren die Züge schon zu eigenthümlich geprägt; neue Züge sind indessen hinzugekommen, und der Ausdruck ist noch geistvoller geworden als er war. Der gehässige Empfang des merkwürdigen und tiefen Schauspiels »Gespenster« machte auf Henrik Ibsen, der Ursache hatte, sein Ansehen endlich als gesichert zu betrachten, einen ungewöhnlichen Eindruck. Fast alle nach Norwegen aus Kopenhagen geschickten Exemplare kamen unverkauft zurück -- noch heute ist dieses Drama das einzige von Ibsen, das keine zweite Auflage erlebt hat -- und die liberale Presse Norwegens wetteiferte mit der conservativen in Angriffen auf das Stück und dessen Verfasser. In welche Aufregung diese Haltung seiner Landsleute Ibsen versetzte, beweist schon der Umstand, dass der Dichter, der sonst nur jedes zweite Jahr ein Schauspiel herauszugeben pflegte -- und auch jetzt wieder pflegt -- dies eine Mal schon nach Einem Jahre eins fertig hatte, den »Volksfeind«, in welchem, wie schon berührt, eben jener gehässige Empfang der »Gespenster« dargestellt wird. »Ein Volksfeind« schildert ja die schlechte Behandlung, die einem ehrenhaften und begabten Manne, Badearzt in einer kleinen norwegischen Stadt zu Theil wird, als er entdeckt und mittheilt, dass das Wasser des Bades verpestet ist. In seiner Naivetät hat der Arzt gehofft, diese Entdeckung und die Anweisung zur Umgestaltung der Verhältnisse solle ihm die Dankbarkeit seiner Mitbürger einbringen. Es scheint zuerst auch so; es sieht einen Augenblick aus, als wolle die Opposition ihn unterstützen, um ihn gegen die Machthaber zu verwenden. Aber die Stadt will sich nicht dafür aussetzen, auch nur vorübergehend einen schlechten Ruf als Badeort zu bekommen; man fürchtet die Kurgäste wegzuscheuchen; man will sich den grossen Unkosten, die eine umfassende Reparatur erfordern würde, nicht unterziehen, und man zieht statt dessen vor, den Arzt, der sich nicht beschwichtigen lässt, einstimmig aufzugeben, dann anzufahren, und mit Schimpfworten, ja Steinwürfen heimzusuchen. Man muss gewissen Norwegern für ihre Dummheit und ihre Heuchelei »Gespenster« gegenüber dankbar sein, da sie durch ihr Auftreten »Ein Volksfeind« veranlasst haben. Das Stück gehört zu den schärfsten und witzigsten, die Ibsen geschrieben hat, und er hat es vorzüglich verstanden, die Hauptperson von sich fern zu halten und ihr selbständiges Leben mitzutheilen, wenn der Dichter auch in der grossen Rede des vierten Akts recht deutlich selbst durch den Mund des Arztes spricht. In diesem Schauspiel kommt zum ersten Mal die grundaristokratische und doch volksfreundliche, volkserzieherische Lebensansicht des Dichters direct ans Licht. Nie vorher hatte er mit solcher Stärke die Lehre von dem stetigen Unrecht der Mehrzahl gepredigt; das Stück schliesst sogar mit dem geistvollen an Kierkegaard anklingenden Paradoxon: Der stärkste Mann in der Welt ist der, welcher allein steht.[46] Ueberhaupt ist Ibsen, seit den Tagen wo er Brand schrieb, nicht so in den Spuren Kierkegaards gegangen wie hier. Was aber bei dem ein Menschenalter früher gestorbenen Denker eine abstracte Lehre war, das erscheint im »Volksfeind« in lebenswahren Gestalten, mit einer hinter Kierkegaard nicht zurückstehenden Fülle von Witz und bitterer Satire ausgeführt. Es folgte »Die Wildente«, ein Meisterwerk, wohl das am meisten pessimistische Stück, das Ibsen noch geschrieben hatte, und worin doch sogar eine so niedrig stehende Gestalt wie die frühere Freundin des Grosshändlers Werle und jetzige Frau des faulenzenden und affectirten Photographen Hjalmar Ekdal, Frau Gina, mit Wohlwollen, fast mit Liebe gezeichnet ist, während alles Licht sich um den Kopf des rührend liebenswürdigen und hochherzigen Kindes, der Hedwig, sammelt. Auch in dieser reichen und düsteren Arbeit spürt man eine Nachwirkung der besprochenen, schlechten Behandlung des Dichters nach dem Erscheinen der »Gespenster«, in der Persönlichkeit des Gregers Werle nämlich, jener Karikatur eines Wahrheitsapostels. Augenscheinlich hat der Dichter, nachdem er sich in dem »Volksfeind« ausgetobt hatte, sich zum ersten Mal ernstlich gefragt, ob es denn wirklich die Mühe lohne, wirklich Pflicht sei, Durchschnittsmenschen wie seinem Publikum die Wahrheit zu verkünden, ob ihnen nicht die Lüge zu ihrer Lebensführung unbedingt nothwendig sei. Der überlegene Humor, mit welchem die Antwort auf diese Frage gegeben worden, hat zu der Schöpfung von Gregers Werle geführt, der überall überflüssigen und störenden Persönlichkeit, der die ideale Forderung in allen Kätnerhütten präsentirt, da er erst durch den cynisch gutmüthigen Relling -- eine andere Incarnation des Dichters -- am Schluss des Stückes die Weisheit lernt, dass »wenn man einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge nimmt, so nimmt man ihm zugleich das Glück«. Wie hoch »Die Wildente« steht, welch ein Fortschritt das Stück in der Production des Dichters bezeichnet, das empfindet man am besten, wenn man es mit den »Stützen der Gesellschaft« vergleicht. Dort der melodramatische Schluss, die Bekehrung der Hauptperson, die conventionelle Verhinderung alles Uebels, die Rettung des Schiffes und sogar des entlaufenen Kindes, hier der schöne und bittere Ernst des Lebens und die volle Strenge und Milde der Kunst. Wer weiss, ob nicht in dem jetzt folgenden »Rosmersholm« noch eine Erinnerung an jenen Wendepunkt im litterarischen Leben Ibsen's, den Sturmangriff auf »Gespenster«, verkappt ist? Rosmer beginnt da, wo Dr. Stockmann schliesst. Er will von Anfang an, wie der Doctor zuletzt es wollte, freie, stolze »Adelsmenschen« aus seinen Umgebungen machen. Man hält ihn zuerst für entschieden conservativ -- wie man in Norwegen seit dem »Bund der Jugend« viele Jahre hindurch Ibsen dafür hielt -- und so lange diese Ansicht verbreitet ist, wird er bewundert, anerkannt und Alles, was ihn betrifft in dem besten Sinn ausgelegt. Sobald man aber die durchgeführte geistige Emancipation Rosmer's entdeckt, sobald er selbst kein Hehl aus seiner freien Gesinnung macht, wendet sich die öffentliche Meinung gegen ihn; die Conservativen fangen an ihn zu verfolgen, die Liberalen bieten ihm Schweigen, da sie für Männer mit seinen freidenkerischen Ansichten keinen Gebrauch haben, und das Verhältniss zu Rebekka, das vorher zu keinem ungünstigen Gerücht Anlass gab, ja das als geweiht betrachtet wurde, wird jetzt auf jegliche Weise verlästert. Gerade so vogelfrei war der Dichter eine Zeit lang geworden, nachdem er der Ansicht der Conservativen zufolge mit »Gespenster« sich zum Radicalismus bekehrt hätte. In dem Jahre bevor »Rosmersholm« erschien, hatte Ibsen nach elfjähriger Abwesenheit sein Vaterland einige Wochen wieder besucht, und einer Rede zufolge, die er in Drontheim hielt, als der Arbeiterverein ihn mit einem Fahnenzug begrüsste, unermessliche Fortschritte auf vielen Gebieten gefunden, doch auch Enttäuschungen erlebt, insofern er »die unentbehrlichsten, individuellen Rechte ungesichert, weder Glaubensfreiheit noch Aeusserungsfreiheit ausserhalb einer willkürlich festgestellten Grenze vorfand«. Er hatte in dieser Rede gesagt: »Hier ist viel zu thun, ehe man von uns sagen kann, wir hätten wirkliche Freiheit erreicht. Aber ich fürchte, dass unsere jetzige Demokratie diese Aufgaben nicht zu lösen vermag. Es muss ein adliges Element in unser Staatsleben, in unsere Vertretung und unsere Presse hineingeführt werden. Ich denke natürlicherweise nicht an den Adel der Geburt, auch nicht an den des Geldes oder der Einsicht, nicht einmal an den Adel der Begabung. Aber ich denke an den Adel des Charakters, des Willens und der Gesinnung«. Man spürt in Rosmer sowohl den eben gewonnenen, frischen und überlegenen Blick des Dichters auf die Parteiverhältnisse Norwegens, wie jenes Vermissen eines adeligen Elements in den politischen Verhältnissen des Vaterlandes. Die zwei ausgezeichneten Gestalten Kroll und Mortensgaard personificiren die verbissene fanatische Reaction wie die plebejische Demokratie. Ueber beiden erhebt sich Rosmers feine, etwas blasse Gestalt, der vornehme, jedoch impotente Charakter, dem alle Eigenschaften abgehen, die den Führer machen, der aber selbst den Adel inne hat, den er nicht der Masse, nur dem einen Weib, das ihn liebt, mitzutheilen vermag. Dies Weib, Rebekka, ist die Hauptfigur des Dramas und eine der vorzüglichsten und grössten Gestalten Henrik Ibsens. Nie zuvor hatte er die erhabene Ruhe, die sichere Humanität entwickelt, mit welcher dies weibliche Wesen dargestellt, erklärt und indirect beurtheilt ist. Er, dessen Eigenthümlichkeit es eine Zeit lang gewesen war, die Unechtheit des scheinbar Echten zu beweisen, den Klang des Hohlen durch Pochen an das scheinbar Solide herauszuhören, er, der überall die schwachen Seiten herausfand -- er hat hier sein altes Misstrauen überwunden und hat an die Läuterung des Mädchens mit der besudelten Vorzeit geglaubt, und in der Verbrecherin, Lügnerin, Mörderin den guten Kern, die Reinheit und zuletzt die Grösse nachgewiesen und dargestellt. Er hat das so überzeugend gethan, dass selbst der, welcher nie im Leben einer Rebekka begegnet ist -- und sie ist wohl unter Ibsen's Norwegerinnen am meisten Ausnahme -- selbst der keinen Augenblick des Zweifels an ihre Möglichkeit hat. Sie ist nur mehr allgemein menschlich als eben norwegisch; gewissermassen macht sie einen russischen Eindruck. Nur mit zwei Worten sei schliesslich daran erinnert, mit welcher Kunst Ibsen Ulrik Brendels phantastische Persönlichkeit gegen das Ende hin dazu verwendet hat, die ganze Stimmung zu brechen und zu verstärken. Rebekka in »Rosmersholm« war wie eine Personification des Nordlandes, dem sie entstammte, des Landes des stetigen Dunkels und ununterbrochenen Lichts in jähem Wechsel, des Landes der gewaltsamen, unbeherrschten Temperamente; all die Gleichnisse, mit denen sie die eigene Natur zu bezeichnen versuchte, entnahm sie den stürmischen Umgebungen, in denen sie ihre erste Jugend verlebt hatte. Ihre Leidenschaft für Rosmer verglich sie einem Sturme im Nordland zur Winterszeit: keine Möglichkeit des Widerstehens. Die Heldin in Ibsens nächstfolgendem Schauspiel »Die Frau vom Meere«, Ellida, entspricht dem heftigen, wandelbaren Meere an der westlichen Küste Norwegens, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Sie sehnt sich immer nach dem Meere, und sie ist geheimnissvoll wie das Meer. Naturgebunden, nervenkrank, wie hypnotisirt, an dem Rande des Wahnsinns, strebt sie unbewusst nach Freiheit und Verantwortlichkeit empor. Mit »Rosmersholm« ist Ibsen zu der symbolischen Richtung zurückgekehrt, die er in seiner Jugend mit »Brand« und »Peer Gynt« einschlug. Man fühlt hier zum ersten Male entschieden, dass die polemische Periode in Ibsens Dichterleben zu Ende ist. Das Stück wirkt wie ein mit grosser Kunst durchgeführtes psychologisch-phantastisches Experiment. Es spielt nicht im hellen Tageslicht, sondern in einer Rembrandtschen Beleuchtung, wo aus dem Dunkel des Hintergrundes »der fremde Mann«, der mystische Gegenstand des weiblichen Sehnens nach dem Ungebundenen und der weiblichen Furcht vor dem Unbekannten, einige Augenblicke hervortritt, um ebenso plötzlich für immer zu verschwinden. Die geheimnissvolle Macht, die der fremde Seemann über Ellida hat, ist gebrochen in dem Augenblick, da Wangel ihr die freie Entscheidung überlässt. Mit Ibsens ganzer dichterischer Meisterschaft sind in diesem Stück die beiden jungen Töchter des Hauses, Bolette und Hilde, gedichtet. Hilde ist hier noch nur der übersprudelnde, recht grausame und doch so liebesbedürftige Backfisch; sie wird bekanntlich später die wundervolle Heldin in »Baumeister Solness«. Bolette ist das junge Mädchen, das sich gezwungen fühlt, all die goldigen Jugendträume fahren zu lassen um die Ehe mit einem braven, viel älteren, nicht geliebten Mann einzugehen. Ergreifend wirkt es, dass die Tragödie der Eltern (hier die Missheirath Ellidas mit dem ältlichen Wangel) sich in dem Leben der Kinder genau wiederholt. Man sieht gleichsam in eine endlose Perspektive der irdischen Täuschungen hinein. Mit »Hedda Gabler« betrat Henrik Ibsen aufs Neue den Boden der Wirklichkeitsdichtung. Hier ist kein Sinnbild, nur eine mit der schärfsten Genauigkeit durchgeführte Analyse und Synthese eines gross angelegten und kleinlich entwickelten jungen Weibes, das zugleich stark und feige, begeistert und conventionell, hochstrebend und platt, herrschsüchtig und boshaft, alterthümlich und modern decadent ist; wie ein englischer Kritiker schrieb: kurz die junge Miss, die wir in fünf Fällen von zehn in Gesellschaft zu Tisch führen. »Hedda Gabler« eröffnet uns den Einblick in eine Gesellschaft, wo die Formlosigkeit, als Geradheit aufgefasst, die einzige Form ist, und wo eine gewisse Roheit in Denkweise und Art der Rede bis in die höheren Schichten hinaufreicht. Selbst wo der Conversationston in einem Freimaurerjargon besteht, der nicht ohne Witz ist, entbehrt er jeder Feinheit: die Geständnisse, die -- sogar bei einer ersten Begegnung -- gemacht werden, sind derartig, dass man innerhalb einer civilisirten Gesellschaft sie so lange wie möglich zurückhalten würde. Es finden sich in diesem Drama zum Beispiel zwei junge Frauen, die fast sogleich bekennen, dass sie ihren Gemahl nicht lieben, ja dass er ihnen zuwider ist. Die Laster, von denen hier die Rede ist, sind dem entsprechend von der am wenigsten verfeinerten Art, z. B. die Neigung zum Alkohol so entwickelt, dass sie ihr Opfer zur besinnungslosen Trunkenheit, ja zu einer permanenten Erniedrigung führt, aus der sich zu erheben der Mann nicht die geringste Hoffnung hat. Die norwegische Gesellschaft kennt nicht allein nicht ererbten Adel, sondern, was wichtiger ist, auch keine aristokratische Tradition; fast die gesammte Geistesaristokratie (die grössten Capacitäten auf den Gebieten der Dichtkunst, der Malerei, der Bildhauerkunst und der Musik) hat während einer langen Reihe von Jahren ausserhalb des Landes gelebt. Die äussere Geschichte Norwegens ist ausserdem in diesem Jahrhundert so friedlich und so nichtssagend gewesen, dass es Ibsen kaum gelungen ist, seiner Hauptperson eine Art Relief dadurch zu geben, dass er sie zur Tochter eines norwegischen Generals machte. Denn der Leser weiss, dass ein norwegischer General ein Kavallerist ist, der nie das Pulver gerochen hat, und dessen Pistolen an einem Blutvergiessen nie den entferntesten Antheil gehabt haben. Sowohl in Norwegen wie in Schweden ist es zwar Sitte, dass Männer und Frauen der guten Gesellschaft, die in keinem Verwandtschaftsverhältniss zu einander stehen, sich gegenseitig duzen. In Schweden aber wird das Du von allen Menschen, die sich nur im Geringsten kennen, aus dem einfachen Grunde gebraucht, weil der Sprache (wie der polnischen) ein Anrede-Wort fehlt. Da ein Gespräch ohne »Du« hier nur mit ermüdenden Umschreibungen geführt werden könnte, hat das »Du« in Schweden also fast denselben Charakter wie im alten Rom. -- In Norwegen dagegen, wo die Sprache nicht jenes Hinderniss in den Weg legt, bedeutet, das »Du« nur die Familiarität, in die man in jeder formlosen Gesellschaft verfällt; man kennt keinen Mittelzustand zwischen der steifsten Reservirtheit und der vollständigen Aufgeknöpftheit. Alles in allem ist dies also eine Gesellschaft ohne einschmeichelnde Formen, aber auch ohne jegliche Uebercivilisation -- eine Gesellschaft, die in dem letzten Menschenalter eine überraschende Fähigkeit gezeigt hat, grosse und frische Naturbegabungen, besonders in Poesie, Musik und bildender Kunst zu erzeugen, jedoch einen fast ebenso auffallenden Mangel an Fähigkeit, den grossen Kräften, die sie erzeugt, hinlängliche Entwickelungsbedingungen und hinlängliche Nahrung zu gewähren. Ibsen, der die norwegische Gesellschaft so oft als hemmend für jede in ihr erstandene Kraft schilderte, hat, scheint es, in »Hedda Gabler« zeigen wollen, wie eine solche ungewöhnliche weibliche Kraft in dieser Atmosphäre zu Grunde gehen muss. Gewissermassen ist diese Hedda in ihrem Gegensatz zu ihrer Schulkameradin Thea eine alte und wohlbekannte Ibsensche Gestalt. Seit seiner ersten Jugend hat er es geliebt, einen bedeutenden Mann zwischen zwei Frauen, eine wilde und eine weiche, eine Walküre und eine Pflegerin, zu stellen. So wurde schon Catilina zwischen die fürchterliche Furia und die weiche Aurelia, Gudmund in dem »Feste auf Solhaug« zwischen Margit und Signe, Sigurd in der »Nordischen Heerfahrt« zwischen Hjördis und Dagny, der Held in »Brand« zwischen Gerd und Agnes gestellt. Seinem Helden gegenüber bringt Ibsen dann immer einen schwachen untergeordneten Mannescharakter an, der zuerst als Herr Bengt in dem »Fest auf Solhaug« karikirt wurde, später in der »Heerfahrt« wie in der »Komödie der Liebe« sich zu der Form des ehrenhaft Menschlichen, prosaisch Achtbaren entwickelte. Diese sekundäre Persönlichkeit verhält sich zum Helden wie die engere, niedrigere Natur sich zum Genie verhält. Hedda ist also gewissermassen eine der alten romantischen Sagengestalten aus Ibsens erster Periode, als Amazone in moderner Reittracht. Jürgen Tesman ist Bengt oder Gunnar als zeitgenössischer Docent. Sie stellt sich als jener Ausnahmetypus von Frauen dar, die ihre Mädchenpersönlichkeit nicht aufgeben können, die nicht in der höheren oder niedrigeren Einheit einer Gewohnheitsehe aufzugehen vermögen, ungefähr wie »die Frau vom Meere« in einem engen bürgerlichen Heim sich nicht »akklimatisiren« kann. Sie hat aber von Anfang an rohe und niedrige Instinkte: den rohen Neid, der es bewirkt, dass sie als Kind nicht verträgt, das schöne, üppige Haar eines anderen Mädchens zu sehen; die niedrige Neugierde und Schamlosigkeit, die sie in ihrer frühen Jugend in ein solches Verhältniss widriger Vertrautheit zu ihrem männlichen »Kameraden« bringt, dass sie sich seine vulgären nächtlichen Abenteuer erzählen lässt. Sie hat endlich das niedrigste Ideal vornehmer Lebensführung: einen Livreediener zu halten. Sie ist, wie sie sagt, die Balldame, die zu lange getanzt hat und die eine Convenienzehe, um nicht sitzen zu bleiben, eingegangen ist. Sie hat einen Mann gefunden, der sich ausnimmt, als sei er aus einer Moserschen Farce gegriffen, und hat in ihrer Unwissenheit und Einfalt geglaubt, in ihm eine hervorragende Persönlichkeit mit grosser Zukunft zu heirathen. Sie klagt sich nicht ohne Grund der Feigheit an; sie hat den Damen-Schrecken der Wohlerzogenen vor allem, was Skandal werden kann. Sie ist in so erbärmlicher Weise machtbegierig, dass sie den vorher verfallenen Eilert Lövborg aufs Neue zum Trinken verleitet, nur um ihre Herrschaft über eine Menschenseele zu empfinden, und sie ist in ebenso elender Weise eifersüchtig genug, um das von ihm während eines Freundschaftsverhältnisses mit einer anderen Frau geschriebene Werk zu vernichten, da doch die einzige wirkliche Bedeutung dieser guten Frauenseele für ihn die war, ihn von der Flasche abzuhalten. Hedda ist ein wahrer Degenerationstypus, ohne Tüchtigkeit, ohne wirkliche Begabung, ohne Fähigkeit geistiger oder sinnlicher Hingebung; sie kann nicht einmal für Augenblicke in einem Anderen aufgehen -- hat gerade Stolz genug, um vor ihrem Jürgen Ekel zu haben und es scheusslich zu finden, ihm ein Kind zu gebären. Wenn sie zuletzt durchaus nicht die Maitresse Bracks werden will, so ist zwar Liebe zur Unabhängigkeit einer ihrer Beweggründe, der andere aber ist die Scheu, gegen die Korrektheit zu verstossen, die ihr (sonderbar; genug) so theuer ist. Und die Leidenschaft für Schönheit, schönes Betragen u. s. w., die sie mit dem wackeren Spiessbürger Helmer in »Nora« gemein hat, ist bei ihr fast nicht ansprechender als bei ihm. Wenn aber dem so ist, welchen tieferen Eindruck kann es dann auf uns machen, dass diese Frau von der Lebenstafel aufbricht! Und doch ist der Eindruck kein kaltes Bedauern. Ibsen hat trotz alledem verstanden uns für Hedda zu interessiren, sie uns irgendwie sympathisch zu machen. Sie war nämlich trotz alledem eine Kraft. Am interessantesten bei dieser Gestalt ist es, dass das Böse in ihr mit so viel Stärke dargestellt ist. In einer ziemlich langen Periode seines Schaffens war Ibsen in die Manier verfallen, die Frauen systematisch auf Kosten der Männer zu heben. Hier hat er eine Frau gezeichnet, die insofern männlicher als mancher Mann ist, als sie das feinste Gefühl für die ekelhafte Süsse des gewöhnlichen Ideals der Güte hat, die aber nichtsdestoweniger ein Wesen ohne seelische Fruchtbarkeit ist und in ihrer verzweifelten Lage nichts anderes vermag, als zu verderben, zu vernichten, und zu sterben. Das Drama stellt ausser Hedda ein Genie und einen Dummkopf dar. Das Genie ist Eilert Lövborg, der Dummkopf Jürgen Tesman. Dass Jürgen ein Einfaltspinsel ist, darüber ist der Leser bald klar; weniger sicher wird er darüber sein, ob Eilert auch wirklich ein Genie ist. Ibsen ist Dichter, ein sehr grosser Dichter, und es ist ganz natürlich, dass er auch die Wissenschaft als Poet betrachtet und beurtheilt. Es liegt dem Dichter nahe, das Kennzeichen des Genialen auch in der Wissenschaft darin zu sehen, dass der Autor die Wege der Erfahrung verlässt und prophetisch in das Kommende hineinschwebt. Ibsen will uns den Eindruck der seltenen Begabung Lövborgs dadurch erwecken, dass er ihn über die Kulturmächte und Kulturziele der Zukunft schreiben lässt. Uns anderen prosaischen Seelen kommt es jedoch vor, als sei das vernünftigste Wort, was darüber zu sagen wäre, das, welches von dem Dummkopf des Stückes gesagt wird: »Aber du lieber Gott! darüber wissen wir ja ganz und gar nichts!« Der Kulturgang der Zukunft -- das ist ja der reine Bellamy! Doch -- Eilert Lövborg mag weit begabter sein, als er scheint, er mag das Grösste sein, was ein Schriftsteller sein kann: ein gediegenes, epochemachendes Genie. Wenn er das ist, wie ist es dann möglich, dass er seine Arbeit einem Quasi-Kollegen, den er so gering schätzt wie diesen Tesman, laut vorlesen will! Mit welchem Tonfall wirft er nicht Hedda vor, dass sie sich an diesen Mann weggeworfen! Und ihm bringt er, bei seinem ersten Besuch, das theuere Kind seines Geistes, um die Ansichten des armen Pedanten darüber zu erfahren; ja so erpicht ist er auf Lob von diesen Lippen, dass er das Manuscript sogar in das Trinkgelage mitschleppt, um dort sich eine Ecke auszusuchen, wo er sein Innerstes und Bestes dem tief verachteten Jürgen ausschütten könne. Ich weiss freilich, dass er das Manuscript mit haben muss, damit er es verlieren und Hedda es verbrennen kann, aber gleichwohl! -- dass er von Jürgen geschätzt sein will, ist fast noch hässlicher, als dass er sich an Hedda hat vergreifen wollen, oder dass er verloren ist, sobald er ein einziges Glas Punsch an den Mund führt. You are no gentleman, Mr. Lövborg. Armer Bursch! Die Strafe kommt über ihn, sobald er entseelt ist. Der geringgeschätzte Collega erbt zuerst die Reste seines Manuscripts, die noch erhalten sind, dann die Reste seiner Freundin, die übrig geblieben ist. Es finden sich in diesem Drama mehrere kleine Unwahrscheinlichkeiten. Es ist z. B. wenig wahrscheinlich, dass Frau Elvsted das Concept zu dem grossen Werk bei sich trägt; damit wird uns zu absichtlich die Zukunftsperspektive -- sie und Jürgen -- eröffnet. Man muss indessen gegenüber einem Dichter von dem Range Henrik Ibsens sich sehr hüten, irgend einen wichtigen Zug _a priori_ als unwahrscheinlich oder sogar unmöglich zu stempeln. Als das Stück erschien, wurden von verschiedenen Seiten besonders zwei Züge so bezeichnet. Erstens, dass Lövborg das Manuscript verliert. Das thut man nicht, hiess es. Zweitens, dass Hedda das Manuscript verbrennt. Das thut man noch weniger, wurde gesagt. Ich kenne persönlich einen Fall, wo die Frau eines Componisten in einem Anfall eifersüchtigen Hasses eine eben zu Ende componirte Symphonie ihres Mannes verbrannte, und einen andern Fall, wo ein Dichter in wüster Betrunkenheit das Manuscript zu einem eben vollendeten Roman verlor. Ich füge hinzu, dass sowohl der Musiker wie der Dichter Künstler von ungewöhnlicher Begabung sind. An der Menschenkenntniss Ibsens ist hier wie überall wenig auszusetzen. Er kennt die Menschen so gut, dass er die möglichen Fälle nicht selten da erräth, wo er sie nicht erlebt hat. Gegen seine Kunst ist noch weniger einzuwenden. Sie ist erstaunlich, in »Hedda Gabler« wie vorher. Auf die realistische »Hedda« folgt zwei Jahre nachher (1892) die tief symbolische Dichtung »Baumeister Solness«. Noch lange, nachdem wir es gelesen, hallt dieses Stück in unserem Innern nach. Und haben wir es gelesen, so lesen wir es wieder -- mit steigender Bewunderung. Makellos in seiner Kunst, tief und reich in seiner sinnbildlichen Sprache, das sind die Worte, die sich Einem zu allererst auf die Lippen drängen, und ergriffen, ohne gerührt oder in weiche Stimmung versetzt zu sein, versinkt man in ein Sinnen und Grübeln über den empfangenen Eindruck. »Baumeister Solness« wirkt zugleich fesselnd und befreiend. Was Ibsen hier in der Geschichte wirklicher Gestalten und doch in halb allegorischer Form zur Darstellung bringen wollte, es ist die Tragödie eines hervorragenden, aber alternden Künstlers. Ein eigentliches Genie ist Solness nicht, und sollte er als solches gedacht sein, so fehlen einige Züge. Vom Genie hat er die Anziehungskraft auf die Frauen, sowie in reichem Masse die Laster, die bei so manchen Persönlichkeiten Folgen jener Eigenliebe sind, ohne welche eine gewisse Form von Genialität undenkbar ist. Den Werth seiner Arbeiten, den wir nicht zu beurtheilen vermögen, müssen wir auf Treu' und Glauben hinnehmen. Vielleicht ist es ein Mangel des Stückes, dass Solness, dessen moralische Schwächen so stark in die Augen fallen, nicht ein rein künstlerisches Streben und eine rein intellectuelle Begeisterung, die dafür entschädigten, beigelegt sind. Wenn er etwa einen neuen Baustil in der Kunst begründet hätte. Nun aber sagt er uns weiter nichts Geistreiches über seine Kunst, als das eine, übrigens tiefe Wort, dass er nicht Häuser für Leute zu bauen vermöge, die er nicht kenne. Wenn wir demnach in Solness die grosse Persönlichkeit erblicken, so geschieht es zum Theil, weil wir dem mit so knappen Mitteln arbeitenden Dramatiker auf halbem Wege entgegenkommen, auf die Voraussetzungen eingehen, deren er bedarf. Das Hauptgebrechen, an dem Solness krankt, ist die ihm eigene Mischung von Brutalität, die ihn die älteren Concurrenten niederschlagen lässt, und von Angst, von den Jüngeren überstrahlt zu werden, etwas, wovor selbst das Genie nicht immer bewahrt. Er besitzt von vornherein jenen Künstler-Egoismus, dessen es bedarf, um die angeborenen Gaben zur Entfaltung zu bringen. Sein Verhältniss zu dem alten Brovik erinnert ein wenig an das des Grosshändlers Werle zu dem alten Ekdal; er hat ihn zu Grunde gerichtet und nachher auf seinem Comptoir untergebracht. Sein Verhältniss zu Ragnar erinnert ein wenig an das Thorwaldsen's zu Freund. Freund war »ein Märtyrer der Alles für sich heischenden künstlerischen Ueberlegenheit Thorwaldsen's«. Thorwaldsen liess seinem jungen Mitarbeiter nicht Luft noch Licht, behielt alle Bestellungen, selbst wenn er sie gar nicht zu bewältigen vermochte, für sich und gestaltete unter der Maske väterlicher Freundschaft das Leben Freund's an seiner Seite zu einer Leidensgeschichte. Allein Thorwaldsen's Schuld war weit geringer als die des Baumeisters Solness. Denn Thorwaldsen nahm mit dem Rechte des Grösseren und Stärkeren, wie ja auch das junge Weib, das Solness bewundert, keinen Augenblick daran zweifelt, dass er der Grössere sei. Ihm wird aber sein Verhalten gegen Ragnar in unwürdiger Weise von der Ueberzeugung dictirt, der junge Architekt gebiete über höhere Anlagen als er. In Solness liegt zugleich etwas Wildes und Heimtückisches, das der Schaffensdrang unbezähmbar gemacht hat. In starkem Gegensatze zu dieser Brutalität seiner Natur (und doch auch wieder im Zusammenhange mit derselben) steht seine bis ins Krankhafte gehende, ja allmälig sich geradezu zur Sucht entwickelnde moralische Selbstkritik, eine Scrupulosität, die sich schon die blossen eigensüchtigen Wünsche und unbestimmten Hoffnungen als Schuld anrechnet. Er ist gleichzeitig die verkörperte Rücksichtslosigkeit im Kampfe um die Behauptung seiner Stellung als Künstler und die verkörperte Selbstquälerei in seinem Kummer über die Opfer, die seine Entwicklung gefordert, besonders in seinem Leide über das Unrecht, das er unfreiwillig seiner Gattin zugefügt habe. In den Augen der Welt ist er glücklich, insofern er auf seinem Wege zum Ruhme in seltenem Masse vom Schicksal begünstigt worden. Er aber verweilt in ewigen Gewissensbissen bei den Opfern, die sein Glück gekostet, bei dem Preise, der Tag für Tag dafür gezahlt wird. Dass er so rasch in die Höhe kam, das dankt er -- in etwas sonderbarer Weise -- dem Brande, der das Elternhaus seiner Gattin zerstörte. Nur dadurch wurde er »in den Stand gesetzt, Heimstätten für Menschen zu bauen«. Dass häusliches Glück zu finden genialen Persönlichkeiten schon aus dem Grunde selten bescheert ist, weil ihre Entwicklung und die der Erwählten ihrer Jugend schwer Schritt halten, ist eine Erfahrung, die aus den Worten des Baumeisters uns entgegentritt: »Um dazu zu kommen, Heimstätten zu bauen für Andere, musste ich verzichten, für alle Zeiten darauf verzichten, selber ein Heim zu haben«. Und mit einer anderen Wendung: »Alles, was mir vergönnt wurde zu wirken, zu bauen, zu schaffen, Schönes, Trauliches -- Erhabenes auch ... Alles das muss ich unaufhörlich aufwägen. Dafür bezahlen. Nicht mit Geld. Aber mit Menschenglück. Und nicht mit meinem Glück allein. Mit dem Glücke Anderer auch ... Den Preis hat mein Künstlerplatz gekostet«. Indem er nun den Sachverhalt völlig umkehrt, dünkt ihm, gerade weil er seinen Platz im Leben so theuer bezahlte, müsse ihm allein das Recht zustehen, zu bauen, das Recht also, auch alle Anderen niederzuhalten. Nicht jedesmal hat er indess neue Anstrengungen machen müssen, um vorwärts zu kommen. Er hat, wie Alle, die etwas ausgerichtet haben, es nicht allein bewirkt. Umstände -- Helfer und Diener, wie er sie in seiner Sprache nennt -- sind ihm förderlich gewesen. Ihm wohnte die Macht, die den Schlemihls fehlt, die Macht, welche die Hilfe herbeiruft, inne, ihm, wie in den »Kronprätendenten« dem Könige Hakon. Je mehr sich jedoch sein Seelenleben in krankhafter Richtung entwickelt, umsomehr fühlt er sich überzeugt, er besitze eine geheimnissvolle Macht, so zu wünschen, dass das Gewünschte geschieht, Frauen gegenüber dermassen, dass schon der Wunsch, der Gedanke schon, der ihm durch den Sinn fährt, für sie zur Wirklichkeit wird, kurz eine Art hypnotisirende Macht ohne alle Hypnose. Mittelst dieser Macht hat er Kaja und durch sie Ragnar, den er fürchtet, an sich gefesselt. Ibsen lässt es dahingestellt sein, ob ein ähnliches Verhältniss nicht sogar gegenüber der weiblichen Hauptperson des Stückes stattgehabt. Es bleibt unentschieden, ob Solness sie in ihrer Kindheit wirklich geküsst habe. In Folge des ewigen Grübelns über diese geheimnissvollen Gaben und Kräfte hat sich allmälig in dem Gemüthe des Baumeisters eine krankhafte Furcht ausgebildet, von seiner Umgebung für wahnsinnig gehalten zu werden. Und es liegt auch in dieser Furcht bereits der Keim zu wirklicher Gemüthskrankheit, die schliesslich als Exaltation ausbricht. Dieser Mann, den wir zu der Zeit, in welcher das Stück spielt, keineswegs auf der Höhe seines Wesens sehen, hat sich einst einem jungen Mädchen dergestalt gezeigt. Hilde hat als zwölf- bis dreizehnjähriges Kind ihn stolz und frei, auf den Kirchthurm der Stadt, in der Wangels wohnen, den Kranz setzen sehen. Dieser Eindruck und die darauf von seiner Seite erfolgte Annäherung an sie haben zwischen ihr und ihm ein geheimnissvolles Band gewoben. Während all der zehn Jahre, die seitdem verstrichen, hat sie der Erinnerung daran gelebt. Es zieht sie hin zu ihm, sie will das Königreich, das er am Tage des Abschiedsschmauses ihr nach zehn Jahren zu bieten verhiess, von ihm fordern, und zu ihm, der voll Furcht vor einer feindseligen Jugend dasitzt, tritt sie ins Gemach, wie die Jugend, die voller Glauben an ihn ist, und welche helle Begeisterung für ihn erfüllt. Sie scheint hierin ihrer Stiefmutter Ellida verwandt, die gleich ihr zehn Jahre lang des fremden Mannes harrt. Und wiederum ähnelt sie darin dem fremden Manne, dass sie sich keinen Augenblick davon beirren lässt, dass Solness vermählt ist. Wir kannten sie in »Der Frau vom Meere« als Eine, die in angeborenem Drange nach starken Gemüthsbewegungen, nach Spannung, nach all dem schmachtet, was das Vollgefühl des Lebens erweckt. Hier lernen wir sie als diejenige kennen, die sich ihren Glauben an den grossen Baumeister nicht rauben lässt, ihn auf der Höhe seines Wesens allein, frei, zum zweiten Male zu sehen begehrt. Dies symbolisirt das Stück damit, dass sie ihn aufs neue sehen will, auf die Thurmspitze den Kranz aufsetzen. Es wird ihm nunmehr leicht schwindlig, wie auch seinem Gewissen schwindelt. Mit ihrem Erscheinen jedoch soll und muss dieser Schwindel weichen. Sie erträgt es nicht, dass man mit Recht von ihrem Baumeister sollte sagen können, er getraue sich nicht, er könne so hoch nicht steigen, als er selbst gebaut! Dieser Satz ist der centrale des Stückes. Um ihn recht zu verstehen, setze man einen Augenblick andere Werthe, so zum Beispiel; »es soll nicht mit Recht gesagt werden können, mein Dichter hätte nicht vermocht, in seinem Leben sich zu der Höhe der Ideale zu erheben, die er in seinen Büchern aufgestellt habe«. Stünde es dort so, das Stück wäre ein ganz anderes. Es wäre massiver, hielte sich der Erde näher. Wie nun der Ausspruch lautet, ist es poetischer, durch seinen Doppelsinn dunkler, fesselnder geworden. Es bedarf nämlich einer grossen Kunst, uns durchwegs in dem Glauben an das Symbol zu erhalten, so zwar, dass es nie blos als ein solches wirkt. Ibsen musste, um den Leser in der Atmosphäre des Stückes festzubannen, mit wundersamer Vorsorglichkeit alle Fenster und Thüren des Dramas verkitten, auf dass auch nicht ein Hauch von gesundem Menschenverstande aus dem Alltagsleben hineindringe. Denn geschähe dies, der Zauber wäre gebrochen. Würde auch nur Eine Person im Stücke ein einzigesmal betonen, dass es ja doch für die Grösse eines Baumeisters durchaus keinen Maasstab abgebe, ob ihm auf dem Wege zur Spitze eines Kirchthurms schwindle oder nicht, die Stimmung, die Symbolik wäre gesprengt. Doch alles Derartige ist beiseite gelassen. Hingegen sehen wir Hilde thatsächlich Solness seiner niederen Denkweise entreissen, ehe wir sie in der körperlichen Welt ihn antreiben sehen, allein und frei hoch oben zu stehen. Denn sie entsetzt sich, als sie endlich seine Niedrigkeit Ragnar gegenüber erkennt. Sie erschrickt über die Reden, die er führt. »Wollen Sie mir das Leben nehmen? Mir das nehmen, was mir mehr ist, als das Leben?« -- »Und was ist denn das?«, fragt er. -- »Sie gross zu sehen mit einem Kranz in der Hand. Hoch, hoch oben auf einem Kirchthurm«. Sie drückt ihm den Bleistift zwischen die Finger und zwingt ihn, seinem Schüler eine warme Empfehlung zu schreiben. So hoch steht er im Alltagsleben nicht. Allein sie ist die Macht, die ihn hinaustreibt über das, was er im Alltag ist. Und so gipfelt denn das Drama, indem das Verhältniss zwischen ihr und ihm sich mehr und mehr steigert an Innigkeit und Aussichtslosigkeit, bis er ihr auf die einzige Weise angehört, die ihm erübrigt, wollte er sich nicht blos in den Nebelreichen und Luftschlössern der Phantasie mit ihr begegnen, nämlich im Tode. Er begann damit, Kirchen zu bauen, weil er, einem frommen Hause auf dem Lande entsprossen, den Bau von Kirchen für das Würdigste erachtete. Als er sodann seine Kinder verloren, beschloss er, keine Kirchen mehr, nur Heimstätten für Menschen zu bauen. Es kam hierauf der Zeitpunkt, da er einsah, Heimstätten für Menschen zu bauen sei auch keinen rothen Heller werth. Die Menschen, hätten die Heimstätten gar nicht nöthig, um glücklich zu sein. Er selbst würde auch solch eines Heims nicht bedürfen. Nun glaubt er nicht mehr, dass es ein Glück auf Erden gebe, er will zum Schluss das einzige bauen, von dem er glaubt, dass Menschenglück darin wohnen kann -- das Luftschloss, das Hilde von ihm begehrt. »Ich fürchte, es würde Ihnen schwindlig werden, ehe wir halbwegs kämen«. -- »Nicht, wenn ich mit Ihnen Hand in Hand gehe, Hilde«. -- »So lassen Sie sich wieder oben sehen, hoch und frei«. Was bedarf es hier noch einer Deutung? Es steht ja Alles mit klaren Worten da, und Alles so sinnreich, dass es rein buchstäblich genommen werden, auf jedes Kind spannend wirken kann, und gleichwohl ist Alles durchsichtig, doppeldeutig in Solness' und Hilde's doppelter Exaltation. Er bot ihr anfangs die höchste Thurmkammer in seinem neuen Hause. Nachdem sie jedoch seine Gattin persönlich kennen gelernt, zeigt sich ihr »robustes« Gewissen ebenso angegriffen, wie das seine. Sie kann nicht greifen nach ihrem Glück, weil zwischen ihr und diesem ein Wesen steht, mit dem sie Mitleid hat. So bleibt denn nur noch das Glück im Luftschlosse. Solness' Gattin, Aline, ist die einzige der Nebenpersonen, die Ibsen einigermassen zu vertiefen für nöthig fand. Sie ist der einfältige Pflichtmensch, die eifersüchtige Ehefrau, das demüthige, religiöse Wesen, das Solness ausweicht, wie er ihr. Sie kennzeichnet der grelle Zug, dass nicht der Tod der Kinder sie gebrochen -- die, weiss sie, haben es ja so gut im Himmel -- nein, was ihr am wehesten thut, das ist der Verlust aller der Puppen aus ihrer Kindheit, die mitverbrannten. Ihre Einfalt, ihr ewiges Fehlgreifen in ihrem Urtheile wird von Ibsen vortrefflich durch den ihr in den Mund gelegten stupiden Ausruf über die arme, sich in Hingebung verzehrende Kaja gestempelt: »Gott, hat die tückische Augen!« Ihre Rolle besteht denn auch nur darin, ein Hinderniss zu sein, und in der That spinnt sich das ganze Drama zwischen Solness und Hilde ab. Das Licht geht von Hilde aus, und diese Frauengestalt überstrahlt in ihrer Eigenthümlichkeit, ihrer Frische und ihrem Glanze sämmtliche Frauengestalten der zeitgenössischen Litteratur. Seit dem »Puppenheim« und den »Gespenstern« hatte Ibsen nichts so mächtig Wirkendes geschaffen wie sie, überhaupt kein Werk von so hohem Range, zugleich so natürlich und so übernatürlich. Seit Ibsen die Stoffwahl und Darstellungsweise seiner Jugend aufgab, hat man ihn als sogenannten »Naturalisten« gefeiert und angegriffen gesehen. In unseren Tagen haben sogenannte »Symbolisten« eine Fehde gegen den »Naturalismus« eröffnet. Derlei Schlagworte haben nie viel Werth, auf Ibsen passen sie jedenfalls am allerwenigsten. Bei ihm haben sich nun volle zwei Decennien und darüber Naturalismus und Symbolismus gut mit einander vertragen. Die Gegensätze in seiner Natur treiben ihn zur Wirklichkeitstreue und Mystik. Weil sein Wesen und seine Poesie reich an Räthseln und Geheimnissen sind, sieht er sich, um verständlich zu werden, zu dem Gebrauche starker Betonungen, zur Wiederholung bezeichnender Lieblingsredensarten, kurz gesagt, zu einer fast groben Deutlichkeit gezwungen. Und obgleich sein Wesen wie sein Schaffen wirklichkeitsliebend sind, ist er doch zu sehr Dichter und Grübler, um der Wirklichkeit, die er darstellt, nicht fort und fort einen tieferen Sinn unterzulegen. Jeder Grundzug wirkt sinnbildlich; man fühlt Ibsen's untergrabende Skepsis gegenüber dem Bestehenden und Anerkannten, die Kühnheit seiner Kritik dahinter, und freut sich, dass, so tief sein Zweifel gräbt, so hoch und sicher baut seine Phantasie. Auf »Solness«, der vielleicht einen Höhepunkt bezeichnet, ist bisher nur »Klein Eyolf« gefolgt. Das Stück, welches das Verhältniss der Eltern zu einem Kinde behandelt, gehört zu den düstersten, die Ibsen geschrieben hat. Das Stück gehört nicht zu meinen Lieblingen. Der erste Akt ist zwar vorzüglich gebaut; dessen dramatische Wirkung kann aber nicht in den folgenden erreicht werden, da er mit dem Tode des Kindes endigt. Ueber dem Stück könnten als Motto die folgenden Worte stehen: =Rita:= Wir sind wohl dennoch Erdenmenschen. =Allmers:= Wir sind auch ein wenig mit Meer und Himmel verwandt, Rita. Ibsens Auffassung der Menschennatur ist in den beiden Repliken niedergelegt. Er hat in diesem Schauspiel mit gewöhnlichem Nachdruck seiner Lebensbetrachtung einen neuen, gedankenerregenden Ausdruck gegeben: _Das Gesetz der Verwandlung._ Alle menschlichen Verhältnisse stehen unter diesem Gesetz. Die Dichter des Alterthums schrieben »Metamorphosen«. »Eyolf« ist eine Dichtung über nicht-mythische Verwandlungen. Man pflegt zu sagen, alles Lebendige stehe unter dem Gesetz der Entwickelung. Aber der Ausdruck Verwandlung ist tiefer und wahrer; denn Verwandlung enthält Fortschritt und Rückschritt, das sich Entwickeln und das sich Zusammenfalten, in einem einzelnen umfassenden Wort. Und wir sehen in diesem Schauspiel menschliche Gefühle geformt, umgeformt werden, erloschen, und aufs Neue in veränderter Gestalt erwachen. Jeder Begebenheit gegenüber, die in unser Leben als plötzliches Unglück eingreift, erhebt sich eine doppelte Frage. Erst die Frage nach der Ursache, oder theologisch ausgedrückt nach der Schuld, oder moralisch-juristisch ausgedrückt nach der Verantwortung. Dann die Frage nach der Bedeutung des Geschehenen, theologisch ausgedrückt nach dem Sinn desselben, moralisch ausgedrückt die Frage, welcher Gebrauch von dem Unglück gemacht werden solle, wenn es sonst anders als zur blossen Trauer verwendet werden kann. Eine solche epochemachende Begebenheit für das Leben und das Zusammenleben zweier Menschen ist im Schauspiel der Tod Eyolfs. In dem Grübeln über die Ursache, die Schuld, die Verantwortung, bleibt das Drama bei dem folgenden Punkte stehen: der Umarmung, während deren das einige Augenblicke vergessene Kind durch einen unglücklichen Fall zum Krüppel wurde, und es begegnet hier dem Leser bei Ibsen ein fast an Tolstoj erinnernder Unwille gegen den »Erdenmensch« und dessen Natur durch den gehässigen Schimmer, der hier über das gesunde Liebesverhältniss der Gatten geworfen wird. Es war immer bei Ibsen ein gewisser Dualismus da: Er spricht der Natur das Wort, und er züchtigt die Natur mit mystischer Moral; nur dass bald die Natur die erste Stimme hat, die Moral die zweite, bald umgekehrt. In »Solness« wie in »Gespenster« war der Naturanbeter in Ibsen dominirend; hier wie in »Brand« und in der »Wildente« ist es der Zuchtmeister. Die zweite Achse des Stückes war die Frage nach der Bedeutung, dem Sinn des Geschehenen. Der Tod des kleinen Eyolfs scheint so sinnlos: ein Unglücksfall, der unmöglich andere Frucht setzen könne als Qualen, Anklagen und Selbstvorwürfe, also die Eltern, nur aufs Aeusserste gegen einander verhärten und verbittern könne. Aber die Begebenheiten haben nun einmal nur den Sinn, den wir selbst ihnen geben, durch die Auffassung, die wir uns von ihnen bilden, und durch den Gebrauch, den wir danach von ihnen machen. Und auf eine eben so geistvolle wie überraschende Weise gibt Ibsen am Ende des Stückes durch den Entschluss Rita's der Begebenheit eine Auslegung und dem Unglück einen Sinn. Der kleine Eyolf hat nicht vergeblich gelebt und ist nicht vergeblich gestorben, da sein Tod die Ursache wird, dass Rita und Alfred sich eine grosse menschenfreundliche Arbeit mit den Kindern anderer Menschen auferlegen. Unter den Gestalten ist Rita am wahrsten und ungewöhnlichsten, der Typus eifersüchtiger, weiblicher Begehrlichkeit. Allmers interessirt weniger. Er ist feiner als Rita, aber auch schwächer in seiner geistigen Unfruchtbarkeit, überdies unedelmüthiger als sie, unbeherrscht in seiner Trauer, unwürdig und spitzfindig in seinen Angriffen auf das gebrochene Weib. Unter den übrigen Personen hebt sich, der Tod in der phantastischen Gestalt der Rattenjungfer unvergesslich hervor. Sie ist die Sagenfigur aus Hameln in der Person einer alten Frau. »Solness« und »Eyolf« sind seit fast einem Menschenalter die ersten Stücke, die Ibsen auf vaterländischem Grund geschrieben hat. 1891 ist der Dichter nach Norwegen zurückgekehrt und hat die Heimat seither nicht wieder verlassen. In seiner Jugend dort kaum für voll genommen, ist er in seinem Alter von den Norwegern als Träger ihres Weltruhms bewundert und vergöttert. Er fühlt sich wohl zu Hause und hat es bei mehreren Gelegenheiten öffentlich ausgesprochen. Während des Zeitraums seines Lebens, der hier nachträglich geschildert worden ist, ist in seinem Vaterlande und ebenso sehr in Dänemark und Schweden eine junge Litteratur aufgeblüht, reich an grossen und frischen Talenten. Trotzdem erleidet es keinen Zweifel, dass die Litteratur der drei nordischen Reiche in seinen Dramen gipfelt. An seinen Arbeiten kann Europa am besten die Höhe ermessen, zu welcher die skandinavische Kultur sich emporhebt, wo ihre Zinnen am höchsten ragen. II. (1900.) 1896 erschien »John Gabriel Borkman.« Die Hauptperson ist der Bergmannssohn, dem in Ibsen's bekanntem Jugendgedicht der reiche Schatz aus den Tiefen der Bergesnacht winkte und der hinab zur Herzkammer des Verborgenen stieg. Er hat als Kind das Erz in den Gruben, in denen es losgebrochen wurde, singen hören. Es sang vor Freude, an das Tageslicht zu kommen, und frühe war es der Traum des Jünglings, der zu sein, der all das freimachte, was der Boden und die Berge und die Wälder und das Meer an Reichthümern fassten. Er wollte sie alle wecken, die schlummernden Geister des Goldes. Er fühlte unbezwingbar den Beruf in sich, alle die gebundenen Millionen, die rings im ganzen Lande, in den Tiefen der Berge umherlagen und nach Umsatz schrieen, zu befreien. Er hatte das Gefühl, allein den Ruf zu vernehmen. Und er liebte alle diese Werthe, die Leben von ihm heischten, liebte sie mit ihrem glänzenden Gefolge von Macht und Ehre. Denn nicht minder stark als von den Werthen ward er von jener Macht gefesselt, gebannt. Alle Machtquellen seines Vaterlandes wollte er sich unterthan machen, und während er sein Grubenleben führte, bemüht, alle Erzadern aushämmern, alles schimmernde Gold ausmünzen zu lassen, strebte er, sich selber die Gewalt zuzueignen und dadurch Wohlstand zu schaffen für viele, viele tausend Andere. Das ist die Erklärung, die er selbst von seinem Wesen gibt. In Wirklichkeit war Machtgier und Thatendrang der erste Beweger. Die Rücksicht auf die Wohlfahrt vieler Tausende kam erst in zweiter Linie hinzu. Den Anfang machte er damit, das Glück seiner Jugendgeliebten zu opfern, um sich den Weg zur Macht zu bahnen. Er hat versucht, sie einem Manne, den er brauchte, abzutreten. Seine Ziele zu erreichen, setzte er hierauf Alles, worüber seine Stellung als Bank-Direktor ihm zu gebieten ermöglichte, die Gelder der Bank, das Vermögen von Verwandten und Freunden, fremder Leute Sparpfennige, ja selbst anvertraute Verwahrgüter, aufs Spiel. Als ein vermeintlicher Freund das von ihm getriebene Hazardspiel verrieth, da hatte er Alles vergeudet und musste seine rücksichtslose Kühnheit mit einer achtjährigen Haft büssen, auf die eine freiwillige Einschliessung von noch weiteren acht Jahren folgte. Ursprünglich war er eine Art Dichternatur. Während der langen Isolirung hat er sich zum Phantasten entwickelt. Er lebt nicht mehr in der wirklichen Welt, sondern in Träumen und Hoffnungen. Er bildet sich ein, der Tag der Rehabilitirung sei nahe. Man habe ihn allmälig würdigen gelernt, vermisse ihn, könne ohne ihn nicht zurechtkommen, und er stellt sich, wenn es einmal an seine Thür klopft, in Positur, um erscheinende Deputationen zu empfangen. Borkman ist ein Solness, den das Glück verlassen hat; er ist ein Bernick ohne Niedrigkeit und Heuchelei, der jedoch gleich Jenem das Glück der einen Schwester opfert, um aus Geldrücksichten und Rücksichten der Macht sich mit der andern zu verbinden. (Beiläufig bemerkt, es ist sonderbar, wie häufig das Verhältniss eines Mannes zu zwei Schwestern in Ibsen's Schauspielen vorkommt. In »Catilina« schon, in »Frau Inger auf Oestraat«, in »Stützen der Gesellschaft« und nun hier.) Ja sogar an die »Wildente« wird man hie und da schwach gemahnt. Die Phantasterei, die in der oberen Etage des Rentheim'schen Hauses wuchert, erinnert einigermassen an jene, die auf dem Dachboden im Schwange war, und Borkman selbst vergleicht sich mit einem grossen, flügellahmen Jagdvogel. War er jemals wirklich gross? Es scheint, dass Ibsen ihn als ursprünglich sehr gross angelegt gedacht habe. Ist dem so, dann hätte uns wohl noch etwas wuchtigere Gewähr dafür geboten werden sollen, als in Borkman's eigenen Worten und dessen eigenem ausserordentlichen Selbstvertrauen liegt. Keine der anderen Personen des Stückes verbürgt sich uns für seine Genialität. Die einzigen Anhaltspunkte, die wir haben, sind seine eigenen Aussprüche, und die Aufgabe des Schauspielers wird es sein, sie mit dem Vollgewichte auszustatten, die eine verständnissvolle Darstellung verleiht. Was mich betrifft, so vermögen seine Aeusserungen mir nicht die Ueberzeugung beizubringen, dass er jemals echte Genialität besessen habe. Er selbst nennt sich freilich einen Ausnahmsmenschen, dem das Ungewöhnliche erlaubt ist. Er spricht von dem Fluch, der auf »uns Auserwählten« lastet, von den Durchschnittsmenschen nicht verstanden zu werden. Er ist ferner durchdrungen von der Ueberzeugung, wie unendlich viel er hätte ausrichten können, im Falle u. s. w., und was er noch ausrichten könnte, »wenn nur« u. s. w. Genau so sprechen alle die Unseligen, die sich selbst mit den Genialen verwechseln, die ungeheure Schaar der missglückten Halbtalente, in deren Seelenleben nichts wahrhaft gross ist, ausgenommen die Eitelkeit. Vielleicht haben Andere ein minder scharfes Ohr für den hohlen Klang, den die Ausbrüche des Selbstgefühles bei Borkman haben. Allein ein Kritiker, das heisst so viel wie ein Doctor am grossen Hospital für sieche und wunde Eitelkeiten, der sein ganzes Leben darin umherwatete, unter ihnen wandelte, ihre Klagen, ihre Prahlereien, alle die Ausbrüche des Erfülltseins von sich selbst mit anhörte, ist nicht geneigt, Jemanden wirklich genial zu finden, der, ohne auch nur Eine Schöpfung des Genies aufweisen zu können, sich nur die Lieblosigkeit, die Rücksichtslosigkeit, die Gleichgiltigkeit gegen die höchsten Lebensgüter anderer Menschen angeeignet hat, welche man dem Genie in der Regel beilegt, die diesem zuweilen vergeben, bei ihm übersehen werden können, die jedenfalls der am leichtesten sich anzueignende Theil der Genialität sind, von denen das wirkliche Genie aber häufig frei ist. Nicht wenige von den genialsten Männern waren zugleich die besten Männer, bei denen die Intelligenz keineswegs das Gemüth ausschloss. Es mag dahingestellt bleiben, welches Mass von Genialität Henrik Ibsen seinem Helden beilegen wollte. Es kommen Stellen vor, wo der Dichter sich ziemlich deutlich gegen die Ueberschätzung von Borkman's Gaben verwahrt. Geniale Geschäftsmänner pflegen nicht naiv ihre Geheimnisse einem unverlässlichen Freunde auszuliefern, sind im Stande, ohne sich am anvertrauten Gut zu vergreifen, wirken zu können. Ein Schimmer von wehmüthiger Satire fällt auf Borkman, wo er äussert, es sei ihm zu Muthe wie einem Napoleon, der zum Krüppel geschossen worden in seiner ersten Feldschlacht, und wo der arme, missglückte Poet und Extraschreiber antwortet, die Empfindung kenne er auch. Nur der Gegensatz ist zwischen ihnen, dass der arme Teufel sich zuweilen des »grausigen Zweifels«, ob er nicht sein Leben einer Einbildung wegen verpfuscht habe, nicht erwehren kann, während Borkman zwar in alten Tagen mitunter an seinem Glücke zweifelte, nie aber an seiner Begabung, so wenig wie an seinem Rechte. Er, der zum mindesten Einen Seelenmord begangen hat, versteigt sich zu dem Satze: »Ich thue niemals einem Menschen Unrecht.« Doch hat er Unrecht begangen, so hat er auch aufs äusserste dafür gebüsst. Man sollte meinen, in dem Leben dieser gefallenen finanziellen Grösse könnte gar keine Begebenheit mehr eintreten. Und dennoch schildert uns Ibsen's Drama eine ganze Reihe von Katastrophen, die seinem Tode vorangehen. Jahrelang haben die beiden Schwestern, seine Jugendgeliebte Ella Rentheim und seine Gattin Gunhild, einander nicht gesehen. Jahrelang hat er Ella Rentheim nicht gesehen. Jahrelang sah er auch seine Gattin nicht, die, obgleich sie in Einem Hause mit ihm wohnt, ihn um der Schande willen, die er über den Namen, über sie und ihren Sohn gebracht, meidet und hasst. Im ersten Acte kommt das Wiedersehen zwischen den beiden Schwestern, im zweiten das zwischen Ella und Borkman vor, im dritten Acte findet das erste Gespräch zwischen ihm und seiner Gattin statt; und die drei von der Natur des Stoffes vorgeschriebenen Hauptscenen sind mit gleich vollendeter Meisterschaft ausgeführt. Von Arild's Zeiten her hat es wenige Situationen gegeben, die auf der Bühne so wirksam wären wie Wiedersehensscenen. Und hier folgen ihrer ganze drei mit innerer Nothwendigkeit aufeinander. Im Grunde noch eine vierte. Nämlich die Ella's mit Borkman's Sohn Erhart, den sie in der unglücklichsten Zeit der Familie zu sich genommen und als ihren Pflegesohn erzogen hatte, den aber die Mutter, als sein vierzehntes Jahr vollendet war, zurückforderte. Er ist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und bildet den Mittelpunkt des Stückes. Um ihn werben die beiden Schwestern mit eifersüchtiger Liebe. Die harte Mutter treibt Abgötterei mit ihm und hat ihn eigenmächtig dazu ersehen, ein Geist zu werden, der so hoch und weit über die Lande leuchten soll, dass des Vaters Schande hiedurch in Vergessenheit geräth. Seine Pflegemutter, die seltene, stolze Frau, kommt, eine Todtkranke, zu ihm, um ihre letzte Lebenszeit in seiner Nähe zu verbringen, im Uebrigen nur auf sein Glück bedacht. Beide Schwestern stehen im harten Kampfe um des Jünglings Liebe einander gegenüber. Zu diesen tritt gegen Ende des Stückes der Vater mit seinem Appell an den Sohn. Er träumt davon, nach der verlorenen Zeit der Unthätigkeit sich neuerdings in die Höhe zu arbeiten, und ersehnt hierbei die Mitwirkung des Sohnes. Das Verhältniss zwischen Eltern und Kindern, insbesondere das zwischen Vater und Sohn, hat Ibsen frühe und stark beschäftigt. In den »Stützen der Gesellschaft« sieht Bernick, als er den Sohn verloren glaubt, ein, dass er ihn, seinen Olaf, »nie besessen« habe. In »Klein Eyolf« gibt Allmers mit eben den Worten der Erkenntniss Ausdruck, im Grunde habe er sein eigen Kind »nie besessen«. Die Eltern gewannen es nicht. Genau so zeigt es sich auch hier, dass weder die Mutter, noch die Pflegemutter, noch auch der Vater den Sohn besitzen. Allein während dies in den früheren Schauspielen ausschliesslich als der Fehler der Eltern dargestellt wurde, ist das Verhältniss hier ganz anders und tiefer gefasst. Allerdings will die Mutter hier, wie Allmers dort, den Sohn für die eigenen Zwecke gebrauchen, ohne nach den doch am schwersten ins Gewicht fallenden Forderungen seiner eigenen Natur zu fragen. Allein hier sind die Eltern, die Pflegemutter besonders, ernstere, weit grösser angelegte Naturen als der Sohn. Jeder Anspruch, der von Seite der älteren Verwandten an ihn gestellt wird, prallt an seiner Unbedeutendheit, an seinem jugendlichen, genusssüchtigen Sinne ab. Er mag weder ein Genie werden, wie die Mutter es von ihm erwartet, noch arbeiten, wie es der Vater hofft. Nicht einmal seiner todtkranken Wohlthäterin will er in den letzten Monaten ihres Lebens seine Gesellschaft schenken. Er hat seine Wahl getroffen. Er will hinaus in die weite Welt, mit der schönen Frau Wilton, welche die nicht allzu hochfliegende Lebensfreude in Person ist. Wie meisterhaft ist nicht diese Frau gezeichnet, und zwar mit ganz wenigen Pinselstrichen, sie, die »schon so manches liebe Mal zugesagt und abgesagt im eigenen Namen«. Und wie fein der kleine Zug, dass sie von Ibsen als eine Dame in den Dreissigen, d. h. also über die Dreissig, präsentirt wird. Als sie jedoch an einer Stelle selbst von ihrem Alter spricht, da erklärt sie der Mutter Erhart's: »Immer wieder habe ich ihn daran erinnert, dass ich volle sieben Jahre älter bin als er«, d. h. als der dreiundzwanzigjährige Erhart. Sie vergisst einige Jahre. Ihre ganze praktische Weisheit fasst sich in der Replik zusammen, in der sie, nur halb im Scherz, der Mutter erklärt, dass sie zur Vorsorge das kleine junge Fräulein Foldal mitnehme. »Wenn Erhart mit _mir_ fertig ist -- und ich mit _ihm_ -- dann wird es für uns Beide gut sein, dass der arme Mensch Jemanden in der Hinterhand hat ... _ich_ finde mich schon zurecht«. Es ist unmöglich, eine Gestalt in einem ganzen Roman voller zu zeichnen, als es hier in einem Dutzend kurzer Repliken geschah. Und wie sie ist jede der auftretenden Personen für alle Zeiten mit monumentaler Sicherheit hingestellt. Der Bau des Dramas ist sicher und kernig. Es erhebt sich mit seinen vier Stockwerken, wie aus Eisen auf einer Grundmauer von Granit erbaut, fest und stark, klar und leicht überschaulich. Es ist vom Anfange bis zu Ende durchdrungen von Stimmung. Stimmung herrscht in dem Reiche gedemüthigter Selbstgerechtigkeit in dem untersten Stockwerke und Stimmung in dem Schattenreiche ober demselben. Zuletzt waltet die Freiluftstimmung, in welcher der so lange Gefangene den Geist aushaucht. Und der dramatische Sturmhauch durchsaust das Stück. Sein Pulsschlag geht so rasch, als schlüge er mit dem Pulse eines ganz jungen Dichters im Tact. Nur Minuten liegen zwischen den vier Acten, ja eine Minute nur. So jugendlich ist das Tempo des Schauspieles. Dessen Geist aber verräth zur Genüge, dass sein Dichter kein junger Mann mehr ist. Es ist der Geist der strengen Weisheit und der verklärten Milde. Es mündet in der erhabenen Nachsicht mit dem menschlichen Fehlen, die harmonisch mit dem strengen Urtheil über die Härte der Herzen zusammenklingt, -- einem tiefen Mitleid, das nicht eine einzige Forderung aufgegeben hat. Das 1899 erschienene Schauspiel Henrik Ibsens mit dem sonderbaren Titel »Wenn wir Todten erwachen« gibt uns in der mehrdeutigen Sprache des Dramatikers die Gedanken des Dichters über das Lebensglück, genauer über das Verhältniss zwischen Kunst und Leben, zwischen Künstler und Modell, zwischen dem, was Mensch und was Künstler ist in dem künstlerisch hervorbringenden Mann. Nicht aus einer optimistischen Ansicht der Kunst ist diese Arbeit hervorgegangen, sie so wenig wie »L'oeuvre« von Zola, dessen Gegenstand sie streift. Mit melancholischer Bitterkeit wird hier wie in »Solness« dabei verweilt, was die Kunst und die Meisterschaft in ihr dem Künstler selbst und besonders anderen Menschen kostet. Die Befriedigung, die es schenkt, etwas hervorzubringen, das dem Künstler als werthvoll erscheint, die tiefe Freude, die es macht, sein Inneres in künstlerische That auszuformen, ist kaum berührt. Es wird gesprochen, als arbeitete der Künstler sich ab, um den Mob zu befriedigen und leeren Ruhm zu gewinnen. Mit anderen Worten: es wird so gesprochen, wie jeder Künstler, selbst der grosse, in den Stunden des Missmuths und der Bitterkeit spricht. Man möchte es fast ein wenig undankbar nennen, diese Stimmung als Grundgefühl in einem Werk sich behaupten zu lassen, wenn man wie Ibsen zu den vom Genius der Kunst wie von den Verhältnissen reich Begnadeten gehört. Die Vorgeschichte des Dramas ist diese: Der jetzt weitberühmte und reiche Bildhauer Rubek war noch vor wenigen Jahren arm und unberühmt. Er verdankt einem einzigen Werk, einer grossen Gruppe »Der Tag der Auferstehung«, Ruhm und Reichthum. Anfangs war es seine Absicht gewesen, sich mit einer einzelnen Gestalt zu begnügen, die seine Idee völlig ausdrücken sollte: das edelste, reinste Weib der Erde erwacht, nicht eben über Ungeahntes sich wundernd, sondern hoch erfreut, sich selbst unverwandelt in höheren, reineren Gegenden nach dem Todesschlaf zu finden. Dazu brauchte er ein Modell, und er fand es in einem jungen Mädchen, das um seinetwillen auf Verwandte und Heimath verzichtete und in die weite Welt ihm zu dienen folgte, in dem sie ihren Herrn und Herrscher sah. Sie scheinen -- denn der Name wird nicht genannt -- in München gelebt und einen Sommer in einem kleinen Bauernhaus am Starnberger See (Taunitzer See) verbracht zu haben. Die Zeit ging ihnen in scheinbarem Glück hin. Sie arbeiteten miteinander und phantasirten in ihren Mussestunden wie Kinder miteinander in der schönen Natur, während das Werk allmählich vorwärtsschritt. Das Glück war gleichwohl nicht bei ihnen zu Hause. Denn Irene, die einmal auf Rubeks Aufforderung, ihn in die Ferne zu begleiten, drei Finger gehoben und ihm zugeschworen hatte, dass sie ihm bis zum Ende der Welt und des Lebens folgen und ihm in allen Dingen dienen würde, war tief unglücklich darüber, dass der Bildhauer in ihr nur das Modell für sein Kunstwerk sah. Zwar war er manch einen Tag wie berauscht von ihrer Schönheit, aber er fürchtete in künstlerischem Aberglauben (ein bisschen unnatürlich), dass, wenn er sie sinnlich berührte, sein Werk geschändet werde und er es nicht seinem Traum gemäss vollenden könne. Als Künstler beherrschte er sich; sie litt darunter und hasste ihn dafür, hasste ihn, weil er nicht Mann war. Da die Arbeit endlich fertig erschien, war er, der Bildhauer, gleichzeitig mit seinem Modell fertig und dankte ihr für ihren Beistand mit den Worten: Dies ist in meinem Leben eine gesegnete Episode gewesen. Dies Wort _Episode_ bewirkte, dass sie ihn verliess, sich aus seinem Gesichtskreis spurlos entfernte. Er verstand ihr Weggehen nicht, begriff nicht, dass sie es empfand, als hätte er ihr die Seele aus dem Leib gerissen; er dachte, sie hätte einen andern lieb gewonnen, während das, was sie tödtete, demnach nur war, dass er nicht länger Gebrauch für sie, ihre Liebe und ihr Leben hatte. Dann liess sie sich sinken, stand auf der Drehscheibe in Variétés und als nackte Statue in lebenden Bildern, nackt vor hunderten von Männern. Und sie verheirathete sich mit einem Mann, den sie zum Selbstmord brachte, und nach seinem Tode mit einem anderen, den sie halbwegs zum Wahnsinn trieb, so dass er in Verzweiflung sie verliess. Selbst ist sie dann, wie sie es ausdrückt, »in manchen Jahren todt gewesen«, war geisteskrank in die Zwangsjacke geschnürt in einer Kammer mit eisernem Gitter vor dem Fenster. Soweit ist sie geheilt worden, dass sie frei herumreisen kann mit einer Diakonissin als Hüterin und Schatten, doch hat sie die fixe Idee, dass sie todt sei und als lebende Leiche herumwandere. An ihrem eigentlichen Geistesleben ist nur noch übrig der Hass zum Künstler, der sie verschmähte, und zu seiner Kunst, die Liebe zum einzelnen Kunstwerk, das er im Verein mit ihr hervorbrachte und worin sie sein und ihr gemeinsames Kind sehen will. Doch dies Kunstwerk selbst ist nicht mehr dasselbe. Nach dem Verschwinden Irenes hat Rubek es umgearbeitet und erweitert, andere carikirte Figuren hinzugefügt. Die Statue, die ihre Züge trägt, ist jetzt nur eine Zwischenzweckfigur, die nicht einmal dominirt. In die Gruppe führte aber Rubek seine eigene Physiognomie hinein als die eines schuldbeschwerten Mannes, dessen Bezeichnung in der Erklärung des Werkes die folgende ist: Die Reue über ein verlorenes Leben. Als das Werk wirklich vollendet war und seinem Urheber alle nur erdenkliche Ehre eingetragen hatte, ging er eine leidenschaftslose Gewohnheitsehe mit einem jungen Mädchen ein, mit dem ihn keine tiefere Gemeinschaft verband, und die ihn nur wegen der Herrlichkeit, die er ihr in Aussicht stellte, und wegen des Wohllebens, das er ihr sicherte, trotz alledem ein bisschen widerstrebend, zum Gatten nahm. Doch die Krisis hat sich in dieser Ehe eingefunden. Rubek ist von Maja müde, wie sie von ihm. Sie langweilt ihn und ist selbst mit ihm völlig fertig; er stagnirt seit der Vollendung seines Hauptwerkes in seiner Kunstthätigkeit, führt nur ab und zu auf Bestellung Porträtbüsten aus, in denen es ihn amüsirt, heimlich das Thier zu charakterisieren, das in jedem Menschen verborgen lebt. Dies die Vorgeschichte, also nach der Art und Weise Ibsens der grösste Theil der ganzen Geschichte. Das Drama zieht nur deren Consequenzen. Auf einer Sommerreise, die Rubek und seine Frau nach mehrjähriger Abwesenheit in Norwegen unternehmen, sieht Rubek aufs neue Irene, von der Geisteskrankheit kaum geheilt, weiss und erloschen wie eine wandernde Statue mit der schwarzen Diakonissin in ihrem Gefolge. Und überdrüssig, wie er ist, seiner todten Ehe, seines leeren Ruhms, seines glücklosen Wohlseins; gepeinigt, wie er ist, von seiner hartnäckigen Unfruchtbarkeit als Künstler, seit Irene aus seinem Leben entschwand, lebt er durch das Wiedersehen aufs neue auf. Unter dem Eindruck ihrer Vorwürfe sieht er seine Vorzeit und Gegenwart in einem neuen Licht, bereut, dass er sich nicht ihrer bemächtigte, als es Zeit war, begreift kaum selbst, dass er sie habe fahren lassen. Sie ist mit einem Messer bewaffnet, mit welchem sie in ihrem Hass ihn tödten will; sie gibt erst die Ermordung auf, als sie einsieht, dass er wie sie »todt«, wie sie gebrochen und vernichtet ist. Doch es ist nicht nur sein Unglück, das sie entwaffnet. Sein erstorbenes Begehren, das wieder erwacht ist, steckt sie an und gewinnt sie zuletzt. Sie wollen endlich beide (nach der vieljährigen Trennung in der Nähe und in der Ferne) sich umarmen und vereinigen, als ein Schneesturz von den Felsenhöhen sie wegwirbelt. Während nun Rubek und Irene dergestalt ihr Schicksal vollbringen, hat Maja, die recht lebhaft ihren müden, nervösen Bildhauer und seine Kunst geringschätzt, den gefunden, welcher der Mann für sie ist, den rohen lebensgierigen Jäger Wolfheim, der nach allem, was Vollblut ist, auf die Jagd geht, nach Weibern, wie nach Bären und Wölfen. Ihr Jubel über ihre Befreiung aus der Ehe mit Rubek überlebt den Sturz der beiden mit dem Todesmal Gezeichneten. Maja und Wolfheim die zwei supplirenden Gestalten, sind mit der sichersten Meisterschaft gezeichnet; aber ihr Wesen ist zu einfach und klar, um eines Commentars zu bedürfen. Das Verhältniss zwischen Irene und Rubek ist es, das Probleme enthält und zum Grübeln einladet. Es ist das Verhältniss zwischen einem Künstler und seinem Modell. Dies Verhältniss kann vielerart sein. Das einfachste, alltäglichste Verhältniss in der bildenden Kunst ist wohl, dass das Weib in seiner Stellung als Modell einen Erwerb und der Künstler in ihr die mehr oder weniger untergeordnete Beihilfe sieht, die er zu seinem Werke nöthig hat, und zwar so, dass diese Auffassung für sie nichts Verletzendes enthält. Zusammengesetzter wird das Verhältniss, wo das Weib entweder als Modell Geliebte, oder als Freundin, Geliebte, Hausfrau Modell geworden ist. Besonders in dem letzteren Fall entsteht nicht selten die Eifersucht des Weibes auf die geistige Arbeit und auf die Selbstvertiefung des Künstlers, die Entrüstung über die Sachlichkeit des Mannes, die trotz aller Frauensache das dem Wesen der Frauen Fremdeste ist. Dann kann, auch wenn der Mann die Frau begehrt und ihre Gunst genossen hat, ein förmlicher Hass bei ihr entbrennen zu der künstlerischen Wirksamkeit an sich, die eine Zurücksetzung ihrer, ein Vergessen ihrer, ein Verschmähen ihrer Person enthält, und der Hass zur Kunst als der rivalisirenden Macht wird dann leicht auch Hass zum Künstler im Manne. Wer hat mit Künstlern und ihren Frauen verkehrt und hat nicht in unbewachten oder leidenschaftlichen Augenblicken den Weiberhass gegen den »Steinhauer«, »Schmierer« oder »Scribenten« ausbrechen gehört! Noch zusammengesetzter wird jedoch die Sache in dem von Ibsen gedichteten seltenen Fall, wo der Mann aus principiellen Gründen das erotische Verhältniss zum Modell vermeidet oder gescheut hat, ja die kostbare, stillschweigend dargebotene Gabe nicht einmal hat empfangen wollen. Hier ist selbstverständlich die Frauennatur am tiefsten gekränkt worden. Kommt dann dazu die Entrüstung, als episodische Gestalt in dem Leben des Mannes, als blosse Hintergrundfigur in einem Kunstwerk behandelt worden zu sein, das sie Grund hatte als von ihr allein inspirirt zu vermuthen, so wird sowohl der Untergang Irenes wie die Gefühle, die sie nach ihrem Erwachen erfüllen, verständlich genug. In der Dichtkunst nun, woran im Innersten dieses Schauspieles vielleicht reichlich soviel gedacht ist, wie an die bildende Kunst, ist das Verhältniss des Künstlers zum Modell freilich ein wesentlich verschiedenes. Aber auch hier kann es sehr gut vorkommen, dass eine Frau durch das Gefühl verbittert wird, als Modell gedient zu haben, in einer Erzählung oder einem Drama verewigt oder verherrlicht sein, um kurz darauf selbst vergessen, verstossen oder verdrängt zu werden. Am häufigsten aber wird vielleicht die Erbitterung hier durch die Empfindung oder den Eindruck entstehen, sich missverstanden, missgezeichnet oder carikirt zu sehen. Doch selbst wo von verkennender oder misshandelnder Darstellung keine Rede ist, kann die Frau ja eine untrügliche und berechtigte Empfindung haben, missbraucht zu sein. Goethe hat ein reizendes Bild von Friederike geliefert. Die arme Friederike würde vorgezogen haben, Goethe zu behalten, anstatt von ihm verewigt zu sein, und das, obschon er sicherlich in ihr kein Modell suchte. Am besten ist es, wenn modellsuchende Poeten aufeinander stossen; dann geschieht in der Regel weniger Schaden als sonst; und doch ging es bekanntlich sehr übel zu, als Alfred de Musset und George Sand jedes das Wesen des anderen in dessen Nacktheit studirten, und zwar obwohl sie die Erotik durchaus nicht versäumten. In Ibsens Schauspiel ist es die weibliche Hauptperson, die Recht behält, indem der Bildhauer zu ihrem Standpunkte übergeht, ganz wie sie »das Leben« und die Kunst einander entgegenstellt, und wie sie bedauert, »das todte thönerne Bild über das Glück des Lebens -- der Liebe gestellt zu haben«. Hier gibt's, wie durchgehend bei Ibsen, hinter all dem Pessimismus einen fast naiven Optimismus, der in Erstaunen versetzt. Wer in aller Welt kann glauben, dass ein Glück der Liebe eingetreten wäre, falls der Künstler zu jener Zeit über Irene die Rücksicht auf sein Werk vergessen hätte! Er _selbst_ sah ja damals gar nicht das Glück in dem Besitz Irenes, vermisste sie nicht einmal menschlich, als sie verschwand. Nach der eigenen Lehre des Stückes würde das Ganze damals zu lauter Enttäuschung geworden sein: »Anfangs ist nichts schlimm. Aber dann kann man in eine Enge hineingerathen, woraus man weder vorwärts, noch rückwärts zu kommen weiss.« Soll wirkliches und dauerhaftes Glück zwischen Mann und Weib erblühen, so müssen die Naturen anders beschaffen sein, als Ibsen sie hier gebildet hat. Er hat selbst alles so zurechtgelegt, dass das Verhältniss nothwendig zur Disharmonie werden musste. Die einfache, volle Harmonie zwischen Mann und Weib hat er ja in seinen Werken überhaupt nur als unmittelbar dem Tode vorhergehend geschildert. Ja sogar um den kurzen Augenblick des Besitzes werden Rubek und Irene, wie Solness und Hilde, wie Rosmer und Rebekka, betrogen. Der Tod sammelt oder trennt sie in der Minute, da sie ganz für einander fühlen und einander endlich vollständig verstehen. Nichtsdestoweniger hat Ibsen hier scheinbar das Glück des Besitzes in der Liebe für das einzig wahre Glück erklärt. -- Man beobachtete bei Renan, wie die Jahre gingen und das Alter kam, dass der grosse Denker und Poet immer mehr zu einem Verkünder des Evangeliums der irdischen Liebe wurde. Die Franzosen erhielten aus seiner »L'abbesse de Jouarre« den Eindruck, dass er die versagende Strenge seiner arbeitsamen Jugend gleichsam bereute. Ein ähnliches Bekenntniss tritt einem in der Ibsen-Rubek'schen Klage entgegen, dass es nicht der Mühe werth sei, »sich für den Mob und die Masse abzuhärmen«, diese Masse, welche in dem Kunstwerke noch dazu nur das entzückt, »was nie in dem Gedanken des Künstlers war«. Der gewonnene Ruhm kommt als gewonnen gleichgiltig vor. Der entfliehende Eros erscheint doppelt schön. Die Glückslehre hier scheint am nächsten eine Stimmungslehre zu sein. Jeder findet eben das Glück in dem, worin er es zu finden glaubt, und es hiesse den Menschen das schwere Leben noch schwerer machen, würde man das Glück allzu stark begrenzen. Ein geistiger Beruf ist doch nicht bloss als ein Hinderniss des Glückes aufzufassen, eher als ein wesentliches, besonderes Glück, eine starke Vermehrung des allgemeinen Menschenglücks, das er vielleicht schwieriger erreichbar macht, aber nicht ausschliesst. Als Drama ist »Wenn wir Todten erwachen« reich an ergreifenden und kühnen Gegensätzen: die Verfeinerung Rubeks und die derbe Brutalität bei Wolfheim -- die hochfliegende Begierde der bleichen Irene nach einem ganz erfüllenden Glück und die Lebenslust der rothwangigen Maja -- die Marmorgestalt Irenens und das schwarze Gewand der Diakonissin, das wie ein Andenken wirkt an das lebendige Beerdigtsein, das Irene ausgestanden hat, und an ihren bald erfolgenden Tod mahnt. Die vollste Kraft hat Ibsen an den ersten Act gewendet, der nicht vollendeter geformt sein könnte. In den zwei folgenden Acten werden ohne irgend ein dramatisch entgegenkämpfendes oder nur retardirendes Element einzig und allein die Folgerungen aus dem zuerst Gegebenen gezogen. Man kehrt unwillkürlich von dem Stücke sogleich zu dessen grossen Urheber zurück, von dem man glauben sollte, man kenne ihn hinlänglich aus einem paar Dutzend unvergesslichen Werken -- der jedoch trotz seines stetigen Variirens derselben Motive neue Seiten darbietet. Man spürt zuerst den Trieb, ihm, dem immer Widersprechenden, auch zu widersprechen. Bisweilen fordert er das Lebensgefühl bei seinem Leser heraus, wie wenn er in »Brand« durch den Mund des Helden Opfer nach Opfer, sogar von der unschuldigsten, natürlichsten Liebe zum Leben verlangt. Bisweilen fordert er das Kunstgefühl bei seinem Leser heraus, wenn er wie hier durch den Mund der Heldin und des Helden das künstlerische Hervorbringen und das Kunstwerk selbst herabsetzt, sie ausserhalb des sogenannten »Lebens« sieht, und das Kunstwerk für werthlos erklärt im Vergleich mit den Opfern, die ihm gebracht werden. Doch der Trieb oder Drang, den man danach spürt, ist der, ihm unsern Dank zu bringen. In seinen eigenen Werken sind Kunst und Leben nicht einander entgegengestellt; seine Gestalten leben -- leben zwar nicht das gewöhnliche Erdenleben, führen aber eine höhere, mehr umfassende, sinnbildliche Existenz. Sie haben um sich herum eine Atmosphäre bewahrt von der Stimmung, in der sie erzeugt wurden, und in dieser Atmosphäre offenbaren sie sich als höhere Wesen, die, was sie auch sagen, immer etwas Unausgesprochenes zurückhalten. Das Kunstwerk, das sie ausmachen, bewahrt desshalb selbst etwas Unausgesprochenes. So wird man nie damit ganz fertig, fühlt häufig das Bedürfniss, wieder darauf zurückzukommen, um sich es völlig anzueignen. In der Regel wird desshalb ein neues Werk von Ibsen erst nach einigen Jahren recht verstanden und geschätzt. Was gleich darüber gesagt wird, ist grösstentheils unzulänglich und wenig erschöpfend. Es kleidet die Schauspiele Ibsens wie gewisse interessante Menschen sehr gut, älter zu werden. FUSSNOTEN: [1] Auf Schritt und Tritt sich aufzupassen, Was soll es frommen? Wer nicht wagen darf, sich geh'n zu lassen, Wird nicht weit kommen. P H. [2] Kinder der Welt II, 17. Im Paradiese I, 31. [3] Gesammelte Werke IV. 135. [4] K. d. W. II. 612. [5] K. d. W. III, 210, 242, 256. [6] K. d. W. III, 109. [7] K. d. W. I, 111; G. W. VI, 206. [8] G. W. III, 300. [9] K. d. W. II, 47. [10] G. W. V, 201. Seite 175 wird das Wort »vornehm« von ihr gebraucht. [11] K. d. W. II, 333 III, 309 und 335. Dass du das beste, tiefste, holdeste, =adligste= Menschenbild bist. -- Das arme tapfre, freigeborne Herz -- es hat seinen Adel bewährt. [12] Im Paradiese. III, 6 ff. [13] G. W. V, 197. [14] G. W. IX, 73 ff. [15] G. W. VIII, 168. [16] G. W. VI, 71: »Ich bin einmal in meinem Leben verkauft worden. Wie wollen die Menschen mich nun schelten, wenn ich mich =verschenke=, um jene Schmach zu verschmerzen!« [17] G. W. VI, 40. [18] G. W. VI, 5. [19] Heyse und Kurz, Novellenschatz des Auslandes, Bd. VIII. [20] Heyse und Kurz, Deutscher Novellenschatz. Bd. I. S. XIX. [21] K. d. W. II, 265. [22] Hätte ein Kritiker dieses Schlages nicht seiner Zeit eine »Warnung« vor Goethe's Faust ganz in demselben Stile verfassen können: »Der Inhalt dieses unsittlichen Werkes Ist folgender: Ein schon ziemlich bejahrter Arzt (Dr. med.) ist des Studirens müde und sehnt sich nach fleischlichen Lüsten. Zu dem Ende verschreibt er sich dem Teufel. Dieser führt ihn nach verschiedenen niedrigen Erlustigungen (die z. B. darin bestehen, halbbetrunkene Studenten noch betrunkener zu machen) zu einer jungen Bürgerstochter, die Faust (der Doctor) gleich zu verführen sucht. Ein Paar Rendezvous bei einer alten Kupplerin bahnen ihm den Weg dazu. Da die Verführung aber nicht schnell genug gelingt, gibt der Teufel Faust ein Juwelenkästchen, das er dem Mädchen schenken soll. Ausser Stande, diesem Geschenke zu widerstehen, also nicht einmal verführt, sondern erkauft, ergibt sich Gretchen Faust, und um desto ungestörter mit ihrem Galan zu sein, flösst sie ihrer alten Mutter einen Schlaftrunk ein, der dieselbe tödtet. Nachdem sie dann den Tod ihres Bruders verschuldet hat, bringt sie das Kind, die Frucht ihrer Schande, um. Im Gefängniss singt sie schmutzige Lieder. Dass ihr Verführer sie im Stiche lässt, kann Einen nicht wundern, wenn man seine religiösen Grundsätze vernommen hat. Er ist, wie die Scene, wo seine Donna ihn nach seinem Glauben befragt, deutlich beweist, kein Christ; ja, er scheint nicht einmal an einen Gott zu glauben, obschon er zu allerlei leeren Ausflüchten greift, um seinen vollständigen Unglauben zu verdecken. -- Da dies lästerliche Buch trotzdem, wie wir zu unserer Verwunderung hören, Leser, ja sogar Leserinnen findet, und in den Leihbibliotheken unserer Stadt eine eifrige Nachfrage erfährt, so fordern wir alle Familienväter auf, über das Seelenheil der Ihrigen zu wachen, das eine so ruchlose Lectüre um so leichter gefährden kann, als eine glatte, einschmeichelnde Form die unsittlichsten Lehren umhüllt«. [23] Anatole Leroy-Beaulieu hat später einen wohlgelungenen Versuch gemacht, ihn auf Grund derselben zu charakterisiren. (Un Empereur. 1879.) [24] Die Titel sind: Madame Bovary, Salammbô, L'éducation sentimentale, La Tentation de Saint-Antoine, Le Candidat, Trois Contes, Bouvard et Pécuchet. [25] Man sehe Th. de Banville: Odes funambulesques: Villanelle des pauvres housseurs und zwei Triolette. Die Normalschule ist die höhere Unterrichtsanstalt für Lehrer, aus der Taine, About und Sarcey gleichzeitig hervorgingen. [26] Die gesammelten Werke der beiden Brüder machen, von einigen kleineren Bänden Biographien abgesehen, 21 Bände aus; Edmond ausserdem hat nach dem Tode des Bruders eine genau ebenso lange Reihe von Bänden veröffentlicht. [27] La Blague -- cette forme nouvelle de l'esprit français, née dans les ateliers du passé, sortie de la parole imagée de l'artiste, de l'indépendance de son caractère et de sa langue, de ce que mêle et brouille en lui, pour la liberté des idées et la couleur des mots, une nature de peuple et un métier d'idéal; la Blague, jaillie de là, montée de l'atelier, aux lettres, au théâtre, à la société; grandie dans la ruine des religions, des politiques, des systêmes, et dans l'ébranlement des cervelles et des coeurs, devenue le Credo farce du scepticisme, la révolte parisienne de la désillusion, la formule légère et gamine du blasphéme, la grande forme moderne, impie et charivarique du doute universel et du pyrrhonisme national; la Blague du XIXe siècle, cette grande démolisseuse, cette grande révolutionnaire, l'empoisonneuse de foi, la tueuse de respect; la Blague avec son souffle canaille et sa risée salissante, jetée à tout ce qui est honneur, amour, famille, le drapeau ou la religion du coeur de l'homme; la Blague u. s. w., im Ganzen 65 Zeilen hindurch, bevor das Verbum kommt. (Manette Salomon, Cap. VII.) Es gibt kaum eine zugleich lebhaftere und mehr ermüdende Schreibweise. Die nicht enden wollenden Appositionen rufen unaufhörliche kleine Erschütterungen in dem Nervensystem des Lesers hervor. Er wird unterhalten und überwältigt. Dieser Stil wirkt wie ein ununterbrochen knatterndes Gewehrfeuer, wo ein kräftiger Kernschuss genügt hätte. [28] Bei Edmond de Goncourt finden sich Wendungen wie: »La veillée commençait, avec, aux vitres, un clair de lune«, oder: »Là était un vieux saule ... avec, dans le creux, des mousses vertes«. Diese Wendungen sind später von Anderen ins Unendliche wiederholt worden. [29] Man vergleiche die Schilderung der geistigen Arbeit in »Charles Demailly«. [30] Goethe's »Der Gott und die Bajadere«, Hugo's »Marion de Lorme« und »La dame aux camélias« von Dumas haben denselben Gegenstand, die Läuterung eines prostituirten Weibes durch die Liebe. Aber welch' ein Unterschied in der Perspective und dadurch in dem poetischen Werth! [31] Die beiden Hauptpersonen In »L'Assommoir« sind nach Germinie und Jupillon gebildet. Wie früh und tief der Roman auf Zola gewirkt hat, sieht man aus seiner 1864 geschriebenen Kritik des Buches in »Mes haines«. [32] Isaac Pavlovsky: Souvenirs de Tourguéneff. S. 112 ff. [33] Man vergleiche Stellen wie folgende: »Es ist, wie wenn Einer da sässe und ein Stück übte, das er nicht heraus kriegen kann, immer dasselbe Stück. '_Ich kriege es doch heraus!_' sagt er wohl, aber er kriegt's doch nicht heraus, wie lange er auch spielt«. -- »Die grossen weissen Schnecken, aus denen vornehme Leute in alten Zeiten Fricassée bereiten liessen und, wenn sie es gegessen hatten, sagten: '_Hm, wie das schmeckt!_' -- denn sie glaubten nun einmal, dass es vorzüglich gut schmecke -- lebten von Klettenblättern«. [34] Uffe der Schüchterne ist nach der Sage der Sohn des Dänenkönigs. Der Vater war zu seiner Zeit ein gewaltiger Krieger, aber nun ist er alt und kraftlos geworden. Der Sohn macht dem Vater die grösste Sorge. Keiner hat ihn je reden hören, er hat nie den Gebrauch der Waffen erlernen wollen, und er interessirt sich für Nichts, sondern geht in phlegmatischer Gleichgültigkeit einher. Aber als die Könige des Sachsenlandes sich weigern, dem alten Vater den gewohnten Tribut zu bezahlen, ihn verhöhnen und ihn zum Zweikampf fordern, und als der Vater in Verzweiflung die Hände ringt und ausruft: »Hätte ich doch einen Sohn!« da spricht Uffe zum ersten Mal und fordert die beiden fremden Könige zum Holmgang heraus. Jetzt beeilt man sich, ihm Waffen zu bringen, aber kein Harnisch ist gross genug für seine breite Brust. Macht er eine Bewegung, so platzt der Harnisch sofort. Endlich muss er sich mit einem zusammengestückten und geborstenen begnügen. Eben so geht es mit jedem Schwerte, das man ihm in die Hand gibt. Sie zerspringen wie Glas, wenn er sie an einem Baume erprobt. Da lässt der König das alte Schwert Skräpp, welches sein Vater geführt, aus dem Hünengrabe holen und heisst Uffe dasselbe ergreifen, aber es nicht vor dem Kampfe erproben. So ausgerüstet stellt Uffe sich den beiden fremden Königen auf einer Insel in der Eider. Der alte blinde König sitzt am Ufer des Flusses und horcht mit bangem Herzklopfen auf die Schwerthiebe. Wenn sein Sohn fällt, will er sich in die Wellen stürzen und sterben. Da schlug Uffe auf den einen der Sachsenkönige los und hieb ihn quer mittendurch. »Den Ton kenne ich«, sagte der König, »das war Skräpp's Klang!« Und Uffe that noch einen Streich und hieb den andern König der Länge nach mittendurch, so dass er in zwei Hälften zur Erde fiel. »Da klang Skräpp zum andern Mal«; sagte der blinde König. -- Und als der alte König starb, bestieg Uffe den Thron und ward ein mächtiger und gefürchteter Herrscher. -- Es ist übrigens auffallend wie viel Aehnlichkeit dieser dänische Nationalheld mit dem russischen, Ilia aus Murom, hat. [35] Die Fabeln des vorigen Jahrhunderts (z. B. Lessing's Fabeln) sind blosse Moral. [36] G. Brandes: S. Kierkegaard. Ein litterarisches Charakterbild. Leipzig 1879. [37] Es gibt keinen einzigen dänischen Dichter, der es in solchem Grade wie Andersen verschmäht hätte, durch die Romantik der Vergangenheit zu wirken; er ist selbst im Märchen, das von der romantischen Schule in Deutschland von Anfang an in so mittelalterlichem Stile behandelt ward, immer voll und ganz in der _Gegenwart_. Er wagt, eben so wie Oersted, das Interessante in der Schwärmerei für König Hans und seine Zeit aufzuopfern, und er sagt gerne wie Ovid: Prisca juvent alios! ego me nunc denique natum Gratulor. Haec aetas moribus apta meis. Ars amat. III, 121. [38] Ihr Leben hat später als historische Grundlage des glänzenden Romans »Frau Maria Grubbe« von J. P. Jacobsen gedient. [39] Hier, wie überall, hat der Dichter seinen treuen Verbündeten in der Sprache, in den Wortspielen, die ihm unter der Feder hervor tanzen, sobald er sie ansetzt. Man sehe z. B., wie es in »Die alte Strassenlaterne« oder »Der Schneemann« von Wortspielen wimmelt. Man sehe, wie er die Lautsprache der Thiere benutzt, z. B.: »'Quak!' sagte die kleine Kröte, und es war gerade, als wenn wir Menschen 'Ach!' sagen.« [40] Man vergleiche des Gegensatzes halber die Art und Weise, wie Heiberg in »Weihnachtsspässe und Neujahrspossen« den Handschuh, das Busentuch, die Flasche reden lässt, ferner Alfred de Musset's »Le merle blanc« und Taine's »Vie et opinions philosophiques d'un chat« in seinem Werke »Voyage aux Pyrénées«. [41] »Holde Rose!« ein glühendes Liebeslied, dreht sich um die Qual des Schmetterlings, in der Nacht von der Rose entfernt zu sein und nur bei Tage sie liebkosen zu dürfen. [42] Björn bedeutet Bär, Björnstjerne das Sternbild: der grosse Bär. [43] Ich erlaube mir auf mein Werk: Sören Kierkegaard (Leipzig 1879) hinzuweisen. [44] An meinen Freund, den Revolutionsredner! Du sagst ich sei »conservativ« geworden. Ich gehöre noch immer zum selben Orden. Schachsteine zu rücken kann nicht mich erlaben. Stürzt _um_ das Spiel, dann sollt Ihr mich haben. * * * * * Ihr sorgt für den Wasserschwall einst in der Welt; Ich lege Torpedo's, dass die Arche zerschellt. [45] Doch mich schreckt der Lärm der Massen; Will mir nicht vom Schmutz der Gassen Mein Gewand bespritzen lassen; Will im reinen Hochzeitskleide Harren auf den Zukunftstag. Ibsen's »Ballonbrief«. [46] Schiller ähnlich in Wilhelm Tell: Der Starke ist am mächtigsten allein. Anmerkungen zur Transkription Im Original gesperrt gesetzter Text wurde mit = markiert. Im Original kursiv gesetzter Text wurde mit _ markiert. Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. End of the Project Gutenberg EBook of Moderne Geister, by Georg Brandes *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 49603 ***