The Project Gutenberg EBook of Kleinstadtkinder, by Josephine Siebe This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Kleinstadtkinder Buben und Mädelgeschichten Author: Josephine Siebe Illustrator: Anna Milo Upjohn Release Date: October 22, 2015 [EBook #50277] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KLEINSTADTKINDER *** Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Josephine Siebe
Kleinstadtkinder
Buben und Mädelgeschichten
von
Josephine Siebe
Verlag E. Nister
Nürnberg
Alle Rechte vorbehalten.
„Neustadt,“ schrie der Schaffner und lief den Zug entlang; „Neustadt, ausstei...gen!“
Einige Passagiere guckten zu den Kupeefenstern heraus. „So’n Nest,“ sagte der eine, und ein anderer gähnte, während ein dritter rief: „Fenster zu! S’ist ja so kalt!“
„Neustadt, abfahren,“ schrie der Schaffner noch einmal. „Es steigt doch niemand aus, hier steigt nie jemand aus,“ dachte er.
Aber da — schon pfiff die Lokomotive — da wurde noch hastig eine Kupeetüre geöffnet, ein Fuß wurde sichtbar, eine braune Ledertasche und — platsch lag mit Koffer und Plaid ein nicht zu großer, nicht zu kleiner, nicht zu dicker und nicht zu dünner Herr, so lang er war, auf dem Bahnhof.
„Na, der hat’s aber eilig, hat wohl geschlafen,“ murmelte der Schaffner und sprang rasch auf, denn der Zug setzte sich pustend in Bewegung.
Zwei Bahnbeamte eilten herbei und halfen dem Herrn wieder auf die Beine, gebrochen hatte der sich glücklicherweise nichts. Er brummelte etwas von gefrorenen Stufen, ausgerutscht sein, und braun und blau geschlagen, dann nahm er seine Sachen, dankte höflich und verließ den Bahnhof.
„Da wäre ich,“ dachte er, „eine nette Ankunft in dem Nest, wie konnte ich auch nur so fest einschlafen, beinahe hätte ich Neustadt verschlafen, brrrrrr, wird gewiß ein erzlangweiliges Nest sein.“
Er trat aus dem Bahnhofsgebäude heraus, ging über einen kleinen, von Bäumen umstandenen Platz, und gelangte an eine Straße, die etwas bergab führte; hier sah er plötzlich das Städtchen mit all seinen Häusern und Türmen und seinem Hintergrund von bewaldeten Höhen liegen. Der Fremde vergaß über diesem Anblick seinen Fall auf dem Bahnhof, und sein vorhin so mißmutiges Gesicht hellte sich auf. Ja, dies war aber auch schon ein Anblick, der sich lohnte. In der geräuschvollen Großstadt, aus der der Fremde kam, sah man selten so eine weiße, schimmernde Winterpracht. Dort fiel der Schnee schon grau vom Himmel, und nach wenigen Stunden war er eine breiige, schmutzige Masse. Hier aber war das ganze Städtlein in ein weißes Feierkleid gehüllt. Die Türme von St. Marien ragten steil und schlank in die Luft, wie Königstöchter sahen sie aus im Schmuck weißer Hermelinmäntel, und nicht weit davon erhob sich der dicke, runde Schloßturm mit weißer Kappe, behäbig wie ein biederer Bäckermeister schaute er drein. Und das Schloß selbst auf der Höhe mit seinen vielen kleinen Fenstern und seinen altersgrauen Mauern war überzuckert von oben bis unten, es glich einer guten Gluckhenne, und all die überschneiten Häuser und Häuschen waren ihre Küchlein. Im Rauhreif standen Büsche und Bäume, und die Sonne, die gerade noch einen Abschiedsblick auf das Städtchen warf, ehe sie in ihr Wolkenbett rutschte, überstrahlte alles mit einem zarten Rosenschimmer. Die fernen Berge verschwanden schon in blaugrauem Dunst, als wollten sie sagen: „Schau dir nur erst das Städtchen an, es lohnt sich schon, zu uns kommst du später.“
„Ja, du lieber Himmel, es lohnt sich wirklich,“ dachte Doktor Theobald Fröhlich; er guckte rechts und links und gerade aus und meinte, er könnte sich nicht satt sehen an dem hübschen Stadtbild. Und dies kleine Städtchen sollte nun für immer seine Heimat werden, das erschien ihm auf einmal gar nicht mehr so schrecklich.
Während so der Doktor Theobald Fröhlich oben am Bahnhofsplatz stand und Neustadt bewunderte, stand unten in der Stadt vor der Türe eines stattlichen, altmodischen Hauses eine alte Frau. Sie hatte ihre Hände fest in ihre Schürze eingewickelt und guckte eifrig geradeaus, denn wer vom Bahnhof kam, mußte die Straße herunterkommen, an deren Ende das Haus lag. Die Straßen von Neustadt gingen alle bergauf und bergab; die Bürger behaupteten, ob es stimmt weiß freilich niemand, ihr Nestlein sei gerade wie das große, gewaltige Rom auf sieben Hügeln erbaut.
„Nun muß er doch bald kommen,“ murmelte die Alte, „wo er nur bleibt!“
Sie wartete auf niemand anders als auf den Doktor Theobald Fröhlich, der von nun an in dem stattlichen Hause wohnen sollte. Das Haus hatte er von einer alten Tante geerbt, mit der Bedingung, daß er darinnen wohnen mußte, sonst sollte das Haus an entfernte Verwandte fallen. „Wer mein Haus besitzt, der soll es auch lieb haben und gern darin wohnen“, hatte die Tante immer gesagt. Der Doktor Theobald Fröhlich war arm, er hatte auch noch eine Schwester, die in England als Erzieherin sich ihr Brot verdiente, da dachte er, eine richtige Heimat haben mit der Schwester zusammen, und sei es auch in Neustadt, sei schließlich besser, als in Berlin einsam zu leben.
Zu der alten Frau, die die Dienerin der ehemaligen Herrin des Hauses gewesen war, gesellte sich die Bäckermeisterin Gutgesell, die gegenüber an der Ecke der Marienstraße wohnte.
„Wo er nur bleibt, der neue Herr?“ sagte sie und schaute ebenso eifrig wie die alte Dorothee die Straße hinauf.
„Ja eben, ’s dauert so lange,“ brummelte Jungfer Dorothee, „vielleicht kommt er garnicht, nämlich Frau Nachbarin, er ist ’n Dichter, und die sollen doch was komisch sein.“
„Ih nee, ’n richtiger, leibhaftiger Dichter! So was haben wir doch nie in Neustadt gehabt!“ schrie die Bäckermeisterin und schlug die Hände zusammen.
Und die alte Dorothee reckte sich stolz und belehrte die Nachbarin, was ein Dichter sei, und daß ihr neuer Herr vielleicht mal sehr berühmt würde, hätte die Frau Stadträtin Müller gesagt, noch sei er es freilich nicht. —
Doktor Theobald Fröhlich hatte sich unterdessen das Städtlein genau angesehen, dann hatte er einen Mann nach dem Weg gefragt und hatte erfahren, daß er erst die Straße hinunter gehen müßte, dann links herum, dann käme die Marienstraße, die ging steil bergab, und am Kirchplatz stände das Haus, das er suchte. Der Doktor fand denn auch die Marienstraße und schickte sich an, sie hinab zu gehen. Wie er einige Schritte gegangen war, hörte er plötzlich ein wildes Geschrei hinter sich, und eine Schar Buben und Mädels kamen mit ihren Schlitten angefahren. „Rechts“, schrie ein langer Bengel, „links“, rief ein anderer, und auf einmal gab es ein Purzeln und Fallen, zwei Schlitten waren zusammengefahren, ihre Besitzer plumpsten in den Schnee.
„Na, solche Wildfänge,“ dachte Doktor Fröhlich gerade, als ein leerer Schlitten ihm zwischen die Beine fuhr. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und saß auf einmal auf dem Schlitten und heidi ging es bergab. Sein Plaid fiel rechts herunter, seine Reisetasche links, er sah nichts und hörte nichts, er hielt sich nur krampfhaft fest, und dann gab es einen Ruck, ein Zetergeschrei, und der Doktor Theobald Fröhlich lag im Schnee, und auf der einen Seite saß die alte Dorothee und auf der anderen die Frau Bäckermeisterin, und beide schalten und lachten durcheinander, denn der fremde Herr hatte sie beide umgerissen.
„Verzeihung,“ murmelte der Doktor, „mein Name ist Dr. Theobald Fröhlich — ich“
„Du meine Güte, so was, das ist ja mein neuer Herr!“ schrie Jungfer Dorothee und verbeugte sich so eilig, daß sie mit der Nase beinahe in den Schnee stippte. Die lustige Frau Bäckermeisterin lachte hell auf, und nun kamen auch die übrigen Schlittenfahrer und zwei Buben mit Reisetasche und Plaid herbei. Es gab ein Hin-und-her von Fragen und Erklärungen. Der Doktor meinte, so schnell ginge es in Berlin beinahe nicht mit einem Vorortszug wie in Neustadt mit dem Schlitten.
Die alte Dorothee schalt auf die Buben, die verteidigten sich, sie hätten nichts dafür gekonnt, die Bäckermeisterin lachte, und der Doktor fand seine Ankunft in Neustadt höchst wunderlich. Er war herzlich froh, als er endlich in seinem Hause in einem behaglichen Zimmer saß und Dorothee ihm heißen Kaffee und selbstgebackenen Kuchen brachte.
Heisa das schmeckte, und wie behaglich das Zimmer war mit den altmodischen, grünen Samtmöbeln und den schönen Bildern an den Wänden! Später zeigte ihm Dorothee das ganze Haus von oben bis unten. Da gab es viele uralte Möbel, viel alten, schönen Hausrat; ein Zimmer gab es, das war ganz mit steifen, weißen Möbeln angefüllt, es führte auf eine breite Terrasse, vor der sich ein großer Garten ausbreitete. „Der gehört zum Hause,“ sagte die alte Frau stolz, „so schönes Obst hat niemand in Neustadt wie in dem Garten wächst, ’s ist ein Staat!“
Still war es freilich in dem Hause, und still war es auch in dem Städtchen, das sich der Doktor Fröhlich am nächsten Morgen gründlich anschaute. Still, ja, aber heimlich und traut. Und als er gerade zur Mittagsstunde über den Schulplatz ging, und aus einem alten ehemaligen Klostergebäude rechts Buben und links Mädchen herauskamen, da war es vorbei mit der Stille, potztausend ja konnte die Gesellschaft schreien und lachen! Und am Nachmittag sagte die alte Dorothee: „Morgen ist Nikolaustag.“
„Nikolaustag, was ist denn das?“ fragte der Doktor erstaunt.
„Je, du meine Güte, das weiß der Herr nicht?“ rief die Alte erstaunt. „Na, Nikolaustag ist halt Nikolaustag, und die selige gnädige Frau hat immer am Nikolaustag allen Kindern, die in der Marienstraße und hier auf dem Kirchplatz wohnen, Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse geschenkt. Der Herr Doktor kann’s mir glauben, die kommen auch in diesem Jahre. Äpfel und Nüsse sind da, soll ich noch die Pfefferkuchen holen?“
„Freilich, freilich,“ sagte der Doktor Fröhlich, beschämt, daß er nichts vom Nikolaustage wußte. Er ging dann in ein Zimmer, in dem viele Bücher standen, dort sah er in einem großen Lexikon nach, was es mit dem Nikolaustag für eine Bewandtnis habe.
Er hatte nie eine rechte Heimat gekannt. Als er fünf Jahre alt war und seine Schwester nur erst wenige Monate zählte, waren Vater und Mutter rasch hintereinander gestorben; die beiden Kinder wuchsen bei fremden Leuten auf. Eins hier, das andere dort. Der Knabe kam bald in eine Erziehungsanstalt; waren Ferien und seine Kameraden fuhren heim, dann blieb er allein in der Anstalt. An seine traurige Jugend und an seine ferne Schwester mußte er denken, als am nächsten Tage Buben und Mädels angelaufen kamen, um sich ihre Nikolausgaben zu holen. Eine lustige Gesellschaft war es, die da herantrappelte, wie strahlten die Augen, wie blitzten die weißen Zähne, wenn jedes seinen Teil bekam. Einmal kamen fünf zusammen, zwei Mädels und drei Buben.
„Na, das sind die rechten Schelme,“ sagte die alte Dorothee lachend, „Schatzgräber ihr, gelt, ihr habt gerade den rechten Pfefferkuchenhunger?“ „Ja,“ riefen die fünf, und ein Bube, der braune, krause Haare hatte und Augen rund und dunkel wie zwei Herzkirschen, aber so unnütz wie ein paar Spatzenaugen, rief: „Es könnte jede Woche Nikolaustag sein, das wär mal fein!“
„So fein wie Schatzgraben, gelt?“ rief die Alte, da wurden alle fünf rot wie reife Erdbeeren und lachend liefen sie davon.
„Wer waren die fünf, und warum werden sie Schatzgräber genannt?“ fragte Doktor Fröhlich.
„Die fünf sind dicke Freunde; es sind Nachbarskinder und ihren Namen haben sie von einem dummen Streich, den sie unlängst ausgeführt haben. Ich will dem Herrn gern die Geschichte erzählen, wenn es recht ist.“
Am Abend des Nikolaustages schrieb der Doktor Fröhlich an seine Schwester: „Komm bald zu mir, hier wird es dir gefallen. Komm noch vor Weihnachten, damit wir das erstemal das Fest im eigenen Heim, in unserer neuen Heimat, feiern können!“
Und dann, als das Abendessen abgetragen war, erzählte die alte Dorothee die Geschichte von den fünf Schatzgräbern. Die gefiel dem Doktor Fröhlich so gut, daß er sie gleich in ein Buch schrieb. Dahinein schrieb er im Laufe der Zeit noch manche Geschichte von den Neustädter Kindern, manche, die ihm erzählt wurde, und manche, die er selbst sah und hörte. Auch zwei Märlein kamen dazu und eine Geschichte aus vergangenen Tagen.
Und so stehen denn die Geschichten in diesem Buch, eine nach der anderen, so wie sie der Doktor gehört, sie erlebt und niedergeschrieben hat.
In früheren Zeiten, in denen die Städte noch nicht so gewaltig groß wie heutzutage zu sein brauchten um mächtig zu sein, war auch Neustadt eine gar angesehene Stadt im deutschen Reiche gewesen. Wohlstand herrschte, und die Bürger wußten sich gut in mancher Fehde zu verteidigen. Der dreißigjährige Krieg aber, der so vieles in Deutschland vernichtete, zog auch verheerend über Neustadt hin, die Stadt wurde zum Teil zerstört, geplündert, und seitdem gelang es ihr nie wieder, sich zu einstiger Größe emporzuschwingen. In jener Zeit nun, so berichtete die Sage, hätten die Bürger einen großen Schatz vergraben, viel Geld, edle Steine und silberne und goldene Prunkgefäße. Die aber, die den Schatz vergraben hatten, wurden nachher, als die Feinde die Stadt einnahmen, getötet, und darum wußte später niemand mehr, wo eigentlich der Schatz vergraben lag.
Von diesem Schatz nun wurde in Neustadt in den Zeiten, die kamen und gingen, viel gesprochen. Früher hatte wohl mancher in aller Heimlichkeit sein Gärtlein umgegraben, und wurde ein Grundstein zu einem neuen Hause gelegt oder ein altes, baufälliges Haus eingerissen, immer gab es etliche, die hofften, der Schatz sollte sich schon finden. Er fand sich aber nicht, und zuletzt suchte niemand mehr so recht ernsthaft danach. Die Geschichte von dem Schatz wurde zu einem Märchen, das den Kindern erzählt wurde, und mancher Bube dachte wohl, wenn ich groß bin, suche ich den Schatz; wuchs er heran, dann vergaß er gewöhnlich sein Vorhaben.
Von dem vergrabenen Schatz nun sprachen an einem sonnenhellen Herbsttag fünf Kinder, die einträchtiglich, wie Schwälbchen auf dem Dachfirst, auf der alten Stadtmauer saßen. Dieses letzte Stück der einst so trutzigen Stadtmauer zog sich jetzt als Grenze zwischen einer engen Gasse und hübschen, schattigen Anlagen hin. Am Ende dieses Mauerrestes stand ein runder Turm, es war dies der letzte der acht Wachttürme, die Neustadt einst besessen hatte. In dem Turm, der noch fest und unversehrt dastand, wohnte nicht mehr wie einst eine Schar eisenbewehrter Wächter, sondern ein Pantoffelmacher, Klaus Hippel genannt. Und kriegerisch sah der ganze Turm auch nicht mehr aus, statt der Feuerbüchsen früherer Zeiten hingen an schönen Tagen zu den kleinen Fenstern des Turmes bunte Pantoffel heraus, und auf schwankendem Blumenbrettlein blühten Rosen, Geranien und lichtrote Kapuzinerkresse. Und Klaus Hippel selbst konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, er hantierte allzeit fröhlich mit seinem Handwerkszeug herum, fertigte wunderschöne, warme, weiche Pantoffel und war gut Freund mit allen Kindern, die sich die Anlagen an der Stadtmauer zum Spielplatz erkoren hatten.
Auf der alten Stadtmauer zu sitzen war eigentlich von Rats wegen verboten, aber von Pantoffelmachers wegen durften die Kinder darauf sitzen so viel sie wollten, sie taten es auch, und niemand kümmerte sich weiter darum. Vom Turmtor aus führte ein eisernes Wendeltreppchen auf die Stadtmauer hinauf, und Klaus Hippel lachte nur gutmütig, wenn er die Kinder das Treppchen hinaufklettern sah. Er selbst saß in seinem Stübchen hinter dem Blumenbrett bei seiner Arbeit, und seine ebenso fröhliche, wie gutmütige Frau Pauline wirtschaftete eifrig in ihrem kleinen Reich herum, und wenn die beiden alten Leutchen lachten, dann pfiff Mausel, der Dompfaff, vergnügt: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!“
Oben im Turm war ein kleines Museum, da hingen allerlei Waffen und Rüstungen, auch ein paar alte Möbel gab es zu sehen; das Schönste aber war die Aussicht von oben, über das weite Land hin bis zum fernen Gebirge. Paulinchen Pantoffelmacher, wie die lustige kleine Frau im Städtchen genannt wurde, brauchte zwar selten das Turmgemach aufzuschließen, weil selten genug Fremde sich nach Neustadt verirrten. Kam wirklich mal jemand, dann rief Klaus Hippel: „Aufgepaßt, ein weißer Spatz fliegt in den Turm.“
Die fünf Kinder nun, die an diesem hellen Herbsttag auf der Stadtmauer saßen und von dem Schatz sprachen, waren Pantoffelmachers besondere Freunde. Im zierlichen, weißen Kleidchen saß in der Mitte Brigittchen Schön; so ganz unrecht trug die Kleine ihren Namen nicht, sie war wirklich sehr lieblich, hatte lockiges, dunkelblondes Haar, ein zartes, feines Gesicht und Augen so blau wie zwei Veilchen. Brigittchen war das einzige Kind eines wohlhabenden Kaufmannes. Reich war der Herr Schön, dabei aber doch arm, ihm waren vor wenigen Jahren sein liebes Weib und sein kleiner Sohn gestorben, und nur Brigittchen war übrig geblieben. Eine ältere Verwandte, Fräulein Mathilde, hütete das Haus; sie meinte, es sei genug wenn sie dafür sorgte, daß die Kleine immer weiß wie ein Maiglöckchen angezogen sei. Daß ein Kind recht viel Liebe braucht, gerade so wie eine Blume den Sonnenschein, daran dachte sie nicht, und wenn der Vater verreist war, was oft geschah, dann wäre Brigittchen recht verlassen gewesen, wenn es nicht so gute Freunde gehabt hätte. Freunde hatte nun freilich die Kleine, wie man sie sich nicht besser wünschen kann, Freunde, die, wenn es darauf angekommen wäre, für sie durch Feuer und Wasser gegangen wären. Auch heute saßen ihre Freunde mit ihr zusammen auf der Stadtmauer. Da war zuerst ihre allerallerbeste Freundin Anne-Marte Fabian und deren Bruder Jörgel. Der Vater der Kinder war ein tüchtiger und beliebter Arzt im Städtchen, und das Doktorhaus lag am Kirchplatz, dicht neben Brigittchens Vaterhaus. Dann waren auch noch die beiden Bäckerbuben Wendelin und Severin Gutgesell da, die in der Marienstraße wohnten, und die dem Brigittchen so treu ergeben waren, daß sie mit Vergnügen die schönsten Prügel eingeheimst hätten, wenn sie damit der Kleinen einen Gefallen getan hätten. Das verlangte Brigittchen nun freilich nicht, ja, wenn ihren Freunden nur ein geringes Leid geschah, so weinte sie so bitterlich, daß es beinahe eine Überschwemmung gab. Und dem Weinen nahe war die Kleine auch an diesem Herbsttage; überhaupt sahen alle fünf Freunde so aus, als sei ihnen die Petersilie verhagelt, und trotzdem war es doch der erste Tag der Herbstferien und acht schulfreie wundervolle Tage lagen vor ihnen. Sie waren auch am Morgen in seliger Lust ausgezogen, um allerlei Vergnügliches zu unternehmen; der erste Besuch sollte Pantoffelmachers gelten, Frau Paulinchen hatte versprochen, ihnen wieder mal das kleine Museum recht gründlich zu zeigen, und Klaus Hippel wollte ihnen eine Geschichte aus seinem Lieblingsbuch vorlesen; dies war eine alte Chronik der Stadt Neustadt. Aber ach, die erhofften Freuden wurden bald zu Wasser. Statt sie wie sonst mit Singen, Pfeifen und schalkhaften Worten zu begrüßen, murmelte der Pantoffelmacher an diesem hellen Morgen nur verdrießlich: „Na, seid ihr da?“ Und tief seufzend nähte er so emsig an seinem Pantoffel weiter, als stände jemand barfuß neben ihm und schrie: „Eil dich doch, ich friere ja an meine Füße!“
An dem Kachelofen aber saß Frau Paulinchen und weinte herzbrechend, und weil Brigittchen nun mal niemand weinen sehen konnte, ohne mit zu weinen, flossen auch gleich ihre Tränen, und wenn die Freundin weinte, mußte Anne-Marte auch weinen, und so schluchzten denn die Mädels jämmerlich los. Den Buben wurde es ungemütlich, Tränen waren ihnen ein Greuel, Severin, der blonde Bäckerbube, riß krampfhaft die Augen auf, und Wendelin, der Schwarzkopf, knipste sie fest zu. Nur nicht etwa mitheulen! Jörgel zupfte seine Schwester und brummte: „Heul’ man nicht so, es ist ja schrecklich!“
Die Ermahnung half nicht viel, und so trat Jörgel dicht an den alten Klaus heran und fragte: „Was ist denn los?“
„Was nicht angebunden ist,“ brummte der Pantoffelmacher, „potzwetter ja, hört doch auf mit dem Geflenne!“
Dabei aber rollten dem alten Mann selbst langsam zwei schwere Tränen über das runzelige Gesicht, er sah so traurig aus, daß die Kinder fühlten, hier war ein rechtes Leid eingekehrt.
Sie hätten es aber wohl so bald nicht erfahren, was geschehen war, wenn nicht urplötzlich der Schneidermeister Langbein, der trotz seines Namens so kurz war wie der kürzeste Tag im Jahre, in die Stube geflitzt wäre: „Nachbar, Nachbar,“ schrie er aufgeregt, „ist’s wahr, daß euer Schwiegersohn so viel Geld verloren hat?“
Ja, es war so. Mutter Paulinchen rang jammernd die Hände, und ihr Mann erzählte dem Schneidermeister die ganze traurige Geschichte. Der Schwiegersohn der alten Leute, Friedrich Lange, war ein braver, rechtlicher Mann, er war als Kassenbote in dem größten Bankgeschäft angestellt. Am vergangenen Tag hatte er Geld austragen sollen, er war schon seit einigen Tagen krank gewesen, hatte aber seinen Dienst nicht versäumen wollen. An diesem Nachmittag nun wurde ihm auf einmal schwindelig, gerade als er durch den Stadtwald ging, da hatte er sich zum Ausruhen ein Weilchen auf eine Bank gesetzt, dann war er weiter gegangen. Plötzlich aber hatte er seine Geldtasche vermißt. Hatte er sie verloren, war sie ihm gestohlen worden? Er wußte es nicht, er war gleich umgekehrt und hatte gesucht, vergeblich, nirgends war die Tasche zu finden gewesen. Stundenlang hatte er noch gesucht, war auf die Polizei gelaufen, den Verlust zu melden, alles vergeblich. Der Direktor der Bank war, als ihm die Sache erzählt wurde, so zornig gewesen, daß er den armen Mann gleich entlassen und ihm gedroht hatte, er würde ihn anzeigen, wenn er nicht binnen drei Tagen das Geld herbeischaffte. „Und wenn wir zusammen alle unsere ersparten Groschen hergeben,“ klagte der alte Klaus, „dann reicht es noch nicht einmal, und die gute Stellung hat mein Schwiegersohn auch verloren, wo wird er nun Arbeit finden.“
Es war wirklich sehr trübselig in dem alten Turm gewesen, bedrückt waren die Kinder von dannen geschlichen, und niedergeschlagen saßen sie nun auf der Stadtmauer und überlegten, wie dem Pantoffelmacher zu helfen sei. Ach, in ihren Sparbüchsen war auch nicht viel Geld. Jörgel sagte verächtlich, als Brigittchen davon sprach: „Das nutzt gar nichts, viel mehr Geld müssen wir haben.“
„Wenn wir den Schatz fänden,“ sagte Wendelin plötzlich sinnend.
„Ja wenn, wo liegt er denn, wenn wir das nur wüßten?“ brummte Severin.
„Im ehemaligen Klostergarten, Heine hat’s gesagt,“ murmelte Wendelin halblaut, als fürchtete er, jemand könnte das große Geheimnis hören.
Heine war ein Bäckergeselle, der für die beiden Bäckerbuben ein Orakel war. Sie fragten Heine nach allen möglichen Dingen, und wenn Heine etwas sagte, stimmte es sicher.
„Im Klostergarten?“ rief Jörgel, „das könnte schon sein, Klaus hat auch einmal gesagt, das Kloster sei einst reich und mächtig gewesen?“
„Wir wollen den Schatz suchen,“ sagte Brigittchen eifrig. „Paßt auf, wir werden ihn finden, dann helfen wir Klaus und schenken allen Leuten was zu Weihnachten!“
„Fein,“ schrie Anne-Marte und baumelte vor Vergnügen so mit ihren Beinchen, daß der Mörtel von der alten Stadtmauer herabrieselte.
„Fein wär’s schon,“ meinte auch Wendelin, und Severin und Jörgel riefen wie aus einem Munde: „Wir können ja mal suchen!“
„Einen Schatz graben soll aber gefährlich sein,“ flüsterte Wendelin; Brigittchen und Anne-Marte quiekten graulich: „Nein, nein, wir fürchten uns!“
„Vor was denn, ihr Mauerschwalben?“ fragte eine Männerstimme. Unten auf dem Promenadenweg stand ein Herr, der lachend die fünf auf der Mauer betrachtete. Jörgel erkannte seinen Onkel, Stadtrat Weber, in dem Spaziergänger und dachte, nun würde es Schelte geben, weil er auf der Mauer saß, doch der Onkel nickte ihm nur freundlich zu und ging weiter. Die fünf aber steckten die Köpfe zusammen und tuschelten und wisperten, große Pläne waren es, die sie schmiedeten, sie bekamen leuchtende Augen und heiße Wangen und beinahe wären sie zu spät zum Essen gekommen, so eifrig hatten sie miteinander beraten.
An diesem Nachmittag suchten Wendelin und Severin den Bäckergesellen Heine in der Backstube auf. Der war gerade aufgestanden, denn so ein armer Bäcker muß die Nacht zum Tage machen und umgekehrt. Ein bißchen knurrig und verschlafen sah Heine daher den Buben entgegen, kaum hatte er aber gehört, was sie wollten, da wurde er gleich putzmunter. An den vergrabenen Schatz hatte er nämlich schon lange gedacht, er meinte, etwas Wahres würde schon an der Geschichte sein, weil er sich aber nicht auslachen lassen mochte, hatte er noch mit niemand ernstlich darüber geredet. Auch war er recht furchtsam und meinte, ohne ein Gespenst könnte es beim Schatzgraben sicher nicht abgehen. „Heisa,“ dachte er nun, „vielleicht finden die Kinder wirklich den Schatz, dann bekommst du auch deinen Teil, und finden sie ihn nicht, na, dann bist du wenigstens nicht der Ausgelachte und geschehen kann dir auch nichts.“ Er gab also den beiden bereitwilligst Auskunft. „Der Schatz liegt sicher unter dem sogenannten Schwedenstein auf dem alten Klosterhof,“ sagte er, „dort grabt ihr einfach morgen, wenn es dunkel ist, ihr müßt halt so lange graben, bis ihr den Schatz findet!“
Wendelin und Severin nickten. Ja, das war schon recht einfach, wenn nur die Dunkelheit nicht gewesen wäre. Das Graben selbst beunruhigte sie nicht weiter, denn das Stück vom Klosterhof, auf dem sich der Schwedenstein befand — ein altes Steindenkmal, dessen Inschrift niemand mehr lesen konnte — war den Buben recht gut bekannt. Es war der Grasgarten, der an die Bäckerei stieß, ein stiller, verlorener Winkel, der auf der einen Seite vom Kreuzgang der Marienkirche begrenzt wurde. Obstbäume standen jetzt da, wo vor langen Zeiten fromme Mönche gewandelt waren, und die Frau Bäckermeisterin Gutgesell trocknete ihre Wäsche auf dem Platz.
Einen richtigen, wohlgepflegten Garten anzulegen, dazu hatte niemand recht Zeit im Bäckerhause; der Vater meinte, ein Grasgarten sei für die Buben gerade ein rechter Spielplatz, und an warmen Sommerabenden saß die Familie gern in der grünen Wildnis, es vermißte niemand gepflegte Wege und zierliche Blumenbeete.
„Warum nur abends, am Tage können wir doch gerade so gut graben?“ murrte Wendelin.
„Nee, das geht und geht nicht; wer einen Schatz graben will, der muß es in der Dunkelheit tun, sonst findet er ihn nicht, und der Mond muß scheinen, und der scheint morgen gerade, also ist’s recht,“ beharrte Heine. Der gute Heine war nämlich nicht allein furchtsam, sondern auch noch schrecklich abergläubisch, „es geht schon über die Hutschnur, wie sehr,“ pflegte der Altgeselle Martin zu sagen.
Wie töricht eigentlich der gute Heine mit all seinem Aberglauben war, das merkten freilich die Buben nicht, und sie glaubten ihm auf’s Wort. Sie seufzten zwar sehr, und der Gedanke an das nächtliche Schatzgraben legte sich ihnen wie eine Zentnerlast auf das Herz. „Uff,“ ächzte Wendelin, „das wird graulich,“ und Severin stöhnte herzbrechend.
Auch Jörgel, Anne-Marte und Brigittchen fanden die Sache sehr bedenklich. Zwei Tage lang gingen alle fünf mit sorgenvollen Gesichtern herum. Als aber am dritten Tage Tante Mathilde erzählte, man habe den Schwiegersohn vom alten Turmwärter Hippel ins Gefängnis gesteckt, da schluchzte Brigittchen bitterlich, und weinend sagte sie zu ihren Freunden: „Wir müssen den Schatz holen!“
Es traf sich, daß am nächsten Tage Doktor Fabian mit seiner Frau über Land fuhr, Brigittchens Vater war wieder verreist, so konnten die Kinder noch nach dem Abendessen in das Bäckerhaus eilen, ohne daß es jemand recht beachtete. „Komm rechtzeitig wieder,“ sagte Tante Mathilde zu Brigittchen, dann vertiefte sie sich in ein Buch und vergaß darüber die Zeit. Die Köchin Marie bei Doktor Fabian aber saß in der Küche und strickte, schlief darüber ein und merkte es auch nicht, daß die Kinder gar nicht heim kamen. Im Bäckerhause war an diesem Abend besonders viel zu tun; in Neustadt sollte am nächsten Tage ein Turnfest gefeiert werden, dazu waren viele große Apfel- und Pflaumenkuchen bei Meister Gutgesell bestellt worden, es hieß also fleißig bei der Arbeit sein.
„Geht zu Bett,“ sagte die Meisterin zu ihren Buben, und weil diese, so viele dumme Streiche sie auch machten, doch folgsam waren, meinte sie, ihr Befehl sei ausgeführt und die Buben wären ins Bett gegangen.
Die aber saßen mit ihren Freunden zitternd und zagend in ihrer Schlafkammer, und je später es wurde, je graulicher wurde ihnen zu Mute. Zur Aufmunterung erzählten sie sich noch allerlei Schauergeschichten, lauter dummes, unwahres Zeug, und je mehr sie sich erzählten, je ängstlicher wurden sie.
Auf einmal klopfte es leise an der Türe, Heine erschien mit einer großen Stallaterne und drei Spaten. „Jetzt laß ich euch zur Hintertüre hinaus, s’ist gerade Zehn, und der Mond wird gleich zum Vorschein kommen; nun macht eure Sache gut. Wenn ihr fertig seid, dann klettert ihr die Leiter hinauf, die am Fenster der zweiten Backstube steht, und pfeift, ich mache euch dann die Türe wieder auf und laß’ euch herein! Laßt euch man nicht von ’n Gespenst oder so was erwischen, weil’s nämlich mit dem Schatzgraben manchmal bedenklich ist,“ ermahnte er noch. Diese Worte trugen gerade nicht dazu bei, den Mut der Kinder sonderlich zu stärken.
„Es ist schrecklich gruslich!“ wimmerte Anne-Marte. Brigittchen schluckte krampfhaft die Tränen herunter; sie dachte an den alten, guten Klaus Hippel und daß sie ihm so gern helfen wollte. Ganz mutig tappte sie also hinter den Buben drein; auch Anne-Marte folgte, als sie die Freundin so beherzt sah.
Als sich aber die Haustüre hinter den Fünfen schloß und sie so allein in dem einsamen Grasgarten standen, fing es allen an sehr unheimlich zu werden. „Pah, s’ist gar nichts, nur los,“ rief Jörgel patzig; er guckte dabei rechts und links, ob sich auch niemand blicken ließ.
„Wir sind doch schon oft so spät draußen gewesen,“ prahlten Severin und Wendelin, und dabei war es, als ob ihnen die Füße am Boden festklebten. Endlich aber faßten sie sich alle an und marschierten tapfer auf den alten Stein los, der in einer Ecke des Grasgartens stand.
Es war ein etwas stürmischer, aber warmer Herbsttag. Der Wind spielte mit dunklen Wetterwolken am Himmel Haschen, und mal flog eine Wolke da, mal dorthin, und der Mond, der sich gern in seinem vollen Glanz zeigen wollte, hatte rechtschaffene Mühe, immer wieder hinter den Wolken hervorzuschauen. Das Häuflein Kinder auf dem alten Klosterhof kam ihm gewiß recht wunderlich vor.
Unter Seufzen und Ächzen begannen die Buben zu graben. Wendelin hatte gerade eine kleine Erdscholle ausgehoben, als er flüsterte: „Es hat geklirrt!“
„Unsinn,“ brummte Severin, „ich hab’ an die Laterne gestoßen.“
„Ich hab’ was,“ schrie Jörgel und bückte sich. Er hob etwas Schweres, Dunkles mühsam auf, und flugs beugten alle fünf ihre Nasen darüber.
„Ein Stein,“ murrte Wendelin verächtlich, und Jörgel ließ den Stein mit einem großen Plumps wieder fallen.
„Ihr müßt besser leuchten,“ ermahnte Severin die Mädels, und Anne-Marte hielt die Laterne so dicht hin, daß es plötzlich einen lauten Krach gab, Wendelin war mit seinem Spaten in die Laterne gefahren und — aus war sie.
Stumm vor Schreck standen die Kinder in der Dunkelheit da. Am liebsten wären sie alle eins, zwei, drei davon gelaufen, aber sie schämten sich doch ein bißchen ihrer Zaghaftigkeit.
Just kam der Mond hervor, auch vom Bäckerhause her strahlten Lichter in die Dunkelheit hinein, und mutig begannen die Buben wieder zu graben. „Es muß auch ohne Laterne gehen,“ trösteten sie sich gegenseitig. „Es ist ja gar nicht so dunkel, bewahre, ganz hell!“
„Es klirrt,“ schrieen auf einmal alle.
„Ich hab’ was,“ frohlockte Severin bald darauf.
„Ich auch,“ rief Jörgel.
Pardauz fuhren die Buben mit ihren Köpfen zusammen, jeder griff nach etwas.
„Mein Spaten,“ schrie Severin.
„Meiner ist’s,“ knurrte Jörgel.
„Wo habt ihr den Schatz? Ist’s eine große Kiste?“ fragten die andern.
Aber es war keine Kiste, im Mondlicht konnten die beiden erkennen, daß einer des anderen Spaten erfaßt hatte. Das war eine rechte Enttäuschung und sie gruben brummelnd weiter. Ach, war das schwer!
„Dauert das lange, ehe ihr den Schatz findet,“ seufzte Anne-Marte.
„Na grab’ du doch,“ sagte Jörgel unwirsch, aber gleich darauf tröstete er wieder: „Wir werden ihn schon finden.“
„Es raschelt was,“ flüsterte Brigittchen plötzlich, „da bewegt — sich — was!“
Rutsch verschwand der Mond wieder hinter einer Wolke und furchtsam schauten alle ins Dunkel.
„Es ist der Wind,“ sagte Jörgel mutig, „seid nicht so dumm, wer soll uns denn was tun, losgegraben!“
Etliche Minuten schafften die drei Buben eifrig und die Mädels standen still dabei, fürchteten sich und wagten es doch nicht zu sagen.
„Potztausend, jetzt ist da was,“ schrie Severin, und zu gleicher Zeit jammerte Brigittchen: „Mein Bein, mein Bein, ach, mich faßt wer an mein Bein, huhuhu.“
„Dein Bein ist’s?“ sagte Severin verblüfft und ließ Brigittchens Bein los, die ein wenig in das gegrabene Loch getreten war.
„Mein Bein ist doch kein Schatz,“ klagte die Kleine, denn der Bube hatte kräftig zugefaßt.
Den andern kam die Sache jetzt spaßhaft vor, sie kicherten laut und leise und auf einmal war alle Furcht wie weggeblasen. Sie lachten, schwatzten und gruben, machten Pläne, wie sie den Schatz verwenden wollten, als plötzlich langsam und dröhnend die Uhr von St. Marien zu schlagen begann.
„Halb elf ist’s schon,“ murmelte Wendelin, „so schrecklich spät.“ „Ach, ich bin so müde,“ gähnte Severin, ihm war es eingefallen, wie behaglich es doch sei im Bett zu liegen und zu schlafen.
„Es raschelt wirklich was,“ quiekte Anne-Marte. Die anderen horchten ängstlich und gespannt. Der Wind fuhr sausend durch die Baumwipfel und der Mond saß wieder hinter der dicken Wolke, sein Licht versilberte nur fein deren Ränder.
Aber durch das Brausen und Sausen kam noch ein anderer Ton, wie ein Ächzen klang es, dann wie ein Schnauben und Stampfen.
Die Mädels zitterten wie Espenlaub, Severin und Wendelin hielten ihre Spaten krampfhaft umfaßt und nur Jörgel wagte zu sprechen: „Es ist nichts, wenn’s windig ist, gibt es oft so komische Töne,“ sagte er, aber seine Stimme schwankte ein wenig.
„Wenn es nur nicht so dunkel wäre,“ klagte Brigittchen, und es klang als zirpte ein verflogenes Vögelchen.
„Es kommt was!“ schrie Wendelin und machte einen Satz, länger als er selbst war.
„Huh!“ brüllte Severin, den ganz unvermutet etwas Ungeheuerliches angerannt hatte.
Ein wildes Zetergeschrei erhob sich, da war ein Gespenst, ein Ungeheuer, irgend etwas Furchtbares. Der Mond, der gerade wie ein rechter Schelm hinter seiner Wolke hervorguckte, ließ das unheimliche, schnaubende Ding im ungewissen Licht riesengroß und grauenerregend erscheinen. Zur Ehre sei’s gesagt, daß die Buben in dieser Not die Mädels nicht im Stich ließen, Jörgel ergriff Brigittchens Hand, Wendelin riß Anne-Marte mit fort, Severin purzelte heulend hinterdrein, und so jagten alle fünf in wilder Hast dem Hause zu.
„Die Leiter hinauf in die Backstube“, keuchte Jörgel. Von dort grüßte kein Licht, wie verabredet war, die Schatzgräber; Heine mußte nicht in der Backstube sein. Aber dies kümmerte die Kinder herzlich wenig. Eins nach dem andern hastete zitternd vor Angst die Leiter hinauf und hopste oben in die Backstube.
Klatsch, war Brigittchen drin, Jörgel folgte. „Uff,“ ächzte er, „was ist denn das!“
„Es ist so weich!“ schrie Anne-Marte, die ihm folgte. „Ich bin in — in — den Teig gefallen,“ jammerte Wendelin. Plumps, fiel Severin in die Kammer, es gab einen Krach, ein Angstgeschrei, die Kinder prusteten, husteten, klagten, heulten, keins wußte, was geschehen war, und sie meinten nicht anders als das Gespenst sei ihnen gefolgt.
„Potztausend noch mal, was ist denn hier für ein Lärm?“ rief eine dröhnende Stimme. Eine Tür öffnete sich und hell flutete ein breiter Lichtstrom in die dunkle Backstube.
Meister Gutgesell stand auf der Schwelle, hinter ihm erschien der Altgeselle, die Meisterin, ein Lehrjunge und ganz im Hintergrunde tauchte flüchtig Heines verstörtes Gesicht auf, es verschwand aber rasch.
„Na, Schockschwerenot, was ist denn das für eine Bescherung?“ rief der Meister und sah entsetzt auf fünf krabbelnde, zappelnde Wesen, die sich auf — ungebackenen Pflaumenkuchen herumwälzten und die verschleiert wurden von einer dichten, weißen Mehlwolke; eine große Backmulde lag umgestürzt am Boden. Beim Anblick der Eltern begannen die beiden Bäckerbuben Zeter und Mordio zu schreien, Brigittchen und Anne-Marte halfen ihnen dabei, nur Jörgel schwieg; er war gerade mit dem Gesicht in einen Pflaumenkuchen gefallen und prustete, leckte und spuckte, um nur Luft zu bekommen.
„Alle guten Geister, was ist das?“ rief die Meisterin. Sie drängte sich vor und ergriff eins der kleinen, schreienden Wesen, es war Brigittchen, die sie erfaßt hatte.
„Das Gespenst!“ jammerte die Kleine, und klammerte sich an die Frau und „das Gespenst, das Gespenst!“ erklang es heulend im Chor.
„Na, nun schlag’s dreizehn!“ schrie der Meister zornig, „was soll denn das nur bedeuten, Wendelin, du Schlingel, was machst denn du auf dem Pflaumenkuchen?“
„Das ist kurios,“ sagte der Altgeselle, der nicht leicht aus seiner Ruhe herauskam. „So was hab’ ich meiner Lebtage noch nicht gesehen“.
„Na, ich auch nicht, ei, ihr heillose Gesellschaft, ihr!“ wetterte der Meister und ergriff Severin rechts und Wendelin links, und spaßhaft sah die Sache in diesem Augenblick für die beiden Buben wirklich nicht aus.
Trotz ihres eigenen Kummers aber sah Brigittchen, daß es ihren Freunden schlimm ergehen sollte, und schluchzend rief sie: „Ich — ich — bin dran — schuld, ich — ich — wollte den Schatz — — — —.“ Weiter kam sie nicht, der Teig, der ihr im Gesicht klebte, kam ihr in den Mund und sie schluckte krampfhaft.
„Kommt erst mal alle vor,“ sagte die Meisterin nicht unfreundlich; sie sah ihren Mann bittend an und der faßte Severin und Wendelin und zog sie mit fort, die Meisterin mit den anderen drei Kindern folgte.
In der Küche wusch ihnen die gutherzige Frau erst die verweinten, mit Teig und Mehl beschmierten Gesichter ab, dann sollten die kleinen Missetäter erzählen. Das ging aber nicht so einfach. Erst schrieen alle durcheinander, dann kamen die beiden Mädels immer wieder ins Heulen, und Severin und Wendelin sagten nur: „Wir haben’s doch nicht böse gemeint.“ Da nahm sich Jörgel zusammen und tapfer erzählte er die ganze schreckliche Geschichte.
„Solche Dummköpfe, wie ihr fünf aber auch seid,“ brummte der Meister.
„Sechs Dummköpfe,“ murmelte der Altgeselle und sah strafend nach der Türe, hinter der Heine zagend lauschte.
„Ja, sechs, Heine ist der größte,“ rief Meister Gutgesell, und husch war der lange Heine hinter der Türe verschwunden.
Die Meisterin meinte milde und nachsichtig, Strafe hätten die Kinder eigentlich genug gehabt für ihr heimliches Tun. Daß sie in die Pflaumenkuchen gefallen waren, dafür konnten sie freilich nichts; weil es viele Kuchen waren, hatte nämlich der Meister sie, was sonst nicht geschah, in die zweite Backstube auf die Erde stellen lassen. Heine hatte, als er dies gesehen, die Kinder auf dem Hof abpassen wollen, über aller Arbeit aber nicht zur rechten Zeit hinunter gehen können.
„Meine schönen Kuchen, ein Jammer ist’s,“ brummte Meister Gutgesell grollend, und Wendelin und Severin senkten ihre Nasen fast bis zur Erde.
„Ach — und — und dem alten Klaus — können wir — wir — nichts geben,“ schluchzte Brigittchen, die schon ganz dick verweinte Augen hatte.
„Die Kinder müssen vor allen Dingen nach Hause gebracht werden,“ sagte die Meisterin, die in ihrem gütigen Herzen inniges Mitleid mit den kleinen, verunglückten Schatzgräbern empfand.
„’s war unser Esel,“ sagte auf einmal Martin, der Altgeselle, der ein Weilchen das Zimmer verlassen hatte und eben wieder eintrat.
„Was soll denn das heißen, was ist denn nun wieder mit unserem Esel?“ rief der Meister, der seinen Ärger noch nicht überwunden hatte und einen neuen vermutete.
„Das Gespenst war er,“ erwiderte Martin trocken.
„Unser Grauchen war — das Gespenst?“ schrie Severin und riß den Mund weit wie eine Schublade auf.
„Unsern Esel habt ihr für ein Gespenst angesehen, o, ihr Bangbüxen, ihr kleinen, törichten Hasenfüße, ihr,“ rief der Meister, und sein verärgertes Gesicht hellte sich auf; er lachte so herzlich, daß seine Frau, der Geselle und der Lehrjunge mit einstimmten. Anne-Marte, die ohnehin eine rechte Lachtaube war, kicherte ebenfalls, und zuletzt lachten alle aus vollem Halse. Selbst Brigittchen lächelte ein wenig, freilich nicht sehr, ihr war das kleine Herzchen doch recht schwer.
„Komm, ich führe dich selbst heim,“ sagte die Meisterin liebevoll; sie hatte das zarte, liebliche Kind besonders in ihr Herz geschlossen. „Ihr Buben geht jetzt zu Bett, aber wirklich,“ wandte sie sich zu Wendelin und Severin, „und ihr Doktorkinder kommt, ich bringe euch alle miteinander heim, damit ihr endlich zur Ruhe kommt.“ Brigittchen ging mit zaghaften Schritten auf Meister Gutgesell zu, „bitte verzeihen Sie,“ stammelte sie, und es war, als hätte dies Wort die Zungen der anderen Kinder gelöst, bittend umdrängten sie den Meister.
„Na, laßt man,“ sagte der gutmütig, „um die schönen Kuchen und das gute Mehl ist’s freilich schade, aber es soll euch verziehen sein, nur versprecht mir, daß ihr nicht mehr auf den Gedanken kommt, bei Nacht und Nebel auf’s Schatzgraben auszugehen, das ist dummer Schnickschnack.“
Das versprachen die Kinder freilich gern, die Angst lag ihnen noch schwer in den Gliedern und sie waren alle froh, so heil davon gekommen zu sein. „Mit Freund Heine werde ich aber noch ein ernstes Wörtchen reden,“ murmelte Meister Gutgesell, „wehe, wenn der mir noch mal den Kindern solche Narrenpossen vorredet, so ein abergläubisches Geschnack kann ich meiner Seel’ nicht leiden!“
Der Altgesell grinste: „Einer denkt s’ist ein Gespenst und dann ist’s ’n Esel, so geht’s allemal. Schatzgraben, Unsinn, schade um unsern Pflaumenkuchen.“
„Ja, schade drum,“ meinte auch der Meister, „aber nun rasch an die Arbeit, sonst kriegen meine Kunden morgen ob der Gespenstergeschichte keine Semmeln zum Kaffee.“
Die Meisterin brachte die drei Kinder nach Hause; die bekamen an diesem Abend freilich noch manches Scheltwort zu hören und sie waren alle drei herzlich froh, als sie erst im Bett lagen. Die Doktorskinder schliefen bald wie die Murmeltiere, Brigittchen aber lag noch lange mit offenen Augen da, sie dachte nur immer: „Nun wird dem alten Klaus nicht geholfen.“
Es wurde ihm aber doch geholfen, und zwar von niemand anderem als von Brigittchens Vater.
Die Schatzgräbergeschichte blieb nicht verborgen. Der Lehrjunge, der früh die Semmeln austrug, erzählte sie da und dort, und einer erzählte sie dem anderen weiter, und alle Leute lachten darüber. Die fünf Schatzgräber hatten mancherlei Neckereien zu tragen, aber dies focht sie nicht sonderlich an, weil das Ende der Geschichte so gut wurde. Herr Schön hörte, als er am nächsten Tage von seiner Reise zurückkam, auch von der Sache, Brigittchen erzählte ihm selbst alles; er sagte nicht viel dazu, aber er ging an dem Nachmittag noch selbst zu dem Bankdirektor und erbot sich, Bürge zu sein für das verlorene Geld. Den Schwiegersohn der Pantoffelmachersleute, den er nämlich als braven Mann kannte, stellte er in seinem Geschäft an, das verlorene Geld sollte er nach und nach ersetzen; Herr Schön zahlte edelmütig dem Mann etwas mehr Gehalt, so daß es diesem möglich war, mit der Zeit die Summe zusammen zu sparen.
Das war ein Jubeltag in dem runden Stadtturm, als Brigittchen in Begleitung ihrer Freunde selbst die frohe Kunde überbrachte. Da gab es wieder Lachen, Pfeifen und Singen wie sonst und es war, als hätte die Sonne gemerkt was los war; sie schaute strahlend hell wie ein frohes Kind in das Stübchen. „Ich erzähl’ euch morgen die allerschönste Geschichte aus meiner alten Chronik,“ sagte Vater Klaus, „nur heute nicht, heute kann ich’s vor Freude nicht“.
„Ich auch nicht,“ sagte Mutter Paulinchen, sie trieselte dabei ganz in Gedanken ihr Strickzeug auf, und als sie es sah, lachte sie. Die Kinder lachten auch und singend und lachend zogen sie dann hinaus, saßen im warmen Sonnenschein auf der alten Stadtmauer und freuten sich, daß alles so gut geworden war.
Doktor Theobald Fröhlich stand in seinem Hause am Fenster und sah hinaus. Draußen schneite es wieder ein bißchen und der Doktor fand Neustadt heute noch stiller als sonst. Acht Tage war er nun schon hier, wie lange sie ihm erschienen! Er seufzte ein wenig; eigentlich gab es doch sehr wenig Unterhaltung in so einem kleinen Nest. Wenn nur erst seine Schwester da wäre, damit er jemand hätte, mit dem er so recht nach Herzenslust plaudern könnte.
„Der Herr Doktor sollte spazieren gehen,“ meinte die alte Dorothee, die sachte durch das Zimmer ging, und wohl sah, daß ihrem Herrn die Stille nicht sonderlich behagte.
„Ja, spazieren gehen, das ist das Beste,“ dachte der Doktor. Er nahm Hut und Wettermantel und stapfte bald vergnügt durch den Schnee. Sein Ziel sollte diesmal die alte Stadtmauer bilden. Es dauerte auch nicht lange, da stand er vor dem alten Wartturm, der eine mächtige weiße Kappe trug und an diesem Wintertag ein bißchen grauer und trübseliger als in Sommerszeiten drein schaute. Das Blumenbrettlein fehlte vor dem Fenster, auch Pantoffeln hingen nicht wie sonst heraus, nur ein kleines, schwarzes Schild zeigte an, daß man hier Pantoffeln kaufen könnte. Auch daß ein Museum im Turm war, las der Doktor unten am Eingangstore; das war ihm gerade recht; kurz entschlossen öffnete er die graue, verwitterte Pforte, und schrill schlug die kleine Türglocke an.
„Mutter Paulinchen, ich glaube, es fliegt ein weißer Spatz in den Turm,“ sagte oben Klaus Hippel.
„I nee, bei dem Wetter,“ meinte die Pantoffelmacherin und lachte, als hätte ihr Mann die spaßhafteste Sache von der Welt erzählt.
Ihr Lachen fand Widerhall, denn das Turmstübchen war voller Gäste. Mit roten Wangen, roten Nasen und Ohren, die sie sich draußen in der Kälte geholt hatten, saßen Brigittchen, Anne-Marte, Jörgel und die Brüder Gutgesell auf der Ofenbank und auf Mutter Paulinchens großer Truhe. Meister Hippel erzählte ihnen gerade wieder etwas aus seiner alten Chronik.
„Es kommt doch wer, Paulinchen,“ sagte der Pantoffelmacher, und da trat auch schon Doktor Fröhlich in die Stube. Der Doktor vergaß vor lauter Erstaunen ordentlich guten Tag zu sagen, denn so etwas wie dieses kleine Turmgemach hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Es sah so bunt und lustig aus wie eine Jahrmarktsbude. Meister Hippel klebte nämlich jedes Bild das er bekommen konnte, an die Wand, dazwischen hingen rote, grüne und braune Tuch- und Samtpantoffeln, zwei Vogelbauer, eine alte Landsknechtlanze und ein krummer Säbel; auf einem Brett standen bunte Teller und Krüge, vor den Fenstern blühten trotz des Winters allerlei Blumen; Blumen und rote Herzen waren auch auf den Schrank und auf die Truhe gemalt. Dazu trug Frau Paulinchen noch ein blitzeblaues Kleid.
„Gelt, kunterbunt sieht’s bei uns aus, Herr Doktor Fröhlich?“ sagte Klaus Hippel.
Der Doktor mußte lachen: „Ja, woher wissen Sie denn, wer ich bin?“
„Du meine Güte, in Neustadt werden die Menschen bald bekannt, außerdem ist die alte Dorothee noch eine Schwestertochter von meines Schwiegersohns Großmutter,“ sagte der Pantoffelmacher und zwinkerte lustig mit den Augen.
„Was ist sie denn da, Vater Klaus?“ rief Jörgel, verdutzt ob der schwierigen Verwandtschaft.
„Ei, sieh mal an, da sind ja die Schatzgräber,“ sagte der Doktor, der die Kinder erkannte. Die lachten und wurden ein bißchen verlegen, aber bald überwanden sie ihre Schüchternheit, und es dauerte gar nicht lange, da saß der Doktor im Pantoffelmacherstübchen und plauderte mit allen wie ein guter, alter Freund.
Mutter Paulinchen zeigte ihm auch das Museum, und die Kinder stiegen die Turmtreppe mit hinauf, sie wollten erklären helfen. „Die Waffen stammen aus dem dreißigjährigen Krieg!“ erzählte Frau Paulinchen, „und diese hier aus der Franzosenzeit.“
„Wann war denn der dreißigjährige Krieg?“ fragte der Doktor neckend, und unglückseligerweise richtete er seine Frage gerade an Wendelin.
Der seufzte schwer, Geschichte, Geographie und noch manche andere Fächer waren seine schwache Seite.
„Der war, der war — als Napoleon lebte,“ sagte er endlich kühn.
Der Doktor lachte, und die anderen Kinder kicherten. „Wie lange hat der Krieg denn gedauert?“
„Sieben Jahre!“ rief Wendelin stolz ob seiner gewaltigen Kenntnisse.
Die andern lachten hell auf, nur Brigittchen nicht, der tat es gleich leid, daß der Freund ausgelacht wurde, und schmollend sagte sie: „Es ist doch nicht schlimm, wenn Wendelin ein paar Jahre weniger sagt.“
„Na eben,“ brummte Wendelin, der jetzt merkte, daß er eine Dummheit gesagt hatte, „meinetwegen kann der dreißigjährige Krieg auch zehn Jahre gedauert haben.“
„Hier sind auch ein paar alte Handschriften,“ sagte Mutter Paulinchen mitten in das allgemeine Gelächter hinein, „sie sind erst vor ein paar Jahren gefunden worden, aber gelesen hat sie noch niemand. Es war zwar mal ein berühmter Professor da, der wollte sie studieren, er hatte damals aber keine Zeit, und dann ist er gestorben“. Doktor Fröhlich blätterte in den alten Pergamentschriften herum, er konnte die altertümliche Handschrift gut lesen, und die Sache interessierte ihn. Am liebsten hätte er die Blätter mit nach Hause genommen, aber das ging doch nicht an, Pantoffelmachers durften nichts aus dem Museum verborgen. „Der Herr Bürgermeister wird es schon erlauben,“ meinte Mutter Paulinchen.
„Ich möchte auch wissen, was darin steht,“ flüsterte Brigittchen mit versonnenen Augen. Die Kleine war ein rechtes Märchenkind und Geschichten lesen und hören, war für sie das allerallergrößte Vergnügen.
Doktor Fröhlich hatte die Worte gehört, und lächelnd versprach er: „Wenn eine Geschichte darin ist, die Kindern gefallen kann, dann erzähle ich sie euch, wollt ihr?“
Ob sie wollten! Keines sagte nein, und sie versprachen dem Doktor Fröhlich alle, sie wollten ihn recht bald besuchen. Und als er gegangen war — er hatte es sehr eilig, vom Herrn Bürgermeister die Erlaubnis zu erbitten, die alten Schriften lesen zu dürfen — da sprachen die Pantoffelmachersleute und die Kinder noch viel von dem neuen Bekannten. Aber sie hatten nicht, wie es wohl vorkommt, hinter dem Rücken allerlei zu tratschen und zu klatschen, sie waren alle miteinander einig, Doktor Theobald Fröhlich sei ein furchtbar netter Herr.
„Ach, und ein Dichter ist er,“ sagte Brigittchen, und riß vor Bewunderung ihre Veilchenaugen so weit auf, als wollte sie zwanzig Märchen auf einmal lesen.
„Nu,“ erwiderte Klaus Hippel, „einen Dichter können wir in Neustadt auch gerade gebrauchen, wenn der nur die Augen aufmacht und in die Ohren keine Watte stopft, dann sieht und hört er hier so viele Dinge, daß er zehn Bücher voll schreiben kann“.
„Mein Onkel Mayer sagt,“ rief Severin ein bißchen naseweis, „Neustadt wäre ein langweiliges Nest!“
„Dummer Junge!“ schrie der Pantoffelmacher ärgerlich, „wenn das dein Onkel sagt, na, dann kennt halt dein Onkel Neustadt nicht, aber du brauchst so was von deiner Heimatstadt nicht nachzuplappern. Schön ist Neustadt, das sage ich, und ich kenn’ es doch, bin mein Lebtag nicht herausgekommen. Meinetwegen mag Berlin schöner sein und München und Köln und alle großen Städte und der Schwarzwald und auch die Schweiz, Italien, das Meer, was du willst, aber schön ist Neustadt drum. Guckt euch nur ordentlich darin um. Und wenn der Doktor Fröhlich ein rechter Dichter ist, dann gefällt es ihm hier und er bleibt nicht nur bei uns, weil er hier ein Haus hat, sondern weil er die Stadt liebt. Damit punktum; nun macht, daß ihr nach Hause kommt, ich wette, ihr habt alle noch keine Schularbeiten gemacht“.
Das stimmte nun. Die Kinder trabten davon und unterwegs sagte Wendelin zu Anne-Marte: „Vater Klaus ist wirklich schrecklich klug, wie konnte er nur wissen, daß wir noch unsere Schularbeiten zu machen haben?“
Herr Doktor Fröhlich war inzwischen spornstreichs zu dem Bürgermeister Henning gelaufen und hatte dem sein Anliegen vorgetragen, man möchte ihm gestatten, in den alten Schriften zu lesen. Der Bürgermeister hatte nichts dagegen, ja, er freute sich darüber und sagte: „Vielleicht lesen Sie manches, was für die Neustädter Interesse hat, es ist doch immer gut, wenn man etwas von seiner Heimat aus alten Zeiten weiß“.
Gleich am nächsten Tage holte sich Doktor Fröhlich die alten Schriften von Klaus Hippel ab und dieser bat: „Erzählen Sie mir auch, was drin steht, ich höre zu gern alte Geschichten“.
Dorothee hatte in dem braunen Kachelofen in der Bücherstube ein mächtiges Feuer gemacht und es war prachtvoll gemütlich in dem weiten Raum. Doktor Fröhlich saß darin bis in die Nacht hinein und las in den alten Schriften. Während draußen die Flocken fielen, las er wie vor vielen, vielen Jahren die Leute in Neustadt gelebt und gekämpft hatten, und wie sie durch Freude und Leid gegangen waren.
Als dann nach zwei Tagen kleine, rotgefrorene Hände die Glocke an der Haustüre zogen, und Jörgel und Wendelin ein wenig verlegen nach dem Herrn Doktor Fröhlich fragten, da ließ die alte Dorothee die beiden in das Arbeitszimmer ihres jungen Herrn. „Na,“ fragte der, „ihr kommt allein, wo sind denn die andern, ihr denkt wohl, ich soll euch beiden allein eine feine Geschichte erzählen?“
„Die trauen sich noch nicht,“ sagte Jörgel, „Brigittchen sagt, sie dürfte eigentlich nicht zu fremden Menschen gehen“.
„Na, so was!“ rief Dorothee, „sie ist doch oft zu uns gekommen, wie meine alte, gnädige Frau noch lebte, ich werde sie holen gehen“. Nach einem Weilchen kam die Alte zurück, und richtig, sie brachte die schüchternen drei Schatzgräber mit. Die kamen himmelgern und waren froh, daß sie geholt worden waren. Dann saßen alle beisammen in dem gemütlichen Zimmer, und der Doktor erzählte ihnen eine der alten Neustädter Geschichten, er nannte sie:
In Neustadt war vor etlichen hundert Jahren, in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, Albrecht Mooshage Bürgermeister. Damals war die Stadt noch reich und angesehen, sie gehörte nicht wie heute zu den Kleinen im Lande. Die Neustädter Bürger waren geachtete Handelsleute, die mit ihren Waren auf die Messen und Märkte der großen Städte zogen. Sie wußten sich auch in vielen Kämpfen gut ihr Recht zu wahren und verteidigten ihre Stadt tapfer gegen mancherlei Unbill. Damals sah es in dem alten Wachtturm am Südtor der Stadt, in dem jetzt Klaus Hippel mit seiner Frau wohnt, nicht so behaglich aus wie heute. Die Stadtsoldaten wohnten in den vier Tortürmen, die es gab, und bewachten die Stadt gut. Es war eine wilde, rauflustige Zeit, und jeder, der durch ein Stadttor kam und ging, mußte Auskunft über woher und wohin geben. Oft genug waren auch die Tore geschlossen, und draußen lagerte ein reisiges Heer, um die Stadt einzunehmen. Das gelang ihnen freilich nicht, erst im dreißigjährigen Krieg ist ja dann das arme Neustadt halb zerstört worden. Der Bürgermeister Albrecht Mooshage war recht ein Mann, um die Stadt gegen alle Unbill zu verteidigen. Er war wie von Eisen, was er wollte, das setzte er durch, und es war nicht gut Kirschen essen mit ihm im Bösen. Als ganz junger Bursche schon hatte er mit einer Handvoll Söldnern ein großes, bischöfliches Heer in die Flucht geschlagen; wie der Sturmwind war er zwischen die Feinde gefahren, die waren gerannt, als wäre ein böser Geist hinter ihnen. Damals hatten die Ratsherren auf der Stadtmauer gestanden und aus vollem Halse darüber gelacht, der älteste von ihnen aber hatte gesagt: „Der soll mal unser Bürgermeister werden“. Er war es auch bald geworden, solch’ jungen Bürgermeister hatte Neustadt noch nie gehabt, freilich auch keinen besseren. Denn Albrecht Mooshage war nicht allein stark, mutig und klug, sondern auch gerecht und fromm, und er litt kein Unrecht. Er war schon etliche Jahre Bürgermeister, als ihn ein großes Unglück betraf: sein junges Weib starb. Die schöne Frau Regina Mooshage war so mild und gut wie eine Heilige gewesen, und als sie starb, da weinten und klagten nicht bloß die Leute aus ihrer Sippe, sondern auch alle Armen und Kranken. Dem Bürgermeister blieb nur ein einziges Kind als Trost. Ein Mägdlein, so fein und blond wie seine Mutter. Die kleine Gertrudis war ein sinniges Kind, das mit gar ernsthaften Augen um sich sah. Als sie etwa zehn Jahre alt war, läutete eines Tages in Neustadt wieder einmal die Sturmglocke, die Feinde ankündigte. Etwa zwei Stunden von Neustadt entfernt liegt noch heute die Ruine Reiffenstein, damals war sie ein stattliches Schloß, das den edlen Herren von Stein gehörte. Der Herr Wunibert von Stein auf Reiffenstein war ein erbitterter Feind der Neustädter, der den Pfeffersäcken, so nannte er die Bürger, gern etwas am Zeuge flickte. Die Fehde zwischen Schloß und Stadt war schon sehr alt, niemand wußte mehr recht, wer angefangen hatte, aber mit der Zeit waren beide so giftig auf einander geworden, daß eines dem anderen immer gern einen Schabernack spielte. Jetzt aber hatte der Herr von Stein auf Reiffenstein in dem Bischof Albert einen mächtigen Freund gewonnen. Auch der Bischof war aus irgend einem Grunde den Neustädtern gram, und die beiden beschlossen, der Stadt einen Fehdebrief zu senden und sie zu belagern.
Der Herzog des Landes war gerade auf einen Reichstag in der Ferne, und damals handelten die Ritter gern auf eigene Faust, ohne viel zu fragen, ob sie auch ganz im Recht wären. Von dieser Absicht erhielt der Bürgermeister Albrecht Mooshage durch einen Handelsmann Kunde, der auf seinem Wege an Schloß Reiffenstein vorübergekommen war. Zu gleicher Zeit erfuhr er auch, daß der zweite Sohn des feindlichen Nachbarn von der Klosterschule, auf der er zwei Jahre gewesen war, heimkehrte. Sein Weg führte ihn dicht an Neustadt vorbei, und der Ritter wollte erst des Sohnes Heimkehr abwarten, ehe er die Stadt überfiel. Als Geisel konnte der kleine Junker der Stadt viel nützen, und der Stadthauptmann Kunz Peuchtinger ritt schnell dem Junkerlein zum freundlichen Empfang entgegen. Etliche Stunden später brachten die Reiter zwei gefesselte Troßknechte und einen blassen, hübschen Knaben von etwa elf Jahren durch das Südtor in die Stadt. Darauf wurden die Tore geschlossen, die Sturmglocken geläutet. Neustadt war kriegsbereit.
Der Stadthauptmann wollte das Junkerlein in eins der unterirdischen Verliese werfen lassen, aber dem widersprach der Bürgermeister. „Es ist ein Kind, und Schande über uns, wenn wir Kindern etwas zu Leide tun wollten,“ sagte er. „Kommt her, Junker, und schwört, daß ihr die Stadt nicht heimlich verlaßt, dann sollt ihr in meinem Hause Wohnung finden“.
Der blasse Knabe schüttelte trotzig die dunklen Locken: „Bewacht mich doch,“ rief er kühn, „ich schwöre nichts!“
„Heisa, das Klosterschülerlein will uns Trotz bieten!“ riefen die Ratsherren und lachten. „Rasch mit ihm ins Verlies, dort soll er schon sanftmütiger werden“.
„Nein, nicht ins Verlies, ich stehe für ihn,“ sagte Albrecht Mooshage ernst, dem der Bursche gefiel und dem es leid war, ihn in dem dunklen, feuchten Keller zu wissen, in dem schon mancher Gefangene elend zu Grunde gegangen war.
Die Ratsherren waren mit dem Entschluß des Bürgermeisters zufrieden. Dessen Haus war wie eine kleine Festung, und Knechte und Mägde waren ihrem Herrn so treu ergeben, daß niemand heimlich aus- und eingehen konnte. Albrecht Mooshage nahm den kleinen Junker bei der Hand und führte ihn in sein Haus. Dann rief er sein Töchterlein herbei und sagte: „Da sieh her, Gertrudis, hier bringe ich dir einen Gefährten, du mußt ihn mir aber wohl hüten, ich habe mein Wort verpfändet, daß er nicht entflieht“.
Gertrudis sah erstaunt auf den blassen Knaben, der beim Anblick des lieblichen Mägdleins verlegen den Kopf senkte. Er hatte sich bei dem Überfall tapfer gewehrt, sein Wams war daher zerrissen und beschmutzt und er schämte sich dessen. Gertrudis hatte gerade von Frau Barbara, der Haushälterin, einen schönen, roten Frühapfel erhalten, den streckte sie flink dem Buben hin und sagte lächelnd: „Magst du ihn, ich geb’ ihn dir gern“.
Der kleine Junker Fridolin nahm den Apfel zwar nicht, aber über sein trauriges Gesicht ging ein heller Schein, es war ihm nun nicht mehr so bang ums Herz als vorher. Er folgte dann willig der Frau Barbara, die ihn in ein Kämmerlein neben des Hausherren Schlafgemach führte, das er fortan bewohnen sollte. Wohl hatte die Kammer ein vergittertes Fenster, und Fridolin merkte auch schnell genug, daß er immer bewacht wurde, trotzdem fühlte er seine Gefangenschaft nicht allzusehr. Gertrudis war so lieb zu ihm wie ein treues Schwesterlein, war er traurig, da wußte sie ihn gar hold zu trösten. Er mußte ihr von daheim erzählen, von seiner väterlichen Burg, von dem Vater, der zwar ein etwas rauflustiger Herr war, aber doch gar gut zu den Seinen. Am liebsten aber hörte es Gertrudis, wenn der Knabe von seiner schönen, frommen Mutter sprach, von ihrer Güte und wie oft sie ihm, dem älteren Bruder Hans und den kleinen Schwestern Geschichten aus der Bibel und Märlein erzählt hatte, wenn sie schnurrend die Spindel drehte.
Den Kindern gingen die Tage friedsam hin, sie hörten wenig von dem was draußen geschah. Der Bürgermeister hatte es seinem Hausgesinde verboten, von der Belagerung der Stadt zu sprechen. Auch Gertrudis durfte in dieser Zeit nie auf die Straße; das von einer hohen Mauer umfaßte Gärtchen war der Tummelplatz der Kinder. So erfuhren sie nicht, daß vor den Mauern das feindliche Heer lagerte und zwischen dem Rat und dem Herrn von Stein und dem Bischof Boten hin und her gingen, die über den Frieden unterhandelten. Die Kinder ahnten auch nicht, daß eines Tages der Rat den kleinen Junker köpfen lassen wollte, weil sein Vater sich nicht in die Friedensbedingungen fügte. — Der Bürgermeister Albrecht Mooshage aber verteidigte eifrig seinen Schützling, der Knabe war ihm lieb geworden, und er atmete erleichert auf, als Bischof und Ritter sich zum Frieden bequemten. Etliche Monate war Fridolin im Hause des Bürgermeisters gewesen, und aus dem Herbst war inzwischen Winter geworden, als er seine Freiheit wieder erhielt. Es war am St. Andreastag, da wurde er feierlich von dem Rat vor das Südtor geführt, dort erwartete ihn sein Vater, der ihn mit heller Freude in die Arme schloß. Vorher hatte Gertrudis traurig von ihrem Freunde Abschied genommen. Sie schenkte ihm ein goldenes Amulett an einem feinen Kettlein, das sie von ihrer Patin bekommen hatte. „Trag’ es immer, es wird dir Glück bringen,“ bat sie. Fridolin versprach es; er selbst gab der kleinen Freundin ein Gebetbuch, in das ein frommer Klosterbruder zierliche Bilder gemalt hatte. Das Buch war des Knaben einziges Besitztum.
„Vergiß mich nicht,“ bat Gertrudis weinend.
„Ich vergesse dich nie, und wenn ich groß bin, dann komme ich und hole dich, dann wirst du meine Frau,“ beteuerte Fridolin. Er war schon draußen, da rief ihm Gertrudis noch nach: „Sag’ deiner Frau Mutter einen Gruß!“
Anfangs hoffte Gertrudis immer, sie würde ihren Freund einmal wiedersehen, aber Monat auf Monat verging, die Monate wurden zu Jahren, er kam nicht. Aus der kleinen Gertrudis wurde eine schöne Jungfrau, „das schönste Mädchen in der Stadt“ sagten die Leute. „Und das beste und frömmste,“ fügten die Armen und Kranken hinzu.
Albrecht Mooshage war noch immer Bürgermeister zum Segen der Stadt, die unter seiner Führung an Macht und Ansehen zunahm. Dies aber erregte den Neid ihrer Nachbarn, und Neider waren es auch, die Neustadt bei dem Landesherrn, Herzog Bernhardt, verklagten. Besonders der Bischof Albert war Ankläger, mit ihm noch ein Ritter von Scherblingen. Die beiden behaupteten, die Stadt, die an der Grenze lag, wollte den Herzog an seinen Nachbar verraten, Hauptanstifter sei der Bürgermeister. Der Herzog, der von heftiger Gemütsart war, fragte nicht lange, ob die Sache auch wahr sei, er forderte den Bürgermeister auf, zu ihm zu kommen und sich zu rechtfertigen oder die Stadt sollte eine harte Strafe erhalten.
Der Rat und die Bürgerschaft baten ihren Bürgermeister dringend, nicht an den Hof des Herzogs zu gehen, sie wollten selbst dessen Zorn Trotz bieten. Aber Albrecht Mooshage sagte: „Ich könnte das nie verantworten, wenn der Stadt um meinetwillen Übles zugefügt würde, ich gehe und sollte es mein Leben kosten. Ich wäre wahrlich ein schlechter Bürgermeister, könnte ich nicht mein Leben für die Stadt lassen!“
So ging er, begleitet von den Segenswünschen seiner Mitbürger und den heißen, heißen Tränen seines Kindes. Bald darauf kam in die Stadt die Kunde, Albrecht Mooshage sei vom Herzog wegen Hochverrates zum Tode verurteilt worden, der Stadt selbst würde, da sich ihr Oberhaupt freiwillig gestellt hätte, nur eine geringe Geldbuße auferlegt. Vergeblich beteuerten Rat und Bürgerschaft die Unschuld des Verurteilten, vergebens boten sie eine hohe Lösesumme für seine Freiheit, der Herzog gab nicht nach.
Während die ganze Stadt auf Rettung sann, verließ die schöne Gertrudis eines Tages heimlich die Stadt, sie wollte sich dem Herzog zu Füßen werfen und um Gnade bitten. Sie hatte sich in eine Pilgerkutte gehüllt, und, ebenfalls als Pilger verkleidet, folgte ihr der treue Hausverwalter Kaspar auf dem gefährlichen Wege. Sie ritten beide in der Frühe eines sonnigen Frühlingsmorgens zur Stadt hinaus, der Stadthauptmann wußte, wer die Pilger waren, und ungehindert ließ er sie durch. Der Weg führte durch einen meilenweiten Wald, in dem die Wege manchmal fast undurchdringlich waren, und die Reisenden kamen nur langsam vorwärts, viel zu langsam für Gertrudis Angst um den geliebten Vater. Sie hatte keinen Blick für die Schönheit ringsum, und nicht wie sonst freute sie sich am Sonnenglanz, an den tausend Blumen und dem Gesang der Vögel. Sie dachte nur an den Vater, und ob es ihr gelingen würde, ihn zu befreien.
Sie waren beide schon viele, viele Stunden geritten, als auf einmal ein schmerzliches Stöhnen an ihr Ohr klang. Erschrocken lauschten beide, es war ein Mensch, der da klagte. Wohl flehte Kaspar angstvoll: „Seid vorsichtig, Jungfrau Gertrudis, kommt rasch weiter,“ aber mutig ritt Gertrudis dem Stöhnen nach. Wo ein Mensch Hilfe brauchte, da zögerte sie nie zu helfen, an ihr eigenes Wohlergehen dachte sie nicht. Bald fanden die Reisenden auch, fest an einen Baum gebunden, einen schönen, dunkellockigen Jüngling in Jägertracht. Er war verwundet, sein ganzes Gesicht war blutüberströmt, er mochte wohl von Wegelagerern im Walde überfallen worden sein.
Gertrudis besann sich nicht weiter, sie sprang rasch vom Pferde, löste mit Kaspars Hilfe die Bande des Gefesselten, der nun befreit ohnmächtig zusammensank. Rasch und geschickt verband Gertrudis dann des Jünglings Wunden, die, wie sie bald sah, nicht gefährlich waren. Dabei verschob sich die Kapuze ihrer Kutte und der Ohnmächtige, der einige Augenblicke die Augen aufschlug, sah erstaunt in Gertrudis holdseliges Gesicht. Dann verlor der Jüngling wieder das Bewußtsein; er merkte es nicht mehr, daß Kaspar ihn vor sich auf das Pferd nahm und mit ihm weiter ritt. „Wir müssen uns sputen, Herrin,“ sagte der ängstlich, „um noch vor Nacht aus dem Walde zu kommen, namentlich mit diesem jungen Herrn, dem man wohl nachstellen mag“.
Sie gelangten aber ohne Unfall aus dem Walde heraus bis zu einer Herberge, dessen Wirtin Kaspar wohl bekannt war. Dort übernachteten beide, da die Pferde der Ruhe bedurften.
Gertrudis übergab den Verwundeten der Pflege der Wirtin. Ehe sie aber am Morgen davonritt, sah sie noch einmal nach dessen Wunden, dabei sah sie ein goldenes Amulett an des Junkers Hals, und nun erkannte sie in diesem Fridolin, ihren einstigen Gespielen. Da entfloh sie rasch, denn sie fürchtete, er möchte erwachen und sie erkennen. Bei dem eiligen Aufbruch aber verlor sie ihr Gebetbuch, das sie zum Trost auf ihrem schweren Wege mitgenommen hatte. Sie merkte es bald, aber sie fürchtete sich umzukehren und rasch ritt sie mit Kaspar weiter.
Als Gertrudis nach einigen Tagen in die Herzogsstadt einritt, da erfuhr sie zu ihrem Entsetzen, daß schon in drei Tagen ihr lieber Vater hingerichtet werden sollte. Vergebens suchte sie zum Herzog zu gelangen, der hatte viele Gäste auf seinem Schloß, und die Wachen wollten den Pilger nicht zu ihm lassen. Da beschloß Gertrudis, am Tage des öffentlichen Gerichtes des Herzogs Gnade zu erflehen. Es gelang ihr aber, ihren Vater zu sehen. Zwar blickte der Schließer den Pilger, dessen Gesicht ganz von einer Kapuze verhüllt war, mißtrauisch an, aber als Gertrudis ihm ein Geldstück gab, da ließ er sie doch zu dem Gefangenen. Der saß in einem dumpfen, halbdunklen Verlies, und Gertrudis wollte schier das Herz brechen, als sie den geliebten Vater so elend sah. Weinend umschlang sie ihn, der Bürgermeister aber erschrak heftig, als er sein Kind erblickte. Es war damals schon eine recht gewagte Sache, wenn ein Mägdlein eine Reise tat, Räuber und Wegelagerer gab es genug auf den Straßen, und Frauen pflegten meist nur unter starker Begleitung zu reisen. Gertrudis erzählte nun dem Vater, wie sie hergekommen sei; daß sie für ihn des Herzogs Gnade erflehen wollte, verschwieg sie jedoch, denn sie fürchtete, der Vater möchte in große Sorge um sie kommen. Es war den beiden nur ein kurzes Wiedersehen vergönnt, dann mußte Gertrudis scheiden, um nicht den Verdacht des Schließers zu erregen. Ihr Vater segnete sie zum Abschied, ermahnte sie zu allem Guten, und unter bitteren Tränen schieden beide von einander.
In ihrem Pilgergewand lag dann Gertrudis die ganze Nacht vor dem festgesetzten Gerichtstage im Dom vorm Altar und betete für ihren Vater. Dabei kam eine wundersame Ruhe über sie, es war immer, als hörte sie eine Glocke tönen: „Sei getrost, sei getrost, es wird alles gut werden“. Und als sie am Morgen in den strahlenden Frühlingssonnenschein hinaustrat, da faßte sie des alten Kaspar Hand und sagte zuversichtlich: „Es muß ja gut werden“.
Auf dem Anger vor der Stadt hielt an diesem Tage Herzog Bernhardt ein öffentliches Gericht ab, dort wollte er das letzte Urteil über den Bürgermeister von Neustadt sprechen, öffentlich sollte der hingerichtet werden. Viele Leute waren auf dem Anger; auf einem erhöhten Platz saß der Herzog im Kreise seiner Räte und Gäste, und alles Volk konnte es sehen, wie der Gefangene vor den Fürsten geführt wurde.
In diesem Augenblicke drängte sich ein Pilger vor und mit dem Rufe: „Gnade, Herr, Gnade für meinen Vater!“ warf Gertrudis die Kutte ab und sank zu des Herzogs Füßen. Der betrachtete nicht ohne Rührung das holdselige Mädchen, und er fragte ernst, aber nicht hart: „Wer bist du, und wie kommst du hierher?“
Gertrudis vermochte vor Schluchzen nicht zu sprechen, und Albrecht Mooshage sagte trüb: „Es ist mein einziges Kind, gnädiger Herr“.
Durch die Menge schritt jetzt eilig ein junger Mann in ritterlicher Kleidung, er sah ein wenig bleich und erschöpft aus, aber stolz und aufrecht trat er vor den Herzog. Gertrudis sah beglückt auf den Jüngling, sie erkannte ihn wohl, und auf einmal erklang wieder hell die Glocke der Hoffnung in ihrem Herzen.
„Was wollt Ihr?“ fragte der Herzog, er sah den schmucken Junker nicht ungnädig an.
„Donner, ja, das ist mein Sohn!“ rief plötzlich der alte Herr von Stein, der sich auch in dem Gefolge befand und gerade hinter dem Herzog saß. Mutig schaute Fridolin von Stein den Herzog und seinen Vater an, dann sagte er: „Ich will meine Bitten mit denen der Jungfrau hier vereinen; ich schulde ihr heißen Dank, sie hat mir vor etlichen Tagen das Leben gerettet“. Dann erzählte der Junker wie ihm ergangen war, und daß er seine Retterin an dem verlorenen Gebetbuch erkannt habe. Da sei er, kaum genesen, schnell hierher geritten. Er sagte zuletzt so recht aus tiefstem Herzen heraus: „Mein gnädiger Herr, übt Gnade an diesem Mann, wahrlich, er verdient es!“
„Ihr bittet für Eures Hauses Feind?“ fragte der Herzog und sah den Junker scharf an.
„Ja, da schlag doch das Wetter drein!“ rief Herr Wunibert von Stein, „aber nichts für ungut, gnädiger Herr, ehrlich währt am längsten. Beim Himmel, ich bin den Neustädtern auch nicht grün, aber für einen Hochverräter halte ich ihren Bürgermeister doch nicht!“
Und plötzlich erhoben sich noch mehr Stimmen für den Angeklagten, manch’ einer, der aus Zagheit geschwiegen hatte, sprach nun für ihn. Der Herzog, der, wenn sein rascher Zorn verraucht war, billig und gerecht dachte, wandte sich an die Ankläger und ließ die noch einmal ihre Beweise vorbringen. Die hatten mancherlei zu sagen, aber wenn einer ruhig und überlegen prüft, kommt er oft zu anderer Ansicht als im ersten Zorn. So erging es auch dem Herzog; die Beweise erschienen ihm auf einmal recht lückenhaft und anfechtbar, und so sagte er endlich: „Ich werde die Sache nochmals von andern Räten untersuchen lassen. Dich, Albrecht Mooshage, Bürgermeister von Neustadt, gebe ich frei, so du schwörst, daß du, wenn du schuldig befunden wirst, dich freiwillig meinem Urteil stellst“.
„Mein gnädiger Herr Herzog,“ sagte der Bürgermeister ruhig, „ich kam, als Ihr rieft, und so werde ich immer kommen, wenn Ihr ruft. Ich bin mir keiner Schuld bewußt!“
Da gab ihn der Herzog frei, und das Volk, das alles mit angehört hatte, jauchzte laut, die beiden falschen Ankläger aber verließen gar geschwind die Stadt, es war ihnen recht bänglich zu Mute. Der Herzog, der bald die völlige Unschuld des Bürgermeisters erkannte, verbannte später beide von seinem Hofe; er führte über den Bischof Albert Klage beim Papst, der diesen seines Amtes entsetzte.
Fridolin von Stein verließ neben Albrecht Mooshage und Gertrudis den Anger, und der alte Herr von Stein auf Reiffenstein sah den dreien etwas mißmutig nach. Er grollte auch gewaltig, als Fridolin ihm später erklärte, er wollte Vater und Tochter heimbegleiten. „Es sind unsere Feinde,“ brummte er. Das mannhafte Auftreten des Bürgermeisters, der bereit gewesen war, sein Leben für den Frieden seiner Vaterstadt hinzugeben, hatte ihm aber doch so gefallen, daß sein Zorn sich besänftigte, und es hatte doch auch Gertrudis seinen Sohn gerettet. Das Ende vom Liede war, daß er selbst mit heimritt. Er versicherte zwar, seine Feindschaft gegen Neustadt sei nicht etwa vorbei, nur sicher heimgeleiten wollte er Vater und Tochter, das sei Christenpflicht, auch sei er niemand gern etwas schuldig, selbst einem Mägdlein nicht. Ein wenig mürrisch ritt also der Ritter an des Bürgermeisters Seite heimwärts, aber war es die sonnenhelle Frühlingspracht, oder war es das frohe Plaudern seines Sohnes mit Jungfrau Gertrudis, was ihn erheiterte, kurz und gut, sein Gesicht hellte sich nach und nach auf, er wurde ganz gesprächig. Der alte Kaspar ritt hinterdrein und dachte in seinem Sinn: „Ob es nun nicht immer so friedlich in der Welt zugehen könnte“.
Die Neustädter aber meinten schier, sie müßten auf den Rücken fallen, als an einem Sonntag Mittag ihr Bürgermeister heil und unversehrt in die Stadt einritt, neben ihm die beiden Herren von Stein auf Reiffenstein. Die Freude war so groß, daß, wie der Chronist schreibt: das Geschrei kein Ende nehmen wollte. „Im Mai des folgenden Jahres“, schreibt dann der Chronist weiter, „hielt Herzog Bernhardt Einzug in seine vielliebe und getreue Stadt Neustadt. Und ritten ihm Rat und Bürgerschaft bis vor das Südtor entgegen, und konnte jeglicher merken, mit welcher Freundlichkeit unser gnädiger Herr Herzog mit unserer lieben Stadt Bürgermeister, Herrn Albrecht Mooshage, sprach. Und dessen Jungfrau Tochter grüßte er mit gar freundlichem Lachen und verlobte sie alsbald mit dem Junker Fridolin von Stein. Hatte auch des Junkers Herr Vater nichts mehr dawider zu sagen und war doch einstens so feindlich unserer Stadt gesinnt.“
„Wie geht’s denn weiter?“ fragte Wendelin, kaum daß der Doktor das letzte Wort gesprochen hatte.
Der lachte: „Ja, Kinder, die Geschichte ist halt zu Ende. Aber jedenfalls ist es dem Bürgermeister und seinen Kindern gut gegangen. Albrecht Mooshage hat noch viele Jahre sein Amt verwaltet, nachher wird der Herr Fridolin von Stein als Bürgermeister genannt. Von dem sagte der Chronist auch, daß er ein gerechter und frommer Mann gewesen sei. Er hat auch auf Bitten seiner Frau das Gertrudenspital erbaut und hat es nach seiner viellieben Hausfrau so genannt. Die schöne Gertrudis ist eine glückliche Frau geworden, sie ist aber nicht allein glücklich gewesen, sie hat auch andere glücklich gemacht, und das ist das Beste, was man von einem Menschen sagen kann“.
Ein Weilchen noch schwatzten die Kinder dies und das, Doktor Fröhlich beantwortete ihnen noch allerlei Fragen, dann liefen sie heim, und auf dem Heimweg sagte Jörgel zu Brigittchen: „Ich möchte auch so werden wie Albrecht Mooshage“. „Und ich wie Gertrudis,“ flüsterte Brigittchen und wurde ganz rot dabei. Jörgel aber rief: „Es ist doch fein, daß unser Neustadt schon so alt ist und eine so wichtige Stadt war!“
Das sagte Klaus Hippel auch, als er die Geschichte erfuhr, und daß just der alte Südtorturm der war, in dem er wohnte, freute ihn am allermeisten.
Die Tage vor Weihnachten sind zwar, so behaupten wenigstens die erwachsenen Leute, recht kurz, den Kindern erscheinen sie aber mitunter endlos lang, und als Severin Gutgesell drei Tage vor dem Feste sagte: „Ich glaube, diesmal wird es überhaupt nicht Weihnachten,“ da fand sein Bruder Wendelin, daß er vollständig Recht hätte.
An eben diesem Tage wurde auch dem Doktor Theobald Fröhlich die Zeit herzlich lang. Er hatte zwar noch sehr viel in seinen alten Schriften zu lesen und gehörte auch sonst nicht zu den Leuten, die sich vor lauter Faulheit langweilen, aber an diesem Tage meinte er doch, die Uhr rücke recht, recht langsam vorwärts. Und war der Doktor ungeduldig, so war es die alte Dorothee nicht minder. Wohl zehnmal erinnerte sie: „Ist es noch nicht Zeit, auf den Bahnhof zu gehen? Der Weg streckt sich“.
Endlich rief ihr Herr: „Dorothee, jetzt gehe ich, Zeit ist noch reichlich, aber stillsitzen kann ich nicht mehr“. —
„Ist auch recht!“ rief die Alte, „das Kaffeewasser wird gleich hingesetzt; du meine Güte, so ein junges Ding, und kommt mutterseelenallein aus einem fremden Lande angereist“.
„Aber nun bleibt sie hier, hurra!“ rief der Doktor, und krach, fiel die Haustür hinter ihm zu.
Er hatte auch Grund zu Freude und Ungeduld, denn er ging auf den Bahnhof, um seine Schwester Helene abzuholen, die nun wirklich, gerade zur rechten Zeit, um ordentlich mit dem Bruder Weihnachten zu feiern, in Neustadt anlangte.
Fräulein Helene Fröhlich, die immer aussah, als wäre ihr Name eigens für sie erfunden worden, hatte Neustadt nicht verschlafen, sie fiel auch nicht auf dem Bahnsteig hin wie ihr Bruder, sondern direkt in dessen weitgeöffnete Arme hinein. Weinend und lachend zugleich lagen sich die Geschwister in den Armen. Drei Jahre hatten sie sich nicht gesehen, eine halbe Ewigkeit schien ihnen dies zu sein. So strahlend sahen beide aus in der Wiedersehensfreude, daß alle Leute, die auf dem Bahnhof waren, anfingen, sich mit zu freuen. Der Herr Inspektor lachte, und der Mann, der die Billetts knipste, auch, ein altes Frauchen sagte: „Nu ja, man denkt s’ist heute schon Weihnachten“.
„Ja wirklich, hier ist Weihnachten,“ rief Helene jubelnd, „hier ist doch Schnee, weißer, weicher Schnee. In Hamburg regnete es, als ich durchfuhr, in London war dicker, gelber Nebel bei meiner Abreise, aber hier ist Winter, ist Weihnachtswetter, nein, wie froh bin ich“.
Und Arm in Arm schritten die Geschwister durch die verschneiten Straßen dem Hause zu, das ihnen gehörte, und in dem sie nun vereint Weihnachten feiern wollten.
„Sieh da, dort ist das Dach, das ist schon unser Haus!“ rief der Bruder, und die Schwester blieb stehen, und beide sahen so eifrig auf das Stückchen Dach, daß sie fast den schüchternen Gruß überhörten, den ein kleines, weißgekleidetes Mädchen ihnen bot.
„Das ist ja Brigittchen!“ rief Doktor Fröhlich und gab der Kleinen die Hand.
„Da sieh, Lene, wir beide hier sind schon recht gute Freunde miteinander, nicht wahr, Brigittchen?“
Die Kleine nickte, sie reichte der fremden Dame etwas zaghaft ihr Händchen, und Helene Fröhlich beugte sich liebreich zu dem Kinde herab und schaute in die Veilchenaugen, die heute so bitterernst dreinschauten.
„Aber Kind, du machst ja keine Weihnachtsaugen,“ rief Helene, „freust du dich nicht auf Weihnachten?“
„Nein,“ flüsterte Brigittchen scheu und senkte den Blick, dann huschte sie eilig davon.
„Warum ist die Kleine so traurig?“ fragte Helene, aber ihr Bruder konnte ihr darauf keine Antwort geben. „Da mußt du Dorothee fragen, die weiß es vielleicht,“ sagte er.
Dazu kam Helene Fröhlich zwar nicht so bald; sie wurde von der alten Magd mit so viel herzlicher Freude und so heißem Kaffee begrüßt, und mußte gleich das Haus von oben bis unten ansehen, daß sie zuerst gar nicht recht zur Besinnung kam.
„Hier ist die Bibliothek,“ sagte der Bruder.
„Dort nach dem Garten hinaus liegt Fräuleins Zimmer,“ rief Dorothee, „und hier ist der Kaffeetisch gedeckt“.
„Ja, ja, erst Kaffee trinken, aber sieh’ mal hier hinaus, Lene!“ schrie der Bruder aufgeregt.
„Ist es auch warm genug hier, und wieviel Kopfkissen will Fräulein haben?“ fragte Dorothee.
Und so ging es eine Weile fort, und dazwischen lachte Helene, umarmte den Bruder, umarmte die alte Magd und rief: „Ich freue mich ja so, ich freue mich ja so sehr!“
Und über dem Zeigen und Bewundern, Freuen, Kaffeetrinken und Treppauf-, Treppablaufen kam der Abend heran, die Geschwister saßen zusammen und erzählten sich von der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten; da sagte auf einmal Helene: „Ich muß Dorothee fragen, warum Brigittchen keine Weihnachtsaugen hatte“.
Nun, das wußte die alte Magd freilich. Sie erzählte, daß Brigittchens Mutter vor fünf Jahren etliche Wochen vor Weihnachten gestorben sei, seitdem würde wohl das Fest im Hause gefeiert, der Hausherr kümmere sich aber nicht viel darum; Fräulein Mathilde besuche meist ein paar Freundinnen, und so sei die Kleine gewöhnlich allein. „Was nützen ihr da die vielen prächtigen Geschenke,“ sagte die Alte, „Mitfreude und Liebe braucht so ein Kind, und daran fehlt es halt.“
„Mitfreude und Liebe brauchen auch große Menschen,“ rief Helene Fröhlich, „wir wollen Weihnachten zusammenfeiern, Theo, aber auch andere nicht vergessen. Wissen Sie nicht ein paar arme Familien, Dorothee, denen wir bescheren können?“
Die Alte lachte über das ganze Gesicht, sie sah aus wie das reine Behagen, so gefiel es ihr, und sie wußte gleich etliche Leute zu nennen, bei denen die Weihnachtsfreude wohl angebracht war.
„Morgen kaufen wir zusammen ein,“ sagte Doktor Fröhlich, „und Weihnachtsbäume müssen wir schmücken, na, wir können uns tummeln, um fertig zu werden“.
So viel fröhliche Lust hatte das alte Haus lange nicht gesehen, wie in diesen Tagen. Mitten in aller Geschäftigkeit dachte Helene Fröhlich aber doch an Brigittchens traurige Augen, und wie sie dem armen, reichen Kinde zur rechten Weihnachtsfreude helfen könnte. „Ich möchte sie zu unseren Armen mitnehmen, ob sie wohl darf?“ fragte sie die alte Dorothee.
„Ei, da gehe ich halt einfach hinüber und frage,“ erwiderte diese.
„Fräulein Mathilde von drüben ist doch manchmal bei meiner seligen gnädigen Frau gewesen, und das Brigittchen kam oft, da wird es wohl auch heute die Erlaubnis bekommen, zumal der Herr Schön erst gegen Abend von einer Reise wiederkommt, und die Bescherung spät sein wird“.
Gesagt, getan. Dorothee ging ins Nachbarhaus, und Fräulein Mathilde erlaubte den Besuch; sie fand es recht bequem, das Kind auf einige Stunden in guter Obhut zu wissen. Und Brigittchen freute sich. Die schöne Geschichte, die Doktor Fröhlich erzählt hatte, lag ihr noch im Sinn. Froh, aber doch wieder zaghaft, ging sie gleich nach dem Mittagessen hinüber in das Nachbarhaus. Ja, wenn die Freunde mitgewesen wären, dann hätte sie schon Mut gehabt, allein aber war sie ein rechtes Furchthäschen. Doch die Freunde hatten nun mal keine Zeit. Anne-Marte hatte am Morgen nur einmal das Näschen zur Türe hineingesteckt und gerufen: „Ich habe noch mein Kissen für Muttel fertig zu nähen!“ Wendelin und Severin rührten sich an diesem Tage gar nicht zum Hause hinaus, aus Angst, sie könnten etwas Wundervolles verpassen; nur Jörgel war eine halbe Stunde mit seiner kleinen Freundin Schlitten gefahren.
Beinahe wäre Brigittchen an der Türe wieder umgekehrt, so schwer erschien es ihr, allein zu der fremden Dame zu gehen, doch diese hatte schon Umschau gehalten, und sie holte sich geschwind ihren Gast herein. Sie begrüßte das Kind liebevoll und sagte heiter: „Erst mußt du mir helfen Bäume putzen, nachher gehen wir miteinander und tragen Weihnachtsgaben fort, willst du?“
Brigittchen nickte nur. Erst war es, als hätte sie ihren Mund vergessen, und verträumt blickte sie sich um, als sie in ein Zimmer geführt wurde, in dem drei kleine Tannenbäume standen; allerhand glitzernder Schmuck lag dabei, rote Äpfel und buntes Zuckerwerk.
Helene Fröhlich begann geschwind ein blitzendes Sternlein nach dem anderen an die grünen Zweige zu hängen, dabei rief sie munter: „Hilf mir, Brigittchen, da, hänge den Apfel dorthin, hierher einen Schokoladenkringel, tummle dich, geschwind, geschwind, wenn die Sonne untergeht, müssen wir fertig sein!“
Die Kleine griff zaghaft in den schimmernden Tand hinein. Wie wunderhübsch das doch war, daß sie all’ die feinen, zierlichen Dinge an die Bäumchen hängen durfte; da war ein Sternlein, da ein Weihnachtsengel, eine silberne Glocke, leuchtende Kugeln und Ketten.
„Wir wollen auch dabei singen,“ sagte Fräulein Helene, und mit heller Stimme begann sie:
„Alle Jahre wieder kommt das Christuskind!“
Ei, da fiel Brigittchen geschwind ein, und auf einmal tönte in den hellen Zweigesang hinein eine tiefe Stimme; Doktor Fröhlich war in das Zimmer getreten, er wollte nun auch mitsingen. Es klang aber ganz wunderlich, wenn er so tief dazwischen brummte; dichten konnte er wohl, aber nicht singen.
Seine Schwester lachte, und Brigittchen kicherte vergnügt hinter ihrem Bäumchen. Nun kam die alte Dorothee auch herbei und wollte auch mitsingen; sang aber der Herr Dichter so tief, als wollte er in einen Keller fallen, so sang sie so hoch, als wollte sie auf einen Turm klettern. Fräulein Helene kam darüber aus dem Takt, und mit einem fröhlichen Gelächter endete der Gesang.
Inzwischen waren die Bäumchen fertig geworden, und draußen begann sacht die Dämmerung heraufzuziehen. Dann ging es hinaus. Mit Bäumchen und Paketen voll beladen gingen die Geschwister, Brigittchen und Dorothee durch die engen Gäßlein, die hinter St. Marien lagen. In einem schmalen, altertümlichen Haus kletterten Doktor Fröhlich, Fräulein Helene und Brigittchen drei steile, enge Treppen hinauf, und oben führte eine blasse Frau sie in eine armselige Stube.
„Wir sind alle in der Küche, ach! die Kinder können es kaum erwarten,“ sagte sie, und ihr Blick fiel sehnsüchtig auf die Pakete.
„Jetzt spielen wir Weihnachtsmann, Brigittchen,“ sagte Helene Fröhlich, und sie begann geschwind die Pakete auszupacken. Wie in einem Märchen war es, lauter schöne Dinge kamen zum Vorschein, Spielsachen, Kleidungsstücke, Pfefferkuchen und Weihnachtsstriezel. Auf den Tisch wurde ein sauberes Tuch gelegt, das Bäumchen darauf gestellt und eins, zwei, drei war die ganze Stube in ein trauliches Weihnachtszimmer verwandelt. Doktor Fröhlich zog eine kleine Glocke hervor und klingelte, und die blasse Frau und fünf Kinder traten in das Zimmer. Eilig polterten sie herein, aber dann blieben sie alle an der Türe stehen und sahen auf das schimmernde Bäumchen und all’ die schönen Sachen, und ihre Augen strahlten und glänzten, als seien auch darin Lichter angezündet.
„Nun komm husch fort,“ flüsterte Fräulein Helene Brigittchen zu. Sacht schlichen sich die Geschwister und die Kleine aus dem Zimmer, so heimlich, daß Mutter und Kinder in ihrer Freude es gar nicht merkten.
Und weiter ging es, in eine Familie wo der Vater krank lag, er war bei einem Bau verunglückt, auch hier gab es helle Weihnachtsfreude, und der Jubel drang den freundlichen Gebern noch auf die Treppe nach.
„Nun nach dem Gertrudenspital,“ sagte Dorothee, „zu den drei Frauen, die meine selige gnädige Frau immer beschenkt hat“.
Das Gertrudenspital lag dicht an der Stadtmauer; der Weg dahin führte an dem runden Wartturm vorbei, hell leuchteten dessen Fenster in die Dämmerung hinaus. Brigittchen, deren Scheu vor Fräulein Helene schon ganz verschwunden war, erzählte dieser von Klaus Hippel und Frau Paulinchen, und sie hätte gern noch mehr erzählt, aber da war man schon am Gertrudenspital angelangt. Es war jetzt ein Heim für alte Frauen, die hier in ruhigem Frieden ihren Lebensabend verbrachten. Drei von diesen Frauen hatte die verstorbene Tante der Geschwister immer mit allerlei Eßwaren beschenkt, und diese drei Frauen saßen an diesem Weihnachtsabend recht betrübt beieinander. Zu allen andern kamen Angehörige und brachten ihnen etwas zur Weihnachtsfreude, zu ihnen würde wohl niemand kommen, dachten sie, denn ihre alte Beschützerin war tot.
Auf einmal aber trappelte und klingelte es draußen, und herein spazierte Fräulein Helene, ein brennendes Bäumchen in der Hand, Brigittchen und Dorothee schleppten Pakete herbei, und flink hellten sich da die alten Gesichter auf, es gab auch hier echten Weihnachtsjubel.
„Ach, und das feine Bäumchen,“ sagte Trine Tillmann, die älteste der Frauen, „da müssen wir doch nachher gleich die kleine Jantge holen, die hat doch kein bißchen Weihnachtsfreude“.
„Wer ist denn Jantge?“ fragte Fräulein Helene.
Und Trine Tillmann erzählte, Jantge sei eine kleine Waise, von weit her sei sie gekommen, von der holländischen Grenze, hier im Spital sei ihre Urgroßmutter untergebracht, niemand weiter hätte die Kleine auf der ganzen Welt als die alte Frau. Es sei eine besondere Güte von dem Herrn Bürgermeister, daß er erlaubt hätte, daß Jantge vorläufig hier bleiben durfte; was später aus dem Kind würde, das wußte noch niemand. Ein fröhliches Leben hätte die Kleine nun freilich nicht unter all’ den alten Frauen, zumal die Urgroßmutter recht schwach und hinfällig sei. Aber ein liebes Mädelchen wäre Jantge, allezeit freundlich und gefällig, ein rechter kleiner Sonnenstrahl.
„Hätte ich das gewußt,“ sagte Fräulein Helene betrübt, „wie gern hätte ich etwas für das Kind mitgebracht“.
„Sie soll von dem Baum nehmen was sie mag, und Pfefferkuchen und Äpfel soll sie auch von uns haben,“ tröstete Trine Tillmann.
„Ja, das soll sie,“ sagte die alte Bärbe Bach, „s’ist wirklich ein liebes Kind“.
Als die Geschwister Fröhlich und Brigittchen nach herzlichem Abschied von den drei Frauen heimgingen und den langen Flur des alten Gebäudes durchschritten, sahen sie durch eine offenstehende Tür in ein schlichtes, sauberes Zimmer hinein. Dort saß eine alte Frau im Lehnstuhl, und ein kleines, blondes Mädchen brachte ihr sorgsam einen heißen Trank in einer Tasse.
„Das ist gewiß Jantge,“ flüsterte Brigittchen und schaute die Kleine aufmerksam an, die wohl in ihrem Alter sein mochte; sie hatte auch so blonde Haare wie sie selbst, die schauten unter einem weißen Mützchen hervor, und eine große, hellblaue Schürze hatte sie vorgebunden.
„Ja, das wird wohl die kleine Jantge sein; aber nun komm rasch, Kind, sonst schilt deine Tante, daß wir zu lang geblieben,“ sagte Fräulein Helene Fröhlich. Heiter stapften die Wanderer bald darauf durch den Schnee wieder heimwärts. Wieder kamen sie am runden Turm vorbei, hinter dessen Fenster sah man jetzt die Kerzen eines Christbaumes strahlen.
„Nun ist es bald Zeit,“ flüsterte Brigittchen, und Freude lag in ihrem Stimmchen.
„Jetzt hast du Weihnachtsaugen, Kind,“ sagte Helene Fröhlich, als sie der Kleinen unter der Laterne, die gerade vor dem Schönschen Hause brannte, lebewohl sagte. „Behalte deine Weihnachtsaugen und vergiß nicht, mich in den Feiertagen zu besuchen!“
Brigittchen hob sich auf den Zehenspitzen empor, legte ihre Ärmchen um des Fräuleins Hals und sagte ganz leise: „Ich hab’ Sie lieb.“
Ein Weilchen hielt Fräulein Helene das Kind zärtlich in ihren Armen, lieb und warm wie eine Mutter, dann sagte sie heiter: „Nun geh Kleine; fröhliche Weihnacht, sing auch ein Lied unterm Tannenbaum!“
Dann ging Brigittchen in ihr Vaterhaus, dort saß sie noch eine halbe Stunde im dunklen Zimmer, bis hell die Glocke erklang und alle Hausbewohner das Bescherungszimmer betraten. Wie immer ging auch diesmal die Bescherung schnell vorbei, die Dienstleute nahmen ihre Sachen, sagten danke und gingen hinaus; „drinnen kann man sich doch nicht recht freuen,“ meinten sie. Der Hausherr verließ schon nach fünf Minuten das Zimmer, und Fräulein Mathilde rüstete sich zum Fortgehen, sie trug der Köchin noch auf, bald den Baum auszulöschen und sagte zu Brigittchen: „Na Kind, nun spiele nur schön mit all deinen hübschen Sachen, langweilen wirst du dich wohl nicht.“
Da saß nun Brigittchen mutterseelenallein in dem prächtigen Zimmer und schaute auf den brennenden Baum und all die vielen, vielen Spielsachen. Es war alles recht schön, aber ihre Weihnachtsaugen hätte Brigittchen doch beinahe verloren. Zur rechten Zeit aber fiel ihr ein, wie lustig am Nachmittag das Singen im Nachbarhaus gewesen war, und daß Fräulein Helene ermahnt hatte, sie sollte auch bei sich ein Weihnachtslied singen. Sie nahm eine der drei neuen Puppen auf den Arm, holte flugs Lilli, Milli und Cilli, die anderen Puppenkinder herbei, setzte sich mit ihnen auf das Sofa und fing an, ein Weihnachtslied zu singen. „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Sie sang erst leise und zaghaft, dann mit immer hellerem Stimmchen, wie ein kleiner Vogel, der sich im Sonnenschein seines Lebens freut.
Draußen in der Küche wurden die Dienstmädchen plötzlich still. „Unser Brigittchen singt,“ sagten sie. So selten war des Kindes Stimme im Hause zu hören, daß es ihnen fast wie ein Wunder vorkam, daß die Kleine sang. Ihnen fiel auch ein, wie einsam doch das Kind sei, niemand von ihnen hatte sich heute noch recht um die Kleine gekümmert. Sie schlichen sich an die Türe und lauschten, und wie sie so die alten trauten Lieder hörten, da wurde es ihnen erst so recht weihnachtlich, feierlich zu Mute.
Auch Herr Schön hörte den Gesang, auch er dachte dabei daran, wie einsam eigentlich sein Kind sei, und auch er stand auf und betrat leise das Bescherungszimmer. Da saß Brigittchen im Kreise ihrer Puppen, wie ein richtiges kleines Mütterchen, und ihre Augen strahlten wie die Kerzen am Lichterbaum. Jauchzend hell sang sie:
„Alle Jahre wieder
Kommt das Christuskind,
Auf die Erde nieder,
Wo wir Menschen sind.“
Auf einmal sah die kleine Sängerin ihren Vater, da unterbrach sie verlegen ihren Gesang. „Wie schade!“ sagten die Mägde an der Türe. Herr Schön aber ging rasch auf sein kleines Mädchen zu, nahm es auf den Arm und bat: „Sing noch ein Lied, mein Kind, es gefällt mir so!“
Ei wie gern sang da Brigittchen, sie sang alle Lieder, die sie kannte, und zuletzt sangen die Mägde mit und der Gesang rauschte durch das Haus, daß es ein richtiges, frohes Weihnachtshaus wurde.
Noch immer brannten die Lichter am Baum und Herr Schön sagte, sie sollten auch brennen bleiben, er wollte mit seinem Kind unterm Weihnachtsbaum zusammen Abendbrot essen.
Das wurde ein fröhliches Mahl, sämtliche Puppen durften dabei sitzen, große und kleine, alte und neue. Vater und Kind schmausten munter zusammen und dabei erzählte Brigittchen von den Geschwistern Fröhlich gegenüber am Kirchplatz, von der Weihnachtswanderung und von Jantge im Gertrudenspital. Sie erzählte auch, was Fräulein Helene von den Weihnachtsaugen gesagt hatte. „Hab’ ich auch noch welche, Väterchen?“ fragte die Kleine besorgt, denn sie hatte Angst, sie könnte die Weihnachtsaugen verloren haben, und darüber wäre Fräulein Helene gewiß traurig gewesen.
„Freilich hast du sie noch,“ sagte Herr Schön. Er sah tief in die strahlenden Veilchenaugen seines Kindes, und er dachte, das fremde Fräulein müßte doch sehr lieb und gut sein, das seinem Kinde zu diesen leuchtenden Weihnachtsaugen verholfen hatte.
Und dann saß Brigittchen auf ihres Vaters Knieen, sie schmiegte ihr Köpfchen an seine Brust und leise vertraute sie ihm einen großen Herzenswunsch an. Sie wollte einen Teil ihrer neuen Spielsachen der kleinen Jantge im Gertrudenspital schenken. „Darf ich, Väterchen?“ bat sie.
„Ja, du darfst, mein Kind, und weißt du was, morgen gehen wir miteinander zu Fröhlichs hinüber und dann bittest du Fräulein Helene, daß sie mit dir zu Jantge geht!“
Das war ein schöner Feiertagsplan. Brigittchen jubelte laut und dann schwatzte sie noch ein Weilchen mit ihrem Vater, fragte, welche Puppe sie nehmen sollte und welches Buch, bis auf einmal der Sandmann kam, und die strahlenden Weihnachtsaugen sich schlossen. —
Am nächsten Vormittag ging Herr Schön mit Brigittchen wirklich zu den Geschwistern hinüber, und Vater und Kind wurden mit herzlicher Freude empfangen. Fräulein Helene war auch gleich bereit, mit Brigittchen am Nachmittag zu Jantge zu gehen, ja, sie kam auch mit hinüber, sah sich Brigittchens Bescherung an und half für Jantge aussuchen. Eine Puppe, ein Buch, ein zierliches Arbeitskörbchen und noch allerlei hübsche Sachen aus Marzipan und Schokolade.
Gleich nach dem Mittagessen, diesmal noch am lichten Tag, traten Fräulein Helene und Brigittchen ihre Wanderung an. Der Schnee knirschte unter ihren Tritten, denn es war bitterkalt geworden, aber den beiden war es so froh und warm ums Herz, daß sie nicht viel von der Kälte spürten.
In Trine Tillmanns Stube saßen alle Insassinnen des Gertrudenspitals, außer Jantges kranker Urgroßmutter, zusammen und aßen Weihnachtsstriezel und tranken Kaffee dazu, auch Jantge war da, da die Urgroßmutter schlief. Die Kleine saß am Fenster vor dem Tannenbäumchen, an dem sie sich gar nicht sattsehen konnte, und sie hatte so strahlende Weihnachtsaugen, als hätte sie eine glänzende Bescherung bekommen. Als nun aber Brigittchen ein wenig verlegen und doch herzensfroh ihre Herrlichkeiten vor dem kleinen Fremdling auspackte, da jubelte Jantge laut auf.
„Eine Puppe, eine Puppe,“ jauchzte sie und preßte das weißgekleidete Lockenkind zärtlich an ihr kleines Herz.
Brigittchen war auch Kindern gegenüber oft ein bischen scheu, und Jantge vergaß auch leicht vor Schüchternheit den Mund aufzutun, aber die Puppe vereinte die beiden rasch, sie fanden sich im fröhlichen Spiel und nach zehn Minuten waren sie miteinander einig, daß das Puppenkind unbedingt Helene heißen müßte.
Brigittchen wurde das Scheiden beinahe schwer. „Du mußt mich besuchen,“ bat sie.
Trine Tillmanns versprach dafür zu sorgen, und Fräulein Helene sagte auch, sie würde Jantge einmal einladen. So trennten sich denn die Kinder, auf ein fröhliches Wiedersehen hoffend, und für Brigittchen kam der Heimweg durch die stille Stadt an Fräulein Helenes Hand. Das war wundervoll, so durch die stillen, weißen Straßen zu gehen, auf denen heute kaum ein Mensch zu sehen war, und zu lauschen, wie Fräulein Helene erzählte, von diesem und jenem, von dem Weihnachtsfest im großen London, von einsamen und glücklichen Kindern, von heiteren Tagen, die kommen würden, und daß sie beide miteinander gute Freundschaft halten wollten.
Helene Fröhlich hatte so eine liebe, zärtliche Stimme, „die spaziert durch alle Herztüren hinein,“ sagte später einmal Klaus Hippel. Und das war wahr, Brigittchen spürte es auch. Außer ihrem Vater gab es gar keinen Menschen auf der Welt, zu dem sie ein so großes Vertrauen hatte wie zu Fräulein Helene. Diese mußte es wohl gemerkt haben, denn auf einmal sagte sie liebevoll: „Willst du mich Tante nennen, mein kleines Mädel?“
Ach, Brigittchen wollte schon, glückselig sah sie zu der neuen Freundin auf. „Tante Helene, Tante Helene,“ zwitscherte sie wie ein Vögelchen, das sein erstes Liedchen probiert.
Vor der Haustüre gab es noch einen herzlichen Abschied, dann hüpfte Brigittchen in das Haus hinein, um drinnen ihrem Vater alles, alles zu erzählen.
Herr Schön sah immer wieder in die strahlenden Weihnachtsaugen seines Kindes und leise begann sein trauriges Herz froh zu werden. Als Brigittchen beim Zubettgehen sagte: „Weihnachten ist zu wunderwunderschön,“ da nickte er und sagte: „Es war ein gesegnetes Fest!“
Im Fröhlichschen Hause aber saßen Bruder und Schwester zusammen unter dem Weihnachtsbaum, den sie sich wieder angebrannt hatten; sie erzählten sich von ihrer harten, freudlosen Jugend und von dem Glück der Gegenwart. Auch sie sagten beide zu einander aus dankbarem Herzen heraus: „Es war ein gesegnetes Fest!“
Die alte Dorothee pflegte von Klaus Hippel zu sagen: „Ein Kindskopf ist er und bleibt er, so alt wie er ist, und nichts als Flausen hat er im Sinn“.
Das stimmte und stimmte auch wieder nicht. Klaus Hippel konnte, wenn es darauf ankam, so ernsthaft und verständig wie ein Bürgermeister sein, freilich war er auch wieder ein lustiger Geselle, und wenn ihn die Sorgen nicht allzusehr drückten, dann war er heiter und guter Dinge.
Seine größte Lust war in alten Büchern zu lesen, und Märchen und Sagen wußte er mehr, als in zwanzig Kinderbüchern stehen. Und wenn Klaus Hippel erzählte, dann war es immer, als sei er just dabei gewesen, als sei er mit Held Roland durch das Tal von Ronceval geritten, oder wäre selbst allen schönen Frauen und Rittern im Zauberwalde irgendwo begegnet. Besonderen Spaß machte es ihm auch, wenn sich die Leute zu Scherz und Kurzweil verkleideten; als daher Jörgel eines Tages sagte: „Vater Klaus, können wir bei dir nicht einmal Fastnacht feiern?“ da war er gleich mit Freuden dazu bereit.
Bald nach Weihnachten hatte Jörgel das gesagt, und von dem Tage an sprachen die Kinder immer mit heimlicher Lust von dem Fastnachtsspiel bei Klaus Hippel. Der Pantoffelmacher hatte sich nämlich vorgenommen, selbst ein wundervolles Ritterstück zu schreiben; darin kamen zwei Ritter, eine Prinzessin, ihre Hofdamen und ein böser Zauberer vor. Severin und Wendelin sollten die Ritter spielen, Jörgel den Zauberer, Brigittchen war die Prinzessin und Anne-Marte und Jantge ihre Hofdamen. (Jantge war von den fünf Schatzgräbern rasch als Freundin angenommen worden, und sie durfte natürlich auch beim Fastnachtsspiel nicht fehlen.) Die Prinzessin brauchte nichts weiter zu tun als immer „Ach und Weh“ zu seufzen, nur am Schluß mußte sie rufen:
„Teurer Ritter, du hast mich befreit,
Ich danke dir in aller Ewigkeit!“
Die Hofdamen brauchten nur „Ach und Weh“ zu sagen und zuletzt „Hurra“ zu schreien.
Die Ritter hatten es etwas schwerer; erstens mußten sie mit ihren Säbeln rasseln, zweitens mußten sie den Zauberer furchtbar ausschelten und ihn zuletzt mit einem wilden Triumphgeschrei in einen Turm sperren. Der Turm war Mutter Paulinchens Kleiderschrank. Am schwersten hatte es der Zauberer; der war bei dem Stück die Hauptsache, er mußte sich nämlich in ein wildes Tier verwandeln, brüllen und plötzlich ein Rotfeuer anzünden. Klaus Hippels alte Pelzjacke war das Löwenfell, und eine Schachtel Rotfeuer hatte sich Jörgel sogar von seinem Taschengeld erstanden; damit nichts passierte, durfte er aber nur ein einziges Hölzchen anzünden.
Wundervoll sollte das Spiel werden; Zuschauer waren die Pantoffelmachersleute und Schneider Langbein mit seiner Frau. Am letzten Tag meldeten sich noch die Geschwister Fröhlich an, worüber Frau Paulinchen in große Aufregung geriet. Sie hatte nur drei Stühle, und einer davon wurde noch als Thronsessel für die Prinzessin gebraucht.
„Es wird schon gehen,“ sagte der Pantoffelmacher, „nur den Mut nicht verlieren“.
„Es ist doch eine große Ehre, daß so vornehme Leute zu uns kommen, mit was soll ich sie denn bewirten?“ klagte die Pantoffelmacherin.
Ja, du meine Güte, da war guter Rat teuer.
Ihr Mann sah etwas verlegen drein; Punsch und Pfannkuchen muß es zu Fastnacht geben, aber woher sollten sie beides nehmen?
Pantoffelmachers waren arme Leute und just diesen Winter ging es besonders knapp bei ihnen zu, was sie erübrigen konnten, das gaben sie dem Schwiegersohn, damit der bald seine Schuld abtragen konnte. Und Fremde kamen auch nicht, das Museum anzusehen; das Trinkgeld gehörte nämlich den Turmbewohnern, dafür mußten sie aber auch oben immer alles in Stand halten.
„Hm, ja, hm,“ brummte der alte Klaus nachdenklich. Dann nach einem Weilchen schrie er, einen roten Samtpantoffel in der Luft schwenkend, „wegen Punsch und Pfannkuchen kommen die Leute nicht zu uns, sondern wegen meines Stückes, das hat der Doktor selbst gesagt, nämlich weil er auch ein Dichter ist. Und wenn Nachbar Langbein denkt, er kriegt Punsch und Pfannkuchen, na, dann bekommt er halt die Nase auf die Tischecke, wie meine selige Mutter zu sagen pflegte, wenn wir was haben wollten und es nicht bekamen.“
„Punsch und Pfannkuchen wären aber doch fein, ich wollte ich hätte beides,“ sagte Frau Pauline seufzend.
Es war im alten Wächterturm an diesem Morgen just wie in einem Märchen, wo sich einer nur etwas zu wünschen braucht und gleich geht es in Erfüllung. Kaum hatte Frau Paulinchen ihren Wunsch ausgesprochen, so erschien auch schon die Fee, diesmal freilich war es die alte Dorothee. Die brachte eine große Schüssel Pfannkuchen, „selbstgebackene“ sagte sie, dazu eine Flasche Punsch und schöne Grüße von Fräulein Helene.
„Na,“ rief Klaus Hippel vergnügt, „wenn das heute so mit dem Wünschen geht, dann wünsche ich mir auch geschwind irgend etwas ganz Besonderes, etwas so — —“
Klatsch fuhr er da mit seinem roten Pantoffel, an dem er gerade nähte, durch die Fensterscheibe und knax war ein großes Loch darin und der Pantoffel lag draußen auf der Stadtmauer.
Etwas verblüfft schaute der Meister sich um, Dorothee lachte ein bißchen ärgerlich. „Das kommt davon, Gevatter, wenn man so wild herumfuchtelt; ist das eine Art, so mit den Armen rechts und links auszuschlagen, beinahe hätte ich noch eine Kopfnuß dabei gekriegt. Nee, wie kann man nur so alt sein und noch so hitzig! Nun sorgt nur dafür, daß bis zum Nachmittag das Loch im Fenster wieder heil ist, so was kann mein Fräulein nicht vertragen; Löcher in den Fenstern sind wir nicht gewöhnt.“
Damit ging Dorothee hinaus, langsam und gewichtig, so zart wie eine Fee pflegte die gute Alte nicht zu gehen.
Meister Hippel aber beschaute ein bißchen kleinlaut den Schaden, dann ging er zum Glaser und versprach diesem, ihm das nächste Mal seine Pantoffel umsonst zu flicken, wenn er ihm sein Fenster auch umsonst flicken wollte. Das tat der Glaser auch, und als die Gäste am Nachmittag kamen, sah man nichts mehr von dem Loch im Fenster.
Zuerst kamen die Kinder, gleich alle sechs zusammen. Sie kamen, wie Kinder eben meist kommen, mit viel Lachen und Schwatzen, mit viel fröhlicher Lust.
Brigittchen hatte einen weißen Schleier und eine Goldpapierkrone mitgebracht, das war ihr Prinzessinnengewand. Erst hatte Tante Mathilde den Besuch gar nicht erlauben wollen, und da Brigittchen nicht, wie viele andere Kinder, mit Bitten und Schmollen eine Erlaubnis erzwingen konnte, wäre beinahe nichts daraus geworden. Glücklicherweise aber war Fräulein Helene gekommen und Brigittchen zu Liebe hatte diese gesagt, sie würde dann auch zu der Fastnachtsfeier gehen. Fräulein Helene hatte dann auch zwei buntseidene Tücher für die Hofdamen geliehen, und weil Fräulein Helene ging, erlaubte auch Frau Doktor Fabian die Fastnachtsfeier.
Jörgel hatte sich eine alte Maske mitgebracht, die er als Zauberer tragen wollte. Klaus Hippel hatte für die Ritter Severin und Wendelin aus dem Museum zwei Helme und Schwerter geholt. Der gute Alte dachte sich nichts dabei, und die Kinder auch nicht und doch wäre beinahe eine schlimme Geschichte daraus geworden.
Vorläufig waren alle ungemein lustig, selbst das sonst so stille Brigittchen kam gar nicht aus dem Kichern heraus. Und als noch alle von dem Pfannkuchen- und Punschwunder des Morgens erfuhren, da wurde die kleine Turmstube beinahe zu eng für all den fröhlichen Lärm.
Meister Hippels Fensterplatz in der tiefen Nische der dicken Mauer, das war das Schloß, in dem die Prinzessin mit ihren Dienerinnen gefangen saß, und vor dem Schloß sollte sich der Kampf mit dem Zauberer abspielen. Die Zuschauer kamen zur rechten Zeit. Die Spieler steckten derweil hinter einem großen Brett, das Frau Paulinchen an die Kommode angestellt hatte, nur die Prinzessin saß mit ihren Hofdamen im Erker, und als Schneider Langbein mit seiner Frau als erste Zuschauer kamen, da ging das Seufzen und Stöhnen der Gefangenen los, es war zum Steinerweichen. Anne-Marte mußte sich zwar immer wieder umdrehen, sie konnte und konnte das Kichern nicht unterdrücken.
Für die Gäste waren die zwei Stühle an der Türe aufgestellt worden, dem Fenster gerade gegenüber, und die Geschwister Fröhlich kamen auch sehr pünktlich, gleich nach dem Schneidermeister und seiner Frau.
Doktor Fröhlich sah die Helme der Ritter Severin und Wendelin über dem Brett hervorragen. „Die sind aus dem Museum,“ dachte er, „ei, ei, Meister Klaus, sollte das erlaubt sein!“ Er wollte aber das Vergnügen nicht gleich durch einen Tadel stören, darum sagte er nichts.
Brigittchen vergaß ganz ihre Prinzessinnenrolle, und ihre Tante Helene bekam Grüße, Kopfnicken, ja sogar ein Kußhändchen sandte die gefangene Prinzessin aus ihrem Schloß heraus ins Weite.
„Los!“ rief da der Pantoffelmacher mit solcher Donnerstimme, daß die Hofdame Jantge das Schlüsselbund, das Mutter Paulinchen ihr zur Vervollständigung ihres Kostüms gegeben hatte, mit einem lauten Krach auf den Boden warf. Darüber kam Anne-Marte ins Kichern und nur Brigittchen konnte nach Vorschrift: „Ach und Weh“ klagen. Sie tat es auch so jämmerlich, als hätte sie mindestens seit drei Tagen Zahnschmerzen.
Hinter dem Brett, vielmehr aus dem Zauberwald hervor, stürzten jetzt die Ritter Severin und Wendelin. Severin kam das Schwert zwischen die Beine und seinem Bruder rutschte der Helm so jäh über die Nase, daß Meister Hippel zuspringen mußte, um den armen Ritter aus seiner unangenehmen Lage zu befreien.
Inzwischen hatten sich die gefangenen Jungfräulein so in das Klagen gefunden, daß sie immer lauter und jämmerlicher schrieen, und niemand verstand über dem Geschrei den Zauberer Jörgel, der nun auch aus dem Zauberwald angerannt kam und rief:
„Ha, ich seh zwei Ritter gehn,
Die sollen gleich verzaubert stehn!“
„Halt’ doch den Mund und schrei nicht so!“ flüsterte der grimme Zauberer gleich darauf seiner Schwester Anne-Marte zu.
„Kikikiki,“ pruschte diese los.
Ritter Wendelin deklamierte mit schellender Stimme:
„Den Mann da will ich fragen,
Er soll mir gleich mal sagen,
Wer — —“
Klapp, rutschte ihm der Helm wieder über die Nase, er vergaß seine Rolle und schrie jämmerlich „Au, au!“
„Setz’ das Ding ab,“ flüsterte Meister Hippel so laut, daß man es beinahe auf der Stadtmauer hören konnte.
Das war aber nicht so einfach; da langte Jantge aus dem Schloß heraus und befreite den armen Ritter aus seiner unangenehmen Lage.
„Ich will dir sagen wie ich heiß’,
Ich bin der Zauberer Allesweiß“
brüllte Jörgel, da rief unversehens seine Schwester: „Deine Maske hat ja ein Loch!“
„Aber Anne-Marte, sei doch still,“ tuschelte Brigittchen ängstlich, und Jantge stöhnte laut: „Ach, ach, ach!“
„Ei, dann sag’ mir, wo ich finde,
Die Königstochter Hildelinde?“
sagte Severin laut und rasselte mit seinem Schwert, wie Doktor Fabians Hofhund Sultan mit seiner Kette.
„Es klingelt; ein weißer Spatz fliegt in den Turm,“ rief da plötzlich Mutter Paulinchen, und vergaß im Augenblick das ganze Spiel.
„Unsinn,“ brummte der Meister, der nicht gern gestört sein wollte. „Es wird eins von den Kindern sein, das findet schon die Treppe herauf. Sei nur still und störe nicht!“
„Willst sie wohl gar befrei’n?
Guter Ritter, das laß sein!“
schrie der Zauberer Jörgel mit so hohnvoller, grimmiger Schadenfreude, daß Meister Hippel später sagte, es wäre ihm durch und durch gegangen.
Die Ritter Wendelin und Severin aber kamen um ihre kühne, von Säbelrasseln begleitete Antwort, denn an der Türe draußen polterte und klopfte es.
Mutter Paulinchen schrie vor Schreck auf, sie riß in ihrer Aufregung ihren Nähkorb herunter, der neben ihr auf einem Tischchen gestanden hatte.
Schneidermeister Langbein aber öffnete die Türe, und nun sahen die Anwesenden zwei fremde Herren und eine Dame draußen stehen, die erstaunt das Stübchen und seine Insassen musterten. „Sind wir hier recht, wir möchten das Museum sehen?“ fragte der ältere der beiden Herren.
„Ja, jawohl,“ rief Meister Hippel, „Paulinchen hol’ den Schlüssel!“
Aber der Schlüssel war nicht so geschwind gefunden, Frau Paulinchen suchte, die Schneidermeisterin suchte, die Kinder begannen zu suchen, wo war er nur?
Inzwischen war Doktor Fröhlich auf die Fremden zugegangen und erklärte ihnen, was für eine Feier hier stattfinde.
Die Fremden lachten, die Dame sagte etwas spöttisch: „Können wir nicht zuhören?“ „Ei gewiß,“ sagte Meister Hippel, der dies für eitel Freundlichkeit hielt, „Paulinchen, wo ist nur der Schlüssel?“
Ja, wo war er denn nur? Alles suchte, alles kramte, bis plötzlich Meister Langbein sagte: „Haben Sie ihn vielleicht in der Tasche, Frau Nachbarin?“
Richtig, da war er! Ganz gemütlich steckte er drin.
„Jörgel hat ihn reingezaubert,“ flüsterte Wendelin Anne-Marte zu.
Die Fremden kletterten die Treppen hinauf und oben zeigte ihnen Mutter Paulinchen die Schätze; Severin und Wendelin waren hinterher getrappt, sie stellten Helme und Schwerter fein säuberlich an ihren Platz.
„Hier geht es aber gemütlich zu, die richtige Kleinstadt,“ flüsterte die Dame lachend einem ihrer Begleiter zu.
„Siehst du,“ sagte der verdrossen, „ich sagte es doch gleich, es lohnt sich nicht, hier erst auszusteigen, was hat man denn in so einem Nest?“
„Ist der Kram alles, was in dem Museum ist?“ fragte der andere Herr.
„Ja,“ murmelte Mutter Paulinchen verlegen, sie merkte wohl, wie klein und lächerlich die Fremden alles fanden, und so wies sie nicht, wie sie es sonst tat, auf die reizvolle Aussicht hin, die man vom Turm aus hatte. Und doch war die Landschaft, die draußen von silbergrauem Dunst matt verschleiert lag, unendlich lieblich.
„Nebenbei benutzen Sie wohl die Sachen zu Ihren Fastnachtsspielen?“ fragte der jüngere der Herren spöttisch.
Frau Paulinchen schwieg, aber das Herz tat ihr weh, daß die Fremden das Museum, das ihr Stolz war, so geringschätzig behandelten. Und es gab doch mancherlei zu sehen, was der Mühe lohnte, das wußte sie.
Es hatte mancher Besucher schon anerkannt. „Man findet selten so ein schönes Stückchen Vergangenheit so wohl erhalten,“ hatte einmal ein sehr berühmter Gelehrter gesagt. Der junge Herr schrieb dabei immerzu in sein Notizbuch, er sah sich aber garnicht um, nur auf die alten, schöngeschnitzten Möbel warf er einen flüchtigen Blick. „Ganz passabel,“ murmelte er.
Als die Pantoffelmacherin von der ruhmreichen Vergangenheit der Stadt erzählen wollte, unterbrach sie der ältere Herr: „Lassen Sie nur, gute Frau, wer weiß, ob das geschichtlich verbürgte Tatsachen sind, solche kleinen Nester, wie Ihre Stadt, brüsten sich gern mit ihrer Vergangenheit. Ich denke,“ wandte er sich an seine Begleiter, „wir gehen jetzt, wir haben genug von Neustadt’s Reizen gesehen!“
Damit gingen die drei. Das Trinkgeld war so reichlich wie selten, und doch hatte Frau Paulinchen wenig Freude dran. Manche bescheidene Gabe hatte ihr mehr Freude gemacht, wenn nämlich der Geber in hellem Entzücken die Rundsicht vom Turme genossen hatte.
Die Fremden gingen, und die Frau kehrte in ihre Stube zu dem unterbrochenen Spiel zurück. Dort hatten die Kinder einstimmig erklärt, vor den Fremden wollten sie nicht spielen, und zur Abwehr waren sie alle miteinander in den Zauberwald zwischen Brett und Kommode gekrochen; daß es darin etwas eng zuging, erhöhte nur das Vergnügen.
Die Geschwister Fröhlich hatten wohl den Spott der Fremden gemerkt, Fräulein Helene dachte mit nachsichtigem Lächeln an den erstaunten Blick der Dame, die fand es sicher komisch, daß sie hier im Pantoffelmacherstübchen saß und dem Spiel der Kinder lauschte. „Wie kleinstädtisch ist diese Fastnachtsfeier,“ hatte die Fremde geflüstert.
„Sie weiß eben nicht, wie traut und heimlich es in einer kleinen Stadt sein kann,“ dachte Helene Fröhlich, und sie sah sich selbst wieder so einsam und verlassen in dem riesengroßen London sitzen. Mutterseelenallein war sie gewesen, und niemand hatte sich um sie gekümmert.
„Warum bist du so traurig, Tante Helene?“ fragte auf einmal ein liebes Stimmchen. Prinzessin Brigittchen war aus dem Zauberwalde hervorgekrochen, weil sie gesehen hatte, wie sinnend und betrübt ihre Tante auf einmal dreinsah.
„Ich bin nicht traurig, mein Herzel,“ sagte Fräulein Helene, und ihre Stimme klang auf einmal wieder froh und hell. Sie nahm ihre kleine Freundin auf den Schoß, und Brigittchen schmiegte sich ganz fest an sie an und sagte wieder wie so oft: „Ich hab’ dich lieb!“
Just in diesem Augenblick trat Frau Paulinchen in das Zimmer, und ihr Mann rief ganz enttäuscht: „Wo sind denn die fremden Herrschaften geblieben?“
Seine Frau erzählte von dem Besuch, aber sie mußte zweimal erzählen, ehe es der gute Klaus Hippel begriff, daß es den Fremden ganz und garnicht oben im Turm gefallen hatte. „Nicht gefallen bei uns!“ rief er einmal über das andere erstaunt, „ja, wie ist denn so was möglich! Ich bin zwar noch nie aus Neustadt herausgekommen, aber so was Schönes wie unseren Turm, die Aussicht und das Museum, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen, wirklich und ganz gewiß nicht, na, so was aber auch!“
Ein Weilchen verging mit Hin- und Herreden, ehe das Spiel fortgesetzt werden konnte. Frau Paulinchen wollte die Schwerter und Helme wieder von oben herunterholen, aber Doktor Fröhlich meinte, es ginge auch so, einer der Ritter könnte seinen Spazierstock, der andere die Ofengabel nehmen. Und es ging wirklich so, das Spiel wurde in aller Fröhlichkeit fortgesetzt, die gefangene Prinzessin und ihre Hofdamen ächzten und stöhnten zum Erbarmen, die Ritter brüllten machtvoll, der Zauberer zauberte gar erstaunlich, aber zuletzt half ihm alle Zauberei nichts, er wurde eingesperrt, die Prinzessin befreit und von Ritter Wendelin als Braut heimgeführt. —
Es war wirklich ein wunderschönes Stück gewesen, Mutter Paulinchen und die Schneidermeisterin weinten vor Rührung, und der Pantoffelmacher war so aufgeregt, daß er zuletzt alle Verse mitsagte. Kurz, es war wunderschön, Klaus Hippel sagte es immerzu, und der mußte es doch wissen, er hatte ja das Stück gedichtet.
Daß es nachher Pfannkuchen gab und für die Erwachsenen Punsch, trug nicht wenig zur Lust bei. Und Fräulein Helene zeigte dabei, daß sie auch etwas von Zauberei verstand, sie gab nämlich jedem Kind einen besonders großen Pfannkuchen, recht dick mit Zucker bestreut und sagte: „Eßt mal die, sie sind besonders gut, brecht sie aber auseinander.“
Mit dem Auseinanderbrechen ging es aber nicht so recht, bis schließlich alle Kinder wie aus einem Munde riefen: „Die sind ja gar nicht echt.“ Es fanden sich allerlei hübsche Mützen aus Seidenpapier in den angeblichen Pfannkuchen, mit denen sich die Kinder geschwind schmückten.
Die Fröhlichkeit im Turmstübchen wurde immer größer und es gab betrübte Gesichter bei Wirtin und Gästen, als Fräulein Helene zum Aufbruch mahnte. Aber trotzdem wurde auch der Heimweg recht fastnachtslustig. Niemand hatte etwas dagegen, daß die Kinder in den stillen Straßen, durch die ihr Weg sie führte, fröhliche Lieder sangen. Höchstens daß mal jemand, der ihnen begegnete, sich umdrehte und sagte: „Ei, seid ihr aber lustig!“
„Und morgen ist Aschermittwoch,“ sagte Wendelin, als man auf dem Kirchplatz angelangt war, „ich hab’ schon eine feine Rute, da will ich ordentlich kehren.“
„Mich bekommst du nicht,“ neckte Anne-Marte kichernd.
„Mich auch nicht!“ rief Brigittchen.
„Na, wartet nur, ich kehre euch allen den Staub ab,“ rief Wendelin protzig, „dann müßt ihr mir was schenken!“
„Ich auch, ich auch!“ riefen Jörgel und Severin, „nehmt euch nur in acht, Mädels!“
Nach dieser Mahnung nahmen alle fröhlich Abschied von einander. Nur Brigittchen brauchte sich noch nicht von Fräulein Helene zu trennen, die Geschwister Fröhlich waren von Herrn Schön und Fräulein Mathilde zum Abend eingeladen worden, und der Kleinen erschien dies beinahe als der schönste Teil des Tages. Ihre neue Tante brachte sie zu Bett und es gab zum Schluß noch ein heiteres Einschlafemärlein, bei dessen Worten Brigittchen sacht in das Traumland hinüber schlummerte. —
Der Aschermittwoch brach an. Die Wolken schienen es für ihre Pflicht anzusehen, den Sonnenglanz zu dämpfen. Grau und glanzlos war der Himmel, ein feiner, grauer Dunst hüllte die Stadt ein und die Leute sagten, es sei richtiges Aschermittwochwetter, die Asche hinge förmlich in der Luft.
Severin und Wendelin kümmerten sich wenig um das trübe Wetter; als sie nach dem ersten Frühstück mit Jörgel vereint zur Schule trabten, da waren alle drei eitel Lust und Fröhlichkeit, man sah es ihnen schon an den Nasenspitzen an, daß sie etwas Lustiges ausheckten. So lustig erschien es ihnen, daß Severin noch in der Klasse mit Lachen daran denken mußte, wofür er freilich von dem Geschichtslehrer Doktor Kittel einen regelrechten Rüffel bekam.
Kaum war die Schule aus, da rasten die drei wie besessen heim, um ja nicht die Mädels zu verpassen, die immer etliche Minuten später kamen.
Wendelin und Severin guckten daheim rasch in die Ecke hinter der Haustüre und riefen enttäuscht: „Ja, wo sind sie denn?“ Es waren nicht etwa die Mädels, die sie suchten, sondern Tannenreiser, die ihnen gestern die Butterfrau als Aschermittwochsruten mitgebracht hatte. Überall sahen die Buben hin, nirgends waren die Ruten zu entdecken, bis sie diese schließlich doch in dem Vorraum der Backstube in einem Winkel fanden. Es war aber auch die allerhöchste Zeit, die Marienstraße entlang schwatzte und kicherte das schon, die Mädels kamen aus der Schule.
Der alte Steuerrat Müller, der in der Marienstraße wohnte und stets um diese Zeit am Fenster seine Zigarre rauchte, sagte dann immer halb ärgerlich, halb lachend zu seiner Frau: „Höre nur, die Gänslein sind auf dem Heimmarsch!“
Anne-Marte und Brigittchen gingen, wie sich das für Herzensfreundinnen schickt, Arm in Arm, mit ihnen ging ihre Klassengenossin Christine Hardenberg. Anne-Marte erzählte gerade etwas furchtbar Lustiges, denn Anne-Marte erlebte immer lustige Sachen, über die sie sich selbst halb tot lachen wollte. Die Geschichte fesselte die drei Mädels so, daß weder Brigittchen noch Anne-Marte an die Drohung ihrer Kameraden dachten, als sie in aller Vergnüglichkeit an dem Bäckerhause vorbei gingen.
Da auf einmal, mit dem wilden Geschrei: „Aschermittwoch, Aschermittwoch!“ stürzten Severin, Wendelin und Jörgel hervor und kehrten die Mädels von oben bis unten ab.
Die quiekten, lachten und schrieen, drehten sich wie Kreisel, wehrten sich, andere kamen hinzu, es war ein Tumult und Lärm und das Jauchzen tönte die Marienstraße hinauf und hinab. Plötzlich riefen zwei, drei Stimmchen: „Aber, wie seht ihr denn aus?“
Anne-Marte und Brigittchen trugen weiße Jacken und weiße Mützen, und diese hatten unversehens lauter schwarze Streifen bekommen, aber Jörgel, Wendelin und Severin kehrten immer eifriger, mit immer erneuter Lust und sie kümmerten sich gar nicht um die Rufe: „Hört auf, hört auf!“
Und wer von ihnen gekehrt wurde, bekam schwarze Streifen, aber das sahen sie gar nicht, erst als ein Mädel anfing zu heulen, ließen die Buben nach, und Anne-Marte rief scheltend: „Pfui, wie abscheulich seid ihr, wie könnt ihr uns so schwarz machen!“
Da sahen nun erst die drei Missetäter betroffen, was sie angerichtet hatten, unter der Mädchenschar aber erhob sich so ein gewaltiges Jammern und Klagen, daß die Vorübergehenden stehen blieben und auch Frau Bäckermeister Gutgesell aus dem Laden heraustrat, um zu sehen, was geschehen sei. Sie sah ihre beiden Buben wie ein paar begossene Pudel stehen, vergeblich versuchten die Missetäter nämlich auszureißen, die entrüsteten Mädchen hatten sie umringt und über alles Schreien und Klagen hinweg tönte Anne-Martes Stimme, die dem Bruder und den Freunden eine Strafrede hielt.
„Ich gehe nie wieder mit euch, nie wieder, nie wieder, nein, ich bin euch bitterböse!“ rief die Kleine immer wieder.
Frau Gutgesell brach sich Bahn durch die aufgeregte Schar und wutsch! ergriff sie Wendelin und Severin, hielt sie fest und fragte streng: „Was habt ihr getan?“
Ein Durcheinander von anklagenden Stimmen erhob sich, die Buben aber schrieen immer wieder: „Wir können nichts dafür!“
„Zeigt mal eure Ruten her,“ gebot die Mutter, und niedergeschlagen gaben alle drei ihre Tannenzweige hin. „Aber Bengels, die sind ja ganz schwarz voll Ruß, ei, ihr unnützes Gesindel, na wartet, das soll euch schlecht bekommen!“ rief Frau Gutgesell ärgerlich. „Wir können nichts dafür,“ jammerten die Buben.
„Sie haben es vielleicht nicht gewußt,“ sagte auf einmal ein liebes Stimmchen in allen Tumult hinein. Brigittchen tat es leid, trotzdem ihr weißes Jäckchen lauter schwarze Streifen hatte, daß die Freunde gar so arge Missetäter sein sollten.
Die Gemüsefrau Lehmann, die neben der Bäckerei wohnte und die um des Lärmes willen, den die Bäckerbuben manchmal vollführten, einen rechten Groll auf diese hatte, rief: „Ih, die wär’n es schon gewußt haben, das sind ’n paar Schlimme!“
„Sie sind gar nicht schlimm,“ verteidigte Brigittchen mutig die Freunde, „und sie haben’s sicher nicht gewußt, daß die Ruten schwarz waren!“
„Nein, nein,“ jammerten die Buben, die von ihrer Mutter kräftig mit fort gezogen wurden. „Das werden wir mal drin untersuchen,“ sagte die grollend. Sie ärgerte sich sehr, daß die Unart ihrer Buben einen regelrechten Straßenauflauf verursacht hatte. Denn aus allen Häusern guckten die Menschen, sie standen auf der Straße und redeten, und wenn die drei Missetäter die Prügel wirklich gekriegt hätten, die ihnen von den Leuten zugedacht wurden, dann wäre es ihnen wohl schlimm ergangen.
„Nun, was ist denn hier für ein Geschrei und Gelärm, ’s ist doch nicht mehr Fastnacht?“ fragte recht gemütlich in das Tosen hinein Heine, der in der offenen Ladentüre stand.
„Wir haben die Ruten ganz gewiß nicht schwarz gemacht,“ klagten Wendelin und Severin wieder.
Jörgel schwieg trotzig, er fühlte sich ganz unschuldig! Er war aber ein zu guter Freund und zu stolz, um alle Schuld auf die beiden anderen zu schieben. Ja, und ob die nicht doch ein bißchen die Ruten geschwärzt hatten, wie konnte er dies wissen!
„Da seh’n Sie mal, Herr Geselle,“ rief die Grünwarenfrau Lehmann jetzt giftig, „wie arg die Jungens sind, haben alle Mädels mit rußigen Ruten abgekehrt, da das Brigittchen Schön ist ganz schwarz geworden!“ Heine machte ein halb verdutztes, halb verlegenes Gesicht, ihm ging nämlich, wie man sagt, ein Seifensieder auf.
Er hatte in der Nacht mit Tannenreisern, die er im Hausflur gefunden hatte, fix mal ein Zugloch von Ruß gesäubert und die Aschermittwochsruten so recht eingeschwärzt. Er fragte, woher die Zweige stammten und die Geschichte klärte sich bald auf, die Buben waren wirklich unschuldig. Trotzdem Frau Lehmann wohl zehnmal rief: „Ich glaub’s nicht, die sind unnütz!“
Hei, wie reckten sich die drei im Gefühl ihrer Unschuld, ordentlich stolz sahen sie aus, die Mädels standen ganz betreten da, sie wußten nicht, ob sie lachen oder weinen, böse oder gut sein sollten.
„Der Ruß geht ab,“ tröstete Heine, „wenn ihr im Backofen gesessen hättet, dann möchtet ihr erst schwarz sein, potz Wetter, ja!“
„Machen Sie keine dummen Witze, Heine,“ sagte die Meisterin ärgerlich, „für die Mädels ist die Sache schlimm und meine Buben sollen mit zu den Eltern gehen, wo es nötig ist, und die Geschichte erzählen, damit die Mädels keine Schelte bekommen. Denn dumm war es doch von den Buben, sie brauchten auch nicht so wild darauf loszukehren!“
Diese Worte dämpften den Stolz der Buben ein wenig, und ordentlich gekränkt waren sie erst, als alle Mädels erklärten, sie brauchten keine Begleiter, sie würden daheim schon die Geschichte erzählen. Und heidi! liefen alle davon, die gekehrten und die nicht gekehrten.
Am Nachmittag aber war schon alles wieder vergessen, es war eben ein kleiner Aschermittwochsärger gewesen, weiter nichts, und keine Freundschaft ging darum auseinander.
Für den armen Klaus Hippel aber kam ein rechter Aschermittwochsärger noch nachgehinkt und für manchen anderen Neustädter auch.
Vierzehn Tage nach der Fastnachtsfeier saß der Herr Bürgermeister eines Morgens in seinem Arbeitszimmer und las Zeitungen. Auf einmal schlug er wütend mit der Faust auf den Tisch, na, das ging ihm doch über den Spaß. In einer Zeitung, die in einer großen Stadt erschien, las er nämlich eine Beschreibung von Neustadt, man hatte sie ihm zugeschickt und sie noch mit einem dicken, roten Strich angezeigt.
Wenn einer nun seine Heimat liebt und weiß, wie schön und traut sie ist, und dann kommt jemand und schildert diese Heimat als häßlich und eng und hat nichts für sie als Hohn und Spott, da soll man sich nicht ärgern. Dem Herrn Bürgermeister ging es so, er liebte Neustadt wie keinen Fleck auf der weiten Erde; er wußte wohl, daß manches darin fehlte, was große Städte besitzen, aber lieblich und behaglich war das Städtchen doch. Nun stand da in der Zeitung, Neustadt sei das langweiligste, unschönste, schmutzigste Nest der Welt. Da sollte man sich nicht ärgern!
Und wie dem Herrn Bürgermeister, so ging es den Stadträten, den Bürgern, alle, alle ärgerten sie sich über den boshaften Schreiber.
Am meisten taten dies Klaus Hippel und Frau Paulinchen, denn am allerschlechtesten war das Museum weggekommen, von dem Fastnachtsspiel und von den geborgten Ritterhelmen stand auch etwas in dem Artikel.
Es war wirklich ein Glück, daß Doktor Fröhlich die Geschichte schon vorher dem Bürgermeister erzählt hatte, sonst wäre es dem armen Pantoffelmacher vielleicht schlimm ergangen. Eine Strafrede bekam er ohnehin, die war gesalzen, und noch nach Wochen seufzte er tief, wenn er daran dachte. Sein einziger Trost war nur, daß Doktor Fröhlich versprach, er wollte auch etwas über Neustadt schreiben, er wollte erzählen, was für ein liebliches, anmutiges Fleckchen es sei und daß neben der Marienkirche und dem Schloß der alte Turm das allerschönste im Städtchen sei. —
„Das hat der junge Herr vom Fastnachtstag geschrieben,“ sagte Frau Paulinchen, „nein, so etwas, nicht einmal richtig umgesehen hatte er sich!“
„Ein abscheulicher Windbeutel ist’s“, schrie der Meister, und seit der Zeit sagte er immer, wenn ein Fremder sich dem Turm nahte: „Paulinchen, paß auf, ein Windbeutel kommt. Wirf ihn hinaus, wenn er etwas aufschreiben will!“
Bis eines Tages ein Maler kam, der voll Entzücken den Turm von unten und oben, von vorn und hinten, mit Pantoffeln und ohne Pantoffeln, von innen und außen, am Morgen, am Mittag und im Abenddämmern malte, da söhnte sich Meister Hippel wieder mit den Fremden aus. Er wurde wieder lustig wie zuvor, pfiff und sang im Turmerker, nähte Pantoffeln, erzählte Geschichten und rief, wenn ein Fremder kam:
„Aufgepaßt, ein weißer Spatz fliegt in den Turm!“
Die Kinder sprachen schon vom Frühling wie von etwas, das ganz, ganz nahe war.
Doch der Winter war anderer Meinung, er fand, es sei noch nicht Zeit für den Frühling zu kommen. Schwipp, schwapp war er eines Tages wieder da, mit Schneegestöber, Nordwind und Kälte. Im Nu war das Land wieder weiß und still und die Schneeglöckchen, die schon die allergrößte Lust gezeigt hatten, sich in der Welt umzusehen, krochen flugs in ihr braunes Erdbettlein zurück, unten erzählten sie den andern Blumen und Gräsern: „Brrr, oben ist es schrecklich, wir begreifen gar nicht, wie es nur die Menschen aushalten können!“
Na, so schlimm war es nun doch nicht, die Kälte reichte nicht einmal recht zum Naseerfrieren. Aber schelten taten die Menschen doch, sie hatten sich schon zu sehr auf den Frühling gefreut.
Auch in Neustadt gab es wieder Schneegestöber, und die fünf Schatzgräber und Jantge, die schon davon gesprochen hatten, daß sie die Kreisel drehen wollten und an der Stadtmauer Veilchen suchen, standen eines Tages recht mißmutig vor dem Schön’schen Hause und schalten auf den Winter. Ein bißchen undankbar war das ja nun, denn als der Winter einzog, hatten sie ihn beinahe nicht erwarten können und den ersten Schnee hatten sie mit Jubel begrüßt.
Es war Sonnabend Nachmittag, und die sechs Kameraden hätten gern irgend etwas Lustiges unternommen. Aber Brigittchen durfte nicht Schlitten fahren, weil der Wind so sehr wehte, zu Klaus Hippel konnten die Kinder auch nicht gehen, denn der war an diesem Tage über Land gefahren.
„Wir wollen zu Fräulein Helene und zum Herrn Doktor gehen,“ schlug Wendelin vor.
„Uneingeladen?“ fragte Anne-Marte ein wenig zaghaft, „geht das denn? Mutter hat gesagt, wir dürften nicht uneingeladen überall hingehen, es schickt sich nicht!“
„Brigittchen geht erst und fragt, ob uns Fräulein Helene nicht einladen will,“ sagte Jörgel.
Brigittchen war damit einverstanden; zu Fräulein Helene gehen, war für sie etwas Wundervolles. Sie lief auch flugs über den Kirchplatz und kehrte schon nach wenigen Minuten mit dem Freudenrufe zurück: „Wir sind eingeladen!“ Geschwind liefen die Doktorskinder und die Bäckerbuben zu ihren Müttern und verkündeten diesen die Neuigkeit: „Wir sind zu Fröhlichs eingeladen, dürfen wir gehen?“
Frau Bäckermeister Gutgesell sagte ja, ohne alle Fragen, die Doktorin aber wollte wissen, wie es mit der Einladung gekommen sei. Treuherzig erzählte es Jörgel und die Mutter lachte: „Na,“ meinte sie, „das ist freilich eine einfache Art, zu einer Einladung zu kommen, doch geht schon, Fräulein Helene ist aber beinahe zu gut zu euch Wildfängen!“
Wenige Minuten später standen die sechs Kinder in dem Flur des Fröhlich’schen Hauses, und Fräulein Helene half ihnen die Mäntel ausziehen. Die alte Dorothee hatte ein wenig gebrummt über die Sonnabendgäste, aber schließlich, als sie sah, mit welcher Freude die Kinder ankamen, ging sie doch in die Küche, um ihre berühmte Schokolade zu kochen. Nirgends, aber auch nirgends schmeckte Schokolade so gut wie die von Dorothee gekochte, die Kinder sagten es und da mußte es doch stimmen.
„Heute gibt es aber etwas Besonderes,“ sagte Fräulein Helene, „mein Bruder hat ein Märchen geschrieben, das will er euch erzählen.“
„Ein Märchen!“ jubelte Brigittchen fröhlich, „kommt eine Prinzessin darin vor?“
„Sogar eine Königin und viel, viel Schnee,“ erwiderte Helene Fröhlich, „nun kommt herein, erst spielen wir etwas, dann trinken wir Schokolade und zuletzt bekommt ihr das Märchen vorgesetzt!“
Und so wurde es auch. Wendelin sagte zu Jantge: „Es ist doch sehr gut, daß wir heute eingeladen worden sind.“ Das fanden die anderen Kinder auch, es war urgemütlich in dem großen, altmodischen Wohnzimmer, und die Kinder bekümmerte es nicht, daß es draußen immer toller stürmte und schneite. Als nach lustigen Spielen und einer fröhlichen Schmauserei sacht die Dämmerung hereinbrach, da erzählte Doktor Theobald Fröhlich den Kindern ein Schneemärchen, er sagte, die wirbelnden Schneeflocken draußen hätten es ihm erzählt, das Märchen aber nannte er:
Es war ein Wintertag wie heute. Weiche, weiße Flocken sanken vom Himmel auf die Erde herab, die darunter träumend schlief. In einer kleinen Stadt, die noch ein wenig kleiner und winkeliger als Neustadt war, lag der Schnee so hoch, daß das ganze kleine Nest wie in einem dicken, riesengroßen Federbett lag. Im letzten Haus des Städtchens, das schon auf freiem Felde stand, wohnte eine arme Witwe mit ihrem Sohn. Schwerkrank lag der in seinem Bette und der Arzt, der vor etlichen Stunden dagewesen war, hatte gesagt: „Gute Frau, ich kann euch nicht mehr helfen, alle meine Pillen und Tropfen nützen nichts mehr gegen diese Krankheit.“
Die arme Witwe konnte nicht mehr weinen, so groß war ihr Jammer, verzweifelt starrte sie in die weiße Winterpracht hinaus. Gab es denn kein Mittel mehr, um ihren Sohn, ihr einziges, geliebtes Kind zu retten?
Wie sie so saß in ihrem Herzeleid, hörte sie auf einmal zwei Krähen vor den Fenstern krächzen. Es war ihr, als riefen die beiden immerzu: „Geh’ zur weisen Frau, geh’ zur weisen Frau!“
Da kam es ihr in den Sinn, daß draußen auf der Landstraße eine alte Frau wohnte, die wegen ihrer Güte und Klugheit berühmt im Lande war und bei der schon mancher in Sorge und Not Hilfe und Rat gefunden hatte. Die arme Witwe hüllte ihren Sohn in warme Decken, nahm ihn auf den Arm und lief so schnell ihre Füße sie trugen, zu der weisen Frau hin.
Die saß in ihrem Stübchen, in dem die Blumen blühten und die Vögel sangen, als sei Frühling. Finken und Zeisige und ein gar klug drein schauender Starmatz hüpften zwischen den Blumenstöcken herum, und die weiße Katze, die zu ihrer Herrin Füßen lag, dachte gar nicht daran, den Vögeln etwas zuleide zu tun.
So friedlich war es bei der weisen Frau, daß in dem Herzen der armen Witwe die Hoffnung zu blühen begann, und flehend klagte sie der Frau ihr Leid: „Mein Sohn ist mein einziges Glück auf der Welt, nun ist er so krank, er leidet so große Schmerzen und niemand kann ihm helfen, weißt du keinen Rat?“
„Du armes Weib,“ sagte die weise Frau und sah die Bittende traurig an, „ich kann dir wenig Trost geben; wohl weiß ich einen Arzt, der einen Wundertrank besitzt, aber der Weg zu ihm ist so mühsam und schwer um diese Winterzeit, noch nie ging ein Mensch diesen Weg zu Ende!“
„Ach!“ rief die Mutter, „sage mir nur geschwind den Weg, für mein Kind ist mir nichts zu schwer, keine Mühsal ist mir zu groß!“
„Ich will dir gern den Weg zeigen,“ erwiderte die weise Frau. „Der Arzt wohnt am Ende eines großen Waldes, durch den mußt du wandern, wenn du zu ihm gelangen willst. Aber ich sage dir, der Weg ist unendlich schwer, denn in dem Walde haust die Schneekönigin, sie hat ein Herz von Eis und wenn ein Mensch in ihre Macht fällt, dann küßt sie ihn, bis er zu Eis erstarrt, sie kennt kein Erbarmen und gibt keiner Bitte Gehör. Sie kann dir freilich nichts tun, solange du ohne dich umzuschauen vorwärts schreitest. Aber du darfst ja nicht stehen bleiben, nicht rasten, dich nicht umsehen, denn sonst verfällst du der Macht der Schneekönigin. Glaube mir, es haben schon viele Menschen versucht, den Wald zu durchschreiten, aber es ist noch niemand gelungen. Meinst du aber die Kraft zu haben, dann will ich mein Wäglein rüsten, ich habe ein schwarzbraunes Pferdchen, das läuft schneller als der Wind, das trägt dich in kurzer Zeit bis an den Wald.“
„Ach bitte, bitte, liebe Frau,“ rief die arme Mutter, „rüste rasch dein Wäglein, damit ich schnell bis an den Wald komme, ich fürchte mich gar nicht, ich kann es nicht glauben, daß die Schneekönigin stärker sein soll, als einer Mutter Liebe!“
„Wie du willst,“ sagte die weise Frau. Sie ging und spannte geschwind ihr Pferdchen an und sie fuhr die Witwe dann selbst bis an den Wald. Das Pferdchen lief wirklich so schnell, daß der Wind hinterher jagte, nicht mitkonnte, er wurde ganz ärgerlich darüber und fing in einem Dorf so zu schelten an, daß die Bauersleute erschrocken zu einander sagten: „Hört nur, wie der Wind pfeift, nein, so ein schlechtes Wetter!“
Als der Wagen an den Wald der Schneekönigin anlangte, zogen gerade Wolken über die Sonne dahin, die stand dahinter wie eine große, weiße Blüte.
Herzlich dankte die Witwe der weisen Frau, dann nahm sie sorgsam ihren Sohn auf den Arm, der leise vor Schmerzen weinte, und unverzagt betrat sie den Wald.
Hohe, schneebedeckte Tannen ragten empor, von ihren Zweigen hernieder hingen lange Eiszapfen und am Wege blühten große, seltsam geformte Eisblumen, die schimmerten und flimmerten wie von tausend Diamanten besät. Der Fuß der Wanderin versank tief in der weichen Schneedecke, und immer dichter fiel der Schnee herab, langsam, lautlos sank Flocke auf Flocke hernieder und die Luft war von Schnee erfüllt.
Tiefe, schauerliche Stille herrschte ringsum und kein Vogelschrei wurde hörbar. Das Schweigen legte sich beklemmend auf das Herz der Frau und eine große Angst erfaßte sie. Es war ihr, als wüchsen die Tannen immer dichter zusammen, als würde der Schnee tiefer und tiefer. Aber da weinte leise das kranke Kind in ihren Armen und mutig schritt sie vorwärts, um die Rettung für ihr Kind zu suchen.
Doch plötzlich wuchsen die Flocken, sie wurden größer und größer. Aus den wirbelnden Sternchen wurden zarte, weiße, schleierumhüllte Mädchengestalten. Die wiegten und neigten sich in der Luft und die hauchten der armen Frau in das Gesicht, daß es sie eisig durchdrang, und sie fühlte, wie die Füße ihr erstarrten.
Und so schwer schien ihr Kind zu werden und immer dichter kamen die weißen Gestalten, ihre Schleier streiften die Wangen der Mutter, da war es dieser, als würde sie mit Messern geschnitten.
Auf einmal ging jäh ein Brausen durch die Luft. Pfeifend wehte der Wind, und die arme Frau kam immer schwerer vorwärts. Da erblickte sie vor sich eine hohe weiße Gestalt in wehendem Mantel, der mit Diamanten umsäumt war. Auf ihrem Haar, das schwärzer als die Nacht war, lag eine funkelnde Krone. Das Antlitz war weißer als der Schnee und furchtbar waren die Augen, hart, grausam, und sie schimmerten blaugrün wie der See, wenn er zu Eis erstarrt ist.
Das war die Schneekönigin! Die arme Mutter fühlte es, und ihre Angst wuchs. Lachend streckte die Schneekönigin die weißen Arme aus, und dann begann sie zu sprechen und ihre Stimme klang wie springendes Eis: „Eile doch nicht so, arme Frau, komm, raste ein wenig in meinem Reich. Ich sehe es ja, du bist müde, und dein Weg ist noch weit. Komm, ruhe dich aus im weichen Schnee und gib mir dein Kind, ich will es gesund küssen!“
Eine große Müdigkeit überfiel die arme Mutter, sie fror nicht mehr, sie war nur müde, ach, so müde, und das Kind in ihrem Arme wurde immer schwerer, sie brach fast unter der Last zusammen. Aber sie dachte an die Warnung der weisen Frau und in der Angst ihres Herzens rief sie laut: „Lieber Gott, hilf mir doch!“
Da wich die Schneekönigin langsam zurück. Aber ihr Mantel umflatterte die Frau, daß diese den Weg nicht zu erkennen vermochte, und es wurde dunkler und dunkler. Die Nacht senkte ihre Schatten herab und der armen Mutter wurde es bitterangst in dieser Dunkelheit, in der sie den Weg nicht mehr zu erkennen vermochte. In ihrer Not rief sie wieder: „O Mond, du lieber Mond, habe doch Erbarmen und leuchte mir um meines Kindes willen!“
Ganz sacht verbreitete sich da ein silberner Schein über den Wald und es begann wundersam zu leuchten. Silbernes Licht glitt an den Stämmen der Tannen herab und legte sich hell auf den Weg. An dem dunklen Nachthimmel schwebten silberumsäumte Wölkchen, und dann stieg klar und voll über den dunklen Bäumen der Mond empor.
Dankbar sah die arme Witwe zu ihm auf, das liebe Himmelslicht lächelte gerade so sanft und mild auf sie herab, wie in den einsamen Nächten, da sie am Bett ihres Kindes gewacht hatte. Neuer Mut zog in ihr verzagtes Herz, und tapfer schritt sie vorwärts. „Ich werde mein Ziel dennoch erreichen,“ dachte sie.
Doch die Schneekönigin gab es nicht auf, Mutter und Kind in ihre Gewalt zu bekommen, sie begann mit ihren weißen Fräuleins zu singen, das klang lockend und sehnsuchtsvoll.
Die arme Frau hörte ganz deutlich die Worte, die die Königin mit ihren Dienerinnen sang:
„Walle, walle, Schleier weiß,
Flocke, Flocke, falle du,
Hüllt die Erd’ in Schnee und Eis,
Deckt die jungen Saaten zu!
Walle, walle weißer Schnee,
Flocke auf Flocke fall’ herab,
Tut es auch den Blüten weh,
Sterben auch die Blätter ab!
Ohn Erbarmen schwingt den Stab,
Winters schöne Tochter leis,
Weißer Schnee deckt Grab auf Grab,
Erde ist gebannt in Eis.
Und mit weißen Armen sacht,
Will dein Kindlein ich umhüllen.
Komm, mit meiner weißen Pracht,
Will ich seine Schmerzen stillen.
Walle, walle, Schleier weiß,
Flocke, Flocke, falle du,
Hüllt die Erd’ in Schnee und Eis,
Alles Leben decket zu!“
Von dem Gesang aber erwachte der kranke Knabe, der auf den Armen seiner Mutter eingeschlafen war; er schlug die Augen auf und sah die schimmernde Gestalt der Schneekönigin. „Ei, Mutter,“ rief er, „sieh doch dort die wunderschöne Prinzessin mit der Krone! Mutter, sie winkt mir, ich will zu ihr, sie hat gewiß ein schönes Schloß!“
Der Kranke versuchte, aus den Armen der Mutter herabzugleiten, doch verzweifelt hielt die ihn fest und rasch riß sie sich ihr Tuch vom Kopf und verhüllte damit das Gesicht des Kindes. Aber eine der weißen Gestalten blies das Tuch fort und nun jubelte der Kleine: „Mutter, Mutter, die Prinzessin ist wieder da, ich will zu ihr, ach bitte, bitte, laß mich doch los!“
Da, in dieser höchsten Not, kamen der armen Witwe die Tränen, die seit Wochen versiegt waren. Ein paar heiße, schwere Tropfen rannen aus ihren Augen, sie fielen gerade auf die Hände der Schneekönigin, die eben nach dem Knaben greifen wollte.
Mit einem lauten, gellenden Schrei wich die Schneekönigin zurück. Menschentränen brannten sie wie Feuer und jäh verstummte auch der Gesang ihrer weißen Dienerinnen.
Die Mutter ergriff wieder fester ihr Kind, sie nahm alle ihre Kraft zusammen und versuchte den Ausgang des Waldes zu gewinnen. Fern, fern sah sie ein Lichtlein schimmern, ach! gewiß wohnte dort der berühmte Arzt.
Aber nun begann es wieder zu schneien, still, lautlos, immer dichter fiel der Schnee, und so viele Mühe sich der Mond auch gab, sein Licht erhellte immer schwächer die Dunkelheit. Die arme Witwe sah das weiße Verderben wachsen, sie kam kaum noch vorwärts, schon sank sie bis über die Kniee in den Schnee ein, und nun fing ihr Kind auch noch jämmerlich an, vor Schmerzen zu weinen.
Verzweifelt schluchzte die Mutter auf, und wieder rannen ihr ein paar Tränen aus den Augen, es waren die allerletzten, die sie besaß. Die fielen auf den Schnee nieder und plötzlich schmolz dieser darunter, wie unter dem Kuß der Frühlingssonne. Leichter konnte die Frau schreiten, und sie nahm noch einmal ihre Kraft zusammen und erreichte glücklich den Ausgang des Waldes. Dort aber brach sie ohnmächtig zusammen. —
Als sie wieder erwachte, befand sie sich in einem hellen, behaglichen Stübchen. In einer Ecke prasselte und glühte ein kleines Öfchen, und ein Kater lag davor und schnurrte, als müßte er Leinwand zu zwölf Hemden spinnen. Und wie bei der weisen Frau jenseits des Waldes, blühten auch hier bunte Blumen trotz der Winterkälte, und allerlei bunte, fremdländische Vögel hüpften und piepsten im Zimmer herum.
Vor einem schneeweißen Bettchen, das an der einen Seite der Stube stand, saß ein alter Mann, in dem Bett aber lag ihr Kind, das schlief fest und es hatte blühende Wangen und sah so frisch und gesund aus wie ein Äpfelchen.
„Mein Kind lebt,“ jubelte die Mutter, „Gott sei gedankt, es wird gesund!“
„Ja, freilich wird es gesund,“ sagte der alte Mann, der der berühmte Arzt war, „und weißt du, was das Heilmittel war, das ihm geholfen hat?“
„Wie soll ich das wissen,“ sagte die arme Witwe, „ich bin doch nicht weise und gelehrt!“
Der Arzt lächelte: „Und du hast doch das Mittel selbst angewandt: Mutterliebe und Muttertränen haben dein Kind gesund gemacht!“
In diesem Augenblick schlug der Kleine seine Augen auf. Als er seine Mutter sah, streckte er jauchzend seine Ärmchen nach ihr aus: „Mutter!“ rief er, „ich habe von einer wunderschönen Königin geträumt, das war fein! Ach, und so schön hat sie gesungen! Hör’ das Lied, ich kann es noch.“ Er sang mit feinem Stimmchen das Lied, und der Arzt sagte: „Dein Sohn, Frau, wird einst sehr berühmt werden; wenn einer das Lied der Schneekönigin behält, dann wird er viel Ruhm und Glück im Leben gewinnen.“
„Möge er gut werden, das ist die Hauptsache,“ sagte die Mutter innig.
Bis der Frühling kam, blieb die Witwe im Hause des Arztes, dann kehrte sie mit ihrem gesunden Kind in die Heimat zurück. Diesmal war es wundervoll durch den Wald zu gehen, den die Schneekönigin längst, grollend über des Frühlings Sieg, verlassen hatte.
Und aus dem kleinen Jungen der armen Witwe wurde später ein hochberühmter Künstler. Wohin er auch mit seiner Geige kam und spielte, überall jubelten ihm die Menschen entgegen; das schönste Lied aber, das er spielte, war das Lied, das ihm einst die Schneekönigin mit ihren weißen Fräuleins vorgesungen hatte.
Seiner Mutter, die er liebte, wie nur ein guter Sohn seine Mutter lieben kann, baute er ein schönes Haus, das in einem wundervollen Garten lag. Er selbst heiratete dann eine Gräfin und alle zusammen lebten in dem schönen Haus glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch. —
„Aus ist die Geschichte,“ sagte Fräulein Helene mit ihrer lieben, warmen Stimme. Sie nahm Brigittchen auf den Arm und sah der Kleinen in die Veilchenaugen, die auf einmal so traurig aussahen. „Was fehlt dir, mein Liebling?“
„Wenn ich doch eine Mutter hätte,“ flüsterte die Kleine betrübt. Niemand hörte das, denn die anderen Kinder beredeten die Geschichte laut und ausführlich, nur Jantge sah still drein und Fräulein Helene sagte: „Sei dankbar, Brigittchen, für das, was du hast; sieh, Jantge hat nicht einmal einen Vater.“
Da wurde Brigittchen still, nachher ging sie zu Jantge hin und war so liebevoll zu der kleinen Freundin, daß Severin beinahe eifersüchtig wurde, und er gab sich erst zufrieden, als er beim Heimweg zwischen Jantge und Brigittchen gehen durfte.
„Es war doch fein, daß uns Fräulein Helene eingeladen hat,“ sagten die Kinder, als sie heimgingen.
„Das Schönste war doch die Geschichte,“ rief Brigittchen.
Die andern stimmten ihr zu, nur Severin war sich noch nicht klar, ob die Schokolade, das Spielen oder die Geschichte am schönsten gewesen sei, und am liebsten hätte er sich zu morgen gleich wieder einladen lassen, um darüber zu entscheiden.
Aber das gab es nicht, dafür aber gab es Tauwetter und der Schnee lief so geschwind vor der Sonne von dannen, daß sämtliche Schneemänner im Städtchen umpurzelten. Und von den Dächern rannte der Schnee herunter, eins, zwei, drei, klatsch, da lag er unten auf der Straße, wurde schmutzig, wurde zu Wasser, und weg war er. Auf den Dächern aber saßen die Vögel und zwitscherten und piepten und wenn einer ganz genau hinhörte, dann verstand er, was die Vögel riefen, nichts anderes als: „Es wird Frühling, es wird Frühling!“
Er kam nun wirklich immer näher der Frühling! Der Winter raffte seinen weißen, schon ein bißchen zerfetzten Mantel zusammen und zog brummelnd davon. Manchmal drehte er sich noch herum und warf den Menschen, deren Jauchzen ihm nachtönte, ärgerlich eine Handvoll Schnee auf die Köpfe. Aber das schadete nicht mehr viel, man merkte es doch an allen Ecken und Enden, daß der Frühling kommen wollte. —
Doktor Fröhlich und seine Schwester merkten es auch, wenn sie in ihrem Garten spazieren gingen. Da schaute ein grünes Spitzchen heraus und da eins, die Krokusse waren draußen, ehe man sich’s versah, wie kleine Soldaten standen sie in ihren blauen, gelben und weißen Röcklein auf der braunen Erde. Und die Schneeglöckchen kamen, die Leberblümchen, auch die Hyazinthen steckten ihre dicken Köpfe hervor. Der Garten war der Wunder voll. Jeden Tag entdeckten die Geschwister etwas Neues, Schönes, und Brigittchen, die täglich den Weg ins Nachbarhaus fand, jauchzte mit über all die köstlichen Frühlingswunder.
Die beiden Geschwister dachten und sprachen von ihrem einsamen Leben in den Weltstädten, dort war der Frühling gekommen und vergangen und sie hatten ihn kaum recht gespürt, aber hier in dem kleinen Städtchen gab es so viel Frühlingsahnen und so viele Frühlingsfreude, daß jeder Tag wie im Feierkleid dahinging.
Brigittchen sang kleine, fröhliche Frühlingslieder, der Doktor grub im Garten die Beete um, und manchmal kam auch Herr Schön mit hinüber ins Nachbarhaus, und Fräulein Helene zeigte ihm alle Blumen und die Knospen an den Bäumen und Sträuchern.
Die Kinder aber sagten zu einander: „Nun fangen bald die Osterferien an!“
Manch ein Bube und manch ein Mädelchen sagte dies freilich recht bedrückt, das waren die, die ans Sitzenbleiben und an schlechte Zensuren dachten. Zu denen gehörten aber die fünf Schatzgräber nicht, selbst Wendelin und Severin, die sich gerade nicht immer durch besonderen Fleiß auszeichneten, hatten in den letzten Wochen noch mit beinahe unheimlichem Eifer gearbeitet und hatten so die Klippe des Sitzenbleibens kühn umschifft. So redeten sie denn auch sehr stolz und sicher von den Osterferien und von Feiertagslust, als sie mit den drei Mädels und Jörgel in Meister Hippels Turmstübchen saßen, es war kurz vor Ostern, ein Tag vor Schulschluß.
Klaus Hippel erzählte den Kindern allerlei, und dabei sagte er auch: „Ich hab’s zwar noch nie gesehen, aber möglich ist’s schon, daß die Sonne am Ostermorgen einen Hopps macht und ein Weilchen tanzt!“
Die Kinder lachten, nur Brigittchen schaute ernsthaft mit großen, verträumten Märchenaugen drein, ihr schien es gar nicht unmöglich, daß die Sonne tanzen könnte.
„So ein Unsinn!“ rief Jörgel.
„So, Unsinn? Herr Naseweis und Grünschnabel!“ schrie der kleine Pantoffelmacher geärgert. „Dann glaubst du auch wohl nicht, daß Osterwasser eine besondere Kraft hat?“
„Ich weiß nicht,“ murmelte Jörgel etwas verlegen, er wußte nämlich gar nichts vom Osterwasser.
„Was ist denn Osterwasser, wo gibt es denn das?“ fragte seine Schwester Anne-Marte, der schon wieder das Kichern in den Wangengrübchen saß.
Meister Hippel guckte über seine Brille weg die Kinder forschend an, er machte ein Gesicht, daß niemand wußte, ob er ernst oder spaßhaft gesinnt war. „Na, paßt auf,“ sagte er, „Osterwasser nennt man Wasser, das Kinder, Jünglinge oder Jungfrauen am Ostermorgen gerade vor Sonnenaufgang aus einer Quelle schöpfen. Es ist aber nicht so einfach, Osterwasser zu holen, man darf kein Wort dabei sprechen, überhaupt nicht lachen, nicht weinen, schweigend muß man das Wasser holen und auf dem Heimweg darf man beileibe keinen einzigen Tropfen vergießen, auch darf die Sonne nicht in den Krug scheinen, und vorher darf es niemand wissen, der nicht mitgeht.“
„Das ist aber schwer,“ flüsterte Jantge mit einem kleinen Seufzer.
„Na, freilich ist’s schwer,“ brummte der Meister, „für nichts ist nichts. Das Osterwasser hat aber auch seine besondere Kraft. Es macht den Menschen schön, verleiht ihm Gesundheit und Reichtum. Ja, guckt mich nur an, ich bin auch mal Osterwasser holen gegangen, und es hätte sicher viel Glück gebracht. Ich habe auch kein Wort dabei gesprochen und es vorher niemand gesagt und meinen vollen Krug sorgsam nach Hause getragen, und wie ich die Treppe hinaufgehen will, kommt mir Muxel, unser schwarzer Kater entgegengelaufen, ich stolpere, falle, und weg war mein Osterwasser. Das nächste Jahr war ich krank, dann habe ich es verschlafen, dann habe ich geheiratet, und so bin ich nie zu Osterwasser gekommen!“
„Wie schade!“ rief Brigittchen mitleidig.
Jörgel lachte, er glaubte nicht recht an das Osterwasser, aber Wendelin und Severin warfen sich verständnisvolle Blicke zu, sie glaubten fest daran, denn Heine, der kluge Heine, hatte auch davon erzählt.
Nachher auf dem Heimweg sagte Wendelin auf einmal: „Wir könnten doch alle miteinander Osterwasser holen gehen, es wäre doch fein!“
„Ach ja,“ riefen die drei Mädels wie aus einem Munde.
Jörgel machte ein bedenkliches Gesicht: „Es geht uns vielleicht wie mit dem Schatz und nachher werden wir ausgelacht! Lieber nicht!“
„Sei doch nicht so eingebildet!“ rief Severin. Es war dies allerdings ein höchst ungerechter Vorwurf, aber weil Jörgel Ostern schon nach Quinta kam, und die Bäckerbuben, die freilich ziemlich in gleichem Alter mit ihm waren, noch in der letzten Vorschulklasse saßen, glaubten sie mitunter, Jörgels Zweifel an Meister Hippels und Heines Erzählungen sei nur Einbildung.
„Sei doch kein Spielverderber,“ sagte nun auch Anne-Marte, „es ist doch anders wie beim Schatzgraben, wir brauchen ja nicht im Dunkeln zu gehen?“
„Wir wollen doch gehen,“ flüsterte Jantge. Sie dachte bei sich, vielleicht hilft das Osterwasser der Urgroßmutter, und darum wollte sie gehen.
Auch Brigittchen bat: „Wir wollen doch gehen!“ Die kleine Träumerin lockte das Geheimnisvolle, Märchenhafte, sie gedachte irgend etwas Wundervolles zu sehen und zu hören, vielleicht tanzte die Sonne auch wirklich.
„Na, meinetwegen,“ brummte Jörgel. Im Grunde ging auch er gern, denn wer konnte es wissen, das Osterwasser hatte doch vielleicht eine besondere Kraft.
„Hoffentlich ist schönes Wetter!“ sagte Anne-Marte.
„Ja, und wir dürfen es niemand vorher sagen, daß wir gehen, Mädels,“ rief Wendelin. Er sah die Freundinnen drohend an, und Brigittchen fiel das Verbot schwer auf ihr Herzchen, nun durfte sie den Plan auch Tante Helene nicht verraten, und dies erschien ihr unendlich schwer.
Schnippisch erwiderte Anne-Marte: „Tu dich nur nicht so, Wendelin, du hast es neulich Jantge geklatscht, daß ich eine Strafarbeit hatte, wer konnte denn da seinen Mund nicht halten? Seid ihr nur still, wir werden schon nichts verraten, nicht wahr Brigittchen und Jantge?“
Die beiden gelobten eifrig Schweigen, Wendelin verzog trotzig den Mund, er wagte aber nichts weiter zu sagen, denn gegen Anne-Marte kam er so leicht nicht auf, die konnte auf ein Wort vier erwidern.
Die Tage vergingen. Die Ferien kamen, es gab Zensuren und manch ein Bube ging an diesem Tag mit gesenktem Kopf einher und manches Mädel hatte verweinte Augen. Dann kam Palmsonntag, an dem die Konfirmanden mit lieblichem Ernst auf den jungen Gesichtern durch die Straßen gingen, und es den Kleinen, die die großen Geschwister so sahen, auch feierlich und fromm zu Mute wurde. Am Gründonnerstag suchten die fünf Schatzgräber, Jantge und noch einige Freunde und Freundinnen, bei den Geschwistern Fröhlich im Garten Eier. Zwischen den Blumen, in den Sträuchern, in kunstvoll aus Zweigen zusammengefügten Nestern, in den Winkeln des kleinen Gartenhauses, überall lagen die bunten Eier. Aber wären sie noch so versteckt gewesen, die Kinder hätten sie doch gefunden, die Lust war groß und Lachen und Rufen zog wie ein Frühlingslied durch den Garten.
Dann kam der Karfreitag, und das Städtchen lag in Stille und Schweigen, um am Ostersonnabend wieder zu neuem Leben zu erwachen. Da lag heller Sonnenschein über der Stadt, und alle Hausfrauen gingen auf den Markt, der auch bunt und frühlingsfrisch aussah. Die Kinder liefen mit auf den Markt, und sie taten so wichtig, als müßten sie an diesem Tag die ganze Wirtschaft daheim bestellen. In der Marienstraße und in der Langgasse, die nach dem Markte führte, war so viel Leben, daß die Bauersleute, die mit Waren zum Markt gekommen waren, nicht weiter konnten und über den Wirrwarr schalten. Aus den Häusern heraus strömte der Duft von frischgebackenen Kuchen, denn in Neustadt hielten die Hausfrauen noch fest an der alten Sitte, selbst Kuchen zu backen zu den Festzeiten.
Und wer es konnte, der trug einen Strauß Kätzchen oder Blumen in sein Haus und schmückte damit seine Stübchen. Brigittchen bekam von ihrem Vater die Erlaubnis, den Garten ein wenig zu plündern, und sie rannte am Nachmittag mit Anne-Marte in das Gertrudenspital, um Jantge die Blumen zu bringen. Da bekam jede der alten Frauen ein Zweiglein, Jantge verteilte liebevoll ihre Schätze, und es standen an jedem Fenster des Spittels zum Osterfest Blumen. So verging der Sonnabend unter Arbeit und fröhlicher Unruhe, und manch einer legte sich am Abend zufrieden mit dem Gedanken zu Bett: „Ach, morgen ist Feiertag!“
Der Ostersonntag dämmerte herauf. Der klare, fast wolkenlose Himmel verhieß einen schönen Tag. Noch lagen die Neustädter alle in tiefem Schlummer, als sich sacht die Tür des Doktorhauses öffnete und Anne-Marte vorsichtig ihr Näschen herausstreckte. Sie winkte still und geheimnisvoll dem nachfolgenden Bruder zu und deutete auf die andere Seite des Platzes; von dorther kamen auf den Fußspitzen, weil der laute Schall ihrer Schritte sie selbst erschreckt hatte, Wendelin und Severin. Sie grüßten stumm und ernsthaft die Freunde und alle schauten auf das Schön’sche Haus. Kam Brigittchen noch nicht?
Ein Weilchen später kam auch die Kleine heraus, auch ihr Gruß bestand nur in einem stummen Nicken. Jedes der Kinder trug einen Krug in der Hand, Anne-Marte hatte einen alten Milchtopf genommen und Severin eine Kaffeekanne, die Deckel und Schnauze verloren hatte.
In tiefem Schweigen gingen die Kinder durch die Gäßlein. Anne-Marte hatte ein großes, dickes Malzbonbon im Munde, das war ihr von Jörgel fürsorglich als gutes Mittel gegen unzeitiges Kichern empfohlen worden. Aber die feierliche Stille des Festmorgens dämpfte Anne-Martes Lachlust, ihr war es so geheimnisvoll, fast märchenhaft zu Mut, daß das Malzbonbon eigentlich überflüssig war.
Dicht am Gertrudenspital kam Jantge den Gefährten entgegen, sie trug einen bunten Tonkrug in der Hand und in ihren Blauaugen stand eine große Erwartung.
Am Wachtturm vorbei ging es zur Stadt hinaus. Klaus Hippel und Frau Paulinchen schliefen noch und ahnten nicht, daß ihre kleinen Freunde ihnen so nahe waren.
Etwa eine Viertelstunde von der Stadt entfernt lag am Rande des Waldes eine steinumfaßte Quelle, sie hieß die Bonifaziusquelle, weil die Sage ging, der fromme Heidenbekehrer hätte hier einst rastend einen mächtigen Fürsten zum Christentum bekehrt. Die Quelle war das Ziel der Kinder, dort wollten sie Osterwasser schöpfen.
Als sie aus der Stadt herauskamen und auf schmalem Wiesenpfade dem Ziel zuschritten, merkten sie erst, wie schön der Ostermorgen eigentlich war. Schon begann sich der Himmel zu färben, und ein Rosenschimmer verdrängte langsam die Farben der Nacht. Beinahe hätte Anne-Marte gesagt: „Die Sonne wird gleich aufgehen,“ aber im letzten Augenblick besann sie sich noch, und erschrocken stopfte sie noch ein zweites Riesenbonbon in ihren Mund. O, nur nicht lachen und sprechen, sonst wich der Zauber!
Selbst Jörgel hatte jetzt alle Zweifel verloren, sogar das Wunder der tanzenden Sonne erschien ihm nicht mehr unmöglich in dieser tiefen Morgenstille, in diesem seltsamen, fahlen Licht. War es nicht schon ein Wunder, daß Anne-Marte, die kleine Schwatzsuse, wirklich schwieg, als hätte sie überhaupt keinen Mund?
Der Himmel wurde röter, ein schimmernder Glanz verbreitete sich ringsum, und unwillkürlich liefen die Kinder schneller, um ja nicht zu spät zu kommen. Schon von ferne hörten sie das sachte Rieseln und Rauschen der Quelle, wie ein feines Singen klang es, wie ein Klingen aus Märchenland.
Da waren sie auch schon an der Quelle, deren Wasser rosenrot schimmerte im Widerschein des Morgenhimmels. Als lägen viele rote Rosen auf dem feuchten Grunde, so sah es aus. Um Wasser zu schöpfen, mußte jedes der Kinder auf ein schwankendes Brett steigen. Mit stummer Gebärde zeigte Jörgel, wie man das machen müßte; er ging zuerst, neigte sich und schöpfte seinen Krug voll Wasser. Nun folgten die Mädels, eine nach der andern; zaghaft schöpften sie, es war ihnen so feierlich zu Mute, und keiner kam ein Lächeln. Tief neigte sich Brigittchen über die Quelle, sie schöpfte langsam, andachtsvoll, und sie erstaunte fast, daß das Wasser im Krug nicht rosenfarben war.
Und immer glühender wurde der Himmel im Osten, wie Purpur leuchtete es und wie Gold, und der Wald begann zu glühen.
Severin war der letzte gewesen, der Wasser geschöpft hatte, nun stand er still auf dem schwankenden Brett und starrte in das Morgenrot; er wußte nicht, daß kein Mensch mit bloßen Augen lange in dieses helle Licht schauen kann, und auf einmal begann es ihm vor den Augen zu flimmern, er sah lauter tanzende, rote, glühende Punkte. Darüber vergaß er sein Gelübde zu schweigen, er schrie: „Die Sonne tanzt, die Sonne tanzt, es ist doch wahr!“
Er schwenkte seinen Krug, hob ein Bein, als wollte auch er tanzen, und — plumps — lag er im Wasser.
Ein fünfstimmiger Entsetzensschrei erscholl. So blitzschnell war alles gegangen, Severins Rufen und sein Fall, daß keins der Kinder recht wußte, wie eigentlich alles geschehen war. Sie riefen und schrieen durcheinander, die Krüge mit Osterwasser fielen zu Boden, alle griffen sie nach Severin und zogen den vor Schreck ganz stumm gewordenen Buben aus dem Wasser heraus.
„Unser Osterwasser!“ klagte auf einmal Jantge, und nun fiel es allen erst ein, daß ihr Weg vergeblich gewesen war. Und naß waren sie, und dazu froren sie; Brigittchen hatte sich das Wasser über das Kleid geschüttet; Jörgel und Wendelin waren in ihrem Eifer, Severin zu retten, auch bis an die Knie ins Wasser geraten, und so war ihnen alle feierliche Osterstimmung vergangen. Selbst Anne-Marte, trotzdem sie im ersten Schreck ihr Malzbonbon ausgespuckt hatte, kicherte nicht, sondern heulte, Brigittchen zur Gesellschaft mit. Wendelin schalt auf seinen Bruder, und der, der vor Frost nur so klapperte, rief weinerlich: „Sie haa—at do—o—och ge—getanzt!“
„So dumm, so dumm,“ klagte Wendelin, und mit ihm klagten und jammerten die anderen auch. Daß die Sonne inzwischen in vollem Glanz emporgestiegen war und ihr strahlendes Licht alles überflutete, merkten sie gar nicht; sie hörten auch nicht die Vogelstimmen, die laut wurden. Der Jammer war zu groß.
Auf einmal sagte Jörgel: „Dort kommt ein Mann!“ Jantge kreischte erschrocken auf, und etwas bedenklich sahen die Kinder dem Näherkommenden entgegen, der einen großen Stock schwenkte und zu rufen begann. Und jäh empfanden sie alle die Einsamkeit der Morgenstille mit leisem Schauern, so allein fühlten sie sich. Wer es zuerst gesagt hatte, sie wollten ausreißen, wußte nachher niemand mehr, aber plötzlich liefen sie alle miteinander wie Hasen, die den Jäger kommen sehen.
Hinter ihnen her aber kam der Mann; sie hörten ihn rufen. Einmal sagte Brigittchen: „Er schreit, wir sollen stehen bleiben, er will uns was sagen,“ aber auch sie lief mit den Gefährten weiter und immer weiter.
Sie hörten den Mann schelten. „Potzwetter, steht doch still, ihr Rangen, hört doch, hööört!“
Und toller und toller nur rannten sie.
Aber da war der alte Turm, nun kam das Gertrudenspital, husch war Jantge drin, kaum daß Brigittchen und Anne-Marte einen flüchtigen Händedruck erhielten, und weiter ging die wilde Jagd. Durch die bekannten Gäßlein liefen die Kinder und meinten, hinter sich schnelle Schritte zu vernehmen, die sie verfolgten. Manch’ Fenster öffnete sich, und etliche Frühaufsteher schauten den Kindern nach und brummten wohl: „Ja, was soll denn das bedeuten, was haben die denn wieder angestiftet?“
Auf dem Kirchplatz machten sie endlich alle Halt, keuchend, pustend und trotzig schauten sie sich um: Nun mochte der Verfolger kommen! Doch — der war nicht zu sehen. Statt dessen guckte Frau Meister Gutgesell zum Laden heraus; sie war soeben damit fertig geworden, die Semmeln einzuzählen für ihre Kunden und war einmal vor die Türe getreten, um Luft zu schöpfen, da sah sie ihre Buben und erkannte auch die andern Kinder. Sie ahnte gleich einen dummen Streich und rief die fünf zu sich. Ein wenig kleinlaut kamen diese an und erzählten, sie hätten Osterwasser holen wollen.
„Aber Kinder!“ die Meisterin schüttelte mit dem Kopf, „auf was für närrische Einfälle ihr aber auch immer kommt. Gesund seid ihr, satt zu essen und mehr habt ihr, und jung seid ihr auch, was sollte euch denn das Osterwasser, wenn es nämlich wirklich etwas nützte?“
„Es soll schön machen,“ sagte Anne-Marte keck.
„Ei, du Grasaffe, du!“ rief die Meisterin, „sei froh, daß du gerade und ordentlich gewachsen bist, gut sehen und gut hören kannst, gib dir nur Mühe, immer brav zu sein, was brauchst du da noch Schönheit. Und nun marsch ins Bett; gut war es noch, daß ihr ordentlich zurückgerannt seid, da wird euch das Wasser hoffentlich nichts geschadet haben!“
„Ich habe Hunger,“ murmelte Wendelin bedrückt.
„Dann nimm dir eine Semmel und dann flott ins Bett, Festkuchen gibt es jetzt noch nicht,“ erwiderte die Mutter, die schon wußte, warum ihr Bube Hunger hatte.
„Da kommt er,“ flüsterte Brigittchen ängstlich.
Über den Kirchplatz her kam ein Mann, kein Zweifel, es war der Verfolger.
„Das ist aber frech!“ tuschelte Wendelin.
Der Mann sah aber weder frech noch böse aus, ganz behaglich kam er näher und rief: „Nee, Frau Meisterin, ist das aber eine dumme Gesellschaft, die Kinder! Da will ich mir den Weg sparen und Ihren Buben sagen, daß Sie mir zu heute Nachmittag noch etliche Kuchen schicken sollen, weil ich denke, es werden Gäste kommen, ja, prost Mahlzeit. Die Bengels sind davongelaufen wie das richtige, schlechte Gewissen. Ihr da, was habt ihr denn miteinander angestiftet?“
Die Kinder sahen sich verdutzt an; der Mann, das war nämlich Herr Hinze, der Besitzer einer Gartenwirtschaft, die nicht weit von der Bonifaziusquelle lag, sie alle waren schon oft dort gewesen.
„Osterwasser wollten sie holen,“ sagte die Meisterin, und sie erzählte Herrn Hinze von dem verunglückten Ausflug. Der lachte so dröhnend, das hallte über den ganzen Kirchplatz hin, und ein wenig beschämt gingen die Kinder heim. Sie krochen noch einmal in ihre Federnester, freilich ohne Schelte ob des heimlichen Fortlaufens ging es nicht ab. Aber dann schliefen sie, trotzdem das Städtchen schon im vollen Sonnenglanz lag, noch einmal ein, schliefen, bis die Glocken von St. Marien und St. Johannis über die Stadt hinhallten. Da erwachten sie mit dem seligen Gefühl: es ist Feiertag, es sind Ferien.
Und Severin brummte, als seine Mutter ihn endlich weckte: „Sie hat doch getanzt, ich hab’s gesehen!“
Dabei blieb er, und er hatte den Triumph, daß Heine ihm glaubte und sagte: „Hättet ihr mich mitgenommen, dann wäre die Sache gescheit geworden!“ Na, wer weiß!
In der Vorstadt draußen, schon dicht am freien Felde, wohnten Liesel und Peter nachbarlich zusammen. Liesels Vater war Stadtrat und Peters Vater besaß eine kleine Gärtnerei. Daß Liesels Vaterhaus eine hübsche Villa war, und Peter in einem kleinen Häusel wohnte, bei dem das Dach schon auf dem Erdgeschoß saß, beeinträchtigte die Freundschaft nicht. Eine Lücke war im Gartenzaun, durch die man hinüber und herüber spazieren konnte, und dies taten die Kinder redlich, und so stand denn auch Peterle an einem sonnenwarmen Frühlingstag am Gartenzaun und rief: „Du, Liesel, komm einmal rasch her, ich muß dir was Feines erzählen!“
Neugierig kam diese näher. „Was gibt es denn?“
„Jahrmarkt ist, Liese,“ sagte Peter, und seine Augen leuchteten. „Komm mit, wir gehen zusammen hin!“
„Ich darf nicht allein in die Stadt, und die Eltern sind fort, die kann ich nicht fragen,“ sagte Liesel traurig.
„Ach was,“ rief Peter, „ich darf eigentlich auch nicht; aber nur mal hinlaufen, das schadet doch nichts. Mutter will morgen mit mir hingehen, weil schulfrei ist; aber morgen ist noch so schrecklich lange. Komm nur, es merkt’s niemand; ich habe auch Geld, einen Groschen, da kaufen wir uns Schmalzkuchen oder fahren Karussell. Hast du auch Geld?“
„Ja,“ sagte Liesel eifrig, die noch ein rechtes Dummerchen war und den Wert des Geldes wenig kannte, „ich habe viel Geld. Onkel Fritz hat mir einen Groschen geschenkt, aber einen goldenen. Doch mitgehen darf ich nicht.“
„Hasenfuß,“ sagte Peter spöttisch; „was dabei ist, nur mal hingehen! Es ist ja nicht weit, und dann gleich wieder zurück; das merkt doch niemand.“
Hasenfuß mochte Liesel sich nicht gern nennen lassen; unschlüssig stand sie da und überlegte. Sollte sie gehen? War es nicht sehr unartig? Da bat Peter wieder: „Nur einmal hingehen, bloß fünf Minuten vor dem Kasperletheater stehen.“ Liesel ließ sich überreden; sie holte rasch den goldenen Groschen, der in einem kleinen, hübschen Beutel steckte, und rannte dann mit Peterle dem Jahrmarktsplatz zu.
War das ein Leben! Bude stand an Bude; in der einen lagen und hingen Spielsachen, Puppen, Trompeten, Peitschen, Pfeifen, alle möglichen Dinge; in einer anderen gab es bunte Töpfe, Tassen und Teller, da Hüte und seidene Bänder, dort Pfefferkuchen, Bonbons und Nüsse, und überall roch es nach Schmalzkuchen. Dideldideldei, dideldideldumdum spielte der Leierkasten am Karussell, und im Puppentheater sah Kasperle, der eine riesengroße Nase hatte, hinter einem roten Vorhang hervor und schrie kläglich:
„Der Teufel haut mich, o je, o je,
Wie tun meine hölzernen Beine weh.
Ach, Buben und Mädels, kommt heran,
Und schaut mich armes Kasperle an!
Meine hölzerne Nase wird blau und grün,
Drei Zähne muß der Doktor mir ziehn!“
Und Kasperle hob ein Bein und steckte es in den Mund, da sagte seine liebe Frau Rosettchen: „Steck’ auch das zweite in den Mund!“
„So groß ist sein Maul nicht,“ schrie der Teufel und grinste.
Flink steckte Kasperle das zweite Bein in den Mund und plumps fiel er hintenüber in ein Loch, weg war er.
Die Kinder jauchzten, die Erwachsenen lachten, und als ein Mann mit einem Zahlteller kam, rannten die Kinder, als hörten sie die Schulglocke läuten.
Vor einer Schaubude stand ein Mann und rief: „Nur immer hereinspaziert, meine Herrschaften, das größte Wunder der Welt ist hier zu sehen!“ Und vor einem Leinenzelt saßen rote und blaue Papageien auf einer kleinen Schaukel; einer schrie krächzend: „Lora, schöne Lora, will Zucker haben!“
Peter und Liesel rissen Mund und Augen auf, was gab es nur alles zu sehen. Doch Liesel konnte sich gar nicht recht freuen. Sie dachte immer: wäre doch Mütterchen bei mir!
„Erst wollen wir für meinen Groschen Karussell fahren,“ sagte Peter, „dann kaufen wir uns für deinen Groschen etwas Schönes zu essen. Zeig’ mal her, ist es wirklich Gold? Dann können wir nämlich schrecklich viel kaufen!“
Aber Liesel hielt ihr Beutelchen ängstlich fest und sagte schüchtern:
„Fahr’ du allein, ich fürchte mich.“
Peterle ließ sich das nicht zweimal sagen; hopps war er oben, kletterte auf ein Pferd und dideldideldei, dideldideldumdum ging die Fahrt los. Liese sah einige Minuten zu; weil aber gar so viele Menschen um sie herum standen, ging sie ein paar Schritte weiter.
„Hier herein, kleines Fräulein,“ rief eine schnarrende Stimme, und eine große, dicke Frau, die vor einer Bude stand, faßte sie am Arm und schrie: „Hast du Geld, dann darfst du rein!“
Liesel wich erschrocken zurück. Da lachten ein paar Buben laut auf, einer faßte sie an ihren blonden Zöpfen und schrie: „Hüh, hott, Pferdchen, lauf!“ „Peter, Peter,“ jammerte Liese; aber Peterle fuhr lustig auf dem Karussell, und je ängstlicher die Kleine rief, je ausgelassener umtobten die wilden Buben sie. Plötzlich kam ein Mann daher geritten, ganz bunt angezogen, der kündigte an, daß abends Vorstellung im Zirkus sei; da liefen die Buben hinterher und ließen Liesel gehen. Die Kleine wollte zu Peter zurückkehren, als sie neben sich einen alten Mann erblickte, auf dessen Schulter ein kleiner Affe saß, der lauter tolle Sprünge machte und Grimassen schnitt. Das sah lustig aus; Liesel blieb stehen und sah dem Äffchen zu. Dessen Herr hielt einen schmutzigen, abgetragenen Hut in der Hand und sah jeden, der an ihm vorüberging, bittend an; aber niemand achtete auf ihn. Da seufzte der alte Mann tief, und Tränen rannen ihm in den weißen Bart. Liesel sah das und fragte mitleidig: „Fehlt dir etwas, alter Mann?“
„Ich habe Hunger, Kind,“ sagte der traurig, „und ich bin so arm, daß ich mir nichts zu essen kaufen kann.“
Nur ein Weilchen überlegte Liese; dann holte sie rasch ihren goldenen Groschen hervor und legte ihn in den Hut des Mannes, und dann lief sie, so schnell sie konnte, davon, noch ehe der überraschte Alte ihr hatte danken können. Am Karussell standen wieder die bösen Buben; Liesel traute sich nicht heran; und so rannte sie denn ohne Peterle nach Hause.
Es hatte auch wirklich niemand ihre Abwesenheit bemerkt, aber die Kleine konnte nicht so vergnügt wie sonst spielen; immer mußte sie an ihr heimliches Fortlaufen denken. Nicht wie sonst konnte sie Vater und Mutter erzählen, was sie am Nachmittag getan hatte, und der Eierkuchen, den es zum Abendbrot gab, schmeckte lange nicht so gut wie sonst. Als sie dann in ihrem weichen, weißen Bettchen lag, kam die Mutter zu ihr. Sanft strich sie der Kleinen über die Wangen und sagte: „Fehlt meinem Herzenskind etwas?“
Da stürzten heiße Tränen aus Liesels Augen, und schluchzend beichtete sie der guten Mutter ihre Schuld; auch von dem goldenen Groschen und dem armen, alten Manne erzählte sie.
Ernst hörte die Mutter zu; dann nahm sie ihr kleines Mädel zärtlich in ihre Arme und sagte: „Daß du dem armen Manne Geld gabst, freut mich, und weil es dir leid tut, daß du ungehorsam warst, will ich dir verzeihen. Nun laß uns zusammen beten, mein Liebling.“
Da faltete Liesel ihre Händchen, sprach ihr Abendgebet und schlief dann ruhig und friedlich ein, froh, daß sie ihre Schuld der Mutter gestanden hatte.
Am nächsten Morgen, als Liesel gerade ihre Milch trank, kam die Köchin aufgeregt in das Zimmer und schrie: „Ein Polizist ist da, hu! ich graule mich, und er sagt, er will unsere Liesel holen!“
Die Kleine schrie laut auf vor Schreck und wutsch! kroch sie, so schnell sie konnte, unter den Tisch. Sie riß in der Eile das Tischtuch mit herab, und klirrend und krachend fielen Milchtasse, Zuckerdose und Brotkorb und was sonst noch auf dem Tische stand, auf die Erde; hätte die Erde ein Loch gehabt, gewiß wäre das Liesel mit Vergnügen hinein gekrochen. Plötzlich bekam Liesel recht seltsame Gesellschaft unter dem Tisch: ein kleines, braunes Äffchen saß auf einmal neben ihr und griff sehr vergnügt nach einem Butterhörnchen, das es zu fressen begann.
„Liesel, Kind, komm doch hervor!“ rief die Mutter und zog ihr weinendes Töchterchen aus seinem Versteck heraus, während das Äffchen von einem alten Manne gepackt wurde, der kein anderer war als der Bettler vom Jahrmarktsplatz. Und da stand auch wirklich ein Schutzmann mitten im Zimmer, und Liesel verkroch sich angstvoll hinter der Mutter Kleid.
„Da ist die Kleine, die mir das Goldstück gegeben hat,“ sagte der alte Mann; „ich habe es wirklich nicht gestohlen.“
Nun klärte sich die ganze Sache auf. Am vergangenen Nachmittag war auf dem Jahrmarktplatz gestohlen worden, und als Hartmann, so hieß der Alte, sein Goldstück in einem Wirtshaus am Platz wechseln wollte, hatte man ihn als Dieb festgenommen. Man wußte, daß er ganz arm war, dazu hatte er lange neben der Bude, in der gestohlen worden war, gestanden; so hielt man den armen Alten für den Dieb. Es war gut, daß eine Frau Liesel erkannt und auch gesehen hatte, wie sie ein Geldstück in den Hut warf, sonst hätte Hartmann vielleicht noch lange unter dem bösen Verdacht gestanden. Die Eltern und Liesel versicherten dem Schutzmann, daß das Goldstück wirklich ein Geschenk sei. „Na,“ meinte der Schutzmann zufrieden, „dann leben Sie nur wohl; nun kann ich ja gehen, da alles in Ordnung ist.“ Er ging; der alte Hartmann aber mußte noch bleiben. Die Mutter holte ein gutes Frühstück herbei, und während er aß, erzählte er von seinem Leben. Durch schwere Krankheit war er in Not geraten, und da er nicht mehr ordentlich arbeiten konnte, zog er als Leierkastenmann umher, um sich sein Brot zu verdienen. Vor einigen Wochen war ihm sein Leierkasten kaput gegangen, und er besaß kein Geld, um sich einen neuen zu kaufen; seitdem ging es ihm sehr schlecht. Manchen Abend habe er hungrig zu Bett gehen müssen, er und sein Äffchen Jolly, sein treuer, kleiner Freund.
Liesel hatte still zugehört; wie traurig das alles klang! Plötzlich sprang sie auf, lief auf die Mutter zu und flüsterte bittend: „Muttchen, ich habe doch noch zwei goldene Groschen in meiner Sparbüchse; darf ich die dem armen alten Mann geben?“
Ja, das durfte Liesel, und der Alte rief dankbar: „Ach, nun kann ich mir einen neuen Leierkasten kaufen; dann hat alle Not ein Ende! Gleich heute kann ich noch auf dem Jahrmarkt spielen.“
„Ich geh aber nie mehr allein hin,“ rief Liesel und schmiegte sich an die Mutter an.
„Nein, tu das lieber nicht,“ sagte Hartmann. „Diesmal ist es gut ausgegangen; aber manchmal kommt aus Heimlichkeiten auch etwas Schlimmes heraus. Übermorgen will ich zu dir kommen und dir etwas vorspielen; soll ich?“
„Ach ja, und Jolly kommt auch mit, und dann tanzt er,“ rief Liesel vergnügt; „aber wo ist denn Jolly?“
Der saß gemütlich unter dem Tisch und fraß Zucker, denn die Zuckerbüchse war auf die Erde gefallen, als Liesel sich so schnell unter den Tisch geflüchtet hatte. Sein Herr holte ihn wieder hervor; dann nahmen beide Abschied, und Liesel durfte sie noch bis zur Tür begleiten.
Eilig lief die Kleine nachher in den Garten, um Peterle alles zu erzählen. Der saß unter einem dicken Fliederbusch am Gartenzaun und sah verweint und verdrossen aus. Erst brummte er und wollte nicht antworten, als Liesel nach seinen Erlebnissen fragte; dann aber erzählte er niedergeschlagen, wie es ihm ergangen war. Er war dreimal hintereinander Karussell gefahren; so oft durfte er für seinen Groschen. Da war es ihm auf einmal ganz schwindelig geworden und plumps war er von seinem braunen Pferd heruntergefallen. Er hatte sich die Hosen zerrissen, ein Knie und die Nase blutig geschlagen; daheim hatte er noch Schelte bekommen, und heute durfte er nicht mit Mutter und Geschwistern auf den Jahrmarkt gehen.
„Du bist dran schuld!“ schrie er wütend seine kleine Gefährtin an; „warum bist du nicht mit auf dem Karussell gefahren und warum bist du überhaupt mit deinem goldenen Groschen weggelaufen; nicht einmal Schmalzkuchen habe ich essen können!“
Als Liesel ihm von dem armen, alten Hartmann erzählte, schämte sich Peter freilich. Das wollte er aber nicht zeigen, darum brummte er ärgerlich: „Ach was, das war dumm, daß du dein Goldstück verschenkt hast. Überhaupt der ganze Jahrmarkt ist dumm; ich mag gar nicht mehr hingehen, alles ist dumm![**“::SILENT] Schwapps lief er weg, und Liesel sah ihm traurig nach; ach, so böse war das Peterle noch nie gewesen!
Am Nachmittag saß der Peter, der gar nicht auf den Jahrmarkt gehen wollte, bitterlich weinend im Garten, weil die Mutter ihn wirklich nicht mitgenommen hatte.
Aber das Peterle war doch nicht so böse, wie es den Anschein hatte. Abends bat der Bube seine Eltern um Verzeihung, und als am übernächsten Tag der alte Hartmann kam und seiner Freundin Liesel lustige Stücklein auf dem neuen Leierkasten vorspielte, kam auch Peterle herbei. Seine Mutter hatte ihm auf seine Bitte Geld aus seiner Sparbüchse gegeben; das brachte er und legte es in Jollys rotes Hütchen.
„Peter!“ rief Liesel erfreut und lief auf den Freund zu, „bist du nun wieder gut?“
Lachend faßte Peter ihre Hände, und fröhlich drehten sich beide im Kreise herum; Jolly machte lustige Sprünge, und der alte Leiermann spielte dazu: dideldideldei, dideldideldumdum.
Ein bißchen launenhaft ist der Frühling aber doch. Einmal läßt er sich wer weiß wie sehr bitten, ehe er erscheint, das andere Jahr wieder kann er nicht schnell genug mit allen Blüten herauskommen. So ging es in diesem ersten Frühling, den die Geschwister Fröhlich in Neustadt verlebten. Kaum war Ostern vorbei, da ging auch schon das rechte Blühen an. Nicht lange dauerte es, da standen alle Obstbäume im weißen oder rosenroten Frühlingskleide da; auf den Beeten blühte es, auf den Wiesen, die Büsche bekamen dicke, dicke Knospen, und eines Tages zündeten die Kastanien ihre weißen Kerzen an, und die ersten Fliedertrauben blühten auf.
Und es war noch nicht einmal Pfingsten. Im Garten des St. Gertrudenspitals war auch an einer besonders warmen, sonnigen Stelle der erste Flieder erblüht, und unter diesem Busch saß die kleine Jantge an einem wunderlieblichen Maitag und weinte herzbrechend. Ihre Zeit im Gertudenspital war nämlich abgelaufen; die Urgroßmutter konnte die Kleine nicht länger bei sich behalten, denn das Gertrudenstift war für alte Frauen, nicht für kleine Mädchen. Der Herr Bürgermeister sagte, es sei ungesetzlich, daß Jantge noch länger bliebe, denn was der einen recht sei, sei der andern billig; schon hätten zwei Frauen darum gebeten, auch ihre Enkelkinder zu sich nehmen zu dürfen. Jantge sollte wieder in ihre eigentliche Heimat zurückgeschickt werden, dort mußte die Stadt für die Kleine sorgen. Die Zukunft lag also wie ein graues Nebelland vor ihr, nur acht Tage noch, dann sollte sie wieder zurückreisen, sollte Neustadt verlassen.
Mitten hinein in ihre traurigen Gedanken sagte auf einmal ein liebes Stimmchen: „Jantge, warum weinst du denn?“
Brigittchen war es, die die Freundin holen kam und nun betroffen deren Tränen sah. „Wir wollen spazieren gehen, alle miteinander, Herr Doktor Fröhlich und Tante Helene haben uns eingeladen,“ sagte sie, „aber wenn du weinst, Jantge — dann freue ich mich auch nicht.“ Schon tropften dem weichherzigen Brigittchen auch ein paar Tränlein aus den Veilchenaugen.
Zur rechten Zeit kam Anne-Marte und, wie meist, stand ein Lächeln auf ihrem Gesichtchen. Als sie Jantges Tränen sah, tröstete sie: „Weine nicht, Jantge, acht Tage sind ja noch schrecklich lang; inzwischen — ach vielleicht finden wir bis dahin den Schatz!“
Die Erinnerung an die lustige Geschichte vertrieb wirklich die Tränen, wie der Frühlingswind die Wolken verjagt, und wenige Minuten später trabte Jantge ganz lustig mit den Gefährtinnen dem alten Stadtturm zu; dort warteten die Geschwister Fröhlich und die drei Buben auf sie. Und unter Lachen und Scherzen ging es ins Freie, dem Walde zu. Am Waldrand, etwa anderthalb Stunden von Neustadt entfernt, lag in der Nähe eines stattlichen Bauerndorfes eine Sommerwirtschaft, „Zur fröhlichen Einkehr“ genannt. Das Haus war ursprünglich ein alter Adelshof gewesen, doch die Familie, die den Hof besessen hatte, starb aus, und so gegen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Hof in ein Wirtshaus verwandelt. Viel war im Lauf der Zeiten an dem Haus nicht verändert worden, und seine dicken Mauern schienen auch noch manchem Sturm trotzen zu können. Die Neustädter gingen gern in die „Fröhliche Einkehr“. An warmen Sommertagen saßen in dem von uralten Linden überschatteten Garten immer viele Gäste; man trank dort Kaffee, aß Kuchen oder Schwarzbrot mit Butter und Honig, und das Scheiden wurde den Gästen meist schwer.
Die Kinder kannten das Wirtshaus alle, nur Jantge noch nicht, und unterwegs erzählte ihr Brigittchen, wie schön es dort sei. „Jetzt im Frühling muß es besonders schön sein,“ sagte Fräulein Helene, „ich habe es nur im Winter gesehen, und da war es eigentlich ein trauriges Haus; die beiden Kinder der Wirtsleute lagen schwerkrank, hoffentlich sind sie gesund geworden!“
„Wer hat dich, du schöner Wald,“ sangen jetzt die Buben mit heller Stimme, die am Anfang des Zuges marschierten und zuerst den Wald betraten.
Hurra, da war der Wald! Wie schön sah er im Frühlingsschmuck aus; lichtgrüner Buchenwald drängte sich zwischen dunklen Tannenwald. An manchen Stellen liefen die Buchen wie vorwitzige Kinder in den Tannenwald hinein, und da und dort standen auch Eichen. Die hatten erst winzige, rotgoldene Blättchen, ja, wunderlich genug sah es aus, mitunter hielten sie noch zähe die Reste ihres vorjährigen Laubes fest.
„Wir wollen Maiblumen suchen,“ baten die Mädels, aber Doktor Fröhlich sagte: „Spart das lieber für den Heimweg auf, wir bringen sonst alle Blumen verwelkt nach Hause!“
„Mädels müssen doch immer Blumen suchen,“ brummte Wendelin etwas verächtlich.
„Warum auch nicht!“ sagte Fräulein Helene lachend. „Übrigens sind Maiblumen meine Lieblingsblumen, nur schade, daß sie giftig sind!“
„Giftig?“ rief Brigittchen ganz erstaunt.
„Ja,“ erwiderte Doktor Fröhlich, „das stimmt. Die Wurzeln sind giftig, aber eine hübsche Blume ist sie darum doch, man braucht sie ja nicht zu essen. Der Sage nach war die Maiblume der Göttin Ostara geweiht, und bei den Maifesten unserer Vorfahren war die Maiblume der beliebteste Schmuck.“
Den Mädels zuckte es ordentlich in den Händen, sie hätten gar zu gern mit Pflücken begonnen, denn an manchen Stellen standen die Maiblumen ganz dicht, und süß stieg ihr Duft zu den Wandernden auf. Überhaupt gab es viel zu sehen und zu hören im Walde. Ein sanftes Rauschen und Raunen ging durch die Wipfel der Bäume, und es zwitscherte und sang laut und leise, das Pochen des Spechtes ertönte, und plötzlich ließ auch der Kuckuck seine Stimme hören. Mal hier, mal dort, aber vergebens suchten ihn die Kinder, er war nirgends zu sehen.
„Wie viele Tage bleibe ich noch hier?“ fragte Jantge, als der Kuckuck ein Weilchen geschwiegen hatte. Da begann er zu schreien; er rief und rief ohne aufzuhören; erst zählten die Kinder, aber dann rief es von da und dort, von überall her „Kuckuck, Kuckuck“, und Brigittchen flüsterte geheimnisvoll: „Jantge bleibt immer hier!“
Es schien wirklich so zu sein, denn der Kuckuck rief noch, als die Wanderer schon die grauen Mauern und das rote Dach der „Fröhlichen Einkehr“ durch die Bäume schimmern sahen.
Auf einmal spürten es alle, daß sie hungrig und durstig waren, und selten kamen wohl Gäste mit einem solchen Jubelgeschrei in einem Gasthaus an. Im Garten war Platz in Hülle und Fülle, es saß nämlich niemand drin, und die Kinder konnten zu ihrer Lust alle Tische durchprobieren; ein Platz erschien ihnen immer verlockender als der andere.
Aus dem Hause kam eine blasse Frau; sie trug ein schwarzes Kleid und sah gar nicht frühlingslustig aus. Still nahm sie die Bestellung entgegen, und traurig glitten ihre Blicke über die heitere Kinderschar hin. „Es ist die Wirtin,“ sagte Helene Fröhlich halblaut zu ihrem Bruder, „ihr scheint ein Kind gestorben zu sein damals — oder beide!“
Die Geschwister schwiegen und dachten an die traurige Frau; die Kinder hatten gar nicht auf das Gespräch gehört, die tollten lachend durch den Garten. Nur Jantge saß still am Tisch, und sie dachte auch mitleidig an die Frau, der wohl ein Kind gestorben war.
Ein Viertelstündchen könnte es dauern, bis der Kaffee fertig sei, hatte die Wirtin gesagt, und die Kinder meinten, sie wollten unterdes die Schaukel versuchen und sich den Hof mit den Ställen ansehen. Sie versprachen brav zu sein, und so durften sie gehen, während die Geschwister unter der Linde sitzen blieben. Die Kinder liefen hierhin und dorthin, die einen wollten dies sehen, die andern das. „Komm mit,“ rief Brigittchen Jantge zu, und Wendelin schrie: „Ich zeig’ dir den Ziegenstall!“
Jantge überlegte ein Weilchen, und dann stand sie mit einem Male allein da. Sie ging zum Garten hinaus, aber statt auf den Hof, kam sie an den Waldrand, an dem sie einige Schritte entlang ging. Da blieb sie plötzlich lauschend stehen: „Was mochte das für ein Vogel sein, der so hübsch pfiff?“
Leise ging sie weiter, da sah sie unter einer großen Buche einen Knaben sitzen, der auf einer Flöte aus Rohr blies; es klang fein und melodisch wie Vogelsang. Jantge lauschte andächtig; das war hübsch, der pfeifende Knabe hier in dem schönen Walde. Wie gut es der hatte. Ihr fiel wieder ihr Kummer ein, den sie bei dem fröhlichen Wandern fast vergessen hatte. Sie dachte daran, daß sie bald von Neustadt fort müßte, und geschwind kamen ihr die Tränlein wieder, die Brigittchens sanftes Zureden und Anne-Martes Lachen getrocknet hatten.
Erschrocken hielt der Knabe in seinem Blasen inne, wer weinte denn da? Verwundert sah er auf das kleine, blonde Mädchen mit dem seltsamen, weißen Häubchen, das wie aus der Erde gewachsen neben ihm stand und weinte.
„Wer bist du, und warum weinst du denn?“ fragte er.
Leise weinend gab Jantge Antwort.
Der Bube hätte das fremde Kind gern getröstet, aber er war ein scheuer, kleiner Bursch, ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte, und unwillkürlich nahm er seine Flöte und blies darauf, so schön er es konnte.
Wirklich versiegten auch Jantges Tränen, sie setzte sich neben den Buben und lauschte andächtig dem Spiel; lange, lange hätte sie so sitzen mögen.
Inzwischen hatte aber die Wirtin der „Fröhlichen Einkehr“ den Kaffee gebracht, und Fräulein Helene rief nach den Kindern. Die kamen auch schnell herbei, nur Jantge fehlte; wo war sie denn? Man rief und suchte; hell tönten die Kinderstimmen durch die Stille, Frau Vogeler, die Wirtin, kam auch und half suchen, und sie war es, die Jantge fand.
Die Kleine saß noch immer still neben dem Buben und lauschte dessen Flötenspiel, sie hatte das Rufen gar nicht gehört. Sie schrak zusammen, als die ernste Frau im schwarzen Kleid sie bei ihrem Namen rief.
Der Knabe ließ still seine Flöte sinken; traurig fragte er die Kleine: „Mußt du schon fort?“
Da tönten schon ganz nahe Wendelins und Anne-Martes Stimmen: „Jantge, Jantge, wo bist du?“
„Hier!“ rief Jantge. Sie sprang eilig auf und wollte davonlaufen, aber dann kehrte sie plötzlich um, eilte auf den fremden Buben zu und flüsterte errötend: „Ich danke schön!“ Und weg war sie.
Frau Vogeler aber ging mit dem Knaben Hand in Hand still dem Hause zu. Als sie beide durch den Garten schritten, sagte Jantge, die schon im fröhlichen Kreise unter der Linde saß: „Das ist der Junge, der so schön gespielt hat!“
„Dann ist wohl das Töchterchen der Frau gestorben,“ sagte Fräulein Helene sinnend. „Arme Mutter!“
„Du mußt den Ziegenbock sehen,“ rief Severin, für den das Schönste an der „Fröhlichen Einkehr“ der schwarze Ziegenbock war. Er ärgerte sich ordentlich, daß die Kleine immer von dem fremden Jungen und seinem Blasen sprach. Kaum hatte er den letzten Bissen gegessen, da rief er auch schon wieder: „Komm Jantge, ich zeig’ dir den Ziegenbock!“
„Aber bleibt nicht lange,“ ermahnte Fräulein Helene.
„Wir wollen auch mit,“ riefen die andern, und heidi setzten sich alle in Bewegung, um das Wunder des Hofes, den Ziegenbock, anzuschauen. Es war dies freilich leichter vorgenommen als ausgeführt; weder auf dem Hof noch im Stall war der Ziegenbock zu sehen. Daß solche Tiere mitunter auch im Garten spazieren gehen, daran dachten die Kinder nicht, und betrübt kehrten sie wieder um.
Und gerade als Jantge an der Türe des Gemüsegartens vorbeiging, kam Herr Ziegenbock heraus. Ob er sich über das kleine Mädchen erschrocken hatte, ob er sich über ihr lustiges Springen ärgerte, wer konnte das wissen, jedenfalls benahm sich der Ziegenbock so unnütz und abscheulich, daß Severin ihn seitdem viel weniger bewunderte.
Mit gesenktem Kopf lief er auf Jantge zu, und ehe die Kleine wußte, wie ihr geschah, flog sie in einem weiten Bogen kopfüber in das Gras.
Wer sich nun erschrak, das war der Ziegenbock. Die Kinder brüllten so kräftig los, daß der schwarze Unhold entsetzt entfloh; bis in seinen Stall hinein lief er, dort blieb er mucksstill vor Schreck stehen.
„Jantge ist tot,“ jammerte Brigittchen. „Jantge, Jantge, der Ziegenbock, der Ziegenbock!“ gellte es heulend und klagend durcheinander.
Aus dem Garten kamen die Geschwister Fröhlich angerannt, aus dem Hause die Wirtin, eine Magd und der kleine Junge, und alle riefen sie: „Was ist geschehen, was ist geschehen? Jantge, was fehlt dir?“
„Gar nichts,“ sagte die Kleine auf einmal ganz freundlich und stand auf. Sie hatte sich nur ein bißchen erschrocken, sonst tat ihr nicht eine Fingerspitze weh.
„Aber dein Kleid!“ rief Anne-Marte.
Das sah nun freilich bös aus; das Röckchen war zerrissen, die weiße Bluse beschmutzt. „Es ist mein allerbestes,“ klagte Jantge, „wenn das Urgroßmutter sieht!“
„Sei nicht traurig,“ tröstete Fräulein Helene, „wir werden schon Rat schaffen. Schlimm ist nur, daß deine Kleider ganz naß sind; o weh, du bist ja gerade in eine Pfütze gefallen!“
„Ich kann dem Kind ein Kleid leihen,“ sagte da Frau Vogeler leise und traurig. „Ich hab’ genug Sachen von meiner Marie. Komm mit hinein, Kleine, und weine nicht um deine Sachen.“
Fräulein Helene folgte mit Jantge der Wirtin, die andern blieben draußen und besprachen voller Eifer und mit viel Geschrei den Fall Ziegenbock und Jantge.
Drinnen aber, in einem großen, altmodisch eingerichteten Zimmer, das ein wenig dämmerig war von dem Schatten, den die alten Linden über die Fenster warfen, öffnete Frau Vogeler eine alte Truhe. Sie nahm ein blaues Kleid daraus, das mußte Jantge anziehen, und es sah aus, als wäre es eigens für sie gemacht. So ein wunderfeines Kleid hatte Jantge noch nie besessen, wie eine Prinzessin kam sie sich darin vor und staunend beguckte sie sich. Aus den Augen der Wirtin aber rannen Tränen, schwere Tränen, und Fräulein Helene, die dies sah, flüsterte liebevoll: „Arme Frau“. Dann sagte sie freundlich: „Geh nun hinaus, Jantge, aber nimm das Kleid in acht!“
Und wieder sagte Jantge, wie vorher bei dem Spiel des Knaben, ein wenig verlegen zu der Frau: „Ich danke schön!“ Dann ging sie hinaus, und draußen vor der Türe stand der kleine Flötenspieler und sah sie an und sagte: „Du siehst wie Marie aus!“
„War Marie deine Schwester?“ fragte Jantge.
Der Bube nickte; dann murmelte er: „Ich heiße Karl!“
„Komm mit, Karl,“ bat Jantge, und ganz zutraulich ging der Kleine mit ihr und saß dann unter den andern Kindern, denen Doktor Fröhlich etwas von der Linde erzählte. Er sagte, daß diese ein uralter heiliger Baum sei, der einst der Göttin Frigga oder Freia geweiht war. Kaiser Karl der Große habe einst überall in seinen Landen Linden anpflanzen lassen, und seitdem sei die Linde eigentlich so recht der Schutz- und Schirmbaum des deutschen Hauses geworden.
„Erzählen Sie uns eine richtige Lindengeschichte,“ baten die Mädels, doch da kam schon Fräulein Helene mit der Wirtin aus dem Hause, es war Zeit, den Heimweg anzutreten.
„Komm’ bald wieder,“ bat Karl, als Jantge von ihm Abschied nahm.
„Ich kann nicht, ich gehe weit fort,“ sagte die Kleine. „Aber das Kleid!“ rief sie plötzlich erschrocken.
„Ich hole es mir ab,“ sagte Frau Vogeler und strich sanft über Jantges rosige Wangen. „Ich komme in den nächsten Tagen in die Stadt, dann bringe ich dir dein Kleid wieder, es soll bis dahin rein und heil sein!“
„Auf Wiederseh’n, auf Wiederseh’n!“ riefen die andern Kinder fröhlich, nur Jantge schwieg, sie wußte, sie kam so bald nicht wieder in die „Fröhliche Einkehr“.
Und nun ging es heimwärts durch den Wald. Die Sonne malte große, lichte Tupfen auf den Waldboden, als dächte sie, es wären noch nicht genug Blumen da. Dabei gab es so viel Maiblumen, daß selbst Wendelin fand, es sei doch ganz hübsch, einen Blumenstrauß zu pflücken.
Alle suchten mit großem Eifer, nur Jantge ging immer vorsichtig am Wegrand, damit das geborgte Kleid keinen Schaden nahm.
„Ich krieg’ die meisten!“ rief Anne-Marte. Sie hatte ihren Hut abgenommen und sammelte da hinein hurtig wie ein Vögelein, das Körner pickt.
„Tu dich nur nicht so!“ riefen Jörgel und Severin.
„Pfui, seid ihr abscheulich!“ rief Anne-Marte entrüstet und drehte sich um. Es hielt jemand ihren Hut fest, und sie dachte nicht anders, als es sei dies einer der Buben. Ärgerlich riß sie den Hut fort, und in weitem Bogen flogen die Maiglöckchen heraus, der Hut aber hing an einem weit vorstehenden, knorrigen Eichenast.
„Der hat dir die Blumen nicht gegönnt,“ neckte Doktor Fröhlich. „Sieh mal, wie er aussieht, wie ein richtiges, verhutzeltes Waldmännchen!“
„Es ist abscheulich,“ murrte Anne-Marte, doch schon kam Brigittchen herbei und tröstete: „Ich helf’ dir jetzt suchen.“ „Ich auch!“ rief Jantge.
Und geschwind bekam Anne-Marte wieder einen großen Strauß zusammen. Es war aber auch Zeit, denn schon lichtete sich der Wald, und im Abendsonnenschein lagen Wiesen, Felder und dahinter die Stadt vor den Heimkehrenden. Mit Singen zogen sie alle lustig am alten Wartturm vorbei. Klaus Hippel schwenkte einen Pantoffel zum Fenster heraus über das schwebende Blumenbrettlein hinweg und begrüßte die Wanderer.
„Mutter Paulinchen soll Maiblumen haben,“ sagten die Mädels, und geschwind gab jedes etwas von seinem Strauß; Brigittchen trug den Strauß hinauf, und lachend rief die Pantoffelmacherin den andern ihren Dank aus dem Fenster zu.
„Wenn Pfingsten schönes Wetter ist, dann gehen wir wieder spazieren, wer mitkommen will, ist eingeladen,“ sagte Doktor Fröhlich beim Abschied.
„Ach, Pfingsten muß ja schönes Wetter sein!“ riefen die Mädels und Buben, und dann liefen sie alle mit Schöndank und Gutenacht nach Hause. —
Drei Tage später saß Jantge wieder im Sonnenschein unter dem blühenden Fliederstrauch. Diesmal weinte sie zwar nicht, aber hell und froh wie Maienwetter war ihr Gesichtchen auch nicht. Sie strickte emsig ein paar Pulswärmer, dies sollte ihr Abschiedsgeschenk für die Urgroßmutter werden, denn diese fror trotz aller Maiensonne noch tüchtig. Fräulein Helene hatte der Kleinen die Wolle geschenkt und die Arbeit angefangen, und Jantge strickte, als säße die alte Dorothee daneben und strickte mit ihr Hund und Hase.
In ihrem Eifer merkte Jantge gar nicht, daß jemand auf sie zukam. Erst als ein dunkler Schatten auf ihre Arbeit fiel, sah sie auf. Vor ihr standen Frau Vogeler und Karl aus der „Fröhlichen Einkehr“.
Sie hatte gewußt, daß Frau Vogeler kommen würde, aber nun diese vor ihr stand, war es der Kleinen doch eine große Überraschung, und sie wußte nichts zu sagen als: „Es ist nichts an das Kleid gekommen!“
Da lächelte Frau Vogeler ein wenig; dabei sah sie so lieb und gütig aus, daß Jantge jede Scheu vor ihr verlor. „Ich will zu deiner Großmutter, Kind,“ sagte die Frau, „Karl mag unterdessen bei dir bleiben, er hat sich sehr gefreut, daß er dich besuchen darf.“ —
Während die Mutter in das Haus ging, erzählte Karl seiner neuen Freundin von der Fahrt nach der Stadt, von daheim, und daß er neulich den schwarzen Ziegenbock ausgescholten hätte.
Sie schwatzten beide miteinander wie die allerbesten, allerältesten Freunde, und die Zeit lief ihnen dahin, als hätte sie Siebenmeilenstiefel an.
Inzwischen saß drinnen im Spittelstübchen Frau Vogeler neben der Urgroßmutter und erzählte der Alten von ihrem Kind, das im Winter gestorben war. Die kleine, verwaiste Jantge, die draußen unter dem Fliederbusch mit Karl schwatzte, wußte nicht, daß in dieser Stunde für sie wie eine Wunderblume ein großes, großes Glück aufblühte. Der alten Urgroßmutter aber rannen heiße Freudentränen über die Wangen: „Meine Jantge soll eine Heimat haben, ganz in meiner Nähe, welch’ Glück!“ sagte sie.
„Du sollst zu deiner Urgroßmutter kommen, Jantge,“ rief Trine Tillmann in das fröhliche Plaudern der Kinder hinein. „Nä, guck mal, was hast du denn da for’n Jungen? Der ist ja wohl reinweg vom Himmel runter gefallen, nä, so was!“
Die Kinder lachten über die Verwunderung der Alten, und lachend kamen beide in das Zimmer der Urgroßmutter. Da hörte Jantge denn von dem großen Glück, das ihr widerfahren sollte. In der „Fröhlichen Einkehr“ sollte sie eine Heimat finden. Die Wirtsleute wollten sie zu sich nehmen, und sie sollte des kleinen Karl Schwester werden. Helene Fröhlich hatte von Jantges Armut und Verlassenheit gesprochen, als Frau Vogeler ihr von ihrem toten Töchterchen erzählte. „Das Fräulein Fröhlich ist eine, die gern alle Menschen froh machen möchte,“ sagte die Frau dankbar, „na, meinst du, Jantge, ob du bei uns auch froh sein wirst?“
Da jubelte Jantge auf, und Karl jubelte mit, es war ihnen beiden, als ständen sie mitten unterm brennenden Weihnachtsbaum. Die Urgroßmutter und die Mutter nickten: „So war es gut.“
Ein Viertelstündchen später lief Jantge mit ihrem neuen Bruder zu Fröhlichs, zu Anne-Marte und Jörgel, zu Brigittchen und den Bäckerbuben, um Abschied zu nehmen, denn sie sollte gleich mit in die neue Heimat kommen. „Es ist ja nicht weit,“ sagten die Kinder tröstend zu einander, „wir besuchen dich bald.“ „Zu Pfingsten,“ rief Severin, dem es gar nicht gefiel, daß Jantge fort sollte.
„Wenn es nicht regnet,“ sagte Martin, der dabei stand.
„Pfingsten regnet’s nie,“ brummte Wendelin, und recht laut und patzig schrie er Jantge noch über den ganzen Kirchplatz nach: „Pfingsten auf Wiedersehen!“
„Wenn’s nicht regnet,“ sagte Martin und lachte sich eins.
Durch den Wald, durch den sie neulich gewandert war, fuhr Jantge am Nachmittag der neuen Heimat entgegen. Ihr kleines Herz war voll Dankbarkeit und Freude, und Frau Vogeler dachte, als sie die strahlenden Blauaugen sah: „Es ist gut, daß ich das Kind in unser Haus geholt habe!“
Vor der „Fröhlichen Einkehr“ stand der Wirt und rief den Ankommenden einen heiteren Gruß entgegen. Als er Jantge aus dem Wagen hob, schaute er ihr prüfend in das Gesicht, und dann rief auch er: „Frau, es ist gut, daß du das Kind geholt hast. Willkommen daheim, mein Mädel, Gott segne deinen Eingang!“
Der kleinen Jantge war es zu Mute wie einem Vöglein, das sein Nest verloren hatte, und das eine liebe, weiche Hand sacht wieder in ein Nestlein legt, eins, in das warm die Sonne hineinscheint. Nach acht Tagen sagten alle Leute im Hause „unsre Jantge!“ Die Kleine selbst dachte, wie Klaus Hippel von seinem Turm, daß es wohl auf der weiten Welt keinen schöneren Ort geben könnte als das alte Haus am Waldrand.
Und daß sie es noch heute findet, kann jeder sehen, der Einkehr hält in der „Fröhlichen Einkehr“.
„Pfingsten regnet es nicht, es regnet nie zu Pfingsten,“ sagte Wendelin jeden Tag, der das liebliche Fest näher brachte.
Aber es regnete doch, und wie!
„Strippen regnet es,“ sagten die einen, die anderen sagten „Betteljungen.“ Es floß und goß vom Himmel herab, als säßen oben am Himmelsrand sämtliche Engelein und schütteten das Wasser mit Mulden aus. Die Sonne schaute überhaupt nicht heraus, sie schien es vollständig vergessen zu haben, daß Pfingsten war, gewiß hatte die gute Dame ihren Taschenkalender verlegt.
Und alle Menschen machten bitterböse und trübselige Gesichter. Da lagen nun die neuen Sommerhüte, weißen Pfingstkleider und die Staatsanzüge, und niemand konnte sie anziehen. Und alle schönen Spaziergeh- und Spazierfahrpläne fielen plumps ins Wasser, weichten darin auf und konnten nicht mehr benützt werden. Und vor den Toren in den Kaffeegärten saßen die Wirte und schauten betrübt all die leckeren Festkuchen an, niemand würde kommen und sie aufessen.
Im Wald ärgerten sich die Bäume und die Blumen fast grün und blau. Der Regen rann und rauschte, und niemand würde kommen und sie alle in ihrer Frühlingspracht sehen. Die Vöglein, die sich die allerschönsten Jubellieder einstudiert hatten, ärgerten sich nicht minder, und alles schalt und schimpfte: „Der dumme Regen, so ein abscheulicher Regen. Der konnte doch auch noch drei Tage warten, so eilig war es gar nicht. Dummer Regen!“
„Es regnet Blasen, also hält der Regen auch noch morgen an,“ sagte der Obergeselle Martin. Er hatte zwar immer zu Wendelin und Severin gesagt: „Es kann doch zu Pfingsten regnen,“ nun es aber regnete, war er genau so brummig und schlecht gelaunt wie die anderen Leute.
Es war ein Jammer.
In ganz Neustadt wachten am Pfingstmorgen eigentlich nur zwei Menschen recht vergnügt auf, das waren die Pantoffelmachersleute in ihrem alten Turm.
„Wie das rauscht, Paulinchen,“ sagte Klaus Hippel behaglich, als er erwachte, „es klingt wie ein Konzert.“
Und als die beiden Alten dann von ihrem Fenster in die graue, nebelverhüllte Ferne sahen, da sagte der Pantoffelmacher so recht von Herzen zufrieden: „Paulinchen, sieh nur, wie gut sich so ein Regenwetter von unserem Turm aus ansieht. Weißt du, das ist ein Wetter zum Geschichtenerzählen, ich lese dir nachher was von meiner Chronik vor! Dann haben wir beide einen rechten Festtag!“
Weil Doktor Fröhlich auch ein Dichter war, wie Klaus Hippel, dachte er auch, Geschichtenerzählen sei gut am verregneten Festtag, und flink fiel ihm auch eine Geschichte ein.
„Das abscheuliche Regenwetter,“ klagten auch die fünf Schatzgräber. Ihre Gesichter hellten sich aber sehr auf, als pitsch, patsch, durch Wasserlachen und Pfützen die alte Dorothee über den Kirchplatz ging und bei Schöns, Doktors und Bäckermeisters klingelte, einen schönen Gruß von ihrer Herrschaft bestellte, und die ließ die Kinder zu Schokolade, Spiel und Geschichtenerzählen für den Nachmittag einladen.
Potzhundert, das war noch was!
Hätte der Barometer sich nur einmal Brigittchens strahlende Veilchenaugen angeschaut, er wäre gewiß gleich auf „Schönes Wetter“ gestiegen. Auf einmal war der Vormittag nicht mehr langweilig, der Regen störte die Kinder nicht mehr, und bald nach Tisch patschten alle fünf Schatzgräber seelenvergnügt über den Kirchplatz.
„Wir sind da!“ riefen Wendelin und Severin, als Dorothee die Türe öffnete.
„Na, das merke ich schon,“ meinte diese, „geklingelt habt ihr, als wär’t ihr die Feuerwehr! Erst die Füße ordentlich reinemachen, damit es keine Schmutztapfen gibt!“
Fräulein Helene öffnete die Türe zum Gartenzimmer und hieß ihre Gäste willkommen. Drinnen im Zimmer standen da und dort große Büschel blühender Blumen, die ganze lachende Frühlingspracht war in das Zimmer gekommen, und man merkte es gar nicht, daß draußen schlechtes Wetter war. Und ein ganzes Dach voll Spatzen hätte nicht so viel Lärm machen können wie die fünf Gäste, da merkte man nichts von Regenstimmung, von verdrossener Laune; eitel Sonnenschein war es! Und als die Kinder sich ein wenig müde und satt gelacht, gespielt, getrunken und gegessen hatten, da fragten sie wie rechte kleine Nimmersatte: „Kommt nun die Geschichte?“
Und wirklich, die Geschichte kam; es war eine Geschichte, in der Blumen, Sonnenschein und ähnliche Dinge vorkamen, wie es sich für eine rechte Pfingstgeschichte schickt, und Doktor Fröhlich nannte sie:
Es war einmal ein Hirtenbube, das ist nun nichts Seltenes, denn Hirtenbuben gab es, und gibt es genug auf der Welt. Und der Christoffel, so hieß der Bube, war nicht einmal ein besonderer Hirtenbube, er konnte weder schön singen noch pfeifen, noch wußte er verborgene Schätze zu finden, sehr schön war er auch nicht und sehr klug — na, das war er halt auch nicht. Trotzdem hielt er sich, wie das mitunter in der Welt vorkommt, für den allerschönsten, allerklügsten, allerliebenswürdigsten, allertapfersten Hirtenbuben der Welt.
Manchmal, wenn er auf der grünen Bergwiese saß und weit ins Land hineinschaute, bis zu dem fernen, klaren Bergsee, dann dachte er: „Ich heirate sicher noch einmal eine richtige Prinzessin! Eine mit einer goldenen Krone auf dem Kopfe, potz Wetter, dann werde ich König, na, dann sollen aber die Leute Augen machen!“
Seine Muhme, Trine-Rosine, der er einmal von seiner künftigen Prinzessin erzählte, sagte zwar: „Christoffel, bei dir rappelt es, kennst du nicht das Wort, „Schuster bleib’ bei deinen Leisten.“ Wenn du groß bist, magst du Nachbars Marie heiraten, das wäre das Rechte!“
„Pah,“ dachte Christoffel, „Mariele ist ein Bauernmädchen, das könnte mir gerade passen, ich heirate eine Prinzessin, und damit punktum!“
Dem Mariele erzählte er auch von seinen Hoffnungen, und die sanfte Kleine war ganz traurig darüber, sie hatte den Stoffel lieb und dachte: „Wenn er eine Prinzessin heiratet, dann geht er in die weite Welt und will gar nichts mehr von mir wissen!“
An einem Pfingstsonnabend saßen die beiden Kinder wieder zusammen auf der Bergwiese; gar lieblich lag das Tal im frischen Grün zu ihren Füßen, und aus der Ferne grüßten die weißen Schneeberge herüber. „Weißt’, Mariele,“ sagte Christoffel plötzlich, „ich wandere noch heute in die weite Welt hinaus!“
Dem Mariele blieb vor Schreck der Mund offen stehen, und ganz entsetzt starrte die Kleine den Buben an.
„Na, was schaust du mich so an?“ brummte der, „ich geh’, und damit punktum. Das paßt mir nicht, Geißen hüten, in die Schule gehen, nä, ich geh’ in die Welt und heirate eine Prinzessin! Mach’ nur nicht so ein Geschrei, ich geh’!“
Das arme Mariele schrie gar nicht, es schaute nur den Buben so traurig an, daß es diesem ordentlich weh ums Herz wurde. Und wie gut die kleine Freundin war, das sah er jetzt wieder. Sie gab ihm ihr ganzes Brot mit zur Wegzehrung und noch einen Batzen dazu, den sie am Morgen erst als Pfingstgeschenk von ihrer Patin erhalten hatte. Dann nahm sie Abschied von dem Buben, wünschte ihm alles Glück und bat ihn, sie ja nicht zu vergessen, wenn er erst seine Prinzessin hätte. So schwer wurde dem Mariele das Scheiden, daß ihr immer tropf, tropf, tropf, die Tränlein über die Wangen liefen und in das Bächlein fielen, das vom Berg herunter kam.
„Na nu, Menschentränen an so einem schönen Tag, was hat denn das zu bedeuten?“ dachte das Bächlein. Flink nahm es die glänzenden Tropfen und lief mit ihnen bergab, dem Christoffel nach.
Der Bube ging ganz wohlgemut an diesem hellen Morgen in die weite Welt hinein. Er streckte seine Stupsnase in die Luft, dachte an die Prinzessin, die er heiraten würde, an das prächtige Schloß, in dem er dann wohnen würde, darin gab es gewiß auf goldenen Tellern alle Tage — — — pardauz! da purzelte Christoffel über einen Stein, und weil er gerade ins Rollen kam, rollte und rollte er, bis er im Tal anlangte. „Das ging schnell,“ dachte er, und weil er von der Purzelei Hunger gekriegt hatte, fing er an zu essen und aß alles auf, was er in seiner Tasche hatte, sein Brot und Marieles Brot, und er hätte noch mehr gegessen, wenn er mehr gehabt hätte. Ein Weilchen lag er dann noch, schaute blinzelnd in die Sonne und dachte: „Wenn ich doch auf einem Wagen in die weite Welt fahren könnte!“
„Wenn du mir einen Batzen gibst, nehm’ ich dich mit,“ sagte da auf einmal dicht neben ihm eine Stimme.
Erschrocken blickte Christoffel auf, er sah ein kleines, verhutzeltes Männlein auf einem Wagen sitzen, der von einem mageren, schwarzen Pferde gezogen wurde.
Ohne sich lange zu besinnen, zog der Bube den Batzen heraus, den er von Mariele erhalten hatte, und gab ihn dem Fuhrmann.
Just in diesem Augenblick lief das Bächlein mit Marieles Tränen an ihm vorbei und murmelte: „Bist du aber dumm, bist du aber dumm!“
Aber das Bächlein konnte viel murmeln. Christoffel kümmerte sich nicht darum. Hurtig kletterte er auf den Wagen, und heidi! los ging die Fahrt. Potz Wetter ja, konnte das magere Pferdchen laufen! Das ging wie der Sturmwind, und dem Buben verging fast Hören und Sehen. Die Straße entlang gings, in den Wald hinein, mitten hindurch, da wo gar keine Wege mehr waren. Dem Buben wurde es himmelangst bei der tollen Fahrt. „Ich will hinunter, ich will hinunter!“ schrie er.
Aber er konnte lange schreien, der Kutscher sah sich gar nicht um, nur sein schrilles Lachen hörte der Bube.
Immer wilder jagte das Pferd. Hussa! ging es einen steilen Berg hinauf, die Steine kollerten und rieselten nur so. Der Wagen flog hin und her, aber das Pferdchen lief wie eine Gemse, und von seinen Hufen sprühten Funken auf. Rechts und links gähnten tiefe Abgründe, ein Wildbach schoß brausend ins Tal und schnurr ging der Wagen hindurch, und das Wasser spritzte hoch auf. Nun ging es einen Abhang hinunter, jenseits wieder einen Berg hinauf. Es war wirklich eine Fahrt, für die selbst ein Batzen zu viel war.
„Runter, runter,“ jammerte Christoffel, der im Wagen hin und her flog wie ein Gummiball, mal lag er, mal saß er, mal war er vorn, mal hinten, mal hielt er die Beine in die Luft, mal die Nase. Das sollte nun ein Vergnügen sein, und immer ängstlicher wurde sein Schreien: „Runter, ich will runter!“
Da war es ihm plötzlich, als riefen sanfte Stimmen: „Halt’ dich fest, halt’ dich fest!“ Tief bogen sich die Äste uralter Tannen über ihn, und unwillkürlich griff Christoffel in die Zweige, hielt sich fest, und ritsch! — fuhr der Wagen unter ihm fort. Mit einem bitterbösen Gesicht drehte sich das Männlein auf dem Bock herum, hu, hatte der Augen! Der Bube mußte an das Märchen von dem bösen Berggeist denken, das ihm die Muhme Trine-Rosine erzählt hatte. Von dem Berggeist, der Kinder entführt und sie hoch oben auf den Gipfeln, in Abgründen und Schluchten, die nie eines Menschen Fuß betritt, gefangen hält. Ob das wohl der Berggeist gewesen war?
Sacht neigten sich die Äste der Tanne, an denen Christoffel sich fest hielt, zu Boden, und der Bube stand nun mitten im einsamen, wilden Bergwald. Er kannte keinen Weg, und so ging er denn unverzagt gerade darauf los. „Irgendwo werde ich schon raus kommen,“ dachte er.
Es war sehr schön im Walde an diesem Pfingstsonnabend; Bäume, Büsche und Blumen, Gras und Kräuter, alles sah taufrisch und frühlingslustig aus, und die Vögel zwitscherten und sangen laut und leise ihre allerschönsten Pfingstlieder. Ein Weilchen wanderte der Bube so dahin, immer dichter wurde der Wald, und mitunter versperrten ihm riesengroße, mit Moos bewachsene Steine den Weg. Ein Bächlein lief an ihm vorbei, das murmelte: „Geh links, geh links“, und Christoffel meinte Marieles Stimme zu hören, er wußte aber nicht, daß es das Bächlein war, das Marieles Tränen mit sich führte.
Er ging wirklich links, und als er ein Weilchen links gegangen war, kam er plötzlich auf einer weiten Lichtung an, eine große, blühende Wiese lag zwischen den blauschwarzen Tannen. Mitten auf der Wiese lag ein Garten, und in dem Garten stand ein Haus, nein, ein Schloß war es, eins, das ein goldenes Dach hatte. Viel war sonst von dem Schloß nicht zu sehen, es war nämlich von unten bis oben mit Pfingstrosen überwachsen, und weil gerade Pfingsten war, blühten auch die Röslein, rote und weiße. Selbst über die Fenster hinüber hingen die Rosenranken wie zarte Schleier.
Zaghaft trat der Bube näher, am Gartenzaun blieb er stehen und schaute hinein. War das eine blühende, duftende Pracht! Tausende von Blumen blühten in allen Formen und Farben. Schlichte Wald- und Wiesenblümlein und stolze, farbenprangende Gartenblumen. Und wie Christoffel so stand und schaute, tat sich auf einmal die goldene Haustür auf, und heraus trat ein Mägdlein, ein feines, zierliches Kind, es trug eine Haube aus braunem Samt, die sah aus wie ein Schmetterlingskopf. Das Mägdlein ging durch den Blumenwald hindurch, da neigte es sich zu einer großen, bunten Tulpe herab, dort strich es sanft einem Maiglöckchen über das weiße Kleid. Vor einigen großen Feuerlilien blieb das Mägdlein stehen, und, Wunder über Wunder, der Bube hörte ganz deutlich, wie die Feuerlilien flüsterten, sie schienen dem Kinde etwas zu erzählen.
Christoffel spitzte die Ohren wie eine kleine Maus, er wollte doch auch hören, was die Blumen zu sagen hatten, und wirklich, er konnte es verstehen; sie riefen: „Melinde, schau dich um, am Zaun da steht ein dummer, neugieriger Bube.“
Dumm nannten ihn die Feuerlilien, na, das war doch aber frech! Christoffel wurde krebsrot vor Zorn, und ärgerlich rief er: „Ich bin nicht dumm, ich bin sehr gescheit, ich bin ein Hirtenknabe und will eine Prinzessin heiraten!“
Da fingen plötzlich alle Blumen an zu lachen, die kleinen Wald- und Wiesenblumen kicherten, bei den Maiglöckchen klang es wie ein feines Läuten, die Tulpen lachten breit und derb, die Feuerlilien lachten ordentlich dröhnend, und manche Blüte platzte gleich vor Lachen weit auf, und die hängenden Herzen bammelten hin und her vor Vergnügen.
„Mögen sie doch lachen,“ dachte Christoffel, und ganz keck sagte er zu dem lieblichen Kinde: „Bist du eine Prinzessin, dann will ich dich heiraten. Hirtenbuben heiraten doch meist Prinzessinnen, willst du?“
Die Kleine lachte und rief fröhlich: „Gewiß bin ich eine Prinzessin, und zwar bin ich die Schmetterlingskönigin. Ich wohne bei meiner Muhme, der Blumenkönigin, komm nur herein und sei unser Gast!“
Just in diesem Augenblick trat aus dem Hause eine wunderschöne Frau; sie trug ein Kleid, das schimmerte wie die liebe Sonne und war so zart und fein wie ein Blumenblatt. „Frau Muhme,“ rief die kleine Schmetterlingskönigin, „schaut doch her, hier ist ein Hirtenbube, der mich heiraten will!“
Da kicherten und lachten wieder alle Blumen, die wunderschöne Frau aber sagte: „Wenn meine Nichte dich will, dann mag sie dich heiraten, tritt nur näher und sieh, wie es dir bei uns gefällt, denn, wenn dich Melinde heiratet, dann mußt du immer hier bleiben und darfst nie das Haus und den Garten verlassen!“
Christoffel zog ein langes Gesicht, das paßte ihm nun schon nicht recht, er hatte sich gerade als Allerschönstes bei der Geschichte gedacht, daß er, wenn er erst ein Prinz oder König sein würde, in seiner goldenen Kutsche in sein Heimatdorf fahren möchte, damit ihn dort die Leute auch alle recht bewunderten. Alle sollten sie ihn anstaunen, ihn, den vornehmen Herrn, die Eltern, die Freunde, Muhme Trine-Rosine und Mariele, sogar der Herr Schulmeister. „Nun komm doch, tritt näher!“ rief Melinde.
Zögernd betrat Christoffel den Garten, und als er mit seinen dicken Bergschuhen über den feinen, bunten Kies schritt, der wie lauter Edelsteine glänzte und schimmerte, da kicherten die Blumen wieder laut und leise, und eine dicke Feuerlilie rief neckend: „Tritt sacht auf, Prinzlein, tritt sacht auf!“
Der Bube wurde blutrot und stapfte und stolperte nun erst recht ungeschickt durch den Garten.
„Du stößt uns ja, au weh, du trittst auf meine Wurzeln!“ so riefen die Blumen ärgerlich. Da nahm Melinde den Buben an der Hand und führte ihn selbst in das Schloß mit dem goldenen Dach. Wie sie die Türe öffnete, da wäre der Christoffel beinahe hingeplumpst vor Staunen, denn es glitzerte und schimmerte so vor seinen Augen, daß er ganz geblendet war. Er sah in einen wundervollen Saal hinein, dessen Wände und dessen Fußboden ganz von bläulichem Glas waren, darüber wölbte sich ein Dach, das aussah wie der dunkelblaue Nachthimmel, an dem unzählige Sternlein erstrahlten. Und durch die Glaswände hindurch sah man wunderbare Landschaften; da war ein Wald voll Palmen, an denen sich seltsam geformte Orchideen emporrankten, man sah das blaue Meer auf- und abwogen, und auf der anderen Seite wieder sah man unendliche weite Wiesen, dann das Hochgebirge mit seinen schimmernden Schneebergen.
„Wir können von unserem Schloß aus in alle Länder der Welt schauen,“ sagte Melinde, die des Buben Staunen bemerkte. „Doch komm’, jetzt wollen wir zusammen zu Mittag essen!“
Über all dem Wunderbaren, was es zu sehen gab, hatte Christoffel gar nicht mehr daran gedacht, daß er nach der tollen Fahrt eigentlich recht hungrig war. Als die kleine Prinzessin nun aber vom Essen sprach, da fing sein Mäglein gleich an gewaltig zu knurren. „Heisa,“ dachte er, „das ist recht, daß es etwas zu essen gibt,“ und im Geiste sah er schon allerlei leckere Dinge vor sich, die er zwar noch nie in seinem Leben gekostet hatte und die er nur aus den Erzählungen von Muhme Trine-Rosine kannte. Wenn einer essen will, muß er sich aber an einen Tisch setzen, und wenn dieser Tisch in der Mitte eines riesengroßen Saales steht, muß man den Saal durchschreiten, um an den Tisch zu gelangen. Das wollte Christoffel auch ganz gern tun, aber, du lieber Himmel! das war eine schwierige Sache, auf dem glänzenden Glasboden zu gehen. Er rutschte und schlitterte und pardauz, lag er nach drei Schritten, so kurz er war, da. Und mit dem Aufstehen ging es auch nicht so leicht. Kaum dachte er, nun bin ich hoch, plumps, da lag er wieder, und das lose Prinzeßlein lachte dazu aus vollem Halse. Überhaupt war es ein Schwirren, Klingen und Lachen im Saal, daß es Christoffel himmelangst wurde. Als er nach dem viertenmal Aufstehen sich wieder recht kräftig hingesetzt hatte, da schaute er sich erst mal ein bißchen um. Nun sah er wunderfeine, kleine Männlein und Fräulein im Saal herumspazieren, die hatten veilchenfarbene, dottergelbe, schneeweiße, grasgrüne, himmelblaue und sonst was für Kleider an, es waren die Blumenelfen, die im Schutz der Blumenkönigin wohnten. Auch bunte, schillernde Schmetterlinge flogen in Scharen aus dem Saal hinaus und hinein.
Das war nun wirklich allerliebst, und Christoffel vergaß ein Weilchen wieder sein knurrendes Mäglein und riß vor Erstaunen Mund und Nase weit auf.
„Aber, komm doch!“ drängte endlich Melinde und reichte dem Buben die Hand, und an der Hand seiner kleinen Führerin gelangte der endlich unversehrt an einen goldenen Tisch, der inmitten des Saales stand. „Setze dich,“ zwitscherte die kleine Prinzessin.
Christoffel wollte sich auf ein goldenes Stühlchen setzen, aber das rutschte davon wie ein Schlitten auf dem Eise, und der Bube saß nun zum sechstenmale auf dem Boden. Wieder half Melinde, und endlich saß Christoffel am Tisch und dachte vergnügt: „Nun kann’s losgehen, ob es wohl Hühnerbraten gibt oder — gar eine Torte?“
Einige Blumenelfen kamen herbei und brachten zierliche, goldene Schüsseln und ein goldenes Krüglein. „Heute gibt es Rosenmus und Gänseblümchenwein,“ sagte Melinde, „da, lang’ nur zu, eine Veilchenpastete sollst du dann auch noch zu kosten bekommen! Hier, ich lege dir vor!“
Ganz entsetzt starrte Christoffel auf die winzigen Portionen, die Melinde ihm vorlegte, und wie das Zeug schmeckte! Lange nicht so gut wie Muhme Trine-Rosines Pfingstkuchen. Der Gänseblümchenwein schmeckte wie einfaches Quellwasser, und die Veilchenpastete war nicht größer als ein Fingerhut.
„Wie du schnell ißt,“ sagte Melinde erstaunt, als Christoffel die ganze Veilchenpastete mit einem Male hinunterschluckte. „Nein, so etwas, du wirst dir den Magen verderben!“
„Von dem Bißchen,“ murmelte Christoffel kleinlaut. Er war nun erst recht hungrig geworden und verlangend sah er sich um.
„Eia,“ rief Melinde da, „wir bekommen noch Erdbeeren, die sollen uns schmecken!“
Zwei Elfen trugen auf einem großen Blatt zwei Erdbeeren herbei, und das Prinzeßchen schaute den Buben fragend an: „Kannst du auch eine ganze Erdbeere vertragen?“
„Bloß eine?“ rief Christoffel kläglich, „hundert kann ich essen,“ und schwapp schluckte er beide Erdbeeren hinunter; „ich habe Hunger,“ klagte er. „So ein Vielfraß!“ wisperten die Elfen, und auf einmal kamen aus allen Ecken Elfen und Schmetterlinge herbei, umstanden und umflatterten den Buben, Melinde aber fing an zu weinen. „Er hat mir meine Erdbeere weggegessen, nein, wie kann man so viel essen!“
„Er hat einen Mund wie eine Höhle,“ wisperte ein Elfchen, das in einem rosenroten Gewand steckte, und ein Schmetterling setzte sich auf Christoffels kleine, dicke Stupsnase, um sich genau den großen Mund anzusehen.
„Haizih, haizih!“ nieste der Bube, den dies mächtig kitzelte. Hopsa, flog da der Schmetterling in einem weiten Bogen von der Nase herunter, und die Elfen purzelten und kugelten übereinander und schrieen gar kläglich vor Schreck. Melinde aber verschluckte sich so am Gänseblümchenwein, daß sie hustete und prustete. Es entstand ein solcher Wirrwarr, ein solches Geschwirr und Geschrei, daß die Blumenkönigin eiligst hereinkam, und wehklagend und jammernd stürzten die Elfen auf sie zu: „Er hat mit seiner Nase geschossen, da, einen Schmetterling hat er totgeschossen,“ klagten alle.
Der arme Christoffel saß ganz verdattert auf seinem goldenen Stühlchen, er hatte doch nur geniest, war denn das so schlimm? In dem Gesicht der Blumenkönigin blühte sacht ein holdes Lächeln auf, und mit gar lieben, sanften Worten beruhigte sie die erregte Schar und schalt auch ein wenig, daß man nicht freundlich genug gegen den Gast sei. Melindes Tränen versiegten. Lächelnd nahm sie Christoffels Hand und sagte: „Komm jetzt zum Abendtanz auf die Wiese, die Sonne wird bald sinken, dann müssen wir alle schlafen gehen, vorher tanzen wir aber noch alle miteinander!“
Christoffel ging ein wenig kleinlaut mit Melinde hinaus, und singend, wispernd, schwirrend folgten ihnen alle Elfen und Schmetterlinge. Im Garten dufteten die Blumen wundersüß im Glanz der scheidenden Sonne. „Nun laß uns tanzen,“ sagte Melinde auf der Wiese zu Christoffel, sie faßte ihr Kleidchen zierlich an, ihre weiten Ärmel flogen, und sie sah aus wie ein großer, schwebender Schmetterling.
Ach! das Tanzen war des Christoffels schwache Seite; er hopste über die Wiese wie ein junger Ziegenbock, der das Laufen noch nicht gelernt hat.
„Au, au, du trittst mich ja,“ jammerte Melinde, „pfui, bist du ungeschickt mit deinen schweren Stiefeln. Zieh sie doch aus!“ Verlegen gehorchte der Bube, er hatte schöne, blitzeblaue Strümpfe an; daran, daß sie etliche Löcher hatten, dachte er nicht. In Strümpfen hopste er mit Melinde über die Wiese, da begannen plötzlich die Elfen zu kichern: „Er hat in der rechten Hacke ein Loch, hihihi, die große Zehe guckt am linken Fuß heraus, hihihi!“ Christoffel wurde puterrot, Melinde aber ließ ärgerlich seine Hand los: „Pfui, ich mag nicht mehr mit dir tanzen,“ rief sie schnippisch, „wenn man Löcher in den Strümpfen hat, tanzt man mit keiner Prinzessin!“
„Kommt alle hinein, die Sonne sinkt,“ rief da die Blumenkönigin.
Flugs liefen und flogen sie alle dem Hause zu. Allein, die Stiefeln in der Hand, folgte Christoffel sehr niedergeschlagen. Als er an dem Haus mit dem goldenen Dach anlangte, war die Prinzessin schon darin verschwunden, und am liebsten wäre er wieder umgekehrt, die Blumenkönigin aber nahm ihn an der Hand und führte ihn in ein kleines Gemach, in dem ein goldenes Bettchen stand. „Hier magst du heute schlafen,“ sagte sie, „morgen wollen wir dann weiter sehen, wie es dir bei uns gefällt!“
Sie ging, und Christoffel blieb allein. Ja, wunderfein und zierlich war das Bettchen schon, aber so klein, wie sollte er da nur hineinkommen? Er zog sich aber doch aus und kletterte in das Bett. „Es wird schon gehen,“ dachte er; aber das Bett war doch nicht für einen kleinen, dicken Menschenjungen gemacht; als Christoffel hineinplumpste, da ging es gleich mit einem großen Krach mitten auseinander, und der Bube lag am Boden.
„Na, ist auch recht,“ dachte er, als er sich vom Schreck etwas erholt hatte, drehte sich um und schlief ein wie ein Murmeltier zu Winters Anfang. Er schlief, bis ihm die helle Pfingstsonne auf die Nase schien, da wachte er auf, und da fühlte er auch gleich, daß ihm etwas schrecklich weh tat. „Was ist denn das?“ dachte er, „mir ist’s ja so schlimm, o je, o je!“ Nun begann sein Mäglein furchtbar zu knurren, und er merkte, daß es der Hunger war, der ihn quälte. Hurtig sprang er aus dem Bett und zog sich an. Frühstück, das war sein einziger Gedanke. Als er in den Garten kam, spazierte Melinde schon zwischen den Blumen auf und ab, sie nickte ihm freundlich zu und rief: „Komm rasch frühstücken!“
„Wo ist das Frühstück?“ Wie ein Kreisel drehte sich Christoffel rund um, hungrig schaute er da und dorthin, aber nirgends erblickte er einen gedeckten Tisch. Da sah er, wie Melinde den Tau aus den Blumen schlürfte, und als die kleine Königin das verblüffte Gesicht des Buben bemerkte, sagte sie: „Komm nur und trinke dich ordentlich satt am Tau, damit du mir nachher zu Mittag nicht wieder alles vor der Nase weg ißt.“
Tau sollte er trinken, das sollte sein ganzes Frühstück sein! Vor Entsetzen erhob Christoffel ein so jämmerliches Geschrei, daß alle Blumen zu zittern begannen und die Blumenkönigin und viele Elfen und Schmetterlinge herbei kamen: „Was ist dir denn, was fehlt dir?“ riefen sie erschrocken.
„Hunger, Hunger hab’ ich,“ brüllte der Bube, „huhuhu, ich habe solchen Hunger, ich sterbe vor Hunger!“
„Holt ihm rasch eine Veilchenpastete,“ rief die Blumenkönigin mitleidig, „oder nein, wir wollen ihn in die Vorratskammer führen, da mag er essen, was ihm gefällt!“
Melinde, die vor lauter Mitgefühl mit weinte, führte den Buben selbst in die Vorratskammer, und die Blumenkönigin, alle Elfen und Schmetterlinge folgten. In der Vorratskammer standen viele goldene Schüsseln und Krüge, aber alle waren sie so klein, viel zu klein für Christoffels Hunger. Im Umsehen hatte der zehn Veilchenpasteten hinuntergeschluckt und einen Topf voll Rosenmus ausgeschleckt, und ehe die anderen recht wußten, wie und was, hatte er die ganze Vorratskammer leer gegessen. —
Da erhob sich ein großer Tumult unter den Elfen und Schmetterlingen und zornig riefen sie: „Der soll nicht unser König werden, der ißt uns ja alles, alles auf!“
Auch Melinde weinte: „Ich will keinen Mann, der so schrecklich viel ißt, nein, den mag ich nicht!“
„Ich will auch nicht hier bleiben, hier gibts ja nicht mal ordentlichen Pfingstkuchen, hier wird man ja nie satt,“ trotzte der Bube auf.
„Er ist noch nicht satt,“ schrieen alle entsetzt und schwirrten, wisperten, riefen und schalten alle so durcheinander, daß es dem Christoffel himmelangst wurde, und er rasch ans Ausreißen dachte. Er lief geschwind zur Türe hinaus, schwapp war er draußen. Er kam aber auf der anderen Seite des Hauses heraus, und weil er Angst hatte, man könnte ihn verfolgen, rannte er so schnell er konnte. Darüber sah er nicht ein tiefes Loch, und pardauz, fiel er in das Loch hinein. Er rutschte und rutschte immer tiefer, und plötzlich saß er mitten in einer weiten Halle unter lauter kleinen, seltsamen, braunen, verhutzelten Leutchen. Es waren Wurzelmännlein und Weiblein, unter die er geraten war; voll Erstaunen sahen die den Gast an, der so unversehens in ihr Reich gefallen war.
„Wer bist du denn?“ fragte ein kleiner Wurzelmann, der eine Krone aus Bergkristall auf dem Haupte trug.
„Ich bin der Christoffel, ein Hirtenbube, und möchte eine Königstochter heiraten und König werden. Muhme Trine-Rosine sagt, so was sei schon öfters vorgekommen,“ stammelte der Kleine.
„Na, das trifft sich mal gut,“ rief der Wurzelkönig, „ich suche einen Mann für meine Tochter Braunella, einen Wurzelmann möchte sie nicht gern heiraten. Komm einmal her, Braunella, wenn dir der Menschenjunge gefällt, und er immer bei uns bleiben will, dann kannst du ihn heiraten!“
Ein kleines Fräulein kam herbei, ganz braun im Gesicht, mit einem grünen Kleide an; Melinde war freilich viel hübscher gewesen, aber Braunella sah man es an, daß sie eine Königstochter war, sie hatte eine goldene Krone auf dem Kopfe. Sie klatschte in die Hände und rief vergnügt: „Ja, den will ich, der soll mein Mann werden!“
Christoffel sah sich bedenklich um, oben bei der Blumenkönigin war es viel hübscher gewesen als hier im dämmrigen Wurzelreich, hier roch es so sumpfig und dumpf. Hier sollte er sein ganzes Leben lang bleiben, das mochte ihm gar nicht recht gefallen, und was nützte es ihm denn, wenn er König wurde, und niemand daheim wußte es. Aber die Wurzelleute schienen es gar nicht anders zu erwarten, als daß er blieb. Der König rief mit lauter Stimme: „Flugs rüstet ein festliches Mal, es soll unserem Gast zu Ehren gebratene Regenwürmer geben.“
„Eia, o, wie fein!“ riefen die Wurzelleute alle durch einander; ein kleiner, dicker Wurzelmann schnalzte ordentlich mit der Zunge vor Vergnügen.
Christoffel aber schrie entsetzt: „Gebratene Regenwürmer, pfui, wie kann man so etwas essen!“ Ganz schlimm wurde es ihm bei dem Gedanken an diese Speise. Na, hier war er recht aus dem Regen in die Traufe gekommen, da waren die Veilchenpasteten der Blumenkönigin schon besser gewesen, und die kleine Wurzelprinzessin gefiel ihm auch gar nicht. Ratlos sah er sich um, hinein war er gekommen in das Wurzelreich, wie aber sollte er wieder hinaus kommen? Da hörte er plötzlich neben sich ein sachtes Murmeln, es klang genau wie Marieles Stimme, es war das Bächlein, das Marieles Tränen trug, und das ein Stück durchs Wurzelreich floß. „Ich nehm’ dich mit, ich nehm’ dich mit,“ sang es.
Heisa, da besann sich Christoffel nicht lange, er lief rasch dahin, von wo das Murmeln erklang, da sah er es schimmern wie flüssiges Silber, und stärker hörte er das Rauschen. Hopps sprang er in den Bach! „Er reißt aus, er reißt aus,“ schrieen die Wurzelleute wütend. Aber schon hatte das Bächlein den Buben aufgenommen, der rutschte, glitt, kollerte, es sauste und brauste ihm um die Ohren, er wurde gepufft und gestoßen, das Wasser rauschte über ihn hinweg, ganz in der Ferne hörte er das Geschrei der Wurzelleute, und plötzlich wurde es ganz hell um ihn her. Verdutzt schaute er sich um, er lag im hellen Sonnenschein am Fuß eines Berges, und nicht weit davon murmelte ein Bächlein.
„Da liegt der Christoffel,“ rief eine helle Stimme, und das Mariele beugte sich über ihn.
„Christoffel, Christoffel,“ rief es von allen Seiten, „wo warst du denn, wo hast du gesteckt, und wie siehst du aus?“
Männer und Frauen, Buben und Mädels kamen herbeigelaufen und riefen durcheinander: „Der Christoffel ist wieder da! Wo warst du denn nur Bube, sag’ doch!“
Christoffel richtete sich auf, seine Glieder schmerzten, und ganz naß war er, nein und wie schmutzig er aussah! Er rieb sich den Kopf, der tat ihm so weh, daß er kaum aus den Augen sehen konnte. Stotternd begann er zu erzählen, von dem Berggeist, der Schmetterlingskönigin und dem Wurzelreich.
Verdutzt hörten die Dorfleute ihm zu, was schwatzte denn der Bube nur? „Er hat Fieber, er muß ins Bett und Lindenblütentee trinken,“ sagte da jemand; es war Muhme Trine-Rosine. Sie hob den Buben auf und trug ihn ohne weiteres heim, zog ihn aus und legte ihn ins Bett.
„Ich habe Hunger, ich will Pfingstkuchen,“ schrie Christoffel. „Papperlapapp,“ sagte die Muhme, „Lindenblütentee gibt es, und drei Tage nichts zu essen, das ist das beste Mittel gegen Fieber.“
„Pfingstkuchen!“ rief der Bube jämmerlich; da bekam er eine riesengroße Tasse Tee, und allemal, wenn er den Mund aufmachte und Pfingstkuchen rief oder etwas erzählen wollte, bekam er wieder Tee. So ging es drei Tage, dann sagte Muhme Trine-Rosine: „Jetzt kannst du aufstehen!“
Aber der Pfingstkuchen war alle, und was das Schlimmste war, wenn Christoffel von seinen Erlebnissen erzählen wollte, dann glaubte es ihm niemand. Und dabei wäre er beinahe zweimal König geworden, es war doch toll.
Nur Mariele glaubte ihm alles; der erzählte er oft von seinen Erlebnissen. Er sagte aber, er wolle nun doch daheim bleiben, das Königwerden hätte er satt. Nur manchmal, wenn er schlechter Laune war, weil er in der Schule einen Tadel bekommen hatte, dann rief er: „Ich gehe in die weite Welt und werde ein König.“
„Und trinkst Tau und ißt gebratene Regenwürmer!“ sagte Mariele; da war er dann still.
So blieb er ein Hirtenbube, später wurde er ein Bauer, heiratete das Mariele und blieb in seinem Dorf bis an sein Lebensende. —
Der Doktor Fröhlich schwieg, und die Kinder saßen ein Weilchen still; auf einmal sagte Wendelin: „Pfui, gebratene Regenwürmer, die möchte ich auch nicht.“
„Ich wär’ aber doch bei der Blumenkönigin und Melinde geblieben,“ flüsterte Brigittchen versonnen.
„Es hört auf zu regnen, ich glaube, wir bekommen gutes Wetter,“ rief plötzlich die alte Dorothee ins Zimmer hinein.
Da sprangen alle auf und rannten ans Fenster, wirklich es regnete sachter und der graue Himmel hatte feine, helle Schlitze bekommen. „Gutwetteraugen“ nannte es Fräulein Helene.
„Es wird schön, da können wir morgen Jantge in der ‚Fröhlichen Einkehr‘ besuchen,“ riefen die Kinder jubelnd.
Ein Weilchen später patschten sie vergnügt durch die Pfützen heimwärts, alle fanden sie einmütig, daß es doch ein wundervoller Pfingsttag gewesen sei, und morgen, morgen würde es sicher schönes Wetter sein.
„Pfui, nä, gebratene Regenwürmer,“ sagte Wendelin noch einmal vor dem Einschlafen.
Brigittchen aber wandelte im Traum durch den Garten der Blumenkönigin, fein, schön und licht trat ihr die entgegen und fragte: „Was wünscht du dir, Brigittchen, in meinem Reich hat jeder einen Wunsch frei am Pfingsttag!“
„Eine Mutter, wie Jantge eine bekommen hat,“ flüsterte die Kleine. Da wachte sie halb auf, jemand hatte sich über sie geneigt und strich ihr sanft über das Gesichtchen, es war ihr Vater. „Was schwätzt mein kleines Mädchen im Traum?“ fragte er.
„Ich möchte eine Mutter,“ murmelte Brigittchen noch einmal, dann schlief sie weiter und merkte es nicht, daß ihr Vater lange, lange in tiefem Sinnen an ihrem Bettchen saß. Er dachte an den Pfingstwunsch seines kleinen Mädchens, und wie er den erfüllen könnte.
Im Winter hatte Fritz Brinkmann einen schwarzen Hund gefunden, der überfahren worden war. Der Knabe war gerade vom Schlittenfahren heimgekommen, just an dem Tage war es gewesen, an dem Doktor Fröhlich nach Neustadt kam, und zu den lustigen Schlittenfahrern in der Marienstraße hatte Fritz auch gehört. Dicht bei dem Hause seines Großvaters, der in einer stillen Vorstadtstraße wohnte, hatte der Knabe den Hund gefunden; flehend hatte ihn der mit treuen, klugen Augen angesehen, und Fritz hatte ihn ohne langes Besinnen auf seinen Schlitten geladen und heimgefahren.
Die Großeltern — Fritz war Waise und wurde bei seinem Großvater, dem alten Geheimrat Brinkmann erzogen — erlaubten es gern, daß der Knabe den Hund pflegte, bis sein Besitzer käme. Aber niemand meldete sich, um Mohrchen — so wurde der neue Hausgenosse ob seines schwarzen Felles genannt — abzuholen. Die Tage gingen und kamen, die Luft wurde milder, der Schnee verschwand, und immer noch war Mohrchen im Hause. Seine Wunden waren längst geheilt, und aus dem mageren, ruppigen Tiere war ein hübscher Hund mit glänzend schwarzem Fell geworden, der lustig seinen kleinen Herrn überall hin begleitete. Ein Freund war er, so treu, gut und anhänglich, wie leicht kein besserer zu finden war. Alle Klassengenossen von Fritz bewunderten Mohrchen rückhaltlos, und vor seiner Klugheit hatten sie den allergrößten Respekt. Sogar Doktor Halbe, der Klassenlehrer, sagte einmal, als er Mohrchen zu sehen bekam: „Er sieht sehr klug aus“. Den Buben war dies soviel, als hätte Mohrchen einen hohen Orden bekommen, und Fritz kam an diesem Tage mit so strahlenden Augen heim, daß seine Großmutter dachte, er wäre mindestens Klassenerster geworden; leider, leider war dies gerade nicht der Fall, der Fritzel hielt sich mehr in der Klassenmitte auf.
Und mit allen Hausbewohnern war Mohrchen auch bald gut Freund, nur mit der alten Berta, der Köchin, nicht. — „Ich kann Hunde kein bißchen leiden,“ sagte diese, wenn Fritz ihr von Mohrchens Tugend und Weisheit erzählte. „Sind sie weiß, dann mag’s noch gehen; aber so ein schwarzes Tier sieht aus wie ein Schornsteinfeger, und die machen die Küche schmutzig, und darum kann ich Schornsteinfeger und Hunde nicht leiden, damit basta!“
Kam das arme Mohrchen wirklich einmal in die Küche, dann schrie Berta, zornig einen Quirl oder Kochlöffel schwingend: „Raus mit dem Schornsteinfeger, basta, basta!“
Berta war eigentlich nur so böse auf Mohrchen, weil sie eifersüchtig war. Fritz war ihr ganz besonderer Liebling, und sie meinte, seit Mohrchen im Hause wäre, kümmerte er sich nicht mehr soviel wie sonst um sie. In ihrem Ärger gab sie Schnurrhans, dem Kater, immer die besten Bissen. Der wurde, weil er gar so gute Pflege hatte, immer dicker und fauler und ging zuletzt überhaupt nicht mehr auf die Mäusejagd, er saß wie ein dicker Muff in der Sonne und rührte sich kaum. Je unfreundlicher aber Berta zu Mohrchen war, je weniger kam Fritz zu ihr; er lief mit seinem schwarzen Freund im Garten herum; zuletzt mieden sie beide die Küche und Bertas Nähe.
So war der Frühling ins Land gekommen. An einem schon recht heißen und schwülen Maitage fuhren die Großeltern über Land, und Fritz blieb mit Berta und Luise, dem Stubenmädchen, allein im Hause zurück. „Bange dich nicht, mein Jungchen,“ hatte die Großmutter beim Abschied zärtlich gesagt.
„Ach nein, ich habe ja Mohrchen,“ rief Fritz fröhlich.
Berta hörte dies und wütend blickte sie auf den Hund. „Warte nur,“ brummte sie, „heute gibts nur Wassersuppe zu Mittag.“
Mohrchen empfand an diesem heißen Tage rechten Durst, denn nicht wie sonst stand ein Schüsselchen mit Wasser auf seinem Platze. Da sein kleiner Herr und Freund noch in der Schule war, rannte der Hund umher und suchte Luise. Dabei kam er auch in den offenstehenden Keller, in dem Berta herumhantierte. „Wart’, du abscheuliches Tier!“ rief diese und erhob drohend eine Latte. Erschrocken flüchtete Mohrchen und geriet in seiner Angst in den Kohlenkeller.
„Ei, da magst du bleiben, bis Fritz nach Hause kommt,“ rief Berta höhnisch, und schwapp! schlug sie die Türe zu, die sie fest verschloß; so war denn Mohrchen nun ein Gefangener.
Als Fritz bald darauf heimkam, galt seine erste Frage dem schwarzen Freund. Berta brummte einige unverständliche Worte; lügen wollte sie doch nicht, aber auch nicht eingestehen, daß sie den Hund eingesperrt hatte. „Iß nur jetzt dein Mittagsbrot; er wird dann schon kommen,“ sagte sie und nahm sich vor, gleich den Hund herauszulassen. Aber da kam eine Bauersfrau, die Butter brachte, dann die Waschfrau; so verging die Zeit, und es mochte wohl eine gute Stunde verflossen sein, ehe Berta an Fritz und an das eingesperrte Mohrchen dachte. Eilig ging sie und öffnete die Kellertüre; scheu kroch der Hund heraus. Wenn er nicht schon ein Mohrchen gewesen wäre, so hätte man ihn jetzt eins nennen können. Die weißen Pfötchen und die hellen Flecken an seinem Schnäuzchen und an seiner Brust waren durch den Kohlenstaub ganz schwarz geworden. „Pfui, du Schornsteinfeger, wie siehst du aus!“ schalt Berta und dachte gar nicht daran, wie ungerecht ihre Vorwürfe waren. „Lauf’ in den Garten zu Fritz, basta!“ schrie sie barsch, und Mohrchen schlich verschüchtert von dannen.
Da kam Luise aus dem Garten und sagte: „Ich weiß gar nicht, wo Fritz hingekommen ist; Jörgel Fabian war da und wollte ihn besuchen; da habe ich überall gesucht, aber der Junge ist nirgends zu finden. — Geh’, such’ ihn, Mohrchen!“ rief sie dem Hunde zu. Der wandte sich um und sah das Mädchen mit seinen klugen Augen verständig an, dann stieß er ein kurzes Bellen aus und rannte davon.
„Fritz wird auf seinem Lieblingsplatz im Garten, auf dem großen Apfelbaum sitzen,“ meinte Berta.
„Nein,“ entgegnete Luise, „da ist er nicht; ich habe rechte Angst um ihn, weil ein Gewitter zu kommen scheint.“
Erschrocken sah Berta zum Himmel auf. Der war weißgrau, und hinter dem steilen Dach der Marienkirche stieg dunkles Gewölk empor.
„Bleib’ hier,“ rief Berta jetzt ängstlich, „ich werde Fritz suchen, vielleicht ist er zu Doktor Fabians gegangen.“ Aber Fritz war nicht dort, und wo Berta auch nach ihm fragte, niemand hatte ihn gesehen, nur die Obstfrau sagte, Fritz sei vor einiger Zeit an ihr vorbeigelaufen, der Waldstraße zu. Während Berta so herumrannte, den Knaben zu suchen, war es immer dunkler geworden; eine fahle, bleigraue Dämmerung legte sich über das Städtchen, und auf einmal erhob sich ein heftiger Wind und ferner Donner rollte. Angsterfüllt eilte die alte Köchin heim; vielleicht war Fritz unterdessen zurückgekehrt, aber Luise kam ihr weinend entgegen und rief: „Er ist immer noch nicht da.“
Es wurde dunkler und dunkler; grell zuckten die Blitze hernieder, unheimlich rollte der Donner, und breite Regenwasserbäche rannen über die Straßen.
Berta lief trotz Luisens Bitten, die sich vor dem Unwetter fürchtete, wieder auf die Straße und suchte Fritz. Der Schneidermeister Langbein, den sie traf, hatte den Knaben nach dem Walde rennen sehen. „Schicken Sie ihm Mohrchen nach, Mamsell Berta,“ rief er, „der findet ihn schon, der riecht mehr als hundert Menschennasen zusammen.“ Und Berta lief heim; der Schneider ging zu ihrer Beruhigung mit, aber Mohrchen war nirgends zu finden.
Die alte Berta war ganz verzweifelt. „Ich bin schuld daran, warum habe ich den Hund eingesperrt! Ach, guter Gott, hilf mir doch!“ jammerte sie.
„Jetzt hört der Regen auf, das Gewitter hat sich bald verzogen; da werde ich nach dem Walde gehen und den Buben suchen. Weinen Sie nicht mehr, Mamsell Berta,“ tröstete der Meister.
„Mohrchen, dort kommt Mohrchen!“ schrie Luise auf einmal freudig. Triefend und keuchend kam der Hund gelaufen. Die Zunge hing ihm weit heraus, und sein sonst so glänzendes Fell war mit dickem, grünlichem Schlamm bedeckt.
„Er ist im Wildmoor gewesen,“ riefen der Meister und Luise entsetzt, und Berta stöhnte: „Im Moor, im Moor!“ Da zog und zerrte jemand an ihrem Kleid, es war Mohrchen. Flehend sah der Hund zu ihr auf, dann rannte er zu Luise und zerrte auch diese, als wollte er sagen: „Komm mit!“
„Der Hund will uns führen,“ rief das Mädchen.
„Er weiß, wo Fritz ist. Ich sag’s ja, der hat Verstand wie ’n Professor,“ sagte der Meister und fügte hinzu: „Ich laufe schnell zum Gärtner Schulz, der soll seinen Wagen anspannen, dann kommen wir schneller hin.“
Mohrchen zog schon wieder an Bertas Kleid und sah flehend zu ihr empor.
„Ich komme, Mohrchen, ich komme,“ schluchzte diese.
Wenige Minuten später hielt auch der Gärtner mit seinem Wägelchen vor der Tür. Berta und der Meister stiegen ein, Mohrchen raste voran, und heidi, fort ging die Fahrt, dem nahen Walde zu. Mitten drin im Wald lag das sogenannte Wildmoor. Es war eine weite, grüne Fläche, auf der im Sommer allerlei schöne, seltene Blumen blühten, Wasserpflanzen mit durchsichtigen Stengeln und glänzenden Blättern. Immer herrschte hier eine tiefe, fast traumhafte Stille, und nur an sehr heißen Sommertagen schossen schimmernde Libellen und andere Insekten über den grünen Grund.
Die Schönheit des Wildmoors aber war recht trügerisch. Für jemand, der den Weg nicht genau kannte, war es gefährlich, darüber zu gehen, da er leicht in eins der tiefen Moorlöcher geriet, die unter der schönen, grünen Decke verborgen lagen, und aus denen es schwer war, ohne fremde Hilfe wieder herauszukommen.
Das Gewitter hatte sich völlig verzogen, und die Sonnenstrahlen rannen schon wieder durch das dichte Blätterdach des Waldes. Da erscholl Wagenrollen und Hundegebell, und bald darauf eilten Berta und Meister Langbein an den Rand des Moores. Das lag in stiller Verlassenheit da, nichts regte sich; so weit auch Berta zu sehen vermochte, sie erblickte nicht die geringste Spur des vermißten Knaben.
„Fritz, Fritz!“ rief sie in namenloser Herzensangst. Doch da zerrte sie Mohrchen wieder am Kleide, und auf einmal ertönte eine schwache Stimme: „Berta, hier bin ich!“
Eilig rannte diese dem Hunde nach und unter einer dicken Buche, nahe am Rande des Moores, fand sie den Knaben. Er kauerte in einer kleinen Erdhöhle und war über und über mit Schlamm und Schmutz bedeckt.
Mit einem Jubelschrei stürzte Berta auf den so angstvoll Gesuchten zu. „Mein Herzensjunge,“ rief sie weinend vor Freude und hob den Knaben empor, „dem lieben Gott sei Dank, daß wir dich gefunden haben.“
Mohrchen sprang und tanzte kreuz und quer und bellte laut vor Freude. Und plötzlich lag Meister Langbein, er wußte nicht wie, so kurz er war, auf der Erde; das fröhliche Mohrchen hatte ihn umgerissen. Aber der Meister schalt nicht, sondern sagte: „Bist ein braver Hund, Mohrchen, wirklich ein Staatskerl; morgen schenke ich dir ’nen Wurstzipfel; hast ihn verdient. Magst du lieber Blut- oder Leberwurst?“ Merkwürdigerweise gab Mohrchen auf diese Frage trotz seiner Klugheit keine Antwort.
Berta sagte nichts, aber sie streichelte Mohrchen so sanft, und dieser leckte ihr zutraulich die Hand, als sei nie Feindschaft zwischen ihnen gewesen. Fritz wurde rasch in warme Decken gehüllt und in den Wagen gehoben. Während der Heimfahrt erzählte er seine Erlebnisse. Mohrchen hatte er suchen wollen und war einem fremden, schwarzen Hund, den er für Mohrchen hielt, bis zum Walde nachgelaufen. Dort hatte er ihn aus den Augen verloren und war dann kreuz und quer gerannt, bis er sich zuletzt müde unter einen Baum gelegt hatte. Er mußte wohl eingeschlafen sein; ein furchtbarer Donner weckte ihn, und angstvoll war er aufgesprungen und davon gelaufen. Dabei hatte er den Weg verfehlt und war an das Moor gekommen. Ohne Ahnung der Gefahr hatte er es betreten, doch schon nach wenigen Schritten sank er tief ein. In seiner Herzensangst schrie er laut um Hilfe. Da hörte er plötzlich Hundegebell.
„Mohrchen, Mohrchen!“ schrie er, und wirklich — nach einigen Minuten kam Mohrchen, der die Spur seines kleinen Herrn gefunden hatte. Schwer nur war es Fritz gelungen, aus dem Moorloch herauszukommen, aber Mohrchen hatte unermüdlich gezerrt und gezogen. Freilich, Fritzens Jacke war dabei ganz und gar zerrissen. Dann hatte das treue Tier den Knaben fest am Kittel gepackt und ihn sicher vom Moor geleitet. Fritz wußte nur noch, daß er unter eine Buche gekrochen war; dann hatte er das Bewußtsein verloren. Das tapfere Mohrchen aber war nach Hause geeilt und hatte Hilfe geholt.
„Ein Staatskerl, wirklich ein Staatskerl!“ rief Meister Langbein und streichelte den braven Hund.
In Neustadt hatte sich rasch die Kunde von Fritzens Verschwinden verbreitet, und eine Anzahl Erwachsener und viele, viele Kinder der Stadt kamen den Heimkehrenden entgegen und begrüßten diese mit lautem „Hurra!“ Am allermeisten aber schrieen Fritzens Klassengenossen, einer brüllte immer lauter als der andere.
Ein Fremder, der an diesem Tage in Neustadt war, dachte, es wäre Feuer ausgebrochen oder der Landesherr käme. Er lief auch auf die Straße und hörte dort immer „Mohrchen“ rufen. „Nein,“ sagte er lachend, „wie kleinstädtisch die Leute sind! Wenn ein Neger zu sehen ist, rennen sie sich beinahe die Füße ab.“
„Da sieht man doch, wie die Leute in der Fremde sehen und hören,“ sagte später Klaus Hippel oft, wenn er die Geschichte erzählte, „mich wunderts nur, daß die Fremden nicht noch mehr Unsinn von Neustadt zu berichten wissen!“
Doch an diesem Tage rief auch Klaus Hippel, der gerade auf der Straße war: „Hurra Mohrchen!“ Und so unter Jubelgeschrei wurde Fritz heimgebracht.
Die Großeltern waren inzwischen zurückgekommen und harrten in Angst und Sorge ihres Lieblings. Der wurde eiligst von Schlamm und Schmutz befreit und in sein Bett gebracht. Er bekam heißen Tee zu trinken, trotz der Sommerwärme. Er schlief auch bald ein, und Mohrchen und Berta wachten in dieser Nacht zusammen an seinem Lager. Die Alte konnte nicht schlafen vor Sorge, der Knabe könne krank werden. Sie saß in stillem Gebet an seinem Bett, neben ihr lag Mohrchen und sah manchmal mit seinen klugen, treuen Augen zu ihr auf. Dann nickte sie ihm zu und flüsterte leise: „Mein tapferes Mohrchen, ich will gut machen, was ich an dir verschuldet habe!“
Fritz schlief wie ein kleines Murmeltier in dieser Nacht, und als er am nächsten Morgen erwachte, da hatte er strahlende Augen und rosige Wangen. Sein Frühstück schmeckte ihm wie noch nie, er aß vier Wecken, und als er beim fünften war, rief er plötzlich: „Aber Mohrchen, wie siehst du denn aus!“
Das arme Mohrchen! Niemand hatte daran gedacht, ihm den Schlammpelz abzuwaschen. Der Schmutz war nun festgetrocknet, und eine harte, schwarze Kruste bedeckte an einzelnen Stellen sein Fell.
„Ich werde ihn gleich in warmem Wasser baden,“ sagte Berta eifrig.
„Du, Berta?“ rief Fritz verwundert.
„Ja, ich,“ murmelte diese, „brauchst nicht so verwundert zu sein, was notwendig ist, ist notwendig; na und überhaupt, ein Prachtkerl ist das Mohrchen, damit basta!“
„Hurra!“ schrie Fritz und umhalste die alte Berta, daß diese beinahe selbst in das Waschfaß gefallen wäre. Damit hatte die Feindschaft zwischen Berta und Mohrchen ein Ende, sie wurde die allerdickste Freundschaft von der Welt.
Vor dem Waschhaus, im schönen, warmen Sonnenschein, wurde Mohrchen bald darauf in einer großen Wanne gebadet. Er ließ sich das wohl gefallen, und sein kleiner Herr stand mit strahlenden Augen daneben und streichelte mitunter Bertas Arm. „Ich hab’ dich wieder genau so lieb, wie früher, Bertachen,“ versicherte Fritz, „nein, noch ein bißchen lieber, weil du so gut zu Mohrchen bist!“ Berta lachte fröhlich; Mohrchen platschte behaglich im Wasser herum, und so wurde, während der weiße Seifenschaum allen Schlamm herabschwemmte, die alte Freundschaft wieder fest geschlossen. Schnurrhans saß blinzelnd auf dem Fensterbrett; er war nicht ganz zufrieden mit der Sache; er ahnte, daß er fortan nicht mehr allein alle guten Bissen bekommen würde. Und so geschah es auch; für Schnurrhans aber war das nur gesund, sonst wäre er zu dick und rund geworden.
Gerade ehe sich die Pfingstferien noch höflich verabschiedeten, änderte sich das Wetter, und es gab einen so strahlenden Sonnenschein, daß die fünf Schatzgräber am Morgen alle als erstes Wort sagten: „Heute gehen wir!“
So wurde es auch. Am Nachmittag marschierten die Geschwister Fröhlich mit den fünf Kindern hinaus in die „Fröhliche Einkehr“. Dort wurden sie von Jantge mit großem Jubel begrüßt, als hätten sie sich alle zusammen mindestens seit zehn Jahren nicht gesehen. Jantge blühte wie ein Röslein, sie sah so glücklich aus, daß Fräulein Helene leise zu ihrem Bruder sagte: „Wie gut für das Kind, daß es eine Heimat gefunden hat!“
Jantge war glücklich in der neuen Heimat, das sah man, da brauchte niemand zu fragen: „Gefällt es dir hier?“ Ihr drittes Wort aber war Karl. Was Karl tat und sagte, wie Karl wundervoll spielte und wie lieb er sei, davon erzählte sie unaufhörlich. Und Karl schien nicht minder entzückt von dem neuen Schwesterlein; Jantge hier und Jantge da, hieß es. Das ging so hin und her, und die Geschwister Fröhlich hatten ebenso ihre helle Freude an den einträchtigen Pflegegeschwistern, wie die Wirtsleute.
Nur einer war damit unzufrieden, einer grollte, Severin. Seiner Meinung nach hätte sich Jantge viel mehr über seinen Besuch freuen müssen, und daß sie immer Karl lobte, nur von Karl sprach, ärgerte ihn. „Das ist dumm,“ sagte er zu seinem Bruder, „sie tut, als ob Karl ein Wundertier wäre!“
„Hm,“ brummte Wendelin, der gerade daran dachte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Stachelbeeren reif wären.
Karl mußte auch auf seiner Flöte blasen, und alle fanden, es klänge sehr hübsch. Jantge aber war entzückt, sie strahlte, dreimal fragte sie Severin: „Spielt er nicht fein?“
Dreimal antwortete Severin nur „hm,“ zuletzt lief er wütend fort. Auf dem Heimweg, während die anderen Kinder lustig schwatzten, war er sehr brummig, er war wütend, daß seine Freundin Jantge sich so wenig um ihn gekümmert hatte, und am Abend beim Zubettgehen sagte er zu Wendelin: „Ich geh nicht mehr mit in die Fröhliche Einkehr!“
Wendelin erwiderte gar nichts, er schlief schon, er lag im Bette und pustete wie eine kleine Dampfmaschine, und selbst der ärgerliche Puff, den ihm sein Bruder Severin versetzte, ermunterte ihn nicht mehr. „Ich lern’s auch; was der kann, kann ich auch,“ murmelte Severin, und dann schlief er ebenfalls ein.
Am nächsten Tag hatte Severin ein Geheimnis vor seinem Bruder Wendelin, vor seiner Mutter, vor Heine, kurz vor allen Leuten im Hause, auch vor seinen Freunden. Gleich nach dem Mittagessen entschlüpfte er und ging die Langgasse hinunter bis auf den Markt, dann trat er zagend und verlegen in das Geschäft des Herrn Friedlein. Dort erhielt man die wundervollsten Sachen, Porzellantassen und Spazierstöcke, Bilderrahmen und Hosenträger, Tafelaufsätze und Handschuhe, was man wollte. Wenn irgend jemand in Neustadt irgend jemand etwas schenken wollte, und er wußte nicht recht was, dann ging er zu Herrn Friedlein, da fand er sicher etwas. „Warenhaus“ nannte Herr Friedlein sein Geschäft, und er erzählte es jedem, der es hören wollte, „was Wertheim in Berlin ist, das bin ich in Neustadt, mehr hat der auch nicht als ich.“
Severins Herz klopfte hörbar, als er den Laden betrat; er sah sich scheu um, ob ihn auch niemand bemerkte, es war aber kein Mensch auf der Straße zu sehen. Drinnen im Laden stand eine Frau, die guckte Severin an und sagte: „Na, wo kommst du denn her?“ — Es war seine Tante.
Severin wurde blutrot, aber Herr Friedlein, der selbst im Laden war, fragte: „Du willst wohl einen Bleistift?“ Es gab nämlich gerade billige Bleistifte zu verkaufen.
„Na, dann suche dir mal einen aus,“ sagte seine Tante, „einen Groschen schenke ich dir dazu!“
Das war nun sehr nett von der Tante, und Severin kramte auch höchst vergnügt in dem Bleistiftkasten herum, drei bekam man für einen Groschen. Es dauerte recht lange, ehe er seine Entscheidung getroffen hatte, seine Tante bezahlte den Groschen und sagte lachend zu Herrn Friedlein: „Das wäre wohl etwas langweilig, wenn alle Kunden so viel Zeit zu ihren Einkäufen brauchten, nicht wahr?“
Herr Friedlein nickte und dann gähnte er, er hätte nämlich gern wie jeden Tag sein Mittagschläfchen gemacht. In Neustadt pflegte sonst kein Mensch zwischen ein und drei Uhr etwas einzukaufen, „so was tun nur Leute in den langweiligen Großstädten,“ sagte Herr Friedlein immer. Ordentlich erschrocken fuhr er zusammen, als Severin auf einmal, als seine Tante den Laden verlassen hatte, mit lauter Stimme rief: „Ich möchte eine Flöte!“
„Was?“ sagte der Kaufmann verdutzt. „Junge, du bist wohl nicht klug, eine Flöte hat noch niemand bei mir verlangt. Kann’s nicht eine Mundharmonika sein?“
„Nein,“ stotterte Severin, „’s muß eine Flöte sein. Karl hat auch eine!“
Herr Friedlein überlegte. Er ließ nie gern jemand aus seinem Laden fortgehen, ohne daß er etwas gekauft hatte, und plötzlich fiel ihm ein was er Severin als Flöte geben könnte. Er holte ein schwarzes Ding herbei, „das sei etwas Wundervolles, viel, viel besser als eine Flöte,“ erzählte er, „es sei eine Okarina, und wenn ihm Severin zwei Mark geben würde, dann sollte er das kostbare Instrument bekommen.“
Wenn gerade eine Klappe dagewesen wäre, dann wäre der Bube gewiß in die Erde gerutscht vor Entsetzen über den unglaublichen Preis. Er blieb ganz verdattert stehen und starrte den Kaufmann mit offenem Munde an, als wäre dieser ein Geist. Sehr klug sah Severin gerade nicht aus, und Herr Friedlein brummte ärgerlich und verständnisvoll. „Schneid’ nicht so ’n Gesicht, dummer Bengel! Wie viel Geld hast du denn?“
Seufzend griff Severin in die Hosentasche und holte ein altes, abgenutztes Portemonnaie heraus, dreiundachtzig Pfennige, zwei Stahlfedern, fünf Spielmarken, ein Zinnsoldat, ein Malzbonbon und ein Stück Kreide, die alles angeschmiert hatte, waren darin. Herr Friedlein sah seine Okarina an, ein Stückchen war schon davon abgeschlagen und einen ganz kleinen Sprung hatte sie auch schon. „Na, meinetwegen,“ sagte er gnädig, „da nimm sie für das Geld, du kannst aber froh sein über den Einkauf, so was passiert nicht alle Tage!“
Schweigend nahm Severin seine Okarina, stumm ging er hinaus, und erst als er auf der Langgasse war, blieb er stehen. Da hatte er nun all sein Geld ausgegeben, dreiundachtzig Pfennige, beinahe ein Königreich hätte er sich dafür kaufen können, so meinte er. Freilich eine — eine, ja wie hieß das Ding doch gleich — hatte Karl nicht. Aber wie das Instrument hieß, mußte er wissen, für dreiundachtzig Pfennige konnte er dies verlangen. Er raste zurück, riß die Ladentüre auf, daß die Klingel förmlich hopste und sprang. Ebenso schnell sprang Herr Friedlein in der Ladenstube von seinem Sofa auf, er war gerade ein bißchen eingeschlafen gewesen; er stürzte in den Laden, sicher war jemand da, der sehr viel kaufen wollte.
„Wie heißt die Pfeife?“ schrie ihm Severin entgegen.
„Okarina, du unnützer Bengel,“ rief Herr Friedlein zornig, „was fällt dir ein, so zu klingeln!“ Aber Severin war schon wieder draußen, er lief über den Markt, durch die Langgasse und sagte immer vor sich hin: „Onetrina, Onetrina!“ Na, das war mal ein putziger Name.
„Du vergißt wohl ganz das Grüßen, mein Sohn?“ fragte da auf einmal jemand mahnend, und Severin sah den Herrn Direktor vor sich stehen. Er riß die Mütze vom Kopfe und stammelte: „Onetrina, Onetrina!“ Der Herr Direktor Weidlich ging kopfschüttelnd weiter und murmelte: „Der Knabe ist wohl etwas dumm, mir scheint, er hätte Ostern sitzen bleiben sollen! Ich muß etwas auf ihn achten!“ —
An diesem Nachmittag ließ Klaus Hippel plötzlich den Pantoffel, an dem er gerade nähte, zur Erde fallen; erschrocken lauschte er, dann sagte er zu seiner Frau Paulinchen: „Nun höre doch nur, da schreit der Kauz gar wohl am hellen Tage!“
„Das bedeutet gewiß ein Unglück,“ jammerte die Pantoffelmacherin. „Ih wo, das bedeutet gar nichts,“ sagte ihr Mann vergnügt, „wenn ich nur wüßte, wo der Kauz sitzt?“
Das war freilich ein sonderbarer Kauz, der da, etwas versteckt von allerlei Gebüsch, draußen auf der Wiese vor dem Turm stand und mit vollen Backen auf seiner Okarina blies. Uhuhuhu — pfpfpf ging das, es klang so jämmerlich, daß Klaus Hippel verwundert sagte: „Na, nun weiß ich nicht, hat der Kauz, der so schreit, Leibschmerzen, oder ist es ein Hund, der heult, so was habe ich noch nie gehört!“
Wenn Klaus Hippel auch so dachte, Severin dachte eben anders; er ging sehr befriedigt von seinem Spiel heim. Weil er sehr zum Überfluß, wie er fand, noch Schularbeiten zu machen hatte, konnte er an diesem Tage nicht weiter blasen. Am Abend vor dem Schlafengehen vertraute er aber Wendelin das große Geheimnis an, und der bewunderte denn auch das wunderbare Instrument gebührend. „Laß mich auch drauf blasen,“ bat er, doch davon wollte Severin nichts wissen, er allein wollte besser spielen als Karl. Als aber Wendelin gar so beweglich bat und sich erbot, einen Groschen zu dem Kaufgeld zuzugeben, erlaubte es Severin endlich. Damit nun aber niemand im Hause die wunderbaren Töne zu hören bekam, kroch Wendelin unter die Bettdecke. Dumpf und schauerlich kamen die Töne darunter hervor, Severin lauschte voll Andacht, endlich rief er aus: „Weißt du, ich krieche mal unter Heines Bett, dann denkt der, es spukt!“
Der Vorsatz war nun nicht gerade lobenswert, aber leider fand er Wendelins vollen Beifall. Der Bube quiekte vor Vergnügen, hopste im Bett herum, strampelte und jauchzte und zuletzt schliefen die Brüder sehr vergnügt ein. —
Am nächsten Tag gab es viel Unruhe im Bäckerhaus. Frau Gutgesell hatte Kaffeegäste, da gab es genug zu tun und anzuordnen. Die Staatsstube wurde noch einmal gewischt und gescheuert, obgleich kein Stäubchen darin lag. Den Buben war das Betreten dieses feierlichen Raumes bei Strafe verboten, überhaupt waren die zwei an dem Tage immer im Wege. Da sollten sie nicht sein und das nicht tun, dabei hatten sie gerade noch mehr als sonst Lust zu allerlei Dummheiten. Ihre Mutter sagte seufzend: „Na, was werdet ihr heute noch anrichten!“ Zuletzt verschwanden aber die Buben, und als die Gäste kamen, waren sie gar nicht zu sehen. Pünktlich um vier Uhr erschienen die Damen, und bald darauf saßen alle vergnügt in der Staatsstube beisammen, lobten Kaffee und Kuchen und erzählten sich dies und das.
Auf einmal horchte Frau Gutgesell erschrocken auf: was war das, welcher Lärm entstand draußen?
Da stürzte auch schon Marie, die Magd, mit dem Schreckensruf in das Zimmer: „Feuer, Feuer!“
Ein wildes Angstgeschrei erhob sich, alle Gäste sprangen auf, eine Kaffeetasse und der Milchtopf fielen um, Kuchenstücke und Arbeitsbeutel rollten zu Boden, die Damen rannten hinaus und bald gellte der Angstruf: „Feuer, Feuer!“ bis auf die Straße hinaus.
„Huh!“ schrie die Grünwarenhändlerin Lehmann und purzelte mit einem Korbe unreifer Stachelbeeren auf die Straße. Alles was flinke Beine hatte, rannte dem Rufe nach, alle Fenster öffneten sich, überall schauten Leute heraus und einer fragte den andern: „Wo brennt’s denn? Sieht man das Feuer?“
Und plötzlich jagte eine wunderliche Gestalt aus dem Bäckerhause heraus; Heine war es. Er hatte sich in eine große, rotkarierte Bettdecke gewickelt, die ihm halb nachschleppte, ein dickes, blaugewürfeltes Kopfkissen hielt er im Arm, als sei es ein kostbarer Schatz. Und so rannte der Geselle die Marienstraße entlang und schrie unaufhörlich: „Feuer, Feuer!“
Bald kamen von überall her die Menschen angerannt, die Feuerwehr kam mit für Neustadt ganz außergewöhnlicher Eile angerasselt, sie hatte es nämlich nicht weit.
„Feuer, Feuer!“ schrie alles im Bäckerhause; Meister Gutgesell rannte hierhin und dahin. Ja, Potzwetter, wo brannte es denn?
„In Heines Stube,“ rief Martin, und Meister und Altgeselle stürzten hinauf; Heine hatte seine Stube in der Mansarde.
Doch in der Stube war kein Fünkchen zu sehen, es roch kein Bißchen nach Rauch, etwas Merkwürdiges aber erblickte der Meister, das waren vier Beine, die unter dem Bett hervorragten und die gerade, als er das Zimmer betrat, zappelnd darunter verschwinden wollten. Kurz entschlossen ergriff der Meister zwei Beine, Martin die anderen, und schwapp kamen Severin und Wendelin mit feuerroten, verheulten Gesichtern unter dem Bette vor.
„Dumme Bengels, seid doch nicht so furchtsam, das ganze Haus brennt doch noch nicht, wißt ihr denn, wo’s brennt?“
„Hup, hup, hup,“ schluchzte Severin, „e—s brennt ja gar nicht!“
„Heine,“ heulte Wendelin, „dachte, weil — weil — wir doch bloß Spaß gemacht haben!“
„Feuer, Feuer,“ schrie es draußen, und der dicke Brandmeister Schulze keuchte die Treppe im Bäckerhause empor: „Ja, wo brennt’s denn, ich sehe ja nichts und ich rieche nichts. Herr Meister, Herr Meister, sagen Sie mir doch, wo es brennt?“
„Hier,“ brummte der Meister und — klatsch bekam Wendelin einen Katzenkopf rechts, und Severin einen links. Dann nahm der Meister seine Buben beim Kragen und zog sie die Treppe mit hinunter. „Es brennt gar nicht, es brennt gar nicht,“ schrie er so laut, daß es dröhnend das Haus durchhallte.
Der dicke Brandmeister kugelte vor Eilfertigkeit fast die Treppe hinunter. „Nicht spritzen, nicht spritzen,“ rief er seinen Leuten zu, und das war gut, denn diese standen schon bereit und hätten beinahe einen Wasserstrahl in das offenstehende Fenster der Staatsstube gesandt.
„Es brennt gar nicht,“ rief draußen einer dem andern zu. „Die Buben haben eine Dummheit gemacht,“ rief ein Lehrjunge, und gleich flog das Wort weiter. Frau Lehmann, die noch immer inmitten ihrer verschütteten Stachelbeeren saß, stand auf und rief entrüstet: „Was, es brennt nicht einmal, da habe ich mich umsonst erschrocken, na, ich sag’s ja, heillose Buben sind’s, die beiden!“
„Da kommt Heine, nä, seht doch wie der Heine aussieht!“ riefen einige Stimmen lachend. Heine rannte ganz verwirrt in das Bäckerhaus zurück, und als die Damen, die alle mit dem Meister, Altgesellen und Brandmeister um die heulenden Buben herumstanden, den Gesellen in seinem wunderlichen Aufzuge erblickten, lachten und schrieen sie: „Himmel, wie sieht der Mensch aus!“
„Zieh dich rasch an und dann komm und erzähle, was geschehen ist!“ rief der Meister dem Gesellen zu.
Aber der war so verdattert, daß er nur immer rief: „Ich hab’s doch Feuer blasen hören, ganz gewiß, ganz gewiß!“
„Habt ihr geblasen?“ fragte der Meister seine Buben.
„Ja,“ jammerten beide, „bloß — ’n bißchen.“
„Wo?“ fragte der Vater weiter und sah die beiden Schlingel strafend an.
„Unter — unter Heines Bett,“ kam ängstlich die Antwort.
„Ach so, und der gute Heine hat geschlafen und ist von eurem Geblase aufgewacht und hat gedacht es brennt,“ sagte der Meister verständnisvoll.
„Pfui, ihr abscheulichen Jungens,“ schrie Heine und stürzte mit seiner Bettdecke und seinem Kopfkissen davon; er fing plötzlich an, sich mächtig zu schämen, da er nun erst recht zur Besinnung kam.
„Das ist meiner Seele eine höchst kuriose Geschichte, ich glaube, die kommt in den Anzeiger!“ sagte der dicke Brandmeister. „Übrigens muß Herr Heine gewiß noch Strafe für unbefugtes Alarmieren der Feuerwehr zahlen! Empfehle mich den Herrschaften.“ Herr Schulze ging davon, bald rasselte die Feuerwehr durch die Marienstraße, oben in seinem Zimmer kroch Heine wütend in sein Bett, die Damen kehrten an ihren Kaffeetisch zurück — und die Buben?
Ach, die Buben! Schläge gab es freilich nicht, aber viel Kummer kam über beide. Severin spielte nicht mehr auf seiner Okarina, denn die verschwand für einige Zeit in des Vaters Schrank. Und der Bube dachte manchmal seufzend: „Hätte ich meine dreiundachtzig Pfennige noch, dann könnte ich mir dies oder jenes kaufen!“ Drei Tage Katzentisch gab es auch, und am Katzentisch gibt es bekanntlich keine Leckerbissen. Das allerschlimmste aber war, die Geschichte kam wirklich in den Neustädter Anzeiger für Stadt und Umgebung.
Wendelin und Severin wären am liebsten vor lauter Schämen im Bett geblieben, so wenig sie auch sonst für Kranksein schwärmten. Auch in ein Mauseloch wären sie himmelgern gekrochen, nur gerade in die Schule zu gehen, dazu hatten sie recht wenig Lust. Aber sie mußten hinein, mußten alle Fragen und alle Neckereien aushalten, es zeigte sich hierbei wieder, daß gute Freunde schon etwas wert sind. Jörgel stand tapfer zu den beiden, auch Fritz Brinkmann hielt zu ihnen, und ebenso Brigittchen und Anne-Marte. Das sanfte Brigittchen wurde ganz kampfbereit, wenn jemand etwas gegen die beiden Freunde sagte.
Freilich sprach ganz Neustadt von den Bäckerbuben und von Heine mit dem Bettuch und dem Kopfkissen. Es ist nun aber eine alte Geschichte, daß gemeinsames Leid verbündet, und Heine, der erst fuchswild über den Streich gewesen war, den die beiden ihm gespielt hatten, fand nun, es sei gar nicht so schlimm gewesen wie die Leute die Geschichte machten. Aus lauter Ärger darüber söhnte er sich mit den Buben aus; es wurde wieder eine ganz dicke Freundschaft. Als die Grünwarenhändlerin Lehmann einmal sagte: „Sie haben mir recht leid getan, Herr Heine, die Bengels drüben sind auch recht schlimm,“ da brummte er: „Sie haben eben immer was an den Buben zu tadeln, Madame Lehmann, es soll jeder vor seiner eigenen Türe kehren, die Buben sind besser als Ihre alten Holzäpfel, die sie mir vor etlichen Wochen verkauft haben!“
Klaus Hippel aber sagte, es sei der beste Spaß seit langer Zeit gewesen, und weil der Pantoffelmacher lachte, lachten die Buben zuletzt auch. Da hörten bald die Neckereien auf, das ist mal so, wer mitlacht fährt am besten. Am heitersten aber lachte Jantge über die Geschichte, denn Severin ging das nächste Mal doch mit in die Fröhliche Einkehr, dort söhnte er sich mit Jantge und Karl aus und gab es auf, eifersüchtig zu sein.
Es kommt ja doch nichts dabei heraus.
Sommerreisen sind in Neustadt nicht eine so allgemeine Modesache, wie in den großen Städten. Die Erwachsenen fahren wohl hierhin und dahin, aber die Familien, in denen Kinder sind, die bleiben gern daheim. Die meisten Häuser haben Gärten, und wer selbst keinen Garten hat, der geht in Nachbars Garten spielen; draußen im Freien, in dem schönen Wald, ist man auch schnell genug. Ja, Neustadt ist so hübsch, daß regelmäßig zwei alte Prinzessinnen das sonst unbewohnte Schloß im Sommer beziehen. Sie kommen jedes Jahr bald nach Pfingsten, manchmal auch vor dem Fest, und sie bleiben, bis in dem alten Schloßgarten die Bäume ihre goldroten Kleider angezogen haben.
Wenn die Prinzessinnen Emma und Marie, zwei freundliche, alte Damen, Einzug halten, dann steht das ganze Städtchen beinahe auf dem Kopf, namentlich die Kinder laufen sich die Beine ab, um die Prinzessinnen zu sehen, und drei Tage lang fragen sich die Leute untereinander: „Hast du sie schon gesehen?“ Nachher ist es eine gewohnte Sache, nur die Kinder, die rennen jedesmal, wenn der fürstliche Wagen zu sehen ist, hinterher, schreien hurra und guten Tag; dies gehört in Neustadt zum besonderen Kindervergnügen.
Etliche Tage nach dem blinden Feuerlärm hielten denn auch die Prinzessinnen wieder ihren Einzug in Neustadt, und Severin und Wendelin rannten trotz ihres Kummers auch an den Schloßberg, um die Einfahrt mit anzusehen. Sie schrieen hurra, so laut sie konnten; sie standen mit Brigittchen, Anne-Marte und Jörgel zusammen und sagten auch, wie Klaus Hippel immer sagte, wenn die Prinzessinnen da waren: „So, nun ist es richtiger Sommer!“
Die beiden alten Damen nickten den Kindern freundlich zu, und Prinzessin Emma sagte zu Prinzessin Marie: „Glaubst du, daß Kinder wo anders so laut schreien können wie in Neustadt?“
„Nein,“ erwiderte Prinzessin Marie lachend, „ich glaube es nicht, aber hübsch ist doch unser Neustadt, ich bin doch recht froh, daß ich wieder da bin!“
Ja, hübsch war es in Neustadt, in den sonnenhellen Sommertagen ebenso wie in den heimlichen, traulichen Wintertagen. Die fünf Schatzgräber fanden es in diesem Jahre besonders hübsch; es gab so viele lustige Waldspaziergänge, zu denen die Geschwister Fröhlich die Kinder mitnahmen, und bei denen es allemal sehr vergnügt zuging. Nur einen Fehler hatten diese Tage, sie gingen immer mit der allergrößten Eile zu Ende. Die Sonne purzelte dann nur so in ihr Wolkenbett, wutsch, war sie drin, zog sich ein dickes Wolkenkissen über die Nase, und die Kinder hatten das Nachsehen.
Immer weiter schritt der Sommer vor. Der Flieder verblühte, der Jasmin duftete, und die Rosen entfalteten sich. Die Erdbeeren reiften, dann auch das Strauchobst, und eines Tages hatte Frau Lehmann die ersten im Lande gereiften Kirschen. Klaus Hippels Blumenbrettlein brach fast unter seiner blühenden Fülle, und von ihren Spaziergängen kamen die Neustädter Kinder jetzt mit Kornblumensträußen beladen heim.
Und auf einmal waren die Sommerferien da. Sie wurden mit noch mehr Jubel begrüßt als die Prinzessinnen, und durch Neustadts Straßen und Gäßlein brauste an dem ersten Ferientage der Kinderjubel wie ein Strom.
Die fünf Schatzgräber saßen auch an diesem ersten Ferientage auf der Stadtmauer und schmiedeten Ferienpläne — von Schularbeiten stand aber leider nicht viel darin. Wie die fünf Freunde so saßen und schwatzten, kamen auf einmal, von einer Hofdame und einem Kammerherrn gefolgt, die beiden Prinzessinnen durch das Stadtwäldchen daher. Die Kinder erschraken, sie wären am liebsten schleunigst entflohen, daran war aber nicht mehr zu denken. Wendelin zog zwar eiligst seine Beine hinauf, dabei löste sich einer seiner Turnschuhe, die er trug, und plumps fiel der Schuh gerade vor Prinzessin Emma nieder. Prinzessin Marie sah zu der Mauer empor, und plumps, da fiel der zweite Schuh gerade vor ihrer Nase auf den Weg.
„Wie unschicklich,“ sagte das Hoffräulein entrüstet und warf einen strafenden Blick auf Wendelins braunbestrumpfte Füße, am linken guckte die große Zehe ganz lustig aus dem Strumpf heraus.
Die Prinzessinnen lächelten nachsichtig. Ja, sie blieben sogar stehen und fragten die fünf Mauerschwalben gar freundlich nach ihren Namen. Das war ein Ereignis! Die Kinder machten zwar kaum den Mund auf; nachher taten sie sich aber unendlich wichtig, und selbst Heine sagte: „Das hätte in der Zeitung stehen sollen, nicht die dumme Feuergeschichte!“
Und was Heine sagte, das war wahr.
Die Prinzessinnen gingen auch, wie jedes Jahr, in den alten Stadtturm, um sich die Aussicht und das Museum anzusehen, und Klaus Hippel und seine Frau Paulinchen waren wie jedes Mal sehr stolz über den Besuch. Sonst hatten die Pantoffelmachersleute aber wenig Freude in diesen warmen Sommertagen. Frau Paulinchen hatte einen schlimmen Fuß bekommen, und dann lastete noch schwer ein anderer Kummer auf den alten Leuten. Bald nach Pfingsten hatte der Schwiegersohn, Friedrich Lange, zufällig gehört, wie zwei seiner jetzigen Arbeitsgenossen von ihm sprachen; der eine sagte: „Ich glaube es doch, daß er ein Dieb ist und damals im Herbst das Geld genommen hat. Sicher ist die ganze Geschichte nur erlogen!“ Darauf sagte der zweite: „Man muß sich vor ihm in Acht nehmen!“ Der brave Friedrich Lange hatte gemeint, daß der Verdacht, der auf ihm ruhte, längst vergessen wäre, und das Wort Dieb traf ihn so schwer, daß er seitdem wie verstört herumging. Seine Frau, seine Schwiegereltern und seine Freunde, alle suchten ihn zu trösten, aber vergeblich; der arme Mann wurde ganz tiefsinnig. Wenn einer ihn nur ansah, dann dachte er schon: „Er sieht in dir einen Dieb.“
Es war ein Jammer; Frau und Kinder und die alten Eltern litten mit ihm, und alle vermochten sie doch trotz ihrer innigen Liebe nicht zu helfen. Viele Klagen hörte zwar niemand von den Pantoffelmachersleuten, aber die alte Lustigkeit war wieder aus dem Turm entflohen.
So vergingen die Tage des Sommers in Heiterkeit für die Kinder, in Sorgen für die Pantoffelmachersleute, und plötzlich hieß es: „In acht Tagen fängt die Schule wieder an!“
Es war ein trüber, grauer Tag, an dem die fünf Schatzgräber den Entschluß faßten, endlich einmal die Ferienarbeiten richtig in Angriff zu nehmen. „Es wird auch Zeit,“ sagte Frau Doktor Fabian, „ihr tut ja, als wären die Bücher überhaupt nicht mehr auf der Welt.“
Trotz aller guten Vorsätze — Anne-Marte hatte sich sogar Watte in die Ohren gestopft, um nichts zu hören, was sie ablenken könnte — wurde an diesem Tage aus der Arbeit nicht viel. Es war so schwül, kein Lüftchen wehte, selbst die Erwachsenen seufzten bei ihrer Arbeit. Die Bäume standen so still in der grauen Luft, als wären sie aus Stein; unruhig huschten die Schwalben über den Kirchplatz; sie flogen so tief, daß das Gras, das hier und da zwischen den Steinen wuchs, von ihrer Berührung zitterte. „Es wird ein Gewitter geben,“ sagten alle Leute und schauten nach dem Himmel empor. Wie eine graue Decke hing der über der Erde, von der Sonne sah man nur einen blassen, hellen Schein.
Gegen zwei Uhr wurde es ganz dunkel. Klaus Hippel sah von seinem Turmfenster aus dicke, schwere Wolken am Himmel emporsteigen, wie dunkle Berge türmten sie sich auf, und oben hatten sie einen breiten, schwefelgelben Rand. Es dauerte auch nicht lange, da sauste der Sturm durch die Straßen, das Gewitter brach los. Blitze zuckten; der Donner rollte dumpf und dröhnend, und plötzlich war es, als platzte der Himmel, solche Regenmassen prasselten hernieder, und immer lauter heulte der Sturm. Der alte Wachtturm schwankte ordentlich bei diesem Tosen des Wetters, und die Pantoffelmachersleute schauten sich zagend an: „So ein Wetter haben wir lange nicht gehabt,“ murmelte Klaus Hippel. Und wie er, so sagten auch die anderen Neustädter. Angstvoll blickte jeder hinaus, und Schrecken ergriff alle, als die Feuerwehr klingelnd durch die Straßen fuhr; es hatte aber nur in einen Schornstein eingeschlagen. Dann krachte wieder so ein heftiger Donnerschlag, daß alle Fenster zitterten, und auf dem Kirchplatz lag eine Linde zerschmettert am Boden. Der Sturm riß Ziegel von den Dächern, und die Bäume neigten sich tief vor seiner Macht. Bis in die Nacht hinein dauerte das Unwetter, dann ließ es nach, und am nächsten Morgen strahlte die Sonne hell über Neustadt. Alles blinkte und blitzte wie frischgewaschen, und der Himmel hatte kein Fleckchen an seinem blauen Kleid. In dem hellen Sonnenschein aber sah man recht, wie arg das Unwetter gehaust hatte; in den Gärten waren die Beete zerwühlt, und der kleine Mühlbach am südlichen Stadtende gebärdete sich wie ein wildgewordener Strom, so dick geschwollen vom Regenwasser brauste er einher.
Im Stadtwald, auf den Promenaden lagen entwurzelte Bäumchen und Haufen niedergebrochener Äste.
„Da könnte man gut Reisig sammeln, meine Holzkammer ist ohnehin leer,“ sagte Frau Paulinchen betrübt, als Brigittchen, Anne-Marte, Jörgel und die beiden Bäckerbuben ihr am Nachmittag erzählten, wie es draußen aussah. Die Kinder waren gekommen, um zu fragen, ob der Turm bei dem Sturm geschwankt hätte; Jörgel hatte nämlich gesagt, dies könnte wohl sein.
„Natürlich hat er geschwankt, wie ein Baum, hin und her!“ sagte Klaus Hippel, der fast beleidigt war, daß seinem Turm so wenig zugetraut wurde.
Die Kinder bedauerten einstimmig, daß sie nicht dabei gewesen wären, aber Mutter Paulinchen sagte, es wäre sehr unheimlich gewesen. Dann seufzte sie wieder: „Ach könnte ich doch heute ordentlich Reisig suchen gehen, aber mein Fuß ist zu schlimm!“
„Und ich muß die Pantoffeln hier heute noch liefern,“ brummte Klaus Hippel. „Schade, heute ist gerade Freiholztag!“
„Wir wollen Reisig suchen,“ rief Anne-Marte vergnügt. „Ja,“ stimmten Jörgel, Brigittchen und Severin freudig ein, nur Wendelin war von dem Plan nicht sehr entzückt.
„Na, du mit deinem weißen Kleid, Brigittchen, da möchte deine Tante schön schelten!“ meinte Mutter Paulinchen bedenklich. „Ach, ich laufe fix zu Frida Müller, die borgt mir eine Schürze,“ sagte Brigittchen, „dann holen wir Holz, deinen ganzen Stall voll.“
Schwupps, war die Kleine auch schon zur Türe hinaus, und Anne-Marte folgte ihr. Frida Müller war die Tochter einer Waschfrau, sie war in gleichem Alter mit Brigittchen und Anne-Marte. Ihre Mutter wusch bei Fabians und bei Schöns, und Frida holte sie manchmal ab und spielte dann mit den Freundinnen, die Frida beide sehr nett fanden. Die Waschfrau Müller wohnte in der Turmgasse, die dicht am alten Stadtturm lag, es war also kein weiter Weg, den die Mädels zurückzulegen hatten. Und Frida war daheim und sehr bereit, zu helfen. Sie holte rasch einen blauen Rock und eine Schürze herbei, ja ein Kopftuch holte sie auch, weil Brigittchen ihren weißen Staatshut aufhatte, und statt der feinen, braunen Schuhchen zog diese ein Paar von Fridas Alltagsschuhen an.
Bald war die Kleine in ein richtiges Holzmädel umgewandelt, auch Anne-Marte bekam eine blaue Schürze und ein Kopftuch, und Frida Müller sagte noch: „Es kann alles schmutzig werden, es geht zu waschen.“ Kichernd vor Vergnügen kamen nach einem Weilchen beide in den Turm zurück.
„Potzhundert, ihr seht aber schmuck aus!“ rief Meister Hippel lachend, „nun bin ich nur neugierig, wie viel Reisig ihr anbringen werdet!“
„Schrecklich viel,“ riefen alle fünf, dann eilten sie hinaus, dem Stadtwald zu. Sie fanden, es sei ein wundervolles Vergnügen, Reisig zu suchen. Namentlich da so viele Äste am Boden lagen, da brauchte man nur zuzugreifen.
Ein bißchen naß war es zwar von dem gestrigen Regen, aber das störte die Kinder weiter nicht, sie suchten mit brennendem Eifer, und bald war der kleine Handwagen, den die Pantoffelmacherin ihnen mitgegeben hatte, hochbeladen. „Nun nehmen wir jeder noch ein kleines Bund auf den Rücken,“ schlug Jörgel vor, „na, dann soll Meister Hippel uns aber nicht auslachen!“
Wendelin brummte ein wenig, er war nicht sehr dafür eingenommen, daß er sich so oft bücken mußte, aber weil Brigittchen so voll Eifer war, tat er auch mit.
„Ich bin Pferd,“ rief Anne-Marte, als alle Bündel fertig waren.
„Ich auch,“ schrie Severin.
„Und wir sind Vorreiter,“ rief Jörgel und faßte Brigittchens Hand, und lustig ging die Fahrt los.
„Wendelin muß schieben. Aber ordentlich, nicht bloß so tun,“ gebot Anne-Marte.
Ein bißchen seufzend gehorchte Wendelin, er wäre lieber Kutscher gewesen und hätte sich ziehen lassen.
Das war eine lustige Fahrt durch den Wald mit dem beladenen Wagen. Die beiden Pferde rasten in wilder Eile vorwärts, aber die Vorreiter waren noch geschwinder. Am Rande des Wäldchens, da wo die Stadtmauer anfängt, stolperte Brigittchen plötzlich an einem kleinen Abhang, und trotz Jörgels freundlicher Mahnung, nicht zu fallen, lag sie plötzlich platt am Boden in dem feuchten Moos. Ihr erster Gedanke war: „Gut, daß ich mein weißes Kleid nicht anhabe.“ Dann aber sah sie auf einmal etwas Merkwürdiges vor sich im Moos liegen, und sie blieb einfach liegen, um sich das Ding genauer anzusehen.
„Steh doch nur auf,“ mahnte Jörgel, „hast du dich geschlagen?“
„Nein,“ erwiderte Brigittchen sehr vergnügt und krabbelte empor, „sieh mal, ich hab’ hier was gefunden.“
Sie erhob sich und reichte Jörgel ein schwarzes, nasses Ding hin, das der verwundert von allen Seiten betrachtete. „Es ist so schmutzig,“ sagte er verächtlich.
„Aber so schwer,“ meinte Brigittchen, „es ist ein Paket, wer weiß was drin ist.“
„Na, Kuchen sicher nicht!“ rief Jörgel neckend.
„Ein Schatz vielleicht,“ sagte Brigittchen, „ich nehme das Paket Vater Klaus mit!“
„Vorsicht, aus dem Wege!“ riefen jetzt Anne-Marte und Severin; sie fuhren mit ihrem Wagen den Abhang hinunter. Wendelin schien zu denken, es ginge bergauf, er schob mit aller Macht und pardauz überschlug sich der Wagen am Abhang. Die Reisigbündel flogen hierhin und dahin, Wendelin, durch den jähen Anprall erschreckt, schoß in einem weiten Purzelbaum über alles hinweg, und eine Weile kollerten Kinder, Wagen und Reisigbündel durcheinander. Dem armen Wagen knackten alle Knochen im Leibe, den Kindern hatte das Durcheinander aber weiter nichts geschadet, sie fanden es vielmehr höchst lächerlich. Wer nicht gefallen war, setzte sich ins Moos, um sich ordentlich auszulachen. Heil, unzerbrochen, nur ein wenig schmutzig, standen sie endlich auf.
„Mein schwarzes Ding,“ rief Brigittchen, die noch am Boden saß, und sah sich suchend um.
Es war weg, und Anne-Marte rief: „Laß es doch liegen.“ Aber Brigittchen wollte ihren Fund nicht im Stich lassen, und so halfen ihr denn auch die anderen suchen. Schließlich fand es sich, daß Brigittchen auf dem schwarzen Ding gesessen hatte, was zu neuem Gelächter Anlaß gab. So kamen die Fünf lachend und höchst vergnügt mit ihrer Holzlast am Turm wieder an, und Mutter Paulinchen kam erfreut die Treppe herab gehumpelt. „Das lobe ich mir,“ sagte sie, „nein, so eine Freude!“
„Jetzt muß Vater Hippel aber noch meinen Fund sehen,“ rief Brigittchen und hopste die Treppe hinauf, und oben hielt sie dem Pantoffelmacher das schwarze Ding vor die Nase: „Das hab’ ich gefunden!“
„Was ist denn das?“ brummelte der, „ist wohl gar ’n toter Maulwurf oder so was!“
Die Kinder kicherten, der Alte aber rückte seine Brille zurecht, um den Fund genauer anzusehen. Aber plötzlich wurde er leichenblaß und seine Hände zitterten. Hastig löste er einen Riemen, mit dem das schwarze Ding zugeschnallt war, eine rotbraune, aber auch verwitterte Tasche kam heraus. „Mutter!“ rief Klaus Hippel mit bebender Stimme, „Mutter, wahrhaftig, es ist die Tasche von unserm Friedrich!“
„Du lieber Gott!“ stammelte Frau Paulinchen und faltete die Hände, „wie ist das möglich?“
Die Kinder standen in stummem Staunen da, wie ein Märchen schien ihnen, was sie sahen. Der alte Mann hatte unterdessen die Tasche geöffnet, in der einige schwere Rollen steckten. „Das Geld ist drin, lieber Gott, ist das ein Glück!“ murmelte er, und dicke Tränen liefen über seine gefurchten Wangen. Und dann lagen sich die beiden alten Leute in den Armen und weinten und lachten, und die Kinder jubelten mit ihnen. „Es war feierlicher als Weihnachten,“ sagte Brigittchen später.
„Unsere Kinder müssen es wissen,“ sagten die Alten.
„Wir gehen hin und sagen es,“ riefen die Kinder wie aus einem Munde, und ehe Pantoffelmachers noch etwas sagen konnten, stürmten sie schon alle fünf die Treppe hinab. Die Turmgasse entlang gings, an Frida Müller vorbei, und Brigittchen dachte gar nicht an ihren seltsamen Anzug.
Das Kontor des Herrn Schön lag am Markt, dorthin lenkten die Kinder ihre Schritte, denn dort war um diese Zeit Friedrich Lange zu finden. Es war ein hohes, altes Haus, in dem sich das Kontor befand. Durch einen breiten, gewölbten Hausflur ging es hindurch und schrill schlug die Klingel an, als die Kinder öffneten. Herr Schön stand gerade in dem ersten Arbeitszimmer und sprach mit dem Bürgermeister, der ihn besucht hatte und nun wieder gehen wollte. In diesem Augenblick stürmten atemlos, naß, schmutzig und zerzaust die fünf Kinder ohne weiteres herein, und alle fünf zusammen schrieen sie: „Wir haben das Geld gefunden, die Tasche, die —“
„Welches Geld, welche Tasche? Ja, was soll denn das heißen?“ rief Herr Schön verblüfft. Dann erkannte er sein Töchterchen und sagte ärgerlich: „Aber Kind, wie siehst du aus!“ Doch Brigittchen, die sonst bei jedem Tadel am liebsten weinte, war über ihren Fund so aufgeregt, daß sie laut jubelte: „Ich habe die Tasche gefunden, die richtige Tasche, Klaus Hippel sagte es, und das Geld wäre auch drin!“
„Brigittchen hat die Tasche gefunden!“ jauchzten die anderen Kinder, „Friedrich Langes Tasche!“
„Meine Tasche!“ schrie Friedrich Lange; er sprang von seinem Platze auf, wo er Pakete gepackt hatte, „ist’s wahr, ist’s wahr?“
„Ja,“ sagten die Kinder leise und sahen schüchtern auf den Mann, der sich an die Wand lehnen mußte, um nicht umzusinken. Er faltete die zitternden Hände und schluchzte: „Mein Gott, ich danke dir, nun darf mich niemand mehr einen Dieb nennen!“
Herr Schön und der Bürgermeister sahen erschüttert auf Friedrich Lange; sie fühlten es jetzt beide, wie sehr der gelitten haben mochte. Die Kinder mußten nun von ihrem Fund erzählen, und sie taten das mit mehr Eifer und Geschrei, als gerade gut war, um aus der Geschichte klug zu werden. Manchmal schrieen sie alle fünf durcheinander, und Brigittchen war so bei der Sache, daß sie sich sogar platt auf die Erde warf, um die Sache recht anschaulich zu machen. Herr Schön sah ganz erstaunt auf sein Töchterchen, er kannte das daheim so stille Kind gar nicht wieder, nein, und was für einen seltsamen Anzug sie nur trug und wie schmutzig sie aussah! Aber Brigittchen merkte davon in ihrer Herzensfreude nichts, sie lief auch mit ihren Freunden mit, als die beiden Herren und Friedrich Lange eiligst zu dem Pantoffelmacher gingen, um zu sehen, ob es auch wirklich die rechte Tasche sei, die gefunden worden war.
Friedrich Lange konnte kaum sprechen, und die alten, steilen Turmtreppen sprang er nur so empor, und dann sah er schon bei seinem Eintritt auf dem Tisch die Tasche liegen, die ihm und den Seinen so viel Kummer bereitet hatte. Eine Nachbarin hatte inzwischen eiligst Frau Lange und die Kinder herbeigeholt, und die Familie stand andachtsvoll vor dem Tisch; ach, nun hatte ihr Kummer ein Ende!
„’s ist nicht zu sagen, nicht zu sagen, was für Dinge alles auf der Welt passieren,“ schrie Klaus Hippel und rannte aufgeregt in der Stube herum, „aber freilich, wo anders mag nicht so viel geschehen als gerade in Neustadt. Meine Güte, meine Güte, so eine Stadt, und solche Kinder, die Holz holen und Taschen finden! Paulinchen, koch’ Kaffee, mir wird es schwach!“ Und Paulinchen kochte Kaffee; Herr Schön aber versprach, er wolle zur Feier des Tages eine Flasche Wein schicken, worüber der Pantoffelmacher in neue Aufregung geriet.
Es war ein Leben in dem kleinen Turmstübchen, daß der alte Turm beinahe vor Staunen zu wackeln begann. Und dann redeten alle davon, wo wohl die Tasche gesteckt haben möchte. Sie hatte sicher wohl geborgen unter Moos und Laub am Waldrand gelegen und der heftige Gewitterregen hatte sie emporgespült.
„Nun haben wir doch einen Schatz gefunden,“ jubelte Brigittchen und tanzte mit Anne-Marte in der Stube herum, obgleich das bei der Enge, die herrschte, kaum möglich war. „Tralala, tralala, wir haben einen Schatz gefunden!“
Dann liefen die Mädels zu Frida Müller und tauschten ihre Kleider ein; sie erzählten die wunderbare Geschichte, und Frida Müller sagte, es wäre doch fein, daß Brigittchen gerade ihre, Fridas Sachen, dabei angehabt hätte. Nachher liefen alle fünf Schatzgräber zu den Eltern, zu Fröhlichs, und jedem, den sie dabei noch unterwegs trafen, erzählten sie von ihrem Fund. Die Bäckerbuben erzählten es sogar, trotz sonstiger Feindschaft, der Grünwarenhändlerin Lehmann, und diese fand die Sache so erstaunlich, daß sie jedem Buben eine Birne gab und sagte: „Erzählt es nochmal, recht langsam, und quatscht nicht so durcheinander, damit ich alles verstehe. Wir sind ja verwandt, Friedrich Lange und ich, seine Großmutter und meiner Schwiegermutter Tante waren Cousinen im dritten Grade. Nein, daß ihr dummen Bengels auch immer dabei sein müßt, wenn etwas los ist!“
Klaus Hippel guckte von diesem Tage an wieder mit so frohen Augen von seinem Turm ins Weite, wie ein König über sein Land. Mutter Paulinchens Fuß ward auch bald besser, und die Blumen am Turmfenster blühten so üppig, als wollten sie ein Lob- und Danklied singen. Das sagte Friedrich Lange; freilich, der hörte in diesen Tagen, die kamen und gingen, überall Lob- und Danklieder, in seinem Herzen selbst aber erklang das fröhlichste Danklied.
Gerade am letzten Tag der großen Ferien wurde Brigittchen krank. Es war kein Schulfieber, wie es wohl manchmal kleine Faulpelze bekommen, wenn sie wieder zur Schule gehen sollen, denn Brigittchen ging gern zur Schule. Die Kleine war auch am Tage vorher vergnügt gewesen wie ein kleiner Spatz, der einen früchtereichen Kirschbaum entdeckt hat. In der Nacht aber bekam sie plötzlich Halsschmerzen, und als Doktor Fabian am nächsten Tage kam, da machte er gleich ein recht ernstes Gesicht.
Bald wußte es die ganze Nachbarschaft, Brigittchen Schön ist krank. Und leise sagten die Leute zu einander: „Es steht schlimm mit der Kleinen, sie wird vielleicht sterben.“ Wie ein leises Weinen erklang dies Wort da und dort im Städtchen. Auch Anne-Marte, Jörgel und die beiden Bäckerbuben hörten es, und auf einmal war alle ihre Lust am Spiel dahin. Ihr Lachen verstummte, bedrückt gingen sie zur Schule, und nach der Schule liefen sie auf den Kirchplatz und sahen zu dem Schönschen Hause empor. Dort hinter den weiß verhängten Fenstern lag ihre holde, kleine Freundin krank, so schwer krank. Anne-Marte weinte und die Buben machten wütende Gesichter, als könnten sie damit die Krankheit vertreiben. Dann rannten sie zu den Pantoffelmachersleuten in dem alten Stadtturm, um dort von Brigittchen zu sprechen. Frau Paulinchen saß auf ihrer bunten Truhe und weinte sich schier die Augen aus, und Klaus Hippel murmelte immer traurig vor sich hin: „Unser Brigittchen ist krank, ach nee, unser liebes Brigittchen!“
Was war aber all die Sorge der anderen Leute gegen die heiße Angst, die der Vater um sein Kind im Herzen trug. Herr Schön wich nicht von dem Bett seines Lieblinges, und sein Denken war ein einziges stummes Gebet: „Lieber Gott, erhalte mein Kind!“ Mit ihm aber wachte noch jemand Tag und Nacht bei der kleinen Kranken, Helene Fröhlich war es. Am ersten Tage war sie still in das Zimmer getreten, sie war mit einem lieben Lächeln und warmen, tröstenden Worten gekommen. Wie die Sonne im März die Frühlingshoffnung bringt, so brachte Helene Fröhlich die Hoffnung ins Krankenzimmer. Es muß ja besser werden, dachte der Vater, wenn er in die lieben Augen der freundlichen Pflegerin schaute. Und alle im Hause fanden, es sei ein rechter Trost, daß Fräulein Helene da sei, und Brigittchen fand sogar das Kranksein nicht schlimm, wenn Tante Helene am Bett saß, die Medizin reichte und ganz sachte und lind über die fieberheiße Stirne strich.
Und wie der Vater, so betete auch Helene Fröhlich im Herzen in jeder Stunde: „Lieber Gott, erhalte das Kind!“ Das Gebet, das so aus tiefstem Herzensgrunde emporstieg, fand Erhörung, und es kam der Augenblick, da Doktor Fabian tief aufatmend sagte: „Gottlob, nun ist die Gefahr vorüber!“
Wie ein Jubelruf klang das Wort über den Kirchplatz hin, in die Gassen und Gäßchen hinein. „Brigittchen Schön wird gesund! Wissen Sie schon, dem Brigittchen geht es besser,“ sagten die Leute zu einander. In einer kleinen Stadt ist das halt anders, wie etwa in London, Berlin oder sonst einer großen Stadt, wo die Leute nicht wissen, wer im Hause Freude oder Leid trägt. In Neustadt kümmert sich eben einer um den andern, manchmal vielleicht ein bißchen viel, und Klatsch und Tratsch entsteht daraus, aber in Trauerstunden und Freudentagen möchte doch keiner die Teilnahme der anderen entbehren.
„Brigittchen Schön geht es besser,“ sagte darum auch die Bäckermeisterin Gutgesell zu jedem, der in den Laden kam, und die gute Frau hatte darüber eine solche Herzensfreude, daß sie gleich einem armen Weibe ein großes Stück Kuchen zum Brot zugab.
„Brigittchen wird gesund,“ riefen auch Wendelin und Severin und purzelten in der Seligkeit ihres Herzens in Frau Lehmanns Grünwarenkeller hinein.
„Du meine Güte, nee ist das eine Freude!“ rief diese und vergaß mal wieder, daß sie sich eigentlich immer über die Buben ärgerte.
Am Bett der kleinen Kranken aber saßen der Vater und Helene Fröhlich still beieinander, Hand in Hand. Die Sorge um das Kind, das ihnen beiden so lieb war, hatte sie vereint, und Helene Fröhlich hatte versprochen, sie wollte Brigittchen eine treue Mutter werden. Als die Kleine nach langem, gesunden Schlaf die Veilchenaugen aufschlug, da beugte sich Tante Helene über sie und sagte liebevoll: „Nun will ich immer deine Mutter sein!“
„Mutter,“ flüsterte Brigittchen selig, „ach, nun habe ich auch eine Mutter, wie Jantge!“
Freude hilft gesund machen. Dem Brigittchen half sie sicher. „Das geht ja wie mit ’nem Schnellzug,“ sagte Doktor Fabian, „potzwetter, das hätte ich nicht gedacht, daß unser Sorgenkind so schnell gesund werden würde. Freilich, wenn einen Vater und Mutter so gut pflegen, da ist es keine Kunst!“
Es dauerte denn auch nicht lange, da fuhren Vater und Mutter mit Brigittchen im Sonnenschein spazieren. Hinter dem Wagen her liefen mit einem ungeheuren Freudenschrei alle Buben und Mädels vom Kirchplatz, aus der Marienstraße und aus den Gäßlein ringsum. Es war just so, als hielten die Prinzessinnen Einzug. Und Brigittchen saß im Wagen und lachte so vergnügt, daß sie ganz rosige Bäckchen bekam. Wie wunderschön war es doch auf der Welt!
Aus dem Fenster des alten Stadtturms sahen Klaus Hippel und Frau Paulinchen über das Blumenbrettlein hinweg und beide nickten und winkten, als Brigittchen unten vorbeifuhr. Der Pantoffelmacher aber sagte: „Es ist eine richtige, feine Geschichte, wie das Brigittchen zu einer Mutter gekommen ist. Ich sag’s ja immerzu, in Neustadt passiert so viel, wie nirgends in der Welt. Nee, nee, und die dummen Leute sagen immer, so ’ne kleine Stadt sei langweilig!“
Der Sommer verging und der Herbst kam. An einem Oktobertag, der so warm und hell war, daß er ganz gut hätte sagen können: „Schaut mich nur an, ich bin eigentlich ein Augusttag!“ sangen und tönten die Glocken von St. Marien: „Hochzeit, Hochzeit!“ In allen Ecken und Winkeln des Städtchens hörten die Leute das Singen und Klingen, hörten es, daß Herr Schön und Helene Fröhlich Hochzeit feierten miteinander. „Glück und Heil!“ jubelten die Glocken, und Glück und Heil, Freude und Segen, sangen auch die Glocken in manchen Herzen. Es gab in Neustadt viele Menschen, die sich ehrlich mitfreuten und die dem Brautpaar gute Tage wünschten.
Der ganze Kirchplatz und die Marienstraße dazu aber waren vom frühen Morgen an in großer Aufregung. Vom Hause der Braut aus bis zur Kirche waren Teppiche gelegt und Blumen gestreut, und über Teppiche und Blumen hinweg schritt Helene Fröhlich in die alte Kirche hinein. „Sie ist so schön wie eine Rose,“ sagten die Leute; die alte Dorothee aber dachte in ihrem Herzen: „Sie ist so schön, weil sie so gut ist.“
Blitzeblank, in neuen Kleidern und Anzügen, die Augen so strahlend, als wären sie frisch geputzt, gingen die fünf Schatzgräber, Jantge und Karl vor dem Brautpaar her und streuten Blumen. Sie kamen sich alle mit einander ungeheuer wichtig vor. Wendelin und Severin trugen ihre Nasen so hoch, als hinge an der obersten Kirchturmspitze eine Blume, an der sie riechen müßten.
Frau Lehmann sah die Buben ganz verdutzt an und sagte zu Heine, der neben ihr stand: „Man erkennt wirklich die Bengels kaum wieder, so manierlich sehen die aus.“
Es war eine fröhliche Hochzeit, die nicht nur in dem alten Haus am Kirchplatz gefeiert wurde, die auch die alten Frauen im Gertrudenspital feierten, Pantoffelmachers im Stadtturm, und manche arme Familie da und dort. Helene Fröhlich hatte schon dafür gesorgt, daß es an ihrem Hochzeitstag auch anderen gut ging. Und lustig, wie überall, ging es auch am Kindertisch zu. Anne-Marte kam zuletzt gar nicht mehr aus dem Lachen heraus, und die Bäckerbuben hatten nur eine Klage, die, daß man sich in guten Anzügen in Acht nehmen muß. Jörgel hielt sogar eine Rede, gerade so, wie es Doktor Fröhlich am Tisch der Großen tat. Seine Gefährten sagten alle, er würde gewiß noch mal ein Dichter werden, es wäre zu fein gewesen.
Die strahlendsten Augen aber hatte Brigittchen, und in ihrem Herzlein sang und klang auch eine Glocke: „Mutter, Mutter, Mutter!“ tönte das immerzu. Und zwischen dem Elternpaar, das an der Hochzeitstafel saß, und ihrem kleinen Mädel am Kindertisch, ging immerzu ein Nicken und Winken hin und her, das hieß: „Ja, wir sind glücklich, wir drei zusammen.“
Dann war das Fest zu Ende, die Lichter verlöschten, die Gäste gingen nach Haus. „Nun wird es aber wieder einsam im Hause werden,“ sagte Doktor Fröhlich ein wenig betrübt, als seine Schwester mit ihrem Manne Abschied nahm. „Nun läßt du mich wieder allein!“
„Ich gehe ja nur über den Kirchplatz, nicht nach London, Brüderlein,“ tröstete diese, „ich bleibe ja in Neustadt!“
„Ach ja, in Neustadt,“ sagte der Doktor vergnügt, „es ist uns beiden wirklich eine Heimat geworden.“
„Ja, eine Heimat, eine liebe Heimat,“ rief Helene dankbar, „es ist gut sein in ihr. Ich glaube beinahe, Klaus Hippel hat Recht, Neustadt ist eine ganz besondere Stadt!“
„Bum“ schlug die Uhr von St. Marien, es war, als wollte sie rufen: „So ist es recht!“
Und wer es nicht glaubt, daß Neustadt eine besondere Stadt ist, ja der muß eben zu Klaus Hippel gehen und fragen, der überzeugt ihn sicher.
Seite | |
Ankunft in Neustadt | 5 |
Die fünf Schatzgräber | 12 |
Gertrudis. Eine Geschichte aus alten Zeiten | 30 |
Weihnachtsaugen | 48 |
Ein Fastnachtsspiel | 62 |
Durch der Schneekönigin Reich | 80 |
Osterwasser | 92 |
Der goldene Groschen | 103 |
In der fröhlichen Einkehr | 111 |
Christoffel will ein König werden! | 124 |
Mohrchen | 144 |
O diese Bäckerbuben | 153 |
Die Schatzgräber finden einen Schatz | 163 |
Eine Geschichte, die traurig anfängt und fröhlich endet | 175 |
Anmerkungen zur Transkription
Die Schreibweise und Grammatik der Vorlage wurden weitgehend beibehalten. Lediglich offensichtliche Fehler wurden berichtigt wie hier aufgeführt (vorher/nachher):
End of the Project Gutenberg EBook of Kleinstadtkinder, by Josephine Siebe *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KLEINSTADTKINDER *** ***** This file should be named 50277-h.htm or 50277-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/0/2/7/50277/ Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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