von
Berlin.
Verlag von Gebrüder Paetel.
1881.
Alle Rechte vorbehalten.
Herrn
Theodor Hermann Pantenius
in dankbarster Verehrung
zugeeignet.
In dem sonnenhellen, saubern Stübchen, das sie nun schon seit zwanzig Jahren bewohnte, saß Fräulein Sabine Krauthoff und strickte, während sie, mit einer Hornbrille auf der Nase, in einem abgegriffenen Buche las, welches sehr weit ab von ihr auf dem Tische lag.
Am Fenster blühten, trotz des Winters, Nelken und Balsaminen, und an den Wänden hingen allerlei Photographien in jeder Größe und Stellung. Aber nur Bilder von jungen Mädchen — Fräulein Sabine war Lehrerin gewesen. Mitten über dem Sofa prangte ein nach Fröbelscher Methode kunstvoll gefertigtes Flechtblatt unter Glas und Rahmen — das hatte die Lieblingsschülerin des Fräuleins, Käthchen Lang, geflochten, bei deren Eltern die alte Dame im Hause wohnte, und die inzwischen zu einem großen Mädchen herangewachsen war.
Aus dem Schüler- und Lehrerinnenverhältniß hatte sich mit der Zeit eine herzliche Freundschaft zwischen dem alten und dem jungen Mädchen gestaltet. Käthe, die sonst leicht ein wenig hochfahrend sein konnte, ja die in ihren Bekanntenkreisen sogar wegen ihrer kurzen Antworten und ihres gelegentlichen Uebermuthes als „sehr schnippisch“ bezeichnet wurde, legte in der stillen Stube von Fräulein Sabine all ihre kleinen Airs ab, und wurde immer wieder zum Kinde, das seine Thorheiten beichtete und sich liebevoll absolviren ließ.
Nie verging ein Tag, ohne daß Käthe die drei Treppen erstieg und an Fräulein Sabines Thür pochte — und so sehr hatte sich die letztere an diese täglichen Besuche gewöhnt, daß sie es recht schmerzlich empfand, als Käthe vor einiger Zeit zu einer verheiratheten Freundin nach auswärts ging und fast drei Wochen abwesend blieb.
Doch nun war das vorbei — gestern hatte die Frau Doktor Lang sich ihr Töchterchen von der Eisenbahn geholt, und Fräulein Sabine erwartete nun ungeduldig den Besuch des allgemeinen Lieblings. Ihr Harren sollte belohnt werden. Nicht lange, so klopfte es; auf das „herein“ kam ein junges Mädchen in die Thüre, schlank und groß gewachsen, mit einem übermüthigen Zug um den kleinen Mund, und einem sonnigen Lächeln in den dunkeln Augen. Sie begrüßte ihre alte Freundin mit der ihr eigenen ungestümen Herzlichkeit und setzte sich zu ihr — nicht auf den Stuhl, sondern aufs Fensterbrett.
„Und wie hast du dich bei Laura amüsirt?“ fragte die alte Dame, nachdem sie den „mitgebrachten“ warmen Shawl zur Genüge betrachtet und bewundert hatte.
„O sehr gut, Sabinchen, es war eine nette Zeit! aber“ —
„Nun, was „aber?“ fragte Fräulein Sabine erwartungsvoll, und schob die Brille auf die Stirn zurück.
„Ach — ich habe wieder einmal eine meiner gewöhnlichen Dummheiten gemacht! Soll ich sie dir erzählen? aber du mußt nicht schelten?“
„Das kann ich nicht so gewiß versprechen,“ sagte die Alte, indem sie ihren reizenden Liebling mit strahlenden Augen betrachtete, „indessen fang nur an — es läßt dir ja doch keine Ruhe, ehe du gebeichtet hast.“
Käthe rückte sich auf dem Fensterbrett zurecht, und pflückte eine von den rothen Nelken von Sabinens Blumenstock.
„Nun also,“ begann sie, „ich reiste allein von Laura zurück, und auf einer kleinen Station — Siegersdorff — wo der Zug hielt, sah ich zum Coupéfenster hinaus. An der Wand des Bahnhofsgebäudes mir gegenüber steht ein Herr und sieht mich an — nicht gerade unbescheiden, aber er fixirt mich doch unverwandt. Du weißt ja, Sabine, so etwas kann ich nicht leiden, ich denke also: „sollst ihm mal die Zunge herausstecken — der Zug fährt ja sofort ab, und du siehst ihn nie wieder.“
„Aber Käthe!“ rief das Fräulein erschrocken.
„Siehst du, siehst du, daß du schiltst!“ rief Käthe, und fiel ihrer alten Freundin ungestüm um den Hals, „sei ganz still, sonst erzähle ich nicht weiter, und du hast dein Leben lang die Angst mit dir herumzutragen, daß ich etwas noch viel Schrecklicheres gethan habe, was du nicht weißt!“
Die Alte machte sich lachend los.
„Laß mich nur — ich bin ja schon still! Also —“
„Also — in dem Augenblick, wo der Zug sich in Bewegung setzt, führe ich mein Vorhaben aus! Nur ein ganz kleines bißchen, Sabine — ich dachte schon, er hätte es nicht gesehen! — aber er lächelte spöttisch und nahm den Hut ab. Da fuhren wir hin.“
Fräulein Sabine schüttelte den Kopf.
„Wirst du nie deinen Uebermuth ablegen, Kind!“
Käthe zerpflückte die rothe Nelke unbarmherzig in Stücke.
„O ja, Sabine“, sagte sie dann verlegen, „aber —“
„Was aber? noch mehr solcher schöne Streiche?“
„Ach, Sabine — die Geschichte ist ja noch gar nicht zu Ende, das Schlimmste kommt nach. Also wir fuhren, aber kaum hundert Schritte weit — der Zug wurde zu meinem Entsetzen nur rangirt und rutschte nach fünf Minuten wieder in denselben Bahnhof ein. Da stand auch noch der Herr — und hatte er vorhin gelacht, so lachte er nun erst recht!“
„Angenehm!“ sagte Fräulein Sabine. „Und wie benahm er sich?“
„Er benahm sich gar nicht, sondern warf die Cigarre weg und stieg in dasselbe Coupé mit mir. Und wir fuhren mit einander bis hierher, wo er auch ausstieg!“
Käthe sprang vom Fensterbrett. „Und was sagst du jetzt?“
„Herzchen,“ erwiderte die alte Dame und lächelte gutmüthig, „was soll ich sagen? Zu geschehenen Dingen schweigt man am besten — das einzig Angenehme ist, daß du den Mann wahrscheinlich nicht wieder sehen wirst.“
Käthe sah nicht so entzückt aus, als man hätte vermuthen sollen, und streute ihre Nelkenblättchen in die Luft. „Meinst du?“
Die Alte warf ihr einen schnellen Seitenblick zu, und zog die Augenbrauen etwas in die Höhe, als wollte sie sagen: „aha!“ Sie schwieg aber.
„Weißt du, Sabine,“ begann Käthe nach einer Weile von Neuem, „er — der Mitreisende — benahm sich übrigens sehr taktvoll. Da er merkte, in welch tödtlicher Verlegenheit ich war, that er, als ob gar nichts vorgefallen sei, und unterhielt mich von allen möglichen Dingen — ganz ernsthaft und sehr nett. Nur einmal, als eine alte Dame, die mitfuhr, von der Gegend sprach, und ihn fragte, ob er nicht auch während der Reise auf die hübsche Aussicht geachtet habe? sagte er ruhig: „o ja — besonders in Siegersdorff!“ und dann sahen wir uns an und lachten beide — ich auch, Sabine — das konnte ich nicht ändern! Sonst war ich sehr würdevoll — nein, wirklich!“
„Davon bin ich überzeugt,“ sagte die Alte ernsthaft, „wie sah denn dein Freund oder Feind aus?“
„Sehr gut — groß, dunkelblond und humoristisch — und er war sehr hübsch angezogen.“
Die alte Dame lachte.
„Wenn’s nur kein Weinreisender war!“
„Aber, Sabine, schäme dich! als ob man das nicht merkte!“ In dem Augenblicke klopfte es.
„Fräulein Käthchen möchten gleich herunter kommen, Frau Majorin Scharff wäre da, und wollte etwas aus dem Eckschrank, und Fräulein Käthchen hätten die Schlüssel mit.“
„Unausstehlich!“ sagte Käthe verdrießlich, „Scharffs erwarten in den Tagen den gräßlichen Sohn, und borgen sich wieder einmal die ganze Wirthschaft zusammen. Ich komme,“ rief sie dem Mädchen zu.
„Ist der junge Scharff so „gräßlich,“ wie du sagst?“ fragte Sabine.
„Ich habe ihn nie gesehen — aber wenn von einem Menschen schon so viel gesprochen wird, hat man genug. „Kurt sagt, Kurt schreibt, Kurt meint“ — so geht es immerfort, als ob ich mich darum kümmerte, was ihr Kurt für Ansichten hat.“
Fräulein Sabine war auch aufgestanden.
„Weißt du, was ich glaube, Herzchen? Frau Scharff möchte dich sehr gern für den „gräßlichen Sohn“ haben.“
„Ach, das weiß ich ja schon lange! Aber ich danke, Sabine — ich danke — ich will gar nicht heirathen — oder“
„Hör einmal, Käthe, du kommst mir sonderbar vor! Deine Beichte war unvollständig! „Oder“ heißt das etwa: „oder die Bekanntschaft müßte damit anfangen, daß ich ihm die Zunge heraussteckte?“
„Sabine,“ sagte das junge Mädchen würdevoll, „ich begreife gar nicht, wie du mich so lange aufhalten kannst, wenn du hörst, daß Mama auf die Schlüssel wartet!“
Und fort war sie.
*
**
Während diese Unterhaltung stattfand, herrschte bei Käthens Eltern große Unruhe. An der Hausthüre war schon seit längerer Zeit eine Wohnung ausgeboten worden, und der Hausherr hatte sich bereits stummer Verzweiflung überlassen, weil noch keine Nachfrage stattgefunden hatte.
Jeder Mensch hat bekanntlich seinen Tollpunkt — die Vermiethungsfrage war der Tollpunkt des Doktors!
So lange der unheilvolle, weiße Zettel über seiner Thüre prangte, war er melancholisch — seine Gedanken irrten mit beängstigender Beharrlichkeit, aufgescheuchten Vögeln gleich, um das betreffende Quartier, und er begann und schloß den Tag mit Seufzen. Wenn seine Frau mit dem triftigen Trostgrunde ins Feld rückte, daß ja noch nie eine Wohnung in ihrem Hause leer geblieben sei, so grub der Doktor regelmäßig einen alten General aus, der inzwischen, nach der seitdem verflossenen Zeit zu schließen, längst zum Feldmarschall oder unter die himmlischen Heerscharen avancirt sein mußte, und dessen Quartier einst ein volles Vierteljahr unvermiethet gestanden hatte.
Zeigte sich dann ein präsumtiver Miether, so begann ein neues Stadium in dem Zustande des Doktors. Er hatte für nichts anderes Sinn und Gedanken, als für die Chance, er sang mit dem französischen Grenadier „was schiert mich Weib, was schiert mich Kind?“ und war für alle häuslichen Vorkommnisse taub und blind.
Heute nun war, gleich einem Sonnenblick, in sein umdüstertes Gemüth ein Brief gefallen, in dem ein der Familie bekannter Baron von Rabeneck um die Erlaubniß bat, am Nachmittag zu erscheinen und die annoncirte Wohnung in Augenschein zu nehmen.
Der Baron galt zwar für einen etwas langweiligen und unsäglich neugierigen Herrn — aber in der Noth ist man nicht wählerisch — der Baron wollte miethen, und der Hausherr sah seinem Eintreffen seit drei Uhr mit fieberhafter Spannung entgegen.
Die Familie — Käthe, die Älteste, ausgenommen, die, wie wir wissen, bei Fräulein Sabine war, saß um den Kaffeetisch. Eine stattliche Reihe von schulpflichtigen Kindern — zwar nicht so viel, als unser schwäbischer Freund besaß, der auf eine Anfrage nach dem Befinden der Seinen antworten konnte: „ich danke, die „Meischte“ sind wohl“ — aber immerhin genug, um zu Zeiten recht angenehmen Spektakel zu machen.
Die Hausfrau dirigirte mit Wort und Blick die stillbewegte Gruppe, die zur Eile angetrieben wurde, um beim Erscheinen des Miethers nicht den Eindruck der Räume abzuschwächen. Jetzt klingelte es.
„Kinder, schnell — trinkt aus, das ist er!“ rief der Vater, und ließ sich in der Eile zu der unmännlichen Handlung des Umgießens aus der Ober- in die Untertasse für seinen jüngsten Sohn verleiten — doch zu spät! Die Thür ging auf — aber nicht der Baron erschien, sondern das heiter lächelnde Angesicht der Frau Majorin Scharff. Die Kinder gingen trotzdem auf einen Wink der Mutter hinaus. —
Frau Scharff bewohnte mit ihrem Gatten, einem Major a. D., die Beletage. Dieser Gatte und ihr Sohn waren ziemlich die beiden einzigen Gegenstände, welche sich die Frau Majorin nicht geborgt hatte, sondern rechtmäßig besaß. Man kann es ihr daher nicht übel nehmen, wenn sie mit besonderem Stolz auf diese beiden blickte. Eine gute, ganz gescheidte Frau von stets heiterem Temperament, hatte sie nur die Manie, alles zu verlegen, zu verlieren, und sich mit einer wahrhaft genialen Unverdrossenheit durch Entlehnen von dem, was ihr momentan fehlte, aus der Verlegenheit zu ziehen.
Ihr Mann wußte entweder nichts davon — oder er wollte nichts davon wissen, was ziemlich auf eins herauskommt. Er hatte es zu seiner Vorgesetzten und seinem eigenen größten Erstaunen bis zum Major gebracht und war dann erschöpft ins Privatleben zurückgesunken. Seine Geisteskräfte, die ohnehin nie üppig wucherten, hatten sich seitdem auf Whist konzentrirt, und keine Gemüthsbewegung, kein Familienereigniß freudiger oder trauriger Natur war bisher im Stande gewesen, ihn derart zu erregen, daß er nicht, so wie der erste Sturm vorüber war, die Seinigen gefragt hätte: „machen wir heute keine Partie?“
Ja es ging die dumpfe Sage, daß er an dem Abend, wo sein einziger Sohn das Licht der Welt erblickte, zwei Stunden darauf einen Whisttisch herbeigeschoben und seiner Schwiegermutter zur Erholung eine Partie Whist vorgeschlagen habe.
So lange seine Bequemlichkeit und sein Whist ihm ungestört blieben, ließ er den Dingen ihren Lauf, und seine Frau mochte die Wirthschaftsutensilien aus allen benachbarten Familien rekrutiren — ihn focht es nicht an.
Sein Sohn, der inzwischen als sehr begabter und tüchtiger Offizier die beste Carriere machte, hatte für ihn erst Interesse gewonnen, als er den Dritten beim Whist abzugeben vermochte, was den jungen Mann nicht hinderte, seinen Vater sehr zu lieben, und mit großer Ehrerbietung an beiden Eltern zu hängen. Dieser Sohn, das Glück und der Stolz der Mutter, wurde, wie wir von Käthe gehört haben, erwartet, und die Frau Majorin hatte bereits eine Bettstelle mit Betten, einen Teppich, einen Waschtisch und zwei Leuchter von der Doktorin Lang entlehnt, und kam soeben, um zu fragen, ob ein überzähliger Flügel reiner Gardinen vakant wäre, da sie das Gastzimmer sonst soweit in Ordnung habe.
Die gutmüthige Doktorin versprach, danach zu sehen, und lud ihre Hausgenossin zum Sitzen ein. Doch diese lehnte ab.
„Nein, nein,“ sagte sie eilfertig, „o ich habe noch sehr viel zu thun — denn, liebste Lang, ich komme mit einer großen Bitte — trinken Sie nicht heute Abend mit uns Thee? Keine Gesellschaft — nur etwa zwölf bis fünfzehn Personen — bitte, schlagen Sie es mir nicht ab!“
„Wir kommen herzlich gern,“ sagte die Doktorin, „wenn mein Mann nichts dagegen hat.“
Der Doktor war herausgegangen, um die Straße herunter zu spähen, ob der Miether sich nicht zeigte. —
„Ach, was sollte er dagegen haben!“ sagte Frau Scharff, „heut muß er kommen — ich habe eine kleine Überraschung vor! Aber liebe Lang — eine Bitte! Meine Pauline ist so ungewandt — können Sie mir Ihre Köchin auf heute Abend leihen? Wir haben nur zwei Gerichte, und sie ist so prächtig flink — das weiß ich! Im Hause geht das ja sehr gut!“
„Ja, ja, das will ich thun, Frau Majorin,“ sagte Frau Lang lächelnd, „kann ich sonst mit etwas dienen?“
„Nun ja — wenn Sie mir Ihre große Bratenschüssel und zwei Dutzend Mittelteller und Ihre Gabeln, fünfzehn Weingläser und die silberne Zuckerdose leihen wollten, so wäre ich Ihnen sehr dankbar! Ach, und Beste — die beiden großen Lampen — aber lassen Sie sie bald füllen; meine Leute verstehen sich so schlecht darauf! Das ist alles — denn die Kompottschüsselchen und die Bowlengläser habe ich noch oben. Aber richtig — Sie haben wohl nicht ein Pfund Speck zu Hause? meine Pauline hat es heut früh mitzubringen vergessen! Wir haben Rehrücken und sie soll ihn noch spicken.“
„Ich werde sogleich nachsehen,“ erwiderte Frau Lang, und griff in die Tasche — die Schlüssel fehlten! Bei dieser Gelegenheit schickte sie zu Fräulein Sabine, um Käthe holen zu lassen, die auch bald erschien und von der Majorin aufs zärtlichste begrüßt wurde.
„Mein liebes Käthchen — nein, wie reizend steht Ihnen die neue Frisur! Wie haben Sie sich bei Ihrer Freundin amüsirt? Ich bitte eben bei Mamachen vor, ob Sie uns heute Abend nicht besuchen wollen — ich habe eine kleine Ueberraschung in petto! Nicht wahr, Sie kommen doch? Ich schrieb noch neulich an meinen Sohn: „eine Gesellschaft ohne Käthchen ist mir gar nicht denkbar — sie ist so belebend!“
Käthe, die bis zu diesem letzten Satz sehr freundlich ausgesehen hatte, machte eine ungeduldige Bewegung und zog die Hand fort.
„Nun muß ich aber gehen, liebe Frau Doktorin,“ sagte die Majorin eilfertig, „also Ihre Anna bringt nachher alles mit herauf, nicht wahr?“
Damit ging sie, und die Doktorin blieb mit Käthe allein. Sie legte ihrer Tochter die Hände auf die Schultern und sah ihr forschend ins Gesicht. „Käthe, warum bist du nur wieder so unfreundlich gegen die gute Majorin?“
„Weil sie mich nicht mit ihrem langweiligen Sohn in Frieden läßt!“ erwiderte Käthe unartig.
Die Doktorin schüttelte den Kopf.
„So laß sie doch — für die Pläne der Mutter kann der Sohn nichts — und außerdem — Käthe, wäre es denn nicht sehr hübsch, wenn etwas daraus würde? Eine andere Neigung hast du nicht“ —
Käthe mußte wohl an der Tischdecke gezupft haben, denn der Schlüsselkorb fiel zur Erde, und sie mußte die Schlüssel aufheben, wozu sie eine ganze Weile brauchte und sehr roth wieder zum Vorschein kam — vom Bücken jedenfalls!
„Und der junge Scharff soll ein vortrefflicher, höchst gescheidter Mann sein,“ fuhr die Mutter fort, „thu mir wenigstens den Gefallen, dich nicht von vornherein gegen ihn einzunehmen! Seine Briefe haben dir ja immer so gut gefallen!“
Käthe schwieg hartnäckig.
„Da klingelt es,“ unterbrach sich die Mutter, „hier, Käthe, ich habe mir alles notirt, was die Majorin sich zu heute Abend leihen will — gieb es einmal heraus!“
Käthe nahm mit einem ironischen „weiter nichts?“ das Verzeichniß in Empfang, und ging hinaus, eben, als der Vater zur andern Thür hereintrat.
„Er kommt wieder nicht!“ sagte er resignirt, „ich werde jetzt ausgehen! Hausbesitzer sein ist ein Vergnügen.“
„Ja, ja, er kommt,“ beschwichtigte seine Frau, „eben klingelt es — da ist er schon!“
Richtig — so verhielt es sich! Herr Baron von Rabeneck erschien mit einer tadellosen Verbeugung auf der Schwelle. Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann, mit sehr vorsichtig frisirtem, dunkelblondem Scheitel, mit kurzsichtigen Augen, die er stets etwas einkniff, mit einem parfümirten Taschentuch, und einem kornblumenblauen Schlips.
„Ganz ergebensten guten Tag, meine Herrschaften,“ sagte er eintretend, „Sie sind beim Kaffee? lassen Sie sich nicht stören! Trinken Sie immer hier Kaffee?“
„Ja,“ sagte der Hausherr etwas kurz. Seine Frau, der die Fragepassion des Barons, und die kurze Geduld ihres Mannes schon bekannt war, wollte mit einer Gegenfrage dazwischen kommen, aber der Baron ließ sich nicht so leicht beirren. „Ich trinke auch Kaffee,“ fuhr er fort, „sehr gesundes Getränk? Was? Trinken Sie auch Kaffee, Frau Doktorin?“
„Ja,“ sagte der Doktor gereizt, „meine Frau trinkt Kaffee — meine Tochter auch, meine ganze Familie trinkt Kaffee!“
Die Hausfrau mischte sich ins Gespräch. „Sie wollten unser leeres Quartier sehen, Herr Baron?“
„Ja,“ erwiderte der Neuangekommene behaglich, „ich sah heute bei meinem Morgenspaziergang, den ich immer durch diese Straße mache — hübsche Straße, was? — daß hier ein Miethszettel hängt — wollte doch mal nachfragen. Erster Stock, was?“
„Nein — zweiter Stock — vier Zimmer mit Balkon,“ gab der Doktor zurück.
„Oh — charmant — vier Zimmer? Balkon? Ganz mein Fall! Alles Vorderzimmer? Küche? Gesund? Hoch? Still?“
„Wie wäre es,“ schlug die Hausfrau vor, „wenn Sie mit mir einmal hinaufgingen, Herr Baron, und die Wohnung selbst in Augenschein nähmen? Ich hole mir nur ein Tuch, und bin gleich wieder da!“
„Bitte, bitte,“ erwiderte der Baron verbindlich, und ging Käthe entgegen, die eben wieder hereintrat, und am Fenster mit einer Arbeit Platz nahm.
Sie lud den Gast durch eine schweigende Handbewegung ein, sich auch niederzulassen. Käthe war sehr wortkarg, wenn ihr jemand nicht gefiel.
Der Baron in seiner Frageseligkeit empfand die Pause schmerzlich, und wandte sich an das junge Mädchen.
„Sie sticken, mein Fräulein? Weiß?“
Käthe hielt ihm ihre Arbeit hin.
„Ja, Herr Baron! Interessiren Sie sich für dergleichen?“
Der Baron hustete zierlich.
„Ich interessire mich für alles, mein Fräulein! Schon meine selige Mama sagte immer: Chlodwig, du interessirst dich für alles! Ich heiße nämlich Chlodwig! Hübscher Name, was? Der fünfte Chlodwig in unserer Familie — mein Papa hieß auch Chlodwig! Wie heißt Ihr Papa?“
„Friedrich,“ erwiderte Käthe, die mit Mühe ein Lächeln unterdrückte.
„Friedrich — so so — und Ihre Frau Mama?“
„Fragen Sie sie selbst,“ sagte der Doktor ungeduldig, „da kommt sie.“
Als die Hausfrau mit dem Baron verschwunden war, sagte der Doktor zu Käthe: „wenn dieser Fragekasten die Wohnung miethet, zünde ich das Haus an allen vier Ecken an. Der fragt einen todt.“
Käthe lachte. „Laß ihn, Papa! Du brauchst ja nicht mit ihm umzugehen. Vielleicht spielt er Whist, da kann er sich mit Scharffs befreunden, die er ohnehin schon kennt. Weißt du denn, daß sie heute eine Gesellschaft geben?“
„So?“ brummte der Doktor, „was haben sie sich denn schon geborgt?“
„Vorläufig unsere Teller, unsere Lampen, unsere Köchin und unsere Familie,“ erwiderte Käthe spöttisch, „wir werden uns also wohl recht heimisch fühlen.“ —
Der Baron und die Doktorin kamen nach geraumer Zeit wieder, und der erstere war entzückt von dem Quartier.
„Wenn es Ihnen recht ist, Herr Doktor,“ sagte er, „so können wir gleich Kontrakt machen — liebe schnelle Entschlüsse — Sie auch, — was?“
„Gewiß!“ sagte der Doktor höflich — die Aussicht, einen Miether zu bekommen, goß Öl auf die Wogen seines Zornes. Die beiden Herren nahmen an einem Seitentischchen Platz, um über den Kontrakt einig zu werden.
Kaum hatte der Doktor den ersten Paragraphen vorgelesen, als die Thüre aufging und eine Dame erschien. Sie war nicht mehr ganz jung, aber auch durchaus nicht alt — so hübsch in der Mitte. Ganz jung waren ihre Toilette, ihre Haartracht und ihr Wesen! sie flog wie eine Elfe ins Zimmer und umarmte Käthe mit kindlichem Ungestüm.
Das war Fräulein Leontine von Faldern, die mit ihrer Großmama, der verwittweten Generalin, die Hälfte des zweiten Stockes im Hause bewohnte. Der Baron hatte sie kaum erblickt, als er aufstand und auf sie zutrat.
Der Doktor, im Ausfertigen seines Miethskontraktes unterbrochen, kreuzte die Arme, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sagte düster: „nett!“
„Mein gnädiges Fräulein,“ begann der Baron, „ich bin entzückt, Sie zu begrüßen! Wie ist Ihnen die Stumme von Portici bekommen?“
„O ausgezeichnet!“ erwiderte Leontine, „es war eine allerliebste Aufführung! Ich war mit Schraffenaus da — Will ist jetzt bei ihnen zum Besuch — Sie wissen ja — Will Schraffenau, der bei den zweiten Kürassieren stand! Will kann zu amüsant sein, nicht?“
„O ja, meine Gnädigste,“ erwiderte der Baron, „aber nichts gegen Lu! Sie erinnern sich doch? Lu Schraffenau, der die zweite Sandrowsky — Peppi Sandrowsky — zur Frau hat? Sie kennen sie doch? Graziös, was?“
„Na!“ brummte der Doktor vor sich hin, „bis die beiden jetzt den Grafenkalender durchgearbeitet haben, kann mein Miethskontrakt schwarz werden!“
„Denken Sie nur, meine Gnädigste, ich bin im Begriff, Ihr Hausgenosse zu werden! Charmant, was?“
„Ach, wie reizend! Das muß ich Großmama erzählen!“ rief Leontine entzückt.
„Ja, dann lassen Sie aber den Herrn Baron erst hier zu Ende kommen,“ sagte der Doktor, und schob sein Tischchen in die andere Ecke des Zimmers — dort konnte er hoffen, ungestört zu bleiben, „bitte, Herr Baron! — der Miether verpflichtet sich“ —
Während die beiden sich wieder in den Kontrakt vertieften, plauderten die Mädchen in der Fensternische.
„Käthchen, ich komme nur, um Sie etwas zu fragen — ist heute großer Zauber bei Scharffs? Ich dachte schon, der Sohn wäre gekommen, den ich von früher her kenne — wissen Sie, er war Adjutant bei meinem Vetter Storrwitz, und meine Cousine neckte mich immer entsetzlich mit ihm — ist er gekommen?“
„Nein, er wird erst erwartet,“ erwiderte Käthe, „ich weiß auch nicht, warum sie heut plötzlich eine Fête geben.“
„Nun ja — aber die Frage ist, was zieht man an? Rabeneck ist auch da, ich habe die Scharff gefragt.“
Die Beiden erörterten die Toilettenfrage und Leontine hüpfte endlich ab.
Inzwischen wurde es so dunkel, daß der Doktor zu seinem Miethskontrakte nach der Lampe rief. Das Mädchen erschien, brachte aber nur einen Armleuchter mit einem Licht.
„Die Lampe!“ donnerte der Hausherr.
„Verzeihen Sie, Herr Doktor — unsere Lampen sind alle oben beim Herrn Major — die Kinder arbeiten auch bei Licht.“
„Darauf machen Sie sich gefaßt,“ sagte der Doktor, kochend vor Wuth, „wenn Sie hier ins Haus ziehen, wird Ihnen von Majors alles abgeborgt, was Sie haben und nicht haben!“
„Aber Papa!“ rief Käthe vorwurfsvoll und verlegen.
„Ich bitte Sie,“ rief der Baron ängstlich, „das ist ja sehr unangenehm! Alles verborgen? Muß man das?“
„Das frage ich mich schon seit zwei Jahren!“ grollte der Doktor, „denn so lange wohnen sie hier, und was sie sich alles borgen, spottet jeder Beschreibung. Ich wollte nur, sie ließen einmal auf einen halben Tag um mich bitten, da wollte ich es ihnen schon abgewöhnen! Aber weiter: „die Wäsche muß in dem dazu bestimmten Waschhaus“ —
„Eine Empfehlung von der Frau Majorin, und ob sie die silbernen Armleuchter bekommen kann?“ sagte das Dienstmädchen und griff bereits nach dem fraglichen Gegenstand.
„Sie sind wohl verrückt!“ schrie der Hausherr in verzeihlichem Ingrimm, „sollen wir hier im Dunkeln sitzen?“
„Mein Gott, ist es denn schon so spät!“ sagte der Baron, und sah nach der Uhr, „wahrhaftig — halb sieben! Pardon, Herr Doktor, aber ich muß an meine Toilette gehen — wir sehen uns ja wohl heute Abend beim Herrn Major? Ich komme dann morgen in aller Frühe, und wir beenden das Miethsgeschäft, was? Wann stehen Sie auf? Um sieben? Acht? Neun?“
Der gänzlich resignirte Doktor pfiff statt aller Antwort einen Walzer — das Symptom des letzten Verzweiflungsstadiums, als er seinen Gast zur Thür geleitete.
„Nun borgen sie sich auch schon die Miether!“ sagte er vor sich hin, als er hinausging.
Käthe blieb allein. Die Dunkelheit, die sanft und leise zum Fenster hinein schlich, kam ihr eben recht. Sie dachte so still vor sich hin — die Phantasie ist ein Nachtfalter, der seine Schwingen am liebsten in der Dämmerstunde ausbreitet. Warum war ihr noch nie so bange vor der Zukunft gewesen als heut — warum noch nie der Gedanke an die von den Ihrigen so sehnlichst gewünschte Heirath mit dem Hauptmann Scharff so schrecklich erschienen? Ach, die Träume von den kommenden Tagen hatten seit ihrer Reise eine bestimmte Gestalt angenommen — zum ersten Mal! Käthes Herz war bisher ein unbeschriebenes Blatt — noch nie hatte eine Begegnung ihre Einbildungskraft, viel weniger ihr Gefühl zu erregen vermocht — aber es war ihr auch noch nie jemand mit so liebenswürdiger Ironie, mit so gutmüthig überlegenem Ernst entgegen getreten, als der Fremde, dem sie sich doch wie ein unartiges Kind gezeigt! Sein festes, kluges Gesicht mit dem humoristischen Lächeln, seine tiefe, freundliche Stimme gaben ihr das Gefühl einer Sicherheit und Zuversicht, wie sie es nie zuvor gekannt hatte. Doch was half das alles! sie kannte seinen Namen nicht — er nicht den ihren — sie würden sich wahrscheinlich nie wiedersehen! Und mit einem tiefen Seufzer stand sie auf, und ging in ihr Zimmer, um sich anzukleiden.
Inzwischen herrschte bei der Majorsfamilie schon einige Aufregung. Die Frau des Hauses wanderte in den menschenleeren Räumen umher, die bereits im festlichen Lichterglanz erstrahlten, rückte hier und da an den Stühlen und stand dann wieder überlegend still, ob noch etwas fehlte, wonach man zu Doktors schicken könnte.
Da öffnete sich die Thür und ein großer, blonder Mann trat ins Zimmer.
Die Majorin wandte sich um.
„Nun, Mamachen,“ sagte der Eintretende freundlich, „du hast noch zu thun? Ich hoffte eben auf eine gemüthliche halbe Stunde mit dir, ehe die Gäste kommen.“
„Ich bin fertig“, sagte die Mutter, und trat vor den Stuhl, in den sich ihr Sohn niederließ. Sie legte ihm die Hände auf beide Schultern und sah ihm zärtlich ins Gesicht.
„Mein alter Junge — wie du wieder verbrannt bist!“
„Im Winter, Mama? Nein, das ist wohl meine natürliche Farbe, du mußt dich schon daran gewöhnen.“
„Und du warst ein so weißes Kind!“ sagte die Mutter lächelnd. „Jetzt sage mir aber einmal, Kurt — ist es dir eigentlich recht, daß ich heut Abend unsere Hausgenossen eingeladen habe? Du machtest mir bei der Ankündigung ein so besonderes Gesicht.“
„Nun, offen gesagt, wäre ich eben so gern mit Euch allein gewesen, Mutterchen — aber wir sind ja, so Gott will, noch viele Abende zusammen. Wer kommt denn heut?“
„Also,“ begann die Majorin, „da ist erstens die Generalin Faldern mit ihrer Enkeltochter Leontine —“
„Was?“ unterbrach der Hauptmann lebhaft, „Tine Faldern ist hier?“
„Kennst du sie?“
„Wie sollte ich nicht! — Als ich bei Storrwitz Adjutant war, hielt sie sich ja einen ganzen Winter dort auf! Sie hieß damals immer die Tochter des Regiments, weil sie so genau in der Rangliste Bescheid wußte. Uebrigens ein hübsches, amüsantes Mädchen — es ist mir ganz lieb, sie einmal zu treffen, wir haben eine Menge gemeinsamer Beziehungen.“
Die Majorin sah etwas mißvergnügt aus, sagte aber nichts.
„Dann,“ fuhr sie fort, „von Hausgenossen heißt das, kommt noch unser Wirth — der Doktor Lang mit Frau und Tochter —“
„Ach — die berühmte Käthe! Ich kenne dich, Mama! Hätte ich mir’s nicht denken können, daß du wieder einen Heirathsplan wie einen Lasso bereit hältst, um ihn mir Unglücklichen über den Kopf zu werfen? Aber gieb dir keine Mühe, Mama — es wird nichts!“
„Sei doch nicht so absprechend,“ bat die Mutter, „du hast Käthe noch gar nicht gesehen — ich sage dir, sie ist allerliebst! Hübsch, sehr gut erzogen und sehr gescheidt — sie würde ausgezeichnet für dich passen!“
„Kann sein, Mama! aber ich will dir etwas sagen — ich werde wohl überhaupt nicht heirathen. Sieh,“ fuhr er lebhaft fort, als die Mutter eine Bewegung des Unmuths machte, „ich bin — nenne es phantastisch, unpraktisch, kurz, was du willst — aber ich bin entschlossen, mich nur zu binden, wenn ich ein Mädchen finde, von der ich sage: ‚Die oder keine!‘ Und solche Dinge kommen vor! — Ich sage dir, sie kommen vor! Lache mich nicht aus, Mutter — aber ich habe ein Mädchen gesehen, das mir gefällt, und wenn ich die wiedersehe, und sie will mich — dann sollst du am längsten auf eine Schwiegertochter gewartet haben. Frage mich aber nicht weiter — ich bin auf der Suche — das laß dir genug sein. Und verschone mich mit deiner Käthe — ich mag sie nicht!“
„Guten Abend, Frau Majorin,“ sagte in diesem Augenblick die Generalin Faldern, die in taubengrauer Seide ins Zimmer rauschte, von der rosafarbenen Leontine gefolgt. „Sie waren so freundlich, uns zu erlauben — ah, das ist wohl Ihr Herr Sohn?“
„Ja, er ist gestern angekommen,“ sagte die glückstrahlende Mutter, ihn den Damen vorstellend, „er hat mich überrascht! Es ist doch einzig von ihm; aber er war von jeher ein so guter Junge!“
Wenn diese öffentliche Liebeserklärung dem Hauptmann peinlich war, so ließ er es durch keine Miene merken — er lächelte sehr freundlich und wandte sich an Fräulein Leontine, die ihm als altem Bekannten vergnügt die Hand hinstreckte.
„Herr Hauptmann — das ist aber eine Ueberraschung, die Ihrer Frau Mutter vollständig gelungen ist! Allerliebst, das muß wahr sein! Und nun erzählen Sie mir von W.... — was machen die dritten Husaren? Und wo stehen jetzt die Vierundzwanziger? Hat Trotha wirklich einen so großen Pas gemacht, und muß Schulten den Abschied nehmen? Ach, es waren doch schöne Zeiten?“
„Ihre Theilnahme für meine Kameraden rührt mich aufs tiefste, mein gnädigstes Fräulein,“ erwiderte der Hauptmann ernsthaft, „ich kann Sie versichern, daß die dritten Husaren sich sehr wohl befinden, und daß die Vierundzwanziger sich ohne Ausnahme Ihnen durch mich zu Füßen gelegt hätten, wenn sie hätten ahnen können, daß ich so glücklich sein würde, Sie zu sehen.“
„Ach, Sie spotten wieder,“ schmollte Leontine, „aber ohne Scherz — erzählen Sie mir ein bischen! Hat mein Vetter Storrwitz sich ein neues Pferd gekauft? Der Braune von damals war doch ein süßes Thier — er ist mir noch manchmal im Traume erschienen!“
„Glücklicher Brauner!“ sagte der Hauptmann — und begann nun wirklich zu erzählen. Leontine hörte fächerschlagend zu, und die Unterhaltung war so lebhaft, daß der eintretende Gastgeber kaum seine Begrüßung dazwischenschieben konnte. Er sah mit seinem Orden im Knopfloch und mit seinem grauen Haar wirklich ganz stattlich aus und machte ganz zeitgemäße Konversation mit der Generalin — freilich sagte er meist nur: „nun eben!“ eine Wendung, die er vorzugsweise gern anwendete, und mit der man merkwürdig weit kommt, wenn man sich erst einmal darauf eingerichtet hat.
Inzwischen fanden sich die Gäste nach und nach ein — schon klingelte es wieder.
„Das sind gewiß Langs,“ rief Leontine, „ich muß Käthe entgegengehen,“ und damit flog sie hinaus.
Der Hauptmann sah ihr etwas verwundert nach, und wandte sich dann, um den Baron Rabeneck zu begrüßen, der eben erschien.
„Entzückt — entzückt, Herr Hauptmann, Sie kennen zu lernen,“ begann der Baron schmelzend, „Sie stehen bei einem B.’schen Regiment?“
„Ja wohl, Herr Baron — schon seit zwei Jahren,“ erwiderte der Hauptmann.
„Und vorher?“
„Bei den —schen Husaren!“
„Kamen Sie dort gleich aus dem Corps hin? Wo stehen die Husaren?“
„In W....“ sagte der Hauptmann etwas verwundert.
„Ist das eine hübsche Stadt? Ja? Ich war auch Offizier — bei den —ten Dragonern — reizende Uniform, was?“
„Allerliebst!“ sagte der Angeredete, über dessen Gesicht ein immer vergnügteres Lächeln flog. „Sie sind pensionirt, Herr Baron?“
„Ja — ich sehe Ihnen wohl noch zu jung aus — was?“
Während der Hauptmann in diesem Kreuz- und Querfeuer von Fragen stand, in dem ihm nach und nach heißer wurde als im Kugelregen, hatte Leontine auf dem Flur die Langsche Familie in Empfang genommen und Käthe sofort zugeflüstert: „der Sohn ist da!“
Käthe zog die Augenbrauen zusammen: „Wie albern — warum hat uns die Majorin das nicht gesagt?“
„Sie wollte Sie wohl überraschen,“ fuhr Leontine eifrig fort, „aber Käthe, Sie brauchen kein so verzweifeltes Gesicht zu machen — er scheint kein Spießgeselle bei der Verschwörung seiner und Ihrer Mutter zu sein — eben als wir kamen, sagte er vernehmlich zur Majorin, „verschone mich mit deiner Käthe — die Art Mädchen ist nichts für mich!“
Das hatte zwar der Hauptmann nicht gesagt — aber darauf kam es Leontine nicht an. Käthe, ohne sich klar zu werden, daß diese Äußerung schon dadurch sehr unwahrscheinlich wurde, daß der Hauptmann sie nie gesehen hatte, richtete sich hoch auf — das stolze, jugendliche Blut schoß ihr bis in die Stirn — „nun, dann stimmen ja unsere Ansichten über einander auf ein Haar“ — sagte sie — warf den kleinen Mund verächtlich auf, und folgte ihren Eltern in den Saal. Käthe sah heute Abend sehr hübsch aus. Ein einfaches, weißes Kleid ließ ihre jugendliche Gestalt zum Vortheil erscheinen, und ein Strauß von Fräulein Sabines rothen Nelken hing an ihrem Gürtel.
Die Majorin eilte den Hausgenossen entgegen und begrüßte sie aufs lebhafteste.
„Guten Abend, Herr Doktor — nein, das ist reizend, daß Sie gekommen sind, Frau Doktorin — und hier ist auch meine kleine Ueberraschung — sie ist freilich ein wenig groß ausgefallen — mein Sohn!“
Käthe blickte auf — und plötzlich drehte es sich vor ihren Augen wie ein feuriges Rad. Der große, blonde Mann, der sich eben mit einem ernsten, wiedererkennenden Lächeln vor ihr verbeugte, war ja ihr Reisegefährte — so mußte es enden! Er hatte sie also erkannt — er hatte auf der Tour hierher sondiren wollen, wie die Käthe sei, von der seine Mutter ihm wohl schon eben so oft erzählt hatte, wie dieser selben Käthe von ihm — und was war das Resultat seiner Beobachtungen? — „Verschone mich mit deiner Käthe — ich mag sie nicht!“
Alles dieses dachte sie blitzschnell in einem einzigen Augenblicke, und ehe der Hauptmann Zeit gehabt hatte, ein Wort an sie zu richten, neigte sie den Kopf ein ganz klein wenig, und wandte sich ab. „Guten Abend, Herr Baron,“ sagte sie mit fieberhafter Lebendigkeit, „also Sie sind doch noch rechtzeitig mit Ihrer Toilette fertig geworden? das freut mich.“
Der Baron eröffnete sofort ein Kreuzfeuer von Fragen über die rothen Nelken, und daran anknüpfend über Fräulein Sabine — Käthe war gerettet. Denn der Hauptmann, der ihr finsteres Gesicht wohl mußte verstanden haben, trat ruhig zurück und sprach weiter mit Leontinen, die noch das curriculum vitae eines Pferdes von ihm verlangte, das er einst besessen hatte, und dessen weitere Schicksale sie mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit durch sechs Regimenter verfolgte.
Die älteren Herrschaften gruppirten sich indeß um den runden Sofatisch, es war noch eine Familie hinzugekommen, die eines Regierungsraths a. D. — in unserem Städtchen waren die meisten Leute a. D. — vielleicht den Bäcker und den Fleischer ausgenommen — und der letzte Gast war ein Justizrath, der noch von Zeit zu Zeit verfehlte Versuche machte, eine Frau zu bekommen, und nach jedem Versuch sich auf ein Jahr wieder von der Gesellschaft zurückzog, so daß er durchschnittlich nur den dritten Winter in der Welt glänzte.
Die Generalin, deren Enkeltochter in beständigem tête-à-tête mit dem hoffnungsvollen Hauptmann war, stieg von ihrer unnahbaren Höhe herab und war ganz liebenswürdig — gewöhnlich sprach sie kein Wort. „Wie das junge Völkchen heiter ist!“ bemerkte sie zum fünftenmal, als sie ihre Lorgnette von den Augen ließ.
Die Majorin nickte etwas bittersüß — Käthe saß mit dem Justizrath und dem Baron zusammen, sie war blaß und ziemlich schweigsam, und der Hauptmann machte auch nicht den leisesten Versuch, sich ihr zu nähern.
Die Doktorin hatte im Stillen auch schon ihre Beobachtungen angestellt und sich geärgert — aber erstens konnte ihre Käthe ja nicht die Initiative ergreifen, und sodann mußte sie bei der Lage der Dinge doch thun, als ob ihr gar nichts an einer Annäherung der beiden läge. So that sie denn sehr unbefangen, und wenn die Majorin sie verstohlen am Kleide zupfte und betrübte Seitenblicke nach der Gruppe der jungen Leute warf, dann lächelte sie so harmlos, als freue sie sich mit der Generalin, daß „das junge Völkchen so heiter sei.“ Ihr Mann umschlich die Plaudernden wie ein beutelustiger Tiger — immer den Baron im Auge, der ja sein präsumtiver Miether war. Durch die unerhörtesten Anstrengungen gelang es ihm auch wirklich, die Aufmerksamkeit des Betreffenden zu erregen — der Baron wandte sich um.
„Spielen Sie Whist, Herr Doktor?“
„Sehr gern!“ erwiderte der Angeredete eifrig — erstens langweilte er sich, und dann wollte er den Baron wegen der Wohnung ausforschen.
„Nettes Spiel — was? Ich spiele leider nicht — kein Kartenspiel — fehlt mir jedes Talent dafür. Sonst habe ich viel Talente — meine selige Mama sagte schon immer „Chlodwig, du bist sehr talentvoll“ — aber Karten“ —
„Dummkopf,“ murmelte der Doktor in sich hinein.
In diesem Augenblick klopfte ihm der Major auf die Schulter, „machen wir heute keine Partie?“
Der Doktor war bereit, der Justizrath, der inzwischen schon im Stillen überlegt hatte, ob er vielleicht um Leontine anhalten sollte — sie war ziemlich die einzige in der Stadt, bei der er sein Heil noch nicht versucht hatte, wurde als Dritter zum Whist angeworben, und die drei Herren setzten sich an den Spieltisch, der in dem Zimmer aufgestellt war, wo die Jugend saß.
Bei dieser — der Jugend — herrschten indeß die verschiedensten Empfindungen. Käthe, die dem Baron zum Opfer gefallen war, antwortete auf seine zahllosen Fragen immer aufs Gerathewohl mit „ja“ und „nein“ — nur wenn die Augen des Hauptmanns zu ihr hinüber flogen, nahm sie einen Schein von Lebhaftigkeit an und wurde gesprächiger.
Leontine, an der anderen Seite des Tisches, ließ alle Minen springen. Sie erinnerte sich an jeden einzelnen Ball aus der Saison, die sie mit dem Hauptmann erlebt hatte, mit überraschender Genauigkeit, und „wissen Sie noch?“ war immer der Refrain jedes dritten Satzes.
Der Hauptmann wußte aber gar nichts — er wurde immer zerstreuter, und als Leontine ihn nach einem Rittmeister zu fragen begann, der seiner Zeit zu den Husaren kommandirt war, bot sich ihm ein Ausweg.
„Herr Baron,“ rief er hinüber, „stand Straten nicht bei den —ten Dragonern? den müssen Sie ja gekannt haben! Fräulein von Faldern erkundigt sich nach ihm!“
„Straten? versteht sich!“ erwiderte der Baron aufstehend, „sehr gut gekannt, haben zwei Jahr bei einer Schwadron gestanden — netter Mensch, was?“
„Jawohl!“ erwiderte der Hauptmann, ebenfalls aufstehend, „hier — erzählen Sie einmal von ihm — changeons!“ Und damit überließ er seinen Platz neben Leontinen dem Baron und begann, sich Käthe zu nähern.
Kaum hatte Käthe seine Absicht bemerkt, als sie sich erhob, und an den nächsten, mit Albums bedeckten Tisch tretend, sich in die Besichtigung derselben vertiefte.
Der Hauptmann folgte ihr und ergriff ebenfalls ein Buch.
„Das kann ich auch,“ bemerkte er halblaut.
Käthe schien mit Blindheit und Taubheit geschlagen.
„Was habe ich denn hier?“ fuhr der Hauptmann gemüthlich fort, und blätterte in dem Buch, „ah — Gedichte — eine ganze Sammlung — darf ich Ihnen etwas vorlesen?“
„Ich danke,“ erwiderte Käthe kurz, „ich sehe mir Bilder an!“
„Schön,“ erwiderte ihr Gegner ernsthaft, „dann werde ich mir selbst vorlesen — ich liebe die Lyrik ungemein — ah hier — das ruft mir ein Erlebniß zurück, „das Dampfroß schnaubt entlang der Halde“ — sehr nett! Wer weiß, was wir noch von dem Dampfroß zu hören bekommen — sollte das nicht in Station Siegersdorff halten? Ich muß mich einmal überzeugen!“
„Ich will das Gedicht nicht hören!“ sagte Käthe.
„Ich bitte sehr, mein gnädiges Fräulein — ich lese mir vor! —“ Er blätterte weiter.
„Hier — ein anderes! „Als ich zum erstenmal dich sah, verstummten meine Worte.“ Stimmt! Also ist es schon mehr Leuten so gegangen. Der hat am Ende auch mit dem Dampfroß zu thun gehabt!“
Käthe, die sich inzwischen gesetzt hatte, stützte den Kopf in die Hand und las, als sollte sie zu morgen eine Aufgabe lernen.
„Hier ist ja noch ein sehr schönes Gedicht,“ sagte der Hauptmann, „immer schmollen, immer grollen, für ein’ Ros’ wär’s zu viel Dorn! Und nun lassen Sie uns zur Prosa übergehen,“ fuhr er plötzlich ernsthaft fort und nahm neben Käthe Platz, „bitte, sehen Sie ruhig weiter in Ihr Buch — ich werde ein gleiches thun — und nun,“ er senkte die Stimme —, „warum sind Sie eigentlich böse auf mich?“
„Woraus schließen Sie, daß ich böse bin?“ fragte Käthe etwas unsicher.
„Nun, mein gnädiges Fräulein, wenn das bei Ihnen gut heißt, dann möchte ich Sie allerdings einmal sehen, wenn Sie böse sind! Ich bin zwar nicht an übertrieben freundliche Behandlung von Ihnen gewöhnt — denken Sie nur an Station —“
„Lassen Sie doch endlich die alte Geschichte ruhen!“ rief Käthe und erröthete tief.
„Sie ist noch gar nicht alt, noch nicht sechsunddreißig Stunden — aber ich will sie begraben — klaftertief — wenn Sie mir Rede und Antwort stehen. Wollen Sie das? Sonst wird die Geschichte, die alte Geschichte, wie Sie sie ungerechter Weise nennen, als Gespenst solange vor Ihnen auftauchen —“
„Hören Sie auf,“ unterbrach ihn Käthe, wider Willen lachend, „was soll ich denn antworten?“
„Das will ich Ihnen gleich sagen — also, was habe ich Ihnen zu Leide gethan?“
„Ist hier bei diesen Bildern eine Ansicht von der Grafschaft T...?“ fragte in diesem Augenblick der Baron, sich dem Tisch nähernd, „ich wollte Fräulein von Faldern einen Begriff von der Gegend geben, wo mein Gut liegt. Sie kennen die Grafschaft? Hübsche Gegend, was?“
„Reizend!“ sagte der Hauptmann, und nahm einen dicken Band Landschaftsbilder vom Tisch, „hier, Herr Baron, in diesem Buche ist ein sehr hübscher Stich, der gerade die Gegend vorstellt, die Sie zu sehen wünschen. Wollen Sie sich überzeugen?“
Der Baron ging mit dem Buche ab.
„Natürlich wird er die Grafschaft nie finden,“ bemerkte Hauptmann Scharff, „ich habe ihm einen Band Ansichten von Spanien gegeben, da mag er suchen! Doch zurück zu unserem Gespräch — was habe ich Ihnen zu Leide gethan? Warum sind Sie böse?“
Käthe nahm sich gewaltig zusammen, und begann sehr tapfer: „Ich bin böse, weil — nun ja, weil ich es sehr häßlich finde, daß Sie mich unterwegs ausforschen und kennen lernen, und mir nicht sagen, wer Sie sind.“
Die Majorin hatte indessen durch die geöffnete Thür schon ein paar sehr befriedigte Blicke nach dem Paar gethan, und als sie sah, daß Leontine im Begriff stand, sich dem vielversprechenden Tische zu nähern, eilte sie wie ein Stoßvogel herbei.
„Fräulein Leontine, singen Sie uns ein Lied? Wir sind ja immer ganz Ohr, wenn Sie am Flügel sitzen — bitte, bitte!“
„Ach ja, mein gnädiges Fräulein,“ stimmte der Baron ein, „Sie singen? Bitte, tragen Sie uns etwas vor — ein Chanson — eine Ballade, was? Ich liebe die Musik leidenschaftlich — reizende Kunst, was?“
Leontine willigte mit etwas gezwungenem Lächeln ein — ob der Gedanke, daß ein Baron in der Hand sicherer sei, als ein Hauptmann auf dem Dache ihren Entschluß beeinflußte, wollen wir dahin gestellt sein lassen. Sie verschwand, von dem Baron gefolgt, im Nebenzimmer, und bald klang ihre sehr hübsche Stimme wohlthuend durch die Räume.
Der Hauptmann und Käthe blieben nun ungestört, denn die Herren am Spieltische waren ganz in ihre Karten vertieft, und der jeweilige Ruf: „zwei Trick — deux honneurs“ — vermochte eine leise geführte Unterhaltung nicht zu beeinträchtigen. Als das Feld rein war, begann der Hauptmann von Neuem. „Ich verstehe Sie gar nicht, mein Fräulein! Ich hätte Sie ausgeforscht? Wo denn? Unterwegs?“
Käthe nickte.
„Aber Sie sind wirklich höchst ungerecht,“ rief der Hauptmann ungeduldig, „woher sollte ich denn in der Eisenbahn wissen, daß Sie und die viel beschriebene Käthe ein und dieselbe sind? Nun sagen Sie einmal selbst, daß ich es nicht wissen konnte!“
„Ja ja!“ gab Käthe zögernd zu.
„Nun gut — also darin bin ich gerechtfertigt! Aber selbst, wenn ich Sie gekannt hätte — ich gestehe Ihnen offen, daß ich auch dann noch kein Verbrechen begangen zu haben glaubte! — es steckt wohl noch etwas Anderes dahinter! Nicht wahr?“ drängte er, als sie schwieg und tief erröthend zu Boden blickte.
„Aber in aller Welt, so geben Sie mir doch wenigstens die Möglichkeit, mich zu vertheidigen,“ rief er fast heftig, „mein gnädiges Fräulein — Fräulein Käthe — wir waren doch so gute Freunde unterwegs — waren wir das nicht? Sehen Sie — Sie nicken ja! nun seien Sie einmal recht vernünftig und sagen Sie mir, was ich Ihnen gethan habe!“
„Was haben Sie denn zu Ihrer Mutter gesagt, ehe ich kam?“ fragte Käthe trotzig und blickte auf.
Er sah sie erst zweifelhaft an, dann lachte er — aber etwas verlegen. „Ich kann mir denken, wer Sie instruirt hat! Soll ich Ihnen das Gespräch erzählen?“ fragte er in sonderbar weichem Ton, und bückte sich, um ihr in die Augen zu sehen. „Ja oder nein?“
„Ja!“ sagte sie hastig und leise — ihr Herz fing an, heftig zu klopfen.
„Nun denn — ich sagte meiner Mutter, daß ich nicht Lust hätte, hier irgend ein junges Mädchen kennen zu lernen, — heiße sie Käthe oder sonst wie — weil — nein, sehen Sie mich einmal an, Fräulein Käthe — weil ich mich unterwegs in der Eisenbahn, wie ein Student verliebt hätte — in eine Unbekannte, — und wenn nun ein freundlicher, lieber, guter Zufall es so gefügt hat, daß diese Unbekannte diejenige ist, die meine Mutter — Gott segne meine Mutter — schon lange für mich ausgesucht hat —“
Ein blendend heller Lichtstrahl fiel in die Stube, „es ist angerichtet,“ rief der Lohndiener mit Stentorstimme.
Der Flügel wurde zugeklappt, Stühle gerückt, die Whistspielenden warfen die Karten zusammen — man ging zum Abendessen.
Käthe war bei dem Eintreten des Lohndieners schnell wie der Blitz vom Sofa fort und zu den Herren am Spieltisch geeilt. Dafür hatte sie nun ihre Strafe! Der Justizrath reichte ihr den Arm, um sie zum Souper zu führen.
Die Anordnung der Plätze bot noch einige Schwierigkeiten — die Majorin hatte aus Versehen für zwei Personen zu wenig decken lassen, und diese beiden Uebriggebliebenen standen nun ziemlich verlegen hinter den besetzten Stühlen der anderen.
Während noch schnell nach den fehlenden Tellern, Messern und Gabeln zu Doktors hinaufgeschickt wurde, kroch der Major unter allen Sofas und Schränken umher, um die Tischzettel zu suchen, deren einige ihm verloren gegangen waren. Bei der etwas genialen Hausordnung konnte es geschehen, daß er von seiner Entdeckungstour bestaubt, wie alter Ungarwein zurückkam, und nicht einmal fand, was er suchte.
Der Hauptmann hatte es nicht mehr möglich machen können, sich Käthe zu nähern, die schon seit zehn Minuten wartend Arm in Arm mit dem Justizrath stand — eine Situation, die zu den allerpeinlichsten gehört, und die die wenigsten Leute den Verstand haben, dadurch zu coupiren, daß sie die Dame bis zum geeigneten Moment loslassen.
So fiel denn dem Hauptmann Leontine zu, an deren anderer Seite der Baron Platz nahm. Käthe saß schräg gegenüber; sie sprach kaum ein Wort und sah nicht in die Höhe, so sehr der Hauptmann sich bemühte, einen Blick von ihr aufzufangen.
Leontine bemerkte sein Bestreben wohl — sie gab ihn auf! Als kriegsgewandte, junge Dame änderte sie ihre Taktik sofort, und schwenkte blitzschnell zu dem Baron hinüber, der ihr von seinem Gut erzählte, und sie fragte, ob sie das Landleben liebe?
Diese Anknüpfung war vielversprechend, und Leontine schmiedete das Eisen, so lange es heiß war. Von ihrem Soldatenenthusiasmus sprang sie zur Oekonomie über, schwärmte für Stallfütterung und Rieselwiesen, und that ganz ländlich.
Im allgemeinen belebte eine zwanglose Heiterkeit den kleinen Kreis. Nur die Generalin machte eine Ausnahme, als sie bemerkte, daß der Sohn ihrer Gastgeber fahnenflüchtig wurde. Ihr seelenvolles Lächeln erfror in der schönsten Blüthe, sie war wieder ganz Würde, und der Major, der sie gebührender Weise zu Tisch geführt hatte, erntete für seine ohnehin nicht glänzenden Unterhaltungsversuche nur ein kühles „hm“ oder „ja, ja!“
Der Doktor war in bester Laune. Hatte nicht der Baron ihm soeben als „seinem liebenswürdigen Hauswirth“ zugetrunken, und um die Erlaubniß gebeten, im Lauf des folgenden Vormittags Kontrakt zu machen. „Dann soll mir aber gewiß nichts dazwischen kommen,“ gelobte sich der beglückte Vermiether innerlich, und riegelte schon im Geist alle Thüren in dem Verhandlungszimmer ab.
Seine Frau war still und wich der Majorin scheu aus — sie wußte nicht, was sie von dem veränderten Wesen ihrer Tochter denken sollte — und ehe nicht feststand, daß der Hauptmann daran keine Schuld trug, mochte sie mit der ganzen Familie nichts zu thun haben.
Dem Hauptmann selbst war am unbehaglichsten zu Sinne. Wenn ein Mann von 36 Jahren sich im Lauf von 36 Stunden verliebt und erklärt, so ist zehn gegen eins zu wetten, daß ihm der Erfolg seiner Werbung zweifelhaft erscheint, wenn die Angebetete ihn auch nur zehn Minuten auf das entscheidende Wort warten läßt. Und er wartete nun schon eine ganze Stunde! Fisch, Rehbraten und Eis hatten seine Qualen mit ansehen müssen, und jetzt saß alles so gemüthlich in den Stühlen zurückgelehnt, als sei dies con amore Nachtafeln das Beste vom ganzen Abend.
Nun, es giebt kein wahreres Wort, als: „alles nimmt ein Ende.“ Die Generalin, die sich neben dem Major nicht gerade im siebenten Himmel des Amüsements befinden mochte, rückte hörbar mit dem Stuhl — die andern folgten. In dem Moment mußte Käthe aller menschlichen Berechnung nach emporsehen — sie that es! Der Hauptmann erhob sein Glas unmerklich gegen sie, sah sie fragend an, und hielt es einen Augenblick. Da — o Freude! — nahm sie ihr noch unberührtes, volles Glas vom Tisch, sah ihn einen kurzen Moment wieder an — erröthete dunkel — und trank dann in ihrer Verlegenheit so geschwind aus, als sei sie gewohnt die Nagelprobe zu machen!
Nun war alles gut! Der Hauptmann wußte, ohne ein gesprochenes Wort, wie die Sache stand — hatten sie sich nicht eben zugetrunken? Und war dieser Comment nicht die zarteste Art einer Erklärung, so war er doch ehrlich gemeint, und das ist die Hauptsache!
Als der Hauptmann daher im Trouble des „Gesegnete Mahlzeit“wünschens Käthe zuflüsterte: „darf ich morgen zu Ihrem Vater kommen?“ genügte er damit eigentlich nur einer Form — er wäre auch ohne diese Frage gekommen, und ihrer Zustimmung gewiß gewesen.
Die Hoffnung der Beiden, sich am heutigen Abend noch einen Moment unter vier Augen sprechen zu können, trog — kaum waren die zehn Anstandsminuten nach Tisch durchgestanden, so rauschte die Generalin abschiednehmend auf ihre Wirthe zu — Leontine folgte, vom Baron auf das liebenswürdigste geleitet. Leontine hatte eine Eroberung gemacht — das war klar! Am Ende hätte sie heut schon sagen können: „Sprechen Sie mit meiner Großmutter,“ ohne, wie jenes voreilige Mädchen meiner Bekanntschaft, die betrübende Antwort zu riskiren: „wovon?“
Aber als sie heut Abend den Kopf aufs Kissen legte, lächelte sie befriedigt. Aus allen Fragen des Barons hatte sie die „Lebensfrage“ schon verblümt herauszuhören geglaubt — „am Ende muß es gerade kein Offizier sein“, dachte sie im Einschlafen, „ein Gut in der Grafschaft ist auch nicht zu verachten! — was steht dort? die 26er oder die 62er?“
Über dem Zweifel schlief sie ein.
Die Doktorsfamilie empfahl sich bald nach Generals. Vergebens hoffte Käthe, daß ihre Mutter in Anbetracht des kurzen Weges, den sie zurückzulegen hatten, noch ein Viertelstündchen zugeben werde. — Die Doktorin hatte zu morgen verschiedene wirthschaftliche Absichten, mit deren Ausführung man in aller Frühe beginnen wollte — da war es hohe Zeit zur Ruhe zu gehen! Man trennte sich.
Die Majorin bedankte sich noch viele, viele Male für die Gefälligkeiten — „Morgen in der Frühe schicke ich Ihnen alles wieder, was Sie mir geborgt haben, liebe Lang“, versicherte sie in der Thür.
Der Hauptmann, der es sich als artiger Sohn des Hauses nicht nehmen ließ, die Gäste bis in den Flur zu geleiten, und Käthchen beim Umnehmen der Sachen behilflich zu sein, schied mit einem so innigen Händedruck vom Doktor, daß dieser, bei der kurzen Bekanntschaft, sich mit Recht über diese Gefühlsverschwendung verwunderte. —
Als die übrige Gesellschaft sich empfohlen hatte, ging der Hauptmann noch auf sein Zimmer, um sich eine Cigarre zu holen, deren er in wichtigen Augenblicken zur Sammlung bedurfte. Sie war auch ein prächtiger Verlegenheitsableiter, als er zu den Eltern zurückkehrte, die gemüthlich im Sofa saßen, und im Genuß der eingetretenen Ruhe schwelgten.
Beide sahen auf, als der Sohn eintrat — er aber schnitt, während er sprach, emsig die Cigarre ab, steckte ein Schwefelhölzchen in Brand, kurz nahm alle möglichen Handarbeiten vor, und begann dann mit etwas unsicherer Stimme eine kleine Rede zu halten.
„Liebe Eltern“, sagte er halb heiter, halb verlegen, „ich bringe ein paar Neuigkeiten. Die eine habe ich soeben erfahren — ich fand auf meinem Zimmer diesen Brief vor, der mir meine Versetzung hierher, vorläufig privatim mittheilt.“
Die Majorin sprang, wie elektrisirt, vom Sofa auf.
„Kurt — wirklich? mein lieber Junge! Wie ist das so schnell gekommen?“
„Ja, Mutterchen, bei uns Soldaten geht dergleichen immer mit Dampf! Die Wahrheit zu sagen erwartete ich aber die Nachricht schon längere Zeit, und verschwieg sie Euch nur, um Euch nicht unnütze Spannung und Aufregung zu bereiten.“
„Ich bin ganz glücklich, Kurtchen“, rief seine Mutter immer wieder, „und du sollst mal sehen — sei nicht böse — aber wenn ich dich hier habe, wirst du dich auch viel leichter zum Heirathen entschließen.“
„Laß’ ihn doch in Ruhe!“ brummte der Major.
Der Sohn lächelte. „Liegt dir wirklich so viel daran, Mama? So unendlich viel?“
„Aber, mein Junge“, sagte die Majorin etwas verwundert, „das weißt du doch!“
„Nun denn, Mamachen — ich bin ja kein Unmensch — siehst du mir gar nichts an?“
Und als die Mutter halb zweifelnd, halb bestürzt zu ihm aufblickte, streckte er ihr beide Hände entgegen: „Gratulire mir, liebe Mama — lieber Vater, ich bin mit Käthchen Lang verlobt.“
Die Exclamationen der überraschten Eltern, besonders der Majorin, bei dieser zweiten Freudenbombe, die in ihr Haus fiel, zu schildern, vermag ich nicht. Wer sich einmal vor kurzem so recht gefreut hat, weiß ganz genau, wie man sich in solchem Fall benimmt — und wer es nicht weiß, dem wünsche ich von Herzen, daß er es bald erleben und an sich ausprobiren möge.
Als man sich für die späte Stunde lang genug gefreut hatte, ging man auseinander und zu Bett — d. h. der Hauptmann ging nicht zu Bett, sondern wanderte die Nacht über unruhig und glücklich in seiner Stube auf und ab, was seinem ahnungslosen künftigen Schwiegervater einige Donnerwetter über die Lohndiener von Majors entlockte, die über seinem Kopf immerfort noch ab und zu liefen.
Einen Versuch Käthens, die Mutter noch einen Augenblick zu sprechen, schnitt der Doktor kurz ab: „Ihr habt den ganzen Tag Zeit zum Unterhalten“, brummte er, „jetzt will ich Ruhe haben. Die Frauen sind doch wahrhaftig wie die schweren Fuhrleute — wenn sie von früh bis Abends nebeneinander auf der Landstraße hergegangen sind, und des Abends ins Wirthshaus kommen, giebts kein Ende mit Erzählen.“ Und er entführte seine Gattin ohne Gnade und Erbarmen.
So suchte denn Käthe die Ruhe auf, ohne irgend jemand ihr Herz entlastet zu haben, nur ihre Träume bauten gefällig auf dem sicheren Grunde der jüngsten Vergangenheit glänzende Luftschlösser der Zukunft, in deren lichten Räumen sie die Nacht verbrachte.
Der „nächste Morgen“ ist an und für sich schon etwas Ernüchterndes — nach einem Ball, — nach einem Streit — nach einem abgeschlossenen Geschäft. — Der „nächste Morgen“ in seiner kühlen Beleuchtung zeigt alle Schwächen und Mängel so viel besser, als der dämmernde Abend.
Nur für eine glückliche Braut hat der „nächste Morgen“ nichts Prosaisches — der Zauber ihrer Erlebnisse hält dem grellen Tageslicht Stand — und wie schlimm auch, wenn’s anders wäre! Die Liebe muß ja im Leben durch alle Zeiten wandern, sie muß die schwüle Mittagshitze und die Schauer des Abends tragen helfen, — und zu glauben, daß dies Kinderspiel sei, fällt nie so leicht, als im Brautstand, wo Wehr und Waffen zum Lebenskampf noch glänzend und neu in der Sonne des Glücks auffunkeln, und alle Illusionen in ungetrübter Pracht wie glänzende Schleier sich über die Wirklichkeit breiten, so daß sie uns nur wie ein schimmernder Garten im Morgenthau erscheint.
Käthe empfand dieses frische Glücksgefühl auch so recht, als sie am nächsten Tage aufstand und an ihre täglichen Pflichten ging, deren erste war, die Geschwister zur Schule zu besorgen. Sie flocht die Zöpfchen der Schwestern mit wahrem Vergnügen, strich den Brüdern die Butterbröte besonders reichlich, und dachte bei sich, wie doch alles heut viel hübscher sei, als gestern.
Die Mutter schlief noch, und Käthe konnte es nicht lassen, die freie Zeit, nachdem die Kinder abmarschirt waren, zu einem kurzen Besuch bei Fräulein Sabine zu verwenden, um dieser treuen Seele die Botschaft ihres Glückes zu verkünden.
Wir dürfen es uns schenken, sie dahin zu begleiten, da wir den Gang der Begebenheiten kennen, und kehren in die Wohnung des Doktors zurück, der sich eben zu einem Krankenbesuch anschickte. Er praktizirte nur noch sehr ausnahmsweise bei zwei oder drei Familien, im ganzen hatte er sich zur Ruhe gesetzt.
Der Doktor gehörte zu der weit verbreiteten Klasse von Männern, die verlangen, daß die Stuben stets rein sind, aber nie gewaschen werden. Dieser Eigenthümlichkeit wurde insofern genügt, als sein Haus nur meuchlings gescheuert wurde — d. h. man überfiel ihn mit der vollendeten Thatsache und er ergab sich dann.
So auch heute. Im Hintergrunde lauerten schon zwei Scheuerfrauen auf sein Verschwinden, und begannen sofort das Werk der Erneuung an sämmtlichen Stubenböden, auf welchen die zwölf Stiefelsohlen der schulpflichtigen Kinder deutliche Spuren des Novemberwetters zurückzulassen pflegten. Nur das sanctum des Doktors blieb verschont und wurde für diesen Tag der Zufluchtsort der übrigen Familie.
Die Hausfrau war sehr verwundert, daß Käthe zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu Fräulein Sabine heraufgegangen war, sie setzte sich daher etwas verdrießlich mit ihrer Arbeit ans Fenster in ihres Mannes Stube, und sah auf die Straße hinab.
Als der Doktor heimkehrte, traf er im Hausflur den Hauptmann in voller Uniform, der sehr stattlich aussah und ihn um die Erlaubniß bat, in einer wichtigen Angelegenheit unter vier Augen mit ihm sprechen zu dürfen.
Hätte dem Doktor nicht der Miethskontrakt so sehr im Kopf gesteckt, so wäre ihm am Ende der Gedanke gekommen, daß es sich hier um Käthe handeln könne. So aber lud er den Hauptmann zerstreut ein, ihm zu folgen, öffnete die Thür zu seinem Zimmer, und steckte den Kopf herein — da saß seine Frau.
Aergerlich über diese Invasion schlug er die Thür wieder zu und öffnete das Eßzimmer, dessen Pforte ihm die Perspektive auf die übrige Wohnung erschloß. O weh — über die Dielen der Zimmer rieselte das Wasser, ein intensiver Seifengeruch belebte die Atmosphäre, und aus jedem Raum stieg „ein feuchtes Weib empor.“
Das Scheuerfest in seinem unangenehmsten Stadium hatte begonnen!
Der Doktor fügte sich ins Unvermeidliche. Er lud den Gast ein, abermals in sein Zimmer zurückzukehren, wo inzwischen das Feld rein geworden war. Die Doktorin hatte nur ihren Mann und nicht den Hauptmann gesehen, und wollte den ersteren, ihrem Prinzip getreu, sich erst „austoben“ lassen — sie verschwand daher in der Küche und schnitt mächtige Frühstücksschnitten für das heut vermehrte Hauspersonal.
Indessen stand der Hauptmann in männlich gefaßter Haltung vor dem Doktor. Das Anfangen war doch entsetzlich — so schwer hatte er sich’s nicht gedacht.
„Ich komme, verehrter Herr Doktor“, begann er mit etwas gepreßter Stimme, „um Ihnen eine Bitte vorzutragen.“
Bautz — ging die Thüre auf — „der Baron von Rabeneck ist da, Papa!“ rief Käthe ins Zimmer tretend, erblickte den Hauptmann, stieß einen kleinen Schrei aus, und war weg, wie der Blitz.
„Ach, verzeihen Sie — verzeihen Sie einen einzigen Augenblick“, sagte der Doktor eilfertig, „der Baron kommt, um seinen Miethskontrakt abzuschließen — ich stehe dann sofort zu Diensten! — Guten Morgen, Herr Baron — ich freue mich — die Herren kennen sich ja! Bitte, Herr Hauptmann, verziehen Sie einen Augenblick, wir sind bald fertig.“
„Wie ist den Herren das gestrige Fest bekommen?“ fragte der Baron im Eintreten, anscheinend ganz aufgelegt zu einer Unterhaltung, die, recht breit in der Anlage, einen hübschen Zeitraum bis zur Vollendung versprach.
„O, recht gut“, sagte der Doktor, der auch nicht eilig schien, „es war ein bischen spät.“
„Aber ein allerliebstes Fest — auf Ehre! Wie ist Ihren verehrten Eltern der Abend bekommen?“ (zum Hauptmann gewendet.)
Dieser murmelte etwas Unverständliches — er erstickte fast vor Zorn und Verlegenheit.
„Und Ihre Damen, Herr Doktor?“
„Die sind schon lange wieder auf den Füßen!“ bemerkte der Doktor wohlgefällig.
„Oh — so matinal? Sind Sie immer so matinal? Aber das finde ich sehr recht! Morgenstunde hat Gold im Munde! Mein seliger Papa pflegte das immer zu sagen — Morgenstunde hat Gold im Munde — ganz richtig — was?“
Der Hauptmann verbeugte sich stumm — er hätte um die Welt jetzt nicht sprechen können. Der Doktor trat zum Schreibtisch und wühlte in den Papieren.
„Wollen wir an unseren Kontrakt gehen, Herr Baron?“
„Sofort — ganz zu Diensten! Ja — noch einen Augenblick — denken Sie, Herr Hauptmann, wie der Zufall spielt — nicht wahr? Einzig manchmal! Wir sprachen doch gestern Abend von Straten — was?“
„Ich erinnere mich nicht!“ sagte der Hauptmann unklug und wuthbebend.
„Aber ich bitte Sie! Sie fragten mich noch nach ihm — Straten, der zu den Husaren kommandirt war, und mit dem ich bei den Dragonern stand — besinnen Sie sich jetzt? was?“
„Ja, ja!“ grollte der Hauptmann.
„Nun denken Sie, wie der Zufall spielt — nein, man kann wirklich sagen ‚spielt‘, denn er spielt manchmal, was? und wir sind sein Spielzeug! Das ist so ein Aperçu von mir — liebe solche Aperçus! — nun, um auf unsern Hammel zurückzukommen, womit ich aber nicht etwa den guten Straten gemeint haben will — bewahre! — dagegen protestire ich von vornherein — es ist nur so eine Redensart! Ja, enfin! — ich gehe gestern Abend nach der blauen Krone — ich komme ins Gastzimmer — wer sitzt da? — Straten! Nein, ich bitte Sie!“
Der Baron lachte herzlich.
„Nun, warum sollte er nicht dasitzen?“ fragte der Doktor, jetzt auch etwas unwirsch.
„Aber, ich sage Ihnen ja — wir hatten eben vorher von ihm gesprochen! Er steht in Rotbergen — zwei Meilen von hier — und kommt gerade den Abend her. ‚Guten Abend, Straten!‘ sage ich. Nun hätten Sie mal seine Ueberraschung sehen sollen! ‚Guten Abend, Rabeneck!‘ sagt er. ‚Nein, das ist doch sonderbar, daß ich Sie hier treffe! was machen Sie denn hier?‘ frage ich. ‚Ach, ich langweile mich so in Rotbergen, da bin ich heut hier herüber gekommen, um mal mein Glas Bier wo anders zu trinken‘, sagt er. Und nun plauderten wir von dem alten Regiment — ach, da hat sich auch viel verändert! Der Kommandeur ist weg — nach Braunschweig versetzt, mein damaliger Schwadronschef.“ —
„Ja aber, Herr Baron“, unterbrach der Doktor diese interessante Geschichte, „wenn wir vielleicht erst unseren Kontrakt machen wollten — Herr Hauptmann Scharff wünscht mich dann noch in einer anderen Angelegenheit zu sprechen.“
„Ach, Pardon! — bitte tausendmal um Entschuldigung! aber es war mir — ich dachte, es müßte den Herrn Hauptmann interessiren — es war doch ein zu sonderbares Zusammentreffen, was?“
Und der Baron lächelte vergnüglich und wiegte den Kopf hin und her über den merkwürdigen Zufall.
Während die Herren den Kontrakt durchlasen und daran herumkorrigirten, stand der Hauptmann stumm am Fenster und sah auf die Straße. „Fatal! Einmal anfangen war schon schlimm genug — aber zweimal — das ging gar nicht!“ Er biß sich zornig auf die Lippen. Und der Moment mußte gleich wieder da sein — die Feder des Doktors jagte nur so über das Papier.
Da klopfte es, und ohne das „Herein“ abzuwarten, wurde die Thür sehr weit aufgemacht. Ein Dienstmädchen mit einem großen Tablet erschien, auf dem Porzellan, Glas, Silber und andere Geräthschaften sauber aufgestapelt waren. Sie setzte ihre Bürde auf den Tisch, und begann, ohne auf die Herren besondere Rücksicht zu nehmen: „Eine Empfehlung von der Frau Majorin, und sie schickt die Sachen wieder.“
„Still!“ rief der Doktor mit furchtbarer Stimme — er hatte sich verschrieben, und das haßte er!
„Und die Frau Doktorin ist draußen nicht zu finden, da mußte ich alles hier herein bringen“, fuhr das Mädchen unbeirrt fort.
Der Doktor schrieb.
„Wollen Sie mir nicht die Sachen abnehmen, Herr Doktor?“ fragte das Mädchen, „ich muß dafür stehen, daß nichts fehlt.“
„Rufen Sie Fräulein Käthe“, sagte der Doktor, ohne den Kopf zu wenden.
„Die will nicht hereinkommen“, erwiderte die unerschütterliche Magd.
„Hinaus!“ rief jetzt der Hauptmann donnernd, und wandte sich um. Dieses Wort hatte die Wirkung eines Sprenggeschosses — die Botin flog davon, und ward nicht mehr gesehn.
„So!“ sagte der Doktor aufathmend und erhob sich — „ich habe unterzeichnet — wollen Sie nun auch noch die Güte haben, Herr Baron?“
Der Angeredete hustete und sah etwas verlegen aus.
„Ich hätte noch eine Bitte, verehrter Herr Doktor, ehe ich unterschreibe. — Sie wissen, eine Wohnung ist eine wichtige Frage, — man muß doch einmal drin wohnen — und — kurzum, ich möchte mir das Quartier noch ein letztes Mal ansehen — so einen Ueberblick, wie mein Papa immer zu sagen pflegte. ‚Chlodwig, verschaffe dir immer einen Ueberblick‘, hat er unzählige Male zu mir gesagt! Dürfte ich um diese Gunst bitten?“
Der Doktor pfiff leise — aber er faßte sich, und die Herren schickten sich an, das Quartier zu besichtigen.
Den Hauptmann rührte bei dieser neuen Verzögerung seiner Aussprache fast der Schlag! Hätte ihm ein Gott gegeben, zu weinen, so hätte er geweint! Er trommelte den Dessauer Marsch im rasendsten Tempo auf der Fensterscheibe — er nahm ein Buch vom Tisch und fing an zu lesen — obwohl er für sein Leben nicht zu sagen gewußt hätte, was er las.
Nachdem einige Zeit — für den Hauptmann eine halbe Ewigkeit — verstrichen war, traten die Herren wieder ein. Der Baron sah sehr bekümmert aus und zog sich einen Handschuh an.
Der Doktor stellte sich an das zweite Fenster und wippte mit dem Fuß hörbar auf und nieder — er war offenbar schwer gereizt.
Der Miethskontrakt lag unbeachtet auf dem Schreibtisch.
Endlich näherte sich der Baron, auf den Zehen gehend, dem Hauptmann.
„Ich weiß nicht — es ist mir so unangenehm, nein, wirklich — es ist mir sehr unangenehm!“ flüsterte er, „der Herr Doktor ist so böse — aber ich habe neulich ganz übersehen — das Schlafzimmer liegt nach Nordosten, und das vertrage ich nicht! Meine selige Mama sagte immer: ‚Chlodwig, um alles in der Welt, Sonne im Schlafzimmer — halbes Leben — halbe Gesundheit.‘“
„Schlafen Sie doch wo anders!“ stieß der Hauptmann rauh hervor.
„Kann ich nicht, mein Bester — kann ich nicht! Und dann fehlt mir auch ein Zimmer — ein einziges Zimmer — mein Friedrich muß neben mir logiren! Ja, hätte das allerliebste, reizende Eckzimmer — ein bijou von einem Zimmer — noch ein einziges Fenster! aber so!“
„Ich will Ihnen etwas sagen,“ explodirte der Doktor, „haben Sie die Güte, mein Haus nach Ihren Wünschen umbauen zu lassen, und dann wollen wir wieder vier Stunden Kontrakt machen. Das ist ja —“
Der Baron sah hilflos aus.
„Umbauen? Sie scherzen, Herr Doktor! Der Herr Doktor scherzt — nicht wahr? ich liebe das sehr! scherze selbst gern — ich war immer dafür bekannt, daß ich viel scherze! mein Kommandeur sagte oft: „glaubt dem Rabeneck nicht, er scherzt nur!“ Wie oft! —“
„Nun, dann scherzen Sie nach Belieben,“ schrie der Doktor, „mit mir haben Sie genug gescherzt!“
Und er wandte sich ab.
„Mein Gott, wie peinlich!“ sagte der Baron, und zog sich den zweiten Handschuh an, „und ich wäre so gern hier ins Haus gezogen! aber jeder ist sich selbst der Nächste! was? Wenn ich noch ein Zimmer brauche, das kann mir doch keiner übel nehmen — das finde ich — da kann ich mir nicht helfen!“
Und damit retirirte der Baron, und ging — ungeleitet, denn der Doktor war zu ärgerlich — und man hörte den Weggehenden noch im Hausflur, wie ein abziehendes Gewitter fragen, ob er sich nicht selbst der Nächste wäre.
Wen er fragte, wußten die Zurückgebliebenen nicht — es war ihnen auch höchst gleichgültig. Der Doktor rannte wie ein gefangener Tiger im Käfig auf und ab, und erging sich in den wohlthuendsten Aeußerungen über den Baron.
„Dieser Einfaltspinsel — dieser alberne Kerl — fragt einen erst todt, und miethet dann nicht einmal! Nein, ich war gestern Abend schon so glücklich — mein Quartier so gut wie vermiethet, und nun? Prosit die Mahlzeit! Nun sagen Sie einmal selbst, ist das nicht eine ganz infame Manier, so im letzten Augenblick abzuschnappen?“
Der Hauptmann bejahte durch eine Verbeugung — in diesem Sturm konnte er sein Schifflein nicht auslaufen lassen, erst mußte der Himmel wieder ruhig werden.
„Aber eins sage ich,“ fuhr der erregte Doktor fort, „einen Rath gebe ich jedem, der ihn haben will. Wer kein Haus hat, freue sich, und wer eins hat, zünde es an allen vier Ecken an. Das ist ja —! alle Tage was Neues! Da will der einen Ofen gesetzt haben — dem soll man die Thüren streichen lassen, und dabei bleiben einem die Wohnungen noch leer stehen! Ich danke für mein Haus — ich schenke es weg — da mache ich immer noch ein gutes Geschäft. So habe ich keinen Miether und Aerger, dann habe ich doch wenigstens keinen Miether und keinen Aerger — nein, wahrhaftig!“
Der Doktor schwieg erschöpft, und nahm den Kontrakt in die Hand.
„Den Wisch möchte man doch nun gleich in tausend Stücke reißen,“ begann er von neuem, „der Mensch hat sich verklausulirt, als wenn er ein Testament über eine Million für drei leichtsinnige Söhne machen sollte — um jeden Paragraphen hat er geredet und gefragt — eigentlich kann ich Gott danken, daß ich den nicht als Miether bekommen habe. Ein unausstehlicher Kerl! Aber mein Quartier — nein, ich bin außer mir! nun hängt der Miethszettel wieder aufs unbestimmte aus, und jedesmal, wenn ich nach Hause komme, ärgere ich mich darüber.“
Der Hauptmann trat einen Schritt näher.
„Herr Doktor,“ begann er mit halbem Lächeln, „darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, mit dem uns vielleicht beiden gedient wäre? Das Quartier hat vier Zimmer, wie ich höre — hätten Sie etwas dagegen, mich als Miether aufzunehmen? Ich bin zum ersten Januar hierher versetzt.“
Das Gesicht des Doktors klärte sich auf.
„Ja, aber,“ sagte er etwas zögernd, „ist Ihnen denn die Wohnung nicht zu groß?“
„Nun, dem ließe sich auch abhelfen! Herr Doktor, ich kam heute, wie Sie in der Sturm- und Drangperiode mit dem Baron vielleicht vergessen haben, um in einer persönlichen Angelegenheit mit Ihnen Rücksprache zu nehmen — darf ich meine Bitte jetzt vortragen?“
Dem Doktor ging ein Licht auf.
„Bitte!“ stammelte er verlegen.
„Ich liebe Ihr Fräulein Tochter,“ fuhr der Hauptmann ernsthaft fort, „und sie ist meiner Werbung trotz unserer kurzen Bekanntschaft nicht abgeneigt. Darf ich hoffen, Herr Doktor, daß von Ihrer Seite unserer Verbindung kein Hinderniß im Wege steht? Sie kennen mich ja durch meine Eltern —“
Eine Viertelstunde später rief ein energisches Klingeln die Damen in des Doktors Zimmer. Eine kleine feierliche Scene fand statt, nach deren Beendigung der Doktor sich zur Thür wandte, um Majors herunter citiren zu lassen. Aber er prallte zurück, denn in der Thür stand, verlegen und unsäglich neugierig aussehend, der Baron. Er hatte sich draußen vor der Doktorin in seiner gewohnten Ausführlichkeit gerechtfertigt, und als die Klingel des Hausherrn so ungestüm erscholl, hatte ihn sein Wissensdrang nach dem Zimmer zurück getrieben, wo er zur allgemeinen Entrüstung und Bestürzung der feierlichen Verlobung unbemerkt assistirt hatte.
Aber der Zorn der belauschten Familie machte in der überfließenden Freude der Fröhlichkeit Platz, und der Baron brachte seine Gratulation an und fragte: „Verlobt, was? — ja, das muß sehr hübsch sein — ich finde das allerliebst! werde mich wohl auch entschließen — nur kein Junggesell bleiben, was? Meine selige Mama sagte immer: ‚Chlodwig, du bist fürs Familienleben geschaffen!‘“ Nachdem er diesen Satz zu Ende gebracht hatte, war der beglückte Schwiegervater so erheitert, daß er den Baron für seine Heftigkeit von vorhin um Verzeihung bat, die der gutmüthige Mann auch sofort bereitwillig zugestand.
Als Majors erschienen, und ein improvisirtes Verlobungsdejeuner servirt wurde, wozu die noch aufgestellten Gläser und Tassen vortrefflich zu statten kamen, ließ sich der Baron mit Leichtigkeit bewegen, daran Theil zu nehmen, und alles gruppirte sich um den Tisch in des Doktors Stube.
Nun freute sich jedes auf seine Art! Das Brautpaar war still, aber sehr zufrieden, sie sahen allerliebst zusammen aus. Der Doktor und der Major stießen an, und tranken Brüderschaft. Die Majorin nickte allen mit der Unverdrossenheit einer Pagode zu und weinte Freudenthränen über ihren Sohn und ihre liebe Käthe. Um diese zu trocknen, borgte sie allerdings schluchzend das Tuch von der Doktorin — ihr eigenes war momentan nicht zur Hand. Die Doktorin hätte auch gern geweint, doch unter diesen Umständen ging es nicht und sie mußte sich sehr zusammennehmen. Aber bei der Gelegenheit gelobte sie sich heilig und theuer, das Borgen müßte von nun an seine Grenzen haben, was ihr niemand verdenken wird, der sich in einen ähnlichen Fall versetzen kann.
Der Baron fragte alle der Reihe nach, wie es so gekommen wäre, und erzählte kleine, geistreiche Aussprüche seiner Eltern und ihres Chlodwig, wobei er der Bowle tapfer zusprach, und es durchaus nicht übel nahm, als man Fräulein Leontine leben ließ und ihn ein klein wenig neckte. Und an dieser Stelle will ich denjenigen meiner Leserinnen, die sich für Leontine interessiren, unter tiefster Diskretion verrathen, daß der Baron ganz ernste Heirathspläne hat — die beiden werden sehr gut für einander passen! Aber es soll noch nicht darüber gesprochen werden! — Ja — nicht zu vergessen, auf Käthes Bitten wurde ein Eilbote zu Fräulein Sabine heraufgeschickt, die zitternd und strahlend in ihrem besten Kleide und ihrer Staatshaube erschien, und die Verlobungsbowle ihres Lieblings mit leeren half.
Da sitzen sie nun alle vergnügt beisammen — jeder hat, was sein Herz wünscht, freilich mehr oder weniger — in den Gläsern funkelt der Wein und alles ruft: „hoch das Brautpaar!“
Rufst du mit, lieber Leser? Ich hoffe ja!
Er hielt die Hausthür einen Augenblick in der Hand, als überlege er, ob er sie, seinen Gefühlen gemäß, donnernd zuwerfen und der Undankbaren da oben eine Art von zornigem Abschiedsgruß senden solle — aber die Vernunft siegte doch — die Thür wurde mit keiner ungewöhnlichen Kraftanstrengung geschlossen — und nun stand er auf der Straße! —
Unwillkürlich besah er sich das Haus, das er eben verlassen hatte, von oben bis unten, — nicht als hätte es einen besonders schönen Anblick gewährt, — aber er hatte doch seit Monaten jeden freien Augenblick dort zugebracht, — die blühenden Gewächse hinter den weißen Gardinen hatten ihm allabendlich freundlich zugenickt, wenn er von seiner nahe bei der Stadt belegenen kleinen Besitzung auf muthigem Rößlein vor das Haus der Verwandten gesprengt war. Dann hatte er die Reitpeitsche zierlich zum Gruß gegen das Eckfenster erhoben und ein dunkelblonder Kopf mit schelmischen, blauen Augen hatte ihm freundlich wiedergewinkt.
Die Hausthür ließ ihn gastfreundlich ein, — wie viel Stufen hatte die Treppe? — jedesmal schien eine mehr, bis er den messingnen Klingelgriff in der Hand hielt! Der Hausherr war sein Onkel, nicht ein ganz richtiger Mutterbruder, — aber der schmucke, junge Landmann war als Neffe und Vetter doch schnell und gern genug aufgenommen worden.
Die Familiengruppe blieb allabendlich dieselbe, — in einem bequemen Stuhl, dessen etwas abgeschabte grüne Saffianlehne durch gelbe Knöpfchen eine mehr wohlgemeinte als geschmackvolle Einfassung erhielt, saß der Vater, ein Käppchen auf dem Haar, die lange Pfeife in einer Ecke des Mundes, eine Brille auf der Nase, durch die er die weit von sich gehaltene Zeitung studirte, um von Zeit zu Zeit die Handlung eines Monarchen durch wohlgefälliges Brummen zu billigen oder über die unbedachten Worte eines Ministers langsam und unwillig den Kopf zu schütteln. Seine Frau saß in der Sophaecke, sehr gerade aufgerichtet, — diese vorzügliche Haltung auch ihren Kindern beizubringen, bestrebte sich die Gute fortwährend durch Blicke, Winke und Bewegungen, während ihre Hände Alles, was vorging, durch harmonisches Stricknadelgeklapper in Musik setzten. — Und wenn dann der Theetisch gedeckt war, saßen die vier Kinder dieses gemüthlichen Paares wie Orgelpfeifen um sie her, — die Aehnlichkeit unter den Geschwistern war auffallend, — alle vier zeigten entschiedene Stumpfnäschen, stets zum Lachen bereite Lippen und waren blond und blauäugig. Mit der ältesten konnten sich aber die andern nicht messen, — was in Fränzchens Gesicht zierlich und allerliebst war, hatte bei den beiden Buben eine gewisse unfertige Plumpheit, und die Kleinste befand sich noch in dem Alter, welches für junge Männer einen Gegenstand des Schreckens und Abscheus bildet.
So war unser Held denn natürlich mit der Zeit dahin gekommen, seine Aufmerksamkeit der erwachsenen Tochter zuzuwenden, und sie hatte das ganz freundlich hingenommen, hatte erlaubt, daß er ihr das Streichhölzchen anzündete, um die Spiritusflamme unter dem Theekessel in Brand zu stecken, freute sich über die Blumensträuße, die er aus seinem Garten mitbrachte, und lachte über seine Späße und Erzählungen beinahe so herzlich wie er selbst, — und das wollte etwas sagen!
Kurzum, es war durchaus keine Verblendung und Selbstüberhebung nöthig, um die Entschlüsse reifen zu lassen, die in nächster Zeit unsern Helden bewegten. Noch nicht drei Wochen war es her, da hatte er sich in der Stadt neue Tapetenmuster ausgesucht und dem Bäschen zur Auswahl präsentirt. Da war besonders eins, das er in’s Herz geschlossen hatte, mit blauen, schmalen Streifchen und kleinen Rosenknospen dazwischen, — als er ihr das zeigte und frug:
„Möchtest Du wohl in einer Stube wohnen, die so tapezirt wäre? Ist es nicht niedlich?“
Da antwortete sie freilich nur auf die letzte Frage und sagte:
„Sehr niedlich!“
Aber sie wurde roth und lachte. Warum war sie roth geworden, wenn sie nicht wußte, was er damit meinte? Und mit triumphirenden Gefühlen warb er einen ganzen Leiterwagen voll Tapeziere und Stubenmaler, ließ seine ganze Wohnung neu herrichten und umgab sich viele Tage lang mit dem abscheulichsten Kleistergeruch, — und Alles um nichts und wieder nichts! —
Tagelang ging er dann umher wie ein Verschwörer, — überlegte, — verwarf, — und kam endlich zum Entschluß. Heut, — diesen selben Tag, an dem er fiebernd vor Zorn und Beschämung in der nächtlichen Straße stand, war Fränzchens achtzehnter Geburtstag gewesen! Schon früh ritt er mit einem Blumenstrauß in die Stadt, so groß, daß ihm alle Leute verwundert nachsahen, — das Mädchen empfing ihn mit der größten Freundlichkeit, — zeigte ihm ihren bekränzten Geburtstagstisch, — und man lud ihn ein, am Abend wieder zu kommen, wo eine Gesellschaft junger Leute sich versammeln sollte.
Das that er denn auch, und als er im Hausflur einen kleinen Taschenspiegel hervorzog und sein ehrliches, braunes Gesicht darin betrachtete, kam er sich beinahe hübsch vor. Eine Rosenknospe hatte er in’s Knopfloch gesteckt — und unter der Rosenknospe schlug ein Herz voll Löwenmuth!
Fränzchen hatte sich auch sehr schön gemacht, sie trug ein weißes Kleid mit feinen, blauen Streifen, — es sah seiner Tapete beinahe ähnlich, — und die blonden, glatten Zöpfe waren mit einer frischen Nelke geschmückt, — er hätte sich sehr irren müssen, wenn die nicht aus dem Strauß war, den er heute Morgen gebracht hatte!
Die kleine Versammlung war schon vollzählig, als er eintrat, und Fränzchen vor Allen als Geburtstagskind begrüßte. Er sah aber gleich, daß sie schlechter Laune war.
„Guten Abend, Karl,“ sagte sie flüchtig und mit einem Anflug von Verdrießlichkeit in der Stimme. „Du kommst genau eine Stunde später als du eingeladen bist! Wir hätten schon lange anfangen können zu tanzen, wenn wir nicht hätten auf Dich warten müssen.“
Karl war nun ein herzensguter Junge, aber sein Fehler bestand darin, daß er einen ganz unglaublichen Brausekopf besaß. Er wurde röther, als es selbst der Dame seines Herzens gegenüber nöthig war, machte ein steifes Kompliment und zog sich zurück. Eins kam zum andern, — die Beiden stichelten auf einander, wo sie nur konnten, — und schließlich geschah es, daß Fränzchen sich an ihrem Geburtstag von einem Andern zu Tisch führen ließ und Karl mit einem schnippischen: „ich bin schon versagt,“ abfertigte.
Aber Karl rächte sich! — Unmittelbar nach Tisch wollte man beginnen, nach dem Klavier zu tanzen. Als sich der Heimtückische durch einen schnellen Ueberblick versichert hatte, daß auch ohne ihn eine ausreichende Zahl von Tänzern da sei, ging er über die Stube, stieß plötzlich einen Schmerzensschrei aus und sank auf einen Stuhl. Die ganze Gesellschaft umdrängte ihn besorgt, — Fränzchen allein stand an ihrem Geburtstagstisch und zählte die Blättchen an ihrem Rosenstock, — das erbitterte ihn nun vollends! Er erklärte, er habe sich den Fuß verstaucht, könne unmöglich tanzen, und wolle lieber zusehen, wenn man ihn nicht nach Hause schicke, da er als Invalide nichts auf einem Ball zu suchen habe.
Davon wollten sie nun alle nichts hören und Karl blieb, — aber er tanzte konsequent nicht! Die Fenster waren geöffnet, um die nächtliche Sommerluft einzulassen, — er setzte sich hinter die Gardine und dachte zornig darüber nach, wie anders er sich diesen Abend vorgestellt hatte! Und eigentlich war er ja schuld gewesen, — was mußte er gleich so empfindlich sein! Sie hatte Recht, er war zu spät gekommen, — und es war doch Fränzchens Geburtstag! — Er erhob sich, — es wurde ihm zu heiß hinter der Gardine, — und humpelte, seiner Rolle getreu, über das Zimmer, um den Tanzenden zuzuschauen. Daß er besser tanzte wie jeder der anwesenden Herren, war klar, — das wußte Fränzchen auch, — und deshalb ärgerte es sie so sehr, daß er heute nicht tanzen wollte, denn sie glaubte mit Recht nicht an seinen Unfall.
„Kinderchen, jetzt wird aber aufgehört,“ rief da die Mutter, „es ist schon sehr spät!“
Man war an diese peremptorische Art von Fränzchens Mutter schon gewöhnt, — da erhob sich Karl und bat die Tante flehentlich, noch einen Augenblick zu verziehen, die Schmerzen in seinem Fuß hätten nachgelassen und er wolle einmal mit seiner Cousine tanzen. Eben sollte der Befehl an die Klavierspielerin ertheilt werden, als Fränzchen mit blitzenden Augen dazwischen trat.
„Es thut mir leid, Karl, wenn du auch wieder hergestellt bist, — ich habe mir soeben den Fuß versprungen — und zwar so gründlich, daß ich glaube, wir würden nie wieder in den richtigen Takt kommen.“
Karl biß sich auf die Lippen und schwieg. — Die tanzenden Paare trennten sich, — man ging umher, um sich abzukühlen, und endlich brach man auf. Daß Karl, als Verwandter des Hauses, sich noch nicht mitempfahl, konnte Niemandem auffallen.
Als die Gäste fort waren, trat Fränzchen ans offene Fenster, um ihnen nachzusehen, und Karl, von Reue und Liebe beseelt, stürzte sich Hals über Kopf in das ungeheure Wagniß, bei den Eltern um ihre Hand zu werben. So — nun war’s heraus, — Gott sei Dank! — er sah seitwärts nach ihr hin, ob sie wohl eine Bewegung der Ueberraschung machen würde, — aber sie stand so still und unbeweglich am Fenster, als ginge sie die ganze Sache gar nichts an. Verlegen und zweifelhaft blieb er stehen. Der Vater legte die Pfeife weg, faßte das Mädchen an beiden Schultern und drehte sie herum.
„Nun, Fränzchen,“ fragte er in einer Mischung von Rührung und Humor, „was sagst du? Hier, der Karl will dich zur Frau haben, — na, du hast dir’s wohl schon gedacht? Nun, Mädchen, so sprich doch, — sag’ Ja oder Nein!“
Da sah sie trotzig in die Höhe und sagte mit undeutlicher Stimme ein kurzes „Nein!“ drehte sich wieder um und trommelte an den Scheiben.
Die drei Anderen sahen sich zweifelnd und bestürzt an. — Das kam ihnen allen Dreien unvermuthet, — bis Karl leise bat:
„Laßt mich einen Augenblick mit ihr allein, — ich will sie schon zur Vernunft bringen!“
Die Eltern schienen ihm dies Amt nicht ungern zu überlassen, Karl trat zu der kleinen Eigensinnigen und sah, daß ihre Augen voll Thränen standen.
„Fränzchen,“ bat er herzlich, „sei nicht kindisch! Ich weiß, du hast ein Recht, mir böse zu sein, aber es kann dir nicht mehr leid thun wie mir, daß wir uns heute so mißverstanden haben, — verzeihe mir doch!“
Er wollte ihre Hand fassen, sie zog sie hastig und unwillig zurück.
„Sieh’,“ fuhr er fort, „das Nein, was du mir jetzt sagst, ist doch ein anderes, als eine Absage für einen Tanz! Ich kann dann nicht mehr wiederkommen und fragen, ob du dich anders besonnen hast, — du weißt, ich würde es auch nicht thun, — überlege dir’s einmal, Fränzchen!“
Da sie fortfuhr, stumm den Kopf zu schütteln, trat er verzweifelt zurück und rief die Eltern wieder herein.
„Ich kann nicht mit ihr fertig werden, Onkel, rede du ihr einmal zu, — sie ist zu kindisch!“
Der Vater erschien und rief in etwas barschem Ton das Mädchen, welches sich trotzig vor ihn hinstellte.
„Was fällt dir ein,“ fuhr er sie ziemlich rauh an, „läßt den Karl ablaufen wie einen dummen Jungen, weil ihr irgend eine alberne Uebelnehmerei mit einander gehabt habt! Gleich bist du vernünftig und sagst entweder einen Grund für dein verschrobenes Betragen oder giebst ihm die Hand.“
„Nein, ich will nicht und ich will nicht!“ rief das Mädchen jetzt, von Schluchzen unterbrochen, „erst kommt er zu spät, dann ist er so unhöflich gegen mich wie möglich, dann tanzt er nicht und verdirbt mir meinen ganzen Geburtstag, — nennt mich zweimal in einem Athem kindisch, — und wenn er dann zum Schluß für den reizenden Abend gnädig kommt und mich heirathen will, — da soll ich Ja sagen! Ich thu’s nicht, — ich mag nicht aufs Land, ich will überhaupt nicht heirathen und ich wollte, ihr hättet mir meinen Geburtstag nicht verdorben!“
„Es ist gut, Fränzchen,“ sagte Karl trocken, während sie sich abermals abwandte und ihr Gesicht ins Tuch barg, „wir wollen nicht mehr davon sprechen! Ich habe mich geirrt und bin ein Narr gewesen, — und jetzt kann ich dich nur um Verzeihung bitten, daß ich dir deinen Geburtstag verdorben habe, wie du sagst. Gute Nacht, lieber Onkel, gute Nacht, Tante!“
Fränzchen wurde durch eine stumme Verbeugung beglückt, — dann stürmte Karl davon und der Moment, wo er die Hausthür öffnete und auf die Straße trat, war es, wo wir seine Bekanntschaft machten. Er schlug den Weg nach dem Gasthaus ein, wo sein Pferd stand, und fühlte mit Behagen, daß ein heraufziehendes Gewitter schwere Regentropfen auf seine heiße Stirn sandte, die er schon längst vom Hut befreit hatte. Von Zeit zu Zeit wies er bedeutsam nach seinem Kopf, um ihm durch diese Bewegung vorzuwerfen, er habe ihm einen schlimmen Streich gespielt, daß er nicht mehr mitsprach, als das Herz heut durchging.
Der muntere Trab seines Rößleins sagte seiner Stimmung weit besser zu, als die langsame Fortbewegung der Füße, und doch kam er viel zu früh für seine Wünsche daheim an. Die Wohnung, die er jetzt seit längerer Zeit mit so anmuthigen Zukunftsträumen ausgeschmückt hatte, dünkte ihm unwirthlich und öde, — er erschien sich wie Einer, der zu einer schönen Reise gerüstet auf den Bahnhof ging, den Zug versäumte — und mit entsetzlich ernüchterten Gefühlen den Heimweg antritt. Dieses letzte Gleichniß leuchtete ihm immer mehr ein, — „aber es giebt ja mehr Züge als den einen,“ sagte er halblaut vor sich hin, „führen sie auch nicht alle in das gelobte Land der Ehe, — man kann auch sonst noch Reisen machen, denn hier bleiben ist mir jetzt ein unleidlicher Gedanke! Aber wohin? — ich kann für die nächsten zwei, drei Tage abkommen, ich werde nach Schrobeck fahren!“
Schrobeck war ein kleiner, vielbesuchter Badeort, den die Bewohner der Provinz häufig zu Sonntagsausflügen benutzten. Für gewöhnlich war er nur sehr stark von alten Damen frequentirt, daher er für einen jungen Mann wenig Anziehendes bot. Aber Schrobeck war nun einmal der nächste zu erreichende Ort — und für Schrobeck entschied sich Karl. Ein flüchtiges Bedenken erregte ihm die undeutliche Vorstellung, daß eine alte Tante Amalie, die er zu besitzen sich rühmen durfte, meist um diese Zeit des Jahres in Schrobeck zu weilen pflegte, — aber er tröstete sich mit den beliebten „Vielleichts“: „vielleicht ist sie jetzt noch nicht da!“ oder „vielleicht sieht sie mich gar nicht,“ kurz, er sprang auf und nahm aus seinem etwas sparsam ausgestatteten Bücherschrank ein Coursbuch, in dessen Studium er sich eifrig vertiefte.
Als Resultat dieser Abendlektüre sehen wir Karl am nächsten Morgen in grauem Reiseanzuge mit blauer Kravatte und einer gestickten Reisetasche mit Rosen und Veilchen im Wartesalon des Bahnhofs sitzen, die frühe Stunde — sechs Uhr — hatte dem Landmann keine Ueberwindung gekostet, denn „fort, — nur fort!“ war seine Losung und der erste Zug ging um sechs Uhr zwanzig Minuten. Sein Platz war so gewählt, daß er der Eingangsthür den Rücken wandte und doch im Stande war, mit Hülfe eines ihm gegenüber hängenden großen Spiegels Alle zu beobachten, die den Wartesaal betraten.
Bis jetzt hatten noch nicht Viele seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermocht, — zwei verschlafene, verdrießlich aussehende Damen, deren eine ein Kind in unaufhörlich schaukelnder Bewegung erhielt, ließen in ihm nur den Gedanken aufsteigen: „Gott bewahre mich vor solcher Gesellschaft!“ Dann befand sich ein Handlungsreisender in seiner Nähe, der zum Benefiz der Kellner und der kaffeeschenkenden Nymphe am Büffet sich in zahllosen Scherzen und Scherzchen erging, — vor diesem graute ihm noch weit mehr! Die einzige, wirklich gut aussehende Mitbewohnerin dieses interimistischen Aufenthalts war eine kleine, sehr hübsche Brünette, die mit einem schwarzen Hütchen geschmückt war, auf dem sehr naturgetreue, rothe Kirschen jeden Sperling hätten durstig machen können. Die kleine Dame sah, gegen die Gewohnheit des alleinreisenden weiblichen Geschlechts, ganz sicher und vergnügt aus, und aß, trotz der frühen Morgenstunde, unverdrossen Pfefferkuchen.
„Das wäre schon eher Etwas!“ dachte Karl bei sich.
In diesem Augenblick empfand er jene heftige, schreckhafte Bewegung, bei der wir, wie der Volksmund sagt, aus der Haut fahren möchten. Seine Augen erblickten im Spiegel zwei Gestalten, deren Erscheinen in ihm den unmännlichen Wunsch rege machte, sich sofort unter den Tisch zu verkriechen, was doch nicht anging, ohne unerwünschtes Aufsehen zu erregen.
Ein etwa vierzehnjähriger Bursche, blond, blauäugig, stumpfnäsig, mit einer zierlichen Ledertasche und mehreren Paketen beladen, hatte den Raum betreten, gefolgt von einer jungen Dame mit sehr ähnlichen blauen Augen, blonden Haaren und einem großen Hut, der vergebens die Röthe der Augenlider zu verdecken bestrebt war, — Fränzchen und ihr ältester Bruder!
In Karl’s Gehirn führten allerlei Gedanken einen verworrenen Tanz aus, — er fühlte den unbestimmten Wunsch, etwas zu unternehmen, — und zugleich die beschämende Zuversicht, daß es etwas Dummes sein würde, — endlich that er, was meist das Klügste ist, was man thun kann, — wenn es die Menschen nur einsehen wollten! — er wartete ab!
Fränzchen achtete nicht auf ihre Umgebung, sie stützte den Kopf in die Hand und sah vor sich nieder, der sie begleitende Knabe Fritz dagegen ließ seine munteren Augen im ganzen Saal umherschweifen, bis sie glücklich im Spiegel Karl’s wohlbekannte Züge entdeckt hatten. Doch im selben Moment fuhr der Zeigefinger des Spiegelbildes blitzschnell nach den Lippen, und Fritz, der einer der pfiffigsten Sekundaner des neunzehnten Jahrhunderts war, begriff, — und nickte! Ja, noch mehr, — als Karl mit der Hand nach dem soeben geöffneten Perron zeigte, dann auf sich selbst und schließlich auf Fritz, Fränzchen aber durch ein abwehrendes Kopfschütteln bezeichnete, begriff der kluge Fritz sofort, Karl wolle ihn allein sprechen, und seine etwas unsichere Knabenstimme machte der Schwester den Vorschlag, er wolle in dem schon draußen haltenden Zuge einen Platz für sie belegen, sie solle ruhig hier bleiben.
Fränzchen nickte nur matt mit dem Kopf und legte dann wieder die Hand über die Augen. Karl konnte also unbemerkt den Saal verlassen und den Perron betreten, dessen Uebersicht dem Mädchen durch einen dicken Wandpfeiler unmöglich wurde.
Fritz, der während dessen an den Coupés umherirrte, wurde, wie die Taube vom Stoßvogel, von Karl gepackt und festgehalten.
„Wo wollt ihr hin, Unglückskinder?“ stieß Karl hervor, den Sekundaner mit Blicken durchbohrend.
„Nach Schrobeck,“ erwiderte dieser, sich mit einer mehr kräftigen als anmuthigen Bewegung von den Händen befreiend, die seine Schultern hielten.
„Nach Schrobeck?“ wiederholte Karl dumpf, „dachte ich mirs doch! Aber warum gerade dorthin?“
„Weil Tante Amalie dort ist, — ich bringe die Fränzchen nur vor der Schule auf den Bahnhof, — sie fährt allein!“
„Und ich fahre auch nach Schrobeck,“ sprach Karl in düsterem Tone, sein Billet emporhaltend.
Fritz beantwortete diese Mittheilung durch ein so unauslöschliches Gelächter, daß mehrere Bahnbeamte sich argwöhnisch und neidisch nach dem Eigenthümer so vieler Heiterkeit umsahen.
„Was lachst du denn, dummer Junge?“ rief Karl jetzt ergrimmt, „sage lieber, wie Fränzchen so plötzlich darauf kommt, abzureisen! Gestern Abend war doch noch gar nicht davon die Rede!“
„Denkst du denn, ich weiß gar nichts,“ erwiderte Fritz, dessen Schlauheit bereits keine Grenzen mehr kannte. „Die halbe Nacht ist noch bei uns ein fürchterlicher Spektakel gewesen, — Fränzchen hat geweint, der Vater hat gezankt, sie sei ein dummes Ding, die nicht wisse, was sie eigentlich wolle, und sie solle gleich zur Tante reisen, bis sie zur Vernunft gekommen wäre. Dann hat mir der Vater einen Brief gegeben, den sollte ich zu dir tragen, wenn ich aus der Schule käme, — da du aber nach Schrobeck fährst, behalte ich ihn natürlich!“
„Her mit dem Brief!“ herrschte Karl mit so wildem Ton und Blicke, daß Fritz, vor diesem furchtbaren Anblick erzitternd, den Brief aus der Tasche zog und Karl einhändigte.
Dieser überflog ihn, dann glitt ein triumphirendes Lächeln über sein Gesicht, er faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Tasche und wandte sich wieder zu Fritz.
„Höre Fritz, — in diesem Zuge giebt’s keine Damencoupés. Du belegst hier in diesem Wagen einen Platz für Fränzchen, — ich lasse meine Reisetasche in die Ecke legen und komme nicht eher auf meinen Platz, bis der Zug eben fortfahren will.“
Fritz nickte und erklomm das bezeichnete Coupé.
Nach wenig Minuten brachte ein blaujäckiger Dienstmann Karl’s Reisetasche und legte sie auf den Eckplatz. Fritz begab sich wieder in den Wartesaal, um seine Schwester zu rufen, — es klingelte zum ersten Mal.
Karl sah hinter der Gardine des nächsten Wartezimmers zum Fenster hinaus.
„Hier, Fränzchen!“ rief der wohlinstruirte Fritz und half der Schwester in das Coupé steigen, an dessen Fenster ein Täfelchen mit der bedeutsamen Inschrift prangte: „Für Nichtraucher!“
„Kein Damencoupé?“ frug das Mädchen schon im Einsteigen.
„In diesem Zuge giebt’s keine Damencoupés,“ lautete die Antwort, und Fränzchen nahm ihren Platz gerade der gestickten Reisetasche gegenüber, um den Anblick der brüderlichen Stumpfnase noch so lange als möglich zu genießen.
Fritz hatte den Wagentritt bestiegen und nahm noch allerlei Aufträge in Empfang.
„Erlauben Sie, junger Herr,“ sagte da eine muntere Stimme hinter ihm, und die junge Dame mit dem Kirschenhut bestieg den Wagen und nahm die dritte Ecke an der andern Seite ein.
„Ob das Karl lieb sein wird?“ dachte Fritz bedenklich, — doch da er nicht befugt war einzuschreiten, schwieg er wohlweislich.
Um so gesprächiger war die Neueingetretene vom ersten Augenblick an, sie klagte über die Hitze, legte ihr Hütchen ab und bot Fritz und Fränzchen gutmüthig von dem Pfefferkuchen an, den sie in unvertilgbaren Quantitäten bei sich zu führen schien.
„Ich fahre nicht mehr allzu lange,“ sagte sie jetzt, sich bequem in die Ecke zurücklehnend, „in Eisdorf steige ich aus. Sie auch, Fräulein?“
„Ich habe noch eine Station weiter bis zu meinem Ziel, — ich will nach Schrobeck,“ erwiderte Fränzchen müde.
Ein erneutes Klingeln, — ein kurzer, zwitschernder Pfiff ließ sich vernehmen, — Fritz wurde höflich ersucht, seinen erhabenen Standpunkt zu verlassen, — und eben wollte der Beamte die Thür zuschlagen, als in vollem Lauf ein uns wohlbekannter, graugekleideter Herr über den Perron eilte, in den Wagen sprang und kaum darin war, als der Zug sich in Bewegung setzte.
Karl hatte in diesem Augenblick einen bedeutenden Vortheil über Fränzchen, — er wußte, was ihm bevorstand, und vermochte es in Folge dessen, seinen Hut abzunehmen und beide Damen wie fremde Mitreisende zu grüßen. Fränzchen aber, gänzlich unvorbereitet, starrte ihn mit weitgeöffneten Augen an, als sehe sie einen Geist, und wechselte unaufhörlich die Farbe.
Die kleine Dame mit dem Kirschenhut blickte verwundert von Einem zum Andern, von dem so sehr gefaßten, jungen Mann zu dem fassungslosen Mädchen, — und schüttelte unmerklich den Kopf.
Karl aber that ganz, als wenn er zu Hause wäre. Er legte seine Reisetasche in das oberhalb angebrachte Netz, den Hut daneben, und begann dann, über Fränzchen weg, die kleine Brünette mit freundlichem Wohlgefallen anzusehen. Er suchte in seinem Herzen nach einem Vorwand, um sich zu ihr zu setzen und Fränzchen durch Entfaltung seiner glänzenden Unterhaltungsgabe tief fühlen zu lassen, wen sie verschmähte.
Um Karl’s veränderte Stimmung und gehobenen Muth zu begreifen, bedarf es nur eines Einblickes in den Brief, den ihm sein hoffentlicher Schwiegervater geschrieben hatte. Dieser Ehrenmann that ihm schwarz auf weiß zu wissen, daß Fränzchen gleich nach seinem Weggehen den ausgetheilten Korb bitter bereut und sich des schwärzesten Betragens angeklagt habe. Von seinem Vorschlag aber, Karl diese Mittheilung zu machen, habe sie unter keiner Bedingung etwas hören wollen, wahrscheinlich weil das gegen ihre Würde gestritten hätte. So habe denn der Vater beschlossen, um ihr über die nächsten, unbehaglichen Tage hinwegzuhelfen, sie auf eine Woche zu Tante Amalie nach Schrobeck zu schicken, und glaube er, seinem lieben Karl die Versicherung geben zu dürfen, daß, falls er nach Ablauf dieser Frist noch einmal anfrage, er ein um so freudigeres „Ja“ für das trotzige „Nein“ von gestern erwarten dürfe.
So wußte denn unser Held, woran er war, — und wer das nicht weiß, kann erst den unschätzbaren Werth dieser Kenntniß ganz würdigen.
Der Vorwand seinen Platz zu wechseln, fand sich bald. Die Kirschendame stand auf und rüttelte mit beiden Händen an dem geschlossenen Coupéfenster. Es wich ihren Anstrengungen nicht sogleich und Karl sprang mit einem verbindlichen „erlauben Sie mir!“ auf die gegenüberliegende Seite und öffnete das Fenster, sich bequem an diesem niederlassend.
Die lustige, kleine Dame war hoch erfreut, ihre sehr unfreiwillige Schweigsamkeit aufgeben zu müssen. Karl eröffnete die Unterhaltung mit der geistreichen Bemerkung:
„Jetzt ist es nicht mehr so heiß, durch das offene Fenster kommt ein angenehmer Luftzug.“
Die kleine Dame nickte mehrmals mit dem Kopf zum Zeichen der Zustimmung, und fügte bei:
„Darum kam ich eben auf den Gedanken!“
„Es war ein sehr kluger Gedanke,“ sagte Karl verbindlich.
Die Kirschendame sah geschmeichelt aus und bot Karl von ihrem Pfefferkuchen an.
„Herren essen zwar so etwas nicht gern,“ bemerkte sie.
„Aus so schönen Händen,“ erwiderte Karl, der schon merkte, daß diese Waare hier guten Absatz fände.
„O, bitte,“ erwiderte sein vis-à-vis erfreut.
Fränzchen sah unbeweglich zum Fenster hinaus. Das war zu stark, daß Karl noch nicht vierundzwanzig Stunden nach dem betrübenden Vorfall in ihrer Gegenwart so harmlos lustig sein und dieser kleinen, unternehmenden Person schöne Redensarten machen konnte! Sie war sehr erbittert und durfte sich doch nicht verrathen!
Drüben ging indeß die Unterhaltung unermüdlich fort, die kleine Dame lachte über Karl’s Einfälle, die meist mehr durch Vortrag als durch Neuheit glänzten, — sie lachte so laut und herzlich, daß sie sich die Augen trocknen mußte. Karl hatte aber heute lauter selbstische Zwecke im Auge, — erstens wollte er Fränzchen ärgern und sodann sein vis-à-vis günstig stimmen, damit sie ihm das Rauchen erlaubte. Bescheiden brachte er die Anfrage vor.
„Bitte, rauchen Sie,“ sagte seine gemüthliche neue Freundin, „wenn es die andere Dame nicht genirt?“
Karl wandte sich mit einer verbindlichen Bewegung an Fränzchen, mit gezücktem Streichholz.
„Ich bedaure sehr,“ erwiderte sie in eiskaltem Ton, „das Rauchen macht mir Kopfweh.“
Das war aber unrichtig, wie Karl genau wußte. Schwer geärgert über diese Ungefälligkeit, vergaß er die gebotene Vorsicht.
„Du hast es doch immer vertragen,“ fuhr er heraus, biß sich aber erschreckt auf die Lippe, als die Kirschendame sichtlich die Ohren spitzte und Fränzchen, dunkelerröthend, sich zum offenen Fenster hinausbog.
Die Kirschendame ertrug’s nicht länger. Sie beugte sich zu Karl hinüber und sagte lautlos, nur mit den Lippen:
„Frau!“
Er schüttelte den Kopf.
„Braut?“ im selben Ton.
Karl bedachte sich nicht lange, sondern nickte frischweg.
„Gezankt?“ deutete das vis-à-vis an.
Abermals nickte er.
„O,“ sagte das Fräulein jetzt mitleidig und hätte wohl noch weiter geforscht, wenn nicht in dem Moment der Zug gehalten hätte.
„Station Eisdorf,“ rief der Schaffner.
Die kleine Dame begann sofort in fieberhafter Angst ihren Hut, ihre Schachteln und ihren Pfefferkuchen zu erfassen und mit einem bedeutungsvollen: „Glückliche Weiterreise, meine Herrschaften!“ verließ sie den Wagen und taumelte in die Arme einer großen Familie, die sie erwartet hatte.
Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Karl sah nun seinerseits zum Fenster hinaus.
„Nur sich nichts vergeben!“ dachte er.
Ein zaghaftes „Karl!“ veranlaßte ihn, sich umzuwenden.
„Karl, willst du nicht deine Cigarre anzünden?“
„Du bist sehr freundlich,“ sagte er kurz, und bald schwebten die blauen Dampfwolken zum Fenster hinaus über die grünen Felder.
Mehrere Minuten vergingen, — Karl überlegte, was er wohl jetzt sagen sollte, — er beschloß, dem Mädchen seine Launenhaftigkeit ernstlich zu Gemüth zu führen, — und während er sich diese Worte in Gedanken zurechtlegte, störte ihn ein leises Schluchzen.
Er schielte vorsichtig herum und sah Fränzchen mit dem Tuch vor dem Gesicht, in Thränen aufgelöst, in der Ecke lehnen. Da schmolz sein ohnehin nicht sehr hartes Herz und mit einem Satz war er neben ihr. Zu einer leidenschaftlichen Liebeserklärung hatte Karl gar kein Talent, — und so mögen unsere Leserinnen verzeihen, daß er sich seinem Charakter gemäß ausdrückte.
„Aber sage mir einmal, Fränzchen, wozu machst du nun dir und mir das Leben schwer? Wärst du vernünftig gewesen und hättest gestern Abend ‚Ja‘ gesagt, wie du doch meinst, — nein, sei still, ich weiß es ganz gut, — da säßen wir heute als glückliches Brautpaar in Eurer Wohnstube und Abends führen wir mit dem Vater zu mir heraus und du sähest dir die blaue Tapete an, die du ja selber ausgesucht hast.“
Sie lachte unter Thränen und schüttelte den Kopf.
„Nun, freilich hast du sie selber ausgesucht,“ fuhr Karl gemüthlich fort, „und wir Beide, die sich schon gemeinsam die Wohnung eingerichtet haben, fahren hier, wie die Landstreicher, in der Eisenbahn, als wüßten wir nicht, wo wir hingehören! Nein, Fränzchen, wie soll das später werden, wenn wir da draußen auf dem Lande allein sitzen, und du willst so unvernünftig sein! Das geht nicht, und jetzt steh’ auf und sage: ‚Ich will sehr gut folgen, lieber Karl!‘“
Er zog sie an der Hand empor und sie sprach zwischen Lachen und Weinen die bedeutungsvollen Worte nach.
„So,“ sagte Karl nach einer Weile, als die erste Rührung beiderseits überstanden war, — denn, gestehen wir es, auch unserem Helden wurde die Stimme etwas unklar, — „nun will ich dir auch beichten, — ich habe dich schon Jemandem als meine Braut vorgestellt!“
„Wem denn?“ frug Fränzchen erstaunt.
„Der kleinen Dame mit dem Kirschenhut,“ erwiderte Karl ruhig, „was hätte die sich sonst denken sollen?“
„Station Schrobeck,“ rief der Schaffner, die Thür öffnend.
Unser Paar sah sich bedenklich an. Karl als Herr und Gebieter beschloß, was zu thun sei.
„Wann geht der nächste Zug nach L.... zurück?“ frug er, den Namen von Fränzchens Heimathsort nennend.
„In einer halben Stunde.“
„Nun, Fränzchen,“ sagte Karl heiter, „dann fahren wir in einer halben Stunde hübsch zu deinen Eltern! Aber was thun wir die halbe Stunde? Nur nicht zu Tante Amalie,“ schauderte er.
„Wir trinken hier auf dem Bahnhof Kaffee,“ schlug Fränzchen vor.
„Bravo,“ rief Karl und schlug dröhnend in die Hände, „du bist die richtige Frau für mich! Natürlich trinken wir Kaffee!“
Und nach einer halben Stunde saß das neue Brautpaar wieder im Eisenbahnwaggon und dampfte den Weg zurück, den es vor wenig Stunden gekommen war. Lassen wir sie ruhig ziehen, — die kommen durch die Welt!
„Sie haben mich gezwungen zu einem ehrlichen Mann.“
Die zu ebener Erde belegene Weinstube von Gerhold war heute schon fast leer und nur eine einzige Gruppe nahe dem Fenster schien ausharren zu wollen, bis der Herbstmorgen dämmerte.
Drei oder vier Herren saßen bei einigen Flaschen Wein in lebhaftem Gespräch und zwei andere waren an einem Billard beschäftigt. Die Spieler gehörten anscheinend zu der sitzenden Gesellschaft, denn ab und zu warf einer von ihnen eine kurze Bemerkung in die Unterhaltung am Tisch.
Jetzt öffnete sich die Glasthür, die von der Straße aus in das Zimmer führte, noch einmal, und ein Herr in mittleren Jahren, blond, blaß und vornehm aussehend, trat ein, warf seinen Oberrock ab und näherte sich der Versammlung am Fenster, welche ihn lebhaft begrüßte, während die Billardspieler seinen Eintritt noch nicht zu beachten schienen.
„Nun, Raven, Sie eröffnen die Saison recht früh,“ bemerkte einer der bereits Anwesenden, „es ist doch sträflich, im September schon in Gesellschaft zu gehen.“
„Was haben Sie da?“ sagte der als Raven Angeredete, „château d’Yqum? Schön, ich bin von der Partie! Und was die Gesellschaft betrifft, so werden Sie mir zugeben, daß man Ausnahmen macht; ich wette, Sie Alle hätten heut Abend mit mir getauscht, ich war bei Ertings und habe im kleinen Kreise die Verlobung mitgefeiert.“
Bei diesen Worten wandte sich einer der Herren am Billard rasch um; er hatte ein scharfes, geistvolles Gesicht, dessen dunkle Augen durch eine goldene Brille blickten, ohne darum weniger jugendlich auszusehen.
„Ei, da ist ja auch unser Hippokrates!“ sagte Raven, dem allbeliebten jungen Arzt die Hand schüttelnd; „nun, Doktor, ist Alles zu Tode curirt, daß Sie ’mal Zeit haben, hier Billard zu spielen? Welch glänzendes Zeugniß für den Gesundheitszustand unserer Stadt!“
„Berufen Sie mein Glück nicht!“ erwiderte Doktor Stein, „ich bin selbst ganz erstaunt über diesen Ausnahmezustand, und habe zu Hause Befehl gegeben, mich für alle, außer die dringendsten Fälle, zu verleugnen. Da ist übrigens mein letzter Ball gemacht, Schrader, für heute sind wir quitt!“
Er warf die Queue auf das Billard, trat zum Tisch und schenkte sich ein.
„Und nun,“ sagte er, sich einen Stuhl heranziehend, „erzählen Sie vom Verlobungsfest, Raven, das ist ja interessant!“
„Ja, ja,“ riefen die Anderen durcheinander, „erzählen Sie, wie war das Arrangement, und wie benahm sich das Brautpaar?“
„Das Arrangement war tadellos, wenn Sie das Büffet meinen,“ sagte Raven, „es hatte nur wieder den alten Erting’schen Fehler, weniger wäre mehr gewesen! Ich bitte Sie, für eine Gesellschaft von zwanzig Personen ein Souper wie bei Hofe, Sect in Strömen — nun, wir können es ja haben!“
„Und das Brautpaar?“
„Der Bräutigam war still, ängstlich und gutmüthig wie immer, die Mama soufflirte ihm beständig! Er glaubte, seinen Geschmack durch seine Wahl genügend bewiesen zu haben, und hatte sich im Uebrigen nicht mit dem Artikel angestrengt, brillantne Vorstecknadel und mehr Ringe wie Finger! Nachdem mich ein schaudernder Blick darüber belehrt hatte, war ich unfähig, noch einmal hinzusehen. Die Alteration konnte mir schaden, man muß auch an sich selbst denken!“
„Sie sind ein malitiöser Mensch,“ sagte der Doktor. „Ludwig Erting ist ein guter, anständiger Kerl, der sich immer als solcher benehmen wird, wenn ihm auch die Lächerlichkeiten seiner Mutter ankleben. Wäre er innerlich anders, so würde Edith Brandau ihm auch nie ihr Jawort gegeben haben, verlassen Sie sich darauf!“
„Vergessen Sie die anderthalb Millionen nicht, bester Stein, die diesem Juwel als Fassung dienen!“
„Aber erzählen Sie weiter, Raven, wie sah die Comtesse aus?“
„So schön wie immer, oder vielleicht noch schöner,“ sagte Raven, „blaß, ernst und still! Ganz in Weiß mit einer alterthümlichen, feinen Goldkette wohl zehnmal um den Hals geschlungen, wie ein Aquarell von Passini!“
In diesem Augenblick rasselte draußen ein schwerer Wagen, er hielt vor der Thür des Weinhauses und ein graubärtiger Mann in Hut und Kutschermantel trat hastig und verstört in die Stube.
„Das gilt mir!“ sagte der Arzt und ging dem Ankommenden entgegen.
„Herr Doktor, Sie müssen gleich mitkommen,“ begann der Alte mit unsicherer Stimme, die noch mehr seine Angst verrieth, als das bleiche Gesicht, „unser Herr liegt im Sterben!“
„Was Teufel!“ rief der Doktor und fuhr schon mit einem Arm in den Ueberzieher, während er sich von den Anderen verabschiedete, „ich empfehle mich bis auf Weiteres meine Herren, hoffe, es wird so schlimm nicht sein!“
„Wer ist denn krank?“ fragte Raven den Eilfertigen.
„Der alte Baron in Wolfsdorf,“ rief der Doktor schon im Hinausgehen, die Thür klirrte ins Schloß und wenig Augenblicke darauf rasselte der schwere Landwagen über das Straßenpflaster.
Ernüchtert durch diesen Zwischenfall, kehrten die Herren zu ihrem Tisch zurück und begannen sich auch zum Aufbruch zu rüsten.
Raven hatte sich mit Schrader von den Anderen getrennt.
„Seltsam,“ begann er jetzt, als sie mit einander durch die menschenleeren, mondhellen Straßen schritten, „wie diese Botschaft für den Doktor an unser Gespräch anknüpfte!“
„Inwiefern?“ frug sein Begleiter überrascht.
„Ja so, Sie sind hier fremd in der Gegend! Sie müssen wissen, Brandeck und Wolfsdorf grenzen, und Edith Brandau war als Kind mehr bei dem alten Baron Rüdiger als bei ihren Eltern, die sie, glaube ich, etwas vernachlässigten. Der alte Wolfsdorfer hat einen Neffen, auch einen Rüdiger, der bei ihm aufwuchs, und der, wie man sagte, eine Art Jugendliebe oder Kinderliebe der schönen Edith war.“
„Und warum wurde nichts daraus?“
„Pah, weil es eben ein Unsinn war! Der junge Mensch hatte nichts und war nichts, ein Tollkopf vom reinsten Wasser. Und Brandau’s — cela va sans dire — dadurch, daß Edith statt des erhofften Sohnes kam, ging ihnen das Majorat durch die Finger, von dem Ertrag des verkommenen, verwirthschafteten Brandau konnten sie eben existiren! Ueberdies bekam der junge Rüdiger wegen ein paar ganz besonders tollen Streichen den Abschied und ging als Fähnrich oder blutjunger Lieutenant nach Australien, man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Und seine schöne Jugendliebe ist ja getröstet, wie ich mich heute überzeugen konnte!“
Sie waren bei ihrem Gespräch vor Ravens Haus angelangt.
„Wie ist mir denn,“ sagte Schrader, „das Majorat ist einer andern Linie zugefallen? Und dabei sprach Comtesse Edith doch öfters von einem Bruder!“
„Stiefbruder, Bester, Stiefbruder! Die alte Brandau hat aus erster Ehe einen Sohn, Carl Düringshofen, ein leichtsinniger Junge! Er steht bei den Husaren in M... Jetzt aber gute Nacht, Schrader, schlafen Sie aus, es ist sündhaft spät geworden!“
Die Hausthür schloß sich hinter ihm, und Schrader trat den Heimweg an.
O Gürtel und Schleier, o bräutlich Gewand!
Der Heini von Steier ist wieder im Land!
Der Spätherbst rauschte in seinem rothgoldenen Mantel in voller Pracht durchs Land. Er streute mit verschwenderischer Hand einen leise knisternden Teppich aus gelben Blättern über die großen Rasenplätze im Wolfsdorfer Park und verschüttete den breiten Wallgraben rings um das Schloß mit dem Laub der uralten Weinstämme, die an den grauen Mauern emporkletterten, und im Sommer als lichtgrüne Fahnen von den Thürmen wehten.
Der alte Baron Rüdiger, auf dessen Grabhügel jetzt die Octobersonne schien, hatte seine Freude daran gehabt, dem Schloß sein mittelalterliches Ansehen zu erhalten, und war es zum Theil verfallen und düster, so that dies dem Charakter des Ganzen keinen Abbruch. Noch immer mußte der einkehrende Gast der herabgelassenen Zugbrücke harren und wurde vom Thurmwächter mit Hörnerschall begrüßt. Und daß alle diese Einrichtungen noch auf Jahre hinaus unverändert blieben, dafür hatte der seltsame alte Herr in seinem Testament gesorgt.
Dies Testament hatte Aufsehen gemacht und die verschiedensten Empfindungen und Gefühlsäußerungen im weitesten Kreise hervorgerufen. Mit Umgehung zahlreicher, liebevoll besorgter Vettern, die es an Erkundigungen und Besuchen bei dem kranken Oheim nicht hatten fehlen lassen, ernannte der Verstorbene seinen Neffen, den verabschiedeten Lieutenant Gerald von Rüdiger, zum Universalerben seiner beiden Güter, Wolfsdorf und Ewershausen, und seines ganz ansehnlichen Vermögens.
Ein Aufruf in allen Blättern meldete dem Betreffenden, dessen zeitweiliger Aufenthalt unbekannt war, das Geschehene. „Falls er sich nicht einstelle,“ so lautete die letztwillige Verfügung, „sollte ein Curatorium durch zehn Jahre lang die Güter für ihn verwalten, und ihm bei seiner etwaigen Rückkehr unverzüglich übergeben.“ Erst nach Ablauf dieser Frist hatte der Erblasser anderweitig über den Besitz verfügt.
Heut zu Tage fliegt ja Alles durch die Welt, und so konnte es geschehen, daß wenig Wochen nach der Testamentseröffnung der „verschollene“ Rüdiger seinen Einzug in Wolfsdorf hielt, und mit anscheinend leichter, aber doch sicherer Hand die Zügel der Regierung ergriff.
Er hatte von vornherein keinen schweren Stand mit seinen Untergebenen. Die Leute hingen an dem alten Namen, sie hatten außerdem den tollköpfigen Junker von klein auf gekannt und gönnten ihm sein unerwartetes Glück und vor Allem, Rüdiger verstand es, mit ihnen umzugehen.
Wo er sich zeigte, mochte er zu Fuß über die Stoppeln schreiten, und den Gruß der Vorübergehenden freundlich erwidern, mochte er in der herrschaftlichen Loge der Dorfkirche sitzen, die Herzen flogen ihm entgegen! Ein wildes Scherzwort, sein übermüthiges Lachen, sein schönes, tiefgebräuntes Gesicht, in dem bei aller Formengewandtheit und Sicherheit eine gewisse unbezähmte Kraft fremdartig anmuthete, hin und wieder einer jener tollen Streiche, die ihn von Jugend auf zum fast sagenhaften Helden der Umgegend gestempelt hatten, dabei seine warme, offene Herzensgüte, die für jeden Bedrängten ein williges Ohr, eine offene Hand hatte, alles Das kam zusammen, um seine Untergebenen mit einer Art Eigenthumsrecht und Stolz auf ihn blicken zu lassen.
So war er denn in der alten Welt schnell wieder heimisch geworden, und fand sich in seine gänzlich veränderte sociale Stellung, vom heimathlosen Abenteurer zum festen Grundbesitzer, mit der ihm eigenen Leichtigkeit hinein; freilich behielt er nebenbei noch ein ganz genügendes Anrecht auf seinen alten Namen „der tolle Junker!“
Besuche in der Nachbarschaft hatte er noch wenige gemacht, er stürzte sich vorläufig mit Feuereifer in die landwirthschaftliche Thätigkeit, und jede freie Stunde fand ihn auf der Jagd in seinen ausgedehnten Forsten.
Man hatte es in dem benachbarten Brandeck in Folge dieses seines zurückgezogenen Lebens bis dahin ermöglicht, der Tochter des Hauses, Edith Brandau, die Heimkehr des Jugendgespielen zu verschweigen, was um so leichter war, als sie bis zum gestrigen Tage in der Residenz ihre Aussteuer besorgt hatte.
Der Hochzeitstag rückte heran, im Anfang des Winters sollte der stolze Name Brandau gegen den reichvergoldeten, aber bescheideneren Erting eingetauscht werden. Man sah zwar in gut unterrichteten Kreisen voraus, daß die Fürstin von T..., eine dem Herrscherhaus nahestehende lebenslustige Wittwe, die Edith besonders liebte und bevorzugte, ihren Einfluß geltend machen würde, um Erting den Adel zu verschaffen, doch mußte dieser Schritt anstandshalber verzögert werden, bis die Trauung stattgefunden hatte.
Der Bräutigam war heute auch zum ersten Male seit der Verlobung auf wenige Stunden nach Brandeck herausgekommen, und das Paar machte noch einen kleinen Weg durch den Park, ehe Erting zur Stadt heimkehrte.
Edith war im Reitanzug, sie wollte nach des Verlobten Abreise noch einen ihrer einsamen Ritte durch den herbstlichen Wald unternehmen. Erting bestieg nie ein Pferd, er vermochte es sogar selten über sich, Ediths Rappen anders zu berühren, als daß er ihm mit weit von sich gestrecktem Arm den Hals klopfte. Die Schüchternheit und Zaghaftigkeit seines ganzen Wesens trat überhaupt auffällig zu Tage, nie aber mehr, als im Zusammensein mit seiner Braut.
Die alten Ulmen und Eichen im Park von Brandeck hatten wohl noch kein so ungleiches Paar unter ihren Wipfeln hinschreiten sehen, als heute an diesem Oktoberabend. Edith, hoch, blumenschlank gewachsen, in der strengen Einfachheit ihres dunklen Reitanzuges, das schwarze Hütchen tief in die Stirn gezogen, unter dem krauses, goldrothes Haar in einen einzigen starken Zopf geflochten, über die Schultern herabhing, bildete mit ihrer stolzen, sichern Haltung, ihrem anmuthig festen Gange den schroffsten, fast komisch wirkenden Gegensatz zu dem schmalschultrigen, blassen kleinen Manne mit dem festanliegenden, schwarzen Haar, der im Gesellschaftsanzug und schwarzen Cylinder neben ihr einherschritt. Das Gefühl des verlegenen Unbehagens, welches ihm jedes Alleinsein mit seiner Braut verursachte, stand in seinem gutmüthigen Gesicht geschrieben. Er peinigte sich beständig ab, etwas zu finden, womit er Edith unterhalten könne, und es gelang ihm nie.
Edith gab sich keine Mühe, ihm beizuspringen. Sie blickte gedankenvoll in den zartnebeligen Wald hinaus, von dessen Wipfeln hier und da ein goldschimmerndes Blatt langsam, leise zur Erde fiel. Ein schöner Herbstabend ist ein mächtiger Zauberer; mit den weißen Fäden, die vom Gewand des scheidenden Sommers in der Luft hängen bleiben, spinnt sich gar zu gern ein Stück Vergangenheit im Menschenherzen wieder an, es tändelt vor uns her, leicht und ungreifbar, wie die Schleier der Elfen — und wenn wir die Hand darnach ausstrecken, legt es sich uns trüb vor die Augen — Herbstspiel!
Endlich brach Erting das Schweigen.
„Haben Sie noch einen Auftrag für mich, Edith? Ich kann ja Alles bestellen! Vor Sonntag komme ich wohl nicht wieder heraus?“
Es lag eine Art schüchterner Frage in dem letzten Satz, die Edith zu überhören schien.
„Ich danke Ihnen,“ sagte sie freundlich; sie war stets sehr freundlich gegen ihren Bräutigam, „aber ich glaube, es ist Alles besorgt, was man überhaupt in der Welt besorgen kann, wir haben ja seit vierzehn Tagen nichts Anderes gethan!“
Ein Ausdruck von Abspannung und Müdigkeit lag auf ihrem Gesicht, sie nahm den Hut ab und strich die dicken, goldenen Haarwellen aus der Stirn wie eine Last.
„Sie sehen bleich aus,“ bemerkte Erting besorgt, „ist Ihnen auch unser Spaziergang zu weit?“
Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
„Vergessen Sie nicht, daß Sie ein Landmädchen vor sich haben, ich bin an stundenlange Wege gewöhnt. Nein, es ist nur die köstliche Ruhe und Stille hier, die mir plötzlich klar macht, wie unruhig mir die letzten Wochen vergangen sind, man lebt doch nur halb, wenn man in der Stadt lebt!“
„Falls Sie den Wunsch hegen, Edith, daß wir aufs Land ziehen — ich habe ja keine bindende Stellung in W...., dann kaufe ich ein Gut in der Nähe. Sie wissen ja, daß mich nur Ihre Wünsche bei meinen Zukunftsplänen bestimmen!“
„Nein, nein,“ erwiderte sie müde und abwehrend, „was sollte das? Sie sind kein Landmann und ich möchte mich in kein fremdes Gut mehr einleben.“
„Nun wir könnten ja Brandeck kaufen,“ sagte Erting, „die Mama würde gewiß ganz gern darin willigen, und der Kaufpreis müßte so gestellt werden, daß er ihr eine sorgenfreie Existenz ermöglichte.“
Sie schnitt mit einer leidenschaftlichen Geberde seine Rede ab.
„Hören Sie auf, es macht mich wild, wenn Sie von einem Kaufpreis für Brandeck sprechen, Sie sollen es nicht kaufen, ich habe den dringenden Wunsch, daß Karl es übernimmt.“
„Ihr Bruder? Nun, Edith, das ist wohl ein wenig sanguinisch! Wenn ich als Kaufmann nichts von Landwirthschaft verstehe, wird ein so lebenslustiger Husarenlieutenant wohl auch kein Held darin sein!“
„Man hat aber öfter den Fall gehabt, daß aus einem Husarenlieutenant ein Gutsbesitzer wurde, als aus einem Kaufmann. Uebrigens sind Sie nicht Kaufmann — können Sie denn nie vergessen, daß Sie dazu erzogen wurden?“
„Gewiß nicht!“ entgegnete er mit einiger Energie, „meine Neigungen und Interessen ziehen mich zum Handelsstand, und wenn ich Ihnen auch mit Freuden das Opfer bringe, demselben zu entsagen, so bin ich doch weit davon entfernt, mich zu gut für einen Stand zu halten, dem mein Vater seinen Reichthum und unsere ganze Familie ihre Stellung verdankt.“
Sie blieb stehen.
„Sie sind ein ehrlicher Mensch, Ludwig,“ sagte sie, und gab ihm die Hand, „und das habe ich gern! Seien Sie nicht böse, daß ich Sie hart anließ, mir ist heut so grenzenlos nervös zu Muthe und ich habe Ihnen ja von Anfang an gesagt, daß Sie kein leichtes Leben mit mir haben werden!“
Edith war bezaubernd, wenn sie liebenswürdig sein wollte und Erting, der meist mehr Furcht vor seiner Braut empfand, als Liebe zu ihr — hatte er sie doch zumeist auf den Wunsch seiner Mutter gewählt — vermochte sich diesem Zauber auch nicht zu entziehen. Er beugte sich über die schöne Hand, die seinen Ring trug, und führte sie an die Lippen, das einzige Vorrecht, das ihm die Etikette im Brandau’schen Hause und besonders die einschüchternde, kühle Freundlichkeit Ediths während des Brautstandes gestattete.
Eine kleine, von Seiten Ertings etwas verlegene Pause folgte, die er endlich unterbrach, indem er seine Absicht aussprach, jetzt nach der Stadt zurückzukehren, da er den Abend noch eine Versammlung zu besuchen habe.
„Darf ich vor Sonntag noch einmal herauskommen?“ fragte er, als er sich am Parkeingang von Edith verabschiedete.
Eine leise Enttäuschung flog über ihr Gesicht.
„Gewiß,“ sagte sie dann, indem sie einen kleinen Tannenzweig zerpflückte, und die einzelnen feinen Nadeln zerstreut in die Luft warf, „kommen Sie, so oft Sie wollen, aber erwarten Sie nicht zu viel von meiner Gesellschaft zu haben, ich genieße noch die Waldeinsamkeit und meine schönen, langen Ritte — und dann sind wir auch sehr fleißig jetzt — aber wie gesagt, kommen Sie nur!“
Sie reichte ihm die Hand.
„Wenn Sie ins Schloß gehen, so sagen Sie Mama, ich hätte meinen Ritt für heute aufgegeben, bliebe aber noch ein wenig im Freien,“ rief sie ihm dann schon im Weitergehen zu, und während er stand und ihr nachsah, verlor sich ihre schlanke Gestalt in der Herbstdämmerung der Parkgänge. Sie schritt langsam, wie absichtslos, dahin, und erst, als sie sich rechts gewandt hatte, und fast an der Grenze von Brandeck angelangt war, wurde es ihr klar, daß sie, einem unbewußten Zuge folgend, den Lieblingsplatz früherer Tage aufgesucht hatte. Es war ein Theil des einstigen Gartens, den jetzt selten mehr ein Fuß betrat, und der schon seit Jahren unbeachtet grünte und wucherte. Hier war es so schweigsam und abgeschlossen, der leise Moderhauch am Boden welkender Rosenblätter flog über die Beete und der schluchzende Ton einer kleinen Fontaine machte die Stille nur bemerklicher.
Als die schöne, junge Braut sich jetzt neben dem Marmorbassin jener Wassersäule auf den Rasen niederließ und mit gedankenschweren Augen in den blassen Abendhimmel sah, hätte die Elfe dieser einsamen Stelle, die im Begriff steht, von ungeweihter Hand vertrieben zu werden, nicht lieblicher verkörpert werden können.
Vergangene Zeiten flogen ihrem Blick vorüber, eine längst in der Ferne verhallte Stimme klang an ihr Ohr. Wie oft hatte sie früher hier gesessen, das verschüchterte, kleine Mädchen, unbewillkommnet und unbeliebt, scheu und wild, wie ein Geschöpf des Waldes. Bald gesellte sich dann in ihrer Erinnerung die Gestalt des Jugendgespielen zu dem Bilde des einsamen Kindes — an diesem Plätzchen hatte er sie stets zu finden gewußt. Die Lücke in der Hecke, die Brandeck von Wolfsdorf trennt, war wohl längst zugewachsen. Wie schnell hatte er immer durchzuschlüpfen verstanden.
Dann saßen die Kinder zusammen, jagten sich, spielten, wurden größer und ernsthafter, aus den Märchen, die sie sich erzählten, wuchs langsam eine wahre Geschichte empor und sah sie mit hoffnungsfreudigen Augen an! Dann kam eine Trennungszeit, ein paar tolle Streiche des übermüthigen Spielkameraden, und ein kühler, stiller Sommermorgen, an dem Gerald Rüdiger vor Sonnenaufgang an ihr Fenster kletterte, zum letzten Lebewohl; damit war’s aus gewesen!
Von Liebe hatten sie Beide nie gesprochen, und wenn Edith im Herzen daran geglaubt, so war sie eben thöricht gewesen; fünfmal hatten seitdem die Rosen geblüht, und kein einziges Briefblatt, kein Gruß aus der wilden Ferne, in die der Jüngling damals so kühn und abenteuerlustig gezogen, hatte ihr bewiesen, daß er noch ihrer gedacht!
Inzwischen war ihr Vater gestorben, grollend mit sich, mit seiner Gattin, mit der ganzen Welt, vor Allem mit der Tochter, die ihm sein Majorat gekostet — und dann kam eine Zeit harter Entbehrungen, die um so härter waren, als man dabei den Schein der Vornehmheit wahren mußte. Es kamen unsäglich bittere Stunden, in denen die Mutter, sich der ganzen Heftigkeit ihres ungezügelten Temperaments überlassend, es Edith täglich und stündlich zum Vorwurf machte, daß sie geboren, daß sie noch im Hause sei. Der bevorstehende Ruin ihres Stiefbruders, der in einem Meer von Spielschulden zu versinken drohte, wurde natürlich auf das verlorene Majorat zurückgeführt, kein Augenblick, der nicht tausend Kränkungen für das Mädchen gebracht hätte! Und als nun wieder ein Freier sich zeigte, ein Millionair, dabei nach allgemeinem Urtheil ein braver, guter Mensch, der ihr seine Hand und sein fast fürstliches Vermögen bot, da hatte sie freilich erst Nein gesagt, und tausendmal Nein rief es noch heute in ihr, aber der leidenschaftliche Zorn der Mutter, die flehentlichen Bitten ihres Stiefbruders, und endlich ihr gekränkter Mädchenstolz, der nicht Einem nachtrauern wollte, der sie so ganz vergessen, alles Das trat wieder vor ihr inneres Auge, als sie frug, warum sie doch nachgegeben!
Am Tage ging es gewöhnlich gut, ganz gut!
Man ließ sie im wahren Sinne des Wortes nicht zu Athem kommen, die Hochzeit stand ja nahe bevor, und die Fürstin von T.... hatte es sich förmlich erbeten, für die Aussteuer sorgen zu dürfen. Edith mußte tagtäglich mit ihrer unermüdlichen Beschützerin umher fahren, in den glänzenden Läden der Residenz Bestellungen machen, Möbelstoffe und Tapetenfarben wählen. Die Abende führten sie dann meist in Gesellschaft oder ins Theater, und dem klösterlich erzogenen Mädchen war dies Treiben so neu, so fremd und berauschend, daß sie zeitweise dachte, es sei wohl wirklich ein glückliches Loos, das sie gezogen!
Aber dann konnte eine stille duftige Fahrt durch den Sommerabend kommen, ein einfaches Volkslied von alter Liebe und vergessener Treue sich ihr auf die Lippen drängen, und aller trügerische Glanz war fort — verwischt — zwei übermüthige blaue Augen blitzten sie an — und es war Alles, Alles wieder wach in ihr, was sie so tief begraben geglaubt.
Sie schrak zusammen und erhob sich. Gewiß vermißte man sie schon, wer hatte sie auch geheißen, gerade heute den alten Platz aufzusuchen? Sie schritt hastig vorwärts, um auf einem Umwege über die waldige Fahrstraße ins Schloß zurückzukehren, und den Abendwind ihre heißen Augen kühlen zu lassen, ehe sie der Mutter gegenüber trat.
Als sie so in tiefen Gedanken dahinschritt, die Schleppe des Reitkleides emporhaltend, einen Büschel frischen Haidekrauts im Gürtel, mit dem ihre Hand spielte, ließ ein Knistern und Knacken in den Zweigen sie überrascht aufsehen. Aber gingen sie denn wirklich um in der Herbstsonne, die Geister der alten Zeit?
Ein riesiger Bernhardinerhund sprang mit ungestümen Sätzen auf sie zu, und hinter ihm stand ein hochgewachsener Mann mit tiefgebräunten, wildschönen Zügen, nicht mehr der blasse, abschiednehmende Jüngling von damals, aber wann und wo hätte sie diese Augen nicht erkannt! Stumm und bleich wie ein Mondstrahl stand sie ihm gegenüber — ihr war, als müßte das erste Wort den Zauber brechen, und er wieder verschwinden auf Jahre, auf immer!
Und auch er sprach nicht, er sah fest und unverwandt auf den kleinen Ring an ihrer Hand, den der letzte Sonnenstrahl eben auffunkeln ließ. So standen sich Beide still gegenüber, Keins fand einen Laut zur Begrüßung, an ihrem Fuß klirrten die goldenen Ketten eines reichen Freiers, und er wußte es!
Endlich überwand sich Edith zum ersten Wort, „wir haben uns lange nicht gesehen, Gerald,“ und streckte ihm die bebende, kleine Hand hin.
Wie beängstigt von dem regungslosen Schweigen, in dem er verharrte, ohne auf ihren Gruß zu antworten, fuhr sie hastig, mit fliegendem Athem fort:
„Ich war mehr wie überrascht, Sie so plötzlich vor mir zu sehen, seit einigen Wochen bin ich von Brandeck fort gewesen und bei meiner Abreise fehlte noch jede Nachricht über Sie, man hielt Sie allgemein für verschollen.“
„Das Gerücht ist ein wenig voreilig, wie Sie sehen,“ erwiderte er langsam und mit erzwungener Ruhe, „auch war die Annahme nicht „allgemein,“ wie Sie sagen. Eine hat immer von mir gewußt, haben Sie sich in den ganzen, langen fünf Jahren nicht um meine Mutter bekümmert?“
Seine Stimme war bei dem ehrlichen, einfachen Ton der Frage weicher geworden, aber Edith erhob den Kopf so stolz, als wollte sie den Vorwurf, der in den Worten lag, schon zurückweisen, ehe sie sprach.
„Ich hatte keine Berechtigung dazu,“ sagte sie kalt, „warum haben Sie in den „ganzen langen fünf Jahren“ nicht einmal direct von sich hören lassen?“
Er schwieg einen Augenblick und sah vor sich nieder.
„Sie haben recht, Edith, ganz recht, aber wie Sie mich kennen, sollten Sie nicht so fragen! Ich bin kein Federheld und hätte auch in den ersten Jahren verzweifelt wenig Rühmenswerthes von mir zu erzählen gewußt! Ich habe mich in allen Sphären des Lebens umhergetrieben, nur in keiner, die ich Ihnen hätte anschaulich machen können oder mögen! Sie wissen, ich habe es mündlich nie verstanden, mich besser zu machen als ich bin, so wollte ich es auch schriftlich nicht versuchen. Und da ich von meiner Mutter bis vor einem Jahr, wo ich sie verlor, immer hörte, daß es Ihnen wohl ging, so nahm ich an, daß Sie auf dieselbe Art auch von mir hören und an mich denken würden.“
Sie unterbrach ihn mit einer stolzen Bewegung des Unmuths.
„Sie haben mich zu hoch oder zu niedrig geschätzt, Baron Rüdiger; man mag in meiner „Lebenssphäre“ nicht so viel Kenntnisse erwerben, als Sie Gelegenheiten hatten, zu thun, aber Eines habe ich gelernt, bis zur Vollkommenheit — zu vergessen, wo ich vergessen war!“
Sie brach ab, und strich aufathmend mit der Hand über die Stirn. Er stand schweigend vor ihr und sah sie traurig an, dann trat er einen Schritt auf sie zu.
„Edith,“ sagte er, und bot ihr herzlich die Hand, „einen solchen Ton mag ich nicht von Ihnen hören, ob ich ihn verdient habe oder nicht! Er ist des Mädchens nicht würdig, die an einem kühlen Frühjahrsmorgen mit Thränen in den Augen zu mir sagte, „wenn Sie auch wiederkommen, Gerald, Sie werden mich als dieselbe finden, die Sie verlassen haben!“ Diese Worte haben mich auf all meinen wilden Wegen begleitet, Edith, ich hörte sie, wenn ich des Abends mit meinen Jagdgesellen im Walde lag, in den Schein des Wachtfeuers starrte und meine thörichten Träume von der Heimath träumte. Wollen Sie wissen, was Der, der Sie „vergaß,“ wie Sie sagen, da träumte, Edith? Von einem alten Schloß, wild und einsam, unter deutschen Buchen, in dem ich und noch Eine Abends am Fenster standen, wenn die Nachtigallen schlugen —“
„Hören Sie auf,“ unterbrach ihn Edith mit zitternder Stimme, „selbst wenn ich Ihnen glaubte, oder glauben wollte, ich habe nicht mehr das Recht, solche Worte anzuhören — ich bin Braut!“
„Man hat es mir erzählt,“ sagte Rüdiger finster, „und ich habe erst gelacht, dann geflucht und mich immer wieder gefragt: was haben sie mit meinem stolzen Mädchen angefangen, durch welche Teufelskünste ist sie so weit gebracht worden, Ertings Braut zu werden! Edith, es wäre zum Lachen, wenn es nicht so furchtbar ernst wäre! Wissen Sie, was Sie thun?“
Sie schwieg und kämpfte einen schweren Kampf mit sich, ehe sie antwortete — die Stimme vor ihr war ja doch und trotz Allem die Musik ihrer Jugendjahre gewesen! Aber es war vorüber!
„Sie haben eigentlich kein Recht zu dieser Frage,“ erwiderte sie hochmüthig, „aber ich will Ihnen antworten, um alter Zeiten willen! Ja, ich weiß, was ich thue, Erting hat nicht nur mein Wort, sondern ich schulde ihm aufrichtige Achtung und Dankbarkeit, weil er groß und zartsinnig an uns gehandelt hat. Ist Ihnen das genug?“
„Ja und nein,“ sagte er, während er den Zorn niederzukämpfen suchte, den ihr kalter Ton in ihm anfachte, „ich verstehe Sie, Edith — in dürren Worten, Erting hat Ihrem Stiefbruder die Schulden bezahlt, und dafür sind Sie seine Braut geworden. Hölle und Teufel,“ rief er plötzlich, und schleuderte sein Gewehr, mit dem er gedankenlos gespielt hatte, in jäh ausbrechender Wuth weit von sich, daß es mit dumpfem Klange auf den Boden schlug, „daß ich hier stehen soll, ich vor allen Menschen auf der ganzen Erde, und mit Ihnen Ihre Verlobungsgeschichte verhandeln, Edith — das ist mehr als ich ertragen kann. Machen Sie ein Ende, sage ich, machen Sie ein Ende, meine Geduld hat ihre Grenzen!“
„Und worin soll dies Ende bestehen?“ frug sie, während sie ihn unverwandt ansah. Wie gefiel er ihr in seinem urwüchsigen Zorn!
„Sie sollen mir sagen, daß ich ihn, oder mich, oder Sie niederschießen darf, daß diese ganze Brautschaft ein widerwärtiges, tolles Puppenspiel ist, und Sie mir doch im Grunde treu geblieben sind, trotz aller Ihrer schönen Reden.“
Sie trat einen Schritt auf ihn zu.
„Gerald, Gerald!“ sagte sie in halb traurigem, halb leichtem Ton, und legte ihre kleine Hand auf seinen Arm, „ich habe doch mehr gelernt, als Sie in den fünf Jahren, mein alter Spielkamerad! Man kommt mit solchen Sturmesflügeln nicht durch die Welt, glauben Sie es nur! Mir hat das Leben die Schwungfedern schon geknickt, eine nach der andern, und ich habe es ganz hübsch begriffen, daß man sich in Unabänderliches fügen muß. Aber Sie, wie Sie da vor mir stehen, und mit dem Fuß aufstampfen, ist es mir gerade, als wären wir um zehn Jahre jünger, und spielten hier im Walde „Räuber und Prinzessin!“ Sie sind wirklich noch ganz derselbe —“
„Der vor fünf Jahren aus dem Stubenarrest entwischte, und seine Carrière in die Luft fliegen ließ, um Edith Brandau einen Cotillonstrauß zu bringen. Sie mögen Recht haben,“ sagte er spöttisch, „nun, Sie haben ja Ruhe für uns Beide, ich könnte darin viel von Ihnen lernen! Für heut ist wohl aber die Lektion beendet, ja? Ich darf mich empfehlen, und Sie gehen ins Schloß zurück, Erting kommt doch gewiß zum Thee, ich will Sie nicht aufhalten, Comtesse!“
Er nahm seinen Hut auf, und ging mit tiefer Verbeugung. Als er einige Schritte gethan hatte, rief Edith zögernd: „Gerald!“
Er wandte sich hastig um.
„Ihr Gewehr, Baron Rüdiger — und Sie haben mir nicht Lebewohl gesagt!“
Er kam langsam näher und hob das Gewehr vom Boden auf, dann stützte er sich darauf und blieb einen Augenblick stehen.
„Edith,“ sagte er hart und kalt, „hüten Sie sich vor mir! Wie wir Beide uns kennen, taugt es nicht, wenn Sie mit mir spielen wollten, wie damals, wo ich für ein freundliches Gesicht von Ihnen bis ans Ende der Welt gelaufen wäre. Ich bin zu alt dazu, Edith, und es könnte Ihnen doch einmal verzweifelt schlecht gefallen, wenn ich Ernst aus dem Spiel machen wollte! Ich habe noch ein gutes Theil Wildheit in mir, lassen Sie mich lieber in Frieden — es ist für uns Beide, und für Ihre Porzellanpuppe von Bräutigam besser, wenn ich andere Wege gehe! Und nun, gute Nacht Edith!“
Er streckte ihr die Hand hin, sie nahm sie nicht.
„Nein, Gerald,“ sagte sie weich und traurig, „gehen Sie nicht so im Zorn von mir fort! Ich habe vorhin, weil ich gekränkt war, nicht bedacht, daß auch Sie im Augenblick etwas zu verwinden hatten, wollen wir uns nicht gegenseitig verzeihen, Gerald? Es ist doch wahrscheinlich, daß uns die nahe Nachbarschaft hier jetzt bisweilen zusammenführt, sollen wir, zwei so getreue Kameraden von einstmals, dann fremd und kalt an einander vorbeigehen? Ich bin ja ohnehin nicht mehr lange hier —“
Eine heftige Bewegung flog über ihr Gesicht und plötzlich brach ein Strom von heißen Thränen aus ihren Augen, der zur Genüge bewies, daß die Ruhe der letzten Stunden erkünstelt gewesen.
„Edith, was thun Sie?“ rief er, wie außer sich, und streckte die Arme nach ihr aus. Aber sie hatte sich schon gefaßt, und wies ihn mit einem energischen Kopfschütteln zurück.
„Gerald, verstehen Sie mich recht,“ sagte sie fest im Ausdruck, wenn auch die Stimme noch bebte, „ich schäme mich dieser Thränen nicht, sie waren ein Tribut an unsre schöne, lustige, traurige Vergangenheit, die uns ja doch kein Mensch rauben kann! Aber wir leben in der Gegenwart, Gerald, und dürfen nur danach fragen, ob wir recht thun, nicht ob es uns gefällt! Dazu helfe mir Gott — und Sie, mein alter Kamerad, Sie werden mir dabei gewiß nicht hinderlich sein wollen! Gute Nacht Gerald!“
Und während er noch erregt und zweifelnd stand, ohne ihr zu antworten, verließ sie ihn, und ging nach dem Park zurück. Der höher und höher steigende Herbstnebel schien, wie ein wallendes Meer, sie in sich aufzunehmen, und als er sich hinter der verschwindenden Gestalt, einem grauen Vorhang gleich, zusammen schloß, da erst empfand es Gerald mit wildem Schmerz, daß er sie wirklich und unwiederbringlich verloren habe!
Gott schütz’ Dich vor dem ungeschlachten,
Ohn Maßen groben Cavalier!
Der große Wohlthätigkeitsbazar, der unter dem Protectorat der Fürstin von T... alljährlich zum Besten eines von ihr gegründeten Krankenhauses stattfand, wurde in diesem Jahre bei Lampenlicht abgehalten, wie böse Zungen behaupteten, weil der Teint der hohen Frau nicht mehr so ganz dem Tageslicht Probe hielt, wie in früheren Zeiten.
Die Fürstin verkaufte zwar nicht selbst, aber sie ging ab und zu, und war unermüdlich im Anordnen, wie in Allem, was in irgend einer Form Vergnügen hieß.
Edith Brandau hatte ihre Mitwirkung selbstredend zusagen müssen, sie war schon von je durch ihre Erscheinung die Krone jedes solchen Unternehmens, und jetzt, wo der etwas seltsame Brautstand die allgemeine Neugier in Bezug auf das schöne Mädchen noch erregt hatte, durfte man eine besondere Anziehungskraft für die Kauflust des Publikums von ihr erwarten.
Die Stunde, wo die Gesellschaft sich in die Verkaufsstätte drängte, hatte noch nicht geschlagen, doch waren die Unternehmerinnen schon erschienen, und nahmen beim strahlenden Lampenlicht an den sehr bunt und geschmackvoll arrangirten Tischen Platz, während sie hier und da noch einen Gegenstand in besseres Licht stellten, dort einen mehr wohlgemeinten, als geschmackvollen Beweis des Wohlthätigkeitssinnes in den Hintergrund schoben.
Edith saß unbeschäftigt in ihrem Sessel zurückgelehnt. Ein mattblauer, schwerer Stoff umrauschte sie, wie das Element, dem sie mit ihren Nixenaugen und ihrem Goldhaar anzugehören schien. Neben ihr lag ein riesiger weißer Camelienstrauß, die zarten Blumenblätter waren fast nicht bleicher, als das Gesicht der schönen Braut, der sie in Ertings Auftrage vor wenigen Augenblicken beim Eintritt in den Saal überreicht wurden.
Das Mädchen war in tiefes Sinnen verloren. Die kurzen Wochen, die zwischen ihrer Unterredung mit Gerald und dem heutigen Abend lagen, hatten ihr so manche Stunde gebracht, die jede Fiber ihres Herzens erzittern ließ, und sie in den seltsamsten Conflict mit sich brachte.
Zufall und Absicht verbündeten sich, um sie wieder und wieder mit dem Jugendfreunde zusammenzubringen, und der auf „freundschaftlicher“ Basis angeknüpfte Verkehr, den ihr eigener Wille hervorgerufen hatte, nahm nur zu bald die leidenschaftliche Färbung wieder an, die Geralds ganzem Wesen seine Eigenthümlichkeit und seinen Reiz verlieh. Er hatte sich mit scheinbarer Unbefangenheit im Hause ihrer Mutter eingeführt, er, der sonst so ungestüm Reizbare, schien die Kälte der Gräfin, den schlecht verhehlten Widerwillen Ertings nicht zu bemerken, für ihn existirte nur Edith!
Und sie hatte nicht die Kraft, ihm zu zeigen, daß es so nicht sein dürfe — hatte sie wenigstens nur, wenn er nicht in ihrer Nähe war! Dann gelobte sie sich jedes Mal, sie wollte ihm mit klaren Worten sagen, daß er lieber fernbleiben solle, daß es für alle Theile das Beste sei, wenn er vor ihrer Hochzeit das Zusammentreffen vermeide, und wenn er dann wiederkam, und sie den ganzen Zauber empfand, den seine Stimme und seine Augen auf sie übten, dann tröstete sie sich mit jenem gefährlichsten Trost: „es ist ja nicht auf lange, ich bin ja bald fort, und einmal Frau, werde ich ihn nicht wiedersehen!“ Und sie vermied es nicht, wie sie gesollt hätte, ihn zu sprechen und ihm zu begegnen, sie spielte ein gefährliches Spiel an einem Abgrunde, weil sie nicht vergessen konnte, daß jenseits dieses Abgrundes die blaue Blume wuchs, die Jeder träumt, und Jeder anders benennt und die ihr — erste Liebe hieß.
Sie wurde aus ihren Gedanken durch ein plötzliches Geräusch gerissen. Soeben erschien die Fürstin mit ihren Damen in den weit geöffneten Flügelthüren. Mit einem prüfenden Blick überflog sie das Arrangement der Tische, eine Verbeugungswoge begleitete sie von einer Verkäuferin zur andern, bis sie den Brandau’schen Tisch entdeckte.
Sie eilte mit ausgestreckten Händen auf Edith zu.
„Seien Sie mir willkommen, mein liebes Kind,“ sagte sie, und strich zärtlich über das goldrothe Haar der jungen Dame, die sich tief verneigte. „Sie sehen bleich aus! ich weiß, daß Sie sich heute opfern durch Ihr Erscheinen, aber ich erkenne es auch an, glauben Sie mir!“
„Wenn die Anwesenheit meiner Tochter wirklich ein Opfer ist, Durchlaucht,“ sagte die Gräfin Brandau, als Edith schwieg, und warf ihr einen zornigen Blick zu, „so wäre es durch diese Anerkennung schon reichlich vergütet!“
Die Fürstin winkte begütigend.
„Lassen Sie mir meinen Liebling unangefochten, Gräfin, sie hat das Vorrecht, ein wenig launenhaft zu sein, es steht ihr ja doch Alles gut! Und nun, meine liebe Edith, was haben wir hier? Wie ich sehe, sind noch neue Schätze angekommen!“
Während die Damen sich in die Besichtigung und Erklärung der ausgestellten Gegenstände vertieften, und die Gräfin sich nach ihrem etwas weiter entfernten Tische begab, begann der Saal sich langsam zu füllen.
Eine große Anzahl von Herren fand sich ein, unter ihnen die meisten Vertreter jener Gesellschaft, die am Eingange unserer Erzählung in der Weinstube zusammengesessen hatten, auch Raven fehlte nicht, und gab seine gewohnten ironischen Bemerkungen über Menschen und Dinge zum Besten, während er an den Verkaufsstätten entlang schritt.
Nach einer Weile zeigte sich Ertings unscheinbare Gestalt, im Frack und weißer Halsbinde, eine Rosenknospe im Knopfloch. Er ging langsam von Tisch zu Tisch, wurde überall gerufen und aufgehalten, und kam endlich bei seiner Braut an, gleichzeitig mit Raven, der eben die Fürstin begrüßt hatte, und sich nun neben ihren Sessel placirte.
„Nun, Herr Erting,“ rief sie dem sich tief Verbeugenden entgegen, „Sie kommen doch mit gefülltem Beutel? Ich hoffe um so mehr von Ihrem Wohlthätigkeitssinn, als Sie den Gaben, die Ihnen diese Hand darreicht, sicher nicht zu widerstehen vermögen.“
„Erting verhält sich doch am Ende passiv,“ sagte Raven für den verlegen Verstummten, „er weiß, daß er bereits das Schönste zu eigen hat, was ihm die Welt bieten kann, was sollte ihn da wohl noch verlocken?“
„Das steht auf einem andern Blatt,“ erwiderte die Fürstin, während ihr Blick lächelnd Edith streifte, welche durch keine Miene verrieth, ob sie Ravens Worte überhaupt gehört, „ich rede von Dingen die gekauft werden können!“
In dem Augenblick glitt ein schmerzlicher Zug über das bleiche, schöne Mädchengesicht, sie wandte sich hastig ab und suchte in den Gegenständen auf dem Tisch umher.
Es blieb dahingestellt, ob Einer der Anwesenden den Doppelsinn der Worte erfaßt hatte, oder nicht.
Die Aufmerksamkeit der Fürstin richtete sich plötzlich auf den Eingang des Saales, und sie wandte sich zu Raven.
„Ich bitte Sie, Herr von Raven, wer ist der große, blonde Mann, der eben eintritt? — ach, Sie sehen ja nicht hin, dort im Jagdcostüm —“
„Das ist der sogenannte „tolle Junker,“ Baron Rüdiger, erinnern sich Durchlaucht nicht mehr? — der jetzt Wolfsdorf geerbt hat. Eine sonderbare Idee, in diesem Aufzug hier zu erscheinen!“
„Jedenfalls eine kleidsame Idee,“ sagte die Fürstin, deren Augen immer noch den Besprochenen fixirten, „das ist eine interessante Erscheinung; wie kommt es übrigens, daß man diesen neuen Ankömmling noch gar nicht zu Gesicht bekommen hat?“
„Rüdiger liebt es, gegen die gesellschaftlichen Formen zu verstoßen, Durchlaucht,“ sagte Erting etwas bitter, „er sucht darin eine gewisse Originalität!“
„Das thut er nicht,“ rief Edith plötzlich mit Energie und tief erröthend, „er ist ein Naturmensch durch und durch, und wenn er sich in seiner sorglosen Weise gehen läßt, so ist das eben originell, und er braucht es nicht erst zu suchen, wie Sie sagen!“
Erting biß sich auf die Lippen. Die Fürstin sah mit einem forschenden Blick nach dem plötzlich so lebhaft sprechenden Mädchen, und wandte sich dann zu Raven:
„Bringen Sie mir doch diesen seltenen Vogel einmal, Herr von Raven, ich möchte gern durch den Augenschein urtheilen.“
„Durchlaucht gestatten wohl, daß ich mich für einige Minuten beurlaube,“ sagte Erting rasch, während Raven sich anschickte, Rüdiger aufzusuchen.
Die Fürstin winkte gnädig gewährend mit der Hand, und wandte sich zu Edith, als Erting sich entfernt hatte.
„Edith, dieser Rüdiger sieht unbändig interessant aus, ist es wirklich eine Jugendliebe von Ihnen? Wie schade dann!“
Und ein nicht mißzuverstehender Blick folgte der kleinen Gestalt Ertings.
„Durchlaucht sind grausam,“ erwiderte Edith mit zuckenden Lippen, „habe ich das verdient? Wer mir in der Zeit meiner Verlobung so nahe gestanden hat, sollte anders denken, oder sprechen!“
Edith durfte viel wagen. Die Fürstin sah einen Augenblick wie bestürzt vor sich nieder.
„Verzeihen Sie mir,“ sagte sie dann in ihrer gewohnten leichten Art, „Sie wissen, ich sage gern, was ich denke, und im Moment kam mir die Idee, welch herrliches Paar Sie Beide — doch halt, er kommt!“
Rüdiger trat mit Raven zu der Fürstin.
„Sie haben uns auf Ihre Bekanntschaft warten lassen, Baron Rüdiger,“ sagte sie in liebenswürdigem Ton, „ich habe Ihren Oheim sehr wohl gekannt, und weiß mich Ihrer selbst aus Ihrer Fähnrichszeit dunkel zu erinnern! Haben Sie alles Attachement für alte Bekannte in der Fremde verlernt?“
„So wenig, wie die deutsche Sprache, Durchlaucht,“ erwiderte Rüdiger verbindlich, „wenn ich trotzdem ein Versäumniß beging, so bitte ich, es in Gnaden der partiellen Verwilderung zuschreiben zu wollen, der man bei einem Jägerleben, wie ich es seit fünf Jahren führe, doch nicht entgeht.“
„Rüdiger kokettirt ein wenig mit dieser Verwilderung,“ sagte Raven in seiner gewohnten ironischen Weise, „man muß seine tadellosen Verbeugungen sehen, um zu staunen, daß er in Californien Gold gegraben, in Australien —“
„Ich bitte, erklären Sie mich nicht,“ unterbrach ihn Rüdiger etwas kurz, „außerdem sagen meine Verbeugungen durchaus Nichts — man muß mit den Wölfen heulen — meinen Sie, ich hätte in Amerika nicht mit den Affen um die Wette klettern, und mit der größten Eleganz Cocosnüsse pflücken und Grimassen schneiden können? Dafür ist man eben Kosmopolit!“
Die Fürstin sah belustigt aus, ihr Interesse an dem schönen, wildaussehenden Jägersmanne wuchs.
„Nun, da Ihnen das Parquet nicht so ganz fremd geworden ist,“ sagte sie, sich erhebend, „so hoffe ich, Sie öfters zu sehen. Wir musiciren jeden Freitag in kleinem Cirkel, und Sie sind hiermit benachrichtigt, daß Sie erwartet werden. Nun aber muß ich gehen, ich habe mich schon über die Gebühr lange bei Ihnen verweilt, Edith, auf Wiedersehen!“
Raven geleitete sie zu den anderen Tischen, während Rüdiger schweigend vor Edith stehen blieb.
„Ich dachte, Sie wollten mir heute überhaupt nicht guten Abend sagen!“ nahm sie endlich lächelnd das Wort, ihn anzusehen.
„Ich wollte auch nicht, aber Ihnen gegenüber muß ich stets, auch was ich nicht will! Schütteln Sie nicht wieder den Kopf, erzählen Sie mir lieber, wie Ihnen unser gestriger Weg bekommen ist!“
„Ich liebe keine Reminiscenzen, und heute bin ich auch gar nicht als Privatperson hier, ich denke, Sie sollen mir viel abkaufen, hier, diese schöne Jagdtasche —“
„Haben Sie sie gearbeitet?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Kennen Sie meine ungeschickten Hände nicht mehr? Ich verstand stets besser mit der Reitpeitsche umzugehen, als mit der Nadel! Aber nun ernstlich, was kaufen Sie?“
„Nur Eins!“ erwiderte er langsam, „aber für dieses Eine gebe ich Ihnen meine ganze Börse preis!“
„Und das wäre?“
„Sie werden es nicht geben wollen!“
„Ist es bei den Verkaufsartikeln?“ frug sie, ahnungslos, was er meinte.
Er lachte.
„Ja, es liegt dabei!“
„Nun, dann habe ich nichts zu geben oder zu verweigern, mein ganzes Sinnen und Trachten ist auf einen möglichst hohen Preis gerichtet, wo ist es?“
„Hier,“ erwiderte er, und nahm das Camelienbouquet vom Tisch, während er seine gefüllte Börse ernsthaft in ihre kleine Geldkasse gleiten ließ.
„Was machen Sie mit dem Bouquet meiner Braut?“ sagte plötzlich Ertings Stimme hinter ihm, ehe Edith Zeit gehabt hatte, Einspruch zu thun.
„Ich habe es gekauft,“ sagte Rüdiger, und blickte herausfordernd auf seinen kleinen Rivalen nieder.
Edith mischte sich hastig ein.
„Thorheit, Baron Rüdiger, Sie mußten selbst sehen, daß ich nicht daran denken konnte, Ihnen diesen Gegenstand zu verkaufen — legen Sie gleich das Bouquet wieder her! Es war nur ein Scherz,“ wandte sie sich verwirrt an Erting.
„Das Bouquet ist mein,“ erwiderte Rüdiger, ohne sich an Ertings zornbleiche Miene zu kehren, „dort liegt meine Börse, Geschäft ist Geschäft, Herr Erting, das müssen Sie als Kaufmann doch am besten wissen!“
„Sie sind unartig, Gerald,“ fiel Edith wieder hastig ein, „und ich allein habe das Recht, hier zu entscheiden. Legen Sie das Bouquet wieder her, ich mag Ihr Geld nicht haben, auf sophistischem Wege bin ich nicht wohlthätig!“ Sie hielt ihm die Börse hin.
„Das Bouquet,“ wiederholte sie.
„Geben Sie das Bouquet her,“ sagte Erting gleichzeitig, mit vor Wuth fast erstickter Stimme, „haben Sie ein Recht darauf, oder ich?“
„Leider Sie!“ erwiderte Rüdiger lachend und hielt den fraglichen Gegenstand hoch in die Höhe, „aber trotzdem bleiben diese Blumen mein, ich würde ebenso gern meinen Kopf hergeben, wie auch nur ein einziges Blättchen aus dem Strauß! Geben Sie sich keine Mühe, Erting, Sie können ihn gar nicht erreichen!“
„Genug,“ sagte Edith jetzt schnell und besorgt, da sie sah, daß Erting aufs Aeußerste gereizt war, „ich befehle, daß Sie die Blumen meinem Bräutigam geben, Gerald!“
Sie hatte noch nie mit diesem Ausdrucke von Erting zu Rüdiger gesprochen, sein schnell entfachter Zorn loderte auf. Er nahm den Strauß und die schwere Börse, und mit dem heftigen Ausruf: „So soll sie Niemand haben!“ schleuderte er Beides durch das geschlossene Fenster in den Garten und verließ dann den Saal, ohne irgend Jemand Lebewohl gesagt zu haben, während die ganze Gesellschaft stumm und entsetzt dem „tollen Junker“ nachsah, der sich eben wieder seines Namens so werth gezeigt hatte.
Die Fürstin, welche am andern Ende des Saales beschäftigt gewesen, hatte sich beim Klirren der Fensterscheibe rasch und erstaunt umgewendet, und sandte jetzt Raven ab, um den Grund dieser Störung zu erfahren. Als er mit dem Bericht zu ihr zurückkehrte, lachte sie hell auf:
„Köstlich, Herr von Raven, dieser Rüdiger ist wirklich ein Original! Aber wie erfrischend wirkt das in unseren nüchternen Kreisen!“
„Ich fürchte, Durchlaucht, daß Herr Erting die Sache nicht in diesem Sinne auffassen wird,“ sagte Raven, „er schäumte geradezu vor Wuth, und seine Mutter, die eben eintrat, um das Bouquet des Söhnchens fliegen zu sehen, war mindestens ebenso empört! Wenn die Sache nur nicht ernstere Folgen hat!“
„Das wäre ja abscheulich!“ rief die Fürstin lebhaft, „und gerade jetzt, wo ich mir vorgenommen habe, den interessanten Goldgräber zu unseren kleinen Festen heranzuziehen; eine derartige Differenz würde Alles zerstören. Das muß verhindert werden, um jeden Preis! Ich werde die Familie Erting versöhnen, Herr von Raven, ich bringe der Außergewöhnlichkeit ein Opfer!“
Sie ging lachend davon, und Raven folgte ihr, etwas ingrimmig murmelnd: „Besonders, wenn diese „Außergewöhnlichkeit“ ein so hübsches Gesicht hat, da opfert man sich mit Leichtigkeit!“
Aber Ludwig Erting war bereits den suchenden Augen der Fürstin entrückt. Er faßte den Arm seiner Mutter und zog sie mit sich hinaus.
„Ich gehe nach Haus,“ sagte er auf ihren verwundert fragenden Blick.
„Und Edith? Ich weiß nicht wie du bist, Ludwig, du wirst doch deine Braut nicht allein hier lassen!“
„Ich gehe nach Haus,“ wiederholte er heftig, „für heute habe ich wieder einmal genug von dem vornehmen Brautstand. Was, ich soll mich wohl von dem infamen Abenteurer, dem Rüdiger, wie einen Schuljungen necken und zerren lassen? Mutter, ich sage dir, es geht nicht gut; wenn du nicht merkst, daß man sich hier über uns lustig macht, ich merke es, und was habe ich denn davon?“
„Aber Ludwig,“ rief die erschrockene Frau, die währenddessen mit dem zornigen, kleinen Sohn ihren bereitstehenden prächtigen Wagen bestiegen hatte, und nun an seiner Seite durch die Straßen rollte, „Ludwig, hast du denn gar kein Gefühl für die Ehre, die dir geschieht, wenn du eine solche Heirath machst? Du mußt doch steigen wollen und in höhere Sphären kommen, mein liebes Kind — ich will ja nur dein Glück, wenn ich dir dazu rathe!“
„Du meinst es gut, Mutter, das weiß ich,“ sagte er, schon ruhiger, „und es ist ja auch möglich, daß eine Heirath mit Edith ein Glück ist, in manchem Sinne! Aber ich denke jetzt oft, es wäre besser für mich, ich hätte mich nicht von dir bereden lassen, aus meinem Kreise herauszugehen, durfte ich nach meinem Sinne wählen, so wäre ich später einmal Herr in meinem Hause, und nicht, was ich hier immer sein werde, der Mann meiner Frau, die ja sehr schön, sehr vornehm und sehr klug ist, die aber wenigstens zehn Stufen herunter steigen muß, um sich mir gleich zu dünken. Das ist nichts für mich, Mutter, aber wir wollen nicht weiter davon sprechen. Geschehene Dinge sind nicht zu ändern!“
Die Mutter schwieg auf diesen Ausbruch eines lange verhaltenen Aergers, einfach, weil sie nichts darauf zu erwidern wußte.
Dann aber fühlte sie doch das Bedürfniß, ihren Sohn zu beschwichtigen. Sie legte Ludwig die Hand auf die Schulter.
„Mein liebes Kind,“ sagte sie ängstlich, „so sei doch nicht so heftig! Daß ich nur dein Glück im Auge hatte, als ich dich zu der Verlobung mit Edith drängte, weißt du ja! Und warum solltest du nicht glücklich mit ihr werden? Ist sie nicht das schönste und liebenswürdigste Mädchen, das die ganze Provinz aufweisen kann? Und so distinguirt, so viel chic!“
„Mutter, thu mir die einzige Liebe, und sei nicht vornehm, so lange wir unter vier Augen sind! Dir steht es nicht, und mir gefällt es nicht, und außerdem gehört das chic und was du sonst sagst, nicht zur Sache. Antworte mir einmal einfach: glaubst du, daß Edith mich liebt?“
Frau Erting wurde verlegen, als die ehrlichen, kleinen Augen des Sohnes sich so fest auf sie richteten.
„Was verstehst du unter lieben?“ frug sie ausweichend.
„Nun, ungefähr, was du darunter verstandest, als du meinen Vater heirathetest, der ein armer Mensch war, und dir keine glänzende Existenz bieten konnte! Oder ungefähr, was ich darunter verstand, ehe Martha unter fremde Leute gehen mußte, damit ich eine vornehme Heirath machen konnte!“
„Ludwig,“ sagte die Mutter, jetzt fast ebenso heftig, als vorhin der Sohn, „reize mich nicht! Willst du deine Verlobung mit Edith Brandau rückgängig machen, so thue es, ich kann dir nichts befehlen, aber ich kann dir etwas verbieten! Du hast mir am Todtenbette deines seligen Vaters versprochen, nicht gegen meinen Willen zu heirathen, und wenn ich den bittersten Kummer erleben sollte, dich als Junggesellen sterben zu sehen, meine Einwilligung zu einer Heirath mit Martha Erting erhältst du nie! So lange du ledig bleibst, kann ich sie aber natürlich nicht wieder ins Haus nehmen. An deinem Hochzeitstage, das verspreche ich dir, will ich an sie schreiben, und sie zurück holen lassen; also du hast es in deiner Hand, wie lange Martha „unter fremden Leuten“ sein soll! Ich dachte, du hättest dir diesen Unsinn nun nachgerade aus dem Kopf geschlagen!“
„Reden wir nicht mehr davon,“ sagte Erting finster, „ich habe mich vergessen! Eins aber sage ich dir, Mutter, wenn mir dieser übermüthige Junker, der Rüdiger, noch ein einziges Mal zu nahe tritt, oder sein unverschämtes Hofmachen bei meiner Braut fortsetzt, so werde ich ihm zeigen, daß man Courage haben kann, auch wenn man nicht baumlang und baumstark ist! Ich fordere ihn auf Pistolen, Mutter — du weißt, ich habe noch kein solches Ding in der Hand gehabt, und wenn er mich todtschießt, so hast du wenigstens das tröstliche Bewußtsein, daß ich vornehm umgekommen bin!“
Der Wagen hatte während dieser Rede gehalten, und Ludwig half Frau Erting aussteigen.
„Gute Nacht, Mutter,“ sagte er dann, „da kommt schon einer von unseren Herrn Bedienten; ich will noch zu Gerhold, ein Glas Wein wird mir heute ganz dienlich sein!“
Und damit wandte er sich ab und ging die Straße hinunter, während die Mutter, halb entsetzt, halb stolz über den heldenmüthigen kleinen Eisenfresser, im Hause verschwand.
Entflieh’ mit mir!
Die Fürstin ließ es seit dem Bazartage nicht an Gelegenheiten fehlen, die gefährlichen Zusammenkünfte zwischen dem Brautpaar und Rüdiger zu veranlassen. Theils hatte sie, trotz ihrer vierzig Jahre, noch jenes kleine faible für Rüdiger, welches er fast bei jeder Frau, mit der er in Berührung kam, hervorrief, theils auch ergötzte es sie, die Reibereien und Intriguen zwischen Erting und Rüdiger zu beobachten. So jagten sich denn Lese- und Musikabende, Schlittenfahrten und Eisfeste nach einander, und immer war der „tolle Junker“ der Held aller dieser Festivitäten.
Wie Edith, die in jenen Gesellschaften mit Gerald las und musicirte, und sich seinem eigenartigen Wesen unbefangener als je hingab, dachte, das wußte Niemand. Die kühle, vornehme Zurückhaltung ihres Wesens hätte jede Frage von vorn herein zurückgewiesen, und ob sie selbst sich fragte? Sie ließ sich von dem glänzenden Strome der Gegenwart dahin tragen, wie in einem Traume, in dem uns schon bewußt ist, daß wir bald erwachen werden, den wir aber mit um so größerem Entzücken weiter träumen. Das dunkle Gefühl, daß die Wellen dieses Stromes sie vielleicht plötzlich erfassen und in den Abgrund ziehen könnten, kam ihr nur selten, und wurde so schnell wieder unterdrückt, wie es entstand.
Als eine Art Abschiedsfest hatte noch so eben ein glänzender Maskenball die Gesellschaft vereint. Unmittelbar von diesem Balle aus kehrte Edith, die mehrere Tage bei der Fürstin gewohnt hatte, nach Brandau zurück.
Der Maskenball war glänzend und es herrschte nur eine Stimme vollster Befriedigung. Die Fürstin, die als Maria Stuart durch die Zimmer rauschte, hatte das Signal zum Demaskiren noch nicht gegeben. Sie selbst war natürlich sofort erkannt worden, zu ihrem geheimen Verdruß, und so blieb ihr nichts übrig, als, auf eigene Abenteuer verzichtend, solche in möglichst großer Zahl unter ihren Gästen anzustiften.
Edith hatte auf den dringenden Wunsch der Fürstin einen altdeutschen Anzug gewählt, und als sie jetzt in ihrem lichtblauen, faltenreichen Gewande, mit den herabhängenden, schweren Goldflechten sinnend am Fenster lehnte, hätte allerdings das „Gretchen“ nicht reizender gedacht werden können. Der dieser Erscheinung widersprechende Zug von Stolz und Herbheit, der Ediths Wesen sonst leicht kennzeichnete, war durch den wehmüthigen Gedanken an den so nahe bevorstehenden Abschied von der Mädchenzeit zu einer weichen Lieblichkeit gemildert, die ihr einen neuen und geradezu hinreißenden Zauber verlieh.
Erting zu erkennen, war ihr sofort gelungen, er hatte, mit richtigem Takt, einen einfachen schwarzen Domino gewählt, aber seine schüchterne Unbehülflichkeit ließ ihm selbst diese anspruchslose Tracht als eine Prätension erscheinen. Er stand, sich entschieden unbehaglich fühlend, am Fenster des zu ebener Erde gelegenen Ballsaales und blickte in die Schneenacht hinaus. Edith trat mit jenem, aus freundschaftlicher Zuneigung und Mitleid gemischten Gefühl, welches sie stets für ihn empfand, auf ihn zu.
„Nun, Ludwig, haben Sie mich wirklich noch nicht erkannt, oder wollen Sie sich Ihre Maskenfreiheit wahren?“ sagte sie, und legte ihre kleine Hand auf seine Schulter.
Er wandte sich hastig um und nahm die Larve ab; es lag ein Zug von trübem Nachdenken auf seiner Stirn.
„Wollen Sie mich daran erinnern, daß es mit unserer Freiheit überhaupt bald zu Ende ist?“ sagte er in einem Tone, der scherzhaft sein sollte, aber bitter klang.
„Was haben Sie, Ludwig?“ frug Edith halb erstaunt und halb verletzt, indem sie einen Schritt zurück trat. In dem Moment fiel ihr Blick auf eine hohe Gestalt in der düsterschönen Tracht eines spanischen Granden. Eine tiefe, jähe Röthe schoß ihr sinnverwirrend in den Kopf, und war trotz der Larve wohl zu bemerken.
„Was ich habe?“ gab er finster zurück, „sehen Sie einmal in den Spiegel, Edith, aber jetzt, in diesem Augenblicke, und fragen Sie sich, „was ich habe,“ wenn das Mädchen, das in drei Tagen meine Frau sein wird, beim Anblick eines Anderen so tief erröthet — Sie haben sich zu früh demaskirt!“
Sie richtete sich auf und wollte ihn ohne ein weiteres Wort verlassen, aber ihr ehrliches Herz sagte ihr, daß er so Unrecht nicht habe! Sie bezwang sich und blieb.
„Ludwig, seien Sie nicht hart,“ sagte sie, fast bittend, „Sie kennen mich genug, um zu wissen, daß ich bei jedem überraschenden Wort oder Anblick roth werde, und das unerträgliche Gefühl, daß Sie mich stets beobachten, wenn Gerald kommt —“
„Ach was Gerald — Gerald,“ rief er heftig, „Sie brauchen den Baron nicht beim Vornamen zu nennen, ich kann diese Jugendfreundschaft nicht leiden, die er zum Vorwand nimmt, um Ihnen vor Aller, und auch vor meinen Augen in der unerhörtesten Weise den Hof zu machen! Sie werden ihn nicht mehr beim Vornamen nennen, und Sie werden heute Abend nicht mit ihm tanzen!“
Edith war leichenblaß geworden.
„Sie demaskiren sich gleichfalls ein wenig früh,“ sagte sie langsam und eiskalt, „aber noch brauche ich mir in solchem Tone nichts befehlen zu lassen, ich werde Gerald Rüdiger beim Vornamen nennen, und werde mit ihm tanzen, bis Sie mir wirklich etwas zu befehlen haben!“
Und mit einem hochmüthigen Kopfneigen trat sie aus der Fensternische, und nahm Geralds Begrüßung mit um so seltsameren Gefühlen entgegen, als der leidenschaftlich entzückte Ausdruck, mit dem er sie erkannte, schneidend von dem Wesen Ertings abstach.
Das Orchester begann einen rauschenden Walzer zu spielen, man demaskirte sich, und als Rüdiger jetzt mit Edith durch den Saal flog, da folgten Aller Blicke bewundernd und — bedauernd dem herrlichen Paar, welches dem feurigen Rhythmus des Tanzes so anmuthig nachgab, und jetzt stillstehend, unwillkürlich an zwei schlanke Edeltannen denken ließ, die neben einander und für einander gewachsen schienen.
Noch nie hatten Beide, Rüdiger und Edith, es so klar empfunden, was sie einander waren, als an diesem Abend, wo das schmerzliche Gefühl „des letzten Males“ ihrem Beisammensein einen erhöhten Reiz verlieh. Noch nie hatte Rüdiger es so offen gewagt, von seiner Leidenschaft zu sprechen — und Edith, im Gefühl einer an ihn begangenen Härte, wies ihn nicht zurück!
„Und übermorgen ist Ihr Polterabend!“ sagte Gerald jetzt ohne Uebergang, als er Edith den Arm bot, und langsam mit ihr durch den Saal nach einem kühleren Zimmer schritt. Sie ließ sich ermüdet in einen Sessel gleiten, und wehte sich mit ihrem großen Fächer Kühlung zu, ohne zu antworten. „Erlauben Sie!“ sagte er jetzt, und nahm den Fächer aus ihrer Hand, „das paßt nicht für Gretchen — überlassen Sie es Faust!“
„Sie sind nicht Faust!“ erwiderte sie lebhaft, und richtete sich auf, um ihn anzusehen.
„Vielleicht doch! Die Fürstin wollte mich wenigstens sofort dafür erkennen, freilich hat sie mir dies Kostüm auch warm genug empfohlen!“
„Abscheulich!“ rief Edith erröthend, „weil sie wußte, daß es Ludwig kränken würde!“
„Und warum soll Ludwig sich nicht kränken lassen?“ sagte Rüdiger höhnisch, „soll ich das ganz allein thun?“
„Sie brauchen sich ja auch nicht zu kränken!“
„Das ist auch nicht das Wort für meine Empfindungen: ich gräme mich, ich habe die rasendsten Pläne; wenn Sie ahnten, wie es in meinem Kopf und Herzen aussieht!“
„Ich bin gar nicht neugierig!“ erwiderte sie anscheinend ruhig, aber mit leicht bebender Stimme, „überdies kann ich es mir denken!“
„Nun, wie sieht es darin aus? Sagen Sie wahr!“
„Toll, nicht? Das ist ja Ihr gewöhnlicher Zustand!“
„Und wenn es wäre? Wer hat mich toll gemacht? Edith, ich gebe Ihnen eine letzte Bedenkzeit, sagen Sie mir, daß Sie mich lieben, daß Sie Erting nicht heirathen wollen, und Alles ist gut! Sonst fällt die Verantwortung für jede, auch die größte Thorheit und Schlechtigkeit, die ich von jetzt ab begehe, auf Ihr Haupt, vergessen Sie das nicht!“
Sie schüttelte still den Kopf, ohne zu sprechen, aber in dem Zittern der kleinen Hände, die zusammengefaltet, unthätig im Schoße lagen, verrieth sich der tiefe, peinvolle Zwiespalt, in den seine Worte sie versetzten.
„Entscheiden Sie sich, Edith,“ fuhr er athemlos vor Aufregung fort, „ich gebe Ihnen eine ganze Minute, sechzig Secunden; glauben Sie, daß ich den zehnten Theil so lange brauchte, um zu wissen, ob ich Ja oder Nein sagen sollte? Ein Wort, Edith,“ er blickte sich hastig um, sie waren allein im Zimmer, „ein Wort und ich gehe mit Ihnen davon, mein Schlitten ist hier, Sie kennen den alten Job, meinen Diener, er führe mich zum Teufel in die Hölle, wenn ich wollte! Der Saal ist zu ebener Erde, durchs Fenster können wir fort, wie nichts! Ich pfeife und der Schlitten ist hier! Noch zwanzig Secunden, Edith, ehe die aber um sind, dürfen Sie auch kein Wort sprechen!“
Sie schnitt ihm die Rede ab, indem sie sich hastig erhob.
„Genug, Baron Rüdiger,“ sagte sie mit gepreßter Stimme, „Sie beleidigen mich tief, tödtlich, wenn Sie noch eine einzige Silbe sagen! Was, Sie haben es für möglich gehalten, daß ich, die Braut eines Andern, mit Ihnen davonlaufen würde, um die dürre Wahrheit zu sagen? Und nicht nur für möglich, für wahrscheinlich haben Sie es gehalten,“ fuhr sie fort, indem sie ihn durch eine stolze Handbewegung schweigen hieß, „auf wen wartet Ihr Schlitten, wenn nicht auf mich? Ich glaubte doch, Sie kennten mich besser, Baron Rüdiger! Und jetzt darf ich Sie wohl bitten, mich zu meiner Mutter zu begleiten, Sie haben mich hart dafür gestraft, daß ich Ihnen die Rechte alter Jugendfreundschaft so vertrauend einräumte.“
Er bot ihr schweigend den Arm, an der Thür stand er still und zwang sie dadurch, gleichfalls stehen zu bleiben.
„Edith, verzeihen Sie mir,“ sagte er rauh und ohne sie anzusehen, „es war ein verzweifelter Versuch, Sie zu gewinnen, ich habe nicht überlegt, daß Sie der Gedanke kränken mußte; was blieb mir schließlich übrig? Verzeihen Sie mir,“ wiederholte er zornig, als sie schwieg und vor sich niederblickte. „Sagen Sie, daß Sie mir verzeihen oder es wird nicht gut!“
Er preßte bei diesen Worten ihren Arm so heftig an sich, daß sie einen leisen Schmerzensschrei ausstieß. Hastig ließ er sie los.
„Sehen Sie,“ sagte er mit erzwungenem Lächeln, aber ohne sich zu entschuldigen, „was davon kommt, wenn man mir den Willen nicht thut? Aber jetzt noch einmal, Edith, verzeihen Sie mir, wir sind für lange Zeit das letzte Mal zusammen gewesen — gönnen Sie mir diesen einen armen Abend aus Ihrem ganzen reichen Leben. Ich will heute noch einmal vergnügt sein, ich reise in dieser Nacht ab!“
„Weshalb?“ frug sie überrascht, und sah zu ihm auf.
„Was soll ich noch hier? Ihr Brautführer sein? Sie taxiren mich denn doch etwas zu zahm, Edith! viel zu zahm, wie Sie noch einmal einsehen werden! Aber Sie haben mir noch nicht geantwortet, verzeihen Sie mir? Hölle und Teufel, wie oft soll ich fragen?“
„Noch oft, und in ganz anderem Ton, ehe ich antworte,“ erwiderte sie kalt.
„Nun, dann bin ich zu Ende,“ rief er trotzig und wild, „thun Sie was Sie wollen, aber wundern Sie sich nicht, wenn ich es auch thue!“
Er stürmte fort, und Edith folgte ihm langsam, mit wildschlagendem Herzen. Eine unbestimmte Furcht schien sich wie ein Bleigewicht an ihre Schritte zu hängen. Als sie beim Eintreten in den Saal ihre Mutter nicht sofort sah, sondern nur Erting erblickte, ging sie, in einem ihr sonst fremden Gefühle der Schutzbedürftigkeit zu ihm, und legte ihre Hand in seinen Arm.
„Ludwig, Sie dürfen mich nicht so viel allein lassen,“ sagte sie, „was soll man davon denken?“
„Sie ließen mich allein,“ erwiderte er, halb versöhnt durch ihr Einlenken, — „aber es soll mir um so lieber sein, wenn ich jetzt in Ihrer Nähe bleiben darf! Geben Sie mir den nächsten Tanz, es ist eine Quadrille!“
„Gern,“ sagte sie, erleichtert, daß er ihr nicht mehr grollte, „sehen Sie sich, bitte, nach einem vis-à-vis um, ich erwarte Sie bei Mama!“
Er geleitete sie zur Gräfin Brandau, die inzwischen wieder in den Saal getreten war. Dann ging er, sich einer Gruppe von Herren zugesellend, zu der auch Rüdiger gehörte.
Edith beobachtete einige Augenblicke die Plaudernden mit angstvoller Spannung, aber da nichts Auffälliges zu bemerken war, wandte sie sich ihrer Mutter zu, und bemühte sich, die kritischen Bemerkungen zu belächeln, welche die Gräfin schonungslos über Alt und Jung laut werden ließ.
Das Zeichen zur Quadrille ertönte von dem hoch placirten, durch Orangerie fast versteckten Orchester. Die verschiedenen Gruppen im Saal geriethen in Bewegung, ein Paar nach dem andern stellte sich auf, Edith warf einen suchenden Blick in den Saal hinein, Erting kam nicht, und sie vermochte ihn auch nicht zu entdecken.
Verwundert und etwas ärgerlich wollte sie sich eben zurück ziehen, als Raven zu ihr trat.
„Nun, gnädigste Comtesse, Sie verschmähen diesen Tanz?“
„Sagen Sie lieber, der Tanz oder mein Tänzer verschmäht mich,“ sagte sie lächelnd, „ich habe die Quadrille meinem Bräutigam zugesagt, und er scheint dies vergessen zu haben!“
„Erting? O, der wird sofort kommen, er wurde eben abgerufen, weil ihn Jemand auf einen Augenblick zu sprechen wünschte, mag sein, daß die Unterredung sich ein wenig in die Länge zieht!“
„Ah so!“ erwiderte Edith beruhigt, nun, „plaudern wir, bis er kommt, Herr von Raven, oder besser, plaudern Sie, Sie verstehen das ja so meisterhaft!“
Raven verbeugte sich.
„Tempi passati, meine gnädigste, tempi passati, jetzt überläßt man es jüngeren Kräften!“
Die Quadrille nahm indeß ihren Fortgang. Ediths anfängliches Befremden über das Ausbleiben Ertings wich nach und nach dem Zorn. Mochte er in noch so dringenden Angelegenheiten abberufen sein, ein Moment fand sich doch wohl, mußte sich finden, um der Braut Aufklärung zu geben, was ihn verhindere!
„Irgend eine Börsennachricht,“ dachte sie bitter, „das ist wichtiger, als Höflichkeit und Rücksichten! Man wird zum Cavalier geboren, das läßt sich eben später nicht anlernen!“
Als der Tanz vorüber war und sie Raven mit seinen vielen „Unbegreiflich, unerklärlich, unverzeihlich“ entlassen hatte, trat Rüdiger zu ihr. Ihre Augen verriethen die innere Erregung, ein zartes, aber doch tiefes Roth färbte ihre Wangen.
Rüdiger sah mit unverhohlenem Entzücken in ihr Gesicht. Wenn sie, als er sich ihr nahte, eine leise Befangenheit in seinem Wesen zu erkennen geglaubt hatte, so war diese verflogen, er sah lustiger und übermüthiger aus, wie je!
„Darf ich Sie zum Souper hinüber führen?“ frug er, indem er ihr Spitzentuch vom Sessel nahm und ihr umgab.
„Das dürfen Sie,“ sagte Edith, gegen ihr besseres Gefühl, „ich bin ja ohne Cavalier; Herr Erting hat, Gott weiß warum, den Ball verlassen, ohne ein Wort der Aufklärung an mich!“
„Hat er das?“
„Und weiter sagen Sie nichts? Ist es nicht unerhört rücksichtslos?“
„Sie wissen, ich fälle nie scharfe Urtheile,“ sagte Rüdiger, der sie zu ihrem Platze geleitet hatte, „er konnte zwingende Gründe haben! Jedenfalls rechnen wir mit Thatsachen — er ist fort, ich bin da, es lebe die Gegenwart!“
Er hielt sein überschäumendes Champagnerglas hin, und das ihrige klang leise dagegen. Er leerte es in einem Zuge, und noch eins, er steigerte sich zu fast fieberhafter Fröhlichkeit, sein Lachen klang durch den Saal, und noch nie hatten die blauen Augen des „tollen Junkers“ so geblitzt, wie an diesem Abend.
Edith gab sich voll und rückhaltslos dem Zauber der Minute hin, sie fühlte ein Recht dazu, da Erting sie so rücksichtslos, so gleichgültig verlassen hatte, und die Stunden flogen vorüber, leicht und glänzend, wie die Schneeflocken, die draußen dicht und dichter niederfielen.
Endlich gab die Fürstin das Zeichen zum Aufheben der Tafel und zugleich zur Beendigung des Festes.
Während man sich empfahl und der Saal sich zu leeren begann, trat Rüdiger noch einmal zu Edith.
„Ich darf Sie und Ihre Mutter nach Hause fahren?“
„Ich glaubte, Sie verreisten heute Abend?“
„Das thue ich auch, aber es bleibt mir trotz dessen noch Zeit, wenn ich Sie erst nach Brandau bringe, ich benütze dann einen späteren Zug.“
Aber Edith war inzwischen zu ruhigerem Besinnen gekommen. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, Baron Rüdiger, ich danke Ihnen! Ich bleibe heute noch bei der Fürstin, es ist mir zu spät geworden, um nach Brandau hinaus zu fahren, und meine Mutter hat gleichfalls die freundliche Einladung angenommen, im Schloß zu übernachten. Wir können uns also Ihrem Schutze nicht anvertrauen.“
„Wie Sie befehlen,“ sagte Rüdiger, ohne zu ihrer Ueberraschung noch mit Bitten in sie zu dringen, „dann fahre ich von hier direct zur Bahn, und fort. Leben Sie wohl, Edith, auf Wiedersehen!“
„Ein weiter Begriff, wenn Sie mehrere Tage fortbleiben,“ sagte sie mit etwas mühsamem Lächeln, „wir reisen gleich nach der Trauung für den Rest des Winters nach Italien.“
„Gleich nach der Trauung, und für den ganzen Winter? O, wie schade! Nun, der Frühling kommt ja auch ins Land, Comtesse, und überdies, wer darf so sicher sagen, was er thun wird? Sie können Ihre Entschlüsse auch noch ändern. In jedem Falle, leben Sie wohl!“
Was war das? Dieser kühle, fast vergnügte Ton, in dem er, der sie noch vor wenig Stunden wie außer sich beschworen hatte, mit ihm zu fliehen, jetzt ihre Hochzeitsreise besprach — war dies Comödie, oder alles Vorhergegangene? Nun, sie wollte sich nicht übertreffen lassen.
„Leben Sie wohl!“ sagte sie frostig, und reichte ihm die kleine Hand im Handschuh, die er ehrerbietig an die Lippen führte. Aber als er sich wieder aufrichtete, und zurücktrat, so edel, stolz und fest in jeder Bewegung, da stand die gewaltsam bekämpfte Liebe in ihrem Herzen noch einmal auf, mit bitterem Schmerz bei dem Gedanken: „Du siehst ihn nie wieder, wie Ihr Euch heut gesehen!“ und sie gab ihm nochmals die Hand:
„Gott behüte Sie, Gerald, auf allen Ihren Wegen —“ und wandte sich hastig ab, während er eben so rasch das Zimmer verließ, und seinen Mantel umwerfend, die Freitreppe nachdenklich hinunter schritt.
Auf seinen leisen Pfiff fuhr ein kleiner Schlitten vor. Der graubärtige Kutscher schlug schweigend das Tigerfell zurück, und gab seinem Herrn die Zügel. Beide vermieden es sorgfältig, einander anzusehen.
„Vorwärts!“ rief Rüdiger, und die Pferde zogen an. Pfeilschnell flog der Schlitten über die dichte Schneedecke, zur Stadt hinaus. Lautlos sauste das Gefährt über die Landstraße, im kalten Vollmondlicht von seinen gespenstischen, kohlschwarzen, jagenden Schatten begleitet. Eine scharfe Biegung des Weges brachte den Schlitten in den stummen, funkelnden Wald, der Mond verschwand hinter den schwarzen Tannen, und ein Ruck mit den Zügeln ließ die Pferde langsam gehen. Schon stieg das Wolfsdorffer Schloß, in seinem Schneemantel seltsam und ungestaltet aussehend, vor den Blicken Rüdigers auf. Er zog den Hut tiefer ins Gesicht, und wandte sich zu seinem Kutscher.
„Job!“
„Gnädiger Herr?“
„Alles ruhig oben?“
„Nein, gnädiger Herr!“
„Was macht er denn, Job?“
„Er flucht, gnädiger Herr, und wirft die Stiefel gegen die Thüren. Zwei Fenster hat er auch schon eingeschlagen.“
Rüdiger biß sich auf die Lippen und schwieg. Nach einer Pause, die den Schlitten wieder näher an das Schloß brachte, begann er von Neuem.
„Job!“
„Gnädiger Herr!“
„Warum sagst du nichts?“
„Ich weiß nichts, gnädiger Herr!“
„Job, mir ist verflucht ungemüthlich zu Muthe!“
„Das glaub’ ich, gnädiger Herr!“
Der Baron peitschte plötzlich wie wüthend auf die Pferde, daß sie im Sturmschritt hinflogen, bis das Schloß erreicht war. Der gellende Ton der Pfeife übte auch hier seine Wirkung. Langsam und kreischend wurde die Zugbrücke herabgelassen, der Schlitten sauste in den Schloßhof, die Zugbrücke ging empor und nun war Rüdiger zu Hause.
Ein zweiter Diener, eben so alt und verdrießlich aussehend, wie Job, trat ihm mit einer Lampe entgegen, die einen breiten, röthlichen Schein über den Schloßhof fallen ließ. Rüdiger schüttelte sich die Schneeflocken vom Hut und aus dem Gesicht, warf dem Diener den Mantel zu, und ging langsam die breite, halbdunkle Treppe hinauf, die nach den Wohnräumen führte. Der Diener folgte ihm mit der Laterne.
Oben angelangt, blieb der junge Schloßherr stehen. Wenn er hätte sehen können, welch seltsam malerischen und schönen Anblick er in seiner altspanischen Tracht, an der dunkeln, geschnitzten Holztreppe lehnend, darbot, er hätte sich möglicher Weise gefreut, wahrscheinlicher aber ist es, daß es ihm in seiner momentanen Stimmung höchst gleichgültig gewesen wäre.
Er entließ den Diener mit einer kurzen Handbewegung und schritt dann, nachdem er noch einen Augenblick nachdenklich gestanden hatte, den langen, hallenden Gang herunter, der nach dem unfreiwilligen Aufenthaltsort seines Gastes führte. An einem Zimmer, über dessen Thür sich ein Spitzbogen von Sandstein wölbte, hielt er an, schloß auf und klopfte gleichzeitig.
„Wer ist da?“ rief Ertings Stimme von drinnen, zwischen Aengstlichkeit und Wuth.
„Ich, Gerald Rüdiger, Herr Erting, — wollen Sie —“
Es blieb ihm nicht Zeit den Satz zu vollenden, die Thür wurde aufgerissen, und Erting stand dicht vor ihm, in dem ungewissen Mondlicht, welches sein vom Zorn bleiches Gesicht noch weißer erscheinen ließ.
„Wo haben Sie Ihre Pistolen?“ knirschte er, indem er Miene machte, sich auf Rüdiger zu stürzen, „wo haben Sie Ihre Pistolen, ich will nicht mehr leben, wenn ich nicht an Ihnen Rache nehmen darf!“
Rüdiger war so versteinert über diesen Wuthausbruch, daß er im ersten Moment kein Wort fand, um zu erwidern. Erting mochte das für den kalten Hohn des Siegers dem Besiegten gegenüber halten, er kam wie ein Rasender auf Rüdiger zu, und packte ihn am Arm.
„Wollen Sie mir sofort Genugthuung geben für den Schimpf, den Sie mir angethan haben, oder soll ich Sie dazu zwingen?“
Er hob drohend die Hand, Rüdiger trat einen Schritt zurück, noch sehr ruhig, wie es schien.
„Seien Sie nicht toll, Erting, ich schieße mich nicht mit Ihnen!“
„Weshalb? weil Sie der Stärkere sind? Ich will keine Schonung!“
„Nein, einmal, weil wir keine Secundanten und keinen Arzt zur Stelle haben, von einem Duell also keine Rede sein kann, sodann aber, weil Sie mit Schießgewehr nicht umzugehen wissen, und ich kein Vergnügen daran finde, einen Wehrlosen niederzuschießen.“
„Wenn Sie Vergnügen daran finden, einen Wehrlosen durch Ihre Leute knebeln und fortschleppen zu lassen, so ist das reichlich eben so feige!“
„Erting, nehmen Sie sich in Acht,“ rief Rüdiger, auf dessen Stirn eine unheilverkündende, düstre Röthe erschien, „ich dulde heute Viel von Ihnen, weil Sie der Beleidigte sind, aber nicht Alles!“
„Sie wollen sich nicht mit mir schießen?“ schrie Erting mit fast erstickter Stimme, als der Andere sich abwendete, und im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen.
„Nein!“ erwiderte Rüdiger kurz, er fühlte, daß er keine Silbe mehr sagen durfte, ohne in Zorn auszubrechen.
„Wer hat die Schonungsparole ausgegeben?“ fuhr Erting, sinnlos vor Wuth, fort, „Edith, ich sehe jetzt klar, sie war doch jedenfalls im Complott, als es galt, den unbequemen Bräutigam fortzuschaffen!“
„Genug!“ sagte Rüdiger todtenbleich und fest, „Sie haben einen Namen in unseren Streit hineingezogen, der es mir unmöglich macht, Ihnen noch ferner Genugthuung zu verweigern, ich werde die nöthigen Anordnungen treffen. Erwarten Sie mich hier, Sie haben es so gewollt!“
Er verließ das Zimmer, und Erting blieb allein zurück, in einem Tumult von Empfindungen, der ihm fast den Verstand zu rauben drohte. Ueberwiegend war immer noch die furchtbarste Wuth und Entrüstung, die aber in der Voraussicht, seinen Rachedurst kühlen zu können, ja zu müssen, bereits nachzulassen begann.
Blitzschnell jagten sich die Gedanken, „was wird man zu Hause von dir denken? in welchem Lichte mußt du Edith erscheinen?“ denn im Innern hatte er an ihre Mitwissenschaft nicht geglaubt! Dann kamen andere Bilder — wenn er nun hier fiel! er, der dem Waffenhandwerk gänzlich Fremde, dem besten Schützen auf Meilen in der Runde gegenüber! Was würde seine Mutter sagen? was Martha, die kleine, gute Cousine, die er geliebt, ehe er in diesen wüsten Traum verflochten wurde? Er starrte auf den breiten, weißen Streifen Mondlicht, der durchs Zimmer floß. Wer weiß, ehe die nächste Stunde ablief, lag er vielleicht dort, hülflos, zum Krüppel geschossen, todt, das war das Wahrscheinlichste.
Ach was half das Quälen! Er sprang auf und schritt durchs Zimmer, in dem seine Schritte unheimlich wiederklangen. Dann trat er zum Fenster, riß zwei Blätter aus seiner Brieftasche und warf im grellen Vollmondschein mit etwas unsicherer Hand zwei Zeilen hin, an seine Mutter! Dann faltete er das Blatt und schrieb unter die Adresse: „für den Fall meines Todes abzugeben.“ Dann ergriff er das andere Blatt — sollte er Edith Lebewohl sagen? sie wird seinen Tod schon erfahren, durch Rüdiger, der sie zweifelsohne darüber zu trösten verstehen wird! Nein, im Angesicht des Todes giebts keine Lüge mehr, er schreibt hastig und fliegend: „Liebe Martha, wenn du diese Zeilen erhältst, bin ich nicht mehr unter den Lebenden, und du sollst dann wissen, daß ich dich immer geliebt habe, und daß nur der Wille meiner Mutter uns trennte.“
Er hatte kaum Zeit, auch hier die Adresse beizufügen, als der Schall von Schritten seiner Thür nahte.
Rüdiger trat ein, gefolgt von zwei graubärtigen Männern, deren einer ein paar riesige Armleuchter trug, die das Zimmer plötzlich zum Theil mit grellem Licht erfüllten, während die verjagte Dunkelheit scheu und doppelt finster in den Ecken niederkauerte, als lauere sie auf den Augenblick, wo hier Alles wieder ihrem Reich anheimgegeben sein würde.
Rüdiger stellte das Pistolenkästchen, welches er trug, auf den Tisch und wandte sich zu Erting.
„Ich habe Sie warten lassen, Herr Erting,“ sagte er im verbindlichen Ton, „aber um die nöthigsten Formalitäten zu erfüllen, habe ich uns wenigstens einen Zeugen citirt, hier, mein Förster Strauch, er wird uns die Waffen reichen, und versteht im schlimmsten Fall nothdürftig zu verbinden.“
Er trat zum Tisch und nahm die Pistolen heraus.
„Gestatten Sie, daß mein Förster Ihnen das Laden abnehme,“ sagte er dann zu Erting, „meine Waffen sind etwas eigensinniger Natur, und lassen sich nicht von Jedermann handhaben!“
Erting verbeugte sich stumm.
„Ein Wort, Herr von Rüdiger,“ sagte er dann.
„So viel Sie befehlen!“ erwiderte sein Gegner, indem er mit ihm zum Fenster trat.
„Wenn ich falle, so darf ich wohl bitten, diese beiden Zettel an ihre Adresse zu befördern, ich stelle mich für einen gleichen Auftrag zur Verfügung.“
Rüdiger warf, nachdem er die Aufschriften gelesen, einen schnellen verwunderten Blick auf Erting.
„Nichts an Comtesse Brandau?“
„Ich vermuthete, daß Sie ihr mündlich Bericht erstatten würden!“
Rüdiger zuckte die Achseln.
„Wer weiß! Und nun, sind wir fertig?“
Erting schwieg einen einzigen Moment.
„Ja,“ sagte er dann. „Sie haben mir keinen Auftrag zu geben?“
„Besten Dank! Wenn mir ein derartiges Malheur zustößt, so würden die sogenannten Meinigen, deren ich wenig besitze, sich durchaus nicht wundern; sie erfahren es dann am Besten durch meinen alten Job. Und Comtesse Brandau — ich vermuthe, Sie werden ihr mündlich Bericht erstatten, Herr Erting!“
Er lächelte flüchtig und streckte Erting die Hand hin. Dieser nahm sie nicht, und sah ihn zornig verwundert an.
„Es ist Usus so, oder ähnlich,“ sagte Rüdiger freundlich, „aber wie Sie wollen!“
Die beiden Gegner nahmen Aufstellung, der Diener hatte das Zimmer wieder verlassen.
„Ich denke, wir schießen a tempo,“ sagte Rüdiger, noch immer in einem Ton, wie im Ballsaal, „zählen Sie, Strauch, bis drei!“
Fast gleichzeitig ertönte der scharfe Knall der Pistolen, Rüdigers Kugel zischte etwa handbreit über Ertings Kopf fort und schlug in die Wand. Als sich die blauen Rauchwolken langsam verzogen, sah der vor Aufregung halb sinnverwirrte Erting Rüdiger schwanken, oder glaubte es zu sehen. Im nächsten Augenblick hatte sich der Baron aufgerichtet, und trat auf Erting zu, ihm die linke Hand bietend.
„Bravo, Erting, Sie haben sich die Sporen verdient, — und nun zürnen Sie mir nicht mehr, ich habe eine ganz hübsche Lehre bekommen!“
Erting starrte mit weitgeöffneten Augen auf seinen Gegner, dessen rechter Arm schlaff und regungslos herabhing, und von dem das Blut dicht und schnell niederrieselte und in dem Streifen Mondlicht am Fußboden unheimlich aufglänzte. Rüdigers bleiches Gesicht und die finster zusammengezogenen Augenbrauen verriethen, daß er heftige Schmerzen fühlte. Seine Stimme hatte nichts von ihrem übermüthigen Klange verloren.
Aber bei den letzten Worten ging es wie ein Schleier über seine Züge, und der Förster hatte eben noch Zeit, den ohnmächtig Zurücksinkenden aufzufangen.
Jetzt erst fand Erting Sprache und Bewegung wieder.
„Großer Gott, ich habe ihn gemordet!“ schrie er auf, und warf sich neben seinem bleichen Feinde nieder.
Der Förster schwieg und bemühte sich, Rüdigers Rock auszuziehen, was ihm aber nicht gelang, da der zerschmetterte Arm in seiner Unbehülflichkeit ihn daran hinderte.
„Helfen Sie ’mal,“ herrschte er Erting zu, der, das Gesicht in den Händen verborgen, noch immer regungslos auf den Knieen lag, „heben Sie den Arm in die Höhe, damit ich ihm den Aermel aufschneiden kann.“
Erting, dessen Zähne wie im Fieberfrost zusammenschlugen, versuchte zu gehorchen, aber seine zitternden Hände erwiesen sich als so ungeschickt, daß der Förster ihn ärgerlich bei Seite schob.
„Rufen Sie den Job,“ sagte er, „wir müssen uns eilen, daß wir das Blut stillen, sonst wird das nicht gut!“
„Ich weiß nicht, wo ich ihn finden soll,“ sagte Erting kläglich, dessen durch die Erregung des Moments aufgeflackerter Muth bereits wieder zu einem Nichts zusammengeschrumpft war.
„Dann werde ich ihn holen,“ sagte der Förster, „bleiben Sie hier bei dem Baron!“
Und damit verließ er das Zimmer. Erting blieb mit Rüdiger allein.
Sein erstes Gefühl war, sich ins Fenster möglichst weit von seinem Opfer zu flüchten, aber eine bessere und muthigere Regung überwog. Er nahte sich dem noch immer Bewußtlosen und kniete, obwohl zitternd, neben ihm nieder, ohne ihn jedoch zu berühren. In der kalten Doppelbeleuchtung der flackernden Lichter und der Schneenacht draußen war Rüdigers edles, regungsloses Gesicht wirklich kaum von dem eines Todten zu unterscheiden. Als Erting, von einem unheimlichen Zauber bezwungen, starr in die stillen Züge seines Feindes blickte, ging ihm das Herz in Reue und Wehmuth auf. Dies schöne, starke Leben hatte er zerstört; zum Wenigsten den Mann dort auf ein monatelanges Siechenlager gezwungen, ihm, dem freies, wildes Streifen in Wald und Flur, Jagdlust und Jagdeifer Leben hieß, wahrscheinlich für immer die Freude an solchen Dingen geraubt! Jener Arm, der dort so schlaff, so schauerlich bewegungslos herabhing, er würde sich vielleicht nie mehr heben; mit den dunklen, schweren Tropfen, die ihm entströmten, ging vielleicht die letzte Hoffnung auf ein Wiedererwachen des Leblosen dahin!
Wo blieb nur der Förster? Erting getraute sich nicht, bis zur Thür zu gehen, er hielt förmlich den Athem an.
Seine Reflexionen begannen von Neuem. Stand diese Strafe im Verhältniß zu dem tollen Streich, der ihn hierhergebracht? Hätte er nicht ruhiger, nachgiebiger sein sollen? O, und wer war gestraft, wer, als er selbst, der wie ein Fluchbeladener hier kniete, und auf den Herzschlag des Mannes lauschte, den seine Waffe hingestreckt, und der sich ihm, wie er nun wohl wußte, ohne Gegenwehr zum Ziel gesetzt! Als er, tief aufstöhnend, den Kopf erhob, und Rüdiger anblickte, öffnete dieser langsam die Augen, und sah ohne bestimmtes Ziel vor sich hin.
Dann erhob er die linke Hand nach der Stirn und versuchte, sich aufzurichten.
Erting, obwohl bebend am ganzen Körper, unterstützte ihn. Rüdiger erkannte seinen kleinen Feind und ein leises Lächeln flog über sein Gesicht.
„Herr Erting, bemühen Sie sich nicht! Und sehen Sie nicht so jämmerlich aus, es war mir ganz gesund, daß Sie mir etwas Blut abzapften!“
Der schwache Ton der Stimme traf Erting wie ein Dolchstoß.
„Ich habe Sie unglücklich gemacht,“ stöhnte er, die Hände vor’s Gesicht schlagend, „können Sie mir verzeihen?“
Rüdiger erröthete leicht.
„Erting, machen Sie mich nicht verlegen,“ sagte er hastig und streckte die Hand nach dem Andern aus, „ich Ihnen verzeihen! Ich habe Sie auf das Unerhörteste behandelt und kann von Glück sagen, mit einer so „gnädigen Strafe“ davon zu kommen. Und was das Unglücklichmachen betrifft, bester Freund, diese linke Hand wird schon noch eine Büchse führen können, bis die rechte wieder dienstfähig ist!“
Er schloß wieder die Augen, die letzten Worte hatte er schon fast gemurmelt — aber endlich, endlich kamen Schritte den Corridor entlang. Der Förster, Job und noch ein paar Unbekannte drangen ins Zimmer. Einer davon, ein kleiner, untersetzter Mann, näherte sich dem jungen Schloßherrn und begann mit anscheinender Sachkenntniß den verwundeten Arm zu untersuchen.
Erting wartete auf seinen Ausspruch, wie auf das Urtheil über Tod und Leben, nachdem Job ihm mit finsterer Miene gesagt, es sei der Wundarzt.
„Ist das Bett des Herrn Baron bereit?“ frug der Heilkünstler jetzt.
„Wie lange schon!“ murrte Job, „es ist ja glücklich fünf Uhr vorbei!“
„Nun, Scholz, was meinen Sie zu mir?“ sagte Rüdiger, sich ein wenig aufrichtend, „heulen Sie mir aber nichts vor, denn ich verstehe ebenso viel von der Chirurgie wie Sie, alter Bartscheerer! Kaput oder nicht?“
„Der Knochen ist durch und durch, Herr Baron,“ erwiderte der Wundarzt trocken. Erting klappte zusammen wie ein Taschenmesser, während Rüdiger kein Zeichen der Bewegung sehen ließ.
„Herr Baron fangen auch schon an zu fiebern, vor allen Dingen ruhige Lage und kühles Getränk!“
„Tröstlich!“ sagte Rüdiger, dessen Augen allerdings bereits fieberhaft zu glühen begannen, „denken Sie aber nicht, daß ich Ihrem blödsinnigen Gewäsch folge! Was, ruhige Lage! — sitzen werde ich bis morgen früh und mein kühles Getränk wird auch von anderer Art sein, als Sie sich einbilden! Was, Erting? Haben wir unsere schöne Feindschaft mit Menschenblut besiegelt, so soll nun Rebenblut dran! Job, flink, in den Keller!“
„Baron Rüdiger,“ sagte Erting flehend, und faßte in seinem Eifer die Hand des Gegners, „ich beschwöre Sie, thun Sie, was der Arzt Ihnen sagt! Bedenken Sie, was daraus entstehen könnte, wenn Sie sich seinen Anordnungen widersetzen.“
Dem kleinen, gutmüthigen Mann traten fast die Thränen in die Augen. Rüdiger sah ihn einen Moment verwundert an und lachte kurz auf.
„Sie sind eine gute Seele,“ sagte er, „und sollen sich nicht ängstigen! Ich werde zu Bett wandern, damit Sie nicht, wenn ich mit achtzig Jahren sterbe, sich einbilden, ich wäre an Ihrem Tellschuß draufgegangen und sich ihr Greisenalter durch Gewissensbisse verderben. Aber vor allen Dingen sollen Sie jetzt in die Stadt zurückkehren. Job, laß anspannen! ah, der Wagen kommt schon eine — schwere Kutsche, wie sie rasselt! Aber die Todten reiten schnell!“
Er schloß die Augen.
„Zu Bett mit ihm,“ sagte der Chirurg energisch, „das Fieber steigt rapide. Wenn Sie nach der Stadt fahren,“ wandte er sich an Erting, „so schicken Sie doch noch einen Arzt heraus, ich mag die Verantwortung nicht allein übernehmen.“
Rüdiger, der inzwischen wieder zu sich kam, ließ sich ohne weiteren Widerstand von Erting und Job in sein Zimmer bringen, dann kehrte Ersterer zu dem Arzt zurück.
„Geben Sie mir Ihre Directionen für die Nacht,“ sagte er mit ungewöhnlicher Festigkeit, „ich bleibe bei dem Baron, er hat schon darein gewilligt.“
Der Chirurg sah ihn erstaunt an.
„Nun meinetwegen,“ sagte er, „legen Sie ihm fleißig Eis auf den Kopf, und halten Sie ihn möglichst ruhig. Aber ein Arzt muß noch heraus!“
„Schön, bestellen Sie einen reitenden Boten, ich schicke zu Doctor Stein, er ist einer der besten Aerzte und mir persönlich bekannt. Halten Sie denn den Zustand des Barons für gefährlich?“ Ertings Lippen zitterten.
„Offen gesagt, ja!“ erwiderte der Wundarzt nach einigem Besinnen, „das Fieber tritt so schnell und heftig auf, daß es die Kräfte sehr hinnehmen muß und für einen Mann von des Barons ganzer Natur ist ein Krankenlager immer eine böse Sache. Aber wir wollen das Beste hoffen!“
Erting schrieb in fliegender Eile, während der Bote sich bereit machte; er citirte Doctor Stein heraus und benachrichtigte in einem zweiten Briefe Edith von seinem Aufenthalt und dem stattgehabten Duell.
Dann kehrte er zu Rüdiger zurück, den er in den wildesten Phantasien vorfand.
Doctor Stein, den wir gleichfalls am Eingang unserer Erzählung kennen lernten, traf in wenig Stunden ein. Er trat mit dem ihm eigenen, besonnenen Wesen an das Lager des wilden Kranken, und sein Einfluß vermochte Rüdiger so weit zu beruhigen, daß er auf einige Fragen ziemlich klar antwortete. Aber nach wenig Augenblicken verfiel er schon wieder in heftige Raserei. Erlebtes und Geträumtes mischte sich auf eine für Erting unbeschreiblich qualvolle Weise in seine Reden.
Doctor Stein sah bedenklich aus, als er sich empfahl.
„Wir wollen die Büchse nicht gleich ins Korn werfen,“ sagte er auf Ertings verzweifelt fragenden Blick, „aber das Ungestüm des Fiebers macht mich besorgt. So viel ich weiß, hat Rüdiger keinen nahen Verwandten, ich werde einen Pfleger aus der Stadt schicken.“
„Thun Sie das nicht,“ bat Erting flehentlich, „sagen Sie mir Alles, was geschehen soll, Stein, ich will gewiß nichts an ihm versäumen! Gönnen Sie mir den kleinen Trost für das Schreckliche, was ich in meinem unsinnig gereizten Zustand angerichtet habe!“
Er sah so tief unglücklich aus, daß Stein ihm theilnehmend die Hand auf die Schulter legte.
„Ruhig Blut, alter Freund,“ sagte er tröstend, „Rüdiger ist jung und hat schon mehr Stürme ausgehalten, als diesen! Ich traue Ihnen übrigens Umsicht und Sorgfalt genug zu, um die Pflege durchzuführen, aber eins sage ich Ihnen, Sie müssen nach aller Voraussicht eine ganze Zeit lang tüchtig auf dem Platze sein, Tag und Nacht!“
Erting nickte nur stumm und kehrte, nachdem der Doctor das Schloß verlassen hatte, sofort zu seinem Posten zurück. Tage und Nächte saß er nun an Rüdigers Lager, nur selten auf kurze Stunden von Job abgelöst. Keine Mutter hätte zarter und sorglicher mit dem Verwundeten umgehen können, als der kleine, ehrliche Mann, den er so schwer gekränkt.
Und während dieser angstvollen Stunden im stillen Krankenzimmer ging in dem Herzen der beiden Rivalen eine seltsame Wandlung vor. Erting fühlte, wie die Sorge um seinen Pflegling, die Freude an den — freilich seltenen — Momenten, wo es besser zu gehen schien, ihm nach und nach eine wirkliche Neigung zu dem Gegenstande dieser Sorgen und Freuden einflößte. Oft ertappte er sich dabei, daß er fast mit einem Gefühl von Zärtlichkeit in das schöne, bleiche Gesicht des Kranken blickte, und seine fieberglühende Hand sanft streichelte. Und Rüdiger, der nie die Augen bewußt aufschlug, ohne in das treuherzige Gesicht Ertings zu blicken — der jeden Labetrunk aus den Händen des einst so Gehaßten und Verspotteten entgegennahm — er hatte, unklar, wie die Krankheit ihn denken ließ, doch schon ganz die Empfindung, daß dieser kleine Mann zu ihm gehöre — daß ihm etwas fehle, wenn Erting nicht an seiner Seite sei.
Jeden Tag kamen Erkundigungen nach Rüdigers Befinden — aus Brandeck und aus der Residenz, und die tägliche Antwort — „noch beim Alten,“ wollte und wollte keiner Besserung weichen.
Eines Abends, als Erting in traurigem Hinbrüten an Rüdigers Lager saß, blickte dieser plötzlich mit ungewohnter Klarheit zu ihm auf.
„Erting,“ sagte er, „mir ist heut auf einmal merkwürdig vernünftig im Kopf, das muß ich schnell benutzen! Ich danke Ihnen, Erting, für alle Liebe, die Sie mir erwiesen haben — Sie sind ein braver, treuer Kamerad und ich habe es nicht um Sie verdient!“
„Schweigen Sie doch,“ sagte Erting rauh, um seiner Bewegung Herr zu werden.
Rüdiger schüttelte den Kopf.
„Lassen Sie mich heute reden!“ fuhr er schwach, aber ganz ruhig fort, „wer weiß, ob ichs morgen noch kann! Ich glaube beinahe, alter Freund, es wird am längsten gedauert haben mit mir und darum will ich Ihnen heut noch Alles sagen, was ich auf dem Herzen habe. Lassen Sie mich reden,“ wiederholte er hastig und erregt, „oder ich springe aus dem Bett, so viel Kräfte habe ich schon noch!“
„Nun, so reden Sie,“ sagte Erting rathlos, als er sah, daß Rüdiger sich mühsam emporrichtete, „aber fassen Sie sich kurz, und dann schlafen Sie!“
„Ich will Ihnen nur sagen,“ begann Rüdiger in kurzen Sätzen und schnell athmend, „daß ich nicht ganz der hinterlistige Schurke bin, für den Sie mich gehalten haben. Als ich an dem Abend, Sie wissen ja, dem Maskenabend, ins Schloß kam, wollte ich Sie nicht entführen, bei Gott nicht! Ich wollte — ja sehen Sie mich nur an, ich wollte Edith“ — er seufzte schwer auf — „also — Edith ein letztes Ultimatum stellen — sie sollte mit mir davongehen! Sie wurde zornig — und wir geriethen aneinander!“
Er schwieg einen Augenblick erschöpft, fuhr aber gleich wieder fort:
„Da kam mir plötzlich, blitzschnell der Gedanke, wie, wenn du ihn wegbrächtest? Dann könnte keine Hochzeit sein und du hättest der ganzen Bande noch einmal tüchtig die Hölle heiß gemacht. An Das, was später kommen könnte — dachte ich nicht — habe ich nie gedacht — nie!“
„Ja, ja!“ sagte Erting beruhigend, als Rüdiger wieder schwach zurücksank, „das weiß ich ja! Aber nun schweigen Sie auch wieder still!“
„Nur Eins noch, Erting,“ sagte Gerald, und faßte des Andern Hand, „ich spreche nicht aus Egoismus, beim Himmel nicht! Ich werde keinem Freier mehr in den Weg treten! Aber glauben Sie mir, geben Sie Edith los! Sie Beide taugen nicht für einander, ich kenne das Mädchen besser — sie würde unglücklich werden und machen! Die hätte zu so einem Durchgänger gepaßt wie ich bin, — nun, es sollte nicht sein!“
„Rüdiger,“ sagte Erting mit vor Rührung zitternder Stimme, „nun hören Sie, was ich zu sagen habe. Glauben Sie wirklich, daß wenn Sie sterben sollten — wenn ich Sie umgebracht hätte, und das hätte ich doch! daß ich dann noch Edith Brandau heirathen könnte? Nein, Rüdiger, das nicht! das nicht! Und sie würde es auch nicht thun, denn sie weiß ganz gut, daß Sie um ihretwillen hier liegen! Nein, mein lieber Freund, wenn Sie wieder gesund sind — und Sie werden wieder gesund werden — dann sollen Sie sie selbst fragen, was sie davon denkt — ich stehe Ihnen nicht mehr im Wege!“
„Und Sie glauben, ich würde eine solche Großmuth annehmen?“ rief Rüdiger fieberhaft erregt, „ich hätte gehofft, daß Sie mich nun besser kennten!“
Erting sah vor sich nieder.
„Ich will einmal ehrlich sein, Rüdiger,“ sagte er und wurde roth, „so sehr großmüthig wäre es nicht ’mal von mir! Ich habe schon lange das Gefühl, als wenn Edith Brandau und ich einen dummen Streich begangen hätten, als wir uns verlobten, und — und ich muß Ihnen nur sagen, ich habe irgendwo in der Welt eine kleine Cousine, — nun, Sie können sich das Andere denken!“
Rüdiger schwieg eine Weile, dann strich er sich das Haar von der Stirn.
„Das nützt mir Alles nichts, Erting! Erstens sterbe ich, das wissen Sie ja so gut wie ich, und dann, wie Edith ist, habe ich sie mir durch meinen tollen Streich von vornherein verscherzt! Ein Mädchen wie sie läßt sich nicht ertrotzen; wenn ich ihr nicht gleichgültig war — und ich war es nicht — jetzt bin ich es geworden, glauben Sie mir, Erting! Aber ich habe nun genug gesprochen, ich will schlafen!“
Und er wandte den Kopf ab und verbarg das Gesicht in den Kissen.
Spät Abends jagte ein reitender Bote nach der Stadt. Doktor Stein wurde geholt, Rüdigers Zustand hatte sich aufs Heftigste verschlimmert.
Stein blieb mehrere Stunden da, und als er um Mitternacht zurückfuhr und versprach, gegen Morgen noch einmal wiederzukommen, da wußte man im Schloß, daß Rüdigers Leben menschlicher Voraussicht nach nur noch nach Stunden zähle.
Im Dorf verbreitete sich die Kunde mit Blitzesschnelle, sie flog mit ihren schwarzen Flügeln über die Grenze von Brandeck und schlug an die Fenster, hinter denen Edith wohnte, und schlug auf das verzweifelnde Herz von Geralds erster Liebe.
Als der Wagen des Doctors noch vor der Dämmerung wieder in den Schloßhof fuhr, lag Rüdiger in unruhigem Halbschlummer. Erting öffnete leise die Thür, als er Schritte im Vorzimmer vernahm.
„Stein, sind Sie es?“
„Ja, und ich habe noch Jemand mitgebracht,“ sagte der Doctor mit unterdrückter Bewegung, „machen Sie einmal Platz, Erting!“
Er zog ihn sanft von der Thür zurück und eine tief verschleierte Frauengestalt trat ihm entgegen und streckte ihm beide Hände hin.
„Ludwig, verzeihen Sie mir, was ich Ihnen angethan habe — und verzeihen Sie mir auch diesen Schritt — aber ich mußte Ihn noch einmal sehen!“
Erting nahm ihre Hände sanft in die seinen. „Gehen Sie zu ihm, Edith, ich habe Ihnen nichts mehr zu verbieten — der da drinnen hat Sie mit seinem Blut erkauft!“
Sie trat langsam, bebend an das Bett des Schlummernden, sie sah einige Augenblicke in sein bleiches Gesicht und dann kniete sie neben ihm nieder und küßte seine Hand.
Da sah er empor, nicht erstaunt, sondern nur sehr glücklich, und sagte: „Nicht wahr, du bleibst jetzt bei mir?“
Und als sie vor Thränen nur stumm zu nicken vermochte, schloß er die Augen und verfiel in einen sanften Schlummer.
„Das war ein Gewaltstreich,“ sagte Doctor Stein eine Stunde später zu Erting, „aber er hat die Krisis beschleunigt. Ich halte ihn für gerettet!“
Und als der nächste Sommer davon fliegen wollte, war Alles gekommen, wie es hatte kommen müssen! Gerald Rüdiger und seine schöne Frau standen auf der Freitreppe ihres Schlosses; in den übermüthigen blauen Augen des „tollen Junkers“ war ein ernsteres Licht aufgegangen; dies und der steife Arm, der noch immer nicht wieder ganz beweglich sein wollte, gemahnte noch an die Vergangenheit, die ihm heute wieder besonders lebhaft nahe gerückt worden.
Denn der heutige Tag hatte liebe Gäste gebracht — Ludwig Erting, der den Freunden seine Braut vorstellte! Die Mutter war Angesichts dieser treuen Liebe gerührt worden, um so leichter, da sie sich mit Martha in ihrer hauptsächlichsten Ueberzeugung fand, darin, ihren kleinen, braven Sohn für den Inbegriff alles Guten, Schönen und Tüchtigen zu halten.
Und Rüdiger? — Der Traum, den er auf seinen wilden Fahrten geträumt, ist zur Wahrheit geworden; wenn der Mond sanft und klar über dem Wolfsdorffer Schloß emporsteigt, stehen er und — noch Eine am Fenster und hören die Nachtigallen schlagen, und ihr Lied erzählt ihm immer wieder die Geschichte, die zu hören er nicht müde wird — die Geschichte von der Liebe seiner Jugend — von dem Kampfpreis seines Lebens.
Im Spätsommer des vergangenen Jahres, so erzählte eine mir befreundete Dame, unternahm ich eine kleine Reise nach dem Badeort K... Der Zufall führte mich auf dem Bahnhof mit einer Freundin zusammen, und froh, die etwas einförmige Fahrt durch angenehme Gesellschaft verkürzt zu sehen, bestieg ich dasselbe Coupé mit ihr. Es war allerdings kein Damencoupé, welches ich bei allein unternommenen Reisen sonst vorziehe, indeß ist dies eigentlich ein Vorurtheil, welches jede Frau, die über sechzehn Jahre zählt, zu ihrem eigenen Besten bekämpfen sollte. Alle Hochachtung vor den reisenden Repräsentantinnen meines Geschlechts — aber ich bin noch nie in einem solchen Coupé gefahren, ohne mich über die kleinliche Ungefälligkeit meiner Reisegefährtinnen, ihre Empfindlichkeit gegen Hitze und Kälte und ihre beständigen Wünsche nach solchen Lebensmitteln zu ärgern, die eben auf den Stationen nicht zu haben waren.
So dankte ich denn dem Zufall, der mich heute aus diesem Dilemma erlöste, und bestieg mit meiner Freundin zusammen einen Waggon, der den Gebildeten beiderlei Geschlechts zugänglich war. Außer uns befand sich nur noch ein alter Herr im Wagen, der uns, als wir einstiegen, freundlich begrüßte.
Da unser Reisegefährte der Held der Geschichte ist, die ich zu erzählen im Begriff stehe, so kann ich es nicht unterlassen, ihn zu beschreiben mit all’ dem Enthusiasmus, den ich für ihn empfand; erstens um dem Leser damit ein Bild von ihm zu geben, und zweitens in der stillen Hoffnung, daß der Gegenstand meiner Zuneigung vielleicht irgendwo diese Blätter zur Hand nimmt, darin liest und nach einer Weile mit dem mich noch in der Erinnerung entzückenden herzlichen Lachen, in welches er zuweilen ausbrach, ruft: „Das soll ich wohl am Ende sein?“
Mein lieber, alter Herr! Denn jung war er insofern nicht mehr, als seine freie Stirn von schneeweißem, feinem Haar umwachsen war, welches, glänzend wie die Federn eines Silberreihers, ein wenig keck in die Luft stand, und die sehr schönen, auffallend hochgeschwungenen Augenbrauen auch schon ein wenig beschneit aussahen. Jung aber war er doch, denn unter diesen seltsamen Augenbrauen sahen zwei so schöne, lebhafte, recht junge Augen hervor, daß sie einem Zwanziger Ehre gemacht hätten — jung war er, denn das blühende Roth einer erprobten Gesundheit lag auf seinem schönen Gesicht, die liebenswürdige, goldene Heiterkeit einer ewigen Jugend tönte aus dem unwiderstehlich herzlichen Lachen, mit welchem er in jeden Scherz einstimmte.
Man sieht, ich verlor sofort mein Herz an den reizenden alten Herrn! Das ist ein Damenwort, ich weiß es, aber ich bleibe dabei und rufe zum Schluß meiner Beschreibung noch einmal energisch aus: Nicht nur ein reizender alter Herr war mein Reisegefährte, ich brauche sogar den Superlativ, es war der reizendste alte Herr, den ich je gesehen habe. Wie er sich über Alles amüsirte! Nur daran zu denken, erheitert mich noch! Ueber den kleinen, schäbigen Jungen, der auf einer Station emsig und still vor sich hin Purzelbäume schoß, über die Männer, die mit eintönigen Ausrufen Kirschen und Birnen den Wagen entlang trugen, über die Ankommenden und Abreisenden! Wie elektrisirt er war, als eine klangvolle italienische Leier uns die „schöne blaue Donau“ zu hören gab, wie ernst und gerührt er wurde, als dieselbe Leier dann eine sanfte, traurige Melodie spielte, und wie herzlich er dann wieder über seine eigene Rührung lachte!
Meine Freundin und ich kamen, nachdem wir uns ein Weilchen mit diesem liebenswürdigen Coupégenossen unterhalten hatten, durch eine zufällige Ideenverbindung auf eine Verlobung zu sprechen, die in unseren Kreisen vor kurzem stattgefunden.
Ein sehr hübsches, viel umworbenes Mädchen hatte einen Ausflug zu ihrer Schwester unternommen, war acht Tage dort geblieben, hatte am zweiten dieser acht Tage einen jungen Gutsbesitzer kennen gelernt und sich vor Ablauf der genannten Frist mit demselben verlobt. Wir fanden das nach Frauenart sehr leichtsinnig, zuckten ein wenig die Achseln über so schnell gewonnene Herzen und ich meinte:
„Wenn das nur gut abläuft! Ein Brautpaar, das sich nur acht Tage gekannt hat, ehe es ein Brautpaar wurde! Eine bedenkliche Sache!“
Bei diesen Worten wendete der alte Herr den Kopf nach uns um.
„Verzeihen Sie,“ begann er lächelnd, „wenn ich mich in Ihr Gespräch mische, welches von Persönlichkeiten handelt. Aber von der Bemerkung, die Sie eben machten, mein Fräulein, fühle ich mich zu sehr getroffen, als daß ich mich nicht vertheidigen möchte. Ich war auch in dem Fall, von dem Sie eben sprechen — ich habe meine Frau sogar nur drei oder vier Mal gesehen, eh’ wir uns verlobten, und wir sind doch ein sehr glückliches Ehepaar geworden.“
Um mein Leben nicht konnte ich die tactlose Aeußerung nicht unterdrücken, daß ich in diesem Fall das sehr natürlich fände. Mein alter Herr nickte mir lachend mit herzlicher Miene zu, es mochte ihm wohl schon öfter vorgekommen sein, daß er so schnell Eroberungen machte.
Meine Freundin, noch kühner als ich, richtete nun die Frage an ihn, wie das denn gekommen sei, ob er nicht Zeit gehabt hätte, sich länger zu besinnen?
Der alte Herr sah mit einem schelmischen Lächeln in unsere neugierigen Gesichter, dann sagte er freundlich:
„Ja, so etwas hören junge Damen immer gern! Aber es ist eine lange Geschichte, am Ende komme ich an’s Ziel meiner dreistündigen Fahrt, eh’ ich zu Ende bin!“
„Ach bitte,“ riefen wir Beide, „es wird schon gehen, die Geschichte ist uns sicher nicht zu lang — wenn Sie so sehr freundlich sein wollen!“
Der alte Herr ließ sich erbitten, wir rückten uns alle Drei gemüthlich zurecht und er begann:
„Daß es schon eine ganze Weile her ist, seitdem ich auf Freiersfüßen ging, brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Ja, diese Eisenbahn, auf der wir jetzt so selbstverständlich durch die Welt fliegen, war damals etwas ganz Neues, ein Wunderwerk, welches nur mit ehrfurchtsvollem Staunen und einem leisen Schauder benutzt wurde. So gewöhnt sich der Mensch an Alles und wir nennen die Jugend mit Unrecht anspruchsvoll, ihr wird nur eben Das schon in die Wiege gelegt, was wir als große Leute erst staunend und dankbar bekommen haben. Der Telegraph war damals auch erst eben erfunden — ja, ja, denken Sie nur!
Ich war im Begriff, eine kleine Vergnügungsreise auf unbestimmte Zeit anzutreten, ein Entschluß, der mir um so leichter wurde, als ich ganz frei und ungebunden in der Welt dastand, und von Angehörigen Niemanden besaß, als zwei alte Tanten und einen kleinen Hund, der, ein Nachklang der Zeitströmung, auf den schönen Namen „Nap“ hörte. Nicht wahr, eine ziemlich durchsichtige Abkürzung im Jahrhundert der Freiheitskriege?
Nap, ein kleiner, guter, schwarzer Kerl, war als einziger und letzter Bewohner meiner Kinderheimath mit mir in die Fremde gewandert, hatte mit mir studirt, Examina gemacht, und war mir stets ein lieber Freund und treuer Genosse gewesen, ja, ich glaube, ich war damals so weit, daß ich den alten Hund mehr liebte als irgend ein Wesen auf der Welt, meine lieben alten Tanten nicht ausgenommen.
Diese Tanten hätten Sie sehen sollen! Das waren noch ein paar Repräsentantinnen der gemüthlichen Vergangenheit, wo die Leute sich Zeit ließen. Schon die äußere Umgebung der beiden alten Damen war die Zierlichkeit selbst. Sie wohnten in einem kleinen, saubern Hause, nicht am selben Ort mit mir, welches sich durch die blitzendsten Fensterscheiben auszeichnete und grüne Jalousien hatte. Das Häuschen war umgeben von einem etwas pedantischen Garten, dessen Hecken und Grasplätze von einem asthmatischen alten Factotum mit der Papierscheere in Ordnung gehalten wurden. Da können Sie glauben, daß kein Zweig sich erlauben durfte, nach seinem Gutdünken zu wachsen, sofort war die Papierscheere da und stutzte den Naseweisen. Ein Paar ordnungsliebendere, gutherzigere, ängstlichere und gewissenhaftere Seelchen, als meine beiden lieben Tanten gab es nicht! Sie trugen sich ganz gleich, hatten Jede vier weiße, mathematisch genau gekämmte Löckchen, Hauben mit jenen thurmhohen weißen Krausen, wie man sie jetzt nur noch auf Bildern sieht, und trugen Beide Brillen.
An einem schönen Sommerabend traf ich denn mit meinem Nap bei den Tanten ein, die mich herzlich und liebevoll aufnahmen, und mich in ihre Gartenlaube zu einem zierlich aufgestellten Nachtmahl luden, dessen Dimensionen ungefähr der Art waren, als hätten die sieben Zwerge fragen können: „wer hat von meinem Tellerchen gegessen“ u. s. w. Aber ich ließ es mir wohlschmecken, und nachdem ich den Tanten meine Pläne für die nächste Zeit mitgetheilt hatte, rückte ich vorsichtig mit dem kühnen Ansinnen heraus, ob sie Nap, eine sonst bei ihnen wohlgelittene Creatur, für die Zeit meiner Abwesenheit wohl in Pflege und Obhut nehmen wollten.
Sie können sich denken, daß die beiden Schwestern nicht wenig erstaunten, selbst erschraken. Ein Zuwachs ihrer Hausbewohnerschaft, ein bellender, springender, zottiger Mitbewohner ihres stillen, beschaulichen Daheim; sie sahen sich wechselweise eine gute Viertelstunde an, schnupften, niesten, selbst dies Mittel schien heut’ nicht anzuschlagen, endlich nahmen sie a tempo die Brillen ab und sagten so feierlich, als gelte es ein Eheversprechen, ein lautes, deutliches „Ja!“
Ich wußte, welch’ ein Opfer sie mir brachten, und sprach ihnen es auch dankbar aus, ich fügte bei, daß nur das Bewußtsein, meinen Hund in den besten Händen zu wissen, mich zu der großen Bitte ermuthigt hätte, und dann machte ich mich eilig davon, damit die Tanten ihren edelmüthigen Entschluß nicht etwa bereuen möchten. Ich erklärte meinen schnellen Aufbruch damit, daß ich am nächsten Morgen sehr früh mit der Bahn weiter müsse, welche nur noch zu einem nah belegenen Städtchen führte, von da wollte ich mit Postpferden und auf eigenen Füßen meinen Weg fortsetzen.
„Und, liebe, beste Tanten,“ fügte ich noch dringend hinzu, „laßt Nap die nächsten Tage nicht aus den Augen, er wird gewiß Versuche machen mir nachzusetzen und könnte alsdann verloren gehen!“
Feierlich wurde mir dies angelobt, und ich nahm gerührten und dankbaren Abschied, während Nap, durch ein Schüsselchen Milch in’s Haus gelockt, ahnungslos diesen Labetrank schlürfte.
Der andere Tag war leider trübe und schwül. Als ich in das Städtchen H... einfuhr, welches die Grenze zwischen Flachland und Gebirge bildet, zog ein Gewitter dumpf grollend herauf und der erste Willkommensgruß, der mir in H... wurde, war ein großer Regentropfen, der auf meine Nase fiel. Ihm folgten mehrere, ein wahrer Wolkenbruch stürzte hernieder und das liebenswürdige Wetter benutzte den Tag, um sich, wie man sagt, recht gründlich „einzuregnen.“ Unter diesen Umständen eine Fußtour beginnen, oder sich einer Postchaise anvertrauen zu wollen, um das Gebirge kennen zu lernen, wäre mehr als Thorheit gewesen. Es hieß also warten!
Ich quartierte mich in dem ersten Gasthofe der Stadt ein, der vermuthlich so hieß, weil es keinen zweiten gab, und sah zum Fenster hinaus. Zum Glück war ich von jeher besonders unfähig, mich zu langweilen, ich hatte manchmal den besten Willen, da kam mir etwas Unterhaltendes in die Quere — es ging nicht!
Auch hier war es so. Ich hätte mich eigentlich recht gut langweilen können, aber da lag gerade dem Gasthause gegenüber ein ganz allerliebstes Haus, das immer etwas zu sehen oder zu hören gab. Ich konnte freilich nur die Seitenfront des freundlichen Gebäudes beobachten, denn die Vorderzimmer gingen nach einem schönen, großen Garten hinaus, dessen Lavendelduft, selbst durch den Regen nicht ertränkt, Abends zu mir herüber geflogen kam.
An diesen Seitenfenstern nun saß öfters eine junge Dame und nähte. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, sie bückte sich immer sehr tief auf die Arbeit; ich sah nur ein Stückchen Wange, zuweilen flüchtig die Umrisse eines zierlichen Profils, und ein Nest dunkelblonder Zöpfe um einen seltsam geformten weißen Kamm geschlungen.
Da es nun schon den zweiten Tag regnete, hatte ich volle Muße, diese Beobachtungen anzustellen. Freundlicherweise hatte das Haus seinen Eingang auch auf der Seite. Gegen Abend kam ein dicker, stattlicher Herr nach Hause, dessen Kopf ich auch noch nie zu Gesicht bekommen hatte, denn er hielt immer einen großen, wohlhabend aussehenden Schirm über sich, den er erst zumachte, wenn seine behäbige Person schon innerhalb der Hausthür war. Und dann zur Thür hinaus schüttelte und spritzte er diesen Schirm aus, als wenn die Straße noch nicht naß genug wäre.
Ich hätte ja durch eine Frage leicht etwas über mein vis-à-vis erfahren können, aber ich wollte es nicht — es war so sehr ergötzlich, mir meine Schlüsse aus Dem zu ziehen, was ich sah.
Der Hausherr war entschieden kein Arzt, dazu kam er zu regelmäßig nach Hause, sondern Beamter, ein Mann mit Bureaustunden. Die junge Dame am Fenster war seine Tochter und zwar sein Liebling, denn er begab sich stets geraden Weges zu ihr in’s Zimmer. Dann stand sie sofort auf, legte die Arbeit zusammen und ging mit ihm hinaus. Eine dritte Person, die ich häufig ausgehen und wiederkommen sah, eine Dame in mittleren Jahren, mußte die Gesellschafterin sein, nicht die Frau vom Hause, denn wenn sie dem Vater begegnete, machte sie einen Knix.
Am Nachmittag des dritten Tages schien der Himmel ein ganz klein wenig lichter zu werden, ich trat an’s Fenster und, wie mir schon zur Gewohnheit geworden war, blickte ich nach dem Hause gegenüber. Da saß die junge Dame — dies Mal ohne Näharbeit — ich hätte ihr Gesicht gewiß ganz gut sehen können, aber sie hielt ein Tuch vor die Augen — sie weinte!
Ich blieb erstaunt stehen. Warum mochte sie weinen? Sie werden mir zugeben, daß ein junges Mädchen mit so schönen blonden Zöpfen, die von ihrem Papa verzogen wird und — weint, ein Fall ist, über den man nachdenklich werden kann.
Nach einer Weile trocknete sich mein Gegenüber die Augen, schrieb einige Worte auf einen kleinen Zettel, stand auf und verließ das Fenster. Wenige Minuten darauf öffnete sich die Hausthür, sie trat heraus, einen Regenschirm in der Hand, in Hut und Mantel und blickte nach dem Himmel. Ein reizendes Gesicht war es, das muß ich schon sagen!
Warum ich meinen Paletot ergriff und die Treppe hinunterging, weiß ich nicht zu sagen, aber ich that es und folgte der jungen Dame in respectvoller Entfernung, auch mit dem Regenschirm bewaffnet.
Ein plötzlicher, heftiger Windstoß faßte den Schirm meiner Schönen und drehte ihn von innen nach außen, er machte, wie man zu sagen pflegt, eine Tulpe daraus. Im selben Moment stürzte der Regen mit verdoppelter Gewalt hernieder und das Mädchen, nach einem vergeblichen Versuch, den treulosen Beschützer wieder in seine alte Form zu bringen, verdoppelte ihre Schritte und eilte in einen geräumigen Hausflur, von wo sie in das tobende Wetter hinaussah. Ich dachte: Das kann Jeder! und nicht faul, betrat ich denselben Hausflur, zog den Hut und postirte mich der jungen Dame gegenüber an die Wand. Nach einer kleinen Weile trat sie an die Hausthür, zog den rechten Handschuh ab und streckte die Hand hinaus, um zu fühlen, ob der Regen noch nicht nachgelassen habe. „Kein Trauring!“ dachte ich erfreut, ohne eigentlich zu wissen, warum es mich freute.
Da es noch mit aller Gewalt vom Himmel heruntergoß, nahm das Fräulein ihren Schirm wieder vor und versuchte ihn in die richtige Verfassung zu bringen. Es gelang ihr aber nicht und ich hielt dies für einen Wink des Schicksals, ein Gespräch anzuknüpfen. Mit abgezogenem Hut trat ich bescheiden vor und bot meine Hülfe an, die auch freundlich angenommen wurde.
Daß es mir nicht gelang, den Schirm zurechtzubringen, versteht sich von selbst. Sanfter Ueberredung wollte er nicht weichen, ich wendete alle Gewalt an, der Tückische aber verstand keinen Spaß, sondern brach gelassen mitten durch. Das Fräulein sah erschrocken aus, aber nicht zornig — durchaus nicht zornig, was ich mir mit richtiger Menschenkenntniß als einen Beweis liebenswürdigen Temperaments auslegte. Ich stand da wie ein armer Sünder, stammelte ein paar Entschuldigungen und bat endlich um die Erlaubniß, meinen Schirm als Ersatz anbieten zu dürfen, wozu mich noch die egoistische Hoffnung stachelte, ich würde durch Rückgabe des von mir zerbrochenen Individuums einen Vorwand haben, um in die Burg zu dringen, die von der blondzöpfigen Prinzessin bewohnt war. An Abreise dachte ich schon nicht mehr, wie Sie sehen. Aber es kam anders!
„Ich danke sehr, mein Herr,“ sagte das junge Mädchen freundlich, „ich kann Sie Ihres Schirmes nicht berauben. Wollen Sie mir aber eine Droschke besorgen, damit ich meinen Weg fortsetzen kann, so nehme ich es dankbar an!“
Nun, das that ich natürlich und hatte die Genugthuung, daß ein sehr liebenswürdiges „Danke“ mich belohnte, dann, während ich, den Hut in der Hand, wie ein Lakai mich am Schlage aufstellte, rief die junge Dame zum Kutscher hinauf: „Nach der Zeitungsexpedition!“ Der Schlag fiel zu — und da stand ich.
Nach der Zeitungsexpedition! Was thut eine junge Dame in der Zeitungsexpedition? Allerlei finstere Gedanken bestürmten mich — sie wird doch nicht einen Brief abholen, von dem der Papa nichts wissen soll? Erst Thränen, dann Zeitungsexpedition — verdächtige Zusammenstellung!
„Dahinter muß ich kommen,“ rief ich so zornig, als wäre ich der Beichtvater der kleinen Dame.
Eine Idee fuhr blitzschnell durch meinen Kopf! Ich mußte einen Vorwand haben, auch nach der Expedition zu gehen. Sollte ich nach Briefen fragen? Nein, das war mit einem „Nichts für Sie!“ zu schnell abgemacht. Also ich mußte etwas annonciren! Gedacht, gethan, ein Blatt aus der Brieftasche gerissen und im Stehen geschrieben wie folgt: „Ein kleiner, schwarzer Affenpinscher mit hellblauseidenem Halsband, auf den Namen Nap hörend, hat sich verlaufen. Der ehrliche Finder wird gebeten, denselben gegen eine angemessene Belohnung im Hotel zum grünen Falken, Zimmer Nr. 10, abzugeben.“ Meine Adresse fügte ich bei, damit die Sache an Wahrscheinlichkeit gewönne und die junge Dame nicht glaubte, ich wollte sie nur unter einem Vorwand wiedersehen.
Nun denken Sie — der arme Nap! Er mußte noch herhalten, mußte sich angeblich verlaufen haben, um seinen Herrn auf den richtigen Weg zu bringen! Einige Kreuz- und Querfragen führten mich rasch nach der Expedition des Blattes, welches, wie ich hörte, das einzige für den ganzen Kreis, daher mit Inseraten stets sehr überhäuft war.
Auch heute fand sich in dem Local eine bedeutende Menschenmenge vor, welche fast bis an die Thür hin sich drängte und nur langsam zum Schalter avancirte. So sah ich denn auch meine Unbekannte gleich am Eingang stehen, ihr Zettelchen in der Hand wartete sie geduldig auf den Augenblick der Beförderung.
Als ich sie mit ehrerbietiger Verbeugung begrüßte, dabei etwas von „glücklichem Zufall“ murmelte, sah sie mich überrascht an, erröthete und ein leichtes Zucken ihrer Augenbrauen verrieth, daß sie diese zweite Begegnung für keine zufällige hielt. Auf meine Bemerkung erwiderte sie kein Wort, sondern sah mit einer schnellen Kopfwendung nach der andern Seite hin. Ich that, als bemerkte ich es gar nicht.
„Denken Sie, mein Fräulein, wie traurig es mir ergeht! Ich komme vor drei Tagen ganz fremd hier in die Stadt und bin heute schon in der Lage, eine Annonce in die Zeitungsexpedition zu tragen, in der ein verlorener Besitz und ein ehrlicher Finder die Hauptrolle spielen!“
Meine Nachbarin blickte rasch auf. Sie mochte fühlen, daß sie mir Unrecht gethan — nach ihrer Ansicht — und ärgerte sich vielleicht ein wenig über die Eitelkeit, welche ihr zugeflüstert, ich sei wohl ihretwegen nach der Expedition gekommen, kurz, sie entgegnete etwas freundlicher, sie sei in demselben Fall. Sie habe ein kleines Schmuckstück verloren, ein liebes, unersetzliches Andenken.
„So, wie es hier beschrieben ist,“ fügte sie hinzu und reichte mir den kleinen Zettel, den ich behutsam ergriff. „Können Sie mir wohl sagen, mein Herr, ob die Anzeige so richtig gefaßt ist? Ich wollte zu Haus Niemand darum fragen,“ setzte sie treuherzig hinzu, „weil — nun, weil ich fürchtete, mein Vater könnte sehr ungehalten sein, wenn er erführe, daß ich eben dieses Besitzthum verloren habe!“
Der Zettel enthielt in einer zierlichen Schulmädchenhand die Anzeige, daß ein schmaler goldener Ring mit einem Vergißmeinnicht von Türkisen darauf verloren gegangen und gegen Belohnung T...straße Nr. 6 abzugeben sei.
„Sie können sich einige Worte sparen,“ bemerkte ich; „mit Ihrer Erlaubniß gebe ich dem Ganzen eine geschäftsmäßigere Form.“
Sie nickte und ich ließ mit großer Geschicklichkeit das Original des kleinen Schriftstückes in meiner Brieftasche verschwinden, als ich dem Fräulein die Copie überreichte. Sie schien es gar nicht zu bemerken.
„Sie sagten, Sie hätten auch etwas verloren,“ begann sie nun ihrerseits etwas schüchtern, „ist es auch ein Andenken?“
„Ja, aber anderer Art,“ erwiderte ich, „mein Andenken hat vier Beine, einen krausen, schwarzen Pelz und bellt — mein Hund ist mir verloren gegangen!“
„Ach, wie schade,“ sagte sie bedauernd, „aber wie kann man einen Hund verlieren!“ setzte sie vorwurfsvoll hinzu.
„Nun,“ gab ich ruhig zurück, „ebensogut, wie man einen Ring verlieren kann, den man am Finger trägt.“
Sie lachte.
„Ich hatte ihn aber abgezogen,“ erwiderte sie eifrig, „ich wollte ihn zu dem Juwelier dort drüben tragen,“ sie wies nach einem hübschen Laden mit großen Spiegelfenstern, „wie ich nun hinkomme und den Ring abgeben will — ist er fort, und ob ich ihn auf dem Wege oder sonst wo verloren habe, weiß ich nicht.“
„Ich denke, er findet sich wieder,“ tröstete ich, „und ich für meine Person werde jetzt immer mit niedergeschlagenen Augen umhergehen — wer weiß, ob ich nicht das verlorene Vergißmeinnicht irgendwo treffe und dann so glücklich bin, es Ihnen zu geben.“
In diesem Augenblick wurde Platz am Schalter, die junge Dame eilte vor, gab ihren Zettel ab und verließ mit einer flüchtig freundlichen Kopfneigung gegen mich die Expedition, während ich nach ihrem Verschwinden gedankenlos mein Inserat bezahlte und mir dann überlegte, daß es ja nun ganz unnöthig gewesen sei, meine Lüge dem Druck zu übergeben. Doch Sie wissen, zu geschehenen Dingen läßt sich zwar noch viel sagen, aber nichts mehr thun. Ich ging dann meiner Wege, grübelnd und sinnend, wie ich den angeknüpften Faden der Bekanntschaft weiter spinnen sollte.
Plötzlich fiel mir etwas ein.
Ich dachte, einmal gelogen, ist nach einem alten Sprichwort kein Mal, also wollen wir es noch ein zweites Mal thun, und dabei mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen — die Gelegenheit zur Fortsetzung einer Beziehung finden, die mich schon mächtig anzog, und dem liebenswürdigen Mädchen väterliche Vorwürfe ersparen.
Schnell, um dem Gewissen nicht erst Zeit zu lassen, mir etwas vorzubellen, betrat ich den mir von der jungen Dame bezeichneten Juwelierladen und bat, mir verschiedene Ringe vorzulegen. Während der Kaufmann das Verlangte herbeiholte, durchblätterte ich rasch den auf dem Ladentisch liegenden Adreßkalender, der mir auch bald über Namen und Stand meines Gegenüber bereitwillig Auskunft ertheilte.
Ich hatte Recht, der Vater des Mädchens war, wie ich vermuthete, Justizrath — leider sind die Adreßbücher nicht ausreichend, um sonstige gewünschte Details über eine Familie zu erfahren. Indeß ich wußte genug und begann mein Lügengewebe zuversichtlich weiter zu spinnen.
Ich suchte unter den Schmucksachen, die der freundliche Kaufherr mir vorlegte, schüttelte den Kopf und sagte endlich, dies sei Alles nicht was ich wollte, ich brauchte einen bestimmten Ring.
„Ich will genau denselben haben, den Fräulein W..., die Tochter des Justizrath W... in der T...straße, besitzt, es handelt sich um eine Wette,“ fügte ich rasch hinzu, da der Juwelier mich erstaunt ansah und sogar ein wenig lächelte.
„Ich erinnere mich des Ringes ganz gut,“ sagte er nun, „und ich hatte genau denselben noch einmal, habe ihn aber meiner Tochter geschenkt, der er bei Fräulein W... so gut gefiel.“
„Das ist betrübend,“ erwiderte ich achselzuckend, „denn ich müßte ihn bald haben. In zwei bis drei Tagen spätestens verlasse ich die Stadt und möchte meine Wette gern vorher noch zum Austrag bringen.“
Der Juwelier besann sich ein Weilchen.
„Wenn Ihnen so sehr viel daran gelegen ist,“ begann er dann zögernd, „so könnte ich ja meiner Tochter später ein anderes Exemplar des Gewünschten anfertigen lassen — er ist nun freilich schon längere Zeit getragen worden und sieht nicht mehr ganz so blank aus, wie ein neuer Ring.“
„Um so besser,“ rief ich erfreut und unvorsichtig, setzte aber dämpfend hinzu, „ich meine, das schadet nichts — wenn Ihr Fräulein Tochter so sehr gütig sein wollte!“
„Ich will mit ihr sprechen,“ bemerkte der Vater, dem die Sache zweifelhaft schien, „vielleicht bemühen Sie sich morgen früh noch einmal zu mir.“
Ich versprach es und verließ den Laden, ärgerlich darüber nachdenkend, wie ich nun den Tag hinbringen werde. Nachdem ich mein schönes vis-à-vis einmal gesprochen, konnten mich die stummen Fensterbeobachtungen nicht mehr ergötzen, und waren gewissermaßen auch unstatthaft geworden.
In reiferen Jahren sieht man erst ein, wie thöricht es ist, sich darüber zu beklagen, daß die Zeit nicht rasch genug vergeht! Aber die Jugend, mit ihrem unerschöpflichen Reichthum an zukünftigen Tagen, möchte oft das „heute“ mit den Händen vorwärts schieben, um bald zu irgend einem ersehnten „morgen“ zu gelangen!
Nun, auch mein Tag ging dahin — und ehe ich mich’s versah, war der Abend da und die Nacht — ich ging auf mein Zimmer, um mich zur Ruhe zu begeben.
Vorher öffnete ich noch einmal das Fenster und sah auf die Straße und auf das Haus gegenüber.
Das Wetter hatte sich aufgeklärt, ein ruhiger Mondschein lag auf den Dächern, milde, warme Luft strich über meine Stirn — ich konnte weiter reisen — wenn ich wollte!
Ich schlief bis tief in den nächsten Morgen hinein und trat im Traum auf einen kleinen harten Gegenstand, der sich als ein Ring mit einem blauen Stein auswies. Freudestrahlend will ich mich eben damit nach dem Hause des Justizraths begeben — da klopft es an meine Thür, und die naseweise Bemerkung: „Der Barbier ist da!“ ruft mich aus der Traumwelt in die rauhe Wirklichkeit zurück.
Ich frühstückte eilig — es war mittlerweile elf Uhr geworden — und wollte eben das Hotel verlassen, als ich neben meiner Kaffeetasse die neueste Zeitung liegen sah.
Hastig durchsuchte ich den Inseratentheil — richtig — da stand der kleine, blaue Ring, und da stand Nap, im Falken Zimmer Nr. 10 abzugeben.
Sofort machte ich mich auf den Weg zum Juwelier.
Der prachtvollste Sommertag, klar und warm, war angebrochen — zu einer Gebirgsreise wie geschaffen!
Ich schämte mich eigentlich, daß ich nicht reiste!
Im Laden angekommen, bemerkte ich sofort an dem lächelnden Gesicht des Inhabers, daß „Goldschmieds Töchterlein“ wirklich so liebenswürdig gewesen sei, den Ring herzugeben. Ich bezahlte, steckte mein neuerworbenes Eigenthum schleunigst in die Tasche und begab mich nach dem Hause, welches schon so lange der Gegenstand meiner eifrigsten Beobachtungen war.
Vor der Thür stand ich einen Augenblick still. Mir sagte eine innere Stimme, daß ich mit dieser Schwelle zugleich einen bedeutungsvollen Lebensabschnitt beträte — und mit heiligem Schauder zog ich an dem Klingelgriff.
Meine Karte, die ein sauberes Dienstmädchen hineinbeförderte, mochte wohl Verwunderung erregen, um so mehr, da ich nach den Damen gefragt hatte, also nicht wohl für einen geschäftlichen Besucher gelten konnte — aber ich wurde angenommen und befand mich bald in einem großen, hellen Zimmer, das in einen schönen, blumengeschmückten Gartensalon Einblick gewährte.
Auf dem Sopha saß die schon erwähnte ältere Dame — aber sonst war Niemand zu sehen!
Das Schicksal schien mir durch meinen schon ganz ausgearbeiteten Entwurf einen häßlichen Strich machen zu wollen — indeß ich konnte nichts weiter dabei thun!
Die Dame stand auf, machte mir eine Verbeugung und sah mich fragend an.
„Ich muß sehr um Entschuldigung bitten,“ begann ich, mit einer mir durchaus neuen Verlegenheit kämpfend, „daß ich so fremd hier einzudringen wage. Meine Kühnheit ist nur durch einen besondern Umstand zu entschuldigen — ich habe heute Morgen in der Zeitung gelesen, daß eine Dame aus diesem Hause einen kleinen Ring verloren hat — und ich bin so glücklich gewesen, denselben wiederzufinden!“
„Ach, Sophiechen’s Ring,“ rief die Dame mit sehr freundlichem Gesicht, „das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mein Herr, daß Sie sich selbst zu uns bemühen. Das arme Kind hat sich schon soviel um den Ring gegrämt, sie hatte ihn von der Tante Adele, die dann so bald gestorben ist, eine Schwester der Frau Justizräthin, die uns auch leider so früh entrissen wurde, und da durfte gar nichts verlauten, daß der Ring verloren war, denn der Herr Justizrath ist im Allgemeinen sehr gut, wirklich, man kann sagen, ausnehmend gut und nun gar zu Sophiechen ein sehr guter Papa, aber Sie wissen ja, wie die Herren sind, sie haben alle ihre Eigenheiten und eigen ist der Herr Justizrath auch.“
Ich fand begreiflicher Weise weder Zeit noch Gelegenheit, ein Wort einzuschieben.
„Nun aber,“ fuhr die gute Dame fort, „will ich Sophiechen holen. Sie sollen selbst sehen, was sie für eine Freude haben wird! Sie ist ja schon ganz unglücklich über den Ring! Nein, ich kann mich gar nicht genug wundern, daß er wieder da ist! So ein kleines Ding, wie leicht konnte er zertreten werden, oder bei dem Regen gestern — er konnte in die Gosse fallen — und weg war er! Es konnte ihn ja auch Jemand finden, der nicht ehrlich war — es giebt zu schlechte Menschen!“
Hier ging ihr glücklicherweise der Athem aus und sie verließ mit den Worten: „Einen Augenblick, mein Herr!“ das Zimmer, während ich meinen Ring in der Hand hielt, mich schämte und mich freute.
Es verging eine ziemliche Zeit, ehe die Dame wieder eintrat, und dicht hinter ihr das junge Mädchen, deren Bekanntschaft ich schon gestern gemacht.
Sie stutzte, als sie mich sah, erröthete und setzte eine kleine vornehme Miene auf. Ich wollte mich ihr eben mit einigen erklärenden Worten nähern, als die Alte wieder dazwischen fuhr.
„Na, Sophiechen, du wirst dich wundern! Du wunderst dich wohl schon, nicht wahr? Wie ich ihr sage, daß sie mitkommen soll, es wäre ein fremder Herr da, da sagt sie: „Tante, was soll ich denn drüben, du kannst doch wohl einen fremden Herrn allein annehmen,“ denn sie war gerade über dem Einkochen von —“
„Liebe Tante,“ unterbrach sie das Mädchen freundlich, „das kann den Herrn unmöglich interessiren!“
Und dabei wandte sie sich zu mir und sah mich fragend an.
„Darf ich wissen, was es ist, wovon meine Tante sich so große Verwunderung meinerseits verspricht?“
„Ich war so glücklich,“ begann ich stockend, hielt aber inne und überreichte ihr den Ring.
Eine helle Freude flog über das reizende Gesicht und zwei große Thränen traten ihr in die Augen. Mit ausgestreckter Hand kam sie auf mich zu.
„Ich danke Ihnen — ich danke vielmals! Sie machen mir eine unendlich große Freude — mein lieber Ring!“
Ich kam mir in dem Augenblicke wie ein ganz nichtswürdiger Betrüger vor! Hier stand ich und nahm Dank, Freudenthränen, freundliche Aufnahme — sogar einen freundlichen Händedruck entgegen — für einen ganz abscheulichen Schwindel.
Ich war drauf und dran, meine Sünden zu bekennen, und herausgeworfen zu werden, als sich die Thür auf’s neue öffnete und der stattliche Herr des Hauses eintrat.
Er blieb überrascht stehen, als er die Gruppe in der Mitte des Zimmers erblickte.
Sie — die Gruppe — sah auch nicht unbedenklich aus! Ein verlegener junger Mann, ein erröthendes Mädchen mit Thränen in den Augen und einem Ringe in der Hand und eine ältere Dame, die eben hätte segnen können!
Diese Letztere stürmte indeß sofort auf den verblüfften Justizrath ein und überschüttete ihn mit Ausrufen, Erklärungen, Vorstellungen — bis er sich lachend die Hände vor die Ohren hielt.
„Das Kurze und Lange von der Sache ist jedenfalls, daß Sophie ihren Ring verloren und wiederbekommen hat und daß wir Ihnen, mein Herr, dafür zu danken haben.“
Höfliche Verbeugung! Wieder ein Dank, den ich nicht verdiente! Ich erstickte fast daran und mußte mich nun noch von dem Papa auf’s Sopha nöthigen lassen und eine halbe Stunde lang mit ihm über Juristerei plaudern!
Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich begreifen, wie einem Friseur oder Schneidergesellen zu Muth sein muß, der als Graf in ein Weltbad reist und demgemäß behandelt wird.
Ich war, wie ich schon sagte, wirklich immerfort im Begriff, meine Larve abzuwerfen und als blamirtes, aber ehrliches Schaf aus meinem Wolfspelz hervorzukriechen — aber der Zauber des Augenblicks war stärker als ich — ich blieb und schwieg.
Als ich es endlich an der Zeit fand, die Familie nicht länger vom Genuß des Mittagessens zurückzuhalten, lud mich der Hausherr in freundlicher Weise ein, den Abend bei ihnen zu verleben, was ich tief beschämt, aber äußerlich mit schöner Fassung annahm.
So war ich denn nun durch die Dornenhecken gänzlicher Unbekanntschaft in das verzauberte Schloß gedrungen, aber das Ritterschwert, welches mir den Weg zur Prinzeß Dornröschen gebahnt hatte — war eine Lüge! Mit einem Seufzer und dem alten Wort, daß der Zweck die Mittel heilige, sang ich mein Gewissen in Schlaf, und kehrte in den Gasthof zurück.
Im Hausflur stand ein Mann in einer blauen Jacke, mit einer groben Physiognomie, er trug einen kleinen schwarzen Hund auf dem Arm. Ich achtete nicht auf ihn, sondern begab mich auf mein Zimmer, um mich angenehmen Erinnerungen und noch schöneren Erwartungen zu überlassen.
Leises Pochen an der Thür schreckte mich auf.
Auf mein „Herein!“ erschien zuerst der wohlfrisirte Oberkellner, hinter ihm der Mann in der blauen Jacke mit dem Hunde, den ich beim Eintreten bemerkt hatte. Der Letztere trat einen Schritt näher und indem er das Thier am Genick faßte und mir mit vorgestrecktem Arm entgegenhielt, sagte er:
„Ich wollte fragen, ob das der Hund ist, den Sie verloren haben?“
Meine Empfindungen sind schwer zu beschreiben! Lachlust und Beschämung kämpften heftig in mir — die greifbaren Folgen der zweiten Lüge machten sich bemerklich.
„Nein,“ sagte ich kurz, „das ist nicht mein Hund!“
„Am Ende doch!“ bemerkte der Fremde, „er ist ja schwarz und klein!“
Hierbei setzte er das Thier auf den Boden und schien es nicht wieder an sich nehmen zu wollen. Die kleine, höchst gemein aussehende Creatur fuhr, wahrscheinlich durch schlechte Behandlung gereizt, sofort bellend und schreiend auf mich ein und schnappte in höchst ungemüthlicher Weise nach meinen Stiefeln.
„Sehen Sie, er kennt Sie!“ sagte das blaujackige Individuum mit der größten Frechheit, „ich bitte um die Belohnung, die in der Zeitung —“
„Das ist doch zu stark!“ rief ich nun meinerseits geärgert, „dieses Thier habe ich nie gesehen, es beißt mich, und Sie wollen von mir noch eine Belohnung? Dort ist die Thür!“
Der Mann rührte sich nicht.
„Nun, dann bitte ich mir wenigstens ein Trinkgeld aus — ich habe zwei ganze Stunden hier auf Sie gewartet und meine Zeit kostet Geld!“
„Nemesis!“ dachte ich und gab ihm, um es kurz zu machen, ein Geldstück, worauf er den Hund wieder wie ein Bündel Lumpen ergriff und mit einem höhnischen Kratzfuß das Feld räumte.
Im Laufe des Nachmittags erschienen noch zwei Frauen und ein großer schurkischer Junge, die Alle Hunde brachten — der Junge sogar einen weißen! — und die mit Jammern und Grobheiten Futterkosten, Wartegeld und wer weiß was sonst noch von mir erpreßten. Aber der Abend sollte mich für diese Mühsal belohnen.
Ich saß in dem hübschen Garten drüben bei meinen neuen Freunden, und wir plauderten so gemüthlich, als kennten wir uns schon seit langer Zeit.
Dann ging Sophie in den Gartensaal und sang uns ein Lied; der Vater sah vergnügt dazu aus — und ich — nun ich war auch ganz befriedigt von meiner Lage. Aber Eins wußte ich schon an diesem Abend ganz genau, daß meine Bekanntschaft mit Sophie nicht umsonst durch einen Ring angefangen hatte — wenn es nach mir ging, sollten noch mehr Ringe in unseren gegenseitigen Beziehungen eine Rolle spielen. Also, es geht manchmal schnell mit solchem Entschluß, wie dies Beispiel zeigt!
Den nächsten Tag verbrachte ich wieder fast ganz im Hause des Justizraths, wir hatten sogar eine Art Verwandtschaft aufgestöbert, die zwischen einer Großmutter meiner Stieftante und einem Onkel des Justizraths bestanden haben konnte — ich hatte also gewissermaßen ein Recht, dort zu sein!
Nun, und es traf sich so, daß ich am dritten Abend mit Sophie und der Tante im Gartensaal saß und die Letztere abgerufen wurde.
Jetzt, werden Sie denken, hätte ich meinen schnell erblühten Gefühlen gleich Worte gegeben? O nein, so von selber ging das nicht! Ich mußte noch gehörig durch die Traufe.
Wir saßen in etwas stockender, verlegener Unterhaltung zusammen, wie das so leicht kommt, wenn man mehr zu sagen wüßte, als recht angehen will — da stürzt freudeglühenden Antlitzes die Magd des Hauses herein.
„Na, Fräulein Sophie, Sie werden sich aber freuen! Ich bin in Ihrer Stube und nähe und da fällt mir der Fingerhut auf die Erde und kollert unter den großen Schrank. Ich hole mir den Johann und wir rücken den Schrank etwas beiseite und was finde ich? — Ihren Ring, den Sie so gesucht haben!“
Prosit die Mahlzeit!
Ich weiß kaum anzugeben, was ich in dem Moment dachte. Mein Hauptgefühl war lebhaftes Bedauern, daß die Wohnungen wohlhabender Privatleute keine Versenkungen haben, in denen man in so entschieden blamablen Augenblicken verschwinden könne.
Sophie war ganz ruhig, nur sehr blaß geworden. „Ich danke, Christiane, es ist mir sehr lieb, daß der Ring da ist — Sie können gehen!“
Die Magd verschwand, augenscheinlich sehr verblüfft über die ruhige Aufnahme dieses freudigen Ereignisses.
Sophie wandte sich zu mir, ihre Stimme zitterte etwas.
„Ich darf Sie wohl bitten, Herr Doctor, mich über dies sonderbare Zusammentreffen aufzuklären und — Ihr Eigenthum wieder an sich zu nehmen!“
Bei diesen Worten streifte sie langsam den Ring, den ich gefunden haben wollte, vom Finger und hielt ihn mir hin.
Und ich? Nun ich that, was ich gleich hätte thun sollen — ich beichtete ehrlich, demüthig, zerknirscht, wie sie mich interessirt hätte, ehe ich ein Wort mit ihr gesprochen, wie lebhaft ich gewünscht, in das Haus ihres Vaters zu kommen, wie ich dann im Moment die ganze Finte ersonnen und, einmal drin, nicht wieder herausgekonnt hätte. Und dann bat ich sie flehentlich, den Ring zu behalten und wurde immer eifriger und beredter und sagte schließlich Alles heraus, daß ich den Ring nur dann wiedernehmen würde, wenn ich ihn mit einem andern vertauschen dürfte — mit dem Verlobungsring!
Und daß mir verziehen wurde, beweist Ihnen die Thatsache, daß der wirkliche Ring noch heut hier an meiner Uhrkette hängt — sehen Sie, das ist er! und daß Sophie seit einer langen Reihe von Jahren meine Frau ist. Um aber noch einmal auf den Verlobungsmoment zurückzukommen, so saßen wir ganz stillvergnügt zusammen, als plötzlich der Diener erschien und mir ein Telegramm überreichte.
Erschrocken und überrascht öffnete ich dasselbe. Es war von meinen Tanten und lautete:
„Anzeige im Kreisblatt unnöthig, Nap ist hier!“ Daß nun die Hundegeschichte auch noch an den Tag kam, daß Abends, als die Gesundheit des Brautpaares getrunken wurde, der Schwiegervater meine ganze Schlechtigkeit erfuhr, das können Sie sich denken.
Aber sehen Sie, es kann manchmal schnell gehen mit dem Kennenlernen und Verloben und es hält doch.“
Der Zug begann langsamer zu fahren.
„Leben Sie wohl, meine jungen Damen,“ sagte der liebe, alte Herr mit seinem freundlichsten Lächeln, „vergeben Sie, wenn Ihnen meine Geschichte zu lang war, und nehmen Sie ja kein Beispiel daran! Immer geht’s nicht so gut ab mit dem Lügen und dann ist es doch sehr unangenehm, wenn es an’s Licht kommt!“
Der Zug hielt an, der alte Herr verließ uns und ich habe ihn seitdem nicht wieder gesehen. — Aber noch heute besteige ich keinen Dampfwagen ohne die leise Hoffnung, den silbernen Kopf meines alten Herrn mir entgegenglänzen zu sehen und ihn noch einmal lachen zu hören!
„Und wenn Sie, verehrtester Herr Amtsrath, meiner Werbung nicht durchaus abgeneigt sein sollten, so darf ich wohl die ergebene Bitte aussprechen, die Inlage Ihrer Fräulein Tochter zu übergeben und mir, in freundlicher Rücksichtnahme auf die Verhältnisse, Ihre Antwort womöglich noch im Laufe des heutigen Tages zugehen zu lassen, was sich ja bei der fast stündlichen Eisenbahnverbindung zwischen hier und Frankenberg sehr wohl ermöglichen läßt.“
Mit diesen Worten schloß der Lieutenant Fritz Sterneck seinen Brief, steckte ihn ins Couvert, schrieb die Adresse: „An Herrn Amtsrath Solgers in Neu-Tessin bei Frankenberg“ und legte das bedeutungsvolle Schriftstück mit einem erleichterten „So“ vor sich auf den Tisch.
Die Lampe, welche diesen Tisch beleuchtete, kämpfte schon in unschöner Mattigkeit gegen den jungen Sommermorgen — noch dazu einen Sonntagsmorgen — der frisch, duftig und noch in leichten Frühnebel verhüllt über der schlafenden Stadt emporstieg.
Fritz löschte das Licht, welches ihm zu seiner nächtlichen Schreiberei gedient hatte, und nahm mit dem seltsamen Gemisch von nüchterner Müdigkeit und nervöser Erregung, welches wir in dieser allerfrühesten Morgenstunde so leicht empfinden, am geöffneten Fenster Platz. Es schien ihm kaum mehr der Mühe zu lohnen, den Schlaf noch einmal aufzusuchen; er blickte, den Kopf in die Hand gestützt, gedankenvoll auf den leeren Marktplatz zu seinen Füßen und unwillkürlich drängte sich ihm die Frage auf, ob wohl jedem Bräutigam nach der Abfassung des Werbebriefes so — ja so richtig nüchtern zu Muthe sei? Oder lag es bei ihm in den besonderen Verhältnissen?
Er stand gewissermaßen in doppelter Hinsicht auf dem Sprunge. Sein Abschied vom Militair war eingereicht und er trat bis zur Bewilligung desselben am nächsten Tage einen Urlaub an, um sein väterliches Gut selbst zu übernehmen, auf welchem er aufgewachsen, und an dem ihm jeder Zoll Boden bekannt war.
Ebenso bekannt war ihm die Familie eines Gutsnachbarn seiner Eltern, des etwas gewaltthätigen Amtsraths Solgers, seiner schüchternen, graublonden Frau, und seiner noch schüchterneren und noch graublonderen Tochter Amalie.
Nach der Meinung und Ansicht der Seinigen konnte Fritz gar nichts vernünftigeres thun, als Amalien zu heirathen — „die Aecker grenzten nachbarlich zusammen, die Herzen stimmten überein“ — oder wenn sie es nicht thaten, so war dies, wie ältere Leute oft zu sagen und an Beispielen zu erläutern lieben, durchaus kein Grund, warum die Besitzer dieser Herzen nicht äußerst glücklich mit einander werden sollten.
Fritz war im Grunde seiner ehrlichen Seele, trotz eines hin und wieder hervorbrechenden knabenhaften Uebermuthes, ein ganz klein wenig Philister — das heißt Familienphilister! — was man daheim für gut und wünschenswerth erklärte, hatte er bis jetzt auf Treu und Glauben ebenfalls dafür hingenommen, und so war ihm auch Amalie Solgers immer als etwas gutes und wünschenswerthes geschildert und erschienen. Immer — bis heute Morgen, wo er sich entschlossen hatte, um sie zu werben!
Als er, den großen Entschluß couvertirt und adressirt vor sich auf dem Tische, in den herrlichen jungen Tag hinausblickte, der in seinen halb durchsichtigen Wolkenschleiern die waldigen Hügel des nahgelegenen Höhenzuges bald zeigte und bald verbarg — da überfiel ihn mit plötzlicher Traurigkeit das Bewußtsein, was ihm eigentlich fehle! So duftig, so unbegrenzt und unbestimmt in Form und Umriß muß nicht nur die Frühstunde eines schönen Tages — nein auch die Morgenstunde des Lebens sein, wenn sie nicht ihren Zauber verlieren soll! Der Reiz der Ungewißheit war es, der seinem Zukunftsbilde mangelte — es lag nicht vor ihm, wie eine blaue Ferne im Frühlicht, die man mit ahnungsvollem Entzücken, unbekannten Abenteuern entgegen, betritt — sein Schicksal glich einem kleinen, prosaischen Pachterhof im Mittagssonnenschein, abgegrenzt, durch und durch alltäglich — und nur dem begehrenswerth, der die ersten Schaumperlen vom Lebensbecher schon getrunken hat!
Er versuchte, sich einzureden, daß nur die schlaflose Nacht es sei, die ihm sein neues Glück in so überwachter, mattfarbiger Beleuchtung zeige, und griff nach der Mütze, entschlossen, den mahnenden und grollenden Stimmen in seinem Innern durch eine vollendete Thatsache, d. h. durch Abschicken des Briefes, Schweigen zu gebieten.
Während er das Couvert noch in der Hand hielt, und zweifelhaft betrachtete, wurde ihm klar, daß vor dem späten Abend auf Antwort nicht zu rechnen sei, selbst angenommen, daß sein zukünftiger Schwiegervater in der Laune sein sollte, ihm sofort ein „Ja“ oder „Nein“ zuzurufen oder besser zuzudonnern; der Amtsrath war, wie gesagt, ein gewaltthätiger Herr und hatte eine seinem Temperament entsprechende Stimme, vermittels derer er die sanften Einwürfe seiner Frau und Tochter einfach todtschrie.
Im günstigsten Falle einen ganzen Tag lang auf solchen Bescheid zu warten hat um so weniger etwas Verlockendes, wenn die Zeit einem Sonntage angehört. Das dunkle Gefühl, daß dies der letzte Sonntag ungebundener Freiheit für ihn sei, daß er vielleicht vor Ablauf der Woche schon als mäßig beglückter Verlobter an der Seite der blassen Amalie mit der stets etwas duldenden und leidenden Miene sitzen werde, bewirkte, daß unser Held aufsprang und schnell, ohne viel zu überlegen, einen grauen Civilanzug statt seiner Uniform anlegte, mit dem Entschlusse, diesen „letzten Sonntag“ noch auf irgend eine Weise auszunützen, und sich als Spielball dem lustigen Dämon Zufall in die Hand zu geben, der es vielleicht gut genug mit einem ehrlichen Gesellen meinte, um ihm vor Thoresschluß noch einen amüsanten Tag zu gönnen.
„Aber der Brief muß fort,“ sagte Fritz vor sich hin, während er sich anschickte, das Haus zu verlassen, „denn sonst bleibt die Geschichte wieder wochenlang liegen, und ich möchte nun endlich einmal damit ins Reine kommen.“
Bei diesen Worten trat er auch schon auf den Marktplatz hinaus, an dessen Eckladen ihm ein Briefkasten einladend entgegenwinkte.
Als Fritzens Werbung in dem breiten Spalt des Kastens verschwunden war, erhob er die Augen und erblickte zwei weibliche Gestalten, welche an ihm vorbei über den Platz gingen.
Es fiel ihm auf, daß die Damen zu so früher Stunde das Haus verließen, und sein Interesse an ihren Beweggründen wuchs mit großer Schnelligkeit, als er bemerkte, daß eine der beiden Spaziergängerinnen ein junges Mädchen von ganz besonderer Anmuth war. Der breitrandige Strohhut warf zwar über den oberen Theil ihres Gesichts einen leichten Schatten, vermochte aber nicht zu verbergen, daß zwei blitzende, dunkelblaue Augen sich als Licht in diesem Schatten befanden. Den Augen entsprechend trug das ganze Gesicht, ja die ganze Erscheinung des Mädchens, welches eben der Schule entwachsen zu sein schien, ein unverkennbares Gepräge furchtlos schelmischen Uebermuthes und Frohsinnes, dabei hatte sie eine gewisse vogelähnliche Beweglichkeit in der Art, wie sie ihren zierlichen, blonden Kopf nach allen Seiten drehte und mit der naiven Neugier eines Kindes überall umhersah. Sie trug einen ziemlich großen Arbeitskorb mit festschließendem Deckel am Arme; dieser und ein kreuzweis über der Brust zusammengestecktes weißes Tuch gaben ihr ein gewisses sehr reizvolles Rokokoansehen, welches unseren Fritz unwillkürlich an Friederike von Sesenheim gemahnen wollte.
Die Begleiterin der jungen Schönheit war eine sehr wohlbeleibte Dame mit einem unendlich gutmüthigen breiten Gesicht, welches in Form und Ausdruck den Abbildungen der Sonne in manchen Bilderbüchern glich. Gleichwohl bekam dieses Gesicht durch einen leisen Bartanflug auf der Oberlippe, sowie durch einen Hut, der sich scheinbar durch Zauberei, jedes Bindemittel verschmähend, auf ihrem Haupte erhielt, einen gewissen Anstrich von energischer Unternehmungslust.
Fritz schloß aus dem Körbchen, welches das junge Mädchen am Arme trug, daß die Damen sich nach einem der Kaffeegärten zu begeben im Begriff standen, welche, in der Vorstadt gelegen, häufig zu solchen Morgenausflügen benutzt wurden, wenn auch selten zu so früher Stunde. Er folgte in gemessener Entfernung und trat mit einem gewissen Vergnügen in die Spuren sehr zierlicher Absatzstiefelchen, welche die junge Dame in dem Sande der Promenadenanlagen hinterließ.
An der nächsten Ecke wandten sich die Spaziergängerinnen nach rechts, Fritz that ein Gleiches und befand sich auf einem freien Platze, einer zahlreichen, munter durcheinander sprechenden Gesellschaft gegenüber, die, um einen Omnibus gruppirt, sich entschieden zu einer Landpartie rüstete. Die energische Dame mit ihrer reizenden Tochter, Nichte, Pflegebefohlenen, was sie auch sein mochte, wurde freudig und zugleich wegen der Verspätung vorwurfsvoll begrüßt, wobei Fritzens scharfes Ohr es auffing, daß die junge Dame Lotte hieß, und man schickte sich an, den Wagen zu besteigen.
Fritz entwarf, als guter Stratege, blitzschnell seinen Plan und ging als schlechter Diplomat an dessen Ausführung, ohne sich Zeit zur Ueberlegung zu lassen. Er mischte sich mit edler Dreistigkeit, ohne ein Wort zu sprechen, unter die Gesellschaft, und als ein sehr geschniegelter, sehr blonder junger Mann eben im Begriff stand, seinen Platz neben Fritzens Schönheit einzunehmen, schob letzterer ihn mit einem höflichen „erlauben Sie“ zurück und nahm, seinen Hut artig lüftend, die Stelle des grenzenlos Verblüfften ein.
Für wenige Sekunden bemächtigte sich eine solche wort- und bewegungslose Ueberraschung der Gesellschaft, daß ein Unparteiischer in Versuchung gekommen wäre, Fritzens hübsches, biederes Gesicht für ein Medusenhaupt zu halten. Aber der unheimliche Zauber löste sich schnell, und ein älterer, jovial aussehender Herr mit einem grauen Vollbart trat mit den Worten auf unseren Helden zu: „Mein Herr, darf ich Sie wenigstens bitten, uns zu sagen, wen wir die Ehre haben, in unserer Mitte zu sehen?“
Fritz, Erstaunen und sogar leichte Entrüstung heuchelnd, erwiderte mit großer Unbefangenheit: „Ich sehe eigentlich keinen Grund dafür, mein Herr, jeder Mensch hat doch das Recht, einen Omnibus zu einer kleinen Spazierfahrt zu benutzen, ohne sofort über sein Curriculum vitae befragt zu werden!“
Der düstere und kampfesmuthige Ausdruck, der sich bei der ersten Hälfte von Fritzens Entgegnung über die männlichen Gesichter in der Gesellschaft verbreitet hatte, wich nach und nach dem ironischen Lächeln der Ueberlegenheit; „der wird einen guten Schreck bekommen,“ stand in leserlicher Schrift auf den Mienen der Anwesenden. Auch der alte Herr, welcher der Festordner bei dieser Vereinigung zu sein schien, lächelte.
„Sie sind im Irrthum, mein Herr, dieser Omnibus ist von uns für den heutigen Tag gemiethet und zu einem gemeinsamen Ausfluge im geschlossenen Kreise bestimmt.“
Der durchaus nicht überraschte Fritz war sofort ganz Beschämung und Schrecken, er entschuldigte sich bei jedermann und der dazu gehörigen Frau, er bedauerte auf’s lebhafteste, ahnungslos einen solchen faux pas gemacht zu haben, und war, wie er versicherte, schon bestraft, indem er eine ziellose Spazierfahrt, zu der ihn der schöne Morgen verlockt, nun aufgeben und bescheiden in seine heiße Stadtwohnung zurückkehren werde.
Fritz konnte wirklich sehr liebenswürdig sein! Auch bei diesen Entschuldigungen entwickelte er so viel Artigkeit und Gewandtheit, daß sich das Vorurtheil der Gesellschaft fast ausnahmslos für ihn entschied, was er schlau genug war, zu bemerken. Nur der blonde junge Mann, den er von der Seite des schönen Mädchens verdrängt hatte, sah düster und drohend aus und schielte zornig auf unseren Helden.
Nach einer leise geführten Berathung mit den einflußreichsten Mitgliedern der Gesellschaft trat der ältere Herr wieder auf Fritz zu und forderte ihn freundlich auf, da er nun einmal in ihren Kreis gekommen sei, den Platz im Wagen zu benutzen und mit ihnen zu fahren. Fritz, dessen Uebermuth durch die ganze Situation sowohl, als durch die etwas kleinbürgerlichen Allüren eines Theils der Gesellschaft gestachelt war, stellte sich, um zu seinen neuen Bekannten zu passen, auf seinen Civilanzug hin keck als Kaufmann Schröter vor, und nahm mit den Gefühlen eines großen Jungen, der hinter die Schule geht, glückselig neben der reizenden Lotte Platz. Er benutzte die wenigen Minuten bis zur Abfahrt dazu, sein Herz gänzlich an das feine Gesichtchen neben sich zu verlieren, noch ehe er eigentlich mehr als zehn Worte mit der Eigenthümerin desselben gewechselt hatte. Das Mädchen antwortete auch vor der Hand nur in schüchterner, kurzer Weise und erröthete jedesmal sehr lieblich, wenn Fritzens Augen mit unverhohlener Bewunderung auf ihr ruhten.
Bald aber verflog ihre Befangenheit, und als der Wagen die Stadt verlassen hatte und zwischen blühenden Saatfeldern hinaus auf das Land zu rollte, plauderten die beiden schon so lustig und harmlos mit einander, als hätten sie sich Jahre lang gekannt. Was zwei junge Leute, die großes Gefallen aneinander finden, sich an einem schönen Morgen auf einer Landpartie erzählen, darauf kommt es gar nicht an, das wie ist die Hauptsache!
Und wie konnte Fritz heute sprechen und parliren! Er entdeckte in der frohen Erregtheit des Augenblickes eine ungeahnte Fundgrube von guten Einfällen in seinem Innern, er hatte nie gewußt, daß es ihm gegeben war, gefühlvolle Andeutungen in so leichter, gefälliger Form anzubringen, es war ihm noch nie gelungen, ein so reizendes Rosenroth auf einem Mädchengesicht durch seine Worte hervorzurufen, mit einem Wort, er war noch nie verliebt gewesen, dafür war er es jetzt intensiver, als er selbst wußte! Und auch seine allerliebste Nachbarin schien dem Reiz des Augenblicks nicht ganz unzugänglich, die Unterhaltung der beiden gerieth nie ins Stocken.
Fritz vermied — er wußte nur zu gut, warum — jedes Eingehen auf seine persönlichen Verhältnisse, obwohl er seine Lüge schon zu bereuen begann. Er hätte am liebsten seine Identität mit dem ernsthaften, überlegten jungen Mann ganz vergessen, der seit heute Morgen im Begriff stand, eine „Vernunftsheirath“ zu schließen. So viel stand bei ihm schon nach der ersten Stunde, der größeren Hälfte der zurückzulegenden Tour, fest, hätte er die Landpartie oder besser die Bekanntschaft seiner anmuthigen Nachbarin vor der Abfassung des heutigen Briefes gemacht, so wäre derselbe nicht geschrieben worden.
Er bedurfte in doppelter Beziehung der Vorsicht, um sich nicht zu verrathen, er mußte, um die Situation nicht zu verwickeln, nicht Lieutenant Sterneck sein, sondern Kaufmann Schröter, und er durfte nicht daran denken, daß sein Werbebrief jetzt, vielleicht in diesem Augenblicke, vom Postboten aus dem Kasten genommen und zur Eisenbahn befördert wurde. Beide Umstände boten einige Schwierigkeit, sowie die Unterhaltung auf ihn selbst kam.
Seine kleine Nachbarin war um so offenherziger, sie hatte nichts zu verbergen. Seit Ostern war sie aus der Schule entlassen und nun bei ihren Eltern zu Haus. Auf die heutige Landpartie hatte die Tante — sie wies auf ihre Nachbarin mit dem Schnurrbärtchen — sie mitgenommen, sonst war sie noch wenig aus dem Hause gekommen.
„Die Tante meint es sehr gut mit mir,“ fügte sie dankbar hinzu, „sie weiß, daß ich zu Hause mit den vielen kleinen Geschwistern tüchtig zu thun habe, und nimmt mich öfters gegen Abend mit spazieren. Sie ist eine Wittwe und gewöhnlich ganz allein. Mich hat sie sehr lieb, und wenn sie nächsten Winter auf einen Ball geht, soll ich mitkommen, und sie will mir ein weißes Kleid und rosa Rosen dazu schenken. Aber was ich Ihnen alles erzähle,“ brach sie erröthend ab, „ich freue mich nur schon so sehr darauf und vergesse ganz, daß Sie mich noch gar nicht kennen.“
„Ich denke, ich kenne Sie sehr gut,“ sagte Fritz lachend, „und wenn Sie mich etwa nicht kennen wollen, so ist das sehr undankbar von Ihnen! Wüßten Sie, was ich alles heut gewagt habe, um diesen Tag in Ihrer Nähe zu verleben!“
Sie sah ihn verwundert und fragend an; ach, wie mit jedem Blick dieser klaren, dunkelblauen Augen Amaliens Aktien sanken!
„Ja, ja, sehen Sie nur nicht so erstaunt aus! Ich muß Ihnen beichten; denken Sie wirklich, daß ich nicht wußte, was ich that, als ich, ohne zu fragen, in Ihren Kreis hineinplumpte, wie der Zucker in den Kaffee? War ich nicht schon eine halbe Stunde vorher hinter zwei Damen hergegangen, vom Markte auf die Kronenstraße, von der Kronenstraße über den Wall, vom Wall nach dem Omnibus, und wußte ich nicht, daß eine dieser Damen wiederzusehen oder gar mit ihr bekannt zu werden für mich das größte Glück“ — hier fiel ihm sein Brief an den Amtsrath ein — er stockte und fuhr verwirrt fort: „Mit einem Wort, mein Fräulein, ich habe Ihretwegen gelogen, schmählich gelogen, ich wußte ganz genau, daß ich bei Ihnen und den Ihrigen gar nichts zu suchen hatte und daß um diese Zeit des Morgens noch gar kein öffentlicher Omnibus fährt — und nun sagen Sie, daß Sie sehr böse sind!“
„Sehr!“ erwiderte sie, ohne aufzublicken.
„Soll ich herausspringen und zu Fuß nach Hause gehen? Oder noch besser, soll ich so lange neben dem Wagen herlaufen, bis Sie mir verziehen haben und mich wieder hereinrufen? Sie haben nur zu befehlen!“
„Und wenn ich den Befehl gäbe,“ sagte Lottchen verwirrt und lachend, „würden Sie ihn ja doch nicht ausführen!“
„Denken Sie, daß ich um Ihretwillen nicht noch ganz andere Dinge thäte?“
Fritz war auf gutem Wege, das muß man sagen! Aber das ungestörte Lachen und Plaudern der beiden sollte ein Ende finden. An der anderen Ecke des Wagens, der Tante gegenüber, saß jener Blonde, den Fritz so rücksichtslos verdrängt hatte. Er schien ein Protegé von Lottens mütterlicher Freundin zu sein, und beide beobachteten unser Paar unaufhörlich, wobei die Augen des Blonden mit den Wagenrädern förmlich um die Wette rollten.
Plötzlich erhob sich die Tante, wankte wie eine stattliche Fregatte zwischen den Sitzenden hindurch, wobei verschiedene Stöße des Wagens sie als solides Schoßkind bald dem einen, bald dem anderen auf die Knie setzten, und langte mit den Worten bei Lotte an: „Liebes Kind, wechsele doch den Platz mit mir, der Wind bläst mir ins Gesicht.“
Mit einem fast unmerklichen Zögern erhob sich die kleine Schönheit und begab sich an die Stelle der intriguanten Tante, welche mit durchbohrenden Blicken neben dem verblüfften Fritz sich niederließ.
„Nun, wie gefällt Ihnen unsere Landpartie, Herr Schröter?“ fragte sie sofort.
„Bis jetzt ausgezeichnet,“ sagte der doppelzüngige Fritz und blickte forschend nach der anderen Ecke, wo der Blonde eine eifrige Konversation ins Werk zu setzen begann.
Die Tante betrachtete indeß aufmerksam unseren Helden, und sanftere Gefühle begannen ihr Herz zu bewegen.
„Er sieht wirklich sehr gut aus,“ dachte sie, „und wer weiß, ob unser Lottchen nicht hier ihr Glück macht! Ich muß ein wenig auf den Busch klopfen, und ist er ein ordentlicher Mensch in angenehmer Lage, so kann man ja weiter sehn!“
Die gute alte Tante stiftete für ihr Leben gern Heirathen, wie alle guten alten Tanten, und indem sie, ihrer Meinung nach sehr vorsichtig und unmerklich, unseren Fritz auszuforschen begann, entspannen sich die weitaussehendsten Pläne in ihrem Kopfe.
Während Fritz, der ihre Absicht mit höchlichem Ergötzen durchschaute, ihr in der vertraulichsten Weise von seinem einträglichen Kolonialwaarengeschäft erzählte und Kaffeeproben zu senden versprach, mit denen sie wohl zufrieden sein sollte, während er in dieses übermüthige Lügengewebe die liebenswürdigsten kleinen Schmeicheleien und Anspielungen auf ihre reizende Nichte einflocht, mit denen je eine arglose Tante gefangen wurde, sah sich die wohlwollende Dame schon im Geiste in einem violetten Seidenkleide an der Hochzeitstafel sitzen, und hörte, wie der gerührte Brautvater ans Glas schlug und sie, die Tante, als Begründerin dieses jungen Glückes hoch leben ließ, denn hätte sie Lotte nicht mit auf die Landpartie genommen, so wäre ihr der hübsche und vermögende Bewerber vielleicht, nein gewiß, nie begegnet.
Um nun das Ihrige bei der Sache zu thun, erzählte sie dem aufhorchenden Fritz mit geheimem Stolze, wie häuslich und fleißig Lottchen erzogen worden, wie sie für jeden Mann ein wahrer Schatz sein würde, „und,“ fügte sie bedeutungsvoll hinzu, „so jung das Kind noch ist, sie hat schon einen recht wohlhabenden Freier, sehen sie wohl, Herr Schröter, den jungen Mann, der ihr gegenüber sitzt? Ich sage Ihnen, sie brauchte nur mit den Augen zu winken und er hielt morgen um sie an! Aber Lottchen hat ihren Kopf für sich, und ...“
Hier hielt der Wagen mit einem gewaltigen Ruck und der Redefluß der Eifrigen gerieth ins Stocken. Das Ziel der Fahrt war erreicht, bald vereinigte ein vergnügtes Mahl die Gesellschaft, bei dem Fritz, Dank sei es dem Glück und der Tante, seinen Platz neben Lottchen fand.
Während unser Held, mit jedem Moment tiefer in die Empfindung hineingerieth, deren erstes Keimen ihn heute zu seiner folgenreichen Lüge verleitet hatte, behielt er gleichwohl den Kopf noch frei genug, um sich beim Beobachten der Versammlung mit einiger Beschämung zu gestehen, daß sein Uebermuth hier gar nicht am Platze gewesen, und daß er ruhig in seiner wahren Gestalt hätte erscheinen können, ohne sich etwas zu vergeben. Eine harmlose, maßvolle Heiterkeit belebte den kleinen Kreis, und jeder genoß auf seine Weise die frohe Stunde bei gutem Wein und in der hübschen Umgebung.
Fritz nicht am wenigsten! Aus dem scherzenden, neckischen Tone von unterwegs war er mit seiner Tischnachbarin allmählich in das Geleise einer ruhigen Unterhaltung gekommen, in der sich das anziehendste aller Bilder, eine kindlich klare und reine Mädchenseele, vor seinen Augen aufrollte. Ihre Lebensanschauungen und Geschmacksrichtung entsprachen so vollkommen dem Ideal, welches er im stillen lange vergeblich gesucht, daß es ganz bestimmte Gedanken waren, mit denen er, sein gefülltes Glas erhebend, halblaut zu ihr sagte: „Die Zukunft!“
„Warum nicht lieber die Gegenwart?“ gab sie unbefangen zurück, „wer weiß was die Zukunft bringt, ich baue nicht gern Luftschlösser!“
„Ich um so lieber“, erwiderte Fritz, „und bauen Sie mir zu Gefallen einmal mit — wie denken Sie sich Ihre Zukunft?“
„Fragen Sie lieber, wie ich sie mir wünsche, das kann ich Ihnen ebenso sicher sagen, wie es sicher nie in Erfüllung gehen wird: ich möchte auf dem Lande leben!“
„Bravo,“ rief Fritz, „das lobe ich mir! Und auf die Erfüllung dieses Wunsches leere ich mein Glas! Das Landleben ist das einzig vernünftige Leben und ein Landwirth der glücklichste Mensch, vorausgesetzt —“ er vollendete mit einem sehr beredten Seitenblick, der wieder ein tiefes Erröthen in Lottchens Gesicht trieb.
„Wenn Sie aber auch so für das Landleben schwärmen,“ begann sie hastig, wie ablenkend, „warum bleiben Sie denn in der Stadt?“
„Dort war ich ja nur vorübergehend für einige Jahre,“ erwiderte Fritz unvorsichtig, „von morgen an ist es mit dem —“
Er stockte, erschrak und wurde fast noch röther, als seine Nachbarin. „Was haben Sie denn?“ fragte sie erstaunt.
Fritz schwieg, er schämte sich! Kein angenehmer Zustand, solchen vertrauenden, blauen Augen gegenüber!
„Bitte, fragen Sie mich nicht, ich kann mich jetzt nicht näher erklären,“ sagte er verwirrt und ohne sie anzusehen, „in mir ist heut alles unklar und unsicher, wundern Sie sich nicht, wenn ich viel thörichtes rede, es kommt hoffentlich ein Moment, wo ich Ihnen alles, was Sie nur überhaupt von mir wissen mögen, deutlich sagen kann und darf!“
Fritz, Fritz! Eine Uhr im Gastzimmer holte zu dröhnenden Schlägen aus, die Zeit war schon weit vorgeschritten. Jetzt mußte der Brief längst in Neu-Tessin sein, die Antwort — alle Chancen sprachen dafür, daß sie eine bejahende sein werde — war möglicherweise schon unterwegs, und dann?
Fritz wurde es heiß und kalt, nun war aber auch hohe Zeit, daß er hier ein Ende machte! Als man sich vom Tische erhob, begab er sich allein und tief nachdenklich in den Garten, der um das Wirthshaus blühte und grünte. Er kämpfte einen harten Kampf mit sich, mit seinem Gewissen und seiner jungen Liebe, die ihn um so lockender ansah, als sie hinter einem Gitter von Schwierigkeiten stand, welches seine eigene Schuld errichtet hatte! Er athmete tief auf, sein Entschluß war gefaßt. Wie auch die Sachen kommen sollten, er wollte sich nicht noch mehr Vorwürfe zu machen haben, als er ohnehin schon empfand — er ging festen Schrittes auf das Haus zu, um seinen Hut zu holen und unter einem Vorwande der Gesellschaft und allen schönen Träumen Lebewohl zu sagen!
Aber der Zufall, dem er sich heute so leichtsinnig in die Arme geworfen, ist ein heimtückischer Gesell, der seine Anhänger freilich oft auf reizenden Waldpfaden zum erwünschten Ziele führt, oft aber auch an jeder Biegung eines guten und verständigen Weges als neckender Kobold sitzt und ruft: „Halt, du hast die Rechnung ohne den Wirth gemacht, hier wird hübsch umgekehrt und ausgegessen, was du unter meiner Aegide dir so schön eingebrockt hast!“
Diesmal saß er, dieser böse Zufall, in Gestalt eines der Theilnehmer am heutigen Ausfluge vor einem großen, verstimmten Dorfpianino und gab im Schweiße seines Angesichtes einen etwas unregelmäßigen Walzer zum Besten, nach dem sich die Gesellschaft, alt und jung, leicht und schwer, geschickt und ungeschickt, munter zu drehen begann.
Als Fritz in der offenen Thüre erschien und suchend nach seinem Hut umhersah, begegnete ihm ein einziger, ganz kurzer und flüchtiger Blick Lottchens, der, wenn je ein Blick gesprochen hat, fragte: „Tanzen Sie nicht?“
Fritz schwankte innerlich, wie ein Rohr im Winde, er tanzte gut, das wußte er! Gut genug, um die Produktionen der ganzen hier versammelten Gesellschaft in den tiefsten Schatten zu stellen, und gern — fast immer gern! Heute aber, in seiner halb glücklichen, halb traurigen Stimmung mit dem reizendsten aller Mädchen dem Rhythmus eines weichmüthigen Walzers zu folgen, während durch die geöffneten Fenster die laue Sommerluft hereinstrich und die Rosen dufteten — ade Vernunft, ade Gewissen — eben schreitet der blonde Rival im zierlichsten Pas durch das Zimmer, das entscheidet alles! Fritz kommt ihm zum zweiten Male zuvor, und der schönste Tanz beginnt, den er je gehört oder getanzt hat!
Wie er jetzt mit Lottchen dahinflog, feurig und doch taktmäßig, so, das fühlte er deutlich, würde er mit ihr durch das Leben fliegen können! Es mochte ja unrecht und unvernünftig sein, daß er geblieben war, aber der Mensch ist so traurig geartet, daß ihm das Unvernünftige manchmal, oft — um nicht zu sagen meist, am besten gefällt! Und mit dem schönen Gefühl, „nun hast du die Dummheit einmal gemacht, nun ist es auch ganz gleich, wie weit du dich verrennst,“ gestattete sich Fritz die allerdeutlichsten Anspielungen auf seinen ohnehin sehr durchsichtigen Herzenszustand und fand kein ganz unwilliges Gehör!
Im Rausche des Moments und um sein Gewissen zu betäuben, steigerte sich unser Held zu fast ausgelassener Lustigkeit; er tanzte wie unsinnig, nicht nur mit Lottchen, nicht nur mit allen jungen Damen, nein, er bewog sogar die Mütter und schließlich die gute Tante, einen ehrsamen Schleifer unter seiner Führung zu wagen, was nach dem nöthigen Sträuben, Lachen und Fingerdrohen die größte und allgemeinste Heiterkeit hervorrief, er brachte mit Aufbietung aller Familienväter eine Française zu Stande, die an künstlicher Verwickelung jedes Erschaffene und Erfundene übertraf, er entzückte alles, außer dem Blonden, der, von seinem Platze als Hahn im Korbe verdrängt, düster vor der Punschbowle saß, und sich durch Massenvertilgung von Speise und Trank an der Gesellschaft rächte.
Endlich trieb man zum Aufbruch. Die Plaids, Tücher und Paletots wurden, zu einem wüsten Knäuel geballt, von zwei Hausknechten herbeigetragen und entwirrt. Fritz hatte Lottchens Sachen gewandt herausgefunden und sie sorglich darin einzuhüllen geholfen, bis er seinen Platz neben ihr wieder einnahm.
Bald flog der Wagen durch die duftende Sommernacht hin. Ringsum war es still und friedlich, die Sterne blitzten in schweigsamer Pracht; sanft und groß stieg der Mond über den schwarzen Baumwipfeln herauf und leuchtete mild auf dem dunkelklaren Hintergrunde des Nachthimmels. Ganz, ganz fern schlug eine Nachtigall, es klang fast nur, wie das Echo ihrer Stimme zu den Fahrenden hinüber. Wem sollte da nicht weich ums Herz werden!
Je näher sie der Stadt kamen, deren Lichter schon am Horizont herauffunkelten, desto lebhafter fühlte Fritz den Wunsch, fast die Pflicht, vor seinem Abschiede noch ein erklärendes, rechtfertigendes Wort zu sagen, und fand keines!
Ihm schlug das Herz mächtig, als er sich in der Stille der Sommernacht, nach all dem Getöse und fröhlichen Lärm, wieder sagen mußte, was er gethan! Das schweigende Mädchen hier neben ihm, dessen liebliches Gesicht jetzt so seltsam nachdenklich dreinsah, es war mit der unbefangenen Lust des Kindes heut von Hause gegangen, und hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß ein bleibender Eindruck, vielleicht ein Geschick sich an diesen Tag knüpfen werde.
That er jetzt, was er thun mußte, verließ er sie, ohne sie wiederzusehen, nachdem er mit Wort und Blick sich bestrebt, ihr Herz zu gewinnen, so hatte er von einem jungen, glücklichen Schmetterling, der ahnungslos in den Blumengarten des Lebens fliegt, den ersten Blüthenstaub in frevelhaftem Leichtsinn gestreift, nie wieder würde das reine Vertrauen wiederkehren, mit dem das Mädchen in die Welt getreten war, um sofort eine solche Enttäuschung zu erleben. Und doch konnte, doch durfte er nicht sprechen, wer stand ihm denn dafür, daß er nicht jetzt, in diesem Augenblicke der Verlobte einer anderen war? Der Gedanke stieg ihm sinnverwirrend zu Kopfe, er seufzte tief auf.
Lottchen wandte den Kopf und sah ihn an; es lag etwas so kindlich Vertrauendes in diesem Blicke, daß er ihm ins Herz schnitt.
„Sie seufzen so schwer?“ sagte sie, halb lächelnd.
„Ich denke wieder einmal an die Zukunft,“ erwiderte er ernster, als er noch heut gesprochen.
„So lassen Sie doch Ihre Zukunft!“ rief sie munter, „sie wird schon von selbst kommen, und ändern können Sie doch nichts daran!“
„Das frage ich mich eben!“ gab er immer noch ernst zurück, „ich stehe vor einem Wendepunkte in meinem Leben, Fräulein Lottchen, und das habe ich heut den ganzen Tag zu wenig bedacht!“
Er sah, daß seine Worte einen leichten Schatten auf ihr frohes Gesichtchen riefen, der ihm einen neuen Reiz verlieh, aber einen Reiz wehmüthiger Natur. Er fuhr hastig fort:
„Wir sind bald am Ziel unserer gemeinsamen Fahrt, wer weiß, ob wir uns noch einmal wieder treffen! Lassen Sie mich eine Bitte aussprechen, ehe ich gehe!“
Sie war ganz blaß und still geworden und nickte seinen Worten nur stumm Gewährung.
„Ich sagte Ihnen schon, daß ich vor einer Wendung meines Geschickes stehe, vielleicht entscheidet der heutige Abend noch über jene Zukunft, an die ich vorhin dachte — wollen Sie mir nicht Glück auf meinen Weg wünschen?“
Seine Stimme war leise und innig bei diesen Worten, er beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand, zum ersten — vielleicht zum letzten Mal!
„Nun, kein Glückwunsch?“ wiederholte er dringend, da sie schwieg.
„Doch,“ erwiderte sie, und zwang sich, ihn anzusehen, obwohl eine seltsame Verwirrung auf ihren Zügen lag, „ich wünsche jedem Menschen Glück, warum nicht Ihnen?“
„Damit muß ich mich für heute begnügen,“ sagte er, und führte ihre Hand leicht an seine Lippen, „geht Ihr Wunsch in Erfüllung, so werde ich es Ihnen noch einmal selbst sagen, und dann —“
Der Wagen rollte hier zum Glück über das Straßenpflaster in die Stadt hinein, die nickenden Beschützer und Beschützerinnen fuhren empor, und an der ersten Ecke, wo der Omnibus einen Theil der Gesellschaft absetzte, nahm Fritz sich den Entschluß über den Kopf weg, und verabschiedete sich mit flüchtigem, herzlichen Dank von den Anwesenden, die ihn wie einen alten Bekannten mit fröhlichem Zuruf entließen, während Lottchen stumm und sichtlich erregt nur durch eine Kopfneigung seinen Gruß erwiderte.
*
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Als Fritz nach wenig Minuten vor seiner Hausthür stand, und der große Schlüssel sich kreischend im Schloß drehte, war es ihm, als öffne er sich selbst den Eingang zu einem lebenslangen Gefängniß. Wenn er nun jetzt in sein Zimmer trat, und den Brief vorfand, der ihm das Jawort brachte — wie sollte er sich dann benehmen? Er war, das fühlte er, er war zu weit gegangen, um einfach mit französischem Abschied aus Lottchens Gesichtskreis zu verschwinden, und doch fehlte ihm Muth und Lust, sich in seiner ganzen Schlechtigkeit vor ihr zu offenbaren, und dann zu dieser ohnehin harten Strafe noch die andere, ungleich härtere zu fügen, eine Verlobung mit der unseligen Amalie, die ihm in der parteiischen Beleuchtung seiner anderweitigen Verliebtheit nicht mehr als ein blasses, negatives Bild der Alltäglichkeit, sondern als ein wahres Monstrum erschien!
Als er die Stubenthür öffnete, begegnete sein Blick zunächst keinem Briefe, sondern egyptischer Finsterniß, welche durch das laute Schnarchen seines Burschen etwas gespenstisches erhielt.
Daß Fritz keine Streichhölzer in der Tasche hatte, versteht sich von selbst, wenn man sich gern schnell durch den Augenschein von etwas überzeugen möchte, fehlt dergleichen immer!
Der Bursche erwachte etwas mühselig, krabbelte, an alle Gegenstände im Zimmer anstoßend, eine Zeit lang umher, die Fritz zur Ewigkeit wurde, und die er doch nicht durch die Frage, ob ein Brief gekommen sei, zu unterbrechen wagte, weil er bei sich dachte: „das erfahre ich immer noch früh genug,“ und endlich erstrahlte das Zimmer im Glanz einer Kerze. Der Tisch, auf dem die eingegangenen Depeschen zu liegen pflegten, war leer!
„Ist nichts mit der Post gekommen?“ frug endlich Fritz, bebend vor Erwartung.
„Nein, Herr Lieutenant!“
Also nichts! Das Allerfatalste, weder Ja noch Nein, eine widerwärtige, flaue Fluth von Möglichkeiten, in der man nun noch bis zum andern Morgen schwimmen konnte!
Eine zweite Nacht brach heran, die gleich der vergangenen schlaflos zu werden drohte, das Durchkonjugiren von „hätte ich!“ ist stets eine der unerfreulichsten Beschäftigungen, ganz abgesehen von ihrer völligen Nutzlosigkeit. Und dennoch beschäftigt sich jeder, der eine Dummheit begangen hat, hinterher damit, sich zu sagen: „hätte ich dies gethan, oder das nicht gethan!“
Zum Glück siegte die übermüdete Natur für diesmal, unser armer Held schlief ein, und schlief, traumlos, wie man immer schlafen sollte, bis tief in den nächsten Morgen hinein, der ihm beim Erwachen grell und golden in die Augen schien.
Beim Frühstück konnte er wieder einen Brief erwarten, aber die Klingel rührte sich nicht, und der Vormittag verging ihm, dem schon vom Dienst Dispensirten, in bleierner Schwere. Endlich schlug die Stunde, wo er sich, um sich abzumelden, nach der Kommandantur begeben mußte, er warf sich in seinen Staat, und schritt wenige Minuten darauf mit Helm und Schärpe, äußerlich ein energischer, junger Kriegsgott, innerlich ein deprimirter Hase, seinem Bestimmungsort zu.
Die Sache war schnell erledigt, und als Fritz den Heimweg antrat, beschloß er, um seinen Gedanken ein wenig Audienz zu geben, noch einmal durch die Anlagen zu wandern.
Ihm war, er wußte selbst nicht, warum, jetzt hoffnungsfreudiger zu Muthe. Hätte er ein „Ja“ erhalten, so wäre die Antwort jetzt gewiß schon da. Es war ja möglich — entzückende Möglichkeit! daß er Amalien über Nacht eben so widerwärtig geworden, wie sie ihm! Wenn er sich’s recht bedachte, hatte er überhaupt gar keinen Grund, anzunehmen, daß sie ihm besonders gewogen sei; was er für Stille und Zurückhaltung in ihrem Wesen genommen, war vielleicht — nein gewiß! verborgene Abneigung gewesen. Man kann sich bekanntlich nichts so leicht einreden, als was man wünscht, Fritz war noch keine zehn Minuten gegangen, als er schon glückselig einen imaginären Korb von Amalien am Arm, und einen ebenso imaginären Ring von Lottchen am Finger trug.
Diese letzte Möglichkeit spann sich denn in seinem Inneren zu dem farbenreichsten Bilde aus, er stellte sich das Mädchen in ihrer ganzen Lieblichkeit vor, so deutlich, daß es ihn kaum überraschte, als er, um eine Ecke biegend, sich plötzlich ihr gegenüber sah.
Mit unverhohlenem Entzücken griff er an den Helm, aber Lottchen blickte ihn erst erschreckt, dann völlig fassungslos an, plötzlich wandte sie sich ab, und setzte, ohne seinen Gruß zu erwidern, ihren Weg fort.
Jetzt erst begriff Fritz ihre Empfindungen! Der Kaufmann Schröter von gestern, der bescheidene Besitzer des einträglichen Kolonialwaarengeschäfts, dem — d. h. dem Besitzer! — sie in ihren Träumen bereits eine nicht ganz nebensächliche Rolle zugewiesen hatte, er klirrte heute als bewaffnete Macht ihr entgegen, und sie wußte begreiflicherweise nicht, ob eine wunderbare Aehnlichkeit sie täusche, oder was sie sonst von ihm denken solle.
Blitzschnell hatte Fritz die Davoneilende eingeholt, und schritt, ohne ihr stummes Kopfschütteln, womit sie all seine Worte der Begrüßung und Freude erwiderte, zu beachten, neben ihr her, die ziemlich menschenleeren Anlagen entlang.
„Wenn Sie wüßten,“ begann er verwirrt und ganz unberechtigt vorwurfsvoll, „wie ich mich freute, als ich Sie so überraschend wieder vor mir sah, Sie würden mich nicht durch Ihren Zorn betrüben. Sagen Sie mir nur, was Sie eigentlich von mir denken, um das eine bitte ich Sie!“
„Ich denke gar nichts von Ihnen,“ erwiderte das Mädchen in einem seltsam harten und kalten Tone, den man ihrer jugendlichen Stimme gar nicht zugetraut hätte, „ich kenne Sie überhaupt nicht, und bitte Sie, mich augenblicklich meinen Weg allein fortsetzen zu lassen.“
„Fräulein Lottchen,“ bat der unglückliche Fritz flehend, „wollen Sie mich nicht wenigstens anhören? Sie thun mir sicher in Gedanken unrecht, ich bin nicht so schuldig, als es den Anschein hat.“
„Sondern noch viel schuldiger,“ jammerte es in seinem Inneren, „wenn sie schon über die einfache Namensverwechselung so böse ist, was würde sie erst sagen, wenn sie wüßte! —“
Fritz schauderte.
„Was bezwecken Sie eigentlich mit dieser zweiten Komödie?“ sagte jetzt das Mädchen stehen bleibend, noch immer im selben Ton. „Was Sie gestern gewollt haben, sehe ich heute wohl ein, uns alle zum Spielzeug Ihrer hochmüthigen Laune benützen, nun es ist Ihnen ja gelungen — Sie haben Ihre Sache vortrefflich gemacht — was soll ich nun noch anhören?“
Fritz blieb gleichfalls stehen, und ließ seine Augen erst einen Moment traurig auf ihr ruhen, ehe er sprach.
„Wenn Sie so fragen, dann bin ich zu Ende, ich kann dann nur meiner Wege gehen, denn ich fühle, daß Sie ein Recht haben, mir zu zürnen, und daß ich mich nur dann vertheidigen darf, wenn Sie es mir selbst erlauben. Soll ich wirklich so von Ihnen scheiden?“
Sie machte einen tapferen Versuch „ja!“ zu erwidern, er scheiterte aber an halb erstickten Thränen, die sich plötzlich in ihre Stimme und in ihre Augen drängten. Heftig aufschluchzend schlug sie beide Hände vors Gesicht und wandte sich von ihm ab.
Ich muß gestehen, auf die Gefahr hin, meinen Helden sehr wenig heldenmüthig erscheinen zu lassen, daß Fritz diesem Anblick nicht ganz weit davon entfernt war, dem Mädchen herzhaft Gesellschaft zu leisten! Eine solche Hochfluth widerstrebender Empfindungen schlug über seinem Haupte zusammen, daß er sich von den wilden Wogen seiner Gefühle rücksichtslos dahintragen ließ, er gestand Lottchen in fliegenden Worten seine Liebe, und bekannte ihr, daß er gestern zwar anfänglich in übermüthiger Laune seinen wahren Stand und Namen verleugnet habe, daß er aber bald, sehr bald große Beschämung über diesen tollen Einfall empfunden, und sich schon vor Ende des Tages bewußt gewesen sei, daß aus seinem Scherz tiefster Ernst für ihn geworden, und daß er — nun kurz, was man in solchen Fällen sagt.
„Und Lottchen,“ fügte er dringend hinzu, indem er ihre Hand nahm, „wenn ich Ihren Thränen eine Deutung geben darf, wenn auch Sie jener alten Geschichte von der „Liebe auf den ersten Blick“ seit gestern glauben gelernt haben, dann lassen Sie mir als ersten Beweis davon Verzeihung zutheil werden, oder lieber,“ fügte er lächelnd hinzu, da sie ihn, wenn auch noch durch Thränen, doch schon wieder freundlicher ansah, „seien Sie so böse auf den „Kaufmann Schröter,“ wie Sie nur irgend wollen, aber haben Sie den Lieutenant Sterneck dafür umso lieber — was meinen Sie? Darf ich mich Ihren Eltern vorstellen, und ihnen sagen, daß Sie mir diesen Besuch gestattet haben?“
Nun, Lottchen war nicht von Stein, sie sagte zwar nicht ja, aber sie nickte mit dem Kopfe, und das that dieselben Dienste!
Näher kommende Schritte ließen unser Paar etwas bestürzt auffahren, und Fritzens Schreck steigerte sich zu plötzlichem Entsetzen, als der Störenfried sich in der sonst harmlosen Gestalt eines Briefträgers präsentirte, der in geschäftsmäßigem Tritt, ohne rechts oder links zu blicken, an ihnen vorüber nach der Stadt ging. „Glaubst du, dieser Adler sei dir geschenkt?“ schien mit feurigen Buchstaben um die Mütze des ehrlichen Postbeamten geschrieben — was für eine Pandorabüchse konnte jene Ledertasche sein!
Fritz verbarg mit Mühe seine Verwirrung, und trennte sich von seiner reizenden Braut, wo die Anlagen in die Stadt münden, mit dem nochmaligen Versprechen, sobald es seine Zeit gestatte, sich bei ihren Eltern einfinden zu wollen. Noch ein herzlicher Händedruck, und ihre Wege führten auseinander. Lottchen trippelte mit der ihr eigenen, anmuthigen Schnelligkeit von dannen, und Fritz wandte wohl noch zehnmal den Kopf, um mit Freude und Gewissensangst der Verschwindenden nachzusehen.
Als er einige Stunden später in stiller Beklommenheit auf seinem Sopha saß, klopfte es, der Bursche brachte ihm einen Brief, Poststempel Neu-Tessin! Nun also! Fritz hatte noch nie vor der Mündung einer geladenen Pistole gestanden, er wußte demnach nicht aus Erfahrung, wie einem dabei zu Muthe ist, ungefähr konnte er sich’s aber nach diesem Moment vorstellen. Es hilft doch nichts — auf mit dem Brief! Er lautete:
Mein verehrter, junger Freund!
Ihr Schreiben hat mich und die Meinigen geehrt und erfreut. Wir nehmen Ihre Bewerbung um unsere Tochter gern an, und hoffen, in Ihnen einen lieben Sohn zu finden. Meine Frau wollte schon bei unserem letzten Zusammensein ganz klar die demnächstigen Ereignisse voraussehen, doch hielt ich dies für eine Illusion, zu der das weibliche Geschlecht in Betreff von Heirathsabsichten ja stets neigt. Nun hat sie doch Recht behalten!
Wir erwarten Sie morgen Abend zum frohen Verlobungsmahl, und wollen dann alles andere mündlich erörtern. Ein Gruß von Malchen wird Ihnen wohl nicht unangenehm sein?
Ihr treu ergebner Schwiegervater in spe
Solgers, Amtsrath.
Der Brief trug das Datum des gestrigen Sonntags.
Das lähmende Entsetzen, welches sich unseres Fritz beim Durchlesen dieses an sich ja sehr netten Schreibens bemächtigte, spottet jeder Beschreibung. Er starrte den verhängnißvollen Zettel an, eigentlich ohne Bewußtsein, er las ihn wieder, und noch einmal, aber auch nicht ein Schimmer von Zweifel ließ sich daraus entnehmen!
„Bei unserem letzten Zusammensein will die Amtsräthin etwas gemerkt haben,“ murmelte er dumpf, „ich habe nichts gemerkt! Wann soll denn das gewesen sein? Ich bin ja seit fast vier Wochen nicht in Tessin gewesen — nun, es wird doch am Ende etwas daran sein! Es muß wohl den Tag sehr guten Punsch gegeben haben,“ sagte er gedankenlos vor sich hin.
Fritz sprang auf und schritt in wahrer Verzweiflung im Zimmer auf und ab, sein Herz schlug so laut vor Angst, daß er es zu hören meinte. War wohl je ein Mensch in solcher schrecklichen Lage, und solchen verwickelten Familienverhältnissen! Nun hatte er zwei Bräute, zwei Schwiegermütter und zwei Schwiegerväter, von denen der ihm bekannte ein wahrer Bär von deutscher Grobheit war.
Wessen er sich versah, wenn er mit seiner Beichte in Tessin herausrückte, war gar nicht auszudenken, und er durfte doch nicht wieder grob werden; hatte er nicht frevelhaft den Hausfrieden und Seelenfrieden einer glücklichen Familie gestört? Und Amalie schien ihn nun doch zu lieben, der schalkhafte Schlußsatz des Briefes deutete auf das Aergste!
Armer Fritz, zwei Mädchenherzen liegen zu deinen Füßen, eines mußt du unfehlbar zertreten, magst du einen noch so künstlichen, moralischen Eiertanz ausführen!
Aber alles jammern und sich abmartern nützte nichts, jetzt hieß es handeln, rasch, klug und rechtlich, er hatte nie gedacht, daß dies so schwer wäre!
In einer halben Stunde ging der letzte Zug an diesem Tage nach Tessin ab, und man erwartete ihn „zum fröhlichen Verlobungsmahle!“ Sollte er schreiben? das war ihm unmöglich, er konnte sich nicht entschließen, seine Schandthaten schriftlich in das Familienarchiv des Amtsraths niederzulegen, nein, es mußte ausgebadet werden! Er schickte den Burschen nach einer Droschke, und während dieser unterwegs war, schrieb er eilig und innerlich zerfleischt von Höllenqualen einige Zeilen an Lottchen, worin er ihr mittheilte, daß Familienangelegenheiten unaufschiebbarer Natur ihn zwängen, die Stadt auf einige Stunden zu verlassen. Sie möge ihm nur vertrauen, der nächste Tag finde ihn sicher bei ihr und ihren Eltern.
Schweren Herzens sandte er den Brief an seinen Bestimmungsort ab, und fuhr dann zur Bahn. Seine stille Hoffnung, er werde den Zug versäumen, und sich auf diese Weise eine Galgenfrist schaffen, trog, er kam rechtzeitig an, und die Stunde, welche die Stadt und Neu-Tessin trennt, war bald auf Dampfesflügeln durcheilt.
Das von dem Amtsrath bewohnte Dominium Tessin, lag etwa zehn Minuten von der Bahnstation Frankenberg. Als Fritz den Zug verließ, entdeckte er bald die wohlbekannte, geschlossene Chaise seines Schwiegervaters Nr. 1, wie er ihn in Gedanken nannte, denn nach dem alten Sprichwort: „wer zuerst kommt, mahlt zuerst,“ hatte Amalie entschieden den Vorrang bei diesem seltsamsten aller Wettrennen.
Ein ihm fremder Kutscher lenkte das Gefährt, und blickte spähend in die aussteigende Menschenmenge. Als Fritz sich ihm näherte, und zur Sicherheit sich noch einmal erkundigte: „Herrn Amtsrath Solgers Wagen?“ nickte der Rosselenker, und frug, das trübselige Gesicht vor ihm mit einigem Mißtrauen betrachtend: „sind Sie der Herr Bräutigam?“
Unwillig bejahte der gequälte Fritz, und bald rollte das Gefährt auf der Landstraße dahin. Noch eine Biegung des Weges, da lag das Amtshaus, von der untergehenden Sonne vergoldet, vor ihm.
Als Fritz sich dem Hofe näherte, welchen man zu passiren hat, ehe man das Haus erreicht, begrüßten ihn zwar arg verstimmte, aber doch wohlgemeinte, schmetternde Klänge, die Dorfkapelle blies einen Tusch. Die durch diese Ovation etwas erregten Pferde ließen sich erst schwer zum Stehen bringen, Fritzens verstörte Augen bemerkten über der Hausthür eine dicke Guirlande, und als er, halb betäubt vor Verwirrung, dem Wagen entstieg, strömte ihm der warme Duft von Punsch und Braten festlich entgegen.
Vor der Thür stand der Amtsrath im schwarzen Leibrock, das Ordensbändchen im Knopfloch, die Amtsräthin im Seidenkleide, neugierige kleine Schwäger, Schwägerinnen und Dienstboten drängten sich im Hausflur, Malchen schien sich in bräutlicher Verschämtheit im Hintertreffen zu halten.
Fritz schwankte, wie ein Gerichteter, der das Schaffot besteigen soll.
Aber Unerwartetes begab sich.
Das dröhnende „Willkommen,“ mit dem der Hausherr den Wagen bereits anzuschreien begonnen hatte, verstummte plötzlich wie abgeschnitten, als er unseren Fritz erblickte. Es wäre schwer zu sagen, wessen Züge die größere Verlegenheit ausdrückten, die des Ankommenden, oder die der Erwartenden.
Die Amtsräthin machte kurz kehrt, und zerstreute mit Wort und Geberde die Neugierigen im Hausflur, dann ward sie nicht mehr gesehen.
Ihr Gatte erhob mechanisch die Hand, kratzte sich hinter dem Ohr, und — schwieg.
Fritz schwieg auch, ihm war fürchterlich zu Muthe. Er glaubte, er mußte ja glauben, daß der Anblick seines bleichen, deprimirten Gesichts so niederschmetternd auf die schwiegerelterlichen Nerven wirke, daß man keine Worte fände, ihn fröhlich als fröhlichen Bräutigam zu grüßen.
Aber dies gegenseitige, schweigende Anstarren war zum Tollwerden! „Noch zwei Sekunden so,“ dachte Fritz, „und ich gebe Fersengeld, und laufe, so weit mich meine Füße tragen.“
Er räusperte sich mehrmals, streckte etwas gezwungen die Hand aus, und begann: „Sie waren so überaus gütig, Herr Amtsrath —“
Der alte Herr sah starr auf den Boden nieder, ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig, dann sagte er mit bedrückter Stimme: „Bitte, bitte, nicht Ursach’, mein lieber Freund! Ich hatte freilich nicht erwartet — aber wollen Sie nicht einige Augenblicke näher treten? Wir können unsere Besprechung ja in meinem Zimmer vornehmen.“
Er ließ dem Schwiegersohn höflich den Vortritt ins Haus und öffnete die Thür seiner zu gleicher Erde belegenen Wohnstube, in die ihm Fritz ungefähr mit den Gefühlen folgte, die man im Vorzimmer des Zahnarztes durchzumachen pflegt.
„Darf ich Ihnen eine Cigarre anbieten?“ unterbrach der Amtsrath die Grabesstille.
„Sie sind sehr gütig!“ und Fritz begann zu rauchen, und zwar mit einem Eifer, als hinge sein Leben daran, daß er die Cigarre in zehn Minuten bis auf die letzte Spur vertilgt habe.
Der Amtsrath paffte eben so krampfhaft in seiner Ecke.
Endlich erhob sich Fritz, und stellte sich, militärisch hoch aufgerichtet, vor den alten Herrn.
„Ich weiß in der That nicht, Herr Amtsrath, was Sie von mir denken werden, wenn ich Ihnen eine Erklärung meiner Handlungsweise gegeben habe, die —“
„Aber ich bitte Sie, mein lieber, junger Freund,“ erwiderte der Alte ganz ängstlich, „wozu wollen Sie sich und mir eine solche unnöthige Qual bereiten! Ich habe ja alles, was zu der Sache irgend zu sagen war, in meinem Briefe auseinandergesetzt, und um Ihnen die Situation zu erleichtern, wiederhole ich Ihnen noch einmal mündlich, was ich schriftlich sagte, an meinem und meiner Tochter Entschluß ist nichts mehr zu ändern, wenn Sie eine derartige Absicht herführt, so ist jedes Wort unnöthig.“
Fritz rang mit dem Tode! Er sah die Zornader auf der Stirn des Alten schon im Geiste anlaufen, aber es half nichts — durch!
„Herr Amtsrath!“ begann er von neuem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, „halten Sie mich für einen Elenden — ich halte mich selbst dafür, aber ich beschwöre Sie bei allem, was Ihnen heilig ist, mein Gott, wie soll ich mich nur ausdrücken? ich flehe Sie an, nehmen Sie Ihr Wort zurück!“
„Aber sagen Sie mir, Herr,“ rief jetzt der Amtsrath, „was ficht Sie denn eigentlich an? Allen Respekt vor Ihnen, aber Sie benehmen sich, um mich ganz gelinde auszudrücken, wie ein Narr! Seien Sie ein Mann, fügen Sie sich ins Unvermeidliche, was ich gesagt habe, habe ich gesagt! Ich werde mich doch jetzt nicht zum Gespött der ganzen Gegend machen, als ein alter Schwachkopf, der nicht weiß, was er will! Meine Tochter ist Braut — und damit basta.“
„Nun dann,“ sagte Fritz mit der Ruhe eines Verzweifelten, „dann bleibt mir nichts übrig, als mir eine Kugel vor den Kopf zu schießen! Ich habe wie ein Ehrloser gehandelt, ich muß die Folgen tragen! Denken Sie von mir, was Sie wollen, aber ich kann Ihre Tochter nicht heirathen!“
„Was!“ schrie der Amtsrath und sprang auf, „was sagen Sie da?“
„Ich kann Ihre Tochter nicht heirathen,“ wiederholte Fritz dumpf und leichenblaß, „und nun machen Sie mit mir, was Sie wollen!“
„Meine Tochter nicht heirathen?“ brüllte jetzt der Amtsrath, und sprang auf Fritz zu, ihn bei den Schultern packend, „aber Mensch, wer verlangt denn, daß Sie sie heirathen? Bin ich toll, oder sind Sie toll, oder sind wir’s alle beide?“
„Ich weiß nicht,“ sagte Fritz ganz erschöpft, und sank in seinen Stuhl zurück.
Der Alte trat zum Nebentisch, goß zwei Gläser Wasser aus einer Karaffe ein, trank eins, und reichte das andere unserem Helden. „So, das schlägt nieder,“ sagte er dann etwas ruhiger, „und nun sagen Sie mir einmal, was Sie eigentlich wollen! Sie halten um meine Tochter an, ich schreibe Ihnen, umgehend, wie Sie es verlangten, eine ganz vernehmliche, möglichst freundlich abgefaßte Antwort, und statt sich dabei zu beruhigen, wie ein vernünftiger Mensch, kommen Sie hierher wie ein Tollhäusler, und schreien, Sie können meine Tochter nicht heirathen! Ich muß Ihnen gestehen, ich finde es, gelinde gesagt, sehr dumm und albern, daß Sie heute überhaupt hierher kommen!“
„Aber mein Himmel,“ rief Fritz, und durchwühlte seine Brieftasche mit zitternden Händen, „Sie haben mich ja doch selbst eingeladen!“
„Ich — Sie?“ schrie der Amtsrath noch lauter, „i, so schlag doch —“
„Hier!“ sagte Fritz lakonisch, und reichte dem alten Herrn seinen Brief hin.
Der Amtsrath las — verfärbte sich — wiegte den Kopf hin und her — plötzlich rief er: „Ach, du meines Lebens! Da habe ich eine schöne Geschichte gemacht, lieber Sterneck, ich bin ja an allem schuld! Ich habe den Absagebrief an Sie gleichzeitig mit dem Zusagebrief an meinen Nachbar Rummler geschrieben — der hielt zufällig vor zwei Tagen auch um Amalie an, und wie ich nun Ihren Brief sofort beantworten mußte, da habe ich in der Eile und Aufregung die Adressen verwechselt! Nein, das ist ja schrecklich — und nun sitzt mir der mit einem Korbe da! Er hat auch Bahnstation in Frankenberg, und der Wagen sollte ihn holen und nicht Sie! Ach, ich bin ein geschlagener Mann — ich alter Esel! Nein, ist denn das aber menschenmöglich?“
Während der Alte wie außer sich im Zimmer umherrannte, ergoß sich in Fritzens umdüsterte Seele eine wahre Sonnenhelle. Er sollte Amalien nicht heirathen — die gute, die liebe Amalie wollte ihn nicht, hatte sogar schon einen Ersatzmann gefunden — ach, das hatte er nicht verdient!
In überströmender Glückseligkeit sprang er auf und fiel dem erstaunten Amtsrath um den Hals. „Lieber, alter Freund — bester Herr Amtsrath — meine innigsten Glückwünsche — ach, so habe ich mich doch in meinem ganzen Leben noch nicht gefreut!“
Es sprach eine so innige Ueberzeugtheit aus diesen Worten, daß dem guten Amtsrath, was man ihm auch nicht verdenken kann, wieder ganz unheimlich zu Muthe wurde. Er machte sich etwas unsanft los.
„Na, lassen Sie das nur gut sein,“ sagte er, und schob Fritz mißtrauisch zurück, „was Sie denken und ob Sie sich freuen, ist mir im Augenblick ganz egal — ich weiß nur nicht, wie ich meine Eseleien wieder gut mache, ohne daß es meine Weibsleute merken, sonst haben die eine Handhabe gegen mich bis ans Ende meiner Tage!“
„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen,“ nahm Fritz, dessen Gefühlswogen sich zu legen begannen, jetzt das Wort, „Gefallen gegen Gefallen! Borgen Sie mir Ihren Rappen bis morgen früh, dann reite ich jetzt zu Herrn Rummler hinüber und besorge Ihnen einen Brief hin, den Sie schnell schreiben, während ich mich anziehe — und dann reite ich zur Stadt und schicke Ihnen das Pferd morgen wieder heraus. Herr Rummler kann in einer Stunde hier sein und niemand erfährt etwas!“
„Ach, das ist Unsinn,“ sagte der Amtsrath, „ich will Ihnen etwas anderes sagen — mir wird das Briefschreiben sauer — geben Sie mir Ihren Brief, und ich schicke ihn zu Rummler, und schreibe nur, das wäre der richtige, und der andere wäre für Sie bestimmt. Wenn ich das schreiben kann, so ist die Sache abgemacht.“
„Meinetwegen,“ rief der glückselige Fritz, „aber den Rappen geben Sie mir mit. Ich muß nothwendig heute Abend nach Hause — Sie sollen bald erfahren, warum!“
„Ich bin nicht neugierig,“ sagte der unliebenswürdige Alte, „aber eins sagen Sie mir — warum haben Sie denn eigentlich um die Amalie angehalten, wenn Sie so froh sind, daß sie Sie nicht haben will?“
„Das ist eine lange Geschichte,“ erwiderte Fritz, und wurde roth, „wollte ich Ihnen die jetzt erzählen, so verbrennte der Braten, und der Punsch, den das Brautpaar heute noch trinken soll, würde kalt. Lassen Sie mich fort und schicken Sie den Wagen zu Ihrem Schwiegersohne. Und nun leben Sie wohl, mein lieber, guter Herr Amtsrath — sagen Sie Ihren Damen — — was Sie wollen! Ich lasse mir den Rappen satteln!“
Im Hause des Amtsraths ging es den Abend noch sehr lustig her — in manchen anderen Häusern gewiß auch — es giebt ja, trotz aller Pessimisten, noch immer eine ganze Menge vergnügter Leute auf der Welt — aber ein fröhlicherer Geselle, als unser Fritz, den sein tänzelnder Rappe durch den schönen Sommerabend nach der Stadt hin trug, die sein Glück barg, war an diesem Abend schwerlich zu finden! — Wie er es angefangen hat, seine reizende Braut mit dem zweiten Akt der Komödie zu versöhnen, die er auf der Landpartie zu spielen begonnen — das geht uns nichts an. Er wird schon mit ihr fertig geworden sein!
W. Moeser Hofbuchdruckerei, Berlin, Stallschreiber-Straße 34. 35.
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Hausgenossen. | 1 |
Und doch! | 59 |
Der tolle Junker. | 85 |
Finderlohn. | 161 |
Glück muß man haben! | 193 |
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