The Project Gutenberg EBook of Der Weltkrieg, by August Niemann This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der Weltkrieg Deutsche Träume Author: August Niemann Release Date: August 8, 2015 [EBook #49656] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WELTKRIEG *** Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
Der Weltkrieg
Druck von W. Vobach & Co. Berlin N. 4. |
Deutsche Träume
Roman
von
August Niemann
Berlin-Leipzig
Verlag von W. Vobach & Co.
Alle Rechte,
insbesondere das Recht der Uebersetzung in
andere Sprachen, vorbehalten.
Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.
Copyright 1904 by W. Vobach & Co.
In meiner Erinnerung taucht der britische Oberst auf, der mir in Kalkutta sagte: Dreimal bin ich hierher nach Indien kommandiert worden. Vor fünfundzwanzig Jahren als Leutnant: — damals standen die Russen fünfzehnhundert Meilen von der indischen Grenze entfernt. Dann als Kapitän vor zehn Jahren: — und damals standen die Russen nur noch fünfhundert Meilen entfernt. Vor einem Jahre als Oberstleutnant: — die Russen stehen unmittelbar vor den Pässen, die nach Indien führen.
Die Weltkarte entfaltet sich vor meinen Blicken.
Alle Meere durchpflügt von den Kielen britischer Kriegsschiffe, alle Küsten besetzt mit Kohlenstationen und Festungen der britischen Weltmacht. Die Herrschaft über den Erdkreis ist bei England, und England will sie behalten, es kann nicht dulden, daß der russische Koloß Leben und Bewegung aus dem Meere trinkt.
„Ohne Englands Erlaubnis darf keine Kanone auf dem Meere abgefeuert werden,“ sagte einst William Pitt, Englands größter Staatsmann.
Seit langen Jahren wächst England empor durch den Zwiespalt der kontinentalen Mächte unter sich. Fast alle Kriege seit Jahrhunderten sind zum Vorteil Englands geführt, fast alle von England angestiftet worden. Nur als der Genius Bismarcks über Deutschland wachte, besann der deutsche Michel sich auf seine Kraft und kriegte für sich selbst.
Soll es dahin kommen, daß Deutschland Luft und Licht und das tägliche Brot nur noch der Gnade Englands verdankt? Oder lebt noch die alte Kraft in Michels Armen?
Werden die drei Mächte, die im Vertrage von Schimonoseki nach dem Siege Japans über China zusammenstanden, um Englands Pläne zu vereiteln, werden Deutschland, Frankreich und Rußland noch länger müßig bleiben, oder werden sie sich zu gemeinsamem Handeln die Hände reichen?
Im Geiste sehe ich die Heere und Flotten Deutschlands, Frankreichs und Rußlands sich in Bewegung setzen gegen den allgemeinen Feind, der mit Polypenarmen die Weltkugel umklammert. Befreiung aus seinen erstickenden Schlingen bringt für ganz Europa der eherne Ansturm der alliierten drei Mächte. Die Zukunft trägt den großen Krieg in ihrem Schoße.
Es ist keine Geschichte aus der Vergangenheit, die ich in den folgenden Blättern schildere. Es ist das Bild, wie es sich klar vor meiner Seele entrollte, als mir der Inhalt der ersten Depesche des Statthalters Alexejew an den Zaren bekannt wurde. Und gleichzeitig tauchte wie ein Blitz in mir die Erinnerung an das Telegramm auf, das Kaiser Wilhelm II. nach Jamesons Einfall an die Buren sandte, jenes Telegramm, das im Herzen der ganzen deutschen Nation ein so nachhaltiges Echo gefunden hat. Ich schaue in die Zukunft und erinnere mich der Pflichten und Aufgaben unsers deutschen Volkes. Meine Träume, die Träume eines Deutschen, zeigen mir den Krieg und Sieg der drei verbündeten großen Nationen, Deutschland, Frankreich, Rußland, und eine neue Verteilung des Besitzes der Erde als Endziel dieses gewaltigen Weltkrieges.
Der Verfasser.
Eine glänzende Versammlung hoher Würdenträger und Militärs war es, die sich im kaiserlichen Winterpalast zu St. Petersburg zusammenfand. Von den einflußreichen Persönlichkeiten, die durch ihre amtliche Stellung oder durch ihre persönlichen Beziehungen zum Herrscherhause berufen waren, beratend und bestimmend auf die Geschicke des Zarenreiches einzuwirken, fehlte kaum eine einzige. Aber es konnte kein festlicher Anlaß sein, der sie hier zusammen führte; denn in allen Mienen war der Ausdruck tiefen Ernstes, der sich hier und da bis zu banger Sorge steigerte. Und die in leisem Flüsterton geführten Gespräche bewegten sich um sehr bedeutsame Dinge.
Die breiten Flügeltüren gegenüber dem lebensgroßen Bilde des regierenden Zaren wurden weit geöffnet, und unter lautloser Stille der Versammelten betrat der greise Präsident des Reichsrats, der Großoheim des Zaren, Großfürst Michael, den Saal. Zwei andere Mitglieder des Kaiserhauses, die Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch und Alexis Alexandrowitsch, die Brüder des verstorbenen Herrschers, befanden sich in seiner Begleitung.
Huldvoll erwiderten die Prinzen die tiefen Verbeugungen der Anwesenden. Auf einen Wink des Großfürsten Michael gruppierte man sich um den langen, mit grünem Tuch überzogenen Konferenztisch inmitten des säulengetragenen Saales. Noch herrschte tiefe, ehrfurchtsvolle Stille; aber auf ein Zeichen des Präsidenten erhob[S. 8] sich nunmehr der Staatssekretär Witte, Vorsitzender des Minister-Komitees, um, gegen die Großfürsten gewendet, zu beginnen:
„Kaiserliche Hoheiten und verehrte Herren! Eure Kaiserliche Hoheit haben zu einer dringenden Beratung befohlen und mich mit dem Auftrage betraut, deren Ursachen und Zweck darzulegen. Wir alle wissen, daß Seine Majestät, der Kaiser, unser erhabener Herr und Gebieter, die Erhaltung des Weltfriedens als das höchste Ziel seiner Politik bezeichnet hat. Die christliche Idee, daß die Menschheit eine Herde unter einem Hirten sein soll, hat in unserm erlauchten Herrscher ihren ersten und vornehmsten Vertreter auf Erden gefunden. Die Liga für den Weltfrieden ist das eigenste Werk Seiner Majestät, und wenn wir berufen worden sind, um unsere untertänigsten Vorschläge zur Beseitigung der dem Vaterlande in diesem Augenblick drohenden Gefahr dem Allerhöchsten Herrn zu unterbreiten, so dürfen unsere Beratungen immer nur von jenem Geiste erfüllt sein, der dem christlichen Gebot der Menschenliebe entspricht.“
Unterbrechend erhob Großfürst Michael die Hand.
„Alexander Nikolajewitsch,“ wandte er sich an den Protokollführer, „vergiß nicht, diesen Satz wörtlich niederzuschreiben.“
Der Staatssekretär machte eine kurze Pause, um dann mit etwas erhobener Stimme und nachdrücklicherem Ton fortzufahren:
„Es bedarf keiner besonderen Beteuerung, daß bei solcher hochsinnigen Denkungsart unseres höchsten Herrn ein Bruch des Weltfriedens niemals von uns ausgehen konnte. Ein heiliges Besitztum aber, das wir von niemandem antasten lassen dürfen, ist die nationale Ehre, und der Angriff, den Japan im fernen Osten auf uns unternommen hat, zwang uns zu ihrer Verteidigung das Schwert in die Hand. In der ganzen Welt kann es keinen gerecht und billig denkenden Menschen geben, der um dieses uns aufgezwungenen Krieges willen einen Vorwurf gegen uns erheben dürfte. Aber es ist in der gegenwärtigen Gefahr für uns ein Gebot der Selbsterhaltung, zu erwägen, ob Japan in Wahrheit[S. 9] der einzige und der eigentliche Feind ist, gegen den wir uns zu verteidigen haben. Und es liegen triftige Gründe vor, die uns dahin führen müssen, diese Frage zu verneinen. Die Regierung Seiner Majestät ist überzeugt, daß wir den japanischen Angriff lediglich der lange währenden und in ihrer heimlichen Wühlarbeit nimmer ruhenden Feindschaft Englands zu danken haben. Unablässig ist England von jeher darauf bedacht gewesen, uns zur Erlangung eigenen Vorteils zu schaden. Bei allen unseren Bestrebungen, das Wohl des Reiches zu fördern und die Völker glücklich zu machen, sind wir von jeher auf den Widerstand Englands gestoßen. Vom chinesischen Meere aus durch ganz Asien hindurch bis zur baltischen See legt England uns Schwierigkeiten in den Weg, um uns der Früchte unserer Kulturarbeit zu berauben. Niemand von uns ist darüber im Zweifel, daß Japan in Wahrheit die Sache Englands führt. Aber auch überall, wo sonst auf dem Erdball unsere Interessen in Frage stehen, stoßen wir auf die offenen oder versteckten Feindseligkeiten Englands. Die von ihm erregten und mit den verwerflichsten Mitteln begünstigten Wirren in den Balkanländern und in der Türkei haben einzig den Zweck, uns mit Oesterreich und Deutschland zu verfeinden. Und nirgends treten die eigentlichen Ziele Britanniens deutlicher zu Tage, als in Mittelasien. Mit unsäglichen Mühen und den größten Opfern an Gut und Blut haben weise Regenten die öden, von halbwilden Völkern bewohnten Landstrecken zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meere und östlich von diesem bis zur chinesischen Grenze und an den Himalaja der russischen Kultur zugänglich gemacht. Nie aber haben wir einen Schritt nach Osten oder Süden tun können, ohne englischem Widerspruch oder englischen Intriguen zu begegnen. Jetzt stehen wir nahe der Grenze des britischen Ostindien und unmittelbar an der Grenze Persiens und Afghanistans. Wir haben freundschaftliche Beziehungen zu den Herrschern dieser beiden Reiche geschaffen, pflegen einen eifrigen Handelsverkehr mit[S. 10] ihren Völkern, unterstützen ihre industriellen Unternehmungen und sind vor keinen Opfern zurückgeschreckt, um diese Länder den Segnungen der Kultur zugänglich zu machen. Aber auf Schritt und Tritt sucht England unsere Tätigkeit zu hemmen. Britisches Gold und britische Hetzereien waren es, die in Afghanistan zeitweilig eine kriegerische Stellung gegen uns hervorzurufen vermochten. Einmal endlich müssen wir uns die Frage vorlegen, wie lange wir solchem Beginnen untätig zusehen dürfen. Rußland muß sich den Weg zum Meere frei machen. Viele Millionen rüstiger Arme bebauen die heilige Erde unseres Vaterlandes. Wir verfügen über unermeßliche Schätze an Getreide, Holz und an allen Produkten der Landwirtschaft. Aber wir können nur mit einem geringfügigen Bruchteil dieses uns vom Himmel beschiedenen Segens auf den Weltmarkt gelangen, weil wir von allen Seiten eingeschlossen und eingeengt sind, solange uns der Weg zum Meere versperrt bleibt. Unsere mittelasiatischen Provinzen ersticken aus Mangel an Seeluft. Das weiß England sehr gut, und darum ist all sein Verlangen darauf gerichtet, uns das Meer zu verschließen. Mit einer durch nichts berechtigten Anmaßung erklärt es den persischen Golf für seine Domäne und möchte das ganze indische Meer, gleich Indien selbst, für sein Eigentum gehalten wissen. Diesem Uebermut sollte endlich ein gebieterisches ‚Halt‘ zugerufen werden, wenn unser geliebtes Vaterland nicht in die Gefahr geraten soll, unübersehbaren Schaden zu erleiden. Nicht wir sind es, die den Kampf suchen, sondern man zwingt ihn uns auf. Ueber die Mittel aber, mit denen er zu führen wäre, wenn England sich aus freien Stücken zu einer Erfüllung unserer berechtigten Forderungen nicht versteht, würde uns am besten Seine Exzellenz der Herr Kriegsminister Auskunft zu geben vermögen.“
Er verbeugte sich abermals gegen die Großfürsten und ließ sich in seinen Sessel nieder; die hohe stattliche Gestalt des Kriegsministers Kuropatkin war es, die sich jetzt auf einen Wink des Präsidenten erhob und Antwort gab.
„Zwanzig Jahre habe ich in Mittelasien gedient, und ich beurteile unsere Lage an der Südgrenze aus eigener Anschauung. Für einen Krieg gegen England ist Afghanistan zunächst der entscheidende Schauplatz. Drei wichtige Pässe führen aus Afghanistan nach Indien hinein: der Kaiberpaß, der Bolanpaß und das Kuramtal. Als die Engländer im November des Jahres 1878 in Afghanistan einmarschierten, gingen sie in drei Kolonnen von Peschawar, von Kohat und von Quetta aus auf Kabul, Gasna und Kandahar. Diese drei Wege sind auch uns vorgezeichnet. Die öffentliche Meinung hält sie für die allein möglichen. Es würde zu weit führen, wenn ich meine strategische Ansicht über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Annahme hier entwickeln wollte. Genug: wir werden den Weg nach Indien finden. Habib Ullah Khan würde sein sechzigtausend Mann starkes Afghanenheer zu uns stoßen lassen, sobald wir in sein Land einrückten. Allerdings ist er ein Bundesgenosse von zweifelhafter Zuverlässigkeit; denn er würde wahrscheinlich ebenso bereitwillig mit den Engländern gehen, wenn diese zuerst mit einer Macht, die ihm hinlänglich imponierte, in seinem Lande erschienen. Aber es hindert uns nichts, die ersten zu sein. Unsere Eisenbahn führt bis Merw, 120 Kilometer von Herat, und von dieser Zentralstelle bis zur Grenze Afghanistans. Mit unserer transkaspischen Bahn können wir die kaukasischen Armeekorps und die Truppen des Generalgouvernements Turkestan an die afghanische Grenze bringen. Ich mache mich anheischig, innerhalb vier Wochen nach der Kriegserklärung eine ausreichende Feldarmee in Afghanistan um Herat herum konzentriert zu haben. Unserer ersten Armee aber kann ein unablässiger Strom von Regimentern und Batterien folgen. Die Reserven des russischen Heeres sind unerschöpflich, und wir stellen, wenn es sein muß, vier Millionen Soldaten und mehr als eine halbe Million Pferde ins Feld. Ich möchte aber bezweifeln, daß England uns in Afghanistan entgegentreten wird. Die englischen Generäle würden jedenfalls[S. 12] nicht sehr klug daran tun, Indien zu verlassen. Würden sie in Afghanistan geschlagen, so kämen sicherlich nur schwache Trümmer ihres Heeres nach Indien zurück. Die Afghanen würden eine fliehende englische Armee erbarmungslos vernichten, wie sie es schon einmal getan haben. Wir aber, wenn sich, was Gott verhüten möge, das Kriegsglück anfänglich gegen uns wendete, hätten immer noch einen Rückweg nach Turkestan offen, auf dem man uns schwerlich folgen würde, und wir könnten den Angriff jederzeit erneuern. Wird die englische Armee geschlagen, so ist Indien für Großbritannien verloren. Denn die Engländer stehen in Indien wie in Feindesland; sie finden als Unterliegende keinen Rückhalt im indischen Volke. Von den eingeborenen Fürsten, deren Selbständigkeit sie brutal vernichtet haben, würden sie in dem Augenblick, da ihre Macht zusammenbricht, auf allen Seiten angegriffen werden. Uns aber würde man als Befreier von einem unerträglichen Joch mit offenen Armen empfangen. Die anglo-indische Armee sieht auf dem Papier viel gefährlicher aus, als in der Wirklichkeit, sie zählt angeblich 200000 Mann; aber nur ein Drittel davon sind englische Soldaten, während sich der Rest aus Eingeborenen zusammensetzt. Und diese Armee besteht überdies aus vier Korps, die über das ganze große Gebiet Indiens verteilt sind. Eine Feldarmee, die an der Grenze oder jenseits der Grenze verwendet werden sollte, müßte erst aus diesen vier Korps herausgezogen und neu organisiert werden. Sie könnte höchstens 60000 Mann stark sein, weil das Land um der Unzuverlässigkeit der Bevölkerung willen nicht von Garnisonen entblößt werden darf. Ich möchte nach all diesem meiner Ueberzeugung dahin Ausdruck geben, daß der Krieg in Indien selbst geführt werden muß und daß Gott uns den Sieg verleihen wird.“
Die in energischem und zuversichtlichem Ton vorgebrachten Ausführungen des Generals hatten ersichtlich einen tiefen Eindruck auf die Hörer gemacht. Aber die Rücksicht auf die Anwesenheit der[S. 13] Großfürsten verhinderte jede laute Kundgebung. Der greise Präsident reichte dem Kriegsminister die Hand. Dann erteilte er dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten das Wort.
„Es unterliegt für mich keinem Zweifel,“ sagte der Diplomat, „daß die soeben von Seiner Exzellenz dem Herrn Kriegsminister entwickelten strategischen Ansichten einer eingehenden Sachkenntnis und richtigen Würdigung der Verhältnisse entsprungen sind, und ich bin gewiß, daß die sieggewohnten Truppen Seiner Majestät des Zaren im Falle eines Krieges bald in der Ebene des Indus stehen werden. Auch ist es durchaus meine Ueberzeugung, daß Rußland am besten tun würde, die Offensive zu ergreifen, sobald sich einmal die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Verhältnisses zu England erwiesen hat. Aber wer mit Großbritannien Krieg führt, darf nicht mit einem Kriegsschauplatz rechnen. Wir müßten im Gegenteil auf Angriffe der verschiedensten Art gefaßt sein, zunächst wohl auf einen Angriff auf unsere Finanzen, unsern Kredit, worüber Exzellenz Witte uns bessere Aufschlüsse geben könnte als ich. Die englische Bank und die mit ihr verbündeten großen Bankhäuser würden diesen Finanzkrieg ungesäumt eröffnen. Weiter würde sich schwerlich noch ein unter russischer Flagge segelndes Schiff auf offenem Meere zeigen dürfen, und unser internationaler Handel würde bis zur Niederwerfung des Gegners völlig unterbunden sein. Bedeutsamer aber als Erwägungen dieser Art muß für uns die Frage nach dem Verhalten der anderen Großmächte sein. Wer wird für uns und wer wird gegen uns sein? Englands politische Kunst hat sich seit der Zeit Oliver Cromwells hauptsächlich in der geschickten Ausnutzung der kontinentalen Mächte offenbart. Es ist keine Uebertreibung, zu sagen, daß Englands Kriege vornehmlich mit kontinentalen Heeren geführt worden sind. Das ist keine Herabsetzung der Kriegstüchtigkeit Englands. Wo immer die englische Flotte und englische Armeen auf dem Kriegsschauplatze erschienen sind, hat sich die Energie, die Zähigkeit und Tapferkeit ihrer Offiziere, ihrer Seeleute und Soldaten[S. 14] stets im glänzendsten Lichte gezeigt. Die Tradition der englischen Truppen, die einst Frankreich unter Führung des Schwarzen Prinzen und Heinrichs V. siegreich durchzogen, ist in den Kriegen gegen Frankreich im 18. Jahrhundert und gegen Napoleon lebendig geblieben. Ungleich größere Erfolge aber als durch diese eigenen Waffentaten hat England dadurch errungen, daß es fremde Völker für sich kämpfen ließ und auf dem Kontinent die Truppen Oesterreichs, Frankreichs, Deutschlands und Rußlands gegeneinander führte. Seit zweihundert Jahren sind überhaupt sehr wenig Kriege ohne Englands Zutun und ohne Nutzen für England geführt worden. Diese wenigen Ausnahmen sind die nur zum Vorteile und zum Ruhme des eigenen Volkes geführten Kriege Bismarcks, der darum auch der bestgehaßte Mann der Engländer war. Während das europäische Festland von inneren Kriegen zerrissen wurde, die Englands Staatskunst angeschürt, hat Großbritannien seinen ungeheuren Kolonialbesitz erworben. Uns selbst hat England in Feldzüge verwickelt, die lediglich seinen Vorteil bildeten. Ich erinnere nur an den blutigen, opfervollen Krieg von 1877/78 und an den verhängnisvollen Frieden von San Stefano, wo Englands Intriguen uns um den Lohn unserer Siege über den Halbmond brachten. Ich erinnere weiter an den Krimkrieg, wo eine kleine englische und eine große französische Armee uns zum Vorteil Englands bekriegten. Daß jetzt hinter unseren japanischen Angreifern wiederum nur England steht, ist von den Vorrednern bereits betont worden. Unsere Gegner haben eben nicht die mindeste Veranlassung, von ihrer so gut bewährten Politik abzugehen, und die Aufgabe der unsrigen mußte es deshalb sein, uns der Bundesgenossenschaft oder wo dies durch die Umstände ausgeschlossen war, wenigstens der wohlwollenden Neutralität der übrigen kontinentalen Großmächte für den Fall eines Krieges gegen England zu versichern. Was zunächst unseren Alliierten, die französische Republik, betrifft, so war eine befriedigende Lösung der Aufgabe schon durch die bestehenden Verträge gesichert. Immerhin verpflichten dieselben die französische[S. 15] Regierung nicht, uns für den Fall eines Krieges, der in den Augen kurzsichtiger Beobachter vielleicht als ein von uns heraufbeschworener Angriffskrieg erscheinen wird, seine militärische Unterstützung zu gewähren. Wir haben deshalb durch unsern Botschafter Verhandlungen mit Mr. Delcassé, dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs, und mit dem Präsidenten selbst führen lassen. Es gereicht mir zur besonderen Genugtuung, Ihnen das Ergebnis dieser Verhandlungen in folgender, heute eingetroffener Depesche unseres Botschafters vorlegen zu dürfen. Dieselbe lautet in der Hauptsache wie folgt: „Ich beeile mich, Eurer Exzellenz mitzuteilen, daß mir von seiten des Herrn Delcassé namens der französischen Regierung die bindende Zusage erteilt worden ist, Frankreich werde England sofort den Krieg erklären, wenn Seine Majestät der Zar seine Armeen gegen Indien marschieren ließe.“ Ueber die Erwägungen, von denen die französische Regierung zu diesem Beschlusse geführt worden sei, sprach sich Mr. Delcassé in unserer heutigen Unterredung ungefähr dahin aus: „Schon Napoleon hat vor mehr als 100 Jahren mit genialem Scharfblick erkannt, daß England der eigentliche Feind aller kontinentalen Völker ist und daß der europäische Kontinent keine andere Politik verfolgen sollte, als die der gemeinsamen Abwehr dieses großen Seeräubers. Der grandiose Plan Napoleons war die Vereinigung Frankreichs mit Spanien, Italien, Oesterreich, Deutschland und Rußland, um dem System der Ausbeutung von seiten Englands entgegenzutreten. Und er würde diesen Plan wahrscheinlich durchgeführt haben, wenn nicht Rücksichten der inneren Politik den Zaren Alexander I. trotz seiner Verehrung für das Genie Napoleons zum Widerstande gegen seine Absichten bestimmt hätten. Die Folgen der Niederlage Napoleons haben sich in dem gewaltigen Anwachsen der englischen Macht während der letzten 100 Jahre deutlich genug gezeigt. Darum sollte man die gegenwärtige politische Konstellation, die der vom Jahre 1804 in vielen Stücken sehr ähnlich ist, dazu benützen, den[S. 16] Plan Napoleons wieder zu beleben. Rußland hat an einer Niederwerfung Englands allerdings das nächste und dringendste Interesse; denn es gleicht einem Riesen, dem Hände und Füße gebunden sind, so lange Großbritannien alle Meere und alle wichtigen Küstenstriche beherrscht. Aber auch Frankreich ist in seiner natürlichen Entwickelung gehemmt. Seine blühenden Kolonien in Amerika und im Atlantischen Ozean wurden ihm im 18. Jahrhundert durch England entrissen. Aus seinen Niederlassungen in Ostindien wurde es durch diesen übermächtigen Gegner verdrängt, und — was vom französischen Volke vielleicht am schmerzlichsten empfunden wird — Aegypten, das der große Napoleon mit dem Blute seiner Soldaten für Frankreich erkaufte, wurde ihm durch englisches Gold und englische Intriguen genommen. Der von dem Franzosen Lesseps erbaute Suezkanal ist im Besitz der Engländer. Er erleichtert ihnen den Verkehr mit Indien und sichert ihnen die Weltherrschaft. Frankreich wird also für seine Bundesgenossenschaft gewisse Forderungen stellen — Bedingungen, die so loyal und billig sind, daß ihre Annahme von seiten des alliierten Rußland von vornherein keinem Zweifel unterliegen kann. Frankreich verlangt, daß ihm seine Erwerbungen in Tonking, Kochinchina, Kambodscha, Annam und Laos garantiert werden, daß Rußland ihm behilflich sei, Aegypten zu erwerben, und daß es sich verpflichte, die französische Politik in Tunis und im übrigen Afrika zu unterstützen.“ Nach den mir gewordenen Instruktionen glaubte ich, Monsieur Delcassé die Annahme dieser Bedingungen zusichern zu dürfen. Auf meine Frage, ob ein Krieg gegen England in Frankreich populär sein würde, erhielt ich die Antwort: ‚Das französische Volk wird zu jedem Opfer bereit sein, wenn wir Faschoda zu unserer Parole machen.‘ Niemals hat sich der britische Uebermut brutaler und beleidigender geoffenbart als in diesem Falle. Unser braver Marchand war mit einer überlegenen Mannschaft am Platze, und Frankreich befand sich in seinem guten Recht. Aber die bloße Aufforderung eines englischen Offiziers, dem[S. 17] keine andere Macht als die moralische der englischen Fahne zur Seite stand, zwang uns unter den damaligen politischen Verhältnissen, unsere begründeten Ansprüche aufzugeben und den tapferen Führer zurückzurufen. Wie das Volk diese Niederlage aufnahm, haben wir deutlich genug gesehen. Die Pariser begrüßten Marchand jubelnd, wie einen Nationalhelden, und die französische Regierung rechnete allen Ernstes mit der Möglichkeit einer Revolution. Jetzt könnten wir Revanche nehmen für die Demütigung, die wir damals aus vielleicht allzugroßer Vorsicht über uns ergehen ließen. Schreiben wir den Namen Faschoda auf die Trikolore, und es wird keinen waffenfähigen Mann in ganz Frankreich geben, der uns nicht mit Begeisterung folgte. Es schien mir ratsam, mich zu vergewissern, ob die Regierung oder die von ihr inspirierte Presse dem Volke vielleicht auch die Wiedererwerbung Elsaß-Lothringens als Preis eines siegreichen Krieges verheißen würde. Aber der Minister verneinte mit aller Entschiedenheit. ‚Die Frage Elsaß-Lothringen muß gänzlich aus dem Spiele bleiben, sobald wir uns anschicken, Realpolitik zu treiben,‘ erklärte er. ‚Nichts könnte verhängnisvoller sein, als die Erregung einer Mißstimmung in Deutschland. Denn der deutsche Kaiser ist das Zünglein an der Wage, auf der die Geschicke der Welt gewogen werden.‘ Daß England von ihm, den es nicht als einen Deutschen, sondern als einen Engländer ansieht, keine Feindseligkeiten zu befürchten habe, ist eine feststehende Ueberzeugung bei unsern Nachbarn jenseits des Kanals. Und diese Zuversicht ist eine der stärksten Stützen des britischen Uebermuts. Die immer wiederholten Versicherungen des deutschen Kaisers, daß er den Frieden und nichts als den Frieden wolle, scheinen ja die Richtigkeit dieser Auffassung zu bestätigen. Aber ich bin gewiß, daß Kaiser Wilhelms Friedensliebe da eine Grenze hat, wo das Wohl und die Sicherheit Deutschlands ernstlich in Frage stehen. Er ist trotz seines impulsiven Temperaments nicht der Herrscher, der sich von jeder Aeußerung der Volksstimme beeinflussen und von jeder aufrauschenden Strömung[S. 18] zu entscheidenden Handlungen treiben ließe. Aber er ist weitblickend genug, eine wirkliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen und ihr mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit entgegenzutreten. Ich halte darum die Hoffnung, ihn als Alliierten zu gewinnen, nicht für eine Utopie, und ich hoffe, daß die russische Diplomatie sich mit der unsrigen vereinigen werde, dieses Bündnis zustande zu bringen. Ein Krieg gegen England ohne die Unterstützung Deutschlands würde immerhin ein bedenkliches Unternehmen bleiben. Wir sind ja bereit, uns um unserer Freundschaft für Rußland und um unserer nationalen Ehre willen darauf einzulassen, aber wir würden uns einen sicheren Erfolg nur von einem geschlossenen Zusammengehen aller kontinentalen Großmächte versprechen können.“
Mochte auch die Tatsache des mit Frankreich für den Fall eines Krieges gegen England abgeschlossenen Schutz- und Trutzbündnisses den meisten der hier Versammelten nicht mehr unbekannt gewesen sein, so war die Vorlesung der Depesche, der man in atemloser Spannung gefolgt war, doch unverkennbar von tiefer Wirkung. Ihre Bekanntgabe ließ keinen Zweifel mehr, daß man an höchster Stelle zu diesem Kriege entschlossen sei, und wenn auch keine laute Kundgebung des Beifalls erfolgte, ging es doch wie ein Aufatmen der Erleichterung durch die illustre Versammlung, und deutlich war auf fast allen Gesichtern die freudigste Genugtuung zu lesen.
Einer nur blickte mit finster zusammengezogenen Brauen wie in ernster Mißbilligung drein — und dieser Eine galt seit Jahrzehnten für den einflußreichsten Mann in Rußland — für eine Macht, die schon oft alle Pläne der leitenden Staatsmänner durchkreuzt und mit unbeugsamer Energie ihren Willen durchgesetzt hatte.
Das war der vielgehaßte und noch mehr gefürchtete greise Pobjedonoszew, der Oberprokurator des heiligen Synod.
Seine düstere Miene und sein Kopfschütteln waren dem präsidierenden Großfürsten nicht entgangen. Und er hielt es offenbar für seine Pflicht, dem durch die Gunst dreier Zaren fast allmächtig[S. 19] gewordenen Manne Gelegenheit zur Aeußerung seiner abweichenden Meinung zu geben.
Auf seinen Wink erhob sich der Oberprokurator und sagte unter lautloser Stille der Versammelten:
„Es kann nicht meine Aufgabe sein, mich über die Möglichkeit oder die Aussichten eines Bündnisses mit Deutschland zu äußern. Denn ich kenne ebensowenig wie einer der hier Anwesenden die Absichten und Pläne des deutschen Kaisers. Wilhelm II. ist die große Sphinx unserer Zeit. Er spricht viel, und seine Reden machen den Eindruck vollster Offenherzigkeit. Wer aber mag erraten, was sich hinter ihnen verbirgt? Daß er sich ein bestimmtes Programm für sein Lebenswerk gesetzt hat, und daß er der Mann ist, es durchzuführen, gleichviel, ob die öffentliche Meinung für ihn oder gegen ihn sei, scheint mir gewiß. Bildet die Niederwerfung Englands einen Teil dieses Programms, so dürfte die Hoffnung des französischen Ministers ja in der Tat keine Utopie sein, vorausgesetzt, daß Kaiser Wilhelm den gegenwärtigen Zeitpunkt für den geeigneten hält, der Welt seine letzten Ziele zu offenbaren. Die Aufgabe unseres diplomatischen Vertreters am Berliner Hofe würde es sein, sich darüber zu informieren. Aber eine andere Frage wäre es, ob Rußland eines Bündnisses mit Deutschland oder mit der westlichen Macht, die vorhin hier genannt worden ist, überhaupt bedarf. Und meine Anschauung der Dinge führt mich dahin, diese Frage zu verneinen. Rußland ist zur Zeit in Europa der letzte und einzige Hort des absolutistischen Prinzips. Und wenn ein von Gottes Gnade zu dem höchsten und verantwortlichsten aller irdischen Aemter berufener Herrscher stark genug bleiben soll, den Geist der Unbotmäßigkeit und der Unmoral niederzuwerfen, der sich hier und da unter dem Einfluß fremder staatsfeindlicher Elemente in unserem geliebten Vaterlande regen will, so müssen wir vor allem darauf bedacht sein, das Gift der sogenannten liberalen Ideen, des Unglaubens und des Atheismus, mit dem es von Westen her verseucht werden[S. 20] soll, von unserem Volke fernzuhalten. Wie wir vor einem Jahrhundert den mächtigen Heerführer der Revolution niedergeworfen haben, so werden wir auch heute über unsern Feind triumphieren — wir ganz allein! Laßt unsere Heere in Persien, Afghanistan und Indien einmarschieren und durch ganz Asien die Herrschaft des wahren Glaubens zum Siege führen. Aber hütet unser heiliges Rußland vor der Ansteckung durch das Gift jenes ketzerischen Geistes, der ihm ein schlimmerer Feind werden würde, als es ihm je eine auswärtige Macht sein kann.“
Er setzte sich, und sekundenlang herrschte eine tiefe Stille. Der Großfürst machte ein ernstes Gesicht und wechselte ein paar geflüsterte Worte mit seinen beiden Neffen.
Dann sagte er: „Von all den Herren, die uns hier ihre Ansichten vorgetragen haben, ist die Kriegserklärung an England als eine zwar tief beklagenswerte aber den Umständen nach unabweisbare Notwendigkeit bezeichnet worden. Ehe ich aber Seiner Majestät, unserem erhabenen Herrn, diese Anschauung als die der hier Versammelten unterbreite, richte ich an Sie, meine Herren, die Frage, ob unter Ihnen jemand ist, der eine abweichende Meinung vertritt. Ich würde ihn bitten, sich zum Worte zu melden.“
Er wartete eine kleine Weile, aber niemand leistete der Aufforderung Folge. Da erhob er sich aus seinem Sessel und gab durch ein kurzes Wort des Dankes und durch eine leichte Verneigung gegen die ebenfalls aufgestandenen Würdenträger kund, daß er die Sitzung, die für die Geschicke der Welt von entscheidender Bedeutung gewesen war, als geschlossen betrachte.
Es war zu Chanidigot im britischen Ostindien. — Der blendenden Helligkeit des heißen Tages war unvermittelt, fast ohne Dämmerungsübergang, die abendliche Dunkelheit gefolgt und mit ihr eine erquickende Kühle, die alles Lebendige aufatmen ließ.
In dem weiten Camp, das dem englischen Lancerregiment als Lagerplatz diente, war es mit dem Sinken der Sonne lebendig geworden. Die Soldaten, frei von der Last des Dienstes, vergnügten sich je nach Laune und Temperament mit Spiel, Gesang und fröhlichem Zechen. Auch in dem großen Zelt, das als Offiziersmesse benutzt wurde, ging es lebhaft her. Das gemeinsame Mahl war vorüber, und ein Teil der Herren hatte sich nach täglicher Gewohnheit zum Kartenspiel niedergesetzt. Aber die Unterhaltung war hier weniger harmlos als draußen bei den gemeinen Soldaten. Denn man begnügte sich nicht mit einem unschuldigen Whist, sondern spielte bei ziemlich hohen Einsätzen das in Amerika und teilweise auch in England beliebte Poker, bei dem lediglich der Zufall und eine gewisse schauspielerische Geschicklichkeit der Teilnehmer den Ausschlag gibt. Zumeist allerdings waren es die jüngeren Herren, die diesen abendlichen Nervenkitzel in dem eintönigen Lagerleben als unentbehrlich betrachteten. Die älteren saßen mit ihren kurzen Pfeifen und ihrem Whisky und Sodawasser plaudernd an den abseits stehenden Tischen. Auch ein Herr in bürgerlicher Kleidung[S. 22] war unter ihnen. Die zuvorkommende Höflichkeit, mit der man ihn behandelte, ließ vermuten, daß er nicht dem Offizierkorps des Regiments angehörte, sondern nur dessen Gast war. Der Klang seines Namens — man redete ihn mit Mr. Heideck an — würde seine deutsche Abstammung verraten haben, auch wenn sie sich nicht schon in seiner äußeren Erscheinung kundgegeben hätte. Er war von nur mittelgroßer Gestalt, aber von athletischem Körperbau. Seine straffe, soldatische Haltung und die elastische Leichtigkeit seiner Bewegungen waren unzweideutige Kennzeichen einer vortrefflichen Gesundheit und einer nicht geringen körperlichen Kraft. Für den Engländer aber kann der Fremde kaum eine bessere Empfehlung mitbringen als diese. Und vielleicht war es vor allem seine imponierende Erscheinung gewesen, die im Verein mit seinem liebenswürdigen, durchaus gentlemanmäßigen Auftreten diesem blondbärtigen jungen Deutschen mit dem scharf geschnittenen, energischen Gesicht und den treuherzig blickenden, blauen Augen so schnell Zutritt in die sonst sehr exklusiven Offizierskreise verschafft hatte.
Seinem Stande nach mochte er ja nach der Auffassung einiger dieser Herren nicht gerade in ihre Gesellschaft gehören. Denn man wußte, daß er zu geschäftlichen Zwecken für ein großes Hamburger Handelshaus reiste. Sein Oheim, der Chef dieses Hauses, befaßte sich mit dem Import von Indigo. Und da der Maharadjah von Chanidigot sehr ausgedehnte Indigo-Plantagen besaß, hielt die geschäftliche Verhandlung mit dem Fürsten den jungen Heideck nun schon seit vierzehn Tagen hier fest. Es war ihm gelungen, während dieser Zeit die lebhaften Sympathien namentlich der älteren britischen Offiziere zu gewinnen. In den indischen Garnisonen ist jeder Europäer willkommen, man zog Heideck auch zu denjenigen geselligen Veranstaltungen hinzu, an denen die Damen des Regiments teilnahmen.
Die Einladung zum Spiel hatte er indessen jedesmal mit höflicher Bestimmtheit abgelehnt, und auch heute machte er dabei nur den unbeteiligten, wenig interessierten Zuschauer.
Jetzt öffnete sich die Tür des Zeltes, und sporenklirrend, in sehr selbstbewußter, fast hochmütiger Haltung trat ein hochgewachsener, aber auffallend hagerer Offizier in den Kreis der Kameraden. Er war im Dienstanzuge und sprach zu einem der Herren, der ihn als Kapitän Irwin begrüßt hatte, davon, daß er einen zur Inspizierung eines Außenpostens unternommenen anstrengenden Ritt hinter sich habe. Von einer der aufwartenden Ordonnanzen ließ er sich einen erfrischenden Trunk, das beliebte Gemisch aus Whisky und Sodawasser, bringen. Dann näherte er sich dem Tische der Spieler.
„Ist hier noch Raum für einen kleinen Kerl?“ fragte er. Und bereitwillig machte man ihm Platz.
Eine Weile ging es bei der Pokerpartie in der bisherigen ruhigen Weise fort. Plötzlich aber mußte etwas Außergewöhnliches eingetreten sein. Denn man sah, daß die Herren bis auf Kapitän Irwin und einen der Mitspieler ihre Karten niederlegten, und man hörte die unangenehm scharfklingende Stimme Irwins.
„Sie sind ein alter Fuchs, Kapitän Mc. Gregor! Aber ich kenne Ihre Tricks und falle nicht mehr darauf hinein. Noch einmal also: sechshundert Rupien!“
Wer die Gesetze des Poker kennt, weiß, daß es bei diesem Spiel, worin gewissen Kartenkombinationen der Gewinn zufällt, nicht für unehrenhaft, sondern im Gegenteil für eine besondere Feinheit gilt, die Mitspieler durch kleine, komödiantische Kniffe über den Wert der beim Austeilen erhaltenen Karten zu täuschen. Der Name ‚Bluff‘, den man diesem Hazardspiel beigelegt hat, verrät ja schon, daß jeder nach Kräften versuchen muß, seinen Gegner zu verblüffen.
Dem Kameraden Mc. Gregor gegenüber aber schien es Irwin diesmal nicht recht zu gelingen. Denn der Kapitän erwiderte mit großer Ruhe:
„Sechshundertfünfzig. Aber ich rate Ihnen, Irwin, sie nicht zu halten.“
„Siebenhundert.“
„Siebenhundertfünfzig!“
„Tausend!“ rief Irwin mit dröhnender Stimme und lehnte sich mit einem siegesgewissen Lächeln in seinen Stuhl zurück.
„Ueberlegen Sie, was Sie tun,“ sagte Mc. Gregor. „Ich habe Sie gewarnt.“
„Eine bequeme Manier, siebenhundertfünfzig Rupien einzustreichen. Ich wiederhole: Tausend Rupien.“
„Tausendundfünfzig!“
„Zweitausend!“
Alle im Zelt anwesenden Herren hatten sich erhoben und umstanden die beiden Spieler, die, ihre Karten verdeckt in der Hand haltend, einander mit scharfen Blicken betrachteten. Hermann Heideck, der hinter Irwin getreten war, sah an der Rechten des Kapitäns einen wundervollen Brillanten funkeln. Aber an dem Tanzen der bunten Strahlen, die von diesem Stein ausgingen, sah er auch, wie die Finger des Spielers bebten.
Kapitän Mc. Gregor wandte sich an seine Umgebung.
„Ich rufe die Herren zu Zeugen an, daß ich den Kameraden schon bei sechshundert gewarnt habe.“
„Wozu bedarf es da einer Warnung?“ fiel Irwin fast heftig ein. „Bin ich denn ein Knabe? Halten Sie die zweitausend, Mc. Gregor, oder halten Sie sie nicht?“
„Nun denn, da Sie es nicht anders wollen: dreitausend.“
„Fünftausend!“
„Fünftausendfünfhundert.“
„Zehntausend.“
Jetzt legte einer der höheren Offiziere, der Major Robertson, seine Hand leicht auf die Schulter des tollkühnen Spielers.
„Das ist zuviel, Irwin! Ich mische mich nicht gern in solche Dinge, und da Sie nicht von meinem Regiment sind, kann ich nicht dienstlich, sondern nur kameradschaftlich mit Ihnen reden. Aber mir[S. 25] scheint, daß Sie sich in Verlegenheit befinden würden, wenn Sie verlören.“
Unwillig fuhr der Angeredete auf.
„Was wollen Sie damit sagen, Herr Major? Wenn Ihre Worte einen Zweifel an meiner Zahlungsfähigkeit ausdrücken sollen, — —“
„Nun, nun — ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Sie müssen ja schließlich am besten wissen, was Sie verantworten können.“
Und mit trotziger Miene wiederholte Irwin:
„Zehntausend also! Ich erwarte Ihre Antwort, Mc. Gregor.“
Der Gegner blieb unverändert ruhig.
„Zehntausendfünfhundert.“
„Zwanzigtausend!“
„Sind Sie denn betrunken, Irwin?“ flüsterte von der anderen Seite her der junge Leutnant Temple dem Kapitän ins Ohr. Der aber streifte ihn mit einem zornfunkelnden Blick.
„Nicht mehr als Sie. Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!“
„Einundzwanzigtausend,“ klang es gelassen von der gegenüberliegenden Seite des Tisches.
Eine kurze, erwartungsvolle Pause folgte. Kapitän Irwin kaute nervös an seinem kleinen, dunklen Schnurrbart. Dann aber reckte er seine hagere Gestalt und rief:
„Fünfzigtausend.“
Noch einmal glaubte der Major, Halt gebieten zu müssen.
„Ich erhebe Einspruch!“ sagte er. „Es ist bisher Regel bei uns gewesen, daß der Pool nicht um mehr als tausend Rupien auf einmal erhöht werden darf. Diese Regel ist längst überschritten.“
Ein häßliches, rauhes Lachen kam von Irwins Lippen.
„Es scheint, daß Sie die Absicht haben, mich zu retten, Herr Major! Aber ich brauche durchaus keinen Retter. Wenn ich verliere, werde ich zahlen. Und ich begreife nicht, weshalb sich die Herren in meinem Interesse die Köpfe zerbrechen.“
Der Major, der einsehen mußte, daß er hier mit allem guten Willen nichts auszurichten vermochte, zuckte die Achseln. Leutnant Temple aber vermeinte, einen guten Einfall zu haben. Mit einer anscheinend unbeabsichtigten, ungestümen Bewegung stieß er gegen den leichten Feldtisch, daß Aschenbecher, Flaschen, Gläser und Karten zu Boden fielen. Aber es war nichts damit gewonnen, denn die beiden hielten ihr Spiel fest in der Hand und ließen sich durch den Zwischenfall nicht einen Augenblick aus der Fassung bringen.
„Einundfünfzig,“ sagte Mc. Gregor.
„Sechzig.“
„Einundsechzig.“
„Siebzig.“
„Einundsiebzig.“
„Achtzig.“
„Einundachtzig.“
„Ein Lakh!“ schrie Irwin, der jetzt vor Aufregung kreidebleich geworden war.
„Wirklich?“ fragte Mc. Gregor gleichmütig. „Das ist ein schönes Gebot. Ein Lakh also — nach dem heutigen Kurse sechstausendfünfhundert Pfund Sterling. Sie werden ein reicher Mann sein, Irwin, wenn Sie gewinnen. Zeigen Sie doch, was Sie in der Hand haben.“
Mit zitternden Fingern, doch mit triumphierender Miene deckte der Kapitän seine Karten auf.
„Straight flush!“ sagte er heiser.
„Ja, das ist ein starkes Spiel,“ erwiderte der andere lächelnd. „Aber sagen Sie doch, welches ist Ihre höchste Karte?“
„Der König, wie Sie sehen.“
„Schade! Ich habe nämlich auch straight flush. Aber bei mir steht das Aß an der Spitze.“
Langsam, eine nach der anderen, legte er seine Karten auf den Tisch: Coeuraß, Coeurkönig, Coeurdame, Coeurbube, Coeurzehn.[S. 27] Wie ein einziger Ausruf der Verwunderung kam es von den Lippen der Umstehenden. Keiner hatte je das Zusammentreffen einer so merkwürdigen Kartenkombination erlebt.
Kapitän Irwin saß für einen Moment regungslos, die flackernden Augen starr auf die Karten seines Gegners geheftet. Dann plötzlich sprang er mit einem wilden Lachen auf und verließ mit klirrenden Schritten das Zelt.
„Dieser Verlust bedeutet für Irwin eine Katastrophe,“ sagte der Major sehr ernst. „Er ist außer stande, eine solche Summe zu zahlen.“
„Mit Hülfe seiner Frau könnte er es wohl,“ meinte ein anderer, „aber es würde sie so ziemlich den ganzen Rest ihres Vermögens kosten.“
„Ich nehme die Herren zu Zeugen, daß es nicht meine Schuld ist,“ erklärte Mc. Gregor, der einen gewissen Vorwurf in den Mienen seiner Umgebung zu lesen glaubte. Man stimmte ihm zu. Aber Leutnant Temple, der einzige unter allen Anwesenden, den eine gewisse oberflächliche Freundschaft mit Irwin verband, bemerkte:
„Irgend jemand wird ihm nachgehen müssen, damit er in der ersten Aufregung nicht eine Torheit begeht.“
Er wandte sich schon zum Gehen, aber ein Zuruf Mc. Gregors hielt ihn zurück.
„Es würde keinen Zweck haben, Temple, wenn Sie ihm nicht zugleich etwas Beruhigendes sagen können. Und es gibt meines Erachtens da nur einen einzigen Ausweg. Man müßte ihm einreden, die Sache hätte nur ein Spaß sein sollen und die Karten wären vorher geordnet gewesen.“
Der Leutnant kehrte zum Tische zurück.
„Die Erfindung dieses Auskunftsmittels gereicht Ihnen zur Ehre, Herr Kapitän! Aber ich zweifle, daß jemand von uns den Mut haben würde, ihm mit solcher Lüge zu kommen.“
Das Schweigen der anderen schien diesen Zweifel zu bestätigen. Da ertönte die markige Stimme des deutschen Gastes:
„Wollen Sie mich mit dieser Mission betrauen, meine Herren? Ich kenne den Kapitän Irwin zwar nur flüchtig, und ich hätte keinen Anlaß, mich in seine Angelegenheiten zu mischen; aber ich höre, daß es das Vermögen seiner Gattin ist, das hier auf dem Spiel steht. Und da ich Mrs. Irwin für eine sehr verehrungswürdige Dame halte, würde ich gern das meinige dazu beitragen, sie vor einem so schweren Verlust zu bewahren.“
Mc. Gregor reichte ihm die Hand.
„Sie würden mich zu Dank verpflichten, Mr. Heideck, wenn es Ihnen gelänge. Aber ich rate Ihnen, keine Zeit zu verlieren.“
Rasch verließ Heideck das Zelt. Und als er in die köstliche, mondhelle Nacht hinaustrat, sah er in der Entfernung von zwanzig Schritten Kapitän Irwin neben seinem Pferde. Der Bursche hielt das Tier am Zügel, Kapitän Irwin aber machte sich am Sattel zu schaffen. Während Heideck näher kam, sah er den Soldaten sich entfernen und gewahrte, daß Irwin einen Revolver in der Hand hielt.
Mit raschem Griff hatte er das Handgelenk des Offiziers erfaßt.
„Einen Augenblick, Kapitän Irwin.“
Dieser schrak zusammen, drehte sich um und blickte wütend auf Heideck.
„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte der Deutsche. „Aber Sie befinden sich im Irrtum, Herr Kapitän. Das Spiel gilt nicht. Man hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt. Die Karten sind vorher arrangiert worden.“
Irwin erwiderte nichts, aber er pfiff nach seinem Burschen und ging, noch immer ohne mit Heideck zu sprechen, in das Zelt zurück, den Revolver in der Hand. Heideck folgte ihm.
Beide Herren traten an den Spieltisch, und Irwin wandte sich an Mc. Gregor. „Also das Spiel ist arrangiert gewesen?“ fragte er.
„Zur Lehre für Sie, Irwin, der Sie immer wie toll und töricht darauf losgehen und sich einbilden, ein guter Spieler zu sein, während Sie gar nicht das kalte Blut dazu haben.“
„Nun,“ sagte Irwin, „das ist eine Geschichte, die ich als Beispiel kameradschaftlicher Gesinnung in allen Garnisonen Indiens herumbringen werde, damit ein jeder sich hütet, der einmal hierherkommt und verführt werden sollte, ein Spiel zu machen. Eine solche niederträchtige Geschichte habe ich noch nicht erlebt, aber es ist mir allerdings eine Lehre, daß man nur mit ehrlichen Leuten — —“
„Ah, Kapitän Irwin,“ sagte Mc. Gregor, sich hoch aufrichtend, indem er den Beleidiger mit einem vernichtenden Blick seiner großen blauen Augen fixierte, „an Ihre junge Frau sollten Sie lieber denken, die Sie in Armut gestürzt hätten, wenn dies Spiel kein Scherz war.“
Irwin taumelte zurück, der Revolver entfiel seiner Hand.
„Was?“ kreischte er, „was ist das? So ist es kein Scherz gewesen? So habe ich das Geld wirklich verloren? O, ihr — ihr — Aber für wen haltet ihr mich? Seid gewiß, ich werde bezahlen!“ „Aber,“ rief er, sich besinnend, „ich möchte doch wohl wissen, was nun Wahrheit ist. Euch alle frage ich und nenne euch Schurken und Lügner, wenn ihr nicht die Wahrheit sagt: hat man wirklich einen Spaß mit mir getrieben oder ist das Spiel ein ehrliches Spiel gewesen?“
„Kapitän Irwin,“ entgegnete der Major, ihm entgegentretend, „ich sage Ihnen als Aeltester im Namen der Kameraden, daß Ihr Benehmen unverzeihlich wäre, wenn nicht eine Art von Tollheit Sie beherrschte. Dies ist ein ehrliches Spiel gewesen, und nur die Großmut des Kapitän Mc. Gregor war es, die — — —“
Irwin hörte den Schluß seiner Rede nicht mehr, denn mit einem wilden Fluch hatte er abermals das Zelt verlassen.
Hermann Heideck wohnte in einem Dak Bungalo, einem jener von der Regierung unterhaltenen Gasthäuser, die dem Reisenden zwar Unterkunft aber weder Betten noch Verpflegung bieten. Als er aus dem Camp dahin zurückkehrte, stand sein indischer Diener Morar Gopal in der Tür, um den Herrn zu empfangen und teilte ihm mit, daß ein neuer Gast mit zwei Dienern angekommen wäre. Da dieses Dak Bungalo geräumiger war als die meisten anderen, so hatten die Neuangekommenen Platz, und Heideck brauchte nicht, wie sonst üblich, als älterer Gast dem später eingetroffenen zu weichen.
„Was für ein Landsmann ist der Herr?“ fragte er.
„Ein Engländer, Sahib!“
Heideck trat in sein Zimmer und ließ sich am Tische nieder, auf dem neben den beiden mattleuchtenden Kerzen eine Whiskyflasche, einige Flaschen Sodawasser und das Zigarettenkistchen standen. Er war nachdenklich und übel gelaunt. Die aufregende Szene in der Offiziersmesse war ihm persönlich nahe gegangen. Nicht um des Kapitän Irwin willen, der ihm seit dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft in hohem Maße unsympathisch gewesen war, sondern einzig wegen der schönen jungen Frau des leichtsinnigen Offiziers, an die er sich von ihren wiederholten gesellschaftlichen Begegnungen her gut genug erinnerte. Keine der anderen Offiziersdamen — und es waren sehr hübsche und liebenswürdige unter ihnen — hatte[S. 31] einen so tiefen und nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht, wie Mrs. Edith Irwin, deren persönlicher Liebreiz ihn in ebenso hohem Maße gefesselt hatte, wie ihre ungewöhnliche Klugheit ihn in Erstaunen setzte. Die Vorstellung, daß dieses anmutige Wesen mit unzerreißbaren Ketten an einen brutalen und ausschweifenden Menschen vom Schlage Irwins gefesselt war, und daß ihr Mann sie vielleicht eines Tages mit sich hinabriß in sein unausbleibliches Verderben, bereitete ihm eine schmerzhafte Empfindung. Er hätte so gern irgend etwas für die unglückliche junge Frau getan. Aber er mußte sich sagen, daß es dazu für ihn, den Fremden, der ihr nichts als eine oberflächliche Bekanntschaft war, keine Möglichkeit gab. Der Kapitän wäre vollkommen berechtigt gewesen, jede unberufene Einmischung als eine unerhörte Dreistigkeit zurückzuweisen. Und auf welche Art hätte er hier helfend eingreifen können?
Ein Lärm, der sich plötzlich im Nebenzimmer erhob, riß Heideck aus seinen unerfreulichen Grübeleien. Er hörte lautes Schelten und ein klatschendes Geräusch, wie wenn Peitschenhiebe auf einen nackten menschlichen Körper fallen. Eine Minute später wurde die Verbindungstür aufgerissen und ein nur mit Hüftschurz und Turban bekleideter Inder stürzte in das Zimmer, als ob er hier Schutz vor seinem Peiniger suchen wollte. Ein lang gewachsener, ganz in weißen Flanell gekleideter Europäer war ihm auf den Fersen und ließ unbarmherzig seine Reitgerte auf den bloßen Rücken des wehklagenden Mannes niedersausen. Die Anwesenheit Heidecks genierte ihn dabei offenbar nicht im mindesten.
Auf den ersten Blick hatte der junge Deutsche erkannt, daß sein Nachbar nicht, wie der Diener ihm gesagt hatte, ein Engländer sein konnte. Sein auffallend schmales, fein geschnittenes Gesicht, seine eigentümlich geschlitzten schwarzen Augen und sein weicher dunkler Bart hatten viel mehr von dem sarmatischen als von dem charakteristisch angelsächsischen Typus.
Der Mann gefiel ihm seinem Aeußeren nach nicht übel, sein[S. 32] Betragen aber konnte er unmöglich ruhig hinnehmen. Indem er zwischen ihn und den Mißhandelten trat, fragte er sehr energisch, was dieser Auftritt bedeuten solle.
Lachend ließ der andere den eben wieder zum Schlage erhobenen Arm sinken.
„Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr,“ sagte er in fremdartig klingendem Englisch, „ein sehr guter Boy, aber er stiehlt wie ein Rabe und muß von Zeit zu Zeit seine Prügel haben. Ich weiß, daß er irgendwo an seinem Leibe die fünf Rupien versteckt haben muß, die mir heute wieder fehlen.“
Damit packte er, als hielte er die gegebene Auskunft für vollkommen ausreichend, seine Handlungsweise zu erklären, den braunen Burschen von neuem und riß ihm mit raschem Griffe den Turban vom Kopfe. Aus dem weißen, rotgesäumten Tuche rollten klirrend ein paar Silberstücke über die Steinplatten hin. Zugleich aber war auch ein größerer Gegenstand vor Heidecks Füße niedergefallen. Er hob ihn auf und hielt ein goldenes Zigarettenetui in der Hand, auf dessen Deckel ein Wappen mit einer Fürstenkrone eingraviert war. Als er es dem Fremden überreichte, verbeugte sich dieser dankend und entschuldigte sich wie ein Mann von der besten Gesellschaft. Der Inder aber nahm die Gelegenheit wahr, sich mit einigen affenartigen Sprüngen aus dem Staube zu machen.
Der Anblick des Wappens auf dem Zigarettenetui hatte in Heideck das Verlangen geweckt, diesen gewalttätigen Nachbar näher kennen zu lernen. Als hätte er die sonderbare Art seines Eintritts ganz vergessen, fragte er artig, ob er den ihm vom Zufall bescherten Hausgenossen zu einer Zigarre und einem Abendtrunk einladen dürfe.
Mit liebenswürdigster Bereitwilligkeit nahm der andere die Aufforderung an.
„Sie reisen auch in Geschäften, mein Herr?“ fragte Heideck. Und da er eine bejahende Antwort erhielt, fügte er hinzu:
„Wir wären also Kollegen. Sind Sie mit Ihren hiesigen Erfolgen zufrieden?“
„O, es könnte besser gehen. Man hat zuviel Konkurrenz!“
„Baumwolle?“
„Nein. Bronzewaren und Seide. Habe von Delhi auch wunderbare Goldarbeit mitgebracht.“
„Dann stammt Ihr Zigarettenetui vermutlich auch aus Delhi?“
Die geschlitzten Augen des anderen streiften ihn mit einem forschenden Blick.
„Mein Zigarettenetui? Nein! — Arbeiten Sie vielleicht in Fellen, Herr Kollege? Haben Sie Kaschmirziegen?“
„Ich habe alles. Mein Haus arbeitet in allem.“
„Sie kommen nicht von Kalkutta?“
„Nein, nicht von Kalkutta.“
„Schlechtes Wetter da. All mein Leder ist verdorben.“
„Ist es so feucht dort?“
„Dampfbad, sage ich Ihnen, veritables Dampfbad.“
Heideck war längst überzeugt, einen Russen vor sich zu haben. Aber um seiner Sache ganz sicher zu sein, machte er eine scherzhafte Bemerkung in russischer Sprache. Verwundert blickte sein neuer Bekannter auf.
„Sie sprechen russisch, mein Herr?“
„Ein wenig.“
„Sie sind aber kein Russe?“
„Nein, ich bin ein Deutscher, der sich während eines vorübergehenden Aufenthaltes in Rußland einige Sprachkenntnisse angeeignet hat. Wir Kaufleute kommen ja weit herum.“
Der Herr, der seiner Angabe nach in Seide und Bronzewaren reiste, war sichtlich erfreut, hier, wo er es gewiß am wenigsten erwartet hatte, die anheimelnden Laute seiner Muttersprache zu vernehmen. Und Heideck bemühte sich mit einem fast befremdlichen Eifer, ihn bei guter Laune zu erhalten. Er rief seinen Diener und befahl ihm, heißes Wasser zu bereiten.
„Es ist sehr kühl diese Nacht,“ wandte er sich an seinen Gast. „Ein Brandy mit heißem Wasser ist da nicht zu verachten.“
„Ah,“ sagte der Russe, „warten Sie einen Augenblick. Es ist besser, das Wasser wegzulassen und es durch etwas Schmackhafteres zu ersetzen.“
Er ging in sein Zimmer und kehrte alsbald mit einer Flasche Sherry und zwei Flaschen Champagner zurück.
„Ich werde mit Ihrer Erlaubnis hier in diesem Kessel einmal eine Bowle nach russischem Geschmack mischen. Zucker muß auch hinein. Dieser für englische Zungen berechnete Champagner ist so trocken, daß er gesüßt werden muß, um für unsereinen genießbar zu werden.“
Er goß die Flasche Kognak, die der Diener gebracht hatte, ebenso wie den Sherry zu dem Champagner und füllte die Gläser.
Nach deutscher Sitte stießen die beiden Herren mit einander an. Noch einmal betrachtete Heideck dabei aufmerksam seinen neuen Bekannten. Der lauernde Ausdruck, mit dem er die Augen des anderen auf sich gerichtet fühlte, machte ihn einen Moment stutzig. Sollte der Russe etwa die gleiche Absicht haben, wie er selbst, und ihm mit dem Sekt nur die Zunge lösen wollen? Jedenfalls war er jetzt auf seiner Hut.
„Darf ich Sie bitten, eine meiner Havannazigarren zu versuchen?“ fragte der Russe, indem er ihm sein Etui darreichte. „Die indischen Zigarren sind nicht schlecht und sehr billig. Die Beaconsfield ist meine Lieblingssorte. Hier und da muß man aber zur Abwechslung doch etwas anderes rauchen.“
Heideck nahm dankend an und es begann jetzt ein ziemlich scharfes Zechen, zu welchem der Russe das Tempo angab. Aber er war der Wirkung des ebenso wohlschmeckenden wie starken Getränkes offenbar viel weniger gewachsen, als der Deutsche. Von Minute zu Minute gesprächiger werdend, fing er bald an, seinen neuen Freund Brüderchen zu nennen und allerlei mehr oder weniger ver[S. 35]fängliche Geschichten zu erzählen. Auch auf seine heimischen Familienverhältnisse kam er, durch einige geschickte Fragen Heidecks veranlaßt, zu sprechen. Er lachte über eine alte Tante, die ihr Haar mit Rosen zu schmücken pflege, um kahle Stellen zu verdecken, und fügte hinzu, daß diese Tante wegen ihrer unvergleichlichen Klatschgeschichten am Zarenhofe ganz besonders beliebt sei. Daß solche Familienbeziehungen bei einem Geschäftsreisenden etwas verwunderlich wären, kam ihm augenscheinlich nicht in den Sinn.
Im Verlauf der Unterhaltung erwähnte er auch, daß er vor nicht langer Zeit in China gewesen wäre.
„Wir sind zu langsam, Brüderchen, viel zu langsam,“ versicherte er, „mit fünfzigtausend Mann konnten wir uns alles nehmen, was wir haben wollten, und die Japaner hätten wir unsererseits schon längst angreifen sollen.“
„Sagen Sie doch,“ fragte Heideck anscheinend gleichgiltig, „wie stark ist denn eigentlich die Armee des General-Gouvernements Turkestan?“
Der Russe blickte auf, aber es geschah nicht, weil er sich auf die verlangte Antwort besann. Denn nachdem er langsam ein Glas Sodawasser ausgetrunken hatte, sagte er:
„Wenn du gut leben willst, Brüderchen, mußt du in die Mandschurei gehen. Lachse, sage ich dir — ah! Und kosten beinahe nichts. — Und hübsche Mädchen in Menge! Pelze aber kannst du kaufen — so gut wie umsonst. Was in Petersburg zehntausend Rubel kostet, hast du in China, da oben im Norden, für hundert.“
„Da haben Sie wohl schöne Pelze mitgebracht?“
„Pelze in Indien? Da würden sie im Handumdrehen von den Ameisen aufgefressen werden. Für meinen Gebrauch allerdings habe ich einen mitgebracht, der in Petersburg unter Brüdern fünftausend Rubel wert sein würde. Werde ihn später im Gebirge gut genug brauchen können. Er riecht eine Werst weit, so gut habe ich ihn eingepfeffert!“
Wieder gab es eine kleine Pause. Dann, indem er sein Gegenüber scharf ansah, sagte Heideck plötzlich:
„Sie sind Offizier!“
Ganz fassungslos starrte ihm der Russe ins Gesicht.
„Offenheit gegen Offenheit!“ erwiderte er nach längerem Besinnen. „Auch Sie sind Soldat, mein Herr?“
„Einem Kameraden brauche ich es nicht zu verschweigen. Hermann Heideck, Hauptmann vom preußischen Generalstabe.“
Der Russe erhob sich und machte eine sehr korrekte Verbeugung.
„Fürst Fedor Andrejewitsch Tschadschawadse, Hauptmann im Garderegiment Preobraschensky.“
Dann klangen aufs neue die Gläser zusammen.
„Auf gute Kameradschaft!“ hieß es hüben und drüben.
„Kamerad, ich will Ihnen etwas verraten,“ sagte der Russe. „General Iwanow ist im Anmarsch gegen die indische Grenze. Der Zar beschäftigt sich nicht mehr mit Theosophie, er will England den Krieg erklären.“
Heideck hätte gern noch mehr erfahren, doch der Fürst hatte der berauschenden Mischung wohl schon über seine Kräfte zugesprochen. Er fing an, leichtfertige französische Chansons zu singen, um dann plötzlich auf schwermütige russische Volkslieder überzugehen. An ein halbwegs vernünftiges Gespräch war in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht mehr zu denken.
Heideck befand sich bereits in einiger Verlegenheit, was er mit seinem bezechten Gaste anfangen solle. Da wurde ihm eine neue Ueberraschung zu Teil. Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich und ein schöner, schlanker Bursche von höchstens achtzehn Jahren erschien auf der Schwelle.
Er war in eine Art phantastischer Pagentracht gekleidet, die in einem anderen Lande als dem farbenreichen, malerischen Indien wie eine Maskerade gewirkt haben würde. Der blaue, goldgestickte Kittel war mit einer rotseidenen Schärpe umgürtet und die weiten[S. 37] roten Beinkleider verschwanden an den Knieen in hohen, glänzenden Lackstiefeln, deren elegante Form die auffallende Kleinheit der schmalen Füße erkennen ließ. Ueppiges, goldschimmerndes Blondhaar fiel wellig fast bis auf die Schultern des knabenhaften Jünglings herab. Das schöne, längliche Gesicht war von rosigstem Incarnat. Aus den großen, blauen Augen aber blitzte die Energie eines starken Temperaments.
Sowie er des Eintretenden ansichtig geworden war, hatte der Fürst aufgehört zu singen.
„Ah, Georgij —“ stammelte er.
Ohne ein Wort zu sprechen, war der Page auf ihn zugetreten und hatte den plötzlich ganz Willenlosen vom Stuhle emporgezogen. Fürst Tschadschawadse schlang den Arm um seine Schultern und ließ sich hinausführen, ohne seinem deutschen Kameraden eine ‚Gute Nacht‘ zu wünschen.
Heideck zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß dieser schlanke Page ein verkleidetes Mädchen wäre. Der schöne Wuchs und der seltsame Ausdruck ungebändigter Naturkraft in den wunderbar regelmäßigen Zügen waren unverkennbar Eigentümlichkeiten des cirkassischen Typus. Dieser angebliche Georgij war sicherlich eine Tochter der kaukasischen Berge, das Kind eines Bauern oder vielleicht eines Räubers, wie auch Tschadschawadse seinem Namen nach einem jener alten kaukasischen Fürstengeschlechter angehörte, die einst als echte Raubritter in dem von Rußland so schwer und so langsam unterworfenen Gebirgslande gehaust hatten.
Die Angabe des Hauptmanns Heideck, daß er für ein Hamburger Handelshaus reise, war nicht eigentlich eine Unwahrheit gewesen. In der Tat betrieb er die kaufmännischen Geschäfte, die ihm als Maske für den wirklichen Zweck seiner Reise dienten, mit größtem Ernst.
Er hatte von dem Chef des Großen Generalstabes den Auftrag erhalten, die militärischen Verhältnisse in Indien und die strategische Bedeutung der Nordwestgrenze zu studieren, und hierzu war ihm ein unbegrenzter Urlaub bewilligt worden.
Aber der General hatte ihm ausdrücklich erklärt:
„Sie reisen als Privatmann, und wenn Sie in irgend einen Konflikt mit den Engländern geraten sollten, würden wir in keiner Weise die Verantwortung für Ihre Taten und Erlebnisse übernehmen können. Sie erhalten einen Paß auf Ihren richtigen Namen, aber natürlich ohne Erwähnung Ihrer militärischen Eigenschaft. Daß wir Sie bei einer etwaigen Nachfrage nicht verleugnen werden, ist selbstverständlich. In einem gewissen Sinne aber reisen Sie auf eigene Gefahr. Ihr eigener Takt muß Ihnen Führer sein.“
Darauf hin hatte Heideck sich mit seinem Oheim in Verbindung gesetzt und von ihm die erforderlichen Briefe und Empfehlungen an indische Geschäftsfreunde erhalten. Er war von Bombay aus über Allahabad in die nördlichen Provinzen gereist und hatte die wichtigsten[S. 39] Garnisonen, Cawnpore, Lucknow, Delhi und Lahore besucht. Nach Erledigung seiner Geschäfte in Chanidigot gedachte er sich weiter nach Norden zu wenden und durch den Kaiberpaß nach Afghanistan zu gehen. Lediglich mit Rücksicht auf diesen Plan hatte er die nähere Bekanntschaft mit dem Russen gesucht. Er wurde sich klar darüber, daß dieser von seiner Regierung einen ähnlichen Auftrag erhalten hatte wie er selbst, und gewisse Andeutungen des Fürsten hatten ihn in der Vermutung bestärkt, daß er die nämliche Reiseroute zu wählen gedenke. So konnte es für den deutschen Offizier nur von Vorteil sein, wenn er sich dem russischen Kameraden anschloß, der ihm auf russischem Gebiet sicherlich wertvolle Empfehlungen zu verschaffen vermochte. —
Die gehaltvolle Bowle des Fürsten machte sich noch in einigen unangenehmen Nachwirkungen bemerkbar, als Heideck in der Frühe des nächsten Morgens erwachte. Aber das kalte Bad, das ihm Morar Gopal bereitet hatte, und eine Tasse Tee stellten ihn bald wieder her.
Es war ein indischer Frühlingsmorgen von strahlender Schönheit, in den er tiefaufatmend hinaustrat. Der Februar hatte hier im Tale des Indus unter dem 29° nördlicher Breite etwa die Temperatur des römischen Mai. In den Mittagsstunden pflegte die Quecksilbersäule des Fahrenheit-Thermometers auf hundert Grad zu steigen. Die Abende aber waren erquickend kühl und die Nächte mit ihren feuchten Nebeln zuweilen sogar empfindlich kalt.
Heideck hatte an diesem Morgen mit besonderer Sorgfalt Toilette gemacht, denn er war zu einer Besprechung mit dem Minister des Maharadjah geladen, um über das beabsichtigte Indigogeschäft mit ihm zu verhandeln.
Der Minister bewohnte ein Haus an der Weichbildgrenze der Stadt. Es war ein inmitten eines großen Gartens gelegenes einstöckiges Gebäude mit breiten, luftigen Veranden. Als Heideck eintraf, war die Treppe der Eingangshalle bereits von einer bunten Menge besetzt, die auf Audienz wartete. Ihm aber, als einem Ver[S. 40]treter der weißen Rasse, blieb diese lästige Unbequemlichkeit erspart. Der in weißen Musselin gekleidete und zum Zeichen seiner Würde mit einer breiten roten Schärpe umgürtete Pförtner führte ihn vielmehr gleich in das ganz europäisch ausgestattete Arbeitszimmer des Ministers.
Auch in seiner äußeren Erscheinung verriet der Würdenträger nur durch seine Hautfarbe und seinen Gesichtsschnitt den Inder. Kleidung und Manieren waren ganz die eines abendländischen Diplomaten. Er reichte Heideck die Hand und teilte ihm mit, daß Seine Hoheit selbst mit ihm über den Indigo verhandeln wolle.
„Der Preis, den Sie zahlen wollen, ist ungewöhnlich niedrig,“ fügte er in einem Tone leiser Mißbilligung hinzu.
Heideck aber war auf diesen Einwand offenbar vorbereitet gewesen.
„Exzellenz mögen darin recht haben, daß der gebotene Preis niedriger ist als in früheren Jahren. Aber er ist noch immer sehr hoch, wenn man die inzwischen eingetretenen Veränderungen des Marktes berücksichtigt. In Deutschland wird jetzt durch Anilin ein Ersatz geschaffen, der so billig ist, daß in absehbarer Zeit vermutlich überhaupt kein Indigo mehr gekauft werden wird. Wenn es mir gestattet ist, Seiner Hoheit einen Rat zu geben, so wäre es der, statt des Indigobaus künftig eine Industrie zu wählen.“
„Und welche hätten Sie dabei im Auge?“
„Am vorteilhaftesten würden mir oil-mills und cotton-mills erscheinen. Sie könnten der europäischen und japanischen Konkurrenz damit wirksam begegnen.“
Ein indischer Diener erstattete eine Meldung, und der Minister lud Heideck ein, sogleich mit ihm zum Maharadjah zu fahren. Sie bestiegen einen mit zwei schnellen turkestanischen Pferden bespannten offenen Wagen. Der gelb gekleidete Kutscher, der merkwürdige Aehnlichkeit mit einem geputzten Affen hatte, schnalzte mit der Zunge, und im Galopp ging es durch weit ausgedehnte Parkanlagen zum[S. 41] Schlosse, dessen weiße Marmorwände bald aus dem Grün der Palmen und Tamarinden hervorleuchteten.
Heideck mußte während der kurzen Fahrt an die zahllosen Kriegsstürme denken, die über diesen Boden dahingebraust waren, ehe die englische Herrschaft alle religiösen Kämpfe, alle blutigen Aufstände und alle Einfälle fremder Eroberer für immer unmöglich gemacht zu haben schien. Jetzt konnten hier, wo Alexander des Großen sieggewohnte Krieger gekämpft hatten, wo sich Mohammedaner und Hindus, Afghanen und Sonnenanbeter blutige Schlachten geliefert, Werke des Friedens geschaffen werden, die auf eine Dauer von Jahrhunderten berechnet waren. Es war ein Triumph der Zivilisation, dessen imponierendem Eindruck sich ein Kenner von Indiens geschichtlicher Vergangenheit kaum entziehen konnte.
Der Maharadjah von Chanidigot bekannte sich gleich dem größten Teil seiner Untertanen zum Islam, und schon die äußere Anlage seines Palastes ließ den mohammedanischen Fürsten erkennen. Abseits von dem Hauptgebäude, aber durch eine gedeckte Galerie mit ihm verbunden, lag der kleine Haremsflügel, dessen Inneres hinlänglich vor jedem fremden Blicke geschützt war. Hier wie dort offenbarte sich in der Ausschmückung des Palastes die verschwenderischste Pracht. Und Heideck dachte mitleidig an die armen Untertanen des Maharadjah, deren Sklavenarbeit die Mittel für diesen üppigen Luxus hatte liefern müssen.
Der Minister und sein Begleiter wurden nicht in die große Audienzhalle geführt, die nur für besondere feierliche Empfänge bestimmt war, sondern in eine Loggia des ersten Stockwerkes. Die von zierlichen Marmorsäulen getragene offene Seite derselben ging nach einem inneren Hofe hinaus, der mit seinem tropischen Pflanzenreichtum einen wahrhaft paradiesischen Anblick gewährte. Eine leise plätschernde Fontäne, die aus dem Marmorbassin in seiner Mitte emporstieg, warf ihren feinen Sprühregen bis zu der Loggia hinauf und verbreitete angenehme Kühle.
Eine gute Weile ließ ihn der Minister warten. Dann kehrte er zurück und forderte ihn durch ein stummes Zeichen auf, ihn zum Fürsten zu begleiten.
Das Gemach, in welchem der Maharadjah sie empfing, war in seiner Ausstattung ein sonderbares, für die Augen eines Europäers nicht gerade anmutiges Gemisch von orientalischem Luxus und englischem Modegeschmack. Zwischen herrlichen Teppichen und kostbaren Waffen, mit denen die Wände geschmückt waren, hingen grellbunte Gemälde von wahrhaft barbarischem Geschmack, wie man sie in Deutschland kaum im Hause eines mäßig begüterten Bürgers angetroffen haben würde. Und ähnliche Widersprüche zeigten sich mehrfach. Am auffallendsten vielleicht traten sie in der Erscheinung des Fürsten selbst zu Tage. Denn dieser hochgewachsene Mann mit dem weichen schwarzen Vollbart und den brennenden Augen, der in seiner malerischen Landestracht ohne Zweifel schön und imponierend ausgesehen hätte, machte in dem grauen englischen Anzug und dem roten Turban auf dem Kopfe einen unharmonischen Eindruck.
Er saß in einem mit rotem Juchtenleder überzogenen englischen Klubsessel und neigte auf Heidecks tiefe Verbeugung zu leichtem Gegengruße den Kopf.
Es entging dem deutschen Offizier nicht, daß der Maharadjah äußerst verdrießlich aussah. Und er vermutete, daß es der für den Indigo gebotene niedrige Preis sei, der ihn verstimmt hätte.
Aber schon die ersten Worte des Fürsten belehrten ihn eines anderen.
„Wie ich höre,“ sagte er in ziemlich mangelhaftem Englisch, „sind Sie zwar Europäer, aber nicht Engländer. Darum hoffe ich, von Ihnen die Wahrheit zu hören. Ich bin gern bereit, Sie für Ihre Auskunft zu belohnen.“
„Ich pflege auch ohne Belohnung die Wahrheit zu sagen, Hoheit!“
Der Maharadjah maß ihn mit einem mißtrauischen Blick.
„Ich bin ein treuer Freund Englands,“ sagte er nach kurzem Zaudern, „und ich befinde mich im besten Einvernehmen mit dem Vizekönig. Aber es geschehen jetzt Dinge, für die mir jede Erklärung fehlt. An diesem Morgen erhielt ich eine Botschaft aus Kalkutta, die mich in Erstaunen setzt. Die indische Regierung beabsichtigt bei Quetta ein Truppenkorps zusammenzuziehen und fordert mich auf, tausend Mann Infanterie und fünfhundert Reiter sowie eine Batterie und zweitausend Kamele dorthin zu senden. Können Sie mir sagen, mein Herr, was England veranlaßt, eine so bedeutende Truppenmacht bei Quetta zusammenzuziehen?“
„Es dürfte sich lediglich um eine Vorsichtsmaßregel handeln, Hoheit! Vielleicht sind in Afghanistan neuerdings Unruhen ausgebrochen.“
„Unruhen in Afghanistan? Dabei könnte nur Rußland seine Hand im Spiele haben. Wissen Sie vielleicht etwas Bestimmteres?“
Heideck mußte verneinen. Und der Maharadjah, der seine üble Laune nicht verbarg, fing an, in einer etwas unvorsichtigen Weise seinem Herzen Luft zu machen.
„Ich bin ein treuer Freund der Engländer, aber der Druck, den sie auf uns ausüben, wird täglich schwerer. Wenn England einen Krieg führen will, weshalb sollen wir unser Blut und unser Geld dafür hergeben? Wissen wir doch nicht einmal, wie mächtig die Feinde der Engländer sind. Sie gehören dieser Nation nicht an, wie mir mein Minister mitteilte. Deshalb könnten Sie mich recht wohl darüber unterrichten. Ich bin ja selbst in Europa gewesen. Aber man hat mich nicht über London hinaus gelangen lassen, wohin ich gereist war, um die nunmehr verstorbene Königin zu ihrem Geburtstage zu beglückwünschen. Ich habe nichts gesehen als viele Schiffe und eine riesengroße, schmutzige Stadt. Gibt es nicht in Europa starke und mächtige Staaten, die England feindlich gesinnt sind?“
Derartige Fragen waren für Heideck unbequem. Er zog deshalb vor, einer bestimmten Antwort auszuweichen.
„Ich bin seit fast einem Jahre in Indien, erwiderte er, und ich weiß von den politischen Ereignissen nur, was die ‚India Times‘ und andere englische Zeitungen darüber berichten. Eine gewisse Rivalität besteht zwischen den europäischen Großmächten selbstverständlich immer. Und England ist in den letzten Jahrzehnten so groß geworden, daß es naturgemäß viele Feinde haben muß. Darüber aber, wie sich die politischen Verhältnisse in diesem Augenblick gestaltet haben mögen, wage ich nicht ein Urteil zu äußern.“
Unmutig schüttelte der Maharadjah den Kopf.
„Machen Sie die Geschäfte mit dem Manne nach Ihrem Ermessen ab,“ wandte er sich kurz an den Minister, während zugleich eine verabschiedende Handbewegung dem jungen Deutschen kund gab, daß er entlassen sei.
Als Heideck wieder in die Loggia hinaustrat, sah er den Kapitän Irwin in Begleitung eines Hofbeamten am Eingange derselben erscheinen. Der britische Offizier stutzte, als er des vermeintlichen Geschäftsreisenden ansichtig wurde. Er streifte ihn mit einem lauernden Blick, und eine fast feindselige Zurückhaltung lag in der Art, wie er den Gruß Heidecks erwiderte. Dieser kümmerte sich wenig darum, langsam schlenderte er durch den weitläufigen Park, auf dessen prachtvollen alten Bäumen viele Affen ihr munteres Wesen trieben. Die Mitteilung des Maharadjah von dem an ihn ergangenen englischen Befehl in Verbindung mit der Nachricht vom Vormarsch des Generals Iwanow gab ihm viel zu denken. Es konnte danach nicht zweifelhaft sein, daß sich in Afghanistan ernste kriegerische Ereignisse vorbereiteten oder vielleicht schon im vollen Gange waren. Quetta in Beludschistan, unmittelbar an der afghanischen Grenze gelegen, war das Ausfallstor gegen Kandahar. Und wenn England die Hilfe indischer Fürsten in Anspruch nahm, mußte es die Situation als kritisch erkannt haben. Noch war ja der Krieg nicht erklärt, aber Heidecks Mission konnte unter diesen Umständen plötzlich eine ganz besondere Bedeutung gewinnen, und es war jedenfalls un[S. 45]möglich, in diesem Augenblick bestimmte Entschlüsse für die nächste Zukunft zu fassen.
Der Spaziergang nach seinem in unmittelbarer Nähe des englischen Camp gelegenen Bungalo mochte etwa eine Stunde in Anspruch genommen haben, Zeit genug, einen gesunden Appetit wach zu rufen. Es war ihm deshalb durchaus nicht unangenehm, daß er seinen russischen Kameraden an einem schattigen Platze vor der Tür des Gasthauses beim Frühstück sitzen sah, und mit einem herzlich erwiderten Gruß nahm er ohne viel Umstände an dem Tische Platz. Fürst Tschadschawadse sah recht blaß aus und hielt sich lediglich an Sodawasser, das er gegen allen Landesbrauch sogar ohne jede Beimischung von Whisky trank. Die appetitlich duftenden gebackenen Eier mit Schinken standen unberührt vor ihm, und er lächelte etwas wehmütig, als er sah, wie gut der andere sie sich auf seine Einladung munden ließ.
Sie hatten erst ein paar gleichgiltige Worte gewechselt, als zwei indische Mädchen auftauchten, die ihnen allerlei Tand zum Kauf anboten. Die jüngere, deren nackter Oberkörper wie Bronze glänzte, war von großer Schönheit. Selbst die Bemalung ihres Gesichts vermochte die natürliche Anmut der feinen Züge nicht zu zerstören. Aber so hübsch sie war, so kokett war sie auch. Und sie hatte es offenbar auf den Russen abgesehen. Hinter seinen Stuhl tretend, hielt sie ihm ihre glitzernden Nichtigkeiten vor das Gesicht. Und ihr Benehmen wurde dabei immer vertraulicher. Zuletzt streifte sie ein goldglänzendes Armband über das zierliche, braune Handgelenk und neigte sich, damit er es besser betrachten könne, so weit über seine Schulter, daß ihre lebenswarme, junge Brust seine Wange streifte.
Fürst Tschadschawadse war von zu heißblütigem Temperament, um solcher Versuchung lange zu widerstehen. In seinen Augen leuchtete es auf, und mit einer raschen Bewegung drehte er sich nach dem Mädchen um, ihren biegsamen Leib mit seinem Arme umschlingend.
Zu weiteren Zärtlichkeiten aber kam es nicht, denn das kleine Abenteuer, das Heideck unangenehm berührte, erfuhr eine jähe Unterbrechung.
Ohne von den am Tische Sitzenden bemerkt zu werden, war der schöne, blonde Page des Fürsten aus der Tür des Bungalo getreten, einen Teller mit Bananen und Mangos in der Hand. Ein paar Sekunden lang hatte er mit funkelnden Augen den Vorgang betrachtet. Dann aber war er mit einigen lautlosen Schritten herangeglitten und warf nun, ohne ein Wort zu sprechen, den Teller mit den Früchten so geschickt und kräftig nach der bronzefarbigen Verführerin, daß das Mädchen mit einem lauten Aufschrei nach der getroffenen Schulter griff, während das Geschirr zerbrochen am Boden klirrte.
In der nächsten Minute schon war sie mit ihrer Begleiterin in eiliger Flucht verschwunden. Das Gesicht des Fürsten aber war rot vor Zorn, und er griff aufspringend nach der neben ihm liegenden Reitpeitsche.
Schon machte sich Heideck bereit, das verkleidete Mädchen vor einem ähnlichen Strafgericht zu bewahren, wie sein neuer Freund es gestern an seinem indischen Boy vollzogen hatte. Aber er sah, daß es seiner Intervention hier nicht bedurfte.
Hochaufgerichtet und mit einem beinahe verächtlichen Zucken der schönen Lippen war der junge Page dicht vor den Fürsten hingetreten. Ein halblautes, zischendes Wort, dessen Sinn Heideck nicht verstand, mußte den Zorn des Russen plötzlich beschwichtigt haben. Denn er ließ den schon zum Schlage erhobenen Arm sinken und warf die Peitsche auf den Tisch.
„Geh und hole uns einen anderen Nachtisch, Georgij!“ sagte er so gleichmütig, als wäre gar nichts geschehen. „Es ist eine wahre Plage, daß man vor diesem indischen Gesindel nicht eine Stunde lang Ruhe hat.“
Ueber das Gesicht der Cirkassierin huschte es wie ein[S. 47] triumphierendes Lächeln. Sie warf einen freundlichen Blick auf Heideck und wandte sich schweigend dem Bungalo zu. Voll Bewunderung und nicht ohne eine leise Regung des Neides gegen den glücklichen Besitzer von soviel berückender weiblicher Schönheit sah ihr Heideck nach, wie sie anmutig, sich leicht in den Hüften wiegend, dahin ging. Er hatte schon eine Bemerkung auf den Lippen, die dem Fürsten verraten sollte, daß er hinter das allerdings sehr durchsichtige Geheimnis seiner maskierten Reisebegleiterin gekommen sei. Aber er wurde durch einen neuen Zwischenfall daran gehindert.
Ein englischer Soldat im Ordonnanzanzuge trat an den Tisch und überreichte Heideck, der ihm dem Ansehen nach bekannt sein mußte, mit militärischem Gruße ein Billet.
„Von dem Herrn Obersten,“ sagte er. „Und ich soll melden, daß es sehr dringlich sei.“
Mit Verwunderung griff Heideck nach dem Brief. Er enthielt in zwar höflicher, doch immerhin ziemlich bestimmter Form die Bitte um einen möglichst baldigen Besuch des Herrn Hermann Heideck. Das bedeutete bei der Machtstellung, die Oberst Baird hier in Chanidigot inne hatte, einen Befehl, dem er ohne Zögern und Widerspruch gehorchen mußte.
Baird war der Höchstkommandierende des hier stationierten Detachements, das aus einem Infanterieregiment von etwa sechshundert Mann, einem zweihundertvierzig Pferde starken Ulanenregiment und einer Feldbatterie bestand. Wie in allen anderen Residenzen der großen indischen Fürsten, hatte die britische Regierung auch in Chanidigot eine Streitmacht stationiert, die stark genug war, um den Maharadjah in Respekt zu halten und alle Rebellionsgelüste im Keime zu ersticken. Da Oberst Baird zugleich den Posten eines Residenten am Hofe des Fürsten bekleidete und somit alle diplomatische und militärische Gewalt in seiner Hand vereinigte, war er als der eigentliche Herr und Gebieter in Chanidigot anzusehen.
Sein Bungalo lag inmitten des auf einer weiten, grünen Ebene aufgeschlagenen Lagers. Es war eine Gruppe von Gebäuden, die einen mit Pflanzen und einem plätschernden Brunnen geschmückten viereckigen Hof umschlossen.
Wie es schien, hatte er Befehl gegeben, Heideck sofort vorzulassen. Denn der Adjutant, bei dem sich Heideck gemeldet hatte, führte ihn ohne weiteres in das Arbeitszimmer seines Vorgesetzten.
Höflich, doch mit einer Gemessenheit, die sich merklich von seinem bisherigen Benehmen gegen den beliebten Gast des Offizierkorps unterschied, dankte ihm der stattliche, martialisch aussehende Mann für sein rasches Erscheinen.
„Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Heideck,“ fügte er hinzu, „ich habe mich ungern entschlossen, Sie zu bemühen, aber ich konnte es Ihnen nicht ersparen. Es ist mir gemeldet worden, daß Sie heute Morgen bei dem Maharadjah waren.“
„Allerdings. Ich hatte in Geschäften mit ihm zu reden. Denn ich stehe im Begriff, für mein Hamburger Haus einen großen Posten Indigo von ihm zu kaufen.“
„In Ihre Geschäfte habe ich mich selbstverständlich nicht einzumischen. Aber ich muß Ihnen sagen, daß wir einen direkten Verkehr von Europäern mit den eingeborenen Fürsten nicht gern sehen. Sie werden deshalb gut tun, mir in künftigen Fällen vorher Mitteilung davon zu machen, wenn Sie zu dem Maharadjah berufen werden, damit wir uns über das, was Sie ihm sagen oder nicht sagen dürfen, verständigen können. Wir dürfen leider nicht allen indischen Fürsten trauen, und dieser hier ist vielleicht einer der unzuverlässigsten unter ihnen. Sie dürfen das, was ich Ihnen da sage, nicht als einen Ausdruck des Mißtrauens gegen Sie ansehen. Die Verantwortlichkeit meiner Stellung aber gebietet mir die allergrößte Vorsicht.“
„Ich begreife das vollkommen, Herr Oberst!“
„Gerade in diesem Augenblick scheint sich die Lage besonders[S. 49] schwierig zu gestalten. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn wir nicht recht unruhigen Zeiten entgegen gingen. Der Generalgouverneur von Turkestan ist auf dem Marsche, und seine Avantgarde ist bereits über die Grenze von Afghanistan vorgedrungen.“
Heideck hatte Mühe, die Erregung zu verbergen, in welche diese Bestätigung der Mitteilung Tschadschawadses ihn versetzte.
„Ist das gewiß, Herr Oberst? Was wollen die Russen in Afghanistan?“
„Was sie da wollen? Nun, mein lieber Mr. Heideck, ich denke, das ist ziemlich klar. Ihr Vorgehen bedeutet den Krieg gegen uns. Rußland will das natürlich vorläufig noch nicht offen zugeben. Man behandelt den Vormarsch als eine Angelegenheit, die nur den Emir anginge und um die wir uns nicht zu kümmern hätten. Aber man müßte sehr befangen sein, um die wahre Absicht nicht zu durchschauen.“
„Und darf ich fragen, was der Herr Oberst zu tun gedenkt?“
Oberst Baird mußte den jungen Deutschen in der Tat für eine sehr vertrauenswürdige oder für eine sehr ungefährliche Persönlichkeit halten, da er ihm bereitwillig Antwort gab.
„Die russische Avantgarde hat den Amu darja überschritten und zieht das Murgabtal herauf nach Herat. Danach werden wir unsere Maßregeln treffen. Die Moskowiter sollen sich in uns getäuscht haben. So geduldig und langmütig sind wir doch nicht, daß wir unsere lieben Nachbarn einfach in offene Tore einziehen lassen. Ich denke, es wird bei den russischen Generalen einige lange Gesichter geben, wenn sie sich in Afghanistan plötzlich unseren Bataillonen, unseren Sikhs und Gurkhas, gegenüber sehen.“
Der Adjutant erschien mit einer offenbar sehr wichtigen Meldung, und da Heideck wahrnahm, daß der Oberst mit seinem Ordonnanzoffizier unter vier Augen zu sprechen wünsche, hielt er es für ein Gebot der Höflichkeit, sich zu empfehlen.
Die Worte des Obersten: ‚Das Vorgehen der Russen in[S. 50] Afghanistan bedeutet den Krieg‘, klangen ihm unablässig in den Ohren wieder. Er pries in seinem Herzen den glücklichen Zufall, der ihn zur rechten Zeit auf den Schauplatz großer weltgeschichtlicher Ereignisse geführt hatte. Und alle seine Gedanken waren einzig darauf gerichtet, wie er es anfangen könne, beim Ausbruch der Feindseligkeiten als Zuschauer und Beobachter zugegen zu sein.
Daß sein russischer Freund von demselben Wunsche erfüllt sein würde, durfte er um so eher voraussetzen, als Fürst Tschadschawadse ja einer der beiden unmittelbar beteiligten Nationen angehörte. Er beeilte sich deshalb, ihn von dem Inhalt seiner Unterredung mit dem Obersten Baird in Kenntnis zu setzen. Und die Wirkung seiner Mitteilungen auf den Fürsten war ganz so, wie er es erwartet hatte.
„Also wirklich! Die Avantgarde ist schon über den Amu darja! Und es wird also an der rechten Stelle der Krieg ausbrechen!“ rief der Russe in hellem Jubel aus. „In unserer Armee herrschte die Befürchtung, daß der Zar sich vielleicht niemals zu dem Entschlusse aufraffen würde, einen Krieg zu führen. Es müssen mächtige und unwiderstehliche Einflüsse gewesen sein, die zuletzt doch über seine Friedensliebe gesiegt haben.“
„Sie wollen natürlich so schnell als möglich zur Armee?“ fragte Heideck. Und da der Fürst bejahte, fügte er hinzu:
„Ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mir erlauben wollten, mich Ihnen anzuschließen. Wie aber kommen wir über die Grenze? Hoffentlich läßt man uns als unverdächtige Kaufleute unbehelligt passieren.“
„Das ist nicht so ganz sicher. Wahrscheinlich werden wir nicht so leicht aus Indien hinauskommen, wie wir hereingekommen sind. Immerhin aber müssen wir’s versuchen. Wir können mit der Bahn in zwölf Stunden in Peschawar und in fünfzehn in Quetta sein. Beide Bahnlinien dürften augenblicklich noch nicht durch Truppensendungen beansprucht sein. Aber wir werden gut[S. 51] tun, unsern Aufbruch zu beschleunigen. Vermutlich würden wir sowohl von Peschawar wie von Quetta aus bald auf russische Truppen stoßen. Denn ich zweifle nicht, daß auch gegen Kabul hin ein russisches Korps im Vormarsch ist, obwohl der Oberst, wie Sie sagen, nur von einer Avantgarde sprach, die auf Herat marschiere.“
„Ich würde vorschlagen, über Peschawar und durch den Kaiberpaß zu gehen, weil wir so am schnellsten und sichersten nach Kabul gelangen.“
„Wir werden das nachher noch des näheren besprechen, Herr Kamerad! Jedenfalls ist es ausgemacht, daß wir zusammen bleiben. Hoffe ich doch, daß auch auf der großen Weltbühne in diesem Augenblick Ihre Nation Schulter an Schulter mit der meinigen gegen England steht.“
Als verheirateter Offizier bewohnte Kapitän Irwin nicht eine der hölzernen Baracken im englischen Camp, sondern ein Bungalo in der Vorstadt.
Es war ein einstöckiges, von einem großen, gut gehaltenen Garten umgebenes Haus mit breiten Veranden, das früher einem hohen Hofbeamten des Maharadjah als Wohnung gedient hatte. Abseits lagen zwei kleinere, für die Dienerschaft bestimmte Gebäude, von denen gegenwärtig nur eines benutzt wurde.
Die Sonne desselben Tages, der ihm so wichtige und für die Gestaltung seiner nächsten Zukunft entscheidende Entschlüsse nahe gelegt hatte, neigte sich bereits dem Untergange zu, als Hermann Heideck die Kaktushecke und das Bambusgebüsch des zum Irwinschen Bungalo gehörenden Gartens durchschritt.
Er war in einen Gesellschaftsanzug aus leichtestem schwarzen Tuch gekleidet, wie es englische Sitte für einen um die abendliche Dinerzeit abgestatteten Besuch unter jenem Himmelsstrich vorschreibt.
Er kam heute nicht aus eigenem Antrieb, und der Morgengruß Irwins hatte nichts Einladendes gehabt. Ein Billet von Mrs. Irwin hatte ihn zu seiner Ueberraschung um sein Erscheinen zu dieser Stunde gebeten. Er hatte der Fassung des Briefes entnommen, daß es sich um etwas Dringliches handeln müsse, und es lag nicht fern, zu vermuten, daß die unglückliche Pokerpartie des Kapitäns die Ursache wäre. Was Mrs. Edith veranlaßt haben konnte, sich gerade an ihn zu wenden, war ihm allerdings vorläufig[S. 53] ein Rätsel. Denn seine Beziehungen zu der schönen jungen Frau hatten bis zu diesem Augenblick ganz und gar nichts Vertrauliches gehabt. Er war ihr einigemal in größerer Gesellschaft, beim Polospiel der Offiziere und ähnlichen Anlässen begegnet. Und wenn er, durch ihre Anmut und ihren Geist gefesselt, sich der Gattin des Kapitäns vielleicht auch lebhafter gewidmet hatte, als irgend einer der anderen anwesenden Damen, so hatte sich ihr Verkehr doch durchaus in den konventionellen Grenzen bewegt. Und niemals würde es ihm eingefallen sein, sich einer besonderen Bevorzugung durch Mrs. Irwin zu rühmen.
Die zierliche indische Zofe der Hausfrau empfing den Besucher und führte ihn zu der Veranda. Mrs. Irwin, die in einem Kleide von roher Seide auf einem Schaukelstuhl gesessen hatte, ging ihm einige Schritte entgegen. Aufs neue fühlte sich Heideck entzückt durch den Liebreiz ihrer Erscheinung. Sie war eine echt englische Schönheit von hoher, wundervoll ebenmäßiger Gestalt, feinen Zügen und jener weißen, durchsichtigen Haut, die den Töchtern Albions einen ihrer eigenartigsten Reize verleiht. Reiches, dunkelblondes Haar schmiegte sich in dichten, natürlichen Wellen um die breite Stirn, und ihre blauen Augen hatten den klaren, ruhigen Blick einer ebenso intelligenten wie willensstarken Persönlichkeit.
In diesem Moment allerdings schien die junge Frau, die Heideck bisher nur als die gelassene und beherrschte Dame der großen Welt kennen gelernt hatte, sich in einer Erregung zu befinden, die sie nur unvollkommen zu verbergen vermochte. Etwas eigentümlich Befangenes war in der Art, wie sie den Besucher begrüßte.
„Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen, Mr. Heideck! Meine Einladung wird Sie befremdet haben, aber ich wußte mir nicht anders zu helfen. Bitte, lassen Sie uns in das Parlour gehen, es wird hier draußen empfindlich kühl.“
Von solcher Kühle konnte Heideck zwar noch nichts bemerken, aber er glaubte zu verstehen, daß es nur die Furcht vor einem[S. 54] Lauscher sei, die den Wunsch der jungen Frau bestimmte. In der Tat schloß sie hinter ihm die Glastür und lud ihn ein, ihr gegenüber auf einem der breiten Rohrstühle Platz zu nehmen.
„Kapitän Irwin ist nicht anwesend,“ eröffnete sie, noch immer ersichtlich mit einer starken Verlegenheit kämpfend, das Gespräch. „Er ist fortgeritten, um seine Schwadron zu inspizieren und wird, wie er mir sagte, nicht vor Tagesanbruch zurückkehren.“
Heideck begriff nicht recht, weshalb sie ihm diese Mitteilung machte. Wäre er ein von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugter Frauenjäger gewesen, so würde er darin vielleicht eine sehr durchsichtige Ermutigung erblickt haben. Aber er war weit entfernt, Ediths Worten eine derartige Deutung zu geben. Die Verehrung, die er dieser schönen Frau seit dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft entgegengebracht hatte, schützte sie hinlänglich vor jedem unlauteren Verdacht. Wenn sie ihn zu einer Zeit hierher beschieden hatte, wo sie sicher sein konnte, daß ihr Gespräch nicht durch das Erscheinen ihres Gatten gestört werden konnte, so hatte sie dafür sicherlich andere Gründe gehabt, als den Wunsch nach einem Abenteuer.
Und wie er sie da vor sich sitzen sah, mit einem Zug herben Kummers, regte sich in seinem Herzen kein anderes Verlangen als der lautere Wunsch, diesem ohne Zweifel tief unglücklichen Wesen irgend einen ritterlichen Dienst erweisen zu dürfen.
Aber er hatte nicht den Mut, ihr etwas derartiges zu sagen, bevor sie ihm nicht in unzweideutiger Weise ein Recht dazu gegeben hätte. Darum wartete er schweigend auf das, was sie ihm weiter mitzuteilen wünsche. Und es gab eine ziemlich lange, etwas peinliche Pause, bevor Mrs. Irwin, ersichtlich all ihren Mut zusammennehmend, fortfuhr:
„Sie waren ein Zeuge des Auftritts, der sich gestern abend in der Offiziersmesse zwischen meinem Mann und dem Kapitän Mc. Gregor abgespielt hat. Wenn ich recht unterrichtet bin, habe[S. 55] ich es sogar lediglich Ihnen zu verdanken, daß mein Mann nicht in der ersten Erregung Hand an sich gelegt hat.“
Bescheiden wehrte Heideck ab.
„Ich habe durchaus nichts getan, was mir einen Anspruch auf Ihre Dankbarkeit gäbe, Mrs. Irwin, und ich glaube auch nicht, daß Ihr Gatte sich wirklich zu einer solchen unsinnigen Verzweiflungstat hätte hinreißen lassen. Im entscheidenden Augenblick würde der Gedanke an Sie ihn sicherlich vor dem Aeußersten bewahrt haben.“
Er war überrascht von dem Ausdruck der Verachtung, den das schöne Gesicht der jungen Frau bei seinen letzten Worten angenommen hatte, und von dem harten Klang ihrer Stimme, da sie erwiderte:
„Der Gedanke an mich? Ah, wie wenig Sie meinen Mann kennen! Er ist nicht gewöhnt, um meinetwillen irgend welche Opfer zu bringen. Und vielleicht wäre sein freiwilliger Tod nicht einmal das Schlimmste, was er mir hätte antun können.“
Sie sah wohl die Bestürzung in seinen Zügen, und deshalb fügte sie rasch hinzu:
„Sie werden mich gewiß für das herzloseste Geschöpf halten, weil ich so zu einem Fremden sprechen kann. Aber gilt nicht auch in Ihrem Lande der Verlust der Ehre für schlimmer als der Tod?“
„Unter gewissen Umständen — ja. Aber so tragisch ist die Lage Ihres Gatten hoffentlich nicht zu nehmen. Nach dem Eindruck, den ich bisher von der Persönlichkeit des Kapitäns Mc. Gregor empfangen habe, ist er nicht der Mann, der Mr. Irwin um einer leichtsinnig eingegangenen Spielschuld willen zum Aeußersten treiben wird.“
„O nein, Sie beurteilen diesen Ehrenmann vollkommen richtig. Er würde am liebsten ganz auf die Zahlung verzichten. Und in der Absicht, ein derartiges Arrangement herbeizuführen, war er heute nachmittag hier. Aber der törichte Stolz, die maßlose Eitelkeit Irwins machten alle seine guten Absichten zu schanden. Das[S. 56] Ergebnis von Mc. Gregors gut gemeinten Bemühungen war einzig eine heftige Szene, durch die die Sache nur noch mehr verschlimmert wurde. Mein Mann ist entschlossen, seine Schuld um jeden Preis zu bezahlen.“
„Und — verzeihen Sie die indiskrete Frage — ist er dazu imstande?“
„Wenn er sich meines Vermögens bedient — gewiß! Und ich habe es ihm ohne weiteres zur Verfügung gestellt. Ich habe ihm gesagt, daß er alles bis auf den letzten Penny nehmen möge, wenn dieses Opfer ausreichend sei, mich für immer von ihm zu befreien.“
Heideck wußte kaum, ob er seinen Ohren trauen dürfe. Auf nichts in der Welt war er weniger vorbereitet gewesen, als darauf, solche Geständnisse zu empfangen. Er fing an, irre zu werden an dieser Frau, die ihm bisher der Inbegriff aller weiblichen Vollkommenheit gewesen war. Und er suchte nach einer Gelegenheit, weiteren Enthüllungen vorzubeugen, die sie seiner Ueberzeugung nach schon in der nächsten Stunde bereut haben würde.
„Niemand kann von Ihnen verlangen, Mrs. Irwin, daß Sie für eine sträfliche Leichtfertigkeit, für eine vielleicht im halben Rausch begangene Uebereilung Ihres Gatten ein so ungeheures Opfer bringen. Aber da Sie mich einmal der Ehre gewürdigt haben, mit mir über diese Dinge zu sprechen, so ist es vielleicht nicht unbescheiden, wenn ich Ihnen sage, daß es meiner Ansicht nach das richtigste wäre, Ihren Mann die Folgen seiner Handlungsweise tragen zu lassen. Sie brauchen wohl kaum zu fürchten, daß diese Folgen allzu schlimm sein werden. Mc. Gregor wird ihn gewiß nicht drängen. Und da wir unmittelbar vor dem Ausbruch eines Krieges zu stehen scheinen, gehen auch seine Vorgesetzten in diesem Augenblick wegen dieser Angelegenheit wohl nicht allzu streng mit ihm ins Gericht. Er wird vielleicht Gelegenheit haben, sein erschüttertes Ansehen durch soldatische Verdienste wieder gut zu machen oder den Tod auf dem Schlachtfelde zu suchen. In einigen Wochen[S. 57] oder Monaten werden alle diese Dinge, die Ihnen jetzt so viel Sorge verursachen, ein ganz anderes Gesicht zeigen.“
„Sie meinen es sehr gut, Mr. Heideck, und ich danke Ihnen für Ihre freundliche Absicht. Aber ich würde Sie nicht zu einer so ungewöhnlichen Zeit hierher gebeten haben, wenn es mir nur darum zu tun wäre, durch liebenswürdigen Zuspruch getröstet zu werden. Ich befinde mich in einer wahrhaft entsetzlichen Lage — entsetzlich besonders deshalb, weil es hier niemanden gibt, dem ich mich anvertrauen, bei dem ich mir Rat und Beistand holen könnte. Daß ich in meiner Verzweiflung darauf verfiel, mich an Sie zu wenden, muß Sie gewiß in Erstaunen setzen. Und jetzt will es mir selber fast unbegreiflich erscheinen, wie ich Sie mit einer solchen Zumutung behelligen konnte.“
„Wenn Sie mir eine Möglichkeit zeigen können, Mrs. Irwin, Ihnen in irgend einer Weise dienlich zu sein, so bitte ich Sie, unbedingt über mich zu verfügen. Ich bin mit allem, was ich vermag, zu Ihren Diensten. Und Ihr Vertrauen würde mich sehr glücklich machen.“
„Als Gentleman dürfen Sie mir natürlich nicht anders antworten. In Ihrem Herzen aber halten Sie mein Benehmen doch vielleicht für unweiblich und unschicklich. Denn es ist ja richtig, daß wir einander kaum kennen. Drüben in England und gewiß nicht weniger in Ihrer deutschen Heimat würden so flüchtige Begegnungen, wie es die unsrigen waren, mir sicherlich kein Recht geben, Sie wie einen Freund zu behandeln. Und ich kann nicht wissen, inwieweit Sie unter dem Einfluß dieser europäischen Anschauungen stehen.“
„Auch in Deutschland würde jede schutzlose und unglückliche Frau unbedingten Anspruch auf meinen Beistand haben,“ erwiderte er ernst. „Wenn Sie mir vor Ihren hiesigen Freunden den Vorzug geben wollen, so habe ich das nur dankbar anzuerkennen und über Ihre Beweggründe nicht weiter nachzudenken.“
„Aber Sie sollen sie selbstverständlich erfahren. Meine hiesigen Freunde sind natürlich die Kameraden meines Mannes, und an sie kann ich mich nicht wenden, wenn ich damit nicht zugleich das Todesurteil über Irwin sprechen will. Keiner von ihnen dürfte es geschehen lassen, daß ein Mann vom Schlage meines Gatten nur eine Stunde länger dem Offizierkorps des britischen Heeres angehört.“
„Ich verstehe nicht recht, Mrs. Irwin. Die Spielaffäre des Kapitäns ist seinen Kameraden doch ohnedies kein Geheimnis mehr.“
„Es handelt sich auch nicht darum. Wie aber würden Sie über den Charakter eines Mannes urteilen, der seine Frau verkaufen will, um seine Schulden zu bezahlen?“
Das Wort hatte den Hauptmann getroffen wie ein Schlag. Mit großen Augen starrte er auf die junge Frau, die eine so ungeheuerliche Anklage gegen ihren Gatten erhob. Nie war sie ihm lieblicher erschienen, als in diesem Augenblick, wo eine Empfindung weiblicher Scham ihre eben noch so bleichen Wangen mit dunkler Glut bedeckt hatte. Nie hatte er mit gleicher Deutlichkeit gefühlt, ein wie köstlicher, unschätzbarer Besitz dies anmutige Wesen dem Manne sein müsse, dem es sich liebend zu eigen gegeben. Und je weniger er daran zweifelte, daß sie soeben die volle Wahrheit gesprochen, desto heißer wallte in seinem Herzen ein leidenschaftlicher Zorn gegen den Elenden auf, der verworfen genug sein konnte, das herrliche Kleinod in den Schmutz zu zerren.
„Ich wage nicht, Ihre Frage auf den Kapitän Irwin zu beziehen,“ sagte Heideck mit merklich bebender Stimme. „Denn wenn er dazu in Wahrheit fähig gewesen wäre — — —“
Ihn unterbrechend, deutete Edith auf ein kleines Etui, das auf dem neben ihr stehenden Tischchen lag.
„Möchten Sie sich nicht einmal diesen Ring ansehen, Mr. Heideck?“
Er leistete ihrem Verlangen Folge und glaubte in dem Schmuckstück denselben prachtvollen Brillanten zu erkennen, den er gestern[S. 59] an Irwins Finger hatte funkeln sehen. Er gab dieser Vermutung Ausdruck, und die junge Frau nickte bestätigend.
„Ich habe ihn meinem Manne an unserem Hochzeitstage geschenkt. Der Ring ist ein altes Erbstück in meiner Familie. Juweliere schätzen seinen Wert auf mehr als tausend Pfund.“
„Und weshalb trägt Ihr Gatte ihn nicht mehr?“
„Weil er die Absicht hat, ihn zu verkaufen. Natürlich ist der Maharadjah hier der einzige, der sich den Luxus solcher Erwerbungen gestatten darf. Und mein Gatte wünscht, daß ich den Handel mit dem Fürsten abschließe.“
„Sie, Mrs. Irwin? Und warum tut er es nicht selbst?“
„Weil der Maharadjah ihm den Preis nicht zahlen will, den er fordert. Mein Mann will den Ring nicht unter zwei Lakh hergeben.“
„Aber das ist ja ungeheuerlich! Damit wäre er mehr als zwölffach überzahlt!“
„Mein Mann ist trotzdem sicher, daß das Geschäft ohne Schwierigkeiten zustande kommen würde, wenn ich die persönliche Vermittelung übernähme.“
Es war unmöglich, den Sinn ihrer Worte mißzuverstehen. Und so groß war die Erregung, in welche sie den Hauptmann versetzten, daß er ungestüm von seinem Stuhle aufsprang.
„Nein, das ist unmöglich — undenkbar! — Das konnte er Ihnen nicht zumuten! Sie müssen ihn mißverstanden haben. Einer solchen Nichtswürdigkeit kann ein Mann, kann ein Offizier, kann ein Gentleman niemals fähig sein!“
„Sie würden weniger erstaunt sein, wenn Sie Gelegenheit gehabt hätten, ihn kennen zu lernen, wie ich ihn in der kurzen Zeit unserer Ehe kennen gelernt habe. Es gibt schon beinahe nichts mehr, das mich in seiner Handlungsweise überraschen könnte. Er hat eben längst aufgehört, mich zu lieben. Und eine Frau, deren Person ihm gleichgiltig geworden ist, hat für ihn nur noch den[S. 60] Wert eines Handelsobjekts. Vielleicht gibt es für seine Denkungsart sogar eine gewisse Entschuldigung. Es ist möglicherweise ein atavistischer Rückfall in die Anschauungen seiner Vorfahren, die ihre Weiber, wenn sie ihrer überdrüssig geworden waren, mit einem Strick um den Hals auf den Marktplatz führten, um sie an den Meistbietenden zu verkaufen. Es soll noch nicht gar zu lange her sein, daß sich diese schöne Sitte verloren hat.“
„Nicht weiter, Mrs. Irwin!“ fiel ihr Heideck ins Wort. „Ich kann es nicht ertragen, Sie so sprechen zu hören. Und noch immer bin ich der Meinung, daß der Kapitän unzurechnungsfähig gewesen sein muß, als er Ihnen das zumuten konnte.“
Die junge Frau schüttelte mit einem herben Zucken der Lippen den Kopf.
„O nein, er war weder betrunken, noch sonderlich aufgeregt, als er mich um diese ‚kleine‘ Gefälligkeit ersuchte. Am Ende sollte ich mich seiner Meinung nach noch dadurch geschmeichelt fühlen, daß Seine indische Hoheit meiner unbedeutenden Person einen so großen Wert beimißt. Daß ich ohne mein Zutun das Wohlgefallen des Maharadjah erregt habe, war mir allerdings schon seit einiger Zeit zum Bewußtsein gekommen. Nach der ersten Begegnung schon hat er angefangen, mich mit seinen Aufmerksamkeiten zu belästigen. Ich habe davon keine Notiz genommen und nicht einen Augenblick an die Möglichkeit gedacht, daß sich seine — nun, nennen wir es: seine Zuneigung — bis zu verbrecherischen Wünschen versteigen könnte. Nach allem, was ich heute erfahren, muß ich es indes wohl glauben.“
„Aber diese Abscheulichkeit, Mrs. Irwin, war doch für Sie in demselben Augenblick erledigt, wo Sie das Ansinnen Ihres ehrvergessenen Gatten zurückwiesen?“
„Zwischen ihm und mir — ja. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob damit die Wünsche des Maharadjah wirklich schon ganz vergessen sind. Meine indische Zofe ist von einem ihrer Landsleute aufgefordert[S. 61] worden, mich vor einer Gefahr zu warnen, die mich bedroht. Der Mann hat ihr nicht gesagt, worin diese Gefahr besteht; aber ich wüßte nicht, woher sie kommen sollte, wenn nicht von dem Maharadjah.“
Ungläubig schüttelte Heideck den Kopf.
„Von ihm haben Sie sicherlich nichts zu fürchten. Er weiß sehr wohl, daß er die ganze britische Macht gegen sich herausfordern würde, wenn er die Gattin eines englischen Offiziers auch nur mit einem Wort zu verletzen wagte. Er müßte geradezu wahnwitzig sein, wenn er es darauf ankommen ließe.“
„Nun, etwas Despotenwahnsinn mag schon noch in ihm stecken. Wir dürfen doch nicht vergessen, daß die Zeit nicht allzuweit zurückliegt, wo alle diese Tyrannen unumschränkt über Leben und Tod, über Leib und Seele ihrer Untertanen geboten. Und wer weiß, was mein Gatte — — — Aber Sie mögen ja recht haben. Es ist vielleicht eine ganz törichte Vermutung, von der ich mich da beunruhigen lasse. Und eben deshalb wollte ich auch zu keinem von meines Mannes Kameraden davon sprechen. Ihnen allein habe ich mich offenbart. Ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind und daß niemand aus Ihrem Munde erfahren wird, was in dieser Stunde zwischen uns gesprochen wurde.“
„Ich danke Ihnen noch einmal für Ihr Vertrauen, Mrs. Irwin, aber ich möchte so gerne etwas tun, Sie aus Ihrer Unruhe zu befreien. Sie fürchten sich vor einer unbekannten Gefahr, und Sie sind in dieser Nacht bei der Abwesenheit Ihres Gatten ohne einen anderen Schutz als den Ihrer indischen Dienerschaft. Wollen Sie mir gestatten, bis zum Tagesanbruch in Ihrer Nähe zu bleiben?“
Mit einem Erröten, das sein Herz schneller schlagen machte, schüttelte Edith Irwin den Kopf.
„Nein — nein! — Das ist unmöglich. Und ich glaube ja auch nicht, daß mir hier im Schutze meines Hauses und inmitten meiner Leute ein Leid geschehen könnte. Nur für den Fall, daß[S. 62] mir zu einer anderen Zeit und an einem anderen Orte etwas zustoßen sollte, würde ich Sie bitten, den Obersten Baird von dem Inhalt unserer heutigen Unterredung in Kenntnis zu setzen. Man wird den Zusammenhang der Dinge dann vielleicht besser begreifen.“
Wohl verstand Heideck jetzt, weshalb sie gerade ihn, den Fremden, zu ihrem Vertrauten gemacht hatte. Und er glaubte auch zu erraten, daß es viel weniger die Besorgnis vor einem Anschlage des Maharadjah, als vor einer Schurkerei ihres eigenen Gatten sei, von der die unglückliche junge Frau geängstigt wurde. Aber sein Zartgefühl hielt ihn ab, mit dürren Worten auszusprechen, daß er sie begriffen habe. Es war ja auch genug, wenn sie wußte, daß sie unbedingt auf ihn zählen dürfe. Und davon mußte sie hinlänglich überzeugt sein, obgleich es nur der Blick seiner Augen war, der sie dessen versicherte, und der lange, heiße Kuß, den seine Lippen auf die zum Abschied gereichte eiskalte, kleine Hand des armen jungen Weibes drückten.
„Sie werden mir erlauben, Ihnen morgen noch einmal meine Aufwartung zu machen, nicht wahr?“
„Ich werde Ihnen Nachricht geben, wann ich Sie erwarte; ich möchte nicht, daß Sie meinem Mann begegnen. Vielleicht ahnt er, daß Sie mir freundlich gesinnt sind. Und das genügt, um ihn mit Mißtrauen und Abneigung gegen Sie zu erfüllen.“
Sie klatschte in die Hände, und da jetzt die indische Zofe eintrat, um den Besucher hinaus zu geleiten, mußte Heideck ihre letzte Bemerkung unbeantwortet lassen. Als er sich auf der Schwelle aber noch einmal zu einer letzten Verbeugung umwandte, suchten seine Augen die ihrigen, und wenn auch ihre Lippen stumm blieben, hatten sie einander doch vielleicht in dieser einzigen Sekunde mehr gesagt, als während ihres ganzen, langen Beisammenseins.
Als Heideck in den Garten hinaustrat, vermochte er sich zunächst kaum zu orientieren, aber nach einigen Schritten hatten seine Augen sich hinlänglich an die nächtliche Dunkelheit gewöhnt, und das schwache Licht der Sterne zeigte ihm den Weg.
Eine undurchdringliche Hecke von Kaktuspflanzen, die indessen niedrig genug war, um einen hochgewachsenen Mann darüber hinwegsehen zu lassen, bildete die Umfassung des Gartens. Als er die hölzerne Pforte hinter sich geschlossen, blieb Heideck jenseits dieser Hecke stehen und blickte nach den hell erleuchteten Fenstern des Hauses zurück. Solange er der schönen Frau gegenübergestanden, hatte er sich mannhaft beherrscht. Kein rasches Wort hatte ihr den Sturm von Gefühlen verraten, den diese nächtliche Unterredung in seiner Brust entfesselt hatte. Nicht eine Sekunde lang hatte er vergessen, daß sie das Weib eines anderen sei und daß er eine Ehrlosigkeit beging, sie zu seinem Weibe zu begehren, solange sie an diesen anderen gefesselt war. Darüber aber, daß sein Blut mit ungestümer Leidenschaft nach ihr verlangte, konnte er sich selbst nicht länger täuschen. Heute zum ersten Male war ihm mit fast erschreckender Deutlichkeit zum Bewußtsein gekommen, daß er diese Frau liebte, wie er noch nie ein weibliches Wesen geliebt hatte. Doch es war für ihn nichts berauschendes oder beglückendes in dieser Erkenntnis. Viel eher erfüllte sie ihn mit einer Empfindung der Furcht vor den Wirren und Kämpfen, in die seine Liebe zu[S. 64] dieser schönen Frau ihn verwickeln konnte. Wäre sie nicht seines Schutzes bedürftig gewesen und hätte er nicht sein Wort gegeben, zu ihrem Beistande hier zu bleiben, er würde sich dem schweren Herzenskonflikt durch eine rasche Flucht entzogen haben. Aber davon konnte unter diesen Umständen nicht mehr die Rede sein. Er selbst hatte ihr heute ein Recht gegeben, auf seine Freundschaft zu zählen; und es war ein Gebot der Ritterlichkeit, ihr Vertrauen auch zu verdienen.
Unfähig, sich von der Stelle loszureißen, wo er das geliebte Weib wußte, verharrte Heideck wohl schon eine Viertelstunde lang auf seinem Platze, und als er endlich — das törichte seines Beginnens erkennend — den Entschluß gefaßt hatte, sich zur Heimkehr zu wenden, machte er eine Wahrnehmung, die befremdlich genug war, um ihn zu längerem Weilen zu veranlassen.
Er sah, daß die Haustür, die vorhin die indische Zofe hinter ihm geschlossen hatte, sich öffnete, und bei dem Lichtschein, der aus dem erhellten Flur in die Dunkelheit hinausfiel, bemerkte er, wie mehrere in helle Gewänder gekleidete Männer dicht hintereinander die Stufen hinaufeilten.
Er erinnerte sich an Mrs. Irwins rätselhafte Aeußerungen von einem Unglück, das ihr möglicherweise bevorstände, und von einer beängstigenden Ahnung erfaßt, stieß er die Gartenpforte wieder auf und eilte dem Hause zu.
Noch hatte er es nicht erreicht, als der gellende Hilferuf einer weiblichen Stimme an sein Ohr schlug. Heideck riß den Revolver, den er stets bei sich führte, aus der Tasche und sprang mit einigen Sätzen die Treppe empor. Die Tür des Salons, wo er vorhin noch mit der Gattin des Kapitäns gesprochen hatte, war weit geöffnet, und von dort her ertönten die Hilferufe, deren verzweifelter Klang dem Hauptmann die Gewißheit gab, daß es eine furchtbare Gefahr sein müsse, von der Edith Irwin bedroht war. Nur wenige Schritte noch, und er sah die junge Engländerin mit wahrem Todesmut gegen[S. 65] drei weißgekleidete, eingeborene Männer sich wehren, die offenbar willens waren, sie mit sich fortzuschleppen. Ihr leichtes Seidenkleid war bei diesem ungleichen Kampfe bereits in Fetzen gegangen, und so groß war Heidecks Empörung über die ungeheuerliche Brutalität der Angreifer, daß er keinen Augenblick zögerte, seine Waffe gegen den baumlangen, wild aussehenden Burschen abzudrücken, dessen braune Hände eben mit rohem Griff die entblößten Arme der jungen Frau umklammerten.
Der Schuß krachte, und mit einem kurzen, dumpfen Aufschrei taumelte der Getroffene zurück. Entsetzt ließen die beiden anderen von ihrem Opfer ab. Einer von ihnen riß seinen Säbel aus der Scheide und drang auf den Deutschen ein. Heideck konnte nicht zum zweiten Male schießen, weil er fürchten mußte, Edith zu treffen. Darum warf er ohne Besinnen den Revolver zu Boden und packte mit einer Gewandtheit, auf die der Angreifer nicht vorbereitet war, den schon zum Schlage erhobenen Arm des Inders. Er war ihm an Körperkraft weit überlegen und hatte ihm mit einem raschen Griff den Säbel entwunden. Da gab der waffenlos gewordene den Kampf auf und suchte gleich seinem dritten Gefährten, der bereits mit lautlosen, katzenartigen Sprüngen entwischt war, sein Heil in der Flucht.
Heideck verfolgte ihn nicht. Er dachte nur an Edith und daran, daß ihr von den Banditen vielleicht schon ein Leid geschehen war. Sie war in demselben Augenblick, da die gewalttätigen Hände der Inder von ihr abließen, auf den Teppich niedergesunken, und ihr marmorbleiches Antlitz erschien Heideck wie das einer Toten.
Während seltsamerweise weder Ediths gellende Hilferufe, noch der Knall des Schusses einen von den Dienstboten herbeizurufen vermocht hatten, tauchten jetzt, da die Gefahr vorüber war, plötzlich ein paar verstörte braune Gesichter in der Türöffnung auf. Und die energische Aufforderung, die Heideck in englischer Sprache an die noch ängstlich zaudernde Zofe richtete, brachte sie zum Bewußtsein ihrer Pflicht zurück.
Mit ihrer Hilfe trug Heideck die Ohnmächtige zu einer Chaiselongue, und da er auf dem Tischchen eines der grünen Fläschchen mit Lavendelwasser liegen sah, die in keinem englischen Hause fehlen, bediente er sich des starkduftenden Reizmittels, so gut er es verstand, während die Inderin die Fußsohlen ihrer jungen Herrin rieb und allerlei andere, unter den Eingeborenen gebräuchliche Handgriffe anwendete, um die Bewußtlose ins Leben zurückzurufen.
Nach kurzer Zeit schon schlug Edith unter diesen vereinten Bemühungen die Augen auf, und nachdem sie mit wirrem, verständnislosen Blick umhergesehen, kehrte ihr in dem Augenblick, wo sie den auf dem Boden ausgestreckten Körper des von Heideck erschossenen Inders erblickte, mit voller Klarheit die Erinnerung an das Geschehene zurück.
Den letzten Rest der lähmenden Schwäche mit der Energie eines festen Willens abschüttelnd, sprang sie auf.
„Sie waren es, der mich gerettet hat, Mr. Heideck — Sie haben Ihr Leben für mich eingesetzt — wie soll ich Ihnen danken!“
„Allein damit, gnädige Frau, daß Sie mir erlauben, Sie unverzüglich in das Haus des Obersten zu geleiten, unter dessen Schutz Sie sich notwendig bis zur Rückkehr Ihres Gatten stellen müssen. Von wem auch immer dieser verbrecherische Anschlag ausgegangen sein mag, — ob diese Halunken gemeine Diebe waren oder ob sie in irgend jemandes Auftrage gehandelt, jedenfalls fühle ich mich als einzelner Mann nicht stark genug, die Verantwortung für Ihre Sicherheit zu übernehmen.“
„Sie haben recht,“ erwiderte Edith fügsam. „Ich werde mich sogleich bereit machen, mit Ihnen zu gehen. — Aber dieser Mann da —“ fügte sie erschauernd hinzu, — „ist er tot? Oder kann man noch etwas für ihn tun?“
Heideck neigte sich über den Regungslosen herab, und ein einziger Blick in das fahlbraune, verzerrte Antlitz mit den weit[S. 67]offenen, stieren, verglasten Augen ersparte ihm jede weitere Untersuchung.
„Er hat empfangen, was ihm gebührte,“ sagte er, „und für Ihr hochherziges Mitleid gibt es hier nichts mehr zu tun. Ist denn aber gar kein männliches Wesen hier im Hause, das mir behilflich sein könnte, den Mann beiseite zu schaffen?“
„Alle sind fort,“ sagte die Zofe. „Der Haushofmeister hat sie aufgefordert, sich mit ihm in der Stadt einen vergnügten Abend zu machen.“
Heideck und Edith wechselten einen bedeutsamen Blick. Keines von ihnen hegte jetzt auch nur noch den geringsten Zweifel, daß es sich bei dem tollkühnen Ueberfall um ein Komplott gehandelt hatte, an welchem auch die indische Dienerschaft beteiligt war. Und deutlich genug erriet jedes von ihnen die Vermutungen des anderen hinsichtlich der Urheber des schändlichen Anschlags.
Aber sie sprachen sich nicht darüber aus. Gerade weil sie sich durch die Erlebnisse dieser Nacht so nahe gekommen waren, wie das Schicksal zwei junge Menschenkinder verschiedenen Geschlechts nur immer zueinander führen kann, hegten sie beide dieselbe, fast instinktive Scheu vor dem ersten Wort, das vielleicht auch die letzte trennende Schranke zwischen ihnen niedergerissen hätte. Und Kapitän Irwins Name wurde nicht zwischen ihnen genannt.
Es war um die Mittagszeit, als Kapitän Irwin aus dem Bungalo des Obersten trat und sich seinem Hause zuwandte. Die Unterhaltung mit seinem Vorgesetzten mußte für ihn sehr bedeutungsvoll und wenig erfreulich gewesen sein. Denn er war sehr bleich. Auf seinen Wangen brannten rote Flecken und seine tiefliegenden Augen blickten finster, wie in mühsam beherrschtem Zorn.
Kurze Zeit darauf wurde das Pferd des Obersten vorgeführt und gleichzeitig ritt ein Zug Lancers unter dem Kommando eines Wachtmeisters in den Hof ein. Der Kommandierende erschien in großer Uniform und setzte sich an die Spitze des Zuges, der im Galopp dem Schlosse des Maharadjah zusprengte.
Unmittelbar vor dem Palast machten die Reiter Halt, und in befehlendem Ton rief Oberst Baird den am Eingangstor lungernden Dienern zu, daß er den Maharadjah zu sprechen wünsche.
Ein paar Minuten vergingen, ehe ein prächtig gekleideter Palastbeamter mit der Meldung zurückkam, daß Seine Hoheit augenblicklich niemanden empfangen könne. Der Herr Oberst würde Nachricht erhalten, sobald die erbetene Audienz bewilligt werden würde.
Jetzt schwang sich der Befehlshaber aus dem Sattel und ging festen, sporenklirrenden Schrittes in das Schloß, seinen Säbel mit lautem Gerassel hinter sich her über die Marmorfliesen schleifend.
„Melden Sie dem Fürsten, daß ich auf der Stelle mit ihm zu reden habe!“ rief er mit drohender Stimme den Palastbeamten und Dienern zu, die ihm in sichtlicher Bestürzung folgten.
Einer so kategorischen Erklärung wagte man offenbar keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen. Alle Tore öffneten sich vor dem Engländer, und auch im Vorzimmer brauchte er kaum eine Minute lang zu warten, ehe sich der Fürst bereitfinden ließ, ihn zu empfangen.
Auf einer kleinen, hochgelegenen Terrasse des Erdgeschosses saß der Maharadjah beim Luncheon. Er veränderte seine absichtlich lässige Haltung nicht, als der englische Resident auf ihn zutrat. Und der sprühende Blick, mit dem seine dunklen Augen sich auf den Eindringling richteten, sollte den Fremden offenbar einschüchtern.
Den Helm auf dem Kopf, die Faust auf den Säbel gestützt blieb der Oberst hart vor dem Fürsten stehen.
„Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Maharadjah!“
„Und ich habe Ihnen durch meine Diener sagen lassen, daß ich jetzt nicht zu sprechen bin. Sie sehen, ich bin bei der Mahlzeit!“
„Das darf für Sie kein Hindernis sein, den Vertreter Seiner britischen Majestät zu empfangen. Der Bescheid, den Sie mir erteilen ließen, war eine Beleidigung, die bei einer Wiederholung nicht ungesühnt bleiben würde.“
In aufloderndem Zorn fuhr der Fürst von seinem Sessel empor. Er schleuderte dem Obersten ein Schmähwort ins Gesicht, und seine Rechte fuhr gleichzeitig nach dem Dolche in seinem Leibgurt. Erschrocken prallte der Diener zurück, der eben im Begriff gewesen war, ihm auf silberner Schale eine rotschimmernde Languste zu präsentieren. Der Oberst aber setzte, ohne sich auch nur um Haaresbreite von seinem Platze zu rühren, das silberne Jagdpfeifchen an den Mund, das an seiner Schulter hing. Zwei gellende Pfiffe ertönten, und unmittelbar darauf wurde das Trappeln von Pferdehufen und das Klirren von Waffen vernehmlich. Die hohen, blau[S. 70]gestreiften Turbane der Reiter und die Fähnchen ihrer Lanzen tauchten neben der Terrasse auf.
„Man rufe meine Leibgarde!“ schrie der Fürst mit vor Wut heiserer Stimme.
Aber mit eisiger Ruhe klang es von den Lippen des Obersten:
„Wenn Sie Ihre Leibgarde kommen lassen, Maharadjah, sind Sie ein toter Mann. Das wäre Rebellion. Und mit Rebellen pflegen wir keine Umstände zu machen.“
Der Fürst preßte die Lippen zusammen. Die mit ungeheurer Anstrengung beherrschte Wut ließ seinen Körper wie im Fieber erzittern. Aber er mußte einsehen, daß er hier der schwächere sei, denn ohne ein weiteres Wort ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen.
Der Oberst trat an die Brüstung der Terrasse.
„Wachtmeister Thomson!“ rief er in den Park hinaus.
Auf den Marmorstufen erklangen schwere Schritte, und der Gerufene, dem zwei Soldaten folgten, trat in dienstlicher Haltung seinem Vorgesetzten gegenüber.
„Wissen Sie, Wachtmeister, wer der Herr dort am Tische ist?“
„Zu Befehl, Herr Oberst! Das ist Seine Hoheit der Maharadjah.“
„Wenn ich Ihnen Befehl erteilte, den Herrn zu verhaften und zum Camp zu führen, — würden Sie Bedenken tragen, zu gehorchen?“
Der Wachtmeister sah den Fragenden an, als ob der Zweifel an seinem bedingungslosen, militärischen Gehorsam ihn in Erstaunen setzte. Dann machte er eine Kopfbewegung gegen die beiden Soldaten hin und trat, als wollte er den Auftrag sofort zur Ausführung bringen, um einen weiteren Schritt auf den Fürsten zu.
„Halt, Wachtmeister!“ rief der Oberst. „Ich hoffe, Seine Hoheit wird es nicht zum äußersten kommen lassen. Sie sind doch bereit, Maharadjah, mir jetzt Rede zu stehen?“
Schweigend deutete der Inder auf den vergoldeten Sessel an[S. 71] der anderen Seite des Tisches. Auf einen Wink des Obersten traten der Wachtmeister und die beiden Soldaten wieder ab.
„Ich habe eine sehr ernste Frage an Sie zu richten, Maharadjah!“
„Sprechen Sie!“
„In der letzten Nacht, während der Kapitän Irwin abwesend war, sind einige verbrecherische Leute in sein Haus eingedrungen in der Absicht, sich tätlich an der Gemahlin des Kapitäns zu vergreifen. Was wissen Sie von dieser Sache, Maharadjah?“
„Ich verstehe Sie nicht, Oberst! Was sollte ich davon wissen?“
„Vielleicht täten Sie doch gut, sich zu besinnen. Sie hören von dieser Affäre zum ersten Mal?“
„Gewiß. Ich habe bisher nicht das geringste davon gewußt.“
„Auch das hat man Ihnen also nicht gemeldet, daß derjenige von den Einbrechern, der tot auf dem Platze geblieben ist, einer Ihrer Diener war?“
„Nein. Ich habe sehr viele Diener, und ich bin nicht verantwortlich für das, was sie tun, wenn es nicht in meinem Auftrage geschah.“
„Gerade das aber ist es, was ich vermute. Sie werden mir schwerlich zumuten zu glauben, daß einer Ihrer Diener einen derartigen Ueberfall auf eigene Hand gewagt haben sollte. Die anderen Schurken sind zwar entkommen, aber einer von ihnen hat einen Säbel zurücklassen müssen, der einem Manne Ihrer Leibgarde angehörte.“
Der Maharadjah kämpfte augenscheinlich einen schweren Kampf, seine Fassung zu bewahren. Indem er seine Wut hinter einem verächtlichen Lächeln zu verbergen suchte, sagte er:
„Es ist unter meiner Würde, Oberst, Ihnen darauf zu antworten.“
„Von irgend einer Würde, die Sie berechtigte, eine von dem britischen Residenten verlangte Auskunft zu verweigern, kann nicht die Rede sein. Sie haben es nicht mit einem einfachen englischen Offizier, sondern mit dem Vertreter Seiner Majestät des indischen[S. 72] Kaisers zu tun. Wie es meine Pflicht ist, Sie zu fragen, so ist es die Ihre, mir zu antworten. Eine Weigerung könnte leicht die schwersten Folgen für Eure Hoheit haben. Denn die Regierungskommissare, die man auf meinen Bericht hin von Kalkutta nach Chanidigot entsenden würde, dürften sich von Ihrer Würde sehr wenig imponieren lassen.“
Wieder biß der Inder die Zähne zusammen, und ein wilder, leidenschaftlicher Haß glänzte in seinen Augen. Aber er mochte zu gleicher Zeit daran denken, daß er nicht der erste unter den indischen Fürsten gewesen wäre, den man wegen eines geringfügigen Uebergriffes auch um den letzten Rest seiner Scheinherrschaft gebracht hätte. Darum zwang er sich zu einer äußerlich ruhigen Entgegnung.
„Wenn Sie es für nötig halten, nach Kalkutta zu berichten, so kann ich Sie daran nicht hindern. Aber ich denke, der Vizekönig wird sich besinnen, einen treuen Alliierten Englands gerade in dem Augenblick zu beleidigen, wo er ihn um die Entsendung einer Hilfstruppe angeht.“
„Da Sie dieses Umstandes einmal erwähnen — wer ist zum Kommandeur der Truppe bestimmt?“
„Mein Vetter Tasatat Radjah.“
„Und wann wird er marschieren?“
„In etwa vier Wochen, wie ich hoffe.“
Der Offizier schüttelte den Kopf.
„Das wäre viel mehr Zeit, als wir Ihnen geben können. Ihre Truppe soll sich meinem Detachement anschließen, und ich werde spätestens in vierzehn Tagen ausrücken.“
„Sie verlangen Unmögliches. Es fehlt vorläufig noch an Pferden, und ich weiß nicht, woher ich in so kurzer Zeit zweitausend Kamele nehmen sollte. Auch habe ich bei weitem nicht genug Munition für die Infanterie.“
„Die fehlende Munition kann für Rechnung Eurer Hoheit aus dem Arsenal zu Mooltan geliefert werden. Was aber die Pferde[S. 73] und Kamele betrifft, so werden Sie bei einiger Anstrengung die nötige Anzahl ohne Zweifel zu rechter Zeit stellen können. Ich wiederhole, daß in vierzehn Tagen alles bereit sein muß. Vergessen Sie nicht, daß die pünktliche Ausführung des Ihnen erteilten Befehls gewissermaßen eine Probe auf Ihre Treue und Ihren Eifer darstellt. Jedes unnötige Zaudern und jede Zweideutigkeit in Ihrer Haltung müßten Ihnen verhängnisvoll werden.“
Der Nachdruck, mit dem diese Worte gesprochen waren, verriet hinlänglich, wie ernst sie gemeint seien. Und der Maharadjah, dessen gelbliche Haut sich für einen Moment dunkler gefärbt hatte, neigte schweigend den Kopf.
Oberst Baird erhob sich von seinem Sitz.
„Was die Angelegenheit der Mrs. Irwin betrifft, so erwarte ich die sofortige Einleitung einer gründlichen Untersuchung. Und ich verlange, daß sie mit schonungsloser Strenge, ohne alle Winkelzüge und Heimlichkeiten geführt werde. Die Beleidigung, die von einigen Ihrer Untertanen einem Offizier Seiner Majestät und einer britischen Dame zugefügt wurde, ist eine so ungeheuerliche, daß nicht nur die Verbrecher selbst, sondern auch der Anstifter dieser Tat der verdienten Strafe überliefert werden müssen. Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit. Wenn ich nicht vor Ablauf dieser Frist einen befriedigenden Bericht von Ihnen erhalten habe, so werde ich selbst die Untersuchung führen. Und Sie dürfen gewiß sein, daß die gewünschte Aufklärung dann binnen kürzester Frist erfolgt sein wird.“
Er legte militärisch grüßend die Hand an den Helm und schritt, diesmal den kürzesten Weg wählend, die Stufen der Terrasse hinab. Klirrend und rasselnd sprengte der Reiterzug davon.
Mit düster funkelnden Augen blickte ihm der Maharadjah nach. Dann befahl er dem Diener, Mohammed Bhawon, seinen Leibarzt, zu rufen. Und als wenige Minuten später das ganz in weißen Musselin gekleidete magere, verhutzelte Männchen mit dem[S. 74] faltigen braunen Gesicht und den stechenden schwarzen Augen zu ihm trat, winkte er ihm gnädig zu, sich auf dem goldgestickten Polster an seiner Seite niederzulassen.
Eine zweite gebieterische Handbewegung wies den Diener hinaus. Und indem er seinen Arm vertraulich um den Nacken des Arztes legte, sprach der Maharadjah lange und angelegentlich mit behutsam gedämpfter Stimme auf ihn ein — freundlich und schmeichelnd, wie man zu jemandem redet, von dem man außerordentliches verlangt — aber noch immer mit dem Glitzern einer leidenschaftlichen Wut und eines tödlichen Hasses in den Augen.
Vergebens wartete Heideck am Tage nach dem nächtlichen Ueberfall auf eine Botschaft von Edith, die ihm die Möglichkeit gewährt hätte, sie wiederzusehen. Er war darauf gefaßt, von Irwin wegen seines abendlichen Besuchs in der Villa zur Rede gestellt zu werden. Aber der Kapitän ließ sich nicht bei ihm blicken.
Am frühen Morgen schon war Heideck zu dem Obersten beschieden worden, um über den Hergang des nächtlichen Ereignisses Bericht zu erstatten. Die Vernehmung war sehr kurz gewesen, und Heideck hatte den Eindruck, daß der Oberst in seinen Fragen eine eigentümliche Zurückhaltung beobachtete. Offenbar wünschte er in dem Deutschen die Vorstellung zu erwecken, daß er selbst fest überzeugt sei, man habe es nur mit verwegenen Einbrechern zu tun, die auf ihre eigene Faust gehandelt hätten. Ganz beiläufig nur erwähnte er, daß der Tote als ein Mann von der Leibwache des Maharadjah rekognosziert worden sei. Als Heideck fragte, ob ihm aus der Tötung des Mannes von seiten der Zivilbehörden noch Weiterungen erwachsen könnten, beruhigte ihn der Oberst durch ein entschiedenes Nein.
„Sie haben in berechtigter Abwehr gehandelt, als Sie den Burschen niederschossen, und ich verbürge mich dafür, daß Sie weder von den englischen Behörden noch von dem Maharadjah deshalb behelligt werden sollen.“
Auf seine Erkundigung nach Mrs. Irwins Befinden wurde ihm ebenfalls eine beruhigende Antwort gegeben.
„Die Dame erfreut sich glücklicherweise des besten Wohlseins,“ sagte der Oberst. „Sie ist eben eine Frau von bewundernswürdiger Seelenstärke.“
Auch bis zum nächsten Morgen hatte Kapitän Irwin noch nichts von sich hören lassen. Heideck und Fürst Tschadschawadse saßen in ihrem Bungalo beim Frühstück und plauderten über die wichtigen Nachrichten, welche die eben eingetroffenen Zeitungen gebracht hatten.
Die ‚India Times‘ schrieb, daß Rußland durch seinen Einmarsch in Afghanistan die Londoner Verträge verletzt habe und daß England dadurch ebenfalls berechtigt und genötigt würde, eine Armee nach Afghanistan zu senden. Es sei zu hoffen, daß friedliche Verhandlungen den drohenden Konflikt lösen würden. Wenn aber die russische Armee nicht nach Turkestan zurückkehre, würde England sich ebenfalls zu energischen Maßregeln veranlaßt sehen. Eine englische Truppenmacht würde Afghanistan besetzen und den Emir zwingen, seinen Bündnisverpflichtungen gegen die indische Regierung nachzukommen. Auf alle Fälle würde eine starke Flotte in den Häfen von Plymouth und Portsmouth ausgerüstet, um im gegebenen Moment in die Ostsee zu gehen.
„Bezeichnender als das,“ sagte Heideck, „ist die Tatsache, daß die zweieinhalbprozentigen Konsols an der Londoner Börse gestern einen Kurs von neunzig notierten, während sie vor acht Tagen auf sechsundneunzig standen. Die Engländer scheuen sich, offen auszusprechen, daß der Krieg tatsächlich begonnen hat.“
„Ein Krieg ohne Kriegserklärung,“ stimmte der Fürst zu. „Jedenfalls müssen wir uns beeilen, über die Grenze zu kommen. Ich möchte nicht gern den Augenblick versäumen, wo man in Afghanistan losschlägt.“
„Das kann ich Ihnen nachfühlen. Aber es dürfte alsdann in der Tat keine Zeit zu verlieren sein.“
„Wenn Sie damit einverstanden sind, reisen wir noch heute ab. Dann sind wir um Mitternacht in Mooltan und morgen Mittag in Attock. Morgen Abend können wir in Peschawar eintreffen. Dort lassen wir uns die Erlaubnisscheine zum Ueberschreiten des Kaiberpasses geben. Je früher wir durch den Paß kommen, desto besser, denn später dürfte es Schwierigkeiten haben, die Erlaubnis zu erlangen.“
„Sie führen doch nichts Verdächtiges bei sich — Karten, Zeichnungen oder dergleichen?“
Der Russe schüttelte lächelnd den Kopf, „Nichts als Murrays Handbuch, den unentbehrlichen Begleiter jedes Reisenden. Ich würde mich wohl hüten, etwas anderes mitzunehmen. Für Sie liegt die Sache ja weniger ängstlich.“
„Weshalb für mich?“
„Weil Sie ein Deutscher sind. Mit Deutschland ist man nicht im Kriege. Ich aber würde sofort in Gefahr sein, für einen Spion gehalten zu werden.“
„Uebrigens glaube ich, daß wir beide nichts zu fürchten hätten, selbst wenn man uns als Offiziere erkennen würde. Es dürften in diesem Augenblick mindestens ebensoviele englische Offiziere auf russischem Gebiet als russische hier in Indien sein.“
„Solange der Krieg noch nicht erklärt ist, pflegt man mit den Offizieren fremder Mächte allerdings höflich zu verfahren. Aber unter den obwaltenden Umständen möchte ich es doch nicht gern darauf ankommen lassen. Die Möglichkeit, standrechtlich erschossen zu werden, läge nicht allzu fern. Besser schon, ich suche die Maske eines harmlosen Kaufmanns festzuhalten und beeile mich, aus dem Machtbereich unserer Gegner zu kommen. Was ich an Aufzeichnungen, Karten und Festungsplänen in meinem Gedächtnis bewahre, könnte man ja glücklicherweise selbst mit Röntgenstrahlen nicht entdecken. Aber Sie haben sich noch gar nicht geäußert, Herr Kamerad — sind Sie bereit, mich heute zu begleiten?“
„Ich bitte Sie, nicht auf mich zu rechnen. Ich möchte vorläufig noch bleiben.“
Und da er das Erstaunen des Russen bemerkte, fuhr er fort:
„Sie sagten selbst, daß ich mich als Deutscher in einer weniger gefährlichen Lage befinde. Selbst wenn man mich als Offizier erkennt, kann man mir kaum ernstliche Unannehmlichkeiten bereiten. Am wenigsten hier, wo nichts auszuspionieren wäre.“
Daß es lediglich der Gedanke an Mrs. Irwin war, der die plötzliche Aenderung seiner Entschlüsse herbeigeführt hatte, verriet er nicht. Und der Russe zerbrach sich über seine Beweggründe allem Anschein nach nicht weiter den Kopf.
„Wissen Sie, was mir in diesem Augenblick allein Sorge macht?“ fragte er. „Ich fürchte, daß Deutschland die gute Gelegenheit benutzen könnte, uns in den Rücken zu fallen. Ihr Volk liebt uns nicht, darüber wollen wir uns nicht täuschen. Es gab ja eine Zeit, wo das Deutschtum bei uns eine entscheidende Rolle spielte. Aber seit den Tagen Alexanders III. ist das anders geworden. Auch wir können nicht so leicht vergessen, daß Ihr großer Bismarck uns auf dem Berliner Kongreß um den Preis unseres Sieges über die Türken gebracht hat.“
„Verzeihen Sie, mein Fürst, wenn ich Ihnen da widerspreche. Die Schuld lag einzig bei Ihrem Kanzler Gortschakow, der seinen Vorteil nicht zu verfolgen verstand. Die Engländer haben das benutzt. Bismarck selbst würde ohne Zweifel jeder russischen Forderung zugestimmt haben. Im übrigen kann ich Ihnen versichern, daß von einer nationalen Feindschaft gegen Rußland bei uns, namentlich in den gebildeten Kreisen, nicht die Rede ist.“
„Es mag ja sein, aber in Rußland wird diese Abneigung jedenfalls als ein Faktor betrachtet, mit dem man in kritischen Augenblicken rechnen müsse. Der Vertrag mit Frankreich würde sonst wahrscheinlich niemals zu stande gekommen sein. Und ich könnte Ihrer Nation gewisse Feindseligkeiten gegen uns nicht im mindesten[S. 79] verübeln. Wir besitzen nun einmal verschiedene Landesgebiete, die geographisch viel natürlicher zu Deutschland gehören würden. Wenn Ihr Vaterland von seinem Ueberfluß an Menschen acht Millionen Bauern in Polen ansiedeln könnte, wäre ihm in mancher Hinsicht geholfen. Stände ich an der Spitze Ihrer Regierung, so würde ich mich zunächst mit Oesterreichs Zustimmung des russischen Polen bemächtigen, dann aber Oesterreich zerschlagen, Böhmen, Mähren, Kärnthen, Steiermark, Tirol als deutsches Land annektieren und die österreichische Dynastie auf Transleithanien beschränken.“
Heideck konnte nicht umhin, zu lächeln.
„Das sind kühne Phantasien, Fürst! Und Sie dürfen versichert sein, daß bei uns niemand im Ernst an solche Pläne denkt.“
„Seltsam genug, wenn es so wäre. Denn mich dünkt, es müßte Ihnen als das Natürlichste erscheinen. Was bedeutet denn euer deutsches Reich, wenn euch gerade die deutschesten Länder fehlen? Sollte euch nicht die Bevölkerung der deutschen Provinzen Oesterreichs näher stehen als die des nordöstlichen Preußen? Aber es ist ja möglich, daß man bei euch zu gewissenhaft und zu vertragstreu ist, um eine so großzügige Politik zu treiben.“
Heideck lenkte das Gespräch nicht ohne Absicht wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.
„Welche Route gedenken Sie zu nehmen? Haben Sie sich bestimmt für Peschawar entschieden oder ziehen Sie auch Quetta in Betracht?“
„Darüber bin ich mit mir noch nicht ganz im Reinen. Jedenfalls möchte ich denjenigen Weg wählen, auf dem ich am schnellsten zu unserer Armee gelange.“
„Dann würde ich Ihnen die Route über Quetta vorschlagen. Denn es ist wohl das wahrscheinlichste, daß die russische Hauptarmee sich nach Süden wendet. Herat dürfte ihr nächster Angriffspunkt sein. Dorthin führen die besten Straßen, von Norden und Nordwesten her. Es ist der Kreuzungspunkt der Karawanenwege aus[S. 80] Indien, Persien und Turkestan. In Herat kann eine große Armee konzentriert werden, weil es inmitten fruchtbaren Landes liegt. Wenn Ihre Vorhut da festen Fuß faßt, lassen sich mit der transkaspischen Bahn in verhältnismäßig kurzer Zeit sechzigtausend Mann dorthin schaffen. Rücken die Engländer bis Kandahar vor, so wird dort der Zusammenstoß erfolgen. Aber die russische Armee wird so überlegen sein, daß der Gegner schwerlich den Marsch auf Kandahar wagen wird. Durch die afghanischen Truppen verstärkt, kann General Iwanow mit hunderttausend Mann ungehindert bis zum Bolanpaß kommen.“
„Wenn ihm das gelänge,“ meinte der Fürst, „so stände ihm der Weg in das Tal des Indus offen. Denn gegen eine solche Streitmacht vermöchte England den Paß nicht zu halten.“
„Ist der Bolanpaß wirklich so schwer zu passieren, wie man sagt?“ fragte Heideck.
„Der Paß ist etwa fünfzig Werst lang. Im Jahre 1839 ging das bengalische Korps der Indusarmee durch den Paß zum Angriff auf das afghanische Heer und brachte vierundzwanzigpfündige Haubitzen, sowie achtzehnpfündige Kanonen ohne Schwierigkeiten hindurch.“
„Wenn ich mich recht besinne, kamen sie ohne nennenswerten Kampf bis nach Kandahar und besetzten ganz Afghanistan. Aber der endliche Ausgang war doch eine fürchterliche Niederlage. Von ihren fünfzehntausend Mann sind nur viertausendfünfhundert in eiliger Flucht durch den Kaiberpaß nach Indien zurückgekehrt.“
Fürst Tschadschawadse lachte spöttisch auf.
„Fünfzehntausend? Ja, wenn man den englischen Quellen Glauben schenken wollte! Aber ich kann Ihnen nach besseren Informationen versichern, daß die Engländer im Jahre 1839 mit nicht weniger als einundzwanzigtausend Soldaten nebst einem Train von siebzigtausend Mann und sechzigtausend Kamelen gegen Afghanistan ausgezogen sind. Sie marschierten durch den Bolanpaß, nahmen[S. 81] Kandahar und Gasna, rückten in Kabul ein und setzten Schah Tschudscha auf den Thron. Eine entscheidende Niederlage erlitten sie eigentlich nicht, aber ein allgemeiner Aufstand der Afghanen vertrieb sie aus ihrer Position und rieb ihren Truppenbestand vollständig auf.“
„Ich bewundere Ihr Gedächtnis, mein Fürst!“
„O, das alles müssen wir auf Generalstabsschule am Schnürchen haben, wenn wir nicht jämmerlich durchs Examen rasseln wollen. Im November 1878, als wir den Krieg gegen die Türken mit allen Mitteln zu Ende führen mußten und deshalb in Zentralasien ziemlich schwach waren, sind die Engländer abermals in Afghanistan eingerückt. Sie gedachten, sich unsere Verlegenheit zu nutze zu machen und das Land ganz unter ihre Herrschaft zu bringen. In drei Kolonnen gingen sie durch den Bolanpaß, das Kuramtal und den Kaiberpaß. Aber auch diesmal konnten sie sich nicht behaupten und mußten unter großen Verlusten den Rückzug antreten. Wer nicht die eingeborene Bevölkerung für sich hat, wird in Afghanistan niemals festen Fuß fassen. Und die Sympathieen der Afghanen sind auf unserer Seite. Wir verstehen es, mit diesen Leuten umzugehen; die Engländer dagegen gelten ihnen für unreine Ungläubige.“
„Glauben Sie, daß Rußland es jetzt nur auf den Besitz des Pufferstaates Afghanistan abgesehen hat? Oder sollten seine Absichten noch weiter gehen?“
„O, mein bester Kamerad, jetzt geht es um Indien. Seit mehr als hundert Jahren schon haben wir unsere Blicke auf dieses reiche Land gerichtet. Alle unsere Eroberungen in Zentralasien haben Indien zum letzten Ziel. Schon Kaiser Paul befahl 1801 dem Ataman des donischen Heeres, Orlow, mit 22000 Kosaken bis zum Ganges vorzudringen. Man stellte sich damals den Feldzug allerdings viel zu leicht vor. Der Kaiser starb, und sein tollkühner Plan kam nicht zur Ausführung. Während des Krimkrieges erbot sich General Kauffmann, mit 25000 Mann Indien zu erobern.[S. 82] Es kam nicht dazu. Seitdem haben sich die Ansichten geändert. Wir haben eingesehen, daß nur ein schrittweises Vorgehen zum Ziele führen kann. Und wir haben unsere Zeit nicht verloren. Im Westen sind wir bis auf 100 Kilometer an Herat herangerückt, und im Osten, im Pamirgebiet, sind wir Indien noch viel näher gekommen.“
„Es ist mir interessant, das zu hören. Ich selbst habe mir bisher trotz alles Bemühens keine recht klare Vorstellung von der Grenze am Pamirgebiet machen können.“
„Und Sie sind wahrhaftig nicht der Einzige, dem es so ergeht. Niemand, der nicht an Ort und Stelle war, kann die dortige Lage verstehen. Und wer dagewesen ist, kennt die Grenze auch nicht, weil es gar keine bestimmte Grenze gibt. Das Pamirplateau liegt nördlich von Peschawar und wird im Süden vom Hindukuschgebirge begrenzt. Die Besitzverhältnisse aber sind außerordentlich verwickelt. Der Emir des benachbarten Afghanistan beansprucht die Herrschaft über die Chanate Schugnan und Roschan, die den Hauptteil des Pamirgebietes ausmachen. Weiter erhebt er ja auch Anspruch auf die Provinz Seistan, die außerdem noch von Persien reklamiert wird. Gerade diese Provinz ist von besonderer Wichtigkeit, denn die Engländer würden, wenn sie sich ihrer bemächtigten, was von Beludschistan aus ohne große Schwierigkeiten geschehen könnte, eine starke Flankenstellung im Süden unserer Marschlinie Merw-Herat durch Kandahar-Quetta gewinnen.“
„Das sind allerdings recht unklare Verhältnisse.“
„So unklar, daß wir mit den Engländern seit langen Jahren über die Grenzfrage streiten. Unsere britischen Freunde haben den Emir von Afghanistan schon wiederholt veranlaßt, Truppen dorthin zu senden. Und englische Expeditionen zum Zwecke der Grenzfeststellung sind oft genug in den Bergen von Pamir herumgeklettert. Natürlich stehen wir in dieser Hinsicht nicht hinter ihnen zurück. Ich selbst habe seinerzeit an einer solchen wissenschaftlichen Expedition teilgenommen.“
„Und es handelte sich wirklich um ein wissenschaftliches Unternehmen?“
„Sagen wir: um ein kriegswissenschaftliches!“ erwiderte der Fürst lächelnd. „Wir hatten zweitausend Kosaken bei uns und kamen bis auf den Hindukusch, zum Baragilpaß und einem andern, der keinen Namen hatte, und den wir unserem Obersten zu Ehren Jonowpaß nannten. Da stießen wir auf afghanische Truppen und schlugen sie bei Somatsch. Der Emir Abdur Rahman mußte das auf Geheiß der Engländer, die ihm Subsidien zahlten, übelnehmen und sie um Beistand bitten. Ein englischer Gesandter erschien in Kabul, und es kam zu Verhandlungen, die wir recht geschickt in die Länge zogen, um Zeit für die Erbauung kleiner Forts auf dem Pamirgebiet zu gewinnen. In London wurde schließlich vereinbart, daß der Pentsch die Grenze zwischen Rußland und Afghanistan im Pamirgebiet sein solle. Und ein paar Monate später trafen wir am Ssary-Kul mit einer englischen Expedition zusammen, die im Verein mit uns die genaue Grenzlinie feststellen sollte. Es gab eine höchst ergötzliche Komödie; denn die englischen Kameraden wollten uns durchaus nicht merken lassen, daß sie Befehl hatten, nachgiebig zu sein. Wir aber waren sehr rasch dahintergekommen und zogen die Grenze, wie es uns gefiel. Das Ende war, daß nur noch ein ganz schmaler Streifen zwischen Buchara und der indischen Grenze dem Emir verblieb, der sich außerdem verpflichten mußte, dort weder Truppen zu halten, noch Befestigungen anzulegen. Also unser Gebiet war auf 20 Kilometer an das englische herangerückt. Dort sind wir Indien am nächsten, und wenn wir wollen, können wir jederzeit von den Pässen des Hindukusch nach dem unter englischem Einfluß stehenden Tschitratal hinabsteigen.“
Die Unterhaltung wurde durch das Erscheinen eines Dieners unterbrochen, der Heideck eine Einladung von Mrs. Baird zum Diner am Abend dieses Tages brachte. Der Hauptmann vermochte seine Freude kaum zu verbergen; denn er zweifelte nicht, daß es[S. 84] Edith war, der er diese Einladung verdankte, und er war glücklich in der Hoffnung, sie endlich wiederzusehen.
„Sie stehen sich gut mit dem Obersten,“ sagte der Fürst, als der Diener mit Heidecks zusagendem Bescheide gegangen war. „Das kann Ihnen unter den gegenwärtigen Verhältnissen von großem Vorteil sein. Lassen Sie sich doch einen Passierschein ausstellen und reisen Sie mit mir!“
„Es tut mir leid, mein Fürst! Ich würde gewiß sehr gern in so angenehmer Gesellschaft reisen, aber meine Geschäfte halten mich einstweilen noch hier zurück.“
„Nun — wie Sie wollen, — ich darf Ihnen nicht weiter zureden. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir einander nochmals begegnen werden, und es ist überflüssig, zu versichern, daß Sie in jeder Lage auf mich zählen dürfen.“
Der deutsche Kaiser weilte, wie alljährlich, im Wildpark von Springe. Aber für das edle Weidwerk, bei dem der Monarch sonst in der nervenstählenden Waldeinsamkeit Erholung und neue Kräfte suchte, blieb diesmal nur selten eine Stunde übrig. Der Telegraph war in ununterbrochener Tätigkeit, und täglich erschienen in dem Jagdschlosse Staatsmänner, Diplomaten und hohe Offiziere, mit denen der Kaiser lange Besprechungen hatte. Die Fenster seines Arbeitszimmers blieben bis tief in die Nacht hinein erleuchtet, und gewöhnlich fand schon der frühe Morgen den Herrscher wieder an seinem Schreibtisch.
Heute aber hatte nach halbdurchwachter Nacht die Sehnsucht nach einem Atemzug frischer Gottesluft den Kaiser beim Morgengrauen hinausgeführt in den schweigenden Tannenwald.
Ein leichter Rauhreif, der über Nacht gefallen war, bedeckte die Zweige und den Boden mit feinen, weißschimmernden Eiskristallen. Zwischen den Stämmen lagen noch die Schatten der Dämmerung. Im Osten aber flammte glühendes Rot über den fahlen, graublauen Himmel hin.
Dorthin richteten sich die Blicke des Kaisers. Unter einer hohen, alten Fichte hemmte der Monarch seinen Schritt, und seine Lippen bewegten sich zu einem leisen Gebet. Von dem Lenker der Geschicke aller Völker erflehte er in dieser ernsten Zeit Rat und Kraft für seinen schweren Entschluß.
Da schlug der Ton menschlicher Stimmen an sein Ohr. Er sah zwei Männer, die seine Nähe nicht ahnten, in lebhaftem Gespräch auf dem unfern vorüberführenden schmalen Pirschpfade daherkommen. Des Kaisers scharfes Jägerauge erkannte in dem einen der beiden hochgewachsenen Herren seinen Oberstallmeister, den Grafen Wedel. Der andere aber war ihm fremd.
Und dieser Unbekannte war es, der jetzt sagte:
„Es ist mir eine Freude, daß wir uns endlich einmal Auge in Auge aussprechen können. Ich habe den tiefen Riß in unserer alten Freundschaft und Kameradschaft sehr beklagt. Aber auf meiner Seite ist die Mißstimmung längst vorüber. Ich hatte damals nicht in preußische Dienste treten wollen, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, daß unsere alte tapfere hannoversche Armee aufgehört hatte, zu existieren, und ich zürnte dir, mein lieber Ernst, weil du, ein hannoverscher Garde du Corps, vergessen zu haben schienst, was du der Ehre deines engeren Vaterlandes schuldig warst. Aber du hast weiter gesehen als ich. Der hochherzige Entschluß des Kaisers, die Traditionen der Hannoveraner wieder zu beleben, unserem alten Offizierkorps eine Heimstätte in den neuen preußischen Regimentern zu eröffnen und unsere ruhmvollen Devisen auf die Fahnen und Standarten dieser neuen Regimenter zu schreiben, hat alles wieder gut gemacht. Ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo auch diejenigen Hannoveraner, die jetzt noch grollend beiseite stehen, einsehen werden, daß ein Kriegsherr, der so hochsinnig denkt, der berufene Sammler und Führer aller Kräfte des großen, gemeinsamen Vaterlandes ist.“
„Nun, ich habe dich und deinen Eisenkopf nie verkannt. Du hast dich ja inzwischen tüchtig in der Welt umgesehen, und da du jetzt ein Hamburger Großkaufmann bist, wirst du wohl ein großes Vermögen haben.“
„Mein Leben ist interessant und erfolgreich gewesen, aber mir fehlt doch das beste. Ich sehne mich nach einer Tätigkeit, die meiner[S. 87] Natur entspricht. Ich bin nun einmal Soldat, wie meine Vorfahren es seit Jahrhunderten gewesen sind. Wäre ich 1866 in die preußische Armee eingetreten, so könnte ich heute Kommandierender sein, und vielleicht hätte ich binnen kurzem die Ehre, mein Korps unter den Augen unseres Kaisers ins Feld zu führen.“
„Du glaubst, daß Deutschland in den Krieg verwickelt werden könnte? Gegen wen sollten wir fechten?“
„Wenn unser Kaiser der scharfblickende und energische Geist ist, für den ich ihn halte, — — —“
Es widerstrebte dem Monarchen, die Sprechenden noch länger in Unkenntnis seiner Anwesenheit zu lassen.
„Heda, ihr Herren!“ rief er jovial hinüber. „Verratet eure Geheimnisse nicht, ohne zu wissen, wer sie hört!“
„Seine Majestät!“ sagte der Graf halblaut, indem er mit tiefer Verbeugung seinen Hut zog. Der Begleiter folgte seinem Beispiel, und da ihn der Kaiser fragend ansah, sagte er:
„Untertänigst zu melden: Grubenhagen aus Hamburg.“
Der Monarch ließ seinen Blick über die hohe, breitschultrige Gestalt des stattlichen Mannes hingleiten und fragte lächelnd:
„Sie haben gedient?“
„Zu Befehl, Majestät — als Leutnant beim Königlich hannoverschen Regiment Garde du Corps.“
„Haben denn auch bürgerliche Offiziere bei dem Regiment gestanden?“
„Majestät halten zu Gnaden: Mein Name ist Freiherr von Grubenhagen. Aber der Freiherr war dem Kaufmann im Wege.“
Das bei aller schuldigen Ehrerbietung freimütige und mannhafte Wesen des Freiherrn schien dem Kaiser zu gefallen. Lange blickte er in das scharfgeschnittene, energische Gesicht, aus dem ein Paar kühne und intelligente Augen leuchteten.
„Sie haben viel von der Welt gesehen?“
„Majestät, ich war in Amerika und viele Jahre in England, bevor ich mein Geschäft in Hamburg errichtete.“
„Ein guter Kaufmann sieht oft mehr als ein Diplomat, denn sein Blick ist unbefangener und freier. Ich liebe Ihr Hamburg; es ist eine loyale Stadt voll Einsicht und Unternehmungsgeist.“
„Man würde an der Alster glücklich sein, Eure Majestät so sprechen zu hören.“
„Fürchtet man in Hamburg nicht große Verluste durch den Krieg?“
„In Hamburg, Majestät, denken viele Leute so wie ich.“
„Und wie denken Sie?“
„Daß unter Eurer Majestät glorreicher Regierung alle Deutschen des Kontinents sich zu einem einzigen und einigen großen Volk zusammenschließen werden, dem alle germanischen Stämme des Nordens, Dänen, Schweden und Norweger, kraft des Gravitationsgesetzes, sich ankristallisieren müssen.“
„O! — Sie haben Mut!“
„Majestät, wir leben in einem Zeitalter, dessen charakteristisches Zeichen die Bildung großer Staatswesen ist.“
Mit einer freundlichen Handbewegung unterbrach ihn der Monarch:
„Lassen Sie uns zum Frühstück gehen, meine Herren! Freiherr von Grubenhagen, Sie sind mein Gast. Es wird mich interessieren, noch einiges von Ihren kühnen Ideen zu hören.“
Unmittelbar nachdem der Kaiser das Jagdschloß betreten hatte, war ihm der mit dem Nachtzuge von Berlin herübergekommene Reichskanzler gemeldet worden. Auch er nahm mit dem Gefolge des Monarchen an der Frühstückstafel teil, und er mochte nicht wenig erstaunt sein über den fremden Gast, den er da in der Umgebung des Kaisers fand und der von dem Herrscher mit offenkundigem Wohlwollen ausgezeichnet wurde.
Als man sich nach aufgehobener Tafel um den runden Tisch im Rauchzimmer gruppiert und auf einen Wink des Kaisers der[S. 89] diensttuende Flügeladjutant für die Entfernung der Dienerschaft Sorge getragen hatte, wandte sich Kaiser Wilhelm mit ernster Miene an den Freiherrn von Grubenhagen.
„Und nun lassen Sie uns einmal ganz frei und unumwunden hören, wie nach Ihren Beobachtungen das deutsche Volk über die Möglichkeit eines Krieges denkt.“
Der Freiherr erhob den schönen, charaktervollen Kopf, und indem er dem Kaiser frei und unbefangen in die Augen sah, erwiderte er:
„Niemand, Majestät, ist darüber im Ungewissen, daß es ein verhängnisvoller Schritt sein würde, den Krieg zu erklären. Vielen Tausenden wird damit ein frühes Grab geöffnet, verwüstete Länder, ein vielleicht auf lange Zeit hinaus zerstörter Handel und unzählige Tränen sind die unvermeidlichen Begleiter des Kriegs. Aber es gibt ein höchstes Gesetz, vor dem alle andern zurücktreten müssen: das Gebot, die Ehre zu erhalten. Und ein Volk hat seine Ehre, wie der einzelne. Wo diese Ehre auf dem Spiele steht, soll es den Krieg nicht scheuen. Denn von der Bewahrung der nationalen Ehre hängt schließlich doch die Bewahrung aller andern nationalen Güter ab, und wo der Friede um jeden Preis, selbst um den Preis der Ehre erhalten bleiben soll, müssen allmählich alle Güter des Friedens verloren gehen, und das Volk muß zur Beute seiner stärkeren Nachbarn werden. Eisen ist wertvoller als Gold, denn dem Eisen verdanken wir all’ unsern Besitz. Wozu wären denn auch Armee und Marine? Sie sind der Ausdruck der politischen Wahrheit, daß nur Mut und Kraft die Bürgschaft für das Bestehen und Gedeihen eines Volkes bilden. Rußland und Frankreich stehen zusammen, um England zu bekämpfen. Und das deutsche Volk hat das Gefühl, daß es an der Zeit sei, in diesen Kämpfen Partei zu ergreifen. Darüber aber, auf welche Seite es sich zu stellen habe, besteht nirgends eine Ungewißheit. Unser Volk ist seit langem erbittert durch Englands Intriguen und Uebergriffe. Tiefer und[S. 90] mächtiger als irgend ein anderes Gefühl in der Menschenbrust ist die Liebe zur Gerechtigkeit, und dieses Gerechtigkeitsgefühl ist beständig durch Englands Politik verletzt worden. Es bedarf nur eines Kaiserwortes, um die deutsche Volksseele bis in ihre tiefsten Tiefen aufzuregen und eine Flamme der Begeisterung emporschlagen zu lassen, die alle innere Uneinigkeit, allen Hader der Parteien verzehren wird. Wir sollten nicht fragen, was kommen könnte; wir sollten tun, was die Stunde gebietet. Wo Deutschland mit Einsetzung seiner ganzen Kraft um den Sieg ringt, da wird er ihm zufallen. Der Sieg aber hat seine eigene Weisheit.“
Um die Mittagszeit war Fürst Tschadschawadse mit seinem Pagen Georgij und seinem indischen Diener nach dem Norden abgereist. Heideck hatte während der wenigen Tage ihrer Bekanntschaft der schönen Cirkassierin gegenüber die größte Zurückhaltung beobachtet und hatte nicht zu erkennen gegeben, daß er das Geheimnis ihrer Verkleidung durchschaut habe. Und es war, als ob sie ihm dafür Dank wisse. Zwar hatte er nicht ein einziges Mal mit ihr gesprochen, aber ihr Lächeln und die freundlichen Blicke, die sie ihm bei zufälligen Begegnungen zuwarf, waren hinlänglich deutliche Beweise für die Art ihrer Gesinnung. Ueber die Natur der Beziehungen, die zwischen dem schönen Pagen und seinem Herrn bestanden, konnte Heideck nicht im Zweifel sein. Wäre seine Seele nicht so ganz ausgefüllt gewesen von dem Gedanken an Edith, so hätte er sich leicht versucht fühlen können, den Russen um das Glück dieser holden Reisegesellschaft zu beneiden; denn er erinnerte sich kaum je ein reizvolleres weibliches Wesen gesehen zu haben, als es die Cirkassierin in ihrer malerischen Kleidung war. Vor den Augen Fremder wußte sie ihre Dienerrolle meisterlich durchzuführen, aber es war unverkennbar, daß sie in Wahrheit die Gebieterin war. Ein einziger Blick ihrer feurigen Augen reichte hin, die gelegentlichen brutalen Aufwallungen des Fürsten niederzuhalten, und er wagte in ihrer Gegenwart keinen der etwas freien Scherze, zu denen er sonst, namentlich unter dem Einfluß geistiger Getränke, leicht geneigt war.
Heideck empfand eine Neigung aufrichtigen Bedauerns, als er den bei all seinen kleinen Schwächen sehr liebenswürdigen Kameraden scheiden sah. Er hegte wenig Hoffnung, daß die Erwartung des Fürsten, ihm noch einmal zu begegnen, sich erfüllen würde; aber er zählte ihn unter die erfreulichsten und interessantesten Bekanntschaften seiner an wechselvollen Erlebnissen schon so reichen Reise.
Pünktlich um 7 Uhr betrat Heideck in dem vorschriftsmäßigen Gesellschaftsanzuge den Empfangssalon des Obersten. Ein Gefühl heißer Freude wallte in seinem Herzen auf, als er sah, daß niemand außer Edith Irwin darin anwesend war. Sie sah schöner aus denn je. Einzig eine leichte Blässe mochte an die Wirkung der Schrecknisse erinnern, die sie erlebt. Lächelnd ging sie ihm um einige Schritte entgegen und reichte ihm die Hand, die er bewegt an seine Lippen zog.
„Ich bin beauftragt, Mrs. Baird und den Obersten noch für eine Viertelstunde bei Ihnen zu entschuldigen,“ sagte sie. „Die Vorbereitungen für die Mobilmachung nehmen den Obersten völlig in Anspruch, und seine Gattin war vorhin durch einen kleinen Migräneanfall genötigt, sich auf kurze Zeit zurückzuziehen.“
Wie gern Heideck seinen Gastgebern den kleinen Verstoß gegen die Pflichten der Höflichkeit verzieh, stand deutlich genug auf seinem Gesicht geschrieben. Er nahm auf Ediths Einladung ihr gegenüber Platz und sagte:
„Ich hoffe, Mrs. Irwin, daß Sie von seiten Ihres Gatten keine Unannehmlichkeiten wegen meines späten Besuchs gehabt haben. Während des ganzen gestrigen Tages hat mich diese Sorge unablässig verfolgt.“
Mit einem etwas herben Lächeln schüttelte die junge Frau den Kopf:
„O nein. Mein Mann hat mir im Gegenteil aufgetragen, ihn zu entschuldigen, daß er die persönliche Abstattung seines Dankes[S. 93] für Ihre heldenmütige Tat auf später verschieben müßte. Er wurde in dienstlicher Angelegenheit auf unbestimmte Zeit nach Lahore abkommandiert, und sein Aufbruch erfolgte in solcher Hast, daß ihm nicht die Zeit blieb, Ihnen seinen Dank auszusprechen.“
Heideck glaubte zu verstehen, was dieses Kommando zu bedeuten habe. Aber er fragte nur:
„Und Sie werden während der Abwesenheit des Kapitäns unter dem Schutz des Obersten bleiben?“
„Es ist noch nichts bestimmtes darüber beschlossen worden. Weiß doch augenblicklich hier niemand, was uns die nächsten Tage bringen werden. Es ist gewiß, daß sich außerordentliche Ereignisse vorbereiten, und wir armen Frauen müssen im Falle eines Krieges geduldig über uns ergehen lassen, was man über unser Schicksal beschlossen hat.“
„Und der Maharadjah? Sie haben noch nichts von ihm gehört?“
„Oberst Baird hat gestern eine amtliche Unterredung mit dem Fürsten gehabt; aber ich kenne ihren Inhalt nicht, da ich nicht den Mut hatte, danach zu fragen. Daß der Maharadjah sich augenblicklich in feindseliger Stimmung gegen den Obersten befindet, scheint mir indessen leider nur zu gewiß. Ich müßte mich sehr schlecht auf die Eigenart dieser indischen Despoten verstehen, wenn das Ereignis, das sich heute hier zugetragen, nicht unmittelbar auf den Maharadjah zurückzuführen wäre.“
„Ist es unbescheiden, nach der Natur dieses Ereignisses zu fragen?“
„Man hat versucht, den Obersten an seinem eigenen Tische zu vergiften.“
„Wie?“ fragte Heideck erstaunt. „Zu vergiften?“
„Ja. Mr. Baird hat die Gewohnheit, vor jeder Mahlzeit ein Glas Eiswasser zu trinken, und bei dem heutigen Tiffin wurde es ihm, wie immer, von seinem indischen Tafeldecker dargereicht. Aber[S. 94] eine eigentümliche Trübung des Wassers fiel dem Obersten auf. Er leerte das Glas nicht sofort, sondern ließ es ein paar Minuten lang stehen, und nun wurde deutlich ein feiner, weißer Niederschlag auf dem Boden des Gefäßes sichtbar. Die Vermutung, daß es sich um einen Vergiftungsversuch handle, lag um so näher, als der Tafeldecker, den man wegen der Beimischung befragen wollte, plötzlich spurlos verschwunden und auch bis zur Stunde noch nicht wieder aufzufinden ist. Man schüttete einen kleinen Teil der Flüssigkeit in das Futtergefäß der Hunde und stellte es in eine Rattenfalle, die fünf oder sechs dieser gefräßigen Nager enthielt. Zehn Minuten später war nicht eines der Tiere mehr am Leben. Der Rest des Wassers wurde dem Regimentsarzt Doktor Hopkins, einem eifrigen Chemiker, zur Untersuchung übergeben, und er hat versprochen, uns beim Diner über das Ergebnis zu berichten.“
Noch ehe Heideck Gelegenheit gefunden hatte, das Gespräch auf Ediths persönliche Angelegenheiten zurückzuführen, erschien Mrs. Baird in Gesellschaft ihres Gatten und seines Adjutanten. Der Gast wurde mit gewinnender Liebenswürdigkeit begrüßt, und als wenige Minuten später auch der kleine, bewegliche Doktor Hopkins eingetroffen war, setzte man sich zu Tisch.
Vielleicht wäre es dem Obersten lieber gewesen, wenn von der Vergiftungsaffaire in Heidecks Gegenwart nicht die Rede gewesen wäre. Aber die Ungeduld seiner durch den Vorfall in begreifliche Aufregung versetzten Gemahlin ließ sich nicht zügeln.
„Nun, Herr Doktor,“ fragte sie, „was haben Sie gefunden?“
Der Regimentsarzt hatte offenbar nur auf diese Frage gewartet.
„Eines der gefährlichsten aller bekannten indischen Gifte,“ erklärte er mit ernster Miene, „das sogenannte Diamantpulver, gegen das es kein Gegengift gibt und das sich im Körper des Vergifteten nicht nachweisen läßt, weil es pflanzlicher Natur ist und von den Geweben aufgesogen wird.“
Mrs. Baird stieß einen Schrei des Entsetzens aus und legte für einen Moment die Hand über die Augen.
Mr. Hopkins aber fuhr fort: „Ich habe das Diamantpulver noch niemals unter den Händen gehabt, obwohl es gar nicht so selten zur Anwendung gelangen soll. Die Zubereitung ist für uns Europäer bis jetzt noch ein undurchdringliches Geheimnis, das von den indischen Aerzten sorgfältig gehütet wird. An den indischen Fürstenhöfen soll es früher dieselbe Rolle gespielt haben, wie im Mittelalter die berühmte acqua toffana bei den italienischen Despoten.“
Die Ausführungen des Arztes waren unter dem frischen Eindruck des nur durch einen Zufall vereitelten abscheulichen Attentats natürlich nicht danach angetan, die gedrückte Stimmung der kleinen Tischgesellschaft zu heben. Und der Oberst, dem die gelehrten Auseinandersetzungen des Regimentsarztes ersichtlich besonders unbehaglich waren, machte seiner Gattin früher, als es sonst zu geschehen pflegte, ein Zeichen, die Tafel aufzuheben.
Man begab sich auf die von einer Hängelampe beleuchtete Veranda, wo Tee und eisgekühlte Getränke gereicht wurden. Obwohl Heideck während des ganzen Abends nur Augen für Edith Irwin gehabt, hatte er doch beinahe ängstlich alles vermieden, was den Anwesenden seine Empfindungen für die junge Frau verraten konnte. Und auch jetzt, nachdem Edith sich in den äußersten, halbdunklen Winkel der Veranda zurückgezogen, würde er sicherlich nicht gewagt haben, sich in dem Korbsessel niederzulassen, der an ihrer Seite freigeblieben war, wenn sie selbst ihn nicht in vollkommen unbefangenem Tone dazu aufgefordert hätte.
„Sie haben keinen Platz, Herr Heideck — bitte — hier ist noch ein Stuhl frei.“
Und mit einer graziösen Bewegung raffte sie die Falten ihres Foulardkleides zusammen, um ihn vorüber zu lassen. Wieder begegneten sich, von den anderen unbemerkt, für einen Moment ihre[S. 96] Augen. Und wenn er es nicht gewußt hätte, daß er sich rettungslos im Banne dieses schönen jungen Weibes befand, so würde der stürmische Schlag seines Herzens ihn darüber belehrt haben.
Der Abend war ziemlich hell, und als jetzt plötzlich unter dem üblichen Lärmen und Schreien der indischen Kutscher zwischen den Zelten des Lagers ein sonderbarer Wagenzug auftauchte, verstummte die kaum in Fluß gekommene Unterhaltung auf der Veranda, weil alle Blicke sich dem unerwarteten Schauspiel zuwandten, für das — den Obersten vielleicht ausgenommen — zunächst wohl noch niemand eine Erklärung hatte.
Man sah, daß es fünf, von reich geschmückten weißen Buckelochsen gezogene Wagen waren, die ein Reitertrupp in der Kleidung der Leibgarde des Maharadjah eskortierte.
Ihr Anführer ritt bis hart an die Stufen der beleuchteten Veranda, schwang sich hier aus dem Sattel und stieg in vornehmer, würdevoller Haltung zu der in begreiflicher Spannung harrenden Gesellschaft des Obersten empor.
Er war ein schöner junger Mann mit griechisch geschnittenem Gesicht und großen, schwermütigen Augen. Sein Anzug bestand aus einer gelbseidenen Bluse, die mit einem Schal aus violetter Seide umgürtet war, englischen Reithosen und hohen gelben Stiefeln. Sein violett gestreifter seidener Turban war mit einer Perlenschnur durchflochten, und an seiner Brust sandten haselnußgroße Brillanten im Licht der Lampe ihre buntfarbigen Strahlen aus.
„Es ist Tasatat Radjah, der Vetter und der besondere Liebling des Fürsten,“ flüsterte Edith Heideck zu, in dessen Gesicht sie etwas wie eine Frage gelesen haben mochte. „Ohne Zweifel schickt ihn der Maharadjah in einer besonderen Mission.“
Der Oberst hatte sich erhoben und war dem Besucher um einige Schritte entgegengegangen. Aber er reichte ihm nicht die Hand und lud ihn auch nicht zum Niedersitzen ein.
„Ich grüße dich, Sahib, im Namen Seiner Hoheit,“ sagte der[S. 97] Prinz mit jenem edlen Anstand, der dem vornehmen Inder angeboren ist, „und ich wünsche dir Glück und langes Leben. Seine Hoheit übersendet dir als Zeichen seines Wohlwollens wie seiner hohen Achtung vor deinem Amte und deinen Verdiensten ein geringes Geschenk. Er bittet dich, es anzunehmen, zum Beweise, daß auch du vergessen hast, was gestern infolge eines beklagenswerten Mißverständnisses zwischen dir und Seiner Hoheit gesprochen wurde.“
„Seine Hoheit ist sehr gütig,“ sagte der Oberst kühl und gemessen. „Darf ich fragen, worin das mir zugedachte Geschenk besteht?“
Mit einer lässigen Handbewegung wies der Prinz auf die unten haltenden Gefährte.
„Jeder dieser fünf Wagen, Sahib, enthält hunderttausend Rupien.“
„Das wären also fünf Lakh?“
„So ist es. Und ich bitte dich noch einmal, Seine Hoheit durch eine günstige Antwort zu erfreuen.“
Der Oberst überlegte ruhig und kühl seine Antwort, dann sagte er in derselben ruhigen Haltung und mit demselben undurchdringlichen Gesicht, wie zuvor:
„Ich danke dir, Prinz! Laß den Inhalt dieser Wagen in die Vorhalle meines Hauses schaffen. Ueber das, was weiter damit geschehen soll, werde ich die Entscheidung des Vizekönigs abwarten.“
Auf dem Gesicht des Prinzen zeigte sich deutlich ein Ausdruck der Enttäuschung. Eine Weile verharrte er wie in unentschlossenem Nachdenken. Dann, da er aus der Haltung des Obersten erkennen mußte, daß der Engländer die Unterhaltung als beendet ansah, berührte er mit der Rechten leicht die Mitte der Stirn, verbeugte sich und stieg die Stufen der Veranda wieder hinab. Viele kleine Tonnen wurden auf sein Geheiß von den niedrigen Karren herabgehoben und unter dem Beistande englischer Soldaten in den Flur des Hauses geschafft. Dann setzte sich der Zug unter demselben Lärm und Geschrei, wie er gekommen war, wieder in Bewegung und verschwand in der Ferne.
Ein Lächeln lag auf dem eben noch so kalten Gesicht des Obersten, als er sich jetzt seinen Gästen zuwandte; wohl von der Empfindung geleitet, daß er ihnen gewissermaßen eine Erklärung für sein Benehmen schuldig sei.
„Ich betrachte diese halbe Million als einen sehr erwünschten Beitrag zu den Kriegskosten meines Detachements. Diese Orientalen können sich eben niemals in unsere Denkweise hineinversetzen, und unsere Ehrbegriffe werden ihnen immer ein unlösliches Rätsel bleiben. Mit einem Geschenk, das er natürlich mir persönlich zugedacht hat, glaubt dieser Despot alles aus der Welt geschafft zu haben, was ihm möglicherweise Ungelegenheiten bereiten könnte — sowohl den Anschlag gegen Mrs. Irwin, wie die Geschichte mit dem Diamantpulver. Denn er ist durch den verschwundenen Tafeldecker natürlich bereits über den Mißerfolg unterrichtet, und er weiß recht gut, was für ihn auf dem Spiele stehen würde, wenn ich diese skandalöse Geschichte nach Kalkutta berichtete.“
Zum ersten Male sprach der Oberst hier vor andern offen aus, daß er den Maharadjah für den Urheber der beiden Anschläge hielt. Er mußte einen besonderen Grund hierzu haben, und Heideck glaubte ihn zu erraten, als der Oberst auf die Frage des Regimentsarztes, ob er denn nicht gesonnen sei, einen solchen Bericht an den Vizekönig abgehen zu lassen, erwiderte:
„Ich weiß es nicht — ich weiß es wirklich noch nicht. Nach dem Grundsatze: „fiat justitia, pereat mundus“ müßte ich es ja unzweifelhaft tun. Aber mit dem „pereat mundus“ ist es doch so ein eigen Ding. Wir stehen wahrscheinlich unmittelbar vor dem Kriege, und der Vizekönig würde mir, wie ich vermute, wenig Dank wissen, wenn ich ihm zu seinen mancherlei anderen Sorgen noch neue aufbürden wollte. Wir brauchen diese indischen Fürsten jetzt sehr notwendig. Sie müssen uns ihre Truppen zur Verfügung stellen, und wir dürfen keine Feinde im Rücken haben, wenn unsere Armee in Afghanistan engagiert ist. Ein schroffes Vorgehen gegen einen[S. 99] von ihnen aber könnte uns alle diese Fürsten rebellisch machen. Und es wäre ganz unabsehbar, welche Folgen eine einzige Niederlage oder auch nur das falsche Gerücht von einer solchen haben würde.“
Doktor Hopkins stimmte ihm ohne weiteres zu, und auch die anwesenden Offiziere waren der Meinung ihres Vorgesetzten. Wie immer in diesen letzten Tagen, entspann sich ein lebhaftes Gespräch über die Kriegsgefahr und über den wahrscheinlichen Verlauf der bevorstehenden Ereignisse. Heideck aber, der sicher war, aus dem Munde dieser siegesgewissen Herren nichts neues mehr zu vernehmen, benutzte das laute Durcheinander, um Edith leise zu fragen:
„Es geschieht nicht bloß aus politischen Rücksichten, sondern auch auf Ihren Wunsch, wenn der Oberst nichts von dem nächtlichen Ueberfall nach Kalkutta berichtet — nicht wahr?“
„Ich habe ihn allerdings darum gebeten,“ gab sie in demselben vorsichtigen Flüsterton zurück. „Heute aber, nach dem mißlungenen Anschlag auf sein Leben, habe ich ihm gesagt, daß ich für meine Person und für — für die Person meines Gatten keinerlei Rücksicht mehr verlange.“
„Sie halten es also im Ernst für möglich, daß Kapitän Irwin bei jenem Ueberfall — —“
„Lassen Sie uns nicht jetzt davon sprechen, Mr. Heideck — nicht jetzt und nicht hier,“ bat sie, indem sich ihre Augen mit einem flehenden Blick zu ihm erhoben. „Sie können nicht ahnen, wie furchtbar ich unter diesen schrecklichen Dingen leide. Es ist mir, als wäre vor mir nur finstere, undurchdringliche Nacht. Und wenn ich daran denke, daß ich eines Tages wieder gezwungen sein könnte — —“
Sie beendete den angefangenen Satz nicht, aber Heideck wußte gut genug, wie sein Schluß hatte lauten sollen. Und ein unwiderstehlicher Impuls trieb ihn, ihr zu antworten:
„Sie dürfen sich zu nichts zwingen lassen, Mrs. Irwin, gegen[S. 100] das Ihr Herz sich auflehnt. Wer könnte denn auch versuchen, solchen Zwang auf Sie zu üben?“
„O, Sie wissen nicht, Mr. Heideck, was für uns Engländer die Rücksicht auf die sogenannte gute Sitte bedeutet. Nur keinen Skandal — nur um des Himmels willen keinen Skandal! Das ist das erste und vornehmste Gesetz in unserer Gesellschaft. So liebenswürdig der Oberst und seine Gattin bis jetzt gegen mich gewesen sind — ich fürchte sehr, daß sie mich ohne Rücksicht auf meine Schuld oder Unschuld sofort fallen lassen würden, wenn ich es zu dem kommen ließe, was ihnen als ein Skandal erscheint.“
„Und doch sollen Sie nur Ihrem eigenen Empfinden — nur Ihrem Herzen und Ihrem Gewissen folgen, Mrs. Irwin — nicht den engherzigen Ansichten des Obersten oder irgend eines anderen Menschen. Sie dürfen nicht die Märtyrerin eines Vorurteils werden — ich kann diese Vorstellung einfach nicht ertragen. Und Sie müssen mir versprechen — —“
Er kam nicht weiter. Eine plötzlich eingetretene Pause im Gespräch der anderen zwang auch ihn, zu verstummen. Und es war ihm, als sähe er die klugen, durchdringenden Augen der Mrs. Baird mit einem Ausdruck des Mißtrauens auf sich gerichtet. Er war unzufrieden mit sich selbst, daß die berauschende Nähe des geliebten Weibes und seine fast schon bis zu leidenschaftlichem Haß gesteigerte Abneigung gegen ihren unwürdigen Gatten ihn in die Gefahr gebracht hatten, sie zu kompromittieren. Aber als er sich bald nachher gleichzeitig mit den anderen Gästen empfahl, bewies ihm ein warmer, beglückender Druck von Ediths Hand, daß sie weit davon entfernt war, ihm zu zürnen.
Jeder neue Tag brachte jetzt weitere Nachrichten, die das drohende Gespenst des Krieges in immer größere Nähe rückten. Die Mobilmachung wurde befohlen. Die Feldtruppen wurden von dem Depot gesondert, das in Chanidigot zurückbleiben sollte. Die Infanterie wurde mit Munition ausgerüstet und täglich mit Schieß- und Gefechtsübungen beschäftigt. Pferde wurden eingekauft und ein Train gebildet, zu dem namentlich eine ungeheure Menge von Kamelen gehörte. Die Vorräte an Lebensmitteln wurden vervollständigt, und die Offiziere studierten eifrigst die Karten von Afghanistan.
Für Heidecks Begriffe von einer Mobilmachung ging das alles freilich sehr langsam von statten, und der Maharadjah schien es mit der Ausrüstung seiner Hilfstruppen noch viel weniger eilig zu haben.
Von Süden her kamen beständig Militärzüge durch Chanidigot, um Truppen und Pferde weiter nach dem Norden zu befördern. Ihr Ziel war zunächst Peschawar, wo Generalleutnant Sir Bindon Blood, der Oberkommandierende des Korps von Pendschab, eine große Feldarmee zusammenzog. Mit einiger Verwunderung nahm Heideck wahr, daß die durchziehenden Regimenter den verschiedensten Korps entnommen waren, so daß der taktische Verband dieser Korps und ihre Organisation zerrissen worden waren. Es unterlag keinem Zweifel, daß die Regierung um jeden Preis so schnell als möglich starke Truppenkörper an der Grenze aufstellen wollte und[S. 102] darüber die Rücksicht auf spätere Ereignisse gänzlich außer Acht ließ. Sowohl Viscount Kitchener, der Oberbefehlshaber in Indien, wie der Vizekönig und die Minister in London schienen es für ausgemacht zu halten, daß die englische Armee von vornherein siegreich sein würde und nicht genötigt werden könnte, sich auf die Festungen der Nordwestprovinzen zurückzuziehen. Die Geringschätzung, mit der die Offiziere in Chanidigot von der russischen Armee und von den Afghanen sprachen, bestätigte diese allgemeine Auffassung zur Genüge.
Endlich wurde es klar, daß der Krieg zur Tatsache geworden war. Am zehnten Tage nach der Meldung vom Einmarsch der Russen in Afghanistan fiel die Entscheidung.
Das Londoner Kabinett hatte in St. Petersburg angefragt, was jener Einmarsch zu bedeuten habe. Und es hatte die Antwort erhalten, daß Rußland sich genötigt sähe, dem Emir auf seine Bitte zu Hilfe zu kommen; denn der Afghanenherrscher wäre den Maßnahmen Englands gegenüber um seine Selbständigkeit besorgt. Nichts läge der russischen Regierung ferner, als eine Herausforderung Englands, aber sie könne die Bedrängnis des Emirs nicht gleichgiltig ansehen und sei entschlossen, für die Unabhängigkeit Afghanistans einzutreten.
Daraufhin erklärte England den Krieg, und Generalleutnant Blood erhielt den Befehl, unverzüglich durch den Kaiberpaß in Afghanistan einzurücken. Weiter sollte Generalleutnant Hunter, der Oberkommandierende des Korps von Bombay, mit einer Armee von Quetta aus gegen Kandahar marschieren.
Gleichzeitig, — so hieß es, — sollte von Portsmouth aus eine englische Flotte abgehen.
Obwohl die in Indien erscheinenden englischen Zeitungen offenbar dahin instruiert waren, alles zu verschweigen, was die Lage Englands in einem ungünstigen Lichte erscheinen lassen könnte, brachten sie doch mancherlei Meldungen, die dem kundigen Leser[S. 103] allerlei Schlüsse auf die gegenwärtige Kriegslage nahe legten. Man konnte daraus entnehmen, daß England auch gegen Frankreich rüste. Nur über die Haltung Deutschlands in dem drohenden Weltkriege fehlte jede Mutmaßung.
Die anfängliche Absicht, die Familien der in Chanidigot stationierten Offiziere und Beamten südwärts nach Bombay oder nach dem östlich gelegenen Kalkutta zu bringen, war bald aufgegeben worden. Die Verbreitung der Pest in beiden Städten und die Schwierigkeiten der Reise sprachen dagegen; denn die Eisenbahnen waren zur Zeit vollständig durch Truppentransporte in Anspruch genommen. So wurde beschlossen, daß die Frauen und Kinder zunächst bei dem Depot in Chanidigot bleiben sollten. Kapitän Irwin, der aus Lahore zurückgekehrt war, und der außerhalb des Dienstes, bei dem er einen fast fieberhaften Eifer entwickelte, ein völlig einsiedlerisches Leben führte, sollte dieses Depot kommandieren. Seine Gattin aber, der er seit seiner Ankunft noch nicht ein einziges Mal begegnet war, sollte seinem Schutze nicht unterstellt werden. Oberst Baird, der seiner Frau auf ihre dringenden Bitten zugesagt hatte, daß sie ihn mit den Kindern nach Quetta begleiten dürfte, wollte auch Edith Irwin dorthin mitnehmen.
Es war bestimmt worden, daß das Detachement im Verein mit den Truppen des Maharadjah von Chanidigot aufbrechen sollte. Heideck hatte die Erlaubnis erhalten, es zu begleiten. Der Oberst wollte ihm wohl, und es war ihm offenbar angenehm, einen so ritterlichen Mann, auf den man sich in jeder Lage unbedingt verlassen konnte, als Beschützer bei den Damen zu wissen, wenn er selbst durch seine militärischen Pflichten verhindert sein würde, sich um sie zu kümmern. Am Tage vor dem Abmarsch war Heideck zum Tiffin bei dem Obersten, und man besprach in ernster Stimmung die bevorstehenden Ereignisse, als draußen das dumpf klingende Warnungszeichen eines Automobils vernehmlich wurde. Zwei Minuten später trat, ganz mit Staub bedeckt und mit dunkelgerötetem[S. 104] Gesicht ein Offizier auf die Veranda, der sich als Kapitän Elliot, Adjutanten des Generals Blood, vorstellte.
„Der General läßt Ihnen melden, Herr Oberst,“ sagte er in dienstlicher Haltung, „daß alle Dispositionen geändert worden sind. Sie marschieren nicht nach Quetta, sondern unter tunlichster Beschleunigung des Aufbruchs nach Mooltan.“
„Und was ist die Ursache dieses veränderten Befehls?“ fragte der Oberst.
„Die Russen kommen vom Hindukusch herunter. Sie ziehen das Tal des Indus herab, unserer Armee in den Rücken. General Blood ist auf dem Marsche südwärts, um nicht abgeschnitten zu werden. Ich befinde mich unterwegs, um alle Truppenteile nach Mooltan zu dirigieren.“
„Aber ist das denn möglich? Kann hier nicht doch ein Irrtum vorliegen? Wie sollten die Russen über den Hindukusch kommen?“
„Ich selbst habe russische Infanterie in den Schluchten des Industals gesehen, Herr Oberst. Der Marsch auf Herat und die Besetzung von Kabul unter General Iwanow sind hauptsächlich Demonstration gewesen. Iwanow kommt mit zwanzigtausend Mann, verstärkt durch zwanzigtausend Afghanen, von Kabul her gegen den Kaiberpaß heran. Aber der Hauptangriff erfolgt vom Pamir aus in der Richtung auf Raval-Pindi und Lahore.“
„Raval-Pindi?“ rief der Oberst. „Wenn die Russen den Indus herabkommen, treffen sie zunächst auf Attock, und dieses starke Fort wird sie lange genug aufhalten.“
„Hoffentlich! Aber wir dürfen nicht unbedingt damit rechnen. Die Stärke der russischen Armee ist uns zur Zeit noch nicht bekannt. Ihr Vormarsch aber ist offenbar trefflich vorbereitet gewesen. Die Pioniere müssen in den schwierigen Pässen des Hindukusch wahrer Wunder verrichtet haben, und diese russischen Soldaten scheinen von Eisen.“
„Nun,“ sagte der Oberst kurz, „so werden wir ihnen zeigen, daß wir von Stahl sind.“
Der Adjutant überreichte ihm die schriftlichen Dispositionen, und nachdem er sie durchgesehen, erklärte der Oberst:
„Ich werde morgen früh nach Mooltan aufbrechen und denke, mein Detachement morgen abend dort vereinigt zu haben. Der Train mit der Proviantkolonne und der Munitionskolonne freilich kann erst einige Tage später eintreffen, und auch nur zum Teil. Was in aller Welt mag den General bestimmt haben, sich dem Feinde nicht in Raval-Pindi entgegenzustellen? Die Stadt ist befestigt und von starken Forts umgeben; sie ist eine der größten Militärstationen Indiens. Weshalb mußte der General da so weit, bis nach Mooltan, zurückgehen?“
„Der General erwartet eine Entscheidungsschlacht und möchte sich dazu mit der Armee des Generals Hunter vereinigen. Beide Armeen aber sind zur Zeit ungefähr gleich weit von Mooltan entfernt, auch würden die Russen, wie der General meint, Bedenken tragen, soweit vorzugehen, daß sie von Lahore aus in der linken Flanke angegriffen werden könnten. Dort stehen schon jetzt zehntausend Mann, die täglich von Delhi aus verstärkt werden.“
Mit der Verabschiedung des Adjutanten, der den angebotenen Imbiß mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit seines Auftrages abgelehnt hatte, wurde auch die Tafel aufgehoben, und der Oberst entschuldigte sich bei seinem Gaste, dem er sich unter den obwaltenden Umständen nicht länger widmen konnte. Seine Offiziere begleiteten ihn, und bald nachher wurde auch Mrs. Baird abgerufen. Unerwartet sahen sich Heideck und Edith Irwin allein.
Ein paar Sekunden lang schwiegen sie beide, wie wenn keines von ihnen den Empfindungen Ausdruck zu geben wagte, die sie erfüllten. Dann aber sagte die junge Frau:
„Sie wollten mit uns ins Feld ziehen, Mr. Heideck, und ich weiß, daß Sie dabei von dem Wunsche geleitet wurden, uns Frauen durch Ihren männlichen Schutz nützlich zu sein. Aber nun ist ja alles anders geworden, und ich bitte Sie, auf Ihren Plan zu verzichten.“
Ueberrascht sah er sie an: „Wie, Mrs. Irwin, Sie wollen mir die Freude versagen, Sie begleiten und schützen zu dürfen? Und weshalb?“
„Sie haben soeben selbst gehört, daß alle Dispositionen geändert worden sind. Wären wir nach Quetta gegangen, so hätten Sie, sobald unsere Armee über die Grenze ging, leicht irgend einen anderen Platz aufsuchen können; wenn es aber auf indischem Boden zum Kampfe kommt, so befänden Sie sich in beständiger Gefahr.“
„In meiner Eigenschaft als Ausländer? Gewiß. Ich würde unter Umständen manchen Unbequemlichkeiten ausgesetzt sein. Aber ehe ich meine Entschließungen ändere, möchte ich von Ihnen hören, ob Sie auch unter diesen neuen Verhältnissen bei der Truppe bleiben werden?“
„Da Mrs. Baird mir die Erlaubnis dazu gegeben hat — ja.“
„Und Sie glauben, daß ich weniger Mut zeigen werde, als Sie, die Sie sich damit ohne Zweifel ebenfalls ernsten Gefahren aussetzen?“
„Wie dürfte ich an Ihrem Mute zweifeln, Mr. Heideck! Aber das ist doch etwas ganz anderes. Wir Soldatenfrauen gehören nun einmal zu den Männern, denen wir nach Indien gefolgt sind. Und überdies sind wir vielleicht nirgends sicherer, als bei der Armee. Sie aber haben mit diesem Kriege und mit unserem Heere nichts zu tun. Wenn Sie jetzt von hier abreisen und in weiter Entfernung vom Kriegsschauplatze, vielleicht in einer der Hillstations, wo Sie auch von der Pest nichts zu fürchten haben, Wohnung nehmen, so wird man Sie als deutschen Kaufmann gewiß unbehelligt lassen.“
„Und warum gehen Sie selbst nicht in eine solche Hillstation, Mrs. Irwin? Ich würde Ihnen Simla vorschlagen, wenn es nicht dem Kriegsschauplatz nahe läge. Aber gehen Sie doch nach Poona oder in sonst einen der südlichen Gebirgsorte.“
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
„Ich vermute, daß ich damit in mein sicheres Verderben gehen würde.“
„Und was bringt Sie auf solche Vermutung?“
„Ich sagte Ihnen schon, daß im Falle eines Krieges englische Frauen hier in Indien nur noch in unmittelbarer Nähe der Truppen einigermaßen sicher sind. Sollten wir eine Niederlage erleiden, so wird die Rache des Volkes an seinen Unterdrückern furchtbar sein. Kennen Sie die grausamen Instinkte, die in diesen scheinbar so höflichen und unterwürfigen Menschen schlummern? Die wehrlosen Frauen und Kinder würden ohne Zweifel ihre ersten Opfer sein. So war es bei dem Aufstande vom Jahre 1857, und genau so wird es sich unter ähnlichen Verhältnissen wiederholen. Nana Sahib und seine Gefolgschaft haben sich damals an den unmenschlichsten Martern weißer Frauen und Kinder ergötzt und Ströme unschuldigen Blutes vergossen. Der Kulturzustand des niederen Volkes aber ist seitdem gewiß nicht besser geworden.“
„Sie sprechen, als ob Sie eine Niederlage Ihrer Armee für wahrscheinlich hielten?“ —
„Ich kann meine düsteren Ahnungen nicht los werden. Und Sie selbst, Mr. Heideck? — Seien wir doch ehrlich! Als vorhin der Adjutant dort stand, und als jedes seiner Worte die mangelnde Voraussicht unserer Generale offenbarte, habe ich Ihr Gesicht beobachtet, und ich habe mehr daraus gelesen, als Sie ahnen mögen. Ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen, aber ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie ganz aufrichtig gegen mich wären. Sie sind nicht der, für den Sie sich hier ausgeben.“
Nicht einen Augenblick zögerte er, ihr die Wahrheit zu bekennen.
„Nein, ich bin deutscher Offizier und von meinen Vorgesetzten zum Studium der angloindischen Armee hierher entsandt.“
Ediths Ueberraschung war ersichtlich nicht allzu groß.
„Ich ahnte es. Und nun gestehen Sie mir ebenso offenherzig die Frage: Glauben Sie an einen Sieg der britischen Waffen?“
„Ich darf mir darüber kein Urteil erlauben, Mrs. Irwin.“
„Aber Sie müssen doch eine Meinung haben. Und es läge mir unendlich viel daran, sie zu erfahren.“
„Nun denn — ich glaube an die englische Tapferkeit, aber nicht an einen englischen Sieg.“
Sie seufzte tief auf, aber sie neigte zustimmend den Kopf, wie wenn er damit nur ihrer eigenen Ueberzeugung Ausdruck gegeben hätte. Dann reichte sie ihm die Hand und sagte leise:
„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, und es ist selbstverständlich, daß von mir niemand erfahren wird, wer Sie sind. Aber nun bestehe ich erst recht darauf, daß Sie uns um Ihrer eigenen Sicherheit willen verlassen.“
„Und wenn ich mich weigerte? Wenn ich es gerade in meiner Eigenschaft als Soldat für meine Ehrenpflicht hielte, Sie jetzt nicht im Stich zu lassen? Würden Sie mir darum zürnen? Würden Sie mir nicht mehr gestatten, das Glück Ihrer Gesellschaft zu genießen?“
Ihre Brust hob sich, aber sie senkte den Kopf und schwieg. Deutlich sah Heideck die glitzernde Träne, die sich unter ihren Wimpern hervorstahl und langsam über ihre zarte Wange herabrollte.
Das war ihm Antwort genug. Er beugte sich herab, und indem er ihre beiden Hände küßte, flüsterte er:
„Ich wußte, daß Sie nicht die Grausamkeit haben würden, mich zurückzustoßen. Wohin auch immer das Schicksal Sie führen mag, es wird mich an Ihrer Seite finden, solange Sie noch meines Schutzes bedürfen.“
Ein paar Sekunden lang hatte sie ihm ihre Hand überlassen. Dann entzog sie sie sanft dem Druck der seinen.
„Ich weiß, daß ich Ihnen um Ihrer eigenen Sicherheit willen verbieten sollte, mir zu folgen. Aber ich habe nicht die Kraft dazu. Der Himmel gebe, daß Sie mir niemals einen Vorwurf daraus machen.“
Ein ungewöhnlich schöner und trockener Frühling begünstigte den Vormarsch der russischen Armee durch die Gebirgsländer. Im Norden Indiens hielt sich die Temperatur auf durchschnittlich 20° C., und Tag für Tag strahlte die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel auf die weiten Ebenen des Pendschab herab, durch deren helles Grün sich wie lange Silberstreifen die russischen Truppen in ihren weißen Sommeruniformen vorwärts schoben.
Es schien, als sollte das Kriegsglück ihnen günstig sein; denn sie hatten den schwierigen und gefürchteten Uebergangspunkt Attock mit unerwarteter Leichtigkeit überwunden.
Der Kommandant dieser hochgelegenen Festung hatte Befehl, die Brücke über den Indus erst dann abzubrechen, wenn General Bloods Armee, die Peschawar und den Kaiberpaß hatte halten sollen, völlig zurückgegangen wäre und bis auf den letzten Mann den Uebergang passiert hätte.
Die Brücke bei Attock, die sehr hoch über den hier in schmalem Bette mit reißender Schnelligkeit dahinbrausenden Indus erbaut ist, gilt als ein Wunderwerk der Ingenieurkunst. Sie ist in zwei Etagen erbaut, deren obere die Eisenbahn, und deren untere eine Straße für Wagen, Lasttiere und Fußgänger bildet. Auf jedem Ufer liegt ein befestigtes Tor. Der englische Kommandant von Attock vertraute auf die Stärke der 800 Fuß hoch über dem Flusse liegenden Forts und wähnte die Russen noch weit entfernt. Die russische Vorhut war oberhalb Attocks über den Fluß Kabul, der sich bei[S. 110] Attock mit dem Indus vereinigt, gegangen und kam zugleich mit den Truppen des Generals Blood in die Nähe der Festung.
Die Truppen Bloods passierten in endlos langen Marschkolonnen die Brücke. Diese Bewegungen wurden oftmals infolge von Stockungen, die durch fehlerhaftes Ansetzen der einzelnen Truppenkörper entstanden, unterbrochen, und so kam es, daß in den ersten Morgenstunden eine größere russische Truppenabteilung, von den Engländern unbemerkt, in einer solchen Lücke der englischen Marschkolonne den nördlichen Brückenkopf erreichte: der morgendliche dichte Nebel hatte der englischen Aufklärung das Herannahen der Russen verborgen. Die Russen besetzten sofort die Brücke und schnitten so den Rest der noch auf dem nördlichen Ufer befindlichen Engländer von dem Gros ihres Korps, das in der Hauptsache die Brücke schon passiert hatte, vollständig ab. Der Kommandeur der russischen Avantgarde war selbst über den ihm vom Kriegsglück in den Schoß gelegten Erfolg am meisten erstaunt: hätte der Nebel nicht die beiderseitige Aufklärung illusorisch gemacht und der Zufall ihn nicht gerade auf eine Lücke der englischen Marschordnung stoßen lassen, so hätten die Chancen bei der Enge seiner Marschstraße für die Engländer wesentlich günstiger gestanden, als für ihn, und der Kampf würde wahrscheinlich mit einer Niederlage seiner Truppe geendet haben. So stieß General Iwanow, der über den Kaiberpaß kam, auf die englische Nachhut, und die fünftausend Mann angloindischer Truppen derselben mußten sich nach kurzem Kampfe gefangen geben. Zweitausend Engländer und dreitausend Mohammedaner fielen den Russen hier in die Hände. Als die Sieger den mohammedanischen Indern versicherten, daß sie gegen die Ungläubigen für den wahren Glauben kämpften, traten diese ohne weiteres zur russischen Armee über.
Der Kommandant von Attock verweigerte die Uebergabe der Festung und ließ seine Geschütze auf die russischen Marschkolonnen spielen, aber die Batterien fügten infolge des Nebels den Russen[S. 111] nicht viel Schaden zu, und diese setzten, da sie im Besitz der Brücke waren, den Vormarsch nach Süden fort.
Ehe dann jedoch der so erfolgreich begonnene Einmarsch fortgesetzt wurde, sammelte der Kommandierende unweit Attocks alle die in kleinen Abteilungen den Hindukusch übersteigenden russischen Truppen und vereinigte sie mit dem aus Afghanistan kommenden Korps, so daß er über eine Armee von siebzigtausend Mann verfügte.
Eine blutgetränkte Bahn war es, auf der dieses Heer hinter der weichenden englischen Armee dahinzog. Auf dieser Straße war auch Alexander der Große einst in Indien eingezogen. Hier hatte zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der Afghanenherrscher Ibrahim Lodi mit dem Großmogul Babar gekämpft; hier wurde wenige Jahrzehnte später Himu, der Feldherr des Afghanensultans Mohammed Schah Adil an der Spitze von fünfzigtausend Reitern, fünfhundert Elefanten und unzähligem Fußvolk von dem jugendlichen Großmogul Akbar besiegt. Blutiger noch war die Schlacht gewesen, die um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der Afghanensultan Ahmed Schah Durani den großen Mahrattenfürsten Holkar Sindia, Gaekwar und den Peschwas lieferte; und noch einmal hatten hier alle Schrecknisse des Krieges gewütet, als im Jahre 1857 die englischen Generale Havelock, Sir James Outram, Sir Colin Campbell, Sir Hugh Rose, Sir John Lawrence und Sir Robert Napier mit erbarmungsloser Härte den gefährlichen Aufstand der Sepoys erstickten. Abendland und Morgenland hatten in gewaltigem Ringen hier an dieser von Sagen umwobenen Stätte, der Wiege der Menschheit, schon gestritten. Hunderttausende von Menschenleben waren auf diesem blutdurchtränkten Boden schon geopfert worden, und abermals stand hier eine Entscheidungsschlacht bevor, die mit eisernem Griffel in die Tafeln der Weltgeschichte geschrieben werden sollte.
Die Bewegungen der russischen Armee hatten den Plan der englischen Heerführer umgestoßen. Die in Mooltan vereinigten englischen Korps wurden schleunigst nach Lahore in Bewegung gesetzt, als die Absicht der Russen, nach Südosten zu gehen, klar zu Tage trat. Die Zeit, die General Iwanow brauchte, bei Attock seine Truppen zu vereinigen, ermöglichte den Engländern, Lahore zu erreichen. Hier wurden ihre Streitkräfte durch die starke Garnison erheblich vermehrt, und täglich kamen neue Regimenter von Delhi und Lucknow an, die den Bestand der von Sir Bindon Blood befehligten Armee auf die Zahl von hunderttausend Kombattanten brachte.
Die Engländer bereiteten sich zu einer entscheidenden Schlacht vor, denn schon erschien die Spitze der russischen Kolonnen zehn englische Meilen nördlich vom Grabe des Kaisers Jehangir bei Schah Dara, einer kaum acht englische Meilen nordwestlich von Lahore liegenden Bahnstation.
Die englischen Truppen waren in Versammlungsformation in einer Linie aufmarschiert, deren linker Flügel an dem dicht bei Lahore vorbeifließenden Ravifluß die Schah Dara-Pflanzungen und die daneben befindliche Schiffsbrücke besetzt hielt. Sie dehnte sich von dort fünf englische Meilen weit östlich bis zu einem Kanal aus, der sich am Shalimar-Park hin nach Süden zieht. Dieser Park und der an demselben liegende Ort Bhogiwal bildeten den rechten Flügel. Vor der Front hin zog sich ein Nebenarm des vielgewundenen Ravi mit größtenteils sumpfigen Ufern. Im Rücken der Stellung lag das befestigte Lahore mit seiner fünfzehn Fuß hohen, von dreizehn Toren durchbrochenen Backsteinmauer.
Der Ravi, ein Nebenfluß des Indus, führte zur Zeit nur wenig Wasser. Das Flußbett lag zum großen Teil trocken und war nur von lebhaft fließenden, unregelmäßigen Rinnsalen durchzogen, die hier und da größere und kleinere, zumeist sumpfige Inseln zwischen sich frei ließen. Dieses Flußbett bildete das wesentlichste Hindernis[S. 113] für den russischen Angriff, denn es mußte passiert werden, ehe die englische Front und die Stadt Lahore erreicht werden konnte.
Heideck wohnte in einem kleinen Zelte, das er von Chanidigot mitgebracht hatte. Morar Gopals Pferd hatte es während des Marsches von Mooltan nach Lahore auf dem Rücken getragen, denn die Lancers, zu denen Heideck sich hielt, da er ja mit ihren Offizieren befreundet war, hatten den Weg nicht auf der Eisenbahn gemacht. Sie kampierten jetzt im Shalimar-Park, einer großen, von einer Mauer umgebenen Anlage voll der prächtigsten Mangobäume, mit vielen kleinen Springbrunnen und zierlichen Pavillons. Da Heideck einen Khaki-Anzug und einen Korkhelm trug, glich er trotz des Fehlens der militärischen Abzeichen ganz einem englischen Offizier, umsomehr, als seine Haltung und seine Gestalt durchaus soldatisch waren.
Er hatte während des Marsches und in der Lagerzeit Gelegenheit gehabt, allerlei Betrachtungen über die britische Kriegsführung anzustellen. Aber er hütete sich wohl, darüber mit den englischen Offizieren zu sprechen, denn es waren nicht eben günstige Schlüsse, zu denen er gelangt war. Er hatte den Eindruck, daß die Truppen weder kriegsmäßig geführt wurden, noch eine besondere Feldtüchtigkeit an den Tag legten. Die Leute wußten sich im Biwak und im Lager oft nicht zu helfen und litten häufig empfindliche Entbehrungen, weil das nötige Material nicht immer rechtzeitig zur Stelle war und die Lebensmittel nicht regelmäßig geliefert wurden: auf den Proviantämtern herrschte die größte Verwirrung.
Und nicht dort allein, sondern auch in den taktischen Verbänden machte sich infolge der unpraktischen Zusammenstellung der Truppenkörper überall eine bedenkliche Unordnung fühlbar. Zunächst waren die Regimenter zur Bildung der Korps in Peschawar und Quetta durcheinander gewürfelt worden, weil sie, je nachdem sie marschbereit zu sein schienen, einzeln aus ihren Garnisonen weggeführt und auf die Eisenbahn gesetzt worden waren. Die Konzentrierung in Mooltan[S. 114] und der überstürzte Abmarsch nach Lahore aber hatten vollends ein schier unentwirrbares Durcheinander geschaffen.
Heideck sah sich inmitten einer Armee, die den großen Krieg und wohl überhaupt den Krieg gegen reguläre Truppen nicht kannte. Des Kämpfens zwar waren die Engländer gewohnt, denn sie hatten sich ja beständig mit wilden und halbwilden Völkern herumschlagen müssen. Sie hatten kostspielige Expeditionen gemacht und teuer erkaufte Siege davongetragen. Aber immer waren es regellose braune und schwarze Haufen gewesen, mit denen sie es zu tun gehabt hatten. Die Erfahrungen des Burenkrieges waren noch nicht in Fleisch und Blut der Truppe übergegangen. Die persönliche Tapferkeit jedes einzelnen war beinahe immer das allein entscheidende Moment gewesen, und so mochte sich’s auch erklären, daß alle Offiziere von einem gewaltigen Selbstgefühl erfüllt waren. Mit Geringschätzung sahen sie auf jeden Fremden herab, weil sie in ihren Siegen ja tatsächlich fast immer über eine numerische Uebermacht gesiegt hatten.
Mit Erstaunen bemerkte Heideck, daß die Durchführung der taktischen Regeln und Instruktionen in der britischen Armee häufig noch im Widerspruch mit der modernen Bewaffnung stand. Namentlich wurde bei der Infanterie immer noch das Salvenfeuer gewohnheitsmäßig als die Hauptfeuerart angewandt. Die Mannschaften waren einmal darauf gedrillt, daß sie auf Kommando ein ruhiges, gleichmäßiges Feuer abzugeben und dann fest zusammengeschlossen mit dem Bajonett auf den Feind loszustürmen hätten. Dies mächtige Volk war eben zu bequem gewesen, die neuesten Erfahrungen der Gefechtstechnik sofort zur Durchführung zu bringen; das hochmütige Albion hatte kritiklos alles für gut beibehalten, was englisch war und alles Neue und Fremde von vornherein verachtet. Oder vermieden die Engländer die aufgelöste Gefechtsordnung etwa deshalb, weil sie fürchteten ihre indischen Soldaten alsdann nicht mehr lenken zu können?
Die Breitengliederung der taktischen Verbände im Verhältnis[S. 115] zur Stärke der Armee erschien Heideck zu gering, um eine Aussetzung des Gefechts kraft derselben zu sichern.
Die Umgebung Lahores, besonders im Norden der Stadt, zwischen der Mauer und dem Feldlager, machte einen sehr bunten und bewegten Eindruck. Eine ganz eigenartige Staffage bildeten die unzähligen Kamele, die als Transportmittel gedient hatten und den Hauptteil des Trains ausmachten. Sie lagen in dicht gedrängten Haufen am Boden oder schritten gravitätisch ihres Wegs, während das laute Geschrei der Treiber grell die Luft erfüllte. Außerdem gab es noch eine ungeheure Menge von Menschen, die auf die eine oder andere Art zum Heere gehörten, ohne Kombattanten zu sein. Ein für malerische Eindrücke empfängliches Auge konnte also wohl seine Freude haben an den stetig wechselnden, farbigen Bildern der weiten Ebene. War doch schon die landschaftliche Szenerie interessant. Zwischen den weit verstreuten Dörfern und Vororten der etwa 180000 Einwohner zählenden Stadt schimmerten in frischem Grün prächtige Park- und Gartenanlagen, zumeist als Umgebung der Grabstätte eines Sultans oder eines berühmten mohammedanischen Heiligen. Nach Südosten hin erstreckten sich die großen Kantonnements der Kavallerie und der Artillerie, zu der auch mehrere Elefanten-Batterien gehörten.
Die Stadt selbst war gedrängt voll von Militär und den Familien der Offiziere. Fast alle Frauen und Kinder der nordwestlich von Lahore liegenden Garnisonen hatten sich beim Anmarsch der Truppen hierher geflüchtet. Auch Mrs. Baird mit ihren beiden kleinen Töchtern und Mrs. Irwin befanden sich in der Stadt, wo sie im Charing-Croß-Hotel Unterkunft gesucht hatten. Obwohl die Stadt in fast beängstigender Weise überfüllt und die Kriegslage keineswegs unbedenklich war, nahm Heideck doch nirgends eine besondere Aufregung wahr. Die Engländer bewahrten die ihnen eigentümliche ruhige Haltung, und die Eingeborenen schwiegen aus Furcht. Auf sie mochte das völlig Unerwartete und Unfaßliche der[S. 116] veränderten Situation wohl auch eine gewisse lähmende Wirkung ausüben.
Als Heideck kurz vor Sonnenuntergang vom Lager nach der Stadt ging, um die Damen aufzusuchen, kam es ihm, während er das bunte Gewühl außerhalb der Ringmauer durchschritt, immer mehr zum Bewußtsein, daß die Stellung der Armee sehr schlecht gewählt war. Eine viel zu große Anzahl von Menschen und Tieren war in dem verhältnismäßig engen Raum zusammengedrängt. Wenn etwa russische Schrapnells in diese Menge fielen, mußte ein schrecklicher Wirrwarr entstehen. Die Nähe der befestigten Stadt mußte die Kämpfenden zur Flucht hinter die Mauern verlocken. Heideck hatte bisher nicht den Eindruck empfangen, daß man auf ausdauernden Mut bei den eingeborenen Soldaten rechnen könnte.
Auf der Straße, die vom Shalimar-Park zur Eisenbahnstation in der Vorstadt Naulakha führte, mußte Heideck beständig den Batterien, den langen Zügen hochbepackter Kamele und beladener Ochsenwagen ausweichen, die ihm entgegen kamen, und er brauchte darum beinahe zwei Stunden, bis er sein Ziel erreichte. Das Charing-Croß-Hotel war bis unter das Dach hinauf gefüllt, und die beiden Damen mußten sich mit den Kindern in einem einzigen Zimmer des dritten Stockwerks behelfen, das man ihnen für einen enormen Preis überlassen hatte.
Mrs. Baird, eine Dame von kleiner, zierlicher Gestalt, aber von energischem Geist und echt englischem Stolz, erschien vollkommen ruhig und zuversichtlich. Sie sprach mit keinem Wort von ihrer eigenen, sicherlich höchst unbequemen Lage und von den Entbehrungen, die unter den obwaltenden Umständen ihren Kindern auferlegt waren, sondern einzig von dem nach ihrer Ueberzeugung unmittelbar bevorstehenden Siege der britischen Armee. Der Marsch von Mooltan nach Lahore war ja ein Vorrücken, und es unterlag für sie nicht dem mindesten Zweifel, daß der Uebermut der Russen binnen kürzester Zeit furchtbar bestraft werden würde.
„Es ist schrecklich, zu denken,“ sagte sie zu Heideck, „daß eine Nation, die sich eine christliche nennt, uns in Indien anzugreifen wagt. Was war dies unglückliche Land, ehe wir uns seiner annahmen! England hat es von der Tyrannei barbarischer Despoten befreit und ihm Wohlstand und Glück gegeben! Die indischen Städte sind aufgeblüht, weil unsere Gesetze die freie Entwicklung von Handel und Verkehr ermöglichten. Es war im höchsten Sinne des Wortes eine Kulturmission, die unsere Nation hier erfüllt hat. Gäbe der Himmel den Russen den Sieg, so würde dieses jetzt so glückliche Land wieder in die finsterste Barbarei zurückgeschleudert werden.“
Sie schien ein Wort der Zustimmung von Mrs. Irwin zu erwarten; diese aber saß ernst und schweigend da.
„Sie sollten nicht so still sein, liebste Edith, und nicht ein so schwermütiges Gesicht machen,“ wandte sich die Gattin des Obersten mit sanftem Vorwurf an sie. „Ich begreife vollkommen, daß die traurigen Ereignisse in Ihrem Privatleben Sie bedrücken. Aber jedes persönliche Leid sollte jetzt in der allgemeinen Sorge aufgehen. Was ist das Schicksal des Einzelnen in dieser Gefahr des Vaterlandes? Ich weiß, daß Sie eine so gute Patriotin sind, wie nur irgend eine Engländerin, aber mir scheint, daß es notwendig ist, das auch in diesen ernsten Stunden zu zeigen. Sorge und Niedergeschlagenheit wirken in solchen Zeiten auf unsere Umgebung wie eine ansteckende Krankheit.“
„Vielleicht bin ich in Wahrheit gar nicht die gute Patriotin, für die Sie mich halten.“
„Ah! — Wie soll ich das verstehen?“
„Ich kann die Kriege nicht von Ihrem Standpunkt ansehen, meine liebe Mrs. Baird! Es will mir vorkommen, als unterschieden wir Menschen uns gar nicht so sehr von den Tieren, die aus Hunger oder aus Eifersucht oder aus allerlei anderen niederen Instinkten miteinander kämpfen!“
„O, welch ein Vergleich!“
„Nun, wir verstehen uns ja allerdings besser auf die Kriegführung; denn wir erfinden komplizierte Instrumente, um unsere Mitmenschen haufenweis zu töten, während die Tiere auf ihre natürlichen Waffen beschränkt bleiben. Aber wissen wir darum besser als die Tiere, was wir tun? Wenn die Heere der Ameisen, der Bienen, der Wiesel oder der Fische im Meer ausziehen, um andere Geschöpfe ihrer Art zu vernichten, werden sie da nicht vielleicht von denselben Instinkten geleitet, die auch uns beherrschen?“
„Ich kann Ihnen da nicht folgen, Mrs. Irwin,“ sagte die kleine Dame etwas gereizt. „Wir Menschen sind doch vernunftbegabte Wesen, die nach bewußten Zielen streben!“
„Ist es wirklich so vernünftig, wenn die Bauern und Arbeiter als Soldaten in den Krieg ziehen? Streben sie da wirklich nach einem klar bewußten Ziel? Keiner von ihnen hat etwas zu gewinnen. Man zwingt sie, sich verstümmeln und totschießen zu lassen und ihre Mitmenschen zu töten. Die Ueberlebenden aber haben es nach erfochtenem Siege um nichts besser als vorher. Und die Führer selbst? Ehren und Orden und Dotationen sind doch nur Tand im Sinne des Christentums. Seien wir ehrlich, Mrs. Baird! Hat England etwa des Christentums wegen Indien erobert? Nein! Wir haben Ströme von Blut vergossen, nur um unsern Handel zu erweitern und das Vermögen einiger Weniger, die noch dazu dem Kampfe ferngeblieben sind, ins Ungemessene zu steigern.“
„Es ist traurig, das aus dem Munde einer Engländerin zu hören.“
Die Unterhaltung drohte eine bedenkliche Wendung zu nehmen, da die Gattin des Obersten sich durch Ediths Aeußerungen in ihren Empfindungen ernstlich verletzt fühlte. Aber Heideck wußte sofort dem Gespräch einen weniger verfänglichen Charakter zu geben. Bald darauf erschien der Oberst, der ein Zelt draußen im Lager[S. 119] bewohnte und nur selten Gelegenheit fand, nach seinen Angehörigen zu sehen.
Er bemühte sich, heiter und gelassen zu erscheinen, aber er war doch ein zu schlechter Schauspieler, um seine wahre Stimmung, die nichts weniger als fröhlich war, zu verbergen.
„Ich kann leider nur kurze Zeit bleiben,“ sagte er, nachdem er die kleinen Mädchen, an denen er mit großer Zärtlichkeit hing, noch herzlicher als sonst geliebkost hatte. „Ich bin hauptsächlich deshalb gekommen, um dich, liebe Ellen, über das zu verständigen, was du im Falle eines Rückzuges zu tun hast.“
„Eines Rückzuges? — Um Gottes willen — davon kann doch keine Rede sein!“
Der Oberst lächelte etwas gezwungen.
„Natürlich rechnen wir mit Sicherheit auf den Sieg. Aber das wäre ein schlechter Feldherr, der nicht auch an die Möglichkeit eines Rückzugs dächte. Während der letzten Stunden sind alle Dispositionen geändert worden. Wir brechen auf, um die Russen anzugreifen.“
„So ist es recht!“ rief Mrs. Baird mit leuchtenden Augen. „Eine britische Armee darf den Feind nicht erwarten, sondern sie muß ihm entgegen gehen!“
„Wir werden in der ersten Morgenfrühe aufbrechen, um den Russen den Uebergang über den Ravi zu verwehren. Die Pioniere gehen schon in der Nacht voraus, um die Brücken zu zerstören, — sofern es nicht bereits zu spät dazu ist. Um die richtige Front zu bekommen, muß die Armee beim Aufmarsch eine große Linksschwenkung machen. Hierbei soll auch die Front nach rechts verlängert werden. Der linke Flügel bleibt bei Schah-Dara und der Schiffsbrücke stehen.“
„Wäre es nicht möglich, mit hinauszugehen und der Schlacht zuzusehen?“ fragte Mrs. Baird. Aber ihr Gatte schüttelte in entschiedener Ablehnung den Kopf.
„Für euch, liebe Ellen, hält unser zuverlässiger Smith einen[S. 120] Wagen mit zwei tüchtigen Ochsen hier im Hotel bereit. Es ist für alle Fälle. Erhaltet ihr, was Gott verhüten möge, die Nachricht, daß die Armee sich auf Lahore zurückzieht, so dürft ihr keine Minute mehr verlieren, sondern müßt so schnell als möglich, bevor das Gedränge an den Toren und in den Straßen beginnt, zum Akbaritore hinaus über die Kanalbrücke fahren, die zum Sadar-Bazar führt und dann nach Amritsar, wo ihr vielleicht die Eisenbahn nach Goordas benutzen könnt. Alle übrigen Bahnen sind für andere als militärische Zwecke gesperrt. Dorthin aber wird der Strom nicht gehen, und dort werdet ihr in irgend einer Ortschaft des Gebirges vorläufig sichere Zuflucht finden. — Darf ich Sie mit einer großen Bitte behelligen, Mr. Heideck?“
„Ich bin ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Oberst!“
„Bleiben Sie hier im Hotel — suchen Sie sich über die Vorgänge auf dem Laufenden zu erhalten und seien Sie den Damen und Kindern ein Beschützer, bis sie sich in Sicherheit befinden. Wenn ich mir erlauben darf, Ihnen für die Bestreitung der Kosten diesen Check — — —“
„Lassen Sie das einstweilen, Herr Oberst!“ wehrte Heideck ab. „Ich bin mit Geld ausreichend versehen, und ich werde später Rechnung ablegen. Ich verspreche Ihnen, Ihre Angehörigen und Mrs. Irwin zu schützen, so gut ich kann. Aber ich glaube, daß es besser sein wird, wenn ich nicht in der Stadt bleibe, sondern die Truppe begleite. Sollte eine ungünstige Wendung eintreten, so kehre ich eben eiligst zurück. Die Aufregung der Damen würde sich unnötig vermehren, und ich selbst würde in Verlegenheit wegen unserer Maßregeln geraten, wenn wir hier im Hotel unzuverlässige Nachrichten vom Stand der Dinge erhielten.“
„Das ist richtig,“ sagte der Oberst nach kurzem Bedenken. „Schon jetzt schwirren die abenteuerlichsten Gerüchte umher. Unter unseren mohammedanischen Truppen sind Flugblätter verbreitet worden, die sie unter den tollsten Vorspiegelungen zum Abfall von[S. 121] der englischen Armee auffordern. Einige Leute, die sich mit der Verteilung solcher Flugblätter befaßten, sind schon kurzerhand erschossen worden. — Ich überlasse alles Ihrer Umsicht und Entschlossenheit. Jedenfalls tun Sie am besten, sich möglichst in der Nähe des Höchstkommandierenden zu halten. Mein Passierschein wird Ihnen überall den Weg frei machen. Von meiner Dankbarkeit werde ich später reden.“
Er drückte Heideck kräftig die Hand, umarmte noch einmal seine Frau und seine Kinder, und die beiden Männer wandten sich zum Gehen. Schwer und beklemmend lag auf allen die dumpfe Vorahnung, daß es ein Abschied für immer gewesen sein könne.
Der rote Schein zahlloser Feuer beleuchtete Heidecks Weg, als er in das Lager zurückkehrte. Ueberall auf der weiten Ebene zwischen der Stadt und dem Flusse wurde mit fieberhafter Geschäftigkeit gearbeitet. Lange Züge von Lasttieren waren in Bewegung, Lebensmittel und Munition wurden verteilt. Viele tausend Hände arbeiteten daran, den Uebergang der Armee über den flachen Nebenfluß des Ravi zu erleichtern. Man suchte den sumpfigen Stellen durch Bedeckung mit Palmenzweigen und Blättern größere Festigkeit zu geben, und für die Artillerie wurden in aller Eile Knütteldämme hergestellt. Heideck legte sich unwillkürlich die Frage vor, warum die Armee nicht gleich an der Stelle versammelt worden war, an der die Schlacht stattfinden sollte. Der Aufmarsch durch die schwierigen Gelände in Verbindung mit der beabsichtigten Linksschwenkung stellte an die Leistungsfähigkeit der Truppen Anforderungen, die ohne Zweifel die nachteiligsten Folgen für das Gefecht selbst haben mußten!
Vor seinem Zelte traf Heideck auf seinen indischen Boy, der sich ersichtlich in großer Aufregung befand.
„Wenn wir morgen früh aufbrechen, lassen wir das Zelt mit allem, was darin ist, stehen,“ sagte Heideck. „Du wirst meinen Hengst reiten, während ich dein Pferd nehme.“
Morar Gopal war ein Hindu aus dem Süden, fast so schwarz wie ein Neger, ein winziges, behendes Männchen, das kaum fünfzig[S. 123] Kilo wog. Deshalb wollte Heideck ihn auch zunächst sein Pferd reiten lassen, um dessen Kräfte für die späteren Anstrengungen des Tages möglichst zu schonen.
Jetzt erst gewahrte er, daß der Diener sich gegen seine Gewohnheit bewaffnet hatte. Er war mit einem Säbel umgürtet, und als er ihn nach dem Grunde fragte, erwiderte der Inder mit einem gewissen Pathos:
„Alle Hindus werden morgen sterben, aber ich will mich wenigstens tapfer verteidigen.“
„Und wie kommst du auf die Vermutung, daß alle Hindus morgen sterben müssen?“
„O, Sahib, wir wissen es wohl. Die Mohammedaner hassen die Hindus, und sie werden uns morgen alle töten.“
„Das ist ja Unsinn! Mohammedaner und Hindus werden morgen vereint gegen die Russen kämpfen.“
Aber der Inder schüttelte den Kopf.
„Nein, Sahib, die Russen sind auch Mohammedaner.“
„Der dir das sagte, hat dich belogen. Die Russen sind Christen, wie die Engländer.“
So großes Vertrauen Morar Gopal sonst auch zu seinem Herrn haben mochte, diesmal schenkte er seinen Versicherungen offenbar keinen rechten Glauben.
„Wenn sie Christen wären, warum sollten sie dann Krieg gegen andere Christen führen?“
Heideck sah ein, daß es unmöglich sein würde, den dunkelhäutigen Burschen über die ihm unverständlichen Dinge aufzuklären. Und da nur noch wenige Stunden für die Nachtruhe blieben, schickte er ihn auf seine Lagerstätte.
Der erste Sonnenstrahl zuckte noch kaum über die weite Ebene hin, als der Vormarsch begann. Heideck war bereits vor Tagesanbruch im Sattel gewesen, und er fand noch vor dem Aufbruch die Zeit, einige Worte mit dem Obersten Baird zu wechseln.
Dieser war heute auf einen sehr wichtigen und verantwortungsvollen Führerposten gestellt. Er kommandierte eine Brigade, die aus zwei englischen und einem Sepoy-Regiment, den Lancers und einer Batterie bestand. Dazu befehligte er das vom Maharadjah von Chanidigot gestellte und von dem Prinzen Tasatat geführte Hilfskorps, das aus tausend Mann Fußvolk, fünfhundert Reitern und einer Batterie bestand. Der Prinz selbst war auf das prächtigste gekleidet und bewaffnet; Griff und Scheide seines Säbels funkelten von Edelsteinen, und an seinem Turban blitzte eine Agraffe aus kostbaren Diamanten. Er ritt einen prächtigen Fuchs, dessen Zäumung allein ein kleines Vermögen darstellte. — Auch seine Truppen waren schön gekleidet und trugen ein sehr zuversichtliches Wesen zur Schau. Die Reiter waren ähnlich den englischen Lancers mit langen Lanzen ausgerüstet und trugen rote, blaugestreifte Turbane. Viele von ihnen waren aber trotz ihrer schweren Stiefel genötigt gewesen, in die Reihen der Infanterie einzutreten, da sowohl bei den mohammedanischen Truppen, wie bei der englischen Kavallerie infolge schlechter Verpflegung und übergroßer Anstrengung zahlreiche Pferde eingegangen waren.
Die Bewegung der britischen Armee war ziemlich verwickelt. Die englischen Streitkräfte standen noch in zwei Treffen versammelt zwischen Schah Dara und dem Park von Shalimar. Das erste bildeten die von englischen Offizieren kommandierten indischen Truppen, das zweite die englischen Regimenter. So sollte verhindert werden, daß die zirka fünfundsiebzigtausend Inder die Flucht ergreifen könnten; sollte das erste Treffen aber zum Rückzug gezwungen werden, dann konnte es durch die fünfundzwanzigtausend Engländer Aufnahme finden und so die Schlacht wieder zum Stehen gebracht werden. Der Vormarsch wurde nun so angetreten, daß die rechte Hälfte der Aufstellung weit nach rechts ausholend die Linksschwenkung ausführte und dadurch die Front um etwa ein Drittel verlängerte; zur Füllung der hierdurch im Zentrum entstehenden Lücke wurde das zweite[S. 125] Treffen in das erste vorgezogen und bildete nunmehr die Mitte der Schlachtlinie. Gleichzeitig wurde ein neues zweites Treffen gebildet, das durch Zurücklassen entsprechender Truppen aller vorgehenden Abteilungen gebildet und hinter dem linken Flügel der gesamten Aufstellung zusammengezogen wurde: die Engländer hielten ihren linken Flügel für den am meisten bedrohten. Oberst Baird befand sich mit seiner Brigade in der Mitte der ganzen Aufstellung in vorderster Linie.
Heideck sah viele indische Regimenter an sich vorüber ziehen, und es entging ihm nicht, wie verschieden die Stimmung und Haltung der Leute war, je nachdem sie zu den Mohammedanern oder zu den Hindus gehörten. Während jene sehr unternehmend und viele sogar fröhlich aussahen, ließen die Hindus zum Zeichen ihrer Verzweiflung die Enden ihrer Turbane lose herabhängen und marschierten, Kopf und Gesicht mit Asche bestreut, trübselig dahin. Die Auffassung Morar Gopals von dem allen Hindus bevorstehenden Schicksale war also offenbar ganz allgemein.
So weit das Auge reichte, war die weite Ebene mit marschierenden Infanterie-Kolonnen, Reiterscharen und dumpf rasselnden Geschützen bedeckt. Während das englische Fußvolk in seinen gelbbraunen Khakianzügen sich kaum von der Farbe des Bodens abhob, glichen die Reiterregimenter und die Truppen der indischen Fürsten buntfarbigen Inseln in dem bewegten und unabsehbaren Meere des in zwei Treffen vorrückenden Heeres.
Dem Wunsche des Obersten entsprechend, hielt sich Heideck in der Nähe des Höchstkommandierenden, dessen zahlreicher Stab und großes Gefolge von Dienern, Pferden und Wagen ihm gestattete, sich unauffällig in das Gedränge zu mischen. Aber nicht lange blieb der General bei dem Zentrum. Um einen besseren Ueberblick über die ganze Schwenkung zu gewinnen und die Annäherung der Russen beobachten zu können, ritt er mit seinem Stabe und einer starken Reitereskorte gegen den Ravifluß vor. Heideck schloß sich, von[S. 126] seinem treuen Diener begleitet, ihnen an und war auf solche Art der Brigade des Obersten Baird bald weit voraus.
Von den Russen war vorläufig nichts zu sehen, und es mochten wohl schon drei Stunden seit dem Beginn des Vormarsches verflossen sein, als der dumpfe Donner der ersten Kanonenschüsse über das weite Feld dahinrollte. Der Feldherr hielt an und richtete seinen Krimstecher nach dem linken Flügel, wo die Kanonade mit jeder Minute an Heftigkeit zunahm. Eine weitere halbe Stunde noch, und das helle Knattern des Infanteriefeuers mischte sich in das Dröhnen der schweren Geschütze. Es war kein Zweifel mehr: am linken Flügel bei Schah Dara hatte die Schlacht begonnen. Gegen das rechte Raviufer vorgehend, machten die Russen Miene Lahore anzugreifen. Der Feldherr entsandte zwei Ordonnanzoffiziere nach dem rechten Flügel und dem Zentrum, mit dem Befehl, den Marsch zu beschleunigen. Dann kehrte er selbst mit seinem Gefolge an den früheren Standort zurück.
Heideck aber konnte sich nicht sogleich entschließen, ihm zu folgen. Seit dem Augenblick, da der erste Schuß gefallen war, hatte ihn das Schlachtenfieber ergriffen; er war jetzt nur noch Soldat.
Ein Gebäude, das er in geringer Entfernung bemerkt hatte und von dessen schlankem Minaret aus er einen besseren Ueberblick zu gewinnen hoffte, zog ihn unwiderstehlich an. Es war das halb verfallene Grabdenkmal irgend eines Heiligen, und es kostete Heideck einige Mühe, die Spitze des etwa sechs Meter hohen Minarets zu erklimmen, während sein Diener unten mit den Pferden wartete. Aber die Anstrengung wurde reichlich belohnt. Weithin übersah Heideck das flache Gefilde. Der vielfach gekrümmte Ravifluß war kaum eine halbe englische Meile entfernt. Seine Ufer waren mit hohem Grase und dichtem Dschungelgebüsch bestanden; jenseits des Stromes aber zeigten sich ungeheure, dicht zusammengeballte Truppenmassen: die vorrückende russische Armee.
Beide Heere mußten sehr bald am Flusse aufeinanderstoßen,[S. 127] denn einzelne Reiterregimenter und reitende Batterien der Engländer, die in langer Linie vorrückten, befanden sich bereits in dessen unmittelbarer Nähe.
Heideck hatte genug gesehen, um den Stand der Schlacht beurteilen zu können. Er kletterte wieder von seinem Minaret herab und bestieg jetzt den noch völlig frischen Hengst, während Morar Gopal sich in den Sattel seines Pferdes schwang. So gelangten sie sehr bald unter die britischen Reiter, die dem Gros vorausschwärmten. Der Anmarsch geschah jetzt mit äußerster Schnelligkeit. In der raschesten Gangart, die der weiche Boden nur immer gestattete, fuhren die englischen Batterien auf, protzten ab und eröffneten das Feuer. Geschlossene Infanteriemassen marschierten auf das Dschungel los. Von der anderen Seite des Flusses her aber wurde das lebhafte englische Feuer nur schwach erwidert. Nur aus der Gegend des linken englischen Flügels her, der von hier aus nicht zu erblicken war, dauerte das Geschütz- und Salvenfeuer mit unverminderter Heftigkeit fort.
Die Folge davon war, daß beträchtliche Verstärkungen nach dem anscheinend hart bedrängten linken Flügel entsandt wurden, wodurch eine erhebliche Schwächung des Zentrums herbeigeführt wurde, ohne daß wirkliche Klarheit über die Absichten der Russen vorhanden war. Gerade das aber mochte nach Heidecks Ueberzeugung die russische Taktik gewesen sein. Er war der Ansicht, daß sie den großen Schlachtenlärm bei Schah Dara wahrscheinlich nur verursachten, um die Aufmerksamkeit der Engländer dorthin abzulenken und dann den Hauptstoß in das Zentrum zu führen. Heidecks Urteil war richtig: die russische Hauptmacht stand dem Oberst Baird gegenüber.
Ein anderer Umstand, der sein Befremden erregte, war die Wahrnehmung, daß sowohl die englischen als auch die indischen Infanterieregimenter vor dem Dschungel Halt machten, statt bis zum Ravifluß durchzustoßen. Es wurden nicht einmal Schützen[S. 128] hineingeschickt, obwohl das Buschwerk keineswegs so dicht war, daß sich nicht eine Schützenkette darin hätte einnisten können. Die stachlichen Sträucher am Ufer standen vielmehr weit genug von einander entfernt, und das hohe Gras, das den Leuten wohl bis an die Schultern ging, hätte sogar ein vortreffliches Versteck geboten.
Nach und nach hatte die englische Armee die Linksschwenkung ausgeführt und stand der russischen Front nun gegenüber, und fortwährend wurden neue Regimenter aus dem zweiten Treffen in den vermeintlich gefährdeten linken Flügel vorgezogen. Unablässig donnerten die englischen Geschütze, aber ihre Aufstellung ließ manches zu wünschen übrig, viele von ihnen schossen, ohne durch das Dschungel hindurch den Feind überhaupt sehen zu können, und vergeudeten so nutzlos und vorzeitig ihre Munition.
Hell schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab. Ein leichter Nordwest, den das ferne Gebirge herabsandte, trieb den schwachen Pulverdampf in dünnen Wolken zur englischen Armee zurück.
Die Infanterie stand jetzt bewegungslos, da der Feind für sie völlig unsichtbar war. Erwartungsvolle Schwüle lag über den gewaltigen Kriegermassen, die die Gefahr fühlten und doch zu qualvoller Untätigkeit verurteilt waren. — Da mit einem Male erhob sich vom Flusse her wildes Geschrei, und gleich einem ungeheuren Heuschreckenschwarm durchbrachen Scharen von Reitern die Dschungeln, die vorher sogar die englische Infanterie hatten aufhalten können. Tausende der wilden Afghanen und der Krieger aus Buchara, Samarkand, Chiva und Semiretschensk, die zu den turkestanischen Divisionen vereinigt waren, hatten den Uebergang über den Fluß bewerkstelligt und stürzten sich nun unter dem gellenden Geschrei: ‚Allah! Allah!‘ auf die englischen Bataillone und Batterien. Im Schießen vom Pferde vorzüglich geübt, waren sie ein schrecklicher Gegner.
Obwohl die Engländer den unvermuteten Angriff mit knatterndem Salvenfeuer erwiderten und nicht um eines Haares Breite aus ihrer Position wichen, erlitten die russischen Reihen infolge ihrer aufgelösten Ordnung nur wenig Verluste. Immer neue Schwärme brachen aus dem Dschungel hervor, und wie ein Heer von Teufeln ritten sie gegen die Batterien an. Einige von diesen wurden wirklich zum Schweigen gebracht: die Bedienungsmannschaften waren niedergeschlagen worden, ehe sie die Geschütze gegen ihre Angreifer hatten wenden können, so rasend schnell und überraschend waren die kühnen Reiter vorgestürmt.
Zu spät kam die in glänzender Attacke vorgehende englische Kavallerie heran, die Wucht des Stoßes verpuffte, da die feindlichen Reiter schon wieder nach allen Seiten auseinandergestoben waren. Diese Leute hatten ihre kleinen, flinken Pferde auf eine geradezu wunderbare Weise in der Gewalt. Sie schienen völlig mit ihnen verwachsen, und die Schnelligkeit, mit der sie ihre Schwärme auflösten um sich sogleich wieder an anderer Stelle zu dichten Haufen zusammenzuschließen, machte sie für die kompakten Schwadronen des Gegners fast unangreifbar.
Einmal war auch Heideck mit einem Teil des Stabes, dem er sich angeschlossen hatte, in das Kampfgedränge geraten. Er hatte einen Afghanen, der ihn angriff, vom Pferde schießen müssen, und wahrscheinlich hätte ihn im nächsten Augenblick der Säbelhieb eines andern getroffen, wenn nicht der treue Morar Gopal, der eine erstaunliche Tapferkeit an den Tag legte, den Reiter rechtzeitig mit einem Stoß seines Säbels unschädlich gemacht hätte. Noch wogte das Kavalleriegefecht hin und her, als plötzlich eine große Anzahl heller Punkte in dem Grase vor dem Dschungel auftauchte. Scharf und hell knallte es von dort herüber, und die verderbliche Wirkung der Schüsse bewies, wie trefflich die russischen Schützen, die sich dort langsam gegen die britische Armee zu vorschoben, ihre Gewehre zu handhaben wußten. Die englische Infanterie gab unermüdlich ihre[S. 130] Salven ab, aber ein nennenswerter Effekt dieser Munitionsverschwendung war nicht wahrzunehmen. Die Zielpunkte waren zu winzig und zu weit verstreut, als daß das auf Kommando mechanisch abgegebene Salvenfeuer die gewünschte Wirkung hätte ausüben können. Außerdem hatten die Russen an dem farbigen Hintergrund des Dschungels eine vortreffliche Deckung, während die Engländer sich wie eine aufgestellte Scheibe gegen den hellen Horizont abhoben. Planmäßig nahmen die Russen zuerst die Bedienungsmannschaften der englischen Batterien unter Feuer. Die englische Artillerie wurde durch die wohlgezielten Schüsse der Russen auf eine fürchterliche Weise dezimiert, so daß schon nach Verlauf von kaum zehn Minuten der Befehl erteilt wurde, mit den Kanonen zurückzugehen. Soweit es möglich war, protzten die Engländer auf und jagten zurück, um zwischen den Infanterie-Bataillonen Aufstellung zu nehmen und von dort aus das Feuer wieder zu eröffnen. So rächte sich das reglementswidrige Vorgehen der englischen Artillerie, das eine Folge des übereilten Vordringens war, aufs schwerste.
Eine viel stärkere und verhängnisvollere Wirkung jedoch als der Angriff selbst schien das unaufhörliche Allahgeschrei der Afghanen und turkestanischen Reiter auf die in den britischen Linien stehenden Mohammedaner hervorzubringen. Heideck sah ganz deutlich, daß die indischen Soldaten hier und dort wie auf Kommando aufhörten zu feuern, und er gewahrte, wie erregte englische Offiziere mit dem flachen Säbel auf die Leute losschlugen und sie mit dem Revolver bedrohten. Offenbar aber hatten die Anführer ihren Einfluß auf die ihnen unterstellten fremden Elemente verloren. Ganz in der Nähe des Höchstkommandierenden wurde ein englischer Kapitän von einem indischen Soldaten mit dem Bajonett niedergestochen, und es war kaum zu bezweifeln, daß ähnliche Handlungen offener Rebellion sich auch bei den übrigen indischen Truppen wiederholten.
Die Leute, die nur mit dem heftigsten inneren Widerwillen dem Befehl der fremden Tyrannen gehorcht hatten, glaubten augen[S. 131]scheinlich schon jetzt den rechten Zeitpunkt gekommen, das verhaßte Joch abzuschütteln, und zugleich loderte die alte Feindschaft zwischen Mohammedanern und Hindus, der Gegensatz der beiden Religionen, der sich auch in friedlichen Zeiten sehr oft in blutigen Schlägereien kundgegeben hatte, in hellen Flammen auf. Inmitten des britischen Heeres kam es zu erbitterten Einzelkämpfen zwischen den unversöhnlichen Gegnern. Und es war unvermeidlich, daß dadurch die ganze Disziplin verhängnisvoll erschüttert und aufgelöst wurde.
Das Schlachtfeld machte einen entsetzlichen Eindruck. Vor der Front lagen zahllose Verwundete, die um Hilfe schrieen und denen doch keine Pflege gebracht werden konnte, da das Zurückgehen der englischen Artillerie ohne Rücksicht auf die Zurückbleibenden hatte vor sich gehen müssen: verwundete Pferde, die wild um sich schlugen, um aus den Geschirren zu kommen, erhöhten noch den grausigen Eindruck der schrecklichen Szenerie; dazwischen sprengten vereinzelte Abteilungen der englischen Kavallerie, auf die die eigene Infanterie aus Furcht vor dem Vorgehen der russischen Schützen rücksichtslos schoß. Wenn auch im Kriege die Schlachtfronten an sich ein so grauenvolles Bild bieten, daß nur die Erregung des Augenblickes dem Menschen das Ertragen dieses Eindrucks ermöglicht, so überstieg das sich hier durch den Vorkampf abspielende Bild doch alle Vorstellungen. Die Disziplinlosigkeit in den englischen Linien nahm immer mehr zu, so daß die englischen Offiziere ihre ganze Aufmerksamkeit auf die eigene Truppe, statt auf die Bewegungen des Gegners richten mußten. Wie nötig das war, zeigte sich sehr bald.
Prinz Tasatat war der erste, der mit seiner ganzen Mannschaft die Brigade des Obersten Baird verließ und offen zum Feind überging. Sein Beispiel wirkte entscheidend auf die bisher noch zaudernden Inder ein, und so wuchs die Zahl der Ueberläufer mit jeder Minute.
Eine einheitliche Leitung der Schlachtlinie war längst unmöglich geworden. Oberst Baird ließ seine Geschütze auf die Ab[S. 132]teilung des Prinzen Tasatat richten, und gleich ihm führten viele andere Befehlshaber nach eigenem Ermessen ihren besonderen Kampf. Einzelne indische Regimenter zerstreuten sich nach allen Richtungen hin, weil es den Leuten weniger um einen Kampf zu tun war, als darum, Beute bei den Gefangenen und Verwundeten zu machen. An vielen Stellen des Schlachtfeldes kam es zum Handgemenge, das bei der fanatischen Erbitterung der Kämpfenden jedesmal zu einem grauenhaften Gemetzel wurde. Am schlimmsten ging es denen, die in die Hände der Afghanen fielen. Denn diese Teufel in Menschengestalt schnitten allen Gefangenen und Verwundeten, gleichviel, ob es Mohammedaner, Hindus oder Engländer waren, kurzerhand die Köpfe ab, und in ihrer Raubgier rissen sie den Verwundeten und Toten die Wertgegenstände vom Körper.
Ein ungeheurer Strom von Flüchtlingen zog an den noch in geschlossener Aufstellung verharrenden englischen Regimentern vorbei durch die Ebene nach Lahore, um hinter den Mauern der befestigten Stadt Schutz zu suchen.
Heideck hielt die britische Sache schon jetzt für verloren, und er war darauf gefaßt, zusammen mit den tapferen Männern seiner Umgebung hier den Schlachtentod zu sterben. Aber mit einem Gefühl aufrichtiger Bewunderung mußte er erkennen, wieviel Tapferkeit und musterhafte Disziplin den rein englischen Truppen innewohnte. Diejenigen Regimenter und Batterien, denen keine einheimischen Elemente beigemischt waren, blieben in all dem fürchterlichen Wirrwarr ruhig und unerschüttert, und dank ihrer Tapferkeit begann die anfangs so regellose Schlacht sich allgemach zu klären, wie wenn die starren Spitzen eines Gebirges aus dem sich senkenden Nebel hervortreten.
Statt der halbwilden Reiterei, die den Angriff eröffnet hatte, standen den englischen Truppen jetzt russische Batterien und gewaltige Infanteriemassen mit dichten Schützenschwärmen, sowie mehrere Dragonerregimenter gegenüber.
In dem allerdings sehr zusammengeschmolzenen zweiten Treffen[S. 133] der Engländer befand sich der Oberbefehlshaber mit etwa sechstausend Mann und zwei Batterien. Er hatte offenbar die Absicht, einen geordneten Rückzug nach Lahore anzutreten und denselben mit seinen Kerntruppen zu decken.
Es gelang ihm auch noch, vom rechten und linken Flügel zwei Abteilungen durch ausgesandte Ordonnanzoffiziere heranzuziehen. Das erste Treffen aber war so stark im Gefecht mit russischer Infanterie, daß ein geordneter Rückzug fast undenkbar war.
Trotzdem wollte der Feldherr den Versuch machen, auch das erste Treffen seiner Armee zurückzuziehen. Er entsandte einen seiner Adjutanten, um dem Obersten Baird, der noch etwa zweitausend Mann um sich haben mochte, den Befehl zum Abbrechen des Gefechts und zum Rückzug zu überbringen. Der junge Offizier salutierte mit tiefernstem Gesicht, zog seinen Säbel und sprengte davon. Aber er legte nur einen kleinen Teil seines etwa eineinhalb Kilometer langen todumdrohten Weges zurück. Umherschwärmende Kosaken auf kleinen, struppigen aber blitzschnellen Pferden griffen ihn an und warfen das Opfer soldatischer Pflicht aus dem Sattel.
Der General schien unschlüssig, ob er noch ein anderes junges Leben an die aussichtslose Aufgabe setzen solle. Da ritt Heideck auf ihn zu und legte die Hand an seinen Helm.
„Wollen Exzellenz mich reiten lassen! Ich bin mit dem Obersten Baird befreundet und würde gern die Gelegenheit wahrnehmen, ihm meinen Dank für erwiesene Güte abzustatten!“
Der Feldherr musterte den ihm unbekannten Herrn, der wie ein Offizier aussah aber keine vorschriftsmäßige Uniform trug, mit scharfem Blick. Doch er ließ sich nicht Zeit, Fragen zu stellen.
„Reiten Sie!“ sagte er kurz. „Der Oberst soll nicht länger Stand halten; er soll rechts ausbiegend auf Lahore zurückgehen — wenn er irgend kann.“
Heideck salutierte und warf seinen Hengst herum. Er hatte den Revolver in den Gürtel und den Säbel in die Scheide gesteckt.[S. 134] Denn nicht durch den Gebrauch der Waffen, sondern einzig durch die Schnelligkeit seines Pferdes durfte er hoffen, hier zum Ziel zu gelangen. Er ließ dem Tiere die Zügel und ermunterte es durch Zuruf. Und der Hengst machte die auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht zu schanden. Er schien über den zerstampften Boden mehr dahinzufliegen als zu laufen. Die Kosaken, die auch diesen einzelnen Reiter zu erwischen versuchten, vermochten ihn nicht zu erreichen. Und von den Schüssen, die dem Verwegenen galten, traf keiner sein Ziel.
Unversehrt erreichte der freiwillige Meldereiter die Brigade. Aber er kam zu spät; denn fast im nämlichen Moment erfolgte der Zusammenstoß mit der trotz ihrer Verluste unaufhaltsam vorrückenden russischen Infanterie. Um sein und seiner wackern Krieger Leben so teuer als möglich zu verkaufen, hatte Oberst Baird ein Karree formieren lassen, in dessen Mitte sich die Reiter und die Geschütze befanden. Viele der Offiziere waren indessen aus dem Sattel gestiegen, hatten sich mit den Gewehren und Patrontaschen von Gefallenen versehen und waren mit aufgepflanztem Bajonett in das erste Glied des Vierecks getreten. Schweratmend und schweißbedeckt hielt Heideck vor dem Obersten und erstattete ihm seine Meldung.
Aber der tapfere Engländer wies mit einer Handbewegung auf die russischen Linien.
„Unmöglich!“ sagte er. „Es ist uns bestimmt, auf diesem Fleck zu sterben.“
Damit stieg auch er ab und nahm ein Gewehr. Aus tausend britischen Kehlen ertönte ein helles: ‚Hurrah!‘ denn die Russen hatten das Karree erreicht und man begann Mann gegen Mann zu kämpfen.
Unverwischlich prägten sich dem jungen Deutschen die furchtbaren Schrecknisse dieses Handgemenges ein, bei dem die Engländer mit dem Mute der Verzweiflung gegen den vielfach überlegenen Feind rangen. Auch er hatte den Säbel gezogen, doch seine poli[S. 135]tischen Sympathieen waren trotz aller persönlichen Beziehungen nicht bei der Sache der Engländer.
Da plötzlich hörte er einen heiseren Aufschrei der Wut dicht an seiner Seite, und als er sich umwandte, sah er zu seiner grenzenlosen Ueberraschung in das von Haß und Ingrimm schrecklich verzerrte Gesicht des Kapitäns Irwin. Er hatte ihn bei dem Depot in Chanidigot vermutet, aber Irwin mußte wohl eine Möglichkeit gefunden haben, sich diesem Kommando, das unter den obwaltenden Umständen ja einer beschämenden Zurücksetzung gleichgekommen war, zu entziehen und sich der ins Feld rückenden Truppe anzuschließen. Auch er kämpfte hier in diesem Todesringen mit dem Gewehr in der Hand, wie ein gemeiner Soldat. Und das rote Blut, das die Spitze seines Bajonetts färbte, gab beredtes Zeugnis für seine Tapferkeit. In diesem Moment aber war es keiner der russischen Angreifer, dem sein zornfunkelnder Blick galt, sondern der Mann, den er als seinen Todfeind haßte, seitdem durch sein mutvolles Eingreifen der schurkische Anschlag gegen Edith vereitelt worden war. Hier war der Ort und der Augenblick, dem heißen Racheverlangen, das ihn verzehrte, Genüge zu tun. Was bedeutete inmitten dieses großen Sterbens das Sterben eines Einzelnen!
Noch ehe Heideck die Absicht des Unseligen erraten konnte, drang Irwin mit gefälltem Bajonett auf ihn ein. Einzig ein Aufbäumen des erschreckten Hengstes rettete dem Hauptmann das Leben; denn der Bajonettstoß, der seiner Brust zugedacht war, streifte den Hals des Tieres. In demselben Augenblick traf der furchtbare Säbelhieb eines Russen den durch keinen Helm mehr geschützten Hinterkopf Irwins mit solcher Wucht, daß er mit einem dumpfen Aufschrei vornüber auf das Gesicht fiel.
„Was tun Sie noch hier?“ klang die merkwürdig veränderte heisere Stimme des Obersten plötzlich an Heidecks Ohr. „Reiten Sie — um des Himmels willen! Reiten Sie schnell! Wenn Sie[S. 136] sie wiedersehen, so bringen Sie meinem Weibe und meinen armen Kindern meine letzten Grüße! Stehen Sie ihnen bei!“
Aus einer tiefen Stirnwunde rann ihm das Blut über das Gesicht, und Heideck sah, daß er sich nur noch mit gewaltiger Willensanstrengung aufrecht erhielt. Er wollte etwas erwidern, aber schon hatte der Oberst sich wieder in einen Knäuel von Kämpfenden gestürzt, und wenige Sekunden später war er unter den Kolbenstößen und Säbelhieben der Russen zusammengebrochen.
Da warf Hermann Heideck sein Pferd herum und sprengte davon.
Von tausendfältigem Tode umdroht, wie sein Ritt zu der Brigade des Obersten Baird, war auch Heidecks Rückweg. Wenngleich er allen geschlossenen Truppenkörpern auf seinem Wege über das blutgetränkte Schlachtfeld erfolgreich und glücklich auswich, so kamen vereinzelt russische Reiter doch in seine Nähe, und mehr als einmal hörte er den feinen, pfeifenden Ton der dicht an seinem Haupte vorbeisausenden Gewehrkugeln. Aber in dem Schlachtenfieber, das ihn ergriffen hatte, dachte er kaum einen Augenblick an die Gefahr, denn alle seine Gedanken beschäftigten sich einzig mit der Lösung der Frage, wie er nach Lahore gelangen sollte, um die letzte Bitte des Obersten zu erfüllen.
Aus mehreren Wunden blutend, setzte sein wackerer Hengst die letzten Kräfte ein, um seinen Reiter glücklich aus dem Schlachtgetümmel zu bringen. Eine bedeutende Strecke noch vermochte das verwundete Tier im langen Galopp zurückzulegen. Dann jedoch fing es plötzlich an, seinen Gang zu verlangsamen und zu straucheln, so daß Heideck merken mußte, es ging mit seinen Kräften zu Ende. Er schwang sich aus dem Sattel, um die Verletzung des Hengstes zu untersuchen, und erkannte, daß er dem Pferde weitere Anstrengungen nicht mehr zumuten dürfe. Es hatte außer dem Bajonettstich am Halse auch noch ein Kugelloch im linken Hinterschenkel, und namentlich aus dieser Wunde ergoß sich das Blut. Aengstlich schnaubend rieb das arme Tier den Kopf an der Schulter seines Herrn, und Heideck kraute ihm liebkosend die Stirn.
‚Armer Bursche — du hast deine Schuldigkeit getan. Ich muß dich hier zurücklassen.‘ Erst jetzt überkam ihn die bange Befürchtung, daß auch er von diesem Schlachtfelde nicht lebend entkommen werde.
Da sah er einen Reiter in indischer Kleidung mit hochgeschwungenem Säbel auf sich zukommen. Heideck riß seinen Revolver aus dem Gürtel, um sich gegen den Angreifer zu verteidigen. Plötzlich aber erkannte er in dem vermeintlichen Gegner seinen getreuen Boy, Morar Gopal, der vor Freude strahlte, seinen totgeglaubten Herrn durch einen Zufall wieder gefunden zu haben. Er wollte Heideck ohne weiteres sein Pferd überlassen und sich zu Fuß weiterzuhelfen suchen. Aber der deutsche Offizier nahm das uneigennützige Opfer seines Dieners nicht an. Und er wurde der Notwendigkeit, sich abermals von seinem treuen Diener zu trennen, dadurch überhoben, daß eben jetzt ein reiterloses englisches Offizierpferd in Sicht kam. Das Tier, ein schöner Brauner, war unverletzt und ließ sich ohne sonderliche Mühe einfangen. Nun konnten sie ihre Flucht gemeinsam fortsetzen, und Heideck faßte den Entschluß, sich dem linken englischen Flügel zuzuwenden, weil, wie es ihm schien, dort noch mit weniger Unglück gekämpft wurde, als bei den übrigen Teilen der schon völlig zersprengten britischen Armee. Der kürzeste Weg, um nach Lahore zu gelangen, war dies freilich nicht. Aber es wäre ein tollkühnes Unternehmen gewesen, sich in das wilde Getümmel von Fliehenden und Verfolgern zu mischen, das sich jetzt nach Lahore ergoß.
Die an beiden Ufern des Ravi liegenden, langgestreckten Plantagen von Schah Dara und die sie verbindende Schiffsbrücke waren in der Tat noch von englischen Truppen besetzt, die ihre Stellung bisher ohne allzuschwere Verluste behauptet hatten. Allerdings hatten sie sich den Russen gegenüber in der Mehrzahl befunden. Denn der Angriff auf Schah Dara, mit dem die Schlacht begonnen hatte, war in der Hauptsache ja nur ein Scheinmanöver gewesen, dazu bestimmt, das Zentrum der englischen Armee, gegen das der Hauptstoß geführt werden sollte, zur Entsendung von Verstärkungen[S. 139] zu veranlassen und dadurch in verhängnisvoller Weise zu schwächen. Heideck hatte mit eigenen Augen gesehen, wie vollständig dieser Plan geglückt war. Nun freilich, da durch den erfochtenen Sieg ihre Streitkräfte an anderen Stellen entbehrlich wurden, fingen die Russen an, auch hier mit größeren Massen anzugreifen. Aus der Reserve rückten russische Bataillone im Sturmschritt heran, und neue Batterien erschienen, um das Feuer auf Schah Dara und das südlich davon gelegene Grabmal Schah Jehangirs zu eröffnen.
Und die Engländer waren verständig genug, es nicht auf einen hoffnungslosen Verzweiflungskampf ankommen zu lassen, sondern sie begannen ihren Rückzug, so lange er sich noch in leidlicher Ordnung vollziehen konnte.
Als Heideck das südliche Ende der Pflanzungen erreichte, kam eben ein Regiment bengalischer Reiter über die Schiffsbrücke, und Heideck schloß sich ihm an. Eine russische Granate, die mitten in den Trupp einschlug, ohne indessen trotz ihrer zahlreichen Opfer die Marschdisziplin zu zerstören, war ein recht deutlicher Beweis, daß die Situation auch hier in der Tat unhaltbar war.
Mit verhältnismäßig geringen Verlusten und ohne noch einmal in einen Kampf verwickelt worden zu sein, gelangte das Regiment bis unter die Zitadelle, die im Norden von Lahore innerhalb der Umfassungsmauer liegt.
Mit Entsetzen aber mußten die unglücklichen Lanzenreiter wahrnehmen, daß ihnen auch von dort her mörderische Kugeln entgegengesandt wurden. Sie galten freilich nicht ihnen, sondern den verräterischen indischen Truppen und den irregulären russischen Reitern, die sich in wildem Getümmel gegen die Mauern wälzten. Aber ihre Wirkung war darum nicht minder verderblich. Die zurückgebliebene englische Besatzung hatte alle Tore der Stadt geschlossen und schien gesonnen, niemand mehr einzulassen, weder Freund noch Feind. Trotzdem ließ der Führer des bengalischen Regiments seine Leute dicht aufschließen und bahnte sich mit unwiderstehlichem Druck[S. 140] einen Weg durch den Wirrwarr der unmittelbar unter den Mauern in grauenhaftem Handgemenge Kämpfenden. Er hatte seine Richtung auf eines der Tore zu genommen. Und drinnen kam man glücklicherweise seiner Absicht entgegen: in der Zuversicht, daß die wuchtigen Hiebe und Stöße der Reiter den Feind verhindern würden, gleichzeitig mit ihnen einzudringen, öffnete man im entscheidenden Augenblick das Tor, und inmitten des Regiments gelangte auch Heideck mit seinem treuen Gefährten glücklich in die Stadt.
Die Lancers rückten in die Zitadelle ein, und Heideck wandte sich mit Morar Gopal, der ihm wie sein Schatten folgte, dem Charing-Croß-Hotel zu.
Aber es war nicht leicht, dahin zu gelangen. Denn die Straßen waren mit einer schier undurchdringlichen Menge laut schreiender und gestikulierender Eingebornen gefüllt, die sich ersichtlich in größter Aufregung befanden. Die Nachrichten von der für die Engländer verlorenen Schlacht hatten längst ihren Weg in die Stadt gefunden, und die lang gehegte Befürchtung, daß eine solche Nachricht eine verhängnisvoll aufreizende Wirkung auf die indische Bevölkerung üben würde, zeigte sich überraschend schnell als berechtigt. In all’ den braunen Gesichtern, die er da auf sich gerichtet sah, glaubte Heideck deutlich eine haßerfüllte Drohung zu lesen. Man hielt ihn natürlich für einen Engländer, und nur seine entschlossene Miene und der blanke Säbel in seiner Faust mochten die Leute abhalten, ihrem Groll gegen den Angehörigen der verhaßten Unterdrücker-Rasse durch Tätlichkeiten Ausdruck zu geben.
Das Tor des Hotels war verschlossen, vielleicht, weil man einen Angriff von Seiten der Eingebornen fürchtete. Aber als ein weißer Mann, den man obendrein für einen englischen Offizier hielt, Einlaß begehrte, wurde es aufgetan. Heideck fand einen großen Teil der in dem Hotel untergebrachten Offiziersdamen und Kinder im Vestibül und dem daran anstoßenden Speisesaal versammelt. Die Ahnung eines schrecklichen Unglücks und die durch den Straßen[S. 141]lärm beständig gesteigerte Angst vor den kommenden Ereignissen hatten die Bedauernswerten nicht länger in ihrem Zimmer geduldet. Mrs. Baird und Edith Irwin aber befanden sich nicht unter denen, die Heideck umdrängten, und die in hundert durcheinanderschwirrenden Fragen von dem staubbedeckten Manne, der sicherlich vom Schlachtfelde herkam, Auskunft über den Stand der Dinge zu erhalten hofften.
Heideck sagte nichts weiter, als daß die Armee sich tapfer kämpfend zurückzöge. Es wäre eine nutzlose Grausamkeit gewesen, den Schrecken und die Verzweiflung dieser Unglücklichen durch eine Mitteilung der ganzen Wahrheit ins Ungemessene zu steigern. Fast gewaltsam mußte er sich aus dem dichten Knäuel befreien, um sich in das Zimmer der Mrs. Baird hinaufbegeben zu können. Es war die erste freudige Empfindung während dieses verhängnisvollen Tages, die seine Seele durchzitterte, als er in dem freundlichen Zuruf, der sein Klopfen beantwortete, Edith Irwins Stimme erkannte. Die Befürchtung, daß ihr während seiner Abwesenheit etwas zugestoßen sein könnte, hatte ihn während der letzten Stunden unablässig gepeinigt, und er vergaß für einen Augenblick all das Grauen, das sie umgab, über dem Entzücken, in das ihn bei seinem Eintritt der Anblick ihrer unvergleichlichen Schönheit versetzte.
Sie hatte sich aus dem Sessel inmitten des Zimmers erhoben, mit tiefernstem, aber vollkommen ruhigem Gesicht und klarblickenden Augen, die bereit schienen, auch der furchtbarsten Gefahr fest entgegenzusehen. Mrs. Baird lag mit ihren beiden kleinen Mädchen in einer Ecke auf den Knieen. So ganz war sie in ihre inbrünstige Andacht versunken, daß sie den Eintritt Heidecks völlig überhört hatte. Erst als Edith sagte: „Da ist Mr. Heideck, liebe Freundin! Ich wußte wohl, daß er kommen würde —“ sprang sie in großer Erregung auf.
„Dem Himmel sei Dank! Sie kommen von meinem Gatten? Wie haben Sie ihn verlassen? Ist er noch am Leben?“
„Ich verließ den Obersten, als er sich inmitten seiner tapferen[S. 142] Leute gegen den Feind verteidigte. Er trug mir auf, Ihnen seine Grüße zu bringen.“
Er hatte sich bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Aber der scharfe weibliche Instinkt der bedauernswerten Frau erriet, was sich hinter seinen tröstlich klingenden Worten verbarg.
„Warum sagen Sie mir nicht die Wahrheit? Mein Mann ist tot!“
„Er war verwundet, aber Sie brauchen die Hoffnung nicht aufzugeben, ihn lebend wiederzusehen.“
„Wenn er verwundet ist, will ich zu ihm. Sie werden mich führen, Mr. Heideck! Es muß doch eine Möglichkeit geben, zu ihm zu gelangen.“
„Ich bitte Sie dringend, sich zu beruhigen, verehrte Mrs. Baird! Es ist gewiß begreiflich, daß Ihr Herz Sie jetzt zu Ihrem Gatten zieht. Aber die Ausführung Ihrer Absicht ist ganz unmöglich. Die Nacht bricht herein, und wenn es auch heller Tag wäre, würde niemand durch das Getümmel der zurückgehenden Armee dahin gelangen können, wo wir den Obersten suchen müßten.“
„Die Schlacht ist also verloren? Unser Heer ist auf der Flucht?“
„Der Verrat der indischen Truppen trägt die Schuld daran. Ihre Landsleute, Mrs. Baird, haben gekämpft wie Helden, und da eine verlorene Schlacht noch nicht einen verlorenen Feldzug bedeutet, werden sie die Scharte von heute vielleicht bald ausgewetzt haben.“
„Was aber soll nun aus uns werden? Man wird doch die Verwundeten hierher bringen, nicht wahr? Darum werde ich unter keinen Umständen fortgehen, ehe ich meinen Gatten wiedersehe.“
Ihr Entschluß, in der aufgeregten Stadt auszuharren, wäre sicherlich durch keine Kunst der Ueberredung zu erschüttern gewesen. Aber Heideck dachte auch gar nicht daran, Mrs. Baird von diesem Entschluß abzubringen. Denn es war seine feste Ueberzeugung, daß die von dem Obersten für den Fall einer Niederlage empfohlene[S. 143] Flucht nach Amritsar in der gegenwärtigen Lage ganz unausführbar war. In der Tat gab es kaum eine andere Möglichkeit, als hier im Hotel auszuharren und geduldig den weiteren Verlauf der Ereignisse abzuwarten.
In die aufgeregte Volksmenge draußen auf den Straßen durften sich weiße Frauen und Kinder jetzt unmöglich hinauswagen. Im Hause aber glaubte sie Heideck einstweilen noch vollkommen sicher, denn er hielt es für unmöglich, daß der Fanatismus der Eingebornen sich bis zu einem Angriff auf das Hotel steigern könnte, während sich noch beträchtliche Mengen englischen Militärs in der Stadt befanden.
Nur zu bald aber sollte er erfahren, daß auch er den Ernst der Situation unterschätzt hatte. Ein roter, zuckender Flammenschein, der das eben noch von der sinkenden Dämmerung erfüllte Gemach plötzlich erhellte, ließ ihn bestürzt an das Fenster eilen, und er sah zu seinem Schrecken, daß eines der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Straße in Brand geraten war. Auch in dem anstoßenden Gebäude züngelten die Flammen bereits an den hölzernen Säulen der Veranda empor. Es war kein Zweifel, daß das Hotel in kurzer Zeit von Flammen umringt sein würde.
Unter diesen Umständen war an ein Verweilen im Hotel nicht mehr zu denken. Dem Feuer zwar konnten seine massiven Mauern vielleicht eine Zeitlang Widerstand bieten, aber der beißende Qualm, der Heideck schon jetzt den Atem benahm, als er für einen Moment das Fenster öffnete, hätte menschlichen Wesen den Aufenthalt in dieser Glut bald unmöglich gemacht. Nun wurde auch mit heftigen Schlägen an die Tür des Zimmers geklopft, und Morar Gopal, der Heideck überall im Hotel gesucht hatte, beschwor seinen Herrn, auf der Stelle zu entfliehen.
Der deutsche Offizier war sich vollkommen klar darüber, daß es jetzt galt, die eine Gefahr mit einer andern, vielleicht noch größeren, zu vertauschen. Aber es gab trotzdem kein Zaudern und Ueberlegen.
„Wir befinden uns inmitten einer Feuersbrunst, Mrs. Baird,“ sagte er dringend. „Niemand wird in dieser allgemeinen Aufregung einen Versuch machen, dem rasenden Element Einhalt zu gebieten. Und wenn Sie nicht hier mit Ihren Kindern ersticken wollen, müssen Sie mir folgen. Ich hoffe, Sie unversehrt in die Zitadelle oder an einen anderen geschützten Ort zu bringen.“
Edith Irwin hatte bereits eines der kleinen Mädchen in ihren Arm genommen, und als die Gattin des Obersten mit wirren Blicken suchend umhersah, als hätte sie den Wunsch, noch irgend welche teuren Besitztümer zu retten, drängte sie sie nachdrücklich zur Eile.
„Es gibt jetzt nichts wertvolleres, als das Leben Ihrer Kinder. Alles andere mag in Gottes Namen verloren gehen.“
Und die arme Frau, deren Sinne sich in dem Uebermaß des Schrecklichen zu verwirren begannen, fügte sich gehorsam der kaltblütigen Ueberlegenheit ihrer jungen Freundin. Von den Bewohnern des Hotels war schon beinahe alles geflüchtet. Nur ein paar unglückliche Frauen, die völlig den Kopf verloren hatten, irrten noch in den unteren Räumen umher, allerlei wertlose Dinge, von denen sie sich nicht trennen wollten, in den Händen haltend. Heideck rief ihnen zu, sich ihm anzuschließen. Aber sie verstanden ihn kaum, und er hatte nicht Zeit, sich weiter um die Bedauernswerten zu kümmern.
Den bloßen Säbel in der Faust, suchte der treue Hindu dem Gebieter und dessen Schützlingen einen Weg durch die zwischen den brennenden Häusern hin- und herwogende Menge zu bahnen. Es war jetzt völlig dunkel geworden, und nur die roten Flammen beleuchteten unheimlich die grausige nächtliche Szene. Der wütende Fanatismus der Menge schien sich während der letzten halben Stunde noch gewaltig gesteigert zu haben. Diese sonst so bescheidenen, unterwürfigen und liebenswürdigen Menschen waren plötzlich in eine Horde von Wilden verwandelt. Ueberall sah man geschwungene Dolche und Säbel, während ein betäubendes Geschrei die Luft[S. 145] zerriß. Nie zuvor hatte Heideck menschliche Wesen in solchem Aufruhr gesehen. In tollen Gestikulationen warfen diese braunen Burschen ihre Arme und Beine umher. Wie wilde Tiere fletschten sie die Zähne und brachten sich selbst mit ihren Waffen Verletzungen an Brust und Gliedern bei, um durch den Anblick des fließenden Blutes ihre Mordgier zu erhöhen.
Schritt für Schritt bahnten sich die beiden Männer durch gebieterische Zurufe und durch kräftige Schläge mit der flachen Klinge ihren Weg. Aber nach Verlauf von zehn Minuten hatten sie wenig mehr als hundert Meter zurückgelegt. Das Getümmel um sie her wurde immer enger und bedrohlicher, und Heideck sah ein, daß es unmöglich sein würde, die Zitadelle zu erreichen.
In banger Sorge um die seinem Schutze anvertrauten Menschenleben hielt er Umschau nach einem anderen rettenden Zufluchtsort. Aber die Europäer hatten ihre Häuser fest verschlossen und verrammelt, und keiner von ihnen würde den Hilfeflehenden aufgetan haben. Plötzlich wuchs das wüste Geschrei, das die weinenden Kinder schon jetzt fast zu Tode geängstigt hatte, zu einem markdurchdringenden Kreischen und Toben an, und eine Rotte von ihrer fanatischen Leidenschaft bis zum Wahnsinn gestachelter Dämonen stürmte aus einer Seitenstraße gerade auf Heideck zu.
Sie hatten irgendwo auf ihrem Wege schon eine Anzahl anderer weiblicher Flüchtlinge aufgefangen. Und der Anblick dieser Unglücklichen ließ dem deutschen Offizier das Blut in den Adern erstarren. Man hatte den Frauen, unter denen sich auch zwei fast noch an der Grenze des Kindesalters stehende Mädchen befanden, die Kleidungsstücke vom Leibe gerissen und stieß sie jetzt unter beständigen grausamen Mißhandlungen vorwärts, so daß sie aus zahlreichen Wunden bluteten.
Unfähig, seinen heiß aufwallenden Zorn über diese Bestialität niederzuhalten, riß Heideck den Revolver aus dem Gürtel und streckte eines der fanatisch heulenden Scheusale durch einen wohlgezielten Schuß zu Boden.
Aber es war nicht klug gewesen, was er da getan hatte. Wenn sein soldatisches Aussehen die im Grunde feige Gesellschaft bis dahin noch von Gewalttätigkeiten gegen ihn und seine Begleitung zurückgehalten hatte, so riß die aufkochende Wut jetzt alle Dämme nieder.
In der nächsten Sekunde schon war das kleine Häuflein in einen Knäuel tobender brauner Teufel eingeschlossen, und Heideck gab sich keiner Täuschung mehr darüber hin, daß es sich nur noch darum handeln könne, tapfer kämpfend zu sterben. Die ersten und ungestümsten der Angreifer vermochte er sich damit vom Leibe zu halten, daß er die fünf noch in seinem Revolver befindlichen Schüsse gegen sie abfeuerte. Der letzte von ihnen blies einem schwarzbärtigen Burschen gerade in dem Augenblick das Lebenslicht aus, als er mit brutalen Fäusten nach Edith Irwin gegriffen hatte. Jetzt warf Heideck den nutzlos gewordenen Revolver, den er nicht mehr von neuem zu laden vermochte, einem der zähnefletschenden Unholde ins Gesicht, schlang seinen freigewordenen linken Arm um Edith und setzte, sie fest an sich drückend, seinen verzweifelten Verteidigungskampf mit dem Säbel fort.
Für Mrs. Baird und ihre Kinder konnte er nichts mehr tun. Seitdem er den treuen Morar Gopal unter den Hieben einiger Mohammedaner hatte fallen sehen, wußte er, daß sie rettungslos verloren seien. Er gewahrte noch, wie man der Gattin des Obersten ebenfalls die Kleider in Fetzen vom Leibe riß; er hörte das herzzerreißende Wehgeschrei, mit dem sie unter den Schlägen und Stößen der entmenschten Peiniger nach ihren Kindern rief. Aber es blieb ihm wenigstens erspart, auch das Ende der unschuldigen kleinen Mädchen mit eigenen Augen sehen zu müssen. Sie waren seinem Blick in dem schrecklichen Gedränge entschwunden, und da sie ohnedies vor Entsetzen schon halb bewußtlos gewesen waren, mochte der Himmel wenigstens die Barmherzigkeit gehabt haben, sie die Qualen des Todes, den ihre fühllosen Schlächter ihnen bereiteten, nicht mehr empfinden zu lassen.
Und Edith?
Sie war nicht ohnmächtig. Nichts von jenen Schauern des Entsetzens, die selbst den Mutigsten im Angesicht des Todes überkommen, war in ihren Zügen zu lesen. Man hätte glauben können, daß die Vorgänge um sie her alle Schrecken für sie verloren hätten, seitdem Heidecks Arm sie umschlang.
Aber der Moment war nicht dazu angetan, Heideck die Seligkeit der Gewißheit ihrer Liebe empfinden zu lassen. Er war mit seinen Kräften zu Ende, und obwohl er bis auf eine geringfügige Verletzung an der Schulter noch unverwundet war, wurde es ihm doch schon unsäglich schwer, den Säbel zu führen, dessen wuchtige Hiebe die Angreifer bis auf einige Tollkühne, die ihren Vorwitz teuer genug bezahlt hatten, bisher noch immer in einer gewissen respektvollen Entfernung gehalten. In demselben Augenblick, wo ihn die Ermattung nötigte die Waffe sinken zu lassen, waren Edith und er hilflos der dämonischen Grausamkeit dieser Horde menschlicher Bestien preisgegeben. Das wußte er, und darum setzte er, obwohl es vor seinen Augen schon wie ein blutroter Nebel wogte, den letzten Rest seiner Kraft daran, diesen fürchterlichen Augenblick noch um ein Geringes hinauszuschieben. —
Und plötzlich geschah etwas Unerwartetes, Wunderbares, — etwas, das er in seinem gegenwärtigen Zustande überhaupt nicht zu begreifen vermochte. Zahlreiche Ausrufe der Angst und des Schreckens mischten sich in das Wut- und Triumphgeheul der rachetrunkenen Inder. Mit der unwiderstehlichen Wucht einer Flutwelle drängte der ganze, dicht zusammengedrängte Menschenschwarm vorwärts und gegen die Häuser an beiden Seiten der Straße. Pferdegetrappel, Kommandorufe, das Geräusch klatschender Schläge wurden vernehmlich, und die Oberkörper bärtiger Reiter tauchten über den Köpfen der Menge auf.
Es war eine Schwadron Kosaken, die sich da rücksichtslos ihren Weg durch das Getümmel bahnte. Die Stadt mußte sich also[S. 148] in den Händen der Russen befinden, und es war jedenfalls der Befehl ergangen, zur Verhinderung weiterer Massakres und Brandstiftungen die Straße von dem fanatischen Gesindel zu säubern.
So trieben denn die grimmig dreinschauenden Reiter alles, was ihnen in den Weg kam, vor sich her. Und sie machten ihre Sache gut; denn den Hieben der an ihren Enden mit dünnen, harten Stöcken versehenen Peitschen, die in ihren Fäusten zu einem fürchterlichen Züchtigungsinstrument wurden, widerstand nichts.
Heideck sah sich plötzlich von seinen Angreifern befreit, und da er sich mit Edith hart an die Mauer eines Hauses drückte, blieb er auch von den Fußtritten der Pferde, wie von den wahllos ausgeteilten Knutenhieben glücklich verschont.
Aber das scharfe Auge eines Kosakenoffiziers hatte die kleine Gruppe inmitten eines ganzen Haufens von Toten und Verwundeten erspäht. Er ritt zu den beiden heran, und da er in Heidecks Khakianzug eine englische Uniform zu erkennen glaubte, erteilte er seinen Leuten einen Befehl, über dessen Bedeutung die Geretteten nicht lange im Zweifel blieben, denn sie wurden alsbald von zweien der Kosaken zwischen ihre Pferde genommen, und ohne zu wissen, wohin man sie bringen würde, durchschritten sie die hier und da von den Flammen der brennenden Häuser glutrot beleuchteten Straßen.
Das Grabmal Anar Kalis, ein großes, achteckiges Gebäude in den südlichen Anlagen, war es, das die Gefangenen aufnahm. Heideck und Edith Irwin waren die ersten nicht mehr, die man hier unterbrachte. Denn außer etwa hundert Offizieren befanden sich darin zahlreiche englische Damen und Kinder, denen die Befreier früh genug erschienen waren, um sie vor dem grauenhaften Schicksal der Mrs. Baird und ihrer Kinder zu bewahren.
An der offenen Tür des den Frauen angewiesenen Raumes mußte sich Heideck von Edith Irwin trennen. Zu langem Abschiednehmen ließ man ihnen nicht Zeit. Aber selbst wenn sie ganz allein mit einander gewesen wären, würden sie in diesem Augenblick kaum fähig gewesen sein, viele Worte zu machen. Nach all den vorausgegangenen, schier übermenschlichen Anstrengungen und Aufregungen dieses fürchterlichen Tages war jetzt eine so tiefe Abgespanntheit und Erschlaffung über sie gekommen, daß sie sich nur noch ganz mechanisch ihrer Glieder bedienten und daß statt der Leidenschaften, Hoffnungen und Befürchtungen, von denen sie noch vor kurzer Zeit bewegt worden waren, nur dumpfe Leere in ihrem Hirn wie in ihrem Herzen war.
„Auf Wiedersehen morgen!“ das war alles, was noch zwischen ihnen gesprochen wurde. Dann, sobald man ihn in den ihm zugewiesenen Raum geführt hatte, warf sich Heideck da, wo er stand, auf die Fliesen des Steinbodens nieder und fiel fast augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. —
Die leuchtende indische Sonne, die durch eine runde Fensteröffnung in der Decke auf sein Gesicht schien, weckte ihn am nächsten Morgen.
Wohl waren seine Glieder von dem unbequemen Lager steif geworden, aber der kurze Schlaf hatte ihn doch gestärkt, und seine Nerven hatten die alte Frische und Widerstandsfähigkeit vollständig zurückgewonnen.
Seine Schlafgenossen mußten schon früher an einen anderen Ort gebracht worden sein; denn er sah sich in dem hohen, nur durch die Oeffnung in der Decke beleuchteten Raume ganz allein. Die Sonnenstrahlen fielen ihm gegenüber auf ein Denkmal aus reinstem, glänzendstem Marmor, das ganz mit für ihn unleserlichen Schriftzeichen bedeckt war. Noch in die Betrachtung des anscheinend schon sehr alten Denksteins versunken, hörte er plötzlich hinter sich das leise Rauschen eines Frauengewandes, und als er sich umwandte, sah er mit freudigster Ueberraschung in Edith Irwins bleiches, schönes Gesicht.
„Wie glücklich bin ich, Sie noch zu finden,“ sagte sie mit aufleuchtendem Blick. „Ich fürchtete schon, daß man Sie mit den andern Gefangenen fortgeführt hätte.“
„Augenscheinlich war man zu rücksichtsvoll, meinen wohlverdienten Schlummer zu stören,“ erwiderte er mit einem kleinen Anflug von Humor. Dann aber, sich des furchtbaren Ernstes der Situation erinnernd, fuhr er in verändertem, herzlichen Tone fort:
„Wie haben Sie diese Nacht überstanden, Mrs. Irwin? Mir ist, als könnte alles, was ich seit meiner Rückkehr nach Lahore erlebt habe, nur ein Traum gewesen sein.“
Mit einem schmerzlichen Zucken der Lippen schüttelte sie den Kopf.
„Wir dürfen leider nicht daran zweifeln, daß es grausame Wirklichkeit gewesen ist. Die arme, arme Mrs. Baird! Fast sollte man es für ein Glück halten, daß ihr Gatte das fürchterliche Schicksal seiner Angehörigen nicht mehr erlebt hat.“
„Sie haben Nachrichten vom Schlachtfelde erhalten? Sie wissen, daß der Oberst tot ist?“
Edith nickte.
„Der Oberst ist tot, mein Gatte ist tot, Kapitän Mac Gregor und viele andere unserer Freunde aus Chanidigot sind auf dem Schlachtfelde geblieben.“
Sie sagte es ruhig; doch er las in ihren Augen die tiefe Trauer ihrer Seele.
Ergriffen von soviel heroischer Charakterstärke, beugte er sich herab und küßte ihre Hand. Sie ließ sie ihm einen Augenblick, dann zog sie die schmalen, kühlen Finger mit einem bittenden Blick, dessen Bedeutung er recht wohl verstand, zurück.
„Der Höchstkommandierende und sein Stab haben den Bahnhof erreicht,“ fuhr sie fort, „und sind mit dem letzten Zuge, der Lahore verlassen hat, nach Delhi gefahren. Es war die höchste Zeit; denn gleich nachher rückten die Russen ein. Die Trümmer der Armee marschieren jetzt nach Delhi, aber die Verfolger sind dicht hinter ihnen. Gott allein weiß, welches das Schicksal unserer armen, geschlagenen Armee sein wird.“
Er fragte sie nicht, woher sie alle diese Nachrichten habe. Davon, daß sie zutreffend seien, war er ja nach seinen eigenen Erlebnissen fest überzeugt. Er wußte auch nicht, was er ihr Ermutigendes sagen sollte, ihr, der er nimmermehr mit leeren Phrasen hätte kommen mögen. Eine kleine Weile blieben sie schweigend, und ihre Blicke richteten sich dabei gleichzeitig auf das sonnenbeschienene Marmordenkmal vor ihnen.
„Kannten Sie dies Coenotaphium schon?“ fragte zu Heidecks Ueberraschung die junge Frau plötzlich. Und als er verneinte, sagte sie erklärend:
„Es ist das berühmte Grabmal der Anar Kali, der Geliebten des Sultans Akbar, der man um ihrer Schönheit willen den Namen der ‚Granatblüte‘ gegeben hat. Sie mag wohl auf ähnliche Weise[S. 152] dahingegangen sein, wie wir dahingegangen wären, wenn die Dolche der Mörder uns gestern getroffen hätten. Sie kam vielleicht ebensowenig zum Bewußtsein dessen, was mit ihr geschah, wie wir uns dessen in dieser Nacht bewußt geworden wären.“
„Können Sie die Schriftzeichen lesen?“ fragte Heideck.
„Nein, aber man hat mir ihren Inhalt mitgeteilt; denn es ist eine der berühmtesten Inschriften Indiens. Die schöne Anar Kali beging einst die Unklugheit, verführerisch zu lächeln, als der Sohn ihres Herrn und Gemahls den Harem betrat. Und noch in derselben Stunde ließ der eifersüchtige Sultan die Unglückliche hinrichten. Aber er muß sie doch wohl sehr geliebt haben, da er ihr dann ein so schönes Grabmal erbaute, das auch den kommenden Jahrhunderten den Namen Anar Kalis überliefern sollte. So voll unlöslicher Widersprüche ist die arme, törichte Menschenseele.“
Klirrende Schritte wurden draußen auf den Steinfliesen laut, und im nächsten Augenblick erschien ein Offizier mit mehreren Soldaten im Eingange des Raumes. In kurzem, befehlenden Tone forderte er Heideck auf, ihm zu folgen.
Jetzt zum ersten Mal sah der Hauptmann in Edith Irwins Zügen etwas wie einen Ausdruck der Angst.
„Was bedeutet das?“ wandte sie sich hastig an den Russen. „Dieser Herr ist kein Engländer.“
Der Russe verstand die englische Frage nicht. Aber als Heideck ihn auf russisch fragte, was man mit ihm vorhabe, erwiderte er achselzuckend:
„Ich weiß es nicht. Kommen Sie mit!“
„Man wird Aufklärung über meine Person haben wollen,“ sagte Heideck gelassen, um die junge Frau zu beruhigen. „Ich hoffe, daß man mich auf Grund meiner Legitimation freiläßt.“
„Gewiß, man muß Sie freilassen!“ rief sie fast leidenschaftlich aus. „Es wäre ja gegen alles Völkerrecht, wenn man Ihnen ein Leid zufügte. Aber wie soll ich die Ungewißheit über Ihr Schicksal ertragen!“
„Ich werde unverzüglich hierher zurückkehren, sobald mir die Möglichkeit dazu gegeben ist.“
„Ja, ja, ich beschwöre Sie, mich nicht eine Sekunde länger warten zu lassen, als es durch die Situation geboten ist. Ich bin ja noch nicht einmal dazu gekommen, Ihnen zu danken.“
Der russische Offizier gab so deutliche Zeichen von Ungeduld, daß Heideck nicht länger zögerte, ihm zu folgen.
Der Weg, den er zurückzulegen hatte, war nicht weit. Man führte ihn zu einem nahegelegenen Hause, über dessen Portal die Worte ‚School of arts‘ in Stein gehauen zu lesen waren. In einer Vorhalle mußte er kurze Zeit warten; dann öffnete sich vor ihm die Tür eines im Erdgeschoß gelegenen, mit Skulpturen geschmückten Zimmers, in welchem eine Anzahl von Offizieren an einem langen Tische saß. Heideck war sich sofort darüber klar, daß er vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Ein paar sehr niedergeschlagen aussehende Männer wurden eben hinausgeführt. Der Offizier, der den Vorsitz führte, blätterte in den vor ihm liegenden Papieren und wechselte dann, nachdem er einen scharfen Blick auf Heideck geworfen, einige Worte mit seinen Kameraden.
„Wer sind Sie?“ fragte er in einem schwer verständlichen Englisch von sehr russischer Klangfärbung.
Heideck, der sich ebenfalls der englischen Sprache bediente, gab kurz und klar Auskunft und legte dem Obersten seinen Paß vor, den er als augenblicklich wertvollstes Besitztum stets in der Brusttasche trug.
Sobald er ihn gelesen, sagte der Vorsitzende in tadellosem Deutsch:
„Sie sind also kein Engländer, sondern ein Deutscher? Was haben Sie hier in Indien zu tun?“
„Ich bereise das Land in Geschäften für das Haus Heideck in Hamburg.“
„In Geschäften? So? Und gehört es auch zu Ihrem Geschäft, gegen Rußland zu kämpfen?“
„Nein! Ich habe das auch nicht getan.“
„Sie leugnen also, gestern an der Schlacht teilgenommen zu haben?“
„Nicht als Mitkämpfer. Es waren andere Gründe, die mich auf das Schlachtfeld führten.“
„Sie wollten nur den Zuschauer machen? Kam Ihnen nicht zum Bewußtsein, daß dies unter Umständen recht gefährlich für Sie werden könnte?“
„Ich habe persönliche Beziehungen zu einigen Herren der englischen Armee, und diese Beziehungen veranlaßten mich, sie während des Gefechtes aufzusuchen.“
Der Oberst wandte sich an einen abseits stehenden jungen Offizier:
„Leutnant Osarow, ist es richtig, daß Sie in diesem Mann, als er während der letzten Nacht hier eingebracht wurde, eine Persönlichkeit wiedererkannten, die Sie während der Schlacht in einem englischen Karree gesehen haben?“
„Jawohl, Herr Oberst!“ lautete die entschiedene Antwort. „Ich erkenne ihn auch jetzt mit voller Bestimmtheit. Er ritt ein schwarzes Pferd und jagte davon, als wir in das Karree einbrachen.“
Heideck sah ein, daß es nutzlos gewesen wäre, dieser bestimmten Aussage gegenüber die Tatsache in Abrede zu stellen, und sein soldatisches Ehrgefühl würde ihm auch nicht gestattet haben, es zu tun.
„Was der Herr Leutnant da bekundet, ist richtig,“ erklärte er, einer Frage des Obersten zuvorkommend. „Aber ich habe mich nicht an dem Kampfe beteiligt. Als ein Freund des gefallenen Obersten Baird hielt ich mich so lange als möglich in seiner Nähe, um seinen hier in Lahore zurückgebliebenen Angehörigen Nachricht über sein Schicksal und über den Ausgang der Schlacht bringen zu können.“
„Sie waren als Ausländer bewaffnet in einem englischen Karree. Da Sie das zugeben, brauchen wir uns nicht mit weiteren Verhandlungen aufzuhalten. Die Herren werden damit einverstanden sein, daß wir Sie nach Kriegsrecht als Verräter behandeln?“
Die letzten Worte waren an die Beisitzer gerichtet, und mit stummer Verbeugung gaben sie ihre Zustimmung zu erkennen.
„Da Sie als Angehöriger einer nicht im Kriege mit uns befindlichen Nation in den Reihen unserer Feinde gekämpft haben, muß das Kriegsgericht Sie zum Tode verurteilen. Das Urteil wird sofort vollstreckt werden. Haben Sie noch etwas zu sagen?“
Heideck war wie betäubt. Es war ihm, als zöge sich plötzlich ein schwarzer Schleier über die Welt. Und ein schneidendes Weh zerriß sein Herz bei der Vorstellung, daß er Edith nie mehr wiedersehen, daß sie bis in alle Ewigkeit vergebens auf ihn warten würde.
Dann aber erwachte sein Stolz. Niemand sollte ihn schwach und zaghaft sehen.
„Es gibt keine Möglichkeit der Berufung gegen das Urteil dieses Kriegsgerichts?“ fragte er, dem Obersten fest in die Augen sehend.
„Nein!“
„Dann muß ich mich ja dem Spruch unterwerfen; aber ich protestiere gegen die Art des Verfahrens wie gegen das Urteil.“
Sein Protest machte offenbar nicht den geringsten Eindruck.
„Haben Sie den Exekutionsbefehl ausgefertigt?“ wandte sich der Oberst an den Protokollführer. Dann setzte er seinen Namen unter das Schriftstück und händigte es einem der bereitstehenden Kosaken ein.
„Der Verurteilte ist abzuführen.“
Zwei der Soldaten nahmen Heideck zwischen sich, und er folgte ihnen in stolzer, aufrechter Haltung, ohne weiter ein Wort zu sprechen. Im Kugelregen der Schlacht hatte er nicht die leiseste Anwandlung der Furcht empfunden; aber der Gedanke, wie ein Tier zur Schlachtbank geführt zu werden, erfüllte ihn mit Grauen. Dennoch hielt ihn eine Kraft aufrecht, die er noch nicht an sich entdeckt hatte. Die neue Gefahr erweckte in ihm neue Kräfte der Seele und des Geistes.
Die Kosaken führten ihn auf der Straße, die von Anar Kali nach dem Meean Meer Cantonment führt, einen weiten Weg. Heideck sah um sich und betrachtete die Veränderungen, die mit Lahore vorgegangen waren, gleich einem Reisenden, der im Geiste schon in der neuen Welt lebt, die er aufsuchen will, und der auf bekannte Gegenstände wie auf etwas Fremdes sieht. Ueberall erblickte er kleine Abteilungen Kavallerie, die für Ordnung sorgten. Und an den Brand in der Stadt, der augenscheinlich gelöscht worden war, erinnerten nur noch schwache Rauchwolken. Die prächtigen Anlagen der Donald-Stadt, durch die der Weg führte, die landwirtschaftlichen Pflanzungen, der Lawrence-Park, lagen wie im tiefsten Frieden da.
Heideck war nicht gefesselt, aber die Kosaken neben ihm trugen ihre Karabiner im Arme, bereit, auf ihn zu schießen, wenn er etwa davonlaufen wollte. Aber wie hätte er entlaufen können? Ringsum zeigten sich die Patrouillen der russischen Kavallerie. Hinter ihm führten berittene Kosaken einen ganzen Trupp von Indern. Wahrscheinlich waren es Brandstifter und Plünderer, die gleich ihm hingerichtet werden sollten. Und es konnte seine Stimmung wahrlich nicht verbessern, daß er sich auf seinem letzten Gange in solcher Gesellschaft sehen mußte.
Nach langem Marsche erreichte man endlich das von den Engländern verlassene Kantonnement, dessen Baracken und Zelte jetzt die russischen Truppen füllten. Mit Mühe nur konnten sich seine Begleiter hier einen Weg durch das Gedränge bahnen; das Gerücht, daß man eine Anzahl von Delinquenten in das Lager bringe, mußte wohl dem Transport vorausgeeilt sein, denn Soldaten der verschiedensten Waffengattungen drängten von allen Seiten neugierig herzu, um die armen Sünder aus der Nähe zu betrachten.
Und plötzlich fühlte Heideck eine kleine, aber eisenfeste Hand an seinem Arme.
„O Herr, was ist das? — Weshalb führt man dich hier wie einen Gefangenen?“
Beim ersten Wort schon hatte Heideck die weiche Stimme erkannt, die in der Erregung ganz ihren natürlichen weiblichen Klang angenommen hatte. In demselben phantastischen Pagenkostüm, darin er ihn zuletzt in Chanidigot gesehen, stand der angebliche Diener seines Freundes des Fürsten Tschadschawadse hier, wo er ihn gewiß am allerwenigsten vermutet hätte, wie aus der Erde gewachsen vor ihm, und in seinem schönen, ausdrucksvollen Gesicht spiegelte sich die lebhafteste Bestürzung.
„Du bist es, Georgij?“ rief Heideck, in dessen verdüsterte Seele der Anblick der Cirkassierin einen schwachen Hoffnungsschimmer warf, „und dein Herr — der Fürst? — Befindet er sich ebenfalls in der Nähe?“
Aber die Kosaken schienen nicht geneigt, ihrem Gefangenen lange Privatunterhaltungen zu gestatten.
„Mach, daß du weiterkommst, Bursche!“ schrie einer von ihnen den vermeintlichen Pagen an, „das ist ein Spion, der sogleich füsiliert werden wird. Und niemand darf mit ihm reden.“
Er machte Miene, die schlanke, zierliche Gestalt mit einer kleinen Bewegung seiner mächtigen Faust bei Seite zu schieben. Aber Georgij stieß furchtlos seinen Arm zurück und maß ihn mit einem sprühenden Blick.
„Hüte deine lästerliche Zunge, du Lügner! Tausendmal eher bist du selber ein Spion, als dieser Herr. Wenn ihr ihn nicht auf der Stelle freilaßt, wird man euch knuten, daß ihr bis an das Ende eures Lebens daran denkt!“
Die Kosaken sahen sich an und lachten. Es war wohl nur die Schönheit und halb instinktiv von ihnen empfundene Vornehmheit des dreisten jungen Burschen, die sie verhinderte, handgreiflich zu werden.
„Nimm dich in Acht, Kleiner, daß man nicht dir zuerst die Rute gibt,“ sagte gutmütig der eine, „und geh deiner Wege, damit wir dich nicht aus Versehen zwischen unseren Fingern zerbrechen.“
„Geh, Georgij,“ mahnte nun auch Heideck, da er sah, daß die Cirkassierin durchaus nicht willens schien, dem Befehl zu gehorchen. „Wenn dein Herr in der Nähe ist, so sage ihm, daß man im Begriff sei, mich gegen alles Völkerrecht zu erschießen. Aber er müsse eilen, falls er mich noch einmal lebend sehen wolle; denn es hat ganz den Anschein, als ob seine Kameraden kurzen Prozeß mit mir zu machen gedächten.“
Er hegte einigen Zweifel, ob die schöne, heißblütige Tochter der Berge ihn vollkommen begriffen habe. Jedenfalls aber sah er, daß sie sich plötzlich blitzschnell umwandte und sich mit der geschmeidigen Behendigkeit einer schlanken Eidechse einen Weg durch das Gedränge rauher Kriegsmänner suchte.
Eine neue Hoffnung war in Heidecks Herzen erwacht, und er fühlte sich mit einem Mal wieder durch tausend Bande an das Leben gefesselt, mit dem er noch soeben völlig abgeschlossen zu haben glaubte. Er wollte seinen Schritt verlangsamen, um dadurch Zeit zu gewinnen. Aber die Kosaken, die ihn bis dahin mit einer gewissen Rücksicht behandelt hatten, schienen durch den Zwischenfall mit dem Pagen gereizt worden zu sein, denn einer von ihnen trieb den Gefangenen mit herrischem Zuruf zur Eile an, und der andere erhob sogar mit drohender Geberde die Faust.
Vielleicht würde er zugeschlagen haben, doch der deutsche Offizier sah ihm mit einem so stolzen, gebieterischen Blick in die Augen, daß er den erhobenen Arm sinken ließ. Der finster blickende Bursche fühlte wohl, daß er es hier unmöglich mit einem gewöhnlichen Spion zu tun haben könne. Und von diesem Augenblick an kam kein Fluch und kein Schimpfwort mehr über seine Lippen.
Das Knattern einer Gewehrsalve schlug an Heidecks Ohr. Und es ging ihm, der doch an den Knall von Schüssen hinlänglich gewöhnt war, durch Mark und Bein. Die Kugeln, die dort abgefeuert waren — er wußte es, ohne daß es ihm jemand zu sagen brauchte — hatten irgend einem armen Teufel gegolten, der sich in[S. 159] derselben Lage befunden wie er selbst. Das war es, was diesen Schüssen für ihn eine so besondere Bedeutung gab, eine ganz andere jedenfalls, als sie gestern all das Knattern und Krachen der ihn umtobenden Schlacht gehabt. Wahrhaftig, man braucht nicht feige zu sein, um bei dem Gedanken an zehn oder zwanzig auf die eigene Brust gerichtete Gewehrläufe etwas wie ein eisiges Erschauern zu verspüren. —
Und nun war der verhängnisvolle Platz erreicht, der auch das Endziel seiner irdischen Wanderung bedeuten sollte. Man hatte das Exerzierfeld hinter der Barackenstadt für die Exekution ausersehen, und man ging sehr summarisch zu Werke, da man sich nicht einmal Zeit ließ, die Leichen der Erschossenen einzeln fortzuschaffen. Man ließ sie einfach in dem Graben liegen, vor dem die Delinquenten aufgestellt worden waren, wahrscheinlich, weil die Bestattung in einem Massengrabe dadurch bequemer wurde.
Ein Offizier nahm den von dem Vorsitzenden des Kriegsgerichts ausgefertigten Exekutionsbefehl in Empfang und übergab den Verurteilten einem Unteroffizier, der ihn mit einem Ausdruck des Bedauerns musterte und ihn in beinahe verbindlichem Tone aufforderte, ihm zu folgen.
Wenige Minuten nach seiner Ankunft auf dem Exerzierplatze stand Heideck ebenfalls vor dem verhängnisvollen Graben und sah einen Zug Infanterie, Gewehr bei Fuß, vor sich aufmarschiert.
Jetzt hegte er keine Hoffnung mehr. Seit dem Augenblick, da man das Urteil über ihn gesprochen, hätte ja nur noch ein Wunder ihn retten können. Und dies Wunder war nicht geschehen. Für eine kurze Spanne Zeit war er töricht genug gewesen, aus der zufälligen Begegnung mit der Cirkassierin neuen Lebensmut zu schöpfen; nun aber war auch das vorüber. Selbst wenn sie von dem eifrigsten Willen beseelt gewesen wäre, ihn zu retten, was hätte sie schließlich tun können, um das Unmögliche zu vollbringen? Er bedauerte jetzt, daß er sich nicht darauf beschränkt hatte, den Fürsten[S. 160] durch sie um ein ehrliches Begräbnis und um die Entsendung einer Nachricht an den deutschen Generalstab bitten zu lassen. Diese Wünsche wären doch vielleicht nicht unerfüllbar gewesen, und er zweifelte nicht, daß sein liebenswürdiger russischer Bekannter ihm gern den letzten kleinen Liebesdienst erwiesen hätte.
Ein Kommando ertönte, und die Soldaten ihm gegenüber nahmen unter Geklapper und Gerassel ihre Gewehre auf. Gleichzeitig aber schlug von der anderen Seite her ein lautes, gebieterisches Rufen an Heidecks Ohr, und er sah einen Reiter in russischer Dragoneruniform heransprengen, dessen vor Aufregung dunkel gerötetes Gesicht er auf den ersten Blick als das des Fürsten Tschadschawadse erkannte.
Hart vor Heideck parierte er sein schweißbedecktes Pferd und schwang sich aus dem Sattel.
„Brüderchen! — Brüderchen!“ rief er, noch ganz atemlos von dem wilden Ritt, und schloß mit echt russischem Ungestüm den unter so seltsamen Umständen Wiedergefundenen in die Arme. „Bei allen Heiligen — ich glaube, es war die höchste Zeit, daß ich kam!“
Dann wandte er sich an den verblüfft dreinschauenden Offizier des Pelotons:
„Hier muß ein Irrtum vorliegen. Diesem Herrn darf kein Leid zugefügt werden, denn er ist nicht nur mein persönlicher Freund, sondern auch ein Kamerad, ein Offizier der mit uns verbündeten deutschen Armee.“
Der Leutnant zuckte die Achseln:
„Ich habe zu tun, was mir befohlen wird, Herr Oberst! Für etwaige Irrtümer meiner Vorgesetzten oder des Kriegsgerichts trage ich keine Verantwortung.“
„Dafür aber, daß ich Sie an der Ausführung des Ihnen erteilten Befehls verhindere, nehme ich die Verantwortung auf mich, Herr Leutnant! Dieser Herr wird mich begleiten, und ich bürge für ihn.“
Er übergab einem Soldaten sein Pferd, schob seinen Arm in den Heidecks und führte ihn hinweg bis zu dem von ihm bewohnten Zelte in der Barackenstadt, fortwährend in den lebhaftesten Worten seiner Freude über das Wiedersehen Ausdruck gebend. Das Frühstück, von dem die Botschaft Georgijs ihn aufgescheucht hatte, stand noch auf dem Tische, und Heideck ließ sich nicht lange zum Zugreifen nötigen; denn er merkte eigentlich erst jetzt, wie lange er gefastet hatte und wie dringend er einer leiblichen Erquickung bedurfte. Von seinen Dankesäußerungen wollte Fürst Tschadschawadse nichts wissen; aber als Heideck ihn fragte, ob er vorhin denn wirklich recht gehört habe, als der Fürst von einem Bündnis zwischen der russischen und der deutschen Armee gesprochen, gab er bereitwillig Auskunft.
„Ja — es ist so! Das Deutsche Reich geht mit uns. Die erste Freudenbotschaft, die mich empfing, als ich die Armee erreichte, war die Kunde, daß Kaiser Wilhelm II. England den Krieg erklärt habe. Die Welt steht in Flammen. Nur Oesterreich und Italien halten sich neutral.“
„Und davon hatte ich keine Ahnung! Doch das erklärt sich freilich leicht genug. Alle Telegraphenkabel befinden sich in englischen Händen, und man hatte es leicht, jede mißliebige Depesche zurückzuhalten. Die in Indien erscheinenden Zeitungen aber durften natürlich nur veröffentlichen, was der Regierung angenehm war. Aber ich brenne darauf, mehr zu erfahren. Wissen Sie vielleicht auch, wie sich die Dinge bisher entwickelt haben und auf welche Art Deutschland den Krieg zu führen gedenkt?“
„Es scheint, daß man einen Einfall in England beabsichtigt. Deutschland hat die Hälfte seiner Armee mobil gemacht und die Niederlande besetzt. Die französischen Truppen dagegen sind in Belgien eingerückt, so daß den beiden Mächten die ganze Küste England gegenüber zur Verfügung steht.“
„Und ist zur See schon etwas geschehen?“
„Nein, wenigstens ist bis zur Stunde noch keine Nachricht über eine Seeschlacht hierher gelangt. Man befindet sich offenbar noch im Stadium der Rüstungen, und über die Bewegungen der deutschen und französischen Flotten verlautet nichts. Uebrigens sind meine neuesten Nachrichten auch schon ziemlich alt. Wir erfahren bei der Armee nur, was die Kosaken überbringen.“
Heideck griff sich an die Stirn.
„Ich bin wie betäubt. — Das alles mit einem Mal zu fassen und zu verarbeiten geht fast über die Fähigkeiten eines gewöhnlichen Menschenhirnes hinaus. — Aber verzeihen Sie, mein Fürst, wenn ich Ihnen, der Sie heute schon so viel für mich getan, noch mit einem weiteren Anliegen komme. Ich befinde mich in großer Sorge um eine Dame, die Witwe eines gestern gefallenen englischen Offiziers, die sich meinem Schutze anvertraut hat. Ich verließ sie heute früh, als man mich verhaftete, um mich vor das Kriegsgericht zu stellen, an dem Grabdenkmal der Anar Kali, wo sie mit anderen Gefangenen untergebracht war. Raten Sie mir, was ich tun soll, um der Dame, deren Wohl mir sehr am Herzen liegt, eine beruhigende Nachricht über mein Schicksal zukommen zu lassen und um zugleich sie selbst vor Belästigungen und Ungemach zu schützen.“
„Das ist sehr einfach. Haben Sie ein Bedenken, mir den Namen der Dame zu nennen?“
„Durchaus nicht. Es ist Mrs. Edith Irwin, die Witwe des Kapitän Irwin, der auch Ihnen in Chanidigot vielleicht begegnet ist.“
„Ich glaube mich zu erinnern. Es wurde da von einer Spielaffäre erzählt, in der er eine nicht gerade rühmliche Rolle gespielt haben soll — nicht wahr? Nun wohl, während Sie hier in meinem Zelte tüchtig ausschlafen, werde ich nach Anar Kali hinüberreiten, um die Dame aufzusuchen und mich über ihre Lage zu unterrichten. Seien Sie versichert, daß ihr nichts Unangenehmes widerfahren wird, sofern es mir nur gelingt, sie zu finden.“
„Sie beschämen mich wirklich, mein Fürst — ich — —“
„Sie würden genau dasselbe tun, wenn das Schicksal uns zufällig mit vertauschten Rollen agieren ließe. Weshalb also viele Worte darüber machen! Ich kann Ihnen leider keine bequemere Lagerstätte anbieten als mein Feldbett da. Aber Sie sind ja Soldat und ich denke, wir beide haben schon schlechter gelegen. Also angenehme Ruhe, mein Freund! Ich werde Sorge tragen, daß Sie während der nächsten zwei Stunden von niemand gestört werden.“
Und eilig, um sich allen etwa beabsichtigten weiteren Dankesäußerungen zu entziehen, verließ der Fürst das Zelt.
So fest auch Heidecks Schlummer gewesen war, der wüste Lärm, der plötzlich durch die dünnen Wände des Zeltes drang, hätte selbst einen Bewußtlosen ins Leben zurückrufen können. Verwirrt und schlafbefangen eilte er hinaus, gerade rechtzeitig, um zu verhindern, daß ein wild aussehender, kaffeebrauner Inder mit dem dicken Knüttel, den er in seiner Rechten schwang, einen wuchtigen Schlag gegen den mageren, schwarzgekleideten Herrn führte, den ein ganzer Trupp von Eingeborenen umringte. Der Europäer hatte mit seinem schmalen, bartlosen Gesicht das Aussehen eines Geistlichen, und es mußte Heideck umsomehr in Erstaunen setzen, daß keiner von den russischen Soldaten und Unteroffizieren, die dem Schauspiel zusahen, die Hand zu seinem Schutze rührte. Gewiß war er nicht berufen, hier den Befehlenden zu spielen; aber die Gefahr, in der er da einen völlig wehrlosen Menschen sah, ließ ihn alle Bedenken vergessen. Mit drohendem Zuruf scheuchte er die aufgeregten Inder hinweg und nahm den Arm des Fremden, um ihn in das Zelt zu führen.
Keiner von den russischen Kriegern hinderte ihn daran. Man hatte ihn vorhin in vertrautem Gespräch mit dem Obersten gesehen, und seine Eigenschaft als Freund des Fürsten verschaffte ihm Respekt.
Der vor Schrecken halb ohnmächtige Fremde nahm dankbar das Glas Wein, das Heideck ihm eingegossen hatte, und als er sich einigermaßen erholt hatte, dankte er seinem Retter mit schlichten aber herzlichen Worten. Er stellte sich ihm als Professor Proctor[S. 165] vom Aitchison-College vor und erzählte, daß er ins Lager gekommen sei, um nach einem wahrscheinlich schwer verwundeten Verwandten zu sehen. Plötzlich habe er sich von einer Rotte aufgeregter Inder bedroht gesehen, die ihn seiner Kleidung nach wohl für einen Geistlichen gehalten hätten.
„Auch Sie sind kein Russe, mein Herr. Ihrer Aussprache des Englischen nach halte ich Sie für einen Deutschen.“
Heideck bestätigte die Vermutung und erzählte ihm mit wenig Worten seine eigene Geschichte. Dann aber konnte er nicht umhin, seiner Verwunderung über den Angriff Ausdruck zu geben, dem der Professor ausgesetzt gewesen war.
„Von einem besonderen Haß der Inder gegen die englischen Geistlichen hatte ich während meines bisherigen Aufenthalts im Lande nie etwas bemerkt,“ sagte er, und der Professor erwiderte:
„Vor wenig Tagen noch hätte auch wohl keiner von ihnen etwas zu fürchten gehabt. Bei so traurigen Umwälzungen aber, wie sie sich jetzt vollzogen haben, verwirren sich alle Begriffe. Alle schlummernden Leidenschaften werden entfesselt. Ich wage nicht auszudenken, welche Greuel in dem weiten Indien geschehen werden, nachdem der Zügel gerissen ist, der das Volk lenkte. Und das schlimmste ist, daß wir selbst uns die Schuld daran beizumessen haben.“
„Sie meinen durch die Lässigkeit, mit der man die Verteidigung des Landes vorbereitet hat?“
„Ich meine nicht allein das. Unsere Schuld ist, daß wir eine ewige Wahrheit ignoriert haben, die Wahrheit nämlich, daß alle politischen Fragen nur der äußerliche Ausdruck, gleichsam das Kleid religiöser Fragen sind.“
„Verzeihen Sie, aber der Sinn Ihrer Worte ist mir nicht klar.“
„Betrachten Sie das langsame, stetige Vordringen der Russen in Asien. Alles, was sie unter ihre Herrschaft gebracht haben, alle die ungeheuren Landstrecken Zentralasiens, sind zu ihrem sicheren,[S. 166] unbestrittenen Besitz geworden. Warum? Weil die Russen sich auch die Seelen der Völker zu erwerben und ihren religiösen Anschauungen Rechnung zu tragen wissen. Deshalb gehen Besiegte und Sieger leicht ineinander auf. Wir Engländer dagegen haben nur eine rein politische Herrschaft über Indien geführt. Die Seelen der Völker sind uns fremd und feindlich geblieben.“
„Es mag etwas Wahres in Ihren Worten sein. Aber Sie werden zugeben müssen, daß die Engländer dafür eine neue Kultur nach Indien gebracht haben. Damit war die Gewißheit geistigen Fortschritts gegeben, und ich meine, daß kein Volk auf die Dauer blind bleiben kann gegenüber der Erscheinung höherer Ideen. Die ganze Weltgeschichte bildet eine fortlaufende Kette von Beweisen für die Richtigkeit dieser Tatsache.“
„Das Wort ‚Kultur‘ hat einen vielseitigen Sinn. Handelt es sich nur darum, zu untersuchen, ob die Regierung und Verwaltung des Landes besser geworden ist, so bedeutet ja die von uns nach Indien gebrachte Kultur unzweifelhaft einen ungeheuren Fortschritt gegenüber den Zuständen früherer Jahrhunderte. Wir haben die Despotie der eingebornen Fürsten gebrochen und haben den unaufhörlichen blutigen Kriegen, die sie untereinander und mit den asiatischen Nachbardespoten führten, ein Ende gemacht. Wir haben Straßen und Eisenbahnen gebaut, Sümpfe und Dschungeln beseitigt, Häfen eingerichtet, dem Meere große Landstrecken entrissen und schützende Kais gebaut. Die erschreckende Sterblichkeitsziffer der Großstädte ist unter der englischen Verwaltung erheblich zurückgegangen. Wir haben Gesetze gegeben, die die persönliche Sicherheit schützen und dem Handel neue Bahnen eröffnen. Aber das Streben unserer Regierung ist ein rein utilitaristisches gewesen, und was den tieferen Strom der Entwicklung betrifft, so ist nirgends ein wichtiger Fortschritt zu erkennen.“
„Und was ist es, was Sie darunter verstehen?“
„Unsere Ansichten in dieser Beziehung gehen vielleicht weit[S. 167] auseinander. Ich sehe in den meisten derartigen Errungenschaften nur eine neue Erscheinungsform jenes Materialismus, der von jeher das schlimmste Hindernis aller wahren Entwickelung gewesen ist.“
„Mir scheint, Mr. Proctor,“ warf Heideck lächelnd ein, „daß Sie hier in Indien Buddhist geworden sind!“
„Vielleicht, mein Herr, und ich würde mich dessen nicht schämen. Schon mancher, der Indien zuerst mit den Augen des Christentums betrachtete, ist hier, — vielleicht ohne es selbst zu wissen, — zum Buddhisten geworden. Griechische Weise haben einst gewünscht, daß man die Könige unter den Philosophen auswähle. Das mag ein unausführbarer Gedanke sein, aber ich glaube nicht, daß ein Herrscher, der die Philosophie verachtet, seine hohe Aufgabe jemals in vollem Maße erfüllen wird. Eine Politik ohne Philosophie ist ebenso wie eine unphilosophische Religion nicht fester gegründet, als jene Häuser dort am Raviflusse, deren Existenz nicht für einen einzigen Tag gesichert ist, weil es dem Strome gelegentlich einfällt, seinen Lauf zu ändern. Eine Regierung, die den religiösen Empfindungen des Volkes nicht Rechnung zu tragen weiß, steht nicht fester da als diese Hütten. Das Schicksal, das sich jetzt an uns Engländern vollzieht, ist der beste Beweis dafür. Wir sind die erste Macht in Asien gewesen, die eine politische Herrschaft nicht auf die Religion des Volkes gegründet hat. Unklug haben wir die gewohnte Einfachheit eines Volkes zerstört, das bis dahin nur geringe Bedürfnisse hatte, weil es sich Jahrtausende hindurch mehr um das Leben nach dem Tode, als um das irdische Dasein gekümmert hatte. Wir haben die schlummernde Leidenschaft dieses Volkes aufgestachelt und durch den Anblick von europäischem Luxus und europäischer Ueberkultur bis dahin ungekannte Wünsche in ihm geweckt. Unser System des öffentlichen Unterrichts ist darauf gerichtet worden, in allen Klassen des indischen Volkes die geringwertige materialistische Volksbildung unserer eigenen Nation zu verbreiten. Unter allen Gouverneuren und Schulinspektoren, die von England[S. 168] hierherkamen, hat sich keiner bemüht, die Oberfläche indischen Volkslebens zu durchdringen und die Seele dieses religiösen und transcendental angelegten Volkes zu ergründen. Welche Gegensätze sind dadurch geschaffen worden! Hier ein heiliger Strom, Priester, Asketen, Jôgins, Fakire, Tempel, Heiligenschreine, geheimnisvolle Lehren, ein vielfältiges Ritual — daneben aber ganz unvermittelt Schulen, darin ein hausbackener englischer Elementar-Unterricht getrieben wird, ein Staatskolleg mit einer Medizinalanstalt und christliche Kirchen der verschiedensten Konfessionen.“
„Wie wäre es aber auch möglich gewesen, moderne wissenschaftliche Bildung mit dem Fanatismus der Inder pädagogisch zu vereinen?“
Ueber das geistvolle Gesicht des Professors glitt ein überlegenes Lächeln.
„Vergleichen Sie bitte die ermüdenden Trivialitäten der englischen Missionsschriften mit den unsterblichen Meisterschriften der indischen Literatur! Dann werden Sie begreifen, daß der Inder, selbst wenn er das Christentum als Moralsystem gutheißt, eine tiefere und umfassendere Begründung dieser Moral verlangt und auch dem Ursprunge der christlichen Lehre nachforscht. Und da findet sich dann gar bald, daß alles Licht, das nach Europa gekommen ist, von Asien ausging. Ex oriente lux.“
„Ich bin zu ungelehrt, um Ihnen da zu widersprechen. Es mag sein, daß selbst das Christentum nicht allein aus dem Judentum, sondern auch aus dem Buddhismus herausgewachsen ist. Es mag auch sein, daß die Lehren unserer heutigen Missionare den Indern zu nüchtern sind. Aber die metaphysischen Bedürfnisse eines Volkes haben mit gesunder Politik und guter Rechtspflege doch wohl wenig zu schaffen. Denken Sie an Rom! Der römische Staat hatte eine vorzügliche Rechtspflege, und eine gewaltige politische Kraft, die ihn viele Jahrhunderte hindurch in seiner weltbeherrschenden Stellung erhielt. Wie aber war es mit der Religion[S. 169] und der Philosophie in Rom bestellt? Eine Staatsreligion gab es überhaupt nicht. Es gab keine priesterliche Hierarchie, keinen strengen theologischen Kodex, sondern nur eine Mythologie und eine Götterverehrung, die wesentlich praktischer Natur war, und eben durch ihren praktischen Sinn oder — wie Sie es nennen würden — durch ihren krassen Materialismus wurden die Römer befähigt, eine nationale Gesellschaft auf einfach menschliche Bedürfnisse und Ansprüche zu gründen. Was aber ihnen gelang, warum sollte es nicht auch jenen Nationen möglich sein, von denen sie in der Weltherrschaft abgelöst wurden? Der Geist der Zeiten ändert sich, aber es ist nur eine regelmäßig wechselnde Wiederkehr derselben Strömungen, so wie die Gestirne in ihrem Kreislauf immer wieder auf ihren Platz zurückkehren.“
„Und wenn der Zeitgeist gleich manchen Gestirnen nicht im Kreise, sondern in einer Spirale ginge? Die britische Weltherrschaft hat wohl schon einen höheren Schwung genommen als die römische. Hätte nicht dieses britische Weltreich, indem es weise Staatskunst mit den tiefen Ideen indischer Philosophie durchtränkte, zu einer großen Reformation des ganzen Menschengeschlechts gelangen können? Es wäre ein herrlicher Gedanke gewesen, aber ich habe hier gelernt, zu erkennen, wie weit man von seiner Verwirklichung entfernt geblieben ist.“
„Gleichwohl denke ich, daß die englische Armee nicht von den Russen geschlagen worden wäre, wenn sie nicht nach den Regeln einer veralteten Taktik gekämpft hätte.“
„O, mein Herr, wenn die indischen Truppen mit ganzer Seele für England gefochten hätten, so hätten wir diese Niederlage nimmermehr erlitten.“
„Als Soldat möchte ich das bestreiten. Die Inder werden einer militärisch geschulten europäischen Armee niemals gewachsen sein. Das Volk entbehrt dazu in viel zu hohem Maße der kriegerischen Eigenschaften.“
„Es ist wahr, das indische Volk ist von Natur sanft und gutherzig. Man mußte es in seinen heiligsten Empfindungen verletzen, um es wild und blutgierig zu machen.“
„Vielleicht beurteilen Sie es doch etwas zu milde. Es steckt noch ein gut Teil Barbarei in dieser Rasse, selbst bis in die höchsten Kreise hinauf. Hat doch, — wie ich Ihnen aus eigener Wahrnehmung berichten kann, — ein indischer Fürst vor Ausbruch des Krieges den Versuch gemacht, durch seine Diener eine englische Dame aus ihrer Wohnung zu rauben und den englischen Residenten, der ihn deshalb zur Rede stellte, durch einen gedungenen Meuchelmörder zu vergiften.“
Der Professor war im höchsten Grade erstaunt.
„Ist es möglich? Konnten sich solche Dinge ereignen? Sollten Sie nicht doch vielleicht durch einen übertreibenden Bericht getäuscht worden sein?“
„Ich habe die Vorgänge selbst aus nächster Nähe beobachtet, und ich kann Ihnen die Namen nennen. Die Dame, gegen die man den schändlichen Anschlag versuchte, ist Mrs. Edith Irwin, die ihrem Gatten, einem Kapitän bei den Lancers, in das Lager von Chanidigot gefolgt war.“
Die Verwunderung des Professors wuchs ersichtlich immer mehr.
„Mrs. Edith Irwin? Ist es möglich? Die Tochter meines alten Freundes, des trefflichen Rektors Graham? Gewiß, sie muß es sein, denn sie war mit einem Kapitän von den Lancers verheiratet.“
„Seit gestern ist sie die Witwe dieses Offiziers. Er fiel in der Schlacht bei Lahore, und sie selbst befindet sich unter den Gefangenen in Anar Kali.“
„Dann muß ich versuchen, sie zu finden; denn sie hat schon um ihres Vaters willen Anspruch auf meinen Beistand. Vorläufig freilich,“ fügte er mit einem etwas wehmütigen Lächeln hinzu, „bin ich selbst ja noch recht sehr des Schutzes bedürftig.“
„Ich glaube, Sie wegen dieser Dame beruhigen zu können. Mein Freund, der russische Oberst Fürst Tschadschawadse, ist eben jetzt nach Anar Kali hinübergeritten, um auf meine Bitte für sie zu sorgen.“
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als die schlanke Gestalt des Fürsten im Eingang des Zeltes erschien. Seine niedergeschlagene Miene weissagte nichts gutes. Er trat auf Heideck zu und schüttelte ihm die Hand.
„Ich kann Ihnen leider nichts Erfreuliches melden, lieber Kamerad! Ich habe Ihre Schutzbefohlene nicht mehr vorgefunden.“
„Wie? Sie war fort? Und konnten Sie nicht erfahren, wohin sie sich begeben hat?“
„Alles, was ich zu ermitteln vermochte, war, daß sie in Begleitung mehrerer Inder in einem eleganten Wagen davongefahren sei. Eine englische Dame, die den Vorgang beobachtete, hat es mir erzählt.“
Eine furchtbare Ahnung schnürte Heidecks Herz zusammen.
„In Begleitung von Indern? Und ohne daß man weiß, wohin sie geführt wurde? Hat sie denn keine Nachricht für mich oder sonst jemand hinterlassen?“
„Die Dame hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihr zu sprechen. Sie hat die Abfahrt nur aus der Ferne gesehen.“
„Aber sie muß doch wahrgenommen haben, ob Mrs. Irwin das Grabmal freiwillig oder gezwungen verließ?“
Der Fürst zuckte die Achseln.
„Ich kann darüber leider nichts sagen. Meine Erkundigung blieb ohne jedes Ergebnis. Weder von den englischen Gefangenen noch von den russischen Wachen konnte mir irgend jemand nähere Auskunft geben.“
Im Foreign Office zu London versammelte sich der Ministerrat. Mit düsteren Mienen hatten sich die Lords eingefunden. Wie eine finstere Wolke lagerte die Ahnung einer Katastrophe über England, allerhand schlimme Gerüchte waren im Lande verbreitet, und mit dumpfer Beklemmung sah man den kommenden Ereignissen entgegen.
„Eine Depesche des kommandierenden Generals,“ sagte der Ministerpräsident, indem er das Papier in seiner Hand entfaltete. Und es wurde totenstill im Gemach:
‚Schmerzlich bewegt sende ich der Regierung Seiner Majestät die Nachricht von einer großen Niederlage, die ich vorgestern bei Lahore erlitten habe. Erst heute habe ich Delhi mit den Trümmern meiner Armee erreicht, die von der russischen Avantgarde verfolgt wurde. Wir hatten eine sehr günstige Aufstellung am linken Ufer des Ravi eingenommen und waren im Begriff, der russischen Armee den Uebergang über den Fluß zu verwehren, als ein überraschend starker Angriff auf unsern linken Flügel bei Schah Dara uns nötigte, diesen Flügel zu verstärken und dadurch das Zentrum zu schwächen. Gedeckt vom Dschungel am Flußufer, gelang es russischer Kavallerie und mohammedanischen Hilfstruppen der russischen Armee den Fluß zu überschreiten und unsere Sepoy-Regimenter in Unordnung zu bringen. Die Truppen des Maharadjah von Chanidigot gingen in verräterischer Weise zum Feinde über, und das war entscheidend. Wären nicht sämtliche[S. 173] Sepoy-Regimenter abgefallen, so hätte ich die Schlacht halten können, aber die englischen Regimenter unter meinem Befehl waren zu schwach, um der Uebermacht des Feindes lange Widerstand zu leisten. Die Tapferkeit dieser Regimenter verdient das höchste Lob, aber nach mehrstündigem Kampfe mußte ich den Befehl zum Rückzug geben. Wir zogen uns auf die Stadt Lahore zurück, und es gelang mir, einen Teil der Truppen mit der Eisenbahn nach Delhi zu bringen. Diese Stadt werde ich aufs äußerste verteidigen. Verstärkungen sind aus allen Militärstationen des Landes unterwegs. Wie groß unsere Verluste sind, kann ich noch nicht angeben. An intakten Truppen habe ich fünftausend Mann nach Delhi zurückbringen können.‘
Eisiges Schweigen lag auf dem Kreise der Lords nach Verlesung der Unglücksbotschaft. Dann nahm der Kriegsminister das Wort:
„Diese Depesche ist freilich wie ein Keulenschlag. Unser bester Feldherr, die aus den besten Truppen Indiens gebildete Armee sind völlig besiegt. Mit Recht könnten wir ja sagen, daß Englands Größe noch fest auf beiden Füßen steht, so lange England, diese meerumgürtete Insel, vor dem Feinde gesichert ist. Keine Niederlage in Indien oder in einer der Kolonieen kann uns tödlich treffen. Was wir in einem Erdteil verlieren, nehmen wir doppelt in einem andern zurück, so lange wir im Haupte selbst und im Herzen, auf unserer Insel, stark und gesund sind. Aber das ist es gerade, was mich besorgt macht. Die Sicherheit Großbritanniens ist bedroht, wo fast die ganze Welt die Waffen gegen uns erhebt. Eine starke französische Armee steht zur Invasion bereit, Dover gegenüber, eine starke deutsche Armee in den Niederlanden, ebenfalls bereit, an unsere Küsten überzusetzen. Ich frage, welche Maßregeln sind getroffen worden, um einen Angriff auf unser Mutterland abzuwehren?“
„Die britische Flotte,“ entgegnete der erste Lord der Admiralität, „ist stark genug, die Flotten unserer Feinde zu zerschmettern, wenn[S. 174] sie wagen sollten, sich auf offenem Meere zu zeigen. Aber die russische, französische und deutsche Flotte sind so klug, sich unter dem Schutze der Festungen in den Häfen zu halten. Wir haben zwei Flotten im Kanal, die eine, von zehn Linienschiffen nebst achtzehn Kreuzern und den nötigen kleinen Fahrzeugen, dazu bestimmt, die deutsche Flotte anzugreifen, die andere, stärkere, von vierzehn Linienschiffen und vierundzwanzig Kreuzern, dazu bestimmt, die französische Flotte zu vernichten. Eine dritte Flotte ist im Hafen von Kopenhagen, um die russische Flotte an ihrer Vereinigung mit der deutschen zu verhindern. Der Plan, nach Kronstadt zu fahren, ist aufgegeben worden, da die Erfahrungen des Krimkrieges warnen und wir unsere Seestreitkräfte nicht zu weit auseinanderziehen wollen. Unsere Admirale und Kapitäne werden durch die Nachricht von den Erfolgen der Russen davon überzeugt werden, daß es sich jetzt um Englands Ehre und Englands Bestand handelt. Als wir im achtzehnten Jahrhundert Frankreichs Seemacht von allen Meeren vertrieben, und als wir die Flotte des großen Napoleon besiegten, da galt die Regel, daß jeder besiegte Admiral und Kapitän unserer Marine standrechtlich erschossen wurde und daß schon bei jedem nicht völlig ausgenutzten Erfolg unserer Kriegsschiffe das Kriegsgericht den Befehlshaber absetzte. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo jene alten, strengen Gesetze wieder in Wirkung treten müssen.“
„Nach dem letzten Bericht der Admiralität,“ sagte der Lord Großkanzler, „hatte die Flotte siebenundzwanzig neue Panzerschlachtschiffe, deren ältestes von 1895 ist. Die Panzer von 1902: Albemarle, Cornwallis, Duncan, Exmouth, Montagu und Russell, sowie die Panzer von 1899: Bulwark, Formidable, Implacable, Irresistible, London und Venerable sind, wie ich aus dem Bericht ersehe, nach den neuesten technischen Grundsätzen konstruiert und armiert. Sind alle modernen siebenundzwanzig Panzer bei der Kanalflotte?“
„Nein, der Albion, der Ozean und die Glory sind auswärts. Die zwölf neuesten Panzer, die Eure Herrlichkeit nannte, sind[S. 175] beiden Kanalflotten eingereiht. Aber auch mehrere ältere Schlachtschiffe, wie Centurion, Royal Sovereign, Empreß of India, sind im Kanal. Ich darf wohl sagen, daß die beiden Kanalflotten völlig geeignet für ihre Aufgaben sind. Wir haben vierundzwanzig ältere Panzer, die aber sämtlich von ausgezeichnetem Werte für das Gefecht sind.“
„Von diesen älteren Panzern sind viele noch mit Vorderladern ausgerüstet.“
„Allerdings. Aber ob die allgemeine Annahme, Hinterlader seien gefechtstüchtiger, durchaus richtig ist, kann erst eine Seeschlacht erweisen. Bei Schnellfeuergeschützen ist es ja gewiß, daß der Hinterlader die allein richtige Konstruktion ist, aber bei unseren schwersten Geschützen, die ein Kaliber von 30,5 Zentimeter haben und eine Zeit von drei bis vier Minuten beanspruchen, um geladen zu werden, kommen die Vorteile des Schnellfeuers überhaupt nicht in Frage, sondern hier kommt es auf das genaue Zielen an, damit das wuchtige Geschoß an die richtige Stelle schlägt. Und hierzu ist ein geschicktes Manövrieren von der größten Wichtigkeit. Außerdem zeigen uns die Kämpfe vor Port Arthur die große Bedeutung des Torpedos und der Mine. Die russische Flotte hat ihre schwersten Verluste durch das gewandte Manövrieren und den überlegenen Torpedogebrauch der Japaner erlitten. Es scheint, als ob überhaupt in modernen Seeschlachten der Artilleriekampf gegen den Minenkrieg zurücktreten sollte, und da wird sich unsere Ueberlegenheit an Unterseebooten beim Angriff auf die in den Häfen liegenden Flotten Deutschlands und Frankreichs zeigen. Erst eine Seeschlacht zwischen unseren Geschwadern und denen der Franzosen und Deutschen kann eine Lehre für den richtigen Gebrauch moderner Kriegsschiffe sein. Und es wird eine Lehre werden, eine Lehre für die Unbesonnenen, die es wagen werden, sich dem Feuer einer britischen Breitseite und dem Angriff unserer Torpedoboote und Unterseeboote auszusetzen. Mögen die Panzerungen sein, wie sie wollen: der beste Panzer Großbritanniens ist die feste, treue Brust der Briten.“
„Ich kann, wenn ich solche Erklärungen höre,“ warf der Kolonialminister ein, „mich des Verdachtes nicht erwehren, daß der ganze Plan der Flottenverwendung falsch ist.“
„Ich bitte um Begründung dieses Verdachtes,“ erwiderte der Lord der Admiralität etwas gereizt.
„Von jeher ist gesagt worden, daß England die Oberherrschaft zur See hätte. Nun währt der Krieg schon eine ganze Zeit, und ich merke nichts von unserer Oberherrschaft.“
„Wie können Sie das sagen? Der Handel unserer Feinde ist vollständig lahmgelegt worden, und unsere Schiffe verkehren überall frei wie sonst.“
„Das mag sein, aber unter der Oberherrschaft zur See verstehe ich etwas anderes. Kein Seesieg ist bis jetzt erfochten worden. Die feindlichen Flotten sind noch intakt. So lange diese nicht vernichtet sind, liegt immer noch die Gefahr nahe, daß der Krieg eine für uns nachteilige Wendung nehmen kann. Erst der Kampf auf offener See entscheidet. Die englische Flotte sollte, wenn sie wirklich die herrschende ist, die feindlichen Schiffe zur entscheidenden Schlacht zwingen. Warum blockieren wir nicht die französische und die deutsche Flotte in den Häfen und zwingen sie, sich uns zu stellen? Unsere Geschütze tragen drei Meilen weit, wir können die Feinde im Hafen erreichen. Was soll diese Trennung in drei Teile? Die Flotte sollte im Kanal zu einem zerschmetternden Schlage vereinigt werden.“
„Der sehr ehrenwerte Herr vergißt, daß eine Vereinigung unserer Flotte auch die Vereinigung der feindlichen Flotte zur Folge haben würde. Verlassen wir unsere Stellung bei Kopenhagen, so kommt die starke russische Flotte von Kronstadt hervor und vereinigt sich mit den deutschen Kriegsschiffen in der Ostsee. Diese vereinigte Flotte könnte durch den Kaiser Wilhelm-Kanal in die Nordsee gelangen. England hat immer bei seinen Seerüstungen den two powers standard eingenommen, und obwohl wir den three[S. 177] powers standard angestrebt haben, sind die Mittel an Geld und Menschenmaterial doch nicht ausreichend gewesen, eine Seemacht aufzustellen, die den Flotten der drei jetzt vereinigten Mächte überlegen wäre. Gleichwohl hält unser altes Prestige alle drei Mächte in Schach, so daß sie nicht wagen, uns zur See anzugreifen. Setzen wir dies Prestige nicht dadurch aufs Spiel, daß wir ohne eine bestimmte Aussicht auf Erfolg eine Seeschlacht provozieren! Diese Seeschlacht wird kommen, aber der günstige Augenblick muß sorgfältig abgewartet werden. Beim jetzigen Stande des Krieges wäre es leichtsinnig, alles auf eine Karte zu setzen. Das tun wir aber, wenn wir eine Seeschlacht erzwingen wollen. Gelingt der Angriff nicht, erleidet unsere Flotte eine Niederlage, so ist England der Landung einer kontinentalen Armee ausgesetzt. Es ist wahr, daß unsere Flotte durch Teilung geschwächt wird, aber dasselbe gilt von den feindlichen Flotten, so daß dieser scheinbare Nachteil ausgeglichen wird. Wir müssen den Augenblick erspähen, wo eine Verschiebung der gegenwärtigen Lage uns erlaubt, eine der feindlichen Flotten mit überlegenen Kräften anzugreifen.“
„Es möchte wohl ein Mittel geben, die deutsche Flotte hervorzulocken,“ beharrte der Kolonialminister. „Laßt uns ein Panzergeschwader nach Helgoland schicken und den Felsen mit seinen Befestigungen zusammenschießen, daß er zerbröckelt ins Meer sinkt. Die Erwerbung Helgolands war eine Lieblingsidee Kaiser Wilhelms II., und dieser Monarch wird schon dafür sorgen, daß Helgoland nicht vom Erdboden verschwindet. Kommen aber die Deutschen trotz einer Beschießung Helgolands auch dann noch nicht heraus, so laßt das Geschwader in die Mündung der Elbe fahren und Hamburg in Brand schießen. Laßt auch die Panzer von Kopenhagen vorgehen und den Kieler Hafen, wie die Küstenstädte an der Ostsee zerstören. Dann würde sich die deutsche Flotte schon zeigen!“
„Dieser Plan ist erwogen worden und kommt vielleicht zur Ausführung. Es stehen ihm jedoch zwei Bedenken entgegen: erstens[S. 178] würden wir durch die Zerstörung offener Städte ein Odium auf uns laden, das ....“
„Pah! Für den Sieger gibt es kein Odium! England wäre niemals zu seiner jetzigen Größe und Macht gelangt, wenn es sich von praktischen Maßregeln durch allzu ängstliche Rücksichten auf Humanität und Völkerrecht hätte abschrecken lassen.“
„Nun, dann bleibt jedenfalls noch das andere Bedenken.“
„Und das wäre, Mylord?“
„Der Kampf von Schiffen, selbst wenn sie die stärksten Panzer tragen, gegen Landbefestigungen ist immer eine gefährliche Taktik, zumal, wenn die Küsten durch zahlreiche Minen und Torpedoboote verteidigt werden. Dazu kommt, daß Panzerschiffe eine sehr teure und in gewissem Sinne zerbrechliche Ware sind.“
„Eine zerbrechliche Ware?“
„Die Deutschen haben alle Leuchtschiffe, alle Feuerschiffe, alle Seezeichen außer Dienst gesetzt, und gerade so, wie die französischen Häfen, sind auch die deutschen durch Minen verteidigt. Ein Panzerschiff ist stark bei ruhigem Wasser gegenüber einem anderen Schiff, aber die Natur seiner Bauart macht es schwach beim Sturm und in unsicherem Fahrwasser. Ein Panzerschiff kentert vermöge seiner enorm schweren Belastung ungemein leicht, sobald es nach einer Seite hin das Uebergewicht bekommt. Es darf auch wegen seiner ungeheuren Wucht nirgends anstoßen, weil es sonst zerbricht; heftet sich ein Torpedo an seine Panzerhaut oder fährt es auf eine Mine, so geht es durch die Explosion leichter unter als ein Holzschiff des vorigen Jahrhunderts. Und wenn es irgendwo in einer Untiefe oder an einem Felsen aufläuft, so bringt man es nicht wieder los. Außerdem bedarf es häufiger Erneuerung seines Kohlenvorrats, so daß man es nicht auf langdauernde Expeditionen schicken kann. Unsere Panzer haben ihren ganz besonderen Zweck: sie sind für die Seeschlacht. Aber sie gleichen Riesen, die durch das eigene Gewicht schwerfällig gemacht und zu Boden gezogen werden, und[S. 179] der Verlust eines Panzer-Schlachtschiffes bedeutet, von seiner sonstigen Bedeutung für den Krieg abgesehen, den Verlust von mehr als einer Million Pfund. Auch die Kreuzer würde ich nicht ohne dringende Not den Stahlgeschossen einer Kruppschen Küstenbatterie aussetzen. Hüten wir uns auch vor dem kleinsten Mißerfolge zur See! Er würde für unser Prestige und damit für unsere Machtstellung so gefährlich werden wie eine Stahlgranate für die Wasserlinie eines unserer Kriegsschiffe.“
Der Kolonialminister schwieg. Er hatte diesen Einwendungen nichts mehr entgegenzusetzen.
„Unsere indischen Truppen werden dringend der Verstärkung bedürfen,“ nahm der Ministerpräsident wieder das Wort. „Wir müssen englische Männer ins Feld stellen, da man sich auf die Sepoys nicht mehr verlassen kann.“
„Allerdings,“ bestätigte der Kriegsminister, „und es gehen ja noch immer Truppentransporte nach Bombay. Vierzigtausend Mann sind eingeschifft worden; von diesen sind mehr als zwanzigtausend in Indien gelandet, die anderen sind noch auf der See. Eine große Flotte ist unterwegs, und acht Panzer sind in Aden stationiert, um jedem feindlichen Angriff auf unsere Transporte zu wehren. Aber es ist die Frage, ob wir gut daran tun, noch mehr Truppen nach Indien zu schicken. Mylords, so schwer es mir wird, es auszusprechen: wir müssen vorsichtig sein. Man würde mich mit Recht der Unbesonnenheit zeihen, wenn ich hier mehr täte, als die äußerste Vorsicht erlaubt. Großbritannien ist von Truppen entblößt. Nun bin ich gewiß, und ganz England ist sich dessen bewußt, daß niemals ein feindlicher Fuß diesen Boden betreten wird, da unsere Flotte die Unberührtheit unserer Insel verbürgt, aber wir wären unseres verantwortlichen Amtes nicht würdig, wenn wir irgend eine Maßregel zur Sicherheit des Landes versäumten. Laßt uns Feiglinge sein, Mylords, vor dem Kampfe, Helden erst in der Schlacht selbst! Laßt uns annehmen, wir besäßen keine Flotte, sondern müßten Englands[S. 180] Boden auf dem Lande verteidigen. Wir müssen eine schlagfertige Armee auf englischem Boden aufstellen oder wir machen uns des Verrats am Vaterlande schuldig. Die Mobilmachung unserer Reserve muß noch weiter ausgedehnt werden. Zehntausende von Yeomen sind noch imstande das Gewehr zu tragen und den Säbel zu schwingen, ohne daß wir sie eingezogen hätten. Jetzt müssen alle kräftigen Männer heran. Das Gesetz erlaubt, jeden Mann, der nicht der regulären Armee oder einem Freiwilligenkorps angehört, zur Armee heranzuziehen, vom 18. bis zum 50. Jahre, und dergestalt eine Miliz aller waffenfähigen Männer zu bilden. Wenn Seine Majestät es genehmigt, werde ich ein Milizheer von hundertundfünfzigtausend Mann bilden. Ich rechne auf Indien hundertundzwanzigtausend Mann, auf Malta zehntausend, auf Hongkong dreitausendfünfhundert, auf Südafrika zehntausend, auf die Antillen dreitausend, auf Gibraltar sechstausend, auf Aegypten zehntausend Mann, abgesehen von den kleineren Garnisonen, die alle an ihren Plätzen bleiben müssen, und hoffe dann noch mit Aufbietung aller Freiwilligenkorps und Reserven eine Armee von vierhunderttausend Mann zur Verteidigung des Mutterlandes aufstellen zu können.“
Der Lord Großkanzler schüttelte den Kopf: „Lassen wir uns nicht durch solche Zahlen zu einem falschen Optimismus verführen! Große Haufen ohne militärische Schulung, ohne Uebung in den Waffen, mit neu ernannten und von den Mannschaften gewählten Offizieren, die ohne jede praktische Einsicht, ohne jedes Verständnis für die Anforderungen moderner Kriegsführung sind, wollen wir wohlgeschulten Truppen entgegenstellen, solchen ausgezeichneten Truppen, wie es die französischen und die deutschen sind? Woher denn nur die Artillerie nehmen? Wir haben 1871 gesehen, wohin es führt, wenn man Herden von Bewaffneten den geschulten regulären Truppen gegenüberstellt. Bourbaki führte ein Heer, das monatelang geübt worden war, und doch hatten seine Scharen, obwohl sie mit Kavallerie und Artillerie ins Feld zogen, ungeheure Verluste beim Zusammen[S. 181]stoß mit einer an Zahl weit schwächeren, aber wohlgegliederten, kriegsgeübten und von erfahrenen Offizieren befehligten Armee. Sie wurden über die Grenze nach der Schweiz gedrängt, wie wenn eine große Schafherde von einem Rudel Wölfe gejagt wird.“
„Das waren Franzosen, wir aber sind Engländer!“
„Ein Engländer wird von einer Kugel niedergestreckt wie ein Franzose. Die Zeiten des Schwarzen Prinzen sind vorbei, kein Heinrich V. siegt mehr bei Agincourt, wir haben das Feuergefecht mit Magazingewehren.“
„Die Buren, Mylord, haben uns gezeigt, was eine tapfere Miliz noch immer gegen reguläre Truppen vermag.“
„Ja, im Gebirge. So haben auch die Tiroler eine Zeitlang dem großen Napoleon Widerstand geleistet. England aber ist flach, und in der Ebene zeigt sich die Ueberlegenheit der taktischen Kunst. Nein, nur auf der Flotte beruht Englands Heil.“
Eine Depesche des Vizekönigs von Indien wurde dem Präsidenten überbracht:
‚Der Vizekönig meldet der Regierung Seiner Majestät, daß der Oberbefehlshaber in Delhi ein Heer von dreißigtausend Mann zusammengezogen hat und die Stadt verteidigen wird. Die Sepoys bei seiner Armee gehorchen, da sie innerhalb der Befestigungen eingeschlossen sind und nicht fliehen können. Der Vizekönig wird Sorge tragen, daß die mohammedanischen Sepoys möglichst alle nach dem Süden kommen und daß nur Hindutruppen gegen die Russen ins Gefecht geführt werden. Es ist Befehl gegeben worden, den abtrünnigen Maharadjah von Chanidigot, dessen Truppen in der Schlacht bei Lahore das Signal zur Fahnenflucht gaben, standrechtlich zu erschießen. Der Vizekönig ist der Ansicht, daß die russische Armee vor Delhi Halt machen wird, um die Verstärkungen heranzuziehen, die immerfort, aber nur in dünnem Flusse, durch Afghanistan herankommen. Er zweifelt nicht daran, daß die englische Armee, deren Zahl täglich durch die neu an[S. 182]kommenden Regimenter wächst, in den Nordprovinzen vereinigt, den Russen eine entscheidende Niederlage beibringen wird. Der Oberbefehlshaber wird dem General Egerton die Verteidigung Delhis übertragen und eine neue Feldarmee bei Cawnpore zusammenziehen, mit der er nach Delhi vorzurücken beabsichtigt. Auf allen Bahnlinien werden unausgesetzt alle verfügbaren Truppen nach Cawnpore befördert.‘
„Diese Nachrichten sind allerdings geeignet, uns mit neuem Mut zu erfüllen,“ sagte der Ministerpräsident, nachdem er das Telegramm vorgelesen. „Und wir wollen uns doch nicht verhehlen, Mylords, daß wir mehr als je des Mutes bedürfen. Dieser neue Mann in Deutschland, den der Kaiser zum Kanzler gemacht hat, regt die Gemüter der Deutschen schrecklich gegen uns auf. Er scheint ein Mann nach des Fürsten Bismarck Art zu sein, ein Mann kühner Rücksichtslosigkeit und überraschender Schläge. Wir stehen ganz allein. Rußland, Frankreich und Deutschland haben sich zu einem Bündnis gegen uns zusammengeschlossen. Oesterreich kann und will uns nicht zu Hilfe kommen, Italien dreht sich in gewundenen Antworten auf unsere Anträge, sagt weder ja noch nein und lauert auf den Augenblick, wo es im Bündnis mit Frankreich die letzten italienischen Landstriche von Oesterreich losreißen und sich an unseren Kolonien bereichern kann. Nun wohl denn, wo England allein stand, da stand es noch immer in Glanz und Macht. Vertrauen wir auf uns selbst und die Treue unserer Kolonien, die uns mit Geld und mit Mannschaften beispringen und die wir nach dem Siege mit allen Gaben belohnen wollen, die Seiner Majestät Regierung auszuteilen hat.“
„Unsere Kolonien!“ mischte sich jetzt auch der Handelsminister in die Debatte. „Jawohl, sie sind opferwillig. Ich fürchte nur, daß die Opfer, die der sehr ehrenwerte Kolonialminister von ihnen fordert, ihnen zu viel werden können, und daß sie bei der Richtung, die der moderne Imperialismus unserer Regierung einschlägt, nicht an die Belohnungen glauben werden, die ihnen in Aussicht gestellt werden.“
„Mylord,“ entgegnete der Angegriffene. „Man nennt mich einen Agitator, und man wirft mir vor, daß ich die jetzige gefährliche Lage Englands verschuldet hätte. Gut, ich will sie verschuldet haben. Aber niemals hat ein Staatsmann große Pläne verfolgt, ohne sein Land einer gewissen Gefahr auszusetzen. Ich erinnere nur daran, daß Bismarck nach dem glücklich beendeten Kriege von 1866 sagte, daß ihn die alten Weiber mit Knütteln totgeschlagen haben würden, wenn die preußische Armee besiegt worden wäre. Aber sie wurde nicht besiegt, und er stand da als ein Mann, der Deutschland geeinigt und Preußen groß gemacht hatte. Er setzte Preußen der allergrößten Gefahr aus, indem er durch seine Agitation fast die ganze Welt zum Feinde Preußens machte, Oesterreich und das ganze Süddeutschland angriff und es schließlich auch zum Kriege gegen Frankreich brachte. England hat damals eine unglückselige Politik des Zusehens und Abwartens befolgt, weil kein Agitator seine Politik leitete. Hätte England 1866 Preußen den Krieg erklärt, so wäre Deutschland jetzt nicht so mächtig, daß es uns bekriegt. Seit jener Zeit haben sich tiefgehende Veränderungen in England selbst vollzogen, gerade durch das Wachstum der deutschen Macht. Wir haben uns seit Napoleons Sturz nicht mehr genug um die Ereignisse auf dem Kontinent gekümmert, sondern in stolzem Selbstgefühl uns selbst für so mächtig gehalten, daß wir die Entschließungen der fremden Regierungen nur zu beeinflussen brauchten, um unsere eigene Politik zu verfolgen. Aber dieses Selbstgefühl ist erschüttert worden durch die Ereignisse von 1866 und 1870, und England ist mit Recht nervös geworden. Der Engländer hat bis zu jenem Zeitpunkt die Uebergriffe der kontinentalen Mächte verachtet. Das tut er nicht mehr, sondern es sind sogar patriotische Strömungen in England selbst entstanden, die der schwachsinnige Friedensfreund als chauvinistische brandmarkt. Nun wohl, ich nenne mich mit Stolz einen Chauvinisten in dem Sinne, daß ich nicht den Frieden um jeden Preis, sondern Englands Größe will. Die patriotischen[S. 184] Strömungen unseres Volkes sind von meinem Vorgänger Chamberlain in das rechte Bett geleitet worden. Und hat nicht die Regierung seit dreißig Jahren eben demselben patriotischen Gefühl Folge geleistet, indem sie, mochte sie von Disraeli oder Gladstone geleitet werden, eine ganz enorme Verstärkung unserer Wehrmacht zu Lande wie zur See ins Werk setzte? Diese militärischen Rüstungen haben dem Mutterlande allein die Lasten aufgebürdet, während sie nicht nur dem Mutterlande, sondern auch den Kolonieen zugute gekommen sind und noch zugute kommen sollen. Wie aber sollen solche Kosten, wie sie der Krieg jetzt verursacht, weiterhin aufgebracht werden? Wie soll der Handel des englischen Weltreiches fernerhin gehoben und vor jeder Konkurrenz geschützt werden, wenn die Kolonieen sich nicht an den Kosten beteiligen? Ich will nur, daß eine gerechte Verteilung der Lasten eintritt und daß demnach nicht England allein, sondern auch die Kolonieen die Lasten tragen. Der Plan der Imperial Federation, den wir verfolgen, ist das Heilmittel unserer chronischen Krankheit und soll die Kolonieen wie das Mutterland wirtschaftlich wie politisch und militärisch stärken. Gewiß scheinen solche Reden verwegen, Mylords, im Augenblicke, wo eine russische Armee in Indien eingebrochen ist und wo unsere Armee eine schwere Niederlage erlitten hat, aber ich möchte daran erinnern, daß noch jeder Krieg Englands mit Niederlagen begonnen hat. Andere als siegreiche Kriege aber hat England niemals geführt, seitdem Wilhelm der Eroberer das romanische Blut in Englands Staatskörper eingeführt und ihm damit eine Konstitution von solcher Zähigkeit und Härte verliehen hat, daß kein anderer Staatskörper jemals auf die Dauer England hat widerstehen können. So werden wir auch die Russen wieder aus Indien hinauspeitschen und werden die Flotten Frankreichs, Deutschlands und Rußlands, die sich vor uns in ihren Häfen verstecken, schließlich hervorzwingen, vernichten und damit alle übermütigen Pläne unserer Feinde zerstören, den Union Jack aber zur Standarte einer Weltherrschaft erheben, der niemand mehr feindlich zu nahen wagt.“
Die Kunde von Ediths Entführung — denn nur darum konnte es sich Heidecks Ueberzeugung nach handeln, weil sie sonst irgend eine Nachricht für ihn hinterlassen haben würde, — wirkte auf Heideck mit niederschmetternder Gewalt.
Er erinnerte sich der furchtbaren Grausamkeiten, von denen man aus den Zeiten des Sepoy-Aufstandes erzählte. Und er brauchte sich nur seine eigenen Erlebnisse in Lahore ins Gedächtnis zurückzurufen, um überzeugt zu sein, daß alle jene entsetzlichen Geschichten keine Uebertreibung waren, sondern wohl eher noch hinter der Wirklichkeit zurückblieben.
War es aber nicht dieses Schicksal, dem Edith Irwin entgegenging, so wartete ihrer vielleicht ein anderes schmachvolles Los, das dem Manne, der sie liebte, noch fürchterlicher erscheinen mußte als der Tod.
Sein Erschrecken und seine tiefe Niedergeschlagenheit hatten dem Fürsten nicht entgehen können. Teilnehmend legte er die Hand auf Heidecks Schulter und sagte:
„Ich bin wirklich untröstlich, Herr Kamerad! Denn ich sehe wohl, wie es mit Ihnen und der Dame steht. Aber vielleicht beunruhigen Sie sich ohne Not. Diese Abreise kann doch immerhin noch eine ganz unverfängliche Aufklärung finden.“
Heideck schüttelte den Kopf.
„Ich hege in dieser Hinsicht keine Hoffnungen mehr, denn alle Umstände sprechen dafür, daß es der Maharadjah von Chanidigot[S. 186] war, der die Dame in seine Gewalt gebracht hat. Dieser wollüstige Despot hat ja schon seit Monaten danach getrachtet, sie zu besitzen. Was, um des Himmels willen, kann man tun, die Unglückliche aus seinen Händen zu befreien?“
„Ich werde den General in Kenntnis setzen und zweifle nicht, daß er eine Untersuchung anordnen wird. Wenn Ihre Vermutung zutrifft, wird der Maharadjah selbstverständlich gezwungen werden, die Dame wieder freizugeben. Aber ich möchte fast daran zweifeln. Der Despot von Chanidigot ist augenblicklich weit von hier entfernt.“
„Das würde nicht ausschließen, daß andere in seinem Auftrage gehandelt haben. Und glauben Sie wirklich, Ihr General würde es um einer englischen Dame willen mit einem einflußreichen indischen Fürsten verderben, auf dessen Bundesgenossenschaft Rußland in diesem Augenblick doch vielleicht noch recht sehr angewiesen ist?“
„O, lieber Freund, wir sind nicht die Barbaren, für die man uns im westlichen Europa leider noch immer hält. Wir wünschen an Ritterlichkeit hinter niemandem zurückzustehen, und wir werden unser Regiment in Indien sicherlich nicht damit beginnen, daß wir unter unseren Augen verabscheuungswürdige Gewalttaten geschehen lassen. Ich bin überzeugt, daß der General in diesem Punkte nicht anders denkt als ich.“
„Sie wissen nicht, wie tröstlich und beruhigend es für mich ist, das zu hören. Denn ich selbst werde ja nichts mehr für Mrs. Irwin tun können. Seitdem ich weiß, daß Deutschland sich im Kriege befindet, darf ich ja kein anderes Interesse mehr haben als das, so schnell als möglich zu meiner Armee zu gelangen.“
„Allerdings! Die Soldatenpflicht über alles. Wie aber wollen Sie es anfangen, jetzt nach Deutschland zu kommen? Es dürfte eine verteufelt schwierige Aufgabe sein.“
„Ich muß es dennoch versuchen. Unter keinen Umständen darf ich hier müßig verharren.“
„Nun, so lassen Sie uns überlegen. Das Nächstliegende wäre[S. 187] ja, daß Sie von Bombay oder einer anderen Hafenstadt, wie Kalkutta, Madras oder Carachi aus zur See nach Europa zurückkehrten. Carachi liegt uns am nächsten. Man hat ihm ja den Namen des Eingangstores von Zentralasien gegeben. Und von Lahore, Quetta oder Mooltan aus ist Carachi mit der Eisenbahn am schnellsten zu erreichen. Aber eine Dampferverbindung zwischen Carachi und Europa besteht nur auf dem Wege über Bombay. Es gibt von dort aus keine andere direkte Schiffslinie als die nach dem Persischen Golf. Sie müßten also auf einen der englischen Dampfer der Peninsular- und Oriental-Linie gehen, die zweimal wöchentlich fahren. Denn die französischen Messageries Maritimes, die sonst zwischen Carachi und Marseille verkehrten, werden selbstverständlich ihre Fahrten längst eingestellt haben. Sie könnten also ebensogut mit der Eisenbahn bis Bombay fahren. Ueber Kalkutta oder Madras wäre es ein gewaltiger Umweg!“
„Und ich sollte einzig auf die Benutzung der englischen Dampferlinie angewiesen sein?“
„Daß die Schiffe des Norddeutschen Lloyd oder des Oesterreichischen Lloyd noch verkehren sollten, halte ich für gänzlich ausgeschlossen.“
„Dann werde ich den Gedanken an diesen Reiseweg überhaupt aufgeben müssen. Wenn ich mich nicht geradezu gefälschter Legitimationspapiere bedienen will, die überdies kaum zu erlangen sein dürften, wird mich kein englischer Dampfer als Passagier aufnehmen.“
„Das ist allerdings sehr wahrscheinlich,“ stimmte der Fürst nach einigem Nachdenken zu. „Und dann — wie sollten Sie nach Bombay gelangen? Die Engländer zerstören auf ihrem Rückzuge ja alle Eisenbahnen.“
„Nun, was das betrifft — ich könnte ja zu Pferde reisen.“
„Mitten durch die englische Armee hindurch? Und auf die Gefahr hin, als Spion aufgegriffen zu werden? Wissen Sie nicht,[S. 188] daß die Besiegten mit dem Füsilieren vermeintlicher Spione gewöhnlich noch schneller bei der Hand sind als die Sieger?“
Heideck mußte lächeln.
„In dieser Beziehung dürfte die Promptheit des russischen Verfahrens doch kaum zu übertreffen sein. Aber ich gebe zu, daß Ihre Bedenken sehr berechtigt sind. Danach verbliebe mir also nur noch der Weg nach Norden.“
„Ja, Sie müßten mit einem leerfahrenden Zuge oder mit einem Transport englischer Gefangener bis zum Kaiberpaß fahren, dann zu Pferd durch Afghanistan bis an die Grenze, und von dort wiederum mit der Bahn bis Krasnowodsk reisen. Weiter würde die Route über das Kaspische Meer nach Baku oder mit der Eisenbahn über Tiflis nach Poti am Schwarzen Meer und dann zu Schiff nach Konstantinopel gehen. Aber, mein lieber Kamerad, das ist eine sehr lange, beschwerliche Reise.“
„Ich muß es dennoch versuchen. Es handelt sich um ein Gebot der Ehre, und Sie sagen ja selbst, daß es keinen anderen Weg als den von Ihnen bezeichneten gibt.“
„Gut! — So werde ich für einen Paß sorgen und von dem General eine Vollmacht für Sie erbitten, die Sie in den Stand setzt, auf unserer Etappenstraße durch Afghanistan jederzeit Kosaken zu Ihrer Begleitung zu erhalten. — Aber —“ und das Aufleuchten in seinem Gesicht verriet, daß ihm eine nach seinem Dafürhalten sehr glückliche Idee gekommen sei — „ließe sich nicht doch vielleicht ein Ausweg finden, der Ihnen all’ diese ungeheuren Strapazen erspart? Die Deutschen und Russen sind Alliierte. Auch in den Reihen unserer Armee würden Sie Ihrem Vaterlande dienen. Und ein Offizier, der Indien so gut kennt, wie Sie, wäre für uns in diesem Augenblicke von großem Wert. Wenn Sie wollen, spreche ich noch in dieser Stunde mit dem General. Und ich bin gewiß, daß er keinen Augenblick zögern wird, Sie mit dem Range, den Sie in der deutschen Armee bekleiden, seinem Stabe zu attachieren.“
Gerührt schüttelte Heideck dem Freunde die Hand.
„Sie machen es mir schwer, Ihnen nach Verdienst zu danken. Ohne Ihr Eingreifen hätte mein Dasein einen sehr ruhmlosen Abschluß gefunden, und was Sie mir da vorschlagen, ist mir ein neuer Beweis Ihrer liebenswürdigen Teilnahme an meinem Geschick. Aber Sie zürnen mir nicht, wenn ich ablehne — nicht wahr? Gewiß würde es mir eine Ehre sein, in Ihrer ausgezeichneten Armee zu dienen. Aber Sie sehen ein, daß ich nicht nach Belieben über mich verfügen darf, sondern als Soldat auf meinen Posten zurückkehren muß, gleichviel, welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind. Ich bitte Sie — — aber, mein Gott, was ist denn das? Können in diesem Lande der Wunder selbst die Toten wieder lebendig werden?“
Das Erstaunen, das ihm diese Frage eingegeben, war sehr natürlich, denn das magere, schwarzbraune Männchen, das soeben im Eingang des Zeltes erschien, war niemand anders als sein totgeglaubter treuer Diener Morar Gopal. Um seine Stirn trug er einen frischen Verband. Einen Augenblick blieb er wie gebannt in der Zelttür stehen, und in seinen dunklen Augen spiegelte sich die Freude darüber, seinen Herrn unverletzt wiedergefunden zu haben.
In tiefster Erregung stürzte Morar Gopal auf Heideck zu, warf sich zur Erde, um nach Hindusitte den Boden mit der Stirn zu berühren, und sprang dann mit allen Anzeichen der größten Freude wieder auf die Füße.
Heideck aber war kaum weniger bewegt als er und drückte dem treuen Burschen kräftig die braune Hand.
„Diese Wahnwitzigen haben dich also nicht umgebracht? Aber ich sah dich doch unter ihren Hieben fallen?“
Morar Gopal grinste verschmitzt.
„Ich warf mich zu Boden, als ich sah, daß doch alle Verteidigung umsonst war. Und weil ich aus einer Wunde am Kopfe blutete, meinten sie wohl, ich hätte genug. Gleich nachher kamen[S. 190] die Kosaken, und vor ihren Pferden, die mich sonst zertreten hätten, machte ich mich schleunigst wieder auf die Beine.“
„Du besitzt eine große Geistesgegenwart! Wie aber bist du zu dem schönen Anzuge gekommen?“
„Ich lief ins Hotel zurück — durch den hinteren Eingang, wo der Rauch nicht so arg war, — weil ich dachte, daß Sahib sich vielleicht dahin gerettet hätte. Sahib habe ich allerdings nicht gefunden, wohl aber diese Kleider. Und weil ich dachte, es sei besser, sie anzuziehen als sie verbrennen zu lassen — —“
„Schon gut, mein Braver! — Man wird dich wegen dieses kleinen Eigentumsvergehens schwerlich zur Rechenschaft ziehen.“
„Ich suchte Sahib an allen Orten, wo sich englische Gefangene befinden. Und als ich in Anar Kali gerade dazukam, wie Mrs. Irwin in einem Wagen weggeführt wurde, da wußte ich, daß ich nun auch die Spur meines Sahib gefunden hatte.“
Mit Ungestüm erfaßte Heideck seinen Arm.
„Du hast es gesehen? Und du weißt auch, wer sie entführte?“
„Ja, Herr, es war der Siwalik, der Stallmeister des Prinzen Tasatat. Und die Lady ist mit ihm auf dem Wege nach Simla.“
„Nach Simla? Woher kannst du das wissen?“
„Ich stand nahe genug, um jedes Wort zu verstehen, das die Inder miteinander sprachen, und es war zwischen ihnen davon die Rede, daß sie nach Simla gingen.“
„Und Mrs. Irwin? Sie sträubte sich nicht? Sie rief nicht um Hilfe? — Sie ließ sich ruhig fortführen?“
„Die Lady war sehr stolz. Sie sprach kein Wort.“
Ein Ordonnanzoffizier trat ins Zelt und überbrachte dem Fürsten den Befehl, sich sogleich bei dem Kommandierenden einzufinden.
„Wissen Sie, in welcher Angelegenheit?“ fragte der Oberst.
„Soviel ich weiß, handelt es sich um eine Beschwerde des Hauptmanns Obrutschew, der die Exekutionsmannschaften befehligt.[S. 191] Er hat gemeldet, der Herr Oberst habe einen Spion weggeführt, der auf Befehl des Kriegsgerichts füsiliert werden sollte.“
Heideck war bestürzt.
„So werden Ihnen nun aus Ihrer Rettungstat noch ernste Ungelegenheiten erwachsen,“ sagte er. „Aber da ich jetzt aus meiner Eigenschaft als deutscher Offizier kein Hehl mehr zu machen brauche, kann ja, falls der Feldtelegraph schon eingerichtet sein sollte, durch eine Anfrage beim Generalstab meine Legitimation erwirkt werden.“
„Gewiß! Und ich bitte Sie, sich meinetwegen nicht zu beunruhigen. Ich werde schon verantworten, was ich getan habe.“
Er entfernte sich in Begleitung des Ordonnanzoffiziers. Und Heideck bestürmte den braven Morar Gopal aufs neue mit Fragen über die näheren Umstände von Ediths Entführung.
Aber der Hindu konnte ihm nichts weiter sagen, da er nicht gewagt hatte, sich Edith zu nähern. Ihm war es ja auch nur um die Auffindung seines Herrn zu tun gewesen. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß Heideck von Kosaken fortgeführt worden sei, und war nicht müde geworden, weitere Nachforschungen anzustellen, bis er endlich mit dem angebornen Scharfsinn seiner Rasse alles herausgebracht hatte. Daß er von nun an das Los seines vergötterten Sahib wieder teilen würde, galt ihm als selbstverständlich. Und Heideck hatte nicht das Herz, schon in dieser Stunde des Wiedersehens seine Illusionen zu zerstören.
Nach Verlauf einer halben Stunde kehrte Fürst Tschadschawadse zurück. Seine heitere Miene bewies, daß er gute Nachrichten bringe.
„Es ist alles in Ordnung. Mein Wort war für den General Bürgschaft genug, und eine Anfrage in Berlin erschien ihm als überflüssig.“
„Wahrhaftig, ihr Russen treibt doch alles im großen Stil!“ rief Heideck. „Ein großes Reich, eine große Armee, eine große, weitausschauende Politik und eine große Auffassung aller Dinge.“
„Auch wegen meiner Idee, Sie in die Reihen unseres Heeres[S. 192] einzustellen, habe ich mit dem General gesprochen. Und er ist vollkommen damit einverstanden. Auch er hält die Schwierigkeiten einer Reise nach Deutschland unter den obwaltenden Umständen für fast unüberwindlich. Und er macht Ihnen das Anerbieten, mit dem Range eines Rittmeisters in seinen Stab einzutreten. Nach Berlin würden Sie ja selbst im günstigsten Fall wahrscheinlich erst kommen, wenn der Krieg längst beendet ist.“
„Ich glaube nicht, daß dieser Krieg so schnell beendigt sein wird. Bedenken Sie, daß der halbe Erdball in Flammen steht!“
„Gleichviel! Sie sollten das Anerbieten nicht zurückweisen. Wir können ja zu Ihrer Beruhigung in Berlin dieserhalb anfragen, der Feldtelegraph reicht bis Peschawar zurück, die Verbindung mit Moskau, Petersburg und Berlin ist also hergestellt.“
„Das nehme ich ohne weiteres an. Ich würde glücklich sein, wenn mir die Erlaubnis erteilt würde, in Ihren Reihen zu kämpfen.“
„Daran ist gewiß nicht zu zweifeln. Ich werde Ihnen sofort die weiße Sommer-Uniform und die eines Dragoner-Rittmeisters besorgen. Diesen Säbel aber, Herr Kamerad, werden Sie, wie ich hoffe, als ein kleines Gastgeschenk von mir annehmen.“
„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Oberst!“
„Ich begrüße Sie als den Unsrigen. Ich wäre sogar in der Lage, Ihnen sogleich einen dienstlichen Auftrag zu erteilen.“
„Nicht ohne die Genehmigung aus Berlin, mein Fürst!“
„Nun wohl, warten wir sie ab. Aber es wäre sehr schade, wenn sie sich wider unsere Erwartung verzögern würde. Der Auftrag, den ich Ihnen da verschaffen wollte, würde Sie gewiß sehr interessiert haben.“
„Und darf ich fragen — —“
„Der General beabsichtigt, ein Detachement nach Simla zu entsenden.“
„Noch Simla, der Sommerresidenz des Vizekönigs?“
„Ja.“
„Aber diese Gebirgsstadt ist doch jetzt ohne alle Bedeutung, der Vizekönig ist doch in Kalkutta geblieben?“
„Ganz recht, das schließt indessen nicht aus, daß die Nachricht von der Besetzung Simlas draußen in der Welt einigen Effekt machen würde. Und überdies könnten sich in den dortigen Regierungsbureaus möglicherweise interessante Aktenstücke befinden, von denen Kenntnis zu nehmen schon der Mühe wert sein würde.“
„Und Sie halten es für möglich, daß Seine Exzellenz mich dahin schicken könnte?“
„Da das Detachement, bei dem übrigens auch meine Dragoner, sowie Infanterie und zwei Maschinengewehre sein werden, meiner Führung anvertraut werden würde, habe ich den General gebeten, Sie der Expedition zuzuteilen.“
Heideck verstand die hochsinnige Absicht des Fürsten, und fast stürmisch schüttelte er ihm beide Hände.
„So möge der Himmel geben, daß die Erlaubnis aus Berlin rechtzeitig eintrifft. Nichts in der Welt wünsche ich so sehnlich, als mit Ihnen nach Simla gehen zu dürfen.“
Schneller fast, als es bei der starken Beschäftigung des Telegraphen zu erhoffen gewesen war, traf aus Berlin die Weisung ein, daß der Hauptmann Heideck einstweilen in der russischen Armee Dienste tun dürfe und daß es seinem Ermessen anheimgestellt werde, die erste günstige Gelegenheit zur Rückkehr nach Deutschland zu benutzen.
Er stellte sich nunmehr dem kommandierenden General vor, wurde von ihm mit Wort und Handschlag verpflichtet, und in aller Form dem nach Simla bestimmten Detachement als Rittmeister zugeteilt.
Am nächsten Morgen schon setzte sich die Truppe unter Führung des Fürsten Tschadschawadse in Bewegung.
Der Marsch führte über den östlich von Lahore gelegenen Teil des Schlachtfeldes, auf dem sich vornehmlich die Kämpfe zwischen den Sepoys und den verfolgenden russischen Reitern abgespielt hatten.
Der Anblick, den diese zerstampfte, blutgetränkte Ebene gewährte, war traurig erschütternd. Obwohl zahlreiche Inder und russische Soldaten unter der Leitung von Armee-Gendarmen mit dem Aufsuchen der Leichen beschäftigt waren, lagen doch noch überall die teilweise schrecklich entstellten Leiber der Gefallenen in denselben Stellungen, in denen sie von dem mehr oder weniger qualvollen Tode ereilt worden waren. Ein fast unerträglicher Verwesungsgeruch erfüllte die Luft und mischte sich mit dem beizenden, atemraubenden Qualm der Scheiterhaufen, auf denen man die Leichen verbrannte.
Das Gros der russischen Armee befand sich im Lager und in der Stadt. Nur die Avantgarde, von der Verfolgung der fliehenden Engländer zurückgekehrt, war südlich der Stadt vorgeschoben. Die von Peschawar abgegangenen Verstärkungen, die mit einiger Ungeduld erwartet wurden, waren noch nicht eingetroffen.
Heideck hörte, daß etwa viertausend englische Soldaten und mehr als hundert Offiziere tot oder verwundet seien, während sich dreitausend Mann und fünfundachtzig Offiziere gefangen in den Händen der Russen befanden. Die Verluste der Sepoy-Regimenter ließen sich vorläufig nicht einmal annähernd schätzen, da sich die Kämpfe über ein zu weites Gebiet hingezogen hatten.
Fürst Tschadschawadse, der jetzt bei aller Herzlichkeit gegen Heideck doch mehr die Haltung eines militärischen Vorgesetzten angenommen hatte, erzählte während des Rittes, daß die russische Armee den Weg durch die Westprovinzen nehmen, das Industal und die dem Indus zunächst liegenden Länderstrecken aber unberührt lassen würde.
„Wir werden auf Delhi marschieren,“ äußerte er, „und dann wahrscheinlich auf Cawnpore und Lucknow vorgehen.“
Das Detachement konnte die Eisenbahn, die über Amritsar und Ambala nach Simla führt, nicht benutzen, da sie zum großen Teil von den Engländern zerstört worden war. Die Schnelligkeit des Marsches war natürlich ganz von der Leistungsfähigkeit der Infanterie abhängig. Und so sehr Heideck die Frische und Ausdauer dieser abgehärteten Soldaten bewundern mußte, kam man doch für seine Wünsche viel zu langsam vorwärts.
Wie glücklich wäre er gewesen, wenn er mit seiner Schwadron im Geschwindmarsch auf dem Wege hätte vordringen dürfen, den die unglückliche Edith hatte einschlagen müssen!
Schon am zweiten Tage zeigten sich in der Ferne deutlich schön umrissene blaue und violette Gebirgszüge: — das dem Himalaja vorgelagerte Hügelland, dessen niedrige Sommertemperatur den[S. 196] Vizekönig und die hohen Beamten der indischen Regierung alljährlich bestimmte, sich aus dem unerträglich heißen und dunstigen Kalkutta in das kühle und gesunde Simla zu flüchten. Auch die Familien der im Pendschab und in den westlichen Provinzen wohnenden reichen englischen Kaufleute und Beamten pflegten während der heißen Jahreszeit hier ihren Aufenthalt zu nehmen.
Die Vegetation wurde immer reicher und üppiger. Man kam durch prächtige Dschungeln, die stellenweise ganz den Eindruck künstlich angelegter Parks hervorbrachten. Scharen von Affen tummelten sich in den Banianen und Palmen und machten die waghalsigsten Sätze von einer Luftwurzel zur anderen. Die Annäherung der Soldaten schien diesen munteren Geschöpfen sehr wenig Furcht einzuflößen; denn sie blieben oft unmittelbar über ihren Köpfen sitzen und betrachteten mit ebensoviel Neugier als augenfälligem Wohlgefallen das ungewohnte militärische Schauspiel. Buntgefiederte Papageien erfüllten die Luft mit ihrem durchdringenden Gekreisch, und hier und da wurde ein Rudel Antilopen sichtbar, die indessen stets in rascher Flucht davongingen, wobei ihre merkwürdige Art, mit allen vier Beinen zugleich vom Boden empor zu springen, den wunderlichsten und ergötzlichsten Anblick gewährte.
Am dritten Tage kreuzte ein farbenbunter Reiterzug den Weg des Detachements. Es waren augenscheinlich vornehme Inder in halb einheimischer, halb englischer Kleidung auf vortrefflichen Hengsten, wie sie aus der Kreuzung von arabischem und Guzerat-Blut hervorgehen. An ihrer Spitze ritt ein prachtvoll gekleideter, dunkelbärtiger Mann auf einem Schimmel von besonderer Schönheit.
Er hielt an, um einige Worte höflicher Begrüßung mit dem russischen Obersten auszutauschen. Als er sich dann mit seinen lanzenbewehrten Reitern wieder in Bewegung gesetzt hatte, um den Blicken der Nachschauenden gar bald im dichten Dschungel zu entschwinden, winkte der Fürst Heideck an seine Seite.
„Eine Neuigkeit für Sie, Herr Kamerad! — Der vornehme[S. 197] Inder, mit dem ich soeben sprach, war der Maharadjah von Sabathu, und er ist eben im Begriff, seinen auf einem Jagdausfluge begriffenen Gast und Freund, den Maharadjah von Chanidigot, zu suchen.“
„Den Maharadjah von Chanidigot?“ rief Heideck mit funkelnden Augen. „Der Elende wäre also wirklich in unserer unmittelbaren Nähe?“
„Das von den beiden Fürsten aufgeschlagene Jagdlager befindet sich in unserer Marschrichtung, und der Maharadjah hat mich eingeladen, mit meinen Leuten diese Nacht dort zu kampieren. Ich hätte in der Tat nicht übel Lust, diese freundliche Einladung anzunehmen.“
„Und haben Sie ihn nicht nach Mrs. Irwin gefragt, mein Fürst?“
Das Gesicht des Obersten hatte bei dieser Frage Heidecks einen befremdlich ernsten, beinahe abweisenden Ausdruck angenommen.
„Nein.“
„Aber es ist doch mehr als wahrscheinlich, daß sie sich ebenfalls in seinem Lager befindet.“
„Wohl möglich, obwohl einstweilen noch jeder Beweis dafür fehlt.“
„Sie werden Nachforschungen nach ihr anstellen, nicht wahr? Werden den Maharadjah zwingen, uns Aufklärung über ihren Verbleib zu geben?“
„Ich dürfte ihn höchstens in höflicher Form um eine Aufklärung ersuchen. Aber auch das kann ich Ihnen noch nicht mit Sicherheit versprechen.“
Heideck war auf das Aeußerste überrascht. Er konnte sich die Wandlung in dem Benehmen des Fürsten durchaus nicht erklären. Und er wäre geneigt gewesen, seine sonderbaren Antworten für einen, freilich nicht sehr zarten Scherz zu nehmen, wenn nicht der eisige, undurchdringliche Ausdruck seines Gesichts jede derartige Vermutung von vornherein ausgeschlossen hätte.
„Aber ich verstehe nicht, mein Fürst —“ sagte er betroffen.[S. 198] „Sie hatten doch noch vor wenig Tagen die Güte, mir Ihren tatkräftigen Beistand in dieser Angelegenheit zu versprechen.“
„Ich bin zu meinem Bedauern genötigt, die Zusage zurückzunehmen. Denn ich habe strikte Weisung von Seiner Exzellenz, alles zu vermeiden, was zu einer Reibung mit den eingeborenen Fürsten führen könnte. Daß man gerade auf die Person des Maharadjah von Chanidigot einen ganz besonderen Wert legt, war mir zur Zeit unserer Unterredung nicht bekannt. Er ist der Erste gewesen, der sich offen für Rußland erklärt hat und dessen Truppen zu uns übergingen. Der glückliche Ausgang der Schlacht bei Lahore ist vielleicht zum nicht geringen Teil ihm zu verdanken. Sie begreifen, Herr Rittmeister, daß es den übelsten Eindruck hervorrufen würde, wenn wir mit einem für uns so wichtigen Mann aus geringfügiger Ursache in Zwistigkeiten gerieten.“
„Aus geringfügiger Ursache?“ fragte Heideck ernst, und seine Augen funkelten hell auf vor Erregung.
„Nun ja, was Ihnen von so großer Bedeutung erscheint, ist doch von einem höheren politischen Standpunkte aus betrachtet sehr klein und unwichtig. Sie können unmöglich erwarten, daß die politischen Interessen eines Weltreiches den Interessen einer einzigen Dame geopfert werden, die noch dazu ihrer Nationalität nach zu unsern Gegnern gehört.“
„Sie sollte also hilflos der Bestialität dieses Wüstlings preisgegeben sein?“
Fürst Tschadschawadse zuckte die Achseln; aber er streifte zugleich den neben ihm reitenden Heideck mit einem sonderbaren Seitenblick, der ungefähr zu sagen schien:
‚Wie schwerfällig bist du doch, mein Lieber! Und wie langsam von Begriffen!‘
Der andere aber verstand diese stumme Augensprache nicht. Und nach einem kleinen Schweigen konnte er sich nicht enthalten, im Tone schmerzlichen Vorwurfs zu äußern:
„Weshalb, mein Fürst, erwirkten Sie mir so großmütig die Teilnahme an dieser Expedition, wenn ich doch zugleich zur Untätigkeit gezwungen werden sollte, in einer Sache, die mir, wie Sie wußten, augenblicklich mehr als alles andere am Herzen liegt!“
„Ich erinnere mich nicht, Ihnen einen solchen Zwang auferlegt zu haben, Herr Rittmeister! Es war lediglich meine Stellungnahme zu der Sache, die ich Ihnen klar zu machen wünschte. Und ich hoffe, Sie haben mich vollkommen verstanden. Ich will und darf mit der Angelegenheit der Mrs. Irwin offiziell nichts zu schaffen haben, und ich wünsche, nichts davon zu hören. Daß ich mich andererseits nicht in Ihre Privatverhältnisse einmischen und mich nicht darum kümmern werde, ist selbstverständlich. Es genügt mir vollständig, wenn Sie mich nicht in irgend welche Verlegenheit und Zwangslage bringen.“
Das war ja allerdings viel weniger, als Heideck nach den feurigen Versprechungen seines Freundes erhofft hatte. Aber er mußte sich bei ruhiger Ueberlegung sagen, daß der Fürst in der Tat kaum anders handeln durfte und daß er bis an die äußerste Grenze des Möglichen ging, wenn er ihm nicht geradezu verbot, irgend etwas zu Gunsten der unglücklichen Edith zu unternehmen. Heidecks Entschluß, das Aeußerste für die Befreiung des geliebten Weibes zu wagen, wurde dadurch ja keinen Augenblick erschüttert; aber er wußte nun, daß er mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen müßte und daß er auf niemandes Beistand zu rechnen habe — eine Erkenntnis, die nicht gerade geeignet war, ihn mit freudigen Hoffnungen zu erfüllen.
Nach kurzem Marsche erreichte das Detachement den unmittelbar am Fuße der ersten Hügel gelegenen weiten, von mächtigen Bäumen beschatteten Platz, auf dem der Maharadjah sein improvisiertes Jagdlager aufgeschlagen hatte. Eine große Anzahl von Zelten war unter den Bäumen aufgerichtet worden. Ein buntes Menschengewimmel bewegte sich zwischen ihnen.
Daß er selber nicht das Lager nach Edith Irwin durchsuchen konnte, ohne die Aufmerksamkeit der Inder zu erregen und damit den Erfolg seines Vorhabens von vornherein zu vereiteln, war Heideck vollkommen klar. Und er hatte niemanden, den er mit der bedeutsamen Aufgabe betrauen konnte, als den treuen Morar Gopal, der ihm trotz aller drohenden Kriegsschrecknisse auch auf diesem Marsche nach Simla gefolgt war, obgleich ihm Heideck seine Entlassung unter Zahlung eines mehrmonatlichen Lohnes angeboten hatte.
So nahm er ihn denn, nachdem das Signal zum Halten und Absitzen gegeben worden war, beiseite und erteilte ihm seine Instruktionen, indem er ihm zugleich eine Handvoll Rupien für die etwa nötigen Bestechungen einhändigte.
Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte der Hindu seinen Worten, und das Mienenspiel seines klugen, dunklen Gesichts verriet, ein wie lebhaftes persönliches Interesse diese Angelegenheit seines Herrn für ihn hatte.
„Es wird alles geschehen, wie du es wünschest, Sahib!“ sagte er, und war bald nachher scheinbar spurlos in dem bunten Gewühl der schier zahllosen Dienerschaft der beiden indischen Fürsten verschwunden.
Während die Russen etwas abseits von dem Feldlager ihre Kochlöcher gruben und alle sonstigen Vorbereitungen für das Biwak trafen, hatte Heideck Gelegenheit, die Großartigkeit zu bewundern, mit der diese indischen Fürsten ihre Jagdvergnügungen in Szene setzten.
Die Zelte der beiden Maharadjahs hatten fast die Größe von einstöckigen Bungalos, und als er durch den offenen Eingang des einen in das Innere blickte, sah Heideck, daß es verschwenderisch mit roter, blauer und gelber Seide ausgeschlagen und mit den kostbarsten Teppichen ausgestattet war.
Wohl ein halbes Hundert kleinerer Zelte war für die Aufnahme des Gefolges und der Dienerschaft bestimmt. Hinter ihnen aber lagerte eine ganze Herde von Kamelen und Elefanten, die das Gepäck und das Material für die Zelte getragen hatten. Das Blöken zahlloser Hammel mischte sich in das hundertstimmige Lärmen der geschäftig hin- und herlaufenden Inder, und Heideck schätzte die Zahl der Buckelochsen und mit Kampierleinen gefesselten Pferde, die neben dem Lager weideten, auf mehr als dreihundert.
Der Maharadjah von Sabathu betrachtete die Russen, die auf seine Einladung hier Rast gemacht, als seine Gäste, und er übte die Pflichten der Gastfreundschaft mit echt indischer Freigebigkeit. Er ließ den Soldaten so viele Hammel und anderen Proviant zur Verfügung stellen, daß sie sich daran für manche früher ausgestandene[S. 202] Entbehrung überreich schadlos halten konnten. Die Offiziere aber wurden feierlich zu dem in seinem Zelte veranstalteten Festmahl eingeladen.
Heidecks Erwartung, bei dieser Gelegenheit den Maharadjah von Chanidigot wiederzusehen und vielleicht eine Möglichkeit zur Aussprache mit ihm zu finden, wurde allerdings gründlich getäuscht.
Als er von seinem Rundgang durch das Zeltlager, bei dem er nirgends eine Spur von Edith gefunden, in das russische Biwak zurückkehrte, erfuhr Heideck aus dem Munde des Fürsten Tschadschawadse, daß der Maharadjah von Chanidigot auf seinem heutigen Jagdausfluge einen leichten Unfall erlitten habe und sich in seinem Zelte, wohin man ihn eben gebracht, unter ärztlicher Behandlung befinde.
Es hieß, daß die Hauer eines Ebers, der seinem Pferde zwischen die Beine gerannt war, ihn empfindlich am Fuße verwundet hätten, und es war jedenfalls gewiß, daß er heute für niemanden mehr sichtbar werden würde.
Bei dieser Gelegenheit erfuhr Heideck auch, welchen Umständen man die Begegnung mit den beiden indischen Fürsten zu danken habe.
Der Maharadjah von Chanidigot, dem es sehr wohl bekannt war, daß die Engländer ihn wegen Hochverrats zum Tode verurteilt hatten, war aus seiner Residenz geflohen. Mit hundert Reitern und vielen Kamelen, die den wertvollsten Teil seiner beweglichen Schätze trugen, war er im Rücken der vordringenden russischen Armee aus dem Bereiche der britischen Macht nordwärts gezogen. Er hatte seinen Freund, den ebenfalls mohammedanischen Maharadjah von Sabathu, besucht, und beide Fürsten hatten sich zu ihrer größeren Sicherheit hierher an den Fuß des Gebirges begeben, wo sie einstweilen trotz der aufgeregten Zeiten mit der Sorglosigkeit echter Grandseigneurs den Jagdvergnügungen oblagen.
Wahrscheinlich würde der verräterische Despot von Chanidigot es vorgezogen haben, direkt nach Simla zu gehen, und nur die[S. 203] auch den Russen zugekommene Nachricht, daß in Ambala noch englische Truppen ständen, mochte ihn veranlaßt haben, auf halbem Wege Halt zu machen.
War doch auch Fürst Tschadschawadse durch diese Kunde bestimmt worden, die beabsichtigte Route über Ambala zu verlassen und in gerader Linie durch das Dschungel vorzurücken. So konnte er aller Voraussicht nach Simla ohne Kampf erreichen, konnte aber auch, wenn sich feststellen ließ, daß die Besatzung von Ambala nicht sehr stark war, die Engländer überraschend von Norden her angreifen. In Friedenszeiten bildete Ambala ja eines der größeren Kantonnements, jetzt aber ließ sich wohl vermuten, daß die Hauptmasse der dort stehenden Truppen nach Lahore herangezogen worden war. —
Der ganze Luxus einer indischen Hofhaltung wurde bei dem Festmahle des Maharadjah entfaltet. An der mit rotem Samt gedeckten, verschwenderisch mit goldenen und silbernen Gefäßen bestellten Tafel saßen die russischen Offiziere in bunter Reihe mit den vornehmen Begleitern der beiden Fürsten. Man speiste vortrefflich, und der Champagner floß in unerschöpflichen Mengen. Die Russen ließen sich nicht lange zum Trinken nötigen, aber auch die mohammedanischen Inder standen in diesem Punkte kaum hinter ihnen zurück. Allerdings war ihnen ja der Weingenuß durch die Satzungen ihrer Religion verboten; aber man wußte dies Gebot in Bezug auf den Champagner dadurch zu umgehen, daß man ihn auf den harmlosen Namen ‚Brauselimonade‘ taufte, eine Umschreibung, die seiner anfeuernden Wirkung natürlich nicht den geringsten Abbruch tat. Die gegen den Alkohol weniger widerstandsfähigen Inder waren vielmehr durchweg viel schneller berauscht als ihre neuen europäischen Freunde. Und es konnte nicht ausbleiben, daß unter dem Einfluß des erheiternden Trankes bald eine allgemeine Verbrüderung eintrat.
Der Maharadjah selbst hielt eine blumenreiche Rede zum Preise der russischen Sieger, die als langersehnte Befreier Indiens vom[S. 204] britischen Joche gekommen seien. Allerdings mußte er selbst sich dabei der verhaßten englischen Sprache bedienen, der einzigen, deren er außer seiner Muttersprache einigermaßen mächtig war, und Fürst Tschadschawadse mußte seine Worte ins Russische übertragen, damit sie allen Gefeierten verständlich wurden.
Trotz dieses etwas umständlichen Verfahrens aber weckten sie eine flammende Begeisterung, und es kam bis zu Umarmungen und brüderlichen Küssen.
Als die allgemeine Fröhlichkeit ihren Gipfel erreicht hatte, erschienen zwei Bajaderen, die zum Hofhalt des Maharadjah von Sabathu gehörten, indische Schönheiten, deren weibliche Reize wohl auch das Blut verwöhnter Europäer in Wallung bringen konnten. In goldschimmernde Röcke und Jäckchen gekleidet, die um die Taille eine Handbreit der hellbraunen Haut frei ließen, mit Goldmünzen auf dem blauschwarzen Haar, führten sie auf einem inmitten des Zeltes ausgebreiteten Teppich zu dem eintönigen Klang seltsamer Musikinstrumente ihre Tänze aus. Die bloßen Arme, die Knöchel und Zehen ihrer kleinen, nackten Füße waren mit perlenbesetzten Goldreifen und juwelenfunkelnden Ringen geschmückt. Und wenn auch ihre Bewegungen nichts von der bacchantischen Wildheit anderer Nationaltänze hatten, so war das anmutige Spiel der schlanken, geschmeidigen Glieder doch verführerisch genug, um das Entzücken der Zuschauer zu erregen. Die Inder warfen den Tänzerinnen Silbermünzen zu, die Russen aber klatschten nach heimischer Sitte Beifall und wurden nicht müde, in stürmischen Zurufen eine Wiederholung zu verlangen.
Einer nur blieb verstimmt und sorgenvoll inmitten der allgemeinen Ausgelassenheit. Und dieser eine war Heideck, der jüngste Rittmeister der russischen Armee.
Er wußte, daß es der Schlauheit Morar Gopals ein leichtes sein würde, ihn zu finden, falls er ihm etwas zu melden hatte. Und daß der Hindu nicht erschien, war ihm ein entmutigender Beweis,[S. 205] daß es dem Diener bisher nicht gelungen sei, Ediths Verbleib zu ermitteln oder sich Gewißheit über ihr Schicksal zu verschaffen.
Was half es ihm, daß er sich in unablässigem Grübeln bereits einen Plan zu ihrer Befreiung zurechtgelegt hatte, wenn es keine Möglichkeit gab, sich mit ihr in Verbindung zu setzen!
In der Annahme, daß sie in einem Haremszelte gefangen gehalten würde, hatte er beabsichtigt, Morar Gopal mit einem Briefe zu ihr zu schicken, fest überzeugt, daß es dem verschlagenen Inder durch List und Bestechung möglich werden würde, zu ihr zu gelangen. Er hatte schon vor der Tafel mit einem der indischen Radjahs wegen des Ankaufs eines Ochsenwagens verhandelt, und wenn sich Edith durch seinen Brief zu einem Fluchtversuch bewegen ließ, dürfte es nach seinem Dafürhalten nicht allzu schwierig sein, sie unter Morar Gopals Schutze nach Ambala zu bringen, wo sie sich wieder bei englischen Landsleuten befand.
Aber dieser Plan blieb gegenstandslos, so lange er nicht einmal wußte, wo Edith sich befand. Und unfähig, diesen martervollen Zustand der Ungewißheit länger zu ertragen, war er eben im Begriff, das Zelt zu verlassen, um auf jede Gefahr hin selbst nach dem geliebten Weibe zu forschen, als ein russischer Dragoner hinter seinen Stuhl trat und ihm in dienstlicher Haltung meldete, daß eine Dame den Herrn Rittmeister draußen vor dem Zelte erwarte.
Von der beseligenden Hoffnung erfüllt, daß es Edith sein könnte, sprang er auf und eilte hinaus. Aber sein sehnsüchtiger Blick suchte vergebens nach Kapitän Irwins Witwe. Er gewahrte statt ihrer ein schlankes, weibliches Wesen in dem kurzen Jäckchen und dem fußfreien, bunten Rock, den er auf seinen Reisen bei den georgischen Bergbewohnerinnen gesehen hatte. Haar und Gesicht des Mädchens waren fast ganz unter einem verhüllenden Kopftuche verborgen. Und erst, als sie dasselbe bei seiner Annäherung ein wenig zurückschob, erkannte er, wen er vor sich habe.
„Georgij — du hier!“ rief er überrascht. „Und in solcher Kleidung?“
Er hatte wohl Ursache, erstaunt zu sein; denn er hatte den schönen, blonden Pagen, dem er zu allermeist für die Rettung seines Lebens verpflichtet war, seit jener Begegnung auf dem Wege zur Richtstätte nicht mehr wiedergesehen.
Als er am Abend des für ihn so schicksalsreichen Tages den Fürsten Tschadschawadse nach Georgij gefragt hatte, war ihm nur eine kurze, ausweichende Antwort zu Teil geworden, und die Stirn des Fürsten hatte sich so finster bewölkt, daß er wohl erkannte, es müsse sich etwas Besonderes zwischen den beiden ereignet haben, so daß es ihm zweckmäßiger erschienen war, den Namen der Cirkassierin nicht wieder zu erwähnen.
Vergebens hatte er sich dann bei dem Aufbruch des Detachements nach dem von seinem ‚Gebieter‘ sonst unzertrennlichen Pagen umgesehen, und nur die seinem Herzen so viel näher liegende Sorge um Edith mochte Schuld daran sein, daß er sich nicht allzu viele Gedanken über das rätselhafte Verschwinden des verkleideten Mädchens gemacht hatte.
Sie hier, in so weiter Entfernung von der russischen Hauptarmee, und in weiblicher Kleidung wiederzufinden, hatte er sicherlich am allerwenigsten vermutet. Aber die Cirkassierin schien nicht geneigt, ihm umständliche Aufklärungen zu geben.
„Ich habe dich gebeten, zu mir herauszukommen, Herr,“ sagte sie, „weil ich nicht wollte, daß der Fürst mich erblickt. Ich bin deinem indischen Diener begegnet. Und er hat mir von der englischen Dame erzählt, die der Maharadjah von Chanidigot dir geraubt hat.“
„Nicht mir hat er sie geraubt, Georgij, denn ich habe keine Rechte auf sie. Sie hat sich nur unter meinen Schutz gestellt, und deshalb ist es meine Pflicht, zu ihrer Befreiung alles zu tun, was ich vermag.“
Das Mädchen sah ihn an, und es war wie ein Funkeln verhaltener Leidenschaft in ihren schönen Augen.
„Warum sprichst du nicht die Wahrheit, Herr? Sage doch, daß du sie liebst! Sage mir, daß du sie liebst, und ich will sie dir zurückbringen — noch an diesem Abend!“
„Du, Georgij? Wie, in aller Welt, wolltest du das anfangen? Weißt du denn, wo die Dame sich befindet?“
„Ich weiß es von deinem Diener Morar Gopal, Herr! Sie ist dort, in jenem Zelte des Maharadjah von Chanidigot, vor dessen Tür die beiden Inder Wache halten. Hüte dich wohl, dort Einlaß zu begehren; denn die Wächter werden dich eher in Stücke hauen, als daß sie dich auch nur einen Schritt in das Zelt tun ließen.“
„Es mag wohl sein, daß du recht hast,“ sagte Heideck, dessen Brust die endlich erlangte Gewißheit von der Nähe der angebeteten Frau mit einem beseligenden Glücksgefühl erfüllte. „Wie aber wolltest du zu ihr gelangen?“
„Ich bin ein Weib, und ich weiß, wie man diese armseligen, indischen Tröpfe behandeln muß; der Maharadjah von Chanidigot ist krank, und er mag in seinen Schmerzen wohl an alles andere eher denken, als an die Freuden der Liebe. Diese Gunst des Zufalls mußt du benutzen, Herr! Und noch in dieser Nacht muß geschehen, was überhaupt geschehen soll.“
„Gewiß! Jede verlorene Minute bedeutet ja vielleicht eine furchtbare Gefahr für Mrs. Irwin. Aber wenn du einen Plan hast, sie zu retten, so sage mir — —“
Die Cirkassierin schüttelte den Kopf.
„Weshalb von Dingen sprechen, die erst noch getan werden sollen? Kehre zurück zu deinem Feste, Herr, damit niemand einen Argwohn gegen dich hegt. Um Mitternacht wirst du die englische Dame in deinem Zelte finden. Oder du wirst auch mich niemals wiedersehen.“
Sie wandte sich zum Gehen; aber nachdem sie wenige Schritte getan hatte, kehrte sie sich noch einmal nach ihm zurück.
„Du wirst dem Fürsten nicht sagen, daß ich hier bin, hörst du? — Noch ist es nicht an der Zeit, daß er es erfährt.“
Damit war sie verschwunden, ehe noch Heideck eine weitere Frage hatte tun können. Und so wenig er sich auch nach dem eben Erlebten aufgelegt fühlen mochte, in den nachgerade ziemlich wüst gewordenen Lärm des Banketts zurückzukehren, sah er doch ein, daß ihm kaum etwas anderes übrig blieb, da eine Einmischung in die ihm unbekannten Pläne der Cirkassierin schwerlich von irgend welchem Nutzen für Edith gewesen wäre.
Aber wenn ihm die Viertelstunden schon vorher schier endlos erschienen waren, so schlichen sie jetzt vollends mit unerträglicher Langsamkeit dahin. Er sah und hörte kaum noch etwas von dem, was um ihn her geschah. Der neben ihm sitzende Radjah mühte sich vergebens, in seinem gebrochenen Englisch eine Unterhaltung in Fluß zu bringen, und überließ endlich kopfschüttelnd den schweigsamen Fremdling seinen Grübeleien, die inmitten dieser hochgehenden Fröhlichkeit für ihn allerdings etwas sehr Verwunderliches haben mußten.
Kurz vor Mitternacht, noch ehe Fürst Tschadschawadse und die übrigen Kameraden an den Aufbruch dachten, verließ Heideck abermals das Prunkzelt des Maharadjah und lenkte seine Schritte dem durch den rötlichen Schein der Biwakfeuer weithin kenntlich gemachten russischen Lager zu, in welchem ebenfalls noch die lauteste Lustigkeit herrschte.
Er hegte im Grunde sehr wenig Hoffnung, daß die Cirkassierin ihr kühnes Versprechen eingelöst habe; denn was sie da auf sich genommen hatte, mußte ihm ja so gut wie unausführbar erscheinen. Aber sein Herz klopfte doch in ungestümen Schlägen, als er die Leinwand zurückschlug, die den Eingang des ihm zugewiesenen Zeltes verschloß.
Auf dem Klapptisch inmitten des kleinen Raumes standen neben einer brennenden Laterne zwei angezündete Kerzen. Und bei ihrem Schein erblickte Heideck — nicht Edith Irwin, wohl aber den schönsten[S. 209] jungen Radjah, der ihm jemals unter Indiens strahlendem Himmel vor die Augen gekommen war.
Eine Sekunde lang stand er ungewiß; denn der tannenschlanke Jüngling in der von einer roten Schärpe umgürteten Seidenbluse, den englischen Reithosen und den zierlichen kleinen Stiefelchen hatte ihm den Rücken zugewandt, so daß er sein Gesicht nicht sehen konnte, und das Haar war vollständig unter dem Turban von rosa und gelb gestreiftem Seidenmusselin verborgen. Aber die glückselige Ahnung, die ihm zuflüsterte, wer in dieser anmutigen Verkleidung steckte, konnte unmöglich lügen. Mit zwei raschen Schritten war er an der Seite des feingliedrigen, indischen Jünglings, und überwältigt von einem Sturm leidenschaftlicher Empfindungen, schloß er ihn im nächsten Augenblick, alle Rücksichten und trennenden Schranken vergessend, mit einem jauchzenden Jubelruf in seine Arme.
„Edith! — Meine Edith!“
„Mein geliebter Freund!“
Was weder in den Stunden traulichen Alleinseins noch in den Augenblicken der gemeinsam bestandenen höchsten Gefahr über ihre Lippen gekommen war, in der überschwenglichen Wonne dieses Wiedersehens drängte es sich unaufhaltsam aus ihren Herzen: das Geständnis einer Liebe, die für sie längst den ganzen Inhalt ihres Lebens ausmachte.
Es währte lange, bis die beiden Liebenden ruhig genug geworden waren, sich gegenseitig die Erklärungen zu geben, die ihnen das volle Verständnis der letzten, fast märchenhaften Ereignisse und Fügungen erschlossen.
Heideck verlangte natürlich vor allem, zu wissen, wie es möglich gewesen war, daß Edith sich hatte entführen lassen, ohne Lärm zu schlagen und den Beistand ihrer Umgebung in Anspruch zu nehmen. Was sie ihm erzählte, war der ergreifendste Beweis ihrer Liebe zu ihm. Die Kreaturen des Maharadjah mußten auf irgend eine Weise Kenntnis von Heidecks Verhaftung und Verurteilung erhalten haben, und sie hatten nicht vergebens auf Ediths Anhänglichkeit an ihren Lebensretter gerechnet.
Man erklärte ihr, daß ein einziges Wort des Maharadjah hinreichen würde, den tollkühnen Deutschen zu vernichten, und daß sie nur dann eine Hoffnung hegen dürfe, ihn vor dem Aeußersten zu bewahren, wenn sie Seine Hoheit persönlich um Gnade für ihn bäte. Obwohl sie keinen Zweifel darüber hegte, welche schändliche Absicht sich hinter allem verbarg, hatte Edith in ihrer Herzensangst um das Leben des geliebten Mannes nicht gezögert, den Leuten zu folgen, die sie zum Maharadjah zu führen versprochen, und die sich in heuchlerischen Versicherungen erschöpften, daß ihr kein Leid widerfahren würde. Sie hatte so viele Beweise für die Rachsucht und Grausamkeit dieses indischen Despoten erhalten, daß sie von seinem Haß das schlimmste für Heideck befürchtete und daß sie entschlossen[S. 211] war, im schlimmsten Fall, wenn nicht ihre weibliche Ehre, so doch ihr Leben für seine Errettung zu opfern.
Der Maharadjah hatte sie mit großer Zuvorkommenheit empfangen und ihr versprochen, seinen Einfluß zu Gunsten des als Spion und Verräter von den Russen gefangen genommenen Deutschen geltend zu machen. Aber er hatte zugleich ziemlich deutlich durchblicken lassen, welchen Preis er dafür verlangen würde, und er hatte sie von dem Augenblick an, wo sie selbst sich in seine Hände geliefert, wie eine mit großem Respekt aber zugleich mit noch größerer Wachsamkeit behandelte Gefangene gehalten. Jeder Verkehr mit anderen Personen als der indischen Dienerschaft des Maharadjah war ihr vollständig abgeschnitten worden, und sie hatte sich keiner Täuschung darüber hingegeben, welches Los ihrer warte, sobald der Fürst sich in irgend einem von den kriegerischen Ereignissen unberührten Gebirgsnest wieder ganz sicher wußte.
Wohl hatte sie sich in dieser Gewißheit beständig mit dem Gedanken an Flucht getragen; aber die Furcht, damit das Schicksal ihres unglücklichen Freundes zu besiegeln, hatte sie noch mehr als das immer rege Mißtrauen ihrer Wächter von der Ausführung zurückgehalten.
Um so überschwenglicher war die Freude gewesen, als an diesem Abend Morar Gopal in Begleitung der Cirkassierin in dem Frauenzelte erschienen war, um sie von den fast unerträglichen Qualen der Ungewißheit über Heidecks Geschick zu erlösen.
Den Zutritt zu der sonst so sorgsam gehüteten Gefangenen hatte der schlaue Hindu sich und seiner Begleiterin dadurch zu verschaffen gewußt, daß er den wachehaltenden Indern vorlog, der Maharadjah habe das in seiner Gesellschaft befindliche Mädchen zur Dienerin für die englische Dame bestimmt. Mit wenigen geflüsterten Worten hatte er Edith von allem unterrichtet, was ihr für den Augenblick zu wissen not tat. Und nachdem er sich zurückgezogen, hatte niemand in ihrer Umgebung etwas Auffälliges darin[S. 212] gefunden, daß sie eine Weile mit der neuen Dienerin allein zu bleiben wünschte. Dies Alleinsein aber hatte sie benutzt, um mit Hilfe der Cirkassierin die von ihr in einem Paket mitgebrachten leichten indischen Männerkleider anzulegen. Die Wachen, durch den Genuß von Spirituosen berauscht, hatten den schlanken, jungen Radjah, in den sie sich verwandelt, unbehelligt fortgehen lassen, und Morar Gopal, der sie an einem verabredeten Ort in der Nähe erwartete, hatte sie zu dem Zelte Heidecks geführt, wo sie sich — für den Augenblick wenigstens — als in Sicherheit betrachten durfte.
„Aber Georgij?“ fragte der Hauptmann nicht ohne Besorgnis. „Sie ist in dem Frauenzelt des Maharadjah zurückgeblieben? Wie nun, wenn man entdeckt, welchen Anteil sie an deiner Flucht gehabt?“
„Dieser Gedanke quälte auch mich. Aber das heldenmütige Mädchen versicherte mir immer wieder, daß sie schon Gelegenheit finden würde, sich aus dem Staube zu machen, und daß sie in keinem Fall etwas zu fürchten hätte, sobald sie sich auf den Fürsten Tschadschawadse beriefe.“
„Das dürfte allerdings zutreffen. Aber es stimmt schlecht zu ihrem Verlangen, die Tatsache ihrer Anwesenheit im Lager vor dem Fürsten als ein Geheimnis zu bewahren. Ueberhaupt ist mir das Benehmen des Mädchens völlig rätselhaft. Ich begreife nicht, was sie veranlassen konnte, sich mit so bewunderungswürdiger Selbstlosigkeit für uns zu opfern, die wir für sie doch eigentlich nur gleichgültige Fremde sind. Die Aussicht auf eine Belohnung war es sicherlich nicht, die sie dazu bestimmte. Denn sie hat den ganzen Stolz ihres Stammes, und ich bin gewiß, daß sie jedes derartige Anerbieten als eine Beleidigung empfinden würde.“
„So glaube auch ich. Aber ich bin vielleicht nicht so sehr weit davon entfernt, ihre wahren Beweggründe zu erraten.“
„Und willst du mir nicht offenbaren, was du vermutest?“
Edith zauderte ein wenig; aber sie gehörte nicht zu den Frauen, die eine kleinliche Regung die Oberhand gewinnen lassen in ihrem Herzen.
„Ich vermute, mein Freund, daß sie dich liebt,“ sagte sie mit einem kleinen, reizenden Lächeln. „Einige unbedachte Aeußerungen und das Feuer, das in ihren Augen aufleuchtete, sobald wir von dir sprachen, haben es mir fast zur Gewißheit gemacht. Daß sie trotzdem ihre Hand dazu bot, mich zu befreien, ist unter diesen Umständen gewiß ein um so größerer Beweis ihres hochsinnigen Charakters. Aber ich begreife es vollkommen. Ein liebendes Weib, wenn von Natur edel veranlagt, ist jeder Selbstverleugnung fähig.“
Heideck schüttelte den Kopf.
„Ich glaube doch, daß dein Scharfblick dich diesmal im Stich gelassen hat,“ widersprach er. „Sie ist meiner festen Ueberzeugung nach die Geliebte des Fürsten Tschadschawadse, und nach allem, was ich von ihrem Verkehr gesehen habe, halte ich es für ganz undenkbar, daß sie ihm um eines Fremden willen, mit dem sie kaum hundert gleichgültige Worte gewechselt, die Treue brechen sollte.“
„Nun, wir werden ja vielleicht noch Gelegenheit haben, festzustellen, ob ich mich in einem Irrtum befinde oder nicht. Jetzt, mein Freund, möchte ich vor allem wissen, was du weiter über mich beschlossen hast.“
Heideck war in einiger Verlegenheit, ihr darauf zu antworten, und er sprach zögernd von seiner Absicht, sie mit Morar Gopal nach Ambala zu schicken. Edith aber ließ ihn nicht ausreden. Mit einer entschieden verneinenden Geberde fiel sie ihm in die Rede.
„Fordere von mir, was du willst — nur nicht, daß ich dich noch einmal verlasse! Was sollte ich in Ambala ohne dich? Ich habe so Unsägliches gelitten, seit man dich in Anar Kali vor meinen Augen weggeführt, daß ich tausendmal eher sterben will, ehe ich mich noch einmal der Folter solcher Ungewißheit aussetze.“
Ein Geräusch hinter seinem Rücken veranlaßte Heideck, den Kopf zu wenden. Er sah, daß sich der Türvorhang des Zeltes ein wenig lüftete und daß es Morar Gopal gewesen war, der durch ein diskretes Räuspern seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versucht hatte.
Mit freundlichem Zuruf veranlaßte er den treuen Burschen, vollends einzutreten, und der Dank, den er ihm aussprach, war nicht mehr die herablassende Anerkennung, die der Herr seinem geschickten Diener spendet, sondern der Dank eines Freundes.
Das Mienenspiel des Hindu verriet, wie glücklich ihn die Güte seines abgöttisch von ihm verehrten Herrn machte; aber nicht für einen einzigen Augenblick änderte er seine demütig bescheidene Haltung. Und ehrerbietig wie immer sagte er:
„Ich bringe gute Neuigkeiten, Sahib! Einer vom Gefolge des Maharadjah, den ich durch einige deiner Rupien gesprächig gemacht habe, hat mir erzählt, daß der Maharadjah von Sabathu den Russen vierzig Reiter mitgeben werde, die ihnen die besten Wege nach Simla zeigen sollen. Dies Land hier steht ja unter seiner Herrschaft, und seine Leute kennen bis hoch ins Gebirge hinauf jeden Winkel. Wenn die Lady sich morgen in der Tracht eines Radjah diesen Reitern anschließt, wird sie gewiß unbehelligt von hier entkommen.“
Die Trefflichkeit und Ausführbarkeit dieses Planes leuchtete ohne Weiteres ein, und Heideck erkannte aufs neue, welchen Schatz ihm ein gütiger Zufall mit diesem indischen Boy beschert hatte. Auch Edith erklärte sich einverstanden, da sie sah, wie freudig Heideck dem Vorschlage zustimmte, wenngleich die Aussicht, sich am hellen Tage und vor aller Welt in dieser Männerkleidung zeigen zu müssen, ihr weibliches Empfinden peinlich berührte.
Sie fragte Morar Gopal, ob er inzwischen etwas von Georgij gehört habe, und der Hindu nickte.
„Ich sprach sie vor einer halben Stunde. Sie ist glücklich aus dem Frauenzelt des Maharadjah entkommen und war eben im Begriff das Lager zu verlassen.“
„Wie?“ rief Heideck verwundert. „Wohin in aller Welt wollte sie sich denn wenden?“
„Ich weiß es nicht, Sahib. Sie war sehr traurig, aber als ich sie bat, mich zu dem Sahib zu begleiten, sagte sie, daß sie ihn und die Lady nicht wiedersehen wolle; sie entbietet dem Sahib ihren Gruß und bittet ihn, seines Versprechens eingedenk zu bleiben, daß er dem Fürsten Tschadschawadse nichts von ihrem Hiersein verraten wolle.“
Heideck und Edith wechselten einen bedeutsamen Blick. Das Benehmen dieses seltsamen Mädchens gab ihnen Rätsel auf, die sie vorläufig nicht zu lösen vermochten. Aber es war natürlich und menschlich, daß sie über ihren eigenen Angelegenheiten die Cirkassierin sehr rasch vergaßen.
Edith mußte sich damit einverstanden erklären, daß Heideck ihr für den Rest der Nacht sein Zelt überließ, während er selbst die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch an einem der Biwakfeuer verbringen wollte. Morar Gopal aber sollte sein Lager vor dem Eingang des Zeltes aufschlagen, und Heideck war gewiß, daß er sein köstliches Kleinod keinem treueren Hüter anvertrauen konnte.
Das Schicksal, das die beiden Liebenden auf eine so wunderbare Weise wieder vereinigt hatte, zeigte sich ihnen auch weiter günstig. In aller Frühe des folgenden Tages hatte Heideck ohne große Schwierigkeit einen fertig gezäumten zierlichen Braunen für Edith erstanden, und als sich der Trupp der indischen Reiter, die den Russen als Führer und Kundschafter dienen sollten, in Bewegung setzte, gesellte sich der knabenhafte junge Radjah ihnen zu, ohne daß irgend jemand seine befremdliche Erscheinung zum Anlaß zudringlicher Fragen genommen hätte. Die Inder hielten ihn wahrscheinlich zunächst für einen blutjungen russischen Offizier, den besondere Gründe bestimmt hatten, die Tracht des Landes anzulegen, und bewahrten deshalb eine durchaus respektvolle Haltung. Fürst[S. 216] Tschadschawadse aber, den vor dem Aufbruch einmal der Zufall in Ediths unmittelbare Nähe geführt hatte, sagte kein Wort, obgleich er sie wohl eine Minute lang scharf ins Auge faßte.
Daß von seiten des Maharadjah von Chanidigot nichts geschah, um den schönen Flüchtling wieder in seine Gewalt zu bringen, erklärte sich leicht genug aus den schlechten Nachrichten über sein Befinden, die im Lager von Mund zu Mund gingen. Er wurde, wie es hieß, vom Wundfieber und von heftigen Schmerzen gepeinigt, so daß ihm wohl in der Tat jedes Interesse an der Außenwelt vergangen sein mochte. — —
Das russische Detachement ging nach herzlicher Verabschiedung von den indischen Gastfreunden weiter in das Hügelland hinein, und schon am Nachmittage brachten ausgesandte Kundschafter dem Fürsten Tschadschawadse die Meldung, daß die Engländer Ambala vollständig geräumt und den Marsch nach Delhi angetreten hätten. Wahrscheinlich hatte man die Stärke der russischen Abteilung, von deren Anmarsch man gehört hatte, in Ambala weit überschätzt und es deshalb vorgezogen, einem voraussichtlich aussichtslosen Kampfe aus dem Wege zu gehen.
Edith wußte sich mit frauenhafter Gewandtheit in unauffälliger Weise in der Nähe Heidecks zu halten, so daß beide oft Gelegenheit fanden, miteinander zu plaudern. Ihre zarte, weiße Farbe mußte wohl auffallen unter den braunen Gesichtern, aber der Wille und die Launen russischer Offiziere mußten respektiert werden, und so schien niemand zu wissen, daß eine englische Dame im Kostüm eines Radjah bei der Truppe sei. Uebrigens dauerte der Marsch nicht mehr lange. Das Jagdlager war nur zweihundertfünfzig Kilometer von Simla entfernt, unterhalb des Ortes Kalka gelegen. Noch einmal wurde übernachtet, und am andern Morgen traf die Kolonne vor Simla ein und fand Jutogh, das hochgelegene britische Kantonnement westlich der weitausgedehnten Hügelstadt, von den Truppen geräumt.
Fürst Tschadschawadse legte seine Infanterie und Artillerie in die englischen Baracken und marschierte mit den Reitern in den halbmondförmigen, sogenannten Bazar ein, die eigentliche Stadt, die von zahlreichen, auf den Hügeln und in Gartenanlagen verstreuten Villen umgeben war. Er entsandte sogleich Offizierspatrouillen nach dem Stadthause, den Bureaus der Regierung und des Oberbefehlshabers und begab sich selbst zum Gouvernementshause, einem schönen Palast am Observatoriumshügel.
Simla war trotz des Frühlings wie im Winterschlaf, verlassen von der bewegten glänzenden Gesellschaft, die zur Sommerzeit, wenn die unerträgliche feuchte Wärme den Vizekönig von Kalkutta vertrieb, die prächtigen Täler und Höhen mit ihren Pferden und Wagen, mit ihren Spielen, Gesellschaften und eleganten Toiletten belebte. Nur Dienerschaft zur Bewachung und Instandhaltung der Gebäude und die angesessene Bevölkerung waren anwesend, weil der Krieg die englische Gesellschaft fern hielt. Etwa 2500 Meter über dem Spiegel des indischen Ozeans steigen die Hügel an und häufige Regenschauer machten das Klima hier oben so rauh, daß Heideck im Mantel ritt und auch Edith vorgezogen hatte, sich einen Dragonermantel umzuhängen, um sich gegen die Kälte zu schützen.
Die Offiziere hatten den Auftrag, in den Regierungsgebäuden nach wichtigen Aktenstücken und sonstigen Papieren zu suchen, die von der englischen Regierung in Simla zurückgelassen sein konnten und die für die russische Regierung von Wichtigkeit waren.
Heideck sollte die in sieben eleganten Blocks befindlichen Bureaus der Regierung durchsuchen, vor allem aber die für den Oberbefehlshaber, den Generalquartiermeister und die Generaldirektion der Eisenbahn, Posten und Telegraphen bestimmten Gebäude.
Er stieß überall nur auf untergeordnete Beamte, aber zuletzt im Bureau des Judge Advocate General fand er einen bejahrten, würdevollen Herrn, der so ruhig in seinem Lehnsessel saß, daß[S. 218] Heideck unwillkürlich an Archimedes erinnert wurde, als ihn die römischen Krieger bei seinen Berechnungen überraschten.
Der alte Herr richtete aus seinen großen, gelblich gefärbten Augen einen durchdringenden Blick auf den eintretenden Offizier und die ihm folgenden Soldaten. Aber er fragte nicht, was sie wollten, und machte nicht einmal eine ablehnende Bewegung. Heideck bat unter höflicher Verbeugung um Entschuldigung wegen seines ihm dienstlich vorgeschriebenen Verhaltens. Dies artige Benehmen schien den alten Herrn zu überraschen, er erwiderte den Gruß und sagte, es bliebe ihm ja nichts übrig, als sich allen Maßregeln zu unterwerfen, die von der Macht des Siegers verhängt würden.
„Da hier in diesen Räumen wohl nur juristische Bücher und Akten zu finden sind,“ sagte Heideck, „so brauche ich keine Nachforschungen anzustellen, denn es ist uns lediglich um militärische Dinge zu tun. Es würde mich freuen, wenn ich persönliche Wünsche Ihrerseits erfüllen könnte, denn ich glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, daß ich die Ehre habe, einen höheren Beamten vor mir zu sehen, den besondere Gründe veranlaßt haben, hier in Simla znrückzubleiben.“
„In der Tat,“ entgegnete jener, „meine Aerzte waren der Meinung, daß es meiner Gesundheit zuträglich sein würde, den Winter im Gebirge zuzubringen. Sie können sich denken, wie sehr ich es bereue, dem ärztlichen Rate gefolgt zu sein. Ich bin der Judge Advocate General Kennedy.“
„Ist Ihre Familie auch in Simla?“ fragte Heideck.
„Meine Frau und meine Tochter sind hier.“
„Mein Herr, es ist eine englische Dame bei unserer Kolonne, die Witwe eines Offiziers, der bei Lahore den Tod gefunden hat. Wären Sie geneigt, die Dame in Ihrer Familie aufzunehmen?“
„Eine englische Dame?“
„Sie ist das Opfer einer ganzen Kette abenteuerlicher Ereignisse, über die am besten sie selbst Ihnen berichten könnte. Sie[S. 219] heißt Mrs. Irwin. Wären Sie geneigt, der Dame Ihren Schutz angedeihen zu lassen, so würde ich ihr damit gewiß eine willkommene Freudenbotschaft überbringen.“
„Meinen Schutz?“ fragte der alte Herr verwundert. „Meine Familie und ich bedürfen selbst des Schutzes, und wie können wir unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine solche Verantwortung übernehmen?“
„Sie und Ihre Familie haben von uns nichts zu fürchten, mein Herr. Wir gedenken im Gegenteil für Ruhe und Ordnung zu sorgen.“
„Nun, mein Herr, Ihr Benehmen verrät den Gentleman, und wenn die Dame zu uns kommen will, so steht dem von unserer Seite nichts entgegen. Kann ich mit ihr sprechen, damit wir uns verständigen?“
„Ich werde mich beeilen, sie zu holen.“
Er zögerte in der Tat keinen Augenblick. Und wie er es erwartet hatte, wußte ihm Edith lebhaften Dank für seinen freundschaftlichen Vorschlag.
Mr. Kennedy war höchst erstaunt, einen jungen Radjah eintreten zu sehen, und schien durch diese Maskerade nicht gerade angenehm berührt zu sein.
„Dies ist die Dame, von der Sie sprachen?“ fragte er befremdet. Aber sein ernstes Antlitz hellte sich merklich auf, als Edith mit ihrer schönen, weichen Stimme sagte:
„Eine Landsmännin, die diesem Herrn hier ihr Leben dankt, und die nur mit Hilfe dieser Verkleidung vor Schmach und Tod bewahrt geblieben ist.“
„Mrs. Irwin, wenn Sie sich entschließen, zu Mrs. Kennedy zu gehen,“ sagte Heideck, „so werde ich Ihr Gepäck in Mr. Kennedys Wohnung schaffen lassen. Ich entferne mich jetzt, um noch andere dienstliche Obliegenheiten zu erfüllen und werde später wiederkommen.“
„Auf jeden Fall nehme ich meine Landsmännin gern bei mir auf,“ versicherte der alte Herr. „Hier vom Fenster aus sehen Sie[S. 220] das Haus, das ich bewohne, und ich bitte Sie, mich zu besuchen, wenn Ihr Dienst beendigt sein wird.“
Erst als die Sonne sank, kam Heideck dazu, seinen Besuch bei Mr. Kennedy zu machen. Er stand einen Augenblick am Gartentor und sah die schneebedeckten Höhen im Feuer des Abendrots glühen. Lange Reihen von blauen Bergen türmten sich auf, höher und immer höher nach Norden hin, bis zuletzt die höchste Kette am fernen Horizont, von ewigen Gletschern umstarrt, in wunderbarem Glanze zum Himmel aufstieg.
Mr. Kennedy bewohnte eine sehr stattliche Villa. Heideck wurde von dem Hausherrn und den Damen so überaus freundlich empfangen, daß er Ediths warme Fürsprache nur zu deutlich herausfühlen mußte. Edith mußte wohl auch erzählt haben, daß er ein Deutscher sei. Sie war wieder in Frauentracht und hatte durch ihr offenes Wesen bereits alle Herzen gewonnen. Mrs. Kennedy war eine Matrone mit feinen, angenehmen Gesichtszügen und dem Benehmen einer Dame der großen Welt. Die mit Edith etwa gleichaltrige Tochter aber schien sich besonders innig an Edith angeschlossen zu haben.
Heideck saß mit der Familie am Kaminfeuer, und man bemühte sich, zu vergessen, daß er die Uniform des Feindes trug.
„Wenn wir es nur einrichten könnten,“ sagte Mrs. Kennedy, „Indien zu verlassen und nach England zurückzukehren. Mr. Kennedy wünscht in Kalkutta zu bleiben, um seiner Pflicht nachzukommen, aber er kann das Klima seines Leidens wegen nicht vertragen. Und wie könnten wir auch nach Kalkutta gelangen? Die einzige Möglichkeit wäre doch, ein russisches Dokument zu bekommen, das uns ungehinderte Reise verschafft.“
„O liebste Beatrice,“ widersprach ihr Mann, „ich weiß ja, daß du ebenso gut wie ich nicht an unser eigenes Schicksal denkst, jetzt, wo ein solches Unglück über unser Vaterland hereingebrochen ist. Was ist in diesem allgemeinen Unglück an unserm Geschick gelegen?“
„Ich sollte meinen,“ mischte sich Heideck höflich ein, „daß der Einzelne, selbst wenn er das Unglück der Allgemeinheit auch noch so schmerzlich empfindet, sich doch nicht zur Verzweiflung hinreißen lassen darf, sondern immer darauf bedacht sein muß, wie in ruhiger Zeit für sich und seine Familie zu sorgen.“
„Nein!“ rief Mr. Kennedy. „Diese internationale Weisheit kann ein Engländer nicht verstehen. Der Deutsche hat einen anderen Charakter, er wechselt leichter sein Vaterland, der Engländer nicht. Doch ich bitte um Entschuldigung,“ fuhr er sich besinnend fort. „Sie verletzten meine nationale Ehre, und ich vergaß die Situation in der wir uns befinden. Ich wollte Sie selbstverständlich nicht beleidigen.“
„Es ist etwas Wahres an dem, was Sie sagten,“ entgegnete Heideck ernst, „aber erlauben Sie mir eine Erklärung. Unser deutsches Vaterland ist in früheren Jahrhunderten immer der Schauplatz der Schlachten aller Völker Europas gewesen. Die meisten deutschen Fürsten kannten in jener Zeit kein deutsches Nationalgefühl und vertraten engherzige dynastische Interessen. So wuchs unser deutscher Volksstamm ohne das Bewußtsein eines großen gemeinsamen Vaterlandes heran. Unser deutsches Selbstgefühl ist nicht älter als Bismarck. Aber dadurch, daß wir fremde Völker und Sitten haben über uns ergehen lassen müssen, sind wir weitherzig und großzügig geworden. Unser religiöses Empfinden und unser Patriotismus umschließen einen weitern Kreis, als bei andern Völkern. Deshalb glaube ich, daß wir jetzt, da wir uns nun seit einem Menschenalter auch auf unsere materielle Kraft besinnen und uns politisch zusammengeschlossen haben, vermöge unserer universellen Bildung zur Weiterentwicklung der Kultur berufen sind, die den Engländern und Franzosen bis jetzt am meisten verdankte.“
Der alte Herr antwortete nicht sogleich. Er saß in Gedanken verloren da, und erst nach einer geraumen Weile sagte er:
„Man kann ja, wenn man will, den Standpunkt seiner Betrachtung immer höher schrauben. Es ist, wie wenn man die Berge dort hinaufsteigt. Von jeder höheren Bergkette aus wird der Rundblick umfassender, während die Einzelheiten des Panoramas immer mehr verschwinden. Natürlich, wenn man von einem so hohen Standpunkt herabsieht, schrumpfen alle politischen Interessen zu bedeutungslosen Nichtigkeiten zusammen, und dann gibt es keinen Patriotismus mehr. Aber ich meine, daß wir zunächst in dem Kreise zu wirken verpflichtet sind, in den wir nun einmal gestellt sind. Ein Mann, der seine Frau und seine Kinder vernachlässigt und mit seinen Ideen die Welt beglücken will, vernachlässigt den engsten Kreis seiner Pflichten. Sodann aber muß einem jeden Manne die Wohlfahrt des eigenen Volkes, des eigenen Staates das höchste Ziel seiner Bestrebungen sein, dann erst darf er, von der eigenen Nation ausgehend, seine Wünsche noch höher richten. Ich kann niemand achten, der sich vom Boden des Patriotismus entfernt, um auf politischem Gebiete Phantastereien zu treiben, für Weltfrieden zu schwärmen und alle Menschen Brüder zu nennen.“
„Und doch,“ sagte Edith, „ist dies die Lehre des Christentums.“
„Des theoretischen, nicht des praktischen,“ widersprach eifrig der Engländer. „Ich achte den alten Römer Cato, der sich das Leben nahm, als er die Freiheit des Vaterlandes schwinden sah. Und niemals wäre England groß geworden, wenn es nicht viele solcher Catone geboren hätte.“
„Mr. Kennedy, Sie proklamieren die Staatsidee der alten Griechen,“ sagte Heideck. „Aber ich glaube nicht, daß die alten Griechen wirklich den Staat so aufgefaßt haben, wie die modernen Professoren behaupten, und wie das alte Rom sie praktisch ausgeführt hat. Die Professoren pflegen Platon anzuführen, aber Platon war ein zu hoher Geist, um nicht einzusehen, daß der Staat doch aus lauter Menschen besteht. Platon betrachtete den Staat nicht als ein Götzenbild, auf dessen Altar der Bürger sich opfern müßte,[S. 223] sondern als eine Erziehungsanstalt. Er sagt, daß wirklich tugendhafte Bürger nur durch einen vernünftig eingerichteten Staat erzogen werden könnten, und deshalb sprach er so viel von der Bedeutung des Staates. Ein Staat ist ursprünglich nur die äußere Form, die sich das innere Leben der Nation auf natürliche Weise selbst geschaffen hat, und an dieser Auffassung sollte nicht gerüttelt werden. Der Staat soll die Massen erziehen, nicht nur zur Verwirklichung des Rechts, sondern auch des äußeren und inneren Wohls. Die Römer freilich scheinen nicht die Erziehung der tüchtigen Persönlichkeit nach Platons Idee zum Zweck des Staates gemacht zu haben, sondern sie waren modern wie die heutigen Großmächte, die das Ziel verfolgen, möglichst reich und mächtig zu werden. Wir Deutschen wollen das ja auch und führen deshalb jetzt Krieg, aber ich behaupte, daß dem deutschen Nationalcharakter doch etwas höheres innewohnt; es ist die Idee der Humanität! Mit unserer Nation gehen auch unsere Ideale zu Grunde, und darum kämpfen wir für unsere Machtstellung, um mit unserer nationalen Größe auch unsere Ideale zu schützen und zu sichern.“
Ein Diener trat ein und meldete, daß das Essen angerichtet wäre.
Das Gespräch verließ bei Tisch die Gebiete der Philosophie und Politik und wandte sich der Kunst zu. Die Damen bestrebten sich, den alten Herrn von seinen finstern Gedanken abzulenken und seine verzweifelte Stimmung zu heben. Elisabeth erzählte von den Konzerten, die in Simla und Kalkutta gegeben würden, und erwähnte dabei der großen technischen Schwierigkeiten, die das Musizieren in Indien böte, weil durch den Einfluß des Klimas die Instrumente so leicht verdürben. In der feuchten Luft der Seestädte quoll das Holz, im trockenen Mittelindien dagegen vertrocknete es, was namentlich den Violinen und Celli schadete, aber auch den Klavieren nachteilig wäre. Man konstruierte für die Tropen Klaviere, die nur Metall im Innern anstatt des Holzes hätten, aber diese hätten einen scharfen Klang und litten ebenfalls durch schroffen Temperaturwechsel.
Nach dem Diner setzte sich Elisabeth an den Flügel, und Heideck[S. 224] berührte es wohltuend, daß Edith eine so angenehme Altstimme und eine so gute Schulung hatte. Sie sang einige schwermütige englische und schottische Lieder.
„Seitdem ich England verlassen habe, habe ich nicht mehr gesungen,“ sagte sie bewegt.
Heideck hatte mit Entzücken der Musik gelauscht. Nach den schrecklichen Szenen der letzten Zeit gingen ihm die Melodieen um so tiefer zu Herzen, so daß seine Augen sich mit Tränen füllten. Und nicht die Musik allein war es, die ihn rührte, es war Ediths Seele, die durch die Macht der Musik zu ihm sprach.
„Was gedenken Sie zu tun, Mr. Kennedy?“ fragte er den alten Herrn. „Werden Sie in Simla bleiben und Mrs. Irwin bei sich behalten?“
„Ich habe es mir überlegt,“ entgegnete jener. „Ich werde nicht hier bleiben. Ich werde nach Kalkutta reisen, wenn ich kann. Es ist meine Pflicht, in Kalkutta auf meinem Posten zu sein.“
„Aber wie wollen Sie reisen? Wo die Eisenbahnen noch vorhanden sind, da sind sie von der Armee ausschließlich in Anspruch genommen. Bedenken Sie, daß Sie beide Armeen, die russische und die englische, passieren müßten. Sie müßten von Kalka nach Ambala, von dort über Delhi.“
„Wenn ich einen Passierschein bekäme, würde ich mit Wagen und Pferden nach Delhi reisen, und dort bin ich bei der englischen Armee. Können Sie mir einen Passierschein verschaffen?“
„Ich werde es versuchen. Möglicherweise läßt sich Fürst Tschadschawadse dazu bewegen. Ich werde ihn darauf aufmerksam machen, daß Sie Zivilbeamter sind.“
Fürst Tschadschawadse weigerte sich mit aller Entschiedenheit, den von Heideck für Mr. Kennedy und seine Familie erbetenen Passierschein auszustellen.
„Es tut mir leid, Herr Kamerad,“ sagte er, „aber es ist einfach unmöglich. Der Judge Advocate General ist ein sehr hoher Beamter, dem ich nicht gestatten kann, sich nach seinem Gefallen in das englische Hauptquartier zu begeben und dort Bericht über die hiesigen Vorgänge zu erstatten. Man würde mir eine so unangebrachte Liebenswürdigkeit höhern Ortes mit Recht sehr übel auslegen. Und ich möchte den guten Eindruck, den das Gelingen der Expedition nach Simla bei meinen Vorgesetzten gemacht hat, nicht gern durch eine unverzeihliche Torheit wieder verwischen.“
Heideck sah ein, daß gegen eine solche Entscheidung mit Zureden nichts auszurichten sein würde, und setzte Mr. Kennedy unter der Versicherung aufrichtigen Bedauerns von der Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen in Kenntnis.
„So werde ich denn in Gottes Namen versuchen nach England zurückzukehren,“ sagte der alte Herr mit einem schmerzlichen Seufzer. „Fragen Sie bitte den Fürsten, ob er etwas dagegen hat, daß ich abreise und mich auf dem kürzesten Wege nach Carachi begebe? Vielleicht wird er mir wenigstens für diese Route einen Passierschein ausstellen.“
Dazu war Fürst Tschadschawadse sofort bereit.
„Im Rücken der russischen Armee mögen die Herrschaften meinetwegen reisen, wohin sie wollen,“ erklärte er. „Ich habe nicht den geringsten Anlaß den würdigen alten Herrn als einen Gefangenen zu behandeln.“
An demselben Tage noch hatte Heideck mit Edith eine ernste Unterhaltung über die Gestaltung ihrer nächsten Zukunft. Er fragte sie nach ihren Wünschen und Plänen; sie aber schmiegte sich zärtlich an seine Schulter und flüsterte:
„Ich habe keinen Wunsch als bei dir zu bleiben und keinen anderen Plan als dich glücklich zu machen.“
Er küßte die weichen Lippen, die so beseligende Worte zu sprechen wußten und sagte bewegt:
„Nun wohl, so schlage ich vor, daß wir zusammen nach Carachi reisen. Ich bin entschlossen den russischen Dienst zu verlassen und die Rückkehr nach Deutschland zu versuchen. Du aber, mein Lieb, würdest du es über dich gewinnen können, mir in mein Vaterland, das Land deiner jetzigen Feinde, zu folgen?“
„Meine Heimat ist bei dir. Sage, daß wir hier in Simla ein Heim gründen wollen, und ich bin mit Freuden bereit, bis an das Ende meiner Tage hier zu leben. Führe mich nach Deutschland oder nach Sibirien, und ich folge dir — mir gilt alles gleich, wenn ich nur dich nicht verlassen muß.“
Daß sie so gar kein Wort der Anhänglichkeit an ihr Vaterland hatte, mochte Heideck für einen Moment peinlich berühren; aber er hatte ja bereits gelernt, sie mit anderem Maße zu messen als die Frauen, denen er bisher auf seinem Lebenswege begegnet war; und ihm am wenigsten kam es zu, ihr aus diesem Mangel an Patriotismus einen Vorwurf zu machen.
„Mr. Kennedy hat sich mir gegenüber bereit erklärt, dich auf der Reise unter seinen Schutz zu nehmen,“ sagte er. „So werde ich denn noch heute mit dem Fürsten sprechen. Und da er kein Recht hat mich zu halten, wird es mir, wie ich zuversichtlich hoffe, möglich sein, zugleich mit euch nach Carachi aufzubrechen.“
„Ich aber werde nur in deiner Begleitung das Anerbieten der Kennedys annehmen,“ erklärte Edith mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel darüber zuließ, wie unerschütterlich ihre Entschlüsse seien.
Aber Fürst Tschadschawadse bereitete ihm in der Tat keine Schwierigkeiten.
„Ich bedaure aufrichtig, Sie schon so bald wieder zu verlieren,“ erklärte er, „aber die Entscheidung darüber, ob Sie bleiben oder gehen wollen, liegt einzig bei Ihnen, denn es war ja von vornherein ausgemacht, daß Sie den russischen Dienst quittieren könnten, sobald es die Umstände für Sie wünschenswert machten. — Die Frauen sind ja nun einmal die Schicksale unseres Lebens.“
Der Fürst wußte natürlich längst, daß es Edith Irwin war, die sich im Hause der Kennedys befand, aber es geschah zum ersten Mal, daß er der Herzensangelegenheit seines deutschen Freundes Erwähnung tat.
Und hastig, als müsse er sich gegen einen beschämenden Vorwurf verteidigen, erwiderte Heideck:
„Sie mißverstehen meine Beweggründe! Vor allem ist es meine soldatische Pflicht, die mich ruft. Bis jetzt gab es keine Aussicht für mich, Passage auf einem englischen Dampfer zu erhalten. In der Begleitung des Mr. Kennedy aber und auf seine Empfehlung hin wird man mir, wie ich hoffen darf, die Ueberfahrt nicht verweigern.“
„Verzeihung! Ich zweifelte selbstverständlich keinen Augenblick an Ihrem patriotischen Pflichtgefühl, und ich wünsche Ihnen von Herzen eine glückliche Heimreise. Natürlich ist es trotz aller Bundesgenossenschaft unserer Nationen für Sie nicht dasselbe, ob Sie in den Reihen der russischen oder des deutschen Heeres fechten. Und wenn die Aussicht, in so angenehmer Gesellschaft zu reisen, den letzten Ausschlag für Ihre Entschließungen gegeben hat, so hätten Sie sich dessen, wie ich meine, durchaus nicht zu schämen. — Ich für meine Person bin allerdings zu der Erkenntnis gekommen, daß ein Soldat besser tut, dem weiblichen Element eine möglichst untergeordnete Rolle in seinem Leben anzuweisen. Er müßte es denn so machen, wie die meisten meiner Landsleute und sich eine ‚handliche‘ Frau zulegen, d. h. eine, die es verträgt, mit oder ohne Anlaß geprügelt zu werden. Es mag sein, daß ich es gerade in diesem einen Punkte versehen hatte. Und ich bin denn auch recht empfindlich dafür gestraft worden.“
Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst geworden, und da seine Anspielung sich nur auf den verschwundenen Pagen beziehen konnte, glaubte Heideck endlich eine Frage nach dem Verbleib der Cirkassierin wagen zu dürfen.
Aber der Fürst schüttelte abwehrend den Kopf.
„Fragen Sie mich nicht nach ihr! Das ist eine ärgerliche Geschichte, an die ich nicht gern erinnert werde, weil sie mir eine der häßlichsten Stunden meines Lebens ins Gedächtnis zurückruft. Schlimm genug, daß wir armen, ohnmächtigen Kreaturen mit aller Reue nicht wieder gutmachen können, was wir einmal in einem Augenblick gefehlt.“
Und dann, als wolle er damit kurzerhand alle weiteren, unbequemen Erörterungen abschneiden, kehrte er zu dem Ausgangspunkt ihrer Unterhaltung zurück:
„Von meinem Standpunkt aus muß ich es ja rein praktischer Gründe wegen für einen Fehler halten, daß Sie Ihre unter den günstigsten Auspizien begonnene Laufbahn in der russischen Armee schon so bald wieder verlassen. Tüchtige Männer Ihres Schlages können bei uns eine glänzende Karriere machen, denn in unserm Heere ist mehr Ellbogenraum als bei Ihnen. Aber ich weiß wohl, daß es überflüssig ist, weiter darüber zu reden. Nur eins noch! — Sie brauchen die Uniform, der Sie alle Ehre gemacht haben, nicht gleich hier in Simla auszuziehen. Ich trete morgen den Rückmarsch nach Lahore an, und ich bitte Sie, während desselben noch an der Spitze Ihrer Schwadron zu bleiben. Ihre englischen Freunde reisen am sichersten mit unserer Kolonne. In Lahore können Sie dann ja machen, was Sie wollen. Da der Feldzug sich nach Südosten wendet, ist der Westen frei, und Sie können möglicherweise die Reise nach Carachi zum großen Teil bereits wieder auf der Eisenbahn zurücklegen.“
Heideck erkannte in diesem Vorschlag einen neuen Beweis der freundschaftlichen Gesinnung, die ihm der Fürst schon so oft an den Tag gelegt hatte, und er unterließ es nicht, ihm auf das Wärmste hierfür zu danken.
Für Mr. Kennedy war es allerdings ein nicht sehr erfreulicher Gedanke, unter dem Schutz der Feinde reisen zu müssen; aber er mußte[S. 229] sich im Interesse seiner weiblichen Angehörigen fügen, da es in der Tat keine bessere Möglichkeit gab, schnell und sicher nach Carachi zu gelangen.
„Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es mir wird, dies teuer erkaufte Indien zu verlassen,“ sagte er zu Heideck. „Zwanzig Jahre meines Lebens habe ich ihm gewidmet, Jahre der härtesten, unermüdlichen Arbeit. Und nun ist mein Werk gleich den Werken so vieler besserer Männer mit einem einzigen Schlage verloren.“
„Sie sind ohne Unterbrechung zwei ganze Jahrzehnte hindurch in Indien gewesen?“
„Ja, ich konnte mich nicht entschließen, meine Frau und meine Tochter zu begleiten, wenn sie gelegentlich zu ihrer Erholung auf einige Monate nach Europa gingen. Ich war eben geradezu verliebt in meine Arbeit, und ich werde es kaum verwinden, daß nun alles, alles verloren sein soll. Und es ist verloren — darüber gebe ich mich keiner Täuschung hin. Nachdem die Russen einmal hier Fuß gefaßt haben, werden sie auch das Land niemals wieder aufgeben. Ihre Herrschaft wird eben schon deshalb fester gegründet sein als die unsrige, weil sie dem indischen Volke innerlich viel näher stehen als wir — — — —“
Am nächsten Tage brachen sie auf.
Mr. Kennedy und seine Damen fuhren in einer mit vier australischen Pferden bespannten Mail-Coach, die ursprünglich für den Besuch der Rennen von Annandale bestimmt gewesen war. Er hatte seinen eigenen englischen Kutscher, einen englischen Diener und eine englische Kammerfrau mitgenommen, die zahlreiche, indische Dienerschaft aber hatte er vor der Abreise abgelohnt und entlassen.
Der Marsch ging über Kalka, die Endstation der nach Simla führenden Eisenbahn, ohne jeden Zwischenfall nach Lahore. Hier erfuhr Fürst Tschadschawadse, daß die russische Armee tags zuvor nach Delhi aufgebrochen war, und er mußte sich beeilen, ihr mit seinem Detachement zu folgen.
Während des Eintritts in die Straßen von Lahore, deren Anblick in ihm so viele trübe Erinnerungen weckte, wurde Heideck plötzlich aus seinen Träumereien gerissen. Es war ihm, als hätte er hinter den Säulen, die den Balkon eines Hauses trugen, eine weibliche Gestalt erspäht, die mit großen Augen dem glänzenden, rasselnden, säbelklappernden Reiterzuge folgte. Und obwohl ihr Gesicht fast ganz von einem weit herabgezogenen Kopftuche verhüllt gewesen war, hatte ihn bei ihrem Anblick die halb instinktive Empfindung durchzuckt, daß dies Weib keine andere, als seine und Ediths Retterin, der Page Georgij, sei. Er hatte sein Pferd gewandt und war auf das Haus zugeritten. Aber die Erscheinung war bei seiner Annäherung verschwunden, wie wenn die Erde sie verschlungen hätte. Und so mußte er wohl annehmen, daß es nur eine Täuschung seiner Sinne war.
Seine Verabschiedung von dem Fürsten Tschadschawadse war so herzlich, wie es ihrem bisherigen Verhältnis entsprach. Der Fürst umarmte ihn wiederholt, und in seinen Augen schimmerte es feucht, als er dem Kameraden noch einmal glückliche Reise und die Lorbeeren des siegreichen Kriegers wünschte.
Auch Heideck schämte sich seiner Bewegung nicht, als er dem Fürsten zum letzten Mal die Hand drückte.
„Wenn Sie Ihren Pagen wiedersehen, so bitte ich Sie, auch ihm meine und Mrs. Irwins Abschiedsgrüße zu übermitteln.“
Ueber das Antlitz des Fürsten legte sich ein düsterer Schatten.
„Ich täte es wahrlich von Herzen gern, mein Freund! Aber ich werde meinen Pagen niemals wiedersehen! Schweigen wir von ihm! Es gibt Wunden, deren man sich nicht rühmen darf.“ —
Damit gingen sie auseinander.
Heideck, der wieder seine Zivilkleidung angelegt hatte, verbrachte die Nacht im Hotel und nahm dann den ihm von Mr. Kennedy angebotenen Platz in dessen Wagen ein. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß die Eisenbahn zwischen Lahore und Mooltan von der[S. 231] Station Montgomery aus fahrbar wäre. Mit der ihnen eigenen Zähigkeit setzten die Engländer in dem von dem Kriege nicht berührten Teile Indiens den regelmäßigen Eisenbahnbetrieb fort. War doch bei der ungeheuren Größe des Landes der Kampf der beiden Armeen in gewisser Hinsicht ein eng begrenzter. Im Westen Indiens, im Zentrum wie im Osten war vom Kriege kaum etwas wahrzunehmen. Nur die Truppentransporte auf den Bahnlinien zwischen Bombay und Kalkutta verrieten den Kriegszustand.
Die Eisenbahn im Westen sah keine Truppen mehr, seitdem die englische Armee von Lahore zurückgegangen war, und diese Strecke war deshalb für den gewöhnlichen Verkehr wieder vollständig freigegeben.
Auch bei der indischen Bevölkerung dieser Gegend war durchaus nichts von einer besonderen Erregung wahrzunehmen. Nur die unmittelbare Gegenwart der russischen Truppen hatte das geduldige und friedfertige Volk in Aufruhr versetzt. Selbst durch Chanidigot fuhren die Reisenden ohne eine Störung des Betriebes oder einen unerwarteten Aufenthalt.
Das Wetter war nicht zu heiß, da die Zeit der Gewitter begonnen hatte, und das Reisen in den höchst bequemen, geräumigen Eisenbahnwagen wäre unter anderen Verhältnissen ein wahres Vergnügen gewesen.
Wohlbehalten langten die Reisenden in Carachi, dem Hafenplatz an den vielverzweigten Mündungen des Indus, an, und Mr. Kennedys hohe Stellung verschaffte ihnen Aufnahme in dem vornehmen Sind-Klub, wo Verpflegung und Wohnung nicht das geringste zu wünschen übrig ließen. Der Klub war von seinen regelmäßigen Besuchern fast ganz verlassen, da außer den Offizieren auch alle irgend entbehrlichen Beamten zur Armee abgegangen waren. Der Familie Kennedy aber stand ebensowenig wie Edith und Heideck der Sinn nach interessanter Gesellschaft. Sie alle hatten jetzt keinen anderen Wunsch mehr, als den, das Land so schnell als möglich zu verlassen[S. 232] und den gegenwärtigen, peinlichen Zustand beendet zu sehen. Auf Grund der bei der Schiffsagentur eingezogenen Erkundigungen hatten sie beschlossen, mit einem Dampfer der British-India-Gesellschaft nach Bombay zu fahren und von dort mit der ‚Caledonia‘, dem besten Schiffe der Peninsular- und Oriental-Linie, nach Europa zu reisen.
Am Nachmittag vor der Einschiffung mietete Heideck einen bequemen kleinen Einspänner und fuhr mit Edith zur Napier-Mole, wo man ihnen im Bootshause des Sind-Klub bereitwillig ein mit vier Laskaris bemanntes, elegantes Segelboot zur Verfügung stellte. Mit ihm fuhren sie in dem durch drei mächtige Forts geschützten Hafen bis über Manora Point, die äußerste Spitze der befestigten Mole, in die arabische See hinaus ....
„Wahrlich, es ist schwer, dies wunderbare Land zu verlassen,“ sagte Heideck ernst. „Es ist schwer, für immer Abschied zu nehmen von dieser strahlenden Sonne, diesem Glanz des Meeres, diesen mächtigen Werken der Menschenhand, die in ein natürliches Paradies den Luxus und das Behagen einer raffinierten Kultur gebracht haben. Nie habe ich den Schmerz des Mr. Kennedy besser verstanden, als in diesem Augenblick! Und ich kann ihm die Bitterkeit nachfühlen, mit der er sich in seinem Zimmer verschließt, um nichts mehr von all dieser lockenden und prangenden Herrlichkeit zu sehen.“
Edith hatte sich in seinen Arm geschmiegt, und indem sie ihren Blick liebevoll zu ihm aufschlug, hatte sie keine andere Erwiderung als die:
„Ich sehe die Welt nur, wie sie sich in deinen Augen spiegelt. Und da ist sie für mich immer von derselben Schönheit.“
Das von Carachi nach Bombay gehende Dampfschiff hatte gegen zwanzig Offiziere und eine größere Anzahl von Unteroffizieren und Mannschaften an Bord, die in den ersten Kämpfen an der Grenze verwundet worden waren. Ihr Anblick war nicht danach angetan, die düstere Stimmung der englischen Reisenden zu verbessern, trotzdem diese drei Tage lang bei herrlichstem Wetter in der strahlend blauen See an der mit Naturschönheiten so überreich ausgestatteten indischen Westküste dahinfuhren.
Der Hafen von Bombay, einer der schönsten der Welt, bot denjenigen, die ihn von früheren Besuchen her kannten, einen seltsam veränderten Anblick. Die sonst stets in beträchtlicher Anzahl hier vor Anker liegenden französischen, deutschen und russischen Handelsschiffe fehlten vollständig, und außer englischen Dampfern waren nur einige wenige italienische und österreichische Fahrzeuge auf der Reede.
Der Dampfer von Carachi warf unweit des österreichischen Lloyddampfers ‚Imperatrix‘, der von Triest gekommen war, die Anker aus, und mittels kleiner Schiffe wurden die Passagiere nach dem Landungsplatze von Apollo Bandar gebracht.
Zugleich mit seinen neuen englischen Freunden stieg Heideck im Esplanade-Hotel ab. Das vortrefflich geleitete Haus war ihm wohlbekannt, denn er hatte bei seiner Ankunft in Indien einige Tage hier gewohnt. Aber die Physiognomie des Hotels hatte sich inzwischen ebenso vollständig geändert, wie die des europäischen Viertels von Bombay, aus welchem alles Leben verschwunden schien. Das ver[S. 234]heerende Auftreten der Pest mochte daran einen nicht geringen Anteil haben, in der Hauptsache aber war es natürlich der Krieg, der sich in dem Fehlen zahlreicher sonst am meisten in die Augen fallender Elemente bemerklich machte.
Sonst ein Sammelpunkt der eleganten Gesellschaft, beherbergte das Haus jetzt fast nur Militärs, die wenigen anwesenden Damen aber erschienen nur in Trauer-Toiletten, und die gemeinsamen Mahlzeiten pflegten unter gedrücktem Schweigen zu verlaufen.
Mr. Kennedy, der sich unmittelbar nach der Ankunft in Heidecks Interesse zum Gouverneur begeben hatte, war mit guten Nachrichten zurückgekehrt. Er hatte dem jungen Deutschen die Erlaubnis ausgewirkt, Indien auf der ‚Caledonia‘ zu verlassen, die in zwei Tagen mit einer größeren Anzahl verwundeter und kranker Offiziere abgehen sollte. Die Route des Dampfers ging wie gewöhnlich über Aden und Port Said. In Brindisi sollten diejenigen Passagiere abgesetzt werden, die mit der Eisenbahn weiter reisen wollten, während der Bestimmungshafen der ‚Caledonia‘ Southampton war.
„Wir werden also bis Brindisi das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben,“ sagte Mr. Kennedy gegen Heideck gewendet. Dieser hatte durch eine Verbeugung zu erkennen gegeben, daß der alte Herr seine Absichten vollkommen richtig beurteilte.
Ueber Ediths Gesicht freilich war es wie ein Ausdruck heftigen Erschreckens gegangen, als der Widerspruch, den sie mit Sicherheit erwartet haben mochte, nicht erfolgt war. Sie hatte sich erhoben, um auf ihr Zimmer zu gehen, aber im Vorüberstreifen hatte sie Gelegenheit gefunden, dem Geliebten zuzuflüstern:
„Heute Abend auf dem Balkon! Ich muß dich sprechen.“
Nach dem Diner saßen Heideck und Mr. Kennedy rauchend auf der Terrasse vor dem Speisesaal des Hotels. Ein lauer Seewind rauschte in den Banianen, die ihr dichtes, glänzendes Laubdach unmittelbar vor ihnen wölbten. Noch einmal sprach Heideck dem alten Herrn herzlichen Dank für seine liebenswürdigen Bemühungen aus.
„Ich habe damit doch nur in sehr bescheidenem Maße vergolten, was Sie für uns getan,“ erwiderte Mr. Kennedy. „Uebrigens hatte es gar keine Schwierigkeiten. Ich habe dem Gouverneur gesagt, daß Sie ein Deutscher und ein Freund meiner Familie seien, der einer englischen Dame und mir selbst die wertvollsten Dienste erwiesen habe. Ihren militärischen Charakter aber glaubte ich allerdings mit gutem Gewissen verschweigen zu dürfen, denn aus ihm hätten sich doch leicht allerlei Schwierigkeiten ergeben können. Ich für meine Person mache mir bei allem Patriotismus keinen allzu großen Vorwurf aus diesem Verschweigen. Denn welche militärischen Geheimnisse könnten Sie in Berlin verraten? Unsere Mißerfolge liegen vor aller Augen klar erkennbar da. Und alle Zeitungen sind mit Nachrichten und Vermutungen angefüllt.“
„Allerdings. Der eigentliche Zweck meiner Reise ist durch die Ereignisse überholt und gegenstandslos geworden.“
„Dieser Zweck war — um es ohne Beschönigung zu sagen — Spionage. Nicht wahr, Mr. Heideck?“
„Spionage in demselben Sinne, wie die Entsendung von Botschaftern, bevollmächtigten Ministern und Militär- oder Marine-Attachés Spionage ist,“ entgegnete Heideck sichtlich verdrossen.
„O, ich finde da doch einen kleinen Unterschied. Alle diese Herren nennen von vornherein ihren Namen wie ihr Amt, und sie werden in ihrer diplomatischen Eigenschaft ausdrücklich beglaubigt.“
„Es liegt mir fern, Mr. Kennedy, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen, denn ich habe nicht den geringsten Anlaß, mich meiner Mission zu schämen. Jede Armeeleitung muß über die militärischen Zustände der anderen Mächte unterrichtet sein, auch wenn kein bestimmter Krieg erwartet oder geplant wird. Um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, muß man die Kräfte und Hülfsquellen der anderen Mächte kennen, gleichviel, ob sie im Kriegsfalle als Gegner oder als Bundesgenossen in Betracht kämen.“
Mr. Kennedy antwortete scheinbar erbittert:
„Es scheint fast, als ob wir Engländer diese Vorsicht gröblich vernachlässigt hätten. Die Russen würden uns schwerlich überrumpelt haben, wenn wir verstanden hätten, mit deutscher Klugheit zu rechnen.“
„Nun, ich glaube kaum, daß man von englischer Seite wesentlich anders verfahren ist als von der unsrigen. Ihre Regierung dürfte ebenso wie die deutsche überallhin Offiziere entsandt haben, um sich zu unterrichten. Wie der Generalstab in Berlin Nachrichten über alle fremden Heere, Festungen und Grenzen sammelt, geschieht es ohne Zweifel auch in London. Es ist das übrigens ein rein theoretisches Verfahren, ebenso wie die Aufstellung von Kriegsplänen für alle Fälle. In Wirklichkeit pflegt es dann immer wesentlich anders zu kommen. Der gegenwärtige Krieg liefert dafür ja den besten Beweis. Ich bin hierher entsandt worden, um die anglo-indische Armee und die russisch-indischen Grenzverhältnisse zu studieren, ohne daß wir einen nahe bevorstehenden Krieg ahnten und ohne daß wir etwa geplant hätten, Indien anzugreifen. Das Unsinnige einer solchen Idee läge ja auch auf der Hand. Wenn Sie mich übrigens für einen Spion halten, Mr. Kennedy, so bitte ich Sie dringend, keinerlei Rücksicht zu nehmen und dem Gouverneur meinen wahren Charakter zu nennen. Ich bin jederzeit bereit, mich vor den englischen Behörden zu verantworten.“
Mr. Kennedy streckte ihm seine Hand entgegen.
„Sie haben mich mißverstanden, mein lieber Mr. Heideck! Ihre persönliche Ehrenhaftigkeit ist für mich so hoch über jedem Zweifel erhaben, daß es mir nicht einen Augenblick in den Sinn kommen konnte, Sie auf eine Stufe zu stellen mit jenen Spionen, denen man den Prozeß macht, wenn man sie erwischt.“
In diesem Augenblick kam einer der weißgekleideten, barfüßigen Kellner gelaufen und schrie in den Saal hinein:
„Großer Sieg bei Delhi! Die russische Armee vollständig geschlagen!“
Und triumphierend schwenkte er ein bedrucktes Papier in seiner Rechten.
Mr. Kennedy fuhr in die Höhe, riß dem Burschen das Blatt aus der Hand und las die von der ‚Bombay-Gazette‘ ausgegebene Nachricht.
„Wahrhaftig, es ist so!“ rief er mit freudestrahlendem Gesicht. „Ein Sieg! Ein großer, entscheidender Sieg! Dem Himmel sei Dank — das Kriegsglück hat sich gewendet.“
Er beschenkte den Ueberbringer der Freudenbotschaft mit einem Goldstück und eilte, den Damen die große Neuigkeit mitzuteilen. Heideck aber blieb nachdenklich zurück. Im Hotel wurde es bald lebhaft. Die Engländer liefen hin und her und riefen einander den Inhalt der Depesche zu. Allmählich machte sich auch in den Straßen eine wachsende Erregung bemerkbar. In dem sogenannten Fort, dem europäischen Teile von Bombay, wurden Fackeln angezündet und Freudenschüsse abgefeuert. Heideck nahm einen der vor dem Hotel haltenden Einspänner und befahl dem Kutscher durch die Stadt zu fahren. Hier konnte er wahrnehmen, daß der Jubel sich durchaus auf das Fort beschränkte. Sobald der Wagen die eigentliche Stadt erreichte, bot sich ihm das gewohnte Bild, das er schon von seinem ersten Aufenthalt her kannte und das ganz und gar nichts von dem Eintritt außerordentlicher Ereignisse erkennen oder vermuten ließ. In den engen Gassen herrschte trotz der vorgerückten Stunde ein geschäftiges Treiben. Alle Häuser waren erleuchtet und alle Türen geöffnet, so daß man in das Innere der primitiven Wohnungen blicken, die Handwerker bei ihrer Arbeit, die Händler bei ihren Geschäften und die Hausfrauen bei ihren oft sehr intimen häuslichen Verrichtungen beobachten konnte. Um den Krieg kümmerte man sich hier augenscheinlich ebenso wenig wie um die schreckliche Würgerin der indischen Bevölkerung, die Pest, und die Siegesdepesche, die doch ohne Zweifel auch in der Eingeborenenstadt bekannt geworden war, hatte offenbar nicht den geringsten Eindruck gemacht.
Gegen elf Uhr kehrte Heideck in das Hotel zurück, wo er die Familie Kennedy mit Edith noch in eifriger Unterhaltung auf der Terrasse antraf. Der alte Herr schien plötzlich um ein Jahrzehnt verjüngt.
„Natürlich werden wir jetzt nicht abreisen,“ erklärte er. „Sobald die Russen den Norden wieder geräumt haben, kehren wir nach Simla zurück.“
Heideck sagte nichts dazu, und als bereite ihm die so offen kundgegebene Herzensfreude der Engländer eine peinliche Empfindung, verabschiedete er sich sehr bald, um in sein Zimmer hinaufzugehen, das ebenso wie dasjenige Ediths im zweiten Stockwerk gelegen war.
Nach der Sitte des Landes hatten sämtliche Räume Türen nach dem breiten Balkon, der das ganze Stockwerk als Außengalerie umgab. Und da ihm ein Blick Ediths wiederholt hatte, daß er sie dort erwarten möge, trat Heideck auf diese Galerie hinaus. Seine Geduld wurde nicht allzu hart auf die Probe gestellt. Auch sie mußte bald Gelegenheit gefunden haben, sich aus der Gesellschaft der Kennedys loszumachen, denn früher noch als er gehofft hatte, sah er ihre weiße Gestalt auf sich zukommen.
„Ich danke dir, daß du mich erwartet hast,“ sagte sie, „aber wir können hier nicht bleiben, da wir keinen Augenblick vor Ueberraschung sicher wären. Laß uns lieber in mein Zimmer gehen.“
Heideck folgte ihr zögernd. Aber er wußte, daß Edith es als eine Beleidigung empfinden würde, wenn er gegen ihre Aufforderung ein Bedenken äußern würde, denn im felsenfesten Vertrauen auf seine ritterliche Ehrenhaftigkeit schien sie in der Tat keine Besorgnis zu kennen. Nur der schwache Schein des Mondes erfüllte das Gemach mit einer matten Helligkeit. Vom Turme der nahen Universität schlug es zwölf.
„Das Schicksal treibt ein sonderbares Spiel mit uns,“ sagte Edith, die sich in einen der kleinen Korbsessel niedergelassen hatte, während Heideck in der Nähe der Tür stehen geblieben war, „ich[S. 239] gestehe dir, daß ich seit dem Eintreffen der Siegesnachricht ein paar fürchterliche Stunden verlebt habe, denn die Kennedys haben ja auf diese Nachricht hin ihre Reiseabsichten aufgegeben, und sie scheinen es für ganz selbstverständlich zu halten, daß ich mit ihnen hier in Indien bleibe.“
„Und würdest du nicht in der Tat vorerst dazu gezwungen sein, liebste Edith?“
„Auch du also hast bereits mit dieser Möglichkeit gerechnet? Du würdest dich nicht besinnen, ohne mich zu reisen? Vielleicht sogar mit einem Gefühl der Erleichterung, von mir befreit zu sein?“
„Wie kannst du solche Gedanken aussprechen, Edith, an die du selbst doch wohl nimmermehr glauben kannst?“
„O, wer weiß! Du bist ehrgeizig, und wir armen Frauen sind niemals übler daran, als mit ehrgeizigen Männern.“
„Aber es ist wahrscheinlich überflüssig, daß wir uns jetzt mit der Erörterung solcher Möglichkeiten quälen. Ich habe bis jetzt noch nicht einen Augenblick an den Eintritt einer Aenderung in unseren Reisedispositionen geglaubt.“
„Das heißt, du zweifelst an der Zuverlässigkeit der Siegesnachricht?“
„Ehrlich gesprochen: ja. Ich habe den alten Herrn nicht kränken und ihm die kurze Freude nicht verderben wollen. Darum habe ich ihm gegenüber meinem Mißtrauen nicht Ausdruck gegeben. Aber die Depesche macht in Wahrheit einen sehr wenig glaubwürdigen Eindruck. Enthält sie doch nicht einmal eine genauere Angabe des Ortes, wo die Schlacht stattgefunden haben soll. Sie muß einem unbefangenen Beurteiler zum mindesten sehr verdächtig vorkommen.“
„Und wer sollte sich das traurige Vergnügen bereitet haben, die Welt für eine kurze Zeitspanne auf solche Art zu täuschen?“
„O, es gibt viele, die ein Interesse daran haben würden. Während jedes Krieges flattern hier und da solche falschen Nach[S. 240]richten auf, ohne daß sich in den meisten Fällen feststellen läßt, woher sie kamen. Vielleicht ist es ein Börsenmanöver.“
„Du hältst es also für ganz unmöglich, daß wir die Russen besiegen können?“
„Nicht gerade für unmöglich, aber doch für sehr unwahrscheinlich. Wenigstens bei der augenblicklichen Kriegslage. Und dann ist es das Ausbleiben aller genaueren Nachrichten, das mich stutzig macht. Ein siegreicher Feldherr findet immer Zeit zur Mitteilung von Einzelheiten, mit denen der Besiegte gern auf sich warten läßt. Ich bin überzeugt, daß der hinkende Bote sehr bald nachkommen und hinsichtlich unserer Reisepläne alles beim Alten bleiben wird.“
Edith schwieg. Ihr Vertrauen zu Heideck war so unbegrenzt, daß seine Worte sie vollständig überzeugt hatten. Aber sie hatten ihr die freudig zuversichtliche Stimmung der letzten Tage dennoch nicht wiederzugeben vermocht.
„Es wird alles beim Alten bleiben?“ sagte sie endlich. „Das heißt, du wirst uns in Brindisi verlassen?“
„Allerdings. Es gibt ja für mich keinen anderen Weg, um zur Armee zu gelangen.“
„Und wenn du nun überhaupt darauf verzichtest, zur Armee zurückzukehren? Hast du denn noch gar nicht daran gedacht, daß wir unser künftiges Glück recht wohl auf einer anderen Grundlage aufbauen könnten?“
Verwundert sah Heideck sie an.
„Nein, liebste Edith, daran habe ich in der Tat noch nicht gedacht, denn es wäre ein sehr überflüssiger und törichter Gedanke gewesen, solange mir durch Pflicht und Ehre auf das Bestimmteste vorgeschrieben ist, was ich zu tun habe.“
„Pflicht und Ehre! Natürlich, ich konnte mir wohl denken, daß du sogleich wieder mit großen Worten bei der Hand sein würdest. Es ist so bequem, sich hinter einen solchen unangreifbaren Schutz[S. 241]wall zurückziehen zu dürfen, wenn damit zugleich den eigenen Wünschen Genüge geschieht!“
„Edith! Wie ungerecht haben dich doch die traurigen Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit gemacht! Bei ruhiger Ueberlegung wirst du selbst einsehen, daß meine persönlichen Wünsche und die Sehnsucht meines Herzens hier gar nicht in Frage kommen. Und ich verstehe nicht einmal, was ich deiner Meinung nach denn eigentlich tun sollte.“
„O, es gäbe mehr als eine Möglichkeit, die uns den Schmerz einer Trennung ersparen würde. Aber ich will dir nur die nächstliegende nennen. Könnten wir nicht sehr wohl zusammen in Indien bleiben? Wenn es die Vermögensfrage ist, die dir Bedenken verursacht, so kann ich dich darüber leicht beruhigen. Ich habe Geld genug für uns beide, und was mir gehört, das ist auch dein. Wenn wir uns hier in eine Gegend zurückziehen, in die der Krieg nicht kommen kann — in eine Hill-Station, nach Poona oder Mahabaleshwar, so wird niemand dich mit Fragen behelligen oder gar daran denken, dich zu verfolgen. Und es wird Gott wohlgefälliger sein, wenn du dort ganz deiner Liebe lebst, als wenn du deine Brüder tötest.“
Trotz der Ernsthaftigkeit, mit der sie sprach, konnte Heideck sich nicht enthalten, ihr lächelnd zu entgegnen:
„Wie wunderlich sich doch zuweilen in so einem hübschen Frauenköpfchen die Welt und die Verhältnisse malen. Es ist wahrhaftig ein Glück, daß wir nüchterne Männer unsern Verstand nicht ganz so leicht mit dem Herzen durchgehen lassen. Wir würden sonst schlimm genug daran sein, denn ihr selbst wäret sicherlich die ersten, die sich mit Geringschätzung von uns abwenden würden, sobald wir uns das Glück eurer Liebe um jeden Preis, selbst um den eurer und der eigenen Achtung, erkaufen wollten.“
Edith Irwin gab es auf, ihm zu widersprechen. Mit schwermütiger Miene blickte sie lange schweigend in die mondhelle indische Nacht hinaus. Und dann, als Heideck auf sie zutrat, um sich mit[S. 242] einem zärtlichen Wort zu verabschieden, sagte sie in einem Ton, der ihm ganz seltsam zu Herzen ging:
„Ob wir uns nun verstehen oder nicht — in einem wenigstens sollst du dich keiner Täuschung hingeben: Wohin du auch immer gehen magst — in ein Paradies des Friedens oder die Hölle des Krieges — ich werde dich nicht verlassen.“
Sie warf sich mit leidenschaftlichem Ungestüm an seine Brust und preßte ihre heißen Lippen auf seinen Mund. Dann aber, als fürchte sie sich vor ihres eigenen Herzens Gluten, drängte sie ihn mit sanfter Gewalt zur Tür.
Auf die Siegesbotschaft folgte, wie Heideck vorausgesehen hatte, eine für die Engländer niederschmetternde Nachricht. Am folgenden Tage, sehr spät, nachdem Bombay den Morgen und Mittag hindurch vergebens auf eine Bestätigung der Depesche von gestern und auf nähere Einzelheiten gewartet hatte, und die Stimmung bereits eine recht gedrückte geworden war, veröffentlichte der Gouverneur folgende Depesche des Höchstkommandierenden:
‚Als am gestrigen Tage größere Truppenmassen des Feindes nördlich von Delhi gemeldet wurden, nahm die Armee eine für die Defensive günstige Stellung ein, und es kam zu einem für die britischen Waffen ehrenvollen Kampfe. Die Russen erlitten ungeheure Verluste. Bei Einbruch der Dunkelheit, die eine weitere Verfolgung der errungenen Vorteile nicht gestattete, beorderte ich das Gros der Armee zu einem strategisch wertvollen Marsche auf Lucknow, der sich größtenteils auf der Eisenbahn vollzog. Die Brigade Simpson ist zur Verteidigung Delhis zurückgeblieben. Die schweren Geschütze der Sha-Bastion und der Bastion von Kalkutta-Gate und North-Gate sind in erfolgreiche Tätigkeit getreten. Alle Truppenteile haben sich ausgezeichnet benommen und verdienen das höchste Lob. Die Brücke über den Jumna ist intakt und vermittelt den direkten Verkehr mit General Simpson.‘
Mr. Kennedy saß nachdenklich über dieser Depesche, als Heideck zu ihm trat.
„Also eine entscheidende Niederlage, nicht wahr, Mr. Heideck?“ sagte er. „Sie als Militär können ja noch mehr zwischen den Zeilen lesen als ich. Ich kenne doch Delhi. Wenn die Batterien an der Jumnabrücke feuern, so müssen die Russen im Begriff sein, sich dieses Uebergangs zu bemächtigen. Die North-Gate-Bastion ist ja der Brückenkopf.“
Heideck mußte ihm recht geben; aber er hatte noch mehr aus der Depesche gelesen und erblickte die schlimmsten Anzeichen in dem Rückzuge des Generals auf Lucknow.
Weitere Depeschen vom Kriegsschauplatze wurden im Laufe des Tages nicht veröffentlicht, weil der Gouverneur der Bevölkerung verheimlichen wollte, wie traurig die Verhältnisse lagen. Mr. Kennedy aber, der im Gouvernementsgebäude gewesen war, erfuhr mehr. Er erzählte Heideck, daß die englische Armee in voller Auflösung geflohen wäre und 8000 Mann an Toten und Verwundeten, 20 Geschütze nebst vielen Fahnen und Standarten verloren hätte. Die Regierung gäbe Delhi bereits auf, denn General Simpson könne die Stadt nicht halten.
„Indien ist uns verloren,“ schloß Mr. Kennedy in tiefem Schmerz. „Jetzt habe ich auch meine letzte Hoffnung begraben.“ — — —
Die ‚Caledonia‘ hatte im Victoria-Dock, einem Teil der großartigen Hafenanlagen auf der Ostküste der Halbinsel, festgelegt, und die Reisenden begaben sich inmitten eines dichten Menschengewühls an Bord. Viele verwundete und kranke Offiziere und Soldaten sollten auf dem schnellen Dampfer nach England zurückbefördert werden und nahmen die sonst für die Passagiere bestimmten Plätze ein. Von Reisenden, die in Geschäften oder zum Vergnügen nach Europa fuhren, war nichts zu sehen. Alle Frauen, die an Bord[S. 245] kamen, gehörten Militärfamilien an. Die allgemeine Stimmung war sehr trübe.
Heideck hatte vor der Einschiffung seinen treuen Diener entlassen. Wohl hatte Morar Gopal mit Tränen in den Augen gebeten, ihn mitzunehmen, aber Heideck mußte fürchten, daß der arme Kerl am europäischen Klima zu Grunde gehen würde. Und beim Eintritt in die Armee hätte er sich ja doch von ihm trennen müssen. So schenkte er ihm hundert Rupien und machte ihn dadurch zum reichen Mann.
Langsam bewegte sich der große Dampfer aus dem Hafenbassin, vorbei an englischen Handelsfahrzeugen und den weißen Kriegsschiffen, die Soldaten und Kriegsmaterial hergeführt hatten.
Heideck sah, als die ‚Caledonia‘ nun in schnellerer Fahrt den Außenhafen durchschnitt, wohl zwanzig Kriegsschiffe, darunter mehrere große Panzer, auf der Reede. Von zwei Transportdampfern, deren Verdeck von Waffen glänzte, wurden englische Truppen, die von Malta kamen, in Booten gelandet.
Dann ging es immer schneller auf die hohe See hinaus. Die Stadt mit ihren Leuchttürmen verschwand in der Ferne, die blauen Berge des Festlandes und der Insel lösten sich in verschwimmenden Nebel auf. Eine lange, weißschimmernde Furche folgte dem Dampfer.
Die Fahrt war wundervoll für jeden, den nicht schwere Sorgen unempfindlich machten für die Erhabenheit der Natur. Heideck, der glücklich war, sich endlich auf dem Heimwege zu befinden, genoß in vollem Maße die Schönheit des Meeres und des Himmels. Die bangen Zweifel, die ihn zuweilen wegen Ediths und seiner eigenen Zukunft überkamen, wurden unterdrückt durch den Reiz ihrer Gegenwart. Wohl hielten die Stürme ihres Charakters ihn beständig in unruhiger Bewegung, aber er liebte Edith, die seit jener Stunde, da sie ihm erklärt hatte, daß sie ihn niemals verlassen würde, ganz Hingebung und Zärtlichkeit war, als wäre sie von einer beständigen Furcht gequält, daß er sie dennoch eines Tages von sich stoßen könnte.
So saßen sie wieder einmal auf dem Promenadendeck beieinander. In azurblauen Wogen rauschte das Meer um die Planken des Schiffes. Ein wunderbares Flimmern und Leuchten ging von der unabsehbaren Fläche aus. Die ganze Welt schien in Licht gebadet; aber das doppelte Sonnendach über den Häuptern des jungen Paares wehrte der Glut der Sonne, und ein erfrischender Lufthauch strich unter ihm dahin.
„Du würdest also in Brindisi mit mir an Land gehen?“ fragte Heideck.
„In Brindisi oder schon in Aden oder in Port Said — wo du willst.“
„Ich denke, Brindisi wird der geeignetste Platz sein. Dann fahren wir zusammen nach Berlin.“
Edith nickte zustimmend.
„Aber ich weiß nicht, wie lange ich in Berlin bleibe,“ fuhr Heideck fort. „Ich hoffe, man schickt mich nicht sofort wieder zur Armee.“
„Dann gehe ich mit dir, wohin es auch sei,“ sagte sie so ruhig, als ob es sich um etwas ganz Selbstverständliches handle.
„Das ist wohl nicht gut möglich,“ erwiderte er lächelnd. „Bei uns führt man Krieg ohne Frauen.“
„Und ich werde doch mit dir gehen.“
Heideck sah sie verwundert an. „Aber begreifst du denn nicht, mein Lieb, daß es etwas ganz Neues sein würde und Aufsehen erregen müßte, wenn ein deutscher Offizier mit seiner Braut ins Feld zöge?“
„Ich fürchte das Urteil der Menschen nicht. Ich kümmere mich ja auch nicht darum, was die Kennedys sagen werden, wenn ich in Brindisi das Schiff verlasse und mit dir gehe. Es wird ja ein schlimmer Sturz für mich werden; denn die Kennedys würden mich von Stund an als eine Verlorene ansehen. Aber ich mache mir nichts daraus. Ich bin längst von der Torheit geheilt, daß[S. 247] man sein Glück opfern müsse, nur dem Gerede der Welt zuliebe.“
Er nahm natürlich ihre Absicht, ihn ins Feld zu begleiten, trotzdem nicht ernst und benutzte die Gelegenheit, ihr einen Vorschlag zu machen, den er bei sich selber schon reiflich erwogen hatte.
„Ich würde es für das Beste halten, liebe Edith, wenn du zu meinem Onkel nach Hamburg gingest und dort das Ende des Krieges abwartest. Dann — sofern mir der Himmel das Leben gelassen, — steht unserer Vereinigung nichts mehr entgegen.“
Sie antwortete nicht, und Heideck, der ihr Zeit lassen wollte, mit sich zu Rate zu gehen, beeilte sich, das Gespräch von diesem Thema abzulenken.
„Sieh, wie schön das ist!“ sagte er, auf das Wasser deutend.
Eine lange Reihe weiß aufschäumender Wellen zog sich jetzt zu beiden Seiten des Schiffes hin, so daß es aussah, als durchschnitte der Kiel eine Menge kleiner Klippen, über die das Meer hinwegbrandete. Aber bei näherer Beobachtung ließ sich erkennen, daß es keine Klippen waren, sondern unzählige große Fische, die wie in langer Schlachtreihe einherzogen und das Schiff begleiteten. In großen Sprüngen schnellten sie aus dem Wasser empor, so daß man die hellen Leiber in der Luft glitzern sah.
„Ich möchte wohl einer von diesen Delphinen sein,“ sagte Edith. „Sieh, wie frei und lustig ihr Dasein ist.“
„Du glaubst ja an die Seelenwanderung,“ scherzte Heideck, „vielleicht bist du einmal ein solcher Delphin gewesen.“
„Dann habe ich sicherlich keinen vorteilhaften Tausch gemacht. Mit unserer höheren geistigen Entwicklung verlieren wir unzweifelhaft den rechten Genuß des natürlichen Daseins. Die Schmerzen aber, an denen das menschliche Leben so viel reicher ist, als an Freuden, lernen wir um so tiefer empfinden.“ —
Die Fahrt durch den indischen Ozean währte sechs Tage, und Heideck hatte oft Gelegenheit, die Ansicht der englischen Offiziere und Beamten über die politische Lage zu hören. Alle klagten sie die Unfähigkeit der Regierung an, die England in eine so gefährliche Situation gebracht hatte.
„Die guten alten Grundsätze der englischen Politik sind aufgegeben worden,“ sagte eines Tages ein Oberst, der wegen einer schweren Verwundung nach England zurückkehren mußte. „In früheren Zeiten hat England seine Eroberungen gemacht, wenn die kontinentalen Mächte in Kriege verwickelt waren, oder es hat auch selbst in Koalition mit anderen Mächten Krieg geführt, um seinen Besitz zu erweitern. Nie aber hat es sich so schimpflich überrumpeln lassen wie jetzt. Frankreich und Deutschland werden wir natürlich besiegen; denn hier handelt es sich um die Seemacht. Aber selbst wenn diese beiden Mächte geschlagen worden sind, bleiben wir doch die Unterliegenden; denn der Verlust Indiens ist für Englands Gesundheit und Leistungsfähigkeit so schlimm, wie für mich die Amputation meines linken Beines. Ich kehre als Krüppel nach England zurück, und auch mein armes Vaterland wird nach dem Verluste Indiens nur noch ein Krüppel sein.“
„Ja, wahrhaftig,“ sagte Mr. Kennedy, „es wird schwer, ich fürchte, es wird unmöglich sein, Indien wieder zu erobern. Den Franzosen, den Holländern, den Portugiesen konnten wir ihre indischen Besitzungen entreißen, weil sie auch nur durch ihre Seemacht mit Indien in Verbindung standen, aber die Russen gliedern die Halbinsel an ihr Reich an und könnten selbst im Falle einer Niederlage immer neue, ungezählte Scharen dorthin zu Lande marschieren lassen. Ich sehe sie schon auf Kalkutta, auf Bombay, auf Madras losgehen, die Häfen besetzen, die mit unserm Gelde gebaut wurden, und in unsern Docks eine Kriegsflotte mit den Hilfsmitteln Indiens bauen.“
„Es ist den kontinentalen Mächten ja nicht zu verdenken,“ fuhr[S. 249] der Oberst fort, „wenn sie unsere Niederlagen benutzen, um sich zu vergrößern. Da ist keine Macht, auf deren Kosten wir nicht groß geworden wären. Alle unsere Besitzungen haben wir den Spaniern, den Holländern, den Portugiesen, den Franzosen mit Gewalt der Waffen entrissen, und Rußland haben wir bekämpft, seitdem es anfing seine Macht zu entfalten. Wir haben die Türkei unterstützt, wir sind in die Krim eingefallen und haben Sebastopol zerstört, wir haben die Flotte im Schwarzen Meer erstickt. Aber jetzt haben wir uns verrechnet. Wir haben den Japanern erlaubt, Rußland anzugreifen, aber wenn unsere Minister geglaubt haben, die Japaner würden für jemand anders als sich selbst kämpfen, so haben sie sich stark verrechnet. Rußland entschädigt sich bei uns für seine Verluste in Ostasien.“
„Nicht Rußland ist unser schlimmster Feind, Deutschland ist es,“ widersprach Mr. Kennedy. „Rußland ist es erst geworden, seitdem wir Deutschland so mächtig werden ließen. Ich erinnere mich noch, wie unsere Minister triumphierten, als Preußen mit Oesterreich und Frankreich Krieg führte. Denn wieder schien der europäische Kontinent durch seine innere Zerrissenheit auf lange Zeit hinaus lahmgelegt. Ein kurzer Triumph! Niemand hatte geahnt, daß Preußen sich so stark erweisen würde. Und damals zeigten sich die ersten Schwächen unserer Politik. Nach den ersten deutschen Siegen am Rhein hätte England eine Allianz mit Frankreich schließen und Preußen den Krieg erklären müssen. Große politische Umwälzungen erfordern eine lange Zeit, und eine kluge Regierung muß weit voraussehen. Bismarck hat Englands Niederlage langsam vorbereitet. Das lag vor dreißig Jahren wie eine Ahnung in uns, gleich einer drohenden Gewitterwolke zog es herauf, aber unsere Regierung hatte nicht den Mut, klar zu sehen und ermangelte der rechten Energie.“
Ein General, der schweigend dagesessen hatte, ergriff das Wort. Er war aus dem Geniekorps hervorgegangen und jetzt dazu bestimmt, das Kommando von Gibraltar zu übernehmen.
„Wir sprechen von dem Verluste Indiens,“ sagte er, „aber wer weiß, ob nicht England selbst eine Invasion im Mutterlande zu befürchten hat!“
„Unmöglich!“ entgegneten alle anwesenden Herren, „niemals werden Englands Kriegsschiffe sich aus dem Kanal verdrängen lassen.“
„So hoffe auch ich, aber ich weiß nicht, ob die Herren sich noch erinnern, wie nahe einst die Gefahr war, daß eine napoleonische Armee Englands Boden betrat.“
„Und wenn sie erschienen wäre, so wäre sie von Britenfäusten zerschmettert worden!“ rief Mr. Kennedy.
„Vielleicht! Aber warum haben wir niemals zugegeben, daß ein Tunnel unter dem Kanal von Calais nach Dover gebaut würde? Alle militärischen Autoritäten, namentlich Wolseley, haben es unter keiner Bedingung erlauben wollen, daß dem Verkehr und dem Handel dieser bequeme Weg eröffnet werde. Sie haben es immer für notwendig erklärt, daß England eine Insel bliebe, die nur übers Meer zu erreichen wäre. Ganz gewiß ist dies die erste und wichtigste Bedingung für Englands Macht.“
„Nun also,“ sagte Mr. Kennedy. „Da England doch eine Insel ist und wir stets den Grundsatz aufrecht erhalten haben, unsere Flotte der Seemacht zweier Seemächte, und zwar der stärksten, überlegen zu erhalten — wo wäre da eine Gefahr?“
„Eine Gefahr? Eine Gefahr besteht immer, wenn man Feinde hat,“ erwiderte der General. „Und ich behaupte: es hing zu Anfang des 19. Jahrhunderts an einem Haar, daß Napoleon herüberkam, und ich glaube nicht, daß wir diesem großen Gegner gewachsen gewesen wären, wenn er einmal festen Fuß an unserer Küste gefaßt hätte.“
„Sein Plan war phantastisch und darum unausführbar,“ sagte Mr. Kennedy.
„Sein Plan scheiterte nur daran, daß er zu kompliziert war.[S. 251] Hätte Napoleon aber telegraphische Verbindungen zur Verfügung gehabt, wie sie heute bestehen, so wäre sein Plan nicht zu kompliziert gewesen. Mit den Kabeln von heutzutage hätte er seine Flotten dirigieren können. Wäre der Admiral Villeneuve nicht nach Kadix, sondern, wie ihm befohlen war, nach Brest gesegelt, um sich dort mit Admiral Ganteaume zu vereinigen, so hätte er, an der Spitze von sechsundfünfzig Linienschiffen, den Uebergang Napoleons von Boulogne nach der englischen Küste decken können. Nein, meine Herren, denken Sie sich die strategische Lage Englands nicht als unangreifbar. Ich vertraue so fest wie Sie auf die Ueberlegenheit unserer Seestreitkräfte, aber zur Zeit des Dampfes und der Elektrizität ist England nicht mehr so sicher, wie damals, als die Bewegung der Schiffe vom Winde abhängig war und die Befehle durch reitende Boten und Signale übermittelt werden mußten.“
„So glauben Sie wirklich, daß Napoleons Plan ausführbar gewesen wäre, General?“
„Ganz gewiß. Napoleon hatte bei diesem Unternehmen kein Glück. Zunächst war sein größtes Mißgeschick der Tod des Admirals Latouche-Tréville. Dieser Mann hätte an Villeneuves Stelle die Flotte wahrscheinlich richtig geführt. Es war der einzige französische Seeoffizier, der unserm Nelson hätte entgegentreten können. Aber er starb für Frankreich zu früh, und sein Nachfolger Villeneuve war ihm geistig nicht ebenbürtig. Aber es gibt noch besondere Verhältnisse, die heutzutage günstiger für eine Landung in England sind als zu Napoleons Zeit. Dazu gehört, abgesehen von Kabel und Dampf, zum Beispiel noch der Umstand, daß die modernen Transportschiffe ungleich viel mehr Truppen fassen können, wie damals. Napoleon hatte zweitausendzweihundertdreiundneunzig Fahrzeuge zum Transport seiner Armee von einhundertfünfzigtausend Mann und zur Bedeckung der Transportschiffe ausrüsten müssen, verfügte über eintausendzweihundertvier Kanonenboote und einhundertfünfunddreißig andere bewaffnete Fahrzeuge, außer den[S. 252] eigentlichen Transportschiffen. Fast alle seine Fahrzeuge waren so gebaut, daß sie ohne Boote auf flachem Sandstrande Mannschaften und Pferde mit Geschütz landen konnten. Sie bedurften also auch der Windstille, um über den Kanal zu kommen. Etwa zehn Stunden ruhiger See hätten sie nötig gehabt, um zwischen Dover und Hastings anzukommen. Jetzt aber ist dies anders. Die großen Dampfer der Schiffsgesellschaften Deutschlands und Frankreichs stehen zur Verfügung der Marineleitung.“
„Dennoch bleibt alles beim alten,“ sagte Mr. Kennedy. „Der Sieg auf hoher See gibt den Ausschlag. Keine feindliche Flotte wird sich im Kanal zeigen können, ohne von der unsrigen zerstört zu werden.“
„Hoffen wir es!“ sprach der General.
Auf der Fahrt nach Aden begegneten der ‚Caledonia‘ nur wenige, ausschließlich englische Schiffe. Mehrere Transportdampfer mit Truppen an Bord, passierten auch einige Kriegsschiffe. Ueberholt wurde der Dampfer von keinem Fahrzeuge, denn er machte durchschnittlich 22 Seemeilen Fahrt in der Stunde. Am Morgen des sechsten Tages erschienen die rotbraunen Felsen von Aden, und die ‚Caledonia‘ warf auf der Reede Anker. Eine Menge von kleinen Fahrzeugen schoß heran. Nackte schwarze Araberknaben schrieen nach Geld und zeigten ihre Taucherkünste, indem sie Silberstücke, die vom Bord geworfen wurden, auffischten. Da Kohlen eingenommen werden sollten, gingen die Passagiere, soweit sie bewegungsfähig waren, in von Arabern geruderten Fahrzeugen an Land.
Heideck schloß sich der Familie Kennedy an.
Als das Boot den tief eingeschnittenen Hafen erreichte, der in mehreren Biegungen zwischen befestigten Höhen eine sichere Unterkunft für eine ganze Flotte bot, sah Heideck wohl zwanzig englische Kriegsschiffe, aber mindestens die dreifache Zahl deutscher und französischer sowie einige russische Kauffahrer. Es waren Fahrzeuge,[S. 253] die von englischen Kriegsschiffen erbeutet waren. Auch mehrere Kreuzer der drei mit England in Fehde befindlichen Mächte lagen hier im Hafen. Sie waren nach Ausbruch des Krieges im Indischen Ozean von überlegenen englischen Schiffen genommen worden.
Da der ganze Tag bis zum Abend zur Verfügung stand, nahm Mr. Kennedy einen Wagen, und Heideck fuhr mit der Familie zur Stadt, die, von der Reede aus nicht sichtbar, zwischen hohen, spitzen Bergen eingebettet lag. Die Fahrt ging an einem großen, freien Platze vorüber, auf dem Tausende von Kamelen und Eseln zum Verkauf standen, und Heideck konnte nun in der Nähe die mächtigen Festungswerke bewundern, die die Engländer seit dem 9. Januar 1839, wo sie Aden den Türken abgenommen hatten, auf der wichtigen, meerbeherrschenden Gebirgsecke Arabiens erbaut hatten. Auch die merkwürdigen Tanks wurden besichtigt, jene berühmten Zisternen, die Aden mit Wasser versorgen, etwa fünfzig Becken, die dreißig Millionen Gallonen Wasser enthalten sollen, Anlagen, deren Ursprung in das graueste Altertum zurückreicht und den Persern zugeschrieben wird.
Um sieben Uhr abends waren die Reisenden wieder an Bord und vertieften sich, während die ‚Caledonia‘ ihre Reise fortsetzte, in die Lektüre der englischen, französischen und deutschen Zeitungen, die sie in Aden gekauft hatten. Diese Blätter waren freilich zehn Tage alt, enthielten aber trotzdem vieles, was den Reisenden neu war.
Im Roten Meere war es sehr heiß, und die Gesellschaft der ersten Kajüte schlief zum größten Teile nachts auf dem Verdeck, wie sie es schon die letzten Tage vor Aden getan hatte. Für die Damen ward ein besonderer Teil des Decks durch ein ausgespanntes Segel abgeteilt.
In Port Said, wo viele englische Kriegsschiffe lagen, wurden wiederum Kohlen eingenommen; dann ging die Fahrt bei ungünstigem Wetter und etwas bewegter See in das Mittelländische Meer hinein.[S. 254] Die ‚Caledonia‘ fuhr an der Südküste Kretas hin. Dann nahm der Dampfer den Kurs nordwestlich auf Brindisi, das am achten Tage nach der Abfahrt von Aden erreicht werden sollte. In der Frühe des siebenten Tages aber wurde ein Schiff, von der Nordseite Kretas kommend, bemerkt, dessen Erscheinen den Kapitän der ‚Caledonia‘ in lebhafte Unruhe versetzte. Bald teilte sich diese Unruhe auch den Passagieren mit. Alle Fernrohre und Feldstecher richteten sich nach jenem Fahrzeuge, dessen Kurs den der ‚Caledonia‘ durchschneiden mußte.
Bald war der Dampfer so nahe gekommen, daß man ihn erkennen konnte. Es war der kleine französische Kreuzer ‚Forbin‘, und er mußte mit der ‚Caledonia‘ zusammentreffen, wenn diese ihren Kurs fortsetzte.
Der ‚Forbin‘ war ein Kreuzer dritter Klasse; er war nicht so schnell wie die ‚Caledonia‘, die Offiziere schätzten seine Geschwindigkeit auf 21 Seemeilen, und wenn es einen Wettlauf gegolten hätte, so wäre der ‚Forbin‘ unterlegen; aber wenn die ‚Caledonia‘ nach Brindisi fuhr, mußte sie dem Franzosen begegnen und ihrer Wegnahme gewärtig sein. Infolgedessen änderte der Kapitän seinen Kurs und fuhr westlich in der Richtung auf Malta, ohne auf das Signal zum Stoppen und die nachfolgenden Schüsse zu achten, von denen nur einer durch die Takelage ging, ohne jedoch nennenswerte Havarie anzurichten.
‚Jetzt ist es Mittag,‘ sagte sich Heideck. ‚Wir sollten morgen in Brindisi sein. Statt dessen werden wir wohl morgen in La Valetta sein, wenn nicht etwa der Kapitän wiederum den Kurs ändert und auf die Schnelligkeit der ‚Caledonia‘ vertraut, um trotz des ‚Forbin‘ Brindisi zu erreichen.‘
Da erscholl ein Ruf. Der Posten hatte ein Schiff an Backbord voraus gemeldet.
Aber neben jenem einen tauchten innerhalb der nächsten Minuten noch weitere zwei Fahrzeuge auf.
Das eine davon war, wie sich nachher herausstellte, der französische Kreuzer zweiter Klasse ‚Aréthuse‘, die beiden anderen der geschützte Kreuzer ‚Chanzy‘ und ein Torpedojäger.
Unmöglich konnte die ‚Caledonia‘ an den Franzosen vorbei nach Malta kommen, denn der Torpedojäger, viel schneller als sie, ging gewiß bei Volldampf mit 27 Seemeilen Fahrt in der Stunde. So blieb dem Kapitän nichts anderes übrig; er drehte und fuhr zurück in der Richtung auf Alexandria.
Während der große Dampfer aber noch seine Drehung machte, wurde schon an Bord wahrgenommen, daß auch die Franzosen ihn gesehen hatten und auf ihn Jagd machten.
Inzwischen war auch der ‚Forbin‘ wieder bedeutend näher gekommen und versuchte die ‚Caledonia‘ abzuschneiden. Infolgedessen ließ der Kapitän noch weiter südlich steuern.
Heideck stand mit Edith auf dem Promenadendeck und verfolgte die Bewegung der Schiffe.
„Was könnte uns denn geschehen,“ fragte Edith, „wenn die Franzosen uns einholten? Sie werden doch nicht auf ein unbewaffnetes Schiff schießen!“
„Gewiß nicht. Aber sie würden uns auffordern, unsere Fahrt zu unterbrechen, und dann würden sie die ‚Caledonia‘ nach dem nächsten französischen Hafen bringen.“
„Ist denn dies Seekriegsrecht, und ist das allgemeine Völkerrecht so unvollkommen, daß ein Passagierdampfer weggenommen werden kann? Die ‚Caledonia‘ führt doch nicht Krieg. Sie bringt Verwundete und harmlose Reisende nach Hause.“
„Unser Kapitän scheint kein großes Vertrauen zum Seekriegsrecht und zum Völkerrecht in dieser Beziehung zu haben,“ sagte Heideck. „Und in der Tat gibt es nichts Ungewisseres, als diese Bestimmungen. Genau genommen gibt es gar kein Völkerrecht, sondern der Stärkere macht mit dem Schwächeren, was er will, und die einzige Schranke, die der Willkür des Siegers entgegengesetzt[S. 256] werden kann, ist die Scheu vor der öffentlichen Meinung. Aber diese Scheu ist bei dem Mächtigen auch nicht allzu stark, zumal er weiß, daß die öffentliche Meinung bestochen werden kann.“
„Das Völkerrecht,“ sagte Edith mit schwermütigem Lächeln, „scheint also dem Recht sehr ähnlich zu sein, das überhaupt auf Erden zwischen den Menschenkindern geübt wird.“
„Die Franzosen würden übrigens keine schlechte Beute machen, wenn sie die ‚Caledonia‘ aufbrächten,“ fuhr Heideck fort. „Unter den achthundert Passagieren sind gegen dreihundert Militärs, und ich habe gehört, daß sich große Summen Geldes an Bord befinden.“
Das Promenadendeck war angefüllt mit den Passagieren der ersten Kajüte, die gespannt und angstvoll die Bewegung der Schiffe verfolgten. Auch im Zwischendeck, wie unter den Passagieren der zweiten Kajüte herrschte große Unruhe. Im günstigsten Falle, wenn die ‚Caledonia‘ den Verfolgern entkam, mußte die Reise ja eine beträchtliche Verzögerung erfahren. Aber es war kaum anzunehmen, daß die ‚Caledonia‘ bis nach Alexandria gelangen würde. Denn wenn auch der ‚Chanzy‘, der 22 Knoten Fahrt haben mochte, merklich zurückblieb, kam doch der Torpedojäger immer weiter herauf, und auch der ‚Forbin‘ rückte in bedrohliche Nähe.
Da kam eine neue, überraschende Meldung. Zwei Dampfer fuhren der ‚Caledonia‘ entgegen. Alle Gläser wandten sich dorthin, wo die winzigen Rauchsäulen über dem Wasserspiegel erschienen, und bald war mit Sicherheit die britische Flagge zu erkennen.
Der zweite Offizier teilte den Passagieren mit, daß der Kreuzer erster Klasse ‚Royal Arthur‘ und das Kanonenboot ‚O’Hara‘ herankämen. Und er sprach die Hoffnung aus, die ‚Caledonia‘ würde in den Schutz dieser Kriegsschiffe kommen, ehe die Franzosen sie erreichten.
Die See war nur schwach bewegt. Das Leuchten und Flimmern von Himmel und Meer hatte aufgehört, seitdem die ‚Caledonia‘ aus dem Suezkanal herausgekommen war und sich im Mittelländischen Meer befand. Die den europäischen Breiten eigentümliche graue[S. 257] Färbung war an seine Stelle getreten, und streifige Wolken zogen am mattblauen Himmel hin. Die Bewegung der Schiffe ließ sich in dieser Beleuchtung genau verfolgen.
Die englischen Fahrzeuge näherten sich rasch. Und als die Entfernung zwischen dem ‚Royal Arthur‘ und dem französischen Torpedojäger etwa noch zwei und eine halbe Seemeile betrug, begann er aus seinen Buggeschützen auf das wenig über die Oberfläche des Wassers emporragende Fahrzeug zu feuern. Eines der schweren Geschosse sauste so nahe an der ‚Caledonia‘ vorüber, die sich jetzt mitten zwischen den beiden Schiffen befand, daß die Passagiere deutlich den heulenden Ton der die Luft durchschneidenden Granate hören konnten.
Der Franzose erwiderte das Feuer nicht. Er mäßigte seine Geschwindigkeit, um das Herankommen des ‚Chanzy‘ zu erwarten. Von Norden her aber kam inzwischen der ‚Forbin‘ heran und eröffnete aus seinen Buggeschützen das Feuer auf das britische Kanonenboot. Kurze Zeit darauf fiel auch aus den Geschützen des ‚Chanzy‘ der erste Schuß, und jetzt war die Stellung der Schiffe derart, daß das Kanonenboot mit der Breitseite dem ‚Forbin‘ gegenüberlag, die beiden Kreuzer mit den Buggeschützen aufeinander feuerten und der Torpedojäger sich im Hintergrund zurückhielt. Die ‚Caledonia‘ aber war inzwischen so weit vorgerückt, daß sie sich vollständig im Schutze der britischen Kanonen befand.
Hätte der Kapitän jetzt seine Fahrt fortgesetzt, so wäre er wahrscheinlich ungefährdet nach Alexandria gelangt. Aber er wünschte eine so bedeutende Verzögerung seiner Reise zu vermeiden, und die drängenden Bitten der Reisenden, die ihn aufgeregt bestürmten, in der Nähe des Kampfplatzes zu bleiben, kamen seinen Wünschen entgegen.
Die ‚Caledonia‘ mäßigte deshalb ihre Fahrt und hielt sich südöstlich des Gefechtsfeldes, so daß sie ebensowohl nach Brindisi wie nach Alexandria steuern konnte, sobald eine Entscheidung gefallen war.
Eine Weile stand der Kampf gleich. Sowohl der ‚Chanzy‘ wie der ‚Royal Arthur‘ hatten gewendet, kehrten einander jetzt die Breit[S. 258]seiten zu und feuerten, ohne daß jedoch von der ‚Caledonia‘ aus die Wirkung der Geschosse beobachtet werden konnte.
Plötzlich setzte sich der ‚Royal Arthur‘ nordwärts in Bewegung und schoß aus den Heckgeschützen auf seine Gegner.
„Es scheint fast, als wolle er dem ‚O’Hara‘ zu Hilfe kommen,“ sagte Heideck zu der mit dem Feldstecher neben ihm stehenden Edith. „Das Kanonenboot ist dem ‚Forbin‘ offenbar nicht gewachsen, und es hat möglicherweise einen verhängnisvollen Treffer erhalten.“
In der Tat blieb der ‚Royal Arthur‘ in der begonnenen Bewegung nach Norden und steuerte unter beständigem Feuern gegen den ‚Chanzy‘ und den noch immer im Hintergrunde lauernden Torpedojäger dem ‚Forbin‘ zu, auf den er alsbald mit seinen Buggeschützen Feuer zu geben begann.
So entfernte sich das Gefecht immer mehr nordwärts, und der Kapitän der ‚Caledonia‘ beschloß, seinen Kurs wieder westlich zu nehmen. Malta anzulaufen, erschien nicht ratsam, dagegen durfte man in der Annahme, daß der ‚Royal Arthur‘ die französischen Schiffe noch eine geraume Weile festhalten würde, wohl hoffen, Brindisi, das ursprüngliche Reiseziel, zu erreichen.
Aber die Ereignisse machten dem englischen Passagierdampfer einen Strich durch die Rechnung. Es wurde ein Schiff voraus gemeldet, und man sah die ‚Aréthuse‘ herankommen, mit einem Kurs, der sie geradenwegs der ‚Caledonia‘ entgegenführte. Um der Begegnung auszuweichen, ließ der Kapitän sofort nordwärts steuern, und die ‚Caledonia‘ kam dadurch näher, als es beabsichtigt gewesen war am Kampfplatz vorüber, so nahe, daß eine auf den östlich liegenden Torpedojäger gezielte britische Granate, über das niedrige französische Schiff hinwegfliegend, dicht vor ihrem Bug ins Wasser fiel, einen gewaltigen Springquell emporschleudernd.
Wenige Sekunden später setzte sich der französische Torpedojäger in schnelle Fahrt gegen den ‚Royal Arthur‘. Und nun bot sich den Passagieren der ‚Caledonia‘, sowie allen auf dem enger gewordenen[S. 259] Gefechtsfeld befindlichen Seeleuten ein furchtbarer Anblick. Der Torpedojäger hatte endlich den rechten Augenblick zum Angriff erspäht, und sein Lanzierrohr hatte einen meisterhaft gezielten Torpedo gegen den Feind entsandt. Man sah in der Mitte des ‚Royal Arthur‘, dicht über dem Wasserspiegel, erst eine kleine Rauchwolke und dann eine gewaltige Wassersäule emporsteigen. Gleichzeitig ertönte ein dumpfer, die Luft in weitem Umkreise erschütternder Knall, der selbst den Donner der Geschütze übertönte.
Und nun war es, als ob der Kreuzer von Riesenhänden mitten auseinander gerissen würde. Der ungeheure Schiffskörper teilte sich in zwei Hälften. Langsam neigte sich das Vorderteil nach vorn, das Hinterteil nach hinten. Gleich darauf richteten sich beide Teile wieder auf, als wollten sie sich über der klaffenden Bresche aufs neue zusammenschließen. Aber nur wenige Sekunden dauerte diese Bewegung. Dann zog das Gewicht des einströmenden Wassers den Riesenkörper in die Tiefe. Der ‚Royal Arthur‘ sank mit grauenerregender Schnelligkeit. Jetzt ragten nur noch die drei Schornsteine über dem Wasserspiegel empor, wenige Augenblicke später sah man nichts mehr als die Spitzen der Masten mit den für das Gefecht gehißten Toppsflaggen. Dann stieg eine mächtige, schäumende Welle empor, und nur das Branden der Wogen zeigte die Stelle an, wo der stolze Kreuzer gesunken war.
Die Kanonen waren verstummt, und auf allen Schiffen herrschte tiefes Schweigen. Die Passagiere waren wie gelähmt von dem Uebermaß des Entsetzens. Der Kapitän aber befahl, sämtliche Boote auszusetzen, um der Bemannung des ‚Royal Arthur‘ zu Hilfe zu kommen. Man sah, daß auch der ‚Chanzy‘ Boote zu Wasser ließ. Der ‚O’Hara‘ entfloh, um nicht eine Beute der jetzt weit überlegenen französischen Streitkräfte zu werden, und entfernte sich vom Kampfplatz in östlicher Richtung, verfolgt von dem ‚Forbin‘, der ihm Schuß auf Schuß nachsandte.
Wenn der Kapitän der ‚Caledonia‘ auf jeden Fluchtversuch ver[S. 260]zichtet hatte, so folgte er damit nicht nur einer Regung der Menschlichkeit, sondern er gehorchte auch den Signalen des Torpedojägers, die ihm befahlen, beizudrehen. Er wußte, daß es für den ihm anvertrauten Dampfer kein Entrinnen mehr gab, seitdem die Granaten des ‚Royal Arthur‘ aufgehört hatten, den Feind zu bedrohen.
Der Kampf der Unglücklichen, denen es gelungen war, sich aus der dunklen Tiefe emporzuarbeiten, und die nun verzweifelt um ihr Leben rangen, gewährte einen erschütternden Anblick. Die des Schwimmens Unkundigen gingen sehr bald unter, wenn es ihnen nicht gelungen war, sich eines treibenden Gegenstandes zu bemächtigen. Von den zahlreichen Köpfen, die man unmittelbar nach dem Untergang des Kreuzers über dem Wasser gesehen hatte, verschwanden mit jeder Sekunde mehr, und es unterlag keinem Zweifel, daß die heldenmütig arbeitende Besatzung der Schiffsboote nur einen sehr kleinen Teil der Mannschaft würde retten können.
An der Fallreepstreppe der ‚Caledonia‘ legte unterdessen die Gig des Kommandanten des ‚Chanzy‘ an. Der erste Offizier dieses Schiffes stieg in Begleitung von vier Seesoldaten und einem Deckoffizier an Bord und begrüßte den Kapitän der ‚Caledonia‘ mit seemännischer Höflichkeit.
„Ich bedaure sehr, mein Herr, daß ich genötigt bin, Ihnen und Ihren Passagieren Unbequemlichkeiten zu verursachen. Aber ich handle nach dem mir erteilten Befehl, wenn ich Sie bitte, mir die Schiffspapiere zu zeigen und eine Durchsuchung Ihres Schiffes zu gestatten.“
„Nach Lage der Dinge haben Sie zu befehlen,“ erwiderte der Engländer finster.
Dann stieg er mit dem Franzosen in die Kajüte hinab, während der Deckoffizier mit den Soldaten am Fallreep stehen blieb. Die Verhandlungen währten fast zwei Stunden. Währenddessen wurden die Rettungsarbeiten unermüdlich fortgesetzt. Es war gelungen, hundertundzwanzig Matrosen und Soldaten, fünf Offiziere, sowie den[S. 261] Kommandanten des ‚Royal Arthur‘ den Wellen zu entreißen. Die Mehrzahl der Offiziere und Mannschaften aber war verloren.
Für die Sicherung der Prise, die man mit der Wegnahme der ‚Caledonia‘ gemacht hatte, wurden ungewöhnliche Maßregeln getroffen. Der Kapitän, der erste und zweite Offizier wurden an Bord des ‚Chanzy‘ gebracht. Dafür übernahm der erste Offizier des ‚Chanzy‘ den Befehl über das Schiff, und zwei Leutnants mit fünfzig Mann wurden zur ‚Caledonia‘ hinübergerudert. Diese Vorkehrungen erklärten sich zur Genüge aus dem hohen Wert der Ladung, die der Passagierdampfer an Bord hatte. Er führte nach Ausweis der Schiffspapiere nicht weniger als zwanzig Millionen Rupien, teils gemünzt, teils in Silberbarren, die von Kalkutta hätten nach England geschafft werden sollen. Eine so kostbare Ladung sicher nach Toulon zu bringen, mußte dem französischen Kommandanten natürlich sehr am Herzen liegen.
Und noch ein weiterer Triumph war den französischen Waffen beschieden. Der ‚Forbin‘ brachte das britische Kanonenboot, das statt des ‚Union-Jack‘ nun die Trikolore gehißt hatte, auf den Kampfplatz zurück. Alle vier französischen Schiffe begleiteten die beiden genommenen Fahrzeuge auf der mit Volldampf angetretenen Fahrt nach Toulon.
Verzweifelte Niedergeschlagenheit und heftigste Erbitterung hatten sich der Passagiere der ‚Caledonia‘ bemächtigt. Man suchte die Schuld für das Unglück nicht so sehr in einem unberechenbaren Zufall, als in einer unverzeihlichen Nachlässigkeit der maßgebenden englischen Militärbehörde.
„Da haben wir wieder einmal ein schlagendes Beispiel englischer Unvorsichtigkeit,“ sagte Mr. Kennedy. „Wie durfte man die ‚Caledonia‘ unbeschützt fahren lassen! So viel Kriegsschiffe lagen müßig in Bombay, in Aden, in Port Said, und doch sah man sich nicht veranlaßt, diesem prachtvollen Schiff mit fast tausend Engländern an Bord und mit einer Ladung im Werte von mehr als einer Million Pfund eines oder mehrere von ihnen zur Begleitung mitzugeben. Hatten denn unsere Flottenkommandanten keine Ahnung von der Nähe französischer Schiffe?“
„Unsere Kommandanten,“ meinte der General, „werden sich darauf verlassen haben, daß genug englische Schiffe im Mittelländischen Meere verkehrten, um derartige Unternehmungen zu verhindern.“
Aber man ließ die Entschuldigung nicht gelten, und viele bittere Worte fielen gegen die englische Kriegsleitung. Als dann die Nacht hereinbrach, zogen sich die meisten Passagiere, von den ausgestandenen Aufregungen aufs äußerste erschöpft, in ihre Kabinen[S. 263] zurück. Heideck aber stand noch lange auf Deck und ließ sich den köstlichen Nachtwind um die heißen Schläfen wehen. Ruhig zog das Geschwader seines Weges durch die leise rauschenden Wogen, und die Positionslaternen zeigten deutlich den Stand der einzelnen Schiffe an. Rechts fuhr der ‚Chanzy‘, links die ‚Aréthuse‘, rückwärts der ‚Forbin‘ und der mit französischer Mannschaft besetzte ‚O’Hara‘. Nur von dem Torpedojäger war nichts zu sehen.
Endlich ging auch Heideck, müde gemacht durch die gleichmäßigen Schritte der auf dem Verdeck auf- und niedergehenden französischen Schildwache, in seine Kajüte hinab. Rasch senkte sich der Schlaf auf seine Lider, aber es waren unruhige Träume, die ihn verfolgten. Noch einmal durchlebte er den Kampf, dessen Zeuge er gewesen war. Und die Traumbilder mußten sehr lebhaft gewesen sein, da er unausgesetzt den dumpfen Knall der Schüsse zu hören vermeinte. Er rieb sich die Augen und setzte sich auf dem schmalen Lager auf. War das denn Wirklichkeit oder nur eine Täuschung seiner erregten Sinne? Der dumpfe Donner schlug ja noch immer an sein Ohr; und nachdem er minutenlang mit gespannter Aufmerksamkeit gehorcht hatte, sprang er auf, um in seine Kleider zu schlüpfen und auf Deck zu eilen. Schon auf dem Gange traf er mit mehreren Herren zusammen, die ebenfalls durch den Knall der Schüsse aus dem Schlummer geweckt worden waren. Und sobald er das Verdeck erreicht hatte, sah er, daß man sich in der Tat wieder inmitten eines heftigen Seegefechtes befand.
Die Nacht war ziemlich dunkel; aber wenn schon das Aufblitzen der Schüsse die Stellung des Feindes ungefähr erkennen ließ, so wurde dieselbe mit völliger Deutlichkeit gerade jetzt sichtbar, als von der ‚Aréthuse‘ ein Scheinwerfer aufleuchtete und seinen breiten, blendend hellen Lichtkegel über die Wasserfläche spielen ließ. Die riesigen Massen zweier Linienschiffe tauchten weißglänzend aus der Dunkelheit auf. Außer ihnen ließen sich noch fünf andere, kleinere Kiegsschiffe und mehrere winzige, niedrige Fahrzeuge erkennen,[S. 264] die Torpedoboote des britischen Geschwaders, das dem französischen entgegenkam. Hell wie eine kleine Sonne ging jetzt auch von englischer Seite ein elektrischer Scheinwerfer auf. Es war ein interessantes Schauspiel, zu beobachten, wie diese beiden elektrischen Lichter, sich langsam drehend, die einzelnen Schiffe gleichsam aus der Dunkelheit hervorzerrten, den Geschützen sichere Zielpunkte zeigend.
In dem französischen Geschwader, dessen Kommandant hinsichtlich der Ueberlegenheit des Feindes nicht im Ungewissen sein mochte, entstand eine lebhafte Bewegung. Alle Fahrzeuge, auch die ‚Caledonia‘, drehten und gingen mit Volldampf zurück. Aber die schweren englischen Granaten aus den 30,5 Zentimeter-Kanonen der Linienschiffe fielen bereits zwischen ihnen nieder, obwohl die Entfernung noch etwa drei Seemeilen betragen mochte. Und plötzlich, als die ‚Caledonia‘ während des Wendungsmanövers dem britischen Geschützfeuer eine Breitseite zeigte, ließ sich ein scharfer, erschütternder Schlag im Schiffe spüren, dem der Knall einer heftigen Explosion folgte. Die Bewegung des Dampfers stockte, und lautes Wehgeschrei erscholl aus dem Maschinenraum. Zu Tode erschreckt liefen die Passagiere umher. Man durfte ihnen nicht verhehlen, daß eine Granate eingeschlagen hatte und explodiert war.
Aber es stellte sich heraus, daß die ‚Caledonia‘ zwar stark beschädigt, doch nicht unmittelbar gefährdet war. Nur die Manövrierfähigkeit und Schnelligkeit des Schiffes hatten dadurch erheblich gelitten, daß ein Dampfrohr getroffen war.
Die französischen Kriegsschiffe entfernten sich eiligst und überließen die ‚Caledonia‘ und die eingeschiffte Prisenmannschaft ihrem Schicksal, da es nicht möglich war, sie mitzunehmen. Sie mußten auf die gute Prise verzichten und sich mit dem großen Erfolge begnügen, den sie mit der Zerstörung des ‚Royal Arthur‘ und der Wegnahme des ‚O’Hara‘ errungen hatten. Die ‚Caledonia‘ aber, vom Scheinwerfer beleuchtet und von den britischen Kommandanten[S. 265] erkannt, hatte keinen ferneren Schuß zu befürchten. Sie bewegte sich langsam in nördlicher Richtung und wurde, als der Morgen dämmerte, von zwei britischen Kreuzern erreicht. Ein Offizier kam an Bord, erklärte die französische Prisenmannschaft für kriegsgefangen und erfuhr von dem dritten Offizier, der sie jetzt führte, die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden.
Das britische Geschwader folgte den französischen Schiffen, die ‚Caledonia‘ aber nahm, nur noch mit acht Knoten Geschwindigkeit, den Kurs auf Neapel, das ohne weitere Zwischenfälle erreicht wurde. Die Passagiere wurden ausgeschifft, die große Geldsumme wurde in der Bank von Neapel für Rechnung der englischen Regierung deponiert und nur die Ladung an Baumwolle, Teppichen und gestickten Seidenstoffen blieb an Bord.
Die Familie Kennedy nebst Mrs. Irwin gingen in das Hotel de la Riviera, und Heideck schloß sich ihnen an. Er wollte nur einen einzigen Tag in Neapel bleiben und dann mit dem durchgehenden Zuge nach Berlin fahren.
Edith ahnte seinen Plan, obwohl er nicht mit ihr über seine Reise nach Berlin gesprochen hatte, und sie redete ihn wenige Stunden nach der Ankunft im Lesezimmer an, wo er eifrig die Zeitungen studierte.
„Wichtige Neuigkeiten?“
„Alles ist mir neu. Wir haben bis jetzt doch immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Kreise der Ereignisse übersehen können, und erst aus diesen Zeitungen vermochte ich einen umfassenden Ueberblick zu gewinnen.“
„Und jetzt hast du natürlich kein anderes Verlangen, als die Sehnsucht, deine Fahnen wiederzusehen? Ich weiß wohl, daß es einzig der Ehrgeiz ist, der dich leitet.“
„Kannst du einem Offizier einen Vorwurf daraus machen?“
„Ja, wenn er darüber die Menschlichkeit vergißt. Aber sei ganz ruhig, ich werde dich nicht daran verhindern. Ich will deinem[S. 266] Ehrgeiz nicht in den Weg treten, aber ich will ihm auch nicht zum Opfer fallen.“
„Das sollst du gewiß nicht. Wir werden glücklich werden, wenn dieser Krieg beendigt ist. Ich werde dir so wenig untreu werden, wie meiner Pflicht. Kehre ich lebend aus dem Felde zurück, so wird mein Dasein einzig deinem Glücke geweiht sein.“
„Die Liebe ist ein Vogel, dem man nicht zu viel Freiheit lassen darf. Du erinnerst dich, daß ich dir immer gesagt habe, ich würde dich nie verlassen.“
„Aber, meine geliebte Edith, das ist doch ganz unmöglich! Hast du denn gar keine Vorstellung davon, wie es im Kriege zugeht?“
„Ich dächte, daß ich genug davon gesehen hätte.“
„Ja, in Indien und auf dem Meere. Aber in Europa wird der Krieg doch etwas anders geführt. Jeder Platz in den Eisenbahnzügen ist genau berechnet, und in den Quartieren, in den Kantonnements und im Biwak ist es ebenso. Für eine Dame ist da nicht Raum. Was würden die Kameraden von mir sagen, wenn ich in deiner Gesellschaft erschiene?“
„Du kannst ja sagen, ich sei deine Frau.“
„Aber Edith, über so etwas ist gar nicht ernsthaft zu reden. Als preußischer Offizier bedarf ich des Konsenses, um heiraten zu können. Wie kann ich jetzt in Begleitung einer Dame zur Armee kommen? Oder wie könnte ich gerade jetzt einen Heiratskonsens verlangen?“
„Das kannst du recht gut. Viele Offiziere heiraten zu Beginn des Krieges.“
„Nun gut, aber selbst, wenn ich den Konsens jetzt verlangte, so müßten doch nach dem Gesetz noch Monate vergehen, ehe wir heiraten könnten. Ich machte dir schon einmal den Vorschlag, zu meinen Verwandten nach Hamburg zu gehen und dort das Ende des Krieges abzuwarten. Und ich halte das noch jetzt für den einzig richtigen Weg.“
„Aber ich will nicht nach Hamburg zu deinen Verwandten.“
„Und warum nicht?“
„Ich soll in einer deutschen Familie sitzen, ich als Engländerin, und ich soll mich angaffen lassen? Ich soll in den deutschen Zeitungen alle die Lügen über England lesen?“
„Mein Onkel und meine Tante sind sehr taktvolle Leute, und meine Cousinen werden es nicht an der gebotenen Rücksicht fehlen lassen.“
„Auch noch Cousinen! Nein, ich danke! In das Familienglück fremder Leute passe ich nicht hinein.“
„Wenn du das nicht willst, so kannst du in Berlin in eine Pension gehen.“
„Nein, das will ich auch nicht. Ich will bei dir bleiben.“
„Aber liebste Edith, wie denkst du dir das nur?“
„Ich will ganz außerhalb aller konventionellen Formen stehen, sonst ertrage ich das Leben in Deutschland nicht. Ich soll wohl vor Bangigkeit sterben in einer Pension, während ich jeden Augenblick an die Gefahren denke, denen du ausgesetzt bist. Nein, das ertrage ich nicht. Ich habe zuviel erlebt, ich habe zuviel Schreckliches gesehen. Meine Nerven halten das nicht aus, jetzt in einer Familie oder in einer Berliner Pension in der Trivialität des Alltaglebens dahin zu vegetieren. Habe Mitleid mit mir und verlaß mich nicht! Deine Gegenwart ist die einzige wirksame Arznei für meine Seele.“
„Ach, liebste Edith, mein ganzes Herz ist ja von dir erfüllt, und gern tue ich, was du willst. Aber zweckmäßig und praktisch muß doch jeder Schritt sein, den wir tun. Wenn du sagst, daß du bei mir bleiben willst, so muß sich deiner Vorstellung doch irgend ein Bild, irgend eine bestimmte Form der Ausführung zeigen. Wie denkst du dir denn die Art und Weise unseres Beisammenseins? Bedenke, daß ich nach meiner Rückkehr Offizier im Dienst bin und die Befehle ausführen muß, die ich erhalte.“
„O ja, ich wüßte schon einen Weg. Wir haben doch gesehen,[S. 268] daß Fürst Tschadschawadse einen Pagen bei sich hatte. Ich will dein Page sein.“
„Welche Phantasie! — Preußische Offiziere haben keine Pagen im Feldzuge!“
„Nun, auf das Wort kommt es nicht an. Ihr müßt doch Diener haben, wie die englischen Offiziere auch; ich will dein Boy sein.“
„Zu solchen Dienstleistungen werden bei uns Soldaten kommandiert, liebste Edith.“
„Dann werde ich als Soldat mitgehen. Bin ich doch auch schon als Radjah gegangen!“
Eine Falte der Ungeduld erschien auf Heidecks Stirn, und sie war den scharfen Augen des jungen Weibes nicht entgangen.
„Ja,“ sagte sie heftig, „wenn es auch so scheint, als hättest du mich satt, ich lasse nicht von dir! Die Entfernung ist der Liebe schlimmster Feind, und du bist das einzige Band, das mich an das Leben fesselt.“
Heideck schlug die Augen nieder, um seine Gedanken nicht zu verraten. Seitdem er die Zeitungen gelesen hatte, die ihm eine deutlichere Vorstellung der Weltlage gaben, war sein Geist noch mehr als auf der bisherigen Reise mit kriegerischen Bildern erfüllt. Er liebte Edith, aber die Liebe füllte sein Leben nicht aus wie das ihre. Die Nachrichten der italienischen und französischen Blätter hatten ihn, der so lange von Europa entfernt gewesen war, in ein wahres Fieber versetzt. Die Auflösung des Dreibundes und die neue Allianz Deutschlands mit Frankreich und Rußland hatte eine völlige Veränderung des politischen Horizonts herbeigeführt. Er hörte das Stampfen der Rosse, das Klirren der Waffen, den Donner der Geschütze. Unermeßlich und bedeutungsvoll war der Krieg.
Es handelte sich um Deutschlands Existenz! Auf mehr als drei Milliarden wurden die Verluste geschätzt, die Deutschland bis jetzt erlitten hatte. Alle deutschen Kolonieen waren von den Engländern[S. 269] in Beschlag genommen worden, hunderte von deutschen Handelsschiffen waren verloren, der deutsche Handel mit dem Auslande war vollständig lahm gelegt, der deutsche Kredit war erschüttert. Wenn Deutschland nicht schließlich den Sieg errang, so bedeutete dieser Krieg das Ende seiner Großmachtstellung.
Er sprang auf.
„Es muß sein, teuerste Edith, wir müssen uns zunächst trennen!“
Sie erbleichte. Mit angstvollem Blicke haschte sie nach seiner Hand und hielt sie fest.
„Verlaß mich nicht!“
„Ich muß völlige Freiheit haben! Für jetzt! Nach dem Kriege gehöre ich ganz dir.“
„Nein, nein, du kannst nicht so grausam sein! Du darfst mich nicht verlassen!“
„Wir werden uns wiedersehen! Ich liebe dich und ich bleibe dir treu. Aber jetzt verlange ich ein Opfer von dir. Ich bin ein deutscher Offizier, mein Leben gehört jetzt meinem Vaterlande.“
Sie glitt von ihrem Stuhl nieder auf die Erde und umklammerte seine Kniee.
„Ich kann nicht von dir gehen! Es wird dir keinen Segen bringen, wenn du mich vernichtest!“
„Sei stark, Edith. Ich bewunderte immer deinen großen, festen Willen. Hast du denn mit einem Mal alle Besinnung, alle Vernunft verloren?“
„Alles habe ich verloren!“ schrie sie jammernd, „alles, bis auf dich! Und nun will ich nicht auch dich noch hergeben!“
„Mrs. Irwin!“ rief in diesem Augenblick eine entsetzte Stimme, „wie ist es möglich?“
Edith fuhr empor.
Mrs. Kennedy und ihre Tochter waren unbemerkt eingetreten. Sie hatten mit grenzenlosem Erstaunen die seltsame Situation wahrgenommen und Ediths letzte Worte gehört.
„Mein Gott — mein Gott — wie ist es nur möglich!“ wiederholte die würdige Dame mit bebender Stimme, und dann, gegen ihre Tochter gewendet, fügte sie hinzu: „Geh, mein Kind! —“
Edith Irwin hatte ihre Fassung sehr schnell wiedergewonnen. Aufrecht und mit stolz erhobenem Haupte stand sie der entrüsteten Dame gegenüber.
„Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, Mrs. Kennedy, daß man niemals ein Urteil abgeben soll, ohne den Zusammenhang der Dinge zu kennen.“
„O, ich denke, was ich gesehen habe, wäre deutlich genug gewesen.“
„Wenn darin etwas Tadelnswertes zu finden ist, so fällt alle Schuld lediglich auf mich,“ nahm jetzt Heideck das Wort. „Gönnen Sie mir einige Minuten unter vier Augen, Mrs. Kennedy, und ich werde Sie überzeugen, daß Mrs. Irwin keinen Vorwurf verdient.“
„Ich bedarf keines Fürsprechers und keines Verteidigers!“ rief Edith in leidenschaftlicher Erregung. „Weshalb sollen wir unsere Liebe länger verbergen? Dieser Mann, Mrs. Kennedy, hat mir mehr als einmal Leben und Ehre gerettet, und es bedeutet für mich keine Demütigung, vor ihm auf den Knieen zu liegen.“
In ihrem Gesicht und in dem Ton ihrer Worte mochte etwas sein, das der Engländerin trotz ihres empörten Schicklichkeitsgefühls ans Herz ging. Der strenge Ausdruck verschwand aus ihren Zügen, und mit freundlicher, fast mütterlicher Sanftmut sagte sie:
„Kommen Sie, mein armes Kind! Ich habe gewiß kein Recht, mich zur Richterin aufzuwerfen über Ihr Tun und Lassen. Aber ich bin wohl alt genug, daß Sie Vertrauen zu mir haben dürfen.“
Edith lehnte, überwältigt von dieser plötzlichen Güte, den Kopf an ihre Schulter. Heideck aber fühlte, daß es gut sei, die beiden Damen jetzt sich selbst zu überlassen.
„Sie erlauben mir, meine Damen, mich vorläufig zu entfernen.“
Mit einer raschen Bewegung legte Edith ihre Hand auf seinen Arm.
„Sie geben mir Ihr Wort, Kapitän Heideck, daß Sie nicht abreisen werden, ohne mir Lebewohl zu sagen?“
„Ich gebe Ihnen mein Wort.“
In schmerzlichster Gemütsverfassung verließ er das Zimmer. Es war ihm, als ob er über die Leiche des teuersten Wesens hinwegschreiten müsse, um seine Pflicht zu erfüllen.
Am Abend brachte ihm die Zofe der Mrs. Kennedy ein Billet von Edith, worin sie ihn mit wenig Worten ersuchte, sogleich zu ihr zu kommen. Er fand sie in ihrem dämmerigen Zimmer auf dem Ruhebett; aber bei seinem Eintritt stand sie auf und ging ihm anscheinend ruhig entgegen.
„Du hast recht, mein Freund, ich bin inzwischen zur Vernunft gekommen. Es gibt keine andere Möglichkeit — wir müssen uns trennen.“
„Ich schwöre dir, Edith — —“
„Schwöre mir nichts! — Die Zukunft liegt allein in Gottes Hand.“
Sie streifte vom Goldfinger ihrer linken Hand den Reif mit dem kostbaren Brillanten, der den Anlaß zu ihrer ersten bedeutsamen Unterredung gegeben hatte.
„Nimm diesen Ring, mein Freund, und denke an mich, so oft dein Blick auf ihn fällt.“ Die Tränen erstickten jetzt ihre Stimme. „Sei ohne Sorge um mich und meine Zukunft. — Ich gehe mit der Familie Kennedy nach England.“
Ein rauher Nordwind fegte über die Insel Walcheren und die Mündung der Wester Schelde hin. Zu leichten Wellen kräuselte er das Wasser des breiten Stromes, der in der Abenddämmerung wie ein uferloses Meer erschien. Nur der Kundige wußte, daß die Leuchtfeuer bei Vlissingen zur Rechten und bei Fort Frederik Hendrik zur Linken mit ihren blitzenden Lichtern die Grenzen jener weiten Einfahrt bezeichneten, die im Jahre 1809, als Holland unter der Regierung Ludwig Bonapartes stand, eine große englische Flotte zum Angriff auf Vlissingen und zur Einnahme dieser Festung in die Schelde eingelassen hatte.
In der Mitte zwischen den beiden leuchtenden Punkten, die etwa fünf Kilometer von einander entfernt waren, schaukelte sich der hier vor Anker liegende deutsche Kreuzer ‚Gefion‘, und auf seinem Verdeck stand Heideck, der nach seiner Rückkehr unter Beförderung zum Major mit dem Nachrichtendienst für das holländische Küstengebiet betraut worden war.
Er hatte am Nachmittage ein Fahrzeug in die Schelde einlaufen sehen, das ihm vom Lootsen als eine der Fischersmacks bezeichnet worden war, die zwischen den Shetlandinseln und den holländischen Häfen verkehren. Und er hatte dem Kapitän der ‚Gefion‘ seinen Verdacht mitgeteilt, daß diese Smack noch eine andere Bestimmung, als die des Handels mit Heringen haben könnte. Das kleine Schiff[S. 273] hatte drüben am linken Ufer zwischen den Dörfern Breskens und Cadzand angelegt, und Heideck beschloß, sich zu ihm hinüber rudern zu lassen.
Sechs Seesoldaten und vier Matrosen, unter Führung eines Maaten, bemannten ein Boot der ‚Gefion‘, und die Fahrt ging durch das bewegte Wasser nach dem linken Ufer, dem verdächtigen Schiffe zu. Im Kampfe mit der Strömung und dem Winde, der heulend vom Meere kam, bedurfte es für die Ruderer wohl fast einer halben Stunde harter Arbeit, ehe der dunkle Rumpf des Fischerbootes in deutlichen Umrissen vor ihnen auftauchte. Vom Bord herab fragte eine rauhe Stimme nach ihrem Begehr.
„Dienst Seiner Majestät!“ rief Heideck zurück, und als das Boot angelegt hatte, warf er seinen Mantel ab, um sich behende auf das Deck hinauf zu schwingen. Drei Männer in der dunklen Wollentracht und mit den geteerten Hüten der Küstenfischer traten auf ihn zu und antworteten auf seine Frage nach dem Patron in einem schwerverständlichen Gemisch von holländisch und deutsch, daß der Patron an Land gegangen wäre.
„Sein Name?“
„Maaning Brandelaar.“
„Und wie heißt dies Fahrzeug?“
„Bressay.“
Die Antworten wurden zögernd und mürrisch gegeben, und die Leute legten ein so verdrossenes Wesen an den Tag, daß Heideck das Gefühl hatte, sie würden ihn gern über Bord geworfen haben, wenn nicht seine Uniform ihnen Respekt eingeflößt hätte.
„Woher kommt ihr?“ fragte er.
„Wir kommen von Lerwick.“
„Und wohin ist das Schiff bestimmt?“
„Wir wollen unsere Heringe verkaufen. Wir sind ehrliche Leute, Herr Major.“
„Wo wollt ihr eure Heringe verkaufen?“
„Wo wir können. Der Schiffer ist nach Breskens gegangen. Er wollte bald wieder zurückkommen.“
Heideck sah sich um. Die Smack hatte in einer kleinen Bucht angelegt, wo das Wasser ruhig war. Das Dorf Breskens und das kleine Seebad Kadzand lagen beide so nahe, daß man die erleuchteten Fenster sehen konnte. Es war neun Uhr abends. Etwas spät für die Handelsgeschäfte, die Maaning Brandelaar in Breskens zu machen gedachte.
Heideck ließ die Seesoldaten auf Deck steigen und stellte sie als Wache auf, damit niemand das Schiff verließe, bevor der Kapitän zurück kam. Dann befahl er eine Laterne anzuzünden, mit der er den Raum unter Deck besichtigen wollte. Es dauerte recht lange, bis die Laterne bereit war, und sie brannte so trübe, daß Heideck vorzog, die elektrische Lampe spielen zu lassen, die er ebenso wie den Revolver stets bei sich führte. Er kletterte die Treppe in den Schiffsraum hinab und fand, daß der Geruch von Pökelheringen, den er schon auf Deck wahrgenommen hatte, in der vorhandenen Ladung seine genügende Ursache hatte. In der kleinen Kajüte saßen zwei Männer beim Grog und rauchten aus kleinen Tonpfeifen. Heideck begrüßte sie freundlich und setzte sich zu ihnen. Sie sprachen englisch mit breitem schottischen Akzent und mit vielen Dialektausdrücken, die Heideck nicht verstand. Sie erklärten von der Insel Bressay zu stammen. Aus ihrer Unterhaltung entnahm Heideck, daß die Smack einem Reeder in Rotterdam gehörte, dessen Namen sie aber nicht zu kennen schienen oder nicht aussprechen konnten. Ueberhaupt waren die Leute sehr vorsichtig und zurückhaltend in ihren Angaben. Heideck wartete eine halbe, eine ganze Stunde. Der Kapitän kam immer noch nicht wieder. Er verspürte Hunger, und indem er ein Geldstück auf den Tisch warf, fragte er, ob man ihm nicht etwas zu essen geben könne.
Die Fischer öffneten den Schrank an der Kajütenwand und holten ein großes Stück Schinken, ein halbes Schwarzbrot sowie[S. 275] Messer und Gabel hervor. Heideck sah, daß in dem Schrank neben Gläsern und Flaschen noch zwei kleine Brote von hellerer Farbe lagen. „Gebt mir von dem Weizenbrot,“ sagte er. Aber der Mann, der die Speisen hervorgeholt hatte, murmelte etwas, das Heideck nicht verstand, und verschloß den Schrank wieder, ohne den Wunsch des Offiziers zu erfüllen. Sein Benehmen mußte Heideck auffällig erscheinen. Er hatte wirklich nur deshalb von dem hellen Brot verlangt, weil das Schwarzbrot alt, trocken und ungemein grob war, nun aber drängte sich ihm der Verdacht auf, daß sich hinter der unhöflichen Mißachtung seiner Bitte irgend eine besondere Absicht verberge.
„Ihr habt mich, wie es scheint, nicht verstanden,“ sagte er, „ich möchte das Weizenbrot haben.“
„Das Weizenbrot gehört dem Schiffer,“ wurde ihm erwidert, „das dürfen wir nicht nehmen.“
„Ich werde es bezahlen. Euer Kapitän wird sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben.“
Die Männer taten als hörten sie nicht.
Jetzt aber wiederholte Heideck in strengem und gebieterischem Tone sein Verlangen. Die Männer sahen einander an, dann ging der eine zum Schrank und legte das eine helle Brot auf den Tisch. Heideck schnitt es an und fand, daß es recht gut war. Er aß mit Appetit davon und sann darüber nach, warum die Leute zuerst so ungefällig gewesen wären. Als er das Brot noch einmal zur Hand nahm, um sich ein zweites Stück abzuschneiden, fiel ihm auf, daß es ungewöhnlich schwer war. Er schnitt in die Mitte hinein und als er merkte, daß die Messerklinge auf etwas hartes stieß, brach er das Brot auseinander. — Da schimmerte ihm Gold entgegen. Er untersuchte weiter und zog nacheinander dreißig goldene Münzen mit dem Bildnis der Königin von England hervor. Dreißig Pfund Sterling waren in dem Brot versteckt gewesen.
„Ihr habt da ein recht nahrhaftes Brot,“ sagte er, die Leute mit scharfem Blick ansehend.
Die aber zuckten die Achseln.
„Was geht es uns an,“ sagte der eine, „wie der Kapitän sein Geld aufbewahrt!“
„Da habt ihr recht, was geht es euch an? Warten wir, bis der Patron kommt! Da, legt das Brot und das Geld wieder in den Schrank, und dann macht einen hübschen Topf voll Grog für meine Leute. Die armen Kerle werden frieren, hier habt ihr noch drei Mark.“
Die Leute gehorchten, und einer von ihnen ging mit dem dampfenden Topfe die Treppe hinauf, brachte auch nach einiger Zeit den leeren Topf zurück und bestellte, daß des Herrn Majors Mannschaften sich bedankten.
Wenige Minuten später zeigte sich einer der Soldaten in der Kajütentür und meldete, daß zwei Männer vom Land herkämen. „Es ist gut,“ sagte Heideck, „haltet euch ruhig, bis sie an Deck sind und dann laßt sie nicht wieder hinunter, sondern sagt ihnen, sie sollten hierher kommen.“
Gleich darauf waren Schritte und Stimmen von oben zu vernehmen, und nach wenig Minuten traten zwei Männer in die Kajüte. Der erste, der die Kleidung eines Schiffers trug, war von ungewöhnlich kräftigem Körperbau, breitschultrig, mit einem Stiernacken und einem wetterharten, viereckigen Gesicht, aus dem kleine verschmitzte Augen hervorblitzten. Der andere, erheblich jüngere, war ziemlich stutzerhaft gekleidet und trug den Bart nach modernstem Schnitt.
„Mynheer Brandelaar?“ fragte Heideck.
„Jawohl, der bin ich,“ erwiderte der Breitschultrige in brüskem, fast drohendem Tone.
„Sehr erfreut, Sie zu sehen, Mynheer. Ich habe mit Ihnen geschäftlich zu reden, und ich erwarte Sie schon seit mehr als einer Stunde. Darf ich Sie bitten, mich auch mit diesem Herrn bekannt zu machen?“
Der Holländer zauderte mit der Antwort. Es war klar, daß er in der übelsten Laune war und nicht recht wußte, wie er sich benehmen sollte. Der ruhige, etwas spöttische Ton des Offiziers brachte ihn offenbar aus der Fassung.
Er gab den beiden Seeleuten einen Wink, sich zu entfernen. Dann wandte er sich an Heideck.
„Dieser Herr ist ein Geschäftsfreund. Und ich möchte wohl wissen, was er und meine Angelegenheiten überhaupt den Herrn Offizier angehen. Ich bin hier, um meine Heringe zu verkaufen, das ist doch wohl nicht verboten?“
„Gewiß nicht! Aber nicht nur Sie haben Ihre Geschäfte, Mynheer, sondern auch ich habe die meinigen. Und ich denke, es wäre für uns beide das angenehmste, wenn wir sie gleich hier abmachen könnten und nicht erst zur ‚Gefion‘ hinüberzurudern brauchten.“
„Zur ‚Gefion‘? — Was soll das heißen? — Mit welchem Recht wollten Sie mich dazu zwingen? — Meine Papiere sind in Ordnung, ich kann sie Ihnen vorlegen.“
„Ich bitte darum. — Aber wollen Sie nicht endlich auch die Freundlichkeit haben, mir den Namen dieses Herrn zu nennen? Es ist wirklich von Interesse für mich, Ihren Geschäftsfreund kennen zu lernen.“
Jetzt hielt es der andere für angemessen, sich selbst vorzustellen.
„Ich heiße Camille Pénurot,“ sagte er, „und bin Materialwarenhändler in Breskens. Maaning Brandelaar hat mir seine Ladung zum Kauf angeboten, und ich bin mit ihm gekommen, um mir die Ware anzusehen.“
„Was ohne Zweifel am besten bei Nacht geschieht,“ erwiderte Heideck in sarkastischem Ton, aber mit unerschütterlich ernster Miene. „Lassen Sie mich also Ihre Papiere sehen, Mynheer Brandelaar.“
Wie er es nicht anders erwartet hatte, befanden sich diese Papiere in bester Ordnung. Die dem Reeder Maximilian van Spranekhuizen[S. 278] in Rotterdam gehörige Fischersmack ‚Bressay‘ kam mit einer Ladung von gesalzenen Heringen von Lerwick. Kapitän Maaning Brandelaar — Bestätigung der englischen Hafenbehörde in Lerwick — alles in vollkommener Richtigkeit.
„Sehr schön!“ sagte Heideck. „Zwar hat Kontre-Admiral Sir Frederik Hollway in Dover sein Visum nicht darauf gesetzt. Aber das war ja auch gar nicht notwendig.“
Die Wirkung dieser gleichmütig hingeworfenen Worte auf die beiden Männer war ganz erstaunlich. Pénurots gelbes Gesicht nahm eine fast grünliche Färbung an; die harten Züge des andern verzerrten sich in geradezu erschreckender Weise zu einer Grimasse der Wut. Er würgte, als ob er einen ingrimmigen Fluch hinunterschlucken müßte, und dann, nach einem schweren Atemzuge, sagte er:
„Einen Admiral Hollway kenne ich nicht, und in Dover bin ich überhaupt nicht gewesen.“
„Gut! Gut! — Reden wir von Ihren Geschäften! Oder auch von den Ihrigen, Herr Pénurot! Die Schiffsladung Heringe, die Sie da kaufen wollen, ist natürlich nicht für den Absatz in Breskens bestimmt, sondern für irgend einen Geschäftsfreund in Antwerpen, nicht wahr?“
Er erhielt keine Antwort. Und ruhig, als handelte sich’s bei seinem Reden und Tun um die selbstverständlichsten Dinge von der Welt, wandte er sich zu dem Schrank, nahm, ehe die Anderen seine Absicht noch recht begriffen hatten, das zweite Weizenbrot heraus und brach es rasch mitten durch. Diesmal war es ein zusammengefaltetes Papier, das dabei zum Vorschein kam. Heideck breitete es auseinander und sah, daß es mit einer langen Reihe von Fragen in englischer Sprache beschrieben war.
„Sieh da,“ sagte er, „es muß ja ein verwünscht neugieriger Herr sein, der dies Papier in Ihr Frühstücksbrot hat hineinbacken lassen. ‚Wie stark ist die Besatzung von Antwerpen? Welche Regimenter? Welche Batterien? Wer sind die Kommandanten[S. 279] der Außenforts? Wie ist der genaue Plan des Ueberschwemmungsgebiets? Wie verhält sich die Bevölkerung gegenüber den deutschen Truppen? Wieviel deutsche Kriegsschiffe liegen im Hafen und in der Schelde? Wie sind sie verteilt? Genaue Angaben über die Bestückung und Bemannung aller Kriegsschiffe. Wieviele und welche Schiffe der deutschen Schiffahrtsgesellschaften sind der deutschen Flotte zugeteilt? Wieviele Truppen stehen auf der Insel Walcheren? Wieviele in der Umgebung Antwerpens? Wie sind die Truppen an beiden Ufern der Schelde verteilt? Sind Truppen bereit gestellt, um auf den Kriegsschiffen und Transportfahrzeugen eingeschifft zu werden? Ist ein Zeitpunkt dafür festgesetzt worden? Besteht ein Plan für die Verwendung der deutschen Flotte? Was verlautet über die Vereinigung der deutschen Flotte mit der französischen?‘ — — Das ist nur ein kleiner Teil des langen Registers; aber er genügt schon, um die Natur der übrigen Fragen erraten zu lassen. Was der Tausend möchte Admiral Hollway für seine armseligen dreißig Pfund alles erfahren? Oder war das nur eine kleine Anzahlung? Es scheint mir undenkbar, Herr Pénurot, daß Ihr Korrespondent in Antwerpen für dreißig Pfund so viel sollte liefern können.“
Die beiden Männer waren von der Wucht des unerwarteten Schlages offenbar ganz niedergeschmettert. Für einen Augenblick, als Heideck das Papier aus dem Brot zog, hatte es den Anschein gehabt, als ob Brandelaar sich auf ihn stürzen und es ihm mit Gewalt entreißen wolle. Aber der Gedanke an die Soldaten mochte ihn noch zur rechten Zeit von einer törichten Handlung zurückgehalten haben.
Nun stand er mit zusammengekniffenen Lippen und tückisch glitzernden Augen da.
„Ich verstehe Sie nicht, Herr Major,“ brachte Pénurot mit sichtlicher Anstrengung heraus. „Ich weiß nicht das mindeste von diesem Papier, ich bin ein rechtschaffener Geschäftsmann.“
„Und auch Sie hatten natürlich keine Ahnung von der bedeutsamen Füllung Ihrer Weizenbrote, Herr Brandelaar? — Nun, ich bin ja nicht berufen, das weiter zu untersuchen. Das ist Sache des Kriegsgerichts, und da wird schon Klarheit in die Angelegenheit kommen.“
Der Materialwarenhändler war leichenfahl geworden. Flehend erhob er die Hände.
„Gnade, Herr Major, Gnade! So wahr ich lebe — ich bin unschuldig.“
Heideck tat, als hätte er diese Versicherung gar nicht gehört.
„Uebrigens muß ich euch doch sagen, meine Herren, daß ihr verwünscht schlechte Geschäftsleute seid. Für jämmerliche dreißig Pfund riskiert ihr euer Leben? Das war eine unverantwortliche Dummheit. Und wenn ihr schon einmal auf solche Art Geld verdienen wolltet, hättet ihr wahrhaftig lieber für uns arbeiten sollen. Wir würden einem Mann, der uns über die englische Flotte und die englische Armee wirklich zuverlässige Auskünfte von dieser Art verschafft hätte, ohne Handeln und Feilschen das fünffache gezahlt haben.“
In den Mienen der beiden Männer schien es bei diesen in beinahe jovialem Ton gesprochenen Worten wie ein Hoffnungsschimmer aufzuleuchten. Aber als der Materialwarenhändler eben die Lippen zu einer Erwiderung öffnen wollte, winkte ihm Heideck, zu schweigen.
„Gehen Sie mal gefälligst für ein Weilchen an Deck, Pénurot,“ sagte er. „Ich werde Sie rufen, sobald ich die Unterhaltung mit Ihnen fortzusetzen wünsche. Sie aber, Brandelaar, werden mir vorerst noch Gesellschaft leisten. Ich möchte ein paar Worte unter vier Augen mit Ihnen reden.“
Der Mann mit dem modischen Spitzbärtchen gehorchte. Und Heideck wandte sich an den zurückgebliebenen Holländer:
„Dieser Pénurot ist an allem schuld, nicht wahr? Als Schiffer[S. 281] haben Sie sich ja wahrscheinlich Ihr Leben lang nicht viel um Politik gekümmert. Und Sie hatten wohl kaum einen rechten Begriff von der Gefahr, in die Sie sich begaben. Wenn das Kriegsgericht Sie verurteilt, haben Sie sich einzig bei Ihrem Freunde Pénurot dafür zu bedanken.“
„Wahrhaftig, Herr, es ist, wie Sie sagen,“ erwiderte der Schiffer mit gut gespielter Treuherzigkeit. „Ich habe meine Ladung, die ich für die Firma van Spranekhuizen verkaufen soll, und ich kümmere mich den Teufel um Krieg oder Spionage. Ich bitte den Herrn Major, ein gutes Wort für mich einzulegen. Ich hatte keine Ahnung von dem, was in den Broten enthalten war.“
„Dieser Pénurot hat Sie also ohne Ihr Vorwissen in die Geschichte hineingezogen. Wollte er denn mit Ihnen nach Antwerpen fahren?“
„Ich will Ihnen alles der Wahrheit gemäß erzählen, Herr Major! Admiral Hollway in Dover, der doch das ganze Nachrichtenwesen für den Kanal und die Küstenstrecke von Cuxhafen bis Brest unter sich hat, gab mir die beiden Brote für Camille Pénurot; das ist alles, was ich von der Sache weiß.“
„War es denn das erste Mal, daß Sie solche Aufträge für den Admiral Hollway auszuführen hatten?“
„So wahr mir Gott helfe: das erste Mal!“
„Aber Herr Pénurot sollte die eigenartigen Brote wohl nicht für sich behalten? Er ist doch ebenfalls nur eine Mittelsperson? Wenn Sie sich Hoffnung auf meine Fürsprache machen wollen, müssen Sie mir ohne jeden Rückhalt alles sagen, was Sie darüber wissen!“
„Pénurot hat einen Geschäftsfreund in Antwerpen, wie der Herr Major ganz richtig vermutet haben.“
„Sein Name?“
„Eberhard Amelungen.“
„Was ist der Mann?“
„Ein Großkaufmann. Meine Schiffsladung ist für ihn bestimmt.“
„Und in welcher Verbindung steht Pénurot mit ihm?“
„Das weiß ich nicht; Pénurot ist ein Agent, der die verschiedenartigsten Geschäfte betreibt.“
„So? — Und was sagt der Reeder, Mynheer van Spranekhuizen, dazu, daß Sie sich auf solche Dinge, wie die Uebermittelung dieser Brote, einlassen?“
„Mynheer van Spranekhuizen und Mynheer Amelungen sind nahe Verwandte.“
„Mit andern Worten: die beiden Herren haben sich darüber verständigt, die ‚Bressay‘ von den Shetlandinseln nach Dover und von da nach Antwerpen zu schicken?“
„Davon weiß ich nichts, Herr Major! — Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Weiter als bis nach Terneuzen darf ja doch kein Schiff in die Schelde hinein. Und da kann ich in Breskens ebensogut löschen wie in Terneuzen und die Ware mit der Bahn nach Antwerpen gehen lassen.“
„Nun, Brandelaar, gehen Sie noch einmal hinauf und schicken Sie mir Herrn Pénurot herunter.“
Schweren Schrittes stapfte der Schiffer die schmale Kajütentreppe hinauf, und gleich darauf trat Pénurot ein. Heideck lud ihn durch eine Handbewegung ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen und sagte:
„Ich habe mich aus der Vernehmung des Brandelaar davon überzeugt, daß er ein abgefeimter Spitzbube ist. Es war sehr unvorsichtig von Ihnen gehandelt, sich mit einem solchen Manne einzulassen. Wenn Sie jetzt vor ein Kriegsgericht gestellt werden, haben Sie sich bei ihm dafür zu bedanken.“
„Um Gottes willen, Herr Major — es soll mir doch nicht ans Leben gehen? — Ich beschwöre Sie, haben Sie Mitleid mit mir!“
„Darauf, ob ich persönlich Mitleid mit Ihnen habe oder nicht, wird sehr wenig ankommen. Sie werden mit mir zur ‚Gefion‘ fahren und dann in Vlissingen vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Denn[S. 283] die Tatsache, daß Sie Brandelaars Mitschuldiger geworden sind, läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Er hat soeben mit aller Bestimmtheit behauptet, die beiden Brote seien für Sie bestimmt gewesen.“
„Für mich? — Das ist eine nichtswürdige Lüge. Noch nicht einen Penny habe ich von den Engländern erhalten.“
„Na, so ganz ohne besonderen Grund machen Sie sich doch wohl nicht das Vergnügen, zu nächtlicher Stunde ein Heringsschiff zu besuchen? Die Ladung konnte doch wohl auch ohne Ihre Besichtigung an Herrn Eberhard Amelungen abgeliefert werden?“
„An Eberhard Amelungen?“
„Stellen Sie sich doch nicht so unwissend! Brandelaar hat schon so viel gestanden, daß Sie ruhig alles zugeben können. Die Herren Amelungen und van Spranekhuizen sind im Komplott miteinander, um eine ganz regelrechte Spionage im Interesse Englands zu betreiben. Sie werden als Mittelsperson benutzt, und Maaning Brandelaar versucht, sich heraus zu winden, indem er Sie opfert.“
„Wahrhaftig, so scheint es. — Aber ich bin ganz unschuldig, Herr Major — ich habe von all dem nichts gewußt. Als Brandelaar das letzte Mal aus der Schelde hinausfuhr, besuchte er mich hier in Breskens, und da sagte er mir, daß er bald wiederkehre und daß es ein gutes Geschäft für mich werden würde.“
„Wann ist das gewesen?“
„Vor drei Wochen. Ich hatte keinen Grund Brandelaar zu mißtrauen, weil er schon öfter für Eberhard Amelungen geliefert hatte.“
„Und heute? Weshalb sind Sie an Bord gekommen?“
„Brandelaar verlangte es. Er sagte, ich solle mir die Ladung ansehen und mit ihm besprechen, ob hier oder in Terneuzen gelöscht werden solle.“
„Nun wohl, Herr Pénurot, ich will Ihnen etwas sagen. Sie werden mit mir nach Antwerpen fahren, und ich werde mich dort[S. 284] bei Herrn Amelungen davon überzeugen, ob Sie wirklich so unschuldig sind, wie Sie sagen, und wie ich Ihnen einstweilen gern glauben will.“
Der Materialwarenhändler schien noch immer einigermaßen beunruhigt.
„Aber der Herr Major werden mich doch nicht vor das Kriegsgericht bringen?“
„Das wird sich finden. Ich verspreche Ihnen nichts. Alles wird von der Auskunft abhängen, die ich von Herrn Amelungen über Sie erhalte, und davon, wie Sie sich fernerhin benehmen. Ich werde jetzt Brandelaar wieder herunterkommen lassen, und Sie werden schweigen, während ich mit ihm rede.“
„Ich werde selbstverständlich alles tun, was der Herr Major befehlen.“
Brandelaar wurde in die Kajüte gerufen, und Heideck sagte:
„Hören Sie, Maaning Brandelaar, ich weiß alles, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß es mehr als genug ist, um Ihnen nach Kriegsrecht den Hals zu brechen. Aber ich will Ihnen einen Weg zeigen, wie Sie sich retten können: Fahren Sie morgen nach Terneuzen und warten Sie dort auf Nachricht von mir. Ich werde Ihnen die Ausführung Ihres Auftrages bequem machen, indem ich selbst Ihnen die Antworten auf die Fragen des Admirals Hollway aufschreibe. Die mögen Sie dann Ihrem Auftraggeber nach Dover bringen. Aber ich werde Ihnen gleichzeitig eine Reihe von Fragen mitgeben, auf die Sie Ihrerseits mir zuverlässige Antworten nach Vlissingen zu bringen haben. Führen Sie diese Mission zu meiner Zufriedenheit aus, so zahle ich Ihnen bei Ihrer Rückkehr dreitausend Mark. Da Sie außerdem Ihre Belohnung von dem Admiral erhalten, machen Sie also ein recht gutes Geschäft. Aber hüten Sie sich vor jedem Versuch, mich zu betrügen, er würde herzlich schlecht für Sie ablaufen. Ich weiß ja nun, wo ich Sie fassen kann, und Sie würden verhaftet werden,[S. 285] sobald Sie sich wieder irgendwo an der holländischen Küste zeigten. Also gehen Sie weislich mit sich zu Rate!“
Das breite Gesicht des Schiffers hatte sich immer mehr aufgehellt, und jetzt verzog er die Lippen zu einem pfiffigen Grinsen.
„Dreitausend Mark! Wenn das ein Wort ist, Herr Major, so können Sie sich darauf verlassen, daß ich Sie ehrlich bediene.“
„Es kommt vielleicht nicht so sehr auf Ihre Ehrlichkeit als auf Ihre Geschicklichkeit an. Entspricht die Auskunft, die Sie mir bringen, meinen Erwartungen nicht, so wird selbstverständlich auch die Zahlung demgemäß ausfallen. Wie die Ware, so der Preis.“
„O, der Herr Major sollen mit mir zufrieden sein. Ich habe drüben meine Verbindungen, und wenn der Herr Major sonst noch einen Wunsch haben — Sie sollen sehen, was Brandelaar leisten kann.“
„Gut — es wird nur in Ihrem eigensten Interesse liegen, mich gut und zuverlässig zu bedienen.“
Die Mienen des Schiffers wurden plötzlich wieder nachdenklich.
„Eine Besorgnis hätte ich doch noch, Herr Major.“
„Nun — und was für eine Besorgnis?“
„Meine Leute haben gesehen, daß ein Offizier mit Soldaten auf mein Fahrzeug gekommen ist. Wenn sie nun drüben in England davon erzählen und der Admiral daraufhin Argwohn gegen mich schöpft?“
„Er wird keinen Anlaß dazu haben, wenn er sich überzeugt, daß die Nachrichten zutreffend sind, die Sie ihm bringen. Er wird ja noch andere Quellen haben als Sie, und wenn er Ihre Nachrichten bestätigt findet, wird er Ihnen in jeder Hinsicht vertrauen.“
Maaning Brandelaar war durch diese Antwort nicht beruhigt.
„Ja, aber — — der Herr Major wollen mir doch wohl keine zutreffenden Auskünfte geben?“
„Gewiß! Alles, was ich Ihnen aufschreibe, wird vollkommen richtig sein.“
Diese Antwort ging offenbar über das Verständnis des Schiffers hinaus. In wortloser Verwunderung starrte er Heideck an.
Dieser aber fuhr ruhig fort:
„Der Admiral will die Stärke der deutschen Armee bei Antwerpen wissen, und ich will Ihnen sagen, wie es damit steht. Wir haben hundertzwanzigtausend Mann in Holland und dem kleinen Stück von Belgien, das wir rund um Antwerpen besetzt halten. In der Festung selbst liegen dreißigtausend Mann; auf der Insel Walcheren sind nur fünftausend Mann, die Vlissingen und andere wichtige Punkte besetzt halten. Das sind ganz zuverlässige Daten.“
Der Kapitän schüttelte den Kopf.
„Wenn nicht der Respekt verböte, es zu vermuten, so würde ich annehmen, daß der Herr Major mich zum besten halte.“
„Nein, mein Freund, dazu habe ich gar keinen Anlaß; Sie können für alles einstehen, was ich Ihnen aufschreiben werde, und Ihre Belohnung wird rechtschaffen verdient sein. Etwas anderes wäre es mit den Nachrichten, die Sie etwa auf eigene Hand dem Admiral nebenher überbringen.“
Brandelaar nickte.
„Ich verstehe, Herr Major, und ich werde mich danach richten. Aber neue Matrosen muß ich doch wohl anmustern. Es ist nicht gut, daß diese hier so viel wissen. Sie könnten mir doch Unannehmlichkeiten bereiten.“
„Nein, nein, das wäre ganz verkehrt. Behalten Sie ruhig Ihre Leute. Wenn ich nach Terneuzen komme, werde ich Sie und die Bemannung des Fahrzeugs in Haft nehmen lassen. Sie werden von mir verhört und nach einigen Tagen wieder in Freiheit gesetzt werden.“
Diese Aussicht schien dem Schiffer einigermaßen unbehaglich.
„Und wenn der Herr Major inzwischen anderen Sinnes werden und mich doch vor das Kriegsgericht bringen?“
„Verlassen Sie sich getrost auf mein Wort. Es wird sich nur[S. 287] um ein Scheinverhör handeln, damit Ihre Leute sich nicht unnütze Gedanken machen und nichts verraten könnten, was drüben Verdacht erregen möchte. Es wird im Gegenteil so aussehen, als hätten Sie allerlei Gefahren und Widerwärtigkeiten zu bestehen gehabt; und wie ich Sie taxiere, mein werter Herr Brandelaar, werden Sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dem Herrn Admiral als Entschädigung für die ausgestandene Angst noch einen Extralohn aus der Tasche zu locken.“
Als Heideck mit seinem Gefangenen, dem Herrn Camille Pénurot, wieder auf der ‚Gefion‘ anlangte, fand er den Kommandanten trotz der vorgerückten Stunde auf Deck. Er meldete sich bei ihm und bat, Pénurot als Gast zu behandeln.
„Ich war schon in einiger Sorge um Sie,“ sagte der Kapitän, „und nahe daran, die Dampfpinasse nachzuschicken. Haben Sie etwas Wichtiges in Erfahrung gebracht?“
„Ich denke wohl. Die beiden Halunken, die ich da abgefaßt habe, scheinen nicht zu der Gattung der gewöhnlichen Spione zu gehören. Es sind der Schiffer Brandelaar und der Mann, den ich Ihnen mitgebracht habe.“
„Haben Sie den Schiffer nicht auch in Haft genommen?“
„Ich habe die Absicht, mich der Leute in unserem Interesse zu bedienen und hoffe, daß Admiral Hollway sich in seinem eigenen Netze fangen wird.“
„Ist das nicht ein etwas gewagtes Spiel? Wenn die Kerle den Admiral Hollway verraten haben, so ist ihnen dasselbe doch wohl mit Sicherheit auch uns gegenüber zuzutrauen.“
„Ich rechne auch weniger auf ihre Ehrlichkeit, als auf ihren Eigennutz und ihre Furcht. Um den Engländern Nachrichten über uns zu bringen, müssen sie wieder zu uns kommen, und ich habe sie also in der Hand.“
„Umgekehrt aber trifft dasselbe zu. Ich gestehe, daß ich zu solchen Doppelspionen herzlich wenig Vertrauen habe.“
„Mir geht es selbstverständlich ebenso; aber ich glaube endlich den Weg zu der Zentralstelle für das Spioniersystem der Engländer gefunden zu haben. Ich kann, um der Sache ganz auf den Grund zu kommen, den Beistand der beiden Kundschafter nicht entbehren.“
„Eine Zentralstelle?“
„Ja. Die Handlanger, die ihr Leben riskieren, sind doch immer von untergeordneter Bedeutung, und es gilt vor allem, die höher stehenden Persönlichkeiten zu ermitteln, die sich weislich im Hintergrunde zu halten wissen.“
„Ich wünsche Ihnen guten Erfolg.“
„Bevor ich nach Antwerpen gehe, wohin mich Herr Pénurot morgen begleiten soll, möchte ich dem Reichskanzler Bericht erstatten. Darf ich bitten, mir morgen früh ein Boot zur Verfügung zu stellen, mit dem ich nach Vlissingen fahren kann?“
„Gewiß, Sie können jedes Boot erhalten, das Sie zu haben wünschen.“
„Dann bitte ich um die Dampfpinasse.“
„Ist es Ihnen vielleicht bekannt, ob der Kanzler noch lange in Vlissingen bleiben wird?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Antwerpen wäre freilich in mancher Hinsicht ein besserer Plan; aber er ist nach Vlissingen gegangen, um zu demonstrieren.“
„Um zu demonstrieren?“ wiederholte der Kommandant verwundert.
„Die Engländer erfahren natürlich, daß er sich dort befindet, und seine Anwesenheit in Vlissingen muß sie in dem Glauben bestärken, daß unsere Hauptaktion hier von der Mündung der Schelde aus erfolgen wird.“
„Ist es nicht bewunderungswürdig, daß unser Kanzler im Mittelpunkt aller Operationen steht, obwohl er weder General noch Admiral ist?“
„Wir haben ähnliches doch schon bei Bismarck gesehen. Wenn[S. 290] wir die Geschichte der Kriege von 1864, 66 und 1870/71 verfolgen, so stehen wir unter dem Eindruck, daß Bismarck gleichsam die Seele aller Operationen war, obwohl er seinen militärischen Titel nur als Dekoration trug.“
„Das ist richtig, aber die Verhältnisse lagen doch wesentlich anders. Bismarck war ein geschulter Beamter, Diplomat, Botschafter, ehe er Kanzler wurde. Er hatte selbst den Heerführern gegenüber eine gewaltige Autorität für sich. Unser neuer Reichskanzler entstammt doch aber einer ganz anderen Sphäre.“
„Aber auch er hat die Macht einer starken Persönlichkeit für sich, und diese ist es, die in allen großen Dingen den Ausschlag gibt. Der feine Instinkt des Volkes fühlt, daß der Kaiser die rechte Wahl getroffen hat, und die allgemeine Beliebtheit des Kanzlers gewährt ihm auch den Heerführern gegenüber einen mächtigen Rückhalt. Zudem müssen wir alle ja immer wieder seinen praktischen Verstand und seinen weiten Gesichtskreis bewundern. Ist nicht die Besetzung Antwerpens dafür ein neues Beispiel? Belgien ist sonst von der französischen Armee besetzt, aber der Kanzler hat bei der französischen Regierung durchgesetzt, daß wir Antwerpen halten, weil unsere Flotte in der Schelde liegt. Und ich bin sicher, daß wir es niemals wieder herausgeben werden.“
Der Kommandant schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Sie glauben wirklich, daß wir Antwerpen so ohne weiteres werden behalten können?“
„Wir müssen und werden Antwerpen haben. Die Niederlande und Belgien mögen bestehen bleiben; denn wir können gerechterweise diese Länder nicht annektieren. Aber die Niederlande und Antwerpen werden zum Schutze ihrer eigenen Interessen zum Deutschen Reich in ein engeres politisches Verhältnis treten. Ihre Regierungen sind auf die Dauer zu schwach, um der revolutionären Bewegungen in ihren Ländern Herr zu werden. Wir steuern ja unaufhaltsam auf die Bildung größerer Staatswesen hin. Die[S. 291] Grausamkeit der Kriege erscheint mir dadurch etwas gemildert, daß der Krieg in seinen Begleiterscheinungen ein Einigungsmittel der Völker ist.“
„Das klingt sehr schwärmerisch, Herr Major,“ sagte der Kapitän verwundert, und dem Gespräch eine andere Wendung gebend fuhr er fort: „Was für Nachrichten denken Sie durch Ihre Mittelspersonen nach Dover gelangen zu lassen?“
„Ich denke den Admiral in der Meinung zu bestärken, daß wir mit der Flotte und zahlreichen Dampfern unserer privaten Schiffahrtsgesellschaften aus der Schelde herauskommen und mit Unterstützung der französischen Flotte eine Armee nach Dover hinüberwerfen wollen.“
„Mich wundert, daß die Engländer so gar keinen Versuch machen, unsere Stellungen zu forcieren. Man ist fast versucht zu glauben, daß die englische Marine ebensowenig kriegstüchtig sei, wie die englische Armee. Wenn unsere Gegner sich stark fühlten, würden sie doch wohl schon längst vor Brest, Cherbourg, Vlissingen, Wilhelmshaven oder Kiel erschienen sein. Helgoland könnte eine Panzerflotte doch eigentlich nicht hindern, in die Elbe einzudringen, es müßte der englischen Flotte vielmehr ein willkommenes Angriffsobjekt sein. Wenn ich über die englische Flotte zu gebieten hätte, führe ich mit den älteren Panzern ‚Albion‘, ‚Glory‘, ‚Canopus‘, ‚Goliath‘, ‚Ocean‘ und ‚Vengeance‘ gegen Helgoland. Die kleine Insel würde diesen sechs Linienschiffen schwerlich lange Stand halten, und die deutsche Nordseeflotte — vorausgesetzt, es wäre eine vorhanden — würde ehrenhalber aus Wilhelmshaven hervorkommen müssen.“
„Daß nichts derartiges geschieht, erklärt sich wohl weniger aus dem englischen Bewußtsein der eigenen Schwäche, als daraus, daß die Engländer niemanden haben, dessen Genie der Situation gewachsen wäre. Gewiß fehlt es ihnen nicht an tüchtigen Admiralen, aber es ist kein Nelson darunter. Auch unser Krieg wäre ja[S. 292] vielleicht unterblieben, wenn der Kaiser nicht in dem neuen Kanzler das Genie entdeckt hätte, dessen unsere Zeit bedarf. Die Kriege gegen Dänemark, Oesterreich und Frankreich wären ohne Bismarcks Initiative schwerlich gekommen. Große Staaten können auch bei der elendesten Regierung und bei den größten Fehlern noch lange bestehen, aber ein Aufschwung, ein wirklicher Fortschritt ist nur durch das Eingreifen einer gewaltigen Persönlichkeit möglich.“
„Ich bin darin nicht ganz Ihrer Meinung, denn meiner Ueberzeugung nach sind es die wirtschaftlichen Verhältnisse, die von Zeit zu Zeit zu großen Umwälzungen drängen. Glauben Sie, daß den Russen beispielsweise die Eroberung Indiens gelungen wäre, wenn die dortigen wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der eingebornen Bevölkerung besser gewesen wären?“
„Gewiß nicht. Auch ein großer Mann muß den Boden vorbereitet finden, auf dem seine Kraft sich betätigen soll. Und ich meine, daß unser Kanzler eben zur rechten Zeit auf dem Plane erschienen ist.“
Heideck beurlaubte sich von dem Kommandanten und zog sich in seine Kabine zurück, um einen Bericht aufzusetzen und dann die wohlverdiente Ruhe zu suchen.
Als er sich am nächsten Morgen Herrn Camille Pénurot kommen ließ, fand er ihn auffallend verändert. Der stutzerhafte Herr zeigte nicht mehr die niedergeschlagene Miene von gestern, seine dunklen Augen leuchteten wie in heller Zuversicht. Jetzt am Tage sah Heideck, daß sein Gefangener ein recht hübscher Mann von etwa 30 Jahren war, der mehr einem Spanier, als einem Niederländer glich.
Mit höflicher Verbeugung begrüßte er Heideck, und dann, — mit einer gewissen Vertraulichkeit, — fragte er:
„Verzeihen Sie, Herr Major, — wenn ich mich um das deutsche Reich verdient mache, werde ich dann auf eine entsprechende Belohnung rechnen dürfen?“
„Ich sagte Ihnen schon, Herr Pénurot, daß wir bereit sind, mehr zu zahlen, als die Engländer.“
„O, es war nicht das, was ich meinte. Sie dürfen mich nicht mit Maaning Brandelaar und derartigen Leuten auf dieselbe Stufe stellen.“
Heideck lächelte.
„Wollen Sie mir denn gefälligst sagen, Herr Pénurot, auf welchen Platz ich Sie stellen soll?“
„Ich bin willens, von nun an der Sache der Alliierten alle meine Kräfte zu widmen.“
„Angenommen! Aber welcher Art sind denn die Wünsche, die Sie hinsichtlich einer Belohnung hegen?“
„Ich möchte Sie um Ihre Verwendung bitten, Herr Major, daß ich einen Orden erhalte.“
Heideck konnte sein Erstaunen über diese sonderbare Bitte nicht verbergen.
„Solche Auszeichnungen werden bei uns in der Regel nur für Handlungen der Tapferkeit oder für Verdienste gegeben, die durch klingenden Lohn nicht entsprechend vergolten werden könnten.“
„Auch zu dem, was ich tun will, bedarf es der Tapferkeit.“
„Sie sollen mir doch nur helfen, die Spione in Antwerpen aufzuspüren.“
„Aber es sind gefährliche Leute, deren Feindschaft ich mir zuziehe — Leute, deren Werkzeuge zu allem fähig sein würden.“
„Seien Sie versichert, Herr Pénurot, daß Ihre Belohnung den geleisteten Diensten entsprechen wird. Sie wissen doch wohl, daß ich selbst keine Orden zu verleihen habe, und überdies verstehe ich nicht recht, was Ihnen gerade an einer Dekoration gelegen sein kann.“
„Sie schätzen meine Gesinnung zu niedrig, Herr Major! Aber damit Sie mich verstehen, will ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich liebe eine Dame aus sehr guter Familie, und ihre[S. 294] Angehörigen würden sich entgegenkommender gegen mich zeigen, wenn ich einen Orden hätte.“
„Sie sind also mit Ihren Herzenswünschen vermutlich sehr hoch hinaufgestiegen?“
„Wie man es nehmen will. Ich befinde mich hinsichtlich meiner Herkunft in jener peinlichen Lage, die das Erbteil aller aus einem freien Liebesbunde hervorgegangenen Kinder ist. Meine Mutter war eine spanische Tänzerin, mein Vater aber ist der reiche Herr Amelungen. Er liebt mich und sorgt für mich. Auch das Geschäft in Breskens hat er für mich gekauft. Aber seine Frau, eine Engländerin, ist mir wenig freundlich gesinnt.“
„Ich verstehe Sie jetzt noch weniger wie zuvor! Denn wenn Sie über so reiche Hilfsquellen verfügen, weshalb, in aller Welt, lassen Sie sich dann auf derartige gefährliche Unternehmungen ein?“
„Herr Amelungen wünschte es, Herr Major.“
„In Herrn Amelungen also hätten wir den eigentlichen Schuldigen zu erblicken?“
„Um Gottes willen, Herr Major, Sie werden mein Vertrauen doch nicht mißbrauchen? Ich wäre trostlos, wenn ich durch meine Aeußerungen das Unglück des Herrn Amelungen verursachte.“
„Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Herrn Amelungen wird ebensowenig etwas geschehen, wie Ihnen, wenn Sie ihn bestimmen können, die Partei zu wechseln und fortan zu uns statt zu den Engländern zu halten.“
Pénurot senkte den Kopf und schwieg.
„Wie ist es denn mit dem Herrn van Spranekhuizen in Rotterdam?“ fuhr Heideck fort. „Auch er ist natürlich mit im Bunde?“
„Er ist der Schwager meines Vaters. Seine Frau ist eine geborene Amelungen.“
„Und was hat eigentlich diese beiden Herren, die doch, wie ich[S. 295] höre, reiche Kaufleute sind, dazu bewogen, für England Spionage zu treiben?“
„O, Herr Major, das ist doch nicht so wunderbar! Frankreich hat Belgien besetzt, Deutschland die Niederlande. Darüber herrscht im Lande natürlich große Erbitterung.“
„Mag sein. Aber wohlhabende Kaufleute pflegen sich trotzdem nicht aus bloßem Patriotismus in Gefahr für Leib und Leben zu stürzen. Das tun in der Regel nur solche Leute, die nicht viel zu verlieren haben.“
„Ich sagte Ihnen bereits, daß meines Vaters Frau eine Engländerin ist. Ihr zuliebe tut er vieles, wozu ihn sonst gewiß nichts veranlassen würde. —“
Heideck erhielt die Meldung, daß die Dampfpinasse bereit sei, und er forderte Pénurot auf, mit ihm das Fahrzeug zu besteigen. Im Hafen von Vlissingen verabschiedete er sich für eine Weile von ihm, mit der Weisung, ihn in einer Stunde auf seinem Bureau aufzusuchen, dessen Lage er ihm genau bezeichnete. Er hegte keine Besorgnis, daß Pénurot die Flucht ergreifen würde. Dieses Herrn war er unbedingt sicher.
Auf seinem Bureau, das in der Nähe des Hotels zum ‚Herzog von Wellington‘ lag, fand Heideck seine Untergebenen in eifrigster Tätigkeit. Ein Leutnant war damit beschäftigt, die französischen und deutschen Zeitungen auf bemerkenswerte Mitteilungen hin durchzusehen, während ein anderer die russischen und die englischen Blätter studierte. Von den letzteren gab es freilich nicht viele und nicht die neuesten Nummern. Denn man war ausschließlich auf diejenige Lektüre angewiesen, die waghalsige Schiffer und Fischer heimlich von den britischen Inseln herüberschmuggelten.
Aus Petersburg lagen mehrere Depeschen vor, die neue Siegesnachrichten aus Indien brachten.
Die russische Armee war bis nach Lucknow vorgedrungen, ohne daß seit der Schlacht bei Delhi ein nennenswerter weiterer Zusammenstoß stattgefunden hatte. Es schien, als ob die Engländer vorläufig dem Feinde ihre Armee nicht mehr im offenen Felde entgegenstellen wollten, sondern darauf rechneten, daß die Russen bei der nunmehr herrschenden Sommerhitze und bei der enormen Länge ihrer Etappenstraßen nicht in genügender Stärke bis zu den südlichen Provinzen gelangen würden, um einen dort zu leistenden energischen Widerstand zu brechen. Aber Heideck glaubte nicht mehr an die Möglichkeit eines solchen Widerstandes und schloß aus den Nachrichten über beständige Nachschübe durch den Kaiberpaß, daß alle Verluste der Russen rasch genug ersetzt würden. Den Engländern würde seiner Meinung nach kaum etwas anderes übrig bleiben, als die Trümmer[S. 297] ihrer Armee in den Häfen von Kalkutta, Madras und Bombay einzuschiffen und so wenigstens einen Teil der geschlagenen Streitkräfte aus Indien zu retten.
Während seines Verweilens in dem Bureau kamen unausgesetzt Depeschen aus Wilhelmshaven, Kiel, Brest und Cherbourg. Der Nachrichtendienst an der ganzen nördlichen Küste stand unter Heidecks Leitung.
Die strategische Lage war im großen und ganzen, von einzelnen Seegefechten abgesehen, seit Monaten unverändert. Auf englischer Seite sowohl wie auf Seite der Alliierten trug man Bedenken, sich auf eine entscheidende Schlacht einzulassen. Die englischen Flotten wagten so wenig einen Angriff auf die feindlichen Häfen, als die Geschwader der vereinigten Festlandsmächte geneigt erschienen, ihr Glück auf hoher See zu versuchen. Beide Parteien suchten Fühlung mit dem Feinde zu gewinnen, auf den günstigen Augenblick wartend, wo eine Schwäche des Gegners Aussicht auf ein erfolgreiches Vorgehen bieten würde.
„Es ist erstaunlich,“ sagte einer der Offiziere aus Heidecks Umgebung, „was diese Küstenbewohner riskieren. In ihren Fischerbooten fahren sie über den Kanal und schlüpfen an den Kriegsschiffen vorbei. Der Mann, der die neuesten englischen Zeitungen gebracht hat, sagte mir, daß er dicht in der Nähe der Kriegsschiffe hinführe, um den Eindruck der Harmlosigkeit zu erwecken. Und es bedarf fürwahr nicht geringen Mutes, um das zu wagen.“
„Aber die Spione unserer Gegner stehen ihnen darin nicht nach. Ich habe gestern mehr zufällig als durch eigenes Verdienst in der Scheldemündung einen in englischem Solde stehenden Heringsfischer ertappt, und ich bin dabei auf eine anscheinend wichtige Spur gestoßen, die ich in Antwerpen weiter zu verfolgen gedenke. Zuvor aber will ich mich bei dem Kanzler melden.“
„Sie finden ihn nicht mehr in Vlissingen. Er ist mit dem Kriegsminister und dem Chef des Generalstabs nach Antwerpen[S. 298] gefahren, wie ich höre, zum Zwecke wichtiger Verhandlungen mit dem französischen Generalstabschef.“
„Haben Sie vielleicht auch etwas näheres über die Natur dieser Verhandlungen in Erfahrung bringen können?“
„Nur soviel, daß die Frage weiterer Mobilmachungen erörtert werden soll. Es scheint jedoch, als hielte man die sechs Armeekorps, die wir bis jetzt auf Kriegsfuß haben, für unsererseits ausreichend. Wir führen keinen Landkrieg, weshalb also sollte man den Völkern ohne zwingende Not die Lasten einer weiteren Mobilmachung auferlegen?“
„Freilich, die Opfer, die dieser Krieg fordert, gehen ja ohnedies ins Ungemessene, da Industrie und Handel völlig darniederliegen.“
„Niemand gewinnt bei diesem Weltenbrande als Amerika. Die Vereinigten Staaten liefern seit Ausbruch des Krieges den Engländern alles, was sie bisher von dem europäischen Kontinent bezogen.“
„Nun, nach der Entscheidung wird sich ja alles wieder ausgleichen. Jetzt aber, da es hier nichts Dringendes mehr für mich zu tun gibt, ist es wohl an der Zeit, daß ich mich nach Antwerpen begebe.“
Eberhard Amelungen vermochte seine Betroffenheit nicht zu verbergen, als er einen Offizier in der Uniform des preußischen Generalstabs über die Schwelle seines Privatkontors treten sah.
Er war ein Mann von etwa sechzig Jahren und der typischen Erscheinung des soliden, ehrenhaften Kaufmanns.
„Ich bin einigermaßen überrascht, mein Herr,“ sagte er gemessen. „Womit kann ich Ihnen dienen?“
Heideck stellte sich vor und nannte ihm ohne Umschweife die Ursache seines Erscheinens.
„Ich habe Grund, zu vermuten, Herr Amelungen, daß Sie, wenn nicht alle, so doch einige Hauptfäden eines weitverzweigten Spionagenetzes in Ihren Händen halten. Und ich glaube, daß es[S. 299] in Ihrem Interesse liegen würde, mir aus freien Stücken die volle Wahrheit zu sagen. Wir wissen schon so viel, daß es Ihnen voraussichtlich wenig nützen wird, sich aufs Leugnen zu verlegen.“
Amelungen spielte mit dem Federhalter, aber seine Hände zitterten merklich, und er suchte vergebens nach Worten. Sein Gesicht war aschfahl geworden, und Heideck konnte sich einer Regung des Mitleids nicht erwehren.
„Es tut mir leid, durch mein Amt zum Vorgehen gegen Sie gezwungen zu werden,“ fuhr er fort. „Ich kann ja Ihre Beweggründe sehr wohl verstehen. Sie sind Niederländer und Patriot, und da Sie die politische Lage vielleicht nicht vollkommen verstehen, stellt sich Ihnen die Okkupation Ihres Vaterlandes durch eine fremde Macht als ein Gewaltakt dar, der Sie mit Haß und Zorn gegen uns erfüllt. Darum glaube ich, Ihnen versprechen zu dürfen, daß man Sie mit aller nur möglichen Milde behandeln wird, sofern Sie mir meine Aufgabe durch ein offenes Geständnis erleichtern.“
Eberhard Amelungen schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nichts von dem, dessen Sie mich da beschuldigen,“ sagte er tonlos. „Sie haben die Gewalt in Händen und können daher über mich verfügen. Aber ich habe nichts zu gestehen.“
„Auch dann nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich meine Wissenschaft aus dem Munde Ihres eigenen Sohnes habe?“
Der Kaufmann starrte den Sprechenden mit großen, angstvollen Augen an.
„Aus dem Munde meines Sohnes? — Aber ich — ich habe ja gar keinen Sohn.“
„So hat Herr Camille Pénurot also gelogen, als er Sie seinen Vater nannte?“
„Um Gottes willen, seien Sie barmherzig! Spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was ist’s mit Camille? Wo befindet er sich? —“
„Er ist bei der Ausübung der Spionage betroffen worden.[S. 300] Und was weiter mit ihm geschieht, wird zum großen Teil von Ihrem eigenen Verhalten abhängen.“
Eberhard Amelungen fiel wie gebrochen in seinen Schreibsessel.
„Mein Gott — mein Gott! — Sie haben doch nicht die Absicht, ihn ins Gefängnis zu werfen — ihn vielleicht gar zu erschießen?“
„Sein Schicksal liegt, wie Sie sich denken können, nicht allein in meiner Hand. Aber mein Einfluß ist vielleicht gerade in diesem Fall ziemlich bedeutend, und es würde jedenfalls von Wert sein, wenn ich ihn zu Ihren und zu seinen Gunsten in die Wagschale werfen würde. Darum gebe ich Ihnen noch einmal zu bedenken, ob Sie nicht nach Lage der Dinge am besten tun würden, ganz offen gegen mich zu sein. Ihre Hintermänner können Sie nicht mehr schützen, und Sie dürfen Ihre Hoffnungen nur noch auf die Milde der deutschen Behörden setzen. Weisen Sie darum die Möglichkeit nicht zurück, sich diese Milde zu sichern.“
Der Handelsherr kämpfte ersichtlich einen schweren Kampf. Aber nach Verlauf einiger Augenblicke hob er den Kopf und erwiderte in einem veränderten, trotzig klingenden Tone:
„Machen Sie mit mir, was Sie wollen — ich habe nichts zu gestehen.“
Nun nahm auch Heideck eine strengere, dienstliche Haltung an.
„Dann werden Sie sich nicht beklagen dürfen, wenn ich jetzt damit beginne, eine Haussuchung bei Ihnen vorzunehmen.“
„Verfahren Sie, wie Sie es für gut halten. Der Eroberer darf sich ja alles herausnehmen.“
Heideck öffnete die Tür und ließ zwei der Berliner Kriminal-Polizisten eintreten, die mit einer großen Anzahl von Schutzleuten nach Antwerpen kommandiert worden waren, und die er sich für diesen Gang ausgebeten hatte. Er war allerdings von vornherein überzeugt, daß sie nichts finden würden; denn Eberhard Amelungen wäre sehr ungeschickt gewesen, wenn er sich nicht längst auf die[S. 301] Möglichkeit eines solchen Besuches vorbereitet und danach seine Maßnahmen getroffen hätte. Es war dem Major, als er sie mitgebracht hatte, viel mehr um den moralischen Eindruck der ganzen Prozedur zu tun gewesen. Und er war Menschenkenner genug, um zu sehen, daß dieser in der Tat nicht ausblieb.
„Noch eins, Herr Amelungen,“ sagte er. „Ungefähr in demselben Augenblick, wo wir hier mit der Nachsuchung beginnen, wird eine solche auch in Ihrer Privatwohnung erfolgen. Ich erwarte in jeder Minute den Bericht der damit betrauten Beamten.“
Amelungen atmete schwer. Sein scheuer Blick suchte in Heidecks Gesicht zu lesen. Dann, nach einem letzten inneren Kampfe, flüsterte er:
„Schicken Sie diese Leute hinaus, Herr Major! — Ich möchte unter vier Augen mit Ihnen reden.“
Als Heideck seinem Verlangen Folge geleistet hatte, fuhr er in hastigen, wie in schwerer Anstrengung hervorgestoßenen Worten fort:
„Sie sehen in mir einen Bedauernswerten, der ganz gegen seinen Wunsch und Willen in Verhältnisse verwickelt worden ist, die ihn kompromittieren. Wenn es hier einen Schuldigen gibt, so sind es mein Schwager van Spranekhuizen und die Dame in Brüssel, die mit meiner Frau korrespondiert. Ich habe hier und da die Mittelsperson gemacht, wenn es sich um die Beförderung der Korrespondenzen oder um die Ueberweisung von Geldbeträgen an die Gräfin — an die Dame handelte; aber ich habe persönlich niemals irgend welchen Anteil genommen an den Dingen, die dabei in Frage standen.“
„Das ist eine Auskunft, die mir nicht genügen kann. Ich setze keinen Zweifel in die Wahrheit Ihrer Worte, aber ich müßte über alle Einzelheiten unterrichtet sein, ehe ich von weiteren Maßnahmen gegen Sie abstehen könnte. Wer ist die Dame, von der Sie sprachen?“
„Eine frühere Hofdame der verstorbenen Königin.“
„Und ihr Name?“
„Gräfin Clementine Arselaarts.“
„Wie sind Sie zu ihrer Bekanntschaft gekommen?“
„Sie ist eine Freundin meiner Frau, die sie im vorigen Jahre gelegentlich eines Aufenthalts in Brüssel kennen lernte.“
„Und Ihre Frau ist eine Engländerin?“
„Ja — eine geborene Irwin.“
Eine Flut wehmütiger Erinnerungen stürmte beim Klang dieses Namens auf Heideck ein.
„Irwin?“ wiederholte er. „Hat diese Dame vielleicht auch Verwandte in der britischen Armee?“
„Ich hatte einen Schwager, der als Kapitän bei den indischen Lancers diente. Aber er ist nach den uns zugegangenen Nachrichten in der Schlacht bei Lahore gefallen.“
Der Major hatte Mühe, seine Erregung zu meistern, doch als hätte er sich schon zu lange von seiner Pflicht ablenken lassen, kehrte er hastig zu dem eigentlichen Gegenstand seines Verhörs zurück.
„Sie sagten, daß Sie der Gräfin Arselaarts Geldbeträge überwiesen haben. In wessen Auftrage? — Und für wessen Rechnung geschah dies?“
„Für Rechnung der englischen Regierung und auf die Ordre eines englischen Bankhauses hin, mit dem ich seit vielen Jahren in geschäftlicher Verbindung stehe.“
„Waren die Beträge bedeutend?“
„Sie beliefen sich während der letzten Zeit auf durchschnittlich zehntausend Francs im Monat.“
„Und in welcher Form erfolgte die Ueberweisung?“
„Ich sandte die Summen zuweilen in bar, manchmal auch in einem Scheck auf Brüsseler Bankhäuser.“
„Besitzen Sie irgend welche Ausweise darüber — vielleicht eine Quittung von der Hand der Gräfin?“
Amelungen zauderte.
„Ich empfehle Ihnen dringend, mir nichts vorzuenthalten. Für Sie wie für Ihre in diese Angelegenheit verwickelten Angehörigen steht so viel auf dem Spiel, daß Ihnen alles daran gelegen sein muß, sich durch freimütiges Bekennen eine milde Behandlung zu erwirken.“
„Nun denn — ich besitze solche Quittungen.“
„Wollen Sie sie mir aushändigen?“
Amelungen zog eine Schublade aus seinem Schreibtisch und ließ durch Federdruck ein dahinter verborgenes Geheimfach aufspringen.
„Da sind sie!“ sagte er, indem er Heideck ein Päckchen von Briefblättern überreichte. Das scharfe Auge des Majors aber hatte mit raschem Blick erspäht, daß sich noch andere Papiere in dem Fache befanden, und mit höflicher Bestimmtheit bestand er auch auf deren Auslieferung.
„Es sind belanglose Privatbriefe,“ wollte Amelungen einwenden, „Korrespondenzen meiner Frau, die sie zufällig hier in meinem Kontor zurückgelassen und von deren Inhalt ich selbst keine Kenntnis habe.“
„Seien Sie versichert, daß wir mit harmlosen Privatkorrespondenzen keinen Mißbrauch treiben. Aber ich muß unbedingt das Recht in Anspruch nehmen, mich zuvor durch eigene Prüfung von der Richtigkeit Ihrer Aussagen zu überzeugen.“
Der Kaufherr mochte wohl einsehen, daß es kein Ausweichen mehr gab, und überreichte sichtbar erregt Heideck das kleine Konvolut.
Der Major nahm es an sich, ohne den Inhalt sogleich einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
„Und Sie versichern mir bestimmt, Herr Amelungen, daß sich sonst nichts auf diese Angelegenheit Bezügliches in Ihren Händen befindet?“
„Nichts! Ich versichere es Ihnen bestimmt, Herr Major!“
Heideck stand auf.
„So lege ich Ihnen hiermit die Verpflichtung auf, daß Sie keinen Versuch machen, die Stadt zu verlassen oder sich sonstwie den deutschen Behörden zu entziehen. Sie werden diese Verpflichtung nicht nur für Ihre eigene Person, sondern auch für die Ihrer Gattin übernehmen; und Sie werden mir außerdem versprechen, sofort alle Beziehungen zu den in diese Spionage-Angelegenheit verwickelten Persönlichkeiten abzubrechen — es sei denn, daß Sie auf unsere Veranlassung und im Einvernehmen mit uns handelten.“
Eberhard Amelungen, dessen Widerstandskraft in dieser qualvollen Stunde gänzlich gebrochen schien, nickte zustimmend.
„Ich verspreche Ihnen das eine wie das andere, Herr Major!“
Heideck ließ einen Kriminalbeamten, nachdem er ihm Instruktionen erteilt hatte, zur Beobachtung zurück und begab sich unverzüglich in das Bureau des Oberstleutnants von Nollenberg, der dem Nachrichtendienst für Antwerpen vorstand. Er berichtete ihm von dem Ergebnis seiner Unterredung und prüfte in seiner Gegenwart die konfiszierten Papiere.
Es waren zum guten Teil Briefe der Gräfin Clementine Arselaarts an Frau Beatrix Amelungen, und, abgesehen von einigen Wendungen, die zu Wachsamkeit und Schnelligkeit mahnten, von unverfänglichem Inhalt.
Daneben aber befand sich in einem besonderen, mehrfach versiegelten Umschlage ein auf allen vier Seiten engbeschriebenes Briefblatt, das nicht ohne weiteres leserlich war, weil die Buchstaben scheinbar ganz regellos und willkürlich durcheinander geworfen waren.
„Chiffreschrift!“ sagte Heideck. „Aber wir werden schon dahinter kommen, was sie verbirgt. Sie haben ja einige tüchtige Dechiffreure zu Ihrer Verfügung, Herr Oberstleutnant, und es dürfte gut sein, wenn sie sich sofort an die Arbeit machten.“
Er setzte die Prüfung fort, und plötzlich schlug es wie eine Blutwelle in sein Gesicht, denn in seinen Händen hielt er jetzt einen[S. 305] Brief, dessen Handschrift er auf den ersten Blick als diejenige Ediths erkannt hatte.
Er lautete:
‚Liebe Beatrix! Wie Du siehst, bin ich wieder in England angekommen. Du weißt, daß ich als Witwe zurückgekehrt bin, und Du darfst mir glauben, daß es schreckliche Dinge waren, die ich erleben mußte. Dein Bruder ist bei Lahore auf dem Felde der Ehre gefallen; mir aber ist es nach unsäglichen Schwierigkeiten gelungen, unter dem Schutze des Generalanwalts Kennedy und seiner Familie Indien zu verlassen. Ich müßte ein Buch füllen, um Dir alle Schrecknisse unserer Reise zu schildern. Doch es ist wohl jetzt nicht der rechte Zeitpunkt, über ein trauriges Einzelschicksal zu klagen. Wir alle sind Fremdlinge und Pilger auf Erden, die ihr Kreuz tragen müssen, so wie es ihnen eben auferlegt wurde.
Der unmittelbare Anlaß meines heutigen Schreibens ist eine Angelegenheit, in der ich Deiner Meinungsäußerung bedarf. Als ich hier bei meinen Eltern ankam, erfuhr ich, daß Onkel Godfrey am 16. April gestorben ist. Ich weiß nicht, ob Du bereits Kenntnis davon hast, da ja jede regelmäßige Verbindung mit dem Kontinent unterbrochen ist. Onkel Godfrey hat ein Testament hinterlassen, in dem er sein ganzes Vermögen Dir als seiner Nichte und meinem verstorbenen Mann zu gleichen Teilen vermacht. Sein Besitz ist größer gewesen, als mein Mann ihn geschätzt hatte. Nach der Teilung würde meinem Mann ebenso wie Dir eine jährliche Rente von 5000 Pfund zugefallen sein. Nun ist Dein Bruder aus dem Leben geschieden, ohne eine letztwillige Verfügung zu hinterlassen. Aber mein Rechtsanwalt sagt mir, daß ich als seine alleinige Erbin Anspruch auf den ihm zugefallenen Teil des Nachlasses habe. Um mich darüber mit Dir verständigen zu können, habe ich mich hierher nach Dover begeben; denn ich habe erfahren, daß es nur mit Hilfe des[S. 306] Admiral Hollway, der den Sicherheitsdienst unserer Küste leitet, möglich sein würde, den Brief nach Antwerpen gelangen zu lassen. Zu meiner Ueberraschung teilte mir der Admiral mit, daß ihm Dein Name bekannt sei, und er übernahm es bereitwilligst, diesen Brief an Dich zu befördern. So bitte ich Dich denn um Deine Zustimmung zu einer Teilung von Onkel Godfreys Erbschaft zwischen Dir und mir. Ich glaube ja nicht, daß Du irgend welche Bedenken haben wirst, aber ich halte es für geboten, Deine ausdrückliche Einwilligung einzuholen. Ich werde mich freuen, von Dir zu hören, daß es Dir wohl geht.
Getreulich die Deinige! Edith Irwin.
P. S. In Indien habe ich die Bekanntschaft eines deutschen Offiziers gemacht, der mir während der Schreckenszeit des Krieges große Dienste leistete und mir wiederholt das Leben gerettet hat. Er ist mit der Familie Kennedy und mir auf der ‚Caledonia‘ bis nach Neapel gefahren und von dort nach Berlin weitergereist, während wir unsere Reise auf einem Kriegsschiff durch die Straße von Gibraltar nach Southampton fortsetzten. Dieser Offizier ist ein Hauptmann Heideck vom preußischen Generalstab. Ich würde Dir dankbar sein, wenn Du Dich erkundigen wolltest, wo er sich gegenwärtig befindet. Es liegt mir daran, seine Adresse zu erfahren. Ich bleibe vorläufig in Dover, und Briefe erreichen mich unter der Adresse der Mrs. Jones, 7 St. Pauls Street.‘
Eine Welt peinigender Erinnerungen lebte beim Lesen dieses Briefes in Heidecks Herzen auf. Er zweifelte keinen Augenblick, daß die Nachschrift, in der sein Name vorkam, der eigentliche Zweck des Schreibens war. Alles andere war sicherlich nichts als ein Vorwand; denn er wußte, mit welcher Gleichgiltigkeit Edith alle ihre Geldangelegenheiten behandelte, und war überzeugt, daß es ihr mit der Regelung dieser Erbschaft durchaus nicht so eilig war, als es nach ihrem Brief den Anschein haben mußte.
Der Oberstleutnant trat auf ihn zu und sagte:
„Die Entzifferung des Schriftstücks ist schneller gelungen, als ich zu hoffen gewagt. Und ich habe sofort an das Polizeiamt in Schleswig telegraphiert, daß der Verfasser, ein gewisser Brodersen, unverzüglich verhaftet werde. Bitte überzeugen Sie sich selbst, was für Freunde wir dort unter den Dänen haben.“
Heideck las:
‚Im Kieler Hafen liegen von größeren Kriegsschiffen nur die Schlachtschiffe ‚Oldenburg‘, ‚Baden‘, ‚Württemberg‘, ‚Bayern‘, ‚Sachsen‘, die großen Kreuzer ‚Kaiser‘, ‚Deutschland‘, ‚König Wilhelm‘, die kleinen Kreuzer ‚Gazelle‘, ‚Prinzeß Wilhelm‘, ‚Irene‘, ‚Komet‘ und ‚Meteor‘, sowie die Torpedodivisionsboote ‚D 5‘ und ‚D 6‘ mit ihren Divisionen. Außerdem ca. 100 große und kleine Dampfer des Norddeutschen Lloyd, der Hamburg-Amerika-Linie, der Stettiner Gesellschaft u. a. Alle großen Dampfer sind mit Schnellfeuerkanonen und Maschinengewehren, die kleinen nur mit Maschinengewehren ausgerüstet. Aus Hannover, Mecklenburg, Pommern und der Provinz Sachsen sind 50000 Mann Infanterie und Artillerie mit nur zwei Regimentern Husaren in der Nähe von Kiel zusammengezogen worden. Ueber die Pläne der deutschen Regierung gehen die Ansichten meiner Freunde auseinander. Möglicherweise ist ein Heranziehen von Linienschiffen durch den Kaiser Wilhelm-Kanal und ein mit der russischen Flotte kombinierter Angriff auf die britische Flotte bei Kopenhagen beabsichtigt.
Am wahrscheinlichsten ist, daß die Transportflotte die bei Kiel zusammengezogene Armee aufnehmen und durch den Kaiser Wilhelm-Kanal in die Nordsee bringen soll, wo dann eine Vereinigung mit der bei Antwerpen liegenden deutschen Schlachtflotte und den von Cherbourg herüberkommenden französischen Geschwadern stattfinden würde. Unter dem Schutze der Schlachtflotte würde man versuchen, die deutsche Armee und die von Boulogne kommenden französischen Truppen bei Dover oder sonst einem nahen Punkte der englischen Küste an Land zu bringen.
Ich bestätige Herrn van Spranekhuizen den Empfang von 10000 Frs, bitte aber um weitere Uebersendung des doppelten Betrages. Meine Agenten setzen ihr Leben ein und wollen nicht billiger arbeiten.‘
„Auch du, mein lieber Brodersen, hast dein Leben eingesetzt,“ sagte der Oberstleutnant ernst, „und ich möchte in diesem Augenblick nicht allzuviel dafür geben.“
„Diese Notizen sind für uns recht lehrreich,“ bemerkte Heideck. „Wenn wir den Admiral Hollway in dem Glauben bestärken, daß wir nicht von Kiel, sondern von Antwerpen aus eine Landung der deutschen Truppen in England beabsichtigen, so wird unsere in Kiel vereinigte Transportflotte mit um so größerer Sicherheit die Nordsee passieren und die Landung in Schottland bewerkstelligen können.“
Aus Brüssel meldete der Oberst Mercier-Milon, daß er die Gräfin Arselaarts verhaftet habe und einen guten Fang gemacht zu haben glaube. Die Gräfin sei stark verschuldet und treibe großen Aufwand. Bis vor kurzem hätte sie sich des finanziellen Beistandes einer hohen Persönlichkeit zu erfreuen gehabt, seitdem diese sich aber im Auslande befinde, seien ihre Hilfsquellen versiegt, und sie habe seither den Engländern vermutlich gegen hohe Belohnung Spionendienste geleistet. Er sei im Begriffe, ein weit verzweigtes Netz von Kundschaftern in Belgien und Frankreich aufzudecken.
Auch Herr van Spranekhuizen und Hinnerk Brodersen in Schleswig waren im Laufe desselben Vormittags verhaftet worden.
„Hätten wir nur sichere Auskunft über die Stärke der britischen Flotte,“ sagte der Oberstleutnant, der Heideck diese Mitteilungen gemacht hatte. „Zuweilen bin ich wirklich geneigt, zu glauben, daß diese Flotte durchaus nicht so gefechtstüchtig ist, wie bisher von aller Welt angenommen wurde. Es ist eben für den Außenstehenden so gut wie unmöglich, in die Zustände der englischen Marine einen klaren Einblick zu gewinnen. Ganz methodisch werden, soweit ich zurückdenken kann, falsche Berichte über die Flotte offiziell, offiziös und privatim verbreitet. Von Zeit zu Zeit tritt dann im Parlament irgend ein von der Regierung dazu bestimmter Redner auf, der die Marineverwaltung in der heftigsten Weise angreift. Dieser wird[S. 310] von einem Vertreter der Admiralität widerlegt, und der Welt ist wieder einmal Sand in die Augen gestreut worden. An einem der letzten Geburtstage der Königin Viktoria war, wie es hieß, ein gewaltiges Geschwader auf der Reede von Spithead zur Revue vereinigt. Aber es wurde keinem Ausländer ermöglicht, diese imposante Flotte näher zu betrachten, und ich bin sehr geneigt, zu glauben, daß es mit ihr ganz ähnlich bestellt war, wie mit jenen berühmten Kulissendörfern, die Potemkin der russischen Kaiserin bei ihrer Reise nach der Krim zeigte. Die offiziellen Angaben gehen dahin, daß England über 400 Kriegsschiffe hat, wobei die Torpedoboote nicht eingerechnet sind. Darunter sind aber recht viel veraltete und wenig kriegstüchtige Fahrzeuge.“
Heideck nickte.
„Wäre die englische Flotte wirklich so kriegstüchtig, wie man glaubt, so wäre es ja in der Tat schwer zu verstehen, daß sie noch nichts Entscheidendes unternommen hat.“
„Das ist auch meine Ansicht. Die Flotte von Kopenhagen hätte längst einen Angriff auf den Kieler Hafen ins Werk setzen können. Es hieß ja, sie solle die russische Flotte in Schach halten. Aber das war ja doch anfänglich überflüssig, so lange der Bottnische und der Finnische Meerbusen vom Eise blockiert waren und die russischen Geschwader sich gar nicht bewegen konnten. Diese Kriegführung erinnert lebhaft an die Zustände im Krimkriege, wo eine gewaltige englische Flotte unter allen Posaunenstößen der Reklame gegen Kronstadt und Petersburg auszog, aber nichts anderes ausrichtete, als das Bombardement des obskuren Bomarsund, so daß die englische Presse nur mit Mühe das große Fiasko ihrer weltberühmten Flotte bemänteln konnte.“
„Ich denke,“ sagte Heideck, zu dem Ausgangspunkt ihrer Unterhaltung zurückkehrend, „daß wir uns um die Verbindungen der Gräfin Arselaarts und der Herren Amelungen und Konsorten nicht weiter zu kümmern brauchen. Mit diesen Leuten mögen sich jetzt[S. 311] die Kriegsgerichte beschäftigen. Ungleich wichtiger ist mir der Schiffer Brandelaar, den ich in der Hand habe, und durch den, vielleicht im Verein mit Camille Pénurot, ich noch Nachrichten über die britische Flotte und deren beabsichtigte Verwendung zu erhalten hoffe. Brandelaars Schiff dürfte jetzt vor Terneuzen liegen. Ich möchte Sie bitten, Herr Oberstleutnant, den Mann und seine Leute noch heute verhaften zu lassen.“
„Wie stimmt das zu Ihrer Absicht, ihn als Spion in unserem Interesse zu benutzen?“
„Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß es sich dabei um eine zwischen Brandelaar und mir getroffene Verabredung handelt. Er selbst hielt es zu seiner eigenen Sicherheit der Mannschaft gegenüber für geboten. Natürlich darf es sich nur um ein Scheinverhör handeln, und der Mann muß wegen Mangels an Beweisen sobald als möglich wieder freigelassen werden, damit er schon morgen nach England zurückkehren kann.“
Der Oberstleutnant versprach, nach dem Wunsche des Majors zu verfahren.
Am Abend desselben Tages traf Heideck in einer verabredeten Weinstube mit Pénurot zusammen.
„Unser Geschäft ist etwas verwickelt,“ sagte Heideck. „Es muß doch noch mehr Leute geben, die für Ihren Vater arbeiten, und die wir bisher nicht kennen.“
„Woraus schließen Sie das, Herr Major?“
„Ihr Vater besaß Briefe, die vom Admiral Hollway bestellt worden waren, aber nicht durch Brandelaar befördert worden sind.“
„Ja, ja, ich weiß. Ich kann mir’s denken.“
„Wissen Sie, wer die Ueberbringer waren?“
„Ich kenne sie nicht genau, aber ich habe meine Vermutungen.“
„Können Sie mir keine sicheren Auskünfte verschaffen?“
„Ich will es versuchen.“
„Wie wollen Sie das anfangen?“
„Es gibt hier Matrosenkneipen, in denen ich die Leute aufzuspüren hoffe. Aber es sind verzweifelte Burschen, und es ist nicht ungefährlich, sich mit ihnen einzulassen.“
„Wenn Sie mir jene Kneipen näher bezeichnen wollen, werde ich noch heute Abend die ganze Gesellschaft, die dort verkehrt, festnehmen lassen.“
„Um des Himmels willen nicht, Herr Major! Damit würden wir alles verderben. Diese Menschen würden sich eher in Stücke schneiden lassen, als daß sie Ihnen etwas verrieten. Wenn jemand sie zum Reden bringen kann, so bin ich es.“
„Sollten Sie sich da nicht zuviel zutrauen?“
„Nein, nein. Ich verstehe mich darauf, mit ihnen umzugehen, und ich weiß manches, was ihnen den Mund öffnen wird.“
„Nun wohl, so tun Sie, was Sie können. Die Sache ist wichtig. Mir liegt sehr viel an einem Mann, der zuverlässige Auskunft über die britische Flotte beschaffen könnte, und Sie wissen, daß wir mit Geld nicht sparen.“
Pénurot war auf der Stelle bereit, das schwierige Unternehmen zu versuchen, und er verabschiedete sich von Heideck mit dem Versprechen, bald nach Mitternacht hier in der nämlichen Weinstube wieder mit ihm zusammenzutreffen.
Bald nach ihm verließ Heideck das Restaurant und ging, seine heiße Stirn zu kühlen, den Quai Van Dyck entlang.
Die Stadt hatte in dieser Kriegszeit ein eigentümlich verändertes Aussehen angenommen. In den Straßen wimmelte es von deutschen Soldaten, der sonstige lebhafte Verkehr am Hafen hatte vollständig aufgehört. Es gab ja keinen Handel mehr, seitdem die deutschen Kriegsschiffe gleich schwimmenden Zitadellen in der Schelde lagen. Und doch war es beinahe unbegreiflich, wie das alles so schnell hatte kommen können. Antwerpen war eine fast uneinnehmbare Festung, wenn die Ueberschwemmung des umliegenden Landes rechtzeitig ins Werk gesetzt wurde. Aber die belgische Re[S. 313]gierung hatte nicht einmal einen Versuch der Verteidigung gemacht, als die Spitzen des siebenten und achten Armeekorps in der Nähe der Stadt erschienen waren. Ohne weiteres hatte sie die Festung mit all ihren starken Außenforts der deutschen Heeresleitung ausgeliefert und ihre eigene Armee zurückgezogen. Der Reichskanzler hatte wohl recht, wenn er die Bedeutung Antwerpens für das Deutsche Reich so hoch bewertete. Die Bevölkerung war fast ausschließlich vlämisch, und Antwerpen war somit der Nationalität nach eine deutsche Stadt.
Aber von der allgemeinen Weltlage kehrten Heidecks Gedanken an diesem Abend immer wieder zu Edith und ihrem Briefe zurück, so daß er sich endlich dazu entschloß, ihr noch heute zu schreiben.
Um seinen Plan auszuführen, ging er in das Restaurant zurück, in dem seine Zusammenkunft mit Pénurot stattgefunden hatte, und ließ sich Papier und Tinte geben. Als er den Brief beendet hatte, überflog er noch einmal die Zeilen, in denen er, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, sein Herz hatte sprechen lassen:
‚Meine liebe Edith! Durch einen Zufall gelangte ich bei Ausübung meines Dienstes in den Besitz des Briefes, den Du an Frau Amelungen geschrieben. Es geschah, als ich nach ganz anderen Dingen suchte, und Du kannst Dir wohl denken, wie groß meine Ueberraschung bei der unverhofften Entdeckung war.
Seit der Stunde, da wir uns trennen mußten und Du mir vielleicht nicht ohne Groll und Vorwurf die Hand zum Abschied reichtest, fühle ich immer mehr, wie unentbehrlich Du mir bist. Ich bewahre jedes Wort, das Du zu mir gesprochen, jeden Blick, den Du mir geschenkt, in meiner Erinnerung, und immer schöner, immer leuchtender steht Dein Bild vor meiner Seele.
Nie habe ich bei einer Frau einen so schönen, feinen und scharfen Geist gefunden wie bei Dir. Ich darf nicht verschweigen, daß Deine Gedanken mich anfangs zuweilen erschreckt haben: Deine Anschauungen entfernen sich oft so weit von dem Alltäglichen[S. 314] und erheben sich so hoch über das Gewöhnliche, daß man Zeit braucht, um sie recht zu würdigen. Wenn ich jetzt zurückdenke an das, was mich einst befremdete, so geschieht es nur mit Empfindungen der Bewunderung. Von Tag zu Tag hat sich der Eindruck vertieft, den ich bei unserer ersten Unterredung von Dir empfing, und immer unerschütterlicher ist in mir die beglückende Gewißheit geworden, daß die Liebe zu Dir der Inhalt meines ganzen künftigen Lebens sein wird.
Trotzdem darf ich es nicht beklagen, daß ich die Kraft hatte, mich in Neapel von Dir zu trennen. Der schöne Traum unseres Zusammenlebens wäre von der rauhen Wirklichkeit ja doch bald genug zerstört worden. Mein Dienst führt mich bald hierher, bald dorthin, und so lange dieser Krieg währt, bin ich nicht eine Stunde lang Herr über mich selbst. Wir müssen Geduld haben, Edith! — Auch dieser Feldzug kann nicht ewig währen, und wenn es der Himmel beschlossen hat, mich lebend aus ihm hervorgehen zu lassen, werden wir uns wiedersehen, um uns nie mehr zu trennen.
Du wirst mir auf diesen Brief vielleicht nicht antworten können. Denn die Verbindung mit Frau Amelungen ist unterbrochen. Aber ich weiß, daß Du mir antworten wirst, wenn es Dir möglich ist, und ich bin glücklich in der Vorstellung, Dir durch dieses Lebenszeichen eine Freude bereitet zu haben, der, wie ich hoffe, bald die noch schönere des Wiedersehens folgen wird.
Laß uns mit Geduld und mit Zuversicht dieser Stunde entgegenharren!‘
Er verschloß den Brief und steckte ihn zu sich, um ihn am folgenden Tage Brandelaar zu übergeben. Dann wartete er auf das Wiedererscheinen Pénurots, der ihm versprochen hatte, bis Mitternacht zurück zu sein. Aber obwohl Heideck noch fast eine Stunde über diese Zeit in der Weinstube verblieb, wartete er doch vergebens. Die Aeußerungen, die der natürliche Sohn des Herrn[S. 315] Amelungen über die Beschaffenheit der an diesem Abend von ihm aufgesuchten Gesellschaft getan, machten den Major um das Schicksal Pénurots besorgt, und ehe er in sein Quartier zurückkehrte, ging er zur städtischen Polizei, um zu ersuchen, daß man in den weniger gut beleumundeten Matrosenkneipen der Hafengegend nach Herrn Camille Pénurot forsche, von dessen Persönlichkeit er eine genaue Beschreibung gab.
Auch am nächsten Morgen war noch keine Nachricht von ihm da, und jetzt zweifelte Heideck kaum noch daran, daß die Angelegenheit einen für Pénurot unglücklichen Ausgang genommen habe. Aber er durfte sich in diesem Augenblick nicht mit Nachforschungen nach dem Verbleib des jungen Mannes aufhalten.
Von dem Oberstleutnant erfuhr er, daß Brandelaar, dessen Schiff in der Tat vor Terneuzen lag, mit seinen Leuten noch in der Nacht verhaftet, verhört und wieder entlassen worden war, ganz wie es zwischen den beiden Offizieren verabredet wurde.
Nun fuhr Heideck ebenfalls nach Terneuzen, um Brandelaar das auf seinem Bureau zusammengestellte Auskunftsmaterial für den Admiral Hollway nebst den für ihn so wichtigen privaten Informationen zu überbringen.
Zuletzt, als er ihm auf die versprochene Belohnung eine Anzahlung von tausend Francs geleistet, händigte er ihm mit genauen Anweisungen für die Art der Bestellung auch den Brief an Edith ein. Und der Schiffer, dessen Diensteifer für die deutsche Sache jetzt ohne Zweifel ehrlich war, versprach wiederholt, alles gewissenhaft und nach bestem Vermögen zu besorgen.
Als Heideck am Nachmittag nach Antwerpen zurückkehrte, fand er auf seinem Bureau die polizeiliche Benachrichtigung, daß man Camille Pénurots Leiche mit mehreren Messerstichen in Hals und Brust in einem der Hafenbassins gefunden habe. Die Nachforschungen nach den Tätern seien sofort aufgenommen worden. Bis jetzt aber fehle von ihnen noch jede Spur.
Nach der mit Heideck getroffenen Verabredung sollte Brandelaar bei seiner Rückkehr von Dover in Vlissingen anlegen, und der Major hatte die Wachtschiffe in der Mündung der Westerschelde angewiesen, die Smack unbehelligt und ohne Aufenthalt passieren zu lassen. Aber er wartete von Tag zu Tag vergeblich auf den Schiffer. Das Wetter konnte nicht an der Verzögerung schuld sein; denn für einen Mann von Brandelaars Wagemut war es gewiß nicht zu schlecht gewesen. Fast während der ganzen Zeit hatte ein mäßiger Nordwind geweht, so daß ein geschickter Schiffer die Fahrt von Dover nach Vlissingen recht wohl in einem Tage hätte zurücklegen können.
Es mußten also andere Ursachen sein, die den Mann noch immer drüben zurückhielten. Und Heideck fing schon an zu fürchten, daß entweder seine oft bewährte Menschenkenntnis ihn diesmal doch im Stiche gelassen habe, oder daß Brandelaar in England das Opfer irgend einer Unvorsichtigkeit geworden sei.
Für heute — es war eine volle Woche seit der Abfahrt des Schiffers vergangen — hoffte er am allerwenigsten auf seine Wiederkehr. Denn der Nordwind hatte sich gegen Abend fast bis zum Sturm gesteigert und rüttelte ungeberdig an den Fenstern des Hotelzimmers, in dem Heideck noch um Mitternacht am Schreibtisch saß.
Ein leises Klopfen veranlaßte ihn von seiner Arbeit aufzusehen.[S. 317] Wer konnte noch in dieser späten Stunde zu ihm kommen? Eine Ordonnanz aus seinem Tag und Nacht geöffneten Bureau war es sicherlich nicht, denn Soldatenfinger pflegen kräftiger zu klopfen.
Auf sein ‚Herein‘ öffnete sich zögernd die Tür, und Heideck sah in dem matt erleuchteten Korridor eine schlanke Gestalt in langem Wachstuchmantel mit großem Schifferhute, dessen Krempe tief in die Stirne gedrückt war.
Von einer tollen Vermutung durchzuckt, sprang Heideck auf. Noch in demselben Augenblick aber riß der vermeintliche Jüngling den Hut herab und breitete mit einem Jubelschrei die Arme aus:
„Mein teurer — mein geliebter Freund!“
„Edith!“
In diesem Augenblick verstummten in Heidecks Innern alle andern Gedanken und Gefühle vor der übermächtigen Freude des Wiedersehens. Er stürzte auf Edith zu und riß sie an seine Brust. Lange sprachen beide kein Wort. Aber sie wurden nicht müde, sich zu küssen und einander lachend wie übermütige Kinder in die Augen zu sehen.
Dann endlich, sich langsam aus seinen Armen befreiend, sagte Edith:
„Du zürnst mir also nicht, daß ich trotz deines Verbots gekommen bin? Du wirst mich nicht wieder von dir weisen?“
Ihre Stimme drang ihm ins Ohr wie süße, schmeichelnde Musik. Wo wäre der Mann gewesen, der dieser bestrickenden Stimme hätte widerstehen können?
„Ich möchte dir wohl zürnen, mein Lieb, aber ich kann nicht — bei Gott, ich kann es nicht!“
Und wieder begegneten sich ihre Lippen in einem langen, glühenden Kusse.
„Ich hätte nicht länger leben können ohne dich,“ flüsterte das junge Weib. „Ich mußte dich wiedersehen, oder ich wäre an meiner Sehnsucht gestorben.“
„Du Süße, Einzige! — Aber diese Verkleidung? — Und wie hast du es nur angefangen, über den Kanal zu kommen?“
„Ich habe den Weg eingeschlagen, den du mir gezeigt hast. — Und meine Verkleidung — mißfällt sie dir gar so sehr?“
Sie hatte den häßlichen, entstellenden Mantel abgeworfen und stand in einem dunkelblauen Matrosenanzug vor ihm. Selbst in der malerischen Kleidung eines indischen Radjah war sie ihm nicht reizender erschienen.
„Was mir daran mißfällt ist nur, daß auch andere Augen als die meinigen dich darin sehen durften. Aber du bist mir noch immer die Erklärung schuldig geblieben, wie du hierher gelangen konntest.“
„Mit deinem Liebesboten, deinem Postillon d’amour, der freilich etwas ungeschlacht und unbeholfen war für eine so zarte Mission.“
„Wie? Mit Brandelaar kamst du?“ rief Heideck überrascht.
„Ja! Schon in dem Augenblick, da ich deinen Brief aus seiner groben Seemannsfaust empfing, war mein Entschluß gefaßt. Ich fragte ihn, ob er nach Vlissingen zurückkehre, und als er es bejahte, erklärte ich, daß er mich mitnehmen müsse, es koste was es wolle. Ich würde ihm unbedenklich mein ganzes Vermögen für die Ueberfahrt bezahlt haben. Aber der Gute hat es sehr viel billiger getan.“
„Du Unbesonnene!“ schalt Heideck. Aber der Stolz auf sein schönes, unerschrockenes Lieb leuchtete ihm dabei hell aus den Augen. „Ich werde diesem Brandelaar ernsthafte Vorwürfe machen müssen, daß er seine Hand zu einem so gefährlichen Spiel bieten konnte. Warum aber hat er so lange mit der Rückkehr gezögert?“
„Ich glaube, er hatte allerlei Geschäfte geheimnisvoller Art. Und nicht er allein. Auch ich hatte meine Geschäfte. Denn ich wollte nicht mit leeren Händen zu dir kommen, mein Freund!“
„Nicht mit leeren Händen? Wie soll ich das verstehen?“
„Ich zerbrach mir den Kopf, womit ich dir wohl eine recht[S. 319] große Freude machen und deinen Zorn über mein plötzliches Erscheinen beschwichtigen könnte — diesen schrecklichen Zorn, vor dem ich eine solche Angst hatte. Und da ich von Brandelaar hörte, daß es deine Aufgabe sei, militärische Geheimnisse auszukundschaften —“
„Der gute Brandelaar ist ein Schwätzer. Es scheint ja, daß deine schönen Augen ihn verleitet haben, dir sein ganzes Herz auszuschütten.“
„Und wenn es so gewesen wäre?“ fragte sie mit schelmischem Lächeln. „Hättest du dann nicht alle Ursache, dich bei ihm wie bei mir dafür zu bedanken? — Aber freilich — du weißt ja noch nicht einmal, was ich dir mitgebracht habe. Bist du denn gar nicht neugierig?“
„Doch nicht etwa ein militärisches Geheimnis?“
Er sagte es in scherzendem Tone. Sie aber nickte mit wichtiger Miene.
„Jawohl — ein großes Geheimnis. Der Zufall war mein Bundesgenosse, sonst wäre ich schwerlich dazu gekommen. Da ist es! — Aber sei gewiß, daß ich eine entsprechende Belohnung dafür verlangen werde.“
Sie hatte ihm einen verschlossenen Umschlag gereicht, den sie so lange unter ihrer Kleidung verborgen gehalten hatte. Und als Heideck in wachsender Spannung das darin befindliche Blatt entfaltete, erkannte er auf den ersten Blick das blaue Stempelpapier der englischen Admiralität.
Sobald er die ersten Zeilen gelesen, fuhr er in heftigster Erregung auf. Sein Gesicht war dunkelrot geworden, und zwischen seinen Augenbrauen lag plötzlich eine scharfe, tiefeingeschnittene Falte.
„Was ist das?“ stieß er hervor. „Um Gottes willen, Edith, wie kamst du zu diesem Papier?“
„Wie ich dazu kam? — Ach, das ist doch ganz nebensächlich. Die Hauptsache ist doch, ob es für dich einen Wert hat oder nicht. Aber freust du dich denn nicht darüber?“
Wie hypnotisiert starrte Heideck noch immer auf das mit den gleichmäßigen Zügen einer geübten Kanzlistenhand beschriebene Blatt.
„Unfaßbar!“ murmelte er. Und dann, indem er seine Augen plötzlich mit einem beinahe drohenden Blick auf Edith richtete, wiederholte er:
„Wie bist du dazu gekommen?“
„Du fragst wie ein Untersuchungsrichter. Aber du magst es in Gottes Namen wissen. Der Bruder der Frau, bei der ich in Dover wohnte, ist als Geheimsekretär bei der Admiralität angestellt — ein armer, brustkranker Mensch, der keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als den, sich auf Madeira oder in Aegypten von seinem Leiden zu kurieren. Ich habe durch die Gewährung der hierzu erforderlichen Mittel ein menschenfreundliches Werk getan. Ich bat ihn, mir gegen ein weiteres Geldgeschenk die Kopie eines wichtigen Schriftstückes seines Ressorts zu geben.“
Sie brach plötzlich ab, denn ein kurzes, schneidendes Auflachen Heidecks hatte sie mit Schrecken und Bestürzung erfüllt.
„Ein menschenfreundliches Werk!“ wiederholte er im Tone unsäglicher Bitterkeit. „Ja, wußtest du denn auch, was dieser Mensch dir da verkaufte?“
„Er sagte, es sei der Plan des englischen Flottenangriffs, und ich dachte, das würde dich interessieren.“
„Aber du warst dir der Tragweite deiner Handlung nicht bewußt, nicht wahr? du ahntest nicht, daß deinem Vaterlande ein unberechenbarer Schaden erwachsen könnte, wenn dieser Plan zur Kenntnis seiner Feinde gelangte?“
Etwas wie eine furchtbare Angst zitterte aus seiner Stimme. Edith aber schien seine Aufregung nicht zu begreifen.
„Ich verstehe dich immer weniger,“ sagte sie ungeduldig. „Hier gibt es doch nur zweierlei: Entweder hat dies Papier Bedeutung für dich, und dann solltest du mir umsomehr Dank wissen, je wichtiger es dir erscheint. Oder der Schreiber hat mich hinsichtlich seines[S. 321] Wertes getäuscht. Und dann verlohnt es nicht der Mühe, noch ein Wort weiter darüber zu verlieren.“
„Siehst du es so an, Edith?“ fragte er traurig. „Nur so? Dachtest du nur an dich und an mich, als du mit deinem Golde einen Unglücklichen bestachst, das schimpflichste aller Verbrechen zu begehen?“
„O, du hast starke Ausdrücke, Liebster! Ich war, bei Gott, auf derartige Vorwürfe nicht gefaßt. Gewiß dachte ich nur an dich und an mich, und ich schäme mich nicht im geringsten, es einzugestehen. Denn für mich gibt es eben auf der Welt nichts Wichtigeres als unsere Liebe.“
„Und dein Vaterland, Edith? — Gilt es dir nichts?“
„Mein Vaterland — was ist das? Ein Stück Erde mit Steinen, Bäumen, Tieren und Menschen, die mir gleichgültig sind, denen ich nichts verdanke und nichts schuldig bin. Warum sollte ich sie mehr lieben, als die Bewohner irgend eines anderen Himmelstriches, unter denen es ebensoviele Gute und Schlechte gibt wie unter ihnen? Ich bin eine Engländerin — nun gut: — Aber ich bin auch eine Christin. Und wer dürfte mich verdammen, wenn mir die Gebote des Christentums heiliger wären als alle engherzigen, nationalen Rücksichten? Wenn der Besitz dieses Papieres euch wirklich zu den Stärkeren machte — wenn England statt des erhofften Sieges, der den Krieg ins Endlose verlängern würde, auch hier eine Niederlage davontrüge — was wäre für die Menschheit damit verloren? Man würde vielleicht um so eher Frieden schließen, und in gerechtem Stolz auf meine Tat würde ich mich dann vor aller Welt zu ihr bekennen.“
Heideck hatte sie nicht unterbrochen, aber sie sah, daß ihre Worte keinen Weg gefunden hatten zu seinem Herzen. Mit düsterer Miene stand er vor ihr, schwer atmend, wie einer, dem eine schwere Last die Brust beengt.
„Vergib — aber ich vermag deinem Gedankengang nicht zu[S. 322] folgen,“ sagte er mit einem traurigen Kopfschütteln. „Es gibt Dinge, die sich nicht beschönigen lassen, welches Mäntelchen auch immer man ihnen umhängen mag.“
„Nun denn, wenn es deiner Meinung nach etwas so Ungeheuerliches war, was ich getan habe — was hindert uns dann, es ungeschehen zu machen? Gib mir das Papier zurück, ich werde es vernichten. Dann wird niemand durch meinen Verrat einen Schaden erleiden.“
Sie streckte ihren Arm nach dem Schriftstück aus, das Heideck noch immer in den Händen hielt. Aber er gab es ihr nicht, sondern barg es in der Brusttasche seines Uniformrocks.
„Dazu ist es zu spät. Jetzt, da ich weiß, was dieses Blatt enthält, gebietet mir mein Pflichtgefühl als Offizier, mich seiner auch zu bedienen. Du hast mich hier in einen furchtbaren Zwiespalt mit mir selbst gebracht.“
„Ah, ist das deine Logik? Dein Ehrgefühl verbietet dir nicht, die Früchte meines Verrats zu ernten; die Verräterin aber strafst du mit dem ganzen Gewicht deiner Verachtung.“
Er vermied es, ihrem flammenden Blick zu begegnen.
„Ich sagte nicht, daß ich dich verachte, aber — —“
„Nun, was willst du anderes sagen?“
„Nochmals — ich verachte dich nicht, aber es entsetzt mich, zu sehen, wessen du fähig bist.“
„Ist das nicht mit anderen Worten dasselbe? Man kann das Weib nicht lieben, vor dessen Handlungsweise man sich entsetzt. Sage mir’s doch frei heraus, daß du mich nicht mehr lieben kannst!“
„Es wäre eine Lüge, Edith, wenn ich es sagte. Unser Glück hast du getötet, nicht aber meine Liebe.“
Sie hörte von seiner Erwiderung nichts als die letzten Worte, und mit hell aufleuchtendem Blick warf sie sich an seine Brust.
„So schilt mich nach Gefallen, du strenger Mann! Ich will geduldig alles hinnehmen, wenn ich nur weiß, daß du mich noch liebst und daß du mein sein wirst, ganz mein, sobald dieser ent[S. 323]setzliche Krieg sich nicht mehr wie ein Schreckgespenst immer aufs neue zwischen uns drängt.“
Er hatte ihre Liebkosungen nicht erwidert, und nun drängte er sie mit sanfter Gewalt von sich.
„Verzeih, wenn ich dich jetzt verlassen muß,“ sagte er mit seltsam gepreßter Stimme, „aber ich muß mit Tagesanbruch in Antwerpen sein.“
„Ist es wirklich so dringend? Darf ich dich denn nicht begleiten?“
„Nein, das ist nicht möglich, denn ich werde auf einer Lokomotive fahren müssen.“
„Und wann kehrst du hierher zurück?“
Heideck wandte sein Gesicht ab.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht entsendet man mich weit fort von hier, so daß ich keine Möglichkeit finde, mich vorher von dir zu verabschieden.“
„Mit anderen Worten — du willst mich nicht wiedersehen? — Du schweigst? — Du hast nicht das Herz, mich zu belügen! Muß ich dich daran erinnern, daß du geschworen hast, mir zu gehören, wenn du in diesem Kriege das Leben behieltest?“
„Wenn ich das Leben behielte — ja!“
Der Ton seiner Erwiderung hatte sie getroffen wie ein Schlag. Und sie brauchte ihm nicht einmal mehr ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, was in seinem Inneren vorging. Jetzt erst hatte sie begriffen, daß es keine Hoffnung mehr für sie gab. Heideck hatte nicht gelogen, als er sagte, daß er sie noch immer liebte, und der Abscheu, den er vor ihrer Handlungsweise empfand, entband ihn vor dem eigenen Gewissen nicht von seinem Wort. Aber da er es doch zugleich als eine unumstößliche Gewißheit empfand, daß er die Verräterin ihres Vaterlandes nimmermehr zu seinem Weibe machen könnte, drängte seine Auffassung von der Ehre des Mannes und des Offiziers ihn auf den einzigen Weg, der ihn aus diesem furchtbaren Widerstreit der Pflichten hinausführte.
Er hatte geschworen, sie zu heiraten, wenn er lebend aus diesem[S. 324] Krieg hervorginge. Und weil er seinen Schwur so wenig brechen wollte, als er ihn halten konnte, war er in diesem Augenblick entschlossen, den Zwiespalt dadurch zu lösen, daß er den Tod suchte, den zu finden sein Beruf ihm so leicht machte. Mit dem Scharfblick des liebenden Weibes las Edith in seiner Seele wie in einem offenen Buche. Und sie kannte ihn so gut, daß sie sich keinen Augenblick der Illusion hingab, durch Bitten oder durch Tränen seinen Sinn zu ändern. Sie wußte, daß dieser Mann im stande war, alles für sie zu opfern — nur nicht seine Ehre. Und nie war ihre Seele mehr erfüllt gewesen von demütiger Bewunderung, als in dem Augenblick, da die Erkenntnis, ihn für immer verloren zu haben, einen dunklen Schleier über all ihre sonnigen Zukunftshoffnungen breitete.
Sie sprach kein Wort. Und nun, da ihr Schweigen ihn veranlaßte, ihr sein Gesicht wieder zuzuwenden, sah sie den Ausdruck namenloser Qual in seinen sonst so beherrschten Zügen. Da erwuchs auch in ihr die Kraft des großen, befreienden, opfermutigen Entschlusses. Und aus den Niederungen egoistischer Leidenschaft erhob sich ihre Seele zu der Höhe selbstlosen Entsagens. Nie aber war es ihre Art gewesen, nur halb zu tun, was zu vollbringen sie sich einmal vorgenommen hatte. Was hier geschehen mußte, durfte nicht feige hinausgezögert werden, und kein weichmütiger Abschied durfte Heideck erraten lassen, daß ein Erkennen seiner Absichten ihre Handlungsweise bestimmt hatte.
Mit jener heroischen Selbstüberwindung, deren in solcher Lage vielleicht nur ein Weib fähig ist, zwang sie sich zu äußerer Gelassenheit und Ruhe.
„Dann hege ich keine Besorgnisse mehr wegen unserer Zukunft, mein Freund,“ sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln nach langem Schweigen. „Und ich will dich jetzt nicht länger zurückhalten; denn ich weiß ja, daß deine soldatischen Pflichten dir über alles andere gehen müssen. Ich bin glücklich, daß es mir vergönnt war, dich[S. 325] wiederzusehen. Um der Erfüllung deiner Pflicht in dieser ernsten, kriegerischen Zeit nicht hinderlich im Wege zustehen, gebe ich dich frei. Vielleicht führt deine Liebe dich einst freiwillig zu mir zurück. Doch nun lebe wohl.“
Ihr plötzlicher Entschluß und die Ruhe, mit der sie sich in die abermalige Trennung fügte, mußten ihm nach dem Vorhergegangenen fast unbegreiflich erscheinen. Aber ihr schönes Gesicht verriet so wenig von der verzweifelten Hoffnungslosigkeit ihres Herzens, daß er nach kurzer Ungewißheit auch diese seltsame Wandlung hinnahm, wie so viele andere Ueberraschungen, die ihre rätselhafte Natur ihm schon bereitet hatte.
Sie hatte mit so ruhiger Festigkeit gesprochen, daß er ihren Entschluß unmöglich länger für die Eingebung einer trotzigen oder zornigen Laune halten konnte.
„Um Gottes willen! Was hast du vor, Edith?“
„Ich werde eine Gelegenheit suchen, morgen nach Dover zurückzukehren. Hier würde ich dir doch nur im Wege sein.“
„Wir würden uns dann also vor deiner Abreise nicht mehr sehen?“
„Du selbst, mein Freund, sagtest ja, daß wenig Aussicht darauf vorhanden wäre.“
„Ich bin nicht Herr über mich selbst — und diese Nachricht —“
„Es bedarf keiner Entschuldigung, und die Rücksicht auf mich soll dich nicht in der Ausübung deiner dienstlichen Pflichten behindern. Noch einmal denn: Lebe wohl, mein Teurer, mein geliebter Freund! Der Himmel schütze dich!“
Sie warf sich an seine Brust und küßte ihn; doch nur für wenige Sekunden umschlang ihr weicher Arm seinen Nacken. Sie wollte nicht schwach werden, und doch fühlte sie, daß sie nicht lange mehr die Kraft haben würde, sich zu beherrschen. Hastig raffte sie ihren Wachstuchmantel vom Boden auf und griff nach dem Schifferhute. Wohl hatte Heideck das heiße Verlangen, ihr noch etwas[S. 326] Liebes und Zärtliches zu sagen, aber es war, als ob ihm von einer unsichtbaren Faust die Kehle zusammengepreßt würde, und er brachte nichts anderes über die Lippen, als ein merkwürdig trocken klingendes:
„Lebe wohl, mein Lieb! — Lebe wohl!“
Als er die Tür hinter ihr zufallen hörte, machte er eine ungestüme Bewegung, wie wenn er ihr nachstürzen und sie zurückhalten wollte. Aber nach dem ersten Schritt blieb er stehen und preßte die zur Faust geballte Linke fest auf das stürmisch pochende Herz. Ein Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit war auf seinem gleichsam versteinerten Gesicht, und um seine Mundwinkel hatten sich zwei tiefe, scharfe Linien eingegraben, als wäre er innerhalb dieser einzigen Stunde um ein Jahrzehnt gealtert.
Der Schiffer Brandelaar hatte Edith den Namen des am Hafen gelegenen Gasthofes genannt, in dem ihn eine Nachricht Heidecks noch während der Nacht erreichen würde, denn er mußte voraussehen, daß der Major den Wunsch haben würde, ihn so bald als möglich zu sprechen.
Nun war er nicht wenig überrascht, als er statt des erwarteten Boten seinen schönen, verkleideten Passagier in das niedere, verräucherte Schänkzimmer eintreten sah, und er ging Edith mit einer gewissen unbeholfenen Ritterlichkeit entgegen, um sie vor der Neugier und den Zudringlichkeiten der Männer zu schützen, die mit ihm am Tische gesessen hatten, und deren verwitterte Gesichter ebensowenig vertrauenerweckend aussahen, als ihre teerduftende, von Wind und Wetter arg mitgenommene Kleidung.
Er wollte eine verwunderte Frage an sie richten, aber Edith kam ihm zuvor.
„Ich muß noch in dieser Nacht nach Dover zurück,“ sagte sie leise und hastig. „Wollen Sie mich hinüber bringen? — Ich zahle Ihnen dafür, was Sie verlangen.“
Bedächtig, aber mit aller Entschiedenheit schüttelte der Schiffer den Kopf.
„Unmöglich! — Auch wenn ich schon wieder von hier fortkönnte, bei diesem Wetter würde es doch nicht gehen.“
„Es muß gehen. Das Wetter ist nicht so schlecht. Und ich[S. 328] weiß, daß Sie nicht der Mann sind, der sich vor einem Sturm fürchtet.“
„Fürchten — nein! — Und es mag wohl sein, daß ich mit meiner Smack schon schlimmere überstanden habe als diesen. Aber es ist etwas anderes um die Gefahr, mit der man fertig werden muß, weil man ihr nicht entrinnen kann, und um die, der man sich leichtsinnig aussetzt. Wenn ich auf der Fahrt bin, mag kommen, was Gott gefällt; aber so — —“
„Keine Worte, Brandelaar,“ fiel Edith ihm ungeduldig in die Rede. „Wenn Sie selber nicht fortkönnen oder nicht fahren wollen, unter Ihren Bekannten hier wird es doch sicher einen geben, der mutig und gescheit genug ist, sich auf leichte Art ein paar hundert Pfund zu verdienen.“
In den kleinen Augen des Schiffers leuchtete es auf.
„Ein paar hundert Pfund? Liegt Ihnen wirklich so viel daran, noch heute von Vlissingen fortzukommen? Wir sind ja doch kaum gelandet!“
„Ja, es liegt mir sehr viel daran. Und ich sagte Ihnen schon, daß es mir ganz gleichgültig ist, wieviel es kostet.“
Der Schiffer, der offenbar schwankend geworden war, rieb sich nachdenklich das Kinn.
„Hm! — Ich selber könnte es allerdings nicht machen. Ich habe wichtige Nachrichten für den Herrn Major, und er würde es mir mit Recht verübeln, wenn ich auf und davon ginge, ohne ihn auch nur gesprochen zu haben. Aber vielleicht — vielleicht könnte ich einen Schiffer ausfindig machen, der sich auf das Wagestück einließe, vorausgesetzt, daß auch für mich etwas dabei abfiele.“
„Gewiß — gewiß! Ich begehre Ihre Gefälligkeit nicht umsonst. Fünfzig Pfund für Sie in dem Augenblick, wo ich meinen Fuß in das Boot setze.“
„Wohl! — Und zweihundert für den Schiffer und seine Leute — nicht wahr? Die Männer setzen ihr Leben aufs Spiel — das[S. 329] dürfen Sie nicht vergessen. Und sie müssen es außerdem verteufelt geschickt anstellen, wenn sie unbemerkt an den deutschen Wachtschiffen vorbeikommen sollen.“
„Ja doch — ja! Weshalb verlieren wir so viel Zeit mit dieser überflüssigen Verhandlung! Hier ist das Geld — nun schaffen Sie mir ein Boot!“
„Gehen Sie dort hinein,“ sagte Brandelaar, auf die Tür eines kleinen, dunklen Nebenzimmers deutend. „Ich will versuchen, ob es mein Freund van dem Bosch tut.“
Edith warf, ehe sie seiner Aufforderung Folge leistete, einen Blick zu dem Manne hinüber, auf den er mit einer Bewegung des Kopfes hingewiesen hatte. Von gewinnender äußerer Erscheinung war dieser vierschrötige Seebär sicherlich nicht, aber sein abschreckendes Aussehen vermochte Edith nicht eine Sekunde lang in ihrem Entschluß zu beirren.
„Gut — reden Sie mit Ihrem Freunde, Brandelaar! Aber sorgen Sie, daß, ich nicht zu lange auf seine Zusage warten muß.“
Und der wackere Brandelaar mußte in der Tat ein sehr wirksames Mittel der Ueberredung gefunden haben, denn es waren noch kaum zehn Minuten vergangen, als er Edith melden konnte, daß van dem Bosch bereit sei, unter den angebotenen Bedingungen die Fahrt zu wagen. Von der Gefährlichkeit des Unternehmens sprach er jetzt nicht mehr, als fürchte er, die junge Engländerin damit von ihrem für ihn so gewinnbringenden Vorhaben abzuschrecken. Und es wurde von diesem Augenblick an überhaupt nicht mehr viel von der Sache geredet. Der Weg bis zu der Stelle, wo der Fischerkutter vor Anker lag, war nicht lang, und wacker kämpfte sich Edith zwischen den beiden Männern, die schweigend an ihrer Seite dahinstapften, gegen den in unregelmäßigen Stößen vom Meere her brausenden Nordsturm vorwärts. In einer[S. 330] Jolle ruderten sie zu dem Fahrzeug hinüber, und Brandelaar hatte, als er zum Quai zurückkehrte, seine fünfzig Pfund richtig in der Tasche.
„Wenn Sie der Herr Major nach mir fragt, dürfen Sie ihm getrost die volle Wahrheit mitteilen,“ hatte Edith ihm gesagt. „Und auch einen Gruß von mir sollen Sie ihm ausrichten — einen herzlichen Gruß. Vergessen Sie das nicht, Brandelaar!“
Die beiden Leute des Schiffers, die unten im Kutter schon im tiefsten Schlafe gelegen hatten, mochten nicht wenig erstaunt und sicherlich noch weniger erfreut sein über die Zumutung dieser nächtlichen Fahrt. Aber ein paar Worte, die der Schiffer in seiner für Edith unverständlichen Sprache zu ihnen gesprochen, hatten ihre Unzufriedenheit sehr schnell verscheucht. Willig griffen sie jetzt zu, um die Segel zu setzen und Anker zu lichten. Die mächtigen Fäuste des Schiffers erfaßten das Steuer; das kleine, fest gebaute Fahrzeug machte eine kurze Drehung und schoß dann, weit nach einer Seite überliegend, in die Dunkelheit hinaus.
Nahe genug kam es an der ‚Gefion‘ vorüber, und wenn es zufällig von dem Lichtkegel des Scheinwerfers getroffen worden wäre, der von Zeit zu Zeit suchend über die bewegte Wasserfläche hinhuschte, so hätte die nächtliche Fahrt jedenfalls eine sehr unliebsame Unterbrechung erfahren. Aber der Zufall war dem tollkühnen Unternehmen günstig. Kein Zuruf oder Signal von Bord des Wachtschiffes hielt sie auf, und bald waren die Lichter von Vlissingen im Dunkel verschwunden.
Edith hatte seit der Abfahrt am Mast des Fahrzeuges gestanden, den Blick unverwandt rückwärts gewendet — dahin, wo sie alles ließ, was ihrem Leben bis zu dieser Stunde Wert und Inhalt gegeben hatte. Der Schiffer und seine beiden Leute, die bei dem ungleichmäßigen Winde genug mit ihren Segeln zu tun[S. 331] hatten, schienen sich nicht um sie zu kümmern, und erst als plötzlich eine heftige Regenbö einsetzte, rief ihr van dem Bosch zu, ob sie nicht lieber hinunter gehen wolle, wo sie doch wenigstens gegen Wind und Wetter geschützt sei.
Aber Edith rührte sich nicht von der Stelle. Für ihre von allen Qualen einer grenzenlosen Verzweiflung durchwühlte Seele waren das Toben des Sturmes, das Klatschen des niederprasselnden Regens und das zischende Aufspritzen der an den Planken des Bootes zerschellenden Wellen gerade die rechte Musik. Der nächtliche Aufruhr um sie her stimmte so ganz zu dem Aufruhr in ihrem Innern, daß sie ihn fast wie eine Befreiung empfand. Die Kerkerenge einer niedrigen Kajüte wäre ihr jetzt unerträglich gewesen. Nur daß sie die von dem Salzduft des nahen Meeres geschwängerte Luft in vollen Zügen atmen, daß sie ihr Gesicht dem Sturm, dem Regen und dem Wogengischt preisgeben konnte, hielt ihre Kraft aufrecht. Es war wie ein physischer Kampf, den sie gegen die brutalen Gewalten der Natur zu bestehen hatte, und seine nervenaufstachelnde Wirkung half ihr wohltätig über den Jammer ihrer zerrissenen Seele hinweg.
Sie hatte keinen Maßstab für Zeit und Raum. Nur an dem orkanartigen Anschwellen des Sturmes, an dem immer wuchtiger werdenden Anprall der Wellen und dem wilderen Tanz des Bootes nahm sie wahr, daß es das offene Meer sein mußte, auf dem sie sich befand. Sie war trotz des Wachstuchmantels völlig durchnäßt, und ein Kältegefühl, das von den Füßen herauf allmählich ihren ganzen Körper erfaßte, ließ ihre Glieder erstarren. Aber sie kam trotz alledem nicht einen Augenblick in Versuchung, sich nach unten in den Kielraum zurückzuziehen. Und der Gedanke an eine Gefahr blieb ihr fern. Sie hörte die Matrosen fluchen, und zweimal schlug ein Zuruf des Schiffers an ihr Ohr, der irgend eine gebieterische Aufforderung zu enthalten schien. Aber um das alles kümmerte sie sich nicht. Wie wenn sie bereits von allem Irdischen losgelöst[S. 332] wäre, verhielt sie sich vollständig gleichgültig gegen das, was um sie her geschah. Je unempfindlicher ihr von der durchdringenden feuchten Kälte gelähmter Körper wurde, desto unbestimmter, traumhafter wurden alle auf sie einwirkenden Sinneseindrücke. Es war ihr, als hätte sie jeden festen Boden unter den Füßen verloren, als flöge sie auf Sturmesschwingen, frei von allen Hemmungen körperlicher Schwere, durch den unbegrenzten Raum. Und all das Brausen, Heulen, Prasseln und Plätschern der entfesselten Elemente floß ihr in ein eintöniges, majestätisches Rauschen zusammen, das nichts Erschreckendes, sondern nur noch etwas wundersam Beruhigendes für sie hatte. Ihren langsam entschwindenden Sinnen wurde der Aufruhr zur erhabenen Harmonie, und so ganz fühlte sie sich eins mit der großen, allgewaltigen Natur, daß das letzte Gefühl, dessen sie sich bewußt wurde, ein heißes, inbrünstiges Sehnen war, in dieser großen Natur aufzugehen, wie eine der ungezählten Wogen, deren Schaum im Vergehen ihre Füße netzte.
Ein Knall, der scharf wie ein Schuß das Chaos von Geräuschen übertönte — ein lautes Knattern — und ein paar wilde Flüche aus rauhen Seemannskehlen! Wie ein Korkstückchen tanzte und schwankte plötzlich das Boot auf den Wellen, während das große Segel im Sturm flatterte, als ob es in der nächsten Sekunde zu tausend Fetzen zerrissen werden müßte.
Das Pikfall war gebrochen, und die ihres Haltes beraubte Gaffel schlug mit furchtbarer Gewalt nach unten. Mit der ganzen Kraft seiner riesenstarken Arme legte sich der Schiffer in das Steuer, um das Fahrzeug an den Wind zu bringen. Die beiden anderen Männer aber arbeiteten wie Verzweifelte, um das Segel festzumachen.
An die verkleidete Frau im Wachstuchmantel, die so lange regungslos wie eine Statue am Mast gestanden, dachte in diesen[S. 333] Augenblicken höchster Gefahr keiner von den dreien. Erst als das schwierige Werk glücklich vollbracht war, bemerkten sie ihr Verschwinden. Mit verstörten Gesichtern sahen sie sich an. Und der Schiffer am Steuer sagte:
„Sie ist über Bord gegangen. Die Gaffel hat sie wohl an den Kopf getroffen. Da ist nichts mehr zu machen. Warum wollte sie auch an Deck bleiben!“
Er räusperte sich und spuckte nach Seemannsart ins Meer.
Die beiden anderen sprachen kein Wort. Schweigend gehorchten sie den Befehlen des Schiffers, der wieder auf die Scheldemündung zuhalten wollte.
Einen Rettungsversuch machten sie nicht. Es wäre ja auch ein völlig zweckloses Beginnen gewesen. — —
Der letzte fahrplanmäßige Zug nach Antwerpen war längst abgegangen, als Heideck auf dem Bahnhof ankam. Aber es bedurfte nur einer kurzen Verhandlung mit dem Eisenbahnlinien-Kommissar, um den Wunsch des Majors, ihm eine Lokomotive zur Verfügung zu stellen, sofort zu erfüllen. Als er den Heizerstand bestiegen hatte, legte der Stationsvorsteher salutierend die Hand an die Mütze und gab dem Lokomotivführer das Zeichen zur Abfahrt. Wie ein schneidender, körperlicher Schmerz fuhr es für einen Moment durch Heidecks Brust, als die Maschine sich stampfend in Bewegung setzte. Was er bei dieser Abreise für immer hinter sich ließ, war das Glück seines Lebens. Eine dumpfe, lähmende Traurigkeit lag auf seinem Herzen. Er erschien sich selber wie ein seelenloser Mechanismus, der gleich dieser keuchenden, rastlos vorwärts strebenden Lokomotive in blindem Gehorsam einem fremden Willen untertan war. War doch all sein Handeln jetzt nicht mehr durch eigene Entschließungen bestimmt, sondern durch ein unerbittliches, höheres Gesetz — durch das eherne Gesetz der Pflicht. Er hatte keine persönliche Freiheit und keine persönliche Verantwortlichkeit mehr. Sein Weg war ihm so klar und scharf vorgezeichnet, wie ihn die eisernen Schienengeleise auch diesem Dampfwagen vorschrieben. Mit fest zusammengepreßten Lippen blickte er unverwandt vor sich hinaus. Was hinter ihm lag, mußte ja für immer für ihn abgetan sein. Nur ein gebieterisches ‚Vorwärts‘ durfte fortan noch seine Losung sein. — — —
Um sechs Uhr morgens stand er vor dem königlichen Schlosse an der Place de Meir, wo der Prinz-Admiral sein Quartier aufgeschlagen hatte. König Leopold hatte ihm das Schloß als Wohnung angeboten.
Trotz der frühen Stunde wurde Heideck sofort in das Arbeitskabinett des Prinzen geführt.
„Königliche Hoheit,“ sagte Heideck, „ich bringe eine Meldung von größter Wichtigkeit. Diese Ordre der englischen Admiralität ist in meine Hände gefallen.“
Der Prinz wies ihm einen Platz neben seinem Schreibtisch an.
„Lesen Sie mir bitte die Ordre vor, Herr Major!“
Heideck verlas das bedeutungsvolle Schriftstück:
‚Den Lords der Admiralität erscheint es wünschenswert, die deutsche Flotte als die schwächere zuerst anzugreifen. Dieser Angriff auf die deutsche Flotte muß ausgeführt werden, bevor die russische im stande ist, ihr im Hafen von Kiel zu Hilfe zu kommen. Daher ist am 15. Juli ein gleichzeitiger Angriff auf die beiden Stellungen der deutschen Flotte zu richten.‘
„Am 15. Juli?“ wiederholte der Prinz, der sich in großer Erregung erhoben hatte. „Und heute haben wir den elften! Wie sind Sie in den Besitz dieser Ordre gekommen, Herr Major? Welche Beweise haben Sie für die Echtheit dieses Schriftstückes?“
„Ich habe die triftigsten Gründe, Königliche Hoheit, es für echt zu halten. Königliche Hoheit wollen sich überzeugen, daß diese Ordre auf dem blauen Stempelpapier der englischen Admiralität geschrieben ist.“
„Sehr wohl, Herr Major! — Aber das würde eine Fälschung doch nicht ausschließen. Wie kamen Sie in den Besitz des Papiers?“
„Königliche Hoheit wollen mir gnädigst eine Erklärung darüber erlassen.“
„Dann lesen Sie weiter!“
Heideck folgte diesem Befehl:
‚Am genannten Tage hat die Flotte von Kopenhagen den Kieler Hafen anzugreifen. Zwei Linienschiffe legen sich vor die Festung Friedrichsort und das Fort Falkenstein auf der westlichen Seite, zwei andere Linienschiffe vor die Festungswerke bei Labö und Möltenort auf der östlichen Seite der Kieler Förde und unterhalten ein so intensives Feuer auf die Festungswerke, daß die übrige Flotte hinter ihnen und in ihrem Schutze in den Hafen einfahren kann.
Im Kieler Hafen liegen etwa hundert Transportschiffe und einige ältere Panzerschiffe und Kreuzer, die dem Angriff unserer Flotte keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzen können. Alle diese Schiffe müssen mit äußerster Schnelligkeit und Wucht angegriffen werden. Es ist das Hauptaugenmerk darauf zu richten, daß ein Linienschiff sogleich bis zum Eingang des Kaiser-Wilhelm-Kanals vordringt, um den deutschen Schiffen den Rückzug durch diesen Kanal abzuschneiden. Sämtliche im Hafen liegenden deutschen Schiffe sind zu zerstören. Der Angriff ist dadurch einzuleiten, daß einige Kreuzer der übrigen Flotte voran in die Kieler Förde einlaufen, ohne Rücksicht darauf, daß sie durch Seeminen in die Luft gesprengt werden könnten. Diese Fahrzeuge sind eventuell zu opfern, um die Einfahrt frei zu machen.
Zum Angriff auf die deutsche Flotte in der Schelde, der ebenfalls am 15. Juli erfolgen muß, hat Vizeadmiral Domvile aus den Kanalgeschwadern und der Kreuzerflotte eine Flotte von zwei Divisionen zu bilden.
Die erste Division ist zu bilden aus den Linienschiffen: ‚Bulwark‘ (Flaggschiff des Vizeadmirals Domvile), ‚Albemarle‘, ‚Duncan‘, ‚Montagu‘, ‚Formidable‘, ‚Renown‘, ‚Irresistible‘ und ‚Hannibal‘. Ferner aus den Kreuzern ‚Bacchante‘ (Kontreadmiral Walker), ‚Gladiator‘, ‚Najad‘, ‚Hermione‘, ‚Minerva‘, ‚Rainbow‘, ‚Pegasus‘, ‚Pandora‘, ‚Aboukir‘, ‚Vindictive‘ und ‚Diana‘.
Ferner aus den Torpedobootzerstörern: ‚Dragon‘, ‚Griffon[S. 337]‘, ‚Panther‘, ‚Locust‘, ‚Boxer‘, ‚Mallard‘, ‚Coquette‘, ‚Cygnet‘ und ‚Zephyr‘.
Ferner aus zwei Torpedobootflottillen.
Zwei Munitionsschiffe, zwei Kohlenschiffe und ein Lazarettschiff werden der Division zugeteilt.
Die zweite Division ist zu bilden aus den Linienschiffen: ‚Majestic‘ (Vizeadmiral Lord Beresford), ‚Magnificent‘ (Kontreadmiral Lambton), ‚Cornwallis‘, ‚Exmouth‘, ‚Russell‘, ‚Mars‘, ‚Prince George‘, ‚Victorious‘ und ‚Caesar‘.
Ferner aus den Kreuzern: ‚St. George‘ (Kommodore Winsloe), ‚Sutley‘, ‚Niobe‘, ‚Brillant‘, ‚Doris‘, ‚Furious‘, ‚Pactolus‘, ‚Prometheus‘, ‚Juno‘, ‚Pyramus‘ und ‚Pioneer‘.
Ferner aus den Torpedobootzerstörern: ‚Myrmidon‘, ‚Chamois‘, ‚Flying Fish‘, ‚Kangaroo‘, ‚Desperate‘, ‚Fawn‘, ‚Ardent‘, ‚Ariel‘ und ‚Albatroß‘.
Ferner aus zwei Torpedobootflottillen.
Zwei Munitionsschiffe, zwei Kohlenschiffe und ein Lazarettschiff sind der Division zuzuteilen.
Ein Geschwader unter dem Kommodore Prinz Louis von Battenberg (Flaggschiff: ‚Implacable‘) bleibt in Reserve, um die etwaige Annäherung einer französischen Flotte zu beobachten. Für den Fall, daß eine solche sich zeigt, hat die erste Division sich mit diesem Reservegeschwader unter dem Oberbefehl des Vizeadmirals Domvile zu vereinigen und die französische Flotte mit aller Energie anzugreifen, während es der zweiten Division überlassen bleibt, den Kampf mit der deutschen Flotte aufzunehmen. Die für den Angriff der ganzen Flotte gegebenen Befehle gelten alsdann allein für die zweite Division. Seiner Majestät Regierung erwartet, daß die Division im stande sein wird, auch ohne Hilfe der ersten Division den Feind zu besiegen. Sobald die Aufklärungsschiffe der zweiten Division die deutschen Wachtschiffe aus der Mündung der Westerschelde vertrieben haben, hat die linke Flügelgruppe der[S. 338] Schlachtschiffe das Feuer auf Vlissingen, die rechte auf die Landbefestigungen des südlichen Ufers zu eröffnen. Doch halten sich die Flügel nicht auf, sondern dampfen mit der übrigen Flotte weiter, und die ganze Division dringt bis gegen Antwerpen oder so weit vor, bis sie die deutsche Schlachtflotte trifft. Diese Flotte ist mit äußerster Energie anzugreifen.
Die näheren Bestimmungen über die Art des Angriffs bleiben dem Vizeadmiral Domvile überlassen.
Sollte sich wider Erwarten die deutsche Schlachtflotte beim Beginn des Angriffs in der Scheldemündung zu einem Vorgehen ihrerseits entschließen, so muß der kommandierende Admiral den Umständen gemäß nach eigenem Ermessen handeln, wobei in erster Linie zu berücksichtigen ist, daß mehr daran liegt, möglichst viele deutsche Schiffe wegzunehmen, als sie zu zerstören, um die genommenen Schiffe für den weiteren Verlauf des Krieges im eigenen Dienst zu verwenden.‘
Schweigend war der Prinz-Admiral dieser Vorlesung gefolgt. Deutlich spiegelte sich auf seinem Antlitz die Erregung wieder, in die das Gehörte ihn versetzt hatte.
„Eine starke innere Wahrscheinlichkeit spricht für die Echtheit dieser Ordre,“ sagte er nachdenklich, „aber ich möchte dafür doch noch andere und zuverlässigere Beweise haben; denn die Möglichkeit einer absichtlichen Irreführung ist nicht ausgeschlossen. Woher stammt dieses Schriftstück, Herr Major?“
„Königliche Hoheit haben bereits meine untertänigste Meldung darüber erhalten, daß ich den Schiffer Brandelaar, den ich als englischen Spion verhaftet hatte, bewogen habe, fortan in unserem Interesse tätig zu sein. Brandelaars Boot hat diese Ordre gebracht.“
„Wo ist dieser Mann?“
„Sein Boot liegt im Hafen von Vlissingen.“
„Und auf welche Weise will Brandelaar in den Besitz dieses Schriftstückes gelangt sein?“
„Nicht Brandelaar selbst hat mir die Ordre übergeben, sondern eine Dame, eine Engländerin, die mit ihm von Dover herübergekommen ist. Meine Ehre legt mir Schweigen auf. Ich darf den Namen dieser Dame nicht nennen, aber ich hege die feste Ueberzeugung und glaube, mich dafür verbürgen zu können, daß das Schriftstück im Bureau des Admirals Hollway wortgetreu nach dem Original kopiert worden ist.“
„Man wird wohl bald Mittel und Wege finden, sich darüber zu vergewissern, ob die britische Flotte Vorbereitungen zur Ausführung dieser Ordre trifft. Jedenfalls wäre dann endlich der Zeitpunkt zu energischem Handeln gekommen. Seine Majestät hat ein ähnliches Vorgehen der britischen Flotte vorausgesehen, und wir haben nunmehr den Plan des allerhöchsten Kriegsherrn auszuführen. — Ich danke Ihnen, Herr Major!“
Heideck verneigte sich und wandte sich zum Gehen. Er fühlte, daß es mit seinen Kräften beinahe zu Ende sei, und bewahrte nur noch mit Mühe seine straffe, militärische Haltung.
Als er schon auf der Schwelle stand, kehrte der Prinz sich ihm noch einmal zu:
„Ich glaube Ihnen eine Ehre damit zu erweisen, Herr Major, wenn ich Ihnen Gelegenheit gebe, dem großen Ehrentage unserer jungen Flotte in meiner unmittelbaren Umgebung als Augenzeuge beizuwohnen. Melden Sie sich am Morgen des 15. Juli bei mir an Bord meines Flaggschiffes. Für die Besetzung Ihres jetzigen Postens werde ich Sorge tragen.“
„Königliche Hoheit sind sehr gnädig!“
„Sie haben Anspruch auf meinen Dank. Auf Wiedersehen also, Herr Major!“
Ohne eine Minute zu verlieren, berief der Prinz den diensttuenden Adjutanten und erteilte ihm den Befehl, sofort mehrere Kopieen des englischen Flottenplanes anfertigen zu lassen.
Eine dieser Kopieen war für den kommandierenden Admiral der[S. 340] französischen Flotte in Cherbourg bestimmt, und dem Feldjäger, der das Papier überbringen sollte, gab der Prinz ein eigenhändiges Schreiben mit, worin er den Admiral dringend ersuchte, alles daran zu setzen, um mit einer möglichst starken Schlachtflotte am 15. früh vor Vlissingen erscheinen zu können und der deutschen Flotte in ihrem Kampf gegen die überlegene englische Flotte zu Hilfe zu kommen.
‚Mein lieber Freund und Kamerad! Obwohl mir das Schreiben noch recht sauer fällt, kann ich es mir doch nicht versagen, der Erste zu sein, der Sie zur Verleihung des Ordens vom ‚Heiligen Wladimir‘ beglückwünscht. Ein in unserem Kriegsministerium beschäftigter Freund benachrichtigt mich soeben von der heute erfolgten Unterzeichnung der Verleihungsurkunde, und ich hoffe, daß diese Dekoration, auf die Sie sich durch Ihre bei der Besetzung von Simla geleisteten Dienste einen so berechtigten Anspruch erworben haben, Ihnen einige Freude bereiten wird. Sie wissen ja, daß der ‚Wladimir‘ nur an Russen oder an Fremde, die in russischen Diensten stehen, verliehen werden darf, und Sie werden darum einer der wenigen deutschen Offiziere sein, deren Brust dieses hierzulande sehr hoch gehaltene Ehrenzeichen schmückt.
Daß mein Glückwunsch aus St. Petersburg datiert ist, wird Sie Wunder nehmen; denn Sie vermuten mich ohne Zweifel noch unten im sonnigen Indien, dem Schauplatz unserer gemeinsam bestandenen Kriegsabenteuer. Sicherlich wäre ich auch bis zur Beendigung des Feldzuges dort geblieben, wenn nicht eine englische Kugel meiner militärischen Tätigkeit — wie Sie sich denken können, allzufrüh für meinen Ehrgeiz — vorläufig ein Ziel gesetzt hätte. Unversehrt aus zwei großen Schlachten und einer ganzen Anzahl kleiner Scharmützel hervorgegangen, mußte ich mich leider bei einem ganz unbedeutenden und ruhm[S. 342]losen Zusammenstoß zum Invaliden schießen lassen. Und wenn nicht ein heldenmütiges Weib meine Retterin gewesen wäre, hätten Sie von Ihrem alten Freunde Tschadschawadse nichts anderes mehr gehört, als daß auch er unter den auf dem Felde der Ehre Gebliebenen gewesen sei.
Erraten Sie den Namen dieses Weibes, Herr Kamerad? Ich denke wohl, daß mein angeblicher Page Georgij Ihrer Erinnerung nicht ganz entschwunden ist, und ich sage Ihnen wohl nichts neues, wenn ich heute den Schleier des Geheimnisses lüfte, mit dem ich in Indien aus naheliegenden Gründen seine Beziehungen zu mir umgeben mußte. Georgij war ein Mädchen, und sie hat mir jahrelang näher gestanden als irgend jemand. Sie war zwar einfacher Herkunft und besaß sehr wenig von dem, was wir Bildung nennen. Aber sie war mir trotzdem das liebste Geschöpf, dem ich auf meinen Fahrten durch die Länder zweier Erdteile begegnet bin; ein wunderbares Gemisch von Wildheit und Herzensgüte, von unbändigem Stolz und selbstloser, hingebender Zärtlichkeit; ein Kind und eine Heldin. Aus reiner Zuneigung, nicht um irgend eines Vorteiles willen, hatte sie sich mir zu eigen gegeben und war mir auf meinen Reisen gefolgt. Ihr eigener Wille war es gewesen, die Rolle eines Dieners zu spielen. Ich will indessen nicht damit sagen, daß sie niemals von der Macht, die sie über mich besaß, Gebrauch gemacht hätte, denn sie war stolz und wußte zu herrschen.
Einmal — es war im Beginn unserer indischen Reise — hatte ich, aufs äußerste gereizt durch ihren trotzigen Stolz, meine Hand gegen sie erhoben. Ein einziger Blick des Mädchens brachte mich sofort zur Besinnung, noch ehe die Züchtigung erfolgt war. Und später, als mein Blut sich längst beruhigt hatte, sagte sie mir, den flammenden Zorn noch immer in den Augen: ‚Hättest du mich wirklich geschlagen, so wäre ich auf der Stelle von dir gegangen, und keine Bitte hätte mich je bestimmt, zu dir zurück[S. 343]zukehren.‘ Ich lachte über ihre Worte, aber ich beherrschte mich fortan mehr, und so lebten wir in vollkommener Eintracht bis zu dem Tage, da Georgij Ihnen, mein werter Herr Kamerad, in Lahore das Leben rettete. Sie war es, die mir die Schreckensnachricht brachte, man führe Sie zum Tode. Nie zuvor hatte ich das Mädchen in so furchtbarer Aufregung gesehen als in jenem Augenblick. Ihre Augen glühten und ihr ganzer Körper zitterte. Es war, als wollte sie mich mit Peitschenhieben vorwärts treiben, damit ich den rechten Moment nicht versäume. Ich war selber zu bestürzt, um mir über die seltsame Erregung des Mädchens lange den Kopf zu zerbrechen. Aber als Ihre Rettung dann geglückt war, als Sie sich geborgen in meinem Zelte befanden, und als ich Georgij aufsuchte, um ihr das Ergebnis meiner Intervention mitzuteilen, da geriet sie in einen solchen Paroxismus der Freude, daß mir wahrhaftig nicht das geringste hätte an ihr gelegen sein müssen, wenn ihr Jubel nicht einen bösen eifersüchtigen Verdacht in mir wachgerufen hätte. Hingerissen von der Erregung, schleuderte ich ihr ein heftiges Wort entgegen, und dann, da sie mir eine trotzig herausfordernde Antwort gab — es war eben ihr und mein Unglück, daß ich die Reitpeitsche gerade in der Hand hatte — dann war das Häßliche geschehen, das ich lieber als irgend eine andere meiner vielen Torheiten ungeschehen machen möchte. Sie hatte den Schlag hingenommen, ohne einen Laut von sich zugeben. Aber im nächsten Augenblick war sie verschwunden, und ich wartete vergebens auf ihre Wiederkehr. Bis zu unserem Aufbruch nach Simla ließ ich überall nach ihr suchen, ohne daß einer meiner Leute ihre Spur gefunden hätte. Ich selbst gab sie schon damals für immer verloren. Als wir dann nach Lahore zurückgekehrt waren und nach Delhi weitermarschierten, wurde mir hier und da von einem in indische Gewänder gekleideten Mädchen berichtet, das in der Nähe unserer Truppe aufgetaucht sei und meinem[S. 344] verschwundenen Pagen Georgij ähnlich gesehen habe. Aber sobald ich dann nach diesem Mädchen forschte, war es, als ob die Erde sie verschlungen hätte, und unter den rasch wechselnden Eindrücken des Krieges begann ihr Bild langsam in mir zu verblassen.
Bei einem Rekognoszierungsritt, den ich eines Tages mit meinem Regimentsstab und einer geringen Bedeckung bei Lucknow unternahm, gerieten wir durch selbstverschuldete Sorglosigkeit in einen von den Engländern gelegten Hinterhalt, der dem größeren Teil meiner Begleiter das Leben kostete. Mich hatte gleich im Beginn des Gefechtes ein Schuß in den Rücken aus dem Sattel geworfen. Man hielt mich für tot, und die wenigen meiner Gefährten, die sich durch die Flucht zu retten vermochten, hatten nicht Zeit, die Gefallenen mitzunehmen. Als ich aus langer Bewußtlosigkeit wieder erwachte, sah ich, wie eine Anzahl bewaffneter Inder die auf dem Kampfplatz zurückgebliebenen Toten und Verwundeten ausplünderte. Einer der braunen Teufel näherte sich auch mir. Und als er sah, daß ich mich aufrichtete, um nach meinem Revolver zu tasten, stürzte er mit geschwungenem Säbel auf mich zu. Ich parierte den ersten nach meinem Kopf geführten Hieb mit dem rechten Arm. Wehrlos, wie ich war, machte ich mich schon auf das Schlimmste gefaßt. Aber im selben Augenblick, als der Halunke zum zweiten Hieb ausholte, taumelte er rückwärts und brach lautlos zusammen. Es war Georgij, die mir durch ihren wohlgezielten Schuß das Leben gerettet hatte.
Mit den von unserem Lager aus zur Bergung der Toten und Verwundeten entsandten Dragonern war sie gekommen und den Reitern um ein gutes Stück voraus gewesen. So war es ihr möglich geworden, mich zu retten.
Ich war zu sehr entkräftet, um viele Fragen an sie zu richten, und über den wenigen Augenblicken dieses Wiedersehens liegt es in meiner Erinnerung wie ein Schleier.
Acht Tage lang lag ich zwischen Leben und Tod. Dann[S. 345] siegte meine unverwüstliche Natur. Wie groß meine Sehnsucht war, Georgij wiederzusehen, werden Sie begreifen, liebster Freund! Aber sie war nicht mehr im Lager, und niemand konnte mir über ihren Verbleib Auskunft geben. So wie sie an jenem Tage plötzlich aufgetaucht war, ebenso war sie wieder verschwunden. Und diesmal muß ich mich wohl mit der Ueberzeugung abfinden, daß ich sie für immer verloren habe. Noch auf dem Krankenlager erhielt ich neben einer sehr schmeichelhaften Beförderung die Ordre, mich nach St. Petersburg zu begeben, und sobald es mein Zustand gestattete, machte ich mich auf die Reise.
Verzeihen Sie, lieber Freund, daß ich so lange bei einer persönlichen Angelegenheit verweilte, die für Sie ja am Ende nur wenig Interesse haben kann.
Von den mannigfachen Wechselfällen dieses Krieges, der nun schon Werte von ungezählten Millionen vernichtet und Hunderttausende hoffnungsvoller Menschenleben gekostet hat, sind Sie ja ebenso gut unterrichtet wie ich. Ich möchte Sie fast darum beneiden, daß es Ihnen noch vergönnt ist persönlich Zeuge der großen Ereignisse zu sein, während ich zu der Rolle eines untätigen Zuschauers verurteilt bin. Aber ich glaube nicht mehr an eine lange Dauer des Kampfes. Die Opfer, die er den Völkern auferlegt, sind zu groß, um noch Monate hindurch getragen zu werden. Alles drängt einer raschen Entscheidung zu, und ich bin nicht im Zweifel, wie sie fallen wird. Denn wenn auch die bisherigen Niederlagen und Verluste der Engländer teilweise aufgewogen werden durch ihre hier und da errungenen Erfolge, so würde doch ein einziger großer Seesieg der verbündeten Mächte den Ausschlag zu Ungunsten Großbritanniens endgiltig geben. Man hat bisher auf beiden Seiten gezögert, diese Entscheidung herbeizuführen, aber man lebt hier der Ueberzeugung, daß schon die nächsten Wochen endlich die längst mit Spannung erwarteten großen Ereignisse auf dem Wasser bringen werden.
Noch immer begegne ich zu meinem Befremden in der ausländischen Presse vielfach einer abfälligen Kritik unseres Friedensvertrages mit Japan. Allerdings hatte sich ja in der zweiten Phase des japanischen Feldzuges das Kriegsglück zu unseren Gunsten gewendet, doch der Kampf um Indien war für Rußland so wichtig, daß es seine Kräfte nicht länger zersplittern wollte. Deshalb konnten wir Japan goldene Brücken bauen, und so kam der Frieden von Nagasaki zu stande. Der deutsche Reichskanzler ist durch den Anteil, den er an dem Abschluß dieses Friedens gehabt hat, eine sehr populäre Persönlichkeit auch hier in Rußland geworden.
Haben Sie vielleicht Gelegenheit gehabt, dem Reichskanzler persönlich nahe zu treten? Dieser Baron Grubenhagen muß eine gewaltige Persönlichkeit sein.
Ich lasse diesen Brief auf dem Umwege über Berlin an Sie gelangen, denn ich weiß nicht, wo Sie sich augenblicklich befinden. Aber ich hoffe, daß er richtig in Ihre Hände kommt und daß Sie gelegentlich einmal Zeit finden, durch ein Lebenszeichen zu erfreuen
Ihren alten Freund
Tschadschawadse.‘
Heideck hatte den in französischer Sprache geschriebenen Brief des Fürsten, den er nach seiner Rückkehr aus Antwerpen vorgefunden, rasch überflogen. Nicht einmal die Kunde von der ehrenvollen Auszeichnung, die ihm durch die Verleihung des russischen Ordens zu teil geworden war, hatte einen Schimmer der Freude auf seinem ernsten Antlitz hervorzurufen vermocht. Der liebenswürdige russische Fürst und sein schöner Page, sie waren ihm wie Gestalten aus einer fernen, unendlich weit hinter ihm liegenden Zeit. Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn so tief erschüttert, daß ihm fremd und gleichgültig geworden war, was vielleicht noch wenige Tage vorher seine lebhafteste Anteilnahme erweckt haben würde.
Die Ordonnanz meldete einen Mann in Seemannstracht, und Heideck wußte, daß es nur Brandelaar sein konnte. Die Auskunft,[S. 347] die er von Dover mitgebracht, hatte der Schiffer bereits am Morgen dem stellvertretenden, diensttuenden Offizier übergeben. Wenn es auch nicht gerade militärische Geheimnisse waren, die damit zur Kenntnis der deutschen Heeresleitung gelangten, so befanden sich unter den mancherlei Nachrichten doch einige, die von Bedeutung für die Dispositionen des Prinz-Admirals werden konnten.
Heideck nahm an, daß Brandelaar jetzt gekommen sei, um sich die versprochene Belohnung zu holen. Als der Schiffer indes nach Empfang des Geldes noch immer seinen Hut zwischen den Fingern drehte, wie jemand, der mit einem peinlichen Auftrag oder Anliegen nicht recht herauszukommen wagt, fragte Heideck verwundert:
„Wünschen Sie mir sonst noch etwas zu sagen, Brandelaar?“
Nur zögernd kam es über die Lippen des Mannes: „Jawohl, Herr Major! — Ich sollte noch einen Gruß bestellen. Der Herr Major werden wohl wissen, von wem.“
„Ich glaube es zu erraten. Sie haben die Dame also seit dem gestrigen Abend noch einmal gesehen?“
„Die Lady kam gestern noch zu später Stunde zu mir ins Gasthaus und forderte von mir, ich sollte sie auf der Stelle nach Dover zurückbringen. Aber ich dachte, der Herr Major würden es nicht wünschen.“
„Sie weigerten sich also?“ —
Brandelaar starrte noch immer unablässig vor sich hin auf den Fußboden.
„Die Lady wollte durchaus fort — trotz des schlechten Wetters. Und sie ließ nicht eher nach, als bis ich meinen Freund van dem Bosch überredet hatte, sie mit seinem Kutter nach Dover zu fahren.“
„Noch gestern Nacht?“
„Jawohl — gestern Nacht.“
„Und dann, was weiter?“ drängte Heideck.
„Heute vormittag ist er zurückgekommen. Es — es ist ihnen unterwegs ein Unglück passiert.“
Heideck zuckte zusammen. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf. Er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um sich zu beherrschen.
„Und die Lady?“
„Herr Major! Es war ja eben die Lady, der das Unglück zustieß. — Sie ist unterwegs über Bord gegangen.“
Mit beiden Händen umklammerte Heideck die Lehne des vor ihm stehenden Stuhles. Jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen.
„Ueber — Bord? — Gott im Himmel, Mann — und sie ist nicht gerettet worden?“
Brandelaar schüttelte den Kopf.
„Nein, Herr Major! Sie wollte trotz des Sturmes durchaus auf Deck bleiben, obwohl van dem Bosch sie immer wieder aufforderte hinunter zu gehen. Als dann bei einer heftigen Bö das Pikfall brach, wurde sie von der heruntergeschleuderten Gaffel ins Meer geworfen. Bei der hochgehenden See war an Rettung nicht zu denken.“
Heideck hatte die Augen mit der Hand bedeckt. Ein dumpfes Stöhnen rang sich aus seiner heftig arbeitenden Brust und in seinem Inneren schrie eine Stimme:
‚Du trägst die Schuld! Freiwillig hat sie den Tod gesucht, und du warst es, der sie dazu getrieben!‘
Seine Stimme klang hart und spröde, als er sich zu dem Schiffer wandte und sagte:
„Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung, Brandelaar, lassen Sie mich jetzt allein.“ — —
Das IX. und das X. Armeekorps waren an der Kieler Föhrde zusammengezogen worden. Die Stadt Kiel und ihre Umgebung waren erfüllt von dem Klirren der Waffen, dem Stampfen der Pferde und von den fröhlichen Gesängen der Soldaten, die große Entscheidungen hoffnungsfreudig erwarteten. Niemand aber wußte etwas Genaues über das Ziel der bevorstehenden Expedition.
Seit den frühen Morgenstunden des 13. Juli ergoß sich ein schier endloser Strom von Mannschaften, Pferden und Geschützen über die Landungsbrücken, welche die Riesendampfer der großen Schiffahrtsgesellschaften mit den Hafenquais verbanden. Andere Truppenabteilungen wurden mit Booten an Bord befördert, und am Abend des 14. war die Einschiffung der ganzen, aus 60000 Mann bestehenden Feldarmee beendet.
Als letzter begab sich in einer Barkasse der kommandierende General in Begleitung des deutschen Reichskanzlers an Bord des großen Kreuzers ‚König Wilhelm‘, der in der Holtenauer Bucht vor Anker lag. Unmittelbar darauf stiegen drei Raketen, die sich leuchtend von dem dunkeln Nachthimmel abhoben, von Bord des Flaggschiffes empor. Langsam setzte sich das ganze Geschwader auf dieses Signal gegen den Kaiser-Wilhelm-Kanal hin in Bewegung.
Die Transportflotte bestand aus etwa 60 großen Dampfern, dem Besitzstande des Norddeutschen Lloyd, der Hamburg-Amerika-Linie und der Stettiner Gesellschaft entstammend. Zu ihrem Schutze wurden sie von den Linienschiffen ‚Baden‘, ‚Württemberg[S. 350]‘, ‚Bayern‘ und ‚Sachsen‘, den großen Kreuzern ‚Kaiser‘ und ‚Deutschland‘, den kleinen Kreuzern ‚Gazelle‘, ‚Prinzeß Wilhelm‘, ‚Irene‘, ‚Komet‘ und ‚Meteor‘, sowie den Torpedo-Divisionsbooten ‚D 5‘ und ‚D 6‘ mit ihren Torpedoboot-Divisionen begleitet.
Als um die elfte Vormittagsstunde des 15. Juli der dumpfe Donner der englischen Panzer vor den Befestigungen der Kieler Föhrde ertönte und die deutschen Festungsgeschütze den britischen Kanonen antworteten, hatte längst das letzte Torpedoboot den Hafen verlassen. —
Heller Sonnenschein brach durch das leichte Gewölk, als der ‚König Wilhelm‘ bei Brunsbüttel in die Elbe einlief. Die vorauseilenden Torpedo-Divisionsboote meldeten, daß die Mündung des Stromes frei sei von englischen Kriegsschiffen, und von Helgoland kam ein auf drahtlosem Wege übermitteltes Telegramm, das diese Meldung bestätigte.
Das Geschwader fuhr nun mit Volldampf Nordwest. Die Torpedodivision ‚D 5‘ ging zur Aufklärung voraus, und diesen kleinen, schnellen Fahrzeugen folgten die Kreuzer ‚Prinzeß Wilhelm‘ und ‚Irene‘, die wegen ihrer hohen Takelage zu Aufklärungsschiffen besonders geeignet waren und die die erforderlichen Einrichtungen für drahtlose Telegraphie an Bord hatten. Die übrige Flotte, die ihre Fahrgeschwindigkeit nach der des ‚König Wilhelm‘ richten mußte, folgte in den vorgeschriebenen Abständen.
Als die roten Felsen Helgolands scharf umrissen aus dem Meere auftauchten, kam der deutsche Kreuzer ‚Seeadler‘ von der Insel her dem Geschwader entgegen und meldete, daß die Küstenpanzerschiffe ‚Aegir‘ und ‚Odin‘, die Kreuzer ‚Hansa‘, ‚Vineta‘, ‚Freya‘ und ‚Hertha‘, sowie die Torpedoboote in der Nacht von Wilhelmshaven ausgefahren waren und nichts vom Feinde gesehen hatten. Das Meer schien frei. Alle verfügbaren englischen Kriegsschiffe des Nordseegeschwaders waren zum Angriff auf Antwerpen herangezogen worden.
Die Flotte von Wilhelmshaven blieb nun, weil eine Verstärkung der Transportflotte nicht nötig schien, bei Helgoland liegen. Die Transportflotte mit den begleitenden Kriegsschiffen aber setzte ihre Fahrt mit West-Nordwest-Kurs fort.
Wohin aber ging diese Fahrt?
Wenige nur waren unter diesen vielen Tausenden, die darauf hätten Antwort geben können, und diese Wenigen schwiegen. Der rote Felsen von Helgoland war längst in der Ferne verschwunden, und Stunde auf Stunde verrann, ohne daß sich den Blicken der gespannt ausschauenden Krieger etwas anderes gezeigt hätte als das unendliche, leicht bewegte Meer und das kristallklare blaue Himmelsgewölbe, das es gleich einer Riesenglocke überspannte. Die Nacht sank hernieder und der junge Tag brach an, aber noch immer war nichts von einer Küste zu sehen, und immer häufiger wurde unter den Offizieren und Mannschaften die Frage wiederholt:
„Wohin geht die Fahrt?“
Das Gestade Englands konnte ihr Ziel nicht sein, denn man würde es inzwischen längst erreicht haben. Wo aber sollte die Landung vor sich gehen, wenn nicht dort? Welchem fernen Ufer führte man die deutsche Armee entgegen, die größte, deren Schicksal jemals den trügerischen Fluten des Meeres anvertraut war?
Als bei Tagesanbruch von den aufklärenden Schiffen wieder einmal die Meldung kam, daß von feindlichen Schiffen nichts zu sehen sei, konnte der Oberbefehlshaber der Landarmee nicht umhin, dem Admiral gegenüber seiner Verwunderung Ausdruck zu geben, daß die Engländer den Aufklärungsdienst in der Nordsee scheinbar so ganz außer Acht ließen, und daß auch Handelsschiffe nicht zu Gesicht kämen.
„Die Erklärung für diese anscheinend befremdliche Tatsache liegt nicht allzu fern, Exzellenz,“ erwiderte der Admiral. „Kauffahrteischiffe werden uns schwerlich in Sicht kommen, weil jetzt, bei der Unsicherheit der Meere, der Seehandel fast gänzlich stockt. Einer[S. 352] Fischerflottille sind wir nicht begegnet, weil dieser Teil der Nordsee keine Fischgründe hat. Feindliche Schiffe aber sehen wir nicht, weil die Engländer wohl mit jeder andern Möglichkeit eher gerechnet haben mögen, als damit, daß wir hier oben in Schottland eine Landung versuchen könnten.“
„Ihre Erklärung, Herr Admiral, leuchtet mir ein, aber trotzdem will es mir scheinen, daß unsere Gegner es bei ihrem Beobachtungsdienst an der nötigen Umsicht fehlen lassen.“
„Exzellenz dürfen nicht ohne weiteres einen Vergleich zwischen den Operationen zu Lande und denen auf dem Wasser ziehen. Die Voraussetzungen sind hier doch wesentlich andere. Ich zweifle keinen Augenblick, daß eine genügende Anzahl englischer Aufklärungsschiffe in der Nordsee kreuzt; und wenn wir ihrer Aufmerksamkeit wirklich entgangen sind, so ist uns das Kriegsglück eben günstig gewesen. Wenn ich Eurer Exzellenz sage, daß selbst bei unsern Manövern in der Ostsee, wo wir doch das Fahrwasser ebenso genau kennen wie die Stärke und Geschwindigkeit des markierten Feindes, diesem der Durchbruch zuweilen gelungen ist, ohne daß unsere Aufklärungsschiffe ihn gesehen haben, so werden Sie zu einer milderen Beurteilung der hier scheinbar vorliegenden englischen Unvorsichtigkeit gelangen.“ —
Endlich, am Abend des 16. Juli, wurde vom ‚König Wilhelm‘ Land gemeldet. Das Ziel der Fahrt zeigte sich den Blicken, und von Mund zu Munde ging die Kunde, daß es die Küste von Schottland sei, die sich da aus den Fluten hob.
„Wir werden in die Mündung des Firth of Forth einlaufen!“ hieß es auf allen Schiffen; und auch die braven Soldaten, die diesen Namen vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben hörten, wiederholten das Wort mit so wichtiger Miene, wie wenn ihnen nun mit einem Male alle Geheimnisse der obersten Heeresleitung offenbar geworden wären.
Im roten Schein der untergehenden Sonne zeichneten sich beide[S. 353] Küsten violett vom tiefblauen Himmel und dem graublauen Meere ab, doch war die nördliche Küste weiter entfernt als die südliche. Von ruhiger See begünstigt, steuerte das Geschwader gut geschlossen in einer Längenausdehnung von etwa fünf Seemeilen in den Firth of Forth hinein.
Erwartungsvoll sah das Landungskorps das große, kühne Unternehmen vor seinen Augen sich entwickeln. Seit 900 Jahren war keine feindliche Armee an Englands Küste gelandet. Wohl hatte Britannien in alten Zeiten gegen eindringende Feinde kämpfen müssen: Julius Cäsar war als Sieger eingezogen, Knut der Große, König von Dänemark, hatte sich das Land unterworfen. Die Angeln und Sachsen waren von Deutschland herübergekommen, um sich zu Herren des Landes zu machen. Harald Schönhaar, der König von Norwegen, war in England gelandet. Aber seit Wilhelm von der Normandie, der die Sachsen bei Hastings schlug und die Herrschaft der Normannen in England aufrichtete, war es auch nicht den mächtigsten Feinden, weder Philipp II. von Spanien, noch dem großen Napoleon gelungen, ihre Truppen auf dem meerumgürteten Boden Englands Fuß fassen zu lassen.
Würde es jetzt einem deutschen Heere gelingen? —
Immer deutlicher traten die Umrisse des Landes hervor, und einige glaubten sogar, das hochgelegene Edinburgh-Castle am Horizont zu erkennen. Bald aber verschleierte sich die Ferne, und die Dämmerung brach langsam herein.
Bis dahin hatte man kein einziges feindliches Schiff zu Gesicht bekommen. Nun aber, als der größere Teil des Geschwaders bereits in die Bucht eingefahren war, fiel das Licht der mit Einbruch der Dunkelheit in Tätigkeit getretenen Scheinwerfer auf zwei englische Kreuzer, deren Anwesenheit von den vorausgeeilten Torpedo-Divisionsbooten bereits gemeldet worden war.
Angesichts der gewaltigen Uebermacht ließen sich diese Kreuzer indessen nicht auf einen Kampf ein, sondern gaben durch Niederholen[S. 354] der Flagge alsbald zu erkennen, daß sie bereit seien, sich zu ergeben. Nun standen einer Landung der deutschen Truppen Hindernisse von der See her nicht mehr entgegen. Die Transportschiffe näherten sich dem südlichen Ufer der Bucht, an welchem Edinburgh und die Hafenstadt Leith liegen und schickten nach dem Ankern beim Scheine der elektrischen Lichter ihre Boote mit Mannschaften an Land. Die Infanterie faßte dort alsbald festen Fuß und besetzte die günstig gelegenen Punkte, um einem etwa noch erfolgenden Angriff zu begegnen. Aber es geschah nichts, was die Landung hätte hindern können. Die schottische Bevölkerung verhielt sich vollkommen ruhig, so daß sich die Ausschiffung des Landungskorps ohne Störung vollzog.
Die Bevölkerung von Leith und die neugierig herbeigeeilten Einwohner von Edinburgh sahen in grenzenlosem Staunen dem ihnen fast unbegreiflichen Schauspiel zu, das sich im hellen Lichte der von den deutschen Schiffen strahlenden elektrischen Scheinwerfer mit bewunderungswürdiger Präzision vollzog.
An dem großen Kriege, den England gegen die verbündeten Mächte Deutschland, Frankreich, Rußland führte, hatte das Volk gewiß lebhaftesten Anteil genommen, aber wohl mit dem Gefühl, daß es sich um Ereignisse handle, die vornehmlich die Regierung, die Armee und die Flotte angingen. Man empfand es schmerzlich, daß der Gang der Geschäfte immer schlechter wurde, aber man war überzeugt, daß die Regierung den Feind sehr bald niederwerfen würde. Es war jedermann bekannt, daß die Russen in Indien eingedrungen waren, aber die große Masse des Volkes gab sich darüber keiner Sorge hin. Das konnte ja nur ein vorübergehendes Mißgeschick sein, und der jetzt darniederliegende Handel würde sicher bald nur umso mächtiger wieder aufblühen. Die Vorstellung, daß ein Feind, eine kontinentale Armee, an den Küsten Großbritanniens landen, daß deutsche oder französische Krieger jemals britischen Boden betreten könnten, hatte den Schotten bisher[S. 355] so fern gelegen, daß sie jetzt von der Macht der Tatsachen völlig überwältigt zu sein schienen.
Gegen Mittag des folgenden Tages standen die beiden Armeekorps schon südlich von Leith. Eine Brigade war nach Süden vorgeschoben worden, die übrigen Truppen aber hatten Biwaks bezogen. Die Leute sollten sich von der zweitägigen Seefahrt erholen.
Die Fouriere hatten in der Stadt, in den kleinen Ortschaften, in den verstreut liegenden Pachthöfen gegen bare Zahlung Lebensmittel eingekauft. Die Kriegsschiffe füllten ihre Bunker aus den in reichem Maße vorhandenen englischen Kohlenvorräten auf, wobei die zur Sicherung des Geschwaders ausgesandten Wachtschiffe sich ablösten. Der Admiral hatte Befehl gegeben, daß nach Beendigung der Kohlenübernahme die Kriegsschiffe am Eingang zur Bucht Station nehmen, während die Transportschiffe im Hafen verbleiben sollten. Bei der etwaigen Annäherung eines überlegenen englischen Geschwaders sollte die ganze Flotte eiligst den Firth of Forth verlassen und sich in alle Winde zerstreuen. Freilich wurde alsdann die Armee des Mittels der Rückkehr beraubt, aber die Heeresleitung war überzeugt, daß das Erscheinen einer Armee von 60000 Mann deutscher Truppen auf britischem Boden tatsächlich das Ende des Krieges bedeuten würde, zumal da ein gleich starkes französisches Korps im Süden Englands landen sollte. Die Heeresleitung glaubte also wegen der Möglichkeit der Zurückführung der Truppen sich keiner Sorge hingeben zu müssen.
Die Garnison von Edinburgh hatte sich ohne jeden Widerstand ergeben, da sie in der Tat viel zu schwach gewesen wäre, um der Invasionsarmee irgend welche Hindernisse zu bereiten. Die deutschen Offiziere und Soldaten konnten deshalb ganz ungehindert in der Stadt verkehren. Man fand eine Anzahl von Depeschen und neuen Kriegsberichten, die einiges Licht über die strategische Lage verbreiteten, obwohl sie teils unklar waren, teils offenkundige Lügen enthielten.
Es sollte danach am 15. Juli eine große Seeschlacht bei Vlissingen stattgefunden haben, die mit einem Rückzuge der deutschen und französischen Flotte unter schweren Verlusten geendet hätte. Ferner hieß es, daß die britische Flotte Vlissingen zerstört und mehrere Forts von Antwerpen bombardiert habe. Endlich war in den Zeitungen zu lesen, daß die vor Kopenhagen stationiert gewesene englische Flotte, nachdem sie allerdings im Eingang der Kieler Föhrde zwei Linienschiffe verloren hätte, bis in den Hafen von Kiel vorgedrungen wäre und alle dort liegenden deutschen Schiffe weggenommen hätte. Die deutschen Offiziere waren überzeugt, daß davon lediglich die Nachricht von dem Untergang der beiden Linienschiffe Glauben verdiene, da die Engländer eine solche Hiobspost schwerlich erfunden hätten. Alles übrige trug nach Lage der Dinge den Stempel der Unwahrscheinlichkeit an der Stirn.
Die Trompeten bliesen, die Mannschaften ergriffen ihre Gewehre, und die Bataillone setzten sich in Marsch. Dumpfdröhnend rasselten die Batterien daher. In vier Kolonnen, auf vier Wegen nebeneinander her, zogen die vier Divisionen gen Süden.
Die Strategie vom grünen Tische aus, durch die dem militärischen Oberkommandierenden die Hände gebunden waren, sollte sich, wie schon in so manchen früheren Feldzügen, auch diesmal für die Engländer als ein verhängnisvoller Fehler erweisen.
Mit stillem Ingrimm hatte Sir Percy Domvile, der britische Admiral, die ihm von London aus erteilte Ordre de bataille — dieselbe, die auch den Deutschen in die Hände gefallen war — empfangen. Mehr als einmal schon hatte er den Lords zu beweisen versucht, welchen Schaden das Gebundensein an strikte schriftliche Ordres bei oft unberechenbaren Verhältnissen anrichten konnte, aber er hielt jetzt den Beweis in Händen, wie wenig die von dem Bewußtsein ihrer Bedeutung und ihrer überlegenen Klugheit durchdrungenen Würdenträger geneigt waren, sich belehren zu lassen. Doch er war viel zu sehr Soldat, um sich nicht dem Befehl der vorgesetzten Instanz in widerspruchslosem, militärischem Gehorsam zu fügen. Freilich, wenn er die Tragweite des hier begangenen Fehlers im voraus hätte übersehen können, würde er als Patriot wahrscheinlich lieber seine Person geopfert haben, als daß er sich zum ausführenden Werkzeug der schweren taktischen Irrtümer hergegeben hätte, die dem ihm übermittelten Schlachtplan zu Grunde lagen. Denn was hier auf dem Spiele stand, war mehr, als die stolze britische Nation je zuvor bei einem Seegefecht eingesetzt hatte. Es handelte sich um das Prestige Englands als weltbeherrschende[S. 358] Seemacht und vielleicht um die endgiltige Entscheidung dieses für Großbritannien so unglücklich verlaufenen Feldzuges. Das allgewaltige Albion, die gefürchtete Beherrscherin der Meere, kämpfte heute um Ehre und Existenz. Eine große verlorene Schlacht mochte da leicht genug einen Schlag bedeuten, von dem sich der todwunde britische Löwe nie wieder erholen konnte.
Zu derselben Stunde, in der der ‚König Wilhelm‘ an der Spitze der deutschen Transportflotte in den Kaiser Wilhelm-Kanal einlief, führte der Prinz-Admiral, der seine Admiralsflagge auf der ‚Wittelsbach‘ gehißt hatte, die deutsche Schlachtflotte aus dem Hafen von Antwerpen in den Zuid-Bevelanden-Kanal, der die Wester-Schelde mit der Ooster-Schelde verbindet und die Insel Walcheren von Zuid-Bevelanden trennt, und ging dort zu Anker.
Sein Geschwader bestand aus den der ‚Wittelsbach‘-Klasse angehörigen Linienschiffen ‚Mecklenburg‘, ‚Schwaben‘, ‚Zähringen‘, ‚Wettin‘ und ‚Wittelsbach‘, dem Flaggschiff des Prinz-Admirals, sowie den Linienschiffen der Kaiserklasse: ‚Kaiser Wilhelm der Große‘, ‚Barbarossa‘, ‚Karl der Große‘, ‚Wilhelm II.‘ und ‚Friedrich III.‘
Diesen Panzerschiffen gesellten sich die großen Kreuzer ‚Friedrich Karl‘, ‚Prinz Adalbert‘, ‚Prinz Heinrich‘, ‚Fürst Bismarck‘, ‚Viktoria Luise‘ und ‚Kaiserin Augusta‘ zu, sowie die kleinen Kreuzer ‚Berlin‘, ‚Hamburg‘, ‚Bremen‘, ‚Undine‘, ‚Arcona‘, ‚Frauenlob‘, ‚Medusa‘.
Die dem Prinzen zur Verfügung stehende Torpedobootflottille bestand aus den Torpedobooten ‚S 102 bis 107‘, ‚G 108 bis 113‘, ‚S 114 bis 125‘ mit den in der Größe von Torpedobootzerstörern gebauten Divisionsbooten ‚D 10‘, ‚D 9‘, ‚D 7‘ und ‚D 8‘.
Als Aufklärungsschiffe waren schon vorher die drei schnellen Kreuzer: ‚Friedrich Karl‘, ‚Prinz Adalbert‘ und ‚Kaiserin Augusta‘ mit den Torpedobooten ‚S 114 bis 120‘ in See geschickt worden, um die Annäherung des Feindes rechtzeitig zu melden. Die Kreuzer[S. 359] hatten Befehl erhalten, sich dreißig Seemeilen W. N. W. von Vlissingen auf je fünf Seemeilen Abstand zu legen, während die Torpedoboote auf Sichtweite nach jeder Seite patrouillieren sollten. Nachdem die englische Flotte dem Hauptgeschwader durch drahtlose Telegraphie gemeldet, sollten sich diese Aufklärungsschiffe außer Schußweite vor dem Feinde her in die Wester-Schelde zurückziehen und dabei ein solches Kesselfeuer unterhalten, daß möglichst viel und dicker Rauch entwickelt wurde, um den Feind über die Anzahl und die Größe der sich zurückziehenden Schiffe zu täuschen. Nachdem sie den Engländern außer Sicht gekommen, sollten sie wieder Kehrt machen, um sich zu zeigen, und wenn die Verhältnisse es gestatteten, sollten sie die vorher befohlenen Plätze einnehmen, anderenfalls hatten sie den Umständen gemäß zu handeln.
Der Zweck dieses auf die Irreführung des Feindes berechneten Manövers wurde denn auch vollkommen erreicht.
Ein Funkentelegramm meldete dem Prinz-Admiral das Insichtkommen der Engländer, und ein von dem Aufklärungsgeschwader abgeschwenktes Torpedoboot brachte genauere Mitteilungen über Zahl und Formation der feindlichen Schiffe, Mitteilungen, die den in der Ordre de bataille gegebenen Anweisungen durchaus entsprachen und demnach als ein neuer Beweis gelten konnten, daß es bei diesem Schlachtplan bleiben sollte.
Nun war eine sichere Grundlage für die taktischen Operationen der deutschen Flotte gegeben. Es konnte bei dem, was tags zuvor im Kriegsrate beschlossen worden war, sein Bewenden behalten und den Kommandanten der einzelnen Schiffe brauchten daher neue Instruktionen nicht gegeben zu werden.
Die in diesem Kriegsrat festgesetzte Ordre de bataille lautete in ihren Hauptzügen:
‚Das Geschwader liegt bei Zuid-Beveland vor Anker, kurzstag gehievt, Feuer aufgebänkt, so daß in fünfzehn Minuten Dampf auf sein kann.
Die Linienschiffe ankern in Doppelkiellinie ihren taktischen Nummern nach, Flaggschiff in der Peilung Insel Nordland N.N.O. Beeren Kirche S.S.W. mißweisend.
Die Kreuzer zwischen Nord-Beveland und Zuid-Beveland.
Die Torpedoboote mit ihren Divisionsbooten dahinter.
Auf Signal ‚Anker lichten‘ gehen die Schiffe ihren taktischen Nummern nach Anker auf; die Schlachtschiffe durch das Roompot; die Kreuzer gehen wieder durch den Kanal in die Wester-Schelde und legen sich in Höhe von Vlissingen in Dwarslinie.
Die beiden andern Torpedobootsdivisionen gehen mit dem Geschwader.‘
Genau nach diesen Dispositionen entwickelte sich nun der Gang der Ereignisse.
Auf die Meldung von der Annäherung feindlicher Schiffe kamen vom Flaggschiff des Prinz-Admirals die Signale:
‚Anker lichten! Toppsflaggen hissen! Klar Schiff zum Gefecht! Dem Kielwasser des Admirals folgen! Kreuzerdivision und Torpedoboote Befehle ausführen!‘
Sich dicht unter der Küste von Walcheren haltend, fuhr das deutsche Geschwader mit Volldampf dem Feind entgegen.
Inzwischen hatten die herangekommenen Engländer, nachdem sie ihre Lazarett-, Munitions- und Kohlenschiffe unter dem Schutz der Kreuzer in See gelassen und die befohlene Formation eingenommen hatten, auf sechstausend Meter das Feuer auf Vlissingen und das Fort Frederik Hendrik eröffnet.
So strikte hielt sich der englische kommandierende Admiral an die ihm erteilten Anweisungen, daß er es in schwer begreiflicher Sorglosigkeit unterließ, die Ooster-Schelde durch das zweite Geschwader oder wenigstens durch Aufklärungsschiffe untersuchen zu lassen. Das Einlaufen der aus See zurückgesandten deutschen Schiffe, deren gewaltiger Qualm eine Schätzung ihrer Stärke fast unmöglich gemacht hatte, in die Wester-Schelde war Sir Domvile offenbar als eine hin[S. 361]längliche Bestätigung für die Annahme erschienen, daß die gesamte deutsche Flotte in diesem Mündungsarm liege.
Dadurch wurde es dem Geschwader des Prinz-Admirals möglich, sich dem Feinde soweit unbemerkt zu nähern, daß es die britische Flotte in der Flanke fassen konnte, als diese die westliche Spitze von Walcheren erreicht hatte.
Auf Signal: ‚Dwarslinie formieren! — Alle Kraft! — Ran an den Feind!‘ dampften die deutschen Schiffe den überraschten Engländern entgegen und eröffneten aus ihren Buggeschützen das Feuer.
Natürlich ließ der englische Admiral sofort das erste Geschwader sich hinter das zweite setzen, machte mit beiden linksum und ging in Doppelkiellinie auf den Gegner zu.
Dies war der im Schlachtplan des Prinzen vorausgesehene geeignete Moment für das Vorgehen der in der Wester-Schelde liegenden Kreuzer. Mit den Torpedobooten, die jetzt abermals einen dicken Qualm entwickelten, um den Feind über ihre Anzahl zu täuschen, näherten sie sich in schneller Fahrt und nötigten den durch den Doppelangriff völlig überrumpelten englischen Admiral, seine Aufmerksamkeit nach zwei Seiten hin zu verteilen.
Ein tollkühnes Unternehmen freilich blieb dieser Torpedo-Angriff unter den obwaltenden Verhältnissen noch immer. Die Engländer schossen gut, und zwei der deutschen Boote wurden durch feindliche Granaten zum Sinken gebracht. Drei anderen aber gelang der Schuß, und jeder dieser Treffer beschädigte eines der englischen Schiffe so schwer, daß es manövrierunfähig wurde.
Besonders nachteilig für die Engländer war es, daß auch ihre Torpedoboote durch die nicht vorhergesehene veränderte Formation der Linienschiffe die nötige Deckung verloren hatten. Die deutschen Torpedobootzerstörer versäumten nicht, diese günstige Situation auszunützen und fingen an, sie zu jagen. Ohne daß die Verfolger bei diesem Kampfe, der bei der Schnelligkeit der kleinen Fahrzeuge[S. 362] etwas besonders Spannendes und Aufregendes für die Beteiligten hatte, nennenswerte Havarie erlitten hätten, gelang es ihnen, vier englische Torpedoboote zu vernichten. Die anderen liefen aus Sicht und kamen für das Gefecht vorläufig nicht mehr in Betracht.
Auf die Frontveränderung des Gegners hin hatte der Prinz-Admiral rechtsum machen lassen, so daß er mit allen Geschützen einer Seite in Aktion treten konnte. Auch der englische Admiral ließ nun eindoublieren, aber das Manöver wurde für ihn die Ursache eines verhängnisvollen Mißgeschicks. Sei es, daß die Störung der taktischen Einheit durch das Ausscheiden der drei von den deutschen Torpedos getroffenen Schiffe die Schuld daran trug, oder daß die 1. und 2. Division zu wenig gewohnt waren, mit einander zu manövrieren, jedenfalls gehorchte der Panzer ‚Formidable‘ dem gegebenen Befehl so schwerfällig und ungeschickt, daß er von der ihm zunächst befindlichen ‚Renown‘ mittschiffs gerammt wurde und sich sofort auf die Seite legte, um innerhalb weniger Minuten zu sinken, Hunderte von tapferen englischen Seeleuten mit sich in die Tiefe ziehend.
Aber auch die ‚Renown‘, deren Sporn das furchtbare Unglück angerichtet, war bei dem Zusammenstoß, der das mächtige schwimmende Kastell in allen Fugen erschüttert hatte, nicht ohne schweren Schaden davongekommen. Die ersten beiden vorderen Kompartiments waren, da die Schotten nicht dicht hielten, voll Wasser gelaufen. Das Schiff lag infolgedessen ganz auf der Nase und hatte damit an Gefechtswert sehr empfindliche Einbuße erlitten.
Daß diese erste große Katastrophe der Schlacht nicht durch feindliche Gewalt, sondern durch das ungeschickte Manöver eines befreundeten Schiffes herbeigeführt worden war, mochte in manchem der vom Untergang des prächtigen Schiffes und seiner wackern Besatzung in tiefster Seele erschütterten Zuschauer die Frage wachgerufen haben, ob die gewaltigen Vervollkommnungen im Bau der modernen Kriegsschiffe nicht zu einem guten Teile wieder aufgewogen[S. 363] würden durch die mit der zunehmenden Größe und Gefechtsstärke dieser riesigen Panzer verbundenen Mängel. Kein Linienschiff, keine Fregatte, nicht einmal das kleine Kanonenboot früherer Zeiten hätte so schnell und spurlos aus der Schlachtlinie verschwinden können, wie die in gewaltigen Dimensionen erbaute und mit allen Errungenschaften maritimer Kriegstechnik ausgerüstete ‚Formidable‘. Wohl hätten ihre Panzerhaut und ihre stählernen Türme einem Hagel wuchtigster Geschosse erfolgreichen Widerstand leisten können, aber ein falsch verstandenes Steuerkommando war hinreichend gewesen, ihr den Untergang zu bereiten. Weder die doppelten Böden noch die Schottenteilung, die dem Eindringen einer zu großen Wassermenge vorbeugen sollten, hatten das Schicksal abzuwenden vermocht, das jeden modernen Panzer bei einer größeren Beschädigung unter der Wasserlinie bedroht. Das Holzschiff vergangener Zeiten konnte wie ein Sieb durchlöchert sein, ohne zu sinken. Die Stabilität eines modernen Panzerschiffes aber konnte schon durch ein einziges Leck, sei es durch ein Torpedogeschoß oder die Ramme, derart überschritten werden, daß die gigantische Eisenmasse innerhalb weniger Minuten durch ihr eigenes Gewicht in die Tiefe gezogen wurde. —
Es entwickelte sich nun ein laufendes Gefechtsfeuer auf circa 2000 Meter Entfernung, bei dem die Ueberlegenheit der Kruppschen Geschütze ebenso deutlich in die Erscheinung trat, wie die vorzügliche Schießausbildung der deutschen Geschützführer, hinter der die der Engländer zweifellos weit zurückstand. Allerdings erlitten auch die deutschen Schiffe mancherlei Schaden, doch waren erhebliche Havarien bis jetzt nicht vorgekommen.
Die drei von Torpedos getroffenen englischen Kriegsschiffe hatten in ihrer Hilflosigkeit den deutschen Kreuzern besonders günstige Zielobjekte dargeboten. Sich auf und in passende Entfernung legend, hatten diese die kaum noch bewegungsfähigen Fahrzeuge so lange beschossen, bis sie die Flagge streichen mußten. Aber ehe sie sich dazu entschlossen, leisteten die Engländer helden[S. 364]mütigen Widerstand, und auch ihre Geschütze hatten manchen wirksamen Treffer zu verzeichnen. So wurde der Kommandoturm des ‚Friedrich Karl‘ von einer Granate durchschlagen, und der tapfere Kommandant fand mit seiner Umgebung einen rühmlichen Soldatentod. Auch sonst fehlte es nicht an mehr oder minder erheblichen Beschädigungen, und es war fast ein Wunder zu nennen, daß noch nirgends vitale Teile oder Schiffskörper verletzt worden waren.
Nachdem die drei englischen Schiffe kampfunfähig geworden, war ein längeres Verweilen der Kreuzerdivision auf diesem Teil des Kampfplatzes nicht mehr erforderlich, deshalb gingen die deutschen Kreuzer mit äußerster Kraft dahin, wo der Prinz-Admiral mit den Linienschiffen das Hauptgefecht führte.
Und hier war Hilfe in der Tat nötig gewesen. Denn wenn auch vier feindliche Schiffe verloren gegangen waren, so war die Uebermacht doch noch immer bei den Engländern, umsomehr, da einer der deutschen Panzer, die ‚Mecklenburg‘, jetzt hatte ausscheren müssen, nachdem ihre Rudervorrichtung zerschossen war.
Als der englische Admiral die Kreuzer herankommen sah, die in Staffelkiellinie Steuerbord achteraus liefen und somit sämtlich ihre Buggeschütze zum Feuern bringen konnten, erkannte er, daß jetzt der entscheidende Moment sich vorbereite.
Die Geschütze der Kreuzer fügten den Engländern schweren Schaden zu, denn sie hatten sich rasch auf die gleichmäßig geringer werdende Entfernung eingeschossen. Die hohen Deckaufbauten der Linienschiffe boten ihnen vortreffliche Zielobjekte, so daß bei der lang ausgezogenen Schlachtlinie der Engländer fast jeder Schuß ein Treffer war.
Jetzt wurde für Sir Percy Domvile rasches und energisches Handeln ein zwingendes Gebot der Selbsterhaltung. An die nach der erhaltenen Ordre de bataille anzustrebende Wegnahme der deutschen Flotte war den Umständen nach nicht mehr zu denken,[S. 365] und es konnte sich daher für den Admiral nur noch darum handeln, möglichst viele der feindlichen Schiffe zu vernichten. Auf dem britischen Flaggschiff erschien das Signal ‚rechts um‘, und die Kommandanten wußten, daß es gleichbedeutend war mit dem Befehl, die deutschen Panzer zu rammen.
Aber dieses Manöver, durch welches Sir Domvile der durch den zweiseitigen Angriff veranlaßten drohenden Gefahr allein begegnen konnte, traf den Prinz-Admiral nicht unvorbereitet. Schon in dem gestern abgehaltenen Kriegsrate war damit gerechnet worden, und jeder Kommandant hatte seine Instruktion hinsichtlich der in diesem Falle zu beobachtenden Taktik erhalten. Es war dafür ein besonderes Signal vereinbart worden, und sobald man die Schwenkung der englischen Panzer bemerkte, flog es an der Signalleine des Admiralschiffes in die Höhe. Sofort nahm jedes der deutschen Linienschiffe die ihm nach dem Schlachtplan vorgeschriebene Position ein. Das Geschwader teilte sich in zwei Hälften, von denen die erste Division, hinter das Flaggschiff einschwenkend, mit diesem zusammen ‚links um!‘ machte, während die andere Division, auch links um machend, sich hinter das linke Flügelschiff setzte.
Dies ihm gänzlich unbekannte Manöver kam dem englischen Admiral völlig unerwartet. Seine Absicht war durch das rasche und geschickte Ausweichen der deutschen Schiffe vollständig vereitelt, der geplante Vernichtungsstoß versagte, und seine eigenen Panzer hatten nun, während sie in Dwarslinie weiterfuhren, von rechts und links ein furchtbares Feuer auszuhalten, das namentlich den beiden Flügelschiffen verhängnisvoll wurde. Mit einem Hagel schwerer und leichter Geschosse überschüttet und überdies von wohlgezielten Torpedos getroffen, waren sie innerhalb weniger Minuten gefechtsunfähig geworden, und das eine von ihnen, die ‚Victorious‘, das Schicksal der unglücklichen ‚Formidable‘ teilend, versank mit ihrer über 700 Mann starken Besatzung in den Fluten.
Aber auch die junge deutsche Flotte hatte in diesem Entscheidungskampfe ihre Feuertaufe empfangen.
Alles, was die moderne Kriegstechnik an Vernichtungsmitteln kennt, wurde von jedem der beiden Gegner aufgeboten, um dem anderen den Sieg zu entreißen. Zu den Granaten der schweren Geschütze gesellten sich die Geschosse der leichteren Armierung und der in den Gefechtsmarsen postierten Maschinengewehre, so daß es im eigentlichsten Sinne des Wortes ein ‚Geschoßregen‘ war, der beim Passieren auf die in Rauch und Dampf gehüllten Schiffe niederging.
Hermann Heideck hatte in Indien die Schrecken des Landkrieges in ihren mancherlei Gestalten so gründlich kennen gelernt, daß er seine Nerven vollkommen gestählt glaubte gegen den grauenhaften Anblick von Tod und Verwüstung. Die Szenen aber, die sich während dieses Kampfes rings um ihn her auf dem verhältnismäßig engen Raum des prächtigen Flaggschiffes abspielten, ließen in ihrer Furchtbarkeit alles hinter sich zurück, was er bisher erlebt hatte. Heideck war voller Bewunderung über den Heldenmut und die todverachtende Disziplin der Offiziere und Mannschaften, von denen keiner auch nur einen Fuß breit von dem ihm zugewiesenen Posten wich.
Da er bei dem jetzt auf seinem Höhepunkt angelangten Drama nur die Rolle eines untätigen Zuschauers spielte, konnte er sich frei in allen Teilen des Admiralschiffes bewegen. Und wohin er auch kam, überall bot sich seinem Auge dasselbe Schauspiel grauenhafter Zerstörung und heldenmütiger Pflichterfüllung.
Der Aufenthalt in den Geschütztürmen und Kasematten war für die Bedienungsmannschaften zu einer geradezu höllischen Pein geworden. Es herrschte in den niederen, eisengepanzerten Räumen eine Gluthitze, die selbst das Atmen erschwerte. Der ungeheure Lärm und die übermenschliche Erregung der Nerven schienen derart abstumpfend auf die Sinne der Leute gewirkt zu haben, daß sie überhaupt keine klare Vorstellung mehr hatten von dem, was um[S. 367] sie her vorging. Auf ihren Gesichtern lag nicht jener Ausdruck von Erbitterung und Wut, den Heideck in der Landschlacht bei Lahore in den Physiognomieen so vieler Soldaten gesehen hatte, vielmehr beobachtete er eine gewisse stumpfe Gleichgültigkeit, die durch das Gräßliche der Situation nicht mehr erschüttert werden konnte.
Eine Granate schlug vor Heidecks Augen in eine Batterie ein, krepierte und riß mit ihren umherfliegenden Sprengstücken fast die ganze Bedienungsmannschaft nieder. Glücklich die, welche dabei sofort den Tod gefunden hatten. Denn die Verletzungen derer, die sich verwundet am Boden krümmten, waren entsetzlicher Natur. Die glühendheißen Eisenstücke, die den Unglücklichen das Fleisch zerrissen und die Knochen zerschmetterten, fügten ihnen auch gleichzeitig schreckliche Brandwunden zu. Heideck würde es für eine Tat der Menschlichkeit gehalten haben, wenn er mit einem wohlgezielten Revolverschuß die Leiden dieses oder jenes Unglücklichen hätte enden dürfen, dem Haut und Fleisch in Fetzen vom Leibe hingen oder dessen Glieder zu formlosen blutigen Massen verwandelt waren.
Aber die unverletzt Gebliebenen erfüllten nach wenigen Augenblicken der Betäubung wieder ihre Pflicht mit derselben mechanischen Präzision wie zuvor. Zwischen ihren toten und sterbenden Kameraden, um die sich für den Augenblick niemand kümmern konnte, standen sie in dem warmen Menschenblute, das den Boden schlüpfrig machte, und bedienten das nur unerheblich beschädigte Geschütz ruhig weiter.
Ein blutjunger Seekadett, der aus dem Kommandoturme des Prinz-Admirals mit einem Befehl in den Maschinenraum hinuntergeschickt worden war, kam Heideck auf dem schmalen, erstickend heißen Gange entgegen. Es war ein schlanker, hübscher Jüngling mit zartem Knabengesicht. Aus einer Stirnwunde lief ihm das Blut über Auge und Wange. Er mußte mit beiden Händen an der Wand eine Stütze suchen, während er in übermenschlicher Willenskraft seine wankenden Kniee zwang, ihn vorwärts zu tragen, denn er war nur von dem einzigen[S. 368] Gedanken erfüllt, daß er aufrecht bleiben müsse, bis er sich seines Auftrages entledigt habe. Als Heideck ihn in mitleidiger Teilnahme nach der Art seiner Verwundung fragte, versuchte er die bleichen, schmerzzuckenden Lippen sogar noch zu einem Lächeln zu verziehen, denn trotz seiner siebzehn Jahre fühlte er sich in diesem Augenblick ja ganz als Mann und als Soldat, dem es süß und ehrenvoll war, für das Vaterland zu sterben. Aber sein heldenmütiger Wille war doch stärker gewesen, als sein zum Tode verwundeter Körper. Bei dem Versuch, vor dem Major eine straffe, dienstliche Haltung anzunehmen, brach er plötzlich zusammen. Er hatte gerade noch Kraft genug, Heideck den Befehl des Admirals zu übermitteln und ihn zu bitten, den Befehl weiterzugeben. Dann verließen ihn seine Sinne.
In einer anderen Batterie war durch eine einschlagende Granate die bereit gehaltene Munition zum Explodieren gebracht worden. Hier kam auch nicht ein Mann mit dem Leben davon. Heideck selbst, obwohl er sich seit Beginn der Schlacht stets rücksichtslos allen Gefahren ausgesetzt hatte, war wie durch ein Wunder bisher dem ihn in hundert verschiedenen Gestalten umdrohenden Tode entgangen. Es war ihm vergönnt gewesen, auf den ausdrücklichen Befehl des Prinzen längere Zeit in dem oberen Kommandoturm zu verweilen, von wo aus der fürstliche Admiral die Schlacht leitete, und die zielbewußte, überlegene Ruhe des höchsten Befehlshabers hatte ihn trotz der Uebermacht der Engländer mit der unerschütterlichen Zuversicht eines für die deutsche Flotte glücklichen Ausganges erfüllt.
Seitdem Heideck aus Brandelaars Munde die Nachricht von Edith Irwins Tode erhalten hatte, war in seinem Innern alles erstorben, was ihn mit rein menschlichen Gefühlen und Empfindungen an das Leben noch geknüpft hatte. Er war nichts mehr als der Soldat, dessen Denken und Trachten ausschließlich erfüllt war von der Sorge um den Sieg der vaterländischen Waffen. Alle persönlichen Schicksale waren seinem Erinnern vollständig entrückt, als lägen sie[S. 369] um Jahrzehnte hinter ihm. Und so bedeutungslos war ihm in diesen Augenblicken, wo um das Sein und Nichtsein von Nationen gerungen wurde, das eigene Leben, daß er sich nicht einmal der tollkühnen Unerschrockenheit bewußt wurde, mit der er es bei jedem seiner Schritte aufs Spiel setzte. —
Majestätisch und gewaltig, todbringende Blitze aus ihren Türmen und Geschützluken sprühend, hatte die ‚Wittelsbach‘ bisher ihren Weg gemacht, der Wunden nicht achtend, die feindliche Geschosse ihrem Körper geschlagen. Und eine fast dankbare Empfindung für das herrliche Schiff, das ihn trug, regte sich in Heidecks Herzen.
‚Du machst fürwahr dem großen Namen Ehre, den man dir gegeben‘, dachte er. Seine Augen suchten durch Rauch und Qualm den Kommandoturm, in dem er den Prinz-Admiral wußte. Aber er fand ihn nicht mehr, denn plötzlich legte sich’s wie ein dichter schwarzer Nebel vor seine Augen. Er hatte nur einen leichten Schlag gegen seine Brust gefühlt, keinen Schmerz. Seine Hand wollte sich zu der getroffenen Stelle erheben, aber kraftlos sank sie wieder herab. Es war ihm, als würde er von einer unsichtbaren Faust im Kreise gedreht. Tausende von leuchtenden Feuergarben schossen plötzlich aus dem schwarzen Nebel auf — dann wurde es vollends Nacht um ihn her — tiefe, undurchdringliche Nacht und feierliches, lautloses Schweigen.
Der Major Hermann Heideck hatte den Heldentod gefunden.
Ein durch Signale herbeigerufenes Torpedoboot näherte sich in schnellster Fahrt dem auf der Seite liegenden Flaggschiff des Prinz-Admirals. Ein Breitseittorpedo hatte die ‚Wittelsbach‘ getroffen. Und wenn auch das Sinken des Panzers nicht zu befürchten stand, war doch eine weitere Leitung der Schlacht vom Bord des bisherigen Flaggschiffes aus unmöglich geworden.
Der damit verbundenen Gefahr nicht achtend, ließ sich der[S. 370] Prinz-Admiral mit seinem Stabe von dem Torpedoboot an Bord des Linienschiffes ‚Zähringen‘ bringen, auf dem alsbald seine Flagge emporstieg.
Wohl war der Verlauf der Schlacht bisher ein für die deutsche Flotte überraschend günstiger gewesen. Ihre Verluste waren beträchtlich geringer als die des an Zahl weit überlegenen Feindes, und ihre Schiffe befanden sich mit wenigen Ausnahmen noch in gefechtstüchtigem und manövrierfähigem Zustande. Von einer Entscheidung zu Gunsten der deutschen Flotte aber konnte bei der Stärke der noch verfügbaren gegnerischen Kräfte bisher nicht die Rede sein. Und wenn auch das geschickte Manöver des deutschen Geschwaders den beabsichtigten Vorstoß der Engländer vereitelt und ihnen sehr empfindlichen Schaden zugefügt hatte, so war Sir Domvile doch noch immer die Möglichkeit geboten, die Scharte auszuwetzen und das launische Schlachtenglück an seine Flagge zu fesseln.
Hatten sich doch auf den anderen deutschen Linienschiffen und Kreuzern dieselben furchtbaren Szenen abgespielt, wie die, deren Zeuge Major Heideck an Bord der ‚Wittelsbach‘ gewesen war. Ueberall war das Blut in Strömen geflossen, und bei einer weiteren Fortdauer des mörderischen Gefechts konnte der Augenblick nicht fern sein, wo die Lücken, die der Tod in die Reihen der wackeren Schiffsbesatzungen gerissen, nicht mehr auszufüllen waren. Ein paar glückliche Torpedoschüsse der Engländer — und keine Genialität der obersten Leitung, kein Heldenmut der Kommandanten, Offiziere und Mannschaften hätte noch einen für die deutschen Waffen ungünstigen Ausgang abzuwenden vermocht.
Da plötzlich, von Süd-Westen her kam ein neues, anscheinend sehr starkes Geschwader in Sicht, das, wenn es eine britische Reserveflotte war, den Sieg sofort zu Gunsten der Engländer entscheiden mußte.
Minuten höchster Spannung und Erregung waren es, die man[S. 371] bis zu dem Augenblick der erlösenden Gewißheit an Bord der deutschen Schiffe durchlebte. Um so beglückender aber wirkte nun die Erkenntnis, daß man es nicht mit neuen Streitkräften des Feindes, sondern mit dem in schnellster Fahrt herankommenden französischen Geschwader des Admirals Courthille zu tun habe, das gerade im rechten Moment die Entscheidung bringen sollte.
Nun war mit einem Schlage das Bild so völlig zu Ungunsten der Engländer verwandelt, daß ein Sieg der britischen Flotte zur Unmöglichkeit geworden war. Das Eingreifen des noch völlig intakten, aus zehn Linienschiffen, zehn großen und einer entsprechenden Anzahl kleiner Kreuzer bestehenden französischen Geschwaders in den Kampf mußte notwendig die Vernichtung der englischen Flotte herbeiführen. Der englische Admiral war einsichtig genug, die Sachlage richtig zu beurteilen, sobald auch er die herannahenden Schiffe als die französische Flotte erkannt und sich Gewißheit über die Stärke des Gegners verschafft hatte. Den eben gegebenen Befehlen zu einer abermaligen Angriffsformation folgten jetzt an Bord des englischen Flaggschiffes neue Signale, die nichts anderes bedeuteten als die Ordre zum schleunigen Rückzug. Der englische Admiral gab die Schlacht endgültig verloren und hielt es für seine Pflicht, von den ihm anvertrauten Schiffen zu retten, was sich noch retten ließ. Ehe die Franzosen wirksam in den Kampf eingreifen konnten, dampfte die englische Flotte mit aller Kraft nach Nord-West ab.
Donnernde Hurras auf allen deutschen Schiffen feierten den mit diesem Rückzuge proklamierten Sieg. Die Torpedo-Divisionsboote und ein paar schnelle Kreuzer erhielten Befehl, sich in Kontakt mit dem fliehenden Feinde zu halten.
Der kommandierende französische Admiral war an Bord des Flaggschiffes ‚Zähringen‘ gegangen, um sich und sein Geschwader unter den Oberbefehl des Prinz-Admirals zu stellen und über die weiteren gemeinsamen Operationen der beiden vereinigten Flotten[S. 372] ein Einverständnis herzustellen. Denn es unterlag keinem Zweifel, daß dieser Sieg sofort bis aufs äußerste ausgenutzt werden mußte, wenn er ein wirklich entscheidender sein sollte.
In tiefer Bewegung schloß der Prinz den Admiral Courthille in seine Arme und dankte ihm für sein Erscheinen in der entscheidenden Stunde. Der französische Admiral aber entschuldigte sich wegen seines späten Eingreifens in die Schlacht. „Ich mußte die Nacht abwarten und weit in See gehen mit südwestlichem Kurs, bevor ich den nördlichen Kurs nehmen konnte, um unter dem Schutze der Nacht ungesehen von dem uns blockierenden englischen Geschwader des Prinzen Battenberg den Durchbruch bewerkstelligen zu können.“
Inzwischen waren die hinter dem Feinde hergesandten Aufklärungsschiffe mit der Meldung zurückgekommen, daß die englische Flotte ihren Kurs geändert hätte und auf die Themse zuzuhalten schiene. Ein weiteres Verfolgen des Feindes war nicht möglich gewesen, da der englische Admiral einige Schiffe detachiert hatte, denen die nachfolgenden deutschen Kreuzer nicht gewachsen waren.
Es waren Vorbereitungen getroffen worden, die Verwundeten und Toten an Bord der durch ein Signal dazu bestimmten Schiffe zu geben, was sich auch bei der nun ruhiger gewordenen See mit nicht allzugroßen Schwierigkeiten bewerkstelligen ließ. Jetzt, wo der furchtbare Kampf ausgetobt hatte, kamen die Besatzungsmannschaften erst zum vollen Bewußtsein der durchlebten Schrecknisse. Die Bergung der Verwundeten zeigte, welche grausamen Opfer die Schlacht gefordert hatte. Es war eine schwere und traurige Aufgabe, die manches starke Seemannsherz in Schmerz und Mitleid erbeben ließ. Die Gefallenen waren durch die Sprenggeschosse, die ihnen den Tod gebracht hatten, zumeist entsetzlich zugerichtet, und auch die Verletzungen der Verwundeten, denen die an Bord befindlichen Aerzte im Getümmel der Schlacht nur notdürftig die erste Hilfe hatten angedeihen lassen können, waren fast durchweg so schwerer Art, daß der Transport nur langsam vor sich gehen konnte.
Nachdem die deutschen Schiffe durch Signale gemeldet hatten, daß sie wieder gefechtsfähig wären, erhielten die anderen, welche die Toten und Verwundeten an Bord hatten, sowie die nicht mehr gefechtsfähigen deutschen und die genommenen englischen Schiffe den Befehl nach Antwerpen zu gehen. Das vereinigte deutsch-französische Geschwader aber setzte sich unter dem Oberbefehl des Prinz-Admirals, den Kurs auf die Themsemündung nehmend, in Bewegung.
Die langen Fensterreihen von Hampton Court Palace bei London waren trotz der vorgerückten Nachtstunde noch hell erleuchtet. Der vom Regiment der Königs-Ulanen gestellte Doppelposten vor dem Portal kam nicht zur Ruhe, denn ein unausgesetztes Kommen und Gehen hoher Offiziere von den Armeen der drei verbündeten Nationen verlangte die militärischen Honneurs. Unmittelbar nach der für England so unglücklich verlaufenen Seeschlacht bei Vlissingen waren eine große französische Armee und einige Garde-Regimenter des Zaren bei Hastings an der englischen Küste gelandet worden und lagen nun im besten freundnachbarlichen Einvernehmen mit den französischen und den von Schottland her anmarschierten deutschen Truppen im Lager von Aldershot. Das Hauptquartier des Prinz-Admirals war nach Hampton Court verlegt worden, dessen stilles, altehrwürdiges und altberühmtes Schloß damit plötzlich zum Mittelpunkt eines regen militärischen und diplomatischen Lebens wurde.
Ernsthafte kriegerische Operationen kamen zwar kaum noch in Frage, denn die Voraussetzung, daß die Landung großer feindlicher Heere tatsächlich das Ende des Feldzuges bedeuten würde, hatte sich als zutreffend erwiesen.
Bei dem Widerstand, den englische Truppenkörper den Franzosen auf ihrem Vormarsche gegen London zu leisten versucht, hatten zwar die englischen Freiwilligen ihre Tapferkeit und ihren patriotischen Opfermut im hellsten Lichte gezeigt, aber sie hatten den Siegeslauf des besser geleiteten Gegners nicht mehr aufhalten können. So war der[S. 375] Abschluß eines Waffenstillstandes zum Zwecke von Verhandlungen über den von England angebotenen Frieden erfolgt, noch ehe die von Schottland her vorrückenden deutschen Truppen Gelegenheit gehabt hatten, in die kriegerischen Ereignisse zu Lande einzugreifen.
Der Friedensschluß, von allen Kulturnationen des Erdballs herbeigesehnt, konnte als gesichert gelten, wenn auch kein Zweifel darüber bestand, daß seiner endgültigen Unterzeichnung noch lange und schwierige Verhandlungen würden vorausgehen müssen. Der von dem deutschen Reichskanzler angeregte Gedanke, einen allgemeinen Kongreß nach dem Haag einzuberufen, auf dem nicht nur die kriegführenden Parteien sondern alle Regierungen vertreten sein sollten, hatte allgemeine Zustimmung gefunden, da alle Staaten an der Neugestaltung der Machtverhältnisse interessiert waren. Die Erledigung der Friedenspräliminarien aber mußte zunächst Sache der kriegführenden Mächte sein, und es waren zu diesem Zwecke außer dem deutschen Reichskanzler, Freiherrn von Grubenhagen, der französische Minister des Auswärtigen, Delcassé, und der russische Staatssekretär Witte, in Begleitung des Grafen Lambsdorff, mit einem ganzen Stabe von Beamten und diplomatischen Hilfsarbeitern in Schloß Hampton Court eingetroffen.
Die Vorverhandlungen zwischen diesen Staatsmännern und den englischen Bevollmächtigten, dem Premierminister und ersten Lord des Schatzes Balfour und dem Lordpräsidenten des Geheimen Rates, Marquis von Londonderry, wurden mit rastlosem Eifer betrieben. Ueber ihr bisheriges Ergebnis aber wurde von allen Beteiligten das strengste Stillschweigen bewahrt.
Dafür, daß die Heerführer sich trotz der beginnenden Friedensverhandlungen nicht der Untätigkeit hingaben, war das Verhalten des Prinz-Admirals ein augenfälliger Beweis. Obwohl er sich der diplomatischen Aktion ganz fernhielt und sich lediglich mit den militärischen Angelegenheiten befaßte, war für ihn nicht nur jede Minute des Tages, sondern auch ein guter Teil der Nachtstunden[S. 376] ausgefüllt durch Arbeiten und Besprechungen mit den Herren seines Stabes, mit den leitenden Offizieren der Landarmee, sowie mit den Oberkommandos der verbündeten französischen und russischen Armee. Jedermann war voll Bewunderung für die nie versagende Frische und die unermüdliche Arbeitskraft des Prinzen, dessen hohe, schlanke Germanengestalt und dessen blondbärtiges Antlitz mit den ruhigen klaren Seemannsaugen auf niemanden, der ihm nahetrat, ihre imponierende Wirkung verfehlten. Nur sein kaiserlicher Bruder, der alle Fäden der politischen Aktion in der Hand hielt, mochte den Prinzen in der traditionellen Hohenzollern-Arbeitskraft in dieser großen Zeit noch übertreffen.
Es war nahe an Mitternacht, als nach einer langen, mit großer Lebhaftigkeit geführten Beratung der französische General Jeannerod das Arbeitskabinett des Prinzen verließ. Die Tür hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, als der diensttuende Adjutant des Prinzen mit einem merklichen Ausdruck des Erstaunens im Klang der Stimme meldete:
„Seine Exzellenz der Herr Reichskanzler, Freiherr von Grubenhagen!“
Bis in die Mitte des Zimmers ging der Prinz dem Eintretenden entgegen und schüttelte ihm kräftig die Hand.
„Ich danke Ihnen, Exzellenz, daß Sie trotz der späten Stunde und trotz der Arbeitsüberhäufung meiner Bitte um eine Unterredung noch heute Folge geleistet haben. Ich hatte zu dieser Konferenz einen besonderen Grund, den Sie verstehen werden, wenn ich Ihnen sage, daß allerlei Gerüchte von übertriebenen Forderungen unserer Verbündeten zu mir gedrungen sind. Mein bisheriges Verhalten wird Ihnen ein Beweis dafür sein, daß ich nicht die Absicht habe, mich in die diplomatischen Verhandlungen einzumischen oder gar einen Einfluß in dem einen oder andern Sinne auszuüben. Ich fühle mich hier nicht als Staatsmann, sondern nur als Soldat, und gerade deshalb, meine ich, können Sie um so offener zu mir[S. 377] sprechen. Man sagte mir, es sei bei der Feststellung der Friedensbedingungen auf eine völlige Vernichtung Englands abgesehen.“
Der Kanzler, dessen männlich-charaktervollem Gesicht trotz der fast übermenschlichen Arbeitsleistungen nichts von Erschlaffung anzumerken war, sah dem Prinzen freimütig ins Auge und bewegte verneinend den Kopf.
„Königliche Hoheit sind nicht zutreffend unterrichtet worden. Eine Absicht, England zu vernichten, besteht weder bei uns, noch bei einem unserer Verbündeten. Allerdings herrscht darüber volle Einigkeit, daß dieser furchtbare Krieg nicht vergebens geführt sein darf und daß der Preis auch der Größe der Opfer entsprechen muß, mit denen er erkauft wurde.“
„Und wem soll dieser Preis zufallen?“
„Allen Nationen, Königliche Hoheit! Denn es wäre ein Frevel gewesen, diesen Weltenbrand zu entzünden, wenn es nicht in der sicheren Voraussetzung geschehen wäre, daß seine läuternden Flammen den Boden vorbereiten würden für das Glück und den Frieden der Völker. Jahrhundertelang hat Britannien seine Machtmittel dazu mißbraucht, die eigenen Reichtümer auf fremde Kosten zu vermehren. Skrupellos wußte es alles an sich zu raffen, was ihm erreichbar war, und damit, daß es bei jedem Schritt wichtige Lebensinteressen anderer Nationen verletzte, forderte es jenen Widerstand heraus, der jetzt die Zertrümmerung seiner Weltmacht-Stellung herbeigeführt hat. Das Glück der Völker erblüht nur aus einem auf lange Zeit hinaus gesicherten Frieden, und nur eine gerechte Verteilung des Besitzes der Erde kann den Weltfrieden gewährleisten. Darum wird England notwendig einen wesentlichen Teil seines überseeischen Besitzes ausliefern müssen. Rußland will den Weg zum indischen Ozean freihaben, denn nur wenn es eine genügende Anzahl von Häfen hat, die das ganze Jahr hindurch offen bleiben, werden die ungeheuren Reichtümer seines Bodens aufhören ein toter Besitz zu sein. Und Frankreich — —“
„Bleiben wir zunächst bei Rußland, Exzellenz! Hat die russische Regierung ihre Forderungen bereits formuliert?“
„Diese Forderungen ergeben sich im wesentlichen schon aus der Kriegslage, denn sie gipfeln in der Abtretung von Britisch-Indien an Rußland. Was unser östlicher Nachbar darüber hinaus anstreben wird, soll weniger zu seiner Bereicherung, als zur Sicherung des europäischen Friedens dienen. Die ständige Gefahr, die der Ruhe Europas aus dem Wetterwinkel der alten Welt, der Balkanhalbinsel, droht, muß endlich beseitigt werden. Unter den beteiligten Mächten ist ein grundsätzliches Einverständnis darüber erreicht worden, daß die Interessen-Sphären Rußlands und Oesterreichs auf dem Balkan in einer Weise abzugrenzen sind, die eine definitive Regelung der Verhältnisse in den Balkanstaaten zur Folge hat. Es ist die Rede von einem selbständigen Königreich Macedonien unter der Herrschaft eines österreichischen Erzherzogs. Das Aequivalent für diesen Zuwachs der österreichischen Macht gegenüber dem russischen Reiche wird allerdings erst auf dem Haager Kongreß endgültig gefunden werden müssen. Jedenfalls aber soll den Gefahren, die dem europäischen Frieden von Bulgarien, Serbien und Montenegro her drohen, für die Zukunft wirksam vorgebeugt werden.“
„Aber fürchten Sie denn nicht, daß sich der Sultan einem solchen Ausgleich, der doch im wesentlichen auf Kosten der Türkei erfolgt, widersetzen wird?“
„Der Sultan wird sich der Macht der Verhältnisse beugen müssen. Wir dürfen nicht vergessen, Königliche Hoheit, daß der europäische Besitzstand der Türkei bisher viel weniger durch geheiligte Anrechte der Pforte als durch die Uneinigkeit der Großmächte aufrecht erhalten wurde. Die unaufhörlichen macedonischen Wirren haben gezeigt, daß der Sultan ebensowenig die Kraft als den guten Willen hat, den unter seiner Herrschaft stehenden Balkanländern eine den Forderungen moderner Kultur entsprechende Verwaltung zu geben. Wenn die Pforte den Rückhalt verliert, den sie bisher[S. 379] an England hatte, entfällt für den Sultan zugleich jede Möglichkeit eines ernsthaften Widerstandes.“
„Und was ist hinsichtlich Aegyptens geplant?“
„Aegypten bedeutet den Siegespreis für Frankreich, dem damit ja nur das zurückgegeben wird, was es auf Grund einer glorreichen Geschichte mit Recht beanspruchen darf. Die Souveränität des Sultans, die ja lediglich eine Formsache ist, wird auch weiter bestehen bleiben. Aber die Stellung, die jetzt England in Aegypten einnimmt, wird — mit einer Einschränkung allerdings — von nun an Frankreich zufallen.“
„Mit welcher Einschränkung?“
„Nicht Frankreich allein wird die Verwaltung führen, sondern eine internationale Kommission, von allen Mächten eingesetzt, wird unter Frankreichs Vorsitz an Stelle der jetzigen englischen Verwaltung treten. Die erste Bedingung hierzu ist, daß England alle seine finanziellen Forderungen und seinen großen Besitz an Aktien des Suezkanals den alliierten Mächten zediert. Diese Finanzopfer sollen zugleich einen Teil der Kriegsentschädigung bilden, die England zur Last fällt.“
„Weitergehende Ansprüche erhebt Frankreich nicht?“
„Frankreich ist mit den Erfolgen dieses Krieges um so mehr zufrieden, als eine Angliederung Belgiens an die französische Republik sehr wahrscheinlich ist. Deutschland beansprucht indessen für sich den Hafen von Antwerpen, den wir gleich bei Beginn des Krieges besetzt haben.“
„Wenn ich recht unterrichtet bin, war davon die Rede, daß Aden an Frankreich fallen oder neutralisiert werden solle?“
„Der Gedanke war allerdings angeregt worden, aber die verbündeten Mächte sind zu dem Entschluß gekommen, Aden bei England zu lassen. Dagegen wird sich England verpflichten müssen, keinerlei Ansprüche zu erheben, die den Bau und Betrieb der Bagdadbahn illusorisch machen würden. Der Hafen Koweit am persischen[S. 380] Meerbusen, der südöstliche Endpunkt dieser Bahn, muß unangetastet der Türkei verbleiben.“
„Und Gibraltar? Es rief ja einen Sturm der Entrüstung in England hervor, als plötzlich das Gerücht auftauchte, man würde die Abtretung dieser Festung verlangen.“
„Und doch wird die englische Regierung sich darein finden müssen, denn die Uebergabe Gibraltars ist eine unerläßliche Bedingung der verbündeten Regierungen.“
„Es ist unmöglich, diese natürliche Felsenfestung zu schleifen!“
„Es würde genügen, daß die englische Besatzung zurückgezogen und alle Befestigungen desarmiert würden. Gibraltar wird aufhören, als Festung zu existieren und soll unter bestimmten Garantien an Spanien zurückfallen. Da es indessen nicht in der Absicht der Verbündeten liegt, den englischen Einfluß in der Levante völlig zu zerstören, soll Malta dem britischen Reiche verbleiben. England behält damit im Mittelländischen Meer den wichtigsten Stützpunkt seiner Flotte.“
„Es wird nicht leicht sein, die Annahme dieser Bedingungen bei der englischen Regierung durchzusetzen. Doch Sie haben noch nicht von den Forderungen Deutschlands gesprochen, — Antwerpen berührt nicht direkt die Interessen Englands.“
„Die Politik der deutschen Regierungen wird darin gipfeln, sich gefestigte handelspolitische Beziehungen zu England und seinen Kolonieen und eine Abrundung unseres kolonialen Besitzes zu sichern. Für Deutsch-Südwestafrika verlangen wir deshalb die Walfischbai, den einzigen guten Hafen, der als englisches Besitztum jetzt wie wildes Fleisch mitten im Körper unserer jungen südwestafrikanischen Kolonie sitzt. Außerdem aber müssen wir darauf bestehen, daß auch die ostafrikanischen Gebiete, die wir im Austausch gegen Helgoland aufgegeben haben, uns zurückgegeben werden. Dieser schwere Fehler der deutschen Politik muß ausgeglichen werden, denn die Ueberlassung des Protektorats über Zanzibar an England war ein Schlag, der nicht allein den Eifer unserer besten Kolonial[S. 381]freunde lähmte, sondern auch unsere ostafrikanischen Kolonieen entwertete.“
„Wenn ich Sie recht verstehe, Exzellenz, ist Ihre Politik darauf gerichtet, den kolonialen Bestrebungen Deutschlands eine festere Basis zu geben.“
„Dies halte ich allerdings für eine der wichtigsten Forderungen unserer Zeit. Wir müssen nachholen, was die Politik der letzten Jahrhunderte verabsäumt hat. Zu derselben Zeit, da Eurer Königlichen Hoheit großer Ahnherr um eine Handbreit Landes, um das kleine Schlesien, sieben Jahre hindurch Krieg führte, gelang es der weitausschauenden englischen Politik, sich mit geringen Opfern in den Besitz von unermeßlichen Ländergebieten zu bringen, die in ihrer Gesamtheit den ganzen europäischen Kontinent weit übertrafen.“
„England war eben seit Jahrhunderten eine Seemacht, die ihr Bestreben auf den Erwerb überseeischer Kolonieen richten mußte.“
„Und was hätte Preußen gehindert, schon vor Jahrhunderten eine achtunggebietende Seemacht zu werden? Unser Unglück war es, daß die gewaltigen Ideen und weitblickenden Absichten des Großen Kurfürsten an der Unzulänglichkeit seiner Mittel scheitern mußten. Hätten seine Nachfolger fortgesetzt, was er begonnen, so hätte Großbritanniens Macht sich niemals zu solcher Höhe emporheben können. Denn auch wir würden uns dann schon in den früheren Jahrhunderten den uns gebührenden Anteil in den außereuropäischen Erdteilen rechtzeitig gesichert haben.“
Der Prinz blickte sinnend vor sich hin. Nach einem kurzen Schweigen fuhr der Reichskanzler fort:
„Königliche Hoheit werden darüber unterrichtet sein, daß in den Niederlanden die feste Absicht besteht, sich im Interesse der Selbsterhaltung dem Deutschen Reiche als ein Bundesstaat anzugliedern, wie es nach dem deutsch-französischen Kriege Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und die übrigen deutschen Staaten getan[S. 382] haben. Damit würden dann auch die reichen und ausgedehnten niederländischen Kolonieen zu deutschen Kolonieen werden, d. h. sie würden unter Fortbestand der holländischen Verwaltung in den politischen Verband der übrigen deutschen Kolonieen mit eintreten. Auf die niederländische Bevölkerung hat es einen sehr guten Eindruck gemacht, daß wir beabsichtigen, das Unrecht wieder gutzumachen, das England den Buren zugefügt hat. Die Burenstaaten sollen unter Wiederherstellung ihrer Selbständigkeit in dasselbe Verhältnis zu uns treten, in dem sie vor dem Burenkriege zu England standen.“
„Das heißt also: Selbstverwaltung unter Anerkennung der deutschen Oberhoheit. Nun ja, sie sind der Niederländer Stammverwandte. Aber, mein bester Baron, wird das deutsche Volk nicht erschrecken vor den Konsequenzen einer Erweiterung unseres überseeischen Besitzes? Ein größerer Kolonialbesitz erfordert auch eine größere Flotte. Denken Sie doch an die Kämpfe, die die verbündeten Regierungen zu führen hatten, um im Parlament eine Vergrößerung der deutschen Flotte selbst im bescheidenen Umfange durchzusetzen!“
„Diese Schwierigkeit fürchte ich nicht so sehr, denn das deutsche Volk hat den Wert der Flotte schätzen gelernt. Wir sind über das Stadium der tastenden Versuche hinausgekommen und haben Lehrgeld genug bezahlt. Wir müssen festhalten, was wir besitzen und zurücknehmen, was uns durch den leider so wenig kaufmännischen Geist unserer auswärtigen Politik in früheren Jahrzehnten verloren gegangen ist. Dann wird das deutsche Volk auch wieder Vertrauen zu unserer Kolonialpolitik fassen.“
„Wie aber wollen Sie die Lasten aufbringen, die notwendig sind, um unsere Flotte stark und mächtig zu machen?“
„Unsere Verhandlungen mit den befreundeten Regierungen von Frankreich und Rußland zeigen, daß in diesen Staaten ebensosehr wie im deutschen Volke der Wunsch nach einer Verminderung des Landheeres besteht. Und in Oesterreich und Italien regt sich machtvoll dasselbe Bestreben, die Landmacht zu verringern. Die Völker[S. 383] würden unter der Last zusammenbrechen, wenn die Ausgaben für die Armee noch weiter stiegen. Verringern wir unsere Landarmee, so gewinnen wir die Mittel zur Vermehrung unserer Marine. Jetzt, nach dem siegreichen Kriege, ist der Augenblick gekommen, wo wir auf dem ganzen Kontinent die ungeheuren stehenden Heere auf einen der finanziellen Leistungsfähigkeit der Völker entsprechenden Stand zurückführen können. Der äußere Feind ist besiegt; wir dürfen nicht daran denken, den inneren Feind durch eine übermäßige Belastung aller Stände heraufzubeschwören.“
„Sie sprachen vorhin von einem wenig kaufmännischen Geist in unserer auswärtigen Politik. Wie ist dieser Vorwurf zu verstehen?“
„Ganz buchstäblich, Königliche Hoheit! Der Vertrag, der Zanzibar aufgab, um Helgoland zu gewinnen, wäre niemals möglich gewesen, wenn unsere Diplomatie es der englischen an jenem Weitblick und jenem Verständnis für wirtschaftliche Fragen gleich täte, die ich eben nicht anders bezeichnen kann, als mit dem Ehrentitel ‚kaufmännischen Geistes‘. Dieser kaufmännische Geist ist die Triebfeder in Industrie und Landwirtschaft, in Handel und Handwerk, wie überhaupt in dem gesamten Erwerbsleben, und es ist notwendig, daß dieser kaufmännische Geist auch in unseren Ministerien als eine notwendige Voraussetzung für die Qualifikation zur Beurteilung der wirtschaftlichen Interessen des Volkes anerkannt wird. In keiner anderen Hinsicht können unsere Staatsmänner und Beamten und unsere erwerbenden Stände von unserem besiegten Gegner mehr lernen, als gerade in dieser. Daß es eine Nation von Kaufleuten ist, hat England groß gemacht, während unsere wirtschaftliche Entwicklung und unsere Geltung nach außen hin vielleicht durch nichts anderes so sehr behindert worden sind, als durch die Geringschätzung, mit der bei uns die erwerbenden Stände bis in die jüngste Zeit hinein behandelt wurden. In England stand auf der gesellschaftlichen Stufenleiter der Kaufmann stets über[S. 384] dem Offizier und dem Beamten. Bei uns bedeutet er neben diesen beiden Kategorieen fast einen Staatsbürger zweiter Klasse. Was in England nur als Mittel zum Zweck Geltung hat, das wird bei uns als Selbstzweck angesehen. Der Geist jener starren Bureaukratie, über die schon Fürst Bismarck geklagt hat, ist in unserem Deutschen Reiche von den niedrigsten bis zu den höchsten Stellen hinauf, leider mit nur geringen Ausnahmen, noch immer der herrschende, und aus dem mangelnden Verständnis für die Bedeutung des wirtschaftlichen Lebens resultiert dann die niedrige Wertschätzung der erwerbenden Stände. Der gesunde kaufmännische Geist, der durch das ganze englische Staatsleben geht, entzieht auch der Sozialdemokratie in England den Boden, während sie bei uns von Jahr zu Jahr an Boden gewinnt. Ich habe die Ueberzeugung, daß unser deutsches Volk die Sozialdemokratie nicht zu fürchten braucht, denn es kommt bei der Bekämpfung wirtschaftlicher Schäden weniger auf die Regierten an als auf die Regierenden.“
„Es mag manches Wahre sein in dem, was Sie da sagen, Herr Reichskanzler! Aber die Vergrößerung unseres Kolonialbesitzes wird ja in erster Linie dem Handel zu Gute kommen, und damit wird naturgemäß auch bei uns der Kaufmann zu größerer Bedeutung gelangen. Man hört ja schon jetzt von großen Plantagengesellschaften, die mit enormem Kapital ins Leben gerufen werden sollen.“
„Gerade gegen die Bildung dieser Gesellschaften denke ich meinen ganzen Einfluß geltend zu machen, Königliche Hoheit! Könnten wir doch keinen verhängnisvolleren Fehler begehen, als den, daß wir die Land- und Bodenspekulation, die in den alten Kulturstaaten so unheilvolle Früchte gezeitigt hat, auch in unseren Kolonieen staatlich privilegierten. Grund und Boden dürfen kein Spekulationsobjekt sein, sondern müssen Staatseigentum bleiben. Zu den Ständen, die heute wirtschaftlich am meisten leiden, gehört die Landwirtschaft. Nur eine Erhöhung der Schutzzölle kann die ackerbautreibende Bevölkerung vor der dringenden Gefahr des wirt[S. 385]schaftlichen Ruins bewahren. Mit dem erhöhten Schutzzoll wird die gesteigerte Rentabilität des Bodens eintreten, doch im Zusammenhange damit auch eine weitere Preissteigerung des Bodens, da er eben auch ein Handelsartikel ist. Mit dem Steigen der Bodenwerte wachsen dann aber gleichzeitig auch die Zinsen, die aus Grund und Boden herauszuwirtschaften sind, und ich muß aus diesem Grunde fürchten, daß trotz einer Erhöhung der Schutzzölle die Landwirtschaft schon in der nächsten Generation unter der weiteren Steigerung der Bodenpreise und den sich daraus ergebenden erhöhten Zinsanforderungen zu leiden haben wird.
Wir dürfen in unseren Kolonieen nicht in den gleichen Fehler verfallen, der in den heutigen Kulturstaaten die soziale Frage geboren hat. Nach einem höheren Gesetz, als es menschliche Unvollkommenheit geschaffen hat, gehört die Erde den Geschöpfen, die auf ihr und durch sie leben. Darum darf der Boden unserer Erde kein Handelsobjekt sein. Er ist untrennbar mit dem Staatskörper verwachsen. Ich wage nicht zu hoffen, daß es mir oder einem meiner Zeitgenossen beschieden sein wird, die soziale Frage zu lösen, doch ich werde nicht müde werden, meinen ganzen Einfluß dafür einzusetzen, eine falsche Bodenpolitik wenigstens in unseren jungen Kolonieen zu verhindern. Das Unrecht stirbt an seinen Folgen, denn mit dem Unrecht wächst zugleich sein Rächer auf. Ein verhängnisvolles Unrecht aber war es, daß die Menschheit den Boden, der sie ernährt, zum Spekulationsobjekt werden ließ. Diese unheilvolle Saat zeitigt unheilvolle Früchte. Es muß die höchste Aufgabe aller Regierungen sein, die Bodenreform, diese große, das Schicksal einer Welt entscheidende Frage, mit allen gesetzgeberischen Machtmitteln durchzuführen. Jetzt, wo nach menschlicher Voraussicht der Friede gesichert ist, wo äußere Gefahren den Bestand unseres Reiches nicht mehr bedrohen, jetzt enthebt uns nichts mehr der ernsten und heiligen Verpflichtung, mit dem größten und gewaltigsten Reformwerke der Menschheit zu beginnen. Dann führt uns unser Weg — vom Weltkrieg zum Weltfrieden.“
In demselben Augenblick öffnete sich die Tür des Gemaches, und aus den Händen eines von dem diensttuenden Adjutanten eingeführten Feldjägers nahm der Prinz einen mit der Kaiserkrone und dem Initial des kaiserlichen Namens geschmückten Brief entgegen.
Der erste Schimmer des anbrechenden Morgens fiel in die geöffneten Fenster, und durch die Wipfel der uralten Parkbäume von Hampton Court ging ein geheimnisvolles Rauschen und Raunen, wie wenn sie Zwiesprache hielten über den wunderbaren Wechsel der Geschicke, deren stumme Zeugen sie seit den fernen Tagen ihrer Jugend gewesen.
Die blauen Augen des Hohenzollernprinzen aber leuchteten in freudigem Stolze auf, während sie das kaiserliche Handschreiben überflogen. Ein paar Sekunden lang herrschte tiefe Stille. Dann wandte sich der Prinz dem Reichskanzler zu:
„Wir gehen einem großen Tage entgegen, Exzellenz! An der Spitze der verbündeten Armeen wird Seine Majestät der Kaiser in London einziehen. Der Friede ist gesichert. Gebe Gott, daß es der letzte Krieg sein möge, den wir für das Glück und die Zukunft der deutschen Nation führen mußten!“
Ende.
[S. 387] In demselben Verlage von W. Vobach & Co., Berlin und Leipzig, ist erschienen:
Regiments-Indiskretionen.
Ein Offiziers-Roman
von
Teo von Torn.
Preis 3 Mark geheftet, 4 Mark gebunden.
Wo viel Licht, da ist auch viel Schatten. Verfasser hat versucht, beides gleichmäßig zu verteilen. Er schildert äußerst spannend und wahrheitsgetreu das dienstliche und gesellschaftliche Leben in kleinen Garnisonen, unter besonderer Berücksichtigung der Lebensgewohnheiten der Offiziersdamen. Teo von Torn ist es meisterhaft gelungen, den richtigen Ton zu treffen, ohne der Uebertreibung anheim zu fallen. Ein Buch, das allenthalben Aufsehen erregt.
Venus als Siegerin.
Ein Offiziers-Roman
von
Caesar Magnus.
Preis 3 Mark geheftet, 4 Mark gebunden.
Unter dem Pseudonym Caesar Magnus hat ein höherer preußischer Generalstabs-Offizier diesen hochinteressanten Roman geschrieben, welcher den Gegensatz der Forderungen der Konvenienz zu dem sich ungern an Gesetze bindenden Genie zum Vorwurf hat und gleichzeitig zeigt, daß auch der erweckte Mann den Lockungen der Liebe, noch dazu der verbotenen, zu der Frau eines anderen Mannes nicht widersteht und daran zu Grunde geht. Sehr ansprechend ist der Fürst eines kleinen deutschen Landes geschildert, der über kleinlichen Vorurteilen erhaben, den als Offizier Geächteten doch als Dichter zu würdigen und zu ehren weiß.
In allen Buchhandlungen zu haben.
[S. 388]
Verlag von W. Vobach & Co., Berlin und Leipzig.
Gegen den Strom.
Ein Zeitroman
von
Ludwig Rohmann.
Preis 90 Pf. geheftet, 1 Mark gebunden.
Der Verfasser entwirft ein überaus fesselndes Kulturbild aus Pomerellen, dem alten Kassubenlande, dessen polnisch sprechende Bewohner noch heute die Herrlichkeit des Polenreichs nicht vergessen können und den deutschen Usurpatoren mit glühendem Haß begegnen. Zugleich geißelt er scharf den geltenden Ehren- und Duell-Kodex, dessen verderbliche Folgen durch die Schicksale eines hoffnungsvollen, aus seiner Bahn gedrängten Juristen illustriert werden. Eine innige Liebesgeschichte ist mit dem Grundthema geschickt verwoben.
Sinkende Sonnen.
Ein Künstler-Roman
von
Georges Ohnet.
Preis 3 Mark geheftet, 4 Mark gebunden.
Ein Künstler-Roman, in welchem der Verfasser des „Hüttenbesitzers“ in einer gewissen wehmütigen Beleuchtung uns das untergehende Gestirn eines gefeierten Malers zeigt, der seinen Ruhm überlebt hat, an der Grenze seiner Schaffenskraft angekommen ist, um so mehr, als er auch seine Herzenswünsche aufgeben muß. Das Mädchen, das er liebt, das er einst als Modell von der Straße aufgelesen und das er wie eine Pflegetochter zur Künstlerin herangebildet, schenkt ihr Herz einem jüngeren genialen Maler. Der Künstler endet durch Selbstmord. Der Roman ist ein fein ausgeführtes Seelengemälde; das Milieu des Ateliers ist besonders gut getroffen, ebenso einzelne Charakterköpfe, wie die Schriftstellerin Zélie Bazin und der Journalist Teneran.
Professor G. Schönleber schrieb uns: „Ich habe „Sinkende Sonnen“ mit großem Interesse gelesen. Das Buch enthält nur Wahres, der Verfasser versteht Künstler, wie sie in der Tat fühlen, seine Personen sind typisch, auch ohne Pariser Atmosphäre.“
In allen Buchhandlungen zu haben.
[S. 389]
Verlag von W. Vobach & Co., Berlin und Leipzig.
Pflug und Schwert.
Historischer Roman
von
Heinrich Vollrat Schumacher.
2 Bände. Preis 6 Mark geheftet, 7 Mark gebunden.
Seine Exzellenz der Reichskanzler Graf Bülow schrieb uns: „Die Verlagsbuchhandlung W. Vobach & Co. hat mir durch Uebersendung des Romans „Pflug und Schwert“ von Heinrich Vollrat Schumacher, wie nicht minder durch die Ausführung des gefl. Schreibens eine besondere Freude gemacht. Ich wünsche dem Roman einen Platz auf vielen deutschen Tischen und seinem Verfasser Schaffenslust und gutes Gelingen seinen weiteren Arbeiten.“
Die großen Leidenschaften, wie sie die ungeheuren Umwälzungen der napoleonischen Kriege entfacht, die glühende Vaterlandsliebe, der bis zur Selbstentäußerung sich erhebende ideale Sinn der Freiheitskrieger und dem gegenüber die finstere Selbstsucht, die vor nichts zurückschreckende Habgier, die in der Not des Vaterlandes und den Bedrängnissen ihrer Nachbarn den eigenen Vorteil sucht, sie geben auf einem mit realistischer Kraft gemalten Hintergrund ein jeden Leser ergreifendes Bild. Die Sprache des Romans ist edel und erhebt sich stellenweise zu wunderbarer Schönheit.
Prinzessin Fee.
Eine Hofgeschichte
von
Paul Oskar Höcker.
2 Bände. Preis 2 Mark geheftet, 2,50 Mark gebunden.
Dieser Roman ist wie kaum ein zweites Werk des beliebten Autors geeignet, das Interesse der weitesten Kreise zu erregen. Die Erzherzogin Fedora und ihre Schicksale, die in dramatisch bewegter Handlung sich vor uns abspielen, sind keine bloßen Phantasiegebilde des Dichters, sondern lehnen sich an tatsächliche Vorgänge in einem Fürstenhause an. Es handelt sich um die Schöpfung eines Dichters, der mit offenen Augen durchs Leben geht, um das, was er dort sieht, frei, allein dem künstlerischen Gesetze folgend, zu gestalten. Neben den ernsten und ergreifenden Szenen, die die inneren Kämpfe und Leiden der Heldin schildern, bricht immer wieder, die Härten des Lebens vergoldend, der liebenswürdige Humor des Dichters durch und entzückt mit seiner tiefen Innerlichkeit.
In allen Buchhandlungen zu haben.
[S. 390]
Verlag von W. Vobach & Co., Berlin und Leipzig.
Berenice.
Kulturgeschichtlicher Roman aus der Zeit der Judenverfolgungen
von
Heinrich Vollrat Schumacher.
2 Bände. Preis 2 Mark geheftet, 2,50 Mark elegant gebunden.
Eine treffliche Arbeit, in welcher sich Wissenschaft und Kunst zu einem höchst anziehenden Werke verbinden. Einzelne Scenen desselben sind mit markerschütternder Kraft geschrieben. Die Zerstörung der heiligen Stadt, der Brand des Tempels, die Preisgebung der gefangenen Judäer in der Arena an die wilden Bestien, die Anteilnahme des Volkes an dem ihm willkommenen, blutigen Schauspiele sind prachtvoll, wenngleich schrecklich, und erinnern in der Plastik ihrer Furchtbarkeit an die Zerstörung Jerusalems von Kaulbach in der Pinakothek. Doch kommen auch Stellen von rührender Zartheit in „Berenice“ vor, in denen der Leser ausruht, so das Gespräch der beiden blutsverwandten Judäerinnen, der stolzen Salome und der lieblichen Thamar, der Tochter Johannes von Gischala, welche keine sklavische Nachahmung der „Schwestern“ von Georg Ebers sind, allein doch durch einen Familienzug an dieselben erinnern; die Flucht Debora-Berenices mit Reguel nach Beth-Iden, und die Liebe Gabbas, des Zwerges, zu seiner Jugendgefährtin, der Germanin Wunnehild, und die poetischen alten Sagen, welche in dem Roman geschickt verwebt sind, und unter welchen die von der Liebe Hadad-Rimmons und der Göttin Derketo, aus welcher sich die Adonissage entwickelt haben soll, als eine der schönsten bezeichnet werden muß.
Familie von Ellernbruck.
Humoristischer Roman
von
Käthe van Beeker.
Preis 3 Mark geheftet, 4 Mark gebunden.
Die Verfasserin führt den Leser in das gut beobachtete und mit liebenswürdigem Humor geschilderte Milieu einer hocharistokratischen Offizierfamilie, welcher von all dem Glanze einer ruhmvollen Vergangenheit nichts geblieben ist, als der unbefleckte Ehrenschild ihres gräflichen Wappens. Wie nun in diese unsichtbare Mauer von Standesbewußtsein und — Standesvorurteil aus dem Kreise der eigenen Familie heraus nach und nach Bresche gelegt wird, wie der Sohn und die jüngste Tochter, die so tapfer als Selektanerin und angehende Lehrerin den Kampf ums Dasein aufnimmt, ihre moderne Anschauung von den Pflichten des Adels gegenüber den Aufgaben und den Anforderungen ihrer Zeit zur Geltung bringen, das hat die Verfasserin mit frischer, überzeugender Anschaulichkeit geschildert.
In allen Buchhandlungen zu haben.
[S. 391]
Verlag von W. Vobach & Co., Berlin und Leipzig.
Vobachs
illustrierte Roman-Bibliothek
Jeder Band kostet 1 Mark gebunden.
Der Verdacht. — Roman von Teo von Torn.
Mit unerbittlicher Folgerichtigkeit ziehen sich die Fäden der Handlung zu dem unheilvollen Konflikt über dem Haupte der Schuldigen zusammen. Es ist ein äußerst fesselnder Roman, der nur wenige seinesgleichen hat.
Zum Frieden. — Roman von Hilde von Selkow.
Die tief ergreifende Geschichte einer Ehe, wie sie in den Kreisen der oberen Zehntausend so oft geschlossen wird, ist diesem gemütvollen Roman zu Grunde gelegt. Mit immer wachsender Anteilnahme folgen wir den inneren Kämpfen des treuen Frauenherzens, das sich langsam zur Entsagung durchringt, um endlich zum Frieden zu gelangen.
Durch Kampf zur Krone. — Roman von Ada von Gersdorff.
Ein hohes Lied von der siegenden Macht der Liebe verdient dieser Roman genannt zu werden. Wie die Liebe im Weibe alle Zweifel, die von fremder Hand in ihre Seele gesät werden, siegreich überwindet, wie die Liebe, die anfangs in blindem Vertrauen dem Manne ihrer Wahl folgt, sich im Kampfe des Lebens zum bewußten Glauben an den Geliebten durchringt, wie sie für beide Gatten zur Krone des Lebens wird, das ist mit packender Darstellungskunst in diesem Roman der berühmten Schriftstellerin geschildert.
Um einen Königsthron. — Roman von Emilia Pardo-Bazan.
Mitten hinein in den schweren Kampf zwischen der Pflicht, die den Mann an die ihm gestellten Aufgaben ruft, und der Liebe, die stürmisch ihr Recht begehrt, wird der Held dieses Romans geführt. Vor die Entscheidung gestellt, folgt er dem Rufe der Pflicht und fällt als Held im Kampfe zwischen Pflicht und Neigung.
Bis in den Tod. — Roman von W. Granath.
Eine düstere Episode der Weltgeschichte, das Sterben und Irren eines unglücklichen Königs schildert dieser ungewöhnlich spannende Roman. Die gewaltige Tragik der Ereignisse wird gemildert durch ein zartes Liebesidyll, das sich wirkungsvoll auf dem geschichtlichen Hintergrunde aufbaut.
Der Berghaldnerhof. — Roman von F. Kaltenhauser.
Ein packendes Stück Leben, das zum Hintergrund die großartige Szenerie der Alpenwelt hat. Die Glut der Darstellung, die Wucht der Handlung erinnern an die besten Werke eines Ganghofer.
Treue. — Roman von B. Corony.
Ein Seelendrama, das mit seltenem psychologischen Scharfsinn gezeichnet ist. Das Schicksal eines Weibes, dem wir mit innerster Anteilnahme folgen müssen, ein Stück Leben, über das wir als Motto schreiben müßten: „Liebe ist stark wie der Tod.“
Stolze Herzen. — Roman von Ada von Gersdorff.
Wohl eines der besten Werke aus der Feder der vielgelesenen Schriftstellerin. Die tiefsten Klänge, die die Menschenseele bewegen, werden hier von Meisterhand angeschlagen. Niemand kann das Buch ohne tiefe Ergriffenheit aus der Hand legen.
In allen Buchhandlungen zu haben.
[S. 392]
Verlag von W. Vobach & Co., Berlin und Leipzig.
Vobachs
illustrierte Roman-Bibliothek
Jeder Band kostet 1 Mark gebunden.
Der Goldmacher. — Roman von C. Falkenhorst.
Ein fesselndes Kulturbild aus der Zeit der Alchimisten, die den Stein der Weisen suchten. Auf diesem Hintergrunde spielt ein zartes Liebesidyll, dessen Zauber sich kein Leser entziehen wird.
Unter dem Dornenkranz. — Roman von Frieda H. Kraze.
Wie unter dem milden Hauch echter Weibesliebe auch aus dem Dornenkranz, der das Haupt eines in seiner einsamen Höhe wandelnden Dichters umschlingt, endlich nach qualvollen inneren Kämpfen die lachenden Rosen des inneren Glückes erblühen, ist von Meisterhand tief ergreifend in diesem einzig schönen Roman geschildert.
Hexenkünste. — Roman von Gustav Johannes Krauss.
Zwischen Furcht und Hoffnung schwankt der Leser bei der Lektüre dieses Romans, der uns durch die Irrpfade von Leidenschaft und Verbrechen zu den lichten Höhen reinen Liebesglückes emporführt.
Von folgenden Romanen der II. Serie kostet jeder Band
1 Mark geheftet und 1,25 Mark hochelegant gebunden.
Weltuntergang. — Roman von Max Dunckel.
Eine hochdramatische Schilderung der französischen Schreckensherrschaft unter Robespierre. Die sich unter dem Schafott abspielenden verzweifelten Scenen und die leidenschaftlichen Gefühlsausbrüche vor der Hinrichtung im Kerker sind von eminent packender Wirkung.
Klippen. — Roman von Anton von Perfall.
In formvollendeter Darstellung gibt der bekannte Autor hier die Schicksale eines Abenteurers wieder, der bei der Jagd nach dem Glück zwar strauchelt, aber in ernster Arbeit und tiefer Reue einen Fehltritt büßt. Gerade zu meisterhaft sind die seelischen Konflikte gelöst, und bewundernd steht der Leser vor der Hoheit der Seele des Weibes.
Du bist der Mann. — Roman von M. E. Braddon.
Ein äußerst spannender Roman der beliebten Verfasserin, der vor dem Auge des Lesers die fein ersonnenen und geschickt durchgeführten Intriguen entrollt, die angewendet wurden, um eine edle Frau einem unaufrichtigen Manne zuzuführen. Die Handlung ist packend von der ersten bis zur letzten Zeile.
Die Rainhoferin. — Roman von F. Kaltenhauser.
Aufrichtiges Mitleid empfindet der Leser dieses Hochland-Romans mit der Heldin, die in einer ihr aufgezwungenen Ehe alle Qualen des geknechteten Herzens durchkosten muß. Mit seinem psychologischen Verständnis schildert die einem Anzengruber ebenbürtige Verfasserin jene Volkskreise, in denen jahrhundertalte Traditionen noch heute lähmend auf ganzen Familien lasten.
Der Liebe Gebot. — Roman von Elsbeth Borchart. — 2 Bände.
Der Fehltritt eines deutschen Fürsten in seinen Jugendjahren und dessen Konsequenzen hat diese Arbeit zum Vorwurf. Die Seelenstimmung des alternden kinderlosen Witwers, dessen natürlicher Sohn durch Zufall als Leibarzt an den Hof gelangt, ist so fein durchgearbeitet, daß niemand dem Fürsten seine Teilnahme versagen wird. Für jeden, der Hofgeschichten mit ihren tausenderlei Intriguen liebt, wird dieser Roman eine äußerst fesselnde Lektüre sein. Der Liebe Gebot wurde des packenden Inhalts wegen bereits dramatisiert.
In allen Buchhandlungen zu haben.
Idiomatische Schreibweisen des Autors wurden beibehalten, wie: Knieen, Kopieen, Melodieen, Physiognomieen, schrieen, umsomehr, Diner.
Die folgenden Inkonsistenzen wurden beibehalten, da beide Schreibweisen gebräuchlich waren:
Die Umwandlung von -ss in -ß an Wortende bei englischen Begriffen (Empreß, Croß) wurde beibehalten.
Folgende Änderungen wurden vorgenommen:
End of the Project Gutenberg EBook of Der Weltkrieg, by August Niemann *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WELTKRIEG *** ***** This file should be named 49656-h.htm or 49656-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/9/6/5/49656/ Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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