Geschichten und Betrachtungen
von
Francis Jammes
Kurt Wolff Verlag / Leipzig
Bücherei „Der jüngste Tag“, Bd. 58/59
Gedruckt bei E. Haberland, Leipzig
Berechtigte Übertragung von E. A. Rheinhardt
Der Dichter sah seine Freunde an, die Anverwandten, den Priester, den Arzt und den kleinen Hund, alle, die in seinem Zimmer versammelt waren — und starb. Auf ein Stück Papier wurde sein Name geschrieben und sein Alter: er war achtzehn Jahre alt.
Da ihn die Freunde und Anverwandten auf die Stirne küßten, fühlten sie, daß er kalt geworden war. Er aber empfand ihre Lippen nicht mehr, denn er war im Himmel. Und nun fragte er sich auch nicht mehr, wie er es auf Erden immer getan hatte, wie denn dieser Himmel eigentlich sei. Da er darinnen war, verlangte es ihn nach nichts anderem mehr. Seine Eltern, die vielleicht (wer weiß das?) vor ihm gestorben waren, kamen ihm entgegen. Sie weinten nicht, und auch er weinte nicht, denn sie hatten, alle drei, einander niemals verlassen.
Seine Mutter sagte ihm: „Geh, kühl den Wein ein! Wir werden dann gleich in der Laube des Paradiesgartens mit dem lieben Gott zum Mittagessen gehn.“
Sein Vater sagte ihm: „Geh dort unten Obst pflücken! Hier gibt es keine giftigen Früchte. Und die Bäume reichen dir gern ihre Früchte. Ihre Blätter und Zweige leiden nicht unter deinem Pflücken, denn sie sind unerschöpflich.“
Der Dichter wurde von Freude erfüllt, da er nun wieder seinen Eltern gehorchen konnte. Als er aus dem Obstgarten zurückkam und die Weinkrüge in das Wasser gestellt hatte, erblickte er seine alte Hündin, die vor ihm gestorben war. Zärtlich schweifwedelnd lief sie herbei und leckte ihm die Hände und er streichelte sie. Und mit ihr waren alle Tiere da, die ihm auf Erden die liebsten gewesen waren: ein kleiner rothaariger Kater, zwei junge graue Kater, zwei schneeweiße Kätzchen, ein Gimpel und zwei Goldfische.
Er sah den Tisch gedeckt und an ihm sitzend den lieben Gott, den Vater und die Mutter und neben ihnen ein schönes junges Mädchen, das er unten auf der Erde liebgehabt hatte, und das ihm in den Himmel gefolgt war, obwohl es nicht gestorben war. Und nun erkannte er mit einem Male, daß der Paradiesgarten der Garten seines irdischen Vaterhauses sei, in dem wie ehdem und immer die Lilien und Granatbäume blühten und der Kohl wuchs.
Der liebe Gott hatte seinen Stock und seinen Hut auf den Boden gelegt. Er war angetan wie die Armen der großen Landstraßen, die einen Wecken Brotes in ihrem Quersacke tragen und die die Obrigkeit an den Eingängen der Städte anhalten und ins Gefängnis werfen läßt, weil sie nichts haben, was für sie bürgt. Seine Haare und sein Bart waren weiß wie das große Licht des Tages und seine Augen tief und dunkel wie die Nacht.
Er sprach — und seine Stimme war sanft —: „Die Engel sollen kommen und uns bedienen, denn es ist ihr Glück, zu dienen.“ Da kamen auch schon auf allen Wegen des himmlischen Gartens die Heerscharen herangeeilt. Und das waren die treuen Dienstboten, die im irdischen Leben den Dichter und seine Familie geliebt hatten. Da kam nun der alte Johann, der ertrunken war, als er einen kleinen Jungen retten wollte, die alte Marie, die an einem Sonnenstiche gestorben war, da war der humpelnde Peter, Johanna war da und noch eine andere Johanna. Und der Dichter erhob sich von seinem Sitze, um ihnen die Ehre zu erweisen, und er sprach zu ihnen: „Setzt euch auf meinen Platz, denn ihr müßt neben Gott sitzen.“ Gott lächelte, da er ihre Antwort schon wußte, noch ehe sie geredet hatten. Sie aber sagten: „Unser Glück ist, zu dienen. Und so sind wir bei Gott. Dienst du selber nicht auch deinem Vater und deiner Mutter? Und dienen sie wiederum nicht IHM, der uns dient?“
Mit einem Male sah er nun den Tisch anwachsen und neue Gäste sich daran niederlassen. Das waren Vater und Mutter seines Vaters und seiner Mutter und die Geschlechter alle, die ihnen vorangegangen waren.
Es wurde Abend. Die Ältesten schliefen ein. Der Dichter und seine Freundin hatten einander lieb. Und Gott, den sie empfangen hatten, ging seiner Wege, gleich jenen Armen der großen Landstraßen, die einen Wecken Brotes in ihrem Quersacke tragen und die die Obrigkeit an den Eingängen der großen Städte anhalten und ins Gefängnis werfen läßt, weil sie nichts haben, das für sie bürgt.
Ein armes altes Pferd stand mit seinem Wagen träumend vor der Tür eines elenden Wirtshauses, in dem Weiber kreischten und Männer gröhlten. Es regnete, Mitternacht war nahe. Das arme dürre Pferd wartete nun hier todtraurig mit herabgesunkenem Kopfe und schwachen Beinen, daß ihm das Vergnügen der wüsten Menschen da drinnen endlich erlauben möchte, in seinen elenden stinkenden Stall zurückzukommen. Schreiende Zoten von Männern und Weibern klangen ihm in seinen halben Schlaf. Mit Mühe hatte es sich in der langen Zeit daran gewöhnt und verstand nun mit seinem armen Hirn, daß der Schrei der Dirnen nichts Bedeutsameres sei als der ewig gleiche Lärm des Rades, das sich dreht.
Diese Nacht nun träumte ihm verschwommen von einem kleinen Füllen, das es einmal gewesen war, von einer Wiese, auf der es, noch ganz rosig, seine Sprünge gemacht hatte, und von seiner Mutter, die ihm zu trinken gegeben hatte. Da stürzte das alte Pferd plötzlich tot hin auf das schmutzige Pflaster.
Das Pferd kam an das Tor des Himmels. Ein großer Weiser stand davor und wartete, daß Sankt Petrus käme und ihm öffne. Er sagte zu dem Pferde: „Was willst du denn hier? Du hast kein Recht, in den Himmel zu kommen. Ich habe das Recht, denn ich bin von einer Frau geboren worden.“ Das alte Pferd erwiderte ihm: „Meine Mutter war eine liebe Stute. Sie war alt und ausgesogen von den Blutsaugern, als sie starb. Ich komme jetzt, um den lieben Gott zu fragen, ob sie hier ist.“ Da öffnete das Tor des Himmels seine beiden Flügel den Einlaßheischenden und das Paradies der Tiere lag vor ihnen. Das alte Pferd erkannte sogleich seine Mutter, und auch diese erkannte es, und sie begrüßten einander wiehernd. Da sie nun beide auf der großen himmlischen Wiese standen, hatte das Pferd eine große Freude, denn es erblickte alle seine Gefährten aus dem einstigen Elend wieder und es sah, daß sie für immer glücklich waren. Alle waren da: die, die ausgleitend und stolpernd einst auf dem Pflaster der Städte Steine geschleppt hatten und lahmgeschlagen vor den Lastwagen zusammengebrochen waren. Die waren da, die mit verbundenen Augen zehn Stunden im Tage im Karussell die Holzpferde gedreht hatten, und die Stuten, die bei den Stierkämpfen an den jungen Mädchen vorbeigerast waren, die rosig vor Freude sahen, wie die Leidenskreaturen ihre Eingeweide durch den glühenden Sand der Arena schleiften. Und viele, viele andere noch waren da. Und alle gingen nun in Ewigkeit über das große Gefilde der göttlichen Stille.
Alle Tiere waren glücklich. Zierlich und geheimnisvoll. Selbst dem lieben Gott, der ihnen lächelnd zusah, ungehorsam, spielten die Katzen mit einem Knäuel Bindfaden, den sie mit leichter Pfote weiterrollten, voll des Gefühles geheimer Wichtigkeit, die sie nicht mitteilen wollten. Die Hündinnen, die guten Mütter, verbrachten ihre Zeit damit, ihre winzigen Jungen zu säugen. Die Fische schwammen ohne Angst vor dem Fischer dahin. Der Vogel flog, ohne den Jäger zu fürchten. Und so war alles. Und nicht einen Menschen gab es in diesem Paradiese.
Sie war ein hübsches und zartes kleines Geschöpf und arbeitete in einem Laden. Sie war nicht sehr klug, wenn man das so sagen will, aber sie hatte dunkle Augen voll Sanftheit, die einen ein bißchen traurig anschauten und sich dann gleich senkten. Viel Zärtlichkeit war in ihr und jene schlichte Alltäglichkeit, die nur die Dichter verstehn können, und die einzig das Reinsein von allem Hasse mit sich bringt.
Sie sah so einfach aus wie das bescheidene Zimmer, darin sie mit ihrer kleinen Katze, die ihr jemand geschenkt hatte, wohnte. Jeden Morgen, bevor sie zu ihrer Arbeit ging, ließ sie ein Näpfchen Milch für die Katze zurück. Diese hatte ebenso wie ihre Herrin gute, traurige Augen. Sie wärmte sich in der Sonne auf dem Fensterbrette, auf dem ein Basiliumstöckchen stand, oder sie leckte sich ihre kleinen Pfoten wie einen Pinsel glatt und kraute sich die kurzen Kopfhaare, oder sie hielt eine Maus vor sich fest.
Eines Tages waren Katze und Herrin schwanger, die eine von einem schönen Herrn, der sie verlassen hatte, die andere von einem schönen Kater, der sich nicht mehr sehen ließ. Der Unterschied war nur, daß das arme Mädchen krank und kränker wurde und schluchzend seine Zeit hinbrachte, während die Katze sich in der Sonne mit allerlei fröhlichen Drehungen und Wendungen vergnügte und ihr weißer, spaßhaft aufgetriebener Bauch schimmerte. Die Katze hatte ihre Liebeszeit nach der des Mädchens gehabt, was die Dinge so gestaltete, daß beide um den gleichen Zeitpunkt ihre Niederkunft zu erwarten hatten.
Die kleine Arbeiterin erhielt nun in diesen Tagen einen Brief von dem schönen Herrn, der sie verlassen hatte. Er sandte ihr fünfundzwanzig Franken und erzählte ihr dazu, wie herrlich großmütig er sei. Sie kaufte ein Kohlenbecken, Kohlen, für einen Sou Zündhölzer — und tötete sich.
Als sie im Himmel ankam, in den einzutreten sie erst ein junger Priester hatte hindern wollen, zitterte das hübsche zarte kleine Geschöpf zuerst in dem Gedanken, daß sie schwanger sei und Gott sie verdammen könne. Aber der liebe Gott sprach zu ihr: „Meine Freundin, ich habe dir ein hübsches Zimmer vorbereitet. Geh hin und bring darin dein Kindlein zur himmlischen Welt! Hier im Himmel geht alles gut vorüber, und du wirst nicht mehr sterben müssen. Ich liebe die Kinder — lasset sie zu mir kommen!“
Als sie das Zimmerchen betrat, das sie im Hause der himmlischen Güte erwartete, sah sie, daß ihr der liebe Gott eine Überraschung bereitet hatte.
Er hatte ihr in einem schönen Körbchen die Katze, die sie liebte, dahin bringen lassen. Und auf dem Fensterbrette stand ein Basiliumstöckchen. Sie ging zu Bett. Und sie bekam ein schönes blondes kleines Mädchen und die Katze bekam vier schöne schwarze köstliche kleine Kater.
Ein Dichter setzte sich eines Tages an seinen Tisch, um eine Geschichte zu schreiben. Aber es wollte ihm kein einziger Einfall kommen. Dennoch war ihm fröhlich zumute, denn die Sonne überglänzte den Geraniumstock auf seinem Fensterbrette und inmitten des offenen blauen Fensters flog surrend eine Fliege auf und nieder. Und da sah er mit einem Male sein Leben vor sich. Es war eine weite weiße Straße, die, ausgehend von einem dunklen Haine, darin die Wasser murmelten, bis an einen kleinen stillen Grabhügel führte, den Dornsträucher, Nesseln und Seifwurz überwucherten. In dem dunklen Wäldchen erblickte er den Schutzengel seiner Kindheit. Der hatte goldene Flügel wie eine Wespe, blondes Haar und ein Antlitz so still wie das Wasser eines Brunnens an einem Sommertage.
Der Schutzengel sprach zu dem Dichter: „Erinnerst du dich der Zeit, da du noch klein warst? Du kamst mit deinem Vater und deiner Mutter, die hier angeln wollten, hierher. Die Wiese da war heiß, viele Blumen gab es und Heuschrecken. Weißt du noch, daß die Heuschrecken aussahen wie abgebrochene Halme, die sich bewegten? Mein Freund, willst du den Ort wiedersehen?“ Der Dichter sagte: „Ja.“ Und sie gelangten zusammen an das blaue Ufer, darüber blau der Himmel und schwarz die Haselnußsträucher hingen. „Sieh deine Kindheit!“ sprach der Engel. Der Dichter sah auf das Wasser nieder, weinte und sagte: „Ich sehe nicht mehr die sanften Gesichter meiner Mutter und meines Vaters sich hier spiegeln. Hier haben sie sich immer ans Ufer gesetzt. O, sie waren still, gütig und glücklich! Ich trug eine weiße Schürze, die ich immer schmutzig machte und die mir die Mutter dann mit dem Taschentuche sauber rieb. Lieber Engel, sag mir, wo sind die Spiegelbilder ihrer sanften Gesichter? Ich sehe sie nicht mehr, ich sehe sie nicht mehr!“ In diesem Augenblicke löste sich ein schönes Sträußchen Haselnüsse von einem der Sträucher, schwamm und wurde von der Strömung davongetragen. Da sprach der Engel zu dem Dichter: „Das Spiegelbild deines Vaters und deiner Mutter ist von der Strömung des Wassers davongetragen worden wie dieses Sträußchen Früchte. Denn alles geht dahin, die Dinge und die Erscheinungen. Das Bildnis deiner Eltern ist im Wasser vergangen, und was davon übrig blieb, heißt Erinnerung. Besinne dich und bete, und du wirst die geliebten Bilder wiederfinden!“ Als in diesem Augenblicke ein azurblauer Eisvogel über das Schilf dahinflog, schrie der Dichter auf: „O Engel, sehe ich nicht in den blauen Flügeln dieses Vogels die Augen meiner Mutter wieder!“ Und das himmlische Wesen sagte: „So ist es. Doch sieh weiter!“ Und aus dem Wipfel eines Baumes, auf dem eine Turteltaube ihr Nest gebaut hatte, flatterte eine Feder leicht und weiß, sich drehend, zur Erde nieder. Und der Dichter schrie auf: „Ist dieser weiße Flaum nicht die reine Sanftheit meiner Mutter?“ Und das himmlische Wesen sagte: „So ist es!“ Ein leichter Hauch kräuselte das Wasser und rauschte durch das Laub. Und der Dichter fragte: „Höre ich nicht die milde und dunkle Stimme meines Vaters?“ Und das himmlische Wesen sagte: „So ist es!“
Sie gingen zusammen weiter auf dem Wege, der aus dem Wäldchen kam und das Ufer entlang führte. Mit einem Male wurde unter der Sonne die weite Straße blendend weiß. Sie war nun wie das Linnen auf dem heiligen Abendmahlstische. Und zur Rechten und zur Linken klangen verborgene Wasser wie heilige Glocken. Da fragte der Engel: „Kennst du diese Stelle deines Lebens?“ „Hier ist“, sagte der Dichter, „der Tag meiner ersten Kommunion. Ich denke an die Kirche, an die glücklichen Gesichter meiner Mutter und meiner Großmutter. O, ich war traurig und glücklich zugleich. Wie glühend habe ich mich hingekniet! Schauer liefen mir über die Haut des Kopfes. Abends beim Familienmahle küßten sie mich und sagten: Du warst der Schönste!“ In dieser Erinnerung verging der Dichter aufschluchzend. Und also weinend war er schön wie am Tage der heiligen Feier, und seine Tränen fielen auf seine Hände wie Weihwasser. Und sie gingen zusammen die Straße weiter.
Der Tag neigte sich schon. Die hohen Pappeln am Straßenrande bogen sich sacht. Eine von ihnen, die ferne inmitten einer Wiese stand, glich einem großen jungen Mädchen. Und der Himmel war nun so wunderbar in Blässe und Blau getönt, daß er aussah wie die Schläfe einer Jungfrau. Der Dichter gedachte der ersten Frau, die er geliebt hatte. Und der Schutzengel sprach zu ihm: „Diese Liebe war so rein und so voll der Schmerzen, daß sie mich nicht betrübt.“ Indes sie nun weiterschritten, wuchs sanfter Schatten um sie und eine Herde Lämmer zog an ihnen vorbei. Da das himmlische Wesen das Leiden des Dichters sah, hatte es ein Lächeln auf seinem Antlitze, schwer und süß wie das Lächeln einer kranken Mutter. Und seine goldenen Flügel verwehten den schauernden Hauch von Abend.
Bald entzündeten sich die Sterne hoch oben im Schweigen. Da glich der Himmel dem Totenbette eines Vaters, umgeben von Kerzen und stummer Klage. Und die Nacht war wie eine große Witwe, die auf der Erde kniet. „Erkennst du das?“ fragte der Engel. Der Dichter redete nicht und kniete nieder.
Endlich gelangten sie dahin, wo die Straße bei dem kleinen Grabhügel, den Dornsträucher, Nesseln und Seifwurz überwucherten, zu Ende ging. Und der Engel sprach zu dem Dichter: „Ich wollte dir deinen Weg zeigen: hier ist der Ort, an dem du ruhen wirst, hier, nicht ferne den Wassern. Sie werden dir Tag um Tag das Bild deiner Erinnerungen bringen, das azurne Blau des Eisvogels, das den Augen deiner Mutter gleicht, den weißen Flaum der Turteltaube, der sanft ist wie sie, das Rauschen des Laubes, das wie die milde und dunkle Stimme deines Vaters ist, das Leuchten der Straße, weiß wie deine erste Kommunion, und die pappelschlanke Gestalt der ersten Frau, die du geliebt hast. Und endlich werden dir die Wasser die große leuchtende Nacht bringen.“
Manchmal haftet mein Gedanke an dem Vergilben der alten Seekarten und ich höre das Brausen der Monsune im Fieber meines Hirns. Aber wie? Muß ich denn, um für dieses Leben etwas übrig zu haben, auch jenes heraufholen, das ich vielleicht vor meiner Geburt zwischen zweien schwarzen Sonnen geführt habe? Die ungewisse Landschaft rollte Sterne dahin in das zerrissene Stöhnen eines Ozeans ...
Jemand kratzte an meiner Tür. Ich rief: „Herein!“ Es war eine junge Negerin in einem blauen Überwurfe, der bis zur Hälfte der Schenkel reichte. Sie setzte sich auf den Boden und streckte ihre gefalteten Hände gegen mich; und ich sah, daß auf ihren nackten Armen Peitschenstriemen waren. „Wer hat dir das getan?“ fragte ich sie. Sie antwortete nicht und zitterte an allen Gliedern. Sie verstand mich nicht und fragte sich vielleicht, ob auch ich sie mißhandeln wolle.
Ganz sachte schob ich ihr Kleid zur Seite und sah, daß auch ihr Rücken wund war. Ich wusch sie. Aber sie flüchtete, entsetzt von dieser Güte, unter den Tisch meiner Hütte. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich versuchte, sie zu rufen. Aber ihre Blicke, wie die einer geschlagenen Hündin, flohen mich. Ich hatte da ein paar Kartoffeln und ein wenig Butter. Ich zerdrückte sie mit einem Holzlöffel in einem Napfe, machte eine Brühe davon und stellte sie in einiger Entfernung von der Hingekauerten auf den Boden hin. Dann zündete ich meine Pfeife an. Aber wie groß war mein Erstaunen, als sie plötzlich auf allen Vieren zu einer Ecke der Stube kroch, wo ich ein paar Blumen liegen gelassen hatte. Sie richtete sich jäh auf und griff mit einer lebhaften Bewegung danach.
Seit jenem Abenteuer mochten etwa hundertfünfzig Jahre vergangen sein, als ich ihr von neuem begegnete. Ich wenigstens war davon überzeugt, daß sie es war. Es war im peruanischen Speisehause in Bordeaux. Sie wischte hier an dem Glase eines mürrischen Studenten, der gefunden hatte, es sei nicht sauber genug.
Meine Mutter hat ein altes Glas bekommen, ein Glas, wie das gewesen sein muß, aus dem Ronsard dem Jean Brinon einen Trunk geboten hat. Wie mag Ronsard gewesen sein? Sicherlich hat er ein Gewand aus Hermelin getragen. Und während die großen Regen der alten Zeiten die Haselnußsträucher am Loir peitschten, saß er mit einem dicken alten Folianten in der Kaminecke seines Schlosses. Es muß ein Sonntagnachmittag um drei Uhr gewesen sein. Ein Frosch quakte in seiner Lache, in die die Lanzen des Regens splitterndes Licht spritzten. Marie oder Genoveva oder eine andere betrat das Gemach und setzte sich zu ihm. Und er legte, ohne das Buch zu schließen, sanft seine freie Hand auf das Knie der Geliebten. Und er lächelte. Er dachte an Odysseus, der über die grauen Meere irrt, an Helena, an das Urteil des Paris, an Troja und an die Bogenschützen, die nackt und helmtragend an der Mauerbrüstung knien und den Bogen auf antikische Art spannen.
Wenn die Wasser der Pyrenäenbäche meinen Namen in die Nachwelt tragen wie die Wasser der Vendôme den des Ronsard, wenn je ein Jüngling, dem das Herz schwer und beklommen ist vom Dufte der Nelken, die ein Schulmädel an der Brust trägt, sich fragen sollte, wie ich gewesen sein mag, möge er sich antworten: „An diesem regengrauen Allerheiligentage hatte Francis Jammes sein Herz gar nicht schwer und beklommen vom Dufte der Nelken, die ein Schulmädchen an der Brust trägt. (Übrigens gibt es ja im Herbste keine Nelken!) Er rauchte vielmehr seine Pfeife und pflanzte Sauerklee in einen Blumentopf, um den Schlaf der Pflanzen zu studieren.“ An der einen Wand seines Zimmers hing ein Epinaler Bilderbogen, der das „einzige wahrhaftige Bild des ewigen Juden“ darstellte. Er zeigte den ewigen Juden mit einem wunderlichen Hute, einem Mantel, in blauen Pantoffeln, und einem roten Gewande, wie ihm gerade Brabanter Bürger einen Krug schäumenden Bieres reichen. Das Wirtshaus darauf ist wirklich poetisch; Reben ranken daran empor und große Rosen beugen sich zum Erdboden nieder — — wie die Armen, die Bettellieder singen und sich zur Erde beugen. Und das alles ist im Lichte des Abendrotes gegen Ende des friedlichen Sommers dargestellt.
An diesem Tage nun warf Francis Jammes einen kurzen Blick auf seinen Ruhm. Dieser ganze Ruhm lag auf seinem Tische und bestand in dem Umschlag eines Briefes, den ihm ein Mönch aus Deutschland geschrieben hatte, aus dem Briefe eines ihm unbekannten Holländers, der Walch hieß, und dem Briefe eines jungen Mädchens. Francis Jammes lächelte. Dann klopfte er an seinem Finger die Asche aus der Pfeife — — — und war entschlossen, den Toten Ehre zu erweisen.
Ich setze diese Verse hierher; sie sind aus einem Gedichte, das ich in Holland geschrieben habe:
Robinson Crusoe hat (so glaub ich), da er heimfuhr
Von seinem grünen schattigen Eiland, das
Voll frischer Kokosnüsse war, auch Amsterdam berührt.
Wie hat es ihn gepackt, als er die ungeheuren
Tore mit ihren wuchtigen Klopfern schimmern sah!
Stand er voll Neugier hier vor den Gewölben,
In denen Schreiber über Rechnungsbüchern saßen?
Mußte er weinen, da sein lieber Papagei
Ihm einfiel und der plumpe Sonnenschirm,
Der Schutz war auf dem milden traurigen Eiland?
„Gepriesen seist du, ewiger Gott!“ so rief er,
Als er die tulpenübermalten Truhen sah.
Allein sein Herz, betrübt in Heimkehrfreude,
Sehnte sich nach dem Lama, das allein im Weinberg
Des Eilandes zurückgeblieben, das vielleicht gestorben war.
Was aus den Worten und Bildern dieses Buches seit der Kindheit am lebendigsten vor mir steht, das ist nicht die Schönheit der Weinreben, die so tiefen Schatten gaben, noch ist es der Fisch, den er mit einer Schnur und einem Haken daran gefangen hat, nicht die einsame Kokospalme in der blauen Glut des Morgens ist es, noch auch sind es die rosigen und purpurnen Flecken der Meeresküste bei Ebbe, voll des Seegetiers, nicht das gebratene Zicklein, das er mit Salz aus einer Felsmulde gesalzen hat, ist es, was mich so ganz ergriffen hat; auch die Eier der schläfrigen Schildkröten sind es nicht. Noch ist es die Fieberkrankheit, die der Trunk Wassers, darein er Rum getan hatte, allmählich gelindert hat, weder der Papagei ist es, noch die Freundschaft mit dem Hund und der Katze, nicht der verzweifelte Glanz der Sonne, die er auf den Kompaß gemalt hatte, und nicht die Quelle süßen Wassers ist es, es sind auch nicht die Speisen, die er sich so kunstlos bereitet hat (obwohl ich mich gerade ihrer vielleicht am häufigsten erinnert habe!), all das hat mich nicht so erschüttert wie Robinson Crusoes Alter.
Immer wieder muß ich an die Zeit seines Lebens denken, da er wieder in der Menge verschwunden war und dann, zweiundsiebzig Jahre alt geworden, einsamer ist, als er es je zuvor war. In einem Gewande aus blumendurchwirktem Sammet saß er in seinem düsteren kleinen Gemache in London, das eine unendliche Güte gleich dem matten Licht in Sturmwettern erfüllte, und wußte nichts mehr zu erwarten als den Frieden des Todes.
Ich grüße dich, mein Bruder Crusoe! Auch mich haben die Orkane des Lebens auf eine wüste Insel geworfen; und nun, wohin immer ich schaue, gewahre ich nichts mehr als das betäubende und eintönige Wasser. Zuweilen trägt es mir treibende Trümmer zu, die ich dann einen Augenblick lang schweigend betrachte. Bald aber ergreift mich mein Träumen wieder, das nun seinen Frieden gemacht hat mit dem großen Dröhnen des unendlichen Meeres, und manchmal schon findet sich ein Lächeln in mein Gesicht. Wie der Zyklon still wird!
O mögen in meinem Alter Gottes Palmen mein Herz wie die friedliche Weinlaube deines Eilandes überschatten!
Wenn ich an meiner Dichtung mit derselben Sorgfalt gearbeitet habe wie ein ordentlicher Schuster an seinem Stücke Leder, dann betrachte ich den schönen Baum im Garten des Hauses, in dem Alfred de Vigny gewohnt hat, als er in Orthez Soldat war. Der Handlungsreisende, der seinen Musterkoffer in die Apotheke oder den Buchladen trägt, weiß so wenig, daß hier der Dichter Alfred de Vigny gewohnt hat, wie das Rind, das zur Weide trottet, oder der Distelfink, der an seinen Futterhalmen pickt.
Diese Unwissenheit der Städte in allem, was ihre großen Männer angeht, hat ihren guten Grund. Sie bewahren von ihnen nur das in ihrer Erinnerung, was im Einklange mit ihrem eigenen Wesen stand. Wenn nur Cervantes, der groß ist wie Homer, einmal wiederkehren wollte in die Francosgasse zu Madrid, in der er gestorben ist, und den Schatten seiner dereinstigen Hauswirtin fragte: „Habt Ihr einen Dichter des Namens Miguel Cervantes de Saavedra gekannt, der den Don Quichote geschrieben hat?“ Er bekäme zweifellos zur Antwort: „Wenn Ihr einen Einarmigen meint, den hab’ ich gekannt, aber einen Dichter nicht.“
Fordert nicht Gott selber durch diese Unwissenheit, daß man die Toten ruhen lasse in Frieden und ihnen nicht allerorten marmorne Denksteine errichte? Stolzer ist kein Denkmal der Toten als das, das sich tagtäglich rings um uns erhebt. Ein jeder Pfirsichbaum, der in der Blüte steht oder die Last seiner Früchte trägt, ist Denkmal eines Dichters so wie jeder Sperling und jede Ameise. Daß im Garten des Dichters des Eloah der Tulpenbaum golden aufglänzt, daß dort bei den Akazien, wo der Brunnen fließt, die Ziegen den Schatten der Mauer entlang gehen, ist das rechte Grabmal.
Ich weiß bestimmt, daß die, die (wie Valéry Larbaud, André Gide und Guillaumin) sich um das Andenken eines Dichters wie Charles Louis Philippe mühen, nur den edelsten Gefühlen gehorchen. Aber sie sollten doch nicht die Büste, die Bourdelle dem Dichter gemeißelt hat, dem Denkmale gegenüberstehen lassen, das Gott selbst ihm in Cérilly errichtet hat: der Werkstattbude (die wie der Himmel nur eine Türe hat), darin ein Handwerker Holzschuhe macht. Ich weiß wohl, daß das Erz widerstandskräftig ist, wie die zähe Unbeirrbarkeit des Dichters, dessen Beruf es ist (in diesem Sinne gleicht er dem des Fliegers), niederzustürzen aus höchster Höhe und sich, wenn er den Sturz überlebt, noch höher zu erheben. Aber das Erz, das unser Gedenken weiterleben sieht, wird von der Zeit versehrt. Dreihundert Jahre werden hingehn; diese Bergketten werden nicht mehr sein und für ihr einstiges Dasein wird nur mehr die menschliche Logik Zeugnis ablegen, denn sie werden abgetragen und in die Winde verweht sein — und wie sie wird auch die Büste aus Erz dem Erdboden gleich geworden sein. Dableiben aber wird der Geruch des Buchen- oder Nußholzes, eine alte Frau wird da sein, eine kleine Katze, die sich in der Sonne wärmt, eine abgetretene Türschwelle und der Azur des Himmels, und all das Bleibende wird Zeugnis ablegen für Charles Louis Philippe wie dieser Tulpenbaum hier für Alfred de Vigny. Und der Wanderer künftiger Jahrhunderte, der die feierlichen Rhythmen des Einen oder das schlichte Wort des Anderen im Herzen trägt, wird, wenn sein Weg Orthez oder Cérilly berührt, auch nicht einmal mehr daran denken, daß es je eine Büste des Einen oder Anderen habe geben können. Aber mit einem Male werden die beiden Dichter ihm erscheinen: Vigny in einem goldenen Baume, wie ein Römer im Sturme sprechend, Philippe in einer kleinen Werkstatt, die nach Suppe riecht, und deren Tür kreischt, wenn sie sich öffnet.
Tief im Blicke der Tiere leuchtet ein Licht sanfter Traurigkeit, das mich mit solcher Liebe erfüllt, daß mein Herz sich als ein Hospiz auftut allem Leiden der Kreatur.
Das elende Pferd, das im Nachtregen mit bis zur Erde herabgesunkenem Kopfe vor einem Kaffeehause schläft, der Todeskampf der von einem Wagen zerfleischten Katze, der verwundete Sperling, der in einem Mauerloche Zuflucht sucht — all diese Leidenden haben für immer in meinem Herzen ihre Stätte. Verböte das nicht die Achtung für den Menschen, ich kniete nieder vor solcher Geduld in all den Qualen, denn eine Erscheinung zeigt mir, daß ein Glorienschein über dem Haupte einer jeden dieser Leidenskreaturen schwebt, ein wirklicher Glorienschein, groß wie das All, den Gott über sie ausgegossen hat.
Gestern sah ich auf dem Jahrmarkte zu, wie die hölzernen Tiere im Karussell sich drehten. Unter ihnen gab es auch einen Esel. Als ich ihn erblickte, habe ich weinen müssen, weil er mich an seine lebendigen Brüder, die gemartert werden, erinnerte. Und ich mußte beten: „Kleiner Esel, du bist mein Bruder! Sie nennen dich dumm, weil du nicht imstande bist, Böses zu tun. Du gehst mit so kleinen Schritten, und du siehst aus, als ob du im Gehen dächtest: „Schaut mich doch an, ich kann ja nicht schneller gehen ... Meine Dienste brauchen die Armen, weil sie mir nicht viel zu essen geben müssen.“ Mit dem Dornstocke wirst du geschlagen, kleiner Esel! Du beeilst dich ein bißchen, aber nicht viel, du kannst ja nicht schneller .. Und manchmal stürzest du hin. Dann schlagen sie auf dich los und zerren so fest an dem Leitseile, daß deine Lefzen sich aufheben und deine armseligen gelben Zähne zeigen.“
Auf demselben Jahrmarkte hörte ich einen schreienden Dudelsack. Mein Freund fragte mich: „Erinnert er dich nicht an afrikanische Musik?“ „Ja,“ antwortete ich ihm, „in Tuggurt näseln die Dudelsäcke so. Das muß ein Araber sein, der hier bläst.“ „Gehen wir doch hinein in die Bude,“ sagte mein Freund, „es sind Dromedare zu sehen.“
Zusammengepreßt wie Sardinen in der Schachtel drehten sich hier ein Dutzend kleiner Kamele in einer Art Grube. Sie, die ich wie Wellen dahinziehen gesehen habe inmitten der Sahara, da es um sie nichts anderes gab als Gott und den Tod, mußte ich nun hier finden, o Elend meines Herzens! Sie drehten sich, drehten sich immerzu in dem würgenden Raume, und der Jammer, der von ihnen ausging, war wie ein Erbrechen über die Menschen. Sie gingen, gingen immerzu, stolz wie arme Schwäne und in einer Glorie der Verzweiflung, mit grotesken Negerlappen bedeckt, verhöhnt von den Weibern, die hier tanzten, und hoben ihren armen Wurmhals empor, Gott und den wunderbaren Blättern einer Oase des Wahnsinns entgegen.
O Erniedrigung der Geschöpfe Gottes! In der Nähe der Kamele gab es Kaninchen in Käfigen, daneben, als Lotteriegewinste zur Schau gestellt, schwammen Goldfische in Glasballons mit so engem Halse, daß mein Freund mich fragte: „Wie hat man sie nur da hineinbringen können?“ „Indem man sie ein bißchen zusammengedrückt hat,“ antwortete ich ihm. Anderswo wieder wurden lebende Hühner, gleichfalls Lotteriegewinste, vom Kreisen einer Drehscheibe mitgeschleppt. In ihrer Mitte lag, von grauenhafter Angst gepackt, ein kleines Milchschweinchen auf dem Bauche. Schwindel befiel die Hühner und Hähne, sie schrien und hackten in ihrem Wahnsinn aufeinander los. Nun machte mich mein Begleiter darauf aufmerksam, daß tote und gerupfte Hühner inmitten ihrer lebendigen Schwestern aufgehängt waren.
Mein Herz wallt heiß auf in diesen Erinnerungen und unendliches Mitleid ergreift mich.
O Dichter, nimm die gequälten Tiere in dein Herz auf, laß sie darin wieder erwarmen und leben in ewigem Glücke! Geh hin und künde das schlichte Wort, das die Unwissenden die Güte lehrt!
Ich trete in ein großes Viereck sich bewegenden Schattens ein. Ein Mann sitzt hier und klopft beim Licht einer bunten Kerze Nägel in eine Schuhsohle. Zwei Kinder strecken die Hände gegen den Herd aus. Eine Amsel schläft in dem Rohrkäfige. Das Wasser brodelt im irdenen rauchschwarzen Topfe, aus dem ein Geruch von ranziger Suppe steigt und sich mit dem nach Gerberlohe und Leder mengt. Ein Hund sitzt vor dem Herde und starrt in die Glut.
Diese Wesen und Dinge tragen in all ihrer Armseligkeit eine solche Sanftmut in sich, daß ich mich gar nicht frage, ob ihr Dasein einen anderen Sinn habe als eben diese Sanftmut, noch, ob ich mir ihre Dürftigkeit mit irgendeiner Schönheit schmücken solle.
Hier wacht der Gott der Armen, der schlichte Gott, an den ich glaube. Er, der aus einem Körnlein eine Ähre werden läßt, der das Wasser vom Lande scheidet, das Land von der Luft, die Luft vom Feuer und das Feuer von der Nacht; der die Leiber beseelt, der das Laub macht, Blatt um Blatt, wie wir es nie werden machen können, worein wir aber unser Vertrauen setzen wie in die Arbeit eines vorzüglichen Arbeiters.
Ohne Sehnsucht nach Menschenwissen denke ich nach; und so kann es geschehen, daß Gott sich mir offenbart. In der Hütte des Schuhflickers öffnen sich mir die Augen so einfach wie dem Hunde, der da sitzt. Und nun sehe ich, sehe in Wahrheit, was wenige sehen werden: das Bewußtsein der Dinge, zum Beispiel die Opferwilligkeit dieses rauchenden Lichtes, ohne das der Hammer des Arbeiters kein Brot schaffen könnte.
Fast während all unserer Zeit nahen wir uns leichtfertig den Dingen, die doch gleich uns leiden und glücklich sind. Wenn ich eine kranke Ähre unter den gesunden erblicke, wenn ich die fahlen Flecken an ihren Körnern gesehen habe, dann schaue ich sehr klar den Schmerz dieses Dinges. Und in mir selber fühle ich das Leiden der Pflanzenzellen wieder. Ich verstehe, wie schwer sie es haben, auf dem Flecke, der ihnen zugewiesen ist, zu wachsen, ohne einander zu erdrücken, und mich erfaßt heiß der Wunsch, mein Taschentuch zu zerreißen und daraus einen Verband für die kranke Ähre zu machen. Dann denke ich freilich, daß das kein rechtes Heilmittel für eine bloße Kornähre sei, und daß eine solche Behandlung in den Augen der Menschen, denen ich schon sonderbar genug vorkomme mit meinen Fürsorgen für einen Vogel oder eine Grille, eine arge Narretei sein müßte. Doch von dem Leiden dieser Körner habe ich Gewißheit, denn ich fühle es mit.
Eine schöne Rose wiederum flößt mir ihre Lebensfreude ein. Ich fühle, wie glücklich sie an ihrem Stiele ist. Wenn jemand einfach die Worte: „Es ist schade, sie zu brechen!“ ausspricht, bekennt er damit, daß er das Glück der Blume mitempfindet, und daß er es ihr bewahren will.
Ich erinnere mich noch ganz genau, wie sich mir zum ersten Male das Leiden eines Dinges geoffenbart hat. Ich war drei Jahre alt. In meinem Heimatsdorfe fiel ein kleiner Junge beim Spielen auf einen Glasscherben und starb an seiner Wunde. Wenige Tage später kam ich in das Haus, in dem das Kind gewohnt hatte. Seine Mutter weinte in der Küche. Auf dem Kamine lag ein armseliges kleines Spielzeug. Ich sehe deutlich vor mir, daß es ein kleines Pferd aus Zinn oder Blei, vor ein Blechfäßchen auf Rädern gespannt, war. Die Mutter sagte mir: „Dieser Wagen hat meinem armen kleinen Louis gehört, der tot ist. Soll ich dir ihn schenken?“ Da ging eine Flut von Zärtlichkeit über mein Herz. Ich fühlte, daß dieses Ding seinen Freund, seinen Herrn nicht mehr hatte, und daß es daran litt. Ich nahm das Spielzeug und empfand solches Mitleid mit ihm, daß ich schluchzte, während ich es nach Hause trug. Ich weiß es noch ganz bestimmt, daß ich weder ein Gefühl für den Tod des kleinen Jungen noch für die Verzweiflung der Mutter hatte, wozu ich wohl noch zu jung war. Ich hatte nur Mitleid mit dem bleiernen Tiere, das mir dort auf dem Kamin ganz verzweifelt erschien und für immer ausgeschlossen aus dem Leben, da es den verloren hatte, den es liebte. Ich erinnere mich an all das, als ob es gestern geschehen wäre, und kann als sicher behaupten, daß der Wunsch, das Spielzeug zu besitzen, um mich damit zu vergnügen, mir gar nicht gekommen ist. Das ist gewiß wahr, denn ich habe, als ich weinend heimkam, das Pferd mit dem kleinen Fasse meiner Mutter gegeben, die übrigens das Ganze vergessen hat.
Die Gewißheit von der Beseeltheit der Dinge lebt in den Kindern, den Tieren und den schlichten Herzen. Ich habe erlebt, daß Kinder ein rohes Stück Holz oder einen Stein so sehr mit allen Eigenschaften lebender Wesen begabt glaubten, daß sie ihnen eine Handvoll Gras brachten, und dann, nachdem ich das Gras heimlich weggenommen hatte, nicht daran zweifelten, daß das Holz oder der Stein das Gras aufgegessen hätten. Die Tiere machen keinen Unterschied in dem, was ihnen geschieht. Ich habe Katzen gesehen, die lange Zeit hindurch etwas, das ihnen zu heiß gewesen war, zerkratzten. Das spricht dafür, daß die Tiere eine Vorstellung vom Kampf gegen die Dinge haben und für sie die Möglichkeit sehen, nachzugeben — und vielleicht auch zu sterben.
Ich meine, daß nur die Erziehung durch eine falsche Eitelkeit es mit sich bringt, daß der Mensch sich solch eines Glaubens beraubt.
Für mich unterscheidet sich die Handlung des Kindes, das einem Stück Holze zu essen gibt, gar nicht von gewissen Opferbräuchen der Urreligionen. Und schließlich bedeutet der Glaube, daß Bäume, die an dem Tage, an dem Kinder geboren wurden, gepflanzt worden sind, siechen und vertrocknen, wenn die Kinder kränkeln und sterben, nichts anderes, als daß man Bäumen ein tieferes Verbundensein mit uns als mit dem Leben zuschreibt.
Ich habe leidende Dinge gekannt, und ich weiß von solchen, die an ihrem Leiden gestorben sind. Das traurige Kleiderwerk, das von unseren Abgeschiedenen zurückbleibt, verfällt rasch. Oftmals hat es die Krankheiten, an denen die litten, die es getragen haben; denn es hat seine Sympathien. Oft habe ich Gegenstände in ihrem Zugrundegehen betrachtet. Ihre Auflösung gleicht völlig der unseren. Auch sie haben ihren Knochenfraß, ihre Geschwülste und ihre Wahnsinne. Ein wurmzerfressenes Möbelstück, ein Gewehr mit gebrochenem Verschlusse, eine Lade, die sich wirft, eine Geige, die ihre Stimme verloren hat, sehe ich an Krankheiten leiden, vor denen ich erschüttert stehe.
Warum sollen wir glauben, daß nur wir Dinge lieb haben können und den Dingen die Liebe zu uns absprechen? Wer bürgt denn dafür, daß die Dinge der Liebe nicht fähig sind, wer zeugt dafür, daß sie kein Bewußtsein haben?
Hatte der Bildhauer nicht recht, der sich mit einem Klumpen Ton in den Händen begraben ließ, von jenem Ton, der seinen Träumen so gehorsam gewesen war. Dieser Ton hatte ihm doch immer die Aufopferung eines guten Dieners, wie wir sie am meisten bewundern, bewiesen: sich schweigend darzubringen, ohne etwas dafür zu erwarten, hingegeben gläubig. Voll Glanz und Erhabenheit ist ein solches Bild, das dem Menschen also dient, wie der Mensch Gott dient. Jener Künstler wußte nicht mehr als sein Ton davon, welchem Geheiße er untertan war. Von dem Augenblicke an, da sie beide die gleiche Erleuchtung empfangen hatten, glaube ich auf gleiche Weise an ihr Bewußtsein und liebe sie beide mit derselben Liebe.
Unendlich ist die Traurigkeit in den Dingen, die keinem Gebrauche mehr dienen. Auf dem Dachboden dieses Hauses, dessen Bewohner ich nicht gekannt habe, liegt das Kleid eines kleinen Mädchens und eine Puppe, der Verzweiflung verfallen. Vor der jahrealten Einsamkeit der Dinge hier fühle ich die Gewißheit, daß der eisenbeschlagene Stock dort, der einst fest in die Erde der grünen Hügel gebissen hat, ebenso glücklich wäre, wenn er noch einmal die kühle Frische von Moos empfinden dürfte wie der Sommerhut, der nun trüb erleuchtet vom armen Lichte einer Dachluke daliegt, wenn er noch einmal einen Sommerhimmel sehen dürfte.
Die Dinge aber, die wir liebevoll bewahren, erhalten uns ihre Dankbarkeit und sind immer bereit, uns ihre Seele darzubringen, auf daß sie sich an uns verjünge. Sie sind wie die Rosen in sandigem Grunde, die unendlich erblühen, wenn nur ein wenig Wasser sie der Azure ihrer verlorenen Brunnen gemahnt.
In meinem bescheidenen Wohnzimmer habe ich einen Kindersessel stehen. Auf ihm saß mein Vater und spielte, als er in seinem siebenten Jahre die Überfahrt von Guadeloupe nach Frankreich machte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er auf ihm im Schiffssalon saß und die Bilder ansah, die ihm der Kapitän geliehen hatte. Das Holz von jenen Inseln muß sehr fest sein, denn es hat den Spielen eines kleinen Jungen standgehalten. Dieses kleine Möbelstück, das in meinem Wohnzimmer einen Hafen gefunden hat, schlief hier lange fast vergessen. In langen Jahren hat es seine Seele nicht geoffenbart, denn das Kind, dem es gedient hatte, gab es nun nicht mehr, und andere Kinder kamen nicht, um sich wie Vögel daraufzusetzen. Doch neuerdings ist das Haus fröhlich geworden; meine kleine Nichte ist da, die eben sieben Jahre alt wurde. Sie hat sich auf meinem Arbeitstische eines alten botanischen Atlas bemächtigt. Und da ich in das Wohnzimmer komme, finde ich sie im Lampenlichte auf dem kleinen Sessel sitzen und, wie dereinst ihr seliger Großvater, die schönen sanften Bilder anschauen. Da sagte ich mir, daß einzig dieses kleine Mädchen den Sessel habe neu beleben können, und daß seine dienensfrohe Seele sachte das arglose Kind dazu gelockt habe. Zwischen dem Kinde und dem Dinge war ein geheimnisvolles Spiel von Anziehungskräften am Werke: das Mädchen hätte es nicht vermocht, nicht zu dem Sessel zu gehen, der einzig dadurch hatte wieder zu Leben kommen können.
Die Dinge sind sanft. Aus eigenem Antriebe tun sie niemals Böses. Sie sind die Geschwister der Geister. Sie nehmen uns in sich auf, und wir bringen ihnen unsere Gedanken, die Sehnsucht nach ihnen haben wie die Düfte nach den Blumen, zu denen sie gehören.
Der Gefangene, den keine Menschenseele trösten kommt, muß seine Zärtlichkeit zu seiner Pritsche und zu seinem irdenen Kruge tragen. Da ihm von seinesgleichen alles versagt wird, schenkt ihm sein armes Lager den Schlaf und stillt ihm sein Krug den Durst. Und selbst die nackten Mauern, die ihn doch von der ganzen Welt trennen, werden ihm lieb, weil sie zwischen ihm und seinen Peinigern stehen.
Das gezüchtigte Kind liebt den Polster, auf dem es weint. Da an einem solchen Abende alles ihm gegrollt und wehgetan hat, tröstet es die schweigende Seele des Federkissens wie ein Freund, der mit seinem Schweigen dem Freunde Ruhe schenken möchte.
Doch nicht allein ihr Stummsein ist es, das uns ihre Zuneigung empfinden läßt. Sie klingen in so verschwiegenen Akkorden, mögen sie nun in dem Forste klagen, den René mit seiner gewitternden Seele erfüllt, oder sie hinsingen über den See, an dem ein anderer Dichter in Betrachtungen versunken ist. Es gibt Stunden und Zeiten, in denen manche dieser Akkorde ein stärkeres Leben haben, in denen die tausend Stimmen der Dinge lauter zu hören sind. Zwei oder dreimal in meinem Leben habe ich den Ruf dieser Geheimniswelt vernommen.
Gegen Ende August um Mitternacht nach einem sehr heißen Tage geht über die hingeknieten Dörfer ein ungewisses Raunen. Es klingt anders als das der Bäche und Quellen oder das des Windes, anders ist es als das Geräusch, mit dem die Tiere das Gras zermalmen oder das ihrer Ketten, an denen sie über den Krippen zerren, anders ist es als die Laute der unruhigen Wachhunde, der Vögel oder der Schiffchen an den Webstühlen. So mild sind diese Klänge dem Ohre, wie dem Auge der Schimmer der Morgenröte ist. Nun regt sich eine ungeheure und sanfte Welt; die Grashalme lehnen sich bis zum Morgen aneinander, unhörbar rauscht der Tau, und mit jedem Sekundenschlage ändert das große Keimen völlig das Antlitz der Gefilde. Nur die Seele kann diese Seelen erfassen, den Blütenstaub in der Glückseligkeit der Blumenkronen ahnen und die Rufe und das Schweigen vernehmen, darin das göttliche Unbekannte sich vollzieht. Es ist so, als ob man sich mit einem Male in einem völlig fremden Lande befände und hier von der sehnsüchtigen Schwermut der Sprache zart ergriffen würde, ohne doch genau zu verstehen, was sie ausdrückt.
Aber ich kann doch tiefer in den Sinn des Raunens der Dinge eindringen als in den einer Menschensprache, die mir unbekannt ist. Ich fühle, daß ich verstehe, und daß es dazu gar keiner großen Anstrengung bedarf. Vielleicht ist mein Dichten manchmal so weit, den Willen dieser verborgenen Seelen zu übersetzen und einige ihrer Lebensäußerungen auf eine faßliche Art aufzuzeichnen. Ich verstehe es schon, diesem unbestimmten Raunen innerlich Antwort zu geben, wie ich es verstehe, mit Schweigen verständlich die Fragen einer Freundin zu beantworten.
Aber diese Sprache der Dinge ist nicht völlig und einzig mit dem Ohre vernehmbar. Sie bedient sich auch anderer Zeichen, die blaß über unsere Seele hinhuschen und sich allzu schwach noch einprägen, die aber vielleicht deutlicher wiederkommen werden, wenn wir bereiter sind, Gott in uns aufzunehmen.
Es gibt Dinge, die mich in den wehevollsten Umständen meines Lebens getröstet haben. Etliche unter ihnen zogen in solchen Zeiten auf sonderbare Art meine Blicke auf sich. Und ich, der ich mich nie vor den Menschen beugen konnte, habe mich demütig diesen Dingen hingegeben. Da brach ein Strahlen aus ihnen — doch nicht nur aus den Erinnerungen, die mich mit ihnen verknüpfen — und durchdrang mich wie Schauer der Freundschaft.
Ich fühlte sie und fühle sie rings um mich leben, leben in meinem verborgenen Reiche, und ich bin ihnen verantwortlich wie einem älteren Bruder. Im Augenblicke, da ich dies schreibe, empfinde ich, daß voll Liebe und Vertrauen die Seelen dieser göttlichen Schwestern auf mir ruhn. Der Sessel da, der Schrank, die Feder, sie sind mit mir. Ich glaube an sie über alle Systeme hinaus, über alles Verstehen und jede Deutung hinaus glaube ich an sie. Sie geben mir eine Überzeugung, wie kein Genie sie mir geben könnte. Jedes System wird eitel sein und alle Deutung Irrtum in dem Augenblicke, in dem ich in meiner Seele die Gewißheit dieser Seelen leben fühle.
Als ich bei dem Schuhflicker eintrat, habe ich mich, mit den Kindern und dem Hunde beim Herde sitzend, unvermittelt aufgenommen gefühlt und habe meine Seele den tausend unbekannten Stimmen der Dinge aufgetan. In dieser andächtigen Besinnung wurde aus dem Niederfall einer halbverwelkten Ranke, aus dem Knirschen des Schürhakens, aus dem Schlage des Hammers und dem Flackern der Kerze, wurde aus dem schwarzen geblähten Flecke, als den ich die eingeschlafene Amsel sah, und aus dem Auf- und Niedergehen des Deckels auf dem Kochtopfe eine geheiligte Sprache, die meinem Lauschen verständlicher war als die Rede der meisten Menschen. Diese Laute und Farben waren nichts anderes als die Gebärde der Gegenstände, deren sie sich als Ausdrucksweise bedienen wie wir der Stimme und der Blicke. Brüderlich fühlte ich mich diesen demütigen Dingen verbunden. Und ich erkannte, wie armselig es sei, die Reiche der Natur voneinander zu scheiden, da es doch nur das eine Reich Gottes gibt.
Wie darf man behaupten, daß die Dinge uns niemals Zeichen ihrer Zuneigung geben? Rostet nicht das Werkzeug, dessen sich die Hand des Arbeiters nicht mehr bedient, ebenso wie der Mann, der das Werkzeug feiern läßt?
Ich habe einen Schmied gekannt; er war fröhlich in den Zeiten seiner Kraft, und der blaue Himmel leuchtete an strahlenden Mittagen in seine schwarze Schmiede. Lustig gab der Amboß seinem Hammer Antwort. Der Hammer, den der Meister von Herzen schwang, war das Herz des Amboß. Wenn die Nacht hereinbrach, erhellte er die Schmiede mit seinem bloßen Schimmer und dem Blicke seiner Augen, die unter dem ledernen Blasbalge als Kohlenglut glommen. Eine erhabene Liebe verband die Seele dieses Mannes mit der Seele seiner Dinge. Wenn er sich an den heiligen Tagen zur Andacht sammelte, betete die Schmiede, die er schon am Abende vorher gesäubert hatte, schweigend mit ihm. Dieser Schmied war mein Freund. Oft stand ich an der schwarzen Schwelle und rief ihm eine Frage zu — und die ganze Schmiede gab mir Antwort. Die Funken lachten über die Kohlen hin, und metallen klingende Silben wurden zu einer tiefen und geheimnisvollen Sprache, die mich ergriff wie Worte von Pflicht. Hier widerfuhr mir fast das Gleiche wie bei dem armen Flickschuster.
Eines Tages wurde der Schmied krank. Sein Atem ging kurz; wenn er jetzt an der Kette des Blasbalges, der vordem so stark gewesen war, zog, merkte ich deutlich, daß dieser keuchte und allmählich von der Krankheit seines Herrn befallen wurde. Sprungweise und ungleich ging nun das Herz des Mannes, und auch der Hammer, den er über dem Amboße schwang, fiel verstört auf das Eisen nieder. Und im gleichen Maße, wie das Licht in den Menschenaugen abnahm, leuchtete auch das Feuer in der Esse weniger und weniger. Abends flackerte sie dann noch weiter, und an den Wänden und der Decke erblich lange das Zucken ihres Vergehens.
Eines Tages fühlte der Schmied bei der Arbeit seine Hände und Füße kalt werden, und am Abend starb er.
Ich betrat die Schmiede; sie war kalt wie ein Körper ohne Leben. Ein bißchen Glut nur fand ich im Kamine als eine armselige Totenwache neben dem Sterbebette glimmen, an dem zwei Frauen beteten.
Drei Monate nachher kam ich wieder in die verlassene Werkstätte, um an der Schätzung ihrer geringen Einrichtung teilzunehmen. Alles war feucht und schwarz wie in einem Grabe. Das Leder des Blasbalges war angefault und löchrig geworden und löste sich, da jemand an der Kette ziehen wollte, von seinem Holzrahmen los.
Die einfachen Leute, die mit mir die Schätzung vornahmen, erklärten: „Der Amboß und der Hammer haben ausgedient. Sie haben mit ihrem Meister zu leben aufgehört.“
Ich stand erschüttert. Denn ich hörte den geheimen Sinn dieser Worte.
Strahlende Schwestern der Bergströme, denen ich am Ufer des Alpensees begegnet bin: Steine, Geliebte der Iris und des kalten Azurs, ihr, auf die sich das Salz niederschlägt, das die Lämmer auflecken; ihr Spiegel voll Helle, schillernd wie der Hals der Taube, ihr, die ihr mehr Augen habt als der Pfau! Im großen Feuer seid ihr Kristalle geworden, und eure schneeigen Adern sind ewig, ihr Gefährten der Urzeitfluten; seit Anbeginn hat die Meerflut euch gebadet und gewiegt bis zu der Stunde, in der die Taube aus der Arche voll Liebe aufgurrte, da sie euch erblickte.
Bald ist das leuchtende Korn eures Fleisches blaugeädert weiß wie eine Kinderfaust, bald schimmert es kupfergolden wie die Hüfte einer schönen schwerblütigen Frau; zuweilen blinkt der Glimmer darin silbrig wie eine Wange in der Sonne, dann wieder ist es bräunlich wie die Haut der Frauen, der das goldene Rot der Mandarine und das stumpfe Blond des Tabaks die Farbe gab.
Ihre Steine, aus dem Herzen des Bergstroms gebrochen, gegeneinandergeschmettert, dahingerissen durch den Seidelbast der Schluchten, gepeitscht von den Rauhfrostwettern, von den Lawinen begraben, von der Sonne wieder ans Licht geholt, vom Fuße der Gemse losgebrochen: ihr seid kühl und schön — und ihr seid, über all das hinaus, rein.
Ich kenne eure Schwestern in Indien wenig; es gibt solche unter ihnen, deren Klarheit mit dem Wasser, das aus dem Marmor quillt, wettstreitet, andere, die mich an das leuchtende Grün der Wiesen in den Talen meiner Heimat denken machen, welche wieder, die wie erstarrte Tropfen Blutes sind, und endlich die, die Kristall gewordenes Sonnenlicht sind.
Aber ich ziehe euch diesen vor, obwohl ihr nicht so kostbar seid, ihr, die ihr zuweilen die Balken der Strohdächer tragen müßt und so das Sprühen der Sterne spiegeln könnt, und ihr anderen, auf die sich der Schäferhund hinstreckt und traurig nun über seine Herde wacht.
Empfanget tief im Äther, wo ihr auf den Gipfeln ruht, weiter die reinliche Nahrung, die eurem friedlichen Reiche zugemessen ist. Das Licht möge eure unbekannten Zellen durchdringen, und die leichten wirbelnden Flocken sollen sie tränken. Das Schwirren der Winde mache sie erklingen, und endlich mögen sie jene vollkommene Nahrung empfangen, von der einst Maria Magdalena in einer Felshöhle gestillt worden ist. Rings um euch werden eure Freunde blühen, die reinsten Blütenkronen dieses Gestirns: aber auch sie werden nicht so keusch sein wie ihr, denn sie duften nach Schnee.
Arme graue Schwestern in den Rinnsalen, denen ich in den Ebenen begegnet bin, traurige Steine ohne Glanz, ihr, die ihr den Regen sammelt, auf daß der Sperling zu trinken habe; ihr, über die die Füße der Eselin stolpern, ihr armseligen Wächter, die ihr die elenden Gärten umfriedet, die ihr die hohlgetretenen Schwellen seid und die Brunnengeländer, glattgerieben von der Eimerkette, ihr Bettler, blank wie das Eisen der Ackergeräte! Ihr werdet heiß gemacht im Armenherde, auf daß ihr die Füße der Großeltern erwärmet, ihr werdet ausgehöhlt für die niedrigsten Verrichtungen, und ihr müßt in eurer Armseligkeit Tisch sein für den Hund und das Schwein. Durchbohrt werdet ihr und müßt, zu Mühlsteinen geworden, das knirschende Korn mahlen. O ihr, die ihr fortgeholt werdet, und ihr, die ihr liegen bleibt: o ihr, auf denen der Irrgegangene schlafen wird — o ihr, unter denen ich schlafen werde!
Ihr habt euch nicht wie eure Gefährten in den großen Gebirgen eure Freiheit wahren können, aber ich achte euch darob nicht geringer, ihr meine Freunde. Ihr seid schön wie alle Dinge, die im Schatten sind.
„Ich bin eine Schnepfe. Um die Zeit, in der der herbstliche Ozean fürchterlich wird und die Schiffe im gelben und schwarzen Himmel tanzen, wohne ich hier, denn ich mische mich nicht ein in die verschiedenen großen Angelegenheiten der Natur, ich Schnepfe, die ich nicht weiß, daß tausend und tausend Kreolenjungfrauen jetzt verblüht sind wie feurige Rosen im zerstörenden Hauche eines Vulkans. Hier wohne ich, zwischen den Binsen und einer Lache, in der Gleichförmigkeit von Tag um Tag. Mein Tal zieht von Norden nach Süden, es ist morastig, waldverwachsen und traurig. Aber es stimmt recht hübsch überein mit meinem Kleide, das wie ein totes Blatt gefärbt ist, und man könnte mich schon für eine Dame nehmen, wenn ich da mit meinem Stocke, der mein Schnabel ist, spazierengehe ... Man weiß von mir auch, daß ich die schönsten Augen auf der Welt habe, und daß von ihnen die Sage geht, sie weinten, bevor ich sterbe.“
„Kommen Sie und sehen sie mich in meinem Salon an! Wissen Sie denn, wie der Salon einer Schnepfe aussieht? Die Jäger mögen Ihnen davon erzählt haben. Haben Sie Ihnen aber auch gesagt, was ein Schnepfenspiegel ist? Das ist nämlich etwas, das ein bißchen schwierig zu erklären ist. Meine Spiegel sind aus blankem Silber und haben einen dunklen Punkt in der Mitte .... sie sind das, was ich hinter mir fallen lasse. Mein Parfüm ist das frischgeschlagene Holz. Lieben Sie den Geruch von Heu? O, in der Natur sind alle Gerüche vereinigt. Würziger aber riecht doch nichts als der Saft der Erle, den der Holzhauer abzapft. Das ist ein Geruch, der schön ist, während doch Gerüche für gewöhnlich nur gut sind. Aber dieser Duft ist schön wie das Blut, das in der stillen Stunde aufsteigt in die Wangen des Heidekrautes, wenn die Sonne müde ihre Haare auflöst und sich lang über den Hügel hinstreckt. Wenn ich meine Füße auf das setzte, was von einem Erlenstamme am Erdboden übrigbleibt, kommt es mir vor, als ob ich auf duftenden Purpur trete und ich die Königin von Saba bin.“
„Die Wohnung, die ich habe, ist gottlob recht brauchbar. Ein paar Verbesserungen täten ihr freilich schon not: der Wind hat nämlich die Dachschindel aus Blättern, die mir der Dachdecker Frühling darauf gelegt hat, schon wieder zerblasen. Der Herr Herbst hat sie durch Klematisfrüchte ersetzt — aber die saugen mit ihrem Flaum den Regen aus der Luft.“
„Ich habe nur ein Erdgeschoß. Der Flur ist ein Wassergraben, dunkel genug, daß ich darin ordentlich sehe. Man weiß ja, daß meine Augen das grelle Licht schlecht vertragen. Mir ist auch ein einfacher Stern lieber als die beste Kerze. Der Herr hat mir gesagt: ‚Geh, kleine Schnepfe. Ich schenke dir alle Sterne des Himmels, daß sie dir leuchten.‘“
„Mein Park ist unermeßlich, er schließt die ganze Welt in sich. Aber ich gehe doch erst in die Berge, mir kleine Eisstückchen zu holen, wenn die große Hitze kommt. Denn man muß es verstehen, seine Wünsche einzuschränken — sonst muß man die Geschichte vom Weinberge des Naboth wieder von frischem beginnen. Ich wohne also hier, sage ich Ihnen, zwischen diesen Binsen und der Lache, und ich komme auch kaum fort von meinem runden moosigen Platze da und von der Quelle, deren Wasser ein Hirt in einen Dachziegel geleitet hat, von dem jetzt, durch einen Stein festgehalten, ein Kastanienblatt herunterhängt. Man darf aber nicht vielleicht glauben, daß es da weiter unten nicht eine herrliche Landschaft gibt: die Ufer und Inseln des Wildbaches, wo inmitten von rosa Nebeln der Herr Reiher auftaucht und wieder verschwindet, je nachdem der Nebel sich hebt oder sich ausbreitet. Und in einiger Entfernung von ihm unter dem silbernen Himmel schnellen über das silberne Wasser die Silberfische, auf die er lauert, empor.“
„Ich wünsche mir, glücklich und verborgen wie ein Veilchen zu leben. Eine Schnecke in der Schale genügt für mein erstes Frühstück, währenddessen ich entzückt bin von all dem Nebel, der von jedem Zweige fällt wie ein Hagelschauer aus lauter Regenbogen. Was brauche ich auch Luxus und Eitelkeit? Wenn ich doch lieber das große Buch der Natur lesen könnte, das Buch, von dem ich selber ein bescheidenes Exemplar bin. Sehen nicht wirklich meine Rückenfedern aus wie der Ledereinband eines ganz alten Folianten — und die Federn auf meiner Brust wie seine bunten Ränder? Ja, ich lese in mir selber, in dem wirklichen Buche, das ich bin, und ich muß nicht meine Zuflucht zu all den Mitteln nehmen, deren sich die unwissenden Dichter bedienen. Was ich weiß, weiß ich ordentlich, weil ich es mir nicht nur vorstelle, sondern es mit dem Schnabel und den Füßen angreifen kann, und weil es doch die Frucht meiner Erfahrungen und meiner Weisheit ist.“
„Was ich weiß? Ich weiß, daß ich gerade vor mich hinmarschiere, die Füße auf der Erde und den Kopf im Himmel. Ich weiß, daß es ganz gewöhnliche Sachen gibt, über die man sich doch sehr wundern muß. Und ich weiß, daß die Welt zusammengesetzt ist aus lauter Schnepfen, die gar keine Schnepfen sind. Ich weiß, daß ich leide, wenn man mir Blei in meine Flügel schießt. Ich weiß, daß ich glücklich bin, wenn ich im Mondschein durch das sanfte Gras der Waldränder irre, mit gezählten Schritten, den Kopf nach rechts und links drehend und bereit, mit der Spitze des Schnabels die Würmer aufzupicken. O, von was für wunderbaren Nächten habe ich nicht schon die Quellen singen gehört, wenn ich mir in ihnen säuberlich die Füße wasche! O das fließende Blau, das die Schatten des Gebüsches liebkost, bis sie zittern und den ersten Himmelschlüsseln weichen!“
„Ich weiß, daß ‚es muß sein‘ ein großes Wort ist, und daß danach mein ganzes armes Tierleben abgewandelt wird. Es muß sein, daß ich, wenn es April wird, diese wunderbaren Täler verlasse und es meinem Fluge anheimgebe, dahin zu fliegen, wohin er fühlt, daß nun geflogen werden muß. Das habe ich verstehen gelernt, daß so einfach dahinzureisen besser ist, als sich abzuquälen mit Landkarten, Kompaß und Sextant, mit alldem, wodurch die Menschen Schiffbruch leiden. Es muß sein, sage ich, ist ein großes Wort! Darum habe ich Schnepfe mir auch nicht mein Dasein durch Weltkarten, Luftballons, Dampfmaschinen und Theorien verwirrt, denn es mußte sein, daß ich Flügel habe. Und so ist meine ganze Wissenschaft ganz einfach die, daß ich mich auf meinen Schnabel, meine einzige Bussole, verlassen kann, um inmitten der Schneefelder (die die Orangenblütenhaine des Gebirges sind) die süßeste Braut wiederzufinden.“
So spricht die kleine Schnepfe. Und ich beneide die kleine Schnepfe um ihren guten Sinn und um ihr Glück. Kleine Schnepfe, es gibt noch anderes Blei als das, das dir durch die Flügel schlägt: das Blei, das ich im Herzen trage. Und andere Stechpalmen gibt es als die, die sich mit Moos umgeben, so daß du verlockt bist, darauf auszuruhen: die Stechpalmen, die meine Schläfen kränzen und die mein einziger Lorbeer sind.
O, warum hat Gott mir nicht wie dir Flügel gegeben? O, warum kann ich, wenn der Duft des Flieders den liebesbleichen Frühling in seinem Gewande schwanken und hinsinken macht, und wenn der Seidelbast wieder blüht, nicht am Rande der durchstürmten Schlucht die erwarten, von der ich getrennt bin? O kleine Schnepfe, warum bin ich nicht lieber in deinem kleinen Salon aus welken Blättern geblieben, um im langen Regnen dem Seufzen der Winterwinde zuzuhören, anstatt in diesem Zimmer zu sitzen und meinen Betrachtungen nachzuhängen, indes der Herd braust wie der Ozean und mir im Uhrenschlagen geschieht, als ob ich eine reine und traurige Stimme wiederhörte.
Kleine Schnepfe, möge das wilde Wetter mit dir gnädig verfahren! Die Windstöße sollen deine Spuren verwischen, so daß der Hund sie morgen nicht spüren kann, sich von seinem Herrn prügeln lassen muß und endlich schlammbeschmiert, verdutzt, den Schweif eingeklemmt, zurückkommt, ohne dich gefunden zu haben!
Nicht das Familienspeisezimmer ist es, über das ich jetzt sprechen will. Zwar war das wie ein Spiegel im Schatten und roch nach Obst, nach Wein und dem Wachse des Fußbodens, und wenn man eintrat, glitt man aus und fiel hin. In diesem Zimmer wurde ein jeder zu Eis so wie in Gegenwart meiner hugenottischen Großtante, die in ihre Bibel den Spruch des Psalmisten geschrieben hatte: „Wahrlich, Schein ist es, darinnen der Mensch wandelt. Wahrlich, eitel ist, was er treibt.“
Dieser Raum hatte einst bessere Tage gesehen. Aber um die Zeit, von der ich jetzt spreche, wohnte nur mehr ein schmerzliches Schweigen darin, das wie das Schweigen der Abwesenden, die voll Traurigkeit den Kopf schüttelten, anmutete. Man hat mir hier eine Ecke gezeigt, in der mein Vater nach seiner Ankunft aus Guadeloupe (er war damals sieben Jahre alt) allerlei Grimassen versucht hat, um seine Eltern zu erheitern, und vielleicht auch, um sich selber zu erheitern. Armes verstörtes Kind, das noch traumtrunken war von den grünen Kokosnüssen, von zärtlich rosigen Blumen und dem klingenden Schimmern der Kolibris.
Das Speisezimmer von heute liegt gegen Osten, auf den Garten hinaus, der sich längs der Straße hinzieht. Es ist ohne allen Luxus eingerichtet und ein rechtes Durchschnittszimmer, aber die Götter besuchen mich darin, und ein paarmal haben Göttinnen, müde der Welt, hier mein grobes Brot gegessen. Man kann dieses Speisezimmer gar nicht besser als mit den Versen des Mong-Kao-Jen beschreiben:
... Ein alter Freund reicht mir ein Huhn und Reis dazu.
... Und unser Horizont sind blaue Berge, deren Gipfel
Aus blauem Glanz des Himmels ausgeschnitten sind.
Im offenen Saal ist uns der Tisch gedeckt.
Nun überschauen wir den Garten meines Gastfreunds,
Nun reichen wir einander die gefüllten Becher.
Wir reden sacht von Hanf und Maulbeerbaum.
Wir warten auf den Herbst: dann werden hier im Garten
Die Chrysanthemen blühn.
Hier in diesem Raume geschieht es mir zweimal im Tage, daß ich mir der Dinge bewußt werde, sei es dadurch, daß aus dem Brote die Seele des fahlen Korns, das unter dem Hundsstern des Juli knirscht, mich durchdringt, sei es, daß aus dem Weine mich die purpurne Landschaft der Weinlese überkommt und die Fröhlichkeit der Mädchen, die singend die dunklen Trauben schnitten. Und ein jedes Gericht wird mir geheiligt um alles dessen willen, was es an Kraft dichterischer Ahnung in mein Blut schickt. So muß ich auch nicht den demütigen Küchengarten mißachten, in dem die duftende Goldrübe wuchs, noch das herbe Gras der erlengesäumten Wiese, auf der das Rind gelebt hat, dessen Fleisch ich esse, nicht die von welken Blättern bedeckte Hütte, verkrochen im innersten Gebirge, in der dieser Käse entstanden ist, noch endlich den Obstgarten, wo in der betäubenden Glut der Sommerferien ein Schulmädchen es über sich gebracht hat, inmitten von bläulichen und granatroten Himbeersträuchern (deren Früchte ich genieße) ihren brennenden Mund lange auf dem Munde eines Jungen zu vergessen.
Ich kenne die Einsamkeiten, in denen das Wasser, das ich trinke, entspringt, und die traurigen Forste, die sie umgeben. Dort bin ich dem fröhlichen alten Manne begegnet, dessen Hühner ich in einem Gedichte besungen habe, und jenem anderen Greise, der den Wahnsinn seiner Tochter beweinte.
Ich muß mir aber auch zu Bewußtsein bringen, daß die Schüsseln, die alle diese Gerichte bergen, irgendwoher stammen, und zwar ebenso aus der Erde wie ihr Inhalt, und daß die Früchte da in der Schale aus Steingut mir in einem Gefäße aus dem Urstoffe selber dargebracht werden. Und ich muß mich endlich auch daran erinnern, daß das Glas der Wasserflasche, in der das Wasser eben schwankend ins Gleichgewicht strebt, aus dem Wasser selber hervorgegangen ist, aus dem natriumreichen sandigen Meere, das ihm seine Durchsichtigkeit gegeben hat.
Speisezimmer, du göttliche Vorratskammer, in dir gibt es die Feige mit den Bißspuren der Amsel und die Kirsche, die der Sperling angepickt hat. Der Hering liegt da, der die Korallen und die Schwämme des Meeres gesehen hat, und die Wachtel, die durch die Nacht der Minze geschluchzt hat; in dir ist der Herbsthonig aufbewahrt, den die Bienen in der schon bräunlichen Sonne eingeheimst, und der Akazienhonig, den sie im fahlen Lichte einer Tränenallee gesammelt haben. Das Öl, das die Lampen der Provence speist, ist da, das Salz, das perlmuttern schimmert, und der Pfeffer, den die Kauffahrer auf ihren Galeeren geheimnisvoll lächelnd gebracht haben.
Mein Speisezimmer, ich habe dich oft aus der Beute meiner Botanisiergänge geschmückt und deine Luft mit dem Geruche der Feldblumen erfüllt.
Und dann warst du eines Tages mit Sträußen seltener Blumen geschmückt, mit denen eine Frau deine Bescheidenheit geehrt hat. Aber du hast es verstanden, du selbst zu bleiben, nicht allzu geschmeichelt noch auch abweisend. Als die erlesenen Blumen auf deinem Tische standen, hast du sie durch deine Schlichtheit so sehr entzückt, daß sie schön erschienen wie ihre ländlichen Schwestern.
Du bist es, mein Speisezimmer, das, nahe der Straße, meine Heimkehr vom Walde erwartet, wenn die Stunde gekommen ist, in der mein Hund in Nacht verschwimmt und sich das Paffen meiner Pfeife mit dem Nebel, der meinen Bart feuchtet, mischt. Da horchst du wie eine brave Dienerin auf den Tritt meiner benagelten Schuhe. Ich erkenne dein brennendes Herz, du Hüterin ohne Makel: die Lampe, die zu Ende flackt wie diese meine Träumerei. Da ich an dich denke, schwingt meine Seele sich auf, und ich möchte Hosianna! rufen und mich vor deine Knie hinwerfen, auf deine Schwelle, du Bewahrerin der Dinge, die mir die Vorsehung bescheert hat. Mit gekreuzten Armen verharrest du über der Straße, auf der die Bettler dahinziehen, wenn die Stunde gekommen ist, in der das Aveläuten in verzweiflungsvoller Liebe zittert und gleich Weihrauchfässern die elendsten Hütten aus der Finsternis ihren Rauch emporschicken zu den Füßen Gottes.
Das anbetungswürdige alte Fräulein starb in einem kleinen Schlößchen, das einst Jean Jaques Rousseau gefallen hat. Ein Wildbach schauerte an den Grundmauern des Türmchens vorbei, das überblüht war von gelben Rosen, und der nahe Teich einer verlassenen Mühle machte die Gegend mit ihren schattigen Baumgruppen vollends poetisch. Reiche Äcker dehnten sich da und dort. Einst, als der Tag zu Ende ging, sah ich an der Ecke eines Feldes auf dem Marksteine einen alten Mann sitzen. Er stützte sich auf einen Stock mit einem Schnabelgriffe. Von seinem Platze aus überwachte er gemach die Erntearbeit. Ich wünsche mir sehnlich dieses Alter herbei, in dem die stillen Blicke nur mehr nahe trauliche Dinge vor sich haben. Vielleicht wird das Gewesene dann zur Gegenwart? Dieser friedliche Greis, der mich eines anderen Greises gedenken ließ, jener edlen Gestalt aus „Paul und Virginie“, rief sich vielleicht, da er die schönen Schnitterinnen betrachtete, die Zeit wieder empor, in der noch die Bücher seiner Jugend über ihn Gewalt gehabt hatten ... Vielleicht erschien ihm Ruth, mit Kornblumen und Ähren bekränzt, oder die myrthenduftende Chloe, wie sie ihren Ziegen Salz reicht.
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Lange, bevor ich die Heiterkeit des Tages, der hier über dem Patriarchen zu Ende ging, erlebte, war das alte Fräulein gestorben. Sie hatte hier ihre ganze Jugendzeit verbracht, und sie wohnte auch später fast immer hier. Denn ihr oblag, nachdem sie Waise geworden war, die ganze Sorge um ihre wahnsinnige Schwester. Nur ein paarmal war sie fortgewesen: als sie einige Jahre hintereinander eine Zeit in Paris verbrachte. Wenn ich an sie denke, wie ich sie als Achtzigjährige gekannt habe, mit ihren schneeweißen Scheiteln, die stets mit Parmaveilchen geschmückt waren, der großen Nase, dem spitzen aufwärtsgebogenen Kinn und den feurigen Augen, wird es mir nicht allzu schwer, mir vorzustellen, wie sie als Achtzehnjährige gewesen sein mag: Da sehe ich sie mit einem biegsamen großen, mit Feldblumen geschmückten Hute, in einem Mousselinkleide, das sich in ihren Knicksen bauscht, und mit einem Gürtel aus einer kolibrifarbenen Schleife.
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In diesem Schlosse nun habe ich in den letzten Tagen langsam und voll Zärtlichkeit das Album durchgeblättert, darein das Fräulein Sophie F. von B. seine Herzensdinge geschrieben hat, und ein unsagbares Heimweh nach der Vergangenheit überkam mich.
Während sie in Paris lebte, das muß um 1840 gewesen sein, nahm sie Botanikunterricht im Jardin des Plantes. O, von wie viel Liebreiz umgeben sie mir jetzt erscheint! Wer weiß, wie schönheitsentflammt die Seele dieses jungen Provinzmädchens war, das hier nun die strahlenden Farben und den Duftatem irgendwelcher neuer Blütendolden, die vielleicht Laurent de Jussien eben erst von wilden Inseln gebracht hatte, genoß! Ich glaube dieses Mädchen der alten Zeit vor mir zu sehen, wie es sich in einer Allee des Botanischen Gartens auf die Spitze seiner fliederfarbigen Schuhe erhebt, um das Innere einer zottigen Blumenglocke zu erforschen.
Diesem Album, in das sie sorgsam wunderbare Sträußchen gezeichnet und gemalt hat, hat sie ihr Herz anvertraut. Ich nenne ihre Malereien wunderbar, aber ich will damit gewiß nicht sagen, daß sie etwa das Genie besessen habe, in der Wiedergabe der Blumenkronen auch das Geheimnis der Säfte mitzugestalten; ich will vielmehr damit ausdrücken, daß diese Rokokomalereien, fern von jeder künstlerischen Absicht, die Spuren einer hohen und reinen Seele tragen, und daß kein noch so berühmtes Kunstwerk mich mehr ergreifen wird als sie.
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Man müßte sich einzeln jeden der Tage wieder emporrufen, in deren Kelch diese zarte und zage Seele ein wenig von ihrer Ewigkeit geträufelt hat. Was man auch von ihrem Verlobten redet und geredet haben mag, ich glaube, daß sie nur aus Opferwilligkeit für ihre früher erwähnte Schwester von ihm nichts wissen wollte. Das hat sie den glühenden Blumen, die sie malte, gebeichtet. Das sagen die schwellenden Rosen, die emportaumeln wollen aus ihren Kelchen wie die Herzen der erwachenden Mädchen in den Verzückungen der Maiabende. Von ihren Rosen hat eine besonders und schmerzlich zu mir gesprochen. Die hat sie sicherlich an einem leuchtenden Morgen gemalt, da sie Gott um Gnade gebeten hatte. Kein Wort vermöchte die leidenschaftliche Reinheit dieser Blumenblätter wiederzugeben, aus denen langsam eine Tauträne rollt. O, wie habe ich diese Träne verstanden!
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Du junges Mädchen des hingegangenen Jahrhunderts, hättest du, als dir in deinem immer schattigen Salon diese Träne niederfiel, gedacht, daß eines Tages ich ihrer voll Verehrung gedenken würde? Ich habe sie aufgefangen, und nichts mehr wird ihr köstliches Wasser trüben. Dieser Edelstein voll des Glanzes aus deinem Herzen — O mögest du in Frieden ruhen an der Brust des Herrn! — ist von würdigen und andächtigen Händen in dem chinesischen Schränkchen des großen Salons aufbewahrt worden, und nur zuweilen komme ich und bitte die Freunde, die ihn verwahren, ihn mir zu zeigen. O du, vielleicht hast du an demselben Weh gelitten, davon auch ich ergriffen bin, an der sinnlosen und schweigenden Leidenschaft, die einzig deine Zeitgenossen in ihrer müden Anmut und scheuen Reinheit verstehen konnten!
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Was wissen wir, wie viele Kalvarienberge es gibt, und wie oft schon der Kreuzweg beschritten worden ist! Wenn uns unter Fingerhüten, Scheeren, Stückchen von Stickerei und Seidenfleckchen, zwischen kleinen Spiegeln, Haarlocken und Kinderzähnen, unter künstlichen Blumen, Fläschchen und längst aus der Mode gekommenen Schmucksachen eine alte „Nachfolge Christi“ in die Hände kommt, erscheint es uns, als ob der Duft des Abgeschlossenen, der an den Seiten haftet, nur eine unendliche Sanftheit in sich trüge. Und doch, wie mögen Hände, die jung waren, und die es nicht mehr waren, vor Warten und vor Weh gezittert haben, während sie dieses Buch hielten!
In der Morgenröte ihres Geschickes mag das junge Mädchen diese Seiten wohl noch in der geheimen Hoffnung aufgeschlagen haben, daß an den Bitternissen doch nicht alle Menschen teilhaben müßten, und daß vielleicht gerade ihr das Schicksal sie ersparen werde. Nur in einem entzückenden Gefühle von Pietät streckte sie damals im Erwachen die schon kräftigen Arme nach der „Nachfolge“ aus. Erst später, in der Mitte ihres Lebens kam sie wieder zu diesem Buche zurück. Die früchteschweren Apfelbäume waren nicht mehr fröhlich wie ehedem ... eine Freudigkeit (ich weiß nicht, was für eine) hatte sie verlassen. Und jenen bunten Schmetterling, der sich vor ihr im heißen Glanze der Tage in den großen Ferien gewiegt hat, den hat sie später nie mehr über den Wiesen erblickt.
Das Alter kam. Und siehe, nun in der Neige ihres Seins hörte sie kaum mehr auf, in dem Buche zu lesen. Es war sieben Uhr abends, draußen schneite es. Die Lampe, die aufzuckend der Stille den Takt schlug, erleuchtete den großen Spiegel, in dem sich das alte Fräulein als das getrübte Bildnis der menschlichen Wandlungen erblickte. Nun sah sie nichts mehr von dem honiggoldenen Haar, das sie sich einst spielend um die zarte Faust gewunden hatte ... Ihre Scheitel waren weiß und streng wie die Binden, in die man die Toten hüllt. Und ihre Wangen, auf deren Erblühen einst viel helles Lächeln wie Apriltage über die Gärten gestrahlt hatte, waren voll der tiefen Furchen, die allgemach der bittere Niederfall der Tränen eingräbt.
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Möge Gottes Frieden sich auf diese Leben der alten Zeit herniedersenken! O, sie haben für mich immer noch die Jugend der Rose, auf der ein Tropfen in solcher Reinheit schimmert, daß man zweifelt, ob er ein Tautropfen oder die Träne eines Kindes, das sein erstes Weh verstört hat, sei. Man tut gut daran, die Toten zu verehren und täglich ihrer zu gedenken! Kein Regenguß rauscht nieder auf die Kronen des Waldes, kein Regenbogen wölbt sich über das wolkendüstere Dorf, keiner Hirtenflöte Klang geht im Herbstwinde verloren, ohne mir Gegenstand für meine Betrachtungen zu werden. Hier, so denke ich, in dieser kleinen Höhle mit ihrem Teppiche aus Farnkraut und Veilchen, mögen sie zuweilen Zuflucht vor den Regenschauern gesucht haben. Hier muß es auch gewesen sein, wo der letzte Guß des Gewitters die Schleife mit den Irismustern davongetragen hat. Und hier, so sage ich mir weiter, in diesem entlegensten Winkel des Parkes, mag das Mädchen vielleicht von ihm geträumt haben, der ihr dort in der Grotte als der Bezauberndste erschienen war. Und wenn sie dann ihre Schwermut fragte, hat ihr nur die Glocke eines verirrten Lammes geantwortet.
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O wie wird jede Kleinigkeit zu einer Welt, wenn man in ihr nicht nur ein poetisches Spiel sucht, sondern die Spuren Gottes in den geringsten Geschehnissen des Alltags. Dächte nicht ein jeder, es sei keine Sache von Bedeutung, um welche Stunde und an welchem Tage ein Kind im Walde Erdbeeren pflückt? Und ist es nicht doch voll Bedeutung, daß an einem Morgen, von dem ich nichts weiß, ein Mädchen in vergangener Zeit unwissentlich einen Tropfen Tau auf einer Rose schimmern ließ und so den Anlaß gab zu dieser meiner Träumerei, die nun zu Ende geht?
Was kann das sein, das mich so bedrückt? Aus welcher Ferne kommt das Schwere, das sich auf mein Herz legt und es bitter macht, wie die Frucht war, die ich eines Morgens im Sande der Sahara gefunden habe?
Der Rosenkäfer ist der Rose untertan, die Rose dem Mädchen, das Mädchen der Liebe und die Liebe wiederum den großen Kreisen der Kräfte, das das Auf und Nieder meines Atmens in Einklang mit dem Meere bringt.
Dem Monde ist die Macht gegeben, über die großen Wasser zu herrschen und sie stöhnen oder singen zu machen; welches Gestirn aber in der Tiefe der himmlischen Abgründe vermag es, gerade meine Gedanken stöhnen oder singen zu machen?
Sicher ist eins: wenn meine Seele in ihrer Verstörtheit übereinstimmt mit einem Sterne, den ich gar nicht kenne, dann muß dieser Stern seit Jahren den schrecklichsten Ausbrüchen, Erschütterungen und Erdbeben preisgegeben sein.
Es macht mir Freude, mir auszumalen, daß das ganze Wesen eines Menschen dem Charakter des Planeten entspräche, dessen tyrannischem Geheiße er untertan ist: dann untersteht Edgar Poe sicherlich irgendeiner Welt, die an den äußersten Grenzen eines düsteren und schneereichen Himmels kreist, und auf der die grünen Tale voll blühender Lilien, Hyazinthen und Anemonen nur in den Fernen jenseits wattiger Nebelbänke erscheinen. Und Lamartine muß einem Gestirne gehorcht haben, das kein Ozean ausgehöhlt hat, darauf es nur einen himmlischen See gibt, über den die sanfte Brise mit Erzengelfingern hinstreicht und an die zitternden lyrageschwungenen Flügel der Schwäne rührt.
Der Stern, mit dem dieses junge Mädchen verwandt ist, lacht und weint in tausend Wasserfällen. Murmelt das Wasser dieser Wasserfälle gerade jetzt mehr als sonst? Denn das Mädchen hört nicht auf zu plappern, solange die Schneeschmelze da oben die Wildbäche des Sterns so überreichlich füllt. Säumt der Schaum der Wildbäche den Azur, unter dem er schauert, jetzt mit köstlicheren Spitzen? Das Mädchen zieht ein Kleid von zartem Blau an, das es mit quellenden Spitzen, die durchsichtiger sind als die Wasser der Felsen oder böhmische Gläser, ziert. Sind die Quellen jetzt, austrocknend in der glühenden Sonne, verstummt? Das Mädchen wird schweigsam. Und wenn da oben die Wasser zu schluchzen beginnen, entströmen dem Mädchen die Tränen, die man hier auf Erden sinnlose Tränen nennt. Das Mädchen errötet plötzlich: das kommt daher, daß auf seinem Sterne eine Pfingstrose aufblüht. Es erbleicht — denn dort oben ist eine Lilie aufgegangen.
Sind die Bezeichnungen: ein Mensch hat einen finsteren oder klaren oder verbitterten Charakter nicht dem Horoskope dessen, auf den man sie anwendet, entnommen? Was wohl die Astrologen damit ausdrücken wollten, daß sie die alte Selenographie mit solchen dichterischen Bezeichnungen schmückten, wie da sind: das Meer der Krisen, das Meer der Feuchtigkeit, das Meer der Tränen, der Golf der Verzweiflung? Ich vermute, daß sie jene menschlichen Veränderungen, die sie dann mit Recht die lunatischen nannten, von den Umwälzungen auf unserem Satelliten ableiteten. Das Meer der Krisen beginnt unruhig zu werden — und alle Gichtkranken, Asthmatiker, Hypochonder und Narren werden von ihren Übeln befallen. Ein Zyklon wirbelte über das Meer der Feuchtigkeit dahin — und die Wassersüchtigen fühlen ihre Anschwellungen wachsen. Der Sturm wütete über dem Meere der Tränen — und alle kleinen Kinder weinen. Wenn aber der Golf der Verzweiflung sich verdüsterte, geschieht dem Herzen eines jeden Menschen ein Gleiches.
Nach dieser Betrachtung des Einflusses der Gestirne auf die Menschen wollen wir erforschen, wie eine solche Einwirkung auch auf die Pflanzen möglich wäre. Wir stellen also die Hypothese auf (die wir untersuchen wollen,) daß Mensch und Pflanze der gleichen Ausstrahlung untertan sind, und schließen, daß es eine schicksalhafte Sympathie zwischen ihnen geben müsse.
Die Theorie des Professors Philipp van Tieghem ist bekannt: sie ermächtigt uns, zu denken, daß der Pflanzenwuchs der Erde von Samen abstammt, die von Meteoriten auf sie herabgebracht worden sind. (Beim Lesen einer bestimmten Stelle dieses Forschers kam mir einmal nachts der belustigende Einfall, meine Hände gegen den Mond zu strecken, um den Flug bestimmter Arten von Mohn aufzuhalten, deren hinfällige Blüten freilich in der Berührung mit meinen Fingern hätten zerstieben müssen.)
Mit dieser Hypothese wollen wir nun die Darwinsche verbinden, nach der wir Pflanzen waren, ehe wir Menschen geworden sind. Daraus ergibt sich freilich für jeden das Recht, zu fragen, was für eine Feuerkugel ihn denn auf die Erde gebracht, und was für eine Konstellation diese sonderbare Saat bewirkt habe.
Nun gibt es aber zweifellos Menschen, deren ganzes Leben im Gegensatze steht zu dem aller anderen Menschen — was demnach auf eine Sternenherkunft von besonderer Art schließen lassen müßte —, genau so, wie gewisse Pflanzen in ihrem Verhalten dem sämtlicher anderer Pflanzen widersprechen.
Von jener Regel zum Beispiel, die den Stengeln der Schlingpflanzen zu gebieten scheint, der Drehung der Erde folgend von links nach rechts zu ranken, sind Hopfen, Geißblatt, Stickwurz, Schildkrötenkraut sowie das knotige und das Kletter-Polygonum ausgenommen, die alle, Newton und Laplace mißachtend, sich von rechts nach links winden. Rührt das daher, daß diese Pflanzen von Gestirnen stammen, die sich in entgegengesetztem Sinne drehen wie die Erde?
Übrigens, wenn Rose und Iris, Orchydee und Seerose, solcherart auf unsere Erdkugel gelangt, von den unbekannten Gesetzen ihrer vorherigen Heimat geleitet werden — sei die nun Mars oder Venus oder ein ganz anderer Planet —, ist es reizvoll, sich vorzustellen, daß die Blüte der Wunderblume nicht eher sich schließen und einschlafen mag, bevor sich nicht der Abend auf ihren Heimatstern gesenkt hat, das heißt ehe es nicht Tag geworden ist auf der Erde.
Das früher Gesagte vorausgesetzt, wäre es unterhaltend, die Blume oder den Baum zu kennen, die jeder einzelne bevorzugt, und zu beobachten, ob die Menschen, die Sympathie für die gleiche Blume haben, nicht denselben Sterneneinflüssen unterworfen sind wie diese Blumen. Was mich anlangt, so liebe ich die Pflanzen zu sehr, um mich für die eine oder die andere zu entscheiden — denn das schiene mir eine Untreue gegen alle übrigen zu sein. Aber einen Strauch und eine Blume kann ich doch angeben, deren Anblick mich in eine unerklärliche Erregung versetzt: die lagerstroemia Indica und die amaryllis belladonna. Die lagerstroemia blüht gegen Ende des Sommers. Ich habe sie einmal in einem Prosagedichte „Flieder einer anderen Welt“ getauft. Sie ist ein Strauch ohne Rinde. Ihr glatter Stamm breitet nur im Schlafe die Zweige aus, was ihr das unglückliche Aussehen eines Besens oder einer riesenhaften Rose von Jericho verleiht. Aber ihre Blüten! Unter den azurnen August- und Septemberhimmeln heben sie sich aus ihrem Laube, das fremdartig grün ist und sehr ähnlich dem des Granat- und des Spindelbaumes, und bilden Szepter von einem unsagbaren Rosa, das nie der Erde angehört hat, einem Rosa voll schwermutschönen Heimwehs nach einem verlorenen Paradiese. Warum liebe ich diesen Baum mit solcher Liebe? Es gibt eine lagerstroemia, die ich Jahr für Jahr besuche, und die in jedes neue Blühen meine Trauer oder meine Freude mitempfängt. Sie schmückt mit ihren geheimnisvollen Korallen einen Garten im nördlichen Spanien. Auf meine Bitte hat man mir erlaubt, durch eine kleine Tür ihr sorglich verschlossenes Reich zu betreten. Und ich bin, einer sonderbaren Unruhe verfallen, durch die Alleen geirrt, die ihre glorreiche Majestät zu verdunkeln schien.
Die amaryllis belladonna ist vom Kap der guten Hoffnung zu uns gebracht worden. Inmitten eines Büschels schwertförmiger Blätter, die sich weich nach außen biegen, strebt ihre rosige Lilie empor. Aber ihr Rosa hat nichts von dem außerirdischen der lagerstroemia, es ist samtig wie Aprikosen, es gleicht dem der Wassermelone, der Meerfrüchte oder des Lachses. Ein paar von diesen Pflanzen sind meine Freunde: die stehen nicht in dem spanischen Garten, von dem ich früher gesprochen habe, sondern in einem alten kleinen Garten in Frankreich. Er wölbt sich wie ein Dach über die Landstraße, auf der dereinst die Postkutschen, in denen die Mädchen der alten Zeiten mit wehenden Hüten durch den Glanz der untergehenden Sonne gegen Paris fuhren, hinholperten ....
Ich empfinde eine trübe und schmerzliche Freude, wenn meine Blicke über diese rosigen Kelche hingehen. Wer wird mir die sonderbaren Gefühle, die mir diese beiden Pflanzen einflößen, erklären? Ihr Anblick verwirrt meinen Verstand und läßt im Spiegel meiner Seele das Bild eines ganz traurigen Traumes erstehen: auf einem Sterne erwartet mich widerwillig und sehnlich zugleich ein dunkelhaariges Mädchen in einem amaryllisrosa Kleide. Sie sitzt unter einer lagerstroemia an einem Grabhügel, über dem in unbekannten Zeichen ein Name, vielleicht der meine, geschrieben steht.
Meine Freundin, eines Abends wirst du mich aus der Tiefe des Tales kommen sehen, und ich werde dir deine Lieblingsblumen bringen. Es wird schon spät sein. Mit meiner grünen Trommel auf dem Rücken werde ich den ganzen Tag ohne Rast auf der Suche gewesen sein, das Herz voll Tränen, und werde unter den Blicken Gottes mit meinem kleinen Spaten in allen Einsamkeiten die Erde durchwühlt haben. Werde ich aber die Pflanze, die unser beider Geschicke einen muß, wirklich gewünscht haben? Schon ahne ich, wie ein Edelsteinsucher, den ein geheimnisvoller Sinn leitet, deine liebste Blume voraus. Sie wächst nicht im Schnee, nicht auf den Gletschern noch unter den Lärchen der Alpen, nicht am Rande der Kressebeete noch auch in der lügnerischen Sahara, deren Spiegelungen meinen Fieberdurst heimgesucht haben. Sie erblüht in meiner Seele.
Ich habe mir oft den Himmel ausgemalt. In der Kindheit war er mir die Hütte, die sich ein alter Mann in unserer Gegend hatte auf der Höhe eines steilen Bergweges errichten lassen, und die „das Paradies“ genannt wurde. Mein Vater pflegte um die Stunde, in der das schwarze Heidekraut der Hügel golden wird wie eine Kirche, mit mir dahin zu gehen. Am Ende jedes dieser Spaziergänge wartete ich darauf, Gott in der Sonne, die oben am Kamme des steinigen Steiges einzuschlafen schien, sitzen zu sehen. Habe ich mich getäuscht?
Weniger leicht kommt es mir an, mir das katholische Paradies mit seinen azurnen Harfen und dem rosigen Schnee der himmlischen Heerscharen in den reinen Regenbogen vorzustellen. So halte ich mich doch immer noch an mein erstes Gesicht. Aber seitdem ich die Liebe kennen gelernt habe, habe ich zu dem himmlischen Bereiche vor der Hütte des alten Mannes noch eine sonnenwarme Bergwiese, auf der ein junges Mädchen Blumen pflückt, dazugetan.
Ich habe die Seele eines Fauns und zugleich die eines ganz jungen Mädchens. Wenn ich eine Frau betrachte, empfinde ich eine völlig andere Art von Erregung als beim Anblicke eines Mädchens. Wenn man sich mit Hilfe von Blumen und Früchten verständlich machen könnte, würde ich einer Frau glühende Pfirsiche, die rosigen Glocken der Tollkirsche und schwere Rosen reichen, dem Mädchen aber Kirschen, Himbeeren, Quittenblüten, Heckenrosen und Gaisblatt.
Es gibt kaum ein Gefühl, das ich erlebe, ohne daß es vom Bilde einer Blume oder Frucht begleitet wäre. Wenn ich an Martha denke, sehe ich Gentianen vor mir, Lucie ist mir mit den weißen japanischen Anemonen verbunden, Marie mit Maiglöckchen und eine andere wieder mit einer Zedratfrucht, die aber ganz durchsichtig ist.
Zum ersten Rendezvous, das ich mit einer Freundin hatte, habe ich Schwertlilien mit aprikosenrosa Halse mitgebracht. Wir stellten sie über Nacht ins Fenster, und dort vergaß ich sie, um mich nur meiner Freundin zu erinnern. Heute wollte ich gerne der Freundin vergessen und nur mehr der Schwertlilien gedenken.
All meine Erinnerungen gehören also sozusagen der Pflanzenwelt an. Bäume, Blüten und Früchte sind meine Merkzeichen für Menschen und Gefühle.
Die Pflanzen, aber auch die Tiere und die Steine haben meine Kindheit mit geheimnisvoller Lieblichkeit erfüllt.
Als ich vier Jahre alt war, stand ich und betrachtete die Haufen zerschlagener Bergkiesel am Straßenrande. Wenn man diese Steine in der Dämmerung gegeneinanderschlug, gaben sie Feuer — rieb man sie aneinander, dann rochen sie verbrannt. Die geäderten hob ich auf: sie waren schwer, als ob sie Wasser in sich verborgen hielten. Der Glimmer im Granit bezauberte meine Neugier so sehr, daß nun nichts anderes mehr sie stillen konnte. Ich fühlte, daß da etwas war, das niemand mir zu erzählen vermochte: das Leben der Steine.
Um dieselbe Zeit war man einmal böse mit mir, weil ich die künstlichen Käfer von einem Hute meiner Mutter weggenommen hatte. Das war meine Leidenschaft: Tiere aufzuheben, und ich war so voll Freundschaft zu ihnen, daß ich weinte, wenn ich sie unglücklich glaubte. Noch heute erlebe ich die namenlose Angst wieder, wenn ich daran denke, wie die kleinen Nachtigallen, die mir jemand geschenkt hatte, in unserem Speisezimmer zugrunde gingen. In dieser Zeit mußte man mir, damit ich einschlafe, das Glas mit meinem Laubfrosche in meine Nähe stellen. Ich fühlte, daß er mein treuer Freund war und mich auch gegen Diebe verteidigt hätte. Als ich das erstemal einen Hirschkäfer sah, war ich von der Schönheit seiner Geweihzangen so ergriffen, daß die Begierde, einen zu besitzen, mich krank machte.
Meine Leidenschaft für die Pflanzen zeigte sich später, als ich gegen neun Jahre alt war. Die rechte Einsicht in ihr Leben aber fing erst an, als ich ins fünfzehnte Jahr ging — ich erinnere mich noch, unter welchen Umständen. An einem Donnerstage, einem lähmend heißen Sommernachmittage, ging ich mit meiner Mutter durch den botanischen Garten einer großen Stadt. Weißblendende Sonne, dicke blaue Schatten und schwere zähe Gerüche machten aus diesem fast verlassenen Orte das Reich, dessen Pforte ich nun endlich überschritt. Im lauen goldkäferfarbigen Wasser der Bassins gediehen kümmerlich allerlei Pflanzen, lederige graue und hohe weiche, durchsichtige. Aber aus der Mitte dieser armen traurigen Wassergewächse erhoben sich in den großen Azur grüne Lanzenschäfte und hielten die Anmut ihrer weißen und rosigen Dolden in den lodernden Tag: die Wasserlilien über ihren Blättern, in vertrauensvollen Schlaf versunken. Mit den Wasserpflanzen hielten die Pflanzen der Erde stumme Zwiesprache. Ich erinnere mich einer Allee, in der Studenten, ein Sacktuch im Nacken, unter der Schönheit der Blätter begraben lagen. Das war die Allee der Ombelliferen. Fenchel und Steckenkraut drehten ihre Kronen über die Stengel, deren Blattscheiden platzten, empor. Schweigend unterredeten sich die Düfte miteinander, stumme Verständigung wob fühlbar von Pflanze zu Pflanze, und über dem vereinsamten Reiche schwebte Entsagung.
Seit damals verstehe ich die Pflanzen: ich weiß, daß ihre Familien sich miteinander verschwägern, und daß sie alle von Natur aus einander lieben. Aber ich weiß auch, daß diese Verwandtschaften nicht da sind, um den Klassifikationen zur Unterstützung unseres trägen Gedächtnisses zu dienen.
Die Pflanzen sind lebendige, tätige Geometrie, die irgendwelchen Auflösungen zustrebt — wie die sein werden, weiß ich nicht. Da läßt sich nun ein reizvolles Geheimnis beobachten: die Arten, die in denselben geologischen Epochen vorkamen, haben einander ihre Sympathien geschenkt und bleiben auch heute noch im Wechsel der Jahreszeiten einander nahe. Wie vermöchte sonst das Wesen der frierenden schneeigen Winterliliaceen mit dem der purpurnen Herbstnachtschatten so zusammenzustimmen?
Es gibt noch andere Pflanzengemeinschaften, die nicht so sehr durch Menschenbemühungen als dadurch zustandekommen, daß gewisse Arten andere als Freunde bei sich haben mögen und sich nach ihnen sehnen. Wie schön sind die Bauerngärten, in denen die strahlende Lilie — gleich den Göttern, die die Niedrigen besuchen — zwischen Kohlköpfen, Knoblauch und Zwiebeln (die in den Töpfen der Armen kochen werden) wächst! O, wie liebe ich diese ländlichen Küchengärten, wenn mittags der traurige blaue Schatten der Gemüse auf den Vierecken körniger weißer Erde einschläft, der Hahnenruf das Schweigen noch tiefer macht und das geduckte Huhn unter dem schrägen gewundenen Fluge des Habichts aufgluckst! Da wachsen die Blumen der schlichten Liebenden, die Blumen der jungen Frauen, die den blauen Lavendel trocknen und zwischen ihr grobes Leinen legen. Da wächst auch der treue Buchsbaum, an dem jedes Blättchen ein Spiegel von Azur ist, und die Stockrose, an der die sanfte reine Flamme der Blüten sich in Schwermut verzehrt: fromme Blumen, dem Schweigen und der Entsagung geweiht.
Ich liebe auch die Wiesenblumen: die Königin der Fluren, schaukelnd in leichten Winden und vom Glucksen des Baches in den Schlaf gewiegt. Ihre duftende Krone schmückt sich mit Wasserkäfern schimmernder als der Hals der Kolibris. Sie ist die Geliebte der Halden, die Braut der grasigen Lichtungen.
Tief in den verlorenen alten Parks aber gibt es die geheimnisvollen Pflanzen: da gedeihen die alten Blumen, der Erdflieder, die amaryllis belladonna und die Kaiserkrone. Anderswo müßten sie sterben, hier aber beharren sie, behütet von den Vorbildern der jahrhundertealten einzigartigen Bäume mit den verschollenen Namen. Diese vornehmen, verwöhnten und gezierten Blumen erheben ihre schwanken Köpfe nur, wenn der Wind durch die Amberbäume und Ahorne streicht und aufseufzt wie einst Chateaubriand.
Die Traurigkeit der kleinen Stadt tut mir wohl: die Gassen mit ihren finsteren Laden, die abgetretenen Türschwellen, die Gärten, die in der schönen Zeit des Jahres über einem Grunde von blauem Brodem schwimmen, über dem Gewirre von Stockrosen, Glyzinien und Weinreben — und dann jene anderen Gärtchen, räudig wie Esel, mit schwärigen Buchsbaumhecken, darauf Lumpen zum Trocknen liegen, und das Rinnsal der Gerber, das den dünnen Perlmutterglanz des Himmels mitschleppt und zwischen seinen Schlammpflanzen hart die Dächer widerspiegelt, o — und der Wildbach, der die Felsen höhlt, sich windet und eilig dahinblinkt! Der kleine Stadtplatz ist hübsch, ob die Zikaden in den sommerlichen Buchen schrein, ob der Herbstwind auf ihm scharrt oder die Regen ihn zerkritzeln. Es gibt auch einen kleinen Stadtpark da, von dem Bernhardin de Saint Pierre entzückt gewesen wäre: unter seinen Kastanienbäumen sind die Mainächte tief, blau und sanft.
Ich komme seit Jahren in diese Stadt, die einst mein Großvater und mein Großoheim verlassen haben, um die überblühten Antillen zu suchen. Dann haben sie das Brausen des Meeres gehört, musselinene Kleider glitten unter ihren Veranden dahin — und als sie starben, waren sie vielleicht voll Sehnsucht nach diesen Gassen mit ihren Laden, den Gärten hier, den Rinnsalen und diesem Wildbache.
Wenn ich dann meinen kleinen Meierhof aufsuche, denke ich daran, daß sie einst hier gewesen sind. O, ihre Ausflüge! Das Frühstück trugen sie in einem Körbchen mit und einer hatte eine Gitarre umgehängt. Leichten Ganges folgten ihnen die jungen Mädchen; zwischen taufeuchten Hecken summte eine Romanze auf und erschreckte die Vögel mit einer unaussprechlichen Liebe. Die Maulbeeren waren noch grün. Man marschierte im Takte. Der Schrei eines Mädchens zitterte durch die Luft, an einer Wegecke wurde ein großer Hut geschwungen, und ein kühles Lachen flog zwischen den regenversehrten Heckenrosen empor.
Diese Gitarre habe ich im Hofe meiner hugenottischen Großtanten an einem Sommerabende gehört, als ich vier Jahre alt war. Der Hof schlief in weißer Dämmerung, und von den Dächern sank eine unbekannte Zärtlichkeit auf die Rosenstöcke und das helle Pflaster. Meine Verwandten saßen auf einem Balken, waren froh und lachten darüber, daß ich so ein kleines Kind war und eine weiße Schürze anhatte. Dann sang mein Großonkel ein Lied aus der Hauptstadt. Ich seh ihn noch mit vorgestrecktem Kopfe stehen. Die Luft zitterte sacht. Am Ende einer Koloratur machte er eine komische nette Verbeugung.
Ich segne dich, kleine Stadt, in der kein Mensch mich versteht, wo ich meinen Stolz, mein Weh und meine Freude in mir verberge und ich keine andere Zerstreuung habe, als meine alte Hündin kläffen zu hören oder arme Gesichter anzuschauen. Aber dann steige ich die Hügel empor, wo der dornige Stechginster wächst — und dort erlebe ich in der Betrachtung meiner Kümmernisse das sanfte Glück, das Verzichten heißt. Jetzt quält mich nicht mehr das rohe und verächtliche Lachen der Leute noch auch das Zweifeln an allem. Das Lachen derer, die mich verachten, ist verstummt — und ich werde gleichgültig gegen alles, was ich bin. Aber ich bin indessen ernst geworden gegen mich selber und die andern. Mit furchtsamer Freude sehe ich nun die Sorglosigkeit der Glücklichen. Ich habe verstehen gelernt, wieviel Leiden aus der Liebe wachsen kann und wie tiefe Blindheit aus einem Blicke. Und um dieser meiner Leiden willen möchte ich eine traurige zarte Liebkosung denen schenken, die noch nichts anderes wissen als das Glück.
Im Garten tut mir der Duft des Flieders plötzlich weh, denn ich bin todtraurig.
Flieder, seit der Kindheit bist du mir teuer. Damals habe ich deine Blütensträuße angeschaut, die schönen Bilder, auf eine Spielzeugschachtel gemalt. In dem vertrauten Obstgarten meiner Jugendzeit blühtest du auch. O, in diesem Garten gab es Igel! Sie glitten die alten Balken entlang — wie unschuldig und sanft sind die Igel trotz ihrer Stacheln. Ich erinnere mich noch meiner Erregung, als ich an einem Winterabende einen auf der Schwelle unserer Küche fand. Der Schnee hatte ihn vertrieben und nun steckte er seinen kleinen Rüssel in die Abfälle, die da liegengeblieben waren.
Ich liebe die Wesen der Nacht, die Käuzchen mit hauchendem Fluge, die Fledermäuse, die Dachse — alle ängstlichen Tiere, die durch die Luft und das Gras gleiten, und die wir so wenig kennen. Was für Feste mögen sie wohl unter den Pflanzen, ihren Schwestern, feiern?
In der Stunde, da der Mensch ruht, springen die Kaninchen silberig von Tau über die Minze der Gräben hin und halten ihre geheimen Versammlungen ab; die Frösche quaken und platschen in den Pfützen, aus den Glühwürmchen sickert der weiche gelbe, feuchte Schimmer, der Maulwurf bohrt sich unter den Wiesen hin, die Nachtigall schluchzt auf wie ein Springbrunnen, und die Schleiereule läßt ihr trauriges Lachen hören, als ob sie sich in ihrer Furchtsamkeit zu der Freude Gottes gesellen wollte.
Wie oft habe ich mir gewünscht, ein solches Wesen der Nacht zu sein! Ein schauerndes Kaninchen unter der Weißdornhecke oder ein Dachs, von den saftigen grünen Blättern gestreichelt. So hätte ich keine anderen Sorgen gekannt als die um meine leibliche Verteidigung — und ich hätte nicht lieben müssen und nicht hoffen.
ENDE
Seite | |
Das Paradies | 3 |
Das Paradies der Tiere | 6 |
Die Güte des lieben Gottes | 8 |
Der Weg des Lebens | 11 |
Die kleine Negerin | 15 |
Ronsard | 17 |
Robinson Crusoe | 19 |
Das Grabmal des Dichters | 21 |
Von der Barmherzigkeit gegen die Tiere | 24 |
Betrachtung über die Dinge | 27 |
Lob der Steine | 40 |
Betrachtung über eine Schnepfe | 43 |
Betrachtungen über ein Speisezimmer | 49 |
Betrachtungen über einen Tautropfen | 53 |
Betrachtung über Astrologie | 60 |
Notizen | 68 |
Anmerkungen zur Transkription
Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert.
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