Żuławski / Auf silbernen Gefilden
Zweite Auflage
Ein Mond-Roman
von
Jerzy von Żuławski
Deutsch von Kasimir Lodygowski
München 1914 / Verlegt bei Georg Müller
Fast fünfzig Jahre sind seit jenen beiden Expeditionen verstrichen, den wahnsinnigsten, die je von Menschen unternommen und ausgeführt wurden. Die ganze Sache war der Vergessenheit anheimgefallen, als eines schönen Tages, in einer Zeitung in K.... ein Artikel des Assistenten am dortigen Observatorium erschien, der alles aufs neue in Erinnerung brachte. Der Autor behauptete, daß er Nachrichten über das Schicksal der vor fünfzig Jahren auf den Mond hinausgeschossenen wahnsinnigen Teilnehmer der Expedition in Händen habe. Die Angelegenheit wirbelte viel Staub auf, obwohl man sie anfangs nicht ganz ernst nahm. Diejenigen, die damals von dem Aufsehen erregenden Unternehmen gehört oder gelesen hatten, wußten, daß die kühnen Abenteurer ihr Leben einbüßten und zuckten die Achseln, daß die für tot Gehaltenen nicht nur leben, sondern sogar Nachrichten vom Monde schicken sollten.
Der Assistent blieb trotz alledem bei seiner Behauptung. Er zeigte Neugierigen eine vierzig Zentimeter hohe, nach vorn zugespitzte Eisenkugel, in der er ein auf dem Monde angefertigtes Manuskript vorgefunden haben wollte. Die Kugel, die sich auf eigentümliche Art aufdrehte, war innen leer und mit einer dicken Schicht von Ruß und Schlacken bedeckt; sie konnte von jedermann besichtigt und bewundert werden, das Manuskript jedoch wollte der Assistent niemandem zeigen. Er erklärte, daß es aus verkohlten Papieren bestände, deren Inhalt er erst mit Hilfe künstlicher photographischer Aufnahmen, die mit großer Mühe und Vorsicht gemacht werden müßten, ablesen könne. Diese Geheimnistuerei, und vor allem, daß der Assistent beharrlich verschwieg, wie er in den Besitz der mysteriösen Kugel gekommen war, machte die Leute stutzig; aber die Neugierde wuchs dennoch stetig. Man erwartete mit einem gewissen Mißtrauen die versprochenen Aufklärungen und begann indes, sich aus den damals erschienenen Abhandlungen die fünfzig Jahre zurückliegenden Ereignisse zu vergegenwärtigen. Und plötzlich fing man an, sich zu wundern, daß alles das so schnell vergessen wurde .... Es gab doch in jener Zeit keine Tagesblätter, keine Wochen- oder Monatsschriften, die sich nicht Jahre hindurch verpflichtet fühlten, in jeder Nummer mehrere Spalten dieser so unerhörten und unwahrscheinlichen Expedition zu widmen. Vor Antritt der Forschungsreise war alles voll von Berichten über den Stand der Vorarbeiten; man beschrieb jede Schraube in dem „Waggon“, der durch den Planetenraum fahren und die kühnen Reisenden auf die Oberfläche des Mondes hinausschleudern sollte, die man bis dahin lediglich aus den vorzüglichen, im „Licke-Observatory“ gemachten photographischen Aufnahmen kannte. Über alle Einzelheiten des Unternehmens wurde lebhaft diskutiert. Die Porträts und ausführlichen Lebensbeschreibungen der Reisenden tauchten überall auf. Fast Entrüstung erregte die Nachricht, daß einer von ihnen im letzten Augenblicke zurücktrat, nicht ganz zwei Wochen vor dem festgesetzten Termin zur „Abfahrt“. Dieselben, die noch vor kurzem den ganzen „albernen und abenteuerlichen“ Plan der Expedition verhöhnten und die Teilnehmer Narren nannten, die nur verdienten, ihr Leben lang in einer Irrenanstalt interniert zu werden, waren jetzt empört über die „Feigheit und das Zurücktreten“ eines Menschen, der es offen aussprach, daß er hoffe, auf der Erde ein gleich ruhiges und ungleich späteres Grab zu finden, als seine Kameraden auf dem Monde. Das größte Interesse jedoch erweckte die Person, die sich für die freigewordene Stelle meldete. Es hieß allgemein, daß man einen neuen Teilnehmer nicht aufnehmen könne, da die Zeit zu kurz für das notwendigerweise vorausgehende Trainieren sei, dem sich die anderen einige Jahre hindurch unterziehen mußten. Sie waren schließlich zu geradezu unerhörten Resultaten gelangt. Man erzählte sich, daß sie es dahin brachten, in leichter Kleidung einen vierziggradigen Frost wie eine vierziggradige Hitze zu ertragen, ganze Tage hindurch ohne Wasser zu leben und ohne Schaden für die Gesundheit in einer Luft zu atmen, die viel dünner war als die Erdatmosphäre auf den höchsten Bergen. Das Staunen war daher groß, als man erfuhr, daß der Neuling von den „Lunatikern“, wie man sie nannte, aufgenommen sei und ihre Zahl vervollständigen sollte. Die Berichterstatter waren in heller Verzweiflung, daß sie nichts Näheres über diesen geheimnisvollen Abenteurer erfahren konnten. Trotz aller Bemühungen der Reporter ließ er keinen von ihnen bei sich vor, ja, er hatte sogar den Tageszeitungen weder seine Photographien zugeschickt noch auf briefliche Anfragen geantwortet. Die anderen Mitglieder der Expedition hüllten sich ebenfalls in tiefstes Schweigen über ihn, und erst zwei Tage vor der Abreise erschien eine nähere, im höchsten Grade phantastische Nachricht. Einem Journalisten war es nach vielen Anstrengungen endlich gelungen, den neuen Teilnehmer zu Gesicht zu bekommen, und er machte die verblüffende Mitteilung, daß dieses Expeditionsmitglied eine Frau in Männerkleidern sei. Man wollte nicht recht daran glauben, und es war übrigens auch keine Zeit, sich lange damit zu beschäftigen. Der große Augenblick nahte. Die fieberhafte Erwartung erreichte ihren Höhepunkt. An der Mündung des Kongo, von wo aus die Expedition „die verwegene Fahrt antreten sollte“, hatte sich die ganze zivilisierte Welt ein Stelldichein gegeben.
Die phantastische Idee Jules Vernes sollte endlich verwirklicht werden, — über hundert Jahre nach dem Tode ihres Urhebers.
An der afrikanischen Küste, zirka zwanzig Kilometer von der Mündung des Kongo entfernt, gähnte die breite Öffnung eines dafür konstruierten Schlundes aus Gußstahl, der in einigen Stunden das erste Projektil mit den darin eingeschlossenen fünf waghalsigen Forschern hinausschießen sollte. Eine besondere Kommission untersuchte noch einmal genau sämtliche komplizierten Berechnungen, wie die Nahrungsvorräte und Instrumente: alles war in Ordnung, alles war bereit!
Am andern Tage, kurz vor Sonnenaufgang, verkündete ein betäubender, durch die Explosion hervorgebrachter Knall der Welt — in einem Umkreis von einigen hundert Kilometern — den Beginn der abenteuerlichsten aller Fahrten ...
Nach den ungemein genauen Berechnungen hatte das Projektil unter der Wirkung der explodierenden Kraft eines senkrechten Wurfes, der Anziehung der Erde und der treibenden Kraft, die durch die tägliche Drehung der Erde um die Achse entsteht, im Weltenraum eine mächtige Parabel von Westen nach Osten zu beschreiben und an dem bezeichneten Punkte und in der bezeichneten Stunde in die Sphäre der Anziehung des Mondes, fast senkrecht auf die Mitte seiner uns zugewendeten Scheibe zu fallen, in der Gegend des „Sinus Medii“. Der Lauf des Projektils, der von verschiedenen Punkten der Erde aus durch Hunderte von Teleskopen beobachtet wurde, zeigte sich als ganz genau mit der Berechnung übereinstimmend. Den Beobachtenden schien das Projektil am Himmel in der Richtung von Osten nach Westen zurückzuweichen, zunächst viel langsamer als die Sonne, dann immer schneller, je mehr es sich von der Erde entfernte. Die scheinbare Bewegung war das Resultat der Drehung der Erde, der gegenüber das Projektil zurückblieb.
Man beobachtete es lange, bis es endlich, in der Nähe des Mondes, selbst durch die stärksten Teleskope nicht mehr zu sehen war. Trotzdem hörte die Verbindung zwischen der Erde und den in das Projektil eingeschlossenen Reisenden noch längere Zeit hindurch keinen Augenblick auf. Sie hatten, neben allen andern Vorrichtungen, auch einen vorzüglichen Apparat der drahtlosen Telegraphie in ihrem Fahrzeug, der, nach den Berechnungen, sogar auf eine Entfernung von dreihundertvierundachtzigtausend Kilometern, die den Mond von der Erde trennten, funktionieren mußte. Jedoch erwiesen sich diese Berechnungen als unrichtig; die letzte Depesche erhielten die astronomischen Stationen aus einer Entfernung von zweihundertundsechzigtausend Kilometern. Das Telegraphieren war entweder durch die ungenügende Kraft des Stromes der Luftwellen, oder auch eines fehlerhaften Baues des Apparates wegen auf eine größere Entfernung unmöglich. Aber die letzte Depesche klang ganz aufmunternd: „Alles gut, kein Grund zu Besorgnissen vorhanden.“
Sechs Wochen später schickte man, wie verabredet, eine zweite Expedition aus. Diesmal nahmen nur zwei Personen in dem Projektil Platz; sie hatten dafür bedeutend größere Nahrungsvorräte und notwendige Instrumente bei sich; auch einen weit stärkeren telegraphischen Apparat als ihre Vorgänger. Es war kein Zweifel, daß er zur Übersendung von Nachrichten vom Monde genügen mußte; jedoch erhielt man keine Depesche mehr von dorther. Das letzte Telegramm war ganz nahe dem Ziele der Expedition, direkt vor dem Fallen auf die Mondoberfläche, abgesandt. Die Nachricht lautete nicht besonders günstig. Das Projektil wich, aus einem unerklärlichen Grunde, etwas vom Wege ab und konnte infolgedessen nicht senkrecht auf den Mond fallen; es fiel schräg, in einem ziemlich scharfen Winkel, und da es für einen solchen Fall nicht konstruiert war, fürchteten die Insassen, zerschmettert zu werden. Diese Befürchtungen schienen sich bewahrheitet zu haben, da dieser Depesche keine weitere mehr folgte.
Unter solchen Umständen gab man eine beabsichtigte dritte Expedition auf. Man konnte sich bezüglich des Schicksals der Unglücklichen nicht täuschen; warum sollte man noch mehr Menschenleben opfern? Die begeistertsten Anhänger der „interplanetarischen Kommunikation“ verstummten, und man sprach und schrieb über die Expeditionen nur noch, daß sie Wahnsinn seien, der geradezu an Verbrechen grenze. Und in einigen Jahren endlich war die ganze Angelegenheit vergessen.
Sie lebte erst wieder in der Erinnerung auf, als der besagte Artikel des bis dahin gänzlich unbekannten, nun aber zum Tagesgespräch gewordenen Assistenten des kleinen astronomischen Observatoriums erschien. Seitdem brachte jede Woche etwas Neues. Der Assistent lüftete allmählich die Schleier seines Geheimnisses, und obwohl es an Ungläubigen nicht fehlte, begann man doch die Sache immer ernster zu nehmen. Bald interessierte sich alle Welt dafür, und schließlich legte der Assistent auch klar, auf welche Weise er in den Besitz des wertvollen Manuskriptes gekommen und wie er es abgelesen habe. Er erlaubte sogar Fachleuten, die verkohlten Überreste, wie die in der Tat wundervollen photographischen Abzüge zu besichtigen.
Mit jener Kugel und dem Manuskript verhielt es sich aber folgendermaßen: „Eines Nachmittags,“ erzählte der Assistent, „als ich bei der Aufzeichnung der täglichen meteorologischen Beobachtungen saß, meldete mir der Stationsdiener, daß ein junger Mann mich zu sprechen wünsche. Es war mein Kollege und guter Freund, der Eigentümer eines benachbarten Gutes, der nur selten in die Stadt kam. Ich mußte ihn warten lassen, um erst meine Arbeit zu beendigen; dann begab ich mich zu ihm, und er erklärte mir sofort nach der Begrüßung, daß er mir eine Nachricht bringe, die mir zweifellos viel Freude bereiten werde. Er wußte, daß ich mich seit Jahren eifrig mit der Erforschung der Meteoriten beschäftigte und kam mir mitzuteilen, daß vor einigen Tagen ein Meteor von größerer Dimension, wie es schien, auf seinem Gute herabgefallen sei. Den Stein, der sich wahrscheinlich tief in den Morast gebohrt, hätte man nicht gefunden, aber wenn ich ihn haben wolle, wäre er gerne bereit, mir Arbeiter zum Hervorholen zur Verfügung zu stellen. Natürlich wollte ich den Stein haben, und nachdem ich mir einen kurzen Urlaub genommen, fuhr ich selbst an Ort und Stelle, behufs Nachforschungen. Aber trotz zweifelloser Merkmale und schwerer Mühen konnten wir nichts finden. Nur ein Stück bearbeitetes Eisen, in Form einer Kanonenkugel, das an dieser Stelle zu finden mich sehr in Staunen versetzte, wurde hervorgeholt. Ich zweifelte schon an einem Resultat und ließ die weiteren Arbeiten einstellen, als mein Freund meine Aufmerksamkeit auf jene Kugel lenkte. Sie sah in der Tat sehr merkwürdig aus. Ihre Oberfläche war mit Schlacken bedeckt, wie sie sich auf eisernen Meteoriten bei ihrem Erglühen während des Durchganges durch die Erdatmosphäre bilden. Sollte sie etwa jener herabgefallene Meteor sein?
In diesem Augenblicke kam mir plötzlich der Gedanke an die Expedition vor fünfzig Jahren, deren Geschichte ich genau kannte. Ich muß hinzufügen, daß ich, trotz des hoffnungslosen Inhalts der letzten Depesche, die von den Mondfahrern zur Erde gelangte, niemals an ihren Tod geglaubt hatte. Es war jedoch noch zu früh, Vermutungen auszusprechen. Ich nahm die Kugel mit der größten Vorsicht an mich und brachte sie nach Hause, fast sicher, daß sie wertvolle Fingerzeige über jene Verlorenen enthalte. Aus ihrem verhältnismäßig geringen Gewicht erriet ich, daß sie hohl sei, und begab mich sofort an die Arbeit. Ich war mir klar darüber, daß Papiere, die eventuell in der Kugel eingeschlossen waren, bei dem Erglühen des Eisens in der Erdatmosphäre verkohlt sein mußten. Man durfte daher die Kugel nur so öffnen, daß die Überreste nicht vernichtet wurden. Vielleicht, dachte ich, läßt sich aus ihnen doch noch etwas entziffern.
Die Arbeit war überaus mühsam, besonders dadurch, daß ich niemanden zu Hilfe nehmen wollte. Meine Annahmen waren höchst unsicher und, wie ich zugeben muß, zu — phantastisch, als daß verfrüht etwas darüber verlauten durfte.
Ich bemerkte, daß die Spitze der Kugel eine Schraube bildete, die man aufdrehen mußte und befestigte sie also in einem starken Schraubstock, um sie vor einer Erschütterung zu bewahren, die ihren Inhalt beschädigen könnte. Die Schraube war verrostet und wollte nicht nachgeben. Nach langen Anstrengungen gelang es mir endlich, sie zu bewegen. Bei diesem ersten Kreischen der gedrehten Schraube erfaßte mich ein Freudentaumel, und zugleich schnürte mir eine beklemmende Angst die Kehle zu. Ich mußte die Arbeit unterbrechen, da mir die Hände zitterten; erst nach einer Stunde konnte ich sie, immer noch mit klopfendem Herzen, wieder aufnehmen.
Die Schraube bewegte sich langsam, als ich plötzlich ein seltsames Zischen vernahm. Anfangs konnte ich seine Ursache nicht begreifen. Fast gedankenlos drehte ich in umgekehrter Richtung, und sofort hörte das Zischen auf; drehte ich wieder in der ersten Weise, begann es von neuem, obwohl es jetzt etwas schwächer war. Endlich begriff ich alles! Das Innere der Kugel war vollständig leer! Das Zischen entstand durch das Eindringen der Luft vermittels einer Öffnung, die sich durch die Lockerung der Schraube gebildet hatte.
Dieser Umstand bestärkte mich in der Überzeugung, daß die in der Kugel vermutlich eingeschlossenen Dokumente nicht ganz vernichtet sein dürften, da das Fehlen der Luft sie vor der Verbrennung bewahrt haben mußte, als die Kugel, bei ihrem Fall durch die Erdatmosphäre, erglühte! Bald stellte sich auch die Richtigkeit meiner Annahme heraus. Nach Beseitigung der Schraube fand ich in der Kugel, deren innere Wände mit einer Schicht gebrannten Lehms ausgelegt waren, ein Päckchen verkohlter, aber nicht verbrannter Papiere. Ich wagte fast nicht zu atmen, aus Furcht, die wertvollen Schriften zu beschädigen. Ich nahm sie mit der größten Vorsicht heraus und ... war verzweifelt. Auf dem verkohlten Papier waren die Buchstaben fast unsichtbar und dieses Papier selbst so mürbe, daß es mir beinahe in der Hand zerfiel.
Trotzdem beschloß ich, alles daranzusetzen, um das Werk zu Ende zu führen und den Inhalt des Manuskriptes zu entziffern. Einige Tage dachte ich darüber nach, wie ich das bewerkstelligen solle. Endlich flüchtete ich mich zu den Röntgenstrahlen. Ich nahm, wie es sich später zeigte, richtig an, daß die Tinte, deren man sich zum Schreiben bediente, mineralische Bestandteile enthielt und infolgedessen die mit ihr überschwärzten Stellen den Röntgenstrahlen einen größeren Widerstand leisten würden, als das verkohlte Papier selbst. Ich klebte vorsichtig jedes Blatt des Manuskripts auf eine dünne Haut, die ich in einen Rahmen gespannt hatte und machte photographische Aufnahmen mittels Röntgenstrahlen. Auf diese Weise erhielt ich Klischees, die nach der Übertragung des Bildes auf das Papier eine Art von Palimpsesten ergaben, wo die Buchstaben auf beiden Seiten des Papiers geschrieben, sich miteinander verbanden. Es war so zwar schwierig, aber durchaus nicht unmöglich abzulesen.
Nach einigen Wochen war ich mit dem Entziffern der Aufzeichnungen so weit vorgeschritten, daß ich keinen Grund mehr sah, die Angelegenheit weiter zu verheimlichen und schrieb den ersten Artikel, der über den Vorfall berichtete ... Heute liegt das ganze Manuskript vor mir bereit, geordnet und abgeschrieben, und ich hege absolut keinen Zweifel, daß es von einem der fünf zuerst ausgesandten Expeditionsmitglieder auf dem Monde verfaßt und von dort aus auf die Erde gesandt wurde.
Was das Weitere betrifft, so mag der Inhalt der Aufzeichnungen für sich selbst sprechen.“
Dieser Erklärung, die der Veröffentlichung des Manuskriptes vorausging, fügte der Assistent einen kurzen Bericht über die Vorgeschichte der damaligen Expedition bei.
Er erinnerte daran, daß der Gedanke von dem irländischen Astronomen O’Tamor ausgegangen war, der einen glühenden Anhänger in dem jungen, seinerzeit in Brasilien berühmten portugiesischen Ingenieur, Peter Varadol, fand. Diese beiden gewannen einen dritten Kameraden, den Polen Jan Koretzki, der ihnen sein ganzes, ziemlich bedeutendes Vermögen zur Verfügung stellte. Darauf unternahmen sie die ersten Schritte zur Verwirklichung des schon festgelegten Planes. Man unterbreitete den Akademien und wissenschaftlichen Instituten die Skizzen des Projektes und wandte sich dann an Fachautoritäten betreffs Ausarbeitung der Einzelheiten. Die Idee rief Begeisterung hervor; in kurzem beschäftigten sich nicht nur Fachleute damit, sondern die ganze zivilisierte Welt, die ihre Vertreter auf den Mond auszusenden begehrte, um Näheres über diesen Globus zu erfahren. Auf Antrag der Akademien und astronomischen Stationen sprangen die Regierungen mit finanzieller Hilfe bei und da es auch an privaten Opfern nicht fehlte, hatten die Initiatoren bald ein Kapital zur Verfügung, das zur Ausrüstung mehrerer Expeditionen genügte, von denen aber, wie bekannt, nur zwei ausgesandt wurden.
Die Besatzung des ersten Projektils sollte aus fünf Personen bestehen, darunter O’Tamor, der den Gedanken ins Leben gerufen, und seine beiden Kameraden. Der vierte war der englische Arzt Tomas Woodbell, der fünfte Braun, ein Deutscher, der jedoch im letzten Augenblick zurücktrat; statt seiner meldete sich ein Unbekannter als Teilnehmer der Expedition. In das zweite Projektil hatten sich zwei Franzosen eingeschlossen, die Brüder Remogner.
Nach dieser kurzen Übersicht erging sich der Assistent ausführlicher über die technische Seite des Unternehmens. Er beschrieb bis ins kleinste Detail die Konstruktion der mächtigen Kanone, von der Form eines stählernen Brunnens; berichtete über den Bau des Projektils, das man nach der Ankunft auf der luftlosen Oberfläche des Mondes in einen hermetisch verschlossenen Wagen verwandeln konnte, der durch einen besonderen Elektromotor bewegt wurde. Er schilderte die Schutzvorrichtungen, die die Reisenden im Augenblick des Schusses wie beim Herabfallen auf den Mond vorm Zerschmettern bewahren sollten und endlich zählte er alle Gegenstände der inneren Einrichtung und die Vorräte des „transportablen Zimmers“ auf.
Der Mond ist keine gastfreundliche Welt. Die Astronomen wissen das schon lange, obwohl sie ihn nur aus der Ferne und — einseitig kennen. Trotz der großartigen Vervollkommnung der optischen Instrumente des zwanzigsten Jahrhunderts widersetzte sich der Mond siegreich allen Versuchen, ihn mit ihrer Hilfe dem menschlichen Auge so nahe zu bringen, daß man alle Einzelheiten seiner Oberfläche erforschen könnte. Sich in der mittleren Entfernung von dreihundertvierundachtzigtausend Kilometern um die Erde drehend, scheint er durch Gläser mit tausendfacher Vergrößerung nur dreihundertvierundachtzig Kilometer von ihr entfernt zu sein, was immerhin noch ein ganz ansehnliches Stück Wegs bedeutet. Schärfere Gläser dagegen kann man zu seiner Erforschung nicht verwenden, da man bei stärkerer Vergrößerung, infolge einer zu geringen Helligkeit der Erdatmosphäre, nur ein unklares Bild erhält, so daß es sogar unmöglich ist, die Berge zu erkennen, die man durch schwächere Gläser ganz deutlich beobachten kann.
Überdies ist der Forschung nur eine Halbkugel des Mondglobus zugänglich. Der Mond macht nämlich auf seinem Wege um die Erde in siebenundzwanzig Tagen, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und elf Sekunden nur eine Drehung um seine Achse, so daß er immer mit derselben Seite seiner Oberfläche zur Erde gewendet bleibt. Diese Erscheinung ist keine zufällige. Der Mond, der keine vollkommene Kugel bildet, nähert sich, seiner Form nach, einem etwas länglichen Ei. Die Anziehungskraft der Erde bringt es mit sich, daß jenes Ei sich mit dem scharfen Ende zu ihr kehrt und derart dreht, als wenn es, angebunden, sich nicht abwenden könnte.
Die den Astronomen bekannte Hälfte des Mondes genügt jedoch, ihn ganz und gar bei denjenigen zu mißkreditieren, die vom Bewohnen anderer Planeten als der Erde träumen. Die Oberfläche unsres Satelliten, deren Ausdehnung zweimal so groß als Europa ist, stellt sich in den Teleskopen als eine wasserlose, wüste Hochebene dar, die mit einer ungeheuren Anzahl mächtiger, kraterähnlicher Ringberge besät ist. Diese Bergriesen, deren Gipfel sich bis zu 7000 Metern erheben, haben nicht selten einen Durchmesser von 100 Kilometern. Durch den nördlichen Teil der uns zugewandten Halbkugel zieht sich eine Reihe großer, kreisförmiger Flächen, die die ersten Selenographen „Meere“ nannten. Diese Ebenen mit steilen Ufern, die durch in den Himmel ragende Gebirgsketten gebildet werden, sind nach verschiedenen Richtungen von großen Spalten durchschnitten, deren Entstehung die Astronomen stets in Staunen versetzte, vor allem, weil auf der Erde keine ähnlichen Erscheinungen vorhanden sind. Diese Spalten, manchmal über hundert Kilometer lang und einige Kilometer breit, haben eine Tiefe von ungefähr tausend Metern und mehr.
Wenn wir uns noch vergegenwärtigen, daß diese Oberfläche fast gar keine Atmosphäre hat, daß der „Tag“ auf dem Monde an Zeitdauer vierzehn unserer Tage gleichkommt, daß während dieses endlosen Tages ein beständiger Sommer herrscht, dessen Glut eine unerhörte Spannung annimmt, daß hingegen die vierzehntägige Nacht einen Winter repräsentiert, der kälter ist als die Winter in unseren antarktischen Ländern, so entrollt sich uns ein Bild, das uns nicht gerade verlockt, diesen Planeten als ständigen Wohnsitz zu wählen! Um so mehr ist der Opfermut der Leute zu bewundern, die ihr Leben nichtsachtend lediglich in jenes unbekannte Land auszogen, um menschliches Wissen zu erweitern und sichere Nachrichten über das der Erde am nächsten liegende Gestirn geben zu können.
Die Reisenden hatten übrigens die Absicht, diese ungastliche Halbkugel so schnell wie möglich zu durchdringen und auf die andere Seite des Mondes zu gelangen, die von der Erde abgewendet ist, wo sie, nicht ohne Grund, erträgliche Lebensbedingungen anzutreffen hofften. Die Mehrzahl der über den Mond schreibenden Gelehrten behauptet zwar, daß auch auf der anderen Seite die Atmosphäre zu dünn sei, um atmen zu können; aber O’Tamor nahm, sich auf langjährige Forschungen und Berechnungen stützend, an, daß er dort dichtere Luft zur Erhaltung des Lebens vorfinden werde, wie auch Wasser und Pflanzen, zur notdürftigsten Nahrung genügend. Diese tollkühnen Forscher waren bereit ihr Leben zu wagen, nur um dem sternenbesäten Himmel ein einziges seiner Geheimnisse, die er so eifersüchtig vor den Menschen hütet, zu entreißen. Der Gedanke, daß dieses Opfer keinesfalls vergebens gebracht werde, da sie ihre Beobachtungen den auf der Erde Zurückgebliebenen, mit Hilfe des mitgenommenen telegraphischen Apparates, würden mitteilen können, verstärkte noch ihren Wagemut. Sie träumten, von der Größe ihres Vorhabens berauscht, daß sie auf der andern, geheimnisvollen Seite des Mondes ein märchenhaft seltsames Paradies vorfinden könnten, eine neue Welt, die ganz verschieden ist von der Erde! Sie träumten, dann neue Kameraden zum Durchfliegen jener Hunderttausende von Kilometern zu gewinnen, — von der Gründung einer neuen Gemeinschaft dort auf der hellen Seite der in die stillen Nächte leuchtenden Kugel, — von einer neuen, vielleicht glücklicheren Menschheit ...
Indessen mußte man mit der Notwendigkeit rechnen, die gebirgige, luft- und wasserlose wüste Hochebene zu durchqueren, die die ganze, der Erde zugewandte Halbkugel des Mondes einnimmt. Es war dies wahrhaftig keine Kleinigkeit! Der Umkreis des Mondes beträgt fast elftausend Kilometer; wenn sie also, wie sie annahmen, auf die Mitte der der Erde zugekehrten Scheibe fallen würden, hätten sie zum mindesten dreitausend Kilometer zu machen, bevor sie die Gegend erreichten, wo sie hoffen durften, atmen und leben zu können. Das Projektil, in der Form eines länglichen, auf der einen Seite kegelförmig geschlossenen Zylinders, war so eingerichtet, daß es sich in eine Art geschlossenes Automobil verwandeln ließ, und reichlich mit Vorräten von verdichteter Luft, Wasser, Nahrungsmitteln und Brennmaterial versehen, die für fünf Personen auf ein ganzes Jahr ausreichen konnten, das heißt also noch für länger, als man zum Gelangen auf die andere Seite des Mondes gebrauchte.
Außerdem hatten die Reisenden eine Anzahl Handwerkszeuge mitgenommen, eine kleine Bibliothek und — eine Hündin mit zwei Jungen. Es war dies eine schöne große englische Spürhündin, die Tom Woodbell gehörte, und die man vor der Reise einstimmig mit dem Namen Selena taufte.
All diese Dinge wurden durch die ausführlichen, in K.... erschienenen Artikel aufgefrischt, als quasi Ergänzung zu dem kurz darauf herausgegebenen Manuskripte.
Die Aufzeichnungen selbst, von Jan Koretzki, dem einen Teilnehmer der ersten Expedition, in polnischer Sprache auf dem Monde verfaßt, setzten sich aus drei Teilen zusammen, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. Sie verschmolzen zu einem Ganzen, das eine Schilderung des wundersamsten Schicksals eines Schiffbrüchigen bildet, der an ein fremdes Land geworfen wurde, das dreihundertvierundachtzig Millionen Meter über der Erde im tiefen Himmelsblau schwebt.
Hier folgt der wörtliche Abdruck jenes Manuskriptes, von dem Assistenten des Observatoriums in K.... herausgegeben und zusammengestellt ...
Auf dem Monde den .....
Mein Gott, welches Datum soll ich angeben?! Jene mächtige Explosion, durch die wir uns von der Erde hinausschleudern ließen, zersprengte uns das Dauerndste und Festgeprägteste, was dort existiert, — zersprengte und zerstörte uns die Zeit. In der Tat, das ist furchtbar! Zu bedenken, daß es hier keine Jahre, keine Monate, keine Wochen gibt, noch unsere kurzen, wonnigen Erdentage ... Die Uhr sagt mir, daß bereits vierzig Stunden seit dem Augenblick verflossen sind, da wir hier herabfielen; wir fielen in der Nacht herab und die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Wir dürfen erst in einigen zwanzig Stunden hoffen, sie zu sehen. Sie wird aufgehen und sich träge am Himmel bewegen, neunundzwanzigmal langsamer als dort auf der Erde. Dreihundertvierundfünfzig Stunden wird sie über uns leuchten, und dann kommt wiederum die Nacht, die dreihundertvierundfünfzig Stunden dauert. Und nach der Nacht der Tag, wie der vorhergehende, und abermals die Nacht und dann der Tag, und so endlos weiter, ohne Veränderung, ohne Jahreszeiten, ohne Jahre, ohne Monate ...
Wenn wir es erleben werden ...
Wir sitzen ohne irgend etwas zu tun, eingeschlossen in unserem Fahrzeug und warten auf die Sonne. Oh, diese furchtbare Sehnsucht nach der Sonne!
Die Nacht ist zwar hell, unvergleichlich heller als unsere Nächte dort auf der Erde während des Vollmondes. Der mächtige Halbkreis der Erde ruht unbeweglich über uns am Zenit des schwarzen Himmels und überflutet mit weißem Licht diese entsetzliche Wüste um uns her. In diesem seltsamen Lichte ist alles so geheimnisvoll und tot ... und der Frost ... Oh, dieser furchtbare Frost! Sonne! Sonne!
O’Tamor ist seit der Zeit des Falles noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Woodbell, obwohl selbst verwundet, weicht nicht einen Augenblick von seiner Seite. Er fürchtet, daß es eine Gehirnerschütterung ist und hat wenig Hoffnung. Auf der Erde, sagte er, würde er ihn durchbringen. Aber hier, in dieser fürchterlichen Kälte, hier, wo wir als einzige Nahrung nur Vorräte von künstlichem Eiweiß und Zucker haben, wo wir mit Luft und Wasser sparen müssen ... Es wäre entsetzlich, O’Tamor zu verlieren, gerade ihn, der die Seele unserer Expedition ist! ...
Varadol, Martha und ich, ja sogar Selena mit den beiden Jungen, wir sind gesund. Martha scheint nichts zu wissen und zu fühlen. Sie folgt nur beständig Woodbell mit den Augen, wegen seiner Wunden beunruhigt. Der glückliche Tomas! Wie dieses Weib ihn liebt!
Oh, diese Kälte! Es scheint, daß unser verschlossenes Fahrzeug sich gleichzeitig mit uns in einen Eisklumpen verwandelt. Die Feder gleitet mir aus den erstarrten Fingern. Wann wird die Sonne endlich aufgehen!?
In derselben Nacht, siebenundzwanzig Stunden später.
Mit O’Tamor wird es immer schlimmer; man kann sich nicht täuschen — das ist schon die Agonie. Tomas vergaß, bei ihm wachend, seine eigenen Wunden und ist jetzt selbst so schwach, daß er sich hinlegen muß. Martha vertritt ihn bei dem Kranken. Woher nimmt diese Frau so viel Kraft? Seitdem sie sich von der ersten Betäubung des Falles erholt hat, ist sie am tätigsten von uns allen. Ich glaube, daß sie noch gar nicht geschlafen hat.
Oh, diese Kälte! ...
Varadol sitzt starr und schweigend da. Auf seinen Knien zusammengekauert liegt Selena. Er sagt, daß es ihnen beiden so wärmer ist. Die Jungen haben wir ins Bett gelegt, neben Tomas.
Ich habe versucht zu schlafen, aber ich kann nicht. Die Kälte läßt mich nicht schlafen — und dieses gespensterhafte Licht der Erde über uns! Man sieht nur wenig mehr als die Hälfte ihrer Scheibe. Das ist ein Zeichen, daß die Sonne unverzüglich aufgehen muß. Wir können nicht genau berechnen, wann dies erfolgen wird, da wir nicht wissen, auf welchem Punkte der Mondscheibe wir uns befinden. O’Tamor hätte das mit Leichtigkeit aus dem Stand der Gestirne berechnet, aber er liegt bewußtlos danieder. Nun wird sich Varadol an diese Arbeit machen müssen und ich begreife nicht, warum er es hinausschiebt.
Wir hätten nach der Berechnung auf den Sinus Medii fallen müssen, aber Gott allein weiß, wo wir uns wirklich befinden. Auf dem Sinus Medii müßte um diese Zeit die Sonne bereits scheinen. Vermutlich sind wir weiter nach „Osten“ gefallen, wie man auf der Erde die Seite des Mondes bezeichnet, wo für uns die Sonne untergehen wird, jedoch nicht weit von der Mitte der Mondscheibe, da die Erde über uns fast im Zenite steht.
Ich empfange so viele neue und seltsame Eindrücke, daß ich sie nicht zusammenfassen und ordnen kann. Vor allem dieses unerhörte, geradezu entsetzliche Gefühl der Leichtigkeit. Wir wußten auf der Erde, daß der Mond, der neunundvierzigmal kleiner und einundachtzigmal leichter als die Erde ist, uns sechsmal schwächer anziehen würde, obwohl wir uns seinem Schwerpunkte näher befinden; aber es ist zweierlei — etwas zu wissen oder etwas zu fühlen. Wir sind fast schon siebzig Stunden auf dem Monde und können uns noch nicht daran gewöhnen. Wir sind noch nicht imstande, die Anstrengung unserer Muskeln dem kleineren Gewicht der Gegenstände anzupassen, ja sogar nicht dem kleineren Gewichte unseres eigenen Körpers. Ich erhebe mich schnell von meinem Sitze und springe einen Meter in die Höhe, obwohl ich nur aufstehen will. Varadol wollte vor einigen Stunden aus einem starken Draht, der an der Wand unserer Behausung befestigt war, einen Haken biegen; er faßte ihn mit der Hand — und hob sich ganz in die Höhe! Er vergaß, daß er jetzt statt zirka siebzig Kilo nicht ganz dreißig Pfund wiegt! Jeden Augenblick wirft einer von uns gewaltsam die Gegenstände um sich, während er sie nur rücken will. Das Einschlagen eines Nagels ist geradezu unmöglich, weil der Hammer, der auf der Erde zwei Pfund wiegt, hier kaum einige hundertsiebzig Gramm schwer ist. Die Feder, mit der ich schreibe, fühle ich kaum in der Hand.
Martha sagte vor kurzem, daß sie den Eindruck habe, als wenn sie schon ein körperloser Geist geworden sei. Das ist eine ganz gute Erklärung. Es liegt wirklich etwas Unheimliches in dem Gefühl dieser fabelhaften Leichtigkeit ... man könnte tatsächlich glauben, daß man nur noch Geist ist, besonders beim Anblick der Erde, die am Himmel strahlt wie der Mond, nur vierzehnmal größer und heller als das die Erdkugel erleuchtende Nachtgestirn. Ich weiß, daß dies alles wahr ist — und trotzdem scheint es mir immer, als wenn ich träume oder mich in einem Theater befinde, ein seltsames Feenspiel anzusehen. Jeden Augenblick, denke ich, muß der Vorhang fallen, und diese Dekorationen werden verschwinden — wie ein Traum ...
Wir wußten doch vor unserer Abfahrt genau, daß die Erde über uns wie eine mächtige, unbewegliche Lampe, die mitten am Himmel hängt, scheinen würde. Ich wiederhole mir immer wieder, daß dies ganz natürlich ist: der Mond wandelt seine Bahn, immer mit der einen Seite der Erde zugewendet; infolgedessen muß sie den vom Monde aus auf sie Blickenden unbeweglich erscheinen. Ja, das ist doch so einfach, und dennoch versetzt mich dieses leuchtende Glasgespenst der Erde, das uns seit siebzig Stunden unbeweglich und hartnäckig aus dem Zenite anstarrt, in Schrecken.
Ich sehe sie durch die Scheibe, die in der oberen Wand des Fahrzeugs angebracht ist, und unterscheide mit bloßem Auge die dunklen Flecken der Meere und die hellen Flächen der Länder. Sie gleiten langsam an mir vorüber, brechen der Reihe nach aus dem Schatten hervor: Asien, Europa, Amerika; verkleinern sich am Rande des schillernden Globus und gehen unter, um nach vierundzwanzig Stunden wiederum zu erscheinen.
Es kommt mir vor, als wenn sich die ganze Erde in ein weitaufgerissenes Auge verwandelt hätte, das unbarmherzig, wachsam und staunend, auf uns niederstarrt; auf uns, die wir von ihr geflohen sind, als die ersten aller ihrer Kinder!
Gleich als wir nach dem Fall etwas zum Bewußtsein kamen und die eisernen Deckel abschraubten, die die runden Fenster unsres Fahrzeugs verdeckten, sahen wir sie über uns. Sie war in der letzten Phase ihres Zunehmens. Damals glich sie einem starr auf uns gerichteten Auge; jetzt senkt sich über diesen grauenhaft unbeweglichen Blick allmählich das Lid des Schattens. In dem Moment, da die Sonne wie eine flammende Kugel am schwarzen Himmel, ohne vorhergehende Dämmerung, emporsteigt, wird dieses Auge sich zur Hälfte schließen und wenn die Sonne senkrecht über uns steht, das Augenlid sich gänzlich niedersenken ...
Drei Stunden später.
Ich unterbrach diese Aufzeichnungen, mit denen ich die langen Stunden ausfülle, die wir gezwungenerweise tatenlos verbringen, als ich zu O’Tamor gerufen wurde. Niemals haben wir mit der furchtbaren Eventualität gerechnet, daß wir allein, ohne ihn bleiben könnten. Wir waren auf den Tod vorbereitet, aber auf den eigenen, vielleicht gemeinsamen, nicht auf den seinen! Und hier gibt es keine Rettung ... Tomas liegt ebenfalls im Fieber, und statt den Kranken zu behandeln, bedarf er selbst der Pflege. Martha weicht keinen Augenblick von ihrer Seite, sich einmal zu Woodbell, dann wieder zu O’Tamor wendend und wir stehen ratlos dabei und wissen nicht, was wir tun sollen.
O’Tamor ist noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen und wird es auch nicht mehr! Sechzig Jahre hat er auf der Erde gelebt, um hier ... Nein, nein, ich kann das Wort nicht niederschreiben, es ist furchtbar! Er! Gleich bei der Ankunft ...
Wir sind so entsetzlich allein in dieser langen, furchtbar kalten Nacht!
Vor einigen Stunden hat sich Martha, als wenn sie plötzlich von diesem Gefühl der grenzenlosen Leere und Einsamkeit erfaßt würde, mit zusammengefalteten Händen vor uns niedergeworfen. Sie weinte und rief immer wieder: „Auf die Erde, auf die Erde! Warum telegraphiert ihr nicht? Warum teilt ihr dort nichts mit? Seht, Tomas ist krank!“
Armes Mädchen! Was sollten wir ihr antworten?
Sie weiß so gut wie wir, daß unser Apparat schon ungefähr hundertzwanzig Millionen Meter vor dem Monde zu funktionieren aufgehört hat ... Endlich erinnerte Peter sie daran, aber als wenn die Übersendung von Nachrichten die Kranken retten könnte, drängte sie fieberhaft, daß man die Kanone aufstellen solle, die wir für den Fall des Unbrauchbarwerdens des telegraphischen Apparates von der Erde mitgenommen haben. Dieser Schuß ist jetzt die einzige, letzte Möglichkeit, uns mit denen, die dort zurückgeblieben sind, zu verständigen.
Varadol und ich gaben nach und wagten uns aus dem Fahrzeug heraus. Ich gestehe es, daß die Angst vor diesem Schritt mich schüttelte. Dort, hinter den uns schützenden Wänden ist in der Tat schon nichts mehr als Leere ... Das Barometer zeigt nämlich draußen ein Vorhandensein von Atmosphäre an, deren Dichte nicht einmal den dreihundertsten Teil unserer Erdluft erreicht. Der Umstand, daß die Atmosphäre, wenn auch in einer solchen Verdünnung, überhaupt existiert, ist für uns überaus günstig, da er uns hoffen läßt, daß wir sie, auf der anderen Seite, in zum Atmen genügender Dichte vorfinden werden. Ach, mit welchem Zagen steckten wir vor einigen Stunden das Barometer nach außen! Anfangs sank das Quecksilber so gewaltig, daß es uns schien, als wenn es bis zum Nullpunkt herabfiel. Zitternde Angst schnürte uns die Kehle zu; das hieße — eine absolute Leere, und mit ihr der unabwendbare Tod! Aber nach einer Weile hob sich das Quecksilber in der Röhre auf 2,3 Millimeter! Wir atmeten auf, obwohl man in dieser Luft eigentlich gar nicht atmen kann! Und nun sollten wir, zwecks Aufstellung der Kanone, in diese Leere hinausgehen! Nachdem wir unsere „Taucheranzüge“ angelegt und über dem Nacken die Behälter mit verdichteter Luft befestigt hatten, stellten wir uns in der Vertiefung, die sich in der Wand des Fahrzeugs befand, bereit. Martha verschloß hinter uns die Innentür ganz dicht, damit nicht die so wertvolle Luft zugleich mit uns entweichen sollte, und dann öffneten wir den äußeren Deckel ...
Wir berührten mit den Füßen den Mondgrund, und in diesem Augenblick umfaßte uns eine entsetzlich betäubende Stille. Ich sah durch die Glasmaske auf Peters Gesicht und bemerkte, daß er die Lippen bewegte; ich dachte mir, daß er spreche, aber ich hörte keinen Laut. Die Luft ist hier zu dünn, als daß sie eine Menschenstimme übermitteln könnte. Ich hob einen Stein auf und warf ihn. Er fiel langsam, langsamer als auf der Erde und ohne jegliches Geräusch. Ich wankte wie ein Betrunkener; ich glaubte wirklich schon in der Welt der Geister zu sein.
Wir mußten uns durch Gesten verständigen. Die Erde, die uns genährt hat, verhalf uns dazu durch ihr Leuchten.
Wir nahmen die Kanone heraus, die in einer nach außen zu öffnenden Seitenwand untergebracht war, und ein Gefäß mit Explosionsmaterial, das für sie besonders hergestellt wurde. Diese Arbeit ging leicht vonstatten, da die Kanone hier kaum den sechsten Teil dessen wog, was ihr Gewicht auf der Erde betrug.
Jetzt hieß es nur das aufgestellte Geschütz genau bis zur Bleischnur zu laden, nachdem man in die hohle Kugel eine Karte gelegt hatte; bei der Leichtigkeit der Gegenstände auf dem Mond mußte diese Explosionskraft vollständig genügend wirken, um sie in gerader Linie auf die Erde zu befördern. Aber es war uns unmöglich, diese Arbeit zu vollenden. Eine unbeschreiblich entsetzliche Kälte schnürte uns wie mit eisernen Krallen die Brust zusammen. Seit ungefähr dreihundertundzehn Stunden hat hier die Sonne nicht mehr geschienen, und die Atmosphäre ist nicht dicht genug, so lange Zeit hindurch die Wärme der während des langen Tages sicherlich erglühten Steine festzuhalten ...
Wir kehrten zu dem Fahrzeug zurück, das uns wie ein Paradies an Wärme erschien, obwohl wir mit dem Feuer sparen. Vor dem Aufgang der Sonne, die diese Welt erwärmen wird, ist es unmöglich, die Versuche, hinauszugehen, zu erneuern. Und diese Sonne will und will nicht kommen!
Wann wird sie endlich erscheinen, und was wird sie uns bringen?
Siebzig Stunden sechsundvierzig Minuten nach Ankunft auf dem Mond.
O’Tamor ist gestorben.
Der erste Mondtag, drei Stunden nach Sonnenaufgang.
Wir sind nur noch vier. In einer Weile treten wir die Reise an. Alles ist bereit: unser Fahrzeug hat sich, nachdem die Räder befestigt sind und nach Aufstellung des Motors, in einen Wagen verwandelt, der uns, diese Wüste durcheilend, dem Lande zuführen soll, wo wir leben und atmen können ... O’Tamor wird hier bleiben ...
Wir sind von der Erde geflohen, — aber der Tod, der mächtige Herr des Erdengeschlechtes, hat mit uns den Weltenraum durchflogen und uns gleich im Anfang in Erinnerung gebracht, daß er bei uns ist — unbarmherzig, siegreich — wie dort! Wir fühlten seine Gegenwart und Nähe, seine Allherrschaft so lebhaft wie niemals auf der Erde. Wir sehen uns unwillkürlich an: Wer kommt jetzt an die Reihe? ...
Es war noch Nacht, als plötzlich Selena aus der Ecke hervorkam, wo sie seit einigen Stunden zusammengekauert gelegen und, die Schnauze dem durch das Fenster leuchtenden Halbmond der Erde entgegenstreckend, entsetzlich zu heulen begann. Wir sprangen alle auf, wie von einer inneren Kraft in die Höhe geworfen.
— Der Tod kommt! schrie Martha.
Woodbell, der sich besser fühlte, stand am Lager O’Tamors und wandte sich langsam zu uns:
— Er ist schon gekommen, sagte er.
Wir trugen die Leiche aus dem Fahrzeug hinaus. In diesem felsigen Grunde ist es unmöglich ein Grab zu graben. Der Mond will unsere Toten nicht beherbergen — wie wird er uns Lebende aufnehmen?
Wir legten also die Leiche auf diesem harten Mondfelsen auf den Rücken, das Gesicht der am Himmel leuchtenden Erde zugekehrt und sammelten die hier und da auf der Ebene zerstreut liegenden Steine, um aus ihnen ein Grab zurechtzulegen. Wir umgaben den Dahingeschiedenen mit einem nicht allzu hohen Wall, konnten jedoch keine genügend große Steinplatte finden, um ihn zu bedecken. Da sagte Peter durch das Rohr, das unsere Köpfe verband und so eine Verständigung ermöglichte:
— Lassen wir ihn hier so liegen ... Siehst du nicht, daß er auf die Erde blickt?
Ich betrachtete den Toten. Er schien in der Tat mit verglasten, weit aufgerissenen Augen in das Auge der Erde zu starren, das sich immer mehr schloß, immer mehr vor dem Glanze der uns noch unsichtbaren Sonne, die bald aufgehen sollte. Mag er so liegen bleiben ...
Aus zwei Eisenstäben, den Bruchstücken des zerschmetterten Gerüstes, das uns während des Falles vorm Zermalmen bewahrt hatte, machten wir ein Kreuz und befestigten es auf dem Steinwall über dem Haupte O’Tamors.
Da — als wir die traurige Arbeit gerade beendet hatten und zum Fahrzeug zurückkehren wollten, geschah etwas Seltsames. Die Gipfel der Berge, die vor uns in dem fahlen Schein der Erde auftauchten, färbten sich plötzlich, ohne jeglichen Übergang, blutigrot und dann erstrahlten sie in einem weißlich glühenden Glanze auf dem Hintergrunde des tiefschwarzen Himmels. Der Fuß der Berge erschien jetzt, durch den Kontrast der Beleuchtung gänzlich verdunkelt, fast unsichtbar; nur die höchsten Kappen hingen über uns, wie ein im Feuer erglühter Stahl, sich allmählich, aber stetig vergrößernd. Infolge des Mangels der Luftperspektive, die auf der Erde die Schätzung der Entfernung ermöglicht, schienen diese weißen Flecke auf dem Hintergrunde des schwarzen Himmels, inmitten der Gestirne, gerade über unseren Häuptern zu hängen, wie abgerissen von dem felsigen Fundament, das sich in der Dämmerung verlor. Wir wagten kaum die Hand auszustrecken, aus Furcht, diese Stücke des lebendigen Lichtes zu berühren.
Sie aber wuchsen und wuchsen vor unseren Augen, als wenn sie sich uns in langsamer, unerbittlicher Bewegung näherten; bald waren sie so dicht vor uns, daß wir unwillkürlich zurückwichen ... gänzlich vergessend, daß diese Gipfel Hunderte, vielleicht auch Tausende von Metern von uns entfernt sind.
Plötzlich sah Peter sich um und stieß einen Schrei aus. Ich wandte, seiner Bewegung folgend, den Kopf und — stand wie festgebannt vor einem unerhörten, nicht zu schildernden Schauspiel im Osten!
Über dem schwarzen Grat eines Berges glimmte die blasse, silberne Säule eines Zodiakallichtes. Wir starrten, einen Augenblick den Toten vergessend, auf diesen Punkt, als unten an der Säule, dicht an der Grenze des Horizontes, kleine, springende rote Flämmchen im Kranze zu flackern begannen.
Die Sonne ging auf! Die mit so heißer Sehnsucht erwartete, lebenspendende Sonne, die O’Tamor hier nicht mehr sehen soll!
Wir weinten beide wie Kinder.
Und schon erstrahlte sie am Horizonte, hell und weiß. Jene zuerst wahrgenommenen roten Flämmchen waren Protuberanzen, starke Ausströmungen glühender Gase, die von der Sonnenkugel nach allen Richtungen hinschießen und auf der Erde, wo sie durch die Atmosphäre verblassen, nur während einer vollkommenen Sonnenfinsternis sichtbar sind. Hier, beim Fehlen der Luft, zeigten sie uns das Erscheinen der Sonnenscheibe an und werden es noch lange jeden Tag so anzeigen, für kurze Augenblicke einen blutigen Schein auf die Berge werfend, ehe sie in blendender Weiße im vollen Tagesglanz erglühen.
Nach einigen Minuten erschien an Stelle des roten Flammenkranzes ein weißes Segment der Sonnenscheibe über dem Horizont; eine volle Stunde brauchte diese Scheibe, um hinter den Felsen im Osten hervorzukommen.
Diese ganze Zeit hindurch waren wir, trotz der immensen Kälte, mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigt. Jeder Augenblick ist wertvoll; man darf die Abfahrt nicht länger hinausschieben. Jetzt ist schon alles bereit.
Es ist seit Aufgang der Sonne wärmer geworden. Ihre Strahlen, obwohl sie noch schräg fallen, wärmen mit der ganzen Kraft, da sie nicht durch die Atmosphäre abgeschwächt sind, wie dies auf der Erde der Fall ist. Ein seltsamer Anblick! ...
Die Sonne flammt wie eine strahlenlose Kugel, die auf den Bergen wie auf einem mächtigen schwarzen Kissen ruht. Es gibt hier nur zwei Farben, die durch ihren scharfen Kontrast das Auge unaussprechlich quälen: Weiß und Schwarz. Der Himmel ist schwarz und, obwohl es schon Tag geworden, mit einer unermeßlichen Anzahl von Sternen übersät; rings um uns breitet sich eine leere, wilde, Entsetzen erregende Landschaft, ohne Milderung des Lichtes, ohne Halbschatten, zur Hälfte schimmernd weiß vom Sonnenglanz, zur Hälfte dagegen in tiefes Schwarz gehüllt. Es fehlt jene Atmosphäre, die auf der Erde dem Himmel die wundervolle blaue Farbe verleiht, die, selbst von Licht übersättigt, die Sterne vor Sonnenaufgang verrinnen läßt und wonnige Dämmerungen schafft; die sich beim Morgen- und Abendrot in zartes Rosa taucht, in Regenbogen tränkt, mit Wolken verfinstert und feine Übergänge vom grellen Licht zur milden Dämmerung malt.
Nein, unsere Augen sind nicht für dieses Licht und diese Landschaftsbilder geschaffen!
Wir befinden uns auf einer weiten Ebene von massivem Gestein, das hie und da von Spalten zerrissen ist, die sich in nordwestlicher Richtung erstrecken. Im Westen (Osten und Westen unsrer Welt bezeichne ich, übereinstimmend mit der tatsächlichen Lage, also umgekehrt wie wir dies in den Mondkarten auf der Erde finden) im Westen also sieht man steile Hügel, über denen in nordwestlicher Richtung der zerrissene Grat eines Berges thront. Im Norden erhebt sich die Ebene allmählich, jedoch, wie es scheint, zu bedeutender Höhe. Nach Osten zu werden unzählige Spalten, Gebirgsvorsprünge und kleine Schluchten, die künstlich ausgegrabenen Vertiefungen ähneln, sichtbar, und gegen Süden erstreckt sich eine unabsehbare Flachebene.
Varadol behauptet, auf Grund der in Eile vorgenommenen Messungen des Höhenstandes der Erde am Himmel, daß wir uns tatsächlich auf dem Sinus Medii befinden, wohin wir nach den Berechnungen hätten fallen müssen. Mir scheint dies jedoch nicht ganz richtig zu sein, denn die Gipfel, die im Norden und Westen jene Flachebene begrenzen, nämlich die aus den Karten bekannten: Mosting, Sommering, Schroter, Bode und Pallas, entsprechen weder ihrer Lage noch ihrer Höhe nach dem, was wir hier vor uns sehen. Aber schließlich ist es einerlei! Wir fahren nach Westen, um längs dem Äquator, wo nach den Karten der Mondgrund am gleichmäßigsten zu sein scheint, diesen Globus zu umkreisen und auf seine andere Seite zu gelangen.
Bald wird von uns hier nichts mehr übrig sein! Nur das Grab mit dem Kreuze bezeichnet für ewige Zeiten die Stelle, an der die ersten Menschen auf dem Monde gelandet sind.
Lebewohl denn, Grab meines Freundes, du erster Bau, den wir auf dieser neuen Welt errichteten! Lebewohl, toter Freund, teurer und treuloser Vater, der du uns von der Erde entführtest und beim Eintritt ins neue Leben verlassen hast! Das Kreuz, das über deinem Grabe steht, gleicht einer Standarte, die Zeugnis dafür ablegt, daß der siegreiche Tod mit uns gekommen und auch dieses Reich erobert und in Besitz genommen hat ... Wir fliehen vor ihm; du bleibst mit ihm zurück, ruhiger als wir, auf die unbewegliche Erde starrend, die dich gezeugt, das Kreuz, dessen treuer Bekenner du warst, über deinem Haupte.
Am ersten Mondtage, einhundertsiebenundneunzig Stunden nach Sonnenaufgang. Mare Imbrium, 11° westlicher Länge, 17° 21’ nördlicher Mondbreite.
Endlich kann ich meine Gedanken sammeln! Welch ein furchtbarer, erbarmungslos langer Tag, was für eine entsetzliche Sonne, die ihre Gluten fast seit zweihundert Stunden aus diesem grundlos schwarzen Himmel herabsendet! Zwanzig Stunden sind schon seit Mittag vergangen und sie steht noch immer fast senkrecht über unseren Häuptern, inmitten einer Fülle glanzloser Sterne, neben dem schwarzen Reifen der verblaßten Erde, die von einem Hof lichtdurchtränkter Atmosphäre umgeben ist. Wie seltsam dieser Himmel über uns! Alles um uns herum hat sich verändert, nur die Konstellationen der Gestirne sind wie wir sie von der Erde aus gesehen haben. Hier, wo die Luft den Blick nicht trübt, sind unvergleichlich mehr Sterne sichtbar. Das ganze Firmament scheint wie mit Sand von ihnen überstreut zu sein. Die doppelten Sterne leuchten wie farbige Punkte, grün, rot oder bläulich, nicht in der uns bekannten Silberfarbe zerfließend. Dabei erscheint der Himmel, der hier keinen farbigen Lufthintergrund hat, nicht als flache, hohle Kuppel. Man wird sich im Gegenteil seiner unermeßlichen Tiefe bewußt und bedarf keiner Berechnungen, um festzustellen, welcher Stern weiter entfernt oder näher liegt. Blickt man auf den Großen Wagen, bemerkt man, daß einige seiner Sterne tief zurückliegen, im Vergleich mit anderen nähergerückten, während er, von der Erde aus betrachtet, wie sieben Stifte, die in eine glatte Decke eingeschlagen sind, aussah. Die Milchstraße ist hier kein loser Lichtstreifen, sondern eine kompakte Schlange, die sich durch die schwarzen Untiefen wälzt. Ich habe den Eindruck, als wenn ich durch ein wundervolles Stereoskop auf den Himmel sähe.
Und was das Merkwürdigste ist, die Sonne flammt inmitten der Sterne in strahlendster Helle und verdunkelt auch nicht das schwächste der himmlischen Lichter ...
Die Glut ist entsetzlich; man glaubt, die Felsen müßten zu schmelzen beginnen und zerfließen wie an schönen Märztagen das Eis auf unsern Flüssen. So endlos lange Stunden sehnten wir uns nach der Sonne und ihren erwärmenden Strahlen und jetzt müssen wir vor ihr fliehen, um unser Leben zu retten. Seit etwa zehn Stunden stehen wir auf dem Grunde einer tiefen Spalte, die sich vom Fuße des zerklüfteten Berges Eratosthenes den Apennin entlang in die Tiefe des Regenmeeres erstreckt. Hier erst, tausend Meter unter der Oberfläche, fanden wir Schatten und etwas Kühle ...
Nachdem wir hierher geflüchtet, schliefen wir vor Erschöpfung zehn Stunden ohne Unterbrechung. Im Traume schien es mir, daß ich mich noch auf der Erde befinde, in grünen, kühlen Hainen, wo von frischem Moos umrahmt ein kristallklarer Bach plätscherte. Weiße Wolken glitten am blauen Himmel dahin; ich hörte den Gesang der Vögel, das Summen der Käfer und Stimmen der Menschen, die vom Felde heimkehrten.
Selenas Bellen weckte mich auf.
Ich öffnete die Augen, war aber so verschlafen, daß ich lange nicht begreifen konnte, wo ich bin, was mit mir geschieht, was dieser verschlossene Wagen bedeutet und diese Felsen ringsumher, so öde und wild! Endlich wurde mir alles klar — und ein unaussprechliches Weh schnürte mir das Herz zusammen ... Selena bemerkte, daß ich nicht schlief und kam zu mir; ihre Schnauze auf meine Knie legend, sah sie mich mit ihren verständigen Augen groß an und es schien mir, daß ich in ihrem Blick einen stummen Vorwurf las ... Ich streichelte schweigend ihren Kopf, sie begann traurig zu winseln, sich nach ihren Jungen umsehend, die in der Wagenecke munter miteinander spielten. Diese Jungen, Wotan und Leda, sind die einzigen Geschöpfe, die hier froh sind.
Ah, es ist wahr! Manchmal ist auch Martha noch froh wie ein kleines Kind, aber nur, wenn Woodbell, der immer gleich elend ist, die Hand ausstreckt, um ihr üppiges, dunkelbraunes Haar zu streicheln. Dann strahlt ihr schmächtiges Antlitz in hellem Lächeln und ihre großen, schwarzen Augen blicken in grenzenloser Hingebung auf ihren Geliebten, der noch bis vor kurzem so männlich schön war und jetzt vom Fieber verzehrt und abgemagert dahinsiecht. Sie tut alles, um ihn aufzumuntern, ihm mit jeder Bewegung, mit jedem Blick zu sagen, daß sie ihn liebt und in seiner Nähe glücklich ist, selbst hier, wo es so schwer ist, glücklich zu sein. Ich kann mich einer schmerzlichen Eifersucht nicht erwehren, wenn ich sehe, wie sie ihre vollen, leidenschaftlichen Lippen über seine magere Hand, seinen Hals und sein Gesicht gleiten läßt; wie sie die Lider seiner kalten, müden Augen küßt und ihn liebkosend wie ein kleines Kind an ihre wundervoll geformte Brust bettet, ihm seltsame, für uns unverständliche Weisen singend. Er hörte sie wohl von denselben so heiß küssenden Lippen dort — in ihrem Heimatlande — am malabarischen Strande und jetzt, da sie wieder erklingen, muß er von den säuselnden Palmen, vom Rauschen des blauen Meeres träumen ... Dieses Weib bewahrte ihm in ihrer liebenden Seele die ganze Welt, die für uns unwiederbringlich verloren ist.
Nie werde ich den Tag vergessen, da ich sie zum erstenmal gesehen habe. Es war unmittelbar nachdem wir die Nachricht erhalten hatten, daß Braun zurücktritt. Wir saßen alle vier in Marseille, im Hotelzimmer, von dessen Fenstern aus man auf den Meerbusen blickt und sprachen über diesen Rücktritt des Kameraden, der uns sehr nahe ging.
Da meldete man uns, daß eine Frau uns sofort sprechen wolle. Wir überlegten noch, ob wir sie empfangen sollten, als sie schon selbst ins Zimmer trat. Sie war gekleidet wie die Töchter reicher Eingeborener im südlichen Indien. Das Gesicht, ungewöhnlich schön, hatte einen halb verängstigten, halb entschlossenen Ausdruck. Wir sprangen alle erstaunt auf, Tomas aber erblaßte und starrte, sich über den Tisch neigend, aufmerksam forschend in ihr Antlitz. Mit gesenktem Kopfe blieb sie an der Tür stehen.
— Martha, du hier! rief endlich Woodbell.
Sie kam näher und erhob das Haupt. In ihren Zügen war keine Spur mehr von Zaudern oder Unsicherheit; nur eine wahrhaft südländische Leidenschaft flammte aus ihren von schweren Lidern halb bedeckten schwarzen Augen.
Das volle runde Kinn war vorgebeugt; die roten Lippen halb geöffnet, streckte sie Tomas die Hände entgegen und antwortete, zu ihm aufblickend:
— Ich bin dir gefolgt und werde dir überallhin folgen, selbst auf den Mond!
Woodbell war blaß wie eine Leiche. Er fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf und rief fast stöhnend:
— Das ist unmöglich!
Sie sah uns an, und scheinbar dem Alter nach schließend, daß O’Tamor unser Führer sei, warf sie sich ihm zu Füßen, so schnell, daß er nicht Zeit hatte, sie aufzuhalten.
— Herr! rief sie, seine Knie umklammernd, Herr, nehmt mich mit Euch! Ich bin die Geliebte Eures Kameraden; alles habe ich für ihn hingegeben, er darf mich jetzt nicht verlassen! Ich liebe ihn! Ich hörte, daß einer Eurer Genossen zurücktrat und bin von Indien hierher gekommen. Nehmt mich mit! Ich werde Euch keine Unbequemlichkeiten verursachen. Ich will eure Dienerin sein! Ich bin reich, sehr reich, ich gebe Euch Gold und Perlen, soviel Ihr wollt. Mein Vater war Radscha in Travancore am malabarischen Strand und hinterließ große Schätze. Ich bin auch kräftig genug, seht!
Bei diesen Worten streckte sie die nackten, schwarzbraunen Arme aus.
Varadol stammelte:
— Aber für eine solche Reise bedarf es der Vorbereitungen! Das ist etwas anderes, als eine Fahrt mit dem Dampfer von Travancore nach Marseille!
Da begann sie zu erzählen, wie sie ohne Tomas’ Wissen im geheimen dasselbe Training vornahm wie wir, immer in dem Gedanken, daß es ihr im letzten Augenblick gelingen werde, uns zu erbitten, sie mitzunehmen. Jetzt benutzte sie Brauns Rücktritt, die seit langem gefaßte Absicht auszuführen. Sie weiß wohl von Tomas, daß man dort auf dem Mond den Tod finden kann, aber sie will nicht ohne ihn leben und abermals flehte sie uns an.
Da wandte sich O’Tamor, der bis jetzt geschwiegen hatte, mit der Frage zu Tomas, ob er sie mit sich nehmen wolle, und als Woodbell, unfähig ein Wort hervorzubringen, mit dem Kopfe nickte, legte er seine Hand auf die üppigen Haare des Mädchens und sprach langsam und feierlich:
— Du wirst mit uns gehen, Tochter. Vielleicht hat dich Gott zur Eva des neuen Geschlechtes erkoren — möge es glücklicher sein als das irdische!
So lebendig ist mir diese Szene in Erinnerung ...
Eben ruft mich Martha. Tomas fiebert wieder; man muß ihm Chinin geben.
Zwei Stunden später.
Die Glut, anstatt nachzulassen, wird immer größer. Wir flüchteten noch tiefer, um uns vor ihr zu retten. Solange diese entsetzliche Hitze andauert ist es unmöglich an ein Weiterfahren auch nur zu denken. Die Angst schüttelt mich, wenn ich mir sage, daß wir fast noch dreitausend Kilometer vor uns haben, bis wir ans Ziel gelangen ... und wer bürgt uns dafür, daß man dort leben kann? ... Der einzige, O’Tamor, der nicht daran zweifelte, ist nicht mehr unter uns.
Der Wegmesser auf unserem Wagen gibt an, daß wir bereits hundertsiebenundsechzig Kilometer zurückgelegt haben; die Zeit zusammengerechnet, kommt auf jede Stunde ein Kilometer. Und wir bewegten uns doch verhältnismäßig ziemlich schnell vorwärts ...
Vier Stunden nach Sonnenaufgang brachen wir auf und wendeten uns nach Westen. In dem Glauben, daß wir uns auf dem Sinus Medii befinden, wollten wir auf die Flachebene zwischen den Bergen Sommering und Schroter gelangen und von dort den Sommering von Norden und Westen umkreisen. So beabsichtigten wir, uns dem Äquator zu nähern und an ihm entlang, direkt in der Richtung des Gebirgsringes Gambart und des höheren, weiter gegen Westen auf dem Äquator liegenden Landsberg vorzudringen.
Der Grund war ausnahmsweise gleichmäßig, fast ohne Spalten, so daß der Wagen leidlich fahren konnte. Hoffnung und Zuversicht erfüllten unsere Herzen; es war uns warm und leicht — nur die Erinnerung an O’Tamor trübte unsere Freude. Tomas ging es besser und Martha strahlte vor Glück, als sie es bemerkte. Wir begannen aufs neue Pläne zu schmieden. Der Weg schien uns nicht lang, die Mühe nicht allzu groß. Wir bewunderten die Wildheit der in ihrer Erstarrung großartigen Landschaft oder bemühten uns, vermittels der vor uns ausgebreiteten Karte im voraus die phantastischen Bilder zu erraten, die unserer warten. Varadol erinnerte uns an alle Forschungen und Beweise O’Tamors, nach denen die entgegengesetzte Seite des Mondes durchaus den Bedingungen zum Leben genügen und dabei interessant und über alle Beschreibung erhaben sein sollte. Wir sagten uns, wenn dort dieselben Berge sind, die jetzt am Horizonte im Sonnenschein vor uns erglänzen und außerdem noch frisches Grün und Wasser, lohnt es wohl der Mühe, dreihundertvierundachtzigtausend Kilometer zurückzulegen, um diese Herrlichkeiten zu sehen. Wir unterhielten uns lebhaft und Tomas und Martha, wie gewöhnlich fest aneinandergeschmiegt, entwarfen rosige Pläne für das zukünftige Leben in diesem Paradies. Sogar Selena begann, als sie die munteren Stimmen hörte, fröhlich zu bellen und im ganzen Wagen mit ihren spielenden Jungen herumzuspringen.
So verflossen drei Stunden und wir hatten schon gegen dreißig Kilometer zurückgelegt, als Varadol, der gerade an der Reihe war am Steuer zu stehen, den Wagen plötzlich anhielt. Vor uns erhob sich ein nicht hoher, stumpfer Steinwall, der sich von Süden nach Nordwesten erstreckte. Man hätte den Wall mit Leichtigkeit überwinden können, aber es handelte sich darum, die Richtung genau festzustellen, in der wir uns vorwärtsbewegen sollten. Im Nordwesten erhoben sich wild zerklüftete, mächtige Berge, die wir für die Gipfel des Kraters Sommering hielten. Jener Krater, wie die Astronomen auf Erden diese runden Berge hier bezeichnen, erhebt sich zwar nur eintausendvierhundert Meter über der benachbarten Ebene, während diese Berge uns ungleich höher vorkamen, aber wir schrieben dies der leicht erklärlichen optischen Täuschung zu. Außerdem ist es aber auch möglich, daß wir mit unserem Projektil auf den südwestlichen Teil des Sinus Medii, auf die Flachebene, gefallen sind, die sich dem breiten Halbkreis des Zirkus des Flammarion zu öffnet und jetzt zur Rechten den Krater Mosting, von der ansehnlichen Höhe von zweitausenddreihundert Metern, vor uns haben. Auf alle Fälle mußte jener Berg von Norden her umkreist werden, um nicht den ursprünglichen Plan zu ändern. Woodbell riet noch einmal astronomische Messungen vorzunehmen zur Festlegung des Punktes, an dem wir uns befinden, aber da wir jetzt keine Minute verlieren wollten, verschoben wir diese Arbeit auf die heißere Zeit, wo wir infolge der großen Glut würden Aufenthalt machen müssen. Wir lenkten also den Wagen direkt nach Norden. Der Weg wurde immer schwieriger und führte allmählich in die Höhe; hie und da trafen wir Spalten an, denen wir ausweichen mußten, öfter ganze Felder von massivem Gestein, dem Gneis ähnlich, mit vielen losgelösten Felsstücken übersät. Wir bewegten uns immer langsamer und mit großer Mühe vorwärts. An einigen Stellen mußten wir, nachdem wir die Luftbehälter angelegt hatten, den Wagen verlassen, um den Weg zu bahnen und die hindernden Felsblöcke fortzuräumen. Wir priesen dabei die geringe Anziehungskraft des Mondes, durch die es uns möglich war, derartige Felsstücke von der Stelle zu rücken. Anfangs belustigte uns sogar diese Arbeit. Jedem erschien der andere Gefährte, wenn er die mächtigen Klumpen bewegte, wie ein Riese. Selbst Martha half mit. Nur Tomas blieb im Wagen zurück, da er vom Fieber, das immer wiederkehrte, wenn auch das Schmerzen der Wunden aufgehört hatte, zu sehr geschwächt war.
Wir entfernten uns auf diese Weise einige Kilometer weit von dem Punkte, von wo wir uns nach Norden gewandt hatten. Zur Linken eine Reihe kleiner und überaus steiler Hügel, hinter denen sich phantastische Gipfel erhoben. Vor uns stieg der Boden immer schroffer in die Höhe und aus dem mächtigen Wall, den er bildete, ragte eine scharfe Bergspitze hervor. Rechts, gegen Osten, erstreckte sich eine Kette gigantischer Berge.
Vierundzwanzig Stunden waren schon seit Aufgang der Sonne verflossen, als wir auf die glatte Fläche von massivem Gestein gelangten, auf der man sich schneller vorwärtsbewegen konnte. Hier beschlossen wir anzuhalten, um auszuruhen. Dabei beunruhigte uns die seltsame Gestaltung der Landschaft immer mehr.
Wir waren bereits überzeugt, daß wir uns in einer anderen Gegend des Mondes als auf dem Sinus Medii befanden. Man mußte demnach endlich genaue Messungen vornehmen.
Nach kurzer Rast machten wir uns an die Arbeit. Peter stellte die astronomischen Instrumente auf. Der Mittelpunkt der Erdscheibe war vom Zenite 6° gegen Osten und 2° gegen Norden entfernt — wir befanden uns also unter dem 6.° westlicher Mondlänge und dem 2.° südlicher Breite, das heißt, an der Grenze des Sinus Medii, neben dem Krater Mosting. Was diesen betrifft, so konnte kein Zweifel obwalten. Die Messungen waren ganz genau.
Wir beschlossen weiterzufahren, ohne die Richtung zu ändern. Als wir den Weg antreten wollten, rief Varadol plötzlich:
— Und unsere Kanone! Wir haben die Kanone zurückgelassen!
In der Tat, jetzt erst erinnerten wir uns, daß unsere Kanone, das einzige und letzte Mittel, uns mit den Erdbewohnern zu verständigen, mit dem Geschoß und der Kugel beim Grabe O’Tamors zurückgeblieben war. Sein Tod und Begräbnis hatten uns so verwirrt, daß wir beim Aufbrechen vergaßen, die für uns so wertvolle Kanone mitzunehmen. Das war ein unersetzlicher Verlust und um so empfindlicher, als nach der Zerstörung der telegraphischen Verbindung mit ihr der letzte Faden zerriß, der uns mit der Erde verband. Wir fühlten uns plötzlich so grenzenlos vereinsamt, als wenn wir uns in diesem Augenblicke wiederum um Hunderte von Kilometern von dem Globus entfernt hätten, der schon Hunderttausende von Kilometern hinter uns lag.
Unser erster Gedanke war umzukehren und die Kanone zu holen. Vor allem bestand Woodbell darauf, da er es für nötig hielt, uns mit der Erde zu verständigen, damit man weiter beabsichtigte Expeditionen nicht aussende, bevor wir nicht mitteilen konnten, daß wir hier mögliche Lebensbedingungen gefunden haben.
Wenn wir umkommen müssen, sagte er, warum sollen noch andere ihr Leben opfern. Ihr wißt doch, daß die Brüder Remogner zur Fahrt bereit sind. Sie erwarten Nachrichten von uns, aber unser telegraphischer Apparat funktioniert nicht. Man muß sie zurückhalten, wenigstens noch für einige Zeit.
Es hatte jedoch seine Schwierigkeiten mit dem Umkehren. Jede Stunde ist von höchstem Werte, da uns im Falle einer Fahrtverlängerung die Nahrungs- und Luftvorräte ausgehen können, wodurch wir zum sicheren Tode verurteilt wären. Wir haben uns so schon durch die Krankheit O’Tamors zu lange aufhalten müssen und wer konnte dafür bürgen, daß wir die Stelle wiederfinden, wo die Kanone zurückblieb?
Varadol bemühte sich, Tomas’ Bedenken zu zerstreuen. Die Brüder Remogner, führte er an, werden den Weg doch nicht antreten, wenn sie keine Nachrichten von uns erhalten. Im übrigen weiß man nicht, ob die hinausgeschossene Kugel gerade auf eine Stelle der Erde fällt, wo sie jemand auffindet und die Depesche gelangt vielleicht gar nicht in die Hände derjenigen, für die sie bestimmt ist.
Auch fiel uns noch der Umstand ein, daß wir die Kanone, die lediglich für einen senkrechten Schuß konstruiert war, nur in der Nähe des Mittelpunktes der Mondscheibe gebrauchen könnten, wo sich die Erde im Zenite über uns befindet. Für einen parabolischen Schuß von einer andern Stelle des Mondes aus genügte die Kraft des Geschosses nicht und selbst wenn sie genügen würde, hätten wir keine Möglichkeit, die Kanone genau so aufzustellen, um sicher zu sein, daß die Kugel, eine krumme Linie beschreibend, trotzdem ihr Ziel — die Erde — nicht verfehlt. So hätten wir also vielleicht mit einem Schusse weitere Expeditionen aufgehalten, wären alsdann aber nicht mehr imstande, durch einen zweiten Schuß neue Kameraden herbeizurufen, falls wir — bis zur Grenze der von der Erde aus sichtbaren Mondscheibe gelangt — dort günstige Lebensbedingungen antreffen sollten. Auf diese Weise wären wir hier zu einer ewigen Einsamkeit verurteilt. Sollten indessen die Brüder Remogner trotz alledem hierher kommen, so würden sie vielleicht einen stärkeren telegraphischen Apparat mit sich führen und wir so durch sie eine dauernde Art der Verständigung mit den Erdbewohnern erhalten.
Alle diese Umstände sprachen dafür keine Zeit mit dem Suchen der Kanone zu verlieren. Nach kurzer Unterbrechung setzten wir daher unsere Reise fort.
Es sind wiederum vierundzwanzig Stunden verflossen und wir hatten schon gegen hundertdreißig Kilometer hinter uns. Die Sonne stand bereits 28° über dem Horizont und die Hitze wurde immer größer. Wir konstatierten dabei eine interessante Erscheinung. Während sich nämlich die Wand des Wagens, die der Sonne zugekehrt war, so erhitzte, daß sie geradezu brannte, war die der Sonne abgewandte Seite kalt wie Eis. Das Gefühl der Kälte hatten wir auch jedesmal, wenn wir in den Schatten irgendeines Felsvorsprunges fuhren, die wir immer häufiger unterwegs antrafen. Der Grund für diese gewaltsamen Übergänge zwischen Wärme und Kälte ist das Fehlen der Atmosphäre, die auf der Erde zwar die direkte Kraft der Sonnenstrahlen vermindert, sich dafür aber selbst erwärmt und diese Wärme gleichmäßig verteilt, weiterleitet und ein zu schnelles Verfliegen derselben durch Ausstrahlen verhindert.
Aus demselben Grunde ist hier jeder Schatten gleichbedeutend mit Nacht. Das Licht, das nicht in der Atmosphäre verbreitet ist, dringt nur an solche Orte, die den Sonnenstrahlen ausgesetzt sind. Hätten wir nicht den Reflex der von der Sonne erleuchteten Berge und das Licht der Erde, müßten wir jedesmal wenn wir in einen Schatten hineinfahren unsere elektrischen Lampen aufflammen lassen.
Wir hatten jene abschüssige glatte Fläche passiert und begannen uns nach Westen zu wenden, um den vermutlichen Krater Mosting zu umkreisen, nur mit großer Mühe und sehr langsam in diesem wilden Gebirgslande vorwärtsdringend.
Die Landschaft ähnelt in keiner Beziehung den Alpenlandschaften auf der Erde! Dort breiten sich zwischen Gebirgskämmen, die die Gipfel miteinander verbinden, üppige Täler, die durch das Wirken des Wassers im Laufe von Jahrtausenden ausgehöhlt worden sind; hier ist keine Spur von alledem zu finden. Der ganze Grund ist gewölbt und mit einer unermeßlichen Anzahl nicht miteinander verbundener Mulden mit vorspringenden Rändern angefüllt, oder auch mit glatten, vereinzelten Hügeln, oft von ganz ansehnlicher Höhe. Die Stelle der Täler nehmen tiefzerklüftete Risse ein, die sich meilenweit erstrecken und aussehen, als wenn sie mit einem mächtigen Beile in gerader Linie bis auf den Grund gespalten wären. Ich zweifle nicht daran, daß es sich hier um ein Bersten der erlöschenden und sich krümmenden Mondoberfläche handelt.
Dagegen fanden wir keine Spur irgendeiner Wasserwirkung der auf der Erde so übermächtigen Erosion. Ich glaube auch, daß dieses Land niemals Luft und Wasser gehabt hat.
Wir staunten anfangs über die große Menge des Gesteins, das auf dem felsigen Boden zerstreut lag. Aber ungefähr dreißig Stunden später, als die Spannung der Hitze sich auf ein unerhörtes Maß steigerte, erkannten wir die Ursache. Wir fuhren gerade an einem hohen Felsen entlang, dessen Gestein unserem Marmor außerordentlich ähnlich war, als sich plötzlich vor unseren Augen ein Felsblock von einigen zehn Metern im Durchmesser vom Gipfel loslöste und, in Kieselsteine zerstäubend, jählings in die Tiefe hinabsauste. Und dies geschah mit einer geradezu schaurigen Lautlosigkeit. Infolge des Luftmangels hörten wir kein Geräusch; nur der Grund erbebte unter unserem Wagen, als wenn der Mond plötzlich wankte. Die Felsen, die in der Nacht durch die Kälte wie durch einen eisernen Reifen zusammengepreßt werden, erweitern sich während der furchtbaren Glut des Tages an der Seite, die den brennenden Strahlen ausgesetzt ist; die ungleichmäßige Verteilung von Hitze und Kälte muß das Zerspringen und Zerbröckeln vereinzelter Blöcke dieser gigantischen Steinwelt verursachen.
Inzwischen empfanden wir jene scharfen Steine, die die mächtigen Flächen übersäten, ziemlich unangenehm. Wir passierten Stellen, wo unser Fahrzeug sich vermittels der Räder absolut nicht vorwärtsbewegen konnte. Dort ließen wir die „Tatzen“ aus, die dem Wagen ermöglichten die größten Hindernisse zu überklettern wie ein behendes, leichtfüßiges Tier. So kamen wir glücklich über die sich auftürmenden Steinmassen hinweg. Trotz der zahlreichen Versuche, die wir mit dem Wagen auf der Erde machten, hatten wir keine Vorstellung von den Beschwerden einer derartigen, länger andauernden Fahrt. Wenn die Anziehungskraft des Mondes und die damit verbundene Schwere nur um die Hälfte größer wäre, hätten wir in diesem Gestein, unfähig uns von der Stelle zu rühren, elend zugrunde gehen müssen.
Seit Sonnenaufgang ist schon der dritte Erdentag vorübergegangen, während dessen wir kaum zwanzig Kilometer weiter kamen. Die Hitze wird unerträglich. In der dumpfen, glühenden Luft des Wagens und durch die heftigen Bewegungen gerüttelt, fiebert Woodbell aufs neue. Die Wunden, die er beim Fallen des Projektils auf die Mondoberfläche davontrug, beginnen ihn wieder zu schmerzen. Ein Glück, daß wir drei wenigstens heil davongekommen sind! Noch jetzt erfaßt mich ein Schaudern bei dem Gedanken an jene furchtbare Erschütterung!
Erst noch im Weltenraum eine dumpfe Explosion der am Projektil angebrachten Minen, die die Schnelle des Fallens verringern sollten, dann ein Druck auf den Knopf — das schützende Stahlgerüst breitete sich aus und ... Nein, das läßt sich nicht mit Worten beschreiben! Ich sah nur noch, wie Martha sich aus der Hängematte herausbeugte und ihre Lippen auf Tomas’ Mund preßte. O’Tamor rief: Wir sind da! — und ... ich verlor das Bewußtsein.
Als ich die Augen öffnete, lag O’Tamor blutüberströmt am Boden, Woodbell ebenfalls schwerverwundet; Varadol und Martha waren ohnmächtig ... Aus den Trümmern des Stahlgerüstes haben wir dann das Kreuz auf dem Grabe O’Tamors errichtet.
Unsere Chronometer gaben 98 Stunden nach Sonnenaufgang an als wir vor Erschöpfung und Glut zusammenbrechend endlich bemerkten, daß wir uns dem Gipfel des Berges näherten, den wir mit so großer Mühe erkletterten. Während dieser vier Erdentage, die wenig mehr als den vierten Teil des „Tages“ auf dem Monde ausmachten, schliefen wir fast gar nicht und beschlossen nun eine Zeitlang zu rasten.
Woodbell vor allem brauchte Schlaf und Ruhe.
Wir stellten den Wagen in den Schatten eines Felsens, der uns tatsächlich vorm lebendigen Verbraten durch die unerträglichen Sonnenstrahlen bewahrte und legten uns alle schlafen. Nach zwei Stunden schon erwachte ich sehr gestärkt; die andern schliefen noch. Ich wollte sie nicht aufwecken, nahm meinen Luftbehälter und ging allein aus dem Wagen, um die Gegend zu erforschen. Aber kaum hatte ich mich etwas aus dem Schatten begeben, glaubte ich mich in das Innere eines glühenden Hüttenwerkes versetzt. Das war keine Hitze mehr — eine wahre Feuersbrunst ergoß sich vom Himmel; der Boden brannte mir die Füße durch die dicken Sohlen des Luftbehälters. Ich mußte meine ganze Willenskraft zusammennehmen, um nicht in den Wagen zurückzukehren.
Wir befanden uns in einem flachen Felsengang, der zwei Berge aus massivem Gestein trennte und zwischen diesen in einer Art Einsattlung endete, die, soviel ich von der Stelle wo ich stand bemerken konnte, in eine hinter jenen Hügeln nach Süden laufende Ebene überging. Diese Hügel verhüllten mir die Aussicht nach Norden und Süden. Nur nach Osten war der Blick über den Weg frei, den wir gerade zurückgelegt hatten. Ich sah auf steinige Felder, voll von Mulden, Vorsprüngen, Spalten und Gipfeln — und traute meinen eigenen Augen kaum, daß wir mit unserem großen, schweren Wagen da hindurchkommen konnten.
Auf der Erde, bei dem sechsmal größeren Gewichte, wäre das geradezu unmöglich gewesen.
In diesem Augenblicke fühlte ich, daß mich jemand berührte. Ich sah mich um; hinter mir stand Varadol und machte verzweifelte Zeichen. Er hatte, gleich mir, den Luftbehälter angelegt und den Wagen verlassen, da er aber das Sprachrohr nicht mitgenommen, konnten wir uns nicht verständigen. Ich sah nur, daß er blaß und furchtbar erregt war. Ich glaubte, es sei mit Tomas schlechter geworden und stürzte zum Wagen zurück. Er folgte mir.
Kaum hatten wir uns der Luftbehälter entledigt, als Varadol mit vor Aufregung zitternder Stimme sagte:
— Wecke die andern nicht auf und höre: es ist etwas Furchtbares geschehen, ich habe mich geirrt.
— Inwiefern? rief ich, ohne zu begreifen, um was es sich eigentlich handelte.
— Wir sind nicht auf den Sinus Medii gefallen.
— Wo sind wir also?
— Unter dem Eratosthenes, auf der Einsattelung, die diesen Krater mit dem Mond-Apennin verbindet.
Mir wurde schwarz vor den Augen. Ich wußte aus den auf der Erde gemachten photographischen Aufnahmen der Mondoberfläche, daß der Grat, auf dem wir uns demnach befanden, fast senkrecht gegen die nach Westen zu gelegene mächtige Fläche des Mare Imbrium abfällt.
— Wie kommen wir hier herunter? rief ich entsetzt.
— Ruhig. Gott allein weiß es. Es ist meine Schuld. Wir sind auf dem Sinus Aestuum. Sieh ...
Er schob mir eine Karte und einige Blätter zu, die mit Reihen von Ziffern beschrieben waren.
— Irrst du dich nicht etwa? frug ich, einer letzten Hoffnung Raum gebend.
— Diesmal irre ich mich sicher nicht, leider! Auch die anderen Messungen waren ganz genau, ich vergaß nur, daß sich damals die Erde nicht im Zenite über dem Mittelpunkt der Mondscheibe befinden konnte. Du weißt doch, daß der Mond während der Drehung um die Achse kleinen Schwankungen, den sogenannten Librationen unterliegt, wodurch die Erde nicht gänzlich unbeweglich am Himmel erscheint, sondern eine kleine Ellipse umschreibt. Ich habe nun vergessen, aus dieser ihrer Neigung vom Zenit die Verbesserungen vorzunehmen und infolgedessen ihrer Lage nach die Mondlänge und -breite des Punktes, auf dem ich die Messungen machte, falsch bezeichnet. Jetzt können wir das alle mit dem Leben bezahlen!
— Beruhige dich! sagte ich, obwohl ich am ganzen Körper bebte. Vielleicht gelingt es dennoch, uns zu retten.
Wir machten uns zusammen an die Untersuchung der Messungen. Diesmal war jeder Zweifel ausgeschlossen. Nachdem die notwendige Verbesserung vorgenommen war, zeigte es sich, daß wir auf dem Sinus Aestuum unter dem 7.° 35’ westlicher Mondlänge und dem 13.° 8’ nördlicher Mondbreite herabgefallen sind. Wir bewegten uns die ganze Zeit hindurch längs den steilen Bergen, zu Füßen des mächtigen Eratosthenes, vor uns den nicht großen, aber außerordentlich steilen Krater ohne Namen, der in dem hier schon beginnenden Apennin eingeschlossen ist. Gegenwärtig befanden wir uns unter dem 11.° westlicher Mondlänge und dem 15.° 51’ nördlicher Mondbreite.
Wir bezeichneten uns diesen Punkt auf der Mondkarte. Nach dieser erhebt sich die Einsattelung, die wir einige hundert Schritte weit vor uns hatten, neunhundertzweiundsechzig Meter über dem Mare Imbrium.
Es ist doch seltsam: während die Astronomen auf der Erde aus der Entfernung von Hunderttausenden von Kilometern mit Leichtigkeit die Höhe eines jeden Mondberges berechnen, indem sie im Teleskop die Länge des Schattens, den er wirft, messen, mußten wir, die wir uns auf diesem Berge befinden, zu der auf der Erde gemachten Karte flüchten, um konstatieren zu können, wie hoch er sich erhebt. Der Mangel der Atmosphäre macht die barometrischen Messungen der Höhe unmöglich. Die Veränderung, die wir am Barometer bemerkt hatten beruhte darauf, daß das Quecksilber bis zum Nullpunkt gesunken war. Auf der Höhe, auf welcher wir uns befanden war eine absolute Leere.
Tomas und Martha erwachten bald darauf. Es war unmöglich ihnen die entsetzliche Situation zu verheimlichen, doch schienen unsere Eröffnungen keinen besonderen Eindruck auf sie zu machen. Tomas runzelte die Stirn und biß die Lippen zusammen, während sich Martha, soweit ich aus ihrem Benehmen schließen konnte, keine klare Rechenschaft über das Grauen der Lage zu geben vermochte.
— Wir werden hinabfahren, sagte sie, wie wir heraufgefahren sind, oder umkehren ...
Wir werden hinabfahren, wie wir heraufgefahren sind! Mein Gott, es war doch nur ein reiner Zufall, daß wir den Weg gefunden haben, der uns hierher führte! Und umkehren? — So viel vergebliche Mühen und verlorene Stunden? ...
Wir beschlossen endlich uns auf die Einsattelung zu begeben um zu sehen, ob wir uns nicht auf die Ebene Mare Imbrium herablassen könnten. Nach einigen Minuten befand sich unser Wagen an dem Abgrund!
Der Anblick, der sich uns bot, machte uns erstarren. Der Felsen brach zu unseren Füßen fast senkrecht ab und dort unten, tausend Meter tiefer, erstreckte sich, soweit das Auge reichte, die Ebene Mare Imbrium, von einigen zerstreut liegenden Bergen unterbrochen. Das Fehlen der Luftperspektive brachte es mit sich, daß auch die ziemlich entfernt liegenden Gipfel deutlich sichtbar waren und sich mit ihrem märchenhaft schimmernden Weiß vom schwarzen Hintergrund des sternenbesäten Himmels abhoben. Ein wahrhaft bezaubernder Anblick, über den wir für einen Augenblick das Grauenhafte unserer Lage vergaßen.
Am Horizonte gegen Norden starrte inmitten der unermeßlichen Fläche, wie eine Insel im Meere, der majestätische Krater Timocharis, vierhundert Kilometer von uns entfernt und gegen siebentausend Fuß hoch.
Auf der Erde nehmen die aus der Ferne gesehenen Berge infolge der unklaren Luft eine blaßbläuliche Farbe an; hier erschien jener Gipfel, in der Sonne erglänzend, wie ein weiß erglühter Stahl, mit großen schwarzen Streifen von Schatten und rotschimmernden Adern dunklerer Felsen durchzogen. Etwas gegen Westen sah man ebenfalls deutlich am Himmel die Zacken des Kraters Lambert, der kleiner und weiter entfernt war. Im Westen selbst begrenzten den Horizont zahlreiche niedere Höhenzüge und Felsen, sich mit der uns viel näher liegenden Kette der Mond-Karpaten vereinigend, die das Mare Imbrium von Süden her einschließen.
Hinter dieser Kette, die sich in der Richtung unseres Sehwinkels erstreckte, erhoben sich in der Ferne von Südwesten her die auf kleineren Hügeln gestützten mächtigen Gipfel des Kopernikus, eines der größten Berge auf dem Monde. Wenn ich sagte, daß der Timocharis wie glühender Stahl leuchtete, so habe ich kein Gleichnis mehr zur Beschreibung des blendenden Lichtes, das sich aus der Entfernung von Hunderten von Kilometern von jenem riesenhaften Felsenringe her ergoß, der einen Durchmesser von neunzig Kilometern hat!
Im Nordosten, in endloser Weite, lagen die Gipfel des breiten Zirkus des Archimedes. Der Blick nach Osten und Süden war uns verschlossen — von der einen Seite durch die Kette des Mond-Apennins, von der andern durch den Eratosthenes, der durch den Paß, auf dem wir gerade stehen, mit dem Apennin verbunden ist.
Und in diesem Rahmen das Regenmeer. Wie ironisch erschien uns diese Bezeichnung, die von den alten Astronomen auf der Erde erdacht wurde! Eine entsetzliche Wüste, kalt und grau, hie und da durch große Spalten zerrissen, die, zu länglichen Garben gedehnt, sich vom Timocharis zum Eratosthenes erstrecken. Nirgends eine Spur von Leben! Nur am Fuße der mächtigen, weit entfernten Krater schimmerten in der Sonne vereinzelte, kostbaren Edelsteinen gleichende, gelbe, rote und stahlbläuliche Adern von Felsschichten.
Wir starrten schweigend vor uns hin und wußten nicht, welchen Weg wir wählen sollten. Wenn wir die Fläche des Regenmeeres erreichten, hätten wir eine Strecke vor uns, auf der wir uns schnell vorwärtsbewegen könnten; aber darin lag eben die Schwierigkeit; wie sollten wir dorthin gelangen? Wie uns von jener tausend Meter hohen, senkrechten Wand hinablassen?
Nach kurzer Beratung gingen wir zu Fuß nach Süden, in der Hoffnung, daß es uns vielleicht gelingen könnte, abseits vom Krater des Eratosthenes einen Weg zu finden. Wir schritten auf der schmalen Fläche, die zwischen den Felsen und dem Abgrund lag, der sich nach dem Mare Imbrium zu öffnete. An der einen Stelle war der Durchgang so eng, daß wir schon umkehren wollten, weil es uns unmöglich schien hier mit dem Wagen durchzukommen. Zum Glück erinnerte uns Martha, die uns begleitete, daß wir einen Vorrat von Minen besitzen, mit denen sich die nicht große, uns den Weg versperrende Steinschwelle mit Leichtigkeit sprengen ließe. Wir passierten sie daher, über den schwindelnden Abgrund schlüpfend, und gingen weiter. Jetzt erhob sich der Gebirgskamm, der breiter und flacher wurde, langsam nach oben. Wir gingen immer nach Süden zu. Rechts und links starrten die Riesengipfel des Ringes des Eratosthenes.
Zwei Stunden nach der Umkreisung jener Schwelle wurden wir durch einen neuen Abgrund aufgehalten, der sich so unerwartet vor uns auftat, daß Peter, der voranging, mit einem Schrei des Entsetzens zurückprallte. In der Tat war der Anblick, den wir jetzt vor uns hatten, wohl das Furchtbarste, was man sich vorstellen kann.
Immer in südlicher Richtung vorwärtsdringend, gelangten wir, ohne zu wissen wie, in eine tiefe Scharte, die schon am Rande des Eratosthenes lag. Zur Rechten und zur Linken türmten sich zerrissene Gipfel, von denen der eine weißschimmernd im Sonnenglanze erstrahlte, während sich der andere im Schatten in tiefes Schwarz hüllte. Und vor uns ... Nein, wer vermag das zu beschreiben! — Vor uns ein Abgrund! Eine unabsehbare, bodenlose Untiefe. Es lag etwas so grauenhaft Raubgieriges in dieser Majestät des Schreckens und der Starrheit, daß mich noch jetzt Schauer der Angst schütteln, wenn ich daran zurückdenke!
Wir sahen in das Innere des Kraters des Eratosthenes.
Ein mächtiger Bergwall, wie eine Säge mit Zacken besetzt, bildete einen geschlossenen Kreis von einigen zehn Kilometern im Durchmesser und auf diese Weise eine Mulde, die furchtbarste wahrscheinlich, die das menschliche Auge je gesehen hat. Die Gipfel, viertausend Meter über den Grund dieser Tiefe des Grauens emporragend, fielen fast senkrecht in seltsamen Windungen ab, als wenn sich Steinkaskaden in wilden Sprüngen herabwälzten. Die Mulde, die im Verhältnis zu der Oberfläche des durch den Wall abgetrennten Mare Imbrium zweitausend Meter tiefer lag, erschien uns noch unergründlicher durch die mächtigen sich daneben auftürmenden Berge und die dichten Schatten, die sie gespensterhaft einhüllten. Aus ihrem Grunde reckten sich noch einige vereinzelte kegelförmige Gipfel, die beinahe die halbe Höhe des benachbarten Walls erreichten. Wir blickten von unserem Steinfenster auf sie herab. Kleine, dunkelgraue Rauchwolken stiegen von Zeit zu Zeit empor und senkten sich infolge der fehlenden Atmosphäre sofort wieder, um sich am Fuße der Berge wie Asche auszubreiten. Es war kein Zweifel, daß wir hier noch nicht erloschene Vulkane vor uns hatten.
Die grellen Gegensätze von Licht und Schatten vergrößerten noch das Gefühl des Grauens. Der ganze östliche Rand des Innern war in geheimnisvolle Dämmerung gehüllt, die mit dem schwarzen Himmel zusammenzufließen schien. Der westliche Rand hingegen flammte in der Sonne wie eine weiße, von dunklen Bergrinnen zerrissene und mit unzähligen spitzen Gipfeln bedeckte Wand, gleich Elfenbeintürmen, die auf dem Hintergrunde der schwarzen Schattenflecke leuchteten. Nach Süden zu erschien der Wall durch die Entfernung niedriger und erweckte den Eindruck, das mit Stacheln versehene Tor dieser Untiefe zu sein. Zu unseren Füßen — ein schwindelnder Abgrund.
Und über all dem Schauerlich-Erhabenen wandelte am schwarzen Himmel die feurige, strahlenlose Sonne, immer näher der Erde, die, in starrem Glanze schimmernd, zu einer schmalen, scharfen Sichel gekrümmt, über diesem Tal schwebte wie ein Zeichen des Todes.
Unwillkürlich dröhnten mir die Worte Dantes in den Ohren:
Vero é che in su la proda mi trovai
della valle d’abisso dolorosa ....
Und bei dieser Erinnerung tauchten in meinem vor Ermattung, Glut und Entsetzen geschwächten Gehirne Visionen der Danteschen Hölle auf, die nicht furchtbarer sein konnte als das, was ich hier vor mir sah! Der am Boden des mächtigen Kessels sich wälzende Rauch schien mir der Geistertanz der Verfluchten zu sein, die sich im Wirbel um Luzifers mächtige Gestalt drehten, dessen Formen einer der Vulkankegel in meinen Augen annahm ... Geister — Geister — eine entsetzliche Prozession der Verfluchten! Sie ziehen dahin, fließen in mächtigen Fluten über die felsigen Abhänge der Untiefe, gleiten in den Abgrund, wälzen — drängen sich. Einige wollen sich erheben, auf — auf — zur Sonne — sie reißen sich vom Boden los und stürzen, wieder zusammenfallend, wie Bleiklumpen auf dieselbe Stelle, — hinab — hinab zur ewigen Verdammnis ...
Und alles das spielt sich in dieser entsetzenerregenden, schaudervollen Stille ab ...
Die Welt begann mir im Kopfe zu wirbeln; ich fühlte, daß ich einer Ohnmacht nahe war.
Da vernahm ich Weinen. Ich war so verwirrt, daß ich im ersten Augenblick wirklich glaubte das Jammern der Verfluchten zu hören. Aber diesmal war es keine Vision. Es war wirkliches, herzzerreißendes Weinen, das durch das Rohr, das die Köpfe unserer Luftbehälter verband, zu mir drang.
Ich erwachte aus meiner Betäubung und blickte um mich. Woodbell stand da wie versteinert, den Rücken an den Felsen gelehnt, blaß, mit gesenktem Haupte. Varadol glich in seinen Bewegungen einem gefesselten wilden Tiere; er stampfte unruhig auf und ab, soweit es ihm der Boden und die Länge des Rohres erlaubte und sah sich nach allen Seiten um, als wenn er zwischen diesen Steinmassen einen Weg und Ausgang suchte. Martha kniete am Boden, von einem Schluchzen, das durch die höchste Erregung der Nerven hervorgerufen wurde, geschüttelt.
Ein grenzenloses Erbarmen erfaßte mich. Ich näherte mich ihr und legte langsam den Arm um ihre Schultern. Da begann sie wie ein Kind zu klagen und rief, wie in jener denkwürdigen langen Nacht vor dem Tode O’Tamors:
— Auf die Erde! Auf die Erde!
In ihrer Stimme lag eine so tiefe, markerschütternde Verzweiflung, daß ich kein Wort finden konnte, sie zu trösten. Wie sollte ich das auch anfangen? Unsere Situation war tatsächlich eine verzweifelte. Ich wandte mich zu Varadol:
— Was soll jetzt werden?
Peter zuckte die Achseln.
— Ich weiß, nicht ... Der Tod. Es ist doch unmöglich, hier herunterzukommen.
— Und wenn wir umkehrten? warf ich ein.
— O ja! Umkehren! Umkehren! schluchzte Martha.
Varadol schien ihr Weinen nicht zu hören. Er sah eine Zeitlang vor sich hin, dann antwortete er, sich zu mir wendend:
— Umkehren ... Höchstens um auf einem andern Wege auf dasselbe Hindernis zu stoßen, nachdem wir schon so viel kostbare Zeit verloren haben. Sieh!
Er wandte sich mit dem Gesicht nach Norden und blickte über die unabsehbare Fläche des Mare Imbrium.
— Wenn wir dorthin gelangen könnten, sagte er, würden wir einen verhältnismäßig ebenen Weg vor uns haben, aber wie wäre das zu ermöglichen ... Höchstens wenn wir uns kopfüber ...
Ich folgte mit den Blicken der bezeichneten Richtung. Das Regenmeer, glatt und eben, von der Sonne beleuchtet, erschien mir als ein Paradies, im Vergleich mit dem furchtbaren Innern des Eratosthenes. Es begann fast dicht unter unseren Füßen, scheinbar so nahe, daß ein Sprung genügen würde, es zu erreichen. Doch trennte uns ein senkrecht abstürzender, tausend Meter hoher Felsen von dieser Ebene.
Wir drängten uns alle aneinander und sahen mit unaussprechlicher Sehnsucht hinunter. Wir fühlten weder Ermattung, noch die brennenden Strahlen der Sonne, die bereits hinter der Felsengrenze über uns aufging.
Nach einer Weile wiederholte Peter:
— Dorthin werden wir nicht gelangen ...
Ein lauter Weinkrampf Marthas, die nicht mehr fähig war sich zu beherrschen, antwortete ihm.
— Schweig! schrie Varadol, sie bei der Schulter packend, oder ich werfe dich von hier hinab! Wir haben genug Sorgen!
Da trat plötzlich Tomas hervor.
— Sei still — und du weine nicht; wir werden auf das Mare Imbrium hinüberkommen, — holen wir den Wagen.
Es war so viel Entschlossenheit in diesen ruhig gesprochenen Worten, daß wir seine Weisung sofort ausführen wollten und nicht wagten uns zu widersetzen oder auch nur zu fragen.
Woodbell hielt uns noch zurück.
— Seht, sagte er, auf die äußeren, dem Regenmeere zugewandten Abhänge des Eratosthenes zeigend, seht ihr diese Kante dort, die fünfzig Meter tiefer am Fuße der Wand liegt? Soweit man von hier berechnen kann, senkt sie sich ziemlich sanft bis zur Fläche; da werden wir hinunterfahren können ...
— Aber diese Wand ... flüsterte ich, unwillkürlich auf den senkrecht herabstürzenden Felsen blickend, der uns von dem ziemlich breiten Grat der Kante trennte.
— Unsinn, wir sind doch geübt im Erklettern der Felsen! Wir werden sie seitlich leicht umgehen können.
— Und der Wagen? ...
— Den Wagen werden wir zuerst herunterlassen, nachdem wir ihn an Seilen festgebunden haben. Vergeßt nicht, daß wir auf dem Monde sind, wo alles sechsmal leichter ist und das Herabfallen aus einer Höhe von fünfzig Metern nicht mehr bedeutet wie auf der Erde ein Fall von acht!
Tomas’ Rat wurde also befolgt.
Hundertneun Stunden nach Sonnenaufgang begannen wir den steilen Abhang des Eratosthenes hinabzufahren, um zum Mare Imbrium zu gelangen. Fast drei ganze Erdentage dauerte das Hinunterlassen in die Ebene, die dicht zu unsern Füßen lag. Den größten Teil des Weges legten wir zu Fuß zurück, von unbarmherzigen, immer senkrechter auf uns niederbrennenden Sonnenstrahlen gequält, vor Ermattung und Erschöpfung fast umsinkend. Den Wagen mußten wir aus einer Höhe von zirka fünfzig Metern herablassen; er blieb unbeschädigt. Aber die Hunde, die wir einschließen mußten, waren, trotz unserer größten Vorsicht, schrecklich zerschlagen und zerschunden. Einige Male hielten wir an, da wir die Hoffnung aufgaben, lebend in die Ebene hinabzukommen. Die Kante war kein so erträglicher Weg, wie uns dies von oben aus der Ferne geschienen. Durch Zerklüftungen und Vorsprünge zerrissen, zwang sie uns oft umzukehren oder Stellen zu umgehen, was um so schwieriger war, weil wir überall den Wagen hinter uns herschleppen oder an Seilen herablassen mußten. Oft packte uns die Verzweiflung. Dann zeigte Woodbell, obwohl durch das Fieber und die Wunden geschwächt, am meisten Geistesgegenwart und Willensstärke. Wenn wir leben und leben werden, so haben wir es ihm zu verdanken.
Ich weiß nicht, ob wir während dieser drei Tage mehr geschlafen haben als zwölf Stunden, jedesmal eine leidlich schattige Stelle heraussuchend, um uns vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Manchmal nahm die mörderische Glut uns gänzlich das Bewußtsein.
Es war gerade Mondmittag, und die Sonne stand senkrecht über uns, neben der verblaßten Erdkugel, die mit einem blutroten Reifen lichtdurchtränkter Atmosphäre umgeben war, als wir, bis zum äußersten erschöpft, endlich auf der Ebene anlangten.
Die Glut war so groß, daß sie uns den Atem nahm; in den Schläfen klopfte und hämmerte es zum Zerspringen. Sogar der Schatten gab keinen Schutz mehr! Die glühenden Felsen flammten überall wie im Feuer, wie der Rachen eines Hüttenofens.
Selena keuchte mit heraushängender Zunge, die Jungen winselten und lagen bewegungslos in der Wagenecke. Wir wurden, einer nach dem andern, ohnmächtig und glaubten, daß uns der Tod am Eingang der so ersehnten Ebene ereilen müsse. Nur vor der Sonne fliehen — aber wohin?
Da erinnerte uns Martha daran, daß wir beim Abstieg vom Berge eine tiefe Spalte sahen, die jetzt scheinbar durch die Ungleichmäßigkeit des Grundes vor uns verdeckt war. Wir fuhren daher in der bezeichneten Richtung und fanden wirklich nach einer Stunde Fahrt, die uns wie ein Jahr vorkam, jene rettende Spalte, das heißt eine Schlucht, durch das Bersten der Mondschale gebildet, tausend Meter tief und einige hundert breit, im übrigen den Schluchten auf der Erde in keiner Weise ähnlich.
Sie zieht sich, soweit wir von hier aus berechnen können, einige zehn Kilometer parallel der Apenninkette hin. Auf den Mondkarten ist sie nicht angegeben; wahrscheinlich entging sie den Astronomen infolge des Schattens, in den sie immer gehüllt sein muß, da sie in der Nähe hoher Berge liegt.
Uns wurde diese Spalte zur Rettung! Wir fuhren schnell in ihre Tiefe hinab, tausend Meter unter der Oberfläche des Mare Imbrium und fanden dort erst ein wenig Kühle ....
Der Schlaf hat uns gestärkt und erquickt. Nur Tomas, den bis jetzt eine eiserne Willenskraft aufrecht hielt, fiebert wieder. Er ist so geschwächt, daß er sich nicht rühren kann. Trotzdem werden wir in zirka zwanzig Stunden weiterfahren. Die Sonne beginnt sich vom Zenit nach Westen zu neigen. Dort auf der Ebene muß die Glut immer noch entsetzlich sein, aber jedesfalls nicht mehr so wie vor einigen Stunden. Übrigens können wir sie nach der Rast leichter ertragen.
Nach langer Überlegung änderten wir den Plan der Fahrt. Statt nach Westen werden wir uns nach Norden wenden, zum Pol des Mondes. Wir gewinnen dabei zweifach. Vor allem haben wir tausend Kilometer guten, glatten Weg durch die Ebene Mare Imbrium vor uns, was die Fahrt bedeutend beschleunigen wird. Dann kommen wir, uns dem Pole nähernd, in eine Gegend, wo die Sonne am Tage nicht so hoch über dem Horizonte steht, dahingegen in der Nacht tief unter den Horizont fällt; wir hoffen dort also eine erträglichere Temperatur zu finden. Noch ein solcher Mittag wie heute — und unser Tod wäre unabwendbar.
Auf Mare Imbrium, dreihundertvierzig Stunden nach Sonnenaufgang.
Der Tag geht schon zur Neige. Bald in 14½ Stunden wird die Sonne untergehen, die jetzt über den fernen, runden Hügeln im Westen steht, — kaum einige Fuß über dem Horizonte. Jede Ungleichmäßigkeit des Terrains, jeder Stein, die kleinste Erhebung werfen lange, unbewegliche Schatten, die die mächtige Ebene, auf der wir uns befinden, in einer Richtung zerschneiden. Soweit das Auge reicht, nichts als eine endlose, tote Wüste, von Süden nach Norden in lange Steinfurchen gepflügt, die jene schwarzen Schattenstreifen kreuzen ... Weit, weit am Horizonte starren die höchsten Bergspitzen, die wir vom Eratosthenes aus gesehen haben und deren Fuß jetzt durch die Kugelform des Mondglobus vor uns verhüllt ist.
In dem Maße wie wir uns vom Äquator entfernen, neigt sich die gläserne Erde über uns vom Zenit nach Süden. Sie nähert sich bereits dem ersten Viertel und leuchtet hell — wie sieben Vollmonde. Dort, wohin der schwächer werdende Glanz der Sonne nicht dringt, färbt sich ihr gespensterhaftes Licht in zartes Silbergrau. Wir haben zwei Himmelslichter, von denen durch den Kontrast das eine, stärkere, gelb und das andere blaßbläulich erscheint. Diese ganze Welt ist zur Hälfte grellgelb und zur Hälfte graublau. Wenn ich nach Osten sehe, färben sich die Wüste und die weit entfernten Gipfel des Mond-Apennins gelb; von Westen, gegen die Sonne, ist alles kalt, bläulich und in Dämmerung gehüllt. Und über der zweifarbigen Wüste immer dieser schwarzsamtene Himmel, mit verschiedenfarbigen, funkelnden Steinen, mit wundervollem Staub vom feinsten goldenen Sand übersät ...
Die Nacht ist nahe. Sie hat schon ihren Verkünder ausgesandt, den einzigen, der ihr auf dieser Welt ohne Dämmerung und Abendröte geblieben ist ... Ihr voran geht die Kühle über die Wüste, setzt sich in jede Spalte, in jeden Schatten und wartet geduldig, — früh wird die Sonne vom Firmamente herabgleiten, ihr und der Nacht die Alleinherrschaft überlassend ...
Solange wir in dem vollen Glanze sind, ahnen wir nicht einmal die Gegenwart dieses Kameraden, aber im Schatten erfaßt unsere durchwärmten Glieder bereits ein leichter Schauer, der uns von seiner Nähe spricht ...
In unserem verschlossenen Wagen ist es nicht mehr so dumpf und uns allen ist etwas leichter und froher zumute. Varadol schmiedet hoffnungsvoll wieder Pläne oder spielt mit der Hündin und ihren Jungen; Woodbell ist bedeutend wohler; er unterhält sich jetzt, am Steuer stehend, mit Martha. Wenn ich den Blick vom Papier erhebe, sehe ich sie beide. Vor allem sehe ich Martha deutlich; sie lacht gerade. Sie lacht so seltsam. Ihre Lippen nehmen eine Form an, als wenn sie die Luft küßten. Ihre Augen sind voll von diesem Lachen wie ihre Brust, die sich in leichter, schneller Bewegung hebt und senkt. Während der Glut des Tages war ihre Brust entblößt; sogar für sie, die die indische Sonne braun gebrannt hat, war die Hitze unerträglich. Jetzt hüllt sie sich bis zum Halse ein ... Es ist unsinnig, daß ich so viel an diese Frau denke, — aber sie ist ja überall. Seit der Tod sich ein wenig von unserem Wagen entfernt hat, ist die ganze Atmosphäre von ihr durchtränkt. Sogar Varadol! Er spielt mit den Hunden, aber ich weiß, daß er sie verstohlen anblickt. Mich ärgert das. Warum bemerkt es Tomas nicht? Und übrigens — was geht es mich an?
Fast sechzig Stunden sind wir unterwegs. Der Wagen fährt ununterbrochen. Wir schlafen abwechselnd; jetzt will ich weiterschreiben. Wir blieben etwas stehen, die Akkumulatoren unseres Elektromotors zu füllen. Um Brennmaterial, das wir in der nächtlichen Kälte noch viel verbrauchen werden, zu sparen, setzten wir die Maschine mit Hilfe der sich ausdehnenden, verdichteten Luft in Bewegung. Die Akkumulatoren mußten wir füllen, weil die Batterien allein bei der schnellen Fahrt nicht genügen.
Wir bewegen uns so schnell vorwärts, wie es das Terrain irgend zuläßt. Größere Ungleichmäßigkeiten des Bodens erlaubten uns nicht, nachdem wir die „Spalte der Erlösung“ verließen, uns sofort nach Norden zu wenden. (Wir bezeichneten jene Schlucht unter dem Eratosthenes mit diesem Namen, da sie uns durch ihre Kühle tatsächlich vom Tode erlöste.) Unter dem 12.° westlicher Länge stießen wir auf einen jener Lichtstreifen, die wie Strahlen vom Berge des Kopernikus, auf Hunderte von Kilometern im Umkreis, ausgehen. Diese Streifen, die man sogar durch schwächere Teleskope von der Erde aus sehen kann, setzten die Astronomen immer in Staunen. Wie wir uns mit eigenen Augen überzeugt haben, sind dies einige Kilometer breite Streifen eines zu Glas geschmolzenen Felsengesteins. Ich kann mir das Entstehen dieser seltsamen Bildungen nicht erklären ... Überhaupt ist hier so vieles für uns ein Rätsel, selbst Dinge, die wir fast mit Händen greifen können. Wie ist jene Ebene entstanden, auf der wir uns befinden, — wie die Ringberge, von manchmal Hunderten von Kilometern im Durchmesser und einigen tausend Metern Höhe? Daß dies keine erloschenen Vulkankrater sind, wie man einst auf der Erde behauptete, steht wohl fest. Wir sahen in das Innere des Eratosthenes und bemerkten dort vulkanische Kegel, die sich in nichts von den Erd-Vulkanen unterschieden; aber dieser mächtige Ring selbst war niemals ein Krater! Dagegen spricht — abgesehen von seinen riesigen Dimensionen — sowohl die Art des Felsens, aus dem der Wall gebildet ist, wie die Einsenkung des Bodens, der unter der Oberfläche der ihn umgebenden Ebenen liegt und viele andere Dinge, die bestätigt zu finden wir Gelegenheit hatten.
Ich glaube man muß, um diese Formation zu verstehen, im Geiste zu jenen grauen Zeiten zurückkehren, da der Mond noch eine flüssige, glühende Kugel war, die erst auf der Oberfläche in dem kalten, interplanetarischen Weltenraum zu erlöschen begann. Da haben diese ungeheuerlichen, die menschliche Vorstellungskraft überschreitenden Explosionen von Gasen, die durch die flüssige Masse verschlungen und während ihres Erlöschens ausgestoßen wurden, seine noch nachgiebige Oberfläche gedehnt und bildeten sozusagen riesige Blasen. Die Blasen erloschen beim Zerplatzen, ehe sie ganz auf die sie umgebende Ebene herabflossen und diese Ringberge sind ihre Spuren. Später hat die Sonne ihre Gipfel herausgebrannt, sie zerschnitten und zerrissen; vulkanische Kräfte bildeten in ihrem Innern kegelförmige Krater und so sind sie heute — durch das auf der Erde alles nivellierende Wasser nicht vernichtet — Zeugen der Schöpfermacht im Weltall, für die die Planeten und die feurigen Kugeln der Sonnen nur ein gehorsames Material in dem mächtigen Tiegel des ewigen Werdens sind.
So lebhaft sprechen die großen Berge und die kleinen, ähnlich wie sie entstandenen Mulden, die man am Wege antrifft, und diese ganze mich umgebende Landschaft zu mir, daß es mir manchmal scheinen will, die von der Sonne grellgelb gebrannten Steine seien noch jetzt eine glühende, flüssige und fast lebendige Masse; bald, dünkt mich, müsse die ganze Fläche wie ein Meer zu gären beginnen, sich biegen und beugen und wachsen und sich bäumen und unter dem Drange der inneren Gase zu dem schwarzen Himmel mit der ursprünglichen Lava emporschäumen, die zu mächtigen Ringbergen erstarrt ist.
Und wie viele Hunderte von Jahrtausenden sind seit jenen Zeiten dahingegangen. Die Mondkruste ist, sich fortwährend krümmend, erloschen und zersprungen; irgendwelche geheimnisvolle Feuerkräfte brannten riesige Strahlenstreifen vergläserten Gesteins in ihr aus und hier, wo einst entfachte Schöpferkräfte, wild miteinander ringend, rasend tobten, herrscht jetzt eine Stille und Starrheit, so furchtbar und beklemmend, daß uns in dieser Umgebung das eigene Leben beschämt und wunder nimmt ...
Bis zu diesem Augenblick bewegten wir uns immer auf dem hellen Lichtstreifen, der durch jene Ader des zu Glas geschmolzenen Gesteins gebildet wurde, die vom Kopernikus ausging. Sie dient uns als bequemer, gleichmäßiger Weg. Ihre nordöstliche Richtung ist uns sehr gelegen, da sie uns direkt auf die Fläche zwischen dem Archimedes und Timocharis, die wir durchqueren müssen, führen wird. Den Archimedes sieht man jetzt, wo wir uns auf der Fläche befinden, nicht mehr. Kleine, steile Erhebungen, Felseninseln im Meere ähnlich, verdecken ihn in dieser Richtung. Wahrscheinlich jene Gruppe der „Krater“, die sich unter dem 11.° westlicher Länge und dem 19.° nördlicher Mondbreite erhebt. Wir hoffen sie noch vor Sonnenuntergang zu umgehen und dann nach Norden, immer nach Norden, nur fort aus dieser furchtbaren Zone, wo sich, — neben der schlimmen Vorbedeutung der Erdsichel direkt über unseren Köpfen, — die mörderische Sonne wie ein rasendes Ungetüm am Zenite bäumt. Nein! Das ist nicht unsere lebenspendende, goldene Erden-Sonne, — diese träge, weiße, strahlenlose Kugel! Das ist irgendein Gott, ein höllischer und höhnender, ein Gott-Vernichter und Gott-Verschlinger! Und wir vier — wir sind die einzigen lebenden Opfer, auf die er es in dieser Welt des Todes abgesehen hat! Wir müssen ihm entfliehen, ehe er zum zweitenmal aus diesem schwarzen, edelsteindurchwirkten Firmament hervorbricht ...
Varadol, der Tomas ablöste, ruft mir vom Motor zu, daß jetzt die Reihe an mir ist, am Steuer des Wagens zu stehen. Die andern schlafen schon. Martha, wie gewöhnlich aus ihrer Hängematte geneigt, den Kopf auf der Brust dieses — unter uns einzigen glücklichen Menschen.
Den ersten Mondtag, vier Stunden nach Sonnenuntergang auf Mare Imbrium, 10° westlicher Länge, 20° 28’ nördlicher Mondbreite.
Schon hat die Nacht begonnen, die endlos lange, für die die Erdentage kleinere Teilchen sind als die Stunden für die ganze Erdennacht. Wie eine große, helle Uhr leuchtet, sich immer nach Süden neigend, die Erde über uns. Nach dem Gleiten des Schattens über ihre Scheibe können wir leicht die Zeit bestimmen. Sie war bei Sonnenuntergang im ersten Viertel, um Mitternacht wird sie voll sein und wiederum im Viertel sein bei Sonnenaufgang. Die Rolle des Minutenzeigers auf dieser Himmelsuhr spielen die Weltteile. Nach ihrem Untergang in den Schatten können wir die Stunden erkennen, die die Minuten für unsere siebenhundertneunstündige Zeit sind.
Nach Sonnenuntergang wurde es plötzlich so kalt, daß wir das Gefühl hatten, als wenn wir aus einem Dampfbad in ein Bassin mit Eiswasser gesprungen wären, doch wurde uns dabei eine wundervolle Überraschung bereitet: Wir erwarteten das sofortige Eintreten der Nacht, statt dessen sahen wir noch lange Zeit hindurch ein seltsames Leuchten, das mit dem Glanz der Erde rang und unseren Dämmerungen ähnlich war.
Jener Glasstreifen, auf dem wir über hundert Kilometer weit gefahren waren, nahm gerade sein Ende, als wir den Schatten der kleinen Krater, von denen ich vorher gesprochen hatte, verließen. Wir näherten uns, jetzt direkt nach Norden fahrend, schon dem zwanzigsten Parallelkreis, als die Sonnenscheibe, die vor dem Untergang nicht gerötet, sondern im Gegenteil hell und leuchtend war wie am Tage, langsam unter den Horizont zu sinken begann. Und plötzlich erfaßte uns eine furchtbare Sehnsucht nach dieser schwindenden Sonne, die sich uns erst in vierzehn Tagen wieder zeigen wird. Wir standen alle nebeneinander am westlichen Fenster unseres Wagens. Martha erhob ihre Hände zu dem untergehenden Gestirne und begann mit singender, monotoner Stimme indische Hymnen zu sprechen, mit denen die Fakire auf der Erde von dem Gotte des Lichtes Abschied nehmen.
Woodbell antwortete ihr manchmal mit unverständlichen Sätzen aus den heiligen Büchern, wahrscheinlich der Zeiten gedenkend, die er in Travancore verbracht hatte, wo er so oft die flammende Sonne in den uferlosen Ozean tauchen sah.
Die Sonne indessen, mit einem Teile der Scheibe vertieft, schien am Horizonte zu stehen und zu warten. Ihr Glanz bespiegelte die ausgestreckten Arme des Mädchens und flackerte auf ihren weißen Zähnen, die zwischen den sich öffnenden Lippen sichtbar wurden. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie beide miteinander sprechen müssen — dieses Mädchen und diese Sonne.
Nach einer halben Stunde war nur noch ein Segment der Sonnenscheibe sichtbar. Die Steinwüste verfinsterte sich unter diesem hellen Lichtstreifen, als hätte sie sich in ein Tintenmeer verwandelt. Hier und da nur schimmerten glatte Steine, die das blaßbläuliche Licht der Erde wiedergaben. Martha hatte den Hymnus bereits beendet; und stand, in die Wüste starrend, den Kopf an Tomas’ Schulter gelehnt.
Wir waren alle von einer seltsamen Trauer erfaßt; sogar Peter, der am wenigsten zur Rührung neigte, blickte finster vor sich hin und bewegte die Lippen, als wenn er leise mit seinen Gedanken Zwiesprache hielte.
Und ich selbst ... Ah ... wie wahnsinnig schnell ist mein Leben auf der Erde dahingeflogen. Ein seltsamer Reigen von Erinnerungen zog an meinem inneren Auge vorüber. Ich träumte von Weichselebenen und von den finsteren Gipfeln der Tatra — und alles war von einer unabsehbaren Menge teurer — für ewig verlorener Menschen bevölkert ... für ewig! ...
Da plötzlich erlosch die Sonne. Rote Protuberanzen flackerten wie kleine feurige Zungen noch eine Zeitlang über dem Horizont, endlich verschwanden auch sie — und in der über die Wüste hereinbrechenden Dämmerung geschah etwas so Unerwartetes, daß wir uns unwillkürlich aneinanderdrängten, als wenn wir uns vor etwas schützen wollten, das sich auf uns wirft wie eine wilde Katze. In diesem Augenblicke nämlich, als der letzte Sonnenstrahl verschwand, schoß im Westen eine lichte Säule empor, die wie eine Kuppel gewölbt war und einer wundervollen Fontäne schillernden Staubes ähnelte.
Das Zodiakallicht erglänzte vor uns in einer Erhabenheit, wie es auf der Erde menschliche Augen niemals sahen. Wir starrten lange auf diese glühende Säule, die leicht nach Süden geneigt, mit verschiedenfarbigen Sternen besät war; der kosmische Staub, durch den sie leuchteten, umkreiste die Sonne und warf nach ihrem Untergange ihr funkelndes Licht zurück.
Dann erlosch alles! Nur die Erde sahen wir noch über uns und die Sterne, — die seltsamen Sterne, ganz tief in dem schwarzen Himmel — nicht flackernd, doch verschiedenfarbig. Diese Verschiedenfarbigkeit der Sterne, die durch die hier fehlende Luft nicht verdunkelt werden ist so staunenerregend, daß ich mich nicht daran gewöhnen kann, obwohl sie doch während des ganzen Mondtages über uns glitzerten.
Die Erde gibt uns so viel Licht, daß wir bei ihrem Schein die Reise ohne Unterbrechung fortsetzen können. Das ist für uns ein sehr günstiger Umstand, da wir keine Zeit zu verlieren brauchen und während der Nacht so weit nach Norden vordringen können, daß wir den senkrechten Sonnenstrahlen des nächsten Tages nicht mehr ausgesetzt sein werden. Nur der Gedanke an die nächtliche Kälte, die uns schon zu schütteln beginnt, erfaßt uns mit Grauen.
Der Boden ist wieder ungleichmäßig, was uns zu vielen Abbiegungen und Umwegen veranlaßt, die die Reise verlangsamen. Vorn am Wagen brennen wir eine elektrische Laterne, die uns den Weg erleuchtet; ohne sie könnten wir leicht in irgendeine Spalte stürzen, die bei dem schwachen Licht der Erde nicht gut zu sehen ist. Wir richten unsere Fahrt nach den Sternen, da wir mit dem Kompaß nicht recht fertig werden können auf dieser seltsamen Welt. Dabei verändern die Metallwände des Wagens die Lage der Nadel.
Auf Mare Imbrium, 7° 45’ westlicher Länge 24° 1’ nördlicher Mondbreite, ein Uhr des zweiten Mondtages.
Mitternacht ist schon vorüber und wir haben beinahe vergessen, wie die Sonne aussieht; wir begreifen kaum mehr, wie wir uns über ihre Glut beklagen konnten. Fast hundertachtzig Stunden, die seit Sonnenuntergang verflossen, sind wir einem so unerhörten Froste ausgesetzt, daß wir das Gefühl haben, die Gedanken im Hirne müßten uns einfrieren. Unsere Öfen arbeiten mit der ganzen Kraft und wir kauern um sie herum und zittern vor Kälte.
Schreibend lehnte ich mich an den Ofen. Die Glut bratet mir den Rücken und gleichzeitig fühle ich, wie mir das Blut in den Adern gerinnt und erstarrt. Die Hunde drängen sich an uns und bellen unaufhörlich, uns aber packt schon der Wahnsinn. Wir sehen uns schweigend mit einem merkwürdigen Haß an, als wenn einer von uns daran schuld wäre, daß die Sonne hier dreihundertvierundfünfzig und eine halbe Stunde lang nicht leuchtet und wärmt ...
Ich wollte mich aufraffen und einige Eindrücke von der Reise nach Sonnenuntergang niederschreiben, aber ich sehe, daß ich nicht fähig bin auch nur die einfachsten Vorstellungen auszudrücken ... Mein Gehirn ist eingefroren ... Verworrene Bilder gleiten mir lose, unzusammenhängend durch den Kopf; ich kann sie auf keine Weise miteinander verbinden. Manchmal habe ich die Empfindung, daß ich mit offenen Augen schlafe. Ich sehe Martha, Tomas, die Hunde, Peter, den Ofen — und ich weiß nicht, was das bedeutet, ich weiß nicht, wer ich bin, wie ich hierher komme, weshalb ...
Ich wollte darüber nachdenken, mich daran erinnern, aber ich kann nicht. Es muß eine Ursache gewesen sein, daß ich mit diesen Menschen die Erde verlassen habe ... Ich erinnere mich nicht — das Denken erschöpft mich.
Es scheint mir, daß wir stehen. Ich höre das Zischen des Motors nicht, ich muß hingehen und nachsehen, was geschehen ist; aber ich weiß, daß weder ich noch sie — daß niemand dies tun wird. Wir müßten uns vom Ofen entfernen. Eine wahnsinnige Kälte!
Durch das Fenster sehe ich Felsen, die von der Erde hell beleuchtet sind. Vielleicht stehen wir deshalb, weil wir zwischen Felsen gerieten ...
Das ist alles seltsam und gleichgültig ...
Was schreibe ich? Habe ich wirklich den Verstand verloren? Ich bin sehr müde und ich weiß, daß ich erfrieren und nicht mehr aufwachen werde, wenn ich einschlafe ... Man muß den Schlaf abschütteln, zum Bewußtsein kommen ...
Es ist sonderbar, daß die Kälte während der ersten Nacht auf dem Sinus Aestuum nicht so furchtbar war. Scheinbar erstrecken sich unter jener Fläche vulkanische Adern, die den Boden etwas erwärmen.
Schreiben, schreiben, nur nicht einschlafen, denn das bedeutet sterben ...
Seit Sonnenuntergang fuhren wir immer nach Nordwesten — in stets stärkerem Lichte der zunehmenden Erde und in immer zunehmender Kälte. Unter dem 9.° westlicher Länge und dem 21.° nördlicher Breite durchdrangen wir die niedrigen, runden Wälle, die uns den Weg versperrten. Wir änderten den Kurs; statt direkt nach Norden wendeten wir uns nach Nordosten, in der Richtung der Berge, die sich um den Ring des Archimedes ausdehnen, in der Hoffnung, daß wir hier irgendeinen tätigen Krater finden und in ihm ein wenig Wärme. Wir sind an der Grenze dieses gebirgigen Landes, aber alles bleibt starr und kalt. Wir fuhren in die Mitte des Halbmondes hinein, der von den amphitheatralisch sich erhebenden Felsen gebildet wird. Varadol machte astronomische Messungen, um die Lage dieser Berge zu bestimmen. Aus seinen Messungen geht hervor, daß dies eine Erhöhung ist, die auf den Mondkarten gewöhnlich mit dem Buchstaben E bezeichnet wird und unter dem 7.° 45’ westlicher Länge, 24.° 1’ nördlicher Mondbreite liegt.
Kälte, Kälte, Kälte ... Aber man muß sich überwinden und nicht schlafen. Nur nicht schlafen, das wäre der Tod! Dieser Tod muß hier irgendwo in der Nähe sein. Dort auf der Erde müßten sie ihn auf dem Monde sitzend malen, denn das ist sein Königreich ...
Weshalb stehen wir? Ach — richtig! Es ist alles einerlei!
Ja, man muß sich überwinden. Wovon schrieb ich? Aha! Diese Berge ... Das seltsame Amphitheater, zirka vier Kilometer breit, nach Süden geöffnet. Über ihm hängt, wie eine Lampe, die Erde. Der höchste Gipfel im Norden, direkt vor uns, ist wahrscheinlich gegen zwölfhundert Meter hoch. Das alles sieht so furchtbar aus. Ein Theater für Riesen, für Ungeheuer — für Skelette von Riesen. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn sich diese Abhänge plötzlich mit einer Menge von riesigen Skeletten anfüllten, die langsam im Lichte der Erde dahinschreiten und die Plätze der Zuschauer einnehmen. Die Riesenschädel derjenigen, die am höchsten Platz genommen haben, würden am Hintergrunde des schwarzen, sternenbesäten Himmels weiß leuchten! Es scheint mir, daß ich das alles sehe. Die Skelette von Giganten sitzen und sprechen so zueinander: „Welche Stunde ist es? Es ist bereits Mitternacht; die Erde, unsere große, lichte Uhr, steht schon voll am Himmel — es ist Zeit, zu beginnen.“ Und dann zu uns: „Es ist Zeit, zu beginnen, sterbt also; wir sehen zu“ ...
Schauer schütteln mich ...
Palus Putredinis, auf dem Grund der Spalte δ, 7° 36’ westlicher Länge, 26° nördlicher Mondbreite. Zweiter Tag. 62 Stunden nach Mitternacht.
Es ist also geschehen. Wir sind zum Tode verurteilt, ohne jegliche Hoffnung auf Rettung. Wir wissen das seit sechzig Stunden; Zeit genug, sich mit dem Gedanken zu befreunden. Und dennoch — dieser Tod ...
Ruhe, Ruhe, das führt doch zu nichts. Man muß sich mit dem aussöhnen, was unabwendbar ist. Übrigens ist es für uns doch nichts Unerwartetes. Als wir diese Reise antraten — noch dort auf der Erde — wußten wir, daß wir uns dem Tode aussetzten. Aber warum ist dieser Tod nicht plötzlich über uns gekommen, wie ein Blitz, warum hat er sich vor uns gezeigt und nähert sich so langsam, daß man jeden seiner Schritte berechnen kann, — daß wir genau wissen, wann er uns mit der kalten Hand an der Gurgel packen und würgen wird ...
Ja, würgen. Wir werden alle ersticken. Der Vorrat an verdichteter Luft wird uns bei höchster Sparsamkeit noch für kaum dreihundert Stunden ausreichen. Und dann ... Nun ja, man muß sich beizeiten darauf vorbereiten, was dann sein wird ... Im Verlauf dieser Frist wird sich der letzte Behälter der verdichteten Luft ausleeren, der einzige, der uns noch geblieben ist. Nach dreihundert Stunden ... Das wird gerade der Mondmittag sein ... Die Sonne wird noch hoch oben stehen. Es wird hell und warm sein — sogar heiß, vielleicht zu heiß. Einige Zeit hindurch — mehrere Stunden — wird noch alles in Ordnung sein. Dann werden wir langsam eine Schwere fühlen, ein Sausen im Kopfe, ein Klopfen des Herzens ... Die Atmosphäre unseres Wagens, die mit Sauerstoff, der uns schon fehlt, nicht erfrischt worden ist, wird mit der von uns ausgeatmeten Kohlensäure überfüllt sein. Jetzt beseitigen wir sie künstlich, aber wozu soll man sie noch beseitigen, wenn wir keinen Sauerstoff mehr haben, um sie damit zu ersetzen? Wir werden dann beginnen, uns mit dieser Kohlensäure zu vergiften. Ein Blutandrang, — eine Schwere, — dumpfe Luft — Schlafsucht ... Ja, Schlafsucht, unüberwindbare Schlafsucht. Wir werden uns niederlegen und den Tod erwarten. Martha wird sich aus ihrer Hängematte wahrscheinlich herausbeugen und ihren Kopf an Tomas’ Brust lehnen, wie gewöhnlich ... Dann beginnen wir zu träumen ... Erde, heimatliche Länder, Wiesen, Luft — oh! Luft — viel, viel Luft, ein ganzes, grenzenloses, reines Meer! Und im Traum ein erstickender, furchtbarer Alp hier auf der Brust; es scheint mir, daß ich ihn schon fühle! Er zerbricht die Rippen, würgt an der Gurgel, schnürt das Herz zusammen. Eine wütende Angst erfaßt uns. Man möchte sie abschütteln, aufstehen, fliehen ... Endlich enden die Träume. Auf dem Monde, inmitten der mächtigen Fläche Mare Imbrium, werden vier Leichen im Wagen eingeschlossen sein.
Nein, nein, nicht so! Im Augenblick, in dem wir keine frische Luft mehr haben werden, öffnen wir die Tür des Wagens — sperrangelweit. Eine Sekunde — und wir werden uns in der Leere befinden. Das Blut wird aus dem Munde, den Ohren, den Augen, der Nase schießen; einige krampfartige, verzweifelte Bewegungen der Brust, ein wütendes Herzklopfen und — Schluß.
Weshalb schreibe ich das alles? Weshalb schreibe ich überhaupt? Das hat doch weder Sinn noch Zweck. In dreihundert Stunden werde ich sterben.
Eine Stunde später.
Ich kehre zum Schreiben zurück. Ich muß mich mit etwas beschäftigen, denn der Gedanke an den unabwendbaren Tod ist unerträglich. Wir gehen im Wagen auf und ab und lächeln sinnlos vor uns hin oder sprechen über ganz gleichgültige Dinge. Vor einer Weile sagte Varadol, wie man in Portugal eine gewisse Sauce aus Nieren von jungen Hühnern mit Kapern bereitet. Währenddessen dachten wir alle und auch er daran, daß wir in zweihundertneunundneunzig Stunden sterben werden.
Eigentlich ist der Tod gar nicht furchtbar — warum fürchten wir ihn so sehr? Er ist doch ...
Ach, wie hirnverbrannt ist diese ganze Philosophiererei über den Tod! Lauter als alle Gelehrten, die Gleichmut vor dem Sterben empfehlen, spricht das Ticken meiner Uhr in der Tasche. Ich höre ruhige, kleine Metallschläge und ich weiß, daß dies die Schritte des nahenden Todes sind. Er wird hier sein, ehe die Sonne dieses bald beginnenden, langen Tages untergeht. Er wird sich nicht um eine Stunde verspäten ...
Wir befanden uns gerade zwischen jenen hufeisenförmigen Felsen, vor Kälte erstarrt, als Varadol, der zufällig auf den Manometerzeiger des Luftbehälters sah, einen markerschütternden Schrei ausstieß.
Wir sprangen alle wie elektrisiert in die Höhe, nach der Richtung blickend wohin Peter, der kein Wort hervorbringen konnte, mit zitternder Hand deutete.
Es überlief mich heiß und kalt: der Manometer zeigte innen keinen Druck an. Vielleicht hatte sich die Luft in dem Behälter, der in der Wand angebracht war, infolge der ungeheuren Kälte verflüssigt ... Ich öffnete den Hahn — der Behälter war leer. Ebenso der zweite, dritte, vierte und fünfte. Nur im sechsten, dem letzten, befand sich Luft.
Da packte uns das Entsetzen. Ohne über die Ursache der für uns rätselhaften Entleerung der Behälter nachzudenken, ohne zu wissen, was wir tun, was wir sagen und raten sollen, warfen wir uns plötzlich alle auf den Motor und fühlten keine Kälte, keine Erschöpfung, keinen Schlaf mehr — nichts, nichts — nur von dem einen Gedanken beseelt: fliehen, fliehen, fliehen — als wenn man vor dem Tode fliehen könnte.
In einigen Augenblicken war der Wagen in Bewegung. Aus der zwischen Felsen eingeschlossenen Fläche hinausgekommen, sausten wir mit der ganzen Kraft nach Norden, zwischen kleinen Bergen, die sich vom Ring des Archimedes erstrecken und über den ganzen westlichen Teil des hier an das Regenmeer grenzenden Palus Putredinis ausbreiten. Das Terrain war außerordentlich ungleichmäßig. Der Wagen sprang auf und ab, erzitterte, hob sich oder fiel herab, uns unbarmherzig hin und her werfend; wir achteten nicht darauf, in der furchtbaren Angst und Verzweiflung und waren nur von dem einen Gedanken erfüllt, daß es uns gelingen könnte, auf die andere Seite des Mondes zu gelangen, ehe unser geringer Vorrat an Luft zu Ende geht!
Welch ein lächerlicher Gedanke! Die Luft wird kaum für dreihundert Stunden ausreichen und von dem Pol des Mondes trennen uns in gerader Linie fast zweitausend Kilometer Weges, wovon die Hälfte auf bergiges und undurchdringliches Land fällt!
Die Kälte machte uns das Blut in den Adern erstarren und hielt uns den Atem in der Brust zurück, aber wir fühlten es kaum; wir sausten unaufhörlich über Berge, die im Lichte der Erde silbern leuchteten, durch schwarze Mulden, über steinbesäte Ebenen — nur weiter, weiter, weiter! Sogar an den Schlaf, der uns vor kurzem zu überwältigen drohte, dachte niemand mehr.
In dieser höllischen Fahrt, die ebenso ziellos wie wahnsinnig war, hielt uns ein plötzliches Hindernis auf. Blindlings vorwärtsstürmend stießen wir auf eine Spalte, die der „Spalte der Erlösung“ unter dem Eratosthenes ähnlich, nur bedeutend weiter und tiefer war. Wir bemerkten sie so spät, daß wir beinahe mit dem Wagen in ihre Tiefe hinabgesaust wären.
Der Wagen blieb stehen und eine grauenhafte Apathie ergriff uns. Die Energie der Verzweiflung, mit der wir so viele Stunden sinnlos dahinrasten, war plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war, einer unaussprechlichen, ohnmächtigen Bedrückung Platz machend. Es war uns auf einmal alles vollständig gleichgültig. Warum sich anstrengen, wenn es doch zwecklos ist. Wir müssen sterben.
Wir setzten uns neben den Ofen, ohne etwas zu tun, in Schweigen versunken. Die Kälte quälte uns immer furchtbarer, aber wir kümmerten uns nicht mehr darum. Der Tod ist doch immer gleich, ob vor Kälte oder durch Ersticken. Viel Zeit ist so vorübergegangen. Wir wären zweifellos erfroren, wenn nicht Woodbell, der sich als erster faßte, uns beschworen hätte, ernst über unsere Situation nachzudenken.
— Suchen wir einen Ausweg, eine Möglichkeit der Rettung, sagte er, wenn wir sie auch nicht finden sollten, so haben wir wenigstens etwas, das uns beschäftigt, unsere Gedanken für einen Augenblick vom Tode abwendet, der wie ein Alp auf uns lastet.
Der Rat war gut, aber wir waren so erschöpft und erstarrt, daß wir ihn ganz gleichgültig hinnahmen und nicht einmal auf die Vorstellungen Tomas’ antworteten.
Ich erinnere mich, daß ich auf Tomas blickte und sah, wie er die Lippen bewegte, aber ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Das einzige, was mich in jenem Augenblick beschäftigte, war: wie wird er wohl nach dem Tode aussehen?
Mit irrsinniger Hartnäckigkeit starrte ich auf seine Kinnbacken und riß in Gedanken das Fleisch von ihnen herunter, dann entblößte ich ebenso seinen Schädel, seine Rippen, seine Knochen — und auf einen lebenden Menschen sehend, hatte ich plötzlich ein Gerippe vor Augen, das mit einer boshaften Grimasse zu sagen schien: So werdet ihr alle aussehen — in kurzer Zeit!
Als Tomas sich endlich überzeugte, daß mit uns nichts mehr anzufangen war, stellte er sich selbst an den Motor und bald bewegte sich unser Wagen längs des Randes der Spalte, deren Ende wir in einer halben Stunde erreicht hatten. Als Varadol dies bemerkte schrie er, von dem Mut der Verzweiflung erfaßt und fortgerissen, wie wahnsinnig:
— Wir können die Spalte umkreisen und weiter nach Norden fahren zum Pol, dort, wo es Luft gibt!
Er lachte und warf sich, als wenn er die Sinne verloren hätte, auf das Steuer; Tomas stieß ihn leicht beiseite und sagte kurz, aber entschieden:
— Wir werden die Spalte nicht umkreisen, sondern in sie hineinfahren.
Peter sah ihn eine Zeitlang mit starrem Blick an — dann stürzte er sich plötzlich, scheinbar einen neuen Nervenanfall bekommend, auf ihn und packte ihn bei der Gurgel.
— Mörder! brüllte er, Würger! Du willst uns töten, und ich will leben, leben! Hörst du? Nach Norden, nach Norden, zum Pol, dort ist Luft!
Er schäumte und schrie und da er stärker war als Tomas, warf er ihn, ehe wir es hindern konnten, zu Boden und kniete auf seiner Brust. Ich sprang mit Martha herbei, um den Wahnsinnigen festzuhalten und es begann eine Verwirrung, die das Bellen der verängstigten Hunde begleitete. Wir packten ihn endlich bei den Schultern, als er plötzlich aufschrie und unter unsern Händen schlaff zusammenfiel. Tomas erhob sich, erschöpft und blaß.
Da neigte sich der Wagen; ich fühlte eine gewaltsame Erschütterung und verlor das Bewußtsein.
Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich, daß ich auf meiner Matte lag; Tomas stand über mich gebeugt und rieb mir die Schläfen mit Äther ein. Martha und Varadol saßen finster und schweigend neben mir.
Tomas ist wirklich ein tüchtiger Mensch. Während er mit Peter rang, fuhr der Wagen, dessen Steuer niemand lenkte, mit seinem Vorderteil an einen Felsen. Durch diese Erschütterung nach vorn geworfen, prallte ich mit dem Kopf an die Wand des Wagens und wurde ohnmächtig.
Tomas und Martha gingen aus diesem Unfall unversehrt, hervor; ebenso Varadol, der bewußtlos am Boden lag, von dem vorhergegangenen Anfall erschöpft. Tomas empfahl Martha, uns auf die Lagerstätten zu legen, und lenkte den Wagen in die Tiefe der Schlucht hinein. Hier erst, auf dem Grunde, wo es unvergleichlich wärmer ist als auf der Oberfläche, begann er uns zur Besinnung zu bringen. Zuerst erwachte Peter. Er erinnerte sich absolut nicht des Anfalls, der uns so sehr erschreckt hatte. Endlich kam auch ich wieder zu mir.
Für den Augenblick drohte uns der Tod durch Erfrieren nicht, da in dieser tiefen Spalte die Kälte nicht so übermäßig war. Scheinbar ist das Innere des Mondes, ähnlich wie das der Erde, noch nicht ganz um die eigene Wärme gebracht, obwohl er, neunundvierzigmal kleiner als die Erde, auch bedeutend früher erkalten mußte.
Tomas hatte das richtig angenommen und fuhr in die Spalte, um es uns zu ermöglichen, hier miteinander zu beraten, was nun anzufangen sei, nachdem wir vor der jeden Gedanken ertötenden Kälte Schutz gefunden.
Wir dachten hin und her. Es fiel uns ein, daß es vielleicht gelingen wird, mit Hilfe der Druckpumpe die uns umgebende Mondatmosphäre so weit zu verdichten, um damit die Luft im Wagen auffrischen zu können. Dieser Gedanke flammte wie ein Stern der Hoffnung auf. Wir machten uns auch sofort an seine Ausführung. Jedoch nach einer Stunde schweren und angestrengten Arbeitens überzeugten wir uns, daß sich dies nicht verwirklichen läßt. Die Mondatmosphäre ist hier so dünn, daß sie sich nach dem vollständigen Herablassen des Pumpenstempels nicht einmal so weit verdichtet, den Druck der Luft in unserem Wagen zu überwinden und die Klappe zu öffnen. Wir versuchten dann, sie mit Hilfe der Pumpe in einem der leeren Behälter zu verdichten, nachdem wir den Riß fest verschlossen hatten, durch den uns die Luft entwichen war; aber auch das erwies sich als unmöglich.
Nachdem wir allen Mut verloren hatten und gänzlich erschöpft waren, ließen wir endlich von der zwecklosen Arbeit ab. Tomas bemühte sich noch uns damit zu trösten, daß wir vielleicht etwas weiter gegen Norden dichtere Atmosphäre finden würden, bei der sich unsere Pumpe gebrauchen ließe, aber ich weiß, daß er selbst nicht daran glaubt. Auf der ganzen mächtigen Strecke des Mare Imbrium wird sie gleich dünn sein und ehe wir diese zurücklegen, wird unser Luftvorrat ausgehen und kommen, was unabwendbar ist. In zweihundertneunzig Stunden müssen wir sterben.
Trotzdem werden wir, sobald es nur hell und wärmer wird, aus dieser Spalte herausfahren und weiter nach Norden eilen. Das führt freilich zu nichts, aber auch das Hierbleiben führt zu nichts. Und vielleicht ... vielleicht ... werden wir dennoch irgendwo etwas dichtere Atmosphäre finden ...
Endlich entdeckten wir die Ursache, durch die wir unsere Luftvorräte verloren haben. Die Behälter wurden während des Herabgleitens des Wagens von den Abhängen des Eratosthenes beschädigt. Ein scharfer Stein, der auf dem Wege, auf dem der Wagen hinabglitt, gelegen, hat sich tief eingezeichnet und der innere Druck des Gases tat das übrige. Die Risse sind sichtbar. Zwei Dinge setzen mich bei alledem in Erstaunen; erstens, daß der Druck der verdichteten Luft die beschädigten Behälter aus Erz nicht zersprengte, und zweitens, daß wir den Verlust nicht früher bemerkten ... Ich zerbreche mir über diese Rätsel den Kopf, als wenn ihre Lösung unsere Lage irgendwie ändern könnte.
Ich kann an nichts anderes denken; immer und immer steht mir dieses Gespenst des Todes vor Augen. Und das Schrecklichste dabei ist die Gewißheit, daß wir sterben müssen, und uns dabei vollständig gesund fühlen. Das vergrößert das Grauen dieses Furchtbaren, das über uns kommen soll. Tomas ist am ruhigsten von uns allen, aber ich sehe, besonders aus seinem Benehmen Martha gegenüber, daß auch er unaufhörlich daran denkt. Er läßt mit einer fast weiblichen Zartheit die Hand über ihr Haar gleiten und sieht sie dabei an, als wenn er sie um Verzeihung bitten wollte. Und sie küßt seine Hand, nur mit dieser Liebkosung und den Augen zu ihm sagend: Gräme dich nicht, Tom, — alles ist gut, wir werden ja zusammen sterben ...
Für sie ist das vielleicht ein Trost, daß sie zusammen sterben, aber für mich, ich gestehe es offen, verkleinert die Gemeinsamkeit des Schicksals in nichts seine Grausamkeit. Mein ganzes Innere bäumt sich so maßlos gegen dieses Ungeheuerliche auf, daß alle Reflexionen vergebens sind. Ich bemühe mich klar und nüchtern zu denken, — ich versuche mir über alles Rechenschaft zu geben; hundertmal wiederhole ich mir, daß ich zusammen mit diesen Menschen sterbe, als das freiwillige Opfer eines übermächtigen Dranges nach Erkenntnis, der uns von der Erde fortgerissen und auf diesen unwirtlichen Globus geworfen hat, ich rede mir gewaltsam ein, daß ich mich mit diesem Schicksal aussöhnen und Ruhe bewahren muß. Und trotz all dieser Reflexionen fühle ich immer nur eins: Angst, grenzenlose, verzweifelte Angst! Ah — es ist so grauenhaft, unerbittlich, und es nähert sich so langsam ...
Ich begreife wirklich nicht, warum wir nicht daran denken, diesem fürchterlichen Zustand ein Ende zu machen. Es liegt doch in unserer Macht, dieses Leben von uns zu werfen, jetzt, wo es nur noch eine lächerliche Parodie des Lebens ist! ...
Eine Stunde später.
Nein, ich kann es nicht! Ich weiß nicht, was mich zurückhält, aber ich kann nicht. Vielleicht ist es diese kindische Sehnsucht nach der Sonne, dem guten Stern des Tages, der bald über uns aufgehen soll, vielleicht ein lächerlicher, fast tierischer Trieb zum Leben, obwohl es nur noch einige Stunden zählen wird, vielleicht die Reste einer wahnsinnigen, gänzlich haltlosen Hoffnung ...
Ich weiß, daß nichts uns erretten kann und begehre so sehnsüchtig danach, zu leben — und so sehr ... ängstige ich mich ...
Meinetwegen! — Mag geschehen was will.
Ich bin entsetzlich müde, — möchte es doch endlich kommen, dieses Unabwendbare! Bei jedem Atemzug denke ich, daß ... Es ist einerlei ...
Bei Sonnenaufgang.
In einer Stunde fahren wir weiter. Der westliche Rand der Spalte glänzt schon über uns im Sonnenschein. Wir werden in die weite Wüste hinausfahren, um noch einmal die Sonne zu sehen, die Sterne und die Erde, die so ruhig leuchtend und still an diesem schwarzen Himmel steht ...
Und wir werden nach Norden fahren. Weshalb? Ich weiß es nicht. Niemand von uns weiß es; aber wir werden nach Norden fahren. Der Tod wird langsam neben uns gehen, über die Steinfelder, über die Berge und Täler, und wenn der Zeiger des Manometers im letzten Luftbehälter sich dem Nullpunkt nähert, wird der Tod in den Wagen kommen.
Wir sprechen nicht miteinander; wir haben von nichts zu sprechen. Jeder von uns bemüht sich nur, sich mit irgend etwas zu beschäftigen, vielleicht mehr aus falscher Scham vor den andern, als zur eigenen Zerstreuung; denn welche Arbeit kann einen Menschen beschäftigen, der weiß, daß alles was er tut, zwecklos ist?
Wir gehen also unserem Schicksal entgegen!
Zweiter Mondtag, vierzehn Stunden nach Mittag. Auf Mare Imbrium, 8° 54’ westlicher Länge, 32° 16’ nördlicher Mondbreite, zwischen den Kratern c—d.
Wir sind gerettet! — Und die Rettung kam so plötzlich, so unerwartet und auf so seltsame und — schreckliche Weise, daß ich mich bis jetzt nicht erholen kann, obwohl schon zwanzig Stunden verflossen sind seit der Tod, der uns zwei Erdenwochen hindurch begleitete, sich von uns abgewandt und entfernt hat.
Er hat sich entfernt, — aber nicht ohne Beute ... Der Tod entfernt sich niemals ohne Beute. Wenn er aus Mitleid oder aus Zwang denjenigen zu leben erlaubt, die er schon in seinen Krallen hatte, so nimmt er ein Pfand für sie ... wo er es eben findet — ohne Wahl ...
Bei Sonnenaufgang traten wir die Reise an, mehr aus Gewohnheit, als aus irgendeinem wohlüberlegten Grunde. Wir waren sicher, daß wir den Abend dieses langen Tages nicht erleben würden. Wir fuhren schweigend mit diesem Gespenst des Todes, das in unserer Mitte saß und ruhig auf den Augenblick wartete, wo es uns in seine kalte, würgende Umarmung nehmen sollte. Wir fühlten seine Gegenwart, als wenn es ein greif- und sichtbares Wesen wäre — und wir sahen uns erstaunt um, daß wir es nicht tatsächlich bemerkten.
In diesem Augenblick ist das alles nur noch Erinnerung, aber damals war es eine über alle Beschreibung furchtbare Wirklichkeit. Ich kann es nicht begreifen, wie wir in dieser wahnsinnigen Angst über dreihundert Stunden leben konnten! Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß wir in jeder Stunde starben, bei dem Gedanken, daß wir unabwendbar sterben müssen. Denn auf eine Rettung hoffte niemand von uns.
Jetzt kommt mir das alles wie ein wüster, grauenhafter Traum vor und ich muß meine ganze Energie zu Hilfe rufen, um daran zu glauben, daß es Wirklichkeit war.
Ich erinnere mich nicht mehr genau des Weges, den wir zurückgelegt haben.
Eine Stunde schleppte sich nach der anderen dahin; der Wagen fuhr immer gleichmäßig schnell nach Norden — und wir sahen wie im Traume auf die vorüberfliegenden Landschaften. Jetzt fühle ich erst, daß alle Eindrücke in mir in einen zusammengeflossen sind, — in diesen Eindruck des unerbittlichen Todes. Ich kann mich aus diesem Chaos nicht herausfinden. Alles, woran ich mich erinnere, ist furchtbar. Anfangs bewegten wir uns auf der Grenze zwischen Palus Putredinis und Mare Imbrium, zu unserer rechten Seite eine bergige und wilde Gegend. Zur Linken, gegen Westen, dehnte sich eine Ebene, die in der Ferne in nicht hohe, wellenförmige Berge überging, sich parallel der Richtung unserer Fahrt erstreckend. Hinter diesen Bergen glänzten die Gipfel des Timocharis, die von den gerade auf sie herabfallenden Sonnenstrahlen beleuchtet waren.
Nur das Grauen blieb mir im Gedächtnis und der sich so seltsam damit verbindende unerhörte Farbenreichtum dieser Landschaft. Die höchsten Spitzen des Kraters waren weiß, aber von ihnen aus erstreckten sich nach unten Streifen und Kreise, die in allen Regenbogenfarben spielten. Ich weiß nicht, wie das zu erklären ist; sollte der Timocharis, ein Ringberg von der Höhe des Eratosthenes, einstmals ein tätiger Krater gewesen sein? Sollten diese Farbenstreifen von auf den Kratern ausgeworfenem Feldspat, Trachit, Schwefel, von Lava und Asche herrühren? Ich kann diese Rätsel nicht lösen und damals dachte ich nicht darüber nach. Ich hatte nur den Eindruck von etwas Unwahrscheinlichem — von Märchen und Zauberländern — von Bergen, aus Edelsteinen erbaut ... und starrte auf diese von Topasen, Rubinen, Amethysten und Diamanten besäten, in der Sonne erglühenden Gipfel. Gleichzeitig schüttelte mich ihre frostige Starrheit. Es war etwas unbarmherzig Grauenhaftes und Unerbittliches in diesem kalten, harten Glitzern des farbigen Gesteins, in diesem grellen, durch nichts gemilderten Schimmern ...
Eine Pracht des Todes wehte von diesen Bergen.
Einige Stunden nach Sonnenaufgang, stets die Gipfel des Timocharis vor uns, fuhren wir in den Schatten des Kraters Beer; nachdem wir ihn passiert hatten, weiter, längs dem Fuße des dicht neben ihm liegenden Kraters Feuillée und kamen auf eine unabsehbare Ebene, die sich sechshundert Kilometer vor uns erstreckte, bis zur nördlichen Grenze des Mare Imbrium. Nach Norden gewandt, hatten wir die Gipfel des Timocharis fast hinter uns; dafür zeigte sich uns gegen Nordosten an der Grenze des Horizontes der weite, in Schatten gehüllte Wall des Ringes des Archimedes.
Ich hatte plötzlich den Eindruck, daß wir durch ein mächtiges Tor jagen, das gegen die Ebene des Todes weit geöffnet war. Wieder erfaßte mich eine grenzenlose, würgende Angst. Ich wollte den Wagen anhalten, ihn zwischen die hinter uns sich verlierenden Felsen lenken — nur nicht in diese weite Ebene hineinfahren, die wir — ich wußte es — nicht lebendig verlassen würden.
Ich glaube, daß dieses Gefühl nicht nur in mir erwachte; die drei andern sahen ebenfalls mit finsteren Blicken auf diese sich vor uns öffnende Steinwüste.
Woodbell schien, mit gesenktem Haupt und zusammengebissenen Lippen, lange mit den Augen die Strecke der Ebene zu messen, deren Grenzen nicht zu erkennen waren; dann ließ er langsam den Blick über den Zeiger des Manometers gleiten, der an dem letzten Behälter mit verdichteter Luft befestigt war. Der Zeiger in der Kupfertrommel fiel langsam, aber unaufhörlich ...
Da tauchte plötzlich ein furchtbarer Gedanke in mir auf: Die Luft genügt nicht für vier, aber sie wird für einen ausreichen. Einer würde mit diesem Vorrat bis zu den Gegenden vordringen, wo die Atmosphäre des Mondes dicht genug ist, um, wenn auch durch Gebrauch der Pumpe, atmen zu können.
Dieser widerwärtige, ungeheuerliche Gedanke machte mich schaudern und kaum aufgetaucht, wollte ich ihn verjagen, aber er war stärker als mein Wille und kehrte immer wieder! Ich konnte meine Augen von dem Zeiger des Manometers nicht losreißen, und in den Ohren dröhnte es mir fort und fort: Für vier wird sie nicht ausreichen, aber für einen ...
Endlich warf ich einen Blick auf die Kameraden — heimlich wie ein Dieb und — Entsetzen faßte mich. In ihren unruhig flackernden Augen las ich denselben Gedanken. Wir verstanden uns. Eine Zeitlang herrschte ein dumpfes, bedrückendes Schweigen. Dann rieb sich Tomas die Stirn und sagte ruhig:
— Wenn wir es tun, so muß es schnell geschehen, ehe der Vorrat sich noch verringert ...
Wir wußten, wovon er sprach; Varadol nickte schweigend mit dem Kopf; ich fühlte eine brennende Röte im Gesicht, aber widersprach nicht.
— Sollen wir Lose ziehen? fragte wiederum Tomas, sich anscheinend zu dem Herauswürgen dieser Worte zwingend. Aber — hier stockte seine Stimme, und einen weichen, flehenden Ton annehmend, sagte er: Aber ... ich wollte ... euch bitten, daß ... Martha am Leben bleibt ... wie auch ...
Wiederum herrschte ein qualvolles Schweigen. Endlich stammelte Peter:
— Für zwei wird es nicht genügen ...
Tomas warf mit einer stolzen Bewegung den Kopf zurück:
— Also gut, mag es geschehen! Es ist so besser.
Nach diesen Worten nahm er vier Streichhölzer, brach einem den Kopf ab, versteckte sie so in der Hand, daß nur ihre Enden zu sehen waren und hielt sie uns entgegen.
Während dieser ganzen Unterredung stand Martha abseits und hörte kein Wort davon. Erst in dem Augenblick, als wir nach jenen Losen greifen wollten, trat sie zu uns und fragte unvermittelt mit vollständig ruhiger Stimme:
— Was tut ihr?
Und dann zu Tomas:
— Zeige, was du in der Hand hast ...
Und sie nahm diese Streichhölzer, die das Todesurteil für drei von uns sein sollten, damit der vierte leben konnte.
Und das geschah so schnell und unerwartet, daß wir keine Zeit hatten, sie zu hindern. Eine tiefe Röte der Scham überflog unsere Wangen; wir fühlten, daß uns dieses Mädchen bei dem widerwärtigen Verbrechen des Egoismus und der Feigheit ertappte. Wir blickten uns an und fielen uns plötzlich in die Arme, in ein krampfhaftes, lang zurückgehaltenes Weinen ausbrechend.
Von dem Losen war keine Rede mehr. Durch die Reaktion, die ein prinzipielles Recht der menschlichen Seele ist, hatte sich der gegenseitige, durch die Nähe und Unabwendbarkeit des Todes hervorgerufene Haß jetzt in das Gefühl einer herzlichen Zärtlichkeit verwandelt. Es kam etwas seltsam Weiches, Linderndes über uns. Wir setzten uns nahe nebeneinander; Martha schmiegte sich mit dem biegsamen, schlanken Körper an Tomas und wir begannen miteinander zu sprechen, mit leiser Stimme, über eine Unmenge Kleinigkeiten, die uns einst auf der Erde angingen. Jede Erinnerung, jede Einzelheit nahm für uns jetzt eine große Bedeutung an, wir fühlten, daß diese Unterredung der Abschied des Lebens sei.
Und der Wagen sauste unaufhörlich nach Norden, durch die unermeßliche, todbringende Ebene.
Stunden und Erdentage gingen vorüber; der Zeiger des Manometers fiel stetig, aber wir waren ruhig und mit unserm Schicksal ausgesöhnt. Wir sprachen, aßen, tranken sogar, als wenn nichts vorgefallen wäre. Ich fühlte nur ein seltsames Drücken in der Gegend des Herzens und der Gurgel — wie ein Mensch, der einen großen Verlust erlitten hat und sich vergebens ihn zu vergessen bemüht ...
Gegen Mittag befanden wir uns zwischen dem 31. und 32. Parallelkreis. Die Glut, obwohl sie sehr stark war, quälte uns nicht mehr so wie am vorhergehenden Tage, da sich unter diesem Grade die Sonne nur zirka 60° über dem Horizonte erhebt. Die Erde, die seit Mittag in der gleichen Höhe am Himmel steht, war verblaßt, als die strahlenlose Sonnenscheibe, den flammenden Reifen ihrer Atmosphäre berührend, langsam hinter ihr zu versinken begann.
Wir hatten Sonnenfinsternis, die hier gegen zwei Stunden dauerte und sich den Erdbewohnern als eine Mondfinsternis darstellte.
Der leuchtende Reifen der Erdatmosphäre wurde in dem Augenblick, als die Sonne ihn berührte, einem Kranze blutigroter Blitze ähnlich, in dessen Mitte ein mächtiger schwarzer Fleck lagerte, — die einzige Stelle am Himmel, auf der keine Sterne leuchteten. Fast eine Stunde brauchte die Sonnenscheibe, um hinter diesem schwarzen Kreis inmitten der flackernden Flammen unterzugehen. Während dieser Zeit wurde der Kranz immer intensiver und breiter. In dem Augenblick als die Sonne verschwand war das Licht bereits so stark, daß man die Linien der Landschaften erkennen konnte, die in einem orangegelb schillernden Feuer auftauchten. Der schwarze Fleck der Erde sah jetzt wie der gähnende Schlund eines seltsamen Brunnens aus, der am sternenbesäten Himmel ausgehöhlt, von einem schmalen, blutigrot flammenden Hof umkränzt war; dieser ging stufenweise in ein rotes, dann orangegelbes Licht über, um sich schließlich am schwarzen Hintergrund in einem schwachen weißen Leuchten zu verlieren. Und hinter diesem Kranze schossen nach Westen und Osten zwei Strahlengarben, zwei Fontänen goldenen Lichtstaubes hervor: es war das Zodiakallicht, das man während der Finsternis sehen konnte, ähnlich wie nach dem Untergang der Sonne.
Die Beleuchtung auf dem Monde gestaltete sich indessen, als wenn Blutströme über die vor uns in Dämmerung gehüllte Wüste ausgegossen würden.
Wir mußten halten, da es unmöglich war, in diesem schwachen rötlichen Licht den Weg zu erkennen. Gleichzeitig mit dem Schatten trat nach Schwinden der Sonne eine empfindliche Kälte ein. Nachdem wir uns eingehüllt hatten, schmiegten wir uns aneinander und warteten, daß sich die Sonne wieder zeige. Über uns brannte in unerhörter Pracht der leuchtende Kranz der verschiedenfarbigen Flammen, als plötzlich die Hunde zu bellen begannen, erst leise, dann immer lauter und verzweifelter. Ein eisiger Schauer überflog uns bei diesem Bellen. Wir erinnerten uns der Nacht vor dem Tode O’Tamors, als Selena ebenso bellte, den Tod begrüßend, der in unseren Wagen eintrat. Und wir alle empfanden im Angesicht dieser Erhabenheit am Himmelsdome das ganze, grenzenlose Elend unserer Lage noch furchtbarer; es schien uns, daß diese Feuer dort oben wie zum Hohn über den Häuptern von uns Sterbenden flammten ...
In dem Behälter hatten wir nur noch Luft für ungefähr zwanzig Stunden.
Nach Verlauf von zwei Stunden wurde ein Segment der Sonne auf der westlichen Seite der schwarzen Erdscheibe sichtbar, und die leuchtende Aureole verengerte sich und begann langsam zu erlöschen. Beim Anblick der Sonne überkam mich zunächst ein Gefühl des Erstaunens; ich hatte mich schon so an diese blutig leuchtende Nacht gewöhnt, sie erschien mir als die Verkünderin einer tieferen Nacht, einer ewigen, die uns während der Abwesenheit der Sonne einhüllen sollte, daß der strahlende Tag für mich etwas ganz Unfaßbares war. Und dann plötzlich — ich weiß nicht woher — stieg eine neue Hoffnung in mir auf, als wenn mit dem Erscheinen der Sonne irgendein Wunder uns erretten müsse.
— Wir werden leben! rief ich so plötzlich und mit einer solchen Überzeugung, daß aller Augen fragend — wie gebannt — an meinem Munde hingen.
Da geschah etwas Seltsames. Aus der Kiste, in welcher der jetzt unbrauchbare telegraphische Apparat eingeschlossen war, vernahmen wir ein Pochen. Anfangs wollten wir unseren Ohren nicht trauen, aber das Pochen wurde immer deutlicher. Wir warfen uns auf die Kiste, und nachdem wir sie aufgerissen, zeigte es sich, daß der Apparat wirklich klopfte, als wenn er eine Depesche entgegennehmen wollte. Vergeblich bemühten wir uns, den Sinn der Depesche zu verstehen. Etwas war nicht in Ordnung oder hatte sich verwirrt. Kaum konnten wir einige abgerissene Worte erfassen: Mond ... in einer Stunde ... vom Mittelpunkt der Scheibe ... unter dem Winkel ... möge ... Frankreich ... die andern ... und wenn ... der Tod ...
Grenzenloses Staunen erfaßte uns. Varadol sprang an den Apparat und telegraphierte: Wer läßt sich vernehmen?
Wir warteten einen Augenblick — keine Antwort. Peter wiederholte die Frage zwei-, dreimal, aber ohne Erfolg.
Der Apparat verstummte und das Klopfen wiederholte sich nicht mehr.
Eine halbe Stunde der vollständigen Stille ging vorüber; wir begannen schon anzunehmen, daß die ganze Sache auf einer unfaßbaren Täuschung beruhte.
Die Sonne war gerade hinter der Erde aufgestiegen und stand neben ihr am Himmel. Die Glut wurde wieder größer.
Da flog und blitzte etwas in den Sonnenstrahlen an uns vorbei und gleichzeitig erbebte der Boden unter unseren Füßen, wie eine von einer Kanonenkugel getroffene Mauer. Wir schrien vor Entsetzen und Verwunderung auf. An das Fenster stürzend, bemerkten wir eine Masse von metallischem Glanz, die, auf der Oberfläche des Mondes abprallend, vor unseren Augen einen mächtigen Bogen im Raume beschrieb und wiederum aufschlug und zum zweitenmal abprallte, zum drittens, zum viertenmal, in ungeheuren Sprüngen nach Nordosten jagend.
Wir schwiegen und konnten uns diese Erscheinung nicht erklären, bis Peter plötzlich aufschrie:
— Die Brüder Remogner kommen!
Jetzt wurde uns alles klar! Es waren gerade sechs Erdenwochen vergangen, seit wir um Mitternacht auf den Mond herabfielen; die Zeit ist also gekommen, da die zweite Expedition uns folgen sollte. Unser Apparat klopfte unter dem Einfluß der Depesche, die die Brüder Remogner aus der Nähe des Mondes auf die Erde herabsandten. Er ließ sich vielleicht schon früher vernehmen, nur daß uns das Klopfen in der Kiste, in der sich der Apparat befand, nicht auffiel. Ebenso bemerkten die Brüder Remogner anscheinend unsere Depesche nicht, da sie im letzten Augenblick mit der Vorbereitung zum Fall beschäftigt waren.
Diese Gedanken schossen mir wie ein Blitz durch den Kopf, während wir in fliegender Eile unseren Motor in Bewegung setzten. In einigen Augenblicken sausten wir schon mit der ganzen Kraft in der Richtung, in der das Projektil unseren Blicken entschwunden war und alle fühlten und dachten wir in diesem Augenblick nur das eine: Die Brüder Remogner führen Luft mit sich!
In nicht ganz einer halben Stunde waren wir an der Stelle, an der das Projektil nach einigem Abprallen herabgefallen war. Ein entsetzlicher Anblick bot sich unseren Augen: Inmitten der zerstreuten Trümmer des zerschmetterten Projektils lagen zwei blutige, zermalmte Leichen.
Zitternd vor Aufregung legten wir die Luftbehälter an und nachdem wir sie mit dem Reste unseres Vorrates gefüllt hatten, gingen wir aus dem Wagen. Unsere Erschütterung, unser Beben wurde — wozu es verheimlichen! — weniger durch den furchtbaren Tod der Freunde, als vielmehr durch die Angst hervorgerufen, daß ihre Luftbehälter bei der Katastrophe beschädigt worden sein könnten.
Zwei waren in der Tat zerplatzt und lagen leer inmitten der zertrümmerten Metallplatten, aber vier von ihnen blieben unversehrt.
Wir waren gerettet!
Ein Freudentaumel erfaßte uns, der wenig im Einklang stand mit dem Entsetzlichen, das uns umgab und dennoch — wir waren dreihundertfünfzig endlose Stunden dahingestorben und erfuhren in diesem Augenblick, daß wir leben werden!
Nachdem wir uns bezüglich unseres Schicksals versichert hatten, konnten wir erst über das furchtbare Los, das die Brüder Remogner getroffen, nachdenken. Was uns errettete, ward die Ursache ihres Todes! Ein reiner Zufall — eine Ungenauigkeit in der Berechnung, ließ sie hier vor uns niederfallen, statt auf dem Mittelpunkt der Mondscheibe, die in diesem Augenblick gegen tausend Kilometer von uns entfernt ist. Dieser Zufall, der uns mit Luftvorräten versorgte, hat sie getötet. Sie fielen, in dieser Gegend herabkommend, nicht senkrecht auf die Mondoberfläche, sondern im Winkel. Das Projektil schlug daher mit der Seite auf den Boden, wo es nicht durch ein Stahlgerüst geschützt war und einige Male abprallend, mußte es endlich zerschmettern. Wir schauderten bei dem Gedanken, daß uns dasselbe hätte widerfahren können ...
Nachdem wir die Leichen sorgfältig zwischen den Steinen begraben hatten, machten wir uns an ihren Nachlaß. Wir haben alles aus den Trümmern hervorgesucht, was uns irgendwie von Nutzen sein konnte; vor allem die kostbaren Behälter mit verdichteter Luft, die wir in unseren Wagen hinübertrugen, wie auch die Nahrungsmittel, Wasservorräte und einige weniger beschädigte Instrumente. Mit klopfendem Herzen suchten wir nach ihrem telegraphischen Apparat, in der Hoffnung, daß er vielleicht stark genug sein würde, uns mit den Erdbewohnern in Verbindung zu setzen. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als trügerisch. Der Apparat wurde bei der Katastrophe beschädigt. Dasselbe war mit der Mehrzahl der astronomischen Instrumente der Fall. Den Motor des Wagens nahmen wir mit, obwohl er stark gelitten hat.
Welch unbeschreibliches Glück für uns, daß gerade die kupfernen Luftbehälter diesem entsetzlichen Anprall getrotzt haben.
Nachdem wir den Nachlaß der bedauernswerten Brüder Remogner an uns genommen hatten, traten wir unverzüglich die Weiterreise nach Norden an, da die Glut, die durch die Kühle während der Sonnenfinsternis unterbrochen wurde, wieder stärker einsetzte und wir irgendeine Erhebung finden mußten, die uns Schatten gewährte.
Hier erst, zwischen den Kratern c—d, blieben wir stehen.
Diese steilen Kegel, die sich am Fuße fast berühren, sind zweifellos vulkanischer Herkunft. Die ganze mit Schwefel bedeckte Gegend färbt sich gelb in dem blendenden Sonnenglanz. Tiefe Bergrinnen, mit denen die Abhänge der Krater von oben bis unten bedeckt sind, geben uns einen vorzüglichen Schutz vor der brennenden Glut.
Wir sind gerettet und dennoch verläßt uns die tiefe Niedergeschlagenheit keinen Augenblick. Immer und immer habe ich die furchtbar verstümmelten Leichen der Remogners vor Augen; wir sind in keiner Weise schuld an ihrem Tode und trotzdem empfinde ich es wie einen Vorwurf, daß wir durch ihn gerettet wurden ...
Ich bin erschöpft von all dem, was wir durchgemacht haben, erschöpft von dem langen Schreiben. Ich muß mich hinlegen und ein wenig ausruhen vor der weiteren Fahrt. Die Mühen und wahrscheinlich auch die Gefahren sind wohl noch lange nicht für uns vorbei.
In diesem Moment fällt mein Blick auf Selena, die munter mit ihren Jungen spielt; sie sind im Lauf dieser paar Wochen sehr gewachsen ... Merkwürdig, als uns der Tod durch Luftmangel drohte, waren wir eine Zeitlang bereit, das Leben dreier von uns zur Rettung des vierten zu opfern und keinem kam es in den Sinn die Hunde zu töten, die doch ebenfalls viel Luft verbrauchten, und auf diese Weise die Spanne Zeit zu verlängern, die uns — wie wir glaubten — zum Leben übrig blieb! Wie entsetzlich, wenn wir wirklich einen von uns geopfert hätten und dabei die Hunde verschonten, nur weil niemand an sie dachte!
Die Gefahr ist zunächst vorüber, und es ist gut, daß die Hunde leben. Sie erinnern uns in ihrer Schlichtheit mehr an die Erde, als wir sie uns gegenseitig in Erinnerung bringen können. Mit Rührung blicke ich auf diese Tiere ... Wir sind so einsam und so furchtbar von der Erde losgerissen. Zwei Menschen hat sie uns nachgesandt, aber wir sahen nur noch ihre Leichen. Wir hatten die Hoffnung, durch die Ankunft der Brüder Remogner Kameraden zu erhalten und gleichzeitig ein Mittel, uns mit der Erde zu verständigen; statt dessen haben sie uns zwar das Leben gerettet — aber wir sind dafür zur ewigen Vereinsamung verurteilt.
Auf Mare Imbrium, 9° westlicher Länge, 37° nördlicher Mondbreite. Zweiter Tag, einhundertzweiundfünfzig Stunden nach Mittag.
Seit ungefähr hundert Stunden, das heißt fast vier Erdentage, schleppen wir uns durch die Ebene, die kein Ende zu haben scheint! Soweit das Auge reicht — nichts — keine Erhebung, kein Gipfel, keine Unterbrechung, auf der der Blick ausruhen könnte. Eine entsetzliche Gleichmäßigkeit der Landschaft bedrückt und erschöpft uns. Ich machte einmal auf der Erde eine Reise durch die Sahara; aber die Sahara erscheint mir als ein buntes Märchenland, gegenüber dieser trostlosen Öde, die uns hier umgibt! Auf der Sahara begegnet man Felsenketten, wellenförmigen Sanderhebungen, hinter denen sich oft grüne Kronen der Palmen zeigen, die auf üppigen Oasen wachsen; über der Sahara wölbt sich ein blauer Himmel, der sich abwechselnd silbern färbt, dann im Mittagsglanz leuchtet, durch die Abendröte schillert oder sich mit einem sternenbesäten Schleier überzieht. Durch die Sahara wehen Stürme und dieses Sandmeer aufwühlend, zeugen sie mit ihrer Bewegung vom Leben; hier ist nichts von alledem. Ein felsiger, in Furchen gepflügter Boden, auf der Oberfläche von der Sonnenglut ausgetrocknet, immer dasselbe grauenhaft bleierne Einerlei! Wie dieser Himmel da oben, der in weit über dreihundert Stunden sich fast nicht verändert hat! Wo seid ihr — Wind — Wasser — Leben — Himmelsblau und grüne Triften? ...
Alles das erscheint uns wie ein wunderschönes Märchen, das man einst gehört und durchlebt hat, in der Jugendzeit — lang, lang ist’s her — ach, sehr lange ...
Nach der Zeitrechnung der Erde sind wir noch nicht ganz zwei Monate auf dem Mond, aber uns scheint es, daß schon ein Menschenalter verflossen ist, seit wir die Heimat verlassen haben. Wir gewöhnen uns langsam an die neuen Lebensbedingungen; wir wundern uns nicht mehr über das, was uns umgibt, wir wundern uns vielmehr über die Erinnerungen, die uns sagen, daß dort auf jener hellen Kugel, die von Sternen umgeben am schwarzen Himmel in einer Entfernung von Hunderttausenden von Kilometern über uns hängt, das selige Land ist, wo wir geboren und aufgewachsen sind, das so verschieden ist von diesem — und so schön — so zauberhaft schön! ...
Oh! Die Menschen können die Schönheit der Erde nicht schätzen! Wenn sie hierher gelangten, würden sie sie lieben, wie wir sie jetzt lieben, sie, die ewig Verlorene! Und sie würden von ihr träumen — so wie wir — in Fieberphantasien, in unruhigen, schmerzlichen, bangen Fieberträumen, voll von quälender Sehnsucht ... Ach, wie diese Träume erschöpfen! Ich wache nach einigen Stunden auf und sehe, daß die Sonne am Himmel steht, fast an derselben Stelle, an der sie stand, ehe ich eingeschlafen war, daß unser Wagen, trotz der unaufhörlichen Fahrt, immer noch auf derselben Wüste ist, immer gleich weit vom Horizonte entfernt und beginne fast zu glauben, daß es keine Zeit mehr gibt und keinen Raum, sondern nur noch Raumlosigkeit und Ewigkeit!
Um uns zu zerstreuen und in dieser Wüste nicht wahnsinnig zu werden, erzählen wir uns lange, manchmal ganz kindische Geschichten oder lesen die von der Erde mitgebrachten Bücher. Wir haben einige naturwissenschaftliche Werke, eine ausführliche Geschichte der Zivilisation, einige der besten Dichter und die Bibel. Die Bibel lesen wir vor allem sehr oft. Gewöhnlich liest Woodbell mit wohlklingender, deutlicher Stimme Teile aus der Genesis oder die Evangelien vor ...
Wir hören zu, wie Gott die Erde erschaffen hat für den Menschen, damit er auf ihr wandle und den Mond, damit die Erde ihr nächtliches Licht habe; wie er die Nacht dem Tage folgen hieß, wie er Adam aus dem blühenden Paradies in ein wüstes, unfruchtbares Land hinaustrieb. Wir hören, wie der Heiland auf die Welt gesendet wurde, das Menschengeschlecht zu erlösen. Wie er mit einer treuen Schar über die wonnigen Wiesen und grünen Hügel von Galiläa dahinging, wie er litt und starb; wir hören all dem zu — auf die Erde blickend, die einer silbernen Sichel am schwarzen Samt des Himmels gleicht und fahren durch die wüsten, entsetzlichen Weiten unter dieser Sonne dahin, die, sich träge fortschleppend, vergißt, uns Tage und Stunden anzugeben.
Martha versinkt mit ihrer ganzen Seele in diese Erzählungen und wenn Tomas zu lesen aufhört, stellt sie ihm verschiedene, oft seltsame Fragen. Alles bezieht sich auf unsere gegenwärtige Lage ... Vor kurzem sagte sie zu Tomas: „Wir sind beide hier wie Adam und Eva.“ In der Tat, sie sind hier das erste Menschenpaar, von der Erde in die Wüste hinausgetrieben, wie einstmals jene aus dem Paradies Hinausgetriebenen. Aber ich und Peter — was sind wir? Es ist etwas Unmenschliches in unserem gegenwärtigen Dasein: Tomas und Martha haben allein in sich die Berechtigung ihres Seins, aber wir — wozu leben wir?
Ich erinnere mich, was wir auf der Erde gesagt haben, als wir uns zu dieser Reise rüsteten: Wir begeben uns dorthin der Erkenntnis wegen! Jetzt sehe ich, daß die Erkenntnis allein den Menschen nicht befriedigt, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie anderen mitzuteilen! Wir sehen Wunder, wie sie seit Erschaffung der Welt noch kein Mensch gesehen hat und bemerken staunend, daß uns das ziemlich gleichgültig ist — eben weil wir niemandem sagen können, was wir sehen! Aus diesem Grunde auch — unwillkürlich — untersuchen wir viele Dinge nicht, die wir untersuchen könnten und müßten ... Ach, wenn wir ein Mittel zur Verständigung mit der Erde hätten! Ohne diese ist unser Leben ziellos. Glücklicher Tomas und glückliche Martha! Sie leben, weil einer für den anderen lebt!
Ein Fieber schüttelt mich, wenn ich auf sie sehe, wenn ich an sie denke. Über dreißig Jahre habe ich auf der Erde gelebt; ich gehörte zu den — Wahnsinnigen, — heute kann ich es nicht anders bezeichnen, — für die nur eine Liebe existiert: das Wissen — und nur ein Trachten: nach Wahrheit. Jetzt beginne ich, sehnsüchtig nach diesem großen Geheimnis des Lebens zu forschen, das das Weib in sich birgt und nach dem heiligen Irrsinn, in dem sich jenes Geheimnis offenbart — nach der Liebe ...
Ha! Ha! Wie lächerlich sieht dieser Satz — hier niedergeschrieben — aus! Ich bin allein und werde allein sein bis zum Tode, der mich überfallen und gleichzeitig mit dieser unverbrauchten Kraft, die Leben zeugt, verschlingen wird, zugleich mit diesem unverbrauchten Wissen, das wie ein Quell zwischen starren, unfruchtbaren Felsen quillt ...
Martha ... Ich weiß nicht, warum ich diesen Namen aufgeschrieben habe. Was geht mich diese halbwilde Malabarin an, die auf diese Hunderttausende von Kilometern von der Erde entfernte Welt nicht die erhabene Begierde des Forschens, nicht das Verlangen, tiefste Geheimnisse zu enträtseln, getrieben hat, sondern die banale, alltägliche, alberne Liebe zum Manne? Nein, sie geht mich nichts an und dennoch denke ich unaufhörlich an sie, hartnäckig, fast schmerzhaft. Wir sind hier drei Männer, kräftig und klug, und dennoch haben nicht wir den Menschen auf diese Welt gebracht, sondern sie, dieses unverständige, schmächtige Weib. Von uns hat nur derjenige einen Wert, den sie ausgewählt hat ...
Wir zwei sind nichts und dienen in der Tat nur den zwei andern mit unserm Gehirn — wie Arbeitstiere mit ihren Muskeln.
Eigentlich ist das ungerecht. Warum er, warum nur er, warum gerade er? ...
Martha sagte auf der Erde, als sie uns bat, sie mit auf den Mond zu nehmen: „Ich werde eure Sklavin sein.“ Und in Wirklichkeit sind wir ihre Sklaven, obwohl sie uns niemals etwas befiehlt, noch wir uns bemühen, ihr zu dienen. Wir sind durch den so ungeheuer einfachen Umstand ihre Sklaven, daß wir unwillkürlich, — obwohl auf verschiedene Weise, dem Zwecke dienen, den sie allein verwirklichen kann: hier eine neue Menschheit zu schaffen.
Wohin nur tragen mich diese Gedanken! Kaum ist das Gespenst des Todes vor meinen Augen entschwunden, so träume ich schon mit der alten Gewohnheit von der Zukunft, die sich vielleicht niemals erfüllen wird. Menschheit, neue Menschheit! Und rings um uns nur lebloses, totes Land, ohne Wasser und Luft! Der Mond hat uns noch nichts gegeben; wir leben bisher von diesen winzigen Erdenteilchen, die wir mit uns genommen haben. Wir fanden bis jetzt nichts, was uns zu der Annahme berechtigt, hier leben zu können! Wir haben schon Hunderte von Kilometern zurückgelegt, ohne eine Veränderung in der Gestalt der Grundoberfläche zu bemerken, noch in der Dichte der Atmosphäre. Die Luft bleibt hier immer so dünn, daß sie die Sterne am Tage nicht zu verblassen vermag, noch das schwarze Kolorit des Himmels blau zu färben; auf dem felsigen Boden finden sich nirgends Spuren, daß einstmals Wasser war und wirkte.
Und dennoch verlieren wir die Zuversicht nicht. Fast alle unsere Unterhaltungen beginnen mit den hoffnungsvollen Worten: Und wenn wir erst auf der anderen Seite sein werden ... Wie wird die andere Seite aussehen? Wir wissen heute davon nicht mehr als in dem Augenblick, da wir diese Reise von der Erde antraten, das heißt: wir wissen absolut nichts.
Unter den Drei Köpfen, 7° 40’ westlicher Länge, 43° 6’ nördlicher Mondbreite. Vor Mitternacht des zweiten Tages.
Wir befinden uns am Fuße des Berges, der sich im nördlichen Teil des Mare Imbrium erhebt und von allen bisher unterwegs angetroffenen Formationen unterscheidet. Das Licht der Erde, die hier nur einige vierzig Fuß über dem Horizonte steht, fällt schräg auf die Felsen, die einer mächtigen gotischen Kirche oder einem Märchenschloß für Riesen ähnlich sind.
Der nächtliche Glanz ist hier bedeutend schwächer als dort, wo die Erde im Zenite über uns leuchtete; man sieht jedoch bei seinem Scheine noch die allgemeinen Linien. Der erste Berg, der nicht die Gestalt eines Ringkraters hat. Nur noch die Reste der Steinmassen sind vorhanden, der Ring selbst muß durch einen furchtbaren Kataklysmus der Natur zerstört worden sein, oder auch durch das langsame Wirken des Wassers.
Wir sagen schon: „durch das Wirken des Wassers“, und obwohl das nur eine Vermutung ist, überläuft uns ein Freudenschauer, als wenn es Wahrheit wäre ... Denn wenn hier Wasser war, so kann man annehmen, daß dort auf der „anderen Seite“ Wasser ist, und wenn dort Wasser ist, so muß auch Luft in genügender Dichte vorhanden sein, um atmen zu können. Trotz des Frostes, der uns, obwohl bedeutend schwächer als in der vorhergehenden Nacht, empfindlich quält, gingen wir für kurze Zeit aus dem Wagen und erforschten beim schrägen Licht der Erde, die Gegend, um Spuren zu finden, die unsere Annahme bestätigen. Etwas Sicheres wissen wir noch nicht, aber es ist zweifellos, daß andere Ursachen bei der Entstehung dieses Berges gewirkt haben, als bei den bisher angetroffenen ringartigen Erhebungen. Dicht vor uns steigt eine fast senkrechte Wand empor mit drei mächtigen Gipfeln, gewissermaßen ein Stück Zyklopenmauer mit drei in ihr eingeschlossenen Basteien. Wir bezeichnen sie mit Drei Köpfe. Die Mauer erstreckt sich in nordöstlicher Richtung und ist uns mit der schwarzen, nichtbeleuchteten Seite zugewandt. Nur die Gipfel färben sich weiß, an den der Erde zugekehrten Flächen und sehen wie drei silberne Helme auf schwarzen Köpfen aus. Der ganze Berg ist vom Hintergrund des Himmels nur insofern verschieden, daß auf seinem Schwarz keine Sterne leuchten, mit denen der Himmel übersät ist. Seine Form erscheint uns ungefähr wie auf der Erde nachts eine schwarze Wolke am schwarzen, aber sternenhellen Himmel.
Wir sind in vollständiges Dunkel gehüllt, da der Berg uns die Erde verdeckt. Den Weg vor uns erhellen wir mit elektrischen Laternen. Das erschwert die Fahrt ungemein. Jede Erhebung wirft hier schon einen langen Schatten und wir müssen uns mit der größten Vorsicht vorwärts bewegen, um nicht in einer Unebenmäßigkeit oder Zerklüftung des Bodens stecken zu bleiben, die wir hier immer häufiger antreffen. Ich glaube, wir werden vor Sonnenaufgang nicht viel Weges zurücklegen können, vor allem, weil der Frost, der gegen Ende der Nacht stärker wird, uns wahrscheinlich zum längeren Aufenthalt an einer geschützten Stelle zwingen dürfte. Wir möchten vorher wenigstens bis zum Gipfel Pico vordringen, der nach der Karte gegen siebzig Kilometer nach Norden von uns entfernt ist, weil wir schon aus Erfahrung wissen, daß es in der Nähe der Berge bedeutend wärmer ist als auf der Ebene. Wir erklären uns diese Erscheinung durch den vulkanischen Charakter der meisten; es müssen wohl unterirdische Adern eines inneren Feuers vorhanden sein.
Nach kurzem Aufenthalt, der durch die Notwendigkeit den Motor zu versorgen hervorgerufen wurde, fahren wir weiter. Ich muß das Schreiben unterbrechen, da es während der Bewegung unmöglich ist, auch nur daran zu denken. Des ungleichen Grundes und der Schatten wegen, die das Licht der zum Horizont geneigten Erde wirft, müssen wir alle auf dem Posten sein. Mit dem Schlaf richten wir uns jetzt so ein, daß immer nur einer schläft und die drei anderen wachen, um die Fahrt nicht aufzuhalten. In diesem Augenblick schläft Martha. Ich höre ihr gleichmäßiges, ruhiges Atmen, ich sehe bei dem gedämpften Schein der Laterne ihr Gesicht, das aus einer Fülle von Pelzen hervorschimmert. Ihre Lippen sind ein wenig geöffnet, wie zum Lächeln oder Küssen ... Wovon träumt sie wohl? ... Ach, Unsinn! — Wir fahren weiter.
Dritter Tag, dreißig Stunden nach Mitternacht, auf Mare Imbrium, 9° 14’ westlicher Länge, 43° 58’ nördlicher Mondbreite.
Seltsam, seltsam ist das, was ich sehe ...
Ungefähr um Mitternacht setzten wir unsere Fahrt von den Drei Köpfen aus fort. Der Weg war außerordentlich beschwerlich, vor allem, weil wir jeden Augenblick in den Schatten kleiner Bodenerhebungen gerieten. Mehrere Male im Verlauf einer Stunde mußten wir anhalten und mit Hilfe des elektrischen Lichts das Terrain erforschen oder auch Messungen vornehmen bezüglich des Höhenstandes der Sterne, die jetzt der einzige Wegweiser für uns sind. Es ist unmöglich, etwas zu erkennen, mit Ausnahme der allgemeinen Linien. Und dennoch ... Vielleicht gerade deswegen ...
Im Verlauf von dreißig Stunden haben wir kaum etwas mehr als vierzig Kilometer zurückgelegt. Endlich gelangten wir zu einem eigenartigen grauen, einer Sandbank gleichenden Streifen. Er zieht sich auf der Strecke nach Nordwesten in einem leicht gekrümmten Bogen und hebt sich mit seiner helleren Farbe von dem dunklen Untergrund der Steinwüste ab. Soweit ich beim Licht der Erde sehen kann, endet er bei einer sonderbaren Felsengruppe, die von weitem einer phantastischen Burg oder einer Stadt ähnlich sieht. Einer Stadt? ...
Wir fahren weiter, längs diesem Streifen, der einen bedeutend gleichmäßigeren Weg für uns darstellt, als die mit Steinen übersäte Wüste und nicht zu sehr von der gesteckten Richtung abbiegt. Wir kommen ziemlich schnell vorwärts und jene von ferne gesehene Felsengruppe tritt immer deutlicher hervor. Jetzt kann man schon die einzelnen Teile erkennen, die durch ihre sonderbare Formation die Täuschung von Turmruinen und Gebäuden hervorrufen. Ich weiß nicht, was ich von alledem denken soll. Ich bemühe mich, darüber klar zu werden ... wahrhaftig, es ist zu seltsam! Eine fast abergläubische Furcht überkommt mich ... Sollte das ...
Dritter Tag, sechsunddreißig Stunden auf Mare Imbrium.
Barmherziger Himmel! Wenn wir Tomas verlieren ... Er war durch das erste Fieber schon so erschöpft und nun abermals ... O Gott, rette ihn, denn wir werden sonst ... diese Totenstadt ...
Neunundfünfzig Stunden nach Mitternacht auf Mare Imbrium am Pico, 9° 12 ’westlicher Länge, 45° 27’ nördlicher Mondbreite.
Ich sammle meine Gedanken. Ich muß sie endlich niederschreiben.
Ich erinnere mich — als ich gerade die letzten Notizen beendet hatte, blickte ich auf die phantastischen Ruinen oder Felsengruppen und rief unwillkürlich:
— Das sieht doch wirklich wie eine Stadt aus!
Tomas, der die ganze Zeit hindurch am Fenster stand und mit steigendem Interesse die näherkommenden Felsen beobachtete, wandte sich auf meine Worte schnell zu mir. In seinen Zügen malte sich eine starke Erregung.
— Ich glaube, du hast recht, sagte er ernst, mit leicht vibrierender Stimme. Das kann in der Tat eine Stadt sein ...
— Was!?
Wir stürzten alle ans Fenster, nach den Fernrohren greifend. Sogar Peter verließ das Steuer, nachdem er den Wagen angehalten hatte, um die seltsame Erscheinung zu beobachten. Tomas streckte die Hand aus ...
— Seht, seht, sagte er, dort nach rechts. Das sind doch Trümmer eines Steintores. Man sieht die beiden Säulen und oben hält sich noch das Stück eines Bogens ... Oder hier, — ist das nicht ein Turm, zur Hälfte zerfallen? Und dort, seht nur, ein mächtiges Gebäude, mit einer niedrigen Säulenreihe vorn und zwei stumpfen Pyramiden zur Seite. Ich bin überzeugt, daß diese scheinbare Klamm, die stellenweise mit Steinen übersät ist, eine Straße war ... Jetzt ist alles zertrümmert und starr ... Eine Totenstadt.
Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das sich meiner bemächtigte.
Je länger ich hinsah, desto geneigter war ich, zu glauben, daß Tomas recht hatte. Vor meinen Augen wuchsen immer neue Türme, Bogen und Säulen, Teile eingefallener Mauern und steinübersäte Straßen. Das Licht der Erde färbte diese phantastischen Ruinen in zarten Silberton; aus einem schwarzen See sprangen geheimnisvolle Schatten empor — wie Geistererscheinungen. Ein kalter Schauer durchlief mich. Ein Mond-Pompeji und Herculanum, nur nicht aus dem Sande herausgegraben, sondern im Sande zerfallen, furchtbarer, mächtiger, viel mehr Tod in dieser ungeheuren Einsamkeit und in diesem seltsamen Lichte.
Varadol zuckte die Achseln und murmelte:
— Ja, das ist wahrhaftig Trümmern verteufelt ähnlich ... diese Felsen ... Aber hier war doch niemals ein lebendes Wesen.
— Wer weiß, antwortete Tomas. Heute hat diese Seite des Mondes weder Luft noch Wasser, aber sie konnte beides haben, einst, vor Jahrtausenden, als sich der Mondglobus noch schneller drehte und die Erde auf- und unterging an seinem Himmel ...
— Das ist möglich, flüsterte ich in tiefem Nachdenken.
— Wir haben an keiner Stelle Spuren von Erosionen angetroffen und das beweist, daß hier niemals Wasser war, was wiederum für das Fehlen der Luft, also auch des Lebens zeugt, entgegnete Peter.
Woodbell lächelte und wies auf den Boden unter unserem Wagen:
— Und dieser Sand? Und die „Drei Köpfe“, an denen wir vor kurzem vorbeigekommen sind? Sie sahen doch aus wie der Rest eines Berges, der vom Wasser abgespült ist. Man kann nicht behaupten, daß es hier niemals Wasser gegeben hat. Vielleicht wurde nur durch das Wirken der Kälte und Sonnenglut alles verwischt und vernichtet ...
Eine Zeitlang schwiegen wir alle; dann sagte Woodbell plötzlich:
— Ich glaube, daß wir das interessanteste Rätsel vor uns haben, dem wir überhaupt auf dem Monde begegnen konnten. Man muß es lösen.
— Wie meinst du das? fragte ich.
— Nun, wir werden an diese Trümmer heranfahren und sie untersuchen ...
Ich weiß nicht weshalb, aber ein Frösteln durchlief mich bei diesen Worten; es war keine Angst, aber etwas, das ihr sehr ähnlich ist. Diese Trümmer der — Gebäude oder der Felsen sahen wie Leichen aus in dieser unermeßlichen Wüste.
Peter zuckte unwillig die Achseln:
— Eine hirnverbrannte Idee! Schade um die Zeit, diese Felsmassen zu besichtigen, die beim Licht der Erde allerdings mit Gebäuden etwas Ähnlichkeit haben, aber auch nichts mehr.
Trotzdem lenkten wir den Wagen den Ruinen zu. Martha betrachtete sie mit Spannung und gleichzeitig mit einer sichtlichen Unruhe.
— Und wenn diese Stadt der Toten durch Tote erbaut, flüsterte sie, als uns schon kaum mehr zwei Kilometer von den Arkaden trennten, die den Eingang zu dieser sonderbaren Stadt bildeten.
— Eine Stadt der Toten ... sicherlich ... sagte Tomas lächelnd, aber glaube mir, daß sie einst von Lebenden erbaut werden mußte.
— Oder durch Naturkräfte, warf Peter ein, und in diesem Augenblick blieb der Wagen mit einem heftigen Ruck stehen.
Wir stürzten zum Motor, zu sehen, was vorgefallen. Die Sandbank hatte gerade ihr Ende erreicht, und vor uns lag ein Feld, so übersät mit großen Steinen, daß keine Rede von einem Durchdringen mit dem Wagen sein konnte. Als Tomas dies bemerkte, zögerte er einen Augenblick und sagte dann:
— Ich werde zu Fuß hingehen!
Wir wollten ihn alle zurückhalten, ohne uns klar darüber zu sein, weshalb. Vielleicht war es ein Vorgefühl dessen, was geschehen sollte!
Er blieb jedoch bei seinem Entschluß. Peter fluchte unter dem Schnurrbart hervor und meinte, daß man ein kompletter Idiot sein müsse, die Zeit zu verlieren und sich durch das Verlassen des Wagens der furchtbaren Kälte auszusetzen, nur eines Hirngespinstes wegen. Ich erklärte mich bereit, Tomas zu begleiten, aber als er sagte, daß er allein gehen wolle, drängte ich nicht weiter. Ich weiß noch immer nicht, was mich eigentlich zurückgehalten hat, die Angst vor der Kälte oder auch dieses unerklärliche Gefühl der Furcht beim Anblick dieser toten Stadt. Genug, ich blieb im Wagen ...
Als Tomas uns verlassen, wandte er sich direkt den geheimnisvollen Trümmern zu. Wir standen am Fenster und sahen ihn im Schein der Erde klar und deutlich vor uns. Er ging langsam vorwärts, sich oft bückend, wahrscheinlich um den Boden zu untersuchen. Für einen Augenblick verschwand er im Schatten eines kleinen Felsens, dann sahen wir ihn wieder, schon bedeutend weiter. Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Woodbell, der vielleicht schon den dritten Teil des Weges zurückgelegt hatte, reckte sich in die Höhe, stand wie erstarrt und begann dann in wahnsinnigen Sprüngen zum Wagen zurückzulaufen.
Wir sahen seine Bewegungen und konnten sie uns nicht erklären. Da, einige Schritte bevor er den Wagen erreicht hatte, wankte er und fiel. Als wir bemerkten, daß er nicht wieder aufstand, wollten wir ihm zu Hilfe eilen, aber ehe wir hinaus konnten, verging eine geraume Zeit, da wir erst die Luftbehälter anlegen mußten. Dann stürzten wir zu ihm; er lag bewußtlos am Boden. Wir hoben ihn auf und trugen ihn in den Wagen.
Nachdem wir ihm den Luftbehälter heruntergerissen hatten, bot sich uns ein entsetzlicher Anblick dar. Das Gesicht war geschwollen und bläulich, ganz von Blut überströmt, das ihm aus Mund und Nase hervorquoll; an den Armen und am Halse waren ebenfalls dicke Blutstropfen sichtbar, obwohl wir nirgends eine Wunde entdecken konnten.
Martha schrie verzweifelt auf und wollte sich über den Geliebten stürzen. Nur mit Gewalt konnte Varadol sie zurückhalten. Ich begann indessen mit den Wiederbelebungsversuchen. Anfangs dachten wir, daß er einen apoplektischen Anfall bekommen habe, als jedoch Peter den Luftbehälter untersuchte, zeigte sich der wahre Grund der Ohnmacht. Das Glas in der Maske war zerschlagen, was wir nicht sofort wahrgenommen hatten. Anscheinend zerbrach es, als Tomas stolperte und fiel und infolgedessen war die Luft aus dem Behälter entwichen. Ehe wir ihm zu Hilfe kamen, hatte sich der Luftbehälter fast gänzlich entleert, was den Blutsturz und die Ohnmacht verursachte; aber aus welcher Veranlassung er so gelaufen war, blieb uns allen zunächst ein Rätsel.
Endlich nach langer Zeit gelang es uns, ihn zum Bewußtsein zu bringen. Das erste Zeichen des wiederkehrenden Lebens war ein tiefer, krampfartiger Atemzug, worauf ihm abermals das Blut aus dem Munde herausschoß. Dann öffnete er die Augen und sah uns mit irren Blicken an; er begriff scheinbar nicht, was mit ihm vorgegangen war. Plötzlich schrie er entsetzt auf und streckte die Hände aus, als wenn er etwas von sich stoßen wollte, dann wurde er von neuem ohnmächtig. Wir versuchten zum zweitenmal, ihn wieder zu sich zu bringen, aber vergebens: Er fiel in ein Fieber, das die Vorbotin einer längeren Krankheit war.
Nachdem wir Tomas aufs sorgfältigste gebettet hatten, fuhren wir weiter. An die phantastischen Berge und die geheimnisvolle Stadt dachte niemand mehr! Wir hatten nach diesem entsetzlichen Vorfall nur die eine Sorge, so schnell wie nur möglich aus dieser grauenvollen Gegend herauszukommen.
In zwanzig Stunden sind wir endlich bis zu den Abhängen des Pico vorgedrungen, wo wir augenblicklich rasten. Wir werden bis zum Morgen hier bleiben.
Der Zustand Woodbells ist sehr besorgniserregend. Der Blutsturz hat sich zwar nicht wiederholt, aber das Fieber wird immer heftiger. Manchmal springt er auf, als wenn er fliehen wollte, phantasiert und stößt unverständliche Worte hervor; oft glauben wir, die Namen der unglücklichen Brüder Remogner herauszuhören. Solchen Anfällen folgt meist eine vollständige Erschlaffung. Er sieht dann leichenblaß aus, als wenn in seinem ganzen Körper nicht ein Blutstropfen mehr vorhanden wäre.
Wir sind durch das alles im höchsten Grade beunruhigt. Martha verliert vor Verzweiflung und Angst fast den Verstand. Aber sie versucht immer wieder, sich zu beherrschen, weil der Kranke so dringend ihrer Pflege bedarf. Wir trösten sie so gut wir können und verheimlichen ihr unsere eigenen Befürchtungen.
Hinter diesem ganzen grauenhaften Vorfall steckt irgendein Rätsel. Ich begreife noch immer nicht, was Tomas zu jener wahnsinnigen Flucht veranlassen konnte, die schließlich die Ursache seines Unglücks geworden ist. Denn es ist sicher, daß sich die Glasmaske erst bei seinem Fall zerschlagen hat. Wenn ich nur damals auf den Gedanken gekommen wäre, den von ihm zurückgelegten Weg zu erforschen, vielleicht hätte uns das etwas Klarheit gebracht ... Denn es muß dort etwas Unerhörtes geschehen sein! Wenn ein Mensch sich nicht von grundloser Angst erfassen ließ, so war es Tomas, der stets so viel Geistesgegenwart und Ruhe in den fürchterlichsten Situationen bewahrte. Aber was hat ihn so entsetzt? Was konnte ihn überhaupt in dieser toten Welt entsetzen? ... Er hatte nicht einmal die Hälfte des Weges zu den Toren jener mutmaßlichen Stadt der Toten zurückgelegt ...
Endlich atmen wir etwas freier! Ich glaube, daß es uns gelingen wird, Tomas am Leben zu erhalten. Jetzt ist er eingeschlafen, ein Zeichen, daß die Krisis überstanden ist. Wir verhalten uns so ruhig wie nur möglich, sprechen sogar nur im Flüsterton, um ihn nicht zu stören. Vielleicht wird ihn dieser Schlaf erretten.
Wir fürchten nur sehr, daß die Hunde mit ihrem Bellen Lärm machen könnten, — denn Tomas jetzt aufzuwecken, hieße ihn morden. Infolgedessen wachen wir abwechselnd bei den Tieren, wenn eins von ihnen bellen sollte, wird es aus dem Wagen geworfen. Aber zum Glück verhalten sich die Hunde ganz ruhig. Selena, seine geliebte Hündin, sitzt neben dem Lager wie zur Wache und wendet keinen Blick von ihrem kranken Herrn. Ich bin überzeugt, daß dieses kluge Tier versteht, was mit Tomas vorgeht. Wenn wir uns dem Kranken nähern, brummt Selena leise, wie warnend, daß sie wacht und ihm kein Unrecht zufügen läßt, und dann schwänzelt sie wieder, um zu erkennen zu geben, daß sie an unsere guten Absichten glaubt und über unsere Sorgfalt erfreut ist. Und bei alledem liegt so viel Angst und Trauer in ihren treuen Augen.
Auch Martha weicht nicht von Tomas’ Seite. Fast hundert Stunden bereits spricht sie kein Wort. Sie öffnet den Mund nur, wenn sie sich mit uns bezüglich der Pflege verständigen muß. Ich kann mir keinen größeren Schmerz vorstellen. Sie weint nicht, sie klagt nicht, im Gegenteil, sie ist ganz ruhig, aber in dieser Ruhe, in diesen zusammengebissenen, trockenen Lippen, den weitgeöffneten Augen liegt etwas so Trostloses, daß es uns geradezu das Herz zerreißt. Wir möchten sie beruhigen, ihr Hoffnung und Mut zusprechen — und wagen nicht, uns ihr zu nähern, so achten wir sie und ihren großen Schmerz. Und sie blickt so seltsam gleichgültig auf uns; wir fühlen, daß wir sie nur so weit angehen, als wir ihr bei Tomas’ Rettung behilflich sind. Außerdem existieren wir nicht für sie.
Am Pico, vor Sonnenaufgang am dritten Tage.
Der höchste Gipfel des Pico flammt in der Sonne auf! Drei oder vier Stunden — und der Tag wird auch schon hier in der Tiefe leuchten. Die ganze Nacht hindurch sahen wir im Schein der Erde die silberne Wand des mächtigen Berges vor uns; jetzt ist diese Wand durch den Kontrast mit dem in der Sonne glühenden Gipfel grau und dunkel.
Wie die „Drei Köpfe“ ist auch der Pico kein Krater, sondern vielmehr die letzte mächtige Felsenpartie eines zerstörten Ringberges. Wir stehen unter seinem höchsten Gipfel, der sich im Nordwesten erhebt. Er bricht hier fast senkrecht zur Ebene ab. Man kann schwindlig werden beim Anblick dieser enormen Höhe, die sich noch stärker dadurch abhebt, daß sich ringsherum eine glatte Fläche ausdehnt. Der Gipfel erhebt sich über zweitausendfünfhundert Meter.
Es ist schwer zu erraten, was den Zerfall dieses Ringberges, von dem nur die vor uns liegenden Reste übrig blieben, veranlaßt hat. Vielleicht ist der Felsen, aus einem weicheren Material gebildet, unter dem Einfluß der Temperaturveränderungen zerbröckelt — oder hat ihn das Wasser unterspült?
Schon das zweitemal während unserer Fahrt kommt uns diese Vermutung. Auch der Umstand spricht dafür, daß man nirgends einen Wall von Felsstücken sieht, der hätte entstehen müssen, wenn diese Berge durch Kälte und Sonne zerfressen wären.
Dort, wo sich einst scheinbar der Kamm des Ringes erhob, befindet sich jetzt kaum eine kleine, glatte Erhebung, die im Lichte der Erde unklar vor uns auftaucht. Peter hat sich trotz der großen Kälte für einen Augenblick aus dem Wagen herausgewagt, um den Boden zu erforschen. Er konnte sich nicht länger aufhalten, aber er brachte ein Stück Gestein mit, dem ähnlich, das sich im Wasser ansetzt ...
Wenn die Sonne aufgeht und diese Gegend erhellt, werden wir vielleicht Näheres erfahren.
Tomas schläft andauernd fast seit dreißig Stunden. Wir sind dadurch etwas freier, aber andererseits beginnt uns ein so langer Schlaf zu beunruhigen. Eine beklemmende Angst befällt uns, wenn wir auf dieses totenblasse Gesicht blicken. Die Augen hat er geschlossen, die Wangen sind eingefallen, die Lippen vertrocknet und blutleer. Er liegt regungslos da. Die Rippen heben sich kaum beim leisen Atmen. Manchmal glaube ich, daß ich keinen lebenden Menschen, sondern eine Leiche vor mir sehe. Wie froh wäre ich, wenn er endlich aufwachte.
Martha schweigt und weicht nicht einen Augenblick von seinem Lager. Von Müdigkeit überwältigt, schläft sie manchmal so sitzend ein. Aber das dauert nur ganz kurze Zeit; sie wacht sofort wieder auf und sieht mit weit aufgerissenen Augen auf den Kranken, als wenn sie ihn durch den Blick gesund machen wollte. Ich beginne wirklich für ihre Gesundheit zu fürchten. Gott, wenn sie uns auch noch krank würde! Aber alle Vorstellungen unsererseits sind vergebens. Nur mit Mühe können wir sie dazu bringen, etwas zu essen. Ich bin sehr in Sorge, was werden soll, wenn Woodbell vor Anbruch des Tages nicht erwacht. Wir möchten sofort weiterfahren, fürchten aber wiederum, seinen Schlaf zu unterbrechen. Anfangs hatten wir die Absicht, uns vom Pico nach Osten zu wenden, um die Alpenkette zu umkreisen, die die nordöstliche Grenze des Mare Imbrium bildet, aber schließlich fahren wir direkt nach Norden, dem mächtigen Ringe des Plato zu. Peter glaubt, nach ausführlichem Studium der Karten, daß es uns gelingen wird, durch diesen Ring hindurch direkt auf das Mare Frigoris zu gelangen, hinter dem sich ein gebirgiges Land auftut, das sich alsdann bis zum Pol erstreckt. Das würde uns den Weg bedeutend verkürzen.
Auf Mare Imbrium, 10° westlicher Länge, 47° nördlicher Mondbreite, zwanzig Stunden nach Sonnenaufgang des dritten Tages.
Wir nähern uns endlich der Grenze des unermeßlichen Regenmeeres, zu dessen Durchquerung wir fast zwei Monate brauchten. Hier sind das zwei Tage, aber dort auf der Erde hat sich der Mond indessen zweimal erneuert, zweimal ist er im Vollmond aufgeflammt und zweimal hat er sich im Neumond verfinstert.
Seit mehreren Stunden sehen wir den mächtigen Wall des Platoringes vor uns. Sein östlicher Teil schimmert bereits in der Sonne wie eine mächtige Mauer am schwarzen Himmel; in westlicher Richtung ist noch Nacht. Die höheren Gipfel flammen wie Fackeln. Es ist dies entschieden der erhabenste und mächtigste Anblick, den wir bis jetzt hatten; wir sind jedoch durch den Zustand Tomas’ so niedergedrückt, daß wir fast gar nicht beachten, was uns umgibt.
Tomas ist bei Sonnenaufgang erwacht. Er sah uns kurze Zeit erstaunt an und dann versuchte er, sich zu erheben, aber die Kräfte versagten ihm, er fiel schlaff zurück. Martha hat ihn aufgerichtet, und ich frug ihn, ob er etwas wünsche. Peter stand indessen am Steuer des Wagens.
Tomas wunderte sich zuerst, daß es Tag sei. Er erinnerte sich an nichts aus seiner Krankheit, sogar der Vorfall, der ihr vorausgegangen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Als ich ihn erwähnte, dachte er kurze Zeit nach, und dann erblaßte er plötzlich, wenn man vom Erblassen eines Gesichtes sprechen kann, aus dem schon jeder Blutstropfen gewichen zu sein scheint. Er bedeckte die Augen mit den Händen, und mit einem Ausdruck der qualvollsten Angst wiederholte er fortwährend: Das war entsetzlich, entsetzlich! — Schauer schüttelten ihn.
Als er sich nach einer Weile etwas beruhigt hatte, versuchte ich vorsichtig zu erfragen, was ihn so entsetzt und zu dieser in ihren Folgen so verhängnisvollen Flucht veranlaßt hatte. Aber alle meine Bemühungen waren umsonst. Er schwieg hartnäckig oder fertigte mich mit Antworten ohne jeglichen Zusammenhang ab. Schließlich gab ich das zwecklose Fragen auf, als ich bemerkte, daß ich ihn nur damit peinigte und ermüdete. Statt dessen mußte ich ihm ausführlich erzählen, in welchem Zustande wir ihn gefunden und den ganzen Verlauf der Krankheit. Er hörte aufmerksam zu, nannte manchmal halblaut lateinische Namen von Medikamenten, erkundigte sich nach den kleinsten Umständen und Begleiterscheinungen, und nachdem er sich alles angehört hatte, wandte er sich zu mir und sagte mit seltsamer Ruhe:
— Ich glaube, daß ich sterben werde.
Ich widersprach lebhaft, aber er nickte nur mit dem Kopfe:
— Ich bin Arzt, und jetzt, wo ich die Besinnung wiedererlangte, sehe ich als solcher auf meine eigene Krankheit. Ich wundere mich nur, daß ich überhaupt noch am Leben bin. Als ich damals fiel, wie du sagst, zerschlug sich das Glas in der Maske des Luftbehälters. Daß ich nicht sofort gestorben bin, verdanke ich nur dem Umstand, daß ihr früh genug zu Hilfe kamt, bevor die in dem Behälter befindliche Luft nach außen gelangen und verfliegen konnte. Aus dem, was du von meinem Zustand erzählst, nehme ich jedoch an, daß die Atmosphäre in meinem Luftbehälter schon außerordentlich dünn gewesen sein muß. Durch den erhöhten inneren Druck stürzte mir das Blut nicht nur aus Mund und Nase, sondern sogar durch die Poren der Haut. Wenn ihr euch um einige Sekunden verspätet hättet, würdet ihr nur noch eine blutlose Leiche gefunden haben. Ich wundere mich übrigens, wie ich nach einem so furchtbaren Blutverlust die vielen Tage hindurch das Fieber aushielt ... Wenn es auch nicht stark sein konnte, denn woher ... bei dem Fehlen des Blutes und der so schwachen Herztätigkeit ... aber schließlich habe ich das Fieber überstanden und lebe, — doch das bedeutet durchaus noch nicht, daß ich leben werde. Ich habe kein Blut; sieh her, den Puls fühlt man kaum, leg’ mir die Hand auf die Brust, du fühlst nicht einmal, daß das Herz schlägt. Auf der Erde würde ich vielleicht aufkommen, aber hier fehlen die Bedingungen.
Er brach erschöpft ab und fiel in die Kissen zurück. Ich dachte, daß er wieder einschliefe. Aber seine Blicke flackerten unstät unter den gesenkten Lidern und folgten unaufhörlich Martha, die mit der Zubereitung der Arzneien, die er sich selbst verschrieben hatte, beschäftigt war. Ein grenzenloses Leid lag in seinen Augen. Er bewegte einige Male die Lippen, und dann sagte er ruhig, mich fest ansehend:
— Ihr werdet gut zu ihr sein, nicht wahr?
Ein Krampf schnürte mir das Herz zusammen und gleichzeitig schien es mir, daß mir eine widerwärtige, teuflische Stimme ins Ohr flüsterte: Wenn er stirbt, wird Martha einem von euch gehören, vielleicht dir ...
Ich blickte zu Boden aus Scham vor mir selbst, aber er schien schon diesen Gedanken in meinen Zügen gelesen zu haben, obwohl ich bei Gott schwöre, daß er kürzer war als die kleinste Sekunde.
Er lächelte unsagbar schmerzlich, und die von kleinen blauen Äderchen durchzogene Totenhand nach mir ausstreckend, fügte er hinzu:
Zankt euch nicht um sie. Überlaßt ihr ... achtet ... achtet ...
Er konnte es nicht beenden. Nach einer Weile erst, nachdem er Atem geschöpft hatte, sagte er hart, den Ton plötzlich ändernd:
— Ich kann auch am Leben bleiben. Es ist absolut nicht gewiß, daß ich sterben muß.
Seit dieser Unterredung sind einige Stunden verflossen, aber sein Zustand besserte sich in nichts; im Gegenteil, er scheint sich sogar zu verschlimmern. Immer wiederholen sich das Herzklopfen, die Beklemmungen und Ohnmachten. Ich weiß, wie das weitergehen wird. Er ist dabei sehr erregt und ungeduldig geworden. Martha darf ihn keine Minute verlassen; auf uns blickt er wie auf Feinde.
Ich versuchte noch mehrere Male die Ursache jener geheimnisvollen Flucht von ihm zu erfahren, aber immer wenn ich das Gespräch darauf brachte, verstummte er sofort und seine Augen nahmen den Ausdruck einer solchen Angst an, daß ich es nicht mehr über mich bringe, ihn mit Fragen zu quälen. Schließlich, was liegt mir daran? Es genügt, daß ein Unglück geschehen ist, — wenn es nur damit seine Bewandtnis hätte!
Dritter Mondtag, sechsundsechzig Stunden nach Sonnenaufgang, unterm Plato, auf dem Wege nach Osten.
Die Annahmen Varadols haben sich als vollständig irrig erwiesen. Mit dem Wagen durch die Mitte des Platoringes zu kommen, ist eine reine Unmöglichkeit. Wir müssen die Alpenkette umkreisen, was unsere Reise außerordentlich verlängert. Aber es gibt keinen anderen Ausweg.
Kaum mehr als dreißig Stunden sind seit Sonnenaufgang verstrichen; in dieser Zeit legten wir fast hundert Kilometer Weges zurück, allerdings auf einem Boden, der ausnahmsweise glatt war. Nun haben wir am Fuße des Plato haltgemacht.
Der mächtige, zirka neunzig Kilometer im Durchmesser zählende Platoring erhebt sich an der nördlichen Grenze des Regenmeeres. Nordöstlich von ihm erstreckt sich die Kette der Mondalpen bis zum Palus Nebularum, der das Mare Imbrium mit dem Mare Serenitatis verbindet.
Die Kette ist nur an einer Stelle durch eine breite, querliegende Tiefebene unterbrochen, wohl der einzigen auf dieser Seite des Mondes, die zum Mare Frigoris führt, durch das wir auf der Fahrt zum Pol hindurch müssen. Im Westen des Plato erstreckt sich ein hoher, steiler, im Halbkreis gekrümmter Rand, in den sich noch der breite „Abhang des Regenbogen“ hineinzieht. Der Platoring selbst ist aus einem Bergwall entstanden, der eine innere Fläche von ungefähr siebentausendfünfhundert Quadratkilometer Raum umfaßt. Die höchsten Gipfel im östlichen Teil des Walls erreichen eine Höhe von zweitausendfünfhundert Metern.
Nachdem wir alles dies genau auf der Karte erforscht hatten, bemerkten wir, daß sich im nördlichen Wall des Plato, dicht neben dem in ihm eingeschlossenen kleinen Krater ein Kamm senkt und verflacht, der eine Art von breitem Paß bildet.
Wir wollten nun nach dem Plan Peters, um den Weg zu verkürzen, über diese Einsattelung auf die mittlere Fläche gelangen und, sie in nördlicher Richtung durchschneidend, einen Ausgang auf die Höhe suchen, die sich schon sanft nach dem Mare Frigoris senkt.
An den Abhängen des Plato angelangt, fanden wir leicht die auf der Karte angegebene Stelle. Dabei war uns jener herausragende Krater behilflich, der sich über der Einsattelung erhob. Der Weg dorthin schien nicht sehr beschwerlich zu sein; der Boden stieg nur allmählich und es waren keine Unebenheiten auf ihm zu bemerken. Trotzdem wagten wir es nicht sogleich mit dem Wagen weiterzufahren. Wir mußten uns vergewissern, ob wir diese Strecke wirklich passieren konnten.
Nachdem wir also Woodbell unter Marthas Schutz zurückgelassen hatten, traten Peter und ich den Weg zu Fuß an. Der Wagen sollte auf unsere Rückkehr warten. Wir umkreisten den Krater im Massiv des Plato von Osten aus, immer höher hinaufsteigend. Der Weg war nicht so einfach, wie es von unten den Anschein hatte. Wir trafen Steinfelder und Abgründe an, die wir umgehen mußten. Trotzdem waren wir überzeugt, mit dem Wagen durchzukommen. Eine frohe, hoffnungsvolle Stimmung hatte uns beide erfaßt. Die Sonne stand noch nicht hoch über dem Horizont und erwärmte uns genügend. Es war uns warm und leicht; rings um uns boten sich wundervolle Landschaftsbilder dar! Die Abhänge der Felsen, die von schwarzen Schatten durchbrochen waren, glänzten, von der blendenden Sonne bestrahlt, in der ganzen Pracht der köstlichsten Regenbogenfarben. Wir schritten über Schätze hinweg, für die man auf Erden hätte Königreiche und Kronen kaufen können: zwischen den zerbröckelten Steinen schillerten blutigrote Rubine; Malachitadern leuchteten von ferne wie Grasflächen, auf denen zerstreute Stücke von Onixen und Topasen den Eindruck von Blumen hervorriefen. Manchmal schoß plötzlich aus einer Spalte, in die ein Sonnenstrahl drang, eine ganze Fontäne von Glanz, eine wahre Orgie des Lichts, das in den mächtigen Prismen des Gebirgskristalls verteilt war.
Dieser maßlose Reichtum, der durch eine Laune der Natur an dieser Stelle ausgeschüttet war, blendete und berauschte uns, aber bald gewöhnten wir uns so an diesen Anblick und an die hier ganz wertlosen Schätze, daß wir auf ihnen schritten wie auf gewöhnlichen Kieselsteinen.
Jedoch wirkte diese herrliche Umgebung ungemein belebend auf uns und wir waren glücklich und guter Dinge. Wir vergaßen Kummer und Sorgen, die Krankheit Tomas’, die überstandenen Mühen und Unglücksfälle, die Gefahren, die uns noch drohten, sogar die gänzlich unsichere Zukunft, der wir entgegengingen. Wir freuten uns wie die Kinder über diesen einzig schönen Morgen! An die etwas unbequemen Luftbehälter hatten wir uns schon vollständig gewöhnt, und auch der Gedanke an die Gefahr, der wir durch die uns umgebende Leere ausgesetzt waren, trübte, trotz des neuerlichen Vorfalls mit Woodbell, unsere Fröhlichkeit nicht.
Von unserm leichten Körpergewicht auf dem Monde und einer nicht geschwächten Muskelkraft profitierend, setzten wir über mächtige Felsen oder sprangen von hohen Wänden herab.
Diese Ausbrüche der guten Laune wurden allein durch die Notwendigkeit der baldigen Umkehr eingedämmt. Luft und Nahrung hatten wir nur für vierzig Stunden mitgenommen und wir mußten bedenken, daß irgend etwas Unvorhergesehenes eintreten konnte, das uns zu einem längeren Aufenthalt nötigte.
In ungefähr zehn Stunden standen wir auf der Einsattelung. Vor uns öffnete sich der Blick auf das geheimnisvolle Innere des Plato. Der nördliche Wall des Ringes, der von uns gegen hundert Kilometer entfernt lag, erschien wie eine mächtige Säge, die in unzählige Zacken zerrissen war. Bis zu dieser Grenze erstreckte sich eine glatte Fläche, dunkelgrau, erloschen und still. Hie und da nur zerschnitten sie hellere, breite Ketten, mit einigen kleinen Kratern, die darauf zerstreut lagen und flachen Mulden ähnlich waren. Zu unsern Füßen brach der Felsen im Innern außerordentlich scharf ab; es war keine Rede davon, daß wir hier mit dem Wagen vordringen konnten.
Eine unsagbare Trauer wehte uns aus dieser trostlosen Öde an. Es wäre unmöglich, sich eine Landschaft vorzustellen, in der mehr Schweigen und mehr Starrheit lag. Die Felsen sogar senkten sich hier langsam und träge zur Tiefe, — die Gipfel starrten traumverloren und so finster in den Sonnenschein, als wenn sie sich nur mit Mühe und ungern erhoben hätten, weil man sie auf Wache stehen hieß und jene mächtige, graue Ebene zu umgrenzen.
All unsere Fröhlichkeit war spurlos verschwunden ...
Seltsam, wie eine Landschaft auf das menschliche Herz wirkt! Ich schaute lange, in Schweigen versunken, und konnte die Augen von dieser Wüste nicht abwenden, und ein immer größeres Leid bedrückte mich, ich weiß nicht, warum und um wen ... So gleichgültig war mir alles geworden, so wertlos, und so überflüssig erschien mir jede Anstrengung und so verlockend der Tod-Erlöser, der mich doch vor kurzem noch mit einer so höllischen Angst erfüllte.
Ich fühlte, daß mich dieser Anblick mordet; ich konnte ihn nicht länger ertragen und bedurfte doch der ganzen Willensanstrengung, um mich von ihm loszureißen.
Ich wandte den Blick nach Süden, der am Himmel leuchtenden Erdsichel zu. Über den Gipfeln des Kraters, der uns beim Eingang als Wegweiser gedient hatte und jetzt in der Tiefe versank, tauchte das Regenmeer vor mir auf. Diese mächtige zurückgelegte Strecke! Ich schaute auf sie, wie einst von der Einsattelung unter dem Eratosthenes, nur daß sie damals noch vor mir lag, ein unbekannter Weg, der zu dem unbekannten, ersehnten Lande führte — jetzt hatte ich sie schon hinter mir ...
Grau war sie, tot und unermeßlich wie damals; aber statt der in der Sonne flammenden Gipfel des Timocharis und Lambert erhoben sich die in Schatten gehüllten Spitzen: Pico und weiter nach Osten Piton vor meinen Augen.
Die Erdsichel stand über diesem Meere, dem Horizont schon näher als der Himmelswölbung. Und so schien mir die ganze Ebene wie eine breite Straße, die von dieser Erde hierherführt. Welch ein furchtbarer, beschwerlicher Weg und wie weit! Während wir ihn zurückgelegt haben, ist zweimal die Sonne über uns dahingegangen wie eine glühende und lebendige Flamme, zweimal umhüllten uns kalte, endlos lang andauernde Schatten. Und wieviel Mühen, Ängste und Qualen! Der Abstieg vom Eratosthenes, die tödliche Sonnenglut, dann eine entsetzliche Kälte und dieses Gespenst des Todes, das uns so viele Stunden begleitete; der Tod der Brüder Remogner, der unglückselige Vorfall und Woodbells Krankheit ... Mit dem Tode O’Tamors hat unser Weg begonnen — aber er ist noch nicht zu Ende ...
Ich war in diese finsteren Gedanken vertieft und erfüllt von einer immer stärker aufkeimenden, unbezwinglichen Sehnsucht nach der Erde, die in der Ferne über der unabsehbaren Fläche sichtbar war, als mich ein Schrei Varadols aus meinem Nachdenken aufschreckte. Ich wandte mich schnell um, schon fürchtend, daß wieder irgendein Unglück herannahe, aber Peter stand wohlbehalten neben mir und deutete nur mit der Hand nach der Richtung, in der sich der weite nördliche Wall des Plato entlangzog. Ich blickte dorthin und bemerkte etwas wie eine Wolke, nein, kaum wie den flüchtigen Schatten einer Wolke, die den Fuß der Berge verhüllte, den man noch vor kurzem deutlich sehen konnte.
Ich bebte an allen Gliedern bei diesem Anblick. Es sah indes nicht aus, als wenn sich die Wolke bewegte, sondern die Berge schienen sich von der Stelle zu rühren und vor uns herzuschreiten. Und Peter schrie wie besessen durch das Rohr:
— Eine Wolke! Also dort ist Atmosphäre, dort ist Luft, dort wird man atmen können!
Eine wahnsinnige Freude klang aus diesen von der Hoffnung geschwellten Worten. Wahrhaftig, über dieser Ebene des Todes, wie ich sie nannte, zeigte sich uns der erste Strahl der Hoffnung und des Lebens! Die Wolke beweist zwar noch nicht, daß der Mensch bei dieser Atmosphäre schon atmen kann, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß die Luft dort dichter ist als in den bisher durchquerten Gegenden, da sich dort Wolken bilden und halten können, wenn auch nicht allzu hoch über der Oberfläche. Der Rauch der Krater senkte sich außerhalb des Eratosthenes sofort zu Boden wie Sand.
Durch diese Erscheinung in der Hoffnung bestärkt, daß auf der anderen Seite des Mondes und vielleicht schon früher genügend dichte Luft sein müsse, begaben wir uns wieder zum Mare Imbrium hinab. Wir waren in freudigster Stimmung, obwohl der eigentliche Zweck des Ausfluges nicht erreicht worden war, da wir den Weg durch den Platoring nicht gefunden hatten. Beim Hinuntersteigen sprachen wir darüber, was weiter zu tun sei. Vielleicht würden wir im Westen des Plato eine Stelle ausfindig machen, durch die wir auf den steilen Rand der Erhöhung gelangen konnten, aber es schien fast unmöglich, dies zu wagen. Wenn es uns nämlich nicht gelingen sollte, müßten wir tausend Kilometer zurücklegen, um die Grenze des Mare Imbrium von Westen her zu umkreisen. Es ist also bedeutend sicherer, sich sofort nach Osten zu wenden. Am Ende gelingt es uns, das schon erwähnte Quertal in der Alpenkette zu durchdringen und sollte sich auch dies als undurchführbar erweisen, so werden wir, selbst um die ganze Kette herumfahrend, verhältnismäßig keinen allzu großen Umweg machen.
Unter diesen Erwägungen stiegen wir in das Tal hinab. Wie groß war jedoch unser Entsetzen, als wir den Wagen nicht an der Stelle bemerkten, an der wir ihn verlassen hatten. Zunächst glaubten wir, uns verirrt zu haben, aber nein — die Gegend war dieselbe; es waren genau die Felsen, unter denen wir den Wagen zurückließen. Trotz der Ermüdung stürmten wir vorwärts, unseren Augen noch nicht trauend. Der Wagen war nicht da. Wir bemühten uns, die Spuren seiner Räder zu entdecken, um zu wissen, in welcher Richtung wir ihn suchen sollten, aber auf diesem Steinboden war keine Spur zu erkennen. Da packte uns die Verzweiflung. Unsere Nahrungsmittel waren bereits verzehrt, von dem mitgenommenen Wasser hatten wir ebenfalls nur noch einen kleinen Rest und Luft kaum mehr für einige Stunden. Varadol begann zu rufen; er vergaß, daß ich das einzige Wesen war, das sein Schreien hier — durch das Sprachrohr mit ihm verbunden — hören konnte.
Wir suchten, von grenzenloser Angst getrieben, die ganze Gegend ab, sechs Stunden damit verlierend; der Wagen war wie verschwunden. Als wir nach all den fruchtlosen Nachforschungen zu der alten Stelle zurückkehrten, begann uns der Hunger zu peinigen, das Wasser war zu Ende und der Luftvorrat an der Neige. Ratlos warfen wir uns auf die Erde — den Tod erwartend. Varadol fluchte laut und ich zerbrach mir in wilder Verzweiflung den Kopf, was sie dazu veranlassen konnte, vor unserer Rückkehr davonzueilen.
Plötzlich schoß es mir durch den Kopf, daß Tomas vielleicht absichtlich geflohen war, um uns dem sicheren Verderben preiszugeben. Die krankhafte Eifersucht, die ich bei ihm bemerkt hatte, als er von seinem Tode und von Martha sprach, konnte ihn auf diesen Gedanken gebracht haben. Die Wut schüttelte mich. Ich sprang auf und wollte davonstürmen, ihm nach, mich rächen, morden ...
Da erblickte ich einige Schritte von mir entfernt Martha. Sie kam uns langsam entgegen und sah uns durch die Glasmaske mit ihrem sich immer gleich bleibenden traurigen Lächeln an. Wir stürzten beide auf sie zu und redeten abwechselnd voll Entrüstung und Freude auf sie ein. Martha blickte eine Zeitlang ruhig auf unsere Lippen und als wir uns endlich heiser und gegenseitig taub geschrien hatten, begann sie Zeichen zu geben, daß sie nichts verstehe. Wir hatten ganz vergessen, daß sie infolge des Luftmangels nichts hören konnte und plötzlich war alle Wut und Aufregung verschwunden und wir brachen in ein herzliches Lachen aus. Dann gaben wir ihr durch Gesten zu verstehen, daß wir zu dem Wagen zurückkehren wollten. Martha führte uns hin; der Wagen stand nicht weit hinter dem Felsen, der ihn verdeckte.
Hier erst hat sich alles aufgeklärt. Einige Zeit nachdem wir fort waren, ging die Sonne, einen schwachen Bogen am Firmament bildend, hinter dem Felsen unter, so daß sich der Wagen im Schatten befand. Woodbell begann vor Kälte zu zittern. Martha fuhr daher weiter um den Felsen herum und blieb mehr nach Süden stehen, wo die Sonne den Kranken genügend erwärmte. Als wir zurückkehrten und über das Verschwinden des Wagens entsetzt waren, suchten wir ihn in der ganzen Umgegend, aber es fiel uns nicht ein, hinter dem Felsen nachzusehen, der sich dicht neben uns befand. Martha hatte uns vom Wagen aus bemerkt, dachte aber, als wir uns von neuem entfernten, daß wir eine andere Seite der Gegend erforschen wollten und wartete geduldig auf unsere Rückkehr. Erst als wir uns, zum zweitenmal zurückkommend, dem Fahrzeug nicht näherten, kam sie uns entgegen, ohne zu ahnen, daß wir den Wagen nicht wieder fanden. Der ganze Vorgang endete also mit einem Lachen, obwohl er für uns mehr als verhängnisvoll hätte werden können.
Woodbell trafen wir in verhältnismäßig gutem Zustand an. Während unserer Abwesenheit war er nur viermal ohnmächtig geworden. Jetzt ist er ruhiger und sagt, daß er sich besser fühle. Sein leichenblasses und jammervoll abgemagertes Gesicht sieht zwar nicht danach aus, aber Gott gebe es, daß er der Genesung entgegengeht. Für den Anfang ist es schon genug der Opfer — und des Schreckens ...
Wir fahren weiter nach dem festgesetzten Plan, bis jetzt immer nach Osten zu, stets den mächtigen Gipfel des Plato vor unseren Augen. Bald werden wir an der Alpenkette angelangt sein.
Mit Rücksicht auf Tomas’ Gesundheit tut die größte Eile not. Je eher wir eine Zone erreichen, wo er den geschlossenen Wagen verlassen und frei atmen und sich bewegen kann, desto wahrscheinlicher ist seine Rettung. Wir werden auch Tag und Nacht dahinsausen, um uns nur immer weiter von dieser Wüste zu entfernen und dem Pole näher zu kommen, wo wahrscheinlich Luft und Wasser ist.
Unter den Alpen, 3° westlicher Länge, 47° 30’ nördlicher Mondbreite, einhunderteinundsechzig Stunden nach Sonnenaufgang des dritten Tages.
Unsere Hoffnung Woodbell am Leben zu erhalten wird immer geringer. Wir fahren so schnell es das Terrain nur erlaubt, aber der Pol ist noch weit und Tomas stirbt uns indessen unter den Händen. Wir zittern vor Unruhe und Ungeduld und nun zwingt uns diese vermaledeite Alpenkette, die den Weg versperrt, uns in nordöstlicher Richtung zu halten, so daß wir uns, statt dem ersehnten Pol näher zu kommen, zunächst noch von ihm entfernen müssen. In einigen Stunden werden wir am Ausgang des Quertals sein; wenn man nur wenigstens nach Norden ablenken könnte! Bis jetzt haben wir zur Linken immer nur die steilen Wände der Alpen, neben denen unser Wagen wie ein winziger Käfer hinter der Mauer einer riesigen Festung aussieht. Wir warten mit Sehnsucht, daß sich das Tor dieser Mauer vor uns öffne und mit ihm ein hundertfünfzig Kilometer langer Felsengang, der zum Mare Frigoris führt. Schon begegnen wir vereinzelten kleinen, aber steilen Felsen, die wie Säulen vor dem Eingang dieses Tales stehen, ein Zeichen, daß wir uns ihm nähern.
Woodbell fragt fortwährend, ob es noch weit sei. Er möchte so schnell wie möglich auf den Pol gelangen, und dabei haben wir vom Sinus Aestuum kaum den halben Weg zurückgelegt! Eine gräßliche Angst befällt mich, wenn ich daran denke! Er hat, scheint’s, die Entfernung ganz vergessen. Er sprach mit Sehnsucht von dem Polarlande, von Luft und Wasser wie von Dingen, die wir schon morgen finden werden! Statt dessen wird der nächste Mondmorgen, obwohl er noch so weit ist, noch immer nichts davon bringen, das ist gewiß! Tomas glaubt immer fester an seine Genesung — je mehr er die Kräfte verliert. Er schmiedet Pläne für die Zukunft und legt sich schon sein Leben mit Martha zurecht ... Mich beunruhigt diese Zuversicht; auf der Erde sagt man, daß das ein böses Zeichen bei einem Kranken ist.
Martha hört all dem geduldig zu, mit dem gleichen traurigen Lächeln. Gott, was muß sie leiden! Es ist doch unmöglich, daß sie nicht weiß, wie es um ihn steht ...
Im Quertal, zweiundachtzig Stunden nach Mittag.
Eine innere Stimme sagt mir, daß alles vergebens ist. Die Verzweiflung packt mich, denn ich will, daß er lebt. Ich will es um so mehr, weil ich in meinem Hirn eine giftige Schlange fühle, die mir trotz meines Aufbäumens dagegen zuflüstert: Wenn er stirbt, wird Martha einem von euch gehören — vielleicht dir. Nein, nein, er muß leben, er muß! Und wenn er sterben sollte, weiß ich, daß Martha ihm folgen wird. Was dann? Was dann? Wozu werden wir hier bleiben, zu welchem Zweck? ... Ich klagte einst, daß wir zwei diesen beiden dienen und jetzt fühle ich, daß dieser Dienst die einzige Berechtigung unseres Daseins hier ist. Mit ihrem Tode wird unser Dahinsterben beginnen, denn wir werden nicht fähig sein, aus uns selbst etwas zu schaffen, unser Leben und unsere Arbeit werden niemandem etwas nützen, nicht einmal uns selbst! Denn wozu, wozu? ...
Höchstens wenn Martha nach seinem Tode am Leben bliebe, wenn sie einem von uns, vielleicht mir, ihre Arme so um den Hals schlänge, ihre Lippen so auf den Mund preßte wie jetzt Tomas ... Ich habe das Gefühl, als wenn eine Kugel voll heißer Luft mir in der Brust zerplatzte, den Atem zurückhielte und Feuer in alle meine Adern ergösse ...
Fort, fort mit diesem Gedanken! Übrigens könnte dieser Eine auch Varadol sein ... Nein, es wäre besser, wenn diese Frau nicht unter uns wäre. Ich bemerke zu meinem Entsetzen, daß ich den Tod Woodbells herbeizusehnen und Varadol zu hassen beginne ... Und sie sitzt ruhig da und starrt in die Züge des sterbenden Geliebten.
Tomas will nicht sterben, er wehrt sich verzweiflungsvoll gegen den Tod. Jeden Augenblick erzählt er, wie um seiner eigenen Überzeugung zu trotzen, daß er leben wird und läßt uns dem beipflichten. Wir tun es ihm zuliebe, unehrlicherweise; und Martha nickt ihm in festem Vertrauen zu und antwortet wieder und wieder mit tiefer, singender Stimme: „Ja, du wirst leben, du mein Einziger“ ... Dabei verschleiern sich ihre Augen in einem Nebel der Wonne und des Rausches. Kann sie es denn wirklich für möglich halten, daß in diesem ausgetrockneten Körper ohne Kraft, ohne einen Tropfen Blut in den Adern, noch Leben ist!? Und dennoch, was würde ich dafür geben!
Mittags hielten wir nicht an. Die Glut war nicht so groß wie an den vorhergehenden Tagen, infolge der bedeutenden Mondbreite. Wir müssen uns, aus Rücksicht für Tomas, außerordentlich beeilen. Jetzt sind wir in der Mitte des Quertals; vor Sonnenuntergang müssen wir bis zum Mare Frigoris vordringen.
Gegen Mittag befanden wir uns, nachdem wir kleinere, auf der Ebene zerstreut liegende Felskuppen passiert hatten, plötzlich bei dem breiten Auslauf der Ebene. Die senkrechte Wand der Alpen bricht hier ab und weicht nach Osten zurück, durch die Gurgel der mächtigen Klamm unterbrochen. Die Fläche des Mare Imbrium verengt sich in einem großen Halbkreis zu dem eigentlichen Tal, das anfänglich durch einen terrassenförmigen Abhang verdeckt ist, der spitz hervortritt, wie ein mächtiges, einige hundert Meter hohes Felsenstockwerk. Auf der anderen Seite jenes Halbkreises erhebt sich der Mond-Montblanc gegen viertausend Meter über der benachbarten Fläche.
Wir zögerten einen Augenblick, ehe wir in die Ebene einfuhren. Jenes Stockwerk erschreckte uns, denn wir dachten, wenn wir unterwegs mehrere solcher Hindernisse anträfen, würde unsere Reise sich immer mehr verlängern, da wir jedesmal steile Abhänge erklimmen müßten.
Varadol vertiefte sich wieder in die Photographien der Mondoberfläche, obwohl sie uns schon öfter getäuscht haben; das letztemal auf dem Plato. Aber es gab kein anderes Mittel der Orientierung in dieser Gegend. Endlich wagten wir, nach kurzer Überlegung, in das Tal einzubiegen. Zu diesem Entschlusse hat auch Tomas beigetragen. Er drängte mit der Hartnäckigkeit eines Kranken, der keinen Widerspruch duldet, daß man sich nach Norden wenden solle, da er wisse, daß die zeitraubende Umkreisung der Alpen und die lange Fahrt durch den Palus Nebularum ihn zweifellos töten würde.
Was hat die Krankheit aus diesem Menschen gemacht! Früher ruhig, entschieden, voll Überlegung und von einem unbeugsamen Willen, ist er jetzt ein launenhaftes, trotziges Kind. Er schilt uns wegen jeder Kleinigkeit und dann entschuldigt er sich wieder oder fleht uns an, ihn zu retten ... Jedoch ist uns das lieber als die Zeiten der vollständigen Apathie und Kraftlosigkeit, wo er stundenlang auf dem Rücken liegt, einer Leiche ähnlicher als einem lebenden Menschen. Oft spricht er auch unaufhörlich, als wenn er sich durch den Klang der eigenen Stimme versichern wollte, daß er noch lebt. Nur sobald einer von uns unvorsichtigerweise den unglücklichen Vorfall erwähnt, verstummt er sofort und beginnt am ganzen Leibe zu zittern. Vergeblich zerbreche ich mir den Kopf, was das für ein Geheimnis sein kann ...
Es war schon Nachmittag, als wir unter dem Felsenstockwerk anhielten, das den Eingang zu dem Tal versperrt. Mit großer Mühe fanden wir einen Weg, der es uns zu erklimmen ermöglichte. Als wir auf der Höhe standen, blickten wir noch einmal auf das hinter uns liegende Mare Imbrium, das wir bald für immer aus den Augen verlieren sollten. Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß ich nicht ohne ein gewisses Weh von dieser Ebene Abschied nahm, obwohl sie uns nur Mühen, Qualen und Verzweiflung gebracht hat ... Wie seltsam ist doch das menschliche Herz! Wir durcheilten diese endlose Fläche während voller sechzig Tage, von einem Mondmittag bis zum anderen, nur von dem einen Wunsche beseelt, sie so schnell wie möglich hinter uns zu haben — und jetzt blicke ich fast mit Sehnsucht nach ihr zurück ...
Im Tale kommen wir ziemlich schnell und verhältnismäßig leicht vorwärts; die breiten Stockwerke treffen wir nicht mehr an und kleinere Berge, die nicht seine ganze Breite einnehmen, lassen sich umgehen. Die Sonne steht jetzt so am Himmel, daß sie die Ränder des Tales erleuchtet. Zu beiden Seiten erhebt sich ein mächtiger, gegen viertausend Meter hoher Gebirgswall. Das am Eingang einige Kilometer breite Tal verengt sich gegen Nordosten, was den Eindruck hervorruft, als wenn sich seine mächtigen Wände einander näherten und wir uns in einem enormen, schnurgerade unter den Felsen ausgehauenen Gang fortbewegten. Wir sehen den entfernten Auslauf dieses Ganges, der einer kleinen, aber tiefen Aushöhlung zwischen weißen Felsen gleicht, die durch ein Stück Himmel ausgefüllt ist. Ich weiß nicht, ob mich mein Blick nicht täuscht, aber es scheint mir, daß der Himmel nicht mehr so schwarz ist und die Sterne weniger zahlreich daran erglänzen. Dies würde von dem Vorhandensein einer dichteren Atmosphäre über dem Mare Frigoris zeugen ... Unser Barometer steigt ebenfalls langsam. Wenn wir nur Tomas lebend bis zu der Zone bringen könnten, wo genügende Luft zum Atmen ist! ...
Wir haben seit Sonnenaufgang schon fünfhundert und einige Kilometer zurückgelegt und nähern uns dem Ausgang des Quertales. Die ungeheure Felsgurgel verengt sich immer mehr und die Wälle zu beiden Seiten werden immer niedriger. Der Ausgang der Klamm auf das Mare Frigoris, deutlich vor uns sichtbar, scheint sich in dem Maße als wir uns ihm nähern zu erweitern und die Felsen, die dieses Tor bilden, wachsen vor unseren Augen. Bei Sonnenuntergang werden wir abermals auf eine Fläche hinausfahren — gebe Gott, daß wir alle hinausfahren ...
Oh, welch ein furchtbarer Kreuzesgang war unsere heutige Reise! Wohl dreißig Stunden zitterten wir, bei dem kleinsten Geräusch auf Woodbells Lager blickend: — etwa jetzt? ... Es geht mit ihm zu Ende, darüber besteht kein Zweifel. Er ist still und ruhig geworden und sieht uns nur immerwährend an, mit flehenden Augen, in denen die Sehnsucht liegt, — die glühende Sehnsucht zu leben! Und wir können ihm nicht helfen ...
Die letzte Erschütterung bei der Fahrt durch die Spalte hat ihm den Rest gegeben. Wir hatten fast zwei Drittel des Weges hinter uns, als wir, unter dem 3.° östlicher Länge ungefähr, auf ein Hindernis stießen, das uns beinahe gezwungen hätte auf das Mare Imbrium zurückzukehren. Die Sonne stand schon tief am Horizont und die ganze westliche Seite des Quertales war in undurchdringlichen Schatten gehüllt, der kaum hie und da durch schräge schwache Lichtstrahlen der Erde erleuchtet war. Wir mußten uns am Fuße des östlichen Walls halten, um uns nicht in der Nacht zu verlieren. Der Wall erreicht hier die größte Höhe; er erhebt sich steil und riesenhaft, beinah wie die senkrechte Alpenwand, unter der wir vormittags hindurchfuhren.
Da plötzlich erblickten wir einige hundert Schritte vor uns einen schwarzen Streifen, der uns den Weg auf der ganzen Breite versperrte. Vorher hatten wir ihn infolge der leichten Erhebung des Grundes nicht gesehen. Als wir uns ihm näherten, zeigte es sich, daß dieser Streifen eine Spalte war, die beide Felsenwälle und den Grund des Tales quer durchschneidet. Sie lag bis an die Ränder im Schatten, so daß wir nicht in ihre Tiefe sehen konnten. Tausende Meter hohe Felswände waren bis zum Fuße durch sie zerrissen.
Ratlos standen wir vor diesem neuen, unüberwindlichen Hindernis.
Auf der Karte hatten wir diese Spalte allerdings gesehen, auch daß sie die Hochebene durchschneidet, die das Mare Imbrium vom Mare Frigoris bis zu den nördlichen Abhängen des Plato, in südöstlicher Richtung, trennt; aber wir nahmen nicht an, daß sie sich bis auf den Grund des Quertales erstreckte, das zwei- bis dreitausend Meter tiefer als die Oberfläche der benachbarten Höhen, die sich hinter den Wällen ausdehnten, lag. Ich fühlte, daß mir beim Anblick dieser Untiefe der Schweiß auf die Stirne trat. Peter begann leise zu fluchen.
Tomas, durch unser Benehmen wie durch das Halten des Wagens beunruhigt, fragte uns, was geschehen sei. Wir wagten nicht, ihm die Wahrheit zu sagen; er jedoch, unseren Ausflüchten scheinbar keinen Glauben schenkend, strengte den Rest seiner Kräfte an, erhob sich und blickte durch das Fenster. Eine Zeitlang sah er schweigend hinaus, dann legte er sich wieder und sagte fast gleichgültig:
— Sie wollen nicht, daß ich lebe ...
— Wer? frug ich erstaunt.
— Die Brüder Remogner, antwortete der Kranke, verstummte und schloß die Augen, als wenn er den Tod erwartete.
Ich sprach nicht weiter mit ihm und hatte nicht einmal Zeit, über die Bedeutung dieser seltsamen Worte nachzudenken, da ich mit Peter beraten mußte, was jetzt zu tun sei. Wir zogen schon eine Rückkehr auf das Mare Imbrium in Erwägung, als Peter auf die glückliche Idee kam, mit Hilfe des starken Reflektors den Boden der Spalte zu beleuchten und uns über ihre Tiefe zu vergewissern. Nachdem wir uns dem Rand genähert hatten, warfen wir also einen Strahl des elektrischen Lichtes in die Spalte, die an dieser Stelle ziemlich eng und nicht tief war. Ihr Boden zeigte sich ganz von Schutt angefüllt, aus dem mächtige Felsstücke hervorragten, eine Erscheinung, die uns an das ausgetrocknete Bett eines mächtigen Gebirgsstromes gemahnte. Und wer weiß, ob hier nicht tatsächlich einmal Wasser geflossen, den Weg ausnützend, der durch andere Kräfte gebildet ward?
Der Schein des Reflektors glitt über die schwarzen, sich wild übereinandertürmenden Felsen, flammte auf und verlor sich in tiefen, unregelmäßigen Zerklüftungen. Wir standen immer noch ratlos, ohne zu einem Entschluß zu kommen, als sich Martha uns näherte.
— Warum fahrt ihr nicht weiter? fragte sie in einem Tone, als wenn sie uns einen Befehl erteilte.
Und dann fügte sie, auf Tomas deutend, hinzu:
— Ich muß leben, für ihn ... Um meinetwillen braucht ihr jetzt nichts zu befürchten ...
Wir sahen sie erstaunt an. Was ist mit ihr geschehen? So hatte sie niemals zu uns gesprochen. Ihre Augen leuchteten seltsam; in der ganzen Gestalt, in den Worten und in der Bewegung lag eine Würde, eine selbstbewußte Hoheit. Oh, wie schön ist dies Weib und wie begehrenswert! ... Varadol betrachtete sie mit flammenden Blicken! Da packte mich plötzlich eine rasende Wut. Ich rüttelte ihn brutal bei der Schulter und schrie:
— Siehst du nicht, daß wir keine Zeit zu verlieren haben! Fahren wir zurück oder vorwärts?
Peter wandte sich hastig zu mir und wir maßen uns eine Weile, wie bereit, uns gegenseitig an die Gurgel zu springen. Ein halblautes, höhnisches und verächtliches Lachen Marthas ließ sich vernehmen. Ich hatte das Gefühl, als wenn sich mir ein Igel mit hundert Stacheln ins Herz bohrte. Wir ließen beide beschämt den Blick sinken. Mir scheint, daß ich dies Weib zu hassen beginne.
Endlich beschlossen wir, uns in die Spalte hinabzulassen und sie, die am Boden zerstreuten Steine benützend, zu überklettern. Das war freilich leichter gesagt als getan. Nachdem wir an einer Stelle dicht unter der östlichen Wand des Quertales einen schrägen Abhang entdeckt hatten begannen wir den Wagen mit der größten Vorsicht dort hinabgleiten zu lassen. Die Hauptschwierigkeit jedoch wartete unserer auf dem Boden der Spalte. Bis hierher konnte weder das Licht der Sonne noch das der Erde dringen, so daß wir uns in vollständiger Nacht befanden. Es ist mir unmöglich, die Mühen zu schildern, die uns der Weg über diese paar hundert Meter kostete. Der Reflektor der elektrischen Lampe erleuchtete nur einen schmalen Streifen vor uns; es war fast ausgeschlossen, sich zu orientieren. Abwechselnd ging einer von uns zu Fuß voraus, während der zweite beim Steuer blieb. Der Wagen schaukelte, sprang in die Höhe, schlug an die Felsen oder senkte sich; einmal blieb er sogar so stecken, daß wir daran zweifelten, ihn wieder loszubekommen. Endlich gelangten wir an die gegenüberliegende Seite der Spalte. Zum Glück neigte sich hier der Boden ein wenig, so daß wir auf der so entstandenen Senkung mit Hilfe der „Tatzen“ hinaufklettern konnten.
Ungefähr in der Mitte des Aufstiegs kamen wir schon ins Licht der Sonne.
Der Übergang vom Schatten zum Licht war nach einem Ruck des Wagens so plötzlich, daß ich vor der uns überflutenden Welle die Augen schließen mußte; als ich sie wieder öffnete, hatte ich das Gefühl, daß der ganze fürchterliche Weg durch diese Schlucht nur ein Traum gewesen. Einige hundert Schritte hinter mir sah ich eine sich jäh in den Boden senkende Wand, die durch einen Streifen absoluter Schwärze von uns getrennt war. Ich hatte nur eine unklare Vorstellung, daß wir uns vor wenigen Augenblicken dort befanden, auf der Tiefe dieser, wie es schien, grundlosen Zerklüftung, in undurchdringlicher Nacht, daß wir uns hindurchgearbeitet haben durch schwarze, mächtige Felsen, die vor uns im elektrischen Licht aufleuchteten, als wenn sie, aus dem Nichts herausgewachsen, in Nichts wieder zerfließen würden — aber an die Wirklichkeit dieser entsetzlichen Fahrt konnte ich gar nicht glauben.
An der Oberfläche des Quertales angelangt, blieben wir stehen, um die „Tatzen“ abzunehmen und den Wagen zu untersuchen, ob er nicht etwa beschädigt sei. Alles war in Ordnung, und wir konnten weiterfahren. Alles — mit Ausnahme der Gesundheit Woodbells. Die erlittenen Erschütterungen hatten ihn so geschwächt, daß er ein paar Stunden wie tot dalag, nur manchmal leise stöhnend.
Wir waren schon ein gutes Stück Wegs gefahren, als Tomas plötzlich aufsprang und sich auf das Lager setzte. In seinen weit aufgerissenen Augen brannte wieder das Fieber. Peter war am Steuer des Wagens beschäftigt, aber Martha und ich eilten sofort hinzu. Er schaute uns mit irren Blicken an, dann rief er plötzlich:
— Martha, ich werde sterben!
Martha erblaßte und neigte sich zu ihm:
— Nein, du wirst leben, sagte sie leise, aber deutlich, und eine Röte übergoß ihr Gesicht.
Tomas schüttelte leicht das Haupt, aber sie bückte sich noch tiefer zu ihm herab und begann halblaut malabarisch zu ihm zu sprechen. Ich verstand die Worte nicht, aber ich sah, daß sie einen großen Eindruck auf Tomas machten. Zuerst erhellte sich sein Gesicht, dann glitt ein unendlich trauriges Lächeln darüber und schließlich füllten sich seine Augen mit Tränen. Wimmernd küßte er das üppige Haar des auf seine Brust gebeugten Mädchenkopfes.
So lag er einen Augenblick ruhig, Marthas Finger in seinen ausgetrockneten gelben Händen pressend. Bald jedoch versuchte er von neuem sich aufzusetzen. Es fehlte ihm, scheint’s, der Atem.
— Martha, ich werde sterben! wiederholte er immer wieder angstvoll, und sie antwortete unermüdlich: „Du wirst leben.“ Für gewöhnlich verstummte er darauf wie ein kleines weinendes Kind, das die Mutter tröstet. Aber diesmal antwortete er verzweifelt auf ihre Worte:
— Was hilft es mir, wenn ich es nicht erlebe ... Und dann fügte er hinzu: Sie werden mir nicht erlauben, zu leben ... die Brüder Remogner ...
Ich konnte die Neugierde nicht mehr zurückhalten und fragte ihn, alle Rücksicht auf seinen Zustand vergessend, was die Brüder Remogner mit seiner Krankheit gemein hätten.
Er zögerte, dann sagte er schmerzlich:
— Es ist ja doch einerlei ... jetzt werde ich es euch sagen ...
Und er begann zu erzählen, mit leiser Stimme, die durch sein Herzklopfen und die Atemnot unterbrochen wurde.
— Erinnert ihr euch, sagte er, an diese Totenstadt, dort in der Wüste hinter den „Drei Köpfen“? Heute noch sehe ich sie vor mir, mit ihren zertrümmerten Türmen und halbzerfallenen Toren ... Ich weiß, daß ich sterben muß, und doch tut es mir noch immer leid, daß ich sie nicht aufsuchen konnte. Aber seht ihr, das war so ... Als ich den Wagen verlassen hatte, mußte ich über viel aufgehäuftes Gestein klettern, das dem zerstörten Pflaster eines alten römischen Kastells irgendwo in der Schweiz oder im italienischen Apennin ähnlich war ... Endlich kam ich an eine etwas gleichmäßigere Stelle. Jetzt hatte ich die Stadt vor mir wie auf der flachen Hand. Ich sah schon deutlich das mächtige Tor mit dem halben Bogen und den hohen Säulen, als plötzlich, plötzlich ...
Er griff nach unseren Händen und erhob sich etwas vom Lager. Die Augen hatte er weit geöffnet, das leichenblasse Gesicht wurde jetzt grün.
— Ich weiß, sagte er, euch scheint es, und auch mir schien es so ... einst ... daß die einzige Wahrheit das Wissen ist, das sich auf die Erfahrung stützt und sich in mathematische Formeln fassen läßt. Und dennoch gibt es unfaßbare und seltsame Dinge ... Ihr mögt über mich lachen, aber das ändert nichts an der Tatsache ... Wir wissen bis jetzt sehr wenig, oh, sicherlich, sehr, sehr wenig ...
Er verstummte einen Augenblick und sah uns an, als wenn er sich vergewissern wollte, ob wir nicht etwa über seine Worte spöttelten, aber wir saßen still und in Nachdenken versunken. Er atmete tief auf und fuhr in der unterbrochenen Erzählung fort:
— Da ... erblickte ich ... zwei Schatten — nein, zwei Menschen, Leichen oder Gespenster. Sie kamen aus dem Tore direkt auf mich zu ... Die Knie wankten mir. Ich schloß die Augen und wollte das Hirngespinst verjagen, aber als ich wieder aufblickte, sah ich ... keine fünf Schritte vor mir — die Brüder Remogner! Sie standen beide da, sich bei der Hand haltend, entsetzlich, aufgedunsen, blutig, wie wir sie gefunden haben. Und beide starrten mich so gräßlich an ... Ihr kennt mich, daß ich nicht ängstlich bin und nicht zu Phantastereien neige, aber das sage ich euch, sie standen wahrhaftig vor mir und die Angst versteinerte mich und das Blut gerann mir in den Adern. Ich konnte mich nicht rühren — mich nicht abwenden ... Da begannen sie zu sprechen, ja, zu sprechen! Und ich hörte ihre Stimmen wie ich euch höre, obwohl dort keine Luft war ...
— Und was haben sie gesprochen? stieß ich unwillkürlich hervor.
— Wozu sollt ihr das wissen, sagte er. Es ist genug, daß ich es hören mußte, oh, mehr wie genug, mehr wie genug! ... Sie sagten mir wie ich sterben würde und wie ihr sterben werdet, ihr — beide ... Sie bezeichneten Tag und Stunde ... Und sie sagten weiter, daß man nicht ungestraft die Erde verläßt und in die Geheimnisse zu dringen versucht, die dem menschlichen Auge verborgen sind. Sie sagten, es wäre besser gewesen, wenn wir dort gestorben wären, auf dem Mare Imbrium, statt ihnen, den Toten, die Luft zu stehlen, um unser Leben der Qualen zu verlängern, ja, der Qualen ... „Wir sind euch gefolgt,“ sagten sie, ich hörte es ganz deutlich, „und ihr seid an unserem Tode schuld, aber auch ihr“ ... Bei diesen Worten blinzelten sie haßerfüllt mit den erloschenen Augen und verzogen die geschwollenen Lippen zu einem boshaften Lächeln. Da bemerkte ich, daß hinter ihnen O’Tamor stand, blaß und vertrocknet ... Er lächelte nicht und sagte nichts, er war nur traurig und blickte voll Mitleid auf mich ... Ich schrie vor Entsetzen laut auf, und die ganze Willenskraft zusammennehmend, riß ich die erstarrten Füße vom Boden los und stürzte davon. Ich dachte nicht mehr an die Stadt — an gar nichts. Ich lief und lief und stolperte; ich wollte mich erheben und aufstehen, aber da fühlte ich, daß ich keine Luft hatte und verlor das Bewußtsein ...
Er verstummte erschöpft, und uns erfaßte eine seltsame Beklemmung. Ich bin in tiefstem Herzen überzeugt, daß das alles nur eine Täuschung war, wie jene Stadt selbst, die ich heute ebenfalls für eine Täuschung, hervorgerufen durch eine seltsame Gruppierung der Felsen, halte, aber ich wagte nicht recht, ihm das zu sagen.
Und übrigens ... weiß ich es? ... Uns umgeben so unlösbare Rätsel — so unerforschliche Geheimnisse! ... Auf diesen erloschenen Globus sind Menschen gekommen, ist der Tod mit ihnen gekommen; vielleicht ist dem Menschen und seinem unzertrennlichen Begleiter, dem Tode, auch jenes Etwas, jenes Unbekannte, das seit ewigen Zeiten auf Erden jedem Wissen, jeder Forschung getrotzt hat, gefolgt ...
Tomas schlief nach dieser Erzählung ein. Als er aufwachte frug er wo wir seien. Ich sagte ihm, daß wir uns dem Ende des Quertales näherten und bald auf das Mare Frigoris gelangen würden. Er hörte zu, als wenn er meine Worte nicht verstünde.
— Ah, ja! antwortete er endlich, ja, ja ... ich träumte, daß ich auf der Erde war ...
Dann wandte er sich zu Martha:
— Martha, erzähle mir, wie es auf der Erde ist.
Und Martha begann zu erzählen:
— Auf der Erde ist blaue Luft und über sie dahin wandeln die Wolken. Auf der Erde ist viel, viel Wasser, ganze mächtige Meere. Am Strande der Meere ist Sand, und verschiedenfarbige Muscheln liegen dort verstreut, und dann gibt es Wiesen, auf denen süße, wonnige Blumen blühen, und Vögel singen in den Wäldern. Wenn der Wind sich erhebt, so heult das Meer auf, und die Wälder brausen, und die Blätter säuseln ...
So erzählte sie ihm mit kindlicher Einfachheit, und wir hörten ihren Worten zu, wie dem schönsten Zaubermärchen ... Der Kranke bewegte langsam die Lippen, als wenn er wiederholen wollte: und die Wälder brausen, und die Blätter säuseln ...
— Wir werden nie mehr dort sein, sagte er endlich laut.
Ein herzzerreißendes Schluchzen Marthas antwortete ihm. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Die Stirn an den Rand des Lagers gedrückt, erbebte sie in krampfhaftem verzweifelten Weinen.
— Ruhig, ruhig, sagte Tomas, leicht mit der Hand ihr Haar berührend.
Aber auch ihn packte die Furcht. Er wandte sich mit dem Gesicht zu uns und begann wieder mit abgebrochener Stimme, die wie mit großer Anstrengung aus der Brust hervordrang, zu sprechen:
— Rettet mich, habt Mitleid, rettet mich! Ich will nicht sterben! Nicht hier! Hier ist’s so entsetzlich! Rettet mich! Ich will ... leben, noch ... leben ... Martha ...
Er weinte wie ein Kind und streckte jammernd die dürren Hände nach uns aus.
Was sollten wir ihm antworten? ...
Wir nähern uns dem Ausgang des Tales, und die Fläche des Mare Frigoris liegt schon vor uns. Ich habe die schmerzliche Gewißheit, daß wir sie allein zurücklegen werden — ohne Tomas!
Auf Mare Frigoris, dritter Mondtag, dreiundzwanzig Stunden nach Sonnenuntergang.
Ich sehe auf die letzten Worte, die ich niederschrieb; sie haben sich bewahrheitet. Auf die Ebene Mare Frigoris fuhren wir allein. Tomas Woodbell ist heute bei Sonnenuntergang gestorben.
Eine fürchterliche Leere! Wir werden immer weniger; nur mehr drei sind geblieben ... Ich kann an nichts anderes denken als an diesen stillen, entsetzlichen Tod Woodbells.
Die Sonnenscheibe berührte bereits mit dem unteren Rande den Horizont, als wir endlich, nach einer Woche Weges, aus dem Felsengang fuhren. Vor uns erstreckte sich eine glatte, von den letzten Sonnenstrahlen vergoldete Flachebene. Ich sage vergoldete, weil die Sonne, was wir bei ihren früheren Untergängen nicht bemerkt haben, sich dem Horizont zuneigend, eine gelbliche Farbe annahm und das Rund des schwarzen Himmels um sich herum ein wenig erleuchtete. Das ist ein zweifelloses Zeichen, daß die Atmosphäre hier dichter ist. Wir stellten auch einen zweiten, sehr günstigen Umstand fest: Das Mare Frigoris ist ganz mit Sand bedeckt, was darauf schließen läßt, daß diese Ebene tatsächlich einstmals Meeresgrund gewesen ist.
Unsere Herzen waren voll Zuversicht, vor allem, weil Tomas sich scheinbar ein wenig besser fühlte. Wir wurden schon hoffnungsvoller; es schien uns, daß wir im Fluge diese Ebene durcheilen, und ehe die neue Sonne aufgeht, mit Tomas zusammen im Reiche des Lebens sein würden! Daß wir das Wehen des Windes fühlen, das Rauschen des Wassers hören, das Grün der Wiesen wiedersehen sollten ...
Allein wie anders wollte es das Schicksal!
Wir waren kaum einige Meter auf der Fläche gefahren, als Tomas uns bat, den Wagen anzuhalten. Die kleinste Bewegung quälte ihn unsagbar ...
Ich will ausruhen, sagte er mit schwacher Stimme, und auf die Sonne schauen, bevor sie untergeht.
Wir hielten also an und er blickte mit glanzlosen Augen zur Sonne, die ihre letzten goldenen Strahlen auf sein totenbleiches Gesicht herabfließen ließ. Er starrte eine Zeitlang unbeweglich in ihr Leuchten, dann wandte er sich zu Martha:
— Martha, wie ist das: „Sonne, du lichter Gott“ ... Wie geht das weiter?
Und Martha stellte sich, wie bei dem ersten vom Monde aus gesehenen Sonnenuntergang, in den vollen Glanz, streckte die Hände aus und die tränenvollen Augen zu dem schwindenden Lichte erhebend, begann sie halb sprechend, halb singend eine seltsame, in Rhythmen tönende Hymne:
Sonne, du lichter Gott, du wandelst von uns zu Ländern, die wir nicht kennen!
Sonne, du Leuchte des Himmels, du Wonne der Erde, du gehst, unsere Augen in Trauer zurücklassend, um denen zu leuchten, die schon aus der irdischen Hülle erlöst sind ...
Die, aus den Körpern erlöst, noch keine neue Gestalt annahmen, wie Gefangene, die man für eine Spanne Zeit freiließ, damit sie einen Tag der Stille und Ruhe genießen, ehe sie zum Gefängnis, in ihre Ketten zurückkehren.
Gut ist ER, gut ist der Urewige, Unfaßbare, der einen Tag der Stille zwischen Kampf und Sorgen geschaffen hat ...
In Ihm ist der Ursprung und der Ausgang aller Dinge; in Ihm sind die Seelen derjenigen erlöst, die den Kampf schon beendet haben, dahin heimkehrend, von wo sie vor grauen Zeiten ausgegangen sind.
Oh, Sonne, lichter Gott, du gehst von uns, und wir bleiben in Trauer zurück — mit unserer Sehnsucht ...
Woodbell hörte zu und schien einzuschlafen. Plötzlich rief er angstvoll:
— Martha, O’Tamor ist gestorben?
— Ist gestorben.
— Die Remogners sind gestorben?
— Sind gestorben.
— Ich werde auch sterben ... und sie ... sie ... er deutete mit den Augen auf uns.
— Du wirst leben, sagte sie wieder mit dieser seltsamen tiefen Überzeugung.
— Ah, ja ... flüsterte der Kranke, aber was hilft es mir ...
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Selena legte ihre Vorderpfoten auf das Lager und leckte die herabhängende Hand ihres Herrn. Er blickte auf sie und machte eine Bewegung, als wenn er das treue Tier streicheln wollte, aber scheinbar fehlten ihm schon die Kräfte.
— Meine, meine Hündin ... flüsterte er nur.
Dann sagte er, daß er auf die Erde schauen wolle. Wir legten ihn so, daß er sie vor sich hatte. Sie stand gerade im ersten Viertel über den Felsen im Süden. Er blickte lange, die Hände ausstreckend, in heißem Verlangen auf diesen am Himmel leuchtenden Halbkreis, den gerade der Schatten des Indischen Ozeans, mit dem hellen, sich in seine Fluten erstreckenden Dreieck Indiens langsam durchglitt.
— Sieh, sieh, dort ist Travancore! rief der Kranke.
— Dort ist Travancore, wiederholte Martha wie ein Echo.
— Dort waren wir glücklich ...
— Ja, glücklich.
Der Kranke begann wieder unruhig zu werden.
— Martha, werde ich dorthin kommen, nach dem Tode? ... Denn sieh, ich will nicht ... hier herumirren ... auf dieser Wüste ... in dieser Totenstadt ... Martha, werde ich dorthin kommen ...
Martha schwieg und ließ den Kopf sinken, Tomas drängte wieder und wieder ...
— Martha, werde ich dorthin kommen ... nach dem Tode ... auf die Erde?
Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihren Körper, aber sie überwand sich und antwortete mit tränenerstickter Stimme:
— Du wirst hinkommen, auf einen Augenblick, für einen Tag der Stille ... aber dann wirst du zu mir zurückkehren.
Seine Augen verschleierten sich; die schlaff herunterhängenden Hände waren bläulich und kalt. Er zuckte noch einmal und flüsterte kaum hörbar:
— Martha, wie ist es auf der Erde? ...
Und Martha erzählte von neuem vom rauschenden Meer, von blühenden Wiesen, von duftenden Blumen!
Um seine Lippen lagerte sich ein schmerzliches, aber ruhiges Lächeln und die Augen begannen sich langsam zu schließen. Noch einmal öffnete er sie für einen Augenblick, schaute auf die Erde und auf die Sonne, von der nur noch ein schmaler Streifen über der Wüste sichtbar war — seufzte leise und verschied mit dem letzten Leuchten des erlöschenden Tages ...
In der Dunkelheit haben wir ein Grab gegraben und ihm die Augen mit Sand bedeckt.
Und wiederum sind wir seit fast zwanzig Stunden unterwegs.
Wir fahren auf ebener, sandiger Wüste und passierten schon beim Ausgang aus dem Quertale den fünfzigsten Parallelkreis; die Erde erhebt sich nur noch 40° über dem Horizont, aber zum Glück gibt es auf dieser Fläche keine schattenwerfenden Erhöhungen. Wenn es geht, wollen wir die ganze Nacht ohne Unterbrechung vorwärtseilen.
Eine namenlose Trauer bedrückt uns. Martha sitzt ganz erschlafft da, fast wahnsinnig vor Schmerz, und zu ihren Füßen heult Selena nach ihrem verstorbenen Herrn. Wir geben dem Tier zu fressen, um es zu beruhigen, aber Selena nimmt nichts; sie war gewöhnt, nur von Tomas gefüttert zu werden.
Auf Mare Frigoris, 0° 6’ östlicher Länge, 55° nördlicher Mondbreite, nach Mitternacht, zu Beginn des vierten Tages.
Wir wenden uns direkt nach Norden, zum Pol. Seit hundertsiebzig Stunden, das heißt, seit dem Tode Woodbells, bewegten wir uns in nordwestlicher Richtung. Jetzt ist sein Grab schon weit zurückgeblieben, sehr weit ... Auf der Erde ist bereits eine Woche verflossen, seit wir ihn begraben haben.
Die ganze Zeit über fließt der Sand durch die Räder unseres Wagens, während nur das Zischen des Motors die lautlose Stille und das bleierne Schweigen unterbricht, das auf uns lastet. Martha weint nicht; sie sitzt da, stumm, mit zusammengepreßten Lippen und weit aufgerissenen Augen, in denen die Tränen schon vertrocknet sind.
Selena lebt nicht mehr. Seit Woodbells Tod wollte sie nicht mehr fressen, heulte stundenlang und lief im Wagen herum, alle ihm gehörigen Gegenstände und was seine Hand nur einmal berührt hatte beschnüffelnd. Schließlich legte sie sich in eine Ecke, wurde schwach und knurrte, wenn einer von uns sich nähern wollte. Wir fürchteten, daß sie die Tollwut bekäme, und mußten sie töten, obwohl es uns unendlich leid tat. Übrigens bin ich überzeugt, daß sie auch so nicht mehr lange gelebt hätte.
Ach, es ist so entsetzlich still in unserem Wagen, denn wir — was können Peter und ich miteinander sprechen? Es ist etwas Furchtbares geschehen. Der Tod Woodbells bedeutet in diesem Falle nicht nur den Verlust eines Menschen, eines treuen und teuren Freundes: nein, dieser Tod ist ein unermeßliches Unglück, — eine wahnsinnige Ironie des Schicksals, das zwischen uns beide diese Frau geworfen hat, die wir in gleichem Maße heiß begehren. Ich kann nicht auf sie sehen, ohne daß mich ein Schauer erfaßt und gleichzeitig empfinde ich den ganzen Ekel dieser — Schändung, gegenüber dem frischen Grab des Freundes. Es scheint mir, daß Woodbells Geist uns noch nahe ist, daß er mir ins Herz sieht, diese meine Gedanken lesend, aber ich kann dennoch nicht widerstehen — ich kann nicht! Das Fieber verzehrt mein Hirn, das Blut rast wild durch alle Adern, und mein Inneres ist so ganz voll von ihrem Bilde, daß ich sie vor mir sehe — immer — mit einer furchtbar unerhörten Deutlichkeit, auch wenn ich die Augen schließe. Ich versuche meine Gedanken von ihr abzulenken, sie mit Gewalt zurückzudrängen wie eine Meute toller Hunde, aber sie reißen sich los von der Kette meines Willens, werfen sich auf sie, reißen ihr die Kleider herunter, reiben sich an ihren Formen, schlängeln sich um ihren Leib und beschmutzen ihn mit den lüsternen Schnauzen, und da sie sehen, daß sie unnahbar und kalt ist, beginnen sie zu bellen, mit den Zähnen zu fletschen, nach ihr zu beißen und sie hin und her zu zerren ... Oh, diese schändlichen Gedanken, wie sie mich peinigen und quälen!
Varadol ergeht es ebenso; ich weiß, ich fühle, ich sehe es! Und er weiß ebenfalls, was in mir vorgeht. Daher dieser stumme, verbissene Haß zwischen uns. Weshalb soll man sich täuschen, weshalb die Dinge mit schönen Namen belegen, wir sind beide schlecht und gemein, denn sie steht zwischen uns. Wir sind nur zu zweit auf dieser fürchterlichen Welt, und es schreit etwas in der Tiefe unserer Seele, daß einer von uns zu viel ist. Wir sprechen nicht miteinander und sehen uns nicht in die Augen. Manchmal nur begegne ich verstohlen Varadols Blick, seinem entsetzlichen Blick, aus dem der Tod leuchtet wie ein Brand durch die Fenster eines im Innern flammenden Hauses.
Ob ich ihn fürchte? Nein, nein, tausendmal nein! Obwohl ich weiß, daß er mich jeden Augenblick, ohne zu wissen, was er tut, hinterrücks niederschlagen und morden kann, wie zum Beispiel jetzt, während ich schreibe und er hinter mir steht und meinen entblößten Nacken sieht. Ein Schauer durchläuft mich, aber ich wende mich nicht um, ich will seinem Blick nicht begegnen, in dem ich, wie in einem Spiegel, meine eigene Gemeinheit sehe.
Im übrigen fürchte ich mich absolut nicht vor einem plötzlichen, unerwarteten Tode! Der Tod ist nur dann über allen Ausdruck furchtbar, wenn er sich langsam nähert und unabwendbar. Ich weiß das aus Erfahrung. Ich fürchte nur eins, daß er diese Frau besitzen könnte, auf die er kein größeres Recht hat als ich; daß er vielleicht ihre vom Kummer noch bleichen Wangen durch Küsse röten, ihre Brust, die noch in ungestilltem Schluchzen bebt, zu schnellen, leidenschaftlichen Seufzern zwingen kann. Ah, ich darf nicht daran denken! Wir verfolgen uns gegenseitig so mit unserer Eifersucht, daß sie, solange wir beide leben, ohne jegliche Gefahr ist!
Aber manchmal packt mich die Wut. Ich möchte mir ins Gesicht speien und dann vor ihn hintreten und sagen: Komm, schlagen wir uns um sie! Beißen wir uns, wie zwei tolle Wölfe um eine Wölfin, unsicher des kommenden Tages, unsicher des Lebens, verbannt auf diese entsetzensvolle Welt, kämpfen wir um die Geliebte unseres toten Freundes, die für uns nichts fühlt als Gleichgültigkeit und Verachtung. Komm, schlagen wir uns heute um sie, ehe wir morgen sterben!
Aber ich bin zu sehr Hypokrit und zu feige, um das zu tun. Oh, wie ich mich verachte!
Und ich verachte und hasse auch sie! Es gibt Augenblicke, in denen ich fähig wäre, mich auf sie zu werfen und ihren schweigenden, traurigen Mund durch Schläge zum Schreien zu zwingen, um dann diesen Schrei zugleich mit dem Leben zu ersticken! Vielleicht wäre das besser ... Wir würden allein bleiben, ohne Ziel, ohne Verlangen zu leben, am Ende dann sogar freiwillig sterben, aber zum wenigsten würde nichts zwischen uns sein ...
Wozu lebt sie? Was hält sie hier? Wie kann sie noch leben, wenn sie diesen Menschen so geliebt hat, und wenn er für sie alles gewesen ist und mit ihm für sie alles geendet hat? Wir sind gemein, aber auch sie ist gemein! Das Tier, die unvernünftige Hündin, hat mehr Anhänglichkeit gezeigt, denn sie konnte den Tod ihres Herrn nicht überleben. Und diese Hündin hat doch nicht den hundertsten Teil der Liebkosungen gekostet, hat nicht den tausendsten Teil der Liebe genossen, mit der er diese Frau überhäuft hat! Aber die Frau lebt ... und wer weiß, wer weiß, vielleicht wirft sie aus diesen Augen, die scheinbar im Schmerz erkaltet und erloschen sind, schon auf einen von uns verstohlene Blicke, vielleicht keimt in ihrem Hirn, das noch voll ist vom Bilde jenes Toten, schon der Gedanke: Welchen von diesen zwei Lebenden soll ich wählen, um das ewige Werk des Weibes zu erfüllen? ...
Vielleicht, vielleicht ist in alledem irgendein ursprünglicher, elementarer, durch die Natur in unser Wesen gelegter, also heiliger Trieb des Seins und des Zeugens, der uns nicht zurückblicken, mit der Vergangenheit nicht rechnen, noch an die Zukunft denken läßt. Und dennoch ist für mich das alles so ekelhaft — so widerwärtig — ungeheuerlich! ...
Ah, warum lebt dieses Weib? Warum?
Und ich fühle, daß ich trotz alledem ihren Tod niemals verwinden könnte.
Auf Mare Frigoris, 0° 30’ östlicher Länge, 61° nördlicher Mondbreite, vierter Tag, einhundertzweiundsiebzig Stunden nach Mitternacht.
Martha hatte recht, als sie zu Tomas sagte: Du wirst leben! Ach, daß ich das damals nicht gleich verstanden habe!
Es waren fast drei Viertel der Nacht verstrichen, als ich, am Steuer sitzend, bemerkte, daß Peter sich fortgesetzt um mich herum zu schaffen machte, mit einer Miene, als wenn er eine Unterredung beginnen wollte. Mich wunderte das, weil wir immer nur das Notwendigste besprachen, aber gleichzeitig freute es mich auch. Ich fühlte, daß die Zeit endlich gekommen war, dieser unerträglich drückenden Situation durch eine Aussprache ein Ende zu machen.
Ich frug ihn also so höflich wie nur möglich:
— Wünschst du etwas von mir?
— Ja, ja, sagte er schnell, sich neben mich setzend, ich wollte mit dir reden ...
Ich bemerkte, daß er sich zu einem Lächeln zwang, aber seine Züge zuckten krampfhaft dabei. Unwillkürlich blickte ich auf seine Hände. Und er, als wenn er meinen Blick verstanden hätte, errötete und zog die Hände leer aus den Taschen, sie auf seine Knie legend. Dann begann er etwas stockend:
— Ja, ja, siehst du, ich wollte mit dir ... denn es scheint, daß wir diese Nacht nicht anzuhalten brauchen, da die Kälte nicht so empfindlich ist und der Weg eben und hell genug, obwohl die Erde niedrig am Horizont steht; im übrigen wirst du zugeben, daß man sich eilen muß, also ...
Ich wendete keinen Blick von ihm ab, und er wurde immer verwirrter. Plötzlich änderte er den Ton und schrie heftig:
— Zum Teufel! Wir fahren ohne Unterbrechung nach Norden?
— Ja ... pflichtete ich bei, mich zur Ruhe zwingend.
Dann folgte ein Augenblick qualvollen Schweigens. Varadol sprang auf und begann unruhig auf und ab zu gehen. Ich war mir klar darüber, was in ihm vorging; ich wußte, wovon er mit mir sprechen wollte, und daß er über gleichgültige Dinge redete, weil er das Wort nicht hervorbringen konnte, das uns Auge in Auge der Entscheidung gegenüberstellte, die früher oder später schließlich fallen mußte. Eine Zeitlang empfand ich eine boshafte Freude über seine Hilflosigkeit, aber dann tat er mir plötzlich so unendlich leid, daß ich fähig gewesen wäre, mich ihm an den Hals zu werfen und ihn bei unserer alten Freundschaft zu beschwören, ihm alles mögliche zu sagen, daß ich ihm das Weib abtreten wolle, — oder ihn zu bitten, sich mit ihrem Tode einverstanden zu erklären — ah, ich weiß selbst nicht mehr, was ich beginnen wollte, aber ich beherrschte mich sofort; das führt absolut zu nichts. Ich fühlte indes, daß es unmöglich war, die endgültige Auseinandersetzung noch weiter hinauszuschieben.
— Wolltest du weiter nichts, fragte ich ihn unvermittelt.
Er blieb stehen, scheinbar durch den freundlichen Ton in meiner Stimme betroffen, und sah mir forschend in die Augen. Dann lächelte er traurig und fuhr mit der Hand über die Stirn. Ich bemerkte, daß seine Hand wie im Fieber zitterte.
— Ja, in der Tat, ich wollte — überdies ...
Er brach ab und blickte auf Martha; nach einigem Zögern sagte er mit abgebrochener, rauher Stimme in deutscher Sprache, damit sie ihn nicht verstehen konnte:
— Was werden wir mit diesem Weibe tun?
Ich erwartete diese Worte, aber trotzdem trafen sie mich wie ein Keulenschlag! Ich bremste gewaltsam den Wagen; das Blut klopfte mir in den Schläfen und verschleierte mir die Augen. Mein Herz schlug zum Zerspringen; die Lippen waren wie ausgetrocknet. Der entscheidende Augenblick war gekommen.
Ich sah auf Varadol. Er stand vor mir, blaß wie eine Leiche und starrte mir hartnäckig in die Augen. Diesen Blick werde ich bis zu meinem Tode nicht vergessen! Es lag eine Angst darin und ein fast hündisches Flehen — und gleichzeitig wieder eine entsetzliche Drohung.
Ohne zu antworten, schob ich ihn beiseite und ohne mir klar darüber zu sein, was ich tat, trat ich an Martha heran, die still dasaß und irgend etwas nähte. Er folgte mir.
— Warum lebst du, Weib? Diese unerhörte und, wie mir jetzt scheint, lächerliche Frage, obwohl ich damals keine Lust zum Lachen hatte, stieß ich ganz unvermittelt hervor.
Martha schaute uns erstaunt an, dann wurde sie feuerrot und sagte langsam mit leicht zitternder Stimme, als wenn sie sich rechtfertigen wollte:
— Ich warte auf Tomas’ Rückkehr ...
Eine rasende Wut packte mich.
— Genug der albernen Redereien! schrie ich, ihr die Arbeit, über die sie sich neigte, aus den Händen reißend. Ich weiß nicht, was weiter geschehen wäre, wenn ich nicht in diesem Moment einen Blick auf das Stück Leinwand, an dem sie nähte, geworfen hätte: Es war ein Kinderhemd.
Ich verstand plötzlich alles. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, streckte ich nur die Hand aus, Peter darauf aufmerksam machend. Er schrie leise auf und ging schnell zum Steuer des Wagens.
Also darum sagte sie zu dem sterbenden Tomas mit einer solchen Überzeugung: Du wirst leben! Darum folgte sie ihm nicht!
Nach dem Glauben ihres Volkes geht in das nach dem Tode des Vaters geborene Kind die Seele des Verstorbenen über. Sie wartet also, fest überzeugt, daß Tomas in dem Kinde zu ihr zurückkehren wird, nachdem er als Geist die Erde umkreist, die ihn beim Sterben mit so namenloser Sehnsucht erfüllte! Sie mußte ihm die „frohe Kunde“ gebracht haben, daß sie in diesem Kinde seiner warten werde, wohl damals, als sie kurz vor seinem Tode malabarisch zu ihm gesprochen hatte. Das alles durchfuhr mich wie ein Blitz.
Ich blickte auf sie: sie weinte still, das Gesicht in dieses kleine Hemdchen verborgen, das aus der Wäsche des Verstorbenen zurechtgeschnitten war.
Und plötzlich geschah etwas Seltsames mit mir. Ich hatte das Gefühl, als wenn in meinem Herzen etwas zersprungen wäre, irgendein widerwärtiges Geschwür und gleichzeitig fiel es mir wie ein Schleier von den Augen. Martha erschien mir als ein anderes Wesen. Ich schaute auf sie mit einem Staunen, als wenn ich sie zum erstenmal sähe! Das war nicht mehr das Weib, um dessen Besitz ich noch vor einem Augenblick mit meinem Freund und einzigen Kameraden auf dieser einsamen Welt ringen wollte. Das war die Mutter des neuen Geschlechts, der siegende Tod durch das große Geheimnis des Lebens und der Liebe.
Eine unaussprechliche Dankbarkeit erfüllte meine Seele; Dankbarkeit dafür, daß wir durch sie nun hier nicht mehr allein sein werden, und daß sie sich mit der Heiligkeit der Mutterschaft vor uns schützte, vor uns, die wir — blind! — in ihr nur das begehrenswerte Erbe des Toten gesehen haben. Ich neigte mich, ohne es zu wissen, und küßte ihre Hand. Sie zuckte zusammen und verstand anscheinend meine stumme Huldigung, denn sie erhob ihr Gesicht, das noch verweint war, aber schon von Stolz über die neue und anerkannte Würde aufleuchtete.
Wie unbegreiflich ist doch die Seele des Menschen! Das alles löst ja die uns quälende Frage durchaus nicht, sondern rückt sie nur für eine bestimmte Zeit in die Ferne und trotzdem sind wir beide jetzt so ruhig, als wenn die ganze Angelegenheit erledigt wäre. Wir haben die Überzeugung, daß dieses Weib keinem von uns Lebenden gehört, sondern demjenigen, der gestorben ist, und wir ehren und achten sie, ganz vergessend, daß vielleicht die Zeit wieder kommen wird, wo ...
Aber nein, nein, ich will nicht daran denken!
Jetzt nur nach Norden, immer nur nach Norden!
Unter dem Timaeus, nach Sonnenaufgang des vierten Mondtages.
Noch kein Sonnenaufgang hat eine solche Freude in uns geweckt und eine solche Hoffnung! Es war ihm ein Glanz vorausgegangen, eine Erscheinung, wie wir sie hier auf dem Mond noch nicht gesehen hatten.
Die Nacht war gerade zu Ende und wir hofften jeden Augenblick, daß der Gipfel des Berges, der im Lichte der Erde vor uns emporstieg, in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne aufleuchten würde. Jedoch bevor dies geschah, nahm der schwarze Himmel im Osten eine etwas hellere Farbe an, als wenn ihn ein opalweißer Nebel umhüllte. Zuerst glaubten wir, daß sich unter dieser bedeutenden Breite — wir passierten bereits den sechzigsten Parallelkreis — das Zodiakallicht, das in der Nähe des Äquators und vor Sonnenaufgang sichtbar ist, in so seltsamer Weise zeige. Aber nein, das war nicht das Zodiakallicht; der Himmel färbte sich weit und breit leicht silbern über dem Horizont und die Sterne verblaßten in diesem weißen Glanze. Bald blitzten auch die Gipfel des Timaeus — jener Krater, dem wir uns näherten, — in der Sonne auf, aber — o Wunder! sie waren auf dem Hintergrunde der Nacht wie zart erglühende Rosen erblüht. Es war unmöglich noch länger daran zu zweifeln, daß diese Dämmerung und dieses rosige Licht uns dichtere Luft verkündeten, die schon genügte, durch die sie durchgleitenden Sonnenstrahlen zu leuchten und ihre Farben zu röten.
Eine berauschende Freude erfaßte uns; ich lächelte Peter zu, der mit der ganzen Seele in diese Erscheinung versunken war; dann wandte ich mich zu Martha.
— Sieh, rief ich, dein Kind wird dort zur Welt kommen, wo wir atmen können wie auf der Erde!
Sie erhob das Haupt und schaute nach Osten, wo sich alles mit einem traumhaft zarten Gold überzog, das den ganzen Horizont erfüllte — wie unsere Herzen die Hoffnung eines neuen Lebens ...
Die Sonne ging langsam auf, langsamer noch als die vorhergehenden Tage, denn sie stieg nicht gerade in die Höhe, sondern erhob sich hinter dem stark nach Süden geneigten und niedrig über dem Horizont hängenden Bogen der Erde. Nachdem sie ganz hervorgekommen war, stand sie am Himmel in einem großen Kreise wie von weißem Nebel, der langsam ins Blaue überging und sich allmählich in dem schwarzen Hintergrund verlor. In der Nähe der Sonne waren keine Sterne mehr sichtbar; sie glänzten nur noch weiter von ihr entfernt am Firmament, und die Verschiedenheit ihrer Farbe ist geschwunden; sie ähneln immer mehr jenen glitzernden Flämmchen, mit denen sich der nächtliche Himmel über der Erde schmückt.
Noch ein, höchstens zwei Mondtage, und wir werden diesen Wagen verlassen können und mit voller Brust zum erstenmal die Mondluft einatmen!
In der letzten Nacht legten wir ein bedeutendes Stück Wegs zurück! Die Nachtkälte ist hier in der Nähe des Pols bedeutend geringer als am Äquator, da die Sonne nicht so tief unter den Horizont fällt; wir brauchten uns infolgedessen nicht aufzuhalten und fuhren bei Sonnenuntergang auf das Mare Frigoris, das wir jetzt bereits hinter uns haben. Im Westen beginnt gebirgiges Land vor uns aufzusteigen; der Timaeus ist ein Grenzpfahl, den wir gerade passieren.
Vor uns, nach Norden zu, erstreckt sich eine Flachebene, die, einer breiten Bucht gleich, in das Gebirge einschneidet und, wie die Karten zeigen, bis zum achtundsechzigsten Parallelkreis reicht. Sie ist nicht so eben wie das Mare Frigoris, im Gegenteil, ganz mit kleinen und gleichlaufenden Hügeln besät, die uns jedoch die Reise nicht erschweren werden, da sie sanfte Abhänge haben. Wir müssen diese Strecke zurücklegen, bevor der Tag zu Ende geht, so daß wir beim Anbruch der nächsten Nacht schon im Gebirge sind. Dann trennen uns noch gegen sechshundert Kilometer vom Pole. Aber was bedeuten sechshundert Kilometer, nachdem wir schon so viele zurückgelegt haben!
Wir sind voll Hoffnung und Zuversicht! Alle Feindseligkeiten zwischen uns sind verflogen; der quälende Alp, der während der Nacht auf uns lastete, ist wie Nebel im Glanz der aufgehenden Sonne verschwunden. Der Gedanke, daß wir zu dem ersehnten Ziele unserer schweren Pilgerfahrt den Keim eines neuen Lebens tragen, stärkt uns und macht uns so froh und ruhig, daß es uns manchmal vorkommt, als wenn wir um die verlassene Erde nicht mehr trauerten ...
Warum ist Tomas nicht unter uns? Er teilte unsere Qualen; was würde ich dafür geben, wenn wir mit ihm die Hoffnung des Lebens teilen könnten! ...
Vierter Mondtag, achtundsiebzig Stunden nach Sonnenaufgang, 0° 2’ östlicher Länge, 65° nördlicher Mondbreite.
Eine seltsame Niedergeschlagenheit befällt mich. Ich weiß nicht, woher sie kommt und was sie von mir will. Die Reise geht schnell vonstatten, der Himmel überzieht sich langsam mit dunklem Blau, durch das die bis jetzt strahlenlosen Sterne zu flimmern beginnen, alles verkündet die Nähe jener „versprochenen Erde“, wo wir endlich nach allen, nun schon vier Monate währenden Mühen ausruhen sollen, und ich, statt mich zu freuen, bin traurig, unsagbar traurig und niedergedrückt. Was ist daran schuld? Vielleicht diese Erde, die sich immer mehr zum Horizonte neigt und die wir in einigen hundert Stunden schon ganz aus den Augen verlieren werden, vielleicht diese Gräber, die unseren Weg durch die entsetzliche, luftlose Mondwüste bezeichnen, vielleicht diese inneren Erlebnisse, von denen sich meine Seele noch nicht erholen kann, vielleicht auch der Gedanke an dieses Kind des Verstorbenen, das in einem unbekannten Land für ein unbekanntes Schicksal geboren werden soll.
Ich bin ruhig, — nur diese unerträgliche Traurigkeit und diese Ermattung! Unsere Augen sind halb blind von den blendenden Sonnenstrahlen; der Anblick der endlosen Flächen und zerklüfteten Berge ermüdet mich unsagbar ... Wenn nur ein kleines, ganz kleines Wässerchen, ein Teich, ein grüner Zweig, ein wenig Gras zu sehen wäre ...
Die uns umgebende Gegend ist wie ein mächtiger Kirchhof. Wir fahren auf dem Grunde eines seit Urzeiten ausgetrockneten Meeres, auf darauf angesetzten, an der Oberfläche zerbröckelten Kalkbänken, aus denen sich die Reste ursprünglicher Ringfelsen erheben, die vom Wasser zerspült worden sind.
Was ist aus diesem Meer geworden, das einst hier flutete, den gebogenen Nacken der Erde entgegenstreckend, die damals wie eine goldene Scheibe zwischen den Wolken, die über den Wassern dahinzogen, sichtbar war? Nur der Strand erhebt sich noch über der ausgetrockneten Mulde, steil, riesenhaft, ausgefressen durch die Brandung der nicht mehr vorhandenen Wogen ... Wind und Sturm haben seine zu Staub zerriebenen Überreste verweht, jetzt gibt es auch diese nicht mehr — nur Leere und Starrheit ...
Ich sehne mich so unbeschreiblich danach, endlich Leben zu sehen! Oh, nur so schnell wie möglich, die Kräfte könnten erlahmen!
Martha ist die geduldigste von uns dreien; aber das ist natürlich! Sie hat ihre Welt jetzt in sich und es scheint, daß sie an diese Welt sogar mehr denkt als an den verstorbenen Geliebten. Ich sehe oft, wie sie, über der Arbeit sitzend, plötzlich die Hände sinken läßt und in die Zukunft schaut, ihren eigenen Gedanken zulächelnd. Ich bin überzeugt, daß sie dann mit den Augen der Seele das kleine rosige Kind sieht, wie es die Händchen nach ihr ausstreckt. Manchmal verscheucht wohl ein tiefer Seufzer dieses glückselige Lächeln, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das ist die Erinnerung an Tomas, der sein Kind niemals sehen wird ... Aber dann lächelt sie wieder, denn sie weiß, daß seine Seele nicht in ihrem Kinde zu ihr zurückkehren könnte, wenn er am Leben geblieben wäre.
Martha ist immer mit ihren Gedanken beschäftigt und spricht wenig mit uns; nur einmal sagte sie zu mir:
— Es ist gut, daß ich Tomas hierher gefolgt bin, denn ich werde ihm aufs neue das Leben geben ...
Wie sollte sie sich nicht glücklich fühlen, wenn sie so von sich sprechen kann?
Vierter Tag, siebzehn Stunden nach Mittag auf der Hochebene vor dem Goldschmidt, 1° 3’ östlicher Länge, 69° 3’ nördlicher Mondbreite.
Die Ebenen haben ein Ende genommen; wir sind in den Bergen, die sich bis zum Pole hinziehen. Diese Hochebene ist ganz eigentümlich; sie ist wie übersät mit einzelnen kreisförmigen Bergen, zwischen denen sich hohe, weit ausgedehnte Bergringe erheben, wie zum Beispiel der vor uns liegende mächtige Goldschmidt und der sich mit ihm im Osten berührende und noch höhere Barrow. Es kommt mir jetzt erst zum Bewußtsein, wie seltsam es ist, daß wir hier Berge und Länder vorfinden, die noch kein menschlicher Fuß betreten hat, und die doch schon von Menschen bezeichnet sind ... Ein sonderbarer Gedanke.
Der Mittag sah uns heute auf dem Gipfel des Grenzwalles der Hochebene. Wenn wir hinter uns blickten, würden wir über dem Horizont der Wüste die verblaßte Erde, die durch einen leichten Luftschleier verhüllt ist, bemerken. Der leuchtende Ring der Atmosphäre glänzte durch diese Verhüllung noch blutiger als an den vorhergehenden Tagen. Dicht über der Erde, ihre mächtige schwarze Kugel fast berührend, stand die Sonne.
Ich habe den Eindruck, daß die Erde sich im Verlauf dieser vier Monate vom Zenite dem Horizonte zu gesenkt hat und nur wir, uns dem Pole nähernd, von ihr geflohen sind. Das Klima ist hier ein gänzlich anderes. Die nachmittagliche Sonne, die nicht hoch über dem Horizonte steht, quält uns nicht mehr mit ihrer Glut, blendet uns nicht mit ihrem Glanze. Traurig und müde scheint diese Sonne zu sein, so wie wir ... Rings auf der Hochebene lagern tiefe Schatten ... Der Himmel färbt sich nach Norden zu immer bläulicher, die Sterne sieht man nicht mehr in dieser Richtung, obwohl sie im Süden noch blaß und weißlich scheinen, in einem breiten Kreise um Erde und Sonne zerstreut.
Ich bin über alle Beschreibung müde. Trotz der Leichtigkeit des eigenen Körpers auf dem Monde habe ich manchmal das Gefühl, daß Kopf und Hände und Füße aus Blei sind. Ich habe Angst, daß ich krank werde. So unendlich lang erscheint mir die Reise! Ich beginne, trotzdem wir die sichersten Zeichen dafür haben, daß sie bald beendet ist, zu zweifeln, ob wir überhaupt jemals ans Ziel gelangen werden ... Übrigens — Ziel? Welches Ziel? Ach, alles ist so ermüdend und traurig!
Martha ist von einer maßlosen Güte. Ich glaube, wenn sie nicht wäre, hätte ich nicht mehr die Energie, die Hand zu rühren, um das Steuer des Wagens nach dem Pole zu lenken, dem wir mit solcher Anstrengung entgegeneilen. Aber sie sieht meine grenzenlose Ermüdung und versteht es, mir mit lieben, herzlichen Worten Mut zuzusprechen und mich aufrecht zu erhalten. Wodurch habe ich so viel Güte ihrerseits verdient? Etwa durch das Unrecht, das ich ihr durch meine schändlichen Gedanken zugefügt habe? Ich bin so müde, daß mir alles gleichgültig ist, mit Ausnahme, so wahr mir Gott helfe, des Glückes dieser Frau. Ich möchte leben, um ihr irgendwie von Nutzen zu sein ... Und wer weiß, ob ich leben werde.
Vor uns Berge, große steile Berge. Man muß sie überwinden. Diese und andere und wieder andere, denn zum Pol ist es noch weit ... Ich habe keine Kräfte mehr, ich kann nicht einmal schreiben. Die Worte fehlen mir, ich bringe sie nicht recht zusammen; ich vergesse immer, was ich sagen wollte. Ich möchte mich am liebsten auf der Hängematte ausstrecken und unter den halbgeschlossenen Augenlidern auf Martha schauen, die immerfort lächelt — im Gedanken an ihr Kind. Die Glückliche!
Auf der Einsattelung zwischen Goldschmidt und Barrow, einhunderteinundsechzig Stunden nach Mittag des vierten Mondtages.
Ich kämpfe mit dem Rest meiner Kräfte gegen die mich überfallende Ermüdung an. Ich fühle, daß ich krank bin und habe Angst davor. Wie werden sie sich zu zweit helfen können — ohne mich? Der Weg wird immer beschwerlicher, und die Nacht, eine lange Nacht, ist nahe. Ob ich ihr Ende erleben werde? Vielleicht kommt nach O’Tamor und Woodbell nun die Reihe an mich? Sie haben doch vorausgesagt ...
Es wäre mir hart, jetzt sterben zu müssen. Ich möchte das Kind noch sehen, das geboren werden soll, ich möchte, wenn auch nur noch einmal, mit voller Brust aufatmen können.
Ach, wann wird dieser Weg ein Ende nehmen! Nach den Karten zu urteilen, sind die Berge, durch die wir uns eben hindurcharbeiten, das letzte große Hindernis, das uns vom Pol trennt. Wenn wir uns von der Einsattelung, auf der wir uns augenblicklich befinden, herabgelassen haben, werden wir uns, in einer breiten Klamm fahrend, nach Westen wenden, längs den nördlichen Abhängen des Goldschmidt, dann wieder in nördlicher Richtung die Ringe Challis und Main passieren, im Osten den Ring Gioja umkreisen, seine niedrige Abzweigung, die sich dem Parallelkreis zu erstreckt, überfahren und auf eine Ebene gelangen, die von dem Polarlande nur mehr durch eine einzige schmale Gebirgskette getrennt ist.
So stellt sich unser Weg nach den Karten dar. Aber die Karten dieser Gegenden, die von der Erde aus schlecht zu sehen sind, erweisen sich als ungenau. Dazu kommt, daß der größte Teil des Weges in der Nacht, die schon beginnt die Berge zu verhüllen, zurückgelegt werden muß.
Von unserer Höhe sehen wir bereits ein Stück dieser Welt vor uns, aber nur die Gipfel der rötlich in der Sonne erglänzenden Berge. Die Tiefen überflutet ein schwarzes Schattenmeer. Wenn wir dort hinunterkommen, werden die Sterne unsere einzigen Führer sein.
In meinem Kopfe ist etwas zerstört oder unterbrochen, nur mit der größten Willensanstrengung vermag ich klar zu denken. Träume im Halbschlaf, Angstgefühle, Wahnvorstellungen wechseln in meinem Hirne. Habe ich etwa Fieber? Ich beiße in meine Finger, um zur Besinnung zu kommen, aber auch das hilft nichts. Alle Bilder zerrinnen mir vor den Augen; ich sehe ein Meer der Dämmerung mit darauf schwimmenden blutigen Berggipfeln. Unser Wagen erscheint mir wie ein Schiff, das wir jeden Augenblick in diese Untiefe hinabstoßen werden ... Ich bin so entsetzlich müde. Wohin sollen wir durch diesen schwarzen Ozean segeln? Vielleicht zur Erde? ... Ach, es ist wahr, die Erde ist weit hinter uns geblieben, weit im Weltenraum; dorthin werden wir niemals zurückkehren, niemals! ...
In meinem Kopfe klappert eine furchtbare Mühle; ich glaube, ich habe Fieber.
Nach Sonnenuntergang in Schluchten zwischen Bergen.
Ich habe mich doch vom Lager geschleppt. Martha sagte mir, ich solle mich niederlegen, aber was weiß sie! Ich hatte noch etwas zu tun oder zu schreiben — ich weiß es nicht mehr, aber ich muß mich daran erinnern. Ich bin überzeugt, daß wir in der Dunkelheit versinken, wenn ich es nicht tun werde ... Aber was wollte ich tun? Warum ist es hier so dunkel? Irgendeine Bombe ist mir scheinbar im Kopf zerplatzt, muß zerplatzt sein, denn der Kopf dehnt sich mehr und mehr, schwillt an, wächst; ist jetzt so groß wie der Mond ... Wie unterhaltend das ist, daß wir auf dem Monde sind; aber vielleicht träume ich es nur? Denn wo in aller Welt kämen denn die Hunde her? Wo ist Woodbell? Es ist etwas mit ihm geschehen, aber ich weiß nicht was. Tomas hieß er mit Vornamen ...
Jemand steht bei mir und sagt, daß ich mich hinlegen müsse, weil ich Fieber habe ... Ah, einerlei! Warum soll ich es nicht haben ... Ist es mir nicht erlaubt? ...
Die Feder wird zentnerschwer, aber auch meine Finger sind wie Blei ... Ich weiß nicht, was das alles bedeutet — ich höre nur zwei Stimmen neben mir — ich kann nicht mehr ...
Ende des ersten Teiles.
Ich werde niemals den Eindruck vergessen, als ich nach der langen Krankheit, die mir das Bewußtsein geraubt hatte, gegen Ende jener entsetzlichen Reise durch die luft- und wasserlose Mondwüste die Augen wieder öffnete. Heute, wo ich das Niederschreiben unserer Erlebnisse auf diesem Globus wieder aufnehmen will, steht mir dieser Augenblick so lebhaft in der Erinnerung, als wenn kaum einige Stunden seitdem verflossen wären. Und dennoch, wenn ich die Mondtage zähle, sehe ich, daß auf der Erde bereits das elfte Jahr seit jener Zeit, da wir auf die Mondoberfläche gefallen sind, vorübergegangen ist und zehn Jahre, seit wir den Wagen verließen, in dem wir fast ein halbes Jahr eingeschlossen waren. Jetzt atmen wir längst wieder mit voller Brust, unter freiem Himmel, genau so wie auf der Erde, am Strande eines wirklichen Meeres, und blicken auf Wälder von Pflanzen, die uns seltsam und fremd erscheinen, aber ebenfalls grün und voll von eigenem Leben sind. Hundertvierunddreißigmal hat die Sonne vor unseren Augen diese Welt, an die wir uns fast schon gewöhnt haben, umkreist. Unser Haar beginnt zu ergrauen, und neben uns wächst das neue Geschlecht heran, ein Geschlecht von Menschen, die die Geschichte ihrer Vorväter, wie diese einst von der Erde hierhergelangten, von jenem fernen Stern, der in der Gestalt einer mächtigen leuchtenden Kugel vor ihnen am Horizont emporsteigen wird, wenn sie zu den Grenzen der luftlosen Wüste vordringen sollten, für eine Mythe halten werden. Ihnen wird dieses Himmelslicht eine selten gesehene, interessante Erscheinung am Himmelsdome sein, für uns ist es die Mutter, die wir für immer verlassen und verloren haben. Aber den einzigen und stärksten Faden, der uns noch mit ihr verbindet, konnten wir nicht zerreißen — die bis zum letzten Atemzuge in uns lebende Sehnsucht.
Es werden noch einige zehn oder mehr Mondtage vorübergehen, und wir werden alle sterben, die wir auf der Erde geboren sind. Das neue Geschlecht wird mein Tagebuch lesen und es wahrscheinlich lange Zeit hindurch für ein heiliges Buch halten, Exodus, bis hier ein „Kritiker“ erscheint und unzweifelhaft nachweist, daß die Überlieferung von der Erdenherkunft des Menschen nur eine Phantasie grauer Zeiten ist.
Ich denke daran wie an eine ganz natürliche Sache; erscheint mir doch schon vieles von dem, was ich selbst erlebt habe, nur noch wie ein phantastischer Traum. Vor allem hat die Krankheit, während der ich einen ganzen Mondtag hindurch ohne Bewußtsein daniederlag, in meinem Leben eine seltsame Unterbrechung geschaffen, so daß es mir zuerst schwer wurde, das, was vorher geschehen ist, mit dem zu verbinden, was ich sah und erlebte, als ich wieder zu mir kam, die Wirklichkeit von den Fieberträumen zu unterscheiden. Aber wahrhaftig, mein Erwachen war überaus seltsam.
Ich öffnete die Augen und konnte absolut nicht verstehen, wo ich mich befand. Mich umsehend, gewahrte ich eine weit ausgedehnte Wiese, von Hügeln umgeben, die mit frischem üppigem Grün bedeckt waren. Und alles von einem eigenartigen Halblicht überflutet, den Dämmerungen auf der Erde ähnlich, wenn sich die Sonne am Horizont erhebt. Nur die kahlen Gipfel der hohen Berge glühten in vollem roten Lichte. Über ihnen wölbte sich der blaßblaue Himmel, mit einem leichten Nebelschleier überzogen. Ich schaute und schaute und konnte noch immer nichts begreifen. Da erblickte ich auf der Wiese zwei Menschen, die langsam gingen und sich jeden Augenblick bückten, als wenn sie etwas suchen wollten. Um sie herum sprangen zwei Hunde, fröhlich bellend.
Ich glaubte zuerst, daß ich auf der Erde sei, in irgendeiner unbekannten Gegend, und ich dachte nach, wie ich wohl hierher gekommen, als ich mich plötzlich unserer Mondexpedition erinnerte und der langen Fahrt in dem geschlossenen Wagen durch die Mondwüsten. Ich blickte noch einmal rings umher, soweit ich dies tun konnte, ohne den Kopf zu erheben, der schwer war, als wenn er mit Blei angefüllt wäre. Wo ist der Wagen geblieben, wo sind diese grotesken Landschaften, die ich durch seine Fenster gesehen habe? Ich wollte die Menschen rufen, die sich in der Nähe befanden, aber plötzlich überfiel mich eine so starke Ermattung, daß ich keinen Laut hervorbringen konnte. Im übrigen begann ich anzunehmen, daß alle diese unerhörten Erlebnisse nur ein Traum waren. Ich sollte eine Expedition auf den Mond mitmachen und bin irgendwo auf einer Wiese eingeschlafen, wer weiß, wie lange ich schon geschlafen habe. Und es träumte mir nur, daß ich wirklich dorthin gelangte, daß ich mit furchtbaren Schwierigkeiten kämpfte, Kameraden verlor, dem Tode ausgesetzt war ... Das eine ist nur merkwürdig, daß ich diese Gegend nicht kenne.
Eine unklare Erinnerung an eine schwere, überstandene Krankheit tauchte in meinem Gedächtnis auf. Ja, wahrscheinlich hatte ich Fieber, und in Fieberträumen wandelte ich auf dem Mond. Ah, wie gut, daß diese Phantasiegespinste vorüber sind. Ich fühlte eine wahre Erleichterung bei dem Gedanken, daß das alles nur ein Traum war, daß ich mich auf der Erde befinde und niemals gezwungen sein werde, sie zu verlassen. Es überkam mich ein wohliges, glückseliges Gefühl, nach einer Weile empfand ich, daß ich abermals zu träumen beginne.
Als ich zum zweitenmal erwachte, bemerkte ich, daß über mein Lager gebeugt zwei Menschen standen, die vorher gesehenen Gestalten, und halblaut miteinander sprachen. Ich glaubte den leisen Ausruf zu hören: er schläft, worauf die zweite Stimme antwortete: er wird leben. Das wunderte mich sehr, aber ich wollte sie nicht merken lassen, daß ich wach war und nur unbeweglich dalag und begann sie unter den halb geschlossenen Lidern aufmerksam zu beobachten. Obwohl ich, wie es mir schien, ziemlich lange geschlafen, hatte sich die Beleuchtung der Gegend nicht geändert; es war mir daher schwer, in dem unsicheren Scheine die über mich geneigten Gesichter zu erkennen. Nach einiger Zeit, als meine Augen sich an dieses schwache Licht gewöhnt hatten, schienen mir diese Menschen bekannt zu sein, ich konnte mich nur nicht auf ihre Namen besinnen. Langsam wandte ich meinen Blick von ihnen zu den Bergen, die an der Grenze des Horizontes sichtbar waren und deren Gipfel immer gleich beleuchtet blieben, obwohl, wie ich bemerkte, der Schein von einer anderen Seite auf sie fiel.
In diesem Augenblick sah ich etwas, das meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Über der tiefen Einsattelung, zwischen zwei hohen Bergen, stand ein mächtiger grauweißer Reifen, zur Hälfte aus dem Horizont geneigt. Ich starrte ihn lange an, bis mir alles klar wurde: das war die Erde — dort, am Himmel leuchtend!
Das Bewußtsein, daß ich mich tatsächlich auf dem Mond befinde, kehrte in seiner ganzen Klarheit zurück und durchlief mich wie ein eisiger Schauer. Ich stieß einen Schrei aus und sprang vom Lager auf. Peter und Martha — sie waren es, die ich vor einer Weile über mich gebeugt gesehen hatte — kamen mit lebhafter Freude herbei, aber ich fühlte nur einen Schwindel und verlor abermals die Besinnung.
Das war die letzte Ohnmacht im Verlauf meiner langen Krankheit; ich begann langsam gesund zu werden, obwohl noch über hundert Stunden verflossen, ehe ich es vermochte, mich zu erheben und allein wieder gehen zu können. Peter und Martha pflegten mich mit geradezu rührender Fürsorge, und ich, noch zu schwach, um zu fragen und zu sprechen, dachte nur darüber nach, was um mich vorging, und was sich alles zugetragen hatte. Ich wußte nun, daß wir während meiner Krankheit das so ersehnte Land, wo es Luft und Pflanzen gab, erreichten, aber daß dies auf ganz natürliche Weise geschehen sei, konnte ich mir noch lange Zeit hindurch nicht klar machen. Es fiel mir nämlich schwer, daran zu glauben, daß ich einen vollen Erdenmonat bewußtlos gelegen, und der Wagen, sich indessen immer nach Norden bewegend, endlich zum Pole gelangte, der noch einige hundert Kilometer von uns entfernt war, als mich das Fieber aufs Lager geworfen hatte.
Wir befanden uns also auf dem Nordpol des Mondes. Ein seltsames Land! Ein Land, zugleich des ewigen Lichtes und der Dämmerung, wo es keine Himmelsrichtungen gibt, weder Osten noch Westen, nicht Süden, nicht Norden. Die Mondachse steht fast senkrecht zur Erdbahn, daher sinkt die Sonne hier nicht unter den Horizont, noch erhebt sie sich am Himmel, sondern scheint sich nur in alle Ewigkeit am Horizont hinzuschleppen. Besteigt man einen Berg, deren es mehrere in der Nähe gibt, erscheint diese Sonne wie eine rote feurige Kugel, die sich träge direkt am Horizont bewegt. Die Gipfel der Berge leuchten ewig im rosigen Lichte, das stets von einer anderen Seite auf sie fällt; seitdem die Welt besteht, gibt es für diese Berge keine Nacht. Aber dafür haben die grünen Täler zu ihren Füßen niemals die Sonne gesehen. Sie liegen im Schatten dieser Berge, in immer gleicher, zarter Dämmerung. Ihr frisches dunkles Grün sieht nur den Abglanz der kahlen, von der Sonne geröteten Gipfel, die einem mächtigen Kranze blasser Rosen ähnlich sind. Nur selten, während einiger Erdenmonate, blitzt die Sonne, infolge der Libration des Mondes etwas über dem Horizont erhoben, in irgendeinem tiefen Felsenspalt mit einem flammend roten Antlitz auf und steht so einen Augenblick im Tor der Berge, wie ein in gleißendes Gold gehüllter Cherub. Dann ergießt sich ein mächtiger Lichtstrom durch die Klamm, fällt in Kaskaden von den Felsen herab und malt auf der dämmerigen Wiese einen breiten goldroten Streifen. Einige Stunden gehen vorüber, die Sonne versteckt sich hinter den Bergen, und wiederum überflutet ein sanftes Dämmern das stille Tal. Manchmal nur wird diese Dämmerung von der der Sonne entgegengesetzten Seite her durch ein seltsames, schwaches, einem breiten, schillernden Regenbogen ähnlichen Leuchten unterbrochen — das ist die Morgenröte auf dem Mondpol. Sie verhält sich zu derjenigen auf der Erde wie ein Traum zur Wirklichkeit; wie ein Traum, der schön und rein und traurig ist.
Es liegt etwas Geheimnisvolles in diesem schwachen Licht der Polarländer des Mondes. Ich erinnere mich, daß ich bei ihrem Anblick die Empfindung hatte, als wenn ich mich im Traume auf einem elysäischen Zaubergefilde befände. Leichte Nebelschleier irren dort wie Geister über die Erde; kein Laut unterbricht die tiefe, unheimliche Stille. Ein immerwährender, herrlicher, wenn auch kühler Frühling herrscht in diesem Lande, das wir schon über ein halbes Jahr bewohnen und während dieser Zeit hat sich der blaßblaue Himmel nur einmal mit Wolken überzogen. Es regnet fast niemals und infolgedessen gibt es auch kein Wasser, keine Quellen, keine Bäche. Die Luft ist jedoch so mit Wasserdampf angefüllt, daß diese Feuchtigkeit für die Entwicklung der Pflanzen vollständig genügt. Unsere Gräser, Bäume und Blumen würden hier wahrscheinlich vertrocknen, aber diese Länder am Mondpol haben eine besondere, den Verhältnissen angepaßte Flora ...
Die hiesigen Wiesen bestehen aus saftigen Pflanzen, die dem Moose auf der Erde ähnlich sind und wie jenes die Eigenschaft haben, die Feuchtigkeit der Luft aufzusaugen, nur in weit erhöhtem Maße. Sie nehmen so viel Wasser in sich auf, daß wir durch Ausdrücken der Pflanzen die zum Leben nötige Quantität dieser Flüssigkeit erhalten. Das Getränk gewinnen wir also auf bequeme Weise, aber mit dem Essen ist es schon schwieriger. Wir fanden zwar einige Gattungen saftiger, dafür verwendbarer Pflanzen und eine reichliche Anzahl eigenartiger Lebewesen, die großen Schnecken ohne Schalen ähneln, doch hatten wir nichts, uns eine Nahrung daraus zu bereiten. Unser von der Erde mitgenommener Vorrat an Brennmaterial war bald erschöpft und in der ganzen weiten Gegend nichts zu sehen, womit wir es hätten ersetzen können. Sogar die dickeren, verholzten Moosstengel waren so mit Feuchtigkeit gesättigt, daß wir sie unmöglich zum Feuermachen verwenden konnten und an ihr Austrocknen in dieser Dampfbad-Atmosphäre war gar nicht zu denken. Der Torf, den wir in großen Mengen vorfanden, triefte ebenfalls von Wasser, wenn man ihn nur in der Hand zusammendrückte.
Ich war schon kräftiger und konnte das in aller Eile hergestellte Zelt verlassen, um auf der Ebene spazieren zu gehen, als wir durch diesen vollständigen Mangel an Brennmaterial bedroht wurden. Wir pflogen diesbezüglich große Beratungen und machten verschiedene vergebliche Versuche zur Abhilfe. Peter kam mit dem Vorschlag, man solle die stärkeren, zerspaltenen Zweige und den ausgepreßten Torf auf die Berge tragen, da er hoffte, daß sie dort in der Sonne leichter trocknen würden, wie in diesem immer gleich dämmerigen Tale. Aber auch auf den Höhen war die Wärme der Sonnenstrahlen zu schwach. Nach kurzer Zeit nahm der ausgepreßte Torf durch die Dämpfe der Luft von neuem so viel Feuchtigkeit auf, daß die Arbeit sich als vergeblich erwies.
Wir opferten also alles, was wir von den mitgebrachten Holzgegenständen irgend entbehren konnten und schürten damit ein letztes großes Feuer an, um das in der Gegend gesammelte Brennmaterial auszutrocknen. Wäre uns das gelungen, konnten wir ein stetes Feuer unterhalten, das immer mit neuem, durch sich selbst ausgetrockneten Brennmaterial versorgt wurde. Aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Wir erhielten, nachdem wir alles verbrannt hatten, kaum eine kleine Handvoll trockener Äste und Torf. Es zeigte sich, daß zum Austrocknen einer gewissen Menge von Brennmaterial das Dreifache nötig gewesen wäre. Unser „ewiges Feuer“ erlosch nach einigen Stunden ... Wir hatten nur den Vorteil davon, daß wir die Maschine in Bewegung setzten, die die Akkumulatoren des Wagens lud.
So hieß es also ohne Feuer auszukommen! Die von Wasserdampf durchtränkte, immer gleichmäßig temperierte Luft bewahrte aufs glänzendste die spärliche Sonnenwärme, so daß uns die Kühle nichts anhaben konnte. Doch fiel es uns sehr schwer uns an die Rohkost zu gewöhnen. Die Reste der Vorräte an künstlichen, für die Verdauung entsprechend zubereiteten Eiweiß- und Zuckerpräparaten hoben wir für den Fall, bei der weiten Reise in eine Gegend zu kommen, die uns gar keine Nahrung liefern sollte, sorgfältig auf. Wir ließen nämlich die Absicht niemals fallen, noch weiter nach der Mitte der von der Erde abgekehrten Halbkugel des Mondes vorzudringen. Jedoch hielten uns drei Gründe von der Ausführung dieses Planes zurück: vor allem war ich nach der überstandenen Krankheit noch zu schwach, um die Beschwerden der Reise ertragen zu können, und auch Martha, die in Kürze der Geburt des Kindes entgegensah, durfte sich keinen Gefahren aussetzen. Schließlich gesellte sich noch, infolge des Mangels an Brennmaterial, die Angst vor den langen, kalten Nächten hinzu, die über uns hereinbrechen würden, sobald wir uns nur von dem Pol, dem Land des ewig gleichmäßig fahlen Lichtes, entfernten.
Trotz aller Entbehrungen und Befürchtungen sind die auf dem Pol verbrachten Monate die einzigen schönen Erinnerungen meines Lebens auf dem Monde. Das Zelt, das wir von der Erde mitnahmen, stellten wir genau am Polpunkt auf, so daß wir die Konstellation des Drachen, wo der Polarstern des Mondes leuchtet, direkt über uns hatten. Diesen Stern, der uns lange als Wegweiser diente, sahen wir nur einmal, während der Sonnenfinsternis, am Zenit, als wir die weitere Reise antreten wollten. Die Sterne, die auf der luftlosen Wüste Tag und Nacht sichtbar sind, zeigen sich hier niemals, ausgenommen wenn die Sonne hinter der Erdscheibe untergeht und diese Länder der ewigen Dämmerung in kurze Nacht versinken.
Das Zelt benützten wir nur noch zum Schlafen. Unsere Hauptzeit verbrachten wir unter freiem Himmel und berauschten uns an der Landschaft, die, obwohl sie uns schon vertraut geworden, ihren eigenartig ergreifenden Reiz nicht für uns verloren hat. Alles ist so seltsam harmonisch auf einen gleichmäßig ruhigen Ton gestimmt: grüne und rosige Berge unter blauem Himmel und diese frische, kühle, mit dem balsamischen Duft der Pflanzen durchtränkte Luft! In unsere Seelen zog ein tiefer Frieden ein ... Warme Herzlichkeit herrschte in unserm kleinen Kreise. Alle Kränkungen, Leidenschaften, Bitterkeiten und Mißverständnisse lagen weit hinter uns, wie jene furchtbaren Wüsten, die wir durcheilen mußten und die uns noch in der Erinnerung mit Schaudern erfüllten.
Die Zeit floß unmerklich dahin, während wir uns ganze Stunden lang von der Erde unterhielten, deren Segment sich nur noch manchmal zur Zeit des Vollseins in Gestalt einer grauweißen Wolke über dem Horizont zeigte; dann von den teuren Kameraden, die in den stillen Gräbern der Wüsten schliefen, dann wiederum von der unbekannten Zukunft, die unserer wartete. Wir sprachen von dem Kinde, das zur Welt kommen sollte, von Ländern, die wir sehen würden, von allem, mit Ausnahme einer einzigen Sache ... Wir berührten niemals wieder die Frage, wem von uns nun in Zukunft Martha gehören solle. Es klingt seltsam, aber ich glaube wirklich, daß wir in jener Zeit nicht einmal daran dachten. Wenigstens dachte ich nicht daran. Heute, nach Jahren, kann ich es mir eingestehen ... ich liebte diese Frau, ich liebte sie mehr, als ich es heute auszudrücken fähig bin, aber diese Liebe war seltsam ...
Wenn ich sie ansah, ihr liebliches, so schmal gewordenes Gesicht, das immer ein träumerisches Lächeln umspielte, ihre zarten weißen Hände, die stets mit irgendeiner Arbeit beschäftigt waren, schien sie mir jener Martha, die ich einst kannte, so unähnlich zu sein, und ich fühlte eine ganze Welt von Zärtlichkeit für dieses so sanfte, gute und bedauernswerte Wesen. Wie gern hätte ich oftmals mit der Hand ihr Haar berührt und ihr gesagt, daß ich bereit sei, alles für sie zu tun und zu opfern, auf alle eigenen Wünsche zu verzichten, damit nur sie ein wenig glücklich wäre — aus Dankbarkeit, daß ich sie sehen darf.
Auf der Erde würde man über eine solche Liebe lachen; wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich nur unsagbar traurig, denn ich weiß, daß ich nichts für sie zu tun vermochte, obwohl ich das größte Opfer gebracht habe, das ein Mensch zu bringen imstande ist.
Und sicherlich, wenn ich lebe, so habe ich es nur ihr zu verdanken. Als mich damals das Fieber befiel, hat mir nur ihre Pflege die Gesundheit wiedergegeben, und auch heute hält mich allein der Gedanke an sie aufrecht. Dieser Gedanke ist schmerzvoll, aber dort auf dem Pol ahnte ich noch nicht, wie sich alles gestalten würde, und daher sagte ich mit Recht, daß das die glücklichste Zeit meines Lebens auf dem Monde war. Ich hatte Martha stets um mich. Während meiner Krankheit wachte sie über mir; als ich wieder gesund war, machten wir zusammen Ausflüge in das Tal und suchten Schnecken zu Mittag oder sammelten duftende Kräuter, mit denen sie dann das Innere des Zeltes schmückte.
Als ich wieder zu Kräften gekommen war, erkletterte ich mit Peter die Berge, um die Sonne zu sehen und den mächtigen blassen Reifen der Erde am Horizont, und mit neugierigem Auge auf unbekannte und geheimnisvolle Länder zu schauen, die noch kein menschlicher Blick erreichte, und zu denen wir vordringen wollten. Martha blieb dann im Zelte zurück; sie durfte sich um diese Zeit derartige Anstrengungen nicht mehr zumuten.
Bei einem solchen Ausfluge zeigte mir Peter vom Berge aus den Weg, auf dem wir in dieses Tal gekommen waren, und erzählte mir von all den Schwierigkeiten, mit denen er in diesem bergigen Lande zu kämpfen hatte, in eine undurchdringliche Nacht gehüllt, mit mir, dem schwer Kranken, und mit Martha, die noch von dem Schmerze über den Verlust des Geliebten halb von Sinnen war.
— Ich mußte alles allein machen, sagte er, und es gab Stunden, wo mich die Verzweiflung packte. Einige Male verlor ich den Weg in den Felsen oder mußte zurückfahren, weil ich in eine Klamm ohne Ausgang geraten war. Oft dachte ich, daß wir nicht lebend ans Ziel kämen. In solchen Momenten erfüllte mich der Anblick des Barometers, der sich stetig hob, mit neuer Zuversicht. Aber einer sicheren Hoffnung gab ich erst Raum, nachdem wir die Ebene hinter dem Gioja erreicht hatten. Die Astronomen der Erde ahnten, als sie jenen Berg mit diesem Namen belegten, gewiß nicht, daß er für uns eine wörtliche Bedeutung haben würde, daß uns nach den unermeßlichen Mühen und Qualen hier tatsächlich endlich die Freude lächeln sollte ...
Die Nacht hatte sich hier schon erhellt. Wir waren dem Pol so nahe, daß das in der ziemlich dichten Atmosphäre zerstreute Licht der Sonne, die nicht tief unter dem Horizont verborgen lag, eine Art grauer Dämmerung hervorbrachte, bei der man die Gegenstände unterscheiden konnte. Dort wagte ich es auch zum erstenmal, den Wagen ohne Luftbehälter zu verlassen. Im selben Augenblick befiel mich ein Schwindel; die Atmosphäre war noch dünn, und ich mußte kräftig mit der Brust arbeiten, um atmen zu können; aber ich werde niemals das Gefühl vergessen, als ich zum ersten Male Mondluft schöpfte.
Er erzählte mir dann weiter, welche ungeheuren Mühen er beim Durchdringen der letzten Gebirgskette bestehen mußte, die die Ebene unter dem Gioja vom Polarlande trennte. Auf die Hilfe Marthas konnte er nicht rechnen, vor allem weil ich, zwischen Leben und Tod schwebend, unaufhörlich ihrer Pflege bedurfte; er mußte daher bei dem schwachen Lichte den Wagen allein auf dem steilen Abhang führen, der mit verwitterten Steinen übersät war.
Ungefähr achtzig Stunden nach Mitternacht war er auf der Einsattelung angelangt. Von dort aus sah er das Polarland schon vor sich liegen.
— Es schien mir, sagte er, daß ich die „versprochene Erde“ sehe; vor meinen Blicken, die nur noch an wilde Felsen und Wüsten gewöhnt waren, breitete sich diese mächtige grüne Ebene aus ... Die Freude hielt mir fast den Atem in der Brust zurück, und Tränen stürzten mir aus den Augen. Durch Freudentränen schaute ich auf die dämmerigen Wiesen und auf die rote Sonne, die von meiner Höhe aus über ihnen sichtbar war, obwohl noch sehr viel an der Zeit fehlte, bis sie auf diesem Meridian aufgehen mußte.
Als er das sagte, wandten wir uns unwillkürlich der Sonne zu. Sie stand am Horizont in der Himmelsrichtung, die für uns bis jetzt Norden war und von nun ab Süden werden sollte. Auf der der Erde abgekehrten Halbkugel des Mondes war es Tag.
Da packte mich zum erstenmal der unbezwingliche Wunsch, diese geheimnisvollen Länder, über denen gerade die Sonne stand, kennen zu lernen. Nach unserer Rückkehr von dem Berge dachte ich nur noch daran und begann im Zelte sogleich die Pläne der weiteren Fahrt zurechtzulegen.
Peter war ebenfalls der Meinung, daß man nach Süden, zur Mitte der unbekannten Halbkugel vordringen müsse.
— Hier haben wir es gut, sagte er, und wir könnten hier schließlich das ganze Leben verbringen, aber leben könnten wir noch ruhiger auf der Erde. Wir sind auf den Mond gekommen, um seine Geheimnisse zu erforschen!
So wurde also die neue Expedition im Prinzip beschlossen. Im Augenblick hielt uns nur die Rücksicht auf Martha zurück. Auf den Zeitpunkt wartend, da es möglich sein würde, die Reise fortzusetzen, trafen wir unsere Vorbereitungen und sammelten Vorräte.
Vor allem haben wir den Wagen genau geprüft und Veränderungen vorgenommen. Es hätte keinen Zweck gehabt, eine so schwere Maschine mit uns zu führen. Wir wollten zunächst seine obere Hälfte abnehmen, wodurch er einem tiefen Boote auf Rädern ähnlich geworden wäre. Aber der Gedanke, daß wir in Gegenden mit kalten Nächten geraten könnten, wo uns der dicht geschlossene und geheizte Wagen unentbehrlich sein würde, hielt uns davon zurück. Wir entfernten infolgedessen nur den ganzen hinteren Teil, der sich abschrauben ließ und bis dahin unsere Magazine enthielt. Zum Verschließen der so entstandenen Öffnung hatten wir eine Aluminiumplatte, die vorher den Verschluß der Magazine von innen her bildete. Außerdem beseitigten wir alle Metallteile, die zur Verstärkung der Wände dienten und jetzt unnötig waren. Den einst den unglücklichen Brüdern Remogner genommenen Motor haben wir, soweit es ging, ausgebessert und im Wagen aufgestellt, falls der unsrige beschädigt werden sollte.
Alle diese Vorbereitungen wie die Fertigstellung der Nahrungs- und Wasservorräte, die wir mühsam aus dem Moos auspressen mußten, nahmen mehr als drei Monate in Anspruch. Schließlich war alles zur Weiterreise bereit.
Das fünftemal schon stand die Erde seit unsrer Ankunft auf der Polarebene voll am Firmament, als ich, von einem weiteren Ausflug zurückkehrend, im Zelte das Schreien eines Kindes vernahm. Kein Laut ist mir im Leben so zu Herzen gegangen wie dieses schwache Stimmchen! Gehörte es doch jenem winzigen kleinen Wesen, das unsern Kreis zu vergrößern und unsere Einsamkeit freudiger zu gestalten kam. Als ich es hörte, warf ich die Bündel mit dem gesammelten Eßmoos hin und stürzte in das Zelt. Da lag Martha blaß und erschöpft, aber vor Freude strahlend. Sie schien sogar meine Ankunft nicht bemerkt zu haben. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Geschöpf, das in weiße Tücher gewickelt war und aus Leibeskräften schrie. Sie drückte es mit wahrer Leidenschaft an sich und flüsterte fortwährend: Mein Tom, mein Tom, mein schöner, lieber Sohn! Dabei lächelte sie glückselig durch ihre Tränen. Neben ihr am Lager schwänzelten beide Hunde und streckten die neugierigen Schnauzen aus, um den ihnen unbekannten kleinen Schreier zu beschnuppern.
Ich sah mich nach Peter um und war erstaunt über seine finstere Miene. Er saß in einer Ecke des Zeltes in tiefes Nachdenken versunken, ohne auf Martha zu achten, aber ich dachte im Augenblick nicht weiter darüber nach. Ich lief zu ihr und wollte ihr sagen, wie ich mich über ihr Kind freue, wie ich sie segne für dieses Geschenk des Lebens, aber ich konnte kein Wort hervorbringen.
Ich ergriff nur ihre zarte, magere Hand und stammelte etwas Unverständliches. Sie blickte mich an, als wenn sie mich jetzt erst bemerkt hätte. Ich empfand ein Stechen im Herzen, denn ihr Blick sagte mir, daß ich ihr so gleichgültig bin, wie nur ein Mensch dem andern sein kann. Eine große Traurigkeit erfaßte mich und sie bemerkte dies scheinbar, denn sie lächelte mir zu, als wenn sie die mir unabsichtlich zugefügte Kränkung wieder gut machen wollte, und sagte, auf das Kind zeigend:
— Sieh, Tomas ist zurückgekehrt, mein Tomas ...
Da verstand ich, daß keiner von uns jemals einen Platz im Herzen dieser Frau einnehmen konnte, denn es wird immer nur diesem Kinde gehören, in dem sie nicht nur ihr eigenes Fleisch und Blut, sondern die Seele des Verstorbenen liebt.
Schweigend machte ich mich an die Zubereitung der Nahrung für Martha. Peter ging mit mir aus dem Zelte.
— Was denkst du von alledem? fragte er mich, als wir draußen waren.
Ich wußte zunächst nicht, was ich antworten sollte.
— Nun ja, Woodbells Sohn ist zur Welt gekommen ... murmelte ich nach einer Weile.
— Ja, ja, Woodbells Sohn, wiederholte Peter und verstummte.
Ich wollte nicht weiter fragen, ich wußte, woran er dachte. Wie aus Furcht das zu berühren, was alle unsere Gedanken beschäftigte, sprachen wir von jetzt ab fast ausschließlich von der bevorstehenden Reise. Martha kam schnell zu Kräften, die Gesundheit des kleinen Tom weckte keine Besorgnisse, so beschlossen wir also, vor dem nächsten ersten Viertel der Erde die Fahrt anzutreten. Das war die beste Zeit, da auf dem mittleren Meridian, der entgegengesetzten Halbkugel des Mondes, dem entlang wir uns dem Äquator zu bewegen wollten, gerade mit dem ersten Viertel der Tag beginnt. Wir würden demnach zwei Erdenwochen hindurch Licht vor uns haben und könnten, falls wir keine günstigen Bedingungen vorfinden sollten, vor Einbruch der Nacht zum Polarland zurückkehren.
Indessen verblaßte zwei Wochen nach Toms Geburt die Erde, und währenddem hatten wir Sonnenfinsternis, die zweite, die wir auf dem Monde sehen sollten.
Der ersten, dort auf der Wüste, während wir, von der Angst vor dem uns drohenden Erstickungstode gefoltert, dahinjagten, hatten wir gar keine Aufmerksamkeit zugewendet. Jetzt wollten wir die Gelegenheit besser wahrnehmen. Wir packten daher die astronomischen Instrumente in einen kleinen, von den Hunden gezogenen Wagen und erstiegen einen Hügel, der dem Pol am nächsten gelegen war, von wo man die Erde und die Sonne sehen konnte.
Das Schauspiel war erhaben, aber die Forschungsversuche blieben resultatlos. Der niedrige Stand der Erde über dem Horizont, bei einer mit Wasserdampf gesättigten Atmosphäre, ließ keine genauen Messungen zu und störte die Beobachtungen derartig, daß wir einige Minuten nach Untergang der Sonne hinter die Erdscheibe die astronomischen Instrumente hinwarfen, um mit bloßem Auge das Zauberspiel des Lichtes am Horizont zu bewundern. Die Erde leuchtete auf dem blutiggoldenen Hintergrunde der Morgenröte in Gestalt eines mächtigen schwarzen Halbkreises, von dem dunkel erglühenden, mit Sternen übersäten Himmel umgeben. Ein Anblick, als wenn am nächtlichen Firmament eine riesige Feuersbrunst flammte oder jenes flackernde Polarlicht, das auf der Erde in der Nähe der Pole glüht, plötzlich hierherversetzt, erstarrt und, sich vor unsern Blicken ins Ungeheure dehnend, erloschen wäre.
Gerade jetzt steht mir die Erinnerung daran so lebhaft vor Augen. Es schien mir damals, als wenn sich mir der verkohlte Leichnam der Erde im Feuer zeigte, es war darin etwas Furchtbares und seltsam Erschütterndes. Heute noch, wenn ich an die Erde denke, erscheint sie mir oft in dieser entsetzlichen schwarzen Gestalt, wie ich sie damals gesehen habe, und dann muß ich meine ganze Vorstellungskraft anstrengen, um sie mir als eine silberne, leuchtende Scheibe zu denken.
Ich konnte diesen über allen Ausdruck erhabenen, aber schmerzlichen Anblick nicht lange ertragen und wandte den Blick zu den Sternen, die ich seit einigen Monaten nicht gesehen hatte. Sie leuchteten alle über mir, scharf glitzernd, wie manchmal bei uns auf der Erde in klaren Winternächten. Ich blickte mit heißem Verlangen auf sie, wie auf gute alte Bekannte; ich suchte mir seit den Kinderjahren bekannte Konstellationen auf und frug sie in Gedanken, was es dort auf meinem heimatlichen Globus, der jetzt wie Schlacken auf einer flammenden Feuersbrunst vor mir lag, wohl Neues zu hören gäbe.
Plötzlich bemerkte ich, daß die Sterne verblaßten; ich rieb mir die Augen, weil ich glaubte, die Tränen, die diese Erinnerung mir entlockte, verschleierten mir den Blick. Aber nein, es war keine Täuschung: die Sterne wurden immer schwächer und schwächer. Auch Peter bemerkte es, und wir beunruhigten uns, da wir für diese Erscheinung keine Erklärung fanden. Die Sterne verschwanden gänzlich, ja sogar die Morgenröte wurde in der Richtung, in der die Sonne hinter der Erde unterging, immer undeutlicher und wie verwischt. Einige Minuten später hüllte uns eine sternenlose Nacht ein; nur in südlicher Richtung war noch ein leichter roter Schein am Himmel zu erkennen. Da plötzlich fühlten wir einen starken Windstoß, etwas in dieser Gegend für uns vollständig Neues. Vor Schreck und Staunen wagten wir nicht, uns von der Stelle zu rühren.
Endlich wich die Finsternis, und die Sonne schaute hinter der Erdkugel hervor. Wir schlossen wenigstens nach dem wiederkehrenden Tage darauf, denn wir konnten trotz der Helligkeit weder die Sonne noch die Gegend erkennen. Alles versank in einem dichten milchweißen Nebelschleier ...
Jetzt erst verstanden wir diesen Vorgang. In dem Polarlande fällt weder Regen noch bilden sich Wolken, weil die Luft immer gleichmäßig erwärmt ist; es fehlt also die Anregung für das Ausscheiden des Wasserdampfes.
Dies gilt sozusagen unter gewöhnlichen Bedingungen, aber heute fiel während der Finsternis plötzlich die Temperatur, wodurch sich der Wind erhob und der Wasserdampf sich in kälterer Luft zu Nebel verdichtete.
Diese natürliche Erklärung der erstaunlichen Erscheinung beruhigte uns zwar, jedoch wurde unsere Lage dadurch nicht besser. Eine empfindliche Kälte schüttelte uns, und in dieser Dämmerung war es unmöglich, den Weg ins Tal zu entdecken, wo das Zelt stand. Dazu quälte mich der Gedanke an Martha. Aber es blieb nichts übrig, wir mußten uns setzen und besseres Licht abwarten ....
Bald begann sich denn auch der Nebel zu heben. In nicht ganz einer halben Stunde öffnete sich der Blick auf das Tal; nur noch die Gipfel höherer Berge waren in Wolken getaucht, die mit jedem Augenblick dichter wurden. Es war ohne Zweifel Regen in Aussicht und wir begannen in größter Eile den Abstieg vom Hügel. Ehe wir jedoch den Weg nur zur Hälfte zurückgelegt hatten, blitzte es über uns auf und fast gleichzeitig sauste mit dem dumpfen Echo eines Donners eine wahre Sündflut auf uns nieder. In einigen Sekunden waren wir vollständig durchnäßt. Durch den niederströmenden dichten Regen konnte man absolut nichts sehen; die Blitze und Donner setzten nicht einen Augenblick aus.
So ging es ungefähr zwei Stunden lang, während deren wir uns, durchkältet und durchnäßt, mit den Hunden unter den Vorsprung eines Felsens, der uns übrigens nur einen sehr schwachen Schutz gewährte, flüchteten. Als der Regen aufhörte, wollten wir sofort den Rückweg antreten, aber kaum hatten wir das schützende Felsdach verlassen, als sich uns ein Anblick darbot, der uns das Blut in den Adern gerinnen ließ. An Stelle der grünen Mulde lag ein breiter See zu unseren Füßen.
Mein erster Gedanke war: Was ist aus Martha und dem Kinde geworden? Die Stelle, wo das Zelt stand, muß überschwemmt sein. Ich stürzte zum See, ohne auf Peter zu achten, der mich zurückhalten wollte. Als ich das Wasser erreicht hatte, versuchte ich, hindurchzuwaten; zunächst war es nicht tief, aber bald ging es mir bis an die Hüften. Einen Augenblick zögerte ich, ob ich weiterwaten oder umkehren sollte, indessen war Peter hinter mir ins Wasser gesprungen, packte mich mit aller Kraft und zwang mich, an das Ufer zurückzukehren.
Meine Situation war fürchterlich. Eine wahnsinnige Angst um Martha trieb mir den Schweiß auf die Stirne, und doch mußte ich Peter recht geben, daß ich mein Leben riskierte, ohne ihr damit zu helfen.
— Wenn Martha die Überschwemmung rechtzeitig bemerkt hat, sagte er, und sich auf dem Hügel in Sicherheit brachte, ist unsere Hilfe augenblicklich nicht nötig; es ist Zeit genug, sie zu suchen, wenn das Wasser gefallen ist. Hat sie indessen die Flucht nicht mehr ergreifen können, so kommen wir, ob jetzt oder in einigen Stunden, auf alle Fälle zu spät.
Er sagte das ganz ruhig, sogar mit einer gewissen Grausamkeit, die mich schaudern machte. Ich sah ihm in die Augen, und ich glaubte den furchtbaren Gedanken darin zu lesen: „Lieber soll sie zugrunde gehen, als jemals dein sein!“ ...
— Ich werde ihr zu Hilfe eilen, trotz alledem! rief ich.
— Geh, antwortete er und setzte sich gleichgültig ans Ufer.
Ich wollte wirklich gehen, aber das war leichter gesagt als getan. Und übrigens — wohin sollte ich gehen? Auf die Mitte dieses Sees? Sie unter dem Wasser suchen?
Ich setzte mich neben Peter, wütend und verzweifelt, und starrte ratlos ins Wasser. Auf seiner Oberfläche schwammen hier und da abgerissene Moosstengel, im übrigen war es ruhig und glatt, von keinem Windstoß getrübt. Ich dachte eben darüber nach, wie in so kurzer Zeit so unendlich viel Wasser aus der Atmosphäre herabfließen konnte und wie lange Stunden vergehen würden, ehe dieses Meer austrocknet und wir die Leichen Marthas und des Kindes finden (ich zweifelte gar nicht mehr daran, daß sie umgekommen waren), als ich plötzlich bemerkte, daß die Moosstengelchen alle ziemlich schnell in einer Richtung flossen, also anscheinend vom Strom getragen wurden, ein Zeichen, daß das Wasser irgendwo einen Ausgang aus der Mulde gefunden hatte. Diese Beobachtung beruhigte mich unendlich, da sie mich hoffen ließ, daß wir auf das Fallen des Wassers nicht allzu lange würden warten müssen. Um mich von der Richtigkeit dieser Annahme zu überzeugen, ging ich das Ufer entlang, den anscheinenden Lauf der Strömung verfolgend.
Nachdem ich einige Kilometer gegangen war, kam ich an eine Art Bach, den ich durchwatete. Ich war von dem Vorhandensein eines Abflusses hinter diesem Bach überzeugt, da ich auf der Oberfläche erhabenere Stellen sah, die aus der Flut wie flache grüne Inselchen hervortauchten.
Dies alles bot einen schönen, äußerst interessanten Anblick, vor allem, daß sich in der glatten Scheibe des Wassers, inmitten der grünen Inseln, die am Ufer gelegenen kahlen Berge, die bereits wieder von der Sonne rosa beleuchtet waren, spiegelten. Aber ich achtete nicht im geringsten auf diese Landschaft, weil mich nur ein einziger Gedanke beschäftigte: Martha. Ich fühlte wohl damals zum erstenmal, wie unendlich teuer mir diese Frau war, und was ich durch ihren Tod verlieren würde ... Ich konnte diesen Gedanken auch gar nicht fassen und obwohl ich keine Ahnung hatte, auf welche Weise sie sich hätte retten können, fühlte ich im tiefsten Herzen den Rest einer unbegreiflichen Hoffnung, daß sie leben müsse und eilte immer schneller vorwärts, als wenn ihre Rettung davon abhinge, daß ich so bald als möglich den Abfluß dieses Wasser erreichte. Aber ich war zu aufgeregt, um logisch denken zu können. Nur eines fühlte ich klar, daß ohne dieses Weib, das nicht mir gehörte und ohne dieses Kind, das ebenfalls nicht mein war, mein Leben wert- und ziellos vor mir lag. Ich schwor in meinem Innern, sie niemals für mich zu verlangen, wenn ich sie dadurch retten könnte ... Wer weiß, ob das Schicksal nicht manchmal die stillen Gelöbnisse des Menschen hört ...
Zwölf Stunden waren schon vergangen seit ich Peter verlassen hatte, als mich ein brausender Fluß am Weitergehen hinderte. Durch eine breite Klamm, die, von uns bis jetzt unbemerkt, ein Tor der Polarmulde gegen die unbekannte Seite der Mondkugel bildete, ergossen sich diese Wassermassen. Ermattet und hungrig setzte ich mich an das Ufer und wußte nicht, was ich nun beginnen sollte.
Die Zwecklosigkeit meines Suchens und Jagens wurde mir jetzt erst klar. Übermüdet streckte ich mich, fast gedanken- und willenlos, auf dem Moose aus, das noch von dem frischgefallenen Wasser triefte und starrte in den Himmel, der sich wieder so ruhig und blaß über mir wölbte wie vor jener verhängnisvollen Sonnenfinsternis.
Da war es mir, als wenn mich jemand beim Vornamen riefe; ich sprang auf und horchte gespannt. Nach einer Weile vernahm ich die Stimme abermals, doch schon deutlicher. Als ich mich umsah, bemerkte ich auf der anderen Seite der zu einem Fluß verwandelten Klamm Martha, die mir von ferne Zeichen gab, mit dem Kinde auf dem Arm. Ein wahrer Freudentaumel erfaßte mich. Ohne auf die Gefahr zu achten, warf ich mich ins Wasser und stand bald neben ihr. Das Übermaß des Glücks erstickte mir die Stimme, ich konnte nur ihre Hände mit Küssen bedecken, was sie mir, selbst stark erschüttert, nicht wehrte.
— Mein Freund, mein guter, teurer Freund, wiederholte sie öfter mit blassen, aber lächelnden Lippen.
Als wir uns beide etwas beruhigt hatten, erzählte sie mir, wie sie während des Unwetters die herannahende Überschwemmung bemerkte und es ihr, als das Wasser schon das Zelt unterspülte, noch gelang mit dem Kinde und den für uns wertvollsten Gegenständen in den Wagen zu flüchten, der in der Nähe stand. Der dichtverschlossene Wagen war nach Beseitigung vieler Teile, die ihn vorher beschwerten, leicht genug, um sich auf der Oberfläche des Wassers zu halten, das durch den kolossalen Regenguß und die sich in Kaskaden von den Bergen herabwälzenden Bäche immer gewaltiger anwuchs. Beim Donnern und Aufleuchten unaufhörlicher Blitze trieb der Wagen auf den Fluten dahin wie einst die Arche Noah, ihr um so ähnlicher, als auch er das menschliche Geschlecht auf diesem Globus vor dem Untergang bewahrte.
Marthas Lage war geradezu entsetzlich. Da sie keine Möglichkeit hatte, ihr improvisiertes Schiff zu steuern, wurde der Wagen wie eine Schale hin und her geworfen. Zu ihrer eigenen Angst gesellte sich noch die Sorge um uns und unser Schicksal. Nachdem der Regenguß endlich nachließ und das Wasser aufhörte zu schwellen, bemerkte Martha, daß der Wagen in einer bestimmten Richtung schwimme. Sie dachte sich, daß ihn der Strom eines abfließenden Wassers mitriß, was ihre Angst noch vergrößerte. Der Wagen konnte auf diese Weise in eine Spalte geschleudert oder in eine entfernte Gegend fortgetrieben werden, wo es uns vielleicht unmöglich gewesen wäre, ihn wieder zu finden.
Sie atmete erst auf, als nach einigen Stunden die Spitzen der Hügel aus dem fallenden Wasser wieder hervortauchten. Alle ihre Anstrengungen jedoch, das Fahrzeug nach einer dieser Spitzen hinzulenken, waren vergeblich. Sie hörte schon das Sausen des Stromes, der durch diese Klamm abfloß, über der ich sie antraf, und war auf das Schlimmste vorbereitet, als durch einen glücklichen Zufall der Wagen plötzlich von einem hervorspringenden Felsen angehalten wurde. Martha benützte mit Geistesgegenwart diesen Augenblick, ein Seil durch das geöffnete Fenster auf die Felsspitze zu werfen und brachte ihr Schifflein auf diese Weise in Sicherheit. Als ich kam, war die Gefahr schon vorüber und das Wasser so gesunken, daß der Wagen auf einer trockenen Stelle Halt gefunden hatte. Einige Stunden später waren nur noch kleine Tümpel vorhanden, die wie Glasscheiben inmitten der grünen Wiesen aussahen.
Auf Peter mußten wir noch geraume Zeit warten, schließlich führten ihn die Hunde zu uns, die meiner Spur gefolgt waren. Er maß uns mit einem mißtrauischen Blick, und ohne ein Wort zu sprechen, machte er sich an die Untersuchung der geretteten Vorräte und Instrumente. Ein merkwürdiger Mensch! Schon elf Erdenjahre lebe ich hier mit ihm zusammen und es kommen immer wieder Momente, wo ich mir keine Rechenschaft über seinen Charakter geben kann, der eine sonderbare Mischung von Kühnheit, Aufopferung und Entschiedenheit, von Leidenschaft und Egoismus, von Eifersucht und Verschlossenheit ist. Nur das eine weiß ich bestimmt: er ist gänzlich unberechenbar.
Die Katastrophe hat uns bedeutenden Schaden zugefügt. Wir haben bei der Überschwemmung viele notwendige Gegenstände verloren; andere mußten wir mühevoll in der breiten Mulde suchen. Das vom Wasser davongetragene Zelt konnten wir zunächst nicht finden. Es war ein Glück, daß sich in Anbetracht der seit langem getroffenen Vorbereitungen zur Weiterreise der größte Teil unserer Habseligkeiten zur Zeit der Überschwemmung schon im Wagen befand. Und außerdem hat uns dieses Unwetter einen ungeheueren Nutzen gebracht, indem uns nämlich das abfließende Wasser den Weg zeigte, auf dem wir weiter nach Süden fahren sollten.
Unsere diesbezügliche Berechnung war sehr einfach: wenn das Wasser so schnell abfließen konnte, mußte die Klamm zu tiefer gelegenen Stellen führen, wo wir aller Wahrscheinlichkeit nach eine größere Wasseransammlung vorfinden würden, einen See oder das Meer, und infolgedessen auch vom Regen benetzte Strecken, also sicherlich die nötigsten Lebensbedingungen. Längere Zeit vor dem uns gesetzten Termin der Abfahrt waren wir vollständig reisefertig. Der Wagen stand mit allem versehen am Ausgang der Klamm, die sich vor uns wie ein zur neuen Welt geöffnetes Tor auftat; man brauchte nur den Elektromotor mit Hilfe der Akkumulatoren, die von der Zeit her geladen waren, wo wir noch Feuerung besaßen, in Bewegung zu setzen. Wir hatten sogar ein Stück Wegs im voraus erforscht, indem wir zu Fuß in der Klamm vordrangen. Sie bot durchaus keine feste Straße, vor allem, weil die letzten Wassermassen den Boden stellenweise tief aufgerissen hatten, aber immerhin konnte man hier ruhig fahren, ohne sich größeren Schwierigkeiten auszusetzen. Wir warteten also nur eine günstige Zeit ab, um diesen Wasserspuren, die nach Süden wiesen, zu folgen — in ein unbekanntes Land der Wunder, dessen lange Nächte die silberne Scheibe der Erde, die über den Wüsten leuchtet, niemals erhellt.
Vierzig Stunden vor dem ersten Viertel der Erde haben wir die Fahrt angetreten. Auf der unbekannten Halbkugel des Mondes, wohin wir eilten, war noch Nacht, aber bald sollte die Sonne diese Länder erleuchten.
Nicht ohne ein Gefühl der Wehmut, ja sogar der größten Besorgnis haben wir das Polarland verlassen. Wir kannten es schon und wußten, was es uns geben konnte, während alles, was uns nun erwartete, wieder in Geheimnis gehüllt und nur eine Vermutung war. Wir sollten uns wiederum den brennenden langen Tagen und nächtlichen Kälten aussetzen, wir sollten von neuem Schluchten, Berge und vielleicht auch Wüsten durchdringen auf der Fahrt zu dem Lande, von dem wir absolut nicht wußten, ob es uns aufnehmen wird und ernähren kann. Überdies beunruhigte uns der Mangel an Brennmaterial. Was würde geschehen, dachten wir, wenn die Ladung unserer Akkumulatoren zu Ende geht, bevor wir neues Brennmaterial finden und die Maschine nicht mehr in Bewegung setzen könnten. Werden wir dann zu Fuß vor der hereinbrechenden Nacht zum Polarlande zurückzukehren imstande sein, um uns vor der Kälte, die um so bedrohlicher für uns wird, weil wir kein Feuer haben, in Sicherheit zu bringen? Es gab, kurz nachdem wir die Reise angetreten hatten, Augenblicke, wo wir schon infolge dieser Befürchtungen auf die mit Moos bewachsene Polarwiese zurückkehren wollten, um auf ihr das ganze Leben zu verbringen, uns an den schwachen, in der Atmosphäre zerstreuten schrägen Sonnenstrahlen wärmend und uns, wie die Tiere der Erde, von rohen Schnecken und Pflanzen nährend. Aber das Zaudern dauerte nicht lange, Neugierde und Hoffnung waren stärker. Die Nahrungsvorräte konnten für lange Zeit ausreichen; wir nahmen auch etwas ausgepreßten Torf mit, weil wir hofften, daß es uns in sonnigen Gegenden gelingen würde, ihn so weit auszutrocknen, um Feuer machen zu können. Übrigens haben wir für den schlimmsten Fall, nach Verbrauch der halben Ladung der Akkumulatoren, die Rückkehr zum Polarlande beschlossen.
In den ersten zehn Stunden der Fahrt geschah nichts Bemerkenswertes. Die Klamm war zu Ende und wir kamen auf eine Ebene, die der am Pole ähnlich sah, nur bedeutend größer war. Hier mußte ebenfalls kürzlich eine Überschwemmung gewesen sein; in den Strahlen der eben aufgehenden Sonne waren hier und da noch große, flache Tümpel zu sehen. Sehr verwunderte uns die bereits gänzlich veränderte Flora, obwohl wir vom Pol kaum einige zehn Kilometer entfernt waren. Zwischen den uns bekannten Pflanzen, die nur kleiner waren als die auf dem Pol und mit rostiger Farbe überzogen, schossen trockene Stengel, vereinzelt wachsend und spiralförmig gewunden wie bei uns die jungen Wedel der Farrenkräuter, aus der Erde. Die Kälte machte sich empfindlich bemerkbar, während der Nacht, die diese Gegenden schon haben, obwohl sie eher einer Dämmerung gleicht, da die Sonne kaum einige Fuß unter den Horizont sinkt. Wir erwärmten uns, indem wir die Arme zusammenschlugen, wie es auf der Erde die Arbeiter tun, als Martha auf die Idee kam, jene Stengel abzupflücken und zu versuchen, ob man Feuer damit machen könne.
Wir gingen sofort an die Arbeit; wie groß war aber mein Staunen, als der erste Stengel bei der Berührung mit der Hand sich zu strecken, dann wiederum zu krümmen begann, ganz wie ein lebendes Wesen. Ich ließ ihn unwillkürlich mit einem Schrei fallen. Nachdem ich mich von dem Schreck erholt hatte, begann ich diese sonderbaren Pflanzen zu untersuchen. Ich schnitt eine davon mit dem Messer ab und überzeugte mich, daß es große, längliche und fleischige Blätter waren, doppelt zusammengerollt nach vorn zugespitzt, wie eine Trompete, und dann schneckenförmig gewunden, ähnlich den Rollen englischen Tabaks. Auf der äußeren, hellgrünen Seite sah man zahlreiche rosige Äderchen. Die ganze Pflanze war, solange sie lebte, mit der Fähigkeit der Bewegung ausgestattet, ungefähr wie unsere Mimosen. Am meisten aber wunderte mich der Umstand, daß diese zusammengerollten Blätter bedeutend wärmer waren als die Umgebung; scheinbar erzeugte ihr Organismus durch irgendwelche chemobiologischen Prozesse sich selbst die Wärme, die ihm während der langen Nächte fehlte. Alles das war sehr interessant, aber die Hoffnung auf die Ausnützung dieser Pflanzen zum Feuern wieder zunichte. Wir wandten daher unsere Augen mit Sehnsucht der roten Sonne zu, wartend, ob ihre geizigen Strahlen bald die Gegend erwärmen würden.
Zu der Kälte gesellte sich noch eine andere Sorge; wir wußten nicht, welchen Weg wir einzuschlagen hatten. Wir sollten in der Richtung fahren, in der die Wasser abgeflossen waren, aber es war schwer, dies auf der Ebene, die während der Überschwemmung ganz überflutet war, zu erkennen. Als wir noch darüber nachdachten, bemerkte Peter in der Entfernung von einigen hundert Metern einen großen weißen Gegenstand. Wir fuhren neugierig darauf zu und fanden unser Zelt, das, von den Wassern davongetragen, sich erst hier auf einem kleinen Hügel festgesetzt hatte. Wir freuten uns über dieses Wiederfinden doppelt, erstens weil uns das Zelt, das einzige, das wir besaßen, tatsächlich unentbehrlich war, und zweitens wurden wir auf diese Weise über die Richtung des abgeflossenen Wassers orientiert. Das Zelt kam durch die Klamm, die wir eben zurückgelegt hatten, auf diese Ebene und wies uns daher die Linie, die von dem Ausgang der Klamm zu der Stelle, an der wir uns befanden, gezogen war, d. h. die ungefähre Richtung des abfließenden Wassers. Diese Linie lief durch die Flachebene nach Süden, mit einer kleinen Biegung nach Westen.
Als wir uns in dieser Richtung weiter fortbewegten, trafen wir auf eine kleine gewundene Gebirgsklamm und nachdem wir noch eine flache Mulde passiert hatten, gelangten wir in ein breites grünes Tal, das sich direkt nach Süden erstreckte.
Zu seinen beiden Seiten erhoben sich hohe Bergketten mit zahlreichen, in ihrem Massiv steckenden Kratern, denen ähnlich, die die luftlose Halbkugel des Mondes anfüllen. Die Gipfel der Berge waren mit Schnee bedeckt; der Schnee, der scheinbar in der Nacht gefallen war, lag auch noch stellenweise im Tal und taute erst durch die Strahlen der nicht hoch am Horizont stehenden Sonne auf. Die von den Bergen herabtriefenden Wasser bildeten einen ansehnlichen Bach, der in zahlreichen Biegungen schnell dahinfloß.
Wir beschlossen, uns eine Zeitlang in diesem Tale aufzuhalten, nachdem wir uns überzeugt hatten, daß der weitere Weg nach Süden uns bei so früher Tageszeit einer empfindlichen Kälte in den Gegenden aussetzen würde, wo der Unterschied zwischen der durchschnittlichen Wärme des Tages und der Nacht immer intensiver wird.
Als wir wieder aufbrachen, hatte die Sonne fast schon den dritten Teil ihres täglichen Weges zurückgelegt. Es war warm und hell. Der Schnee im Tal war gänzlich verschwunden, und jene zusammengerollten Stengel, die wir hier zwischen den kleinen Pflänzchen vorwiegend fanden, begannen sich unter dem Einfluß der Sonnenwärme schnell zu mächtigen, in verschiedenen grünen Schattierungen gemalten Blättern zu entfalten. Ihre Form war überaus mannigfaltig; die einen sahen großen Fächern ähnlich, die mit zarten, flatternden Fransen behängt waren, andere wieder, mit allerhand Farben betupft — unter denen Rot und Dunkelblau am meisten hervortraten — erinnerten an die Pracht der Pfauenfedern. Es gab auch solche, deren Ränder in Formen eines Akantusblattes ausgeschnitten und mit Dornen übersät waren und wieder andere, die, unten zusammengerollt, einen Trichter bildeten, auch glatte, schimmernde oder mit langem goldgrünen Haar, das zu beiden Seiten bis zur Erde herabfiel, bedeckte, — mit einem Wort, die größte Verschiedenheit der Farben und Formen, und alles lebend, beweglich, sich bei der leisesten Berührung krümmend.
Am Ufer des Baches wanden sich, halb in seine Kristallflut getaucht, langgezogene Wasserpflanzen wie rostgrüne Schlangen oder Fäden, mit Blumen von starkem berauschenden Duft behängt. An anderen Stellen, wo das Wasser sich ausbreitete und die Strömung aufhörte, entwickelten sich zarte Wasserlinsen, die in Kugelform den nächtlichen Frost überstanden, das Wasser mit einem leichten, zitternden Netz bedeckend, den feinsten Spitzengeweben aus violetter und grüner Seide vergleichbar.
Wir waren ganz hingerissen von der Pracht dieser Pflanzenwelt; bei jedem Schritt bemerkten wir Neues und Staunenerregendes. Aus dem Dickicht krochen, von der Sonne hervorgelockt, wunderbare Geschöpfe, langen Eidechsen mit einem Auge und vielen Füßen ähnlich. Sie schauten neugierig nach uns aus und verschwanden schnell beim Herannahen des Wagens. Auf eines dieser Tiere stürzten sich die Hunde und fingen es. Wir nahmen ihnen diese Beute ab, aber das Tier war schon tot. Wir konnten also nur den ungemein interessanten Bau am leblosen Körper bewundern, der von den Organismen auf der Erde grundverschieden war. Das Knochengerüst erstreckte sich bis zu dem länglichen Ring, der sich aus beweglichen Reifen zusammensetzte, die zu beiden Seiten direkt unter der Haut lagen. Den ganzen Schädel bildeten nur zwei starke Kiefer. Das Hirn lag unter dem Kamm, innerhalb des Ringes. Das was wir für die Füße hielten, waren nur zwei Reihen elastischer Borsten, vermittelst derer sich das Tier auf dem Boden mit ungeheurer Schnelligkeit bewegte.
Bedeutend später fanden wir auf dem Monde noch viele andere merkwürdige Geschöpfe, aber keins hat uns so interessiert wie dieses erste, das überaus typisch für die hiesige Fauna ist.
Überhaupt war unsere ganze Reise durch jenes Tal wie ein Märchentraum, voll von unerwarteten und phantastischen Bildern. Die Stunden flossen schnell dahin und immer von neuem änderte sich der Blick. Stellenweise verengerte sich das Tal, felsige Pässe bildend, durch die wir mit Mühe dicht am Ufer des Baches, der schon zu einem breiten schäumenden Strom angewachsen war, hindurchdrangen; dann fuhren wir wieder auf die weite, kreisförmige Ebene, wo das Wasser sich zu einem großen See ausbreitete mit bewachsenen oder sandigen Ufern. Wir fanden immer mehr Tiere vor. In den Tiefen des Wassers schwammen sonderbare kleine Ungeheuer; in der Luft schwirrten fliegende Eidechsen, die von fern wie Vögel mit dicken Hälsen und langen Schwänzen aussahen. Aber das seltsamste ist, daß alle Tiere auf dem Monde stumm sind. Es fehlen hier diese unzähligen Stimmen des Lebens, die auf den Wiesen und in den Wäldern der Erde tönen; nur wenn der Wind weht säuseln die Blätter der Pflanzen, zugleich mit dem Rauschen des Stromes die ewige Lautlosigkeit unterbrechend.
Die üppige Vegetation erschwerte uns das Vordringen bedeutend. Jeden Augenblick mußten wir stehen bleiben und die um die Achsen geschlungenen Farrenkräuter abwickeln, die die Bewegung der Räder hemmten; manchmal wieder fuhren wir durch so starkes Dickicht, daß der Wagen fast darin stecken blieb. Über diese Verzögerungen waren wir nicht gerade erfreut, besonders da die Fahrt auch so schon sehr langsam vonstatten ging, weil wir öfter anhalten mußten, um zu schlafen oder uns zu stärken, auch die Gegend zu erforschen oder Nahrung und Brennmaterial zu suchen. Nahrung fanden wir genügend vor. Unschätzbare Dienste erwiesen uns hierbei die Hunde. Immer herumsuchend und -schnüffelnd, fanden sie eßbare fleischige Pflanzen oder schmackhafte Molusken. Schlimmer stand es jedoch mit dem Brennmaterial. Der aus dem Polarlande mitgenommene Torf war zwar ausgetrocknet und brannte ganz gut, aber wir mußten sparsam damit umgehen, denn der Vorrat war nicht groß, und in der ganzen Gegend war nichts zu finden, womit wir hätten Feuer machen können. Bäume, wie sie auf der Erde sind, gibt es hier überhaupt nicht und jene breiten Blätter sind so saftig, daß sie im Feuer kochen, statt zu brennen, und den Torf, der fast die ganze Strecke des Polarlandes bedeckte, hatten wir weit hinter uns gelassen.
Indessen näherte sich der Mondmittag und wir mußten uns schließlich entscheiden, ob wir weiterfahren oder infolge Feuermangels vor der Nacht zu dem Polarlande zurückkehren sollten. Zunächst hatten wir die Absicht, das letztere zu tun; vor allem drängte Martha, die den starken Frost mit Rücksicht auf Tom fürchtete, zur Rückkehr. Ich war ebenfalls dafür, aber Peter redete entschieden dagegen.
— Jetzt umkehren, sagte er, hieße uns zu einem ewigen Aufenthalt in dem Polarlande verurteilen. Überlegt, daß wir gegenwärtig die Akkumulatoren noch geladen haben und diese Füllung für den Rückweg ausreichen wird; aber was weiter? Wenn wir wieder einmal in andere Gegenden des Mondes aufbrechen wollten, könnten wir die verbrauchten Akkumulatoren nicht laden, wenn wir keine Möglichkeit zum Feuermachen hätten.
— Aber die Fahrt nach Süden führt ebenfalls zu nichts, bemerkte ich, denn wir setzen uns damit der nächtlichen Kälte aus, die wir ohne Feuer nicht überstehen würden ...
— Vor der Nacht können wir noch Brennmaterial finden ...
— Wir können es aber auch ebensogut nicht finden.
— Ja, aber das ist nur eine Vermutung, während wir mit vollster Sicherheit wissen, daß wir es am Pol niemals finden werden. Übrigens haben wir noch etwas Torf. Mit diesem Vorrat können wir im äußersten Falle noch die Nacht durchhalten und den ganzen folgenden Tag werden wir dem Suchen widmen.
Wir konnten gegen Peters Ausführungen nichts einwenden und fuhren infolgedessen weiter in der Richtung des Äquators.
Einige Stunden nach Mittag überzog sich der Himmel mit Wolken und es fiel reichlicher Regen, der für uns ein sehr erwünschter Gast war, da er die glühende und schwüle Luft erfrischte. Kaum war der Regenguß herabgefallen und die Sonne aus den Wolken hervorgetreten, als wir ein seltsames Brausen vernahmen.
Wir hielten dies zunächst für das Rauschen eines angeschwollenen Flusses, aber bald überzeugten wir uns von dem eigentlichen Grund dieser Erscheinung. Wir waren gerade an einer Stelle angelangt, wo das Tal, nach Westen abbrechend, ein Knie bildete, so daß man das Ende nicht übersehen konnte. Als wir jedoch an die Biegung kamen, bot sich uns ein über alle Beschreibung prachtvoller Anblick.
Einige hundert Meter vor uns brach das Tal plötzlich ab, in breiten Terrassen zu einer unübersehbaren Ebene herabfallend, die sich bis an die Grenze des Horizontes erstreckte. Der Fluß stürzte in schäumenden Kaskaden über diese Terrassen herab, eine Reihe immer tiefer gelegener Teiche bildend, bis er die Fläche der Ebene erreichte und sie in einem gewundenen silbernen Bande durchfloß, das sich endlich in unermeßlicher Ferne verlor. Soweit das Auge reichte, war das Land eben und flach, nur in der Nähe der angrenzenden Berge erhoben sich einzeln zerstreute Ringhügel, die mit Wasser angefüllt waren, wie dafür geschaffene Behälter. Derartige kleine und runde Gewässer waren überall auf der ganzen Ebene verstreut. Die näher gelegenen sahen wie große Pfauenaugen aus, die weiter entfernten glichen Perlen, die auf bläulichgrünem Plüsch aufgenäht sind. Dazwischen wieder wanden sich silberne Bäche und größere Flüsse.
Wir verließen den Wagen und blickten, auf dem Rande der Terrasse stehend, lange in tiefem Schweigen auf dieses eigenartige Land!
Endlich sagte Martha:
— Fahren wir dort hinunter, dort ist es so schön! ...
In der Tat war es schön, aber wird es dort auch gut sein? Wir stellten uns unwillkürlich diese Frage, während wir uns zum Hinabfahren über die steilen Terrassenabhänge vorbereiteten.
Als wir nach vielen Mühen unten anlangten, ließen wir den Wagen am Ufer des Flusses stehen und machten uns sofort auf die Suche nach Brennmaterial. Wir durchquerten die ganze Ebene der Breite und Länge nach, gruben tiefe Löcher, in der Hoffnung, Torf anzutreffen oder irgendeine Steinkohlenader, pflückten verschiedene Pflanzen, um zu versuchen, ob sie nicht zum Brennen geeignet wären, aber alles vergeblich. In ungefähr zehn Stunden sollte schon die Sonne untergehen, als wir gänzlich erschöpft das fruchtlose Suchen aufgaben.
Unsere Lage war überaus trostlos, und wir begannen schon zu bereuen das Polarland so leichtsinnig verlassen zu haben. Die Angst schüttelte uns bei dem Gedanken, was uns die Nacht bringen würde. Torf hatten wir nicht viel; wir mußten außerordentlich sparsam damit umgehen, damit er für die ganze Nacht ausreichte. Als wir uns den Vorrat ansahen, zeigte es sich, daß auf vierundzwanzig Stunden kaum eine Handvoll fiel, die nicht einmal für einen kleinen transportablen Ofen genügte.
— Aber wir werden ja sterben, wenn wir so sparsam heizen müssen, sagte Martha, als wir ihr die vorbereiteten Rationen zeigten.
Peter zuckte die Achseln:
— Wenn wir mehr verbrennen, werden wir erst recht erfrieren, da wir keinen Torf haben; wir müssen uns gut zudecken.
— Weshalb haben wir das Polarland verlassen? erwiderte Martha. Tom wird die Kälte nicht ertragen, er ist so klein und zart.
— Ach, Tom! zischte Peter ärgerlich durch die Zähne.
Schon öfter hatte ich bemerkt, daß jede Erwähnung des Kindes ihn erregte. Ich empfand das doppelt schmerzlich, erstens weil ich selbst das prächtige Kind unaussprechlich lieb hatte und dann Marthas wegen. Sie hing mit ganzer Leidenschaft an dem Sohne, und oft gewahrte ich, wie sie den Blick, in dem sich ein bitterer Vorwurf mit instinktiver Angst vereinte, auf Peter richtete. Sie ließ das Kind auch niemals bei Peter allein, während sie es mir anvertraute, wenn sie mit etwas beschäftigt war.
— Tom ist nicht die wichtigste Person, brummte Peter weiter, und wenn er auch erfrieren sollte ...
Martha ertrug ähnliche Bemerkungen für gewöhnlich schweigend, aber heute sprang sie plötzlich auf und stürzte mit flammenden Augen auf Peter zu.
— Höre! rief sie mit gedämpfter Stimme, Tom ist die wichtigste Person und wird nicht erfrieren, denn erst werde ich dich töten und mit deinen Knochen diesen Ofen heizen!
Bei diesen Worten schwang sie ein kleines indisches Stilett, dessen Spitze man dort gewöhnlich vergiftet, vor seinen Augen. Wir wußten bis zu dieser Zeit gar nicht, daß sie diese gefährliche Waffe bei sich führte.
Peter wich unwillkürlich zurück. Dann versuchte er zu lächeln, aber in der Stimme und im Blick der Malabarin lag eine so grausam unerbittliche Drohung, daß er erblaßte und sich vergeblich bemühte seine Verwirrung zu verbergen ...
Ich lachte laut auf, wenn auch etwas gezwungen, um die Erregung abzuschwächen.
— Martha sorgt für ihr Söhnchen, kein Wort mehr, rief ich. Komm, Peter, wir wollen nachdenken, wie wir uns vor dem nächtlichen Frost in Sicherheit bringen, ohne die eigenen Knochen zum Heizen zu verwenden!
Mein Plan war ziemlich einfach. Mit gemeinsamen Kräften gruben wir ein tiefes Loch aus, in dem der Wagen bequem Platz hatte und nachdem wir ihn dort hineingelassen bedeckten wir ihn von oben mit Erde und abgeschnittenen Blättern. Auf diese Weise konnten wir hoffen, daß der Wagen nicht allzuviel Wärme verlieren würde und sich dementsprechend leichter erwärmen ließe.
Die Sonne war schon untergegangen, als wir die Arbeit beendet hatten. Wir gingen jedoch noch nicht in den Wagen. Nach dem langen Tage war die Luft warm und angenehm; eine breite, feurige Abendröte erleuchtete die sich langsam in Dämmerung hüllende Ebene, auf der die näher gelegenen Seen schimmerten, wie mit flüssigem Silber gefüllte Pokale oder, wenn man gegen die Morgenröte auf sie schaute, wie mit Blut angefüllt ...
Wir setzten uns zusammen auf den Hügel, aber die Unterhaltung wollte nicht recht in Fluß kommen. Der letzte Vorfall hatte einen zu starken Eindruck hinterlassen; wir verstummten, und die Stille wurde bald nur noch von dem Rauschen der nahen Kaskaden und der damit zusammenfließenden Stimme Marthas, die dem Kinde weiche, gedehnte indische Wiegenlieder sang, unterbrochen. Ich lauschte diesen Tönen, auf die in der Dämmerung verschwimmende Scheibe des Sees blickend, als mich plötzlich ein leiser Schrei Peters aus meinen Gedanken aufschreckte. Ich sah ihn fragend an und er streckte die Hand in der Richtung nach der Ebene aus:
— Sieh, sieh!
Auf der Ebene geschah etwas Seltsames. In dem Maße, wie der Himmel sich verdunkelte, erhellte sich der Boden. Zunächst schien es, als wenn eine Handvoll kleiner, bläulichglänzender Funken am Ufer des Flusses ausgestreut wären. Und dieser Funken wurden immer mehr; sie flammten rechts, links, vor uns, überall auf. Eine halbe Stunde später schimmerte die ganze Ebene, als wenn sie mit einem blauen, sternenbesäten Nebelschleier überzogen wäre. Die Seen sahen darauf wie schwarze Flecke aus.
Martha hörte auf zu singen und schaute mit uns wie gebannt auf dieses bezaubernde Bild.
Nachdem wir uns von unserem Staunen über diese Erscheinung erholt hatten, überzeugte ich mich, daß sie auf einer Phosphoreszierung jener seltsamen Blattpflanzen beruhte, die diese ganze Fläche bedeckten. Die innere Oberfläche dieser Blätter glänzte wie morsches Holz im Dickicht unserer Wälder.
Aber dieser märchenhaft schöne Anblick verschwand so schnell, daß wir keine Zeit hatten, uns daran sattzusehen. Die Flämmchen erloschen, eins nach dem andern; die Blätter schlossen sich und rollten sich unter dem Einflusse der Kälte zu einem zweiwöchentlichen Schlaf zusammen.
Reichlicher Tau begann zu fallen; und es war höchste Zeit, uns in den schützenden Wagen zu flüchten.
Die Nacht war kalt, aber nicht die schlimmste, die wir überstanden, dank unserm Torfvorrat und der getroffenen Vorsichtsmaßregeln. Den Wagen verließen wir keinen Augenblick, um nichts von der Wärme einzubüßen. Was draußen vorging, konnten wir nicht sehen, da er, wie ich schon bemerkte, ganz mit Erde und Blättern zugedeckt war. Durch diese zwei Nachtwochen waren wir somit von der Außenwelt gänzlich abgeschnitten. Erst als unsere Kalenderuhren die Zeit des Sonnenaufgangs anzeigten, wagte ich, hinauszugehen. Um mich vor der Kälte zu bewahren, zog ich den Luftbehälter an, dessen Stärke und entsprechend konstruierte Wände einen vorzüglichen Schutz bildeten. Draußen angelangt, überzeugte ich mich, daß meine Vorsicht durchaus nicht überflüssig war.
Die Ebene konnte ich in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zunächst nicht erkennen. Alles war von einer dichten Schneeschicht, die vom Froste schimmerte, bedeckt. Die Seeoberflächen waren zum Teil unter dem Schnee verschwunden, zum Teil glänzten sie in matten Eisscheiben. Es schien mir, als wenn ich plötzlich in arktische Länder hinübergetragen wäre.
Ich kehrte schnell mit der Nachricht zum Wagen zurück, daß man noch nicht hinausgehen dürfe. Dieser Winter weckte in uns keine freudige Stimmung, da der Torfvorrat an der Neige war. Tatsächlich hatten wir die ganze Nacht hindurch nicht so sehr unter der Kälte gelitten als bei Tagesanfang, ehe es „Frühling“ wurde. Noch drei Erdentage mußten wir auf ihn warten und, soweit es ging, ohne Feuer auskommen. Aber nach siebzigstündigem Kampfe mit dem Froste siegte endlich die Sonne! Der Schnee floß in Strömen, die Seen traten aus den Ufern, alle Bäche schwollen an und als wir uns nach einiger Zeit hinauswagten, reckten sich auf der vom Wasser triefenden Ebene schon mächtige verschieden geformte Blätter der Sonne entgegen und nur die Gipfel der Berge bedeckte noch ein weißer Schleier.
Den Aufbruch zur Weiterreise, an die wir immer dachten, mußten wir noch verschieben, bis die Gegend etwas ausgetrocknet war. Indessen machten wir uns aufs neue auf die Suche nach Brennmaterial. Während einem der vielen Ausflüge, die wir zu diesem Zweck nach allen Richtungen hin unternahmen, kamen wir zufällig an ein tiefes Loch, das wir am vorhergehenden Mondtage in der Hoffnung, Torf oder Kohle dort anzutreffen, ausgegraben hatten. Das Loch war bis zu den Rändern mit Wasser angefüllt. Ich ging gleichgültig daran vorüber, aber Peter, scheinbar durch etwas Ungewöhnliches aufmerksam geworden, blieb stehen und begann sich die Öffnung genauer anzusehen. Ich war schon ein Stück Wegs weitergegangen, als ich seine Stimme hörte:
— Jan, komm! Jan, komm so schnell wie möglich und sieh!
Ich traf ihn kniend an; mit der einen Hand stützte er sich auf den Rand des Loches, mit der anderen gab er mir Zeichen. Sein Gesicht, das über die Öffnung geneigt war, brannte vor Erregung.
— Was ist geschehen?
Statt zu antworten, schöpfte er mit der Hand das Wasser heraus, das von sonderbarer, schmutziggelber Farbe war und hielt es mir unter die Nase.
— Petroleum! rief ich, den bekannten scharfen Geruch einziehend.
Peter nickte mit triumphierendem Lächeln. Um mich zu überzeugen, ob wir uns nicht täuschten, tauchte ich ein Taschentuch in die Flüssigkeit und steckte es an. Es flackerte in einer hellen roten Flamme empor, auf die wir beide starrten wie auf einen Regenbogen, der uns neues Leben verkündete.
Wir beeilten uns, Martha diese frohe Nachricht zu bringen.
Die Auffindung der Petroleumquelle hatte für uns eine ungeheure Bedeutung.
Jetzt konnten wir weiter nach Süden fahren oder hier bleiben, ohne die kalten Nächte zu fürchten noch den Mangel an gekochten Speisen. Einige zehn Stunden widmeten wir dem Sammeln eines großen Vorrates dieser gesegneten Flüssigkeit. Wir gruben zu diesem Zweck noch andere tiefe Löcher aus und sammelten den darin befindlichen Inhalt, soweit es nur irgend möglich war. Vor Mittag hatten wir schon alle Reservoirs gefüllt. Jetzt hielten wir großen Rat ab, was weiter zu tun sei. Am vernünftigsten wäre es hier zu bleiben, in der Nähe der Petroleumquellen, aber wir konnten der Versuchung nicht widerstehen uns weiter zum Meere zu begeben, das nach allen Mutmaßungen nicht weit entfernt sein konnte. Außer der Neugierde sprach für die Reise auch der Umstand, daß wir am Strande infolge der großen Wasseransammlung ein bedeutend milderes und beständigeres Klima antreffen mußten, obwohl wir uns dem Äquator näherten. Im übrigen hatten wir nun einen so bedeutenden Vorrat an Brennmaterial, daß wir es wagen konnten, die Reise auch nur versuchsweise anzutreten, da wir sicher waren, im Falle ungünstiger Verhältnisse zu den Petroleumquellen zurückzufinden, wenn wir uns hinaufzu hinter dem Laufe des Stromes halten würden.
Diesen Tag und die nächste Nacht verbrachten wir noch an derselben Stelle der See-Ebene, wie wir jene große Fläche genannt haben, in der Absicht, den Antritt der Reise bis zum nächsten Tage zu verschieben, da es bedeutend angenehmer wäre, über dreihundert sonnige Stunden vor uns zu haben, während deren wir die Fahrt infolge der Nacht und der Kälte nicht zu unterbrechen brauchten. Aber statt dessen brachen wir früh, sowie nur die erste Dämmerung den Schnee rosig färbte, auf, nicht einmal den Sonnenaufgang erwartend, obwohl sich der Frost empfindlich fühlbar machte.
Die morgendlichen, oder wie man hier besser sagen müßte: Frühjahrswasserfluten, trafen uns bereits zirka hundert Kilometer von der Stelle entfernt, wo wir, nach Erdenzeiten rechnend, über sechs Wochen gestanden hatten. Zunächst beunruhigte uns das Schmelzen des Schnees ungemein; der Boden war so erweicht, daß die Fahrt geradezu unmöglich wurde. Zum Glück erinnerten wir uns rechtzeitig, daß sich der Wagen nach Anbringen eines entsprechenden Steuers und Einfügen von Schaufeln in die Räder leicht in ein schwimmendes Fahrzeug verwandeln ließe, und wir demnach eine Überschwemmung nicht zu fürchten brauchten; im Gegenteil, wir konnten sogar aus ihr Nutzen ziehen, indem wir uns den Fluten des hochgehenden Stromes anvertrauten. Dieser Gedanke war überaus glücklich, vor allem, weil der Strom sowieso der Wegweiser für uns war, der uns zum Meere führen sollte. Zum Überfluß sparten wir dabei eine Unmenge Brennmaterial, da die starke Strömung uns von selbst so schnell davontrug, daß wir, um den Lauf zu beschleunigen, die Schaufelräder gar nicht benötigten.
Den ganzen langen Mondtag verbrachten wir so auf dem Wasser, nur selten ans Ufer fahrend, um auszuruhen oder irgendeine interessante Gegend näher zu besichtigen.
Bevor die Fluten sanken, hatten wir uns schon so weit vorwärtsbewegt, daß der Fluß sich in einen Strom verwandelte, dessen Bett mehr als tief genug für unser kleines Fahrzeug war.
Der Anblick und Charakter der Landschaft änderte sich unaufhörlich. Eine Zeitlang fuhren wir über eine breite und, wie es schien, trockene Steppe, von einer kleinen, zarten Pflanzenwelt belebt, gänzlich verschieden von den blättrigen Gebüschen, die höher am Strome wuchsen. Es war etwas unermeßlich Trauriges in der Eintönigkeit dieser Gegend.
Die Ringberge, bis an den Rand mit Wasser gefüllt, und die runden Seen mit den felsigen, wenig über die Oberfläche erhobenen Ufern zwischen aufgeworfenen Hügeln, ließen wir schon weit hinter uns zurück. Jetzt erstreckte sich zur Linken und zur Rechten eine rostgrüne Flachebene, von der sich nur stellenweise fast violette Wiesen mit winzigen Pflanzen oder gelbe Sandbänke abhoben, die die unbedeutenden Erhebungen anfüllten. Der Strom breitete sich hier aus und floß so träge, daß wir den Motor in Bewegung setzten, um mit Hilfe der Schaufelräder schneller vorwärts zu kommen.
Es war schon etwas nach Mittag, als wir uns der Kette der felsigen Berge näherten, die jene Steppe nach Norden abschloß. Der Fluß war hier auf einer Strecke von einigen Kilometern so von Felsen zusammengepreßt, daß die Fahrt höchst gefahrvoll wurde. Die Strömung riß uns jeden Augenblick fort und warf das Fahrzeug an die Felsen. Nur dem starken Bau des Projektils, das jetzt in ein Schiff verwandelt war, haben wir es zu verdanken, daß wir so davongekommen sind.
Hinter diesem Felsentor ergoß sich der Strom in einen großen See. Seine Ufer bildeten kleine Hügel, mit einer unerhört üppigen Flora bedeckt und von zahlreichen Bächen durchzogen. Einer der schönsten Anblicke, die wir bis jetzt auf dem Monde antrafen.
Wir hatten den See noch nicht durchfahren, als der Himmel, der jetzt fast immer heiter war, sich plötzlich mit dunklen Wolken überzog. Im ersten Augenblick waren wir froh darüber, da die unerträgliche Hitze uns schon empfindlich zusetzte, aber bald begannen wir uns zu beunruhigen, das Herannahen eines Gewitters ahnend. Man hörte schon von weitem das dumpfe Rollen des Donners, und der Himmel flammte seit Mittag in blutigen Blitzen auf. Wir hatten kaum so viel Zeit uns, seitwärts abbiegend, in einer kleinen, von Bergen geschützten Strömung in Sicherheit zu bringen, als das Gewitter sich entlud.
Ich kannte auf der Erde die furchtbaren Gewitter der Tropenländer, aber so etwas Ungeheuerliches hätte ich mir nie vorstellen können. Betäubende Donner flossen in ein unaufhörliches Dröhnen zusammen; vor unseren Augen standen die Blitze wie die Saiten einer flammenden Harfe, die dicht nebeneinander zwischen Himmel und Mond gespannt sind. Und der Regen ... Nein, das war kein Regen mehr! Die Sündflut des aus den Wolken herabstürzenden Wassers verwandelte die ganze Atmosphäre in einen hängenden, von wütenden Stürmen hin und her geschleuderten See. Die Luft, mit Regen und den vom Sturme aufgepeitschten Fluten vermischt, war so mit Elektrizität geladen, daß sie aus sich selbst aufblitzte, — ein seltsames, höllisches Schauspiel: unter den von unten blutig geröteten Wolken war die Atmosphäre mit einem Feuer von faustgroßen Tropfen angefüllt, die triefendem zerschmolzenem Metall glichen.
Manchmal ließ das Gewitter plötzlich nach; die Wolken öffneten sich wie ein nach beiden Seiten auseinandergehender Vorhang, eine Aussicht auf den blauen Himmel und die Sonne gewährend, aber kaum hatten wir Zeit, aufzuatmen, verfinsterte sich der Himmel von neuem, und wiederum begannen, begleitet von einem furchtbaren Orkan, der von Süden daherstürmte, die Donner zu krachen und Ströme von Wasser herabzustürzen.
Das alles dauerte mit kleinen Unterbrechungen fast vierzig Stunden. Erschöpft, verängstigt und betäubt schauten wir auf die ungeheure Ansammlung von Feuer, Wasser und Luft. Trotzdem wir das Fahrzeug mit Seilen an Wurzeln, die am Ufer hervorragten, befestigt hatten, fürchteten wir, daß die Strömung, die sich wie ein wildes Tier in der Agonie hin und her warf, uns auf den stürmenden See hinausschleudern könnte, den Winden und Wellen zum Fraß.
Endlich wurde alles ruhig und der Himmel erhellte sich; nur die hochgehenden Bäche zwischen den Hügeln rauschten noch dahin, die stürmische Oberfläche des Sees aufwühlend. Die Wasser hatten enorm zugenommen. Wir mußten noch über zwölf Stunden warten, bevor sie wenigstens so weit gefallen waren, daß wir die Fahrt wieder aufnehmen konnten. Wir trieben jetzt bedeutend schneller, da die Strömung des hochgehenden Flusses um vieles stärker geworden war. Unterwegs trafen wir überall Spuren einer furchtbaren Vernichtung an: ganze Länderstriche waren weggespült, mächtige seltsame Pflanzen, die hier schon dichte Wälder sonderlich verflochtener Blätter und langer, dicker, fleischiger Stengel bildeten, lagen vom Sturm in Stücke gerissen am Boden. Aus jeder Spalte schossen Kaskaden trüben Wassers; auf den Ebenen standen flache Tümpel, über denen sich eine Unmenge der verschiedensten Tierarten ansammelte, die den Insekten ähnlich waren.
Heute, wo wir uns schon auf dem Monde akklimatisiert haben, wissen wir, daß diese furchtbaren Stürme hier eine tägliche Erscheinung sind, in des Sinnes wörtlicher Bedeutung. Sie entstehen infolge der unerhörten Hitze in der Nachmittagszeit und sind für diese Welt, trotz ihres Grauens, eine Wohltat, da sie die Atmosphäre erfrischen und den Boden austrocknen. Ohne sie wäre das Leben hier eine Unmöglichkeit.
Ich werde unsere Nachmittagsreise nicht beschreiben, da sie ohne besondere Ereignisse war. Nur die Landschaft änderte sich stetig und mit ihr auch die Flora, obwohl ich bemerken muß, daß die Flora auf diesem Globus, der keine klar umgrenzten Zonen hat, bedeutend eintöniger ist als auf der Erde.
Der Abend näherte sich bereits, als wir an die Stelle gelangten, an der der Strom sich auszubreiten und unzählige Flachstellen zu bilden begann, die unsere Fahrt sehr erschwerten. Wir nahmen an, daß dies die Vorboten der nahen Mündung sein müßten.
— Wir werden das Meer sehen, sagten wir uns, die Augen der Sonne zuwendend, als wenn wir uns vergewissern wollten, ob der Tag noch ausreichen würde, um zu diesem ersehnten Ziel der Reise zu gelangen.
Indessen wurde die Fahrt immer schwieriger. Wir blieben einige Male auf seichten Stellen stecken, so daß wir endlich beschlossen, das Schiff wieder in einen Wagen umzuwandeln und auf dem Lande weiterzufahren.
Der Sonnenuntergang traf uns am Fuße niedriger, spärlich mit Gras bewachsener Sandhügel an. Wir fühlten die Nähe des Meeres, wir glaubten sogar, ein mächtiges gedämpftes Rauschen zu vernehmen und den scharfen Duft des Meerwassers einzuatmen. Wir unterbrachen daher, von der Neugierde getrieben, trotz der hereinbrechenden Dämmerung die Fahrt nicht.
Die Dunkelheit wurde bedeutend dichter, als wir auf den Gipfeln jener Sandhügel angekommen waren. Wir strengten den Blick an, um das Meer zu sehen, aber es war unmöglich, etwas zu unterscheiden. Vor uns schimmerte nur gespensterhaft die mit phosphoreszierenden Pflanzen bedeckte Tiefebene. Im Osten war das unbestimmte Murmeln und Rauschen eines flutenden Wassers zu hören, es glitten dichte weiße Nebel oder Wolken vorbei, wie irrende Geister auf leuchtenden Wiesen. Wir wußten im Augenblick nicht, was wir tun sollten, die ganze Nacht hindurch auf der Anhöhe bleiben oder wieder herunterfahren, als sich plötzlich ein Wind erhob und einen von einer Wolkenkette bedeckten Bach enthüllte, der zirka zehn Schritte vor uns auf steinigen Absätzen in natürliche Bassins floß, die stufenweise in einer Reihe lagen. Diesen Anblick hatten wir nur während einer Sekunde, da eine dichte Wolke das Wasser sofort aufs neue verhüllte und abermals nur das Rauschen und Murmeln an unsere Ohren drang. Die ungewöhnliche Menge und Dichte der Wolken setzte uns in Erstaunen, und wir brachen in der Richtung der Bassins auf. Bald befanden wir uns in einem dichten warmen Nebel. Die Räder des Wagens dröhnten auf steinigem Boden.
Als der Wind den Nebel abermals auseinanderwehte, bemerkten wir, daß wir uns am Rande eines jener Bassins befanden, von dem aus uns feuchte warme Luft entgegenwehte.
— Warme Wasserquellen, riefen wir wie aus einem Munde.
In der Tat mußten sich in der Nähe heiße Quellen befinden, da das Wasser, das im Strome abfloß und sich in den Bassins ausbreitete, zwanzig und einige Grad Celsius hatte. Es war nicht an der Zeit, in der Dunkelheit die Gegend zu erforschen; wir beschlossen nur, aus diesem glücklichen Vorfall Nutzen zu ziehen und die kalte Nacht am Wasser zu verbringen, das uns eine beträchtliche Menge Wärme spendete. Die Nacht war ziemlich unruhig. Vier Erdentage nach Sonnenuntergang fiel dichter Schnee, und es wehte ein so kalter Wind, daß wir, um uns vor der Kälte zu schützen, den Wagen auf das warme Wasser des Bassins hinabstoßen mußten. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Manchmal nur, wenn der Wind für Augenblicke die sich aus dem Wasser erhebenden Nebel auseinandertrieb, sahen wir die in der Höhe leuchtenden Sterne. Dann zeigte sich uns auch im Süden ein Streifen blauen Lichtes, der sich längs der Grenzen des Horizontes erstreckte. Wir wunderten uns über diese Erscheinung, die dauernd in der Nacht anhielt, obwohl die phosphoreszierenden Pflanzen, die wir anfänglich für die Ursache dieses Lichtes hielten, sich schon lange geschlossen hatten. Der uns unerklärliche Schein erlosch erst nach Mitternacht, als die Kälte, fern von den warmen Quellen, schon äußerst heftig sein mußte.
Noch eine andere Wahrnehmung beschäftigte und beunruhigte uns. Gegen Mitternacht machte sich eine starke Bewegung des Wassers fühlbar, zu der sich ein dumpfes unterirdisches Donnern gesellte. Fast gleichzeitig bemerkten wir durch den Nebel im Osten einen blutigroten, sich säulenartig erhebenden Brand. Nach einigen Stunden war er erloschen, aber bald flammte er wieder auf und blieb mit wenigen Unterbrechungen vier irdische Tage hindurch am Himmel stehen, einem höllischen Geist, der sich im Nebel und in der Nacht über der schneebedeckten Wüste zeigt, vergleichbar. Die Temperatur des Wassers im Bassin, das durch die fortwährenden Erschütterungen des Grundes gärte, hob sich noch erheblich, so daß wir eher am Überfluß als an Mangel an Wärme zu leiden hatten.
Schon in der Nacht, während der Dauer der Erscheinung, die uns anfänglich beunruhigte, ahnten wir, daß sich irgendwo in der Nähe ein Vulkan befinde, dessen Ausbruch wir gerade vor uns haben. Es sprach dafür auch das Vorhandensein der Warmwasserquellen, die meistens in vulkanischen Gegenden vorkommen. Der anbrechende Tag bestätigte unsere Vermutungen. Wir konnten zunächst trotz der Helligkeit nichts sehen, da die Nebel uns die Aussicht verhüllten. Erst vierzig Stunden nach Sonnenaufgang verließen wir den Wagen, nachdem wir bereits seit Mittag an dem steinigen Ufer hielten. Noch einige Schritte gingen wir im dichten Nebel, — da plötzlich, als wenn sich ein Zaubervorhang gehoben hätte, eröffnete sich uns ein breiter Ausblick! Wir standen wie erstarrt, erschüttert vor Bewunderung und Freude.
Einige Meter tiefer, in einer Entfernung von zwei bis drei Kilometern von der Stelle, wo wir standen, lag — das Meer. Es waren seine von kleinen Lebewesen phosphoreszierenden Fluten, die über dem blassen Glanze in der Nacht durch Nebel und Schatten leuchteten.
Jetzt hatten wir es deutlich vor uns! Die unübersehbare, an den Ufern durch das Eis noch abgeschnittene, aber weiter schon flutende und bewegliche, von der Sonne vergoldete Wasserfläche erstreckte sich von unseren Füßen bis an die Grenzen des Horizontes.
Wir waren von diesem so überaus sehnsüchtig herbeigewünschten Anblick so begeistert, daß wir lange die Augen nicht abwenden konnten. Erst nach geraumer Zeit, nachdem wir uns an der seit dem Verlassen der Erde nicht bewunderten Majestät sattgesehen hatten, begannen wir uns die Gegend näher zu betrachten. Im Westen, zwischen weiten Ebenen, glänzte die breite, von zahlreichen Sandbänken unterbrochene Mündung des Stromes, auf dessen Fluten wir den größten Teil der Reise der vorhergehenden Tage zurücklegten. Im Osten war die Landschaft außerordentlich wild und mannigfaltig. Vor allem zog der mächtige, mit Schnee bedeckte Kegelgipfel eines Vulkans, der in der Entfernung von einigen zehn Kilometern über den benachbarten Felsenbergen thronte, unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die südlichen Abhänge dieser sich zum Meere neigenden Berge waren von dichten Wäldern sonderbarer großer, seltsam ineinandergewundener blättriger Stauden und Lianen, die gerade aus dem nächtlichen Schlaf zum Leben zu erwachen schienen, besetzt; näher vor uns spritzten zwischen phantastisch übereinandergetürmten Felsen und kleinen rauchenden Seen zahlreiche perlende, in eine weiße Nebelwolke gehüllte Geiser. Der von ihnen abfließende Bach sprang über Terrassen, wälzte sich in die Bassins, floß von den Felsstücken, immer tiefer murmelnd, hernieder, bis er zuletzt in dem Dickicht der Flora verschwand, zum Meere eilend.
So sollte unsere Odyssee enden ...
Zehn Erdenjahre sind verflossen, seit wir an den Strand des Meeres gekommen sind, wo wir heute noch wohnen. Und wenig hat sich in all dieser Zeit geändert. Das Meer braust ebenso, und ebenso leuchtet uns die lange Nacht mit den erglühten Fluten; in gewissen Zeitabschnitten wiederholen sich die Ausbrüche des Vulkans, den wir zur Erinnerung an unsern teuren Freund „Otamor“ genannt haben. Ebenso sprudeln die Geiser, und der Bach murmelt, über die Steine springend; nur über dem einen der Bassins erhebt sich jetzt auf Pfählen ein Winterhäuschen und tiefer am Meeresstrande eine Laubhütte, die uns als Sommerwohnung dient. Und an dem sandigen Strande oder auf den Wiesen spielen vier Kinder mit einigen Hunden, die schon auf dem Monde zur Welt gekommen sind, oder sammeln Muscheln und Blumen. Auch wir haben uns längst an diese Welt gewöhnt. Wir staunen nicht mehr über die langen kalten Nächte noch über die Tage, während denen die träge Sonne Feuer vom Himmel herabsendet; die nachmittäglichen furchtbaren Gewitter, die regelrecht alle siebenhundertneun Stunden über uns dahinziehen, haben aufgehört uns zu schrecken. Auf die wilde, phantastische Landschaft, die Pflanzenwelt, die von der irdischen so verschieden ist, und die ungeschickten Mondtiere blicken wir wie auf gute alte Bekannte. Dafür wird die Erde in unserer Erinnerung immer mehr einem Traume ähnlich, der vorübergezogen und nur eine nicht greifbare Spur in unseren sehnsüchtigen Herzen zurückließ. —
Wir sitzen manchmal am Meeresstrande und sprechen über sie — lange, lange! Wir erzählen uns viel von den kurzen Tagen, den Wäldern, dem Gesang der Vögel, von Ländern und von Menschen, die sie bewohnen, von einer Menge kleiner und bekannter Dinge wie von etwas ungemein Interessantem, und als wenn alles nur ein schönes Märchen wäre. Tom ist schon ziemlich groß und vernünftig und hört, aufmerksam folgend, wie einem wirklichen Märchen zu. Er war niemals auf der Erde ...
Schließlich haben wir uns das Leben hier ziemlich erträglich eingerichtet. Zu Füßen des Otamor, auf dem zerbröckelten vulkanischen Grunde entdeckten wir Stauden, deren Stämme und mächtige Wurzeln genügendes Material bieten, das uns im Notfalle die Bäume ersetzen kann. Die ausgetrockneten und von den verholzten Schuppen gereinigten großen Blätter, die überaus fest und dauerhaft sind, liefern uns das Leder und aus den Fasern der anderen verfertigen wir eine Art starker und weicher Leinwand. Auf der Ebene hinter dem Flusse fanden wir nach langem Suchen einen Braunkohlenflötz, und ebenso entdeckten wir Petroleumquellen, die bedeutend näher liegen als die ersten. Eisen, Silber, Kupfer, Schwefel und Kalk sind hier in ziemlich reichlicher Menge vorhanden. Das Meer liefert uns zur Genüge brauchbare Muscheln und Bernstein, der sich von dem irdischen nur durch eine flammendrote Farbe unterscheidet.
Aus dem Meer fischen wir auch vorwiegend unsere Nahrung. Es leben die verschiedensten eßbaren Muscheltiere und eine Art von Fisch und Eidechse darin, die ganz schmack- und nahrhaft sind. Außerdem sammeln wir im Sande oder Dickicht Eier; keins von den hiesigen Geschöpfen kommt lebend auf die Welt, sondern alle Tiere pflanzen sich durch Eierlegen fort. Diese Eier sind gegen den Frost unglaublich widerstandsfähig und überaus schnell in der Sonnenwärme ausgebrütet. Wir bereiten auch gute, kräftige Speisen aus verschiedenen Pflanzengattungen, die hier reichlich gedeihen.
Im Anfang fiel es uns schwer, ohne Fleischnahrung auszukommen, aber jetzt haben wir uns schon vollständig daran gewöhnt. Alle hiesigen Tiere haben ein zähes, übelriechendes Fleisch, das ungenießbar ist. Nur die Hunde verachten es nicht.
Einige Mondtage gingen vorüber, bevor wir uns hier irgendwie zurechtfanden. Zuerst machten wir uns auf die Suche nach Bau- und Brennmaterial, worauf wir auf Pfählen, die aus starken Wurzeln gefertigt wurden, ein Winterhäuschen zu bauen begannen, auf demselben Teiche der Warmwasserquellen, auf dem wir im Wagen die erste Nacht verbrachten. Nach Beendigung dieser wichtigsten Arbeit machten wir Ausflüge in die Umgegend, die wir vorwiegend zu Fuß zurücklegten. Ein Wägelchen mit Vorräten und Werkzeugen, von den Hunden gezogen, nahmen wir immer mit uns. Die Hunde sind hier unsere einzigen Arbeitstiere; von den Mondgeschöpfen züchten wir nur eine gewisse Art von großen beflügelten Eidechsen, die nahrhafte, wohlschmeckende Eier legen.
Manchmal fuhren wir auf das Meer hinaus, uns längs dem Ufer haltend. Der Strand nach Westen ist flach und sandig, im Osten dagegen erheben sich zahlreiche, aus vulkanischen Bergen gebildete Vorgebirge, die durch tiefe, landeinwärts einschneidende Buchten getrennt sind. Fast ein jeder solcher Ausflug, ob zu Wasser oder zu Land, brachte irgendwelchen Nutzen mit sich; wir fanden immer etwas Neues oder lernten wenigstens die Eigentümlichkeiten und Geheimnisse der Gegend kennen, in der wir wohl nun bis zum Tode bleiben werden.
Nach dreizehn Mondtagen, das heißt nach einem Erdenjahr, unseres Aufenthaltes am Meere, waren wir mit dem Lande schon ganz vertraut. Außer dem Wohnhause hatten wir Werkstätten, eine kleine Hütte, Magazine, einen Stall für die Hunde, mit einem Worte, alles, was uns für das Leben hier unentbehrlich war. Die Zeit der fieberhaften, angestrengten Arbeit nahm ein Ende, und langsam kam die Langeweile und, was noch schlimmer war, die Sehnsucht nach der verlassenen Erde über uns. Das waren qualvoll fürchterliche Zeiten; ich erinnere mich, daß wir unserer bedrückten Stimmung und unserem Heimweh ganz ratlos gegenüberstanden. Am Tage zerstreute uns noch dies und jenes, wir irrten auf den Bergen herum oder sammelten Nahrungsvorräte; aber während der Nacht packte uns die Verzweiflung. In dem kleinen Häuschen über dem warmen Teiche eingeschlossen, tatenlos und träge, bemühten wir uns, nur so viel wie möglich zu schlafen.
Aber auch das gelang uns nicht immer. Dann saßen wir schweigend da, erschöpft von Langerweile und Sehnsucht, einander feindselig betrachtend. Es ist unzweifelhaft wahr, daß nichts die Menschen gegenseitig so verbittert wie das Unglück und die Langeweile. Ich hatte leider Gelegenheit, das mehrfach bestätigt zu finden.
Man hätte sich wohl mit so manchem beschäftigen, irgendwelche Verbesserungen einführen, für die Zukunft sorgen können, aber der Gedanke, daß wir hier zum Aussterben verurteilt waren, machte uns dazu absolut unfähig. Die Menschen auf der Erde denken gar nicht daran, daß sie den größten Teil ihrer Energie, wenn auch unbewußt, dem Gefühl verdanken, daß sie nicht nur für sich, sondern auch für diejenigen, die nach ihnen kommen werden, arbeiten. Der Mensch will leben, das ist alles. Und indessen steht ihm immer der unerbittliche Tod vor Augen, und wenn er keinen Ausweg, keine Möglichkeit der Ablenkung, kein Mittel, ihn oder vielleicht auch nur sich selbst zu betrügen, findet? Bei Gott, ich glaube, daß kein anderer Gedanke außer diesem einen furchtbaren: ich werde sterben, in seinem Kopfe Raum hätte! Es gibt verschiedene Heilmethoden: Den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, den Glauben an die Unsterblichkeit der Menschheit und der menschlichen Werke. Der Mensch verlängert sein Dasein durch seine Taten; denn wenn er an jene Zeiten denkt, wo er nicht mehr sein wird, so stellt er sich vor, daß auch dann noch eine Spur seiner Arbeit übrig bleibt, und so wird er in seinen Gedanken selbst dieser Zukunft teilhaftig, die er mit lebendigen Augen nicht mehr schauen kann. Aber dafür muß er wissen, daß nach ihm Menschen existieren werden, die, wenn sie auch seinen Namen nicht erwähnen und kennen, doch wenigstens, ohne es zu wissen, von seinem Lebenswerk Nutzen ziehen. Das ist die absolute Grundlage des Lebens und seiner Tatkraft. Denn die Werke der Menschen sind wie die Menschen selbst: sie leben oder sterben. Das Werk, das in keinem Bewußtsein einen Wandel hervorruft, ist tot.
Das sind alles außerordentlich einfache und natürliche Folgerungen, aber ich bin mir erst auf dem Monde, während jener langen taten- und hoffnungslosen Tage im Anfang unseres Aufenthaltes am Meere so recht klar darüber geworden.
Manchmal dachte ich: Es wäre gut, die Grenzen dieses großen Wassers zu erforschen, das Land in seiner Länge und Breite zu durchqueren, seine Berge und Flüsse kennen zu lernen, Karten anzufertigen, die Pflanzen zu beschreiben, die Tiere und Mineralien, aber da tauchte in meinem Innern die höhnische Frage auf: Und wer wird etwas davon haben? Ja, wahrhaftig, wer wird etwas davon haben? Wem soll ich erzählen, was ich kennen lernen werde, wem das zurücklassen, was ich niederschreiben will? Tom? ... Aber der kleine Tom wird ebenfalls sterben wie ich, zwar etwas später, aber das ändert nichts an der Sache. Er wird der letzte Mensch auf dieser Welt sein, auf der wir die ersten gewesen sind. Mit ihm wird alles ein Ende nehmen ...
Dieses Bewußtsein lähmte jedwede Tatenlust in mir! Ob ich nun dieses staunenerregende Land erforschen wollte oder dieses Meer, mit dem der Mond angefüllt ist wie ein silberner Becher, der seinen äußeren Boden der Erde zukehrt, oder wenn ich an das Erbauen eines dauerhafteren Hauses dachte, an die Einrichtung von neuen und besseren Werkstätten, an die Anlage eines Gartens und Tierkäfigs, mit einem Worte, an die Hebung des Wohlstandes unserer kleinen Wirtschaft.
Und so erwuchs in Peter und mir zugleich das Gefühl der Notwendigkeit, hier eine neue Menschheit ins Leben zu rufen, und unsere Augen wandten sich wiederum auf Martha. Ich versuche heute mich vor mir selbst zu rechtfertigen, denn ich weiß, daß es Verbrechen und Egoismus war. Auch damals wußte ich es, aber ... aber ... Der Mensch will leben, um jeden Preis und auf jede Art, nur leben — das ist alles!
Es war etwas Ungeheuerliches in unserm Beschluß, vor allem, weil wir ihn kalt und nüchtern faßten, wenigstens was mich betrifft ...
Ich hatte mich an Martha mit einer großen Liebe gewöhnt, einer stillen, selbstlosen, und jene Zeit, da ich sie für mich begehrte, für meine Sinne und mein Glück, war lange vorbei und, wie es mir schien, unwiderruflich. Ich weiß es nicht einmal, warum sie vorbei war ... Ich glaube, der Grund lag in der Überzeugung, daß sie mich nicht wiederliebte und niemals lieben würde, stets nur mit all ihren Gedanken an jenem Toten, in ihrem Sohne Wiedergeborenen, hängend.
Nicht an Martha habe ich in jener Zeit gedacht, sondern an Kinder, an kleine frohe Mädchen, die Tomas, wenn sie erwachsen sind, heiraten könnte, auf diese Weise einer neuen Menschheit das Leben gebend. Ich erträumte mir das als höchstes Glück, denn dann war unsere Arbeit nicht vergebens. Alles, was wir entdeckten und schufen würde denjenigen, die nach uns von Geschlecht zu Geschlecht auf dem Mondglobus leben sollten, Früchte tragen.
Ich will nicht sagen, daß diese meine Träumereien gänzlich unpersönlich waren. Im Gegenteil, indem ich an die Kinder dachte, stellte ich mir unwillkürlich vor, daß es meine Kinder wären und hinter ihren fröhlich lachenden Gesichtchen sah ich die liebe Gestalt Marthas, — meiner Martha ... Das waren erschlaffende, fast schmerzliche Gedanken, denn ihre Verwirklichung schien mir so seltsam unmöglich zu sein ...
Und dann machte ich mir, die ungastliche und nicht für Menschen geschaffene Mondwelt betrachtend, wieder Vorwürfe. Wie wird, dachte ich, das Schicksal der zukünftigen Menschheit sein, die hier leichtsinnig von uns geschaffen, um unsern Taten einen Zweck und unserm eigenen Leben eine Berechtigung zu geben? Ich hatte die Bedingungen dieses Globus genügend kennen gelernt, um zu wissen, daß sich die Menschheit auf ihm niemals würde entwickeln können wie auf der Erde. Der Mensch wird hier immer nur der Eindringling sein, der ungebeten und — zu spät gekommen ist. Ja, zu spät. Der Mond ist, wie wir die Sache auch ansehen mögen, ein absterbender Globus.
Auf das hiesige Leben blickend, das einen so unerhört kleinen Teil der Oberfläche des ganzen Gestirns einnimmt, auf die Pflanzenwelt, die großartig und üppig ist, aber viel weniger Lebenskraft als die irdische besitzt, auf die seltsamen Tiere, die degeneriert und gebrechlich sind, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich auf die Pracht einer untergehenden Sonne schaue. Hier hat das Leben bereits aufgehört sich zu entwickeln. Es ist reif, überreif sogar, und wartet auf das Ende. Und diese Natur, die hier seit unvergleichlich längeren Zeiten arbeitet als auf der Erde (da der Mond, als kleineres Gestirn, früher als sie erkaltet und früher „Welt“ geworden ist), hat es nicht vermocht, ein vernünftiges Wesen zu schaffen, und wenn sie es geschaffen haben sollte, ist seine Zeit unwiderruflich vorbei. Den besten Beweis liefert vor allem die Tatsache, daß dieser Globus heute nicht mehr für derartige Wesen geeignet ist.
Dem Menschen wird es hier immer zu eng sein! Derartige Reflexionen stiegen wohl in mir auf, aber das Gefühl ist stärker als der abstrakte Gedanke; trotz allem begehrte ich mit ganzer Seele, daß hier nach uns Menschen leben sollten. Manchmal betrog ich mich selbst und versuchte mir einzureden, daß ich die Menschheit für Tom wolle, um ihn vor dem schrecklichen Schicksal zu bewahren, in der Einsamkeit der letzte Mensch zu sein. Aber das ist nicht wahr; ich wollte ein neues Geschlecht für mich, um meiner selbst willen.
Ich weiß nicht, wie Peter dachte und fühlte; aber sicher ist, daß ihn dieselbe Sehnsucht beherrschte. Es ging viel Zeit vorüber, ehe wir beide uns aussprachen. Ich erinnere mich, es war gegen Sonnenuntergang. Martha war mit Tom auf dem Arme zu den warmen Quellen gegangen und wir beide saßen schweigend am Meeresstrande.
Peter blickte Martha, als sie sich entfernte, lange nach, und dann zählte er leise die Mondtage, die wir schon durchlebt hatten.
— Der dreiundzwanzigste Sonnenuntergang, sagte er endlich laut.
— Ja! antwortete ich gedankenlos, der dreiundzwanzigste; wenn wir auch die Tage rechnen, die wir auf dem Pole verbrachten und während denen wir in Wirklichkeit keine Untergänge hatten ...
— Und was weiter? fragte Peter.
Ich zuckte die Achseln.
— Nichts. Noch einige Untergänge, vielleicht einige zehn oder hundert, und dann wird es zu Ende sein. Tom wird allein bleiben.
— Nicht um Tom geht es mir, sagte er, und nach einer Weile fügte er hinzu:
— Jedenfalls steht es schlecht.
Wir schwiegen lange, dann begann Peter von neuem:
— Ah, ja, Martha, wiederholte ich.
— Man muß etwas beschließen!
Mir schien es, daß in seiner Stimme derselbe Ton vibrierte, an den ich mich aus jener furchtbaren Fahrt durch das Mare Frigoris nach Woodbells Tod erinnerte. In mir empörte sich etwas. Ich sah ihm fest in die Augen und sagte mit Nachdruck:
— Man muß.
Er lächelte seltsam und antwortete nichts.
An diesem Tage sprachen wir nicht mehr über diese Angelegenheit. Die lange Nacht verging in Schweigen und Langerweile. Tom war nicht ganz wohl und Martha sehr beunruhigt, immer nur mit ihm beschäftigt. Wir beobachteten ihre grenzenlose, mütterliche Zärtlichkeit, und wer weiß, ob nicht gerade damals, wenn auch unbewußt, der schändliche, widerwärtige Plan der Ausnützung ihrer Liebe für das Kind in uns aufkeimte, um sie unseren Wünschen geneigt zu machen. Jedenfalls bestärkte uns diese Nacht der Leere und Langweile darin, daß man absolut „etwas beschließen“ müsse.
Am Morgen des folgenden Tages begab ich mich mit Peter in die Wälder zu Füßen des Otamor. Während dieses Ausfluges wurde die Angelegenheit endgültig besprochen. Einer von uns sollte Martha zur Frau nehmen und der andere sich verpflichten, ihm niemals in den Weg zu treten.
Einer von uns! Ich wiederholte in Gedanken diese Worte mit einer sehnsuchtsvollen und schmerzlichen Unruhe. In Peters Munde klangen sie, als er sie aussprach, fast wie eine Drohung. Ich weiß nicht, vielleicht täuschte ich mich auch, aber mir schien es so ... Die Wahl zwischen uns beiden sollten wir Martha überlassen, und erst wenn sie keine Wahl treffen wollte, sollten wir Lose ziehen. Peter meinte zwar, daß eine sofortige Entscheidung durch das Los ratsamer sei, da Martha sich weigern würde, zu wählen, aber ich lehnte mich entschieden dagegen auf und erreichte so viel bei ihm, daß er wenigstens damit einverstanden war, Martha zuerst die Entscheidung anheimzustellen. Er gab, wie ich bemerkte, nur ungern nach und als er endlich „ja“ sagte, hatte er ein eigenartiges Lächeln auf den Lippen und seine Augen flammten seltsam tückisch.
Zu Hause angekommen, schoben wir die entscheidende Unterredung noch lange hinaus, denn wir waren uns gewiß darüber, daß Martha uns nur mit Widerstreben anhören würde. Peter ging nachdenkend und finster auf und ab und stellte sich, als wenn er mit etwas beschäftigt wäre; ich irrte am Meere herum, das Herz von einer unklaren, quälenden Angst erfüllt. An diesem Tage sollten sich unsere Schicksale entscheiden.
Und endlich kam der Mittag, schwül und heiß. Die Sonne, die seit hundertdreißig Stunden am Himmel leuchtete, sengte die Gegend mit einer unerträglichen Glut, die Pflanzen verdorrend, die auf den erfrischenden Regen warteten. Am Himmel, in südöstlicher Richtung, wo die Sonne schon über den Äquator gezogen war, türmten sich dichte schwarze Wolken auf. In geringen Zwischenräumen, während denen die Luft erkaltet und schwer über uns hing, erhob sich ein kurzer, heftiger Sturm. Er warf die Meeresfluten an den Strand, ließ die Wälder erbrausen, brach die perlenden Fontänen der Geiser und heulte zwischen den Felsen, die tägliche Gewitterzeit verkündend.
Wir siedelten aus dem Sommerhäuschen am Strande zu der Höhle in der Gegend der Geiser über, die uns für gewöhnlich als Schutz während des Gewitters diente. Wir saßen alle drei vor ihrem Eingang, der kleine Tom spazierte, sich an den Knien der Mutter haltend, auf eigenen Füßen um diesen Stützpunkt herum, als Peter mir einen bedeutsamen Blick zuwarf und sich dann mit dem Ausdruck eines plötzlichen Entschlusses zu Martha wandte.
Mein Herz schlug so heftig, daß ich es im Halse fühlte. Das herannahende Gewitter wirkte immer erregend auf uns. An diesem Tage gesellte sich noch die Aufregung der bevorstehenden Entscheidung hinzu. Vor allem befand sich Peter in einem anormalen Zustand: Seine weit aufgerissenen Augen flackerten unruhig, die Brust hob und senkte sich in ungleichmäßigen Atemzügen und auf seinen Wangen brannten dunkle Flecke. Ich blickte ihn in ängstlicher Erwartung an, er aber fragte sie, ohne jegliche Einleitung und Vorbereitung, ganz unvermittelt:
— Martha, welchen von uns beiden würdest du wählen?
Martha, durch diese plötzliche Frage überrascht, schien zuerst nicht zu verstehen, um was es sich handelte ... Sie sah erstaunt erst mich, dann Peter an, dann wiederum mich und zuckte verächtlich die Achseln.
Peter wiederholte:
— Martha, wen von uns beiden wirst du wählen?
Sein hartnäckig auf sie gerichteter Blick mußte ihr mehr sagen als diese Frage, da sie plötzlich, alles verstehend, erblaßte und mit einem leichten Schrei von ihrem Sitze aufsprang. In ihrer Hand blitzte wieder das Stilett, mit dem sie Peter schon einmal gedroht hatte.
— Von euch niemanden! rief sie.
Peter trat ihr einen Schritt näher:
— Und dennoch mußt du wählen und ... und auswählen! sagte er mit Nachdruck.
Ihre Augen irrten in stummer Verzweiflung umher wie zitternde Vögel. Es schien mir, daß sie einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, mit einem flehenden Ausdruck oder Zögern oder Sinnen auf mir ruhten. Aber nein, das mußte eine Täuschung sein, sicherlich schien es mir nur so, da sie im nächsten Moment die Hand mit dem Stilett erhob und hart sagte:
— Ich werde niemanden wählen, und ich bin neugierig, wer es von euch wagt, sich mir zu nähern! Ich will keinen von euch!
Und abermals schien es mir, daß die letzten Worte weicher von ihren Lippen kamen und ihre Augen meinem Blick begegneten, aber das war unzweifelhaft eine Täuschung. Ich war damals so erregt ... Mein Gott, ich will und muß glauben, daß es nur eine Täuschung war!
Als die Mutter aufgestanden war, setzte sich Tom auf die Erde und schaute interessiert der ganzen Szene zu.
Peter legte die Hand auf seinen Kopf. Martha bemerkte es.
— Fort! schrie sie ängstlich, fort! Komm’ ihm nicht zu nah’! Er ist mein!
Peter rührte sich nicht. Die Hand immer auf dem Kopf des Kleinen, starrte er Martha hartnäckig mit einem verächtlichen Lächeln an.
— Und was soll mit Tom werden? fragte er endlich.
Martha zögerte.
— Mit Tom? Was soll mit Tom werden? wiederholte sie fast verständnislos.
— Nun ja, wenn wir sterben und er allein bleibt ...
Diese Worte trafen sie wie ein Blitz. Sie riß die Augen weit auf, als wenn sie plötzlich vor einem Abgrunde stünde, den sie bisher nicht bemerkt hatte, seufzte tief und ließ sich auf einen Stuhl fallen, da sie anscheinend die Kräfte verließen.
— Ja, was wird mit Tom ... wiederholte sie flüsternd, mit ratloser Verzweiflung auf das Kind sehend.
Und Peter begann ihr auseinanderzusetzen und zu erklären, daß sie aus Liebe zu Tom einen von uns wählen müsse. Sie werde doch nicht ihren geliebten Sohn zu einem furchtbaren, einsamen Tod verurteilen und vor allem nicht zu einem noch furchtbareren Leben? Was soll nach unserem Tode aus ihm werden? Verlassen, verwildert, verzweifelt wird er auf diesen Bergen herumirren und am Strand dieses Meeres, der letzte Mensch, der einzige Mensch auf diesem Globus, nur an das eine, grauenhaft Unabwendbare denken: den Tod.
Er wird die Mutter verfluchen, die ihm das Leben gegeben hat. Zu ewigem Schweigen verurteilt, wird er, der zu niemandem sprechen kann, die menschliche Sprache vergessen; die Worte, die er von uns gelernt hat, wird er, eins nach dem andern, verlieren, wie man das Geld auf der Wüste zerstreut, wo man nichts dafür kaufen kann. Vielleicht werden ihm schließlich nur noch einige Worte in der Erinnerung bleiben, mit deren Klang er spielen und kosen wird; obwohl das furchtbare Worte sein müssen, die nichts als Grauen, Einsamkeit, Verlassenheit und Trauer ausdrücken. Wenn er verzweifelt, wird ihm niemand Linderung bringen; wenn er etwas braucht, wird ihm niemand helfen. Wenn er krank ist, wird an seinem Lager nur das grauenhafte, höhnisch grinsende Gespenst des Hungertodes stehen. Dann werden selbst die Hunde, glücklicher als er, weil sie sich hier vermehrten, ihren Herrn verlassen, der nicht mehr fähig ist, ihnen Befehle zu erteilen. Am Ende wird auch einer, ein treuer, der ihm in der Einsamkeit, in Ermangelung eines Menschen, Freund und Kamerad war, länger bei ihm bleiben, so lange, bis er endlich, entsetzt durch die in der letzten Verzweiflung starrenden Totenaugen, angstvoll gedehnt zu heulen beginnt. Und andere, schon verwilderte, werden auf diesen Laut zusammenlaufen ... und ... sich eine Mahlzeit bereiten aus der noch warmen Leiche des letzten Menschen auf dem Monde.
Er sprach noch lange, alle Greuel schildernd, zu denen Tom nach unserem Tode verurteilt sein wird, und ich, strafe mich Gott dafür, half ihm, sich an der Qual dieses Weibes zu weiden und versuchte ebenfalls die Ärmste zu überzeugen, daß sie um Toms willen einen von uns wählen müsse ...
Martha hörte das alles, ohne zu antworten. Nur in ihren Zügen malte sich anfänglich Erstaunen, dann der Reihe nach: Trauer, Angst, Verzweiflung, Resignation.
Seit Mittag grollten die fernen Donner des nahenden Gewitters ... Martha saß stumm da.
Als wir geendet hatten und Peter sie fragte, ob sie bereit sei, einen von uns zu heiraten, schien sie die Frage nicht gehört zu haben. Erst als er sie wiederholte, zuckte sie zusammen und erhob das Haupt, als wenn sie aus einem Traum erwacht wäre. Sie schaute uns an und sagte dann dumpf, mit Mühe die Worte hervorstoßend:
— Ich weiß, daß es euch nicht um Tom geht, aber das ist einerlei ... Ihr habt recht ... Ich werde ... für Tom ... alles tun ... Sie seufzte krampfartig und verstummte.
— Bravo! rief Peter, das läßt sich hören! Also, fügte er, sich zu ihr neigend, hinzu, welcher von uns ist dir lieber?
Ich stand abseits und blickte auf Martha. Sie wich unwillkürlich zurück, als wenn sie von Widerwillen geschüttelt würde, beherrschte sich aber sofort und schaute uns an. Und wieder, schon zum drittenmal, schien es mir, daß ihr Blick eine Sekunde lang auf mir ruhte, der bittende Blick eines armen, gehetzten, in die Enge getriebenen und um Mitleid flehenden Wildes.
Alles Blut drang mir aus dem zusammengepreßten Herzen zum Hirne. Auch Peter mußte ihren Blick aufgefangen haben, denn er erblaßte und wandte sich zu mir mit dem Ausdruck des unverkennbarsten Hasses.
In diesem Moment brach Martha in ein heftiges, lang anhaltendes Weinen aus, warf sich auf den Boden und wimmerte verzweiflungsvoll:
— Tomas, mein Tomas, mein guter, geliebter Tomas!
Sie rief den Toten an, als wenn er sie von den Lebenden erlösen könne. Peter trat ungeduldig einen Schritt zurück.
— Es ist Unsinn, noch länger zu reden oder zu warten, sagte er, ziehen wir Lose.
Ich wollte mich noch widersetzen. Es war mir schwül und furchtbar zumute. Die Wolken bedeckten schon den halben Himmel; über dem Meer flammten blendende Blitze auf.
Als der kleine Tom die Mutter weinen sah, begann er selbst zu weinen. Ich näherte mich ihm behutsam:
— Martha ... Martha, wiederholte ich, leicht mit der Hand ihre Schulter berührend.
— Fort! fort! schrie sie, ihr Widerwärtigen! ...
— Ziehen wir Lose! drängte Peter.
Ich sah mich um. Er stand hinter mir, in der geschlossenen Hand zwei Taschentuchenden haltend.
— Wer den Knoten zieht, der nimmt sie. Er deutete auf die noch immer am Boden Liegende.
In mir ging etwas Furchtbares vor. In meinem Kopf fühlte ich eine seltsame Klarheit; ich war sogar ruhig, es fehlte mir nur der Atem, als wenn jemand einen ganzen Berg auf meine Brust gewälzt hätte. Ich betrachtete die beiden Enden des Taschentuches, die aus Peters Hand hervorsahen, und zuerst beschäftigte mich die Einsäumung, die an einer Stelle etwas zerrissen war ... Dann erinnerte ich mich an eine Szene auf dem Mare Imbrium, wo wir ebenso Lose ziehen sollten — um den Tod ... wie jetzt um ... die Liebe!
Peter wurde ungeduldig.
— Zieh! rief er.
Ich blickte ihn an. Seine Züge waren verzerrt, seine Augen starr auf mich gerichtet. Ich verstand plötzlich alles. Wenn ich das Los ziehe, werde ich diesen Mann sofort töten müssen, da er, im entgegengesetzten Falle, mich ermordet. Unwillkürlich schob ich die Hand in die Tasche und suchte nach der Waffe. Aber da kam mir der Gedanke, daß ebensogut Peter das Los ziehen konnte, was dann? Werde ich dann die Kraft haben, auf dieses geliebte Weib zu verzichten, in dem Bewußtsein, daß nur ein elender Zufall alles entschieden hat? Werde ich mich nicht gegen ihn empören? Perlender Schweiß bedeckte mir die Stirn.
Wenn ich wüßte, daß Martha mich lieber hat, daß sie für mich auch nur ein ganz klein wenig mehr empfindet als für Peter, würde ich auf das Los nicht warten.
Aber so ...
Sie sagte doch vor einem Augenblick: Ihr Widerwärtigen ... Ihr!
Soll ich ihr Gewalt antun und dazu einen Menschen umbringen ... oder mich vor dem Zufall beugen?
Ich blickte Martha an, sie hatte aufgehört zu weinen und saß still da, auf das weite Meer starrend, als wenn sie nicht wüßte, daß wir hier, einige Schritte von ihr entfernt ...
Ein grenzenloses, herzzerreißendes Mitleid mit diesem Weibe erfaßte mich.
Dies alles dauerte kaum eine Sekunde. Unwillkürlich berührte ich wieder den Griff des Revolvers in meiner Tasche, wie irrsinnig um mich blickend, wen ich ermorden sollte: Peter, Martha, mich selbst oder Tom, den wir zum Werkzeug der Tortur für sie gemacht hatten.
Plötzlich ließ diese unerhörte Spannung der Nerven nach, und alles löste sich in meinem Innern. Es blieb mir nur noch die Gleichgültigkeit und — der Stolz. Ich öffnete die Hand, die schon den Revolver gepackt hatte.
— Zieh! zischte Peter mit erstickter Stimme.
— Nein! antwortete ich mit ruhigem Entschluß.
— Wie?
— Wir werden keine Lose ziehen.
Er konnte es noch nicht begreifen, schob schnell die Hand in die Tasche, und ich hörte das Knacken des Revolverabzuges.
Also auch er war vorbereitet; ich hatte mich nicht getäuscht. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte ich ihn bei den Händen. Er beugte sich nach hinten und wand sich unter dem eisernen Druck meiner Fäuste; in seinen Augen flammte das höchste Entsetzen.
Ich hörte einen durchdringenden Schrei Marthas. Im ersten Augenblick schien es mir, daß in ihm etwas wie Freude zitterte, aber dann dachte ich, daß sie sich vielleicht um Peter ängstige. Ich schaute ihn an; er blickte mir in die Augen mit einer ohnmächtigen, verzweifelten Wut. Es schien mir, daß er den Tod erwartete. Ich lächelte und schüttelte den Kopf.
— Nein, das nicht, das ... Nimm sie dir, sagte ich und ließ ihn los.
Zuerst war er ganz starr vor Staunen. Er schaute mich irr an, und dann lächelte er gezwungen:
— Du bist edel, ja, ich danke dir ... Es ist wahr, ich bin jünger, also mit Recht ... Aber, hier wurde seine Stimme tiefer, aber, versprichst du mir, daß niemals ... niemals ...
Er zeigte mit einer Kopfbewegung auf Martha.
Ich sah ihm in die Augen.
— Ja, ich weiß, es ist nicht nötig ... Ich danke dir, du bist ... sagte er schnell.
Ein unbeschreiblicher Widerwille schüttelte mich. Peter zögerte, wandte sich dann schnell um und näherte sich Martha ... Auch ich schaute auf sie und wieder trafen sich unsere Augen, aber aus ihrem Blick sprach jetzt Haß und eine grenzenlose Verachtung.
— Martha, ich soll dein Mann sein, sagte Peter.
— Ich weiß es.
Ihre Worte klangen ganz gleichgültig.
— Martha ...
— Das Gewitter kommt heran ...
— Ich sehe es ...
Peter seufzte nervös ...
— Komm, flüchten wir uns in die Höhle.
In seinen Augen glimmte eine tierische Leidenschaft; durch die krampfhaft zusammengepreßten Kiefer drangen nur mühsam die abgerissenen Sätze hervor und seinen Körper schüttelten Fieberschauer.
Ich wagte es nicht, Martha anzusehen. Ich hörte nur ihre gedämpfte, gleichgültige Stimme:
— Gut. Ich komme ...
Peter zögerte noch:
— Martha, gib mir zuerst das Stilett.
Sie warf es auf die Erde, daß die Schneide auf den Steinen klirrte, und ging, ohne sich umzusehen, in die Grotte. Peter ergriff Tom beim Händchen und lief ihr nach.
Ein blendender Blitzstrahl durchzuckte grelleuchtend den schwarzen Himmel; dumpfes, durch das Echo langgezogenes Dröhnen des Donners verkündete den Anfang des Gewitters. Strömender Regen stürzte herab und erfrischte die verbrannte, ausgetrocknete Erde!
Es schwindelte mir im Kopfe. Ich warf mich auf die Fliesen, in verzweifeltes, unmännliches Weinen ausbrechend ...
Über mir rollten die Donner, und die ganze Welt verfinsterte sich in endlosen Regengüssen.
So gestaltete sich unser Leben auf dem Monde.
Es begannen für mich dann einsame, traurige Zeiten ... Meine Beziehungen zu Peter waren niemals herzlich, und was Martha betrifft, konnte ich mich nicht überwinden, ihr so zu begegnen wie früher. Etwas stand zwischen uns; ein Schmerz oder ein Gefühl der Scham beiderseits oder sonst etwas. Auch sie hatte sich verwandelt, war eine andere geworden, kaum mehr zu erkennen. Abgemagert und blaß, fast häßlich, verschlossen, wenig sprechend, schien sie mich zu meiden. Lange Stunden brachte sie allein mit Tom zu. Lediglich der Anblick dieses Kindes konnte das Wunder bewirken, daß ihre finsteren Züge sich für einen Augenblick im Lächeln des Glücks erhellten. Der Sohn war für sie alles. Sie dachte nur an ihn. Sie nahm ihn oft auf den Schoß, liebkoste ihn leidenschaftlich oder erzählte ihm Geschichten, die er noch gar nicht verstehen konnte: von der Erde, die wir zurückgelassen, weit im Himmelsblau, von dem Vater, der in dem Grabe auf der furchtbaren Wüste schlief, von sich selbst ...
Peter war eifersüchtig. Er hatte von jeher eine Abneigung gegen das Kind, aber jetzt sah er es manchmal mit einem Blicke an, daß ich, der ich seinen Charakter kannte, zitterte, er könne ihm ein Leid antun. Übrigens war er auch auf mich eifersüchtig, obwohl ich alles vermied, was ihm dazu Veranlassung geben konnte. Nie begegnete ich Martha allein und auch in seiner Gegenwart sprach ich wenig mit ihr. Wenn ich aber hie und da ein Wort mit ihr wechselte, fühlte ich stets seinen unruhigen, haßerfüllten Blick.
Schwer und traurig war Marthas Leben und das meinige, aber ich glaube, er war der Unglücklichste von uns dreien. Martha hatte wenigstens einen Trost in dem Kinde, ich diese stolze Genugtuung, die uns die Erfüllung eines freiwillig gebrachten Opfers gibt. Aber er, Peter, lebte von Eifersucht gequält an der Seite des heißbegehrten, ihm kalt und gleichgültig gegenüberstehenden Weibes, nirgends einen Halt findend. Ich habe mich unwillkürlich von ihm zurückgezogen und Martha gab zwar allen seinen Wünschen nach, aber sie zeigte ihm in jeder Minute, daß sie ihn lediglich als das Werkzeug betrachtete, durch das sie dem geliebten Sohn den Segen der menschlichen Gesellschaft auf dem Monde sichern wollte. Ich habe niemals gehört, daß sie auch nur ein wärmeres, herzlicheres Wort zu ihm gesprochen hätte; wenn er ihre Hände oder ihr Antlitz mit Küssen bedeckte, wehrte sie es nicht, aber sie saß unbeweglich und gleichgültig, in ihren Augen einen Ausdruck der Ermüdung und ... des Ekels.
Und er liebte sie doch auf seine Art und tat alles, um bei ihr ein Gefühl für sich zu wecken, ihre Gegenliebe zu erzwingen, als wenn man Liebe erzwingen könnte! Es gab Augenblicke wo er ihr drohte und sich bemühte ihr seine Übermacht zu zeigen, aber sie schaute ihn auch dann gleichgültig und ruhig an und weder Angst, noch Lust sich ihm zu widersetzen, zeigte sich in ihren Zügen. Wenn er etwas befahl, tat sie es ohne zu murren, aber auch ohne zu lächeln, genau wie wenn er sie um etwas bat. Das brachte ihn zur Verzweiflung. Ich sah, daß er manchmal in ihr Haß und Empörung wachrufen wollte, nur um sie aus dieser furchtbaren Gleichgültigkeit herauszureißen. Er ergriff also das letzte Mittel: er verfolgte Tom. In meiner Gegenwart wagte er es nicht das Kind zu berühren; ich sagte ihm einmal, daß ich ihm den Schädel zertrümmern würde, wenn er dem Kinde das kleinste Unrecht zufügte und er wußte, daß ich seit jenem denkwürdigen Mittag den Revolver stets bei mir trug. Aber sobald ich fort war, schlug er Tom. Ich habe das erst viel später und zufällig erfahren. Martha drohte ihm in solchen Momenten, ohne ein Wort zu verlieren, mit dem Stilett, das ich aufhob und ihr zurückgab, nachdem sie es damals, in die Grotte gehend, zu Boden geworfen hatte.
Ein anderes Mal wieder warf sich Peter, von einem Extrem ins andere fallend, zu ihren Füßen und schluchzte und flehte um Erbarmen.
Einmal war ich unbemerkt Zeuge einer solchen Szene. Ich kehrte gerade von einem Ausflug zu den ziemlich entfernten Petroleumquellen zurück und hörte, als ich mich dem Hause näherte, lautes Sprechen und dann Peters Weinen. Martha saß auf der Bank im Garten, den wir auf dem Hügel angelegt hatten, von wo sich ein herrlicher Blick auf das Meer und die Berge eröffnete. Zu ihren Füßen im Sande lag Peter. Die zusammengefalteten Hände stützte er auf ihre Knie und betete förmlich zu ihr, mit flehendem Blick und erstickter Stimme.
— Martha, schluchzte er, Martha, erbarme dich meiner! Siehst du nicht, was mit mir vorgeht! Das ist doch grauenhaft ... Ich liebe dich bis zur Raserei, verliere die Sinne, und du ... und du ... Ein krampfhaftes Weinen unterbrach seine Worte.
Martha zuckte nicht einmal.
— Willst du etwas von mir, Peter? frug sie nach einer Weile.
— Ich will deine Liebe!
— Du bist mein Mann ...
— Gut. Ich liebe dich ...
Sie sagte das alles langsam, ruhig und mit einer so furchtbaren Gleichgültigkeit, daß sogar mich ein frostiges Gefühl durchlief.
Peter sprang auf.
— Weib, reize mich nicht! schrie er außer sich.
— Ich werde dich nicht reizen.
Peter packte sie mit beiden Händen bei den Schultern; seine Züge hatten sich in ohnmächtiger Wut verzerrt. Unwillkürlich griff ich zum Revolver; mein Blut hämmerte in den Adern, aber ich fühlte, daß mir die Hand nicht zittern würde.
— Willst du mich schlagen, Peter? frug Martha wieder in einem Ton, als wenn sie sagte: Willst du Wasser trinken?
— Ja, ich werde dich schlagen, zerren, morden, bis ... bis ...
— Gut. Schlage mich ...
Er wimmerte und wankte wie ein Betrunkener.
Ich näherte mich, um durch meine Gegenwart diesem entsetzlichen Auftritt ein Ende zu machen.
Marthas immer gleiche Traurigkeit und Peters furchtbare innere Kämpfe mitanzusehen, war mir im höchsten Maße qualvoll, und da auch sie mich zum Teile mieden, wenn auch jedes von ihnen aus einem anderen Grunde, so ergab es sich, daß ich den größten Teil der langen Mondtage in vollster Einsamkeit verbrachte. Ich habe mich langsam daran gewöhnt. Übrigens konnte ich schon jetzt mit dem Gedanken an die Zukunft die Leere und Langeweile ausfüllen, zu der ich mich selbst freiwillig verurteilte. Wohl hatte ich mir die Ehe „eines von uns“ mit Martha anders vorgestellt: Ich träumte von einer heiteren, stillen, wenn auch von Sehnsucht nicht freien Idylle, von einem neuen herzlichen Band, das unsern kleinen Kreis vereinen könnte, von langen, mit gedämpfter Stimme geführten Plaudereien, die sich um das Glück und die Sorge und die Bequemlichkeit derjenigen, die nach uns kommen sollen, drehen würden. Aber wenn auch die Wirklichkeit all diese schönen Träume vernichtete, so hatte sie mir doch ein unschätzbares Gut gegeben: Die Hoffnung auf ein neues Geschlecht. Ich liebte das kommende Geschlecht, diese nicht von mir stammenden Kinder, noch ehe sie zur Welt kamen. Auf langen, einsamen Wanderungen dachte ich unaufhörlich an sie. Für sie sammelte ich Vorräte, erforschte die Gegend, schrieb die Beobachtungen nieder; für sie holte ich die von der Erde mitgenommene Bibliothek aus dem Staube hervor und ordnete die Bücher; für sie habe ich Ziegelsteine gefertigt und Kalk gebrannt, um ein gemauertes Haus zu bauen und ein kleines astronomisches Observatorium; für sie aus dem Erz Eisen geschmolzen oder aus dem Silber, das sich hier in großen Massen findet, verschiedene Geräte geschmiedet, Glas, Papier und andere für den zivilisierten Menschen unentbehrliche Gegenstände hergestellt. Ich habe mich so unaussprechlich auf diese Kinder gefreut, die erst geboren werden sollten! Ich glaubte, daß sich mit ihrem Erscheinen endlich alles zum Besseren wenden, ihr Lachen und ihre hellen Stimmchen diese drückend schwüle Atmosphäre verwehen müßten, die zwischen uns herrschte.
Und ich brauchte nicht allzu lange auf sie zu warten. In nicht ganz einem Jahre gebar Martha Zwillinge: zwei Töchter. Sie kamen in der Nacht zur Welt. Als ich vom Nebenzimmer, wo ich mit Tom saß, ihr erstes schwaches Weinen vernahm, sprang ich auf, von einer wahnsinnigen Freude erfaßt, aber in demselben Augenblick schnürte mir ein furchtbarer Schmerz das Herz zusammen und ich konnte nur mit Mühe die aufsteigenden Tränen zurückhalten. Tom schaute mich erstaunt an, ebenfalls den Stimmen lauschend, die aus dem anderen Zimmer herüberdrangen.
— Onkel (so nannte er mich stets), sagte er endlich, Onkel, was weint dort so? Etwa Mütterchen?
— Nein, Kind, nicht Mütterchen weint, das ... sind so kleine Kinder wie du, vielleicht noch kleiner.
Tom machte eine ernste Miene und begann nachzudenken.
— Und woher diese Kinder? Wozu diese Kinder? fragte er gespannt.
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Er sah mich aufmerksam an.
— Onkel, und weshalb weinst du? fragte er plötzlich.
Ja, wahrhaftig, Tränen flossen mir aus den Augen. Weshalb weinte ich?
— Weil ich dumm bin! sagte ich auffahrend, mehr meinen Gedanken antwortend als ihm.
Das Kind schüttelte mit großer Würde den Kopf.
— Das ist nicht wahr! Ich weiß, Onkel, daß du nicht dumm bist. Mütterchen sagte nicht so. Mütterchen sagte, daß der Onkel gut ist, sehr gut, nur ... nur ...
— Nur was? Wie sagte dir Mütterchen?
— Ich habe vergessen ...
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand Peter. Er war blaß und sichtlich erschüttert. Er lächelte mir bitter zu, aber ehrlich, zum erstenmal seit einem Jahr, und sagte:
— Zwei Töchter ...
Und dann:
— Jan, Martha will, daß du ihr Tom bringst.
Ich ging mit Tom in das Zimmer. Als sie den Sohn erblickte, streckte sie beide Hände nach ihm aus.
— Tom, komm und sieh! Du hast zwei Schwesterchen, zwei auf einmal! Das ist für dich! Du wirst mir verzeihen, Tom, nicht wahr? Du wirst verzeihen ... Aber das ist für dich, nur für dich, mein Liebster, einziger, geliebter Sohn! Sie sagte das mit abgebrochener Stimme, das Kind an ihre Brust drückend.
Tom dachte nach.
— Mütterchen, was werde ich mit diesen Schwesterchen tun?
— Was du willst, mein Kleiner; du wirst sie schlagen, lieben, kratzen, küssen, alles, was du willst, und sie werden dir gehorchen und für dich arbeiten, wenn sie groß sind, hörst du?
— Martha, was sprichst du? schrie Peter. Martha, das sind meine Kinder!
Sie sah ihn kühl an:
— Ich weiß es, Peter, das sind deine Kinder ...
Peter machte eine Bewegung, als wenn er sich auf sie stürzen wollte, aber er hielt sich zurück und sich ihrem Lager nähernd, sagte er so sanft er konnte:
— Das sind unsere Kinder, Martha. Hast du für mich kein Wort? Nichts? ...
— O ja. Ich danke dir.
Darauf begann sie wieder das helle Köpfchen des Sohnes zu streicheln und leidenschaftlich zu küssen:
— Mein Tom, mein liebstes, geliebtes, goldenes Söhnchen ...
Peter stürmte wie wahnsinnig aus dem Zimmer und mir wurde es schwül und bange. Es war etwas Ungeheures in dieser ausschließlichen Liebe der Mutter.
Die Geburt dieser zwei Mädchen, Lilli und Rosa, änderte nicht viel in unserm Leben, ganz gegen unsere Erwartungen. Die Beziehungen Marthas und Peters blieben immer dieselben. Ich fühlte seit langem alles mit Martha; aber jetzt begann ich auch ein tiefes Mitleid für Peter zu empfinden. Er wurde stumm und finster. In jedem seiner Worte, in jeder seiner Bewegungen lag eine tödliche Ermüdung und Niedergedrücktheit. Einige Jahre jünger als ich, ging er gebückt, und sein Haar begann zu ergrauen. Die eingefallenen Augen flammten in einem ungesunden Glanz. Niemals hätte ich gedacht, daß ein Jahr des Lebens diesen unverbrauchten Organismus, der siegreich und kraftvoll am besten von uns allen die unerhörten Mühen der Reise durch die Wüste überstanden hatte, brechen könne. Der Grund war schließlich Martha, und doch konnte ich ihr keine Schuld geben ... Sie liebte nur diesen einen, der gestorben war; außer für ihn und für ihren Sohn gab es keinen Raum mehr in ihrem Herzen — das war das ganze Unglück.
Es schien mir sogar, daß sie die Töchter nicht liebte. Sie kümmerte sich zwar fürsorglich um sie, aber es war ersichtlich, daß sie dies nur mit dem Gedanken an Tom tat. Sie hatten für sie nur die Bedeutung wertvoller Spielzeuge für den Sohn, die man nicht beschädigen darf, seltener Tiere, die der Aufmerksamkeit und Pflege bedürfen, weil ihr Verlust kostspielig wäre. Sogar die Art, wie sie von den Töchtern sprach, bewies das, denn sie sagte stets: Toms Mädchen. Peter sah es ratlos mit an und wurde noch finsterer.
Jedesfalls bedurften diese Kinder vieler Sorgfalt und nahmen, vor allem in den ersten Monaten, Marthas ganze Zeit in Anspruch; auf diese Weise war Tom meist unter meiner Obhut. Ich hatte also einen Kameraden. Das Kind war sehr verständig und über sein Alter entwickelt. Er frug mich über alle möglichen Dinge aus und sprach mit mir wie ein Erwachsener. In kurzer Zeit hatte ich mich so an ihn gewöhnt, daß es mir unmöglich war, ohne seine Gesellschaft zu sein. Während meiner einsamen Mondtage war ich unaufhörlich herumgewandert; jetzt nahm ich auf alle, sogar die weiten Ausflüge Tom mit mir. Martha vertraute ihn mir auch gern an, denn sie wußte, daß er bei mir gut aufgehoben war, besser sogar wie zu Hause, da ihn der Stiefvater nicht leiden konnte.
Ich erbaute einen Wagen und lehrte sechs starken Hunden im Gespann zu gehen. In Anbetracht unserer Leichtigkeit auf dem Mond genügte uns dieses Gespann vollständig, bequem und schnell von einem Ort zum andern fahren zu können. Manchmal machten wir weitere Ausflüge, die zwei und mehr Mondtage dauerten. Dann nahm ich, mit Rücksicht auf die kalten Nächte, einen dicht verschlossenen, von einem Elektromotor getriebenen und heizbaren Wagen mit, den ich aus unserem alten Projektil hergestellt hatte, indem ich es bedeutend verkleinerte. Im Innern war außer für Tom und mich noch für zwei Hunde Platz, ebenso für reichliche Nahrungsvorräte und Brennmaterial.
Auf diese Art bereisten wir fast den ganzen nördlichen Strand des Mittelmeeres auf dem Monde und kamen nach Osten und Westen, und zwar so weit, bis uns die schon dünner werdende Luft an den Grenzen der Wüste zur Rückkehr zwang. Der am meisten nach Westen herausgerückte Punkt, wohin wir gelangten, war das Mare Humboltianum, eine Ebene, die ungefähr unter derselben Mondbreite gelegen wie das Mare Frigoris, manchmal von der Erde, während günstiger Librationen des Mondes, sichtbar ist wie ein kleines dunkles Wölkchen auf dem rechten Segment des oberen Teiles der silbernen Scheibe.
Und wir erblickten von dort aus die Erde, die über dem Horizont emportauchte. Ich habe mich eine ganze lange, zweiwöchige Nacht daselbst aufgehalten, um mich an dem Anblick dieser seit langem nicht gesehenen, seit länger noch verlorenen heimatlichen Welt zu laben.
Bei Sonnenaufgang stand die Erde in ihrer ganzen Fülle (wir befanden uns nämlich auf dem neunzigsten Meridian, der die Westgrenze der sichtbaren Halbkugel des Mondes bildet) vor uns! Als ich diese glühende, etwas gerötete Scheibe bemerkte und die über sie gleitenden hellen Linien Europas erkannte, packte mich eine unbezwingliche, heiße Sehnsucht nach diesem Globus, der am Himmel leuchtete. Es schien mir, daß ich, hinausgetrieben aus dem Paradies, nach einer langen, langen Wanderung für eine Sekunde seinen goldenen Schein erblickte, und ich streckte mit einer unverständigen beinah kindlichen, aber nicht zurückzuhaltenden Bewegung die Hände nach ihm aus: Noch einmal dorthin zu gelangen, wenn auch ... nach dem Tode. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an die Erde, so wie ich sie zum letztenmal im Polarlande gesehen hatte: schwarz, tot, auf dem Hintergrunde eines blutigen Brandes, und eine unbeschreibliche Traurigkeit kam über mich.
Aller Jammer, alles Unglück und Elend, alle wilden Leidenschaften, die dort seit ewigen Zeiten das menschliche Geschlecht vernichten, ja sogar der allbezwingende, unerbittliche Tod, sind uns hierher gefolgt auf diesen Globus, der bis jetzt still und ruhig in seiner Starrheit thronte. Überall lebt der Mensch in Qual und Schmerzen, denn überallhin trägt er in sich selbst den Keim des Unglücks.
Tom weckte mich aus meinem finsteren Grübeln. Er stand neben mir, eben aus einem langen Schlaf erwacht, und schaute auf das ihm unbekannte leuchtende Rund am Himmel.
— Onkel, was ist denn das? fragte er endlich, mit dem Händchen nach oben deutend.
— Du weißt doch, das ist die Erde, ich sagte dir öfter, daß ich dich hierherführen würde, um sie dir zu zeigen. Übrigens sahst du sie ja bereits, als wir hergekommen sind, erinnerst du dich nicht?
— Nein, nein, ich habe diese Erde nicht gesehen; die andere war anders, auf der einen Seite zackig und diese ist rund.
— Das ist dieselbe Erde, Kind. Tom dachte eine Weile nach.
— Onkel ...
— Was?
— Ich weiß es schon, sie ist wahrscheinlich gewachsen oder hat sich morgens entrollt wie diese großen Blätter.
Ich bemühte mich, ihm so gut ich konnte die Ursache der Veränderung der Erde zu erklären. Er hörte zerstreut zu und verstand scheinbar nicht, was ich sagte.
Endlich unterbrach er mich mit der Frage:
— Onkel, und was ist das, diese Erde?
Ich erzählte ihm dann, wohl zum hundertstenmal, daß dort Meere sind, Berge und Länder und Flüsse wie auf dem Monde, nur weit größer und schöner; daß es dort viele Häuser gibt, nebeneinanderstehend, die man Städte nennt und in diesen Städten viele, viele, unzählige Menschen wohnen und kleine Kinder. Ich erzählte, daß wir von dort auf den Mond gekommen sind: ich und die Mutter und Peter und sein Vater, der nicht mehr lebt, und sogar die beiden alten Hunde, Wotan und Leda, mit denen er so gerne spielt.
Als ich geendet hatte, machte Tom, der der Erzählung mit großem Interesse zuhörte, ein schlaues Gesicht und sagte, meinen Bart streichelnd:
— Das weiß ich schon alles, aber jetzt, Onkel, mach’ bitte keinen Spaß, sondern sage ganz vernünftig, was ist das, diese Erde?
Beide Hunde standen neben uns, und die Köpfe zur Seite biegend, schauten sie ebenfalls neugierig auf die am Himmel leuchtende Scheibe.
Einige Stunden nach Sonnenaufgang traten wir die Rückfahrt an. Die Erde, durch den Tagesglanz verblaßt, schien hinter uns nur noch wie eine aschgraue, kreisförmige Wolke, die über dem Horizont sichtbar war.
Ein anderes Mal machten wir einen weiten Ausflug nach Süden. Der Strand des Meeres, der sich in gebrochener Linie erstreckt, ungefähr zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten Parallelkreis, weicht in der Gegend des 140.° östlicher Mondbreite gegen den Äquator zurück, eine mehrere Kilometer breite Halbinsel bildend und vielleicht auch eine Meerenge, die sich mit den Ländern der südlichen Halbkugel vereinigt. Ich wollte mich darüber orientieren und auf jener Halbkugel vordringen, aber dies gelang mir nur bis zum dreißigsten Parallelkreis. Weiter nach Süden zu war das Klima unmöglich zu ertragen. Die Nächte waren trotz der Nähe der Meere so kalt, daß sie mich an die Fröste erinnerten, die auf der luftlosen Halbkugel herrschten, und während der furchtbaren Glut des Tages hörten die ungeheuren Orkane fast gar nicht auf. Der Boden war felsig, vulkanisch und ganz kahl. Keine Pflanze, kein Leben, nichts — nur eine tote Wüste zwischen zwei feindlichen Meeren, aus denen die scharfen Spitzen vulkanischer Inseln herausragten, die nicht selten durch eine Rauchwolke oder eine blutige Feuersbrunst verhüllt waren. Öfter während dieses Ausfluges bedauerte ich schon, daß ich Tom mit mir genommen hatte, weil ich fürchtete, wir würden beide ums Leben kommen. Da wir der steilen Berge wegen in der Mitte jenes Landstreifens nicht vorwärtskamen, hielten wir uns an dem östlichen Strand, wo sich zu Füßen wilder und phantastischer Felsen eine etliche hundert Meter breite Ebene erstreckte. Es war schon gegen Mittag, und das Meer durch die Flut, die von der Anziehungskraft der hier sehr kräftigen Sonne hervorgerufen ist, so gestiegen, daß seine Oberfläche fast die Oberfläche des Strandes erreichte. Da ich eine Überschwemmung des Weges, den wir passierten, befürchtete, sah ich mich nach einem Ausgang zum Abhang der Felsen um, als sich ein Gewitter erhob, dem ein Orkan von Osten her vorausging. Die mächtigen Wogen ergossen sich über den Strand; eine davon traf unseren Wagen und warf ihn zurück, dicht an eine vorspringende Felsenecke. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich befestigte den Wagen mit einer Kette an dem Felsen, und nachdem ich ihn von außen dicht geschlossen hatte begann ich, Tom auf die Schultern nehmend, den Vorsprung zu erklettern. Ich habe im ganzen Leben keine derartige Todesangst ausgestanden wie damals. Mit den Füßen und einer Hand hielt ich mich an dem verwitterten Felsen, mit der andern Hand hatte ich den Knaben gefaßt, der vor Entsetzen zitterte; unter mir das tobende, schäumende Meer und über mir eine Wolke, aus der sich die Donner entluden und strömender Regen herabstürzte. Zum Glück schützte mich der Felsvorsprung vor dem Orkan, sonst wäre ich unzweifelhaft mit den Steinblöcken, die, durch den Sturm vom Gipfel losgerissen, wie Hagel um meinen Kopf sausten, in die Tiefe geschleudert worden. Diese furchtbare Situation machte die Angst um den Wagen, der unten zurückgeblieben war, noch qualvoller. Wenn die Wellen die Kette losrissen und den Wagen davontrieben oder ihn an den Felsen zerschmettern, ja, wenn sie nur den Motor beschädigten, wären wir unrettbar dem Tode verfallen, da wir zu Fuß, ohne Lebensmittelvorräte, ohne Schutz vor der Kälte, unmöglich nach Hause gelangen konnten. Als ich die Stelle erreicht hatte, wo ich Tom unter einen Felsen setzen, zudecken und so festbinden konnte, daß er vor dem Sturme in Sicherheit war, kletterte ich sofort in die Tiefe zurück, um den Wagen besser zu befestigen. Nach vielen Mühen glückte es mir endlich, ihn in eine Kluft zu bringen, wo er vor den Wellen geschützt war.
Wieder bei Tom angelangt, saß ich einige Stunden mit ihm, das Ende des Gewitters abwartend. Das verängstigte Kind schmiegte sich an mich und frug weinend, warum wir hierhergekommen seien. Ich konnte ihm nicht antworten, weshalb wir hierherkamen, wie ich mir schon seit langem die Frage selbst nicht mehr beantworten kann, weshalb wir auf den Mond gekommen sind ...
Durch die Erfahrung betreffs der Rückkehr vorsichtiger geworden, wählte ich einen Weg, der hoch über dem Meeresspiegel führte.
Übrigens war dies der einzige Zwischenfall, durch den uns während der Reise eine ernste Gefahr drohte. Alle andern Ausflüge legten wir ohne Abenteuer in froher Stimmung zurück.
Wir hatten auch ein großes, starkes Boot. Den zweiten Elektromotor, der sich einst im Besitz der unglücklichen Remogners befand, haben Peter und ich ausgebessert und in der Schaluppe angebracht, zur Bedienung der treibenden Schraube. Die Schaluppe benützten wir zu Fischereiexpeditionen; auch fuhr ich öfter darin mit Tom des Vormittags oder in der Abendzeit aufs hohe Meer hinaus.
Während einem dieser Ausflüge entdeckte ich eine Insel, die in jeder Beziehung beachtenswert war. Schon von weitem erstaunte ich über ihre Gestalt ...
Alle Inseln, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte, waren entweder durch Vulkane an die Oberfläche des Meeres gehoben, oder die Gipfel vom Wasser überfluteter Ringberge. Diese Insel dagegen machte auf mich sofort den Eindruck des Überrestes eines vom Meere verschlungenen Landes. Sie war groß und ziemlich flach, lediglich im Südwesten erhob sich eine niedere Bergkette, die seit uralten Zeiten von Regen und Sturm zerbröckelt schien. Ihre Ufer waren steil und scheinbar durch die Brandung zerfressen, denn das Meer war in einem großen Umkreis so flach und mit Sandbänken angefüllt, daß es uns schwer fiel, mit der nicht tiefgehenden Schaluppe zu landen.
Und wie viel Interessantes bot dieses neu entdeckte Stückchen Boden, das den uns bekannten Mondgegenden so gänzlich unähnlich war. Vor allem nahm uns die vollständig verschiedene Flora wunder. Weniger üppig wie anderswo, unterschied sie sich durch eine unendlich größere Verschiedenheit der Gattungen. Auf diesen paar Quadratkilometern Erde traf ich kaum mehr als drei oder vier Stauden an, die mir bereits bekannt waren, aber dafür eine Menge Pflanzen, die sonst an keiner anderen Stelle vorkamen. Alle waren seltsam traurig und degeneriert. Sie machten den Eindruck von Resten eines ausgestorbenen, überall ausgestoßenen Geschlechts, das hier noch, wie durch ein Wunder erhalten, existierte und von der Art des Lebens auf dem Monde vor alten, grauen Zeiten Kunde gab, als hier, wo jetzt das Meer wogt, Länder waren und das Wasser andere Gegenden überflutete. Dasselbe dachte ich, als ich die Tiere erblickte, die auf dieser seltsamen Insel hausten. Es waren nicht viel, und sie unterschieden sich ebenfalls von den mir bisher bekannten. Es lag etwas Greisenhaftes und Trauriges in ihrem Aussehen und Verhalten. Als ich mich näherte, krochen diese gebrechlichen, degenerierten Ungeheuer aus ihren Schlupfwinkeln heraus und schauten mich verständig und prüfend, aber ohne jedwede Furcht an. Erst der Hund, den ich mit mir genommen hatte, jagte ihnen Angst ein; sie ergriffen die Flucht vor ihm und stießen halb zornige, halb traurige Zischlaute aus. Wie ich mich überzeugte, waren das die einzigen Laute, die sie von sich geben konnten.
Tom war wie immer mit mir. Er wunderte sich über alles und blieb fortwährend stehen, mit einem farbigen Stein oder einer Muschel beschäftigt oder eine duftende Pflanze betrachtend, die durch die Stellung der Blätter an irdische Blumen erinnerte. Ich hatte mich gerade einige Schritte von ihm entfernt, als ich sein Rufen vernahm:
— Onkel, Onkel, komm her und sieh, was für schöne Stöcke!
Ich kehrte um und fand den Knaben auf der Erde sitzend, von einer Unmenge weißer dünner langer Knochen umgeben. Ich prüfte sie näher und wußte auf dem Monde kein Tier, von dem sie herrühren konnten.
Nach längerer Untersuchung bemerkte ich zwischen diesen Knochen einen merkwürdigen Gegenstand: es war ein Stück dicken, auf der einen Seite stark gebogenen Kupferblechs, das seiner Form nach an ein breites Messer erinnerte. Das Herz schlug mir heftig: wenn ich mich nicht irrte, wenn dies wirklich ein künstlich gefertigtes Instrument war, so hatten auf dem Monde einst verständige Wesen gelebt.
Ich erinnerte mich an jene Stadt der Toten, die einst auf dem Mare Imbrium vor uns auftauchte und die so denkwürdig war durch den entsetzlichen Vorfall, der den Tod Woodbells verursachte. Wir hatten damals jene Felsen, die Ruinen so täuschend ähnlich sahen, nicht näher betrachten können, und wunderbar, jetzt fand ich abermals etwas, das für die Existenz vernünftiger Geschöpfe hier lange, lange vor unserer Ankunft zu sprechen schien.
Ich besichtigte die Insel weit und breit, stieg in verschiedene zu Füßen der Bergkette liegende Grotten, fand aber nichts, was mich hätte von der Richtigkeit meiner Vermutungen überzeugen können. Zwar schien es mir, daß ich hier oder dort, in dieser oder jener Grotte Spuren einer zweckmäßig gefertigten Arbeit erkannte. Am Ufer des kleinen Teiches sah ich zwei, drei Stück versteinerter Wurzeln, die gewissermaßen Einschnitte hatten, und der Damm, der den Bach verhinderte sich in den Teich zu ergießen, schien mir künstlich erbaut zu sein. In einer anderen Richtung wieder lagen Steine aufeinander, wie der Überrest einer zertrümmerten Mauer; aber das alles konnte ebenso das Werk des Zufalls sein oder nicht verständiger, aber schlauer Tiere. Auf der Erde erheben doch zum Beispiel die Biber die interessantesten Bauten.
Ich konnte also dieses wichtige Rätsel nicht lösen, aber die vorgenommenen Untersuchungen bestärkten meine Vermutungen, daß diese Insel das Überbleibsel eines größeren, im Meere verschwundenen Stück Landes sei, und gaben ein annäherndes Bild von der Mondwelt und des sich auf ihr entwickelnden Lebens in grauen Zeiten, die der gegenwärtigen Epoche vorausgingen.
Ich nannte dieses Land die Friedhofinsel. Gern und oft kam ich hierher, um von den Berggipfeln auf das sich rings erstreckende, von der Sonne golden gefärbte Meer zu schauen, in dessen Fluten wahrscheinlich der Rest dieses Landes versank und ein wer weiß wie seltsames und reiches Leben.
Vor mir am Horizont leuchteten die Gipfel entfernter Vulkane, über denen der finstere, fast unaufhörlich mit einer Feuersbrunst umlohte, mächtige Otamor thronte. Das Meer schäumte, seine Wogen zu der am Himmel träge wandelnden Sonne emporschleudernd, und ich, von seinem dumpfen Brausen, das etwas vom Rauschen dahingegangener Äonen, etwas von der geheimnisvollen Stimme der menschlichen Seele an sich hatte, in Halbschlaf gewiegt, träumte, was wohl an diesem Globus vorübergezogen sein mag, vielleicht ohne denkende Zeugen und unwiederbringlich.
Wann hat hier das Leben begonnen? Vielleicht kühlte sich damals die Erde, in dem frostigen Weltenraum hängend, erst auf der Oberfläche ab, und die Sonne ging, infolge der schnelleren Drehbewegung des Mondklumpens, die im Laufe der Zeiten langsamer wurde, rascher über diese Länder und Meere, dem üppig erwachenden Leben kurze Tage und Nächte schenkend, die schnell aufeinander folgten, ohne Frost und ohne unerträgliche Gluten. Damals stand auch die Sonne nicht über der furchtbaren Wüste des Todes, sondern kreiste am Mondhimmel, auf- und untergehend ... Damals gab es vielleicht noch keine luft- und wasserlose Ebene.
Es konnten doch lange, unerhört lange Zeiten der Starre auf dieser Halbkugel, die, sich einmal dauernd zur Erde wendend, die Luft verlor und mit ihr das Wasser, so weit alle Spur des früheren Lebens verwischen, daß es heute scheint, als wenn sie eine Wüste gewesen wäre seit Anfang der Welt. Tomas hat das einst angenommen.
Ich schloß die Augen und stellte mir vor, daß ich in dem unaufhörlichen eintönigen Brausen die Stimmen jenes ursprünglichen Lebens vernehme. Wälder von hohen mächtigen Bäumen, die sich vor dem Froste der langen Nacht, die noch nicht existierte, nicht zu neigen brauchen, rauschen, ihre Wipfel im Winde wiegend; in ihrem Dickicht leben Tiere, kräftig, riesenhaft, die Vorfahren der heute auf dieser Welt degenerierten Nachkömmlinge; zwischen den Ästen schlagen die Flügel fliegender Eidechsen ... Es ist Abend, und der Wind legt sich, und dort über den Nebeln der feuerspeienden Berge erhebt sich das blutigrote helle Rund der Erde.
Und wer weiß, wer weiß, ob nicht auf dieses aufgehende Licht von den Mauern herrlicher Städte, von schlanken Türmen herab verständige Augen schauten? Ob sich nicht Hände diesem Lichte entgegenstreckten, um den silbernen Schutzengel, der die langen Nächte erleuchtet, zu grüßen?
Wer weiß, ob man nicht hier auf dem Monde einst vermutete, daß auf diesem mächtigen Globus, der zwischen den Himmeln hing, ebenfalls denkende Wesen sind, ob man nicht erriet, wie sie leben und aussehen?
Und unwillkürlich nahm meine Vorstellung eine andere Richtung; sie riß sich vom Monde los wie ein aus dem Käfig flatternder Vogel und eilte weiter, Hunderttausende Kilometer im Weltenraum, dorthin zu jener Erde, die mir die Sehnsucht so göttlich schön gestaltete und so zauberisch malte, wie die untergehende Sonne die schneeigen Gipfel der Berge.
Tom unterbrach gewöhnlich diese Träume auf der Friedhofinsel; das lange Schweigen machte ihn ungeduldig.
Dann kehrten wir nach Hause zurück, wo die Mutter den Kleinen sehnsüchtig erwartete.
Hier gehörte Tom nicht mehr mir. Die Mutter nahm ihn zärtlich in ihre Arme, und wenn die leidenschaftlichen Umarmungen und Küsse beendet waren, setzte sie sich mit ihm auf die Schwelle und begann ihre sich stets wiederholende Erzählung von dem jungen, schönen und guten Engländer, seinem Vater, dem sie auf den Mond gefolgt war, und der unter dem Sande der großen, stillen Mondwüste schlummerte. Eigentlich erzählte sie das mehr sich selbst als dem Sohne, und ihre heißen Tränen flossen auf das helle Köpfchen des Kindes.
Peter grübelte gebrochen und niedergedrückt im Hause über etwas nach oder ging nach den Mädchen zu sehen.
Meiner bedurfte niemand, und so zog ich mich zurück, um in der Einsamkeit zu träumen oder mich mit irgendeiner Arbeit zu beschäftigen.
Die Stunden zogen dahin, die Sonne ging auf und unter, die Erdenjahre schwanden, mühsam an den Mondtagen gezählt; Tom wurde größer und die Mädchen liefen schon hinter ihm her auf den Wiesen, aber für mich hat sich nichts geändert.
Nach alter Gewohnheit zog ich allein im wüsten Lande umher, verbrachte lange Stunden auf der Friedhofinsel, und wenn ich nach Hause kam, blickte ich auf Martha, die immer gleich traurig und schweigsam war, und auf Peter, der einem Gespenst mehr glich als einem lebenden Menschen ...
Und nur die Sehnsucht nach der Erde lebte allgewaltig in meinem Herzen und wuchs mit den Jahren, bis sie schließlich eine furchtbare, unerträgliche, mich zu Boden drückende Last wurde. Um mich vor ihr zu schützen, dachte ich an das neue Geschlecht, unternahm große Wanderungen, ergriff fieberhaft die Arbeit, aber in den Augenblicken der Unterbrechung, wenn ich müde und erschöpft niedersank, kehrte sie wieder — sieghaft, unabwendbar, grausam, zeigte mir die blassen Züge meiner Kameraden hier und gaukelte mir Träume vor von jenen dort, die ich auf ewig verlassen hatte ...
Dort, wo es Jahre gibt, die der Wechsel der Jahreszeiten anzeigt und der Lauf der Sonne, deren Bahn sich hebt oder senkt am blauen Himmelsbogen, dort auf der Erde, näherte sich schon das siebente Jahr seinem Ende, seit unserer Ankunft auf dem Monde, als Martha zum drittenmal Mutter werden sollte. Sie erwartete die Geburt des Kindes mit Ungeduld, denn sie hoffte, daß es ein Sohn sein werde, den sie von vornherein Tom zum Begleiter versprach. Als die Zeit ihrer Niederkunft nach langer Unterbrechung heranrückte, sagte sie zu uns:
— Jetzt erst werde ich ruhig sein, wenn ich Tom endlich einen Diener und Sklaven gebe ...
Sie sagte das scheinbar gleichgültig, als wenn sie eine ganz natürliche Sache erwähnte, aber ich hatte das Gefühl, aus ihrem Ton noch etwas Unausgesprochenes herauszuhören ...
Es war wie der Schrei eines schwer erkauften Triumphes, wie das Stöhnen eines Arbeiters, der eine freiwillig aufgenommene Last von seinen Schultern wirft, von Ekel, aber auch von Freude erfüllt, daß er sie getragen hat, wie er beabsichtigte, und nicht unter ihrer Last zusammenbrach, sie auch nicht abwarf vor dem gesteckten Ziel.
Peter war vollständig gebrochen und in Marthas Grausamkeit ergeben. Sie verwundete ihn mit jedem Worte, mit jedem Blick, mit allem, was sie tat und sagte und dabei so unmerklich und so unerbittlich, als wenn es unbewußt geschähe und ein fataler, ungewollter Zufall sei. Aber damals, nach diesen Worten, schaute er sie mit erloschenem Blick an und lächelte verächtlich und dann streckte er die Hand nach Tom aus. Er faßte den Knaben bei der Schulter, und ihn zu sich heranziehend, blickte er ihn lange durchdringend an. Tom war geistig sehr entwickelt, aber für sein Alter auffallend schmächtig. Der Stiefvater schob den breiten Ärmel der Bluse des Kindes zurück und entblößte seine zarte Schulter, schlug leicht mit der Hand auf die schmalen Achseln, betastete die Hüften und Knie, klopfte auf die Brust, lächelte wieder höhnisch, und die Hand auf den Kopf des verängstigten Knaben legend, zischte er, Martha anstarrend, jedes Wort betonend, durch die Zähne:
— Ja ... Tom ist stark genug, um den Mädchen zu befehlen, aber sein Bruder kann stärker sein.
Martha erblaßte und schaute unruhig auf den Knaben. Aber ihre Besorgnis dauerte nicht lange. In den glänzenden Augen des Kindes las sie scheinbar das, was zu allen Zeiten in den Augen der Schöpfer einer neuen Ordnung geschrieben stand, denn sie lächelte nur und antwortete kurz:
— Tom wird stärker sein, wenn auch der andere größer sein sollte.
In der Tat verriet Tom schon damals, als kleiner sechsjähriger Knabe, ungewöhnlichen Scharfsinn und bewundernswerte Energie. Er entwickelte sich schnell und auf eine seltsame Art; in gewisser Beziehung ganz anders, wie sich für gewöhnlich das Gemüt der Kinder dort auf der Erde entwickelt. Beizeiten lernte er Selbständigkeit und hatte einen so ausgeprägt praktischen Sinn, daß wir manchmal staunten. Es war keine Spur einer kindlichen Schwärmerei an ihm zu entdecken; Tom war nüchtern, so entsetzlich nüchtern, daß es mir manchmal weh tat, wenn ich auf dieses helle Haupt des Kindes schaute, in dem die Gedanken, von keinerlei Träumereien getrübt, so ruhig und klar dahinflossen wie unter dem kahlen Schädel eines Greises. Der Knabe hatte trotz alledem viel Herz: er liebte die Mutter zärtlich und hing sehr an mir; nur Peter konnte er nicht leiden. Stets sicher und selbstbewußt, wie sein Vater, war er in Peters Gegenwart verängstigt und verwirrt. Übrigens weiß ich es nicht einmal, ob ich die Ausdrücke recht gewählt habe, um zu beschreiben, was in der Seele des Kindes in Gegenwart des Stiefvaters vorgehen mußte. Tom schwieg alsdann stets so hartnäckig, daß es schien, als wenn er lieber alle Qualen ausstehen würde als die Lippen öffnen. Nur die Augen irrten unruhig umher. In seinem Benehmen war Angst, aber auch Trotz, Verbissenheit, Haß und Widerwille lagen darin. Peter fühlte und sah das, und es schien mir, daß er schon damals dieses seltsame Kind fürchtete.
Martha hatte recht: Tom war keiner von denen, die zum Gehorchen geschaffen sind. Es war zu viel des entschiedenen, weltumfassenden Geistes der Engländer in ihm und zu viel flammendes Blut der stolzen Radschas aus Travancore.
Daher bin ich auch überzeugt, daß, wenn er einen Bruder bekommen sollte, der größer und stärker ist als er, dieser genau so hinter ihm herlaufen und ebenso demütig in seine Augen schauen würde, wie die beiden kleinen Schwestern Lilli und Rosa.
Aber Tom wurde kein Bruder geboren; es kam ein drittes Mädchen zur Welt, das wir Ada tauften.
Martha begrüßte ohne Freude und Rührung die Geburt dieses Kindes.
— Tom, sagte sie einige Stunden später, als wir auf ihren Wunsch den Knaben an das Lager gebracht hatten, Tom, du wirst keinen Bruder mehr haben, aber du hast dafür drei Schwestern. Sie müssen dir genügen als Ehefrauen, als Kameraden, als Dienerinnen ...
Tom fragte nicht mehr, wie bei der Geburt der ersten Mädchen, was er mit der neuen Schwester tun solle, sondern schaute sich nach Lilli und Rosa um, die sich in einer Ecke bei der Hand hielten und an dem Knaben wie gewöhnlich mit Augen voller Liebe und Bewunderung hingen; er berührte leise mit den Fingern das kleine aus Leibeskräften schreiende Geschöpf und sagte, ernst mit dem Kopfe nickend:
— Sie werden genügen, Mütterchen, sie werden genügen ...
— Tom, sagte ich darauf, durch Marthas Worte und das Benehmen des Kindes unangenehm berührt, du mußt gut zu ihnen sein.
— Weshalb? fragte er naiv.
— Damit sie dich lieb haben, antwortete ich.
— Sie lieben mich auch so ...
— Ja, wir lieben Tom sehr! riefen die beiden Mädchen fast einstimmig.
— Siehst du, Tom, sagte ich, sie sind besser als du, denn sie lieben dich, obwohl du es nicht immer verdienst. Aber diese Kleine könnte dich vielleicht auch nicht lieben ..
Tom antwortete nichts; ich bemerkte, daß er voller Mißmut auf das Neugeborene schaute und die zarten Augenbrauen zusammenzog.
Schließlich ist es ganz gut, daß Tom kein Bruder geboren wurde, er wäre sein Sklave oder — sein Feind geworden.
Ich verließ das Zimmer und dachte lange über die furchtbare Ironie des menschlichen Daseins nach, die uns von der Erde auf den Mond nachfolgte. Zu O’Tamor eilten meine Gedanken. Edler Träumer! Wie er es sich so schön vorstellte, daß hier auf dem Monde aus den Kindern Marthas und Tomas’, die vor dem schlechten Einfluß der irdischen „Zivilisation“ bewahrt blieben, ein neues, ideales Geschlecht erblühen würde, dem alles fremd und unbekannt wäre, was die ewige Ursache des menschlichen Unglücks auf der Erde ist! Ich blicke auf diese Kinder und denke mir, daß der kluge, edle O’Tamor nur eines vergessen hat, nämlich daß die Nachkommenschaft des Menschen sich stets aus menschlichen Wesen zusammensetzen wird, die in ihrer Brust den Keim alles dessen tragen, was der Jammer der menschlichen Geschlechter geworden ist. Und ist es nicht die grausamste Ironie, daß der Mensch seine Feinde in sich selbst sogar bis auf die Sterne hinüberträgt, die am fernen Himmel über ihm leuchten?
Es ist gut, daß Tom keinen Bruder hat, wenigstens wird dadurch die Zeit der Bruderkämpfe und Feindseligkeiten hinausgerückt, und wir werden vielleicht indessen sterben und sie nicht mehr mit anzusehen brauchen ...
Und die Mädchen? ... Es scheint mir, daß sie dazu geschaffen sind, ihm zu gehorchen. Sie werden am Ende nicht einmal das ihnen zugefügte Unrecht verstehen, sondern glücklich sein, wenn ihr Bruder, Gatte und Herr sich ihnen gegenüber manchmal gnädig zeigt ... Bezüglich Lilli und Rosa bin ich dessen bereits sicher; Ada hingegen ist noch zu klein, sie ist jetzt nach irdischer Zeitrechnung kaum drei Jahre alt, um irgendwelche Vermutungen bezüglich ihrer zukünftigen Stellung zu dem Stiefbruder auszusprechen. Ich bemerke nur, daß sie ihn nicht so liebt wie die älteren. Tom ist ihr gegenüber ebenfalls sehr gleichgültig.
Die aufmerksame Beobachtung des Heranwachsens und der geistigen Entwicklung dieser vier Kinder bildet in der letzten Zeit meine einzige, wenn auch traurige Zerstreuung. In physischer Beziehung haben sie sich den Bedingungen der Mondwelt, die für uns von der Erde Gekommenen immer fremd und unerträglich sind, obwohl wir schon so viele Jahre hier leben, vortrefflich angepaßt. Etwas ungemein Schwieriges ist zum Beispiel für uns die Regulierung des Schlafes. Während des langen Tages müssen wir fast ebensoviel schlafen wie während der Nacht. Das bringt das Unangenehme mit sich, daß wir den dritten Teil der Zeit, während der die Sonne am Himmel steht, durch den Schlaf verlieren; das ist etwas Unnatürliches und infolgedessen wenig Erfrischendes. Und dafür sitzen wir zwei Drittel der Nacht schlaflos da, von der Kälte, der Dunkelheit und, was noch schlimmer ist, von der Langenweile gequält. Die Kinder, die hier geboren sind, schlafen am Tage sehr wenig, kaum eine, höchstens zwei Stunden in zwanzigstündigen Pausen, aber dafür schlafen sie fast die ganze Nacht mit kleinen Unterbrechungen. Einige Stunden nach Sonnenuntergang überkommt sie schon ein unbezwinglicher Schlaf. Wenn sie in der Nacht aufwachen, so ist das nur auf zwei, drei, höchstens vier Stunden, worauf sie wieder einschlafen, wie bei uns auf der Erde die Zieselmäuse oder Vögel bis zu der Zeit schlafen, da die erste zarte Dämmerung am Himmel das Herannahen des Tages verkündet.
Sie vertragen auch das hiesige Klima unvergleichlich besser als wir. Die Hitze schwächt sie nicht in dem Maße und ruft nicht die Erregung noch den Schlaf hervor wie bei uns.
Aber am meisten wundert es mich, daß die Kinder auch gegen die Kälte viel abgehärteter sind als wir älteren. Am Morgen, wenn es am kältesten ist, laufen sie, eben vom langen Schlafe erwacht, oft hinaus und entfernen sich, sogar ziemlich weit, während wir uns alsdann nur im äußersten Notfalle ins Freie wagen.
Der Anführer dieser morgendlichen Ausflüge ist immer Tom. Die beiden älteren Mädchen laufen ihm nach, ebenso wie der alte Wotan, anscheinend von derselben blinden Anhänglichkeit geleitet. Dieser Hund und diese Mädchen bilden den ständigen Hof Toms.
Ich glaubte anfänglich, daß die Kinder im Schnee spielen gehen, der früh nach Sonnenaufgang schmilzt, oder sich auf der Eisbahn am Strande des in der Nacht zugefrorenen Meeres unterhalten. Aber bald habe ich mich überzeugt, daß die kleine Schar unter der Führung Toms in aller Frühe — auf die Jagd geht! Seltsam, daß wir noch nicht auf diesen Einfall gekommen sind! Alle hiesigen Tiere graben sich zum Schutze vor der Kälte in die Erde ein und schlafen während der Nacht.
Tom hat dies mit Hilfe Wotans, der eine vorzügliche Witterung hat, herausbekommen. Er suchte unter dem Schnee die Schlupfwinkel der verschiedenartigsten kleinen Ungeheuer auf und schlug sie tot, bevor sie aufwachten. Das Fleisch der hiesigen Landtiere ist zwar, wie ich schon bemerkte, nicht zu genießen, aber dafür liefern ihre Häute uns schöne dauerhafte Pelze oder Hornmaterial, das dem Schildpatt sehr ähnlich ist. Das Jagen ist während des Tages oft schwierig, da die Tiere uns wie auch den sie verfolgenden Hunden gegenüber mißtrauisch geworden sind. Wie groß war daher mein Erstaunen, als Tom eines Morgens mehrere Häute brachte, unter denen einige frisch waren und der Rest sehr sorgsam gegerbt! Diese letzteren stammten von früheren Jagden. Der Junge sah, wie wir die von den toten Tieren gerissenen Häute mit scharfen Muscheln gereinigt und mit Salz, das sich in ziemlicher Menge am Meeresstrande befand, gegerbt haben, und machte das alles auf eigene Faust und nicht viel schlechter als wir!
Es fehlte ihm nicht an Scharfsinn. Acht Jahre alt, kannte er schon genau unsere Fabriken und verstand den Zweck und die Bedeutung jeder Einrichtung, die Brauchbarkeit eines jeden Instrumentes und Materials. Ich habe die Pflicht auf mich genommen, ihn zu unterrichten, aber für Bücher zeigte er keine besondere Lust. Es interessiert ihn alles, was einen praktischen Wert hat, um andere Dinge kümmert er sich sehr wenig. Ich wollte ihn die Geographie der Erde lehren, die Geschichte der dortigen Völker, ihn mit den seinem Verstande zugänglichen Meisterwerken großer Schriftsteller bekannt machen, aber ich bemerkte sehr bald, daß ihn das absolut nicht interessierte, so großes Interesse er auf anderen Gebieten zeigte. Zunächst brach ich den Unterricht nicht ab, denn ich glaubte, daß ich in ihm einen historischen und ästhetischen Sinn wecken könne; erst als er mich während einer derartigen Lehrstunde einmal ganz unvermittelt fragte:
— Onkel, warum erzählst du mir das alles? — gab ich die diesbezüglichen Bemühungen auf.
Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte, denn in der Tat, wozu? ... Und er sagte weiter:
— Das alles, was du mir da erzählst, soll wahrscheinlich auf der Erde sein, die ich, wie ich mich erinnere, während eines Ausfluges gesehen habe, wie eine große leuchtende Kugel, und von der du, Onkel, hierhergekommen sein sollst, nicht wahr?
— Ja, das ist auf der Erde, von der ich gekommen bin, und von der überhaupt die Menschen stammen.
Der Knabe sah mich an, als wenn er zögerte zu sagen was er dachte, und endlich kam es mit etwas schüchterner Miene heraus:
— Aber ich weiß nicht, Onkel, ob das alles wahr ist.
Ich war betroffen von dieser Bemerkung, obwohl sie bei einem Kinde, dem man Dinge erzählt, die sich auf einem entfernten und nur einmal von ihm gesehenen Planeten abspielen, ganz natürlich ist.
— Hast du dich jemals überzeugt, daß ich die Unwahrheit spreche?
— Nein, nein, niemals! rief er lebhaft, worauf er etwas leiser hinzufügte:
— Aber jetzt kann ich mich nicht davon überzeugen, daß du die Wahrheit sprichst ...
Ich nahm eine Uhr aus der Tasche.
— Weißt du, was das ist? Eine Uhr ... Glaubst du, daß ich oder Peter oder deine Mutter ein solches Werk herstellen können? Du siehst auch Bücher, die wir nicht gedruckt, astronomische Instrumente, die nicht wir gebaut haben. Woher also sollte das alles stammen, wenn wir es nicht von der Erde mitgebracht hätten? Und wenn wir von der Erde hierhergekommen sind, so müssen wir doch wissen, wie es dort ist und aussieht.
Der Knabe dachte nach.
— Aber ich, nicht wahr, ich werde niemals auf die Erde kommen?
— Nein, du wirst niemals auf die Erde kommen.
— Weißt du was, Onkel, dann lehre mich lieber solche Bücher und Vergrößerungsgläser machen und erzähle mir nicht mehr davon, wie man da von einem Europa nach Amerika fährt, oder was dieser Alexander der Große gemacht hat und der andere, Napoleon ...
Ich mußte in meinem Innern zugeben, daß Tom recht hatte. Er war doch niemals und wird niemals dort sein, wozu soll ich ihm also erzählen, was mich nur deswegen angeht, weil ich auf der Erde geboren bin? Diese Belehrungen sind nutzlos für ihn; und wenn er oder seine Nachkommenschaft einmal etwas von der Erde erfahren wollen, von der vielleicht nur die unklare Kunde zu ihnen dringt, daß man sie, die Mutter des menschlichen Geschlechts, am Himmel leuchtend von den Grenzen der toten Wüste aus sehen kann, so werden diese Bücher, die wir mitgebracht haben, den zukünftigen Mondbewohnern märchenhafter erscheinen als den Erdenkindern die phantastischsten Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“.
Seitdem beschloß ich, Tom nur das beizubringen, was in seinem zukünftigen Leben auf dem Monde einen realen Wert für ihn hat. Dazu zeigte er auch eine ungewöhnliche Lust.
Er verschlang gierig alle Lehren, sobald er nur einsah, daß sie ihm von Nutzen sein könnten. So interessierte ihn zum Beispiel anfangs die Astronomie sehr wenig, aber er beschäftigte sich mit wahrem Feuereifer mit ihr, als ich ihm den ganzen praktischen Nutzen klar machte, den man aus der Messung des Höhenstandes der Sterne ziehen kann.
Ich bin überzeugt, daß, wenn wir die Bücher nicht mit hierhergebracht hätten, die nach uns bleiben, den kommenden Generationen die ideale Seite dieses kleinen Teiles der von der Erde überlieferten geistigen Arbeit des Menschen verloren ginge; denn durch die Vermittlung des unzweifelhaft befähigten, aber unerhört nüchternen Tom würde sie sicher nicht fortleben. Und doch denke ich immer und immer an dieses künftige Geschlecht. Es soll, dahin geht mein ganzes Sinnen und Trachten, nicht wild aufwachsen und dahinleben, sondern wissen, daß der menschliche Geist mächtig ist, daß er Großes und Schönes schafft und seinen Gott über den goldenen Sternen sucht! Daß er unaufhaltsam vorwärtsdringt und in glühendem Begehren nach Wahrheit und Schönheit strebt. Daß dieser Geist die stärkste Waffe in dem Lebenskampfe des Menschen mit der ihn umgebenden Natur ist, und sie ihn schätzen lernen und aus seiner Kraft Nutzen ziehen.
Ich lechze geradezu danach, dies alles Tom zu sagen, obwohl er leider so wenig Verständnis dafür hat; ich lechze danach, als wenn ich fürchtete, daß mir die Zeit dazu fehlen wird. Denn wenn ich sterbe, wenn wir alle sterben, wir Erdenmenschen, wird der Lehrer und Prophet des Mondvolkes nur mehr er sein und diese alten Bücher, die zugleich mit den Menschen von dem fernen Planeten auf diese Welt geschleudert wurden.
Als ich ihm einst sagte, er müsse fleißig sein und alles lernen, nicht nur das, was ihm gefällt, denn er würde in Zukunft der Erzieher des neuen Geschlechts sein, schaute er mich erstaunt an und fragte:
— Und du, Onkel, was wirst du dann tun? Du kannst doch alles ...
— Ich werde dann nicht mehr leben.
— Wer wird dich töten?
Tom verstand nicht, daß es einen natürlichen Tod gibt. Er sah die getöteten Tiere und tötete sie selbst, aber er sah noch nie ein sterbendes Wesen. Ich begann ihm dann die Notwendigkeit des Todes zu erklären. Er hörte mir aufmerksam zu, dann unterbrach er mich plötzlich, indem er rief:
— Also wird auch Peter sterben?
— Er wird sterben wie ich, wie deine Mutter, wie schließlich du selbst ...
Tom schüttelte den Kopf:
— Ich werde nicht sterben, denn ... was hätte ich davon?
Ich lachte unwillkürlich über diese kindliche Bemerkung und setzte ihm abermals auseinander, daß der Tod nicht von dem menschlichen Willen abhänge, aber Tom war nicht bei der Sache und dachte scheinbar an etwas anderes. Endlich sagte er mit gedämpfter Stimme und wie zögernd:
— Onkel, wenn Peter sterben muß, so soll er früher sterben wie du, zuerst von uns allen, er soll bald sterben. Er ist doch vollständig unnötig. Dann würdest du allein mit uns und der Mutter bleiben und es wäre uns allen wohl ...
Ich erklärte dem Knaben, daß er niemandem den Tod wünschen dürfe und um so weniger Peter, der doch der Vater seiner Schwestern Lilli und Rosa sei. Er schaute finster drein und seufzte, dann sagte er vorwurfsvoll:
— Onkel, warum bist du nicht der Vater meiner Schwestern? Du bist mir viel lieber als Peter und auch der Mutter ... Peter ist überflüssig.
Ich fühlte die verborgensten tiefsten Fasern meines Herzens erbeben, und gleichzeitig packte mich Entsetzen, denn das war ein Gedanke, der in letzter Zeit auch mir öfter durch den Kopf fuhr. Ich kann mich nicht anklagen. Ich hielt den einmal gefaßten Entschluß und harrte auf dem freiwillig gewählten und so unerhört lächerlichen Posten eines gutmütigen Lehrers fremder Kinder aus, aber was ich gekämpft, was ich gelitten habe, das kann ich heute nicht mehr mit Worten schildern.
Denn ich hatte doch diese Frau, die mir so teure und einzige auf dieser Welt, stets um mich, ich sah, daß sie unglücklich war und manchmal redete ich mir sogar ein, daß sie mit mir glücklicher wäre. Es gab Tage, wo ich, auf Peter blickend, den Griff des Revolvers in der Tasche preßte, und andere, da ich mir den Lauf vor die Zähne hielt, weil ich glaubte, es nicht länger ertragen zu können.
Aber ich habe es dennoch ertragen! Ich habe es ertragen, obwohl mir das Blut oft den Blick verschleierte und der Krampf meine Brust zusammenschnürte, ich habe es ertragen, trotzdem mich die Versuchungen, die mich im Schlaf und im Wachen folterten und verfolgten, dem Wahnsinn nahe brachten.
An jenem unvergeßlichen Tage, als wir das Los um Martha ziehen sollten, dachte ich, auf ihren Besitz verzichtend, daß ich mit der Zeit ruhiger würde und vergessen könnte; aber vergeblich gingen die Jahre dahin, vergeblich irrte ich fern von ihr in der Einsamkeit, vergeblich widmete ich mich der Erziehung Toms und dem Gedanken an das künftige Geschlecht: Sie ist mir stets ebenso teuer wie damals, dort im Polarlande, als ich nach langer, dank ihrer Pflege glücklich überstandener Krankheit, mit ihr auf den wonnigen, in Dämmerung gehüllten Wiesen wandelte, über gleichgültige und so bedeutungsvolle Dinge sprechend.
Meine Muskeln und Sehnen sind kräftig und rüstig, aber mein Geist beginnt zu altern, ich fühle es; die Sehnsucht nach der Erde lastet auf meiner Seele und eine immer größere Trauer greift um sich in meinem Innern: Ich sehe nicht nur durch Tränen, nein, ich denke auch nur noch durch Tränen! Nur diese Liebe in meinem Herzen will nicht älter und schwächer werden, im Gegenteil, sie wächst mit dem Alter, zugleich mit der mich immer mehr bedrückenden Sehnsucht. Ich weiß, daß ich lächerlich bin, und ich kann nicht einmal über mich lachen.
Manchmal versuche ich es, zu spötteln. Ich wiederhole mir brutal, daß ich Martha nur deswegen liebe, weil sie die einzige Frau auf dem Monde ist und nicht mir gehört; daß dieses erhabene Gefühl ein nur in dem Prisma des menschlichen Geistes gebrochener, grober tierischer Drang ist, und viele, viele ähnliche Dinge; aber nachdem ich mir das alles zum hundertstenmal gesagt habe, suchen meine Augen unwillkürlich Martha und ich fühle, daß ich mich freudig ans Kreuz schlagen ließe, wenn ich dadurch ein einziges heiteres Lächeln auf ihre Lippen zaubern könnte.
Fest eingewurzelt im Menschen, auch in der Wildnis, sogar auf einem anderen Globus, bleibt neben allerhand Instinkten auch das Gefühl des Rechts. Ich weiß nicht, ob das auf den Folgen der Erziehung oder auf einer angeborenen geistigen Organisation beruht, aber sicher ist, daß es in uns lebt und sich laut vernehmen läßt, sogar da, wo es niemanden gibt, der ihm sein Schweigen vorwerfen könnte.
Martha gehörte zu Peter. Ich war damit einverstanden gewesen, und dieser Gedanke, mag es sein wie es will, hielt mich von manchem zurück, was ich sonst vielleicht getan hätte. Ich bemühte mich, sie zu meiden, um meinen Verdacht vor mir selbst, daß ich mich ihr zu gefallen bemühte, zunichte zu machen. Übrigens suchte auch sie nicht meine Gesellschaft; ich bemerkte sogar, daß meine Gegenwart sie stets mit Unruhe erfüllte. Aber das alles hat sich seit der Geburt des jüngsten Mädchens geändert, da es nach dieser zum vollständigen Bruch zwischen Martha und Peter gekommen ist.
Zwei Mondtage nach der Geburt dieses Kindes, etwas vor Sonnenuntergang, saßen wir beisammen, was sehr selten vorkam, und schauten schweigend auf das weite Meer. Die untergehende Sonne vergoldete seine Fluten, die, leicht vom Winde bewegt, schon im Schatten der Felsen zu phosphoreszieren begannen. Der Schnee auf dem Gipfel des Otamor war vollständig blutig gefärbt, auf der schwarzen Rauchwolke, die über dem Krater hing, leuchteten ebenfalls dunkelrote Reflexe.
Martha unterbrach das Schweigen. Ohne ihre Stellung zu verändern, ohne uns die Blicke zuzuwenden, die irgendwo in weite Fernen starrten, begann sie zu sprechen, scheinbar ruhig wie immer, obwohl es mir nicht entging, daß ihre Stimme anfangs zitterte.
— Ich habe ein großes Verbrechen begangen, sagte sie, denn ich hielt meinem verstorbenen Manne die Treue nicht, und gern werde ich dafür büßen, Hunderttausende von Jahren in verschiedenen Verkörperungen ... Aber ihr wißt, daß ich es lediglich meines Sohnes wegen getan habe, in dem er selbst wiedergeboren ist und für mich lebt. Ich habe niemals daraus ein Hehl gemacht. Was ihr gedacht und welche Absichten ihr hattet, geht mich nichts an; ich wollte, daß Tom Schwestern und einen Bruder bekommt, er hat nun zwar keinen Bruder, aber drei Schwestern, und ich denke, daß ich meine Pflicht erfüllt habe ... Eine schwere Pflicht, du weißt es, Peter. Du tust mir leid, denn du täuschtest dich, daß du mir etwas mehr sein könntest ... Es ist nicht meine Schuld ... Aber jetzt hat alles ein Ende. Ich kehre wieder zurück zur Freiheit! Ich frage nicht, ob ihr ... ob du, Peter, sie mir geben willst: ich nehme sie mir selbst, ich bin nicht mehr dein Weib ...
Sie seufzte tief auf und verstummte.
Wir waren so überrascht, sowohl durch ihre Worte, wie auch durch die Art, wie sie sie hervorbrachte, daß wir eine Weile schweigend dasaßen, ohne eine Antwort finden zu können. Was sollte man ihr auch erwidern? Sie wartete ja nicht einmal darauf ... „Ich nehme mir die Freiheit ... Ich bin nicht mehr dein Weib“ ... Einen ungeheuren Eindruck haben diese Worte auf mich gemacht. Eine Zeitlang dröhnten sie mir in den Ohren wie die Losung eines neuen Lebens, wie das Versprechen von etwas, das ich nicht einmal zu erträumen wagte, wie ... Nein, ich kann es nicht mehr schildern, was in meinem Innern vorging! Es schien mir, als wenn dieser eine Satz all das Traurige, das an mir vorübergegangen, verwischte und vernichtete; in der Brust empfand ich eine Fülle, ein Glücksgefühl; das Blut jagte mir durch die Adern und meine Pulse flogen.
Sie saß unbeweglich und still da, auf das Meer starrend, nur ein unsagbar trauriges Lächeln zuckte um ihre Lippen, als wenn sie weinen wollte.
„Ich nehme mir die Freiheit“ ... so hatten diese Lippen vor kurzem gesprochen.
Aber ihre Augen und ihr Lächeln sagten jetzt deutlich, daß sie diese Freiheit nicht als Flügel betrachtete, die zum Fluge bestimmt sind, sondern als einen Schleier, der das Recht der Ruhe bedeutet. Daß diese Freiheit für sie keine Dämmerung ist, die den Tag verkündet, vielmehr eine Dämmerung, die dem Ausruhen vorangeht.
In ihren Augen erglänzten Tränen, und durch diese Tränen starrte sie unaufhörlich in die Ferne, auf das von der Sonne vergoldete Mondmeer.
Das Herz schnürte sich mir in schmerzhaftem Krampf zusammen, denn ich begriff endlich, daß man sich von der Vergangenheit abwenden kann, aber daß es unmöglich ist, sie auszulöschen.
Peter indessen sagte trocken:
— Mir ist alles einerlei.
Und nach einer Weile fügte er hinzu:
— Was beabsichtigst du jetzt zu tun?
Martha zuckte zusammen:
— Nichts ... Noch ein wenig für Tom zu leben, für die Kinder. Und dann ...
— Für die Kinder, wiederholte Peter wie ein Echo.
Vom Strande kamen gerade die beiden Mädchen gesprungen, lachend, strahlend, die Schürzchen voll gesammelter Steine, Muscheln und Bernstein. Sie riefen laut nach Tom, der auf dem nahen Bache Mühlen baute.
Peter folgte ihnen langsam mit den Augen.
— Für die Kinder ... wiederholte er noch einmal und stützte den Kopf auf die Hände.
Ich erinnere mich an diesen Augenblick wie heute. Die Sonne berührte schon den Horizont, und die Welt begann sich aus dem Gold in Purpur zu färben. Ein leichter Wind trug uns vom Meer den scharfen Duft der Wasserpflanzen zu, und in das Rauschen der sich auf dem Sande zerschlagenden Flut mischten sich die hellen singenden Stimmen der Kinder.
Plötzlich stand Martha auf und wandte sich zu Peter.
— Peter, vergib, sagte sie in einem tiefen, warmen Ton, wie ich ihn schon lange nicht mehr bei ihr gehört hatte, vergib, ich war vielleicht ... ungerecht ... vergib, aber ich ... siehst du, ich konnte nicht, kann nicht ... Es tut mir leid, daß du durch mich ... ein solches Leben hattest ...
Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Peter erhob sich ebenfalls. Er blickte auf Martha, dann auf ihre ausgestreckte Hand, dann wieder in ihr Antlitz und brach plötzlich in ein furchtbares, krampfhaftes Lachen aus.
— Ha! ha! ha! Das ist vortrefflich! So, mit einem Wort, nach so viel Jahren, ha, ha, willst du Freiheit? Ein guter Gedanke. Vielleicht eine neue Wahl? Ha! ha! ha! „Peter vergib! Ich bin nicht mehr dein Weib.“
Er lachte wie toll und stieß verschiedene unverständliche Worte hervor. Dann brach er plötzlich ab, wandte sich um und schritt zum Hause.
Martha stand eine Weile verwirrt da, mit einem Ausdruck des Widerwillens und der Demütigung in den Zügen, bis ihr endlich die Nerven den Gehorsam verweigerten und sie in ein lautes Weinen ausbrach — zum erstenmal seit damals, als sie Peters Weib wurde.
Ich entfernte mich schweigend, noch niedergedrückter als gewöhnlich.
Die lange, vierzehntägige Nacht verbrachten wir fast ohne miteinander zu sprechen. Am andern Tage nahm scheinbar alles seinen alten gewohnten Lauf. Wir machten uns sofort am Morgen an die üblichen Tagesbeschäftigungen, sprachen sogar zusammen wie früher, die „Scheidung“ nicht erwähnend, die sich seit jenem Abend tatsächlich vollzogen hatte. Die bisherigen Beziehungen zwischen Peter und Martha waren derart, daß wir alle ihren Bruch als eine Erleichterung empfanden. Ich bemerkte vor allem eine vorteilhafte Veränderung in Marthas Stimmung. Ich will nicht sagen, daß sie heiterer war, aber der Druck, der immer auf ihr gelastet hatte, war verschwunden. Sie sprach freimütiger mit uns, war sogar zu Peter freundlicher, obwohl er die herzlichen Worte, die sie an ihn richtete, so brutal von sich wies.
Und was ging in ihm vor? Das wird mir wahrscheinlich immer ein Rätsel bleiben.
Scheinbar hatte er alles gleichgültig hingenommen, und das widerwärtige Lachen an jenem Abend, als Martha den Bruch herbeiführte, war die einzige Äußerung seiner verborgenen Gefühle. Und dennoch, wie viel Leid, wie viel Demütigung und Schmerz mußte sich in der leidenschaftlichen Seele dieses Mannes angehäuft haben! Und welche Kraft des Willens gehörte dazu, um all das herunterzuwürgen und in sich zu verschließen! Denn er liebte sie trotz alledem — und liebt sie bis zu diesem Augenblick; in dieser Beziehung hege ich absolut keinen Zweifel.
Am ersten Tag nach der Trennung kam er gegen Mittag zu mir, als ich gerade von einem Ausflug auf das Meer zurückkehrte und das Boot an einem Pfahl am Strande festband. Eine Zeitlang ging er unruhig auf und ab, als wenn er mir etwas sagen wollte, aber er fand anscheinend die Worte nicht. Dann, als wenn er plötzlich einen Entschluß gefaßt hätte, packte er mich bei der Hand und sagte, mir scharf in die Augen sehend:
— Erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir damals, als ich Martha nahm, gegeben hast ...
Ich blickte ihn erstaunt an und wußte noch nicht, wo er hinauswollte.
— Du hast mir damals versprochen, daß du dich niemals darum bemühen willst, Martha für dich zu gewinnen — niemals! Erinnerst du dich?
Ich nickte schweigend mit dem Kopfe.
Peter lächelte bitter.
— Übrigens wie du willst. Das ist lächerlich. Wie du willst. Aber erst ... knalle mich nieder.
Die letzten Worte sprach er dumpf und mit so schmerzlicher Leidenschaft, daß mich ein Schauer durchlief. Ich wollte ihm antworten, ihn beruhigen, aber er wartete es nicht ab, sondern wandte sich um und entfernte sich.
Seit dieser Zeit begannen für mich die furchtbarsten Kämpfe und Qualen. Martha gehörte in der Tat keinem von uns und dennoch fühlte ich, daß es ein zweifaches Verbrechen wäre, die Hand nach ihr auszustrecken: ein Verbrechen ihr gegenüber, die sich nur noch nach Ruhe sehnte, um der Erinnerung an den geliebten Verstorbenen zu leben, wie der Sorge um ihren Sohn und gegen Peter, der so niedergedrückt und unglücklich war, daß jedes ihm zugefügte Unrecht ein tausendfaches Unrecht gewesen wäre. Und dennoch gab es Augenblicke, wo ich meine ganze Energie aufbieten mußte, um Peter nicht niederzuknallen, wie er es sich selbst wünschte, und mit Martha ein neues Leben zu beginnen. Derartige Versuchungen quälten mich vor allem dann, wenn ich glaubte, bei Martha eine wachsende Zuneigung für mich zu entdecken. Sie lächelte mir oft zu und nannte mich wie früher ihren Freund. Und dann schwirrte es mir im Kopfe, und ich sagte mir, wenn Peter nicht wäre, könnten wir beide miteinander glücklich sein! Aber alsbald kam wieder die Ernüchterung. Martha ist mir, so dachte ich weiter, doch nur deswegen geneigt, weil ich niemals zwischen sie und die Erinnerung an diesen Verstorbenen, einzig Geliebten getreten bin, weil ich nie die Heiligkeit ihrer Gefühle verletzte, nie ihren Körper berührte noch ihre Seele, die sie für alle Ewigkeiten nur jenem geweiht hat, der unter dem Sande des Mare Frigoris schläft, für mich verlangte. Aber wenn ich etwas mehr gefordert hätte ...
Trotzdem war ich einer wahnsinnigen Tat nahe ...
Wir unternahmen zu dritt einen Ausflug auf den Gipfel des Kraters Otamor. Die Mädchen ließen wir zu Hause unter dem Schutze Toms, dem man sie schon anvertrauen konnte. Nachdem wir uns von der Meerseite aus durch das Gestrüpp der Lianen hindurchgearbeitet und ganze Wälder mächtiger verholzter Blattpflanzen passiert hatten, gelangten wir auf eine abschüssige Ebene, die einer weiten Alm ähnlich und mit flach am Boden wachsendem, großblättrigen Moos bedeckt war. Bis hierher hatte uns der Weg schon öfter geführt, jedoch wollten wir höher hinauf, wenn es möglich wäre, auf den Gipfel selbst gelangen, um den großartigen Anblick zu genießen, der sich von der Spitze dieses höchsten Berges der ganzen Gegend bieten mußte.
Das Vorwärtskommen war nicht leicht, denn man mußte ziemlich steil in die Höhe steigen, in einer tiefen Bergrinne, die zwischen den Felsen der erkalteten und verwitterten Lava ausgeschnitten und in ihrem oberen Teile bis an die Ränder mit Schnee verschüttet war. Hier auf dem Monde ist es zwar eher möglich, einen solchen Weg zurückzulegen als auf der Erde, wo der menschliche Körper sechsmal schwerer wiegt, aber trotzdem war es keine geringe Mühe.
Nach einigen Stunden der Anstrengung befanden wir uns direkt unter der Wand des Kraters, aber jede weitere Ersteigung erwies sich als vollständig ausgeschlossen. Oben auf der Höhe taute der Schnee durch die heißen Dämpfe, die unaufhörlich aus dem mächtigen Trichter, dessen Ränder jetzt über uns waren, emporstiegen und das herabtriefende Wasser gefror im Winde und bedeckte die Felsen mit einer glänzenden Eisdecke, auf der man sich nicht halten konnte. Nachdem wir uns von der Unmöglichkeit eines weiteren Emporklimmens überzeugt hatten, setzten wir uns in den Schnee, um uns vor der Rückkehr auszuruhen und die Gegend anzusehen.
Der Blick war unvergleichlich schön. Dicht vor uns, hinter den schwarzen Wäldern zu unseren Füßen, erstreckte sich das Meer in grenzenlose Fernen, alle Regenbogenfarben spielend und mit Inseln übersät, die kleinen schwarzen Punkten inmitten einer glitzernden Flachebene oder buntumränderten Pfauenaugen ähnlich sahen. Links, gegen Osten, zeigten sich hinter der sich erhebenden Kante geschwärzte Gipfel und Ringe kleinerer Krater, zwischen denen hie und da das blaue Band eines Baches glänzte. Zur Rechten, hinter den Geisern, von denen nur eine kleine weiße Nebelwolke zeugte, dehnte sich eine breite Ebene, von einem in Windungen dahinziehenden Strom durchschnitten, auf dem in der Ferne wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht weite, klare, an die Kette von grünen Bergen angelehnte Seen leuchteten.
Wir saßen ziemlich lange, versunken in den zaubervollen Anblick, als uns ein dumpfes unterirdisches Rollen aufschreckte. Die Dämpfe, die sich über dem Krater erhoben, wurden schwärzer und drängten sich zu einem mächtigen Knäuel zusammen, aus dem bald feine erstickende Asche auf uns herniederzustäuben begann. Man mußte so schnell wie möglich umkehren, da anscheinend ein Vulkanausbruch in Aussicht war. Aber es gelang uns nicht mehr, rechtzeitig zu entkommen, denn kaum hatten wir den halben Weg in jener Bergrinne, die bei den Wiesen hinter den Wäldern endete, zurückgelegt, als plötzlich unter stärkerem unterirdischen Dröhnen die Felsen erbebten; von allen Seiten sausten Lawinen herab, und die bis dahin schwarze Rauchwolke flammte in blutigem Scheine auf.
Wir flüchteten uns zitternd in eine nahe Spalte, den Augenblick erwartend, wo wir uns weiter nach unten herablassen konnten. Der Himmel über uns war mit dichten Rauchknäueln bedeckt und glich einem feurigen Höllenrachen; das dumpfe Donnern setzte keinen Moment aus, und die von Schwefeldünsten und feiner Asche erfüllte Luft würgte uns und benahm uns den Atem. Von oben fielen schon größere heiße Schlacken herab, die den schmutzigen Schnee ringsum mit schwarzen Flecken bedeckten. Wir mußten uns aus der Bergrinne, in die sich jetzt das mit Asche und Erde gemischte Wasser des geschmolzenen Schnees ergoß, eiligst flüchten.
Der Ausbruch war ziemlich stark und die Erschütterungen des Bodens, die wir fühlen konnten, mußten eine große Ausdehnung auch am Fuß der Berge annehmen, denn als der Wind für kurze Zeit den erstickenden Dampf und den Aschenstaub auseinanderwehte, öffnete sich der Blick vor uns, und — wir sahen auf das stürmende, schäumende Meer.
Uns an die scharfe Spitze haltend, die sich wie eine Landzunge an der Stelle erhob, wo die Bergrinne nach unten mündend nach zwei Seiten auseinanderging, von oben durch die herausragenden Felsen etwas bedeckt, verbrachten wir einige Stunden, zwischen Tod und Leben schwebend. Martha zitterte für die Kinder. Tom war zwar mit dem Erdbeben bekannt, das oft und sehr gefahrvoll in diesen Gegenden auftrat und man konnte seiner Umsicht und Vernunft vertrauen, aber Martha und auch mich quälte der Gedanke, daß, im Fall unseres Todes, auch die Kinder, sich selbst überlassen, dem unabwendbaren Tode verfallen wären. Peter war gleichgültig und ruhig, oder wenigstens stellte er sich so.
Endlich wurde es etwas stiller. Der starke Wind, der sich plötzlich vom Meere erhob, reinigte die Luft und trieb die dünner werdenden Rauchwolken langsam auseinander. Der Regen von Asche und Schlacken hörte auf. Wir atmeten leichter und wollten gerade zur weiteren Rückkehr aufbrechen, als uns ein seltsames Zischen und Sausen über uns von neuem beunruhigte. Peter sprang zuerst aus dem Schlupfwinkel hervor um zu sehen, was das bedeute, aber kaum stand er auf dem vorspringenden Felsen, als er einen Schrei des Entsetzens ausstieß. Ein glühender Lavastrom stürzte dröhnend durch die Bergrinnen herab! Ich sah, daß Peter zu uns zurückkehren wollte, aber in diesem Augenblick erhob sich ein Orkan, der diesem Erguß des flüssigen Feuers voranging und fegte ihn vor unseren Augen fort, daß wir anfangs nicht wußten, was mit ihm geschehen war.
Eine unerträgliche, erstickende Glut wehte uns entgegen. Beide Bergrinnen waren bereits von einer flüssigen, rotleuchtenden Masse ausgefüllt, die sich dröhnend in ungeheuren Feuer- und Steinkaskaden in die Tiefe hinabwälzte. Es war keine Sekunde zu verlieren. Wenn der Feuerstrom stärker werden sollte, würde uns die Lava die Rückkehr abschneiden, die quergelegenen Vertiefungen zwischen den Rinnen ausfüllen oder, was schlimmer wäre, unsern Steinwerder zermalmen und davontragen, wie die Strömung eines hochgehenden Flusses lehmige Inseln davonträgt. Infolgedessen dachte ich nicht mehr an Peter, den ich im ersten Augenblick für verloren hielt, nahm Martha, die vor Schreck ohnmächtig geworden war, auf die Schultern und begann mich so schnell wie möglich herabzulassen, an dem zerrissenen Kamm der zwischen den Bergrinnen emporragenden Kante einen Halt suchend.
Noch heute ist es mir furchtbar, an diesen Abstieg zu denken! Die Felsen, an denen sich die höllische Flut brach, bebten unter meinen Füßen wie der Boden eines Schiffes, das mit voller Dampfkraft gegen den Wind fährt. Eine entsetzliche Glut drohte uns zu verbrennen, Martha hing ohnmächtig und schlaff auf meiner Schulter, was meine Bewegungen im höchsten Maße hemmte. Ich mußte alles tun, um nicht auszugleiten, denn jeder falsche Schritt bedeutete den Tod.
Durch welches Wunder ich, von der Glut fast erstickt, von dem heißen Rauch und dem Glanz der Lava geblendet, von einem gräßlichen Sausen betäubt und zerschlagen von den herabfallenden Steinen, mit Martha auf die Ebene gelangte, von der aus wir den Aufstieg angetreten hatten, kann ich heute nicht mehr sagen.
Wir waren jedoch gerettet. Die Lava floß irgendwo seitwärts durch die Wälder ab, die einen Moment aufrauchten, und hinterließ in der Mitte ein mächtiges freies Dreieck, dessen Spitze eine Wiese und eine über ihr sich erhebende Kante bildete, während die Basis der Meeresstrand schuf, der sich über tausend Meter unter uns erstreckte.
Ich machte mich vor allem an Marthas Wiederbelebung. Nachdem sie die Augen aufgeschlagen und sich überzeugt hatte, daß uns keine Gefahr mehr drohe, frug sie sofort nach Tom. Ich beruhigte sie, daß Tom zu Hause sei und wir ihn gewiß gesund und munter wiedersehen würden, noch ehe der Mittag naht. Da streckte sie mir beide Hände entgegen und sagte, wie damals im Polarlande, als ich sie nach der Überschwemmung gesucht hatte:
— Mein Freund, mein lieber Freund ...
In ihrer Stimme lag etwas unbeschreiblich Weiches und Süßes, das meinen Körper erschauern machte und mir die Kehle wie im Krampf zusammenschnürte. Ich neigte das Gesicht, damit mich meine Augen nicht verrieten.
— Ich schulde dir mein eigenes Leben und noch mehr, das Leben Toms, dem wir noch notwendig sind. Du bist gut ... flüsterte sie und preßte meinen Kopf an ihre Brust.
Als ich sie aus ihrer Ohnmacht erweckte, hatte ich ihr das Kleid unter dem Halse aufgerissen. Nun berührte ich mit der Stirn diese entblößte Brust, und gleichzeitig fühlte ich ihre Tränen mein Haar benetzen.
Da ergriff mich eine wilde Leidenschaft. Ich hatte dieses Weib, das noch so schön und so über alle Maßen begehrenswert war, vor mir; ich brauchte nur die Hand auszustrecken, sie an mich zu reißen, mit Küssen zu bedecken, in glühenden Umarmungen zu ersticken. Es wurde mir schwarz vor den Augen, in den Ohren dröhnte und sauste es, meine Pulse flogen; ich fühlte die Wärme und Weichheit ihres Körpers, sein Duft berauschte mich und machte mich wahnsinnig ...
Wir sind, blitzte es in mir auf, die einzigen Menschen auf diesem Globus, denn Peter liegt wahrscheinlich als Leiche zwischen den Steinen ...
Und übrigens, was geht mich Peter an, was geht mich die ganze Welt an, wenn nur sie ... Eine unaussprechliche Zärtlichkeit, ein unermeßliches Glücksgefühl überströmte mein ganzes Wesen.
Nein!
Ich raffte meine Willenskraft zusammen und wich zurück. Peter liegt vielleicht in diesem Augenblick irgendwo auf dem Felsen, blutig, halb tot und wartet auf Rettung, während ich ...
Martha schaute mich an und — verstand.
— Du hast recht, sagte sie, als wenn sie mir antwortete, obwohl ich kein Wort gesprochen hatte. Du hast recht, geh und suche Peter.
Dann erhob sie sich und drückte mir die Hand.
Ich fand Peter tatsächlich nicht weit von der Stelle, wo der Orkan ihn hinabgestoßen hatte. Er lag bewußtlos an einen spitzen Felsen gelehnt, der ihn vor dem Hinabsausen in den feuerflammenden Abgrund rettete. Wir trugen ihn nach Hause, und unsern gemeinsamen Mühen gelang es, ihm die Gesundheit wiederzugeben.
Geraume Zeit ist schon seit diesem Vorfall verflossen, und ich, an den Augenblick der Schwäche denkend, bemühe mich um so eifriger, mit meinem Willen stets über diesem Rest zu stehen, der mit ihm zusammen die menschliche Seele ausmacht.
Und Peter? ... Er sitzt wie immer schweigend und finster auf der Schwelle des Hauses und vielleicht, ich weiß es nicht, vielleicht tut es ihm leid, daß er auf den Abhängen des Otamor sein Leben damals nicht lassen durfte.
Mit mir ist scheinbar alles zu Ende. Bald werden auch diese Kinder meiner nicht mehr bedürfen. Ich will mir ein Grab errichten — auf der Friedhofinsel.
Nach sechs Tagen ...
Ich blicke auf die letzten Worte, die ich vor einigen Mondtagen niederschrieb und meine Augen trüben sich, nicht mehr von Tränen, denn die sind längst vertrocknet; nein, es ist, als wenn Entsetzen und Verzweiflung sie mir wie mit heißem Sande geblendet hätten. Nicht für mich habe ich das Grab auf der Friedhofinsel erbaut ...
Eine ewig stumme, qualvolle Frage — ohne Antwort.
Ich bin allein geblieben.
Allein mit vier Kindern, die nicht meine Kinder sind. Ich bin der letzte Mensch auf dem Monde, der letzte derjenigen, die von der Erde gekommen sind. Die beiden andern, Martha und Peter, sind O’Tamor, den Remogners, sind Woodbell gefolgt. Und ich lebe.
Das ist das Schicksal, das ich am meisten gefürchtet und — am wenigsten erwartet habe.
Und wenn ich bedenke, daß das alles so schnell geschehen konnte! Sechs Mondtage, ein halbes irdisches Jahr! Wer hätte das damals geglaubt! Und zum drittenmal schon ist diese träge Sonne über diesem Meer aufgegangen, seit ich sie begraben habe. Ich bin allein, so furchtbar, so grauenhaft allein, daß ich während der finstern Nächte aufspringe und herumlaufe und am Tage jedes Geräusch und die Schatten der sich im Winde wiegenden Pflanzenungeheuer fürchte.
Ja, ich bin allein. Denn diese Kinder können mir nicht nahe stehen. Das sind Wesen aus einer anderen Welt, in des Wortes wahrster Bedeutung.
Was würde ich dafür geben, wenn auch nur für einen Augenblick, Martha oder Peter hier bei mir zu haben!
Als Martha krank wurde, hatte ich keine Ahnung, daß das so furchtbar enden sollte.
Ich bemerkte zwar schon lange, daß ihr Organismus erschöpft war von all dem, was sie durchgemacht hatte, daß Kummer und Trauer an ihrem Leben nagten, aber dieser Gedanke war doch so fern von mir, so fern!
Am letzten Mondtage begann Martha zu kränkeln. Noch stiller und nachdenklicher wie gewöhnlich, verbrachte sie fast die ganze Zeit mit den Kindern am Meeresstrande. Sie spielte mit Tom und liebkoste sogar die Mädchen, die sehr erstaunt waren über die so seltene Zärtlichkeit der Mutter. Gegen Mittag, als ich zum Strand ging, um ihr zu sagen, daß sie nach Hause zu den Teichen zurückkehren müsse, da die Gewitter im Anzuge seien, lächelte sie mir zu und wiederholte einigemal:
— Ja, es ist Zeit nach Hause zurückzukehren, es ist Zeit, zurückzukehren ...
All diese kleinen Einzelheiten sind mir so lebhaft im Gedächtnis, stehen so klar vor meiner Seele, daß ich sie jetzt beim Schreiben vor Augen habe, jede ihrer Bewegungen sehe, ihre Stimme höre und es nicht fassen kann, daß sie nicht mehr ist und ich sie nie mehr wiedersehen werde ...
Als sie nach Hause ging, nahm sie die Jüngste, Ada, bei der Hand und frug sie, ob sie Tom liebe. Das Kind schüttelte den Kopf:
— Nein, ich liebe ihn nicht.
Martha wurde traurig.
— Warum liebst du ihn nicht, warum, Ada?
— Weil Tom nicht gut ist. Tom will, daß ich ihm gehorche.
— Das ist unrecht, sagte die Mutter, du mußt Tom gehorchen und ihn lieben, denn du bist sein ...
— Nein. Ich gehöre nicht Tom. Lilli und Rosa gehören Tom. Ich bin mein.
Ich lachte laut über diese Antwort des Kindes, aber Martha traten die Tränen in die Augen.
— Es ist unmöglich, sich selbst zu gehören, unmöglich, flüsterte sie mehr zu sich selbst und küßte das Kind herzlich.
Nachmittags sprach sie lange mit Tom. Nachdem sie ihn zu sich gerufen hatte, erzählte sie ihm vom Vater, vielleicht zum tausendstenmal, eine Unmenge Einzelheiten wiederholend, die zusammengenommen ein seltsames Märchen bildeten, eine Hymne für den verstorbenen Geliebten. Tomas war ein tüchtiger, vortrefflicher Mensch, aber in den Erinnerungen Marthas wurde sein Bild göttlich, die Verkörperung von allem, was gut und groß und schön ist.
Sie ermahnte Tom, daß er zu seinen Schwestern gut sein müsse. Das setzte mich in Erstaunen, denn solche Lehren hatte ich nie aus ihrem Munde gehört.
Gegen Abend begann sie über eine allgemeine Schwäche zu klagen, über Schwindel und Schmerzen in den Gliedern. Gewöhnlich ertrug sie alle Unpäßlichkeiten schweigend, so daß wir nur aus ihren Zügen erraten konnten, wenn ihr etwas fehlte; nie kam ein Wehlaut über ihre Lippen, noch suchte sie je bei uns Mitleid oder Hilfe. Selbst wenn wir bemerkten, daß sie schlecht aussah und sie frugen, was ihr fehle, schüttelte sie den Kopf und sagte lächelnd:
— Es fehlt mir nichts ... Oder: Das geht vorüber, ich werde noch nicht sterben, denn ich bin Tom noch notwendig.
Infolgedessen beunruhigten mich ihre Klagen an diesem Abend um so mehr. Ich sah sie forschend an und bemerkte erst jetzt, beim Lichte des erlöschenden Tages, daß Fieberflecke auf ihren Wangen brannten und ihre Augen schwarz umrändert und eingefallen waren. Sie hatten nichts von dem früheren Glanz verloren: All die vergossenen blutigen Tränen vermochten nicht den Strahl dieser Augen zu trüben, aber sie leuchteten jetzt in einem ungesunden Feuer, das nichts gemein hatte mit jener früheren sternenklaren Helligkeit!
Als die Sonne untergegangen war, begann Martha, die sich niedergelegt hatte, mehr infolge der Schwäche als aus Schlaflosigkeit, unruhig zu werden. Sie sprang vom Lager auf, es war ersichtlich, daß sie fieberte. Sie rief die Kinder, die schon schliefen, dann rechtfertigte sie sich, kaum hörbar flüsternd, vor sich selbst oder auch vor dem Geiste des Verstorbenen, der ihr scheinbar vor Augen stand, ihres Lebens wegen und klagte sich der Geburt dieser armen Mädchen an, ja sogar wegen ihrer Liebe zu ihnen, die sie nicht hatte ganz unterdrücken können. Ich glaube, daß ihrer Überzeugung nach diese Mutterliebe ausschließlich ihrem Sohne gelten durfte und jede ihrer Äußerungen den Töchtern gegenüber ihr als ein Tom und dem Toten zugefügtes Unrecht erschien.
Nach einiger Zeit beruhigte sie sich ein wenig. Ich saß mit Peter an ihrem Lager, angstvoll und niedergedrückt; vor allem peinigte uns der Gedanke, daß wir keine Arzeneien hatten und dieser Krankheit gegenüber ganz ratlos waren. Martha schaute uns lange mit weit geöffneten Augen an und frug dann plötzlich, ob die Sonne schon untergegangen sei. Ich antwortete ihr, daß die lange Nacht auf dem Monde bereits begonnen habe.
— Ah, es ist wahr! sagte sie, wieder klarer bei Besinnung. Draußen ist es doch finster und hier brennen die Lichter ... Ich habe es nicht gleich bemerkt. Und dort auf dem Mare Frigoris, was ist jetzt dort?
— Dort ist jetzt Tag. Eben ist dort die Sonne aufgegangen.
— Ja, die Sonne ist aufgegangen und leuchtet jetzt über Tomas’ Grab, nicht wahr? Und dieselbe Sonne über diesem Grabe wird hierher zu uns am Morgen kommen?
Ich nickte schweigend.
— Dieselbe Sonne, sagte abermals die Kranke. Und wenn ich daran denke, daß diese Sonne täglich, so viele Mondtage hindurch, auf das Grab schaute und dann auf mich hier, die Lebende, und dann wieder zu dem Grabe zurückkehrte, ihm zu erzählen, was sie hier gesehen hat!
Sie bedeckte die Augen mit den Händen und begann am ganzen Körper zu zittern.
— Das ist furchtbar! wiederholte sie einige Male.
Peter ließ den Kopf sinken. Es schien mir, daß ich in seinem gelben, verdorrten Gesicht eine dunkle Röte aufsteigen sah, die sich bis in die gefurchte Stirne ergoß. Dies mußte auch Martha bemerkt haben, denn sie wandte sich zu ihm:
— Ich wollte dir nicht weh tun, Peter ... jetzt ... Übrigens bist du nicht schuld daran, wie hättest du mich zwingen können, dein Weib zu werden, wenn ich es nicht selbst gewollt hätte ... für Tom ...
Sie verstummte und atmete tief auf. Nach einer Weile sagte sie leise:
— Ich möchte den Morgen erwarten. Es ist so furchtbar, in der Dunkelheit herumzuirren und den Weg dort auf der Wüste zu suchen. Wenn hier der Tag beginnt, wird dort über dem Mare Frigoris die Erde leuchten. Ich will lieber bei ihrem Lichte an dem Grabe stehen, denn ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, in den vollen Glanz der Sonne zu schauen ...
Martha, was sprichst du? rief ich unwillkürlich.
Sie sah mich an und antwortete kurz:
— Ich werde sterben ...
Gegen Mitternacht stieg eine würgende Angst, daß sie wirklich sterben könne, in mir auf. Eine Krankheit, für die wir nicht einmal einen Namen fanden, raffte sie dahin. Wir bemerkten nur einen außerordentlich schnellen Kräfteverfall, der im Verein mit dem stets wiederkehrenden Fieber nichts Gutes ankündigte.
Übrigens, was bedeuten alle ärztlichen Benennungen! Ich weiß nur zu gut, welch eine Krankheit das ist, ich kenne sie zur Genüge, sie heißt Leben! Sie weckt den Menschen aus dem Nichtbewußtsein, sie kost mit ihm und spielt und tändelt, und während des Spielens reißt sie und zerrt an ihm herum und drückt und überwindet und vernichtet ihn schließlich. Mit dieser Krankheit kommen wir alle zur Welt, und es gibt für sie kein Heilmittel als den Tod!
Peter wich fast keinen Augenblick von Marthas Lager. Ich blickte auf seine finsteren, unbeweglichen Züge und dachte, trotz der tödlichen Angst, die mich erfaßt hatte, darüber nach, was für Gefühle sich unter dieser undurchdringlichen Maske verbergen könnten. Ich sollte es früh genug erfahren!
Am Morgen war Martha sehr unruhig, und erst die Dämmerung brachte ihr ein wenig Linderung.
— Ich werde die Sonne noch sehen! sagte sie und versuchte, mit blassen Lippen zu lächeln.
Jetzt saß ich allein bei ihr, denn Peter, von dem langen Wachen übermüdet, gab schließlich meiner Überredung nach und legte sich in dem benachbarten Zimmer schlafen. Die Morgendämmerung drang durch die Scheiben von dickem Glas, das wir auf dem Monde gefertigt hatten, herein, und das Licht der Lampen wurde immer gelber. Der Schnee lag auf den Feldern, wie immer, und als der Wind die Dämpfe, die sich stets über den Warmen Teichen erhoben, verweht hatte, sah man durch das Fenster eine große glitzernde Fläche.
In diesem scharfen und kalten, vom Schnee zurückgeworfenen Schein des nahenden Tages, der mit dem gelben, ersterbenden Licht der Lampe kämpfte, schaute ich auf Martha und zweifelte nicht mehr, daß sie in kurzer Zeit für immer von uns gehen würde. Ihr Gesicht war lang und blaß; die einst so vollen verführerischen roten Lippen nahmen die blaß-bläuliche Farbe des Todes an. Unter den gesenkten, fast durchsichtigen Lidern sahen erlöschende und über alle Beschreibung traurige Augen hervor.
Ich lehnte meinen Kopf an den Rand des Bettes und biß die Zähne zusammen, um nicht in lautes, unmännliches Weinen auszubrechen, das in meiner Brust zerrte wie ein Tier an der Kette.
Indessen wurde es draußen immer heller. Die bis vor kurzem grauen Nebel glitten jetzt, vom Winde getrieben, an den Fenstern vorüber wie weiße Gespenster. Manchmal verdichtete sich ihr Schleier und verhüllte die Welt; dann dehnten sie sich wieder zu langen, flatternden Gestalten, die plötzlich auftauchten, sich vor den Fenstern verneigten und weiterflogen. Auch schimmerten aus diesem Nebel weiße Felsstreifen und wolkenumhüllte, perlende Säulen der Geiser und weiter oben am Hintergrunde des hellblauen Himmels der Gipfel des Otamor, der sich in den ersten Strahlen der Sonne rötlich färbte.
Martha frug nach den Kindern; als sie hörte, daß sie noch schliefen, ließ sie sie jedoch nicht aufwecken.
— Mögen sie schlafen, flüsterte sie, ich werde sie noch sehen, bevor die Sonne aufgeht ... Indessen ist es gut, daß es so still ist.
Dann wandte sie sich zu mir:
— Du wirst ihnen immer ein Vormund sein, nicht wahr?
— Ja, antwortete ich mit tränenerstickter Stimme.
— Und du wirst sie niemals verlassen?
— Nein.
— Schwörst du mir das?
— Ja, ich schwöre es.
Sie streckte die Hand nach mir aus:
— Du bist gut, mein Freund, flüsterte sie, nun kann ich ruhig sterben, weil ich weiß, daß du sie nicht verlassen wirst.
Ich ergriff ihre Hand und preßte sie leidenschaftlich an die Lippen. Ihre Finger zitterten leicht, als wenn sie meine Hand drücken wollte. Eine so eisige Kälte entströmte ihnen, daß meine heißen Lippen sie nicht mehr erwärmen konnten.
— Ich wollte dir, begann sie nach einer Weile, noch vor dem Tode sagen, daß du mir ... teuer warst. Ich machte mir darüber größere Vorwürfe, als daß ich Peters Weib wurde ... Vielleicht, wenn ich dir angehört hätte, statt ihm, vielleicht wäre mein Leben auf dem Monde in eine andere Bahn gelenkt, glücklicher und länger gewesen ...
Sie sagte das alles ruhig, mit einer sanften, erlöschenden Stimme, in mir aber erhob sich ein Sturm; ich heulte weinend auf und ihre Hände sinnlos mit Küssen bedeckend, brachen aus meiner Brust von Tränen erstickte, unzusammenhängende Worte der Liebe hervor — der Liebe, die ich so lange verbergen und zurückhalten mußte und die jetzt mit Allgewalt überschäumte, gegenüber der Sterbenden.
Sie neigte sich leise zu mir und legte die Hand auf mein Haupt.
Ruhig, sagte sie, ruhig ... Ich weiß ... Weine nicht ... es ist so besser ... Du warst mir teuer durch deinen Edelmut, durch deine Liebe für Tom, ich weiß es selbst nicht, wodurch ... Aber trotz alledem, vielleicht wäre ich nicht gut zu dir gewesen, wenn du zwischen mich und den Verstorbenen getreten wärst, der allein ein Recht auf mich hatte. Ruhig, weine nicht, du weißt es schon. Ich denke, daß Tomas es mir verzeihen wird, daß ich das für dich fühlte und es dir jetzt in der Todesstunde sage.
Ich war maßlos unglücklich.
Sie verstummte erschöpft, und ich, mein Gesicht an ihrer Brust verbergend, zitterte am ganzen Körper, von einem inneren Schluchzen geschüttelt.
Martha versuchte abermals zu sprechen:
— Mag es sein ... ich werde jetzt alles sagen. Ich spreche ja heute das letztemal zu dir ... an jenem Mittag ...
Die Sterbende brach ab, als wenn ein Gefühl der Scham ihre Stimme ersticken machte, aber ich wußte wohl, von welchem Mittag sie sprach!
Sie schwieg eine Zeitlang und bewegte nur leicht die Lippen. Plötzlich rief sie, wie verzweifelt ausbrechend:
— Warum hast du Peter nicht getötet?
In diesem Augenblick hörte ich ein unterdrücktes Stöhnen hinter mir. Ich wandte mich um; in der Tür stand, die Hand an die Pfosten gestützt, Peter, blaß wie eine Leiche, und blickte auf uns mit weit geöffneten Augen. Er mußte schon ziemlich lange dort stehen und hörte wahrscheinlich alles, was Martha zu mir sagte.
Als er sah, daß ich ihn bemerkte, machte er schwankend einige Schritte nach vorn und stammelte etwas Unverständliches.
Martha kehrte sich mit einem unterdrückten Schrei des Ekels zur Wand.
— Verzeihung, wimmerte Peter, Verzeihung; es war unabsichtlich ... Ich wollte nicht ...
Da ertönten im Nebenzimmer helle Stimmen.
— Die Kinder! rief Martha und streckte die Hände aus. Aber die Mädchen waren befangen und blieben in der Tür stehen, nur Tom stürzte zu ihr; sie nahm seinen Kopf in ihre zitternden Hände und drückte ihn an sich.
Peter beobachtete sie und trat an mich heran:
— Du hast ihr versprochen, er deutete mit einer Bewegung auf Martha, für alle Kinder zu sorgen ... für alle! In gleicher Weise ... Bevor ich, durch diese seltsamen Worte überrascht, antworten konnte, war er nicht mehr im Zimmer.
Durch die am Fenster vorübergleitenden Nebel drang schon der erste Sonnenstrahl, verwandelte die obern Scheiben in Stücke leuchtenden Goldes und eilte in hellen Lichtgarben durch die dumpfe Atmosphäre des Zimmers. Martha lag regungslos, mit erlöschendem Blick in den Streifen des Sonnenlichts starrend, der immer tiefer herunterglitt an der Wand und sich wie ein herabsteigender Engel ihrem Bette näherte. Die Mädchen schlichen auf den Fußspitzen heran und schauten erstaunt auf die blassen, unbeweglichen Züge der Mutter.
Mir war es schwül; im Munde fühlte ich eine trockene Bitterkeit. Dieser anbrechende Tag kam zu mir wie ein erbarmungsloser, schmerzlicher Hohn, denn ich wußte, daß mit ihm eine endlose Leere und ein Bangen nach der Vergangenheit beginnt. Die Minuten flossen in Schweigen dahin ...
Plötzlich schrie Tom:
— Onkel, Onkel, ich ängstige mich! Mütterchen blickt so furchtbar!
Ich wandte mich um: ein Lichtstrahl, der auf das Kissen fiel, erleuchtete Marthas Züge; die verglasten, erloschenen Augen starrten in die Sonne.
— Eure Mutter ist gestorben, sagte ich mit einer würgenden, mir selbst fremden Stimme zu den Kindern, die sich erstaunt und verängstigt um das Lager drängten. Dann beugte ich mich über sie, um ihre Augenlider zu schließen.
In demselben Moment ertönte ein Schuß.
Ich stürzte zur Tür: Peter lag im benachbarten Zimmer am Boden, mit zerschmettertem Schädel, den rauchenden Revolver in der Hand.
Ich wankte wie ein Betrunkener.
Heute liegen beide schon im Grabe ... Ich habe ihnen den letzten Dienst erwiesen: Ihre Körper wickelte ich in große, aus Pflanzenfasern gewebte und mit Harz getränkte Tücher und trug sie auf meinen Armen in das Boot, das sie auf die Friedhofinsel fahren sollte. In dem Boot saßen neben mir und den Leichen vier Kinder. Die drei älteren drängten sich um die Mutter. Tom, durch den Anblick des Todes betroffen und verschüchtert, saß schweigend zu Füßen der Leiche; Lilli und Rosa griffen mit den Händchen nach dem Tuch und riefen weinend nach der Mutter, als wenn sie noch die ihnen gebührenden Liebkosungen verlangten, mit denen sie die Mädchen im Leben so spärlich bedachte. Die Leiche Peters lag verlassen in dem Boote. Nur die Jüngste näherte sich ihr, und das Tuch streichelnd, flüsterte sie leise:
— Armes Väterchen, armes ...
Unserer traurigen Fahrt war ein günstiges Wetter beschieden. Die Sonne, die noch nicht hoch über dem Horizont stand, erleuchtete golden die mächtige, ruhige, kaum von einem leichten Winde in zarte Furchen gepflügte Meeresfläche, auf der vor uns, in der Ferne, die Inseln auftauchten, in durchsichtigen blauen Nebel gehüllt. Und niemals im Leben empfand ich so bitter diese erbarmungslose, grausame Ironie, die in der sich immer gleichbleibenden Schönheit der Natur liegt, der Freude wie dem Schmerze des Menschen gegenüber gleichgültig! Denn ich fuhr doch in diesem Kahn die zwei letzten menschlichen Wesen, die mit mir auf diesen Globus gekommen waren und wie ich meine heimatliche Erde kannten; ich fuhr sie hierher, um sie in dem Grabe zu betten, das ich für mich gebaut hatte, um dann für immer allein zu sein! Und trotzdem leuchtete die Sonne erhaben und herrlich, genau so wie damals, da ich als glückliches Kind auf jenem in diesem Augenblick so weit von mir entfernten Planeten in ihrem warmen Scheine sorglos spielte.
Von dem Boote aus trug ich sie beide auf dem Rücken zum Grabe, das ich auf der Höhe in der schönsten Gegend der Insel erbaut habe. Die Leichen waren leicht, sechsmal so leicht als sie auf der Erde sein würden, und ich beugte mich dennoch unter ihrer Last ... Das war freilich kein Wunder! Trug ich doch das letzte meines bitteren Glückes zu Grabe!
Martha habe ich in dem Grabe gebettet, das ich für mich bestimmt hatte. Für Peter errichtete ich eine andere Ruhestätte, etwas tiefer gelegen.
Und ich muß weiterleben ... Manchmal zwar, wenn mich die Last der Sehnsucht zu Boden drückt, packt mich die Versuchung, von diesem Globus fortzugehen, auf dem Wege, den schon die andern sechs vor mir gegangen sind: O’Tamor, die beiden Remogners, Woodbell, Varadol und Martha; aber dann denke ich an den Schwur, den ich der Sterbenden geleistet habe, daß ich die Kinder nicht verlassen werde. Für sie muß ich leben. Ich bin jetzt zum Leben verurteilt, wie ich — so lange sie lebte, zur Liebe verurteilt war. Und diese zwei höchsten Güter des Menschen sind mir zur Qual, zur namenlosen Qual geworden.
Meine Tage gehören diesen Kindern. Ich bemühe mich mit allen Kräften, stets an sie zu denken, beschäftige mich mit ihnen, lehre sie, nehme sie mit mir, schütze und pflege sie, denn, bei Gott, auf mir Kinderlosem lastet die geistige Vaterschaft des Mondgeschlechtes.
Aber während der Nächte kehre ich auf die Erde zurück und spreche mit den Toten.
Etwas ist wohl in meinem Hirne zerstört und unterbrochen, oder die Trauer hat mein Denken in Nebel gehüllt, denn die Wirklichkeit erscheint mir als Traum, und die Träume de Schlafes sind für mich wirkliches Leben.
Ich sehne mich nach den Träumen. In ihnen wandle ich auf der Erde und küsse voll Rührung ihre Bäume und Blumen, sogar den Staub und die Steine, und es ist mir dann, als hätte mich niemals das wahnsinnige Verlangen nach Erkenntnis, der Wunsch, die Geheimnisse des sternenbesäten Weltenraumes zu erforschen, von ihr fortgerissen.
Manchmal auch kommen sie zu mir, die verstorbenen Kameraden. Voran geht der greise O’Tamor und beschuldigt sich, er, der die Güte selbst war, daß er uns leichtsinnig auf diesen öden Globus, der wie eine Lampe für die Erde zwischen den Himmeln hängt, hinausgeführt hat. Dann sehe ich die Remogners. Sie beklagen sich, daß sie uns gefolgt sind und dadurch den Tod gefunden hätten. Woodbell erscheint blaß und fragt, was wir mit Martha getan haben. Ob sie glücklich mit uns war. Und Peter erzählt mir im Traum alles, was ich in den letzten Jahren seines Lebens aus seinen Augen gelesen habe: von seiner wilden, leidenschaftlichen Liebe zu Martha, die ihn verzehrte wie das Feuer eine Handvoll Holzspäne, von dem furchtbaren Schicksal, das ihm nicht einen einzigen Augenblick des Glücks gegeben hat! Wie er die langen Jahre hindurch nur Ekel, Widerwillen und Verachtung in dem angebeteten, so heiß begehrten Weibe erwecken konnte. Wie er all seine Liebe in sich ersticken, allen Schmerz hinunterwürgen mußte, wie sich die beleidigte Manneswürde in ihm aufbäumte. Er erzählt mir, was in jener letzten Nacht in seiner Seele vorgegangen ist, als er mich, das Gesicht an ihrer Brust verborgen, sah, und später, als er den Revolver an die Schläfe setzte.
Diesen traurigen Geisterreigen beschließt Martha. Sie erscheint mir — still, mit einem schmerzlichen Lächeln auf den Lippen — und dankt mir, daß ich ein Mensch war, und manchmal will es mir wieder scheinen, als mache sie mir einen Vorwurf, daß ich es nicht war ... Mein ganzes Innere ist ein Abgrund von Leid und Trauer ...
So sprechen die Geister mit mir. Und obwohl sie mir nichts Frohes zu sagen haben, ist es mir doch heimatlich mit ihnen und heimlich und gut zumute, weil sie meinem Herzen nahe stehen.
Das neue Mondgeschlecht, das um mich heranwächst, ist so anders. Es sind noch Kinder und dennoch fühle ich, daß sie schon jetzt eine besondere Welt für sich bilden, die mir, dem von der Erde Gekommenen, immer fremd sein wird, wie meine Welt ihnen, den auf dem Monde Geborenen, verschlossen ist.
Und doch muß ich, der Bruder dieser sechs Gräber, die auf dem Monde verstreut liegen, mit denen leben, für die dieser Globus die Heimat ist — und wer weiß, wie lange noch ... wie lange ...
Ende des zweiten Teiles.
Im Polarlande.
Es reift schon heran, dieses Geschlecht, und ich bin ihm immer weniger nötig und immer trauriger ... Ich bin nach dem Polarland gegangen, um auf die Erde zu schauen und allein zu sein.
Seit unserem EXODUS von unserer verlorenen Erde sind schon zweihundertneunzehn Mondtage verflossen und siebenundsechzig seit dem Tode Marthas und Peters.
Ich wundere mich, daß ich nicht sterbe ...
*
Ich wohne also wieder auf dem Pol. Die grenzenlose Sehnsucht nach meiner Heimat, der Erde, quält mich immer mehr. Sie läßt mich sogar dieses Geschlecht vergessen, das mir von Martha in ihrer Todesstunde übergeben wurde, aber es lebt dort am Meere und ist glücklich. Als ich fortging, erwachten Frühlingsgefühle der Liebe in mir! Zu wonnig und zu ... schmerzlich war es für mich, auf diesen Frühling zu schauen ...
Hier ist Stille und Einsamkeit und Erinnerung ...
*
Es war wiederum eine Sonnenfinsternis und die schwarze Erde wie eine verkohlte Leiche über dem goldenen Regenbogen und Güsse und Überschwemmungen ...
Seit unserem EXODUS zweihundertsechsundzwanzig Mondtage.
Die Sorge um Marthas Kinder lastet auf mir. Ich werde zurückkehren müssen an das Meer und sehen, ob sie mich brauchen.
Ich schlief so unruhig und sah Martha im Traume ...
*
Ich war in dem Lande der Warmen Teiche, nach siebenmondtägiger Abwesenheit. Die Sorge um Marthas Kinder hat mich hingeführt.
Tom ist der Mann seiner Schwestern Lilli und Rosa.
Es ist erstaunlich, wie diese Menschen auf dem Monde degenerieren! Tom ist schon erwachsen, reicht mir aber nicht einmal bis an die Schulter. Ada, glaube ich, wird noch kleiner.
Während meines Aufenthaltes am Meere war ein furchtbarer Ausbruch des Otamor, der größte von allen, an die ich mich erinnern kann. Die südliche Seite des Kraters ist ins Meer gesunken. Es war dies der zweihundertachtunddreißigste Mondtag seit unserem EXODUS — vierzehn Stunden nach Mittag hat der Ausbruch begonnen.
Als ich fortging, erwartete Rosa Nachkommenschaft. Ada habe ich mit mir genommen — sie war dort so verlassen. Sie bedarf jetzt meines Schutzes mehr als je. Es ist furchtbar, daß es mir noch immer nicht erlaubt ist, zu sterben!
Ich kam zum Polarland zweihunderteinundfünfzig Mondtage nach unserem EXODUS. Tom bemühte sich, mich zurückzuhalten, aber ich fühlte trotzdem, daß er froh war, als ich fortging. Tom ist selbstherrlich und sieht ungern meine Achtung seinen Frauen gegenüber. Es ist ihm auch lieb, daß Ada mit mir gegangen ist, denn er mag sie nicht leiden, weil sie sich ihm nicht ergeben will, obwohl sie fast noch ein Kind ist.
*
Fahl und kühl ziehen die Stunden vorüber, wie dieses Licht der unsichtbaren Sonne auf dem Pol — eine lange, lange, unendliche Reihe von Stunden ...
Nur mit Mühe halte ich die Rechnung der Zeit aufrecht; ich spreche nicht viel und Ada ist immer schweigsam. Sie sitzt ganze Stunden auf dem grünen Moos und ihre traurigen Kinderaugen irren über die rosa beleuchteten Gipfel der Berge.
Und ich? ...
Seit langem habe ich aufgehört der Gegenwart zu leben und noch mehr der Zukunft. Ich sehe zurück und schaue unaufhörlich meinen Erinnerungen in die Augen. Eine trübselige Gesellschaft! Traurig bin ich dort am Meer und traurig hier, wo ich die Erde sehe am Horizont.
*
Eine lange Zeit ist vorübergegangen, seit ich die letzten Notizen niederschrieb. Ada wird größer und beginnt sich nach den Geschwistern zu sehnen. Ich merke ihr das an, obwohl sie selbst es nicht zugeben will.
Auch ich denke, daß es trotz allem Zeit ist, an das Meer zurückzukehren. Ich werde älter, und wenn ich in dieser Einsamkeit sterben sollte, wäre Ada zum Tode verurteilt. Ihretwegen will ich zurückkehren, obwohl Gott weiß, wie gern ich hierbleiben und sterben möchte, auf die Erde schauend!
Und ich fürchte fast, daß dieses Kind schon zu lange mit mir, dem Schweigenden, traurig Einsamen, gelebt hat. Seltsam ist dieses Kind — und auch das ist seltsam, daß wir uns in dieser Einsamkeit, statt uns zu nähern, gegenseitig immer fremder werden. Sie blickt auf mich mit weit geöffneten Augen, und ich fühle, daß sie vieles denkt, worüber sie nicht zu mir spricht.
Ich muß es mir selber eingestehen, so lange ich auch mit diesem Mädchen zusammen bin, es ist mir unmöglich, mich an sie zu gewöhnen, im Gegenteil, sie reizt mich durch ihre Gegenwart. Allein möchte ich sein und ungestört über die Vergangenheit nachdenken ... über die Erde ...
Und dennoch muß ich zurückkehren ... zu Tom, zu Toms Kindern, die mit Staunen und Furcht auf mich schauen werden, auf den alten Menschen, der einstmals von der Erde gekommen ist und jetzt lange in der Einsamkeit lebte. Ich muß zurück ... wir müssen zurück — Ada ...
Es ist mir noch nicht vergönnt, zu sterben ...
Am Meere bei den warmen Teichen.
Seit unserem EXODUS sind vierhundertzweiundneunzig Mondtage verflossen, das heißt, fast achtunddreißig Erdenjahre. Schon lange habe ich nichts mehr auf diesen Blättern niedergeschrieben, heute nehme ich sie zur Hand, um den Tod Rosas zu notieren.
Sie ist gestorben, es ist furchtbar, durch die Schuld ihres Mannes und Bruders, meines geliebten einstigen Zöglings Tom, der sie im Zorn mit einem Stein erschlagen hat!
Die zweite Frau Toms und seine älteren Kinder haben diese Tat schweigend hingenommen. Anscheinend glaubt er, das Recht zu haben, alle zu töten, die ihm nicht gehorchen. Die einzige, Ada, die sich stets von der Familie Toms ferngehalten hat, ist gegen diesen Verbrecher aufgetreten. Ohne Worte, ohne einen Gefühlsausbruch, nur mit drohender Miene und erhobenen Händen ging das Mädchen auf ihn zu, und er wich ängstlich zurück, obwohl er sie mit einem Faustschlag hätte niederschmettern können, weil er größer und stärker ist. Sie blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen, und mit der einen Hand auf die Leiche der Frau zeigend, erhob sie die andere über seinem Haupte und rief:
— Für das Blut dieser Frau verfluche ich dich im Namen des Alten Menschen!
(„Alter Mensch“ ist der Name, den dieses neue Geschlecht mir gegeben hat.)
Tom erschrak zuerst; dann sah er mich mit einem finsteren Blick an und sagte zu Ada, indem er sich bemühte, seinen Worten einen harten, herrischen Klang zu geben:
— Rosa war mein Weib. Es stand mir frei, mit ihr zu tun, was ich wollte ... sie zu ernähren oder zu töten. Warum war sie unfolgsam?
Dieser entsetzliche Vorfall und dieses unfreiwillige Verbrechen, denn ich glaube bis zu diesem Augenblick nicht daran, daß Tom seine Frau mit der Absicht sie zu töten getroffen hat, haben mir plötzlich drei Dinge klar gemacht, über die ich mir bis jetzt keine genügende Rechenschaft gab.
Ich sehe vor allem die Brutalität Toms und glaube, daß ich sie verschuldete, denn ich habe ihn erzogen und es nicht verstanden, seinen Charakter anders zu formen. Ferner hätte ich nicht einsame Jahre auf dem Pol verbringen und diese Menschen hier allein ihrem Schicksal überlassen dürfen, und endlich versetzt mich Ada in Staunen. Ich sehe jetzt aus ihrem ganzen Auftreten und aus vielen Dingen, an die ich mich erst nachträglich erinnere, so manches, worauf ich nicht genügend achtgegeben habe, vor allem ihre sonderbare Beziehung zu dem Bruder und seiner Familie. Es scheint mir, daß sie sich gegenseitig hassen, und trotzdem fürchten jene dieses Mädchen, das jüngste aus dem ersten Geschlecht dieser Menschen. Sie hält sich fern von ihnen und lebt unter ihnen wie eine Priesterin, obwohl ich nicht weiß, ob dieses Wort ihr Verhältnis zu den andern richtig ausdrückt. Ada tut mir leid, denn sie ist einsam und wird, glaube ich, immer einsam bleiben auf dieser Welt, so wie ich, sie tut mir um so mehr leid, weil ich ihr nicht das sein kann, was ich ihr eigentlich sein müßte: ein Vater und guter Freund. Aber auch in ihrer Beziehung zu mir liegt mehr eine abergläubische Verehrung als Liebe. Auch daran scheine ich selbst schuld zu sein ...
Und das dritte, was mich am meisten entsetzt hat, weil es mich am nächsten angeht: sie halten mich für ... Aber nein, vielleicht täusche ich mich nur! Was ist’s, daß Ada Tom in meinem Namen verflucht hat? Ich bin doch der Älteste, also wahrscheinlich nur deswegen ... Und dennoch, wenn es so wäre? Sollte ich auch dieses ... Götzentum verschuldet haben?
Wie seltsam sie alle diesen Namen aussprechen, mit dem sie mich belegten: „Der Alte Mensch“ ...
*
Ich hatte heute wieder einen Traum, der mich schon seit Jahren unaufhörlich quält und es mit sich bringt, daß ich mich in dieser Welt immer fremder fühle ...
Ich träumte, daß ich auf der Erde war.
Aber heute war das ganz besonders seltsam.
Ich war in der Gesellschaft von Menschen, mit denen ich über die Angelegenheiten des Staates, der Völker, des Fortschritts sprach. Man sagte mir, daß sich die Grenzen einiger Länder veränderten, seit der Zeit, da ich die Erde verlassen habe, daß jetzt andere Rechte herrschen und vieles von dem früheren Glauben hinfällig wurde. All das hatte mich interessiert und ich wollte nach langer Abwesenheit die Erde mit eigenen Augen besichtigen, um mich zu überzeugen, wie es dort aussieht.
Ich machte mich also auf den Weg und ging durch mir einst bekannte Gegenden und Städte. Es hatte sich tatsächlich vieles geändert. Wie ein Vogel durchflog ich die Länder und wunderte mich, daß an Stelle der alten Metropolen Trümmer waren, an Stelle blühender Fluren sah ich Wüsten und Brandstätten, und dort, wo sich einst Wüsten ausdehnten, traf ich Wasser an oder bestellte Felder und Wiesen, die neue Residenzstädte umgaben, in denen starkes Leben pulsierte. Ich machte manchmal halt, um mir bekannte Häuser und Menschen aufzusuchen; ich frug nach Dingen, die sich zu meinen Zeiten zugetragen hatten, aber niemand konnte mir darauf antworten. Man schüttelte nur die Köpfe und sagte: „Wir wissen nichts davon“, oder: „Wir haben es vergessen.“
Entsetzen packte mich und ein unaussprechliches Leid, denn ich sah, daß diese Erde anders geworden ist und der nicht mehr ähnlich sah, die ich gekannt habe.
Scheinbar, so dachte ich im Schlafe, sind nicht nur Jahre, sondern Jahrhunderte verflossen, seit ich von hier gegangen bin; auf dem Monde ist es schwer, die langen, einander ähnlichen Tage zu zählen, ich habe ihrer wohl viele aus dem Gedächtnis verloren ... Ich komme auf die Erde, die ich nicht kenne und die auch mich nicht mehr kennt.
Und plötzlich fühlte ich mich so namenlos unglücklich! Fremd auf dem Monde, auf dem ich mich nicht einleben kann, und fremd auf der Erde, auf die ich durch irgendein Wunder zurückgekehrt bin — zu spät! Wo ist noch Raum für mich, wo werde ich Ruhe finden?
Ich eilte also weiter durch die Lüfte, eine grenzenlose Leere im Herzen — und nach dem kurzen Tage sank schon die Nacht hernieder. Die ersten Sterne erglänzten am Himmel, als ich mich, durch einen inneren Drang vorwärtsgetrieben, schon über der uferlosen Fläche des Ozeans befand. Unter mir wälzten sich die Fluten wie sich in Windungen schlängelnde Seeungeheuer mit glatter schillernder Haut. Und die goldenen Himmelslichter spiegelten sich in den durchsichtigen Wogen.
Meine Blicke irrten rings umher: hier allein hatte sich nichts geändert. Das Meer war unermeßlich wie früher und ebenso wild bewegt und veränderlich.
Aber während ich noch darüber nachdachte, bemerkte ich, daß sich das Wasser seltsam zu dehnen begann und seine Fluten zu mir emporsandte. Jetzt erst sah ich auch, daß direkt über mir der Vollmond stand. Ich erschrak über die Erscheinung dieser Mondwelt dort in der Höhe und wollte fliehen, irgendwohin, wo ihr Glanz mich nicht erreichte; aber plötzlich fehlten mir die Kräfte. Ich fühlte, daß ich auf die sich immer höher hebenden Fluten hinabfiel; sie aber stiegen und stiegen, warfen mich nach oben, dem Monde entgegen, streckten sich zu ungeheuren, endlos langen Hälsen, heulten in einem wilden Lachen und wurden höher und immer höher. In wahnsinnigem Entsetzen blickte ich nach dem Monde: Er wuchs vor meinen Augen, dehnte sich, nahm schon den halben Horizont ein; der ganze Himmel war von ihm bedeckt, wie mit einem silbergrauen Schleier. Es schien mir, daß in seiner Scheibe die sich herausneigenden Köpfchen der degenerierten Nachkommenschaft Marthas sichtbar wurden und ich ihr boshaftes Rufen hörte:
— Kehre zu uns zurück! Kehre zu uns zurück! Alter Mensch, du bist nicht von der Erde!
Verzweiflung, Entsetzen, Ekel und ein grenzenloses Verlangen, auf der Erde zu bleiben, wenn sie mich auch nicht mehr kennen wollte, alles das durchlief im Sturme meine Seele. Ich stieß einen gellenden Schrei aus und strengte meine ganzen Kräfte an, um gegen die mich in den Weltenraum schleudernden Fluten anzukämpfen. Ich griff mit den Händen nach dem Wasser, schlug mit den Füßen die Luft ...
Vergebens! Ich fühlte plötzlich, daß die Erde statt unter meinen Füßen schon über meinem Haupte war und ich wieder auf den Mond zurückfalle ...
Ein furchtbarer Traum! Eine furchtbarere Wirklichkeit ...
*
Seit unserm EXODUS fünfhundertundein Mondtag.
Tom hat mit seinen beiden ältesten Söhnen zu Schiff die Fahrt nach dem Süden angetreten. Aus seinen Erzählungen schließe ich, daß sie fast bis zum Äquator vorgedrungen sind. Von der weiteren Fahrt hielten sie furchtbare tropische Meeresstürme zurück. Und so mußten sie resultatlos umkehren.
Tom redete nach der Rückkehr lange mit mir. Er sprach viel von seiner Mutter und von Rosa und bedauerte ihren Tod. Dann erzählte er mir von der Expedition und schilderte die Kämpfe und Mühen, die er zu bestehen hatte. Schließlich verfiel er in Nachdenken und sagte, er fürchte, daß dies seine letzte Fahrt gewesen sei.
Ich sah ihn an und konnte es nicht begreifen. Dieser junge Mensch, kaum halb so alt wie ich, ist schon ein Greis. Auf der Erde wäre er jetzt in der Blüte der Jahre. Hier werden die Menschen bedeutend früher reif und altern früher. Desto erstaunlicher ist es, daß ich lebe.
Ich sagte ihm das; er blickte mir in die Augen und antwortete nach einer Weile des Zögerns:
— Ja, aber Ada und meine Kinder sagen, daß du der Alte Mensch bist.
Seltsam klangen diese Worte aus seinem Munde.
— Aber du, entgegnete ich, du, der du mich von deiner Kindheit an kennst, was sagst du über mich?
Tom konnte mir keine Antwort geben.
*
Vierzehn Mondtage nach dem Tode Rosas starb Tom. Er hinterließ zwölf Kinder, fünf von der verstorbenen Frau und sieben von Lilli. Ich habe ihn selbst auf der Friedhofinsel begraben neben den andern Gräbern. Dort ruhen nun schon Martha, Peter, Rosa und Toms jüngstes, dreizehntes Kind, das kurz nach der Geburt gestorben ist.
Lilli ist verzweifelt über den Tod ihres Mannes. Es scheint mir, daß auch sie ihm bald folgen wird.
Nur Ada ist still und gleichgültig.
Der Patriarch des Mondvolkes ist jetzt Jan, der älteste Sohn Rosas und Toms, verheiratet mit der Tochter Lillis.
Ada sagte mir heute mit tiefer Überzeugung, daß ich niemals sterben würde ... Ich weiß nicht, ob sie wahnsinnig geworden ist und mit ihr dieses ganze Mondgeschlecht, das auf sie hört und ihr scheinbar glaubt, oder bin ich wirklich eine seltsam unerhörte Ausnahme zwischen diesen Menschen? ...
Denn in der Tat — woher lebe ich noch?
*
Lilli ist gestorben.
Von dem ersten Mondgeschlecht lebt nur noch Ada.
Seit unserm EXODUS fünfhundertsiebzehn Mondtage ...
*
Die Angst packt mich, denn um mich herum geschieht etwas, das ich nicht verstehen kann und nicht verstehen will, nicht will! ... Dieses Völkchen kam während des Sturmes, der heute noch furchtbarer tobte als gewöhnlich und zu dem sich ein drohender Ausbruch des Otamor gesellte, dieses Völkchen kam zu meiner Behausung mit Opfern, die wahnsinnige Priesterin Ada, der scheinbar der lange Aufenthalt und die Einsamkeit damals im Polarland die Sinne verwirrten, an der Spitze. Schon seit dem an Rosa begangenen Mord, der sie furchtbar erschütterte, bemerkte ich eine Verstörtheit an ihr, jetzt sehe ich, daß sie wirklich geisteskrank ist. Aber ich bin der einzige, der das bemerkt! Die andern verehren sie und halten sie für geheiligt! Und heute, unter ihrer Führung, — es ist furchtbar, es auszusprechen! — beteten sie zu mir, daß ich die Stürme niederwerfen und die unter ihren Füßen wankende Erde beruhigen sollte! Also sie halten mich wirklich für ... Oh, wie grauenhaft einsam bin ich in dieser Gemeinschaft der Irrsinnigen und Degenerierten!
*
Ich habe mich heute an das Ordnen der seit lange verstaubten Bibliothek und meiner Papiere gemacht, und plötzlich überkam mich der Wunsch, alles zu verbrennen — auch dieses Tagebuch.
Ich habe nichts verbrannt. Aber die Bücher und Papiere blieben zerstreut auf dem Boden liegen, und ich habe keine Lust, auch nur die Hand auszustrecken, um sie aufzuheben.
Mögen sie so liegen bleiben. Wenn ich sterbe, wird sie wahrscheinlich niemand mehr anrühren ...
So viele Tage, so viel unendlich lange Tage und Nächte ... Ich glaube, daß ich die Zeitrechnung verloren habe ... Es ist so schwer, die Tage zu zählen, die einander so ähnlich sind wie Wassertropfen; Tage, denen meine alte Erdenuhr nicht nachkommen kann und im Laufe stehen bleibt, ehe die Sonne sich zum Mittag erhebt. Nur mein Herz zeichnet mit seinem Pochen jeden kleinsten Abschnitt der Zeit und wenn ich es frage, welche Stunde es ist, so antwortet es mir: die Stunde der unermeßlichen Sehnsucht! Und wenn ich es frage, wieviel solcher Stunden vorübergegangen sind, antwortet es nur: zu viel! zu viel! So ist es, du mein banges, einsames Herz! Zu viel dieser Stunden, zu viel der Sehnsucht, zu viel schon des Lebens ...
Meine Haare sind lange grau ... Wie lange? Ich weiß es nicht. Dort auf der Erde müssen wohl zwanzig oder mehr Jahre verflossen sein, seit ich die Gräber auf der Friedhofinsel grub und Peter und Martha darin bettete. Dieser Gräber sind es nun schon mehr geworden. Ich habe Ruhestätten für Tom, für Lilli und Rosa gegraben, die noch Kinder waren, als ich mich bereits beugte unter der Last der Jahre. Um mich herum wachsen Urenkel derjenigen auf, die einst mit mir von der Erde auf diese Welt kamen, und ich lebe noch immer.
Das ist so erstaunlich, daß ich mein Wesen schon selbst nicht mehr begreife und fast fähig wäre, mit an diese unter dem Mondgeschlecht verbreitete Legende zu glauben, daß ich niemals sterben werde ...
Ich erinnere mich, auf der Erde, auf meiner geliebten, für immer verlorenen Erde, las ich einmal in dem Buche eines bekannten Naturforschers, daß der Tod eine unbegreifliche und zufällige Erscheinung sei, die sich nicht absolut aus den Bedingungen des Lebens ergeben muß. Die Angst schüttelt mich, wenn ich denke, daß er mich vielleicht vergessen hat und nicht kommen könnte.
*
Wenn ich recht zähle, sind schon fünfzig Jahre vorübergegangen, seit ich mit den verstorbenen Kameraden die Erde verlassen habe.
Von den Menschen, die ich kannte, leben heute wahrscheinlich nur noch wenige; diejenigen, die in der Kindheit von den Wahnsinnigen, die auf den Mond gefahren sind, hörten, werden längst grau sein und die Namen jener Reisenden vergessen haben, die man damals schon für tot und verloren hielt.
Fünfzig Jahre! Wie vieles muß sich seit dieser Zeit auf der Erde geändert haben! Vielleicht würde ich mir einst vertraute Gegenden nicht mehr erkennen. Auch mein Gedächtnis wird schwächer ... Es hat eine Unmenge Einzelheiten aufbewahrt, mit denen ich in den langen Stunden des Nachdenkens spiele, aber ich sehe, daß die Bilder der Erinnerung immer loser werden, einer Mosaik wertvoller, durch meine Sehnsucht glänzender Steine gleich, die schon zerbröckelt und auseinanderfällt.
Ich lege diese Mosaik in Gedanken immer wieder von neuem zusammen; die Steine, die ich im Lauf der langen Jahre verloren habe, ergänze ich durch irgendein trauriges Traumgebilde, und wiederum verändere ich die Bilder und spiele im Alter mit diesen Schätzen der Erinnerung wie ein Kind mit einem Kaleidoskop.
Und wie schimmernde Perlen sind diese Erinnerungen, wenn ich durch meine Tränen auf sie blicke!
Oh, nur ein Tag, eine Stunde dort, auf der Erde! Nur einmal noch Menschen sehen, wirkliche, mir ähnliche Menschen! Gott, wenn ich das Rauschen der Wälder hören könnte, der Tannen und Eichen; noch einmal die im Winde flatternden Blätter der Birke sehen, das Gras auf den Wiesen, den Duft irdischer Pflanzen und Blumen einatmen, dem Gesang der Vögel lauschen, wenn ich nur ein einziges Mal noch die grünen Fluren im Frühling oder im Sommer die goldene Ährenflut sehen dürfte!
Ja, vieles muß sich auf der Erde geändert haben, aber die Menschen sind dieselben geblieben und auch die Bäume, die Blumen und die Vögel!
Manchmal erinnere ich mich an das goldene Märchen, daß die menschliche Seele, vom Körper befreit, nach Gutdünken in den Welten herumwandern könne, auf Sternen und Sonnen. Als ich noch ein kleiner Knabe war, der auf der Erde wohnte, träumte ich davon und dachte an die Reisen im sternenbesäten Weltenraum. Jetzt möchte ich nur noch auf der Erde sein, ewig, ewig auf der Erde! Und wenn mich manchmal die Angst überfällt, daß die Erde heute so anders ist als da ich sie vor fünfzig Jahren kannte, dann erinnere ich mich, daß dort doch auch jetzt noch Menschen sind und Wälder und singende Vögel, daß es dort blühende Fluren und duftende Blumen gibt! Das genügt meinem Geiste, dorthin zu ziehen, wenn er die Freiheit erlangt hat.
Wie lange habe ich den Gesang der Vögel nicht gehört! Und ich erinnere mich an wonnige Maienmorgen, die ganz von Vogelgesang erfüllt waren ... Die Dämmerung beginnt, der Himmel verblaßt, dann färbt er sich allmählich im Osten in zartes Rosa. Eine tiefe, andächtige Stille! Nur das Geräusch der von den Blättern der Bäume herabfallenden großen Tauperlen ist vernehmbar. Da plötzlich das erste kurze, abgebrochene Gezwitscher; das zweite von einer anderen Seite, das dritte, vierte ... Noch eine kleine Weile der Ruhe und dann, als wenn alle Bäume und Sträucher erwacht und lebendig geworden wären: rings umher ein Pfeifen, Singen, Schlagen, Jubilieren! Zunächst kann man die einzelnen Laute noch gar nicht unterscheiden; hier läßt sich die Amsel vernehmen, dort aus dem Walde tönt das Schreien des Habichts, wieder näher die Meisen, die Bachstelzen und Drosseln, die ihre Stimmchen erheben. Hoch oben die Lerche, die in den Lüften schmettert, und in lauschigen Büschen schlägt die Nachtigall. Ein jubelnder Chor, und die Luft, die Blätter und Blumen und Gräser erzittern ... Die Welt hat sich indessen erhellt, der Himmel wird röter und röter, bis endlich die goldene Sonne am Firmament emporsteigt ...
Hier schleicht sie langsam und träge, diese Sonne! Man könnte fast glauben, daß sie sich nicht beeilt, weil keine süßen Stimmen sie rufen. Die mehrstündige graue Dämmerung, während der die Gegend in Frost und Schnee erstarrt und traurig daliegt, belebt kein Vogelgesang ... Hier erhebt sich die Sonne über einer toten Welt, die in eine grauenhafte Stille gehüllt ist. Nur der Mensch, der von einem fernen Gestirn gekommen, unterbricht die bange Lautlosigkeit durch seine Gegenwart; ein Kind, das erwacht, weint leise, oder ein verwilderter Hund heult in der Höhle, aus der er irgendein kleines Mondungeheuer verjagt hat, um vor der Kälte Schutz zu suchen. Still ist es, still, während des ganzen langen, unendlich langen Tages! Ein Sturm, der sich erhebt, das Meer, das um die Felsen braust, oder das entfernte Dröhnen eines Vulkans, sonst nichts, nichts ...
*
Heute steht mir alles, was ich erlebt habe, so klar vor der Seele! Ich durchwühle die vergilbten Blätter des Tagebuches, und wenn ich für eine Minute die Augen schließe, so scheint es mir, daß ich das Geräusch des Wagens höre, der uns durch die fürchterlichen Mondwüsten fährt, daß ich diesen grundlosen Himmel über mir sehe und die in seiner Dunkelheit leuchtende Erde. Die mächtigen Berge, die sich im Schatten im tiefsten Schwarz der Kohle malen und im Glanz der Sonne, die strahlenlos zwischen den verschiedengefärbten Sternen zu der eine immer engere Sichel bildenden Erde wandelt, in allen Regenbogenfarben spielen. Und dann tauchen die ersten Jahre, die ich hier am Meeresstrande verlebte, vor meiner Erinnerung auf. Durch die geschlossenen Augenlider sehe ich Martha, traurig und blaß, und Peter und diese wonnigen Kinder, die heute schon nicht mehr sind. Nur Ada ist noch am Leben, aber sie scheint sich nicht mehr an die Eltern zu erinnern, obwohl sie das, was sie durch mich von ihnen gehört hat, mit phantastischen Zutaten vermischt, dem neuen Geschlecht erzählt. Sie war noch so klein, als sie gestorben sind. Heute ist sie nach mir die älteste auf dieser Welt, und diese Zwerge verehren sie fast ebenso wie mich, nur mit dem Unterschied, daß sie mich auch noch fürchten, obwohl ich, Gott ist mein Zeuge, nicht weiß weshalb, denn ich habe ihnen niemals etwas zuleide getan.
Eins ist wahr. Ich kann nicht mit ihnen umgehen wie mit mir gleichen Geschöpfen. Manchmal machen sie sogar den Eindruck von seltsam einfältigen Tieren auf mich. Schon das erste hier geborene Geschlecht war von uns, den von der Erde Gekommenen, grundverschieden. Tom und seine Schwestern sahen als erwachsene Menschen neben mir wie Kinder aus. Ihre Größe wie ihre Kräfte haben sich schon den Bedingungen dieser Welt angepaßt: ihren kleineren Maßen und dem verringerten Gewicht der Dinge. Dem heutigen Geschlecht gegenüber bin ich ein wahrer Riese. Die Enkel Marthas, schon erwachsene Menschen, die hier erstaunlich früh reifen, reichen mir kaum bis zu den Hüften und beugen sich unter der Last von Gegenständen, die ich mühelos mit einer Hand aufhebe. Trotz des überaus zarten Körpers sind sie jedoch von robuster Gesundheit und gegen Hitze und Kälte abgehärtet.
Die langen Nächte verschlafen sie zum größten Teil, aber wenn es nottut, arbeiten sie auch bei der empfindlichsten Kälte mit einer Ausdauer, die meine Bewunderung erregt.
Die geistige Entwicklung dieser Zwerge ist gänzlich zurückgeblieben. Die armseligen Brocken der Zivilisation, die wir von der Erde mit hierhergebracht haben, was ist aus ihnen geworden? Ich blicke um mich und habe den Eindruck, mich unter Wesen zu befinden, die auf die Bezeichnung „Mensch“ kaum einen Anspruch mehr haben. Sie können lesen und schreiben, aus Erz Metalle schmelzen und Fallen stellen und Kleider nähen; sie bedienen sich des Feuers, wissen sogar mit der Verwendung verschiedener Meßinstrumente Bescheid, sprechen mit mir in ziemlich reinem Polnisch und verstehen so leidlich den Inhalt französischer und englischer Bücher, aber untereinander reden sie ein erbärmliches Kauderwelsch, das sie sich aus polnischen, englischen, malabarischen und portugiesischen Worten zusammenwürfeln. Unter ihren engen Schädeln fließen die Gedanken träge und schwerfällig und es scheint, daß sie sie nur mit der größten Anstrengung zu Worten formen, dabei mit den Händen gestikulierend und Grimassen schneidend, wie Wilde irgendwo im Innern Afrikas oder auf den südlichen Grenzen des amerikanischen Kontinents ...
Und eine unermeßliche Trauer erfüllt mich, wenn ich auf diese dritte Generation der von der Erde hierhergekommenen Menschen blicke! Und diese Trauer wird dadurch um so größer, daß ich mich in dem Gefühl des eigenen Höherstehens einer gewissen Nichtachtung diesen armen Halbmenschen gegenüber nicht erwehren kann und mich gleichzeitig als Mitschuldiger an dem hier begangenen Verbrechen betrachten muß. Denn wir haben tatsächlich verbrecherisch die Würde des Menschengeschlechts geschändet, indem wir ihm erlaubten, sich auf diesem für seine Entwicklung nicht geeigneten Globus fortzupflanzen. Die Natur ist ebenso unerbittlich da, wo sie im Triumphzuge vorwärtsschreitet und, ihr Werk des Emporstrebens erfüllend, immer neue und immer höhere Formen schafft, wie auch dort, wo sie beleidigt zurückweicht und das widerruft und verneint, was sie geschaffen hat. Vergeblich habe ich mit ihr gerungen, vergebens versucht, dieses Mondgeschlecht auf der geistigen Höhe zu erhalten, die die Menschen auf der Erde erklommen haben. Das einzige und unerwartete Resultat all meiner Bemühungen ist diese mit heiliger Furcht vermischte Verehrung, die sie mir entgegenbringen. Ich bin für sie nicht nur ein Riese, sondern ein geheimnisvolles Wesen, das weiß, was sie nicht wissen, und versteht, was sie zu verstehen nicht fähig sind.
Und dabei erzählt ihnen Ada immer wieder von neuem, daß im Norden ein Land liegt, wo die Sonne nicht untergeht, daß sich eine grenzenlose Wüste dort erstreckt und über dieser Wüste ein mächtiger goldener Stern leuchtet, von dem ich auf den Mond gekommen sei. Ist das nicht genug, um die Köpfe dieser armen Degenerierten zu verwirren? Sie waren niemals dort und haben die leuchtende Erde nie gesehen, aber Ada war mit mir im Polarlande und erzählt ihnen Wunder, und sie hören ihr mit angehaltenem Atem zu und blicken ängstlich auf mich, auf meine im Verhältnis zu ihnen riesenhafte Gestalt.
Und so bin ich vereinsamt unter ihnen!
*
Es ist Nacht. Ich kann leider nicht dreihundert Stunden hintereinander schlafen wie diese Mondleutchen, und bin nun allein mit meinen trüben Gedanken.
Ich sitze verlassen in dem alten Hause, das ich einst mit Martha und Peter erbaut habe; am Tage schleichen diese Zwerge um den Teich herum und schauen mir neugierig zu. Obwohl sie mich seit ihrer Kindheit kennen, wagt es keiner von ihnen, zu mir hereinzukommen. Nur Ada erscheint regelmäßig zu bestimmten Tageszeiten, bringt mir meine Nahrung, ordnet was notwendig ist, und wenn sie mich zu Hause antrifft, stellt sie mir immer dieselben gleichgültigen Fragen; dann sitzt sie noch einige Stunden schweigend auf der Schwelle und entfernt sich, mich wieder meinen Gedanken überlassend.
Es scheint, daß sie diese Besuche als eine Art Pflicht mir gegenüber und gewissermaßen als Zeremonie, die dem „Alten Menschen“ gebührt, auffaßt.
Diese Frau, die scheinbar vollständig klar und bei Sinnen ist, lebt in einem seltsamen Wahn. Sie hält mich für ein übermenschliches Wesen, das diese Mondwelt beherrscht, und bildet sich ein, meine Priesterin und die Prophetin dieses Volkes zu sein, das unerschütterlich an sie glaubt.
Sie verkündet den Kindern Toms eine neue phantastische Religion, die sich aus der Heiligen Schrift, meinen Erzählungen von der Erde und unserer Ankunft hier zusammensetzt. Anfangs versuchte ich, auf alle erdenkliche Art der Verbreitung dieser Irrlehren, in deren Mittelpunkt ich selber stehe, entgegenzuarbeiten, aber ich überzeugte mich schließlich, daß ich in dieser Beziehung vollständig machtlos bin. Ich setzte Ada lang und breit auseinander, daß ich genau derselbe Mensch sei wie all die andern auf dem Monde und wie auch ihre Eltern es gewesen, an die sie sich ja noch erinnern müsse. Ich versuchte ihr klar zu machen, daß meine der späteren Generation überlegene Kraft und Körpergröße nur darin ihren Grund haben, daß ich auf einem anderen, größeren Planeten, nämlich auf der Erde geboren bin. Sie hörte aufmerksam und schweigend zu, und als ich endlich ungeduldig wurde, flüsterte sie, mich mit einem flüchtigen Lächeln streifend:
— Und wie konntest du, Alter Mensch, von der Erde hierher gelangen und meine Eltern hierher bringen, was kein anderer gekonnt hätte? Woher weißt du, was kein anderer weiß? Und vor allem, warum stirbst du nicht wie die andern?
Ich schalt sie und verbot ihr ein für allemal, derartige Märchen von mir zu verbreiten, aber alles war vergebens. Einige Stunden später hörte ich, wie sie zu Jan, der jetzt der Mondpatriarch ist, und der gerade zu mir gehen wollte, sagte:
— Der Alte Mensch ist unwillig; der Alte Mensch will nicht, daß man wisse, daß er ... ein Alter Mensch ist.
Jan wurde traurig.
— Das ist schlimm, das ist sehr schlimm, denn ich wollte ihn gerade bitten, einen Stein unter mein Haus zu schieben, den ich mit meinen Söhnen zusammen nicht von der Stelle bringen kann.
— Man muß ihn durch Bitten umstimmen, sagte Ada. Bringt nur viel Schnecken, Salat und Bernstein, das werde ich ihm geben. Und vor allem, — hier legte sie den Finger an den Mund — sprecht nichts vor ihm! Wehe! Denn er will es nicht.
Ich trat aus der Ecke, von der aus ich der ganzen Unterredung zuhörte, hervor, machte Ada abermals Vorwürfe und begab mich zu Jans Haus, um ihm den Dienst zu erweisen, von dem er gesprochen hatte. Beim Fortgehen hörte ich noch, wie Ada dem bekümmerten „Patriarchen“ zuflüsterte:
— Siehst du, er hört und weiß alles!
Wie ist in Adas Gehirn dieser Wahnsinn entstanden? Ich weiß es nicht, bin aber fest überzeugt, daß er den Inhalt ihres ganzen Wesens bildet und der Grund des großen Ansehens ist, das sie unter dem Mondvolke genießt. Rosa und Lilli fürchteten sie, so lange sie lebten, ja sogar Tom, der ihr gegenüber nicht immer zum Nachgeben geneigt war, zitterte vor ihr. Heute würden seine Kinder es nicht wagen, sich irgendeinem ihrer Befehle zu widersetzen. Mich empört es, daß sie diese Verwirrung in den armen Köpfen der bedauernswerten Zwerge anrichtet und gleichzeitig empfinde ich das innigste Mitleid mit ihr, denn ich fühle, daß sie in ihrem Irrsinn lichte Momente hat, während deren sie sich anscheinend klar darüber ist, daß sie in Hirngespinsten lebt, und dadurch entsetzlich leidet ...
Ich erinnere mich an einen Vorfall, der mir das so recht zum Bewußtsein brachte: Es war bereits nach Mitternacht, als Ada zu mir kam. Ich staunte über ihren Besuch zu so ungewöhnlicher Zeit, vor allem der empfindlichen Kälte wegen, während der man das Haus des Nachts nicht gut verlassen konnte.
Sie traf mich über ein Buch geneigt und da sie mich nicht zu unterbrechen wagte, setzte sie sich still auf eine Bank in der Ecke des Zimmers. Ich sah, daß sie mit mir sprechen wollte, aber ich tat absichtlich, als wenn ich sie nicht bemerkte. Ada saß eine Zeitlang schweigend da, bis sie sich mir endlich näherte und leise, ganz leise meine Schulter mit der Hand berührte:
Ich wandte mich schnell zu ihr; so hatte sie mich noch niemals angeredet. Sie nannte mich immer nur „Alter Mensch“, und als ich jetzt das Wort Herr hörte, stiegen geteilte Empfindungen in mir auf. Halb war es Freude darüber, daß jemand in altgewohnter menschlicher Weise zu mir sprach, und andererseits empörte mich wiederum diese Anrede.
— Herr ... kam es von neuem von Adas Lippen.
— Was willst du, Kind? fragte ich so sanft ich nur konnte. Ich mußte diese Frage einige Male wiederholen, bis sie mir endlich antwortete.
— Ich wollte fragen, ich wollte wissen ...
— Was?
— Herr, ich weiß nichts! rief sie plötzlich mit einer Verzweiflung in der Stimme und in den auf mich starrenden Augen, daß ich die Vorwürfe, die ich ihr abermals wegen ihrer dem Mondvolk erteilten falschen Lehren machen wollte, gewaltsam zurückdrängte. Sie indessen fuhr fort:
— Ich weiß absolut nichts ... und ich wollte dich bitten, daß du mir endlich sagen mögest, was das alles bedeutet; wer du eigentlich bist und was wir sind? Ich sehe dich unter uns, einsam und alt, stark und groß, aber ich glaube, soweit ich mich noch an meine Eltern erinnere, daß sie ebenfalls anders waren als wir heute, dir ähnlich ....
Sie verstummte, und nach einer Weile wiederholte sie, mir in die Augen schauend:
— Sage, wer du bist und was wir sind?
Und in meiner Brust drängten sich die widerstreitendsten Gefühle. Es schien mir zwar, daß ich ihr auf diese Frage schon oft und vor langer Zeit geantwortet habe, aber trotzdem gärte in mir ein Verlangen, zu sprechen, menschlich zu sprechen zu diesem Weibe, das endlich einmal menschlich denkend und fühlend vor mir stand. Eine tiefe Rührung kam über mich; mein Herz wurde weich, und Tränen traten mir in die Augen und schnürten mir die Kehle zu, daß ich zunächst keinen Laut hervorbringen konnte. Nach einer Weile wiederholte ich ihre Worte wie ein Echo:
— Wer ich bin! ...
Es schien mir, daß ich es eigentlich selbst nicht mehr recht wußte ... Und Ada fragte abermals:
— Ja, wer du bist, Herr ... Wir nennen dich alle der „Alte Mensch“, aber ich dachte heute lange nach ... und bin zu dir gekommen, dich anzuflehen, sage mir die Wahrheit, ob du wirklich der Alte Mensch bist?
Diesen meinen Namen, den sie selbst hier verbreitet hatte, sprach sie jetzt mit einer abergläubischen Furcht aus und dämpfte dabei geheimnisvoll ihre Stimme.
— Ich will wissen, sagte sie weiter, ob du wirklich von dort, von jener Erde, die ich gesehen habe, hierhergekommen bist und du alles tun kannst, was du willst. Und ob du niemals sterben wirst und wir, wenn du uns, auf die Erde zurückkehrend, verläßt, der Vernichtung anheimfallen, so wie wir es denken?
Sie sagte das alles fast in einem Atemzug, und ihre glänzenden, unruhig flackernden Augen starrten auf mich.
Und was sollte ich ihr antworten? Vor einem Augenblick noch wollte ich ihr mein ganzes Innere enthüllen, noch einmal so recht von Herzen sprechen, ihr alles sagen, was ich schon so oft gesagt hatte, und von der Erde reden, von unserer Ankunft hier, von meinen verstorbenen Kameraden, aber als ich ihre Worte hörte, stieg plötzlich die Überzeugung in mir auf, daß alles vergeblich sein würde. Sie will nun einmal in dem Glauben bestärkt sein, daß ich der „Alte Mensch“ sei, das heißt, nach ihren Begriffen ein übernatürliches Wesen.
Ich suchte und konnte lange keine Worte finden.
— Warum fragst du mich, sagte ich endlich. Ich habe es dir doch schon so oft erklärt.
— Ja ... aber ich möchte, daß du mir ... die Wahrheit sagst!
Ich erinnerte mich, daß vor vielen, vielen Jahren der kleine Tom ähnlich zu mir gesprochen hatte, als ich ihm die Erde zeigte und erzählte, daß ich von dort gekommen wäre. „Onkel, sage mir jetzt die Wahrheit!“ hatte er mir damals geantwortet.
— Sage mir, drängte Ada weiter, sage, ob es wahr ist, daß du mit meinen Eltern von jenem mächtigen Stern gekommen bist, den du Erde nennst.
Sie faßte mich bei der Hand und starrte mich mit flammenden Augen an. Niemals hatte ich sie so gesehen.
— Sage es mir! rief sie, denn ich wiederhole es diesen Leuten und sie glauben an dich!
Die letzten Worte stieß sie wie einen Angstschrei hervor, der mich geradezu entsetzte. Ich hätte niemals gedacht, daß in diesem stillen, halb geisteskranken alternden Mädchen noch derartige Seelenkämpfe toben und ein so heißes Gefühl flammen kann. „Sie glauben an dich!“ Darin faßte sie in diesem Augenblick die ganze Tragödie ihres Lebens zusammen. Sie hat dem Mondvolke einen neuen phantastischen Glauben geschaffen, und jetzt, da sich in ihr plötzlich der Zweifel an dem regte, was sie selbst verkündete, kam sie zu mir, um aus meinem Munde die Bestätigung ihrer Lehre zu hören. „Und sie glauben an dich!“ In diesem Schrei lag etwas wie eine Klage darüber, daß diese Menschen so arm und so elend mir gegenüber sind, und zugleich auch die flehentliche Bitte, ihnen nicht das Höchste, ihren Glauben, zu nehmen.
Ich blickte sie lange an und es schien mir, daß in ihren Augen Tränen glänzten.
— Ada, willst du daran glauben, was ich dir jetzt sagen werde?
— Ich will glauben, ich will glauben!
Ich zögerte einen Augenblick: Sollte ich vielleicht die irdische Herkunft verleugnen? Wenn ich in ihnen den Glauben erweckte, daß ich auf dem Monde geboren bin wie sie, würden sie am Ende aufhören, mich für ein höheres Wesen zu halten? Aber plötzlich erschien es mir als etwas so Ungeheuerliches, die Erde zu verleugnen, daß mir bei dem bloßen Gedanken daran der Schweiß auf die Stirne trat. Mag kommen was will; ich beschloß, Ada auseinanderzusetzen, daß ich zwar ein alter Mensch bin, aber durchaus nicht „der Alte Mensch“, wie sie es verstehen, und daß sie das endlich begreifen müßten, wenn ihnen auch der Verlust ihres Glaubens oder besser des unter ihnen verbreiteten Aberglaubens schmerzlich wäre.
— Ich bin in der Tat von der Erde hierhergekommen, begann ich, aber Ada ließ mich nicht zu Ende sprechen.
— Also das ist wahr, rief sie, das ist wahr?
Ich nickte schweigend mit dem Kopfe. In diesem Augenblick warf Ada sich mir zu Füßen und umschlang meine Knie.
— Ich danke dir, Alter Mensch, und bitte dich, mir zu verzeihen, daß ich es wagte ... jetzt weiß ich, daß du der Alte Mensch bist!
Ich sah sie erstaunt an. In ihren Augen, die eben noch klar und verständig auf mir geruht hatten, brannte jetzt wieder dieses unheimliche Feuer; ihre Hände zitterten, und ihre Wangen bedeckten rote Fieberflecke.
— Ich danke dir, Alter Mensch, wiederholte sie, ich werde gehen und es dem Volk verkünden ...
Ehe ich mich noch von dem Erstaunen über diese unerwarteten Worte Adas erholen konnte, war sie verschwunden. Es blieb mir keine Zeit, sie zurückzuhalten oder zu rufen.
Diese Frau ist zweifellos wahnsinnig, und ich wundere mich nur, daß die Nachkommenschaft Toms ihren Worten so bedingungslos glaubt; ich wundere mich, daß all diese Märchen einen so ergiebigen Boden bei diesen Degenerierten gefunden haben.
Ich denke oft darüber nach, wie das alles gekommen ist. Ich bin wohl auch zum Teil selbst daran schuld: Ich hatte mich zu sehr von dem neuen Mondgeschlechte zurückgezogen, und als ich bemerkte, daß es meine Person mit einer Legende umgab, hielt ich das zuerst für eine Kinderei und bemühte mich nicht genügend, sie im Keim zu ersticken. Als ich endlich die Tragweite zu ermessen begann und dagegen auftreten wollte, war es zu spät.
Schon zu Toms Lebzeiten bemerkte ich, daß unter seinen Kindern phantastische Gerüchte über mich herumgingen. Aus zufällig gehörten Worten entnahm ich, daß sie mein Wissen und meine im Verhältnis zu ihnen ungewöhnliche Kraft für etwas Übernatürliches hielten. Ich galt in ihren Augen zum wenigsten für einen mächtigen Gaukler. Tom hat zwar diese Ansicht nicht verbreitet, ihr aber, soviel ich weiß, auch nicht widersprochen.
Mir selbst erschien das anfangs als eine harmlose Unterhaltung, bis nach dem Tode Toms die Dinge eine ernste Bedeutung annahmen. Ich fürchte, daß ich heute für dieses Volk weit mehr bin als ein Gaukler. Sie glauben, daß ich alles weiß und kann und wenn ich nicht immer das tue, was sie von mir erbitten, so geschieht das in ihren Augen nur, weil ich es nicht will. Haben sie mich doch in allem Ernste gebeten, die Stürme zu beschwichtigen und mir gesagt, daß Ada dies leider nicht gelinge, trotzdem sie in meinem Namen die Elemente beschwört. Und sie sandten sie zu mir, denn — ich kann alles!
Ein anderes Mal fragte mich Jan ganz geheimnisvoll, wann ich sie zu verlassen und auf die Erde zu gehen beabsichtige. Ada hat ihnen prophezeit, daß dies unzweifelhaft geschehen wird, und sie fürchten mein Fortgehen!
Aber wie dem auch sei, ich sehe mit tiefem Schmerz auf das, was in den Köpfen dieses Geschlechts vorgeht. Ich kann nichts daran ändern; vielleicht bin ich auch zu träge, den Kampf mit dieser Naivetät aufzunehmen. Alles quält mich, alles drückt mich zu Boden. Ich bin froh, wenn ich einen Augenblick vergesse, wo ich bin und was um mich herum geschieht, und mit geschlossenen Augen wachend von der Erde träumen kann.
Dort sind Menschen, wirkliche Menschen, und Wälder, Vögel, Wiesen, duftende Blumen ...
Oh, dort! ...
Und ich sehne mich immer glühender, auf ewig von hier fortzugehen!
Ach, wenn ich es könnte, wie sie denken, auf die Erde zurückkehren! Ich bin ganz erfüllt von diesem Gedanken an die Erde. Womit ich mich auch beschäftige, er kehrt immer wieder und läßt mir am Tage und in der Nacht keine Ruhe. Wenn ich einschlafe, gleiten phantastische Bilder an meinen Augen vorüber, aber alle sind Variationen des einen Motivs: Erde! Erde! Erde! ...
Einst, als ich noch dort lebte, waren das für mich verschiedene Länder, verschiedene Erdteile und Völker und Gesellschaften, jetzt hat sich alles zu einem Gedanken verschmolzen, zu einer einzigen Liebe und Sehnsucht. Ich kann aus der Entfernung nicht mehr die Jahre, die Grenzen der Staaten, noch die Völker verschiedener Zungen und Glaubensbekenntnisse unterscheiden. Die ganze Menschheit fließt in meiner Seele zu einem unzertrennlichen Ganzen, mit Tieren, Pflanzen und dem Erdball selbst zusammen, und alles das leuchtet und glänzt und strahlt in meinen Gedanken wie dort am schwarzen Himmel über den Wüsten!
Erde! Erde! Erde!
*
Ich erinnerte mich heute an Tom, an jene glücklichen Zeiten, als er noch ein Kind und mein unzertrennlicher Kamerad und Freund war. Und jetzt in der stillen kalten Mondnacht tauchen vor den Augen des Verlassenen, Einsamen farbenschillernde bunte Bilder aus seinen Knabenjahren auf.
Und wenn ich so sehnsüchtig an ihn zurückdenke, empfinde ich klar und schmerzlich, daß er der einzige Mensch aus dem neuen Geschlecht war, den ich wirklich liebte. Und wie lebhaft interessierte mich alles, was ihn betraf!
Er entwickelte sich erstaunlich schnell, scheinbar unter den Einwirkungen der Bedingungen dieser Welt. Als er vierzehn Jahre zählte, war er bereits ein erwachsener, reifer Mensch. Die beiden älteren Schwestern wuchsen auch schon heran. Ich blickte auf sie wie auf blühende Blumen, die ihrer Reize noch unbewußt, aber schon wonnig und vielleicht instinktiv fühlen, daß sie reizvoll sind, — daß sich in ihnen ein Geheimnis erfüllt, eine unerklärliche Macht von ihnen ausgeht, durch die sie wertvoll und begehrenswert sind.
Ihr Verhalten Tom gegenüber änderte sich vollständig. Früher waren sie zwei Dienerinnen, zwei kleine Schmetterlinge, die um seinen hellen Kopf herumflatterten, nur die Gelegenheit suchend, ihm zu gefallen oder ihm nützlich zu sein. Er dagegen, seine große Übermacht über die Schwestern fühlend, hielt dieses Verhalten der Mädchen ihm gegenüber für etwas ganz Natürliches. Er machte sich auch nicht viel aus ihnen, und wenn er wirklich einmal in einer zärtlichen Anwandlung die üppigen weichen Haare einer der Schwestern streichelte oder gar küßte, so tat er dies immer mit der herablassenden Miene eines gütigen Herrschers, der die Anhänglichkeit seiner Untertanen zu belohnen geruht, aber auch dafür Sorge trägt, daß sie nicht etwa durch zu viele Beweise seiner Gunst und Zufriedenheit übermütig werden. Dieses Verhältnis Toms zu den Schwestern empfand ich oft peinlich und unangenehm und ich ermahnte den Knaben wiederholt, wenn ich sah, daß er den Schwestern gegenüber egoistisch und rücksichtslos war und dafür von ihnen noch verlangte, daß sie ihn lieben sollten. Ich ahnte nicht, daß sich das, für eine gewisse Zeit wenigstens, vollständig ändern würde.
Bald begannen nämlich die Mädchen ihren Stiefbruder zu meiden und in ihren Liebesäußerungen zurückhaltender zu sein. Manchmal nur, wenn er es nicht sah, blickten sie heimlich und verstohlen nach ihm und erröteten, wenn er sich ihnen näherte. Im Verhältnis wie sie Tom gegenüber kühler wurden, wuchs ihre Herzlichkeit untereinander.
Diese Veränderung ging so schnell und unmerklich vor sich, daß ich mir, als ich sie bemerkte, nicht klar darüber war, wie und wann sie eigentlich begonnen hatte. Nur das eine fühlte ich, wenn ich diese drei ... die noch Kinder waren, nach irdischen Begriffen urteilend, betrachtete, daß sich hier vor meinen Augen eine vollständige Umwälzung vollzog, von der Natur, die zeugen will, bewirkt, obwohl sie sich später an den Werkzeugen und Werken ihres eigenen Willens grausam rächen sollte.
Das waren keine Geschwister mehr: das waren zwei Frauen und ein Mann ... Sie selbst verstanden das natürlich noch nicht. Tom bemühte sich mit den Schwestern wie früher zu verfahren, aber es wurde ihm immer schwerer den rechten Ton zu finden. Er verlor die Sicherheit und wurde verwirrt in ihrer Gesellschaft. Diese stillen, schmächtigen Mädchen hatten jetzt entschieden das Übergewicht über den zukünftigen Herrscher der Mondwelt erlangt. Jetzt diente er ihnen, statt sie als Dienerinnen zu benützen. Er brachte ihnen Nahrung, kümmerte sich um ihre Bekleidung, ihre Bequemlichkeiten und Zerstreuungen; er sammelte bunte Muscheln und Bernstein für sie, die sie sich dann in die Haare flochten, oder fuhr sie zu schönen Tageszeiten im Kahn aufs Meer hinaus. An diesen Ausflügen nahm ich gewöhnlich teil, denn, es ist seltsam, die Mädchen, die mit Tom erzogen waren und bisher die ganzen Tage mit ihm verbracht hatten, wollten durchaus nicht mehr allein mit ihm sein. Manchmal schlug ich Tom vor, mich, weil ich stärker und erfahrener war, rudern zu lassen, aber er ließ es nie zu. Ich bemerkte wohl, daß ihm nicht daran lag, mich zu schonen, sondern vielmehr sich vor seinen Schwestern in seinen Kraftleistungen und in seiner Geschicklichkeit zu zeigen.
Eine uralte, ewig neue Komödie spielte sich vor mir ab, und ich sah ihr gerne zu. Es schien mir, daß ich drei Vögel vor mir habe und meine Hand auf ihre pochenden Herzen halte; ich weiß genau, wie diese Herzen schlagen: und verstehe sogar, was sie selbst noch nicht verstehen. Ich glaube, daß dies die einzige Zeit seit Marthas Tod war, wo ich mich fast glücklich fühlte.
Von diesen Kindern, in denen sich das große Geheimnis des Lebens und der Liebe vollzog, wehte es zu mir wie frische Frühlingsluft. Und das sind heute schon alte Erinnerungen! Voll Rührung rufe ich sie mir ins Gedächtnis zurück, denn ich habe auf diesem Globus nicht viel Tage erlebt, an die ich mich mit Freude und ohne Schmerz erinnern könnte. Nur eins — und das ist wieder die furchtbare Ironie des Lebens! Die Liebe Toms zu Lilli und Rosa, denn beide liebte er gleich, deren Anblick mein Herz höher schlagen ließ und neu belebte, brachte auch dieser Welt das degenerierte Geschlecht, mit dem sich nun langsam die Gegend der Warmen Teiche bevölkert.
So oft mir das in den Sinn kommt, schüttle ich mich, als wenn ich in einem Rosenkorb plötzlich ekelhafte Würmer gefunden hätte.
Übrigens bin ich vielleicht ungerecht diesen Zwergen gegenüber. Sie sind vor allem arm, so arm, daß mein ganzes Inneres sich in Schmerz und Mitleid windet, wenn ich sie nur ansehe. Tom stand himmelhoch über ihnen. Oft denke ich an seine zarte, schmiegsame Gestalt ... Er war energisch und verständig und hatte in den Augen noch das, was ich vergebens in den Blicken seiner Kinder suche: die Seele.
Das alles ist so schmerzlich für mich, daß es mir fast schwer fällt, es niederzuschreiben.
Und warum mußte es so geschehen und nicht anders? Eine schwerwiegende Frage, auf die es keine Antwort gibt! Weil wir hierhergekommen waren, weil Tomas starb und Martha mit uns beiden zurückließ, weil ich auf sie verzichtet habe, obwohl ich ihrem Herzen näher stand, weil sie gestorben ist und ich leben blieb, das heißt, immer diese eiserne, unerbittliche Notwendigkeit, die die Sterne leuchten läßt und wieder auslöscht und sich um die Wünsche und das Glück des Menschen kümmert wie der Wind um ein Körnchen des Sandmeeres, das er davonträgt.
*
Ich lese, was ich auf diesen Blättern in der letzten Nacht niedergeschrieben habe und frage mich unwillkürlich, warum und für wen ich das niederschreibe ...
Damals, als ich die Erlebnisse während der Fahrt durch die öde Wüste notierte, als ich unsere ersten Jahre auf dem Monde beschrieb, dachte ich, daß ich dieses Tagebuch den Mondvölkern zurücklassen würde, damit ihre künftigen Geschlechter erfahren, wie wir hierhergelangt und was wir alles erdulden und durchkämpfen mußten, bis es uns gelungen ist, erträgliche Lebensbedingungen zu finden. Aber heute ... Das ist doch lächerlich — dieser Gedanke! Die Mondvölker, so wie sie sind, werden das niemals lesen. Und ich will nicht einmal, daß sie es lesen sollen. Was geht das sie an? Was gehen sie meine Erlebnisse, Gefühle, Schmerzen an? Könnten sie sie verstehen? Würden sie in diesen Blättern etwas mehr als eine phantastische und für sie unklare Erzählung erblicken? Und übrigens, warum sollen sie, wenn sie es begreifen könnten, wissen, daß sie degenerierte Nachkommen einer erhabenen Rasse sind, die mit ihrem Geiste über ein fernes und schönes Gestirn herrscht? Von dem Tage an, wo sie das erfahren würden, könnten sie nur noch Sehnsucht, Scham und Schmerz empfinden, so wie ich, wenn ich sie betrachte. Möge denn die hiesige Menschheit lieber gänzlich vergessen, was sie einst auf einem anderen Planeten gewesen ist und von keiner „metaphysischen Sehnsucht“ gequält werden.
Heute schreibe ich dieses Tagebuch so recht eigentlich nur für mich. Wenn ich davon träumen dürfte, es durch irgendein Wunder auf die Erde zu befördern, würde ich es wie einen Brief an meine früheren Brüder richten und auf jeder Seite die blühenden Fluren grüßen und segnen; die Getreidefelder, Blumen und Früchte, die Wälder und Gärten, die Menschen und Tiere und alles, alles, was mir in der Erinnerung so namenlos teuer ist!
Aber ich weiß nur zu gut, daß dies niemals geschehen wird, daß ich nicht ein einziges kleines Wort auf die Erde schicken kann, zu der ich mich nur in Gedanken und mit den Augen erhebe, wenn ich manchmal, von der Sehnsucht getrieben, nach dem Polarlande pilgere, um meine über den Wüsten leuchtende Heimat zu sehen.
Ich schreibe also für mich, ich plaudere mit mir selbst wie alle Greise. Und wenn es mir hier und da gelingt, mich für einen Augenblick der Täuschung hinzugeben, daß ich das alles den Menschen mitteile, die auf der Erde geblieben sind, dann schlägt mein Herz schneller und meine Augen leuchten, denn es scheint mir, daß ich einen Faden spinne zwischen mir und diesem Hunderttausende von Kilometern entfernten heimatlichen Planeten!
Dann möchte ich gern die kleinsten Einzelheiten aus meinem armen Leben hier erzählen, meine Gedanken beichten und meine Schmerzen klagen und über die seltenen kurzen Freuden Bericht erstatten ...
Ach ... dieser Freuden gab es wahrlich nicht viele!
*
Dann schrieb ich ausführlich über den einzigen Frühling, den ich auf diesem traurigen Globus erlebte, indem ich mich der erwachenden Liebe zwischen Tom und den Mädchen erfreute.
Vielleicht hätte ich bei ihnen bleiben sollen, aber ich glaubte, wenn ich für einige Zeit von ihnen ginge, jenen zauberischen Frühling zu verlängern, und ich wollte erst zu der Zeit des Jahres zurückkehren, wo ich die reife Frucht vorfände.
Ich alter Narr! Es wäre kein kleineres Wunder gewesen, einen herabfallenden Stein dadurch aufzuhalten, daß man sich von ihm abwendet. Das Leben ging seinen gewöhnlichen Gang!
Als ich nach einigen Mondtagen, die ich im Polarlande verbracht hatte, ans Meer zurückkam, begrüßte mich Tom mit einer seltsamen Würde und führte mich in das alte Haus, das wir vorher gemeinsam bewohnt hatten.
— Hier ist dein Haus, sagte er, so wie du es verlassen hast. Wir haben nichts angerührt. Nur Ada hat während deiner Abwesenheit hier gewohnt und deine beiden alten Hunde, die du zurückgelassen hast.
— Und du? frug ich, und die älteren Mädchen? Wo seid ihr gewesen?
Tom sah sich um. Ich folgte seinem Blick und bemerkte jetzt erst, daß sich nicht weit, am Ufer des höheren warmen Teiches, ein beinahe fertiges neues Häuschen erhob.
— Ich habe mir ein neues Haus gebaut, sagte Tom.
— Wozu? frug ich mit unverhüllter Verwunderung.
Tom zögerte einen Augenblick, dann wies er auf die sich uns gerade nähernden Mädchen und sagte, mir fest in die Augen blickend:
— Das sind meine Frauen!
— Welche? frug ich fast unbewußt.
Tom schwieg eine Weile, erhob den Kopf, und die Mädchen schauten uns ängstlich an.
— Welche von ihnen? frug ich abermals.
— Ich liebe beide, antwortete er, und beide sind mein!
Mit diesen Worten nahm er die Mädchen bei den Händen und führte sie zu mir.
— Segne uns, Alter Mensch!
Damals hat er mich zum erstenmal bei diesem Namen genannt, der heute schon für immer mit mir verwachsen ist.
Seit dieser Zeit erfuhr unser Leben eine gewisse Veränderung, die scheinbar unwesentlich und dennoch sehr eingreifend war. In unserem kleinen Kreis vollzog sich eine Spaltung. Tom bildete mit seinen Frauen eine eigene, in sich geschlossene Familie, deren Bande in dem Maße enger wurden, wie seine Nachkommenschaft sich vermehrte.
Mit jedem Tage fühlte ich mehr, daß ich auf dieser Welt unnötig wurde, und mit jedem Tage wuchs in mir die Sehnsucht nach jener anderen, die so entfernt, ach, so ferne war! Und das Leben floß dahin, immer unaufhaltsam seinen alten Lauf!
Nicht gerne denke ich an das weitere Zusammenleben Toms mit den Schwestern. Er war nicht gut zu ihnen, obwohl sie ihn unveränderlich bis zum letzten Atemzug liebten. Er verlangte zu viel von ihnen und war zu despotisch. Sogar ich hatte den alten Einfluß auf ihn verloren. Zum Teil waren diese unerquicklichen Verhältnisse auch die Veranlassung, daß ich zum zweitenmal nach dem Polarlande wanderte und diesmal Ada mit mir nahm.
Nach meiner abermaligen Rückkehr beginnt schon, wie ich glaube, der Anfang dieses letzten Aktes meiner Mondtragödie, der bis auf den heutigen Tag dauert. Der furchtbare Tod Rosas, Adas Wahnsinn, später der Tod Toms und Lillis bedrücken mich unsagbar. Die Sehnsucht nach der Erde und die entsetzliche Einsamkeit martern und quälen mich mit jedem Tage mehr, obwohl die Zahl der Menschen hier auf dem Monde immer größer wird.
Tom hatte mit seinen beiden Frauen eine zahlreiche Nachkommenschaft, sechs Söhne und sieben Töchter, von denen die jüngste einige Mondtage nach der Geburt gestorben ist. Noch zu Lebzeiten der Eltern Jans hat sich der älteste Sohn Rosas, ungefähr fünfzehn Jahre zählend, mit der Tochter Lillis verheiratet; später haben sich alle in dem Maße des Zuwachses gepaart. Heute, nach dem Tode Toms, sind sechsundzwanzig Enkel vorhanden, darunter zwei Urenkel, die Kinder von Jans ältestem Sohn, der schon seit zwei Jahren verheiratet ist, also zusammen zweiundvierzig Menschen, die diesen Globus bevölkern. Ihre Niederlassungen errichten sie längs dem Meeresstrande nach Westen zu, und mit ihrem Aufblühen schreitet auch die „Zivilisation“ vorwärts. Häuser erheben sich, Schmieden und Hundezwinger.
Ich blieb in dem alten Haus an den warmen Teichen und werde hier wohl bis zum Tode bleiben, den ich so heiß herbeisehne! Und so bin ich schon eine Ausnahme auf dieser seltsamen Welt, wo die Menschen, von der Erde verpflanzt, so früh reif werden und so früh sterben ...
Ich glaube, ich wäre ruhiger, wenn ich den Menschen auf der Erde ein Zeichen geben könnte, daß ich hier lebe und an sie denke. Das ist so wenig, und es würde mich so namenlos glücklich machen!
Es ist doch furchtbar, wenn ich bedenke, daß mich viele Hunderttausende von Kilometern, eine interplanetarische Strecke, die noch niemals zurückgelegt wurde, von dieser Scholle aus Stein und Lehm, auf der ich geboren bin, trennen!
Wie viel zufriedener müssen diese Zwerge hier sein, deren Gedanken nur damit beschäftigt sind, ob die Fischerei auf dem Meere reichlich ausfällt, der Salat gut aufwächst und die verwilderten Hunde nicht die eiertragenden Eidechsen in den Umzäunungen zerreißen ...
*
Heute habe ich einige Stunden auf der Friedhofinsel zugebracht ... Früher, vor vielen Jahren, saß ich dort gerne und dachte über die Vergangenheit des heute erloschenen Mondglobus nach; jetzt zieht es mich wieder oftmals dorthin, aber wenn ich auf dem mit Gräbern bedeckten Hügel am grünen Meere sitze, denke ich nur an Martha, Peter, Tom und an mich selbst und wann ich wohl endlich, endlich neben ihnen ruhen werde. Gerade heute, als ich so dort bei ihnen saß und auf die stille Meeresoberfläche blickte, überfiel mich ein so grenzenloses Leid, ein so trostloses Weh, daß ich wie ein Kind zu weinen begann und die Hände ausstreckte zu den Gräbern und sie bat, sich zu öffnen und zu mir zu sprechen oder mich in ihre Gesellschaft aufzunehmen.
Ich fühlte, daß es mir unmöglich ist, länger zu leben. Was hält mich auch noch auf dieser Welt? Schmerz, Leid, Sehnsucht, die furchtbarste Vereinsamung, alles das habe ich zur Genüge ausgekostet; seit langem bin ich niemandem mehr unentbehrlich: Nun ist es Zeit zum Fortgehen!
Ja, es ist Zeit! Ich will nur einmal noch die Erde sehen, auf diese helle Kugel schauen, die am Himmel hängt, auf die Erdteile, die langsam darüber kreisen und die dahingleitenden weißen Flecke der Wolken. Ich will noch einmal das Auge anstrengen, vielleicht erkenne ich das Land, wo ich geboren bin, und dann ...
Als ich zum Strande zurückruderte, war mein Entschluß gefaßt. Ich werde zum Polarlande gehen, um auf die Erde zu schauen.
Ich näherte mich meinem Hause und legte mir in Gedanken die ganze Fahrt und die dafür nötigen Vorbereitungen zurecht. Auf der Schwelle des Sommerhäuschens fand ich Ada. Sie war zu der gewöhnlichen Stunde gekommen, und als sie mich nicht antraf, wartete sie geduldig auf meine Rückkehr.
Mein Herz war so voll von der Hoffnung, die Erde, wenn auch nur von ferne, wiederzusehen, daß ich mich nicht zurückhalten konnte, Ada meine Absicht mitzuteilen.
— Höre! rief ich, als sie mich begrüßte, bald werde ich von euch gehen!
Sie sah mich mit dieser geheimnisvollen Würde an, die sie mir gegenüber stets bewahrt, und antwortete nach einem kleinen Zögern:
— Ich weiß, daß du fortgehst, wenn du willst, Alter Mensch ... aber ...
Noch niemals hatte mich die seltsame Art dieser Geschöpfe, mit mir umzugehen, an die ich mich schließlich schon hätte gewöhnt haben müssen, derartig aufgebracht. Im ersten Augenblick schnürte sich mir das Herz im Gefühl der Vereinsamung und Bitterkeit zusammen und dann packte mich ein unbezwinglicher Zorn.
— Genug dieser Narrheiten, rief ich, mit dem Fuß stampfend. Ich werde fortgehen, wann es mir gefällt und wann ich will, aber daran ist nichts Geheimnisvolles, nichts Ungewöhnliches! Geh zu Jan und sage ihm, daß ich morgen früh die Hunde für den Wagen haben will; ich fahre zum Polarland.
Ada sprach kein Wort und entfernte sich, um meinem Befehl nachzukommen.
Ungefähr zwei Stunden später bemerkte ich eine ungewöhnliche Bewegung vor meinem Hause. Jan und die Kinder, mit einem Wort, alle, die Frauen nicht ausgenommen, hatten sich versammelt und standen entblößten Hauptes, schweigend und ängstlich auf meine Tür blickend. Ada trat aus ihrer Gruppe heraus und blieb auf meiner Schwelle stehen. Sie war in feierlicher Kleidung: einen Kranz in den Haaren, von dem Halse bis zu den Hüften herab hingen Schnüre von blutigrotem Bernstein und blaue Perlen; in der Hand hielt sie einen Stab, aus den Wirbeln eines Hundes, die geglättet auf einen langen Kupferdraht gesteckt waren.
— Alter Mensch, wir wollen zu dir sprechen!
Eine unbeschreibliche Wut erfaßte mich. Ich wollte die an der Wand hängende Riemenpeitsche ergreifen und diese Horde, die mit einem solchem Pomp zu mir gekommen, auseinandertreiben; aber dann taten sie mir wieder leid. Was können sie dafür.
Ich hielt mich zurück und trat vor das Haus, in der Absicht, noch einmal den Versuch zu machen, ihnen vernünftig zuzureden. Der wilde Lärm des Beipflichtens, der sich nach Adas Ansprache erhoben hatte, verstummte sofort, als ich auf der Schwelle erschien. Man hörte in der Stille nur noch den jüngsten Enkel Jans leise weinen und das erstickte Flüstern der Mutter: Still, still, der Alte Mensch wird unwillig ...
Da überkam mich das Gefühl eines grenzenlosen Mitleids.
— Was wollt ihr von mir? sagte ich, Ada zur Seite schiebend.
Jetzt trat Jan vor. Er schaute mir eine Zeitlang mit dem Blick eines ratlosen, verängstigten Zwerges in die Augen und sagte schließlich, nachdem er sich umgesehen, um aus den Mienen der Kameraden Mut zu schöpfen:
— Wir wollten dich bitten, Alter Mensch, daß du noch nicht von uns fortgehen möchtest.
— Ja, ja, gehe noch nicht von uns! wiederholten flehend über dreißig Personen.
Es lag eine solche Angst und eine derartig inständige Bitte in ihren Worten, daß ich mich von einer tiefen Rührung ergriffen fühlte.
— Und was liegt euch daran? sagte ich, diese Frage mehr mir selbst als ihnen vorlegend.
Jan dachte eine Weile nach und begann dann langsam, mit sichtlicher Mühe, seine unklaren Gedanken und Empfindungen zusammenzufassen:
— Wir wären allein ... Es würde die lange Nacht und die große Kälte kommen. Oh, die böse Kälte, die wie ein Hund beißt, und wir würden allein sein ... Dann würde die Sonne aufgehen, und du wärest nicht bei uns, Alter Mensch ... Ada — hier blickte er auf die neben ihm stehende „Priesterin“ — Ada sagte uns, daß du dich mit der Sonne kennst und noch mit einem anderen Stern, der größer ist als die Sonne und geheimnisvoll und manchmal schwarz und dann wieder hell erscheint, den sie gesehen hat, als sie mit dir dort war im Norden ... Sie sagte, daß du von dort gekommen bist, und wenn du ihn siehst, zu diesem Sterne sprichst, in einer heiligen Sprache, dieselbe, in der wir zu dir sprechen müssen. Wir fürchten uns, daß du von dort nicht wieder zu uns zurückkehren könntest, denn wir würden allein bleiben. Wir bitten dich also ...
— Ja, ja, wir bitten dich, bleibe bei uns! riefen die Zwerge, den Satz Jans beendend.
Eine Zeitlang stand ich ratlos, ohne zu wissen, was ich ihnen antworten sollte. Die Männer und Frauen umringten mich, streckten die Hände aus und baten mit angstvollen Stimmen:
— Bleibe bei uns, bleibe!
Ich fühlte, daß es zwecklos wäre, ihnen jetzt zu wiederholen, was ich ihnen schon so oft gesagt hatte, daß ich ein gewöhnlicher Mensch sei, durchaus mit keinen geheimnisvollen Kräften begabt und ebenso wie sie alle dem Tode verfallen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte; in den Ohren tönte es mir nur unaufhörlich, gleichmäßig wie eine Litanei: Bleibe bei uns!
Ich schaute auf Ada. Sie stand abseits in ihrem Priestergewande, mit einer außerordentlichen Würde in der ganzen Gestalt, aber es schien mir, daß ich auf ihren Lippen ein Lächeln bemerkte — halb spöttisch, halb wehmütig ...
— Weshalb hast du sie hierhergeführt? frug ich.
Sie lächelte wieder und erhob die bis jetzt gesenkten Augen.
— Du hörst doch, Alter Mensch, was sie von dir wollen.
Rings umher dröhnte es unaufhörlich: Bleibe bei uns.
Das war mir zu viel.
— Nein, rief ich hart, ich werde nicht bleiben! Ich werde nicht bleiben, denn ...
Und abermals wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Wie konnte ich ihnen erklären, daß ich gehe, um die Erde zu sehen, den mächtigen und hellen Stern, nach dem ich mich so grenzenlos sehne, ohne sie in dem wahnsinnigen Irrtum zu bestärken, daß ich ein übernatürliches Wesen bin? ... Inzwischen war es still geworden. Ich blickte auf die Versammelten und bemerkte, daß diese Zwerge weinten! Sie weinten bei dem Gedanken, daß ich sie verlassen würde! Sie riefen nicht mehr, sie baten nicht, aber in ihren tränenvollen, auf mich starrenden Augen lag die Demut eines Hundes und ein Flehen, das lauter sprach als alle Worte. Sie dauerten mich unbeschreiblich.
— Ich werde von euch gehen, sagte ich mit weicher Stimme, aber noch nicht jetzt. Ihr könnt ruhig schlafen!
Ich hörte etwas wie ein Seufzen der Erleichterung, das sich ihren Kehlen entrang ...
— Und wenn ich einmal die Reise antrete, fügte ich hinzu, von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, die Reise, dort nach Norden, wo der schönste Stern leuchtet, von dem ihr von mir und von Ada gehört habt, dann werde ich auch euch mit mir nehmen, damit ihr ihn seht und später euren Kindern und Kindeskindern davon erzählen könnt.
— Du bist groß, Alter Mensch, groß und gnädig! antworteten mir zahlreiche freudige Stimmen. Gehe nur nicht von uns auf diesen Stern, von dem du sprichst!
— Wenn ich fortgehen könnte, seufzte ich unwillkürlich, aber leider bin ich nur ein Mensch, so wie ihr.
In der Gruppe der Zwerge entstand eine Bewegung. Sie schauten sich untereinander an, und es schien mir, daß ich auf ihren breiten Lippen etwas bemerkte, das einem schnellen Lächeln des Einverständnisses glich und sagen wollte: Wir wissen schon, wir wissen! Ada hat uns gesagt, daß der Alte Mensch aus irgendeinem unerklärlichen Grunde nicht will, daß wir wissen sollen, daß er ... der Alte Mensch ist ... Von neuem erfaßte mich der Mißmut; ich wandte mich um und ging in das Zimmer. Vor dem Hause entstand Lärm. Ich sah durch das Fenster, wie sich alle um Ada scharten, die lebhaft etwas erzählte, wahrscheinlich von mir und meiner Übernatürlichkeit.
Augenblicklich ist es nicht weit bis zum Sonnenuntergang, und das Mondvölkchen hat sich schon längst in seinen Häusern zerstreut, die sich in langer Reihe an den steinigen, nach Südwesten laufenden Ufern der warmen Teiche erheben. In einigen Stunden werden sie sich zu einem langen Schlafe niederlegen und wahrscheinlich von der ihnen vom Alten Menschen versprochenen Fahrt träumen und von der Erde, dem mächtigen, seltsamen und unbekannten Stern, den sie nur aus den Erzählungen kennen ...
*
In einigen Stunden werde ich das einzige wachende Wesen auf dem Monde sein.
Aber jetzt ist überall noch Leben. Ich sehe durch das Fenster, wie sich vor dem Hause Jans seine Söhne zu schaffen machen; nicht weit davon beenden die Frauen in aller Eile das Einsammeln der Nahrung vor der bald hereinbrechenden Nacht.
Ich weiß nicht, ob ich gut daran tue, mich noch länger unter diesem Völkchen aufzuhalten; aber da gibt es kein Überlegen mehr, denn ich habe ihnen versprochen, daß ich noch bleibe.
Und nur einen Trost fühlt mein altes, schwergeprüftes Herz — lange wird es nicht mehr schlagen müssen. Noch einige Tage, einige Mondtage höchstens, und dann ziehe ich gen Norden, zum Polarland, um dort das Leben zu beenden, — den Blick auf die geliebte Erde gerichtet.
Diese Zwerge werden sich an mein Versprechen erinnern, ich weiß es, und mich begleiten wollen. Und so werde ich einige von ihnen mitnehmen auf diesen letzten Weg; mögen sie die Erde sehen und dann zu den Brüdern zurückkehren — ohne mich.
Eine quälende Sehnsucht drückt mich. Es tut mir leid, daß ich nachgegeben und ihnen versprochen habe, noch hier zu bleiben. Der Gedanke ängstigt mich, es könne mir in kurzer Zeit vielleicht schon an Kraft und Leben fehlen, die Reise nach dem Lande, wo ich die Erde vor Augen habe, anzutreten.
Aber nein, meine Kräfte werden noch genügen! Ich wundere mich manchmal selbst über die Frische und Unverbrauchtheit meines Organismus. Ich nähere mich nun fast dem hundertsten Jahre, und es scheint, daß mich jeder Tag, statt meine Kräfte zu erschöpfen und meine Gesundheit zu untergraben, nur noch mehr stärkt und fester macht.
Und wiederum denke ich unwillkürlich an jene zugleich lächerliche und entsetzenerregende Überlieferung, die unter diesem Volke verbreitet ist, daß ich niemals sterben werde.
Ein furchtbarer Gedanke! Denn leider kann sich nur die physische Natur des Menschen an ihr Widersprechendes gewöhnen, die Seele niemals! Mein Schmerz und meine Sehnsucht werden nie verblassen, im Gegenteil, sie wachsen unaufhörlich ins Ungeheure, Riesenhafte.
Ich jage diesen Gedanken von mir und denke nur noch mit einem heißen Glücksgefühl daran, daß ich in einigen Mondtagen die Erde sehen werde. Das Herz schlägt mir dabei, als wenn ich ein zwanzigjähriger Jüngling wäre, der zu einem Stelldichein mit einer erträumten und über alles geliebten Beatrice geht, mit der er bisher nur in Träumen zu sprechen gewagt hat.
Aber ich weiß, meine Geliebte wird kalt sein, stumm und unerreichbar; ich werde sehnsuchtsvoll die Arme nach ihr ausbreiten und sie durch die undurchdringlichen Himmelsräume rufen, sie wird weder meine Stimme hören noch mir irgendeinen Gedanken, noch eine Erinnerung weihen.
Es ist etwas Seltsames und zugleich Ungeheuerliches, den Gegenstand seiner Sehnsucht am Himmel zu haben. Es dünkt mich, daß ich an diesen entfernten, von hier aus unsichtbaren heimatlichen Stern mit einem langen Faden, der um mein Herz geschlungen ist, gebunden bin, der sich in die Unendlichkeit ausdehnen, aber niemals reißen kann. Und so an diese unerreichbare Welt gebunden, fühle ich, daß mir der Boden unter den Füßen fremd ist und immer fremd bleiben wird.
Ja, es ist etwas Furchtbares um die Liebe zu den Sternen! Denn die Erde ist für mich nur noch ein Stern, den ich über alles liebe. Wenn es Geister gibt, die von erhabeneren und lichteren Welten, von flammenden Sonnen vielleicht auf dunkle Planeten herabfallen, so erdulden sie in der Tat, wenn sie die Erinnerung bewahrt haben, die schrecklichsten Qualen, wie auch ich sie erdulden muß.
Wie oft am Tage wiederhole ich mir, daß jenes armselige, von mir so bemitleidete Mondvölkchen der Zwerge, das fast im Staube vor mir, dem Alten Menschen, kriecht, doch tausendmal glücklicher ist als ich.
Jetzt, nachdem sie ihre Arbeit beendet haben, gehen diese Leutchen um ihre kleinen Häuser herum, unterhalten sich, lächeln einander zu und sind heiter und zufrieden. Jan, der durch das natürliche Recht des Ältesten ihr Oberhaupt ist, ruft sie vor dem Abend, wie ich das ein für allemal vor Jahren angeordnet habe, zwecks gemeinsamen Lesens einiger Abschnitte aus den ihnen von mir bezeichneten Schriften, zusammen. Früher, zu Toms Lebzeiten, als Jan noch ein kleiner Knabe war, habe ich diese Abendversammlungen gewöhnlich geleitet, ihnen die Bibel oder andere zum Lesen bestimmte Bücher erklärt und von der Erde erzählt und von den Menschen; aber jetzt zeige ich mich nicht einmal mehr am Versammlungsort, dort unter dem Kreuze, dessen Bedeutung sie kaum verstehen. Warum soll ich zu ihnen sprechen, da sie sich jedes meiner Worte doch nur nach ihrem Sinne deuten und jede Wahrheit durch phantastische Legenden entstellen und verwirren?
Und dennoch, ich muß es mir immer wieder sagen: Sind sie schuld daran? Ist es ihre Schuld, daß sie alles, was sie hören, auf sich beziehen, unfähig, sich in Gedanken über diesen Landstreifen zu erheben, den sie bewohnen? Sind sie schuld daran, daß sie beim Lesen der Bücher der Genesis an ihren Großvater Peter denken, dessen Grab sie auf der Friedhofinsel kennen, und die Augen mit dem Ausdruck einer Götzenanbetung auf mich richten? Daß Menschen eine andere Welt bewohnen können, einen Stern, der denjenigen gleicht, die in der Nacht über ihnen leuchten, halten sie für etwas, woran man glauben muß, weil ich es gesagt habe, aber was sich vorzustellen unmöglich ist.
Ich habe alles getan, um in diesen Menschen die Seele zu wecken, und erst dann meine Bemühungen aufgegeben, als ich mich von der gänzlichen Unmöglichkeit überzeugt hatte. Ich sollte mir daher also keine Vorwürfe machen, und trotzdem fühle ich die auf mir lastende furchtbare Verantwortung für diesen Fall des menschlichen Geschlechts, das mir anvertraut war. Und wiederum die Ironie des Lebens: Sie sind in ihrer Weise glücklich, und ich gräme mich ihretwegen und vergrößere durch eine quälende Sorge um sie meinen nagenden Schmerz und meine Sehnsucht ...
Wieder sind Jahre auf der Erde verflossen, seit ich zum letztenmal diese Blätter in Händen hatte. Heute öffne ich das Tagebuch, um das Datum zu notieren, wo ich dieses Land am Meer für immer verlasse. Ich gehe endlich zum Polarland!
Seit unserm EXODUS sechshunderteinundneunzig Mondtage.
*
Alles ist schon bereit. Unsern alten Wagen, bis zur Hälfte kleiner gemacht und verbessert, habe ich mit Lebensmitteln und Brennmaterial versehen, die mir für eine lange Zeit des Aufenthaltes im Polarland genügen werden — länger vielleicht, als ich es benötige ... denn ich bin alt ... Ich sollte heute früh aufbrechen, aber es ist ein Umstand eingetreten, der meine Reise wohl um einen Mondtag verzögern wird.
Die Sache verhielt sich so: Seit Toms Expedition nach Norden zum Äquator, die er fast mit dem Leben bezahlen mußte, hatte ich streng verboten, derartige Reisen zu unternehmen, denn ich war fest überzeugt, daß sie zu keinem Ziel führen und die Teilnehmer nur unnötig in Gefahr bringen. Bisher befolgte man diese meine Anordnung aufs genaueste und ich glaubte bestimmt, daß es immer so bleiben würde, besonders in Anbetracht des geringen Unternehmungsgeistes dieses Mondvolkes, das mit seinem ganzen Interesse nur an den praktischen und alltäglichen Dingen und Lebensbedürfnissen hängt.
Und dennoch habe ich mich getäuscht. Es scheint selbst hierher ein Hauch jenes Feuergeistes von der Erde gedrungen zu sein und verborgen in der Brust dieser Zwerge zu leben; jenes Geistes, der dort den Fortschritt bewirkt und die Menschen zur Entdeckung neuer Weltteile im Ozean fortgerissen hat. Seit einiger Zeit schon bemerkte ich, daß einige der Männer mit sehnsüchtigen Augen nach Norden schauen, über das weite Meer. Sie frugen mich einst, was wohl dort sein könne hinter dem großen Wasser, und ich antwortete ihnen, daß ich es nicht weiß. Sie aber, wie in ihren Mienen deutlich zu lesen war, glaubten nicht daran. Sie hatten mich vielmehr im Verdacht, daß ich es ihnen nur nicht sagen wollte.
Die letzte Nacht verbrachte ich mit Jan an den nahen Petroleumquellen, mit der Zubereitung der Vorräte für die Reise zum Polarland beschäftigt. Als ich am Morgen ans Meer zurückkehrte, mich von dem Mondvolke zu verabschieden, um fern von diesen Gegenden mein Leben zu beenden, erfuhr ich, daß drei Männer, die kräftigsten und kühnsten, meine Abwesenheit benützend, nach Norden gefahren sind, wie mir ihre Frauen erzählten. Sie bauten sich einen Schlitten, brachten darin den zweiten Elektromotor unter und nahmen außer den nötigen Lebensmitteln zwei Hunde und verschiedene Pelze mit. Sie fuhren in der Nacht auf das festgefrorene Meer hinaus, um noch vor dem Morgen an das gegenüberliegende Ufer auf der nördlichen Halbkugel zu gelangen.
Ein wahnsinniges Unternehmen! Ich bin überzeugt, daß sie niemals zurückkehren werden, aber indessen muß ich den Bitten Jans und Adas nachgeben und noch einen Tag warten, um sie zu segnen, wenn sie heimkommen sollten, ehe ich fortgehe.
Ich frug die Frau Kaspars, des ältesten der drei Abenteurer, weshalb sie nach Norden gegangen wären. Sie antwortete, daß sie sehen wollten, was dort sei ... Darüber hinaus konnte sie mir keine Erklärung geben.
Schade um diese Menschen, denn sie werden unzweifelhaft zugrunde gehen und sind tüchtig, wie sie es bewiesen haben.
*
Endlich kommt der Tag der Abreise heran! Die Sonne ist seit einigen Stunden aufgegangen, und das Eis beginnt zu schmelzen, bald werde ich den Wagen besteigen und nach Norden aufbrechen.
So ohne Leid nehme ich von diesem Lande Abschied, obwohl ich doch weiß, daß ich fortgehe, um nie mehr wiederzukehren.
Ich sehe mich noch einmal nach dem Grabe Marthas, auf der entfernten Insel, um, und es ist mir seltsam weh zumute ...
Gestern vor dem Abend habe ich einige Stunden an diesem Grabe verbracht. Es war mir schwer, mich von ihm zu trennen: Das ist das einzige, was ich auf dieser Welt liebe. Ich habe ein wenig Erde von diesem kleinen Hügel mitgenommen, die will ich an die Lippen pressen, wenn ich allein im weiten Lande sterben werde.
Es ist Zeit, daß ich aufbreche ... Das Mondvolk sammelt sich, um mir Lebewohl zu sagen. Sie murren nicht, sie widersetzen sich nicht, sie wissen, daß es so sein muß. Ada, Jan und zwei seiner Brüder sollen mich zum Polarlande begleiten. Ich konnte ihnen das nicht abschlagen.
Die drei andern sind noch nicht heimgekehrt und werden wohl auch niemals heimkehren. Aber ich will nicht mehr länger warten. Übrigens sind alle meiner Abreise wegen so niedergedrückt, daß sie nicht einmal an sie denken.
Nur Jan hat heute bei Sonnenaufgang ihre Namen erwähnt und hinzugefügt:
— Es ist ihnen ein Unglück zugestoßen, denn sie sind aufgebrochen, ohne den Alten Menschen um Rat zu fragen.
Ein Schluchzen der Versammelten antwortete ihm.
— Von jetzt ab werden wir niemanden mehr zu fragen haben, klagten sie und drängten sich weinend um mich.
Fast scheint es mir, daß diese Menschen mich lieben. Eine seltsame Entdeckung — in diesem letzten Augenblick ...
Aber das alles ist gleichgültig! Es ist Zeit für mich, aufzubrechen!
*
Unterwegs auf der See-Ebene.
Ach, wie erleichtert atme ich auf, wenn ich bedenke, daß nun das Mondleben hinter mir liegt und vor mir nur noch ein kurzer Aufenthalt im Polarland — unser erster Aufenthalt einst auf diesem Globus — und dann — der Tod im Angesicht der Erde, meiner geliebten, am Himmel leuchtenden Heimat.
Langsam wird alles Traum für mich, mein vergangenes Leben und diese Menschen, die ich dort am Meere zurückgelassen habe; alles das zerrinnt in einen schillernden Traumnebel, durch den in meinem Geiste nur noch das flammende Rund der Erde glänzt.
Ich bin schon voller Ungeduld und möchte sie so schnell wie möglich sehen, da ich die Sehnsucht nicht mehr bemeistern kann. Es ist Nacht und der Schlaf will sich nicht auf meine Lider senken. Ich versuche durch Schreiben die langen Stunden zu verkürzen.
Wir haben zur Nacht hier haltgemacht, wo Peter einst die ersten Petroleumquellen entdeckte. Wie viele Jahre sind seitdem verflossen! Und wieder kehre ich in Gedanken zu diesem Leben zurück, das schon so weit hinter mir liegt. Meine verstorbenen Kameraden stehen mir vor Augen und Martha und ihre ersten Kinder, die ebenfalls nicht mehr leben ...
Ach, fort mit diesen quälenden Erinnerungen, jetzt, da ich meine Kräfte anspannen muß, das Land zu erreichen, von wo ich die Erde sehen werde!
Ich sehnte mich so unsagbar nach dieser Reise und dennoch muß ich zugeben, daß mir die letzten Augenblicke des Abschieds schwer wurden. Wie seltsam ist doch das menschliche Herz und wie stark die Macht der Gewohnheit! Man kann sich, scheint’s, selbst an die Gitter des Gefängnisses gewöhnen ...
Am letzten Morgen, als ich kaum die vorhergehende Notiz niedergeschrieben hatte, bemerkte ich, wie sich vor meinem Hause die ganze Bevölkerung dieser Welt versammelte. Sie kamen schweigend, finster und traurig und warteten. Ich zählte sie, am Fenster stehend; es waren alle, mit Ausnahme jener drei. Der Wagen stand bereit.
Ich ließ meinen Blick noch einmal über diese Räume gleiten, in denen ich fünfzig Jahre lang gehaust habe und da ich nicht wollte, daß man diese Wohnstätte als Aufenthalt des Alten Menschen etwa abergläubisch verehrt, steckte ich sie mit allem, was noch darin zurückgeblieben ist und was ich einst gebraucht hatte, eigenhändig in Brand und ging hinaus zu den mich Erwartenden. Eine helle Flamme leuchtete hinter mir durch Tür und Fenster. Es war mein eigener Scheiterhaufen.
Aus dem Munde der Versammelten brach ein gedämpfter kurzer Schrei. Sie schauten auf das brennende Haus und dann auf mich, und keiner rührte sich, um das Feuer zu löschen: Sie fühlten, daß ich es so wollte ... und alle schwiegen.
— Ich bin heute zum letztenmal unter euch, begann ich, um etwas zu sagen, da mich in dieser Stille, die nur durch das Knistern des Feuers unterbrochen wurde, Wehmut und Trauer befielen. Ich gehe von euch, sagte ich weiter, zu dem Lande, wohin ich schon lange zu gehen beabsichtigte. Ich zweifle daran, daß ich jemals hierher zurückkehren werde, ihr aber, wenn ihr wollt, könnt mich dort aufsuchen, solange ich nicht sterbe.
Die Zwerge schauten immer in Schweigen auf die flammenden Balken des Daches und auf mich; ich sah, daß einigen von ihnen Tränen über die Wangen liefen.
Ich atmete schwer; ich hatte das Gefühl, als wenn eine drückende Last sich auf meine Brust wälzte.
— Ihr seid alle unter meinen Augen aufgewachsen, begann ich wieder, mit Mühe nach Worten suchend, ihr wart mit mir bis zu diesem Augenblick, und von jetzt ab sollt ihr euch allein regieren. Denkt daran, daß ihr Menschen seid, denkt daran!
Die Stimme versagte mir und ich konnte nur mit äußerster Anstrengung fortfahren:
— Ich gab euch manche Lehren, vergeßt sie nicht! Ich lasse euch das Buch zurück, das heilige Buch, das ich von der Erde mitgebracht habe, das von der Erschaffung der Welt und von der Erlösung und Bestimmung des Menschen erzählt; lest es oft und lebt, wie es sich gehört.
Ich brach wieder ab, da ich fühlte, daß ich zwecklose Dinge redete.
Da trat ein junges Weib aus dem Kreise hervor und sprach:
— Alter Mensch, ehe du fortgehst sage, ob es recht ist, daß der Mann die Frau schlägt?
Diese Worte waren wie eine Losung. Im nächsten Augenblick umringten mich Frauen und Männer und begannen mit traurigen Stimmen zu fragen:
— Alter Mensch, sage, ob es recht ist, daß der ältere Bruder den jüngeren zur Arbeit zwingt, weil er schwächer ist?
— Sage, ob die Kinder das Recht haben, die Eltern aus der Hütte zu treiben, die sie einst selbst erbaut haben?
— Sage, ob es billig ist, daß einer aus dem Volke spricht: „Das sind meine Felder!“ und anderen nicht erlaubt, die Ernte davon einzubringen.
— Ob es recht ist, daß einer dem andern die Frau nimmt?
— Daß er die Handwerkszeuge beschädigt?
— Daß er sich für die ihm zugefügte Unbill rächt?
— Daß er zum eigenen Vorteil lügt?
— Sage, ob das recht ist!
— Sage es, ehe du fortgehst, denn sowohl du wie die Bücher haben gelehrt, daß man das alles nicht tun solle, und trotzdem geschieht es täglich in unserer Mitte!
Ein stechender Schmerz schnürte mir die Brust zusammen. Dieses Volk verlassend, sah ich nur zu klar, auf welchen Bahnen seine Entwicklung schreiten wird. Vieles vom menschlichen Geiste ist auf dem Wege zum Mond verloren gegangen, aber der menschliche Jammer ist mit uns von der Erde hierhergekommen!
— Das ist schlimm! antwortete ich endlich. Wenn unter meinen Augen derartige Dinge geschehen sind, was wird erst sein, wenn ich fortgehe?
— Weshalb gehst du also fort? antwortete man mir.
Diese Frage war so einfach und so furchtbar zugleich. Warum ich fortgehe?
Ich ließ den Kopf sinken wie ein Schuldbewußter, ohne zu wissen, was ich erwidern sollte.
Nur das Knistern des brennenden Hauses war in der Stille zu hören und ein dumpfes, entferntes Dröhnen des Vulkans.
Die Zwerge standen schweigend um mich herum. Sie fühlten scheinbar dasselbe, was ich in jenem Augenblick empfand, daß meine Abfahrt das unabwendbare Schicksal ist, dem man sich vergebens widersetzen würde.
— Vielleicht werde ich noch einmal zu euch zurückkehren. Lebt indessen in Frieden und menschlich, murmelte ich und wußte gar wohl, daß ich ihnen die Unwahrheit sagte, wie mir selbst.
— Du wirst nicht zurückkehren, rief Ada, die bis jetzt kein Wort gesprochen hatte.
Und dann, sich zu den Anwesenden wendend, fügte sie mit erhobener Stimme hinzu:
— Der Alte Mensch verläßt euch!
Es war etwas Grauenhaftes in diesem Schrei, der alle Versammelten wie mit einem Schauer überlief.
— Es muß so sein! sagte ich dumpf.
Eine Stunde später befand ich mich im Wagen und eilte mit Ada und drei ihrer Neffen gen Norden ...
*
Den vierten Mondtag sind wir schon unterwegs. Als die Sonne heute aufging, erhob sie sich nicht mehr gerade zur Höhe steigend, sondern schleppte sich am Horizont, gerötet kaum einige Fuß über der bläulichen Linie der Berge im Südosten. Das ist ein Zeichen, daß wir uns dem Ziel unserer Fahrt nähern. Im Norden taucht eine Bergkette vor mir auf; ich unterscheide schon mit bloßem Auge die höchsten, ewig von der Sonne beleuchteten Gipfel und die Schlucht, die das Tor zu der Polarmulde bildet.
Das Herz schlägt mir zum Zerspringen ...
Der heutige Tag wird kein Ende haben, denn in dem Augenblick, da die Sonne auf dieser Halbkugel untergehen müßte, werden wir schon auf dem Pol sein, im Land der ewigen Dämmerung, wo zu jeder Stunde gleichzeitig Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht für die verschiedenen Meridiane ist, deren Knotenpunkt man dort unter den Füßen hat.
Und dort — werde ich die Erde sehen!
*
Im Polarlande.
Nach vier Mondtagen der Fahrt, gerade zu der Stunde, da die Sonne in den Gegenden an den Warmen Teichen untergehen sollte, kam der große Augenblick. Wir sind durch die Schlucht der Bergkette hindurchgekommen, die die Grenzmauer der Polarmulde bildet.
Mit einer tiefen Rührung betrat ich dieses Land, die Augen nach der Himmelsrichtung lenkend, wo sich mir bald die Erde zeigen sollte, und als ich sie plötzlich in der Spalte der Felsen erblickte, war ich so bis ins Innerste der Seele erschüttert, daß ich zunächst meine Begleiter ganz vergessen hatte. Erst nach einer Weile, als ich mich von den Knien erhob (denn kniend begrüßte ich sie, meine geliebte Heimat, und mit ausgestreckten Händen, wie sie ein Kind der Mutter entgegenstreckt), sah ich auf meine Umgebung. Jan und sein ältester Sohn wie seine beiden Brüder, die mit mir hierhergekommen sind, standen mit entblößten Häuptern, wie versteinert, mit einer heiligen Furcht in den Zügen, die starren Blicke auf das Halbrund der Erde gerichtet; vor ihnen Ada, die Arme zu dem Sterne der Wüste erhoben. Geraume Zeit ging vorüber, bis sie sich endlich zu ihren in Nachdenken versunkenen Kameraden wandte:
— Von dort ist er gekommen, sagte sie mit gedämpfter Stimme, als wenn sie nicht wollte, daß ich es höre, und dorthin wird er zurückkehren, wenn die Zeit erfüllt ist. Werft euch zu Boden.
Und sie warfen sich zu Boden vor dem Anblick der Erde, auf der ihre Väter einst gelebt haben ...
Nachdem sie sich erhoben hatten, wagten sie es nicht, sich mir zu nähern, und ich rief sie zu mir und begann ihnen mit vor Rührung zitternder Stimme die Erscheinung zu erklären, die sie vor sich hatten. Sie drängten sich um mich, verängstigt, von Grauen geschüttelt, als wenn sie unsicher wären, ob ich mich nicht im nächsten Augenblick über ihre Köpfe erheben und durch die blasse Luft zu diesem hellen Sterne fliegen würde!
Ach, wenn ich es könnte!
Und als ich so zu ihnen sprach, so gänzlich unverstanden, beschäftigte mich plötzlich dieser Gedanke derartig, daß ich unwillkürlich verstummte, auf die Erde starrte und nur noch fühlte, daß ich diesen Menschen hier nichts mehr zu sagen hatte.
Und sie schwiegen lange, bis sie sich endlich, etwas näher zusammentretend, mit den Ellbogen zu stoßen begannen und, auf die Erde zeigend, flüsterten:
— Sieh, sieh, er ist von dort gekommen.
— Damals, als es hier noch niemanden gab ...
— Ja ... Er hat den Großvater Peter hierhergebracht und seine Frau Martha ... Und einen, der der Vater unseres Großvaters war, hat er auf der Wüste tot zurückgelassen ... so lehrt Ada.
— Das steht nicht in der Heiligen Schrift. Dort ist nur die Rede von Adam, das ist sozusagen Peter, und von ...
— Still, die Heilige Schrift ist anders ... Die Heilige Schrift hat er ebenfalls von dort mitgebracht.
— Ja, alles hat er geschaffen; für die ersten Menschen hat er hier Meer und Sonne und Teiche geschaffen ...
Ich wandte mich, als ich diese letzten Worte hörte, schnell um und die halblaut geführte Unterhaltung verstummte sofort.
Ich wollte sie tadeln, aufklären, aber es fiel mir wieder ein, wie vergebliche Mühe das wäre. Ich sagte ihnen deshalb nur, daß sie das Zelt aufschlagen möchten, da wir hier längere Zeit bleiben würden. Und seitdem fließen die Stunden, von der unsichtbaren Sonne auf den rosagefärbten Berggipfeln aufgezeichnet, fließen für sie, scheint es, langsam, für mich aber viel zu schnell dahin!
So teuer ist mir dieses Polarland, daß Angst und Schmerz mich bei dem Gedanken schütteln, dorthin zurückzukehren, dorthin zu den Warmen Teichen. Hier verweilend habe ich den Eindruck, daß ich mich schon im letzten Vorzimmer befinde, fast auf der Schwelle der Mondwelt, daß von hier nur noch ein Schritt durch den interplanetarischen Weltenraum zur Erde ist, und bei Gott, sie lockt mich mehr, diese endlose, tote Wüste hinter den Bergen dort vor mir, als jenes fruchtbare Land, wo ich so lange gelebt habe.
Sogar das Grab Marthas auf der Friedhofinsel zieht mich jetzt nicht mehr dorthin. Ich habe ja hier so viel mehr von ihr um mich als dort ... Hier hat sie mir gehört, obwohl wir niemals miteinander davon gesprochen haben; hier stand sie über meinem Lager gebeugt, als ich krank war, hier wandelte sie mit mir auf den grünen üppigen Wiesen oder kletterte auf die rosigen Berggipfel, und dort ... war sie die Frau eines andern, dort schaute ich nur auf ihren Schmerz und auf ihre Demütigung, selbst gedemütigt und von Schmerz zerrissen.
Wohl ist es mir hier im Polarland, so wohl wie es nur einem Menschen sein kann, der alles verloren hat, sogar die Erde unter seinen Füßen, und, auf einem silbernen Globus zwischen den Himmeln hängend, nur der Vergangenheit lebt und der Ferne und dem Gedanken an das, was unwiederbringlich dahin ist ...
Still, still, du altes, unverbesserliches, ruheloses Herz! Hier hast du das lichte Rund der Erde vor dir, dieselben Wiesen, auf denen sie, die Tote, wandelte, und auch das Grab ist sicher nicht mehr fern — was willst du noch?
*
O meine Brüder, dort auf der hellen Kugel, die in diesem Augenblick vor meinen Augen leuchtet!
O meine fernen Brüder! O meine unbekannten und über alles teuren Brüder!
O Erde, lichter Stern, Freude meiner Augen, flammende Leuchte über den Wüsten!
Erde, du Paradies der höchsten Wonnen! Wahrhaftes Kleinod, lichter Smaragd, in die lasurblauen Meere gefaßt, o herrlichste Blume, duftender Weihrauch! Wie Vogelstimmen tönende Harfe!
O Erde! Erde! Heimat! Verlorene Mutter!
Schluchzen hebt mir die sehnsuchtsvolle Brust, und ich habe keine Tränen mehr, dich zu beweinen, Stern, über Wüsten leuchtend! Welt, über alle anderen der glühendsten Liebe wert!
Zu dir strecke ich meine Arme aus, ich, der dir so Ferne, der unglücklichste deiner Söhne und der einzige, dem du dich jetzt in deiner goldenen Gestalt zu zeigen geruhst! Stern unter den Sternen am Himmel!
Ich bete zu dir, einsam und verlassen, ich, den du als Kind kanntest, und der grau geworden ist, nicht auf deinem Mutterschoß:
Erde!
Vergib, daß ich mich von dir abwandte, durch die Begierde nach Erkenntnis, die du selbst in mir großgezogen, getrieben und verwirrt. Von dem Silbergesicht dieses toten Globus verführt, den du vor Zeiten von dir geworfen, daß er deine Nächte erleuchte und deine Meere einwiege!
Ich flehe zu dir, dein für ewig verlorener Sohn, dem du alles Gute gegeben, die menschliche Gestalt und den denkenden Geist, Blumen, die seine Augen erfreuen, und Vögel, an deren Gesang er sich laben konnte, und Brüder, daß er Schmerz und Freude mit ihnen teile; der verlorene, grausam bestrafte, nie mehr zu dir zurückfindende Sohn und der Kinder schlechtestes auf deinem breiten Schoße:
Erde!
Vergiß mich nicht! Leuchte meinen Augen, ehe sie der Schleier des ersehnten Todes umhüllt! ...
Ich trinke, verschlinge mit der ganzen Seele dein Licht! Berausche mich mit deinem gesegneten Lichte!
Dein Licht, zurückgeworfen vom Lasurblau der Meere, von schneeigen Gipfeln und grünen Gefilden, von den kleinen schimmernden Blättern der Bäume, von blühenden Kelchen, vom Tau, der auf den Wiesen dort leuchtet, von Bauernhütten und von ragenden Türmen der Kirchen, von menschlichen Zügen, die in Nachdenken versunken zum Himmel schauen, Hunderttausende von Meilen hat es durchflogen, durch die ewige Wüste zu mir eilend, und ist mir jetzt alles: das Lasurblau deiner Meere und das Grün deiner Fluren, des Taues Glanz, wie der Blumen prächtigste Farbe und des menschlichen Geistes Widerschein, der sich in den zum Himmel gewandten Augen spiegelt!
O Erde, meine Erde!
Wann wird mein Geist, von der körperlichen Hülle befreit, endlich auf diesen leuchtenden Saiten, die zwischen dir und der furchtbaren Welt hier gespannt sind, zu deinem Mutterschoß zurückgelangen und in balsamischen Lüften alles mit Küssen bedecken, was er geliebt und wonach er sich so grenzenlos sehnt!
O Erde!
Ich habe seltsame Ahnungen, daß ich bald sterben werde. Dieser Gedanke umkreist mich beständig; die Luft ist voll von ihm und die blutigen Sonnenstrahlen, der Himmel erscheint gleich einem weichen Schleier, und die Erde leuchtet wie eine silberne Lampe im Grabe. Niemals fühlte ich so wie jetzt, daß der Tod nahe ist.
Ohne Schmerz, ohne Leid und ohne Unruhe denke ich daran, aber — was erstaunlicher ist — auch ohne Freude, die doch die endlich nahende Erlösung in mir erwecken müßte ...
Es scheint, daß mir noch etwas zu tun übrig bleibt, etwas ungemein Einfaches und ungeheuer Wichtiges, worauf ich jedoch nicht kommen kann. Und das bedrückt mich, und das ist die Ursache, daß ich ihn nicht mit Freuden begrüße — den Tod-Erlöser!
Im Traume höre ich, wie sie mich rufen von der Erde. Und ich, ebenfalls im Traume, antworte ihnen jedesmal: Ich sehne mich so maßlos danach, zu euch zu gehen, aber ich finde mich nicht zurecht ...
Führt nicht der Weg auf die Erde dort durch die luftlose Wüste? ...
*
Ich war vor kurzem auf dem Berge, von dem aus ich mit Peter auf die Sonnenfinsternis geschaut habe und dann auf den See, der plötzlich die ganze Polarmulde überflutete.
Ich habe Ada auf diesen Ausflug mitgenommen; sie bat mich darum, als sie gesehen, daß ich öfter auf die benachbarten Berge steige, um auf die Erde oder die Wüste zu blicken, die hier schon an der Grenze des Horizontes sichtbar ist. Sie drängte mich, daß ich sie einmal mitnehmen möchte, damit auch sie betrachten könne, worauf ich schaue und wonach ich mich sehne. Als sie heute mit mir ging, legte sie die feierlichsten Priestergewänder an und sagte zu Jan, daß sie auf die Heimat des Alten Menschen schauen werde. Unterwegs mußte ich über ihre Würde lachen; wenn man sie ansah, schien es, daß sie auf diesen Berg schreite, um ein heiliges Opfer darzubringen. Ich glaube, daß die Leute, die wir in dem Zelt im Tal zurückließen, zum wenigsten davon überzeugt waren. Sie blickten ihr mit Bewunderung und Ehrfurcht nach. Schweigend erstiegen wir den Berg. Das Lachen, das sich unwillkürlich in mir geregt hatte als ich Adas Priestergewänder gewahrte, ist davongeflogen, weit, weit fort von mir; ich habe sogar vergessen, daß dieses Geschöpf hinter mir ging. Ich sah nur noch die Erde, die sich langsam, je nachdem ich vorwärtsschritt, über dem Horizonte erhob, und auf die Sonne, die, hier schon sichtbar, wie eine rote Kugel auf der gegenüberliegenden Seite des Horizontes stand. Unter meinen Füßen breitete sich ein wahrer Teppich von Pflanzen, die dem Heidekraut ähnlich und von der Sonne rosig gefärbt waren, über meinem Haupte der blasse, erloschene Himmel.
Eine seltsame Empfindung überkam mich! Es schien mir, daß ich mich, diesen Berg ersteigend, schon für immer von den Mondleuten entfernte und von dieser ganzen mir so widerwärtigen Welt; es schien mir, daß ich wirklich ein geheimnisvoller Alter Mensch bin, der sein schweres Werk vollbracht hat und jetzt zu der Heimat zurückkehrt, dort inmitten der Sterne ... Und die rotglühende Sonne liegt schon in meinem Rücken und nimmt Abschied von mir auf dieser Welt, die mir nur Mühe und Schmerz und Qual gewesen, und die Erde erhebt sich vor mir, mächtig, hell erstrahlend, bereit, mich in ihren lichten Schoß aufzunehmen ...
Ich stand auf dem Gipfel des Berges und erkannte, mich in den Anblick der Erdscheibe versenkend, in der klaren Luft den vorübergleitenden hellen Keil Europas. Er war deutlich sichtbar, obwohl Wolken, die über Frankreich und England glitten, seine Konturen von dieser Seite her verwischten ... Aber die breiten polnischen Ebenen im Osten glänzten wie ein glatter silberner Spiegel, von der einen Seite an den dunklen Streifen des Baltischen Meeres gelehnt, von der anderen an die Kette der Karpathen, deren Gipfel jetzt wie eine Schnur kostbarer Perlen schimmerten. Die Erscheinung meiner Heimat an dem blauen Himmel war so unerwartet und bezaubernd für mich, daß ich einen Augenblick mit zurückgehaltenem Atem, ganz Auge geworden, dastand, bis ich plötzlich wie ein Kind in Weinen ausbrach und auf mein Antlitz fiel — dort oben auf dem Gipfel des Mondberges.
Als ich mich nach geraumer Zeit erhob, sah ich mit Staunen, daß Ada zu meinen Füßen kniete und helle Tränen über ihr Gesicht herabflossen.
— Was ist dir? frug ich fast gedankenlos.
Sie aber, statt mir zu antworten, umfaßte meine Knie und weinte herzzerreißend. Endlich hörte ich aus ihrem Schluchzen die abgerissenen Worte heraus:
— Du bist unglücklich, Alter Mensch.
— Und deshalb weinst du?
Sie erwiderte nichts, unterdrückte nur ihr Schluchzen und starrte auf die goldene Scheibe der Erde.
Und wieder verfloß eine lange Zeit in Schweigen.
Dann erhob Ada das Haupt und schaute mir mit einem eigenartig durchdringenden Blick in die Augen.
— Hier auf dem Monde ist alles traurig und unglücklich, sogar du, sagte sie. Weshalb bist du hergekommen? Weshalb von diesem Sterne ...
Sie brach ab und fuhr nach einer Weile fort:
— Meine Eltern sind gestorben. Und warum stirbst du nicht?
— Ich weiß es nicht.
Ich sagte die Wahrheit; ich weiß in der Tat nicht, warum ich nicht sterbe ...
Und wieder überkam mich die schreckliche Angst, denn ich mußte an jenes furchtbare Mondmärchen denken, daß ich niemals sterben würde.
Ada antwortete, wie zu sich selbst sprechend:
— Denn du bist der Alte Mensch. Und trotzdem bist du unglücklich.
— Gerade deswegen, entfuhr es mir unwillkürlich.
Als wir den Berg hinabstiegen, gewahrte ich plötzlich an einer Biegung das Zelt Jans und der Kameraden, das an derselben Stelle aufgeschlagen war, an der einst unser Zelt gestanden, und eine Täuschung gaukelte mir vor, daß mich in diesem Zelt Martha, den kleinen Tom an der Brust, erwarte und Peter, wie gewöhnlich in Nachdenken versunken, aber noch jung und nicht gebrochen wie dort am Strand des Meeres.
Dieses berauschende Traumbild wurde durch den Anblick der Zwerge, die sich um das Zelt zu schaffen machten, grausam zerstört.
Als ich sie erblickte, blieb ich voll Widerwillen stehen. Ada bemerkte es.
— Du willst nicht zu ihnen gehen, Alter Mensch? fragte sie.
Was sollte ich antworten? Ich sah mich unwillkürlich nach der Erde um und schritt ins Tal hinab: nur noch ein kleines Segment von ihr war am Horizont sichtbar.
Ada fing meinen flüchtigen Blick auf und legte flehend die Hände zusammen:
— Nein, nein, noch nicht jetzt! Sie brauchen dich noch.
Sie fürchtete, daß ich dorthin zu meiner Heimat gehen wollte.
— Denkst du, daß ich auf die Erde zurückkehren kann? sagte ich.
— Du kannst alles, was du willst, antwortete sie — aber ... wolle nicht!
Als ich ermüdet und niedergedrückt zum Zelt zurückgekehrt war, legte ich mich nieder, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Vor allem ließ mich einige Stunden hindurch das Flüstern meiner Begleiter hinter der Zeltwand keine Ruhe finden. Sie umringten Ada und frugen sie nach mir aus, was ich während meines Ausfluges gesprochen und getan hätte ... Ihr Geschwätz peinigte mich und als ich endlich eingeschlafen war, träumte mir von vergangenen Zeiten, von Martha, von der Mondwüste und von der Erde! ... Von der Erde ...
Ach, wie mich diese Träume quälen ...
*
Ich möchte allein sein. Diese Menschen, die mit mir hierhergekommen sind, ermüden mich unsagbar. Es scheint mir, daß sie unaufhörlich zwischen mir und der Erde stehen und einen Schatten auf meine Seele werfen ...
Sie indessen denken nicht einmal an die Abfahrt! Sie haben es sich bequem gemacht auf der Ebene, richten sich ein, tragen Vorräte zusammen, als wenn sie sich dauernd hier niederlassen wollten. Geben sie sich etwa der Täuschung hin, daß es ihnen mit der Zeit gelingen werde, mich zur Umkehr zu bewegen?
Wer weiß, ob nicht Ada bei alledem die Hand im Spiele hat? Immer mehr staune ich über diese Frau. Manchmal weiß ich tatsächlich nicht mehr, ob ich es wirklich mit einer Irrsinnigen zu tun habe, so anders erscheinen mir neuerdings ihre Handlungen und Worte. Oder ist es etwa nicht wunderbar, daß diese Wahnsinnige eigentlich die Verständigste von all den hier Geborenen ist?
Und übrigens, was kümmert es mich? Ich bin doch ein Mensch aus einer anderen Welt, der fertig ist mit dem Leben und so müde, so furchtbar müde durch das, was dieses Leben ihm brachte.
Oh, wenn sie mir doch endlich Ruhe geben und fortziehen und mich allein lassen wollten!
O Erde, Erde! Du weißt nicht, wie schwer es mir ist, ohne dich zu leben, und wie gerne ich sterben möchte! Morgen, heute, sofort ...
*
Welch eine Lästerung habe ich niedergeschrieben! Noch gestern wollte ich sterben, und heute will ich leben, muß ich leben, noch einige Mondtage, dann mag geschehen, was will! Es saust mir im Kopfe, und ein unaussprechlich wonniges Gefühl will mir die Brust zersprengen. So ist es, so ist es! Ich muß es erfüllen, ich muß!
Gott, wie danke ich dir, daß ich unseren alten Wagen mit mir habe und genügende Vorräte. Und es ist so einfach! Wie sonderbar, daß ich nicht früher daran gedacht habe!
O Erde! O meine Brüder! Ich bin doch nicht so verlassen und von euch abgeschnitten, wie ich es bis vor kurzem glaubte; ich habe ein Mittel, euch Nachrichten von mir zuzusenden und, obwohl ich es mit dem Leben bezahlen werde, will ich es tun, so wahr mir Gott helfe!
Ich werde auf der Wüste sterben, im vollen Glanz meines geliebten Sternes, meiner Mutter! Aber vorher ...
*
Ach, daß ich sie finden möchte! An sie denke ich jetzt nur, von ihr träume ich, und wahrhaftig, ich weiß nicht, ob ich jemals im Leben den Anblick des geliebten Weibes so heiß begehrt habe, wie ich heute begehre, sie wiederzufinden — diese Kanone, die wir vor fünfzig Jahren am Grabe O’Tamors zurückgelassen haben! ...
Als mir dieser Gedanke zum erstenmal durch den Kopf fuhr, überkam mich ein wahrer Freudentaumel; er erschien mir wie eine Offenbarung, die mir das Mittel zur Verständigung mit meinen Brüdern auf der Erde zeigte.
Denn, in der Tat, fünfzig Jahre lebe ich hier und habe nicht ein einziges Mal auch nur daran gedacht, daß dort, auf dem Sinus Aestuum, inmitten der Steinwüste, am Grabe O’Tamors, eine Kanone steht, die genau auf die Mitte der silbernen Erdscheibe zielt und nur auf den Funken wartet, um den ihr anvertrauten Brief in den Weltenraum, der Erde entgegenzuschleudern.
So ist es. Ich werde auf die Wüste hinausgehen und diese Kanone suchen; ich werde die Leiche des greisen O’Tamor in dem felsigen Grabe auffinden. O’Tamor, der diese Kanone seit fünfzig Jahren bewacht, die leeren Augenhöhlen der Erde zugewendet ... Ich weiß, daß ich von dieser Expedition nicht zurückkehre; ich bin zu alt und zu erschöpft, und vor allem habe ich nichts, wohin ich zurückkehren könnte. Der Tod hat mich verschmäht, er wollte nicht zu mir an das Meer kommen, so werde ich ihm entgegengehen, in dieses furchtbare Land, das sein Königreich sein muß.
Und ich werde dort ruhen, neben O’Tamor und der abgeschossenen Kanone, auf Felsen gebettet unter dem Rund der Erde am Zenit! ... Ach, wenn es doch bald wäre — so bald wie möglich!
Aber vorher ... Oh, wie das alte Herz hämmert! Vorher werde ich dieses Tagebuch zusammenfalten, dieses Buch des Schmerzes, das ich den künftigen Mondvölkern hinterlassen wollte; ich werde es an die Brust pressen und küssen und in einer Kugel, wie ein Brief in einer Stahlhülle, zu euch senden, ihr entfernten Brüder! Ich träume davon mit klopfenden Schläfen, wie dort auf der Erde jemand diese Stahlkugel findet, — nach Wochen vielleicht, oder nach Jahren, nach Jahrhunderten. Und nachdem er sie geöffnet, ein Bündel Papiere herausnimmt ...
Dann werdet ihr, meine unbekannten Brüder, lesen, was ich im unaufhörlichen Denken an euch und an unsere gemeinsame Mutter, die Erde, geschrieben habe. Ihr kennt sie im grünen Kleide, in der üppigen Pracht der Blüten und im Silberglanze der Wintermorgen, mir ist sie auch vertraut als Himmelslicht, rein und ruhig, das seit unendlichen Zeiten über dem Reich der Stille und des Todes leuchtet!
Ihr wißt nicht, geliebte Brüder, wie schön eure Mutter ist, wenn man sie durch die Abgründe der Himmel erschaut, und wie ich mich nach ihr sehne und nach euch — und diesen Weltenraum verfluche, der uns trennt, obwohl er mir mit zauberischem Glanze die goldene Heimat malt!
*
Die Sonne stand schon zum drittenmal über der Wüste und zum drittenmal verblaßte die Erde seit der Zeit, da wir nach langer, mühseliger Fahrt im Polarland anlangten, als Jan, der mich in Nachdenken versunken auf den Hügeln überraschte, zu mir trat und sprach:
— Alter Mensch, es ist Zeit, zurückzukehren!
Ich zuckte bei diesen Worten zusammen und war in meinen Gedanken so mit der Erde beschäftigt, daß ich den Sinn zuerst nicht verstand, sondern glaubte, er rufe mich zur Rückkehr dorthin, woher ich gekommen bin! ...
Aber er sagte weiter:
— Frauen und Kinder warten unserer ... Es ist Zeit, an das Meer zu den warmen Teichen zurückzukehren, zu unseren Behausungen und Feldern, Alter Mensch.
Er sagte es befangen, vielmehr im Ton einer Frage, aber trotzdem las ich in seinen Zügen einen unerschütterlichen Entschluß. Und plötzlich überkam mich eine unsägliche Trauer: Diese Menschen sind mit mir hierhergekommen und denken jetzt an die Rückkehr, an ihre Familien, an die Heimat, nach der sie sich sehnen und die sie bald wiedersehen werden — und ich? ... Mein Haus, meine Familie und meine Heimat dort — am Himmel! Ich kann nicht zu ihr zurückkehren, obwohl an mir sicherlich eine hundertmal heißere Sehnsucht nagt nach ihr, die ich auf ewig verloren habe, als an diesen Leuten nach einem Stückchen Mond, am Strande des Mondmeeres! Eifersucht bemächtigte sich meiner.
— Kehrt zurück! sagte ich trocken.
— Und du? rief Jan, mit Verwunderung und Entsetzen zu mir aufblickend.
— Ich werde hierbleiben. Ich habe euch doch, als ich euch mit mir nahm, gesagt, daß ich gehe, um niemals wiederzukehren.
— Ja, flüsterte Jan, aber ich dachte, daß mit der Zeit vielleicht doch ... Hier ist es nicht gut für Menschen ...
— Kehrt also zurück. Ich bleibe.
Er entgegnete kein Wort mehr, neigte nur das Haupt, als wenn er von einem Wurf in den Nacken getroffen wäre und entfernte sich eiligst. Zu Ada, dachte ich mir, um Rat zu holen.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Nach einer Weile kam die „Mondpriesterin“. Ich war auf eine lächerliche Szene mit Bitten, Beschwörungen und Weinen vorbereitet, wie sie sich vor Aufbruch zu der Fahrt hierher abgespielt hatte, und daher sehr verwundert, als Ada allein und still kam, weder fragte, noch um etwas bat, sondern nur sagte:
— Du bleibst hier, um auf die Erde zu schauen, Alter Mensch?
Ich nickte schweigend mit dem Kopfe.
— Aber du wirst doch nicht dorthin gehen?
Bei diesen Worten deutete sie mit einer Bewegung auf die Erde und die unter ihr liegende Mondwüste.
Unwillkürlich folgte ich ihren Blicken, und da war es, als zum erstenmal der Gedanke in mir auftauchte, daß ich mich dorthin begeben könnte, auf die Wüste, die ich vor fünfzig Jahren mit meinen Kameraden zurückgelegt hatte, um mich wenigstens für kurze Zeit, ehe ich sterbe, der Erde näher zu fühlen, sie direkt über mir zu haben. Heute erfüllt mich dieser Gedanke ganz und gar; er begleitet mich im Wachen und im Schlafe und ich kann mich nicht eine Minute von ihm losreißen. Aber damals war es kaum ein erstes Aufblitzen, das ich zunächst in mir erstickte, denn ich glaubte, daß es etwas Unmögliches sei; als wenn der Tod an der Grenze der Möglichkeit stünde und es unmöglich wäre, etwas zu kaufen, was man mit dem Leben bezahlen muß.
— Dorthin wirst du also nicht zurückkehren, wiederholte die Priesterin.
Ich zögerte.
— Nein. Noch nicht.
— So ... könntest du vielleicht doch noch mit diesen Armen am Meere wohnen? Sie möchten dich so gern in ihrer Mitte haben.
— Nein! antwortete ich hart, da ich sah, daß ich wieder mit Bitten bestürmt werden sollte. Ich will hierbleiben.
— Wie es dir gefällt, Alter Mensch. Sie werden sehr traurig sein, aber ... wie es dir gefällt, so wirst du tun. Wenn sie allein zurückkehren, werden diejenigen, die zu Hause geblieben sind, fragen: Und wo ist der Alte Mensch, auf den wir seit unserer Kindheit geschaut haben? Sie aber werden die Köpfe sinken lassen und antworten: Er hat uns verlassen. Aber wie es dir gefällt. Schließlich wissen sie, daß du ein Gast unter ihnen bist und die Zeit kommen wird, da sie sich allein regieren müssen.
— Du wirst bei ihnen bleiben und sie regieren, sagte ich. Sogar Jan gehorcht dir und achtet deinen Willen.
— Nein, ich werde nicht bei ihnen bleiben.
Ich sah sie erstaunt an; sie zögerte, dann glitt sie langsam zu meinen Füßen nieder:
— Ich habe eine Bitte an dich, Alter Mensch.
— Sprich.
— Jage mich nicht fort!
— Wie?
— Jage mich nicht von dir. Erlaube mir, bei dir zu bleiben.
— Bei mir, hier im Polarland?
— Ja, bei dir im Polarland.
— Aber weshalb? Was willst du hier? Dort sind diejenigen, die dir nahe stehen, dort am Meeresstrande.
— Ich weiß, du stehst mir nicht nah, denn du bist von einem fernen Stern gekommen; ich weiß es, aber erlaube mir dennoch ...
Ich dachte über diese seltsame Bitte nach.
— Weshalb willst du bei mir bleiben? frug ich endlich zum zweitenmal.
Ada neigte das Haupt und sagte mit dumpfer, aber fester Stimme:
— Ich liebe dich, Alter Mensch.
Ich schwieg, sie sprach nach einer Weile weiter:
— Ich weiß es, daß es eine strafwürdige Kühnheit ist, wenn ich zu dir sage, daß ich dich liebe, aber ich kann das, was ich fühle, nicht anders bezeichnen. Meiner Eltern erinnere ich mich kaum mehr. Ich weiß nur noch, daß sie unglücklich waren. Auf dich schaue ich seit meiner Kindheit, und ich sehe in dir alles Große, Lichte, Mächtige, etwas, das ich nicht kenne, aber ich weiß, daß es von den Sternen mit dir hierhergekommen ist.
Sie verstummte. Und als ich noch in höchstem Staunen ihre sonderbaren Worte an meiner Seele vorüberziehen ließ, begann sie von neuem:
— Und dabei warst auch du unglücklich und so einsam, einsam das ganze Leben hindurch, einsam wie ich. Ich weiß nicht, weshalb du von dem dort leuchtenden Stern auf den Mond gekommen bist ... Du wolltest es so ... Ich weiß, daß du alles tust, was du willst, — du genügst dir und bedarfst meiner nicht, aber ich will dir dienen und bis zum Ende mit dir zusammen sein. Jage mich nicht fort! Du Großer, du Guter und Kluger!
Nach diesen Worten neigte sie sich abermals zu meinen Füßen und verharrte so, mit der Stirn auf meinen Knien.
— Und wenn du dann fortgehen willst, zurückkehren zu deiner am Himmel strahlenden Heimat, sagte sie nach einer Weile des Schweigens, so werde ich dich bis an die Grenze dieser großen, toten Wüste begleiten und von dir Abschied nehmen und dir noch lange, lange nachschauen, bis du meinen Augen entschwunden sein wirst und dann zu den Menschen am Meeresstrande zurückkehren und ihnen nur sagen: Er ist fortgegangen ... Dann werde ich sterben.
Während sie so mit einer Stimme zu mir sprach, flüsternd und träumerisch, wie ich sie noch nie bei ihr vernommen hatte, waren die Mondzwerge nahe herangeschlichen und lauschten ihren Worten mit angehaltenem Atem. Und plötzlich hörte ich Jan leise sagen:
— Der Alte Mensch geht fort von uns ... auf die Erde!
Und dann Weinen. Ein seltsames, durchdringendes, halblautes Weinen. Und sonderbar! Für gewöhnlich regte mich das Weinen dieser Antropomorphen auf und reizte mich, jetzt aber, ich weiß nicht, ob durch die unerwarteten Worte Adas hervorgerufen, die mich in tiefster Seele erschüttert hatten, oder in dem neu erwachten Gedanken an diese letzte Reise auf die Wüste hinaus — im Angesicht der leuchtenden Erde, — genug, es überkam mich eine große Trauer, ein herzzerreißendes Mitleid.
Ich wandte mich zu ihnen, und Jan, anscheinend durch meinen Blick ermutigt, kam einige Schritte näher und sagte, mir in die Augen schauend:
— Alter Mensch. Ist das unwiderruflich? Erwartet man dich dort? Hast du deine Ankunft schon angekündigt? Müssen wir allein bleiben? In diesem Augenblick war es mir, als wenn mich ein Blitz durchzuckte, ein Gedanke: Das Geschütz!
Ja, das Geschütz, am Grabe O’Tamors, dort in der Wüste!
Vor meinen Augen drehte sich alles; ich drückte beide Hände aufs Herz, das mir die Brust zu sprengen drohte. Ich starrte in das kleine Segment der Erdscheibe, das noch am Horizont sichtbar war, und in meinem Hirne jagte und drängte es sich im wilden Durcheinander: Reise, Wüste, Kanone, der Schuß, meine Erdenbrüder, dieses Tagebuch ... und dann ein grauer Nebel, in dem alles zusammenschmolz. Ich fühlte, das ist der Tod!
Ich vergaß, wo ich war, was um mich her vorging. Sie blickten stumm in höchstem Staunen auf mich, aber ich sah sie nicht mehr. Wie im Traum erreichte mich nur noch die Stimme Adas:
— Entfernt euch, der Alte Mensch spricht mit der Erde. Bald wird er uns verlassen.
Als ich mich ein wenig erholt hatte, befand ich mich allein.
Ich verstand, daß das eine Offenbarung war, daß ich in die Wüste gehen, das Geschütz finden, die letzte Kunde und den letzten Gruß auf die Erde senden und dann — sterben muß.
Eine Weile später teilte ich Ada und Jan meinen Entschluß mit; sie nahmen ihn mit traurig gesenkten Köpfen auf, aber ohne ein Wort des Widerspruchs, als wenn sie darauf vorbereitet waren.
Von ihrer Rückkehr an die Warmen Teiche ist keine Rede mehr. Sie wollen hierbleiben bis zum Augenblick meiner Abreise.
Gegenwärtig, wenn ich das Gesicht der Erde zuwende, habe ich die Sonne zur Rechten; bevor sie mit dem halben Rund emporsteigt, den Tag auf die öde Halbkugel tragend und zur Linken stehend, werde ich aufbrechen.
*
Meine Mondtragödie ist somit zu Ende! Ich bin hier, wo ich auf diesem Globus die ersten Wiesen, das erste frische, lebendige Grün erblickte. Damals lag die Fahrt durch die todbringende Wüste hinter mir, jetzt will ich aufbrechen, um sie zum zweiten- und letztenmal anzutreten.
Dunkel ist es in meinem Innern, aber ruhig. Ich lasse mein verflossenes Leben an mir vorüberziehen, und es dünkt mich, daß es Zeit ist, mit dem Gewissen abzurechnen. Ich möchte mich, wie es die Menschen auf der Erde tun, auf den Tod vorbereiten, alle meine Sünden beichten, und seltsam, auf meine Lippen drängt sich nur mein Unglück. Sollte beides ein und dasselbe sein?
Du also, Herr, der Du die Stimme des elendesten Wurmes hörst, wie das Getöse der Welten, die durch den Weltenraum dahinsausen, der Du mich hier auf dem Monde siehst, wie Du mich einst auf der Erde gesehen hast, nimm meine Beichte an, durch die ich Dir bekenne, daß ich sündig war — und unglücklich!
Als ich ein Kind war, da schien mir die Erde zu eng, die Du für mich geschaffen hast, und ich flog auf Flügeln der Sehnsucht mit all meinen Gedanken zu diesen am Firmamente glänzenden Welten und entzog mich den Liebkosungen der Mutter, um von den Wundern zu träumen, die Du geschaffen hast — nicht für mich! Ich war sündig, Herr, — und unglücklich ...
Als ich heranwuchs und die Brocken des Wissens verschlang, die Du den Menschen zu erringen erlaubst, schrie meine Seele in mir: Zu wenig! Und ich träumte davon, das siebenfache Siegel zu erbrechen und die Schleier aufzuheben, die Deine Hand herabgelassen hat. Sündig war ich und unglücklich ...
Und kaum war ich ein Mann, erfaßte mich die Begierde, den Weltenraum zu durchfliegen, als wenn ich, auf der Erde stehend, nicht ebenfalls von den Unendlichkeiten des Weltalls umgeben wäre und nicht über Abgründen schwebte, und ich ergriff die Gelegenheit und verließ leichten Herzens die nährende Mutter, von dem silbernen, die Lunatiker lockenden Antlitz des Mondes verführt ... Sündig war ich, Herr, und ich bin unglücklich.
Ich blickte auf den Tod meiner Kameraden und Freunde und war so erbärmlich, um ein wenig Luft, die ich für die Erhaltung des Lebens benötigte, mit ihnen zu kämpfen, oder um die Frau, die keinem von uns gehörte, die wir verlangend die Hände nach ihr ausstreckten. Und als ich Zeuge ihres Elends war, an dem ich, wenn auch unbeabsichtigt, Schuld getragen, habe ich nichts getan, um sie davon zu befreien. Sündig war ich und unglücklich ...
Ich blieb allein auf dieser furchtbaren Welt, auf die mich mein eigener Wille verschlagen, und als mir das junge menschliche Geschlecht anvertraut ward, konnte ich in ihm den Geist nicht erwecken noch seine Augen zum Himmel lenken ... im Gegenteil, statt Liebe hatte ich nur Verachtung für die Unglücklichen und habe es geduldet, daß sie mich verehrten, während nur Dir allein die Ehre gebührt ... Ich war sündig, Herr, und unglücklich ...
Und jetzt, von Schmerz gebrochen, von der Sehnsucht erschöpft, verlasse ich diese Armen, deren Schicksal meinem Schutz und meiner Führung übergeben war und gehe der letzten, traurigen Wonne entgegen, dem Tod im Angesicht der Erde! Ich bin sündig, Herr, und unglücklich!
Mein Leben ist in zwei große Teile zerfallen: Der eine heißt Verlangen nach dem Unbekannten, der andere Sehnsucht nach dem Verlorenen; und beide waren traurig, ach, so unendlich traurig ...
Und was ich begehrte und erstrebte, konnte ich nicht erreichen, denn ich bin kaum einen elenden Schritt vorwärtsgekommen im Weltall, und ich kenne nicht einmal die Geheimnisse des Gestirns, auf dem ich mich befinde. Vergeblich habe ich alles geopfert, vergebens die Räume der Himmel durchflogen, eine Wüste durchwandert, die furchtbarer ist als irgendeine auf der Erde, vergebens fünfzig Jahre auf diesem Globus gelebt. Die Rätsel, die mich umgeben, sind heute so ungelöst wie vor einem halben Jahrhundert.
Wonach ich mich auch sehne, ich weiß, daß ich es niemals erreichen werde.
Und das ist mein ganzes Leben!
Oh, es ist Zeit, es ist Zeit, daß es ende ...
Mit Liebe und Sehnsucht blicke ich zur Wüste, auf die ich früh den Wagen lenken werde, um allein zu sein bis zum Tode ...
Diese letzten Menschen, die ich noch um mich sehe, werden hierbleiben ... Sie werden auf den Berg steigen und mir noch lange nachsehen, mir und dem schwarzen Wagen, der in der anbrechenden Morgenröte verschwindet; und dann werden sie zu ihrem Volke zurückkehren und sagen: Der Alte Mensch ist von uns gegangen ...
Und aus diesem Begebnis und aus diesen Worten wird hier dereinst eine Legende entstehen, sowie aus unserer Ankunft auf dieser Welt!
Sündig bin ich ...
Es nähert sich die Zeit der Abreise ...
Auf Mare Frigoris.
Ich bin allein, und mit einer so furchtbaren Angst durchdringt mich diese grenzenlose Stille! Es scheint mir, daß ich schon gestorben bin und in diesem Wagen dahinfahre, wie in dem Boote Charons, zu unbekannten Ländern.
Und ich kenne doch diese Wüste und sah diese Berge, die sich dort am Horizont malen. Ich bin schon einmal hier gewesen, vor langen Jahren! Nur damals eilten wir zum Leben und jetzt ... Gott, gib mir noch so viel Kraft, bis zum Grabe O’Tamors zu dringen! Um nichts anderes bitte ich dich mehr.
Ich habe dem Mondvölkchen versprochen, aus der Wüste zurückzukehren, wenn meine Kräfte reichen sollten und dann bis zum Ende meines Lebens bei ihnen zu bleiben; aber ich weiß, daß ich aus der Wüste nicht zurückkehren werde ... Obwohl vielleicht jetzt meine Gegenwart an den warmen Teichen notwendiger wäre als jemals.
Wenn das wahr ist ...
Eine seltsame und furchtbare Kunde vernahm ich im Augenblick meiner Abreise.
Hört es, Menschen auf der Erde:
Ich wollte gerade den Wagen besteigen und verabschiedete mich von der kleinen Schar der Zurückbleibenden, als ich plötzlich am Eingang zu der Mulde zwei Menschen bemerkte. Im ersten Augenblick dachte ich, daß dies eine Täuschung sei, aber bald konnte ich nicht mehr zweifeln. Zwei Zwerge näherten sich uns eilig. Jan bemerkte sie ebenfalls und stieß einen Schrei aus:
— Sie senden nach uns! Es muß etwas Schlimmes geschehen sein!
Die Vermutung hatte ihn nicht getäuscht. Die beiden Abgesandten kamen vom Meere mit einer erschreckenden Nachricht.
Bald nach unserer Abfahrt aus dem Lande der warmen Teiche waren die kühnen Abenteurer, die ich für verloren hielt, von der Expedition nach der südlichen Halbkugel zurückgekehrt. Aber nur zwei von ihnen, der dritte wird niemals wiederkommen. Und nach den Berichten dieser beiden beschloß man, sofort zu mir ins Polarland zu senden, um mich zur Rückkehr ans Meer zu bewegen.
Die zwei, die sie für diese Mission ausgewählt hatten, hielten sich bei ihrer Wanderung längs dem Lauf des Flusses, in der Richtung, wie sie den Weg aus Adas Erzählungen kannten; so gelangten sie auf die Höhe über der See-Ebene und von dort durch verschiedene Schluchten zur Polarmulde.
Ich hörte ungeduldig ihren weitläufigen Beschreibungen zu und wollte endlich genau wissen, was sie zu dieser so ungewöhnlichen Reise bewogen hatte. Da begannen sie, von mir und Ada immer wieder befragt, sich gegenseitig unterbrechend, die Geschichte der Expedition zu erzählen.
Aus dem Durcheinander ihrer ungefügigen Sätze erfuhr ich nur so viel, daß ihre drei Kameraden bei günstigem und überaus starken Winde im Schlitten, der mit Segeln versehen war, im Lauf der Nacht das zugefrorene Meer im Fluge zurückgelegt hatten und bei Sonnenaufgang zum gegenüberliegenden Strande auf der südlichen Halbkugel gelangten. Das war klar, aber das weitere nur mit Mühe aus ihren konfusen Reden herauszufinden. Und außerdem klang es so ungeheuerlich. Zwischen Bergen, auf weiten Ebenen, sollen dort sonderbare Wesen wohnen, halb Mensch und halb Tier, die sich vor der Kälte in tiefen Höhlen verkriechen. Diese Schlupfwinkel haben sie sich um scheinbar seit Jahrhunderten verlassene, in Trümmer zerfallene Städte herum ausgegraben. Und mit diesen entsetzlichen, raubgierigen Geschöpfen mußten unsere Zwerge Kämpfe bestehen, aus denen sie, nach Verlust des einen der ihrigen, dank des Besitzes von Schußwaffen, siegreich hervorgingen. Den Heimweg legten sie in wilder Flucht zurück, denn jene Unholde verfolgten sie hartnäckig auf dem Eise.
— Das sind grauenhafte Ungeheuer, sagte der Erzähler und zitterte bei der bloßen Erinnerung dessen, was er gehört hatte; klein, aber fürchterlich! Die Unseren mußten fliehen, da ihrer viele, viele waren! Sie haben Schnäbel statt des Mundes und scheußliche, lange Hände. Kaspar haben sie mit einer Schnur gefangen und zerrissen und die Leiche dann in eine jener Höhlen geschleppt, worin sie hausen. Das Land dort ist herrlich, aber diese Geschöpfe sind furchtbar! Die beiden Heimgekehrten erzählten uns davon. Die Ungeheuer haben sie verfolgt, aber sie hatten den Schlitten mit Motor und die Hunde und so gelang es ihnen zu entfliehen, obwohl mit großer Mühe. Und seltsam ist das Land dort im Süden hinter dem Meere. Da stehen große Türme, die aber zerfallen sind, und mächtige Maschinen oder Fabriken, zerstört und überwachsen. Und diese Bestien bewachen das alles und verneigen sich vor den Türmen, es scheint jedoch, daß sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Sie wohnen in Höhlen und sind entsetzlich anzusehen.
Vergeblich frug ich die Abgesandten aus, um nähere Einzelheiten über diese neu entdeckten Wesen hinter dem Mondmeer zu erfahren; sie konnten mir keine Antwort geben. Ich hörte nur noch die Geschichte der Heimfahrt der Reisenden, eine wahrhaft grauenerregende Odyssee! Der Wind war ihnen nicht günstig; infolgedessen gelang es ihnen nicht, in einer Nacht über das Meer zu kommen. Es war schon Morgen, und das Eis begann zu schmelzen, als sie glücklich zu einer kleinen Insel gelangten; dort verbrachten sie, vor der furchtbaren Äquatorhitze Schutz suchend, den ganzen Tag in einer Höhle und erwarteten die Nacht und die Kälte, um auf dem Eise die Weiterreise anzutreten. In der zweiten Nacht hat sie dann der Sturm weit nach Westen getrieben und, um das Maß des Unglücks voll zu machen, der Motor gegen Ende der Fahrt versagt, so daß sie, mit unsagbaren Mühen kämpfend, den Weg am Meeresstrande zu Fuß zurücklegen mußten, nachdem sie den Hunden das Ziehen des Schlittens auf dem Sande überlassen hatten. Und so kamen sie endlich zu dem Land der warmen Teiche, um zu erfahren, daß der Alte Mensch sie verlassen hat.
— Was wollt ihr also von mir? frug ich, als die merkwürdige Erzählung zu Ende war.
— Schütze uns, Alter Mensch, schütze uns! riefen beide gleichzeitig; es geht uns schlecht und Unglück kommt über uns! Diese raubgierigen Ungeheuer werden jetzt, da sie von unserem Vorhandensein erfahren haben, unzweifelhaft über das Meer kommen und mit uns kämpfen, uns niederdrücken und Angst und Sorgen bereiten! Und ihrer sind viele, viel mehr, bedeutend mehr als der Unsrigen!
Sie warfen sich mir mit erhobenen Händen zu Füßen; ich fühlte ängstlich fragende, flehende Blicke Jans und seiner Brüder auf mich gerichtet, nur Ada war unbeweglich und scheinbar gleichgültig. Und ich stand, im Innersten erschüttert, zögernd und im Zweifel, was ich sagen und tun sollte. Es war nicht die Möglichkeit eines Überfalles jener Wesen auf die menschliche Mondkolonie, sondern die Kunde selbst, daß hier auf diesem Globus Geschöpfe leben und, wie es scheint, sogar verständige, die mich wanken machte. Einen Augenblick dachte ich tatsächlich daran, auf das letzte Glück zu verzichten, auf die Aussicht, euch, ihr Brüder auf der Erde, Nachrichten von mir zu übersenden, und hierzubleiben unter dem Mondgeschlecht, jene seltsamen Völker kennen zu lernen, die hinter dem Meere wohnen, und von deren Existenz ich jetzt erst erfahren sollte, nach fünfzigjährigem Aufenthalt hier, und im Falle der Not die Nachkommenschaft meiner verstorbenen Freunde vor ihnen zu schützen.
Aber dieses Zögern währte nicht lange. Was gingen mich die Mondvölker, die von der Erde gekommenen und jene, die Überreste irgendeines alten Mondstammes, an, die wie Maulwürfe in Höhlen rings um verfallene Städte wohnen, in denen scheinbar einst ihre Vorfahren stolz regierten? Mögen sie einander bekriegen, mögen sie kämpfen, sich gegenseitig vernichten. Was kümmert es mich? Ich bin alt und weiß nicht, ob ich noch lange genug leben werde, um jene weite Reise über die luftlose Wüste zu überstehen. Soll ich die letzten Kräfte jetzt eines lächerlichen Mitleids willen vergeuden oder für eine kindische Neugierde? Und wer bürgt mir dafür, daß die Erzählung dieser beiden Degenerierten wahr ist? Vielleicht stehen dort gar keine zerfallenen Städte, sondern aufeinandergetürmte Felsen? Vielleicht sind jene angeblichen Mondvölker nur unvernünftige Tiere? Ich bin alt und habe keine Zeit mehr, mich davon zu überzeugen, denn es eilt mir, dort zu sterben am Grabe O’Tamors, im vollen Schein der Erde.
— Ich kann euch nichts mehr helfen, sagte ich endlich, ihr denkt nur an euch. Ich muß eine unaufschiebbare Fahrt antreten, und mein Weg führt nach einer anderen Richtung als der eure.
— Ich wußte, daß du so antworten würdest, flüsterte Ada, während ich schon den Fuß auf die Stufen des Wagens setzte. Aber Jan berührte noch einmal meine Knie:
— Versprich uns nur, rief er, wenn es nicht anders sein kann, versprich uns, daß du zu uns zurückkehren willst, wohin du auch zu fahren beabsichtigst! Wir werden dich erwarten, und der Gedanke an dich wird uns in den Kämpfen aufrechterhalten, die wir bestehen müssen!
Ich zögerte.
— Wenn ich die Kräfte habe und das Leben noch ausreicht, werde ich zurückkehren!
Ada wandte sich zu der kleinen Schar:
— Er wird zurückkehren, aber dorthin!
Bei diesen Worten wies sie mit der Hand auf das kleine Segment der Erde, das über dem Horizont glänzte.
Ich war schon im Wagen und hielt die Hand am Steuer, als ihre letzten Worte noch mein Ohr erreichten:
— Und hierher wird er wiederkehren erst nach Jahrhunderten, nach Jahrtausenden ... wenn die Zeit erfüllt ist ...
Auf Mare Imbrium, unter den Drei Köpfen.
Furchtbar ist der Weg, auf dem ich zu euch eile, ihr Brüder! Starres Entsetzen überkommt mich, wenn ich an die grenzenlose Einsamkeit denke, an die grauenhafte Fahrt über Zerklüftungen, Berge und endlose Wüsten. Ich fuhr durch die Meere der Dunkelheit und habe noch flammende Höllen vor mir, blendende Gluten und unbarmherzige Kälten. Und Leere ... Leere ...
Ein anderer Weg als der, den wir damals zurücklegten, hat mich dieses Mal hergeführt. Da ich die gefahrvolle Kluft in dem Quertale, in der ich ein Steckenbleiben des Wagens befürchtete, umgehen wollte, umkreiste ich vom Mare Frigoris aus den Ring des Plato von Westen her und erreichte so die große Ebene, auf der ich bis zum Fuße des Eratosthenes gelangen werde.
Wozu soll ich die Schrecknisse der bisherigen Reise erzählen? Es wartet meiner wohl noch Schlimmeres.
Ich war auch an der Stelle, wo wir einst die Stadt der Toten gesehen haben. Aber ich fand nur eine glatte Wüste dort; weder Felsen noch jene ruinenartigen Steinmassen waren zu erblicken. Haben uns damals die Sinne getäuscht, oder irrte ich mich jetzt in den Berechnungen, so daß ich von fern an dieser verfluchten Stelle vorbeigekommen bin? Oder sollte vielleicht die Karawane der Leichen indessen die Steinzelte abgebrochen haben und weitergezogen sein durch die Wüste — auf die grenzenlose Ebene des Todes? ...
Die Furcht geht mit mir, die Furcht geht vor mir her, und ich mit meiner grauenhaften letzten Einsamkeit ...
Flammend erhebt sich die Sonne, die verschiedenfarbigen Sterne leuchten am schwarzen Samthimmel — grausig, fürchterlich ... Und warum soll ich die Stadt der Toten suchen — ich werde sie sicherlich finden, früh genug — ist das nicht das Reich des Todes rings um mich her?
Noch eine letzte kurze Anstrengung ... Der letzte Berg, der letzte Gipfel ... Ich werde ihn von Westen und Süden umkreisen und so auf den Sinus Aestuum gelangen — und von dort, vom Steingrabe des greisen O’Tamor ...
Wilde, zerrissene Gipfel vor mir — und die Erde fast im Zenit, in der Fülle wie eine entfaltete Blume, und die Sonne schon unter mir.
Die Lebensmittel werden noch ausreichen und die Luft, oh, wenn doch auch die Kräfte reichen wollten, sie verlassen mich mehr und mehr ... Ich habe schon lange nicht geschlafen, weder in der Nacht noch in der Zeit der Mittagsglut. Das letztemal als ich ein wenig eingeschlummert war, nach Sonnenuntergang, irgendwo auf der Strecke des Mare Imbrium, verfolgten mich im Schlaf verschiedene Stimmen und Erscheinungen. Zuerst glaubte ich, hinter mir das Rufen der armseligen Zwerge zu hören, die mich anflehten, zu ihnen zurückzukehren, um sie vor den Mondbewohnern zu schützen, die über das Äquatormeer gekommen wären und ihnen die Hütten verbrennen und Frauen und Kinder morden ... Kaum war dieser Alp von mir gewichen, erschienen mir die Gestalten meiner verstorbenen Kameraden. Sie begrüßten mich in ihrer Mitte und forderten mich auf, ein Schatten unter Schatten, mit ihnen für ewig die Wüste zu durchirren ... Und endlich träumte mir, daß man mich von der Erde riefe — und das war die einzige Stimme, der meine ganze Seele Antwort gab.
Ich bin erwacht und gehe dieser Stimme nach, oh, meine Brüder auf der Erde! Ich weiß, daß ich nicht mehr einschlafe, bis daß es mir vergönnt sein wird, im letzten Schlaf die müden Augen zu schließen.
Das währt nicht mehr lange — nicht wahr, nicht mehr lange? ...
Am Grabe O’Tamors — in letzter Stunde.
Gott dem Höchsten sei Lob und Dank! Ich habe den Weg und jene Stelle gefunden, jene verfluchte Stelle, wo unser Fuß zum erstenmal den Boden berührt hat, und ... sie sei gesegnet, — von wo ich Kunde von mir auf die Erde senden kann.
Ich stehe an der Leiche des Greises O’Tamor und bin erstaunt, daß er jünger ist als ich, frischer, lebendiger. Jahre sind über ihn dahingegangen, ohne ihn zu berühren, wie ein leichter Wind über Granitfelsen dahinweht. Hier in dieser luftlosen Leere gibt es keine Zerstörung: der Greis O’Tamor sieht aus wie in dem Augenblick, da wir ihn verlassen haben und starrt mit weit geöffneten toten Augen unaufhörlich auf die glänzende Erde, während ich, der ich als Jüngling von diesem Grabe fortging, jetzt über ihm gebeugt stehe mit weißem Bart und weißen Haaren und mit Entsetzen in den erlöschenden Augen ... Zu lange habe ich gelebt, Greis O’Tamor! Zu lange habe ich gelebt!
Das Geschütz fand ich; es steht bereit und ist nicht zerstört; es wartete auf mich über fünfzig Jahre ... und ich schreibe die letzten Worte, ehe ich diese Papiere in die Kugel einschließe, die sie auf die Erde tragen wird.
Die Nahrungsvorräte sind schon erschöpft, die Luft wird kaum mehr für zwei oder drei Stunden ausreichen. Ich muß mich eilen.
Seit unserm EXODUS siebenhundertsieben Mondtage.
O Erde! O verlorene Erde! ...................................................................
Hier bricht das Manuskript ab, das in der vom Monde herabgefallenen Kugel gefunden wurde.
DER MITTLERE TEIL DER NÖRDLICHEN HALBKUGEL DES MONDES
Gedruckt bei M. Müller & Sohn in München
Anmerkungen zur Transkription
Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, wurden in einer anderen Schriftart markiert.
Die Namen der Mondkrater Mösting, Schröter und Sömmering sind im Original ohne Umlaut geschrieben, also Mosting, Schroter und Sommering. Dies wurde so belassen.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):