Project Gutenberg's Sämmtliche Werke 1: Die Toten Seelen I, by Nikolaj Gogol

This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
www.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll have
to check the laws of the country where you are located before using this ebook.

Title: Sämmtliche Werke 1: Die Toten Seelen I

Author: Nikolaj Gogol

Editor: Otto Buek

Translator: Otto Buek

Release Date: March 1, 2017 [EBook #54262]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 1: DIE ***




Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.






Nikolaus Gogol
Tote Seelen

Erster Band

Nikolaus Gogol
Sämmtliche Werke
In 8 Bänden

Herausgegeben
von
Otto Buek

Band 1

München und Leipzig
bei Georg Müller
1909

E. R. W.

Nikolaus Gogol

Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen

Übertragen
von
Otto Buek

Band 1

München und Leipzig
bei Georg Müller
1909

E. R. W.

Von diesem Buche wurden 100 Exemplare auf van Geldern abgezogen, in der Presse nummeriert und in Ganzleder gebunden. Der Preis eines solchen Exemplares beträgt 16 Mark. Den Druck besorgten Mänicke und Jahn in Rudolstadt. Titel und Einband zeichnete E. R. Weiß.

Vorrede des Herausgebers

Eine Gesamtausgabe der Werke Gogols bedarf keiner besonderen Rechtfertigung; sie hat ihre Rechtfertigung in sich selbst. Unter allen großen Meistern des Romans, die die russische Literatur im XIX. Jahrhundert hervorgebracht hat, nimmt Gogol eine besondere und einzigartige Stellung ein; mögen die Vorgänger oder Nachfolger ihn, was Weite des Horizonts, Tiefe der Seelenanalyse, Reinheit und Kultur der Kunstform anbetrifft, erreichen oder gar übertreffen, an Originalität und Ursprünglichkeit kommt ihm keiner gleich. Er selbst hat immerdar zu seinem älteren Zeitgenossen Puschkin als dem unerreichten Vorbild einer reinen idealisierenden Dichtung emporgeblickt, und er hat in einer berühmten Apostrophe der „Toten Seelen“ dieser Differenz und dem Abstand zwischen seiner Begabung und der Puschkins in beredten Worten Ausdruck gegeben, doch selbst Puschkin bleibt bei seinem großen und einzigen Talent nur ein Zweig und Schößling am Stamm der großen europäischen Literatur. In Gogol aber schuf sich das junge russische Volk zum ersten Mal eine adäquate vollgültige dichterische Form, in ihm realisierte sie einen literarischen Typus, der von da ab das Muster und Ideal für alle kommenden Schriftstellergenerationen Rußlands geworden ist. Das ganze jüngere Dichtergeschlecht von Turgenjew bis Tolstoi, das sich das Interesse der westlichen Völker eroberte und unsere Aufmerksamkeit auf Rußland hinlenkte, geht auf Gogol als seinen Ursprung zurück. In ihm liegen alle Motive und Ideen, die sie entwickeln und entfalten, wie im Keime beschlossen, er gab das Thema an, das sie in mannigfachen Paraphrasen und Modulationen variieren; er schuf die Kunstform, an der sie sich schulten; sie dachten und dichteten in seiner Sprache. Und nicht in unsicheren unausgereiften Ansätzen vollzog er diesen Schöpfungsakt an der russischen Dichtung, sondern mit dem Siegel der Kraft und der Fülle der Vollendung rief er sein Werk — die russische Literatur — fast wie aus dem Nichts hervor. Wie nur bei ganz wenigen Ausnahmen, zeigen all seine Werke die gleiche reine Linie des großen Talents, und es gibt unter ihnen schlechterdings nichts Minderwertiges und Unbedeutendes. Und zugleich mit der Dichtung hat Gogol den Typus des russischen Dichters geschaffen, indem er in sich jenen ewigen Gegensatz, der das Leben der größten russischen Künstler beherrscht, zur Ausprägung brachte; den Gegensatz zwischen dem Dichter und dem Propheten, die in ihnen ständig im Streite liegen. Bei keinem aber tragen die Werke selbst trotz aller Objektivität so sehr den Stempel des Persönlichen, wie bei Gogol, sind sie so sehr das treue Spiegelbild der eigenen geistigen Lebenskämpfe, der Niederschlag ihrer Schwankungen und Stimmungen, wie bei ihm. Schon aus diesem Grunde wird für das Verständnis dieser so komplizierten und originalen Persönlichkeit der Überblick über das Gesamtschaffen des Dichters zur Notwendigkeit.

Einen solchen Überblick soll die vorliegende Ausgabe ermöglichen. Es wurde dabei von einer chronologischen Anordnung der Werke abgesehen und eine solche nach fachlichen Gesichtspunkten zugrunde gelegt. Die inhaltlich und formal zusammengehörigen Schöpfungen sollen hier auch zusammen erscheinen. Daß die Chronologie darüber nicht zu kurz kommt, dafür ist durch ausführliche redaktionelle Noten genügend gesorgt, die sich im Anhange eines jeden Bandes finden. In den folgenden zwei Bänden sind vor allem der Roman „Die toten Seelen“ und drei einzelne Novellen vereinigt, die auch durch einen ideellen Zusammenhang miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beleuchten und erklären. Beide Bände führen den Leser sogleich auf den Gipfel des Gogolschen Schaffens und gewähren ihm einen großen Ausblick auf den Ideen- und Formengehalt seiner Dichtung. Die „Toten Seelen“ sind das größte Prosawerk des modernen Rußlands und eines der Hauptwerke der humoristischen und satirischen Literatur überhaupt: ein grauenhaftes Bild der Korruption und der allgemeinmenschlichen und spezifisch russischen Verkommenheit. Daneben ein soziologisches Gemälde eines historischen Zeitalters, in dem der Extrakt einer Kulturepoche konzentriert ist. Was aber dem Ganzen — neben diesen wahrlich nicht geringen Vorzügen — seinen Ewigkeitswert sichert — das ist das Menschliche und Typische, das es in sich birgt: die Darstellung des Menschenlebens, wie es, von der kulturell-zufälligen Einkleidung abgesehen, sich ausnimmt, wenn das Rangverhältnis der Triebe verkehrt, und das Dasein von aller Geistigkeit und Idealität entblößt wird. Es ist der Gerichtstag über die moderne Kultur, die den Erwerbstrieb sanktionierte und heiligte und das Denken und Trachten des modernen Menschen auf die rein materielle Macht und Beherrschung der Natur hinlenkte. Gogol hat diese Kulturtendenz nur in ihren Anfängen, in ihrer Entstehung beobachten können, aber er hat mit dem bewunderungswürdigen Scharfblick eines Hellsehers die ganzen Folgen dieser Erscheinung für das Geistesleben antizipiert: den seelenmordenden Fluch der Erwerbsjagd und des Besitzes, die nivellierende und alles erstickende Trivialität eines auf das Bloßstoffliche gerichteten Wesens. Es gab keinen stärkeren Schilderer des Gemeinmenschlichen, Alltäglichen und Brutalen, als Gogol, und so ist auch er es gewesen, der in den „Toten Seelen“ das grandiose Symbol und in dem irrenden Ritter des Erwerbs Pawel Iwanowitsch Tschitschikow — den unsterblichen Typus für das Triviale und Mittelmäßige fand, das die große Masse unseres Lebens und den Querschnitt unserer Kultur bildet. — Ein Gegenstück zu dem großen Gemälde der „Toten Seelen“ ist die romantische Novelle „Das Porträt“, in der der Dichter die verheerenden Folgen desselben Grundtriebes für Kunst schildert. Diese Novelle ist zugleich ein erschütterndes Bekenntnis von dem Zwiespalt der „zwei Seelen“, in dem sich Gogols Leben aufzehrte; der einen, die von einem glühenden Drange nach dem Idealen ergriffen, sich in der Welt der Körper nie dauernd wohl fühlte, und der andern, die wie keine zweite mit dem Blick fürs Irdische begabt, das Auge nie von der Erdenwelt und allem Menschlich-Allzumenschlichen abzuziehen vermochte.

Eine ausführliche Analyse der in diesem Bande vereinten Dichtungen findet der Leser in der Einführung des bekannten Gogolforschers und Mitgliedes der Petersburger Akademie der Wissenschaften, Nestor Kotljarewski, die wir dem ersten Bande vorausschicken, eine Gepflogenheit, der wir auch bei den folgenden Bänden treu zu bleiben gedenken.

Zum Schluß wage ich noch den Wunsch auszusprechen, daß der deutsche Leser dieser Gesamtausgabe Gogols die freie Empfänglichkeit entgegenbringen möge, die das Werk eines Dichters beanspruchen kann, der zwar der Gegenwart nicht mehr angehört, doch aber lebendig in ihr wirkt, und dessen Schätzung in seinem Vaterlande mit dem zeitlichen Abstand nur noch steigt und in fortwährendem Wachstum begriffen ist.

Charlottenburg, den 24. Dezember 1908.

Dr. Otto Buek.

Einführung

I.

Gogols Roman „Die toten Seelen“ nimmt in der russischen Literaturgeschichte des XIX. Jahrhunderts eine besondere und einzigartige Stellung ein. Es ist der erste Roman von künstlerischem Werte, in dem der russischen Gesellschaft ein großes und treues Bild ihres eigenen Lebens geschenkt ward, ein Bild, das aus dem Pinsel eines großen Künstlers und Realisten herstammte. In diesem Roman vergißt der russische Dichter zum ersten Mal sich selbst, seine persönlichen Sympathien und Antipathien, jene erbaulichen moralischen Betrachtungen, die er nach alter Sitte in seine Novellen und Erzählungen einzuflechten pflegte, und ist nur noch von einem Wunsche ergriffen: die nackte Wahrheit auszusprechen über die dunkeln Seiten des Zeitalters, in dem er lebt.

In diesem Sinne stellen die „Toten Seelen“ ein künstlerisches Denkmal dar, das in der Geschichte der russischen Literatur eine neue Ära eröffnet.

In den ersten Jahrzehnten des XIX. Jahrhunderts — dem Zeitalter der sogenannten „Romantik“ und des „Sentimentalismus“ gab es für den russischen Dichter nur ein Objekt, das ihn stetig beschäftigte, seine eigene Persönlichkeit. Es gab nichts Wichtigeres für ihn als sein eigenes Selbst, mit all seinen Gedanken, Stimmungen und dem freien Spiel seiner Phantasie. Er wußte vor allem davon zu erzählen, wie die gesamte Umwelt sich in ihm, dem Dichter spiegelte; und daher blieb sein Verhältnis zu dieser Umwelt immer rein subjektiv. Mit dem vierten Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts erfährt jedoch dieses subjektive Verhalten des Künstlers zu seiner Umgebung eine Wandlung, die sich sehr rasch vollzieht und schnell in der gleichen Richtung fortschreitet. Von nun ab geht das Streben des Künstlers vor allem darauf, das Leben so treu und vollständig als nur möglich zu ergreifen und wiederzuspiegeln; das Leben selbst in seiner ganzen Mannigfaltigkeit und in seinem Gegensatz zu ihm, dem Dichter wird jetzt der wichtigste Gegenstand seines Interesses. Er beginnt es bis tief ins Einzelne zu analysieren, um es dann im Ganzen oder in seinen Teilen rein und treu zu reproduzieren. Der Künstler sieht sein größtes Verdienst darin, seine eigenen Sympathien und Antipathien zurücktreten zu lassen und womöglich ganz zu verbergen. Er strebt nur darnach, jenen Stoff, den er zu bearbeiten hat, so objektiv und unparteiisch als möglich zu erfassen und restlos in sich aufzunehmen.

Erst mit Gogol tritt diese Hinwendung des Künstlers zur objektiven Darstellung in der russischen Literatur ganz unverhüllt ans Licht. Im „Revisor“ und in den „Toten Seelen“ besitzen wir zwei streng realistische Gemälde russischen Lebens aus der Epoche Nikolaus’ I. So wurde Gogol zum Begründer der sogenannten „naturalistischen“ Schule, die den Ruhm der russischen Literatur auch nach dem Westen trug. Und darin sind alle russischen Künstler den Spuren Gogols gefolgt, indem sie alle die Umwelt zum Gegenstand eines peinlichen und gründlichen Studiums machten, um sie dann als Ganzes oder doch einen Ausschnitt von ihr objektiv doch zugleich künstlerisch wiederzuspiegeln. Das war die Arbeitsmethode aller großen russischen Künstler; von Turgenjew, Dostojewski und Ostrowski bis zu Gontscharow, Tolstoi und Saltykow-Schtschedrin. Und wenn auch ein jeder von ihnen seine in seinen Werken eigene Weltanschauung zum Ausdruck brachte und mit besonderer Liebe bei den Gestalten verweilte, die ihm selbst am nächsten standen; wenn er mitten hinein in die Gemälde realer Wirklichkeit rein persönliche Betrachtungen einflocht, und sich’s erlaubte, eine Art Glaubensbekenntnis vor dem Leser abzulegen, so waren doch ihre Werke vor allem und in erster Linie ein großes und detailliertes Bild der lebendigen Wirklichkeit, ein historisches Dokument einer Epoche; es blieb stets die Hauptsorge des Künstlers: nicht seine persönlichen Ansichten und Gefühle zum Ausdruck zu bringen, sondern die Idee und den Umriß des Lebens zu erfassen, das sich vor seinen Augen entrollte.

So wird es verständlich, welch einen gewaltigen Einfluß das Schaffen Gogols auf die Entwickelung der russischen Literatur gewinnen mußte. Der sentimentale Roman mit seiner didaktischen Tendenz, die romantische Novelle, die dem Leben so fremd blieb, und die bekannten zahlreichen lyrischen Herzensergießungen in Prosa traten immer mehr zurück, um den Raum für die Milieuerzählung — für die realistische wirklichkeitstreue Novelle mit ihrem großen und weiten Horizont frei zu machen: für eine Prosaerzählung, die den Leser zu einem kritischen Verhalten gegen das Leben und die ihn umgebende Wirklichkeit erweckte.

II.

Aber der Schriftsteller, der so entschlossen damit begonnen hatte, eine Annäherung zwischen Kunst und Leben herbeizuführen — Nikolaus Wassiljewitsch Gogol (1809-1852) — war von Natur nichts weniger als ein nüchterner, kaltblütiger Beobachter, oder ein Mann von kritischem Verstande und einer Phantasie, die es versteht, ihre stürmischen Triebe zu bändigen.

Gogol war mit einer wahrhaft romantischen Seele zur Welt gekommen, und doch wurde es seine Mission, der Dichtkunst reine Muster einer realistischen, kühlen und nüchternen Naturdarstellung zu schenken. In diesem Widerspruche liegt die ganze Tragödie seines Lebens beschlossen.

Gogol gehört unbedingt zu jener Gattung von Menschen, für die die Gegenwart nur ein Hinweis auf ein zukünftiges Ideal ist, und die ein starker Glaube an ihre providentielle Sendung beseelt.

Das geistige Wesen eines solchen Menschen zieht ihn immer in eine andre Welt empor — eine Welt der Vollkommenheit, in die er alles verlegt, was ihm wert und teuer ist: all seine Begriffe von einer unerschütterlichen Ordnung der Gerechtigkeit, seinen Glauben an eine ewige Liebe und eine jedem Wandel entrückte Wahrheit. Diese ideale Welt begleitet ihn durch das ganze Leben, sie leuchtet ihm voran in Tagen und Stunden der Finsternis. Überall und jederzeit findet er in ihr seinen Lohn oder seine Strafe und Verurteilung, sie beschäftigt ununterbrochen seinen Verstand und seine Phantasie, und oft absorbiert sie seine Aufmerksamkeit so vollständig, daß sie ihn die Erde vergessen läßt; noch häufiger aber ist sie dem Menschen die einzige Stütze, die ihn aufrecht erhält bei der schweren Arbeit an der Gestaltung und Formung des irdischen Daseins.

Was immer für Überzeugungen solch ein Mensch haben mag, stets wird er entweder hinter dem Leben zurückbleiben oder ihm weit voraneilen. Er vermag sich nicht zu ergeben und zu demütigen vor dem Unabwendlichen und Tatsächlichen. Immer fast wird er das reale Leben entwerten, und es gewöhnlich verachten. Er vergewaltigt seinen Begriff und seine Vorstellung von der Wirklichkeit um seines Traumes willen, und sehnt sich meist nach der Vergangenheit, die er idealisiert; in der Regel aber lebt er vom Vorgeschmack einer schöneren Zukunft: ein nüchtern-kritisches Verhalten zu den Tatsachen bleibt ihm versagt, weil er diese Tatsachen stets im Lichte seines Vorurteils sieht, und sie in die Lebensprinzipien hineinzwängt, an die er glaubt, entgegen allen Tatsachen. Er ist es nicht gewöhnt, sein Streben mit seinem Kräftevorrat in Einklang zu bringen, und er vermag es nicht, ängstlich und peinlich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeit an seinem Lebenswerke tätig zu sein; die schwierigsten Fragen erscheinen ihm leicht lösbar, zugleich aber kann ihm schon der kleinste Mißerfolg, wie er keinem erspart bleibt, das Gleichgewicht rauben und mißmutig machen. Er ist verliebt in jenen idealen Begriff vom Leben, den er sich selbst zurechtgelegt hat, und darum wird es ihm so schwer, sich in die irdische Prosa hineinzufinden, die nun einmal ein unvermeidliches und notwendiges Erbteil unseres Lebens bildet.

Solche Menschen pflegen wir mit dem Namen „Romantiker“ zu bezeichnen, indem wir uns eines alten und dunkelen Wortes bedienen, welches das Übergewicht des Gefühls über den Verstand, und der Schwärmerei über das Interesse des Augenblicks in der menschlichen Seele kennzeichnen soll.

Die ganze Tragödie des Menschen und des Schriftstellers Gogol besteht eben darin, daß der romantische Zug seines Geistes in einen Widerspruch mit seinem eigenen Schaffen geraten mußte. Er war ein Romantiker mit allen charakteristischen Merkzeichen dieses Typus. Er liebte es, sich in einer phantastischen Welt, in einer Welt der Sehnsucht und Erwartung zu bewegen, d. h. entweder beschönigte und schmückte er das Leben aus, indem er es in ein Märchen verwandelte, oder er stellte es sich vor, wie es gemäß seinen religiösen und sittlichen Begriffen sein sollte. Er litt furchtbar unter dem Zwiespalt, der ständig zwischen seinem Traume und dem klaffte, was er um sich her erblickte, und es gelang ihm nie, das Gefühl der Qual und des Sehnens durch eine gesunde Kritik am Bestehenden und Unabwendlichen zu mildern. Wie alle Romantiker war er verliebt in jenes Lebensideal, das er sich selbst geschaffen hatte, und — was die Hauptsache ist — er hielt sich für berufen, das Herannahen dieses Ideals zu beschleunigen und seinen endgültigen Triumph auf Erden vorzubereiten. Er war nicht nur ein träumender, sondern auch ein kämpfender Romantiker.

Doch bei all seiner romantischen Veranlagung besaß Gogol eine wundersame Gabe, die das ganze Glück und die Schönheit, und zugleich das ganze Unglück seines Lebens ausmachte: er besaß die seltene Fähigkeit, die ganze Erbärmlichkeit, Kleinheit und Prosa, die Gemeinheit und den Schmutz des wirklichen Lebens zu entdecken und überall zu erkennen. All jene prosaischen Seiten des Lebens, die der Romantiker gewöhnlich absichtlich nicht beachtet, die er übersieht oder übersehen will, sie alle drängten sich auf Gogols Palette und verlangten gebieterisch nach einer künstlerischen Verkörperung. Nur selten hat die Natur einen Menschen hervorgebracht, der von Natur ein solcher Romantiker und zugleich ein solcher Künstler in der Darstellung alles Un- und Widerromantischen war, wie Gogol. Es ist daher ganz natürlich, daß der Künstler bei einer solchen Spaltung und Zerklüftung seines Gemüts und einer schöpferischen Begabung zu schwerem Leiden verurteilt war, und sich nie von dem harten Zwiespalt zu befreien vermochte, der nur mit dem Siege einer dieser beiden Seelenkräfte endigen konnte: entweder mußte das Talent, das Leben in seiner nackten Prosa darzustellen, im Künstler das romantische Drängen seiner Seelen ertöten, oder die romantische Stimmung mußte umgekehrt in ihm die Kraft wahrheitsgetreuer Widerspiegelung des Lebens durch die Kunst ersticken und zerstören.

Tatsächlich fand schließlich das Letztere statt: Gogols großes Talent zur realistischen Lebensschilderung erlosch, und er verwandelte sich immer mehr in den reinsten und aufrichtigsten Verkündiger religiöser und sittlicher Gedanken. Doch vor dem endgültigen Erlöschen leuchtete dieses realistische Talent noch einmal hell auf, um sich in den „Toten Seelen“ zum letzten Male in seinem ganzen Glanze zu entfalten.

III.

Dieser Roman ist eine späte Frucht des Gogolschen Genies. Ein Werk, das erst nach einem langen Kampfe zwischen den romantischen Neigungen seiner Phantasie und seiner starken Begabung für die scharfe und treue Lebensbeobachtung vollendet werden konnte.

Schon in seinen ersten Novellen, den „Abenden am Weiler bei Dikanka“ (1831-32), machten sich die ersten Spuren dieses Zwiespalts bemerkbar. In diesen Novellen trat Gogol als Schilderer kleinrussischen Lebens und der niederen Volksklasse hervor, zugleich aber als phantasievoller Poet, der die alten Sagen und Legenden schöpferisch neugestaltete und belebte. Dieses früheste Werk läßt ganz deutlich eine Mischung beider Stile erkennen, wobei freilich der träumerisch-phantastische noch die Oberhand behält. Selbst die Naturbeschreibungen und die Charakteristik vieler von den handelnden Personen ist in diesem Stile gehalten — was Gogol freilich nicht hinderte, andere Personen und Situationen mit unverfälschter Schlichtheit und im Geiste einer wahren und echten Realistik darzustellen. In dieser Vermischung zweier Stile, wie in dem alternierenden Wechsel von Frohsinn und Wehmut, Weinen und Lachen, zeigte es sich deutlich, daß das Schaffen des Dichters noch keine feste Richtung angenommen hatte, daneben aber kam darin der innere Kampf zum Ausdruck, der sich schon damals in des Künstlers Seele abspielte: der Idealismus des Phantasten vermochte sich nicht zu vertragen mit der starken Begabung des Realisten, der mit seinem Blicke die ganze Häßlichkeit und Gemeinheit des Wirklichen durchdrang, welches er doch selbst in einem andern, höheren und idealeren Sinne zu erfassen und zu deuten strebte.

Über diese hohe und ideale Bedeutung des künstlerischen Schaffens hat Gogol in den ersten Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit sehr viel nachgedacht. Ihn beschäftigte damals ganz besonders das bei den Romantikern so beliebte Thema von den Leiden, die der Träumer, der Idealist und der Künstler ganz notwendig auf sich nehmen muß, wenn ihn das Schicksal schonungslos zusammenstoßen läßt mit der häßlichen, unbarmherzigen Wirklichkeit. Am tiefsten hat Gogol dies Problem von Zwiespalt zwischen Traum und Leben durchgeführt in seiner Novelle „Das Porträt“ (1834).

Diese Novelle erinnert inhaltlich ganz an eine Erzählung von E. Th. A. Hoffmann. Sie behandelt das Seelendrama eines jungen Künstlers, der Verrat übt an der echten, reinen und hohen Kunst, sich aus Habgier in den Dienst der Mode stellt, und zuletzt im Wahnsinn stirbt, als er erkennt, daß er sein Talent zugrunde gerichtet hat. Der böse Genius dieses unglücklichen Künstlers ist ein phantastisches Porträt des Antichristen, das mit einer so realistischen oder vielmehr naturalistischen Kunst dargestellt ist, daß ein Teil der Seele des Antichristen in dieses Bildnis übergegangen ist.

Die Kunst soll dem Ideale dienen und nicht der Reproduktion des Wirklichen in seiner ganzen Nacktheit und Häßlichkeit — dies ist der Grundgedanke dieser Erzählung — deren Moral ebenso durch den tragischen Tod des Künstlers, der sich der Jagd nach dem Golde und der Mode ergab, wie aus dem verderblichen Einfluß des Porträts, zu uns spricht: dieses Porträts, das das Produkt einer hyperrealistischen Kunst war.

Wie die deutschen Romantiker, so war auch Gogol von einem hohen, beinahe religiösen Glauben an die Kunst ergriffen. Aber seine Kunstanschauung vermochte doch nicht jenen Widerspruch vor ihm zu verhüllen, der immerdar zwischen der Welt des Traumes und unserm Leben besteht. Er sah den Abgrund, der zwischen diesen beiden Welten klafft, beständig vor Augen, und dieser Anblick hatte für ihn etwas Furchtbares und Schreckenerregendes. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu vergessen: sie liegt in der Erschütterung und in dem Verlust des seelischen und geistigen Gleichgewichts. Dies ist das Thema der beiden Erzählungen „Der Newski-Prospekt“ und „Aus dem Tagebuch eines Wahnsinnigen“.

Aber ganz allmählich vollzieht sich im Schaffen Gogols eine entscheidende Wendung. Er gibt seinem Talente nach, er unterwirft sich ihm, und geht zur Darstellung der Realität, der Wirklichkeit über; er beschönigt sie nicht und idealisiert nicht mehr; er spiegelt sie ab, wie sie ist, in erster Linie nach ihrer negativen Seite, die ihm von jeher so stark in die Augen stach. Und nun stößt er mit dieser gemeinen trivialen und schmutzigen Wirklichkeit auf dem Felde der Kunst zusammen, und da erhebt sich vor ihm die ernste Frage, auf die er schon im „Porträt“ hingewiesen hat: dient die Kunst auch dann noch ihrer hohen Mission, wenn sie den Schmutz und das Laster zur Darstellung bringt, und zwar so natürlich und lebendig zur Darstellung bringt, daß es fast den Anschein hat, als bleibe ein Stück von diesem Schmutz und diesem Laster auf dem Kunstwerk selber haften?

Und doch konnte Gogol seinem Talent auf die Dauer nicht Widerstand bieten. So kam es, daß er seine Kunst immer mehr dem Leben annäherte. Diese Annäherung macht sich besonders stark fühlbar in der Novellensammlung, die im Jahre 1834 gleichzeitig mit seinen romantischen Erzählungen erschien, und die den Namen „Mirgorod“ trägt.

Eine dieser Novellen die „Gutsbesitzer aus der guten alten Zeit“ ist ein schlichtes Idyll, die Geschichte zweier zur Neige gehender Menschenleben: ein psychologisches Essay, von einer Tiefe und Poesie, wie sie von keiner romantischen Idylle erreicht wird. Die sentimentalen und romantischen Schriftsteller liebten solche dankbare Sujets, wie die Erzählung von zwei liebenden Herzen, die sich inmitten des Friedens der Natur und fern von allen Lockungen der Kultur zusammenfinden. Die „Gutsbesitzer aus der guten alten Zeit“ sind ein glücklicher Versuch, die romantischen Elemente in diesem Stoff durch reale und kulturelle zu ersetzen. An die Stelle der einsamen und wüsten Gegenden tritt hier ein kleinrussisches Dorf — an die Stelle der blasierten und enttäuschten Helden und der schwermütigen oder leidenschaftlichen Heldinnen — ein altes Ehepaar; aber trotz dieser Schlichtheit und Durchsichtigkeit ist diese Novelle überall von einer tiefen Wahrheit und Poesie durchdrungen. Sie stellt in dem Schaffen Gogols einen der entscheidenden Siege des Realismus’ über die Romantik dar.

Ein ganz anderer poetischer Horizont tut sich vor uns in der historischen Erzählung „Taras Bulba“ auf. Auch hier bemerkt man eine deutliche Wendung von dem früheren idealisierenden Stil zum Realismus, natürlich in dem Maße, als dies in einem historischen Romane möglich ist. Es gibt eine Ansicht, nach der „Taras Bulba“ Gogols größtes Werk darstellt, und dieser Wertung fehlt es nicht an einer gewissen Berechtigung. Der Inhalt dieser Erzählung ist vielleicht nicht weniger umfassend und vielgestaltig wie der der „Toten Seelen“; auch hier findet man denselben Reichtum an den mannigfaltigsten Typen und Episoden, die gleiche Kraft und das gleiche schnelle Tempo der Handlung. Die psychischen Regungen und Bewegungen sind im „Taras Bulba“ vielleicht sogar noch tiefer als in irgend einem andern Gogolschen Werke, schon aus dem Grunde, weil die Gefühle und Empfindungen der Helden hier ernster und komplizierter sind, als die der handelnden Personen in den „Toten Seelen“. „Taras Bulba“ — das ist ein heroisches Epos, das einer gewissen Idealität nicht entbehrt. Es lebt etwas darin vom Geist der alten Sage, trotzdem aber bleiben die Seelenregungen der handelnden Menschen stets wahr und frei von jeder romantischen Überspannung. Die alte Zeit des Saporoger Kosakentums mit ihrem Kostüm, ihrem häuslichen Leben, ihren Kriegen und Schlachten, die Beziehungen zwischen Juden und Polen — das alles ist im „Taras Bulba“ mit einer wunderbaren Echtheit und Wahrheit geschildert; dazu kommen die beschreibenden und schildernden Elemente, die mit großer Geschicklichkeit in die Handlung eingeflochten sind; sie beschweren sie nicht, sondern verleihen ihr bloß noch mehr Lebhaftigkeit und Kolorit. „Taras Bulba“ ist in seiner Art eine kleinrussische Ilias, sowohl was das epische Gleichmaß der Darstellung und den kriegerischen Geist des Werkes, als vor allem die strenge Durchführung der Charaktere und die Plastizität der Episoden anbetrifft. — Soweit also der Realismus in einer historischen Erzählung als künstlerisches Element neben dem legendären und der Archeologie möglich und zulässig ist, ist er in dieser Epopöe zum Durchbruch gekommen.

Aber so recht heimisch in der realistischen Darstellungskunst wurde Gogol erst mit der Vollendung seiner berühmten Komödie: „Der Revisor“ (1836).

Gogol gehört zu jener wenig zahlreichen Dichtergruppe, die das „russische“ Theater schuf und die russische Lebenswirklichkeit ungeschminkt und ohne Beschönigung auf die Bühne brachte. Die Geschichte des russischen nationalen Theaters hat man von den Komödien „Von Wisins“ zu datieren. In diesen Stücken ist das Leben der adligen Gutsbesitzer, der Epoche Katharinas I., mit genügender Treue geschildert, doch macht sich hier noch ein Element unliebsam bemerkbar: das sentimentale Räsonnement. Gleichfalls der Adel, diesmal aber der städtische Beamtenadel, ist das Milieu, in dem Gribojedows „Verstand schafft Leiden“ spielt, diese geniale Satire, aber keineswegs auch geniale Komödie. Auch hier erscheint die Wahrheit in einer gewissen Verzerrung: ein Zugeständnis an die literarischen Traditionen der französischen Vorbilder.

Im „Revisor“ endlich betritt die russische Beamtenwelt die Bühne. Auf den Gegenstand dieser Komödie waren die Zuschauer schon in gewissem Sinne vorbereitet durch eine Reihe von freilich recht farblosen Stücken, in denen die Schriftsteller des XVIII. und der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts die Korruption gegeißelt und moralische Tiraden gegen die Bestechlichkeit zum besten gegeben hatten. Der „Revisor“ überragt alle diese Stücke um Haupteslänge, schon deshalb, weil die in ihm gezeichneten Typen wirkliche lebendige Menschen waren, denen der Zuschauer jederzeit — wenn auch nicht allen zugleich, so doch in einzelnen Repräsentanten — in seiner nächsten Nachbarschaft begegnen konnte. Nach Gogol war es Ostrowski, der in seinen Dramen den Kaufmannsstand auf die Bühne brachte und so das Gemälde des russischen Lebens um einige bedeutsame Typen bereicherte. Das waren die drei „finsteren Reiche“ — die Welt des Adels, des Beamtentums und des Kaufmannsstandes, die von nun ab den Russen von der Bühne herab an jene dunklen Seiten der Wirklichkeit mahnten, die er stets zu idealisieren geneigt war. In letzter Zeit ist diese Reihe noch um ein neues Gemälde vermehrt und vervollständigt worden — um das Bild der dunkelen Welt des niederen Volkes: in dem Drama „Die Macht der Finsternis“ von Tolstoi.

In seiner Komödie schwang Gogol die Geißel des Spottes über eine ganze Kategorie gesellschaftlicher Mißstände und Laster, die mächtig in das soziale Leben eingriffen: er brachte die Dummheit, die Gemeinheit und Hohlheit der Administration auf die Bühne und strafte die offizielle Welt, indem er sie dem Spott und Hohn eines Windbeutels, des hohlsten aller Schwätzer preisgab, und sie durch ihn brandschatzen ließ. Zu guter Letzt aber stellte er sie vor ihren gesetzlichen Richter und sandte ihnen einen Gendarmen, der sie zur Vernunft bringen sollte. Die Komödie bleibt in ihrem ersten Akt streng objektiv und sachlich, im letzten freilich drängt sich die Moral recht deutlich vor. Der Polizeimeister erscheint in seiner ganzen Dummheit, gibt sich selbst dem Gelächter und der Verachtung preis und geizt nicht mit starken Worten zu seiner eigenen Charakteristik. Der Gendarm erscheint, wie im letzten Akt des Tartüffe, als der Vertreter des Gesetzes zur Beschwichtigung und Beruhigung der Zuschauer; er erinnert sie daran, daß das Auge der Regierung beständig wacht, auch dann noch, wenn man glaubt, daß es schlafe. Aber der außerordentliche künstlerische Takt des Dichters hat es so einzurichten verstanden, daß die Moral die Wahrheit der Situationen und die Lebendigkeit der Typen nicht beeinträchtigte. Bis dahin waren es die Zuschauer gewöhnt, mitten in der Handlung allerhand erhebende und erbauliche Reden von der Bühne zu vernehmen, im „Revisor“ aber fehlten diese Reden vollständig. Diese Komödie war eine völlig neue, originale Tat; sie paßte in keine der bekannten Formen der dramatischen Kunst hinein, denn sie war weder eine sentimentale Komödie, noch eine Posse, noch ein moralisches Schauspiel.

Dieses Werk trug seinem Schöpfer einen großen Schmerz und viele Enttäuschungen ein, denn es regte die heftigsten und leidenschaftlichsten Anklagen gegen ihn auf. Er suchte Rettung und Heilung von seiner geistigen Schwermut und der Gereiztheit gegen seine Mitbürger in einer Reise. Dies war das ständige Mittel Gogols, das er gegen seine Melancholie und gegen seine geistige Müdigkeit anwandte, und es wirkte in der Tat weit sicherer und unfehlbarer als alle Medikamente. Diese Neigung zum Wandern, zum Wechsel des Aufenthaltes war in seiner romantischen Veranlagung begründet. In dieser Beziehung hatte er viel Ähnlichkeit mit einem jener Schwärmer, die von Sehnsucht, Melancholie oder Grimm getrieben, ihre Heimat verließen, um den Ufern eines neuen fernen Vaterlandes zuzustreben. Auch Gogol besaß solch ein fernes Vaterland, obwohl er Rußland mit einer geradezu abgöttischen Liebe liebte, und sich unter fremden Menschen nie wohl fühlte. Er hatte noch eine andere große Liebe: Italien.

Gogol hat oft über seine Leidenschaft für das Wandern und Reisen gegrübelt, und nach Gründen gesucht, um sein Nomadenleben zu rechtfertigen; er begründete sie mit seiner Krankheit, die ihm einen häufigen Wechsel des Klimas zur Notwendigkeit machte, und mit dem rein geistigen Bedürfnis des Künstlers, der eine Distanz zwischen sich, den Menschen und dem Leben suchte, wenn er sie in seinen Werken zur Darstellung bringen wollte. Zuweilen freilich, wenn er in längeren Abständen wieder nach Rußland zurückkehrte, fühlte er etwas wie Gewissensbisse und ein mächtiges Anschwellen der Liebe zu seiner Heimat; aber diese Gefühle blieben ohnmächtig gegenüber dem unklaren Drange, der ihn in die Ferne zog. Seine Seele trug die Spuren jener Krankheit an sich, die einst zu Beginn des Jahrhunderts im Westen herrschte, die Menschen von der Heimat losriß und sie zu fernen Gestaden hintrieb — jene Krankheit an der ein Byron und ein Chateaubriand litten, und für die Schubert in seinem Liede „Der Wanderer“, dem Lieblingslied aller russischen Jünglinge und Jungfrauen der dreißiger Jahre einen so wundervollen musikalischen Ausdruck fand.

Allein was Gogol von seiner fünfjährigen Reise im Auslande (von 1836-1841) mitbrachte, war weder ein pessimistisches Tagebuch, noch ein sentimentales Epos. Er brachte den ersten Teil der „Toten Seelen“ mit: einen Roman oder eine Dichtung, in der der junge russische Realismus seinen höchsten Triumph feierte. Es war der letzte Sieg, den Gogol im Felde der Dichtung erringen sollte.

IV.

Während seines Aufenthaltes im Auslande und besonders in Italien war Gogol sehr fleißig und die Arbeit ging glatt vonstatten. Es war die Zeit, wo seine Schöpferkraft in voller Blüte stand. Die romantischen Neigungen, die noch zum letztenmal in der schönen Novelle „Rom“ zum Ausbruch gekommen waren, traten allmählich zurück und machten einer nüchternen, ruhigen und humorvollen Lebensanschauung Platz. Das sich immer stärker entfaltende Talent des Schilderers, das zu einer innigen Verschmelzung der künstlerischen Wahrheit mit der Lebenswahrheit hinstrebte — gewann immer mehr die Oberhand, was nicht nur in der Zurückstellung und Aufgabe aller früheren Pläne, die noch im Geiste des alten romantischen Stils konzipiert waren, zum Ausdruck kam, sondern auch in der Art wie Gogol seine älteren Werke umschuf und neu bearbeitete.

In solch einem realistischen Geiste gestaltete Gogol zu dieser Zeit seine Erzählungen „Das Porträt“ und „Taras Bulba“ um. Am stärksten und freiesten aber entfaltete sich diese Kraft des Humoristen und Lebensschilderers, die in dieser Epoche ihre höchsten Siege über die sentimentalisch-romantischen Neigungen und Stimmungen des Dichters feierte, in der Novelle: „Der Mantel“. Dieses Werk nimmt eine ganz besondere Stellung in der Geschichte der russischen Literatur ein. Es ist das zeitlich erste und vielleicht vollkommenste Beispiel dieser Gattung, die später eine große Verbreitung fand und eine große soziale Bedeutung gewann. Es ist eine Seite aus der Geschichte der „Erniedrigten und Beleidigten“, die unmittelbar nach Gogol Dostojewski unter seinen besonderen Schutz nahm. Im Westen setzte dieses Eintreten für die Schwachen und Benachteiligten durch die Literatur und durch die Tat etwa um dieselbe Zeit mit dem Wachstum und der raschen Verbreitung der sozialistischen Ideen ein. In Rußland aber rührte der erste Versuch, die Gesellschaft für jene große Masse derer zu interessieren, an denen sie achtlos vorübergeht, von Gogol her, der ganz unbeeinflußt von den westeuropäischen Tendenzen in seinem „Mantel“ ein Werk schuf, das man mit Recht als den Ausgangspunkt und Ursprung der sogenannten „Anklageliteratur“ in Rußland erklärt hat. Man muß dabei nur im Auge behalten, daß in Gogols Erzählung der Protest und die Anklage sehr abgedämpft erscheinen und mehr durch ein weiches Gefühl der Teilnahme und des Mitleids ersetzt sind. Der Dichter läßt uns mit seinem unscheinbaren Helden alle wichtigsten Etappen seines Lebens durchleben; wir besuchen ihn in seiner Dachkammer, wo er langsam von jedem Rubel Groschen auf Groschen in sein kleines Büchschen zurücklegt, alljährlich das kleine Häuflein Kupfergeld nachzählt, um es durch Silbermünzen zu ersetzen, wo er hungert und friert, die Kerze spart, seine Kleider auszieht, damit sie nicht zu schnell fadenscheinig werden, und wo er einsam in seinem Schlafrock dasitzt, die ewige Idee des Mantels in seinem Geiste tragend; wir folgen ihm ins Departement, wo man ihn ebensowenig beachtet, wie eine vorüber schwirrende Fliege, wo man ihn verspottet, ihm Papierschnitzel auf seinen Kopf schüttet, wo er jahraus, jahrein hinter seinem Pulte hockt und die Buchstaben sorgfältig aufs Papier malt, oder die Akten beiseite legt, die er zu seinem eigenen Vergnügen kopieren will. Der phantastische Schluß, den Gogol dieser Erzählung gegeben hat, ist zwar etwas willkürlich, aber überaus glücklich erfunden und trägt einen ganz anderen Charakter als seine früheren phantastischen Erzählungen. Das Phantastische enthält eine solche starke Beimischung von Spott, Humor und Fröhlichkeit, daß es fast völlig gegen das letztere Element zurücktritt und seinen romantischen Charakter gänzlich einbüßt. Der Autor braucht das Wunderbare nur um der paar kleinen Genrebilder willen, mit denen er seine Novelle beschließt.

So stark war Gogols Kunst, wenn er sich von seiner alten Manier abwandte und seinem scharfen Beobachtungstalent und seinem Humor freien Lauf ließ.

Wer jedoch die Kraft und Macht dieser Gabe kennen lernen will, der muß zu der tragikomischen Dichtung „Die toten Seelen“ greifen. Hier legt jede Seite ein beredtes Zeugnis dafür ab.

V.

Die Arbeit an den Toten Seelen war für den Verfasser eine hohe Freude und ein großer Schmerz. Noch nie hatte er einen so erhabenen Genuß und eine solche innere Befriedigung empfunden, als in jenen Stunden, wenn ganze Seiten seiner Dichtung wie von selbst aus der Feder flossen, und nie hat er so gelitten, als in jenen langen Jahren, wo er monatelang auf die ersehnte Inspiration warten mußte. Diese Arbeit hat Gogol 16 Jahre lang beschäftigt: von 1835, als er die ersten Seiten des Werkes niederschrieb, bis zum Beginn des Jahres 1852, als ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm. Von diesen 16 Jahren brauchte er 6: von 1835-1841 — während der er natürlich noch an andern Dichtungen arbeitete — um den ersten Teil zu vollenden. Die ihm noch übrig bleibenden 10 Jahre waren ganz mit Versuchen ausgefüllt, eine Fortsetzung für sein Werk zu finden.

Nach der Idee des Autors sollten die „Toten Seelen“ eine „Dichtung“ werden, in welcher Rußland in der ganzen Mannigfaltigkeit seines staatlichen und sozialen Lebens, mit all seinen lichten und dunkelen Seiten erscheinen sollte. Gogol wollte hier in neuer Form das alte Epos wieder aufleben lassen; daher nannte er wohl mit bewußter Anspielung auf die Homerischen Gesänge seinen Roman — ein Poem d. h. eine Dichtung. Der Gesamtplan des Werkes stand natürlich im Geiste des Verfassers nicht gleich völlig fertig da, und nahm mit den Jahren eine recht seltsame Richtung an. Die ruhige, uninteressierte epische Erzählung verwandelte sich immer mehr in eine Predigt sittlicher Wahrheiten, und der Wunsch, Rußland möglichst vollständig nach all seinen Seiten darzustellen, trat immer mehr hinter dem Ideal zurück, der ganzen Menschheit eine neue Lehre zu künden, die die Seele erheben und ihr Leben erhöhen sollte.

Gogol behielt den Entwurf zu seiner Dichtung für sich und sprach nur selten und ganz im Allgemeinen zu seinen nächsten Freunden davon, wie groß und tief sein Plan war. Die übertrieben stolzen Reden Gogols über sein Werk erregten die heftigste Opposition unter seinen Freunden und Bekannten, sie ärgerten und verstimmten sie. Hätten sie gewußt, wie großartig dieser Plan des Künstlers tatsächlich war, sie hätten ihm vielleicht seine Überhebung verziehen, die um so verzeihlicher war, als Gogol nicht so sehr auf sein Künstlertum stolz war, als vielmehr darauf, daß er im Besitze der sittlichen Wahrheit zu sein glaubte, und er fühlte sich verpflichtet, seinen Nächsten diese Wahrheit zu verkünden, sobald er dieser hohen Aufgabe würdig geworden war.

Aber obgleich Gogol den Plan zu seinem Werk geheim hielt, ist es dennoch möglich, nach gelegentlichen Äußerungen und Anspielungen, nach seinen Unterhaltungen mit nahestehenden Personen, sowie nach seinen Briefen und den Fragmenten des zweiten Teiles, das Geheimnis des Schriftstellers mit genügender Genauigkeit zu enthüllen; es ist zugleich das Geheimnis des Künstlers und Moralisten.

„Gott hat mich erschaffen,“ sagt Gogol einmal, „und er hat mir nichts von meiner Mission verheimlicht. Ich bin gar nicht dazu geboren, um eine Epoche in der Literaturgeschichte zu begründen. Mein Beruf ist weit einfacher und naheliegender: er besteht darin, woran überhaupt jeder Mensch und nicht ich allein vor allem denken sollte. Mein Gebiet ist die Seele, die starke, solide Sache des Lebens. Und daher muß auch mein Handeln und mein Schaffen stark und solide sein.“ „Die toten Seelen“ sollten in ihrem Gesamtaufbau ein solch „solides, starkes“ Werk werden, auf das der Mensch sich zu stützen vermochte, wenn Gewitterstürme über seine Seele dahinbrausten, sie sollten der Katechismus seiner Rettung sein. Diese Dichtung sollte dem Menschen ein Führer zu seiner sittlichen Wiedergeburt werden, wie es für den Verfasser ein reinigendes Gebet war, nach seiner geistigen und seelischen Erleuchtung, und nachdem er Buße getan hatte für seine eigenen Sünden.

Wie aber hatte dem Dichter eine solche Idee kommen können?

Gogol war von Natur sentimental veranlagt, er liebte es, zu belehren und zu predigen. Dieser moralisierende Ton findet sich schon in seinen frühesten Briefen und zeugt nicht nur von den Zweifeln, die den Knaben bewegten, sondern auch von dem lyrischen Schwung seiner Seele. Diese Lyrik in seinem Fühlen und Denken suchte auch einen Ausdruck in seinen Novellen, und so finden wir in diesen ersten Erzählungen neben einem unschuldigen Frohsinn und Humor eine starke melancholische Note; den Schmerz über die vielen traurigen Seiten des Lebens. Aber in demselben Maße, als Gogols Humor ernster wurde, wurde auch der Dichter immer stärker von dem Gedanken ergriffen, er sei berufen, etwas ganz Großes zu erschaffen, und so kam es, daß ihn die sittlichen Tendenzen immer mächtiger erfüllten und mit sich fortrissen. Nach der ersten Aufführung des „Revisor“ überzeugte er sich, daß er wirklich die Kraft zu einer sittlichen Einwirkung auf die Masse besaß, und von da ab war er entschlossen, diese Kraft in den Dienst einer großen Sache zu stellen und die Macht, die ihm verliehen war, nicht in kleinen Taten zu verzetteln. Schon in seiner Jugend, als er sich dieser Macht noch nicht bewußt war, träumte er davon, etwas Großes zu leisten, der Wohltäter und Lehrer seiner Nächsten und ein Held und Kämpfer für das Vaterland zu werden. Um diese hohe Mission durchzuführen, setzte er seine ganze Hoffnung auf sein Talent und begann nach einer seiner würdigen Aufgabe d. h. nach einem großen und bedeutenden Stoff zu suchen, der seinem Glauben an sich selbst Recht gab, und dessen Gestaltung zu einer wirklichen Wohltat für die Nächsten werden sollte.

So konnte die Anekdote von dem Kauf der „toten Seelen“ schnell ihren komischen Charakter verlieren und sich in einen Gegenstand verwandeln, für den der Dichter nicht gleich eine feste Begrenzung und einen passenden Rahmen fand. Auf dieses Sujet konzentrierte Gogol von nun ab die ganze Kraft seines Lyrismus, in ihm wollte er der Macht seiner eigenen sittlichen Überzeugungen Ausdruck verleihen; er begann diesen Stoff ständig zu erweitern und zu vertiefen, um ihn bis zu der Höhe jenes „großen Gegenstandes“ emporzuheben, nach dessen Gestaltung er sich sagen konnte: das hohe und teure Werk, von dem er seit seiner frühesten Jugend träumte, sei vollendet. Es ist begreiflich, daß eine solche Umformung einer schlichten Anekdote zu einer grandiosen Idee nur langsam und allmählich vor sich gehen konnte, und daß der Autor selbst bei Beginn seiner Arbeit nicht zu sagen vermochte, welche Gestalt sie bei ihrer Vollendung annehmen werde.

Neben dieser ethischen Tendenz gewann auch die patriotische Absicht des Dichters einen mächtigen Einfluß auf die Dichtung. Gogols Patriotismus hatte mit den Jahren bedeutend zugenommen, und als der Dichter an die Ausführung seines Planes ging, hatte sich seine Liebe zum Vaterland bereits zu einer stark konservativen Weltanschauung mit einer ausgesprochenen religiösen Färbung zusammengeschlossen. Und dieser Patriotismus wie das Streben, seinen Mitmenschen den Weg zur Wahrheit zu weisen, blieb nicht in seiner Entwickelung stecken, sondern erstarkte noch mehr in dem Maße, als der Dichter an der ständigen Erweiterung und Vertiefung seines Werkes tätig war. Gogol mußte in seinem Roman über Rußland sprechen, und er hat seinem Vaterlande, besonders im ersten Teil, manch bitteres Wort gesagt. Als er noch nicht an eine Fortsetzung seiner Dichtung dachte, ließ er uns seine Heimat nur von „einer Seite“ sehen, und noch dazu von ihrer allerunansehnlichsten. Der Held des Romans und alle Personen, mit denen er zusammentraf, waren Menschen von einer geradezu erbärmlichen Hohlheit. Sie so zu lassen — das bedeutete grausam und herzlos gegen das eigene Vaterland verfahren, das hieß über seine guten Seiten, hieß über alle Russen schweigen, die einen Anspruch auf unsere Liebe und Achtung hatten. Gogols immer wachsende Liebe zum Vaterlande verpflichtete ihn, seinen Mitbürgern in seiner Dichtung auch ein Wort der Ermutigung, der Teilnahme und der Liebe zu sagen. Je mehr sich der Rahmen der Erzählung erweiterte, um so drängender empfand er diese Verpflichtung. Und Gogol schritt vom Humor und von der Satire zur Verherrlichung Rußlands und zur Bewunderung der russischen Tugenden fort. Er wollte ihnen einen gebührenden Platz in seiner Dichtung einräumen und spielte schon im ersten Teil des Romans darauf an. Er wußte, daß der Leser ein Recht hatte, auch eine Darstellung der besten Seiten des russischen Lebens von ihm zu fordern; indem er diesem Wunsche entgegenkam und seinem eigenen patriotischen Gefühl Folge leistete, fing er an, nach neuen positiven Typen für sein Werk zu suchen und seine Seele wieder bis zur schwungvollen Begeisterung seiner früheren Werke emporzustimmen.

Dies ist der Anteil der patriotischen Idee am Gesamtplan der Dichtung. Einen kaum geringeren, wenn nicht noch stärkeren Einfluß auf des Dichters Schaffen gewann die religiöse Stimmung, die Gogol mit jedem Jahre immer machtvoller in ihren Bann schlug. Im Auslande entstand ihm die Überzeugung von der besonderen Mission, die er zu erfüllen habe. Ihn beseelte ein starker Glaube an Gott und Gottes besondere Anteilnahme an ihm und seiner Arbeit. Sein literarisches Schaffen steigerte sich in seinen Augen bis zu einer Art Gottesdienst, und so ist es nur natürlich, daß er sein Leben wie eine ernste und schwere Pflicht zu betrachten begann, eine Pflicht, für die sich der Mensch lange kräftigen und stählen muß, wenn er die große Aufgabe erfüllen will, die Gott in seine Hände gelegt hat. Gogol begann sich auf seine schriftstellerische Aufgabe durch Fasten und Gebet vorzubereiten; er „arbeitete ständig an sich selbst“, schonungslos suchte er alles in sich auszurotten, was er für unheilig und sündhaft hielt, und er richtete all seine Gedanken auf seine sittliche Wiedergeburt; nur mit reinem Herzen und einem verklärten Gemüt glaubte er seine hohe Sendung erfüllen zu können, und diese Stimmung fand natürlich auch ihren Ausdruck in seiner Dichtung. Diese sollte zu einer sittlichen Predigt werden, die sich an die Mitbürger und Mitbrüder wendete, und zu einem Akt der Reinigung von den eigenen Sünden.

So verschmolz für Gogol die schriftstellerische Aufgabe mit der eigensten Sache seines Herzens. Seine Dichtung wurde für ihn zu einem reinigenden Opfer. Die Sünden, von denen er in ihr sprach, forderten Sühne und Ahndung — die Sünden seiner Helden, wie seine eigenen. Sein Werk verwandelte sich in die Geschichte der Verklärung und Erleuchtung einer sündhaften und irrenden Seele, es nahm eine tiefe mystische Bedeutung an — einen ähnlichen Sinn wie das große Epos Dantes, das Gogol stets mit ehrfürchtiger Bewunderung las.

Gogol wollte selbst ein zweiter Dante werden, der aus der Finsternis zum Licht, aus der Hölle zum Himmel emporsteigt, der Gedanke, seine Helden mit sich emporzuziehen, sie durch Reue und Buße aus sündigen zu, wenngleich nicht heiligen, so doch edlen und sittlichen Menschen zu machen, ergriff und erschütterte die Seele des Dichters aufs tiefste. Dieser Gedanke sollte im zweiten und dritten Teile der Dichtung zur Ausführung kommen, aber Gogol kam nie über das Nachdenken und Entwerfen hinaus, und überantwortete schließlich das, was er davon niedergeschrieben hatte, den Flammen. So ist denn alles, was uns in vollendeter und dichterisch abgerundeter Form erhalten blieb, nur der erste Teil der Dichtung: die Geschichte vom Sündenfall des Russen, die Erzählung von seinen Lastern, seiner Hohlheit, seiner Nichtigkeit und Gemeinheit.

VI.

Wenn wir jene Stellen in den „Toten Seelen“, wo der Verfasser auf den geheimnisvollen Sinn seiner Dichtung und auf die folgenden Teile hindeutet, d. h. alle lyrischen Exkurse ausnehmen, in denen der Dichter selbst das Wort ergreift, dann bildet dieser Roman gewissermaßen die direkte, wenngleich viel reichere und vielseitigere Fortsetzung des „Revisors“. Beide Werke stellen ein ungeschminktes, in seiner Wahrheit erschütterndes Bild russischen Lebens dar. Die handelnden Personen im „Revisor“ waren Beamte, zu denen sich in den „Toten Seelen“ noch Gutsbesitzer und Leibeigene gesellen. Aber das Gemälde erscheint hier unendlich erweitert und vertieft. Die psychischen Regungen und Bewegungen der Helden des „Revisors“ waren noch wenig differenziert und nicht sehr vielgestaltig — ganz anders verhält es sich in den „Toten Seelen“, wo ein viel reicheres und nuancierteres Leben, voll starker Kontraste pulsiert. Eine ganze Galerie charakteristischer Typen rollt sich vor uns auf, und jede dieser Typen zeigt eine scharfe ausgesprochene Physiognomie, die von der ersten bis zur letzten Seite der Dichtung unbeirrt festgehalten wird. Inmitten dieser Personen, die wie lebendige, blutvolle Menschen vor uns stehen, lebt und bewegt sich der Held: Pawel Iwanowitsch Tschitschikow; ihn verbindet kein engeres Band mit der Gesellschaft, die ihn umgibt, sondern er kommt von außen hereingeschneit wie Chlestakow im „Revisor“. Dieser Held ist vom Autor mit besonderer Liebe und Sorgfalt gezeichnet. Er ist das Zentrum, um das sich alle Personen der Dichtung gruppieren, und unser Führer in diesem Panoptikum von Leibeigenen, Gutsbesitzern und Beamten, von denen jeder einzeln und für sich genommen so unendlich komisch und lächerlich wirkt, und die alle zusammengenommen einen so tieftraurigen Eindruck hervorrufen.

Und doch ist Gogol mit seinen Helden noch sehr gnädig verfahren. Es ist keine Frage, daß Tschitschikow ein Mann von recht zweifelhaften moralischen Qualitäten, einer dunklen Vergangenheit und einer recht unerfreulichen Aktualität ist. Als Mensch und Bürger ist er ein Gauner und Spitzbube im vollen Sinne des Wortes, als Persönlichkeit der typische Repräsentant einer sehr weit verbreiteten Durchschnittsmoral, die in ihrem tiefsten Grunde die Unsittlichkeit selbst ist, die aber selber lebt und leben läßt. Indessen hat sich der Dichter nicht mit dieser kühlen und unbefangenen Charakteristik dieses so liebenswürdigen und höflichen Räubers begnügt; er erzählt uns die ganze Geschichte seiner Jugend, er erklärt uns, wie in Tschitschikow diese räuberischen Instinkte entstehen konnten, und läßt uns darüber nachsinnen, ob die ganze Verantwortung für die Spitzbübereien und Gaunereien seines Helden wirklich auf Tschitschikow allein fällt, oder ob nicht die größere Hälfte seiner Schuld auf das Konto des Milieus, in dem er aufwuchs, abgewälzt werden muß. Ja, Gogol geht zuletzt sogar so weit, daß er dem Leser geradezu die Frage vorlegt: „Ist Tschitschikow denn tatsächlich ein solcher Lump?“ Und er fährt fort: „Warum gleich ein Lump? Warum sollen wir so streng gegen unsere Nächsten sein? — Er ist einfach das, was man einen guten Wirt und ein Erwerbsgenie nennt.“

Der Erwerbstrieb trägt die Schuld an allem: er ist die Ursache, daß Dinge geschehen, die die Welt als nicht ganz sauber bezeichnet. Tschitschikow ist das Opfer seiner Leidenschaft „und es gibt Leidenschaften, deren Wahl nicht in der Macht des Menschen liegt“.

Wenn es aber möglich war, schon für Tschitschikow soviel mildernde Umstände geltend zu machen, so war dies noch leichter bei seinen Freunden und Bekannten, die ja wirklich nicht einmal so schuldig waren. Und in der Tat verfuhr der Dichter gegen sie alle mit großer Milde; vor allem gegen die Adligen, die er mit noch größerer Nachsicht behandelt, als die Beamten. Freilich sind auch sie lauter hohle, armselige, elende Menschen, aber eine besondere Entrüstung und eine allzu große Empörung regen sie nicht in uns auf. Wir lachen wohl über sie, wir bemitleiden sie, aber schließlich würden auch wir mit ihnen leben können, ohne daß uns allzu große Opfer und Kompromisse zugemutet zu werden brauchten. Was ließe sich schließlich gegen den so vertrauensseligen und gutmütigen Manilow einwenden, der stets bei jedem nur die besten Absichten voraussetzt? Ja, selbst ein Sabakewitsch läßt sich fast ertragen: dieser grobe und ungeschlachte Halsabschneider, der uns nur hin und wieder durch seine tierischen Instinkte in Erstaunen setzt, die übrigens für seine Nächsten völlig unschädlich sind. Auch Pljuschkin und Korobotschka verdienen eher unser Mitleid als unsere Verurteilung. Der Autor selbst, der die ganze Kleinheit und Hohlheit ihrer Seelen und die Armseligkeit ihres Lebens offen zur Schau stellt, beeilt sich, den Leser vor einer voreiligen Verurteilung dieser beiden zu warnen. Er zeigt uns Pljuschkin in der glücklichsten, schon weit zurückliegenden Zeit seines Lebens, und wir verstehen, daß ein Unglücklicher vor uns steht, der ein Opfer der Leidenschaft ist, gegen die er nicht zu kämpfen vermag. Der Dichter spricht mit tiefem Schmerz von der Erbärmlichkeit, Kleinheit und Häßlichkeit, bis zu der ein Mensch herabsinken kann; er weist hin auf diese Entartung des Menschenbildes und gibt uns den weisen Rat, wenn wir aus dem weichen, zarten Jugendalter hinaustreten in das strenge verhärtende Mannesalter, uns mit einem möglichst großen Vorrat von Begeisterung und Idealismus zu versehen und ihn unterwegs nicht leichtsinnig zu verschwenden. Gogol droht uns mit diesen lebendigen Leichen, und doch spricht er stets in einer Weise von ihnen, daß sie nicht Abscheu hervorrufen, sondern uns eine Träne des Mitleids entlocken. Selbst Nosdrjow, diese Synthese von Unrast, Unverfrorenheit, Spitzbüberei und Zynismus, hat Gogol etwas so Gutmütiges und von jeder Böswilligkeit Freies verliehen, daß er uns beinahe völlig entwaffnet und die Fähigkeit nimmt, ihm ernsthaft zu zürnen.

So freundlich und milde verfuhr Gogol mit all jenen Personen, die er mit seinem Helden zusammenführte, d. h. mit jener Klasse von Freien, die keine eigentlichen Beamten darstellen. Dagegen war er weit strenger gegen dieselben Menschen, wenn sie irgend ein Amt im Staate bekleideten, mit andern Worten, wenn sie Beamte waren.

Wie der „Revisor“, so enthalten auch die „Toten Seelen“ keine Spur von einer politischen Anspielung. Die Satire berührte auch nicht mit einem Wort die höhere Obrigkeit und setzte sich bloß mit den niederen Klassen des Beamtenstandes auseinander.

Die ganze Dichtung bietet das Muster einer guten Gesinnung dar und daher konnte sie auch den Leser zu keinerlei Betrachtungen veranlassen, die sich gegen die Regierung und Administration richteten, mit Ausnahme etwa der schicksalsreichen „Geschichte vom Hauptmann Kopeikin“, die der Zensor durchaus nicht freigeben wollte, und die erst nach bedeutenden Änderungen und Zugeständnissen seitens des Autors die Zensur passierte. Diese Geschichte war die einzige gegen die souveräne Gewalt gerichtete Anspielung, die sich Gogol erlaubt hatte. In allen andern Fällen wählte er sich bloß die ausführenden Organe dieser Gewalt zur Zielscheibe, wobei er die Wucht seiner Angriffe genau nach Rang und Stellung seiner Helden abstufte. Je höher ein Beamter stand, um so milder beurteilte ihn der Verfasser, welcher freilich nicht die Absicht hatte, der Regierung durchaus nur Schmeichelhaftes zu sagen, sondern sich allein von der Erwägung leiten ließ, daß ein hohes Maß von Intelligenz den Menschen auch zu einer höheren Sittlichkeit verpflichte.

So sind denn in den „Toten Seelen“ alle höheren Beamten, selbst abgesehen vom Generalgouverneur und vom Gouverneur, lauter ehrenwerte und liebenswürdige Männer, die höchstens ein paar Seltsamkeiten oder Eigenheiten an sich haben. Diese ganze so nette Beamtengesellschaft gibt dem Moralisten nur wenig Anlaß zur Betrübnis, ja, er könnte sich nach Gogols Ausdruck unter ihnen ganz wie zu Hause fühlen.

Aber das Bild wechselt jäh und mächtig, wenn wir aus dem Kreise dieser relativ hochgestellten Provinzbeamten in die niederen Sphären hinabsteigen und zusammen mit Tschitschikow die mit kleinen Beamten bevölkerten Amtszimmer und Bureaus betreten. Hier befinden wir uns im Reiche der Akten, der schmutzigen und der sauberen, innerhalb dessen Unrecht und Bosheit einen viel freieren Spielraum haben. Wir sind zugegen bei der Herbeischaffung falscher Zeugen, die ohne viel Umstände unter den gerade anwesenden, größtenteils ungebildeten Gerichtsbeamten ausgewählt werden; wir sehen wie Tschitschikows Spitzbubenstück die Sanktion des Gesetzes erhält, wobei dem letzteren aus reiner Liebenswürdigkeit gegen ihn nicht einmal die gesetzlichen Gebühren abgenommen, sondern unbegreiflicher Weise einem andern Bittsteller aufs Konto gesetzt werden ... mit einem Wort, wir befinden uns mitten in einer Gesellschaft von wirklichen Gaunern und Betrügern, denen jede Spur von Sentimentalität, welche ihre Vorgesetzten auszeichnete, fremd ist, und die einem nüchternen illusionslosen Utilitarismus huldigen.

Wenn wir noch tiefer hinabsteigen, und uns aus der Stadt auf das Land begeben, so treffen wir hier schon auf ausgemachte Lumpen und Schurken, wie z. B. auf den Gendarmerieobersten Drobjaschkin, den Mann mit dem weichen und zärtlichen Herzen, der alle Dörfer heimsucht und sie wie eine verheerende Epidemie durchstreift, wofür er dann schließlich auch von den Bauern ins Jenseits befördert wird. Diese Seite, die uns von den Heldentaten der Dorfpolizei berichtet, ist sicher die kühnste in der gesamten Dichtung.

Der erste Teil der „Toten Seelen“ ist somit tatsächlich eine Epopöe der menschlichen Erbärmlichkeit und Nichtigkeit. Erbärmlich ist dieser Erwerbsritter mit dem Instinkte des Raubtieres, erbärmlich und armselig — diese ganze Stadtgesellschaft, Männer wie Frauen — erbärmlich dieses Reich der kleinsten, nichtigsten Interessen, dieses prinzipienlose Vegetieren, diese geistige Beschränktheit, dieser Klatsch und diese Verleumdung. Am charakteristischsten aber ist es wohl, daß auch der Bauernstand, von dem der Autor nur ganz kurz und bei Gelegenheit handelte, in den „Toten Seelen“ vorzüglich nach seiner unansehnlichen und erbärmlichen Seite dargestellt ist. Der Bauer ist weder schlecht noch tugendhaft, weder gut noch böse, sondern nur armselig, beschränkt und stumpfsinnig. Der Dichter wollte weder seinen Verstand, noch sein Herz idealisieren und erheben, wie das viele sentimentale und romantische Schriftsteller unter Gogols Zeitgenossen taten; aber er wollte ihn auch nicht schlecht machen, wie das wohl der Satiriker getan hätte, der die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Sünden und Laster unserer ärmeren und schwächeren Mitbrüder lenken will, um sein Nachdenken und sein Interesse für sie zu wecken.

Daß der Dichter ein herzliches Mitgefühl für diese seine Mitbrüder hatte, daran ist gar kein Zweifel. Ein kurzer Einblick in die Betrachtungen, die Tschitschikow über das Schicksal der von ihm gekauften Bauern anstellt, genügt, um sich zu überzeugen, daß sich der Dichter in seiner Phantasie das Los dieser Armen, denen ihre Herrn nach ihrem Tode ein so schmeichelhaftes Zeugnis ausgestellt hatten, in lebhaften Farben ausmalte. Aber jedesmal, wenn Tschitschikow auf seinem Wege einem Bauern begegnet, bekommt er nichts zu hören außer dem törichten Gerede eines Onkel Mitjaj und Onkel Minaj. In der ganzen Dichtung findet sich auch nicht eine Seite, wo der russische Bauer etwas von dem ihm angeborenen Mutterwitz und der Pfiffigkeit spüren läßt, wo er uns durch jene geistigen und seelischen Fähigkeiten erfreut, von denen alle Freunde des Vaterlandes uns so oft und sicherlich nicht ohne Grund zu erzählen wußten.

VII.

Dies ist in seinen wesentlichen Zügen der Inhalt des ersten noch erhaltenen Teils dieser großen Vaterlandsdichtung. Wie wir sahen, hatte dieses Werk für seinen Verfasser einen tiefen sittlichen Sinn gewonnen; es war seine Absicht, uns erst eine Reihe von hohlen, lasterhaften und erbärmlichen Menschen vorzuführen, um uns dann ein schönes Bild ihrer Erhebung zu geben; diese Dichtung war in den Augen des Autors eine an sein Vaterland gerichtete Verheißung, daß es sich einst von allem Häßlichen und Schmutzigen reinigen und der göttlichen Liebe würdig erweisen werde. Dieser ethische Sinn seines Werkes wurde Gogol durch seine religiösen Anschauungen, seinen Patriotismus und sein weiches, mitleidiges Herz diktiert. Es steht fest, daß Gogol als Ankläger des Lasters, der Schwäche, der Gemeinheit, der Trägheit und Indolenz, mit einem Wort, aller nur möglichen persönlichen und sozialen Schäden, einer der fortgeschrittensten russischen Männer gewesen ist, und dieses hohe Verdienst um das Vaterland vermag ihm niemand zu entreißen oder zu schmälern.

Aber bei einer näheren Bekanntschaft mit seinen Werken überzeugt man sich leicht, daß seine Kraft und sein Talent nicht allein in der Anklage und Geißelung bestand. Dieser Satiriker war in Wahrheit ein weicher, milder, zum Mitleid geneigter Mensch, und wußte gegen dieselben Menschen gerechte Nachsicht zu üben, die er in seinen Werken an den Pranger stellte. Er fand Worte der Vergebung und Rechtfertigung noch für den Lasterhaftesten, ja er liebte es eigentlich gar nicht, von Lastern zu sprechen und zog es vor, sie Schwächen zu nennen, wobei er den Leser stets zur Milde gegen die Angeklagten und Verworfenen zu stimmen suchte. Er brachte die Menschen zur Erkenntnis ihrer Sündhaftigkeit. Nicht sowohl durch die Aufdeckung ihrer Schlechtigkeiten und ihrer Sünden, als vielmehr dadurch, daß er in ihnen das Mitleid für ihre Nächsten weckte, die durch eigene oder fremde Schuld ins Unglück geraten waren.

Doch es sind nicht diese sittlichen Ideen und Anschauungen, die die große Bedeutung der „Toten Seelen“ für die Literatur und das Leben Rußlands ausmachen. Das Werk blieb unvollendet, und der russische Leser erlebte nichts von den kühnen Verheißungen des Dichters. Der Leser behielt nichts in seiner Hand zurück, als eine große Anklageschrift gegen die Gesellschaft, in der er lebte, eine Anklageschrift freilich, die von der Hand eines Meisters der Wirklichkeitsdichtung und eines großen realistischen Künstlers stammte.

Die „Toten Seelen“ sind das erste Muster eines großen realistischen Romans in der Literatur Rußlands, und das Schicksal, das oft sein ironisches Spiel mit den Menschen treibt, wollte es, daß dieses große Vorbild eines realistischen Romans von einem Romantiker und von einem Dichter geschrieben werden sollte, der seine Schriftstellerlaufbahn mit einem romantischen Traum begann und sie mit einer religiösen Predigt beschloß.

Aber die Natur hatte diesem Prediger ein wunderbares Talent in die Wiege gelegt, er besaß wie kein anderer die Fähigkeit einer reinen, ungeschminkten, von jeder Idealisierung freien Wirklichkeitsdarstellung — und in der kurzen Periode, wo dieses Talent seinen Kulminationspunkt erreichte, um schnell und für immer zu erlöschen, erschuf der Dichter dieses großartige Gemälde von tiefster Wahrheit, in dem der Russe zum erstenmal sich selbst und sein eigenes Leben in einem Spiegelbilde von verblüffender Treue erblickte.

Nestor Kotljarewski.

Die Abenteuer des Grafen Tschitschikows
oder
Die Toten Seelen.
Erster Teil

Erstes Kapitel

Durch das Tor eines Gasthofes der Provinzstadt N. N. rollte ein schmucker, leicht federnder, kleiner Wagen, wie ihn gewöhnlich Junggesellen zu benutzen pflegen, als da sind: Oberstleutnants a. D., Majore, Edelleute, die etwa hundert Bauern besitzen, u. s. w. — mit einem Worte jene Klasse von Menschen, die man wohlgeborene Herren mittleren Ranges nennt. Im Wagen saß ein Herr von nicht gerade überwältigender Schönheit, aber doch von angenehmem Äußeren; er war weder allzu dick noch allzu dünn, man konnte nicht sagen, daß er alt war, doch war er andererseits auch nicht übermäßig jung. Seine Ankunft erregte in dem Gasthofe nicht das geringste Aufsehen und war von keinerlei besonderen Ereignissen begleitet; nur zwei Bauern, die vor der Türe der dem Gasthof gegenüberliegenden Schenke standen, machten ein paar Bemerkungen, die sich noch dazu mehr auf das Gefährt, als auf den Insassen bezogen. „Sieh dir mal das Rad an,“ sagte der eine zum andern. „Was meinst du? Würde es wohl zum Beispiel bis Moskau halten, oder nicht?“ — „Gewiß,“ antwortete der andere. „Aber bis Kasan wird es wohl nicht halten, denk ich.“ — „Bis Kasan wohl kaum,“ versetzte der andere. Damit war die Unterhaltung zu Ende. Als dann der Wagen vor dem Gasthofe hielt, ging noch ein junger Mann vorüber. Er trug kurze, sehr enge weiße Nankinghosen und einen Frack, der modern sein sollte und unter dem ein Vorhemd hervorguckte, das eine Tulasche-Nadel mit einem Kopf in Form einer bronzenen Pistole schmückte. Der junge Mann drehte sich um, sah sich den Wagen an, während er seine Mütze, die der Wind fortzublasen drohte, mit der Hand festhielt, und ging seiner Wege.

Als der Wagen in den Hof fuhr, wurde der Herr von dem Kellner oder Aufwärter, wie man sie in den russischen Schenken zu nennen pflegt, empfangen, einem so lebhaften und beweglichen Wesen, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, ein Bild von seinen Gesichtszügen zu gewinnen. Gewandt und sicher kam er mit der Serviette in der Hand herausgelaufen, ein hoch aufgeschossener Bursche in einem langen baumwollenen Rock, dessen Taille beinahe in der Höhe des Nackens saß, schüttelte seine Mähne und führte den Herrn flink durch den langen hölzernen Flurgang, um dem Reisenden das ihm von Gott bestimmte Gemach zu zeigen. — Das Zimmer war eins von der bekannten Art; denn auch der Gasthof war einer von der bekannten Art, wie nämlich alle Gasthöfe in den Provinzstädten sind, wo die Reisenden für zwei Rubel täglich ein ruhiges Zimmer erhalten: mit Schwabenkäfern, die wie Pflaumen aus allen Ecken hervorgucken, und mit einer Kommode vor der Tür, die ins anstoßende Gemach führt, in dem der Nachbar wohnt, ein stiller, schweigsamer, aber äußerst neugieriger Mann, der sich aufs lebhafteste für den Reisenden und alle Einzelheiten seiner Person interessiert. Die äußere Fassade des Gasthofes entsprach durchaus dem Innern: sie war sehr lang und hatte zwei Stockwerke; das untere war nicht geweißt und ließ noch die dunkelroten Ziegelsteine erkennen, die, an sich schon nicht ganz sauber, infolge der heftigen Witterungsumschläge noch mehr nachgedunkelt waren. Die obere Etage war gelb angestrichen, wie überall. Unten waren Läden, wo Pferdegeschirr, Bindfaden und Bretzel verkauft wurden. In dem Eckladen, oder richtiger im Fenster des Ladens saß ein Sbitenverkäufer[1] mit einem Samowar aus Kupfer und einem Gesicht, das ebenso kupferrot war wie sein Samowar, sodaß man aus der Ferne fast glauben konnte, auf dem Fenster ständen zwei Samoware, wenn nicht der eine von ihnen einen pechschwarzen Bart gehabt hätte.

Während der Reisende sich noch sein Zimmer näher ansah, wurde sein Gepäck hereingetragen. Zunächst ein etwas abgenutzter Koffer aus weißem Leder, dem man es ansah, daß er nicht zum erstenmal eine Reise machte. Der Koffer wurde vom Kutscher Seliphan, einem kleinen Mann in einem kurzen Pelz, und vom Lakaien Petruscha hereingebracht. Letzterer war ein Bursche von etwa dreißig Jahren und trug einen weiten abgetragenen Rock, der offenbar von seinem Herrn stammte; er machte einen etwas strengen und mürrischen Eindruck und hatte große dicke Lippen und eine ebensolche Nase. Nach dem Koffer wurden ein kleines Kästchen aus Mahagoni mit eingelegten Verzierungen aus Korelischem Birkenholz, ein Paar Schuhleisten und ein gebratenes Huhn hereingebracht, das in blaues Papier eingewickelt war. Als alles besorgt war, begab sich der Kutscher Seliphan in den Stall, wo er sich mit den Pferden zu schaffen machte, während sich der Lakai Petruscha in dem kleinen Vorzimmer einrichtete, einem finstern Loche, wohin er aber schon seinen Mantel und zugleich mit diesem einen merkwürdigen Geruch mitgebracht hatte, der nur ihm eigentümlich war. Dieser Geruch teilte sich auch einem Sack mit allerhand Utensilien der Bediententoilette mit, den er gleich darauf hereinschleppte. In dieser Kammer stellte er an der Wand ein enges dreibeiniges Bett auf und legte einen Gegenstand darauf, der einer Matratze ähnlich sah, flach und zusammengedrückt wie ein Pfannkuchen und vielleicht ebenso fettig wie dieser; er hatte sich das Ding von dem Gastwirte geben lassen.

Während die Diener mit der Einrichtung beschäftigt waren, begab sich der Herr in den Salon des Gasthofes. Jeder Reisende weiß aus Erfahrung, wie so ein Salon beschaffen zu sein pflegt: immer dieselben mit Oelfarbe gestrichenen Wände, die oben vom Rauche geschwärzt und tiefer unten wie poliert sind durch die Rücken der Reisenden und mehr noch durch die der einheimischen Kaufleute, die an Markttagen sechs oder sieben Mann hoch hierher kommen, um ihre bestimmte Anzahl Tassen Tee zu trinken; dieselbe rauchige Decke, derselbe geschwärzte Kronleuchter mit einer Unzahl herabhängender Glaskristalle, die jedesmal herumhüpften und klirrten, wenn der Kellner über den abgeriebenen Läufer von Wachstuch sprang und dabei gewandt das Tablett schwenkte, auf dem eine Unmenge von Teetassen ruhte, wie Vögel am Meeresstrande; dieselben Ölgemälde, die eine ganze Wand einnahmen, mit einem Wort: es war alles wie überall, höchstens mit dem Unterschied, daß auf einem der Bilder eine Nymphe mit so gewaltigen Brüsten dargestellt war, wie sie der Leser noch nicht gesehen hat. Übrigens begegnet man ähnlichen Naturspielen auf vielen historischen Gemälden, von denen man nicht weiß, woher sie, wann sie und von wem sie zu uns nach Rußland gebracht wurden; mitunter freilich waren es unsere vornehmen Würdenträger und Kunstliebhaber selbst, die sie in Italien auf Anraten der sie begleitenden Kuriere kauften. Der Herr warf seine Mütze hin und legte sein wollenes, regenbogenfarbenes Halstuch ab, wie es unsere Ehefrauen ihren Gatten eigenhändig zu häkeln pflegen, wobei sie stets noch allerhand nützliche Lehren hinzufügen, wie das Tuch umgelegt werden muß; wer sie dagegen den Hagestolzen anfertigt, das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, Gott weiß es, ich habe nie ein solches Halstuch getragen. Nachdem also der Herr sein Halstuch abgelegt hatte, bestellte er sich ein Mittagessen. Während die verschiedenen Speisen, die einem gewöhnlich in den Gasthöfen vorgesetzt werden, aufgetragen wurden, als da sind: Krautsuppe mit Pasteten aus Blätterteig, die wochenlang für die Reisenden aufgehoben und bereit gehalten werden, ferner Hirn mit Schoten, Würstchen mit Kraut, eine gebratene Pularde, eine saure Gurke und das unvermeidliche jederzeit vorrätige Splittertörtchen; während also dies alles aufgetragen wurde, aufgewärmt oder kalt, ließ er sich von dem Diener oder Kellner allerhand törichte Geschichten erzählen: wer den Gasthof früher besessen habe, wer sein jetziger Besitzer sei, wie groß die Einnahmen seien, ob der Herr ein großer Hallunke sei usw., worauf der Kellner die gewohnte Antwort gab: „Oh! ein großer Spitzbube! gnädiger Herr!“ Wie in dem aufgeklärten Europa, so gibt es jetzt auch in dem aufgeklärten Rußland eine Menge höchst ehrenwerter Leute, die es nicht über sich bringen, in einem Gasthaus zu speisen, ohne mit dem Kellner zu schwatzen oder gar mit ihm ihre Scherze zu treiben. Übrigens stellte der Ankömmling nicht nur sinnlose Fragen: er erkundigte sich auch ganz genau nach dem Gouverneur, nach dem Gerichtspräsidenten und Staatsanwalt der Stadt — mit einem Wort: er überging auch nicht einen von den hohen Beamten; und mit fast noch größerer Ausführlichkeit erkundigte er sich nach allen bedeutenden Großgrundbesitzern der Umgegend: wieviel Bauern ein jeder von ihnen habe, wie weit von der Stadt er wohne, ja sogar was er für einen Charakter habe und wie oft er in die Stadt komme; er fragte genau nach den Zuständen, die im Kreise herrschten, ob es in der Provinz vielleicht Krankheiten oder Epidemieen, wie tödlich verlaufende Fieber, Blattern u. s. f. gegeben habe, und dies alles tat er mit einer Peinlichkeit und Ausführlichkeit, die weit mehr als bloße Neugierde erkennen ließ. Im Betragen des Herrn lag etwas Gesetztes und Solides; auch schneuzte er sich ungewöhnlich laut. Es läßt sich kaum sagen, wie er das machte, jedenfalls tönte seine Nase dabei gleich einer Trompete. Aber dieser scheinbar so harmlose und unbedeutende Vorzug eroberte ihm die Hochachtung des Kellners, welcher jedesmal, wenn er diesen Laut vernahm, seine Mähne schüttelte, sich ehrerbietig aufrichtete, seinen Kopf etwas von seiner Höhe herabsinken ließ und fragte: „Wünschen der Herr vielleicht etwas?“ Nach dem Essen trank der Herr eine Tasse Kaffee und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er schob sich ein Kissen in den Rücken, das in den russischen Gasthäusern statt mit weicher Wolle mit einem Etwas gestopft wird, das die größte Ähnlichkeit mit Kieseln oder Ziegelsteinen hat. Er begann zu gähnen und ließ sich in sein Zimmer führen, wo er sich niederlegte, um zwei Stunden lang zu schlummern. Nachdem er geruht hatte, schrieb er auf den Wunsch des Kellners seinen Stand, Vor- und Familiennamen auf einen Papierfetzen, damit diese, wie sich’s gehört, der Polizei mitgeteilt werden könnten. Als der Kellner die Treppe hinabstieg, buchstabierte er den Inhalt des Geschriebenen: „Kollegienrat Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, Gutsbesitzer, reist in eigenen Angelegenheiten.“ Während der Kellner den Zettel noch immer zu entziffern suchte, verließ Pawel Iwanowitsch Tschitschikow den Gasthof, um sich die Stadt anzusehen, die offenbar einen befriedigenden Eindruck auf ihn machte; denn er fand, daß sie sich durchaus mit jeder andern Provinzhauptstadt messen konnte: die gelbe Farbe der steinernen und das bescheidene Dunkelgrau der hölzernen Häuser fielen besonders ins Auge. Die Häuser hatten ein, zwei oder anderthalb Stockwerke, mit den stereotypen Mansarden, die wohl nach der Ansicht der dortigen Architekten besonders schön waren. Stellenweise schienen diese Häuser wie verloren inmitten der Straße, die breit wie ein Feld war, und zwischen den Bretterzäunen, die gar kein Ende nehmen wollten; an andern Punkten dagegen stießen sie eng aneinander, und hier machte sich auch mehr Leben und Bewegung bemerkbar. Hie und da sah man vom Regen verwaschene Schilder, auf denen ein Bretzel oder ein Stiefel, oder ein Paar blaue Hosen abgebildet waren, und die die Unterschrift zierte: Arschawski, Schneidermeister. Oder ein Hutgeschäft, mit Mützen und Hüten und einem Schild mit der Inschrift: „Der Ausländer Wassili Fjodorow.“ Auf einem dieser Schilder sah man ein Billard mit zwei Spielern in Fräcken abgebildet, wie sie in unseren Theatern die Gäste zu tragen pflegen, die im letzten Akte auf der Bühne erscheinen. Die Spieler waren in der Stellung dargestellt, wo sie mit den Queues gerade zum Stoße ausholen, mit ein wenig zurückgezogenen Armen und gekrümmten Beinen, als ob sie soeben einen Luftsprung gemacht hätten. Unter diesem Bilde befand sich die Inschrift: „Hier ist eine Schenke!“ Hie und da standen unter freiem Himmel auf der Straße Tische mit Nüssen, Seife, und Honigkuchen, die gleichfalls wie Seife aussahen. Etwas weiter befand sich eine Garküche, auf deren Aushängeschild ein mächtiger Fisch abgebildet war, in dem eine Gabel steckte. Am häufigsten aber begegnete man den zweiköpfigen schwarzen Staatsadlern, welche heute bereits durch die lakonische Inschrift: „Ausschank“ ersetzt sind. Das Pflaster war überall ziemlich schlecht. Der Herr warf auch einen Blick in den städtischen Garten, der aus ein paar dünnen Bäumchen bestand, welche offenbar sehr schlecht fortkamen und unten von Pfählen gestützt wurden, die ein Dreieck bildeten und mit grüner Ölfarbe angestrichen waren. Übrigens hieß es von ihnen in den Zeitungen, obwohl sie kaum Schilfhöhe erreichten, bei Beschreibung einer Illumination: „Dank der Fürsorge unseres Zivilgouverneurs ward unsere Stadt durch einen Garten voller breitkroniger, schattenreicher Bäume verschönt, die an heißen Sommertagen angenehme Kühle spenden.“ Weiterhin hieß es: „Es sei rührend anzusehen, wie die Herzen der Bürger in überquellender Dankbarkeit erzitterten und Tränenströme in warmer Anerkennung der Verdienste unseres verehrten Stadtoberhauptes vergössen.“ Der Herr erkundigte sich bei einem Polizisten ausführlich nach dem kürzesten Wege zur Domkirche, zu den Amtsgebäuden, zum Gouverneur und begab sich schließlich zum Fluß hinab, der mitten durch die Stadt floß. — Unterwegs riß er einen Reklamezettel ab, der an einer Plakatsäule klebte, um ihn zu Hause in Ruhe durchzulesen. Dann betrachtete er aufmerksam eine Dame von recht angenehmem Äußeren, die auf den Holzbrettern des Bürgersteiges an ihm vorüberging, begleitet von einem Knaben in militärischem Aufputz, der ein Bündel in der Hand trug. Und nachdem er noch manchmal einen Blick auf das Ganze geworfen hatte, wie um sich die Örtlichkeit gründlich einzuprägen, ging er nach Hause und stieg geradewegs die Treppe zu seinem Zimmer empor, gefolgt vom Kellner, der ihn hierbei leicht unterstützte. Nachdem er seinen Tee getrunken hatte, setzte er sich an seinen Tisch, ließ sich eine Kerze bringen, nahm das Plakat aus der Tasche und begann zu lesen, wobei er sein rechtes Auge ein wenig zukniff. Übrigens stand nicht viel Bemerkenswertes auf dem Zettel. Man gab ein Drama von Kotzebue, in dem ein Herr Popljowin den Rolla und ein Fräulein Sjablowa die Kora spielten. Die übrigen Personen waren noch unbedeutender. Trotzdem las er sämtliche Namen durch, bis auf die Preise der Parterreplätze und erfuhr, daß der Zettel in der städtischen Buchdruckerei hergestellt worden war; dann drehte er ihn um, um sich zu überzeugen, ob nicht noch etwas auf der Rückseite stehe. Aber da er nichts fand, rieb er sich die Augen, faltete ihn sorgsam zusammen und legte ihn in das Kästchen, in dem er alles aufzubewahren pflegte, was ihm unter die Finger kam. Ich glaube der Tag wurde mit einer Portion kalten Kalbsbratens, einer Flasche Kislischtschi (Kaltschale) und einem festen Schlaf beschlossen, den ein Schnarchen begleitete, ähnlich dem Geknarr eines Pumpenkrahns, wie man sich in einigen Gegenden unseres geräumigen russischen Vaterlandes auszudrücken pflegt. —

Der ganze folgende Tag war Besuchen gewidmet. Der Reisende stellte sich allen Honoratioren der Stadt vor. Er machte dem Gouverneur einen Achtungsbesuch, der, wie sich’s herausstellte, ebenso wie Tschitschikow weder dick noch dünn war, den Annenorden im Knopfloch trug und, wie man sich erzählte, selbst Prätendent des Sternes war; im übrigen war er ein gutmütiger alter Herr, der sich sogar bisweilen in Tüllstickereien versuchte. Sodann begab er sich zum Vizegouverneur, zum Staatsanwalt, zum Gerichtspräsidenten, zum Polizeimeister, zum Branntweinpächter und Direktor der staatlichen Fabriken ... leider ist es nicht ganz leicht, all die Gewaltigen dieser Welt aufzuzählen; genug, unser Reisender entwickelte eine lebhafte Geschäftigkeit im Besuchemachen: er ging sogar zum Inspektor der Sanitätsverwaltung und zum Stadtbaumeister, um ihnen seine Aufwartung zu machen. Und lange noch saß er in seinem Wagen, bei sich erwägend, wem er wohl noch einen Besuch machen könne, aber leider fand sich in der Stadt kein Beamter mehr, den er nicht schon beglückt hätte. Im Gespräch mit den Machthabern verstand er es vorzüglich, einem jeden von ihnen eine Schmeichelei zu sagen. Zum Gouverneur sagte er wie beiläufig, wenn man in seine Provinz komme, glaube man sich im Paradiese, die Wege seien herrlich, es sei einem, als führe man über Samt; und er fügte hinzu, die Regierung, welche es verstände, weise Männer auf verantwortungsvolle Stellen zu setzen, verdiente das höchste Lob und die größte Anerkennung. Dem Polizeimeister sagte er etwas höchst Schmeichelhaftes über die städtischen Polizisten und den Vizegouverneur und den Gerichtspräsidenten, die erst Staatsräte waren, nannte er im Gespräche zweimal wie im Versehen „Exzellenz“, was ihnen sichtlich Freude bereitete. Der Erfolg von alledem war, daß der Gouverneur ihn noch am selben Tage zu einer kleinen Abendgesellschaft in seinem Hause einlud; auch von den übrigen Beamten erhielt er Einladungen, vom einen zum Diner, vom andern zu einer Partie Boston oder einer Tasse Tee.

Über sich selbst viel zu reden, vermied der Reisende offenbar. Und wenn er etwas sagte, so waren es meist Gemeinplätze. Er drückte sich mit einer auffallenden Bescheidenheit aus, und sein Gespräch bewegte sich in diesen Fällen in Redewendungen aus der Büchersprache, wie etwa folgende: er sei ja nur ein unbedeutender Wurm auf dieser Welt, nicht wert, daß man sich viel um ihn kümmere. Er habe in seinem Leben schon viel erfahren und durchgemacht, für die Wahrheit gelitten und sich viele Feinde erworben, die ihm sogar nach dem Leben trachteten. Jetzt sehne er sich nach Ruhe, und daher suche er sich endlich ein Plätzchen, wo er ungestört leben könne. Er habe es bei seiner Ankunft in dieser Stadt für seine erste Pflicht gehalten, die hervorragenden Repräsentanten des Beamtenstandes aufzusuchen und ihnen seine Hochachtung auszusprechen. Das war alles, was man in der Stadt über den Fremden in Erfahrung bringen konnte, der nicht zögerte, bei der Soiree des Gouverneurs zu erscheinen. Die Vorbereitungen zu dieser Abendgesellschaft nahmen gute zwei Stunden in Anspruch, und hierbei legte der Reisende eine solche peinliche Aufmerksamkeit für seine Toilette an den Tag, wie man ihr nur selten begegnet. Nach einem kurzen Nachmittagsschläfchen ließ er sich ein Waschbecken reichen und rieb sich hierauf lange Zeit beide Wangen mit Seife, wobei er die Zunge von innen gegen die Backe drückte. Dann nahm er dem Hausdiener das Handtuch von der Schulter, trocknete sein rundliches Gesicht überall sorgfältig ab, indem er bei den Ohren anfing und dem Diener zuvor zweimal gerade ins Gesicht prustete. Dann trat er vor den Spiegel, um sich das Vorhemd anzulegen, riß sich zwei aus der Nase hervorragende Härchen aus und stand gleich darauf in einem preißelbeerfarbenen roten gesprenkelten Fracke da. Nachdem er so seine Toilette vollendet hatte, bestieg er seine eigene Equipage und fuhr durch die ungemein breiten Straßen, welche von dem spärlichen Lichte beleuchtet wurden, das aus einigen Fenstern fiel. Das Haus des Gouverneurs war indessen so glänzend erleuchtet wie bei einem Ball; vor dem Hause standen Wagen mit hellen Laternen, sowie zwei Gendarmen. Aus der Ferne klangen die Rufe der Vorreiter herüber; mit einem Wort, es war alles so, wie es sich gehörte. Als Tschitschikow den Saal betrat, mußte er die Augen für einen Moment schließen, weil der blendende Glanz der Lichter, der Lampen und Damentoiletten geradezu überwältigend war. Alles war wie mit Licht übergossen. Schwarze Fräcke schwirrten einzeln und in Gruppen durch den Saal, wie Fliegen um den Zuckerhut an einem heißen Julitag, während ihn die Wirtschafterin zerteilt und vor dem offenen Fenster in weiße leuchtende Stücke zerschlägt: alle Kinder umstehen sie und verfolgen mit Neugierde die Bewegungen ihrer arbeitsharten Hände, welche den Hammer schwingen, während geflügelte Schwadronen von Fliegen von einem leichten Winde emporgetragen, kühn herbeifliegen, als wären sie die Herren des Hauses, und sich die Kurzsichtigkeit der Frau und das Sonnenlicht, das ihr Auge blendet, zu nutze machend, die süßen Leckerbissen hier vereinzelt, dort in dichten Haufen umschwirren. Gesättigt vom reichen Sommer, der ohnehin auf Schritt und Tritt leckere Gaben austeilt, kamen sie herbeigeflogen, nicht etwa um zu naschen, sondern bloß um sich zu zeigen, auf dem Zuckerhaufen herumzuspazieren, eine an der anderen ihre Vorder- oder Hinterfüßchen zu wetzen und sie an den Flügelchen zu reiben oder endlich, die beiden Vorderpfötchen vorstreckend, sich das Köpfchen zu krauen und mit einer kühnen Wendung davonzufliegen, um bald in neuen, zudringlichen Schwärmen wiederzukehren. Tschitschikow fand kaum Zeit, sich umzusehen, als der Gouverneur ihn schon am Arme faßte und der Gouverneurin vorstellte. Auch bei dieser Gelegenheit vergab sich der Reisende nichts: er sagte der Dame ein Kompliment, wie es sich für einen Mann in mittleren Jahren schickt, dessen Rang und Titel weder sehr hoch noch sehr niedrig sind. Als die tanzenden Paare Aufstellung nahmen und alle Zuschauer an die Wand drückten, stand er, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, da, und betrachtete die Tänzer einige Minuten lang sehr aufmerksam. Viele von den Damen waren sehr gut gekleidet und trugen moderne Toiletten, andre dagegen hatten an, was Gottes Vorsehung in eine Provinzstadt gelangen läßt. Die Herren zerfielen hier wie überall in zwei Kategorien: die einen waren sehr dünn und hager und drehten sich beständig um die Damen herum; unter diesen gab es einige, die man nicht leicht von Petersburger Herren hätte unterscheiden können; sie hatten ebenso sorgfältig gepflegte Backenbärte, und ihre Barttracht war ebenso wohl überlegt und geschmackvoll, oder sie hatten einfach hübsche, glattrasierte Ovale, nahmen ebenso ungezwungen neben den Damen Platz, sprachen ebensogut französisch und brachten die Damen genau so zum Lachen wie in Petersburg. Die andere Kategorie von Herren bildeten die dicken, oder die, welche Tschitschikow glichen, also weder sehr dick waren, ohne doch wiederum zu dünn zu sein. Diese waren ganz anders in ihrem Auftreten, sie sahen weg, gingen den Damen aus dem Wege und schauten immer aus, ob nicht der Kammerdiener des Gouverneurs irgendwo einen grünen Tisch für das Whistspiel aufgestellt habe. Ihre Gesichter waren rund und wohlgenährt, einzelne hatten sogar eine Warze oder Pockennarben; sie trugen ihr Kopfhaar weder in Form von Büscheln, noch Locken, noch ‚a la Diable m’emporte‘ (Hol mich der Teufel), wie die Franzosen es nennen. Das Haar war entweder kurz geschoren oder glatt ins Gesicht gekämmt, wie geleckt, und ihre Gesichtszüge waren rund und kräftig. Das waren die geachteten Würdenträger der Stadt. Ach ja! Die Dicken verstehen es besser, auf dieser Welt Geschäfte zu machen als die Dünnen. Die Dünnen sind meist Beamte für besondere Aufträge oder werden bloß in den Listen geführt und treiben sich müßig herum; ihre Existenz hat etwas gar zu Leichtes, Luftiges und ist ganz unsicher. Die Dicken besetzen dagegen nie einen Platz, der abseits vom geraden Wege liegt, sie nehmen immer die bedeutenden Stellungen ein, und wenn sie sich einmal hinsetzen, so sitzen sie fest und sicher, sodaß eher der Sitz unter ihnen kracht oder sich biegt, als daß sie herunterfallen. Jeder äußere Glanz ist ihnen verhaßt, der Frack sitzt ihnen freilich nicht so gut, wie den Dünnen, dafür sind ihre Schatullen voll, und es ruht der Segen Gottes auf ihnen. Der Dünne hat schon nach drei Jahren keine Seele mehr, die nicht verpfändet ist, der Dicke aber lebt ganz ruhig, und siehe da — plötzlich steht irgendwo am Ende der Stadt ein Haus da, das er sich auf den Namen der Frau erworben hat, dann am andern Ende ein zweites, ferner ein kleines Gut in der Nähe des Städtchens und ein Stück Land mit allem Zubehör. Und schließlich quittiert der Dicke, nachdem er Gott und dem Kaiser genug gedient und sich die allgemeine Achtung erworben hat, seinen Dienst, verläßt die Stadt und wird Landwirt, ein prächtiger russischer Landjunker, macht ein offenes Haus und lebt ruhig und herrlich und in Freuden. Seine dünnen Erben aber bringen wiederum nach guter russischer Sitte den ganzen väterlichen Besitz im Eilposttempo durch. Es läßt sich nicht verheimlichen, daß unseren Tschitschikow ähnliche Betrachtungen beschäftigten, während er sich die Gesellschaft näher ansah, und die Folge hiervon war, daß er sich schließlich zu den Dicken gesellte, wo er beinahe lauter bekannte Gesichter vorfand: da war der Staatsanwalt, ein Herr mit buschigen, schwarzen Augenbrauen, der ein wenig mit dem linken Augenlid zuckte, wie wenn er sagen wollte: „kommen Sie doch ins Nebenzimmer, ich möchte Ihnen etwas erzählen“ — übrigens ein ernster und schweigsamer Mann. Da war der Postmeister, ein kleines Männchen, aber ein Witzbold und Philosoph; ferner der Gerichtspräsident, ein sehr verständiger und liebenswürdiger Herr — sie alle begrüßten ihn wie einen alten Bekannten, worauf Tschitschikow sich ein wenig linkisch, aber doch nicht ohne Grazie verbeugte. Hier machte er auch die Bekanntschaft eines sehr höflichen und freundlichen Herrn, eines Gutsbesitzers, namens Manilow, und eines etwas plump aussehenden Herrn Sabakewitsch, der ihm sofort auf den Fuß trat und „Bitte um Entschuldigung“ dazu sagte. Zugleich reichte man ihm eine Spielkarte, als Aufforderung zu einer Partie Whist, die er mit der gleichen höflichen Verbeugung annahm. Man setzte sich an den grünen Tisch, und blieb bis zum Abendessen sitzen, ohne sich zu erheben. Die Unterhaltung hörte sogleich auf, wie das immer zu sein pflegt, wenn man nun endlich an eine ernste Beschäftigung geht. Und obwohl der Postmeister sehr redselig war, so erhielt doch auch sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck, er bedeckte seine Oberlippe mit der unteren und verharrte während des ganzen Spiels in dieser Stellung. Wenn er eine Figur ausspielte, dann schlug er mit der Hand kräftig auf den Tisch. War es eine Dame, dann fügte er hinzu: „Raus, alte Popin!“ War es dagegen ein König, so rief er: „Raus mit dem Tambower Bauern!“ Der Präsident aber antwortete: „Dem geb ich’s auf den Schnauzbart! Dem geb ich’s auf den Schnauzbart!“ Zuweilen entschlüpften ihnen Ausdrücke, wie die folgenden, während sie mit den Karten auf den Tisch schlugen: „Ach was: Was nicht is, is nicht, in solchen Fällen spielt man Schellen!“ oder einfache Ausrufe wie: „Herzen! Herzchen! Pikentia!“ oder „Piekchen, Piekchen, Pickelchen!“ oder einfach „Pikkolo“. Lauter Namen, mit denen sie in ihrer Gesellschaft die Farben zu bezeichnen pflegten. Nach Beendigung eines jeden Spieles wurde, wie das so zu geschehen pflegt, laut gestritten. Unser neu angekommener Gast beteiligte sich auch am Streit, aber er wußte das so geschickt zu machen, daß alle zwar sahen, daß er auch mitstritt, doch aber immer liebenswürdig blieb. Er sagte niemals: „Sie spielten ...“ sondern stets: „Sie hatten die Güte ... zu spielen“ oder: „ich habe mir erlaubt, Ihre Zwei zu stechen“ u. s. w. Um seine Gegner noch mehr zu gewinnen, reichte er ihnen jedesmal seine emaillierte Tabaksdose, auf deren Grunde zwei Veilchen zu sehen waren, die er des Wohlgeruchs wegen hineingetan hatte. Am meisten interessierten unseren Reisenden die beiden Gutsbesitzer Manilow und Sabakewitsch, von denen schon oben die Rede war. Er erkundigte sich sogleich nach ihnen beim Präsidenten und beim Postmeister, die er hierbei ein wenig beiseite nahm. Die wenigen Fragen, die er ihnen vorlegte, ließen erkennen, daß der neue Gast nicht nur sehr wißbegierig, sondern auch sehr gründlich war, denn er suchte vor allem in Erfahrung zu bringen, wieviel Bauern ein jeder von ihnen besäße, und in welcher Verfassung sich ihre Güter befänden; erst hierauf fragte er auch nach ihren Vor- und Zunamen. In ganz kurzer Zeit wußte er sie alle zu bezaubern. Der Gutsbesitzer Manilow, ein Mann in den besten Jahren, mit Augen süß, wie Zucker, die er beim Lachen stets zusammenkniff, war ganz begeistert von ihm. Er drückte ihm lange die Hand und bat ihn inständig, ihm doch die Ehre eines Besuchs bei ihm auf dem Lande zu machen, und er fügte hinzu, sein Gut wäre nur fünfzehn Werst vom Stadttor entfernt, worauf Tschitschikow mit höflichem Kopfnicken und warmem aufrichtigem Händedruck erwiderte, er werde dieser freundlichen Aufforderung nicht nur mit dem größten Vergnügen nachkommen, sondern halte es sogar für seine heiligste Pflicht. Sabakewitsch aber sagte lakonisch: „Ich bitte gleichfalls darum,“ dabei machte er eine kleine Verbeugung und zog den Fuß ein wenig an, der in einem Stiefel von so gewaltigen Dimensionen steckte, daß man wohl vergeblich nach einem zweiten Fuß suchen würde, der zu diesem Stiefel gepaßt hätte, besonders zu unserer Zeit, wo die Recken und Ritter in Rußland im Aussterben begriffen sind.

Am folgenden Tag war Tschitschikow zum Mittagessen und zu einer Abendgesellschaft beim Polizeimeister geladen. Um drei Uhr, nach dem Mittagessen setzte man sich an den Tisch zum Whistspielen und spielte bis zwei Uhr nachts durch. Dort machte Tschitschikow unter anderm auch die Bekanntschaft eines Gutsbesitzers namens Nosdrjow, eines sehr gewandten Herrn von dreißig Jahren, der ihn nach drei bis vier Worten zu duzen begann. Den Polizeimeister und den Staatsanwalt duzte Nosdrjow gleichfalls und behandelte sie höchst familiär; aber als man sich hinsetzte und um einen hohen Einsatz zu spielen anfing, gaben der Polizeimeister und der Staatsanwalt sehr genau auf die Stiche acht, die er machte, und ließen keine Karte aus den Augen, die er ausspielte. Den nächsten Abend war Tschitschikow beim Gerichtspräsidenten, der seine Gäste, darunter zwei Damen, in einem etwas fettigen Schlafrock empfing. Dann besuchte er eine Soirée beim Vizegouverneur, ein großes Diner beim Branntweinpächter und ein kleines Diner beim Staatsanwalt, das sich übrigens neben dem großen wohl sehen lassen konnte; und endlich noch ein Dejeuner nach der Messe, welches vom Stadthaupt veranstaltet wurde und gleichfalls ein Mittagessen aufwog. Mit einem Wort, er war kaum eine Stunde zu Hause und kam nur in den Gasthof, um zu schlafen. Der Reisende verstand es dabei, sich in jede Situation zu finden und zeigte sich überall als erfahrener Weltmann. Worauf auch die Rede kam, er wußte immer ein passendes Wort einzuflechten; sprach man von Pferdezucht, so wußte auch er etwas über die Pferdezucht zu sagen; sprach man von den Vorzügen der Hunde, so machte er auch hierbei ein paar feine Bemerkungen; unterhielt man sich über eine Untersuchung, die vom Gerichtshof angestellt wurde, — so ließ er merken, daß ihm auch die gerichtlichen Kniffe nicht ganz unbekannt seien; war die Rede vom Billardspiel — so gab er sich auch beim Billardspiel keine Blöße; kam das Gespräch auf die Tugend — so konnte er auch sehr schön, und sogar mit Tränen im Auge von der Tugend reden; oder kam man auf die Branntweindestillation zu sprechen, auch über Branntweindestillation wußte er Bescheid — oder auf die Zollwächter und Zollbeamten — er sprach auch über diese, als ob er selbst Zollbeamter oder Zollwächter gewesen wäre. Das Merkwürdigste dabei war, daß er bei alledem eine gewisse Würde und Gesetztheit bewahrte, und immer ein feines und vornehmes Betragen zeigte. Er sprach weder zu laut noch zu leise, sondern ganz so, wie es sich schickt. Mit einem Wort: von welcher Seite man ihn auch betrachten mochte, er war durchaus ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle. Alle Beamten waren hoch erfreut über die Ankunft dieser neuen Erscheinung. Der Gouverneur erklärte ihn für einen wohlgesinnten Mann — der Staatsanwalt für einen tüchtigen Mann — der Gendarmerieoberst für einen gelehrten — der Gerichtspräsident für einen hochgebildeten und ehrenwerten — der Polizeimeister für einen ehrenwerten und liebenswürdigen Mann und die Frau des Polizeimeisters für einen sehr liebenswürdigen und galanten Mann. Ja selbst Sabakewitsch, der selten gut über seine Mitmenschen redete, sprach, als er spät abends aus der Stadt zurückkehrte, während er sich entkleidete und zu seiner mageren Frau ins Bett stieg: „Schatz, ich war heute abend beim Gouverneur und beim Polizeimeister zu Mittag, wo ich die Bekanntschaft des Kollegienrates Pawel Iwanowitsch Tschitschikow gemacht habe: ein äußerst angenehmer Herr!“ Worauf seine Gemahlin „Hm“ machte und ihm einen leichten Fußtritt gab.

Diese für unseren Gast so schmeichelhafte Meinung bildete und erhielt sich so lange in der Stadt, bis eine seltsame Eigentümlichkeit des Reisenden sowie eine Unternehmung oder eine Passage, wie man sich in der Provinz auszudrücken pflegt, von der der Leser in Kürze Näheres erfahren soll, nahezu die ganze Stadt aufs höchste in Staunen und Zweifel versetzten.

Zweites Kapitel

Schon mehr als eine Woche lebte der Fremde in der Stadt, indem er beständig die Diners und Abendgesellschaften besuchte und so, wie man zu sagen pflegt, seine Zeit auf recht angenehme Weise verbrachte. Endlich entschloß er sich, seine Besuche auch über die Stadtgrenze auszudehnen und den beiden Gutsbesitzern, Manilow und Sabakewitsch, seinem Versprechen gemäß seine Aufwartung zu machen. Mag sein, daß ihn hierzu noch ein anderer triftigerer Grund veranlaßte, eine ernstere Angelegenheit, die ihm noch mehr am Herzen lag ... Doch von alledem wird der Leser schon nach und nach und an der richtigen Stelle etwas erfahren, vorausgesetzt, daß er die Geduld hat, diese lange Erzählung durchzulesen, die sich in ihrem weiteren Verlauf noch mehr ausdehnen und freier entfalten wird, je mehr sie sich dem Ende nähert, welches unser Werk krönen soll. Der Kutscher Seliphan empfing die Weisung, die Pferde in aller Frühe vor den uns schon bekannten Wagen zu spannen; Petruschka aber erhielt den Befehl, zu Hause zu bleiben und das Zimmer nebst dem Koffer zu bewachen. Es wird für den Leser nicht überflüssig sein, die Bekanntschaft dieser beiden Leibeigenen unseres Helden zu machen. Obwohl beide zwar nicht gerade bemerkenswerte und auffallende Persönlichkeiten, sondern wie man zu sagen pflegt, Leute zweiten oder sogar dritten Ranges sind, und obgleich die bedeutendsten Vorgänge und die Federn dieser Dichtung eben nicht auf ihnen ruhen, und sie höchstens einmal berühren oder leichthin streifen; — der Verfasser liebt es nun einmal so sehr, in allen Dingen möglichst gründlich und ausführlich zu sein, und so möchte er auch hier, trotzdem er selbst ein sehr guter Russe ist, genau und peinlich verfahren, wie ein Deutscher. Auch wird es gar nicht viel Zeit und Raum in Anspruch nehmen, weil nicht mehr viel zu dem hinzuzufügen bleibt, was der Leser schon weiß, wie z. B. dies, daß Petruschka einen etwas weiten braunen Rock trug, der einmal seinem Herrn gehört hatte, und daß er wie alle Leute seines Schlages eine große Nase und dicke Lippen hatte. Er neigte eher zur Schweigsamkeit als zur Geschwätzigkeit und war sogar von einem hohen Trieb zur Bildung d. h. zur Lektüre beseelt, worin er sich nicht irre machen ließ, auch wenn er den Inhalt der Bücher nicht verstehen konnte: es war ihm vollkommen gleichgültig, was er las, ob es nun „Die Abenteuer eines verliebten Ritters,“ eine einfache Fibel oder ein Gebetbuch war, — er las alles mit der gleichen Aufmerksamkeit; hätte man ihm ein chemisches Lehrbuch in die Hand gegeben, — er hätte auch dieses nicht verschmäht. Ihn freute nicht das, was er las, sondern das Lesen selbst, oder richtiger der Prozeß des Lesens, daß sich nämlich aus den Buchstaben stets irgend ein Wort bildete, dessen Bedeutung freilich mitunter nur der Teufel selbst enträtseln mochte. Diese Lektüre wurde gewöhnlich im Vorzimmer in liegender Stellung, auf dem Bett oder auf der Matratze vorgenommen, die infolge dieses Umstandes ganz zusammengedrückt und dünn wie ein Pfannkuchen war. Außer der Lesewut hatte er noch zwei Gewohnheiten, die zwei weitere Charakterzüge seiner Person bildeten: er liebte es zu schlafen, ohne sich auszukleiden, so wie er ging und stand, in dem bekannten Rock, und ferner schleppte er immer eine eigene Atmosphäre, jenen ihm eigentümlichen Geruch mit sich, der ein wenig an den Duft eines Wohnzimmers erinnerte, so daß er nur irgendwo sein Bett aufzustellen und seinen Mantel und seine Habseligkeiten mitzubringen brauchte, um sofort den Eindruck zu erwecken, daß dieses Zimmer seit zehn Jahren von Menschen bewohnt werde, selbst wenn bislang noch niemand darin gewohnt hatte. Tschitschikow, ein sehr empfindlicher Herr, der leicht Ekel empfand, rümpfte gewöhnlich die Nase, wenn er morgens gleichsam auf nüchternen Magen mit dem ersten Atemzuge diese Luft einzog, schüttelte den Kopf und murmelte: „Hol’ dich der Teufel, Kerl! Du schwitzt wohl? Geh doch einmal ins Bad!“ Worauf Petruschka gar nichts erwiderte und sich nur mit etwas zu schaffen machte; er nahm wohl die Bürste, um den an der Wand hängenden Frack seines Herrn auszubürsten, oder er begann einfach die Stube aufzuräumen. Woran dachte er wohl, während er still schwieg? Vielleicht sagte er zu sich selbst: „Du bist mir auch der Rechte! Bist du’s noch immer nicht satt, vierzigmal ein und dasselbe zu wiederholen ...“ Gott mag es wissen, es ist schwer zu erraten, was ein leibeigener Bedienter sich denkt, wenn sein Herr ihm gute Lehren gibt. Das ist etwa alles, was sich zunächst über Petruschka sagen läßt. Der Kutscher Seliphan war ein ganz anderer Mensch ... Aber der Autor hat schwere Bedenken, seine Leser so lange mit Leuten der unteren Klasse zu unterhalten, da er aus Erfahrung weiß, wie ungern sie die Bekanntschaft der niederen Stände machen. So ist nun einmal der Russe: nach nichts verlangt ihn mehr, als die Bekanntschaft von Leuten zu machen, ja mit ihnen familiär zu werden, die auch nur um einen Rang höher stehen als er, und der Gruß eines Grafen oder Fürsten gilt ihm mehr als die herzlichste Freundschaft. Der Autor macht sich sogar einige Sorgen, weil sein Held nur Kollegienrat ist. Ein Hofrat wird sich noch allenfalls dazu herablassen, ihn kennen zu lernen, aber die, welche bereits den Rang eines Generals erreicht haben — werden am Ende gar, was Gott verhüte, einen jener verächtlichen Blicke auf ihn werfen, wie sie der Mensch stolz auf alles wirft, was ihm zu Füßen einherkreucht, oder werden was noch schlimmer wäre, mit einer Nichtachtung an ihm vorbeigehen, die für den Autor tödlich wäre. Doch so betrübend beides auch sein mag, wir müssen dennoch zu unserem Helden zurückkehren. Nachdem er also noch am Abend sämtliche notwendigen Anordnungen getroffen hatte, erwachte er in aller Frühe, wusch sich, rieb sich vom Kopf bis zu den Füßen mit einem nassen Schwamm ab, was er nur des Sonntags zu tun pflegte — doch traf es sich gerade so, daß der Tag ein Sonntag war —, dann rasierte er sich, bis seine Wangen an Glanz und Glätte dem Atlas gleichkamen, zog den bekannten gesprenkelten preißelbeerfarbenen Frack und darüber einen mit Bärenfell gefütterten Pelzmantel an und ging die Treppe hinunter, wobei ihn der Kellner unter dem Arm faßte und bald auf der einen, bald auf der anderen Seite unterstützte. Er bestieg den Wagen, welcher rasselnd durch das Tor des Gasthofes auf die Straße hinaus rollte. Ein vorübergehender Pope lüftete seinen Hut und grüßte; ein paar Straßenjungen in schmutzigen Hemden streckten ihre Hand aus und murmelten: „Lieber Herr, eine Gabe für uns arme Waisen!“ Als der Kutscher bemerkte, daß der eine nicht übel Lust hatte, auf den Wagentritt zu springen, langte er ihm eins mit der Peitsche und der Wagen polterte weiter über die Steine. Man war nicht wenig erfreut, als man in der Ferne einen gestreiften Schlagbaum erblickte, der anzeigte, daß die Qualen des holperigen Pflasters und noch manche andere bald überstanden seien. Und nachdem Tschitschikow noch ein paarmal gegen den Kutschbock geflogen war, rollte der Wagen jetzt auf ziemlich weichem Boden fort. Kaum lag die Stadt hinter ihnen, da bot sich ihnen die bekannte Aussicht mit ihren Geschmacklosigkeiten und Langweiligkeiten zu beiden Seiten der Landstraße: kleine mit Moos bewachsene Erdhügel, junger Tannenwald, junge, niedrige und dünne Fichtenstämme, angekohlte Baumstämme, wildes Heidekraut und ähnliches Zeug. Hie und da begegnete man schnurgerade angelegten Dörfern, deren Häuser in ihrer Bauart an alte Holzklaftern erinnerten. Die Hütten waren mit grauen Dächern gedeckt und mit hölzernem Schnitzwerk verziert, das die Form eines gestärkten Handtuches hatte und vom Dache herabhing. Ein paar Bauern saßen wie gewöhnlich in Schafpelzen auf den Bänken vor der Tür. Die Bäuerinnen mit dicken Gesichtern und eingeschnürten Brüsten sahen aus den oberen Fenstern heraus. Durch das untere Fenster guckte ein Kalb oder steckte ein Schwein seine blinde Schnauze hervor. Mit einem Wort: das bekannte Bild. Nachdem sie fünfzehn Werst zurückgelegt hatten, erinnerte sich Tschitschikow, daß nach Manilows Beschreibung sein Gut nicht mehr fern sein könne; aber auch der sechzehnte Streckenpfosten flog vorüber, ohne daß etwas von dem Gute zu entdecken gewesen wäre. Und wenn sie nicht zufällig zwei Bauern begegnet wären, wäre es ihnen sicher nicht geglückt, das Gut zu erreichen. Auf die Frage, ob das Dorf Samanilowka noch weit sei, nahmen die Bauern die Mützen ab, und der eine von ihnen, der etwas klüger zu sein schien und einen Spitzbart trug, antwortete: „Vielleicht meinen Sie Manilowka und nicht Samanilowka?“ —

„Nun ja, Manilowka“ —

„Manilowka! Wenn du noch eine Werst fährst, dann bist du da, d. h. dann liegt es gerade rechts.“ —

„Rechts?“ sagte der Kutscher.

„Rechts,“ sagte der Bauer. „Das ist der Weg nach Manilowka. Ein Samanilowka gibt es überhaupt nicht. Es heißt so, d. h. sein Name ist Manilowka. Ein Samanilowka aber existiert hier nicht. Da gerad auf dem Berge wirst du ein steinernes, zweistöckiges Haus erblicken. Das ist das Herrenhaus. Da wohnt nämlich der Herr selbst. Und das ist Manilowka. Ein Samanilowka gibt es hier garnicht und hat es hier nicht gegeben.“

Man machte sich also auf, Manilowka zu suchen. Nachdem sie noch zwei Werst gefahren waren, kamen sie an einem Feldweg vorüber. Dann fuhren sie noch zwei, drei oder sogar vier Werst; aber das zweistöckige, steinerne Haus war noch immer nicht zu sehen. Hier erinnerte sich Tschitschikow, daß, wenn uns ein Freund auf ein Landgut einlädt, das fünfzehn Werst entfernt ist, die Entfernung dann sicherlich dreißig Werst beträgt. Die Lage des Dorfes Manilowka hatte gewiß wenig Verlockendes. Das Herrenhaus stand einsam auf einer Anhöhe und war jedem Winde ausgesetzt, dem es einfiel, zu blasen. Der Abhang des Berges, auf dem es stand, war mit schön geschorenem Rasen bedeckt. Hie und da standen Bosquets nach englischer Manier aus Flieder und gelben Akazien. Fünf bis sechs Birken streckten stellenweise in kleinen Gruppen ihre dünnbelaubten, schmächtigen Wipfel empor. Unter zweien von ihnen befand sich eine Laube mit einer flachen grünen Kuppel auf blauen, hölzernen Säulen, welche die Inschrift trug: „Tempel einsamer Betrachtungen“; etwas weiter unten lag ein Teich ganz im Grünen, was übrigens in den englischen Gärten der russischen Gutsbesitzer keine Seltenheit ist. Am Fuße dieser Anhöhe und teilweise auch längs des Abhanges schimmerten überall kleine Blockhäuser, welche unser Held aus irgend einem Grunde sofort zu zählen begann und deren er mehr als zweihundert zählte. Sie standen ganz nackt da, nirgends erblickte man ein Bäumchen oder etwas frisches Grün. Nichts wie die kahlen Balken starrten einen an. Die Landschaft wurde durch zwei Bauersfrauen belebt, welche mit malerisch aufgesteckten und aufgepolsterten Kleidern bis an die Knie im Teich wateten und an zwei Stöcken ein zerrissenes Netz hinter sich her schleiften, in dem sich zwei Krebse und eine silbern schimmernde Forelle gefangen hatten. Die Weiber schienen sich veruneinigt zu haben und traktierten einander mit Schimpfworten. Etwas abseits in der Ferne schimmerte ein Fichtenwald in melancholischem Blau. Auch das Wetter entsprach ganz der Stimmung, der Tag war weder klar noch trübe, sondern zeigte eine Art hellgraue Färbung, wie man sie nur an den alten Uniformen unserer Garnisonssoldaten bemerken kann, dieses zwar recht friedlichen, aber besonders an Sonntagen recht unmäßigen Truppenteils. Zur Vervollständigung des Bildes fehlte es nicht an einem Hahn, der die Rolle eines Wetterpropheten spielte und jeden Witterungsumschlag vorausverkündigte. Und obwohl sein Kopf von den Schnäbeln anderer Hähne wegen gewisser Liebeshändel vollkommen bis auf die Hirnschale zerhackt war, krähte er noch immer aus vollem Halse und schlug sogar noch mit den Flügeln, die zerfetzt und zerzupft waren, wie ein Paar alte zertretene Matten. Als Tschitschikow sich dem Tore näherte, bemerkte er den Hausherrn, der in einem grünen Rock von Wolle auf der Freitreppe stand und die Hände wie einen Schirm über die Augen hielt, um den heranrollenden Wagen besser betrachten zu können. In dem Maße, als der Wagen sich dem Hause näherte, wurden seine Augen munterer und verbreitete sich ein Lächeln über sein Gesicht.

„Pawel Iwanowitsch!“ rief er schließlich aus, während Tschitschikow aus dem Wagen stieg. „Endlich haben Sie sich doch an uns erinnert!“

Die beiden Freunde küßten sich sehr herzlich, und Manilow führte seinen Freund ins Zimmer. Obwohl die Zeit, während der sie den Flur, das Vorzimmer und den Speisesaal durchschreiten, nur sehr kurz ist, wollen wir doch zusehen, ob es uns nicht gelingt, sie uns zunutze zu machen, um ein paar Worte über den Hausherrn zu sagen. Hier aber muß der Autor leider gestehen, daß ein solches Unternehmen seine großen Schwierigkeiten hat. Es ist weit leichter einen Charakter von einer gewissen Größe zu schildern. Da braucht man die Farben nur so mit der Hand auf die Leinewand zu werfen — schwarze flammende Augen, dicke buschige Augenbrauen, die große Stirnfalte, der schwarze oder feuerrote Mantel kühn über die Schulter geworfen — und das Porträt ist fertig; aber all diese Herrschaften, deren es so viele auf der Welt gibt, die sich äußerlich so sehr ähnlich sehen, und doch bei näherem Studium und Anblick eine ganze Reihe äußerst feiner, kaum faßbarer Eigentümlichkeiten aufweisen — diese Leute sind äußerst schwer zu porträtieren. Da muß man seine Aufmerksamkeit bis aufs Äußerste anspannen, ehe es einem gelingt, all die feinen, fast verschwindenden Züge hervortreten zu lassen, und es wird überhaupt nötig, den durch die Menschenkenntnis geschärften Blick bis tief auf den Grund der Menschenseele hinabzusenken.

Nur Gott allein hätte vielleicht sagen können, was Manilow für einen Charakter hatte. Es gibt eine Gattung von Menschen, die man folgendermaßen zu bezeichnen pflegt: nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht dies noch das, in der Stadt nicht Bogdan, noch auf dem Land Seliphan, wie das russische Sprichwort lautet. Vielleicht könnte man Manilow zu ihnen zählen. Äußerlich machte er einen recht stattlichen Eindruck; seine Züge waren nicht unliebenswürdig, aber diese Liebenswürdigkeit war zu stark mit einer gewissen Süßigkeit versetzt; in seinem Betragen und Verhalten machte sich das Bestreben bemerkbar, Vertrauen und Zuneigung zu erwerben. Er lächelte einnehmend, war blond und hatte himmelblaue Augen. Wenn man sich mit ihm unterhielt, hätte ein jeder im ersten Augenblick ausgerufen: „Welch ein angenehmer und freundlicher Mensch!“ Im darauffolgenden Augenblick sagt man nichts mehr, und noch einen Augenblick später denkt man sich: ‚Pfui Teufel!‘ und macht, daß man fortkommt; oder wenn man ihm nicht entfliehen kann, fühlt man eine geradezu tödliche Langeweile. Nie hörte man ein lebhaftes oder anmaßendes Wort von ihm, wie man es von jedem hören kann, wenn man einen Gegenstand berührt, der ihm am Herzen liegt. Jeder hat sein Steckenpferd: bei dem einen sind es die Windhunde; dem anderen kommt es so vor, als ob er ein großer Musikliebhaber sei, und die ganzen Tiefen dieser Kunst empfinde; ein dritter versteht sich auf ein feudales Mittagessen; ein vierter bemüht sich eine Rolle zu spielen, die um wenigstens einen Zoll höher, als die ihm vorgeschriebene ist; ein fünfter, dessen Ziele weniger hoch gesteckt sind, schläft und träumt davon, wie er bei einem Gartenfeste Seite an Seite mit einem Flügeladjutanten stolz vor allen Menschen, vor seinen Freunden und Bekannten, ja sogar vor denen die er nicht kennt, vorbeispaziert; ein sechster hat eine so kräftige Hand, daß ihm der unnatürliche Wunsch kommt, einem vornehmen Herrn oder auch irgend einer Null einen kleinen Hieb zu versetzen, während die Hand des Siebenten sich durchaus nicht enthalten kann, überall Ordnung zu stiften und sich an die Herrn Stationschefs oder die Postillons heranzumachen — mit einem Wort, ein jeder hat etwas, was er sein Eigen nennt, nur Manilow hatte nichts derartiges. Zu Hause sprach er sehr wenig und dachte nur nach und philosophierte, worüber er aber nachdachte, das weiß wohl auch nur Gott allein. Man konnte auch nicht sagen, daß er sich mit der Landwirtschaft beschäftigte, denn er fuhr niemals aufs Feld; das ging alles wie von selbst, auch ohne ihn. Wenn der Verwalter zu ihm sagte: „Gnädiger Herr, es wäre doch gut, wenn wir es so und so machten,“ dann antwortete er gewöhnlich „Ja, ja, gar nicht übel!“ während er ruhig seine Pfeife weiter rauchte, eine Gewohnheit, die er noch zur Zeit seines Dienstes in der Armee angenommen hatte, wo er für einen der bescheidensten und höflichsten Offiziere gehalten wurde. „Ja, ja, durchaus nicht übel!“ wiederholte er. Wenn ein Bauer zu ihm kam, sich hinterm Ohr kratzte und sprach: „Gnädiger Herr, darf ich auf einen Tag fortgehen, um mir das Geld für die Steuern zu verdienen,“ dann sagte er: „Geh nur!“ und fuhr fort, seine Pfeife zu rauchen, wobei es ihm gar nicht in den Kopf kam, daß der Bauer nur fortwollte, um sich zu betrinken. Zuweilen betrachtete er von der Flurtreppe aus seinen Hof und seinen Teich, dann verbreitete er sich wohl darüber, wie schön es doch wäre, wenn man vom Hause aus einen unterirdischen Gang anlegen oder eine steinerne Brücke über den Teich bauen könnte, zu dessen beiden Seiten Buden lägen, wo Kaufleute allerhand Waren, die die Bauern brauchten, feilböten. Hierbei hatten seine Augen etwas ungemein Süßes und sein Gesicht nahm einen äußerst zufriedenen Ausdruck an. Übrigens blieb es trotz aller Projekte stets nur bei den Worten. In seinem Arbeitszimmer lag immer ein Buch mit einem Lesezeichen auf Seite 14 aufgeschlagen, in diesem Buche las er beständig, schon seit zwei Jahren. Im Hause fehlte es immer an etwas; im Salon standen prachtvolle Möbel, die mit eleganten Seidenstoffen bezogen und sicherlich nichts weniger als billig waren; aber der Stoff hatte wohl für die letzten zwei Lehnstühle nicht gereicht, denn sie standen noch immer so da, bloß mit Sackleinwand überspannt; übrigens warnte der Hausherr seine Gäste schon seit vielen Jahren jedesmal davor, sich auf einen der Stühle niederzulassen und sagte: „Setzen Sie sich nicht auf diese Stühle, sie sind noch nicht fertig.“ In einzelnen Zimmern standen überhaupt keine Möbel, obwohl Manilow zwei Tage nach der Hochzeit zu seiner Frau gesagt hatte: „Herz, wir müssen morgen dafür sorgen, daß wir uns wenigstens für die erste Zeit Möbel kommen lassen.“ Abends wurde ein höchst eleganter Armleuchter aus dunkler Bronze, mit drei antiken Grazien und einem reizenden Perlmutterschirm auf den Tisch gestellt, neben ihm aber stand irgend ein gewöhnlicher kupferner, hinkender, verbogener, und ganz mit Talg bedeckter Invalide, und weder der Hausherr noch die Hausfrau, noch die Diener schienen etwas davon zu bemerken. Seine Frau ..., doch sie waren ja vollkommen mit einander zufrieden. Trotzdem sie schon mehr als acht Jahre miteinander verheiratet waren, schenkten sie sich noch immer Apfelscheibchen, Bonbons oder Nüsse und sprachen mit einer rührend zärtlichen Stimme, welche von inniger Liebe zeugte: „Mach doch dein Mündchen auf, Herzchen, ich will dir dies Stückchen hineinstecken.“ Es versteht sich von selbst, daß sich das Mündchen in solchen Fällen äußerst graziös öffnete. Zum Geburtstag bereitete man sich allerhand Überraschungen — man schenkte sich z. B. ein Perlenfutteral für die Zahnbürste usw. Und es geschah gar nicht selten, daß, während sie beide auf dem Sofa saßen, ohne besonderen Grund er seine Pfeife und sie ihre Arbeit sinken ließ, die sie bis dahin in der Hand hatten, um sich einen langen schmachtenden Kuß auf die Lippen zu drücken, währenddessen man eine kleine Strohhalmzigarre hätte ausrauchen können. Mit einem Worte, sie waren das, was man glücklich nennt. Man könnte freilich einwenden, es gäbe im Hause noch manches andre zu tun, als sich lange Küsse zu geben und Überraschungen zu bereiten, man könnte überhaupt noch vieles andre einwenden. Warum wurden z. B. die Speisen so schlecht und so töricht zubereitet? Warum waren die Vorratskammern so leer? Warum stahl die Haushälterin? Warum waren die Diener immer so unsauber und betrunken? Warum schliefen die Knechte beständig oder lungerten müßig herum? Aber dies alles sind gemeine Dinge, und Frau Manilow war eine Dame von guter Erziehung. Wie bekannt wird die gute Erziehung in Pensionaten erworben, und in diesen Pensionaten gibt es, wie jedermann weiß, drei Gegenstände, die die Grundlage aller menschlichen Tugend ausmachen: die französische Sprache, deren man für das häusliche Glück der Familie bedarf: das Klavierspiel, das dazu dient, dem Gatten ein Paar angenehme Stunden zu bereiten, und schließlich der eigentlich wirtschaftliche Teil: das Häkeln von Geldbeuteln und ähnlichen Überraschungen. Übrigens gibt es mancherlei Verbesserungen und Vervollkommnungen in den Methoden, besonders in neuerer Zeit: es hängt eben alles von der Verständigkeit und der Fähigkeit der Pensionsvorsteherin ab. In gewissen Pensionaten ist es so, daß zuerst das Klavier, dann die französische Sprache und erst zuletzt der wirtschaftliche Teil kommt. Mitunter aber ist es auch gerade umgekehrt: erst kommt der wirtschaftliche Teil: das Häkeln von kleinen Geschenken usw., dann erst die französische Sprache und endlich das Klavierspiel. Die Methoden sind eben verschieden. Doch hier wäre es am Platze, noch die Bemerkung zu machen, daß Frau Manilow .... allein, ich muß gestehen, daß ich mich ein wenig fürchte, über die Damen zu reden, und außerdem ist es längst Zeit, daß ich zu unseren Helden zurückkehre, die schon seit einigen Minuten vor der Türe des Salons stehen und sich gegenseitig bitten, doch voranzugehen.

„Bitte machen Sie sich doch meinetwegen keine Umstände, bitte nach Ihnen,“ sagte Tschitschikow.

„Nein, bitte, Pawel Iwanowitsch, Sie sind mein Gast,“ antwortete Manilow und zeigte mit der Hand auf die Tür.

„Aber ich bitte, bemühen Sie sich doch nicht, nein, bitte bemühen Sie sich nicht; bitte gehen Sie doch voran,“ sagte Tschitschikow.

„Nein, ich bitte um Entschuldigung, ich kann es nicht zugeben, daß mein Gast, ein so liebenswürdiger und feingebildeter Herr, nach mir eintrete.“

„Warum denn feingebildet? Bitte gehen Sie voran!“

„Nein, seien Sie doch so freundlich und treten Sie ein.“

„Warum denn nur?“

„Nun, so!“ sagte Manilow mit einem freundlichen Lächeln. Endlich zwängten sich beide Freunde seitwärts durch die Tür, wobei einer den andern leicht zusammendrückte.

„Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Frau vorstelle,“ sagte Manilow. „Herzchen! Dies ist Pawel Iwanowitsch.“

Tschitschikow erblickte jetzt eine Dame, die er gar nicht bemerkt hatte, während er und Manilow sich in das Zimmer hineinkomplimentierten. Sie war ziemlich hübsch und trug ein Kleid, das ihr gut zu Gesichte stand. Sie hatte einen hellen Kapott von Seidenstoff an, der ihr sehr gut saß; die kleine schmale Hand ließ schnell etwas auf den Tisch fallen und preßte ein Battisttaschentuch mit gestickten Ecken zusammen. Dabei erhob sie sich vom Sofa, auf dem sie gesessen hatte. Tschitschikow küßte ihr nicht ohne ein gewisses Vergnügen die Hand. Frau Manilow sagte mit ihrer etwas gaumigen Aussprache zu ihm, er habe ihnen eine große Freude mit seinem Besuch bereitet, und es verginge kein Tag, daß ihr Mann sich seiner nicht erinnere.

„Ja!“ murmelte Manilow, „meine Frau hat mich oft gefragt: ‚Warum kommt denn dein Freund nicht?‘ Ich aber antwortete: ‚Warte nur, er wird schon kommen!‘ Und nun haben Sie uns endlich doch noch mit Ihrem Besuche beehrt. Sie haben uns wirklich einen großen Genuß bereitet — es ist wie ein Maitag, wie ein Fest des Herzens.“ ...

Als Tschitschikow vernahm, daß schon von Festen des Herzens die Rede war, wurde er ein wenig verlegen und versetzte, er sei weder ein Mann von berühmtem Namen, noch besitze er einen hohen Rang und Titel.

„Sie besitzen alles,“ unterbrach ihn Manilow mit demselben einnehmenden Lächeln, „Sie besitzen alles und sogar noch mehr!“

„Wie haben Sie unsere Stadt gefunden?“ fragte jetzt Frau Manilow. „Haben Sie Ihre Zeit angenehm verbracht?“

„Eine vortreffliche Stadt, eine herrliche Stadt!“ versetzte Tschitschikow, „ich habe dort wunderschöne Stunden verlebt; die Gesellschaft ist äußerst liebenswürdig und zuvorkommend!“

„Und wie hat Ihnen unser Gouverneur gefallen?“ fragte Frau Manilow weiter.

„Nicht wahr? ein äußerst ehrenwerter und liebenswürdiger Mann?“ fügte Manilow hinzu.

„Sehr richtig,“ sagte Tschitschikow, „ein höchst ehrenwerter Mann! Und wie vortrefflich er seine Stellung ausfüllt, welches Verständnis er für sie hat! Es wäre zu wünschen, wir hätten mehr solche Menschen!“

„Wie er es versteht, einen jeden zu behandeln, und in all seinen Handlungen den richtigen Takt zu wahren,“ fuhr Manilow lächelnd fort, und dabei kniff er vor Vergnügen die Augen zusammen wie ein Kater, den man sanft hinter den Ohren krabbelt.

„Ein ungemein liebenswürdiger und höflicher Mann!“ sagte Tschitschikow, „und welch ein Künstler! Ich hätte mir gar nicht vorstellen können, daß er so reizende Stickereien und Handarbeiten machen kann. Er hat mir eine Börse gezeigt, die er selbst verfertigt hat; man findet selten Damen, die so schön sticken.“

„Und der Vizegouverneur? Ein reizender Mensch! nicht wahr?“ bemerkte Manilow und kniff die Augen wieder zusammen.

„Eine äußerst würdige und hochachtbare Persönlichkeit!“ versetzte Tschitschikow.

„Erlauben Sie mir noch eine Frage: Wie hat Ihnen der Polizeimeister gefallen? Auch ein sehr liebenswürdiger Herr? Nicht wahr?“

„Oh, ein äußerst liebenswürdiger Herr! Und wie klug und belesen er ist! Ich habe zusammen mit dem Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten bis zum frühen Morgen Whist bei ihm gespielt. Ein ganz ungemein würdiger Herr!“

„Und wie denken Sie von der Gattin des Polizeimeisters?“ fragte hier Frau Manilow. „Finden Sie nicht auch, daß es eine äußerst liebenswürdige Dame ist?“

„Oh, das ist eine der würdigsten und achtbarsten Damen, die ich kennen gelernt habe!“ erwiderte Tschitschikow.

Auch der Gerichtspräsident und der Postmeister wurden nicht vergessen; so nahm man allmählich wohl sämtliche Beamten der Stadt durch, und es zeigte sich, daß es lauter höchst ehrenwerte Männer waren.

„Leben Sie immer auf dem Lande?“ fragte endlich Tschitschikow.

„Den größten Teil des Jahres!“ antwortete Manilow. „Wir fahren auch wohl hin und wieder in die Stadt, um mit gebildeten Menschen zusammen zu sein. Man verwildert ja ganz, wissen Sie, wenn man sich gänzlich vor der Welt verschließt.“

„Sehr wahr, sehr richtig!“ versetzte Tschitschikow.

„Es wäre ja natürlich etwas andres,“ fuhr Manilow fort, „wenn man angenehme Nachbarn, wenn man z. B. einen Menschen hätte, mit dem man sich sozusagen aussprechen, über die guten Manieren und feinen Umgangsformen unterhalten, irgend eine Wissenschaft treiben könnte, — wissen Sie, so was fürs Herz, was einen über sich selbst hinaushebt ...“ Er wollte noch etwas hinzufügen, da er aber merkte, daß er sich ein wenig vergaloppiert hatte, fuhr er nur mit der Hand durch die Luft und sagte: „Dann hätten natürlich das Land und die Einsamkeit viele Annehmlichkeiten. Aber ich habe tatsächlich niemanden. Höchstens liest man einmal den „Sohn des Vaterlandes“.

Tschitschikow war vollkommen damit einverstanden und fügte hinzu, es könne in der Tat gar nichts Schöneres geben, als ganz für sich allein zu leben, den herrlichen Anblick der Natur zu genießen und nur hin und wieder ein Buch zu lesen ...

„Aber wissen Sie,“ versetzte Manilow, „wenn man keinen Freund hat, dem man sich mitteilen kann ...“

„Oh ja, das ist richtig, das ist ganz richtig!“ unterbrach ihn Tschitschikow, „was könnten uns denn alle Schätze der Welt helfen? ‚Gute Freunde sind besser als alle Reichtümer der Erde‘ hat einmal ein weiser Mann gesagt.“

„Und wissen Sie, Pawel Iwanowitsch,“ sagte Manilow und machte dabei ein freundliches oder vielmehr unangenehm süßliches Gesicht, gleich einer Mixtur, die der allzu gewandte Arzt in der Absicht, dem Patienten einen besonderen Gefallen zu erweisen, mit garzuviel Syrup versetzt hat, „dann spürt man einen ganz besonderen, sozusagen — geistigen Genuß ... Wie zum Beispiel gleich heute, wo mir der Zufall das Glück, ich möchte sagen, das seltene, ungetrübte Glück verschaffte, mich mit Ihnen unterhalten und Ihre angenehme Gesellschaft genießen zu können ...“

„Nein, ich muß doch bitten, was für eine angenehme Gesellschaft? ... Ich bin nur ein unbedeutender Mensch und sonst nichts,“ erwiderte Tschitschikow.

„Ach, Pawel Iwanowitsch! Lassen Sie mich ganz aufrichtig sein! Ich würde mit Freuden die Hälfte meines Vermögens hingeben, um nur einen Teil Ihrer großen Vorzüge zu besitzen!“

„Im Gegenteil, ich hätte vielmehr allen Anlaß, mich zu freuen ...“

Es läßt sich kaum sagen, wie dieser gegenseitige Gefühlserguß der beiden Freunde geendigt hätte, wenn nicht der Diener eingetreten wäre, um zu melden, das Essen sei aufgetragen.

„Darf ich bitten,“ sagte Manilow.

„Sie werden entschuldigen, wenn wir Ihnen nicht mit einem Mittagessen aufwarten können, wie Sie es wohl in den Hauptstädten und in vornehmen Häusern gewohnt sind: bei uns ist’s nur einfach, nach russischer Sitte, nichts wie Kohlsuppe, aber es kommt von Herzen. Bitte seien Sie so freundlich.“

Hierauf stritten sie sich noch eine Weile herum, wer zuerst eintreten solle, bis sich Tschitschikow endlich dazu entschloß und sich seitwärts durch die Tür drückte.

Im Speisezimmer warteten zwei Knaben, Manilows Söhne; sie befanden sich in dem Alter, wo man die Kinder schon am Tische mitessen, aber sie noch auf hohen Stühlen sitzen läßt. Neben ihnen stand der Hauslehrer, der sich höflich lächelnd verbeugte. Die Hausfrau setzte sich vor die Suppenterrine; der Gast mußte zwischen dem Hausherrn und der Hausfrau Platz nehmen, der Diener band den Kindern die Servietten vor.

„Was für reizende Knaben!“ sagte Tschitschikow mit einem Blick auf die Kinder. „Wie alt sind sie?“

„Der ältere ist sieben Jahre, der jüngere ist gestern sechs Jahre alt geworden,“ erklärte Frau Manilow.

„Themistokljus!“ sagte Manilow und wandte sich an den älteren, der sein Kinn unter der Serviette hervorzuziehen suchte, die ihm der Diener vorgebunden hatte. Tschitschikow zog die Augenbrauen leicht in die Höhe, als er diesen halbgriechischen Namen hörte, dem Manilow aus einem unbekannten Grunde die Endung jus gegeben hatte; aber er beeilte sich, seinem Gesicht sofort wieder den gewohnten Ausdruck zu verleihen.

„Themistokljus, sage mir doch, welches ist die schönste Stadt in Frankreich?“

Jetzt richtete der Lehrer seine ganze Aufmerksamkeit auf Themistokljus, als wolle er ihm in die Augen springen, aber schließlich beruhigte er sich wieder und nickte nur mit dem Kopf, als Themistokljus antwortete: „Paris.“

„Und welches ist bei uns die schönste Stadt?“ fragte Manilow wieder.

Wieder heftete der Lehrer den Blick auf den Knaben.

„Petersburg!“ antwortete Themistokljus.

„Und weiter?“

„Moskau,“ sagte Themistokljus.

„Ein kluger Knabe! Brav, mein Junge!“ sagte Tschitschikow. „Sagen sie bloß ...,“ fuhr er fort, indem er sich mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens an Manilow wandte. „So jung und schon ein solches Wissen. Ich muß Ihnen gestehen, dieses Kind hat außerordentliche Fähigkeiten!“

„Oh, Sie kennen ihn noch nicht!“ erwiderte Manilow, „er ist ungemein scharfsinnig. Bei dem Jüngeren, Alcid, geht es nicht so schnell, dieser dagegen ... wenn der irgend etwas bemerkt, einen Käfer oder ein Würmchen, da blitzen seine Augen nur so, gleich läuft er hin und merkt sich’s. Ich will ihn die diplomatische Karriere ergreifen lassen. Themistokljus!“ fuhr er fort, indem er sich wieder an den Knaben wandte, „willst du Gesandter werden?“

„Ja“ antwortete Themistokljus, während er an seinem Brot kaute und mit dem Kopfe hin und her wackelte.

Jetzt aber wischte der hinter dem Stuhl stehende Diener dem Gesandten die Nase ab, und das war nötig, sonst wäre ihm ein großer, recht überflüssiger Tropfen in die Suppe gefallen. Das Gespräch wandte sich jetzt den Genüssen des stillen und zurückgezogenen Landlebens zu und wurde nur durch einige Bemerkungen der Hausfrau über das Stadttheater und die Schauspieler unterbrochen. Der Lehrer beobachtete die Sprechenden mit gespannter Aufmerksamkeit, und sowie er bemerkte, daß sie ihre Gesichter zu einem Lächeln verzogen, machte er seinen Mund weit auf und lachte krampfhaft. Wahrscheinlich hatte er ein dankbares Gemüt und wollte sich dem Hausherrn auf diese Weise für die gute Behandlung erkenntlich zeigen. Nur einmal machte er eine ernste Miene und klopfte streng auf den Tisch, wobei er seinen Blick auf die ihm gegenübersitzenden Kinder richtete. Und das hatte seinen guten Grund, denn Themistokljus hatte den Alcid ins Ohr gebissen, welcher die Augen zusammenkniff, den Mund weit öffnete und in ein klägliches Geschrei ausbrechen wollte; da er aber wohl ahnte, daß er dadurch um die süße Speise kommen würde, brachte er den Mund wieder in seine frühere Stellung und begann an seiner Hammelkeule zu nagen, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, die nur so vom Fette glänzten.

Die Hausfrau wandte sich mehrmals mit folgenden Worten an Tschitschikow: „Sie essen ja gar nichts, Sie haben sich aber so wenig genommen,“ worauf Tschitschikow regelmäßig versetzte: „Ich danke bestens, ich bin satt. Eine angenehme Unterhaltung schmeckt besser als der schönste Leckerbissen.“ Dann stand man vom Tische auf. Manilow war äußerst zufrieden und wollte seinen Gast eben in den Salon geleiten, indem er ihm die Hand auf den Rücken legte und ihn sanft unterstützte, als Tschitschikow plötzlich mit höchst bedeutungsvoller Miene erklärte, er müsse ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen.

„Dann möchte ich Sie bitten, mir in mein Zimmer zu folgen,“ versetzte Manilow und führte den Gast in ein kleines Gemach, dessen Fenster auf den bläulich schimmernden Wald hinausging. „Dies ist mein kleiner Winkel,“ sagte Manilow.

„Ein freundliches Stübchen,“ sprach Tschitschikow und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Dieses hatte in der Tat mancherlei Annehmlichkeiten: die Wände waren mit einer undefinierbaren Farbe, halb blau, halb grau angestrichen; das Ameublement bestand aus vier Stühlen, einem Lehnstuhl und dem Tisch, auf dem man das Buch mit dem eingelegten Lesezeichen, das wir schon bei Gelegenheit erwähnt haben, ein paar vollgeschriebene Bogen Papier und vor allem sehr viel Tabak erblickte. Der Tabak war in mancherlei Gestalt vertreten: in Form von Paketen, als Inhalt der Tabaksdose, oder er lag einfach in Häufchen auf dem Tische herum. Auf beiden Fensterbänken sah man auch ein paar Häuflein Pfeifenasche, die sorgfältig in hübschen und regelmäßigen Abständen angeordnet waren. Man hatte den Eindruck, daß diese Beschäftigung dem Hausherrn mitunter zum Zeitvertreib diente.

„Darf ich Sie bitten, in diesem Lehnstuhl Platz zu nehmen,“ sagte Manilow. „Hier sitzen Sie bequemer.“

„Erlauben Sie mir, auf dem Stuhl Platz zu nehmen!“

„Erlauben Sie mir, Ihnen das nicht zu erlauben!“ sagte Manilow lächelnd. „Dieser Lehnstuhl ist nun einmal für den Gast bestimmt. Ob Sie nun wollen oder nicht — Sie müssen drin Platz nehmen!“

Tschitschikow setzte sich.

„Gestatten Sie, daß ich Ihnen eine Pfeife anbiete!“

„Nein danke, ich rauche nicht!“ sagte Tschitschikow freundlich und wie bedauernd.

„Warum nicht?“ fragte Manilow ebenfalls freundlich und mit dem Tone des Bedauerns.

„Ich bin es nicht gewöhnt und fürchte mich, es mir anzugewöhnen; man sagt, das Rauchen sei schlecht für die Gesundheit!“

„Erlauben Sie mir, zu bemerken, daß dies ein Vorurteil ist. Ich bin sogar der Ansicht, daß das Pfeifenrauchen weit gesünder ist als das Tabakschnupfen. Wir hatten einen Leutnant in unserem Regiment, einen herrlichen, außerordentlich gebildeten Menschen, der legte die Pfeife nie aus dem Munde, und nicht nur bei Tisch, sondern mit Respekt zu sagen, auch nicht an anderen Orten. Und heute ist er bereits vierzig Jahre alt und Gott sei dank so gesund, wie nur möglich.“

Tschitschikow wandte ein, daß dies in der Tat vorkomme; überhaupt gäbe es viele Dinge in der Natur, die auch ein großer Geist nicht begreifen könne.

„Aber erlauben Sie mir, Ihnen zuvor eine Bitte vorzutragen ...“ fuhr er mit einer Stimme fort, in der ein seltsamer, oder doch beinahe seltsamer Ausdruck lag, und dabei sah er sich aus irgend einem Grunde um. Auch Manilow sah sich um, ohne daß man hätte sagen können weshalb. „Wie lange ist es her, daß Sie die Revisionsliste zum letztenmal einreichten?“

„Ja, das ist schon sehr lange her, oder um die Wahrheit zu sagen, ich erinnere mich nicht mehr.“

„Sind Ihnen seitdem viele Bauern gestorben?“

„Das weiß ich leider nicht; darnach muß man den Verwalter fragen. Hollah! Bursch! Ruf doch den Verwalter, er muß heute hier sein.“

Bald darauf erschien der Verwalter. Das war ein Mann von etwa vierzig Jahren; er hatte ein glattrasiertes Kinn und einen Gehrock an, offenbar führte er ein sehr ruhiges Leben, denn sein Gesicht war rundlich und wohlgenährt, die gelbe Hautfarbe und die kleinen Äuglein waren ein Beweis dafür, daß er mit weichen Daunendecken und Plumeaus aufs beste vertraut war. Man sah sofort, daß er seine Laufbahn vollendet hatte, gleich allen Leibeigenen, die die Güter ihrer Herrn verwalten; erst war er ein gewöhnlicher Junge gewesen, der im Hause seines Herrn aufgewachsen und Lesen und Schreiben gelernt hatte; dann hatte er irgend eine Agaschka, die Wirtschafterin war und bei der Hausfrau in besonderer Gunst stand, geheiratet, und war dann selbst Hausmeister und endlich Verwalter geworden. In seinem neuen Amt als Verwalter benahm er sich natürlich genau so wie alle Verwalter: er verkehrte und befreundete sich mit den reicheren Leuten im Dorf, legte den Ärmeren noch neue Lasten auf, stand morgens früh gegen neun Uhr auf, wartete auf seine Teemaschine und trank Tee.

„Hör mal, mein Lieber! Wieviel Bauern sind bei uns gestorben, seit wir die Revisionsliste zum letztenmal eingereicht haben?“

„Wie meinen Sie das. Wie viele? Seitdem sind viele gestorben,“ sagte der Verwalter, rülpste und hielt sich die Hand wie ein Schild vor den Mund.

„Ja, ja, das habe ich mir auch gedacht,“ nahm jetzt Manilow das Wort, „es sind sehr viele gestorben!“ Hierbei wandte er sich an Tschitschikow, indem er noch hinzufügte: „Wirklich sehr viele!“

„Und wieviel werden es ungefähr sein?“ fragte Tschitschikow.

„Ja, wie viele ungefähr?“ fiel Manilow ein.

„Ja, wie soll ich sagen — wie viele ungefähr. Das weiß man ja nicht, wie viele gestorben sind. Niemand hat sie gezählt.“

„Natürlich,“ sagte Manilow, indem er sich an Tschitschikow wandte, „das dachte ich mir gleich, die Sterblichkeit war sehr groß; wir wissen gar nicht, wie viele gestorben sind.“

„Bitte, zähle sie doch einmal,“ sagte Tschitschikow, „und stelle mir ein ausführliches Verzeichnis aller Namen auf.“

„Jawohl, aller Namen!“ sagte Manilow.

Der Verwalter sagte: „Zu Befehl!“ und entfernte sich.

„Und aus welchem Grunde interessieren Sie sich dafür?“ fragte Manilow, nachdem der Verwalter fortgegangen war.

Diese Frage schien dem Gast einige Verlegenheit zu bereiten: in dem Ausdruck seines Gesichtes machte sich eine gewisse Anstrengung bemerkbar, die ihn sogar ein wenig erröten ließ — die Anstrengung, die man macht, wenn man etwas aussprechen will, und die Worte wollen sich nicht fügen. Und in der Tat, was Manilow endlich zu hören bekam, waren so seltsame und unerhörte Dinge, wie sie noch nie ein menschliches Ohr vernommen hat.

„Sie fragen mich: aus welchem Grunde? Der Grund ist folgender: ich hätte Lust, die Bauern zu kaufen,“ sagte Tschitschikow, fing an zu stottern, und schloß seine Rede.

„Und darf ich mir die Frage erlauben,“ sagte Manilow, „wie wollen Sie die Bauern kaufen, mit dem Lande, oder um sie mitzunehmen, d. h. also ohne Land?“

„Nein, ich will eigentlich keine Bauern,“ sagte Tschitschikow, „ich möchte tote ... haben.“

„Wie? Verzeihen Sie ..., ich höre ein wenig schlecht, mir schien, ich hätte ein ganz seltsames Wort gehört ...“

„Ich möchte die toten Bauern kaufen, die aber nach der letzten Revision noch als lebendig eingetragen sind,“ erklärte Tschitschikow.

Manilow ließ die Pfeife auf den Boden fallen, machte den Mund weit auf und saß ein paar Minuten lang mit offenem Munde da. Die beiden Freunde, die noch soeben von den Annehmlichkeiten der Freundschaft gesprochen hatten, blieben unbeweglich sitzen und starrten sich gegenseitig an wie zwei Porträts, die man in der guten alten Zeit zu beiden Seiten des Spiegels aufzuhängen pflegte. Endlich hob Manilow die Pfeife auf und sah seinem Gast von unten ins Gesicht, wie um zu erforschen, ob nicht ein Lächeln um seine Lippen spiele, und ob er sich nicht bloß einen Spaß erlaubt hätte: aber er konnte nichts derartiges entdecken, im Gegenteil, das Gesicht erschien ihm noch ernster und würdevoller als gewöhnlich. Dann überlegte er ein wenig, ob der Gast nicht plötzlich verrückt geworden sei, und sah ihn aufmerksam und mit einigem Grauen an, aber seine Augen waren ganz klar, er konnte nichts von jenem wilden, unruhigen Feuer in ihnen entdecken, wie es im Auge des Wahnsinnigen flackert: alles war in Ordnung, ganz wie es sich gehört. Und so sehr Manilow auch darüber nachsann, was nun geschehen sollte und was hier zu tun sei, es wollte ihm nichts andres einfallen, als den Tabakrauch in feinen Strahlen auszublasen.

„Ich möchte also wissen, ob Sie mir diese zwar tatsächlich toten, aber vom Standpunkt der gesetzlichen Form noch lebenden Seelen, überweisen oder abtreten wollen, wie es Ihnen am besten erscheint.“

Aber Manilow war so verwirrt und verlegen, daß er ihn nur ansah, ohne ein Wort finden zu können.

„Mir scheint, Sie können sich nicht dazu entschließen?“ bemerkte Tschitschikow.

„Ich ... oh nein, das ist es nicht,“ sagte Manilow, „aber ich kann nicht verstehen ... entschuldigen Sie ... ich war natürlich nicht in der Lage, mir eine so glänzende Bildung anzueignen, von der gewissermaßen jede Ihrer Bewegungen Zeugnis ablegt; auch besitze ich nicht die hohe Gabe, mich so kunstvoll auszudrücken .... Vielleicht ... verbirgt sich hier ... hinter Ihrer Erklärung, die Sie soeben abgaben ... etwas andres ... Vielleicht war es nur eine stilistische Schönheit, um deretwillen Sie sich so auszudrücken beliebten?“

„Oh nein!“ fiel hier Tschitschikow lebhaft ein, „nein, ich nehme den Gegenstand ganz buchstäblich, ganz so wie er ist, d. h. ich meine die Seelen, die tatsächlich schon gestorben sind.“

Manilow kam ganz aus der Fassung. Er fühlte, daß hier etwas geschehen, daß er ihm irgend eine Frage stellen müsse, und doch konnte nur der Teufel wissen, was das für eine Frage war. Der einzige Ausweg, den er schließlich fand, bestand wiederum darin, daß er eine Wolke Tabakrauch ausblies, diesmal aber nicht durch den Mund, sondern durch die Nasenlöcher.

„Wenn die Sache also keine Schwierigkeiten hat, so können wir mit Gottes Hilfe gleich an die Aufstellung des Kaufvertrages gehen,“ sagte Tschitschikow.

„Wie? Ein Kaufvertrag über tote Seelen?“

„Nein! Das nicht!“ antwortete Tschitschikow. „Wir sagen natürlich, sie seien lebendig, wie es ja in der Tat in den Revisionslisten steht. Ich pflege nie von den bürgerlichen Gesetzen abzuweichen; und obwohl ich schon oft im Dienste darunter zu leiden hatte, ich kann nun mal nicht anders; die Pflicht ist mir heilig, und das Gesetz ... vor dem Gesetz muß ich verstummen.“

Die letzten Worte erregten Manilows Beifall, obgleich er den eigentlichen Sinn der Sache noch immer nicht erfassen konnte; statt zu antworten, nahm er ein paar so heftige Züge aus seiner Pfeife, daß diese zu tönen begann wie ein Fagott. Es war fast so, als ob er sich aus der Pfeife eine Ansicht über diesen geradezu unerhörten Fall herausholen wollte; die Pfeife aber gab nur heisere Töne von sich und sonst nichts.

„Vielleicht haben Sie noch irgend einen Zweifel?“

„Nicht doch! Nicht im geringsten! Sie dürfen nicht etwa glauben, ich hätte ein ... gewissermaßen kritisches Vorurteil in bezug auf Ihre Persönlichkeit. Aber darf ich mir die Frage gestatten: wird dieses Unternehmen ... oder um mich sozusagen deutlicher auszudrücken ... dies Geschäft ... wird dieses Geschäft nicht am Ende im Widerspruch mit den bürgerlichen Satzungen und den weiteren Perspektiven Rußlands stehen?“

Bei diesen Worten machte Manilow eine lebhafte Kopfbewegung und sah Tschitschikow mit bedeutungsvoller Miene gerade ins Gesicht; hierbei lag in all seinen Zügen und besonders in den zusammengepreßten Lippen ein so ernster Ausdruck, wie man ihn wohl noch nie an einem Menschenantlitz beobachtet hat, es sei denn bei einem ganz ungewöhnlich klugen Minister, und auch bei dem nur, während er über ein ganz besonders schwieriges Problem nachsann.

Aber Tschitschikow erklärte einfach, ein solches Unternehmen oder Geschäft könne den bürgerlichen Satzungen und den weiteren Perspektiven Rußlands durchaus nicht zuwiderlaufen, und fügte nach einem Augenblick noch hinzu, es würde dabei sogar noch etwas für den Fiskus abfallen, da der Staat ja seine gesetzlichen Gebühren erhalte.

„So meinen Sie also ...?“

„Ich glaube, es geht sehr gut!“

„Nun, wenn es gut geht, ist es freilich eine andre Sache. Dann habe ich nichts dagegen,“ sagte Manilow völlig beruhigt.

„Jetzt müssen wir uns noch über den Preis einigen ...“

„Wie? über den Preis?“ sagte Manilow wieder ein wenig verblüfft. „Sie glauben doch nicht, daß ich Geld für Seelen nehmen werde, die doch gewissermaßen ... ihr Dasein vollendet haben? Aber selbst wenn Sie eine, ich möchte sagen, so phantastische Laune anwandelte, dann würde ich für meinen Teil sie Ihnen ohne jede Vergütung überlassen und auch den Kaufvertrag auf mich nehmen.“

Der Geschichtsschreiber, der über die hier mitgeteilten Begebenheiten berichtet, verdiente sicherlich den schärfsten Tadel, wenn er an dieser Stelle zu erwähnen unterließe, daß unser Gast von einer hohen Freude erfüllt wurde, als er Manilow solche Worte aussprechen hörte. So gesetzt und besonnen er auch war, er hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht, wie ein Ziegenbock, was, wie bekannt, nur im Ausbruche höchster Freude geschieht. Er drehte sich so heftig im Lehnstuhl um, daß der wollene Stoff, mit dem der Sitz überzogen war, platzte; auch Manilow wurde aufmerksam und betrachtete ihn mit einigem Erstaunen. In seiner überquellenden Dankbarkeit überschüttete ihn der Gast förmlich mit Worten der Anerkennung, bis jener ganz verlegen wurde, errötete, eine abwehrende Bewegung mit dem Kopfe machte und endlich erklärte, das sei ja ein reines Nichts, er habe ihm eigentlich nur einen Beweis für seine herzliche Zuneigung und den magnetischen Zug seiner Seele geben wollen, und tote Seelen — das sei doch sozusagen eine Bagatelle — die reinste Lumperei.

„Durchaus keine Lumperei,“ sagte Tschitschikow und drückte ihm die Hand.

Hierbei stieß er einen sehr tiefen Seufzer aus. Wie es scheint, hatte er große Lust, sein Herz auszuschütten; und nicht ohne Ausdruck und Gefühl sprach er zuletzt folgende Worte: „Oh! wenn Sie wüßten, was Sie einem Menschen ohne Namen und Titel mit diesem Geschenk, das anscheinend nur eine Kleinigkeit ist, für einen Dienst erwiesen haben. Wahrlich! Was habe ich nicht alles gelitten! Wie ein einsamer Kahn inmitten wütender Wogen ... Was für Verfolgungen hatte ich nicht zu erdulden! Welcher Schmerz blieb mir erspart! Und weswegen? Weil ich der Wahrheit treu blieb, mein Gewissen rein bewahrte, weil ich meine Hand den hilflosen Witwen und armen Waisen entgegenstreckte!“ Und hierbei wischte er sich sogar eine Träne aus dem Auge.

Manilow war ganz gerührt. Beide Freunde drückten sich fortwährend die Hand und sahen sich lange stumm in die Augen, in denen schöne Tränen blinkten. Manilow wollte die Hand unseres Helden durchaus nicht aus der seinen lassen und fuhr fort, sie so herzlich zu drücken, daß jener kaum noch wußte, wie er sie befreien solle. Nachdem er sie endlich sanft zurückgezogen hatte, sagte er, es wäre gut, wenn man den Kaufkontrakt gleich aufsetzen könnte und wenn Manilow selbst in der Stadt die nötigen Erkundigungen einziehen wollte; dann nahm er seinen Hut und verabschiedete sich.

„Wie? Sie wollen schon fahren?“ fragte Manilow, der wie aus einem Traum erwachte und beinahe erschrocken war.

In diesem Augenblick trat Frau Manilow ins Zimmer.

„Lisanka!“ sagte Manilow mit etwas kläglicher Miene, „Pawel Iwanowitsch will uns verlassen!“

„Pawel Iwanowitsch ist unser wohl überdrüssig,“ versetzte Frau Manilow.

„Gnädige Frau!“ sagte Tschitschikow, „hier, sehen Sie hier“ — und dabei legte er seine Hand aufs Herz — „Ja hier werde ich mir die Erinnerung an die schönen Stunden bewahren, die ich mit Ihnen verlebt habe! Und glauben Sie mir, ich kann mir keine größere Seligkeit vorstellen, als mit Ihnen, wenn auch nicht in einem Hause, so doch wenigstens in nächster Nachbarschaft zu leben!“

„Wissen Sie was, Pawel Iwanowitsch!“ sagte Manilow, dem dieser Gedanke offenbar sehr gefiel, „es wäre doch wirklich herrlich, wenn wir so zusammen unter einem Dach leben, im Schatten einer Ulme miteinander philosophieren und uns gemeinsam in die Dinge vertiefen könnten ...“

„Oh, das wäre himmlisch!“ sagte Tschitschikow mit einem Seufzer. „Leben Sie wohl, gnädige Frau!“ fuhr er fort, indem er Frau Manilow die Hand küßte. „Leben Sie wohl, verehrter Freund! und vergessen Sie meine Bitte nicht!“

„Oh, seien Sie ganz ruhig!“ erwiderte Manilow, „wir trennen uns doch nicht auf länger als zwei Tage!“

Sie betraten das Speisezimmer.

„Adieu, meine lieben Kleinen!“ sagte Tschitschikow, als er Alcid und Themistokljus erblickte, die mit einem hölzernen Husaren spielten, der übrigens weder Hände noch Nase mehr hatte. „Lebt wohl, liebe Kinder. Verzeiht, daß ich euch nichts zum Naschen mitgebracht habe, aber ich muß gestehen, ich wußte ja gar nicht, daß ihr auf der Welt seid. Aber wenn ich das nächstemal wiederkomme, bringe ich euch sicher etwas mit. Dir bringe ich einen Säbel. Willst du einen Säbel haben? Wie?“

„Ja!“ antwortete Themistokljus.

„Und dir bringe ich eine Trommel mit. Nicht wahr, du möchtest doch eine Trommel haben?“ fuhr Tschitschikow fort, indem er sich über Alcid beugte.

„Ja, eine Prommel,“ sagte Alcid leise, indem er den Kopf senkte.

„Schön also, ich will dir eine Trommel kaufen. — Weißt du eine feine Trommel. Die wird immer Trrr .... ru ... tra, ta, ta, tra, ta, ta machen. Leb wohl, Herzchen! Adieu!“ Er küßte ihn auf den Kopf und wandte sich mit jenem Lächeln an Manilow und seine Frau, mit dem man sich an alle Eltern zu wenden pflegt, wenn man ihnen zu verstehen geben will, wie unschuldig doch die Wünsche ihrer Kinder sind.

„Ach bleiben Sie doch noch ein wenig, Pawel Iwanowitsch!“ sagte Manilow, als schon alle auf die Freitreppe hinausgetreten waren. „Sehen Sie doch, was dort für Wolken heraufziehen!“

„Das sind nur kleine Wölkchen,“ meinte Tschitschikow.

„Kennen Sie aber auch den Weg zu Sabakewitsch?“

„Danach wollte ich Sie gerade fragen.“

„Erlauben Sie, ich will ihn Ihrem Kutscher erklären!“ Und Manilow machte dem Kutscher die Sache in der liebenswürdigsten Weise klar, und sagte sogar einmal Sie zu ihm.

Als der Kutscher hörte, daß er zwei Wegkreuzungen abseits liegen lassen und erst bei der dritten einbiegen müsse, sagte er: „Wir werden’s schon finden,“ und Tschitschikow fuhr davon, begleitet von den Abschiedsgrüßen der Gatten, die noch lange auf den Fußspitzen standen und ihre Taschentücher schwenkten.

Manilow blieb noch lange auf der Treppe stehen und folgte dem davonrollenden Wagen mit den Augen, und als dieser schon längst nicht mehr zu sehen war, stand er noch immer mit der Pfeife im Munde da. Endlich ging er wieder ins Haus zurück, ließ sich auf einem Stuhl nieder und versank in Sinnen, von Herzen froh, daß er seinem Gast eine kleine Freude bereitet hatte. Dann schweiften seine Gedanken, ohne daß er es merkte, zu anderen Gegenständen hinüber, um endlich, Gott weiß wo, zu landen. Er dachte an die Seligkeiten der Freundschaft, wie schön es doch wäre, mit dem Freunde am Ufer eines Flusses zu leben, dann baute er in Gedanken eine Brücke über den Fluß und darauf ein Haus mit einem gewaltigen Pavillon, von dem aus man sogar Moskau sehen konnte, und er stellte sich vor, wie herrlich es sein müßte, dort abends im Freien seinen Tee zu trinken und sich über angenehme Gegenstände zu unterhalten; oder er malte es sich aus, wie er und Tschitschikow, in eleganten Equipagen zu einer Abendgesellschaft fahren und alle Anwesenden durch ihr feines Benehmen in Entzückung versetzen, und wie dann der Kaiser, der von der Freundschaft der beiden gehört hatte, sie zu Generälen ernennt, und so träumte er immer weiter; was nun noch alles folgte, weiß Gott allein, wußte er es doch selbst nicht mehr genau. Aber plötzlich drängte sich Tschitschikows seltsame Bitte jäh in seine Träumereien, und dieser Gedanke wollte ihm nicht recht in den Kopf: er mochte ihn drehen und wenden soviel er wollte, er konnte sich nicht klar über ihn werden. So saß er noch lange mit der Pfeife im Munde da, bis das Abendessen auf dem Tische stand.

Drittes Kapitel

Unterdessen saß Tschitschikow vergnügt in seinem Wagen, der schon seit einiger Zeit auf der Landstraße dahinrollte. Aus dem vorigen Kapitel konnten wir schon erfahren, was der eigentliche Gegenstand seiner Neigung und seines Geschmacks war, und es war daher auch kein Wunder, wenn er sich bald mit Leib und Seele in ihn versenkte. Die Vermutungen, Überschläge und Berechnungen, die er anstellte und die sich auf seinem Gesichte spiegelten, mußten höchst angenehmer Art sein, denn sie hinterließen in einem fort die Spuren eines vergnügten Lächelns auf seinen Zügen. Ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, achtete er gar nicht darauf, was für treffende Worte sein Kutscher, der offenbar von dem Empfang durch die Bedienten und Knechte Manilows äußerst befriedigt war, an den Schecken, das rechte Beipferd richtete. Dieser Schecke war sehr schlau, und tat bloß so, als ob er den Wagen auch vorwärts ziehe, während sich das mittlere braune und der Fuchs, das linke Beipferd, das den Namen Assessor trug, weil man es irgend einem Assessor abgekauft hatte, aus allen Kräften abquälten, das Gefährt weiter zu bringen, so daß man ihnen das Vergnügen, welches ihnen das bereitete, von den Augen ablesen konnte: „Brauch soviel Listen als du willst! Es hilft dir doch nichts! Ich will dich doch überlisten!“ sagte Seliphan, indem er sich etwas erhob und dem Trägen einen Peitschenhieb versetzte. „Tu deine Pflicht, du deutscher .......! Der Braune ... das ist ein braves Pferd, der tut seine Schuldigkeit; darum gebe ich ihm auch gern ein Maß Hafer mehr, weil er ein braves Pferd ist. Und der Assessor — der ist auch ein gutes Pferd ... Nun, was schüttelst du die Ohren? Dummkopf, paß auf, wenn man mir dir spricht! Ich werde dich schon nichts Schlechtes lehren, du Esel! Seh einer, wo der hin will!“ Hierbei gab er ihm wieder eins mit der Peitsche und murmelte: „Uf! Barbar! Bonaparte, Verfluchter!“ Dann rief er allen miteinander ein: „He! Ihr Lieben!“ zu, und gab allen dreien eins mit der Peitsche, nicht etwa, um sie zu strafen, sondern zum Beweise, daß er mit ihnen zufrieden war. Nachdem er ihnen diese kleine Freude bereitet hatte, wandte er sich wieder an den Schecken: „Du glaubst, es wird dir gelingen, dein schlechtes Betragen zu verbergen. Nein, mein Lieber, tue recht, wenn du willst, daß man Achtung vor dir haben soll. Siehst du! Die Leute des Herrn, bei dem wir waren — das sind gute Menschen! Mit einem guten Menschen plaudere ich immer gern, ein guter Mensch — das ist mein Freund und lieber Kamerad; mit ihm setze ich mich gerne zu Tisch oder trinke mein Glas Tee mit ihm. Ein guter Mensch wird von jedermann geachtet! Unseren Herrn zum Beispiel — den achten alle Leute, hörst du wohl, weil er unserem Kaiser gut gedient hat und Skollegenrat ist ....“

In dieser Weise ging es weiter, bis Seliphan bei den entferntesten und abstraktesten Materien angelangt war. Hätte Tschitschikow aufmerksam zugehört, er hätte noch manche Einzelheit erfahren, die auf seine Person Bezug hatte; aber seine Gedanken waren so sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß erst ein heftiger Donnerschlag ihn aus seinen Träumen weckte und ihn veranlaßte, sich ein wenig umzusehen; der ganze Himmel war mit Wolken bedeckt, und große Regentropfen trafen die staubige Chaussee. Ein zweiter noch stärkerer Donnerschlag folgte dem ersten aus noch größerer Nähe, und plötzlich prasselte der Regen in Strömen wie aus Gießkannen nieder. Zuerst fiel er in schräger Richtung herab und peitschte bald die eine Seite, bald die andere Seite des Kutschbocks, dann änderte er seine Angriffsmethode und rieselte senkrecht auf den Kutschbock nieder, bis die Tropfen Tschitschikow ins Gesicht spritzten. Er ließ also das lederne Wagendeck mit den zwei kleinen runden Fensterchen aufspannen, die eine freie Aussicht auf die Landschaft gestatteten und befahl Seliphan, schneller zu fahren. Seliphan, mitten in der Rede unterbrochen, sah wohl auch ein, daß jetzt nicht Zeit zum Säumen war, holte etwas wie einen Mantel aus grauem Stoff unter dem Bock hervor, steckte die Hände in die Ärmel, ergriff die Zügel und spornte die drei Gäule durch einen Zuruf an, welche unter dem Eindruck seiner erbaulichen Reden eine angenehme Schwäche in den Beinen spürten und sie kaum vom Flecke brachten. Aber Seliphan konnte sich absolut nicht erinnern, wieviel Wegekreuzungen sie bereits hinter sich hatten, ob es zwei oder drei waren. Nachdem er sich die Sache überlegt und über den Weg nachgedacht hatte, kam er zur Überzeugung, daß sie schon manchen Weg gekreuzt und links liegen gelassen hatten. Da aber ein Russe im entscheidenden Augenblick die Fassung nie verliert und, ohne lange nachzudenken, immer irgend einen Ausweg findet, so machte er bei dem nächsten Kreuzweg eine Wendung nach rechts, indem er den Pferden zurief: „Hüh! liebe Freunde!“ und dann jagte er im Galopp dahin, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, wohin sie der eingeschlagene Weg führen werde.

Der Regen schien indessen nicht bald aufhören zu wollen. Der Staub, der die Landstraße bedeckte, verwandelte sich schnell in weichen Dreck, es wurde den Pferden mit jedem Augenblick schwerer, den Wagen fortzubewegen. Tschitschikow geriet bereits in eine lebhafte Unruhe, da noch immer nichts von dem Gute Sabakewitschs zu sehen war. Seiner Berechnung nach hätten sie schon längst da sein müssen. Er blickte nach beiden Seiten zum Fenster hinaus, aber es war stockfinster, und er konnte nichts sehen.

„Seliphan!“ rief er endlich, indem er den Kopf aus dem Fenster steckte.

„Ja, Gnädiger Herr?“ antwortete Seliphan.

„Schau dich mal um; ist das Dorf noch nicht zu sehen!“

„Nein, gnädiger Herr, es ist nichts zu sehen!“ und Seliphan schwang seine Peitsche und stimmte etwas wie einen Gesang an. Ein Lied konnte man es nicht nennen, denn es dehnte und zog sich so in die Länge, daß es gar kein Ende nehmen wollte. Seliphan brachte alles darin unter, alle aufmunternden und anspornenden Rufe, mit denen man im weiten Rußland, von einem Ende bis zum andern, die Pferde zu beglücken pflegt, und alle nur möglichen Adjektiva, ohne jede Auswahl, wie sie ihm gerade auf die Zunge kamen. Schließlich ging er sogar so weit, daß er seine Pferde Sekretäre nannte.

Jetzt aber machte Tschitschikow die Entdeckung, daß sein Wagen von einer Seite auf die andre schwankte, wobei der Insasse jedesmal einen kräftigen Stoß erhielt; das brachte ihn auf den Gedanken, daß sie von der Straße abgekommen seien und wahrscheinlich über ein gepflügtes Ackerfeld führen. Auch Seliphan mußte es wohl bemerkt haben, aber er sagte kein Wort.

„Auf was für einem Wege fährst du eigentlich? du Spitzbube!“ schrie Tschitschikow.

„Was ist zu machen, gnädiger Herr, es ist halt schon spät am Abend. Ich sehe nicht einmal meine Peitsche, so finster ist es!“ Bei diesen Worten neigte sich der Wagen so sehr auf die Seite, daß Tschitschikow sich mit beiden Händen festhalten mußte. Erst jetzt bemerkte er, daß Seliphan einen tüchtigen Rausch hatte.

„Halt! Halt! Du wirfst mich um!“ rief er ihm zu.

„Nicht doch, gnädiger Herr, wie können Sie denken, daß ich Sie umwerfe,“ sagte Seliphan. „Das wäre schlecht von mir, wenn ich das täte, das weiß ich selbst; o nein, das tue ich nicht, unter keinen Umständen werfe ich Sie um!“ Hierauf versuchte er den Wagen umzuwenden, aber er drehte und wendete ihn so lange, bis er ihn ganz umwarf. Tschitschikow fiel mit Füßen und Händen in den Dreck. Übrigens gelang es Seliphan wenigstens die Pferde zum Stehen zu bringen; wahrscheinlich aber wären sie auch schon von selber stehen geblieben, weil sie sehr müde waren. Dieses unerwartete Ereignis brachte Seliphan ganz aus der Fassung. Er kroch von seinem Bock herunter, stellte sich vor den Wagen hin, stemmte beide Hände in die Seite und sagte, während sein Herr sich im Schmutze herumwälzte und sich vergeblich zu erheben versuchte: „Ist das Ding also doch umgefallen!“

„Du bist betrunken wie ein Schwein!“ sagte Tschitschikow.

„Nicht doch, gnädiger Herr! Wie könnte ich auch betrunken sein! Ich weiß doch, daß es schlecht ist, betrunken zu sein. Ich hab’ nur ein wenig mit einem guten Freunde geplaudert; mit einem guten Menschen darf man doch sprechen — das ist doch nichts Schlimmes — und nachher haben wir zusammen gegessen. Das ist doch auch nichts Unrechtes — ein wenig mit einem guten Menschen zu schmausen.“

„Was habe ich dir gesagt, als du das letztemal betrunken warst, wie? Hast du’s schon wieder vergessen?“ sagte Tschitschikow.

„Gewiß nicht, Euer Gnaden, wie könnte ich so etwas vergessen? Ich kenne doch meine Pflicht! Ich weiß doch, wie unrecht es ist, betrunken zu sein. Ich habe doch nur mit dem braven Menschen da gesprochen, es ist doch nicht ...“

„Ich lasse dir eine Tracht Prügel geben, dann wirst du schon wissen, was es heißt, mit einem braven Menschen zu sprechen ...“

„Wie es Euer Gnaden belieben wird,“ antwortete Seliphan, der mit allem zufrieden war. „Wenn’s denn Prügel geben soll, nun gut, ich widersetze mich nicht. Warum sollte es keine Prügel geben, wenn man’s verdient hat; das steht ganz bei Ihnen, dafür sind Sie der Herr! Der Bauer muß mitunter Prügel haben, sonst sticht ihn der Haber. Ordnung muß sein. Wenn ich’s verdient habe, dann laß mich nur durchprügeln, warum sollte es auch keine Prügel geben?“

Auf eine solche Überlegung fand Tschitschikow keine Antwort. In diesem Augenblick aber schien sich das Schicksal selbst seiner erbarmen zu wollen. Plötzlich erklang Hundegebell aus der Ferne. Hocherfreut gab Tschitschikow Seliphan den Befehl zum Aufbruch und schärfte ihm ein, recht schnell zu fahren. Ein russischer Kutscher hat einen feinen Instinkt, wo ihn seine Augen verlassen; so kann es geschehen, daß er die Augen zumacht, im Galopp dahinjagt und dennoch irgend ein Ziel erreicht. Obgleich Seliphan nichts mehr sah, steuerte er mit seinen Pferden gerade auf das Dorf los und machte erst Halt, als der Wagen mit der Deichsel auf einen Zaun stieß, und durchaus nicht mehr weiter kommen wollte. Tschitschikow konnte durch die dichte Nebelhülle nichts außer einem Fleck entdecken, der wie ein Dach aussah. Er gab Seliphan den Auftrag, nach dem Tor zu suchen, was ohne Zweifel recht lange gedauert hätte, wenn es in Rußland nicht statt des Portiers flinke Hunde gäbe, die in so lauter Weise Meldung von seiner Ankunft erstatteten, daß er sich die Ohren mit den Fingern zustopfte. In einem Fenster leuchtete ein Licht auf, dessen trübe Strahlen auch auf den Zaun fielen, und unseren Reisenden den Weg zum Tore wiesen. Seliphan klopfte an, worauf sich bald eine Pforte auftat und eine in einen Schlafrock gehüllte Gestalt sehen ließ. Herr und Diener hörten eine heitere Frauenstimme, die ihnen zurief: „Wer klopft da? Wer lärmt hier so?“

„Wir sind Reisende, Mütterchen, wir suchen ein Nachtquartier,“ sagte Tschitschikow.

„So? Seh einer den Leichtfuß!“ murmelte die Alte. „Kommt zu so später Abendstunde angefahren. Hier ist keine Herberge. Hier wohnt eine Gutsbesitzerin.“

„Was soll ich machen, Mütterchen? Wir haben uns verirrt. Wir können doch bei dem Wetter nicht im Freien übernachten.“

„Ja das Wetter ist trübe und schlecht,“ bemerkte Seliphan.

„Schweig! Esel,“ sagte Tschitschikow.

„Wer sind Sie?“ fragte die Alte.

„Ein Edelmann, Mütterchen.“

Das Wort Edelmann schien einigen Eindruck auf die Alte gemacht zu haben. „Wart’ ich will’s der gnädigen Frau melden,“ murmelte sie, entfernte sich und kam nach zwei Minuten mit einer Laterne in der Hand wieder zurück. Das Tor öffnete sich. Jetzt wurde auch das andere Fenster hell. Der Wagen fuhr durch das Tor und machte vor einem kleinen Häuschen halt, das in der Dunkelheit nur mit Mühe zu erkennen war. Nur die eine Seite war von dem Lichte erleuchtet, das aus den Fenstern fiel; vor dem Hause sah man noch eine Pfütze im Lichte daliegen. Der Regen trommelte laut auf das Holzdach und rieselte wie ein rauschender Bach in eine daruntergestellte Tonne. Die Hunde heulten in allen Tonarten; der eine hatte den Kopf hoch empor geworfen und stieß fortgesetzt lange klägliche Töne hervor; dabei war er mit einem solchen Eifer bei der Sache, als ob er Gott weiß wieviel dafür bezahlt bekäme; ein anderer produzierte sich mit der Fertigkeit eines Küsters; zwischendurch erklang ununterbrochen wie ein Postglöckchen der Diskant eines wahrscheinlich noch jungen Köters, und dies ganze Konzert wurde getragen von dem gewaltigen Baß eines alten, der wohl mit einer robusten Hundenatur ausgestattet war, denn er schnarrte wie der Konterbaß eines Gesangchors, wenn das Konzert in vollem Gange ist; die Tenöre stellen sich auf die Fußspitzen, um die hohen Töne besser herauszubringen, alles strebt in die Höhe, und wirft die Köpfe in den Nacken; nur er allein, der Konterbaßspieler, steckt das unrasierte Kinn in den Halskragen, hockt mit gebeugten Knieen fast am Fußboden, und schmettert nun plötzlich von dort aus seine Note in die Luft, daß alle Fensterscheiben erklirren und erzittern. Schon allein das Hundegebell, das von diesen Musikanten herrührte, brachte einen auf die Vermutung, daß dies ein recht ansehnliches Dorf sei; aber unser halb erfrorener und durchnäßter Held dachte an gar nichts mehr, außer an ein warmes Bett. Noch ehe der Wagen halten konnte, sprang er hinaus, stolperte und wäre beinahe auf der Treppe hingefallen. Aus dem Flur trat jetzt eine andere Frau, die etwas jünger war als die erste, aber ihr dennoch recht ähnlich sah. Sie geleitete Tschitschikow ins Zimmer. Hier angelangt, warf er einen flüchtigen Blick auf das Innere; das Zimmer war mit alten gestreiften Tapeten bekleidet; an den Wänden hingen ein paar Bilder, auf denen allerhand Vögel abgebildet waren, und zwischen den Fenstern waren kleine altertümliche Spiegel mit dunklen Rahmen aufgehängt, die die Form zusammengerollter Blätter hatten. Hinter jedem Spiegel steckte ein Brief, ein altes Spiel Karten, ein Strumpf oder dergleichen; dazu kam noch eine Wanduhr mit einem geblümten Zifferblatt ... Tschitschikow konnte nicht alles übersehen. Er fühlte, daß seine Augen zufielen und seine Augenlider zusammenklebten, wie wenn sie jemand mit Honig bestrichen hätte. Nach ein paar Minuten erschien die Hausfrau, eine ältere Dame mit einer Nachthaube, die sie offenbar in der Eile aufgesetzt hatte, und mit einem Flanelltuch um den Hals, eine von jenen Matronen und kleinen Gutsbesitzerinnen, die immer über Mißernte und Verluste jammern und den Kopf hängen lassen, während sie ganz im Stillen, wenn auch langsam ein Geldstück nach dem andern in ihren bunten Leinwandbeutel tun, den sie in der Schublade ihrer Kommode verschließen. In den einen Geldsack legen sie die Rubel, in den nächsten die Fünfzigkopeken-, in den dritten die Fünfundzwanzigkopekenstücke, und doch sieht es so aus, als wenn in der Kommode nichts sei, als Wäsche, Nachtjacken, Garnrollen und ein aufgetrennter Rock, der sich in ein neues Kleid verwandelt, wenn das alte vor dem Fest beim Backen von Stollen und Pfefferkuchen anbrennt oder von selbst verschleißt. Wenn das Kleid jedoch nicht anbrennt und noch weiter vorhält, dann läßt unsere sparsame Alte den Rock noch lange aufgetrennt in der Schublade liegen, um ihn in ihrem Testament, zugleich mit manchem anderen Gerümpel, irgend einer Nichte oder Cousine zweiten Grades zu vermachen.

Tschitschikow bat um Entschuldigung wegen der Beunruhigung, die er ihr mit seiner Ankunft verursacht habe. „Macht nichts, macht nichts!“ sagte die Hausfrau, „zu wie später Stunde Sie auch der Herrgott hierher geführt hat! Bei dem Sturm und Schneewetter! Nach dem langen Weg sollte ich Ihnen eigentlich was zu essen anbieten, aber es ist schon so spät in der Nacht; ich kann nichts mehr herrichten!“

Die Worte der Hausfrau wurden durch ein merkwürdiges Zischen unterbrochen, sodaß Tschitschikow nicht wenig erschrak. Es war ein Geräusch, als wenn sich das Zimmer plötzlich mit Schlangen angefüllt hätte; aber ein Blick nach oben genügte, um ihn völlig zu beruhigen; er überzeugte sich, daß der Ton von der Wanduhr herrührte, die offenbar schlagen wollte. Auf das Zischen folgte denn auch gleich ein Schnarren, und endlich schlug sie, nachdem sie alle Kräfte zusammengenommen hatte, zwei Uhr und zwar in einem Ton, als ob jemand mit einem Stock auf einen zerbrochenen Topf klopfte, worauf das Pendel aufs neue fortfuhr, sich im ruhigen Takte hin- und herzubewegen.

Tschitschikow dankte der Hausfrau, indem er versicherte, er brauche gar nichts, sie möge sich nur nicht beunruhigen, außer dem Verlangen nach einem Bett habe er keine anderen Wünsche. Zugleich erkundigte er sich, wohin er sich eigentlich verirrt habe, und ob es noch weit von hier bis zum Gut des Herrn Sabakewitsch sei, worauf die Alte erklärte, sie hätte diesen Namen noch nie gehört, einen Gutsbesitzer dieses Namens gäbe es überhaupt nicht.

„Kennen sie wenigstens Manilow?“ fragte Tschitschikow.

„Wer ist das, Manilow?“

„Ein Gutsbesitzer, Mütterchen.“

„Nein, ich habe seinen Namen noch nie gehört, einen solchen Gutsbesitzer gibt es nicht.“

„Was gibt es denn hier für Gutsbesitzer?“

„Bobrow, Swinjin, Kanapatjew, Charankin, Trepakin, Pljeschako.“

„Sind es reiche Leute oder nicht?“

„Nein, Väterchen, allzu reiche gibt’s hier nicht. Der eine hat zwanzig, der andere hat dreißig Seelen; solche mit hundert gibt’s hier zu Lande nicht.“

Jetzt erst merkte Tschitschikow in was für eine abgelegene Gegend er sich verirrt hatte.

„Können Sie mir zum mindesten sagen, wie weit es von hier bis zur Stadt ist?“

„Es werden wohl gegen 60 Werst sein. Es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen gar nichts vorsetzen kann! Haben Sie nicht Lust zu einem Glas Tee, Väterchen?“

„Danke schön, Mütterchen. Ich brauche nichts als ein Bett.“

„Ja, wahrhaftig, nach einem so weiten Weg will man sich ordentlich ausruhen. Sie können sich hier auf diesem Sofa ausstrecken, Väterchen. He! Fetinja, bring doch eine Decke, ein Kissen und ein Handtuch. Gott, was für ein Wetter! Wie das stürmt! Die ganze Nacht hindurch brennt bei mir die Kerze vor dem Heiligenbild. Ach, Herr Gott, dein Rücken und die eine Seite sind ja voller Dreck, wie bei einem Eber. Wo hast du dich denn so schmutzig gemacht?“

„Gott sei dank, daß ich bloß schmutzig bin; ich kann froh sein, daß ich mir nicht das ganze Rückgrat zerbrochen habe!“

„Heiliger Jesus, was sprichst du? Willst du nicht etwas, um dir den Rücken einzureiben?“

„Nein, danke bestens! Bitte beunruhigen Sie sich nicht! Bitte sagen Sie nur Ihrem Mädchen, sie möchte mir meine Kleider ein wenig trocknen und rein machen!“

„Hör mal, Fetinja!“ sagte die Hausfrau, indem sie sich an das Weib wandte, das mit dem Licht auf die Treppe hinausgetreten war und schon ein Unterbett hereinbrachte, welches sie mit beiden Händen aufschüttelte, sodaß eine ganze Wolke von Daunen durch das Zimmer flog. „Nimm doch den Rock und den Mantel und trockne ihn am Feuer, wie du es dem seligen Herrn zu tun pflegtest, und klopfe und bürste ihn nachher gründlich aus.“

„Jawohl, gnädige Frau!“ sagte Fetinja, indem sie ein Laken über das Unterbett breitete und ein paar Kopfkissen darauflegte.

„So, nun ist das Bett fertig!“ sagte die Hausfrau. „Gute Nacht, Väterchen, schlaf gut. Brauchst du nicht noch irgend etwas? Vielleicht bist du es gewöhnt, daß dir jemand die Fersen streicht. Mein seliger Mann konnte ohne das gar nicht einschlafen.“

Aber der Gast verzichtete auch auf dies Vergnügen. Die Hausfrau ging hinaus, worauf er sich schleunigst entkleidete. Er gab Fetinja seine ganze Rüstung, die obere wie die untere, und sie zog mit den nassen Trophäen ab, nachdem sie ihm gleichfalls eine gute Nacht gewünscht hatte. Als er allein war, vertiefte er sich nicht ohne Vergnügen in die Betrachtung seines Bettes, das beinahe bis an die Decke reichte. Er stellte einen Stuhl daran, stieg mit seiner Hilfe ins Bett, das unter ihm beinahe bis zum Fußboden herabsank, und die aus ihren Schranken verdrängten Daunen flogen nach allen Richtungen im Zimmer auseinander. Nachdem er das Licht ausgelöscht hatte, zog er sich die Kattundecke über den Kopf, rollte sich unter ihr wie eine Brezel zusammen und schlief ohne Verzug ein. Am andern Tage wachte er ziemlich spät auf. Die Sonne schien ihm durch das Fenster gerade ins Gesicht, und die Fliegen, die gestern abend ruhig an den Wänden und an der Decke geschlafen hatten, wendeten ihm jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit zu: eine setzte sich ihm auf die Unterlippe, eine andre aufs Ohr, eine dritte traf Anstalten, sich ihm aufs Auge zu setzen; eine dagegen, welche so unvorsichtig war, gerade unterm Nasenloch Platz zu nehmen, zog er beim Erwachen mit einem Atemzuge in die Nase hinein, was ihn natürlich veranlaßte, kräftig zu niesen — ein Umstand, der den Grund für sein Erwachen abgab. Er warf einen Blick auf das Zimmer und bemerkte jetzt, daß nicht nur Vogelbilder an der Wand hingen, es fand sich auch ein Porträt von Kutusow und ein Ölgemälde, das einen alten Mann in einer Uniform mit roten Aufschlägen, wie man sie unter Pawel Petrowitsch trug, darstellte. Die Wanduhr schnarrte und schlug neun; der Kopf einer Frau guckte zur Türe hinein und verschwand sofort wieder, denn Tschitschikow hatte seine sämtlichen Kleidungsstücke abgelegt, um besser einschlafen zu können. Das Gesicht kam ihm übrigens bekannt vor. Er suchte sich zu erinnern, wer das wohl gewesen sein könnte, und besann sich schließlich darauf, daß es die Wirtin selbst war. Er zog schnell sein Hemd an, seine Kleider lagen trocken und reingebürstet neben ihm. Nachdem er sich angekleidet hatte, trat er vor den Spiegel und nieste noch einmal so laut, daß ein Truthahn, der sich gerade dem Fenster genähert hatte — es lag nicht sehr hoch über dem Erdboden — plötzlich laut zu gackern anfing und ihm in seiner seltsamen Sprache ganz schnell etwas zurief, wahrscheinlich sollte es soviel bedeuten als „Prosit“, worauf ihn Tschitschikow einen Trottel nannte. Dann trat er ans Fenster, um sich die Gegend anzusehen; das Fenster ging, wie es schien, auf den Hühnerhof hinaus; wenigstens war der kleine enge Hof, der vor ihm lag, voller Vögel und anderer Haustiere. Eine unendliche Anzahl von Hühnern und Puten tummelte sich dort umher; zwischen ihnen hindurch stolzierte gemessenen Schrittes ein Hahn, schüttelte seinen Kamm und legte seinen Kopf auf die Seite, als lausche er auf etwas. Auch eine Schweinefamilie war hier vertreten; das alte Mutterschwein wühlte in einem Schutthaufen herum, wie im Vorbeigehen verschlang es ein Küchel und fuhr gleich darauf wieder ruhig fort, die Schalen alter Wassermelonen, die hier herumlagen, weiter zu fressen. Dieser kleine Hof oder Hühnerhof wurde von einem Bretterzaun umgrenzt, hinter dem sich große Gemüsegärten mit Kohl, Zwiebeln, Kartoffeln, roten Rüben und anderen Gemüsearten ausdehnten. In den Gemüsegärten bemerkte man hie und da Apfelbäume und andere Obstbäume, die zum Schutz gegen die Elstern und Sperlinge mit Netzen bedeckt waren. Und in der Tat schwirrten die Spatzen immerfort wie eine schräge Wolke von einer Stelle zur andern. Aus demselben Grunde waren mehrfach Vogelscheuchen auf langen Stangen und mit ausgebreiteten Armen aufgestellt; eine von ihnen hatte sogar die Haube der Hausfrau auf. Auf den Gemüsegarten folgten Bauernhütten, die zwar recht zerstreut dalagen und keine regelmäßige Häuserflucht mit Plätzen und Straßen bildeten, aber doch nach Tschitschikows Ansicht vom Wohlstand der Bewohner zeugten, denn sie waren alle gut instand gehalten: das Bretterdach war überall renoviert, wo es alt und schlecht zu werden begann, nirgends sah man ein schiefes verfallenes Tor, und in den gedeckten Scheunen und Ställen, in die man vom Fenster aus hineinsehen konnte, erblickte er meist einen, häufig aber auch zwei beinah neue Reservewagen. „Hm! Das Dörflein ist gar nicht so klein!“ sagte er zu sich selbst und beschloß sogleich, mit der Hausfrau zu sprechen, um sie näher kennen zu lernen. Er guckte durch die Türspalte, durch die sie ihren Kopf hineingesteckt hatte, und als er sie am Teetisch sitzen sah, trat er ins Zimmer und ging ihr heiter und freundlich entgegen.

„Guten Tag, Väterchen! Wie haben Sie geruht?“ sagte die Hausfrau, indem sie sich von ihrem Platze erhob. Sie war heute eleganter gekleidet als gestern und hatte statt der Nachthaube ein schwarzes Häubchen auf dem Kopfe. Der Hals war jedoch noch immer mit allerhand Tüchern umwickelt.

„Vortrefflich, ausgezeichnet,“ sprach Tschitschikow und ließ sich im Lehnsessel nieder. „Und Sie, Mütterchen?“

„Schlecht! Väterchen!“

„Wieso?“

„Ich kann nicht schlafen. Das Kreuz tut mir weh, und mein Bein schmerzt mich, hier über’m Knöchel.“

„Das geht vorüber, Mütterchen, achten Sie nur nicht darauf.“

„Gott gebe, daß es schnell vorübergeht. Ich habe es schon mit Schweinefett und Terpentin eingerieben. Was nehmen Sie zum Tee? Dort im Glas ist Fruchtsaft.“

Der Leser wird wohl schon bemerkt haben, daß Tschitschikow trotz seiner Freundlichkeit sich viel ungezwungener ausdrückte und überhaupt nicht viel Umstände machte. Man kann zugeben, daß Rußland vielleicht noch in mancher Hinsicht hinter dem Ausland zurücksteht: was aber das feine Benehmen anbelangt, so haben wir die Ausländer weit hinter uns gelassen. Die vielen Schattierungen und Finessen in unseren Verkehrsformen sind gar nicht aufzuzählen. Ein Franzose oder ein Deutscher kommen ihr Lebtag nicht dahinter, nie werden sie die Eigenart und die feinen Unterschiede in unserem Verhalten verstehen; sie sprechen fast in dem nämlichen Ton und mit derselben Stimme mit einem Millionär und mit einem kleinen Tabakkrämer, wenn sie sich auch in ihrer Seele vor dem ersteren noch so sehr beugen und erniedrigen. Bei uns ist das ganz anders: wir haben solche Künstler, die mit einem Gutsherrn, der zweihundert Seelen hat, ganz anders sprechen, wie mit einem solchen, der dreihundert besitzt; und mit diesem sprechen sie wieder ganz anders, wie mit einem, dem fünfhundert gehören; und den letzteren behandeln sie wiederum anders, wie einen reichen Gutsbesitzer, der über achthundert Seelen gebietet; so kann man meinetwegen bis zu einer Million weiter fortgehen, immer findet sich eine bestimmte Nüance. Nehmen wir einmal an, es gäbe, nicht bei uns, sondern irgendwo in einem fernen Königreiche, eine Kanzlei, und nehmen wir ferner an, diese Kanzlei habe einen Vorsteher oder Chef. Ich bitte den Leser, sich diesen Mann einmal anzusehen, wenn er mitten unter seinen Untergebenen dasitzt — ich wette, das Wort würde ihm vor Schrecken im Munde stecken bleiben. Stolz und Edelmut — und was nicht alles noch liegt in seinem Blick? Man möchte zum Pinsel greifen und ihn malen, um ihn in dieser Stellung festzuhalten: der reinste Prometheus! wahrhaftig: ein Prometheus! Er blickt wie ein Adler, und sein Gang ist biegsam, gesetzt und fest. Aber seht euch einmal diesen Adler an, wenn er den Saal verläßt und sich dem Zimmer seines Chefs nähert, er ist kaum wiederzuerkennen; wie ein flüchtiges Schneehuhn eilt er mit seinem Aktenbündel unterm Arme dahin, daß ihm fast der Atem ausgeht. In einer Gesellschaft oder auf einer Soiree, wo nicht allzu hochstehende Persönlichkeiten zugegen sind, bleibt unser Prometheus ein echter Prometheus, aber es braucht nur einer da zu sein, der etwas höher steht als er, und mit unserem Prometheus geht eine solche Verwandlung vor, wie sie sich selbst ein Ovid nicht träumen ließe: eine Fliege kann nicht kleiner sein, er ist ganz wie vernichtet, wie ein Sandkorn! „Aber das ist doch nicht Iwan Petrowitsch!“ sagt man sich, wenn man ihn erblickt, „Iwan Petrowitsch ist größer, der da ist ja ganz klein und mager; jener spricht laut, hat eine Baßstimme und lacht niemals, aber dieser hier, Teufel auch, der piepst ja wie ein Vogel und lacht immerzu.“ Kommt man aber näher und sieht genauer zu — dann ist es doch Iwan Petrowitsch. „Aha, soso!“ sagt man zu sich selbst .... Aber wenden wir uns wieder zu den handelnden Personen. Wie wir sahen, war Tschitschikow entschlossen, keine Umstände zu machen; so nahm er denn eine Tasse Tee und etwas Fruchtsaft und sagte:

„Sie haben aber ein schönes Gut, Mütterchen. Wieviel Seelen hat es wohl?“

„Etwas weniger als achtzig,“ sagte die Hausfrau, „leider haben wir bloß so schlechte Zeiten; voriges Jahr gab’s wieder eine Mißernte, daß Gott erbarm!“

„Aber die Bauern sehen doch recht kräftig aus, und die Hütten sind ganz stattlich. Gestatten Sie mir übrigens eine Frage: Wie ist Ihr Familienname? Ich war so zerstreut, als ich gestern so spät ankam ....“

„Karobotschka,[2] Kollegiensekretärswitwe.“

„Danke bestens. Und Ihr Vor- und Vatername?“

„Nasstassja Petrowna.“

„Nasstassja Petrowna? Ein schöner Name! — Nasstassja Petrowna. Ich habe eine leibliche Tante, die Schwester meiner Mutter, die heißt auch Nasstassja Petrowna.“

„Und wie ist Ihr Name?“ fragte die Gutsbesitzerin. „Sie sind doch Assessor? Nicht?“

„Nein, Mütterchen,“ antwortete Tschitschikow lächelnd. „Ich bin nicht Assessor; ich reise in eigenen Geschäften.“

„So sind Sie Lieferant? Wie schade! ich habe meinen Honig so billig verkauft; du hättest ihn mir sicher abgenommen, Väterchen, wie?“

„Nein, Honig hätte ich wohl kaum gekauft.“

„Nun, dann was anderes. Vielleicht Hanf? Davon habe ich jetzt zwar auch nicht mehr viel — ein halbes Pud höchstens.“

„Ach nein, Mütterchen, ich brauch’ eine andere Ware; sagen Sie mal, sind bei Ihnen viele Bauern gestorben?“

„Oh je! Väterchen, achtzehn Mann!“ sagte die Alte seufzend. „Und lauter so prächtige Leute, alles tüchtige Arbeiter. Es ist ja freilich auch Nachwuchs da, aber was hat man davon, lauter schmächtiges Volk, und der Steuereinnehmer kommt und will seine Steuer für jede Seele haben. Sie sind doch schon tot, und doch muß man für sie zahlen, wie wenn sie noch am Leben wären. Vorige Woche ist mir ein Schmied verbrannt, ein so geschickter Schmied! Der hat auch das Schlosserhandwerk verstanden.“

„War denn im Dorfe eine Feuersbrunst, Mütterchen?“

„Gott verhüte ein solches Unglück! Eine Feuersbrunst, das wäre ja noch viel schrecklicher. Nein, er ist ganz von selbst verbrannt. Das Feuer ist da irgendwo im Innern bei ihm entstanden; er hat auch gar zu viel getrunken, man sah nichts wie ein blaues Flämmchen, und so ist er allmählich verkohlt, bis er auch ganz schwarz wurde wie eine Kohle; ach war das ein geschickter Schmied. Jetzt kann ich gar nicht mehr ausfahren. Es ist niemand da, der die Pferde beschlagen kann.“

„Das war wohl Gottes Wille, Mütterchen,“ sagte Tschitschikow seufzend, „gegen Gottes Weisheit darf man nicht murren. Wissen Sie was? Überlassen Sie sie mir, Nasstassja Petrowna?“

„Wie Väterchen?“

„Nun, all diese Leute, die gestorben sind.“

„Wie kann ich sie Ihnen denn überlassen?“

„Nun sehr einfach. Oder meinetwegen, ich kann sie Ihnen auch abkaufen. Ich will Ihnen Geld für sie geben.“

„Ja wie denn nur? Wirklich, ich verstehe Sie noch nicht. Willst du sie aus der Erde ausgraben?“

Tschitschikow merkte, daß die Alte übers Ziel hinausgeschossen hatte, und hielt es daher für notwendig ihr klar zu machen, worum es sich handele. Er erklärte ihr mit wenigen Worten, daß die Abtretung oder der Verkauf nur auf dem Papiere statthaben und die Seelen als lebende gelten sollten.

„Ja, wozu brauchst du sie nur,“ sagte die Alte, indem sie ihn verwundert anstarrte.

„Das ist schon meine Sache!“

„Aber sie sind doch tot!“

„Ja wer sagt denn, daß sie lebendig sind? Es ist doch Ihr eigener Schade, daß sie tot sind. Sie zahlen doch Steuern für sie, und ich will Sie von dieser Last und Sorge befreien. Verstehen Sie jetzt? Und nicht nur befreien; ich will Ihnen noch fünfzehn Rubel dazu schenken. Nun, ist’s Ihnen jetzt klar?“

„Ich weiß wirklich nicht,“ sagte die Alte zögernd, „Tote habe ich noch niemals verkauft.“

„Das ist doch kein Wunder! Es wäre eher eins, wenn Sie schon welche verkauft hätten. Oder glauben Sie tatsächlich, daß sie überhaupt irgend einen Wert haben?“

„Nein, das glaube ich freilich nicht. Was könnten sie auch für einen Wert haben? Sie sind ja zu nichts nütze! Mich beunruhigt bloß dies eine: daß sie schon tot sind.“

„Hat das Weib aber ein Brett vorm Kopf,“ dachte Tschitschikow. „Hören Sie, Mütterchen; denken Sie doch ein wenig nach! Das ist doch eine bedeutende Einbuße für Sie. Sie müssen doch für jeden die Steuern bezahlen, als ob er noch am Leben wäre.“

„Ach, Väterchen, erinnere mich bloß nicht daran,“ unterbrach ihn die Gutsbesitzerin. „Vor drei Wochen habe ich erst wieder hundertfünfzig Rubel einzahlen müssen, und dabei mußte ich noch den Steuerbeamten gründlich spicken.“

„Sehen Sie, Mütterchen, und nun denken Sie mal, von heute ab brauchen Sie den Beamten nicht mehr zu spicken, denn jetzt zahle ich die Steuern und nicht Sie. Ich nehme alle Lasten auf mich, auch die Kosten des Kaufvertrags. Verstehen Sie!“

Die Alte wurde nachdenklich; sie fing an einzusehen, daß das Geschäft nicht so übel wäre; nur war es schon gar zu neu und unerhört, und sie fürchtete, der Käufer könne sie wohl gar übers Ohr hauen. War er doch Gott weiß woher und noch zu so später Stunde herein geschneit.

„Also schlagen Sie ein, Mütterchen,“ sprach Tschitschikow.

„Wahrhaftig, Väterchen, Verstorbene habe ich noch nie verkauft. Lebendige schon öfters, so noch vor drei Jahren: da habe ich dem Protopopoff zwei Mädchen überlassen, jede für hundert Rubel; und er war sehr zufrieden. Es sind vorzügliche Arbeiterinnen geworden. Sie können sogar Servietten weben.“

„Hier handelt es sich aber nicht um Lebende. Gott mit ihnen! Ich brauche Tote!“

„Wirklich, ich fürchte vor allem, ein schlechtes Geschäft zu machen. Du willst mich am Ende betrügen, Väterchen. Vielleicht sind sie ..., kosten sie gar viel mehr.“

„Hören Sie, Mütterchen ... Wie Sie sich bloß anstellen! Was können sie denn wert sein; überlegen Sie sich es doch nur! Das ist doch nichts! Begreifen Sie doch, ein reines Nichts! Nehmen Sie das letzte, unnützeste Ding, sagen wir sogar irgend einen alten Lappen: selbst der hat noch einen Wert; den kauft Ihnen noch der Lumpenhändler ab. Aber die da, die braucht doch überhaupt Keiner! Nein, sagen sie selbst, zu was sind sie nütze!?“

„Das ist schon ganz richtig! Freilich sind sie nichts nütze. Mich hält auch nur ab, daß sie schon tot sind.“

„Herr Gott, ist das eine klotzige Dickköpfigkeit,“ sagte Tschitschikow zu sich selber, und fing bereits an, die Geduld zu verlieren. „Mit der soll einer auskommen. Wahrhaftig, ich schwitze! Verdammte Alte!“ Und er nahm sein Schnupftuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Übrigens hatte Tschitschikow eigentlich keinen Grund zu seinem Ärger. Es gibt höchst achtbare Leute, sogar unter den Staatsmännern, die, wenn man näher zusieht, auch nicht besser wie Karobotschka sind. Hat sich so einer mal was in den Kopf gesetzt, so bringst du es mit zehn Pferden nicht wieder heraus. Mach ihm Einwände soviel du willst. Sie mögen so klar sein wie der lichte Tag, sie prallen doch immer wieder zurück wie ein Gummiball von einer Steinmauer. Nachdem sich Tschitschikow den Schweiß abgetrocknet hatte, kam er auf den Gedanken, noch einen Versuch zu machen, ob es ihm etwa gelänge, sie von einer anderen Seite her auf den rechten Weg zu bringen.

„Mütterchen,“ sagte er, „entweder Sie wollen mich nicht verstehen, oder Sie reden das alles nur, um nur überhaupt etwas zu reden ... Ich gebe Ihnen Geld, fünfzehn Rubel in Banknoten; verstehen Sie? Das ist doch Geld und liegt nicht auf der Straße. Wie teuer haben Sie zum Beispiel Ihren Honig verkauft? Gestehen Sie mal!“

„Für zwölf Rubel das Pud.“

„Versündigen Sie sich nicht, Mütterchen! Zwölf haben Sie gewiß nicht dafür bekommen.“

„Bei Gott, Väterchen!“

„Nun also sehen Sie, dafür war das auch Honig. Sie haben vielleicht ein Jahr gebraucht, voller Sorgen und Mühe und Arbeit, bis Sie ihn einsammeln konnten. Sind hin und her gefahren; haben die armen Bienen geplagt. Sie einen ganzen Winter über im Keller gefüttert. Sehen Sie wohl! Dagegen die toten Seelen, die sind doch nicht von dieser Welt. An die haben Sie keinerlei Mühe und Arbeit gewendet. Es war halt Gottes Wille, daß sie diese Welt verlassen und ihrem Hause Abbruch tun mußten. Dort haben Sie für alle Ihre Sorge und Mühe zwölf Rubel bekommen, und hier sollen Sie für ein reines Nichts, ganz umsonst, nicht zwölf, sondern sogar fünfzehn Rubel und nicht in Silber, sondern in lauter schönen blauen Scheinen ausbezahlt erhalten.“ Nachdem Tschitschikow so starke und überzeugende Gründe ins Feld geführt hatte, zweifelte er kaum noch, daß die Alte endlich nachgeben werde.

„Nein wirklich,“ versetzte die Gutsbesitzerin, „ich bin eine arme und unerfahrene Witwe, lieber will ich noch ein wenig warten, bis noch andere Käufer kommen. Damit ich mich über den Preis vergewissern kann.“

„Schämen Sie sich, Mütterchen! Denken Sie bloß selbst, was Sie da reden. Wer wird denn so etwas kaufen wollen. Was soll er denn bloß damit anfangen.“

„Vielleicht kann man sie doch bei Gelegenheit in der Wirtschaft verwenden ...“ erwiderte die Alte. — Aber sie vollendete ihre Rede nicht, machte den Mund auf und starrte ihn beinahe mit Entsetzen an, gespannt auf seine Antwort harrend.

„Die Toten in der Wirtschaft! — Herr Gott, wozu Sie sich wieder verstiegen haben! Etwa um nachts die Spatzen in Ihrem Garten zu scheuchen?! Wie?“

„Heiliger Jesus hilf uns! Welch schreckliche Dinge du da sprichst,“ sagte die Alte, indem sie das Kreuz schlug.

„Wozu wollen Sie sie denn sonst verwenden? Übrigens das Grab und die Knochen können sie ja behalten. Der Kauf findet ja nur auf dem Papiere statt. Nun also wie steht es? Geben Sie mir doch zum wenigsten eine Antwort.“

Die Alte versank wieder in Nachdenken.

„Woran denken Sie bloß, Nastassja Petrowna?“

„Wirklich, ich weiß nicht recht, was ich da machen soll? Kaufen Sie mir lieber etwas Hanf ab!“

„Ach was Hanf! Ich bitte Sie! Ich will was ganz anderes von Ihnen, und Sie schwatzen mir Ihren Hanf auf. Lassen Sie den Hanf ruhig Hanf bleiben! Wenn ich ein anderes Mal vorspreche, kaufe ich Ihnen vielleicht auch Hanf ab. Nun, wie ist es, Nastassja Petrowna?“

„Bei Gott es ist eine so seltene Ware, mit der ich noch nie was zu tun gehabt habe.“

Hier war Tschitschikows Geduld zu Ende. In seiner Wut packte er einen Stuhl, stieß ihn auf die Erde und wünschte ihr den Teufel an den Hals.

Vor dem Teufel war die Gutsbesitzerin aufs höchste entsetzt.

„Ach, sprich mir nicht von ihm! Gott mit ihm!“ rief sie aus und erbleichte. „Noch die ganze vorige Nacht hab ich ihn fortwährend im Traume gesehen, den Verfluchten. Ich wollte mir nach dem Gebet noch einmal die Karten legen. Da hat ihn mir Gott offenbar zur Strafe hergesandt. So greulich sah er aus. Seine Hörner waren länger als die eines Ochsen.“

„Ich wundere mich, daß sie Ihnen nicht zu Dutzenden erscheinen! Mich leitet nichts wie die reinste Christenliebe; ich sehe eine arme Witwe, die sich plagt und Not leidet ... Daß du doch krepiertest zusamt deinem Gute.“

„Ach, was für schreckliche Flüche du da ausstößt,“ sagte die Alte und sah ihn entsetzt an.

„Wahrhaftig, es fehlen einem ja die Worte, rein wie ein — entschuldigen Sie den harten Ausdruck — wie ein Kettenhund, der auf seinem Stroh liegt; frißt das Stroh selbst nicht und läßt doch keinen andern ran. Ich wollte Ihnen allerhand von Ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen abkaufen, weil ich ja auch Lieferungen für den Staat übernehme ...“ Hier log er etwas hinzu, so ganz nebenher, und ohne es sich recht überlegt zu haben, aber sehr geschickt.

Diese Lieferungen für den Staat machten einen tiefen Eindruck auf Nastassja Petrowna; wenigstens sagte sie mit beinahe flehender Stimme: „Warum wirst du denn gleich so zornig? Hätte ich früher gewußt, daß du so wild werden kannst, dann hätte ich lieber garnicht widersprochen.“

„Ach was, ich bin garnicht zornig! Die ganze Sache ist keine ausgepreßte Zitrone wert. Und ich sollte mich ärgern?“

„Schön, schön, ich will sie dir ja für 15 Rubelscheine lassen. Nur eins, Väterchen, vergiß mich nicht bei den Lieferungen, wenn du etwa Roggen oder Gerstenmehl oder Buchweizen oder Fleisch brauchen solltest.“

„Nein, nein, Mütterchen, ich werde dich schon nicht vergessen,“ sagte er, während er sich den Schweiß mit der Hand abtrocknete, der in drei Sturzbächen über sein Gesicht floß. Er erkundigte sich bei ihr, ob sie nicht in der Stadt einen Vertrauensmann beim Gericht, einen Vertreter oder einen Bekannten habe, den sie zum Abschluß des Kaufkontraktes und aller übrigen notwendigen Maßnahmen bevollmächtigen könnte. „Gewiß, den Probst, Vater Kirill; sein Sohn ist am Gericht,“ sagte Karobotschka. Hierauf bat Tschitschikow sie, ihm eine Vollmacht zu schicken, ja er übernahm es sogar, diese selbst aufzusetzen, um der Alten jegliche unnütze Arbeit zu ersparen.

„Es wäre doch gut,“ dachte unterdes Karobotschka, „wenn er mir etwas Mehl und Vieh für den Staat abnähme. Ich muß ihn für mich gewinnen. Es ist noch etwas Teig von gestern abend da. Ich will mal hingehen und der Fetinja sagen, sie soll Pfannkuchen backen. Auch eine Eierpastete von Butterteig wäre nicht übel. Die macht sich sehr gut, und es nimmt nicht viel Zeit weg.“ Damit ging die Hausfrau hinaus, um ihren Plan mit der Pastete auszuführen und ihn noch durch andere Produkte der häuslichen Koch- und Backkunst zu ergänzen. Tschitschikow aber ging in den Salon, in dem er die Nacht zugebracht hatte, um die notwendigen Papiere aus seiner Schatulle zu holen. Das Zimmer war schon längst aufgeräumt, die üppigen Plumeaus und Unterbetten waren hinausgeschafft. Vor dem Sofa stand ein Tisch mit einer Decke darauf. Er setzte seine Schatulle auf ihn und ließ sich auf das Sofa nieder, um ein wenig auszuruhen; denn er fühlte, daß er ganz in Schweiß gebadet sei: alles, was er am Leibe trug, vom Hemd bis zu den Strümpfen, war vollständig naß. „Hat die mir zugesetzt, die verfluchte Alte,“ sagte er, nachdem er ein wenig ausgeruht hatte, und öffnete die Schatulle. Der Autor ist überzeugt, daß mancher Leser neugierig sein wird, den Plan und die innere Fächereinteilung der Schatulle kennen zu lernen. Meinetwegen, warum sollte ich diese Neugierde nicht befriedigen. Also, da habt ihr sie, die Einteilung; in der Mitte befindet sich der Seifennapf; auf den Seifennapf folgen sechs bis sieben schmale Fächer für die Rasiermesser. Dann kommen zwei viereckige Behältnisse für die Streusandbüchse und das Tintenfaß. Zwischen beiden ist eine Rille für Federn, Siegellack und Gegenstände von längerer Statur. Weiter folgten allerhand Fächer mit Deckel und ohne Deckel, für die kürzeren Gegenstände, welche mit Visitenkarten, Beerdigungsanzeigen, Theaterbilleten und anderen Zetteln angefüllt waren, die hier als Reminiszenzen ruhten. Das ganze obere Kästchen mit all seinen Fächern ließ sich herausheben. Unter ihm öffnete sich ein weiter Raum, in dem Stöße von Papier in Bogengröße aufgeschichtet lagen. Darunter befand sich ein kleines verborgenes Kästchen, das sich unauffällig seitlich auftat, in dem er sein Geld zu bewahren pflegte. Dieses Kästchen wurde von seinem Besitzer stets mit einer solchen Geschwindigkeit auf- und im selben Augenblick wieder zugemacht, daß man nicht mit Sicherheit angeben konnte, wieviel Geld es enthielt. Tschitschikow ging sogleich an die Arbeit, schnitt die Feder zurecht und begann zu schreiben. In diesem Moment trat die Hausfrau ins Zimmer.

„Hast du aber einen schönen Kasten, Väterchen!“ sagte sie, indem sie sich neben ihn setzte, „den hast du wohl in Moskau gekauft?“

„Ja, in Moskau,“ antwortete Tschitschikow und fuhr fort zu schreiben.

„Ich weiß, dort kriegt man’s nur gut. Vor zwei Jahren hat meine Schwester gefütterte Stiefel für die Kinder von dort mitgebracht. Vortreffliche Ware! So dauerhaft! Sie tragen sie noch heute. Ach, hast du viel Stempelpapier,“ fuhr sie fort, während sie einen Blick in die Schatulle warf. Und in der Tat, es war sehr viel Papier darin. „Du könntest mir ein paar Bogen schenken. Bei mir herrscht solch ein Mangel daran. Es kommt doch vor, daß man ein Schreiben ans Gericht zu senden hat. Dann ist immer kein Papier da.“

Tschitschikow erklärte ihr, das sei kein Papier, wie sie es wünschte. Es sei nur für Kaufkontrakte, und nicht für Gesuche geeignet. Übrigens gab er ihr, um sie zu beruhigen, einen Bogen im Werte von einem Rubel. Nachdem er seinen Brief vollendet hatte, ließ er sie unterschreiben und bat sie um ein kurzes Verzeichnis der Bauern. Es stellte sich heraus, daß die Gutsbesitzerin gar keine Listen über ihre Bauern führte, sondern ihre Namen nur auswendig wußte. Er forderte sie auf, ihm diese zu diktieren. Mehrfach geriet er in höchstes Erstaunen über ihre Familiennamen und mehr noch über ihre Spitznamen, sodaß er jedesmal beim Hören ein wenig innehielt, ehe er sie niederschrieb. Einen besondern Eindruck machte auf ihn ein gewisser Peter Saweljew genannt der Waschtrogverächter, sodaß er sich nicht enthalten konnte, auszurufen: „Ist das aber ein langer Kerl!“ Ein anderer trug den Beinamen Kuhfladen. Ein dritter wurde einfach Johann das Rad genannt. Nachdem er mit dem Schreiben fertig war, sog er die Luft tief durch die Nase ein und roch den Duft einer in Butter schmorenden Speise.

„Bitte bedienen Sie sich,“ sagte die Wirtin. Tschitschikow sah sich um und bemerkte, daß der Tisch mit leckeren Gerichten reich besetzt war; da gab es Pilze, Gebäck, Spiegeleier, Pfannkuchen, Käsekeulchen, Splittertörtchen und Fladen mit allerhand Pastetchen: Pastetchen mit Zwiebeln, Pastetchen mit Mohn, Pastetchen mit Quark, Pastetchen mit Stinten und weiß Gott, was sonst noch alles.

„Bitte, vielleicht eine Eierpastete aus Butterteig gefällig?“ sagte die Wirtin.

Tschitschikow rückte näher an die Eierpastete aus Butterteig heran, und sprach sich sehr lobend über sie aus, nachdem er eine gute Hälfte von ihr verspeist hatte. Und in der Tat, die Pastete war schon an und für sich nicht übel; nach all den Plackereien und dem Geplänkel mit der Alten aber schmeckte sie noch weit vorzüglicher.

„Nehmen Sie Pfannkuchen?“ sagte die Wirtin. Als Antwort auf diese Frage, spießte Tschitschikow gleich drei Pfannkuchen auf, rollte sie zusammen, tauchte sie in die geschmolzene Butter und beförderte sie in den Mund, worauf er sich Lippen und Hände mit der Serviette abwischte. Nachdem er dieses etwa dreimal wiederholt hatte, bat er die Hausfrau die Pferde anspannen zu lassen. Nasstassja Petrowna schickte Fetinja sofort in den Hof hinunter, und trug ihr zugleich auf, noch ein paar heiße Pfannkuchen mitzubringen.

„Ihre Pfannkuchen sind ausgezeichnet, Mütterchen,“ sagte Tschitschikow, indem er sich über die frischen Pfannkuchen hermachte.

„Ja, das versteht meine Köchin sehr gut,“ versetzte die Hausfrau, „leider war nur die Ernte so schlecht, und das Mehl ist nicht so gut geraten. Aber warum eilen Sie so? Väterchen?“ fuhr sie fort, als sie sah, daß Tschitschikow schon seinen Hut in der Hand hielt, „der Wagen ist ja noch gar nicht fertig.“

„Oh der ist schnell fertig, Mütterchen. Bei mir geht das sehr schnell.“

„Nicht wahr, Sie vergessen mich also nicht bei den Lieferungen?“

„Nein, nein,“ sagte Tschitschikow, während er in den Flur hinaustrat.

„Sie wollen mir also keinen Speck abkaufen?“ sagte die Hausfrau, indem sie ihn hinausbegleitete.

„Warum nicht? Gewiß kaufe ich Ihnen welchen ab. Nur nicht gleich jetzt.“

„Zu Ostern werde ich schönen Speck haben.“

„Seien Sie ruhig, ich kaufe Ihnen welchen ab; ich kaufe ihnen alles ab, was Sie wollen, auch Schweinespeck.“

„Vielleicht brauchen Sie auch Daunen? Während der Weihnachtsfasten werde ich auch Daunen haben.“

„Schön, schön,“ sagte Tschitschikow.

„Siehst du wohl, Väterchen, dein Wagen ist noch nicht fertig,“ sprach die Hausfrau, als sie auf die Treppe hinaustraten.

„Er ist gleich fertig. Sagen Sie mir bloß, wie ich auf die große Landstraße gelange.“

„Wie mache ich das nur?“ sagte die Hausfrau. „Es ist nicht leicht, dir das klar zu machen, man muß so oft wenden; vielleicht ist es das Beste, ich gebe dir ein Mädchen mit, die dir den Weg zeigt. Du wirst doch auf dem Bock noch einen Platz haben, wo sie sich hinsetzen kann.“

„Natürlich.“

„Nun gut, dann gebe ich dir das Mädel mit, sie kennt den Weg, entführt sie mir nur nicht gar, hörst du, neulich haben mir schon ein paar Kaufleute einmal eine weggeholt.“

Tschitschikow gab ihr das Versprechen, das Mädchen nicht zu entführen und Karobotschka kehrte wieder beruhigt zur Durchmusterung ihres Hofes zurück. Erst glotzte sie die Haushälterin an, welche eine hölzerne Kanne mit Honig aus der Speisekammer holte. Dann warf sie einen Blick auf einen Bauern, — der im Torweg erschien, um allmählich immer mehr in ihrem Haushalt unterzutauchen. Wozu aber beschäftigen wir uns eigentlich so lange mit Karobotschka? Was ist uns Karobotschka, Manilow, wirtschaftliches oder unwirtschaftliches Leben? Lassen wir sie! Ist es nicht wunderbar eingerichtet in dieser Welt! Jede Freude geht, ehe man sich’s versieht, in Trauer über, wenn man sich gar zu lange bei ihr aufhält, und Gott weiß, was sich einem dann für Gedanken aufdrängen! Man könnte gar auf die Idee kommen: Wie!? Steht denn Karobotschka wirklich so tief auf der unendlich langen Stufenleiter menschlicher Vollkommenheit? Sollte er wirklich so tief sein, der Abgrund, der sie von ihrer Schwester trennt. Von ihr, welche unnahbare Mauern eines aristokratischen Hauses mit seinen lieblich duftenden gußeisernen Treppen beschützen, die mit Kupferglanz, Mahagoniholz und kostbaren Teppichen prunken. Von ihr, welche gähnend neben ihrem halbgelesenen Buche sitzt, in unruhiger Erwartung des weltmännisch-geistreichen Besuchers, in dessen Gegenwart sich ihrem Geiste ein Feld eröffnet, wo sie ihren Verstand leuchten und eingelernte Gedanken spielen lassen kann. — Gedanken, welche nach der heiligen Satzung der Mode eine ganze Stadt wochenlang beschäftigen, Gedanken, die sich nicht darum drehen, was in ihrem Hause und auf ihren Gütern vorgeht, die in Unordnung geraten darniederliegen, sondern allein darauf gerichtet sind, welche Umwälzung in der französischen Politik bevorsteht, oder welche Wendung der moderne Katholizismus nehmen wird. Doch weiter, weiter! Wozu über diese Dinge reden? Aber warum fällt bisweilen in Augenblicken froher, sorgenfreier Gedankenlosigkeit wie von selbst ein wundersamer Strahl in uns hinein? Noch fand das Lächeln kaum Zeit, dem Gesichte zu entschwinden, und schon verwandelte es sich bei demselben Menschen in ein anderes, und ein neues Licht erleuchtet jetzt sein Antlitz?

„Da ist er, da ist ja mein Wagen,“ rief Tschitschikow, als er seine Kutsche heranrollen sah, „was hast du nur solange getrödelt, du Esel! Dein Rausch von gestern ist wohl noch nicht ganz verflogen.“

Hierauf erwiderte Seliphan kein Wort.

„Leben Sie wohl, Mütterchen! Nun wo ist Ihr Mädchen?“

„Heh! Pelagia!“ rief die Alte einem Mädchen von etwa elf Jahren zu, das in der Nähe der Treppe stand. Die Kleine hatte ein selbstgewebtes, farbiges Leinenkleid an. Sie war barfüßig, und schien doch Stiefeln anzuhaben, denn ihre Füße waren bis oben hinauf mit frischem Straßenschmutz bedeckt. „Zeig dem Herrn den Weg!“

Seliphan half dem Mädchen auf den Bock, welches zuerst mit einem Fuß auf das Trittbrett stieg, das sie bei dieser Gelegenheit ein wenig beschmutzte. Hierauf schwang sie sich auf den Kutschersitz, wo sie sich neben Seliphan niederließ. Nach ihr setzte Tschitschikow seinen Fuß auf das Trittbrett und nahm endlich im Wagen Platz, der sich unter seinem Gewichte nach rechts beugte. „So, jetzt ist alles in Ordnung. Leben Sie wohl Mütterchen!“ mit diesen Worten verabschiedete er sich von der Gutsbesitzerin und die Pferde zogen an.

Seliphan war den Weg über sehr ernst und streng und widmete sich seinem Dienst mit großer Aufmerksamkeit, was immer dann zu geschehen pflegte, wenn er etwas verschuldet hatte oder betrunken gewesen war. Die Pferde waren von einer bewundernswerten Sauberkeit. Das Kummet bei dem einen, welches gewöhnlich zerlocht und zerfetzt war, sodaß das Werg unter dem Leder hervorquoll, war sorgfältig genäht und ausgebessert. Er war während des ganzen Weges sehr schweigsam, schwang nur hin und wieder die Peitsche und unterließ es vollkommen, seine Pferde mit lehrhaften Reden zu beehren, obwohl der Schecke natürlich gerne eine Belehrung entgegengenommen hätte. Denn während einer solchen Rede pflegte der wortfrohe Wagenlenker die Zügel immer recht lose in der Hand zu halten, und er ließ auch die Peitsche nur pro forma über den Rücken der Pferde hüpfen. Aber der finstere Mund ließ dieses Mal nur monotone und unfreundliche Ausrufe vernehmen, wie: „Hüh! Hüh! alte Krähe! was trödelst du!“ sonst nichts. Aber selbst der Braune und der Assessor waren nicht zufrieden, weil sie kein einziges freundliches und Achtung zollendes Wort zu hören bekamen. Der Schecke erhielt sogar häufig äußerst unangenehme Schläge auf seine weichen, wohlgerundeten Körperteile. „Sieh mal, was in den gefahren ist!?“ dachte er sich, indem er seine Ohren ein wenig spitzte. „Der weiß auch, wohin er haut; sucht sich nicht etwa den Rücken aus, sondern gerade die empfindlichsten Stellen. Schlägt einem die Peitsche um die Ohren oder geht einem sogar an den Bauch.“

„Rechts? Wie?“ Mit dieser trockenen Frage wandte sich Seliphan an das neben ihm sitzende Mädchen, indem er mit der Peitsche auf den vom Regen geschwärzten Weg hinwies, der sich zwischen frischen, in hellem Grün leuchtenden Feldern dahinzog.

„Nein, noch nicht! Ich werde es dir schon sagen!“ antwortete das Mädchen.

„Nun, wohin denn?“ fragte Seliphan, als sie sich dem Kreuzweg näherten.

„Dorthin!“ sagte das Mädchen, indem es mit dem Finger die Richtung anzeigte.

„Ach! du!“ sagte Seliphan, „das ist doch rechts! Kann rechts und links nicht unterscheiden.“

Obwohl der Tag sehr heiter war, war die Straße derartig schmutzig, daß der Kot an den Wagenrädern kleben blieb und sie bald wie mit einer Filzschicht bedeckte, was die Equipage am Fortkommen hinderte. Dazu war der Boden noch sehr locker und lehmig. Dieses war die Ursache, daß sie die Landstraße nicht vor Mittag erreichten. Ohne das Mädchen wäre es ihnen wahrscheinlich auch schwerlich gelungen, weil die Wege nach allen Richtungen auseinanderliefen, wie gefangene Krebse, wenn man sie aus dem Netze schüttet. Und Seliphan hätte sich ohne seine Schuld leicht verirren können. Bald darauf zeigte das Mädchen mit der Hand auf ein Gebäude, das in der Ferne sichtbar wurde, und sagte: „Da ist die Poststraße.“

„Und was ist das für ein Gebäude?“ fragte Seliphan.

„Ein Wirtshaus,“ sagte das Mädchen.

„So, nun werden wir schon selbst den Weg finden. Du kannst jetzt nach Hause gehen.“

Er hielt an und half ihr beim Absteigen, während er vor sich hinmurmelte: „Du Dreckbein!“

Tschitschikow gab ihr eine Kupfermünze, und sie lief munter nach Hause, hocherfreut, daß sie auf dem Kutschbock hatte fahren dürfen.

Viertes Kapitel

Als man sich dem Wirtshause näherte, ließ Tschitschikow anhalten und zwar aus zwei Gründen. Einmal wollte er die Pferde ausruhen lassen, und dann wünschte er auch selbst etwas zu sich zu nehmen und sich zu stärken. Der Autor muß gestehen, daß er diese Art Leute um ihren guten Magen und ihren Appetit aufrichtig beneidet. Für ihn haben jene große Herren nur wenig Bedeutung, welche in Petersburg oder Moskau wohnen und deren ganze Zeit im Nachdenken darüber aufgeht, was sie morgen zu Mittag speisen werden, und was für ein Menu sie für übermorgen zusammenstellen könnten, sie, die sich nicht eher an die Mittagstafel setzen, bevor sie ein paar Pillen geschluckt und ein paar Austern oder Krabben und andere Meerwunder verschlungen haben, um sich zum Schluß nach Karlsbad oder in den Kaukasus zu begeben. Nein, diese Herrschaften haben nie den Neid des Autors wachrufen können. Wohl aber jene mittleren Leute, welche auf einer Station eine Portion Schinken bestellen, auf der nächsten ein Spanferkel, auf der dritten ein Stück Stör oder Bratwurst mit Knoblauch, und die sich dann zu Tische setzen, wie wenn nichts passiert wäre, und zwar zu jeder beliebigen Zeit. Die Suppe aus Quappe, Sterlet und Fischmilch zischt und brodelt zwischen ihren Zähnen, begleitet von Fischpasteten oder einer Welspirogge, sodaß bei jedem Unbeteiligten der Appetit rege werden muß. — Diese Leute erfreuen sich einer beneidenswerten Himmelsgabe. Mehr als einer von den großen Herren würde sofort die Hälfte seiner Bauern und der verpfändeten und unverpfändeten Güter mit all ihren modernen Errungenschaften, die das In- und Ausland hervorbrachten, darangeben, um nur einen solchen Magen zu haben, wie so ein Mann des guten Bürgerstandes. Das Unglück ist leider nur, daß man sich weder für Geld noch Güter mit und ohne Errungenschaften einen solchen Magen zulegen kann, wie ihn ein Herr der mittleren Stände besitzt.

Das hölzerne, verwitterte Wirtshaus nahm Tschitschikow unter sein gastliches Vordach, welches auf gedrechselten Säulen ruhte, die große Ähnlichkeit mit altertümlichen Kirchenleuchtern hatten. Dieses Wirtshaus war eine Art russische Bauernhütte, nur in etwas größerem Maßstab. Die mit Schnitzwerk verzierten Karnise aus frischem Holze um die Fenster herum und unter dem Dach hoben sich lebhaft von den dunklen Wänden ab. Auf den Fensterläden waren Krüge mit Blumen abgebildet.

Nachdem Tschitschikow die enge Holztreppe hinaufgestiegen war, betrat er den breiten Flur. Hier stieß er auf eine Tür, welche sich knarrend auftat, sowie auf ein dickes altes Weib in einem bunten Kattunkleid, das ihn mit folgenden Worten anredete: „Hierher, bitte!“ In dem Gastzimmer fand er lauter alte Bekannte, denen man immer in den kleinen hölzernen Wirtshäusern an der Landstraße begegnet; den dampfbeschlagenen Samowar, die glatt gehobelten Wände aus Fichtenholz, ein dreieckiges Spind mit Teekannen und Tassen in der Ecke, vergoldete Porzellaneier vor den Heiligen-Bildern, die an blauen und roten Bändern hingen, eine Katze, die vor kurzem Junge geworfen hatte, einen Spiegel, der statt zwei Augen vier und statt eines Gesichtes eine Art Pfannkuchen erkennen ließ, endlich Sträuße aus wohlriechenden Kräutern und Nelken, welche hinter die Heiligenbilder gesteckt und schon so stark vertrocknet waren, daß jeder, den die Lust anwandelte an ihnen zu riechen, zu niesen begann, sonst aber unbefriedigt blieb.

„Haben Sie Spanferkel?“ Mit dieser Frage wandte sich Tschitschikow an die dicke Alte.

„Gewiß!“

„Mit Meerrettich und saurer Sahne?“

„Freilich mit Sahne und Meerrettich.“

„Her damit!“

Die Alte ging, kramte im Speiseschrank umher und brachte einen Teller, eine Serviette, steif gestärkt wie getrocknete Baumrinde, ferner ein Messer mit einem gelblichen Knochengriff, und einer Klinge, dünn wie die eines Federmessers und schließlich eine zweizinkige Gabel und ein Salzfaß, das durchaus nicht geradestehen wollte.

Unser Held ließ sich nach seiner Gewohnheit sogleich in ein Gespräch mit ihr ein. Er erkundigte sich, ob sie selbst die Besitzerin des Gasthofes oder ob noch ein Wirt da sei; wieviel das Geschäft abwerfe; ob ihre Söhne bei ihr wohnten; was der älteste Sohn für einen Beruf habe und ob er schon verheiratet oder noch Junggeselle sei; was er für eine Frau genommen habe, mit oder ohne Mitgift; ob der Schwiegervater zufrieden und ob der Sohn nicht ärgerlich gewesen sei, daß er zu wenig Hochzeitsgeschenke bekommen habe. Mit einem Wort, er vergaß nicht das Mindeste. Es versteht sich von selbst, daß er auch Erkundigungen darüber einzog, was für Gutsbesitzer in der Nähe wohnten, und er erfuhr, daß es deren verschiedene gäbe, einen gewissen Blochin, Potschitajew, Mylny, Oberst Tscherpakow, Sabakewitsch. „Ah! du kennst Sabakewitsch?“ fragte er die Alte, und er hörte sogleich, daß sie nicht nur Sabakewitsch, sondern auch Manilow kenne, und daß Manilow etwas „dewikater“ sei als Sabakewitsch. „Er bestellte sofort ein Huhn oder Kalbsbraten; gibt es Hammelleber, so verlangt er auch Hammelleber und ißt von allem nur ein wenig. Dagegen bestellt Sabakewitsch immer nur ein einziges Gericht, das er dann aber auch ganz aufißt. Ja, er verlangt sogar noch eine größere Portion für dasselbe Geld.“

Während er sich in dieser Weise unterhielt und vergnügt sein Spanferkel verzehrte, von dem nur noch ein kleines Stück auf dem Teller übrig blieb, hörte er plötzlich das Rädergerassel einer heranrollenden Equipage. Er blickte zum Fenster hinaus und sah eine zierliche Kutsche vor dem Wirtshaus halten, die mit drei braven Pferden bespannt war. Aus dem Wagen stiegen zwei Herren heraus. Der eine von ihnen war blond und von hohem Wuchs, der andere etwas kleiner und brünett. Der Blonde trug eine dunkelblaue Joppe, der andere hatte eine gewöhnliche buntgestreifte Morgenjacke aus Bucharischem Stoffe an. Von ferne sah man noch ein leeres Wägelchen herankommen, das von einem langhaarigen Viergespann mit zerrissenen Halsbügeln und Halftern von Hanf gezogen wurde. Der Blonde lief sofort die Treppe hinauf, während der Dunkelhaarige noch ein wenig unten blieb, den Wagen untersuchte und, während er sich mit dem Knechte unterhielt, dem herankommenden Gefährt allerhand Zeichen gab. Tschitschikow kam seine Stimme ein wenig bekannt vor. Während er ihn betrachtete, hatte der Blonde bereits die Tür gefunden und öffnete sie eben. Dies war ein hochgewachsener Mann mit schmalem Gesicht oder, wie man zu sagen pflegt, mit etwas verlebten Zügen und kleinem roten Schnurrbart. Nach seiner gebräunten Gesichtsfarbe zu urteilen, hatte er schon oft im Dampfe gestanden, wenn nicht im Pulverdampf, so doch im Tabaksdampf. Er verbeugte sich höflich gegen Tschitschikow, worauf jener mit einer gleichen Verbeugung antwortete. Sie hätten sicherlich schon nach wenigen Minuten eine Unterhaltung angeknüpft und nähere Bekanntschaft mit einander gemacht, weil der erste Schritt dazu ja schon getan war und beide fast zu gleicher Zeit ihre Freude darüber äußerten, daß der Staub auf der Landstraße durch den gestrigen Regen vollständig niedergeschlagen und daß die Reise jetzt angenehm und kühl sei, wenn nicht sein schwarzhaariger Gefährte plötzlich ins Zimmer getreten wäre; er riß seinen Hut vom Kopfe und warf ihn auf den Tisch, indem er sich mit einer kühnen Handbewegung durch das Haar fuhr. Dies war ein Mann von mittlerem Wuchs, ein stattlicher Kerl mit vollen rosigen Wangen, schneeweißen blitzenden Zähnen und pechschwarzem Backenbart. Dazu hatte er so frische Farben wie Blut und Milch; sein Gesicht strotzte förmlich vor Gesundheit.

„Ba, Ba, Ba,“ rief er plötzlich und breitete beim Anblick Tschitschikows die Arme weit aus. „Was führt Sie hierher?“

Hier erkannte Tschitschikow, daß es Nosdrjow war, jener Herr mit dem er beim Staatsanwalt gespeist und der sich mit ihm schon nach wenigen Minuten so vertraut gemacht hatte, daß er ihn zu duzen begann, obwohl ihm Tschitschikow seinerseits nicht die geringste Veranlassung dazu gegeben hatte.

„Wo warst du?“ fragte Nosdrjow und fuhr ohne die Antwort abzuwarten, sogleich fort: „Ich komme von der Messe lieber Freund; du kannst mir gratulieren. Ich bin blank; ich habe den letzten Heller dagelassen. Du wirst mir’s nicht glauben, daß ich noch nie in meinem Leben so blank war. Ich habe mir eine Droschke mieten müssen. Sieh einmal aus dem Fenster; da steht sie noch!“ Hierbei drückte er Tschitschikows Kopf herunter, sodaß dieser sich beinah am Fensterkreuz gestoßen hätte. „Sieh doch die Klepper an, die verdammten Viecher haben mich kaum bis hierher geschleppt. — Ich mußte schließlich sogar in seinen Wagen steigen.“ Bei diesen Worten zeigte Nosdrjow mit dem Finger auf seinen Gefährten:

„Ah — ihr seid noch nicht bekannt. Mein Schwager Mishujew! Wir haben schon den ganzen Morgen von dir gesprochen. ‚Paß mal auf,‘ habe ich gesagt, ‚wenn wir Tschitschikow treffen.‘ Nein, wenn du wüßtest, Bruder, wie blank ich bin. Glaub’s oder nicht, ich bin nicht nur meine vier Gäule los geworden, ich habe tatsächlich alles verjuchzt. Ich habe nicht mal mehr Uhr und Kette.“ Tschitschikow sah ihn an und überzeugte sich, daß er wirklich weder Uhr noch Kette trug. Ja, es schien ihm sogar, daß die eine Hälfte seines Backenbartes etwas kleiner und dünner war, als die andre.

„Und doch, wenn ich nur zwanzig Rubel in der Tasche gehabt hätte,“ fuhr Nosdrjow fort, „genau zwanzig und nicht mehr noch weniger, ich hätte wahrhaftig Alles wieder gewonnen, d. h. ich hätte es nicht nur wiedergewonnen, sondern, — so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, ich hätte jetzt noch dreißigtausend dazu in der Tasche.“

„Das hast du auch schon da gesagt,“ wandte ihm hier der Blonde ein. „Aber als ich dir die fünfzig Rubel gab, hast du sie doch gleich darauf verspielt.“

„Ich hätte sie bei Gott nicht verloren. Wahrhaftig nicht. Hätte ich damals keine Dummheit gemacht, so besäße ich sie noch jetzt.

Hätte ich nach dem Paroli der verdammten Sieben keine Ecke geschlagen, ich hätte die ganze Bank sprengen können.“

„Du hast sie doch aber nicht gesprengt,“ sagte der Blonde.

„Natürlich nicht, weil ich eben die Ecke nicht zur rechten Zeit geschlagen habe. Du glaubst wohl, daß dein Major sehr schön spielt?“

„Schön oder nicht schön, er hat dich doch gerupft.“

„Auch was Großes,“ sagte Nosdrjow.

„So hätte ich ihn auch reinlegen können. Er sollte mal versuchen, Doublet zu spielen, dann wollen wir mal sehen, was der Kerl kann. Dafür haben wir aber auch die letzten Tage fein durchgebummelt, Freund Tschitschikow. Nein wirklich, die Messe war großartig. Selbst die Kaufleute sagen, daß es noch niemals so ein Leben gab. Wir haben alles, was von meinem Gut kam, zu den höchsten Preisen losgeschlagen. Ach, Freund, wie wir gezecht haben. Wenn ich jetzt noch daran denke, Teufel .... es ist doch schade, daß du nicht dabei warst. Stell dir vor, drei Werst vor der Stadt stand ein Dragonerregiment und denk dir nur, sämtliche Offiziere, soviel überhaupt da waren, ich glaube, an die vierzig Mann hoch, kamen in die Stadt, und als dann erst das Saufen losging ...... der Stabsrittmeister Patzelujeff, das ist doch ein famoser Mensch; — hat der einen Schnurrbart, — — — so groß. Statt Kognak sagt er einfach Jäckchen. ‚Bring mir doch schnell ein Jäckchen,‘ ruft er dem Kellner zu. Leutnant Kufschinnikow ... Weißt du, Freund, ein zu netter Mensch! Ein richtiger Zechbruder, das kann man wohl sagen. Wir waren immer zusammen. Und was uns der Ponomarjow für einen Wein vorgesetzt hat! Der ist nämlich ein Gauner, mußt du wissen. Bei dem darf man nichts kaufen. Der Teufel mag wissen, womit der den Wein vermengt. Der Kerl färbt ihn mit Sandelholz, gebranntem Kork und Holundermark; wenn man ihm aber aus dem letzten Zimmer, das er sein Allerheiligstes nennt, eine Flasche herausschmuggelt, wahrhaftig Freund, dann glaubt man sich gleich im siebenten Himmel. Einen Champagner hatten wir, sage ich dir! ... Dagegen ist der des Gouverneurs das reinste Weißbier. Stell dir vor, nicht Cliquot, sondern irgend ein Cliquot-Matradura, gewissermaßen ein potenziertes Cliquot. Und dann holte ich noch eine Flasche französischen Wein, Marke Bonbon. Na, der Geruch — ff., wie Rosenknospen und sonst noch alles, was dein Herz begehrt .. Donner, haben wir gezecht! .. Nach uns kam noch ein Fürst hin. Der ließ nach Champagner schicken. — Denk dir, in der ganzen Stadt keine Flasche aufzutreiben: die Offiziere hatten den ganzen Sekt ausgetrunken. Du kannst mir’s glauben, ich allein hab während des Diners siebzehn Flaschen hinter die Binde gegossen!“

„Na, na! siebzehn Flaschen, das bringst du denn doch nicht fertig,“ bemerkte der Blonde.

„So wahr ich ein ehrlicher Mann bin, ich hab sie doch ausgetrunken.“

„Du magst reden was du willst. Ich sage dir, du kannst nicht einmal zehn bewältigen.“

„Was gilt die Wette!?“

„Wozu denn wetten!“

„Gut, wetten wir um die Flinte, die du dir in der Stadt gekauft hast!“

„Ich mag nicht.“

„Ach was, tu’s doch, versuch’s nur!“

„Ich will’s aber nicht versuchen.“

„Du hast wohl keine Lust, deine Flinte zu verlieren! Hör mal, Freund Tschitschikow, hab ich’s aber bedauert, daß du nicht dabei warst. Ich bin sicher, du hättest dich von Leutnant Kufschinnikow garnicht trennen können. Ihr hättet euch gleich verstanden. Der ist nicht wie der Staatsanwalt und die hiesigen Provinzgrößen unserer Stadt, die für jede Kopeke zittern. Der macht alles mit: einen Landsknecht, Pharao, ein Pokerchen, hält ein Bänkchen und alles, was du willst. Ach, Tschitschikow, nun was hätte es dich gekostet, mitzumachen. Wirklich, du bist ein Schwein, alter Saukerl du! Gib mir ’nen Kuß! Ich hab dich schrecklich lieb. Nimm mal den Mishujew, das Schicksal hat uns zusammengeführt; was ist er mir und was bin ich ihm? Kommt eines schönen Tages angefahren, Gott weiß woher! Zufälliger Weise muß ich auch gerade hier wohnen .... Und wieviel Wagen da waren, lieber Freund! Es ging alles ins Große, weißt du. Engros! Ich hab auch mal Fortuna versucht und zwei Büchschen Pomade, eine Porzellantasse und eine Gitarre gewonnen. Dann hab ich nochmal mein Glück probiert und alles wieder verloren, so ’ne Gemeinheit, und noch sechs Rubel dazu. Wenn du wüßtest, was für ein Don Juan der Kufschinnikow ist. Ich war auf allen Bällen mit ihm zusammen. Da war eine, die war so aufgeputzt: Rüschen und Spitzen, und weiß der Teufel, was die nicht alles an sich sitzen hatte. Ich dachte mir immer, Teufel! Der Kufschinnikow aber — so ’ne Bestie, was? — Setzt sich zu ihr und bekomplimentiert sie auf französisch. Du kannst mir’s glauben, der würde nicht einmal ein Bauernweib durchlassen. Das nennt er „Erdbeeren pflücken“. Es waren auch herrliche Fische, und vor allem Störe angekommen. Ich habe einen mitgebracht — noch gut, daß mir der Gedanke kam einen zu kaufen, solange ich noch Geld hatte. Wo reist du denn jetzt hin?“

„Ach, ich will zu einem Menschen hier,“ sagte Tschitschikow.

„Zu was für einem Menschen? Ach was, laß ihn laufen! Komm! wir fahren zusammen zu mir nach Hause!“

„Nein, nein, es geht nicht. Ich habe zu tun.“

„Ach was, zu tun! Hat sich was ausgedacht! Oh du Opodeldok Iwanowitsch!“

„Nein wirklich, ich habe zu tun, und sogar etwas sehr Wichtiges!“

„Ich möchte darauf wetten, du lügst! Also sag mal, zu wem fährst du?“

„Nun meinetwegen. Zu Sabakewitsch.“

Hier brach Nosdrjow in jenes laute und helle Lachen aus, dessen nur ein frischer und gesunder Mensch fähig ist, der dabei seinen Mund weit auftut, uns die ganze Reihe seiner Zähne sehen läßt, die tadellos und blendend weiß sind wie Zucker, während seine Gesichtsmuskeln hüpfen und springen, sodaß der Nachbar im dritten Zimmer, das durch zwei Türen von ihm getrennt ist, aus dem Schlaf in die Höhe fährt, die Augen aufreißt und ausruft: „Was mag bloß in den gefahren sein!“

„Was gibt es hier zu lachen?“ sagte Tschitschikow, der sich ein wenig über das Gelächter ärgerte.

Aber Nosdrjow fuhr fort, aus vollem Halse zu lachen, indem er zwischendurch rief: „Nein, bitte, verschone mich; ich berste vor Lachen!“

„Das ist durchaus nicht lächerlich: ich habe ihm mein Wort gegeben,“ sagte Tschitschikow.

„Aber du wirst ja deines Lebens nicht froh, wenn du zu ihm hinfährst; das ist doch ein ganz gemeiner Geizhals, ein Halsabschneider! Ich kenne doch deinen Charakter; du befindest dich in einem ungeheueren Irrtum, wenn du glaubst, du findest dort Gelegenheit zu einem kleinen Spielchen, eine gute Flasche Bonbon oder sonst was. Hör mal, lieber Freund! Hol doch der Teufel diesen Sabakewitsch! Komm zu mir! Ich setze dir einen Stör vor. Der Ponomarjow, diese Bestie hat nur immer Kratzfüße gemacht und versichert: ‚Ich tue es nur für Sie! Sie können die ganze Messe absuchen und werden keinen solchen finden.‘ Übrigens ein durchtriebener Spitzbube. Ich habe es ihm gleich ins Gesicht gesagt: ‚Sie und unser Branntweinpächter, ihr seid die größten Gauner, die es auf der Welt gibt,‘ hab ich ihm gesagt. Dabei lacht die Bestie und streicht sich den Bart. Kufschinnikow und ich, wir haben jeden Tag in seinem Laden gefrühstückt. Richtig, lieber Freund, beinah hätte ich vergessen, es dir zu sagen: ich weiß zwar, du wirst mich nicht in Ruhe lassen, aber ich sage es dir im voraus, du kriegst ihn nicht einmal für zehntausend Rubel!“ „He Porphyr!“ rief er seinem Diener zu, indem er ans Fenster trat. Dieser stand mit einem Messer in der einen Hand da, während er in der andern eine Brotrinde und ein Stück Stör hielt, das er mit einem glücklichen Griff erwischt hatte, als er gerade etwas aus dem Wagen holen wollte. „He, Porphyr!“ schrie Nosdrjow, „bring doch mal den kleinen Köter herauf!“ „Ein feiner Köter! Was!“ fuhr er fort, indem er sich an Tschitschikow wandte. „Natürlich gestohlen! Der Besitzer wollte ihn um keinen Preis hergeben. Ich bot ihm die hellbraune Stute dafür, weißt du, die, welche ich vom Chwostyrjow erstanden habe.“ Übrigens hatte Tschitschikow sein Lebtag weder Chwostyrjow noch die braune Stute gesehen.

„Wollen der gnädige Herr nichts zu sich nehmen?“ sagte jetzt die Alte, indem sie sich ihm näherte.

„Nein! Nichts! Ich sag dir Freund! Wir haben gebummelt! Übrigens kannst du mir einen Schnaps geben! Was habt ihr für welchen?“

„Anis“, antwortete die Alte.

„Nun meinetwegen, einen Anis,“ rief Nosdrjow.

„Dann gib mir gleich auch ein Gläschen!“ sagte der Blonde.

„Im Theater war eine Sängerin, die sang ganz wie ’ne Nachtigall, so’ne Kanaille! Kufschinnikow, der neben mir saß, sagte zu mir: ‚Weißt du Freund das wär so was! Da möcht ich mal Erdbeeren pflücken!‘ Ich glaube die Zahl der Meßbuden war allein größer als fünfzig. Thenardi drehte sich vier Stunden lang herum, wie eine Windmühle.“ Hierbei nahm er das Gläschen aus der Hand der Alten, die sich tief vor ihm verneigte. „Her mit ihm!“ rief er plötzlich aus, als er Porphyr erblickte, der mit einem jungen Hund ins Zimmer trat. Porphyr war ebenso gekleidet wie sein Herr, auch er trug eine wattierte bucharische Joppe, die nur ein wenig fettiger war.

„Gib ihn her, leg ihn hierher, auf den Fußboden!“

Porphyr legte das Hündchen auf den Fußboden, welches seine vier Pfoten weit ausstreckte und die Diele zu beschnüffeln begann.

„Das ist ein Hund!“ sagte Nosdrjow, indem er das Tier am Wickel nahm und mit einer Hand in die Höhe hob. Das Hündchen stieß einen recht kläglichen Ton aus.

„Du hast wieder nicht getan, was ich dir befohlen habe,“ sagte Nosdrjow zu Porphyr gewendet, während er den Bauch des Hündchens aufmerksam betrachtete. „Es ist dir garnicht eingefallen, ihn zu kämmen.“

„Nein, ich habe ihn gekämmt.“

„Wo kommen denn die Flöhe her!“

„Das kann ich nicht wissen. So etwas kommt vor, vielleicht hat er sie sich im Wagen geholt!“

„Du lügst! Unsinn! Es ist dir nicht im Traume eingefallen, ihn zu kämmen; ich glaube, der Esel hat ihm noch von den seinigen abgegeben. Sieh nur, Tschitschikow, sieh nur, was für Ohren! Komm doch, streichele ihn mal!“

„Wozu! Ich sehe es ja auch so! Die Rasse ist gut,“ sagte Tschitschikow.

„Nein, streichele ihn nur mal; befühle mal die Ohren!“

Tschitschikow tat Nosdrjow den Gefallen, und nahm den Hund bei den Ohren. „Ja, es wird ein schönes Tier,“ fügte er hinzu.

„Und fühle mal seine kalte Schnauze an! Nimm doch die Hand!“ Um ihn nicht zu beleidigen, befühlte Tschitschikow auch die Schnauze, indem er bemerkte: „Kein übler Riecher!“

„Ein echter Bullenbeißer!“ fuhr Nosdrjow fort. „Ich muß gestehen, ich habe schon lange nach einem Bullenbeißer gefahndet. Da, Porphyr, trage ihn fort.“

Porphyr nahm das Hündchen beim Bauche und brachte es in den Wagen zurück.

„Hör mal, Tschitschikow, du mußt jetzt unbedingt zu mir kommen. Es sind ja nur fünf Werst von hier. Wir sind im Handumdrehen da. Nachher kannst du meinetwegen auch zu Sabakewitsch fahren.“

„Hm!“ dachte Tschitschikow, „ich könnte ja schließlich auch einen Besuch bei Nosdrjow machen. Er ist am Ende nicht schlimmer als die andern. Ein Mensch wie alle! Und zudem hat er noch Geld verloren. Der ist zu allem fähig. Dem werd ich schon umsonst etwas abtrotzen. — Also gut, meinetwegen! Nur eins, du darfst mich nicht zurückhalten; meine Zeit ist mir teuer.“

„Siehst du, Herzchen, so gefällst du mir; das ist nett von dir. Komm, laß dir einen Kuß dafür geben!“ Und Nosdrjow und Tschitschikow umarmten und küßten sich herzlich. „Famos, jetzt fahren wir zu dritt!“

„Nein, mich mußt du schon entschuldigen,“ sagte der Blonde. „Ich muß nach Hause.“

„Ach, Torheiten, Freund! Ich laß dich nicht fort.“

„Nein wirklich, meine Frau wird sonst böse; übrigens kannst du ja jetzt in seinen Wagen steigen.“

„Nein, nein, nein! Du sollst garnicht daran denken.“

Der Blonde war einer von jenen Menschen, in deren Charakter man zuerst einen gewissen Starrsinn zu entdecken glaubt. Man hat kaum Zeit den Mund zu öffnen, da fallen sie einem schon streitlustig ins Wort, und niemals werden sie etwas zugeben, was ihrer Denkweise widerspricht. Es scheint einem, daß sie nie einen Dummen klug nennen und vor allem niemals nach der Pfeife eines anderen tanzen werden. Am Ende aber zeigt es sich, daß in ihrem Wesen etwas Weiches, Nachgiebiges liegt, daß sie schließlich gerade das zugeben, was sie erst bestritten haben, das Dumme — klug nennen und den herrlichsten Tanz nach der fremden Pfeife aufführen. Sie fangen forsch an und enden schmählich.

„Ah, Torheiten,“ antwortete Nosdrjow auf einen Einwand des Blonden, drückte ihm den Hut auf den Kopf und — der Blonde folgte ihnen auf dem Fuße.

„Gnädiger Herr, der Schnaps ist noch nicht bezahlt,“ rief die Alte ihnen nach.

„Schon recht, schon recht, Mütterchen! Sei so gut, lieber Schwager, bezahle du für mich! Ich habe nicht mal Kupfer in der Tasche.“

„Was bekommst du?“ fragte der Schwager.

„Es ist nicht der Rede wert, Väterchen. Es macht ja nur achtzig Kopeken.“

„Du lügst! Gib ihr ’nen halben Rubel! das ist mehr als genug.“

„Ein bissel wenig, gnädiger Herr,“ sagte die Alte. Indessen nahm sie das Geld dankend an und lief atemlos voraus, um die Türe zu öffnen. Sie hatte nichts verloren, denn der Schnaps kostete nicht den vierten Teil von dem, was sie gefordert hatte.

Die Reisenden stiegen ein und nahmen in ihren Kutschen Platz. Tschitschikows Wagen fuhr neben der Equipage, in der Nosdrjow und sein Schwager saßen, her, und so konnten sich alle drei während des ganzen Weges bequem miteinander unterhalten. Nosdrjows kleiner, mit den dürren Mietspferden bespannter Wagen folgte langsam nach und blieb immer mehr zurück. In ihm saß Porphyr mit dem jungen Hunde.

Da das Gespräch, in welches unsere Reisenden vertieft waren, sicherlich kein großes Interesse für den Leser haben dürfte, werden wir gut tun, diese Zeit zu benutzen, um einige Worte über Nosdrjow selbst zu sagen, der vielleicht nicht die geringste Rolle in unserer Dichtung spielen wird.

Nosdrjows Gesicht ist dem Leser wahrscheinlich schon ein wenig bekannt. Ein jeder von uns wird Leuten dieses Schlages sicherlich mehr als einmal begegnet sein. Man nennt sie forsche Burschen; schon als Knaben und in der Schule gelten sie als gute Kameraden und kriegen bei alledem ihre Prügel, die oft sehr schmerzhaft sind. Aus ihrem Gesicht spricht Offenheit, Gradheit und eine gewisse Bravour. Sie schließen schnell Freundschaften, und eh man sich’s versieht, duzen sie einen schon. Sie schwören immer ewige Freundschaft, und fast scheint’s, daß sie ihr Versprechen auch halten werden; aber dann kommt es beinahe immer so, daß der neue Freund sie noch am selben Abend beim freundschaftlichen Mahle durchprügelt. Das sind stets Schwätzer, Zechbrüder, feine Jungens, mit einem Wort Leute, die was bedeuten. Nosdrjow war mit fünfunddreißig Jahren noch genau derselbe, wie mit siebzehn und zwanzig: er liebte es noch immer, zu bummeln und sich zu amüsieren. Die Ehe hatte ihn nicht im geringsten verändert, um so weniger, als seine Frau sehr bald ins bessere Jenseits einging, und ihn mit zwei Kindern zurückließ, die er absolut nicht brauchen konnte. Übrigens hatte er die Aufsicht über die Kinder einer recht appetitlichen Wärterin anvertraut. Er konnte es zu Hause nie länger als einen Tag aushalten. Seine feine Nase roch es auf fünfzig Werst heraus, wenn es irgendwo eine Messe gab, wo viele Menschen zusammenkamen und Feste und Bälle gefeiert wurden; im selben Augenblick war er da, stiftete Streit und Unordnung am grünen Tisch, denn er war, wie all diese Leute ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Wie wir schon aus dem ersten Kapitel erfahren haben, spielte er nicht ganz korrekt und sauber, er kannte eine Reihe von Kniffen und Kunststücken, und daher gab’s am Ende des Spiels gewöhnlich ein andres Spiel: entweder er bekam eine Tracht Prügel und ein paar tüchtige Fußtritte oder man zupfte ihn an seinem schönen dicken Backenbart, so daß er manchmal nur mit einer Bart-Hälfte nach Hause kam, die auch nur noch recht dürftig aussah. Aber seine gesunden runden Backen waren aus so gutem Stoff gemacht und wurden von einer so intensiven animalischen Kraft durchflutet, daß der Backenbart bald wieder nachwuchs und noch schöner wurde, als früher. Und was dabei das Merkwürdigste war, und sicherlich nur allein in Rußland passieren kann, — schon nach ganz kurzer Zeit war er wieder mit seinen Freunden zusammen, die ihn so hergenommen hatten, man begrüßte sich, wie wenn nichts vorgefallen wäre, und auch er tat seinerseits nicht im geringsten beleidigt.

Nosdrjow war in gewisser Beziehung eine geschichtliche Persönlichkeit. Es gab keine einzige Gesellschaft, an der er teilnahm, wo nicht irgend eine „Geschichte“ passierte. Irgendeine „Geschichte“ gab es immer: entweder er wurde von ein paar Gendarmen beim Arm gefaßt und aus dem Saal geführt, oder seine eigenen Freunde sahen sich gezwungen, ihn hinauszubefördern. Und wenn es nicht gerade dies war, etwas ereignete sich auf jeden Fall, was einem andern nie passiert wäre, sei es, daß er sich in der Restauration so sehr betrank, daß er garnicht aus dem Lachen herauskommen konnte, oder daß er sich so in seine eigenen Lügen verstrickte, sodaß ihm zuletzt selbst davor übel wurde. Dazu log er ohne jeden Grund und Anlaß. Plötzlich konnte es ihm einfallen, zu erzählen, er habe einmal ein Pferd mit blau und rot gestreiftem Fell gehabt oder irgend einen ähnlichen Blödsinn, bis alle Anwesenden weggingen und sagten: „Na Bruder, mir scheint, du fängst an zu schwindeln!“ Es gibt Menschen, die eine wahre Leidenschaft haben, ihrem Nächsten einen üblen Streich zu spielen, ohne die geringste Ursache dazu zu haben. So gibt es zum Beispiel Leute von hohem Range, edlem Äußern und mit einem Stern auf der Brust, die einem freundlich die Hand drücken, sich über die tiefsten und erhabensten Gegenstände unterhalten, welche unseren Geist beschäftigen, um einem plötzlich ganz offen vor aller Augen einen niederträchtigen Streich zu spielen, wie er wohl eines ganz gewöhnlichen Kollegienregistrators, nicht aber eines Mannes würdig ist, der einen Stern auf der Brust trägt und über die tiefsten und erhabensten Gegenstände spricht, die unseren Geist beschäftigen, sodaß man dasteht und staunt, und höchstens mit den Achseln zuckt. Auch Nosdrjow hatte diese merkwürdige Liebhaberei. Je näher sich einer ihm anschloß, um so ärger trieb er es mit ihm: er verbreitete allerhand unmögliche Gerüchte, wie sie sich kaum törichter und dümmer erfinden lassen, machte Verlobungen rückgängig, verdarb einem das Geschäft und hielt sich dabei keineswegs für den Feind des Betreffenden; im Gegenteil, fügte es sich so, daß man wieder mit ihm zusammentraf, dann kam er einem höchst freundschaftlich entgegen und sagte sogar: „Du bist doch ein ganz gemeiner Kerl! Warum besuchst du mich niemals?“ Nosdrjow war in mancher Beziehung ein wirklich vielseitiger Mensch, d. h. er war in allen Sätteln gerecht. In demselben Augenblick war er bereit, euch bis an alle vier Enden der Welt zu begleiten, an jedem Abenteuer teilzunehmen, jeden Tausch mit euch einzugehen. Flinten, Hunde, Pferde waren Tauschobjekte für ihn, aber er hatte durchaus nicht etwa den Hintergedanken, dabei zu gewinnen; dies war nur die Folge einer gewissen Lebhaftigkeit und Keckheit, die in seinem Charakter lagen. War es ihm geglückt, auf der Messe einem Einfaltspinsel zu begegnen und ihn im Spiel zu rupfen, dann kaufte er alles Mögliche zusammen, was er im ersten besten Laden vorfand: Halsbügel für seine Pferde, Räucherkerzchen, allerhand Tücher für das Kindermädchen, einen Hengst, Rosinen, eine silberne Waschschüssel, holländische Leinwand, Gerstenmehl, Tabak, Pistolen, Heringe, Bilder, Schleifsteine, Töpfe, Stiefel, Porzellangeschirr, bis ihm das Geld ausging. Übrigens passierte es nur höchst selten, daß er all die schönen Dinge mit nach Hause brachte: gewöhnlich wurde er sie noch am selben Tage wieder los, indem er sie an einen andern glücklichern Spieler verspielte, der häufig noch die eigne Pfeife, den Tabakbeutel und ein Mundstück, oder wohl gar noch das ganze Viergespann mit allem Zubehör: Wagen und Kutscher dazu bekam, sodaß der Herr selbst in einem kurzen Röckchen oder einer bucharischen Joppe auf die Suche nach einem Freunde gehen mußte, der ihn in seinem Wagen mitnahm. So war Nosdrjow! Vielleicht wird man ihn einen verbrauchten Typus nennen und sagen, heutzutage gebe es ja gar keine Nosdrjows mehr! Ach nein! Die Menschen, die so reden, haben sicherlich unrecht. Nosdrjow wird nicht so bald aus dieser Welt verschwinden. Er ist überall, mitten unter uns, und trägt vielleicht zufälligerweise nur einen andern Rock; aber die Menschen sind leichtsinnig und oberflächlich; wie oft halten sie jemand, wenn er nur einen andern Rock anhat, auch für einen ganz andern Menschen!

Unterdessen hielten die drei Wagen bereits vor der Freitreppe des Nosdrjowschen Hauses. Im Hause waren keinerlei Vorbereitungen für ihren Empfang getroffen. Mitten im Speisezimmer standen zwei Arbeiter auf einer Stehleiter, weißten die Wände und sangen ein monotones Lied dazu, das gar kein Ende nehmen wollte; der ganze Fußboden war mit Kalk bespritzt. Nosdrjow rief den Leuten sogleich zu, sie sollten sich mitsamt ihrer Stehleiter hinauspacken und lief dann ins nächste Zimmer, um dort weitere Befehle zu erteilen. Die Gäste hörten, wie er beim Koch ein Mittagessen bestellte; Tschitschikow, der bereits wieder einigen Appetit verspürte, ersah daraus, daß sie sich wohl kaum vor 5 Uhr zu Tische setzen würden. Nosdrjow kam bald darauf zurück, um seine Gäste zu einem Spaziergang durch sein Gut mitzunehmen und ihnen alle Sehenswürdigkeiten desselben zu zeigen. Sie brauchten etwas mehr als zwei Stunden, um alles in Augenschein zu nehmen. Nosdrjow ruhte nicht eher, als bis er ihnen alles gezeigt hatte, bis ihm nichts mehr zu zeigen übrig blieb. Zuerst begab man sich in den Pferdestall, wo man zwei Stuten, einen grauen Apfelschimmel, einen Fuchs und einen braunen Hengst besichtigte. Der Hengst sah nicht gerade stattlich aus, aber Nosdrjow versicherte und schwor, daß er zehntausend Rubel für ihn bezahlt habe.

„Zehntausend waren es sicher nicht,“ bemerkte der Schwager, „der ist noch keine tausend wert.“

„Bei Gott! Er kostet zehntausend!“ sagte Nosdrjow.

„Du kannst schwören, soviel du willst,“ erwiderte der Schwager.

„Nun gut, willst du wetten?“ sagte Nosdrjow.

Aber der Schwager wollte nicht wetten.

Dann zeigte Nosdrjow den Gästen einen leeren Verschlag, in dem früher ein paar gute Pferde gestanden hatten. Daselbst befand sich auch ein Ziegenbock, der nach einem alten Aberglauben in keinem Pferdestall fehlen darf, und der sich mit seinen Genossen offenbar recht gut vertrug, denn er spazierte unter ihren Bäuchen hindurch, als ob er zu Hause wäre. Dann führte Nosdrjow die beiden Herren weiter, um ihnen einen kleinen Wolf zu zeigen, welcher an der Kette lag. „Das ist ein junger Wolf!“ sagte er, „ich füttere ihn absichtlich mit rohem Fleisch!“ Dann sah man sich noch einen Teich an, in dem sich, nach Nosdrjows Worten, Fische von solcher Größe befanden, daß mindestens zwei Menschen dazu gehörten, um einen davon aus dem Wasser zu ziehen. Übrigens unterließ es der Schwager auch diesmal nicht, seine Zweifel zu äußern. „Hör mal Tschitschikow,“ sagte Nosdrjow, „ich will dir ein paar herrliche Hunde zeigen: man glaubt gar nicht, was die für kräftige Muskeln haben! Und die Nase! So spitz wie eine Nadel!“ Mit diesen Worten führte er sie zu einem hübschen kleinen Häuschen, das von einem großen und ringsum eingefriedigten Hof umgeben war. Als sie diesen betraten, erblickten sie eine ganze Kollektion von Hunden, wollhaarige und schlichthaarige aller nur möglichen Farben und Rassen, dunkelbraune, schwarze, schwarz- und braungefleckte, halbgescheckte, getigerte, braungescheckte, schwarzohrige, grauohrige usw. usw. ... Hier bekam man sämtliche Hundenamen und alle nur möglichen Imperative zu hören wie Beiß, Wach, Schimpf, Funke, Frechdachs, Gottseibeiuns, Störenfried, Stich, Pfeil, Schwälbchen, Schätzchen, Vorstehdame. Nosdrjow bewegte sich unter ihnen ganz wie ein Vater in seiner Familie: sie kamen alle mit freudig erhobenen Schwänzen, die man in der Jägersprache Ruten nennt, auf die Gäste zugestürzt und begrüßten sie lebhaft. Etwa zehn Stück sprangen an Nosdrjow empor und legten ihm ihre Pfoten auf die Schultern. „Schimpf“ bezeugte dieselbe Freundschaft für Tschitschikow und versetzte ihm, indem er sich auf die Hinterbeine stellte, einen herzhaften Kuß, sodaß jener schleunigst ausspie. Dann ging man zur Besichtigung der Hunde über, deren Muskelkraft Nosdrjows Stolz bildete — und in der Tat, die Hunde waren gut. Hierauf sah man sich noch eine Hündin aus der Krim an, welche schon blind war und nach Nosdrjows Worten bald verrecken mußte. Vor zwei Jahren sei es noch eine recht gute Hündin gewesen. Man nahm auch diese Hündin in Augenschein, und siehe da, sie war wirklich blind. Von hier aus ging man weiter, um eine Wassermühle anzusehen, der die Achse fehlte, an welcher der obere Mühlstein befestigt ist, und um die er sich mit großer Geschwindigkeit dreht, oder an der er nach dem seltsamen Ausdruck des russischen Bauern herauf und herunter hüpft, weswegen er auch der „Hüpfer“ genannt wird. „Nun kommt bald die Schmiede,“ sagte Nosdrjow. Nach einigen Schritten erblickten sie tatsächlich eine Schmiede, deren Betrachtung man gleichfalls einige Augenblicke widmete.

„Auf diesem Felde,“ sagte Nosdrjow, indem er mit dem Finger hinzeigte, „gibt es eine solche Unmenge von Hasen, daß man die Erde garnicht sieht. Ich selbst habe neulich einen mit der Hand bei den Hinterläufen erwischt.“

„Na, weißt du, mit der Hand erwischst du keinen Hasen.“

„Und ich hab doch einen gefangen! Wahrhaftig!“ antwortete Nosdrjow. „So, nun will ich dich an die Grenze meines Gutes führen,“ setzte er hinzu, indem er sich an Tschitschikow wandte.

Nosdrjow führte seine Gäste über das Feld, das stellenweise mit kleinen Mooshügeln bedeckt war. Die Gäste mußten den Weg über Brachland und geeggte Saatfelder nehmen. Tschitschikow verspürte eine gewisse Ermüdung. An vielen Stellen sanken ihre Füße in dem Sumpfe ein: so tief war das Land gelegen. Anfangs nahmen sie sich in acht und traten vorsichtig auf, da sie aber sahen, daß das doch nichts half, marschierten sie einfach drauflos, ohne zu fragen, wo der Dreck am höchsten lag. Nachdem sie ein beträchtliches Stück Weges zurückgelegt hatten, erblickten sie in der Tat die Grenze, welche durch einen hölzernen Pfahl und einen schmalen Graben markiert wurde.

„Das ist die Grenze,“ sagte Nosdrjow. „Alles was diesseits liegt — dies alles ist mein Eigentum, und sogar jener Wald, den ihr da auf der anderen Seite schimmern seht, und das ganze Stück, das hinter dem Walde liegt, gehört mir.“

„Seit wann ist denn das dein Wald?“ fragte der Schwager. „Hast du ihn etwa neulich angekauft? Früher gehörte er dir doch nicht.“

„Ja, ich habe ihn vor kurzem gekauft,“ sagte Nosdrjow.

„Wie ging denn das so schnell?“

„Ich habe ihn erst vorgestern gekauft und teuer genug bezahlen müssen, weiß der Teufel!“

„Aber du warst doch die ganze Zeit über auf der Messe?“

„Ach, du alter Sophron, kann man denn nicht auf der Messe sein und zugleich Land kaufen. Nun ja, ich war auf der Messe und in meiner Abwesenheit hat der Verwalter das Gehölz gekauft.“

„Es müßte denn schon der Verwalter sein,“ sagte der Schwager, noch immer zweifelnd und schüttelte den Kopf.

Die Gäste kehrten auf demselben elenden Wege nach Hause zurück. Nosdrjow führte sie in seine Stube, in der übrigens nichts von alledem zu entdecken war, was man gewöhnlich in einem Arbeitszimmer vorzufinden pflegt, d. h. weder Bücher noch Papiere, an der Wand hingen nur ein Säbel und zwei Flinten, eine zu dreihundert, und eine andere zu achthundert Rubel. Der Schwager sah sich im Zimmer um und schüttelte bloß den Kopf. Dann zeigte Nosdrjow seinen Freunden noch einige türkische Dolche; auf einem von ihnen las man die Inschrift „Meister Sawelij Sibirjakow“, die wohl nur durch ein Versehen in ihn eingegraben worden war. Darnach bekamen die Gäste eine Drehorgel zu sehen, auf der Nosdrjow sogleich irgend ein Stück vortrug. Die Drehorgel hatte keinen unangenehmen Klang, nur schien in ihrem Inneren etwas passiert zu sein, denn die Mazurka, welche Nosdrjow spielte, ging plötzlich in das Lied: „Held Malborough zog in die Schlacht“ über, und dieses schloß wiederum mit einem altbekannten Walzer. Nosdrjow drehte schon lange nicht mehr, aber das Instrument hatte eine sehr kecke Pfeife, die durchaus nicht zum Schweigen zu bringen war und noch lange für sich allein weitertönte. Dann ging man zu den Tabakspfeifen über, deren Nosdrjow eine ganze Kollektion besaß: Holz-, Ton- und Meerschaumpfeifen, eingerauchte und nicht eingerauchte, mit Lederüberzügen und ohne solche usw.; man sah sich auch ein Pfeifenrohr mit einer Bernsteinspitze, das Nosdrjow erst vor kurzem im Spiele gewonnen und einen gestickten Tabaksbeutel an, das Geschenk einer Gräfin, welche sich auf einer Poststation bis über die Ohren in ihn verliebt hatte, und deren Händchen das „subtilste Superflüh“ waren, ein Ausdruck, der für ihn wahrscheinlich soviel wie die höchste Vollkommenheit bedeutete. Nachdem man ein paar Schnitten Stör zu sich genommen hatte, setzte man sich gegen fünf Uhr zu Tisch. Das Mittagessen spielte offenbar in Nosdrjows Leben keine sehr bedeutende Rolle, denn er schien keinen sehr großen Wert auf die Zubereitung der Speisen zu legen; sie waren teils angebrannt, teils noch nicht ganz gar. Der Koch ließ sich wahrscheinlich mehr durch eine gewisse Inspiration leiten und bediente sich bei der Herstellung der Gerichte aller guten Dinge, die ihm gerade unter die Hand kamen: stand zufälligerweise die Pfefferdose in seiner Nähe, dann schüttete er Pfeffer in den Kochtopf — lag ein Kohlkopf auf dem Tisch, so tat er auch Kohl hinein und gab noch Milch, Schinken und Erbsen dazu — mit einem Wort: er schüttete aufs Geradewohl etwas zusammen, die Hauptsache war, daß das Gericht recht heiß war, irgend einen Geschmack würde es schon haben! Dafür legte Nosdrjow ein großes Gewicht auf die Weine: die Suppe stand noch nicht auf dem Tisch, da schenkte er den Gästen schon ein Glas Portwein und ein zweites mit Haut Sauterne ein. In den Provinz- und in den Kreisstädten gibt es nämlich keinen gewöhnlichen Sauterne. Dann ließ Nosdrjow noch eine Flasche Madeira auftragen, „wie ihn selbst der Feldmarschall nicht besser getrunken hat“. Und in der Tat, der Madeira brannte einem in der Kehle, denn die Kaufleute, welche den Geschmack ihrer Kunden — der Gutsbesitzer kannten, die einen kräftigen Madeira liebten, versetzten ihn tüchtig mit Rum und bisweilen auch mit Königswasser, in der richtigen Erwägung, daß ein russischer Magen alles vertragen könne. Zuletzt ließ sich Nosdrjow noch eine ganz besondere Flasche bringen, die, wie er sagte, eine Art von Synthese aus Champagner und Bourgognon enthielt. Er schenkte rechts und links mit großem Eifer die Gläser voll und erwies dabei seinem Schwager und Tschitschikow die gleiche Aufmerksamkeit; doch machte Tschitschikow die Beobachtung, daß er sich selbst dabei am schlechtesten bedachte. Dies veranlaßte ihn, auf der Hut zu sein; wenn Nosdrjow gerade ins Gespräch mit seinem Schwager vertieft war, oder ihm das Glas vollschenkte, benutzte Tschitschikow den Moment, um den Inhalt seines Glases in den Teller zu schütten. Bald darauf wurde auch eine Flasche Vogelbeerschnaps hereingetragen, die nach Nosdrjows Worten ganz wie Sahne schmeckte, aber seltsamerweise nur kräftig nach Fusel roch. Hierauf trank man noch einen Balsam, der einen Namen trug, welcher sich sogar äußerst schwer aussprechen ließ, und den der Wirt selbst bei der nächsten Gelegenheit ganz anders bezeichnete. Das Mittagessen war längst zu Ende, die Weine waren alle ausprobiert, aber die Gäste saßen noch immer an der Tafel, Tschitschikow konnte sich durchaus nicht entschließen, mit Nosdrjow in Gegenwart des Schwagers über den Gegenstand zu sprechen, der ihm am meisten am Herzen lag: der Schwager war schließlich doch ein fremder Mensch, die Sache selbst aber konnte nur in einer vertraulichen und freundschaftlichen Unterhaltung erledigt werden. Übrigens war der Schwager schwerlich ein Mensch, der ihm gefährlich werden konnte, denn wie es schien, hatte er gehörig geladen, er saß nämlich stumm auf seinem Stuhle und sank beständig mit dem Kopf vornüber. Endlich mußte er wohl selbst gemerkt haben, daß er sich in einem ziemlich hoffnungslosen Zustande befand, denn er bat Nosdrjow, ihn doch heimfahren zu lassen, und er tat dies mit einer so matten und müden Stimme, als zöge man — um mich eines volkstümlichen russischen Ausdrucks zu bedienen — dem Pferde das Zaumzeug mit der Zange über den Kopf.

„Nein, nein, nein! Ich lasse dich nicht fort!“ sagte Nosdrjow.

„Quäl mich doch nicht, lieber Freund! Wirklich, ich will fahren!“ bat der Schwager, „du mußt mich nicht so peinigen!“

„Unsinn! Torheiten! Komm wir spielen noch einen kleinen Pharao.“

„Nein, Bester, spiel lieber allein! Ich kann wirklich nicht, meine Frau wird es mir sehr übel nehmen; ich muß ihr auch noch von der Messe erzählen. Wahrhaftig Freund! es ist meine verfluchte Schuldigkeit, ihr dies kleine Vergnügen zu bereiten. Bitte halte mich nicht auf!“

„Hol doch die Frau der T....! Als ob das so was wichtiges wäre, was ihr miteinander zu tun habt!“

„Nein wirklich, Freund! Sie ist so gut, meine Frau — so brav und treu, eine musterhafte Gattin! Sie tut mir jeden Gefallen. Das kannst du mir glauben, ich bin oft gerührt, bis zu Tränen gerührt. Nein, suche mich nicht zum Bleiben zu veranlassen; so wahr ich ein ehrlicher Mann bin — ich muß fahren. Ich gebe dir mein Wort darauf! Hand aufs Herz!“

„Laß ihn doch fahren, was haben wir von ihm?“ sagte Tschitschikow leise zu Nosdrjow.

„Du hast eigentlich recht!“ meinte Nosdrjow, „ich kann diese Waschlappen nicht leiden!“ und er fügte laut hinzu: „Nun dann hol dich der Teufel. Geh! fahr nur zu deiner Frau, du alter Pantoffelheld!“

„Nein, Freund! du darfst mich nicht Pantoffelheld schelten!“ antwortete der Schwager: „ich verdanke ihr mein Leben. Wirklich! Sie ist so lieb, so gut, so sanft und zärtlich .... mir stehen oft die Tränen in den Augen. Sie wird mich fragen, was ich auf der Messe gesehen habe — ich muß ihr alles erzählen — sie ist so lieb ....“

„Also mach, daß du fortkommst, und schwindele ihr irgend einen Blödsinn vor!“

„Nein, hör mal, lieber Freund! du darfst nicht so von ihr sprechen, damit beleidigst du gewissermaßen auch mich, sie ist so gut und lieb.“

„Nun dann packe dich doch! Mach, daß du zu ihr kommst!“

„Ja, tatsächlich, Freund, ich will fahren; verzeih, daß ich nicht bleiben kann. Ich wäre von Herzen froh, aber ich kann wahrhaftig nicht.“ Der Schwager stammelte noch lange allerhand Entschuldigungen, ohne zu merken, daß er längst im Wagen saß, schon durchs Tor gerollt war und sich unter freiem Himmel auf offenem Felde befand. Man darf annehmen, daß seine Frau recht wenig von der Messe zu hören bekommen hat.

„So ein Dreckkerl!“ sagte Nosdrjow, der ans Fenster getreten war und der davonjagenden Equipage nachblickte. „Da fährt er! Das Beipferd ist nicht übel, ich fahnde schon längst darauf. Aber mit dem Kerl wird man ja doch nicht einig. Ein alter Waschlappen und weiter nichts!“

Man trat ins Nebenzimmer. Porphyr brachte Lichter herein und Tschitschikow bemerkte plötzlich ein Spiel Karten in der Hand des Hausherrn, ohne daß er hätte sagen können, woher er es genommen hatte.

„Was meinst du zu einem kleinen Pharao, Freund!“ sagte Nosdrjow, indem er das Spiel zusammendrückte und wieder los ließ, sodaß das Kreuzband zerriß und zu Boden fiel. „So zum Zeitvertreib weißt du. Ich will die Bank mit dreihundert Rubeln halten!“

Aber Tschitschikow tat so, als ob er garnicht gehört hätte, wovon eigentlich die Rede war und sagte, wie wenn er sich plötzlich auf etwas besönne. „Ach ja, um es nicht zu vergessen, ich habe eine kleine Bitte an dich!“

„Was für eine Bitte?“

„Aber versprich mir zuerst, daß du sie erfüllen willst!“

„Was ist das für eine Bitte?“

„Nein, versprich mir’s erst! Hörst du!“

„Also gut. Meinetwegen!“

„Dein Ehrenwort!“

„Mein Ehrenwort!“

„Also: du wirst doch wohl eine ganze Reihe von toten Bauern besitzen, die noch nicht aus den Revisionslisten gestrichen sind.“

„Natürlich! und was soll das hier!“

„Übergib sie mir. Übertrage sie auf meinen Namen!“

„Und wozu brauchst du sie?“

„Ich brauche sie.“

„Nein, sag wozu?“

„Ich brauche sie eben .... das ist doch meine Sache — mit einem Wort, ich habe sie nötig.“

„Da steckt bestimmt was dahinter. Du hast sicher irgend einen Plan mit ihnen ausgeheckt. Gesteh’s nur. Was ist’s?“

„Ach was für ein Plan! Solch eine Bagatelle. Was könnte ich damit vorhaben?“

„Ja, wozu brauchst du sie denn dann?“

„Herr Gott! bist du neugierig! Du willst wohl jeden Dreck mit der Hand befühlen, und wohl gar noch dran riechen!“

„Ja, warum willst du es denn nicht sagen?“

„Was hast du denn davon, wenn ich’s dir sage? Ganz einfach, es ist so eine Laune von mir!“

„Nun gut, wenn du’s mir nicht sagt, dann tu ich’s eben nicht!“

„Hör mal, das ist wirklich unanständig von dir. Hast mir dein Wort gegeben, und willst es jetzt wieder zurücknehmen!“

„Schön, wie du willst. Ich tu’s halt nicht, bevor du mir’s sagst.“

„Was könnte ich ihm bloß sagen?“ dachte Tschitschikow; er überlegte ein wenig und erklärte dann, er brauche die toten Seelen, um sich Gewicht und Einfluß in der Gesellschaft zu verschaffen, er habe keine großen Besitzungen, und daher möchte er wenigstens einstweilen ein paar Seelen haben.

„Du schwindelst,“ sagte Nosdrjow, indem er ihm ins Wort fiel, „du schwindelst Bruder!“

Tschitschikow mußte sich selbst gestehen, daß er nicht gerade geschickt gelogen hatte, und die ersonnene Ausflucht eigentlich recht schwach war. „Nun gut, dann will ich dir die Wahrheit sagen,“ sagte er, indem er sich verbesserte, „ich bitte dich nur um eins, es nicht weiter zu plaudern. Ich habe die Absicht, mich zu verheiraten; aber leider sind der Vater und die Mutter meiner Braut höchst ehrgeizige Leute, die hoch hinaus wollen. Eine verfluchte Geschichte! ich ärgere mich beinahe, daß ich mich überhaupt darauf eingelassen habe: sie wollen partout, daß der Bräutigam mindestens dreihundert Seelen haben solle, und da mir beinahe ganze hundertfünfzig daran fehlen, so .....“

„Ne Bruder, du schwindelst!“ rief Nosdrjow wieder.

„Nein wirklich, diesmal hab’ ich auch nicht einmal soviel gelogen,“ sagte Tschitschikow, indem er mit dem Daumen auf ein winziges Stück des kleinen Fingers wies.

„Den Kopf zum Pfande, daß du schwindelst!“

„Hör mal, du beleidigt mich! Wer bin ich denn eigentlich? Warum soll ich denn durchaus lügen?“

„Aber ich kenne dich doch: du bist ja ein großer Spitzbube — gestatte mir bitte, dir das einmal in aller Freundschaft zu sagen. Wenn ich dein Chef wäre, ich ließe dich am ersten besten Baum aufhängen.“

Tschitschikow fühlte sich durch diese Bemerkung beleidigt. Jeder grobe, die Grenzen der Schicklichkeit verletzende Ausdruck berührte ihn peinlich. Alle Familiaritäten seitens anderer Personen waren ihm in der Seele zuwider, und er suchte sich ihnen zu entziehen, es sei denn, daß sie von hochgestellten Leuten ausgingen. Daher fühlte er sich jetzt im Innersten gekränkt.

„Bei Gott, ich ließe dich hängen!“ wiederholte Nosdrjow, „ich meine das ganz aufrichtig und sage das nicht um dich zu beleidigen, sondern erlaube es mir als dein Freund.“

„Alles hat seine Grenzen,“ sagte Tschitschikow mit Würde. „Wenn du dich mit solchen Redensarten brüsten willst, dann geh doch lieber in die Kaserne.“ — Und er fügte hinzu: „Willst du sie mir nicht schenken, so verkaufe sie mir wenigstens.“

„Verkaufen! Aber ich kenne dich doch. Du bist ein Hallunke. Du wirst ja doch nicht viel dafür geben.“

„Na, du kannst so bleiben! Sieh einer an, du glaubst wohl, sie sind von Edelstein, wie?“

„Da siehst du es, ich kenne dich doch.“

„Nein höre mal, Freund, was ist das für ein knickeriges Benehmen. Du solltest sie mir wahrhaftig schenken.“

„Also gut, um dir zu beweisen, daß ich nicht so ein Filz bin, will ich dir garnichts für sie abnehmen. Kauf mir einen Hengst ab, dann kriegst du sie gratis.“

„Ich bitte dich, was soll ich mit dem Hengst?“ sagte Tschitschikow, höchst verwundert über diesen Vorschlag.

„Was du damit sollst? Ich habe zehntausend Rubel für den Racker bezahlt, und du sollst ihn für viertausend haben.“

„Aber was soll ich bloß damit anfangen! Ich habe doch kein Gestüt.“

„Ja höre doch nur, du versteht mich noch nicht. Ich nehme dir doch jetzt nur dreitausend ab. Die übrigen tausend kannst du mir ja später bezahlen.“

„Ja aber, wenn ich ihn nun doch durchaus nicht brauchen kann! Gott mit ihm!“

„Nun gut, dann kauf mir die hellbraune Stute ab!“

„Ich kann auch keine Stute brauchen.“

„Ich gebe dir die Stute und das graue Pferd dazu, das du vorhin gesehen hat, für zweitausend Rubel.“

„Ich brauche keine Pferde!“ sagte Tschitschikow.

„Du kannst sie ja weiter verkaufen. Auf jeder Messe kriegst du das Dreifache für sie.“

„Dann verkauf sie doch lieber selbst, wenn du dir einen so großen Gewinn davon versprichst.“

„Ich weiß, daß ich dabei gewinne: aber ich möchte dir auch einen kleinen Vorteil zukommen lassen.“

Tschitschikow dankte ihm für seine freundliche Gesinnung und verzichtete rundweg auf die braune Stute und das graue Roß.

„So kauf mir ein paar Hunde ab! Ich habe da ein Pärchen für dich; da läuft dir gleich ein Freudenschauer über den Rücken. Einen stichelhaarigen mit borstigem Bart; die Haare stehen ihm zu Berge wie die Stacheln eines Igels, und die Rippen — die reinsten Faßreifen. Dazu die klumppatschigen Pfoten — die berühren kaum die Erde! ...“

„Ach! Ich brauche keine Hunde. Ich bin doch kein Jäger.“

„Aber ich möchte gerne, daß du ein paar Hunde hast.

Übrigens weißt du, wenn du die Hunde nicht haben willst, dann kauf mir die Drehorgel ab. Ein feines Stück, sage ich dir. Sie hat mich selbst, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, anderthalb Tausend gekostet. Dir will ich sie für neunhundert lassen.“

„Was soll ich mit der Drehorgel anfangen? Ich bin doch kein Deutscher, daß ich mit ihr von Haus zu Haus wandern und um Geld betteln könnte!“

„Aber das ist doch kein Leierkasten, wie ihn die Deutschen haben. Das ist eine Orgel, sieh sie dir mal genau an. Lauter echtes Mahagoni! Komm, ich will sie dir noch mal zeigen!“ Und Nosdrjow ergriff Tschitschikows Hand und zog ihn nach sich in das Nebenzimmer, er mochte sich sträuben, die Füße gegen den Fußboden stemmen und versichern, soviel er wollte, er kenne die Drehorgel zur Genüge, es nützte ihm alles nichts, er mußte noch einmal hören, wie Malborough in die Schlacht zog.

„Wenn du mir kein Geld geben willst, dann machen wir es folgendermaßen, weißt du. Ich gebe dir die Drehorgel und dazu alle toten Seelen, die ich habe und du überläßt mir dafür deine Kutsche und zahlst nur noch dreihundert Rubel drauf.“

„Noch mehr? Und wie soll ich fortkommen?“

„Ich gebe dir einen andern Wagen. Komm herunter in den Stall, ich will ihn dir gleich zeigen! Du mußt ihn nur neu anstreichen lassen. Dann ist es eine herrliche Kutsche!“

„Ist der von einem unruhigen Geiste besessen,“ dachte Tschitschikow und faßte den heroischen Entschluß, Nosdrjow mit seinen Kutschen, Drehorgeln und allen möglichen und unmöglichen Hunden, trotz der geradezu unerhörten, faßreifenähnlichen Rippen und klumppatschigen Pfoten ein für alle Mal loszuwerden.

„Aber du kriegst doch alles zusammen: die Kutsche, die Drehorgel und die toten Seelen.“

„Ich will aber nichts,“ sagte Tschitschikow noch einmal.

„Warum willst du bloß nicht?“

„Ganz einfach, weil ich nicht will, und damit basta!“

„Ach bist du ein Kerl! Mit dir kann man ja nicht verkehren wie mit einem guten Freunde oder Kameraden. Wirklich so ein .....! Man merkt gleich, daß du ein doppelzüngiger Mensch bist.“

„Ja bin ich denn ein Esel, wie?! Wozu soll ich mir Dinge anschaffen, die ich absolut nicht brauchen kann.“

„Nein, bitte, rede nicht! Jetzt habe ich dich durchschaut.

So ein Schuft, wahrhaftig. Also gut, höre mal, machen wir ein Partiechen Pharao. Ich setze alle toten Seelen auf eine Karte und die Drehorgel dazu.“

„Nein, mein Bester, ein Glücksspiel verlieren, das hieße sich dem dunklen Zufall aussetzen,“ sagte Tschitschikow, während er nach den Karten schielte, die jener in der Hand hielt. Beide Spiele machten einen recht wenig Vertrauen erweckenden Eindruck auf ihn. Auch die Rückseite sah recht verdächtig aus.

„Warum denn dem Zufall,“ sagte Nosdrjow, „das ist doch kein Zufall; wenn das Glück dir günstig ist, Hölle und Teufel, was kannst du da nicht alles gewinnen. Sieh doch nur, welch ein Glück, du hast,“ sagte er, indem er ein paar Karten auflegte, um Tschitschikows Spiellust anzuregen. „Nein, solch ein Glück, solch ein Glück! Das flutscht nur so. Siehst du, da ist die verfluchte Zehn, durch die ich alles verloren habe. Ich ahnte es, daß sie mich im Stiche lassen wird. Aber ich machte die Augen zu und dachte nur, hol dich der Teufel! Tu’s nur Verräterin!“

Während Nosdrjow noch sprach, brachte Porphyr eine Flasche herein. Aber Tschitschikow lehnte entschieden ab und wollte weder spielen noch trinken.

„Warum willst du denn nicht spielen?“ sagte Nosdrjow.

„Weil ich keine Lust habe. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich überhaupt kein Freund vom Spiel.“

„Warum bist du denn kein Freund davon?“

„Weil ich halt kein Freund davon bin,“ sagte Tschitschikow und zuckte die Achseln.

„Jammerlappen, du!“

„Was soll ich machen, wenn Gott mich mal so geschaffen hat.“

„Ein Schlappschwanz und nichts weiter. Früher hielt ich dich doch wenigstens noch für einen etwas anständigeren Menschen. Aber du hast ja keine Ahnung vom guten Benehmen. Mit dir kann man nicht sprechen wie mit einem Freunde, keine Spur von Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Der reinste Sabakewitsch! Solch ein Lump!“

„Sag mal, warum schimpfst du mich eigentlich? Bin ich denn schuld, daß ich nicht spielen kann? Verkauf mir doch die Seelen, wenn du schon so ein Kerl bist, der um jeden Dreck zittert!“

„Den Teufel kriegst du! Und noch dazu ohne Haare. Ich wollte sie dir zuerst gratis geben, aber jetzt bekommst du überhaupt nichts, und wenn du mir ein Königreich dafür bötest, ich geb sie nicht her. So ein Beutelschneider! So’n dreckiger Lehmbudiker! Von nun ab will ich mit dir überhaupt nichts zu tun haben. Porphyr geh mal runter und sag dem Stalljungen, er soll seinen Pferden keinen Hafer geben. Die brauchen nichts wie Heu zu fressen.“

Dieser Schluß kam Tschitschikow in der Tat unerwartet.

„Hätt’ ich dich doch lieber gar nicht gesehen!“ sagte Nosdrjow.

Dieser Zwist hinderte indessen den Hausherrn und seinen Gast nicht, zusammen zu Abend zu speisen, obwohl diesmal keine Weine mit komplizierten und merkwürdigen Namen auf dem Tische prangten. Nur eine einzige Flasche stand einsam da, mit einer Art Cypernwein, der aber im übrigen nichts anderes war, als was man einen sauren Krätzer zu nennen pflegt. Nach dem Abendessen führte Nosdrjow Tschitschikow in ein Seitengemach, wo bereits ein Bett für ihn aufgeschlagen war und sagte: „Da ist dein Bett. Ich mag dir nicht einmal gute Nacht wünschen.“

Mit diesen Worten ging er hinaus und ließ Tschitschikow in der allerschlechtesten Laune zurück. Er ärgerte sich innerlich über sich selbst, und machte sich Vorwürfe, daß er mitgefahren war und seine schöne Zeit unnütz verloren hatte; was er sich jedoch am wenigsten verzeihen konnte, war dies, daß er über seine eigenste Angelegenheit mit ihm gesprochen hatte; das war sehr unvorsichtig von ihm gewesen, er hatte gehandelt wie ein Tor; denn die Sache selbst war durchaus nicht von der Art, daß sie Nosdrjow — anvertraut werden konnte ... Nosdrjow war ein gemeiner Kerl; er konnte noch was hinzuschwindeln, weiß der Teufel, was für Lügen darüber verbreiten, und schließlich konnte noch eine dumme Klatschgeschichte daraus entstehen ... Fatal, höchst fatal! „Ich bin doch wirklich ein Esel!“ sprach er zu sich selber. Er schlief die Nacht über sehr schlecht. Eine gewisse Gattung ganz kleiner aber äußerst kecker und zudringlicher Insekten verfolgten ihn fortwährend mit ihren Bissen, die unerträglich schmerzhaft waren, so daß er sich mit der ganzen Hand an den betreffenden Stellen kratzte und murmelte: „Hol euch der Teufel, mitsamt Nosdrjow!“ Es war noch sehr früh, als er erwachte. Sein erster Gang, nachdem er Stiefel und Schlafrock angezogen hatte, war nach dem Stall, welcher sich am Ende des Hofes befand, wo er Seliphan den Auftrag gab, die Pferde sofort anzuspannen. Auf dem Rückwege traf er Nosdrjow, der ihm, gleichfalls im Schlafrock und mit der Pfeife im Munde, im Hofe entgegen kam.

Nosdrjow grüßte ihn freundschaftlich und fragte, wie er die Nacht geschlafen habe.

„Sehr mäßig!“ antwortete Tschitschikow trocken.

„Ich auch, Freund ...“ sagte Nosdrjow ... „weißt du, die ganze Nacht hat mich dies verdammte Viehzeug geplagt, ich mag’s garnicht erzählen; dazu habe ich nach dem gestrigen Abend einen Geschmack im Munde, wie wenn eine ganze Schwadron drin übernachtet hätte. Denk dir, mir träumte, daß ich Ruten bekomme. Wahrhaftig! Und weißt du von wem? Ich möchte wetten, daß du’s nicht errätst: vom Stabsrittmeister Pozelyjew und von Kufschinnikow.“

„Ja ja,“ dachte Tschitschikow, „es wäre wirklich nicht schlecht, wenn du einmal gründlich durchgebläut würdest.“

„Bei Gott! Es hat verflucht weh getan! Ich bin sogar davon aufgewacht; und in der Tat, es juckte mich am ganzen Körper; das verdammte Gelichter, diese Flöhe! So, gehe jetzt hinauf und zieh dich an; ich komme gleich wieder zu dir. Ich muß nur dem Schuft von Verwalter noch mal den Kopf waschen.“

Tschitschikow begab sich auf sein Zimmer, um sich zu waschen und anzuziehen. Als er gleich darauf ins Speisezimmer trat, stand schon ein Teeservice und eine Flasche Rum auf dem Tisch. Im Zimmer waren noch Spuren vom gestrigen Diner und Souper bemerkbar; Bürste und Besen hatten noch ihres Amtes nicht gewaltet. Auf dem Fußboden lagen Brodkrumen und selbst auf dem Tischtuche sah man ganze Haufen von Tabakasche herumliegen. Der Hausherr, der bald darauf hereinkam, hatte nichts an, außer einem Schlafrock, unter dem die offene mit dichten Haaren bewachsene Brust hervorguckte. So mit dem Pfeifenrohr in der einen, und mit der Tasse, aus der er ab und zu nippte, in der anderen Hand, wäre er so recht ein Bild für einen Maler gewesen, welcher die gelockten und gekräuselten oder kurz geschorenen Köpfe nicht leiden kann, wie man sie auf den Aushängeschildern der Barbierläden abgebildet findet.

„Nun also, wie denkst du?“ fragte Nosdrjow nach einer kurzen Pause, „willst du um die Seelen spielen oder nicht?“

„Ich hab dir doch schon gesagt, daß ich nicht mag; abkaufen — tue ich sie dir gern.“

„Verkaufen will ich sie nicht: das wäre nicht freundschaftlich. Ich will doch nicht weiß der Teufel wovon die Decke runterziehen. Ein Spielchen — das ist eine andre Sache. Zieh doch eine Karte!“

„Ich hab dir doch schon gesagt: ich mag nicht.“

„Und tauschen willst du auch nicht?“

„Nein!“

„Nun dann höre, wollen wir Dame spielen? Gewinnst du — so gehören sie dir — alle zusammen. Ich habe ja eine ganze Menge, die aus der Revisionsliste gestrichen werden müssen. He Porphyr! Bring doch mal das Damenbrett herein!“

„Bemühe dich bitte nicht: ich spiele doch nicht!“

„Aber das ist doch kein Glücksspiel; hier kann doch weder von Glück noch von Betrug die Rede sein, es hängt doch alles vom guten Spiel ab. Übrigens mache ich dich darauf aufmerksam, daß ich sehr schlecht spiele; du mußt mir etwas vorgeben.“

„Vielleicht ist’s das beste, ich setze mich hin und versuche es,“ dachte Tschitschikow. „Ich habe doch früher einmal garnicht übel Dame gespielt, zudem wird es ihm hier schwer werden, zu mogeln.“

„Also schön! Meinetwegen, eine Partie Dame will ich allenfalls mit dir spielen.“

„Die Seelen — gegen hundert Rubel? Gut?“

„Warum? Ich denke fünfzig sind auch genug.“

„Nein, hör mal, fünfzig, das ist doch kein Einsatz? Dann setze ich lieber noch einen gewöhnlichen Jagdhund oder eine goldene Petschaft dazu, weißt du, so eine, wie man sie an der Uhrkette trägt.“

„Nun gut! ich bin’s zufrieden,“ sagte Tschitschikow.

„Und wieviel gibst du mir vor?“ fragte Nosdrjow.

„Wie käme ich dazu? Natürlich nichts.“

„Laß mich wenigstens die ersten zwei Züge machen!“

„Nein, ich spiele selbst schlecht genug.“

„Das kennt man schon, dies schlechte Spiel!“ sagte Nosdrjow, während er anzog.

„Ich habe schon lange keinen Stein mehr in die Hand genommen,“ sprach Tschitschikow, der gleichfalls einen Zug machte.

„Das kennt man schon — dies schlechte Spiel,“ sagte Nosdrjow und zog wieder.

„Ich habe schon lange keinen Stein mehr in die Hand genommen,“ sprach Tschitschikow und rückte weiter vor.

„Das kennt man schon — dies schlechte Spiel,“ sagte Nosdrjow, während er wieder einen Zug machte, und dabei mit dem Ärmel seines Schlafrockes einen andern Stein verschob.

„Ich habe schon lange keinen Stein mehr in die Hand genommen! .... He, was soll das lieber Freund? nimm mal den Zug wieder zurück!“ rief Tschitschikow.

„Was?“

„Den Stein da sollst du zurückziehen,“ sagte Tschitschikow; aber jetzt erblickte er plötzlich dicht vor seiner Nase noch einen zweiten Stein, der eben im Begriff war, ins Damenfeld einzurücken. Wie der dahin gekommen war, das wußte wohl nur Gott allein. „Nein,“ sagte Tschitschikow, „mit dir kann man unmöglich spielen. Man macht doch nicht drei Züge auf einmal!“

„Wieso denn drei? Das war doch nur ein Versehn. Der eine hat sich nur zufällig verschoben; ich zieh ihn wieder zurück, wenn du willst.“

„Und wie kommt der hierher?“

„Welchen meinst du?“

„Hier diesen, der in die Damenreihe einrückt.“

„Da haben wir’s! Als ob du’s nicht weißt!“

„Nein, mein Bester, ich habe alle Züge gezählt und erinnere mich sehr gut an alles, du hast ihn erst eben vorgeschoben. Da ist sein Platz!“

— „Was — dort?“ sagte Nosdrjow errötend, „du phantasierst wohl, Freund!“

„Nein, Bester, du scheinst zu phantasieren, aber leider nur mit wenig Glück.“

„Für wen hältst du mich,“ sagte Nosdrjow, „glaubst du etwa, ich mogele?“

„Ich halte dich für gar nichts, ich werde mich nur hüten, jemals wieder mit dir zu spielen.“

„Nein, jetzt kannst du nicht mehr vom Spiel zurücktreten,“ ereiferte sich Nosdrjow, „das Spiel ist angefangen!“

„Ich darf doch wohl verzichten, da du nicht spielst wie ein anständiger Mensch!“

„Du lügst! Du hast kein Recht, so etwas zu behaupten!“

„Nein, mein Bester, du bist es, der da lügt!“

„Ich habe nicht gemogelt, und du kannst nicht mehr verzichten. Du mußt die Partie zu Ende spielen!“

„Dazu kannst du mich nicht zwingen,“ sprach Tschitschikow kaltblütig, trat ans Brett und warf die Steine durcheinander.

Nosdrjow wurde rot vor Zorn und ging auf Tschitschikow los, so daß dieser zwei Schritte zurücktrat.

„Ich werde dich doch zwingen, mit mir zu spielen. Das nützt dir nichts, daß du das Brett umgestoßen hast! Ich erinnere mich an sämtliche Züge! Wir können das Spiel wieder aufstellen.“

„Nein, mein Bester, ich spiele nicht mit dir, und damit Basta!“

„Du willst also nicht spielen? wie?“

„Du mußt doch selbst einsehen, daß man nicht mit dir spielen kann!“

„Nein, sag’s gradheraus: Willst du spielen oder nicht?“ sagte Nosdrjow, indem er Tschitschikow noch näher auf den Leib rückte.

„Nein,“ sprach Tschitschikow, während er seine Hände vor das Gesicht hielt, er war auf alles gefaßt und fühlte, daß es einen heißen Kampf geben würde. Diese Vorsicht war durchaus am Platze, denn Nosdrjow holte aus, und es hätte leicht passieren können, daß eine von den schönen runden Backen unseres Helden mit nie zu verwischender Schmach bedeckt worden wäre; aber er parierte geschickt den Schlag, packte Nosdrjows kampflustige Hände und hielt sie fest in den seinen.

„Porphyr, Pawluschka!“ schrie Nosdrjow wie ein Rasender, indem er versuchte sich loszuringen.

Bei diesen Worten ließ Tschitschikow, der die Knechte nicht gern zu Zeugen dieser äußerst interessanten Szene machen wollte, und zugleich fühlte, daß es doch keinen Wert hatte, Nosdrjow länger festzuhalten, seine Hände fahren. In diesem Augenblick betrat Porphyr das Zimmer, gefolgt von Pawluscha, einem handfesten Burschen, mit dem nicht gut Kirschen essen war.

„Du willst also die Partie nicht zu Ende spielen?“ sagte Nosdrjow. „Sag ja oder nein.“

„Es ist mir unmöglich, sie zu Ende zu spielen,“ sprach Tschitschikow und warf einen Blick aus dem Fenster. Er sah seine Kutsche bereitstehen und neben ihr Seliphan, der nur auf den Moment zu warten schien, wo er vorfahren könnte; aber jeder Ausweg aus dem Zimmer war verschlossen, denn in der Türe standen zwei kräftige Esel, die Leibeigenen Nosdrjows.

„Du willst also die Partie nicht beendigen?“ wiederholte Nosdrjow, dessen Antlitz vor Zorn glühte.

„Wenn du spielen würdest, wie ein anständiger Mensch .... aber so .... Nein!“

„Also nicht? Du Schurke! Weil du merkst, daß du verlieren mußt, kannst du auf einmal nicht! Haut ihn!“ schrie er plötzlich in rasender Wut, indem er sich an Porphyr und Pawluscha wandte und selbst sein Pfeifenrohr von Weichselholz packte. Tschitschikow wurde bleich wie ein Stück Leinwand. Er wollte etwas sagen, aber er fühlte, daß seine Lippen sich bewegten, ohne einen Laut von sich zu geben.

„Haut ihn!“ schrie Nosdrjow, während er mit seinem Weichselrohr auf ihn losstürzte, zornglühend und schwitzend, als ob er gegen eine unbezwingliche Festung Sturm liefe. — „Haut ihn!“ schrie er mit der Stimme eines tollen Leutnants, der während eines gewaltigen Sturmangriffes seiner Kompagnie: „Vorwärts, Kinder!“ zuruft, und dessen unsinnige Kühnheit solch eine Berühmtheit erlangt hat, so daß die Ordre ausgegeben werden mußte, während eines heftigen Gefechtes, ihn an Händen und Füßen festzuhalten. Aber der Rausch der Schlacht hat ihn schon betört; um ihn herum scheint sich alles zu drehen. Die Gestalt des Feldmarschalls Suworow scheint ihm voranzuschweben. Das große Ziel winkt und blindlings stürzt er darauf zu. „Vorwärts, Kinder!“ schreit er und schon fliegt er voran, ohne zu überlegen, wie sehr er damit dem wohlberechneten Angriffsplane schadet und ohne darauf zu achten, daß Millionen von Büchsenläufen aus den Schießscharten der unbezwinglichen, von Rauchwolken umzogenen Festungsmauern herlugen, daß seine ohnmächtige Kompagnie in die Luft fliegen muß wie leichter Federflaum und daß die verhängnisvolle Kugel sausend naht, um ihm den vorlauten Mund zu schließen. Aber, wenn Nosdrjow einen solchen verzweifelt gegen eine Festung anstürmenden tollköpfigen Leutnant darstellte, die Festung selbst, auf die er den wahnsinnigen Angriff unternahm, schien keineswegs uneinnehmbar, im Gegenteil, die Festung fühlte eine derartige Furcht, daß ihr das Herz in die Hosen fiel. Schon ward ihm der Stuhl, mit dem er sich verteidigen wollte, von den Leibeigenen aus den Händen gerissen, schon bereitete er sich geschlossenen Auges und mehr tot als lebendig, das tscherkessische Pfeifenrohr seines Gastfreundes mit dem Rücken in Empfang zu nehmen, und Gott weiß, was ihm noch sonst alles hätte blühen können. Aber der Vorsehung gefiel es, die Lenden, die Schultern und alle wohlgepflegten Körperteile unseres Helden zu retten. Ganz unerwartet erklangen plötzlich, wie die Stimme eines Himmelsboten, die Töne eines Glöckchens, das Rädergerassel einer vorfahrenden Kutsche und das bis ins Innerste der Stube vernehmbare schwere Schnaufen der erhitzten Pferde eines Dreigespanns. Alles eilte unwillkürlich ans Fenster: ein Mann mit einem martialischen Schnauzbart, im Interimsrock stieg aus dem Wagen. Nachdem er im Flure nach dem Hausherrn gefragt hatte, trat er ins Zimmer, noch bevor Tschitschikow sich von seinem Schreck hatte erholen können und während er sich noch in der jämmerlichsten Lage befand, die je ein Sterblicher durchgemacht hat.

„Darf ich fragen, wer von den Anwesenden Herr Nosdrjow ist?“ sagte der Unbekannte, indem er einen erstaunten Blick auf Nosdrjow, der mit dem Pfeifenrohr in der Hand dastand, und auf Tschitschikow warf, der eben aus seiner traurigen Lage wieder zu sich zu kommen begann.

„Darf ich zuerst erfahren, mit wem ich die Ehre habe?“ sagte Nosdrjow auf ihn zugehend.

„Ich bin der Kreisrichter!“

„Und was wünschen Sie?“

„Ich komme, um ihnen eine mir zugegangene amtliche Mitteilung zu überbringen. Sie befinden sich im Anklagezustand bis zur gerichtlichen Beschlußfassung in dem gegen Sie schwebenden Prozeß.“

„Ach Unsinn! Was für ein Prozeß?“ sagte Nosdrjow.

„Sie sind in die Sache des Gutsbesitzers Maksimow verwickelt, anläßlich einer persönlichen Beleidigung, die Sie ihm in trunkenem Zustande durch Verabfolgung von Rutenschlägen zugefügt haben sollen.“

„Sie lügen, ich kenne den Gutsbesitzer Maksimow überhaupt nicht.“

„Geehrter Herr! Gestatten sie, daß ich Sie darauf aufmerksam mache: ich bin Offizier. Sie können das ihrem Diener sagen, aber nicht mir.“

Hier ergriff Tschitschikow, ohne abzuwarten, was Nosdrjow darauf antworten würde, schleunigst seine Mütze, schlüpfte hinterm Rücken des Kreisrichters zur Türe hinaus, bestieg eilig seinen Wagen, und befahl Seliphan die Pferde anzutreiben, so schnell er nur konnte.

Fünftes Kapitel

Unser Held hatte übrigens gehörige Angst bekommen. Obwohl der Wagen in wildem Galopp dahinjagte und Nosdrjows Gut hinter Hügeln, Feldern und Anhöhen verschwunden war, blickte er sich immer noch furchtsam um, wie in Erwartung, daß die Verfolger bald angesprengt kämen. Er atmete schwer, und als er seine Hand aufs Herz legte, fühlte er, daß es hüpfte wie eine Wachtel im Käfig. „Herr Gott, hat der mich schwitzen machen. Bist du ein Kerl!“ Dann wünschte er ihm den Teufel und seine Großmutter an den Hals. Ja, es fielen sogar ein paar unschöne Ausdrücke; aber was ist da zu machen: ein Russe, und noch dazu wenn er zornig ist! Zudem war die Sache durchaus nicht scherzhaft: „Man mag sagen, was man will,“ sprach er zu sich selber, „wäre der Kreisrichter nicht auf der Bildfläche erschienen, wer weiß, ob ich mich jetzt noch des Anblickes dieser schönen Gotteswelt erfreuen könnte! Vielleicht wäre ich geplatzt, wie eine Blase auf dem Wasser, ohne eine Spur meines irdischen Daseins, ohne Nachkommen, ohne meinen Kindern und Kindeskindern Geld und Gut und einen ehrlichen Namen zu hinterlassen!“ Unser Held war sehr besorgt um seine Nachkommenschaft.

„So ein böser Herr!“ dachte Seliphan. „Solch einen Herren hab’ ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Wahrhaftig, dem sollte man ins Gesicht spucken für dieses Betragen. Einen Menschen mag man noch eher hungern lassen, aber einem Pferde muß man doch zu fressen geben. Denn so ein Gaul liebt nun mal den Hafer. Das ist sozusagen seine Nahrung; was für uns die Kost, ist für ihn der Hafer sozusagen. Das ist doch seine Nahrung.“

Auch die Pferde schienen sich eine ungünstige Meinung von Nosdrjow gebildet zu haben. Nicht nur der Braune und der Assessor, selbst der Schecke war schlechter Laune. Obgleich er für seinen Teil immer etwas geringeren Hafer bekam und Seliphan ihm diesen nie anders in den Trog schüttete, als mit den Worten: „Da, du Lump!“, es war doch immer Hafer und nicht gewöhnliches Heu: er kaute mit Vergnügen daran und steckte sein langes Maul häufig in die Krippe seiner beiden Nachbarn, um zu kosten, was für eine Nahrung sie bekämen. Besonders tat er dies, wenn Seliphan nicht im Stalle war. Aber dieses Mal nichts wie Heu — das war nicht schön! Sie alle waren unzufrieden.

Aber bald wurden die Unzufriedenen mitten in ihren Herzensergießungen durch ein ganz plötzliches und unerwartetes Ereignis unterbrochen, alle Beteiligten mit Einschluß des Kutschers kamen erst wieder zur Besinnung, als ein mit sechs Pferden bespannter Wagen gegen sie anrannte und das Schreien der in dem Wagen sitzenden Damen und das Geschimpf und die Drohungen der Kutscher fast über ihren Köpfen erklangen. „Ach, du Spitzbube, verdammter, ich habe dir doch laut zugerufen: Weich aus nach rechts, alte Krähe! Du bist wohl besoffen, wie?“ Seliphan mußte sich gestehen, daß er eine Ungeschicklichkeit begangen hatte; aber da der Russe seine Schuld vor andern Leuten nicht gerne zugibt, warf er sich in die Brust und rief: „Und was jagst du so blind darauf los?! Hast wohl deine Augen in der Schenke gelassen?“ Hierauf zog er die Zügel kräftig an, um den Wagen zurückzulenken und aus dem Knäuel herauszuwickeln. Aber, ohweh, seine Bemühungen waren vergeblich; die Pferde hatten sich mit ihrem Geschirr verhakt. Der Schecke beschnupperte neugierig seine neuen Freunde, die ihn umringten. Unterdessen blickten die in dem Wagen sitzenden Damen mit ängstlichen Gesichtern auf die allgemeine Verwirrung. Die eine war schon alt, die andere ein sechzehnjähriges junges Mädchen mit goldigem Haar, welches glatt gescheitelt ihr Gesicht kleidsam einrahmte. Das reizende Oval ihres Antlitzes rundete sich wie ein junges Eichen und schimmerte gleich diesem von weißem durchsichtigen Glanze, wenn es frisch gelegt von der braunen, prüfenden Hand der Schließerin gegen das Licht gehalten wird, und die hellen Strahlen des Sonnenscheines es durchdringen. Ihre zarten, dünnen Ohrmuskeln erzitterten, als glühten sie, von der sie durchflutenden Wärme. Dazu der Ausdruck des Schreckens, der auf ihren offnen erstarrten Lippen lag, die Tränen, die im Auge schimmerten, dies alles war so reizend, daß unser Held sie einige Minuten lang traumverloren anblickte, ohne im geringsten auf den Wirrwarr von Kutschen, Pferden und Kutschern zu achten. „Zurück! Du Nowgorodsche Krähe!“ rief der fremde Kutscher Seliphan zu. Dieser zog die Zügel an, sein fremder Kollege tat dasselbe, die Pferde stemmten sich rückwärts, um sogleich wieder zusammenzuprallen und sich aufs neue im Riemenwerk zu verwickeln. Bei dieser Gelegenheit machte die neue Bekanntschaft einen so tiefen Eindruck auf unsern Schecken, daß er durchaus nicht wieder aus der Rinne heraus wollte, in die er durch ein unverhofftes Schicksal geraten war. Er legte seine Schnauze auf den Hals des neuen Kameraden und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern: wahrscheinlich irgend ein schreckliches Blech. Denn dieser schüttelte beständig die Ohren. Während der großen Unordnung waren indessen Bauern aus einem Dorf, das zum Glück nicht sehr weit entfernt war, hilfsbereit herbeigeeilt. Da ein solches Schauspiel für einen Bauern eine wahre Himmelsgabe ist, wie für den Deutschen seine Zeitungen oder sein Klub, so hatte sich bald eine vielköpfige Schar um die Wagen gesammelt, und nur die alten Weiber und Wickelkinder waren zu Hause geblieben. Man schnürte die Riemen los, der Schecke bekam ein paar kräftige Püffe vor die Schnauze, die ihn zum Rückzug veranlaßten: mit einem Wort, die Pferde wurden getrennt und beiseite geführt. Aber war es der Ärger der neuangekommenen Pferde, daß man sie von ihren neuen Freunden getrennt hatte, war es Eigensinn, — der Kutscher mochte auf sie loshauen soviel er wollte, sie blieben wie angewurzelt stehen. Die Teilnahme und das Interesse der Bauern wuchs bis zu ungeheuren Dimensionen an. Alle drängten sich um die Wette mit weisen Ratschlägen vor. „Geh, Andrjuschka, führ mal das rechte Beipferd vor. Onkel Mitjaj soll sich auf das mittlere setzen. Schwing dich auf, Onkel Mitjaj!“ Der lange und hagere Onkel Mitjaj, ein Mann mit einem roten Bart, bestieg das Mittelpferd. So glich er dem Glockenturm einer Dorfkirche oder richtiger einem Brunnenhaken, mit dem man das Wasser aus dem Brunnen heraufzieht. Der Kutscher hieb auf die Pferde ein, aber es wollte nicht fruchten, auch Onkel Mitjaj konnte nicht viel ausrichten. „Halt! Halt!“ riefen die Bauern, „setz dich lieber aufs Beipferd, Onkel Mitjaj; Onkel Minjaj soll aufs Mittelpferd steigen!“ Onkel Minjaj, ein breitschultriger Bauer mit einem kohlschwarzen Bart und einem Bauch wie jener Riesensamowar, in dem das süße Zwetschengetränk für die frierenden Scharen gekocht wird, die einen ganzen Markt bevölkern, schwang sich vergnügt aufs Mittelpferd, welches sich unter seiner Last fast bis zur Erde beugte. „Jetzt wird’s schon gehen,“ riefen die Bauern: „Hau zu! Hau doch zu. Versetz ihm eins mit der Knute: hörst du, jenem Hellen, da! — was sträubt und spreizt sich’s wie ’ne Wassermücke.“ Aber da sie sahen, daß die Sache doch nicht von der Stelle kam, und alle Prügel nichts nützten, setzten sich beide, Onkel Mitjaj und Onkel Minjaj zusammen auf das Mittelpferd und ließen Andrjuschka auf das Beipferd steigen. Endlich verlor der Kutscher die Geduld und jagte alle beide: Onkel Mitjaj samt Onkel Minjaj zum Teufel. Und er tat gut daran, denn die Pferde dampften so, als ob sie eine ganze Poststation zurückgelegt hätten, ohne auch nur einen Augenblick Halt gemacht zu haben. Er ließ sie sich erst verschnaufen, worauf sie den Wagen ganz von selbst fortzogen. Während sich dieser Vorgang abspielte, war Tschitschikow ganz in die Betrachtung der fremden jungen Dame versunken. Er versuchte es mehrmals, sie anzureden, aber es wollte ihm immer nicht recht gelingen. Unterdessen waren die Damen davongefahren, das reizende Köpfchen mit den feinen Gesichtszügen und der schlanken Gestalt war verschwunden, wie eine Vision; und wieder befand sich Tschitschikow auf der Landstraße, in seiner Kutsche mit den drei Pferden, die der Leser schon kennt, und in Gesellschaft von Seliphan, den öden, leeren Flächen der rings sich dehnenden Felder gegenüber. Überall im Leben, in seinen harten, rauhen und ärmlichen, in den unsaubern, schimmelbedeckten niederen Schichten — wie in der sauberen Korrektheit und Monotonie der höheren Stände — überall begegnet uns, wenn auch nur ein einziges Mal im Leben eine Erscheinung, die nichts gemein hat mit alledem, was wir bisher gesehen, die wenigstens einmal ein neues Gefühl in uns entzündet, das keine Ähnlichkeit mit jenen hat, die uns durch unser ganzes Leben begleiten. Bei jedem von uns bricht einmal ein heller Strahl der Freude durch das Dunkel jener Leiden und trüben Erfahrungen, aus denen unser Leben gewebt ist, so wie bisweilen eine glänzende Equipage mit goldgezäumten malerischen Rossen und blitzenden Fensterscheiben ganz plötzlich und unerwartet an einem öden elenden Dorf vorbeijagt, welches nie ein andres Gefährt, als den bekannten Bauernwagen gesehen hat: und lange noch stehen die Bauern staunend mit offenem Munde da, und wagen es nicht, ihre Mützen wieder aufzusetzen, obwohl die herrliche Equipage schon längst verschwunden und über alle Berge ist. So ist auch die junge Blondine ganz plötzlich und unerwartet in unserer Erzählung aufgetaucht, um auf dieselbe Weise wieder zu verschwinden. Wäre ihr statt Tschitschikow irgend ein zwanzigjähriger Jüngling begegnet — ein Husar, oder ein Student oder auch nur ein gewöhnlicher Sterblicher, der eben im Begriff ist, seinen Lebensweg anzutreten. — Du lieber Gott, was wäre nicht alles in ihm zum Leben erwacht, was hätte nicht alles nach Ausdruck gedrängt! Er hätte wohl noch lange wie betäubt auf demselben Flecke gestanden, während seine Augen stumm die Ferne suchten, hätte den Weg und das Reiseziel und alle Vorwürfe und Verweise, wegen seiner Saumseligkeit, ja er hätte sich selbst vergessen, seinen Dienst, die Welt und überhaupt alles, was auf der Welt existiert!

Aber unser Held war schon ein Mann in mittleren Jahren und hatte einen kühlen, ruhigen, umsichtigen Charakter. Auch er versank in Sinnen und dachte über vieles nach, aber sein Denken war weit positiverer Natur: seine Gedanken waren bei weitem nicht so unklar und unbestimmt, sondern weit genauer und gründlicher. „Ein herrliches Weibchen!“ sagte er, indem er seine Tabakdose öffnete und eine Prise nahm. „Was aber das Beste an ihr ist .... das Beste an ihr ist, daß sie soeben aus einem Institut oder Pensionat entlassen zu sein scheint und daß sie noch nichts spezifisch Weibliches an sich hat, nichts von jenen Zügen, die das ganze Geschlecht verunzieren. Jetzt ist sie noch das reine Kind, alles an ihr ist schlicht und einfach; sie spricht, wie ihr’s ums Herz ist und lacht, wenn ihr darnach zumute ist. Es läßt sich noch alles aus ihr machen, sie kann ein herrliches Geschöpf, aber ebensogut auch ein verkrüppeltes Wesen werden — und so wird es wohl auch kommen, wenn sich erst die Tanten und Mamas an ihre Erziehung machen. Die werden sie in einem Jahr mit ihrem Weiberkram vollpfropfen, daß ihr eigener Vater sie nicht wiedererkennen wird. Sie wird ein aufgeblasenes und affektiertes Wesen annehmen, wird sich nach auswendig gelernten Regeln drehen, wenden und knicksen, sich den Kopf darüber zerbrechen, was sie, mit wem sie und wie viel sie sprechen, wie sie ihren Kavalier anblicken muß usw. usw.; wird fortwährend in der größten Angst schweben, ob sie nun kein überflüssiges Wort gesagt hat, schließlich garnicht mehr wissen, was sie zu tun hat, und wie eine große Lüge durch das Leben wandeln. Pfui Teufel!“ Hier verstummte er einen Augenblick und fuhr dann fort: „Übrigens wüßte ich gern, wer sie eigentlich ist. Wer mag ihr Vater sein? Irgend ein ehrenwerter Gutsbesitzer oder nur ein rechtschaffen denkender Mensch, der sich im Dienst ein kleines Kapital erspart hat? Wenn die Kleine so ein paar Hunderttausende mitbekäme — das wäre weiß Gott kein übler — gar kein übler Bissen. Ein ordentlicher Mensch könnte mit ihr sein Glück machen.“ Die Zweimalhunderttausend erschienen ihm in so reizendem Lichte, daß er sich innerlich Vorwürfe zu machen begann, weswegen er sich während des Trubels mit den Equipagen nicht beim Vorreiter nach dem Namen der Reisenden erkundigt habe. Doch das jetzt sichtbar werdende Dorf Sabakewitschs zerstreute seine Gedanken und lenkte sie auf ihren eigentlichen Gegenstand zurück.

Das Dorf kam ihm recht groß vor; eine Birken- und eine Fichtenwaldung rahmten es von beiden Seiten ein, wie zwei Flügel, von denen der eine etwas dunkler erschien als der andre; in der Mitte stand ein hölzernes Haus mit einem Anbau, einem roten Dach und dunkelgrauen — oder richtiger rohen Wänden — eins von jenen Häusern, wie sie bei uns für Soldaten und Kolonisten gebaut werden. Man merkte deutlich, daß der Baumeister bei der Ausführung seines Planes beständig mit dem Geschmack des Besitzers zu kämpfen hatte. Der Baumeister war ein Pedant und liebte die Symmetrie, der Hausherr aber wollte es vor allem recht bequem haben und hatte aus diesem Grunde offenbar auf einer Seite alle korrespondierenden Fenster zumauern und statt ihrer nur eine kleine runde Öffnung stehen lassen, die zu einer dunklen Kammer gehörte. Auch der eine Erker war nicht in der Mitte des Hauses angebracht, so sehr sich der Architekt bemüht hatte, dies durchzusetzen; der Hausherr wollte durchaus die eine Säule beseitigt wissen, und so war es gekommen, daß statt der vier Säulen nur drei dastanden. Der Hof war von einem kräftigen und ungewöhnlich dicken Staketenzaun umgeben. Überhaupt schien der Gutsherr vor allem auf Dauerhaftigkeit und Solidität bedacht zu sein. Zum Bau der Ställe, der Scheunen und der Küche waren schwere dicke Balken verwandt worden, die auf die Ewigkeit berechnet zu sein schienen. Auch die Bauernhütten waren wunderbar fest und solide gebaut. Keine mit Schnitzwerk verzierten Wände noch sonstiger Firlefanz — es war alles dicht und wie es sich gehört aneinandergepaßt und verkittet. Selbst der Brunnen war mit so kräftigem Eichenholz eingefaßt, wie es sonst nur bei Windmühlen und Schiffsbauten verwendet wird. Mit einem Wort — alles was Tschitschikow sah, war solide, und stand fest auf der Erde, in Reih und Glied; wie es schien, nach einer plumpen unerschütterlichen Ordnung. Als der Wagen vor der Freitreppe hielt, sah Tschitschikow zwei Gesichter, die fast gleichzeitig zum Fenster hinausschauten: ein weibliches, das so lang und schmal war, wie eine Gurke und eine Haube auf dem Kopfe trug, und ein rundes männliches, so breit wie einer jener moldauischen Kürbisse, die man in Rußland „Flaschen“ nennt und aus denen man bei uns die Balalaiken, jene leichten mit zwei Saiten bespannten Musikinstrumente macht — den Stolz und die Freude aller kecken und lustigen Bauernburschen, dieser schmucken Jungen, welche den sie umstehenden Mädchen mit weißem Hals und Busen, die gekommen sind, ihrem sanften Saitengeklimper zu lauschen, kokett zublinzeln und zujuchzen. Beide Gesichter verschwanden sogleich wieder, nachdem sie einen Blick durchs Fenster geworfen hatten. Ein Lakai in einer grauen Jacke mit einem blauen Stehkragen trat auf die Freitreppe hinaus und geleitete Tschitschikow in den Flur, wo der Hausherr schon seiner wartete. Als er den Gast erblickte, sagte er kurz: „Ich bitte,“ worauf er ihn in die inneren Gemächer führte.

Als Tschitschikow hierbei einen kurzen Seitenblick auf Sabakewitsch warf, kam er ihm diesmal wie ein Bär von mittlerer Größe vor. Und wie um die Ähnlichkeit zu vollenden, hatte auch der Frack, den er trug, die Farbe des Bärenfells: Ärmel und Hosen waren sehr lang, seine Füße steckten in mächtigen Filzpantoffeln, dazu hatte er einen so tolpatschigen Gang, daß er andern Leuten beständig auf die Füße trat. Seine Gesichtsfarbe war glühend rot, wie die eines Kupfergroschens. Es gibt ja bekanntlich viele solche Gesichter auf der Welt, über deren detaillierterer Ausarbeitung sich die Natur nicht viel Kopfzerbrechens gemacht, bei der sie keine feineren Instrumente wie Feile, Bohrer usw. gebraucht, sondern die sie einfach mit ein paar kräftigen Axthieben herausgehauen hat. Ein Hieb — und siehe da es entstand die Nase — ein zweiter — und die Lippen saßen am rechten Fleck; dann machte sie noch ein Paar Löcher an Stelle der Augen mit dem großen Bohrer und der ganze Kerl war fertig. Und ohne ihn erst noch zu behobeln und zu glätten, sandte sie ihn mit den Worten: „er lebt“ in die Welt. Solch eine festgefügte aufs Geratewohl zurechtgezimmerte Gestalt war auch Sabakewitsch: seine Haltung war eher ein wenig gebeugt als aufrecht, nur selten drehte er seinen Kopf um, und sah infolge dieser Unbeweglichkeit seinen Mitunterredner nur selten an, sondern blickte stets auf die Ofenecke oder auf die Tür. Tschitschikow warf noch einmal einen Seitenblick auf ihn, als er mit ihm ins Speisezimmer trat, und wieder fuhr ihm der Gedanke durch den Sinn: „ein Bär, wahrhaftig ein vollkommener Bär.“ Welch seltsames Spiel des Schicksals: zu alledem mußte er noch Michael[3] Semjonowitsch heißen. Da Tschitschikow Sabakewitschs Gewohnheit, andern Leuten auf die Füße zu treten, kannte, trat er selbst sehr vorsichtig auf, indem er ihn vorausgehen ließ. Der Hausherr schien sich übrigens dieser schlechten Angewohnheit selbst bewußt zu sein, denn er fragte immerfort: „Habe ich Sie vielleicht beunruhigt?“ Aber Tschitschikow dankte und versicherte höflich, er habe bisher noch nichts von einer Beunruhigung gemerkt.

Als sie in den Salon traten, zeigte Sabakewitsch auf einen Lehnstuhl und sagte wieder: „Bitte.“ Tschitschikow nahm Platz, warf aber zuvor noch einen kurzen Blick auf die Wände und die Bilder, welche sie zierten. Es waren alles lebensgroße Stahlstiche, welche lauter tüchtige Kerle, d. h. griechische Feldherrn, wie Miauli, Kanari und Maurokordato darstellten, letzteren in Uniform mit roten Beinkleidern und einer Brille auf der Nase. All’ diese Helden hatten so starke Lenden und so gewaltige Schnauzbärte, daß einen schon eine Gänsehaut überlief, wenn man sie bloß ansah. Unter diesen griechischen Athleten war wie durch einen wunderbaren Zufall auch Fürst Bagration geraten, ein magerer, dünner Mann mit einer kleinen Fahne und ein paar Kanonen zu seinen Füßen, der noch dazu in einem ganz schmalen Rahmen steckte. Dann folgte wieder eine griechische Heldin: die Bobelina, deren Beine allein größer waren, als die ganze Figur eines jener Stutzer, die heute unsere Salons bevölkern. Der Hausherr, der selbst ein ausnehmend gesunder und kräftiger Mann war, wollte offenbar auch, daß lauter gesunde und kräftige Leute die Wände seiner Zimmer zieren sollten. Neben der Bobelina, dicht am Fenster hing noch ein Vogelkäfig, aus dem eine schwarze Amsel mit kleinen weißen Pünktchen hervorguckte, die gleichfalls große Ähnlichkeit mit Sabakewitsch hatte. Der Wirt und der Gast hatten noch keine zwei Minuten stumm nebeneinander gesessen, als die Türe sich auftat, und die Frau des Hauses, eine große Dame in einer Haube mit Bändern, die zu Hause gefärbt zu sein schienen, ins Zimmer trat. Sie hatte einen wundervollen Gang und hielt ihren Kopf gerade wie eine Palme.

„Das ist meine Feodulia Iwanowna,“ sagte Sabakewitsch.

Tschitschikow küßte Feodulia Iwanowna die Hand, die sie ihm fast in den Mund stopfte; bei dieser Gelegenheit machte er die Beobachtung, daß ihre Hände mit Gurkenwasser gewaschen waren.

„Herzchen, darf ich dir Pawel Iwanowitsch Tschitschikow vorstellen!“ fuhr Sabakewitsch fort. „Wir haben uns beim Gouverneur und beim Postmeister kennen gelernt.“

Feodulia Iwanowna bat Tschitschikow Platz zu nehmen, indem sie gleichfalls „Bitte“ sagte, und eine Kopfbewegung dazu machte, wie jene Schauspielerinnen, die eine Königin darzustellen haben. Dann setzte sie sich auf das Sofa, hüllte sich in ihr wollenes Tuch ein und zuckte von nun ab weder mit den Augen noch mit den Brauen.

Tschitschikow warf wieder einen Blick nach oben und wieder fiel ihm Kanari mit seinen starken Lenden und dem nicht endenwollenden Schnauzbart, die Bobelina und der Vogelbauer mit der Amsel in die Augen.

Fast fünf Minuten beobachteten alle ein feierliches Schweigen, das nur durch das Lärmen der Amsel unterbrochen wurde, die fortwährend mit dem Schnabel gegen den Holzboden des Vogelkäfigs pochte, wenn sie ein paar Brotkrumen aufpickte. Tschitschikow sah sich noch einmal im Zimmer um: auch hier war alles klobig, fest und ganz ungewöhnlich derb, und hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Herrn des Hauses. In der Ecke des Salons stand ein bauchiges Schreibpult auf vier äußerst plumpen Füßen — ein richtiger Bär. Der Tisch, die Stühle, die Lehnsessel — alles trug einen schwerfälligen und geradezu gefährlichen Charakter, jeder Gegenstand, jeder Stuhl schien sagen zu wollen: „Ich bin auch ein Sabakewitsch“ oder „Auch ich bin Sabakewitsch ähnlich.“

„Wir haben beim Gerichtspräsidenten Iwan Grigorjewitsch von Ihnen gesprochen,“ sagte endlich Tschitschikow, als er sah, daß keiner von den Anwesenden Anstalten machte, das Gespräch zu beginnen: „Es war am vorigen Donnerstag. Ich habe dort einen sehr schönen Abend verbracht.“

„Ja! ich war damals nicht beim Gerichtspräsidenten,“ sagte Sabakewitsch.

„Ein prächtiger Mensch! Nicht wahr?“

„Wen meinen Sie?“ sagte Sabakewitsch, indem er die Ofenecke anblickte.

„Den Gerichtspräsidenten!“

„Das ist Ihnen wohl nur so vorgekommen: er ist zwar Freimaurer, aber ein solcher Esel, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.“

Tschitschikow wurde ein wenig stutzig durch diese denn doch etwas zu starke Charakteristik, aber er fand seine Fassung bald wieder und fuhr gleich darauf fort: „Natürlich, ein jeder Mensch hat seine Schwächen; aber nicht wahr? der Gouverneur, das ist doch ein ganz ausgezeichneter Mensch?“

„Wie? der Gouverneur — ein ausgezeichneter Mensch?“

„Ja! hab ich nicht Recht?“

„Ein Bandit, wie’s keinen zweiten gibt.“

„Wie? — Der Gouverneur ein Bandit?!“ sagte Tschitschikow, der durchaus nicht begreifen konnte, wie der Gouverneur unter die Banditen geraten war. „Ich muß gestehen, das hätte ich wirklich nicht gedacht,“ fuhr er fort. „Doch erlauben Sie mir die Bemerkung: seine Handlungen sind gar nicht derart; man könnte eher sagen, daß er einen sehr weichen Charakter hat.“ Und wie zum Beweise führte er die Geldtaschen an, die jener gestickt hatte und sprach mit hoher Anerkennung über den freundlichen Ausdruck seines Gesichtes.

„Aber das ist doch ein Banditengesicht!“ sagte Sabakewitsch. „Geben Sie ihm ein Messer in die Hand und schicken Sie ihn auf die Landstraße hinaus, — der schlachtet Sie kaltblütig ab — um einen Groschen! Er und der Vizegouverneur, — das sind die reinsten — Gogs und Magogs.“

„Hm, die haben wohl was miteinander gehabt,“ dachte Tschitschikow. „Ich will mal mit ihm über den Polizeimeister reden, der ist, glaub’ ich, sein Freund.“ — „Übrigens, was mich betrifft,“ fuhr er fort, „so muß ich gestehen, daß mir der Polizeimeister bei weitem am besten gefällt. Was ist das doch für ein gerader und offener Charakter; er hat etwas so Schlichtes und Treuherziges an sich.“

„Ein Gauner!“ sagte Sabakewitsch ganz kaltblütig, „der ist fähig, Sie zuerst zu betrügen und zu verraten und gleich darauf mit Ihnen zu Mittag zu essen. Ich kenne sie alle miteinander: lauter Spitzbuben. Und so ist die ganze Stadt; da sitzt ein Spitzbube auf dem andern, alles Judasse und niederträchtige Verräter. Der einzige, der noch was taugt, ist der Staatsanwalt — aber auch der ist im Grunde genommen ein Schweinehund.“

Nach diesen so wohlwollenden, wenn auch etwas kurzen biographischen Charakteristiken, sah Tschitschikow ein, daß eine Erwähnung der übrigen Beamten sich kaum noch verlohne, und er erinnerte sich, daß Sabakewitsch den Leuten nicht gern etwas Gutes nachsagte.

„Wie denkst du, Herzchen, gehen wir zu Tische?“ sagte Frau Sabakewitsch zu ihrem Gatten.

„Bitte,“ sagte Sabakewitsch und schritt auf den Anrichtetisch zu; Wirt und Gast tranken zuerst nach altem gutem Brauch einen Schnaps und ließen sich’s gut schmecken, wie das im ganzen weiten Rußland in Städten und Dörfern üblich ist, wo man stets, eh man sich zum Mittagessen hinsetzt, zuvor einen kleinen Imbiß aus allerhand gesalzenen und appetiterregenden Speisen und allen möglichen guten Sachen zu sich nimmt, worauf sie sich alle ins Speisezimmer begaben. Allen voran schritt die Hausfrau, wie ein schlanker Schwan. Den kleinen Tisch schmückten vier Gedecke. Der vierte Platz wurde bald von einer Person besetzt, von der es schwer zu sagen war, was sie eigentlich vorstellte: eine Dame oder ein Fräulein, eine Verwandte, eine Haushälterin oder nur irgend eine Gesellschafterin, die mit im Hause wohnte — ein Wesen von etwa dreißig Jahren, ohne Haube und mit einem Tuch um die Schultern. Es gibt solche Geschöpfe in dieser Welt, die nicht die selbständige Existenz eines Objekts besitzen, sondern gewissermaßen nur die Flecken oder Pünktchen auf einem Gegenstande darstellen. Sie sitzen immer auf derselben Stelle und haben alle dieselbe Haltung des Kopfes; man ist geneigt, sie für ein Möbelstück zu halten, und kann sich nicht denken, daß sie je in ihrem Leben den Mund geöffnet haben, um ein Wort zu sagen; dagegen braucht man sie nur im Mädchenzimmer oder in der Vorratskammer zu beobachten, um sich zu überzeugen, daß sie es faustdick hinter den Ohren sitzen haben.

„Die Kohlsuppe ist heute ausgezeichnet, mein Schatz,“ sagte Sabakewitsch, während er die Suppe kostete und sich dazu ein mächtiges Stück Saugbeutel vorlegte, von jenem berühmten Gericht, das gewöhnlich zur Kohlsuppe gegessen wird und aus einem mit Buchweizen, Hirn und Knöcheln gefüllten Hammelmagen besteht. „So eine Pastete,“ fuhr er zu Tschitschikow gewendet fort, „finden Sie in der ganzen Stadt nicht; dort setzt man Ihnen, weiß der Teufel was vor!“

„Beim Gouverneur ißt man übrigens gar nicht schlecht,“ meinte Tschitschikow.

„Ja wissen Sie denn, wie diese Speisen zubereitet werden? Sie würden den Appetit verlieren, wenn Sie das wüßten!“

„Wie die Speisen zubereitet werden, darüber kann ich freilich nicht urteilen; aber die Schweinekoteletts und der Fisch waren vorzüglich.“

„Das ist Ihnen wohl nur so vorgekommen. Ich weiß genau, daß sie auf dem Markte einkaufen. Der Schurke von Koch, der bei einem Franzosen in der Lehre war, kauft einfach einen alten Kater, zieht ihm das Fell ab, und serviert ihn dann als Hasen.“

„Pfui! Was für häßliche Sachen du da erzählst!“ sagte Sabakewitschs Gattin.

„Was kann ich dafür, Schätzchen! So macht man’s nun einmal dort; ich bin doch nicht schuld, daß das bei all den Leuten so Sitte ist. Alle Abfälle, alles was unsere Akula mit Verlaub zu sagen in den Mülleimer wirft, das tun die in die Suppe. Immer rein, alles rein.“

„Immer redest du bei Tisch solche Sachen!“ warf wiederum Frau Sabakewitsch ein.

„Was schadet denn das, Schätzchen,“ versetzte Sabakewitsch. „Ja wenn ich’s noch selbst so machte, aber ich sage dir’s ganz offen: solch ein ekelhaftes Zeug würde ich nie essen. Nie würde ich einen Frosch in den Mund nehmen, und wenn er in Zucker kandiert wäre, ebensowenig wie eine Auster; ich weiß ganz gut wie so’ne Auster aussieht. Bitte nehmen Sie doch noch ein Stück Hammelbraten,“ fuhr er fort, indem er sich an Tschitschikow wandte. „Das ist Hammellende mit Brei, und kein Frikassé, wie es die vornehmen Herren lieben, wozu man Hammelfleisch nimmt, das schon vier Tage lang auf dem Markte herumliegt. Das sind alles Finessen, wie sie die Herrn Doktoren, die Deutschen und Franzosen erfunden haben; ich würde sie dafür am liebsten alle hängen lassen. Die Diät — das ist auch so eine von ihren Erfindungen. Schöne Methode das — einen mit Hunger zu kurieren. Weil sie selbst eine so dünnblütige Natur haben, bilden sie sich ein, sie könnten auch mit dem russischen Magen fertig werden. Nein, das ist alles nichts Richtiges — das sind lauter Torheiten, das ist alles ...“ Hierbei schüttelte Sabakewitsch sogar zornig den Kopf. „Da reden sie immer von Aufklärung, und doch ist ihre Aufklärung nichts als ein .... ff ....! Ich hätte fast was gesagt, aber sowas schickt sich ja nicht bei Tische. Bei mir ist das ganz anders. Wenn’s bei mir Schweinebraten oder Gansbraten gibt, dann kommt gleich ein ganzes Schwein oder eine ganze Gans auf den Tisch. Lieber will ich nur zwei Gerichte haben, aber mich dafür auch ordentlich satt essen, bis die liebe Seele Ruhe hat.“ Und Sabakewitsch unterstützte seine Worte eindrucksvoll durch die Tat: er legte sich den halben Hammelrücken auf den Teller, schlang ihn hinunter und nagte noch die Knochen ab, bis nichts mehr übrig blieb.

„Ja, ja,“ dachte Tschitschikow, „der weiß auch, was gut tut.“

„Bei mir ist das anders,“ sagte Sabakewitsch, indem er sich die Hände mit der Serviette abwischte: „ich bin nicht so, wie irgend ein Pljuschkin; der hat 800 Seelen und lebt und ißt dabei schlechter als unser Kuhhirt.“

„Wer ist dieser Pljuschkin?“ fragte Tschitschikow.

„Ein Hallunke,“ versetzte Sabakewitsch. „So ein Geizhals, das kann man sich gar nicht einmal vorstellen. Die Zuchthäusler leben noch besser als der: er läßt ja all seine Leute verhungern.“

„Wahrhaftig?“ unterbrach ihn hier Tschitschikow mit teilnehmender Miene. „Ist das wirklich so, wie Sie sagen, daß bei dem so viele Bauern sterben.“

„Wie die Fliegen.“

„Nein, wirklich? Wie die Fliegen? Und darf ich fragen, wohnt er weit von hier?“

„Es werden etwa fünf Werst sein.“

„Fünf Werst!“ rief Tschitschikow aus, und dabei fing sogar sein Herz ein wenig an zu klopfen. „Wenn man das Tor verläßt, liegt dann sein Gut rechts oder links?“

„Es ist besser, Sie wissen gar nicht, wie Sie zu diesem Hunde hinkommen! Ich rate Ihnen, kümmern Sie sich lieber gar nicht darum,“ sagte Sabakewitsch, „es ist noch verzeihlicher, wenn jemand in ein unanständiges Lokal geht als zu dem.“

„Nein, ich frage ja auch nicht, weil ich irgend welche Absichten ... ich erkundigte mich bloß, weil ich ein großes Interesse für Land und Leute habe,“ entgegnete Tschitschikow.

Nach dem Hammelrücken gab es Käsekuchen, von denen jeder allein größer war als ein Teller, und dann noch einen Truthahn von der Größe eines Kalbes, der mit allerhand guten Sachen gefüllt war: mit Reis, Eiern, Leber und weiß Gott mit was sonst noch, was einem nachträglich wie ein Stein im Magen liegt. Damit war das Mittagessen zu Ende; aber als man sich erhob, fühlte sich Tschitschikow um einen ganzen Zentner schwerer. Man begab sich in den Salon, wo bereits ein kleiner Teller mit Kompott und Marmelade auf dem Tische stand; — es ließ sich nicht recht definieren, was es eigentlich für ein Kompott darstellte — es waren weder Birnen, noch Pflaumen, noch Himbeeren — übrigens rührte weder der Wirt noch der Gast die Marmelade an. Die Hausfrau ging hinaus, um noch ein paar Fruchttellerchen hereinzubringen. Diesen Augenblick benutzte Tschitschikow, um sich an Sabakewitsch zu wenden, der ausgestreckt in einem Lehnstuhl lag und nur noch stöhnte; so satt war er; hin und wieder öffnete er den Mund, um ein paar unartikulierte Laute von sich zu geben, wobei er das Kreuz schlug und sich die Hand vor den Mund hielt. Tschitschikow also wandte sich zu ihm und sagte: „Ich möchte gern über eine Sache mit Ihnen sprechen!“

„Nehmen Sie nicht noch etwas Eingemachtes!“ sagte die Hausfrau, die mit einem Fruchtteller zurückkehrte. „Es sind Rettichschnitten, in Honig gekocht!“

„Nachher!“ sagte Sabakewitsch, „geh jetzt mal auf dein Zimmer, Pawel Iwanowitsch und ich möchten uns die Röcke ausziehen und ein wenig ruhen!“

Die Hausfrau wollte sogleich Unterbetten und Kopfkissen holen lassen, aber Sabakewitsch erklärte: „Laß nur, wir ruhen uns schon im Lehnstuhle aus,“ und seine Gattin entfernte sich.

Sabakewitsch streckte den Kopf ein wenig vor, um zu hören, um was für eine Sache es sich handle.

Tschitschikow holte sehr weit aus, sprach zuerst ganz allgemein von dem russischen Staate, dessen Geräumigkeit und Größe er nicht genug loben konnte, meinte, selbst die alte römische Monarchie sei nicht so groß gewesen, die Ausländer hätten ganz recht, wenn sie sich wunderten ... (Sabakewitsch lauschte noch immer mit vorgestrecktem Kopfe) und nach den bestehenden Gesetzen zählten in diesem Reiche, dessen Ruhm ihm kein anderes Land streitig machen könne, die in die Revisionslisten aufgenommenen Seelen, selbst wenn sie ihren irdischen Lebenslauf abgeschlossen hätten, bis zur Aufstellung neuer Revisionslisten, genau so viel, wie die Lebenden, weil doch die zuständigen Behörden nicht noch mit neuen zeitraubenden Pflichten und Aufgaben belastet werden könnten, welche mit solchen überaus zahlreichen und detaillierten Erhebungen für sie verbunden wären; auch würde durch eine solche Maßregel die Kompliziertheit des ja ohnedies so verwickelten Staatsmechanismus noch gesteigert werden, (Sabakewitsch streckte den Kopf noch immer vor und hörte zu) indessen müsse man doch gestehen, daß diese Maßregel trotz ihrer unbestreitbaren Legalität doch für manchen Gutsbesitzer recht lästig sei, da sie ihn dazu verpflichte, nach wie vor seine Steuern für die Bauern zu bezahlen, ganz ohne Rücksicht darauf, ob sie noch leben oder nicht, doch sei er, Tschitschikow, bereit, aus einer besonderen persönlichen Hochachtung für ihn, einen Teil dieser so überaus drückenden Verpflichtung auf sich zu nehmen. Über den Hauptpunkt äußerte sich Tschitschikow nur mit großer Zurückhaltung und sprach nie von verstorbenen, sondern nur von „nichtexistierenden“ Seelen.

Sabakewitsch saß noch immer mit etwas vorgebeugtem Kopfe da und schien ihm aufmerksam zuzuhören, aber sein Gesichtsausdruck ließ nicht das leiseste Zeichen einer verborgenen Seelenregung erkennen. Man hätte beinahe glauben können, daß man einen leblosen und unbeseelten Körper vor sich habe, jedenfalls aber saß die Seele bei ihm nicht dort, wo sie eigentlich sitzen soll, sondern weilte wie beim unsterblichen Koschtschej[4] irgendwo in der Ferne hinter Bergen und Tälern und war mit einer so dicken Schale umgeben, daß alles, was sich auf ihrem Grunde regte, nicht die geringste Erschütterung an der Oberfläche hervorrief.

„Nun also?“ sagte Tschitschikow und wartete nicht ohne innere Aufregung auf die Antwort.

„Sie brauchen tote Seelen?“ sagte Sabakewitsch ganz ruhig, ohne jeden Ausdruck des Erstaunens, wie wenn hier von Roggen oder Weizen die Rede wäre.

„Ja,“ antwortete Tschitschikow, indem er versuchte, dem Wort etwas von seiner Härte zu nehmen und hinzufügte: „solche, die nicht mehr existieren.“

„Es werden sich schon welche finden, gewiß! Warum nicht?“ sagte Sabakewitsch.

„Ja, nicht wahr? Und wenn Sie welche haben sollten, werden Sie ohne Zweifel froh sein, sie los zu werden?“

„Bitte sehr! Ich bin gern bereit, die Ihnen zu verkaufen,“ versetzte Sabakewitsch, indem er den Kopf wieder emporrichtete. Offenbar witterte er schon, daß der Käufer irgend einen Vorteil dabei haben mußte.

„Teufel!“ dachte Tschitschikow, „der Kerl verkauft sie mir, noch ehe ich überhaupt ein Wort fallen ließ!“ Und er fügte laut hinzu: „Und darf man fragen: was Sie wohl dafür nehmen würden? Obwohl ... das eigentlich ein Gegenstand ist ... bei dem man nicht gut von einem Preise reden kann ...“

„Also! um nicht viel zu verlangen: Hundert Rubel pro Stück,“ sagte Sabakewitsch.

„Hundert Rubel!“ rief Tschitschikow aus, indem er den Mund weit aufriß und Sabakewitsch erschrocken ins Gesicht starrte; er war sich nicht ganz klar, ob er sich verhört, oder ob vielleicht Sabakewitschs Zunge infolge ihrer Schwerfälligkeit eine ungeschickte Wendung gemacht habe, und mit einem falschen Wort herausgeplatzt sei.

„Ja finden Sie denn das zu teuer?“ sagte Sabakewitsch und fügte sogleich hinzu: „Und was ist Ihr Preis?“

„Mein Preis? Wir befinden uns wohl in einem kleinen Irrtum oder verstehen uns gegenseitig nicht und haben vergessen, worum es sich hier eigentlich handelt. Hand aufs Herz. Ich denke achtzig Kopeken — das ist das äußerste.“

„Herrgott! Ist das ein Einfall! Achtzig Kopeken?“

„Nun, was denn? Meiner Ansicht nach kann man nicht mehr wie achtzig Kopeken dafür bieten.“

„Ich handle doch nicht mit alten Schuhen!“

„Sie müssen aber doch auch zugeben, daß es keine Menschen sind.“

„Ja, glauben Sie wirklich, Sie finden jemand, der Ihnen eine eingetragene Seele für zwei Groschen verkauft!“

„Nein, erlauben Sie, warum sagen Sie ‚eingetragene‘? Die Seelen sind doch schon lange tot. Was von ihnen übrig geblieben ist, ist ja doch nur ein den Sinnen unfaßbarer Schall. Übrigens, um nicht noch viel Worte drüber zu verlieren, anderthalb Rubel will ich Ihnen allenfalls geben, aber auch keinen Heller mehr.“

„Schämen Sie sich doch, von einer solchen Summe überhaupt zu reden! Seien Sie ehrlich, nennen Sie den richtigen Preis!“

„Ich kann nicht, Michael Semjonowitsch; bei meiner Ehre, ich kann nicht! Was nicht geht, das geht nicht.“ sagte Tschitschikow, bot aber aus Politik sogleich noch etwas mehr.

„Warum wollen Sie so knausern,“ sprach Sabakewitsch, „es ist wahrhaftig nicht zu teuer. Geraten Sie mal an einen andern, der wird Sie tüchtig übers Ohr hauen und Ihnen irgend einen Schund anstelle der Seelen aufhalsen. Bei mir dagegen kriegen Sie lauter auserlesene, vollkernige Exemplare, alles Handwerker und kräftige Ackerleute. Passen Sie mal auf, nehmen Sie zum Beispiel den Michejew, den Wagenbauer, der hat überhaupt nur Federwagen gebaut, und das war keine Moskauer Arbeit, die grad für eine Stunde reicht. Nein, was der machte, hatte Hand und Fuß; und dazu polsterte und lackierte er den Wagen noch selbst.“

Tschitschikow erlaubte sich den Einwand, daß Michejew denn doch schon lange nicht mehr auf der Welt sei, aber Sabakewitsch war so sehr in den Redestrom geraten, daß er sogar beredt wurde und in immer reißendere Wortgefälle gelangte.

„Und Stepan Probka, der Zimmermann? Ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß Sie keinen besseren Arbeiter finden werden. Wenn der in der Garde gedient hätte, wozu der’s noch gebracht hätte! Der war einen Meter 86 groß!“

Tschitschikow wollte wieder einwenden, daß doch auch Probka nicht mehr auf der Welt sei; aber Sabakewitsch wurde offenbar vom dem Redefluß fortgerissen. Der Wortschwall ergoß sich wie ein rauschender Gießbach, daß es eine Lust war ihm zuzuhören.

„Und dann Milaschkin, der Töpfermeister, der setzte Ihnen einen Ofen hin, wo Sie nur wollten in jedem Hause. Oder Martin Teljatnikow, der Schuster, ein Stich mit der Ahle, und er hatte ein paar Stiefel fertig; und was für Stiefel! Dabei nahm er nie einen Tropfen Schnaps in den Mund. Und Jeremej Sorokobljochin! Der ist allein soviel wert als die andern zusammen. Der war in Moskau Händler, brachte allein 500 Rubel Erbzins jährlich ein. Das sind Kerle! Nicht so ein Plunder, wie ihn euch ein Pluschkin verkaufen wird.“

„Aber erlauben Sie,“ sagte Tschitschikow endlich, betroffen von solchem Überschwang der Rede, die wie es schien, gar kein Ende nehmen wollte. „Wozu zählen Sie mir alle ihre Vorzüge auf? Jetzt hat man ja doch nichts mehr davon. Das sind doch lauter tote Leute! Mit Toten kann man höchstens Vögel scheuchen, wie das Sprichwort sagt.“

„Freilich sind sie tot,“ sagte Sabakewitsch, der erst jetzt zu sich zu kommen und sich darüber klar zu werden schien, daß es sich in der Tat um Tote handele, fuhr aber sogleich fort: „Übrigens diese sogenannten Lebenden, was sind das für Leute! Es sind Fliegen und keine Menschen.“

„Dafür sind sie doch wenigstens lebendig! Aber jene sind doch eigentlich nur ein Traum.“

„O nein, durchaus kein Traum; ich sage Ihnen solch einen Kerl wie den Michejew finden Sie nicht so leicht wieder; so ein Gestell, der geht Ihnen nicht in dies Zimmer. Nein, das ist kein Traum. Hat der Kerl eine Kraft in den Schultern gehabt, da kommt ein Pferd nicht gegen auf. Ich möchte doch wissen, ob Sie noch anderswo so einen Traum antreffen werden.“ Bei den letzten Worten wandte er sich schon nicht mehr an Tschitschikow, sondern an die die Wände zierenden Porträts Kolocotronis und Bagrations, wie das oft bei Unterhaltungen zu geschehen pflegt, wenn der eine der Mitunterredner aus einem unbekannten Grunde sich nicht an die Person wendet, an die seine Worte gerichtet sind, sondern an irgend einen zufällig hereingeschneiten Dritten, den er vielleicht garnicht kennt, und obwohl er weiß, daß er von ihm weder eine Antwort, noch eine Äußerung, noch ein Zeichen der Zustimmung zu gewärtigen hat. Und doch heftet er seinen Blick auf ihn, als rufe er ihn zum Schiedsrichter an, worauf der Unbekannte zunächst ein wenig verlegen wird und nicht recht weiß, ob er sich zu der Frage äußern soll, von der er nichts gehört hat, oder lieber zur Wahrung der Anstandsregeln noch ein wenig stehen bleiben und dann erst fortgehen soll.

„Nein, mehr als zwei Rubel kann ich nicht geben,“ sagte Tschitschikow.

„Schön, damit Sie sich nicht beklagen können, daß ich zuviel verlangt habe und Ihnen garnicht ein bißchen entgegengekommen bin, bin ich bereit, sie Ihnen für 75 Rubel das Stück — aber in Papiergeld — zu lassen. Wirklich, ich tue es nur aus Freundschaft.“

„Was fällt dem Kerl ein,“ dachte Tschitschikow; „er hält mich wohl für einen Esel!“ Und er fügte laut hinzu: „Es ist doch wirklich merkwürdig, es sieht fast so aus, als ob wir hier Theater oder Komödie spielen. Anders kann ich es mir nicht erklären! Sie machen doch den Eindruck eines klugen Mannes, der den gesamten Bildungsstoff beherrscht. Was ist denn das Objekt, um das es sich handelt. Das ist doch bloß Ppff, ein reines Nichts! Was für einen Wert hat es, wer braucht es!?!“

„Sie wollen es aber doch kaufen; also brauchen Sie es doch wohl!“ Hier biß sich Tschitschikow auf die Lippen, ohne eine Antwort finden zu können. Er murmelte etwas von Familienverhältnissen, aber Sabakewitsch erklärte bloß:

„Ich will garnichts von Ihren Verhältnissen wissen; ich mische mich nie in Familienangelegenheiten — das ist Ihre persönliche Sache. Sie brauchen Seelen, und ich biete Ihnen welche an. Sie werden es noch bereuen, daß Sie mir keine abgekauft haben.“

„Zwei Rubel,“ sagte Tschitschikow.

„Ach sind Sie ein Mensch! Der Pirol pfeift stets dasselbe Lied, wie das Sprichwort sagt: Hat sich da auf die zwei Rubel versteift und kann nun durchaus nicht wieder davon loskommen. Nennen Sie doch einen vernünftigen Preis.“

„Na, hol ihn der Teufel!“ dachte Tschitschikow, „meinetwegen, ich will ihm noch einen halben Rubel spendieren, dem Hund! damit er sich was zugute kommen lassen kann. Also gut, ich gebe Ihnen zwei Rubel fünfzig!“

„Schön, dann will ich Ihnen auch mein letztes Wort sagen: Fünfzig Rubel! Wahrhaftig. Sie kommen mir selbst teurer; billiger werden Sie sie nirgends kriegen, lauter so tüchtige Leute!“

„Ist das aber ein Geizhals!“ dachte Tschitschikow und fuhr ärgerlich fort: „Nein hören Sie mal! Sie tun wirklich so, als ob es sich hier um eine ernste Sache handelt! Jeder andere würde sie mir umsonst geben. Ich kriege sie überall gratis, weil jeder froh ist, wenn er sie los werden kann. Das müßte doch wirklich ein großer Esel sein, der sie behalten und Steuern für sie zahlen wollte.“

„Aber wissen Sie auch, daß solche Käufe — ich sage das ganz unter uns und in aller Freundschaft, nicht überall erlaubt sind; und wenn ich oder ein anderer davon erzählen wollte, so würde ein solcher Käufer jedes Vertrauen einbüßen; niemand würde einen Kontrakt mit ihm schließen wollen, und er käme in die größte Verlegenheit, wenn er seine Lage verbessern wollte.“

„Schau, schau, wo der hinaus will, der Schuft!“ dachte Tschitschikow, aber er verlor seine Geistesgegenwart nicht und erklärte mit der größten Kaltblütigkeit: „Ganz wie Sie wünschen; wenn ich Ihnen den Plunder abkaufen will, so tue ich das nicht, weil ich es nötig hätte, sondern aus einer gewissen Laune, aus einem Hang meines Charakters. Wenn Ihnen zwei Rubel fünfzig zu wenig sind, dann lassen wir es eben. Leben Sie wohl!“

„Den bringt man nicht aus der Fassung! Der gibt nicht so leicht nach!“ dachte Sabakewitsch. „Also gut, Gott mit Ihnen, geben Sie dreißig Rubel und sie gehören Ihnen.“

„Nein, ich sehe, Sie wollen sie nicht verkaufen; Leben Sie wohl.“

„Erlauben Sie, erlauben Sie,“ sagte Sabakewitsch, ohne seine Hand los zu lassen, und trat ihm dabei auf den Fuß; unser Held hatte nämlich vergessen, sich in acht zu nehmen, und mußte jetzt zur Strafe aufschreien und auf einem Fuße hüpfen.

„Bitte um Entschuldigung. Ich glaube, ich habe Sie etwas beunruhigt. Bitte setzen Sie sich doch, hierher, ich bitte.“ Er geleitete ihn zu einem Lehnstuhl und hieß ihn hier Platz nehmen. Er tat das sogar mit einiger Geschicklichkeit, wie ein Bär, der schon mit Menschen in Berührung gekommen ist, ein paar Tanzdrehungen zu machen gelernt hat und auch einige Kunststücke auszuführen weiß, wenn man zu ihm sagt: „Zeig mal, Petz, wie es die Weiber im Dampfbad machen und wie stehlen kleine Kinder Nüsse?“

„Nein, wirklich ich verliere nur unnütz Zeit. Ich muß fort, ich habe Eile!“

„Bleiben Sie doch noch ein Augenblickchen. Ich will Ihnen gleich etwas sagen, was Ihnen Freude machen wird.“ Und Sabakewitsch rückte näher an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr, wie wenn er ihm ein Geheimnis mitzuteilen hätte. „Wollen Sie eine Stange?“

„Sie wollen sagen 25 Rubel? Nein, nein, nein! noch nicht den vierten Teil. Keine Kopeke mehr.“

Sabakewitsch antwortete nichts und auch Tschitschikow wurde still. Dieses Schweigen währte etwa zwei Minuten. Fürst Bagration verfolgte von seinem Wandplatz diesen Kauf mit der größten Aufmerksamkeit.

„Also was ist Ihr höchstes Angebot?“ sagte Sabakewitsch endlich.

„Zwei Rubel fünfzig!“

„Ihnen scheint eine menschliche Seele auch nicht mehr zu gelten als eine abgebrühte Rübe. Geben Sie doch wenigstens drei Rubel!“

„Ich sehe, mit Ihnen ist nichts anzufangen.“

„Ich verkaufe mit Schaden! Aber was soll ich tun? Ich habe nun mal so ’ne Hundegutmütigkeit. Ich kann halt nicht anders, ich muß meinem Nächsten immer eine kleine Freude bereiten. Wir werden wohl einen Kaufvertrag aufsetzen müssen, damit alles seine Ordnung hat.“

„Natürlich!“

„Sehen Sie, wir werden also in die Stadt fahren müssen!“

Damit war die Sache erledigt. Man beschloß, gleich am folgenden Tage in die Stadt zu fahren, um den Kauf zum Abschluß zu bringen.

Tschitschikow bat um die Liste der Bauern. Sabakewitsch war einverstanden; er begab sich ins Büro, um die Bauernseelen aufzuschreiben, die er nicht nur alle namentlich aufzählte, sondern auch durch Aufzählung all ihrer Vorzüge charakterisierte. Unterdessen musterte Tschitschikow, da er nichts Besseres zu tun hatte, die voluminöse Silhouette seines Wirtes. Als er seinen Rücken, der so breit war wie der eines kurzstämmigen Wjatkapferdes, und seine Füße erblickte, welche große Ähnlichkeit mit ein paar Chausseepfeilern hatten, konnte er sich nicht enthalten auszurufen:

„Hat dich aber der liebe Gott verschwenderisch ausgestattet, da kann man wirklich sagen, schlecht zugeschnitten aber gut genäht, wie es im Sprichwort heißt. Bist du gleich als ein solcher Bär geboren, oder haben dich das Leben in der Wildnis, die Landwirtschaft, die Scherereien mit den Bauern dazu gemacht, daß du jetzt das geworden bist, was man einen Halsabschneider nennt; doch nein, ich glaube, du warst immer derselbe und wärst es auch geblieben, selbst wenn du in Petersburg die neueste, modernste Erziehung genossen hättest und dann erst losgegangen wärest, selbst wenn du dein ganzes Leben lang in Petersburg und nicht in der Wildnis gelebt hättest. Der ganze Unterschied besteht nur darin, daß du jetzt deinen halben Hammelrücken mit Brei nebst einem Käsekuchen von der Größe eines Suppentellers verschlingst, während du dort Kottelets mit Trüffeln zu Mittag gegessen hättest. Dafür herrschest du jetzt friedlich über deine Bauern, mit denen du so gut auskommst, und die du natürlich nicht kränkst und nicht zu kurz kommen läßt. Sind sie doch dein Eigentum, und du selbst hättest ja nur den Schaden davon, wenn du anders handeltest. Dort in der Stadt aber würdest du über Beamte herrschen, die du kräftig schuriegeln würdest, da du ja wüßtest, daß sie nicht deine Leibeigenen sind, und du tätest die Krone nach Noten plündern. Wer nun mal eine Teufelsfaust besitzt, dem glättest du sie nicht zum Sammetpfötchen. Und biegst du ihm auch einen oder zwei Finger gerade, um so mehr ist der Teufel los. Hat er erst einmal ein paar Tropfen von irgend einer Kunst oder Wissenschaft genippt und hat er sich zu einer hervorragenderen Gesellschaftsstellung emporgeschwungen, dann wehe denen, welche tatsächlich etwas von dieser Kunst und Wissenschaft verstehen; dann fällt es ihm wohl gar noch ein zu sagen, ich muß euch doch mal zeigen, wer ich bin. Und dann läßt er euch plötzlich eine so weise Verordnung vom Stapel, daß vielen Hören und Sehen vergeht. O, wenn doch alle diese Halsabschneider ...!“

„Die Liste ist fertig,“ sagte Sabakewitsch mit einer Wendung des Kopfes.

„Fertig? Bitte geben Sie sie doch einmal her!“ Er überflog sie und war erstaunt, mit welcher Genauigkeit und Pünktlichkeit sie aufgestellt war: nicht allein daß der Beruf, das Handwerk, das Alter und die Familienverhältnisse sorgfältig registriert waren, am Rande standen auch noch besondere Notizen über das Betragen, die Nüchternheit usw. des Betreffenden. Mit einem Wort, es war eine wahre Freude, die Liste anzusehen.

„Und nun bitte ich Sie um eine kleine Anzahlung,“ sagte Sabakewitsch.

„Wozu eine Anzahlung? Sie bekommen die ganze Summe in der Stadt.“

„Na, Sie wissen doch, es ist mal so Sitte,“ wandte Sabakewitsch ein.

„Ich weiß nicht, wie ich es machen soll? Ich habe leider kein Geld mitgenommen. Übrigens hier, nehmen Sie diese zehn Rubel!“

„Ach was zehn! Geben Sie wenigstens fünfzig!“

Tschitschikow machte allerhand Ausflüchte, er habe nicht soviel Geld bei sich usw.; aber Sabakewitsch erklärte so kategorisch, er habe doch welches, daß jener endlich noch einen Zettel aus der Tasche zog und sagte: „Na, meinetwegen! da haben Sie noch fünfzehn. Das macht also im ganzen fünfundzwanzig. Ich bitte jedoch um eine Quittung.“

„Wozu denn eine Quittung?!“

„Wissen Sie, es ist doch sicherer! Das Glück ist nun mal launisch! Es kann soviel passieren.“

„Gut, dann geben Sie das Geld her!“

„Warum nur? Ich halte es ja in der Hand. Schreiben Sie erst die Quittung, dann sollen Sie es sogleich haben!“

„Ja, erlauben Sie mal, wie kann ich denn quittieren? Ich muß doch zuvor das Geld gesehen haben.“

Tschitschikow ließ die Banknoten los, und Sabakewitsch griff eiligst zu. Er ging an den Tisch, und während er das Geld mit ein paar Fingern der linken Hand bedeckte, bescheinigte er mit der anderen auf einem Zettelchen, daß er fünfundzwanzig Rubel in staatlichen Banknoten für die verkauften Seelen erhalten habe. Nachdem er die Quittung ausgestellt hatte, prüfte er noch einmal das Papiergeld.

„Der eine ist ein bissel alt,“ murmelte er, während er einen der Scheine ans Licht hielt! „und auch ein bissel zerrissen und abgenutzt. Na, aber unter Freunden achtet man schließlich nicht darauf.“

„Ein Halsabschneider! Ich sagte es ja,“ dachte Tschitschikow. „Und noch ’ne Bestie dazu!“

„Können Sie nicht Seelen weiblichen Geschlechtes brauchen?“

„Nein, ich danke!“

„Ich hätte sie Ihnen billig gelassen. Aus Freundschaft für Sie, schon für einen Rubel das Stück.“

„Nein, das weibliche Geschlecht hat für mich keine Reize.“

„Freilich! Wenn dem so ist, ist jedes weitere Wort Verschwendung. Über den Geschmack läßt sich nicht streiten: Der eine liebt den Popen, der andre des Popen Frau, wie das Sprichwort sagt.“

„Ich wollte Sie noch bitten, daß diese Angelegenheit ganz unter uns bleibt,“ sprach Tschitschikow, indem er sich verabschiedete.

„Aber selbstverständlich! Einen dritten geht das doch garnichts an: was zwei nahe Freunde im Vertrauen miteinander verhandeln, muß natürlich unter ihnen bleiben. Leben Sie wohl! Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und bitte Sie, mich auch weiterhin nicht zu vergessen! Kommen Sie doch, wenn es Ihre Zeit erlaubt, wieder einmal zum Mittagessen. Dann plaudern wir ein Stündchen zusammen. Vielleicht findet sich noch einmal eine Gelegenheit, einander einen Dienst zu erweisen.“

„Nein, danke, mein Bester!“ dachte Tschitschikow, indem er in den Wagen stieg. „Hat mir zwei und einen halben Rubel für eine tote Seele abgegaunert, dieser verfluchte Leuteschinder!“

Tschitschikow war äußerst empört über Sabakewitschs Betragen. Er war doch immerhin ein Bekannter von ihm. Sie hatten sich ja schon beim Gouverneur und beim Polizeimeister gesehen, und doch hatte er ihn behandelt wie einen gänzlich Fremden und ihm Geld für irgend einen Plunder abgenommen. Als der Wagen durch das Hoftor rollte, sah er sich noch einmal um: Sabakewitsch stand noch immer auf der Treppe und schien ausspähen zu wollen, welche Richtung der Gast einschlagen werde.

„Er steht noch immer da, der Schuft!“ murmelte Tschitschikow durch die Zähne; und er befahl Seliphan, den Weg durch das Dorf zu nehmen und so zu fahren, daß man die Equipage vom Herrensitz aus nicht mehr sehen könne. Er hatte die Absicht, Pluschkin aufzusuchen, bei dem, nach Sabakewitschs Worten, die Menschen wie die Fliegen starben. Aber er wollte nicht, daß Sabakewitsch dies erführe. Als der Wagen am Ende des Dorfes war, rief er den ersten besten Bauern zu sich heran. Dieser hob gerade einen dicken Balken, der am Wege lag, auf die Schulter und wollte ihn wie eine unermüdliche Ameise nach seiner Hütte schleppen.

„Heh! Du Langbart! Wie gelangt man denn von hier zu Pluschkin, ohne an dem herrschaftlichen Wohnhause vorüber zu kommen?“

Dem Bauern schien diese Frage einige Schwierigkeiten zu bereiten.

„Na, du weißt es wohl nicht?“

„Nein, gnädiger Herr, ich weiß nicht.“

„Ach, du! Und dabei kriegt der Kerl schon graue Haare! Kennt den Geizhals Pluschkin nicht, der seine Leute verhungern läßt.“

„Ach so, der geflickte!“ rief der Bauer aus. Er ließ diesem Eigenschaftswort „der geflickte“ auch noch ein sehr treffendes Substantivum folgen, das wir jedoch unterdrücken, weil es in der Sprache der bessern Welt nur selten gebraucht wird. Übrigens wäre es nicht schwer zu erraten gewesen, daß dieser Ausdruck ein äußerst kennzeichnender war, weil Tschitschikow noch lange weiter lachte, als der Wagen schon ein beträchtliches Stück Weges zurückgelegt und die Insassen den Bauern schon längst aus den Augen verloren hatten. Es liegt eine gewaltige Kraft in der Ausdrucksweise des russischen Volkes. Wird mal einer mit einem solchen Wörtchen bedacht, so erbt es sich fort von Geschlecht zu Geschlecht; er schleppt es mit sich in den Dienst und in die Pension, bis nach Petersburg, und bis ans Ende der Welt. Mach Winkelzüge soviel und welcher Art du willst, such deinen Spitznamen zu veredeln, laß meinetwegen gedungene Schreiberseelen ihn für reichlichen Geldlohn von einem alten Fürstenadel ableiten, es hilft dir alles nichts. Dein Spitzname krächzt ohne dein Zutun aus voller Rabenkehle und verkündigt klar, woher der Vogel stammt. Ein treffend ausgesprochenes Wort ist wie ein schwarz auf weiß gedrucktes. Es läßt sich mit keiner Art herausbringen. Und wie wunderbar treffend ist alles, was aus den tiefsten Tiefen Rußlands hervordringt, wo es weder deutsche, noch finnische noch irgend welche anderen Volksstämme gibt, sondern alles ein urwüchsiges Urprodukt des lebendigen wagemutig-kecken russischen Geistes ist, der nicht lange nach dem rechten Worte sucht, der es nicht erbrütet, wie die Henne ihre Kücken, sondern es mit einem Ruck in die Welt setzt, wie einen Reisepaß für die Ewigkeit. Da brauchst du nicht erst hinzuzufügen, was du für eine Nase und was für Lippen hast, mit einem Strich bist du umrissen vom Scheitel bis zur Sohle.

Wie das fromme heilige Rußland mit einer unübersehbaren Menge von Klöstern und Kirchen mit Spitzen, Kuppeln und Kreuzen übersät ist, so stoßen und drängen, schillern und wogen unzählbare Scharen von Völkern, Geschlechtern und Stämmen auf dem Angesicht der Mutter Erde. Und jedes dieser Völker, das in sich das Unterpfand der Kraft trägt, das ausgestattet ist mit schöpferischen Geistesmächten, mit einer helleuchtenden Eigenart und anderen Gottesgaben, hat sich sein eigentümliches Gepräge gegeben, in einem selbst eigenen Worte, mit dem es in der Bezeichnung eines Objekts einen Teil seines eigensten Charakters wiederspiegelte. Herzenskenntnis und tiefe Lebensweisheit klingt uns aus dem Worte des Britanniers entgegen; leicht beschwingt und elegant blitzt auf und zerflattert das kurzlebige Wort des Franzosen; klug und schlau ersinnt sein nicht leichtfaßlich dürres Rätselwort der Deutsche; aber es gibt kein Wort, das so weit ausladend, so keck sich losringt aus den tiefsten Tiefen des Herzens, so brodelt, glüht, vibriert von innerstem Leben, wie ein treffend urwüchsiges, russisches Wort.

Sechstes Kapitel

Einst, vor langer langer Zeit, in den Tagen meiner Jugend, meiner unwiederbringlich entschwundenen Jugend, da machte es mir stets Freude, wenn ich an einem unbekannten Ort vorüberfuhr: ganz gleich, ob es ein kleines Dorf, ein armes Kreisstädtchen, ein Flecken oder eine größere Ortschaft war. Wieviel Interessantes entdeckte da nicht der neugierige Blick des Kindes! Jedes Gebäude, alles was den Stempel einer scharf ausgeprägten Eigenart an sich trug, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich und hinterließ einen tiefen Eindruck in der Seele des Knaben. Ein steinernes Haus oder ein Staatsgebäude von der bekannten Bauart, mit den vielen gemalten Fenstern, das in einsamer Höhe aus dem Haufen einstöckiger Blockhäuser der Stadtbewohner hervorragte; eine runde regelmäßige, mit weißem Eisenblech gedeckte Kuppel, die sich über der schneeweißen neuen Kirche erhob, ein Marktplatz, ein kleinstädtischer Galan, der im Städtchen umherschlenderte — nichts entging dem scharf aufmerkenden kindlichen Spürsinn — und ich steckte meine Nase aus meinem Zeltwagen heraus und betrachtete neugierig einen Rock von mir gänzlich unbekanntem Schnitt, die offenen Holzkisten mit der weithin leuchtenden Schwefelblüte, mit Nägeln, Seife und Rosinen, die mir zugleich mit allerhand Schachteln und Büchsen voll vertrockneter Moskauer Bonbons aus der Tür eines Gemüseladens entgegenschimmerten; oder ich sah mir einen vorübergehenden Infanterie-Offizier an, den irgend eine seltsame Schickung hierher in die Langeweile der Kreisstadt verschlagen hatte, oder einen Kaufmann in einem langen Rock, der auf einem Rennwagen an mir vorbeijagte — und ließ mich von meinen Gedanken weit forttragen in ihr armseliges Dasein. Ging ein Beamter des Städtchens an mir vorüber, so fing ich schon an zu träumen und zu grübeln: wo mag er wohl hingehen? Zu einer Abendgesellschaft bei einem seiner Brüder oder vielleicht nur zu sich nach Hause, um ein halbes Stündchen vor der Haustür zu sitzen, bis die Nacht sich niedersenkt und sich dann mit Frau und Mutter, der Schwägerin und der ganzen Familie an den Tisch zum frühen Abendmahl zu setzen? Und wovon würden sie wohl sprechen, wenn das Mädchen mit dem Perlenbande, oder ein Knabe in einer dicken Hausjacke nach der Suppe den unverwüstlichen Leuchter mit der Talgkerze hereinträgt? Näherte ich mich dem Dorfe irgend eines Gutsbesitzers, dann blickte ich neugierig auf den hohen, schmalen hölzernen Glockenturm oder die alte geräumige hölzerne Kirche. Wie anheimelnd blickten dann zwischen dem dichten Blätterwerk der Bäume das rote Dach und die weißen Schornsteine des Herrenhauses hindurch, und ich wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo es aus seinem Gartenverstecke heraustreten und daliegen würde mit seiner so gar nicht öden oder langweiligen Front. Und dann suchte ich wohl aus dem Äußeren zu erraten, wer der Besitzer sei, ob er dick oder dünn sei, ob er Söhne oder wohl gar ein halbes Dutzend Töchter habe, die das Haus mit ihrem hellen Mädchenlachen, ihren Mädchenspielen und Scherzen beleben, eine lustige Mädchenschar mit der unvermeidlichen Jüngsten und Schönsten; ob sie schwarzäugig seien und er selbst ein lustiger Bruder sei oder finster und mürrisch blicke, wie ein später Septembertag, beständig in sein Notizbuch und in den Kalender sehe und von nichts anderem spreche, als von dem für die Jugend, ach! so langweiligen Weizen oder Roggen.

Heute fahre ich gleichmütig an jedem fremden Dorfe vorüber und blicke gleichgültig auf seine elende Außenseite, mein erkalteter Blick fühlt sich nicht angeheimelt, nichts reizt mich mehr zum Lachen, und was früher, in vergangenen Jahren, meinem Gesicht eine Bewegung oder ein Lächeln, und dem Munde nie versiegende Reden entlockte, das huscht jetzt an mir vorbei, und teilnahmloses Schweigen schließt mir die Lippen. O meine Jugend, o meine herrliche Frische!

Während Tschitschikow in Sinnen versunken war und heimlich in sich hineinlächelte wegen des schönen Spitznamens, mit dem die Bauern Pluschkin bedacht hatten, hatte er garnicht darauf geachtet, daß der Wagen mitten durch ein großes und weitläufiges Dorf mit zahlreichen Straßen und Häusern hindurchrollte. Allein dies wurde ihm bald zum Bewußtsein gebracht durch einen recht kräftigen Stoß, der ihm von dem Knüppeldamm appliziert wurde, im Vergleich mit dem das städtische Straßenpflaster das reinste Kinderspiel war. Diese Knüppel hoben und senkten sich wie die Tasten eines Klaviers, und der Reisende, der sich nicht in acht nahm, hatte jeden Augenblick eine Beule am Hinterkopf oder einen blauen Fleck an der Stirn zu gewärtigen, oder er lief sogar Gefahr, sich eigenzähnig die Zungenspitze abzubeißen, was ja auch nicht gerade zu den größten Annehmlicheiten unseres irdischen Daseins gehört. Die Bauernhäuser machten alle einen morschen, verfallenen Eindruck. Die Balken waren wurmstichig und altersgrau. Manche Dächer glichen einem Sieb. An andern bemerkte man nichts von der Dachbekleidung außer dem Firstbalken, und darunter ein paar Latten, die sich wie die Rippen eines Skeletts ausnahmen. Wahrscheinlich hatten die Besitzer selbst die Bretter und Schindeln heruntergeholt, in der wichtigen Erwägung, daß man eine Hütte doch nicht zum Schutz gegen den Regen baut, und daß es bei heiterem Himmel ja nicht von selbst in den Eimer tropft, andererseits aber auch kein Grund vorliegt, gerade in ihr mit dem Weibe auf dem Ofen zu liegen, da ja anderswo Platz genug dazu da ist: in der Schenke, an der Landstraße — mit einem Wort, wo es dein Herz nur begehrt. Überall fehlten die Scheiben. Hie und da waren die Fensteröffnungen mit einem alten Lappen oder einem Kleidungsstück zugestopft. Die kleinen Altane unter dem Dachvorsprung mit der bekannten Brüstung, die sich aus einem unbekannten Grunde an vielen russischen Bauernhäusern finden, hatten sich gesenkt und waren nachgedunkelt, was nicht einmal einen malerischen Anblick darbot. Hinter den Hütten sah man an mehreren Stellen lange Reihen von Getreidehaufen, die offenbar schon recht lange unbenutzt dalagen: ihre Farbe glich der eines alten schlechtgebrannten Ziegelsteins. Oben auf dem Haufen wuchs allerhand Plunder und an der Seite hatten Schlingpflanzen Wurzel geschlagen. Das Getreide gehörte anscheinend dem Gutsherrn; hinter den Kornhaufen und den morschen Dächern ragten bald rechts bald links, je nach den Wendungen, die der Wagen machen mußte, zwei Dorfkirchen empor, die ihre Türme in die klare Luft reckten. Beide lagen dicht nebeneinander, die eine von Holz, die andere von Stein mit gelb angestrichenen Mauern, die große Schmutzflecken und klaffende Risse zeigten. Hie und da blickte das Haus des Gutsherrn durch, bis es schließlich frei vor den Augen dastand, wo die Häuserkette abriß und statt dessen ein freier Platz sich öffnete, der etwas wie einen Gemüse- oder Kohlgarten darstellte und von einem niedrigen, stellenweise stark mitgenommenen Zaun eingefriedigt war. Wie ein hinfälliger, altersschwacher Invalide sah dieses sich hier endlos hinstreckende Schloß aus. Stellenweise hatte es nur ein Stockwerk, stellenweise auch zwei. Auf dem dunklen Dach, das sein Alter nicht immer sicher beschützte, befanden sich gerade gegenüber zwei Aussichtstürme, beide schon altersgebeugt und verblichen, da die Farbe, die sie einstmals deckte, längst verschwunden war. Hie und da ließen die Mauern die nackten Fachwerkfelder sehen. Offenbar hatten sie schon viel unter Regengüssen, Wirbelstürmen, Ungewittern und Herbstschauern zu leiden gehabt. Nur zwei von den Fenstern waren offen; die übrigen waren mit Läden verdeckt oder sogar mit Brettern vernagelt. Die beiden offenen Fenster waren jedoch ihrerseits auch schon ein wenig erblindet und das eine mit einem blauen Papierdreieck verklebt.

Ein großer, alter Garten, der hinter dem Hause lag, sich von dort weit bis übers Dorf hinaus erstreckte und in den Feldern verlor, belebte allein, obwohl auch schon verwildert und zugewachsen, dieses große Dorf und bot in seiner malerischen Wildheit einen pittoresken Anblick dar. Wie grüne Wolken und unregelmäßige Kuppeln von zitternden Blättern ruhten im klaren Himmelsblau die verschlungenen Wipfel der Bäume, die in ungebändigter Freiheit sich üppig hatten entfalten können. Der mächtige weiße Stamm einer Riesenbirke ohne Krone, die der Sturm oder Blitz gebrochen hatte, erhob sich aus diesem grünen Dickicht und rundete sich in der Luft wie eine schlanke, schöngeformte Marmorsäule. Die schräge, scharfkantige Bruchstelle, in die sie auslief statt in ein Kapitäl, hob sich von dem schneeweißen Grund ab wie ein Hut oder ein schwarzer Vogel. Grünschimmernder Hopfen, der mit seinem dichten Geflecht Holundersträuche, Ebereschen und Haselbüsche in seinen engen Umarmungen zu ersticken versuchte, kletterte am Stamm empor und rankte sich um die halbgeborstene Birke. Auf halber Höhe ließ er sich wieder herabfallen, um sich an andere Baumwipfel zu klammern, oder er senkte seine langen Ranken in die Luft hinab, indem er seine Häkchen zu Ringen aufrollte, die im sanften Winde schaukelten. Hie und da trat das im hellen Sonnenlichte daliegende grüne Dickicht auseinander und ließ einen dunkelen schattigen Grund sehen, der wie ein finsterer Rachen aufgähnte; dieser war ganz in Schatten getaucht, man konnte mehr ahnen, als erkennen, was einem aus der dunklen Tiefe entgegenschimmerte: einen engen, schmalen Fußpfad, ein umgefallenes Geländer, eine verfallene Laube, den hohlen morschen Stamm einer Weide, silbergraues Strauchwerk, das stachelicht und dicht hinter der Weide hervorguckte, vertrocknete Blätter und Äste, die in der allgemeinen Verwilderung wirr durcheinander lagen, und endlich einen jungen Ahornschößling, der seine grünen gelappten Blätter weit ausstreckte, und deren eines ein Sonnenstrahl, der sich Gott weiß auf welche Weise bis hierher den Weg gebahnt hatte, in einen durchsichtig goldigglühenden Stern verwandelte, welcher aus der dichten Finsternis herrlich hervorleuchtete. Ganz abseits am Rande des Gartens standen einige hochgewachsene, alle andern Bäume weit überragende Espen, die ein paar mächtige Krähennester in ihren zitternden Baumkronen trugen. Hie und da ließ eine von ihnen einen gebrochenen, aber noch lose am Stamm haftenden Ast mit seinen vertrockneten Blättern traurig herabhängen. Mit einem Wort es war alles sehr schön, wie weder Natur noch Kunst es für sich allein hervorzubringen vermögen, und wie es nur dort zu gelingen pflegt, wo sich beide zu gemeinsamem Werke vereinigen, wenn die Natur noch einmal über die oft ohne Sinn und Geschmack zusammengestoppelte Schöpfung des Menschen mit ihrem Meißel drübergeht, ihr den letzten Schliff gibt, die schweren Massen belebt, ihnen etwas Leichtes, Schwebendes verleiht, die grobe handgreifliche Regelmäßigkeit und Symmetrie verwischt und die elenden Mängel und Schnitzer beseitigt, welche die nackte Absicht allzu aufdringlich zur Schau stellen, um jene wundersame Wärme über alles zu ergießen, was in der frostigen Kälte wohldurchdachter, errechneter Sauberkeit und Peinlichkeit entstand.

Nachdem der Wagen noch einige Wendungen gemacht hatte, blieb er endlich vor dem Hause selbst stehen, das jetzt fast noch düsterer und trübseliger erschien. Die Mauern und das Tor waren mit grünem Schimmel bedeckt. Im Hofe standen allerhand Gebäude: Vorratskammern, Kornspeicher, das Gesindehaus usw. dicht nebeneinander — auch sie alle gleichfalls mit den deutlichen Spuren des Alters und der Baufälligkeit; rechts und links sah man je ein Tor, das nach einem andern Hofe führte. Alles legte Zeugnis davon ab, daß hier einmal in ganz großem Maßstabe gewirtschaftet worden war, heute aber blickte alles trübe und finster. Da gab es nichts, was das traurige Bild ein wenig erheitert hätte: — keine sich auftuenden Türen, keine ein- und ausgehenden Menschen, keine lebendigen häuslichen Sorgen! Nur das Haupttor stand offen, und auch dies nur, weil ein Mann mit einem schwerbeladenen Wagen, der mit Bastmatten zugedeckt war, in den Hof fuhr; wie mit Absicht, um diesen öden toten Ort ein wenig zu beleben: zu einer andern Zeit wäre auch dieses Tor fest verschlossen gewesen, denn an der eisernen Krampe hing ein mächtiges Riesenschloß. Vor einem der Gebäude entdeckte Tschitschikow bald eine Gestalt, die sich mit dem Wagenführer zankte. Er konnte sich lange nicht darüber klar werden, welchem Geschlechte die Gestalt angehörte; ob es ein Mann oder eine Frau war. Das Kleidungsstück, das sie anhatte, war völlig undefinierbar, und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Frauenrock; dazu trug sie noch eine Kappe auf dem Kopf, wie sie die Dorfweiber zu tragen pflegen. „Wahrhaftig, ein Weibsbild!“ dachte er, er fügte aber gleich hinzu: „Nein, doch nicht!“ — „Natürlich ein Weibsbild!“ sagte er endlich, nachdem er sich die Gestalt näher angesehen hatte. Diese beobachtete ihn ihrerseits gleichfalls mit großer Aufmerksamkeit. Der Ankömmling schien für sie eine Art Weltwunder zu sein, weil sie nicht bloß ihn, sondern auch Seliphan und selbst die Pferde vom Maule bis zum Schwanze aufs gründlichste musterte. Nach dem an ihrem Gürtel hängenden Schlüsselbund und den kräftigen Schimpfworten, mit denen sie den Bauern überhäufte, urteilte Tschitschikow, daß dies wohl die Schließerin sein müsse.

„Hör mal, Mütterchen,“ sagte er, während er aus dem Wagen stieg, „was macht der Herr?“

„Ist nicht zu Hause!“ versetzte die Schließerin, ohne den Schluß der Frage abzuwarten, und sie fügte gleich hinzu, „und was wollen Sie von ihm?“

„Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit.“

„Dann treten Sie bitte ins Zimmer,“ sagte die Schließerin, indem sie die Türe öffnete, ihm den mit Mehlstaub bedeckten Rücken zuwandte und dabei ein großes Loch in ihrem Rocke sehen ließ.

Er betrat den großen dunklen Flur, aus dem ihn Grabeskälte wie aus einem Keller anwehte. Aus dem Flur gelangte er in ein dunkles Zimmer, in das nur wenig Licht aus einer breiten Spalte unter der Tür hineinfiel. Er öffnete diese Tür und befand sich endlich in hellem Tageslicht. Die Unordnung, die sich ihm überall aufdrängte, erregte sein Erstaunen. Es sah fast so aus, als ob im ganzen Hause die Dielen gewaschen würden und während dessen sämtliche Möbel in dieser Stube untergebracht worden wären. Auf einem Tische stand sogar ein zerbrochener Stuhl, daneben eine Uhr mit einem zerbrochenen Pendel, das eine Spinne bereits mit ihrem Gewebe umsponnen hatte. Hier standen auch ein seitlich an die Wand gelehnter Schrank mit altem Silbergerät und allerhand Karaffen aus chinesischem Porzellan. Auf dem Schreibpult, das mit Perlmuttermosaik ausgelegt, stellenweise seines Schmuckes entkleidet war und an seiner Stelle die mit trockenem Leim gefüllten Lücken sichtbar werden ließ, lag allerhand bunter Kram beieinander: ein Haufen eng beschriebener Zettel, auf denen ein grünlich angelaufener Briefbeschwerer von Marmor mit einem kleinen Ei als Griff ruhte, ein alter Schweinslederband mit rotem Schnitt, eine trockene ausgepreßte Zitrone, die nicht größer war als eine Walnuß, die abgebrochene Lehne eines Stuhles, ein Schnapsglas mit einer roten Flüssigkeit und drei darin schwimmenden Fliegen, das mit einem Briefbogen bedeckt war, ein Stückchen Siegellack, der Fetzen eines irgendwo aufgelesenen Lappens, zwei Schreibfedern, die mit Tinte beschmiert und ganz vertrocknet waren, wie wenn sie die Schwindsucht hätten, ein gelblicher Zahnstocher, mit dem sich sein Herr wohl noch vor der Einnahme Moskaus durch die Franzosen die Zähne gereinigt haben mochte, usw. An den Wänden hingen nahe beieinander und in recht geschmackloser Anordnung mehrere Bilder: ein schmaler Stahlstich von irgend einer Schlacht, auf dem man fürchterliche Trommeln, schreiende Soldaten mit Dreimastern auf den Köpfen und ersaufenden Pferden erblickte. Der Stich befand sich in einem Rahmen von Mahagoniholz mit schmalen Bronzeleisten und Bronzerosetten in den Ecken, jedoch ohne Deckglas. Daneben hing ein gewaltiges nachgedunkeltes Ölgemälde, das die halbe Wand einnahm, und auf dem Blumen, Früchte, eine zerschnittene Wassermelone, die Schnauze eines Wildebers und der herunterhängende Kopf einer wilden Ente abgebildet waren. Von der Mitte der Decke hing ein in einem Leinewandsack eingenähter Kronleuchter herab, der so dicht mit Staub bedeckt war, daß er dem Kokon eines Seidenwurmes glich. In einem Winkel des Zimmers lag ein Haufen alter Sachen; dies waren gewissermaßen die gröberen Gegenstände, die nicht gewürdigt wurden, auf dem Tisch zu liegen. Was das eigentlich für Sachen waren — das ließ sich nicht leicht angeben; denn es lastete eine so dicke Staubschicht auf ihnen, daß jede Hand, die sie berührte, große Ähnlichkeit mit einem Handschuh bekam; die einzigen Objekte, die sich mit einiger Deutlichkeit von dem Schutthaufen abhoben, waren: ein Stück von einer zerbrochenen hölzernen Schaufel und eine alte Schuhsohle. Kein Mensch hätte geglaubt, daß dies Zimmer von einem lebenden Wesen bewohnt werde, wenn nicht eine alte abgetragene Kappe, die auf dem Tische lag, davon Zeugnis abgelegt hätte. Während unser Held noch in die Betrachtung dieser merkwürdigen Zimmerausstattung versunken war, öffnete sich eine Seitentür, und dieselbe Schließerin, die er auf dem Hofe getroffen hatte, trat herein. Jetzt aber sah er, daß dies eher ein Schließer, als eine Schließerin war: wenigstens pflegte sich eine Schließerin gewöhnlich nicht den Bart zu rasieren, dieser Mensch aber tat es und zwar, wie es schien, recht selten, denn sein Kinn und die untere Partie seines Gesichts glich einem Striegel aus Eisendraht, mit dem man die Pferde im Stalle zu putzen pflegt. Tschitschikows Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an; er wartete mit Ungeduld darauf, was ihm der Schließer sagen würde. Dieser schien jedoch seinerseits wiederum auf Tschitschikows Anrede zu warten. Endlich entschloß sich der letztere, dem diese beiderseitige Unentschlossenheit recht peinlich wurde, zu der Frage:

„Nun, was macht dein Herr? Ist er zu Hause?“

„Der Hausherr ist hier!“ antwortete der Schließer.

„Wo denn nur?“ wiederholte Tschitschikow.

„Sie sind wohl blind, Väterchen? Was?“ versetzte der Schließer. „Herrjeh! Ich bin doch der Herr des Hauses!“

Hier wich unser Held unwillkürlich ein wenig zurück und sah jenen starr an. Er hatte in seinem Leben mancherlei Leute kennen gelernt, selbst solche wie wir, lieber Leser, sie wohl nie zu sehen bekommen. Aber einem ähnlichen Wesen war er noch nie begegnet. An seinem Gesichte war nichts Besonderes zu bemerken. Es unterschied sich kaum von dem der meisten hagern alten Leute; nur das Kinn sprang etwas weit vor, und er mußte es immer mit einem Taschentuch bedecken, um es nicht mit seinem Speichel zu befeuchten. Die kleinen Äuglein waren noch nicht erloschen und bewegten sich unter den buschigen Augenbrauen hin und her wie zwei Mäuschen, wenn sie die zierlichen Schnäuzchen aus dem finsteren Loche stecken, die Ohren spitzen, mit ihren feinen Schnurrbarthärchen spielend, hinauslugen, ob nicht irgendwo ein Kater oder ein mutwilliger Knabe versteckt liegt und argwöhnisch in der Luft herumschnüffeln. Das Kostüm war noch interessanter. Es wäre eine vergebliche Bemühung gewesen, herauskriegen zu wollen, woraus sein Schlafrock eigentlich zusammengeflickt war: die Ärmel und die Kragenschöße waren so schmutzig und glänzend, daß sie dem Juchtenleder glichen, aus dem man Stiefel macht; hinten baumelten ihm statt zweier vier Rockschöße hinunter, aus denen das Futter sich in Knäueln ans Tageslicht drängte. Um den Hals hatte er auch ein undefinierbares Etwas geschlungen, von dem man nicht sagen konnte, ob es ein alter Strumpf, eine Leibbinde oder eine Bandage war. Ein Halstuch war es jedenfalls nicht. Mit einem Wort, hätte ihn Tschitschikow in diesem Aufzug vor irgend einer Kirche getroffen, er hätte ihm sicherlich einen Kupfergroschen gereicht; denn, zur Ehre unseres Helden sei es gesagt, er hatte ein sehr mitleidiges Herz und konnte sich niemals enthalten, einem armen Mann eine Kupfermünze zu reichen. Aber der Mensch, der vor ihm stand, war kein Bettler, sondern ein vornehmer Gutsherr. Und dieser Gutsherr besaß mehr als tausend Seelen, ja man hätte lange nach einem zweiten suchen können, der soviel Getreide, Mehl und Ackerfrüchte in seinen Speichern barg, dessen Vorratskammern, Scheuern und Tennen gleich vollgepfropft waren mit Tuch und Leinewand, rohen und gegerbten Schafsfellen, getrockneten Fischen, mancherlei Gemüsearten und Früchten. Man brauchte bloß einen Blick in seinen Hof zu werfen, wo Holz aller Art und allerhand Geschirr aufgestapelt lagen, welches nie verwendet wurde — und man hätte sich auf den Moskauer Holzmarkt versetzt geglaubt, wo sich täglich die geschäftigen Schwiegermütter und Basen versammeln, begleitet von ihren Köchinnen, um ihre Einkäufe zu machen, und wo uns ganze Berge von geschnitztem, gedrechseltem, geflochtenem und verzahntem Holze entgegenschimmern: Fässer, Bottiche, Teereimer, Kannen mit und ohne Maul, Wannen, Körbe, Hechelbretter, durch welche die Frauen ihren Flachs und anderes Zeug ziehen, Kästchen aus dünnem, gebogenem Espenholz, Körbchen aus geflochtener Birkenrinde und noch vieles, vieles andere zum Bedarf des reichen und armen Russenlandes. Man hätte meinen sollen, wozu brauchte Pluschkin eine solche Unmenge verschiedenartigster Erzeugnisse? Selbst zwei so große Güter, wie das seine, hätten mehrere Menschenalter lang keine Verwendung für sie gefunden. Ihm aber war auch das noch nicht genug. Unzufrieden ging er alltäglich durch die Straßen seiner Dörfer und blickte unter Brücken und Stege und alles, was ihm in den Weg kam: eine alte Schuhsohle, irgend ein Fetzen eines alten Kleiderstücks, ein eiserner Nagel, eine Dachziegelscherbe — alles trug er mit sich fort und warf es auf jenen Haufen, den Tschitschikow in dem Winkel des Zimmers bemerkt hatte. „Da geht unser Fischer wieder auf die Jagd,“ pflegten die Bauern zu sagen, wenn sie ihn beutelüstern nach allen Seiten ausspähen sahen. Und in der Tat: die Straße brauchte man hinter ihm nicht mehr zu fegen; hatte ein vorüberfahrender Offizier einen seiner Sporen verloren — eh man sich’s versah, lag sie auf dem Haufen; hatte ein Weib in ihrer Blödigkeit einen Eimer am Brunnen stehen lassen, — flugs schleppte er auch schon den Eimer mit sich fort. Übrigens, wenn ein Bauer ihn dabei ertappte, dann widersetzte er sich nicht lange und lieferte den geraubten Gegenstand gutwillig wieder aus; aber lag dieser einmal im Haufen, dann war alles vorbei: er schwur und rief Gott zum Zeugen an, daß er das Ding dann und dann, und da und da gekauft, oder wohl gar von seinem Großvater geerbt habe. War er bei sich zu Hause, dann hob er alles auf, was auf dem Fußboden lag: ein Stückchen Siegellack, einen Papierfetzen, eine Feder, und legte alles auf das Schreibpult oder auf die Fensterbank.

Und doch gab es eine Zeit, wo er nur ein sparsamer Hausherr gewesen war! Auch er war einst ein braver Ehemann und Familienvater, und seine Nachbarn besuchten ihn, um bei ihm zu Mittag zu speisen, die Kunst des Haushalts und weise Sparsamkeit von ihm zu lernen. Damals floß das ganze Leben noch rasch und wohlgeordnet dahin: die Mühlen und Walzen klapperten lustig, die Tuchfabriken, die Drechselbänke und Webstühle arbeiteten unermüdlich; in alle Ecken und Winkel des geräumigen Landgutes drang das scharfblickende Auge des Herrn und glitt wie eine fleißige Spinne besorgt und geschäftig von einem Ende des Wirtschaftsnetzes zum andern. In seinem Antlitz spiegelten sich freilich niemals allzu starke Leidenschaften und Gefühle, aber aus seinem Auge blitzte ein heller Verstand, aus seinen Reden sprachen Erfahrung und Weltkenntnis, und seine Gäste hörten ihm gerne zu; die liebenswürdige redselige Hausfrau war berühmt wegen ihrer Gastfreundschaft; zwei liebliche Töchter begrüßten den Ankömmling, beide blond und frisch, wie junge Rosen, der Sohn, ein lebhafter, munterer Junge kam ihm entgegengesprungen, und küßte den Gast, ohne viel danach zu fragen ob es diesem angenehm war, oder nicht. Alle Fenster im Hause standen offen. Im Zwischenstock wohnte der französische Gouverneur, welcher stets gut rasiert war und für einen glänzenden Schützen galt: jeden Tag brachte er ein Birkhuhn oder ein paar Enten, oder zuweilen gar einige Sperlingseier zum Mittagessen mit, aus denen er sich einen Eierkuchen backen ließ, den außer ihm kein Mensch im ganzen Hause aß. Im selben Stock wohnte auch eine Landsmännin von ihm, die Gouvernante der beiden Mädchen. Der Hausherr selbst erschien immer in einem schwarzen Rock, der zwar schon ein wenig abgetragen, aber stets ordentlich und sauber war, zu Tische; die Ellenbogen waren noch nicht durchgerieben, und er war auch noch nicht geflickt. Aber die gute Hausfrau starb, und ein Teil der Schlüssel und der kleinen Sorgen fielen von nun ab ihm zu. Pluschkin wurde unruhig, geizig und argwöhnisch, wie alle Witwer. Auf seine älteste Tochter Alexandra Stepanowna wollte er sich nicht in allem verlassen, und darin hatte er recht, denn Alexandra Stepanowna lief bald darauf mit einem Stabsrittmeister irgend eines Kavallerieregiments davon und ließ sich in aller Eile in einer Dorfkirche mit ihm trauen, da sie wußte, daß der Vater die Offiziere nicht leiden konnte: er hatte nämlich das merkwürdige Vorurteil, sie seien alle Spieler und Verschwender. Der Vater sandte ihr seinen Fluch nach, aber es fiel ihm nicht ein, ihr nachzureisen und sie zurückzuholen. Das Haus wurde von nun ab noch leerer und öder. Der Geiz des Besitzers trat immer offener zutage; die ersten grauen Haare, die bei ihm aufblitzten, die treuen Begleiter der Habsucht, begünstigten noch ihre Entwickelung. Der französische Hauslehrer erhielt seinen Abschied, weil der Sohn in den Staatsdienst treten sollte; Madame wurde weggejagt, weil sie nicht ganz unbeteiligt an der Entführung Alexandra Stepanownas war. Der Sohn, den der Vater in die Provinzhauptstadt geschickt hatte, um ihn hier den Staatsdienst gründlich kennen lernen zu lassen — nämlich wie der Vater ihn verstand — trat in ein Regiment ein, und schrieb dem Vater einen Brief, in dem er ihn — bereits nachdem er Offizier geworden war — um Geld für die Uniformierung bat; natürlich erhielt er hierauf nur das, was man im Volke eine Nase zu nennen pflegt. Schließlich starb auch noch die letzte Tochter, die bei Pljuschkin im Hause lebte, und der Alte blieb mutterseelenallein auf dieser Welt zurück als Hüter, Wächter und alleiniger Besitzer all seiner Reichtümer. Das einsame Leben gab der Habsucht neue, reiche Nahrung, denn der Geiz hat bekanntlich einen rechten Wolfshunger und wird nur um so unersättlicher, je mehr er verschlingt: die menschlichen Regungen, die ja ohnedies nicht allzutief in ihm wurzelten, wurden beinahe stündlich leichter und flacher, und jeder Tag bröckelte von dieser verfallenen Ruine noch ein weiteres Stückchen ab. In solch einem Augenblicke geschah es, daß der Sohn, wie absichtlich, um die schlechte Meinung des Vaters vom Offiziersstand noch zu bestätigen, sein ganzes Vermögen im Kartenspiele verlor; da sandte ihm Pljuschkin seinen aufrichtigen väterlichen Fluch, und von da ab kümmerte er sich überhaupt nicht um ihn, und interessierte sich nicht mehr dafür, ob er noch auf der Welt sei oder nicht. Jedes Jahr wurde ein neues Fenster im Gutshause verschlossen oder zugenagelt, bis schließlich nur noch zwei übrig blieben, von denen eins, wie der Leser schon gehört hat, mit Papier verklebt wurde; jedes Jahr verlor er ein neues richtiges Stück von seinem Haushalt aus dem Auge, und sein enger Blick wandte sich immer mehr allerhand Zettelchen und Federchen zu, die er in seinem Zimmer vom Fußboden auflas; er wurde immer unzugänglicher und unnachgiebiger gegen die Käufer, welche angereist kamen, um ihm etwas von seinen landwirtschaftlichen Produkten abzukaufen; sie handelten und feilschten mit ihm, gaben ihn endlich ganz auf und erklärten, dies sei ein Teufel und kein Mensch; sein Heu und sein Korn verfaulten, seine Vorräte und Heuschober verwandelten sich in reinen Dünger, es fehlte bloß, daß man auf ihnen Kohl pflanzte; das Mehl in den Kellerräumen wurde hart wie Stein, so daß man es mit dem Hammer zerklopfen mußte; die Leinwand, die Wolle und die zu Hause gewebten Stoffe durfte man gar nicht berühren, wenn sie sich nicht in Staub auflösen sollten. Pljuschkin wußte selbst nicht mehr recht, was er alles besaß; das einzige, dessen er sich noch erinnerte, war: ein Regal im Schrank, — wo eine Karaffe mit irgend einem Likörrest stand, auf der er ein Zeichen eingeritzt hatte, damit sich nur niemand etwas vom Inhalt aneigne, — und ein Platz, wo eine Feder oder ein Stückchen Siegellack lag. Die Einkünfte aber liefen ein wie früher! Der Bauer mußte nach wie vor seinen Zins bezahlen, die Weiber hatten noch immer dieselbe Ration Nüsse abzuliefern, die Weberin war noch immer verpflichtet, eine bestimmte Menge ihres Ertrages an Gewebe dem Herrn abzugeben. Das wurde alles in den Vorratskammern aufgespeichert, wo es verfaulte und sich in Schutt verwandelte, und auch er wurde schließlich zu einem menschlichen Schutthaufen. Alexandra Stepanowna besuchte ihn ein paar Male mit ihrem kleinen Söhnchen, in der Hoffnung, etwas von ihm herauszubekommen; das Nomadenleben mit dem Stabsrittmeister war offenbar doch nicht so reizvoll, wie es ihr vor der Hochzeit erschienen war. Pljuschkin verzieh ihr und schenkte dem kleinen Enkel sogar einen Knopf zum Spielen, der gerade auf dem Tische lag, aber mit Geld wollte er nicht herausrücken. Ein andres Mal kam Alexandra Stepanowna mit zwei Kindern angefahren und brachte ihm einen Stollen zum Tee mit, sowie einen neuen Schlafrock, weil der Vater einen solchen Schlafrock trug, daß es nicht nur peinlich, sondern geradezu eine Schande war, ihn anzusehn. Pljuschkin liebkoste und streichelte beide Enkelkinder, setzte einen auf sein rechtes und den andern auf sein linkes Knie, und ließ sie auf- und niederhopsen, wie wenn sie auf einem Pferde säßen; den Stollen und den Schlafrock nahm er dankbar an, ohne jedoch der Tochter ein Gegengeschenk zu machen, so daß Alexandra Stepanowna unverrichteter Sache zurückkehren mußte.

So also war der Mann, der jetzt vor Tschitschikow stand! Man muß zugeben, daß solche Gestalten einem in Rußland nicht allzuoft begegnen, wo sich der Mensch eher auszubreiten und zu entfalten, als zusammenzuziehen und zu konzentrieren liebt, und eine solche Erscheinung setzt einen um so mehr in Erstaunen, als man gleich daneben in der nächsten Nachbarschaft einen Gutsbesitzer treffen kann, der sein Leben mit jenem breit ausladenden Elan genießt, und sein Hab und Gut mit jener vornehmen Großartigkeit bis auf den letzten Heller verschwendet, die den Russen nun einmal auszeichnen. Ein Reisender, der noch nicht viel von der Welt gesehen hat, würde beim Anblick eines solchen Herrensitzes stutzig werden und sich fragen, wie es nur möglich sei, daß ein so mächtiger Prinz mitten unter diese kleinen unscheinbaren Bauern geraten sei: schier wie Paläste ragen seine weißschimmernden steinernen Häuser, mit ihren zahlreichen Schornsteinen, Aussichtstürmen und Seitenflügeln, die von einer ganzen Schar von Nebengelassen und Wohnräumen für die Besucher und Gäste umgeben sind. Was gibt es da nicht alles! Theater, Bälle, Maskenfeste, die ganze Nacht hindurch liegt der feenhaft illuminierte Garten im bunten Laternenglanze da, und rauschende Musik erfüllt die Luft. Die halbe Provinz lustwandelt in reichem Festtagsputze unter den Bäumen, niemand merkt und empfindet etwas von der wilden drohenden Disharmonie dieser gewaltsamen Helligkeit, wenn aus dem Baumdickicht von falschem Lichte beleuchtet sich plötzlich ein Ast theatralisch hervorstreckt; kahl ragen seine des lichten Blätterschmucks beraubten Arme in die Lüfte, hoch oben über allem breitet sich noch ernster fast und dunkler und furchtbarer als sonst, der nächtliche Himmel, und tief hinein in ewige Finsternis flüchten die rauhen Wipfel der Bäume und grollen ob des Flitterglanzes, der ihre Wurzeln bestrahlt.

Schon mehrere Minuten stand Pljuschkin schweigend da, ohne ein Wort zu sagen; auch Tschitschikow wollte es nicht gelingen, ein Gespräch einzuleiten, da er durch den Anblick seines Wirtes und der ganzen seltsamen Umgebung immer wieder von seinem Vorhaben abgelenkt wurde. Es wollte ihm lange nichts einfallen, mit welchen Worten er seinen Besuch motivieren sollte. Es kam ihm schon der Gedanke, etwa folgendes zu sagen: da er von den Tugenden und den ausgezeichneten Charaktereigenschaften Pljuschkins gehört habe, habe er es für seine Pflicht gehalten, ihm persönlich einen Beweis seiner Achtung zu geben; aber er besann sich noch zur rechten Zeit und sagte sich, daß das denn doch zu weit gegangen wäre. Er warf noch einen verstohlenen Blick auf die ganze Zimmereinrichtung, und hatte die Empfindung, daß die Worte Tugend und seltene Charaktereigenschaften mit Erfolg durch die Worte Sparsamkeit und Ordnungsliebe ersetzt werden könnten; so verbesserte er denn seine Rede in dem angegebenen Sinne, und sagte: da er von der Sparsamkeit und der vortrefflichen Verwaltung der Pljuschkinschen Güter gehört habe, habe er es für seine Pflicht gehalten, ihn näher kennen zu lernen und ihm persönlich den Ausdruck seiner Hochachtung zu Füßen zu legen. Es wäre selbstverständlich möglich gewesen noch einen anderen besseren Grund anzuführen, aber es wollte ihm, wie gesagt, durchaus nichts Hübscheres einfallen.

Pljuschkin murmelte etwas, wobei er nur die Lippen bewegte, — denn er hatte keine Zähne mehr —; was er eigentlich sagen wollte, läßt sich nicht mit Bestimmtheit angeben, wahrscheinlich aber hatten seine Worte etwa folgenden Sinn: „Wenn du doch zum Teufel gingest, mit deiner Hochachtung!“ Aber da bei uns die Gastfreundschaft für eine der ersten Pflichten und Tugenden gehalten wird, sodaß selbst der Geizhals ihre Gesetze nicht ungestraft übertreten darf, so fügte er etwas deutlicher hinzu: „Bitte nehmen Sie gefälligst Platz!“

„Es ist schon sehr lange her, daß ich keine Gäste mehr empfangen habe,“ sagte er, „wenn ich offen sein soll, kommt auch wenig dabei heraus. Da haben die Leute die höchst überflüssige und unsinnige Mode eingeführt, sich gegenseitig Besuche zu machen — und dann wundert man sich noch, daß zu Hause alles drunter und drüber geht ... dazu muß man auch noch immer Heu für die Pferde bereit halten! Ich habe schon längst zu Mittag gespeist, meine Küche ist auch so niedrig und häßlich, und der Schornstein ist ganz eingefallen: ich darf den Herd gar nicht anheizen, damit es kein Schadenfeuer gibt.“

„Steht es so!“ dachte Tschitschikow, „gut, daß ich bei Sabakewitsch ein Stück Quarkkuchen und einen Happen Lammfilet gegessen habe!“

„Denken Sie bloß, was für ein Pech! Wenn ich nur einen Büschel Heu im Hause hätte!“ fuhr Pljuschkin fort. „Und in der Tat, woher soll man es bloß nehmen? Ich habe nur wenig Land, der Bauer ist faul, liebt nicht zu arbeiten und denkt nur immer an die Schenke ... man muß sich in acht nehmen, daß man auf seine alten Tage nicht noch betteln gehen muß!“

„Man hat mir aber doch gesagt,“ wandte hier Tschitschikow bescheiden ein, „daß Sie mehr als tausend Seelen haben!“

„Wer hat Ihnen das gesagt, Sie hätten dem Kerle ins Gesicht spucken sollen, der solche Gerüchte verbreitet, Väterchen! Das ist wohl ein Spaßvogel, der sich über Sie lustig machen wollte. Da sagt man: tausend Seelen, aber wenn man nachrechnet, dann bleibt nicht viel übrig! Im vergangenen Jahr sind mir durch das verdammte Fieber ein ganzes Schock Bauern weggestorben.“

„Wahrhaftig? Sind es wirklich so viele,“ rief Tschitschikow teilnehmend aus.

„O ja, sehr viele!“

„Und darf ich fragen, wie viele?“

„An die achtzig Mann!“

„In der Tat?“

„Ich lüge nicht, Väterchen!“

„Und darf ich mir noch eine Frage erlauben? Diese Zahl bezieht sich doch auf die ganze Zeit nach der letzten Revision?“

„Das wäre ja noch gut!“ sagte Pljuschkin, „so gerechnet sind es noch viel mehr: etwa hundert und zwanzig Seelen!“

„Wirklich? Ganze hundert und zwanzig?“ rief Tschitschikow aus und riß sogar den Mund vor Verwunderung auf.

„Ich bin schon zu alt, um noch zu lügen, Väterchen: ich bin schon über die sechzig hinaus!“ sprach Pljuschkin, der sich durch Tschitschikows beinahe freudigen Ausruf gekränkt zu fühlen schien. Tschitschikow sah ein, daß eine solche Kälte und Teilnahmslosigkeit gegen fremdes Leid in der Tat nicht schön sei, daher stieß er schnell noch einen Seufzer aus und äußerte sein Bedauern.

„Ihr Bedauern nützt mir leider nichts! Ich kann es doch nicht in den Beutel stecken!“ sagte Pljuschkin. „Sehen Sie, da wohnt neben mir ein Hauptmann. Weiß der Teufel, wie der hier hereingeschneit ist. Will ein Verwandter von mir sein: das geht immer Onkelchen hin, Onkelchen her, und dabei küßt er mir stets die Hand; wenn der anfängt einem seine Teilnahme zu äußern, dann erhebt er ein wahres Geheul, daß man sich rein die Ohren zuhalten möchte. Der Mann hat ein ganz blaurotes Gesicht, er liebt wohl die Branntweinflasche zu sehr. Wird sein Geld beim Regiment durchgebracht haben, oder irgend eine Schauspielerin hat es ihm aus der Tasche gelockt. Das wird der Grund sein, warum er so mitleidig ist!“

Tschitschikow versuchte ihm zu erklären, daß seine Teilnahme ganz anderer Art als die des Hauptmanns, und daß er bereit sei, sie nicht allein mit Worten sondern auch durch die Tat zu beweisen; er schob daher die Sache nicht länger auf und erklärte ohne alle Umschweife seine Bereitwilligkeit, die schwere Pflicht der Steuerzahlung für sämtliche Bauern, die durch einen so unglücklichen Zufall hinweggerafft worden wären, auf sich nehmen zu wollen. Dieses Angebot brachte Pljuschkin anscheinend völlig aus der Fassung. Seine Augen quollen hervor und starrten ihr Gegenüber lange Zeit unverwandt an. Endlich sagte er: „Waren Sie etwa beim Militär?“

„Nein!“ antwortete Tschitschikow schlau ausweichend, „ich war nur im Zivildienst tätig.“

„Im Zivildienst!“ wiederholte Pljuschkin und kaute dabei an seinen Lippen, wie wenn er einen Bissen im Munde hätte. „Ja, wie denn nur? Das wäre ja doch nur zu Ihrem eigenen Schaden.“

„Ihnen zu Gefallen würde ich selbst diesen Schaden auf mich nehmen.“

„Ach, Väterchen! Ach, du mein Wohltäter!“ rief Pljuschkin aus, ohne in seiner Freude zu merken, daß ihm ein Stückchen Schnupftabak wie dicker Kaffeesatz aus der Nase quoll, was keinen gerade malerischen Anblick bot, und daß die zurückgeschlagenen Schöße seines Schlafrockes die Unterkleidung sehen ließen, welche auch nicht appetitlich anzuschauen war. „Sie tun ein gutes Werk an einem armen Greise! O, du mein Gott, du mein Heiland!“ Mehr brachte Pljuschkin nicht heraus. Aber es verging keine Minute, als die Freude, die so plötzlich in den erstarrten Zügen aufgeleuchtet war, ebenso schnell wieder verlosch, ohne eine Spur zu hinterlassen, und sein Gesicht nahm wieder den alten besorgten Ausdruck an. Er wischte es sich sogar mit dem Taschentuch ab, ballte es zu einem Klumpen zusammen und rieb sich damit die Oberlippe.

„Wollen Sie denn wirklich — ich möchte Sie unter keinen Umständen erzürnen — mit Verlaub zu sagen, jedes Jahr diese Steuern bezahlen? Und soll ich oder die Krone das Geld erhalten?“

„Wissen Sie was? das machen wir einfach so: wir schließen einen Kaufkontrakt miteinander ab, als ob sie noch am Leben wären und Sie sie mir verkauft hätten.“

„Ja, einen Kaufkontrakt ...“ sagte Pljuschkin, wurde ein wenig nachdenklich und begann wieder an seinen Lippen zu kauen. „Sie sagen, einen Kaufkontrakt — das macht wieder neue Unkosten! Die Beamten beim Gericht sind so unverschämt! Früher waren sie schon mit einem halben Rubel in Kupfer und einem Sack Mehl dazu abzufinden. Jetzt aber verlangen sie gleich eine ganze Fuhre Gerste und noch einen roten Lappen als Zugabe. So geldgierig sind sie heutzutage. Ich begreife garnicht, daß das niemand an die Öffentlichkeit bringt. Wenn man ihnen doch wenigstens eine Moralpredigt halten wollte. Mit einem guten Wort kann man schließlich jeden breitschlagen. Man mag sagen, was man will: einer tüchtigen Moralpredigt widersteht niemand!“

„Na na, du würdest ihr gewiß widerstehen,“ dachte Tschitschikow; aber er fügte gleich darauf laut hinzu, daß er aus persönlicher Hochachtung für ihn bereit sei, auch die Kosten des Kaufvertrags auf sich zu nehmen.

Als Pljuschkin hörte, daß sein Gast sogar die Spesen des Kaufvertrages zu übernehmen gedenke, schloß er hieraus, daß er ein vollendeter Narr sein müsse, und sich bloß so anstelle, als ob er im Zivildienst gewesen sei, in Wahrheit aber bei irgend einem Regiment gedient und sich mit Schauspielerinnen herumgetrieben habe. Bei alledem vermochte er es jedoch nicht, seine Freude zu unterdrücken und überhäufte den Gast mit allerhand Segenswünschen für ihn selbst und seine Kinder, ohne sich übrigens erkundigt zu haben, ob er auch welche besitze. Dann trat er ans Fenster, trommelte mit den Fingern gegen die Glasscheibe und rief: „Heh! Proschka!“ Gleich darauf hörte man, wie jemand atemlos über den Flur rannte, sich dort geräuschvoll hin und her bewegte und mit den Stiefeln aufstampfte. Endlich tat sich die Türe auf und Proschka, ein dreizehnjähriger Junge, trat herein. Er hatte so weite Wasserstiefel an, daß er sie beinahe bei jedem Schritte verlor. Warum Proschka eigentlich so große Stiefel anhatte, soll der Leser sofort erfahren. Pljuschkin besaß für seine sämtlichen Dienstboten nur ein Paar Stiefel, die immer im Vorzimmer stehen mußten. Ein jeder, der in die herrschaftlichen Gemächer beordert wurde, mußte erst quer über den ganzen Hof einen Tanz ausführen, bis er den Flur erreicht hatte, wo er die Stiefel anzog, um in diesem Aufzuge ins Zimmer zu treten. Beim Verlassen des Zimmers entledigte er sich im Flure wiederum seiner Fußbekleidung und trat den Rückweg auf seinen höchsteigenen Sohlen an. Wenn jemand zur Herbstzeit und besonders des Morgens, wenn schon der erste Reif gefallen war, aus dem Fenster geblickt hätte, so hätte er sich des schönen Anblicks erfreuen können, was für prächtige Sprünge Pljuschkins Diener vollführten.

„Sehen Sie nun diese Visage, Väterchen,“ sagte Pljuschkin zu Tschitschikow, indem er mit dem Finger auf Proschka zeigte. „Der Kerl ist so dumm wie ein Holzklotz. Aber lassen Sie bloß etwas liegen, schwupp, hat er es schon weggegrapst. Na, was willst du hier, du Esel? Ja, was denn nur?“ Hier machte er eine kleine Pause, während der Proschka gleichfalls keinen Laut von sich gab. „Stell den Samowar auf! Hörst du? Hier hast du den Schlüssel! Gib ihn der Mawra und sag ihr, sie soll in die Speisekammer gehen. Da liegt auf dem Regal noch ein Zwieback von Ostern her, Alexandra Stepanowna hat ihn mir mitgebracht; den soll sie zum Tee servieren ... Wart, wo willst du hin, dummer Kerl? Bist du ein Schafskopf! Dir sitzt wohl der Teufel in den Fersen. Hör mich doch erst an! Der Zwieback ist oben nicht mehr ganz frisch. Sie soll ihn ein bissel mit dem Messer abschaben; aber daß sie mir die Krumen nicht wegwirft! Die müssen für die Hühner übrig bleiben. Und daß du mir nicht mit ins Speisezimmer gehst: sonst gibt’s was mit der Birkenrute, verstehst du? daß du Geschmack daran bekommst. Du hast ja jetzt schon so einen guten Appetit. Den wollen wir noch ordentlich vermehren. Geh mir nur ins Speisezimmer! Ich werde schon auf deine Schliche kommen, hier vom Fenster aus. Man kann den Kerlen in nichts trauen,“ fuhr er fort, indem er sich an Tschitschikow wandte, als Proschka mit seinen Siebenmeilenstiefeln bereits in der Türe verschwunden war. Hierbei warf er einen argwöhnischen Blick auf Tschitschikow. Dieser Zug einer geradezu unerhörten Großmut und Großherzigkeit kam ihm unwahrscheinlich und verdächtig vor, und er dachte sich: „Weiß der Teufel, vielleicht ist er auch nur so ein Prahlhans, wie alle diese Prasser und Verschwender! Lügt einem was vor, um ein Stündchen zu verplaudern und ein paar Tassen Tee zu trinken und macht dann, daß er fortkommt!“ Er sagte daher teils aus Vorsicht, teils um dem Gast ein wenig auf den Zahn zu fühlen, daß es nicht übel wäre, den Kaufvertrag so bald als möglich abzuschließen, denn der Mensch sei ein gar unzuverlässiges und gebrechliches Ding: heute rot, morgen tot.

Tschitschikow erklärte sich bereit, den Kontrakt auf Wunsch sofort zu unterschreiben und bat nur um ein Verzeichnis sämtlicher Bauern.

Dies beruhigte Pljuschkin. Man merkte es ihm an, daß er irgend einen Plan überdachte, und in der Tat zog er jetzt den Schlüsselbund hervor, näherte sich dem Schrank, öffnete ihn, suchte lange unter den Gläsern und Schalen herum und rief schließlich aus: „Jetzt kann ich ihn nicht finden; ich hatte da doch einen feinen Likör; wenn die Bande ihn nur nicht wieder ausgetrunken hat! Diese Leute sind die reinsten Banditen. Ah da ist er schon?“ Tschitschikow bemerkte in seinen Händen eine kleine Karaffe, die in einer Staubhülle steckte wie in einem Trikothemd. „Der stammt noch von meiner seligen Frau her,“ fuhr Pljuschkin fort, „die Schließerin, diese Spitzbübin hat ihn hier stehen lassen und sich überhaupt nicht mehr um ihn gekümmert, nicht einmal zugekorkt hat sie ihn, die Kanaille! Weiß Gott was für Würmer und Fliegen und sonstiger Plunder drin herum schwammen, aber ich habe alles herausgefischt, jetzt ist er wieder ganz rein, ich will Ihnen doch ein Gläschen einschenken.“

Aber Tschitschikow lehnte dies Anerbieten mit einigem Eifer ab und bemerkte, daß er schon gegessen und getrunken habe.

„Schon gegessen und getrunken!“ sagte Pljuschkin. „Freilich, freilich. Einen Mann von gutem Stande erkennt man doch auf den ersten Blick: er hat keinen Hunger und ist immer satt, so einen Schwindler kann man füttern, soviel man will .... Da ist z. B. der Hauptmann: wenn der angefahren kommt, dann heißt es gleich: ‚Onkelchen, haben Sie nicht etwas zu essen?‘ Dabei bin ich ebensowenig sein Onkel, wie er mein Großvater ist. Wahrscheinlich hat er selbst zu Hause nichts zu essen, darum treibt er sich überall herum! Sie brauchen also ein Verzeichnis von all diesen Faulenzern? Natürlich, Sie haben ganz recht! Ich habe sie alle miteinander, so gut es ging, auf einen besonderen Zettel geschrieben, um sie bei der nächsten Revision gleich streichen zu lassen.“ Pljuschkin setzte die Brille auf und begann in seinen Papieren herumzuwühlen. Dabei löste er die Schnur von so manchem Päckchen und warf die Papiere so durcheinander, daß eine Staubwolke dem Gaste in die Nase stieg, und dieser niesen mußte. Endlich zog er einen Zettel hervor, der beiderseits eng beschrieben war. Die Bauernnamen bedeckten ihn so dicht wie Fliegenschmutz. Da waren alle Kategorien vertreten, da gab es einen Paramonoff und Pimenow, einen Panteleimonow, ja es tauchte sogar ein gewisser Grigorij „Immerlangsamvoran“ aus der ganzen Menschenflut hervor. Im ganzen waren es etwas mehr als hundertundzwanzig. Tschitschikow lächelte unwillkürlich als er diese stattliche Zahl übersah. Er steckte den Zettel in die Tasche und erklärte Pljuschkin, er werde wohl zum Abschluß des Kaufes nach der Stadt fahren müssen.

„Nach der Stadt? Wie kann ich denn ...? Ich kann doch mein Haus nicht sich selbst überlassen! Meine Dienstboten sind lauter Diebe und Spitzbuben; die ziehen mich in einem Tage so aus, daß ich keinen Nagel mehr übrig behalte, an dem ich meinen Rock aufhängen könnte.“

„Haben Sie nicht wenigstens irgend einen Bekannten?“

„Wer sollte das sein? Meine Bekannten sind alle schon tot, oder wollen nichts mehr von mir wissen. Ach ja, doch, Väterchen! Wie denn nicht! Natürlich habe ich einen,“ rief er plötzlich aus. „Der Gerichtspräsident, das ist ja mein guter Freund! Der hat mich früher oft besucht; wie sollte ich den nicht kennen! Das ist ja mein Jugendfreund. Wie oft sind wir zusammen über so manchen Zaun geklettert. Keinen Bekannten? Ich sage Ihnen, das ist ein Bekannter! ... Ich könnte doch an ihn schreiben?“

„Aber natürlich.“

„Ein so guter Bekannter! Ein alter Schulkamerad!“

Und über das erstarrte Gesicht huschte plötzlich etwas wie ein warmer Strahl, ein schwacher Ausdruck oder doch wenigstens ein matter Abglanz eines Gefühls belebte die toten Züge; wie wenn auf der Oberfläche eines Gewässers ganz plötzlich und unerwartet ein Ertrinkender auftaucht und nun die am Ufer versammelte Menge in freudiges Jauchzen ausbricht; aber vergebens werfen die freudig erregten Schwestern und Brüder das rettende Seil aus und warten ungeduldig darauf, daß sich eine Schulter oder der vom Todeskampfe ermattete Arm aus den Fluten emporstrecke — er war zum letzten Mal emporgetaucht. Und stumm wird’s ringsumher, und schrecklicher noch, und öder erscheint jetzt die glatte ruhige Fläche des launischen Elementes. So wurde auch Pljuschkins Gesicht, nachdem der Schimmer eines Gefühls darüber hinweggeglitten war, fast noch kälter, gemeiner und gefühlloser.

„Auf dem Tisch lag doch ein Stückchen reines Papier,“ sagte er, „aber ich weiß nicht, wo es hingekommen ist: diese Taugenichtse von Dienstboten!“ — Und er guckte unter den Tisch und auf den Tisch, kramte überall herum und rief schließlich: „Mawra, he! Mawra!“ Auf sein Geschrei erschien ein Weib mit einem Teller in der Hand, auf dem der dem Leser schon bekannte Zwieback thronte. Jetzt entspann sich folgendes Gespräch zwischen beiden:

„Wo hast du das Papier gelassen, du Diebin?“

„Bei Gott, gnädiger Herr! Ich habe kein Papier gesehen, außer dem Stückchen, mit dem Sie das Spitzglas bedeckt haben.“

„Man sieht dir’s ja an den Augen an, daß du es stibitzt hast.“

„Wie käme ich dazu, es zu stibitzen? Ich wüßte doch nichts damit anzufangen. Ich kann ja nicht einmal lesen und schreiben.“

„Das lügst du, du hast es zum Küster hingetragen, das ist ein Tintenklexer, dem wirst du’s wohl gegeben haben.“

„Wenn der will, so kann er sich jederzeit Papier verschaffen. Der Küster hat Ihren Papierfetzen überhaupt nicht zu sehen bekommen!“

„Warte nur! Die Teufel werden dir beim jüngsten Gericht tüchtig zusetzen mit ihren eisernen Halseisen. Paß einmal auf, wie die dich plagen werden!“

„Wofür sollten sie mich denn quälen, wenn ich doch das Papierstückchen garnicht in der Hand gehabt habe. Sie können mir jede andere weibliche Schwäche vorwerfen, aber daß ich stehle, das hat mir noch niemand gesagt.“

„Du wirst schon sehen, wie die Teufel dir zusetzen werden! Das hast du dafür, daß du deinen Herrn beschwindelt hast, werden sie sagen und dich mit ihren glühenden Zangen zwacken!“

„Dann werd’ ich eben antworten: Ich bin unschuldig, bei Gott, ich bin unschuldig ... Aber da liegt es ja auf dem Tisch. Immer machen Sie einem unnütze Vorwürfe!“

Pljuschkin sah den Papierschnitzel in der Tat daliegen, hielt einen Augenblick inne, kaute an seinen Lippen und sagte: „Na was regst du dich denn gleich so auf? So ein Trotzkopf. Man sagt ihr ein Wort, und sie kommt einem gleich mit einem ganzen Dutzend. Geh’, bring mir etwas Feuer, damit ich den Brief versiegeln kann. Halt! du bringst mir womöglich noch eine Talgkerze; der Talg schmilzt so schnell, weg ist er, und man hat das Nachsehen! Bring mir lieber einen brennenden Kienspan!“

Mawra entfernte sich, Pljuschkin aber setzte sich in den Lehnstuhl, nahm die Feder in die Hand und drehte und wendete den Zettel noch lange in den Fingern hin und her; er überlegte wohl, ob er nicht noch die Hälfte davon abschneiden könne, aber schließlich sah er wohl ein, daß das nicht ging; er tauchte also die Feder ins Tintenfaß, das mit einer verschimmelten Flüssigkeit angefüllt war, in der eine Menge Fliegen herumschwammen, und begann zu schreiben; er setzte die Buchstaben, die große Ähnlichkeit mit Noten hatten, dicht nebeneinander, und mußte fortwährend den Lauf der Feder hemmen, die sich auf dem Papier in übermütigen Sprüngen erging. Ängstlich fügte er Zeile an Zeile mit dem lebhaften Bedauern, daß trotzdem noch immer etwas leerer Raum zwischen ihnen übrig blieb.

Und bis zu einer solchen Armseligkeit, Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit konnte ein Mensch herabsinken? So furchtbar konnte er sich wandeln? Hat das überhaupt noch den Schein der Wahrheit? — Jawohl! — Es gibt überhaupt nichts Unwahrscheinliches. Alles kann mit dem Menschen geschehen! Ein feuriger Jüngling von heute würde vielleicht mit Entsetzen zurückprallen, wenn man ihm das Bild seines eigenen Greisenalters vorhielte. O, hütet sorgsam auf eurem Lebenswege, wenn ihr heraustretet aus euren milden zarten Jugendtagen in das ernste härtende Mannesalter — o, hütet sorgsam jede menschliche Regung, verschwendet, verliert sie nicht unbedacht unterwegs: ihr findet sie nie wieder! Furchtbar und grauenvoll ist das in der Ferne drohende Greisenalter, es liefert nichts wieder aus, es gibt uns nichts zurück. Das Grab selbst ist barmherziger; auf dem Leichenstein wird vielleicht die Inschrift stehen: „hier liegt ein Mensch begraben.“ Aber kein Schriftzeichen belebt die kalten gefühllosen Züge des menschlichen Alters.

„Haben Sie nicht vielleicht einen Freund,“ sagte Pljuschkin, während er den Brief zusammenfaltete, „der flüchtige Bauern brauchen könnte?“

„Haben Sie auch flüchtige?“ fragte Tschitschikow schnell, wie aus einem Traume erwachend.

„Das ist es ja gerade, daß ich welche habe. Mein Schwager hat schon Erkundigungen eingezogen, und sagt, er hätte gar keine Spur von ihnen entdecken können; aber er ist Soldat, der kann nur mit den Sporen klirren, wenn man sich dagegen beim Gericht darum bemühen wollte, so ....“

„Und wieviel werden’s wohl sein?“

„So an die siebzig Mann, mindestens.“

„Wahrhaftig?“

„Bei Gott! Es vergeht kein Jahr, ohne daß mir ein paar davonlaufen. Die Leute sind heutzutage alle so unmäßig; tun den ganzen Tag nichts und wollen nur immer fressen, und ich habe doch selbst nichts zu essen ... Wahrhaftig ich würde sie fast umsonst hergeben. Nicht wahr, Sie sagens doch Ihrem Freunde: wenn er auch nur ein Dutzend wiederbekommt, hat er ein hübsches Sümmchen verdient. Eine eingetragene Seele ist doch an die fünfhundert Rubel wert.“

„Die soll der Freund nicht einmal zu riechen bekommen!“ dachte Tschitschikow, und erklärte, daß er leider keinen solchen Freund besäße, und daß allein die Kosten dieses Verfahrens mehr betragen würden; die Gerichte hält man sich am liebsten ganz vom Leibe, denn da muß man ja selbst noch die Rockschöße hingeben. Aber wenn Pljuschkin sich wirklich in einer so bedrängten Lage befände, dann sei er, Tschitschikow, aus Sympathie für ihn bereit, eine kleine Summe zu bezahlen ... Aber das sei, wie gesagt, eine solche Kleinigkeit, die nicht einmal der Rede wert sei.

„Und wieviel würden Sie geben?“ fragte Pljuschkin, der vor Habgier bebte, und seine Hände zitterten wie Espenlaub.

„Ich könnte fünfundzwanzig Kopeken pro Stück anlegen.“

„Und zahlen Sie bar?“

„Ja, Sie können das Geld gleich bekommen.“

„Hören Sie Väterchen, Sie wissen doch, wie arm ich bin, Sie könnten mir wirklich vierzig Kopeken geben.“

„Verehrtester, ich würde Ihnen gerne nicht nur vierzig Kopeken, sondern selbst fünfhundert Rubel pro Kopf bezahlen! Mit dem größten Vergnügen, denn ich sehe, daß ein hochachtbarer, edler Geist infolge seiner Gutmütigkeit Not leidet.“

„Ja, nicht wahr! Bei Gott!“ sagte Pljuschkin, ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn heftig. „Das macht alles die Gutmütigkeit.“

„Nun sehen Sie, ich habe Ihren Charakter sofort erkannt. Warum sollte ich nicht fünfhundert Rubel pro Mann geben? Aber ich bin eben auch nicht vermögend; fünf Kopeken will ich meinetwegen noch zulegen, dann kostet jede Seele rund dreißig Kopeken.“

„Legen Sie noch zwei Kopeken zu, Väterchen!“

„Also gut, meinetwegen noch zwei Kopeken! Wieviel Seelen waren es doch, sagten Sie nicht siebzig?“

„Nein, es sind sogar achtundsiebzig.“

„Achtundsiebzig, achtundsiebzig zu dreißig Kopeken, das macht ...“ hier dachte unser Held eine Sekunde und nicht einen Augenblick länger nach und sagte, „das macht vierundzwanzig Rubel sechsundneunzig Kopeken!“ Er war sehr stark in der Arithmetik. Dann ließ er Pljuschkin die Quittung schreiben und händigte ihm das Geld aus, welches jener mit beiden Händen ergriff und mit ängstlicher Vorsicht nach dem Schreibpulte trug, als hielte er in seinen Händen eine Flüssigkeit, die er jeden Augenblick zu verschütten fürchtete. Als er vor dem Pulte stand, betrachtete er die Banknoten noch einmal genau und legte sie ebenso vorsichtig in eines der Schubfächer, wo das Geld wahrscheinlich begraben blieb, bis Pater Karp und Pater Polikarp, die zwei Priester des Dorfes, ihn selbst zur ewigen Ruhe bestatteten: zur unbeschreiblichen Freude seiner Tochter und des Schwiegersohnes — und vielleicht auch des Hauptmanns, der durchaus mit ihm verwandt sein wollte. Nachdem Pljuschkin das Geld eingeschlossen hatte, ließ er sich auf dem Lehnstuhle nieder, ohne, wie es schien, einen neuen Gesprächsstoff finden zu können.

„Wie, Sie wollen schon fahren,“ sagte er, als er Tschitschikow, der im Begriff war, sein Taschentuch herauszuholen, eine kleine Bewegung machen sah. Diese Frage erinnerte jenen daran, daß es in der Tat zwecklos sei, sich hier noch länger aufzuhalten. „Ja, es ist Zeit!“ sprach er und griff nach dem Hute.

„Wollen Sie denn keinen Tee?“

„Nein, ich danke! Ich spreche lieber bei anderer Gelegenheit einmal zum Tee vor.“

„Ja, wie denn nur? Ich habe doch die Teemaschine aufsetzen lassen! Wenn ich ehrlich sein soll, ich mache mir auch nichts aus Tee: es ist ein teures Getränk, und dann sind auch die Zuckerpreise so unerhört gestiegen. Proschka! Wir brauchen die Teemaschine nicht mehr. Und den Zwieback bringst du der Mawra! Hörst du? Sie soll ihn wieder auf den alten Platz legen; oder nein, gib ihn lieber her, ich will ihn schon selbst hintragen. Leben Sie wohl, Väterchen; Gott segne Sie! Und den Brief geben Sie dem Gerichtspräsidenten, nicht wahr? Er soll ihn lesen! Er ist doch ein alter Freund von mir. Ja, ja, ein Jugendgespiele.“

Hierauf begleitete ihn diese seltsame Gestalt, dieser merkwürdig eingeschrumpfte alte Mann in den Hof hinab. Nachdem Tschitschikow davongefahren war, ließ Pljuschkin das Tor sofort schließen. Dann schritt er durch alle Vorratskammern und Speicher, um sich zu überzeugen, ob auch alle Wächter an ihrem Platze seien, die an jeder Ecke standen und mit Holzschaufeln auf ein leeres Faß statt auf eine Blechtrommel schlugen; er warf auch einen Blick in die Küche, sah dort nach, ob auch das Essen für die Dienstboten gut und schmackhaft zubereitet sei, was für ihn jedoch nur ein Vorwand war, sich selbst gründlichst an Brei und Kohlsuppe satt zu essen. Nachdem er schließlich noch alle bis auf den letzten wegen ihrer schlechten Aufführung tüchtig gescholten und ihnen Diebstahl vorgeworfen hatte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Als er allein war, kam ihm einen Augenblick sogar die Idee, sich dem Gast gegenüber für dessen beispiellosen Edelmut erkenntlich zu erweisen: „Ich will ihm die Taschenuhr zum Geschenk machen,“ dachte er — „es ist doch eine schöne silberne Uhr, und nicht etwa von Tomback oder Bronze; sie ist freilich etwas verdorben, aber er kann sie ja reparieren lassen; er ist noch ein junger Mann, und braucht eine Taschenuhr, wenn er bei seiner Braut Eindruck machen will. Oder nein!“ — fuhr er nach einigem Nachdenken fort: „ich will sie ihm lieber vermachen; er soll sie erst nach meinem Tode erhalten, damit er sich später noch meiner erinnert.“

Aber unser Held war auch ohne Uhr in höchst vergnügter Stimmung. Eine so unerwartete Akquisition war eine wahre Gottesgabe. In der Tat, dagegen ließ sich nichts einwenden: nicht nur ein Paar Schock tote Seelen, sondern auch noch einige Dutzend flüchtige dazu: zusammen etwa zweihundert Stück! Er hatte ja freilich schon so eine Ahnung gehabt, als er sich Pljuschkins Landgute näherte, daß es hier was zu verdienen geben würde, aber auf ein so gutes Geschäft hatte er nicht gerechnet. Den ganzen Weg über war er außergewöhnlich lustig, pfiff und sang vor sich hin, indem er sich die Faust vor den Mund hielt und hineinblies wie in eine Trompete. Zuletzt stimmte er sogar ein Lied an, welches so seltsam und sonderbar klang, daß selbst Seliphan verwundert aufhorchte, den Kopf schüttelte und sagte: „Sieh mal an, wie mein Herr singen kann!“ Es war schon ganz dunkel, als sie sich der Stadt näherten. Licht und Finsternis gingen vollkommen ineinander über, und alle Gegenstände schienen zusammenzufließen. Der gestreifte Schlagbaum hatte eine ganz unbestimmte undefinierbare Farbe angenommen; dem Posten vor der Stadt schien der Schnurrbart hoch über den Augenbrauen zu sitzen, und seine Nase schien überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein. Das Gerassel der Räder und die Luftsprünge, die die Equipage machte, ließen erkennen, daß man sich bereits wieder auf der gepflasterten Straße befand. Die Laternen waren noch nicht angezündet, hie und da blitzte in den Fenstern der Häuser ein Licht auf, und in den Winkeln und Gassen spielten sich die bekannten Vorgänge ab; man hörte es munkeln und flüstern, was um die nächtlichen Stunden in Städten stets zu geschehen pflegt, wo es viele Soldaten, Kutscher, Arbeiter und jene besondere Menschengattung gibt, eine Art von Damen mit roten Shawls, in Schuhen und ohne Strümpfe, die an den Straßenkreuzungen herumschwirren wie die Fledermäuse. Aber Tschitschikow bemerkte sie nicht, ebensowenig wie die schlanken Beamten, die mit Spazierstöckchen in der Hand wohl von einer Promenade außerhalb der Stadt zurückkehrten. Hie und da drangen Rufe an sein Ohr, die von weiblichen Stimmen herzurühren schienen: „Das lügst du, du bist wohl besoffen; ich hätte ihm nie eine solche Frechheit erlaubt!“ oder „du suchst wieder Händel du Grobian, komm mal mit auf die Polizei, da will ich dir’s schon zeigen.“ Mit einem Wort, all jene Reden, die wie ein Dampfbad auf einen phantasiereichen zwanzigjährigen Jüngling wirken, wenn er aus dem Theater zurückkehrend eine spanische Gasse, eine dunkle Mondnacht und ein herrliches Frauenbild mit einer Gitarre in seinem Kopfe trägt. Welch wundersame Träume, welche tollen Phantasien wirbeln in seinem Hirne durcheinander. Er glaubt im siebenten Himmel zu schweben, und stattet sogar dem Dichter Schiller einen Besuch ab — da schlagen plötzlich jene verhängnisvollen Worte wie ein Donnerschlag neben ihm ein, er fühlt sich wieder auf die Erde zurückversetzt, ja sogar auf den „Heumarkt“ in die nächste Nähe einer Schenke, und aufs neue verschlingt ihn des Werktages altersgraue Öde.

Endlich machte der Wagen noch einen kräftigen Satz und tauchte wie in einem Erdloch im Tore unter. Tschitschikow wurde von Petruschka empfangen, welcher, einen seiner Rockschöße in der einen Hand haltend — denn er liebte es nicht, daß die Schöße sich entzweiten — mit der anderen seinem Herrn aus dem Wagen half. Auch der Kellner kam mit einer Kerze, die Serviette über die Schulter geworfen, angelaufen. Es läßt sich nicht sagen, ob Petruschka über die Ankunft seines Herrn sehr erfreut war, jedenfalls zwinkerten Seliphan und er sich verständnisinnig mit dem Auge zu, und sein sonst so strenges Gesicht schien sich ein wenig zu erhellen.

„Sie haben aber eine lange Spazierfahrt zu machen geruht,“ sagte der Kellner, indem er ihm auf der Treppe voranleuchtete.

„Ja,“ sagte Tschitschikow und stieg die Stufen empor. „Und wie gehts bei euch?“

„Gottlob!“ antwortete der Kellner mit einer Verbeugung. „Gestern ist ein Offizier angekommen. Er wohnt auf Nummer sechzehn.“

„Ein Leutnant?“

„Ich weiß nicht. Er kommt aus Rjasan und hat braune Pferde.“

„Schön, schön! Benimm dich auch fernerhin gut!“ sagte Tschitschikow und trat in sein Zimmer. Während er durch den Flur schritt, rümpfte er die Nase und sprach zu Petruschka gewandt: „Du hättest auch die Fenster aufmachen können.“

„Ich habe sie ja aufgemacht,“ entgegnete Petruschka; aber er log. Uebrigens wußte sein Herr selbst, daß es eine Lüge war. Doch er wollte nicht widersprechen. Nach der langen Fahrt bemächtigte sich eine starke Ermattung aller seiner Glieder. Er bestellte sich eine ganz leichte Abendplatte, die nur aus einem Stück Spanferkel bestand, entkleidete sich sofort, kroch unter die Decke und versank sogleich in einen tiefen, festen Schlaf, in jenen wundersamen Schlaf, den nur die Glückspilze kennen, welche nichts ahnen: weder von Hämorrhoiden, noch von Flöhen, noch von einer allzu regen Geistestätigkeit.

Siebentes Kapitel

Glücklich der Reisende, der nach einer weiten, langweiligen Fahrt mit ihrer Kälte, ihrem Schmutz und Kot, ihren verschlafenen Posthaltern, ihrem Schellengeklingel, ihren Reparaturen, ihrem Herumgezanke, ihren Postknechten, Schmieden und ähnlichen Vagabunden, endlich das traute Dach mit dem immer heller werdenden Lichterglanz erblickt — schon taucht vor seinem geistigen Auge sein liebes Heim mit den bekannten Zimmern auf, schon hört er die jubelnden Rufe der ihm entgegeneilenden Hausgenossen, die freudige Aufregung und das Gelärm der Kinder, stille sanfte Worte unterbrochen von glühenden Zärtlichkeiten, die die Kraft haben, alles vergangene Leid aus dem Gedächtnis zu tilgen. Glücklich der Familienvater, dem ein solches Heim beschieden ward; aber wehe dem Hagestolzen! Glücklich der Schriftsteller, der an den langweiligen, widerwärtigen, durch ihre traurige Blöße erschreckenden Gestalten der Wirklichkeit flüchtig vorüber eilend sich Charakteren nähert, welche des Menschen hohe Würde verkörpern und erscheinen lassen, der aus dem großen Wirbel ewig wechselnder Formen sich nur die wenigen Ausnahmen erkiest, der auch nicht einmal dem heiligen Schwunge seiner Leier untreu ward, der nie von seiner eigenen Höhe zu seinen armseligen, schwachen Brüdern herab stieg und, ohne das Irdische zu berühren, sich selig stürzte in den erdentrückten Chor erhabener Gestalten. Doppelt beneidenswert ist sein herrliches Los, er wandelt unter ihnen wie im trauten Kreise der Familie; indes schallt weit und laut sein Ruhm durch alle Lande. Mit Weihrauchwolken hat er die Augen der Menschen umhüllt, mit Zauberworten nahm er schmeichelnd ihren Geist gefangen, verbergend vor ihnen des Lebens rauhe Wirklichkeit und ihnen den schönen Menschen weisend. Händeklatschend folgt alles seiner Spur und umschwärmt jauchzend seinen Wagen. Einen großen Weltendichter nennt man ihn, der im hohen Raume schwebt ob allen andern Genien dieser Welt, wie der Aar über allem hochfliegenden Getier. Sein Name schon weckt heilige Schauer in jungen glühenden Herzen, Tränen der Sympathie erglänzen in jedem Auge ... An Macht kommt ihm kein Wesen gleich — er ist ein Gott! Wie ganz anders ist das Los des Schriftstellers, der sich erkühnte, all das ans Licht zu ziehen, was jederzeit vor jedem Auge liegt und doch dem gleichgültigen Blicke entgeht: den grauenvollen Schlamm des Nichtigen, der unser Leben umstrickt, die ganze abgründige Tiefe jener kalten zerklüfteten Alltagscharaktere, die unsern dornigen, oft öden Erdenweg bevölkern, und mit dem kräftigen Schlag des unerbittlichen Meißels es wagte, sie klar und plastisch dem Blick der Menschen preiszugeben! Er erntet nicht des Volkes lauten Beifall, kein Dank strahlt ihm aus den Tränen und der einmütigen Begeisterung tieferregter Seelen, die sein Wort tief im Innersten aufwühlte; ihm fliegt keine sechzehnjährige Jungfrau entzückten Sinnes voll heroischer Leidenschaft entgegen; er kann sich nicht berauschen am süßen Klang der Töne, die er der eigenen Leier entlockte, und nicht wird er dem Gerichte des Tages entgehen, dem heuchlerisch gefühllosen Richterspruch des Augenblicks, der die am eignen warmen Busen genährten Geschöpfe armselig, gemein und nichtig nennen, ihm einen elenden Winkel anweisen wird inmitten jener Schriftsteller, die die Menschheit schänden, ihm die Charakterzüge seiner eigenen Helden beilegen und ihm Herz und Seele und den göttlichen Funken des Talentes rauben wird; denn das Gericht des Tages erkennt nicht an, daß gleich bewundernswürdig jene Gläser sind, in denen sich die Sternenheere spiegeln und jene, durch die man die zarten Bewegungen unsichtbarer Lebewesen wahrnehmen kann, denn das Gericht des Tages erkennt nicht an, daß hohes begeistertes Lachen sich wohl messen kann mit hohem lyrischen Schwunge, und daß ein Abgrund gähnt zwischen jenem und den unwürdigen Fratzen des Jahrmarktgauklers. Das Gericht des Tages versteht dies nicht und verwandelt alles in Schimpf und Vorwurf für den verachteten Dichter: ohne Mitleid, ohne Antwort, ohne Teilnahme wie ein heimatloser Wanderer steht er allein auf öder Straße. Schwer und hart ist sein Beruf und bitter fühlt er seine Einsamkeit.

Und lange noch ist mir’s von der geheimnisvollen Schicksalsmacht beschieden, den Weg fortzuwandeln Hand in Hand mit meinem Helden, das ganze gewaltig treibende Leben zu überschauen, durch das aller Welt sichtbare Lachen und die keinem bekannten unsichtbaren Tränen. Und noch fern ist die Zeit, wo ein andrer Springquell hoher Begeisterung wie ein Wirbelsturm aus dem von heiligem Schauer erschütterten flammenden Haupte aufsteigen, und wo verzagt die Menge dem majestätischen Donner anderer Reden lauschen wird ...

Vorwärts! Vorwärts! fort mit der finsteren Miene, fort mit der grämlichen Runzel, die deine Stirne furcht. Laßt uns geschwind wieder untertauchen in das Leben mit all seinem tonlosen Gelärm und Schellengeklingel: laßt uns zusehen was Tschitschikow macht.

Tschitschikow war soeben aufgewacht, er dehnte und streckte sich, denn er hatte das behagliche Gefühl, sich gut ausgeschlafen zu haben. Nachdem er noch ein paar Minuten ruhig auf dem Rücken gelegen hatte, schnalzte er mit den Fingern, und sein Gesicht verklärte sich bei dem Gedanken, daß er jetzt nahezu vierhundert Seelen besaß. Dann sprang er aus dem Bett, betrachtete sich nicht einmal im Spiegel, und warf keinen Blick auf sein Gesicht, das er aufrichtig liebte, und an dem ihm das Kinn ganz besonders gefiel, denn er pries es bei jeder Gelegenheit vor seinen Freunden, ganz besonders während des Rasierens. „Sieh mal,“ pflegte er dann gewöhnlich zu sagen, „was ich für ein schönes rundes Kinn habe.“ Und dabei streichelte er es mit der Hand. Heute aber warf er keinen einzigen Blick weder auf sein Kinn noch auf sein Antlitz, sondern zog sich sogleich seine Saffianstiefel mit dem gestickten Blumenbesatz an, mit denen die Stadt Torshok einen so schwunghaften Handel treibt, welcher in unserer russischen Bequemlichkeit eine so reiche Nahrung findet. Hierauf machte Tschitschikow in einem kurzen schottischen Hemdchen zwei kühne Luftsprünge, wobei er sich nicht ohne Geschicklichkeit eins mit dem Hacken auswischte. Und dann ging er sofort ans Werk: er rieb sich vor der Schatulle ebenso vergnügt die Hände wie ein unbestechlicher Kreisrichter, der hinausfuhr, um eine Untersuchung vorzunehmen und nun vor das Anrichtetischchen tritt, beugte sich über das Kästchen und holte ein Päckchen Papier hervor. Er wollte die Sache so schnell als möglich erledigen, um sie nicht auf die lange Bank zu schieben. Daher ging er rasch entschlossen an die Aufsetzung des Kaufkontraktes und kopierte ihn dann eigenhändig, um sich die Unkosten für den Notar zu sparen. Auf die Formalitäten verstand er sich vortrefflich; zuerst malte er mit schwungvollen, großen Buchstaben die Jahreszahl achtzehnhundert und so und so viel hin; hierauf schrieb er mit kleinen Buchstaben darunter: Gutsbesitzer Soundso und was noch sonst drum und dran hängt. In zwei Stunden war alles fix und fertig. Als er danach auf diese Blätter hinblickte, auf die Namen der Bauern, welche tatsächlich einmal gelebt, gearbeitet, geackert, getrunken, Kutscherdienste geleistet, ihre Herren betrogen hatten oder vielleicht einfach brave Bauern gewesen waren, da beschlich ihn ein wundersames, unheimliches Gefühl. Jeder Zettel schien seinen eigenen Charakter zu besitzen, und das schien den Bauern selbst eine eigentümliche Wesensart zu verleihen. Die Bauern, welche Karobotschka gehört hatten, trugen alle irgend einen Spitznamen als Anhängsel. Pljuschkins Liste zeichnete sich durch Kürze und Gedrängtheit des Stiles aus: oft standen nur die Anfangssilben der Vor- und Beinamen da, worauf ein paar Punkte folgten. Sabakewitschs Register setzte durch seine außerordentliche Ausführlichkeit und Vollständigkeit in Erstaunen; da gab es keine noch so geringe Eigentümlichkeit, die nicht sorgfältig gebucht war: von einem hieß es: „Ein guter Tischler,“ von einem andern: „Er versteht seine Sache und säuft nicht.“ Ebenso sorgfältig waren die Eltern eines jeden aufgezählt und ihr Charakter wie ihr Benehmen genau beschrieben. Nur von einem gewissen Fedotow stand vermerkt: „Der Vater ist unbekannt, die Mutter ist eine meiner Dienstmägde, namens Kapitolina, die jedoch einen guten Charakter hat und nicht stiehlt.“ All diese Einzelheiten verliehen dem Ganzen eine gewisse Frische. Man gewann den Eindruck, als hätten die Bauern gestern noch gelebt. Tschitschikow überlas die Namen noch einmal genau und sorgfältig. Eine seltsame Rührung erfaßte ihn, er seufzte und sprach leise vor sich hin: „Herrgott welche Menge da dichtgedrängt beieinander steht! Was mögt ihr wohl alles getrieben haben, euer Leben lang, ihr Lieben? Wie mögt ihr euch durchgeschlagen haben?“ Und seine Augen hefteten sich auf eine Stelle, wie unwillkürlich angezogen von einem Namen. Dies war der bekannte Peter Saweljewitsch, der Trogverächter, welcher einst der Gutsbesitzerin Karobotschka gehört hatte. Und abermals konnte er den Ausruf nicht unterdrücken: „Herrjeh, ist der aber lang, der nimmt ja die ganze Zeile ein! Was magst du wohl gewesen sein: ein Meister deines Handwerks, oder ein schlichter Bauer, und wie hat der Tod dich ereilt? War’s in der Schenke, oder hat dich gar auf breiter Straße eine plumpe Fuhre überfahren, du Schlafmütze? — Stepan Probka, der Tischler, ein braver nüchterner Mann. — Sieh da bist du ja, mein Stepan Probka, du großer Held, der du für die Garde geboren warst! Hast wohl manch weites Stück Weges durchwandert, die Axt am Gürtel und die Stiefel über die Schulter geworfen, für einen Groschen Brod verzehrt und für zwei Groschen gedörrten Fisch und du brachtest dann wohl jedes Mal einen Hunderter in deinem Beutel mit oder nähtest dir gar einen Tausender in deine Nangkinghose ein oder stecktest ihn dir in den Stiefel. Wo holte dich der Tod? Bist du vielleicht nur um des gemeinen Mammons willen bis auf die Kirchenkuppel hinaufgestiegen oder gar bis aufs Kreuz emporgeklettert und von dem Gerüst herabgestürzt zu Füßen irgend eines Onkel Michei, der sich nur den Kopf kratzte und mitleidig murmelte: ‚Ach Wanja, was ist nur in dich gefahren!‘ um sich sogleich den Strick um den Leib zu binden und ruhig an deiner Stelle hinaufzuklettern. — Maxim Telhatnikow, der Schuster. Der Schuster? He? ‚Besoffen wie ein Schuster‘, sagt ein Sprichwort. Ich kenn’ dich, kenne dich, mein Liebling; willst du’s, so erzähle ich dir deine ganze Lebensgeschichte. Du kamst zu einem Deutschen in die Lehre, der euch allesamt fütterte, für eure Nachlässigkeit mit dem Riemen züchtigte und nie auf die Straße ließ, damit ihr keine Streiche macht. Du warst ein wahres Weltwunder und kein Schuster, und der Deutsche konnte dein Lob nicht hell genug singen, wenn er mit seiner Frau oder seinem Kameraden über dich sprach. Und als deine Lehrzeit aus war, da sprachst du zu dir selbst: ‚Jetzt will ich mir ein eigenes Häuschen kaufen, aber ich will’s nicht machen wie der Deutsche, der einen Groschen zum andern legt, ich will mit einem Schlage ein reicher Mann werden!‘ Und du zahltest deinem Herrn einen reichen Erbzins, schafftest dir einen Laden an, besorgtest dir einen Haufen Aufträge und legtest los. Dann triebst du irgendwo zum Drittel des Preises ein Stück halbverfaulten Leders auf und verkauftest jeden Stiefel mit doppeltem Gewinn, aber deine Schuhe platzten schon nach zwei Wochen und deine Kunden schimpften dich kräftig aus, wie du’s verdientest. So kam es, daß es in deinem Laden leer ward, du fingst an zu trinken, dich auf der Straße herumzutreiben und sprachst: ‚Ist das eine schlimme Welt! Wir Russen können rein verhungern: und an alledem ist niemand schuld als der Deutsche!‘ — Und was ist das für ein Mann: Jelisawetus Sperling? Verdammt noch einmal: das ist ja ein Weibsbild! Wie ist die hierhergekommen? Der Sabakewitsch, der Schurke hat sie mit hineingeschmuggelt!“ Tschitschikow hatte ganz recht: dies war wirklich eine Frau. Wie sie in diese Gesellschaft gekommen war, das wußte Gott allein; aber ihr Name war so geschickt und kunstvoll hingemalt, daß man sie von ferne wirklich für ein Mannsbild halten konnte, ja der Vorname hatte sogar die männliche Endung und lautete: Jelisawetus, statt Jelisaweta. Allein Tschitschikow nahm keine Rücksicht darauf und strich sie einfach aus der Liste. — „Und du Grigorij Immerlangsamvoran! Was warst du wohl für ein Mensch? Warst du ein Postknecht, der sich ein Dreigespann samt einem gedeckten Wagen anschaffte, und dem eignen Heim, dem trauten Winkel für immer Valet sagte, um sich mit den Kaufleuten auf den Jahrmärkten herumzuplagen? Gabst du unterwegs deinen Geist auf, brachten dich deine eigenen Freunde wegen eines dicken rotbackigen Soldatenweibes um, oder fand irgend ein Wegelagerer Gefallen an deinen ledernen Fausthandschuhen und dem Dreigespann deiner kleinen aber kräftigen Pferde, oder fiel’s dir vielleicht ein, derweil du auf deinem Lager lagst und vor dich hingrübeltest, plötzlich ohne jeden Grund und Anlaß in die Schenke hineinzuspazieren und von dort geradewegs in ein Eisloch, so daß keine Menschenseele weiß, wo du verschwunden bist? Oh du mein russisches Volk! Du liebst es nicht, eines natürlichen Todes zu sterben! — Und ihr meine Lieblinge,“ fuhr er fort, indem er einen Blick auf die Liste warf, auf der Pljuschkins flüchtige Seelen verzeichnet standen: „ihr freut euch zwar noch eures Lebens, aber was für einen Wert habt ihr? Ihr seid so gut wie tot. Und wohin tragen euch wohl jetzt eure schnellen Füße! Hattet ihr’s wirklich gar so schlecht bei dem Pljuschkin, oder machte es euch bloß Spaß im Walde herumzustreichen und die Reisenden auszuplündern? Sitzt ihr vielleicht im Gefängnis oder habt ihr euch einen anderen Herrn gesucht, dessen Felder ihr nun pflügt? Jeremej Leichtfuß, Nikita Renner, Anton Renner, dessen Sohn, euch merkt man’s schon an euren Namen an, daß ihr gute Läufer seid; Popor, der Knecht ... War wohl ein gelehrter Mann, der sich auf’s Lesen und Schreiben verstand! der hat sicher kein Messer in die Hand genommen und sich ein hübsches Vermögen zusammengestohlen. Paß auf! paßloses Individuum, du fällst noch einmal dem Polizeihauptmann in die Hände. Zwar stellst du mutig deinen Mann: ‚Wer ist dein Herr?‘ fragt dich der Hauptmann und begleitet, da sich eine so gute Gelegenheit dazu bietet, seine Worte mit einem kräftigen Fluch: — ‚Gutsbesitzer Soundso,‘ antwortest du keck. ‚Und wie kommst du hierher?‘ fragt dich der Hauptmann. ‚Ich bin gegen Bezahlung des Erbzinses freigelassen,‘ erwiderst du ohne Zaudern. ‚Wo ist dein Paß?‘ ‚Bei meinem Herrn, dem Kleinbürger Pimenow.‘ Pimenow wird gerufen. ‚Bist du Pimenow?‘ ‚Jawohl.‘ ‚Hat er dir seinen Paß gegeben?‘ ‚Nein, er hat mir keinen Paß gegeben.‘ ‚Du lügst also?‘ sagt der Polizeihauptmann und läßt wieder ein kräftiges Wort folgen. ‚Zu Befehl,‘ antwortest du frech: ‚ich gab ihm den Paß nicht, weil ich sehr spät nach Hause kam, ich habe ihn dem Glöckner zur Aufbewahrung gegeben.‘ — ‚Der Glöckner soll herkommen! Hat er dir seinen Paß gegeben.‘ — ‚Nein, ich habe keinen Paß von ihm bekommen.‘ ‚Warum lügst du schon wieder!‘ fragt der Polizeihauptmann aufs neue und flicht zur Bestätigung abermals ein kräftiges Wörtlein ein. ‚Wo ist denn dein Paß?‘ ‚Ich weiß genau, daß ich ihn bei mir hatte,‘ antwortest du sicher, ‚wahrscheinlich werde ich ihn wohl unterwegs irgendwo verloren haben.‘ — ‚Und warum hast du dem Soldaten den Mantel und dem Pfarrer einen Kasten mit Kupfermünzen gestohlen?‘ sagt der Polizeihauptmann, indem er zur Bekräftigung wiederum ein kerniges Wörtlein anfügt. ‚Wahrhaftig nicht,‘ sagst du ohne mit der Wimper zu zucken, ‚beim Stehlen hat mich noch keiner ertappt.‘ ‚Und wie kommt es, daß man den Mantel bei dir gefunden hat?‘ ‚Ich weiß nicht, wahrscheinlich hat ihn ein anderer bei mir liegen lassen!‘ — ‚O, du Hallunke, du Bestie!‘ sagt der Polizeihauptmann kopfschüttelnd, und stemmt die Hände in die Seiten. ‚Legt ihm Fußschellen an und führt ihn ins Gefängnis.‘ — ‚Zu Befehl, ich habe nichts dagegen,‘ antwortet du. Und du ziehst deine Tabaksdose aus der Tasche, reichst sie gutmütig den zwei Invaliden, die dir die Fußschellen angelegt haben und fragt sie aus, ob es schon lange her ist, daß sie beim Militär waren und an welchem Kriege sie teilgenommen haben. Und dann wanderst du ins Gefängnis und bleibst ruhig drin sitzen, während das Gericht deine Sache prüft. Schließlich fällt es seinen Spruch, und du wirst aus Zarewo-Kokschaisk nach dem ***er Gefängnis transportiert. Das dortige Gericht läßt dich nach Wessjegonsk oder sonst wohin weiterbefördern usw.; so wandert du aus einem Gefängnis ins andre und sprichst jedesmal, wenn du dein neues Heim erblickst: ‚Nein das Wessjegonskische Gefängnis ist doch netter, da ist doch mehr Platz, da kann man auch einmal das Knöchelspiel spielen, und da gibt’s auch mehr Gesellschaft.‘ — Abakum Fyrow? Na und du mein Bester? Wo, in welcher Gegend treibst du dich herum? Lebst du vielleicht irgendwo an der Wolga und bist ein Fährmann geworden, weil du ein freies Leben liebst? ...“ Hier hielt Tschitschikow inne und wurde ein wenig nachdenklich. Worüber sann er wohl nach? Dachte er an das Schicksal Abakum Fyrows, oder war es jene natürliche, fast selbstverständliche Nachdenklichkeit, die jeden Russen in jedem Lebensalter überfällt, welchem Stande und Berufe er auch angehören mag, wenn er an die Lust eines freien ungebundenen Lebens denkt? „In der Tat wo war jetzt Fyrow? Wahrscheinlich spazierte er laut und fröhlich am Landungsplatze herum, sich heiter unter die Kaufleute mischend. Mit Blumen und Bändern an den Hüten plaudert und lärmt der ganze Troß der Bootsführer, welche sich von ihren schlanken, hohen Frauen und Schätzen verabschieden, die Perlenbänder um den Hals und bunte Schleifen im Haar tragen; es schwingt sich der Reigen, helle Lieder ertönen aus fröhlichen Kehlen, der ganze Landungsplatz wogt auf und nieder, während die Last- und Gepäckträger unter Lärmen, Gezänk und ermunternden Zurufen sich mit einem Haken neun Pud schwere Ballen auf den Rücken laden, Weizen und Erbsen geräuschvoll in geräumige Schiffe schütten und Säcke mit Hafer und Buchweizen fortschleppen; weithin blinken die gewaltigen Haufen gleich einer Pyramide von Kanonenkugeln aufeinander getürmter Säcke und Ballen, die den ganzen Platz bedecken, und machtvoll ragt dieses ganze Getreidearsenal empor, bis es in all’ die geräumigen Barken und Fahrzeuge verladen ist, und diese endlose Flotte zugleich mit dem Frühjahrseise den Fluß hinabschwimmt. Da gibt’s Arbeit für euch in Hülle und Fülle, ihr Schiffer, und vereint, so wie ihr einst munter geschwärmt und über alle Stränge geschlagen, geht ihr nun ans Werk und zieht im Schweiße eures Angesichts an dem Strange, unter Liedern und Gesängen, die so unendlich sind, wie die russische Heimat selbst!

„Herrjeh! Schon zwölf Uhr!“ rief Tschitschikow plötzlich aus, indem er auf die Uhr blickte. „Was säume ich bloß so lange? Wenn ich noch etwas Vernünftiges getan hätte, aber da rede ich erst allerhand albernes Zeug und versinke dann noch in törichte Träumereien! Ich bin doch ein rechter Narr! Wahrhaftig!“ Mit diesen Worten vertauschte er sein schottisches Kostüm mit einem europäischen, zog seine Hosenschnalle etwas fester an, um sein kräftiges Bäuchlein nicht so hervortreten zu lassen, besprengte sich mit Eau de Cologne, nahm seinen warmen Hut in die Hand und die Aktenmappe unter den Arm und begab sich nach dem Zivilgericht, um die Kaufkontrakte perfekt zu machen. Dabei beeilte er sich sehr, nicht weil er sich zu verspäten fürchtete — davor brauchte er keine Angst zu haben, denn der Präsident war sein guter Bekannter und konnte auf Wunsch die Sitzung ausdehnen oder aufheben, ganz wie der alte Zeus Homers, der die Tage verlängerte und frühe Nächte herabsandte, wenn er den Streit seiner geliebten Helden unterbrechen oder ihnen ein Mittel an die Hand geben wollte, um ihn auszutragen; aber Tschitschikow hatte selbst den lebhaften Wunsch, die Sache so schnell als möglich zum Abschluß zu bringen; solange dies nicht geschehen war, fühlte er sich unruhig und unbehaglich: denn er konnte den Gedanken nicht ganz los werden, daß es sich hier doch eigentlich nicht um richtige Seelen handele und daß es in solchen Fällen besser sei, eine solche Last möglichst schnell abzuwerfen. Unter solchen Gedanken hüllte er sich in einen warmen Pelz von braunem Tuch, der mit Bärenfell gefüttert war, und kaum war er auf die Straße getreten, als er an der Ecke der Gasse mit einem Herrn zusammenstieß, der gleichfalls einen mit Bärenpelz gefütterten Überwurf um die Schultern geschlagen hatte und eine Pelzkappe mit Ohrenklappen auf dem Kopfe trug. Der Herr stieß einen Freudenschrei aus — es war Manilow. Beide schlossen einander in die Arme und verharrten etwa fünf Minuten lang in dieser Stellung. Dabei waren die Küsse, die sie austauschten, so kräftig und inbrünstig, daß ihnen beiden nachher den ganzen Tag über die Vorderzähne schmerzten. Von Manilows Gesicht blieben vor Freude nichts wie die Nase und die Lippen übrig, seine Augen waren überhaupt nicht mehr zu sehen. Etwa fünfzehn Minuten lang hielt er Tschitschikows Hand in seinen beiden Händen, bis sie ganz warm wurde. In der feinsten und liebenswürdigsten Weise erzählte er ihm, wie er herbeigeflogen wäre, um Pawel Iwanowitsch in seine Arme zu schließen, und er schloß seine Rede mit einem Kompliment, wie man es höchstens einem jungen Mädchen zu sagen pflegt, das man zum Tanze auffordert. Tschitschikow hatte kaum seinen Mund geöffnet, ohne noch recht zu wissen, wie er ihm danken sollte, als Manilow einen zusammengerollten Bogen Papier, der mit einem roten Bändchen zusammengebunden war, aus seinem Pelze hervorholte.

„Was ist das?“

„Das sind die Bauern.“

„Ah!“ — Er rollte den Bogen sogleich auf, überflog ihn schnell mit den Augen und war erstaunt über die Schönheit und Sauberkeit der Handschrift. „Ist das aber schön geschrieben!“ sagte er, „man braucht es gar nicht erst abschreiben zu lassen. Dazu noch der Rand rund herum! Wer hat denn diese wundervolle Einfassung gezeichnet!“

„Ach fragen Sie lieber gar nicht,“ sagte Manilow.

„Sie?“

„Meine Frau!“

„O mein Gott! Es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen soviel Mühe gemacht habe!“

„Für Pawel Iwanowitsch ist uns keine Mühe zu groß!“

Tschitschikow verbeugte sich dankend. Als Manilow erfuhr, daß er nach der Zivilkammer ging, um den Kaufkontrakt abzuschließen, erklärte Manilow sich bereit, ihn dorthin zu begleiten. Die Freunde faßten sich unter und gingen zusammen weiter. Bei jeder kleinen Erhöhung, bei jedem Hügel, oder jeder Stufe stützte Manilow Tschitschikow mit der Hand und hob ihn beinahe in die Höhe, wobei er angenehm lächelte und hinzufügte, er werde es nie zugeben, daß Pawel Iwanowitsch sich weh tue. Tschitschikow wurde verlegen, da er nicht wußte, wie er sich erkenntlich erweisen solle, denn er fühlte, daß er nicht ganz leicht war. So halfen sie sich gegenseitig, bis sie endlich auf dem Platze anlangten, wo das Gerichtsgebäude lag — ein großes dreistöckiges Haus, das so weiß war, wie ein Stück Kreide, wahrscheinlich, um die Seelenreinheit der in ihm tätigen Beamten zu symbolisieren. Die andern Häuser, die sich noch sonst auf dem Platze befanden, konnten sich an Größe nicht im geringsten mit dem steinernen Amtsgebäude messen. Dies waren: ein Wächterhäuschen, vor dem ein Soldat mit einer Flinte stand, zwei bis drei Standplätze für Mietskutschen, und endlich gab es noch hie und da einen von jenen langen Bretterzäunen, mit den bekannten Aufschriften und Zeichnungen, die mit Kohle oder Kreide hingemalt waren. Sonst war nichts auf diesem einsamen, oder wie man sich bei uns zu Lande auszudrücken pflegt, schönen Platze zu sehen. Aus den Fenstern des zweiten oder dritten Stockes guckten ein paar unbestechliche Häupter der Themispriester heraus, um im selben Augenblick wieder zu verschwinden: wahrscheinlich weil der Kanzlei-Chef gerade ins Zimmer trat. Die beiden Freunde traten nicht ein, sondern liefen eilig die Treppe hinauf, weil Tschitschikow seine Schritte beschleunigte, da er nicht wollte, daß Manilow ihn mit der Hand unterstützen solle, dieser aber lief seinerseits wieder voraus, weil er Tschitschikow nicht müde werden lassen wollte, und so kam es, daß beide ganz atemlos waren, als sie den dunkelen Korridor betraten. Weder der Korridor noch die Säle fielen ihnen durch ihre Reinlichkeit besonders auf. Damals kümmerte man sich noch recht wenig darum, und was einmal schmutzig war, blieb schmutzig und nahm niemals ein freundlicheres und angenehmeres Äußeres an. Themis empfing ihre Gäste ganz so wie sie war, im Negligé und im Schlafrock. Eigentlich sollten wir auch noch die Kanzleiräume beschreiben, durch die unsere Helden hindurchschritten, aber der Autor hat eine große Ehrfurcht vor allen Amtsgebäuden. Selbst wenn er Gelegenheit hatte, sie in der Periode ihres höchsten Glanzes, in einem gleichsam veredelten und verschönten Zustande kennen zu lernen und zu durchwandeln, das heißt, wenn die Dielen frisch gewichst und die Tische neu lackiert waren, lief er eilig, mit demütig gesenktem Blicke hindurch, daher hat er auch keine Ahnung davon, wie wohl sich dort alles fühlt und wie dort alles blüht und gedeiht. Unsere Helden sahen gewaltige Mengen Papier, reines und vollgeschriebenes, über den Tisch gebeugte Köpfe, breite Nacken, Fräcke und Röcke von kleinstädtischem Schnitt, oder sogar eine ganz gewöhnliche hellgraue Jacke, die recht stark von den andern abstach und deren Besitzer den Kopf auf die Schulter gebeugt, sodaß er fast auf dem Papier lag, mit schwungvollen Lettern ein Protokoll niederschrieb; wahrscheinlich handelte es von einem Gut, welches sein friedlicher Besitzer, irgend ein Gutsherr, der ein Menschenalter lang darum prozessiert und im ruhigen Genuß seines Eigentums Kinder und Enkel gezeugt, nun verloren hatte, oder das ihm irgendwo konfisziert worden war. Hie und da hörte man ein paar Worte oder kurze Sätze, die von einer heiseren Stimme gesprochen wurden: „Fedossej Iwanowitsch, reichen Sie mir doch die Akten Nr. 368! Immer werfen Sie den Deckel von dem Tintenfaß weg; er gehört doch dem Staat!“ Dazwischen hörte man eine majestätische Stimme, die ohne Zweifel einem Kanzleichef angehörte, gebieterisch rufen: „Da, schreib das ab, sonst laß ich dir die Schuhe ausziehen und dich einsperren, daß du mir sechs Tage lang nichts zu essen kriegst!“ Das Geräusch vom Federgekritzel war sehr stark und erinnerte an den Lärm, den ein paar Fuhren mit Reisig verursachen, wenn sie durch einen Wald fahren, dessen Wege einen Fuß hoch mit dürren Blättern bedeckt sind.

Tschitschikow und Manilow traten an den ersten Tisch, an dem zwei jüngere Beamten saßen, und fragten diese: „Bitte! Können Sie uns sagen, wo hier die Abteilung für Kaufverträge ist?“

„Was wollen Sie?“ sagten die beiden Beamten zugleich, indem sie sich umwandten.

„Ich habe ein Gesuch einzureichen!“

„Haben Sie etwas gekauft?“

„Ich möchte zuvor wissen, wo die Abteilung für Kaufverträge ist? Hier oder anderswo?“

„Sagen Sie uns doch, was Sie gekauft haben, und zu welchem Preise, dann werden wir Ihnen sagen, wohin Sie sich wenden müssen. So geht es doch nicht!“

Tschitschikow merkte sogleich, daß die Beamten einfach neugierig waren, wie alle jungen Beamten, und sich und ihrer Stellung mehr Gewicht und Bedeutung geben wollten.

„Hören Sie, meine verehrten Herren,“ sagte er, „ich weiß sehr gut, daß alle Angelegenheiten, die sich auf Kaufverträge beziehen, in ein und dasselbe Ressort gehören, ich bitte Sie daher, mir den Ort zu nennen, wohin ich mich zu wenden habe; wenn Sie nicht wissen, was in diesen Räumen vorgeht, dann müssen wir uns eben bei jemand anders erkundigen!“ Hierauf antworteten die Beamten gar nicht mehr, der eine zeigte bloß mit einem Finger auf eine Zimmerecke, wo ein alter Herr saß, der damit beschäftigt war, Akten zu numerieren. Tschitschikow und Manilow schritten zwischen den Tischen hindurch gerade auf ihn los. Der Alte war ganz in seine Tätigkeit versunken.

„Darf ich fragen,“ sagte Tschitschikow mit einer Verbeugung, „ob dies die Abteilung für Kaufverträge ist?“

Der Alte sah auf und sagte gedehnt: „Nein, hier ist keine Abteilung für Kaufverträge.“

„Wo denn?“

„Die ist in der Kontraktabteilung.“

„Und wo ist die Kontraktabteilung?“

„Bei Iwan Antonowitsch.“

„Und wo ist Iwan Antonowitsch?“

Der Alte zeigte mit dem Finger auf eine andere Zimmerecke, worauf Tschitschikow und Manilow sich zu Iwan Antonowitsch begaben. Iwan Antonowitsch hatte schon mit einem Auge nach ihnen hingeschielt und sie von der Seite angesehen, aber er beugte sich sogleich wieder über sein Papier und schrieb eifrig weiter.

„Darf ich fragen, ob dies die Abteilung für Kaufverträge ist,“ sagte Tschitschikow mit einer Verbeugung.

Iwan Antonowitsch schien ihn nicht gehört zu haben, denn er war ganz in seine Akten vertieft und antwortete nichts. Man sah sofort, daß dies ein Mann von reiferen Jahren war und kein junger Schwätzer und Springinsfeld. Anscheinend war Iwan Antonowitsch ein hoher Vierziger; er hatte dichtes, schwarzes Haar, die ganze mittlere Partie seines Gesichts trat stark hervor und schien sich gewissermaßen in der Nase konzentriert zu haben; mit einem Wort, es war eins von jenen Gesichtern, die man bei uns gewöhnlich als „Kannenschnauze“ zu bezeichnen pflegt.

„Darf ich fragen, wo hier die Abteilung für Kaufverträge ist?“ wiederholte Tschitschikow.

„Hier,“ sagte Iwan Antonowitsch, indem er seinen Rüssel ein wenig empor hob und sogleich wieder zu schreiben begann.

„Ich komme in folgender Angelegenheit: ich habe bei einigen Gutsbesitzern dieser Provinz Bauern gekauft, die ich zu Ansiedlungszwecken benutzen will; ich habe den Kontrakt mitgebracht, er muß bloß noch unterschrieben werden.“

„Und sind die Verkäufer zugegen?“

„Einige sind da, und von den anderen habe ich Vollmachten.“

„Haben Sie das Gesuch mitgebracht?“

„Jawohl, ich habe es hier! Ich möchte gern ... Ich habe große Eile ... Könnte ich die Sache nicht schon heute erledigen?“

„Hm! Heute! Nein heute geht es nicht,“ sagte Iwan Antonowitsch. „Man muß noch Erkundigungen einziehen, ob sie nicht verpfändet sind.“

„Übrigens ist Iwan Grigorowitsch, der Präsident, ein guter Freund von mir; da ließe sich ja etwas zur Beschleunigung der Sache tun.“

„Es handelt sich hier doch nicht bloß um Iwan Grigorowitsch; es sind doch noch andere da,“ sagte Iwan Antonowitsch mürrisch.

Tschitschikow merkte jetzt, wo der Hase im Pfeffer lag und sagte: „Die anderen sollen schon nicht zu kurz kommen. Ich habe selbst gedient und kenne den Instanzenweg.“

„Gehen Sie also zu Iwan Grigorowitsch,“ sagte Iwan Antonowitsch etwas besänftigt. „Er mag an passender Stelle seine Order geben. An uns soll es nicht liegen.“

Tschitschikow nahm einen Schein aus der Tasche und legte ihn vor Iwan Antonowitsch hin. Dieser nahm gar keine Notiz von ihm und deckte ihn sofort mit einem Buche zu. Tschitschikow wollte ihn darauf aufmerksam machen, aber Iwan Antonowitsch gab ihm durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß er das nicht wünsche!

„Der da wird Euch in die Kanzlei führen!“ sagte Iwan Antonowitsch, indem er mit dem Kopfe nickte. Und einer von den anwesenden Hohenpriestern, welcher Themis mit solchem Eifer opferte, daß seine beiden Ärmel an den Ellenbogen geplatzt waren und das Futter aus den Löchern hervorquoll, wofür er seinerzeit den Rang eines Kollegienregistrators erhalten hatte, übernahm die Führerrolle bei unseren Freunden, wie einst Vergil bei Dante, und geleitete sie in die Kanzlei, in der lauter breite Lehnstühle standen, auf deren einem vor einem Spiegeltisch und zwei dicken Büchern der Präsident gleich dem Sonnengott thronte. Hier fühlte sich der neue Vergil von einer solchen Ehrfurcht beseelt, daß er sich durchaus nicht entschließen konnte, seinen Fuß über die Schwelle zu setzen. Er kehrte daher um, indem er den Freunden seinen Rücken zuwandte, welcher abgerieben war wie eine Bastmatte, und an dem eine Hühnerfeder klebte. Als sie ins Zimmer traten, bemerkten sie, daß der Präsident nicht allein war, neben ihm saß Sabakewitsch, der ganz von dem Spiegel verdeckt wurde. Die Ankunft der Gäste entlockte den Anwesenden ein paar freudige Rufe, und der Präsidentensessel wurde geräuschvoll beiseite geschoben. Auch Sabakewitsch erhob sich und stand nun mit seinen langen Ärmeln von allen Seiten sichtbar da. Der Präsident umarmte Tschitschikow, und das Amtszimmer hallte wieder von den Küssen der Freunde. Man erkundigte sich gegenseitig nach dem Wohlergehen, und hierbei stellte sich heraus, daß beide an Hexenschuß litten, was man flugs der sitzenden Lebensweise aufs Konto setzte. Wie es schien war der Präsident von Sabakewitsch schon über das Kaufgeschäft unterrichtet; denn er gratulierte Tschitschikow aufs herzlichste, was unsern Helden zunächst ein wenig in Verlegenheit setzte, besonders jetzt, wo Sabakewitsch und Manilow, die beiden Verkäufer, mit denen er doch im geheimen, unter vier Augen verhandelt hatte, sich nun Aug in Auge gegenüberstanden. Er bedankte sich indessen beim Präsidenten und sagte dann, indem er sich zu Sabakewitsch wandte:

„Und wie befinden Sie sich?“

„Gott sei Dank, ich kann nicht klagen,“ sagte Sabakewitsch, und in der Tat, er hatte wirklich keinen Grund zur Klage, eher hätte sich ein Stück Eisen erkälten und den Husten bekommen können, als dieser wunderbar gebaute Gutsbesitzer.

„Ja, Sie durften sich immer einer guten Gesundheit rühmen,“ sagte der Präsident. „Ihr seliger Herr Vater war auch so stark wie Sie.“

„Ja, der ging auch allein auf die Bärenjagd!“ antwortete Sabakewitsch.

„Mir scheint, Sie würden es auch fertig bringen, einen Bären umzuschmeißen, wenn Sie allein mit ihm in den Kampf gerieten,“ meinte der Präsident.

„Nein, das bringe ich doch nicht fertig,“ antwortete Sabakewitsch. „Mein seliger alter Herr war doch kräftiger als ich,“ und er fuhr seufzend fort: „Nein, heutzutage gibt’s keine solchen Menschen mehr. Nehmen Sie z. B. gleich mein Leben. Was ist das für ein Leben, nur so, so, lala ...“

„Und warum ist Ihr Leben nicht schön?“ fragte der Präsident.

„Nein, schön kann man es wirklich nicht nennen,“ sagte Sabakewitsch kopfschüttelnd. „Denken Sie doch selbst, Iwan Grigorjewitsch, ich bin schon in den Fünfzigern und bin noch nie krank gewesen; wenn ich auch nur ein einziges Mal Halsschmerzen, ein Geschwür, oder einen Furunkel gehabt hätte .... Das nimmt sicher kein gutes Ende! Das wird sich noch einmal rächen ...“ Bei diesen Worten wurde Sabakewitsch sehr melancholisch.

„Daß dich der ...!“ dachten fast gleichzeitig Tschitschikow und der Präsident: „Worüber der nicht zu klagen hat!“

„Ich habe auch einen Brief für Sie,“ sagte Tschitschikow, während er Pljuschkins Schreiben aus der Tasche zog.

„Von wem?“ fragte der Präsident. Er nahm den Brief in Empfang, entsiegelte ihn und rief erstaunt aus: „Von Pljuschkin! Existiert der auch noch auf dieser Welt? Das ist auch ein Leben! Was war das doch für ein kluger und wohlhabender Mann! Und nun ...“

„Ein Schweinehund!“ sagte Sabakewitsch. „So ein Schuft, der läßt all seine Leute verhungern!“

„Gern, mit Vergnügen!“ rief der Präsident, nachdem er den Brief gelesen hatte, „ich will ihn gerne vertreten! Wann wünschen Sie den Kauf abzuschließen? Jetzt gleich oder etwas später?“

„Gleich!“ versetzte Tschitschikow: „Ich möchte Sie sogar bitten, dafür zu sorgen, daß es gleich heute geschieht. Ich möchte nämlich schon morgen wieder weiterreisen, den Kontrakt und das Gesuch habe ich gleich mitgebracht!“

„Das ist alles sehr schön und gut, aber Sie werden schon verzeihen: so früh können wir Sie unmöglich fortlassen. Die Kontrakte sollen noch heute unterschrieben werden, aber Sie werden sich schon entschließen müssen, noch ein paar Tage mit uns zu verleben. Ich will sogleich Order erteilen,“ fuhr er fort, indem er die Tür der Kanzlei öffnete, welche ganz voll von Beamten war, die wie ein Bienenschwarm ihre Zellen umschwärmten, wenn nur ein Vergleich der Akten mit Bienenzellen zulässig ist: „Ist Iwan Antonowitsch hier?“

„Ja! Hier!“ antwortete eine Stimme aus dem Innern des Zimmers.

„Er soll herkommen!“

Iwan Antonowitsch, die Kannenschnauze, deren Bekanntschaft der Leser schon gemacht hat, erschien im Amtszimmer und machte eine devote Verbeugung.

„Bitte, Iwan Antonowitsch, nehmen Sie doch alle diese Kaufverträge und ...“

„Iwan Grigorjewitsch!“ fiel hier Sabakewitsch ein, „bitte vergessen Sie nicht, daß wir auch noch Zeugen brauchen, wenigstens zwei Mann von jeder Partei. Schicken Sie doch gleich zum Staatsanwalt, er hat nicht viel zu tun und sitzt sicher zu Hause: Solotucha, der Anwalt, besorgt all seine Arbeiten; einen größeren Räuber wie den gibt’s auf der Welt nicht wieder! Der Sanitätsinspektor ist auch nicht sehr beschäftigt, und ist wahrscheinlich auch zu Hause, wenn er nicht bei einem Bekannten sitzt und Karten spielt; ach, und dann gibt’s ja noch eine ganze Reihe von Leuten, die hier in der Nähe wohnen: Truchatschewski, Bjeguschkin — lauter Leute, die der lieben Erde durch ihren Müßiggang zur Last fallen!“

„Richtig! Sehr richtig!“ sprach der Präsident, und schickte sofort einen Kanzleibeamten fort, um sie holen zu lassen.

„Ich habe noch eine Bitte,“ sagte Tschitschikow: „Schicken Sie doch bitte noch nach dem Vertrauensmann einer Gutsbesitzerin, mit der ich auch ein kleines Geschäft abgeschlossen habe — es ist der Sohn des Oberpriesters Pater Cyrill; er dient bei Ihnen.“

„Mit Vergnügen, ich will ihn gleich holen lassen!“ sprach der Präsident: „es wird alles besorgt, ich bitte Sie nur eins, geben Sie den Beamten nichts. Meine Freunde brauchen nicht zu zahlen.“ Hierauf gab er Iwan Antonowitsch noch einen Auftrag, der diesem recht wenig zu gefallen schien. Die Verträge schienen einen vortrefflichen Eindruck auf den Präsidenten gemacht zu haben, besonders als er sah, daß die Kaufsumme nahezu hunderttausend Rubel betrug. Er sah Tschitschikow einige Minuten lang in die Augen und sagte schließlich: „Sehen Sie wohl, Pawel Iwanowitsch. Sie haben also eine Akquisition gemacht!“

„Sehr richtig!“ antwortete Tschitschikow.

„Daran haben Sie wohl getan. Wahrhaftig! Daran haben Sie sehr wohl getan!“

„Ja, jetzt sehe ich selbst, daß ich nichts Besseres tun konnte. Mag es sein, wie es will, der Lebenszweck des Menschen ist noch nicht endgültig fixiert, solange er nicht festen Fuß auf dauerndem Grunde gefaßt hat, und noch irgend einem chimärischen Jugendideal der Freidenker nachjagt.“ Bei dieser Gelegenheit verfehlte er nicht ein paar tadelnde Worte über die jungen Leute und ihren Liberalismus zu sagen, und das von Rechts wegen. Aber, was sehr merkwürdig war, es lag in seinen Worten noch immer eine gewisse Unsicherheit, wie wenn er gleich darauf zu sich sagen wollte: ‚Ach was? Bester, du schwindelst, und nicht zu knapp!‘ Ja, er wagte es nicht einmal, Sabakewitsch und Manilow anzusehen, weil er sich fürchtete, einem unliebsamen Ausdruck in ihren Gesichtern zu begegnen. Aber seine Sorge war unnütz; in Sabakewitschs Gesicht regte und rührte sich nichts, Manilow aber war ganz hingerissen von der schönen Rede, schüttelte bloß den Kopf vor Vergnügen, und geriet dabei in eine solche seelische Verzücktheit, wie sie sich wohl eines Musikkenners zu bemächtigen pflegt, wenn die Sängerin noch die Violine überbietet und einen so feinen hohen Ton in die Luft schmettert, wie ihn selbst eine Vogelkehle nicht herauszubringen vermag.

„Warum sagen Sie denn Iwan Grigorjewitsch nicht, was Sie eigentlich gekauft haben?“ bemerkte Sabakewitsch. „Und Sie, Iwan Grigorjewitsch? Fragen Sie denn garnicht, was für einen Kauf er gemacht hat? Wüßten Sie nur, was für prächtige Leute das sind! Gold ist nichts dagegen! Ich habe ihm doch auch den Wagenmacher Michejew verkauft.“

„Wahrhaftig? Nein?“ versetzte der Präsident. „Ich kenne den Michejew; der Mann ist ein Meister in seinem Fach; er hat mir einmal eine Droschke repariert. Aber erlauben Sie mal ... Wie ist denn das? ... Haben Sie mir denn nicht gesagt, daß er gestorben ist? ...“

„Wer? Michejew tot?“ fragte Sabakewitsch, der auch nicht einen Augenblick die Fassung verlor. „Sie meinen wohl seinen Bruder, der ist allerdings tot; dieser hier ist so gesund, wie ein Fisch im Wasser; der fühlt sich noch wohler als früher. Vor kurzem hat er mir noch eine solche Kutsche gebaut, wie Sie sie nicht einmal in Moskau bekommen. Der sollte eigentlich zum Hoflieferanten des Kaisers ernannt werden.“

„Ja, Michejew ist ein Meister,“ versetzte der Präsident, „ich wundere mich eigentlich, daß Sie sich so leicht von ihm trennen konnten.“

„Ja, wenn’s nur der eine Michejew wäre! Stepan Probka, der Tischler, der Ziegelbrenner Miluschkin, der Schuster Maksim Teljatnikow — sie gehen alle fort, ich habe sie alle zusammen verkauft.“ Und als der Präsident fragte, warum er sie denn gehen lasse, wenn es doch lauter nützliche Leute und Handwerker seien, die er in seinem Haushalt brauchen könne, antwortete Sabakewitsch, indem er eine gleichgültige Handbewegung machte: „Ich weiß nicht, es ist mir mal so’ne dumme Idee in den Kopf gekommen! Ich habe mir halt gedacht: ach was, ich verkaufe sie, und hab’ sie dann dummer Weise wirklich verkauft!“ Hierauf ließ er den Kopf hängen, wie wenn es ihn jetzt tatsächlich reute, und er fügte hinzu: „Da wird man alt und grau und wird doch nicht klüger!“

„Aber erlauben Sie mal, Pawel Iwanowitsch,“ sagte der Präsident. „Wozu kaufen Sie eigentlich Bauern, ohne Land? Brauchen Sie sie etwa zu Ansiedelungszwecken?“

„Natürlich zu Ansiedelungszwecken!“

„So, das ist freilich was andres. Und wo wollen Sie sie ansiedeln?“

„In dem .... Im Gouvernement Cherson.“

„O, da gibt es ausgezeichneten Boden!“ sprach der Präsident, und er sprach sich sehr lobend über die Höhe und Güte des dortigen Grases aus.

„Und haben Sie auch Land genug?“

„Vollkommen genug — genau soviel, als ich brauche, um die Bauern anzusiedeln.“

„Gibt’s dort auch einen Fluß oder nur einen Teich?“

„Einen Fluß. Übrigens ist auch ein Teich da.“ Bei diesen Worten sah Tschitschikow im Versehen Sabakewitsch an, und obwohl dieser ebenso unbeweglich wie vorher in seiner Stellung verharrte, schien es Tschitschikow doch, als läse er in dessen Gesichte die Worte: „Du schwindelt, mein Lieber! Ich bezweifle sehr, daß dieser Teich und Fluß und das ganze Land überhaupt existieren.“

Während die Unterhaltung noch ihren Fortgang nahm, erschienen allmählich die Zeugen: der Staatsanwalt, den der Leser schon kennt und der ewig mit dem linken Augenlide zuckte, der Inspektor der Sanitätskommission, ferner die Herren Truchatschewski, Bjeguschkin und die andern, die nach Sabakewitschs Worten der Erde durch ihren Müßigang zur Last fallen. Viele von ihnen kannte Tschitschikow noch garnicht; die fehlenden Zeugen wurden durch einige diensthabende Beamte ersetzt. Man hatte nicht nur den Sohn des Oberpriesters, Pater Cyrill, sondern auch den Oberpriester selbst herangeholt. Jeder von den Zeugen setzte seine Unterschrift mit Aufführung all seiner Titel und Würden unter das Dokument, der eine in runder, der andre in schräger Schrift; bei einem dritten schienen sozusagen die Buchstaben auf dem Kopf zu spazieren, oder es liefen solche Lettern mit unter, wie sie im russischen Alphabet garnicht einmal vorkommen. Iwan Antonowitsch erledigte alles gewandt und sicher, die Kontrakte wurden notifiziert, mit dem Datum versehen, und in die Bücher und wohin sich’s sonst noch gehört, eingetragen, nachdem die ein halbes Prozent betragenden Gebühren und Spesen für die Ankündigung im Amtsblatt erhoben worden waren, sodaß Tschitschikow nur eine Kleinigkeit zu bezahlen brauchte. Ja, der Präsident gab sogar Order ihm nur die Hälfte von den Gebühren anzurechnen, während die andre Hälfte einem andern Kontrahenten auf die Rechnung gestellt wurde. Wie man das fertig brachte, weiß der liebe Himmel.

„Und nun,“ sagte der Präsident, nachdem alles glücklich erledigt war, „hätten wir das Geschäft nur noch zu begießen.“

„Mit Vergnügen,“ sagte Tschitschikow. „Ich überlasse es Ihnen, die Zeit zu bestimmen. Es wäre eine Sünde, wenn ich meinerseits mich weigern wollte, in so angenehmer Gesellschaft ein paar Flaschen Sekt springen zu lassen.“

„Nein, das fassen Sie falsch auf: den Sekt stellen wir selbst,“ sagte der Präsident; „das ist nur unsere Pflicht und Schuldigkeit. Sie sind unser Gast: also laden wir Sie ein. Wissen Sie was meine Herren? Gehen wir doch einstweilen mal zum Polizeimeister: das ist ein richtiger Zauberkünstler; wenn der am Fischmarkt oder an einer Weinhandlung vorübergeht, braucht er nur zu winken, und es steht gleich ein glänzendes Frühstück da, zu dem man sich gratulieren kann. Bei dieser Gelegenheit können wir auch eine Partie Whist machen.“

Ein solch vernünftiges Anerbieten konnte niemand ausschlagen. Den Zeugen lief schon bei der bloßen Erwähnung des Fischmarktes das Wasser im Munde zusammen; alles griff sofort zu Hut oder Mütze, und die Sitzung war zu Ende. Als man durch die Kanzlei schritt, sagte Iwan Antonowitsch — die Kannenschnauze — mit einer höflichen Verbeugung zu Tschitschikow: „Sie haben für hunderttausend Rubel Bauern gekauft, und ich habe nur fünfundzwanzig für meine Mühe bekommen.“

„Ja, was sind denn das für Bauern,“ flüsterte ihm Tschitschikow leise zu: „lauter schlechtes nichtsnutziges Volk, die sind noch nicht die Hälfte wert.“ Iwan Antonowitsch begriff, daß er einem Mann von festem Charakter gegenüberstand, von dem er nicht mehr herausbekommen würde.

„Wieviel hat Ihnen Pljuschkin für die Seele abgenommen?“ flüsterte ihm Sabakewitsch ins andere Ohr.

„Und warum haben Sie den Sperling eingeschmuggelt?“ antwortete ihm Tschitschikow.

„Welchen Sperling?“ fragte Sabakewitsch.

„Na das Weibsbild, die Elisabetha Sperling. Sie haben ja noch us statt a geschrieben.“

„Von diesem Sperling weiß ich nichts,“ sagte Sabakewitsch und mischte sich unter die anderen Gäste.

Die Gäste begaben sich schließlich in corpore nach dem Hause des Polizeimeisters. Der Polizeimeister war tatsächlich ein Zauberkünstler; kaum hatte er gehört, worum es sich handelte, als er schon einen Polizeikommissar, einen schneidigen Kerl in hohen Lackstiefeln, zu sich heranrief und ihm, wie es schien, kaum mehr als zwei Worte ins Ohr flüsterte; dann fragte er ihn nur noch kurz: „Hast du verstanden?“, und schon erschienen im andern Zimmer, während die Gäste noch ihren Whist droschen, die herrlichsten Dinge auf dem Tische: Störe, Hausen, geräucherter Lachs, frischer und gepreßter Kaviar, Hering, Wels, allerhand Käsesorten, geräucherte Zunge — dies wenigstens war das Menu, soweit es den Fischmarkt betraf. Dazu kamen noch einige Zugaben, die aus dem eigenen Haushalt und der eigenen Küche stammten: eine Fischpastete, die mit dem Knorpel und den Kiemen eines neun Pud schweren Störs gefüllt war, eine Pastete mit Pfifferlingen, Pastetchen aus Butterteig, Splittertörtchen usw. Der Polizeimeister war in gewissem Sinne der Vater und der Wohltäter der Stadt. Er benahm sich im Kreise der Bürger ganz wie im eigenen Familienkreise, und in den Läden oder auf dem Tuchmarkt wußte er Bescheid wie in seiner eigenen Speisekammer. Er war überhaupt, wie man zu sagen pflegt, ganz an seinem Platz und hatte seinen Beruf aus dem ff heraus. Es wäre sicherlich schwer zu entscheiden gewesen, ob er für sein Amt oder sein Amt für ihn geschaffen war. Er wußte seinen Posten so gut auszufüllen, daß seine Einnahmen sich beinahe auf das Doppelte von dem beliefen, was seine Vorgänger erhalten hatten, und doch war er in der ganzen Stadt allgemein beliebt. Die Kaufleute schätzten ihn am meisten, ganz besonders weil er gar nicht stolz war; und in der Tat, er hob ihre Kinder aus der Taufe, stand mit ihnen Gevatter, und obwohl er sie tüchtig bluten ließ, machte er doch auch dies mit einer ganz besonderen Geschicklichkeit: entweder klopfte er ihnen freundlich auf die Schulter und lächelte ihnen zu, oder er lud sie zum Tee ein, ließ sich zu einer Partie Dame auffordern und fragte sie nach allem aus: wie die Geschäfte gehen und wie es sonst stände; wenn er erfuhr, daß eins der Kinder krank sei, dann wußte er gleich Rat und verschrieb ihm die richtige Arzenei; mit einem Wort, er war ein ganz famoser Kerl. Kam er in seinem Wagen daher gefahren, um überall für Ordnung zu sorgen, dann hatte er immer für den einen oder andern das rechte Wort bereit: „Nun Michej, sollen wir nicht einmal unser Spielchen zu Ende spielen.“ — „Freilich, Alexei Iwanowitsch,“ antwortet dieser und zieht die Mütze, „freilich sollten wir!“ „Hör doch, Ilja Paramonowitsch, komm doch mal zu mir und sieh dir mein Rennpferd an; das läuft noch schneller als das deine; laß es doch auch mal vor den Rennschlitten spannen, und dann wollen wir sehen!“ Der Kaufmann, der ein passionierter Pferdefreund war, lächelte hierbei ganz besonders zufrieden, strich sich den Bart und sagte: „Gut, wir wollen sehen! Alexei Antonowitsch!“ Selbst die Ladendiener nahmen hierbei ihre Mützen ab und sahen sich vergnügt an, wie wenn sie sagen wollten: „Alexei Antonowitsch ist doch ein prächtiger Mensch!“ Mit einem Wort, er war sehr populär, und die Kaufleute hatten eine sehr hohe Meinung von ihm und sagten: „Alexei Antonowitsch nimmt zwar ein bissel viel, dafür hält er aber auch sein Wort.“

Als der Polizeimeister sich überzeugte, daß das Frühstück fertig sei, forderte er seine Gäste auf, den Whist nach Tisch fortzusetzen, und alle begaben sich in das Zimmer, von dem aus sich schon lange ein angenehmer Geruch bis in die Nebengemächer verbreitete. Dieser Geruch hatte die Nasen unserer Gäste schon längst in angenehmer Weise gekitzelt, und Sabakewitsch schielte fortwährend durch die Türe nach dem Tisch, da er bereits von dem Stör Notiz genommen hatte, der etwas abseits auf einem großen Teller lag. Nachdem die Gäste erst einen Likör von jener dunkelgrünen Olivenfarbe gekostet hatten, wie man sie nur an den durchsichtigen sibirischen Steinen beobachtet, aus denen bei uns in Rußland Petschaften gemacht werden, trat man von allen Seiten mit Gabeln bewaffnet an den Tisch. Hierbei zeigten sich, wie man zu sagen pflegt, der Charakter und die Neigungen eines jeden in ihrem wahren Lichte, indem der eine sich an den Kaviar, ein anderer an den Lachs, ein dritter an den Käse heranmachte. Sabakewitsch würdigte indessen all diese Kleinigkeiten keines Blickes und richtete sich in nächster Nachbarschaft vom Stör ein; während jene aßen, tranken und sich unterhielten, verleibte er ihn sich in einer kurzen Viertelstunde völlig ein, und als der Polizeimeister sich an den Fisch erinnerte und mit den Worten: „Und was denken Sie von diesem Naturprodukt, meine Herren!“ zugleich die andern aufforderte, ihm zu folgen und mit der Gabel in der Hand vor den Stör hintrat, da merkte er, daß von dem Naturprodukt nur noch der Schwanz übrig geblieben war; Sabakewitsch aber tat so, als ob ihn die Sache garnichts anginge, trat vor einen Teller, der etwas abseits von den andern stand, und stocherte mit der Gabel auf einem kleinen getrockneten Fischchen herum. Nachdem er den Stör verarbeitet hatte, ließ sich Sabakewitsch in einen Lehnstuhl sinken und aß und trank von da ab nichts mehr, sondern blinzelte nur noch mit den Augen. Der Polizeimeister liebte, wie es schien, nicht mit dem Wein zu sparen. Der erste Toast wurde, wie die Leser vielleicht selbst erraten werden, auf das Wohl des neuen Gutsbesitzers von Cherson ausgebracht. Der zweite galt dem Wohlergehen seiner Bauern und ihrer glücklichen Ansiedlung. Dann trank man auf die Gesundheit seiner künftigen reizenden Ehehälfte, was unserm Helden ein freundliches Lächeln entlockte. Dann drängten sich alle um ihn und suchten ihn zu überreden, daß er doch noch wenigstens zwei Wochen in der Stadt bleiben möge. „Nein, Pawel Iwanowitsch! Das hieße ja die Wohnung kalt werden lassen: über die Schwelle und gleich wieder fort! Nein, bleiben Sie doch noch eine Zeitlang bei uns! Kommen Sie, wir wollen Sie verheiraten. Nicht wahr, Iwan Grigorjewitsch, wir verschaffen ihm eine Frau?“

„Ja, ja, eine Frau!“ fiel der Präsident ein, „sträuben Sie sich mit Händen und Füßen, soviel Sie wollen, Sie werden doch verheiratet! Nichts da, mein Bester! Mitgefangen, mitgehangen! Da dürfen Sie sich nicht beklagen, wir lieben nicht zu spaßen!“

„Warum nicht, wozu sollte ich mich mit Händen und Füßen dagegen stemmen? Die Heirat ist doch nicht solch eine Sache, daß man darüber gleich ... Wenn nur eine Braut da wäre.“

„Die Braut wird sich schon finden! Wie sollte sie nicht? Es wird sich alles finden, alles was Sie nur wollen.“

„Nun, unter diesen Umständen ...“

„Bravo, er bleibt!“ schrieen alle: „Vivat Hurrah! Pawel Iwanowitsch, Hurrah!“ Und alle traten mit den Gläsern in der Hand auf Tschitschikow zu, um mit ihm anzustoßen. Tschitschikow stieß mit allen an.

„Nein, noch einmal!“ sagten die Tollsten, und die Gläser mußten noch einmal erklingen; ja sie wollten noch zum dritten Mal anstoßen, und so machte man es denn zum dritten Male. In kurzer Zeit wurden alle außerordentlich lustig. Der Präsident, welcher in angeheitertem Zustande ein äußerst lieber Mensch war, schloß Tschitschikow mehrmals in seine Arme und stammelte im Übermaß seines Gefühles: „Mein liebes Herz, mein liebes Mamachen!“ Ja, er knipste sogar mit den Fingern und begann um Tschitschikow herumzutanzen, wobei er das bekannte Volkslied anstimmte: „Ach du Hundesohn! du Bauer aus Komarinsk.“ Nach dem Sekt ging man zu den Ungarweinen über, welche die Stimmung noch mehr hoben und noch mehr zur Erheiterung der Gesellschaft beitrugen. Der Whist war ganz und gar vergessen: man schrie, man zankte, man unterhielt sich über alle möglichen und unmöglichen Dinge — über Politik, ja sogar über militärische Fragen, man führte freie Reden, für die ein jeder unter gewöhnlichen Umständen seine eigenen Kinder durchgeprügelt hätte. Bei dieser Gelegenheit wurde eine ganze Reihe höchst schwieriger Probleme zur Lösung gebracht. Tschitschikow hatte sich noch nie so froh und heiter gefühlt, er kam sich tatsächlich schon als Chersonscher Gutsbesitzer vor, sprach von allerhand wirtschaftlichen Neuerungen und Verbesserungen, von dem Dreifeldersystem, von dem Glück und der Seligkeit zweier Seelen und deklamierte Sabakewitsch sogar eine gereimte Epistel von Werther an Charlotte vor, wozu jener nur mit den Augen blinzelte, denn er saß in seinem Lehnstuhl und fühlte nach dem Stör eine starke Neigung zum Schlafen. Tschitschikow sah bald selbst ein, daß er sich vielleicht zu sehr habe gehen lassen, er erkundigte sich, ob er nicht einen Wagen bekommen könne und benutzte schließlich die Equipage des Staatsanwalts, um nach Hause zu fahren. Der Kutscher war, wie es sich unterwegs herausstellte, ein gewiegter Wagenlenker, denn er hielt die Zügel in der einen Hand, während er die andere zurückstreckte, um den bedenklich hin und her schwankenden Tschitschikow festzuhalten. So langte dieser im Wagen des Staatsanwalts im Gasthof an, wo er noch lange Zeit allerhand tolles Zeug schwatzte: von einer blonden Braut mit roten Backen und einem Grübchen auf der rechten Wange, von Chersonschen Gütern, Kapitalien und dergleichen mehr. Seliphan erhielt sogar verschiedene Aufträge, die sich auf die Gutsverwaltung bezogen: so sollte er zum Beispiel alle neu angesiedelten Bauern herbeiholen und jeden einzeln aufrufen. Seliphan hörte lange schweigend zu und verließ dann das Zimmer, nachdem er zu Petruschka gesagt hatte: „Geh, kleide den Herrn aus!“ Petruschka versuchte es zunächst, Tschitschikow die Stiefel auszuziehen, wobei er ihn beinahe selbst vom Bette heruntergezogen hätte. Schließlich war er damit fertig, der Herr entkleidete sich, wie es sich gehört, wälzte sich noch ein paar Minuten im Bette herum, welches gewaltig krachte und ächzte, und schlief tatsächlich als Chersonscher Gutsbesitzer ein. Unterdessen trug Petruschka die Hosen und den preißelbeerfarbenen Frack mit den Sternchen ins Vorzimmer hinaus, hängte sie über den hölzernen Kleiderhalter und bearbeitete sie so kräftig mit dem Ausklopfer und der Kleiderbürste, daß der ganze Korridor in eine Staubwolke gehüllt zu sein schien. Als er die Kleider oben herunternehmen wollte, erblickte er Seliphan von der Gallerie aus, der soeben aus dem Stall zurückkehrte. Ihre Augen begegneten sich, und sie verstanden sich sofort wie durch einen gewissen Instinkt: der Herr schlief, warum sollte man da nicht einem bekannten Lokal einen kleinen Besuch abstatten? Petruschka trug also Frack und Hosen schnell wieder ins Zimmer, lief die Treppe hinunter, und beide machten sich, ohne ein Wort über ihr eigentliches Reiseziel zu verlieren, unter ganz gleichgültigen Gesprächen auf den Weg. Ihr Spaziergang nahm nicht allzuviel Zeit in Anspruch, sie gingen bloß über die Straße, bewegten sich auf ein Haus zu, das dem Gasthof gerade gegenüberlag, und traten durch eine niedrige rauchgeschwärzte Glastür, die in eine Art Kellerraum führte, in das Lokal, wo schon eine ganze Gesellschaft von allerhand Leuten ihrer wartete: da gab’s Rasierte und Unrasierte, Männer mit Pelzen und ohne solche, im bloßen Hemd und hie und da auch einen in einem Mantel. Wie Petruschka und Seliphan hier ihre Zeit verbrachten, — weiß nur der liebe Gott; genug sie kamen nach einer Stunde Arm in Arm und stumm wieder heraus, wobei sie sehr besorgt umeinander zu sein schienen und sich gegenseitig auf jede Straßenecke aufmerksam machten. Dann stiegen sie wohl eine Viertelstunde lang Arm in Arm und ohne einander auch nur einen Augenblick loszulassen, die Treppe hinauf, bis auch dies Hindernis genommen war und sie oben anlangten. Petruschka blieb einen Moment vor seinem niedrigen Bette stehen, still erwägend, wie er sich wohl am besten darin plazieren könnte, dann legte er sich quer darüber, sodaß seine Füße den Fußboden berührten. Seliphan stieg in dasselbe Bett, indem er seinen Kopf auf Petruschkas Bauch legte; er hatte ganz vergessen, daß dies ja nicht seine eigentliche Schlafstätte, und daß sein Platz irgendwo in der Bedientenstube oder im Stall bei den Pferden war. Beide schliefen sofort ein, indem sie ein Schnarchduett von gewaltiger Kraft und Stärke anstimmten, dem ihr Herr mit seinem feinen Zephyrsäuseln durch die Nase sekundierte. Bald darauf wurde es auch im ganzen Gasthofe still, und ein tiefer Schlaf bemächtigte sich aller Bewohner; nur in einem Fenster schimmerte noch ein schwacher Lichtschein; dort wohnte ein angereister Leutnant aus Rjasan, der eine große Leidenschaft für Stiefel zu haben schien, denn er hatte sich bereits vier Paar Schuhe bestellt, und ließ sich nun schon das fünfte Paar anmessen. Wiederholt trat er ans Bett, um sich die Stiefel auszuziehen und sich niederzulegen, aber er konnte sich nicht dazu entschließen: die Stiefel saßen wirklich vorzüglich und immer wieder hob er den Fuß in die Höhe und betrachtete wohlgefällig den schneidigen, wunderbar geformten Absatz.

Achtes Kapitel

Tschitschikows Einkäufe waren bereits der Gegenstand des Stadtgespräches geworden. Man stritt, man unterhielt sich und debattierte darüber, ob es vorteilhaft sei, Bauern zu Ansiedelungszwecken anzukaufen. Viele von diesen Debatten zeichneten sich durch Gründlichkeit und Sachlichkeit aus: „Natürlich ist das so,“ sagten die einen, „das läßt sich nicht bestreiten, der Boden ist in den südlichen Gouvernements wirklich gut und sehr fruchtbar; aber was werden Tschitschikows Bauern ohne Wasser anfangen? da gibt’s doch gar keine Flüsse.“ — „Das wäre noch nicht schlimm, daß es kein Wasser gibt, das macht noch nichts, Stepan Dimitrwejewitsch; aber die Kolonisation ist eine sehr riskante Sache. Man weiß ja, wie so’n Bauer ist: da wird er auf eine ganz jungfräuliche Scholle verpflanzt, und soll nun Ackerbau treiben — und dabei ist nichts da — weder Haus noch Hof — ich sag Ihnen, der läuft davon, das ist so sicher wie zwei mal zwei vier, schnallt sich seine Schuhe an, macht daß er fortkommt, dann können Sie lange suchen, bis Sie ihn finden!“ — „Nein, erlauben Sie mal, Alexei Iwanowitsch, ich bin durchaus nicht Ihrer Ansicht, wenn Sie sagen, die Bauern werden dem Tschitschikow davonlaufen. Ein rechter Russe ist zu allem fähig und gewöhnt sich an jedes Klima. Geben Sie ihm nur ein Paar warme Handschuhe, dann können Sie ihn schicken, wohin Sie wollen, meinetwegen bis nach Kamtschatka, der läuft ein bißchen herum, bis er warm ist, nimmt die Axt und baut sich eine neue Hütte.“ „Aber lieber Iwan Grigorjewitsch, du hast eins ganz vergessen: du hast garnicht berücksichtigt, was das für Leute sind, die Tschitschikow da gekauft hat. Du vergißt ganz, daß ein Gutsbesitzer doch einen tüchtigen Kerl nicht so leicht ziehen läßt, ich möchte meinen Kopf dafür geben, daß das lauter Säufer, Trunkenbolde und wilde arbeitsscheue Leute sind.“ — „Schon gut, das gebe ich zu, das ist freilich richtig, daß niemand einen tüchtigen Kerl verkaufen wird, und daß Tschitschikows Leute wahrscheinlich größtenteils Trinker sind, aber man muß doch beachten, daß ja gerade dies die Moral von der Geschichte ist: jetzt sind es vielleicht lauter Taugenichtse, wenn man sie aber ansiedelt, können plötzlich brave und tüchtige Untertanen daraus werden. Das ist doch nicht der erste Präzedenzfall in der Welt und in der Geschichte.“ „Nie — niemals,“ versetzte der Verwalter der Staatsfabriken: „glauben Sie mir, das kann niemals passieren, denn gegen Tschitschikows Bauern werden sich jetzt zwei mächtige Feinde erheben. Der eine Feind — das ist die Nähe der kleinrussischen Gouvernements, wo, wie bekannt, der Branntweinverkauf frei ist. Ich versichere Ihnen, in zwei Wochen werden sie dem Suff verfallen und Faullenzer und Tagediebe sein. Der zweite Feind — das ist die Gewohnheit und der Hang zum Vagabundenleben, den sich die Bauern durch die Übersiedelung erwerben werden. Es müßte denn sein, daß Tschitschikow sie beständig im Auge behält und beaufsichtigt, er müßte sie sehr streng behandeln, für jede Kleinigkeit hart bestrafen und sich dabei nicht etwa auf einen anderen verlassen, sondern selbst überall, wo es nötig ist, Püffe und Maulschellen austeilen.“ — „Wozu soll Tschitschikow denn die Püffe selbst austeilen? Dazu kann er sich doch einen Verwalter nehmen.“ — „Ja finden Sie gefälligst einen guten Verwalter? Das sind lauter Gauner und Halunken!“ — „Sie sind nur darum Gauner, weil die Besitzer es eben nicht richtig anzustellen wissen.“ — „Das ist richtig,“ fielen hier viele ein. — „Wenn der Gutsherr nun selbst etwas von der Landwirtschaft versteht, und seine Leute kennt — dann wird er immer einen tüchtigen Verwalter finden.“ Aber der Direktor der Staatsfabriken wandte ein, für weniger als 5000 Rubel könne man keinen guten Verwalter finden. Dagegen bemerkte der Präsident, man könne auch schon für 3000 einen haben, worauf der Direktor erklärte: „Wo wollen Sie ihn denn hernehmen? Sie können ihn sich doch nicht aus der Nase ziehen?“ worauf der Präsident versetzte: „Aus der Nase freilich nicht, nein, aber hier, im hiesigen Kreise, da gibt es einen, nämlich Peter Petrowitsch Samoilow: das ist der rechte Mann, wie ihn Tschitschikow für seine Bauern braucht!“ Viele versuchten sich in Tschitschikows Lage zu versetzen, und die große Schwierigkeit, eine solche Menge von Bauern in einem fremden Lande anzusiedeln, erfüllte sie mit Angst und Besorgnis; jemand äußerte sogar die Befürchtung, es könne noch ein Aufruhr unter diesen unruhigen Elementen, wie die Bauern Tschitschikows es wären, ausbrechen. Darauf bemerkte der Polizeimeister, einen Aufruhr brauche man nicht zu befürchten; um dies zu verhindern, gebe es ja Gottlob eine Macht: nämlich den Kreisrichter; der Kreisrichter brauche sich nicht einmal selbst an Ort und Stelle zu begeben, sondern nur seinen Hut hinzusenden, dieser Hut würde schon genügen, um die Bauern zur Raison zu bringen, sodaß sie sich zerstreuen und ruhig nach Hause gehen würden. Viele äußerten ihre Ansichten und machten Vorschläge, wie der aufrührerische Geist niederzuhalten sei, der Tschitschikows Bauern ergriffen habe. Die Meinungen darüber gingen recht weit auseinander. Es gab solche, die sich gar zu sehr durch eine gewisse militärische Strenge und überflüssige Grausamkeit auszeichneten, und dann wieder andere, welche eine gewisse Milde ausströmten. Der Postmeister machte die Bemerkung, Tschitschikow sehe sich jetzt einer heiligen Pflicht gegenüber; er könne gewissermaßen der Vater seiner Bauern werden, und, wie er sich auszudrücken beliebte, eine wohltuende Aufklärung unter ihnen verbreiten. Bei dieser Gelegenheit unterließ er es nicht, sich höchst lobend über die Lancastersche Methode des gegenseitigen Unterrichts zu äußern.

So redete und disputierte man in der Stadt, und viele teilten Tschitschikow aus persönlichem Interesse ihre Ansicht mit, gaben ihm gute Ratschläge und boten ihm sogar eine Eskorte an, um die Bauern auch sicher an ihren Bestimmungsort zu transportieren. Für die Ratschläge dankte Tschitschikow höflichst, indem er versprach, sie bei Gelegenheit zu verwerten, dagegen verzichtete er sehr entschieden auf die Eskorte und erklärte, sie sei vollständig überflüssig; die von ihm gekauften Bauern hätten einen ganz besonders friedfertigen Charakter. Sie würden den Umzug bereitwilligst mitmachen und begrüßten ihn sogar freudig. Von einem Aufruhr könne überhaupt nicht die Rede sein.

All diese Gespräche und Unterhaltungen hatten indessen für Tschitschikow die allergünstigsten Folgen, die er für sich nur erhoffen konnte. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht, er sei nicht mehr und nicht weniger als ein Millionär. Die Stadtbewohner hatten, wie wir schon im ersten Kapitel gesehen haben, Tschitschikow auch ohnedies in ihr Herz geschlossen. Nach diesen Gerüchten aber gewannen sie ihn noch weit lieber. Übrigens, um die Wahrheit zu sagen: es waren lauter brave, gutmütige Leute, die sich gut miteinander vertrugen, auf freundschaftlichem Fuße miteinander lebten, und ihre Unterhaltungen trugen den Stempel ganz besonderer Treuherzigkeit und Milde: „Lieber Freund, Ilja Iljitsch!“ „Hör mal, Antipater Zararowitsch, mein Bester!“ „Du schwindelst, Mütterchen, Iwan Grigorowitsch!“ Zum Postmeister, der Iwan Andrejewitsch hieß, pflegte man gewöhnlich zu sagen: „Sprechen Sie deutsch, Iwan Andreitsch?“

Mit einem Wort, es ging dort sehr familiär zu. Viele waren nicht ganz ohne Bildung: der Gerichtspräsident kannte sogar die „Ludmilla“ von Shukowski auswendig, welche damals noch den vollen Reiz der Neuheit hatte, und er trug manche Stellen daraus geradezu meisterhaft vor, so zum Beispiel den Vers: „Es schläft der Wald, die Täler schlummern“, ganz besonders schön aber klang das Wort „hu“ in seinem Munde, sodaß man tatsächlich zu sehen glaubte, wie die Täler schlummerten; um die Ähnlichkeit noch vollkommener zu machen, kniff er bei dieser Gelegenheit auch noch die Augen zusammen. Der Postmeister neigte mehr der Philosophie zu und las ganze Nächte hindurch sehr fleißig in Youngs „Nächten“, sowie im „Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur“ von Eckartshausen, aus dem er sich lange Exzerpte machte; worauf sie sich bezogen, konnte freilich niemand mit Bestimmtheit angeben. Übrigens war er ein großer Witzbold, er hatte eine überaus blühende Sprache und liebte es, wie er sich selbst ausdrückte, seine Rede „auszuschmücken“. Und zwar schmückte er seine Reden mit einer Menge von Flickworten aus, als da sind: „Lieber Herr, so und so, wissen Sie, verstehen Sie, können Sie sich vorstellen, gewissermaßen, sozusagen“ und andre mehr, mit denen er nur so um sich warf; ferner schmückte er seine Reden noch recht geschickt durch ein verständnisinniges Augenblinzeln aus, oder indem er das eine Auge ganz zukniff, womit er vielen von seinen satirischen Anspielungen einen recht boshaften Ausdruck lieh. Auch die übrigen Herren waren meist recht gebildete und aufgeklärte Leute: der eine las Karamsin, der andre die „Moskauer Nachrichten“ und ein dritter las sogar überhaupt nichts. Der eine war was man eine Schlafmütze zu nennen pflegt, d. h. ein Mensch, dem man immer erst einen kräftigen Rippenstoß geben muß, wenn man ihn zu etwas bewegen will, ein anderer war ganz einfach ein Faulpelz, der sein ganzes Leben lang auf der Bärenhaut lag und bei dem jeder Versuch vergeblich gewesen wäre, ihn überhaupt aufzurütteln, da er ja doch nicht aufgestanden wäre. Was ihr Äußeres anbelangt, so waren sie natürlich alle hübsche, stattliche, vertraueneinflößende Leute — einen Schwindsüchtigen gab es unter ihnen nicht. Sie gehörten alle zu jener Menschengattung, welcher die Frauen in zärtlichen Schäferstündchen unter vier Augen Namen wie die folgenden zu geben pflegen: mein Dickerchen, mein lieber Dickwanst, mein Schnudelchen, mein Tönnchen, mein Moppelchen usw. Aber im allgemeinen war es ein guter Menschenschlag, liebe, freigiebige Leute, und ein Mensch, der ihre Gastfreundschaft genossen oder einen Abend mit ihnen am Whisttisch verbracht hatte, kam ihnen sehr schnell nahe und wurde gewissermaßen einer der ihren. — Dies traf aber noch mehr auf Tschitschikow mit seinem bezaubernden Wesen zu, denn er kannte wirklich das Geheimnis, sich beliebt zu machen. Sie schlossen ihn so in ihr Herz, daß er garnicht wußte, wie er aus der Stadt herauskommen sollte; er hörte immer nur: „Ach nur noch eine Woche; bleiben Sie doch noch eine einzige Woche bei uns, Pawel Iwanowitsch“ — mit einem Worte, er wurde geradezu auf Händen getragen, wie man zu sagen pflegt. Aber unvergleichlich viel stärker und bedeutender, ja höchst erstaunlich und wunderbar war der Eindruck, den Tschitschikow auf die Damen machte. Um das einigermaßen verständlich zu machen, müßten wir eigentlich mancherlei über die Damen selbst sagen, über ihre Gesellschaften usw., müßten sozusagen ihre seelischen Eigenschaften mit lebendigen leuchtenden Farben ausmalen: aber das wird dem Autor sehr schwer. Einerseits hält ihn seine unbegrenzte Achtung und Ehrfurcht vor den Gattinnen der hohen Beamten davon ab, und andererseits ... ja andererseits ... ist es eben einfach sehr schwierig. Die Damen der Stadt N. waren ... nein es geht unmöglich: tatsächlich, ich habe Angst. — Was an den Damen der Stadt N. am bemerkenswertesten war ... Nein, es ist zu seltsam, die Feder will nicht vom Fleck, wie wenn sie ein Bleiklumpen wäre. Also gut: ich werde es wohl schon einem andern überlassen müssen, der eine reichere Auswahl von hellen und leuchtenden Farben auf seiner Palette hat, als ich, ihren Charakter zu schildern; wir werden uns darauf beschränken müssen, zwei, drei Worte über ihr Äußeres und das, was gewissermaßen mehr an der Oberfläche liegt, zu sagen. Die Damen der Stadt N. waren das, was man präsentabel nennt, und in dieser Beziehung dürften alle Frauen sie sich zum Muster nehmen. Was korrektes Benehmen, was guten Ton, Etikette und jene feinsten und zartesten Gebote des Anstands anbelangt, vor allem was die Beobachtung der Mode in ihren letzten Einzelheiten anbetrifft, so waren sie hierin selbst den Petersburger und Moskauer Damen um eine Ellenlänge voraus. Sie kleideten sich mit großem Geschmack, fuhren in schönen Equipagen durch die Stadt: wie die letzte Mode dies vorschrieb, begleitet von einem Lakai mit goldenen Tressen, der auf dem Trittbrett hin- und herschwankte. Eine Visitenkarte war, selbst wenn der Name auf einer Treff-Zwei oder einem Karo-Aß stand, eine heilige Sache. Zwei Damen, die vordem große Freundinnen und Basen gewesen waren, kamen wegen solch einer Visitenkarte ganz auseinander — eine von ihnen hatte es nämlich unterlassen, der anderen einen Gegenbesuch abzustatten. Und so sehr sich ihre Männer und Verwandten nachher bemühten, sie wieder zu versöhnen, es war vergebens — es stellte sich vielmehr heraus, daß alles auf der Welt möglich ist, nur dies eine nicht: zwei Damen zu versöhnen, die sich wegen eines unterlassenen Gegenbesuches verfeindet haben. Die Damen verharrten also in „gegenseitiger Abneigung“, wie sich die Gesellschaft der Stadt ausdrückte. Wegen der Frage, wem der Vorrang gebühre, gab es auch eine Menge äußerst erregter Auftritte, welche in den Herren oftmals höchst erhabene und ritterliche Vorstellungen von ihrer Beschützerrolle entstehen ließen. Zu einem Duell kam es unter ihnen natürlich nicht, weil sie alle Zivilbeamte waren; dafür aber suchten sie einander etwas am Zeuge zu flicken, wo sie nur konnten, was bekanntlich unter Umständen weit schwieriger ist als ein Duell. In ihren Sitten waren die Damen der Stadt N. sehr streng und voll edler Entrüstung gegen alle Laster und Versuchungen, sie verurteilten unbarmherzig jede Schwäche, wo sie nur eine solche wahrnahmen. Und wenn in ihrem Kreise selbst etwas vorkam, was man das eine oder andere nennt, so spielte es sich stets ganz im Geheimen ab, und niemand ließ sich merken, was eigentlich vorgegangen war. Das Dekorum wurde stets gewahrt. Selbst der Mann wurde rechtzeitig vorbereitet, sodaß er, auch wenn er dies eine oder andere bemerkte oder davon hörte, kurz und bündig antworten konnte: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß,“ wie das Sprichwort sagt. Hier muß noch erwähnt werden, daß die Damen der Stadt N. sich wie ihre Petersburger Gefährtinnen stets einer großen Vorsicht und eines sicheren Taktes in Worten und Ausdrücken befleißigten. Niemals hörte man sie sagen: „Ich habe mich geschneuzt.“ „Ich schwitze.“ „Ich habe ausgespuckt,“ sondern sie drückten sich stattdessen folgendermaßen aus: „Ich habe mir die Nase geputzt“ oder „Ich habe von meinem Taschentuch Gebrauch gemacht.“ Unter keinen Umständen aber durfte man sagen: „Dieses Glas oder dieser Teller stinkt.“ Ja, man durfte nicht einmal etwas sagen, was wie eine Anspielung darauf erscheinen konnte, sondern, man wählte stattdessen einen Ausdruck wie den folgenden: „Dieses Glas benimmt sich nicht gut“ oder sonst etwas in dieser Art. Um die russische Sprache noch mehr zu veredeln, wurde nahezu die Hälfte aller Worte aus dem Sprachgebrauch verbannt, weswegen man sehr oft seine Zuflucht zum Französischen nehmen mußte. Das war dann eine ganz andere Sache. Im Französischen waren noch ganz andere, weit kräftigere Worte gestattet als die oben erwähnten. Das also ist es, was sich von den Damen der Stadt N., oberflächlich gesprochen, sagen läßt. Freilich, wenn man etwas tiefer hineinblickte, so würden noch ganz andere Dinge zum Vorschein kommen; aber es ist sehr gefährlich, zu tief in ein Frauenherz zu blicken. Ich bleibe also an der Oberfläche und fahre fort. Bis dahin hatten alle Damen merkwürdigerweise nur wenig von Tschitschikow gesprochen, obwohl sie ihm natürlich, was seine angenehmen und weltmännischen Umgangsformen anbelangt, volle Gerechtigkeit widerfahren ließen. Aber seitdem sich das Gerücht von seinen Millionen verbreitet hatte, wurde die Aufmerksamkeit auch auf seine sonstigen Eigenschaften gelenkt. Übrigens waren unsere Damen keineswegs eigennützig oder gar habgierig. An alledem war nur das Wort Millionär — nicht der Millionär selbst, sondern eben das Wort allein schuld; denn in dem bloßen Klang dieses Wortes ist neben der Anspielung auf den Geldsack noch ein gewisses Etwas enthalten, welches in gleicher Weise auf die Schurken wie auf die guten Menschen und auch die, welche weder das eine noch das andere sind, einen starken Eindruck macht; mit einem Wort, es verfehlt seine Wirkung auf keinen. Der Millionär hat den Vorzug, daß er die ganz uneigennützige Niedertracht, die reine Niedertracht, die auf keinerlei Berechnung und Hintergedanken beruht, vortrefflich beobachten kann: Viele Menschen wissen sehr gut, daß sie nichts von ihm bekommen werden und auch gar keinen Anspruch darauf haben, und doch laufen sie vor ihm her, lächeln ihm freundlich zu, nehmen den Hut vor ihm ab, oder provozieren eine Einladung zu einem Mittagessen, an dem der Millionär teilnehmen wird. Man kann nicht sagen, daß diese sanfte Hinneigung zur Niedertracht auch von den Damen geteilt wurde. Allein man fing doch in vielen Salons an, darüber zu reden, daß Tschitschikow zwar kein Ausbund von Schönheit, aber doch ein stattlicher Mann sei, wie er sein soll, und daß er schon nicht mehr so hübsch wäre, wenn er auch nur ein ganz klein wenig dicker und voller wäre. Bei dieser Gelegenheit fielen sogar einige beinahe verletzende Worte über die dünnen Männer: das seien ja eigentlich Zahnstocher und keine Männer. An den Toiletten der Damen konnte man auch allerhand Ergänzungen wahrnehmen. Auf dem Tuchmarkt herrschte ein großes Gedränge, man schob und stieß sich dort geradezu. Es war die reinste Kirmeß. Soviel Equipagen reihten sich aneinander. Die Kaufleute waren erstaunt, als sie sahen, daß ein paar Tuchsorten, die sie von der Messe mitgebracht und wegen ihres allzu hohen Preises bisher nicht hatten loswerden können, eine gesuchte Ware wurden und reißenden Absatz fanden. Während des Gottesdienstes bemerkte man bei einer der Damen unten am Kleide eine Schleppe, welche den Rock so aufbauschte, daß er die ganze Kirche einnahm, und daß der anwesende Polizeikommissar dem Volke befehlen mußte, Platz zu machen und sich in die Vorhalle zurückzuziehen, um das Kleid der Gnädigen nicht zu beschädigen. Auch Tschitschikow mußte schließlich etwas von der ungewöhnlichen Aufmerksamkeit auffallen, die ihm gezollt wurde. Als er eines schönen Tages zu sich nach Hause kam, fand er einen Brief auf seinem Schreibtisch. Es ließ sich durchaus nicht herausbekommen, von wem er stammte und wer ihn gebracht habe: Der Kellner erzählte, der Überbringer habe ihm verboten, zu sagen, wer der Absender sei. Der Brief fing sehr bestimmt und entschlossen an und zwar folgendermaßen: „Nein, ich muß dir schreiben!“ Dann war davon die Rede, daß es eine geheime Sympathie der Seelen gebe, und diese Wahrheit fand ihre Bekräftigung in einer Reihe von Punkten und Gedankenstrichen, welche beinahe eine halbe Zeile einnahmen. Weiter folgten einige Sentenzen, deren Richtigkeit ihnen eine so hohe Bedeutung verleiht, daß wir es fast für unsere Pflicht halten, sie hier anzuführen: „Was ist unser Leben? — Ein Tal, in dem sich unsere Leiden angesiedelt haben. Was ist die Welt? — Ein Haufen von Menschen, der nichts empfindet.“ Hierauf erwähnte die Schreiberin, daß sie die Briefe ihrer zärtlichen Mutter, welche seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr auf der Welt sei, mit Tränen benetze; sie forderte Tschitschikow auf, ihr in eine Wüste zu folgen und die Stadt für immer zu verlassen, wo die Menschen in der Gefangenschaft geistiger Mauern und aus Luftmangel erstickten; das Ende des Briefes strömte sogar eine wirkliche Verzweiflung aus, und folgende Zeilen bildeten den Abschluß:

Zwei Turteltäubchen bringen

Dich flugs zum Grabesstein,

Sie werden girren und singen

Dir von meiner Todespein.

In der letzten Zeile war zwar das Versmaß nicht ganz in Ordnung, aber das machte nichts: der Brief war ganz im Geiste der damaligen Zeit. Auch fehlte die Unterschrift, der Vor- und Familienname, selbst Datum und Jahreszahl fehlten. In einem Postskriptum hieß es bloß, Tschitschikows eigenes Herz müsse die Schreiberin des Briefes erraten, und auf dem Ball des Gouverneurs, der morgen stattfinde, werde das Original persönlich zugegen sein.

Das war alles sehr interessant. In der Anonymität lag soviel Reiz und Lockung, soviel was die Neugierde herausforderte, daß Tschitschikow den Brief noch ein zweites und drittes Mal überlas und schließlich ausrief: „Es wäre doch höchst interessant, zu erfahren, wer eigentlich die Schreiberin ist!“ Mit einem Wort, die Sache begann ersichtlich eine ernste Wendung zu nehmen; mehr als eine Stunde sann er über sein seltsames Abenteuer nach, dann machte er eine nachlässige Gebärde, ließ den Kopf herabsinken und murmelte: „Der Brief hat doch etwas außerordentlich Geziertes!“ Hierauf wurde der Bogen, wie sich das von selbst versteht, sorgfältig zusammengefaltet und in die Schatulle gelegt, wo er in nächster Nachbarschaft mit einem Theaterzettel und einer Hochzeitseinladung zu liegen kam, welche nun schon sieben Jahre unberührt auf demselben Flecke lag. Bald darauf brachte man ihm tatsächlich eine Einladung zum Ball beim Gouverneur. Das ist in Provinzstädten etwas sehr Gewöhnliches: wo es einen Gouverneur gibt, da muß es auch Bälle geben, sonst könnte es der Adel leicht an der gebührenden Liebe und Achtung fehlen lassen.

Er ließ nun sofort alles nicht zur Sache Gehörige liegen und machte sich davon frei, um sich voll und ganz den Vorbereitungen zum Balle zu widmen; denn dazu gab’s so manchen Sporn und Stachel. Dafür ist aber wohl auch noch nie seit Erschaffung der Welt soviel Zeit und Sorgfalt auf die Toilette verwendet worden. Die Besichtigung und Prüfung des eigenen Angesichts vor dem Spiegel nahm allein eine ganze Stunde in Anspruch. Er versuchte es, seinem Antlitz eine ganze Reihe und Skala verschiedenartigster Ausdrücke zu verleihen: bald sollte es Ernst und Würde, bald eine gewisse durch ein Lächeln gemilderte Achtung, bald wieder nur Achtung ohne jedes Lächeln widerspiegeln; dann verbeugte er sich einige Male vor dem Spiegel, welche Bewegung von einigen unartikulierten Lauten begleitet wurde, die einige Ähnlichkeit mit französischen Worten hatten, obwohl Tschitschikow absolut kein Französisch verstand. Hierbei bereitete er sich selbst eine Menge höchst angenehmer Überraschungen, zwinkerte sich mit den Augenbrauen und den Lippen zu und bewegte sogar die Zunge ein paar Mal hin und her; du lieber Gott, was macht man nicht alles, wenn man mit sich allein und sich bewußt ist, daß man ein schöner Mann ist, und noch dazu die sichere Überzeugung hat, daß niemand durch das Schlüsselloch guckt. Endlich kraute er sich noch ein bißchen am Kinn und sagte: „Ei, ei, du kleiner Bullenbeißer!“ und begann sich anzuziehen. Während dieses Prozesses befand er sich die ganze Zeit über in der glücklichsten Stimmung: wenn er die Hosenträger anlegte, oder sich den Schlips umband, machte er Kratzfüße, anmutige Verbeugungen und sogar einen Luftsprung, obwohl er nie tanzen gelernt hatte. Dieser Luftsprung hatte nun allerdings einige Folgen, die übrigens recht harmloser Natur waren: die Kommode fing an zu zittern, und die Kleiderbürste fiel vom Tisch herunter.

Sein Erscheinen auf dem Ball machte einen ganz außerordentlichen Eindruck. Alle Anwesenden eilten ihm entgegen — der eine hatte noch ein Spiel Karten in der Hand, ein anderer brach das Gespräch am interessantesten Punkte ab, als er gerade sagte: „Und denken Sie, hierauf erwiderte das Kreisgericht ...“ Was das Kreisgericht eigentlich erwiderte, führte er gar nicht mehr aus, und stürmte auf unseren Helden los, um ihn zu begrüßen: „Pawel Iwanowitsch!“ „O, mein Gott, Pawel Iwanowitsch!“ „Lieber Pawel Iwanowitsch!“ „Verehrtester Pawel Iwanowitsch!“ „Pawel Iwanowitsch, Herzchen!“ „Da sind Sie ja Pawel Iwanowitsch!“ „Da ist er, unser Pawel Iwanowitsch!“ „Lassen Sie sich umarmen, Pawel Iwanowitsch!“ „Her mit ihm, seien Sie recht herzlich geküßt, mein teurer Pawel Iwanowitsch!“ Tschitschikow fühlte, wie er fast gleichzeitig von mehreren umarmt wurde. Er hatte noch nicht Zeit, sich aus der Umarmung des Gerichtspräsidenten zu befreien, als ihn schon der Polizeimeister in seine Arme schloß, dieser gab ihn an den Inspektor des Sanitätswesens weiter, der Inspektor an den Branntweinpächter, der Branntweinpächter an den Stadtbaumeister .... Der Gouverneur, der währenddessen mit ein paar Damen zusammenstand und in der einen Hand einen Zettel aus einer Bonbonniere, in der andern ein Bologneserhündchen hielt, ließ, als er Tschitschikow erblickte, beides — Zettel und Hündchen — auf den Boden fallen, sodaß das Hündchen laut aufheulte ... mit einem Wort, der Ankömmling verbreitete Heiterkeit und Freude um sich her. Es gab kein Gesicht, das nicht vor Vergnügen strahlte, oder doch wenigstens etwas von der allgemeinen Freude widerspiegelte. So glänzen die Gesichter der Beamten während des Besuchs ihres Chefs, der gekommen ist, die ihrer Leitung unterstehenden Ressorts zu inspizieren; nachdem der erste Schreck vorüber ist, bemerken sie, daß manches seinen Beifall findet, ja daß er sich sogar leutselig zu einem kleinen Scherz herabläßt, d. h. ein paar Worte sagt und angenehm dazu lächelt — und nun lachen die ihn umringenden, ihm zunächst stehenden Beamten doppelt herzlich, und ebenso herzlich lachen jene, die zwar die gesprochenen Worte kaum gehört und noch weniger verstanden haben, ja selbst der weit abseits an der Tür stehende Polizist, der noch nie in seinem Leben gelacht, und eben erst dem Volke die Faust gezeigt hat — selbst er verzieht nach den unwandelbaren Gesetzen der Reflexion und der Nachahmung sein Gesicht zu einem Lächeln, welches aber so wenig Ähnlichkeit mit einem Lächeln hat, daß man eher meinen könnte, er habe eine starke Prise genommen und müsse nun niesen. Unser Held beglückte alle und jeden einzelnen mit einer Antwort und fühlte sich ganz außergewöhnlich leicht und sicher: er verneigte sich nach rechts und nach links, und zwar etwas seitwärts, wie das seine Gewohnheit war, aber doch so ungezwungen, daß er alle Anwesenden entzückte. Die Damen umringten ihn sogleich wie eine glänzende Girlande und hüllten ihn in eine Wolke von Wohlgerüchen aller Art ein: die eine roch nach Rosen, die andere brachte den Duft von Veilchen und Frühling mit, die dritte strömte einen starken Resedaduft aus. Tschitschikow hob bloß die Nase und zog den süßen Duft ein. In ihren Toiletten entwickelten sie unendlich viel Geschmack; die Farben ihrer Mousselin-, Atlas- und Tüllstoffe waren von einer so modernen Blässe und Mattigkeit, daß es schwer wäre, auch nur einen Namen für jede Nuance zu finden — eine solche Höhe und Feinheit hatte Kultur und Geschmack hier erreicht! Schleifen, Bänder und Blumensträuße umflatterten die Kleider in malerischer Unordnung, obwohl an dieser Unordnung manch ordentlicher Kopf sich viele Stunden abgemüht hatte. Der leichte Kopfputz ruhte allein auf den Ohren und schien sagen zu wollen: „Halt! Ich fliege fort! Schade nur, daß ich meine Schöne nicht mit mir forttragen kann!“ Sie hatten alle stark und eng geschnürte Taillen, welche dem Auge feste und angenehme Formen darboten. (Bei dieser Gelegenheit muß ich erwähnen, daß alle Damen der Stadt N. sich durch eine gewisse Fülle auszeichneten, aber sie verstanden es, sich so kunstvoll zu schnüren und hatten dabei so angenehme Umgangsformen, daß man es ihnen garnicht anmerkte, daß sie dick waren). Alles war bei ihnen wohldurchdacht und zeugte von Umsicht und Ueberlegung: der Hals und die Schultern waren nur gerade so weit entblößt, als es unumgänglich notwendig war, auch nicht um einen Zoll weiter: eine jede zeigte von ihren Besitzungen nur gerade soviel, als nach ihrem eigenen Gefühl und ihrer Überzeugung nötig war, um einen Mann zugrunde zu richten; der Rest war mit großem Takt und Geschmack verhüllt und zugedeckt: irgend ein leichtes Halstuch aus einem Band, das noch leichter und luftiger war, als jenes Gebäck, welches unter dem Namen „Baiser“ oder „Kuß“ bekannt ist, schlang sich ätherisch um den Hals, oder es ragte im Nacken unter dem Kleide eine kleine Spitzenwand aus feinem Battist hervor, die man bei uns zu Lande „Sittenschild“ zu nennen pflegt. Diese Spitzenwand bedeckte vorn und hinten all das, was zwar keinen Mann mehr zugrunde richten konnte, doch aber den Argwohn rege hielt, daß gerade hier das eigentliche Verderben lauere. Lange Handschuhe, die nicht ganz bis zu den Ärmeln reichten, ließen die reizenden Teile des Armes oberhalb des Ellenbogens frei, welche bei vielen eine beneidenswerte Fülle erkennen ließen; bei manchen waren die Glacéhandschuhe sogar geplatzt, da sie zu hoch hinaufgeschoben waren — mit einem Wort, es war so, als ob ein jedes Ding hätte sagen wollen: „Nein, dies ist keine Provinz, das ist Paris!“ Nur hie und da guckte plötzlich eine Haube, wie noch nie ein Mensch sie gesehen hat, oder eine Pfauenfeder, oder sonst was, das jeder Mode Hohn sprach und einer Eingebung des eigensten Geschmackes entsprang, hervor. Aber ohne das geht es halt nicht ab — das ist nun einmal die Eigentümlichkeit einer Provinzstadt: es gibt immer einen Punkt, wo sie sozusagen aus der Rolle fällt. Tschitschikow stand vor den Damen und dachte sich: „Welche ist denn nun aber die Verfasserin des Briefes?“ Er versuchte es, einen Augenblick seine Nase hervorzustrecken; aber da stieß er mit ihr gegen eine ganze Reihe von Ellenbogen, Aufschlägen, Ärmeln, Schleifen, duftigen Hemdchen und Kleidern. Eine wilde Galoppade jagte wie toll an ihm vorüber: die Frau des Postmeisters, der Kreisrichter, eine Dame mit einer blauen Feder, eine Dame mit einer weißen Feder, der Georgische Prinz Tschiphaihilidsew, ein Beamter aus Petersburg, ein Beamter aus Moskau, ein Franzose namens Coucou, ein Herr Perchunowski und ein Herr Berebendowski — dies alles wuchs plötzlich vor ihm aus der Erde und stürmte davon ....

„Da haben wir die Provinz!“ murmelte Tschitschikow, indem er zurückwich. Aber als sich dann die Damen auf ihre Plätze begaben, fing er wieder an, auszuschauen, ob er nicht nach dem Ausdruck des Gesichts und der Augen erkennen könne, welche die Verfasserin des Briefes sei; allein weder die Gesichter noch die Augen wollten ihm verraten, wer die Unbekannte sei. Überall auf jedem Antlitz schwebte etwas kaum Merkliches, unendlich Feines — oh! wie Feines ...! „Nein,“ sagte Tschitschikow zu sich selbst: „Die Frau — das ist ein Objekt“ — hierbei machte er eine sprechende Handbewegung — „darüber ist überhaupt kein Wort zu verlieren! Es soll mal einer versuchen, all das zu erzählen oder wiederzugeben, was über ihr Gesicht huscht, all diese Schlangenwindungen und dies Wellengekräusel ... das läßt sich eben garnicht ausdrücken! Ihre Augen allein sind ein so unendliches, grenzenloses Reich, wenn sich da ein Mensch hinein verirrt, dann ist er verloren! Da holt ihn kein Haken und keine Winde wieder heraus. Versuch’ doch mal einer ihren Glanz zu beschreiben: diesen feuchten, samtnen, zuckersüßen Glanz ... Gott allein weiß, was es nicht alles für Arten solchen Glanzes gibt: einen harten und weichen, ja selbst einen matten oder wie einige sich ausdrücken, ‚wonnetrunkenen‘ Glanz und dann wieder einen ohne Trunkenheit, der aber noch weit gefährlicher ist — der einen nur so beim Herzen packt und wie mit dem Fidelbogen über die Seele fährt. Nein, da findet man kein Wort dafür: Es ist halt die ‚jalante‘ Hälfte des Menschengeschlechts und weiter nichts!“

Oh weh! Ich fürchte, unserem Held entschlüpfte ein Wort, das er von der Straße her kannte. Aber was soll ich tun? Das ist nun einmal das Los des Schriftstellers in Rußland! Aber selbst wenn ein Wort von der Straße in dies Buch hineingetragen wäre, so ist das nicht die Schuld des Schriftstellers, sondern die der Leser und vor allem der Leser aus den besseren Gesellschaftskreisen: sie sind die ersten, von denen man kein anständiges russisches Wort zu hören bekommt, sie beglücken euch mit deutschen, französischen und englischen Reden in solchem Übermaß, daß man gern darauf verzichten würde, und selbst mit Beibehaltung und Wahrung jeder nur möglichen Aussprache: sprechen das Französisch durch die Nase oder schnarren es, reden englisch wie irgend ein Vogel es nicht besser fertig brächte, ja sie machen ein richtiges Vogelgesicht dazu und lachen einen noch aus, wenn man ihnen dies nicht nachmachen kann. Das einzige, was sie sorgfältig vermeiden, ist alles Russische — höchstens lassen sie sich auf dem Lande eine Villa in russischem Stile bauen. So sind nun mal die Leser aus den höheren Ständen, und alle, die sich selbst zu den höheren Ständen rechnen! Aber andererseits wieder: welche Strenge, welche Ansprüche! Sie wollen durchaus, daß alles in einem absolut korrekten, reinen und edlen Stile abgefaßt werde — wollen mit einem Wort, daß die russische Sprache wie von selbst, ganz reif und fertig aus den Wolken herabfalle und sich ihnen auf die Zunge setze, sodaß sie nur den Mund zu öffnen und ihr freien Lauf zu lassen brauchen. Die weibliche Hälfte des Menschengeschlechts ist freilich höchst rätselhaft; aber ich muß gestehen, die verehrten Herren Leser sind mir oft noch weit rätselhafter.

Unterdessen wurde Tschitschikows Ratlosigkeit immer größer, wie er die Verfasserin des Briefes unter allen anwesenden Damen herauserkennen sollte. Er machte noch einen Versuch, jede einzelne von den Damen mit forschendem Blick zu mustern und bemerkte, daß in den Augen der holden Weiblichkeit ein Etwas aufblitzte, was Hoffnung und süße Qual ins Herz des armen Sterblichen einziehen ließ, sodaß er schließlich ausrief: „Nein, es ist vergebens, ich errate es doch nicht!“ Das hatte indessen nicht den geringsten Einfluß auf seine gute Laune, die ihn die ganze Zeit über nicht verließ. In seiner galanten ungezwungenen Art wechselte er ein paar liebenswürdige Worte mit einigen Damen, ging mit schnellen kleinen Schritten bald auf die eine und bald auf die andere zu, wie das jene alten Gecken auf hohen Absätzen, welche man in Rußland „Mäusehengste“ nennt, zu tun pflegen, die sich gewandt und leicht um die Damen herumbewegen. Wenn er sich schnell und sicher zwischen den einzelnen Menschengruppen durchgewunden hatte, machte er einen Kratzfuß und schlug dabei mit dem Füßchen ein wenig aus, was gewissermaßen die Bedeutung eines Schnörkels oder eines Häkchens am Namenszug hatte. Die Damen waren sehr glücklich und befriedigt und entdeckten an ihm nicht nur einen ganzen Haufen von angenehmen und liebenswürdigen Seiten, sondern fanden sogar etwas Majestätisches, Kriegerisches und Martialisches im Ausdruck seines Gesichts, was den Frauen bekanntlich sehr gefällt. Ja man hätte sich seinetwegen beinahe ein wenig gezankt: es war bald von vielen bemerkt worden, daß Tschitschikow meist in der Nähe der Türe stand, und nun suchte alles die der Türe zunächstehenden Stühle zu besetzen, und als hierbei eine der Damen einer andern zuvorkam, hätte es beinahe einen unangenehmen Auftritt gegeben, wobei viele, die es selbst gern ebenso gemacht hätten, höchst empört über diese Unverfrorenheit und Taktlosigkeit waren.

Tschitschikow verwickelte sich bald in eine lebhafte Unterhaltung mit den Damen, oder wurde vielmehr von diesen in eine lebhafte Unterhaltung verwickelt, wobei er von ihnen mit einer wahren Fülle höchst feiner und geistreicher allegorischer Bemerkungen überschüttet wurde, die alle gedeutet und enträtselt werden mußten, so daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat, und er sogar die vornehmste Anstandsregel zu erfüllen vergaß: nämlich der Frau des Hauses seine Aufwartung zu machen. Er erinnerte sich erst daran, als er dicht neben sich die Stimme der Frau Gouverneurin vernahm, die ihm schon einige Minuten lang gegenüberstand. Die Gouverneurin schüttelte freundlich den Kopf und sagte in zärtlichem und etwas schelmischem Tone zu ihm: „So sind Sie also, Pawel Iwanowitsch! ...“ Ich kann die Rede der Gouverneurin hier nicht genau reproduzieren, ich weiß nur, daß sie ihm einige äußerst freundliche und liebenswürdige Worte sagte, in der Art, wie sich die Damen und Kavaliere in den Romanen und Erzählungen unserer vornehmsten Schriftsteller auszudrücken pflegen, die mit besonderer Vorliebe das Leben in unseren Salons beschreiben und bei dieser Gelegenheit merken lassen, daß sie große Kenner des feinen Tones sind: sie sagte etwa: „Hat man sich bereits so sehr Ihres Herzens bemächtigt, daß darin gar kein Plätzchen, ja nicht einmal ein kleiner Winkel für die übrig geblieben ist, die Sie in so hartherziger Weise vergessen konnten?“ Unser Held wandte sich sogleich an die Gouverneurin und war schon im Begriff, ihr mit einer Antwort aufzuwarten, die sicherlich nicht schlechter gewesen wäre, als die, welche wir in unseren modernen Romanen und Novellen von den Swonskijs, Linskis, Lidins, Gremins und andern weltmännisch-gewandten Militärpersonen hören können, als er unwillkürlich die Augen aufschlug und plötzlich wie vom Schlage gerührt stehen blieb.

Vor ihm stand die Gouverneurin, aber nicht allein: sie hielt ein sechzehnjähriges junges Mädchen am Arm, eine frische Blondine, mit feinen regelmäßigen Zügen, spitzem Kinn und schön gerundetem Oval des Gesichts, das wohl einem Künstler als Modell zu einer Madonna hätte dienen können, wie man es in Rußland nur selten findet, wo alle Dinge mehr ins Weite schweifen: Berge und Wälder, Steppen, Gesichter, Lippen und Füße — es war dieselbe Blondine, welcher er unterwegs begegnet war, als er von Nosdrjow kam, und als ihre Wagen durch die Dummheit der Kutscher oder der Pferde auf so seltsame Weise zusammenstießen und mit ihrem Geschirr in einander gerieten, und als Onkel Mitjai und Onkel Minai den Knoten der Verwirrung lösen wollten. Tschitschikow wurde so verlegen, daß er kein vernünftiges Wort über die Lippen bringen konnte und einen so tollen Blödsinn herausstotterte, wie ihn allerdings weder Gremin noch Swonskij noch Lidin jemals vom Stapel gelassen hätten.

„Kennen Sie meine Tochter noch nicht?“ sagte die Gouverneurin. „Sie hat soeben das Pensionat verlassen.“

Er erwiderte, er habe bereits das Vergnügen gehabt, ganz unerwartet ihre Bekanntschaft zu machen; dann wollte er noch etwas hinzufügen, aber das mißglückte ihm vollständig. Nachdem die Gouverneurin noch ein paar Worte gesagt hatte, entfernte sie sich mit ihrer Tochter nach dem andern Ende des Saals, um sich den andern Gästen zu widmen, und ließ Tschitschikow wie angewurzelt stehen. Lange noch stand er auf demselben Fleck wie ein Mensch, welcher heiter auf die Straße hinaustritt, um einen Spaziergang zu machen, dessen Augen jedem Eindruck der Umgebung offen stehen, und der plötzlich stehen bleibt, weil er sich erinnert, daß er noch etwas vergessen hat; man kann sich überhaupt nichts Unbehilflicheres vorstellen, als solch einen Menschen: Mit einem Schlage ist die unbesorgte Miene von seinem Gesichte verschwunden. Mühsam sucht er sich zu erinnern, was er denn eigentlich vergessen hat: das Taschentuch? Aber das Taschentuch steckt in der Tasche! Sein Geld? Aber auch das Geld ist da! Nichts scheint zu fehlen, und doch raunt ihm ein unbekannter Dämon ins Ohr, er habe dennoch etwas vergessen. Verwirrt und kopflos blickt er auf die vorüberwogende Menge, die vorbeijagenden Equipagen, auf die Helme und Gewehre der Soldaten, die Aushängeschilder usw. und doch kommt ihm nichts klar zu Bewußtsein. So auch wurde Tschitschikow allem entfremdet, was um ihn her vor sich ging. Unterdessen flogen ihm von duftigen Frauenlippen mancherlei Fragen und Anspielungen zu, die Feinheit und Zärtlichkeit atmeten. „Dürften wir armen Erdenbewohner uns wohl erkühnen, Sie zu fragen, worüber Sie nachsinnen?“ — „Wo liegen die seligen Gefilde, wo Ihr Gedanke weilt?“ — „Kann man den Namen derjenigen erfahren, die Sie in dieses holde Tal der Träume gelockt hat?“ Aber er beachtete keine dieser Fragen, und die freundlichen Worte waren wie in den Wind gesprochen, ja er war so unliebenswürdig, daß er die Damen ruhig stehen ließ und sich nach der andern Seite des Saales begab, um auszuspähen, wohin die Gouverneurin mit ihrer Tochter entschwunden war. Aber die Damen wollten ihn doch nicht so leichten Kaufes davonkommen lassen — eine jede von ihnen war innerlich fest entschlossen, keins von jenen Mitteln, die unsern Herzen so gefährlich werden und keinen ihrer stärksten Reize unbenutzt zu lassen. Hier muß ich einschalten, daß einige Damen, ich sage einige und keineswegs alle — an einer kleinen Schwäche leiden: wenn sie etwas Reizvolles an sich bemerken, sei es nun die Stirn, der Mund oder die Hände — dann denken sie gleich, dieser höchste Vorzug müsse auch allen anderen sofort auffallen, sodaß alle wie ein Mann ausrufen sollten: „Seht, seht doch nur, was sie für eine herrliche griechische Nase hat!“ oder „Welch eine entzückende regelmäßige Stirn!“ Hat aber gar eine schöne Schultern, dann ist sie im voraus überzeugt, daß alle jungen Leute von ihrem Anblick ganz benommen sind und unbedingt ausrufen werden, wenn sie vorübergeht: „Nein, was hat sie für herrliche Schultern!“ während sie Gesicht, Haare, Augen und Stirne keines Blickes würdigen, und wenn sie doch hinsehen, diese Dinge als etwas ganz Nebensächliches behandeln werden. Wie gesagt, so denken einzelne unter den Damen. Diesen Abend aber hatte sich eine jede geschworen, beim Tanz so entzückend wie möglich zu erscheinen und die Vorzüge ihrer größten Reize in vollem Glanze erstrahlen zu lassen. Die Frau Postmeisterin ließ, während sie sich nach den Klängen eines Walzers drehte, ihr Köpfchen so matt und müde auf die Schulter sinken, daß man sich wirklich in eine höhere Welt versetzt glaubte. Eine äußerst liebenswürdige Dame, welche garnicht in der Absicht zu tanzen auf den Ball gekommen war, und bei der sich eine kleine Unannehmlichkeit oder Inkommodität, wie sie sich selbst ausdrückte, in Form eines Hühnerauges von der Größe einer Erbse auf dem rechten großen Zeh eingestellt hatte, sodaß sie sogar Plüschstiefel hatte anziehen müssen, — selbst diese litt es nicht auf ihrem Platze, und auch sie machte einige Walzertouren in ihren Plüschstiefeln, nur damit der Postmeisterin ihre Triumphe nicht allzusehr zu Kopfe stiegen.

Aber dies alles übte nicht die gewünschte Wirkung auf Tschitschikow; er blickte kaum hin auf die Pas und Figuren, welche die Damen ausführten, sondern erhob sich nur immer auf den Zehenspitzen, um über die Köpfe hinweg auszuschauen, wo sich die interessante Blondine gerade befand; bald hockte er wieder ein wenig nieder, um zwischen Schultern und Armen etwas von ihr zu erhaschen; und jetzt endlich hatte er gefunden, er sah sie neben der Mutter sitzen, über deren Haupt sich majestätisch eine Art orientalischer Turban mit einer Feder schaukelte. Fast schien es, als wolle er die Festung im Sturme nehmen. War es die Frühlingsstimmung, die so stark auf ihn wirkte, oder gab es jemand, der ihn von hinten stieß? Genug, er drängte sich entschlossen und unter Mißachtung aller Hindernisse bis zu ihnen durch: der Branntweinpächter erhielt von ihm einen Rippenstoß, daß er sich nur mit Not auf einem Beine zu erhalten vermochte, was noch ein Glück war, da er sonst den ganzen Reigen bei seinem Falle in Mitleidenschaft gezogen hätte; auch der Postmeister sprang zurück und sah ihn mit Staunen an, in das sich etwas wie feine Ironie mischte; aber Tschitschikow würdigte sie keines Blickes: er hatte für nichts ein Auge, als für die ferne Blondine, die gerade im Begriff war, einen langen Handschuh anzuziehen und sicherlich vor Verlangen brannte über das Parkett dahinzuschweben. Währenddessen holzten in der andern Ecke schon vier Paare eine Mazurka ab: die Absätze zerstießen fast den Boden, und ein Hauptmann der Armee arbeitete mit Leib und Seele, Händen und Füßen, indem er sich in solchen Figuren produzierte, wie sie die lebhafteste Phantasie sich nicht hätte träumen lassen. Tschitschikow schoß fast über die Füße der Tänzer hinweg geradenwegs auf den Platz zu, wo die Gouverneurin mit ihrer Tochter saß. Allein, er näherte sich ihnen doch nur sehr zaghaft und trippelte nicht so forsch und keck mit den Füßen, ja er wurde sogar etwas verlegen und in all seinen Bewegungen kam eine gewisse Hilflosigkeit zum Ausdruck.

Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob in unserm Helden sich wirklich etwas wie Liebe regte; es ist sogar zweifelhaft, ob Männer wie er, oder solche, die nicht gerade dick, aber doch auch nicht allzu dünn sind, überhaupt der Liebe fähig sind; und doch spielte sich hier etwas so Seltsames ab, daß er es sich selbst nicht erklären konnte: es kam ihm so vor, wie er es nachher selbst eingestand, als ob der ganze Ball mit all seinem Rausch und Trubel auf einige Augenblicke wie in weite Ferne gerückt sei, die Geigen und Trompeten schienen wie hinter den Bergen zu verhallen, und alles lag wie im Nebel gehüllt da, der einem nachlässig hingemalten Felde auf einem Gemälde glich. Und von dem Hintergrunde dieses trüben, nachlässig auf die Leinwand geworfenen Feldes hoben sich allein die feinen Züge der entzückenden jungen Blondine scharf und deutlich ab: das reizende Oval ihres Gesichtes, ihre schlanke elastische Gestalt, wie man sie nur bei einem jungen Mädchen trifft, das eben aus dem Pensionate kommt, ihr beinahe schlichtes weißes Kleid, welches sich frei und leicht an die zarten jungen Glieder schmiegte, und überall die herrlichen reinen Linien erkennen ließ. So glich sie einem wunderbaren, kunstvoll geschnitzten Spielzeug aus Elfenbein; sie allein leuchtete schneeweiß, klar und hell aus der trüben dunkelen Masse hervor.

Es ist wohl nicht anders auf dieser Welt; offenbar werden auch die Tschitschikows einmal in ihrem Leben, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, zu Dichtern; doch das Wort Dichter ist ein wenig übertrieben. Wenigstens kam er sich in diesem Moment ganz wie ein junger Mann oder gar wie ein fescher Husar vor. Sowie ein Stuhl neben der Schönen frei wurde, nahm er sofort auf ihm Platz. Das Gespräch wollte zuerst nicht recht vom Flecke kommen, aber nach einiger Zeit kam es in Fluß, er bekam sogar Mut, aber .... Hier muß ich zu meinem großen Bedauern bemerken, daß ältere, würdige Leute, die wichtige Ämter im Staate bekleiden, gerade in der Unterhaltung mit Damen ein bißchen schwerfällig werden; so richtig raus haben das nur die Leutnants, dagegen gilt dies nicht mehr für die höheren Offiziere, vom Hauptmann aufwärts. Wie sie das anfangen, das weiß der liebe Gott: es sind doch wahrhaftig keine abgrundtiefen Dinge, die sie da vorbringen, aber die jungen Mädchen schütteln sich auf ihren Stühlen vor Lachen; dagegen kann euch ein Staatsrat die wundersamsten Dinge erzählen: sich etwa darüber verbreiten, daß Rußland ein gewaltiges Reich ist, oder ein Kompliment vom Stapel lassen, das natürlich nicht ohne Geist ist, aber dies alles schmeckt doch zu sehr nach Bücherweisheit, und wenn er etwas Komisches sagt, dann lacht er sicherlich unvergleichlich viel mehr darüber, als seine Dame. Ich mache diese Bemerkung an dieser Stelle, damit die Leser verstehen, warum unsere Blondine während der Erzählungen unseres Helden zu gähnen begann. Unser Held aber schien das garnicht zu bemerken und fuhr fort all die schönen Dinge auszukramen, die er schon mehrfach und bei verschiedenen Gelegenheiten zum Besten gegeben hatte, und zwar: im Gouvernement Simbirsk bei Sophron Iwanowitsch Bespetschny, in Gegenwart von dessen Tochter Adelheide Sophronowna und drei Schwägerinnen: Marha Gawrilowna, Alexandra Gawrilowna und Adelheid Gawrilowna; ferner bei Fjoder Fjodorowitsch Perekrojew im Gouvernement Rjasan; bei Frol Wossiljewitsch Pobedonski im Gouvernement Pensa und bei dessen Bruder Pjotr Wassiljewitsch, in Gegenwart von dessen Schwägerin Katarina Michailowna und deren Enkelkindern: Rosa Fjodorowna und Emilia Fjodorowna; und endlich im Gouvernement Wjatka bei Pjotr Warßonowjewitsch in Gegenwart der Schwester seiner Schwiegertochter Pelageja Jegorowna und seiner Nichte Sofja Rostislawna und deren beiden Stiefschwestern Sofja Alexandrowna und Maklatura Alexandrowna.

Tschitschikows Benehmen erregte das Mißfallen aller Damen. Eine von ihnen ging absichtlich an ihm vorbei, um ihm dies zu verstehen zu geben, und streifte die Blondine sogar etwas nachlässig mit der breiten Schleppe ihres Kleides, während sie den Shawl, der um ihre Schultern flatterte, so dirigierte, daß sie die junge Dame mit dem Zipfel gerade ins Gesicht traf; um dieselbe Zeit entfloh dem Munde einer anderen Dame hinter Tschitschikows Rücken zugleich mit dem Veilchengeruch der von ihr ausströmte, eine recht boshafte und bissige Bemerkung. Aber sei es nun, daß er in der Tat nichts davon gehört hatte, sei es, daß er bloß so tat, als ob er nichts höre, genug, seine Handlungsweise war in diesem Falle nicht sehr korrekt und schön, denn man soll etwas auf die Meinung der Damen geben: er sollte seinen Fehler bereuen, aber leider erst nachher, als es schon zu spät war.

Eine wirklich berechtigte Empörung malte sich in vielen Zügen. So groß auch Tschitschikows Ansehen in der Gesellschaft war, so sehr man davon überzeugt war, daß er Millionär sei, und obwohl sein Gesicht einen majestätischen und sogar martialischen Ausdruck hatte, — es gibt Dinge, welche die Damen keinem Manne verzeihen, er mag sein, wer er will, und sein Untergang ist besiegelt. Es gibt Fälle, wo die Frau, so charakterschwach sie auch im Vergleich mit dem Manne ist, plötzlich nicht nur fester und unbeugsamer wird, als der Mann, sondern als alles in der Welt. Die Mißachtung, die Tschitschikow, ohne es eigentlich selbst zu bemerken, den Damen erwiesen hatte, führte wieder zum Frieden und zur Einigung, die durch den Vorfall mit dem Stuhl beinahe in die Brüche gegangen wäre. In den von ihm leicht hingeworfenen ganz unwichtigen und belanglosen Reden entdeckte man plötzlich boshafte und spitzige Anspielungen. Um das Unglück zu vollenden, hatte noch ein junger Mann ein paar satirische Strophen auf die Tänzer gedichtet, ohne das es bekanntlich bei Bällen in der Provinz, beinahe nie abgeht. Sofort wurden diese Verse Tschitschikow zugeschrieben. Die Empörung wurde immer größer, die Damen standen in den verschiedenen Ecken des Saales zusammen und tuschelten miteinander, wobei einige sehr unfreundliche Äußerungen über ihn fielen; die arme Blondine aber ward vollkommen vernichtet, ihr Todesurteil war unterschrieben.

Inzwischen wartete unseres Helden eine höchst peinliche Überraschung; während seine junge Nachbarin gähnte, und er ihr allerhand Geschichten aus den entferntesten Zeitläuften erzählte, und sogar den griechischen Philosophen Diogenes erwähnte, erschien plötzlich Nosdrjow auf der Bildfläche, der gerade aus einem der hinteren Zimmer in den Saal trat. Kam er aus dem Restaurationsraum oder war er aus dem kleinen grünen Zimmer entsprungen, wo nicht bloß Whist, sondern weit weniger harmlose Spiele gespielt wurden, erschien er aus freien Stücken, oder war er herausgeschmissen worden, genug, er trat plötzlich fröhlich und sehr aufgeräumt in den Saal, den Staatsanwalt am Arme, den er wohl schon eine ganze Weile mit sich herumschleppte, denn der arme Staatsanwalt runzelte seine Stirne und schaute nach allen Seiten aus, wahrscheinlich weil er darüber nachsann, wie er sich von seinem freundlichen Reisebegleiter befreien könne. Und in der Tat, seine Lage war wirklich unerträglich. Nosdrjow hatte zwei Tassen Tee — natürlich nicht ohne Rumzusatz heruntergeschlürft und sich Mut getrunken. Jetzt log er wieder, daß sich die Balken bogen. Als Tschitschikow ihn von ferne erblickte, entschloß er sich sogar ein Opfer zu bringen, das heißt seinen angenehmen Platz zu verlassen, und sich so schnell als möglich zu entfernen: denn er versprach sich nichts Gutes von dieser Begegnung. Aber wie zum Trotz tauchte plötzlich der Gouverneur neben ihm auf, um ihm seine große Freude darüber auszudrücken, daß er Pawel Iwanowitsch endlich gefunden habe, und hielt ihn fest, indem er ihn bat, Schiedsrichter in einem kleinen Streit mit zwei Damen zu sein; man konnte sich nämlich nicht darüber einigen ob die Liebe der Frau von Dauer sei oder nicht; jetzt aber hatte Nosdrjow ihn schon bemerkt und ging geradewegs auf ihn zu:

„Ah! Der Chersoner Gutsbesitzer! Der Chersoner Gutsbesitzer!“ schrie er, während er näher kam und so laut lachte, daß seine frischen Backen, die so rot waren wie Frühjahrsrosen, nur so zitterten: „Nun? Hast du viel Tote gekauft? Sie wissen doch Exzellenz!“ schrie er aus vollem Halse, indem er sich an den Gouverneur wandte, „er handelt mit toten Seelen! Bei Gott! Hör mal Tschitschikow! Hör doch, ich sag dir’s in aller Freundschaft, wir sind doch hier unter lauter Freunden, da ist ja auch Seine Exzellenz, ich würde dich hängen lassen, bei Gott, ich lasse dich hängen!“

Tschitschikow wußte nicht mehr, wie ihm wurde. „Sie werden mir’s nicht glauben, Exzellenz!“ fuhr Nosdrjow fort: „wie er mir sagte: ‚Hör mal, verkauf mir doch deine toten Seelen,‘ da bin ich fast geplatzt vor Lachen. Dann komme ich in die Stadt, und da sagt man mir, er habe drei Millionen Bauern gekauft, die er zur Kolonisation verwenden will, schöne Kolonisation das! Er wollte mir doch Tote abkaufen. Hör mal Tschitschikow: du bist ein Schwein, bei Gott, du bist ein Schwein! Da ist ja auch seine Exzellenz, nicht wahr, Herr Staatsanwalt?“

Aber der Staatsanwalt und Tschitschikow waren so verlegen und verwirrt, daß sie gar keine Antwort fanden; unterdessen aber fuhr Nosdrjow, der ein wenig angeheitert war, ohne auf irgend jemand Rücksicht zu nehmen, in seiner Rede fort: „Ja, ja mein Bester ... ich lasse dich nicht eher los, als bist du mir sagst, wozu du die toten Seelen gekauft hast. Hör mal, Tschitschikow, du solltest dich schämen; du weißt ja selbst, daß du keinen besseren Freund hast, als mich. Sieh mal, da ist ja auch Seine Exzellenz ... nicht wahr, Herr Staatsanwalt? Sie werden es nicht glauben, Exzellenz, wie wir aneinander hängen, tatsächlich, wenn Sie mich fragten — hier steh ich, und wenn Sie mich fragten: ‚Nosdrjow, sag mal auf Ehre und Gewissen, wer ist dir lieber, dein eigener Vater oder Tschitschikow!‘ so müßte ich sagen: Tschitschikow! Bei Gott! ... Herzchen komm laß mich dir einen Kuß, einen Baiser geben. Sie werden wohl erlauben, daß ich ihn küsse, Exzellenz. Sträube dich doch nicht Tschitschikow, laß mich dir doch ein Baiserchen auf deine schneeweiße Wange drücken!“ Aber Nosdrjow kam mit seinem Baiser so übel an, daß er beinahe auf den Boden geflogen wäre. Alle zogen sich von ihm zurück und hörten nicht mehr auf ihn. Allein seine Worte von dem Kauf der toten Seelen waren doch so laut aus vollem Halse herausgeschrieen und von einem so schallenden Gelächter begleitet worden, daß sie selbst die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich lenkten, die sich in den entferntesten Ecken des Zimmers befanden. Diese Nachricht klang so seltsam, daß alle starr und stumm, mit einem halb fragenden, halb törichten Ausdruck auf dem Gesichte dastanden. Tschitschikow bemerkte, wie mehrere Damen sich mit den Augen Zeichen machten und sich boshaft und gehässig zulächelten, und er glaubte in manchen Gesichtern etwas ganz Eigentümliches und Zweideutiges zu entdecken, was die allgemeine Verlegenheit noch verstärkte. Daß Nosdrjow ein Erzlügner und Schwindler war, das wußte jedermann, und es wäre keinem Menschen aufgefallen, wenn er etwas ganz Unsinniges und Törichtes von ihm gehört hätte; aber der sterbliche Mensch ist — nein, es ist wirklich schwer zu verstehen, wie dieser sterbliche Mensch nun eigentlich beschaffen ist; so albern und läppisch eine Neuigkeit auch sein mag, wenn es nur eine Neuigkeit ist, so wird er sie unbedingt einem andern Sterblichen mitteilen, wenn auch nur um zu sagen: „Was sie da wieder für ein Lügenmärchen verbreiten!“ Und der andre Sterbliche wird höchst vergnügt die Ohren spitzen, wenn er auch später sagen wird: „Aber das ist doch eine gemeine Lüge, der man gar keine Beachtung schenken sollte!“ Und gleich darauf wird er sich aufmachen und sich einen dritten Sterblichen suchen, um ihm die Geschichte zu erzählen und dann mit ihm zusammen in edler Empörung auszurufen: „Was für eine gemeine Lüge!“ Und so wird das Gerücht die Runde durch die ganze Stadt machen, und alle Sterblichen, soviel ihrer da sind, werden solange über die Sache sprechen, bis sie sie satt kriegen, und dann behaupten, die ganze Geschichte sei es nicht wert, daß man über sie rede.

Diese anscheinend so unbedeutende und belanglose Begebenheit hatte unseren Helden indessen merklich verstimmt. So dumm und albern auch die Reden eines Narren sind, oft reichen sie doch hin, um auch einen klugen Mann in Verlegenheit zu bringen. Er fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich und peinlich berührt, wie wenn er mit einem schöngeputzten Stiefel in eine schmutzige, stinkende Pfütze getreten wäre; mit einem Wort, es war nicht schön, garnicht schön! Er versuchte es, nicht daran zu denken, sich zu vergessen, zu zerstreuen, setzte sich sogar an den Whisttisch, aber es ging alles schief wie ein verbogenes Rad: zweimal spielte er die falsche Farbe aus, er vergaß sogar einmal, daß er eine Karte nicht stechen durfte, holte mit der Hand aus und übertrumpfte seine eigene Karte. Der Gerichtspräsident konnte es durchaus nicht verstehen, wie es bloß möglich war, daß Pawel Iwanowitsch, der ein so guter, ja man kann sagen feiner Spieler war, sich solche Schnitzer zuschulden kommen und sogar seinen Pique-König übertrumpfen lassen konnte, auf den er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte, wie auf den lieben Gott; dies waren seine eigenen Worte. Natürlich machten sich der Postmeister, der Gerichtspräsident und sogar der Polizeimeister, wie das zu geschehen pflegt, ein wenig über unsern Helden lustig und neckten ihn damit, daß er wohl gar verliebt sei und daß Pawel Iwanowitsch, wie sie ja wüßten, ein leicht entzündliches Herz habe. Auch sei es ihnen bekannt, wer es verwundet hätte. Aber dieses war kein Trost für ihn, so sehr er es auch versuchte, zu lächeln und die Scherze mit Scherzen zu beantworten. Beim Abendessen wollte es ihm auch nicht gelingen, sich so recht zur Geltung zu bringen, obwohl die Tischgesellschaft sehr angenehm war und trotzdem man Nosdrjow schon längst hinausbefördert hatte, weil selbst die Damen schließlich anerkennen mußten, daß sein Benehmen gar zu skandalös war. Während des Kotillons hatte er nämlich ganz plötzlich auf dem Parkett Platz genommen und die Tänzer bei den Frackschößen gepackt, was nach dem Ausdruck der Damen, schon ein ganz unmögliches Betragen war. Das Abendessen war sehr lustig: Alle Gesichter, die zwischen den dreiarmigen Leuchtern, Blumen, Flaschen und Schüsseln mit Konfekt hindurchschimmerten, glänzten vor eitel Freude und Befriedigung. Die Offiziere, die Damen und die befrackten Herren — flossen alle über vor Liebenswürdigkeit bis zum Überdruß. Ein Oberst überreichte sogar seiner Dame die Saucenschüssel, indem er sie auf der nackten Degenspitze balancierte. Die älteren Herren, in deren Mitte auch Tschitschikow saß, debattierten eifrig, und jedes treffende Wort wurde von einem kernhaften Bissen Fisch oder Fleisch, der nur so von Senf triefte, begleitet; man stritt gerade über die Gegenstände, für die sich Tschitschikow immer lebhaft interessiert hatte, und doch glich er heute Abend einem Menschen, der müde und zerschlagen von einem langen Wege heimgekehrt ist, dessen Gehirn ihm den Dienst verweigert und dem nichts mehr einfallen will. So wartete er denn nicht einmal das Ende des Soupers ab, und fuhr viel früher nach Hause, als dies sonst seine Gewohnheit war.

Dort in jenem Zimmer, das der Leser so gut kennt, mit der Kommode, die vor der Türe stand, und den hie und da aus den Ecken herausguckenden Schwabenkäfern, wollten indessen sein Geist und seine Gedanken ebenso wenig zur Ruhe kommen, wie der wacklige Lehnstuhl, in dem er saß. Es war ihm sehr schwer ums Herz. Eine lastende Leere quälte ihn: „Wenn doch alle die Menschen, welche diese Bälle erfunden haben, der Teufel holte!“ rief er wütend. „Welchen Anlaß haben sie nur, so zu jubeln? In der Provinz herrschen Mißernte, Teuerung und Hungersnot, und sie geben Bälle! Auch was Rechtes: hüllen sich da in alte Weiberlappen. Denken Wunder was sie sind, wenn sie mehr als tausend Rubel auf ihrem Leibe tragen! Das muß doch schließlich der Bauer mit seiner Steuer bezahlen, und am Ende fällt es gar auf unsereinen zurück. Man weiß doch, weswegen die Herren so heucheln und sich dennoch bezahlen lassen: um ihrer Frau einen teuren Shawl, Roben und weiß der Teufel wie sie es sonst noch nennen zu kaufen! Und wozu das alles? Damit nur ja keins von diesen liederlichen Frauenzimmern sagen kann, die Frau Postmeisterin habe ein besseres Kleid angehabt, — deswegen schmeißt man tausend Rubel aus dem Fenster. Da schreit man: ein Ball, ein Ball, wie amüsant! Ich mache mir einen Dreck aus so ’nem Ball, das entspricht dem russischen Wesen gar nicht, das ist eine ganz unrussische Einrichtung. Pfui Teufel noch einmal: kommt da plötzlich ein reifer erwachsener Mensch im schwarzen Frack wie ein nackter, gerupfter Teufel angesprungen und fuchtelt mit den Beinen hin und her. Und ein anderer steht wohl gar mit einem andern zusammen, unterhält sich mit ihm über eine ernste Angelegenheit und führt rechts und links allerlei Arabesken auf dem Fußboden aus ... Das ist alles nichts wie Nachäfferei; nichts wie Nachäfferei. Weil der Franzose mit vierzig Jahren noch gerad so ein Kind ist, wie mit fünfzehn, darum müssen wir’s auch so machen! Nein wirklich, nach jedem Ball ist mir zumute als hätte ich irgendein Verbrechen begangen, man möchte lieber gar nicht daran denken! Der Kopf ist einem so leer wie nach einem Gespräch mit einem vornehmen Weltmann: der schwatzt einem was vor, berührt alles nur ganz obenhin, tischt einem was auf, was er sich aus Büchern zusammengerafft hat; das klingt alles sehr schön und nett, und doch ist einem der Kopf grad so leer, wie vordem; so daß man schließlich überzeugt ist, daß eine Unterhaltung mit einem einfachen Kaufmann, der nichts kennt wie sein Geschäft, es dafür aber auch gründlich und aus dem ff kennt, mehr wert ist als all diese Kinkerlitzchen. Was hat man nun von solch einem Ball? Wenn es zum Beispiel einem Schriftsteller einfiele, diese ganze Szene zu schildern, genau so wie sie sich abgespielt hat? Sie würde sich doch in einem Buche genau so töricht und albern ausnehmen wie in Natur. Man weiß wirklich nicht, wie sie wirken würde: sittlich oder unsittlich? Weiß der Teufel, was das ist. Man würde nur ausspucken und das Buch zuklappen!“ So unfreundlich äußerte sich Tschitschikow über die Bälle im allgemeinen; aber ich glaube, sein Unwillen hatte auch noch einen andern Grund. Was ihn am meisten ärgerte, war in Wahrheit garnicht der Ball, sondern der Umstand, daß er hereingefallen, plötzlich vor allen Leuten in Gott weiß was für einem Lichte erschienen war, und dabei eine so seltsame und höchst zweideutige Rolle gespielt hatte. Freilich, wenn er das Vorgefallene mit dem Auge eines vernünftigen Menschen überschaute, sah er, daß das alles nur Kleinigkeiten waren, und daß ein törichtes Wort gar nichts zu bedeuten habe, besonders jetzt, wo die Hauptsache bereits glücklich vollendet und erledigt war. Aber — so seltsam ist nun einmal der Mensch: was ihn so tief betrübte, war dies, daß er sich die Zuneigung derselben Menschen verscherzt hatte, die er doch selbst nicht achtete, über die er so hart urteilte und die er wegen ihrer Eitelkeit und Putzsucht so scharf getadelt hatte. Das ärgerte ihn um so mehr, als er sich bei genauerer Prüfung eingestehen mußte, daß er selbst einige Schuld daran trug. Trotzdem zürnte er sich selber nicht im geringsten und darin hatte er natürlich recht. Wir leiden alle an dieser kleinen Schwäche, daß wir uns selbst gerne etwas schonen und uns lieber irgend einen von unseren Nächsten aussuchen, an dem wir unseren Ärger auslassen können, entweder einen Diener oder einen von unseren Untergebenen, der uns gerade in den Weg läuft, oder unsere Frau, oder endlich gar einen Stuhl, den wir gegen die Türe oder weiß der Teufel wohin schleudern, sodaß ein Bein oder die Lehne bricht, damit die Herrschaften unseren Zorn einmal gründlich kennen lernen! So fand auch Tschitschikow bald einen Nächsten, der alles auf seinen Schultern davon tragen mußte, was ihm sein Zorn eingab. Dieser liebe Nächste war Nosdrjow, und es läßt sich nicht leugnen, daß er so kräftig von hinten und vorne und von allen Seiten vermöbelt wurde, wie höchstens noch irgend ein Spitzbube von einem Dorfschulzen oder ein Postkutscher von einem Reisenden, einem Hauptmann mit reicher Erfahrung oder unter Umständen auch von einem General vermöbelt wird, welcher zu den vielen klassischen Schimpfworten, die er ihm an den Kopf wirft, noch eine ganze Reihe von andern unbekannten auskramt, die seinem eigensten Erfindergeist entspringen. Nosdrjows ganzer Stammbaum wurde hergenommen, und vielen Mitgliedern seiner Familie in aufsteigender Linie wurde stark mitgespielt.

Aber während Tschitschikow so von trüben Gedanken geplagt, schlaflos in seinem harten Lehnstuhle saß und Nosdrjow samt seiner ganzen Familie tüchtig durchhechelte, während das Talglicht langsam niederbrannte, dessen Docht schon ellenlang verkohlt war, sodaß die Kerze jede Minute zu verlöschen drohte, während undurchdringliche nächtliche Finsternis durchs Fenster blickte, und bei der nahenden Morgenröte schon im Begriff war, in blaue Dämmerung umzuschlagen, während sich in der Ferne ab und zu ein paar Hähne ihren Weckruf zukrähten, und irgendwo ein Unglücklicher von unbekanntem Stand und Herkommen in einfachem Wollmantel heimlich durch die stillen Straßen der verschlafenen Stadt schlich, er, der nur den einen (leider nur den einen!) von dem unbändigen russischen Volke ausgetretenen Weg kennt — spielte sich am andern Ende der Stadt ein Vorgang ab, welcher die peinliche Lage unseres Helden noch verschlimmern sollte. Durch die entlegenen Straßen und Gäßchen rasselte nämlich in diesem Augenblick ein gar seltsames Gefährt, für welches nicht gleich ein Name zu finden wäre. Es hatte weder Ähnlichkeit mit einem Bauernwagen, noch mit einer Kutsche, noch mit einer Equipage, sondern glich eher einer pausbäckigen, dickbauchigen Wassermelone, die man auf ein paar Räder gestellt hatte. Die Backen dieser Wassermelone, d. h. die Wagentüren, welche noch Spuren von gelber Farbe aufwiesen, schlossen sehr schlecht wegen des üblen Zustandes, in dem sich die Klinken und Schlösser befanden, die nur notdürftig mit ein paar Stricken zusammengebunden waren. Diese Wassermelone war mit Kattunkopfkissen, die wie Tabaksbeutel, Rollkissen oder gewöhnliche Kissen aussahen, und mit Säcken voll Getreide, Semmeln, Wecken und Bretzeln aus gebrühtem Teig angefüllt. — Oben guckten sogar eine Hühner- und eine Salzpastete heraus. Auf dem Trittbrett stand eine Gestalt, von lakaienhaftem Aussehen in einer gesprenkelten Jacke. Sie war unrasiert, und ihre Haare begannen schon zu ergrauen. Mit einem Wort, es war die bekannte Figur, die bei uns zu Lande „Bursch“ genannt zu werden pflegt. Der Lärm und das Gerassel der eisernen Klammern und rostigen Schrauben weckten den Wächter am andern Ende der Stadt, sodaß er seine Hellebarde aufrichtete und noch schlaftrunken aus voller Kehle: Wer da? rief. Als er jedoch bemerkte, daß niemand da war, und nur ein starkes Rasseln aus der Ferne herüber tönte, machte er sich flugs daran ein Tierchen, das auf seinem Kragen saß, zu fangen, worauf er sich der Laterne näherte, um hier eigenhändig das Todesurteil auf seinem Nagel zu vollstrecken. Dann ließ er die Hellebarde wieder aus der Hand sinken, um nach den Satzungen seines Ritterordens wieder einzuschlafen. Die Pferde stolperten über ihre Vorderbeine, weil sie nicht beschlagen waren und weil sie offenbar das bequeme Stadtpflaster noch nicht genügend kannten. Die Kalesche machte noch ein paar Wendungen, indem sie aus einer Straße in die andere einbog, und nahm endlich ihren Weg durch eine dunkle Gasse an der kleinen Pfarrkirche St. Nikolaus vorüber, um vor dem Hause der Frau Oberpfarrer Halt zu machen. Aus dem Wagen kroch ein Mädchen in einem Flausrock und einem Tuch um den Kopf, und hämmerte mit beiden Fäusten so stark auf das Tor los, wie ein Mann. (Der Bursche in dem gesprenkelten Rock wurde erst nachher an den Füßen von seinem Standort heruntergezogen, denn er schlief so fest wie ein Toter.) Die Hunde fingen an zu bellen. Nach einiger Zeit öffnete sich auch das Tor und verschlang, wenn auch nicht ohne Mühe, dieses plumpe Vehikel. Der Wagen rollte in den engen Hof, in dem Holz aufgestapelt war, und in dem sich mehrere Hühnerställe und andere Ställe befanden; zuletzt stieg noch eine Dame aus dem Wagen; dies war die Gutsbesitzerin und Kollegiensekretärin Korobotschka. Die alte Dame war bald nach der Abreise unseres Helden in große Unruhe und Aufregung darüber geraten, daß sie von ihm betrogen sein könnte, und hatte sich nach drei schlaflos verbrachten Nächten endlich entschlossen, nach der Stadt zu fahren, obwohl die Pferde nicht beschlagen waren, um dort Erkundigungen darüber einzuziehen, welchen Kurs die toten Seelen hätten, und ob es nicht am Ende eine große Torheit war, als sie sich überreden ließ, sie so billig zu verkaufen. Was ihre Ankunft für Folgen hatte, kann der Leser aus einer Unterhaltung entnehmen, welche bald darauf zwischen zwei Damen stattfand. Diese Unterhaltung .... doch diese Unterhaltung mag lieber im nächsten Kapitel stattfinden.

Neuntes Kapitel.

Eines Morgens, noch vor der Stunde, wo in der Stadt N. die Besuchszeit beginnt, flatterte aus der Türe eines orangefarbenen, hölzernen Hauses mit einem Erker und einigen blau angestrichenen Säulen, eine Dame in einem eleganten gestreiften Kleidchen heraus, begleitet von einem Lakai in einem Mantel mit mehreren Kragen und einem runden glänzenden Hut mit goldenen Tressen. Die Dame hüpfte eilig die steile Treppe hinab, um gleich darauf in dem vor der Türe haltenden Wagen zu verschwinden. Der Lakai warf sogleich die Wagentüre zu, sprang auf das Trittbrett und schrie dem Kutscher „Vorwärts!“ zu. Die Dame brachte eine Neuigkeit mit, die sie soeben erfahren hatte, und spürte ein schier unüberwindliches Verlangen, sie auch anderen Leuten mitzuteilen. Sie blickte jeden Augenblick aus dem Fenster und mußte sich zu ihrem unendlichen Ärger überzeugen, daß sie kaum mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Jedes Haus kam ihr heute länger vor als gewöhnlich, das armselige Asyl für alte Frauen mit seinen schmalen Fenstern schien gar kein Ende nehmen zu wollen, so daß die Dame es schließlich nicht mehr aushielt und ausrief: „Das verfluchte Haus, ist es denn noch immer nicht zu Ende!“ Der Kutscher hatte schon zweimal den Befehl erhalten, sich doch zu beeilen: „Schneller, schneller, Andrjuschka! Du fährst ja heute unerträglich langsam!“ Endlich war das Ziel erreicht. Die Kutsche hielt vor einem einstöckigen hölzernen Haus von dunkelgrauer Farbe mit weißen Basreliefs über den Fenstern, vor denen sich ein hohes Holzgitter befand; ein schmaler Staketenzaun friedigte das Ganze ein, dahinter standen ein paar magere Bäumchen, die beständig mit Straßenstaub bedeckt waren und daher ganz weiß aussahen. An den Fenstern sah man einige Blumentöpfe, einen Papagei, der sich in seinem Käfig schaukelte, indem er sich mit seinem Schnabel an ein Stäbchen anhakte, und zwei Hündchen, die in der Sonne schliefen. In diesem Hause wohnte eine treue und aufrichtige Freundin der soeben eingetroffenen Dame. Der Autor ist in großer Verlegenheit, wie er beide Damen bezeichnen soll und zwar so, daß ihm niemand deswegen zürne, wie man dies ehemals zu tun pflegte. Irgend einen Familiennamen erfinden — das wäre zu gefährlich. Was er auch für einen Namen wählen würde — es würde sich ganz sicher in irgend einem Winkel unseres Landes — groß genug ist es dazu — jemand finden, der denselben Namen trägt, ihm ganz ernstlich böse sein, sein Todfeind werden und sagen würde, der Autor sei allein deswegen hingereist, um im geheimen zu erforschen und zu erfahren, wer dieser Jemand eigentlich sei, in was für einem Pelz er spazieren gehe, bei welcher Frau Agrafena Iwanowna er verkehre, und was seine Lieblingsgerichte seien; oder nenne ihn bei seinem Rang und Titel — so begibst du dich in eine noch größere Gefahr. Gott behüte! Heutzutage sind alle Berufe und Stände bei uns so empfindlich geworden, daß sie alles, was sie in einem Buche gedruckt lesen, sofort für eine persönliche Beleidigung halten: das liegt nun mal so in der Luft. Man braucht nur zu erklären: in der und der Stadt gebe es einen dummen Kerl — sofort ist’s eine persönliche Beleidigung: im Handumdrehen meldet sich schon ein Herr von sehr würdigem Äußeren und schreit einen an: „Ich bin doch auch ein Mensch, also bin ich wohl dumm?“ Mit einem Wort, er hat es sogleich heraus, um was es sich handelt. Und darum wollen wir, um all diesen unangenehmen Eventualitäten aus dem Wege zu gehen, die Dame, welche den Besuch erhielt, so nennen, wie sie fast einstimmig von der ganzen Stadt N. genannt wurde: nämlich: die in jeder Beziehung angenehme Dame. Diesen Namen hatte sie von Rechts wegen erhalten, denn sie hatte in der Tat kein Mittel gescheut, um im höchsten Grade angenehm und liebenswürdig zu erscheinen, obwohl freilich aus ihrer Liebenswürdigkeit oft die ganze Schlauheit und Gewandtheit des weiblichen Charakters hervorblickte, und in manch einem ihrer stets angenehmen Worte eine ganz gefährliche Spitze verborgen lag! Garnicht erst davon zu reden, was für ein Grimm gegen jede in ihrem Herzen kochte, die es gewagt hätte, auf irgend eine Weise in eine erste Stellung einzurücken. Aber dies alles kleidete sich in das Gewand feinster weltmännischer Formen, wie man sie nur in einer Provinzstadt finden kann. Jede ihrer Bewegungen war geschmackvoll, sie schwärmte sehr für lyrische Gedichte, verstand es sogar, hin und wieder ihr Köpfchen träumerisch auf die Schulter sinken zu lassen, mit einem Wort, alle waren einverstanden, daß sie wirklich eine in jeder Beziehung angenehme Dame sei. Die andre Dame, das heißt jene, welche soeben angekommen war, hatte keinen so vielseitig veranlagten Charakter, und daher wollen wir sie bloß die angenehme Dame nennen. Ihre Ankunft weckte die Hündchen, welche sich auf der Fensterbank sonnten: die zottige Adèle, die sich beständig in ihrem eigenen Pelze verstrickte und den Rüden Potpourri, der zwei Paar äußerst dünne Beinchen hatte. Beide stürzten mit geringelten Schwänzen und unter lebhaftem Gebell ins Vorzimmer, wo die neuangekommene Dame sich soeben ihres Shawles entledigte und nun in einem Kleid von neustem Schnitt und moderner Farbe, mit einer langen Boa um den Hals dastand. Ein intensiver Jasmingeruch verbreitete sich durch das ganze Zimmer. Kaum hatte die in jeder Beziehung angenehme Dame von der Ankunft der bloß angenehmen Dame erfahren, als auch sie schon ins Vorzimmer gelaufen kam. Beide Freundinnen ergriffen sich bei der Hand, küßten sich und schrieen dabei auf, wie zwei junge Mädchen, die sich bald nach ihrer Entlassung aus dem Pensionat wieder treffen, bevor noch die beiden Mütter ihnen klar gemacht haben, daß der Vater der einen ärmer und kein so hoher Beamter ist, als der Vater der andern. Sie küßten sich so laut, daß beide Hündchen wieder zu bellen begannen, wofür sie einen sanften Schlag mit dem Tuche erhielten, — und beide Damen begaben sich in den natürlich blautapezierten Salon, in dem ein Sofa, ein ovaler Tisch und ein paar Fensterschirme standen, um die sich Efeu rankte; nach ihnen kam die zottige Adèle und der große Potpourri mit den langen Beinen knurrend ins Zimmer gelaufen. „Hierher, hierher, in dieses Eckchen!“ sagte die Hausfrau, indem sie den Gast in einer Ecke des Sofas Platz nehmen ließ. „So ist’s schön, so ist’s recht! Da haben Sie auch ein Kissen!“ Mit diesen Worten schob sie jener ein schön gesticktes Kissen in den Rücken; die Stickerei stellte einen von jenen Rittern dar, wie sie gewöhnlich auf Tülle gestickt werden: seine Nase hatte große Ähnlichkeit mit einer Treppe und die Lippen waren viereckig. „Wie froh ich bin, daß Sie ... Ich höre jemand vorfahren und denke mir, wer könnte das wohl sein, schon so früh? Parascha meinte, es sei die Frau Vizegouverneur, und ich sage noch zu ihr: sollte die dumme Person schon wieder gekommen sein, um mich zu langweilen? ich wollte mich schon verleugnen lassen ...“

Die andre Dame war schon im Begriff zur Sache zu kommen und ihre Neuigkeit auszukramen, aber ein Ausruf, den die in jeder Beziehung angenehme Dame in diesem Augenblick tat, gab dem Gespräch eine ganz neue Wendung.

„Was für ein hübscher heller Kattunstoff!“ rief die in jeder Beziehung angenehme Dame, während sie das Kleid der bloß angenehmen Dame aufmerksam musterte.

„Ja ein sehr heller lebhafter Stoff! Praskowja Fjodorowna findet aber, daß es hübscher aussehen würde, wenn die Karos noch etwas kleiner und die Pünktchen nicht braun, sondern blau wären. Ich habe meiner Schwester einen Stoff geschickt; der ist so entzückend! ich kann’s gar nicht sagen! Denken Sie nur: ganz schmale schmale Streifchen, auf blauem Grunde, so schmal wie man sich’s überhaupt nur vorstellen kann und zwischen zwei Streifen immer Äuglein und Pfötchen, Äuglein und Pfötchen .... Mit einem Wort, ganz herrlich! Man kann getrost behaupten, etwas Schöneres hat es noch nie auf der Welt gegeben.“

„Wissen Sie, Liebste, das wirkt zu bunt.“

„Oh nein! Gar nicht bunt!“

„Oh doch! Viel zu bunt!“

Hier muß ich einschalten, daß die in jeder Beziehung angenehme Dame in gewissem Sinne Materialistin war, eine starke Neigung zur Negation und zum Zweifel hatte und sehr vieles an diesem Leben verneinte.

Jetzt aber erklärte die bloß angenehme Dame, daß es durchaus nicht zu bunt sei, und rief: „Ach ja, ich gratuliere, man trägt keine Faltenbesätze mehr!“

„Wieso trägt man keine mehr?“

„Statt dessen werden jetzt nur noch Festons getragen!“

„Ach! Festons sind doch aber nicht hübsch!“

„Ja man trägt nur noch Festons, nichts wie Festons. Pelerinen aus Festons, auf den Ärmeln Festons, Aufsätze aus Festons, unten Festons, mit einem Wort überall Festons.“

„Das ist aber schade Sofja Iwanowna, Festons sind nicht hübsch!“

„Doch Anna Grigorjewna, sie machen sich reizend, ganz entzückend, man näht sie so: erst faltet man sie zweimal, läßt einen breiten Schlitz und oben ... Aber warten Sie, jetzt muß ich Ihnen etwas erzählen, worüber Sie sich wundern werden und sagen werden, daß ... Ja wundern Sie sich nur: die Taillen werden jetzt viel länger getragen, vorn laufen sie ein wenig spitz aus und das vordere Fischbein ragt ganz weit hervor; der Rock wird rings herum gerafft wie bei den alten Reifröcken, und sogar hinten ein wenig wattiert, ganz à la belle femme.“

„Nein, wissen Sie, das geht zu weit! Das muß ich denn doch sagen!“ rief die in jeder Beziehung angenehme Dame aus, machte eine empörte Kopfbewegung und richtete sich im Gefühl ihrer Würde stolz auf.

„Sehr richtig, das geht zu weit, das muß ich auch sagen!“ antwortete die bloß angenehme Dame.

„Nein, Verehrteste, machen Sie was Sie wollen, aber da tue ich nicht mit!“

„Ich auch nicht ... Wenn man sich vorstellt, was nicht alles Mode wird ... da hört doch alles auf! Ich habe meine Schwester um den Schnitt gebeten, bloß so zum Scherz, wissen Sie. Meine Melanie ist eben am Nähen.“

„Was, Sie haben den Schnitt?“ rief die in jeder Beziehung angenehme Dame aus, nicht ohne daß man ihr eine gewisse innere Bewegung angemerkt hätte.

„Natürlich. Meine Schwester hat ihn mitgebracht!“

„Herzchen, geben Sie ihn mir, bei allem, was Ihnen heilig ist!“

„Schade, ich habe ihn schon Proskowja Iwanowna versprochen. Vielleicht nach ihr?“

„Wer wird denn etwas tragen, was Proskowja Iwanowna schon getragen hat? Ich fände das sehr merkwürdig von Ihnen, wenn Sie eine Fremde ihrer nächsten Freundin vorzögen!“

„Aber sie ist doch meine Tante zweiten Grades?“

„Ach, was ist das für eine Tante. Sie sind doch nur durch Ihren Mann mit ihr verwandt ... Nein, Sofja Iwanowna, davon will ich gar nichts hören — Sie wollen mich beleidigen, Sie haben mich wohl schon satt bekommen und wollen die Bekanntschaft mit mir abbrechen ...“

Die arme Sofja Iwanowna wußte garnicht, was sie anfangen sollte. Sie merkte sehr gut, in welch ein Kreuzfeuer sie geraten war. Das kam von der Wichtigtuerei! Sie hätte sich ihre dumme Zunge mit Nadeln zerstechen mögen.

„Nun, und was macht unser Galan?“ fuhr jetzt die in jeder Beziehung angenehme Dame fort.

„Ach Gott, ach Gott. Und da sitze ich die ganze Zeit über mit Ihnen zusammen. Eine schöne Geschichte! Wissen Sie Anna Grigorjewna, was ich Ihnen für eine Neuigkeit mitgebracht habe?“ Hier ging ihr der Atem aus, ein ganzer Schwall von Worten drängte sich ihr auf die Zunge wie eine Schar von Habichten, die wie ein Sturmwind dahinjagen und sich in schnellem Fluge zu überholen streben. Es gehörte schon die ganze unmenschliche Härte und Grausamkeit ihrer treusten Freundin dazu, um ihr an dieser Stelle ins Wort zu fallen.

„Loben Sie ihn und heben Sie ihn in den Himmel, soviel Sie wollen,“ sagte sie mit einer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit. — „Und ich sage Ihnen — ich will es ihm meinetwegen selbst ins Gesicht sagen: er ist ein nichtswürdiger Mensch; ein nichtswürdiger, nichtswürdiger Mensch!“

„Ja aber hören Sie doch nur, was ich Ihnen mitzuteilen habe!“

„Da redet alle Welt davon, daß er schön sei, und dabei ist er nichts weniger als schön, nichts weniger — seine Nase — er hat eine geradezu widerwärtige Nase.“

„Aber lassen Sie mich, lassen Sie mich Ihnen doch erzählen, Herzchen, Anna Grigorjewna, so lassen Sie mich doch nur erzählen. Das ist ja eine ganze Geschichte, ich sage Ihnen, eine Geschichte ‚Bö kon apell istoar‘,“ sprach die Freundin mit dem Ausdruck vollkommenster Verzweiflung und mit flehender Stimme. — Es ist vielleicht nicht überflüssig, bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, daß beide Damen sehr viel fremde Worte und sogar lange französische Phrasen in ihr Gespräch einflochten. Aber so groß die Ehrfurcht ist, die der Verfasser für die französische Sprache hegt, wegen der heilsamen Folgen, die sie für unser Vaterland hat, so groß seine Achtung vor jener löblichen Sitte unserer besseren Kreise ist, welche diese Sprache zu allen Tageszeiten, natürlich nur aus innigster Liebe für ihr Vaterland, zu ihrer Verständigung gebrauchen, er kann es trotzdem nicht über sich gewinnen, einen Satz aus einer fremden Sprache in diese rein russische Dichtung hineinzunehmen, und so fahren wir denn auch russisch fort.

„Was für eine Geschichte?“

„Ach, meine liebste Anna Grigorjewna, wenn Sie sich bloß vorstellen könnten, in was für einer Lage ich mich befand! Denken Sie sich, da kommt heute die Oberpfarrerin, die Frau Oberpfarrer, die Frau des Vater Cyrill zu mir; na, und was denken Sie? unser sanfter Heinrich! Sie wissen schon: der neue Gast, ja was sagen Sie bloß zu ihm?“

„Wie? Er schneidet doch nicht am Ende der Frau Oberpfarrer die Kur?“

„Ach, je! Anna Grigorjewna! Das wäre noch nicht das schlimmste! Nein, hören Sie bloß, was die Frau Oberpfarrer mir erzählt hat! ‚Denken Sie sich,‘ sagte sie, ‚kommt da plötzlich die Gutsbesitzerin Karobotschka bleich wie der Tod zu mir gestürzt und erzählt mir, nein, Sie glauben garnicht, was die mir erzählt hat. Hören Sie doch nur, was die mir erzählt hat! Das ist ja der reinste Roman! Mitten in der Nacht, während im Hause schon alles schlief, hört sie plötzlich einen Höllenlärm, wie man ihn sich schlimmer garnicht denken kann; mit aller Gewalt wird ans Tor geklopft, und sie hört eine menschliche Stimme rufen: ‚Macht auf! Macht auf! Sonst stoß ich das Tor ein ...‘ Nun, wie gefällt Ihnen das? Was sagen Sie bloß zu unserm Galan?“

„Ja, ist denn die Karobotschka jung und hübsch?“

„Ach, was! Eine alte Schachtel!“

„Das sind aber schöne Geschichten! Also hat er sich wohl an die Alte rangemacht? Na, unsere Damen haben auch einen guten Geschmack, das kann man wohl sagen. Haben gerade den Rechten erwischt zum Verlieben!“

„Aber nicht doch, Anna Gregorjewna! Es ist ganz anders, wie Sie vermuten. Denken Sie sich, plötzlich steht er bis an die Zähne bewaffnet vor ihr, der reinste Rinaldo Rinaldini, und brüllt sie an: ‚Verkaufe mir die Seelen derer, die gestorben sind,‘ sagte er. Die Karobotschka antwortet natürlich ganz vernünftig: ‚Ich kann sie nicht verkaufen; sie sind doch schon tot.‘ — ‚Nein,‘ ruft er, ‚sie sind nicht tot. Das ist meine Sache, zu wissen, ob sie tot sind oder nicht,‘ sagte er. ‚Sie sind nicht tot, sind nicht tot!‘ schreit er. ‚Sie sind nicht tot!‘ Mit einem Wort, er macht einen furchtbaren Skandal, das ganze Dorf läuft zusammen, die Kinder heulen, alles schreit durcheinander, kein Mensch versteht den andern, kurz: ein Orrörrr, Orrörrr, Orrörrr! Sie können sich garnicht vorstellen, Anna Grigorjewna, wie erschrocken ich war, als ich dies alles hörte. ‚Liebe gnädige Frau,‘ sagt meine Maschka zu mir. ‚Besehen Sie sich doch in dem Spiegel! Sie sind ganz bleich!‘ ‚Ach, jetzt ist mir nicht darum zu tun,‘ sage ich, ‚ich muß schnell zu Anna Grigorjewna hinfahren und es ihr erzählen.‘ Ich lasse sofort anspannen. Mein Kutscher Andruschka fragt mich, wohin er fahren soll, aber ich bringe kein Wort heraus und sehe ihm nur ganz blöde ins Gesicht. Ich glaube wahrhaftig, er hat gedacht, ich sei verrückt geworden. Ach, Anna Grigorjewna, wenn Sie sich nur vorstellen könnten, wie mich das aufgeregt hat!“

„Hm! Das ist sehr merkwürdig!“ sagte die in jeder Beziehung angenehme Dame. „Was hat das wohl zu bedeuten, das mit den toten Seelen? Ich muß gestehen, von dieser Geschichte verstehe ich nichts, rein garnichts. Jetzt höre ich bereits zum zweiten Male von diesen toten Seelen. Und da behauptet mein Mann, daß Nosdrjow lügt! Irgend etwas steckt sicher dahinter!“

„Nein, aber denken Sie sich bloß in meine Lage hinein, Anna Grigorjewna, wie mir zu Mute war, als ich das hörte!„Und jetzt,“ sagt Karobotschka, „weiß ich gar nicht, was ich anfangen soll! Er hat mich gezwungen irgend eine falsche Urkunde zu unterschreiben,“ sagt sie, „und mir dann fünfzehn Rubel in Papier auf den Tisch geworfen. Ich,“ sagt sie, „bin eine unerfahrene hilflose Witwe und verstehe nichts von diesen Sachen.“ Das ist ’ne Geschichte! Nein, wenn Sie sich bloß vorstellen könnten, wie mich das alles aufgeregt hat.“

„Nein, sagen Sie was Sie wollen! Hier handelt es sich nicht um die toten Seelen! Da steckt etwas ganz anderes dahinter.“

„Ich muß gestehen, ich dachte schon selbst daran,“ sagte die bloß angenehme Dame ein wenig erstaunt. Sie wurde sofort von der heftigsten Begierde gepeinigt, zu erfahren, was wohl dahinter stecken könne, und daher sprach sie gedehnt: „Und was glauben Sie, was dahinter steckt?“

„Nun, was denken Sie wohl?“

„Was ich denke ...? Ich muß sagen ich stehe wie vor einem Rätsel.“

„Ich möchte aber doch wissen, was Sie sich wohl dabei gedacht haben?“

Allein der angenehmen Dame fiel nichts ein und daher schwieg sie. Sie konnte sich bloß über die Dinge aufregen, aber feine Vermutungen und Kombinationen aufzustellen, das war nicht ihre Sache, und daher empfand sie mehr als jede andere ein starkes Bedürfnis nach zärtlicher Freundschaft, Rat und Beistand.

„Nun gut, dann will ich es Ihnen sagen, was diese toten Seelen zu bedeuten haben,“ sagte die in jeder Beziehung angenehme Dame und ihre Freundin horchte auf und war ganz Ohr; ihre Ohren spitzten sich wie von selbst. Sie richtete sich im Sitzen auf, sodaß sie das Sofa kaum noch berührte und obwohl sie etwas kompakt war, wurde sie plötzlich beinahe schlank und leicht wie Federflaum, sodaß man hätte glauben können, ein noch so leichter Lufthauch müßte sie mit sich emportragen.

So scheint ein vornehmer russischer Junker, ein Hundefreund, Jäger und Draufgänger, wenn er sich dem Walde nähert, aus dem eben ein von den Treibern halb tot gehetzter Hase herausspringt, sich mit seinem Roß und der hocherhobenen Koppelpeitsche in der Hand in einem geronnenen Augenblick in ein Pulverfaß zu verwandeln, in das im nächsten Moment der zündende Funke fallen soll. Seine Augen möchten die trübe Luft durchbohren, und für das arme Tier gibts kein Entrinnen mehr. Er setzt ihm unaufhaltsam nach, und selbst wenn tausend wirbelnde Schneefelder sich gegen ihn erhöben, die ihm mit ganzen Garben silberner Sterne Mund und Augen, Schnurrbart, Augenbrauen und die kostbare Bibermütze überschütteten.

„Die toten Seelen ..“ sagte die in jeder Beziehung angenehme Dame.

„Wie? Was?“ fuhr die Freundin ganz aufgeregt dazwischen.

„Die toten Seelen ...!“

„Ach so sprechen Sie doch, um Gottes Willen!“

„Sind eine bloße Erfindung und nichts wie ein Vorwand. Hier handelt es sich in Wahrheit um folgendes: er will die Tochter des Gouverneurs entführen.“

Diese Schlußfolgerung kam in der Tat sehr unerwartet und war in jeder Beziehung ungewöhnlich. Als die angenehme Dame dieses hörte, blieb sie wie versteinert auf ihrem Platze sitzen; sie erbleichte, wurde blaß wie der Tod, und geriet diesmal ernstlich in Aufregung. „Oh mein Gott!“ rief sie, indem sie die Hände zusammenschlug: „das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen!“

„Ich muß sagen, Sie hatten kaum den Mund aufgetan, da wußte ich schon, worum es sich handelt“ antwortete die in jeder Beziehung angenehme Dame.

„Was soll man aber nach alledem von der Erziehung im Pensionat denken. Die liebe Unschuld!“

„Schöne Unschuld! Ich habe die Dinge reden hören! wahrhaftig ich hätte nicht den Mut gehabt, so etwas auszusprechen.“

„Wissen Sie, Anna Grigorjewna, es ist wirklich zu schmerzlich, wenn man sieht, wie weit heute die Unsittlichkeit geht!“

„Und die Herren sind ganz verschossen in sie. Ich dagegen muß gestehen, daß ich nichts an ihr finden kann.“

„Sie ist schrecklich affektiert, geradezu unerträglich affektiert.“

„Ach liebste Anna Grigorjewna, sie ist kalt wie ein Marmorbild, ohne den geringsten Ausdruck im Gesicht.“

„Nein, wie affektiert, wie schrecklich affektiert sie ist, Gott, wie affektiert! Wer sie das nur gelehrt haben mag? Aber ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das ein so geziertes Wesen gehabt hätte.“

„Liebste, Sie ist eine Marmorstatue, und bleich wie der Tod.“

„Ach, sagen Sie doch das nicht, Sofia Iwanowna, sie legt ja Rot auf, daß es ’ne Schande ist.“

„Nein, was sprechen Sie, Anna Grigorjewna; sie ist ja bleich wie Kreide, ganz wie Kreide.“

„Meine Liebe, ich habe doch neben ihr gesessen, die Schminke sitzt ihr ja fingerdick auf den Wangen, und bröckelt stückweise ab wie der Kalk von der Wand. Das hat sie von ihrer Mutter. Die ist selbst eine abgefeimte Kokette, aber die Tochter ist der Mutter noch über.“

„Nein, erlauben Sie, nein, sagen Sie selbst, wobei ich schwören soll, ich gebe gleich alles hin, meinen Mann, meine Kinder, all mein Hab und Gut, wenn sie auch nur ein bißchen, ein Fünkchen, auch nur einen Anflug von Farbe hat!“

„Ach, was reden Sie bloß, Sofia Iwanowna,“ sagte die in jeder Beziehung angenehme Dame, und schlug die Hände zusammen.

„Nein, wie sonderbar Sie sind! wirklich, Anna Grigorjewna, ich sehe Sie bloß an und staune!“ sagte die angenehme Dame, und schlug gleichfalls die Hände zusammen.

Der Leser darf sich nicht darüber wundern, daß beide Damen sich durchaus nicht über das einigen konnten, was sie doch fast zu gleicher Zeit gesehen hatten. Es gibt tatsächlich sehr viele Dinge auf der Welt, die diese merkwürdige Beschaffenheit haben; werden sie von einer Dame betrachtet, so sind sie ganz weiß; betrachtet sie dagegen eine andre Dame, so sind sie ganz rot, rot wie Preißelbeeren.

„Nun, da haben Sie noch einen Beweis dafür, daß sie blaß ist,“ fuhr die angenehme Dame fort: „ich erinnere mich noch ganz deutlich, wie wenn es heute wäre, daß ich neben Manilow saß und zu ihm sagte: ‚Sehen Sie doch, wie bleich sie ist!‘ Wirklich, man muß schon so unvernünftig sein, wie unsere Herren, um sich für sie zu begeistern. Und unser Herr Galan ... Herrgott, wie er mir in diesem Augenblick widerwärtig war! Sie können sich garnicht vorstellen, wie er mir widerwärtig war!“

„Und doch gab es gewisse Damen, denen er nicht ganz gleichgültig war.“

„Meinen Sie mich, Anna Grigorjewna? Das können Sie doch wirklich nicht sagen. Niemals, niemals!“

„Ich spreche doch nicht von Ihnen, es gibt doch noch andre Frauen auf der Welt!“

„Niemals, niemals, Anna Grigorjewna. Erlauben Sie mir zu bemerken, daß ich mich sehr gut kenne; das trifft mich wirklich nicht, aber vielleicht andre Damen, die sich den Schein der Unnahbarkeit zu geben suchen.“

„Nein, verzeihen Sie Sofia Iwanowna, bitte lassen Sie sich sagen, daß ich noch nie in eine solche Skandalgeschichte verwickelt war. So etwas mag vielleicht jeder andern begegnen, aber mir nicht, Sie müssen mir schon gestatten, Ihnen dieses zu bemerken.“

„Warum sind Sie denn so gekränkt? Außer Ihnen waren doch noch andre Damen anwesend, welche den Stuhl an der Türe zu allererst besetzen wollten, um möglichst nahe bei ihm zu sitzen.“

Man hätte meinen sollen, diese Worte der angenehmen Dame hätten unbedingt ein Ungewitter zur Folge haben müssen; aber merkwürdigerweise verstummten beide Damen ganz plötzlich, und der erwartete Sturm blieb aus. Die in jeder Beziehung angenehme Dame erinnerte sich noch zur rechten Zeit, daß der Schnitt zum neuen Kleide noch nicht in ihrer Hand war, und die bloß angenehme Dame war sich darüber klar, daß sie noch gar keine Einzelheiten über die Entdeckung ihrer besten Freundin wußte, und daher schloß man sehr schnell wieder Frieden. Übrigens kann man nicht sagen, daß beide Damen von Natur das Bedürfnis hatten, sich Unannehmlichkeiten zu bereiten, auch hatten sie nicht eigentlich einen boshaften Charakter, es kam gleichsam ganz von selbst, daß sich während des Gespräches der fast unmerkliche Wunsch in ihnen regte, einander einen kleinen Hieb zu versetzen; da ereignete es sich denn zuweilen, daß es der einen von beiden eine kleine Freude machte, der Freundin bei Gelegenheit ein herzhaftes Wort zu sagen: „Da hast du’s! nimm und friß es!“ So verschieden sind Herzensbedürfnisse beim männlichen und weiblichen Geschlechte.

„Ich kann nur eins nicht verstehen,“ sagte die bloß angenehme Dame, „wie Tschitschikow, der doch hier nur auf der Durchreise ist, sich zu einem so tollkühnen Abenteuer entschließen konnte. Er muß doch irgend welche Helfershelfer haben.“

„Und Sie glauben wohl er hat keine?“

„Und was meinen Sie, wer könnte ihm dabei helfen?“

„Nun, zum Beispiel — Nosdrjow!“

„Glauben Sie wirklich — Nosdrjow?“

„Warum nicht. Der ist doch zu allem fähig. Wissen Sie denn nicht, er hat seinen leiblichen Vater verkaufen oder richtiger am Kartentisch verspielen wollen.“

„Gott, was für interessante Neuigkeiten ich von Ihnen erfahre! Ich hätte nie gedacht, daß auch Nosdrjow in diese Geschichte verwickelt sei.“

„Und ich hab es mir gleich gedacht!“

„Wenn man denkt, was in der Welt alles vorfällt! Sagen Sie bloß, wer hätte es damals vermuten können, als Tschitschikow zum Besuch in unsere Stadt kam, daß er solche tolle Sprünge machen würde? Ach Anna Grigorjewna, wenn Sie wüßten, wie mich das aufregt! Wenn ich Sie nicht hätte, Ihre Freundschaft und Ihre Güte .... Ich stände wirklich wie vor einem Abgrund .... Wo sollte ich nur hin? Meine Maschka schaut mich an, sieht daß ich bleich bin wie der Tod, und sagt zu mir: ‚Liebe gnädige Frau, Sie sind ja bleich wie der Tod!‘ Und ich sage ihr noch: ‚Ach Maschka, mir gehen jetzt ganz andere Gedanken im Kopf herum!‘ Nein so etwas! Und der Nosdrjow steckt auch dahinter! Schöne Geschichte das!“

Die angenehme Dame brannte darauf, noch weitere Details über die Entführung d. h. etwas über den Tag, die Stunde und so weiter zu erfahren, aber sie verlangte zu viel. Die in jeder Beziehung angenehme Dame erklärte ganz einfach, sie wüßte nichts darüber. Und sie log niemals: eine kühne Hypothese aufstellen — das war eine andre Sache, aber auch dies gelang ihr nur dann, wenn diese Hypothese auf einer tiefen inneren Überzeugung beruhte; war diese innere Überzeugung aber wirklich vorhanden, dann verstand es die Dame auch für sie einzustehen, da hätte es der größte Advokat, der berühmteste Wortfechter und Sieger über fremde Überzeugungen nur versuchen sollen, sich mit ihr im Wettkampfe zu messen —: hier hätte er erst gemerkt, was das bedeutet: eine innere Ueberzeugung.

Daß beide Damen zuletzt ganz fest davon überzeugt waren, was sie vordem auf die bloße Vermutung hin angenommen hatten, das ist durchaus nicht merkwürdig. Unser einer, mit einem Wort wir, die wir uns gescheidte Leute nennen, handeln doch genau ebenso, und der beste Beweis dafür sind unsere gelehrten Erörterungen. So ein Gelehrter geht zuerst auch an die Sache heran wie ein richtiger Gauner, er beginnt ganz vorsichtig und fast schüchtern mit einer ganz bescheidenen Frage: „Hat nicht dies Land seinen Namen von dorther, von jenem Winkel der Erde?“ oder „Gehört nicht vielleicht diese Urkunde einer anderen, späteren Zeit an?“ oder „Müssen wir nicht dies Volk für das und das Volk halten?“ Hierauf zitiert er sofort den und den Schriftsteller des Altertums, kaum aber hat er irgend eine Anspielung entdeckt oder doch etwas was er für eine Anspielung hält, so legt er auch schon im kühnen Galopp los, bekommt Mut, beginnt mit den alten Schriftstellern zu sprechen wie mit seinesgleichen, richtet Fragen an sie, die er sogar selbst in ihrem eigenen Namen beantwortet, und er hat plötzlich ganz vergessen, mit welch bescheidener Hypothese er angefangen hat; jetzt kommt es ihm schon so vor, als sähe er dies alles vor Augen, so klar ist es ihm jetzt und er beschließt seine Betrachtung mit den Worten: „Und so ist es gewesen. Dies Volk also war es. Das ist der Standpunkt, von dem aus dieser Gegenstand beurteilt werden muß!“ Und dann wird es feierlich vom Katheder verkündet, daß alle es hören können — und die neue Wahrheit spaziert in die Welt hinaus, um weitere Anhänger und Bewunderer zu gewinnen.

Während unsere beiden Damen eine so höchst verworrene und komplizierte Sache so glücklich und mit soviel Scharfsinn geklärt und entwirrt hatten, trat der Staatsanwalt mit seinem starren und ewig unbeweglichen Gesicht, den dichten Augenbrauen und dem blitzenden Auge in den Salon. Beide Damen teilten ihm sofort alle Neuigkeiten mit, erzählten ihm von dem Kauf der toten Seelen, von Tschitschikows Absicht, die Tochter des Gouverneurs zu entführen und redeten so lange auf ihn ein, bis er ganz konfus wurde. Verwirrt stand er auf demselben Fleck, blinzelte mit dem linken Augenlid, staubte sich mit einem Taschentuch den Tabak von seinem Bart ab, und verstand auch nicht ein Wort von dem, was er vernahm. In einer solchen Verfassung überließen ihn die Damen sich selbst und stürmten davon, jede in ihrer Richtung, um die Stadt in Aufruhr zu setzen. Dieses Unternehmen gelang ihnen in kaum mehr als einer halben Stunde. Die Stadt war in ihrem Innersten aufgewühlt, alles befand sich in wilder Gährung und bald begriff kein Mensch überhaupt noch etwas. Die Damen verstanden es, einen solchen Rauch und Nebel zu erzeugen, daß alle, besonders aber die Beamten, ihrer Sinne kaum noch mächtig waren. Ihre Lage glich im ersten Moment der eines Schuljungen, dem seine Kameraden während des Schlafes eine Papierdüte mit Tabak, oder wie man’s bei uns nennt „einen Husaren“ in die Nase gesteckt haben. Schnaufend und mit der ganzen Gewalt des Schnarchenden zieht der Schläfer den Tabak ein, erwacht, springt auf, sperrt die Augen auf, sieht sich nach allen Seiten um, wie ein Narr, und kann nicht begreifen, wo er sich befindet, und was mit ihm vorgeht; doch nun erkennt er die Mauer, auf die der schwache Lichtreflex eines Sonnenstrahles fällt, das Gelächter der Kameraden, die hinter der Ecke hervorgucken, das nahende Morgenlicht, das heiter durch das Fenster strahlt, den erwachenden Wald, aus dem tausende von Vogelstimmen wiedertönen, das in der Morgensonne erstrahlende Flüßchen, hie und da zwischen Schilfrohr versteckt, in dessen glänzender Flut sich unzählige feuchte Knabenleiber tummeln, und zum Bade laden — und nun erst merkt er, daß ihm der Husar in der Nase steckt. Genau so war im ersten Moment die Lage der Bewohner und Beamten unserer Stadt. Ein jeder blieb stehen wie ein Hammel und sperrte die Augen weit auf. Die toten Seelen, die Tochter des Gouverneurs, und Tschitschikow; dies alles wogte und wirbelte in wunderlichster Weise in ihren Köpfen durcheinander; erst später, nachdem die erste Verwirrung sich gelegt hatte, fingen sie an diese verschiedenen Dinge einzeln voneinander zu unterscheiden, eins vom andern zu trennen, Rechenschaft zu fordern, und sie wurden zornig, als sie sahen, daß durchaus keine Klarheit über die ganze Angelegenheit zu gewinnen war. „Was ist denn das für eine Fabel, nein wirklich, was ist das für ein Gefasel von den toten Seelen? Wo bleibt denn da die Logik in dieser Geschichte mit den toten Seelen? Wie kann man denn tote Seelen kaufen? Wo gibt es denn einen solchen Esel, der so etwas täte? Und für was für ein unnützes Geld wird er sie denn kaufen? Und schließlich, wozu kann er diese toten Seelen bloß brauchen? Und dann: was hat nur die Tochter des Gouverneurs mit der Sache zu tun? Wenn er sie aber wirklich entführen wollte, warum sollte er zu diesem Zwecke der toten Seelen bedürfen? Und wenn er sich tote Seelen kaufen will, was braucht er dann die Tochter des Gouverneurs zu entführen? Wollte er ihr etwa die toten Seelen schenken? Was für einen Unsinn sie da in der Stadt verbreiten! Was ist das wieder für eine Ordnung: man darf sich kaum bewegen, dann werden sofort Geschichten über einen verbreitet ... Und wenn die Sache nur überhaupt irgend einen Sinn hätte! ... Andererseits aber muß doch etwas dahinter stecken, sonst wäre doch dies Gerücht nicht entstanden. Irgend einen Grund muß es doch haben. Aber was könnten die toten Seelen für ein Grund sein? Da fehlt es doch sogar an einem vernünftigen Grunde! Das ist doch wirklich fast so wie: „ein hölzernes Eisen“, „ein paar weichgekochte Stiefel“ oder „ein gläserner Stelzfuß!“ Mit einem Wort, man sprach, man klatschte, man tuschelte, und die ganze Stadt redete von nichts anderem als von den toten Seelen und von der Tochter des Gouverneurs, von Tschitschikow und von den toten Seelen, von der Tochter des Gouverneurs und von Tschitschikow, und alles kam in Bewegung. Wie ein Wirbelwind ging es durch die Stadt, die bisher in Schlaf versunken schien. Sämtliche Faullenzer und Stubenhocker, die jahrelang in ihren Schlafröcken hinter dem Ofen hockten und die Schuld bald auf den Schuster, der ihnen zu enge Stiefel gemacht hatte, bald auf den Schneider oder auf ihren betrunkenen Kutscher schoben, kamen aus ihren Höhlen gekrochen, all die, welche längst alle Beziehungen zu ihren Freunden und Bekannten abgebrochen hatten und nur noch mit den beiden Gutsbesitzern Herrn Bärenhäuter und Herrn Ofenhocker verkehrten (zwei berühmte Namen, die von den Ausdrücken „auf der Bärenhaut“ liegen und „hinterm Ofen hocken“ abgeleitet und bei uns sehr beliebt sind, ebenso wie die Redensart: Herrn Schnarchelaut und Schlummersüß einen Besuch abstatten jenen totenähnlichen Schlaf auf der Seite, auf dem Rücken und in allen möglichen anderen Lagen, bezeichnen soll, der von einem kräftigen Schnarchen, sanftem Zephyrsäuseln durch die Nase und allem sonstigen Zubehör begleitet ist); alle die, welche man nicht einmal durch die Aussicht auf eine teure Fischsuppe mit meterlangen Sterlets und allen nur erdenklichen Pasteten, die einem auf der Zunge zergehen, aus ihrem Hause locken konnte, kamen hervor; mit einem Worte, es zeigte sich, daß die Stadt menschenreich und groß war, und daß ein so lebhafter Verkehr in ihr herrschte, wie man es nur wünschen konnte. Es tauchten sogar ein Herr Ssyssoi Pafnutjewitsch und ein Herr Makdonald Karlowitsch auf, von denen man bis dahin noch nie etwas gehört hatte; in den Salons erschien plötzlich ein baumlanger Kerl mit einem durchschossenen Arm, ein wahrer Riese, von einer Größe, wie sie überhaupt noch nie dagewesen war. Auf den Straßen sah man gedeckte Wagen, vorsintflutliche Droschken, Klapperkästen, Rumpelkutschen — und der Brei war eingerührt. Zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätten diese Gerüchte vielleicht gar keine Beachtung gefunden, aber die Stadt N. war schon lange ohne Neuigkeiten geblieben. Ja, es war während der letzten drei Monate so gut wie gar nichts passiert, was man in der Hauptstadt eine Kommerage oder eine Klatschgeschichte zu nennen pflegt und was bekanntlich für eine Stadt unter Umständen ebenso wichtig ist, wie die rechtzeitige Zufuhr der Lebensmittel. Die Bevölkerung der Stadt teilte sich plötzlich in zwei völlig entgegengesetzte Parteien, die zwei ganz verschiedene Standpunkte vertraten: die männliche und die weibliche. Der Standpunkt der Männer war ganz unvernünftig und töricht; sie legten das Hauptgewicht auf die toten Seelen. Die weibliche Partei beschäftigte sich dagegen ausschließlich mit der Entführung der Tochter des Gouverneurs. In dieser Partei — zur Ehre der Damen sei es gesagt — herrschte weit mehr Umsicht, Ordnung und Überlegung. Es ist offenbar schon mal Bestimmung der Frauen, gute Wirtinnen zu sein und überall für die richtige Ordnung zu sorgen. Bei ihnen nahm alles sehr bald ein bestimmtes lebendiges Ansehen, scharfe und handgreifliche Formen an, alles klärte sich und wurde durchsichtig und deutlich wie ein vollendetes scharf umrissenes Gemälde. Jetzt kam es an den Tag, daß Tschitschikow schon längst in jene Person verliebt war, daß sie sich im Garten beim Mondenschein getroffen, daß der Gouverneur Tschitschikow seine Tochter längst zur Frau gegeben hätte, weil jener reich wie ein Jude war, wenn nicht Tschitschikows Frau, die von ihm verlassen worden war, dazwischen gestanden hätte (woher man erfahren hatte, daß er verheiratet war, wußte niemand anzugeben), daß diese Frau, die eine hoffnungslose Liebe in ihrem Herzen hegte, einen rührenden Brief an den Gouverneur geschrieben, und daß sich Tschitschikow angesichts der entschiedenen Weigerung von Mutter und Vater, zu einer Entführung entschlossen habe. In manchen Häusern wurde diese Geschichte allerdings etwas anders erzählt: darnach hatte Tschitschikow überhaupt keine Frau, hätte aber als der feine und stets sicher gehende Mann, sich, da er die Tochter haben wollte, zunächst an die Mutter gemacht, und mit dieser eine kleine Herzensaffäre angebahnt, erst später habe er um die Hand der Tochter angehalten; die Mutter aber hätte gefürchtet, hier könne leicht ein Verbrechen geschehen, das den heiligen Geboten der Religion zuwiderlaufe und habe es ihm daher von Gewissensbissen gefoltert ganz kurz abgeschlagen, erst jetzt habe sich Tschitschikow dazu entschlossen, die Tochter zu entführen. Dazu kamen noch eine Menge von Aufklärungen und Richtigstellungen, deren Zahl um so mehr anwuchs, je weiter die Gerüchte sich verbreiteten und bis in die entlegensten Gassen und Winkel der Stadt eindrangen. Bei uns in Rußland haben auch die unteren Schichten der Gesellschaft eine große Vorliebe für Klatschgeschichten, die aus den vornehmen Kreisen kommen, so begann man denn bald auch in solchen Häusern von diesem Skandal zu reden, wo man Tschitschikow überhaupt nicht kannte, und so entstanden bald wiederum neue Erklärungen und Gerüchte. Der Gegenstand wurde jeden Augenblick interessanter, nahm mit jedem neuen Tage immer neue und bestimmtere Formen an und kam so schließlich in voller Bestimmtheit und Abgeschlossenheit der Frau Gouverneurin selbst zu Ohren. Die Gouverneurin fühlte sich, als Mutter einer Familie, und als erste Dame der Stadt, durch diese Geschichten aufs tiefste beleidigt, besonders da sie nichts derartiges auch nur vermutet hatte, und geriet in eine große und auch in jeder Beziehung berechtigte Empörung. Die arme Blondine hatte ein höchst unangenehmes Tete-a-tete mit ihr, wie es nur je ein sechzehnjähriges junges Mädchen zu überstehen hatte. Eine ganze Flut von Fragen, Verweisen, Vorwürfen, Ermahnungen und Drohungen ergoß sie über das arme Mädchen, sodaß diese in Tränen ausbrach und laut zu schluchzen begann, ohne ein einziges Wort von alledem zu verstehen; der Portier erhielt strengste Order Tschitschikow nie wieder und unter keinem Vorwande mehr vorzulassen.

Nachdem die Damen ihre Mission, soweit diese nämlich die Gouverneurin betraf, erfüllt hatten, nahmen sie sich die männliche Partei vor, um sie für sich zu gewinnen. Sie erklärten die Sache mit den toten Seelen für eine pure Erfindung, nur dazu geschaffen, um jeden Verdacht ablenken und so den Mädchenraub ungestört ausführen zu können. Viele von den Männern ließen sich bekehren und schlossen sich der Partei der Damen an, trotzdem sie sich dadurch dem Tadel und den Vorwürfen ihrer Genossen aussetzten, welche sie Pantoffelhelden und Weiberröcke nannten — zwei Epitheta, die bekanntlich für das männliche Geschlecht einen recht kränkenden Sinn haben.

Aber so sehr sich auch die Männer wappnen, so großen Widerstand sie auch leisten mochten, es fehlte in ihrer Partei schließlich doch an jener Ordnung und Disziplin, welche die Frauenpartei auszeichneten. Bei ihnen war alles plump, ungeschickt, unzweckmäßig, unharmonisch und schlecht; in den Köpfen herrschte Unordnung und Wirrwarr, in den Gedanken Unklarheit und Verworrenheit — mit einem Worte, es kam eben die unglückliche Natur des Mannes so recht zum Vorschein, diese grobe plumpe schwerfällige Natur, die weder zur Verwaltung des Haushalts zu brauchen, noch tiefer ehrlicher Überzeugungen fähig ist, diese kleingläubige, träge, von ewigen Zweifeln, von Ängstlichkeit und Furcht zerrüttete Natur. Die Männer behaupteten, das seien alles Torheiten, die Entführung einer Gouverneurstochter sei weit eher etwas für einen Husaren, als für eine Zivilperson, so etwas würde Tschitschikow auf keinen Fall tun, den Frauen sei nicht zu trauen, sie lögen alle, ein Weib sei wie ein leerer Sack, was man in ihn hineinschütte, das käme auch wieder aus ihm heraus: der Hauptpunkt, auf den man sein Augenmerk richten müsse, das seien die toten Seelen, zwar wisse der Teufel allein, was sie zu bedeuten hätten, sicherlich aber stecke etwas sehr Schlimmes und Häßliches dahinter. Warum es den Männern aber schien, daß etwas so Häßliches und Schlimmes dahinter stecke — dies werden wir sogleich erfahren. Es war soeben ein neuer Generalgouverneur für die Provinz ernannt worden — bekanntlich ein Ereignis, das die Beamten stets in einen Zustand voller Unruhe und Aufregung versetzt: da gibt’s dann immer allerhand Untersuchungen und Rüffel, da wird einem der Kopf ordentlich gewaschen und zurechtgesetzt, da muß man von Amts wegen alle Suppen ausessen, mit denen der Vorgesetzte seine Untergebenen zu traktieren pflegt. — „Herr Gott!“ dachten die Beamten, „wenn er auch nur das erfährt, daß in der Stadt solche Gerüchte zirkulieren, dann wird er nicht zum Scherze, sondern ernstlich zornig werden.“ Der Inspektor der Sanitätsverwaltung wurde plötzlich ganz bleich, ihm fiel etwas ganz Schreckliches ein, ob nicht das Wort „tote Seelen“ eine Anspielung auf die vielen Leute sei, die bei der letzten Fieberepidemie erkrankt und wegen der mangelhaften Vorsichtsmaßregeln in den Häusern und Lazaretten gestorben waren, und ob Tschitschikow nicht am Ende ein Beamter aus der Kanzlei des Generalgouverneurs sei, der hier im geheimen eine Untersuchung in die Wege leiten solle. Er teilte seine Befürchtungen dem Gerichtspräsidenten mit. Der Gerichtspräsident erklärte sie für Torheiten, erblaßte aber gleich darauf selbst bei dem Gedanken: wie aber, wenn die von Tschitschikow gekauften Seelen wirklich tot wären? Hatte er es doch zugelassen, daß der Kaufvertrag abgeschlossen wurde und noch dazu selbst die Rolle eines Vertrauensmannes bei Pljuschkin übernommen. Wie, wenn das dem Generalgouverneur zu Ohren käme, was dann? Er teilte diesem und jenem seine Besorgnisse mit, und plötzlich erblaßte auch dieser und jener: die Angst ist ansteckender als die Pest und teilt sich in einem Augenblicke mit. Alle entdeckten plötzlich solche Sünden an sich selbst, wie sie sie garnicht mal begangen hatten. Die Worte „tote Seelen“ hatten einen so unbestimmten Klang, daß sogar der Argwohn laut wurde, ob es sich hier nicht um zwei Fälle handle, wo zwei Menschen zu früh begraben worden waren. Beide Ereignisse lagen noch nicht sehr weit zurück. Das erste war mit ein paar Kaufleuten aus Ssolwytschiegodsk passiert, welche zur Messe in die Stadt gekommen waren und nach Erledigung ihrer Geschäfte mit ein paar befreundeten Kaufleuten aus Ustssyssolsk eine solenne Zecherei veranstaltet hatten. Eine Zecherei nach russischer Art aber mit deutschen Finessen: Grogs, Punschen, Bowlen usw. Diese Zecherei endigte natürlich, wie das gewöhnlich zu passieren pflegt, mit einer weidlichen Prügelei. Die Herren aus Ssolwytschiegodsk setzten denen aus Ustssyssolsk tüchtig zu, obwohl sie von diesen ebenfalls ein paar kräftige Rippenstöße und Püffe in die Bauch- und Magengegend erhielten, welche von den ungeheuerlichen Dimensionen der Fäuste zeugten, mit denen die seligen Prügelhelden begabt waren. Dem einen von den Siegern war sogar der Erker eingetrommelt, wie sich unsere Boxer auszudrücken pflegen, d. h. die Nase derart platt geschlagen, daß kaum mehr als ein Fingerglied von ihr übrig war. Die Kaufleute gestanden ihre Schuld ein und erklärten, sie hätten sich einen kleinen Scherz erlaubt. Man sprach sogar davon, daß sie für jeden der von ihnen Erlegten je vier Hundertrubelscheine bezahlt hätten; übrigens aber blieb das eine sehr dunkle Sache. Aus den angestellten Ermittlungen und Nachforschungen ging hervor, daß die Kaufleute von Ustssyssolsk an Kohlengasvergiftung zugrunde gegangen seien. Und so wurden sie denn auch als solche begraben. Der andere Fall, der sich vor kurzem ereignet hatte, war folgender: die Ministerialbauern des Dorfes Wschiwaja Speß hatten sich mit ebensolchen Bauern der Dörfer Borow, Borowka und Sadirailowo vereinigt und angeblich die Gendarmerie in der Person eines gewissen Schöffen, namens Drobjaschkin vom Erdboden vertilgt. Die Gendarmerie, d. h. der Schöffe Drobjaschkin sollte sich gar zuviel herausgenommen und allzuoft ihr Dorf heimgesucht haben, was unter Umständen fast so gefährlich war, wie eine Epidemie. Der Grund aber sei gewesen, daß die Gendarmerie aus einer gewissen Herzschwäche den Weibern und Dorfmädeln gar zu eifrig nachgestellt habe. Ganz klar ist zwar die Sache nicht, obwohl die Bauern geradezu aussagten, die Gendarmerie sei lüstern gewesen, wie ein Kater, mehr als einmal hätten sie ihn vertreiben und einmal sogar ganz nackt aus einer Bauernhütte hinausjagen müssen. Natürlich hatte die Gendarmerie wegen ihrer Herzschwäche eine harte Strafe verdient, andererseits ließ sich aber die Eigenmächtigkeit der Bauern von Wschiwaja Speß und Sadirailowo auch nicht rechtfertigen und verteidigen, wenn sie wirklich an dem Morde teilgenommen hatten. Immerhin blieb es doch eine ganz dunkle Sache; man fand die Gendarmerie am Wege liegen; ihre Uniform oder ihr Rock glich einem Haufen von Lumpen, und das Gesicht war auch fast unkenntlich. Die Sache kam vor die Behörden und schließlich vor das Kriminalgericht, wo man sie zuerst ganz unter sich erörterte und in folgendem Sinne entschied: da es unbekannt sei, wer von den Bauern eigentlich an dem Tode der Gendarmerie Schuld trug, alle zusammen jedoch eine zu respektable Anzahl ausmachten, da Drobjaschkin andererseits aber ein toter Mann sei, und daher wenig davon haben würde, wenn er den Prozeß gewönne, die Bauern hingegen noch am Leben seien, weshalb denn auch eine günstige Wendung des Prozesses von großer Bedeutung für sie sei, so habe das Gericht beschlossen: daß der Schöffe Drobjaschkin selbst die Schuld an seinem Tode trage, weil er die Bauern von Wschiwaja Speß und Sadirailowo in ungerechter Weise bedrückt und verfolgt habe, und daß er demgemäß, als er eines Abends in seinem Schlitten nach Hause zurückkehrte, an einem Schlaganfall gestorben sei. Die Sache schien damit nach allen Regeln der Kunst erledigt; plötzlich aber fingen die Beamten an zu glauben, daß es sich in diesem Falle um die genannten toten Seelen handele. Dazu kam noch, daß gerade um die Zeit, als sich die Herren Beamten ohnedies in einer schwierigen Lage befanden, beim Gouverneur zwei Papiere eingingen. Das eine enthielt die Mitteilung, daß auf gewisse Anzeichen hin sich in der Provinz ein Falschmünzer aufhalte, welcher falsches Papiergeld herstelle und sich hinter verschiedenen Namen verstecke. Und daher sei es nötig, eine strenge Untersuchung in die Wege zu leiten. Das andere Papier enthielt eine Mitteilung des Gouverneurs der Nachbarprovinz über einen Räuber, der sich der gerichtlichen Verfolgung entzogen hatte, und die Aufforderung, wenn in der Provinz des Herrn Kollegen eine verdächtige Person auftauchen sollte, welche weder Paß, noch sonstige Legitimationspapiere vorlegen könne, diese sofort zu verhaften. Beide Papiere riefen eine allgemeine Bestürzung hervor; alle bisherigen Vermutungen und Folgerungen waren plötzlich über den Haufen geworfen. Es lag natürlich nicht der geringste Anlaß zur Annahme vor, daß sich auch nur ein Wort davon auf Tschitschikow bezöge. Wenn man sich dagegen überlegte und daran erinnerte, daß eigentlich niemand recht wußte, wer Tschitschikow sei, daß er sich selbst nur sehr unklar und unbestimmt über seine Person geäußert und bloß erklärt hatte, daß er in seiner Karriere Schiffbruch gelitten, weil er der Wahrheit hätte dienen wollen, so mußte das frischen Verdacht erregen. Aber das alles war doch zu unklar und verschwommen. Und wenn er weiter sagte, er habe sich viele Feinde erworben, die ihm nach dem Leben trachteten, so gab das noch mehr Grund zum Nachdenken: also hatte er in Lebensgefahr geschwebt, also wurde er doch verfolgt: also mußte er doch irgend etwas begangen haben ... Ja wer war er denn nun eigentlich? Man durfte natürlich nicht annehmen, daß er falsches Papiergeld verfertige, oder gar ein Räuber sei — hatte er doch eine so gesinnungstüchtige Physiognomie; aber bei alledem: wer war er denn nun tatsächlich? Und jetzt endlich stellten sich die Herren Beamten die Frage, die sie sich gleich im Anfang, d. h. im ersten Kapitel dieser Dichtung, hätten stellen sollen. Man beschloß noch einige Nachforschungen bei all den Leuten anzustellen, die ihm die toten Seelen verkauft hatten, um wenigstens zu erfahren, was das für ein Geschäft gewesen sei, was man nun eigentlich unter diesen toten Seelen zu verstehen habe und ob Tschitschikow nicht wenigstens einem von ihnen zufällig oder so nebenher etwas von seinen Plänen und Absichten verraten oder ihnen erzählt hätte, wer er sei. Zuerst wandte man sich an die Karobotschka; aber aus der war nicht viel herauszubekommen: er hätte halt für fünfzehn Rubel tote Seelen gekauft und kaufe auch Daunen ein, ja er habe versprochen, ihr noch alles mögliche andere abzunehmen. Er liefere auch Speck an den Staat und sei daher ganz gewiß ein Gauner; denn es sei schon einmal einer dagewesen, der ihr Daunen abgekauft und Specklieferungen an den Staat übernommen habe. Der habe alle miteinander übers Ohr gehauen und die Frau Oberpfarrer um ganze hundert Rubel betrogen. Mehr war nicht aus ihr herauszuholen; sie wiederholte immer nur ein und dasselbe, und die Beamten überzeugten sich bald, daß Karobotschka ganz einfach eine dämliche alte Schachtel sei. Manilow erklärte, für Pawel Iwanowitsch werde er stets einstehen wie für sich selber. Er würde gerne sein ganzes Gut dafür hingeben, wenn er nur einen hundertsten Teil jener vortrefflichen Eigenschaften besäße, die Pawel Iwanowitsch zierten; überhaupt äußerte er sich in der schmeichelhaftesten Weise über ihn, indem er die Augen zusammenkniff und noch einige Gedanken über Freundschaft von sich aus zugab. Diese Gedanken zeugten natürlich in ausreichender Weise von den zarten Regungen seines Herzens; aber sie klärten die Sache selbst eigentlich doch nicht auf. Sabakewitsch erwiderte: seiner Ansicht nach sei Tschitschikow ein braver Mensch, er Sabakewitsch habe ihm nur seine besten Bauern verkauft: es seien Leute, die in jeder Hinsicht wohlauf und munter seien; aber er könne natürlich nicht dafür garantieren, was in Zukunft nicht noch alles geschehen könne. Wenn sie die Strapazen der Übersiedelung nicht überstehen und unterwegs sterben sollten, so sei das nicht seine Schuld; das liege in Gottes Hand. Es gäbe ja genug Epidemien und andere tödliche Krankheiten in der Welt, und es habe schon Fälle gegeben, wo ganze Dörfer ausgestorben seien. Die Herren Beamten nahmen noch zu einem andern Mittel ihre Zuflucht, das man zwar nicht allzu vornehm nennen kann, das aber doch zuweilen zur Anwendung kommt. Sie ließen die Bedienten Tschitschikows auf allerhand Umwegen durch befreundete Lakaien ausfragen, ob ihnen nicht irgend welche Einzelheiten aus der Vergangenheit und den Lebensverhältnissen ihres Herrn bekannt seien. Aber auch hier bekamen sie nur wenig zu hören. Von Petruschka nahmen sie nichts mit als jenen etwas dumpfigen Geruch der Wohnstube, und Seliphan erklärte nur kurz: „Er ist früher Beamter gewesen und hat beim Zollamt gedient.“ Das war alles. Diese Klasse von Menschen hat eine seltsame Gewohnheit: wenn man sie direkt nach etwas fragt, dann können sie sich nie auf etwas besinnen. Sie können sich die Dinge in ihrem Kopfe nicht zusammenreimen, oder sagen einfach, daß sie nichts wissen. Fragt man sie aber nach etwas anderem, dann bringen sie alles vor, was ihr nur wünscht, und erzählen es euch mit solchen Einzelheiten, wie ihr sie gar nicht mal hören wollt. Alle Nachforschungen, die von den Beamten angestellt wurden, machten ihnen nur eins klar, daß sie wirklich nicht wußten, wer Tschitschikow eigentlich war, und daß er doch aber sicher etwas sein müßte. Schließlich beschlossen sie, sich endgültig über diesen Gegenstand zu einigen, und wenigstens eine definitive Entscheidung zu treffen, was hier zu tun sei, welche Maßregeln sie ergreifen und wie sie ermitteln sollten, wer er sei: ob er ein Mensch, den man als politisch unzuverlässig arretieren und verhaften müsse, oder vielmehr ein solcher sei, der sie selbst als politisch unzuverlässig arretieren und verhaften könne. Zu diesem Zwecke verabredete man sich, im Hause des Polizeimeisters zusammenzukommen, den der Leser ja schon als Vater und Wohltäter der Stadt kennengelernt hat.

Zehntes Kapitel.

Man versammelte sich also im Hause des Polizeimeisters, der ja dem Leser schon als Vater und Wohltäter der Stadt bekannt ist. Hier hatten die Beamten die Gelegenheit, einander darauf aufmerksam zu machen, wie eingefallen und abgemagert ihre Wangen von den beständigen Sorgen und Aufregungen waren. Und in der Tat, die Ernennung des neuen Generalgouverneurs, dann die kürzlich eingegangenen Papiere so bedeutsamen Inhalts und endlich noch die schrecklichen Sorgen — dies alles hatte merkliche Spuren auf ihren Gesichtern hinterlassen, selbst die Fräcke waren ihnen allen zu weit geworden. Alle waren ein wenig heruntergekommen: der Gerichtspräsident, der Inspektor der Sanitätsverwaltung, der Staatsanwalt sahen mager und bleich aus, ja sogar ein gewisser Semjon Iwanowitsch, welchen man nie bei seinem Familiennamen nannte, ein Herr mit einem goldenen Ring am Zeigefinger, den er mit besonderer Vorliebe den Damen zeigte, selbst der war ein wenig abgemagert. Natürlich gab es darunter auch ein paar von jenen verwegenen Rittern ohne Furcht und Tadel, welche nie die Geistesgegenwart verloren: aber ihre Zahl war nur klein: ja es gab eigentlich nur einen einzigen den man dazu zählen konnte, nämlich den Postmeister. Er allein blieb völlig unverändert in dem ruhigen Gleichmaß seines Wesens und sagte wie gewöhnlich in derartigen Fällen: „euch kennt man schon, ihr Herren Generalgouverneure. Von euch wird noch so mancher dem anderen Platz machen müssen, ich aber stehe bald dreißig Jahre auf meinem Posten.“ Worauf die andern Beamten gewöhnlich zu erwidern pflegten: „Sie haben es gut Herr!“ „Sprechen Sie deutsch, Iwan Andreitsch.“ „Dein Geschäft ist der Postdienst — du hast bloß die eingelaufenen Briefe in Empfang zu nehmen und zu expedieren; du kannst höchstens einmal dein Postamt eine Stunde zu früh schließen und dann irgend einem Kaufmann, der sich verspätet hat, für die Annahme des Briefes nach geschlossenem Schalter etwas abverlangen, oder du expediert vielleicht ein Paket, welches nicht abgeschickt werden sollte. Unter diesen Umständen kann natürlich jeder ein Heiliger sein. Aber versetze dich mal in unsere Lage, wo dir täglich der Teufel in eigner Person erscheint und dir fortwährend etwas in die Hände spielt. Du selbst willst ja garnichts nehmen, er aber steckt es dir in die Hand. Bei dir ist das Malheur nicht so groß; du hast bloß ein Söhnchen. Mir aber hat Gott meine Praskowja Fjodrowna so reich gesegnet, daß sie mich jedes Jahr mit irgend einem Praskuschka oder Petruschka beschenkt. Da würdest du auch auf einer anderen Flöte pfeifen.“ So sprachen die Beamten. Ob es aber in der Tat möglich ist, dem Teufel auf die Dauer zu widerstehen, das zu beurteilen, ist nicht Sache des Verfassers. In unserm Konzilium, das sich bei dieser Gelegenheit versammelt hatte, machte sich vorzüglich der Mangel dessen bemerkbar, was man in der Sprache des Volkes den gesunden Menschenverstand zu nennen pflegt. Überhaupt sind wir, wie es scheint, nicht so recht geschaffen für repräsentative Versammlungen. Bei all unsern Sitzungen von denen der ländlichen Bauerngemeinden an bis zu allen gelehrten und ungelehrten Komitees, herrscht, wenn nicht eine leitende Persönlichkeit an der Spitze steht, ein recht bedenklicher Wirrwarr. Es ist eigentlich schwer zu sagen warum das so ist; wahrscheinlich ist unser Volk nun einmal so veranlagt, daß ihm nur die Versammlungen und Beratungen gelingen, die irgend ein Diner oder eine Zecherei zum Gegenstand haben, wie die Salon- und Klubversammlungen auf deutsche Manier. Dagegen ist der gute Wille jederzeit und zu allen guten Dingen vorhanden. Plötzlich fällt es uns ein, wenn der Wind günstig ist, irgend welche Wohltätigkeits-, Hilfs- und Gott weiß was für andere Vereine zu gründen. Und wenn die Sache nur einen guten Zweck hat, kann man sicher sein, daß nichts dabei herauskommt. Vielleicht rührt das daher, daß wir gleich im Anfang, d. h. zu früh, befriedigt sind, und glauben, es sei schon alles getan. Wenn wir z. B. irgend eine Gesellschaft mit wohltätigem Zweck gründen wollen und schon bedeutende Summen dazu gestiftet haben, müssen wir unbedingt, um unsere so löbliche Absicht bekannt zu machen, irgend ein Diner geben, zu dem alle Spitzen der Stadt geladen sind und das mindestens die Hälfte der gezeichneten Summe verschlingt. Für die andere Hälfte richtet sich das Komitee eine prachtvolle Wohnung mit Heizung und Portier ein, worauf von der ganzen Summe fünf und ein halber Rubel übrig bleiben. Aber auch hier sind sich die Mitglieder des Komitees noch nicht einig über die Verwendung und Verteilung dieser Summe, und ein jeder schiebt irgend eine arme Tante oder Base vor. Übrigens war das Kollegium, das sich heute versammelt hatte, ganz anderer Art: ein dringendes Bedürfnis hatte die Anwesenden zusammengeführt. Und es handelte sich auch nicht um irgend welche Arme oder Abseitsstehende, sondern die zur Verhandlung stehende Sache ging jeden Beamten persönlich an; es handelte sich hier um eine Gefahr, die allen in gleicher Weise drohte, und daher war es auch kein Wunder, wenn sich alle Beteiligten unter solchen Verhältnissen einmütiger und enger zusammenschlossen. Aber dennoch und trotzalledem nahm die Sitzung einen ganz tollen Ausgang. Abgesehen von den Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten, wie sie ja bei all solchen Versammlungen vorzukommen pflegen, kam in den Anschauungen und Äußerungen der Versammlungsteilnehmer auch noch eine merkwürdige Unentschlossenheit zum Ausdruck: der eine behauptete, Tschitschikow stelle falsche Staatspapiere her, fügte jedoch gleich darauf hinzu: „vielleicht ist es aber auch nicht so,“ ein anderer erklärte, er sei ein Beamter aus dem Büro des Generalgouverneurs, verbesserte sich aber sofort wieder und meinte „übrigens: der Teufel mag wissen, wer er ist, vom Gesicht kann man es einem Menschen doch nicht ablesen.“ Gegen den Verdacht aber, daß er ein verkleideter Dieb oder Räuber sei, lehnten sich alle in gleicher Weise auf, man war der Ansicht, daß er doch ein vertraueneinflößendes und gesinnungstüchtiges Äußeres besitze, aber auch in seinen Worten läge nichts, was auf einen Menschen schließen ließe, der einer solch gewalttätigen Handlungsweise verdächtig sei. Plötzlich rief der Postmeister, der eine Zeitlang, in tiefes Sinnen versunken, dagestanden hatte — sei es nun, daß ihm eine momentane Erleuchtung gekommen war, sei es aus einem andern Grunde — ganz unerwartet aus: „Wissen Sie, meine Herren, wer er ist?“ Er hatte diese Worte mit einer Stimme herausgeschrieen, die geradezu etwas Erschütterndes an sich hatte, so daß sich allen Anwesenden wie aus einem Munde der Ruf entrang: „Nun wer?“ „Das ist niemand anderes, meine Herren, das Verehrtester, ist kein anderer, als der Hauptmann Kopeikin!“[5] Und als ihn darauf alle zugleich fragten: „Wer ist denn dieser Kopeikin?“ antwortete der Postmeister erstaunt: „Wie? Sie wissen nicht, wer der Hauptmann Kopeikin ist?“

Alle erwiderten, sie hätten noch nie etwas von diesem Hauptmann Kopeikin gehört.

„Der Hauptmann Kopeikin,“ versetzte der Postmeister, indem er seine Tabakdose nur ganz wenig öffnete, weil er sich fürchtete, es könnte am Ende noch einer von den ihm Zunächststehenden mit den Fingern hineinlangen, von deren Sauberkeit er nicht recht überzeugt war; pflegte er doch zuweilen sogar zu sagen: „Weiß schon, weiß schon, mein Bester, wo Sie Ihre Finger reingesteckt haben mögen! Tabak — das ist ein Objekt, das mit peinlichster Sorgfalt und Sauberkeit behandelt sein will.“ — „Der Hauptmann Kopeikin,“ wiederholte er, nachdem er eine Prise genommen hatte: „ja — übrigens, wenn ich Ihnen von ihm erzählen wollte — das gäbe eine höchst interessante Geschichte; selbst für einen Schriftsteller: sozusagen ein ganzes Poema.“

Alle Anwesenden äußerten den Wunsch, diese Geschichte oder dieses für einen Schriftsteller so interessante „Poema“, wie sich der Postmeister ausgedrückt hatte, kennen zu lernen, und er begann folgendermaßen:

„Die Geschichte vom Hauptmann Kopeikin.

Nach dem Feldzuge vom Jahre 1812, verehrter Herr,“ hub der Postmeister an, trotzdem nicht ein einzelner Herr, sondern ganze sechs im Zimmer saßen, „nach dem Feldzug vom Jahre 1812 wurde zusammen mit anderen Verwundeten auch ein Hauptmann namens Kopeikin ins Lazarett eingeliefert. Ein Bruder Leichtfuß und launenhaft wie der Teufel, hatte er alles durchgemacht, was es auf der Welt gibt, war auf der Hauptwache gewesen und hatte manche Stunde Arrest abgesessen. War es bei Krasnoje oder in der Schlacht von Leipzig gewesen, genug, er hatte im Kriege ein Bein und einen Arm verloren. Sie wissen doch, damals gab’s noch keine von den bekannten Einrichtungen für die Verwundeten: dieser Invalidenfond, das können Sie sich wohl denken, der wurde sozusagen erst viel später gegründet. Der Hauptmann Kopeikin sieht also, daß er arbeiten muß, aber sehen Sie wohl, er hatte eben nur einen Arm, nämlich den linken. Er wandte sich also nach Hause an seinen Vater, aber der Vater gab ihm zur Antwort: ‚Ich kann dich nicht auch noch ernähren; ich,‘ denken Sie sich nur, ‚ich verdiene mir selbst mit knapper Not meinen Unterhalt.‘ Da beschloß denn mein Hauptmann Kopeikin, sehen Sie wohl, Verehrtester, da beschloß er nach Petersburg zu reisen und sich an die Behörden zu wenden, ob sie ihm nicht eine kleine Unterstützung zukommen lassen könnten, er habe doch gewissermaßen, sozusagen sein Leben geopfert und sein Blut vergossen ... Er fuhr also in einem Gepäckwagen oder einem staatlichen Transportwagen nach der Hauptstadt, sehen Sie wohl Verehrtester, genug, er gelangte mit Mühe und Not nach Petersburg. Und nun stellen Sie sich vor: da befindet sich nun dieser selbige, d. h. dieser Hauptmann Kopeikin in Petersburg, das sozusagen in der ganzen Welt nicht seinesgleichen hat! Plötzlich ist es um ihn herum licht und hell, gewissermaßen ein weites Feld des Lebens, so eine Art märchenhafte Scheherazade, verstehen Sie mich wohl. Also denken Sie nur, plötzlich liegt vor ihm so ein Newski-Prospekt oder solch eine Erbsenstraße oder, hol’s der Teufel, irgend so eine Liteinaja, da ragt irgend so ein Turm in die Luft und dort hängen ein paar Brücken, wissen Sie, so ohne jegliche Stützen und Pfeiler, mit einem Wort die reinste Semiramis. Tatsächlich, Verehrtester! Erst trieb er sich eine Weile in den Straßen herum, um sich eine Wohnung zu mieten; aber das war ihm alles zu brenzlich: all diese Gardinen, Rouleaux und all das Teufelszeug, verstehen Sie, diese Teppiche, das reinste Persien, Verehrtester ... Mit einem Wort, beziehungsweise, man tritt das Kapital nur so mit Füßen. Man geht über die Straße, und die Nase merkt schon von ferne, daß es nach Tausenden riecht; und, Sie wissen doch, die ganze Staatsbank meines Hauptmannes Kopeikin besteht aus fünf blauen Scheinen und noch ein paar Silbergroschen ... Nun also, Sie wissen ja, ein Landgut läßt sich dafür nicht kaufen, d. h. es ließe sich vielleicht kaufen, wenn man noch vierzig Tausend dazulegte; aber die vierzig Tausend muß man sich erst beim König von Frankreich leihen. Genug, er mietet sich schließlich in einem Gasthaus zur Stadt Reval ein, für einen Rubel pro Tag. Sie wissen, ein Mittagessen aus zwei Gängen, eine Kohlsuppe und ein Stück Suppenfleisch dazu ... Er sieht also, daß sein Geld nicht mehr allzu lange reicht. Er erkundigte sich, wohin er sich wenden soll. ‚Wohin könntest du dich wenden,‘ sagt man ihm. ‚Die Beamten der Regierung sind nicht mehr in der Stadt. Sehen Sie wohl, das ist alles in Paris. Die Armee ist noch nicht zurück. Aber es gibt hier eine sogenannte provisorische Kommission. Versuchen Sie’s,‘ sagt man ihm, ‚vielleicht können Sie dort was ausrichten.‘ — ‚Nun gut, dann gehe ich zur Kommission,‘ spricht Kopeikin. ‚Ich werd’ es ihnen schon klar machen. So und so steht die Sache. Ich habe, sozusagen, mein Blut vergossen und gewissermaßen mein Leben geopfert.‘ So stand er denn also eines Morgens etwas früher auf, kratzte sich mit der linken Hand seinen Bart, denn, sehen Sie wohl, wäre er zum Barbier gegangen, so hätte das in gewissem Sinne neue Ausgaben verursacht, zog seine Uniform an und begab sich auf seinem Holzfuß einherhinkend zum Vorsitzenden der Kommission. Stellen Sie sich bloß vor! Er fragt also, wo der Vorsitzende wohnt. Da sagt man ihm, jenes Haus dort am Kai, das gehört ihm. Eine richtige Bauernhütte, verstehen Sie! Fensterscheiben, meterlange Spiegel, Marmor, Lack, denken Sie sich nur, Verehrtester! Mit einem Wort, die Sinne schwinden einem. So ’ne Türklinke aus Metall, der feinste Komfort, sodaß man zuerst in den Laden laufen, sich für einen Groschen Seife kaufen und sich dann, sozusagen, stundenlang die Hände reiben muß, ehe man es wagt, sie anzufassen. Vorn am Eingang, verstehen Sie, da steht ein Portier mit einem großen Säbel, mit so ’ner Grafenphysiognomie, und Batistkragen, rein wie ein wohlgepflegter Mops ... Mein Kopeikin schleppt sich also auf seinem Holzfuß ins Vorzimmer, setzt sich in einen Winkel, um nur nicht mit dem Arm gegen irgend so ein Amerika oder Indien, gegen so eine vergoldete Porzellanvase, verstehen Sie wohl, zu stoßen. Sehen Sie wohl, natürlich mußte er eine halbe Ewigkeit dort warten, weil er zu einer Zeit gekommen war, wo der Vorsitzende, sozusagen, noch kaum aus dem Bett gestiegen war und sein Kammerdiener ihm eben irgend so ein silbernes Becken reichte, verstehen Sie wohl, wo man sich drin wäscht. Mein Kopeikin wartet also vier Stunden lang; da kommt endlich der diensthabende Beamte und sagt: ‚Gleich kommt der Präsident!‘ Und schon füllt sich das Zimmer mit allerhand Epauletten und Achselbändern. Mit einem Worte die Menschen drängen sich wie Bohnen in der Schüssel. Endlich, Verehrtester, tritt auch der Präsident herein. Na, Sie können sich natürlich vorstellen: der Präsident in eigener Person sozusagen. Und, natürlich, seinem Rang und Titel entsprechend so eine Physiognomie, so ein Ausdruck, verstehen Sie. Aus allem spricht die „Condewite“ des Großstädters. Erst geht er zu einem dann zum andern: ‚Warum sind Sie hier?‘ ‚Und Sie?‘ ‚Was wünschen Sie?‘ ‚In welcher Angelegenheit kommen Sie?‘ Zuletzt kommt auch mein Kopeikin an die Reihe: ‚So und so,‘ sagt er, ‚ich habe mein Blut vergossen, ein Bein und einen Arm verloren, sozusagen. Ich kann nicht mehr arbeiten und erlaube mir die Anfrage, ob ich nicht eine kleine Unterstützung, irgend so ’ne Anweisung, beziehungsweise auf eine kleine Gratifikation oder Pension, verstehen Sie wohl, bekommen kann.‘ Der Vorsitzende sieht der Mann hat einen Stelzfuß und der rechte Ärmel baumelt leer herunter. ‚Gut!‘ sagt er, ‚fragen Sie nach ein paar Tagen mal wieder an!‘ Mein Kopeikin ist ganz selig. ‚Na,‘ denkt er, ‚die Sache macht sich.‘ Er ist in einer Laune, können Sie sich vorstellen; hüpft geradezu auf dem Trottoir. Dann ging er ins Restaurant von Palkiku um einen Schnaps zu nehmen, aß in der Stadt London zu Mittag, ließ sich eine Kotelette mit Kapern kommen, dazu ’ne Poularde und allerhand Filets, nebst einer Flasche Wein — mit einem Wort, es war eine feudale Zeche, sozusagen. Auf dem Trottoir sieht er plötzlich eine Engländerin kommen. Wissen Sie, schlank wie irgend so’n Schwan. Mein Kopeikin, dessen Blut in Wallung geriet, läuft ihr trach, trach, trach auf seinem Stelzfuß nach; ‚ach nein!‘ denkt er, ‚hol die Kurmacherei einstweilen der Teufel; das kommt nachher, wenn ich meine Pension habe. Ich bin schon gar zu sehr aus Rand und Band geraten.‘ Dabei hatte er an diesem einen Tage, bitte ich zu bemerken, fast die Hälfte seines Geldes durchgebracht. Nach drei vier Tagen, sehen Sie wohl, da kommt er wieder in die Kommission zum Präsidenten: ‚Ich bin gekommen,‘ sagt er, ‚um mir Bescheid zu holen, so und so, infolge der überstandenen Krankheiten und meiner Verwundungen .... Ich habe sozusagen mein Blut vergossen usw., verstehen Sie wohl.‘ Alles in der amtlichen Sprache, natürlich! ‚Ja, ja,‘ sagt der Präsident, ‚zunächst aber muß ich Ihnen mitteilen, daß ich in Ihrer Sache ohne die Zustimmung der Regierung nichts zu tun vermag. Sie sehen selber, was das für eine Zeit ist. Die kriegerischen Operationen sind gewissermaßen, sozusagen, noch nicht beendigt. Warten Sie die Ankunft des Herrn Ministers ab und gedulden Sie sich bis dahin noch ein wenig. Sie können überzeugt sein, man wird Sie nicht vergessen. Sollten Sie indessen nichts zum Leben haben, so nehmen Sie dies. Das ist alles was ich geben kann ...‘ Na, Sie verstehen, er gab ihm natürlich nicht viel, aber bei bescheidenen Ansprüchen hätte man bis zum Entscheidungstermin damit auskommen können. Aber mein Kopeikin hatte keine Lust dazu. Er dachte er würde gleich morgen ein paar Tausender erhalten: ‚Da hast du was, mein Lieber, trink eins und amüsier dich!‘; statt dessen aber muß er warten und weiß nicht einmal, bis zu welchem Termin. Und dabei spuken ihm, sehen Sie wohl, all diese Engländerinnen und Soupers und Kotelettes im Kopfe herum. Da kommt er nun wie so’n Uhu, oder Pudel, den der Koch mit Wasser begossen hat, vom Präsidenten heraus — hat den Schwanz eingezogen und läßt die Ohren hängen. Das Leben in Petersburg hatte ihn schon ein wenig mitgenommen, von diesem und jenem hatte er auch schon gekostet. Und nun heißt es: sieh zu, wie du weiterkommt, von all diesen Schleckereien nicht die Spur, sehen Sie wohl. Und dabei war er noch ein junger frischer Mensch mit gutem Appetit, einem wahren Wolfshunger sozusagen. Wie oft kam er nicht an irgend so einem Restaurant vorüber: und nun stellen Sie sich vor: der Koch ist ein Ausländer, so ein Franzose, wissen Sie, mit solch einem offenen Gesicht, trägt immer nur die feinste holländische Wäsche, und eine Schürze, so weiß wie Schnee sozusagen, da steht nun der Kerl vor seinem Herd und bereitet euch irgend so ein Finserb, oder Koteletts mit Trüffeln, mit einem Wort, irgend so eine Delikatesse, daß unser Hauptmann sich am liebsten selbst aufgefressen hätte vor Appetit. Oder er kommt an den Miljutinschen Läden vorbei: lacht ihm da sozusagen irgend so ein geräucherter Lachs, oder ein Körbchen mit Kirschen — zu fünf Rubel das Stück, oder so ’ne Riesin von Wassermelone, so’n ganzer Omnibus, wissen Sie, aus dem Fenster entgegen, und sucht nach einem Narren, der einen überflüssigen Hunderter in der Tasche hat, verstehen Sie, mit einem Wort, nichts wie Verführungen auf Schritt und Tritt, es läuft einem sozusagen das Wasser im Munde zusammen, für ihn aber heißt’s: warte gefälligst. Und nun stellen Sie sich seine Lage vor: einerseits, sehen Sie wohl, dieser Lachs und die Wassermelone, und andererseits irgend so ein bitteres Gericht unter dem Namen: ‚Komm morgen wieder.‘ ‚Ach was,‘ denkt er, ‚mögen Sie dort machen, was sie wollen, ich gehe hin, setze die ganze Kommission und all die Vorsitzenden in Bewegung und erkläre: nein, bitte schön, das geht nicht so weiter!‘ Und in der Tat, frech und aufdringlich, wie er ist, — je weniger einer im Oberstübchen los hat, desto mehr Mut hat er — kommt er also in die Kommission: ‚Nun was wünschen Sie?‘ fragt man ihn, ‚was wollen Sie noch weiter, Sie haben doch schon Bescheid erhalten.‘ — ‚Ich bitt’ Sie,‘ sagt er, ‚ich kann doch nicht so von der Hand in den Mund leben. Ich muß doch meine Kottelette und eine Flasche französischen Rotwein zum Mittagessen haben und mich ein wenig zerstreuen, einmal ins Theater gehen, verstehen Sie,‘ sagte er — ‚Nein, da müssen Sie uns schon entschuldigen,‘ sagte da der Vorsitzende .. ‚Was das anbelangt, so müssen Sie sich schon gewissermaßen gedulden. Sie haben doch etwas bekommen, um sich über Wasser zu halten, bis die Order von oben eingelaufen ist, und Sie können überzeugt sein, daß Sie nach Gebühr entschädigt werden sollen: denn es ist bisher ohne Beispiel, daß bei uns in Rußland ein Mann, der seinem Vaterland gewissermaßen, sozusagen, einen Dienst geleistet hat, daß der unversorgt geblieben wäre. Aber, wenn Sie sich freilich jetzt an Koteletts delektieren und ins Theater gehen wollen, nein, wissen Sie, dann müssen Sie schon entschuldigen. Dazu verschaffen Sie sich nur gefälligst selbst die Mittel. Da müssen Sie sich schon selbst helfen.‘ Aber denken Sie bloß, mein Kopeikin verzieht keine Miene. Die Worte prallen von ihm ab wie Erbsen von einer Wand. Er erhob ein großes Geschrei und brachte die ganze Gesellschaft in Aufruhr. Er ließ ein wahres Hagelwetter über all diese Regierungsbeamten und Sekretäre los ... ‚Ja dann seid ihr ja dies und jenes,‘ sagte er, ‚ja, dann kennt ihr ja eure Pflicht und Schuldigkeit nicht, ihr Gesetzesverdreher!‘ Mit einem Wort, er wischte ihnen allen kräftig eins aus. Zufällig kam ihm auch noch irgend so’n General aus einem andern Ressort unter die Finger. Und auch der bekam seinen Teil, verstehen Sie wohl. Kurz, er brachte sie alle durcheinander. Was soll man nur mit so einem rasenden Kerl anfangen? Der Präsident sieht, es gibt keinen andern Ausweg, man muß gewissermaßen, sozusagen, zu strengeren Maßregeln seine Zuflucht nehmen. ‚Schön,‘ sagte er, ‚wenn Sie nicht damit zufrieden sind was man Ihnen gibt, und hier in der Hauptstadt nicht ruhig auf die Entscheidung Ihrer Sache warten wollen, so lasse ich Sie sozusagen in Ihre Heimat abschieben. Der Feldjäger soll kommen und ihn nach der Heimat transportieren!‘ Der Feldjäger aber, verstehen Sie wohl, der steht schon da und wartet schon hinter der Tür: so’n baumlanger Kerl, wissen Sie, mit einer Hand wie von der Natur selbst für den Kurierdienst geschaffen. Mit einem Wort: ein richtiger Zahnzieher. So wird denn unser braver Knecht Gottes in den Wagen befördert und ab geht’s in Begleitung des Feldjägers. ‚Na,‘ denkt Kopeikin, ‚da spar’ ich wenigstens das Reisegeld. Auch dafür bin ich den Herren dankbar.‘ So fährt er denn, Verehrtester, mit dem Feldjäger, und während er so an der Seite des Feldjägers sitzt, spricht er gewissermaßen, sozusagen, zu sich selber: ‚Schön,‘ sagt er, ‚du erklärst mir, ich soll mir selbst helfen und die Mittel suchen! Gut, schön,‘ sagt er, ‚ich will mir die Mittel schon verschaffen!‘ Wie er nun an seinen Bestimmungsort befördert, und wohin er eigentlich gebracht wurde, darüber ist nichts bekannt geworden. Und daher sind denn auch die Nachrichten über den Hauptmann Kopeikin im Strome der Vergessenheit untergegangen, in so einer Lethe, wissen Sie, wie die Poeten es nennen. Doch hier, sehen Sie wohl, meine Herren, hier schürzt sich, kann man wohl sagen, der Knoten unseres Romans. Wo also Kopeikin verschwunden ist, das weiß niemand; aber stellen Sie sich vor, es vergingen auch nicht zwei Monate, als in den Wäldern von Rjasan eine Räuberbande auftauchte, und der Hauptmann dieser Räuberbande, sehen Sie wohl, war kein anderer als ...“

„Aber erlaube mal, Iwan Andrejewitsch,“ unterbrach ihn plötzlich der Polizeimeister, „du sagtest doch selber, dem Hauptmann Kopeikin habe ein Bein und ein Arm gefehlt; und Tschitschikow hat doch ...“

Da schrie der Postmeister laut auf, schlug sich mit aller Kraft vor die Stirne und nannte sich vor versammeltem Publikum ein Rindvieh. Er konnte garnicht verstehen, wie dieser Umstand ihm nicht gleich zu Anfang dieser Erzählung eingefallen war, und erklärte, das russische Sprichwort: „der Verstand des Russen ist von hinten am stärksten!“ sei vollkommen wahr. Aber gleich darauf fing er an, Winkelzüge zu machen und versuchte sogar sich aus der Affäre zu ziehen, indem er behauptete, die Engländer hätten, wie man aus den Zeitungen ersehen könne, die Mechanik sehr vervollkommnet, und einer hätte sogar hölzerne Füße mit einem solchen Mechanismus erfunden, daß man nur auf eine Spirale zu drücken brauche, damit diese Füße einen in unbekannte Gegenden forttrügen, sodaß man den Menschen überhaupt nicht mehr auffinden könne.

Aber trotzdem zweifelten alle, daß Tschitschikow der Hauptmann Kopeikin sei, und fanden, daß der Postmeister schon gar zu weit über das Ziel hinausgeschossen habe. Übrigens wollten sie sich ihrerseits auch nicht lumpen lassen und verirrten sich, angeregt durch die geistvolle Hypothese des Postmeisters, womöglich noch weiter. Unter den vielen in ihrer Art geistreichen Vermutungen war besonders eine bemerkenswert: so seltsam es klingt, es wurde die Ansicht laut, daß Tschitschikow vielleicht Napoleon sein könne, der sich verkleidet in ihrer Stadt aufhielte; die Engländer seien schon längst eifersüchtig auf Rußland, auf seine Macht und seine Größe, und es wären schon mehrmals Karikaturen erschienen, auf denen ein Russe im Gespräch mit einem Engländer abgebildet war: der Engländer steht da und hält einen Hund an der Leine, dieser Hund aber soll Napoleon vorstellen: ‚Paß auf,‘ sagt der Engländer, ‚wenn mir etwas nicht behagt, dann hetze ich diesen Hund auf dich.‘ Wer weiß, vielleicht hatten sie jetzt diesen Hund von St. Helena losgelassen, und er schweifte nun unter der Maske Tschitschikows in Rußland umher, während er doch in Wahrheit garnicht Tschitschikow sei.

Natürlich schenkten die Beamten dieser Hypothese keinen Glauben, aber sie wurden doch nachdenklich und, wenn jeder von ihnen sich im stillen die Sache überlegte, konnte er sich’s nicht verhehlen, daß Tschitschikows Profil eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem Napoleons hatte. Der Polizeimeister, welcher den Feldzug von 1812 mitgemacht hatte, hatte Napoleon persönlich gesehen und mußte gleichfalls zugeben, daß er sicherlich nicht größer als Tschitschikow und auch von Statur weder allzu dick, aber andererseits auch wiederum nicht allzu dünn gewesen sei. Vielleicht wird mancher Leser dies alles für sehr unwahrscheinlich halten, — nun auch der Autor ist bereit ihm zuliebe zuzugestehen, daß die Geschichte sehr unwahrscheinlich ist; aber wie zum Tort mußte sich alles geradeso abspielen, wie wir es hier erzählen, was um so seltsamer ist, da die Stadt nicht irgendwo abseits vom Wege, sondern in nächster Nähe von beiden Hauptstädten lag. Übrigens darf man nicht vergessen, daß all diese Ereignisse bald nach der glorreichen Vertreibung der Franzosen stattfanden. Um diese Zeit waren alle unsere Gutsbesitzer, Beamten, Kaufleute, Handlungsgehilfen und alle gebildeten und ungebildeten Leute wenigstens für die ersten acht Jahre eingefleischte Politiker geworden. Die „Moskauer Nachrichten“ und der „Sohn des Vaterlandes“ wurden so zerlesen, daß sie an den letzten Leser nur noch als ein Häuflein Papierfetzen gelangten, der zu nichts mehr zu gebrauchen war. Statt Fragen, wie die folgenden: Wie teuer haben Sie den Scheffel Hafer verkauft, Väterchen? — Was denken Sie vom gestrigen Schneefall? — hörte man nur noch Fragen: Nun, was steht in der Zeitung? — Ist Napoleon nicht wieder entwischt? — Besonders die Kaufleute fürchteten sich sehr davor, denn sie glaubten fest an die Prophezeiung eines Wahrsagers, welcher schon seit drei Jahren im Kerker saß. Dieser neue Prophet war plötzlich — kein Mensch wußte woher — in Bastschuhen und in Felle gehüllt, die schrecklich nach faulen Fischen rochen, in der Stadt aufgetaucht und hatte verkündigt, Napoleon sei der Antichrist, der jetzt hinter sechs Mauern und sieben Meeren an einer steinernen Kette schmachte, aber bald werde er seine Ketten sprengen und sich die ganze Welt unterwerfen. Dieser Prophet war wegen seiner Prophezeiungen ins Gefängnis geworfen worden, und das von Rechts wegen. Trotzdem aber hatte er seine Mission erfüllt und die Kaufleute vollkommen um ihr bißchen Verstand gebracht. Und lange noch, selbst während des flottesten Geschäftsganges kamen die Kaufleute im Wirtshaus zusammen, um sich hier beim Tee über den Antichrist zu unterhalten. Viele von den Kaufleuten und den vornehmen Adeligen dachten auch, selbst ohne es zu wollen, über die Sache nach und glaubten unter dem Einflusse der mystischen Stimmung, welche bekanntlich damals alle Geister beherrschte, in jedem Buchstaben, der in dem Wort Napoleon vorkam, einen besonderen, bedeutungsvollen Sinn zu entdecken; viele wollten in ihm sogar die Zahlen aus der Apokalypse wiedererkannt haben. Daher war es durchaus nicht so wunderbar, wenn auch die Beamten in diesem Punkte stutzig wurden. Allein bald kamen sie wieder zur Besinnung und merkten, daß ihre Phantasie schon allzu üppig wucherte, und daß die Sache doch ganz anders liege. Sie dachten hin und dachten her, überlegten her und überlegten hin, und kamen schließlich zur Überzeugung, daß es vielleicht nicht übel wäre Nosdrjow einmal gründlich auszuhorchen. Da er es ja gewesen war, der die Geschichte mit den toten Seelen zuerst in die Welt gebracht hatte und, wie man sagte, in so nahen Beziehungen zu Tschitschikow stand, mußte er doch etwas über dessen Lebensverhältnisse wissen; und so beschloß man denn, erst einmal zu hören was Nosdrjow sagen werde.

Höchst seltsame Leute, diese Herren Beamten, und mit ihnen die Vertreter aller anderen Berufe: sie wußten doch ganz genau, daß Nosdrjow ein Lügner sei, daß man ihm kein Wort glauben könne, selbst da nicht, wo es sich um eine Bagatelle handelte und doch nahmen sie zu ihm ihre Zuflucht. Da mag einer den Menschen verstehen! Er glaubt nicht an Gott, aber glaubt dafür, daß er unbedingt sterben müsse, wenn ihm seine Nase juckt; er geht gleichgültig an einer Schöpfung des Dichters vorbei, welche so deutlich für sich zeugt, wie das Licht der Sonne, ganz durchdrungen ist von innerer Harmonie und schlichter weiser Einfalt, um sich gierig auf das Erzeugnis eines kecken Kopfes zu stürzen, der ihm irgend ein wirres, krauses Zeug vorschwatzt und die Natur verrenkt und vergewaltigt. Und das gefällt ihm. Da tut er den Mund weit auf und schreit mit lauter Stimme: „Seht ihr! das ist reine Herzenskündigung!“ Sein ganzes Leben lang pfeift er auf die Ärzte, um am Ende zu einem alten Weibe zu laufen, welches die Leute mit Sympathiemitteln und Spucke kuriert, oder er braut sich gar selbst ein Dekokt aus irgend einem Zeug, weil ihm plötzlich die tolle Idee kommt, es könne ihm etwas gegen seine Krankheit nützen. Man hätte natürlich die Herren Beamten mit ihrer schwierigen Lage entschuldigen können. Man sagt ja, daß ein Ertrinkender nach einem Strohhalm greife, und daß er nicht soviel Überlegung habe, um sich zu sagen, auf einem Strohhalm könne höchstens eine Fliege einen Spazierritt wagen, nicht aber er, der vier oder gar fünf Zentner wiegt; aber wie gesagt, in der Gefahr stellt er diese Überlegung überhaupt nicht an und greift nach dem Strohhalm. So nahmen denn auch unsere Herren schließlich ihre Zuflucht zu Nosdrjow. Der Polizeimeister schrieb ihm sofort einen Brief, in dem er ihn einlud, bei ihm zu Abend zu speisen, und ein Polizeikommissar in hohen Wasserstiefeln und mit freundlichen roten Backen machte sich spornstreichs auf den Weg, nahm seinen Säbel in die Hand und lief im Galopp zu Nosdrjow, um ihm das Schreiben zu überbringen. Nosdrjow war gerade mit einem sehr wichtigen Gegenstande beschäftigt; schon den vierten Tag verließ er das Haus nicht, empfing keinen Menschen und ließ sich sogar das Mittagessen durch das Fenster reichen — mit einem Wort, er war ganz abgemagert und sah beinah grün im Gesicht aus. Die Sache selbst erforderte die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt: sie bestand in der Auswahl und Zusammenstellung eines Kartenspieles von gleicher Zeichnung aus einem ganzen Schock. Dabei mußte die Zeichnung aber so scharf sein, daß man sich auf sie verlassen konnte, wie auf seinen besten Freund. Eine solche Arbeit erfordert mindestens zwei Wochen. Während dieser ganzen Zeit mußte Porphyr dem kleinen Bullenbeißer den Nabel mit einer besonderen Bürste reinigen und ihn dreimal am Tage mit Seife waschen. Nosdrjow war sehr ärgerlich, daß er in seiner Einsamkeit gestört wurde; zuerst schickte er den Polizeikommissar zum Teufel, als er jedoch von dem Polizeimeister erfuhr, daß sich heute abend ein kleines Geschäftchen machen ließe, da irgend ein Neuling zum Souper erwartet werde, war er sofort milder gestimmt; er schloß also sein Zimmer schnell ab, kleidete sich in aller Eile an und begab sich zum Polizeimeister. Nosdrjows Aussagen, Zeugnisse und Vermutungen standen in so scharfem Gegensatz zu denen der Herren Beamten, daß selbst ihre kühnsten Hypothesen über den Haufen geworfen wurden. Dies war tatsächlich ein Mensch, für den es überhaupt kein Schwanken und kein Zweifeln gab; und so schüchtern und vorsichtig ihre Vermutungen waren, so fest und sicher waren die seinen. Er antwortete sogleich, ohne auch nur einen Moment zu stocken auf alle Fragen. Er erklärte, Tschitschikow habe für einige tausend Rubel tote Seelen gekauft, und er, Nosdrjow selbst, habe ihm welche verkauft, weil er den Grund einsehe, warum man das nicht tun solle. Auf die Frage, ob jener nicht ein Spitzel sei, der gekommen wäre, um herumzuschnüffeln, antwortete Nosdrjow: natürlich sei er ein Spitzel; schon in der Schule, die sie zusammen besucht hätten, sei er allgemein eine Petze gescholten worden, sämtliche Kameraden, und unter ihnen auch er, hätten ihn dafür einmal so kräftig durchgebläut, daß man ihm nachher allein an den Schläfen zweihundertvierzig Blutegel setzen mußte — er hatte ursprünglich nur vierzig sagen wollen, aber die zweihundert waren ihm wie von selbst entschlüpft. — Auf die Frage, ob er nicht falsches Papiergeld mache, antwortete Nosdrjow: natürlich mache er welches. Bei dieser Gelegenheit erzählte er eine Geschichte von Tschitschikows unglaublicher Geschicklichkeit und Gewandtheit: es sei nämlich herausgekommen, daß er in seinem Hause für zwei Millionen falsches Papiergeld versteckt habe. Da habe man denn das Haus gerichtlich gesperrt, einen Posten vor den Eingang und zwei Soldaten vor jede Tür gestellt; Tschitschikow aber hätte die Banknoten in einer Nacht alle miteinander vertauscht, sodaß man am anderen Tage, als die Siegel gelöst wurden, lauter echte Scheine vorfand. Auf die Frage: ob Tschitschikow tatsächlich die Absicht habe, die Tochter des Gouverneurs zu entführen, und ob es denn wahr sei, daß er, Nosdrjow, ihm seine Hilfe und Beistand dazu angeboten habe, antwortete dieser: gewiß habe er ihm geholfen, und wenn er nicht dabei gewesen wäre, so wäre die ganze Sache mißglückt. Hier stockte er ein wenig; er sah nämlich, daß er ohne allen Grund gelogen habe und dadurch leicht in Unannehmlichkeiten geraten konnte, aber er hatte eben die Zunge nicht im Zaum halten können. Und dies war auch keine Kleinigkeit, denn es drängten sich seiner Phantasie gleich so interessante Einzelheiten auf, daß es tatsächlich ein Ding der Unmöglichkeit war, ganz auf sie zu verzichten: so nannte er denn sogar das Dorf, wo sich die Kreiskirche befand, in der die Trauung stattfinden sollte; dies sei nämlich das Dorf Truchmatschowka, der Pope heiße Pater Sidor, die Trauung sollte fünfundsiebzig Rubel kosten, trotzdem aber hätte der Priester seine Einwilligung nie gegeben, wenn ihm Tschitschikow nicht gedroht hätte, er werde es bekannt machen, daß jener den Kaufmann Michael mit einer Verwandten getraut habe; er, Nosdrjow, habe ihnen sogar seinen Wagen zur Verfügung gestellt und auf allen Stationen für Pferde gesorgt. Er verlor sich bereits soweit in Details, daß er sogar die Postillone bei ihrem Namen nannte. Hier wagte es jemand, Napoleon zu erwähnen, aber er wurde dessen selbst nicht froh, denn Nosdrjow schwatzte einen solchen Unsinn zusammen, der nicht nur gar keine Ähnlichkeit mit der Wahrheit hatte, sondern in jeder Beziehung unmöglich war, sodaß die Beamten schließlich aufstanden und seufzend weggingen; nur der Polizeimeister hörte ihm noch lange aufmerksam zu, weil er immer noch erwartete, daß sich was aus ihm herausholen ließe, aber schließlich machte auch er eine hoffnungslose Gebärde und sagte nur: „Pfui Teufel!“ Und alle Anwesenden waren mit ihm einverstanden, jede weitere Bemühung gliche wahrhaftig bloß dem Versuch, den Bock zu melken. So war denn die Lage unserer Beamten noch schlimmer als vorher, und man kam zum Schluß, daß es ganz unmöglich sei, herauszukriegen, wer nun Tschitschikow eigentlich sei. Und hier kam es wieder so recht ans Licht, was für ein Wesen der Mensch ist: er ist nur da klug, vernünftig und weise, wo es sich um Sachen handelt, die andere Leute, nicht aber ihn selbst was angehen. Mit was für umsichtigen und wohlüberlegten Ratschlägen versorgt er euch nicht in den schwersten Lebenslagen! „Welch ein gescheiter Kopf!“ ruft die Menge: „welch ein unbeugsamer Charakter!“ Aber laßt nur einmal irgend ein Unglück über diesen „gescheiten Kopf“ hereinbrechen, laßt ihn selbst einmal in schwere Lebenslagen kommen — wo ist da plötzlich sein Charakter geblieben! dieser unbeugsame Mann steht völlig fassungslos da, er hat sich in einen erbärmlichen Feigling, in ein schwaches, jammerndes Kind oder einfach in einen Waschlappen verwandelt, wie Nosdrjow sich auszudrücken liebte.

All dies Gerede, diese Gerüchte und Hypothesen machten aus irgend einem Grunde den größten Eindruck auf den armen Staatsanwalt. Dieser Eindruck war so stark, daß er nach Hause ging, zu grübeln begann und so ins Grübeln hineinkam, daß er sich eines schönen Tags ganz plötzlich, und ohne daß man hätte sagen können, warum, hinlegte und starb. Hatte ihn ein Schlag gerührt, oder war es etwas anders, genug, er fiel mit einem Mal vom Stuhl herab und streckte sich lang auf den Fußboden aus. Wie das in solchen Fällen zu geschehen pflegt, schrieen alle laut auf vor Schrecken; schlugen die Hände zusammen, riefen: „Ach Gott, ach Gott!“ ließen den Arzt holen, um ihn zur Ader zu lassen, und überzeugten sich schließlich, daß der Staatsanwalt nur noch ein seelenloser Leichnam war. Jetzt erst erfuhr man zum allgemeinen Bedauern, daß der Verstorbene tatsächlich eine Seele gehabt hatte, trotzdem er sich in seiner Bescheidenheit nichts davon hatte merken lassen. Und doch war die Erscheinung des Todes hier genau so schrecklich, wo sie sich nur an einem der kleinen Menschen offenbarte, wie wenn sie sich an einem großen manifestiert hätte: er, der noch vor kurzem unter den Lebenden gewandelt war, sich bewegt, Whist gespielt, alle möglichen Papiere unterschrieben und so oft mit seinen buschigen Augenbrauen und den blinzelnden Augen unter den Beamten geweilt hatte, er lag jetzt auf dem Tische, das linke Auge blinzelte nicht mehr, und bloß die eine Augenbraue war noch ein wenig emporgezogen, was dem Gesichte einen seltsamen fragenden Ausdruck verlieh. Was das wohl für eine Frage war, die auf seinen Lippen schwebte? ob er wissen wollte, wozu er gelebt hatte, oder wozu er gestorben sei — das weiß Gott allein.

„Aber das ist doch unmöglich, das ist ganz undenkbar! das kann doch garnicht sein, daß die Beamten sich gegenseitig so in Furcht und Schrecken jagten, eine solche Verwirrung anrichteten und sich so von der Wahrheit entfernen konnten, wo doch jedes Kind einsehen mußte, um was es sich hier handelte!“ So wird mancher Leser sprechen und dem Autor vorwerfen, er bringe unwahrscheinliche und unmögliche Dinge vor, oder man wird die armen Beamten für Narren erklären, weil der Mensch ja bekanntlich sehr freigiebig mit dem Worte „Narr“ und zwanzigmal am Tage dazu bereit ist, seinen Mitmenschen, diesen Kosenamen an den Kopf zu werfen. Es genügt schon, daß man eine törichte Eigenschaft unter zehn vernünftigen habe, um trotz alledem für einen Narren erklärt zu werden. Der Leser hat es leicht, zu urteilen, wo er ruhig in seinem stillen Winkel sitzt und von seinem hohen Standort, von dem aus sich ihm der ganze weite Horizont auftut, auf das Treiben da unten herabzusehen, wo der Mensch nur gerade die Gegenstände erkennen kann, die sich unmittelbar vor seiner Nase befinden. Und es gibt in der Chronik der Weltgeschichte so manches Jahrhundert, das er einfach streichen und für überflüssig erklären möchte. Wie reich an Irrtümern ist doch die Welt, an Irrtümern die heute vielleicht ein Kind zu vermeiden wüßte. Was für seltsame Schlangenwindungen, was für enge, verwachsene, unzugängliche, abseitsführende Wege wählte die Menschheit in ihrem Streben nach der ewigen Wahrheit, während der gerade Weg offen vor ihren Augen lag, wie der Weg, der in das prunkende Heiligtum des königlichen Palastes führt. Breiter und herrlicher ist er als alle Wege, im strahlenden Sonnenglanze liegt er da und nachts erhellen ihn leuchtende Flammen; und doch irrten die Menschen an ihm vorbei in düsterer Finsternis, oft schon stieg die Vernunft vom Himmel herab und wies sie zurecht. Aber auch jetzt noch schreckten sie zurück, kamen sie immer aufs neue vom rechten Wege ab, verstanden sie es am hellichten Tage, sich in verborgene wüste Gegenden zu verlaufen, immer wieder den andern undurchdringliche Nebel vor die Augen zu weben, und trügenden Irrlichtern nachjagend, bis zu Abgründen vorzudringen, um sich dann mit Entsetzen zu fragen: wo ist ein Steg, wo gibt es einen Ausweg? Wohl ist dies alles unserem in der Klarheit wandelnden Geschlechte bekannt. Es wundert sich über die Verirrungen, es lacht über die Torheiten seiner Vorfahren, aber es sieht nicht, daß diese Chronik mit der Flammenschrift des Himmels geschrieben ist, daß jeder Buchstabe die Wahrheit laut verkündet, daß auf allen Seiten der mahnenden Finger auf es selbst weist, auf unser heute lebendes Geschlecht; aber es lacht das Geschlecht von heute, und stolz und seiner selbst bewußt beginnt es eine neue Reihe von Verirrungen, über welche die Nachkommen ebenso stolz lächeln werden.

Tschitschikow hatte nichts von alledem erfahren; wie mit Absicht hatte er sich gerade um diese Zeit eine leichte Erkältung, Reißen im Gesicht und eine kleine Halsentzündung zugezogen, eine von jenen Krankheiten, mit denen das Klima vieler unserer Provinzstädte die Einwohner besonders freigebig bedenkt. Damit nur sein Leben um Gottes Willen kein jähes Ende nähme, ehe er noch Zeit gehabt, für seine Nachkommenschaft zu sorgen, beschloß er lieber drei, vier Tage zu Hause zu bleiben. Während dieser Zeit gurgelte er beständig mit Milch, in der eine Feige schwamm, welche er jedesmal mit Genuß verzehrte, auch trug er ein kleines Säckchen mit Kamillen und Kampfer auf der Wange. Um sich ein wenig zu zerstreuen, legte er sich ein ausführliches Verzeichnis über die von ihm gekauften Bauern an, las dann noch irgend ein Buch von der Herzogin Savallière, das er in seinem Koffer fand, sah noch einmal alle Zettelchen und Sächelchen durch, die sich in seiner Schatulle befanden, und überflog manches noch einmal, bis ihm auch dies alles langweilig wurde. Er konnte durchaus nicht verstehen, was es zu bedeuten habe, daß kein einziger von den Beamten der Stadt zu ihm kam, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, während doch noch vor wenigen Tagen fast immer ein Wagen vor seiner Tür gehalten hatte — bald der des Staatsanwalts, bald der des Postmeisters, bald der des Präsidenten. Er zuckte fortwährend mit den Achseln, während er im Zimmer auf- und abging. Endlich fühlte er sich etwas besser, und er war ganz glücklich, als er wieder soweit hergestellt war, daß er an die frische Luft gehen konnte. Er machte sich ohne Verzug an die Toilette, öffnete die Schatulle, goß etwas warmes Wasser in ein Glas, nahm Seife und Bürste heraus und ging daran, sich zu rasieren, wozu es übrigens schon längst Zeit war, denn als er sein Kinn mit der Hand befühlte und in den Spiegel blickte, rief er aus: „Das ist ja der reinste Wald!“ Und in der Tat: wenn’s auch gerade kein Wald war, so ließ sich’s doch nicht leugnen, daß auf Kinn und Wangen die Saat üppig sproßte. Nachdem er sich rasiert hatte, kleidete er sich ganz schnell an, ja er sprang beinahe aus seinen Hosen heraus. Endlich war er angezogen; er besprengte sich noch mit Kölnischem Wasser, hüllte sich recht warm in seinen Mantel und trat auf die Straße hinaus, nachdem er sich vorsichtiger Weise vorher noch ein Tuch um die Wange gebunden hatte. Sein erster Ausgang hatte, wie der jedes wiedergenesenen Menschen — etwas wahrhaft Festliches. Alles, was er erblickte, schien ihm freundlich zuzulächeln, die Häuser und die Bauern auf der Straße, die eigentlich eine sehr ernste Miene zur Schau trugen und von denen schon mancher seinen Bruder übers Ohr gehauen hatte. Sein erster Besuch sollte dem Gouverneur gelten. Unterwegs kamen ihm allerhand Gedanken in den Sinn: bald dachte er an die junge Blondine, ja seine Phantasie schlug sogar ein wenig über die Schnur, und er begann über sich selbst zu lachen und sich über sich selbst lustig zu machen. In solcher Stimmung fand er sich plötzlich dem Hause des Gouverneurs gegenüber. Schon hatte er den Flur betreten und war eben im Begriff, eilig seinen Mantel abzulegen, als der Portier plötzlich auf ihn zuging und ihn durch folgende Worte überraschte: „Ich habe den Befehl erhalten, Sie nicht vorzulassen!“

„Wie? Was fällt dir ein? Du erkennst mich wohl nicht? Sieh mich doch ordentlich an!“ fiel Tschitschikow erstaunt ein.

„Gewiß habe ich Sie erkannt! Ich sehe Sie doch nicht zum ersten Mal,“ sagte der Portier. „Sie allein darf ich ja gerade nicht vorlassen; jeden andern, nur Sie nicht!“

„Ach was! Weswegen nur nicht, warum denn nicht?“

„So lautet der Befehl; es wird wohl seinen Grund haben,“ sagte der Portier und fügte noch ein „Ja“ hinzu, worauf er in nachlässiger Haltung vor ihm stehen blieb, ganz ohne jenes freundliche Lächeln, mit dem er ihm sonst so dienstbeflissen aus seinem Mantel herausgeholfen hatte. Wahrscheinlich dachte er sich: „He! wenn dich die Herrschaften von der Schwelle jagen, dann bist du sicherlich irgend ein Prolet!“

„Unbegreiflich!“ dachte Tschitschikow und begab sich sofort zum Gerichtspräsidenten; aber der Präsident wurde bei seinem Anblick so verlegen, daß er keine zwei Worte stammeln konnte und solch ein törichtes Zeug zusammenschwatzte, daß alle beide verlegen wurden. Tschitschikow entfernte sich und gab sich unterwegs alle mögliche Mühe, herauszubekommen, was der Präsident eigentlich gemeint, und was seine Worte für einen Sinn gehabt hätten, aber es wollte ihm durchaus nicht gelingen. Dann ging er zu den andern: zum Polizeimeister, zum Vize-Gouverneur, zum Postmeister, aber sie weigerten sich entweder, ihn zu empfangen, oder bereiteten ihm einen so seltsamen Empfang, führten so eigentümliche Reden, wurden so verlegen und benahmen sich so merkwürdig, daß er wirklich annehmen mußte, sie seien nicht ganz bei Verstande. Er machte noch einen Versuch und ging zu einigen Bekannten, um den Grund dieser Veränderung zu erfahren, aber auch hier wollte es ihm nicht glücken. Wie im Halbschlaf irrte er durch die Stadt, ohne entscheiden zu können, ob er selbst verrückt sei, oder die Beamten den Kopf verloren hätten, ob dies alles nur ein Traum, oder alberne törichte Wirklichkeit sei, die noch abgeschmackter war als ein Traum. Erst spät am Abend, als es schon dunkel zu werden begann, kehrte er in seinen Gasthof zurück, den er in so glänzender Stimmung verlassen hatte, und ließ sich vor Ärger und Langeweile Tee bringen. Nachdenklich und in Grübeln über die Seltsamkeit seiner Lage versunken, schenkte er sich eine Tasse Tee ein, als sich plötzlich die Zimmertür auftat und Nosdrjow, den er am allerwenigsten erwartet hatte, hineintrat.

„Für einen Freund ist kein Weg zu weit! wie das Sprichwort sagt,“ rief dieser und nahm seinen Hut ab: „ich komme eben vorüber und sehe Licht in deinem Fenster. ‚Wahrscheinlich schläft er noch nicht, denke ich mir, ich muß doch mal rauf gehen und nachsehen.‘ Ah! das ist aber schön, daß du Tee hast, ich trinke mit Vergnügen ein Täßchen mit: ich hab’ heute allerhand Zeug gegessen und fühle schon, daß mein Magen zu rebellieren beginnt! Laß mir doch bitte eine Pfeife stopfen. Wo ist denn deine Pfeife?“

„Ich rauche doch keine Pfeife,“ sagte Tschitschikow trocken.

„Unsinn, als ob ich nicht weiß, daß du ein enragierter Raucher bist. He! Wie heißt doch gleich dein Diener? He Bachrameus, hör mal!“

„Er heißt nicht Bachrameus, er heißt Petruschka.“

„Wie? Du hattest doch früher einen Bachrameus?“

„Ist mir nicht eingefallen!“ sagte Tschitschikow. „Richtig, es ist ja wahr. Das ist ja Derebin, der hat einen Bachrameus. Denk mal, was der Derebin für ein Schwein hat: seine Tante hat sich mit ihrem Sohn gezankt, weil der eine Leibeigne geheiratet hat, und nun hat sie dem Derebin ihr ganzes Vermögen zugeschrieben. Das wär doch fein, wenn unser einer so eine Tante hätte, weißt du, das wären schöne Aussichten, was? Sag mal, Freund, was ist denn das mit dir, warum ziehst du dich plötzlich so von uns allen zurück, man sieht dich ja überhaupt nicht mehr. Ich weiß, du beschäftigst dich mit wissenschaftlichen Gegenständen, du liest sehr viel (woraus Nosdrjow schloß, daß unser Held sich mit wissenschaftlichen Gegenständen beschäftigt und sehr viel liest, das können wir, wie wir zu unserem Bedauern gestehen müssen, leider nicht verraten, noch weniger aber hätte es Tschitschikow können). Hör mal Tschitschikow! Wenn du bloß gesehen hättest ... das wär’ was für deinen satirischen Geist gewesen. (Warum Tschitschikow einen satirischen Geist haben sollte — ist leider auch ganz unbekannt.) Denk mal, lieber Freund, beim Kaufmann Liebatschew da haben wir neulich Karten gespielt, nein, und haben wir da aber gelacht! Pererependjew, der mit mir dort war, sagte immer, ‚wenn doch Tschitschikow bloß hier wäre, das wäre was für ihn!‘ (Tschitschikow hatte Pererependjew überhaupt nie gesehen.) Nein, gesteh’s nur, Bester, damals hast du wirklich gemein an mir gehandelt, weißt du noch, als wir Dame spielten? Ich hatte ja gewonnen ... Aber, du hast mich einfach beschwindelt! Aber, hol’s der Teufel, ich kann halt nicht lange böse sein. Neulich beim Präsidenten ... Ach ja, ich muß dir noch sagen: in der Stadt sind alle gegen dich aufgebracht! Sie glauben, daß du falsches Papiergeld machst .. Plötzlich fallen alle über mich her — na, ich stelle mich natürlich wie ein Berg vor dich hin — ich habe ihnen was vorerzählt: daß wir zusammen in die Schule gegangen sind, und daß ich deinen Vater gekannt habe; mit einem Wort, ich habe ihnen tüchtig was vorgeschwindelt!“

„Ich soll falsches Papiergeld machen?“ rief Tschitschikow aus und sprang vom Stuhl auf.

„Warum hast du sie denn auch so in Schrecken gejagt?“ fuhr Nosdrjow fort, „sie sind ja halb toll vor Angst: sie halten dich für einen Spitzel und Räuber. — Der Staatsanwalt ist ja vor lauter Schreck gestorben .. morgen ist die Beerdigung. Du kommst doch bestimmt? Offen gestanden, sie haben Furcht vor dem neuen Generalgouverneur, und haben Angst, es könnte deinetwegen noch eine Geschichte geben; was den Generalgouverneur anbetrifft, so bin ich freilich der Ansicht, daß er mit dem Adel nichts ausrichten wird, wenn er allzu hochnäsig ist und gar zu dicke tut. Der Adel will mit Liebe behandelt sein: nicht wahr? Man kann sich natürlich in seinem Zimmer verstecken und nie einen Ball geben, aber was nützt das? Damit ist noch nichts gewonnen. Aber hör mal, Tschitschikow, du hast da eine gefährliche Sache unternommen?“

„Was für eine gefährliche Sache?“ fragte Tschitschikow unruhig.

„Na, das mit der Entführung der Gouverneurstochter. Offen gesagt, ich habe das von dir erwartet, bei Gott, ich hab es erwartet! Gleich als ich euch zum ersten Mal zusammen auf dem Ball sah: ‚Na! denke ich mir, der Tschitschikow ist nicht umsonst hier ...‘ Übrigens hast du keine gute Wahl getroffen; ich finde gar nichts Gutes an ihr. Es gibt da eine andre, eine Verwandte von Bikussow, eine Tochter seiner Schwester, das ist ein Prachtmädel! Da kann man sagen: Einfach entzückend!“

„Was redest du da für ein Blech zusammen? Wer will denn die Tochter des Gouverneurs entführen. Was fällt dir ein?“ sagte Tschitschikow und starrte ihn verständnislos an.

„Mach doch keine Sachen, lieber Freund: so ein Geheimniskrämer! Ich will ganz offen sein, ich bin eigentlich nur deswegen zu dir gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten. Ich will meinetwegen den Brautkranz halten und dir meinen Wagen und meine Pferde zur Verfügung stellen, nur unter einer Bedingung: du mußt mir dreitausend Rubel leihen. Ich hab sie unbedingt nötig, ich bin in einer verzweifelten Lage.“

Während dieser törichten Reden Nosdrjows rieb sich Tschitschikow mehrmals die Augen, um sich zu überzeugen, ob er nicht etwa träume. Das falsche Papiergeld, die Entführung der Tochter des Gouverneurs, der Tod des Staatsanwalts, dessen Ursache er sein sollte, die Ankunft des Generalgouverneurs, dies alles jagte ihm keinen geringen Schreck ein. „Oh weh, wenn die Sache so steht,“ dachte er, „dann darf ich nicht länger säumen, dann muß ich mich schleunigst davonmachen.“

Er suchte sich Nosdrjow möglichst schnell vom Halse zu schaffen, ließ sofort Seliphan rufen und befahl ihm, sich bei Sonnenaufgang bereit zu halten, weil er am nächsten Morgen um 6 Uhr die Stadt verlassen wolle. Daher trug er ihm noch einmal auf, nach allem zu sehen, den Wagen ordentlich zu schmieren usw. usw. Seliphan sagte nur: Zu Befehl, Pawel Iwanowitsch, blieb aber trotzdem eine Weile an der Türe stehen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Der Herr befahl Petruschka, sofort den Koffer unter dem Bett hervorzuholen, der schon mit einer dicken Staubschicht bedeckt war, und begann zusammen mit seinem Burschen all seine Sachen einzupacken; dabei machte er nicht viel Umstände und warf alles, was ihm unter die Hände kam, in einen Korb hinein: Strümpfe, Hemden, die reine und die schmutzige Wäsche, Stiefelbürsten, einen Kalender usw. Dies alles wurde in aller Eile eingepackt, denn er wollte unbedingt noch am selben Abend damit fertig sein, um am anderen Morgen nicht unnütz Zeit zu verlieren. Seliphan stand noch ein paar Minuten an der Türe und verließ dann leise das Zimmer. Ganz bedächtig und so langsam, wie man sich’s nur vorstellen kann, stieg er die Treppe hinunter, indem er den Abdruck seiner feuchten Stiefel auf den abgetretenen Stufen zurückließ. Und lange noch stand er da und kratzte sich den Hinterkopf. Was bedeutet diese Gebärde? und was hat sie überhaupt zu bedeuten? War es der Ärger, daß die für morgen verabredete Zusammenkunft mit irgend einem Kollegen in einem ebenso ärmlichen Pelze und einem ähnlichen Gürtel um die Taille in irgend einer kaiserlichen Schenke sich zerschlagen hatte; oder hatte sich an dem neuen Ort schon eine Herzensaffäre angesponnen, und nun sollte es aus sein mit dem Stehen unter dem Toreingange und mit dem höflichen Händedrücken abends in der Dämmerung, wenn die Burschen im roten Hemde vor den Mägden auf der Balalaika[6] klimperten und die bunte Volksmenge nach des Tages Last und Mühe leise Reden wechselt — oder war es nur der Schmerz, das warme Plätzchen in der Küche am Ofen unter dem Pelze, die Genossen, die Kohlsuppe und die weiche Pastete, wie man sie nur in der Stadt bekommt, verlassen zu müssen, um sich aufs neue in den Regen und Schnee hinauszubegeben und die Strapazen und Unbill der Reise auf sich zu nehmen? Das mag Gott wissen — errate wer’s will. Gar vielerlei hat es zu bedeuten, wenn sich das russische Volk hinter den Ohren kratzt.

Elftes Kapitel.

Es kam jedoch ganz anders als Tschitschikow vermutet hatte. Erstlich wachte er viel später auf, als er beabsichtigte — dies war die erste Unannehmlichkeit — dann stand er auf und schickte sofort jemand hinunter, um zu erfahren, ob der Wagen in Ordnung, die Pferde angespannt und alles zur Abreise bereit sei, mußte aber zu seinem Leidwesen erfahren, daß die Pferde nicht angespannt und noch gar keine Anstalten zur Abreise getroffen seien — und dies war die zweite Unannehmlichkeit. Das brachte ihn geradezu in Wut, er nahm sich sogar schon vor, unserem Freunde Seliphan einen ordentlichen Nasenstüber zu versetzen, und wartete mit Ungeduld, was der wohl für eine Ausrede zu seiner Entschuldigung vorbringen würde. Bald erschien Seliphan auch in der Tür, worauf sein Herr das Vergnügen hatte, dieselben Reden über sich ergehen zu lassen, die man stets von den Bedienten zu hören bekommt, wenn man verreisen will und große Eile hat.

„Man muß doch aber die Pferde zuerst beschlagen lassen, Pawel Iwanowitsch!“

„Ach du Hundsfott! Du Klotz du! Warum hast du mir das denn nicht früher gesagt? Du hast doch wohl Zeit genug dazu gehabt?“

„Hm, ja, Zeit hätt’ ich freilich dazu gehabt ... Aber dann ist da noch was mit dem Rade los, Pawel Iwanowitsch ... Man wird einen neuen Reifen aufsetzen müssen, der Weg hat so viele Gruben und Löcher, und ist so holperig ... Ja, und dann habe ich noch etwas vergessen: der Kutschbock ist entzwei, der ist so wackelig, daß er keine zwei Stationen mehr halten kann.“

„Schurke!“ schrie Tschitschikow, schlug die Hände zusammen und ging auf Seliphan los, daß dieser Angst bekam, sein Herr könne ihm ein recht unangenehmes Geschenk machen, auswich und ein paar Schritte zurücktrat.

„Willst du mich umbringen? Willst du mich töten? Was? Du willst mich wohl am Wege ermorden, wie ein Räuber und Strauchdieb? Du Schwein du, du Meerungeheuer! Drei Wochen lang rühren wir uns nicht vom Fleck! Und wenn er nur ein einziges Wort gesagt hätte, der nichtsnutzige Kerl! Statt dessen verschiebt er alles bis auf die letzte Stunde! Jetzt wo schon alles so weit ist, daß man einsteigen und fortfahren möchte, gerade da muß er einem solch einen Streich spielen! Was ...? Du hast es doch gewußt? Hast du es etwa nicht gewußt? Wie? Antworte! Nun?“

„Freilich!“ antwortete Seliphan und ließ den Kopf hängen.

„Nun warum hast du dann nichts gesagt? Wie?“ Auf diese Frage erfolgte keine Antwort. Seliphan stand noch immer mit gesenktem Kopfe da, und schien zu sich selbst zu sprechen: „Siehst du wohl, wie das gekommen ist: ich hab’s doch gewußt, und trotzdem nicht gesagt!“

„So, lauf jetzt zum Schmied und laß ihn kommen. In zwei Stunden muß alles fertig sein, verstanden? Spätestens in zwei Stunden! Wenn’s dann nicht fertig ist, dann — dann nehm ich dich und binde dich zu einem Knoten zusammen!“ Unser Held war ganz außer sich vor Wut.

Seliphan wollte schon hinausgehen, um den Befehl seines Herrn auszuführen; aber er besann sich noch einen Augenblick, blieb stehen und sagte: „Wissen Sie, gnädiger Herr, den Schecken, den sollte man eigentlich verkaufen, wirklich Pawel Iwanowitsch, das ist so ein Schurke ... bei Gott, solch ein gemeiner Gaul, der hindert einen ja nur!“

„So? ich soll wohl gleich auf den Markt laufen und ihn verschachern. Was?“

„Bei Gott, Pawel Iwanowitsch. Der sieht nur so kräftig aus; in Wirklichkeit ist er höchst verschlagen und unzuverlässig, so ein Pferd gibt’s gar nicht wieder ...“

„Esel! Wenn es mir paßt, dann verkaufe ich ihn schon selbst. Hält der Kerl hier noch lange Reden! Paß mal auf; wenn du mir nicht gleich ein paar Schmiede holst, und wenn mir nicht in zwei Stunden alles fix und fertig ist, dann kriegst du einen Nasenstüber, daß du nicht weißt, wo dir der Kopf steht! Mach, daß du raus kommt! Marsch!“ Seliphan verließ das Zimmer.

Tschitschikow war in der schlechtesten Laune, die man sich denken kann, und warf seinen Säbel, den er auf Reisen immer bei sich trug, um die Leute in Furcht und Respekt zu halten, wütend auf den Boden. Mehr als eine Viertelstunde zankte er sich mit den Schmieden herum, ehe er mit ihnen einig wurde, denn diese waren, wie das zu geschehen pflegt, ganz abgefeimte Gauner und forderten das Sechsfache, als sie merkten, daß Tschitschikow es sehr eilig hatte. So sehr er sich auch ereiferte, sie Diebe, Räuber und Wegelagerer nannte, es wollte alles nichts fruchten; er versuchte es sogar, sie mit dem jüngsten Gericht zu schrecken; aber auch das machte keinen Eindruck auf die Schmiedegesellen, sie blieben fest, und ließen nicht nur nichts vom geforderten Preise ab, sondern brauchten noch dazu statt zwei Stunden ganze fünfeinhalb, um den Wagen in Ordnung zu bringen. Während dieser Zeit konnte Tschitschikow in vollen Zügen jene schönen Minuten genießen, die jeder Reisende so gut kennt, wenn die Koffer gepackt sind und nur noch einige Stücke Bindfaden, ein paar Papierfetzen und anderer Plunder im Zimmer herumliegen, wenn der Mensch noch nicht im Wagen sitzt, aber auch nicht ruhig zu Hause bleiben kann, und schließlich ans Fenster tritt, um sich die Leute anzusehen, die unten auf der Straße vorüber gehen oder eilen, über ihre Groschen sprechen, ihre blöden Blicke neugierig auf ihn richten und ruhig ihrer Wege gehen, was den armen Reisenden, der durchaus nicht fort kann, noch mehr verstimmt. Alles was er sieht: der vor ihm liegende Kaufladen, der Kopf der alten Frau, die im gegenüberliegenden Hause wohnt, und von Zeit zu Zeit immer wieder an das mit kurzen Gardinen verhängte Fenster tritt, — alles widert ihm an, und doch kann er sich nicht entschließen, vom Fenster wegzugehen. Er rührt sich nicht vom Fleck, seine Gedanken verlieren sich ins Uferlose, er vergißt sich und seine ganze Umgebung, um gleich darauf wieder zu den vertrauten Gegenständen zurückzukehren. Stumpfen Sinnes betrachtet er alles, was um ihn herum lebt und webt, und zerdrückt schließlich ärgerlich eine Fliege, die summend gegen die Fensterscheibe fliegt und ihm dabei gerade unter die Finger kommt. Aber alles in der Welt hat ein Ende, und der ersehnte Augenblick bricht an: endlich war alles in Ordnung: der Kutschbock war repariert, wie es sich gehörte, das Rad hatte einen neuen Reifen, die Pferde hatten zu trinken bekommen, und die Schmiede entfernten sich, nachdem sie ihr Geld noch einmal nachgezählt und Tschitschikow eine glückliche Reise gewünscht hatten. Endlich waren auch die Pferde vor den Wagen gespannt; dann wurden noch schnell zwei warme Bretzel, die man soeben gekauft hatte, in die Kutsche gepackt, auch Seliphan steckte sich noch etwas in die Tasche, die am Kutschbock angebracht war, und unser Held verließ den Gasthof, um seinen Wagen zu besteigen, begleitet vom Kellner, der wie immer seinen baumwollenen Rock anhatte, und grüßend seinen Hut schwenkte, sowie von ein paar Kutschern und Lakaien, die teils zum Gasthof gehörten, teils herbeigelaufen waren, um zu sehen, wie der fremde Herr abfährt; nebst allem sonstigen Zubehör, wie es bei einer Abreise nie fehlen darf; Tschitschikow setzte sich in die Equipage, und die bekannte Junggesellenkutsche, die so lange unbenutzt im Stall gestanden hatte und den Leser vielleicht schon zu langweilen beginnt, rollte zum Tore hinaus. „Gott sei Dank!“ dachte Tschitschikow und schlug ein Kreuz. Seliphan knallte mit der Peitsche, Petruschka, der erst eine Weile auf dem Trittbrett gestanden hatte, nahm neben ihm Platz, unser Held setzte sich recht bequem auf dem grusischen Teppich zurecht, legte sich ein Lederkissen in den Rücken, wobei er die beiden warmen Bretzel kräftig zusammendrückte, und der Wagen setzte sich aufs neue, hopsend und springend in Bewegung, dank dem Pflaster, welches ja bekanntlich eine beträchtliche Schwungkraft besaß. Mit einem seltsamen unklaren Gefühl blickte Tschitschikow auf die Häuser, die Mauern, die Zäune und Straßen, die gleichfalls auf und ab zu hüpfen schienen und langsam an seinen Augen vorüberzogen. Weiß Gott, ob es ihm beschieden sein würde, sie in seinem Leben noch einmal wiederzusehen. Bei einer Straßenkreuzung mußte der Wagen Halt machen, er wurde nämlich durch einen Leichenzug aufgehalten, der sich die ganze Straße entlang dahin bewegte. Tschitschikow steckte den Kopf aus dem Wagen, und sagte Petruschka, er solle einmal fragen, wer da beerdigt werde. Es stellte sich heraus, daß es der Staatsanwalt war. Äußerst unangenehm berührt, lehnte Tschitschikow sich schnell in eine Ecke zurück, ließ den Wagen aufklappen und zog die Vorhänge zu. Während die Equipage still stand, nahmen Seliphan und Petruschka fromm ihre Mützen ab und sahen sich den Zug aufmerksam an, wobei sie sich besonders für die Wagen und ihre Insassen zu interessieren und genau nachzuzählen schienen, wie viele von den Leidtragenden fuhren, und wie viele zu Fuß gingen; auch ihr Herr, der ihnen befohlen hatte, sich nicht zu erkennen zu geben und keinen von den bekannten Lakaien zu grüßen, sah sich den Zug durch ein kleines Fenster im ledernen Verdeck an. Alle Beamten folgten entblößten Hauptes dem Sarge. Tschitschikow fürchtete sich einen Augenblick, sie könnten seine Equipage erkennen; aber sie achteten gar nicht auf sie. Sie unterhielten sich nicht einmal über jene praktischen Fragen, welche gewöhnlich gestreift werden, wenn man an einer Beerdigung teilnimmt. All ihre Gedanken konzentrierten sich auf sich selber; sie dachten darüber nach, was der neue Generalgouverneur wohl für ein Mann sei, wie er die Geschäfte verwalten, und wie er sich zu ihnen stellen werde. Auf die Beamten, welche zu Fuß gingen, folgte eine Reihe von Wagen, aus denen Damen mit schwarzen Hauben und Schleiern hervorblickten. Nach den Bewegungen ihrer Hände und Lippen mußte man schließen, daß sie in einer lebhaften Unterhaltung begriffen waren: vielleicht sprachen auch sie über die Ankunft des neuen Generalgouverneurs, äußerten ihre Vermutungen über die Bälle die er geben würde und sorgten schon jetzt für ihre neuen Rüschen und Aufsätze. Zuletzt kamen noch einige leere Droschken hinter den Equipagen hergefahren, eine hinter der andern, und dann kam lange nichts mehr, die Bahn war frei, und unser Held konnte weiterfahren. Er ließ das Lederverdeck herunter, seufzte aus tiefster Seele, und sagte: „Das war der Staatsanwalt! Er lebte und lebte, und nun ist er tot! Jetzt werden sie in den Zeitungen schreiben, er sei gestorben zum großen Schmerz all seiner Untergebenen und der ganzen Menschheit, er der stets ein geachteter Bürger, ein seltener Vater, das Muster von einem Gatten gewesen sei; was werden sie nicht noch alles schreiben: vielleicht fügen sie auch noch hinzu, daß die Tränen der Witwen und Waisen ihn bis ans Grab begleiteten; sieht man sich aber die Sache aus der Nähe an, und geht man ihr ordentlich auf den Grund, dann war an dir eigentlich nichts merkwürdig, außer deinen buschigen Augenbrauen.“ Und er rief Seliphan zu, er solle sich beeilen und sprach zu sich selber: „Eigentlich ist es doch ganz gut, daß wir einem Leichenzuge begegnet sind, man sagt, es bedeute Glück, wenn ein Leichenwagen vorüberfährt.“

Unterdessen fuhr der Wagen schon durch die öden und leeren Straßen der Vorstadt, und bald sah man zu beiden Seiten nichts mehr, als lange Bretterzäune, welche das Ende der Stadt ankündigten. Nun hörte auch schon das Straßenpflaster auf, da war der Schlagbaum, die Stadt lag hinter den Reisenden — man befand sich auf der öden einsamen Landstraße. Und wieder jagte der Wagen den Postweg entlang mit seinen altbekannten Bildern zu beiden Seiten: seinen Meilensteinen, Stationsbeamten, Brunnen, Fuhren, Lastwagen, den grauen Dörfern mit ihren Teemaschinen, den Bauernfrauen und dem forschen bärtigen Hausherrn, der mit einem Hafersack aus der Herberge gelaufen kommt, dem Wanderer, in zerrissenen Bastschuhen, welcher vielleicht schon siebenhundert Werst zurückgelegt hat, den munteren Städtchen mit ihren hölzernen Läden, Mehlfässern, Bastschuhen, Bretzeln und dem übrigen Plunder, den scheckigen Schlagbäumen, den ewig in Reparatur befindlichen Brücken, den unübersehbaren Feldern hüben und drüben, den Erntewagen, dem reitenden Soldaten, der einen grünen Kasten voll Artilleriefutter mit der Inschrift: An die so und so vielste Artilleriebrigade! mit sich führt, den grünen, gelben oder frisch aufgeworfenen schwarzen Streifen Ackerlandes, die hie und da in der Steppe auftauchen, dem aus der Ferne herüberklingenden melancholischen Gesang, den Kiefernwipfeln in zartem Nebeldunst, dem verhallenden Glockengeläute, den Scharen wilder Raben, die vorüberziehen gleich Fliegenschwärmen und dem endlosen grenzenlosen Horizont ... Oh, Rußland! mein Rußland! ich sehe dich, sehe dich aus meiner herrlichen wundersamen Ferne. Arm, weit verstreut und unfreundlich sind deine Gaue, kein frohes Wunder der Natur, gekrönt von frechen Wunderwerken kühner Kunst — erheitern oder schrecken hier den Blick, keine Städte mit vielfenstrigen hohen Palästen in wilde Felsen eingebaut, keine malerischen Bäume und Efeuranken, in Häuser eingewachsen, umbraust vom Staube ewiger Wasserfälle; nicht braucht das Haupt sich zurückzuneigen, um mit dem Blick den grenzenlos zur Höhe emporgetürmten Gebirgsblöcken folgen zu können; nicht blitzen hinter langgestreckten, dunklen Säulengängen, um die sich Rebenzweige, Efeu und Millionen wilder Rosen schlingen: nicht blitzen hinter ihnen auf die ewigen Linien ferner leuchtender Berge, die sich in silberklaren Himmeln verlieren. Frei, wüst und offen liegst du da; wie kleine Pünktchen oder Zeichen, so ragen aus der Ebene deine niedrigen Städte auf: nichts lockt, verführt, bezaubert unseren Blick. Und dennoch, welch unbegreifliche, geheimnisvolle Kraft zieht mich zu dir? Warum klingt unaufhörlich dein melancholisches, nie verstummendes, die ganze unermeßliche Weite durcheilendes, von Meer zu Meere dringendes Lied uns im Ohr? Welch ein geheimer Zauber liegt in diesem Liede? Was ruft und lockt, was schluchzt darin und greift so seltsam uns ans Herz? Was sind das für Töne, die unsere Seele so zärtlich umschmeicheln und küssen, zum Herzen dringen und es süß umspinnen? O, Rußland! sag, was willst du nur von mir? Welch unbegreiflich Band ist zwischen uns geknüpft? Was blickst du mich so an, und warum hält alles, alles was dich erfüllt, seine Augen so erwartungsvoll auf mich gerichtet? ... Noch immer steh’ ich zweifelnd und unbeweglich da, schon hat die finstere regenschwangere Wolke mein Haupt beschattet, und schon verstummt der Gedanke von deiner grenzenlosen Ausdehnung. Was verheißt diese unermeßliche Freiheit und Weite? Oder sollte hier, in deinem Schoße, auch der unendliche Gedanke geboren werden, wo du doch selber kein Ende hast? Nicht hier der Held erstehn? wo frei der Raum sich weitet, auf daß er sich entfalte und ausbreite und frei dahinschreite? Und furchtbar umfängt mich der majestätische Raum, der tief mein Inneres erschüttert mit all seinen Schrecken; von einer übernatürlichen Macht ward mein Auge erleuchtet ... O, welch eine schimmernde, wunderbare unbekannte Ferne! Mein Rußland! ...

„Halt, halt, du Esel!“ rief Tschitschikow Seliphan zu.

„Ich hau dir gleich eins mit meinem Pallasch runter!“ schrie ihn ein vorübersprengender Feldjäger an, der einen Schnurrbart von der Länge eines Meters hatte. „Siehst du denn nicht, daß das ein staatlicher Wagen ist? hol dich der Teufel!“ Und wie eine Vision verschwand unter Donner und Staubwolken das Dreigespann.

Welch eine seltsame, wunderbare Lockung liegt doch in dem Worte: Landstraße! Und wie herrlich ist sie selbst, diese Landstraße! Ein heller Tag, Herbstblätter, die Luft ist kalt ... Hüll dich tiefer in deinen Regenmantel! Die Mütze über die Ohren, und schmieg dich enger und gemütlicher in deine Wagenecke! Ein letztes Mal noch läuft uns ein Schauer durch unsere Glieder, und schon durchströmt uns behagliche Wärme. Die Rosse jagen dahin ... Wie lockend naht der Schlummer. Die Augenlider senken sich. Und wie im Halbschlaf erklingt noch einmal das Lied: „Nicht weißer Schnee ...“, das Schnauben der Pferde und das Rasseln der Räder und schon schnarchst du laut, indem du deinen Nachbar tief in die Wagenecke drückst. Doch nun erwachst du: fünf Stationen liegen hinter dir; der Mond steht hoch am Himmel; du fährst durch eine unbekannte Stadt, vorbei an Kirchen mit altertümlichen Holzkuppeln und dunkelen Turmspitzen, an finsteren hölzernen und weißen steinernen Häusern vorüber: hie und da ein breiter Streifen schimmernden Mondlichts, gleich als ob weiße Leinentücher über Wände und Straßen gebreitet wären, kohlschwarze Schatten legen sich schräg darüber, wie flimmerndes Metall glänzen die helleuchtenden Holzdächer: und keine Seele rings umher: alles schläft. Nur ein einsamer Lichtschein fällt hier oder dort aus einem kleinen Fenster: ist es ein Bürgersmann, der seine Stiefel stopft, oder ein Bäcker, der sich beim Ofen zu schaffen macht? — was kümmert’s dich, o, welche Nacht! Himmlische Mächte! welch eine Nacht webt droben in der Höhe! O Luft, o Himmel, weiter hoher Himmel in deiner unerreichbaren Tiefe, der du dich so unfaßbar klar und helltönend über uns breitest! ... Kühl weht dir in die Augen der kalte Atem der Nacht und lullt dich ein in süßen Schlaf; nun schlummerst du, vergißt dich ganz und schnarchst — doch zornig bewegt und schüttelt sich dein armer, in die Ecke gezwängter Nachbar unter deiner allzu schweren Bürde. Von neuem erwachst du, und wieder liegen vor dir Felder und Steppen; leer ist’s um dich herum, frei dehnt die Ebene sich in die Weite. Ein Meilenstein nach dem andern fliegt an dir vorüber; der Morgen steigt empor; am bleichen kalten Horizont erscheint ein matter Goldstreifen, kühler und kräftiger weht dir der Wind um die Ohren. Hüll dich tiefer in deinen Mantel! Welch herrliche Kälte! Wie wunderbar umfängt aufs neue dich der Schlummer! Ein Stoß und abermals erwachst du. Die Sonne steht schon im Zenith. „Vorsicht, Vorsicht!“ ruft’s neben dir, der Wagen jagt den steilen Berg hinab. Unten wartet eine Fähre: ein breiter, klarer Teich, der wie ein kupferner Kessel in der Sonne glänzt; ein Dorf, mit malerischen Hütten an den Hängen; wie ein Stern blitzt abseits das Kreuz der Dorfkirche; wie tiefes Summen tönt der Bauern munteres Geplauder, und unbezwinglicher Appetit regt sich im Magen ... Mein Gott, wie schön ist doch bisweilen solch weiter, weiter Reiseweg! Wie oft schon klammerte ich mich gleich einem Untergehenden und Ertrinkenden an dich, und jedes Mal noch zogst du mich empor und rettetest hochherzig mich Armen! Und wieviel herrliche Gedanken und Träume voll wundersamer Poesie wurden auf solche Weise geboren, wie viele beglückende Eindrücke erfüllen schon die Seele! ... Indessen auch Freund Tschitschikows Träume waren durchaus nicht so ganz prosaischer Art. Sehen wir einmal zu, was für Gefühle ihn beseelten! Anfangs empfand er überhaupt nichts und sah sich immer wieder um, weil er sich überzeugen wollte, ob die Stadt auch wirklich hinter ihm läge; aber als er sah, daß sie längst verschwunden war, und keine Schmiede, keine Mühle, noch sonst etwas von alledem, was um eine Stadt herum zu liegen pflegt, mehr zu entdecken war, und selbst die weißen Spitzen der steinernen Kirchen längst in die Erde gesunken waren, da richtete sich seine ganze Aufmerksamkeit auf den Weg; er blickte nach rechts und nach links, die Stadt N. war ganz vergessen, wie wenn er vor langer, langer Zeit, in seiner frühesten Kindheit dort gewesen wäre. Schließlich fing auch der Weg an, ihn zu langweilen, er machte die Augen ein wenig zu und lehnte den Kopf an das Kissen. Der Autor muß gestehen, daß er sich eigentlich darüber freut, da er doch so endlich einmal Gelegenheit findet, einige Worte über seinen Helden zu sagen, denn bisher wurde er ja immer — der Leser weiß es ja selbst — bald durch Nosdrjow, bald durch irgend einen Ball, bald durch die Damen oder den Stadtklatsch, oder durch tausend andere Kleinigkeiten daran gehindert, die immer erst dann als Kleinigkeiten erscheinen, wenn sie im Buche stehen, dagegen immer für höchst wichtige Angelegenheiten gehalten werden, solange sie noch in der Welt umherschwirren. Nun aber wollen wir alles beiseite legen und uns ganz der Sache selbst widmen.

Ich bin sehr im Zweifel, ob der Held meiner Dichtung dem Leser gefallen wird. Den Damen wird er ganz sicher nicht gefallen, das läßt sich schon im Voraus mit Bestimmtheit behaupten — denn die Damen wollen, daß ihr Held ein Muster jeglicher Vollkommenheit darstelle, und wenn ihm nur der kleinste leibliche oder seelische Makel anhaftet, dann ist es für immer vorbei. Der Autor mag ihm noch so tief in die Seele hineinleuchten, sein Bild reiner zurückstrahlen lassen, als ein Spiegel — der Mann hätte doch nicht den geringsten Wert in ihren Augen. Schon die Fülle und das Alter Tschitschikows müssen ihm sehr schaden: diese Fülle wird man unserem Helden nie verzeihen, und viele Damen werden sich verächtlich abwenden und sagen: „Pfui, wie häßlich er ist!“ Ach ja! Das alles ist dem Autor wohl bekannt, und dennoch — und trotz alledem kann er sich keinen tugendhaften Menschen zum Helden wählen ... Allein ... vielleicht wird man in dieser selben Erzählung noch nie angeschlagene Saiten vernehmen, wird der russische Geist in ihr in seinem unendlichen Reichtum vor uns erscheinen, ein Mann begabt mit göttlichen Vorzügen und Tugenden an uns vorüberschreiten, oder ein herrliches russisches Mädchen, wie man es auf der ganzen Welt nicht wieder findet, ausgestattet mit allen Schönheiten der weiblichen Seele voll hochherzigen Strebens und zu jedem höchsten Opfer bereit! Verblassen und dahinschwinden werden vor ihnen alle tugendhaften Männer und Frauen anderer Stämme, wie der tote Buchstabe vor dem lebendigen Wort! Zum Lichte drängen werden sich alle mächtigen Regungen der russischen Seele, .. und es wird an den Tag kommen, wie tief die slavische Natur ergreift und festhält, was nur die Oberfläche fremder Völker streifte ... Allein, warum soll ich davon reden, was noch vor uns liegt? Nicht ziemt sich’s für den Dichter, der längst des Mannes reifes Alter erreichte, und den die ernste Strenge inneren Lebens und die erfrischende Nüchternheit der Einsamkeit härteten und stählten, dem Knaben gleich sich zu vergessen. Jedes Ding hat seinen Platz und seine Zeit! Und doch, trotz alledem ward nicht der Tugendhafte zum Helden erwählt. Wir können es sogar sagen warum er nicht erwählt ward. Weil es endlich einmal Zeit ist dem armen Tugendbold etwas Ruhe zu gönnen; weil das Wort „tugendhafter Mensch“ fortwährend auf allen Lippen schwebt; weil man den tugendhaften Menschen zu einem Steckenpferd gemacht hat, und weil es keinen Schriftsteller mehr gibt, der nicht beständig auf ihm herumreitet und ihn fortgesetzt mit seiner Peitsche und Gott weiß womit sonst noch, vorwärts treibt; weil man den tugendhaften Menschen so zu Tode gehetzt hat, daß bald auch nicht der Schatten einer Tugend mehr an ihm sein wird, und nur noch ein paar Rippen und etwas Haut statt des Leibes von ihm übrig bleiben werden, weil man den tugendhaften Menschen einfach nicht mehr achtet. Nein, es ist endlich Zeit, auch mal den Schurken vor den Wagen zu spannen. Und so wollen wir ihn denn vor unseren Wagen spannen!

Bescheiden und dunkel ist die Herkunft unseres Helden. Seine Eltern waren Edelleute, ob freilich von altem oder nur von persönlichem Adel — das weiß der liebe Gott. Äußerlich zeigte er keine Ähnlichkeit mit ihnen: wenigstens hatte eine Verwandte, die bei seiner Geburt zugegen war, eine kleine kurze Dame, die man bei uns zu Lande einen Kiebitz zu nennen pflegt, das Kind auf die Arme genommen und ausgerufen: „Ach herrjeh! der ist aber ganz anders, wie ich ihn mir vorgestellt habe! Er sollte eigentlich der Großmama von mütterlicher Seite ähnlich sein, das wäre sicherlich das Beste gewesen, statt dessen gleicht er, wie das Sprichwort sagt: weder Vater noch Mutter sondern ’nem wandernden Junker.“ Das Leben sah ihn anfangs unfreundlich und mürrisch, wie durch ein trübes vom Schnee verwehtes Fenster an: er hatte weder einen Freund, noch Genossen seiner Kinderjahre! Ein kleines Stübchen, mit kleinen Fensterchen, die weder im Sommer noch im Winter geöffnet wurden; sein Vater war ein kranker Mann in einem langen mit Lammfell gefütterten Rock, und in gestrickten Pantoffeln, die er über die nackten Füße zog; beständig ging er im Zimmer auf und ab, seufzte und spuckte in den Sandnapf in der Ecke, ewig mußte der Knabe auf der Bank sitzen, die Feder in der Hand, Finger und Lippen mit Tinte beschmiert, die unvermeidliche Vorschrift vor Augen: „Du sollst nicht lügen, sollst die älteren Leute ehren und die Tugend im Herzen tragen!“ Das ewige Klappern und Schlürfen der Pantoffeln, die bekannte, ewig rauhe und strenge Stimme: „Machst du schon wieder Dummheiten?“ die sich immer dann vernehmen ließ, wenn das Kind, angewidert von der Einförmigkeit seiner Beschäftigung, irgend ein Häkchen oder Schnörkelchen an einem Buchstaben anbrachte; und dann das lang bekannte aber immer peinliche Gefühl, das den Worten folgte, wenn die Nägel der langen Finger sich von hinten heranbewegten und das Ohrläppchen so schmerzhaft zusammendrehten. Das ist das traurige Bild seiner ersten Kindheit, an die ihm nur eine schwache Erinnerung geblieben war. Aber im Leben ändert sich alles schnell und plötzlich: eines schönen Tages, als die ersten Strahlen der Frühlingssonne die Erde erwärmten, und die Bäche zu rauschen begannen, nahm der Vater seinen Sohn bei der Hand und bestieg mit ihm einen Bauernwagen, der von einem braungescheckten Pferdchen gezogen wurde, einem von jener Sorte, welche unsere Pferdehändler „Elstern“ zu nennen pflegen; der Wagen wurde von einem kleinen, buckligen Kutscher gelenkt, dem Stammvater der einzigen Leibeigenenfamilie, die Tschitschikows Vater gehörte. Fast anderthalb Tage lang dauerte die Fahrt, unterwegs übernachtete man einmal, setzte über einen Fluß, nährte sich von kalten Pasteten und gebratenem Hammelfleisch, und erreichte erst am dritten Tage gegen Morgen die Stadt. Diese machte einen tiefen Eindruck auf den Knaben durch den ungeahnten Glanz und die Pracht ihrer Straßen, daß er den Mund vor Erstaunen weit aufriß. Dann plumpste die „Elster“ mitsamt dem Wagen in eine Grube, welche den Anfang einer engen, abschüssigen und ganz mit Schmutz bedeckten Straße bildete; lange arbeitete sie dort aus aller Kraft, watete mit den Beinen im Kot herum, angespornt und ermuntert von dem buckligen Kutscher und dem Herrn selbst, bis sie die Kutsche schließlich aus dem Dreck herauszog und in einem kleinen Hof landete; dieser lag an einem kleinen Hügel; vor dem alten Häuschen standen zwei blühende Apfelbäume und hinter demselben befand sich ein kleines niedriges Gärtchen, das nur aus ein paar Ebereschen, Hollunderbüschen und einem ganz tief im Innern liegenden kleinen hölzernen Hüttchen bestand, welches mit Dachschindeln gedeckt war und ein einziges halberblindetes Fensterchen hatte. Hier wohnte eine Verwandte von Tschitschikow, ein altes vertrocknetes Mütterchen, die aber noch jeden Morgen auf den Markt ging und ihre Strümpfe an der Teemaschine trocknete. Sie klopfte den Jungen auf die Wange und freute sich darüber, daß er so dick und wohlgenährt aussah. Hier sollte er von nun ab bleiben und die städtische Schule besuchen. Der Vater blieb die Nacht über bei der Alten. Am andern Tage machte er sich wieder auf den Weg, um nach Hause zu fahren. Als er sich von seinem Sohne verabschiedete, vergoß er keine Träne: er gab ihm einen halben Rubel Kupfergeld für die kleinen Ausgaben und Naschwerk, und was bei weitem wichtiger war, noch ein paar weise Lehren dazu: „Merk dir’s Pawluscha, lerne was Ordentliches, treib keine Dummheiten und mach keine schlechten Streiche, vor allem aber: such stets deinen Vorgesetzten und Lehrern zu gefallen. Wenn du’s deinen Vorgesetzten recht machst, wird dir alles gelingen, selbst wenn du unbegabt bist und keine großen Fortschritte in den Wissenschaften machen solltest; und du wirst all deine Mitschüler überholen. Laß dich nicht zu viel mit den Kameraden ein; sie werden dir nicht viel Gutes beibringen; aber wenn es dennoch dazu kommt, dann wähle dir die zu Freunden, die wohlhabend und reich sind, denn sie können dir helfen und von Nutzen sein. Sei nicht zu freigiebig und gastfrei, sondern mache es immer so, daß die anderen dich einladen und freihalten; vor allem aber: sei sparsam und ehre den Pfennig: auf ihn kannst du dich eher verlassen, als auf alles in der Welt. Deine Freunde und Kameraden werden dich übers Ohr hauen, sie sind die ersten, die dich im Unglück verlassen, der Pfennig aber wird dich nie verlassen, weder in Not noch Gefahr! Mit dem Pfennig kannst du alles durchsetzen, wirst du alles erreichen, wonach dein Herz nur begehrt.“ Nach diesen weisen Lehren verabschiedete sich der Vater von seinem Sohne und trat die Rückreise mit seiner „Elster“ an. Der Sohn sollte ihn nie wiedersehen, allein, er bewahrte seine Worte und Lehren tief in der Seele.

Noch am folgenden Tage fing Pawluscha an, die Schule zu besuchen. Besondere Fähigkeiten für eine bestimmte Wissenschaft legte er nicht an den Tag; er zeichnete sich mehr durch Fleiß und Ordnungsliebe aus; dafür aber kam bei ihm bald eine andere Fähigkeit zum Durchbruch: ein großer praktischer Verstand. Er begriff sofort, worum es sich handelte und benahm sich im Verkehr mit den Kameraden ganz so, wie der Vater es ihn gelehrt hatte, d. h., er ließ sich stets einladen und freihalten, er selbst dagegen tat nie etwas derartiges, ja, er hob sich sogar mitunter die erhaltenen Gaben und Geschenke auf, um sie später bei Gelegenheit an den Geber selbst zu verkaufen. Schon als Kind hatte er es gelernt, sich alles zu versagen. Von dem halben Rubel, den er vom Vater erhalten hatte, nahm er keine Kopeke, sondern fügte noch im selben Jahre etwas zu dieser Summe hinzu, wobei er einen großen Unternehmungsgeist an den Tag legte: er knetete aus Wachs einen Dompfaffen, strich ihn hübsch an und verkaufte ihn sehr vorteilhaft. Dann versuchte er es eine Zeitlang mit andern Spekulationen und zwar mit folgenden: er kaufte auf dem Markte Eßwaren ein und setzte sich in der Schule neben die, welche am reichsten waren und das meiste Geld hatten; und wenn er bemerkte, daß einem Kameraden schlecht wurde — was ein Zeichen des eintretenden Hungergefühles war — ließ er ihn unter der Bank, wie im Versehen, die Ecke eines Pfefferkuchens oder eines Brötchens sehen. Hatte er ihn dann ganz wild gemacht, so nahm er ihm eine bestimmte Summe ab, die stets in einem gewissen Verhältnisse zur Größe seines Appetites stand. Zwei Monate lang machte er sich in seiner Wohnung ununterbrochen mit einer Maus zu schaffen, die er in einen kleinen hölzernen Käfig eingesperrt hielt; er brachte es endlich soweit, daß sich die Maus auf die Hinterbeine stellte, sich auf Befehl hinlegte und wieder aufrichtete, worauf er sie dann gleichfalls mit hohem Gewinn losschlug. Als er sich auf diese Weise ungefähr fünf Rubel zurückgelegt hatte, nähte er sie in ein Säckchen ein, und fuhr fort, neues Geld zu sparen. In seinem Verhalten zur Schulobrigkeit war er noch klüger. Niemand verstand es so gut, wie er, mäuschenstill auf der Bank zu sitzen. Hier müssen wir bemerken, daß der Lehrer ein großer Freund der Ruhe und eines guten Betragens war und die klugen und gescheiten Jungen nicht leiden konnte; es schien ihm immer, daß diese über ihn lachten. Es braucht nur einer, der im Verdacht stand, gescheit und witzig zu sein, sich ein wenig auf der Bank zu bewegen oder im Versehen mit der Wimper zu zucken, um den Zorn des Lehrers auf sich zu lenken. Er verfolgte und strafte ihn ganz unbarmherzig. „Ich will dir deinen Hochmut und deine Aufsässigkeit austreiben!“ rief er, „ich kenne dich durch und durch, so wie du dich selbst nicht kennst! Kniee einmal nieder! Du sollst schon erfahren, wie der Hunger schmeckt!“ Und der arme Knabe mußte sich die Kniee durchscheuern und tagelang hungern, ohne selbst zu wissen, warum. „Fähigkeit, Begabung, Talent — das ist alles Unsinn!“ pflegte der Lehrer zu sagen, „ich sehe vor allem aufs Betragen. Einem Schüler, der sich anständig benimmt, würde ich auch dann noch die besten Noten in allen Fächern geben, wenn er keinen Deut von allem versteht; wo ich dagegen jenen bösen Geist des Widerspruches und der Spottlust entdecke — da gibt’s eine 0 selbst wenn er einen Solon in die Tasche steckte!“ So pflegte der Lehrer zu sprechen; daher haßte er auch Krylow so ingrimmig, weil dieser in einer seiner Fabeln gesagt hatte: „Sauf meinethalben, doch verstehe deine Sache!“ Auch erzählte er immer mit großer Befriedigung, wobei sein Gesicht und seine Augen leuchteten, wie in der Schule, in der er früher unterrichtet hatte, eine solche Stille geherrscht habe, daß man eine Mücke durchs Zimmer fliegen hören konnte; daß keiner von den Schülern während des ganzen Jahres auch nur einmal zu husten und sich während der Stunde zu schneuzen wagte, und daß bis zum Glockenzeichen niemand hätte entscheiden können, ob jemand in der Klasse war oder nicht. Tschitschikow erfaßte sofort den Geist und die Absichten des Lehrers und was dieser unter einem guten Betragen verstand. Er bewegte kein Auge und zuckte während der ganzen Stunde auch nicht einmal mit der Wimper, man mochte ihn kneifen und zwicken, soviel man wollte; sowie das Glockenzeichen ertönte, stürzte Tschitschikow kopfüber an die Türe, um dem Lehrer als erster die Mütze zu reichen — der Lehrer trug eine gewöhnliche Bauernmütze; hierauf verließ er zuerst die Klasse und suchte ihm recht häufig auf der Straße zu begegnen, wobei er jedesmal ehrerbietig den Hut abnahm. Sein Verhalten war vom schönsten Erfolge gekrönt. Die ganze Zeit über, während er die Schule besuchte, war er sehr gut angeschrieben, und bei seinem Abgang erhielt er ein vorzügliches Zeugnis mit den besten Noten in sämtlichen Fächern und außerdem noch ein Buch mit einer Inschrift in goldenen Lettern: „Für lobenswerten Fleiß und musterhaftes Betragen.“ Bei seinem Abgang von der Schule war er bereits ein Jüngling von recht anziehendem Äußeren, mit einem Kinn, das der sorgsamen Pflege durchs Rasiermesser bedurfte. Um diese Zeit starb sein Vater. Er hinterließ seinem Sohne vier völlig abgetragene Flaushemden, zwei alte Röcke, die mit Lammfell gefüttert waren und eine ganz unbedeutende Geldsumme. Der Vater verstand es offenbar nur, gute Lehren im Sparen zu erteilen, er selbst aber hatte nur wenig zurückgelegt. Tschitschikow verkaufte sogleich das alte Häuschen samt dem dazugehörigen dürftigen Grund und Boden für tausend Rubel, und schickte die Leibeigenen-Familie die es bewohnt hatte, nach der Stadt, da er beabsichtigte, sich daselbst niederzulassen und in den Staatsdienst einzutreten. Um diese Zeit wurde sein armer Lehrer, der soviel Wert auf Ruhe und gutes Betragen legte, wegen seiner Unfähigkeit oder einer andern Verfehlung halber entlassen; er begann vor Gram zu trinken; aber bald reichten die Mittel nicht einmal mehr dazu; krank, hilflos, ohne einen Bissen Brot verkam und verhungerte er in irgend einer ungeheizten abgelegenen Dachkammer. Als seine früheren Schüler, hinter deren Witz und Scharfsinn er immer Ungehorsam und Aufsässigkeit gewittert hatte, von seiner Lage erfuhren, veranstalteten sie sofort eine kleine Geldsammlung für ihn, und verkauften sogar einige von ihren eigenen Sachen, die sie nur schwer entbehren konnten; nur Pawluscha Tschitschikow machte Ausflüchte, er habe nichts, und opferte bloß ein armseliges silbernes Fünfkopekenstück, das ihm die Kameraden mit den Worten: Oh, du Geizhals! vor die Füße warfen. Der arme Lehrer bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, als er von dieser Handlung seiner früheren Schüler erfuhr; die Tränen stürzten ihm in Bächen, wie bei einem hilflosen Kinde aus den erlöschenden Augen. „Noch auf dem Totenbett schickt Gott mir diese Tränen!“ rief er mit schwacher Stimme, er seufzte schmerzlich, als er vernahm, wie Tschitschikow an ihm gehandelt hatte und fügte hinzu: „Ach, Pawluscha, Pawluscha! Wie sich doch der Mensch verändert! Was für ein braver artiger Junge er doch war! Er hatte so gar nichts Wildes und war so weich wie Seide. Wie hat er mich betrogen, o, wie hat er mich doch betrogen! ...“

Und doch kann man nicht sagen, daß die Natur unseres Helden so rauh und hart, und daß sein Gefühl so abgestumpft war, daß er weder Mitleid noch Teilnahme kannte. Beide Gefühle waren ihm sehr wohl bekannt, und er wäre zu jeder Hilfe bereit gewesen, nur durfte sie nicht in einem gar zu großen Geldopfer bestehen, denn unter keinen Umständen hätte er die Summe angegriffen, die er beschlossen hatte, nie auszugeben; mit einem Wort, der väterliche Rat: „sei sparsam und ehre den Pfennig“ war auf guten Boden gefallen. Und doch hing er nicht am Gelde, um des Geldes selbst willen; Geiz und Habsucht waren keineswegs die Triebfedern, die ihn ganz beherrschten. Nein, nicht sie waren die Motive, von denen er sich leiten ließ; was ihm vorschwebte, war ein Leben in Wohlstand und Überfluß, mit jeglichem Komfort, Equipagen, ein wohlgeordneter Haushalt, schmackhafte Diners — das war es, was ihn ganz erfüllte und fortwährend beschäftigte. Und dazu sparte und ehrte er die Kopeke, die er sich selbst und andern versagte, um, wenn die Stunde schlagen würde, all diese Herrlichkeiten voll auszukosten. Wenn irgend ein reicher Mann in einem leichten eleganten Wagen, mit stolzen Pferden in schimmerndem Geschirr an ihm vorüberjagte, dann blieb er wie festgewurzelt stehen, und sprach dann wie wenn er aus tiefem Traum erwachte: „Und er war doch ein gewöhnlicher Handlungsgehilfe und trug gekräuseltes Haar!“ Alles, was von Reichtum und Wohlstand zeugte, machte einen so tiefen Eindruck auf ihn, daß er es mitunter selbst nicht recht verstehen konnte. Als er die Schule verließ, ruhte er nicht einmal ein wenig aus: so stark war sein Wunsch, so schnell als möglich ans Werk zu gehen und in den Staatsdienst einzutreten. Allein trotz der vorzüglichen Zeugnisse gelang es ihm nur eine unbedeutende Stelle in der Finanzkammer zu erhalten; selbst in den entlegensten Nestern kommt man nicht ohne Protektion aus! Schließlich fand sich doch noch ein kleines Pöstchen, mit einem Gehalt von dreißig bis vierzig Rubel jährlich. Aber er war fest entschlossen, sich ganz dem Dienste zu widmen und alle Hindernisse zu besiegen und zu überwinden. Und in der Tat, er legte eine geradezu unerhörte Selbstverleugnung und Geduld an den Tag, und schränkte seine Bedürfnisse auf das Allernotwendigste ein. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend saß er unermüdlich hinter seinem Tische, ohne daß seine geistigen und körperlichen Kräfte nur im geringsten nachließen, schrieb und schrieb, verschwand vollkommen hinter seinen Akten, ging kaum nach Hause, schlief in der Kanzlei auf dem Tische, aß mitunter mit den Hausknechten und Wächtern zu Mittag und verstand es bei alledem, sich ein sauberes wohlgepflegtes Äußeres zu bewahren, sich anständig zu kleiden, seinem Gesicht einen angenehmen Ausdruck zu verleihen und sogar seinen Bewegungen einen gewissen Adel zu geben. Man muß sagen, daß die Beamten der Finanzkammer sich besonders durch ihre Unscheinbarkeit und Häßlichkeit auszeichnen. Sie hatten alle Gesichter wie schlecht gebackene Semmel; eine Backe war geschwollen, das Kinn war schief, die Oberlippe aufgedunsen wie eine Blase, und noch dazu gesprungen; mit einem Wort es sah gar nicht hübsch aus. Sie führten alle eine sehr strenge Sprache, und ihre Stimme war so rauh, als wollten sie einen durchhauen; sie brachten dem Gott Bachus reichliche Opfer, sie bewiesen, daß sich bei den Slaven noch mancherlei Reste von Heidentum erhalten haben; ja sie kamen sogar häufig etwas angeheitert in den Dienst, so daß es im Amtszimmer recht ungemütlich wurde, da man die Luft nichts weniger als aromatisch nennen konnte. Unter solchen Beamten mußte Tschitschikow natürlich auffallen, war er doch fast in allem das vollkommene Gegenteil von ihnen; seine Züge waren eindrucksvoll, seine Stimme angenehm, auch enthielt er sich aller geistigen Getränke. Und doch wurde ihm die Karriere durchaus nicht leicht gemacht. Er erhielt einen ganz alten Aktuar zum Chef, ein wahres Muster starrer Gefühllosigkeit und Unerschütterlichkeit; er blieb immer gleich unnahbar, nie belebte ein Lächeln sein Gesicht, nie kam er einem freundlich grüßend entgegen, oder erkundigte sich nach dem Befinden. Noch nie hatte ihn jemand anders gesehen, als er sich immer zu geben pflegte, nicht einmal zu Hause oder auf der Straße; nie äußerte er das geringste Interesse oder etwas wie Teilnahme an fremdem Schicksal; nie war es ihm begegnet, daß er betrunken gewesen wäre und in diesem Zustand einmal herzhaft gelacht hätte; nie hatte er sich einem wilden Taumel hingegeben, wie es selbst der Räuber in Augenblicken des Rausches tut; — von alledem war auch nicht ein Schatten bei ihm zu finden. Er war frei von Bosheit und Güte, aber gerade in diesem vollständigen Mangel aller starken Gefühle und Leidenschaften lag etwas Grauenerregendes. Sein hartes Marmorgesicht, an dem man keinen unsymmetrischen Zug entdeckte, erinnerte an kein Menschenantlitz und in seinen Linien herrschte eine rauhe Proportion. Nur die zahlreichen Pockennarben und -Gruben, mit denen es übersät war, machten es zu einem von jenen Gesichtern, auf denen der Teufel nachts Erben drischt. Man sollte meinen, es hätte über alle Menschenkraft gehen müssen, einem solchen Menschen näher zu treten und seine Zuneigung zu gewinnen; Tschitschikow aber wagte dennoch diesen Versuch. Zuerst suchte er sich ihm in allerhand unbedeutenden Kleinigkeiten gefällig zu erweisen; er untersuchte sorgfältig wie die Federn geschnitten waren, mit denen der Aktuar schrieb, dann besorgte er sich ein paar von der genannten Art, und legte sie so hin, daß jener sie leicht finden konnte; er blies und wischte den Streusand und Tabak von seinem Tische ab; schaffte einen neuen Lappen für das Tintenfaß an; ferner lief er stets nach seiner Mütze — der häßlichsten Mütze, die es je auf der Welt gab, und legte sie jedesmal kurz vor dem Schluß der Sitzung neben ihn hin; oder er bürstete ihm den Rücken ab, wenn er sich an der Wand weiß gemacht hatte u. s. f. Aber dies alles machte nicht den geringsten Eindruck, gerad als ob es überhaupt nicht geschehen wäre. Schließlich jedoch gelang es Tschitschikow, einen Einblick in das Familienleben seines Chefs zu gewinnen: er erfuhr, daß er eine erwachsene Tochter hatte, deren Gesicht gleichfalls so aussah, als ob „nachts Erbsen darauf gedroschen“ würden. Und nun versuchte er die Festung von dieser Seite zu bestürmen. Er hatte in Erfahrung gebracht, welche Kirche sie Sonntags besuchte; er stellte sich also jedesmal aufs feinste und tadelloseste gekleidet, mit einem prachtvoll gestärkten Vorhemd vis à vis von ihr auf, und die Sache hatte Erfolg: der gestrenge Aktuar ließ sich erweichen und lud ihn zum Tee ein! Im Handumdrehen war es so weit gekommen, daß Tschitschikow zu ihm ins Haus zog und sich hier bald geradezu unentbehrlich zu machen wußte; er kaufte Mehl und Zucker ein, verkehrte mit der Tochter wie mit seiner Braut, nannte den Herrn Aktuar „Papachen“ und küßte ihm die Hand. Im Gericht war alles überzeugt, daß Ende Februar, vor den großen Fasten die Hochzeit stattfinden werde. Der gestrenge Aktuar bemühte sich sogar bei seinem Vorgesetzten für ihn, und bald darauf saß Tschitschikow selbst als Aktuar auf einem Platz, der gerade frei geworden war. Das war wohl der Hauptzweck seiner Annäherung an den greisen Aktuar gewesen, denn noch am selbigen Tage ließ er seinen Koffer heimlich zu sich nach Hause tragen und am folgenden Tage nahm er sich schon eine andere Wohnung. Er hörte auf, den Aktuar „Papachen“ zu titulieren und ihm die Hand zu küssen, die Sache mit der Heirat wurde immer weiter hinausgeschoben, fast als ob überhaupt niemals davon die Rede gewesen wäre. Trotzdem drückte er dem Aktuar auch fürderhin, wenn er ihm begegnete, zärtlich die Hand, lud ihn zu sich zum Tee ein, so daß der Alte trotz seiner großen Schwerfälligkeit und seiner hartnäckigen Gleichgültigkeit jedesmal den Kopf schüttelte und murmelte: „Hat der mich beschwindelt, dieser Satan!“

Dies war das schwierigste Hindernis, das aber nun genommen war. Von da ab ging es leichter und mit noch größerem Erfolge vorwärts. Man fing an, ihn zu beachten. Besaß er doch alles, was man braucht, wenn man sich auf dieser Welt durchschlagen will: die angenehmen Manieren, das feine Betragen und den kecken Wagemut in allen geschäftlichen Unternehmungen. Mit diesen Mitteln eroberte er sich in kürzester Zeit das, was man ein „warmes Plätzchen“ zu nennen pflegt, und wußte es aufs trefflichste auszunützen. Man muß nämlich wissen, daß man um diese Zeit streng gegen die Bestechlichkeit vorzugehen begann. Alle Maßnahmen hatten indes für ihn keine Schrecken, da er sie vielmehr zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen wußte, und er legte hierbei einen echt russischen Erfindungsgeist an den Tag, der sich während der Zeiten starken Drucks stets in seiner höchsten Blüte zeigt. Er machte es nämlich folgendermaßen: sobald ein Bittsteller erschien, und die Hand in die Tasche steckte, um eins von den sattsam bekannten „Empfehlungsschreiben des Fürsten Chowanski“ wie man sich bei uns in Rußland ausdrückt, hervorzuziehen — sagte er sogleich mit einem freundlichen Lächeln, wobei er den Bittsteller an der Hand festhielt: „Sie denken wohl, daß ich .... nein, bitte! nein! Das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, das müssen wir auch ohne jede Entschädigung tun! Was das anbelangt, so können Sie ganz ruhig sein. Morgen ist alles in schönster Ordnung! Darf ich fragen, wo Sie wohnen? Sie brauchen sich selbst garnicht zu bemühen. Es wird Ihnen alles nach Hause geschickt!“ Der entzückte Bittsteller kehrte ganz begeistert nach Hause zurück und dachte sich: „Endlich mal ein Mensch! ach, wenn es doch mehr solcher gäbe, das ist ja ein wahres Kleinod!“ Jedoch der Bittsteller wartet einen Tag, wartet zwei, aber seine Akten wollen noch immer nicht kommen. Am dritten Tag ist es ebenso. Er geht noch einmal in die Kanzlei — man hat seine Papiere noch garnicht angesehen. Er geht wieder zu seinem Kleinod. „Ach entschuldigen Sie,“ sagt Tschitschikow sehr höflich, indem er den Herrn bei beiden Händen ergreift: „Wir hatten so schrecklich viel zu tun, aber morgen, morgen sollen Sie sie unbedingt haben! Es ist mir selbst höchst peinlich!“ All diese Worte wurden von geradezu bezaubernden Gesten begleitet. Wenn bei dieser Gelegenheit der Rock aufgeknöpft wurde, so suchte die Hand diesen Fehler sofort wieder gut zu machen, indem sie den Bittsteller daran hinderte. Aber die Akten wollen trotzdem nicht kommen, weder morgen, noch übermorgen, noch überübermorgen. Der Bittsteller fängt an zu überlegen: „Hm! stimmt da vielleicht etwas nicht?“ Er erkundigt sich, und erhält die Antwort: „Die Schreiber müssen was bekommen!“ „Meinetwegen, warum sollte ich ihnen nichts geben: Sie sollen ihre fünfundzwanzig, meinetwegen sogar fünfzig Kopeken haben.“ — „Nein, damit ist’s nicht getan, Sie müssen schon mindestens einen weißen Zettel[7] hinlegen.“ „Was? den Schreibern einen weißen?“ ruft der Bittsteller erstaunt aus. „Ja, warum regen Sie sich nur so auf?“ antwortet man ihm: „das stimmt doch: die Schreiber erhalten wirklich nur ihre fünfundzwanzig Kopeken, der Rest geht an die Herren Vorgesetzten weiter!“ Hier schlägt sich der harmlose Bittsteller vor den Kopf und flucht wütend über die neue Ordnung, über die Maßnahmen gegen das Bestechungswesen, und die verfeinerten Umgangsformen der Beamten. Früher, da wußte man wenigstens, was man zu machen hatte: da legte man dem Geschäftsführer einen roten Zettel auf den Tisch, und die Sache war erledigt; jetzt muß man dagegen einen weißen opfern und verliert noch dazu eine ganze Woche, ehe man überhaupt heraus kriegt, was hier eigentlich los ist! ... hol der Teufel diese Uneigennützigkeit und die Vornehmtuerei der Herren Beamten! Der Bittsteller hat natürlich ganz recht: aber dafür gibt’s eben heute keine Bestechungen mehr: alle geschäftsführenden Beamten sind rechtschaffene, ehrliche Leute und nur die Schreiber und Sekretäre sind noch Halunken und Gauner. Bald jedoch tat sich vor Tschitschikow ein weites Feld der Tätigkeit auf: es bildete sich eine Kommission für den Bau eines großen Staatsgebäudes. In diese Kommission ließ auch er sich hineinwählen, und wurde eins ihrer tätigsten Mitglieder. Man schritt sofort zur Tat. Sechs Jahre lang bemühte man sich um das Staatsgebäude, aber war es nun das Klima, oder lag es an den Materialien, genug, der Bau wollte durchaus nicht fortschreiten und kam nicht über das Fundament hinaus. Dafür aber schafften sich die Mitglieder der Kommission an verschiedenen Enden der Stadt eine Reihe von schönen Häusern in gut bürgerlichem Stile an; offenbar war dort der Boden etwas besser. Die Herren Mitglieder fingen schon an, sich eines gewissen Wohlstandes zu erfreuen und sich eine Familie zu gründen. Erst jetzt und unter den neuen Verhältnissen begann auch Tschitschikow, sich von dem schwer lastenden Druck seiner strengen Enthaltsamkeitsprinzipien und der Selbstverleugnung zu befreien. Erst jetzt entschloß er sich zu einer milderen Handhabung der Fastenvorschriften, die er solange aufs strengste beobachtet hatte, und nun erst stellte es sich heraus, daß er eigentlich nie ein Feind jener Genüsse gewesen war, deren er sich in den Tagen einer feurigen Jugend so gut zu enthalten verstand, gerade in den Jahren, wo der Mensch noch nicht Herr seiner selbst ist. Er erlaubte sich sogar einen gewissen Luxus: schaffte sich einen Koch und feine holländische Hemden an. Auch kaufte er sich solche Stoffe, wie sie in der Provinz keineswegs allgemein getragen wurden und bevorzugte besonders die braunen und glänzenden hellroten Farben, er schaffte sich auch ein Paar stattliche Pferde an und lenkte selbst seinen Wagen, wobei er wohl die Zügel selbst in der Hand hielt und das Beipferd elegante Seitensprünge machen ließ; jetzt wurde auch die Sitte eingeführt, sich mit einem Schwamm, der in eine Mischung von Wasser und Eau de Cologne getaucht wurde, zu waschen; schon kaufte er sich teure Seife, um seine Haut weich und glatt zu erhalten, schon ...

Da wurde plötzlich anstelle der alten Schlafmütze ein neuer Sektionschef ernannt, ein strenger Herr, der beim Militär gedient hatte, und ein geschworener Feind des Bestechungssystems, und alles dessen war, was man Ungerechtigkeit und Unehrlichkeit nennt. Schon am folgenden Tage scheuchte er alle Beamten bis auf den letzten auf, verlangte Rechenschaftsberichte, entdeckte auf Schritt und Tritt Mißstände, sah, daß überall Summen fehlten, bemerkte sofort die stattlichen Häuser im bürgerlichen Stil — und ordnete sogleich eine Untersuchung an. Die Beamten wurden ihres Dienstes entsetzt; die Häuser im bürgerlichen Stil vom Staate beschlagnahmt und in allerhand wohltätige Anstalten und Schulen für Kantonisten umgewandelt; alle Beamten erhielten eine kräftige Moralpauke, am meisten aber unser Freund Tschitschikow. Sein Gesicht erregte plötzlich trotz seines angenehmen Ausdrucks das höchste Mißfallen des Chefs — warum eigentlich — das weiß Gott allein; oft gibt es überhaupt keinen Grund dafür — genug, er warf einen tödlichen Haß auf Tschitschikow. Und der unerbittliche Chef war geradezu furchtbar in seinem Zorn! Da er aber schließlich doch nur ein alter Soldat war und all die feinen Kniffe und Kunstgriffe des Zivils nicht kannte, gelang es den andern Beamten durch Vortäuschung eines ehrlichen Gesichts und durch die Kunst, sich an alles anzupassen, sich seine Gnade zu erwerben, und der General kam bald in die Hand noch weit größerer und schlimmerer Halunken, die er noch dazu garnicht dafür hielt; ja er war schließlich sogar noch zufrieden, daß er die rechten Leute gefunden habe und rühmte sich ernstlich, wie gut er es verstehe, die Menschen nach ihren Talenten und Fähigkeiten zu würdigen und abzuschätzen. Die Beamten kamen sogleich hinter seinen Charakter und seine Eigenschaften. Alle, die unter ihm standen, wurden gewaltige Wahrheitsfanatiker, die jedes Unrecht und jegliche Ungerechtigkeit unbarmherzig ahndeten; überall, wo sie dergleichen antrafen, verfolgten sie es, so wie ein Fischer mit seiner Harpune einem fetten Stör nachjagt, und zwar mit so großem Erfolg, daß ein jeder von ihnen in ganz kurzer Zeit im Besitz von einigen Tausend Rubeln Kapital war. Um dieselbe Zeit bekehrten sich auch mehrere von den früheren Beamten und wurden wieder in Gnaden aufgenommen. Tschitschikow allein wollte es nicht glücken, sich wieder beim Chef einzuschmeicheln; so sehr sich auch der erste Sekretär des Generals unter dem Eindruck eines Empfehlungsbriefes des Fürsten Chowanski um ihn bemühte und für ihn einsetzte, er, der so vortrefflich die Lenkung und Steuerung der Nase des Gouverneurs verstand — er vermochte dennoch nichts auszurichten. Der General war nun einmal ein solcher Mensch, der sich wohl an der Nase herumführen ließ (übrigens ohne, daß er es selbst wußte); hatte sich aber einmal ein Gedanke in seinem Kopfe festgesetzt, dann saß er so fest, wie ein eiserner Nagel und keine Macht der Welt hätte ihn wieder herausziehen können. Alles was der kluge Sekretär erreichen konnte, war, daß die alte schmutzige Dienstliste vernichtet wurde, aber selbst hierzu konnte er seinen Chef nur veranlassen, indem er an sein Mitleid apellierte und ihm in glühenden Farben das traurige Schicksal Tschitschikows und seiner unglücklichen Familie ausmalte, die ja Gott sei Dank garnicht existierte.

„Was tun!“ sprach Tschitschikow: „ich hab eingehakt, raufgezogen, und das Ding ist mir doch wieder abgeschnappt — da ist kein Wort zu verlieren. Durch Geheul und Gegrein macht man das Unglück nicht wieder gut. Man muß ans Werk gehen und handeln!“ Und er beschloß, seine Laufbahn von neuem zu beginnen, sich aufs neue mit Geduld zu wappnen und sich wieder zu beschränken, so schön und herrlich er sich auch vordem zu entfalten begonnen hatte. Er entschloß sich, in eine andere Stadt überzusiedeln und dort bekannt und berühmt zu werden. Aber es wollte alles nicht recht glücken. In ganz kurzer Zeit mußte er zwei- oder dreimal sein Amt und seinen Beruf wechseln, denn die damit verbundene Tätigkeit war höchst unsauber und widerwärtig. Der Leser muß nämlich wissen, daß Tschitschikow soviel auf Anstand und Sauberkeit gab, wie kaum sonst jemand in der Welt. Und obwohl er sich im Anfang auch in einer unsauberen Gesellschaft bewegen mußte, blieb seine Seele doch immer rein und fleckenlos, daher liebte er es auch, wenn die Tische in den Amtsstuben lackiert waren und alles fein und nobel aussah. Nie erlaubte er sich in seinen Reden ein unanständiges Wort, und es kränkte ihn tief, wenn er in den Worten eines anderen die schuldige Achtung gegen seine Titel und Würden vermißte. Ich glaube, es wird dem Leser angenehm sein, zu erfahren, daß er jeden zweiten Tag seine Wäsche wechselte; im Sommer während der heißesten Zeit sogar zweimal täglich: jeder unangenehme Geruch beleidigte sein empfindliches Geruchsorgan. Daher steckte er sich auch jedesmal, wenn Petruschka erschien, um ihn anzukleiden und ihm die Stiefel auszuziehen, ein paar Nelken in die Nase; und oft waren seine Nerven zarter als die eines jungen Mädchens; daher wurde es ihm auch so schwer, wieder in jene Schichten unterzutauchen, wo alles nach Fusel roch und die feinen Manieren ganz unbekannt waren. So sehr er sich auch beherrschte, er magerte dennoch ein wenig ab und bekam eine grünliche Gesichtsfarbe von all diesen Widerwärtigkeiten und Schicksalsschlägen. Eben hatte er angefangen, dick zu werden und sich jene runden und gefälligen Körperformen zuzulegen, in deren Besitz der Leser ihn angetroffen hat, als er seine erste Bekanntschaft machte; und oft schon hatte er, wenn er sich im Spiegel betrachtete, an mancherlei irdische Annehmlichkeiten gedacht: an ein reizendes Weibchen, eine volle Kinderstube, und ein Lächeln hatte bei diesem Gedanken sein Gesicht belebt; wenn er jetzt dagegen unversehens in den Spiegel blickte, konnte er nicht umhin, auszurufen: „Heilige Mutter Gottes, wie häßlich ich geworden bin!“ Und es verging ihm für lange Zeit die Lust, sich im Spiegel zu betrachten. Aber unser Held ertrug alles, ertrug es geduldig und mutig — und so erhielt er denn endlich eine Stellung beim Zollamt. Hier müssen wir erwähnen, daß ein solcher Posten schon längst Gegenstand seiner geheimen Wünsche gewesen war. Er hatte gesehen, was sich die Zollbeamten für wunderschöne ausländische Sachen anschafften, was für herrlichen Batist und Porzellan sie ihren Schwestern, Vettern und Basen zum Geschenk machten. Oft schon hatte er seufzend ausgerufen: „Das wär so etwas für mich: die Grenze ist nahe, man ist in der Nähe von gebildeten Leuten, was für feine holländische Hemden man sich da zulegen könnte!“ Und wir müssen hinzufügen, daß er auch noch an eine besondere Sorte französischer Seife dachte, welche der Haut eine außerordentliche Weiße und Geschmeidigkeit und den Wangen Frische und Glanz verlieh; was das für eine Marke war, das mag Gott wissen, jedenfalls hatte er Grund zu vermuten, daß sie nur an der Grenze zu haben war. Genug, er sehnte sich schon lange nach dem Zollamt, aber die augenblicklichen Vorteile, die ihm aus dem Dienst in der Baukommission erwuchsen, hielten ihn noch zurück, und er sagte sich mit Recht, daß das Zollamt eben doch nicht mehr als eine Taube auf dem Dache sei, während die Baukommission doch immerhin ein Sperling in der Hand war. Jetzt aber hatte er sich entschlossen, unter allen Umständen beim Zollamt unterzukommen — und das setzte er denn auch tatsächlich durch. Mit wahrem Feuereifer machte er sich ans Werk. Das Schicksal selbst schien ihn zum Zollbeamten prädestiniert zu haben. Eine gleiche Geschäftigkeit und ein solch durchdringender Scharfblick war noch nie vorgekommen. In drei oder vier Wochen hatte er sich bereits eine solche Sicherheit im Zollfach angeeignet, daß er buchstäblich alles wußte: er brauchte garnicht abzumessen oder nachzuwiegen; denn er erkannte sofort nach der Faktur, wieviel Meter Stoff in einem Paket enthalten waren; und wenn er ein Gepäckstück in die Hand nahm, konnte er sofort sagen, wieviel es wog; was aber die Untersuchung anbetraf, so hatte er, wie seine eigenen Kameraden sich ausdrückten, geradezu „eine Witterung wie ein guter Jagdhund“: es war wirklich wunderbar, wie geduldig er jeden Knopf befühlte, und dies alles geschah mit einer vernichtenden Kaltblütigkeit und einer geradezu unglaublichen Höflichkeit. Während die unglücklichen Objekte der Untersuchung vor Wut rasten, alle Selbstbeherrschung verloren und eine unwiderstehliche Lust verspürten, sein angenehmes Gesicht tüchtig durchzubläuen, verzog er keine Miene und sagte immer mit der gleichen Liebenswürdigkeit: „Wollen Sie nicht die Gefälligkeit besitzen, sich ein wenig zu bemühen und aufzustehen!“ oder „Wollen Sie nicht die Güte haben, gnädige Frau, und ein wenig ins Nebenzimmer treten. Die Gattin eines unserer Beamten möchte ein paar Worte mit Ihnen sprechen“, oder „Sie erlauben wohl, daß ich Ihnen das Unterfutter Ihres Mantels ein wenig mit dem Messer auftrenne“. Und mit diesen Worten zog er ganz kaltblütig alle möglichen Tücher, Shawls usw. von dort hervor, ganz wie aus seinem eigenen Koffer. Selbst die Vorgesetzten erklärten, das sei ein Teufel und kein Mensch. Überall fand er etwas: zwischen den Rädern, in der Deichsel, in den Ohren der Pferde und Gott weiß, wo noch sonst, wo es wohl selbst keinem Dichter in den Kopf käme, etwas zu suchen, und wohin sich höchstens ein Zollbeamter verirren kann. Der arme Reisende konnte sich noch lange, nachdem er die Grenze passiert hatte, nicht auf sich selbst besinnen, wischte sich den Schweiß, der ihm aus allen Poren getreten war, ab, schlug ein Kreuz und murmelte: „Na, na!“ Seine Lage erinnerte sehr an die eines Schuljungen, der eben dem Karzer entronnen ist, wohin der Lehrer ihn rief, um ihm eine kleine Standrede zu halten und ihn statt dessen zu seinem höchsten Erstaunen kräftig durchwalkte. Bald wußten sich die Schmuggler vor ihm nicht mehr zu retten: er war der Schrecken und die Verzweiflung der gesamten polnischen Judenschaft. Seine Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit waren unvergleichlich und geradezu unnatürlich. Er legte sich nicht einmal ein kleines Kapital aus den konfiszierten Waren und den beschlagnahmten Sachen an, welche dem Staate vorenthalten wurden, um die unnützen Schreibereien zu vermeiden. Ein solcher uneigennütziger Eifer im Dienst mußte natürlich allgemeines Staunen erregen und schließlich auch der Regierung zu Ohren kommen. Er erhielt einen Titel und wurde befördert, woraufhin er der Regierung ein Projekt vorlegte, wie man sämtliche Schmuggler fangen und dingfest machen könnte. Diesem Projekte legte er nur noch die Bitte um Einsendung der hierzu erforderlichen Mittel bei. Sogleich wurde ihm das Oberkommando und die unbeschränkte Vollmacht zur Ausführung aller möglichen Untersuchungen und Ermittelungen erteilt. Das war es allein, was er brauchte. Um diese Zeit hatte sich gerade eine große Gesellschaft von Schmugglern gebildet, welche ganz bewußt und planmäßig vorgingen: das freche Unternehmen versprach, Millionen abzuwerfen. Tschitschikow hatte schon längst etwas davon erfahren und sich sogar geweigert, die Abgesandten zu kaufen, indem er ganz trocken erklärte, die Zeit sei noch nicht gekommen. Nachdem er jedoch alle Fäden in seiner Hand hatte, benachrichtigte er die Gesellschaft sofort, indem er ihr sagen ließ: Jetzt ist es Zeit. Er hatte fast zu sicher gerechnet. In einem Jahre hätte er hier mehr gewinnen können, als er sich je in zwanzig Jahren durch noch so eifrige Diensttätigkeit erwerben konnte. Vordem wollte er sich nicht mit ihnen einlassen, weil er doch nichts wie eine Schachfigur war, und daher nicht viel erhalten hätte. Jetzt dagegen lagen die Dinge ganz anders, jetzt konnte er ihnen seine Bedingungen diktieren. Damit die Sache sich möglichst glatt abwickle, versuchte er noch einen andern Beamten auf seine Seite zu bringen und das Unternehmen gelang, der Kollege konnte der Versuchung nicht widerstehen, trotzdem seine Haare schon zu grauen begannen. Der Pakt wurde geschlossen und die Gesellschaft schritt zur Tat. Ihre ersten Operationen waren von glänzenden Erfolgen gekrönt. Der Leser hat sicher schon jene berühmte Geschichte von der Reise der gescheidten, spanischen Hammel gehört, welche die Grenze in doppelten Häuten überschritten und dabei für eine Million Brabanter Spitzen unter dem Pelze mitnahmen. Dieses ereignete sich gerade zu der Zeit, als Tschitschikow beim Zollamt war. Hätte er selbst nicht an diesem Unternehmen teilgenommen, kein Jude in der ganzen Welt hätte es fertig gebracht, einen ähnlichen Streich auszuführen. Nachdem die Hammel die Grenze drei oder viermal überschritten hatten, stellte es sich heraus, daß beide Beamten je vierhunderttausend Rubel Kapital besaßen. Ja man munkelte, daß es bei Tschitschikow sogar in die Fünfhunderttausend gegangen wäre, weil er noch etwas kecker war, als der andre. Gott weiß, welche gewaltige Höhe diese gepriesenen Summen erreicht hätten, wenn nicht irgend ein vertraktes Tier ihnen über den Weg gelaufen wäre. Der Teufel verdrehte beiden Beamten den Kopf. Der Haber stach sie, und sie gerieten ohne jeden Grund aneinander. Während einer lebhaften Unterhaltung nannte Tschitschikow, der vielleicht auch etwas zu viel getrunken hatte, den andern Beamten einen Popensohn, worauf dieser, der wirklich der Sohn eines Popen war, sich aus irgend einem Grunde aufs tiefste beleidigt fühlte und ihn sehr heftig und außerordentlich scharf anfuhr. Und zwar sagte er ihm folgendes: „Das lügst du! Ich bin Staatsrat und kein Popensohn. Du bist vielleicht ein Popensohn,“ und dann fügte er, um ihm einen Stich zu versetzen und ihn noch mehr zu ärgern, noch hinzu: „Jawohl, so ist’s!“ Obwohl er unseren Tschitschikow damit noch übertrumpfte, indem er ihm das auf ihn selbst gemünzte Schimpfwort zurückgab, und trotzdem die Wendung: „Jawohl, so ist’s“ schon stark genug war, genügte ihm dies jedoch noch nicht, sondern er sandte noch außerdem eine geheime Denunziation an die Behörde. Übrigens ging die Rede, beide hätten überdies noch einen Streit wegen eines frischen handfesten Weibleins gehabt, die nach dem Ausdruck der Beamten „kernig“ gewesen sei, wie eine Rübe, ja es seien sogar ein paar kräftige Kerle gedungen worden, die unseren Helden eines Abends in einer dunkelen Gasse tüchtig durchwalken sollten; schließlich aber hätten beide Beamten eine Nase erhalten, und ein gewisser Hauptmann Schamschajew habe sich der betreffenden Dame bemächtigt. Wie sich die Sache in Wahrheit zugetragen hat, das weiß Gott allein. Genug, die geheimen Abmachungen mit den Schmugglern wurden ruchbar und kamen an den Tag. Der Staatsrat wurde zwar gleichfalls gestürzt, aber er zog seinen Kollegen mit in seinen Sturz hinein. Die Beamten wurden vor Gericht gestellt, ihr ganzer Besitz konfisziert und versiegelt, und dies alles brach über ihre schuldigen Häupter herein, wie ein Donnerschlag aus heitrem Himmel. Ihr Geist war wie von Rauch und Dunst umnebelt, und als sie wieder zu sich kamen, bemerkten sie mit Entsetzen, was sie angerichtet hatten. Der Staatsrat überlebte diesen Schicksalsschlag nicht und ging irgendwo elendiglich zugrunde, der Kollegienrat aber hielt dem Schicksal stand und blieb fest. Er verstand es, einen Teil der Summe in Sicherheit zu bringen, so fein auch die Witterung der Beamten war, die erschienen waren um die Untersuchung zu leiten; er wandte alle Schliche und Ausflüchte an, deren sich ein erfahrener Mann, welcher die Menschen nur allzu gut kennt, zu bedienen pflegt: hier suchte er durch seine angenehmen Umgangsformen Eindruck zu machen, dort durch rührende Reden, hier wirkte er durch Schmeicheleien, die nie etwas schaden können, und da erwarb er sich die Gunst der Beamten, indem er ihnen etwas zusteckte, mit einem Wort, er wußte seine Sache so gut zu führen, daß er wenigstens keinen so schmählichen und unehrenhaften Abschied erhielt, wie sein Kollege und, wenn auch mit knapper Not, dem Strafrichter entrann. Freilich: das Kapital und all die schönen ausländischen Sachen waren dabei draufgegangen; für diese Dinge hatten sich andre Liebhaber gefunden. Es gelang ihm, sich höchstens zehntausend Rubel aus diesem Zusammenbruch zu retten, die er sich für alle Fälle zurückgelegt hatte, dazu noch zwei Dutzend holländische Hemden, eine kleine Kutsche, wie sie Junggesellen zu besitzen pflegen und zwei Leibeigene: den Kutscher Seliphan und den Bedienten Petruschka, außerdem hatten ihm die Zollbeamten, aus reiner Herzensgüte noch fünf oder sechs Stück Seife geschenkt: damit er sich seine Wangen rein und frisch erhalte — das war alles. In so trauriger Lage befand sich nun mit einem Male wieder unser Held. Welch ungeheueres Mißgeschick war plötzlich über ihn hereingebrochen! Das nannte er im Dienste der Wahrheit leiden. Man sollte meinen, nach all diesen Stürmen, Versuchungen, Schicksalsschlägen und den bösen Zufällen dieses Lebens hätte er sich mit seinen letzten teuren Zehntausend in den friedlichen Erdenwinkel eines Provinzstädtchens zurückgezogen, um dort für immer einzurosten: da hätte er wohl im geblümten Schlafrock am Fenster eines niedrigen Häuschens gesessen und zugesehen wie Sonntags die Bauern rauften, oder er wäre vielleicht zur Erholung einmal in den Hühnerhof hinabgegangen, um sich persönlich das Huhn anzusehen, aus dem die Suppe gekocht werden sollte, und so hätte er sein Dasein zwar still, doch in seiner Art auch nicht ganz nutzlos hingebracht. Aber es kam anders; man muß der unbezwinglichen Charakterstärke unseres Helden Gerechtigkeit widerfahren lassen. Nach all diesen Schlägen, welche genügt hätten, einen Menschen wenn nicht umzubringen, so doch für immer gegen alles abzukühlen und zahm zu machen, war in ihm jene unerhörte Leidenschaft noch immer nicht erloschen. Er war ärgerlich und zornig, murrte wider die ganze Welt, schimpfte über die Ungerechtigkeit des Schicksals, war empört über die Schlechtigkeit der Menschen, und konnte es dennoch nicht lassen, neue Versuche zu unternehmen. Mit einem Wort: er legte eine Mannhaftigkeit an den Tag, vor der die träge Geduld des Deutschen zu Nichts zusammenschrumpft, welche ja in dem ruhigen, langsamen Blutumlauf seinen Grund hat. Tschitschikows Blut dagegen wallte feurig durch die Adern, und es bedurfte eines starken, vernünftigen Willens, um all jene Triebe zu zügeln, welche in ihm nach außen drängten, um sich hier frei zu ergehen und auszuleben. Er überlegte lange hin und her, und in seinen Überlegungen war immer etwas Richtiges enthalten. Warum bin ich es gerade? Warum mußte das Unglück jetzt über mich hereinbrechen? Wer säumt denn jetzt in seinem Berufe? Alles strebt nach Erwerb. Ich habe doch niemand unglücklich gemacht, habe keine Witwe beraubt, keinen Menschen an den Bettelstab gebracht, nur von dem Überflusse genommen dort wo jeder andere an meiner Stelle auch die Hand ausgestreckt hätte. Hätte ich nicht die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, so hätten andere es statt meiner getan. Warum sollen denn andere schwelgen und glücklich sein? Und warum soll ich denn verfaulen wie ein Wurm? Was bin ich jetzt? Wozu tauge ich? Wie soll ich jetzt einem braven Familienvater ins Auge sehen? Muß ich nicht Gewissensbisse empfinden, wenn ich daran denke, daß ich nur die Erde unnütz belaste? Und was sollen einst meine Kinder sagen? — „Seht unsern Vater an,“ werden sie sagen; „er war ein Schweinehund, und hat uns kein Vermögen hinterlassen.“

Wir wissen bereits, daß Tschitschikow sehr besorgt um seine Nachkommen war. Es ist damit eine kitzliche Sache. So mancher würde nicht so tief in den fremden Beutel greifen, wenn sich ihm nicht immer die seltsame, unbegreifliche Frage wie von selbst auf die Lippen drängte: „Und was werden meine Kinder sagen?“ Und der künftige Stammvater greift eilig nach dem, was ihm zu allererst unter die Finger kommt, wie ein vorsichtiger Kater, welcher ängstlich zur Seite schielt, ob nicht der Hausherr in der Nähe ist: sieht er ein Stück Seife liegen, eine Kerze, ein Endchen Speck, kommt ihm ein Kanarienvogel unter die Pfoten, er nimmt alles mit und verschmäht nichts. So jammerte und klagte unser Held, und doch arbeitete sein Kopf unaufhörlich weiter. Unabläßlich wollte sich etwas formen und wartete nur auf den Plan zu dem neu zu errichtenden Bau. Und wiederum schrumpfte er zusammen, wieder begann er ein hartes Arbeitsleben, wieder schränkte er sich in allem ein, wieder stieg er aus der Sphäre des Wohlstandes und der Reinheit in den Schmutz und das Elend des Daseins hinab. In Erwartung eines Besseren ließ er sich sogar dazu herbei, das Amt eines Gerichtsvollziehers zu übernehmen, ein Beruf, der sich bei uns noch nicht das Bürgerrecht erkämpft hat, dessen Träger von allen Seiten Püffe und Stöße erdulden müssen, von den niederen Gerichtsbeamten und von ihren Vorgesetzten verachtet werden und zum Antichambrieren, zum Erleiden jeglicher Grobheiten und Beleidigungen verurteilt sind. Allein die Not machte unsern Helden zu allem fähig. Unter den mancherlei Aufträgen, mit deren Ausführung er betraut wurde, gab es auch folgenden: es sollten einige hundert Bauern bei Vormundschaftsgericht verpfändet werden. Das Gut, zu dem die Bauern gehörten, stand vor dem Ruin. Furchtbare Viehseuchen, die Mißwirtschaft spitzbübischer Verwalter, Epidemien, denen die besten Arbeiter zum Opfer fielen, Mißernten und nicht zum mindesten die Unvernunft des Gutsherrn hatten es dem Ruin entgegengeführt. Der Besitzer hatte sich in Moskau ein modernes Haus im neusten und vornehmsten Geschmack erbaut, dabei aber war sein ganzes Vermögen bis zur letzten Kopeke draufgegangen, so daß ihm kaum noch was zum Essen übrig blieb. So sah er sich denn gezwungen, sein einziges Gut, das ihm noch übrig geblieben war, zu verpfänden. Hypothekengeschäfte mit dem Staate waren damals noch ziemlich unbekannt und erst vor kurzem eingeführt, daher entschloß man sich nicht ohne inneres Unbehagen zu einem solchen Schritt. Tschitschikow hatte in seiner Eigenschaft als Gerichtsvollzieher sämtliche Vorbereitungen zu treffen; vor allem sorgte er, daß auch alle Anwesenden in der rechten Stimmung waren (ohne diese vorbereitende Maßnahme ist es bekanntlich nicht einmal möglich, die einfachsten Erkundigungen einzuziehen — unter einer Flasche Madeira pro Kopf geht’s jedenfalls nicht ab), nachdem er also alle, auf die es hierbei ankam, in die rechte Geistesverfassung versetzt hatte, erklärte er ihnen: es gäbe bei dieser Sache noch einen Umstand, der unbedingt berücksichtigt werden müsse: „die Hälfte der Bauern sei gestorben, da müsse man sich in acht nehmen, daß später nicht etwa Klagen laut würden ...“ „Sie stehen aber doch in der Revisionsliste, nicht wahr?“ sagte der Sekretär. „Freilich,“ erwiderte Tschitschikow. „Nun was fürchten Sie denn dann noch?“ sagte der Sekretär. „Der eine stirbt, ein andrer wird geboren, nun gut, dann ist doch nichts verloren.“ Wie man sieht, verstand es der Sekretär in Versen zu sprechen. Hier aber blitzte in unserem Helden der genialste Gedanke auf, der je einem Menschen in den Kopf gekommen war. „O, ich Einfaltspinsel!“ sprach er zu sich selbst, „ich suche meine Handschuhe und sie stecken ruhig in meinem Gürtel! Hätte ich mir all diese Leute, welche gestorben sind, gekauft, noch ehe die neuen Revisionslisten aufgestellt wurden; hätte ich sie mir, sagen wir einmal, für tausend Rubel erworben und dann beim Vormundschaftsgericht verpfändet; dann hätte ich zweihundert Rubel für die Seele bekommen, und das würde heute genau zweimal hunderttausend Rubel ausmachen! Und dazu ist jetzt gerade der günstigste Augenblick: die Epidemie ist erst eben vorüber, die hat gottlob nicht wenige das Leben gekostet! Die Gutsbesitzer haben ihr Geld verspielt, zechen jetzt herum, und haben ihr ganzes Vermögen durchgebracht; alles will nach Petersburg und in den Staatsdienst treten: die Güter liegen darnieder, die Verwalter kümmern sich kaum um sie, mit jedem Jahre wird’s schwerer, die Steuern einzutreiben; wie gern wird mir da jeder seine toten Bauern abtreten, nur um keine Kopfsteuer für sie bezahlen zu müssen, ja am Ende nehme ich noch diesem oder jenem ein paar Kopeken dafür ab. Das ist natürlich nicht leicht, es kostet viele Mühe, man muß ewig in Sorgen schweben, daß man hereinfällt, und daß eine neue Geschichte daraus entsteht. Aber wozu hat denn der Mensch schließlich seinen Verstand? Das Gute dabei ist ja eben dies: daß die Sache so unwahrscheinlich ist: niemand wird es recht glauben wollen. Freilich ohne Land kann man sie weder kaufen noch verpfänden; aber ich werde sie eben zu Ansiedelungszwecken kaufen, natürlich: zu Ansiedelungszwecken; jetzt bekommt man ja das Land im Gouvernement Taurien und Cherson fast umsonst; dort kannst du kolonisieren soviel dein Herz begehrt! Ich führe sie eben einfach dorthin: ins Chersonsche Gouvernement; da mögen sie meinetwegen leben! Und die Ansiedelung läßt sich ja auf ganz gesetzlichem Wege vollziehen, nach allen Regeln der Kunst, durch das Gericht. Wenn sie ein Zeugnis verlangen, gut, ich habe nichts dagegen: Warum nicht? Ich werde auch ein Zeugnis mit der eigenhändigen Unterschrift irgend eines Kreisrichters vorlegen. Das Gut wird „Tschitschikowka“ oder nach meinem Taufnamen „Pawlowskoje“ genannt.“ So kam im Kopfe unseres Helden dieser seltsame Plan zustande; ich weiß garnicht, ob ihm die Leser sehr dankbar für ihn sein werden, dagegen läßt es sich kaum ausdrücken, wie sehr der Verfasser sich ihm verpflichtet fühlt; wie dem auch sei, wäre Tschitschikow nicht auf diesen Gedanken gekommen — nie hätte diese Dichtung das Licht der Welt erblickt.

Er schlug nach russischer Sitte ein Kreuz und ging an die Ausführung seines großen Planes. Indem er vorschützte, er suche sich ein Plätzchen, wo er sich niederlassen könne, und noch unter mancherlei anderen Vorwänden, begann er damit, sich alle Ecken und Enden unseres Reiches anzusehen, vorzüglich aber die, welche mehr als andere unter allerhand Unglücksfällen zu leiden hatten, als da sind: Mißernten, Todesfälle usw. usw. Mit einem Wort, wo sich ihm die günstigste Gelegenheit bot, sich möglichst billig Bauern zu erwerben, deren er ja bedurfte. Dabei wandte er sich nicht aufs geradewohl an den ersten besten Gutsbesitzer, sondern wählte sich Leute nach seinem Geschmack aus, nämlich solche, mit denen sich ein Geschäft dieser Art ohne große Schwierigkeiten abwickeln ließ. Hierbei suchte er zunächst ihre nähere Bekanntschaft zu machen und ihre Zuneigung zu gewinnen, um die Bauern womöglich zum Geschenk zu erhalten und sie nicht bar bezahlen zu müssen. Daher darf der Leser auch dem Autor nicht böse sein, wenn die Personen, die bisher im Laufe unserer Erzählung auftraten, nicht immer nach seinem Geschmacke waren: das ist Tschitschikows Schuld; denn hier ist er der Herr der Situation, und wir müssen ihm folgen, wohin zu wandern es ihm einfällt. Wir unsererseits können, wenn man uns den Vorwurf macht, unsere Personen und Charaktere seien unscheinbar und blaß, nur immer wieder sagen, daß man im Beginn einer Sache nie ihren ganzen Umfang und die ganze Breite und Tiefe ihres Verlaufs ermessen kann. Die Einfahrt in eine Stadt, und sei es selbst die in die Reichshauptstadt, ist immer uninteressant. Zunächst erscheint alles grau und einförmig. Endlose Fabriken und rauchgeschwärzte Werkstätten ziehen sich in trübseliger Monotonie dahin. Erst später erscheinen die Ecken sechsstöckiger Häuser, vornehme Läden, Aushängeschilder, die langen Zeilen der Straßen mit Türmen, Säulen, Denkmälern, Kirchen, mit ihrem Straßenlärm und Glanz und all den Wundern, die Menschenhand und Menschengeist erschaffen. Wie die ersten Einkäufe zustande kamen hat der Leser selbst gesehen; wie die Sache weiter gehen wird, welche Erfolge und Mißerfolge unsern Helden erwarten, was für Hindernisse weit schwierigerer Art er zu besiegen und zu überwinden haben wird, wie dann gewaltige Gestalten vor uns auftreten, wie sich die geheimsten Hebel unserer sich breit ergießenden Erzählung in Bewegung setzen werden, wie der Horizont auseinander treten, und sie selbst in majestätisch-lyrischem Strome dahinfluten wird, dies werden wir später sehen. Ein weiter Weg ist’s, den unsere Brigade zurückzulegen hat bestehend aus einem Herrn mittleren Alters, einer Kutsche, wie die Junggesellen zu benutzen pflegen, dem Diener Petruschka, dem Kutscher Seliphan und dem Dreigespann edler Rosse, denen wir ja vorgestellt sind, vom Assessor bis zum niederträchtigen Schecken. Da haben wir unsern Helden wie er leibt und lebt. Aber vielleicht wird man noch eine Charakteristik durch einen letzten Strich von mir verlangen: was ist er für ein Mann nach der Seite seiner moralischen Qualitäten? Daß er kein Held, erfüllt von allen Tugenden, Vorzügen und allen nur möglichen Vollkommenheiten ist — das ist evident. Wer also ist er? Folglich wohl ein Schurke? Warum ein Schurke? Warum sollen wir so streng gegen andere Leute sein? Jetzt gibt’s bei uns keine Schurken mehr. Es gibt wohlgesinnte, gesinnungstüchtige, angenehme Menschen, aber solche, die ihre Physiognomie zur öffentlichen Beschimpfung darbieten müßten, um den Streich auf die Wange in Empfang zu nehmen, gibt es nur sehr selten. Von dieser Sorte werden wir kaum zwei bis drei finden und selbst sie reden heute schon laut von der Tugend. Das Richtigste wäre es wohl, ihn einen guten Wirt oder ein Erwerbsgenie zu nennen. Der Erwerbstrieb — trägt die Schuld an allem: er ist die Ursache all jener Affären und Geschäfte, die die Welt „nicht ganz sauber“ nennt. Freilich, so ein Charakter hat schon etwas Abstoßendes an sich, und derselbe Leser, der sich auf seinem Lebenswege mit so einem Menschen anfreundet, ihn in sein Haus einführt und manche angenehme Stunde mit ihm verbringt, wird ihn mißtrauisch ansehen, sowie er ihm in irgend einem Drama oder einer Dichtung begegnet. Aber dreimal weise ist der, der überhaupt keinen Charakter verabscheut, sondern prüfend seinen Blick auf ihn heftet und ihn begreifen lernt in seinen innersten Triebfedern; wie schnell wandelt sich alles im Menschen: eh man sich’s versieht, hat sich im Innern ein furchtbarer Wurm eingenistet, der wächst und wächst und alle Lebenskräfte herrisch in sich aufsaugt. Und mehr als einmal schon geschah es, daß in einem Menschen, der zu Höherem geboren war, nicht nur eine übermächtige Leidenschaft gewaltig emporwuchs und erstarkte, nein oft schon ließ ein armseliger minderwertiger Trieb ihn all seine hohen und heiligen Pflichten vergessen und in elenden Nichtigkeiten etwas Großes und Verehrungswürdiges sehen. Unendlich wie der Sand am Meere sind des Menschen Leidenschaften, und keine gleicht der andern, alle sind sie dem Menschen im Anfang gefügig und gehorsam, die hohen wie die niedrigen, und erst später werden sie zu furchtbaren Despoten. Selig ist der zu preisen, der sich unter allen die herrlichste Leidenschaft erwählte: er wächst und mehrt sich täglich und stündlich sein grenzenloses Glück, tiefer und immer tiefer dringt er ein in das unendliche Paradies seiner Seele. Aber es gibt Leidenschaften, deren Wahl nicht vom Menschen abhängt. Sie werden mit ihm geboren in der Stunde, da er zur Welt kommt, und keine Kraft ward ihm gegeben, sie weit von sich zu stoßen. Ein höherer Plan ist es, der sie lenkt, und es liegt etwas in ihnen, das ewig ruft und lockt und keinen Augenblick im Leben verstummt. Ihre große irdische Laufbahn zu vollenden ist ihre Bestimmung, ob sie nun als finstere Gestalten vorüberwandeln oder als herrlich leuchtende Erscheinungen, die den lauten Jubel der Welt entfachen, indem sie an uns vorüberziehen — ganz gleich — sie kamen, um das dem Menschen unbekannte Gute zu erfüllen. Und vielleicht stammt auch die Leidenschaft die unseren Helden Tschitschikow lenkt und vorwärtstreibt nicht aus ihm selber, und es liegt auch in seinem kalten frostigen Dasein etwas beschlossen, was einstmals den Menschen auf die Kniee und in den Staub niederzwingen wird vor der Weisheit des Himmels. Und es ist noch ein Geheimnis, warum diese Gestalt gerade in dieser Dichtung erscheinen mußte, die hiermit den Schauplatz der Welt betritt.

Aber nicht das ist das Bittere, daß man mit unserem Helden unzufrieden sein wird; weit bitterer und schmerzlicher ist dieses: in meiner Seele lebt die unumstößliche Gewißheit, daß die Leser dennoch und trotz alledem mit diesem Helden, mit demselben Tschitschikow zufrieden sein könnten. Hätte der Autor ihm nicht so tief ins Herz geblickt, hätte er nicht alles aufgerührt, was im tiefsten Grunde seiner Seele lebt und nur dem Blick der Welt entgeht und verborgen bleibt, hätte er nicht seine geheimsten Gedanken enthüllt, die kein Mensch dem andern vertraut, sondern ihn so gezeigt, wie er der ganzen Stadt, Manilow und all den anderen — erschienen war, — so wären alle Leute sehr befriedigt, und jeder würde ihn für einen äußerst interessanten Menschen halten. Freilich wäre dann sein Bild und seine Gestalt nicht so lebendig vor unser Auge getreten: dafür hätte auch keine Erregung in unserer Seele nachgezittert, nachdem wir das Buch aus der Hand gelegt hätten, und wir könnten uns ruhig wieder an unseren Kartentisch setzen, welcher der Trost und die Freude ganz Rußlands ist. Ja meine braven Leser, ihr wollt der Menschen nackte Armut lieber nicht sehen: „Warum nur?“ sprecht ihr, „wozu dient das alles? Wissen wir denn nicht selber, daß es gar viel Verächtliches und Törichtes in der Welt gibt? Auch ohnedies muß man oft Dinge sehen, die keineswegs tröstlich sind. Zeigt uns doch lieber das Schöne, das was entzückt und begeistert! Helft uns, uns lieber selbst zu vergessen!“ — „Warum sagst du mir, daß es schlecht um meine Wirtschaft steht, Bruder?“ sagt ein Gutsbesitzer zu seinem Verwalter „ich weiß das auch ohne dich, lieber Freund: kannst du denn wirklich nicht von etwas andrem reden? Wie? Hilf mir lieber das alles zu vergessen, und nicht daran zu denken — dann bin ich glücklich.“ Und so wird das Geld, das dazu hätte dienen können, um das Gut etwas in die Höhe zu bringen, für allerhand Mittelchen ausgegeben, um sich selbst zu vergessen. Der Geist wird eingeschläfert, der vielleicht plötzlich einen Quell gewaltiger Reichtümer entdeckt hätte; das Gut kommt unter den Hammer, der Gutsherr muß betteln gehen, um sich zu vergessen; mit einer Seele, die zu jeder äußersten Niedertracht und Gemeinheit bereit ist, vor denen er selbst einst zurückgeschreckt wäre.

Noch eine andere Klage wird gegen den Autor laut; sie rührt von den sogenannten Patrioten her, welche ruhig in ihren Winkeln sitzen und sich mit ganz gleichgültigen Dingen abgeben: sich ein Kapital aufhäufen und sich ein schönes Los auf Kosten anderer bereiten; sowie aber etwas geschieht, was nach ihrer Meinung dem Vaterland zur Unehre gereicht, sowie irgend ein Buch erscheint, das eine bittre Wahrheit enthält — dann kommen sie aus allen Ecken und Winkeln herausgekrochen, wie die Spinnen, welche eine Fliege entdeckt haben, die sich in ihr Netz verstrickte, und erheben ein lautes Geschrei: „Ja, ist es denn gut, solche Dinge ans Licht zu bringen, sie offen zu verkünden. All das, was da beschrieben wird, gehört ja zu uns — ist’s also klug, so etwas zu tun? Und was sollen die Ausländer sagen? Ist es denn angenehm, zu hören, daß andre Leute schlecht von uns reden?“ Und sie denken: tut es uns denn nicht weh? Denken: sind wir etwa nicht Patrioten? Auf solch weise Bemerkungen, besonders hinsichtlich der Ausländer, kann ich keine passende Antwort finden. Es wäre denn etwa diese: In irgend einem entlegenen Winkel Rußlands lebten einmal zwei Männer. Der eine war der Vater einer großen Familie und hieß Kifa Mokiewitsch; er war ein sanfter friedlicher Mensch, der ein Freund eines bequemen und ruhigen Lebens war. Mit seiner Familie beschäftigte er sich kaum; sein Dasein war mehr der Spekulation gewidmet, ihn beschäftigten in erster Linie „philosophische Fragen“ wie er sie nannte: „Nehmt z. B. das Tier,“ pflegte er zu sagen, indem er im Zimmer auf und abging, „das Tier wird doch ganz nackt geboren. Warum gerade nackt? Warum nicht vielmehr befiedert wie der Vogel: warum kriecht es z. B. nicht aus dem Ei? Nein, wirklich, es ist sonderbar ... man versteht die Natur immer weniger, je mehr man sich in sie vertieft!“ So dachte der Bürger Kifa Mokiewitsch. Aber das war noch nicht das Wichtigste. Der andre Bürger war Mokij Kifowitsch, sein leiblicher Sohn. Er war das, was man in Rußland einen Helden zu nennen pflegt, und während sich der Vater mit der Geburt des Tieres beschäftigte, drängte es seine zwanzigjährige, breitschultrige Gestalt mit aller Macht danach, sich zu entfalten und auszuleben. Er konnte nie eine Sache leicht und nur so obenhin in Angriff nehmen — stets brach sich jemand dabei den Arm oder er trug eine Beule auf der Nase davon. Zu Hause und in der Nachbarschaft liefen alle, von den Mädchen auf dem Hofe — bis auf den letzten Hund — davon, wenn sie ihn erblickten, sogar sein eigenes Bett, das in seinem Schlafzimmer stand, schlug er in Trümmer. So war Mokij Kifowitsch, sonst aber war er ein braver, gutmütiger Mensch. Jedoch das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste hierbei ist das, was nun kommt: „Ich bitt dich gnädiger Herr Kifa Mokiewitsch,“ sagten die eigenen und fremden Knechte und Mägde zum Vater: „was ist dein Mokij Kifowitsch doch für ein Herr? Der läßt keinen Menschen in Ruhe, ist der zudringlich!“ „Ja, ja, etwas mutwillig ist er schon,“ erwiderte gewöhnlich der Vater: „aber was ist da zu tun? Hauen kann ich ihn doch nicht mehr, alle Menschen würden über meine Härte und Grausamkeit schreien, und dann ist er ein so ehrgeiziger Mensch; wenn ich ihm in Gegenwart anderer Leute einen Vorwurf machte — würde er sich wohl in acht nehmen; aber vergeßt auch die Öffentlichkeit nicht — das ist eben das Unglück. Wenn die Stadt es erfährt, wird sie ihn gleich einen Schweinehund nennen. Glaubt ihr denn, daß mir das nicht weh tun würde? Bin ich denn nicht sein Vater? Meint ihr, weil ich mich mit der Philosophie beschäftige und mitunter keine Zeit für andere Dinge habe, sei ich nicht Vater? O nein, ihr irrt euch. Ich bin Vater, jawohl ich bin Vater, zum Teufel noch einmal, das laß ich mir nicht nehmen. Mokij Kifowitsch — der sitzt mir hier ganz tief im Herzen.“ Und Kifa Mokijewitsch schlug sich mit der Faust kräftig auf die Brust und geriet in die größte Erregung: „Und wenn er schon sein Leben lang ein Schweinehund bleiben sollte, so soll man es wenigstens nicht von mir erfahren; ich kann ihn doch nicht verraten!“ Nachdem er so von seinem väterlichen Gefühl Zeugnis abgelegt hatte, ließ er Mokij Kifowitsch ruhig seine Heldentaten fortsetzen und kehrte selbst zu seinen geliebten Gegenständen zurück, indem er sich plötzlich irgend eine Frage wie etwa die folgende vorlegte: „Hm, wenn die Elefanten Eier legten, müßten die Eierschalen da nicht so dick sein, daß keine Kanonenkugel sie zertrümmern könnte; ja, ja, es ist Zeit ein neues Schießwerkzeug zu erfinden!“ So verbrachten unsere zwei Bewohner des friedlichen Erdenwinkels ihr Leben, sie, die am Schluß unserer Dichtung so plötzlich wie aus einem Fenster hervorguckten, um ihre bescheidene Antwort auf den Vorwurf glühender Patrioten vorzubringen, welche sich vielleicht lange ganz ruhig mit irgendwelchen Philosophemen oder mit der Vergrößerung ihres Wohlstandes auf Kosten des von ihnen so glühend geliebten Vaterlandes beschäftigten und keineswegs darum besorgt sind, daß nur nichts Böses geschieht, sondern allein darum, daß nur ja niemand sage, sie täten Schlimmes. Doch nein, weder der Patriotismus noch jenes erste Gefühl sind der Grund all dieser Anklagen und Vorwürfe. Dahinter versteckt sich etwas ganz andres. Warum soll ich es verheimlichen? Wer anders, wenn nicht der Autor hätte die Pflicht, die heilige Wahrheit zu verkündigen? Ihr fürchtet den tiefen forschend auf euch gerichteten Blick. Ihr wagt es nicht, diesen Blick selbst auf die Gegenstände zu richten, ihr liebt es, mit blinden Augen gedankenlos über alles hinwegzugleiten. Ihr werdet vielleicht auch von Herzen über Tschitschikow lachen: vielleicht sogar den Autor loben und sagen: „Übrigens, manches hat er wirklich sehr fein beobachtet! Das muß doch ein Mensch von heiterem Temperament sein!“ Und nach diesen Worten werdet ihr mit verdoppeltem Stolze zu euch selbst zurückkehren, ein selbstgefälliges Lächeln wird euer Gesicht verklären, und ihr werdet fortfahren: „Man muß doch sagen: in einigen Gegenden Rußlands gibt es wirklich höchst merkwürdige und komische Menschen, und recht abgefeimte Schurken dazu!“ Doch wer von euch wird sich voll christlicher Demut, nicht laut und öffentlich, sondern in aller Stille, in jenen Augenblicken wo die Seele einsame Selbstgespräche mit sich führt, tief im Innern die Frage vorlegen: „Wie? lebt nicht vielleicht auch in mir etwas von Tschitschikow?“ Warum nicht gar. Laßt dagegen irgend einen Beamten, einen Mann mittleren Ranges an einem andern vorübergehn — sofort wird er seinen Nachbarn anstoßen, und während er sich fast ausschütten möchte vor Lachen, zu ihm sagen: „Sieh, sieh, das ist Tschitschikow, da geht er vorüber!“ Und er wird allen Anstand, den er seinem Rang und Alter schuldig ist, vergessen, ihm wie ein Kind nachlaufen, ihn verhöhnen, necken und ihm nachrufen: „Tschitschikow! Tschitschikow! Tschitschikow!“

Aber wir sprechen so laut und vergessen ganz, daß unser Held, der während der Erzählung seiner Lebensgeschichte fest schlief, schon aufgewacht ist und leicht hören könnte, daß man seinen Familiennamen so oft wiederholt. Er ist doch ein Mensch, der sich leicht gekränkt fühlt und sehr unzufrieden ist, wenn man ohne die schuldige Achtung von ihm spricht. Dem Leser kann’s freilich ziemlich gleich sein, ob ihm Tschitschikow böse ist oder nicht; was dagegen den Autor anbelangt, so darf er sich unter keinen Umständen mit seinem Helden veruneinigen: er hat noch manches Stück Weges Hand in Hand mit ihm zurückzulegen; noch liegen zwei große Teile dieser Dichtung vor ihm, und das ist doch wirklich keine Kleinigkeit.

„He, he! Was fällt dir ein!“ rief Tschitschikow Seliphan zu, „du ...?“

„Wie?“ sagte Seliphan langsam.

„Wie? fragst du! Trottel du! Wie fährst du denn? Vorwärts, rühr dich!“

Und in der Tat, Seliphan saß schon lange auf seinem Bock und blinzelte mit den Augen. Nur hie und da schlug er im Halbschlaf die gleichfalls schlafenden Pferde mit den Zügeln leicht auf den Rücken. Auch Petruschka hatte schon lange und, Gott weiß, wo seine Mütze verloren, er war auf dem Bock zurückgesunken und stützte seinen Kopf auf Tschitschikows Knie, von dem er manchen kräftigen Puff empfing. Seliphan wurde munter und versetzte dem Schecken ein paar tüchtige Hiebe, worauf dieser einen lebhaften Trab anschlug; dann ließ er seine Peitsche über den Rücken der Pferde sausen und rief mit dünner Stimme gleichsam singend: „Nur keine Furcht!“ Die Pferde wachten auf und zogen den leichten Wagen mit sich fort, der wie ein Flaum dahinflog. Seliphan schwenkte bloß die Peitsche und rief: „He, he, he!“ indem er auf seinem Bock rhythmisch hin und her hopste, während der Wagen über die Berge und Täler der Landstraße dahinjagte, welche langsam bergab führte. Tschitschikow wurde auf seinem Polster leicht emporgehoben, er lächelte vergnügt, denn er liebte das schnelle Fahren. Und welcher Russe liebt das schnelle Fahren nicht? Sollte seine Seele, die sich überall und immer nach dem Taumel und Wirbel sehnt, und oft laut ausrufen möchte: „Ach was, hol’ doch alles der Teufel,“ sollte seine Seele es nicht lieben? Es nicht lieben, wenn etwas so Wundersames, Beseeligendes darin liegt? Wie eine unbekannte Gewalt hebt dich’s auf seinen Flügel, du fliegst dahin und mit dir alles um dich her: die Meilensteine, die Kaufleute auf ihren Wagensitzen, der Wald zu beiden Seiten mit den dunklen Reihen seiner Tannen und Fichten, dem Lärm der Äxte und dem Rabengekrächze: der ganze Weg flieht vorüber — weit fort in unbekannte Fernen; und etwas Furchtbares, Schreckliches liegt in diesem rasenden Aufblitzen und Verschwinden, wo der vorübergleitende Gegenstand kaum Zeit hat, feste Formen anzunehmen und nur der Himmel über uns, die leichten Wolken und der sich Bahn brechende Mond allein unbeweglich still zu stehen scheinen. Mein Dreigespann, o du Vogeldreigespann! wer hat dich erfunden? Nur aus einem kecken mutigen Volk konntest du hervorgehen — in jenem Lande, das nicht zu spaßen liebt, sondern sich wie die unendliche Ebene streckt und breitet über die halbe Erde: versuch’s doch die Meilensteine zu zählen, ohne daß dir’s vor den Augen flimmert! Wahrlich kein schlau ersonnenes Gefährt bist du, genietet durch eiserne Klammern. Sondern schnell, aufs geratewohl mit Axt und Meißel hat dich ein flinker Jaroslawscher Bauer verfertigt und zusammengefügt. Dich lenkt kein Postillon in deutschen Stulpenstiefeln, bebartet und behandschuht sitzt er da, der Teufel weiß worauf; und wenn er aufsteht, seine Peitsche schwingt und sein unendliches Lied anstimmt — dann stürmen die Rosse dahin wie ein Wirbelwind. Zu einer runden, glatten Fläche fließen die Speichen der Räder zusammen. Es donnert der Weg. Erschrocken schreit der Fußgänger auf und bleibt wie angewurzelt stehen. — Und dahin fliegt das Gefährt, fliegt und fliegt! ... Und schon sieht man in der Ferne nichts wie eine dichte Staubwolke, und wirbelnd folgt die Luft.

Jagst nicht auch du, Rußland, so dahin, wie ein keckes unerreichbares Dreigespann? Rauchend dampft unter dir der Boden; es dröhnen die Stege. Und alles bleibt zurück, weit hinter dir zurück. Wie durch ein göttliches Wunder betäubt, steht festgebannt der staunende Zuschauer. Ist es ein Blitz, der aus den Wolken zuckte? Was bedeutet diese grauenerweckende Bewegung? Und was für unbekannte Kräfte wohnen in diesen, nie gesehenen Rossen? Oh, ihr Rosse! Ihr wunderbaren Rosse! Lebt ein Wirbelwind in euren Mähnen? Bebt ein wachsames Ohr euch in jeder Ader? Lauscht ihr auf ein trautes altbekanntes Lied von oben, und spannt jetzt einträchtig eure ehernen Brüste? Kaum rühren eure flüchtigen Hufe die Erde, in eine langgestreckte Linie verwandelt fliegt ihr durch die Lüfte, und fort stürmt das ganze, gottbegeisterte! ... Rußland? Wohin jagst du, gib Antwort! Du bleibst stumm. Wundersam ertönt der Gesang des Glöckchens. Wie von Winden zerfetzt, braust und erstarrt die Luft; alles, was auf Erden lebt und webt, fließt vorüber; und es weichen vor dir, treten zur Seite, und geben dir Raum alle anderen Staaten und Völker.

Anhang zum ersten Teil

I.
Vorrede
zur zweiten Auflage des ersten Bandes
der
„Toten Seelen“
1846

Der Verfasser an den Leser

Wer du auch sein magst, lieber Leser, auf welchem Platze du stehst, welches Amt du bekleidet, ob du Rang und Würden dein eigen nennt, ein schlichter Mann von einfachem Stande bist, wenn dir Gott die edle Gabe des Lesens verliehen hat und dir ein Zufall dieses Buch in die Hände spielte, so bitte ich dich, mir zu helfen.

In dem Buche, das vor dir liegt und dessen erste Auflage du wahrscheinlich schon gelesen hat, ist ein Mensch dargestellt, der mitten aus dem russischen Staate herausgegriffen ward. Er bereist unser russisches Vaterland, und trifft hier mit Menschen jeder Art und jedes Standes, mit vornehmen und einfachen zusammen. Er ward mehr darum zum Helden ausersehen, um die Laster und Mängel, als die Vorzüge und Tugenden des Russen aufzuzeigen; aber auch all die Menschen, die ihn umgeben, sind so gewählt worden, daß sie unsere Fehler und Schwächen widerspiegeln, die besseren Menschen und Charaktere sollen erst in den folgenden Teilen vorgeführt werden. In diesem Buche ist manches unrichtig dargestellt, und nicht so, wie die Dinge sich wirklich im russischen Vaterlande zutragen, weil ich ja nicht alles kennen lernen und in Erfahrung bringen konnte. Ein ganzes Menschenleben würde nicht ausreichen, um auch nur den hundertsten Teil von dem zu erforschen, was in unserer Heimat vorgeht. Zudem mögen sich infolge meiner eigenen Unachtsamkeit, Unreife und Übereilung mancherlei Irrtümer und Fehlschlüsse eingeschlichen haben, sodaß es wohl keine Seite in diesem Buche gibt, an der nicht irgend etwas zu berichtigen wäre, und daher bitte ich dich, lieber Leser, wo du es kannst, mich zu verbessern. Du darfst diese Mühe nicht gering schätzen. Auf welch hoher Stufe der Bildung und des Lebens du auch stehen mögest, so unbedeutend und nichtig dir auch mein Buch erscheinen und so kleinlich und unwichtig dir es vorkommen mag, mein Werk zu verbessern und deine Bemerkungen dazu niederzuschreiben, ich bitte dich dennoch darum, es zu tun. Aber auch du, lieber Leser, von schlichter Bildung und einfachem Stande, sollst dich nicht für zu unwissend halten, mich zu belehren. Ein jeder Mensch, der gelebt, die Welt gesehen hat, und mancherlei Menschen begegnet ist, hat sicher vielerlei gemerkt, was einem andern entgangen ist, und vieles erfahren, was andere nicht wissen. Ich möchte daher nicht gerne auf deine Bemerkungen verzichten. Es ist unmöglich, daß du nicht etwas zu irgend einer Stelle meines Buches zu sagen hättest, wenn du es nur aufmerksam durchliest.

Wie schön wäre es zum Beispiel, wenn auch nur einer von jenen Leuten, deren Kenntnisse so groß, deren Lebenserfahrung so reich ist, und die den Kreis von Menschen, die ich beschrieben habe, genau kennen, seine Anmerkungen zu dem ganzen Buche niederschreiben und gar nicht anders an die Lektüre gehen wollte, als mit einer Feder in der Hand und einem Stück Papier, das er vor sich auf dem Tische liegen hat. Wie schön wäre es, wenn er jedesmal, nachdem er einige Seiten gelesen hat, sich an sein ganzes Leben und das aller der Menschen, denen er auf seinem Wege begegnet ist, an alle Ereignisse, die sich vor seinen Augen abspielten, und auch an alles das erinnern wollte, was er selbst sah oder hörte, ob es nun Ähnlichkeit mit den Begebenheiten hat, die in meinem Buche geschildert sind, oder ihnen gerade entgegengesetzt ist — und wenn er dann alles genau so beschriebe, wie es sich in seiner Erinnerung darstellt und mir hierauf jedes vollgeschriebene Blatt zusenden würde, bis er auf diese Weise das ganze Buch zu Ende gelesen hätte. Welch einen großen wahrhaften Dienst würde er mir damit erweisen. Der Stil und die Schönheit des Ausdrucks brauchen ihm hierbei keine Sorge zu machen: hier handelt es sich nur um die Sache selbst und um ihre Wahrheit und nicht um den Stil. Auch braucht er sich nicht zu zieren, wenn er mich tadeln, oder mir einen Vorwurf machen, oder mich auf eine Gefahr und auf den Schaden hinweisen wollte, den ich durch die falsche und unüberlegte Darstellung einer Sache gestiftet habe, wo doch nur Nutzen und Besserung meine wahre Absicht war. Für all dieses wäre ich ihm von Herzen dankbar.

Ferner wäre es sehr gut, wenn sich ein Mensch aus dem höheren Stande finden würde, welcher durch alles — durch das Leben selbst und durch seine Bildung — jenen Kreisen fernsteht, die in meinem Buche geschildert sind, der aber das Leben des Standes kennt, zu dem er selbst gehört, und wenn ein solcher Mensch sich entschließen könnte, mein Buch auf die gleiche Weise von Anfang an zu lesen, alle Menschen der höheren Stände an seinem geistigen Auge vorüber ziehen zu lassen und streng darauf zu achten, ob es nicht doch etwas Gemeinsames zwischen allen Ständen gibt, ob sich nicht doch zuweilen in den höheren Kreisen dasselbe wiederholt, was in den niederen Sphären zu geschehen pflegt? Und wenn er nun alles, was ihm hierüber einfällt, das heißt also jedes Vorkommnis aus den höheren Gesellschaftskreisen, das zur Bestätigung oder Widerlegung dieses Gedankens dienen kann, ganz so schildern wollte, wie es sich vor seinen Augen abspielte, ohne die Menschen selbst mit ihren Sitten, Neigungen und Gewohnheiten zu vergessen oder die seelenlosen Sachen, die sie umgeben, zu übergehen, von der Kleidung bis hinab zu den Möbeln und den Mauern der Häuser, die sie bewohnen. Ich muß diesen Stand kennen, der die Blüte der Nation repräsentiert. Ich kann die letzten Bände meines Werkes nicht in die Welt hinausgehen lassen, bevor ich das Leben Rußlands nach all seinen Seiten kennen gelernt habe, wenigstens in dem Maße, als dies für mein Werk notwendig ist.

Auch wäre es nicht schlecht, wenn irgend jemand, der mit einer reichen Phantasie und der Fähigkeit ausgestattet ist, sich alle möglichen menschlichen Verhältnisse recht lebhaft vorzustellen, und die Menschen in Gedanken auf Schritt und Tritt in allen Lebenslagen zu begleiten — mit einem Wort, wenn jemand der es versteht, sich in den Geist eines jeden Autors, den er liest, hinein zu versetzen oder seine Ideen weiter zu führen und zu entfalten — jede Person, die ich in meinem Buche auftreten lasse, aufmerksam verfolgen und mir dann sagen wollte, wie sie sich in diesem oder jenem Falle verhalten muß, was ihr, nach dem Anfang zu schließen, im weiteren Verlauf der Erzählung zustoßen müßte, was für neue Situationen sich hieraus ergeben könnten, und was ich wohl noch zu meiner Beschreibung hinzufügen sollte; ich würde nämlich dies alles sorgsam berücksichtigen bis zu der Zeit, wo mein Buch in einer neuen, besseren und würdigeren Ausgabe vor den Leser treten wird.

Um eines noch möchte ich den, der mich durch seine Anmerkungen erfreuen will, herzlichst bitten: wenn er sie niederschreibt, soll er nicht daran denken, daß er sie für einen Menschen schreibt, der ihm an Bildung gleich steht, der denselben Geschmack und dieselben Gedanken hat, wie er selbst, und vieles auch ohne weitere Erklärungen verstehen wird; vielmehr bitte ich ihn, so zu tun, als ob er einen Menschen vor sich hat, der sich in bezug auf Bildung nicht mit ihm messen kann, und der fast gar nichts gelernt hat. Es wäre vielleicht noch besser, wenn er sich an meiner Statt irgend einen Wilden vorstellen würde, der sein ganzes Leben in einem entlegenen Dorfe verbracht hat, dem man jede kleinste Einzelheit umständlich erklären muß, wenn er sie verstehen soll, und dem gegenüber man sich der einfachsten Ausdrucksweise befleißigen muß, fast wie vor einem Kinde, um nur ja kein Wort zu gebrauchen, das über seinen Horizont geht. Wenn jeder das stets im Auge behalten wird, wenn jeder von denen, die dazu bereit sind, ihre Bemerkungen zu meinem Buche niederzuschreiben, das stets im Auge behält, dann werden diese Anmerkungen noch weit interessanter werden und noch mehr an Wert gewinnen, als er es selbst glaubt; mir aber wird er einen großen und wahrhaften Dienst erweisen.

Wenn es sich also so fügen sollte, daß meine Leser meinen Herzenswunsch berücksichtigen und erfüllen, und wenn sich unter ihnen wirklich ein paar Menschen von so gutem Herzen finden sollten, die bereit wären, meine Bitte zu erfüllen, dann können sie mir ihre Anmerkungen auf folgendem Wege übersenden: sie mögen ein an mich adressiertes Paket in ein andres Paket einpacken und dieses an eine der hier nambar gemachten Personen schicken: entweder an den Rektor der St. Petersburger Universität Seine Exzellenz Peter Alexandrowitsch Pletnew (zu adressieren an die Universität von St. Petersburg) oder an den Professor der Moskauer Universität S. H. Stepan Petrowitsch Schewyrew (zu adressieren an die Universität Moskau) je nachdem, welche Stadt dem Absender näher liegt.

Zuletzt spreche ich noch allen Journalisten und Literaten überhaupt, meinen aufrichtigen Dank aus für die Rezensionen und Besprechungen, welche sie meinem Buche angedeihen ließen; sie haben meinem Herzen und meiner Seele, trotz mancher Maßlosigkeiten und Übertreibungen, wie sie nun mal in der menschlichen Natur liegen, einen großen Vorteil und Nutzen gebracht, und daher bitte ich sie alle, mich auch diesmal mit ihrem Urteil nicht im Stiche zu lassen. Ich kann ihnen das aufrichtige Versprechen geben, daß ich alles was sie mir zu meiner Aufklärung und Belehrung zu sagen haben, mit Dank entgegennehmen werde.

II.
Reflexionen,
die sich auf den ersten Teil beziehen.

Die Idee einer Stadt — äußerster Grad von Hohlheit des in ihr herrschenden Treibens. Klatschereien und Zwischenträgereien, die alle Grenzen übersteigen. Wie dies alles aus dem Müßiggang entspringt und den höchsten Grad der Lächerlichkeit angenommen hat, und wie ganz gescheite Leute schließlich dazu kommen, die größten Dummheiten zu begehen.

Einzelheiten aus den Gesprächen der Frauen. Wie sich in die allgemeinen Klatschereien noch solche von privatem Charakter mischen, und wie hierbei keine die andere schont. Wie Gerüchte und Vermutungen entstehen. Wie diese Vermutungen den Gipfel der Lächerlichkeit erreichen. Wie alle unwillkürlich an diesen Klatschereien teilnehmen, und wie Pantoffelhelden und Weiberknechte entstehen.

Wie die Hohlheit, die Ohnmacht und Tatenlosigkeit des Lebens abgelöst werden durch einen trüben, nichtssagenden Tod. Wie sinnlos dieses furchtbare Ereignis eintritt und vorübergeht. Nichts bewegt sich. Der Tod überrascht dieses völlig unbewegte Leben. Dem Leser muß jedoch die tote Gefühllosigkeit des Lebens dadurch noch furchtbarer erscheinen.

Die entsetzliche Dämmerung des Lebens zieht vorüber, darin liegt ein tiefes Mysterium verborgen. Ist das nicht etwas ganz Furchtbares? Dieses sich aufbäumende rebellierende müßige Leben — ist es nicht eine Erscheinung von furchtbarer Größe? ... Leben! ... Im Ballkostüm, im Frack, da, wo man klatscht und Visitenkarten wechselt — da glaubt keiner an den Tod ....

Einzelheiten. Die Damen zanken sich gerade deswegen, weil die eine haben möchte, daß Tschitschikow dies sei, während die andere wünscht, daß er etwas anders sei — und daher merken sie sich nur die Gerüchte, die zu ihrer Idee von ihm passen.

Andere Damen erscheinen auf der Bildfläche.

Die in jeder Beziehung angenehme Dame hat einen Hang zur Sinnlichkeit und liebt davon zu erzählen, wie sie diesen Hang zuweilen besiegt habe, und zwar mit Hilfe ihres Verstandes, und wie sie es immer verstanden habe, die Männer in einer gewissen Distanz zu halten. Übrigens geschah das eigentlich ganz von selbst und auf ganz unschuldige Weise. Es trat ihr nie einer zu nahe, aus dem einfachen Grunde, weil sie schon in ihrer Jugend eine große Ähnlichkeit mit einem Nachtwächter hatte, trotzdem sie so angenehm war und trotz all ihrer guten Eigenschaften. — „Nein, meine Liebe, wissen Sie, ich liebe es, den Mann erst ein wenig anzulocken, ihn dann abzustoßen und dann wieder anzulocken.“ So verfährt sie auch auf dem Ball mit Tschitschikow. Die andern überlegen sich es gleichfalls, wie sie sich benehmen sollen. Die eine tritt sehr respektvoll auf. Zwei Damen fassen sich unter, gehen auf und ab und nehmen sich vor, solange als möglich zu lachen. Dann finden sie plötzlich, daß Tschitschikow keine guten Manieren hat.

Die in jeder Beziehung angenehme Dame liebt es, Beschreibungen von Bällen zu lesen. Auch die Beschreibung des Wiener Kongresses interessiert sie sehr. Ferner interessiert sich diese Dame sehr für Toiletten, d. h. sie liebt es, andre Damen daraufhin zu beobachten, ob ihnen ein Kleid gut sitzt oder nicht.

Während sie auf ihrem Stuhl sitzt, beobachtet sie die Eintretenden. „Die N. versteht sich garnicht zu kleiden, nein wirklich sie versteht es nicht. Dieses Tuch kleidet sie garnicht.“ — „Wie reizend die Tochter des Gouverneurs gekleidet ist!“ — „Aber Liebste, sie ist doch abscheulich gekleidet.“ — Und wenn es selbst so wäre — —

Die ganze Stadt mit ihrem wilden Durcheinander von Klatschereien und Zwischenträgereien — ist das Urbild der Tatenlosigkeit und Hohlheit des menschlichen Lebens in seiner Masse. Das Geschwätz ist in die Welt gesetzt und mit ihm alle nur möglichen Kombinationen. Die Hauptzüge der Ballgesellschaft.

Das Urbild des Gegensatzes im II. Teil, der sich mit der in sich zerrissenen und zerklüfteten Tatenlosigkeit beschäftigt.

Wie könnte man alle Welten der Tatenlosigkeit und des Müßigganges in all ihren Spielarten auf die eine Art des städtischen Müßigganges zurückführen, und wie könnte man den städtischen Müßiggang zum Urbild der Untätigkeit und des Müßigganges der ganzen Welt erheben.

Dazu müssen alle ähnlichen Züge mit eingeschlossen werden, und es muß eine gewisse Stetigkeit in die Erzählung kommen.

III.
Ende des neunten Kapitels
in veränderter Fassung.

Sie dachten nach und überlegten und beschlossen endlich, die Verkäufer auszufragen, mit denen Tschitschikow verhandelt, und denen er diese rätselhaften toten Seelen abgekauft hatte. Dem Staatsanwalt fiel die Aufgabe zu, zu Sabakewitsch zu gehen und mit ihm zu sprechen, und der Präsident erbot sich persönlich zu Karobotschka zu fahren. Wir wollen uns daher gleichfalls aufmachen, ihnen nachgehen und zusehen, was sie dort alles erfuhren.

Kapitel ...

Sabakewitsch lebte mit seiner Gemahlin in einem Hause, das etwas abseits von dem lauten und lärmenden Getriebe lag. Er hatte sich ein massives, solide gebautes Haus gewählt, wo ihm die Decke nicht überm Kopfe einzustürzen drohte, und in dem es sich bequem und glücklich leben ließ. Der Besitzer des Hauses war ein Kaufmann namens Kolotyrkin, auch ein sehr solider Herr. Sabakewitsch hatte nur seine Frau bei sich, seine Kinder waren nicht mitgekommen. Er fing schon an, sich zu langweilen, dachte bereits an die Abreise und wartete nur noch auf den Zins für ein Stück Land, das drei Bürger der Stadt bei ihm gepachtet hatten, um Rüben darauf zu pflanzen, sowie ferner auf ein modernes wattiertes Kleid, das seine Frau bei einen Schneider bestellt hatte, und das bald fertig sein sollte. Er wurde bereits ein wenig ungeduldig und schimpfte, während er in seinem Lehnstuhl saß, beständig auf die Gaunereien und Launen anderer Leute, wobei er an seiner Frau vorbeisah und auf die Ofenecke blickte. In einem solchen Moment trat der Staatsanwalt ins Zimmer. Sobakewitsch sagte: „Ich bitte,“ indem er sich einen Augenblick erhob, um sich jedoch sogleich wieder zu setzen. Der Staatsanwalt ging auf Feodulia Iwanowna zu, küßte ihr die Hand und nahm gleichfalls auf einem Stuhle Platz. Auch Feodulia Iwanowna ließ sich auf einem Stuhle nieder, nachdem sie den Handkuß in Empfang genommen hatte. Alle drei Stühle waren mit grüner Ölfarbe angestrichen, und die Ecken waren mit gelben Wasserlilien, der rohen Malerei eines Dilettanten geziert.

„Ich bin gekommen, um über eine wichtige Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen,“ sagte der Staatsanwalt.

„Herzchen, geh doch auf dein Zimmer! Die Schneiderin wartet wahrscheinlich auf dich.“

Feodulia ging auf ihr Zimmer.

Der Staatsanwalt begann folgendermaßen: „Gestatten Sie mir eine Frage: was für Bauern haben Sie an Pawel Iwanowitsch Tschitschikow verkauft?“

„Wie meinen Sie das: was für Bauern?“ sagte Sabakewitsch. „Wir haben doch einen Kaufkontrakt aufgesetzt; da steht es drin, was es für Leute waren: der eine ist Wagenbauer ...“

„In der Stadt kursieren jedoch ....“ versetzte der Staatsanwalt ein wenig verlegen .... „In der Stadt kursieren Gerüchte ....“

„Es gibt eben zuviel Narren in der Stadt, von denen werden wohl die Gerüchte herstammen,“ sagte Sabakewitsch ruhig.

„Nein, nein, Michael Semjonytsch, das sind so merkwürdige Gerüchte, daß einem davon ganz wirr im Kopfe wird, es heißt, es handele sich hier garnicht um Bauern, und ihre Ansiedelung, und man behauptet, dieser Tschitschikow sei eine höchst rätselhafte Persönlichkeit. Es werden höchst verdächtige Vermutungen laut, man redet so eigentümliche Dinge in der Stadt ...“

„Gestatten Sie mir bitte eine Frage: Sind Sie etwa ein altes Weib?“ fragte Sabakewitsch.

Diese Frage verblüffte den Staatsanwalt aufs äußerste. Er hatte sich noch nie gefragt, ob er ein altes Weib sei, oder irgend etwas andres.

„Sie sollten sich schämen, solche Fragen zu stellen und noch damit zu mir zu kommen,“ fuhr Sabakewitsch fort.

Der Staatsanwalt stammelte einige Entschuldigungen.

„Gehen Sie doch zu den alten Klatschweibern, die hinter ihrem Webstuhl sitzen und sich abends Schauergeschichten über Gespenster und Hexen erzählen. Oder wenn Ihnen mit Gottes Hilfe nichts Besseres einfallen will, dann spielen Sie doch lieber Knöchel mit den kleinen Jungen. Was kommen Sie und beunruhigen Sie einen ehrlichen Menschen? Bin ich etwa Ihr Hanswurst, wie? Sie kümmern sich zu wenig um Ihren Beruf, und denken zu wenig daran, dem Vaterland zu dienen, Ihren Nächsten nützlich zu sein und Ihre Kollegen zu schonen. Sie wollen immer der erste sein und laufen gleich hin, wenn irgend ein Esel Sie irgendwo hinschickt. Passen Sie auf, Sie werden noch einmal um nichts und wieder nichts zu Falle kommen, und elendiglich zugrunde gehn, ohne eine gute Erinnerung an sich zu hinterlassen.“

Der Staatsanwalt war ganz bestürzt und wußte absolut nicht, was er auf diese unerwartete Moralpredigt antworten sollte. Ganz beschämt und vernichtet verließ er Sabakewitsch: dieser aber rief ihm noch nach: „Pack dich zum Teufel, du Hund!“

In diesem Augenblick erschien Feodulia: „Warum ist der Staatsanwalt so plötzlich fortgegangen?“ fragte sie.

„Der Kerl hat Gewissensbisse bekommen und ist weggelaufen,“ versetzte Sabakewitsch. „Da hast du wieder so ein Beispiel, Herzchen. So ein alter Knabe! hat schon graue Haare und doch weiß ich, daß er noch immer den Frauen anderer Leute keine Ruhe läßt. Das ist einmal die Art dieser Menschen: sie sind eben Hundesöhne alle miteinander. Nicht genug, daß sie der lieben Erde durch ihren Müßiggang zur Last fallen, sie machen solche Sachen, daß man sie allesamt in einen Sack stecken und ins Wasser werfen sollte! Die ganze Stadt ist nichts wie eine Räuberhöhle. Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Wir wollen nach Hause fahren.“

Frau Sabakewitsch wollte einwenden, daß ihr Kleid noch nicht fertig sei, und daß sie sich noch zu den Feiertagen ein paar Haubenbänder kaufen müsse, aber Sabakewitsch erklärte: „Das sind alles Modetorheiten, Herzchen; das nimmt noch ein schlechtes Ende.“ Er befahl, alles für die Reise vorzubereiten; begab sich selbst mit einem Polizeikommissar zu den drei Bürgern der Stadt, um die Pacht für die Rüben einzukassieren; ging hierauf zu der Schneiderin, nahm ihr das unfertige Kleid, an dem noch gearbeitet wurde, weg, ganz so wie es war, mit der darinsteckenden Nadel und dem Faden, um es zu Hause fertig nähen zu lassen, und fuhr bald darauf zur Stadt hinaus. Unterwegs wiederholte er fortwährend, es sei geradezu gefährlich, in diese Stadt zu kommen, denn hier säße ja ein Schuft und Gauner auf dem andern, und da könne es einem noch leicht passieren, daß man mit ihnen in dem allgemeinen Sumpfe versinke.

Inzwischen eilte der Staatsanwalt in der höchsten Bestürzung über den Empfang, den ihm Sabakewitsch bereitet hatte, nach Hause. Er befand sich in einer solchen Verlegenheit, daß er sich nicht einmal darüber klar werden konnte, wie er dem Präsidenten das Resultat seines Besuches mitteilen sollte.

Indessen auch der Präsident hatte nur wenig zur Aufklärung der Sache beigetragen. Er fuhr zuerst in seiner Kutsche in die Stadt und geriet dabei in eine so enge und schmutzige Gasse, daß während des ganzen Weges bald das rechte, bald das linke Rad seines Wagens höher stand als das andre. So kam es, daß er erst mit seinem Kinn und dann mit dem Hinterkopf sehr heftig auf seinen Spazierstock aufstieß und seine Kleider ganz mit Kot bespritzt wurden. Quatschend und schlürfend bahnte sich der Wagen den Weg durch den Kot, bis man endlich beim Probst anlangte, wo die Insassen von lebhaftem Schweinegegrunze begrüßt wurden. Der Präsident ließ seine Kutsche halt machen und ging zu Fuß an allerhand Zimmern und Stuben vorüber nach dem Hausflur. Hier bat er sich zunächst ein Handtuch aus, um sich das Gesicht abzuwischen. Karobotschka empfing ihn ganz so wie Tschitschikow, mit demselben melancholischen Ausdruck im Gesicht. Um den Hals hatte sie etwas wie ein Flanelltuch geschlungen. In dem Zimmer schwirrten unzählige Scharen von Fliegen, und auf dem Tisch stand ein undefinierbares Gericht, das ihnen offenbar sehr widerwärtig war, an das sie sich jedoch schon gewöhnt zu haben schienen. Korobotschka bat ihn Platz zu nehmen.

Der Präsident begann zuerst damit, daß er ihren Mann gekannt habe und ging dann plötzlich zu der Frage über: „Sagen Sie bitte, ist es wahr, daß neulich in der Nacht ein Mensch mit der Pistole in der Hand zu Ihnen gekommen ist und Ihnen gedroht hat, Sie zu ermorden, wenn Sie ihm nicht, der Teufel weiß was für Seelen abtreten wollten? Können Sie uns nicht erklären, was er damit eigentlich für eine Absicht verfolgte.“

„Gewiß, warum sollte ich das nicht können! Versetzen Sie sich doch in meine Lage: fünfundzwanzig Rubel in Banknoten! Ich weiß wirklich nicht: ich bin Witwe und habe ja gar keine Erfahrung; es ist doch so leicht, mich zu betrügen und noch dazu in einer Sache, von der ich wahrhaftig auch nicht das Mindeste verstehe, Väterchen. Was Hanf kostet, das weiß ich, Speck habe ich auch schon verkauft, noch voriges ...“

„Nein, bitte, erzählen Sie mir doch die Sache erst recht ausführlich. Wie war das doch? Hatte er wirklich eine Pistole in der Hand?“

„Nein, Väterchen. Gott behüte, Pistolen habe ich keine gesehen. Aber ich bin bloß eine Witwe — ich kann doch wirklich nicht wissen, wie hoch die toten Seelen im Preise stehen. Nicht wahr Väterchen, Sie werden mich nicht im Stiche lassen, sagen Sie es mir doch bitte, damit ich den richtigen Preis erfahre.“

„Was für einen Preis? Was für einen Preis, Mütterchen? Was für einen Preis meinen Sie?“

„Den Preis für tote Seelen, Väterchen!“

„Ist sie dumm geboren oder ist sie übergeschnappt?“ dachte der Präsident, indem er ihr starr ins Gesicht sah.

„Fünfundzwanzig Rubel? Ich weiß wirklich nicht, vielleicht sind sie fünfzig Rubel wert, oder sogar noch mehr.“

„Bitte zeigen Sie mir doch den Schein,“ sagte der Präsident und hielt ihn ans Licht, um sich zu überzeugen, ob er nicht falsch sei. Aber es war ein ganz gewöhnlicher ordentlicher Schein.

„Aber so erzählen Sie doch bloß, wie der Kauf zustande kam, und was er Ihnen eigentlich abgekauft hat. Es will mir nicht in den Kopf ... ich kann absolut nichts verstehen ...“

„Gewiß hat er mir welche abgekauft,“ sagte Karobotschka, „aber warum wollen Sie mir bloß nicht sagen, was die tote Seele kostet, damit ich doch ihren richtigen Preis kennen lerne.“

„Ich bitte Sie, was reden Sie da! Wo hat man denn je davon gehört, daß tote Seelen verkauft werden?“

„Warum wollen Sie mir den Preis durchaus nicht sagen?“

„Ach was Preis! Ich bitte Sie, von was für einem Preise kann denn hier die Rede sein? Sagen Sie mir doch ernstlich, wie die Sache war. Hat er Ihnen mit etwas gedroht? Wollte er Sie etwa verführen?“

„Nein, Väterchen, was Sie für Dinge reden! ... Jetzt sehe ich, daß Sie auch ein Käufer sind.“ — Und sie sah ihm argwöhnisch in die Augen.

„Ach was! ich bin doch Gerichtspräsident, Mütterchen!“

„Nein, Väterchen, sagen Sie, was Sie wollen, Sie wollen mich wohl auch .... Sie haben auch die Absicht ... mich zu betrügen. Aber was haben Sie bloß davon? Sie haben doch nur selbst den Schaden davon. Ich hätte Ihnen gern Daunen verkauft: ich werde zu Weihnachten schöne Daunen haben.“

„Mütterchen! Ich sage Ihnen doch, daß ich der Gerichtspräsident bin. Was mache ich mit ihren Daunen, sagen Sie doch selbst! Ich will Ihnen doch gar nichts abkaufen.“

„Aber das ist doch ein ganz christliches Werk, Väterchen,“ fuhr Karobotschka fort. „Heute verkaufe ich Ihnen was und morgen werden vielleicht Sie mir etwas verkaufen wollen. Sehen Sie, wenn wir uns gegenseitig übers Ohr hauen, wo blieben da Recht und Gerechtigkeit? Das wäre doch eine Sünde gegen Gott!“

„Ich bin aber doch kein Kaufmann, Mütterchen, ich bin Gerichtspräsident!“

„Gott weiß, vielleicht sind Sie wirklich der Gerichtspräsident. Ich kann das doch nicht wissen. Nun also? Ich bin doch eine arme Witwe? Warum fragen Sie mich denn so aus? Nein, Väterchen, ich sehe, daß Sie selbst ... auch ... welche kaufen wollen.“

„Mütterchen, ich rate Ihnen, sich an den Arzt zu wenden,“ sagte der Gerichtspräsident wütend. „Bei Ihnen scheint’s wirklich dort oben nicht ganz richtig zu sein“ — fuhr er fort, indem er mit dem Finger auf seine Stirn zeigte. Mit diesen Worten stand er auf und ging hinaus.

Karobotschka aber blieb dabei, daß sie es mit einem Kaufmann zu tun gehabt habe und wunderte sich bloß, wie unfreundlich und bösartig die Leute heutzutage geworden seien, und wie schwer es doch eine arme Witwe auf dieser Welt habe. Der Präsident aber gelangte mit Mühe und Not, von unten bis oben mit Kot bespritzt, nach Hause, nachdem ihm unterwegs noch ein Wagenrad gebrochen war. Das war das Resultat dieser unfreundlichen und erfolglosen Reise, wenn man nicht noch die Beule am Kinn mitrechnen wollte, die er sich mit seinem Stock beigebracht hatte. In der Nähe seines Hauses traf er den Staatsanwalt, der ihm in einer Kutsche entgegengefahren kam. Er schien sehr schlechter Laune zu sein und ließ den Kopf hängen.

„Nun was haben Sie von Sabakewitsch erfahren?“

Der Staatsanwalt senkte das Haupt und versetzte: „In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht so behandelt worden.“ ...

„Wieso?“

„Er hat mir einen Fußtritt gegeben,“ sagte der Staatsanwalt mit betrübter Miene.

„Wie?“

„Er hat mir gesagt, ich sei ein unnützer Mensch und tauge nicht für meinen Posten: und doch habe ich meine Kollegen noch nie denunziert. Andere Staatsanwälte schreiben jede Woche Denunziationen, ich habe doch unter jedes Aktenstück mein „Gelesen“ gesetzt, selbst in solchen Fällen, wo es eigentlich meine Pflicht gewesen wäre, über die Kollegen Bericht zu erstatten. — Ich habe auch nie eine Sache absichtlich in die Länge gezogen.“

Der Staatsanwalt war ganz zerknirscht.

„Nun und was sagt er über Tschitschikow?“ fragte der Präsident.

„Was er gesagt hat? Er hat uns alle alte Weiber und Schafsköpfe genannt.“

Der Präsident wurde nachdenklich. Doch in diesem Augenblick kam eine dritte Kutsche angefahren: es war der Vize-Gouverneur.

„Meine Herren! Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß wir auf der Hut sein müssen. Man sagt, unsere Provinz soll wirklich einen Generalgouverneur erhalten.“ Der Präsident und der Staatsanwalt rissen den Mund auf, und der Gerichtspräsident dachte sich: „Der kommt auch gerade zur rechten Zeit, um die Suppe auszuessen, die wir hier eingebrockt haben, und für die sich der Teufel selbst bedanken würde. Wenn der erfährt, was für eine Unordnung in der Stadt herrscht!“

„Schlag auf Schlag!“ dachte der Staatsanwalt, der ganz geknickt dastand.

„Und wissen Sie nichts darüber, wer zum Generalgouverneur ernannt werden soll, was er für ein Mensch ist, und was für einen Charakter er hat?“

„Davon ist noch nichts bekannt,“ sagte der Vizegouverneur.

In diesem Moment kam der Postmeister in einer Droschke angefahren.

„Meine Herren! Ich gratuliere Ihnen zum neuen Generalgouverneur.“

„Wir wissen schon, wir wissen schon, aber es ist doch noch gar nichts bekannt,“ versetzte der Vizegouverneur.

„O, nein, man weiß schon, wer es ist,“ erwiderte der Postmeister: „Fürst Odnosorowski-Tschementinski.“

„Nun und was spricht man von ihm?“

„Er soll ein sehr strenger Herr sein,“ sagte der Postmeister, „ein sehr weitsichtiger Mann von sehr starkem Charakter. Er soll früher bei irgend einer staatlichen Baukommission gewesen sein, verstehen Sie wohl. Da seien einmal kleine Unregelmäßigkeiten vorgekommen. Nun, was denken Sie wohl Verehrtester, er hat alle miteinander zerschmettert, er hat sie ganz zu Staub zermalmt, sodaß überhaupt nichts mehr von ihnen übrig blieb, sehen Sie wohl.“

„Hier in der Stadt sind doch aber die strengen Maßregeln garnicht am Platze.“

„O je, das ist ein gelehrtes Haus! lieber Herr! Ein Mensch von kolossalen Dimensionen!“ fuhr der Postmeister fort. „Einmal passierte was ....“

„Aber meine Herren,“ sagte der Postmeister, „wir reden hier ganz offen auf der Straße in Gegenwart unserer Kutscher. Fahren wir doch lieber zu ...“

Erst jetzt kamen die Herren wieder zu sich. Auf der Straße hatten sich nämlich schon mehrere Zuschauer angesammelt, welche dastanden und die vier Herren, die sich von ihren Droschken aus miteinander unterhielten, angafften. Die Kutscher spornten ihre Pferde an und die vier Droschken fuhren eine hinter der andern zum Gerichtspräsidenten.

„Daß uns der Teufel diesen Tschitschikow auch gerade im ungünstigsten Augenblick hierher senden mußte!“ dachte der Präsident, während er im Vorzimmer seinen bis oben mit Dreck bespritzten Pelz auszog.

„Mir wirbelt alles im Kopfe herum,“ sagte der Staatsanwalt und legte gleichfalls den Pelz ab.

„Aus dieser Sache werde ich nicht klug,“ sprach der Vizegouverneur, indem er sich seines Pelzes entledigte.

Der Postmeister sagte gar nichts und begnügte sich damit, seinen Pelz abzulegen.

Man trat ins Zimmer, wo sofort ein kleiner Imbiß hereingetragen wurde. Die Provinzialbehörden können nun mal nicht ohne solch einen Imbiß auskommen, und wenn sich zwei Beamte in einer Provinz zusammenfinden, so stellt sich der Imbiß ganz von selbst als dritter im Bunde ein.

Der Gerichtspräsident trat an den Tisch, goß sich ein Gläschen bitteren Wermuth ein und sagte: „Schlagt mich tot, ich weiß nicht, wer dieser Tschitschikow ist.“

„Ich noch weniger,“ versetzte der Staatsanwalt. „Eine so verwickelte Affäre ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen, ich habe wirklich nicht den Mut, die Sache in die Hand zu nehmen.“

„Und doch! trotzalledem. Was der Mensch für einen weltmännischen Schliff besitzt!“ meinte der Postmeister, indem er sich erst einen dunklen Likör einschenkte, ein paar Tropfen von einem rosafarbenen hinzugoß und beide miteinander mischte: „Er war sicher in Paris. Ich glaube bestimmt, er ist etwas Ähnliches, wie ein Diplomat gewesen.“

In diesem Augenblick betrat der Polizeimeister das Zimmer, der allbekannte und so hoch verehrte Wohltäter der Stadt, der Abgott der Kaufmannschaft und berühmte Künstler und Arrangeur opulenter Diners, Soupers und sonstiger Festivitäten.

„Meine Herren,“ rief er aus, „ich habe nicht das Geringste über Tschitschikow erfahren können. Ich konnte doch nicht in seinen eigenen Papieren herumstöbern: er verläßt ja auch sein Zimmer garnicht mehr, und scheint krank zu sein. Ich habe mich auch bei seinen Leuten erkundigt. Seinen Bedienten Petruschka und den Kutscher Seliphan ausgefragt. Der erste war ein wenig betrunken, übrigens scheint er sich immer in solch einem Zustande zu befinden.“ Bei diesen Worten trat der Polizeimeister an das Anrichtetischchen und bereitete sich eine Mischung aus drei Likören. „Petruschka behauptet, sein Herr hätte mit allerhand Leuten zu tun gehabt, ich glaube, es sind lauter ehrenwerte Männer, die er nannte, so z. B. Perekrojewski ..... er führte dann noch eine Reihe von Gutsbesitzern an — alles Kollegienräte oder sogar Staatsräte. Der Kutscher Seliphan erzählt, alle hätten ihn für einen gescheiten Mann gehalten, weil er sich im Dienste vortrefflich bewährt und ausgezeichnet habe. Er habe im Zollamt gedient und hätte in irgend einer staatlichen Baukommission gesessen! Was das für eine Kommission gewesen sei, das konnte er mir jedoch nicht sagen. Er habe drei Pferde: „Eins hätten sie vor drei Jahren gekauft, den Schecken hätten sie gegen ein anderes von gleicher Farbe umgetauscht und das dritte hätten sie gleichfalls gekauft .....“ sagte er. Er erklärt ganz bestimmt, Tschitschikow heiße wirklich Pawel Iwanowitsch und sei Kollegienrat.“

Alle Beamten versanken in tiefes Sinnen.

„Ein anständiger Mensch, und dazu noch Kollegienrat!“ dachte der Staatsanwalt, „und entschließt sich zu einer solchen Sache! Will die Tochter des Gouverneurs entführen, kommt auf die wahnsinnige Idee, tote Seelen zu kaufen und in tiefer Nacht alte Scharteken von Gutsbesitzerinnen aus dem Schlafe zu stören — das schickt sich wohl für einen Husarenleutnant, aber doch nicht für einen Kollegienrat!“

„Wenn er Kollegienrat ist, wie kann er sich denn dann zu einer so verbrecherischen Handlung, zur Fälschung von Banknoten, entschließen,“ dachte der Vizegouverneur, der selbst auch Kollegienrat war, die Flöte spielte und in seinem Innern weit mehr zu den schönen Künsten als zum Verbrechen neigte.

„Sagen Sie, was Sie wollen, meine Herren, aber wir müssen dieser Sache ein Ende machen! Komme was da wolle! Denken Sie doch, wenn der Generalgouverneur erscheint und dahinter kommt, daß bei uns weiß der Teufel was los ist!“

„Und wie denken Sie, daß wir handeln müssen?“

Der Polizeimeister versetzte: „Ich glaube wir müssen entschlossen vorgehen.“

„Wie meinen Sie das: entschlossen?“ wandte der Präsident ein.

„Wir müssen ihn verhaften lassen, als einen Menschen, der sich verdächtig gemacht hat.“

„Ja aber wie? wenn er statt dessen uns als verdächtige Individuen verhaften läßt?“

„Waaas?“

„Nun, ich meine, wenn er etwa hierhergesandt worden ist und geheime Vollmachten hat! Tote Seelen? Hm! Wenn das nur kein Vorwand ist, daß er sie kauft, ein Vorwand, um etwas über jene Toten zu erfahren, die, wie es im Bericht heißt, ‚aus unbekannten Ursachen‘ verstorben sind.“

Diese Worte ließen alle verstummen. Der Staatsanwalt war aufs äußerste überrascht. Auch der Präsident, der sie selbst ausgesprochen hatte, wurde nachdenklich. Beiden ...

„Also meine Herren, was sollen wir tun?“ sagte der Polizeimeister, der Wohltäter der Stadt und der Liebling der Kaufleute, indem er die wunderbare Mischung aus dem süßen und bitteren Likör hinabstürzte und einen Bissen in den Mund steckte.

Ein Diener brachte eine Flasche Madeira und einige Weingläser herein.

„Ich weiß wirklich nicht, was wir anfangen sollen?“ sagte der Präsident.

„Meine Herren,“ erklärte hier der Postmeister, nachdem er ein Glas Madeira hinabgegossen und ein Stück holländischen Käse mit Butter nebst einem Bissen Stör verschlungen hatte, „ich bin der Meinung, daß wir diese Sache gründlich untersuchen müssen, wir müssen sie gründlich durchforschen und gemeinsam in corpore beraten, d. h. wir sollten alle zusammenkommen wie im englischen Parlament, verstehen Sie wohl, um den Gegenstand zu ergründen, damit er uns in all seinen feinsten Details deutlich und durchsichtig wird, verstehen Sie?“

„Meinetwegen wollen wir uns irgendwo versammeln,“ sagte der Polizeimeister.

„Ja, wir wollen uns versammeln,“ fiel der Präsident ein, „und gemeinsam entscheiden, wer dieser Tschitschikow ist.“

„Ja, das wird das vernünftigste sein — wir müssen entscheiden, wer Tschitschikow ist.“

„Wir wollen jeden um seine Meinung fragen, und dann entscheiden, wer Tschitschikow ist.“

Bei diesen Worten verspürten alle zugleich eine unbändige Lust nach ein paar Flaschen Champagner. Man trennte sich, höchst befriedigt darüber, daß das Komitee alles aufklären und den sicheren Beweis erbringen werde, wer eigentlich Tschitschikow war.

IV.

A. Die Geschichte vom Hauptmann Kopeikin.
(Nach einer der ersten Fassungen.)

„Nach dem Feldzuge vom Jahre 1812, werter Herr,“ hub der Postmeister an, obwohl nicht ein einzelner Herr, sondern ganze sechs im Zimmer anwesend waren, „nach dem Feldzuge von 1812 wurde zusammen mit andern Verwundeten auch ein Hauptmann namens Kopeikin ins Lazarett eingeliefert. War es bei Krasnoje oder in der Schlacht von Leipzig gewesen, genug, lieber Herr, er hatte im Kriege ein Bein und einen Arm verloren. Sie wissen doch, damals gabs noch keine von den bekannten Veranstaltungen und Einrichtungen für die Verwundeten: dieser Invalidenfonds — das können Sie sich wohl denken — der wurde sozusagen erst viel später gegründet. Unser Hauptmann Kopeikin sieht also, daß er arbeiten muß, aber verstehen Sie wohl, er hatte ja doch nur einen Arm, nämlich den linken. Er schrieb also nach Hause an seinen Vater, aber der Vater gab ihm zur Antwort: ‚Ich kann dich nicht auch noch ernähren.‘ Denken Sie sich! ‚Ich verdiene mir nur selbst mit knapper Not meinen Unterhalt.‘ Nun sehen Sie wohl, werter Herr, da beschloß denn mein Kopeikin nach Petersburg zu reisen und an die Gnade des Monarchen zu apellieren, ob dieser ihm nicht eine kleine Unterstützung bewilligen wolle: er habe doch gewissermaßen, sozusagen sein Leben geopfert und sein Blut vergossen ... Er fuhr also in einem Gepäckwagen oder in einem staatlichen Transportwagen nach der Hauptstadt, Verehrtester, und gelangte so mit Mühe und Not nach Petersburg. Und nun stellen Sie sich vor: da befindet sich nun dieser selbe, d. h. dieser Hauptmann Kopeikin plötzlich in der Hauptstadt, die sozusagen in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat! Mit einem Male ist es um ihn herum licht und hell, gewissermaßen ein weites Feld des Lebens, so eine Art märchenhafte Scheherazade, verstehen Sie mich wohl. Also denken Sie nur, plötzlich liegt vor ihm so ein Newski-Prospekt oder solch eine Erbsenstraße oder, hol’s der Teufel, irgend so eine Liteinaja, da ragt irgend so ein Turm in die Luft und dort hängen ein paar Brücken, wissen Sie, so ohne jegliche Stützen und Pfeiler, mit einem Wort die reinste Semiramis. Verehrtester, tatsächlich! Erst trieb er sich eine Weile in den Straßen herum, um sich eine Wohnung zu mieten; aber das war ihm alles zu brenzlich: all diese Gardinen, Rouleaux und all das Teufelszeug, verstehen Sie, diese Teppiche, das reinste Persien, Verehrtester ... Mit einem Wort, beziehungsweise, man tritt das Kapital nur so mit Füßen. Man geht über die Straße, und die Nase merkt schon von ferne, daß es nach Tausenden riecht; und, Sie wissen doch, die ganze Staatsbank meines Hauptmannes Kopeikin besteht aus fünf blauen Scheinen das war alles, verstehen Sie wohl. So mietete er sich denn schließlich ein Zimmer in einem Gasthaus zur Stadt Reval für einen Rubel pro Tag. Sie wissen: ein Mittagessen aus zwei Gängen, eine Kohlsuppe und ein Stück Suppenfleisch dazu. Er sieht also: große Sprünge kann er da nicht machen. Er beschloß daher, am folgenden Tage zum Minister zu gehen, Verehrtester. Der Kaiser war nämlich damals nicht in der Hauptstadt, denn die Armee war noch nicht aus dem Kriege zurückgekehrt, das können Sie sich wohl denken. So stand er denn eines Morgens etwas früher auf, kratzte sich mit der linken Hand seinen Bart, denn sehen Sie wohl, wäre er zum Barbier gegangen, so hätte das im gewissen Sinne neue Ausgaben verursacht, zog sich seine Uniform an und begab sich auf seinem Holzfuß umherhumpelnd zum Minister. Und nun stellen Sie sich vor, er fragt erst einen Schutzmann, wo der Minister wohnt. ‚Dort,‘ antwortet dieser und zeigt auf ein Haus am Schloßquai. Eine feine Bauernhütte kann ich Ihnen sagen! Große Fensterscheiben, meterlange Spiegel, Marmor und überall Metall, denken Sie sich bloß, Verehrtester! So’ne Türklinke, wissen Sie, da muß man zuerst in einen Laden laufen, sich für einen Groschen Seife kaufen und sich sozusagen stundenlang die Hände reiben, ehe man es wagt sie anzufassen! Mit einem Wort, nichts als Ebenholz und Lack, daß einem fast die Sinne schwinden, Verehrtester! Am Eingang, verstehen Sie, da steht so ein Portier: der reinste Generalissimus: so’ne Grafenphisiognomie, mit einem Säbel in der Hand und einem Battistkragen, Teufel auch! Wie ein wohlgepflegter Mops. Mein Kopeikin schleppt sich also auf seinem Holzfuß ins Vorzimmer, setzt sich in einen Winkel, um nur nicht mit dem Arm gegen irgend so ein Amerika oder Indien, gegen so eine vergoldete Porzellanvase zu stoßen, verstehen Sie. Sehen Sie wohl, natürlich mußte er eine halbe Ewigkeit dort warten, weil er zu einer Zeit gekommen war, wo der Minister sozusagen noch kaum aus dem Bette gestiegen war und sein Kammerdiener ihm eben irgend so ein silbernes Becken reichte, verstehen Sie wohl, wo man sich drin wäscht. Mein Kopeikin wartet also vier Stunden lang, da kommt endlich der Adjutant oder ein anderer diensthabender Beamter und sagt: Der Minister wird gleich erscheinen. Im Vorzimmer aber drängen sich schon die Menschen wie die Bohnen in einer Schüssel. Lauter hohe Beamte der vierten Klasse, Oberste und hie und da sogar einer mit Markronen auf den Achselklappen, verstehen Sie wohl, mit einem Wort sozusagen die ganze Generalität. Schließlich betritt denn auch der Minister das Zimmer, Verehrtester! Sie können sich vorstellen: er geht erst zum einen und dann zum andern: Warum sind Sie gekommen? Und Sie? Was wünschen Sie? Zuletzt kommt auch mein Kopeikin an die Reihe, nimmt seinen ganzen Mut zusammen und sagt: ‚so und so, ich habe mein Blut vergossen und ein Bein und einen Arm verloren, sozusagen: ich kann nicht mehr arbeiten, und habe daher die Kühnheit, an die Gnade des Monarchen zu apellieren.‘ Der Minister sieht: der Mann hat einen Stelzfuß und der rechte Ärmel baumelt leer herunter. ‚Gut,‘ sagte er, ‚fragen Sie nach ein paar Tagen wieder an.‘ Na also Verehrtester, es vergehen keine vier oder fünf Tage, da erscheint mein Kopeikin schon wieder bei dem Minister. Dieser erkennt ihn sogleich wieder, verstehen Sie wohl. ‚Ah!‘ sagt er, ‚leider kann ich Ihnen diesmal keinen andern Rat geben, als sich bis zur Rückkunft des Kaisers zu gedulden. Dann wird sicherlich etwas für die Verwundeten und die Invaliden geschehen, aber ohne die Einwilligung des Monarchen, sozusagen, vermag ich nichts für Sie zu tun.‘ Hierauf macht er eine kurze Verbeugung und die Audienz ist zu Ende. Sie können sich denken, daß mein Kopeikin sich in einer recht prekären Lage befand, als er den Minister verließ; hatte er doch gewissermaßen weder eine Zusage noch eine Absage erhalten. Das Leben in der Hauptstadt aber wurde natürlich immer schwieriger für ihn, das können Sie sich wohl vorstellen. Er denkt sich also: ‚ich will doch noch einmal zum Minister gehen und ihm sagen: Machen Sie was Sie wollen, Exzellenz, ich habe bald nichts mehr zu essen; wenn Sie mir nicht helfen, dann muß ich gewissermaßen vor Hunger sterben.‘ Aber wie er zum Minister hinkommt, da heißt es: ‚Es geht nicht, der Minister empfängt heute niemand, kommen Sie morgen wieder.‘ Am folgenden Tage — dieselbe Geschichte, der Portier sieht ihn kaum noch an. Mein Kopeikin hat nur noch ein Fünfzig-Kopekenstück in der Tasche. Früher da leistete er sich noch einen Teller Kohlsuppe, und ein Stück Suppenfleisch dazu, jetzt aber kauft er sich höchstens irgend so einen Häring oder so eine Salzgurke und für zwei Groschen Brot — mit einem Wort, der arme Kerl hungert tatsächlich, und doch hat er einen Appetit wie ein Wolf. Oft kommt er an irgend so einem Restaurant vorüber und nun stellen Sie sich vor: der Koch das ist ein Teufelskerl, so ein Ausländer, wissen Sie, der trägt immer nur die feinste holländische Wäsche, steht vor seinem Herd und bereitet euch irgend so ein Finserb oder Kottelets mit Trüffeln, mit einem Wort, irgend so eine Delikatesse, daß unser Hauptmann sich am liebsten selbst aufgefressen hätte vor Appetit. Oder er kommt an den Miljutinschen Läden vorbei: lacht ihm da sozusagen irgend so ein geräucherter Lachs, oder ein Körbchen mit Kirschen — zu fünf Rubel das Stück, oder so ’ne Riesin von Wassermelone, so’n ganzer Omnibus, wissen Sie, aus dem Fenster entgegen, und sucht nach einem Narren, der einem überflüssigen Hunderter in der Tasche hat, verstehen Sie, mit einem Wort, nichts wie Verführungen auf Schritt und Tritt, es läuft einem sozusagen das Wasser im Munde zusammen, für ihn aber heißt’s: warte gefälligst bis morgen. Und nun stellen Sie sich seine Lage vor: einerseits, sehen Sie wohl, dieser Lachs und die Wassermelone, und andererseits irgend so ein bitteres Gericht unter dem Namen: ‚Komm morgen wieder.‘ Endlich hielt es der arme Kerl nicht mehr aus und beschloß, sich um jeden Preis noch einmal eine Audienz zu verschaffen. Er stellte sich also am Eingang auf und wartete, ob nicht noch irgend ein Bittsteller erscheinen werde; schließlich schlüpft er denn auch mit irgend so einen General, wissen Sie, ins Haus, und humpelt auf seinem Stelzfuß bis ins Vorzimmer. Der Minister erscheint wie gewöhnlich zur Audienz: ‚Was haben Sie? und was wünschen Sie?‘ ‚Ah,‘ ruft er, wie er Kopeikin erblickt, ‚ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß Sie warten sollen, bis über Ihr Gesuch entschieden wird.‘ — ‚Ich bitte Sie, Exzellenz, ich habe nichts mehr zu essen, sozusagen ...‘ — ‚Was soll ich denn machen? Ich kann nichts für Sie tun, Sie müssen sich schon selbst helfen und sich selbst die Mittel zu verschaffen suchen.‘ — ‚Aber Eure Exzellenz, das können Sie doch selbst gewissermaßen beurteilen, was kann ich mir denn für Mittel verschaffen, wo mir eine Hand und ein Fuß fehlt.‘ Er wollte noch hinzufügen: ‚mit der Nase aber kann ich erst recht nichts anfangen; da kann man sich höchstens einmal schneuzen, aber selbst dazu muß man sich ein Taschentuch kaufen.‘ Allein der Minister, sehen wohl, lieber Herr, — sei es nun, daß Kopeikin ihn langweilte, oder daß er tatsächlich mit wichtigen Staatsangelegenheiten beschäftigt war — der Minister also, können Sie sich vorstellen, wird ganz aufgeregt und zornig. ‚Gehen Sie!‘ ruft er, ‚solche wie Sie, sind noch viele da, gehen Sie und warten Sie ruhig, bis die Reihe an Sie kommt!‘ Jedoch mein Kopeikin antwortete — der Hunger treibt ihn zum äußersten, wissen Sie —: ‚Tuen Sie was Sie wollen, Exzellenz; ich rühre mich nicht vom Flecke, bevor Sie die entsprechende Ordre erteilt haben.‘ Da aber, lieber Herr, können Sie sich vorstellen, da geriet der Minister ganz außer sich. Und in der Tat, bis dahin war es wohl in den Annalen der Weltgeschichte noch nie vorgekommen, daß sich sozusagen irgend ein Kopeikin erkühnte, so mit einem Minister zu sprechen. Sie können sich vorstellen, was ein erzürnter Minister ist, das ist doch gewissermaßen ein Staatsmann sozusagen. ‚Sie frecher Mensch!‘ schrie er: ‚Wo ist der Feldjäger? Der Feldjäger soll kommen und ihn nach seiner Heimat abschieben!‘ Der Feldjäger aber, verstehen Sie wohl, der steht schon da und wartet schon hinter der Tür: so’n baumlanger Kerl, wissen Sie, mit einer Hand wie von der Natur selbst für den Kurierdienst geschaffen. Mit einem Wort: ein richtiger Zahnzieher. So wird denn unser braver Knecht Gottes in den Wagen befördert, und ab geht’s in Begleitung des Feldjägers. ‚Na,‘ denkt Kopeikin, ‚da spar’ ich wenigstens das Reisegeld. Auch dafür bin ich den Herren dankbar.‘ So fährt er denn, Verehrtester, mit dem Feldjäger, und während er so an der Seite des Feldjägers sitzt, spricht er gewissermaßen, sozusagen, zu sich selber: ‚Schön,‘ sagt er, ‚der Minister erklärt mir, ich soll mir selbst helfen und die Mittel suchen! Gut, meinetwegen‘ sagt er, ‚ich will mir die Mittel schon verschaffen!‘ Wie er nun an seinen Bestimmungsort befördert, und wohin er eigentlich gebracht wurde, darüber ist nichts bekannt geworden. Und daher sind denn auch die Nachrichten über den Hauptmann Kopeikin im Strome der Vergessenheit untergegangen, in so einer Lethe, wissen Sie, wie die Poeten es nennen. Doch hier, sehen Sie wohl, meine Herren, hier schürzt sich, kann man wohl sagen, der Knoten unseres Romans. Wo also Kopeikin verschwunden ist, das weiß niemand; aber stellen Sie sich vor, es vergingen auch nicht zwei Monate, als in den Wäldern von Rjasan eine Räuberbande auftauchte, und der Hauptmann dieser Räuberbande, sehen Sie wohl, war kein anderer als der Hauptmann Kopeikin. Er sammelte sich allerhand fahnenflüchtige Soldaten und bildete aus ihnen gewissermaßen eine ganze Räuberbande. Dies war, können Sie sich, natürlich vorstellen, sogleich nach dem Kriege: da war noch alles an ein ungebundenes Leben gewöhnt, wissen Sie — das Leben galt damals kaum mehr als einen Groschen: eine Freiheit und Zügellosigkeit sag ich Ihnen, man pfiff auf alles — mit einem Wort, Verehrtester, er hatte eine ganze Armee zu seiner Verfügung. Kein Reisender konnte mehr ruhig passieren, und dies alles richtete sich, sozusagen, nur gegen den Reichsschatz. Wenn einer vorüber kam, der in seinen eigenen Geschäften reiste — na, dann fragte man nur: ‚was wollen Sie?‘ und ließ ihn laufen! Handelte es sich dagegen um einen staatlichen Transport; Viehfutter, Proviant oder Geld, — mit einem Wort alles, was sozusagen den Namen des Staates trägt — da gab’s kein Pardon. Nun, Sie können sich vorstellen, er brandschatzte den Beutel des Fiskus gründlich. Oder er hört etwa, daß der Termin für die Bezahlung der Staatssteuern vor der Tür steht — sofort ist er an Ort und Stelle. Er läßt sogleich den Dorfschulzen zu sich rufen und schreit: ‚her mit dem Zins und den Staatssteuern.‘ Na, Sie können sich denken, der Bauer sieht: ‚so ein hinkender Teufel, sein Rockkragen ist rot und glänzt vor lauter Gold wie die Federn eines Phönix, Teufel auch, das schmeckt nach Ohrfeigen.‘ ‚Da nimm, Väterchen, aber laß uns nur in Ruhe.‘ Er denkt natürlich: ‚das ist irgend so ein Kreisrichter oder womöglich noch was Schlimmeres sozusagen.‘ Das Geld aber, Verehrtester, das nimmt er natürlich in Empfang, ganz wie es sich gehört, und stellt den Bauern eine Quittung aus, um sie gewissermaßen vor den Behörden zu entschuldigen, und ihnen zu bescheinigen, daß sie das Geld wirklich abgeliefert und ihre Steuern vollzählich bezahlt haben, empfangen aber habe es der und der d. h. der Hauptmann Kopeikin; ja er setzte sogar noch sein Siegel darunter, mit einem Wort, Verehrtester, er raubt und stiehlt, daß es nur so eine Art hat. Mehrere Male wurden Soldatendetachements ausgesandt, um ihn zu fangen, aber mein Kopeikin kümmert sich den Teufel darum. Das waren eben lauter Schinderhannesse, verstehen Sie, die da zusammen gekommen waren ... Schließlich aber bekam er doch wohl Angst, als er sah, daß dies kein Spaß war, und daß er sich da sozusagen eine schöne Suppe eingebrockt hatte; die Verfolgungen nahmen jeden Augenblick zu, er selbst aber hatte sich unterdessen ein recht hübsches Kapitälchen zurückgelegt lieber Herr, na, und da rückte er denn sozusagen eines Tages ins Ausland aus, ins Ausland, Verehrtester, verstehen Sie wohl, d. h. in die Vereinigten Staaten. Von dort aus schreibt er einen Brief an den Kaiser, können Sie sich denken, einen äußerst redegewandten und so großartig stilisierten Brief, wie Sie sich nur vorstellen können. All diese Platos und Demosthenesse im Altertum — das sind sozusagen die reinsten Waschlappen oder Küster gegen ihn: ‚du darfst nicht glauben, Kaiser,‘ schreibt er, ‚daß ich dieses und jenes‘ ... Mit einem Wort, er ließ euch Perioden vom Stapel — geradezu glänzend! ‚Nur die Notwendigkeit war die Ursache meines Handelns,‘ sagt er; ‚ich habe sozusagen mein Blut vergossen und gewissermaßen mein Leben nicht geschont und nun habe ich, denken Sie sich bloß, nichts mehr zum Leben. Ich bitte dich, meine Kameraden straflos ausgehen zu lassen,‘ sagt er, ‚sie sind unschuldig, denn ich habe sie sozusagen verführt, übe Gnade und verfüge, daß in Zukunft, wenn die Verwundeten aus dem Kriege zurückkehren, können Sie sich denken, gewissermaßen für sie gesorgt werde ..‘ Mit einem Wort, der Brief war außerordentlich gewandt stilisiert. Na, Sie können sich denken, der Kaiser war natürlich gerührt. Es tat seinem kaiserlichen Herzen leid um den Mann, obwohl er tatsächlich ein Verbrecher war, und gewissermaßen sozusagen die Todesstrafe verdient hatte, na, und da er sah, wie ein Unschuldiger sozusagen zum Verbrecher werden kann und zugeben mußte, daß hier eine Unterlassungsünde vorlag — übrigens konnte man in jener unruhigen Zeit auch nicht für alles sorgen — Gott allein, kann man wohl sagen, ist ganz ohne Verfehlungen — mit einem Wort, lieber Herr, der Kaiser geruhte diesmal, sozusagen ein einzig dastehendes Beispiel seiner hochherzigen Gesinnung zu geben: er befahl, die Schuldigen nicht weiter zu verfolgen und gab zugleich strenge Ordre, ein Komitee zu gründen, das sich ausschließlich mit der Fürsorge um die Verwundeten zu beschäftigen habe sozusagen und dies ... Verehrtester — war gewissermaßen der Anlaß für die Gründung des Invalidenfonds, durch den jetzt sozusagen in jeder Hinsicht für die Verwundeten gesorgt ist, und ein ähnliches Institut gibt es tatsächlich weder in England noch in allen übrigen aufgeklärten Staaten, können Sie sich denken. Das also ist der Hauptmann Kopeikin, Verehrtester. Nun aber glaube ich folgendes: wahrscheinlich wird er all sein Geld in den Vereinigten Staaten vertan haben, und ist nun zu uns zurückgekehrt, um noch einmal zu versuchen, ob es ihm nicht vielleicht sozusagen, gewissermaßen mit einem neuen Unternehmen gelingen mag.“

B. Die Geschichte vom Hauptmann Kopeikin.
(In der vom Zensor gestrichenen Fassung.)

„Nach dem Feldzuge vom Jahre 1812, verehrter Herr,“ hub der Postmeister an, trotzdem nicht ein einzelner Herr, sondern ganze sechs im Zimmer saßen, „nach dem Feldzug vom Jahre 1812 wurde zusammen mit anderen Verwundeten auch ein Hauptmann namens Kopeikin ins Lazarett eingeliefert. War es bei Krasnoje oder in der Schlacht von Leipzig gewesen, genug, er hatte im Kriege ein Bein und einen Arm verloren. Sie wissen doch, damals gab’s noch keine von den bekannten Einrichtungen für die Verwundeten: dieser Invalidenfond, das können Sie sich wohl denken, der wurde sozusagen erst viel später gegründet. Der Hauptmann Kopeikin sieht also, daß er arbeiten muß, aber sehen Sie wohl, er hatte eben nur einen Arm, nämlich den linken. Er wandte sich also nach Hause an seinen Vater, aber der Vater gab ihm zur Antwort: ‚Ich kann dich nicht auch noch ernähren; ich,‘ denken Sie sich nur, ‚ich verdiene mir selbst nur mit knapper Not meinen Unterhalt.‘ Da beschloß denn mein Hauptmann Kopeikin, sehen Sie wohl, Verehrtester, nach Petersburg zu reisen und an die Gnade des Monarchen zu apellieren, ob dieser ihm nicht eine kleine Unterstützung bewilligen wolle. So und so, er habe doch gewissermaßen, sozusagen sein Leben geopfert und sein Blut vergossen .... Er fuhr also in einem Gepäckwagen oder einem staatlichen Transportwagen in die Hauptstadt, sehen Sie wohl Verehrtester, genug er gelangte mit Mühe und Not nach Petersburg. Und nun stellen Sie sich vor: da befindet sich nun dieser selbige, d. h. dieser Hauptmann Kopeikin in Petersburg, das sozusagen in der ganzen Welt nicht seinesgleichen hat! Plötzlich ist es um ihn herum licht und hell, gewissermaßen ein weites Feld des Lebens, so eine Art märchenhafte Scheherazade verstehen Sie mich wohl. Denken Sie nur, plötzlich liegt vor ihm so ein Newski-Prospekt oder solch eine Erbsenstraße oder, hol’s der Teufel, irgend so eine Liteinaja, da ragt irgend so ein Turm in die Luft und dort hängen ein paar Brücken, wissen Sie, so ohne jegliche Stützen und Pfeiler, mit einem Wort die reinste Semiramis. Tatsächlich, Verehrtester! Erst trieb er sich eine Weile in den Straßen herum, um sich eine Wohnung zu mieten; aber das war ihm alles zu brenzlich: all diese Gardinen, Rouleaux und all das Teufelszeug, verstehen Sie, diese Teppiche, das reinste Persien, Verehrtester ... Mit einem Wort, beziehungsweise, man tritt das Kapital nur so mit Füßen. Man geht über die Straße, und die Nase merkt schon von ferne, daß es nach Tausenden riecht; und, Sie wissen doch, die ganze Staatsbank meines Hauptmannes Kopeikin besteht aus zehn blauen Scheinen ... Genug, er mietet sich schließlich in einem Gasthaus zur Stadt Reval ein, für einen Rubel pro Tag. Sie wissen, ein Mittagessen aus zwei Gängen, eine Kohlsuppe und ein Stück Suppenfleisch dazu ... Er sieht also, daß sein Geld nicht mehr allzu lange reicht. Er erkundigte sich, wohin er sich wenden soll. Man sagt ihm, es gäbe so’ne Oberkommission, gewissermaßen so ein Direktorium sozusagen, an dessen Spitze der General en chef soundso stehe. Der Kaiser, müssen Sie wissen, war nämlich um jene Zeit noch nicht in der Hauptstadt, und die Armee, können Sie sich vorstellen, war noch nicht aus Paris zurückgekehrt, alles war noch im Ausland. So stand denn mein Kopeikin eines Morgens etwas früher auf, kratzte sich mit der linken Hand seinen Bart, denn, sehen Sie wohl, wäre er zum Barbier gegangen, so hätte das in gewissem Sinne neue Ausgaben verursacht, zog seine Uniform an und begab sich auf seinem Holzfuß einherhinkend zum Vorsitzenden der Kommission. Stellen Sie sich bloß vor! Er fragt also, wo der Vorsitzende wohnt. ‚Da‘ antwortet man ihm und zeigt auf ein Haus am Schloßquai. Eine feine Bauernhütte, können Sie sich vorstellen. Meterlange Spiegelscheiben in den Fenstern, kann ich Ihnen sagen, sodaß die Vasen und alles, was sich sonst noch in den Zimmern befindet, gleichsam draußen vor einem zu stehen scheinen, und man all diese schönen Dinge geradezu greifen zu können glaubt: die Wände sind von kostbarem Marmor, wissen Sie, alles ist von Metall, und so’ne Türklinke, denken Sie sich, da muß man zuerst in einen Laden laufen, sich für einen Groschen Seife kaufen und sich dann sozusagen zwei Stunden lang die Hände reiben, ehe man sie anzufassen wagt. Dazu alles lackiert, mit einem Wort die Sinne schwinden einem gewissermaßen. Der Portier sieht aus wie ein Generalissimus: so eine Grafenphisiognomie mit einem goldenen Säbel in der Hand und einem Battistkragen, Teufel auch, wie ein wohlgepflegter Mops. Mein Kopeikin schleppt sich also auf seinem Holzfuß ins Vorzimmer, setzt sich in einen Winkel, um nur nicht mit dem Arm gegen irgend so ein Amerika oder Indien, gegen so eine vergoldete Porzellanvase, verstehen Sie wohl, zu stoßen. Sehen Sie wohl, natürlich mußte er eine halbe Ewigkeit dort warten, weil er zu einer Zeit gekommen war, wo der General, sozusagen, noch kaum aus dem Bett gestiegen war und sein Kammerdiener ihm eben irgend so ein silbernes Becken reichte, verstehen Sie wohl, wo man sich drin wäscht. Mein Kopeikin wartet also vier Stunden lang; da kommt endlich der Adjutant oder irgend ein diensthabender Beamter herein und sagt: ‚Gleich kommt der General!‘ Im Empfangszimmer aber drängen sich schon die Menschen, wie die Bohnen in einer Schüssel. Lauter hohe Beamte der vierten und fünften Klasse, nicht solche elende Sklaven wie unsereiner sondern alles Oberste, und hie und da sogar einer mit Makronen auf den Achselklappen, mit einem Wort, die ganze Generalität sozusagen. Plötzlich geht eine kaum merkliche Bewegung durch das Zimmer, wie so’n feiner Äther, wissen Sie. Hie und da hört man jemand Pst ... Pst ... rufen und dann tritt eine fürchterliche Stille ein. Der hohe Staatsbeamte hatte das Zimmer betreten. Na, Sie können sich vorstellen, ein Staatsmann, sozusagen. Natürlich seinem Rang und Titel entsprechend, so ein Physionomio, so ein Ausdruck, verstehen Sie wohl. Alles was sich im Empfangszimmer befand, stand natürlich sofort stramm, alles zittert und bebt und wartet auf die Entscheidung seines Schicksals sozusagen. Der Minister oder Staatsmann geht erst zum einen, und dann zum andern. ‚Warum sind Sie hier? Und Sie? Was wünschen Sie? In welcher Angelegenheit kommen Sie?‘ Zuletzt kommt auch mein Kopeikin an die Reihe, nimmt seinen ganzen Mut zusammen und sagt: So und so, Exzellenz ich habe sozusagen mein Blut vergossen, und gewissermaßen einen Arm und ein Bein verloren. Ich kann nicht mehr arbeiten und habe die Kühnheit, an die Gnade des Monarchen zu apellieren. Der Minister sieht: der Mann hat einen Stelzfuß, und der rechte Ärmel baumelt leer herunter verstehen Sie wohl. ‚Gut,‘ sagt er, ‚fragen Sie nach ein paar Tagen mal wieder an!‘ Mein Kopeikin ist ganz seelig: schon allein, daß ihm eine Audienz bewilligt wurde sozusagen, daß er gewürdigt wurde mit einem der ersten Würdenträger des Staats zu sprechen, können Sie sich denken, und dann die Hoffnung, daß sich endlich sein Schicksal, gewissermaßen die Frage nach der Pension entscheiden sollte! Er ist in der besten Laune, kann ich Ihnen sagen. Er hüpft geradezu auf dem Trottoir. Dann ging er ins Restaurant von Palkin, um einen Schnaps zu nehmen; aß in der Stadt London zu Mittag, ließ sich eine Kotelette mit Kapern kommen, dazu ’ne Poularde und allerhand Filets, nebst einer Flasche Wein, ging abends ins Theater — mit einem Wort, es war eine feudale Zeche, sozusagen. Auf dem Trottoir sieht er plötzlich eine Engländerin kommen. Wissen Sie, schlank wie irgend so’n Schwan. Mein Kopeikin, dessen Blut in Wallung geriet, läuft ihr trach, trach, trach auf seinem Stelzfuß nach; ‚ach nein!‘ denkt er, ‚hol die Kurmacherei einstweilen der Teufel; das kommt nachher, wenn ich meine Pension habe. Ich bin schon gar zu sehr aus Rand und Band gekommen.‘ Nach drei vier Tagen erscheint mein Kopeikin abermals beim Minister. Der Minister tritt ein. ‚So und so,‘ sagt Kopeikin, ‚ich bin gekommen um zu erfahren, was Eure Exzellenz über das Schicksal der Kranken und Verwundeten zu verfügen geruht haben ... und dergleichen mehr, können Sie sich denken, in der amtlichen Sprache natürlich!‘ Der hohe Staatsbeamte, stellen Sie sich vor, erkennt ihn sogleich wieder. ‚Ah, gut,‘ sagt er, ‚leider kann ich Ihnen diesmal keinen andern Rat geben, als sich bis zur Rückkunft des Kaisers zu gedulden; dann wird sicherlich etwas für die Verwundeten und Invaliden geschehen, aber ohne die Einwilligung des Monarchen, sozusagen, vermag ich nichts für Sie zu tun.‘ Damit verbeugt er sich, und die Audienz ist zu Ende, verstehen Sie. Sie können sich denken, daß sich mein Kopeikin hiernach in einer höchst prekären Lage befand. Er hatte schon damit gerechnet, daß ihm morgen das Geld ausbezahlt werden würde. ‚Da hast du was, mein Lieber, trink eins und amüsier dich!‘; statt dessen aber muß er warten und weiß nicht einmal, bis zu welchem Termin. Da kommt er nun wie so’n Uhu, oder Pudel, den der Koch mit Wasser begossen hat, vom Präsidenten heraus — hat den Schwanz eingezogen und läßt die Ohren hängen. ‚Nee,‘ denkt er, ‚ich will doch noch einmal hingehen und dem Minister erklären, ich habe bald nichts mehr zu essen, wenn Sie mir nicht helfen, muß ich, sozusagen, vor Hunger sterben.‘ Mit einem Wort lieber Herr, er geht wieder an den Schloßquai und fragt nach dem Minister: ‚Es geht nicht,‘ heißt es, ‚der Minister empfängt heute niemand, kommen Sie morgen wieder.‘ Am folgenden Tage — dieselbe Geschichte, der Portier will ihn kaum noch ansehen. Mein Kopeikin aber hat nur noch einen blauen Schein in der Tasche, verstehen Sie wohl. Früher da leistete er sich noch einen Teller Kohlsuppe und ein Stück Suppenfleisch, jetzt aber kauft er sich höchstens so einen Häring oder irgend so eine Salzgurke und für zwei Groschen Brot —, mit einem Wort, der arme Kerl hungert tatsächlich, und doch hat er einen Appetit wie ein Wolf. Oft kommt er an irgend so einem Restaurant vorüber und, nun stellen Sie sich vor, der Koch — das ist irgend so ein Ausländer, so ein Franzose, wissen Sie, mit solch einem offenen Gesicht, trägt immer nur die feinste holländische Wäsche, und eine Schürze, so weiß wie Schnee sozusagen, da steht nun der Kerl vor seinem Herd und bereitet euch irgend so ein Finserb, oder Koteletts mit Trüffeln, mit einem Wort, irgend so eine Delikatesse, daß unser Hauptmann sich am liebsten selbst aufgefressen hätte vor Appetit. Oder er kommt an den Miljutinschen Läden vorbei: lacht ihm da sozusagen irgend so ein geräucherter Lachs, oder ein Körbchen mit Kirschen — zu fünf Rubel das Stück, oder so ’ne Riesin von Wassermelone, so’n ganzer Omnibus, wissen Sie, aus dem Fenster entgegen, und sucht nach einem Narren, der einen überflüssigen Hunderter in der Tasche hat, verstehen Sie, mit einem Wort, nichts wie Verführungen auf Schritt und Tritt, es läuft einem sozusagen das Wasser im Munde zusammen, für ihn aber heißt’s: warte gefälligst bis morgen. Und nun stellen Sie sich seine Lage vor: einerseits, sehen Sie wohl, dieser Lachs und die Wassermelone, und andererseits irgend so ein bitteres Gericht unter dem Namen: ‚Komm morgen wieder.‘ Schließlich hielt es der arme Kerl nicht mehr aus und beschloß, die Festung sozusagen im Sturme zu nehmen, verstehen Sie. Er stellte sich also am Eingang auf und wartete, ob nicht noch ein Bittsteller erscheinen werde, und richtig, es gelang ihm denn auch, mit irgend einem General hindurchzuschlüpfen und auf seinem Stelzfuß bis ins Vorzimmer zu humpeln. Der hohe Staatsmann erscheint wie gewöhnlich. ‚Was wünschen Sie? Und Sie?‘ ‚Ah!‘ ruft er, wie er Kopeikin erblickt, ‚ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß Sie warten sollen, bis über Ihr Gesuch entschieden wird.‘ — ‚Ich bitte Sie, Exzellenz, ich habe nichts mehr zu essen, sozusagen ...‘ ‚Was soll ich denn machen? ich kann nichts für Sie tun, Sie müssen sich gewissermaßen einstweilen selbst helfen und sich selbst die Mittel zu verschaffen suchen.‘ — ‚Aber Exzellenz, daß müssen Sie doch sozusagen selbst einsehen, wie kann ich mir denn die Mittel verschaffen, wo mir ein Arm und ein Bein fehlt?‘ ‚Aber verstehen Sie doch!‘ sagte der Minister, ‚ich kann Sie doch gewissermaßen nicht auf meine Kosten erhalten, wir haben noch viele Verwundete, die könnten doch alle dieselben Ansprüche machen. Wappnen Sie sich mit Geduld. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: wenn der Kaiser kommt, wird er Gnade üben und Sie nicht im Stiche lassen.‘ — ‚Aber ich kann doch nicht warten, Exzellenz,‘ versetzte Kopeikin, und zwar fängt er schon an, grob zu werden sozusagen. Da aber wurde der Staatsmann etwas ärgerlich, verstehen Sie, und in der Tat: rings herum stehen lauter Generäle und warten auf eine Antwort oder eine Ordre; hier handelte es sich sozusagen um wichtige Staatsangelegenheiten, die gewissermaßen eine schleunige Erledigung erfordern — jeder verlorene Augenblick kann von Bedeutung sein — und da kommt so ein aufdringlicher Teufel und läßt einen nicht los, können Sie sich denken. — ‚Entschuldigen, ich habe keine Zeit — ich habe noch andere wichtigere Dinge zu tun, als mit Ihnen zu reden.‘ Er sagt es gewissermaßen durch die Blume, es sei nun die höchste Zeit, daß er sich aus dem Staube mache, verstehen Sie wohl. Jedoch mein Kopeikin antwortet — der Hunger treibt ihn nämlich zum äußersten, müssen Sie wissen. ‚Tun Sie, was Sie wollen, Exzellenz, ich rühre mich nicht vom Flecke, bevor Sie die entsprechende Ordre erteilt haben.‘ Na, Sie können sich denken: einem Staatsmann so zu antworten, der nur ein Wort zu sagen braucht, damit man kopfüber rausfliegt, sodaß der Teufel selbst einen nicht mehr auffinden kann sozusagen ... Wenn ein Beamter, der auch nur um einen Rang tiefer steht als wir, unsereinem so etwas sagen wollte, so würde man es schon eine Frechheit nennen. Nun aber denken Sie sich — diese Distanz, diese gewaltige Distanz! Ein General en chef — und irgend ein Kopeikin sozusagen! Neunzig Rubel und eine Null. Der General, verstehen Sie, der maß ihn bloß mit einem Blick — der reinste Kanonenschuß sozusagen: da hätte keiner Stand gehalten, da wäre jedem das Herz in die Hosen gefallen. Mein Kopeikin aber, können Sie sich vorstellen, rührt sich nicht vom Flecke und steht da wie angewurzelt. ‚Nun? Was warten Sie?‘ sagt der General und packt ihn mit beiden Händen bei den Schultern. Übrigens, um die Wahrheit zu sagen, er behandelt ihn noch ziemlich gnädig: ein anderer hätte ihn so angeschnauzt, daß die ganze Straße noch drei Tage nachher auf dem Kopfe gestanden und sich mit ihm im Kreise gedreht hätte sozusagen, er aber sagte nur ‚Gut, wenn das Leben für Sie hier zu teuer ist und Sie nicht ruhig in der Hauptstadt auf die Entscheidung Ihres Schicksals warten können, dann lasse ich Sie auf Staatskosten in die Heimat befördern. Der Feldjäger soll kommen und ihn nach der Heimat transportieren!‘ Der Feldjäger aber, verstehen Sie wohl, der steht schon da und wartet schon hinter der Tür: so’n baumlanger Kerl, wissen Sie, mit einer Hand wie von der Natur selbst für den Kurierdienst geschaffen. Mit einem Wort: ein richtiger Zahnzieher. So wird denn unser braver Knecht Gottes in den Wagen befördert und ab geht’s in Begleitung des Feldjägers. ‚Na,‘ denkt Kopeikin, ‚da spar’ ich wenigstens das Reisegeld. Auch dafür bin ich den Herren dankbar.‘ So fährt er denn, Verehrtester, mit dem Feldjäger, und während er so an der Seite des Feldjägers sitzt, spricht er gewissermaßen, sozusagen, zu sich selber: ‚Schön,‘ sagt er, ‚du erklärst mir, ich soll mir selbst helfen und die Mittel suchen! Gut, schön,‘ sagt er, ‚ich will mir die Mittel schon verschaffen!‘ Wie er nun an seinen Bestimmungsort befördert, und wohin er eigentlich gebracht wurde, darüber ist nichts bekannt geworden. Und daher sind denn auch die Nachrichten über den Hauptmann Kopeikin im Strome der Vergessenheit untergegangen, in so einer Lethe, wissen Sie, wie die Poeten es nennen. Doch hier, sehen Sie wohl, meine Herren, hier schürzt sich, kann man wohl sagen, der Knoten unseres Romans. Wo also Kopeikin verschwunden ist, das weiß niemand; aber stellen Sie sich vor, es vergingen auch nicht zwei Monate, als in den Wäldern von Rjasan eine Räuberbande auftauchte, und der Hauptmann dieser Räuberbande, sehen Sie wohl, war kein anderer als ...“


1. Die Toten Seelen, Band I, sind in der zweiten Hälfte des Jahres 1835 begonnen und 1841 vollendet. Sie erschienen am 21. Mai (2. Juni) 1842. Die Unterschrift des Zensors trägt das Datum: den 9. Mai (21. Mai) 1842. Die vom Zensor gestrichene „Geschichte vom Hauptmann Kopeikin“ wurde vom Autor in fünf Tagen vom 5.-9. (17.-21.) Mai 1842 umgearbeitet.

2. Die Vorrede zur zweiten Auflage des I. Bandes der Toten Seelen (pag. 431) wurde Ende Juli entworfen und im September 1846 vollendet. Sie erschien zugleich mit der zweiten Auflage dieser „Dichtung“. Die Unterschrift des Zensors trägt das Datum: den 25. August (6. September) 1846.

3. Die Reflexionen zum ersten Teil der Toten Seelen (pag. 436) stammen wahrscheinlich aus dem Jahre 1846.

4. Das Ende des IX. Kapitels in veränderter Fassung (pag. 439) wurde etwa im Jahre 1843 niedergeschrieben.

5. Die Geschichte vom Hauptmann Kopeikin: Variante A (pag. 452) ist im August 1841, Variante B (pag. 461), die vom Zensor gestrichen wurde, im November 1841 vollendet. Der Text der vorliegenden deutschen Ausgabe geht auf die russischen Ausgaben von N. S. Tichonrawow und W. I. Schönrock zurück.

Der Herausgeber.


Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt.

Fußnoten

[1] Sbiten: ein Getränk aus Wasser, Honig und Lorbeerblättern oder Salbei, das von den niederen Klassen statt Tee getrunken wird.

[2] Kästchen.

[3] In Rußland werden die Bären wie bei uns „Petz“ mit dem Namen „Mischa“, dem Diminutivum von Michael gerufen.

[4] Spielt in dem russischen Sagenkreis die Rolle des Thanatos, d. h. des Todes.

[5] Groschen.

[6] Ein Saiteninstrument: eine Art Guitarre.

[7] Fünfundzwanzig Rubel.

Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert.

Einige Übertragungsfehler wurden ebenfalls unverändert belassen. Auf Seite 194 heißt es »jedes Jahr verlor er ein neues richtiges Stück von seinem Haushalt aus dem Auge«. Tatsächlich steht im Original hier »Hauptteil«, was wohl eher der Formulierung »wichtiges Stück« entsprechen würde. An zwei Stellen im Anhang heißt es »Markronen« oder »Makronen auf den Achselklappen«. Auch dies wurde so beibehalten. Das russische Original hat aber an dieser Stelle »Makkaroni«, was wohl eher die Fransen der Epauletten beschreibt.

Offensichtliche Fehler wurden, teilweise unter Zuhilfenahme des russischen Originaltextes, korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):






End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 1: Die Toten Seelen I, by 
Nikolaj Gogol

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 1: DIE ***

***** This file should be named 54262-h.htm or 54262-h.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/5/4/2/6/54262/

Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.

Updated editions will replace the previous one--the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
specific permission. If you do not charge anything for copies of this
eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
performances and research. They may be modified and printed and given
away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
trademark license, especially commercial redistribution.

START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
Gutenberg-tm electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
1.E.8.

1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country outside the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

  This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  most other parts of the world at no cost and with almost no
  restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  United States, you'll have to check the laws of the country where you
  are located before using this ebook.

1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
provided that

* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  within 60 days following each date on which you prepare (or are
  legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  Literary Archive Foundation."

* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  License. You must require such a user to return or destroy all
  copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  works.

* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  receipt of the work.

* You comply with all other terms of this agreement for free
  distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.